Archiv der Kategorie: Filmkritik

Die Ausbildung

(D 2011, Regie: Dirk Lütter)

Naiver Täter
von Wolfgang Nierlin

„Clean-desk-Policy“ lautet einer der modernen Arbeitsplatzgrundsätze in dem hellen, auf Transparenz zielenden Großraumbüro einer Firma für Klimatechnik. Wenn die Mitarbeiter, die hier für die Werbung und Betreuung von Kunden zuständig …

„Clean-desk-Policy“ lautet einer der modernen Arbeitsplatzgrundsätze in dem hellen, auf Transparenz zielenden Großraumbüro einer Firma für Klimatechnik. Wenn die Mitarbeiter, die hier für die Werbung und Betreuung von Kunden zuständig sind, nach Arbeitsschluss ihren Laptop samt Headset und ein paar wenigen Akten in einem sogenannten „Pilotenkoffer“ verschwinden lassen und diesen dann beim Verlassen des Büros in einem Regal deponieren, ist der Raum leer und seine gedämpfte Atmosphäre verwandelt sich in eine unheimliche Stille. Nichts Persönliches bleibt zurück, als würde hier auf Abruf oder nur vorübergehend gearbeitet werden. Und diese Abwesenheit individueller Spuren korrespondiert dabei nicht nur mit der zunehmenden Abstraktion von Arbeit, die ihren Inhalt durch ein System von Funktionen ersetzt hat, sondern auch mit den Mechanismen der Kontrolle, die sich ebenso subtil wie perfide den Mitarbeitern einschreiben. Denn die hierarchischen Machtstrukturen haben sich keinesfalls in den äußerlichen Leerstellen einer nur vorgetäuschten Wirklichkeit verflüchtigt; ihre Träger und Repräsentanten geben sich nur offener, geschmeidiger, toleranter und vertraulicher.

An diesem Punkt setzt Dirk Lütters beindruckender Film „Die Ausbildung“ mit seiner radikalen Verschränkung von Form und Inhalt ein. In streng kadrierten Bildern, mit distanziertem Beobachterblick und den Wiederholungsschleifen rhythmisierter Arbeitsprozesse und ebenso durchorganisierter Freizeitgestaltung, wird die Arbeitswelt zu einem entpersönlichten, fortwährend überwachten Gefängnis. Abweichung oder Funktionsuntüchtigkeit werden gnadenlos bestraft, weshalb die Angst davor zu einem enormen Anpassungsdruck und einer gravierenden Selbstdisziplinierung führt. Das bekommt gleich zu Beginn der etwa 20-jährige Auszubildende Jan Westheim (Joseph K. Bundschuh) zu spüren, der in einem Gespräch mit seinem Vorgesetzten Tobias Hoffmann (Stefan Rudolf), einer Gewerkschaftsvertreterin (Anja Beatrice Kaul), die zugleich seine Mutter ist, und der Abteilungsleiterin Susanne (Dagmar Sachse) sein Leistungsprofil und eine etwaige Übernahme in die Firma bespricht. Aber eigentlich ähnelt die Situation eher einem Verhör, das den Kandidaten suggestiv zwingt, sich selbst zu evaluieren und eine Fehleranalyse zu betreiben.

Die Pflicht zur eigenverantwortlichen Selbstoptimierung steht hinter dem scheinbar neutralen, Machtlosigkeit vortäuschenden Statement des Chefs: „Die Zahlen entscheiden.“ Um seiner offenen Forderung nach einer Leistungssteigerung Nachdruck zu verleihen, fördert Tobias versteckt Konkurrenzdenken und Mobbing, wobei ihm befristete Arbeitsverträge und Kündigungsdrohungen zusätzlich als strukturelle Druckmittel dienen. Mit der nicht zuletzt aufgrund privater Probleme überforderten Susanne hat er auch schon eine Schwachstelle im System ausfindig gemacht. Indem er Jan auf sie „ansetzt“, entsteht ein unterschwelliges Abhängigkeitsverhältnis. Dieses wird noch verstärkt, als sich Jan in die gleichaltrige Zeitarbeiterin Jenny Bolewski (Anke Retzlaff) verliebt und sich bei Tobias auch für ihre berufliche Zukunft engagiert. So wird Jan, dessen Charakter in diesem schwierigen und zugleich widersprüchlichen Spannungsverhältnis als schwankend, ungefestigt und passiv beschrieben wird, zu einer Art naivem Täter. Wenn er nach Feierabend im eigenen Auto den Geschwindigkeitsrausch sucht, in Einkaufszentren unterwegs ist oder viel Wert auf Kleidung und Körperpflege legt, erscheint er als typischer Vertreter einer Konsumentengeneration. Und doch gibt es bei ihm immer wieder auch kurze Momente eines nachdenklichen Zögerns, eines mitfühlenden Innehaltens und einer fast unmerklichen Sabotage, die als Zeichen eines erwachenden Bewusstseins den beängstigenden Konformismus der gar nicht schönen neuen Arbeitswelt zumindest in Frage stellen.

Winterkinder – Die schweigende Generation

(D 2005, Regie: Jens Schanze)

Familienaufstellung
von Dietrich Kuhlbrodt

Jens Schanze macht in seinem Diplomfilm einen Anlauf, die Familiengeschichte zu verarbeiten. Warum wird darüber geschwiegen, welche Rolle der Großvater vor 45 gespielt hat? Er war doch in der Partei …

Jens Schanze macht in seinem Diplomfilm einen Anlauf, die Familiengeschichte zu verarbeiten. Warum wird darüber geschwiegen, welche Rolle der Großvater vor 45 gespielt hat? Er war doch in der Partei was Höheres gewesen. In Schlesien. Was hat er erzählt? Nichts, wirklich nichts? Vor der Interviewkamera arbeitet es im Muttergesicht. Warum ringt sie sich nur mühsam zu einer Antwort durch? Der Film wird spannend. Wir wissen nicht, was kommt. Die langen Pausen zwischen Frage und Antwort oder Nichtantwort werden stehen gelassen. Zeit vergeht. Sie lädt zum Abwarten und Abschätzen ein. Wir sehen eine deutsche Mutter, die Würde wahrt.

Der Interviewer wird in Archiven fündig. Großvater war schon 33 in der SA. Im Krieg kämpfte er als Ortsschulungsleiter an der Heimatfront und schwor auf den Endsieg ein, bis zum März 1945. 'War Großvater ein Nazi?' Die Mutter windet sich. 'Wenn, würde ich Nationalsozialist sagen.' Nein, sie schafft es nicht. Weder ist sie fähig zu einer Kritik noch zu Emotionen. Sie hält sich bedeckt, selbst im KZ Groß-Rosen, dessen Außenstellen nahebei gelegen hatten. Sie kann dazu nichts sagen, selbst als der Sohn, unser Autor, sie jetzt ins Lager gebracht hat. Schnee. Deutlich sichtbar sind die Grundmauern der Baracken. Sie meint die Situation zu meistern, indem sie sich zurückhält. Kein Gedanke an die Opfer. Kein Mitleid mit anderen. Keine Betroffenheit. Nichts. Nichts.

Aus dem Off hören wir, dass die 30.000 KZ-Insassen 1944 eine Bedrohung für die Deutschen gewesen waren. 'Wenn da Bomben reinfielen und die Juden frei wären, dann wär’s fürchterlich' – für die Deutschen, die dann Opfer wären. Der Autor lässt dies stehen.

Der Nazi-Opa hat im antisemitischen Verein Deutscher Studenten einen Ehrenplatz. Als Alter Herr. Sein Porträt ist mit einem Trauerflor geschmückt. Für die Filmkamera wird 'Oh alte Burschenherrlichkeit' gesungen. Und vor der Kamera ein 'positives Verhältnis für Deutschland' gefordert. Der Film nimmt es zur Kenntnis. Ebenso, dass ein erster Nachkriegsbesuch in Schlesien zur Einsicht verhilft, dass es 'die Heimat bleibt'. Nichts ging verloren. Alles ist, wie gehabt.

Das Fazit? Nach langer Zeit vereint sitzt die Familie vor dem Monitor und guckt sich das Ergebnis an. 'Mutti ist irgendwie erleichtert.' Man ist sich nähergekommen. Man hat gesprochen. Alles ist gut. Eric Satie erklingt. War das die Aufarbeitung der Familiengeschichte? Die Mutter ist als amtierendes Oberhaupt bestätigt. Und respektvoll wird ihre Kritik am Film vernommen. Ihr erstes und letztes kritisches Wort: 'So sehe ich mich nicht. Ich finde, dass ich im Film sehr alt aussehe'. Heiterkeit, Sonne, Sommer, Versöhnung. Sommerkinder.

'Winterkinder', der Film, ist zum Fürchten. Es ist schlimmer als zuvor. Was überwintert hat und jetzt zu Wort kommt, ist gut für die Familie und schlecht für uns. Wieder hat Mutter eine Situation gemeistert. Jetzt haben wir das Wort. Wer sagt ihr, dass es auch außerhalb des Clans Menschen gab und gibt? Opfer der deutschen Familie? – Sohn Schanze, der Autor, reiht sich in der Schlusseinstellung zum Familienfoto ein. Format 35 mm. Gediegene Cadrage. Frontal. Applaus heischend.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2005

Woody Allen: A Documentary

(USA 2012, Regie: Robert B. Weide)

In Anbetracht der Endlichkeit
von Wolfgang Nierlin

Die Kindheitsidylle im damals noch beschaulichen und sicheren New Yorker Stadtteil Brooklyn endete für den kleinen, 1935 geborenen Allen Stewart Konigsberg in dem Moment, als er sich seiner eigenen Sterblichkeit …

Die Kindheitsidylle im damals noch beschaulichen und sicheren New Yorker Stadtteil Brooklyn endete für den kleinen, 1935 geborenen Allen Stewart Konigsberg in dem Moment, als er sich seiner eigenen Sterblichkeit bewusst wurde. In seiner Vorstellung war das unbeschwerte Glück und die Geborgenheit innerhalb einer großen, lebendigen Familie plötzlich nicht mehr von Dauer. Dazu begleitete den Heranwachsenden, der als schlechter, von den Lehrern gehänselter Schüler in der Schule wenig Freude hatte, zunehmend das Gefühl, nicht richtig in seine Familie zu passen; was von verschiedenen Familienmitgliedern mehr oder weniger bestätigt wird. Auch wenn Robert B. Weide in seinem ausführlichen Film „Woody Allen: A Documentary“ diesen Außenseiterstatus des werdenden Komikers kaum strapaziert, so ist er in der Lebens- und Werkbeschreibung doch stets präsent.

Schon der 16-jährige Gag-Schreiber und Stand-up-Comedian, der sich einen Künstlernamen zulegt und eine viereckige schwarze Brille zu seinem Markenzeichen macht, scheint dies zu bestätigen. Auf der Bühne des „Bitter End“ in Greenwich Village erarbeitet sich das Naturtalent Woody Allen mit Staunen erregendem Improvisationstalent, überbordendem Einfallsreichtum und viel Fleiß eine treue Fangemeinde. Doch obwohl der Komiker als „neue Stimme“ wahrgenommen und gefeiert wird, fühlt er sich als Performer unwohl. Noch im Rückblick auf sein umfangreiches, über vierzig Filme zählendes Œuvre merkt der Verfechter der „Quantitätstheorie“ selbstkritisch an, dass kaum ein guter darunter sei. Diese Skepsis in Bezug auf das eigene künstlerische Schaffen, seine etwas schrullige, altmodische, dabei jedoch ökonomisch höchst effiziente Arbeitsweise (seit seinen Anfängen hat Allen eine unverwüstliche Olympia-Schreibmaschine in Gebrauch) sowie seine kontinuierliche Arbeitswut (auch über schwierige Lebensphasen hinweg) belegen und verfestigen mit den Jahren Woody Allens Außenseiter-Status.

Die enorme Produktivität des New Yorker Filmkomikers erscheint dabei als Abwehr und zugleich als permanente Auseinandersetzung mit der eingangs zitierten Frage nach dem Sinn des Lebens in Anbetracht seiner Endlichkeit. Geradezu leitmotivisch ziehen sich deshalb die als absurd empfundenen Daseins- und Liebesverhältnisse durch seine Filme, weshalb er von einem der vielen interviewten Weggefährten und Zeitzeugen auch einmal als „Camus unter den Komikern“ bezeichnet wird. Im Verlauf seiner Karriere verbindet Allen dabei immer stärker sein komisches Talent mit seinem Hang zu ernsten Stoffen und zum Geschichtenerzählen, was sich in seinem höchst erfolgreichen Film „Annie Hall“ aus dem Jahre 1977 widerspiegelt, den der bescheidene Regisseur im Vergleich zu seinem umstrittenen „Stardust Memories“ (1980) allerdings als künstlerisch weniger gelungen einstuft.

Das Tragische habe, so Woody Allen, einen direkteren Bezug zur Realität als die distanzierende Komik. Unterstützt wird seine filmkünstlerische Entwicklung in dieser Hinsicht vom Bildgestalter Gordon Willis, dem „Fürst der Dunkelheit“, sowie seinen bevorzugten Schauspielerinnen Diane Keaton und Mia Farrow, die sein zunehmendes Interesse für eine weibliche Perspektive befördern. Außer einem knappen Hinweis auf den Einfluss von Bergman und Fellini erfährt man in Weides konventionell gestalteter Dokumentation, die sich mehr mit dem Menschen und Künstler als mit der Exegese seines Werks beschäftigt, jedoch leider nichts über Allens Cinephilie. Dass dieser die Praxis des Filmemachens im Vergleich mit der puren Freude des Schreibens als „Katastrophe“ empfindet, eröffnet wohl nicht absichtslos den Reigen seiner Statements. Seine Filme sind insofern gegen den stets künstlerisch wie auch existentiell drohenden Kontrollverlust gemacht, halten sich aber überraschenderweise nicht dabei auf, perfekt sein zu wollen. Sein Leben sei ein glückliches, trotzdem habe er das Gefühl, es immer wieder zu „vermasseln“, so Woody Allen.

Allein die Wüste

(D 2011, Regie: Dietrich Schubert)

Zwangserwärmung
von Andreas Thomas

Regen, Kälte und kein Ende. So schmeckt der Sommer. Filmemacher Dietrich Schubert tut genau das Richtige: Er packt sein Zelt und fährt dahin, wo die Hochs sich die Klinke in …

Regen, Kälte und kein Ende. So schmeckt der Sommer. Filmemacher Dietrich Schubert tut genau das Richtige: Er packt sein Zelt und fährt dahin, wo die Hochs sich die Klinke in die Hand geben. In die marokkanische Wüste, die Ende September mit Temperaturen von teilweise über 40 Grad ziemlich überdeutlich an Sommer erinnern, „wie er früher einmal war“ (Rudi Carrell).

Zugegeben, bei Schuberts Selbstversuch handelt es sich eher um eine selbstverordnete Zwangsisolation als um eine Rückerwärmung, die selbstgestellte Frage lautet: Wie lange kann ich die Wüste, wie lange kann ich mich ertragen?

Mit Mineralwasser, Brauchwasser und Verpflegung für etwa zwei Monate ausgestattet, kampiert Schubert neben einer Akazie, lässt sich die Sonne auf den Pelz scheinen und den Sandsturm um die Nase wehen. Er füttert täglich eine benachbarte Maus, damit sie ihn nicht mehr nachts durch ihr Knabbern wecken soll, nennt sie fantasiebegabt „Herr Maus“, und einen geselligen kleinen schwarzweißen Vogel, arabischer Name „Mula Mula“, nennt er „Frau Mula Mula“.

Entstanden aus der Idee, primär einen Selbsttest zu machen, sekundär darüber eventuell diesen Film zu drehen und tertiär diesen Film eventuell zu vermarkten, wirkt das Werk etwas unentschlossen und streckenweise ähnlich lethargisch wie sein Protagonist, Regisseur, Ton- und Kameramann in Personalunion, der ganz erstaunt berichtet, dass er es fertigbringt, stundenlang einfach da zu sitzen und in die erstaunlich vielseitige und vielfarbige Wüste vor dem Panorama hoher Berge zu schauen, ohne sich zu langweilen und ohne auch nur einmal ein Buch oder den Weltempfänger zu gebrauchen: Eine für den Siebzigjährigen sicherlich kathartische Erfahrung („Die Wüste ist eine Dusche für die Seele“), für den Zuschauer aber nur schwer optisch vermittelbar, besonders wenn der Selbstfindungsreisende ein doch weniger eloquenter und exhibitionistischer Mensch ist, als es dem Film gut täte.

Es wäre z.B. aufschlussreicher gewesen, hätte Schubert einmal die Kamera auf seine alltäglichen Verrichtungen gerichtet: Aufstehen, Waschen, Frühstücken, nur verbal erfahren wir von ihm, dass er stets versucht, die Stille in der Wüste nicht zu stören, indem er beim Abwaschen jedes laute Klappern vermeidet. Fast nichts erfahren wir über seine mitgebrachten Nahrungsvorräte, nur indirekt und zufällig, wenn Schubert „Herrn Maus“ mit Rosinen aus seinem Müsli füttert.

Dass die Wüste viel mit Selbsterfahrung zu tun hat, zeigen, wenn schon nicht dem Träumer selbst, dann wenigstens dem psychologisch interessierten Zuschauer, Schuberts Gewaltträume, die ihn überfordern, die zu Fluchtträumen werden; für jemanden, der als Kind selbst Flüchtling war, ist von Flucht zu träumen, nichts unbedingt Abwegiges. Und auch ein Traum von einem großen schwarzen Hund, der bald für immer eingesperrt wird, geträumt am Ende seines Aufenthaltes, spricht eine deutliche Sprache. Schubert brauchte offenbar erst einen Psychologen, der ihm erklären musste, dass er hier von sich selbst träumte.

„Allein die Wüste“ wäre vielleicht besser ein privates Erlebnis/Unternehmen geblieben. Für ein Interesse von größerer Tragweite fehlt es entweder an einer, sagen wir es ruhig, interessanteren Hauptfigur oder aber an einem Regisseur, der das kathartische Element, die Wüste, bewusst in den Mittelpunkt des Vermittlungsinteresses zu stellen versucht. Das aber hätte bedeutet, eine Intensität der Stille, der Sandstürme, der Weite zu zeigen, die nicht immer wieder durch Kommentare gestört würde, die man auf jedem Campingplatz vernehmen kann: „Wenn der Wind so bleibt, werde ich morgen wieder abreisen!“

Alpen

(GR 2011, Regie: Giorgos Lanthimos)

Eindringen in den Familienleib
von Wolfgang Nierlin

„Du bist noch nicht bereit für Pop“, verfügt der strenge Tanzlehrer im Kommandoton gegenüber seiner gehorsamen Schülerin. Die grazile Sport-Gymnastin (Ariane Labed) versucht sich in der Eröffnungsszene des Films an …

„Du bist noch nicht bereit für Pop“, verfügt der strenge Tanzlehrer im Kommandoton gegenüber seiner gehorsamen Schülerin. Die grazile Sport-Gymnastin (Ariane Labed) versucht sich in der Eröffnungsszene des Films an einer Choreographie zu Carl Orffs „Carmina Burana“, möchte aber viel lieber zu Popmusik tanzen. Ihr unzufriedener Trainer (Johnny Vekris) bleibt aber gnadenlos unnachgiebig, droht der eingeschüchterten Tänzerin sogar mit brutaler Gewalt. Wie schon in „Dogtooth“ analysiert der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos auch in seinem neuen Film „Alpen“ (Alpeis) hierarchische Machtverhältnisse und gewalttätige Abhängigkeitsbeziehungen. In absurd erscheinenden Arrangements und grotesken Handlungen skizziert er dabei eine parabolische Ordnung, deren bedrohliche innere Spannung zur Implosion neigt und sich mit einer Art gefährlichem Humor immer wieder in unvermittelten Schocks entlädt. Dabei ist „Alpen“ völlig undramatisch, geradezu indirekt erzählt, was sich vor allem in Schärfenverlagerungen, angeschnittenen Bildern und vielen Rückenansichten ausdrückt.

Auch in seinem Handlungskern, einer verrückten Versuchsanordnung aus absurdem Theater und Sciencefiction, dekliniert Lanthimos mit Ironie und doppeldeutigen Dialogen die destruktiven Spielregeln der Macht. So straft Mont Blanc (Aris Servetalis), Anführer einer Gruppe, die sich Alpen nennt, Ungehorsam und abweichendes Verhalten mit sadistischer Gewalt und Ausschluss. In den penibel recherchierten und geplanten Einsätzen betreut der Geheimbund die Angehörigen von Verstorbenen, indem seine Mitglieder deren frühere Rollen als Ehefrau, Tochter oder Freundin einnehmen und nachspielen, um den Verlust des geliebten Menschen zu mildern. In der theatralischen Wiederholung von Gesten, Sätzen und Handlungen wird dabei die Erinnerung beschworen und die verlorene Vergangenheit konserviert. Die Inszenierung eines falschen Lebens im richtigen funktioniert insofern fast wie ein Hollywoodfilm; nicht umsonst bilden die Namen populärer Filmstars, als wären sie Platzhalter von Träumen, den Subtext des Films.

So ist es die Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit, die das in mehrfacher Hinsicht abweichende Verhalten der Krankenschwester mit dem Decknamen Monte Rosa (Aggeliki Papoulia) motivieren. Diese spielt zum Einen die immer deutlicher sexuell konnotierten Rollen einer Ladenbesitzer-Gattin sowie einer Frau, die mit einer Blinden befreundet ist; zum anderen aber übernimmt sie auf eigene Rechnung die Rolle eines 16-jährigen Mädchens, das bei einem Unfall tödlich verunglückt ist und vermischt dabei die Ebene des Rollenspiels mit ihrem Privatleben. Monte Rosa lebt noch mit ihrem Vater zusammen, was Yorgos Lanthimos nutzt, um mit unterkühltem Blick von einem ungestillten Liebesverlangen in einer Vater-Tochter-Beziehung zu erzählen. Dafür pervertiert er nicht nur die Struktur des Inzests, sondern er inszeniert darüber hinaus das hilflose Begehren der traurigen Heldin als aggressives Eindringen in den Familienleib. Der Tyrann straft das mit sadistischer Gewalt. Ob sich darin auch gesellschaftliche Machtverhältnisse spiegeln, lässt der Film offen. In der Rahmenhandlung – gerade hat die Gymnastin zum Instrumental der bekannten Melodie „Popcorn“ getanzt – lässt Lanthimos die Schülerin zu ihrem väterlichen Lehrer über dessen fragwürdigen Erziehungserfolg jedenfalls sagen: „Du bist der beste Trainer der Welt.“

Tomboy

(F 2011, Regie: Céline Sciamma)

Rollentausch
von Wolfgang Nierlin

„Es ist der Blick der anderen, der darüber entscheidet, wer man ist“, sagt die französische Regisseurin Céline Sciamma. In ihrem neuen Film „Tomboy“ hält sie den Zuschauer relativ lange im …

„Es ist der Blick der anderen, der darüber entscheidet, wer man ist“, sagt die französische Regisseurin Céline Sciamma. In ihrem neuen Film „Tomboy“ hält sie den Zuschauer relativ lange im Ungewissen darüber, ob es sich bei der etwa 10-jährigen Hauptfigur um ein Mädchen oder einen Jungen handelt. Dieses gekonnte Spiel mit den schwebenden Einstellungen des Blicks, der nach identifizierbaren Merkmalen sucht, reflektiert das Verhältnis der Geschlechter; und er weist diesen zugleich Rollen zu. Wie der Filmtitel bereits andeutet, ist Laure (Zoé Héran) ein Mädchen, das sich nicht nur wie ein Junge kleidet, fühlt und benimmt, sondern mit seinem burschikosen Kurzhaarschnitt auch wie ein solcher aussieht. Dazu kommt noch, dass sie gerne Fußball spielt und auch vor Raufereien nicht zurückschreckt. Ihre maskulinen Bewegungen und Gesten sind Ausdruck eines androgynen Körpergefühls und sprechen zugleich von der Suche nach der eigenen Identität.

Der kontrollierende Blick in den Spiegel und die förmliche Einstudierung von Rollen zeigen aber immer auch den spielerischen Charakter dieser Unsicherheit. Dabei ist Laure emotional noch ganz Kind, das am Daumen nuckelt und sich nach väterlicher Geborgenheit sehnt. Wenn ihr Vater (Matthieu Demy) sie eingangs das Steuer seines Wagens lenken lässt, ihr später anbietet, an seinem Bier zu nippen und dann ankündigt, ihr das Pokerspiel beibringen zu wollen, thematisiert der Film auch die unterbewusste elterliche Projektion von Geschlechterrollen. Für ihre jüngere Schwester Jeanne (Malonn Lévana) wiederum ist Laure eine Mischung aus bester Freundin und beschützendem großen Bruder. Die Gefühlslage von Sciammas Heldin, von Zoé Héran ganz selbstverständlich und mit großer Natürlichkeit dargestellt, ist also äußerst komplex und widersprüchlich.

Als Laure mit ihrer Familie an einen neuen Wohnort umzieht, wo es für sie gilt, neue Freunde zu gewinnen, wird aus dem Spiel bald Täuschung und aus der Täuschung Lüge, die sich immer mehr zum Dilemma verdichtet. „Du bist nicht wie die anderen“, sagt die gleichaltrige Lisa (Jeanne Disson), als sich Laure ihr gegenüber als Mickäel vorstellt. Während zwischen den beiden Liebesgefühle aufkeimen und sich Laure in ihrer Jungs-Rolle immer besser in Lisas Clique integriert, gestaltet sich ihr Wechsel zwischen den Geschlechter-Welten immer schwieriger und komplizierter. Céline Sciamma inszeniert diese Kontraste als Spiel zwischen Wahrheit und Lüge. Die unverbrauchten Bilder ihres unaufdringlichen, geradezu luftigen Realismus spüren in alltäglichen Gesten Gefühlsnuancen auf. Angesiedelt in den Sommerferien an einem Ort inmitten der Natur und des Lichts, sind in „Tomboy“ die Aufbrüche entsprechend hoffnungsvoll und die Ausschlussverfahren umso schmerzhafter. Trotzdem findet sich zwischen Geheimnis, Scham und unvermeidlicher Wahrheit schließlich doch noch ein (zumindest vorläufig) gangbarer Weg für die Heldin.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Water Lilies

(F 2007, Regie: Céline Sciamma)

Enthaarungsinspektion
von Wolfgang Nierlin

Céline Sciammas Debütfilm „Water Lilies“ zeigt die Grausamkeit der Adoleszenz Die Übereinstimmung und das Gleichmaß bestimmen die Choreografie der Mädchenkörper, ihre Bewegungsabläufe und Formationen beim Synchronschwimmen. Während unter der Wasseroberfläche …

Céline Sciammas Debütfilm „Water Lilies“ zeigt die Grausamkeit der Adoleszenz

Die Übereinstimmung und das Gleichmaß bestimmen die Choreografie der Mädchenkörper, ihre Bewegungsabläufe und Formationen beim Synchronschwimmen. Während unter der Wasseroberfläche die Beine zappeln, rudern und lenken, setzen die geschminkten Gesichter über Wasser im gleichgeschalteten Rhythmus graziler Bewegungen ein künstliches Lächeln auf. Fragmentiert erscheinen die gedrillten Körper dieser „Mädchenarmee“ (Sciamma) in den Bildern uniformer Abläufe und ästhetisierter Schwimmfiguren. Das Verborgene und das Sichtbare, Schein und Sein sind hier in einem fortlaufenden Wechselspiel aufeinander bezogen, tauschen unablässig die Rollen. In einem Spannungsverhältnis stehen aber auch individuelle Anmut und Anpassungsdruck in bezug auf die Gruppe. Vom Muskeltraining bis zur Enthaarungsinspektion unterliegen die ausgestellten Körper einer strengen Kontrolle und Disziplin. Der sterile, kalte Raum der Schwimmhalle scheint diese militärisch anmutende Zurichtung noch zu unterstützen. Und doch ist dies zugleich der Ort, an dem die Konzentration auf den Körper verborgene Blicke und sexuelle Phantasien weckt.

„Für mich ist es ein schwüler Ort, wo Begierden geboren und Dinge offenbart werden“, sagt die 28-jährige französische Regisseurin Céline Sciamma, die ihren beeindruckenden Debütfilm „Water Lilies (Naissance des pieuvres) zu großen Teilen im Schwimmbad eines namenlosen Vororts spielen lässt. Überhaupt beschreibt ihr Pubertätsdrama eine hermetische, zeitlose Welt aus Leere und Langeweile, in der fast keine Erwachsenen oder Eltern vorkommen und in der alles auf die „Grausamkeit dieses Lebensabschnitts“ konzentriert ist. Der wirkliche Feind in der Adoleszenz, so Sciamma, ist man selbst. Alle Formen von Begierde seien unvermeidlich und nicht zu mildern. Und so ist jede ihrer Heldinnen in einem imaginären Netz aus unausgesprochenen Gefühlen und sexuellen Begierden, aus Hoffnungen und Enttäuschungen gefangen. In dieser Phase des Übergangs und der ersten Schritte auf fremdem Terrain ist alles Fühlen und Handeln von einer allgegenwärtigen Unsicherheit dominiert. Als Ausdruck der sich entwickelnden Individualität wird dieses Schwanken zwischen Offenheit und Schweigen in einem ambivalenten Körperbewusstsein reflektiert: dem selbstkontrollierenden Blick in den Spiegel, der Scham vor Nacktheit und der Sorge um den „falschen“ Körper(geruch). Céline Sciammas Blick auf die „Geburt der Weiblichkeit“ entfaltet ein psychologisch fein nuanciertes Geflecht aus verspielter kindlicher Unschuld und erwachsenen Sehnsüchten.

Die 15-jährige Marie (Pauline Acquart), ihr begehrender Blick und ihre vielstimmige Schüchternheit, bilden das Zentrum dieser an sich selbst leidenden, sich selbst verzehrenden Identität. Ihre Bewunderung und ihr Sehnen gilt der reifer wirkenden, schönen Floriane (Adèle Haenel), dem neidisch beäugten Star einer Gruppe von Synchronschwimmerinnen. Zugleich ist die Außenseiterin Marie mit der leicht übergewichtigen Anne (Louise Blachère) befreundet: eine kindlich-verschworene Freundschaft, die sakrosankte Züge trägt und die zunehmend überschattet wird von der Rivalität zwischen Floriane und Anne, die um den gleichen Jungen buhlen. Die sich entwickelnde Distanz hat aber noch einen anderen Grund: Weil Marie in Floriane verliebt ist, sie anhimmelt und ihr nahe sein will, lässt sie sich von ihr ausnutzen. Sie deckt die vermeintlich amourösen Abenteuer Florianes, die bei den anderen Mädchen im Ruf steht, eine sexuell erfahrene „Schlampe“ zu sein. Darüber entwickelt sich eine intime Nähe zwischen den beiden, eine ebenso komplizenhafte wie komplizierte Vertrautheit, die allmählich offenbart, dass Florianes Abgeklärtheit mehr Wunsch und Selbstschutz ist als Wirklichkeit und dass Maries Liebe unerfüllt bleiben muss.

Céline Sciamma zeigt in ihrem verhalten inszenierten, von subtilen Zwischentönen durchwirkten Film das geheime Ausloten der Gefühle, ihre Widersprüchlichkeit und ihr missverständliches Scheitern als qualvolle Dunkelheit, in der lichte Momente wie Hoffnungsblitze aufschimmern und wieder verglimmen. Fast ohne Handlungsdramatik übersetzt sie die Dialektik zwischen verborgenen Sehnsüchten und äußerem Schein in eine von verstörenden Selbstzweifeln geprägte Ungewissheit. Mehr mit Blicken, Gesten und Bewegungen als mit Worten werden Nähe und Distanz zwischen den Figuren ständig neu austariert. Sie habe „an den Gefühlen arbeiten“ wollen, „anstatt nur Gemütsverfassungen abzubilden“, sagt Sciamma. Dabei tritt die innere Gespaltenheit als Merkmal der Pubertät, die manchmal wie ein unter hormonellem Überdruck stehendes Entwicklungsstadium anmutet, deutlich hervor. Und doch bleiben gerade die Gefühle im Geheimen, Verborgenen. Immer wieder schleichen und stehlen sich die jugendlichen Heldinnen durch Hintertüren, Zaunlücken und über Gartenmauern davon in eine Angst, die aus der Sehnsucht kommt. Dabei finden sie eine Erlösung, die scheinbar dem Tod ähnelt, glücklicherweise aber doch weiterträgt.

Religulous – Man wird doch wohl fragen dürfen

(USA 2008, Regie: Larry Charles)

Schenkelklopfer
von Dietrich Kuhlbrodt

Wer sich über die Dummheit unserer Glaubensfanatiker amüsieren möchte, kommt garantiert auf seine Kosten. Und das Beste ist, dass sich die Fundis von George W. Bush bis Osama bin Laden …

Wer sich über die Dummheit unserer Glaubensfanatiker amüsieren möchte, kommt garantiert auf seine Kosten. Und das Beste ist, dass sich die Fundis von George W. Bush bis Osama bin Laden vor der Kamera lächerlich machen. Der Film formatiert sie zu ulkigen Gästen in TV-Shows, Einspielung oder Auftritt, Abtritt, der nächste bitte. Und in der Tat ist Moderator Bill Maher beliebter Showmaster mit 21 Emmy-Nominierungen. Kompagnon Larry Charles hatte inzwischen den legendären „Borat“-Film gemacht.

Jetzt also der Dokumentarfilm über den organisierten Hyperfiktionalismus. Gott und Allah lassen sich nicht überbieten, und wir wissen es, sobald wir im System drin sind. Maher und Charles wissen es auch, reisen wie Borat herum, lassen sich vorgeblich affirmativ aufs Gegenüber ein und verleiten zu törichten Statements. Wer das goutiert, sitzt virtuell im Showpublikum und haut sich auf den Schenkel. Nur zu! Der Papst inszeniert sich mit a little help vom Filmschnitt als Rockstar. Ha! In der Muslim Gay Bar in Amsterdam: „Ich hasse keine Schwule. Gott hasst sie.“ Ha! Vor den Kameras küsst der verrückte Rabbi den Holocaustleugner Ahmanishabad. Ha!

TV-mäßig werden die vielen Selbstdarstellungen moderiert. Jetzt wird es im Off Ernst. „Religion ist Opium fürs Volk“, hätten schon die Gründerväter der USA gewusst (offenbar alles Marxisten). Das Weltende naht? – Es ist schon da! Gletscher tauen. Twin Towers stürzen. Alles Gegenwart. Wieder erhebt Moderator Maher mahnend den Finger. „Don’t lecture!“ sagt er noch, ganz Profi, der Lacher gewiss. Dann aber kommt das Manifest gegen organisierte Religiosität (sowie gegen den Klimawandel, wäre zu ergänzen): „Go up or die!“ Kämpfen oder sterben! Ende des Wortschwalls.

Aktiver Eulenspiegel und Identifikationsfigur Borat hatte sich mit dem Vorgängerfilm ins kollektive Filmgedächtnis eingegraben. In „Religulous“ werden wir dagegen als Opfer des Religionsfundamentalismus angesprochen. Der Glaube des Bibelgürtels soll wanken. Drum, lieber Konkretleser, wenn Sie Mormone sind und sich darauf freuen, nach mustergültigem Familienleben von Gott einen Planeten zugewiesen zu bekommen, auf dass Sie, auch liebe Leserin, dort gottgleich herrschen, – wenn das so ist, sind Sie nach dem Filmbesuch nicht mehr sicher, dass es sicher ist. Stimmts?

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 04/2009

Time of the Gypsies

(YU / I / GB 1989, Regie: Emir Kusturica)

Die Seele eines Truthahns, bspw.
von Dietrich Kuhlbrodt

Je überschießender, desto wahrer: 'Time of the Gypsies', der neue Film des jugoslawischen Regisseurs Emir Kusturica, zeichnet trotz allen Kunstaufwands ein gänzlich ungekünsteltes Bild vom Leben und von den Träumen …

Je überschießender, desto wahrer: 'Time of the Gypsies', der neue Film des jugoslawischen Regisseurs Emir Kusturica, zeichnet trotz allen Kunstaufwands ein gänzlich ungekünsteltes Bild vom Leben und von den Träumen der slowenisch-kroatischen Roma

'Gott kam auf Erden, sah die Zigeuner – und nahm den ersten Flug zurück': Baba, die 1-Zentner-Oma (unvergesslich: Llubica Adzovic), läuft in diesem bemerkenswerten jugoslawischen Film zu mythologischer Höchstform auf, wenn die Not am größten ist, beispielsweise das Haus von einem Kran auf den Haken genommen wurde, Blitze zucken und Regen auf das freigelegte Interieur prasselt. Mangels Anwesenheit höherer Mächte fordern Katastrophen – und die gehören zum Alltag der slowenisch-kroatischen Roma – lediglich dazu auf, sich der eigenen Macht zu versichern. Also hört man Baba zu, macht sich den eigenen Glauben und hebt die Grenzen zwischen Traum ('Fata Morgana') und Wirklichkeit auf.

Wenn etwas Übernatürliches hoch am Himmel flattert, dann ist das natürlich nur der Truthahn des jungen Perhan, sein Spielgefährte, wir haben ihn längst kennengelernt. Beide hockten einander gegenüber, fixierten sich, und wenn der eine die Ellbogen hob, spreizte der andere die Flügel. Es war eine sehr intensive Beziehung gewesen, die leider damit endete, dass einer der beiden (der Truthahn) im Kochtopf schmorte. Wieder eine Katastrophe, diesmal von kannibalischem Format. Denn hatte nicht in diesem Geflügel ein Roma-Vorderer fortgelebt? Die Realität mußte darüber so außer Fassung geraten, dass sich mit Recht die Frage stellte, ob nicht wir eine Fata Morgana sind und die Wirklichkeit gottweißwo ist. Perhan, der Zigeunerjunge, kennt sich jedoch in dem unübersichtlichen Grenzgebiet zwischen Wirklichkeit und Traum aus, er bezieht daraus seine emotionale Stärke, während sein Vetter, auf Besuch aus Deutschland ('Deutschland ist meine Heimat'), sich mit einem Gastarbeitertraum zufriedengeben muss und nur noch imstande ist, im Schlaf Zahlen auf deutsch zu memorieren: 4 – 3 – 2 – 1, aber das zwölfmal hintereinander.

Höchste Zeit, die Filmfabel zu erzählen. Aber wer rekurriert schon aufs Libretto, wenn von einer Oper zu berichten ist? Denn den ebenso überwältigenden wie hoffnungsvollen Eindruck des Gesamtkunstwerks 'Time of the Gypsies' machen Kunst und Metaphorik seiner Bild- und Ton-(Musik-)Sprache. Sie übertragen einen Energiestrom und lösen die Fesseln des alltäglichen Einerleis … Der Kopf wird wieder frei zu neuen Taten …

Und die Euphorie macht eine Bauchlandung. – Wie wär’s mit folgender Vita: Emir Kusturica, 1955 in Sarajewo geboren, war der jugoslawischen Öffentlichkeit zunächst nicht als Filmregisseur, sondern als Fußballprofi bekannt (übers Kicken in Ljubljana und Umgebung fand er auch Zugang zur einheimischen Roma-Welt der 'Time of the Gypsies'). Als 21jähriger dreht er seinen ersten TV-Film über den spanischen Bürgerkrieg ('Guernica'). 1985 gewann er in Cannes die Goldene Palme für seinen Film 'Papa ist auf Dienstreise' (dessen Hauptdarsteller Davor Dujmovic spielt in 'Time of the Gypsies' die Rolle des Truthahnfreundes Perhan). Hollywood winkte: Nominierung für den Golden Globe und für den Oscar. Doch Kusturica winkte ab: Er wurde Bass-Gitarrist der Punk-Gruppe 'No Smoking'. Kusturica: 'Ich will nicht nach einem industriellen Prinzip arbeiten. Mir bereitet etwas Schwierigkeiten, was anderen offensichtlich nicht so schwer fällt: einen Grund zu haben, einen Film zu drehen, und das kann ich nur, wenn es für mich ein dringendes Bedürfnis gibt. Bei ‘Time of the Gypsies’ war das der Fall.' – 1989 wurde diese Einstellung in Cannes mit dem Preis für die beste Regie ('Time of the Gypsies') belohnt. Aber heute ist er doch in den USA. An der New Yorker Columbia Universität hat er einen Lehrauftrag für Filmregie angenommen, und mit Jerry Lewis, Faye Dunaway, Johnny Depp und Tom Waits dreht er gerade den Film 'Arroteeth Halibut'. – Wir sind damit nicht weg von der Zeit der Zigeuner, sondern mittendrin, denn:

Perhan, der Zigeunerjunge, hat sich längst an Orson Welles ein Beispiel genommen. Vor einem Kinoplakat imitiert er die Haltung des genialen Zigarrenrauchers und pafft bald nicht minder eindrucksvoll. Er braucht Geld, um die Mitgift für die schöne Azra (Sinolicka Trpkova) aufzubringen. Hierfür ist das kapitalistische Ausland zuständig. Der unglücklich Verliebte verlässt die armselige, aber intakte Heimat und schließt sich einer in Mailand operierenden Kinderbande an, die von Ahmed Dzid (Bora Todorovic) – Goldkette, weißes Jackett, Hut – geführt wird. Wohnungseinbrüche, professionelle Bettelei, Babyhandel, Prostitution, Gewalt: Sind das die Roma im Ausland? Die Zigeuner-Gang beutet aus, wie sie ausgebeutet wird. Aber Perhan hat die Kraft behalten, sich die Wirklichkeit zurechtzurücken. Oder, wie man es altmodisch ausdrücken könnte, Wunder zu tun. In Rom spendet der Papst Segen – urbi et orbi. Doch was der kann, kann Perhan längst. Sozusagen truthahnmäßig herbeifixiert, trifft er neben dem Brunnen, in welchem gerade die Touristenmünzen zusammengefegt werden, seine 13jährige Schwester (die ebenso alte Elvira Sali macht aus den wenigen Szenen eine Hauptrolle), die er belogen und verraten hatte. Zeit zur Umkehr. Perhan, vier Jahre älter und inzwischen selbst Gangsterboss, bricht seine einträgliche, aber verräterische Karriere ab. Die Zeit der Anpassung ist vorbei, denn 'seit ich mich selbst zu belügen begann, glaubte ich keinem Menschen mehr'. Jetzt glaubt er wieder an Gabel und Messer, die er durch schiere Willenskraft auf Reisen schicken konnte. Damals fand Oma Baba diese Kunst zwar schön, aber unnütz. Jetzt trifft das telekinetische Besteck die Halsschlagader eines Oberschurken.

Ja, was in diesem wundersam durchkomponierten Erziehungsroman zu Tränen rührt und zum Lachen reizt, ist der Glaube an die Unfehlbarkeit der auf die Reise geschickten Gabel. Selbst im Tod kann der Zigeunermensch noch erhöht werden, nämlich ca. drei Fuß über dem Erdboden schweben, – wenn es denn einer will. Selbst der Truthahn schafft diese Höhe, und das Geflügel, das aller Orten durch den Film huscht, macht vor, wie man abhebt. In 'Time of the Gypsies', in dem Opfer nicht erniedrigt, sondern erhöht werden, herrscht infolgedessen eine biologisch begründete Euphorie. Diese wird freilich nicht von den französischen Roma- und Sinti-Verbänden geteilt, die dem Film mangelnde Repräsentanz vorwarfen. Ein Zigeuner, der dort in die Gesellschaft integriert ist, das mag sein, 'ist so nicht'. Aber wie geht man mit Kräften und Emotionen um, die nicht integrierbar sind und deren man nicht verlustig gehen möchte? Kusturicas dokumentarisch gesättigtes Epos führt uns auf verlockende Weise vor, wie Nicht-Integrierbares – sagen wir: eine Utopie – nicht nur gewünscht, sondern gelebt werden kann. Freilich benötigen wir hierfür über eine schlüssige Beweisführung und wissenschaftliche Argumentation hinaus etwas mehr, nämlich ein Bild oder ein Lied, in dem wir expressiv werden können. Die magischen Realismen des Films 'Time of the Gypsies' sind da ein Angebot. Perhan und seine Sippe sind auf Du und Du mit etwas, was uns unbekannt ist – mit der Seele eines Truthahns zum Beispiel. Das scheint mir viel einladender zu sein, als die Forscherdistanz einzuhalten – etwa gegenüber Schamanen in einem fremden Land.

Wenn Perhan, statt die Lage zu analysieren und den Handlungsbedarf zu eruieren, in der Stunde höchster Not zum Akkordeon greift, dann entgeht er der Verzweiflung im Lied. Der Film ist in diesen Szenen Musik, so wie er in jenen poetischen Bildern seinen stärksten Ausdruck findet, die vorsätzlich die Grenzen des Dokumentarspiels verlassen. Dann öffnet sich der Horizont vor dem Schlamm und Schnee der armseligen Häuser, und auf dem Fluss treibt eine magische Prozession züngelnder Flammen, während die Gläubigen sich rituell im Fluss waschen. – Gewiss, die Roma kamen aus Indien. Die Kraft dieser Bilder besteht jedoch darin, dass sie dies nicht zum Ausdruck bringen, sondern schlicht expressiv sind. So beschränken sie sich nicht darauf, Aussagen zu treffen; mit ihrem offensichtlichen Überschuss laden sie zum Spiel ein, das gesellschaftliches Leben einübt.

Was also lehrt uns dieser Film? Erstens, dass das Verdikt über 'Verfall und Ende' unseres öffentlichen Lebens (Sennett) nicht unabänderlich ist. Zweitens, dass die Befolgung von Lehren nicht das Mittel ist, sich der eigenen Expressivität wieder zu versichern. Es ist daher zwar unangebracht, sich in Spekulationen über die gesellschaftliche und ästhetische Funktion dieses Films zu verbeißen. Aber wie sollte man sonst – in Worten – zum Ausdruck bringen, dass 'Time of the Gipsies', der sich mit einer marginalen Gruppe beschäftigt, durch Bilder und Töne etwas grundsätzlich Neues entwirft, das allgemein gültig zu werden verspricht?

Kusturica, der zusammen mit Gordan Mihic das Drehbuch für 'Time of the Gypsies' schrieb, vermeidet strikt jede essayistische Reflexion. Er beklagt nicht die emotionale Depravation des slowenischen Gastarbeiters, der deutsch träumt und daher nur noch rückwärts zählen kann. Er lässt stattdessen die Roma-Oma sagen: 'Lass mich träumen', wenn jeder Deutsche ihr sofortiges Handeln anempfehlen würde, und dann kommt der Roma-Traum, der alles andere als regressiv ist und der eine Wirklichkeit schafft. Was also passiert, wenn Danira, die verkrüppelte Dreizehnjährige, im Hospital von Ljubljana träumt: 'Beine wie von Marilyn Monroe'? Die Antwort kommt etliche Sequenzen später, sie lautet: 'Die Frau mit dem Silberzahn ist Opfer des Wolfes', und das ist überhaupt keine Antwort, sondern ein zweiter Traum. Dass geträumt und daraus Kraft geschöpft werden kann, ist die Antwort des Films. – Um naheliegenden Missverständnissen vorzubeugen: Das Traumbild (im Jugoslawischen: Fata Morgana) hat durchaus nichts mit bürgerlichem Eskapismus zu tun. Wenn, sagen wir, der Schleier der unglücklichen Braut mit rätselhaftem Eigenantrieb durch die Bilder gleitet, könnte man zwar das poetische Zuviel mit heimischer Sentimentalität füllen. In der Wiederholung dieses Bildes manifestiert sich jedoch gleichzeitig eine vitale und ungezügelte Emotionalität, die sich von dramaturgischen Standards nicht bremsen lässt. Wenn geschluchzt wird, dann hemmungslos, und wenn das komisch ist, darf gelacht werden, ebenso hemmungslos. Tränen und Gelächter sind nicht nur erlaubt: Sie sind die äußersten Grenzen dieser trotz allen Kunstaufwandes gänzlich ungekünstelten Veranstaltung, die 'Time of the Gypsies' heißt.

Wenn man von diesem Film sagen kann, dass seine Bilder und Töne im Gedächtnis überdauern werden, so liegt dies daran, dass sie nicht frei flottieren, sondern eine menschlich und gesellschaftlich definierte Basis haben. Regisseur Kusturica, der neun Monate lang mit den slowenisch-kroatischen Roma zusammenlebte und in dieser Zeit mit den Laiendarstellern dokumentarisches Material drehte, brauchte anschließend noch einmal sechs Monate, um in der Film-Montage die Struktur der Inszenierung zu finden. Doch 'Time of the Gypsies' blieb – je überschießender, desto wahrer – die Geschichte der Zigeuner aus Kusturicas Geburtsstadt, über die die Zeitungen berichtet hatten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 08/1991

Tierische Liebe

(AT 1995, Regie: Ulrich Seidl)

Blick in die Hölle
von Dietrich Kuhlbrodt

Feinrippunterhemd, Turnhose und Socken, so sitzt rechts auf dem Sofa der Schlecker-Peter, der so heißt, weil er Wiens Spitzenmann für Cunnilingus ist. Allerdings hat er grade den Telefonhörer am Ohr …

Feinrippunterhemd, Turnhose und Socken, so sitzt rechts auf dem Sofa der Schlecker-Peter, der so heißt, weil er Wiens Spitzenmann für Cunnilingus ist. Allerdings hat er grade den Telefonhörer am Ohr und nimmt den Telefonsexservice in Anspruch. Links auf dem Sofa ödet sich ein mittelgroßer Köter zu Tode. Die Hinterbeine hat er auseinander geklappt, so kann er das Genital der Kamera weisen. Letztere dokumentiert einwandfrei ihren eigenen subjektiven Blick auf eine Szene, die unschwer als floride Beziehungskrise beschrieben werden kann. Hierfür wäre eigentlich die uns allen sattsam bekannte Filmgattung der Beziehungsdramen und – komödien zuständig, um uns sofort mit Filmdialogen vollzulabern. Wie man einsehen wird, fehlt es den Wiener Heimtieren jedoch an der Möglichkeit, sich verbal zu artikulieren.

Was ein Segen ist. Weil der begnadete Wiener Dokumentarist Ulrich Seidl jetzt tun kann, wofür er berühmt ist, nämlich dem Bildermedium geben, was des Bildermediums ist: Mit dem unterschwelligen Affekt des Einverständnisses inszeniert er, wie der Mensch es mit dem Tier treibt. Seine Selbstdarsteller kommen erfreulich schnell zur Sache, auch wenn Stefanie Renée Felden, die Ex-Schauspielerin, erst ein Schaumbad nimmt, bevor sie mit ihrem Husky ins Bett steigt und liebevoll seinen Bauch streichelt. Dann geht sie dem Tier an die Eier, aber grade noch rechtzeitig: Schnitt!, und das verstehen wir, weil wir den Film ja im Kino sehen wollen.

Moralisch ist er insofern, als er voller Liebe ist und der Inszenator Ulrich Seidl sozusagen im herzlichen Einverständnis mit auf der Couch oder gar im spitzenbezogenen Himmelbett sitzt. Mondo cane ist weit weg, niemand wird verraten, wir sind erfolgreich Komplizen, der Film kommt nah, sehr nah. Bloß Werner Herzog bekam einen metaphysischen Schock: 'Noch nie habe ich im Kino so geradewegs in die Hölle geschaut', bekannte er nach dem Besuch der 'Tierischen Liebe', dann setzte er seinen düster umflorten Blick auf und reiste zu Filmaufnahmen ins ferne Mexiko. Wieder eine dieser Fluchten, bloß weil er nicht bringt, was doch der Husky auf dem Satinlaken mit Leichtigkeit vorführt: sich die eigenen Genitalien lecken. Aber er hätte doch ohne weiteres Zungenküsse tauschen können, mit dem großen struppigen Schmusehund, hier in Wien, im Abbruchhaus auf dem Gelände des ehemaligen Verschiebebahnhofs, hinter den hunderttausend alten Autoreifen, die auf den Abtransport nach Albanien warten.

Franz Holzschuh, jung, Bettler, braucht im kalten Winter was sehr Warmes. Er, ein Weglegekind, im Mistkübel gefunden und in Erziehungsheimen groß geworden – Franz Holzschuh also, so hören Sie doch, lieber Werner Herzog, hat Ambitionen und Visionen. Er träumt von der Liebe, und die Himmelsmacht machte es wahr, nur das Objekt hat gewechselt. Seit mehr als einem Jahr, aber das ist jetzt ein Nachtrag zum Film, lebt er als Lebensabschnittsgefährte mit der Filmassistentin der 'Tierischen Liebe' zusammen, Eva Roth. Das ist zum Mitfühlen, aber bevor einem die Tränen kommen, wollen wir des Stadtstreicherkollegen Erich Wögerer gedenken, der mit Franz Holzschuh ein 'symbiotisches Verhältnis' eingegangen war, wie uns Ulrich Seidl versichert hat. Jetzt muß Kellerratte Wögerer allein betteln gehen, während der Kumpel aus der Unterschicht aufgestiegen ist. Geht das in Ordnung? Durfte die Dokumentaristin eingreifen? – Wir geben ihnen ein weiteres Jahr und werden in der Septembernummer 1997 berichten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 09/1996

Das Vaterspiel

(D / AT / F 2008, Regie: Michael Glawogger )

Daheim bei Opa Judenkiller
von Dietrich Kuhlbrodt

Kill Daddy, online vertrieben, wird zum Hit. Ausgetüftelt hat das Computerspiel der autistische junge Ratz (Helmut Köpping), Sohn eines sozialdemokratischen österreichischen Ministers. Damit jeder virtuell gewaltbereite Sohn den Hass auf …

Kill Daddy, online vertrieben, wird zum Hit. Ausgetüftelt hat das Computerspiel der autistische junge Ratz (Helmut Köpping), Sohn eines sozialdemokratischen österreichischen Ministers. Damit jeder virtuell gewaltbereite Sohn den Hass auf den eigenen Pappa ausleben kann, kann er das Opfergesicht durch die Fresse des eigenen Vaters ersetzen, und ab geht’s, die Vatermutanten werden öffentlich massakriert, mitten im Straßenverkehr. Super. Auf der großen Leinwand auch.

Nun ist es so, dass Michael Glawogger, Megadokumentar- („Workingman’s Death“) und Spielfilmer („Contact High“, „Slumming“), einen 600-Seiten-Roman von Josef Haslinger verfilmt. Und damit wird es einerseits komplex. Andrerseits ist als Megalob zu sagen, dass man davon nichts merkt. Nichts Papierenes am Film. Dafür fleißig experimentellen Wagemut, freilich nicht moralischen. Denn es versteht sich, wenn neben den üblichen verdächtigen Filmförderern auch Arte, ORF, WDR, Degeto dabei sind, dass man zu Gewaltcomputerspielen mehr sagen muss. Sehr viel mehr. Diese Aufgabe übernimmt in einer Parallelhandlung, die zunächst unbegreiflich eingeschnitten wird, Ulrich Tukur, überlebender Jude aus Klaipeda/Memel. Und einziger Belastungszeuge in einem Ermittlungsverfahren zur Verfolgung von Judenprogromen in Lettland während des Krieges. Tukur sitzt in einem Vernehmungsraum der Zentralen Stelle zur Verfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Ludwigsburg. Fast emotionslos, die Kamera unbeweglich, und erzählt von einer Gewalt-Realität in Lettland, die man mit Kill your jews übersetzen könnte. Einer der Täter ist in Manhattan untergetaucht. In einem Keller. Gewalt-Spieler Ratz lernt ihn 1999 kennen.

Und nun? Vaterhass funktioniert nicht. Der Judenmörder ist von der Großvatergeneration. Mit der hat der junge Ratz keine Schwierigkeit. Außerdem leidet der alte Herr an einem Isolationssyndrom der autistischen Art. Kommunikationsunfähig. Damit kennt sich der Ministersohn aus. Die beiden kommen sich näher. Am Ende reden sie. „Ja, ich war der Mann am Maschinengewehr. Ich habe getötet. Das war meine Überzeugung“, sagt Opa Judenkiller. Töten ist menschlich, werden wir belehrt. Da wird der Daddykiller, der sein Enkel sein könnte, aber doch nachdenklich. Er versucht sein Gewaltspiel vom Online-Markt zu nehmen. Zu spät! Er hat die Rechte nicht mehr! Aber der gute Wille zählt. Außerdem ist Weihnachten, das Fest des Friedens. Die beiden Gewaltigen im Keller machen der Jingle-Bells-Puppe den Garaus und legen eine schön altmodische 33er Platte auf. Die Pastorale. Grad recht zur Adventszeit startet der Film „Das Vaterspiel“.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 11/09

Strajk – Die Heldin von Danzig

(D / P 2006, Regie: Volker Schlöndorff)

Geschichte wird gemacht
von Dietrich Kuhlbrodt

Filmautorin Silke Rene Meyer hat herausgefunden, wer es gewesen war, der, als der Streik der Werftarbeiter auf der Kippe stand, zum Kampf motivierte – und zur Gründung der Gewerkschaft Solidarnosz. …

Filmautorin Silke Rene Meyer hat herausgefunden, wer es gewesen war, der, als der Streik der Werftarbeiter auf der Kippe stand, zum Kampf motivierte – und zur Gründung der Gewerkschaft Solidarnosz. Lech Walesa? Nein, eine Frau war es gewesen, vor kurzem noch unbekannt: „Wer ist Anna Walentynowicz?“ (Dokumentarfilm von 2000). Jetzt, im Spielfilm von Volker Schlöndorff, heißt sie Agnieszka, und Katharina Thalbach leiht ihr ihr Gesicht, repräsentativ. Das Drehbuch wurde „in permanenter Rückkopplung“ mit Polen entwickelt (Produzent Professor Haase). Dreißig Jahre lang ist die Nahtschweißerin Heldin. 1970 Heldin der Arbeit. 1980 Heldin des Streiks in Danzig. Im Jahr 2000 geht sie heldenhaft am Stock. In Polen gibt es freie Wahlen, „doch Ungerechtigkeit gibt es noch immer“. Lech Walesa spielt eine Rolle am Rande. Er reagiert auf schmutzige Politik. Unsere Heldin aber agiert. Sie hat das Herz auf dem rechten Fleck. Sie ist resolut und gläubig.

Vor dem Monitor kniet sie und bekreuzigt sich. Karol Wojtyla, der neue Papst ist in Polen! Die Polen sind Papst! Paul Johannes II. betet im staatlichen Fernsehen: “Komm über uns, Hl. Geist, und wende das Antlitz dieser Erde zu.“ Erfüllt mit geistlicher Nahrung eilt die Heldin zur Werft und motiviert die zögerlichen Arbeiter: „Der Papst hat gesagt, wir brauchen die Solidarität der Menschenherzen“. Letztlich also war es der polnische Papst, der Solidarnosz gegründet hat. Wir wissen es jetzt, dank Schlöndorffs rückgekoppeltem Film, und wir können die Heldin, die hl. Agnieszka, verehren.

Solidarnosz wie es wirklich war. Um aufkeimende Zweifel zu beseitigen, legitimiert der Film seine Fiktionen durch zahlreiche dokumentarische Sechs-Sekunden-Einschnitte. Wir sehen sogar Brandt im Warschauer Getto knien, und bitteschön, das weiß jeder, dass er das tat. Allerdings fehlt eine solche Beglaubigung für die Wunder, die der Heiligen von Danzig widerfahren sind. Wir beten in der Bibel zur Gottesmutter: gebenedeit sei die Frucht deines Leibes. – „Du bist die Frucht dieser Liebe“, klärt Mutter Agnieszka ihren ungläubigen Sohn auf, und da es wir auch nicht vorher wussten, wissen wir es jetzt: Vater des Kindes ist nicht etwa Joseph, sondern Lech Walesa! Das ist eines frommen Spielfilm-Traktates würdig. Doch es kommt noch wunderlicher. „Ich hab Krebs“, seufzt sie, völlig am Boden. Dann die Nachuntersuchung. Die Ärzte, am Boden zerstört, sind fassungslos. Der Krebs ist weg, einfach weg, und dafür gibt es weder eine medizinische noch sonstwie eine naturwissenschaftliche Erklärung. „Freuen Sie sich“, fällt dem Chefarzt noch ein, säuerlich lächelnd. Sie, die auf der Stelle genas, stand auf und wandelte zum Vater ihrer Leibesfrucht, „einer Persönlichkeit ähnlich der des Papstes“ (Walesa-Darsteller Andrzej Chyra). Und wieder orgelt es hoch, das erbauliche Großorchester des Jean Michel Jarre. Er hatte schon 1986 dem Papst persönlich vorgespielt. Und wenn zum Schluss des Films dokumentarisch die Mauer fällt, dann wissen wir auch dies: diese unsere deutsche Einheit haben wir dem hl. Geist, der hl. Agnieszka sowie den Päpsten Paul Johannes II. und Lech Walesa zu danken. Amen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 03/2007

Cosmopolis

(KAN / F 2012, Regie: David Cronenberg)

Einsteigen zur Aussprache
von Drehli Robnik

Ein junger Börsen- und Powerbroker will partout am anderen Ende Manhattans zum Friseur, während antikapitalistische Massendemonstrationen (bei denen riesige Rattenpuppen als apokalyptisches Sinnbild fungieren), ein attentatsbedrohter Präsidentenkonvoi und der Begräbniszug …

Ein junger Börsen- und Powerbroker will partout am anderen Ende Manhattans zum Friseur, während antikapitalistische Massendemonstrationen (bei denen riesige Rattenpuppen als apokalyptisches Sinnbild fungieren), ein attentatsbedrohter Präsidentenkonvoi und der Begräbniszug eines Sufi-Rappers die Straßen blockieren. Also fährt sein Chauffeur und Leibwächter ihn im Schritttempo und mit mehreren Stopps in der Limousine durch die Stadt; ständig steigt jemand für ein paar hundert Meter und Worte zu ihm in die Limousine ein (etwa Jay Baruchel als sein IT-Experte, Juliette Binoche als Kunsthändlerin und gierige Geliebte, Samantha Morton als philosophisch gestimmte Spekulationsberaterin).

'Cosmopolis' basiert auf dem 2003 erschienenen gleichnamigen Roman von Don DeLillo. Den Stationenlaufstoff hätte ein John Carpenter vielleicht als Actiongroteske im urbanen Indianerland verfilmt (nach Art seiner 'Escape'-Filme etwa). David Cronenberg hingegen – der das Regiehandwerk ebenfalls um 1970 mit SciFi- und Horrorfilmen begann, die allerdings noch weit konzeptueller angelegt waren – situiert das unberechenbare Raubtier im Inneren des Fahrzeugs und gestaltet den Umweg zum Haircut als Shortcut, im doppelten Sinn. Einerseits genügt 'Twilight'-Star Robert Pattinson in der Milliardärsrolle, um dem Regisseur neue, jüngere Zielgruppen zu erschließen – wenn auch nur kurzfristig, so doch über jene Strahlkraft und Breitenwirkung hinaus, die vom vormaligen 'Lord of the Rings'-König Viggo Mortensen in Hauptrollen der letzten drei Cronenberg-Filme ausgegangen war. (Für Pattinson in seiner anhaltenden Romanzenrollenbindung wird 'Cosmopolis' wohl einen jähen, riskanten Befreiungsschlag bedeuten, und er wechselt nun vom Vampir-Ethos des Dauerverzichts in den blass-schlaffen Habitus von einem, der von allem zu früh zuviel kriegt. Blutsaugersymbolik – geschenkt!)

Anderseits scheint Cronenberg einem später zugestiegenen Publikum eine Art Schnelldurchlauf durch das Repertoire seiner bisherigen Standardmotive zu bieten: der diskursanalytische Blick auf Kapitalmachtpraktiken und New Age-Hoffnungen; das Sich-Verstricken körperlicher Intimität in Endlossprachspiele (solche der Kunst, der Sucht, der Technologie, der Medizin, letzteres hier in Form einer privatärztlichen Rücksitzuntersuchung an Pattinsons Prostata, die sich als so asymmetrisch erweist wie weiland die Gebärmutter der Heldin von 'Dead Ringers'); ein Kopfschuss als (narrativ kompliziert konstellierter) Handlungsfluchtpunkt; ein Abbruchhaus als Tempel eines nur halb verständlichen Rituals; ein Auto als in aller Enge geräumiges Habitat voller Screens, Flüssigkeiten und Eigengeruch. (Und auch was die Verweigerung – oder Verhunzung? – einschlägiger Reize von Massenszenen betrifft, bleibt Cronenberg seiner Linie treu: Die Rattenattrappenmassendemos von 'Cosmopolis' stehen der Karikatur einer Pariser Mai-Straßenschlacht in 'M. Butterfly' in nichts nach.)

Zirkus Crones Greatest Hits – aber so, dass es alle Fans verstören wird, die aus Team Edward wie auch die aus Team David. Das haltlose Drauflosreden über Revolutionsapokalyptik, Referenzverlust des Geldes und die zwischen Kunstsammeln und Lebensmüdigkeit gähnenden Sinnkrisen der Reichen, das ist einfach extrem prätentiös; es schlägt etwa das Ennui- und Existenzialexperiment-Gehauche von 'Crash' um Längen, und es hat auch seine Längen, die fast schon atemberaubend und selbstwerthaft anmuten (der beinah halbstündige antiklimaktische Dialog zwischen Pattinson und Paul Giamatti am Filmende ist schlicht jenseitig). Das wird sich in Form von Verzweiflung auf Teenieblogs niederschlagen. Hingegen können Cinephile und viele, die glauben, der Kapitalismus sei erst durch seine jüngste Finanzkrise zur gesellschaftsbestimmenden Macht geworden, sich das mitunter wie eine Spätachtziger-Retro-Version von Cyber-Postmodernismus anmutende Gerede (Medienguru Professor Brian O’Blivion aus 'Videodrome' lässt grüßen, nicht zuletzt per Limousinenscreen) schönsaufen, indem sie, wie in Besprechungen von 'Cosmopolis' zu lesen, die Romanvorlage als 'prophetisch' und den Film als im emphatischen Sinn 'of our time' hinstellen. Nun ja. Dass wieder mal eine Krise kommen wird, dass Geld eigenlogisch und Krawall vorprogrammiert ist, sich das zu denken, bedarf es einer Art von Oberschlauheit, die durch die Metaphernakrobatik in den rezitierten Romandialogen von 'Cosmopolis' eh gut bedient wird. Ähnliches gilt für den Aha!-Konnex zwischen den Jackson-Pollock-artigen Farbspritzern im – wie so oft bei Cronenberg – abstrakt-graphistischen Vorspann und dem Auftritt von Mathieu Amalric als durchgeknallter Aktivist, der das 'Torten' von Finanzmagnaten und Politikern als Action Painting unserer Zeit apostrophiert. (Andererseits: Auch die im Rückblick liebenswertesten Eros-Erkrankungs-Filmdiagnosen eines Antonioni hatten ihre kunststil-, entfremdungs- und tauschabstraktionspädagogischen Momente, bei deren Bedeutsamkeit es dir die Schuhe auszieht.)

Für jene, die sich (wie ich) als Fans von Cronenberg immer wieder gut bedient und zwischendurch auch kurzfristig mal verarscht fühlen, ist der Bildungsmüll-Sprechdurchfall von 'Cosmopolis' eine zwiespältige Angelegenheit. Nicht dass Cronenbergs Filme nicht seit jeher ausgesprochen redselig gewesen wären: Das reicht von seinem Debüt 'Stereo' (1969), dessen monaurale Tonspur fast nur aus der voice over eines Klinikexperimentberichts bestand, über 'The Fly' (1985), dessen Handlung der Regisseur auf Anfrage einmal mit 'two people in a room, talking' beschrieb, bis zu seinem vorigen Film 'A Dangerous Method' (2011), einem Sprechstück über Autorität, Begehren und Projektionen aus den Anfängen der Psychoanalyse. (Sarah Gadon, die damals C.G. Jungs Gemahlin verkörperte, ist in 'Cosmopolis' als die jungvermählte Frau des Brokers zu sehen, die sich auf einigen Zwischenstopps zu sinnierenden Gesprächen mit ihrem Mann trifft. In 'Antiviral', dem Langfilmdebüt von Cronenbergs Sohn Brandon, spielt sie 2012 eine Hauptrolle.) Allerdings: In 'A Dangerous Method' ging der Anspruch der Sprechakte in die Richtung, den Spieleinsätzen der jeweiligen Zugänge von C.G. Jung, Sabina Spielrein und Sigmund Freud zum Wissenstypus und Ethos der Psychoanalyse im Format eines rührenden Beziehungsdramas gerecht zu werden, eben bis in die scharf konturierten Rededuelle hinein. (Man konnte da, schlicht gesagt, auch etwas draus lernen, und das ist nichts Schlechtes.)

Dem gegenüber frönt 'Cosmopolis' eher einer Verschwendungsökonomie der großen Worte, die folgerichtig in Entleerung mündet; solch nihilistischer Gestus – verwandt etwa jenem, mit dem 'Crash' Sexszenen bis zur Trockenlegung aller Spielfilm-Erotik akkumulierte – hat auch sein Gutes: Der Anspruch, durchs schauspielerisch-leiblich und im Alltagserfahrungsmilieu sorgfältig verkörperte Reden ließe sich eine phänomenologische Wahrheitstiefe in Sachen Wirtschaftspsychologie, Unternehmensgruppendynamik oder Karrieremoral erreichen, ein Anspruch, wie ihn zuletzt das Finanzkrisenkammerspiel 'Margin Call' erhoben hat, der wird hier beherzt fahrengelassen. All der Feuilletontalk mutiert – vermischt mit dem Flirrgitarrenambientscore von Howard Shore und der kanadischen Rockband Metric –, zu einer Art verbaler Soundscape, noch dazu in der bis zur Unbehaglichkeit im Kinosaal forcierten, äußerst ungewöhnlichen Sterilität der akustischen Atmosphäre in der gepanzerten, getönt verglasten und vor allem total schallisolierten Limousine, in deren Innenraum – alle Blasen- und Blasiertheitsmetaphorik von vornherein kurzschließend – die Hälfte des Films spielt. Ach, wie tot das tönt! Das ist Spaßverderberei auf hohem Niveau!

Es war wohl einfach wieder mal Zeit für einen Schuss ins eigene Knie auf offener Regielaufbahn. 'Crimes of the Future' (1970), 'Fast Company' (1979, ein Actiondrama über dragracing, das ebenfalls viel aus dem Daueraufenthalt im Autombil macht), 'M. Butterfly' (1993), 'Spider' (2002): Alle zehn Jahre macht Cronenberg einen Film, der ist genuin unwatchable – und das am besten mehrmals.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Die Liebenden

(F / GB / CZ 2011, Regie: Christophe Honoré)

Leichtsinn, Hochmut, Lust und Wut
von Wolfgang Nierlin

Alles beginnt mit Schuhen. Zu der von Eileen gesungenen französischen Version des Nancy Sinatra-Songs „These Boots Are Made For Walkin’' gehen sie an den Füßen ihrer eleganten Trägerinnen in Großaufnahme …

Alles beginnt mit Schuhen. Zu der von Eileen gesungenen französischen Version des Nancy Sinatra-Songs „These Boots Are Made For Walkin’' gehen sie an den Füßen ihrer eleganten Trägerinnen in Großaufnahme durchs Bild. Ein besonders exquisites Paar, vom erfindungsreichen Roger Vivier für Christian Dior entworfen, hat die junge Schuhverkäuferin Madeleine (Ludivine Sagnier) eben geklaut, um nach Feierabend als Gelegenheitsprostituierte potentielle Freier zu verführen und ihr „Taschengeld“ aufzubessern. So zumindest lautet die „elterliche Legende“, wie ihre Tochter Véra (Chiara Mastroianni) im Rückblick erzählt. Als Madeleine bei einem ihrer Liebesdienste den tschechischen Arzt und Endokrinologen Jaromil Passer (Radivoje Bukvic) kennen lernt, ist es um sie geschehen. Sie heiratet, folgt ihrem leichtlebigen Ehemann schweren Herzens nach Prag und bringt im Jahre 1965 ihre Tochter Véra zur Welt, deren Aufwachsen der Film über wechselnde Schuhgrößen vermittelt.

In warmes Licht und cremige Farben taucht Christophe Honoré das Leben und die Liebe seiner Protagonisten. Mit leichter Hand und romantisierender Note erzählt er in seinem Musical „Die Liebenden“ („Les bien-aimés') von individuellen Aufbrüchen in einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche; und er entfaltet dafür eine kunstvoll gestaltete Chronik komplizierter Liebesverhältnisse, die einen Zeitraum von über vierzig Jahren umfassen. Aus wechselnden Perspektiven und zu ebenso wechselnden Zeitpunkten, an Schauplätzen in Paris, Prag, London, Montreal und Reims entsteht ein Panorama des modernen Beziehungslebens, in das Honoré, von Jacques Demy inspiriert, immer wieder melodramatische Gesangseinlagen seiner Liebeskranken setzt. „Ich kann nicht leben, ohne dich zu lieben“, singt etwa Madeleine, als sie im Jahr des Prager Frühlings von ihrem treulosen Mann betrogen wird und sich daraufhin von ihm trennt.

Damit ist das letzte Wort über dieser Beziehung, deren Partner in späteren Jahren von Catherine Deneuve und Milos Forman gespielt werden, aber noch nicht gesprochen. Schließlich zählt Jaromil zu beider Tugenden neben Leichtsinn und Hochmut, auch noch Lust und Wut. Und weil der Apfel nicht weit vom Stamm fällt, wie es in einem der Chansons heißt (oder auch: „Wie die Mutter, so die Tochter.“) ergeht es ihrer Tochter Véra in den Wechselfällen ihres Liebesverlangens kaum besser. Im Gegenteil: Während die Zeit vergeht und die Jugend endet, sie ihren Freund und Lehrer-Kollegen Clément (Louis Garrel) provozierend unbekümmert betrügt und dann irgendwann aufgibt, löst die Begegnung mit dem homosexuellen amerikanischen Rockmusiker Henderson (Paul Schneider) jenes große, geradezu ausschließliche und deshalb tragische Gefühl in ihr aus, das ihr schließlich zum Verhängnis wird: „Ohne deine Liebe kann ich nicht leben“, lautet die entscheidend abgewandelte Version ihres Liebesleids.

Ted

(USA 2012, Regie: Seth MacFarlane)

Wie Mutti Kunis dem Wahlberg einen Bären gebar
von Drehli Robnik

Hallo, Hollywoodsommerkonzeptkomödie zum Thema Unvernünftig-Bleiben! In diesem Format brachte der Vorjahrserfolg von 'Bridesmaids – Brautalarm' etwas Gendergleichberechtigung in Sachen Nicht-ganz-dicht-sein-Dürfen (im Kopf und auch sonst). Nun kommt 'Ted', das heißt: …

Hallo, Hollywoodsommerkonzeptkomödie zum Thema Unvernünftig-Bleiben! In diesem Format brachte der Vorjahrserfolg von 'Bridesmaids – Brautalarm' etwas Gendergleichberechtigung in Sachen Nicht-ganz-dicht-sein-Dürfen (im Kopf und auch sonst). Nun kommt 'Ted', das heißt: Es regieren wieder die Buben; und die müssen alles dürfen.

Auch mit Ende dreißig hält man an Jugendritualen und Kindheitshelden fest: Kiffen, Schweinigeln, Couchsurfen, Endlosfernsehen, alte Rockhits, alte Filme – zumal der 'Flash Gordon' von 1980, dessen Queen-Soundtrack und 'Star' Sam J. Jones hier einige gediegen phrasierte Retromomente feiern. Alltag als Konsumerinnerungsverkultung: 'Ted' exerziert das durch, sanft satirisch, sprich: propagandistisch, jedenfalls anbiedernder als es in rezenten einschlägigen Komödien mit Seth Rogen bzw. von Judd Apatow geschehen ist, im Wechsel zwischen obsessivem Kindergauben und einer ebenso obsessiven sarkastischen Desillusionierung, die uns wieder, öh: runterholt (Kennt man ja aus 'Shrek'.).

'Ted' will noch mehr: Der Titelheld ist ein – digital animierter – dauergeiler Plüschbär; wie der zum quasi-menschlichen ewigen Intimfreund des von Mark Wahlberg dargestellten (quasi-)menschlichen Helden wurde, das tut wenig zur Sache bzw. fällt in die Kategorie 'Kindergaube' (in einem Frühachtziger-Weihnachts-Intro, dessen sich selbst penetrant desavouierender Märchenonkelkommentar von Patrick Stewart gesprochen wird). Wie Ted sich benimmt, das fällt in die Kategorie Desillusionierung: Er spricht, säuft, kifft und steht so zu seinem ewigen Lebenspartner in einer Beziehung der Verdoppelung bzw. Verkörperung. Soll heißen: Ted ist zwar etwas kleiner und pummeliger als der von Wahlberg gespielte Autoverleihangestellte und Underachiever (und meistens nackt), aber sonst ganz gleich wie er, sein Double und Gegenüber, zugleich die plüschige Inkarnation dessen, was an dem Mann nicht Mensch ist, sondern ein exzessiver Identitätskern, ein Bär als ein Mehr, das hier eher ein Weniger ist, der Hardcore eines verendlosigten Bub-Bleibens – und eben Nicht-Eintretens in die Wechselseitigkeiten bürgerlicher Erwachsenheit. (Mit oder zwischen Deleuze, Agamben und Žižek gesagt: Das Bub-Bleiben im Medium des Antiautoritär-Bär ist die genderhegemonial hässliche Seite eines posthumanen, postpatriarchalen Tier-Werdens.)

Ted ist, was die Leute wollen, und die, die alles dürfen, was sie wollen, sind notorischerweise die Buben. Dies ist ein Retro-Film, und gegenwärtig retrokulturell bespielte Buben aus der Altersgruppe des Buben aus 'Ted' (oder etwas älter) erinnert dieser Kurzname weniger an einen Teddybär – und schon gar nicht an jenen US-Präsidenten (den ersten, weniger berühmten Roosevelt), nach dem der Legende nach das Stoffspielzeug international benannt wurde –, sondern eher an ein anderes Jugendmaskottchen namens TED, an den 'Tele-Dialog', mit dem die Fernsehshow 'Wetten, dass…?' (vormals: 'Wetten, daß…?') in den späten 1980er Jahren Geschmack und Wollen des Publikums in Sachen Wettkönig des Abends live und interaktiv ermittelte, unter Anleitung von Mastermind Frank Elstner, der später von dem auf Lebenszeit praktizierenden Buben-Ideologen Thomas Gottschalk abgelöst wurde, so wie der TED (damals der Gipfel der Tele-Demokratie, quasi der Wahl-Berg) später vom Web Zweinull. Und so wie übrigens Ted, also der aus der Hollywoodkomödie, wohl bald – in der Disziplin 'Bestückung von Büropinwänden und -screens mit triebgesteuert amoralisch sprücheklopfendem Flauschgetier' – Garfield ablösen bzw. dessen Weltherrschaftserbe antreten wird.

Bei der ostentativ tiefen Redseligkeit des Bären im Verbund mit dem plötzlich unter Leistungs- und Beziehungsdruck (es geht um eine heterosexuelle Beziehung zu einer Frau aus Fleisch und Blut, nicht Plüsch) gestellten Helden, beim Konzept von 'Ted' also, da ist auch 'Der Biber' mit im Spiel – mehr als nur ein herber Hauch des Titelplüschwesens aus der gefloppten, hochgradig eigenwilligen Mel Gibson/Jodie Foster-Groteske 'The Beaver' (2011) mit im Spiel. (Jetzt keine Wortspiele mit Justin oder der englisch-umgangssprachlichen Bedeutung dieses Worts – beides ist im Bubenkontext zu sehr aufgelegt.) Naja, und 'Alf' ist da wohl auch mit drin, aber auf dessen Vorbildfunktion weist der Dialog von 'Ted' eh mit pflichtschuldigem Augenzwinkern hin. Wer aber wollte die Mastermind-Funktion des für die TV-Serie 'Family Guy' renommierten Seth MacFarlane in Frage stellen? Der hat den Ted gesprochen und den Film inszeniert; in seiner Regie steuert Walter Murphy (der einst Beethovens Fünfte im Discosound verjazzte) einen gepflegten Swing-Score bei, und ein gaudiger Cast spielt durchwegs stark auf.

Viele der – auf Ethnizität (sowie Antisemitismus), Arbeitswelt und Körperausscheidungen fokussierten – Gags sitzen; viele auch nicht. Der Kurzauftritt von Norah Jones als herself bzw. Teds Fuckbuddy hat was; die vielen Promi-Namedrop-Injokes haben nix. Wenn Ted gefragt wird, wer der fettleibige stoppelglatzige Knabe hier im Raum ist, und er erwidert: 'That‘s Sinead O‘Connor. She don‘t look so good no more,' dann ist das billig (oder bärig). Wenn eine Fantasiesequenz lang der Wahlberg-character an seinen ersten Tanz mit seiner Freundin zurückdenkt und sich in die Rolle des Kapitäns in weißer Galauniform aus der Disco-Szene in 'Airplane!', der Großmutter aller Genreparodien (aus demselben Jahr wie 'Flash Gordon'), hineinimaginiert, eine Szene, die ja ihrerseits schon parodistische Paraphrase einer John Travolta-Tanzszene aus 'Saturday Night Fever' war – dann ist auch das billig, aber von einer Art, die hirnsausenmachend, weil völlig direkt und zugleich potenzierend ist, das Reenactment eines Reenactment, Parodie einer Parodie. Jedenfalls schlägt es die Retro-Traumszenen von Wahlbergs Mit-Surfen mit Flash (Gordon) in den wackeligen, aber ernst gemeinten Bildern des von ihm verehrten Films um Längen.

Das Finale läuft dann zunächst nach 'Toy Story'-Manier ab: Ted wird entführt, im Showdown auf einem Turm im Sportstadion zerfetzt und ist eigentlich schon so gut wie tot. Die nachfolgende Heilungsszene ist die endgültige Demontage dessen, was dem Bären-Buben in die Quere seines selbstverdoppelnd-narzisstischen Allmachtsphantasmas kommen könnte – nämlich der Frau, insofern sie Reiz auf und dadurch Macht über ihn ausüben könnte. Die ihre ganze Beziehung – zumindest den ganzen Film – lang von Ted genervte, aber doch vieles engelsmütig verzeihende Freundin des Helden muss dessen Bären wiedergebären; anders lässt sich die Szene von Teds Wiederbelebung auf einer Art OP-Tisch, bei der nur die Frau ihr lebensspendendes Wunder wirken kann (sie näht ihn zusammen!), aus dem dann eine Kernfamilie mit ein bis zwei Kindern hervorgeht, kaum verstehen. (Jedes andere Verstehen wäre sozusagen eine krampfhafte Überinterpretation.) Obwohl von Mila Kunis gespielt, soll die Freundin schlussendlich gerade nicht als attraktiv, sondern als alles schmunzelnd gewährende Pflegerin definiert sein und das Kind retten – das plüschige ihrer duldsamen Liebe wie auch das innere ihres Nicht-Mannes. Da zeugt es von einer fast genialen Form ironisch-impliziter Filmreferenz, dass die Hauptdarstellerin aus 'Flash Gordon' in 'Ted' nicht auftritt, obwohl sie aussieht wie Kunis als Omi und ihr Nachname für diesen stellenweise entbärlichen Film fast Programm sein könnte: Ornella Muti.

Töte mich

(D / F / CH 2012, Regie: Emily Atef)

Flucht vor dem Anfang
von Ricardo Brunn

Ein Mädchen steht an der Klippe und springt nicht. Weil sie sich für den Tod des Bruders verantwortlich fühlt, will Teenager Adele (Maria Dragus) ihrem Leben ein Ende setzen. Allein, …

Ein Mädchen steht an der Klippe und springt nicht. Weil sie sich für den Tod des Bruders verantwortlich fühlt, will Teenager Adele (Maria Dragus) ihrem Leben ein Ende setzen. Allein, es fehlt der Mut. Glücklich deshalb der Umstand, dass der entflohene Mörder Timo (Roeland Wiesnekker) zufällig im Haus der Eltern Adeles Schutz sucht und das Mädchen ihn sogleich darum bittet, sie von ebenjener Klippe zu stürzen. Timo, verwirrt, aber ganz Mann der Stunde, nimmt Adele erst einmal als Pfand und verspricht, sie in Frankreich (immer noch das beste Land, um sich als entflohener Sträfling abzusetzen, solange der Film nicht von einem anderen Staat koproduziert wird und deshalb dort gedreht werden muss) freizulassen und umzubringen, bevor er sich selbst nach Afrika absetzt.

Vollkommen gleich wie absurd konstruiert die Ausgangssituation in Emily Atefs neuem Film „Töte mich“ auch erscheinen mag, solange dieser Beginn in ein Geschehen aufgeht, seine Künstlichkeit nach und nach verblasst und schließlich in Vergessenheit gerät, sollte alles möglich sein. Und tatsächlich ist der Plot bemüht, sich zumindest geografisch vom Anfang zu entfernen, indem die für Road-Movies typischen Und-dann-Stationen konsequent aneinandergereiht werden. Da wird sich verlaufen, Nahrung ergattert, im Wald geschlafen. Zwingend ist das Ganze dabei selten, weil Nebenfiguren und Orte austauschbar bleiben und keine spürbaren Auswirkungen auf die Beziehung der beiden Protagonisten mit sich bringen. Aber egal, Hauptsache erst einmal weg vom Anfang, bloß nicht mehr dran denken, was da war mit der Selbstmörderin und dem Mörder, in der Hoffnung, es wird am Ende „diesen Moment, in dem es begann, nicht gegeben haben.“ (Antje Ravic Strubel)

Dumm nur, dass genau das nicht geschieht, dass der Anfang atlasschwer auf dem restlichen Film liegt und zum Gefängnis für die Figuren und die Dramaturgie wird, bis die Logik der Erzählung in sich zusammenbricht. Mit jeder neuen Szene wird die vorhergehende unweigerlich in Frage gestellt, weil die alchemistischen Versuche, den künstlichen Anfang zu überwinden oder zu plausibilisieren, in peinlichen Erklärungsnöten der Regisseurin münden, sie dabei immer nur auf die Ausgangssituation zurückgeworfen wird und ihre Figuren vollkommen aus den Augen verliert.

Diese stolpern in der Folge nicht nur planlos durch Wiesen und Wälder, bis jede Glaubwürdigkeit dahin ist, sondern auch durch die kantig herben Dialoge, die in ihrer Einsilbigkeit eigentlich nur für einen prädestiniert sind: Bruce Willis. So sehr sich Hauptdarsteller Roeland Wiesnekker auch bemüht, seinen laienhaft dahingesagten Sätzen doch noch Leben einzuhauchen, er scheitert am eigenen Talent genauso wie am Drehbuch und der Tatsache, dass er eben nicht Bruce Willis ist. Daneben rätselt sich die junge Maria Dragus von einem nichts sagenden Gesichtsausdruck zum nächsten, einfach weil sie nicht weiß, wie Todessehnsucht mimisch zu fassen sein könnte und das Drehbuch ihr auch keinerlei Raum bietet, dieses Gefühl in physische Aktionen zu übersetzen. Da ändert auch die lehrbuchartige Maskulinisierung der Hauptfigur gegen Ende des Filmes wenig. Diese bleibt ein dramaturgisches Mahnmal. Ein verzweifelter Versuch, den vernachlässigten Figuren doch noch eine Entwicklung abzuringen.

Der Anfang des Filmes ist bis zum Ende hin omnipräsent, weil eine Idee zu haben eben nicht genug ist. Deshalb ist „Töte mich“ auch nicht als Gegenpol zu etwaigen Migrationsgeschichten der letzten Jahre lesbar, denn selbst dieses Thema bleibt diffus und schlagzeilenartig. Außer der geografischen Stoßrichtung (Afrika) gibt es keine weitere Auseinandersetzung mit Migration oder eben deren Umkehrung im Angesicht der europäischen Krise (und in sechs (!) Jahren Drehbuchentwicklung hätte viel einfließen können). Alle Deutungen in diese Richtung können also nur als narzisstische Überinterpretationen gelesen werden, als Intellektualisierung eines Problems, das der Film selbst nicht geschaffen hat oder in irgendeiner Weise ernsthaft behandelt.

Letztlich ist „Töte mich“ großer Quatsch, weil der Film sich in jeder Hinsicht mit dem eigenen Pitch zufrieden gibt. Es hat einfach von Beginn an kein Entkommen vor dem Anfang gegeben.

2 Tage New York

(F / D 2011, Regie: Julie Delpy)

Handlungsturbulenzen
von Wolfgang Nierlin

Julie Delpy versteht sich hervorragend auf das abgründige Spiel mit der Selbstironie. Auch in ihrer neuen Komödie „2 Tage New York“, dem Gegenstück zu ihrem früheren Film „2 Tage Paris“, …

Julie Delpy versteht sich hervorragend auf das abgründige Spiel mit der Selbstironie. Auch in ihrer neuen Komödie „2 Tage New York“, dem Gegenstück zu ihrem früheren Film „2 Tage Paris“, gelingt dies deshalb so gut, weil sich die französische Schauspielerin und Regisseurin in der zentralen Rolle selbst besetzt hat. Respekt- und tabulos gegenüber sich selbst und ihrem Alter Ego Marion Dupres inszeniert sie die allzu menschlichen, tief im alltäglichen Leben wurzelnden Spleens und Neurosen ihrer gestressten Heldin und zeigt sich darin schlagfertig wie Woody Allen. Zugleich hält sie dem gesellschaftlichen Zeitgeist, seiner angeblichen Liberalität und Toleranz, den Spiegel vor, indem sie seinen normierten Wahnsinn und seiner geradezu institutionalisierten Angst mit intelligentem Witz und Spott belegt. Dabei dreht sich erneut alles um Sex. Oder anders gesagt: Der Körper und das Geschlechtliche determinieren über alle kulturellen Differenzen hinweg das Fühlen, Denken und Handeln der Menschen.

Mentalitätsunterschiede, kulturelle Gegensätze und sprachliche Kommunikationsbarrieren sind auch dieses Mal die treibende Kraft für Handlungsturbulenzen und einen geschliffenen Wortwitz. Marion, die in New York als Fotografin arbeitet, bereitet gerade eine Ausstellung vor, zu deren konzeptkünstlerischem Bestandteil (als parodistischer Seitenhieb auf den Kunstbetrieb) auch der Verkauf ihrer Seele gehört, als ihre Familie aus Paris zu einem Kurzbesuch eintrifft. Doch zunächst bleibt ihr verwitweter Vater Jeannot (Albert Delpy) mit geschmuggelten Wurst- und Käsewaren im Zoll hängen; und dann hat ihre exhibitionistische Schwester Rose (Co-Autorin Alexia Landeau) mit dem kiffenden Aufschneider Manu (Alex Nahon) auch noch einen Liebhaber aus Marions früherem Leben im Schlepptau. Die Konflikte, in Wortgefechten auf engem Raum verdichtet, sind also vorprogrammiert. Und das Klischee von den kulturell verfeinerten Franzosen wird dabei kräftig gegen den Strich gebürstet.

Als Barbaren aus einem früheren Jahrhundert erscheinen diese in den Alpträumen von Marions Freund Mingus (Chris Rock), dem Hauptleidtragenden. Den Radiomoderator trennen nämlich nicht nur Hautfarbe und Sprache von seinen Artgenossen aus Übersee, sondern auch die Manieren. Dazu kommt noch, dass er seine Freundin, die schimpfend und handgreiflich mit ihrer Familie kommuniziert, plötzlich kaum wieder erkennt. Deren krisenhaftes Leben nach Trennung und Schwangerschaft, flankiert von verhindertem Sex und von mäßigem beruflichem Erfolg, stehen eigentlich im Zentrum des Films. Mit ihren Fotos dokumentiert Marion ihre „Beziehungsentwicklung“ und beansprucht für diesen dargestellten „Mikrokosmos“ zugleich Allgemeingültigkeit. Und so erzählt Julie Delpy, filmisch verspielt, konfus und unbekümmert, entgegen der Absicht eher nebenbei von der anvisierten „Liebesgeschichte mit Happy End“. Das Puppenspiel in der Rahmenhandlung hält diesbezüglich nur notdürftig die teils losen, teils wirr geknüpften Erzählfäden zusammen. Als witzige, tempogeladene Nummernrevue funktioniert der Film jedoch recht gut.

Bombay Diaries

(IN 2010, Regie: Kiran Rao)

Sublimierte Wirklichkeit
von Wolfgang Nierlin

Entlang Mumbais berühmter Meerespromenade Marine Drive geht die Fahrt in einem Taxi, während der Monsunregen gegen die Autoscheiben prasselt. Dabei gehört der subjektive Kamera-Blick aus dieser Exposition einer jungen Studentin …

Entlang Mumbais berühmter Meerespromenade Marine Drive geht die Fahrt in einem Taxi, während der Monsunregen gegen die Autoscheiben prasselt. Dabei gehört der subjektive Kamera-Blick aus dieser Exposition einer jungen Studentin namens Yasmin (Kriti Malhotra), von der wir zunächst jedoch nur erfahren, dass sie sich seit wenigen Monaten in der indischen Millionen-Metropole aufhält. Noch immer fühle sie sich fremd und leide unter Heimweh, sagt sie zum Taxifahrer. Die frische Meeresluft empfindet sie als Ausdruck des Verlangens. Tatsächlich ist Yasmin gerade dabei, ein Videotagebuch für ihre Schwester Imram zu realisieren. Melancholische Stimmungen, verursacht durch Liebeskummer, Fremdheitsgefühle und die Suche nach einem Halt, wechseln sich ab mit Bildern der brodelnden, höchst vitalen Stadt. Dokumentarisches und Persönliches verbinden sich in diesen filmischen Aufzeichnungen zu einem bewegenden Vermächtnis.

Als Hommage an die flirrende Intensität und gewaltige Energie der tropischen Hafenstadt versteht auch die indische Regisseurin Kiran Rao ihren Debütfilm „Bombay Diaries“ (Dhobi Ghat). Mit verschiedenen Aufnahmeformaten an Originalschauplätzen gedreht, folgt sie in ihrem episodisch gebauten Drama und unter wechselnder Perspektive verschiedenen Protagonisten, deren Wege sich (mitunter allzu oft und zufällig) kreuzen und deren Schicksale sich immer deutlicher miteinander verbinden. Dabei geht es um unerfüllte Liebe, die determinierende Kraft extremer sozialer Gegensätze, das Scheitern von Träumen und um den Mut zur Freundschaft. Physisch direkt und emotional berührend spürt Kiran Rao den geheimen Verbindungen zwischen ihren Helden nach, spinnt ihre Bewegungen ein in ein kalkuliert organisiertes System von Hinweisen und Zeichen und reflektiert darüber hinaus die Entstehung von Kunst.

Im Universum ihrer reizvoll konstruierten Parallelgeschichten ist es dem Maler Arun (gespielt von Raos Ehemann, dem Bollywoodsuperstar Aamir Khan) vorbehalten, nach einem Wohnungsumzug Yasmins Videotapes in einer Blechdose zu entdecken. Durch die Auseinandersetzung mit deren tragischer Geschichte gewinnt auch seine eigene Kunst neue Kraft und sein Blick aufs Leben eine neue Richtung. Verbunden ist er darin mit der jungen, überaus erfolgreichen Investmentbankerin Shai (Monica Dogra), die sich nach Jahren in den USA jetzt in ihrer Heimatstadt Mumbai als Fotografin versucht. Selbst wohlhabend und gutsituiert, spürt sie in ihren Bildern dem Leben der sozial benachteiligten Menschen nach, was im Film jedoch über den oberflächlichen Status der Illustration kaum hinausgeht. Begleitet wird sie auf ihren Streifzügen durch die Stadt und ihre entlegenen Bezirke – den bunten Märkten, Parfümerien, Baustellen und der im Original titelgebenden Wäscherei – von dem jungen Wäscher (und Rattenfänger) Munna (Prateik), der von einer Karriere als Filmschauspieler träumt und sich unsterblich in die schöne Shai verliebt. Uns so ist es letztlich die Sublimierung einer unmöglichen Liebe, die sich in Kiran Raos sehenswertem Film „Bombay Diaries“ immer wieder kinotauglich über eine authentische Wirklichkeitsdarstellung legt.

Vielleicht in einem anderen Leben

(Ö / D / UNG 2010, Regie: Elisabeth Scharang)

Von Revanche zur Gegengabe
von Drehli Robnik

April 1945 über Niederösterreich: Ein US Air Force-Pilot wirft Kaugummipapier aus seinem Cockpit; es segelt zur Erde, in die Hand eines jener ungarischen Juden, die grade von SS und Dorfleuten …

April 1945 über Niederösterreich: Ein US Air Force-Pilot wirft Kaugummipapier aus seinem Cockpit; es segelt zur Erde, in die Hand eines jener ungarischen Juden, die grade von SS und Dorfleuten nach Mauthausen getrieben werden. Ähnlich wie 'Forrest Gump' (mit seiner Feder) beginnt 'Vielleicht in einem anderen Leben' mit der Doppelung von Wunder und 'geworfener' Materie im Bild des schwebenden Futzels. Für das Bild des NS-Judenmordes in dieser ORF-Koproduktion ist das programmatisch.

Das Papier aus Amerika/vom Himmel verweist auf ein Schlupfloch in eine Wunderwelt der Rettung. Der Ungar, dem es zufiel – vor seiner Deportation Operettentenor – sagt: 'Die Welt will uns töten, also müssen wir so tun, als wären wir in einer anderen.' Irrealisierung qua Inszenierung, ein Standardmotiv neuerer Holocaust-Spielfilme. Wenn der Mann genussvoll am Kaugummipapier riecht, ist damit das Thema 'Subjektwerdung durch Genießen' etabliert. Um die mit ihm Deportierten aufzumuntern, ruft der Tenor: 'Wir können krepieren wie Ratten – oder Musik machen!' Also beginnen die in einen Stadel Gepferchten, die Erfolgsoperette Wiener Blut einzustudieren.

Das ist als improvisierter Schlupfweg in die Wunderwelt gemeint – und doch mehr als Eskapismus. Scharangs Film fehle, so Siegfried Mattl in seiner Kritik, Reflexion auf die Rolle von Filmoperetten wie Wiener Blut im NS-Propagandabetrieb. Mehr noch: Dass der Film impliziert, erst Wiener Blut mache Menschen zu solchen (und nicht bloß Ratten!), ist in diesem Kontext fatal. Auch wenn das nicht rassenbiologisch zugespitzt ist, wie im Wiener FPÖ-Wahlkampf – einen Vitalismus intensiver Gefühle teilt die Farce von 2011 mit der Filmoperette von 1942: Musik spendet unmittelbar Leben ('Blut… Saft… Kraft… Mut'), in Gegensatz zu einem Nicht-Leben, das in kalten Formen gefangen ist: in Kleinstaatlerei und Etikette (so zeigt es Wiener Blut) bzw. in herzloser Kälte (so zeigt es Scharang). Diese Kälte durchbricht eine Bäuerin, die den im Stadel Hungernden Brot und Suppe bringt. Zum Dank bietet der Tenor an, Wiener Blut für sie zu spielen.

'Die Fälscher' ist jener Holocaust-Erfolgsfilm, an den 'Vielleicht in einem anderen Leben' sich am offensichtlichsten anlehnt (zumal im Dialog über die Stofflichkeit von Suppe). Es geht um Doppelungen von Wunder und fühlbarer Materie: 'Die Fälscher' konterte den Massenmord im Zeichen der Fälschung, Inszenierung durch Kreativarbeiter; 'Schindlers Liste' hielt dem Holocaust eine Kino-Ontologie der Liste als Gedächtnis-Bildung entgegen; und Tarantino stellte NS-Geschichte ins Zeichen eines Archivs, das sich als sabotierbarer Bildbestand materialisiert. Doch Scharang (von der es bessere Filme über NS-Verbrechen gibt) zielt nicht auf Jewish revenge, sondern auf jüdische Dankbarkeit – und Richtung 'Revanche'. So hieß Götz Spielmanns Neo-Heimatfilm, in dem das Traumpaar Johannes Krisch/Ursula Strauss – bei Scharang Bauer und Bäuerin – ein Drama um Verlust und Wieder-Zulassen von Gefühlen absolvierte. Und nun: Holocaust als Setting einer Paartherapie, bei der Herr und Frau Österreicher zu sich und einander zurückfinden; sie spielt wieder Zither, er holt die alte Ziehharmonika raus und lässt Tränen zu. Sogar Sex gibts wieder.

Wellnesskultur als Heilung vom National(sozial)ismus hinzustellen, damit ist dieser Film nicht allein; aber so wie er Vitalitätstherapeutik und Wirklichkeitstranszendenz engführt, das lässt der Geschichte besonders wenig Raum.

Dieser Text erschien zuerst in: Bildpunkt, Zeitschrift der IG BILDENDE KUNST, Wien, Ausg. Frühling 2011

Das Haus auf Korsika

(F / B 2012, Regie: Pierre Duculot)

Ungewöhnliche Ruhe
von Wolfgang Nierlin

In einem kleinen, abgelegenen Bergdorf auf über 1100 Meter Höhe liegt das titelgebende „Haus auf Korsika“. Mit dem deftigeren französischen Originaltitel von Pierre Duculots Film „Au cul du loup“ könnte …

In einem kleinen, abgelegenen Bergdorf auf über 1100 Meter Höhe liegt das titelgebende „Haus auf Korsika“. Mit dem deftigeren französischen Originaltitel von Pierre Duculots Film „Au cul du loup“ könnte man sinngemäß auch sagen: „Am Arsch der Welt“. Zwölf Einwohner zähle der Ort, sagt der Bürgermeister zu Christina (Christelle Cornil), die nach beschwerlicher Reise eben angekommen ist. Überstürzt und eher planlos ist die 30-Jährige gegen den Widerstand ihrer Familie aufgebrochen, um auf Korsika das Erbe ihrer verstorbenen Großmutter anzutreten und ihren italienischen Wurzeln nachzuspüren. Inmitten einer ungewöhnlichen Ruhe und einer herrlichen Natur, im Kontakt mit der fremden Kultur (etwa dem polyphonen Männergesang Paghjella) und eigenwilligen Menschen wächst in ihr zugleich das Bedürfnis, den Traum von einem anderen Leben zu leben.

Der belgische Regisseur Pierre Duculot inszeniert in seinem sehenswerten Langfilmdebüt diese aufkeimende Aussteiger-Sehnsucht seiner Heldin im Kontrast zu ihrer belgischen Heimatstadt Charleroi. Berufliche Perspektivlosigkeit und ein einengender Freund im Verbund mit dem immer stärker werdenden Klammergriff der Familie, lassen Christina schließlich ausbrechen. Ein Jump cut setzt diesen harten Bruch mit dem gewohnten Alltag schließlich ins Bild, auch wenn innere Zweifel bleiben und die Rückschläge, von Hoffnungen und Enttäuschungen begleitet, erst beginnen. Doch Duculot, der seinen versöhnlichen Film – darin seinem erklärten Vorbild Robert Guédiguian verwandt – mit Anteilnahme und menschlicher Wärme erzählt, lässt seine Protagonistin nicht allein. Vielmehr beschenkt er sie mit familiärer Solidarität und neuem Mut.

Marley

(GB / USA 2012, Regie: Kevin Macdonald)

Verworfener Eckstein
von Wolfgang Nierlin

Das Portrait eines Außenseiters zeichnet Kevin Macdonald in seinem Dokumentarfilm „Marley“. Der charismatische Reggae-Musiker, geboren am 6. Februar 1945 in einem kleinen jamaikanischen Dorf und in Kingstons Armenviertel Trenchtown aufgewachsen …

Das Portrait eines Außenseiters zeichnet Kevin Macdonald in seinem Dokumentarfilm „Marley“. Der charismatische Reggae-Musiker, geboren am 6. Februar 1945 in einem kleinen jamaikanischen Dorf und in Kingstons Armenviertel Trenchtown aufgewachsen und künstlerisch sozialisiert, bezeichnet sich in einem seiner Lieder selbst einmal anspielungsreich als „verworfener Eckstein“. Bob Marley, Mischlingskind einer 18-jährigen schwarzen Mutter und eines flatterhaften 50-jährigen Offiziers der britischen Armee, reflektiert darin sein Gefühl der Vaterlosigkeit, das ihn offensichtlich zeitlebens begleitet hat. Noch in den Selbstaussagen dieses sehr detaillierten und materialreichen Films, daneben aber auch in den vielen Konzertausschnitten ist diese introvertierte Unnahbarkeit spürbar. Bob Marley ist der fremde Andere, dessen eindrucksvolles Leben und Werk Kevin Macdonald durch zahlreiche Interviews mit Zeitzeugen und den darin enthaltenen Perspektivwechseln zu erhellen sucht. Dabei mischen sich unentwirrbar Tatsachen und Legenden.

Marleys erste musikalische Gehversuche, beharrlich und mit Ehrgeiz vorangetrieben, fallen dabei ziemlich genau zusammen mit Jamaikas Unabhängigkeit im Jahre 1962. Auch an späteren Stellen der genau montierten Dokumentation gibt es immer wieder einen Austausch zwischen einschneidenden Ereignissen der Zeitgeschichte und Marleys künstlerischem Werdegang. Dabei wird die Musik zum Mittel einer sowohl persönlichen als auch gesellschaftlichen Befreiung. Bob Marley findet für sich einen Weg aus den bedrückenden sozialen Verhältnissen, kehrt aber auch mit zunehmendem Erfolg immer wieder dahin zurück. Denn seine anti-materialistische Einstellung feiert den Reichtum des Lebens und – nicht zuletzt auch im Reggae – das brüderliche Miteinander der Menschen.

Seine spirituelle Erdung bezieht Marley in diesem Zusammenhang aus seiner Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Rastafari, einer Religion, in der die Praxis von Liebe und Versöhnung eng mit dem Streben nach Befreiung verbunden ist. Aus diesem Kontext, in dem sich der Außenseiter mit den unterdrückten Sklaven identifiziert und die Rückkehr nach Afrika propagiert oder zumindest ersehnt, gewinnt Macdonalds Film einige seiner bewegendsten Momente. Beginnend mit Bildern von jenem berüchtigten „Door of no return“ im „House of slaves“ an der westafrikanischen Küste, von wo aus Millionen von Menschen „gestohlen“ und versklavt wurden, bis zu den Benefizkonzerten in Simbabwe und Gabun, erzählt „Marley“ eine Geschichte der Unterdrückung, die auch lange nach dem viel zu frühen Tod des Musikers im Jahre 1981 noch nicht zu Ende ist und insofern Relevanz besitzt.

Brasch – Das Wünschen und das Fürchten

(D 2011, Regie: Christoph Rüter)

„Schreiben heißt für mich, die Angst zu überwinden ...“
von Michael Schleeh

Immer wieder friert Christoph Rüter die Bilder des Films ein: Brasch nachdenklich, Brasch mit Zigarette, nonchalant, Brasch mit dunklen, stechend scharfen Augen. Um ihn herum: die Wohnung, Stapel von Papier, …

Immer wieder friert Christoph Rüter die Bilder des Films ein: Brasch nachdenklich, Brasch mit Zigarette, nonchalant, Brasch mit dunklen, stechend scharfen Augen. Um ihn herum: die Wohnung, Stapel von Papier, Bücherwände, Spiegel, die Fenster hinaus auf Berlin. Dokumentarische Interviewbilder, Schlaglichter, das Standbild als Poster. So wird man sich an ihn erinnern: die einprägsame Physiognomie, das zerfurchte Gesicht der späten Jahre. Es findet seinen Platz in der Erinnerung neben den frühen Fotos, die man von ihm kennt: mit Whiskeyflasche auf dem Tisch, entspannt die Beine auf dem Sofa übereinander geschlagen, eine gestikulierende Katharina Thalbach neben sich, die eine Zeit lang seine Lebensgefährtin war und mit der er in den Westen gegangen ist. Gegangen wurde.

Wo er zwar Erfolge feierte und hofiert wurde für sein Dissidententum, dem er aber misstraute und wo ihm auch nach und nach die Reibung am System verloren ging, ganz ähnlich wie einem Heiner Müller nach der Wende („Wer keinen Feind mehr hat, trifft ihn im Spiegel“). So ist es kein Wunder, dass er später, nach der Wiedervereinigung freilich, zurück in den ehemaligen Osten Berlins zog, nicht weit entfernt vom Berliner Ensemble. Sich dort abkapselte, rauchte, soff und ausgiebig kokste. Und wenn bei Heiner Müller noch die Tauben auf Berlin schissen, so ist es bei Brasch das Kokain, das auf die Stadt herabfällt: „Das schneit, Kinder, das schneit / die Horizonte werden weit, / der Schnee, so schönes Kokain / fällt nieder auf die Stadt Berlin“ (aus dem Gedicht „Der schnelle Schnee – Lied der Kokainintellektuellen“). Brasch arbeitete da an seinem Brunke-Mammutprojekt (später dann: „Mädchenmörder Brunke“, Roman bei Suhrkamp), für das sich zehntausende Manuskriptseiten auf dem Fußboden ansammelten und stapelten.

„Brasch – Das Wünschen und das Fürchten“ ist überwiegend chronologisch, entlang der Biographie des Schriftstellers arrangiert, der Lyriker, Dramatiker und Filmemacher zugleich war. Es werden etliche Dokumente, Ausschnitte und Spielfilmsequenzen von Christoph Rüter zu einem Mosaik montiert, das die Involviertheit des Künstlers in die verschiedenen Kunst-Bereiche portraitiert. Seine berühmte Nestbeschmutzer-Rede bei der Verleihung des Bayerischen Filmpreises in Anwesenheit von Franz-Josef Strauß ist im Film ebenso zu bewundern wie Sequenzen mit Brasch aus Hanns Zischlers Dokumentarfilm „Ich gehe in ein anders Blau“ über Rolf Dieter Brinkmann. Außerdem gibt es etliche Ausschnitte aus den Langfilmen „Engel aus Eisen“, „Domino“ und „Der Passagier“ (mit Tony Curtis) sowie aus den Theaterstücken „Lieber Georg“, „Rotter“ und „Liebe Macht Tod“. Aus der deutsch-deutschen Theater- und Literaturszene ist er nicht wegzudenken, auch wenn er nie die Popularität der ganz großen Namen erlangte. Gegen Ende finden sich dann verstärkt aufwühlende Handkameraaufnahmen, die Brasch in seiner Wohnung von sich selbst gemacht hatte, vor den Spiegeln und den vollgekritzelten Wänden, nach den Herzinfarkten und von der Krankheit gezeichnet. Sie zeigen ihn als fragile Person, die gleichwohl keineswegs kraftlos ist, sondern voller Energie zu stecken scheint. Aber eben die Kraft desjenigen, der auf der Suche ist, der seinen Platz nicht finden kann und sich an den politischen wie gesellschaftlichen Zuständen reibt.

Christoph Rüter gelingt ein intimes Portrait seines Freundes Thomas Brasch, das nie sentimental wird oder gar gekünstelt wirkt. Eine liebevolle und spannende Hommage zugleich, die von einer klaren Offenheit ist und in ihrem weiteren Horizont die Rolle der Schriftsteller und Intellektuellen in der Zeit vor und nach dem großen Umbruch der Wiedervereinigung darstellt. Eine Hommage, die bisweilen nicht nur melancholisch ist, sondern manchmal auch schmerzt. Wie Brasch im Interview mehrfach sagt: es ist die Wunde, die ihn interessiert, der Riss, der durch den Menschen geht.

Cosmopolis

(KAN / F 2012, Regie: David Cronenberg)

Der Proust der Stretchlimousine
von Ekkehard Knörer

In einer gleißendweisen Stretchlimousine begegnet Eric Packer, Finanzkapitalist, seinem persönlichen Schwarzen Schwan: Er hat sein Vermögen an eine allergrößte Wahrscheinlichkeit verwettet, den Fall des Yuan; mit diesem Hebel setzt er …

In einer gleißendweisen Stretchlimousine begegnet Eric Packer, Finanzkapitalist, seinem persönlichen Schwarzen Schwan: Er hat sein Vermögen an eine allergrößte Wahrscheinlichkeit verwettet, den Fall des Yuan; mit diesem Hebel setzt er per leveraged buyout aufs ganz große Geld. Der Yuan aber fällt nicht und fällt nicht, die Kurven auf den vielen Geldstromanzeigern im Innern der Stretchlimousine haben wir uns als Höllenfahrt ins Desaster vorzustellen: ein Ereignis jenseits des Erwartens.

Weiß neben weißen Stretchlimousinen in Reihe im Innern Manhattans. Sie gleichen einander von außen wie ein Yuan dem andern. Schwarz aber ist nicht nur der Schwan, eine Asymptote ans Schwarze ist auch Mark Rothkos berühmte Kapelle in Houston. Sie ist der Gegenstand von Packers Begehren, als Ausweis von dessen Maßlosigkeit: Auch sie will er kaufen. Und wird eines Besseren belehrt, das sein Begreifen jedoch übersteigt. Das nicht Käufliche ist in der Matrix der Ökonomie ein Grenzpunkt, mit dem sich so wenig wie mit einem Schwarzen Schwan rechnen lässt.

Ein Projektil, das sich in äußerster Verlangsamung durch New York bewegt, ist Packers Wagen. Das Fleisch welcher Wirklichkeit er dabei berührt, ist die Frage. Es gibt ein Drinnen und Draußen, ein Dringen nach Innen und ein Drängen nach außen, aber was hier wem korrespondiert, was hier durch was darstellbar ist, wie sich Repräsentation auf Wirklichkeit, das Konkrete auf die Abstraktionen, die Gegenwart aufs Archaische, das Geld auf die Welt, die Marktbewegung auf die Natur, Kosmos auf Polis, der Sex auf die Liebe, wie sich hier überhaupt etwas auf etwas bezieht: das muss, so die These des Buchs und des Films, unterbestimmt bleiben. Der Film fügt, was als Stücke von Wirklichkeit durch seine Darstellung treiben, einzig zur These zusammen, dass eindeutige Zusammenfügungen, die das eine durchs andere etwa erklären, jenseits der Möglichkeit auch der ästhetischen Repräsentation liegen.

Was so entsteht, ist jedoch – fast paradox – ein Überschuss an Lesbarkeit. Überdetermination und Unterbestimmung ergänzen sich zum Festmahl für die Allegorese, jedes Detail lockt die Deuter wie Blut im Wasser die Haie. Vor die Nase gehängt als Schlüsselwort wird einem die Asymmetrie: 'Ihre Prostata ist asymmetrisch' diagnostiziert der Arzt nach erfolgter Rektaluntersuchung im Wagen, die vor den Augen weiterer Insassen erfolgte. Die Erläuterung, die DeLillo als erlebte Rede des Helden noch gab, hat Cronenberg im Film gestrichen: 'But there was something about the idea of asymmetry. It was intriguing in the world outside the body, a counterforce to balance and calm, the riddling little twist, subatomic, that made creation happen.' Die Asymmetrie als Kraft, die die Dinge unmerklich aus dem Gleichgewicht stößt, aber schließt das wirklich was auf? Oder ist es nicht einfach ein weiteres Stück Allegorem in einem gewaltsam geradezu endlos sich öffnenden Text?

Oder nehmen wir Proust: Es ist nämlich die Stretchlimousine auch eine Proustkonfiguration. 'To proust', v.: Auskleidung des riesigen Wagens mit Kork und damit Schallisolation und damit Prousts Schreibzimmer und damit Bezug zu Erinnerungsbewegungen in Richtung des Wegs der Guermantes. Das so scheinbar irrationale Ziel, der Antrieb dieser Fahrt durchs allegorisch verstopfte New York, in dessen Straßenverkehr auch der Präsident unterwegs ist, ein Attentäter, der Packer ans Leder will, außerdem; der Antrieb und Anlass der Bewegung ist: Packer will zum Friseur. Irgendwann ist er dort und man begreift, es ist der Friseur, den er mit seinem Papa als Kind schon besuchte. Also quasi Biss in den Keks (aber Beginn keines großen Subjektentfaltungsromans), der Yuan will nicht fallen, der Drops ist gelutscht, was einzig noch folgt, ist das große Endspiel in sehr unklinischen Räumen, Paul Giamatti als Ex-Angestellter mit Rachegelüsten und Knarre. (Genauso nahe liegt, versteht sich, die andere Inkunabel der modernen Literatur: James Joyces 'Ulysses': Ein Mann, eine Stadt, ein Tag, Packers Bloomsday als Doomsday.)

Die Stretchlimousine als Projektil, aber auch ein Fenster zur Welt. Meist sind wir drinnen, meist wird der Raum in statischen Einstellungen grob, aber sehr scharfkantig aufgelöst, sehr toll sind Momente, in denen in einer Art Egoshooterperspektive die Leinwand Bildschirm wird und das Auto zum Raumschiff. Das ist sehr videokunstmäßig, da hat Cronenberg Mise-en-Scène-Ideen, die übers Papier, aus dem er weite Teile seines Films gebaut hat, hinausgehen. (Zugegeben, Thomas-Demand-artig gebaut: Aus dem Papier des Romans gebastelt, als New York – freilich von Toronto gedoubelt – hingestellt, fast täuschend echt abgefilmt.) Draußen, vor dem Fenster zur Welt, brennt ein Mann, toben Proteste, geht ein Gespenst um in der Welt, das Gespenst des Kapitalismus (daher hat Joseph Vogl den Titel seines Diaphanes-Bestsellers, der aus einer Lektüre von DeLillos Roman die Leitmotive seiner Analyse bezieht.)

Drinnen – im Drinnen, das die affektfreie Innenwelt des Finanzkapitals/Finanzkapitalisten ist – ist alles Zahl oder Sex, aber Sex ist – wie bei Cronenberg üblich – eine weitere Form der Entfremdung, die Körper haben sich nichts zu sagen, nicht die Augen gehen über und nicht die Gefühle, nur die Münder, meine Fresse, gehen die über: Die manieriert verknappten, mit Bedeutung aufgeladenen, durch und durch künstlichen Dialoge nimmt Cronenberg direkt aus dem Buch – dessen Dialogpassagen er, wie er in Interviews erklärt hat, in einem ersten Aneignungsakt erst mal komplett abschrieb – und legt sie seinen Darstellern in den Mund, aus dem sie wie Eiswürfel purzeln.

In der Theorie ist das sogar schön: Die Künstlichkeit und Kälte der DeLilloschen Dialoge ergreift Besitz von der Figur und macht diese im Illusionsraum des Kinos rücklings zu Papier; der Weg zur Expressivität ist damit verbaut – wogegen einzig Juliette Binoche mit einem furiosen Auftritt als Packers Kunstberaterin cum fuck buddy rebelliert – und eben darum etwas deplatziert wirkt. In der Praxis entfaltet sich das aber zu einer Dialogendlosigkeit, über der alles sonst so klar Konturierte in Geschwafel (Geschwafel höchster Ordnung, versteht sich) zerfließt. Wenig ist leider auch übrig von den grandios choreografierten Vorder- gegen Hintergrund-Mise-en-Scène-Installationen, mit denen Cronenbergs an Dialogen nicht armer Vorgängerfilm 'A Dangerous Method' bestach.

'Cosmopolis' gewinnt keinen Rhythmus, Cronenberg findet keine überzeugenden Mittel, etwa den Kontrast zwischen Innen und Außen zu formulieren. Das nimmt nicht zuletzt dem Showdown am Ende den Impact. Die ganz andere Räumlichkeit, in der Packers Höllenfahrt – wie eine Rückkehr in ein falsches Reales – dann endet, bleibt in der Inszenierung so formlos wie all die anderen Orte, die der Film mit Packers gelegentlichen Ausflügen aus dem Innern der Stretchlimousine ins ungeordnete Außen unternimmt. Eine Ausnahme gibt es, ein einziges Mal wagt sich die Kamera ins von keinen Schnitten zerhackte Fluide – ausgerechnet eine Buchhandlung ist dafür der Ort. In einer Subjektiven schlängelt sich der Blick an Büchertischen und Regalen vorbei, bis er auf Packers Ehefrau landet, die da in einer Ecke ein Buch liest. Es ist, als spürte der Film, der ein Buch war, dass er nicht Film ward. Das wäre dann sein schönstes Paradox: Einzig in einer Buchhandlung fühlt er sich so sehr zuhause, dass er sich zum jubilatorischen Kameragleiten befreit.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Amador und Marcelas Rosen

(SPA 2010, Regie: Fernando León de Aranoa)

Magische Frömmigkeit
von Wolfgang Nierlin

Das sozialrealistische Setting des Films „Amador und Marcelas Rosen“ erscheint auf den ersten Blick klischeehaft; andererseits bleibt Fernando León de Aranoa nach seinen Arbeiten „Montags in der Sonne“ und „Princesas“ …

Das sozialrealistische Setting des Films „Amador und Marcelas Rosen“ erscheint auf den ersten Blick klischeehaft; andererseits bleibt Fernando León de Aranoa nach seinen Arbeiten „Montags in der Sonne“ und „Princesas“ seinem ausgeprägten Interesse für soziale Probleme treu, was ihn mit seinen Kollegen Ken Loach und Robert Guédiguian verbindet. Mit der introvertierten Perspektive seiner Protagonistin Marcela (Magaly Solier, bekannt aus dem Berlinale-Gewinner „Eine Perle Ewigkeit“) erzählt der spanische Regisseur auf verhaltene, mitunter etwas langatmige Weise die Geschichte einer weiblichen Selbstfindung unter prekären Lebensumständen. Marcelas einsame Eigensinnigkeit ähnelt darin jenem leicht kitschigen Bild einer allein auf ödem Grund sprießenden Blume, das den Film eröffnet und eine „Rosen-Metaphorik“ in Gang setzt, die den Film fortan durchzieht. Deren Bedeutung kreist um den Zusammenhang von Leben, Liebe und Tod.

Anfangs will Marcela aus Verhältnissen ausbrechen, die ihren Traum von einem besseren Leben nicht erfüllen. Ihrem Freund Nelson (Pietro Sibille), der mit seiner bolivianischen Einwanderer-Clique und „aufgefrischten“ Rosen an der Peripherie Madrids einen illegalen Blumenhandel betreibt, schreibt sie einen Abschiedsbrief. Doch dann wird sie ohnmächtig, entdeckt ihre Schwangerschaft und muss wieder zurück. Sie zerreißt den Brief, verwahrt die Schnipsel in einer kleinen Blechdose mit Habseligkeiten und verschweigt ihren Zustand, da der achtlose Nelson in anderen Kategorien von der Zukunft denkt. Schließlich findet sie Arbeit und ein bescheidenes Einkommen als Betreuerin des alten, bettlägerigen Amador (Celso Bugallo), der von seiner gestressten Familie vernachlässigt wird. Amador legt ein schwieriges Puzzle, das aus Wolken besteht, die sich auf der Meeresoberfläche spiegeln. Einmal vergleicht er das Leben mit einem Puzzle, dessen individuell verschiedene Teile jeder selbst für sich richtig zusammensetzen muss.

Ein anderes Mal deutet er seinen baldigen Tod an und bittet Marcela, seinen Platz für ihr Kind freizuhalten. Der Tausch von Leben und Tod im vorgestellten Kreislauf von Sterben und Wiedergeburt, aber auch Marcelas fast magische Frömmigkeit grundieren den Film und setzen ein Gegengewicht zur sozialen Überlebensnot. Rituelle Arbeits- und Handlungsabläufe bestimmen auch Marcelas Alltag. Fernando León de Aranoa verleiht diesem eine ebenso skurrile wie schwarzhumorige Note, als Amador stirbt und Marcela unter Schuldgefühlen ihren Dienst mit der Leiche fortsetzt, um weiterhin das nötige Geld für sich und ihr Kind zu verdienen. „Es geht darum, wie das Leben und der Tod dazu gezwungen sind zu koexistieren“, sagt der Filmemacher dazu. Immer wieder wird Marcela nach dem Namen des Kindes gefragt; und wiederholt verlangen Menschen, den Bauch der Schwangeren berühren zu dürfen, als ginge es darum, einen identifizierbaren Kontakt zum Leben herzustellen. Doch erst am Ende dieses poetischen Films, wenn alle Puzzles zusammengesetzt sind, huscht nach der Namensfrage ein wissendes, aber verschwiegenes Lächeln über Marcelas stilles Gesicht.

Die Wohnung

(D / ISR 2011, Regie: Arnon Goldfinger)

Wie uns Oma Gerda langsam unheimlich wurde
von Ulrich Kriest

In seinem Dokumentarfilm „Die Wohnung“ rekonstruiert der Filmemacher Arnon Goldfinger Familiengeschichte mit detektivischer Verve. „Fängt man an, von der Vergangenheit zu sprechen, findet man kein Ende mehr!“, heißt es gegen …

In seinem Dokumentarfilm „Die Wohnung“ rekonstruiert der Filmemacher Arnon Goldfinger Familiengeschichte mit detektivischer Verve. „Fängt man an, von der Vergangenheit zu sprechen, findet man kein Ende mehr!“, heißt es gegen Ende des Films einmal. Da ist der Filmemacher Arnon Goldfinger schon nicht mehr neugierig, sondern eher ratlos. Angefangen hatte der Film eher harmlos: Gerda Tuchler, die Großmutter des Filmemachers, war im hohen Alter von 98 gestorben und jetzt muss ihre Wohnung geräumt werden.

Erstes Problem: Gerda und ihr Mann Kurt konnten sich offenbar von wenigen Gegenständen trennen, durchaus zur Belustigung ihrer Nachkommen finden sich Sammlungen von eleganten Handschuhen, ziemlich angejahrter Pelzmode und allerlei Schnickschnack wie ein paar Ausgaben des Nazi-Kampfblattes „Der Angriff“. Zweites Problem: Gerda und Kurt haben Deutschland 1937 verlassen, wurden aber in Israel offenbar nie heimisch. Sie lernten kein Hebräisch, sprachen mit ihren Enkeln lieber englisch, hatten eine komplett deutschsprachige Bibliothek.

Noch irritierender: es existieren Fotos von Gerda und Kurt, die nach dem Krieg in der Bundesrepublik aufgenommen wurden. Mit auf den Fotos: ein deutsches Ehepaar. Kein Familienmitglied mag davon wissen, aber es tauchen Briefe auf, die von der Geschichte einer langen Freundschaft erzählen. Wer ist dieses Ehepaar von Mildenstein? Und wie kommt die Nazi-Propaganda in den Besitz von Gerda und Kurt? Warum haben sie sich davon nicht getrennt?

Goldfingers Mutter Hannah erklärt, man habe über Familiengeschichte nie länger gesprochen. Goldfinger macht sich auf die Suche, stößt auf Mauern des kollektiven Beschweigens und sich die Geschichte-Schönredens. Doch, siehe oben, wenn man mit der deutsch-jüdischen Vergangenheit anfängt, öffnen sich Tore des Schreckens – und aus einer ganz privaten Familiengeschichte wird eine-deutsch-israelische Co-Produktion.

Baron von Mildenberg war nicht nur ein Reisejournalist, der sich für das Leben in Palästina interessierte, sondern ein SS-Mann, der lange vor 1933 in die Partei eingetreten war, als Leiter des NS-Judenreferats direkter Vorgesetzter von Adolf Eichmann war, dann Referent im Reichspropagandaministerium wurde und schließlich mit bereinigtem Lebenslauf als Repräsentant von Coca-Cola sein Auskommen fand. Kurt Tuchler war ein glühender Zionist und träumte vom gelobten Land, sympathisierte also vielleicht sogar mit einigen Ideen Mildensteins vom Judenstaat in Palästina. An dieser Freundschaft unter kultivierten Menschen konnte offenbar auch der Holocaust nicht rütteln: obwohl Gerdas Mutter Ende 1942 in Theresienstadt »verschwand«, blieb man auch nach dem Krieg befreundet.

Von all dem haben die Kinder und Enkel Gerdas nichts gewusst. Goldfinger stöbert in Wuppertal auch Mildensteins Tochter Edda auf, eine eloquente Frau, die sich sehr gut an die jüdischen Freunde ihrer Eltern erinnert. Besser jedenfalls, als an die NS-Karriere ihres Vaters, die offenbar im Hause Mildenstein mit einer Legende kaschiert wurde. Doch Goldfinger lässt nicht locker, findet eine alte „Spiegel“-Story von 1966 über die Geschichte der SS, spricht mit dem Verfasser, geht in die Archive, befragt Historiker. Schließlich kommt es erneut zur Begegnung mit Tochter Edda, nur dass der mittlerweile von seinen Recherchen ziemlich überforderte Filmemacher jetzt Unterlagen dabei hat, die bestimmte Fragen zulassen. Die Situation wird rasch unbehaglich, obwohl der Tonfall noch immer freundlich ist. Doch hatte nicht kurz zuvor Hannah nicht achselzuckend gewarnt: „Würdest du einem Freund auf die Nase binden, dass sein Vater ein Mörder war, wenn er es selbst nicht weiß? Wozu?“

Wie in jedem guten Krimi bleiben am Schluss entscheidende Leerstellen, auf die sich niemand einen Reim zu machen weiß. Doch auf dem Weg dorthin wurde man Zeuge, dass nicht nur auf Täterseite nach 1945 geschwiegen wurde. Gleich zu Beginn des Films hatte ein Antiquar darauf hingewiesen, dass es in Israel Menschen gibt, die 10 oder 20 Jahre in Deutschland gelebt haben, danach aber 50 Jahre in Israel. Als Fremde, in der Diaspora, weil sie in ihrer Seele Deutsche blieben. So wie Gerda und Kurt?

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

17 Mädchen

(F 2011, Regie: Delphine Coulin, Muriel Coulin)

Marienkäfercheninvasion
von Wolfgang Nierlin

Der Kontrast zwischen kleinstädtischer Enge und der Weite des atlantischen Ozeans grundiert Delphine und Muriel Coulins Film „17 Mädchen“ („17 filles“), den die beiden Schwestern in ihrer bretonischen, von Umbrüchen …

Der Kontrast zwischen kleinstädtischer Enge und der Weite des atlantischen Ozeans grundiert Delphine und Muriel Coulins Film „17 Mädchen“ („17 filles“), den die beiden Schwestern in ihrer bretonischen, von Umbrüchen geprägten Heimatstadt Lorient gedreht haben. Es ist das Jahr, in dem die Marienkäferchen eine Invasion starten und die Natur gleich doppelt verrücktspielt. Denn nach und nach werden immer mehr minderjährige Mädchen absichtlich und auf Verabredung schwanger. Dass diese Schwangerschaften auch als Manifestation jugendlichen Widerstands gegen die beschränkte Erwachsenenwelt und ein vorgezeichnetes Leben zu verstehen sind, formuliert der Film mehr als Behauptung. Die sozialen Ursachen und familiären Anlässe – von der überforderten alleinerziehenden Mutter bis zum autoritären Gebaren der Lehrer und Eltern – sind nur angedeutet; stattdessen konzentrieren sich die französischen Filmemacherinnen in ihrem Coming-of-age-Film auf die Perspektive der Mädchen.

Deren ausgeprägt verschworenes Cliquenverhalten durchzieht dieses ebenso energiegeladene wie nachdenkliche Langfilmdebüt, dem tatsächliche Ereignisse zugrunde liegen, von Anfang an. Die 16-jährige Camille (Louise Grinberg), die erste Schwangere, ist inoffizielle Anführerin einer Bande von zunächst fünf Freundinnen, die den Schulsport schwänzen, in den Dünen kiffen und sich offensiv den erzieherischen Autoritäten verweigern. Dass sie andererseits auch Mitschülerinnen ausgrenzen, namentlich Florence (Roxane Duran), sagt viel über ihr Alter und noch mehr über ihre Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit, Liebe und Solidarität. Denn es ist schließlich ausgerechnet die Außenseiterin Florence, die, vom Verlangen nach Freundschaft und Teilhabe getrieben, das utopische und zugleich kindlich-naive Streben der Mädchen nach Freiheit und Unabhängigkeit in Gang setzt.

„Jetzt habe ich einen Grund, etwas aus meinem Leben zu machen“, formuliert Camille ihre neugewonnene Perspektive. Da sie nach der Geburt des Kindes sowohl ein Leben in der Schule als auch eines zu Hause habe und darüber hinaus voraussetzungslos geliebt werde, verfüge sie über „200 Prozent Leben“. Der Anspruch, es besser zu machen als die eigenen Eltern, deren hilflose Reaktionen weitgehend schematisch gezeichnet sind, lässt die Mädchen von einer gemeinsamen Schwangeren-Wohngemeinschaft träumen. Immer wieder beschwören die Schwestern Coulin, unterstützt von einem rockigen Soundtrack, die unbändige Kraft der Jugend und ihre Lust an der Regelverletzung. In einer poetischen Spannung dazu stehen melancholische Momentaufnahmen, in denen die Mädchen, fotografiert im Ambiente ihrer Jugendzimmer, über sich selbst nachdenken. Verstärkt wird diese unterschwellige Unsicherheit noch durch Blicke auf Details von Körpern und Haut, die das Zerbrechliche und die Verletzlichkeit der Jugendlichen festhalten. Und so sind auch die märchenhaften Träume der siebzehn Mädchen nur eine schmerzliche Etappe aus der Zeit des Übergangs.

Rock of Ages

(USA 2012, Regie: Adam Shankman)

Smells Like No Spirit
von Drehli Robnik

„Rock of Ages' erinnert an Franz Antel-Klamotten von circa 1971; ansonsten kann man dieser Verfilmung einer Backstagemusicalkomödie wenig zugutehalten. Das kostümfreudige Sich-zum-Dodel-Machen von Publikumslieblingen, hier im Ambiente eines Hair Metal-Clubs …

„Rock of Ages' erinnert an Franz Antel-Klamotten von circa 1971; ansonsten kann man dieser Verfilmung einer Backstagemusicalkomödie wenig zugutehalten. Das kostümfreudige Sich-zum-Dodel-Machen von Publikumslieblingen, hier im Ambiente eines Hair Metal-Clubs in L.A. 1987, haut halbwegs hin: Als Avatare von Paul Löwinger und Franz Muxeneder fungieren Alec Baldwin und Russell Brand (der im Hardrock-Zappelclown-Fach festhängt), Paul Giamatti ist Gunther Philipp, als Susi Nicoletti zieht Mary J. Blige Divenregister. Im Stuntcasting- und Schauwertzentrum dieser Designerproduktion besetzt Tom Cruise – um den Vergleich auf die rezente Pophitpotpourrimusicalwelle auszudehnen – die Position von Meryl Streep in „Mamma Mia!': Publikumsgenerationen verbindendes show horse, bei dem jede trotz des Alters gelingende Verrenkung und Entblößung in sich reflektiert und doppelt obszön wirkt.

Nix gegen Tom Cruise: Der macht, in der Rolle von Altrockgott Stacee Jaxx, zwischen Räkeln, Flüstern und Irrblick, den Gockel-Maniac mit gewohnter Verve. Aber das ist nicht so lustig wie sein Part in „Tropic Thunder', und es füllt nur ein Achtel des überlangen Films. Der Rest will ausgesessen sein: ein jetzt schon vergessenes junges Schmachtpaar, dressiertes Afferl, Einfühlung in die guten alten Achtziger, vor Techno, Grunge und Clinton, als Männer und Frauen noch performt haben, wie sehr sie ihre Intaktheit genießen. Brunftrock-Karaoke, Bildstilparaphrasen (Haarlicht, Draufsicht, Blaustich: grauslich), alles in jedem Sinn verschwitzt und tongue in cheek. Es regiert das Bewusstsein, das Gezeigte sei so wert- wie alternativlos: nahtlose Identifikation von Nihilismus und Hingabe im Modus des Überschmähs. Ergo befiehlt der alle zur Doppelhochzeit in L.A. am Wörthersee vereinende Schlusshadern „Don’t stop believing!'. Öhm.. warum eigentlich nicht?

Fast verheiratet

(USA 2012, Regie: Nicholas Stoller)

Eine materialistische Hollywoodkomödie
von Drehli Robnik

Immer wieder blendet dieser Film, auch mal zu Van Morrison-Klängen, zurück zum Magic Moment eines Kostümfests zu Silvester, bei dem Tom und Victoria zusammenkamen: er im Bunny-Plüschanzug, sie im Lady …

Immer wieder blendet dieser Film, auch mal zu Van Morrison-Klängen, zurück zum Magic Moment eines Kostümfests zu Silvester, bei dem Tom und Victoria zusammenkamen: er im Bunny-Plüschanzug, sie im Lady Di-Look. Im jahrelangen Verlauf ihrer Beziehung erweist sich: Sie ist ungleich klüger als Lady Di, er aber wird immer flauschiger, lässt Haar und Bart sprießen, trägt gar wieder den Bunnyplüsch als praktischen Hausanzug, braut zuhause seinen eigenen Met und regrediert generell ins Ungustiöse.

Ein Prozess jahrelangen Verfalls nach einem doch irgendwie guten Start ins Glück beginnt, als Victoria eine Psychologie-Postdoc-Stelle an der Universität Michigan annimmt und Tom mit ihr in den kalten Norden zieht, wobei er seinen Seafoodchefkochtraumjob in San Francisco gegen einen Posten in der örtlichen, nun ja: Sandwichbelegschaft eintauscht. Und während rundum Großeltern sterben, Eltern meckern, Schwestern gebären und im Inneren Beziehungskrisen knistern, schieben die beiden ihre Hochzeit immer wieder auf: Sie sind 'Fast verheiratet' im 'Five-Year Engagament' (so der Originaltitel des Films).

Am Ende aber lernen sie, dass all das Hinauszögern nix bringt: Das halb paralysierte, halb hyperaktive Warten auf den perfekten Zeitpunkt zur Jawort-Entscheidung füreinander – wo doch schon der alles entscheidende Beginnmoment nicht perfekt, sondern hasenhaft-hatschert war –, das ist die depressive Verendlosigung einer Nicht-Haltung des Alles-Offenlassens. Jene gesellschaftlichen Verhältnisse, die (über alle Individualpsychologie hinaus) den Leuten genau dies abverlangen – nämlich sich eben nur ja nicht festzulegen und sich dabei dem ständigen Imperativ der Perfektionierung dessen, was du bist und tust, zu unterziehen –, nennen die einen euphemistisch Flexibilisierung, die anderen nennen das kritischer Neoliberalismus oder Kontrollgesellschaft. Es läuft aufs selbe hinaus: auf den antrainierten Habitus eines Alltagshandelns, das sich immer relativiert, weil es allzuvieles mitzubedenken trachtet. Von solchem ins Zwangsreflexive freigesetzten Lifestyle hat etwa Maren Ades Film 'Alle anderen' 2009 ein sehr direktes Bild, ein (Deleuze’sches) Zeitbild nahezu, entworfen, und auch 'Fast verheiratet' zielt auf ein direktes Bild von Zeit, von sozial erlebter Zeit, die vergeht, nagt, sich als Erinnerung erhält, Egos spaltet: Wenn etwa Viktoria und ihre Schwester über das Elend von Elternschaft jammern wollen, während Schwesters Kinder dabei sind, müssen die beiden ihr verbittertes Gespräch aus Rücksicht auf die unschuldig glotzenden Kleinen als quakendes Reenactment eines Sesamstraße-Dialogs tarnen.

(Kleiner Exkurs) Solche Dialoge, denen unter dem und durch den Blick einer ahnungslosen dritten Instanz eine – oft lustig anmutende – Deformation auferlegt wird, kennen wir ja markenzeichenhaft aus komödiantischen Momenten klassischer Hitchcock-Thriller; etwa wenn in 'The Man Who Knew Too Much' Doris Day und James Stewart ihr geheimes Gespräch im Mittvollzug eines rund um sie stattfindenden sakralen Chorgesangs abwickeln müssen, weil man doch grade während der Messe in einer Kirche ist; oder wenn in 'North-by-Northwest' Cary Grants Flucht vor Geheimagenten die Form einer wortwitzig sabotierten Kunstauktion annimmt, weil der Flüchtende sich in den institutionellen Sprachspielrahmen der Versteigerung einklinkt, ohne dass seine Notlage dabei offenkundig würde. Diese Position des machtvollen Dritten, der den Dialog der Einen mit den Anderen dominiert, ohne es selbst zu merken, nehmen in der mit virtuosem Witz gespielten Szene von 'Fast verheiratet' die kleinen Kinder ein, in ihrer Funktion als verlebendigtes, verkörpertes neoliberales Kapital. Dieses Kapital fordert, dass du es optimal bewirtschaftest, ihm aber auch wirklich alle Chancen eröffnest, ihm auch nicht die kleinste Kränkung (etwa durch ein mitgehörtes harsches Wort) antust, dass du ihm gegenüber immer gutgelaunt bist, nie jammerst, immer fähig bleibst, dein Handeln zu reflektieren und zu ironisieren. Vermittelt über Stanley Cavells Gedanken vom zentralen Stellenwert der remarriage comedy (der Komödie der Wieder-Bekräftigung des Ehebundes) im Hollywood-Kino, zumal in dessen Beitrag zur Formierung eines tugendhaften, entscheidungsfreien amerikanischen Subjekts, ließe sich 'Fast verheiratet' auch in anderer Hinsicht Hitchcocks Filmen über heterosexuelle Pärchen auf der Flucht oder auf Ermittlungsreise gegenüberstellen. Die Frage ist jeweils, was eine Bindung garantiert, beglaubigt – der symbolisch-performative Akt eines Jaworts oder die Erfahrung gemeinsam bestandener Abenteuer? Remarriage comedies relativieren das Jawort zugunsten der Erfahrungstests, die es erst gültig machen, indem sie seine Bekräftigung ermöglichen (nach all den Abenteuern merken die zwei, wie sehr sie zusammengehören); Hitchcock und 'Fast verheiratet' – und andere jüngere US-Comedies aus dem verästelten Judd Apatow-Kreativbiotop – zeigen, wie sich Jawort und Erfahrung ineinander auflösen, weil das Abenteuer voller symbolischer Jawort-Momente steckt und zugleich das Symbolritual des Jawort-Gebens selbst zur endlosen Teststrecke wird, zum Prozess intensiver Vorbereitungen, Aufschübe, Absagen, Durchfälle und Vorabend-Dinners, der selbst abenteuerlich (und komisch) gerät. In dieser Hinsicht knüpft 'Fast verheiratet' natürlich ganz direkt an den Vorjahrskomödienerfolg von 'Bridesmaids' an. (Ende vom Ex-, wieder auf Kurs.)

Wie auch 'Bridesmaids', 'Hall Pass', 'Funny People', 'Forgetting Sarah Marshall – Nie wieder Sex mit der Ex', 'Knocked Up – Beim ersten Mal' und andere rezente Romantic Comedies (die vielleicht so romantisch gar nicht sind, weil sie eben der Logik des Tests und der Prüfung und noch der kritischen Prüfung der Prüfung folgen) ist 'Fast verheiratet' ein Film, der nicht nur zeigt, wie Leute in und aus ihrem Leben etwas lernen können, sondern aus dem auch wir etwas fürs Leben lernen können, vielleicht sogar für unseres. (Mainstream-Kino ist ein Ort, an dem lebenslanges Lernen Wirklichkeit wird und oft lustig ist.) (Oft natürlich auch Scheiße.) Was lernen wir aus 'Fast verheiratet'? Da ist zunächst eine paulinische Weisheit: Es ist besser zu heiraten als zu pennen. Also, in Paulus‘ Korintherbrief war von 'Brennen' statt 'Pennen' die Rede, aber – you get the picture. Es geht darum, nichts unnötig lang aufzuschieben. Vielleicht ist diese Lehre – wurstle nicht im Aufschub zugunsten des richtigen Augenblicks herum, sondern entscheide dich, und weiterwursteln kannst du danach ja immer noch – auch eher über die Paulus-Lektüre des kommunistischen Ereignisphilosophen und Kinopuristen Alain Badiou zu lesen, und dann würde sie sich als Variante einer handlungsethischen Lektion von Rosa Luxemburg erweisen: Der richtige Zeitpunkt zum Handeln ist dann, wenn du endlich handelst; Perfektion wird es nie geben. (Es ging da ums Ja zur Revolution, nicht zur Ehe, das nur nebenbei.)

Ist also 'Fast verheiratet' gar ein – wenn schon nicht kommunistischer, so doch – materialistischer Film? Die Art, wie er Symbol-Akt und Endlostest-Abenteuer ineinander auflöst, spricht dafür. Ebenso das Gespür für die vielgestaltige Bedingtheit bürgerlichen Lebens – insbesondere für Arbeitsplätze –, das der Film entfaltet: Was wir sind, ist materiell bedingt: durch Dauerwinter oder kauzige Mitmenschen, zumal Kolleg_innen, durch die Stofflichkeit von Kummerspeck und Designermenüs (bis hin zum nur bedingt geilen Phantasieszenario von Sex unter Einsatz von Kartoffelsalat, in das eine kauzige Kollegin Tom hineinzwingt), durch die sich uns auferlegende Beziehungsmaterie von Rivalitäten und Identitätszuschreibungen auf dem multiethnischen Uni-Campus.

Zweite Lektion, die hier aber eher zwiespältig zum Tragen kommt: das Lenin’sche Bonmot, wonach jede Köchin imstande sein muss, die Staatsmacht auszuüben. Dazu bedarf es eines revolutionär vereinfachten Staats und einer Köchin. Was aber, wenn wir es nicht mit einer Köchin zu tun haben, sondern mit einer hochqualifizierten Nachwuchspsychologin – und einem verkrachten Koch? In ihrem Postdoktorat an der Uni ist Viktoria zweifellos imstande, Macht auszuüben, nicht direkt die der Staatsinstitution als vielmehr die gouvernementale Macht, die Führungsmacht, die durch das Wissensregime der Universität und im besonderen durch ihre behavioristischen Psychologietests ausgeübt und ausgeformt wird. Die Logik von Film als Lebensteststrecke (schon Walter Benjamin wusste, dass das Kino uns in die Endlosausweitung der Testzone einführt) und die Logik von remarriage bzw. forever delayed marriage oder multiple almost-marriage comedy, sie beide bilden sich hier noch einmal ab in den Szenen der Befriedigungsaufschubfähigkeitstestanordnung, die sich Viktoria, ihr arroganter walisischer Chef (und zeitweiser Lover) und sein Team ausgedacht haben; eine 'Anordnung' im Doppelsinn (Sabine Nessel), ein Machtgefüge, das Viktoria irgendwann dann auch auf den Bartgebüsch und Bunnyplüsch tragenden und daheim vegetierenden Tom anwendet – um mit Schrecken zu sehen, dass ihr Endlosverlobter gleich die alten Donuts auffrisst, anstatt auf frische zu warten, dass er also das Zweitbeste jetzt anstatt das Beste irgendwann will (siehe Lektion Luxemburg). Auf das Ethos des Zweitbesten, das immer schon Bestes gewesen sein wird, sofern wir es hingebungsvoll wollen, groovet sich der Film gegen Ende ein, feiert etwa eine musikalische Glücksmontagesequenz lang, wie Tom – zurück in San Francisco, geheilt vom ressentimentalen Festhalten am Luxusrestaurantseafoodchefkochphantasma – seine eigene pfiffige, ganz dem Multiethnischen zugetane Homemade-Imbissbude betreibt; und da sehen wir plötzlich die als Psychologin zur Führungsmacht befähigte Viktoria als seine fröhliche Kochgehilfin. Das aber kann es nicht sein! Dass es kurz einmal – zum Glück geht der Film dann noch weiter, und die 'Köchin' dirigiert ja dann auch die ostentativ nicht-perfekt stattfindende Hochzeit – so aussieht, als wäre alles eitel Wonne, wenn das Männlein seinen bescheidenen Kreativarbeitertraum verwirklicht und das überqualifizierte Weiblein, aus den Fängen angemaßter Intellektualität befreit, sich an seiner Seite zur Familienbetriebshilfsarbeit einfindet.

Soll heißen: In genderpolitischer Hinsicht ist da noch room of improvement vorhanden, und dieser Aspekt von Apatow-Komödien ist exemplarisch verbildlicht im Anblick von Hauptdarsteller Jason Segel. Spätestens seit seiner markanten Nebenrolle in 'Knocked Up' und exemplarisch in 'Forgetting Sarah Marshall' spielt Segel ganz aus der Sanftheit seines babyspeckigen Riesenleibs, seiner Schmollippen und Dackelaugen, seiner muttermalübersäten Haut heraus – was? Den Typus des Frauenverstehers und Underachievers, der sich am Ende doch durchsetzt, und vor allem den Typus Mann, der gelernt hat, seine nicht-souveräne, massiv affizierbare, nah am Wasser gebaute Physis zu akzeptieren. Der Segel-Mann unterwirft die einstige ideologisch-phallische Allmacht der Testikel dem Test der bürgerlichen Realität und akzeptiert das Ergebnis, nimmt jene makelhafte Leiblichkeit, die (klassischen feministischen Filmtheorien zufolge) im maskulinistischen Film-Imaginarium das zugeschriebene Merkmal von Weiblichkeit war, bereitwillig auf sich – und behält sich doch die Definitionsmacht vor. Das zeigt sich schon allein daran, dass Hauptdarstellerinnen postromantischer Hollywood-Beziehungskomödien, die ähnlich wie Segel, Chris O’Dowd in 'Bridesmaids' oder Seth Rogen in 'Knocked Up', ostentativ nicht-perfekt aussehen, noch kaum denkbar sind – die müssen schon eher wie Mila Kunis oder Katherine Heigl daherkommen. (Der Look von Kristen Wiig in 'Bridesmaids' war da mal ein kleiner Schritt in Richtung Wirklichkeit.) (Und die Allianz zwischen Cameron Diaz als ihre reichlichen Reize schamlos und vom Filmplot erfrischend 'ungestraft' einsetzendes Working Girl und Jason Segel als laschem Underachiever in 'Bad Teacher' sei hier, en passant, als ein Bündnis zur Leistungsterrorverweigerung gewürdigt.)

Nun ja. Das soll nicht heißen, dass Segel in seinem Part in 'Fast verheiratet' nicht brilliert. Und auch Emily Blunt in der Rolle der zeitweiligen Köchin, die dann doch die Geschäfte wieder in ihrer Eigenschaft als Verhaltenssteuerungspsychologin lenken darf – wobei: In der vollentwickelten Kontrollgesellschaft ist ohnehin das Kochen längst zur verfeinerten Verhaltenssteuerungssozialtechnik avanciert –, auch Blunt, die in der Handlungskonstellation des Films (oder im Swiss Air-Kund_innenmagazin) seltsamerweise als Verkörperung einer optisch-erotisch nur zweitbesten Frau hingestellt ist, die demnächst mit 'saggy tits' herumlaufen wird (Wenn ihr Look für Nicht-ganz-so-toll-Aussehen und drohende Hängetitten steht, dann wär ich damit schon recht zufrieden), auch sie, let’s be blunt about it, ist toll wie immer. Blunt und Segel, die beide übrigens angenehm älter aussehen als sie sind, spielten schon in 'Gullivers Reisen' und im Muppets-Film, wie nun auch in 'Fast verheiratet', nach einem Skript bzw. in der Regie von Nicholas Stoller Seite an Seite. Lassen wir mal die kleinen Hormonriesen aus dem Gulliver-Film weg und machen lieber die Vergleichsperspektive mit den Muppets stark: Dann ist natürlich auch 'Fast verheiratet' ein Film, der von der Anerkennung des 'No Body Is Perfect' in Richtung – nur in Richtung! – eines musikalisierten Kommunismus des Wissens- und Kreativprekariats weist. Auch hier ein lustiges Paar inmitten eines starken Ensembles von Typen wie du und ich, mit etwas weniger Plüsch, aber ebensoviel reflektiertem Charme und humanem Schmäh. (Applaus! Applaus!)

Wagner & Me

(GB / CH / RU D / 2010, Regie: Patrick McGrady )

Voll die Antisemiten
von Dietrich Kuhlbrodt

Wer da von Me redet, Stephen Fry, ist ein in England wohl bekannter TV-Moderator, Fan der Musik Richard Wagners seit Kindesbeinen. 2009 öffnen sich die Pforten des Bayreuth-Tempels, für ihn, …

Wer da von Me redet, Stephen Fry, ist ein in England wohl bekannter TV-Moderator, Fan der Musik Richard Wagners seit Kindesbeinen. 2009 öffnen sich die Pforten des Bayreuth-Tempels, für ihn, den Gläubigen. Die Kamera ist dabei, und wir folgen dem bekennenden Anhänger des Wagner-Kults, wie er durch die heiligen Hallen schreitet und mit kindlicher Naivität, ob gespielt oder nicht, die Gefühle beschreibt, die ihn überwältigen. Er ist bei Proben dabei. Auf die Tasten des Pianos hatte der verehrte Richard Wagner höchstselbst seine Hände gelegt. Im sonst für die Öffentlichkeit unzugänglichen Festspielhaus reden die Prominenten mit ihm, empathisch. Ein Fest für ihn, für ihn ganz allein, und trotzdem dreht er nicht durch. Warum nicht? Stephen Fry hat ein Problem, er muss seinen Wagnerglauben rechtfertigen und verteidigen, und dazu braucht er einen klaren Kopf.

Fry hat einen jüdischen Hintergrund. Angehörige sind im KZ Auschwitz ermordet worden. Wagner war bekennender Antisemit. Hitler, der andere Wagnerfan, ließ dessen Musik auf dem Parteitagsgelände in Nürnberg erschallen. Hitler stand dazu auf dem steinernen Podium und reckte die rechte Hand. – „Wagner & Me“, der Film, rückt jetzt, bald sechzig Jahre
danach, den Podest ins Bild, Gras wächst drauf. Der Stein bröckelt, Stephen Fry bringt es nicht fertig, sich draufzustellen. Ja, was sagen?

Eben noch, in Bayreuth, kam der Satz „Ich bin ein Kind im Bonbonladen“. Jetzt erkennt er: „Hitler und die Nazis haben Wagner befleckt“. So rum wird’s für ihn richtig. Aber, Herr Fry, hatte Wagner, der Antisemit, nicht selbst einen Fleck auf seine Musik gemacht? – Neinnein, „er brauchte Feinde, um kreativ zu werden“, „er brauchte den Kick“. —

Momentmal, Her Fry, – aber der kann mich ja nicht hören. Er ist unterwegs, um sich Unterstützung zu holen. In St. Petersburg, im Mariinsky-Theater, spricht der weltberühmte Wagner-Dirigent Richtung Israel: „Wenn wir nach dem zweiten Weltkrieg hier Wagner aufführten, dann kann ihn jedes Land spielen“. – Aber waren die Stalinisten nicht voll die Antisemiten gewesen? – Wieder hört mich keiner. – Stephen Fry legt noch einen drauf. In London lässt er die weltberühmte Cellistin zu Wort kommen. Als Mädchen hatte sie im Gefangenen-Orchester Wagner gespielt – und Auschwitz überlebt. „Musik kann man nicht besudeln. Sie ist heilig“, hören wir. –

Haben wir die Argumente zusammen? – Herr Fry, Ihr Schlusswort! – “Ich verzichte doch nicht wegen Adolf Hitler auf Wagner, das große Genie“ – Danke. Aber hatten Sie nicht am Anfang gesagt, kokett, aber der Situation angepasst: „Ich bin eine Blamage“?

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 07/2012

Copacabana

(F / B 2010, Regie: Marc Fitoussi)

Antibürgerliche Reflexe
von Wolfgang Nierlin

Babou (Isabelle Huppert) heißt eigentlich Elisabeth Delmotte. Wenn sie sich eingangs von Marc Fitoussis tragikomischem Film „Copacabana“ schminken lässt und dabei mit ihrem Blick lange auf ihrem Spiegelbild verharrt, spürt …

Babou (Isabelle Huppert) heißt eigentlich Elisabeth Delmotte. Wenn sie sich eingangs von Marc Fitoussis tragikomischem Film „Copacabana“ schminken lässt und dabei mit ihrem Blick lange auf ihrem Spiegelbild verharrt, spürt man etwas von ihrer Gespaltenheit. Der Wunsch, ein anderer zu sein und ein Leben abseits der konventionellen Regeln zu führen, haben Babou zu dem gemacht, was sie ist: eine verträumte Müßiggängerin ohne rechten Plan und ein ausgeflippter Freak mit einem Hang zum Chaos, der das geregelte Spießerleben verabscheut. Einmal kommt sie, die es nicht lange in Arbeitsverhältnissen aushält und stets pleite ist, zu spät zu einem Vorstellungsgespräch in einer Konfiserie. Als sie daraufhin des Ladens verwiesen wird, rastet sie kurzerhand aus und räumt die Auslage ab. Babous Freiheitsdrang, gepaart mit der Angst, durch zu viel Nähe ihre Unabhängigkeit zu verlieren, haben sie aber auch einsam gemacht.

Das Unstete und Exaltierte sowie Babous vermeintlicher Mangel an Verantwortungsgefühl sind zugleich die Gründe, weshalb ihre 22-jährige Tochter Esméralda (gespielt von Hupperts Tochter Lolita Chammah) Abstand zu ihr hält und nur noch wenig mit ihr zu tun haben will. Die Sprachstudentin, die sich ihr Studium als Bedienung finanziert, schämt sich geradezu für ihre Mutter. Und weil sie deshalb diese zu ihrer geplanten Hochzeit explizit auslädt, kommt es zum Zerwürfnis. Tief gekränkt, nimmt sich Babou vor, ihr Leben zu ändern und dafür die gemeinsame Wohnung zu verlassen. Diese Umkehrung des Konflikts innerhalb einer Mutter-Tochter-Geschichte nutzt Marc Fitoussi für den nachdenklichen Witz seines Films, der seine schillernde Wirkung vor allem dem tragikomischen Spiel Isabelle Hupperts verdankt.

So wirkt Babou in ihrer lustvollen Antibürgerlichkeit immer auch ein wenig traurig, einsam und verloren. Als sie schließlich in Ostende bei einer dubiosen Immobilienfirma anheuert („Ich muss mich eingliedern.“), um auf der Straße potentielle Käufer für Ferienappartements zu werben, kontrastiert Fitoussi – vor allem über den Soundtrack vermittelt – Bilder der grauen, tristen Hafenstadt mit Babous titelgebender Brasilien-Sehnsucht. „Ich reagiere auf Begegnungen“, äußert sie einmal gegenüber einer Kollegin, um ihre unbestimmte, nicht festlegbare Lebensbewegung zu beschreiben. In den neuen, provisorischen Arbeits- und Lebensverhältnissen sind Nähe und Distanz in den Sozialkontakten bald austariert. Dabei bleibt Babou zwar einerseits ihrer Haltlosigkeit (etwa in ihrer Beziehung zum Hafenarbeiter Bart) treu, durchbricht durch eine unvermutete Einfühlsamkeit auf versöhnliche Weise aber auch ihr negatives Mutter-Image. Trotz diverser Drehbuchschwächen, die Fitoussi durch Ellipsen überspringt, ist diese Facette glaubhaft. Wenn gegen Ende Babous neu gewonnenes Vertrauen – zur Vorgesetzten Lydie (gespielt von der wunderbaren Aure Atika) – bitter enttäuscht wird, bestätigen sich auf ironisch-schmerzliche Weise doch noch ihre antibürgerlichen Reflexe und verlangen geradezu nach einem utopischen Ausbruch in brasilianische Farbigkeit.

Wanderlust – Der Trip ihres Lebens

(USA 2012, Regie: David Wain)

Oh du segensreicher Kapitalismus!
von Michael Schleeh

Ein New Yorker Yuppiepärchen hat sich eben noch beim Kauf einer völlig überteuerten Wohnung in bester Lage finanziell überhoben (sie (Jennifer Aniston) bekommt den Auftrag von HBO nicht, er (Paul …

Ein New Yorker Yuppiepärchen hat sich eben noch beim Kauf einer völlig überteuerten Wohnung in bester Lage finanziell überhoben (sie (Jennifer Aniston) bekommt den Auftrag von HBO nicht, er (Paul Rudd) wird fristlos entlassen, da die Firma überraschend pleite macht), da beschließen sie aus recht masochistischen Gründen, den Bruder Protz in der Provinz zu besuchen, um in dessen Firma unterzuschlüpfen. Beim Roadtrip durch das Land stranden sie allerdings, völlig ausgelaugt und übernächtigt, in einer Hippie-Kommune, deren Lebensmaxime den gewohnt Großstädtischen diametral entgegensteht. Eine Erfahrung, die sich als berauschend lebenserfrischend erweist. Hier könnte man vielleicht ein wenig verweilen, fantasieren sie lachend und euphorisiert bei der Weiterfahrt, nicht ahnend, dass sie in der kapitalistisch aufschneiderischen Welt des Bruders völlig Schiffbruch erleiden werden. Plötzlich nimmt der Flirt mit dem Aussteigerleben konkrete Züge an, und man erwägt, es mal zu probieren. Auf in den Tanz!

In dieser von Judd Apatow produzierten Komödie steht die amerikanische „recession“ als konfliktauslösende Prämisse zunächst im Vordergrund. Die Frau mit ihrem Bedürfnis nach einer repräsentativen Wohnlage erweist sich dann im Film als wankelmütige und orientierungslose Protagonistin, die auf der Suche nach dem rechten Wege im Leben ist: Filmemacherin, Autorin, Künstlerin und Kaffeebarbesitzerin wollte sie schon sein. Die Immobilie (die er finanziert) soll ihr also auch das Erwachsensein versichern (muss man extra erwähnen, dass in diesem Film Kinder keine Rolle spielen?). Er hingegen ist Rationalist und hat von Beginn an Vorbehalte, nennt die Dinge beim Namen und ist sich der Entscheidung weit weniger sicher als sie. Aber was tut man nicht alles für den häuslichen Frieden! Nein zu sagen ist nicht die Stärke dieses unfreiwilligen Komödien-Helden.

Und wenn sie dann im Land, wo Milch und Honig fließen, angekommen sind, werden gut eine Stunde lang Komödienszenen aneinander gereiht, Klischees und Standards bedient, und man hat auch mal wieder Sex (mit dem bärtigen Guru der Kommune (Justin Theroux) etwa). Sich zu öffnen fällt dem Helden allerdings schwer. Übersprungshandlungen kündigen sich an, obwohl ihm die hotteste Sexbiene gerne mal zu Diensten sein will. Das soll wohl irgendwie lustig sein. Oder politisch. Seine Moral, seine Verklemmtheit, seine Ordnungsliebe, die Erziehung oder sonst irgendwas machen ihm alles Körperliche schwer. Er kann sich halt nicht öffnen. Die ganze Sache geht ihm gegen den Strich, wohingegen seine Geliebte immer stärker zu sich selbst findet und sich von ihm entfernt. Sagt sie zumindest. So also droht ihm auch dieser Pfeiler seiner Existenz wegzubrechen.

Die apatowsche Pimmelwitzquote ist erfreulicherweise recht niedrig in „Wanderlust“ und beschränkt sich auf einen etwas quälenden running gag, der als leibhaftiger Nudist durch den Film stolpert. Als verhinderter Autor ist dieses Kommunenmitglied mit einer stilechten Intellektuellenbrille gekennzeichnet.

Und am Ende, da steht nach der Entzweiung des Liebespaars nicht nur die Reinstallierung der Beziehung, sondern auch, ganz dem Gesetz des Filmes folgend, die Gründung einer gemeinsamen Firma. Eine Drehbuchentscheidung, die nicht nur völlig konsequent ist, sondern auch die Ekelhaftigkeit des Filmes nochmal abschließend zu Bewusstsein bringt. Der Verlag übrigens hat Erfolg (freilich, was sonst). Mit den Romanen des bebrillten Nudisten … Von wegen Wirtschaftskrise! Schauet her, wie wir gerettet wurden!

Babycall

(NR / S / D 2011, Regie: Pål Sletaune)

Norwegen kann sehr kalt sein
von Ulrich Kriest

„Wo ist Anders?“, fragt eine männliche Stimme eine verletzt am Boden liegende Frau. Mit einer mysteriösen Szene – Rückblende oder Vorgriff, vielleicht – beginnt der neue Spielfilm des Norwegers Pal …

„Wo ist Anders?“, fragt eine männliche Stimme eine verletzt am Boden liegende Frau. Mit einer mysteriösen Szene – Rückblende oder Vorgriff, vielleicht – beginnt der neue Spielfilm des Norwegers Pal Sletaune, der vor ein paar Jahren mit dem kontroversen Psychohorror „Naboer“ für Aufsehen sorgte. „Babycall“ ist zugleich harmloser und ambitionierter, ändert aber auch wiederholt seinen Tonfall und spielt ein doppelbödiges Spiel mit den Konventionen des Films und den Erwartungen der Zuschauer.

Zu Beginn scheint „Babycall“ eine Sozialstudie a la „Fish Tank“: Anna (Noomi Rapace mal wieder ungebremst intensiv als Schmerzensfrau des skandinavischen Films) und ihr Sohn Anders ziehen in einen anonymen und tristen Wohnblock am Rande Oslo, der ihnen Schutz bieten soll vor dem gewalttätigen Ex-Mann und Vater der Kleinfamilie. Insbesondere Anna wirkt schwer traumatisiert, geht ungern unter Leute, verbarrikadiert sich in der Wohnung, lässt die Vorhänge geschlossen. Man lebt sehr zurückgezogen und fast schon symbiotisch aufeinander bezogen gegen die (potentielle) Bedrohung durch die Außenwelt. Einziger regelmäßiger Kontakt der Rest-Familie sind zwei Sozialarbeiter des Jugendamtes, die allerdings auf der Seite des Täter-Vaters zu stehen scheinen und stets etwas parteilich und respektlos nach dem Rechten schauen.

Wobei irgendwann auffällt, dass Anders‘ Sehnsucht nach Normalität wächst. Will er doch nicht länger bei der Mutter im Bett schlafen! Hat er doch beim Spiel einen neuen, schweigsamen Freund kennengelernt, der einen mysteriösen Einfluss auf Anders ausübt. Anna reagiert darauf zunächst mit dem Kauf eines Babyphons, um den Schlaf ihres Sohnes zu kontrollieren. Im Elektromarkt lernt sie den ruhigen Helge kennen, der ihr etwas Sicherheit zu geben scheint. Doch dann hört Anna eines Nachts das Wimmern eines Kindes durch Babyphon. Helge spricht von möglichen Frequenzüberlagerungen. Anna ahnt, dass irgendwo in der Siedlung ein Kind misshandelt wird und beginnt, sich wirklich seltsam verhaltende Nachbarn zu beobachten. Schließlich wird sie Zeugin einer Gewalttat, doch ihr Versuch einzugreifen scheitert.

Was sich jetzt in sozialrealistischer Manier auf eine krude Mischung aus „Tatort“ und Horrorfilm einzupendeln scheint, wird immer häufiger durch surreale „Schocks“ und „Flashes“ verfremdet, die allmählich Misstrauen gegen die Zuverlässigkeit der Erzählperspektive säen. Einmal misstrauisch geworden, kommen einem immer mehr Schönheitsfehler in den Sinn, die – wie zuvor – auf die paranoide Wirklichkeitserfahrung der Protagonistin bezogen werden können. War Anna zunächst nur traumatisiertes Opfer, so wird sie jetzt allmählich unheimlich. Was, wenn die Kinderschreie im Babyphon aus einer anderen Zeit kämen und subjektive Erinnerungen wären?

„Wo ist Anders?“ Regisseur Sletaune gelingt über weite Strecken die intelligent gemachte Konstruktion eines verstörenden Schwebezustands zwischen Realität und Wahn, der von David Lynch („Mulholland Drive“), Stanley Kubrick („The Shining“) oder Rainer Werner Fassbinder („Despair-Eine Reise ins Licht“) inspiriert sein könnte. Dumm nur, dass das Ganze dann schließlich zu etwas führen muss, was den ganzen Aufwand lohnt. Und genau hier liegt die Schwäche von „Babycall“! Die Auflösung der filmimmanenten Spannung wird letztlich durch einen ziemlich platten Coup de theatre geleistet, was nur insofern besticht, weil man den Film jetzt gerne wegen Falschaussage vor Gericht zerren würde. Die Beweisführung in diesem Verfahren könnte indes wirklich interessant werden: es steht Aussage gegen Aussage!

Trotzdem: neugierig geworden, wie es dem Film gelingen konnte, so viele falsche Fährten zu legen und den Kern der Handlung immer wieder neu zu setzen, macht man die Probe der Wiederholung. Doch beim zweiten Sehen enttäuscht der Film nur noch, weil nicht nur die Cleverness der Konstruktion des unzuverlässigen Erzählens sichtbar wird, sondern auch deren Willkür. Ärgerlich, man hätte schon bei der erste Szene der »richtigen« Handlung stutzig werden müssen! Dumm gelaufen. Muss man jetzt alles, was oben steht, in den Konjunktiv setzen?

Zelle 211 – Der Knastaufstand

(F / ES 2009, Regie: Daniel Monzón)

Riot in Cell 211
von Harald Steinwender

Zwei Hände, ein Feuerzeug; Dunkelheit, hartes Seitenlicht von Links. Ein hagerer Mann erhitzt einen Zigarettenfilter, formt den heißen Kunststoff mit bloßen Fingern, schleift ihn am Boden seiner Zelle so lange, …

Zwei Hände, ein Feuerzeug; Dunkelheit, hartes Seitenlicht von Links. Ein hagerer Mann erhitzt einen Zigarettenfilter, formt den heißen Kunststoff mit bloßen Fingern, schleift ihn am Boden seiner Zelle so lange, bis er eine scharfe Klinge gefertigt hat. Dann öffnet er sich damit über dem Waschbecken die Pulsadern. Die Kamera registriert diese Selbsttötung, distanziert-beobachtend, abwartend, um dann ins Schwarzbild abzublenden. Ein pessimistischer Auftakt für einen pessimistischen Film, genauer: einen Gefängnisfilm, dem vom Sujet her sowieso schon düsteren Genre par excellence.

Gefängnisfilme, ob in der Ausbrecher- oder Gangstervariante, als engagiertes Sozialmelodram oder harter Thriller, erzählen im Kern immer von zwei Sorten von Menschen: Wärtern und Gefangenen. Die einen sind im Genre immer der Spiegel der anderen, beide jeweils eine Seite der gleichen Medaille. Ohne Wärter keine Gefangene. Ohne Gefangene keine Wärter. Die Summe des Genres brachte Alan Clarke in 'Scum' ('Abschaum'; 1977 und 1979) auf den Punkt. Da erklärt ein Anarchist – eine Figur, die wie der Verräter, der Kapo, der Bandenführer, das ewige Opfer, der Mitläufer zu den Standardtypen des Genres zählt – einem Wärter in einer Kaffeepause, dass sie sich doch sehr ähnlich seien: Wärter wie Gefangene sind dem disziplinierenden Rhythmus des Systems Gefängnis unterworfen, werden permanent überwacht, befinden sich die meiste Zeit des Tages hinter Gittern, folgen stumpfsinnigen Routinen und Befehlen, deren Missachtung Sanktionen nach sich ziehen. Nur einen Unterschied gibt es: die Gefangenen sind nicht freiwillig hier.

Daniel Monzóns 'Cell 211' spitzt diesen Grundkonflikt zu und stellt ihn zugleich auf den Kopf, indem er den jungen Wärter Juan (Alberto Ammann) beim Antrittsbesuch am Vortag vor seinem regulären Arbeitsbeginn zum Gefangenen wider Willen macht, ihn mitten in einem blutigen Gefängnisaufstand wirft, so dass er sich als Gefangener ausgeben muss, um irgendwie zu überleben. Er geht eine Art Männerfreundschaft mit dem gewalttätigen Malamadre (Daniel Monzón) ein, dem Anführer des Aufstands. Über die folgenden Ereignisse wird er immer mehr zum echten Verbrecher. Bald übersteigt er Malamadre an Verve als Aufrührer und Killer. Freilich hat er zunächst kaum eine Wahl. Aber später ist dann alles egal, denn die Staatsgewalt draußen verstellt ihm alle Möglichkeiten, in sein normales Leben zurückzukehren und zu weit ist er sowieso schon gegangen. Was Monzón sagen will, ist offensichtlich: Eine Gesellschaft, die Gefängnisse entwirft und unterhält, schafft keine Disziplinierungsanstalten, sondern Institutionen, die vor allem eines produzieren: Gefangene, emotional und intellektuell verkrüppelte Menschen, die vor allem über Gewalt kommunizieren, strukturelle wie physische. Sie kennen es nicht mehr anders, der Knast sorgt dafür. Und Malamadre hat ganz recht, wenn er in Bezug auf seinen Aufstand bemerkt, dass die da draußen auch nur eines verstehen würden: Gewalt.

Daniel Monzóns Malamadre ist eine ungewöhnlich komplexe, auch widersprüchliche Figur im Genre: Ein Aufrührer mit pechschwarzen, funkelnden Augen, der mal gegen Drogen wettert, dann selbst kokst, der Anteilnahme ebenso wie eiskaltes Kalkül an den Tag legt, ein Anführer, der seine Jünger in den Tod führt (Malamadre – böse Mutter – ist natürlich ein 'sprechender Name'). Und trotz seiner soziopathischen Erscheinung agiert er letztlich auch wie einer von Hobsbawms Sozialrebellen. Malamadre hat nichts zu verlieren und nur wenig zu gewinnen und so rennt er gegen die Ordnung an, nicht blind, sondern mit den Mitteln eines archaischen Banditenführers. Sein vorgebliches Ziel ist die Verbesserung der Haftbedingungen und in seinem Selbstverständnis unterscheidet er sich kaum von den ETA-Aktivisten, die er als Geiseln nimmt, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Schließlich ist es ausgerechnet der ehemalige Wärter Juan, der ihn davon überzeugt, dass sich sowieso nichts ändern wird, wenn er sich von denen da draußen mit leeren Versprechungen abspeisen lässt. Was bleibt ist der blutige Exzess, der blindwütige Aufstand, wie er schon am Ende von Clarkes 'Scum' stand und vielleicht gerade durch seinen Blutzoll etwas bewirken kann.

'Cell 211' steht in der Tradition des sozial engagierten Gefängnisfilms. Monzóns Film ist kein Epos wie Jacques Audiards brillanter 'Un prophète' ('Ein Prophet'; 2009), kein zermürbender Trip in den Nihilismus wie John Hillcoats 'Ghosts … of the Civil Dead' ('Willkommen in der Hölle'; 1988), auch kein formales Experiment wie Sidney Lumets 'The Hill' ('Ein Haufen toller Hunde'; 1965) oder Nicolas Winding Refns 'Bronson' (2008). 'Cell 211' steht eher in der Tradition von George W. Hills stilprägendem 'The Big House' ('Hölle hinter Gittern'; 1930); Don Siegels düsterem 'Riot in Cell Block 11' ('Terror in Block 11'; 1954) und John Frankenheimers ausweglosem TV-Drama 'Against the Wall” – lupenreine, klassische Genrefilme ohne Schnörkel. Sein bitteres Ende erinnert an die Genreproduktionen der 70er Jahre, als es in Europa noch funktionierende Filmindustrien gab und Kompromisse noch nicht vom Gremienkino erzwungen wurden. Das macht 'Cell 211' trotz Logiklöchern und kleiner Mankos zu einem äußerst erfrischenden, begrüßenswerten Film.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Splatting Image, Heft 84

The Messenger – Die letzte Nachricht

(USA 2009, Regie: Oren Moverman)

Das letzte Kommando
von Harald Steinwender

Für die letzten drei Monate seines Militärdienstes wird US-Sergeant Will Montgomery (Ben Foster) dem erfahrenen Captain Tony Stone (Woody Harrelson) zugeteilt. Ihre Aufgabe ist es, den Angehörigen im Kampf gefallener …

Für die letzten drei Monate seines Militärdienstes wird US-Sergeant Will Montgomery (Ben Foster) dem erfahrenen Captain Tony Stone (Woody Harrelson) zugeteilt. Ihre Aufgabe ist es, den Angehörigen im Kampf gefallener Soldaten als Erste die schlechten Nachrichten zu überbringen. Während Stone scheinbar ungerührt Dienst nach Vorschrift absolviert, leidet Montgomery unter dem Mangel an Empathie, den das Protokoll vorschreibt. Als der junge Soldat sich in die Witwe Olivia (Samantha Morton) verliebt, zeigt sich, dass sein Vorgesetzter labiler ist, als es den Anschein hat.

Das US-amerikanische Kino hat den gegenwärtigen Irak-Krieg aus vielen Perspektiven beleuchtet. Kathryn Bigelow inszenierte den Einsatz eines Bombenentschärfungskommandos in dem Oscar-prämierten 'The Hurt Locker' ('Tödliches Kommando – The Hurt Locker'; 2008) als zermürbenden Kriegsthriller. Paul Haggis wählte für In the Valley of Elah' ('Im Tal von Elah'; 2007) einen Zugang über die Mittel des Melodrams. Errol Morris’ Dokumentarfilm 'Standard Operating Procedure' (2008) wiederum war ein aufwühlender Exkurs über US-Kriegsverbrechen.

Jeder dieser Ansätze hat seine Berechtigung, und all diese Filme zeugen von der fundamentalen Verunsicherung der Filmindustrie angesichts des unpopulären Kriegs in Irak. Gemein ist ihnen eine Tendenz zur Verinnerlichung, zur Reflexion, weg von der Darstellung unmittelbarer Kriegshandlungen. Auf der Ebene der Dramaturgie entfernt sich der Kriegsfilm immer weiter von den Wurzeln des Genres im Aktions- und Bewegungskino.

Oren Movermans eindringliches Drama 'The Messenger' steht ganz in dieser Tradition. Das Regiedebüt des gebürtigen Israelis verzichtet auf eine aufdringliche Botschaft ebenso wie auf Actionsequenzen. Im Fokus stehen vielmehr die direkten und indirekten Traumatisierungen der Soldaten und ihrer Verwandten. Jeder Gang zu einem weiteren Angehörigen wird für die Überbringer der Todesbotschaft zur Herausforderung, denn individuelle Anteilnahme ist ihnen untersagt. Jedes ihrer Worte steht im Vorfeld fest, aber die Reaktionen der Angehörigen bleiben unkalkulierbar.

'The Messenger' ist nicht nur ein Kriegsfilm, der an der 'Heimatfront' spielt, sondern auch ein Schauspielerfilm, der von seinen ausgezeichneten Darstellern lebt. Die Folgen der emotionalen Versteinerung, die der militärische Drill und das strenge Reglement aufzwingen, machen Ben Foster und Woody Harrelson ebenso deutlich wie den Abgrund, der sich unter ihrer mühsam aufrechterhaltenen Routine auftut. Im letzten Drittel wechselt 'The Messenger' sein Erzähltempo und wagt den Anschluss an Klassiker des 'New Hollywood'-Kinos. Wie in Hal Ashbys 'The Last Detail' ('Das letzte Kommando'; 1973) werden Motive des Roadmovies und des Buddy-Films aufgegriffen. 'The Messenger' bleibt jedoch ein bis zuletzt unbedingt sehenswertes Drama, das ohne vordergründige Effekte und falsches Pathos auskommt.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Wader Wecker Vater Land

(D 2011, Regie: Rudi Gaul)

Altsentimentale
von Andreas Thomas

Beiden gemeinsam war und ist das Tremolo, zum Glück noch nicht der Tremor. Trotzdem kann der Dokumentarfilm „Wader Wecker Vater Land“ einen emotional erwischen, negativ emotional, gerade, wenn man in …

Beiden gemeinsam war und ist das Tremolo, zum Glück noch nicht der Tremor. Trotzdem kann der Dokumentarfilm „Wader Wecker Vater Land“ einen emotional erwischen, negativ emotional, gerade, wenn man in seiner sinistren Jugend versucht war, eine Art Vorbilder in ihnen zu sehen.

Auf ihre älteren Tage, nicht „mit letzter Tinte“, aber auch nicht mehr im vollen Saft der Jugend haben sich die schon immer ziemlich ungleichen Liedermacher Konstantin Wecker aus München (Jahrgang 1947) und Hannes Wader aus Bielefeld (Jahrgang 1942) zu einer gemeinsamen Tournee zusammengefunden, und – wie man anhand dieser Dokumentation von Rudi Gaul nachprüfen kann, es geschafft, größere Sääle kleinerer Städte unserer Republik zu füllen. Gekommen sind noch erstaunlich viele Altsentimentale, als Altlinke kann man heute wohl weder das Publikum noch die beiden Musiker bezeichnen, denn links ist ja irgendwie out heutzutage und höchstens was für Nostalgiker oder unverbesserliche Parteipolitiker.

Was musikalisch bei dieser Fusion des eher extrovertierten Showmannes und Politpianisten Wecker und des eher introvertierten Folk-Romantikers Wader herauskommt, reicht leider selten, wie der Film selbst mittels Archivmaterial beglaubigt, an die stimmungsvollen Auftritte beider aus den siebziger Jahren heran, und skurril wird es, wenn Wecker gar den eher steifen Wader dazu überredet, doch ein Intermezzo mit dem Caterina-Valente/Roberto-Blanco-Klassiker „Quando quando quando“ einzubauen, und das wohl tatsächlich für eine besonders witzige Idee hält.

Seine besten Momente – und eben das ist das Zwiespältige an diesem Film – hat der Film tatsächlich nicht, wenn er dem Endsechziger Hannes Wader dabei zusieht, wie er Spiegeleier brät oder wenn er ihm dabei zuhört, wie er einigermaßen ratlos über den Verlust seiner politischen Ideale spricht, sondern wenn er Konzerte aus den siebziger Jahren heranzieht oder Interviews. Mit beidem aber, den Bildern der desillusionierten Gegenwart und der revolutionär beseelten Vergangenheit und mit der beidem innewohnenden Diskrepanz, paraphrasiert er Zeitgeschichte, bebildert er die Geschichte einer Generation des Aufbruchs – und Abbruchs.

So sieht man z.B. Spotlights auf Stationen der politisch-künstlerischen Odyssee des Hannes Wader. Wader, der in den Sechzigern als romantisch-liberaler Liedermacher im Stil von George Brassens oder Bob Dylan begann, fühlte sich von seinem messianischen Nimbus in den Siebzigern so überfordert, dass er sich in die DKP flüchtete, sich ihren überschaubaren ideologischen Werten unterordnete, darin sozusagen intellektuell abtauchte, und so, wie er sagt, das Leid der Welt nicht mehr auf seinen eigenen Schultern tragen musste. Liest man Wader-Interviews aus dieser Zeit, hat man tatsächlich den Eindruck, dass hier jemand sich weigert, sein Gehirn zu benutzen. Den Fall der Mauer und den Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks erlebte Wader (für ihn konsequenterweise) dann als das Ende aller politischen Utopien und Ideale (so als würde der Kollaps des einen mehr oder weniger unmenschlichen Systems die Qualität des anderen mehr oder weniger unmenschlichen Systems verifizieren).

Der Höhepunkt der Absurdität seiner biografischen Entwicklung besteht in einem Auftritt Waders in der DDR vor SED-Bonzen im Friedrichsstadt-Palast. Unterstützt vom Chor des FDJ (oder dergl.) singt er ein Arbeiterlied. Udo Lindenberg („Sonderzug nach Pankow“) muss blau vor Neid geworden sein. Vom Rock’n’Roll übrigens (wobei man Lindenberg ja auch nicht allen Ernstes als „Rockmusiker“ bezeichnen kann) blieben beide Barden bis heute ungeküsst, vielleicht erklärt das auch das Festgefahrene an ihnen, ihren inhärenten Anachronismus.
Der einstige Folkmusiker Bob Dylan jedenfalls, das erklärte Vorbild Waders, wandte sich zum Zeitpunkt seiner wirksamsten „Messiashaftigkeit“ dem trivialen Rock’n’Roll zu und rettete damit womöglich nicht nur im übertragenen Sinn sein Leben. Was nicht heißt, dass Rockmusiker etwa dagegen gefeit seien, von ihren Fans heilig gesprochen und ausgesaugt zu werden.

Wader aber ging den Weg zurück zum Volkslied, zum Arbeiterlied, zurück in den Schoß der „Partei“ und Wecker löste seine Konflikte zwischen Ruhm und Alltag und zwischen Ideal und Wirklichkeit mittels Kokain. Der Rest ist Boulevard und bekannt. Dennoch: Das Erlöschen des Enthusiasmus‘ der Anfangszeit beider Musiker ist so bezeichnend wie schade, eben weil sich darin auch spiegelt, wie viel doch von dieser vitalen, wenngleich naiven, Energie, das heißt, wie viel von einem Glauben an die Veränderbarkeit der Welt dahingegangen ist.

Habermann

(D / AT / CZ 2010, Regie: Juraj Herz)

Sudetenland ist abgebrannt
von Harald Steinwender

August Habermann (Mark Waschke) ist ein erfolgreicher sudetendeutscher Holzfabrikant und bereitet seine Hochzeit mit der Tschechin Jana (Hannah Herzsprung) vor. Als deutsche Truppen in der Folge des 'Münchner Abkommens' im …

August Habermann (Mark Waschke) ist ein erfolgreicher sudetendeutscher Holzfabrikant und bereitet seine Hochzeit mit der Tschechin Jana (Hannah Herzsprung) vor. Als deutsche Truppen in der Folge des 'Münchner Abkommens' im Oktober 1938 das Sudetenland besetzen, erfährt Habermann, dass seine Ehefrau nach den 'Nürnberger Rassegesetzen' als 'Halbjüdin' gilt. Um Jana zu schützen, arrangiert er sich mit dem fanatischen SS-Sturmbannführer Kurt Koslowski (Ben Becker). Bald gerät er zwischen die Fronten von deutschen Besatzern und tschechischer Bevölkerung.

Der slowakische Filmemacher Juraj Herz ist vornehmlich für seine Märchenverfilmungen sowie für die exzentrische Geschichtsparabel Spalovac mrtvol' ('Der Leichenverbrenner'; 1969) bekannt. Mit der deutsch-tschechisch-österreichischen Koproduktion 'Habermann' versucht sich der heute 76-Jährige nun an einem Weltkriegsdrama, das neben dem NS-Terror auch die Vertreibung der Sudetendeutschen nach Kriegsende thematisiert. Das an sich legitime Unterfangen wird allerdings von der Inszenierung des Films unterlaufen, die so subtil wie ein Hieb mit einem Vorschlaghammer ist.

Besonders ärgerlich sind die reißerischen, mitunter kolportageartigen Elemente des Films, die durch den aufdringlich emotionalisierenden Score von Elia Cmiral zusätzlich herausgestrichen werden. Die Schlusssequenz des Films ist in dieser Hinsicht bezeichnend. Hier versteigt sich Herz dazu, nicht nur den Pogrom eines tschechischen Mobs gegen die Sudetendeutschen zu inszenieren, bei dem er den 'volksdeutschen' Helden Habermann zum christlichen Märtyrer stilisiert. Die blutrünstige Kolportage gipfelt zusätzlich in einer absichtsvoll geschichtsrevisionistischen Bildallegorie, mit der die Vertreibung der Sudetendeutschen zur historischen Neuauflage der Deportation der europäischen Juden wird.

Abgesehen von solchen im Gestus des Tabubruchs dargebotenen Set-Pieces krankt 'Habermann' an seinem unausgegorenen Drehbuch, das sich durch schlecht orchestrierte Figuren und sperrige Dialoge auszeichnet, die von den wild chargierenden Darstellern kaum mit Leben gefüllt werden. So gelingt es Mark Waschke nicht, seinen Habermann als zerrissenen Helden glaubhaft zu machen, Wilson Gonzalez Ochsenknecht spielt stocksteif, selbst die durchaus talentierte Hannah Herzsprung bleibt blass. Ben Becker wiederum nimmt es sportlich und agiert als herrischer Sturmbannführer so überzogen, dass die stereotyp angelegte Figur immerhin als irrwitzige Karikatur des typischen Leinwand-Nazis durchgeht. Einzig Radek Holub gelingt es, in dem zu Tiefstleistungen angeleiteten Ensemble durch einigermaßen nuanciertes Spiel aufzufallen.

Sicherlich hat der in erdige Farben gehaltene und stimmig ausgestattete 'Habermann' zumindest ästhetisch seine Momente. Herz und seinem Kameramann Alexander Surkala gelingen immer wieder technisch beeindruckende Sequenzen, etwa wenn die entfesselte Kamera beim Hochzeitswalzer mit der Braut durch die Menschenmenge tanzt. Für einen akzeptablen Film reicht dies aber nicht aus. Politisch ist 'Habermann' sowieso eine Frechheit. Wieso der Film beim 'Bayerischen Filmpreis' eine Auszeichnung für die 'beste Regie' erhielt und von der Wiesbadener Film- und Medienbewertungsstelle FBW mit dem 'Prädikat besonders wertvoll' ausgezeichnet wurde, wird wohl ein Geheimnis bleiben.

Lola

(PH / F 2009, Regie: Brillante Mendoza)

Manila, Open City
von Harald Steinwender

In einem Stadtteil von Manila versucht die verarmte Greisin Lola Sepa (Anita Linda), das Begräbnis ihres Enkelsohns zu organisieren, der bei einem Raubüberfall erstochen wurde. Sie sammelt Geld bei Verwandten, …

In einem Stadtteil von Manila versucht die verarmte Greisin Lola Sepa (Anita Linda), das Begräbnis ihres Enkelsohns zu organisieren, der bei einem Raubüberfall erstochen wurde. Sie sammelt Geld bei Verwandten, Freunden und in der Nachbarschaft. Die Bestattungskosten sind jedoch zu hoch. Währenddessen rät der Pflichtverteidiger des Täters dessen Großmutter, Lola Puring (Rustica Carpio), zu einer außergerichtlichen Einigung mit der Familie des Opfers. Daraufhin begibt sich auch Lola Puring auf eine verzweifelte Suche nach Geld. Schließlich treffen sich beide Frauen.

2009 erhielt der damals 50-jährige Regisseur Brillante Mendoza in Cannes für sein kontroverses Polizeidrama 'Kinatay' den Regiepreis. Dass der philippinische Filmemacher auch die leiseren Töne beherrscht, belegt er eindrucksvoll mit seinem zurückhaltenden Drama 'Lola'. Wie 'Kinatay' spielt auch 'Lola' in der Landeshauptstadt Manila. Repräsentative oder touristische Orte spart Mendoza jedoch aus. Stattdessen siedelt er seinen Film in den Slums der überfluteten Gemeinde Malabon an, ein undurchdringlicher Platzregen, der in vielen Szenen auf die Protagonisten niedergeht, verdeckt zusätzlich die Sicht.

Wie in 'Kinatay' steht ein Verbrechen im Zentrum der Geschichte. Doch im Gegensatz zu dem drastischen Vorgänger spart 'Lola' die Tat völlig aus. Mendoza interessiert einzig der Schmerz der Angehörigen und der schwierige Weg zur Versöhnung. Seine über 80-jährigen Hauptdarstellerinnen, beide in ihrer Heimat bekannte Schauspielerinnen mit jeweils über 30-jähriger Kinoerfahrung, beeindrucken durch naturalistisches Spiel.

Für seine einfache, aber berührende Geschichte über die beiden Lolas, so das philippinische Wort für Großmutter, wählt Mendoza einen kargen, aber höchst lyrischen Stil, der am französischen poetischen Realismus der 1930er Jahre und am italienischen Neorealismus der Nachkriegsära geschult ist. Im Mittelpunkt seines Films stehen einfache Menschen, Geldnöte und Alltagsprobleme. Raue Digitalbilder und Handkamera signalisieren Unmittelbarkeit, die Außenaufnahmen, ausschließlich vor Ort gedreht, Authentizität. Der Moment ist hier alles; Gesichter, Gesten und Blicke erzählen den Film. So werden die mühsamen Versuche einer alten Frau, im Sturzregen einen Schirm aufzuspannen und ein Streichholz anzureißen, zum Sinnbild für den Überlebenskampf in der feindlichen Umwelt.

'Lola' verlangt von seinem Publikum Geduld und den Willen zur genauen Beobachtung. Nur selten rafft die Montage Zeit, Alltagshandlungen werden in Echtzeit gefilmt, dramatische Zuspitzungen vermieden. Wer sich auf das etwas sperrige Sozialdrama einlässt, erhält einen Einblick in eine fremde Welt und eine Chance, abseits der tradierten Sehgewohnheiten neu sehen zu lernen.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Insidious

(USA / CAN 2010, Regie: James Wan)

Klein, aber fein
von Harald Steinwender

Die Lamberts sind eine ganz normale amerikanische Familie. Vater Josh (Patrick Wilson) arbeitet als Lehrer, seine Frau Renai (Rose Byrne) kümmert sich liebevoll um die drei Kinder. Doch der Umzug …

Die Lamberts sind eine ganz normale amerikanische Familie. Vater Josh (Patrick Wilson) arbeitet als Lehrer, seine Frau Renai (Rose Byrne) kümmert sich liebevoll um die drei Kinder. Doch der Umzug in das neue Traumhaus wird für die Familie zum Alptraum: Nachts sind merkwürdige Geräusche zu hören, Renai wird mit Geistererscheinungen konfrontiert und Dalton (Ty Simpkins), der 8-jährige Sohn der Lamberts, hat schreckliche Alpträume. Als der Junge schließlich in ein Koma fällt und kein Arzt helfen kann, zieht die Familie aus. Doch auch in das neue Heim folgen ihnen die bösen Geister. Schließlich rät Joshs Mutter Lorraine (Barbara Hershey), ein Medium (Lin Shaye) zu engagieren und den Kampf gegen das Übernatürliche aufzunehmen …

Vor acht Jahren inszenierte der australische Regisseur James Wan mit dem Horrorthriller 'Saw' ('Saw – Wessen Blut wird fließen?'; USA / Australien 2004) einen ruppigen Überraschungserfolg, der es bis heute auf sechs Fortsetzungen gebracht hat. 'Saw' war ein B-Horrorfilm, realisiert mit kleinem Budget, harten Schockeffekten und offensichtlichen Anleihen aus modernen Klassikern wie 'Seven' ('Sieben'; USA 1995; David Fincher). Bis heute ist Wan diesem Konzept treu geblieben. Auch 'Insidious', seine fünfte Kinoregiearbeit, ist mit einem Budget von 1,5 Millionen US-Dollar für eine geradezu lächerlich geringe Summe entstanden, auch hier spielt der Filmemacher deutlich auf Vorbilder wie 'Poltergeist' (USA 1982; Tobe Hooper & Steven Spielberg), 'The Exorcist' ('Der Exorzist'; USA 1973; William Friedkin) und 'The Haunting' ('Bis das Blut gefriert'; USA / UK 1963; Robert Wise) an.

Dennoch ist 'Insidious' kein reines Patchworkprodukt. Wan gelingt es, seine disparaten, aus der Filmgeschichte zusammengeklaubten Elemente mittels atmosphärischer Breitwandfotografie und gutem Timing zu einem effektiven Horrorthriller zusammenzufügen, der durchaus mit unerwarteten Wendungen überrascht. Dabei zieht das Grauen schleichend in den Alltag der Protagonisten ein. Der Terror, der schließlich über die amerikanische Musterfamilie einbricht, ereignet sich indes vor allem auf der Tonspur. Blut oder Ekeleffekte spart der Regisseur diesmal fast völlig aus, auch sorgt der Auftritt zweier verschrobener Geisterjäger für ein amüsantes Gegengewicht zu den Horroreinlagen.

'Insidious' ist ein über weite Strecken geradezu klassischer Genrefilm, ebenso schnörkellos wie effektiv inszeniert, höchst traditionsbewusst im Einsatz von Geisterbahneffekten, wie sie seit den frühen 1960er Jahren im Genre etabliert sind und die bis heute kaum etwas von ihrem Potential verloren haben. Damit leistet der Film genau das, was man im Kino von dieser Sorte Film erwartet. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Herbst

(TR / D 2008, Regie: Özcan Alper)

Sommer, Herbst und Tod
von Harald Steinwender

Nach zehn Jahren wird der politische Häftling Yusuf (Onur Saylak) vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Der ehemalige Mathematikstudent kehrt in sein Heimatdorf in der östlichen Schwarzmeerregion und zu seiner gebrechlichen …

Nach zehn Jahren wird der politische Häftling Yusuf (Onur Saylak) vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Der ehemalige Mathematikstudent kehrt in sein Heimatdorf in der östlichen Schwarzmeerregion und zu seiner gebrechlichen Mutter (Raife Yenigül) zurück. Bei einem Ausflug in die nahe gelegene Hafenstadt Rize lernt er die junge georgische Prostituierte Eka (Megi Kobaladze) kennen. Beide beginnen eine Affäre. Doch Yusuf hat sich bei einem Hungerstreik im Gefängnis eine Lungenkrankheit zugezogen.

Mit 'Sonbahar' ('Herbst / Autumn'; 2008) gelingt Regisseur Özcan Alper eine Persönlichkeitsstudie, die insbesondere von ihrer poetischen Bildsprache und den Darstellern getragen wird. Allen voran überzeugt die Debütantin Megi Kobaladze mit zurückgenommenem, aber stets authentischem Spiel. Auch der international bislang unbekannte Fernsehdarsteller Onur Saylak macht die Verlorenheit des gebrochenen Heimkehrers mit nuanciertem Spiel und sparsamen Gesten greifbar. Dialoge setzt der Regisseur dabei nur zurückhaltend ein. In dem ruhig inszenierten Film genügen stumme Blicke und kleine Alltagsmomente, um große Emotionen auszudrücken.

Regisseur Özcan Alper und Kameramann Feza Çaldiran binden die Landschaft der türkisch-georgischen Grenzregion symbolhaft in die Handlung ein, nutzen sie als Spiegel der Emotionen der Figuren. Immer wieder zeigt 'Sonbahar' in langen Einstellungen den Protagonisten, bisweilen gerahmt durch Türen, wie er auf die bewaldeten Berghänge der Umgebung blickt und seine neu gewonnene Freiheit zu genießen versucht. Doch dieser gerade einmal 32-Jährige, der zaghaft ein neues Leben beginnt, ist todkrank. Während der Spätsommer langsam in den Herbst übergeht und schließlich der erste Schnee fällt, schwinden auch Yusufs Kräfte.

Mit subtilen Verweisen auf die Gegensätze von Moderne und Tradition, Tourismus und Landflucht, Polizeistaat und säkularer Demokratie zeichnet 'Sonbahar' ein hintersinniges Psychogramm eines Landes im Umbruch. Beiläufig liefert der melancholische Film dazu Bruchstücke aus den Biografien seiner Figuren. Vereinzelt bricht dokumentarisches Bildmaterial in die Handlung ein; Bilder von Hungerstreiks, Gefängnisrevolten und Polizeigewalt, mit denen der Film die Traumatisierung des Protagonisten illustriert. Warum Yusuf inhaftiert wurde und was ihm in einem der berüchtigten Hochsicherheitsgefängnisse nahe Istanbul zugestoßen ist, erfahren wir allerdings nie. Alpers Metaphorik mag alles andere als innovativ sein. Bis zuletzt bleibt 'Sonbahar' jedoch ein sensibel und introspektiv erzähltes Spielfilmdebüt, das neben seiner Beherrschung der filmischen Mittel durch glaubwürdige Figuren überzeugt.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Five Minutes of Heaven

(GB / IR 2009, Regie: Oliver Hirschbiegel )

Reden hilft auch nicht
von Harald Steinwender

Als junger Mann hat Alistair Little (Liam Neeson) im Auftrag der protestantischen Ulster Volunteer Force den Katholiken James Griffin (Gerard Jordan) exekutiert. 30 Jahre später arrangiert ein Fernsehteam ein Treffen …

Als junger Mann hat Alistair Little (Liam Neeson) im Auftrag der protestantischen Ulster Volunteer Force den Katholiken James Griffin (Gerard Jordan) exekutiert. 30 Jahre später arrangiert ein Fernsehteam ein Treffen zwischen dem geläuterten Täter und dem Bruder des damaligen Opfers. Alistairs Begegnung mit Joe (James Nesbitt) soll vor laufender Kamera stattfinden, das Gespräch ein Zeichen der Versöhnung setzen. Doch der verbitterte Joe, der als 11-Jähriger die Hinrichtung seines Bruders mit ansehen musste, sinnt auf Rache.

Oliver Hirschbiegel hat über die letzten Jahre einige klaustrophobische Gesellschaftsparabeln inszeniert. In 'Das Experiment' (D 2001) schilderte er, wie ein sozialwissenschaftlicher Versuch in eine veritable Terrorherrschaft umschlägt. Sein ebenso pompöser wie düsterer Hitler-Film Der Untergang' (D 2004) konzentrierte sich auf die letzten Tage im Führerbunker, in der von der Kritik unterschätzten Dystopie 'The Invasion' (USA / Australien 2007) wiederum porträtierte er das gegenwärtige Amerika im Gewand des Science-Fiction-Films als Zwangskollektiv. Hirschbiegels Thema sind Menschen in Extremsituationen; Gewalt, Wahn und Politik in seinem Werk stets aufs engste miteinander verflochten. Da verwundert es kaum, dass der in Hamburg geborene, mittlerweile international tätige Regisseur sich mit 'Five Minutes of Heaven' nun dem seit 1969 schwelenden Nordirlandkonflikt widmet.

'Five Minutes of Heaven' konzentriert sich trotz einer Mitte der 1970er Jahre spielenden Exposition weitgehend auf die kammerspielartig inszenierten Ereignisse, die der Konfrontation seiner exemplarischen Protagonisten vorausgehen. Hinsichtlich Habitus und Einstellung könnten der Ex-Terrorist Alistair und sein Antagonist Joe nicht unterschiedlicher sein. Während Alistair mit seiner Vergangenheit gebrochen hat und sich seit seiner Haft für die Versöhnung der Bürgerkriegsparteien einsetzt, kann Joe die Tat nicht verzeihen. Der ehemalige Täter ist eloquent und reflektiert, das Opfer aufbrausend und irrational. Doch bald wird deutlich, dass beide gleichermaßen von der Tat gezeichnet sind. Als parabelhafte Miniatur über den Nordirlandkonflikt verweigert sich 'Five Minutes of Heaven' allzu einfachen Antworten. Eine wirkliche Versöhnung findet letztlich nie statt, zu tief sind die Wunden aller Beteiligten.

Wie in den vorangegangenen Filmen Hirschbiegels beeindrucken Sounddesign, Kameraarbeit und Ausstattung durch Präzision und Lokalkolorit – die technische Seite des Filmemachens ist fraglos die Stärke dieses Regisseurs. Dafür hakt es bei diesem auf dem Sundance Filmfestival mit einem Regiepreis ausgezeichneten Politdrama umso mehr an der Schauspielerführung. Während Liam Neeson wie gewohnt souverän spielt, da tendiert James Nesbitt zum exaltierten Überspielen und bühnenhaften Deklamieren. Gerade dieses darstellerische Ungleichgewicht lässt den frei auf realen Figuren basierenden, oft aber überkonstruiert wirkenden Film immer wieder aus der Balance geraten.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Verrückt nach Steve

(USA 2009, Regie: Phil Traill)

Distanzverlust
von Harald Steinwender

Die verhuschte Mary (Sandra Bullock) arbeitet als Kreuzworträtseldesignerin für ein kalifornisches Provinzblatt und lebt noch bei ihren Eltern. Um ihre komplexbeladene Tochter endlich zu verkuppeln, vermitteln diese ihr ein Blind …

Die verhuschte Mary (Sandra Bullock) arbeitet als Kreuzworträtseldesignerin für ein kalifornisches Provinzblatt und lebt noch bei ihren Eltern. Um ihre komplexbeladene Tochter endlich zu verkuppeln, vermitteln diese ihr ein Blind Date. Wider Erwarten ist Mary äußerst angetan von Steve (Bradley Cooper). Doch mit ihren brachialen erotischen Avancen verschreckt sie den Fernsehkameramann. Kurz entschlossen beginnt sie, Steve von Drehort zu Drehort zu folgen – sehr zu dessen Verdruss.

Licht und Schatten liegen manchmal dicht beieinander. Und so brachte die diesjährige Oscar-Verleihung Sandra Bullock nicht nur eine der begehrten Trophäen für ihre Hauptrolle in dem Drama 'Blind Side – Die große Chance' (2009; John Lee Hancock) ein. Am Tag zuvor erhielt die Schauspielerin für ihren Auftritt in der Komödie 'Verrückt nach Steve' ('All About Steve'; USA 2009) auch die 'Goldene Himbeere', den Anti-Oscar für die schlechteste Performance. So kam die 45-Jährige in das zweifelhafte Vergnügen, gleichzeitig zur besten und schlechtesten Darstellerin des Jahres gekürt zu werden. Das ist zumindest ein Novum in der amerikanischen Filmgeschichte.

In gewisser Weise ist Phil Traills gründlich vergeigtes Kinodebüt tatsächlich das negative Spiegelbild des bisweilen arg kitschigen Sportlerdramas 'Blind Side – Die große Chance'. In der Integrationsgeschichte verkörperte Bullock eine patente Mentorin, die selbstbewusst einen lernbehinderten Jungen in die Gesellschaft integriert. Umgekehrt zeigt 'Verrückt nach Steve' Bullock nun als sozial auffällige Außenseiterin – hyperaktiv, distanzlos, manisch-depressiv.

Dabei erweist sich gerade Bullocks Figur als Geduldsprobe für das Publikum. Mit geschmacklosem Batik-Kleidchen und feuerwehrroten Lackstiefeln verunstaltet, stolpert die Schauspielerin chargierend durch den lieblosen Plot und präsentiert vor allem ein aufgesetzt-nervöses Dauergrinsen und fahrige Gesten. Ihr Filmpartner Bradley Cooper als unwilliges Objekt der Begierde wirkt dagegen meist nur peinlich berührt. Einzig Thomas Haden Church als dümmlicher Reporter bringt etwas Stil in das aufwändig produzierte Desaster.

Das Ärgerlichste an der verklemmten Klamotte ist, dass sie die psychischen Probleme ihrer Hauptfigur gezielt für billige Witze ausschlachtet. So fällt Drehbuchautorin Kim Barker als Gipfel des Humors nichts anderes ein, als die Dauerquasselstrippe Mary in einer lahmen Anspielung auf Billy Wilders 'Reporter des Satans' ('Ace in the Hole'; 1951) in einem stillgelegten Bergwerksstollen mit einem taubstummen Kind stranden zu lassen. Selbst die Farrelly-Brüder, an deren derb-geschmacklosen Kassenerfolg 'Verrückt nach Mary' ('There’s Something About Mary'; 1998; Peter & Bobby Farrelly) der deutsche Verleih mit der Titelwahl anzuknüpfen versucht, zeigten immerhin ein wenig Zuneigung für ihre Figuren. Davon ist in dieser seelenlosen Travestie nichts zu spüren, die einzig durch die Verweigerung eines Happy Ends überrascht.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Snow White & the Huntsman

(USA 2012, Regie: Rupert Sanders)

Fauler Apfel mit Wurm
von Louis Vazquez

Neulich erst hat Tarsem Singh mit „Mirror, Mirror“ eine Schneewittchen-Verfilmung vorgelegt und damit etwas ziemlich Erstaunliches geleistet: Er hat einen lustigen Film inszeniert. Manche mögen seinen pompösen Stilwillen noch immer …

Neulich erst hat Tarsem Singh mit „Mirror, Mirror“ eine Schneewittchen-Verfilmung vorgelegt und damit etwas ziemlich Erstaunliches geleistet: Er hat einen lustigen Film inszeniert. Manche mögen seinen pompösen Stilwillen noch immer artsy fartsy finden und über die Witze nicht lachen können, aber die erzählerische Leichtigkeit seiner Märchen-Screwball-Komödie setzte doch einen wunderbaren Kontrapunkt zur Singh-typischen visuellen Opulenz. Und wenn dann noch Julia Roberts als böse Königin eitel und neidzerfressen losgrantelte, gab es eigentlich nicht viel zu meckern, zumal das Geschlechterbild – Männer und Frauen sind gleichermaßen bescheuert, außer Schneewittchen – nachgerade als aufgeklärt gelten muss. Jedenfalls im Vergleich zu „Snow White & the Huntsman“. Hier nämlich wird die böse Königin zur dämonischen Verkörperung aller Emanzipationsbemühungen und hasst, ganz unironisch, so ziemlich alle Männer.

„Snow White & the Huntsman“ ist einer jener Filme, die sich im Märchenkontext um eine vermeintlich „erwachsene“ Herangehensweise bemühen. Dass die formelhaft gestrickte Fantasygeschichte (mit dem inzwischen wohl obligatorischen Trollauftritt), die sich ein Storyerfinder und drei Drehbuchautoren ausgedacht haben, umso infantiler wirkt, ist die übersehene Kehrseite. Die Stationen der Heldenreise werden pflichtschuldig abgespult, viele überoffensichtliche Sätze („Sie ist die Auserwählte“) werden ausgesprochen – die meisten wohl vom bemitleidenswerten Bob Hoskins als Zwerg –, und eine Mobilmachungsrede von Schneewittchen kurz vorm entscheidenden Kampf hat mehr Pathos als drei Filme von Michael Bay zusammen, ist aber nicht ganz so gut geschrieben. Das große Finale wirkt sogar wie eine lästige Pflichtübung, weil absolut nichts Unerwartetes mehr passiert, außer, dass doch keine Entscheidung zwischen den zwei möglichen Prinzenanwärtern gefällt wird.

Seine Ernsthaftigkeit beschert dem Film einige Probleme. Kann man den berühmten Spieglein-Spruch wirklich mit einem Gesichtsausdruck deklamieren, als würde ein überambitioniertes Schülertheater Shakespeare vortragen? Der Werberegisseur (und laut Presseheft „angesagte Visualist“) Rupert Sanders jedenfalls gibt Charlize Theron Gelegenheit zu einer enttäuschenden und unfreiwillig komischen Performance. Die wenigen absichtlichen Gags dagegen, wenn etwa ein Zwerg das Disneysche „Heigh-Ho“ zitiert und zurechtgewiesen wird, wirken wie Fremdkörper zwischen dem Kraut und den Rüben. Ein komisches Highlight zumindest der deutschen Fassung ist sicherlich nicht beabsichtigt: Als nämlich der Jäger, der sein Herz fürs Schneewittchen entdeckt, zum ersten Mal namentlich aufgerufen wird, da zischt ein zorniges „Hans Määähn!“ durch den Kinosaal. Der huntsman wird konsequent nicht übersetzt, wie das Schneewittchen bzw. Snow White ja auch nicht.

„Weiß wie Schnee, rot wie Blut“ und nicht etwa „schwarz wie Ebenholz“, sondern „schwarz wie die Flügel eines Raben“ soll das anfangs ersehnte Kind werden. Der Grund dafür bleibt rätselhaft wie so vieles, denn zwar helfen Rabenvögel dem Schneewittchen einmal bei seiner Flucht, aber ansonsten heißt doch die böse Königin Ravenna und trägt den Raben im Namen. Sie ist es, die sich in einen Vogelschwarm auflösen kann, nicht das arme Schneewittchen.

Und das ist nur einer der vielen Widersprüche des Drehbuchs. Gute Ansätze führen ins Nichts, manche Szenen wirken zu lang oder sogar ganz überflüssig, und das Timing ist insgesamt alles andere als optimal. Aber Fantasybilder und -gestalten kann Rupert Sanders wirklich. Bei der Ankunft im Märchenwald wimmelt es derart von Kreaturen, dass man sich kurz an die Anime-Welten von Hayao Miyazaki erinnert fühlt. Zu Recht, denn bald darauf zitiert/kopiert Sanders eine Szene aus „Prinzessin Mononoke“, auch wenn sie im Kontext seines Schneewittchenfilms längst nicht so gut aufgehoben ist. Ob Sanders sich in die Warteschlange der Anwärter einreiht, wenn dereinst jemand eine zwar nicht nötige, aber gewiss trendgemäße Realverfilmung des immerhin schon 15 Jahre alten Zeichentrickklassikers mit echten Schauspielern und vielen bunten Effekten machen darf? Immerhin hätte er dann mal ein phänomenales Drehbuch.

Tabu – Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden

(AT / L / D 2011, Regie: Christoph Stark)

Vaginal ist scheiße!
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Film, der keinen Plan hat. Im Großen und Ganzen geht es um die Liebe zwischen den Geschwistern Georg und Margarete Trakl, die heftig, aber verboten ist, damals vor hundert …

Ein Film, der keinen Plan hat. Im Großen und Ganzen geht es um die Liebe zwischen den Geschwistern Georg und Margarete Trakl, die heftig, aber verboten ist, damals vor hundert Jahren erst recht. Sie endet, wie wir per Untertitel informiert werden, mit den Selbstmorden des Paares im Ersten Weltkrieg. Andererseits ignoriert das Plot den etablierten biografischen Rahmen und tut so, als ob es halt um einen Kostümfilm geht, der sich verbotenem Sex der Zeit um 1900 rum annimmt. Aber auch der Degetoschmonzes haut nicht hin, weil Tatortregisseur Christoph Stark sich intensiv den Fickszenen widmet, wie sie erst hundert Jahre später filmtauglich werden sollten. Anal ist okay, aber vaginal scheiße. Weil zur Verhütung nichts da ist, und dann kommt das Embryo. Tja, es kommt. Wir haben die Bescherung.

Für literarisch interessierte Bildungsbürger ist das nichts. Und für Kostümfreunde ist das zu unkostümiert, wenn Paarung zum Porno wird. Und für Sexhungrige ist das schlicht zu wenig – und zu viel an abgeilendem Bildungspathos (siehe Zweittitel des Films). Hinwiederum wirken die traklaffinen Dialoge hoffnungslos deplaziert, wenn daneben und durchaus in der Hauptsache banalstes Zeug geplappert wird – von den Protagonisten, die gute Miene zum bösen Spiel machen müssen, Stimmts, Grete? Lars Eidinger, der den Literaten Trakl spielt, muss sozusagen jeden Satz zu seiner Schwester mit „Grete“ beginnen und/oder enden. Grete, ist doch so, Grete. So etwa, Grete. Grete, ich hab von den Dialogen einen Schaden bekommen, Grete, und ich wollte den Film gar nicht verreißen, Grete, jedenfalls nicht ganz.

Denn es gibt etwas, das alles, was auseinanderstrebt, doch wieder zusammenhält. Und das ist die ausgeklügelte und fein differenzierte Lichtgestaltung. Alle Achtung. Da sieht man denn doch, dass die öffentlichrechtlichen Gelder professionell angelegt sind. Kann man denn das Wort Porno in den Mund nehmen, wenn die ansehnlichen nackten Körper im Licht altmeisterlicher Gemälde präsentiert werden, schwer ästhetisch in Licht und Schatten getaucht? Bravo, soweit. Auch die Kamera kann zeigen, was sie kann. Ein Gesicht sieht sich im dreigeteilten Spiegel als Triptychon. Einfach so. Das ist Kunst!

Es ist so, als ob der renommierte Tatortregisseur das Team hat machen lassen, was es möchte. Schief gegangen ist das Laissez-faire allerdings bei der Unmenge an Komparsen, die das Bild zum Bersten füllen, und kein Schwein weiß, was es tun soll – außer Schulter an Schulter gepresst irgendwohin zu gucken, ein jeder, wie es ihm beliebt. Sach doch, Grete, so wars doch, Grete!

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 06/2012

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Phase 7

(AR 2012, Regie: Nicolás Goldbart)

Slacker in der Endzeitzone
von Michael Schleeh

„Phase 7“ ist ein Endzeit-Virus-Thriller, der sich in der Anlage des Films sowohl bei Paco Plazas „Rec“ als auch bei Chris Goraks „Right at your Door“ bedient. Und freilich ebenso …

„Phase 7“ ist ein Endzeit-Virus-Thriller, der sich in der Anlage des Films sowohl bei Paco Plazas „Rec“ als auch bei Chris Goraks „Right at your Door“ bedient. Und freilich ebenso bei unzähligen anderen Filmen des Genres. Allerdings gesehen durch eine ironische Brille, denn der Protagonist ist der zum Erwachsensein gezwungene Slacker Coco, dessen Frau Pipi (Namen wie aus einem absurden Theaterstück) kurz vor der Entbindung des gemeinsamen Kindes steht. Und als hätte der sympathische Wuschelkopf mit dem S.O.D.-T-Shirt durch das ständige Herumkommandieren seiner Gattin, die mit einem aufbrausenden Temperament gesegnet ist, nicht schon genug zu tun, nein: plötzlich steht auch noch die Welt am Abgrund. Nach einem Einkauf in der Mall gelangt die junge Familie zurück in den Wohnblock, wo kurze Zeit später das Dekontaminierungsteam das Gebäude abriegelt und dann mit Schutzplanen versiegelt. Es ist ein tödlicher Grippevirus, der nun am Ein- und Ausdringen, je nachdem, gehindert werden soll. Das junge Paar denkt sich nichts dabei, Vorräte hat man ja eben noch ausreichend gekauft und kaputte Glühbirnen ersetzt der Nachbar, der in weiser Voraussicht für die Apokalypse vorgesorgt hat. Doch dann gehen die Froot Loops aus!

Nun, ganz so albern wird „Phase 7“ dann doch nicht, obwohl die Froot Loops tatsächlich zur Neige gehen. Coco wird alsbald in die Machtspiele und Konkurrenzkämpfe der Nachbarschaft hineingezogen und muss mit einem roten Anzug und Gasmaske herumlaufen – ohne zu wissen, ob dies überhaupt notwendig ist. Wenig später ist man auch bewaffnet. Und wer unter Quarantäne steht, vom Rest der Welt abgeschnitten ist, entwickelt eigene Hierarchien und Machtstrukturen. Im Kampf um Vorräte wird bald geschossen und Sprengfallen mit Stolperdrähten werden im Treppenhaus angebracht, die Schädel platzen durch den Splatterfilm und versauen die Korridore des Neubaus. Coco ist klar: das muss er jetzt hinkriegen, er muss Pipi hier rausschaffen, irgendwohin, wo es sicher ist. Doch draußen, da tobt die Welt.

„Phase 7“ ist ein Film, der ohne Zombies auskommt. Das ist schon mal gut, obwohl der Schritt zu einem „Rec 3“ nicht weit gewesen wäre. Hier diszipliniert sich Goldbart, wie überhaupt in diesem sehr strukturierten Film. Schauplatz ist beinahe ausnahmslos das Haus; eine handvoll Figuren sowie deren Interaktion ist alles, was dieser Film braucht. Dass ihm auf halber Strecke dann doch die Luft ausgeht, liegt daran, dass eigentlich nichts Interessantes mehr passiert. Zu vorhersehbar sind die kleinen Entwicklungen, zu redundant die Kabbeleien. Ein Thriller hätte hier mehr Plot gebraucht, oder mehr Wahnsinn, oder einen spannenderen Nebenstrang. Zum Ende hin wird es leider auch noch willkürlich, wie dann urplötzlich doch die asiatische Familie wie aus dem Nichts auftaucht und mal eben dem Protagonisten das Leben rettet. Etwas ärgerlich ist das sogar. Auch die Chancen, die die Architektonik des Gebäudes bietet, werden nicht wirklich genutzt. Dafür ist es auch einfach zu durchschnittlich und nichtssagend, und weit weniger reizvoll in Szene gesetzt, als das etwa der tolle „Rammbock“ (Marvin Kren, 2010) vorgemacht hatte, welcher gerade durch seinen Schauplatz und dessen inszenatorische Einbindung so überzeugen konnte. Ganz zum Schluss fahren die Überlebenden schließlich durch eine zerstörte Stadt auf ein unbestimmtes Hoffnungsziel zu. Wäre „Phase 7“ ein fünfzig Minuten kurzer Langfilm geworden, dann hätte er das Zeug zu einem kleinen Genre-Hit gehabt. So zerdehnt er sich wie Kaugummi auf dem Straßenpflaster unter einer heißbrennenden argentinischen Sonne.

Moonrise Kingdom

(USA 2012, Regie: Wes Anderson)

Mit der Axt durchs Puppenhaus
von Andreas Busche

Wes Anderson macht Puppenhaus-Filme. In seinen penibel arrangierten Kunstwelten kommt jedem Detail ein fester Platz zu. In den Produktionsnotizen zu seinem neuen Film „Moonrise Kingdom“ ist viel die Rede von …

Wes Anderson macht Puppenhaus-Filme. In seinen penibel arrangierten Kunstwelten kommt jedem Detail ein fester Platz zu. In den Produktionsnotizen zu seinem neuen Film „Moonrise Kingdom“ ist viel die Rede von Inneneinrichtungen, Farben, Requisiten, Vintagemode und Musik. Es geht immer um Haptik, Oberflächentexturen und ganz nebenbei auch um die Griffigkeit von Genres, zu denen Anderson ein gespaltenes Verhältnis pflegt – was sich unter Anderem in einer seltsam verhaltenen Affirmation von genrespezifischen Formalismen und nostalgischen Erinnerungsfragementen äußert, die leicht als Ironie missverstanden werden kann. Andersons Filme folgen einer Genrelogik, die von seinen Figuren, wenn sie sich bewusstlos gegen das Erwachsenwerden stemmen, immer wieder gekonnt unterlaufen wird.

In „Moonrise Kingdom“ gipfelt diese regressive Disposition in der Erkenntnis, dass die Kinder im Grunde schlauer als die Erwachsenen sind. Wir befinden uns im Jahr 1965. Sam und Suzy haben bereits eine Vorstellung von der Beschaffenheit der Erwachsenenwelt, und sie wenden deren Prinzipien konsequent auf ihre eigene Kindheit an. Sam „kündigt“ ordnungsgemäß bei seiner Pfadfindereinheit, während Suzy ihre erste Nouvelle Vague-Romanze durchlebt. Auf ihrem tragbaren Plattenspieler schmachtet Francoise Hardy, ihr blauer Lidschatten signalisiert eine Sehnsucht, die ausgerechnet ein nerdiger Junge mit Biberfellmütze erfüllen soll. Der kennt sich als Pfadfinder schließlich mit Überlebenstechniken aus. Und während die Erwachsenen (unter ihnen Bill Murray, Bruce Willis und Tilda Swinton) in gewohnt hysterischer Manier die Strukturen von Andersons eigenwilliger Realität erkunden, verwandeln die jungen Liebenden eine einsame Bucht in ihr kleines Refugium.

Andersons Imaginationskraft kann die Beschränktheit seiner Entwürfe jedoch nie ganz verhehlen. Zur domestizierten Nostalgie des Puppenhauses gesellt sich stets das Ordnungsprinzip des Setzkastens. Nur die Melancholie seiner Figuren weist über die Liebesgeschichte hinaus. Der Schlüssel zu dieser Grundstimmung ist das Jahr 1965. Nur wenige Jahre später, so erzählte Anderson nach der Premiere in Cannes, würden Sam und Suzy in einem völlig anderen Amerika leben. Wenn Suzy eine Schere in das Pfadfinderhündchen bohrt und Bill Murray axtschwingend durchs Puppenhaus läuft, überschattet dieses neue Amerika bereits das Mondscheinkönigreich.

Spieglein Spieglein – Die wirklich wahre Geschichte von Schneewittchen

(USA 2012, Regie: Tarsem Singh)

Wirklich Ware
von Oliver Nöding

Auch wenn der ungelenke Untertitel ein Bonus ist, den die deutsche Fassung von Tarsem Singhs Schneewittchen-Verfilmung für sich allein beanspruchen darf: Das Versprechen, nach der „wahren“ die „wirklich wahre“ Version …

Auch wenn der ungelenke Untertitel ein Bonus ist, den die deutsche Fassung von Tarsem Singhs Schneewittchen-Verfilmung für sich allein beanspruchen darf: Das Versprechen, nach der „wahren“ die „wirklich wahre“ Version einer Geschichte zu liefern, passt natürlich wunderbar in diese Zeit, die gespickt ist mit filmischen Remakes, Reboots und Prequels. Nicht das, was erzählt wird ist entscheidend, sondern nur noch, dass es neu ist – oder zumindest den Anschein von Neuheit erweckt. Und für diese Neuheit nimmt man ja auch gern in Kauf, dass jeder Anflug von Magie schon im Keim erstickt wird.

'Spieglein Spieglein' beginnt – wie man es von den Filmen Singhs erwartet – visuell berauschend mit einem wirklich atemberaubenden, animierten Prolog, der die Vorgeschichte des bekannten Märchens erzählt und an dessen Ende die schöne Königstochter Schneewittchen ohne ihren liebevollen, gutmütigen Vater und allein mit der boshaften, eifersüchtigen und eitlen Stiefmutter dasteht. Die Figuren erinnern optisch an aus glänzendem Marmor oder kostbarem Holz geschnitzte Puppen, die sie umgebenden Landschaften sind plastisch, aber gleichzeitig sehr stilisiert. So entsteht tatsächlich eine geheimnisvolle, jeder konkreten historischen Epoche enthobene Welt vor den Augen des Betrachters: Hier würde man gern verweilen – oder erfahren, was sich hinter den unbeweglichen Gesichtern der Figuren verbirgt. Der zickige Voice-over-Kommentar der bösen Stiefmutter (Julia Roberts), der erklärt, dass die bekannte Geschichte nun aus ihrer Sicht erzählt werde, lässt aber schon erahnen, dass es im Folgenden weniger düsterromantisch als vielmehr plump-modern zugehen wird. Und so ist es dann auch.

Zur Handlung: Nach dem Tod des beliebten Königs hat sich ewiger Winter über das Königreich gelegt, das von der herrschsüchtigen Königin rücksichtslos geknechtet wird. Trotzdem droht ihr der Konkurs: Ein wohlhabender Ehemann muss her. Der bald eintreffende Prinz Alcott (Armie Hammer) verliebt sich aber nicht in die Königin, sondern in deren bezaubernde Stieftochter Schneewittchen (Lily Collins), die daraufhin auf Geheiß der erbosten Königin vom treuen Diener Brighton (Nathan Lane) entsorgt werden soll. Weil der aber Mitleid mit ihr hat, lässt er sie in den tiefen Wäldern des Reichs frei – wo sie dann auf eine siebenköpfige Bande kleinwüchsiger Diebe stößt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten wickelt das bildhübsche Mädchen diese natürlich um den Finger und plant mit ihnen den Putsch gegen die böse Königin. Am Ende ist diese um Jahre gealtert und ihre Herrschaft zerschlagen. Schneewitchen heiratet den braven Prinzen, die Zwerge werden rehabilitiert und selbst der totgeglaubte König kehrt zurück, um sein Amt wieder aufzunehmen. Hach.

Man merkt es schon an dieser Nacherzählung: Allzu groß sind die Unterschiede zwischen dieser „wirklich wahren“ und der allseits bekannten Version des Märchens nicht. Das Vorhaben, die Geschichte aus der Sicht der bösen Stiefmutter zu erzählen, wird schon bald aufgegeben; wohl auch, weil viele populäre Elemente des Märchens sonst gänzlich unter den Tisch fallen müssten. Und hat es zunächst noch den Anschein, als unternehme Singh den Versuch, die märchenhaften Vorgänge zu entmystifizieren, kommen im weiteren Verlauf des Films stattdessen immer neue fantastische Elemente zu den bereits bekannten hinzu. Entmystifizierend im negativen Wortsinne ist lediglich der unsäglich platte Humor, der sich zunehmend in den Vordergrund drängt und die zuvor etablierte Stimmung wieder zerstört. Dabei wäre es wirklich interessant gewesen, etwa die tiefenpsychologische Bedeutungsebene des Märchens freizulegen, so wie Neil Jordan es einst mit 'Die Zeit der Wölfe' für Grimms „Rotkäppchen“ erfolgreich durchexerziert hatte. Mit Singh stand ein Regisseur zur Verfügung, dem man diese Aufgabe durchaus zutrauen durfte, versteht er sich doch zweifellos darauf, Seelenlandschaften in eindrucksvolle Bilder zu übersetzen, wie man seit 'The Cell' oder auch The Fall' weiß. Aber der Regisseur agiert hier von Beginn an auf verlorenem Posten, steckt in einem konzeptionellen Korsett fest, das ihn zum Choreografen aufwendig kostümierter Schauspieler degradiert. So prachtvoll 'Spieglein Spieglein' auch aussieht: Seine Bilder lassen jede Tiefe vermissen, sind lediglich auf Hochglanz polierte Postkartenmotive. Da ist nichts, was wirklich überraschen oder gar verstören würde.

Das verwundert nun nicht, wenn man weiß, wer hinter 'Spieglein Spieglein' steht: Produzent Brett Ratner ist bislang als zuverlässiger Lieferant stets seelenloser Massenware aufgefallen ist und darf jeder Inspiration als unverdächtig angesehen werden. Statt das Potenzial seiner Prämisse zu heben, geht es ihm allein darum, Entertainment für die ganze Familie zu bieten. Ein ehrenwertes Unterfangen, wenn 'Spieglein Spieglein' dabei nicht immer den naheliegendsten, dümmsten und unkreativsten Weg ginge. So bleibt am Ende ein Film, der Kindern vielleicht noch ans Herz zu legen ist, insgesamt aber angesichts des ins Rennen geworfenen Talents doch als Enttäuschung bezeichnet werden muss. Die wirklich wahre Geschichte von Schneewittchen ist wirklich nicht das Wahre.

Leb wohl, meine Königin!

(F / SPA 2012, Regie: Benoît Jacquot)

Eisige Forciertheit
von Janis El-Bira

Die Übertragung der Eröffnungsgala aus dem Berlinale Palast in den Friedrichstadtpalast vor dem Eröffnungsfilm ist wohl so etwas wie der Kompromiss, den man eingehen muss, wenn man zwar nicht 'wichtig' …

Die Übertragung der Eröffnungsgala aus dem Berlinale Palast in den Friedrichstadtpalast vor dem Eröffnungsfilm ist wohl so etwas wie der Kompromiss, den man eingehen muss, wenn man zwar nicht 'wichtig' genug ist, um zur eigentlichen Veranstaltung eingeladen zu werden, aber dennoch ein bisschen 'offiziell' in die Filmfestspiele starten möchte. So schaut man geschlagene sechzig Minuten zu, wie Dieter Kosslick und Anke Engelke hemdsärmelig durch ein Programm stolpern, das alles und jeden feiert, aber irgendwie nicht die Filme, um die es gehen soll. Man hört ungläubig, wie Bernd Neumann Sätze sagt, die so anfangen: 'Kunst und Kultur und dazu zähle ich auch den Film …' und Klaus Wowereit sich offen am allermeisten darüber freut, dass er und niemand sonst es ist, der wieder als regierender Bürgermeister auf der Bühne stehen darf. Trotzdem ist das alles auch ein bisschen lustig: Einmal mehr nimmt man zur Kenntnis, dass Menschen in HD und Gesichter groß wie Tennisplätze in Wahrheit doch irgendwie unvorteilhaft aussehen – vor allem, wenn sie von einer erbarmungslos durch den Raum springenden Kamera ahnungslos just im Ausdruck tiefster, fernschweifender Langeweile eingefangen werden. Dann kann man förmlich sehen, wie alles, was dort geschieht, durch Diane Krugers stahlblaue Augen direkt hindurchgeht und irgendwo – man weiß es nicht – zu sein aufhört; verdenken kann man es ihr nicht.

Erfreulicher ist dagegen, dass Benoît Jacquots Eröffnungsfilm 'Les Adieux à la Reine' kein Ausfall ist, obwohl Schlimmes zu befürchten war: Die letzten Tage auf Schloss Versailles am Vorabend der französischen Revolution werden erzählt aus der Sicht einer jungen Dienerin (Léa Seydoux), die als Vorleserin Marie-Antoinettes (Diane Kruger) sozusagen aus unmittelbarer Nähe den Zerfall des 'ancien régime' miterlebt. Am Anfang ist das auch genau jener 'upstairs / downstairs'-Film, den man sich darunter vorstellt: Die Herrschaft ergeht sich in dekadentem Prunk, dafür sind 'unten' die Partys lustiger, die Frauen frivoler, die Pfaffen geil wie eh und je und ein alter Bibliothekar zwischen den Welten hat einen Buckel und spricht gerne dem Wein zu – alles wie gehabt, alles wenig aufregend. Jacquots Mittel sind konservativ-gradlinig und bleiben das auch. Dennoch macht es im Verlauf des Films immer mehr Spaß, dem ständigen Öffnen und Schließen der Türen und Gemächer zu folgen und zuzuschauen, wie die verknöcherten Hofschranzen nachts verunsichert aus ihren Kammern gekrochen gekommen, als die ersten Berichte von den Ereignissen in der Bastille im Schloss die Runde machen.

Mit fortschreitender Dauer bekommt die Erzählung von der ihrer Königin bedingungslos ergebenen Vorleserin eine zynische, fast grausame Note, wenn sie aufzeigt, dass der Gang aus der Unmündigkeit zunächst vor allem nicht Gewinn, sondern schwerwiegende Verluste bedeutet: Mit einem Marivaux’schen Kleider- und Identitätswechsel, der letztlich die Flucht ermöglichen soll, werden die erstarrten Hierarchien zwar im Spiel durchlässig, doch bedrückt dieser Tausch durch seine eisige Forciertheit und einen Moment völliger entblößter Nacktheit zwischen Aus- und Ankleiden. Das Bedecken und wieder Ent-Decken der Scham im Angesicht der Königin stellt Aufbruch und fatalistischen Gehorsam, Gewinn und Verlust im Anbruch der Aufklärung auf so engem Raum und so zart nebeneinander, dass das Festival einen ersten berührenden Moment geschenkt bekommt.

Dieser Text erschien zuerst anlässlich der Berlinale 2012 in der filmgazette.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Leb wohl, meine Königin!

(F / SPA 2012, Regie: Benoît Jacquot)

Die da oben
von Carsten Happe

Es wäre natürlich ein Leichtes, das bekannte Diane-Kruger-Bashing fortzusetzen, das sie sich seit ihren ersten Filmauftritten in „Troja' und „Das Geheimnis der Tempelritter' – inklusive einer grauenvoll emotionslosen Selbstsynchronisation – …

Es wäre natürlich ein Leichtes, das bekannte Diane-Kruger-Bashing fortzusetzen, das sie sich seit ihren ersten Filmauftritten in „Troja' und „Das Geheimnis der Tempelritter' – inklusive einer grauenvoll emotionslosen Selbstsynchronisation – wohlverdient hat. Aber dazu liefert „Leb wohl, meine Königin!', der Eröffnungsfilm der diesjährigen Berlinale, kaum einen Anlass. Ihre Performance als Marie Antoinette in diesem Schlüssellochblick auf die letzten Tage vor der Revolution ist angemessen und respektabel austariert zwischen königlicher Härte und kindlicher Unschuld – und erwartungsgemäß akkurater als Kirsten Dunsts lt-Girl in Sofia Coppolas hübsch misslungener Punk-Pop-Version.

Dabei ist Marie Antoinette hier nicht der Mittelpunkt, allenfalls das Licht, das die Motten, die Ratten und die Bediensteten des Hofes magisch anzieht. Insbesondere ihre Vorleserin Sidonie, die ihre Königin abgöttisch verehrt, ihr zum letztlich unglücklichsten Zeitpunkt zu nahe kommt und in dem Glanz und dem schönen Schein verbrennt. Lea Seydoux, die auf der Berlinale auch in Ursula Meiers „Sister' brillierte und sich mit Nebenrollen in „Midnight in Paris' und „Mission: Impossible – Phantom Protokoll' in Hollywood einen Namen gemacht hat, ist als Sidonie der größte Trumpf in Benoit Jacquots Film. Trotz ihrer Ergebenheit bleibt sie stets ein starker, selbstbewusster Charakter, gerade in dem Chaos, das über Frankreich hereinbricht; und ihr zu folgen durch die labyrinthische Architektur von Versailles, macht einen Gutteil der Faszination von „Leb wohl, meine Königin!' aus, der auf episches Pathos und Pomp weitgehend verzichtet und, möglicherweise in Anlehnung an Robert Altmans „Gosford Park', gekonnt aus der Frosch-Perspektive über „die da oben' erzählt.

Wobei Jacquots Film die kühle, sezierende Brillanz des US-britischen-Pendants nur selten erreicht – dafür bleiben die Dialoge oftmals zu flach, die Handlung zu wenig fokussiert und auch der ausgiebige Gebrauch der Handkamera suggeriert allenfalls Direktheit und Nähe, wo das bisweilen zu schematische Drehbuch sie nicht herzustellen vermag. Um jedoch seine Meinung über Diane Kruger ein wenig zu relativieren und 100 Minuten lang die derzeit aufregendste französische Darstellerin zu erleben – allein dafür lohnt dieses Blättern in einem eigentlich ausgelesenen Geschichtsbuch allemal.

Dieser Text erschien zuerst in: pony #74

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

The Cabin in the Woods

(USA 2010, Regie: Drew Goddard)

Im Steinbruch der Filmgeschichte
von Carsten Happe

Es sind die Archetypen, die das Horrorgenre am Leben erhalten und mit ewig frischem Blut versorgen, die Werwölfe und Mutanten, die Zombies, Vampire und verwandte Untote, die verrückten Wissenschaftler und …

Es sind die Archetypen, die das Horrorgenre am Leben erhalten und mit ewig frischem Blut versorgen, die Werwölfe und Mutanten, die Zombies, Vampire und verwandte Untote, die verrückten Wissenschaftler und ihre entfesselten Kreaturen, die garstigen kleinen Mädchen und die hinter der Fassade langweiligster Normalität sich verschanzenden Schlitzer und Serienkiller. Kaum ein anderes Genre als der Horrorfilm geriert sich ähnlich konservativ, seinen Regeln und Konventionen stets verpflichtet. Erfolgreiche Schemata werden wieder und wieder ausgebeutet, gelegentlich variiert, selten auch einmal dekonstruiert. Wes Craven zog in den Neunzigern mit „Freddy’s New Nightmare“ und insbesondere dem ersten Teil der „Scream“-Reihe effektive und augenöffnende Metaebenen in die gängigen Horrorkonstruktionen ein, entlarvte einerseits die Stereotypie und machte andererseits das Genre mit ironischen Brechungen für die Post-Post-Moderne flott. Bis die Torture-Porn-Welle der Nuller-Jahre einen sowohl ästhetischen wie auch ideologischen Rückschritt bedeutete – die auf einer spekulativen Ebene möglicherweise den politischen Gegebenheiten geschuldet war, jedoch in seiner grimmigen und unerbittlichen Art vor allem die Angstlust als zentrales Motiv des Horrorfilms ignorierte und letztlich wenig ergiebig um nichts als sich selbst kreiste. Dass sich auch das dekonstruierende Element nicht beliebig wiederholen ließ, zeigte Cravens eigener, uninspiriert modernisierter „Scream 4“. Den Gegenbeweis, dass sich auch im Jahr 2012 die penible Erfüllung der Genreregeln und das lustvolle Auskosten der ironischen Metatextualität zu einem homogenen Werk vermengen lassen, treten nun „Buffy“- und „Avengers“-Mastermind Joss Whedon sowie der „Cloverfield“-Autor Drew Goddard mit seinem Regiedebüt „The Cabin in the Woods“ an.

Die Selbstreferenzialität ist auch hier das dominierende Prinzip; visuelle Anspielungen und Zitate kanonischer Horrorfilme sind Legion und können wahrscheinlich erst bei einer Standbild-Analyse vollständig entschlüsselt werden. Aber auch beim ersten Sehen entwickelt sich ein unbändiger Spaß: Zunächst an der in bester „Breakfast Club“-Analogie aufgestellten Clique aus Sportler, Jungfrau, Streber, Flittchen und Nerd sowie ihren an Waldorf & Statler gemahnenden Gegenparts im unterirdischen Kontrollraum, die das zum Klischee erstarrte Motiv von der Privatparty in der Waldhütte und ihren obligatorischen ungebeten Gästen ins Rollen bringen und gleichzeitig Wetten darüber abschließen, wer von den ahnungslosen Teens als Erster ins Gras beißt.

Die Versuchsanordnung der ungleichen Gegner, die fast jedem Horrorfilm innewohnt, wird konsequent auf die Spitze getrieben. Anfängliche Befürchtungen, dass sich das Gemetzel in einem artifiziellen, in jeglicher Hinsicht überschaubaren Raum abspielt, werden allerdings schnell beiseite gewischt. Darin liegt auch eine Selbsterkenntnis der Filmemacher verborgen, die sich ab einem gewissen Punkt nicht länger hinter ihren Kontrollmonitoren und in den Schneideräumen verschanzen können und sich der brutalen Außenwelt stellen müssen. Ironischerweise wurde „The Cabin in the Woods“ bereits 2009 gedreht, konnte aber aufgrund struktureller Umwälzungen der Studios MGM und Lionsgate erst in diesem Jahr veröffentlicht werden. Die lange Lagerzeit hat dem Film jedoch keineswegs geschadet. Das Angebot an Mainstream-Horror in den vergangenen Jahren hat nur vielmehr verdeutlicht, wie weit „The Cabin in the Woods“ der Konkurrenz enteilt ist.

„Expect the worst“ ist ein weiteres der ungeschriebenen Genregesetze, und wie es sich in der zweiten Hälfte des Films, der nunmehr immer wildere Haken schlägt, dann auch gegen die Schöpfer der Gruselwelten richtet, das ist nicht weniger als furios zu nennen. Auf ihrer Achterbahnfahrt durch die Mythen und Legenden des Horrorfilms reißen Whedon und Goddard alle Regeln genüsslich nieder (und errichten sie aus den Trümmern wieder neu). Dass „The Cabin in the Woods“ vom US-Publikum eher lauwarm angenommen wurde, deutet dabei eher auf ebenso konservative Genrefans, die lieber ihre Protagonisten durch den Fleischwolf gedreht sehen wollen als ihre Gewohnheiten. Denn trotz der ironischen, manchmal auch zynischen Spiegelung der Konventionen gelingt Whedon und Goddard ein ebenso nervenzerrendes, blutspritzendes Spektakel wie auch der reflexive Diskurs über seine Bedingungen.

End of Animal

(KR 2010, Regie: Sung-Hee Jo)

Sozial unplugged
von Carsten Moll

Landstraße. Kein Baum. Ein Taxi bahnt sich seinen Weg durch südkoreanisches Niemandsland. Auf dem Rücksitz befindet sich die hochschwangere Sun-young – unterwegs von Seoul in ihr abgelegenes Heimatdorf zur Mutter …

Landstraße. Kein Baum. Ein Taxi bahnt sich seinen Weg durch südkoreanisches Niemandsland. Auf dem Rücksitz befindet sich die hochschwangere Sun-young – unterwegs von Seoul in ihr abgelegenes Heimatdorf zur Mutter – und lässt die graue Einöde vor dem Fenster vorüberziehen. Die Fahrt endet jäh, als ein mysteriöser Anhalter zusteigt und fast schon beiläufig mit einem Countdown das Ende der Welt einläutet: Bei Null angekommen blitzt ein blendend weißes Licht auf – Sun-young erwacht später mutterseelenallein im Taxi und findet sich in einer Welt wieder, in der keine Elektronik mehr funktioniert und in den Wäldern wilde Bestien lauern …

Bereits nach wenigen Minuten steigert sich Sung-hee Jos Debütfilm vom Roadmovie zum postapokalyptischen Film und damit zu einer Art Anti-Roadmovie; Straßen gibt es noch zur Genüge, bloß Bewegung, Vorankommen ist nicht mehr möglich. So irrt die junge Protagonistin auf der Suche nach Hilfe über beinahe zwei Stunden Laufzeit ziellos durch den verlassenen Landstrich und gerät dabei immer wieder an Fremde, die wenig vertrauenerweckend und ebenso ahnungslos wie Sun-young erscheinen. Die Welt ist kaputt, die materielle Sphäre lahmgelegt. Was bleibt, sind Menschen, die sich verstört an nutzlos gewordene Apparate und banale Accessoires klammern und sich das Leben gegenseitig zur Hölle machen. Der Überlebenskampf ist ein stiller und mit einer Zurückhaltung inszeniert, die Stillstand und Redundanzen einem konventionellen Spannungsaufbau und logischen Erklärungen vorzieht. Die Gewalt, die wieder und wieder ausbricht, bleibt genau wie die menschenfressenden Monster meist ungesehen im Off. Einzig auf der Tonspur tut sich stets was: Da dröhnt es monoton, ein Monster brüllt, das Walkie-Talkie rauscht und lautstark wird ein Schokoriegel verschlungen.

Der Vergleich mit Filmen wie John Hillcoats „The Road“ oder Michael Hanekes „Wolfzeit“ liegt beim Betrachten der trost- und farblosen Bilder nahe, „End of Animal“ verzichtet aber sowohl auf Hillcoats Sentimentalität als auch auf eine eindeutige moralische Lektion à la Haneke. Vielmehr noch erinnert Sung-hee Jos Film an das Theater des Absurden; wo Leerlauf herrscht, alle Ideale bereits aufgegeben wurden und die banalen Dialoge eher Folterinstrument als Mittel zur Verständigung sind. Dass der Film den Zuschauer_innen dabei immer wieder vermeintliche Hinweise zur Entschlüsselung der rätselhaften Vorkommnisse vorsetzt, mag beim Zuschauen noch motivieren, den Trip durch diese Welt aus Schmerzen, Schmatzen und Schlürfen durchzustehen. Wenn am Ende allerdings der Film selber wie ein ödes Niemandsland anmutet und keinem der zahlreichen Deutungsansätze von der religiösen Parabel bis zur Zivilisationskritik wirklich Raum gibt, bleibt ein schaler Nachgeschmack und ein Gefühl von Leere. Die Desillusionierung, die im absurden Theater das eigene Denken herausfordern will, bewirkt hier Lust auf bunte Täuschung und eskapistisches Vergnügen als Gegenprogramm zum pessimistischen Weltentwurf. Wenn Sun-young zum Schluss nach Durchleiden ihres ganz persönlichen Horrorszenarios bloß an das Leben davor anknüpfen will und sich unverändert nach sattem Alltag sehnt, kann man ihr das als Zuschauer_in nicht verübeln und durchaus nachvollziehen. Der Traum vom eigenen Kühlschrank schien nie tröstlicher. Die Apokalypse jedoch bleibt in „End of Animal“ ein zwar alptraumhaftes aber über das Erleben hinaus folgenloses Intermezzo.

DVD: Bild- und Tonqualität sind gut, die Sprachausgabe ist koreanisch mit deutschen Untertiteln. Auf der DVD finden sich noch einige Trailer zu Filmen aus dem Programm von Rapid Eye Movies.

Tabu – Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden

(Ö / Lux / D 2011, Regie: Christoph Stark)

Der Blick durchs Schlüsselloch
von Ulrich Kriest

Erinnert sich noch jemand an „Julietta“? Vor gut einem Jahrzehnt drehte der Regisseur Christoph Stark diesen Film nach Motiven von Kleists „Marquise von O.“. Wo es Eric Rohmer Mitte der …

Erinnert sich noch jemand an „Julietta“? Vor gut einem Jahrzehnt drehte der Regisseur Christoph Stark diesen Film nach Motiven von Kleists „Marquise von O.“. Wo es Eric Rohmer Mitte der 70er Jahre noch darum ging, ein filmisches Äquivalent zu Kleists eigenwillig gedrechselter Psycho-Prosa zu entwickeln, da ließ sich Stark seinerzeit eher von Kleists vorgängigem Sinn für die drastische Kolportage inspirieren. Er ließ die wohl behütete Schülerin Julietta von Stuttgart nach Berlin reisen, wo sie auf der Love-Parade mitfeierte und schließlich im Drogenrausch bewusstlos vom Rettungssanitäter Max vergewaltigt wurde.

Schon damals konnte man sich fragen, welche Funktion der Rekurs auf Kleist erfüllte, wo es Stark doch ganz nachdrücklich daran ging, seine Figuren möglichst authentisch im Hier und Jetzt der Berliner Party-Szene der Jahrtausendwende zu situieren. Wahrscheinlich, wir erinnern uns nicht mehr, ging es auch damals darum, einen klassischen Stoff einer jungen Generation von Lesern dadurch näher zu bringen, indem man sämtliche Spuren von Literarizität und Historizität tilgte. Und natürlich um ein paar gute Argumente bei der Finanzierung eines Filmprojektes. Christoph Stark hat seither durchaus erfolgreich fürs Fernsehen als Drehbuchautor und Regisseur gehobene Dutzendware der Marken „Tatort“ und „Bloch“ abgeliefert. Jetzt aber gilt’s wieder der klassischen Literatur und dem Kino!

„Tabu – Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden“ ist allerdings keine Literatur-Verfilmung, sondern eher eine Art von Schlüsselloch-Biopic auf der Grundlage einiger Vermutungen zur und einiger Fakten der Biografie des dunklen Expressionisten Georg Trakl, der in den ersten Wochen des 1. Weltkriegs, nach der Erfahrung der Schlacht von Grodek, an einer Überdosis Kokain starb. Es geht hier also ein weiteres Mal um die Ver-Filmung von Kunstproduktion, was bekanntlich – man denke an Filme wie „Pollock“ oder „Der Klang der Stille“ oder „Mit meinen heißen Tränen“ oder „Das Leben der Anderen“ – immer eine heikle Aufgabe ist.

Die Frage sei erlaubt: Ist Dichtung ein Handwerk oder doch eher eine existentielle Passion, die es dem genialischen Dichter abfordert, sich vom Weltschmerz und Drogenrausch verzehrt, seine Visionen mit letzter Tinte aus dem maladen Körper zu schneiden? Für Christoph Stark ist das keine Frage: er frönt hier auf Spielfilmlänge dem Pathos des romantischen Künstlermythos so entschieden, bis dieser nur noch lächerlich im Regen steht. Stark stellt sich in „Tabu“ den expressionistischen Drogenesser Georg Trakl als fiebrigen Schmerzensmann, als Bruder im Geiste eines Pete Doherty vor, dessen symbolistische Lyrik davon lebt, dass er mit ihr ein unglückliches inzestuöses Verhältnis zu seiner Schwester Gretl kompensiert. Weshalb er seine Gedichte auch vorzugsweise nackt und im Rausch im – huch! – Bordell ausführlich rezitiert, was die anwesenden, eher kunstfern dahinlebenden Prostituierten eher langweilt.

Kreativität gerät diesem schwülstig-schmierigen Blick durchs Schlüsselloch einer Dichterbiografie zu wenig mehr als einer misslichen Ersatz- oder Übersprungshandlung. Manch Germanist hätte wohl eher Nietzsche, Freud, Moderneerfahrung und Ich-Dissoziation ins Feld geführt, doch „Tabu“ mag es eindeutiger. Stark hat zu Protokoll gegeben, sein Film ziele aufs Allgemeine, auf die „innere Reise zweier Menschen, die sich nicht lieben dürfen“. Allerdings inszeniert er dies „Allgemeine“ nicht angemessen abstrakt, sondern komplett ironiefrei mit den Mitteln des Kostümfilms, wobei die sprachlichen Anachronismen und die hier ungebremsten pubertären Manierismen Lars Eidingers dem Film endgültig den Garaus machen. Hier wird also nicht nur gekokst, gesoffen, gelitten, gesündigt und mit Worten gerungen, sondern dies geschieht auch noch vor einem Ambiente, das sich skizzenhaft und parasitär von der Sphäre des „kulturell Wertvollen“ nährt.

Hier gibt es tatsächlich Szenen im Kaffeehaus, wo aus dem „Off“ jemand „Alma, komm jetzt!“ ruft, worauf ein Paar an der Kamera vorbei flaniert, bis jemand Anderes flüstert: „Das ist der Kokoschka!“ Ist er dann auch, wenn man so will. Mag auch der Ansatz, sich auf diese Weise der Literatur als Pop-Phänomen zu nähern, ein intellektuelles Desaster sein, so beweist Stark immerhin ein Händchen fürs Team: so findet der Kameramann Bogumil Godfrejow zeitweise ganz erstaunliche Bilder zum traurigen Treiben, die immer wieder vor Augen führen, was hier an Substantiellem verschenkt wurde. Und so wie „Julietta“ uns seinerzeit mit Lavinia Wilson bekannt machte, ist auch hier die intensive darstellerische Leistung von Peri Baumeister ein Versprechen auf künftig hoffentlich adäquatere Projekte. Insgesamt aber erinnert „Tabu“ in seiner Herangehensweise an „Egon Schiele – Exzesse“, jenen fast vergessenen Film von Herbert Vesely, der sich seinem Gegenstand auch nicht auf Augen-, sondern lieber auf Schamhaarhöhe näherte. Merke: Kunst ist schön, macht aber auch viel Arbeit.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Point Blank – Aus kurzer Distanz

(F 2010, Regie: Fred Cavayé)

Adrenalin: Paris
von Michael Schleeh

Der französische Polizeifilm, im Heimatland ein beliebtes Genre mit langer kinematographischer Tradition, hat es nicht leicht in Deutschland. Kaum einmal schafft er es auf die Kinoleinwand, zumeist wird er als …

Der französische Polizeifilm, im Heimatland ein beliebtes Genre mit langer kinematographischer Tradition, hat es nicht leicht in Deutschland. Kaum einmal schafft er es auf die Kinoleinwand, zumeist wird er als Direct-to-Digitalmedium–Actionreißer verheizt. Lediglich beim Fantasy Filmfest scheint sich der Policier einen festen Programmplatz erkämpft zu haben. Anhand von Fred Cavayés hartem Thriller „Point Blank“, in dem sich auch Spurenelemente des Cinema Beur nachweisen lassen, kann man einmal mehr plausibel nachvollziehen, warum diese französischen Nischengewächse mit ihrer kinetischen Energie auf die Kinoleinwand gehören, und woher und weshalb sich, über den Teich gedacht, Hollywood so gerne Inspirationen fürs obligatorische Remake holt.

Der Krankenpfleger Samuel Pierret (Gilles Lellouche) überrascht während der Nachtschicht eine unbekannte Person auf der Station. Eine Kontrolle der Patienten ergibt: das Beatmungsgerät des kurz zuvor eingelieferten und verletzten Sartet (Roschdy Zem) wurde abgeschaltet. Ein Mordversuch? Wieder zuhause wird Samuel in der eigenen Wohnung niedergeschlagen und die hochschwangere Gattin entführt. Ein unbekannter Anrufer zwingt ihn dazu, eben jenen Patienten, dem nach dem Leben getrachtet worden war, unbemerkt aus der Klinik zu schaffen und ihn anschließend gegen seine Frau einzutauschen. Was Samuel nicht weiß: mittlerweile ist auch die Polizei hinter dem Mann her und er selbst wird nach der abenteuerlichen, geglückten Entführung für einen Komplizen gehalten. Dass hinter der Sache ein Mordfall an einem Industriellen steckt, und er selbst immer tiefer in die unübersichtlichen Verschlingungen französischer, rumänischer und maghrebiner krimineller Vereinigungen hineingezogen wird, ist dabei wenig überraschend. Schließlich geht es nur noch ums Überleben und darum, Frau und ungeborenes Kind zu retten.

Und freilich ist es wieder auch einmal so, dass sich die Grenzen zwischen Gut und Böse aufheben, dass zwischen Polizist und Kriminellem kein Unterschied mehr besteht. Und abgesehen davon, dass alles nach Korruption und Bereicherung stinkt, muss auch Samuel schließlich gewalttätig werden, um der Gewalt Herr zu werden – einen Rest Menschlichkeit allerdings bewahrt er sich natürlich, unser Held. Dass sich der Fall für den Zuschauer nach bereits 40 Minuten geklärt hat, ist dabei eine interessante narrative Entscheidung. Der Plot gibt sich anschließend völlig an die Action hin, eine Verfolgungsjagd hetzt die andere, und Paris gleicht einem Kriegsgebiet. Hier wird irgendwann auch auf offener Straße und in den Stationen der Métro herumgeballert. Zum Showdown geht es dann ins Herz der Finsternis hinein, dorthin, wo alles Übel herkommt: ins Polzeirevier. In einem völlig auf Chaos und Atemlosigkeit getrimmten, fulminanten Finale scheint das Gebäude geradezu zu implodieren. Eine ziemlich überflüssig hinzukonstruierte Rahmenhandlung zwecks Suspensegenerierung und einige grobe Unwahrscheinlichkeiten sind dabei kleinere Kritikpunkte an einem nicht immer hundertprozentig stilsicheren und manchmal absurden, dafür aber rasanten und knackig-kurzen Actionfilm. Ein Film, der zwar etwas hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt, dafür aber Lust auf weitere Vertreter seines Genres macht. Auch ohne Vincent Cassel. Zut alors!

Das Turiner Pferd

(HU / F / D / CH 2011, Regie: Béla Tarr, Ágnes Hranitzky (Co-Regie))

Alles ist für ewig verloren
von Wolfgang Nierlin

In das Dunkel der Leinwand hinein erzählt eine Stimme aus dem Off eine Geschichte, die sich am 3. Januar 1889 in Turin ereignet haben soll. Demnach hat damals der Philosoph …

In das Dunkel der Leinwand hinein erzählt eine Stimme aus dem Off eine Geschichte, die sich am 3. Januar 1889 in Turin ereignet haben soll. Demnach hat damals der Philosoph Friedrich Nietzsche schluchzend ein misshandeltes Pferd umarmt, um es vor den Schlägen des Kutschers zu schützen. Kurz darauf habe er die legendären Worte „Meine Mutter, ich bin dumm“ gesprochen, bevor er in einen Zustand „geistiger Umnachtung“ gefallen sei. Die literarisch romantisierende Formulierung für Nietzsches psychische Erkrankung passt natürlich gut zu einem in Schwarzweiß gedrehten Film, der einen existentiellen Verdunkelungsprozess vorführt und konsequent in Stille und Finsternis mündet, als handle es sich dabei um eine negative oder umgekehrte Schöpfungs- und Menschheitsgeschichte. Der Hinweis am Ende des Prologs, wonach man nicht wisse, was aus dem Pferd geworden sei, sowie der Filmtitel „Das Turiner Pferd“ beanspruchen zugleich, die Geschichte dieser geschundenen Kreatur und ihres Herrn weiterzuerzählen. Im artifiziellen, formal extrem stilisierten Kosmos von Béla Tarrs Film wird diese zum exemplarischen Fall einer Untergangs- und Endzeitvision.

Der Blick des leidenden Tiers, das gegen den heulenden Sturmwind einen Wagen zieht, steht deshalb am Beginn der sich symbolisch über sechs Tage erstreckenden Handlung, die sich im kargen Wohn- und Arbeitsraum einer aus Stein gebauten Kate abspielt, wo der Kutscher mit seiner Tochter in ärmlichen Verhältnissen lebt. Aber eigentlich inszenieren der ungarische Regisseur Béla Tarr und sein kongenialer deutscher Bildgestalter Fred Kelemen (der auch als Filmemacher arbeitet), kunstvoll komponiert aus nur 29 Einstellungen, eher eine Nicht-Handlung, einen existentiellen Zustand des Immergleichen. Unterlegt mit der repetitiven Musik von Mihály Vig, wiederholen sich im reduzierten Setting des Films die alltäglichen Verrichtungen der Protagonisten unter leicht veränderten Perspektiven: Wie sich der alte Bauer Ohlsdorfer (János Derzsí) täglich wie von einem Totenbett erhebt, von seiner Tochter (Erika Bók) angekleidet wird und einen Schnaps trinkt; wie die beiden, wortlos und aufeinander abgestimmt, dann ihr Tagewerk erledigen, Wasser aus dem Brunnen schöpfen, gierig eine dampfende Kartoffel verschlingen, Wäsche waschen, Holz hacken und das Pferd versorgen. Der unaufhörliche gewaltige Wind, der draußen über die wüste Ebene fegt, liefert zu dieser schier ausweglosen Trost- und Perspektivlosigkeit gewissermaßen eine schrecklich-bedrohliche Melodie, gegen die sich das wärmende Feuer im Steinofen stemmt.

Doch dann schweigen plötzlich die Holzwürmer, der Brunnen versiegt, das Pferd will nichts mehr fressen und versinkt in Apathie und ein defätistischer Nachbar prophezeit „das Gericht der Menschen über sich selbst“: Alles werde „niedergemacht und zerstört“, alles sei „ergattert und verhext“, es gebe keine Nischen oder Rückzugsorte mehr. „Alles, alles ist für ewig verloren“, sagt der Unheilverkünder noch, bevor er wieder geht und die Tage (der Welt) allmählich in Dunkelheit und Stille versinken. Illusionslos formulieren Béla Tarr und sein langjähriger Co-Autor, der Schriftsteller László Krasznahorkai, ihre nihilistische Weltsicht in einem tiefdunklen, minimalistischen Film, der nach dem Willen seines Regisseurs und in der Konsequenz seines Gesamtwerks zugleich sein letzter sein soll. „Das Turiner Pferd“ handelt von den Folgen eines Sündenfalls, von „der Schändung“ eines „heiligen Ortes“, wie es in dem Buch heißt, das vorbeifahrende Zigeuner der Tochter schenken, und der ewigen Buße, die als Strafmaß daraus folgt. In ausgeklügelten Bildern, symmetrischen Einstellungen, abgezirkelten Kamerabewegungen und einer ausgefeilten Hell-Dunkel-Dramaturgie hält Tarr seine Zuschauer in einer bedeutungsvollen Distanz. Diese wird immer wieder dort aufgehoben und auf ebenso poetische wie berührende Weise verdichtet, wo Dinge bildfüllend zu Symbolen werden: Etwa das Wagenrad als Bild des ewigen Kreislaufs, die verschlossenen Stalltür, die auf ein Ende (der Geschichte) deutet oder auch das frisch gewaschene weiße Hemd an der Wäscheleine, das einmal die Leinwand in eine Tabula rasa für das Nichts und zugleich in eine ambivalente Projektionsfläche zwischen Reinheit und Auslöschung verwandelt.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

The Man from London

(HU / F / D 2007, Regie: Béla Tarr)

Im Dunkel gefangen
von Wolfgang Nierlin

Es gibt in Béla Tarrs Werk “The Man from London” (A London férfi) eine Ambivalenz von Zeigen und Verbergen, die in direkter Weise mit der Helldunkelmalerei des Films korrespondiert. So …

Es gibt in Béla Tarrs Werk “The Man from London” (A London férfi) eine Ambivalenz von Zeigen und Verbergen, die in direkter Weise mit der Helldunkelmalerei des Films korrespondiert. So wie der Protagonist Maloin (Miroslav Krobot), ein Gleisrangierer im Nachtschichtdienst, vom Dunkel der Tage förmlich gefangen ist, sind die Bilder von tiefschwarzen Streifen gegliedert. Die vom kongenialen Bildgestalter Fred Kelemen fotografierten Raster und Schatten vermitteln insofern ein Gefühl der Gefangenschaft und verleihen darüber hinaus dem Raum einen zwielichtigen Charakter, machen ihn zum Abbild der Seele. Kalter Nebel und ein distanzierter Blick auf den unwirtlichen Zugbahnhof im Hafengebiet einer namenlosen französischen Stadt verstärken diese triste Atmosphäre noch. Zugleich hält der Abstand das Geschehen in einer schwebenden Uneindeutigkeit. Das Transitorische des Ortes setzt sich fort in den Sprachen, den Handlungen, der Existenz.

Von seinem Rangierturm aus beobachtet der schweigsame Maloin einen Mord. Kurz darauf fischt er aus dem Hafenbecken einen Koffer voller Geld, das er unrechtmäßig an sich nimmt. So schleicht sich die Schuld in seinen einsamen, grauen Alltag, der sich in Ärmlichkeit und häuslichem Händel mit seiner Frau (Tilda Swinton) verliert. Bald darauf findet er sich mit seinen widerstreitenden Gefühlen in einem Spannungsfeld, das von Brown (János Derzsi), dem titelgebenden Dieb aus London, und dem ermittelnden Inspektor Morrison (István Lénárt) abgesteckt wird. Aber Béla Tarr interessiert sich weniger für die kriminalistischen Aspekte seiner Georges Simenon-Adaption; er inszeniert vielmehr eine bedrückend schwermütige Atmosphäre aus Lethargie und Hoffnungslosigkeit. Diese verdichtet die Sehnsucht nach Erlösung im existentiellen Drama des Lebens, seinem Stillstand.

Entsprechend reduziert ist die Handlung, sind die auf Gesten konzentrierten Bewegungen der Figuren im Raum, die choreographiert erscheinen. Wie auf einer Bühne, unterstützt durch expressive Ausbrüche und eine hypnotische repetitive Musik, bewegen sie sich und fügen sich so in die artifizielle Ordnung des Films, dessen Komposition jenseits konventioneller Erzähldramaturgien vor allem eine visuelle ist. Die langsame, stetige Entfaltung des Bildes, die durch ausgeklügelte Kamerabewegungen forciert wird, rechnet in Béla Tarrs Filmen mit der Zeit sowie mit den komplexen Austauschprozessen zwischen innen und außen.

Men in Black 3

(USA 2012, Regie: Barry Sonnenfeld)

I'd love to wear a rainbow every day
von Louis Vazquez

So manches Franchise wäre nach langen Jahren besser unangetastet geblieben. Normalerweise muss der Peitsche schwingende (bzw. in einem Kühlschrank eine Atombombenexplosion unbeschadet überstehende) Dr. Indiana Jones als mahnendes Beispiel herhalten. …

So manches Franchise wäre nach langen Jahren besser unangetastet geblieben. Normalerweise muss der Peitsche schwingende (bzw. in einem Kühlschrank eine Atombombenexplosion unbeschadet überstehende) Dr. Indiana Jones als mahnendes Beispiel herhalten. Einen gewissen Reiz aber haben derlei späte Fortsetzungen selbst beim miesesten Drehbuch: Das Verstreichen der Zeit wird nämlich sichtbar, ganz ohne Tricks. Und das sichtbare, echte Altern erzählt ja immer auch etwas über die Figuren, was nicht unbedingt im Drehbuch stehen muss. „Men in Black 3“ jedenfalls ist entgegen vieler Erwartungen ein ziemlich guter Sommerblockbuster geworden und dabei so knallunterhaltsam, dass man fast vergessen könnte, wie oft Konfektionskino in die Hose geht.

„Men in Black“ überzeugte 1997 als zeitgemäße Cartoon-Variante eines Paranoia-Films und stellte eine geheime NGO vor, die für die Belange der längst auf der Erde lebenden Aliens zuständig ist. Zehn Jahre nach der nicht ganz so mitreißenden ersten Fortsetzung erscheint „Men in Black 3“ in (nicht minder zeitgemäßem) 3D und kommt offensichtlich einigen Beteiligten sehr gelegen: Regisseur Barry Sonnenfeld hat seit „Die Chaoscamper“ (2006) nur noch Fernsehen gemacht, Will Smith in den letzten Jahren eher die Filmkarriere seines Sohnes Jaden („The Karate Kid“) befördert als die eigene. Die Rückkehr zur Erfolgsmasche – wie schön könnte man darüber lästern, wenn „Men in Black 3“ einen hingerotzten Eindruck hinterlassen würde. Etan Cohen aber – keiner der berühmten Brüder, aber immerhin Autor von „Tropic Thunder“ – hat ein witziges Drehbuch verfasst, das nicht nur einen Aufguss alter Ideen bietet, sondern darüber hinaus eine abgegriffene Zeitreisegeschichte. Die Kombination von beidem macht überraschend viel Spaß und ringt der üblichen Weltrettergeschichte ein paar neue Facetten ab.

Schon die feine Exposition spielt aufs Vortrefflichste mit Klischees: Eine aufgebrezelte Schönheit (Nicole Scherzinger) bringt einen Kuchen mit in ein Mondgefängnis, wo ihr Freund Boris the Animal (kaum zu erkennen: Jemaine Clement aus „Flight of the Conchords“), eine Art gemeingefährlicher Space-Biker, seit Jahrzehnten festsitzt. Zwar ist keine Feile in der Süßigkeit versteckt, aber so ähnlich, jedenfalls ist Boris bald darauf kein Gefangener mehr. Weil er noch eine Rechnung mit dem Agenten K (Tommy Lee Jones) offen hat, verändert er den Lauf der Zeit, indem er ins Jahr 1969 reist und K tötet. Da K sich nun nicht mehr, wie eigentlich geschehen, um einen Schutzschirm für die Erde kümmern kann, ist es Boris in der neuen Gegenwart möglich, den Planeten zu erobern. Agent J (Will Smith) erinnert sich als einziger Mensch noch an den eigentlich „richtigen“ Verlauf der Geschichte. Auch er reist deshalb in der Zeit zurück, um alles wieder hinzubiegen, muss sich aber mit der jüngeren Version des wortkargen K (dann gespielt von Josh Brolin) herumschlagen.

„Men in Black 3“ nutzt die Zeitreise ins Jahr 1969 zu einem (kleinen) satirischen Exkurs zur Rassentrennung, zwirbelt die ein oder andere historische Persönlichkeit in die Handlung und beschränkt die Möglichkeiten des Settings ansonsten auf eine wilde Jagd mit Sixties-Dekors und entsprechender Ausstattung. Macht aber nichts, weil allein die Interaktion der Hauptfiguren den Film locker trägt. Allerdings spielt ausgerechnet Tommy Lee Jones, in dessen Gesicht man so wunderbar das Verstreichen der Zeit bewundern kann, diesmal leider nur eine ziemlich kleine Rolle. Immerhin: Josh Brolin passt perfekt als jüngere Version, und man kann sich gut vorstellen, dass da im Erfolgsfall so eine Art Staffelübergabe geplant sein könnte.

Ein weiteres Highlight ist die Figur des außerirdischen Griffin (Michael Stuhlbarg), der sich als multidimensionales Wesen stets fragt, welche Version der Gegenwart er gerade erlebt und was wohl als nächstes geschieht. Da klingt dann sogar ein bisschen Douglas Adams (oder wenigstens Neil Gaiman) mit an. Manch andere Figur wirkt dagegen verschenkt: Emma Thompson kommt als woman in black definitiv zu kurz.

Dass Heldengeschichten meistens nicht ohne Pathos erzählt werden, ist klar, auch wenn die Men in Black zu deadpan sind, um in dieser Hinsicht wirklich zu nerven. Eine Figur aus den alten Filmen wird sogar gleich zu Beginn auf ziemlich komische Weise zu Grabe getragen. Dennoch hat „Men in Black 3“ wie schon seine Vorgänger ein Finale, das ein bisschen auf die Tränendrüse abzielt. Viel besser als die angebotene, rührselige Wendung ist aber der auch in diesem dritten Teil wieder eingesetzte Schlussgag, der die menschliche Hybris in gewisser Weise in die Schranken weist. (Zur Erinnerung: Im ersten Teil entpuppte sich unser Universum im Schlussbild als Inhalt einer Murmel.)

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Adaption

(USA 2002, Regie: Spike Jonze)

Verstümmelungstechnik
von Dietrich Kuhlbrodt

L.A. Wenn ich den Adapter in die Dose stecke, dann ist das meine private Systemüberlistung – was die Normen von Stecker und Spannung betrifft, und ich schere meine Glatze wie …

L.A. Wenn ich den Adapter in die Dose stecke, dann ist das meine private Systemüberlistung – was die Normen von Stecker und Spannung betrifft, und ich schere meine Glatze wie im good old Europe. Für komplexere Systeme braucht es jedoch einen Film wie 'Adaptation'. Wie überlebe ich zum Beispiel die Evolution? Es geht immerhin um drei oder vier Milliarden Jahre. Regisseur Spike Jonze zeigt es in knapp 55 Sekunden: vom Urknall über die Formierung der Erde, die Saurier, die Eiszeit, den Affen, den Menschen, das Konglomerat der Großstadt bis zum Kopf des Drehbuchautors, Charlie Kaufman. Der wird im Kreißsaal grade aus der Mutter gezogen. Er atmet. Der Film hat längst begonnen.

Legitimiert wird der Schöpfungsakt vom good old Darwin persönlich. Mit weißem Rauschebart. Ein Zwillingsgott. Denn in den Staaten muss er bekanntlich mit dem anderen konkurrieren, dem Fundamentalisten, der in den Schulen das Sagen hat – mit seiner hollywoodkompatiblen Story, die linear die Schöpfungsgeschichte erzählt. Wer sich dort auf Darwin beruft, ist Ketzer. Weshalb in den USA ein Darwin-Feature nach dem anderen entsteht, das wir dann – zuletzt im Februar – auf Arte sehen dürfen. Bloß ist das wieder linear erzählt und unadaptiv. Weshalb 'Adaptation' mit seinem 'aaaaa'-Programm benötigt wird: adaptiv, assoziativ, autobiografisch, anekdotisch, apokryph. Eben alles, was in der Datei oder den Kontaktanzeigen vor dem ersten Wort steht.

Wie überlistet ein Drehbuchschreiber in Hollywood das Hollywoodsystem? Dagegen angehen? Kompromisse schließen? Kämpfen? Leiden? Gar Hollywood mit eigenen Mitteln schlagen? 'Adaptation' entwickelt eine evolutionäre Strategie, die unschlagbar, weil nicht diskursiv, sondern autobiografisch ist. Weil der Filmheld nicht nur Kaufman heißt, sondern auch der Scriptwriter Charlie Kaufman ist, überdies (im Off) mitspielt und seinen Text spricht. Wer will dagegen anargumentieren, wenn der, der das Drehbuch zu 'Being John Malkovich' schrieb, jetzt im Set eben dieses Films mit sich hadert: 'Ich bin ein wandelndes Klischee.' Wie soll er aus einem Printwerk, das sich der Orchideenzucht widmet, einen spannenden Kinoplot machen? Wobei sowohl das Buch real existiert (The Orchid Thief) als auch die Autorin, und sie gab mit Freuden ihren Namen für den Film her wie vormals Malkovich. Bei soviel Legitimation durch die Wirklichkeit wird glaubwürdig, was sonst der Argumentation bedürfte. Wer wird sagen: Du hast das nicht erlebt? – Und doch gibt es den adaptiven Zwilling. Jede Orchidee hat den speziellen Partner, der organisch auf sie und nur auf sie fixiert ist und der, ist er ein Insekt, für ihren dreißig Zentimeter langen Blütenkelchschlauch mit seinem ebenso langen Rüsselschwanz eingerichtet ist. Kopulierend sichern beide sich die Existenz. Auch für den Dauerbrenner 'Casablanca', so erfahren wir, brauchte es ein Doppelwesen: die Drehbuchbrüder Epstein. Was uns wiederum Hollywood gelehrt hat.

Scriptwriter Kaufmann braucht also die spezielle Persönlichkeit, die ihn vor Frust, Depression und Suizid bewahrt. Charlie Kaufman (Nicholas Cage) kriegt im Film einen fiktiven Zwillingsbruder, einen eineiigen sogar. Der heißt Donald Kaufman (Nicholas Cage) und taucht auch im Abspann auf. Cage eine multiple Persönlichkeit? Zwilling Donald, auch Drehbuchschreiber, geht die Dinge straight und linear an. Für die multiple Szene entwirft er ein Klischeebild: den geborstenen Spiegel. Die Hollywoodproduzenten sind begeistert. Auch pflegt Bruder Donald den Direktkontakt mit Frauen. Eine toller als die andere, schleppt er sie in die Zwillingswohnung ab, während Charlie, sich selbst befragend, freudlos onaniert. Wodurch sich immerhin eine ebenso überraschende wie kitschige Szene nachträglich erklärt. Was nicht linear ist, springt hin und her. Zeitlich wenigstens.

Die Zwillinge verstehen sich oder verstehen sich nicht. Man braucht sich. Charlie, der frustrierte berühmte Autor, folgt einem brüderlichen Rat. Er besucht das Drehbuchseminar des noch berühmteren Hollywoodwriters Robert McKee. Selbstverständlich gibt’s den wirklich, und er tritt als sein eigenes Dokument im Film auf. Er gibt zum Besten, was hochberühmte Plotentwerfer zum Besten geben. Zielgerichtet zum Ziel! Im Berlinalepalast, wo ich den Film sah, gab’s Beifall von der falschen Seite. Hier war’s, wo Hollywood 'Adaptation' adaptierte. Im Kino wurde der verzweifelte Orchideen-Kaufman applaudierend zur Schnecke gemacht. Crash! Im Film jedoch bat die Schnecke Gott um Rat und siehe: Gott McKee gewährte ein Whisky-Privatissimum. Wenn vier Akte schon fertig geschrieben sind, okay, dann den fünften hinterher, der endlich den Plot bringt, Action, Sex und Drogen: den Schlussakt, 'der überrascht und verblüfft und die Dinge auf den Kopf stellt'.

Die gefestigte Orchideenbuchautorin (Meryl Streep), die gerade noch gelehrt mit lateinischen Namen operiert und beim Unbekannten im Fahrstuhl prompt die Hand an der Gassprühdose hat – sie fällt aus ihrem geschlossenen System heraus. Im fünften Akt. Sie lügt! Im Orchideenhaus produziert sie Drogen. Lange, grüne Bahnen zieht sie sich in die Nase. Ihr Gesicht ist um ein Jahrzehnt gealtert. Wilder Sex mit dem Orchideensammler! Währenddessen klären die Zwillingsautoren Kaufman endlich ihre alte Beziehung zum ersten Collegemädchen. Action! Verfolgungsjagden! Schüsse! Leichen! Ein Krokodil frisst in Floridas Sümpfen den sexsüchtigen Orchideensammler! – Alles kommt auf die Reihe. Welch ein Plot! Eigentlich war das die Story des straighten Bruder Donald gewesen. Der bekam glatt anderthalb Millionen für sein Buch. Im Film des anderen, zum Schlussakt komprimiert, wird die Hollywoodstory jedoch zur Hollywoodverstümmelung, zur Selbstverstümmelung der Zwillingsautorenschaft.

Grandios das! Jackass als Antwort auf das System der Filmindustrie. Tut dem, der’s sieht, nicht weh, und der Hollywoodkörper ist verletzt. Eine prima Systemüberlistung. 'Adaptation' ist erfreulich, und Spike Jonzes nächster Film ist auch schon fertig: 'Jackass – der Film'. Jonze, der Experte für Skatepunk und Videoclips, hat die MTV-Show 'Jackass' erfunden: eine Serie, in der sich aufgeregte nackte Männer mit Hilfe des Publikums den Hodensack an die Schenkel tackern, einmal links und einmal rechts. Die Selbstverstümmelung – ein Phänomen der US-Jugendkultur. Der Film zur Serie kam bei uns am 27. Februar in die Kinos. Aggression und Gewalt am eigenen Körper zu erfahren, ist hip. Das ist eine andere Größenordnung als die Selbstverstümmelungsdemonstration Hermann Nitschs und der anderen Wiener Aktionisten bei uns vor vierzig Jahren. – In 'Adaptation' verstümmelt Jonze die Kulturindustrie: im Mainstream den Mainstream. Die brave Meryl Streep ist jetzt Drogi und Sexschlampe. Verwüstet. – Autsch!

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 03/2003

Der Diktator

(USA 2012, Regie: Larry Charles)

Real existierende Achselbehaarung
von Andreas Thomas

Im neuen Sacha-Cohen-Film fällt die Scheiße vom Himmel und in der UNO schwappt die Pisse auf die Politiker. Ich find‘ es einfach nur herrlich. Mindestens so herrlich wie den Diktator …

Im neuen Sacha-Cohen-Film fällt die Scheiße vom Himmel und in der UNO schwappt die Pisse auf die Politiker. Ich find‘ es einfach nur herrlich. Mindestens so herrlich wie den Diktator Aladeen (Cohen), der natürlich diktatorenmäßig den Anforderungen seiner Umwelt nie gerecht wird und deshalb so etwa jeden zweiten, mit dem er zu tun hat, hinrichten lässt.

Diktatoren, so lautet das Klischee, sind meist dunkelhaarig, bärtig und haben schicke Uniformen an. Cohen unternimmt nichts, um gegen dieses Klischee vorzugehen, er versucht, wie es eben auch bei Ali G In Da House, bei Borat und Brüno seine Art war, das Klischee überzuerfüllen, und dabei nebenbei jede Menge Lachreflexe zu produzieren, wobei das Lachen ihm wichtiger zu sein scheint als die allzu treffende und entlarvende Karikatur.

Cohens „Diktator“, Herrscher des Wüstenstaates Wadiya, ist nicht unbedingt die Summe aller bekannten Diktatoren, er ist vor allem großes und infantiles Kind, das, wenn es ein Spielzeug nicht bekommt, stinkig wird. Weil ein Ingenieur eine Atomrakete nicht in spitzer Form baut, lässt er ihn hinrichten, und bei seiner privat veranstalteten Olympiade nimmt er die Startpistole gleich selbst in die Hand, auch weil er damit jeden, der ihn überholen könnte, praktischerweise mitabknallen kann.

Eine entscheidende Wende in Aladeens Leben tritt ein, als er bei einem Staatsbesuch in New York gewaltsam seines Amtes enthoben, seines Bartes und somit seiner Identität beraubt wird, und er einen Job als Ökoladen-Verkäufer antritt. Er verliebt sich tatsächlich in eine Feministin, Veganerin, Antifaschistin und was frau noch so alles an in sein kann, mit – und das schlägt beim Kinopublikum dem Fass den Boden aus – real existierender Achselbehaarung. Wellen des Ekels bestürmen den Cineplexx-Saal und Cohen kennt die neuzeitliche Haar-Phobie seiner Pappenheimer und walzt das Thema Scham- und Achselbehaarung genüsslich aus. Interessanterweise erträgt das Publikum Exkremente, Urin und sogar Leichenteile (an nichts davon mangelt es dem „Diktator“) leichter als den Anblick einiger weniger gekräuselter Haare.

Tabu für Tabu checkt Cohen in seinem Film ab, und wo er Empfindlichkeit wittert, da geht er noch einmal so gern zur Sache. Dies gelingt Cohen in „Der Diktator“ besser und runder als in seinem letzten Spielfilm „Brüno“, der offenbar darunter gelitten hatte, dass in ihm „Opfer“ einkalkuliert waren, reale Personen, keine Filmfiguren, die mit Cohens z.T. brüskierenden Grenzüberschreitungen konfrontiert, in Schockzustände versetzt wurden. Cohens in seiner TV-Serie erfolgreich etablierte Provokation rassistischer, homophober oder anderer intoleranter Tendenzen seiner Gesprächspartner funktionierte in „Brüno“ nicht mehr richtig, entweder weil Brünos „Belastungstests“ auch jeden toleranzfähigen Bürger geschockt hätten oder aber, weil sie bei Cohens Bekanntheitsgrad definitiv nicht mehr unter neutralen und unverfälschten Testbedingungen gefilmt worden sein konnten.

Cohens und Regisseur Larry Charles‘ Konsequenz nun liegt darin, „Der Diktator“ als rein fiktiven Film konzipiert zu haben, und die in den vorigen Filmen zum Teil schon weit entwickelten und spielerischen, satirischen und überzeichnenden Ideen über den kompletten Film zu verteilen. Dadurch entfernt sich Cohen einen entscheidenden Schritt von seiner Art investigativem Journalismus‘ hin zur satirischen Komödie, mit ihm als Clown der Perversion, die einmal mehr auch hier eher die einer analen Phase als die eines blutigen Machtabusus‘ ist.

Die inflationäre Ausscheidungshäufung aber tut dem ganzen großen Spaß keinen Abbruch, im Gegenteil ist es sehr erfreulich, wie konsequent Cohen nicht davon lassen kann und will, und es macht ungeheuer Spaß mit Cohen zusammen zu regredieren. Kritiker haben dem Film „eine für eine gelungene Zivilisationskritik fehlende konzeptuelle Schärfe“ vorgeworfen. Ich interpretiere seine Nichtbereitschaft, den Diktator, wie man es wohl allgemein von Cohen erwartet, in irgendeiner vorausgesetzten Grässlichkeit auf einen Punkt zu bringen, als Verweigerung politisch korrekter politischer Inkorrektheit. Gerade wegen dieser Verweigerung haben Sacha B. Cohen und Larry Charles einen anarchischen, runden, und sehr witzigen Film zustande gebracht.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Das bessere Leben

(P / F / D 2011, Regie: Malgorzata Szumowska)

Spiegelbilder der Einsamkeit
von Wolfgang Nierlin

Streng genommen ist die erzählte Zeit in Malgoska Szumowskas Film „Elles“ (Das bessere Leben), der eine starke Form mit einer offenen Reflexion verbindet, auf einen einzigen Tag verdichtet. In ihn …

Streng genommen ist die erzählte Zeit in Malgoska Szumowskas Film „Elles“ (Das bessere Leben), der eine starke Form mit einer offenen Reflexion verbindet, auf einen einzigen Tag verdichtet. In ihn schiebt sich die Vergangenheit mit ihren personalisierten Erinnerungen, Phantasien und Fiktionen in unterschiedlichen Graden. Doch die erinnerte Zeit ähnelt in Szumowskas präzise kalkuliertem Film keiner Rückblende. Vielmehr entfalten die parallelen Erzählstränge ein sehr flächiges Bild gleichzeitgier Handlungen. Aus dieser Struktur haben sich etwaige Erzählhierarchien zurückgezogen, das Zentrum befindet sich ebenso in den Teilen wie in deren Summe. Alles Erzählte ist zugleich Gegenwart und Vergangenheit eines sich selbst vergewissernden Bewusstseins, das mit sich selbst im Gespräch ist.

Diese Introspektion, die Gewissheiten in Frage stellt, widerfährt Anna (Juliette Binoche). Die gutsituierte Pariser Journalistin schreibt für das Magazin „Elle“ gerade an einem Beitrag über Studentinnen, die als Prosituierte arbeiten. Deren (soziale) Motive, die Praxis dieser „verborgenen“ Arbeit, aber auch die Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte der jungen Frauen versucht Anna in langen Gesprächen mit Charlotte (Anaïs Demoustier) und Alicja (Joanna Kulig) zu erkunden. Dabei muss sie einige ihrer Hypothesen und Vorurteile revidieren. Denn die aus sozial schwachen Verhältnissen stammenden Studentinnen bedienen sich der Prostitution nicht nur, um gesellschaftlich aufzusteigen und am allgemeinen Wohlstand als Konsumenten zu partizipieren; sondern sie geben gegen alle Erwartung auch an, sich zu amüsieren und ihren Job eher erregend als erniedrigend zu finden -, auch wenn verschiedene Szenen dieses Klischee wiederum aus der anderen Richtung hinterfragen oder brechen.

Anna blickt während dieser Gespräche gewissermaßen in einen Spiegel und damit auf ihr eigenes Leben, dessen Abnutzungen und Selbstverständlichkeiten sich längst über ihre kaum noch identifizierbaren eigenen Bedürfnisse gelegt haben. Der Preis von Alltagsroutine und Wohlstand ist auch in „Elles“ zwischenmenschliche Entfremdung: Anna leidet unter Stress, Eheproblemen und den Schwierigkeiten mit zwei Kindern, die ihr immer mehr entgleiten. Aber Malgoska Szumowskas detaillierte filmische Analyse über die Zusammenhänge zwischen Leben und Arbeit, Liebe und Konsum geht noch tiefer, indem sie (nicht untröstlich, wie die Schlussszene suggeriert) durch den Schutzpanzer aus Lügen auf das einsame, brüchige Dasein blickt.

Die Kunst zu lieben

(F 2011, Regie: Emmanuel Mouret)

Fesseln der Freiheit
von Wolfgang Nierlin

Um deine Leidenschaft zu befriedigen, musst du nämlich auch dein Gewissen befriedigen“, sagt der französische Filmemacher und Schauspieler Emmanuel Mouret. Sein neues kinematographisches Kleinod „Die Kunst zu lieben“ (L’art d’aimer), …

Um deine Leidenschaft zu befriedigen, musst du nämlich auch dein Gewissen befriedigen“, sagt der französische Filmemacher und Schauspieler Emmanuel Mouret. Sein neues kinematographisches Kleinod „Die Kunst zu lieben“ (L’art d’aimer), das viele Referenzen hat und (von Eric Rohmer und Jacques Demy bis zu Pascal Bonitzer und Christian Vincent) viele Erinnerungen an das französische Kino unbestimmt zum Schwingen bringt, handelt insofern von einem moralischen Dilemma: Wie lässt sich die „instabile Natur“ der Leidenschaft sowie ihr moderner Anspruch auf Freizügigkeit und Offenheit in Einklang bringen mit den Skrupeln des moralischen Gewissens? Oder anders gefragt: Wie verträgt sich die Theorie des sexuellen Begehrens mit der Praxis der Liebe? Im Prolog seines episodisch gebauten, locker geknüpften Films lässt Mouret einen jungen Komponisten ebenso sehnsüchtig wie vergeblich nach der wahren Liebe suchen. Zwar findet er die richtige Melodie, aber kein Herz, das durch sie zum Klingen gebracht werden würde.

Auch die meisten anderen Figuren in Emmanuel Mourets ironisch-verspieltem Lehrstück empfinden ein Verlangen, das einerseits ungestillt bleibt und sich andererseits auf unerwartete Weise doch erfüllt. Die tragische Exposition dient insofern als Kontrastfolie, um das Gelingen der Liebe ins rechte Maß zu setzen. So landet etwa ein junges, verliebtes Paar, dessen Partner sich die Freiheit des Fremdgehens zugestehen, nach verschiedenen vergeblichen Versuchen und Missverständnissen doch wieder bei sich selbst. Oder eine verheiratete Frau, gespielt von Ariane Ascaride, die einen unbändigen Hunger nach anderen Männern verspürt, wird gerade durch die von ihrem Mann gewährte Freiheit, umso stärker an ihn gefesselt. Auch für Isabelle (Julie Depardieu), die seit langem einen Liebhaber entbehrt, erfüllt sich das Liebesglück auf eher unerwartet unkonventionelle Weise.

Als müssten die Liebesuchenden zunächst einander fliehen, um sich (wieder) zu finden oder um sich ihres Gefühlsschatzes zu vergewissern, unterziehen sie ihr Begehren einer Prüfung, die den Wunsch mit der Wirklichkeit verhandelt. Doch selbst dort, wo der Traum Realität wird, lässt sich diese nicht einfach ergreifen. „Lehne nie ab, was dir angeboten wird“, lautet eines der Mottos, die Emmanuel Mouret den einzelnen Tänzen seines romantischen Liebesreigens vorangestellt hat. Oder auch, gleich zu Beginn des bezaubernd leichten filmischen Rondos: „Es gibt keine Liebe ohne Musik.“ Tatsächlich spielt diese selbst nicht nur eine prominente Rolle, sondern sie strukturiert als erzählerisches Mittel mit ihren Wiederholungen und Variationen, mit ihren Einschüben und Tempowechseln auch die Form des Films. Dieser ist in seiner künstlichen Abgeschlossenheit nie etwas anderes als reines Kino(vergnügen), mit dem Mouret bis in die Ausstattung und das Dekor hinein nach der perfekten Synthese von Form und Inhalt sucht.

Hell

(D 2011, Regie: Tim Fehlbaum)

In der Genrehölle
von Ricardo Brunn

Es mag mühselig sein, über Genrekino in Deutschland zu sprechen, doch es ist notwendig. Denn selbiges erschöpft sich vor allem in repetitiven Gesten und steht sich damit selbst im Weg, …

Es mag mühselig sein, über Genrekino in Deutschland zu sprechen, doch es ist notwendig. Denn selbiges erschöpft sich vor allem in repetitiven Gesten und steht sich damit selbst im Weg, obwohl es wichtige Impulse für eine vielfältigere Filmlandschaft geben könnte.

Das jüngste Beispiel in dieser Diskussion stellt Tim Fehlbaums apokalyptisches Road-Movie „Hell“ dar, dessen Plot, genrekonform, schnell erzählt ist: In einer Welt, in der die Sonne nahezu jedes Leben von der Erdoberfläche gebrannt hat, versucht eine Gruppe junger Menschen in die Berge zu gelangen, da dort Wolken, Vegetation und Wasser vermutet werden. Auf dem Weg dahin gerät die Gruppe in eine Falle fieser Kannibalen und muss sich später aus dem Versteck der menschenfressenden Hirnverbrannten befreien. Das Ende: Ein hoffnungsvoller Blick auf bergiges Land, dramatische Musik, Sonne, Abspann.

Jetzt kann man sich über das durchaus gelungene Szenenbild des Filmes freuen, das viel zur endzeitlichen Atmosphäre beiträgt, oder sich über die blassen Figuren ärgern, denen scheinbar mit der Farbe auch jede Charakterzeichnung entzogen wurde. Man kann zudem darüber schimpfen, dass Vieles aufstoßend dreist bei McCarthy’s „Die Straße“ abgekupfert ist oder aber die solide Inszenierung loben, in der gut zwischen Anspannung und Ruhe vermittelt wird und Licht und Dunkelheit gezielt gegeneinander montiert werden.

Das eigentliche Spannungsverhältnis, in dem der Film jedoch steht, ist unsere schwierige Beziehung zum Genrekino: Entweder unterziehen wir die eigenen Versuche darin argwöhnischer Beobachtung oder wir neigen dazu, sie überschwänglich zu loben, weil es endlich einmal (und darin liegt eine gewisse Sehnsucht) handwerklich Solides aus dem eigenen Land gibt. Diese Ambivalenz zieht sich bis in die Förderinstitutionen, wenn in jedem Antrag auf Filmförderung auch nach dem Genre gefragt wird, obwohl die meisten geförderten Filme traditionsgemäß keinem Genre zuzuordnen sind und die entsprechenden Anstalten auch nur sehr wenig Interesse an der Unterstützung von Genrefilmen zeigen. Genrekino, das erschöpft sich hierzulande meist in dumpfen Komödien regieführender Schauspieler. Da gilt es schon als mutig, wenn das ZDF einen Zombiefilm mitfinanziert.

Man würde sich mehr Natürlichkeit im Umgang mit Genrefilmen wünschen, doch das Problem ist vielschichtiger und hat letztlich mit der neuerlichen Debatte um die Identität des deutschen Kinos zu tun: Nach einer Phase der Erschöpfung in den 1960er und 70er Jahren hat nie eine Neubildung, sondern eine Loslösung vom Genrefilm eingesetzt, bedingt unter anderem durch das Filmförderungsgesetz, die Abwertung gegenüber dem Autorenkino sowie der Übermacht amerikanischer Großproduktionen. Die heutige Situation lässt sich am besten mit dem von Dominik Graf geprägten Begriff des „Relevanzfilms“ umschreiben: Wir produzieren mehrheitlich Filme, die auf eine – auch gezielt auf Fördertauglichkeit gerichtete – begrenzte Themenpalette (Nazis, RAF, Krankheit, DDR, Mittelstandskrisen) zurückgreifen und formal immer ähnlicher werden. Doris Dörrie hat zur diesjährigen Berlinale in anderem Zusammenhang auf diese Fehlentwicklung hingewiesen und spricht von einer Bipolarität des deutschen Kinos, das sich fast nur noch in Festivalfilme (der Relevanzfilm) und Publikumsfilme (die dumpfe Komödie) aufteilen lässt. Die Politik der Förder- und Sendeanstalten, kann man schlussfolgern, hat über Jahre hinweg zu einer eintönigen Filmlandschaft geführt. Es fehlt das Bewusstsein dafür, dass Kino Bandbreite benötigt.

An den Rändern dieser Filmwirtschaft entstehen so hin und wieder kraftlose Genrefilme, die sich im Nachahmen und Wiederholen bekannter Muster zumeist amerikanischer Vorbilder (in der Hoffnung auf Anschluss) erschöpfen. „Wir sind die Nacht“ (R: Dennis Gansel) wirkt beispielsweise wie ein eilig nachgeschobener Versuch, dem vor einigen Jahren international wiederbelebten Vampirfilm auch einen deutschen Beitrag hinzuzufügen. Und jetzt tritt eben „Hell“ mutlos in die endzeitlich wundgetretenen Fußstapfen bekannter Genrevertreter und begnügt sich in der Zurschaustellung altbekannter B-Movie-Konventionen dermaßen, dass man das Kino nach der Hälfte des Filmes auch beruhigt verlassen kann. Denn zu verpassen gibt es nichts. Etwas Eigenständig-Überlebensfähiges zu schaffen bleibt diesem Film verwehrt, weil er sich lieber auf das ewige „wir können das auch“ reduziert, anstatt gezielt eine eigene Position zu suchen.

Man muss also (und dieser Ambivalenz kann niemand entrinnen) „Hell“ zugleich unausstehlich finden und sich dennoch über den Film freuen, denn endlich gibt es einmal handwerklich Solides aus dem eigenen Land. Irgendwann kann man das sicher auch als (Genre-)Tradition bezeichnen.

Sharayet – Eine Liebe in Teheran

(USA / F / IR 2011, Regie: Maryam Keshavarz)

Raus aus Iran
von Carsten Moll

Atafeh und Shirin rasen durch das nächtliche Teheran. Weil diese Stadt anders nicht zu ertragen ist und das bildungsbürgerliche Zuhause für die beiden Freundinnen immer weniger Schutzraum als geschmackvoll eingerichtete …

Atafeh und Shirin rasen durch das nächtliche Teheran. Weil diese Stadt anders nicht zu ertragen ist und das bildungsbürgerliche Zuhause für die beiden Freundinnen immer weniger Schutzraum als geschmackvoll eingerichtete Gruft ist; draußen die patriarchalische Diktatur und drinnen Muttis erstarrtes Lächeln und ein gut gestimmtes Klavier als Zentrum des liberalen Familienkosmos. Als Ausweg: Verliebt sein ineinander. Tagträume, die aussehen wie Parfümwerbung. Ein paar Drogen. Und immer wieder Pop: anglophonen von Bonnie Tyler bis Le Tigre, aber auch persischen Hip Hop. Ein Ausweg ist das dann aber doch nicht, mehr ein hilfloses Pendeln zwischen Transgression und Repression, das Aufbegehren von politisch Illusionslosen, die nicht von San Francisco träumen, sondern froh sind, wenn sie es gemeinsam rüber nach Dubai schaffen. Hier versuchen zwei, ihr individuelles Glück gegen die Deutungshoheit von Staat und Familie zu behaupten, ein betrunken gegröltes „Auf Hollywood!“. Resignifikation und Aneignung. Fucking Iran.

Maryam Keshavarz‘ Spielfilmdebüt setzt immer wieder auf Melodramatisches: Die Geschichte (auch wortwörtlich ein Melodram: Handlung mit Musik) einer Emanzipation wird anhand einer bemerkenswerten mise en scène erzählt; die Farbdramaturgie macht Rot- und Blautöne zu Protagonisten, der Soundtrack rhythmisiert die Handlung und jeder Raum schreit heraus, was die Fassade lieber verschweigt. Zugegeben: Der Film ist nicht nur Melodram (ich behaupte, es sind aber mindestens 6/10 des Films), ein bisschen scheint Keshavarz das Künstliche, Pathetische und Exzessive abmildern zu wollen, indem sie immer wieder auch betont nüchterne Bilder im Sozialdrama- und Doku-Look liefert. Auf diese springt dann auch ein nicht geringer Teil der Kritiker_innen an und findet den Film dann trotz der melodramatischen Einschübe ganz gut: Authentizität, Abbild-Realismus und die Message überzeugen, Melodram bleibt hier Schimpfwort.

Ein Grund für die zwiespältigen Meinungen zu „Sharayet“ mag im Film selber liegen, der stellenweise einfach wirr und überladen ist. So reich er an Ideen ist, so unmotiviert wirkt mancher Einfall. Allein die Figur des Mehran, Atafehs fundamentalistischem Bruder und persönlichem Big Brother, ist eine Katastrophe und wirkt als überstrapazierte Allegorie wie ein Fremdkörper. In seiner Gestalt stolpert dann auch immer wieder etwas arg Thesenhaftes in den Film und ruiniert die subversive Trivialität so mancher Szene. Die Reduzierung des Films auf Statements oder eine Eins-zu-eins-Übersetzung von Realitäten wird dem Film aber ebenso wenig gerecht wie reflexartige Querverweise auf die Arabellion. Ihm das Melodram auszutreiben, um Bedeutung aus ihm zu destillieren, hieße nicht nur ihm die Haut abzuziehen, sondern auch sein Skelett zu zertrümmern. Spannender als in Keshavarz‘ Teheran-Simulation nach Bestätigung von Allgemeinplätzen à la „Im Iran werden Frauen unterdrückt“ zu suchen, dürfte es ohnehin sein, nachzuspüren, mit welchen Mitteln hier Bedeutung überhaupt erst produziert wird und sich auf die komplexe Ästhetik des Melodrams einzulassen.

Der Diktator

(USA 2012, Regie: Larry Charles)

Die Ambivalenz verlässt das Kino
von Dietrich Kuhlbrodt

Diktator Admiral General Aladeen stellt der Öffentlichkeit in seiner nordafrikanischen Republik die neue Atomrakete vor, die rein friedlichen Zwecken diene, wie er vor der Kamera sagt, mühsam ein Lachen unterdrückend. …

Diktator Admiral General Aladeen stellt der Öffentlichkeit in seiner nordafrikanischen Republik die neue Atomrakete vor, die rein friedlichen Zwecken diene, wie er vor der Kamera sagt, mühsam ein Lachen unterdrückend. Die Uno in New York lädt ihn ein, eine Rechtfertigungsrede zu halten. 14 Stunden wird sie dauern. Im »Geburtsort von Aids« wird er jedoch durch einen Doppelgänger ersetzt. Mit viel Glück findet er in Manhattan eine Stelle in einem veganen Bioladen.

Der Film lebt von einem Gag-Gewitter im TV-Comedy-Stil, wobei die PC-Verstöße austariert sind. Im Alltäglichen führt der exdiktatorische Ladenangestellte neue alte Sitten ein. Selbstverständlich kann man einen frechen Jungen, der Artikel aus den Regalen reißt und dem Personal den Mittelfinger zeigt, zu Boden schlagen. Und als Geburtshelfer im Laden ein Baby aus dem Mutterloch reißen (Großaufnahme) – es ist ein Mädchen – und nach der nächsten Mülltonne fragen. Es gibt für Aladeen vieles zu verbessern. Strafandrohung für Ladendiebstahl ist Waterboarding, und amerikanische Demokratie ist vielleicht doch nicht so schlecht. Ein Prozent Reiche und 99 Prozent Arme – kein Problem: ignore the poor. Die Reichen feuern ihre Angestellten. Der Diktator feuert auf seine Untergebenen. What’s the difference? Ich hab zu Haus meinen Diktator, und Texas hat sein Rechtssystem. Noch mal: What’s the difference? »Ist für euch Amerikaner schwer zu verstehen.« Aber wir kommen ins Geschäft.

Ich hab jetzt so zitiert, wie ich’s in der Pressevorstellung verstanden habe. Nicht lange vor dem Filmstart lief dort statt der deutschen Synchronfassung die original version – weiß der Teufel, warum. Eine gewisse Geheimhaltung umgab den Film bisher. Im New Yorker Waldorf Astoria wurde ebenfalls kurz vor Start eine Pressekonferenz abgehalten, auf der, wie in der »Berliner Zeitung« zu lesen war, hundert handverlesene Journalisten Fragen an den höchstselbst erschienenen Sacha Baron (eigentlich:Baruch) Cohen richten durften – vorformulierte Fragen des Verleihs.

Spielen wir Journalisten jetzt in der postfilmischen Marketingoffensive mit? Ja? Nein? Und wenn? Die Ambivalenz verlässt das Kino und wirkt nach außen. Hallo! Wo sind die Gewissheiten? Es gibt bei Baron Cohen keine. Es ist seine Methode, Urteile zu hintertreiben, gerne Vorurteile. Wie sieht unser Bild von islamischen Diktatoren aus? Wir sehen Karikaturen mit schwarzem Vollbart, Comicfiguren, Kriegsverbrecher, Böse voller Vorurteile gegen den demokratischen Westen.

Zweiter Schritt: Das Bild des Bösen verflüchtigt sich in der superaffirmativen Aladeen-Darstellung. Er wird lächerlich, absurd und komisch. Zu fürchten sind radikalkonservative Fundamentalisten in den USA, einer wie Sweeney, den der Film namentlich nennt, auf einem Level mit den Diktatoren. Da sie sich nicht unterscheiden, gibt’s kein Hindernis fürs große Ölgeschäft.

Ist »Der Diktator« also ein politischer Film? Sagen wir: eine therapeutische Lockerungsübung. Oder besser: eine prima Unterhaltungsshow zum zwischendurch heftig die Lufteinziehen. Die Comedy-TV-Kultur in Amerika wird ja nicht nur in Manhattans Bioladenmilieu gepflegt, sondern global. Sie wird weltweit verstanden, mehr oder weniger. Es scheint angebracht, den »Diktator« von den deutschen TV-Komikern abzugrenzen, die gern ihr Geschäft auf Kosten anderer betreiben. Baron Cohens Komik legt sich dagegen nicht fest. Der von ihm verkörperte Diktator wird im Laufe des Films nicht mehr vorgeführt. Er führt vor, zum Beispiel die Politiker der Uno-Vollversammlung. Wir müssen unsere Meinung ändern, und das, wie gesagt, in einer Show, die unterhält und sich verhält.

Im »Diktator« erscheint die Wirklichkeit medial. Live-Übertragungen, reale und fiktive, Moderatoren, bekannte und unbekannte – eine davon getrennte »objektive« Realität gibt es angeblich nicht, wie nach wie vor die Lehre ist. Baron Cohen ist also mit dem »Diktator« auf der Höhe der Zeit. Bitte aber zu beachten, dass das Alltägliche mitläuft. In den Straßen Manhattans liest ein Motorrollerfahrer den ausgesetzten Diktator auf. Cohen sitzt auf und fasst ihn um die Brust. »Lass die Brüste los«, sagt der. »Oh, the boy is a girl«, ist die Lektion. Zum Schlusskuss des Films wird er die schöne Retterin (Anna Faris) heiraten. Die Großaufnahme sagt es: voll melodramatisch und gar nicht komisch. Der Diktator ist zum Küssen. Vorher hat sie ihn noch zu ihrer Entlastung in ihm bisher entgangene Onaniemethoden eingewiesen. Wieder Großaufnahmen, euphorisch: Delphine springen. Das Wasser spritzt. Der Diktator ist toll sexy.

Im Film dominiert die Handlung. Wir sind damit weiter weg von Baron Cohens TV-Shows der neunziger Jahre, in denen er – im Paramount Comedy Cable Channel – die Figur des Ali G populär gemacht hat (»Eleven O’Clock Show«). In »Ali G in da House« hat er als Moderator durch unverschämte Fragen echte Gäste aus Politik und Showbusiness in Verlegenheit gebracht. Im Film »Borat« war er dann aus Kasachstan zur Feldforschung in die USA aufgebrochen – mit der kasachischen TV-Kamera in der Hand. Wieder war er Hauptperson und brachte seine Gesprächspartner in böse Verlegenheit. Böse, weil sie vor den gespielt naiven Fragen ungebremst die ungeheuerlichsten Vorurteile rausließen. Das war komisch und entlarvend zugleich. Der Staat Kasachstan hatte bekanntlich diplomatisch gegen den Film interveniert, und bei uns fühlte sich der Verband der Sinti und Roma durch den Film verletzt. Die Gefühle, angegriffen zu werden, haben im »Diktator« jedoch keinen rechten Platz mehr. Der von Baron Cohen gespielte Held ist kein Fragesteller mehr, er gibt Antworten. Ja, die amerikanische Demokratie der Armen hat doch etwas. Man trifft ohne weiteres auf ein schönes Mädchen, das man heiraten kann. Großes Finale: der Schlusskuss. Voll die Medienwirklichkeit. Noch Fragen?

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 06/2012

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Moonrise Kingdom

(USA 2012, Regie: Wes Anderson)

A Young Person’s Guide to Wes Anderson’s Cinema
von Harald Mühlbeyer

„The Young Person’s Guide to the Orchestra“ von Benjamin Britten: Auf einem hellblauen, batteriebetriebenen, knarzenden Taschenplattenspieler läuft das Stück, das die einzelnen Instrumente des Orchesters vorstellt und das Entstehen der …

„The Young Person’s Guide to the Orchestra“ von Benjamin Britten: Auf einem hellblauen, batteriebetriebenen, knarzenden Taschenplattenspieler läuft das Stück, das die einzelnen Instrumente des Orchesters vorstellt und das Entstehen der Harmonien erklärt.

Wes Anderson lässt seine Kamera dabei durch das Haus der Familie Bishop gleiten, in gleichmäßiger Parallelfahrt, durch alle Zimmer, über alle Stockwerke: gleich zu Anfang von „Moonrise Kingdom“ eine typische Anderson-Einstellung, der Film wird zum Gang durch ein Puppenhäuschen, das wie eine mehrstöckige Theaterbühne als Spielplatz für den Regisseur dient. Immer im Blick dabei: Suzy Bishop, die mit ihrem Fernglas direkt in die Kamera schaut, in die Ferne späht. Oder die ihre Nase in eines ihrer Abenteuerbücher steckt.

Eine solche Panoramafahrt durch ein aufgeschnittenes Haus, in das die Filmfiguren nach Gutdünken hingestellt sind – selbstverständlich unter strengen ästhetischen Gesichtspunkten, die Standort, Körperform, Raumaufteilung, nicht zuletzt die Farben beinhalten –, ist ein Markenzeichen von Wes Andersons filmischer Ästhetik; in „Moonrise Kingdom“ wird er sie durch diverse weitere Parallelfahrten, Rundumschwenks oder Totalen ergänzen: Ob nun Scout Master Ward seinen morgendlichen Gang an diversen Pfadfindern vorbei zum Frühstückstisch antritt, ob sich auf weiter Wiese Suzy und Sam treffen, um gemeinsam aufzubrechen, ob sie in weitem Rundumblick die paradiesische Umgebung von Wald und Küste sondieren: Stets gibt Anderson einen Gesamtüberblick, um zugleich die Künstlichkeit des filmischen Arrangements aufzuzeigen und das Zusammenspiel der einzelnen Bildelemente – gerade so, wie Benjamin Britten Streicher, Bläser und Schlagwerk vorstellt, in Einzelteilen, aber gemeinsam.

Ein Wes Anderson-Film ist im Grunde stets auch ein filmgewordenes Seminar über filmisches Sein und filmisches Wirken: Jedes Einzelelement wird betont, wird dabei völlig gleichwertig behandelt, und gleichzeitig wird das Bewusstsein geschaffen vom perfekten Zusammenklang, davon, dass das Ganze stets noch viel größer als die Summe von ohnehin außergewöhnlichen Einzelteilen ist. Andersons Filmtechnik ist die des Mosaiks: das aus vielen Bestandteilen besteht, die auch alle sichtbar sind, und die zugleich in ihrer Gesamtheit ein Bild ergeben.

Ein Bild, das bei Anderson auf jeden Fall symmetrisch wäre, auf jeden Fall mit leuchtenden Farben gestaltet – im Fall von „Moonrise Kingdom“ bevorzugt ein warmes Gelb –, das auf jeden Fall künstlich, gar skurril wirken würde, damit durchaus übertrieben – und dabei ganz lebensecht, in seiner hyperbolischen, überdrehten Art authentisch im nicht-fotorealistischen Sinn. Dass der Film von einem Erzähler (Bob Balaban) präsentiert wird, der einerseits im Rückblick kommentiert, andererseits ganz gegenwärtig anwesend ist in der Filmhandlung, ist fast schon ein selbstverständliches Detail.

Auf diese Weise erzählt Anderson seine Geschichte von einer großen Liebe – so ernsthaft, wie man nur sein kann, ohne ins Melodramatisch-Sentimentale zu rutschen, und so komisch, wie man nur sein kann, ohne eine der Figuren oder gar den Zuschauer vor den Kopf zu stoßen.

Sam liebt Suzy. Ihre erste Begegnung: Eine Auffühung von Benjamin Brittens „Noye’s Fludde“, die Noah-Geschichte mit einer Menge Tiere auf einer Bühne in der örtlichen Kirche. Sam büchst aus, blickt hinter die Kulissen – ein weiterer dieser langen andersonschen Kameragänge –, bis er hinter einem Kleiderständer hervorlugt und die als Vogel gekleideten Mädchen sieht. „Was bist du für ein Vogel?“ – „Ein Rabe.“ Damit ist die Liebe besiegelt.

Ein Jahr später büxen die beiden aus. Sam aus seinem Pfadfinderlager, Suzy aus ihrem Elternhaus, sie wollen in der Wildnis leben, gemeinsam, als Liebespaar: sie sind beide zwölf Jahre alt. Die Eltern – Bill Murray und Frances McDormand –, der Pfadfinderlagerleiter – Edward Norton –, der örtliche Sheriff – Bruce Willis – drehen hohl: wo sollen sie suchen auf dieser Insel, auf New Penzance, immerhin 25 Kilometer lang, vor Rhode Island gelegen? Die Flucht und das Verborgenbleiben, die Suchaktion von Polizei und Pfadfindern, der Druck, den Jugendamt (Tilda Swinton – ja: „Jugendamt“, das ist ihr Name!) ausübt: Das ist schon eine Menge Handlung, die Anderson noch anreichert durch eine Affäre zwischen Mrs. Bishop und dem Sheriff Captain Sharp und durch die angedeuteten Schwierigkeiten, die die Kinder stets bereiteten.

Sam wie Suzy gelten als schwer erziehbar, als unnormal, als emotional gestört. Sam wird von seinen Pflegeeltern per Telefonanruf verstoßen. Für den Umgang mit Suzy suchen die Eltern ein Rezept in schwarz eingeschlagenen Ratgeberbüchern. Was die beiden anderen antun? Es wird nicht gezeigt. Es wird nur im Briefwechsel angedeutet, den die beiden über ein Jahr lang miteinander führten: Lehrerin anschreien, schlafwandelnd ein Feuer legen, malen – unter anderem nackte Mädchen, Tobsuchtsanfälle. Kurz: Das ganz normale Programm derer, die in die Pubertät kommen. Und die auf stetes Unverständnis stoßen, weil sie ein bisschen exzentrisch sind. Die keine Freunde haben. Und keine suchen. Die gerne lesen – Suzy verliert sich in Büchern über tapfere Mädchen in fantastischen Welten, mit Buchcovern, die von verschiedenen Künstlern ganz liebevoll extra für diesen Film gestaltet wurden.

Die Liebe zwischen den Kindern, die selbstverständlich auf Ablehnung stößt: In ihr liegt die Wahrhaftigkeit, sie ist der Kern, in ihm liegt mehr Reife, mehr Erwachsensein als bei all den kindischen, mit sich selbst beschäftigten Erwachsenen um sie herum. Durch dramaturgisches Kreisen und inszenatorisches Abtasten kommt Wes Anderson diesem Kern immer näher, vergisst dabei auch die Spannung nicht – ein Finale auf dem Kirchturm, mitten im Hurrican-Sturm! – und stellt alles in einer uneigentlichen Mise en scene dar, der Film als ironischer Kommentar zu sich selbst. Wie Britten durch ein Orchesterstück zum Orchester führt, führt Anderson durch seinen Film zu seinem Film. Ganz leichtfüßig, scheinbar mühelos fügt sich alles zu einem großen Ganzen zusammen. Am Ende, während des Abspanns, wird gar das Making of der Filmmusik präsentiert, als Führer in die musikalische Welt von Alexandre Desplat.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Janosch – Komm, wir finden einen Schatz!

(D 2012, Regie: Irina Probost)

Gemäßigt actionreich
von Andreas Thomas

Neben Astrid Lindgren hat seit den siebziger Jahren niemand so sehr seine Finger in der Sozialisation unserer Kinder gehabt wie Janosch, der verschrobene oberschlesische Hinterwäldler. Aber man möchte sagen, dass …

Neben Astrid Lindgren hat seit den siebziger Jahren niemand so sehr seine Finger in der Sozialisation unserer Kinder gehabt wie Janosch, der verschrobene oberschlesische Hinterwäldler. Aber man möchte sagen, dass die Geschichte der Kinderliteratur schon Schlimmeres hervorgebracht hat als Pippi Langstrumpf oder den Kleinen Tiger, man denke z.B. nur an den auch heute noch in den Kinderstuben anwesenden Inbegriff preußischer Sadopädagogik wie den „Struwwelpeter“. Die ungeheure Popularität von Janosch und Lindgren ist sicherlich deren hohem kreativen Output geschuldet – aber eben auch jenem gewissen Etwas, das die kindliche Seele anspricht, weil dessen Urheber die kindliche Seele verstanden haben.

Schön an Janoschs Oeuvre ist vor allem schon immer sein kreativer Wildwuchs gewesen, seine gegen den Strich gebürsteten, fantasiereichen Geschichten, in einer farbenfrohen Welt voll mit Schaustellern, Bären, Gänsen oder Fröschen, die lustige Namen tragen und nicht nur verschrobenes Zeugs erleben, sie sprechen auch eine ganz spezifische, nämlich die Janosch-Sprache, dem Deutschen zwar verwandt, aber immer als von Janosch kreierte erkennbar. Und mal von der von vornherein wie ein Konsumtionsprodukt erscheinenden Tigerente abgesehen, besitzt jede Figur bei Janosch einen individuellen und liebevollen Pinselstrich – eben den janoschschen Charakter, der sich – das bewiesen die fürs Fernsehen in den Achtzigern produzierten 26 Folgen von „Janoschs Traumstunde“ – problemlos und ohne Qualitätseinbußen in den Zeichentrickfilm überführen ließ. Fast noch lustiger als im Original des illustrierten Buchs gerieten etwa die 25-minütigen „Tiger und Bär“-Folgen, wenn etwa der Doktor Brausefrosch dem kranken Tiger (Diagnose: Streifen verrutscht!) in rheinischer Mundart den OP-Ablauf erklärt.

Rheinische Mundart gibt’s in „Janosch – Komm wir finden einen Schatz!“ leider nicht mehr, werden die Figuren doch von Symphatieträgern wie Michael Schanze (dessen tiefe Stimme sich anhört, als wäre er zwischenzeitlich in einen zweiten Stimmbruch gekommen), Elton oder Malte Arkona, einem KIKA-Moderator, gesprochen, und überhaupt merkwürdig ist, wie, seitdem Janoschs „Tiger und Bär“-Geschichten für das Kino adaptiert werden, das typisch Janoschsche daraus eher verbannt wird, so als wäre die Janosch-Phänomenologie, die Eigenwilligkeit seines Striches und seiner Sprache plötzlich nicht mehr kindgerecht oder zumindest nicht kinderkinokompatibel. Schon in der ersten Kinoadaption eines Janosch-Stoffes für die Leinwand, in „Oh, wie schön ist Panama“, fielen die Glätte und Rundheit der beiden Protagonisten Tiger und Bär unangenehm auf, doch vor allem waren sie ihrer Sprache und somit ihrer charakterlichen Eigenarten beraubt, und so der beiden Merkmale, die Janoschs Geschichten doch erst ausmachen.

Dieses zweifelhafte Verfahren der Verflachung wird nun leider auch (nach der 'Tigerentenbande', 2011) in der dritten Kinoaufbereitung fortgesetzt. Sowohl Tiger als auch Bär sehen aus wie rundköpfige Teddybären, also langweilig, und die dritte Hauptfigur, Jochen Gummibär, hat nichts mehr gemein mit seinem literarisch-grafischen Original: Wo jener klein wie ein Gummibär und zugleich mutig wie ein Löwe war, ist dieser hier groß und ängstlich darum bemüht, Freunde zu finden, also eher eine Allerweltsfigur …

Besonders auffällig ist die Langsamkeit der Inszenierung, jedenfalls wenn vorher ein Trailer von „Ice Age 4“ über die Leinwand donnerte, aber im Prinzip spricht dieses wohl eher für eine gelungene Zielgruppenorientierung. Die Zielgruppe selbst (hier Tochter, 5 Jahre) jedenfalls findet den Film „schön, vor allem, weil alle am Schluss Freunde geworden sind. Blöde an der Geschichte war, dass der Kater (GoKatz) so blöd war, außerdem hat er behauptet, er könne zaubern, obwohl er einen Magneten benutzt hat, um die Nadel im Heuhaufen zu finden.“

Wir bilanzieren: „Janosch – Komm, wir finden einen Schatz“ ist gemäßigt actionreich, transportiert eine humanistische Message („Der größte Schatz ist die Freundschaft“), ist insofern, wie deklariert, für Kinder ohne Altersbeschränkung geeignet, aber insofern für Erwachsene (und insgesamt und im Vergleich zu den Büchern sicherlich auch für Kinder pädagogische Mangelware) eher langweilig, weil der Eigensinn aus Sprache und Zeichnung getilgt ist: ein geglätteter Janosch ohne Janosch-Charme.

Der Junge mit dem Fahrrad

(B / F / I 2011, Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne)

Und Basta!
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Film, bei dem mir die Floskel einfällt, – ein Film, den ich Dir ans Herz legen möchte. Kannst du Empathie für ein zwölfjähriges Heimkind entwickeln, einen Straßenräuber, der mit …

Ein Film, bei dem mir die Floskel einfällt, – ein Film, den ich Dir ans Herz legen möchte. Kannst du Empathie für ein zwölfjähriges Heimkind entwickeln, einen Straßenräuber, der mit einem Baseballschläger hinterrücks Nachbarn niederschlägt?

Wobei der Witz ist, dass mitnichten ein Thema verhandelt wird, soziale Anklage etwa oder psychologische Dispositionen. Es geht in diesem Film einfach nur um Menschen und ihre Fähigkeit, zu anderen Beziehungen einzugehen oder eben nicht. Angesagt ist das nicht. Warum sollte man. Sollte man nicht. Wir sind gewöhnt, zum einen oder anderen motiviert zu werden. Was die Regisseure uns aber bieten, ist die Möglichkeit, sich ohne Vorbedingung auf einen anderen einzulassen, auf den Zwölfjährigen zum Beispiel. Und dann funktionierts, märchenhaft. Ja, „Der Junge mit dem Fahrrad“ ist ein Märchen, und eine Fee wird Wunder tun.

So weit mein Wort zur Einstimmung. Der Film aber macht keine Worte. Er kommt direkt zur Sache. Cyril also entweicht aus dem Heim, den Vater suchen. Er braucht ihn und überdies sein Fahrrad, um Wochenendurlaub zu bekommen. Der Vater entzieht sich. Die Wohnung ist leer. Unbekannten Orts verlassen. Cyril geht auf die Suche. Ihm hilft jemand, Samantha. Einfach so. Dann ist das Fahrrad weg. Der Vater selbst hat es geklaut und verkauft, das Schwein. – Ein Dreipersonenstück. Der Beziehungsunfähige. Die Beziehungsfähige. Ein Junge auf der Kippe, ausgenutzt von einer Jugendgang, die ihn mit dem Baseballschläger versorgt. – Klarer Fall, wie die Geschichte ausgeht, nämlich zu schön, um wahr zu sein.

Die Dardenne-Brüder tun alles, um den Film wahr erscheinen zu lassen. Aufgenommen ist er ohne jeden Firlefanz in ihrem berühmten personennahen, realistisch-dokumentarischen Stil. Ich fand es aufregend, den Schauspielern körperlich nah zu sein. Keine Psychologie dazwischen als Schutzschirm! Die Darsteller handeln, wie sie handeln. Und basta. – Das ist für unser Filmverständnis, für den Film als Thementransmitter, ungewöhnlich. Die Regisseure weichen damit von ihren großen Filmen ab, die immer auch den Gestus hatten, vor dem Zuschauer einen Fall zu verhandeln. Einige Kritiker haben jetzt beim „Jungen mit dem Fahrrad“ beanstandet, dass ihnen da nichts zum Befinden vorgelegt werde. – Je, tut mir leid, Leute. Ist ja auch nicht immer leicht, sich zu etwas natürlich zu verhalten. Aber diese altertümliche Reaktion gibt’s auch, wie man an der Flut der Preise sieht, die der Film auf den Festivals bekommen hat.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 2/2012

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Das Zimmer meines Sohnes

(I / F 2001, Regie: Nanni Moretti)

Einfach göttlich
von Dietrich Kuhlbrodt

Das ist Bestsellertechnik vom Feinsten. Und man muss zugeben, dass daraus auch was Gutes entstehen kann. Was schon dadurch bewiesen wird, dass dieser Film in Cannes 2001 die Goldene Palme …

Das ist Bestsellertechnik vom Feinsten. Und man muss zugeben, dass daraus auch was Gutes entstehen kann. Was schon dadurch bewiesen wird, dass dieser Film in Cannes 2001 die Goldene Palme bekam. Alles, was zu hören und zu sehen ist, ist eins zu eins. Man kann sich darauf verlassen. Die Welt ist in Ordnung, auch wenn ein Schrecken zu bewältigen ist. Er wird bewältigt. Man kann ohne Scheu seinen Gefühlen freien Lauf lassen. Kein formaler Krimskrams stellt sich zwischen uns und Nanni Moretti. Das ist der, der den Film gemacht hat. Und die Hauptrolle spielt.

'Das Zimmer meines Sohnes' betreibt Angehörigentherapie in gepflegtem Ambiente. Was ist zu tun, wenn ein Kind tödlich verunglückt? Der Psychotherapeut (Moretti) bedarf selbst psychischen Zuspruchs. In Großaufnahme müssen sowohl er wie die Zuschauer ansehen, wie die Schrauben in den Sargdeckel gedreht werden. Jetzt bricht er die Behandlung seiner Patienten ab. Wodurch der eine spontan geheilt ist, der andere aber das kostbare Design des Praxismobiliars zerdeppert. Das ist eine besonders schöne Szene des Films, bei der ich voll mitgehen konnte. Wir erfahren auch, wie Mutter und Schwester ihre Depressionen meistern. Zum Schluss sind wir in einer Postkartenidylle am Mittelmeer, und wir wissen, dass alles gut wird und der Film zu Ende ist, denn es darf gelacht werden.

Es tut mir sehr, sehr leid, wie zynisch ich den Filmplot soeben wiedergegeben habe. Womöglich habe ich eine Hemmschwelle, mich meinen Gefühlen hinzugeben, gar eine Störung. Alle anderen waren vom Film schwer beeindruckt. Auch muss ich einräumen, dass ich mich während der Vorstellung überhaupt nicht gelangweilt habe. Schließlich ist das Thema wichtig. Die Angehörigen werden fokussiert. Vom Opfer haben wir zwar nichts erfahren, außer dass der Junge, bevor es soweit war, ständig auf die weiche Art gelächelt hat. Ich nehme an, es ist zurzeit en vogue, an sich zu denken, wenn man überlebt. Bille August, der alte Schwede, hat ebenfalls einen Angehörigentherapiebestsellerfilm in gepflegtem Ambiente gemacht. Übrigens ist in 'Martins Lied', der im Winter in die Kinos kommt, der Angehörige eine Frau, und da sie Erste Violinistin ist, könnten sie und der Psychotherapeut Moretti ein standesgemäßes Paar werden.

Wie gesagt, 'Das Zimmer meines Sohnes' ist edel, hilfreich und gut.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2001

Attenberg

(GR 2010, Regie: Athina Rachel Tsangari)

Zarte Misanthropie
von Andreas Busche

Athina Rachel Tsangaris hinreißendes Coming-of-Age-Drama „Attenberg' ist typisch für das neue griechische Kino. Der Zeitpunkt, über ein neues griechisches Kino zu reden, könnte kaum unpassender sein. Die Politik hat dazu …

Athina Rachel Tsangaris hinreißendes Coming-of-Age-Drama „Attenberg' ist typisch für das neue griechische Kino.

Der Zeitpunkt, über ein neues griechisches Kino zu reden, könnte kaum unpassender sein. Die Politik hat dazu beigetragen, dass der Name Griechenland wenig positive Assoziationen weckt. Griechenland steht für Krise, Misswirtschaft, Krawalle auf den Straßen, Fremdenhass. Und damit übergreifend für ein Europa, das sich neu hinterfragen muss. Eine Filmkultur, die aus dieser Gemengelage erwächst, kann eigentlich nichts anderes hervorbringen als ein Kino der Krise. Dass Krisenkino aber keine Katastrophe sein muss, zeigt sich in diesem Frühjahr, weil mit Athina Rachel Tsangaris ebenso großartigem wie skurrilem Coming-of-Age-Drama „Attenberg', für das Ariane Labed 2010 in Venedig mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet wurde, und mit „Alpen' von Giorgos Lanthimos zwei Filme in die Kinos kommen, deren Regisseure viel für das Selbstverständnis des neuen griechischen Kinos getan haben. Lanthimos letzter Film „Dogtooth' (2009) war im vergangenen Jahr für den Oscar nominiert – als erster griechischer Film seit fast fünfzig Jahren.

Filme wie „Attenberg', das Alltagsporträt „Wasted Youth' (2010) von Argyris Papadimitropoulos und Jan Vogel oder Panos Koutras campy Transenliebesgeschichte „Strella' (2009) könnten unterschiedlicher kaum sein. Wenn Tsangaris weiibliche Hauptfiguren Marina und Bella indes mit Stechschritt-Choreografien ihrem Nicht-Einverstanden-Sein Ausdruck verleihen, der junge Skater Haris in „Wasted Youth' auf seinem Rollbrett ziellos die Un-Orte seiner Stadt abklappert und Strella auf High Heels unaufhaltsam durch die Straßen Athens stöckelt, erschließt sich im neuen griechischen Kino eine Dynamik, die unmittelbar ans gesellschaftliche Leben rührt.

Wie machen Menschen das bloß?

„Attenberg' ist charakteristisch für die Temperatur des neuen griechischen Kinos: Reserviert, auf liebenswerte Weise emotional verkorkst, latent soziophob, neugierig und dabei mit einer unwiderstehlichen, rohen Energie ausgestattet. Dem warmen, mediterranen Licht wirkt Tsangari mit analytischer Klarheit entgegen. Ihre Figurenkonstellationen gleichen konzeptuellen Entwürfen mit einer lockeren Distanz zu ihrem Gegenstand. Tsangari beschreibt diesen Abstand als notwendig, um den Blick für die Verhältnisse zu schärfen. Zu große Nähe, sagt sie, mache befangen.

Die Eröffnungsszene von „Attenberg' veranschaulicht Tsangarls Haltung auf rührige Weise. Da stehen sich Marina und Bella vor einer weißen Wand gegenüber, ganz nah, wie in einem Western-Showdown. Bella steckt Marina die Zunge in den Mund. „Wie fühlt sich das an? Du musst atmen, sonst erstickst du', belehrt Bella ihre Freundin. Kusstraining. Marina kennt Balzverhalten nur aus den Dokumentationen des Naturfilmers David Attenboroughs („Attenberg', wie Bella sagt). Der Umgang mit den eigenen Artgenossen, speziell den männlichen, fällt der 23-Jährigen schwer. „Wie machen Menschen das bloß?', wundert sie sich.

In „Attenberg' wird aufopferungsvoll inszeniert und nachgeäfft, doch Marinas Handlungen sind stiller Protest. Eine deviante Form der Trauerarbeit. Marinas Vater, einziger Verbündeter In ihrer zarten Misanthropie, liegt im Sterben, und ihr letztes Geschenk an ihn ist die körperliche Hingabe an einen anderen Menschen. Weil es mit 23 vielleicht doch mal an der Zeit ist, aber eben auch der Beruhigung des Vaters dient, der sich Sorgen macht um seine Tochter, die bislang nur mit dem Paarungsverhalten von Berggorillas vertraut ist. Und dann schenkt sie ihrem einsamen Vater, den sie sich immer ohne so ein Ding zwischen den Beinen vorgestellt hat, ein letztes Mal – mit Bella, die von Penisbäumen träumt und ohnehin für Marinas Vater schwärmt. Der ultimative Freundschaftsbeweis. „Attenberg' ist mit seinen hinreißend knutschenden, sabbernden, spuckenden, stechschreitenden Hauptdarstellerinnen die schönste Liebeserklärung dieses Kinofrühlings. „Les demoiselles d’Attenberg' sozusagen, nur dass statt der symphonischen Zuckerwatte, die 1967 Jacques Demys „Les demoiselles de Rochefort' süßte, bei Tsangari der Fürst der Entfremdung höchstpersönlich, Alan Vega, auf der Tonspur croont. Vegas entkörperlichter Rock’n’Roll beschreibt zugleich Marines Verhältnis zur Welt. Da ist es nur konsequent, dass genau vier Worte sie vor der inneren Vergletscherung retten: „Alan Vega ist Gott.' Marina verliebt sich erst in eine abstrakte Idee von Liebe und später in die konkrete Vorstellung davon.

Das Gefühl der Entfremdung ist so etwas wie das Leitmotiv im neuen griechischen Kino. Lanthimos Filme zum Beispiel erinnern in ihrem kühlen Versuchsaufbau eher an soziologische Experimente. In „Alpen' schlüpfen die Mitglieder einer seltsamen Bedarfsgemeinschaft in die Rollen Verstorbener – die der Tochter, der Geliebten, des besten Freundes. Monte Rosa, die weibliche Hauptfigur, spürt in diesen Re-Enactments einem Gefühl von Wahrhaftigkeit nach, das ihr längst abhanden gekommen ist. Aber alle Ausbruchsversuche aus Lanthimos‘ rigiden Wirklichkeitskonstruktionen sind von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Tsangari hingegen hat vor „Attenberg' zehn Jahre in den USA gelebt. Sie beschreibt das Gefühl des Außenseiters als einen essentiellen Zustand. „Als Filmemacherin ist es wichtig, zunächst eine Distanz zu schaffen, um sich ein klares Bild von den Verhältnissen zu machen.' Auch Konstantins Glannaris, dessen Migrantenporträt „From the Edge of the City' (1998) Tsangari einen wichtigen Referenzpunkt für das neue griechische Kino nennt, lebte viele Jahre im englischen Exil.

Florierende Mangelwirtschaft

Man könnte den neuen griechischen Film als florierende Mangelwirtschaft beschreiben. Für Tsangari ist die Solidarität untereinander die treibende Kraft. Die widrigen wirtschaftlichen Verhältnisse sind ausschlaggebend für die aufregende Entwicklung im aktuellen griechischen Kino, das gerade zwei Riesenschritte auf einmal nimmt. Während sich die Strukturen noch im Aufbau befinden, wird fleißig weiter produziert – ohne staatliche Förderung, mit Minimalbudgets, in zäher, aufopferungsvoller Kleinarbeit. Die Energien, die bei diesen Arbeitsprozessen freigesetzt werden, sind in den Filmen von Tsangari, Lanthimos & Co. förmlich zu spüren. Kein Wunder, dass das Kino aus Griechenland bei Festivals derzeit so hoch im Kurs steht. Griechenland hat sich lange im Glanz der eigenen glorreichen Vergangenheit gesonnt. Tsangari betrachtet die selbst gewählte Isolation angesichts der derzeitigen Wirtschaftskrise äußerst kritisch. In „Attenberg' bricht es einmal aus dem Vater heraus, als er über die Stadt blickt, die er selbst mitentworfen hat. Aspra Spitia ist ein perverses Konstrukt der sechziger Jahre, eine moderne, dem sozialistischen Ideal nachempfundene Arbeitersiedlung, finanziert vom Industriekapital des damals boomenden Griechenlands. Heute ist sie eineTotenstadt. Sie hätten eine lndustriekolonie auf einer Schafweide errichtet, meint der Vater verbittert. Ein Bild, das bis ins gegenwärtige Kino Griechenlands nachwirkt. Tsangari & Co. haben innerhalb kürzester Zeit vierzig Jahre Filmgeschichte aufgeholt. Dass sie dasselbe Schicksal wie Aspra Spitia ereilt, steht nicht zu befürchten.

Dieser Text erschien zuerst in: Pony #73

Dogtooth

(GR 2009, Regie: Giorgos Lanthimos)

Überwachen und Strafen
von Wolfgang Nierlin

Szenen absurder Rituale und bizarrer Verhaltensweisen reihen sich mehr oder weniger unverbunden aneinander: Eine Frauenstimme vermittelt via Kassettenrecorder falsche Wortbedeutungen; zwei Schwestern üben sich in infantilen Wettbewerben und merkwürdigen Spielen; …

Szenen absurder Rituale und bizarrer Verhaltensweisen reihen sich mehr oder weniger unverbunden aneinander: Eine Frauenstimme vermittelt via Kassettenrecorder falsche Wortbedeutungen; zwei Schwestern üben sich in infantilen Wettbewerben und merkwürdigen Spielen; ihr Bruder treibt es mechanisch und lustlos mit einer jungen Frau, die ihm sein Vater in regelmäßigen Abständen zuführt; dieser wiederum bringt sich und seine Frau mit einem Pornofilm in Stimmung, bevor die beiden sich Kopfhörer aufziehen und den ehelichen Sex abspulen.

Der Wahnsinn lauert hinter diesen alltäglichen Skurrilitäten und verschrobenen Handlungen, die ein perverses Erziehungssystem abbilden und das irre Portrait einer Familie in Gefangenschaft skizzieren. Außer dem Vater dürfen deren Mitglieder nämlich das Anwesen, bestehend aus einem Haus mit Garten und Swimmingpool, nicht verlassen. Einmal streiten sich die Geschwister um ein Spielzeugflugzeug, das schließlich in der verbotenen Zone jenseits der Grundstücksgrenze landet, während am Himmel immer wieder Flugzeuge vorüberziehen. Eine Ahnung von Freiheit streift diese abgezirkelte, reglementierte Welt im Abseits.

Wenn eine der Schwestern mit einer Schere die Gliedmaßen einer Puppe amputiert und die andere ihren Bruder mit einem Messer vorsätzlich verletzt, lassen sich bereits in beunruhigender Weise die zukünftigen Gewaltexzesse erahnen, die zur Implosion des abartigen Systems führen. Der griechische Regisseur Giorgos Lanthimos inszeniert diese in seinem außerordentlich beeindruckenden Film „Dogtooth“ (Kynodontas) als kalkulierte Schockeffekte: radikal direkt und ohne Filter, intensiv und verstörend. Diese wirkungsvolle Drastik hat allerdings Methode und fügt sich nahtlos ein in einen sachlichen, naturalistischen Stil, der mit seinem nüchternen, ungeschönten Zeigegestus eine untergründige Spannung aufbaut und an die Arbeiten des Österreichers Ulrich Seidl erinnert.

Abgeschirmt von der Außenwelt, kontrolliert und überwacht, werden die Kinder von ihren Eltern einer strengen Erziehungsdressur innerhalb eines geschlossenen Raums unterzogen. Das ähnelt in seinen Extremen einer Gehirnwäsche und zielt auf Regression. Die kalkulierten Manipulationen durch den Vater-Tyrannen lösen bei den Geschwistern insofern kindliche Verhaltensweisen und sexuelle Störungen aus, die schließlich im Inzest, aber auch in Aggressionen bis hin zur Selbstverstümmelung kulminieren. Aus Eltern, die ihren Kindern die Freiheit verweigern, werden diktatorische Herrscher, die überwachen und strafen. Die Familie ist in Lanthimos‘ schockierender filmischer Parabel auf gesellschaftliche Unterdrückung ein Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Black Forest

(D 2010, Regie: Gert Steinheimer)

Schwarzwälder Schinken
von Harald Steinwender

Zurück zur Natur: Sabine (Nikola Kastner), Mike (Adrian Topol), Eva (Johanna Klante) und Jürgen (Bernhard Bulling) machen in einer abgelegenen Schwarzwaldhütte Urlaub. Auto, Handys und andere technische Helferlein haben die …

Zurück zur Natur: Sabine (Nikola Kastner), Mike (Adrian Topol), Eva (Johanna Klante) und Jürgen (Bernhard Bulling) machen in einer abgelegenen Schwarzwaldhütte Urlaub. Auto, Handys und andere technische Helferlein haben die beiden Pärchen zurückgelassen; einzig ein Generator liefert Strom. Als der technisch begabte Jürgen entgegen der Abmachung versucht, einen altersschwachen Fernseher instand zu setzen, entwickelt sich der Erholungsurlaub zum Horrortrip. Bald beginnen mysteriöse Mächte, die Freunde gegeneinander aufzuhetzen.

In der Stummfilmzeit hatte Deutschland eine lebendige Tradition des Horrorfilms. 'Das Cabinet des Dr. Caligari' (1920; Robert Wiene), 'Nosferatu, eine Symphonie des Grauens' (1922; Friedrich Wilhelm Murnau) und 'Orlacs Hände' (1924; Robert Wiene) sind die Klassiker des phantastischen Films, die den Ruf des deutschen Kinos als 'Dämonische Leinwand' begründeten. Das ist lange vorbei. Während in Frankreich derzeit der neue Horrorfilm mit Gewaltexzessen und ausgefeilten Handlungsbögen boomt, kann man deutsche Genrebeiträge an zwei Händen abzählen. Obendrein wandern im Genre erfolgreiche Regisseure wie Christian Alvart ('Antikörper'; 2005) und Robert Schwentke ('Tattoo'; 2002) bald nach Hollywood ab.

Nun hat sich Gert Steinheimer, Grimmepreisträger für seinen Fernsehmehrteiler 'Atlantis darf nicht untergehen' (1988), an einem B-Horrorfilm versucht. Die Grundidee ist bewährt und kostengünstig: Eine Gruppe junger Menschen begegnet in einer einsamen Waldhütte dem Bösen und dezimiert sich gegenseitig. Das war schon die Vorgabe von Debütfilmen wie Sam Raimis 'The Evil Dead' ('Tanz der Teufel'; 1981) und Eli Roths 'Cabin Fever' (2002). An diese überdrehten, wilden und stimmungsvollen Filme kommt Steinheimers Versuch allerdings nicht heran.

Dabei beginnt alles vielversprechend. Pascal Rémonds agile Kamera begleitet mit eleganten Fahrten die Ankunft am einsam gelegenen 'Wunderlehof', erkundet mit den Neuankömmlingen neugierig die einsame Hütte im dunklen deutschen Märchenwald. Die immer wieder eingestreuten Landschaftsimpressionen schaffen zusammen mit Andreas Adlers und Jo Matz’ Filmmusik die rechte Stimmung. Die Handlung erweist sich jedoch bald als ein mit Brachialmedienkritik versetztes Potpourri vertrauter Motive aus Filmen wie 'Poltergeist' (1982; Tobe Hooper & Steven Spielberg), 'The Blair Witch Project' (1999; Daniel Myrick & Eduardo Sánchez) und 'Ringu' ('Ring'; 1998; Hideo Nakata) bzw. 'The Ring' (2002; Gore Verbinski).

B-Filme leben vom formelhaften Spiel mit Erwartungen und Klischees. In 'Black Forest' werden diese Versatzstücke jedoch ohne Sinn und Verstand zusammengehackt. Ärgerlich sind neben kolossalen Logiklöchern die schlechten, von den Schauspielern oft steif deklamierten Dialoge. Am Ende der vorhersehbaren Handlung verweigert 'Black Forest' seinem Publikum obendrein eine halbwegs glaubwürdige Auflösung. So überzeugt dieser Heimat-Horrorfilm-Mix letztlich auf keiner Ebene: Horrorfans dürfte der jugendfreie Film zu blutarm sein, durchschnittliche Kinogänger werden sich an der dürftigen Umsetzung stören und als Trashfilm schlägt 'Black Forest' einfach nicht genug über die Stränge.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Surrogates – Mein zweites Ich

(USA 2009, Regie: Jonathan Mostow)

Der letzte Pfadfinder
von Harald Steinwender

Die Zukunft bietet der Menschheit einige Annehmlichkeiten. Die bei weitem populärste Innovation sind sogenannte 'Surrogate', hochentwickelte, äußerlich nicht von echten Menschen unterscheidbare Avatare. Mit diesen gehen ihre Besitzer nahezu allen …

Die Zukunft bietet der Menschheit einige Annehmlichkeiten. Die bei weitem populärste Innovation sind sogenannte 'Surrogate', hochentwickelte, äußerlich nicht von echten Menschen unterscheidbare Avatare. Mit diesen gehen ihre Besitzer nahezu allen Alltagsverrichtungen nach, während der eigene Körper derweil im sicheren Zuhause dämmert. Als eine rätselhafte Mordserie an den Androiden den Tod des zugehörigen Menschen nach sich zieht, muss FBI-Agent Tom Greer (Bruce Willis) die Ermittlungen aufnehmen. Sie führen ihn zu einer ominösen Widerstandsgruppe und einer Verschwörung von ungeahnten Dimensionen.

James Camerons 'Avatar' (2009) hat es vorgemacht, auch in Mark Neveldines und Brian Taylors 'Gamer' (2009) war es Thema: Zukunftsvisionen über die Aufgabe des physischen Körpers und das utopische Versprechen, in einer virtuellen Hülle die Beschränkungen der Naturgesetze zu überwinden. Nach Camerons hymnischer Feier der Technik kritisiert Jonathan Mostow in 'Surrogates' nun das prometheische Streben. Schon in den ersten Minuten verkündet ein 'Prophet' (Ving Rahmes), wir seinen nicht dafür geschaffen, die Welt durch Maschinen zu erleben. Tatsächlich erweisen sich die technischen Helferlein bald als Gefahr für die Menschheit.

Oberflächlich entwirft 'Surrogates' eine böse Gegenwartsallegorie. Während wir heute bereits durchschnittlich mehr als vier Stunden täglich mit Fernsehen und Internet verbringen, da ist das Leben im Jahr 2017 fast gänzlich virtuell geworden. Selbst Kriege werden mittels Avataren geführt. Die Technikkritik läuft allerdings ins Leere. Letztlich leben Filme wie dieser gerade von den Möglichkeiten digitaler Spezialeffekte, die sie zugleich geschickt in die Dramaturgie einbinden und als ästhetisches Surplus ausstellen. Bis auf vereinzelte, mit galligem Humor vorgetragene Spitzen verzichtet 'Surrogates' dann auch zugunsten eines konventionellen Whodunit-Plots auf satirische Seitenhiebe und präsentiert am Computer bearbeitete Actionsequenzen als Schauwerte.

Thematisch geht die Comic-Verfilmung auf Nummer Sicher. Die Drehbuchautoren bedienen sich bei modernen Klassikern wie 'Blade Runner' (1982; Ridley Scott), 'The Terminator' (1984; James Cameron) und 'Twelve Monkeys' (1995; Terry Gilliam). Selbst Willis’ Figur ist ein Kompositum seiner vertrauten Leinwandimages. Wie einst in 'Die Hard' ('Stirb langsam'; 1987; John McTiernan) gibt der Star den menschlichen Helden in einer gefühlskalten Hypermoderne. Als lebender Anachronismus torkelt Greer durch die von Androiden bevölkerten Straßen, und doch kann gerade dieser 'letzte Pfadfinder' es mit den Gefahren der Hightech-Welt aufnehmen. Der altmodisch gewordene Körper ist trotz aller Fehler der Hybris perfekter Technisierung überlegen.

Leider werden viele reizvolle Ideen nicht konsequent zu Ende gedacht. Unklar bleibt etwa, warum die Verbrechensrate in der Zukunft gegen Null tendieren sollte, wenn sich doch die Menschen nicht geändert haben, sondern nur ihre Erscheinung. Wenn man sich jedoch nicht an Ungereimtheiten stört, unterhält 'Surrogates' als solider Science-Fiction-Thriller alter Schule. Die apokalyptischen Bilder im Finale entschädigen zudem für manche Durchhänger.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Gamer

(USA 2009, Regie: Mark Neveldine, Brian Taylor)

Jungsfantasie 2.0
von Harald Steinwender

In einer nicht näher bestimmten Zukunft hat eine neue Generation von Onlinespielen die herkömmlichen Computerspiele abgelöst. Hier lenken die Teilnehmer echte Menschen als Avatar. Neben 'Society', einer pornografischen Variante von …

In einer nicht näher bestimmten Zukunft hat eine neue Generation von Onlinespielen die herkömmlichen Computerspiele abgelöst. Hier lenken die Teilnehmer echte Menschen als Avatar. Neben 'Society', einer pornografischen Variante von Second Life, ist 'Slayers' das erfolgreichste Format. Es ist ein 'Killerspiel' im wahrsten Sinn des Wortes, bei dem zum Tode Verurteilte als moderne Gladiatoren auf Leben und Tod antreten. Unangefochtener Held der Cyber-Arena ist der stoische Kable (Gerard Butler). Vom Teenager Simon (Logan Lerman) gesteuert, werden seine Kämpfe von Millionen weltweit live verfolgt. Um seine Familie zu retten, muss Kable jedoch einen Ausweg aus der virtuellen Fremdbestimmung finden und den exzentrischen Spieledesigner Ken Castle (Michael C. Hall) stellen.

'Gamer' ist eine Film gewordene Jungsfantasie: hyperaktiv, grell und laut, passagenweise so düster wie ein Marilyn-Manson-Videoclip, dann wieder bis in die schreienden Neonfarben der Pop-Art überzeichnet. Erklärt geschmacklos ist das Ganze obendrein. Mehr noch als in ihren 'Crank'-Filmen (2006/09) mit Martial-Arts-Star Jason Statham mischt das Regisseurs- und Autorenteam Mark Neveldine und Brian Tylor Sex, Gewalt und Obszönitäten, alles zusammengeleimt durch zynischen Humor. Ob einem das gefällt, ist ganz eindeutig eine Geschmacksfrage. Deutlich auf die Sehgewohnheiten eines jungen Publikums zugeschnitten, ist 'Gamer' auch eine logische Weiterentwicklung der 'Crank'-Filme. Trat dort Statham als lebender Toter in einer hyperrealen Comicwelt an, in der Stillstand den Tod bedeutet, so ist der neue Film mit Gerard Butler als Online-Gladiator gleich in einer weitgehend virtuellen Welt angesiedelt.

Motivisch bedient sich diese Anti-Utopie bei Science-Fiction-Werken wie 'Rollerball' (1975; Norman Jewison), 'The Running Man' (1987; Paul Michael Glaser) und 'Robocop' (1987; Paul Verhoeven). Aber wo zumindest Verhoevens 'Robocop' eine boshafte Satire bot, da läuft die mit dem Vorschlaghammer vorgetragene Gesellschaftskritik hier nur ins Leere. Ärgerlich ist vor allem der pseudo-moralische Gestus, mit dem vorgegeben wird, dem voyeuristischen Spielepublikum den Spiegel vorzuhalten. Dabei ist es gerade die virtuose Action- und Gewalt-Inszenierung, durch die der harte Reißer das Kinopublikum unterhält.

Tatsächlich gelingt es Neveldine und Tylor in den mit Reißschwenks und digitalen Pixelfehlern inszenierten Kampfsequenzen, sich der Ästhetik moderner First-Person Ego-Shooter anzunähern. Hier, in den an Computerspiel-Levels angelehnten Wettkampfarenen, feiern die Regisseure Kino als Kunst purer kinetischer Energie; ein Rausch der Bewegung, in dem der rasante Schnitt und die extrem agile Kamera den Eindruck von Unmittelbarkeit erzeugen. Doch der visuelle Overkill kann letztlich die dramaturgischen Schwächen kaum kaschieren. Als Science-Fiction-Dystopie bleibt 'Gamer' weit hinter seiner guten Ausgangsidee zurück, als zynischer Unterhaltungsfilm wird er von 'Crank' um Längen übertroffen. Und als innovative Fusion von Computerspielästhetik und Kino verblasst er sowieso im Schatten von James Camerons 'Avatar'.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Dark Shadows

(USA 2012, Regie: Tim Burton)

Im Dunkeln ist gut Munkeln
von Harald Mühlbeyer

Bei Warner ist Tim Burton definitiv besser aufgehoben als bei Disney. Sein Ausflug ins dortige Wunderland walzte über ausgetretene Pfade. Nun, zurück im Warner-Studio, durchstreift er wieder den rankenden Zaubergarten …

Bei Warner ist Tim Burton definitiv besser aufgehoben als bei Disney. Sein Ausflug ins dortige Wunderland walzte über ausgetretene Pfade. Nun, zurück im Warner-Studio, durchstreift er wieder den rankenden Zaubergarten seiner eigenen kindlich-romantisch-schrägen Fantasie.

Johnny Depp spielt in „Dark Shadows“ einen Vampir namens Barnabas Collins, seit 200 Jahren eingeschlossen in einem Sarg, lebendig begraben. Bis er von einem Bagger befreit wird, im Jahr 1972, und zu den verlotterten Nachfahren seiner alten Neuengland-Familie zurückkehrt, ins halb verfallene burgähnliche Herrenhaus Collinswood, von wo aus seine Familie damals, in der guten alten Zeit des 18. Jahrhunderts, über die Hafenstadt Collinsport herrschte. Inzwischen ist die Familie verarmt, das Fischereiunternehmen heruntergewirtschaftet, der Stammsitz verstaubt und die Familienmitglieder degeneriert.

Gegenspieler der Collins – und speziell des Urahns Barnabas – ist Angelique Bouchard, die er dereinst verschmähte, nicht wissend, dass sie eine Hexe ist. Sie verfluchte ihn und die Familie, tötete alle, die er liebte, verwandelte ihn in einen Vampir, auf dass er ewig leiden müsse … Nun herrscht sie – durch Hexenkunst ebenfalls unsterblich – über Collinsport mit ihrem Unternehmen Angelbay. Doch Barnabas ist gekommen, sie zu besiegen, persönlich und geschäftlich.

Catherine Collins, Hirn der Collinsfamilie, ist pragmatisch, aber kalt, ihr Bruder Roger ein Nichtsnutz. Die 15-jährige Tochter Carolyn will nichts mit irgendwem zu tun haben. Der Neffe David sieht den Geist seiner verstorbenen Mutter. Die Psychiaterin säuft und ist an sich nutzlos – und diese neue Gouvernante ist seltsam und heißt nicht, wie sie sich nennt: sie hat sich den Namen „Victoria Winters“ von einem Plakat mit Wintersportreklame abgeguckt. Im Übrigen sieht sie aus wie Barnabas‘ verflossene wahre Liebe.

Eine fabelhafte Vampirstory ist diese Filmadaption einer trashigen US-Seifenoper aus den Endsechzigern, mit Fluch und Untoten und Wiedergängern, mit der Qual der Ewigkeit auf Barnabas‘ Schultern und dem Hass zurückgewiesener Liebe als Angeliques Motivation, mit merkwürdigem Personal in der Collins-Sippe, die alle ein Geheimnis haben, mit Geistererscheinungen und Psychiatrie, mit Säufern, Geldgierigen, Mutterlosen und Teenierebellen, mit Burg und Geheimgängen, einem verwilderten Park und einer Selbstmörderklippe über dem brausenden Meer. Burton unternimmt einen wilden Ritt durch die Vampirmythen, von Max Schreck bis Twilight, inklusive Johnny Depps Hypnosefingern, die er von Bela Lugosi übernommen hat – eine Referenz auch auf den von ihm dargestellten Ed Wood, der Lugosi seine letzten Rollen gegeben hat …

Natürlich birgt das Düstere in Burtons Filmen weniger Schrecken als Wehmut und Sehnsucht – und da wir uns in Burtonland befinden, ist alles ebenso ernst gemeint, wie es ironisch gebrochen ist und mit Gags und Witz durchwoben. Ein paar parodistische Schmankerl gibt’s als Zugabe obendrauf: Wie Barnabas sich einen Schlafplatz sucht, kopfüber am Himmelbett, in einem Pappkarton, im Wäscheschrank. Wie er sich steif wie ein Brett von der Horizontalen in die Vertikalen erhebt; wie er sich die Zähne putzt vor einem Spiegel, in dem er sich nicht sieht …

Dazu das schön eingeflochtene Unzeitgemäße von Barnabas, mit seiner altertümlichen Sprache, seinen altertümlichen Gewohnheiten und Sitten, seinem Unverständnis für eine Zeit, in der eh alles drunter und drüber ging, von Vietnamkrieg bis Women’s Rights Movement: Depp ist ja ein Meister des erstaunten Herumstakens, das kann er hier wieder mal ausleben. Er wundert sich mit seinem unsterblichen Dead-Pan-Stutzen über Autos – die Augen des Teufels! – , einen Bagger – ein gelber Drache, der ihn fressen will! – und das McDonalds-M – Mephistopheles, der wahre Name Satans! Wie um ein Mädel werben, wenn er so altmodisch ist? Wo sie doch ein so gebärfreudiges Becken hat, und heutzutage reicht es eben nicht, dem Vater Geld oder Schafe anzubieten! Doch er lebt sich ein, zitiert die Sprachmacht der zeitgemäßen Poeten, die stärker ist als bei Shakespeare: „I’m a picker, I’m a grinner, I’m a lover, and I’m a sinner, playin‘ my music in the sun …“

Das Fish-out-of-Water-Motiv des anachronistischen Untoten, der versetzt wurde in eine nun auch schon lange vergangene Zeit, ist das Fleisch des Films, stark und dynamisch. Das Rückgrat, das ist die alte Geschichte von den Vampiren, als Metapher für den alten, überlebenden, immer wieder erstarkenden, erdrückenden Adel. Mit einem Kniff: Die Collins‘ waren 1760 als Bürgerliche aus Liverpool geflohen, ihr Blut, ihre niedere Herkunft hat ihnen in der englischen Ständegesellschaft nie eine Chance gelassen. In Maine bauen sich die Collins‘ eine Fabrik auf, eine Burg, eine ganze eigene Stadt. Diese Dynastie, die auf Familie und Blut beruht, hat Erfolg, Geld, Achtung gepachtet – bis ihnen eine Hexe, eine Magd noch dazu, diese Errungenschaften strittig macht: in der Neuen Welt schwelt der Kampf des alteingesessenen Geldadels gegen eine dahergelaufenen Emporkömmling in Gestalt von Angelique weiter, über die Jahrhunderte lodert er immer wieder auf bis in die Ewigkeiten des Untotseins, eine Umkehrung der Liverpooler Verhältnisse, denen die Collins‘ entflohen sind.

In Collinswood verschmelzen europäische Eleganz und amerikanischer Unternehmergeist, wie Barnabas über die Einrichtung feststellt – in der Familie paaren sich europäischer Adelsdünkel und amerikanisches Geld- und Machtstreben. Eine Parabel auf den Kapitalismus also, die Burton zu Gunsten des Geldadels auflöst, denn die Neue, die den Status quo streitig macht: sie ist die Hexe, die die traditionell – und völlig zu Recht – Herrschenden entweder umarmen – sprich: aufkaufen – oder ruinieren will. Auf die Seite der alten Blutsauger stellt sich der Film, die gegen die neuen Blutsauger ankämpfen.

Dabei hält Barnabas viel auf Familie: wer drin ist, ist drin. Wer ihn betrügt, wird vor die widerwärtige Wahl gestellt, entweder zu bleiben und die ehrenvolle Aufgabe wahrer Vaterpflichten zu erfüllen, oder mit praller Abfindung schnöde und unehrenhaft abzureisen. Wer nicht drin ist, wer nicht das rechte Blut hat, und ihn dann noch hintergeht, wird innerhalb von fünf Sekunden ausgesaugt.

Im Übrigen muss man auf seinen Ruf achten, ein Ball ist die Präsentation und Manifestation der Macht, sichtet den Herrschenden das Herrschen. Auch wenn der Ball jetzt Happening heißt, eine Discokugel, Schnaps und Alice Cooper, den Schauerspaßrocker, erfordert. Der notabene – und das ist so was wie ein Sinnbild für Burtons nostalgisch-modernes Kino überhaupt – auch in seinem Gastauftritt als über 60-jähriger noch genauso aussieht wie vor 40 Jahren, als der Film spielt.

Ich liebe dich, ich töte dich

(BRD 1970, Regie: Uwe Brandner)

Neue alte Ordnung
von Wolfgang Nierlin

Uwe Brandners Langfilmdebüt aus dem Jahre 1970 formuliert seine paradoxen Liebes- und Lebensverhältnisse bereits im Titel: „Ich liebe dich, ich töte dich“ markiert sprachlich das abrupte Umschlagen von Nähe in …

Uwe Brandners Langfilmdebüt aus dem Jahre 1970 formuliert seine paradoxen Liebes- und Lebensverhältnisse bereits im Titel: „Ich liebe dich, ich töte dich“ markiert sprachlich das abrupte Umschlagen von Nähe in Distanz, von Zuneigung in Zerstörung und ist durchaus auch übertragbar auf die ebenso wechselvolle wie labile Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Eine Hassliebe grundiert also Brandners „Bildergeschichte aus der Heimat“, einem der frühen „linken Heimatfilme“ des Neuen Deutschen Films, der das Genre gründlich gegen den Strich bürstet, indem er seine künstlerische Anti-Haltung in einen unkonventionellen visuellen Stil übersetzt. Brandner verzichtet dabei sowohl auf eine herkömmliche Erzähl- und Spannungsdramaturgie als auch auf gängige Figurenpsychologie; stattdessen versetzt er eine Reihe prototypischer Repräsentanten der Gesellschaft, die er theatralisch inszeniert, durch eine ausgeklügelte Bild- und Tonmontage und mittels anarchisch-subversivem Witz in ebenso absurde wie entlarvende Situationen.

Die scheinbar sinnlosen Dialoge, die dabei ausgetauscht werden und die wie in einem Sprechtheaterstück von Peter Handke oftmals auf wenige oder einzelne Wörter reduziert sind, verdichten den exemplarischen beziehungsweise symbolischen Gehalt des Films. Zugleich fügen sie sich nahtlos ein in die musikalisch-repetitive Struktur auf der Bildebene mit ihren wiederkehrenden Motiven, kontrapunktischen Arrangements und verfremdeten Realitäten. Das Ausgestellte und Gemachte in Brandners bemerkenswertem Film, der insofern Assoziationen an Brechts dialektisches Theater weckt, lässt einen an den anarchischen Humor eines Claude Faraldo und die absurden szenischen Versuchsanordnungen eines Giorgos Lanthimos denken. Auch der sezierte dörfliche Mikrokosmos in Branders Film, der auf groteske Weise einen Fremden in eine zementierte Ordnung versetzt und damit einen freiheitsliebenden Außenseiter gegen eine hierarchisch organisierte Gesellschaft stellt, ist durchzogen von latenter und offener Gewalt.

„Der Vogel fliegt, die Blume blüht, die Regierung regiert, das Gewehr schießt“, ergänzen die Schüler die Subjekt-Vorgaben des neuen Lehrers (Hannes Fuchs). Diese Tautologien über das Selbstverständliche der Gesellschaft und das Unabänderliche der Natur sind gar nicht so weit entfernt von der fatalistischen Schicksalsergebenheit des Dorfdichters („Die Tage gehen unmerklich ineinander über. Über unseren Köpfen wechseln die Jahreszeiten. Dagegen kann niemand nichts tun.“) oder auch der uneingeschränkten Lebensbejahung des Dorfpfarrers („Was ist, macht uns Freude.“). Dagegen steht gewissermaßen eine Montage, die in schneller Abfolge den Lehrer („Die Gedanken sind frei.“) mit nicht geladenem Gewehr auf die Häuser der Bürger zielen und schießen lässt. „Ich wollte etwas zeigen über Ordnung und Rebellion“, sagt der Filmemacher und Schriftsteller Uwe Brandner im Rückblick.

Ausgerechnet mit dem jungen Jäger in Lederkluft (Rolf Becker) freundet sich der rebellische Lehrer an und teilt sich mit ihm bald nicht nur die tierische Beute, sondern auch die sexuelle Gunst der Dorfschönheiten. Zugleich wird er wider das Tabu zu seinem Geliebten. Als der Eindringling neben der dörflichen Ordnung als mutmaßlicher Wilderer auch noch das Gefüge des Waldes zu bedrohen scheint, greifen die bis dato gelangweilten Ordnungshüter zu drastischen Strafmaßnahmen. Schließlich soll alles beim Alten bleiben. Dazu Uwe Brandner: „Der Wilderer ist der unbewusste Außenseiter, der kaputtgeht an seinem unbewussten Ausbruchsversuch.“

Sein von der zeitgenössischen Kritik als „merkwürdig“, kafkaesk“ und „seltsam offen“ beschriebener Film erlebte im Kino der Bundesrepublik nur ein kurzes Schattendasein. Wahlweise als „politische Parabel“, „Puzzle-Spiel“, „Allegorie“ und „reines Kino“ apostrophiert, das seinen Realismus mit „Elementen eines Mysterienspiels“ verbinde, wurde „Ich liebe dich, ich töte dich“ einmal mehr zuerst in Frankreich und später in den USA als eines „der reichsten und gelungensten Werke des jungen Kinos überhaupt“ rezipiert. So war etwa im „New Yorker“ – durchaus dick aufgetragen – zu lesen: „Der Film hat eine besondere, kaltschimmernde Brillanz … ein Mikrokosmos des Faschismus, Sadomasochismus, Konformismus und Chauvinismus.“ Doch wenn dem Filmemacher Uwe Brandner, der Ende der 1960er Jahre auch als Autor im Umfeld der Pop- und Undergroundliteratur in Erscheinung trat, großes Talent und eine Zukunft im Jungen Deutschen Film bescheinigt wurden, erfüllten sich die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht. Wie einige andere Filmschaffende dieser bedeutenden Aufbruchsbewegung, deren filmästhetische Innovationen und Eingriffe nach wie vor relevant sind, gehört auch Brandner heute mehr oder weniger zu den Vergessenen.

Men in Black 3

(USA 2012, Regie: Barry Sonnenfeld)

Schwarzer Zwirn, weiße Perücke, suspekte Haut
von Drehli Robnik

'MiB', wie die Logoökonomie – oder Logologik – ihn nennt, spielte 1997 als satirischer SciFi-Action-Blockbuster mit mehrschichtigen Übersteigerungen und Sinnwucherungen (bis zur Bedeutungsentleerung) des Konzepts illegal alien, wie sie in …

'MiB', wie die Logoökonomie – oder Logologik – ihn nennt, spielte 1997 als satirischer SciFi-Action-Blockbuster mit mehrschichtigen Übersteigerungen und Sinnwucherungen (bis zur Bedeutungsentleerung) des Konzepts illegal alien, wie sie in Migrationsgesellschaften sowie angesichts neuer Rassismen und der Normwerdung subkultureller Lifestyles zunehmend hervortraten. Der auffallend kurze 'MiB2' spielte vor zehn Jahren mit Maßstäben (Zwergenstadt im Bahnhofsschließfach), bespielte die damals schon steigende Prominenz einer Nerdkultur, die damals noch mit Videokassetten bewaffnet und politisch unverteten war, und zwang uns einen singenden Hund auf. 'MiB3' lässt dankenswerter Weise wortwitzige Vierbeiner weg und sich und uns mehr Zeit – so viel sogar, dass eine Zeitreise zwecks Rückkehr zur historischen Herkunft in der Gründerzeit des technobürokratischen Alienbeaufsichtigungswesens drin ist.

'Men in Black 3' ist ein Prequel. Der Schurke, ein etwas öder Zottelbold namens Boris, the Animal mit allerdings schön skurrilem Loch voller Partialwurmwesen in seiner Handfläche, fordert zu Beginn programmatisch 'Let‘s change history!'; das soll nun per Aufrechterhaltung des Zeit-, zumal Biografiekontinuums verhindert werden. Also werden franchisetypische Slapstickentblätterungen von kosmischen Aliens, die in der Haut ethnischer Aliens stecken, hier eher pflichtübungshaft absolviert (etwa per Boxkampf mit Riesenspeisefisch im Chinarestaurant). Ist das erledigt, lassen sich alle Dimensionensprünge voll ausspielen: nicht nur vom flächigen Filmbild zum gestaffelt-geschichteten in 3D, das sich hier recht hübsch macht, sondern eben auch vom Handlungs- und Zonierungsraum (mit seinen Bereichen gesicherter Fremdheit) zur Zeit, deren Vergangenheitsschichten hier primär abgesucht sein wollen. Mit einem leap of faith springt der immer noch burschikose Will Smith vom Chrysler Building und damit aus einem irrwitzig verdichteten Doomsday-Invasions-Szenario heraus zurück zum Vortag des ersten Raketenstarts zum Mond, um seinem damals gewissermaßen noch jungen Kollegen beizustehen.

Es ist 1969, also setzt es Hippieklamauk, Action mit Bikes (die selbst ganz, nun ja: immersiver Zyklus sind), ein Outing von Andy Warhol (Bill Hader) als MiB-Agent, den das Flöten vielsinniger Floskeln als Teil seiner Tarnidentität so sehr nervt wie seine Weißhaarperücke und sein Hofstaat in der Factory. Hinzu kommt ein an den Nowhere Man aus 'Yellow Submarine' erinnernder pummeliger Kauz, der fröhlich possible futures ausposaunt. (Die Möglichkeit, dass dunkelhäutige Menschen – nicht nur – in den USA auch in Zukunft ungefähr so schamlos sicherheitsrassistisch misshandelt werden, wie es Smith als Sixtiestourist einen Polizistensketch lang kopfschüttelnd erfahren muss, sieht er nicht. Dafür brilliert er in Baseballmeisterschaftsprognosen – sowas ist ja zumindest ein verlässlicher Epochenmarker.)

Ein drittes Mal melkt Barry Sonnenfelds Regie nun mit dem Charme der Routine die Konfrontationskomik zwischen Dauerredner und Lakoniker in schwarzem Zwirn und mit Sonnenbrille. (Letztere kommt merchandisetechnisch fast zu spät: Sämtliche Zielgruppen scheinen schon seit dem Vorjahr mit ähnlichen Ray-Bans ausgestattet zu sein.) Die ältere Hälfte des in der Zeit verdoppelten weißen Agenten gibt Tommy Lee Jones; Josh Brolin spielt sein 43 Jahre jüngeres und circa fünfzehn Jahre jünger aussehendes Selbst. Das comicbasierte Skript (u.a. von Etan Cohen und David Koepp) endet in ödipaler Selbsterkenntnissentimentalität mit einem Hauch von 'La jetée'; naja, zumindest gibt es einen sozusagen immer schon undeutlich erinnerten gewaltsamen Tod am Rand eines Flughafenkomplexes. Am Rand spielen auch Frauen mit (Nicole Scherzinger, Alice Eve, Emma Thompson). Mehr sei nicht verraten, denn immerhin brauchen wir diesen Film so dringend wie das demnächst anstehende retrokulturelle Spätneunzigerrevival, also eh auch irgendwie.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Medianeras

(AR / D / ES 2011, Regie: Gustavo Taretto )

Schachteldasein
von Wolfgang Nierlin

Als „urbane Fabel“ über Einsamkeit in der Großstadt und die Neurosen ihrer Bewohner hat der argentinische Regisseur Gustavo Taretto seinen Film „Medianeras“ bezeichnet. Demgemäß eröffnet er sein überraschend stilsicheres Langfilm-Debüt …

Als „urbane Fabel“ über Einsamkeit in der Großstadt und die Neurosen ihrer Bewohner hat der argentinische Regisseur Gustavo Taretto seinen Film „Medianeras“ bezeichnet. Demgemäß eröffnet er sein überraschend stilsicheres Langfilm-Debüt mit einer Montage beeindruckender Stadtansichten von Buenos Aires, die eine chaotische „Bauwüste“ voller ästhetischer Brüche und architektonischer Widersprüche zwischen Tradition und Moderne zeigen. Hier drängen sich Wohnsilos an alte Villen, hier wird hemmungslos abgerissen und umgebaut. Und wo Lücken in den Häuserzeilen entstehen, werden jene, oft mit Kunst oder Werbung verzierten Trennwände und Brandmauern sichtbar, von denen der Filmtitel spricht. Tarettos Reflexion über die moderne Stadt setzt dabei die Planungs- und Bausünden einer menschenfeindlichen Architektur in eine direkte Beziehung zu den seelischen Leiden der Stadtbewohner. Diese werden zum Abbild der Stadt, die umgekehrt ständig von ihnen transformiert wird.

„Medianeras“ meint aber auch das Dazwischenliegende, das zugleich trennt und verbindet. In Gustavo Tarettos ebenso origineller wie witziger Versuchsanordnung wird das isolierte Leben in der Schachtel-Wohnung deshalb auch zu einer sehr zeitgemäßen Reflexion über moderne Kommunikationsmittel und virtuelle Beziehungen. Der 29 Jahre alte Webdesigner Martín (Javier Drolas), der sich in seinem kleinen Ein-Zimmer-Appartement komplett abgeschottet hat, fast nur noch Online kommuniziert und von diversen Phobien geplagt wird, drückt sein Dilemma in einem der vielen Off-Monologe so aus: „Das Internet bringt mich der Welt näher, aber es entfernt mich vom Leben.“ Sein weibliches Pendant heißt Mariana (Pilar López de Ayala), arbeitet als Schaufensterdekorateurin und wohnt im Häuserblock gegenüber. „Wo ist Walter?“ („Wally In The City“) lautet der Titel des Wimmelbuches, das sie seit ihrer Kindheit begleitet und das ihre eigene Verlorenheit, aber auch Sehnsucht metaphorisiert: „Wie soll man eine Person finden, von der man nicht weiß, wie sie aussieht?“

Aber „Medianeras“ handelt dadurch auch vom Suchen und Finden der Liebe, von unverhoffter Nähe, zufälligen Begegnungen und von ganz altmodisch romantischer Vorherbestimmung der Liebesuchenden füreinander. So erzählt Taretto die parallelen Leben seiner beiden sympathischen Protagonisten entlang einer Vielzahl von Entsprechungen, die sich in Phobien, Trennungen und Enttäuschungen manifestieren. Auf eine in der Montage enge Verschränkung von Wort und Bild folgen immer wieder längere Passagen, die von emotionalen Stimmungen getragen werden. In ihnen spiegeln sich auch die drei Kapitel des nach Jahreszeiten gegliederten Films, der einen „kurzen Herbst“, einen „langen Winter“ und zuletzt den Beginn des Frühlings als Aufbruch und Ausbruch umfasst: In den Ritzen der Fassaden wuchert unkontrolliert Pflanzengrün; und „Mariana y Martín“ produzieren für YouTube ein Playback-Video zum Soul-Klassiker „Ain’t No Mountain High Enough“ von Marvin Gaye und Tammi Terrell.

Marvel’s The Avengers

(USA 2012, Regie: Joss Whedon)

Zug zum Thor, den Hulk im Nacken: Jetzt mit noch mehr Superheld pro Film
von Drehli Robnik

Zwar kommen prominent besetzte Nebenfiguren aus den jeweiligen Primärfilm-Universen hier nur kurz (Gwyneth Paltrow als Iron Mans Geliebte), bloß per Foto (Natalie Portman als Thors Geliebte) oder gar nicht vor …

Zwar kommen prominent besetzte Nebenfiguren aus den jeweiligen Primärfilm-Universen hier nur kurz (Gwyneth Paltrow als Iron Mans Geliebte), bloß per Foto (Natalie Portman als Thors Geliebte) oder gar nicht vor (Tommy Lee Jones als Captain Americas Ausbilder bei der US Army Anno 1942). (Der von Anthony Hopkins gespielte nordische Allgöttervater und Hammerflüsterer Odin schläft weiter im Off der Erzählung, und das ist kein Schaden.) Trotz dieser Reduktionen ist 'The Avengers' randvoll übersät mit (Neo-)Stars unterschiedlicher Kaliber und Superhelden aus diversen – ohnehin bald auch wieder separat weiterlaufenden – Marvel/Disney-Franchises. Dazu gibts überraschende Cameos der Altspatzen Jerzy Skolimowski, Jenny Agutter und Harry Dean Stanton.

Angelegt als High-Concept-Irgendwas zwischen Kinofassung eines Comic-Sonderhefts und Ensemblefilm, Mashup-Style-Spätlese und Markenfusion setzt 'The Avengers' die seit Jahren akkumulierten Identitätskapitalien von Halbgott-, Hulk- und Hero-Figuren um: Alle wissen so einigermaßen, wer sie sind und was ihr Problem oder Kerngeschäft ist, nun können Allianzen durchgespielt werden im Kampf gegen Thors fiesen Adoptivbruder Loki (Tom Hiddleston) – zu zweit, zu dritt, im ganzen Team, mal zerstritten, mal durch künftig wohl weiter auszulotende mysteriöse Vergangenheiten verbunden, mal in Trauer oder Entschlossenheit vereint. Zählt man den bisher stets zumindest am Ende oder gar nach abgelaufenem Abspann der jeweiligen Marvel-Blockbuster aufgetretenen S.H.I.E.L.D.-Kommandanten und Oberfusionierer (Samuel L. Jackson) hinzu, dann kommen da an die zehn Superheld_innen zusammen, da ergeben sich schon rein mathematisch … sehr viele mögliche Konstellationen, und einige davon sind ja auch reizvoll; etwa die der beiden hormonell aufgedrehten Technikwissenschaftler (die bei Bedarf in Eisenhaut bzw. grüner Größe samt notorischer, hier offensiv thematisierter Hosennot agieren). Das Tempo, mit dem Robert Downey Jr. und Mark Ruffalo ihre jeweiligen Eitelkeits- und Nervositätsmarotten virtuos absondern, zeugt weniger von Sinn für rhythmische Dynamik als vom Bemühen der Regie (Fernsehformelmastermind Joss Whedon, der auch das Drehbuch geschrieben hat), die in den Figuren eröffneten Potenziale in läppischen 142 Minuten ebenso pflichtfertig abzuarbeiten wie die 3D-Actionroutinen in Sachen Flugkünste und Leute-an-Wände-donnern-Lassen. Scarlett Johansson ist zwar für manch überraschende kleine Handlungswendung gut, war aber auch schon mal kesser und kampfsportlich beeindruckender, und Jeremy Renner werden wir wohl nie wieder als so entspannten Actionfilm-Average-Guy erleben wie weiland in '28 Weeks Later' oder 'The Hurt Locker'.

Schmerzlich vermisst werden hier die Screwball- und Kauz-Komik, der schwelgerische Retrochic, die auschoreografierten Schwebemomente, die Politik- und Zeitgeschichtsbezüge der Watch-, Iron und X-Men von 2009/10/11. Vergleichen wir nur die Dichte der Verweisnetze in Hinblick auf nachwirkende Nazi-Vergangenheit, jüdische Gegengewalt, antirassistische Bürgerrechtspolitik und homophobe Zwangsheilungsstrategien in den X-Men-Filmen (in den ersten drei und vor allem jenem vom vorigem Jahr) mit dem läppischen Moment in einer in Stuttgart – of all places – spielenden Szene von 'The Avengers', in der ein offenkundiger greiser Holocaust-Überlebender zwei Sätze lang gegen den göttlich-aristokratischen Menschheitsunterwerfer Loki anreden darf, dies nur, um dem sogleich anfliegenden Captain America die Anknüpfung an die ethischen Weihen seiner (historisch kontrafaktischen) antidiktatorischen Schutzschildkriegsführung aus dem Zweiten Weltkrieg zu erleichtern. Eher unangenehm ist in 'The Avengers' auch der politikfeindliche filmische Entwurf der Beziehung zwischen dem (einzig durch das Wissen um die Dringlichkeit der Lage legitimierten) Weltsicherheitsmanagement von S.H.I.E.L.D. einerseits und einem in orwellhafter Monitordüsternis auftretendem 'Security Council' anderseits, der offenbar auf die UNO oder die US-Regierung gemünzt ist.

Aber wie gesagt: Schon die Genre- und Franchise-immanenten Vergleiche fallen eher zu Ungunsten von 'The Avengers' aus. Den Satire-, Weirdness- und Traumatik-Level etwa von Jon Favreaus 'Iron Man II', seinem kommerziell erfolgreichsten und (wenn man den ganz aus der Art gefallenen, von Ang Lee biopolitästhetisch-pflanzenwuchernd inszenierten und aufgrund von umfassender Seltsamkeit eher gefloppten ersten 'Hulk'-Film von 2003 weglässt) besten Vorgängerfilm, unterfliegt 'The Avengers' locker. Noch größer sind da wohl die Märkte, noch jünger (und eher weniger nerdig) sind die Kernzielgruppen, die dieser Film anpeilt; dem entsprechend versprüht sein Endlosshowdown mit großstadtzertrümmernden Stahlriesenraupen mehr als nur einen Hauch von HASBRO-Spielwarenadaptionskino.

Our Idiot Brother

(USA 2011, Regie: Jesse Peretz)

Trost mit Zuckerguss
von Carsten Happe

„Dumm ist der, der Dummes tut“, wusste schon Forrest Gump, und in dieser Hinsicht ist Ned wahrlich der Idiot des Titels, der für den Verkauf von Marihuana an einen Polizisten …

„Dumm ist der, der Dummes tut“, wusste schon Forrest Gump, und in dieser Hinsicht ist Ned wahrlich der Idiot des Titels, der für den Verkauf von Marihuana an einen Polizisten mal eben für ein paar Monate in den Knast wandert. Danach hat seine Freundin einen Neuen und verjagt ihn vom gemeinsamen Ökobauernhof, seinem angestammten, überschaubaren Biotop. Einzig Willie Nelson bleibt ihm noch, sein treuer Golden Retriever, mit dem sich der Neo-Hippie sanft in den gut gepolsterten Schoß seiner entfremdeten Familie fallen lässt.

Kein schlechter Ausgangspunkt für eine hübsche Social-Clash-Komödie, möchte man meinen, und hat dabei längst den liebenswerten Slacker ins Herz geschlossen – erst recht, wenn er mit dem sauertöpfisch-britischen Teil der stocksteifen Sippe zusammenprallt. Paul Rudd, der bislang zumeist solide seinen Stiefel in der zweiten Reihe heruntergespult, hin und wieder sogar das Mädchen abbekommen hat (Reese Witherspoon! Michelle Pfeiffer!), ist die Spielfreude angesichts des Drehbuchs, das ihm auf den schmächtigen Leib gezimmert wurde, durchweg anzumerken – und er dankt es mit einer solch charmanten Performance, der lediglich die übelsten Zyniker nichts abgewinnen könnten.

Dieser größte Pluspunkt des Films fordert allerdings zugleich auch seine massivste Schwachstelle heraus: In der gängigen Komödienarithmetik, der sich „Our Idiot Brother“ auf bisweilen allzu überkandidelte Weise unterwirft, sind Neds drei Schwestern allesamt frustrierte, verklemmte, verbissen karrieresüchtige Furien, die zu ihrem Glück gezwungen werden müssen und natürlich nicht ansatzweise erkennen, wenn es in Form ihres vertrauensseligen, herzensguten Bruders vor ihnen steht. Die Läuterung der sträflich unterforderten Zooey Deschanel, Elizabeth Banks und Emily Mortimer bildet dabei den Zuckerguss, den man gerne schon vorab heruntergekratzt hätte, bevor er klebrig hängenbleibt.

Aber möglicherweise muss das auch so sein, wenn man neben gefälligem Entertainment noch eine kleine Moral unters Volk mischen möchte, die von der Bedeutung des Andersseins für ein Sozialgefüge, einer Familie mithin, erzählt und in ihrem ganz eigenen Happy End, das selbstredend von Beginn an so sicher scheint wie das Amen in der Kirche, eine große integrative Kraft verströmt. Dass sich sogar für geborene Außenseiter wie Ned ein passgenauer Platz in der Gesellschaft findet, hat letztlich etwas ungemein Tröstendes.

Ausente

(AR 2011, Regie: Marco Berger)

Blicke männlichen Begehrens
von Wolfgang Nierlin

Der männliche Körper als Objekt des Begehrens und die Blicke, die dieses Begehren evozieren, durchziehen in ihrer motivischen Verschränkung Marco Bergers Film „Ausente“ (Abwesend). Zunächst ist es der jugendliche Körper …

Der männliche Körper als Objekt des Begehrens und die Blicke, die dieses Begehren evozieren, durchziehen in ihrer motivischen Verschränkung Marco Bergers Film „Ausente“ (Abwesend). Zunächst ist es der jugendliche Körper des 16-jährigen Schülers Martín (Javier De Pietro), der in einer Reihe von Detailaufnahmen auf Gliedmaßen, Muskeln, Haut und Haare als Gegenstand erotischer Faszination beschworen wird. Es sind dies Fragmente der Lust, die andererseits in Martíns eigenen Blickbewegungen, die er auf seine Klassenkameraden in der Umkleidekabine eines Schwimmbads richtet, eine Fortsetzung finden und die Wahrnehmung dominieren. Im subjektiven Wechselspiel mit dem Auge der Kamera teilt Berger die Lust des Voyeurs zugleich mit seinem Protagonisten und dem Zuschauer. Immer wieder auch inszeniert der argentinische Filmemacher seinen Helden in typischen Pin-up-Posen unter der Dusche oder auf dem Bett, um seinen homoerotischen Obsessionen Ausdruck zu verleihen. Diese Offensichtlichkeit geriete in einem heterosexuellen Diskurs sofort unter den Verdacht sexueller Ausbeutung und ästhetischer Kitsch-Produktion. In Marco Bergers Kino der Blicke und der unausgesprochenen Gefühle verdichtet sich jedoch gerade darin eine spannungsgeladene erotische Atmosphäre.

Insofern ist Martín Blanco – sein Name deutet es an – auch eine Projektionsfläche für heimliche oder uneingestandene Sehnsüchte und Wünsche. Das Doppeldeutige zwischen Anziehung und Abstoßung sowie der mysteriöse Thrill des Unbestimmten, von der Musik Pedro Irustas kongenial unterstützt, kennzeichnet auch die Beziehung Martíns zu seinem Schwimmlehrer Sebastián Armas (Carlos Echevarría). Unter diversen Vorwänden und immer neuen Lügen versucht der Jüngere den Älteren zu verführen. Die ungewohnte Nähe, die daraus resultiert, vermittelt sich über Blicke und Gesten und stellt sich ein über absichtliche Umwege und Verhinderungen. Das einmal von Sebastián imaginierte Versteckspiel im Labyrinth der Umkleidekabinen ist ein treffendes Bild für diese wechselseitige Suchbewegung, die Marco Berger zwischen Wunsch und Wirklichkeit ansiedelt.

Denn in seiner Verantwortung als Lehrer ist Sebastián einem zunehmend stärker werdenden psychischen Druck ausgesetzt und in einem fatalen Gefüge aus Lust, Angst und Schuld gefangen. Berger entwickelt hier einen komplexen Charakter, der im komplizierten Spannungsfeld zwischen privaten und öffentlichen Konflikten, die immer nachdrücklicher sein Leben erschüttern, förmlich aus der Bahn geworfen wird. Als er erkennt oder sich eingesteht, was er tatsächlich fühlt und will, ist es bereits zu spät. Sebastián ist ein tragischer Held, der schließlich an sich selbst und den verinnerlichten gesellschaftlichen Verboten scheitert.

Klitschko

(D 2011, Regie: Sebastian Dehnhardt)

Ganz totales Überfernsehkino
von Ricardo Brunn

Das Verhältnis von Dokumentarfilm und Fernsehen ist seit jeher ambivalent. Zwar hat das Dokumentarische im Öffentlich-Rechtlichen seinen festen Platz. Der Anteil ist, gemessen an fiktionalen Formaten, sogar größer, bezieht man …

Das Verhältnis von Dokumentarfilm und Fernsehen ist seit jeher ambivalent. Zwar hat das Dokumentarische im Öffentlich-Rechtlichen seinen festen Platz. Der Anteil ist, gemessen an fiktionalen Formaten, sogar größer, bezieht man Spielarten wie Features und Reportagen in die Betrachtung mit ein. Leider fristet gerade der abendfüllende Dokumentarfilm schon seit langer Zeit ein Dasein an den Peripherien des Programmplanes und wird auch immer seltener durch das Fernsehen koproduziert. Die Gründe dafür sind vielfältig und oft erbärmlich: In seiner Langsamkeit, Offenheit und der Unwilligkeit, Fragen eindeutig zu beantworten, passt er – so wollen es die Verantwortlichen – nicht zum allzeit zappbereiten Zuschauer. In seiner produktionsbedingten Unvorhersehbarkeit passt er – so will es der Quotendruck – nicht zu den zuständigen Redakteuren, die lieber zu Beginn schon genau wissen wollen, wie das Produkt am Ende ausschauen wird und auch unabwägbaren Finanzierungssituationen aus dem Weg gehen wollen. Manchmal heißt es einfach auch nur abfällig, der Dokumentarfilm sei zu kritisch.

Mit „Klitschko“ kam ein Film ins Kino, der von Sebastian Dehnhardt, einem versierten Regisseur erfolgreicher TV-Dokumentationen („Krupp – Mythos und Wahrheit“, „Das Drama von Dresden'), inszeniert wurde. Die große Fernsehproduktionsfirma für Geschichts-dokumentationen, „Broadview TV“, bei der Dehnhardt auch Geschäftsführer ist, hat den Film maßgeblich produziert. Aus dieser reinen Betrachtung der Produktionsbedingungen ergibt sich also eine Art Umkehrbewegung: Der vom Fernsehen auf allen Ebenen vernachlässigte abendfüllende Dokumentarfilm wird hier von Fernsehmachern initiiert und für die große Leinwand produziert.

„Klitschko“ erzählt, ausgehend von den unmittelbaren Vorbereitungen auf einen Kampf, in einer Rückschau von der Kindheit und den Kickbox-Anfängen der Brüder Vitali und Wladimir in Kiew, ihren ersten Boxkämpfen und der Entdeckung in Deutschland, bis hin zu den Millionen-Kämpfen der beiden Athleten. Zu Wort kommen auf dieser Wegstrecke Trainer, ehemalige Gegner, Boxpromoter, Ärzte und Manager. Erstmals sind auch die Eltern der Klitschko-Brüder zu sehen.

Über zwei Jahre hinweg hat der Regisseur seine Protagonisten mit dem Ziel begleitet, mehr über die besondere Beziehung der Brüder zu erfahren. Nähe scheint dabei jedoch keine entstanden zu sein. Dehnhardt geht mit seinen Protagonisten nicht anders um als mit den Interviewpartnern seiner zahlreichen Geschichtsdokus: sie liefern vor allem das, was er zu einer einfachen und verständlichen Geschichte montieren kann. Ihre Mutter wird auf der Couch drapiert, als wäre es nicht ihre eigene, während Wladimir auf der Terrasse eines Hauses in den Bergen grillt, das auch gut für den Film gebaut worden sein könnte. Es ist ein geradezu aseptischer Blick auf das Leben der zurzeit berühmtesten Boxer der Welt.

Zugunsten einer perfekten Inszenierung des Klitschko-Universums wird auf Unmittelbarkeit sowie das Vertrauen in den Moment fast gänzlich verzichtet. Nichts wird hier dem Zufall überlassen. Kaum auszuhalten sind die Szenen, in denen Wladimir und Vitali eine inszenierte Schachpartie spielen und dem Zuschauer von Rivalität und Freundschaft der Brüder erzählen sollen, weil es kaum authentische Momente im Film gibt, die das auf andere Art vermitteln könnten, oder weil diesen Momenten nicht genug vertraut wird. Denn im Kopf des Regisseurs ist immer noch das Fernsehpublikum die Zielgruppe.

So ist es auch kein Wunder, dass der Film litfasssäulenartig mit Musik und Sounddesign verkleistert ist. Immer höher türmen sich im Verlauf des Filmes die musikalischen Triumphbögen. Stellenweise mag dies Ausdruck von Angst und Unbeholfenheit sein, dem fehlenden Off-Kommentar (ein offensichtliches Zugeständnis an das Kino) adäquat zu begegnen und die fernsehuntypische Leerstelle einfach mal zuzulassen. Vor allem aber ist es die Routine des Fernsehregisseurs, jedem Bild durch musikalische Untermalung zu besserer Verständlichkeit verhelfen zu wollen und Mehrdeutigkeiten zu vermeiden, denn „Klitschko“ möchte vor allem eine Ansicht verbreiten: Mit aller Macht will der Film Dokumentarmonument sein.

Doch die Inszenierungsstrategien einer aufgeblasenen Fernsehdokumentation genügen diesem Anspruch nicht. Egal, wie groß der Flachbildfernseher auch ist, allein die Überlebensgröße des Kinos soll dem Werk samt seinen Protagonisten einen anderen Stellenwert zuweisen und es nicht zuletzt ermöglichen, die historische Bedeutung der Klitschkos zu stärken. Besonders deutlich wird dieser Aneignungsversuch in den Anfangstiteln des Filmes: die Produktionsfirma „Broadview TV“ wird kurzerhand in „Broadview Pictures“ umbenannt. Der Wille zum Kino ist überall zu spüren, nur im gedrehten Material, dem jede Fragestellung und Unvoreingenommenheit gegenüber seinen Protagonisten fehlt, ist davon nichts vorhanden.

„Klitschko“ ist eines der vielen Beispiele dafür, dass die Frage nach dem Kino als Kunst hierzulande immer häufiger in die Frage nach dem Kino als Fernsehen mündet. Umso wichtiger ist es gerade für die Gattung des Dokumentarfilmes, die leichtfertige Vermischung der Terminologien, wie sie in der deutschen Filmkritik gang und gäbe ist, einer klaren Begriffsbestimmung zuzuführen: Eine Dokumentation ist kein Dokumentarfilm – auch dann nicht, wenn sie sich durch die Hintertür ins Kino schleicht.

Junta

(AR / I 1999, Regie: Marco Bechis)

System der Angst
von Wolfgang Nierlin

Im alten Griechenland galt als Barbar, wer keinerlei Regeln und Gesetzen unterstand. „Garage Olimpo“, der Originaltitel von Marco Bechis‘ Film „Junta“, trägt seine schreckliche Zwiespältigkeit deshalb bereits im Namen: Zwischen …

Im alten Griechenland galt als Barbar, wer keinerlei Regeln und Gesetzen unterstand. „Garage Olimpo“, der Originaltitel von Marco Bechis‘ Film „Junta“, trägt seine schreckliche Zwiespältigkeit deshalb bereits im Namen: Zwischen 1976 und 1982, als Argentinien von einer brutalen Militärjunta unter den Generälen Videla, Agosti und Massera terrorisiert wurde, war die ausrangierte Werkstatt eines von über dreihundert geheimen Folterlagern im Untergrund von Buenos Aires, in denen Regimegegner und mutmaßliche Oppositionelle zu Tausenden willkürlich gefangen gehalten und misshandelt wurden. Um die Spuren illegaler Verschleppung und grausamer Folter zu verwischen, warf man die Opfer staatlicher Gewalt von Militärflugzeugen aus ins Meer. Seither gelten nach Schätzungen etwa 30000 Menschen als „desaparecidos“ – als Verschwundene. Für Regisseur Marco Bechis sind sie Opfer einer modernen Barbarei, die Folter nicht mehr primär als Bestrafungsmittel einsetzt, sondern als perverse Methode benutzt, um den Körper der Geschundenen zu instrumentalisieren und in totaler Weise ihre Psyche zu besetzen. Die Seele selbst werde zum Gefängnis, so der argentinische Regisseur.

Abgelöst von den konkreten historischen Ereignissen, möchte Bechis insofern seinen Film ganz allgemein als Manifest gegen staatliche Gewalt verstanden wissen. Gleichwohl bezieht sich „Junta“ auf autobiographische Erlebnisse und auf Aussagen von Überlebenden. Im Jahre 1977 wurde der damals 20jährige Grundschullehrer und linke Aktivist Bechis selbst von Soldaten in Zivil entführt und inhaftiert, bevor er schließlich das Land verlassen musste. Im Film erleidet ein ähnliches Schicksal die erst 18 Jahre alte Maria (Antonella Costa), die in den Slums der argentinischen Hauptstadt Alphabetisierungskurse gibt und bei ihrer Mutter Diane (Dominique Sanda) lebt. Hier wohnt als Untermieter auch der zunächst unauffällig wirkende Felix (Carlos Echeverría), der Maria seine Liebe aufdrängt und später in einem komplizierten Verhältnis zu ihrem Peiniger wird. Die Abhängigkeit des Opfers von der Willkür des Täters fasst Bechis äußerst komplex, indem er den anonymen Raum durch einen privaten überlagert und in dieser Ambivalenz als verzweigtes System der Angst kennzeichnet. Die Hierarchie der Unterwerfung verlangt von Maria die Selbstaufgabe, während Felix als ein in mehrfacher Hinsicht Abhängiger sichtbar wird.

Mit Marias dramatischer Gefangennahme betritt auch der Zuschauer „die Welt der Geräusche“, wo in sogenannten „Operationssälen“ – das sind dunkle, kalte Verschläge aus Beton und Blech – die junge Frau, eine schwarze Augenbinde tragend und nackt auf eine Pritsche gefesselt, mit Stromschlägen bis zur Bewusstlosigkeit gefoltert wird. Die Primitivität des Ambientes und der Methoden korrespondiert dabei auf erschreckend paradoxe Weise mit der planmäßigen Durchführung und Organisation der Quälerei, die hier in pervertierter Form als „Normalität“ eines Arbeitsalltags mit Stempeluhr, Freizeitraum und Strafversetzung in den „Außendienst“ erscheint. Körper und Seele der Opfer unterliegen der totalen Kontrolle durch die Täter und ihren hybriden Herrschaftsanspruch: „Wir entscheiden, wann gestorben wird. Wir sind hier unten Gott.“

Besonderes Augenmerk legt Bechis in seinem beeindruckenden Film auf den schmalen Grat zwischen Normalität und Wahnsinn, Freiheit und Tod. Immer wieder kontrastiert er den Horror der Folterkeller mit Ansichten der Stadt und dem gleichmäßigen Fluss des täglichen Lebens. Hauchdünn ist die Membran zwischen den beiden Welten, zwischen oben und unten, draußen und drinnen. Ein gemeinsamer Ausflug, den Felix mit Maria in die „oberirdische“ Stadt unternimmt, spitzt dieses paradoxe Verhältnis noch zu, das Marco Bechis folgendermaßen charakterisiert hat: „Die Bewohner der Stadt lebten in einer Fiktion, während die Wahrheit im Untergrund war.“

Attenberg

(GR 2010, Regie: Athina Rachel Tsangari)

Expedition ohne Förderung
von Marit Hofmann

Das seltsamste Tier ist der Mensch. Die 23jährige Marina versteht ihresgleichen nicht und hält sich lieber an Tierdokumentationen des Briten David Attenborough. Zusammen mit ihrem todkranken Vater imitiert sie mit …

Das seltsamste Tier ist der Mensch. Die 23jährige Marina versteht ihresgleichen nicht und hält sich lieber an Tierdokumentationen des Briten David Attenborough. Zusammen mit ihrem todkranken Vater imitiert sie mit Leidenschaft das Balzverhalten von Wasservögeln und Gorillas. Wenn sie dagegen mit der in Liebesdingen erfahrenen Freundin bis zum Brechreiz Zungenküsse übt, fühlt sich das für Marina an 'wie eine Nacktschnecke' im Mund: 'Wie machen Menschen das nur?'

Aus dem krisengebeutelten Griechenland kommt nicht nur einer der 'schrecklichsten Küsse der Kinogeschichte' (New York Times), sondern auch ein besonders selbstbewusstes Argument für die steile These von Regierocker Klaus Lemke, dass Filmförderung fürn Arsch sei. Filme lieber ungewöhnlich, könnte das Motto von Athina Rachel Tsangari lauten, die ihre eigene Produktionsfirma gegründet hat, um ihre und die Projekte anderer eigenwilliger Filmemacher verwirklichen zu können.

Für die bizarre Mischung aus einer 'Doku über eine andere Familie im Stil eines Tierfilms' und einem 'abstrakten Musical, das in unseren Köpfen stattfindet' (Tsangari über 'Attenberg'), hätte sich wohl auch kaum ein staatliches Fördergremium erwärmt, wenn derzeit in Griechenland in nennenswertem Maße Kultursubventionen zu vergeben wären. Einerseits seziert die Regisseurin in kühlen Versuchsanordnungen menschliche Verhaltensweisen vor den klinischen Kulissen eines zerfallenden Fabrikstädtchens. Andererseits sind unvermittelt absurde Tanzeinlagen der beiden Freundinnen im Stil der silly walks von Monty Python eingestreut, die die Handlung wie ein griechischer Chor unterbrechen und kommentieren, aber vor allem signalisieren, wie die Protagonistinnen, die Suicide hören und trostlosen Jobs nachgehen, auf ihre Art der aussichtslosen Lage trotzen.

Diese angenehm unsentimentale Coming-of-age-Story mündet nicht darin, dass die junge Frau in der Krise endlich erwachsen wird und sich ins System fügt. Die Anthropologin wider Willen, die man nie lächeln oder gar flirten sieht, klopft gesellschaftliche Konventionen auf ihren Gehalt ab: Was kann sie davon übernehmen, und was kann ihr gestohlen bleiben? Ebenso wie Marina sich schließlich vorsichtig aufs Leben mit ihresgleichen einlässt, wird der Zuschauer mehr und mehr zum anteilnehmenden Beobachter dieser außergewöhnlichen Variante menschlicher Spezies.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 05/2012

Tomboy

(F 2011, Regie: Céline Sciamma)

Der letzte unbeschwerte Sommer
von Andreas Busche

„Du bist ganz anders als die anderen“, sagt die zehnjährige Lisa zu Michael, als sie am Bolzplatz stehen und den Jungs beim Fußballspielen zugucken. Was sie damit meint, wird erst …

„Du bist ganz anders als die anderen“, sagt die zehnjährige Lisa zu Michael, als sie am Bolzplatz stehen und den Jungs beim Fußballspielen zugucken. Was sie damit meint, wird erst später klar, als die beiden allein sind und Lisa ihren neuen Freund schminkt. Der Junge lässt es über sich ergehen. Doch Michael heißt eigentlich Laure.

Laure und ihre Familie sind neu in der Wohnsiedlung. Für das Mädchen bedeutet der Umzug eine Umstellung: wieder eine andere Schule, wieder neue Freunde finden. Der Sommer neigt sich dem Ende zu, die Kinder genießen die letzten Ferientage. Laure stößt zu der Gruppe; mit ihrem schlaksigen Körper und den burschikos-kurzen Haaren könnte sie glatt als Junge durchgehen. Mädchenkram interessiert sie sowieso nicht. Vielleicht ist das der Grund, warum sie sich Lisa, dem einzigen Mädchen, als Michael vorstellt. Beim Fußball ist sie nicht schlechter als die Jungs, ein bisschen stolz reicht Lisa ihr während des Spiels das Wasser. Nur als die anderen eine Pinkelpause einlegen, gerät Laura in Erklärungsnot. Gender Trouble. Im Spiel manifestieren sich früh soziale Normen. Subjekte werden konstituiert und dekonstruiert.

Céline Sciamma bedient sich in „Tomboy“ des Rollenspiels als erzählerischem Modus‘, sie interessiert sich für diesen so heiklen wie spannenden Moment der Kindheit. Wenn die Kinder unter sich sind, sind sie ganz sie selbst und gehen gleichzeitig in Rollen auf. Laures kleine Schwester Jeanne läuft im rosa Tutú durch die Wohnung und spielt mit Puppen – weil sie gelernt hat, dass Mädchen so was tun. Später erzählt sie Laures Freunden von ihrem starken großen Bruder; prompt verprügelt Laure/Michael einen anderen Jungen, der Jeanne geschubst hat. Der Vater wiederum meint ernsthaft, dass er Laure endlich das Pokern beibringen muss.

Derart verwirrt von Geschlechtervorstellungen genießt Laure ihre Rolle als Michael, ohne sich der Konsequenzen bewusst zu werden. Als der Schwindel auffliegt, verliert auch das Spielen seine Unschuld. Sciamma aber nimmt alle Gefühle gleich ernst. Laure, die ihr eigenes Jungsding einmal ausprobieren möchte; Lisa, die sich in Michael verliebt hat; Jeanne, die ihr Kindsein noch ausleben kann. Und die Eltern, die von Laures Geschlechterverwirrung zunächst schockiert sind. Für Sciamma gehören Rollenspiele zu den prägenden Kindheitserfahrungen. Aber irgendwann ist auch der unbeschwerteste Sommer vorbei.

Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben

(THAI / GB / D / F / ESP 2010, Regie: Apichatpong Weerasethakul )

Bilderrausch
von Harald Steinwender

Onkel Boonmee (Thanapat Saisaymar) leidet an Nierenversagen und hat sich auf sein Landgut im Nordosten Thailands zurückgezogen. Während der alte Mann inmitten seiner Familie den Tod erwartet, erhält er Besuch …

Onkel Boonmee (Thanapat Saisaymar) leidet an Nierenversagen und hat sich auf sein Landgut im Nordosten Thailands zurückgezogen. Während der alte Mann inmitten seiner Familie den Tod erwartet, erhält er Besuch von verschiedenen Geistern. Darunter sind seine verstorbene Frau Huay (Natthakarn Aphaiwong) und sein verschollener Sohn Boonsong (Jeerasak Kulhong), der nun im Dschungel als Affengeist lebt. Als Boonmees Leben sich dem Ende zuneigt, rekapituliert er seine früheren Leben in anderen Körpern …

Mit seinem sechsten Spielfilm gelingt dem Avantgarde-Regisseur Apichatpong Weerasethakul ein höchst unkonventioneller, märchenhafter Film. Jenseits der mythopoetischen Bildsprache ist 'Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben' eine Parabel auf das gegenwärtige Thailand und seine zwischen Tradition und Moderne zerrissene Gesellschaft. Während Boonmees jüngere Verwandte längst die rückständige Provinz verlassen haben und in der hochtechnisierten Moderne angekommen sind, leben die Älteren noch in einer von Animismus und Geisterglauben geprägten Welt. Wie selbstverständlich unterhalten sich Boonmee und seine Schwester mit verstorbenen Verwandten, die ihnen als Geister oder in Tiergestalt erscheinen.

'Uncle Boonmee …', auf dem Filmfestival in Cannes 2010 mit der Goldenen Palme prämiert, ist der Abschluss von Weerasethakuls Kunstprojekt 'Primitive', das sowohl Installationen wie Filme umfasst. Viele der Stilmittel, die der Filmemacher nutzt, sind im westlichen Kino mit dem Kunstfilm assoziiert: lang gehaltene, oft starre Kameraeinstellungen, eine niedrige Schnittfrequenz und eine verinnerlichte Handlung. Der mäandernden, oft enigmatischen Erzählweise voller Ellipsen und Sprünge stehen Sequenzen mit demonstrativ ausgespielter Echtzeit gegenüber. Manche Zuschauer mag dieser disparate, nur schwer zugängliche Erzählgestus abschrecken. 'Uncle Boonmee …' ist fraglos ein erratischer Film, der tradierte Sehgewohnheiten unterläuft.

Weerasethakuls Drama lebt von ruhigen, fast malerischen Bildern: Wasserdampf, der aus dem Dschungel aufsteigt; zwei Alte, die im Sonnenlicht ungerührt von den sie umfliegenden Bienen Honig aus Waben naschen; ein Wasserbüffel, der in der Nacht durch den Urwald streift – allesamt Bilder, die, begleitet von der fast musikalischen Geräuschkulisse, lange nach dem Kinobesuch nachwirken. Besonders gelungen ist eine märchenhafte Sequenz über eine Prinzessin, die sich von einem Wels begatten lässt – der Fisch ist Boonmee selbst in einer seiner früheren Reinkarnationen. In ihrer anrührenden Naivität erinnert die Episode an die besten Momente aus Pier Paolo Pasolinis 'Trilogie des Lebens'. Wer sich auf solche mythischen Bilder und den meditativen Rhythmus einlässt, wird mit einem Filmerlebnis belohnt, das durch seine lyrische Bildsprache besticht.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

From Paris with Love

(USA 2010, Regie: Pierre Morel)

Buddy Buddy
von Harald Steinwender

Getarnt als Assistent des US-Botschafters in Paris führt der junge und unerfahrene Geheimagent James Reese (Jonathan Rhys Meyers) ein ruhiges Leben. Das ändert sich, als ihm sein neuer Partner vorgestellt …

Getarnt als Assistent des US-Botschafters in Paris führt der junge und unerfahrene Geheimagent James Reese (Jonathan Rhys Meyers) ein ruhiges Leben. Das ändert sich, als ihm sein neuer Partner vorgestellt wird. Der US-Amerikaner Charlie Wax (John Travolta) ist ebenso egozentrisch wie ordinär und laut. Trotz anfänglicher Probleme rauft sich das ungleiche Paar bei ihrer Jagd nach Drogenhändlern und Terroristen zusammen. Bald entdecken sie, dass Reeses Verlobte Caroline (Kasia Smutniak) in den Fall verwickelt ist.

Luc Besson hat ein Händchen für Fließbandware und B-Filme. Seit fast dreißig Jahren produziert der Franzose parallel zu seinen eigenen Regiearbeiten europäische Genrefilme. Serien wie die 'Taxi'- und 'Transporter'-Filme waren äußerst erfolgreich, zuletzt avancierte Pierre Morels harter Rachethriller '96 Hours' zum Überraschungshit. Mit 'From Paris With Love' hat das Team Morel-Besson nun einen weiteren Thriller abgeliefert, der wie gewohnt in einem irrealen Paris zwischen Postkartenmotiven und Banlieue-Tristesse angesiedelt ist.

Die Geschichte vom ungleichen Männerpaar, das seine anfängliche Abneigung im Kampf gegen einen gemeinsamen Gegner überwindet und schließlich zu Freunden wird, ist schon unzählige Male erzählt worden. Wie so oft sind auch hier die Gegensätze kultureller Art. Der intellektuell-distinguierte Jungagent James hat sich in Paris an die Vorzüge einer europäischen Metropole gewohnt und genießt das süße Leben zwischen Hochkultur, französischer Küche und Schachpartien mit seinem begriffsstutzigen Chef. Travolta dagegen tritt als Zerrbild des amerikanischen Touristen in Europa an. Wie ein Bulldozer walzt er mit lärmigem Gehabe durch Paris und erweist sich noch beim Drogendeal im Vorstadtghetto als Elefant im Porzellanladen.

Lustvoll gibt Travolta mit Glatze und Henriquatre-Bart zurechtgemacht die Rampensau – mit affektierten Gesten und expressiver Mimik, rüpelhaftem Benehmen und Chuzpe. Das alles ist immer mehr als eine Nuance zuviel und deutlich als Zitat seiner Rollengeschichte angelegt. Wie in 'Schnappt Shorty' ist Travoltas Charlie Wax ein cooler Killer, wie zuletzt in 'Die Entführung der U-Bahn Pelham 123' legt der Star sein Schauspiel als überzogene Camp-Performance an. Einmal verlangt er in einer offensichtlichen Anspielung auf Pulp Fiction' nach einem 'Hamburger Royal'. Dabei degradiert er seinen aus 'Match Point' bekannten Schauspielkollegen Rhys Meyers zum Nebendarsteller.

Aus den kulturellen Gegensätzen und den unterschiedlichen Schauspielstilen erwachsen durchaus einige amüsante Scherze. Auch technisch ist 'From Paris With Love' kompetent umgesetzt und bietet fulminante Actionszenen. Ärgerlich ist jedoch der dummdreiste Sexismus des derben Buddy-Movies, in dem selbst der Tod der Lebenspartnerin mit einem Achselzucken quittiert wird. Wer sich an solchen Geschmacklosigkeiten nicht stört und von einem gelungenen Kinoabend viel Geballer und zynische One-liner erwartet, ist hier allerdings bestens aufgehoben.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf www.br.de

Totem

(D 2011, Regie: Jessica Krummacher )

Zombieland
von Andreas Thomas

Ein Ahnentier, ein Stammeszeichen der Sippe sei ein Totem laut Duden. Laut Wikipedia ist der Totem ein Schutzgeist in Gestalt einer Naturerscheinung. Er kann sich als Pflanze, als Tier, gar …

Ein Ahnentier, ein Stammeszeichen der Sippe sei ein Totem laut Duden. Laut Wikipedia ist der Totem ein Schutzgeist in Gestalt einer Naturerscheinung. Er kann sich als Pflanze, als Tier, gar als Berg, Fluss oder Stein materialisieren. Im Debutfilm von Jessica Krummacher tritt dieser Schutzgeist seiner schutzbefohlenen Familie in Menschengestalt in Erscheinung, in der durchaus bezugsreichen Eigenschaft als Haushaltshilfe.

Weil sie Totem ist, bleibt es rätselhaft, woher die junge Fiona eigentlich kommt; ihre Gastfamilie sagt, so was wie sie bekomme man im Internet; und wenn Fiona an einem Tag behauptet, ihre Eltern seien tot und sie am anderen Tag mit ihrer Mutter telefoniert, der sie weismachen will, sie sei im Urlaub am Meer, so mögen solche Widersprüche die Familie und uns verwirren oder kriminologischen Ehrgeiz aktivieren, aber sie könnten auch einfach darauf verweisen, dass Fiona aus dem Nichts kommt und wieder ins Nichts gehen wird, dass sie Interimslösungen benötigt für eine Mission, dass sie nichts ist als ein Geist oder in ihrer Eigenschaft als Totem der Geist dieser hier im Reihenhaus hausenden Sippe ist, der gekommen ist, um zu helfen, denen, die vielleicht Hilfe nötig haben, diese aber eigentlich nicht annehmen wollen oder können.

Man könnte auch sagen, Fiona sei ein Spiegel der Verhältnisse, die in jenem Reihenhaus herrschen, wahrscheinlich deutsche Verhältnisse, und sie spiegelt sie den von ihnen Beherrschten, ganz einfach, indem sie widerspruchslos dient und das mitmacht, was ihr vorgemacht wird. Aber weil sie spiegelt, katalysiert sie und sie zieht den vorhandenen Hass auf sich, weil sie verdeutlicht und verstärkt: die vorhandene Einsamkeit/Depression.

Fiona hat in der internationalen Filmgeschichte mindestens zwei Geschwister, das eine ist Grace aus Lars von Triers „Dogville“, die, indem sie gut und gnädig zu den Menschen ist, das ultimativ Böse aus ihnen herausholt und das andere ist der Fremde aus Pasolinis „Teorema“, dessen „Heimsuchung“ wie die von Fiona sich auf eine Familie beschränkt, aber im Gegensatz zu der von Fiona alles auf den Kopf stellt. Bei Fiona ändert sich nichts an den Verhältnissen. Außer dass sie zuerst versucht wird, geliebt zu werden und dann abgesondert wird. Vielleicht liegt das daran, dass der Fremde von „Teorema“ nichts Geringeres als Gott himself ist und Fiona nur ein Aushilfsgeist. Ich tendiere eher zur Theorie, dass weder Jesus noch Fiona hier Abhilfe leisten könnten, denn Deutschland – und diese deutsche Familie mit ihrem ausgestopften Reichsadler an der Wand, ihrem versteinerten Deutschen Schäferhund im Wohnzimmer und ihrer Kegelbahn ums westfälische Eck, ihren gesenften Wurstspießchen und ihrem Kaninchenstall ist Deutschland – denn dieses von langer Hand verkorkste Deutschland scheint immun gegen Schutz und Liebe, Gott oder Hass, denn es ist, nach Jahrzehnten verweigerter Anamnese, immer noch das siechkranke Erbe des unverhüllten Bösen, welches Nationalsozialismus genannt wird.

Schön, dass es endlich (wieder) jemanden gibt, der diesen Dauerkollaps nachzumalen gewillt ist und schön, dass Fiona und Jessica Krummacher dabei so viel Empathie für die Täter/Täterkinder/Täteropfer mitbringen. Allein, diese Gnade scheint vergeblich(denn das Böse/der Übergriff/ die Gewalt und Vergewaltigung, das zeigt der Film, hat sich festgefressen), ähnlich vergeblich wie die des österreichischen Regiekollegen Ulrich Seidl. Im Unterschied zu ihm, und das macht „Totem“ zu einem empathischeren Film als z.B. Seidls „Hundstage“, bedarf Krummacher keiner theologisch grundierten Dichotomie ihrer Erzählung, sprich: wo Seidl die (österreichische) Welt als (durch Werner Herzog beglaubigte) pure Hölle inszeniert, mit Menschen, welche vollkommen verloren sind – und damit die Existenz eines Himmels geradezu postuliert (wenigstens den Wunsch/Glauben an einen Himmel provoziert), da geht Krummacher einen Schritt weiter, wenn sie zeigt: „Die Hölle sind wir“ und sich nicht auf Distanz begibt, weil es der „Geist“ des Films, Fiona, auch nicht tut. Weil wir mittendrin sind, ohne Gegenargumente, ohne Himmel, ohne Gott, ohne Ausweg, ohne die verborgene Möglichkeit eines Gebets, nur behaftet mit dem Fluch, den Fluch zu fühlen, ist „Totem“ so stark und in seiner Stilisierung so realistisch geworden.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Perfect Sense

(D / GB / S / DK 2011, Regie: David Mackenzie)

Vorgestellte Fülle
von Wolfgang Nierlin

“Es gibt Dunkelheit und Licht, Männer und Frauen”, hebt eine allwissende Erzählerstimme aus dem Off des Films an, während eine assoziative Montage das vielgestaltige Dasein als schier endlosen Bilderstrom visualisiert. …

“Es gibt Dunkelheit und Licht, Männer und Frauen”, hebt eine allwissende Erzählerstimme aus dem Off des Films an, während eine assoziative Montage das vielgestaltige Dasein als schier endlosen Bilderstrom visualisiert. Die Rede in Gegensätzen und ihr globaler Bezug zielt in David Mackenzies Film „Perfect Sense“ auf „die Welt, wie wir sie uns vorstellen“, gewissermaßen auf ihre Vollständigkeit. Dass darin trotzdem nicht immer alles zum Besten bestellt ist, dass Mangel und Entbehrung, Verletzung und Schmerz mitunter bedrohliche Ausmaße annehmen, gehört zu dieser vorgestellten Fülle dazu. So leiden etwa Michael (Ewan McGregor) und Susan (Eva Green) – jeder auf seine Art und aus unterschiedlichen Gründen – an einem Mangel an Liebe und Beziehungsfähigkeit. Das Leben ist für den Glasgower Chefkoch und die Epidemiologin unvollständig, auch wenn sie scheinbar alles haben. Der Wert der Fülle ist ihnen verschlossen. Als sie sich begegnen, geschieht dies gerade noch rechtzeitig, denn eine Menschheitskatastrophe wirft ihre dunklen Schatten voraus.

Diese beginnt mit einem Verlust des Geruchssinnes, der begleitet wird von einer Trauer über die Versäumnisse des Lebens; als müsste den Menschen zuerst etwas genommen werden, damit sie dessen Wert erkennen. Auch in den darauf folgenden Krisen, in denen die Menschen Schritt für Schritt ihre zentralen Sinnesempfindungen einbüßen und damit ihre Zugänge zur Welt, geht dem jeweiligen Verlust ein heftiger emotionaler, aus dem Unterbewusstsein aufsteigender Ausbruch voraus. Das Verschwinden des Geruchssinns wird eingeleitet von einer rasenden, großer Angst entspringenden Völlerei. Vor dem Verlust des Hörsinnes toben sich die Betroffenen in wüsten, anarchischen Wutausbrüchen und hasserfüllten Zerstörungsorgien aus. Und bevor die Menschen schließlich ihre Sehkraft verlieren und in die Dunkelheit versinken, erleben sie noch einmal tiefe Glücksmomente.

David Mackenzie inszeniert diese apokalyptische Vision aus der subjektiven Perspektive seiner Protagonisten, die im Verlauf der Epidemie allen Desillusionierungen zum Trotz die Liebe füreinander entdecken beziehungsweise neu lernen. Den gesellschafts- und zivilisationskritischen Aspekten seines Stoffes, der unterschiedliche Verschwörungstheoretiker auf den Plan ruft, begegnet er mit wechselnden Überlebensstrategien und phantasievollen Kompensationsleistungen seiner Helden. „Das Leben geht weiter“, lautet trotzig ein wiederkehrender Satz. An die Stelle der Sinnesempfindung tritt die Vorstellungskraft, die neue Eigenschaften entdeckt und mit Erinnerungen verknüpft. Aber auch wo die Erfahrung fehlt oder Ausschließung droht, bleibt etwas übrig, was die Erzählerin des Films als real erfahrene Gegenwart des Lebens, als menschliche Liebesfähigkeit und spirituelle Sehnsucht umschreibt. Im Klammergriff der unheilvollen Katastrophe tritt dieser „vollkommene Sinn“ nur deutlicher und nachdrücklicher ans Licht.

Shame

(GB 2011, Regie: Steve McQueen)

Tristesse und Penis
von Carsten Moll

Brandon sieht zwar aus wie ein gut bestückter Michael Fassbender, hat einen gut bezahlten Job samt schickem Appartement in New York, gut geht es ihm trotzdem nicht. Der erfolgreiche Yuppie …

Brandon sieht zwar aus wie ein gut bestückter Michael Fassbender, hat einen gut bezahlten Job samt schickem Appartement in New York, gut geht es ihm trotzdem nicht. Der erfolgreiche Yuppie ist nicht bloß einsam, er leidet auch unter seiner Hypersexualität; zwanghaft wichst und fickt sich Brandon durch seinen Alltag, unfähig zu jeglicher zwischenmenschlichen Beziehung, die tiefer geht als sein Penis. Sein Dasein als Sex-Zombie gerät erst aus der Bahn, als sich seine hyperemotionale Schwester Sissy (Carey Mulligan in einer eher undankbaren Rolle als düstere Variation des Manic Pixie Dream Girls und Katalysator für den männlichen Protagonisten) bei ihm einnistet …

Trotz einiger inhaltlicher Parallelen erinnert Steve McQueens zweiter Spielfilm weniger an „American Psycho“ als an Darren Aronofskys „Black Swan“. Sowohl die Tänzerin Nina aus „Black Swan“ als auch Brandon machen nach außen hin den Eindruck von Perfektion, sind aber unter der Oberfläche emotional erstarrt. Als eine Art männliches Pendant ersetzt „Shame“ Ballett durch Sex und statt Schwanensee gibt es einen Schwanz zu sehen. Die phantasmagorische Hysterie Aronofskys ist bei McQueen zwar einem nüchternen Autismus gewichen, die dokumentarisch anmutenden Bilder von einem kalten New York als Seelenlandschaft des Protagonisten aber sind ganz ähnlich. Gemein ist beiden Filme auch die aufdringliche Tonspur, die die Zuschauer_innen in den Würgegriff nimmt und mit dem pathetischen Soundtrack keinen Raum für Zwischentöne lässt.

Wo „Black Swan“ als trashiges Grand Guignol zumindest unterhaltsam und als Camp durchaus konsumierbar ist, da meint es „Shame“ todernst mit seiner wirren Verknüpfung von individueller Leidensgeschichte und sozialkritischem Befund. (Verantwortlich für dieses Durcheinander dürfte vor allem das Drehbuch sein, an dem neben McQueen auch Abi Morgan mitgeschrieben hat, die für „Die Eiserne Lady“ eine ähnlich krude Mischung aus Ästhetik und Politik konstruiert hat.) Dass so manche Kritiker_innen in „Shame“ eine Verhandlung existenzieller menschlicher Fragen ausmachen und sogar das wirkliche Leben, wenn nicht Wahrheit abgebildet sehen, dürfte weniger an der Aufrichtigkeit und Tiefgründigkeit von „Shame“ als an einer Vorliebe für filmischen Realismus liegen. Das vom method acting beeinflusste Schauspiel Michael Fassbenders sowie allerlei Realitätseffekte rufen nicht nur Begeisterung hervor, sondern veranlassen zum Beispiel den britischen Guardian dazu, sogenannte Sexsüchtige zur Beurteilung des Films heranzuziehen, wie es zuvor bei „Black Swan“ mit professionellen Tänzern geschah; das Kino muss sich nicht nur an den wahren Geschichten des Lebens messen lassen, sondern wird auch als Mittel zur Kracauerschen Errettung der äußerlichen Wirklichkeit verklärt. Dass mit einer vollkommeneren Wirklichkeitstreue auch eine vollkommenere Irreführung einhergehen könnte, wird dabei nicht in Betracht gezogen.

Ebenso bleibt oftmals eine kritische Betrachtung der Klischees, mit denen McQueen und Morgan arbeiten aus. Natürlich ist die Affirmation von Stereotypen ein effizientes Mittel zur Herstellung des Eindrucks von Authentizität, aber die Auswahl der im Film vorgeführten Klischees ist bestenfalls zweifelhaft und reicht von albern bis ärgerlich. Von der obligatorischen asiatischen Nutte bis zum infernalischen Schwulenclub als Tiefpunkt von Brandons Abwärtsspirale nutzt der Film im besonderen Maße sozial stigmatisierte Randgruppen zur Illustrierung von Brandons Schamerfahrung (obwohl die Scham hier eigentlich auf kaum mehr als Selbstverachtung reduziert wird) und beschämt diese gleich mit. Nicht allein das Zeigen des echten Sexclubs und der Prostituierten, von denen einige im echten Leben immerhin Burlesquetänzerinnen sind, machen die Bilder problematisch, sondern deren manipulative Emotionalisierung durch den Soundtrack und die fragwürdige Kontextualisierung. Denn so sehr der Film mit seiner episodischen und offen angelegten Kreisstruktur, den langen Einstellungen und der Aussparung von psychologischen Erklärungen auch Wirklichkeit abzubilden versucht, folgt er im Grunde doch einer formelhaften und konventionellen Dramaturgie vom Fall und der möglichen Läuterung des Protagonisten, retardierendes Moment in der Schwulenhölle und moralisierender Grundton inklusive. Dass McQueen seinen Protagonisten dabei in einer durch und durch konstruierten Welt ausgesetzt hat, gelingt ihm nie ganz zu verschleiern, dafür ist der Hang zum Bedeutungsschwangeren zu groß: Jedes Plakat in der U-Bahn und jeder Song („I Want Your Love“) gibt sich bedeutungsvoll und liefert meist doch nur platte Kommentare. Dabei bleibt der psychotische Blick, der nur vorgibt ein kühler, distanzierter zu sein, immer auf Brandon beschränkt, Prostituierte werden zusammen mit Internetpornografie, Analsex und Promiskuität zu bloßen Symptomen einer kranken Gesellschaft.

Statt auf eine Vielfalt von Fiktionen setzt „Shame“ ganz auf eine als Authentizität missverstandene Egozentrik, die an die Ränder drängt, was eh schon marginalisiert wird. Scham und Sexsucht dienen lediglich als Aufhänger für einen geschmackvoll fotografierten Höllenritt und eindimensionale Gesellschaftskritik, die beinahe etwas Nostalgisches hat. Am Schluss, der einen Wandel Brandons andeutet (wir wurden Zeugen einer blutigen Wiedergeburt), wird noch einmal die konservative Moral des Films bebildert: Im konfusen Zusammenfall aus Psyche und Gesellschaft wird der krankhaften Abweichung immer wieder Zweisamkeit und Ehe als gesunde oder zumindest weniger kranke Alternative entgegengestellt. Der Hoffnungsschimmer für Brandon und eine vermeintlich entmenschlichte Gesellschaft funkelt uns deshalb am Ende des Films auch als Detailaufnahme eines Eherings entgegen.

Monsieur Lazhar

(CAN 2011, Regie: Philippe Falardeau)

Was gesagt werden muss
von Ulrich Kriest

Quebec, die frankophone Region im Osten Kanadas, an einem Tag wie viele andere. Der elfjährige Simon kommt zur Schule, spricht kurz mit der gleichaltrigen Klassenkameradin Alice und macht sich dann …

Quebec, die frankophone Region im Osten Kanadas, an einem Tag wie viele andere. Der elfjährige Simon kommt zur Schule, spricht kurz mit der gleichaltrigen Klassenkameradin Alice und macht sich dann auf den Weg, die Schulmilch für seine Klasse zu besorgen. Die Tür zum Klassenraum ist verschlossen, doch durch die Scheibe in der Tür sieht er, dass die junge, bei den Kindern sehr beliebte Lehrerin Martine an der Decke hängt.

Dass Simon entsetzt auf diese Entdeckung reagiert, ist nicht nur nachvollziehbar, sondern hat tiefere Gründe in seiner ganz besonderen Beziehung zu Martine. Wollte die Lehrerin ihm vielleicht dadurch etwas sagen, dass sie sich von Simon finden ließ? Starker Tobak für ein Kind. Aber der Selbstmord der Lehrkraft bringt ohnehin die Verhältnisse in der Schule in Bewegung. Die Kollegen sind ratlos, die Kinder traumatisiert und bekommen psychologische Betreuung – und schließlich fehlt auch noch eine Lehrkraft, die Martines Stelle einnimmt.

Auf diese Stelle bewirbt sich der aus Algerien stammende, schon etwas ältere Bachir Lazhar, der auf eine langjährige Erfahrung als Lehrer in seiner Heimat zurückblicken kann. Sagt er jedenfalls. Doch Kanada ist nicht Algerien und einige von Monsieur Lazhars ungewöhnlichen und auch vergleichsweise ungewöhnlich altmodischen Unterrichtspraktiken stoßen bei der Schulleitung und den Eltern (und selbst bei den Kindern!) auf wenig Gegenliebe, weil sie gegen bestens inkorporierte Regeln der professionellen Konfliktvermeidung verstoßen. In der Schule herrscht eine enorme Distanz zwischen den Anwesenden: körperliche Züchtigung ist selbstredend verpönt, aber auch eine Umarmung gilt als unbotmäßig. Man hat das Klassenzimmer, in dem Martine sich erhängt hat, neu gestrichen – und nun soll der Alltag auch, bitteschön, wieder alltäglich werden.

Für alles weitere ist die Schulpsychologin Madame Latendresse (sic!) zuständig, die ihre Arbeit allerdings explizit jenseits des Unterrichtsalltags verortet: der Lehrkörper muss draußen bleiben. Nur Monsieur Lazhar scheint zu ahnen, dass auf Seiten der Kinder Redebedarf besteht und Trauerarbeit geleistet werden muss. Als Alice schließlich eine Gelegenheit nutzt, um Martines Gewaltakt eloquent anzuklagen, platzt der Knoten.

„Monsieur Lazhar“, der „Oscar“-nominierte Film von Philippe Falardeau nach einem Theaterstück, legt mit einiger Sensibilität Schicht um Schicht einer eigentümlichen Problemkonstellation frei, um gleichzeitig ziemlich passgenau menschliche Schicksale ineinander zu fügen. Dabei ist die Gefahr, in allerlei Fettnäpfchen zwischen Kitsch, Klischees und Feelgood-Avancen zu treten, beängstigend groß: schließlich ist das Thema „Schule“ in den letzten Jahren wirklich groß in Mode gekommen – in Spiel- , wie in Dokumentarfilmen.

Von Szene zu Szene wechselt der Film seine Perspektive, erweitert den Blick, wird immer komplexer: was mit dem skandalösen Selbstmord beginnt, den die Kinder als Gewaltakt gegen sich erleben, wird zu einer Reflexion über kulturelle Differenzen, wobei überdeutlich gezeigt werden soll, dass die weiblich dominierte, rationale Erziehung in Kanada eher konfliktscheu ist und die Kinder mit ihren Emotionen alleingelassen und so gewissermaßen entmündigt werden. Der neue (männliche) Lehrer, ein intuitiv arbeitender Araber, der auch noch eine unglückliche Biografie mit sich herum trägt, wählt nicht nur gerne das offene Wort, sondern er fordert seinen Schülern auch intellektuelle wie emotionale Leistungen ab und packt sie nicht in künstliche Watte.

Das alles hat das Zeug zu einem hölzern ächzenden und durchaus auch explizit konservativen Lehrstück über die Defizite politischer correctness, die aus Bequemlichkeit Konflikte scheut und verdeckt und Kinder systematisch überfordert, aber der trotz allem eher leichtfüßige Film punktet vor allem mit seinen Darstellerleistungen. So überzeugt nicht nur Mohammed Fellag in der Rolle des charismatischen Lehrers, insbesondere die beiden jungen Protagonisten Emilien Néron und Sophie Nélisse bestechen durch die Authentizität ihres Spiels. Da sieht man denn auch darüber hinweg, dass der Film oder auch schon die Vorlage ein paar blinde Flecken im schnurrenden Handlungsgefüge durch eine etwas süßliche Sentimentalität kaschiert. Da es aber um das kommunikative Bearbeiten von Trauer geht, verbuchen wir das jetzt mal unter letztlich menschenfreundliche und wärmende Poesie.

Film Socialisme

(F 2010, Regie: Jean-Luc Godard)

Vom Wunsch, Europa glücklich zu sehen
von Wolfgang Nierlin

Man müsste das Spät- und Alterswerk Jean-Luc Godards, in das sich seine aktuelle Arbeit „Film Socialisme“ nahtlos einfügt, eigentlich aus seinen ästhetischen Verneinungen heraus definieren und davon sprechen, was seine …

Man müsste das Spät- und Alterswerk Jean-Luc Godards, in das sich seine aktuelle Arbeit „Film Socialisme“ nahtlos einfügt, eigentlich aus seinen ästhetischen Verneinungen heraus definieren und davon sprechen, was seine Filme im Abgleich mit den gängigen filmsprachlichen Konventionen alles nicht sind. Weil in ihnen traditionelle Erzählmuster durchbrochen und aufgehoben werden, gibt es weder eine durchgehende dramatische Geschichte noch einen auf diese bezogenen Spannungsbogen. Bilder und Töne, collagiert oder einander nebengeordnet, sind vielmehr diskursiv aufeinander bezogen, wobei ein stetiger Austausch zwischen Vorder- und Hintergrund, On und Off stattfindet. Wie lässt sich, so eines der vielen Themen von Godard und von „Film Socialisme“, „die Wirklichkeit in die Wirklichkeit stecken“, also auch filmisch abbilden? Immer wieder kreist der Film – ähnlich dem Bild des Fischschwarms unter Wasser – um die Frage, wie sich die komplexe Realität trotz mangelhafter Instrumente erfassen lässt. Indem er erhofft, „das Unsichtbare zu zeigen“, formuliert Godard zugleich einen utopischen Anspruch an die Kunst.

Man müsse vor dem Lesen das Sehen lernen, heißt es einmal. Und an anderer Stelle: „Es gibt nichts Bequemeres als einen Text.“ Trotzdem oder gerade deshalb spielen Texte und Zitate, namentlich von Benjamin, Derrida, Sartre, Heidegger und vielen anderen, eine maßgebliche Rolle. Und aus der Vielstimmigkeit und Gleichzeitigkeit des Text- und Sprachengewirrs stellt sich dem Rezipienten immer wieder die Frage: Wer spricht?, während Töne und Musik (u. a. von Schnittke, Zimmermann, Kancheli, Beethoven und Pärt), Bilder und Texte einander überlagern oder beziehungsreich nebeneiander stehen. So wie sich die Träger der Stimmen bildlich nicht einfach identifizieren lassen, so bleiben auch die Urheber der Texte weitgehend ungenannt. Das aufgerufene Wissen (und seine Archive) fügt sich in Godards filmischer Dialektik gewissermaßen zu einer neuen (politischen) Ordnung; das Verstehen beginnt mit dem Staunen; und am Anfang des Films sieht man deshalb nicht umsonst ein Bild mit Papageien, von einem Piepston unterlegt.

„Film Socialisme“ handelt zunächst und vor allem von Wanderbewegungen, von den Wegen und Strömen, auf denen sich Geld, Waren und Menschen durch Zeiten und Räume bewegen; und davon, wie aus ihren Berührungspunkten und grausamen Zusammentreffen eine „unmögliche Geschichte“ entsteht. Diese Bewegung zwischen Flucht- und Sehnsuchtsorten ist vor allem eine zwischen Süden und Norden, Afrika und Europa und wird im ersten Teil des Films von einem Kreuzfahrtschiff auf dem Mittelmeer vollzogen. Dabei werden Orte wie Odessa, Jaffa, Hellas, Barcelona und Neapel als Wiegen der Menschheit aufgerufen und mit markanten Geschichtsdaten verknüpft: etwa der Russischen Revolution, dem Spanischen Bürgerkrieg und den Folgen des 2. Weltkriegs in menschlicher und nicht zuletzt kultureller Hinsicht.

Vor allem Griechenland als Ursprung der Demokratie, aber auch der Tragödie nimmt Godard dafür immer wieder in den Blick und mischt dabei inszenierte Bilder in den dominierenden Farben Blau, Rot und Gelb mit dokumentarischen Fundsachen. Das führt ihn im zweiten Teil des dreigliedrigen Films unweigerlich zu der Frage: „Quo vadis Europa?“ Und in eine französische Autowerkstatt mit dem nicht zufällig gewählten (Résistance-Tarn-)Namen „Martin“, wo die Kinder der gleichnamigen Familie gerade dabei sind, ihre Eltern einem ebenso privaten wie öffentlichen Verhör über die familiäre Zukunft zu unterziehen. Im „Wunsch, Europa glücklich zu sehen“, wird die Jugend überraschenderweise zum (sozialistischen) Hoffnungsträger für Brüderlichkeit, Freiheit und Gleichheit: „Die Ideen trennen uns wohl wie uns die Träume einander näher bringen.“ Und: „Der Traum der Individuen ist, zu zweit zu sein.“

Nathalie küsst

(F 2011, Regie: David Foenkinos, Stéphane Foenkinos)

Verschrobene Schweden und rührende Großmütter
von Wolfgang Nierlin

„I call it love“, heißt es im Popsong zur Liebe auf den ersten Blick, die Nathalie (Audrey Tautou) und François (Pio Marmaï) ereilt. Diese beginnt im Café an der Ecke, …

„I call it love“, heißt es im Popsong zur Liebe auf den ersten Blick, die Nathalie (Audrey Tautou) und François (Pio Marmaï) ereilt. Diese beginnt im Café an der Ecke, in hoffnungsvollem Grün und mit Aprikosensaft. Das „Glück ohne Donnerstage“ ist federnd leicht und beschwingt wie Nathalies Gang durch die leere Straße; der Liebe wachsen Flügel und der Zufall ist zunächst ein willfähriger Freund. David und Stéphane Foenkinos‘ Tragikomödie „Nathalie küsst“, für die David Foenkinos seinen eigenen, erfolgreichen Roman „La délicatesse“ adaptiert hat, beginnt wie ein romantisches Liebesmärchen aus einer vergangenen Zeit, imprägniert mit altmodischem Charme und französischer Liebesleichtigkeit. Da wird der Kniefall zum Heiratsantrag, wobei der Schlüsselbund als Verlobungsring dient, bis schließlich eine schwebende Kreisfahrt der Kamera das weiß gewandete Hochzeitspaar förmlich umarmt.

Doch so viel unbeschwertem Liebesglück ist keine Dauer beschieden. Die Brüder Foenkinos verklären es zum schwebenden Ideal, um ihrer bittersüßen comédie dramatique eine tragische Fallhöhe einzuziehen. Denn kurz darauf stirbt François völlig abrupt bei einem Unfall. Wenn Nathalie vor seinem Grab steht, vermittelt das Bild einen irrealen Moment. In subjektiver Perspektive kehrt sie zurück in die leere, gemeinsame Wohnung. Nathalie „verschließt sich in ihrem Leid“, will nur noch allein sein und mit niemandem reden. Um den emotionalen Druck zu lindern, entledigt sie sich gemeinsamer Erinnerungsstücke. Doch ihr Dilemma spiegelt sich fortan in dem Bedürfnis, „nach vorne zu sehen“ und zugleich „der Vergangenheit treu zu sein“.

Also stürzt sie sich in die Arbeit, wehrt immer beherzter das Liebeswerben ihres Chefs (Bruno Todeschini) ab und trifft endlich auf jenen Menschen, der die Perspektiven in mancherlei Hinsicht durcheinander wirbelt und Nathalie mit ihrer schmerzenden Vergangenheit versöhnt. Denn Markus (François Damiens) ist nicht nur ein leicht verschrobener Schwede und linkischer Außenseiter, sondern er wird von seinen Kollegen schlichtweg übersehen. Das ändert sich gründlich nach dem titelgebenden Kuss, der den steifen Sonderling regelrecht verzaubert und ihm das „Herz verdreht“. Zu „Get it on“ von T-Rex verwandelt sich ihm die Welt in eine Parade lockender Frauen. Immer wieder wechselt der Film die Tonlage zwischen grauer Realität und Tagtraum, zwischen Dialogwitz und visuellem Humor, den die Brüder Foenkinos mit zahlreichen Ellipsen und assoziativen Bildanschlüssen transportieren. Die retardierende Komödiendramaturgie gibt den so ungleichen Figuren genügend Zeit, um ganz klassisch zueinander zu finden und sich im Spannungsfeld zwischen Beruf und Privatleben gegen eine feindliche Umwelt zu behaupten. Doch bleibt es Nathalies rührender Großmutter vorbehalten, mit Unvoreingenommenheit und Menschenkenntnis Markus‘ „gutes Herz“ zu erspüren und damit auf Anhieb jene emotionale Kontinuität zu entdecken, deren sich Nathalie insgeheim längst sicher ist.

Warrior

(USA 2011, Regie: Gavin O'Connor)

Friendly Fire
von Harald Steinwender

Boxerfilme sind Geschichten über proletarische Helden, die sich mit harter (Körper-)Arbeit aus der Gosse hocharbeiten; über stumpfe und abgestumpfte Männer, die mit dem Kopf gegen Wände und gesellschaftliche Konventionen anrennen; …

Boxerfilme sind Geschichten über proletarische Helden, die sich mit harter (Körper-)Arbeit aus der Gosse hocharbeiten; über stumpfe und abgestumpfte Männer, die mit dem Kopf gegen Wände und gesellschaftliche Konventionen anrennen; die den Überblick darüber verlieren, wo die Begrenzung des Rings beginnt und wo sie endet; über Männer, die sich in einem endlosen Kampf mit sich selbst und der Gesellschaft befinden. Boxerfilme sind Aufsteigergeschichten: entweder unreflektierte success stories, die mit dem Triumph des Außenseiters enden, der mit einem alles entscheidenden Sieg zum Volkshelden aufsteigt. Oder aber sie erzählen als kritische Noir-Varianten davon, was nach dem großen Sieg mit dem Boxer geschieht, wie dieser von skrupellosen Managern ausgebeutet wird, sich mit kriminellen Rackets einlässt, an seinem Ruhm zerbricht und von seinem Körper im Stich gelassen wird. Boxerfilme sind immer auch Familienfilme: David O. Russells 'The Fighter' (2010) erzählt von zwei ungleichen Brüdern und deren desolater Familie, die eigentliche Tragödie in Martin Scorseses 'Raging Bull' ('Wie ein wilder Stier'; 1980) ist der endgültige Bruch zwischen den LaMotta-Brüdern, und Burgess Merediths Trainer ist für Sylvester Stallones 'Rocky' (1976; John G. Avildsen) natürlich ein Vaterersatz.

Gavin O’Connor zitiert in seinem Mixed-Martial-Arts-Boxerfilm 'Warrior' die Bausteine und Klischees des Genres, von Rouben Mamoulians 'Golden Boy' (1939) bis zu 'Rocky', der Apotheose des Genres, und 'Raging Bull', Scorseses Anti-Boxerfilm. Auch er erzählt von ungleichen Brüdern, dem verbitterten Heißsporn Tommy (Tom Hardy), einem tablettenabhängigen Ex-Marine, und dem abgeklärten Familienvater Brendan (Joel Edgerton), der als Physik-Lehrer arbeitet. Während Brendan als Verlierer der Wirtschaftskrise gezwungen ist, wieder in den Ring zu steigen, um seine Familie zu ernähren, kehrt Tommy in seine Heimatstadt Pittsburgh zurück, um sich vom verhassten Vater (Nick Nolte) für die Großveranstaltung 'Sparta', eine Art MMA-Super-Bowl, trainieren zu lassen. 'Warrior' beinhaltet die für das Genre unvermeidlichen Trainingssequenzen und Ausflüge in den Sozialrealismus. Und natürlich läuft alles auf den letzten, alles entscheidenden Boxkampf hinaus, bei dem die Brüder und ihre unterschiedlichen Lebensentwürfe im Ring aufeinanderprallen und die Familie wieder zusammenfindet, während in Kneipen und zuhause ein Millionenpublikum zusieht.

O’Connor gelingt es, den im Genre bis zum Erbrechen durchgespielten Plot ohne jede Ironie zu inszenieren, ganz so, als ob er hier zum ersten Mal erzählt werden würde. Neben den ausgezeichnet choreografierten Kampfsequenzen macht gerade dies den Reiz seines Films aus, der leicht neben Russells vordergründig soziologischem 'The Fighter' bestehen kann. Der Hauptgrund dafür, dass 'Warrior' so gut funktioniert, liegt jedoch am exzellenten Schauspielerensemble: Nick Nolte leistet als passiv-aggressiver Alkoholiker, der am 1000. Tag seiner Abstinenz rückfällig wird, wahrlich Großes. Tom Hardy, seit 'Bronson' (2008) und 'Inception' (2010) auf dem Weg zum Star, gelingt es, die Zerrissenheit seiner Figur geradezu physisch erfahrbar zu machen. Der bislang kaum bekannte Joel Edgerton bietet mit seinem zurückhaltenden Spiel ein ideales Gegengewicht zu Hardys intensiver Performance. In einer rein dialogisch aufgelösten Konfrontation der beiden Brüder, exakt in der Mitte des Film positioniert und als Foreshadowing des Schlusskampfes angelegt, erscheint Tommys Körper krumm und schief, wie unter der Last der familiären Konflikte verbogen. Zwischenmenschliche Konflikte visualisiert der Film dagegen vor allem mit Großaufnahmen, die den Fokus vom Körper auf das Gesicht, vom embodiment zum acting verschieben. Zugleich bündelt O’Connor damit den Konflikt, der das Zentrum seines Films bildet: In 'Warrior' ist der eigentliche Kriegsschauplatz die Familie, die alle Beteiligten gezeichnet hat. Selbst die Flucht Tommys in die Ersatzfamilie Army bestätigt die Erfahrung, dass es gerade das 'friendly fire' ist, das umso tiefer verletzt.

Dieser Text ist in einer erweiterten Fassung erschienen in Splatting Image # 89, März 2012

Bellflower

(USA 2011, Regie: Evan Glodell)

Waste Land USA
von Harald Steinwender

Wochenende, eine heruntergekommene Kneipe in Kalifornien: Bier-Pitcher und Whiskey-Shots gehen im Dutzend über den Tresen, das Publikum besteht vor allem aus Slackern Anfang 20 bis Mitte 30. Ein Wettbewerb wird …

Wochenende, eine heruntergekommene Kneipe in Kalifornien: Bier-Pitcher und Whiskey-Shots gehen im Dutzend über den Tresen, das Publikum besteht vor allem aus Slackern Anfang 20 bis Mitte 30. Ein Wettbewerb wird ausgerufen: 50 Dollar für denjenigen, der die meisten lebenden Heuschrecken isst! Milly (Jessie Wiseman) ist sofort dabei, ihr Herausforderer ist Woodrow (Evan Glodell). Milly gewinnt. Am Tresen trifft sie Woodrow wieder, spendiert ihm ein Bier und einen Whiskey. Tags darauf das erste Date. Wohin es gehen soll? 'I want you to take me to the cheapest, nastiest, scariest place you know!' Also fährt Woodrow Milly nach Texas, dahin, wo man vom Essen Diarrhö bekommt, eine Frau wie Milly schon nach wenigen Metern belästigt wird und Woodrow sogleich von einem Redneck ein blaues Auge verpasst bekommt. Was für ein Beginn für eine Romanze.

Regisseur Evan Glodell (zudem Drehbuchautor, Ko-Cutter und Ko-Produzent) inszeniert mit 'Bellflower' ein kleines, rotziges Indiefilmchen, schnell abgedreht und ökonomisch geschickt mit sich selbst in der Hauptrolle besetzt. Das Ergebnis ist oft unerwartet charmant, auch wenn manche Passagen etwas forciert ausgefallen sind und 'Bellflower' sich zu sehr in der Perspektive seiner Jungsprotagonisten suhlt. Es geht, unter anderem, um Perspektivlosigkeit und die dunkle Magie der Popkultur, den Traum vom Leben wie im Film: 'You need some better images in your life.' Wie wahr! Aber was, wenn diese besseren Bilder vor allem aus Endzeitfilmen stammen? Die Hauptbeschäftigung von Glodells Slacker-Protagonisten ist neben Saufen und dem Herumschrauben an Muscle-Cars vor allem das Basteln eines eigenen Flammenwerfers. Ihr role model ist Lord Humungus aus George Millers 'The Road Warrior', dem zweiten 'Mad Max'-Film. Warum? Darum: 'LORD Fuckin‘ HUMUNGUS! The master of fire, the king of the waste land! Lord Humungus doesn’t get cheated on by some stupid bitch. Lord Humungus doesn’t say: ‚Was it good for you?‘ He doesn’t say: ‚Who called?‘, or: ‚Where were you last night?‘ He doesn’t leave the fuckin‘ game when he falls in love. Nobody fuckin‘ tells Lord Humungus what to do. Lord Humungus fights when he wants to fight. And fucks when he wants to fuck. And when all else fails he drives straight into the fuckin‘ tanker!' Es geht also um narzisstische, gekränkte Männlichkeit, die sich in Endzeitvisionen und Gewaltphantasien verirrt.

Milly geht fremd. Woodrow rastet aus. Er haut dem Rivalen eins auf die Nase, rennt weg, wird von einem Auto angefahren, leidet aber vor allem an seinem gebrochenen Herzen. Es folgt viel tote Zeit. Dann geht’s zur Sache. Ein Zwischentitel informiert uns: 'Nobody gets out of here alive'. Der Flammenwerfer kommt zum Einsatz, ein Baseballschläger, ein Messer und eine 45er. Eine Tattoo-Maschine wird blutig zweckentfremdet – ein Zitat aus 'Love & a .45' (1994; C.M. Talkington), off-screen, gottseidank. Aber, ätsch: Alles nur gelogen, alles nur eine Jungsphantasie in der Jungsphantasie. Ein schlauer Kniff, mit dem der Film sich vorm Abdriften ins Prätentiöse rettet. Statt einer klaren Narration folgt nun die Auflösung der Handlung bis zur Stasis. Kaskaden von Bildern brechen in die Narration ein, miteinander konkurrierende Erzählungen kollidieren. Amerika wird zum 'Mad Max'-Territorium: Waste Land USA. Woodrow und sein Kumpel Aiden (Tyler Dawson) fahren durch die kalifornische Wüste, die tatsächlich wie Australien aussieht. Die Sonne brennt direkt in die Kamera. Sie trinken Bier und schießen mit einer Schrotflinte auf Verkehrsschilder. Am Meer verbrennt Woodrow Millys Sachen, um – vielleicht? – Kalifornien zu verlassen. Warum auch nicht: 'We never even go to the beach.'

Die Frauen spielen hier nur die zweite Geige. Milly versaut die Beziehung mit ihrem Seitensprung, Courtney (Rebekah Brandes), eine der wenigen Frauen, der das Drehbuch ein paar Zeilen zugesteht, ist nur ein Anhängsel der 'Helden'. Aber auch die Jungsfreundschaft besteht vor allem aus Saufen und Nichtstun. Produktiv sind die Protagonisten nur im Basteln ihrer Zerstörungsgerätschaften. 'Bellflower' hat fast nichts gekostet, gerade einmal lächerliche 17 000 US-Dollar laut IMDb. Das sieht man dem Film auch an. Die Dialoge wirken mitunter improvisiert, sind oft redundant. In die Breitwandbilder schleicht sich der Dreck und der Staub ein: Immer wieder finden sich Flecken im Bild und auf der Linse. Die Bilder der handgeführten Digitalkamera rutschen in die Unschärfe, wirken flach, die Farben oft übersteuert: Gelb und Grün erstrahlen toxisch, Rot blutet aus, Blau ist vor allem fahl. Irgendwie spielt 'Bellflower' tatsächlich nach der Apokalypse. Keiner der Protagonisten geht arbeiten, woher sie das Geld für Benzin und Schnaps haben, interessiert den Regisseur nicht.

'Bellflower' ist vielleicht kein großer Wurf, aber durchaus sehenswert. Es wäre interessant zu sehen, was Glodell mit einem moderaten Budget und einem besseren Drehbuch auf die Beine stellen kann. Immerhin hat er laut einer Interviewaussage schon eine ganze Reihe von Drehbüchern in Arbeit. Arbeitstitel: 'Tales from the Apocalypse.' Na dann: 'Long live Lord Humungus!'

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Splatting Image # 89, März 2012

Die Summe meiner einzelnen Teile

(D 2011, Regie: Hans Weingartner)

Überwachen und Strafen
von Wolfgang Nierlin

Zwischen Wahn und Wirklichkeit, gedehnter Zeit und sehr konkreten Räumen bewegt sich der psychisch erkrankte Mathematiker Martin Blunt (Peter Schneider) in Hans Weingartners neuem Film „Die Summe meiner einzelnen Teile“. …

Zwischen Wahn und Wirklichkeit, gedehnter Zeit und sehr konkreten Räumen bewegt sich der psychisch erkrankte Mathematiker Martin Blunt (Peter Schneider) in Hans Weingartners neuem Film „Die Summe meiner einzelnen Teile“. Der österreichische, in Deutschland arbeitende Regisseur knüpft damit inhaltlich und thematisch an sein beeindruckendes Spielfilmdebüt „Das weiße Rauschen“ an. Wieder geht es um einen jungen Mann, der durch eine Psychose und einen längeren Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik aus der Bahn geworfen wird. Dabei interessiert sich der politische Filmemacher Weingartner vor allem für die möglichen gesellschaftlichen Ursachen dieser Erkrankung sowie für den repressiven Umgang des Systems mit denjenigen, deren Handeln, Fühlen und Denken von der Norm abweicht, also für den Außenseiter, der durch Überwachen und Strafen ruhiggestellt werden soll.

Gleich die Einleitung des Films, in der die Weite und Ruhe einer Waldeinsamkeit mit der klaustrophobischen Enge eines Gefängniswagens kontrastiert wird, etabliert leicht forciert diese Dialektik von Freiheit und Gefangenschaft. Nach seiner Entlassung aus der Klinik entgleitet Martin rasant der soziale Boden unter den Füßen: Er landet in einer Wohnung des Berliner Problembezirks Marzahn, verliert wegen „mangelnder Belastbarkeit“ seinen Job, kann sich nur schwer von seiner ehemaligen Freundin Petra (Julia Jentsch) lösen und stürzt sich schließlich in seine Alkoholsucht. Weingartner inszeniert das ruhig, fast wortlos und mit genauem Blick auf die soziale Realität. Das macht seinen Film sehr intensiv und reich an Zwischentönen. Zugleich mildert er die dargestellten Härten immer wieder mit einem empathischen Blick.

„Back in reality“, sagt Martin einmal und glaubt selbst nicht recht daran. Als er schließlich – in einer der eindringlichsten Szenen – durch den Räumungsvollzugsdienst und schier ohnmächtig vor Hilflosigkeit auch noch aus der Wohnung geschmissen wird, kehren die alten Zahlen-Dämonen und Alpträume wieder, verschieben sich ihm die Koordinaten seiner (Selbst-)Wahrnehmung. In einem Abbruchhaus begegnet er dem etwa 10-jährigen ukrainischen Waisenjungen Viktor (Timur Massold). Ihr Zusammensein, aus dem bald innige Freundschaft wird, mildert den permanenten Druck von außen. Gemeinsam flüchten sie in den Wald, der zum Refugium, zum zivilisatorischen Gegen-Ort und zum utopischen Aussteiger(t)raum wird. Sie bauen eine Hütte und erleben eine neu erwachende Stärke und Freiheit im Einklang mit der Natur. „Sei du selbst“, „hab‘ keine Angst“, lauten die Sätze, die diesen mutigen Aufbruch in einer Spiegelgeschichte mit der Zahnarzthelferin Lena (Henrike von Kuick) begleiten. Doch dann melden sich die Wächter der Norm zurück; und mit ihnen die dunklen Schatten des anderen, zerstörerischen Ichs.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Chronicle – Wozu bist Du fähig?

(GB / USA 2012, Regie: Josh Trank)

Ist es ein Vogel? Ein Flugzeug? Ein psychopathischer Heranwachsender?
von Louis Vazquez

Teenager mit Superkräften im Found-Footage-Stil – da darf man als Feind metaphysisch aufgeblasener Seifenopern und unmotivierter Wackelkameras das Interesse völlig zu Recht hart auf Null schrauben und einfach gar nicht …

Teenager mit Superkräften im Found-Footage-Stil – da darf man als Feind metaphysisch aufgeblasener Seifenopern und unmotivierter Wackelkameras das Interesse völlig zu Recht hart auf Null schrauben und einfach gar nicht mehr zuhören. Wenn man dann aber doch, quasi aus Versehen, völlig ungespoilert im Kino landet und sich auch nur einen Hauch für phantastische Filme interessiert, könnte das Erstaunen nicht größer sein. Was Josh Trank da in seinem Spielfilmdebüt auf die Leinwand bringt, ist nämlich tatsächlich so gut, wie der Hype inzwischen lautstark behauptet.

Drei Jugendliche gelangen unverhofft an telekinetische Kräfte, die ihnen sogar das Fliegen ermöglichen, und schnell ist da die pubertäre Lust, die neuen Fähigkeiten an arglosen Mitmenschen auszuprobieren. Man ahnt bald, wie der Hase rennt. Stichworte: Übermensch, Machtrausch, Korruption. Aber das ist ja schon mal interessanter als die zu befürchtende Seifenoper.

Zudem sind die drei Helden nicht unbedingt beste Freunde, sondern die zwei ungleichen Cousins Andrew (Dane DeHaan) und Matt (Alex Russel) sowie der in der Schule ziemlich populäre Steve (Michael B. Jordan, der in der ersten Staffel von „The Wire“ mal eine Sterbeszene hatte, die vieler Leute Auffassung von Fernsehserien für immer verändert hat). Diese vom Zufall zusammengewürfelten Figuren entwickeln sich viel interessanter als die austauschbaren Gesichter, die man sonst in Found-Footage-Filmen vorgesetzt bekommt.

Während die Person hinter der Kamera üblicherweise am unwichtigsten ist, handelt es sich bei Andrew um die Hauptfigur. Seine Mutter ist todkrank, sein Vater ein gewalttätiger Säufer – als geplagter Außenseiter und Sonderling wäre Andrew eigentlich ein wandelndes Teenagerfilmklischee. Als Kameramann einer Pseudo-Doku aber begeistert er schlichtweg, weil er mal keiner von den unrealistischen Wackelbild-Amateuren ist, die nicht im Stande sind, auch mal ohne Zoom zu arbeiten und ein totales Bild zu liefern. Andrew stellt die Kamera auch mal hin. Er will nicht nur draufhalten, sondern wirklich dokumentieren und aus seinem Leben erzählen. Was er zeigt, erzählt ziemlich viel über ihn selbst. Selten gewann der Kameramann so viel Profil.

Und dann gelingt es dem Film sogar noch, mit der Entdeckung der telekinetischen Fähigkeiten ganz unaufdringlich eine freiere Kameraführung zu motivieren. Erst viel später bemerken die Freunde, was Andrew inzwischen per Gedankenkraft macht, und sprechen ihn darauf an. Mit welchem Aberwitz der Film im letzten Akt sein Found-Footage-Konzept schließlich auf die Spitze treibt, wie er mit den typischen Auslassungen arbeitet und welchen Sinn für Timing er dabei an den Tag legt, das alles ist schon ziemlich erstaunlich und hebt „Chronicle“ weit über vergleichbare Genrestücke hinaus. Die Entwicklung des Antagonisten kann einem durchaus den Boden unter den Füßen weg ziehen, falls man sich nicht längst durch Trailer oder geschwätzige Filmkritiker alle Überraschungen hat verderben lassen.

Ein bisschen was zur Struktur wird jetzt aber auch hier verraten, vor lauter Begeisterung natürlich: Dass das Charakterdrama mit seinen dezent eingesetzten Spezialeffekten gerade dann, wenn man so gar nicht mehr damit rechnet, aus seinem Mikrokosmos ausbricht und zum sehr lauten Kracher wird, ist schon wieder brillant und dürfte wie im letzten Jahr das Zugunglück in J.J. Abrams’ „Super 8“ für sperrangelweit geöffnete Münder bei jenen sorgen, die den Trailer noch nicht auswendig kennen.

Ein nicht geringer Anteil am fälligen Lob gebührt Drehbuchautor Max Landis, dessen schon berühmter Vater John („An American Werewolf in London“, „Blues Brothers“) inzwischen augenzwinkernd und stolz lamentiert, sich seinen Sohn nun leider nicht mehr für die eigenen Filme leisten zu können. Vielleicht brauchte es zwei Nerds wie Trank und Landis, um dem Superheldenfilm eine so erfrischende Perspektive abzuringen. Wenn man sich auf Youtube Tranks Kurzfilm „Stabbing at Leia’s 22nd Birthday” oder die wunderbaren Reenactments von Landis’, hm, Kurzdokumentarfilm „The Life and Death of Superman” ansieht, erkennt man schnell eine gewisse Leidenschaft fürs Fach. Und das ist noch immer mehr als man von so manch anderem kalkulierten Blockbuster sagen kann.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Chronicle – Wozu bist Du fähig?

(GB / USA 2012, Regie: Josh Trank)

Von Zero zu Hero (and back again)
von Ulrich Kriest

Andrew hat es nicht leicht. Seine Mutter stirbt gerade qualvoll an Krebs, sein Vater ist ein gewaltbereiter Frührentner mit einem Alkoholproblem und in der Schule ist er ein Außenseiter, eher …

Andrew hat es nicht leicht. Seine Mutter stirbt gerade qualvoll an Krebs, sein Vater ist ein gewaltbereiter Frührentner mit einem Alkoholproblem und in der Schule ist er ein Außenseiter, eher noch ignoriert als gepiesackt. Zum Schutz gegen die Welt hat er sich eine Kamera gekauft, die er jetzt immer dabei hat. Beliebter wird er durch diesen Spleen nicht gerade. Aber an dem Abend, als sein cooler und leicht philosophisch angehauchter Cousin Matt und der an der High School äußerst beliebte Steve ein geheimnisvolles Loch im Wald entdecken, aus dem unheimliche Geräusche dringen, bekommt Andrews Kamera tatsächlich mal eine sinnvolle Funktion. In einer unterirdischen Höhle begegnet den drei Jungs etwas, was sie, um den Preis von etwas Nasenbluten, mit enormen telekinetischen Fähigkeiten ausstattet.

Mit etwas Training reicht das schnell hin, um beim Schulfest zum Star zu werden, aber die wahren Freuden im Umgang mit ihren neuen Fähigkeiten entdecken die Drei beim intimen, gemeinsamen Football-Spiel über den Wolken. Dass man es trainieren muss, seine unbegrenzten Fähigkeiten zu realisieren, ist ein sehr schöner Gedanke dieses Films. Der, das wird früh klar, allerdings in eine andere Richtung will: es geht um die Verantwortung beim Genuss. Matt, der gerne mal ein paar philosophische Lesefrüchte in seine Gespräche einbaut, warnt früh vor einer „Hybris“, die sich einstelle, wenn man unter diesen Umständen seinen Gefühlen freien Lauf lasse. Was bei Andrew schon mal passiert, wenn er sich im Straßenverkehr genötigt fühlt: wisch und weg. Matt würde, damit sich das nicht wiederholt, gerne Regeln aufstellen, doch der jahrelang frustrierte Andrew hat dessen Schopenhauer- und Nietzsche-Exkurse in den falschen Hals bekommen – und bricht, nach etwas Recherche im Netz, als flugfähiger Super-Predator mit Riesenkräften und –kränkungen komplett mit der Welt.

Insofern handelt es sich bei „Chronicle“ tatsächlich um ein teenage angst-Drama im Gewande einer gebrochenen Superhelden-Geschichte. Am erstaunlichsten: die Low Budget- und Pseudo-Found Footage-Ästhetik der Kameraperspektive wird immer wieder intelligent aufgebrochen, zunächst durch die zusätzliche Perspektive einer Bloggerin (die allerdings nicht auf Andrew, sondern auf Matt bezogen ist – ein kleiner Schönheitsfehler?), später kommen dann, je nach Stadium der Hybris und der radikalen Selbstermächtigung, Überwachungskameras, Polizeikameras und Fernsehkameras hinzu. Aber auch Andrews Found Footage-Material hat es in sich, weil sich die frisch erworbenen Fähigkeiten in diesem Punkt mit Talent und Ehrgeiz paaren. Will sagen: wenngleich Andrew ein ziemlicher Loser bleibt, hätte er doch eine blendende Zukunft als Kameramann gehabt, weil er diese sehr elegant zu führen weiß – allein durch die Kraft seiner Gedanken. (Aber natürlich hätte ihn eine solche Karriere wieder ins zweite Glied verwiesen!)

Das ist ein ziemlich cleverer Einfall der Filmemacher, um den Flow des Films wieder näher an den Genre-Mainstream zu binden, ohne die kargen Produktionsmittel zu dementieren. Eine gelungene Talentprobe also, deren Schwächen allerdings auch nicht zu übersehen sind: die moralische Botschaft eines verantwortungsvollen Umgangs mit Superkräften liegt etwas zu sehr auf der Hand und der (sehr!) langwierige Action-Showdown des Films verkommt leider zur öden und spannungslosen Materialschlacht á la Roland Emmerich.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Splice

(CAN 2009, Regie: Vincenzo Natali)

Die eierlegende Wollmilchsau
von Harald Steinwender

Trotz ihrer Jugend haben Clive (Adrien Brody) und Elsa (Sarah Polley) bereits eine brillante Wissenschaftskarriere absolviert. Als das aktuelle Projekt des Forscherpaars jedoch Gefahr läuft, eingestellt zu werden, wagen die …

Trotz ihrer Jugend haben Clive (Adrien Brody) und Elsa (Sarah Polley) bereits eine brillante Wissenschaftskarriere absolviert. Als das aktuelle Projekt des Forscherpaars jedoch Gefahr läuft, eingestellt zu werden, wagen die Gentechniker ein riskantes Experiment: Sie bringen menschliche DNA in ein Hybridwesen ein. Die auf den Namen 'Dren' getaufte Kreatur (Delphine Chanéac) wächst schnell zu einem menschenähnlichen Wesen heran. Während die Jungforscher elterliche Gefühle entwickeln, wird Dren zunehmend unkontrollierbarer.

Kurz vor dem deutschen Kinostart von 'Splice' vor zwei Jahren gelang es einem Team von US-Wissenschaftlern, in einem Labor erstmals ein komplett künstliches Bakterium zu erschaffen. Damit wurde die Idee, die Vincenzo Natalis Science-Fiction-Thriller zu Grunde liegt, durch die Wirklichkeit eingeholt, noch bevor der Film die Kinos erreicht hatte. Das von den realen Forschern geschaffene Bakterium mag zwar weit von dem menschenähnlichen, das Erbgut verschiedener Tiere vereinenden Fantasiewesen aus 'Splice' entfernt sein. Einen zusätzlichen tagesaktuellen Bezug verleiht dies dem von Regiekollegen Guillermo del Toro ('Pans Labyrinth') produzierten Werk aber allemal.

Streckenweise erhebt 'Splice' durchaus den Anspruch, einen populärkulturellen Beitrag zur gegenwärtigen Bioethikdebatte zu leisten. Wie dort läuft alles auf die Frage hinaus, ob der Mensch immer auch umsetzen darf, was technisch möglich ist. Ein allzu kopflastiges, gar philosophisches Traktat über das prometheische Streben sollte allerdings niemand von dem Crossover aus Science-Fiction, Fantasy und Thriller erwarten. Vielmehr bedient sich Regisseur und Drehbuchautor Natali, der mit dem klaustrophobischen Thriller 'Cube' 1997 ein Überraschungserfolg landete, neben den obligatorischen Verweisen auf James Whales 'Frankenstein'-Adaption und das 1980er-Jahre-Remake der 'Fliege' einer B-Film-Dramaturgie und genretypischer Effekte. Die atmosphärisch gestalteten Bilder von 'Splice' sind mittels Farbfilter monochrom eingefärbt, auch mit Digitaleffekten geizt der Monsterfilm kaum. Das Design der Kreatur setzt offensichtlich auf die Schaulust des Publikums, das die Entwicklung des Hybridwesens vom nagetierartigen Kleinkind bis zur Mischung aus Mensch, Känguru, Fisch und Vogel verfolgen darf.

Doch was unter den Händen eines David Cronenberg provokantes und intellektuelles Genrekino hätte werden können, verzettelt sich in altbekannten Klischees und krankt am vorhersehbaren Drehbuch. Ambitioniert ist einzig der von Natali konsequent verfolgte Ansatz, den Science-Fiction-Plot als Ausgangspunkt einer mit Verweisen auf die griechische Mythologie und Freud aufgeladenen sarkastischen Kritik an oppressiven Familienstrukturen zu nutzen. Aber gerade durch die forcierten Verweise auf ödipale Ursituation und Inzest wirkt 'Splice' überkonstruiert. Übrig bleibt ein unbefriedigender Genrezwitter, ähnlich hybrid wie die geklonte Kreatur in seinem Zentrum.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Das Leben gehört uns

(F 2011, Regie: Valérie Donzelli)

Die Nouvelle Vague im Posthistoire
von Carsten Happe

Valérie Donzelli erklärt dem Melodram den Krieg. Die Regisseurin, Autorin und Hauptdarstellerin von „Das Leben gehört uns“, Frankreichs Oscar-Beitrag des vergangenen Jahres, schnappt sich die denkbar tragischste Geschichte – dem …

Valérie Donzelli erklärt dem Melodram den Krieg. Die Regisseurin, Autorin und Hauptdarstellerin von „Das Leben gehört uns“, Frankreichs Oscar-Beitrag des vergangenen Jahres, schnappt sich die denkbar tragischste Geschichte – dem kleinen Sohn eines jungen Paares wird ein Gehirntumor diagnostiziert – und wendet sie komplett auf links. Mit Hilfe von drei Off-Kommentatoren, so eklektischer musikalischer Unterstützung von Vivaldi über Morricone bis hin zu Chansons und sogar Techno, mit visuellen wie akustischen Schrullen und überbordender Energie kämpft sie gegen den unbedingten Runterzieher ihres Themas an – und verdeutlicht auf schönste Weise, dass es letztlich überhaupt nicht so sehr darauf ankommt, was man erzählt, sondern in erster Linie auf das Wie.

Die Geschichte hat sich Valérie Donzelli und Jérémie Elkaim, ihrem Co-Star und Co-Autor, aus dem realen Leben buchstäblich aufgedrängt, und wenn „Das Leben gehört uns“ möglicherweise als therapeutische Aufarbeitung gedacht war, gleicht das Endergebnis eher einem Exorzismus. Mit vereinten Kräften und der im Angesicht der Tragödie freigesetzten Energie eines kleinen Wirbelsturms erobern sich die beiden – und mit ihnen der Film – die Gestaltungsmacht über das Schicksal zurück. Selten waren Original- als auch deutscher Titel treffender.

Ausgerechnet Roméo und Juliette heißt das junge Paar, und Roméo schwant, als sie sich das erste Mal begegnen und einander vorstellen, bereits Böses. Doch die Liebe ist zu stark für einen kosmischen Witz und der Film zu exaltiert, es bei subtilen Anspielungen zu belassen. Stattdessen fährt er volles Risiko, mit Musical-Einsprengseln, wechselnden Erzählperspektiven und einer erfrischenden Respektlosigkeit gegenüber Obrigkeiten ebenso wie Konventionen. Damit schlingert er oftmals am Rande des Peinlichen, des Kitschigen oder Unangebrachten. Er ist weitgehend unstimmig und findet nie zu einer einheitlichen Linie. Und genau dafür kann man ihn liebgewinnen – und ihm dankbar sein, dass er die Spielfreude und Experimentierlust der Nouvelle Vague entstaubt und updatet, dass er dem Betroffenheits- und Gefühlsduselkino den Mittelfinger entgegenstreckt und leicht Verdauliches wie „Ziemlich beste Freunde“ mit einer gehörigen Portion Exzentrik konterkariert. Ich ziehe meinen Hut und strecke alle Waffen vor Valérie Donzelli und ihrem mutigen Film.

Barbara

(D 2012, Regie: Christian Petzold)

Grenzüberschreitungen
von Wolfgang Nierlin

Unser Blick ist zunächst der Blick der anderen, der aus der Vogelperspektive und dem Verborgenen heraus eine Frau beobachtet, die an einem neuen Ort eine neue Arbeitsstelle antritt. Aus der …

Unser Blick ist zunächst der Blick der anderen, der aus der Vogelperspektive und dem Verborgenen heraus eine Frau beobachtet, die an einem neuen Ort eine neue Arbeitsstelle antritt. Aus der Distanz spricht ein Misstrauen; und die Worte, die dieses Taxieren begleiten, zielen auf die Einsperrung im Vorurteil. Der sie ausspricht, heißt Schütz (Rainer Bock) und ist von der Stasi; und diejenige, die durch diese Worte und Blick denunziert wird, trägt den Namen Barbara Wolf (Nina Hoss). Wegen eines Ausreiseantrages und der möglichen Gefahr einer sogenannten Republikflucht wird die junge Ärztin von der renommierten Berliner Charité an ein Provinz-Krankenhaus an der Ostsee versetzt. Wie eine Gezeichnete bewegt sich die schweigsame Außenseiterin durch die Szenerie. Sie ist skeptisch, reserviert und ungesellig; und hat dafür auch gute Gründe, denn sie wird ständig observiert und kontrolliert. Barbara ist in ihrem Land eine Frau ohne Recht auf Privat- und Intimsphäre.

„Hier kann man nicht glücklich werden“, sagt Stella (Jasna Fritzi Bauer), eine andere Verfolgte, an anderer Stelle über die DDR. Fast schon im Kontrast zu diesen Erfahrungen zeigt Christian Petzold in seinem neuen, preisgekrönten Film „Barbara“ einen überaus sinnlichen Osten mit viel schöner Natur, alten Häusern und einem mächtigen Wind vom Meer. Eine warme Atmosphäre erfüllt die Räume, die Zeit atmet und selbst die Arbeit folgt noch einem ruhigeren, freieren Rhythmus. Aber im Sommer des Jahres 1980 zeigt die Diktatur immer wieder ihr hässliches Gesicht. Barbara beginnt, sich zaghaft zu integrieren und bereitet doch zugleich bei konspirativen Treffen mit ihrem Geliebten aus dem Westen (Mark Waschke) ihre Flucht vor.

„Wir wollten das filmen, was zwischen den Menschen ist, sich aufgetürmt hat, was sie misstrauen lässt oder vertrauen, abwehren und annehmen“, schreibt Christian Petzold in einer Anmerkung zum Film. In Barbaras zögerlichem Verhältnis zu ihrem überaus offenen und kommunikativen Kollegen Andre Reiser (Ronald Zehrfeld), der zuvorkommend ist und um sie wirbt, lässt sich viel von diesen differenzierten zwischenmenschlichen Bewegungen spüren. Dabei geht Barbaras distanzierte Skepsis durchaus in verschiedene Richtungen, gewissermaßen gen Ost und West. Ihre Verantwortung als Mensch und Ärztin hat eine Geschichte und einen Ort; und ist geerdet in einem Gefühl, das in vielerlei Hinsicht Grenzen überschreitet.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Wer weiß, wohin?

(F / Liban. / Ägypt. 2011, Regie: Nadine Labaki)

Die List der Frauen
von Wolfgang Nierlin

Auf dem steinigen Grund des Friedhofs vollführt eine Gruppe schwarzgekleideter Frauen einen Tanz aus Trauer und Schmerz. Sie beweinen ihre Ehemänner und Söhne, die dort begraben sind. Doch selbst der …

Auf dem steinigen Grund des Friedhofs vollführt eine Gruppe schwarzgekleideter Frauen einen Tanz aus Trauer und Schmerz. Sie beweinen ihre Ehemänner und Söhne, die dort begraben sind. Doch selbst der Tod weist ihnen getrennte Plätze zu, denn es handelt sich bei den Gefallenen um verfeindete Muslime und Christen eines kleinen libanesischen Dorfes. Aus missverständlichen oder geringfügigen Anlässen kommt es hier zwischen den unterschiedlichen Religionsgemeinschaften immer wieder zu Konflikten. Das darin liegende Unbestimmte ist in Nadine Labakis neuem, tragikomischen Film „Wer weiß, wohin?“ (Et maintenant, on va où?) durchaus Absicht. Denn der dörfliche Mikrokosmos mit seinen „dunklen Schatten“ steht stellvertretend für die vergangenen und gegenwärtigen Konflikte des Landes, lässt sich aber auch universell verstehen. So sagt eine Erzählerin zu Beginn des Films, dass die folgende Geschichte ein Geschenk für all diejenigen sei, die „zwischen den Welten leben“.

Eigentlich könnte alles gut sein. Liebevoll und mit Humor zeichnet Nadine Labaki zunächst das friedliche Zusammenleben innerhalb der Dorfgemeinschaft. Schrullige Typen und burleske Späße, verträumte Musical-Einlagen und geschlechtsspezifische Rollenklischees werden dabei lustvoll gemischt und geben nicht zuletzt Auskunft über Mentalitäten. Selbst die Religionsgrenzen überschreitende Liebe zwischen der von der libanesischen Regisseurin selbst gespielten Barbesitzerin Amale und dem Anstreicher Rabih findet hier ihren romantischen Niederschlag. Doch vom Versöhnungsfest der Dorfbewohner und den bei diesem Anlass gefassten guten Vorsätzen bis zum nächsten Scharmützel vergeht nur kurze Zeit. Und als die Muslime ihre Moschee von Schweinen und anderen Tieren verunreinigt vorfinden, dauert es nicht lange, bis Hühnerblut im Weihwasser der Christen-Gemeinde auftaucht. Ohne (politische) Hintergründe zu erhellen oder zu problematisieren, geht es Labaki hier vor allem um die Dynamik der Eskalation, die bei allem Ernst immer auch ironisch betrachtet wird.

Vor allem die blindwütige Triebnatur der Männer, ihre Streitsucht und mangelnde Kommunikationsbereitschaft werden zu Symptomen dieser aggressiven Verhaltensmuster aus Gewalt und Gegengewalt. Nadine Labaki gibt sie der Lächerlichkeit preis und weist selbstbewusst den Frauen die Rolle der Friedensstifterinnen zu. Mit Mut und List, mit selbstgebackenen Haschkuchen und dem Sexappeal der russischen Tänzerinnen aus dem „Paradise Palace“ bringen sie die Männer auf andere Gedanken und in andere Zustände. Das Ablenkungsmanöver aus dem Geist der Versöhnung gelingt. Und tatsächlich ist die Welt am Morgen nach dem Rausch, als die Männer aus ihrem tiefen Schlaf erwachen, eine andere, irgendwie „verkehrte“ oder umgedrehte.