Archiv der Kategorie: Filmkritik

Die Wohnung

(D / IS 2011, Regie: Arnon Goldfinger)

Das Schweigen vor der Geschichte
von Wolfgang Nierlin

Als seine hochbetagte Großmutter Gerda Tuchler im Alter von 98 Jahren in Tel Aviv stirbt, hinterlässt sie ein ganz besonderes, weitgehend unbekanntes Kapitel deutsch-jüdischer Geschichte. Ihr Enkel, der israelische Filmemacher …

Als seine hochbetagte Großmutter Gerda Tuchler im Alter von 98 Jahren in Tel Aviv stirbt, hinterlässt sie ein ganz besonderes, weitgehend unbekanntes Kapitel deutsch-jüdischer Geschichte. Ihr Enkel, der israelische Filmemacher Arnon Goldfinger, spürt dieses auf im umfangreichen Nachlass der Verstorbenen, der neben einer Identität auch einen aus der Zeit gefallenen Lebensstil konserviert hat. „Alles ist so wie es war“, konstatiert Goldfinger, nachdem er die Jalousien hochgezogen hat und Licht in die titelgebende Wohnung und damit auch auf eine verborgene Geschichte fällt. Gerda Tuchler, die zusammen mit ihrem Mann, dem Verkehrsrichter Kurt Tuchler, 1937 von Berlin nach Palästina emigriert war, hatte offensichtlich zeitlebens in der deutschen Kultur gelebt, die ihr zweifellos ein Sehnsuchtsort der Erinnerung und zugleich geistige Heimat war. Ihre umfangreiche Bibliothek zeugt ebenso davon wie ihre Arsenale gesammelter Gebrauchsgegenstände, mit denen ihre verwunderten Nachkommen, die nach handfesten Werten suchen, wenig anfangen können.

Überhaupt weiß man in der Familie erschreckend wenig über die Verstorbene; die Erinnerungen sind rar. Und vor allem ihre Tochter Hannah, die Mutter des Filmemachers, zieht entschieden die konkrete Gegenwart der Vergangenheit vor, flieht diese geradezu. „Über wirklich Wichtiges wurde immer geschwiegen“, heißt es einmal. Erzählt wurde wenig und Fragen stellte man nicht. So beginnt Arnon Goldfinger, von zufälligen Entdeckungen in Briefen und alten Zeitungen angestoßen, im bislang ausgeblendeten Teil seiner Familiengeschichte zu recherchieren. Wie in einem Detektivfilm habe er diese in einem Zeitraum von fünf Jahren Schritt für Schritt erforscht. Dabei habe das Projekt, in dem sich auf sehr persönliche Weise Privates und Politisches, Gegenwart und Vergangenheit verbinden, eine eigene Dynamik entwickelt und sei stetig gewachsen. Insofern zieht sein Film „Die Wohnung“ als Dokument dieser konservatorischen Recherche immer weitere Kreise. Und er ist zugleich eine Art Enthüllungsbrief, der das Gespräch zwischen den Generationen befördern möchte.

Eine enge, jahrzehntelange Freundschaft steht im Mittelpunkt von Goldfingers spannenden Ermittlungen. Viele Briefe geben darüber Auskunft, dass seine jüdischen Großeltern vor und noch lange nach dem Krieg mit dem Adligen Baron Leopold von Mildenstein und seiner Frau befreundet waren. Dass dieser auch ein Nazi-Funktionär war, der Eichmann in sein furchtbares Amt brachte und der später im Propaganda-Ministerium von Goebbels arbeitete, macht diese Beziehung für Goldfinger zunehmend unverständlicher. Zumal Gerda Tuchlers Mutter Susanne Lehmann in einem Konzentrationslager starb. Gingen Nazi-Propaganda und Zionismus eine Zeitlang Hand in Hand? Was wussten die deutsch-patriotischen Tuchlers von den Aktivitäten des Barons von Mildenstein? Und was weiß dessen in Wuppertal lebende Tochter Edda Milz von der Vergangenheit ihres Vaters, der später im Getränkekonzern von Coca Cola Karriere machte?

Arnon Goldfinger besucht sie zusammen mit seiner Mutter in Deutschland. Offensichtlich waren seine Großeltern „in der Seele deutsch“, wie es einmal heißt. Jenseits von Spekulationen und Unverständnis über diese ungewöhnliche, gar ungehörige Freundschaft vermittelt Goldfingers Film vor allem etwas von der Tragweite des unausgesprochenen Schweigegebots. Dahinter wiederum stehen die angstvolle Abwehr des Ungeheuerlichen, die Scham angesichts schuldhafter Verstrickung, die schmerzliche Revision von Beziehungen und vertrauten Menschenbildern und nicht zuletzt die Skrupel vor dem Fragen selbst.

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Work Hard – Play Hard

(D 2011, Regie: Carmen Losmann)

Propheten der Veränderung
von Wolfgang Nierlin

Beim Arbeiten solle man möglichst nicht an die Arbeit erinnert werden, meint einer der Architekten, die für Unilever die neue Firmenzentrale am Hamburger Hafen planen. Deshalb gelte es, eine Atmosphäre …

Beim Arbeiten solle man möglichst nicht an die Arbeit erinnert werden, meint einer der Architekten, die für Unilever die neue Firmenzentrale am Hamburger Hafen planen. Deshalb gelte es, eine Atmosphäre zu kreieren, die die Arbeitskultur des Auftraggebers widerspiegele. Mit den modischen Schlagworten „Team-Spirit“, Innovationskraft, Kreativität und Kommunikationsstärke ist diese benannt. Und so wird das Büro kurzerhand umdefiniert in einen Ort, der vor allem Begegnung und Kommunikation ermöglichen soll, weil diese, so sind die Planer überzeugt, eine Quelle für Innovationen bilden. Das fertige Gebäude zeichnet sich insofern dann aus durch offene, lichte Räume, durch Treppen und Galerien, die verbinden und großzügig Bewegung ermöglichen sowie durch Transparenz. Hier können die Mitarbeiter flanieren, an langen Theken bei einem Getränk ihren Gedanken nachhängen oder in einer der vielen gemütlichen Sitzecken Gespräche führen. Aber das leise Klicken der Tastaturen, der sanfte Telefonterror und die leeren, aseptischen Räume weisen schon noch darauf hin, dass es bei aller wohnlichen Behaglichkeit dieser „Net und Nest-Etagen“ vor allem um knallharte „Mega-Wachstumsziele“ geht.

„Open door-policy“ und „non-territoriale“ Arbeitsplätze lauten andere Zauberworte dieser neuen Arbeitskultur, die vorgeblich den persönlichen Bedürfnissen der Mitarbeiter Rechnung trägt und so etwas wie Zeiterfassung zu „Schnee von gestern“ macht, tatsächlich aber die „Lösungsgeschwindigkeit“ erhöhen soll. Denn natürlich geht es hier neben Wachstum und Gewinnmaximierung vor allem um die Selbstoptimierung der Ressource Mensch, die dafür nötig ist. Carmen Losmann ist in ihrem beeindruckenden Dokumentarfilm „Work Hard – Play Hard“ den unterschiedlichen Facetten dieser gruseligen Zurichtung auf der Spur. Ohne Kommentar und in luziden Bildern, deren tiefenscharfe und oft symmetrische Komposition den totalen Anspruch dieser gar nicht so schönen neuen Arbeitswelt vermittelt, beobachtet sie mit distanziertem Blick jene seelenlosen Orte und Trainingscamps, an denen die Gehirnwäsche am „Humankapital“ stattfindet. Kongenial unterstützt wird sie dabei von dem Bildgestalter Dirk Lütter, der als Regisseur in seinem eigenen, starken Spielfilmdebüt „Die Ausbildung“ ein verwandtes Thema behandelt hat.

„Change“ lautet eine der vielstrapazierten Vokabeln, von denen „Human Resource Manager“ faseln, um die Veränderung des Menschen und seiner angeblich überholten (Arbeits-)Kultur zu beschwören. Eine in diesem Sinne gepolte weibliche Führungskraft der Deutschen Post ist gar so vermessen zu fordern, diesen anvisierten „Wandel“ in die DNA der zu „entwickelnden Mitarbeiter“ „verpflanzen“ zu wollen. Die „Kultur der ständigen Verbesserung“ im Blick, in der sich die Arbeitskraft am besten „selbst wegrationalisiert“ führen uns die Ideologen des paradoxen „Change“ zum „Flow“-Training in dunkle Erdlöcher, in Büro-Räume, die „World“ heißen und an deren Wänden ebenso kryptische wie kindische Graphiken zur Motivationssteigerung hängen. Am verräterischsten ist aber die inhaltsleere Sprache dieser selbsternannten Propheten der Veränderung, eine mit anglizistischen Worthülsen durchsetzte Pseudo-Terminologie, die viel heiße Luft verbläst und den sprachhandelnden Menschen in eine Marionette des üblen Systems verwandelt.

Der deutsche Freund

(D / AR 2012, Regie: Jeanine Meerapfel)

Politisch Lied, garstig Lied
von Dietrich Kuhlbrodt

In Buenos Aires leben deutsche Emigranten Tür an Tür, Juden (aus den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg) und Nazis (nach 1945), und sie wahren Distanz. Der Film konzentriert sich auf …

In Buenos Aires leben deutsche Emigranten Tür an Tür, Juden (aus den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg) und Nazis (nach 1945), und sie wahren Distanz. Der Film konzentriert sich auf die in Chile geborenen Kinder: auf die Jüdin Sulamit (Celeste Cid) und den SS-Obersturmbannführersohn Friedrich (Max Riemelt). Wir sehen die beiden zum Missfallen der jeweiligen Eltern zusammen spielen, unschuldige Küsschen tauschen, pubertieren, ein Paar werden, sich trennen, zwischen Argentinien und Frankfurt dank des DAAD hinundherfliegen und schließlich zusammenfinden.

„Der deutsche Freund“ ist ein Romeo-und-Julia-Plot mit Happyend – und im allseits bekannten TV-Format, bunt, gewaltfrei und kitschig. Das ist umso auffälliger, weil es im Film um eine Geschichte von Gewalt und politischem Kampf geht. Jeanine Meerapfel (Regie und Buch) versichert, sie habe viel Autobiographisches in den Film eingebracht. Ich respektiere die Autorin („Malou“, 1980). Und ich finde es schade, dass die guten Absichten jetzt im Fernsehformat versackt sind. In den Filmbildern finden sich allenfalls Spuren wieder von dem, was die Dialoge beabsichtigen, nämlich in die Liebesgeschichte sowohl die Geschichte Südamerikas (Militärjunta, Allende) als auch die der BRD (68er Jahre, Dutschke) einzuhängen. Schön, das Ho, Ho, Ho Chi Minh wird sekundenlang als Dokument eingeblendet und unmittelbar danach noch mal als Reenactment.

Was transportiert wird, ist nur eine Peinlichkeit mehr. Politisch Lied, garstig Lied. Zur Beruhigung des Zuschauers und selbstredend um den Quoten Genüge zu tun, schwelgt die Kamera in der Landschaft Patagoniens, und kammermusikalische Harmonien versichern uns, dass alles gut ausgeht. Und es geht gut aus. Das gelingt nur, so die explizite Botschaft, wenn der deutsche Freund sein politisches Engagement aufgibt (Studentenbewegung, aktiver Kampf für die dritte Welt) und sich voll auf die geliebte Sulamit konzentriert. In der herrlichen Landschaft Patagoniens (sagte ich das schon?) ist er dann so weit. Er schwört in wohl gesetzten Worten allem Politischem ab und zieht mit Sulamit mitten in der Einöde in ein verfallenes, aber hochgradig romantisches Haus, die zwei nur für sich.

Die Welt drumherum gibt es nicht mehr. Hach, ist das schön. Schön kitschig. Schöne heile Welt. In der jüngsten Generation ist das Unheil von Auschwitz vergessen (und vergeben?), das politische Engagement sowieso. Die unheilvolle Nachkriegsgeschichte ist abgeschafft und das Biedermeier etabliert. – Ich wünsche den beiden eine satte Beziehungskrise.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2012

Liebe

(F / A / D 2012, Regie: Michael Haneke)

Komm mit!
von Dietrich Kuhlbrodt

Michael Haneke („Das weiße Band“) fragt, was das ist, Liebe zwischen Menschen, die alt geworden sind. Realität ist, dass sich immer mehr Gewissheit aufdrängt: es geht aufs Ende zu. Normalerweise …

Michael Haneke („Das weiße Band“) fragt, was das ist, Liebe zwischen Menschen, die alt geworden sind. Realität ist, dass sich immer mehr Gewissheit aufdrängt: es geht aufs Ende zu. Normalerweise fassen wir den Tod ungern ins Auge. Auch gibt es eine Schwelle, deswegen ins Kino zu gehen. Hanekes „Liebe“ aber ist ein großartiger Kinofilm, und er garantiert ein neuartiges, grandioses, nachwirkendes Kinoerlebnis. Auf den Festspielen in Cannes bekam „Liebe“ die goldene Palme.

Was passiert im Film? Zunächstmal: es wird dem Zuschauer nichts erzählt. Es gibt kein Plot. Aber es wird beobachtet. Im großen Ganzen bleiben wir die volle Kinolänge in einem Zimmer und beobachten zwei Alte. Jean-Louis Trintignant ist mittlerweile achtzig Jahre alt, Emanuelle Riva 85. Protokolliert wird der sich verändernde Zustand vom Leben zum Tod. – Das klingt jetzt so, als ob wir alle ganz traurig werden müssen. Vielleicht ist das sogar der Fall. Das Besondere aber ist, dass der Film von Zärtlichkeit erfüllt ist. Zärtlich gehen die beiden Alten miteinander um, und zärtlich geht der Regisseur mit seinen Protagonisten um. Der Film „Liebe“ ist auch ein Film über die Liebe des Regisseurs zum Film.

Eine Rolle spielt, dass die Alten altbekannt sind. Seit den fünfziger Jahren treten sie in Filmen auf. „Verliebt in scharfe Kurven“ (Trintignant, 1962), „Hiroshima, Mon Amour“ (Riva, 1962). Gebrechlich und dem Tode nahe, werden sie uns jetzt in „Liebe“ vorgeführt – mit allem Respekt und ihrer Würde belassen. In der ersten Filmeinstellung, noch vor dem Filmtitel, sehen wir Riva im Bett liegen, entspannt, unbeweglich. Tot? Auf dem Kopfkissen sind die Blüten abgeschnittener Blumen wie Sterne drapiert. Polizei kommt. Es ist etwas geschehen. Aber was? Nächstes Bild. Die beiden Alten sind frisch und munter in einem Konzertsaal zu sehen. Franz Schubert. Eins der Impromptus aus dem Opus 90. Aha, die beiden sind oder waren Musikprofessoren. Ihr Schüler ist berühmt geworden.

Riva sitzt am Frühstückstisch, starren Blicks, abgeschaltet. Eine Absence? Ein Schlaganfall. Trintignant übernimmt die Pflege in der Wohnung. Er verspricht, sie niemals in ein Heim oder in die Klinik zu überweisen. Es gibt was zu tun. Viel. Das Bettlaken ist nass. Urin? Er zieht ihr eine Unterhose hoch. Hat er sie gewaschen? Er wäscht ihr die Haare. Sie fährt im Rollstuhl im Kreis herum. Beide lachen. Dann der zweite Schlaganfall. Die Tochter reist an (Isabelle Huppert). Sie denkt praktisch. Der Vater ist doch völlig überfordert. Die Mutter müsste klinisch versorgt werden. Der töchterliche Blick wandert in der Wohnung herum. Dann erzählt sie der Mutter eine lange Geschichte, wie schwierig es ist, eine Wohnung zu finden, aber es wird schon werden. Von Empathie kaum eine Spur, von Zärtlichkeit auch nicht. Ganz der gesunde Menschenverstand. Denken alle Töchter so? Ja?

Haneke antwortet nicht. Er stellt Fragen. Stellung nehmen, bewerten, ablehnen, sich entrüsten, mitfühlen, sich erinnern, – all das muss der Zuschauer selbst tun, und das Ergebnis wird unterschiedlich sein. „Liebe“ ist ein sich intensivierendes Wahrnehmungs- und Rezeptionserlebnis an Hand präziser Fakten und detailreicher Beobachtung. Ich sags laut: Der Film hat mich aufgewühlt – im guten Sinne. Oder sensibilisiert, – aber das klingt zu abgegriffen. Oder: er implodiert in mir, – aber das klingt zu pathetisch. Hanekes Geheimnis ist, dass mit der der Protokollierung der Details des Sterbenmüssens so etwas wie Wahrheit entsteht. Und Normalität. Genial sind die Einschübe von Bildgeschichten, die sich erst im Laufe des Films entschlüsseln lassen. Wieder ist es am Zuschauer, die Codes zu knacken. Wieder wird zur aktiven Rezeption eingeladen.

Als zehnjähriger Junge, so erzählt er der Dahingehenden, war ich in einem Schullandheim. Mit der Mutter war ein Code ausgemacht. Schickt der Junge Postkarten mit Blumen drauf, ist alles okay. Mit Sternen: hol mich hier raus. Hört Riva, die nichts mehr artikulieren kann, überhaupt zu? Versteht sie, von was er erzählt? Ihr Gesichtsausdruck entkrampft sich. Sie wirkt jetzt entspannt. Lächelt sie nicht sogar? Und waren in der Eingangssequenz des Films nicht Blumen, Blumenköpfe, um ihr so wunderschön entspanntes Gesicht drapiert? Oder waren sie wie Sterne angeordnet? Hatte sie nicht vorher im Film gesagt, als sie noch was sagen konnte, dass sie weg will, weg aus dem unerträglich gewordenen Leben? Immerhin hatte er aus ihrem Lallen erraten, was sie mit ihm singen wollte. Und dann singen die Musikprofessoren „Sur le pont d’Avignon“. Und lächeln sich an.

Jetzt aber, schlussendlich, ist Zeit zu gehen. Wenn Liebe heißt, für einander zu sein, muss das nicht auch für das Fortgehen miteinander gelten? Wohlgemerkt, der Film formuliert die Fragen nicht. Die Bilder, die Codes, provozieren aber Antworten des Zuschauers. In einer eingefügten Szene wird für dieses Gehen ein nüchternes, alltägliches, normales Bild gefunden. Die Wohnungstür öffnen. „Ja, willst Du denn nicht den Mantel anziehen?“ Der Mantel wird angezogen. Die Tür klappt zu. – Lieber Leser, ob Du das glaubst oder nicht. Ich versichere, dass diese Szene eine der größten und unvergesslichsten der Filmgeschichte ist.

Okay, jetzt glaubt mir sowieso keiner mehr diesen Überschwang. Cool ist das ja nicht grade. Aber es ist mir egal. Es ist mein Ding, vom Film mitgenommen zu werden und, ja, wirklich zu werden. Denn „Liebe“ ist ein Film, der sich der angesagten Entwirklichung in den Medien entgegensetzt, sozusagen ein erratischer und individueller Fels inmitten der digitalen Brandung um uns herum. Dank Haneke hab ich Wirklichkeit unter den Füßen und Emotionen im Kopf, und die hab ich hier rausgelassen, hier, eine volle Seite in „Konkret“. Bestimmt gibt es andere Wahrnehmungen.

„Ein Horrorfilm“, sagte in der Pressevorstellung einer von der jüngsten Generation. Schnief, machten andere und zückten ein Tempotaschentuch. Glänzende Augen hatten viele und verließen das Kino in sich gekehrt. Ich machte mir Sorgen. Wie schreib ich über „Liebe“? Gewohnt ironisch/spöttisch? Nö. Autobiografisch? Allemal. Immerhin werde ich dieses Jahr ja auch achtzig. Und mit Brigitte bin ich mir einig.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 09/2012

The Expendables 2

(USA 2012, Regie: Simon West)

Ein bisschen (Folter)Spaß muss sein
von Louis Vazquez

Selten dürfte eine Inhaltsangabe so unnötig gewesen sein wie im Fall von „The Expendables 2“. Was mehr als ein Schaulaufen der Actionfilmveteranen durch das handlungsminimierte Gerippe eines Söldnerfilms sollte man …

Selten dürfte eine Inhaltsangabe so unnötig gewesen sein wie im Fall von „The Expendables 2“. Was mehr als ein Schaulaufen der Actionfilmveteranen durch das handlungsminimierte Gerippe eines Söldnerfilms sollte man auch erwarten? Alles, was geschieht, ist vorhersehbar – abgesehen von den völlig abwegigen Details.

Beispiel: Nachdem der Bösewicht (Jean-Claude Van Damme) das von allen gesuchte Plutonium schneller aus einer Mine hat bergen lassen, als den Helden lieb ist, gelingt es ihm, seine Ladung trotz des (strategisch eher simplen) gegnerischen Dauerfeuers persönlich per LKW-Konvoi zu einem Flughafen zu transportieren. Dieser befindet sich, so suggeriert die Montage, etwa dreihundert Meter von der Mine entfernt mitten im osteuropäischen Nirgendwo. Wie er dahin kommt und warum plötzlich ganz viele Zivilisten und Flughafenmitarbeiter aus dem Weg springen müssen, ist völlig egal, solange bildstark die Scheiben bersten. Mit einem realistischen Weltkonzept hat man es hier also eher nicht zu tun. Alles ist Mittel zum Zweck, die Patronenhülsen möglichst spektakulär fliegen zu lassen. Macht ja auch erstmal gar nichts.

An anderer Stelle finden die Helden sich in einer klar als Kulisse erkennbaren New Yorker Straßenszenerie wieder – ein Fertigset der bulgarischen „Nu Boyana Film Studios“, in denen „The Expendables 2“ gedreht wurde. Diese Fassaden, so die Erklärung im Film, stünden irgendwo in Osteuropa herum, damit Bösewichte dort Anschläge auf Amerika üben können. So phantasievoll wie bei dieser Rechtfertigung ist das Drehbuch bedauerlicherweise sonst nirgends. Ein ums andere Mal wünscht man sich, dass ein Meta-Trash-Spezialist wie Robert Rodriguez mit Rat und Tat zur Seite gestanden hätte.

Lässt man Gekrittel an Vorhersehbarkeit oder Logik außen vor, dürfte das größte Problem dieses erweiterten Treffens der Action-Ikonen sein, dass keiner der Teilnehmer – außer Fiesling Van Damme – irgendetwas darstellen darf, was von der Erwartung abweichen würde. Stattdessen werden Image und Rollengeschichte so lange im Zitatenreigen potenziert, bis rein gar nichts mehr ernst zu nehmen ist. Emotionale Bindung, die stellenweise durchaus erwünscht scheint, und Spannung bleiben deshalb völlig auf der Strecke, denn diesen Ikonen wird niemand etwas anhaben können. Die einzigen Ausnahmen bilden das einzige absehbare Opfer aus der Gruppe, das den Rachefeldzug erst auslöst, und natürlich Van Damme.

Die kalkulierte Unantastbarkeit der Helden ist ziemlich mutlos und langweilig. Immerhin blieben selbst von glorreichen Sieben nur drei, ebenso wenige von sieben Samurai. Lee Marvin brachte sogar nur einen aus seinem dreckigen Dutzend wieder nachhause. In „Expendables 2“ dagegen machen die Helden eine Art Abenteuerurlaub, in dem nichts auf dem Spiel steht. Weil die Franchise weiter gehen muss, wird weitgehend gefahrlos geballert. Die Action beschränkt sich dabei erstaunlich oft auf den typischen Low-Budget-Starschnitt: Helden halbnah von vorne mit wummernder Knarre zeigen, dann im Gegenschuss die Gegner durch die Luft fliegen und Sachen kaputt gehen lassen. Auf interessante kinetische Inszenierungen wartet man vergeblich.

Weil das alles relativ langweilig ist, soll zumindest herzhaft gelacht werden, zum Beispiel über das kleine bisschen Folter ausgerechnet durch Maggie (Nan Yu), die einzige Frau der Söldnertruppe. Das schafft Fallhöhe, denn so hart sein dürfen eigentlich nur Männer. Genervt von der nur geringen Auskunftsfreude eines Feinds, der nach einem Kampf in einer Bar festgesetzt wurde, packt Maggie eine kleine Schachtel aus und gewährt einen Blick auf viele kleine, spitze und scharfe Folterinstrumente. Ein schneller Schnitt nach draußen, und die Helden verlassen bereits die Bar, weil die Auskunft schon eingeholt ist. Das lässt Raum fürs Kopftheater und akzentuiert den Gagversuch wie der Fastnachtstusch die Büttenrede. Interessanterweise bereitet der schnelle, cartoonhafte Tod kein Darstellungsproblem: Die gegnerischen Heerscharen dürfen im Kugelhagel zu Dutzenden zerplatzen. Dass eine Frau foltert, wird zwar als Witz verpackt, aber lieber doch nicht explizit gezeigt – es ist doch nur ein Späßchen.

Wenn man mit dem Lachen fertig ist, freut man sich womöglich auch über die diesmal ausführlichere Rückkehr von Arnold Schwarzenegger, der inzwischen sogar auf praktische Erfahrungen in Sachen Gnadenlosigkeit und Sterbenlassen verweisen kann, und auf Chuck Norris, der maximal einen Tag am Set gewesen sein dürfte und gleich zweimal den Deus ex machina gibt. Wenn er einen Chuck-Norris-Witz erzählt, ist bereits der Gipfel des Metahumors erreicht. Ansonsten sind unkritisch aufbereitete chauvinistische Klischees – Frauen können nämlich zwar foltern, aber, haha, gar nicht gut schießen – immer für ein behagliches Lachen gut, denn da kennt man sich aus. Hauptsache keine Überraschungen.

Der Fluss war einst ein Mensch

(D 2011, Regie: Jan Zabeil)

Der Ort ist das Ziel
von Andreas Thomas

Ein junger Mann aus Deutschland (Alexander Fehling), namenlos, auf einer Reise durch ein afrikanisches Land, ebenfalls namenlos. Er benutzt eine Fähre und einen Mietwagen. Bei einem Unwetter in der Nacht …

Ein junger Mann aus Deutschland (Alexander Fehling), namenlos, auf einer Reise durch ein afrikanisches Land, ebenfalls namenlos. Er benutzt eine Fähre und einen Mietwagen. Bei einem Unwetter in der Nacht ist durch die Windschutzscheibe fast nichts mehr zu erkennen, dann plötzlich ganz nah Kühe, eine scharfe Bremsung und ein scharfer Schnitt, so wie wenn man sich die Augen zuhält.

Ein neuer Tag: Der Deutsche liegt ziemlich relaxed auf der Kühlerhaube und raucht. Keine toten Kühe und kein toter Deutscher. Nicht mal eine Beule im Rover. Situation folgt auf Situation. War da eine Zäsur oder nicht? Der Deutsche, ohne Auto jetzt, wird von einem alten Afrikaner, namenlos, auf einem Einbaum durch ein ausgedehntes namenloses Flussdelta, Ziel unbekannt, gesteuert. Der Deutsche wirkt müde und ziellos, er verschläft die halbe Fahrt, der Fährmann sagt am Lagerfeuer: Der Elefant kommt zu dir, um dich zu töten.

Am nächsten Morgen ist der Alte tot und der Junge ratlos. Wie soll er den Weg zurück finden, wenn er auf dem Boot noch nicht einmal das Gleichgewicht halten kann?
Was nun überwiegt, sind die Geräusche der Gefahr und die Geräusche des ausgedehnten Flussdeltas. Der Deutsche kann an seiner Angst zugrunde gehen, er kann sich aber auch dem langsamen Strom überantworten, so wie man sich seinem Schicksal ergibt.

Für einen Film wie „Der Fluss war einst ein Mensch“ stehen derzeit zwei Genretypisierungen zur Verfügung. Zum einen passt der Film zu Filmen wie „The Sixth Sense“ von Night S. Shyalaman, „Alice“ von Claude Chabrol oder „Jacob’s Ladder“ von Adrian Lyne, er ist also als eine Art metaphysischer Psychothriller les- bzw. erlebbar. Zum anderen, je nach Auslegung, passt das Langfilmdebüt von Jan Zabeil auch in die Reihe jener neueren zivilisationskritischen Filme, die von der Entfremdung des westlichen Menschen berichten, indem sie ihn in einer urwüchsigen und gleichgültigen Natur aussetzen. Hier könnte man an Filme wie Gus Van Sants „Gerry“ denken, gar an „The Blair Witch Project“ aber auch an jene die Natur mystifizierenden Filme eines Weerasethakul, in denen die Natur zwar als mächtig und allgegenwärtig erscheint, aber wo aus ihrer Allmacht (und ihrer Geisterwelt) auch Heilung und Sinnzusammenhang erwachsen kann.

Ein junges Beispiel für einen deutschen Film, der eher für die (afrikanische) Natur als für die (westliche) Kultur votiert, war „Schlafkrankheit“ von Ulrich Köhler. Nah daran und sichtlich geprägt von „Dead Man“ von Jim Jarmusch entwickelt Zabeil eine Metapher von der (Über-)Lebensunfähigkeit eines europäischen Zeitgenossen angesichts einer allumfassenden Natur, mit und in der er nichts anfangen kann. Die Natur in „Der Fluss war einst ein Mensch“ ist nahezu identisch mit dem darin Untergehen, mit dem Tod. Solch Metaphorik lässt nicht viel zu rätseln übrig.

Bereits das mutige Konzept der weitgehend improvisierten Dreharbeiten, sich mit einem aus nur vier Leuten bestehenden Team in (ein auch im Abspann des Filmes nicht näher bezeichnetes) afrikanisches Land und mehr oder weniger ungeschützt in dessen Gefahren (Skorpione im Zelt, Flusspferde im Fluss) zu begeben, um sowohl handlungstechnisch als auch realiter alles auf sich zukommen zu lassen, ist programmatisch. Natürlich wird so der Weg, nämlich der Ort und seine Charakteristika, zum Ziel und deshalb verbringt der Film die Hälfte seiner Zeit schweigend bei seinem teils skeptischen, teils „leidenden“, teils panischen und teils dreingegebenen Protagonisten (wofür dem Hauptdarsteller weniger Mimik als nötig zur Verfügung steht) und guckt und lauscht und fühlt die geheimnisvolle afrikanische Natur, er meditiert quasi das weg, was der Junge wegleidet.

Was der junge Mann nun eigentlich vorhatte auf dem fremden Kontinent, ist dabei so wenig wichtig wie Land und z.B. Leute, die, wie auch er und alles andere hier, zum Exemplarischen erhoben und im Abspann nur als „People of the Village' bezeichnet werden. Der Film, seine Figuren, die Handlung und der Ort Afrika, offenbar alles im Dienst einer Mystifikation. Es bleibt das zwiespältige Gefühl, zwar spürbar mitten drin gewesen zu sein und weitab von jeder Zivilisation, zugleich aber, dass hier ein Kontinent zusammenschnurrt zum Zweck einer ziemlich eskapistischen Romantisierung von Wildnis: sei sie nun positiv oder negativ besetzt – Hauptsache, sie ist wilder als das degenerierte Europa.

In Köhlers Afrikafilm „Schlafkrankheit“ war Afrika gehaltvoller, widersprüchlicher, und daher plausibler. Aber „Der Fluss war einst ein Mensch“ ist ja, wie gesagt und offenbar, auch nur ein Film über diese jungen Deutschen, die vor lauter Coolness nicht mal Autofahren können.

Holy Motors

(F / D 2012, Regie: Leos Carax)

Tod und Vergänglichkeit
von Andreas Busche

„Wo bleiben nachts eigentlich all die Limousinen?“ fragte gerade erst Robert Pattinson in David Cronenbergs „Cosmopolis“. Die Antwort liefert nun Leos Carax‘ neuer Film „Holy Motors“. Da versammeln sich am …

„Wo bleiben nachts eigentlich all die Limousinen?“ fragte gerade erst Robert Pattinson in David Cronenbergs „Cosmopolis“. Die Antwort liefert nun Leos Carax‘ neuer Film „Holy Motors“. Da versammeln sich am Ende des Tages die Stretch-Limousinen der Stadt in einer Garage im Randbezirk. Nachdem der letzte Chauffeur die Halle verlassen hat, erwachen die Autos zum Leben und beginnen, über ihren Arbeitstag zu klagen. Ihr Gespräch spannt den ganz großen philosophischen Bogen vom Profanen zum Erhabenen. Die heiligen Maschinen, deren Geist längst unseren Alltag transzendiert hat und deren Schicksal darin besteht, von immer kleineren Prozessoren ersetzt zu werden.

Diese Schlusseinstellung fügt sich nahtlos in Carax‘ unberechenbaren kleinen Geniestreich von Film, in dem sich David Lynchs hypnotische Traumgespinste und die labyrinthische Logik eines Luis Borges verbinden. Neun „Verabredungen“ hat Monsieur Oscar im Auftrag einer ominösen Agentur zu erledigen, im Fond seiner Limousine lässt er sich von Termin zu Termin befördern. Verlässt er den Wagen, schlüpft er in eine neue Rolle: eine verkrüppelte Bettlerin, einen Familienvater, einen Martial Artist. Hochgradig bizarr ist die Zwergen-Episode um einen Modefotografen und sein Supermodel (Eva Mendes). Der als Gnom verkleidete Monsieur entführt die Schöne in die Unterwelt, wo er ihr Designerkleid wie einen Tschador herrichtet und sich mit erigiertem Schwanz in den Schlaf singen lässt.

Doch so herrlich beknackt das klingt, eigentlich ist Monsieur Oscar eine tragische Figur: ein Shapeshifter, eine Hülle ohne eigene Identität. Tod und Vergänglichkeit sind in Carax‘ Film allgegenwärtig. Mit einer Kollegin spielt Monsieur Oscar eine unglaublich bedrückende Sterbeszene durch. Ein anderes Mal tötet er einen Kriminellen, verwandelt ihn in seinen Doppelgänger und legt sich zum Sterben neben sein Ebenbild. Nur ist der Tod keine Option für ihn.

Hauptdarsteller Denis Lavant ist mit seinem sehnigen Körper und diesen tiefliegenden Augen schon physisch nicht für einen tragischen Heldentod geschaffen. Ein solches Privileg genießt nur eine Diva wie Kylie Minogue, die Lavant beim Schlendern durch die baufällige Pracht der „Samaritaine“-Korridore ein Liebeslied singt, das die Mauern zum Weinen bringen könnte. Wer waren wir, was ist aus uns geworden? Die Liebenden haben sich in Monster verwandelt. Es ist zum Sterben schön. Monsieur Oscar aber muss noch weiter zu einer Schimpansenfamilie. Sein leerer Blick aus dem Fenster spricht Bände.

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Was bleibt

(D 2012, Regie: Hans-Christian Schmid)

Die Mauer muss weg!
von Ulrich Kriest

Die bürgerliche Kleinfamilie bleibt ja immer noch die schönste Konstellation, wenn man einmal einen richtigen Kriegsfilm so ganz ohne Uniformen drehen will. Noch schöner wird es, kehrt jemand zurück aus …

Die bürgerliche Kleinfamilie bleibt ja immer noch die schönste Konstellation, wenn man einmal einen richtigen Kriegsfilm so ganz ohne Uniformen drehen will. Noch schöner wird es, kehrt jemand zurück aus der Fremde in die Enge seiner Anfänge. Alle Konflikte noch da? Setzen! Marko (Lars Eidinger) ist ein Schriftsteller und lebt seit Jahren in Berlin. Sein Debüt als Autor war wohl recht erfolgreich, aber jetzt geht es irgendwie nicht recht voran und die Beziehung zur Mutter seines Sohnes Zowie (!) scheint gescheitert: man ist vorsorglich schon wieder auseinandergezogen. Für ein langes Wochenende kehrt Marco mit Zowie zurück ins Elternhaus nach Siegburg.

Dort, im Zentrum der alten Bundesrepublik, steht der großzügige Frühsiebiger-Bungalow der Bauhaus-Moderne. Marcos Alt-68er-Vater Günther (Ernst Stötzner) ist ein sehr erfolgreicher Verleger, der allerdings gerade seine Verlagsanteile verkauft hat, um jetzt endlich die Dinge tun zu können, die ihm vorher nicht möglich waren. Er, der souveräne Chef im Ring, will jetzt als Sachbuchautor ein weiteres Mal reüssieren. Marcos jüngerer Bruder Jacob (Sebastian Zimmler) ist Zahnarzt geworden, die Praxis und auch die eigene Wohnung hat ihm der Vater finanziert – und nebenher auch schon mal Küche und Couch ausgesucht. Was nicht viel geholfen hat, denn in dieser Stadt braucht es offenbar keinen weiteren jungen Zahnarzt: die ersten Geräte werden bereits wieder abgeholt, die Bank versteht keinen Spaß. Jacob führt zudem eine nicht ganz unproblematische Wochenendbeziehung. Marcos Mutter Gitte (Corinna Harfouch) ist vielleicht depressiv. Jedenfalls stand sie 30 Jahre unter Medikamenten. Ruhig gestellt. Jetzt hat sie diese eigenmächtig abgesetzt – und es geht ihr gut dabei. Sagt sie. Ein symbolischer Akt. Doch die Ordnung der Familie, ohnehin nur fragil und durch Wohlstand abgefedert, kommt durch diese eigensinnige Entscheidung ins Gleiten.

Mit chirurgischer Präzision entfernt Hans-Christian Schmid elegant Maske um Maske, bis die Wahrheit hinter der bürgerlichen Fassade kenntlich wird: diese Familie ist längst nur noch eine Fiktion, ein Transitraum, zentriert allein durch die sedierte Mutter im Bungalow. Fallen die Medikamente fort, wird der Blick plötzlich klar! Krankheit als Metapher in der Schlacht der Beziehungsökonomien: die alten Rollen zwischen Egoismus und Selbstmitleid, Verständnis und Überforderung werden noch einmal ausprobiert und dann verworfen. Die alten Rechnungen gehen nicht mehr auf! Günther hat sich sein Recht auf ein bisschen Unabhängigkeit schwer erarbeitet, hat er doch alles der Familie geopfert. Doch Gittes Rebellion verpufft in einem zwiespältigen Akt des Widerstands, weshalb der Filmtitel auch ohne Fragezeichen auskommt.

Kaum jemand könnte hierzulande einen solch subtilen und schmerzhaften Stoff, der an Ibsen und Tschechow erinnert, souveräner und pointierter – der Film dauert gerade mal 85 Minuten! – inszenieren als Hans-Christian Schmid („Requiem“), der hier auf ein erstklassiges Drehbuch von Bernd Lange, ein vorzügliches Set-Design und ein wirklich phänomenales Darstellerensemble um allerlei Theatergrößen bauen konnte. Ein nahezu perfekter Film – bis hin zur passend brüchig-elektronischen Musik von The Notwist. Einziges Manko, vielleicht unvermeidlich, ist, dass der Film gut 25 Jahre zu spät kommt. Man stelle sich „Was bleibt“ in der Geschichtsstille von 1987 vor! So muss jetzt wohl ein Double-Feature mit Petzolds „Barbara“ her, um die ganze Geschichte in den Blick zu bekommen.

Holy Motors

(F / D 2012, Regie: Leos Carax)

Der Verwandlungskünstler
von Wolfgang Nierlin

Die Geräuschkulisse kommt vom Meer. Möwenschreie und eine Schiffssirene sind zu hören, als sich ein offensichtlich blinder Mann von seinem Bett in einem düsteren Hotelzimmer erhebt und sich entlang einer …

Die Geräuschkulisse kommt vom Meer. Möwenschreie und eine Schiffssirene sind zu hören, als sich ein offensichtlich blinder Mann von seinem Bett in einem düsteren Hotelzimmer erhebt und sich entlang einer Wand tastet. Plötzlich entdeckt er eine Tapetentür aus Baum-Mustern, öffnet sie mit einem Schlüssel und betritt einen Kinosaal, in dem das anwesende Publikum seltsam erstarrt und leblos wirkt. Ein kleiner nackter Junge, der Stummfilm-Leinwand entsprungen, huscht durch den Mittelgang. Zwischen Traum und Realität bewegt sich der neue, seit langem ersehnte Film von Leos Carax. „Holy Motors“ ähnelt einer bewegenden Reise durch die Genres und Stile des Kinos, seine Geschichte und Geschichten, hin zu den großen Themen, die sich um das Verhältnis von Leben und Kunst, Liebe und Tod drehen. Dabei skizziert der französische Regisseur, der sich im Prolog in der Rolle des somnambulen Blinden selbst inszeniert, auch ein Selbstportrait des Filmkünstlers angesichts einer sterbenden Kinokultur.

Gegen diesen schleichenden Tod betreibt Leos Carax ein höchst phantasievolles und sinnliches Spiel mit Masken und Verkleidungen, indem er sein Alter Ego Monsieur Oscar (Denis Lavant) als Verwandlungskünstler auf einen Trip durch Paris schickt, das so zu einer Mitspielerin wird. In einer weißen Stretchlimousine, die von seiner Assistentin Céline (Edith Scob) gelenkt wird, gleitet er von Station zu Station. Der schwerfällige, wie aus der Zeit gefallene Luxuswagen, dient ihm dabei als Büro, Fundus und Rückzugsort. Hier empfängt Monsieur Oscar die Aufträge und Termine eines unsichtbaren Auftraggebers, hier wechselt er die Kleider und Masken, um in immer neuen Rollen fremde Leben zu spielen und seine Identität in wechselnden Persönlichkeiten aufzuspalten, bis das Leben selbst zur Kunst wird und der Traum zur Wirklichkeit.

Die Lust an der Verwandlung und die Bewegung als Motor der Geschichte verleihen „Holy Motors“ Flügel, funkelnde Ideen und einen dunklen Witz. In Denis Lavant treffen sie überdies auf einen kongenialen Performer, der sich regelrecht häutet, vom Geschäftsmann zur alten Bettlerin, vom Katzenmenschen in Latex zum Auftragskiller und vom Liebenden zum Sterbenden mutiert. Dabei ist er zugleich Täter und Opfer, Vater und Kind, vor allem aber ein Künstler, der für die Wahrheit streitet und die Schönheit verteidigt. Als Monster aus der Unterwelt entführt der die Schöne (Eva Mendes), um sich später mit ihr zu einer Art Pietà zu gruppieren. Als Vater, der von den Lügen seiner pubertierenden Tochter enttäuscht ist, verkündet er: „Deine Strafe besteht darin, du selbst zu sein und damit leben zu müssen.“ Gegenüber seiner früheren, verlorenen Geliebten (Kylie Minogue) wiederum konstatiert er: „Die Zeit arbeitet gegen uns.“ Und über der Leiche des ermordeten Bankiers ruft er aus: „Ich verbiete euch zu lügen!“ So produziert der Kampf des „Einen“ gegen die „Vielen“ Sätze, die in gewisser Weise für alle gelten.

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Chico & Rita

(ES / GB 2010, Regie: Fernando Trueba, Javier Mariscal, Tono Errando)

Bésame mucho
von Wolfgang Nierlin

Die Zeiten haben sich geändert, doch die Erinnerung bleibt. Der alte Schuhputzer Chico nährt sich davon. Im Havanna der Gegenwart, das mit der Pflicht zur Anpassung politisch hausieren geht, öffnet …

Die Zeiten haben sich geändert, doch die Erinnerung bleibt. Der alte Schuhputzer Chico nährt sich davon. Im Havanna der Gegenwart, das mit der Pflicht zur Anpassung politisch hausieren geht, öffnet er das Fenster seiner kleinen Wohnung für einen langen Blick in die Vergangenheit. Das Radio spielt „Melodien von gestern“: „Bésame mucho“ – Küss‘ mich, küss mich ganz fest!“, lauten die Zauberworte für den Eintritt in die Imagination. Chico selbst ist zu hören, der in den 1940er und 50er Jahren ein gefeierter Jazzpianist war. Inspiriert ist diese Figur von dem kubanischen Pianisten, Bandleader und Komponisten Bebo Valdés, dem das kreative Team um den spanischen Filmemacher Fernando Trueba, Zeichner Javier Mariscal sowie dessen Bruder, dem Regisseur Tono Errando, ihren zwischen hitziger Leidenschaft und Nostalgie changierenden Animationsfilm „Chico & Rita“ gewidmet haben.

In den Clubs von Havanna, wo sich reiche Amerikaner vergnügen und die Einheimischen die Hintereingänge benutzen müssen, dringt aus der energiegeladenen Musik und den schwungvollen Tänzen pure Lebenslust. Unterbrochen werden die treibenden Beats nur von jenen romantischen Balladen, die die schöne Rita singt und mit denen sie die Herzen entflammt. Im dynamischen Wechsel der verschattet gezeichneten Blicke ist es kurz darauf um Chico geschehen. Eine große, schicksalhafte und unsterbliche Liebe nimmt ihren Anfang. Ihre Geschichte, flankiert von Eifersucht, Missverständnissen und Intrigen, wechselt konsequent zwischen Anziehung und Abstoßung und handelt insofern immer wieder vom Suchen und Finden der sich verfehlenden Liebenden.

„Chico & Rita ist stimmungsvoll und melodramatisch, erotisch und kitschig und manchmal auch rasant. Vor allem ist der Film aber eine Hommage an eine Hochphase des Jazz, als Bebop und lateinamerikanische Rhythmen eine wilde, musikalisch ausschweifende Beziehung eingingen. So folgt Chico nach einem eher unfreiwilligen Aushilfsjob in Woody Hermans Orchestra, der legendären „Herd“, wo er sich mit Noten von Igor Strawinsky konfrontiert sieht, seiner geliebten Rita ins winterlich-graue New York, lernt dort den Perkussionisten Chano Pozo kennen, der mit Charlie Parker spielt und tourt kurz darauf mit Dizzy Gillespie durch Europa. Derweil entwickelt sich Rita zum Filmstar und singt „Love For Sale“. Später, bei einem Auftritt von Chico an der Seite des Saxophonisten Ben Webster im Village Vanguard, werden sich die beiden wiederfinden. „Meine Hoffnung ist auf die Vergangenheit gerichtet“, sagt Rita einmal. In gewisser Weise gilt das auch für Chico und den ganzen Film, auch wenn dieser mit seinen Protagonisten am Ende in der Gegenwart ankommt.

Heiter bis wolkig

(D 2011, Regie: Marco Petry)

Danke Tod, danke!
von Andreas Thomas

Dass der Tod ein Scherzkeks aus Deutschland ist, will uns das deutsche Kino der letzten Jahre, mindestens seit „Knockin‘ on Heavens Door“ glauben machen, sprich: Die deutsche Filmkunst glaubt, sie …

Dass der Tod ein Scherzkeks aus Deutschland ist, will uns das deutsche Kino der letzten Jahre, mindestens seit „Knockin‘ on Heavens Door“ glauben machen, sprich: Die deutsche Filmkunst glaubt, sie bedienen zu können, die Klaviatur von 'vergnügt' bis 'verzweifelt'; doch allein schon beim Titel dieses Werkes von Marco Petry „Heiter bis wolkig“ fragt man sich, was denn der mit seinem Thema zu tun haben soll. Oder haben Sie schon mal bei der Gemütsverfassung einer Krebskranken an Attribute wie „Heiter bis wolkig“ gedacht?

Aber weil dem deutschen Tod eben sein Stachel gezogen ist, ist er auch in diesem Film eben nur eine ziemlich unangenehme Begleiterscheinung in einem ansonsten heiteren Unterfangen, welches „Leben“ genannt wird. Heiter schreitet durch die Welt, wer kopflos ist, und „Marie“ (deren Darstellerin aussieht wie eine junge Veronica Ferres mit schwarzer Perücke) ist schon mal so eine Kopflose, denn als Schwester einer an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankten Jessica Schwarz mit dem Filmnamen „Edda“ hat sie natürlich nichts Besseres zu tun, als dem an Hirntumor erkrankten „Tim“ seinen letzten Wunsch zu gewähren, nämlich eine schöne Nacht, die dann kurz vor Vollzug abgebrochen werden muss, weil ihre Schwester und Wohnungsgenossin mal wieder einen ihrer Kotzanfälle hat. Als hätte Marie nichts Besseres zu tun, als wäre ein Krebspatient nicht schon Belastung genug, nimmt sie also sich gleich einen zweiten als Onenightstand mit nach Hause, also dahin, wo es eh schon einen schwerstkranken Pflegefall gibt, so etwa wie: 'Upps, an meine todkranke Schwester, die von mir gepflegt wird, hatte ich zurzeit und im Schwange meiner amourösen Ausschweifungen gar nicht gedacht.' Aha! Ich widme diesem Detail des Films diese besondere Aufmerksamkeit, weil es nicht nur eine für diesen Film typische Unplausibilität darstellt, sondern weil Unplausibilitäten dieser Art in Filmen der Gegenwart gang und gäbe sind, und weil sie geradezu daraus zusammengebaut sind.

Dass dieser Tim übrigens gar nicht krank ist, dass das Ganze eine in der Kneipe von seinem Kumpel und ihm eingefädelte Mitleidstour ist, die „immer, auch bei den schönsten Frauen, zieht“, ist eine weitere dieser dummen Behauptungen, auf denen eine Handlung dieser Art basiert, mit anderen Worten sagt der Film: Die schönsten Frauen fallen auf die plumpesten Annäherungsversuche herein. Na sicher, das ist wirklich gut getroffen, total lebensnah und daher auch so heiter! Nebenbei weiß der Film folgerichtig auch gar nicht, was schöne Frauen sind, denn die meisten, die die beiden Jungspunde als solche bezeichnen, sind hässliche, aufgetakelte Eulen. Auch weiß der Film überhaupt nicht, was gute Musik ist, denn unablässig läuft so ein billiger, nachgespielter Neunziger-Jahre-Verschnitt, alles andere als aktuell und die Einrichtung der Wohnungen ist so etwa GZSZ. Interessant und mehrfach bemerkbar in den Wohnungen ist, dass deren Fenster zwar immer Vorhänge besitzen, diese jedoch, auch bei der Todgeweihten, nachts niemals zugezogen werden, auch wenn von draußen grelle Laternen den Schlafenden in die Gesichter scheinen.

Nicht nur interessant sondern geradezu absolut entsetzlich ist, dass sich der Pseudohirnkrebskranke bei der Echtbauchspeicheldrüsenkrebskranken, kaum dass sie ihn kennt, einfach so mal auf die Bettkante setzt, um mit ihr zu reden, und er dort stur verharrt, obwohl sie ihn dreimal deutlich dazu auffordert, zu gehen. Entsetzlich ist das nicht, weil es vielleicht solche Idioten im richtigen Leben geben mag, entsetzlich ist, dass der Film dieses rücksichtslose Verhalten würdigt, indem er es mit Erfolg, in diesem Fall mit dem Beginn einer (aus lethalen Gründen: kurzen) Freundschaft belohnt.

Quälend an diesem Film und Filmen dieser Art, ist, dass sie sich erstens nicht mehr im Geringsten um psychologisch plausible Verhaltensweisen scheren und zweitens, dass sie Rücksichtslosigkeiten bis hin zur körperlichen Gewaltanwendung als thrill und fun-haltige Alternativen zum langweiligen Leben (in diesem Fall langweiligen Sterben) propagieren. Hier ist es der (übrigens stark abgemagerten) Schwarz erlaubt, eine Schlägerei anzuzetteln, der, was haben wir gelacht, am Ende natürlich Max Riemelt alias „Tim“ zum Opfer fällt.

Also: Prügeln, Zeche Prellen, aus Rache so tun, als wäre man Selbstmordattentäter, aus Rache Ziegen das florale Innere eines Blumenladens verspeisen lassen, das sind so die Sachen, die dem Leben seine Würze geben, denn auf die wahre Lebenskunst verfällt man natürlich erst, wenn der Tod freundlicherweise vor der Tür steht. Danke Tod, danke. Und dann ist es natürlich auch total nett vom Tod, dass er erst so etwa eine gefühlte Viertelstunde vor seinem Eintritt auch Tribut fordert: Ein bisschen Blut beim Husten, dann wird nochmal ein Kranz fürs eigene Grab geflochten,und dann wird geschwächelt und man legt sich besser mal hin, bis die „Atempausen immer länger werden“ .

Muss ich noch mehr verraten? Vielleicht muss ich, aber ich habe keine Lust dazu, nur eines: Nach diesem Film hatte ich das Gefühl, irgendjemand Ekliges hätte mich anderthalb Stunden geduzt.

Das grüne Wunder – Unser Wald

(D 2012, Regie: Jan Haft)

Maus und Behausung
von Wolfgang Nierlin

Die Werbung zu Jan Hafts Natur-Dokumentarfilm „Das grüne Wunder – Unser Wald“ verkündet produktionstechnische Superlative: „Sechs Jahre Drehzeit, 70 Drehorte, 100 Nächte im Tarnzelt, 250 Stunden Rohmaterial, Pirschgänge mit der …

Die Werbung zu Jan Hafts Natur-Dokumentarfilm „Das grüne Wunder – Unser Wald“ verkündet produktionstechnische Superlative: „Sechs Jahre Drehzeit, 70 Drehorte, 100 Nächte im Tarnzelt, 250 Stunden Rohmaterial, Pirschgänge mit der Kamera, neueste Filmtechnik.“ Tatsächlich sieht man das dem eindrucksvoll fotografierten Film in jedem Augenblick an. Mit Makroaufnahmen, extremer Zeitlupe und Zeitraffer setzen der erfahrene Naturfilmer Haft und sein Ko-Kameramann Kay Ziesenhenne die verborgene Tier- und Pflanzenwelt des mitteleuropäischen Waldes ins Bild und machen sie so auf bislang nie gesehene Weise sichtbar. Knospen und Blüten brechen in Sekundenbruchteilen hervor, Ameisen verspritzen ihre Säure zur Abwehr von Feinden, eine Erdhummel vertreibt eine Maus aus ihrer Behausung und Hirschkäfermännchen streiten sich um ein Weibchen. Daneben nehmen wir Teil an der berührenden Aufzucht von Fuchs-Welpen und Frischlingen oder wohnen jenen großen Erschütterungen bei, die zum Beispiel von kleinen Regentropfen ausgelöst werden können.

Bei all dem ist ein Hang zur Überästhetisierung und zur Steigerung des stimmungsvoll fotografierten Bildes ins faszinierend Wundersame unverkennbar. Unterstützt wird das noch durch ein Sounddesign, das die natürlichen Geräusche akustisch verstärkt und durch seine musikalische Untermalung das Gezeigte theatralisiert. Da tanzen dann Blümchen, öffnen sich Blüten im Walzertakt oder trollen sich die Frischlinge zu einem luftigen Flöten-Thema. Solche Anthropomorphisierung, die noch durch den metaphernreichen, von Schauspieler Benno Fürmann mit warmer Stimme gesprochenen Text akzentuiert wird, hat natürlich weniger mit Naturalismus oder Wissenschaftlichkeit als vielmehr mit poetischer Überhöhung zu tun. Suggestiv lenkt der Film die Gefühle der Zuschauer, keine Brüche oder Irritationen stören sein ästhetisches Gleichgewicht. Jan Haft produziert hier Überwältigungskino, dessen emotionalen Einflüsterungen man sich, selbst wenn man wollte, kaum entziehen kann.

Inhaltlich beschreibt sein Film „Das grüne Wunder“ den Wald einmal nicht als mythischen Ort, sondern „als Universum für sich“ und als verborgene Welt, deren vielfältiges Leben es zu entdecken und zu bewahren gilt. Im Wechsel der Jahreszeiten spürt Haft ihren Geheimnissen nach und zeigt dabei den Wald als planvoll eingerichteten, funktionierenden Organismus, dessen geordnete Schichten ineinandergreifen und in einem permanenten Austausch stehen. Nachdenklich folgt er den natürlichen Kreisläufen des Wachsens und Vergehens, des Fressens und Gefressen-Werdens als „fließende Übergänge zwischen Leben und Tod“. Und er plädiert mit Nachdruck für den offenen, lichten Wald, den es früher einmal gab und der, so Jan Haft, die Artenvielfalt dieses einmaligen Lebensraums erst ermögliche und garantiere.

Atomic Age

(F 2011, Regie: Héléna Klotz)

Im Dunkelrot der Nacht ein Abschied
von Michael Schleeh

Die beiden Freunde Victor (Elliott Paquet) und Rainer (Dominik Wojcik) fahren mit dem Vorort-Zug ins nächtliche Paris und glühen schon mal mit ein paar Vodka-Red Bull vor. Es wird eine …

Die beiden Freunde Victor (Elliott Paquet) und Rainer (Dominik Wojcik) fahren mit dem Vorort-Zug ins nächtliche Paris und glühen schon mal mit ein paar Vodka-Red Bull vor. Es wird eine Odyssee durch die nächtliche Stadt werden, obwohl man jetzt schon müde ist. Mit Discobesuch und Schlägerei, einer beinah stattgefunden habenden Liebelei, mit ein wenig homoerotischer Zweisamkeit, mit leerem Magen, Zigaretten und roten Augen. Bis morgens dann das Zwielicht beginnt und man wie auf einem anderen Planeten durch die dystopische Landschaft taumelt, die sich in der vorangegangenen Nacht im Innern angesammelt hat.

'L’âge atomique' hat eigentlich keine wirkliche Geschichte zu erzählen. Darum geht es der Regisseurin aber offenkundig auch nicht: Es ist das Einfangen einer bestimmten Atmosphäre, einer Freundschaftserfahrung im Moment des Erwachsenwerdens – und des unausgesprochenen Abschiednehmens zugleich – durch und mit den Mitteln des Großstadtfilms, der seine visuellen Reize in dunklen, manchmal hypnotischen, jedenfalls oft grobpixeligen Bildern findet. Das ist nichts Neues, dennoch gelingt es durch die immer wieder sehr persönliche und dicht an die Protagonisten heranrückende Kamera allein durch die Bilder eine Spannung aufzubauen, die wenig erklärt, vieles ungesagt und offen lässt, zugleich aber die nachtdunkle Atmosphäre vermittelt und nachfühlbar macht. Einen Zustand der sanften Euphorie, die auf das Ungewisse zuschreitet; die zugleich das alles aber auch schon kennt, weil man es unzählige Male zuvor bereits genau so gemacht und sehr ähnlich erlebt hat. Und was man nun, schließlich, hinter sich lassen kann: Diese Zeit geht ihrem Ende zu. Es ist die Vermittlung einer Ortlosigkeit durch die Momentaufnahme, eines Transitzustands, der sich auch in der ungeklärten Herkunft der Figur Rainers offenbart. Dieser ist deutscher (polnischer?) Abstammung und lebt in unklaren Verhältnissen (als Student?) in der Peripherie von Paris. Eine Figur, die, Gedichte zitierend, mit ihrer intellektuellen Reife ganz romantisch an die absinth-trinkenden Bohémiens des vergangenen Jahrhunderts erinnert – nun im Geflacker der Techno-Tanzfläche, in der Ekstase des bpm-Pulses.

Besonders die Kameraarbeit ist sensibel für die Stimmungsschwankungen, die Atmosphäre dieser Nacht: Immer wieder finden sich lange Sequenzen der dunkel flirrenden nächtlichen Metropole, Bilder im Schwenk von der Anhöhe mit den Lichtern der Großstadt, den Reklamen, den Unschärfen, den nur punktuell klaren Momenten, die rasch wieder in der Dunkelheit verfliegen, im Diffusen verschwinden. Bilder, die am Abteilfenster des Zuges vorbeifliegen, gleichwo und in gleich welcher Stadt. Ein schöner, dunkler, unaufdringlicher weil verhalten ekstatischer Großstadt-Film, der seine Figuren aufrichtig liebt.

This ain’t California

(D 2012, Regie: Marten Persiel)

(Re)konstruierte Wirklichkeit
von Ricardo Brunn

Hat es das tatsächlich gegeben? Diese Frage stellt sich angesichts der Aufnahmen von Skateboard fahrenden Jugendlichen Ende der 1980er Jahre am Alexanderplatz in „This ain’t California“, der bereits auf der …

Hat es das tatsächlich gegeben? Diese Frage stellt sich angesichts der Aufnahmen von Skateboard fahrenden Jugendlichen Ende der 1980er Jahre am Alexanderplatz in „This ain’t California“, der bereits auf der diesjährigen Berlinale für Aufsehen sorgte. Und schon finden sich entsprechende Kommentare zum Film im Internet, in denen Erinnerungen an Rollbrettfahrer ausgetauscht, gesucht oder auch imaginiert werden. Das Großartige an „This ain’t California“ ist deshalb, dass der Film, neben der Entwicklung des Rollbrettfahrens in der DDR und der Anbindung an das Bild des (Leistungs)Sports sowie der permanenten Verquickung von Privatem mit Politischem im Angesicht der vollkommenen staatlichen Überwachung, ganz nebenbei die Frage nach der Konstruktion von Erinnerung an die DDR stellt.

Im Zentrum des Filmes steht, nach einem furios montierten Prolog, der bereits den Kontrast von staatlich kontrollierter sportlicher Betätigung und freiheitlicher Subkultur eröffnet, die Geschichte einer Freundschaft: In der Betonwüste eines Vorortes von Magdeburg trifft Dennis Paracek eines Tages auf Nico und Dirk. Zusammen bauen sie erste Skateboards aus Rollschuhen und alten Holzplatten und üben mithilfe eines Fahrradschlauches erste Tricks. Später in Berlin werden die Freunde Teil der dort ansässigen Skaterszene. Für Dennis ist das Rollbrettfahren jedoch mehr als nur ein Zeitvertreib. Für ihn ist es die Chance, sich der Autorität des Vaters, der aus Dennis einen Leistungsschwimmer machen will, entziehen zu können. Schnell bringt ihm seine Art der Autoritätsverweigerung den Spitznamen „Panik“ ein, was die Staatssicherheit auf den Plan ruft. An dieser Stelle zeigt der Film die verzweifelten Versuche eines Staates in der letzten Phase seines Bestehens, der Subkultur durch Eingliederung in den staatlichen Sportapparat entgegen zu wirken, sein Scheitern und die darauf folgende ungezügelte Repression. Zur Zielscheibe dieser Repression wird „Panik“. 20 Jahre später treffen sich die Freunde wieder und tauschen Anekdoten über diese Zeit und ihren Freund „Panik“ aus, denn der Anlass des Treffens ist der Tod von Dennis, denn die nach Freiheit strebende Hauptfigur wird auch in der vereinigten Republik keinen Fuß vor den anderen bekommen und schließlich in Afghanistan als Bundeswehrsoldat im Einsatz ums Leben kommen.

Getragen wird diese vielschichtige Erzählung von Archivaufnahmen der DDR, Super-8-Material der Skater, vielen Interviews, wunderbaren Schwarz-Weiß-Animationen, die wichtige Stationen des Lebensweges von Dennis nachzeichnen und einem ergänzenden Off-Kommentar in Form einer Erzählerstimme. Der musikvideoclipartigen Montage gelingt es dabei, sich nicht in ihrer Hochgeschwindigkeitsästhetik zu verlieren, sondern immer nah an den Figuren und dem zu Erzählenden zu bleiben. Der hervorragende Soundtrack, die außergewöhnliche Montage und die sensible Ton-Mischung verbinden das Bildmaterial zu einer äußerst lebendigen Erinnerungscollage, die das Lebensgefühl Jugendlicher im sich auflösenden DDR-Staat kraftvoll transportiert.

Aber hat es das tatsächlich gegeben? Selbst im Abspann des Filmes gibt es keinen Hinweis auf den Schauspieler Kai Hillebrandt, der 2011 sein Spielfilmdebüt in „Swans“ (Regie: Hugo Vieira da Silva) gegeben hat und hier die Rolle des Dennis Paracek übernimmt. Auch dass David Nathan (Synchronsprecher u. a. von Christian Bale und Johnny Depp) tatsächlich bester Kumpel von Dennis gewesen sein soll, ist eher unwahrscheinlich, zumal er im Film einen anderen Namen trägt. Vieles an „This ain’t California“ muss also nachgestellt oder einfach frei erfunden sein. Das lässt sich mit „Verschleierungstaktik“ oder „Pseudo-Doku“ umschreiben. Man kann sich schlimmstenfalls auch einfach verschaukelt fühlen (wie Susanne Burg vom Deutschlandradio Kultur) und die Konstruktion des Filmes nicht weiter hinterfragen.

„Die Geschichte von Dennis‘ Leben mit uns beginnt eigentlich mit einer Legende. Die hat er selber erfunden. (…) Er selber hat immer darauf bestanden, dass das genau so passiert ist – wie in einem Traum.“ In diesen Sätzen, mit denen die Hauptfigur eingeführt wird, deutet Regisseur Marten Persiel nicht nur das schwierige Verhältnis von Erinnerung und Wirklichkeit im Film an. Besonders in Bezug auf die Erinnerungen an die DDR scheint es tatsächlich oft so, als wäre das, was in der DDR passierte, nicht ganz real gewesen und der Fall der Mauer wird nicht selten als Symbol für das Erwachen aus einem Albtraum begriffen. Mit diesem Erwachen werden auch die Erinnerungen an den SED-Staat einer Neubewertung unterzogen, weil die Beziehung zur eigenen Vergangenheit im Angesicht des anderen deutschen Teilstaates eine Neudefinition erfährt. „Es war nicht alles schlecht' ist in dieser Situation die größte anzunehmende Verteidigungsstrategie der aus den angenommenen Wahrheiten heraus geworfenen Menschen gegenüber dem gescheiterten Staat. Und weil mit dem Ende der DDR die Frage nach der Wirklichkeit und Richtigkeit des Gelebten gestellt wurde, diese gelebte Wirklichkeit erst entwertet und später neu erfunden wurde, darf Marten Persiel in seinem Film (scheinbar) Dokumentarisches ebenfalls erfinden, nicht auf diesen Umstand hinweisen und so sein historisches Spiel mit dem Zuschauer treiben. Am Ende ist die Veränderung und Erfindung von Erinnerungen mindestens genauso wahrhaftig wie jeder vermeintlich puristische Dokumentarfilm. Und darauf kommt es an. Denn es ist vollkommen gleich, ob die Hauptfigur erfunden oder aus mehreren Lebensläufen zusammengesetzt ist. Dennis steht nicht zuletzt auch als Symbol für die als traumatisch empfundenen Anpassungsschwierigkeiten von Menschen in einer Zeit des vollkommenen Umbruchs.

Mag also sein, dass „This ain’t California“ durch seine Konstruktion ein Zerrbild der tatsächlichen Ereignisse liefert und von dokumentarischer Authentizität nicht im Ansatz mehr die Rede sein kann. Aber abgesehen davon, dass Erinnerungen immer Zerrbilder darstellen, ist gerade in Bezug auf die DDR Erinnerung einer (absichtlichen) Verzerrung unterworfen gewesen. Zu dieser ernsten Auseinandersetzung zwingt uns „This ain’t California“ auf spielerische und humorvolle Weise.

Total Recall

(USA / CAN 2012, Regie: Len Wiseman)

„Oh, shit!“
von Ulrich Kriest

22 Jahre nach Paul Verhoevens absichtsvoll trashiger Philip K. Dick-Verfilmung mit Arnold Schwarzenegger schien es höchste Zeit, sich den Mindfuck-Stoff einmal wieder vorzunehmen. Nicht jeder kann sich schließlich noch daran …

22 Jahre nach Paul Verhoevens absichtsvoll trashiger Philip K. Dick-Verfilmung mit Arnold Schwarzenegger schien es höchste Zeit, sich den Mindfuck-Stoff einmal wieder vorzunehmen. Nicht jeder kann sich schließlich noch daran erinnern.

Plötzlich, so erzählte der Produzent Toby Jaffe im Presseheft, hatte er im Buchladen eine Sammlung klassischer Kurzgeschichten von Philip K. Dick in der Hand, darin auch die Geschichte „We can remember it for you wholesale“, die 1990 unter dem Titel „Total Recall“ sehr erfolgreich verfilmt worden war. Jaffe erkannte, dass es Zeit für eine Neuverfilmung sei und sprach darüber mit seinem Kollegen Neal H. Moritz. Der war von der Idee sehr angetan: „Wir hatten den Eindruck, dass die Figuren und die Geschichte von der ersten Verfilmung noch nicht auserzählt war. Wir wollten eine frische Version schaffen.“ Nun ist „frisch“ ja ein relativer Begriff und erstaunlicherweise hat sich die Neuverfilmung von „Total Recall“ sogar noch weiter von der Originalgeschichte entfernt als der Film von 1990, aber vielleicht hilft es Jaffe und Moritz ja, dass Kinogänger kein gutes Gedächtnis haben heutzutage. Wir erinnern uns! „Wenn ich nicht ich bin, wer bin ich denn?“ Niemand wusste diese existenzphilosophische Grundsatzfrage in Zeiten der potentiellen Überschreibung des Gedächtnisses besser zu formulieren als Arnold Schwarzenegger mit seinem schwerzungigen Akzent. Schwarzenegger spielte in Paul Verhoevens Blockbuster „Total Recall“ 1990 den Arbeiter Doug Quaid, dem ein Erinnerungsimplantat der Firma „ReKall“ erlaubt, sich den Wunsch einer Mars-Reise als Geheimagent zu erfüllen. Ihm wird versprochen, dass er am Ende der Reise das Mädchen bekomme, die Bösen getötet und dabei auch noch den Planeten gerettet haben wird. Der Blueprint eines Action-Films, der früh den Inhalt von „Total Recall“ auf den Punkt bringt, gleichzeitig aber auch hilft, den Protagonisten zu charakterisieren. Quaid erweist sich im Laufe des Films als Doppelagent in perfider Mission – und wird trotzdem zum Befreier. Verhoeven inszenierte die erkenntnistheoretische Petitesse von Philip K. Dick als bewusst grobschlächtigen Cartoon, kombinierte drastisch überzeichnete Gewalt mit einem bösen Humor („Consider this a divorce!“) und kulturkritischen Untertönen – und war stolz darauf, dass bis zum Schluss nicht zweifelsfrei zu entscheiden war, ob sich Quaids Abenteuer nicht vielleicht doch nur in den Räumen der Firma „ReKall“ abgespielt hatten.

Gespannt sein durfte man auf das Remake des „Underworld“-Regisseurs Len Wiseman, denn die literarische Vorlage „Erinnerungen en gros“ (1966) ist eine Kurzgeschichte, deren finale Alien-Pointe von Verhoeven seinerzeit komplett ignoriert worden war. Doch Wiseman und sein Team von fünf Drehbuchautoren entschieden sich lieber für ein nur leicht modifiziertes Remake, dass das Original in zentralen Motiven bestenfalls umtanzt, manche Szene zitiert, manch andere Szene gerade eben nicht nicht zitiert – und nur zwei, drei entschiedene Änderungen an der Handlung vornimmt. Mit Colin Farrell hat jetzt sogar ein »echter« Schauspieler die Hauptrolle übernommen, der sowohl die Paranoia spielen und die furiose Action körperlich glaubwürdig bewältigen kann. Auch steht Quaid jetzt zwischen zwei fast gleichberechtigten Frauenfiguren, gespielt von Kate Beckinsale und Jessica Biel, die sich einen heftigen und die Handlung über weite Strecken bestimmenden Cat Fight liefern. Wichtiger noch: Quaids Reise führt ihn nicht mehr zum Mars, sondern bleibt auf der von Kriegen weitgehend verwüsteten Erde, auf der es nur noch zwei Orte zum Leben gibt. Zwischen der Megalopole „Vereinigte Föderation von Britannien“ (VfB) und dem Super-Slum Australien („The Colony“) verkehrt ein Fahrstuhl namens „The Fall“, der quer durchs Erdinnere führt.

Man sieht dem Remake deutlich an, dass Wiseman einst als Set Designer gearbeitet hat. So wie Ridley Scott sich im Falle von „Prometheus“ bei Kubricks „2001-Odyssee im Weltraum“ bediente, so entwirft Wiseman „The Colony“ als deutliche Referenz an Scotts Klassiker „Blade Runner“ oder Bessons „Das fünfte Element“, wobei es ihm vornehmlich darum geht, Räume zu schaffen, die mehrdimensionale Verfolgungsjagden erlauben. So spielt dieses kinetische Kino derart aufreizend mit den vertikalen und horizontalen Dynamiken, dass man sich wundert, warum hier nicht gleich auf das modische 3D gesetzt wurde und warum die futuristischen Sets so liebevoll entworfen wurden, wenn sie doch bloß durch atemlose Action als Kulissen verheizt werden. Weil Wiseman ganz auf die stark beschleunigte Level-Dramaturgie eines Computerspiels setzt, tritt die Psycho-Thriller-Dimension des Stoffes fast komplett in den Hintergrund. Die Schauspieler, allen voran Kate Beckinsale, wirken unterfordert und sind zumeist damit beschäftigt, die Zähne zu fletschen, die Augen zu rollen und zu rennen, springen, hechten. Es wirkt unfreiwillig komisch, wenn die Figuren hier gefühlt ein paar dutzend Male auf Unvorhergesehenes und böse Überraschungen mit einem herzhaften „Oh, shit!“ reagieren. Wenn Quaid kurz vor Schluss einen verstörenden Einblick in die Komplexität seiner mehrfach manipulierten Identität gewinnt, dann ist dieser Schock bereits durch eine fatale Äußerung Matthias‘, des Anführers des Widerstands, abgefedert worden. Der hatte ihn kurz zuvor darauf hingewiesen, dass die Erinnerung immer ein Konstrukt sei, während allein das Handeln in der Gegenwart zähle. Und Handeln erwächst aus der Gegenwart. Ein solcher Satz unterläuft die kritisch-paranoide Substanz der ganzen Geschichte und beschädigt den Film so schwer, dass man nur noch schmunzelt, wenn die Kolonisierten nach dem sich endlos hinziehenden Showdown-Zinnober ganz beruhigt in die Zukunft blicken: „Jetzt wird alles gut!“

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Rum Diary

(USA 2012, Regie: Bruce Robinson)

Gonzo Family
von Marit Hofmann

Kann man denn nicht mal, wenn man tot ist, seine Ruhe haben? Als Hunter S. Thompson 2005 starb, beschloss sein Kumpel Johnny Depp, an dem gemeinsamen Projekt, der Verfilmung des …

Kann man denn nicht mal, wenn man tot ist, seine Ruhe haben? Als Hunter S. Thompson 2005 starb, beschloss sein Kumpel Johnny Depp, an dem gemeinsamen Projekt, der Verfilmung des spät veröffentlichten Romanerstlings 'Rum Diary', weiterzuarbeiten und den Schriftsteller 'zu zwingen, selbst im Tod einer der Produzenten zu sein'. In der Praxis sah das dann so aus: Hauptdarsteller und Koproduzent Depp ließ einen Stuhl und eine Flasche Rum für Thompson ans Set stellen, um zusammen mit Regisseur Bruce Robinson jeden Morgen das Highball-Glas ihres Obergonzos mit Schnaps zu füllen: 'Wir wollten einfach sicherstellen, dass Hunter da war. Und er war da. Für uns.'

Nun sind Halluzinationen und im wahrsten Sinne des Wortes trunkene Heldenverehrung nicht eben eine gute Voraussetzung, um einen Roman zu verfilmen. Die Kinoversion von Thompsons Erlebnissen als junger Journalist bei einer US-Zeitung auf Puerto Rico beginnt hübsch absurd wie eine Fortsetzung von Terry Gilliams Thompson-Adaption 'Fear and Loathing in Las Vegas', an die man dann jedoch immer wieder wehmütig zurückdenkt. Denn der Alkoholrausch, dem die Presseknallchargen in 'Rum Diary' hauptsächlich frönen, produziert weniger surreale Bilder als die Trips, die Depp und Konsorten in Las Vegas einwarfen. Robinsons unangemessen brave Verfilmung widerlegt unfreiwillig den von Thompson befeuerten Mythos, dass Drogeneinfluss die Kreativität steigere. Form und Inhalt decken sich immerhin insofern, als der Regisseur so wenig wie der Jungreporter weiß, was er will. Die dahinplätschernde Handlung unterbrechen Luftaufnahmen von tropischen Traumstränden, als sei’s eine Werbepause von TUI. Endgültig ernüchtert, dass der von Depp so sympathisch gegebene Slacker zum Langweilerhelden mutiert, der vergeblich gegen das Böse (US-Investoren, die die Insel samt Pressevertreter aufkaufen) kämpft. Scheiß auf Werktreue, aber da hat der Autor bei aller Machoattitüde mehr Fähigkeit zur Selbstkritik bewiesen: Sein der Korruption nicht abgeneigtes und alles andere als couragiertes Alter ego bezeichnet sich im Roman als 'menschlicher Saugfisch', der sich an Haie hängt, 'und wenn der Hai eine große Mahlzeit fängt, bekommt der Saugfisch den Rest'. Hunter S. Thompsons Jüngern ist der Ru(h)m offenbar zu Kopfe gestiegen.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/12

The Dark Knight Rises

(USA 2012, Regie: Christopher Nolan)

Fledermausschinken
von Louis Vazquez

Der nicht mehr ganz neue Trend zum epischen Erzählen im Blockbusterkino macht es den Filmemachern ja nicht gerade leicht. Opulente Vorlagen sind schwer zu bändigen und resultieren meist in ausgedehnten …

Der nicht mehr ganz neue Trend zum epischen Erzählen im Blockbusterkino macht es den Filmemachern ja nicht gerade leicht. Opulente Vorlagen sind schwer zu bändigen und resultieren meist in ausgedehnten Mammutwerken. Und weil’s gefällt und das entsprechende Publikum ohnehin an nichts Geringerem als mindestens Trilogien interessiert zu sein scheint, werden immer häufiger Ideen, die früher einen flotten B-Film abgegeben hätten, von vornherein (und ohne den Erfolg abzuwarten) auf Fortsetzbarkeit getrimmt.

Nicht immer lässt sich mit Bestimmtheit sagen, was hinter dem Drang zur ausufernden Erzählweise steckt: finanzielle Gründe, Respekt vor dem geschriebenen Wort oder das Unvermögen, mit filmischen Mitteln zu verdichten. Manchen Regisseuren jedenfalls nimmt man es eher ab als anderen, dass sie es schrecklich gut meinen mit der Ausführlichkeit. [Wenn Peter Jackson, dessen „Herr der Ringe“ sich noch auf eine dreigeteilte Vorlage berufen konnte, nun auch „The Hobbit“ mit Hilfe von Nachdrehs zu drei (mutmaßlich überlangen) Filmen zerdehnen will, so dürften dahinter nicht nur wirtschaftliche Überlegungen stecken. Jackson glaubt vermutlich wirklich, so richtig viel erzählen zu müssen. Was aber so eine späte Entscheidung über sein bisheriges Konzept und sein Verständnis von Dramaturgie zumindest nahe legt, steht auf einem anderen Blatt.]

Auch in der Superheldenfilmproduktion muss man viel beachten, wenn man allen Erwartungen gerecht werden will. Schließlich wurden schon längst zahllose Varianten durchgespielt, und die verschiedenen Paralleluniversen der Comicvorlagen bieten unzählige Möglichkeiten. Da kann man als Fan wie als Filmemacher schon mal den Überblick verlieren. Christopher Nolan ist beides, und es bleibt spekulative Vermutung, dass ihm das eine beim anderen in die Quere gekommen sein könnte. Zum Abschluss seiner realistisch gemeinten Batman-Trilogie erzählt er jedenfalls gleichzeitig viel zu viel und zu wenig.

Als eine Terroristengruppe auf ungewöhnliche Weise ein Flugzeug zum Absturz bringt, ist die Erwartung noch groß. Die Exposition nämlich empfiehlt Nolan einmal mehr als Regisseur für einen Bond-Film oder einen vergleichbar klassisch inszenierten Action-Kracher, obwohl die Montage es gegen Ende mit der Übersichtlichkeit nicht mehr so genau nimmt. Bald aber entfaltet sich eine Geschichte, die ihren angemessenen Rahmen wohl in einer mehrstündigen TV-Miniserie hätte finden müssen. Das Drehbuch von Christopher und Jonathan Nolan wird zunehmend elliptisch – wie manche Fernsehserien beim Abschluss großer Handlungsbögen –, lässt aber ausgerechnet die spannendsten Aspekte der Geschichte aus und zu viele Fragen offen. Über die entstehenden Plotlöcher wischt die schnelle Montage hinweg, aber wehe, man atmet kurz durch und denkt über das Gezeigte nach.

Die Bevölkerung Gothams spielt kaum eine Rolle, obwohl der Film von einer monatelangen Belagerung der Stadt erzählt. Der Konflikt aber wird bloß über Stellvertreter ausgetragen – hier die Bösen, da die Vertreter von Recht und Gesetz, die zwar korrupt und feige sein mögen, aber im rechten Moment über sich hinauswachsen. Zumal es ja gegen Terroristen geht, deren Ziel so wischiwaschi ist wie die Haltung des Films in seinem Bemühen um Ambivalenz. Für Blicke zur Seite, die ein bisschen Alltag hätten vermitteln können, bleibt jedenfalls leider keine Zeit. So konform diese Feier der ordnenden Kraft der Exekutive und ihrer Helden letztlich ausfällt, so mutlos und konfektioniert wirkt auch die Inszenierung.

Vermeintlich überraschende Wendungen oder Erkenntnisse der Figuren zum Beispiel müssen so lange erklärt und durch Rückblenden und Worte mehrfach abgesichert werden, bis vom behaupteten gritty realism nicht mehr viel übrig ist, weil jedes Zugeständnis an den kleinsten gemeinsamen Nenner auf arg durchschaubare Weise eben doch nur den üblichen Blockbuster-Mechanismen folgt. Auch Emotionen werden allzu oft von unterstützenden Worten begleitet.

Durch einen interessanten (aber vorhersehbaren) Kniff soll man am Ende schließlich noch das Gefühl bekommen, jetzt könne eine ganz neue Geschichte losgehen. Ausgerechnet die aber hätte man lieber noch innerhalb dieses Film erzählt bekommen, etwa anstelle der unsinnigen Nebenplots über heldenhafte Polizisten oder leichtgläubige Untergrundkämpfer. Durchaus von Interesse wäre auch die Information gewesen, was Tausende von Ordnungshütern, die wochenlang unter der Erde eingeschlossen sind, den ganzen Tag so treiben.

Sollte Christopher Nolan in Zukunft wirklich einen James-Bond-Film drehen dürfen, bleibt zu hoffen, dass jemand anderes ihm ein gutes Drehbuch schreibt, das sich von allem Ballast der multiplen Möglichkeiten, der so eine populäre Figur begleitet, frei macht. Was dagegen Batman angeht, kann man sich damit trösten, dass der beste Film zum dunklen Ritter schon von Tim Burton gedreht wurde – nicht minder abgründig, dabei aber fähig zur Selbstironie. Vor ziemlich genau 20 Jahren erschien „Batman Returns“ als perfektes Sequel und idealer Mittelteil einer Trilogie, die man sich indes, mangels Vollendung, bis heute selber zu Ende träumen muss.

Der Vorname

(F / B 2012, Regie: Alexandre de la Patellière, Matthieu Delaporte)

Diskurs der Enthüllungen
von Wolfgang Nierlin

Schon die weitschweifige Exposition, die mit Lust am Fabulieren kulturgeschichtliche Umwege nimmt, um im Herzen der Geschichte zu landen, ist ein kleines filmisches Kunststück nach der Art Wes Andersons. Während …

Schon die weitschweifige Exposition, die mit Lust am Fabulieren kulturgeschichtliche Umwege nimmt, um im Herzen der Geschichte zu landen, ist ein kleines filmisches Kunststück nach der Art Wes Andersons. Während ein Off-Erzähler im Verbund mit der Montage in rasendem Tempo die Protagonisten vorstellt und dabei eine Ästhetik der Abschweifung kultiviert, etablieren die beiden Regisseure Matthieu Delaporte und Alexandre de la Patellière jene flirrende Ironie zwischen Wahrheit und Lüge, die ihre intelligente Komödie „Der Vorname“ in einem turbulenten Diskurs der Enthüllungen vorantreibt. Dabei entwickeln sie in ihrem Ensemblefilm, der auf einem eigenen, höchst erfolgreichen Theaterstück basiert, eine enorme Dynamik der Kommunikation. Bluffs und Missverständnisse, Verletzungen und Tabubrüche ziehen in der Folge immer weitere Kreise und lassen in einem stetigen Wechsel von Täter- und Opferrolle die Masken fallen.

Im Kern sind davon tiefe Familien- und Freundschaftsbande bedroht. Schon die geschmackvoll-heimelige Wohnung des Pariser Literatur-Professors Pierre (Charles Berling) und seiner Frau Élisabeth (Valérie Benguigui), einer gesellschaftskritischen Lehrerin, strahlt jene behagliche Wärme einer freundschaftlichen Verbundenheit aus, die der Film nach und nach demontiert. In die gedämpfte Atmosphäre des mit vielen Büchern, gemütlichen Sofas und mildem Licht angefüllten Cinemascope-Bildes, das der Auseinandersetzung Raum gibt und sie zugleich einschließt, treten der sensible Orchestermusiker und Freund der Familie Claude (Guillaume de Tonquédec), Élisabeths Bruder Vincent (Patrick Bruel), ein erfolgreicher Immobilienmakler und spöttischer „Held der modernen Zeit“, sowie seine im fünften Monat schwangere Frau Anna (Judith El Zein).

Und wie soll das Kind, von dem der zukünftige Vater annimmt, es werde ein Junge, heißen? Genau an der Antwort auf diese Frage entzündet sich im Folgenden ein ebenso heftiger wie lautstarker Streit, der angefüllt ist mit schlagfertigen Dialogen, Witz und philosophischen Sophismen. Doch nach dem ersten Schlagabtausch und seinen unumkehrbaren Beschädigungen, in denen das Gesagte seine zerstörerischen Wirkungen entfaltet, ist der zweite nicht fern. Dabei geht es immer deutlicher und offensiver ans Eingemachte der Beziehungen; weder Freundschaften noch Ehen werden verschont in diesem ausufernden Kampf der Kränkungen, der an den (nicht zuletzt politischen) Wurzeln der jeweiligen Persönlichkeit gräbt. De la Patellière und Delaporte inszenieren diesen fulminanten Seelenstriptease mit viel Liebe zum Detail, aber auch mit einer großen Liebe für ihre sehr stimmig gezeichneten Figuren, die sie schließlich in einem versöhnlichen Finale zusammenführen. Denn: „Wir haben alle unsere kleinen Probleme.“

Das Schwein von Gaza

(F / D / B 2011, Regie: Sylvain Estibal)

Eber in Socken
von Wolfgang Nierlin

Jafaar (Sasson Gabay) ist ein glückloser Fischer von trauriger Gestalt. „Und wieder nur Dreck“, flucht er leise, wenn sich in seinem Netz außer ein paar kleinen Fischen wieder einmal hauptsächlich …

Jafaar (Sasson Gabay) ist ein glückloser Fischer von trauriger Gestalt. „Und wieder nur Dreck“, flucht er leise, wenn sich in seinem Netz außer ein paar kleinen Fischen wieder einmal hauptsächlich Zivilisationsmüll findet. Auf dem Markt kauert er vor seinem mickrigen Fang wie ein Häuflein Elend. Und gegenüber seiner geduldigen Frau Fatima (Baya Belal) muss er mal wieder eine kleine Lügengeschichte erfinden, denn Schulden bedrohen den kümmerlichen Haushalt. Was so märchenhaft tragikomisch beginnt und in guter filmgeschichtlicher Tradition mit Humor den Kampf eines leidgeprüften Helden gegen widrige Lebensumstände beschreibt, hat doch einen ernsten politischen Hintergrund. Denn Jafaar lebt im Gaza-Streifen, wo die Wege auf Schritt und Tritt von Grenzzäunen markiert sind und scharf kontrolliert werden. Sylvain Estibals Komödie „Das Schwein von Gaza“ ist insofern durchzogen von Zäunen, Mauern und Checkpoints. Selbst die Fischfangzonen sind reglementiert. Und auf dem Dach von Jafaars marodem Haus patrouillieren zwei junge israelische Soldaten.

Dieses absurde Bild ist neben vielen anderen natürlich symbolisch gemeint. Der französische Schriftsteller und Journalist Sylvain Estibal verwendet es, um in seinem Debütfilm die paradoxe Situation der festgefahrenen Verhältnisse zwischen Juden und Palästinensern zu zeigen. Als Jafaar eines denkwürdigen Tages auch noch ein vietnamesisches Hängebauchschwein aus dem Meer fischt, erreicht die Problem- und Konfliktlage eine neue symbolische Stufe. Denn das Schwein gilt in der Religion beider Völker als unrein, gar sündig; und verkörpert insofern eine Menge Vorurteile. Jafaars Schock und Verzweiflung über seinen wunderlichen Fang findet auch bald entschlossene Ratgeber: „Du musst diese Schweinerei so schnell wie möglich loswerden, sagt sein befreundeter Barbier (Gassan Abbas), bevor er ihm eine Kalaschnikow in die Hand drückt.

Aber natürlich ist Jafaar für eine kaltblütige „Lösung des Problems“ zu gutmütig. Als tumber Tor wird er darüber hinaus überraschend erfinderisch und geschäftstüchtig. Denn bald darauf schmuggelt er den lukrativen Samen des Ebers in einen Kibbuz, wo sich die Russin Yelena (Myriam Tekaïa) um die Schweineaufzucht kümmert. Die Grenzen sind also durchlässiger als man denkt: Während Jafaars Schwein in Socken und Schafspelz durch den Gaza-Streifen spaziert, gesellt sich einer der israelischen Soldaten zu Fatima, um eine brasilianische Telenovela zu sehen. „Das Hängebauchschwein ist meine Friedenstaube“, kommentiert Estibal seine komische Utopie eines friedlichen Zusammenlebens. Aber bis zum märchenhaften Ende mit seiner versöhnlichen Vision muss der Antiheld noch einige gefährliche Abenteuer im absurden, satirisch zugespitzten Grabenkrieg zwischen Hamas und israelischem Militär bestehen; wobei beide Seiten mal mehr, mal weniger lustig ihr Fett abkriegen.

Knistern der Zeit – Christoph Schlingensief und sein Operndorf in Burkina Faso

(D 2012, Regie: Sibylle Dahrendorf)

Austausch von Beziehungen in Dingen
von Wolfgang Nierlin

Gleich zu Beginn ist auf der Tonspur zu hören, was dem Film den Titel gab: das „Knistern der Zeit“, eingeprägt einer alten Vinyl-Schallplatte, die durch häufiges Abspielen individuelle Spuren und …

Gleich zu Beginn ist auf der Tonspur zu hören, was dem Film den Titel gab: das „Knistern der Zeit“, eingeprägt einer alten Vinyl-Schallplatte, die durch häufiges Abspielen individuelle Spuren und Kratzer bekommen hat. Für den Filmemacher und Theaterkünstler Christoph Schlingensief, den Sibylle Dahrendorf bei seiner Projektarbeit für ein Operndorf in Burkina Faso filmisch begleitet, geht es gerade um diesen geheimen Schatz, der sich als vergehende Zeit und lebendiger Austausch von Beziehungen in den Dingen manifestiert. Im Sinne seines erweiterten Kunstbegriffs, der sich wiederum auf Joseph Beuys‘ Soziale Plastik bezieht, ist es deshalb die menschliche „Unschärfe“, die Leben und Kunst, Natur und Spiritualität zu einem Ganzen miteinander verbindet. In einem permanenten Prozess des Wachstums, der Metamorphose und Transformation, der Fehler ebenso integriert wie das Chaos der Unberechenbarkeit und Spontaneität, entstehen so jene multimedialen Gesamtkunstwerke, in denen Schlingensief die Grenzen ständig verschiebt. „Der muss alles verrühren“, sagt in diesem Sinne einmal der Architekt Diébédo Francis Kéré über seinen Weggefährten.

Übertragen auf seine Suche nach einem geeigneten Ort für das geplante Operndorf in Afrika, die Christoph Schlingensief im Mai 2009 zusammen mit Kéré nach Burkina Faso führt, bedeutet dies vor allem, dass dieser Platz lebendige Austauschprozesse nach allen Seiten ermöglichen müsste. Insofern soll das anvisierte Dorf zu einer „multifunktionalen Begegnungsstätte“ werden, die wie das Leben selbst ist und neben einer Bühne auch eine Schule, eine Klinik und einen Sportplatz integriert. Als er diesen Ort schließlich in der weiten Savannen-Landschaft unweit von Ouagadougou findet, gibt es dort weder Wasser noch Strom. Doch nach Unterredungen mit Politikern, der Grundsteinlegung am 8. Februar 2010 und dem Eintreffen der ersten Container inklusive eines Generators beginnt das Projekt im Sinne seines Erfinders wie ein „lebendes Organ“ zu wachsen und dabei selbst zu einem Teil jener prozesshaften, grenzüberschreitenden Kunst zu werden, die für Schlingensief „Balsam für die Seele“ ist.

Sibylle Dahrendorfs zwischen den Zeiten, Orten und Bildformaten mäandernder Film begleitet dieses Projekt in seinen Planungs- und Bauphasen, seiner Stagnation nach Christoph Schlingensiefs Tod am 21.8.2010 bis zur feierlichen Schuleröffnung im Oktober 2011 durch dessen Ehefrau Aino Laberenz. Dabei entsteht nicht nur ein intimes Portrait des Künstlers, der mit seiner positiven Energie und sprudelnden Kraft Menschen bewegt und begeistert, sondern auch das Dokument eines nicht zuletzt künstlerischen Austauschs zwischen Leben, Krankheit und Tod. Schlingensiefs Arbeit an seiner afrikanischen Oper „Via Intolleranza II“, die in Ausschnitten zu sehen ist, gibt darüber ebenso Auskunft, wie seine Hinwendung zu religiösen Fragen. Damit verbunden ist eine tief empfundene Dankbarkeit für das Ererbte, das Menschen und Künstler, so Schlingensief, über das Leben hinaus für die Zukunft verpflichte. Sein Projekt lebt also weiter.

Guilty of Romance

(J 2011, Regie: Sion Sono)

Die dunkle Seite der Frauen
von Wolfgang Nierlin

Das Frauenbild, das der japanische Kult-Regisseur Sion Sono in seinem Film „Guilty of romance“, dem dritten Teil seiner sogenannten „Hass-Trilogie“, genüsslich ausbreitet, ist schlicht konservativ und misogyn. Unter dem Deckmantel …

Das Frauenbild, das der japanische Kult-Regisseur Sion Sono in seinem Film „Guilty of romance“, dem dritten Teil seiner sogenannten „Hass-Trilogie“, genüsslich ausbreitet, ist schlicht konservativ und misogyn. Unter dem Deckmantel weiblicher Identitätssuche mittels sexueller Befreiung zelebriert er eine perverse Lust an der Grenzüberschreitung, um die Hure in der Frau zu entdecken. „Frauen sind rätselhaft“; und: „Bei Frauen ist alles möglich“, lauten orakelhaft jene Sätze mit denen Sion Sono in einer Mischung aus Faszination und Angst auf das von ihm unterstellte Potential weiblicher Selbstentgrenzung und Lussteigerung blickt. Eine typische, mythologisch gut geerdete Männerphantasie also, die sich filmisch einerseits in einem lustvollen, delirierenden Fiebertraum entlädt. Andererseits gilt es natürlich, diese gewaltige, dunkle und chaotische weibliche Kraft zu bannen oder zumindest zu domestizieren.

Sion Sono selbst sieht seine Hassliebe zum weiblichen Geschlecht natürlich ausgewogener: „Ich bin ein feministischer und ein grausamer Filmemacher.“ In stilisierten Bildern und grellen Farben, in exaltierten Stimmungen und kalkuliert vulgären Zuspitzungen, in denen sich Hoch- und Populärkultur vermischen, schickt er seine stereotyp gezeichneten Heldinnen durch fünf Kapitel, die zeitlich ineinander verschachtelt sind. Dabei amalgamiert Sion Sono niedere Instinkte und hohe Kunst zu einem wilden Mix aus Thriller, Sexploitation und Autorenfilm, motivisch-raunend flankiert von Franz Kafkas „Das Schloss“ und Gustav Mahlers beliebter 5. Sinfonie.

„Niemand hat je den Eingang zum Schloss gesehen“, heißt es deshalb einmal in Bezug auf die weniger verschlüsselte (sexuelle) Identitätssuche der drei Frauen, die alle ein Doppelleben führen. Liebe und Untreue werden dabei in ein „naturgegebenes“ Verhältnis gesetzt: Während die überangepasste, unterwürfige Hausfrau und Schriftsteller-Gattin Izumi Kikuchi aus ihrer hellen, ruhigen Ordnung ins „Unreine“ dunkler Love Hotels ausbricht und dabei ihr wahres Wesen entdeckt, folgt die Universitätsdozentin Mitsuko Ozawa als Teilzeit-Prostituierte ihrer eigentlichen Bestimmung, und zwar dorthin, wo die „Finsternis dunkler als der Schatten“ ist. Ihr poetischer Leitstern ist dabei das Gedicht „Heimkehr“ von Ryūichi Tamura, das die Welt der Worte gegen die Evidenz sinnlicher Erfahrungen stellt. Ein Ritualmord im Rotlicht-Milieu, den die Kommissarin Kazuko Yoshida ermittelt, integriert schließlich die dritte Frauenfigur, deren sexuelle Entgrenzung am deutlichsten mit einer Sehnsucht nach Unterwerfung und Tod assoziiert ist. Und so schickt Sion Sono seine Protagonistinnen auf eine (zweieinhalbstündige) Tour de Force durch jenen Abgrund aus Lust und Schmerz, Demütigung und Strafe, an dem angeblich die lebensspendende Kraft des Weiblichen beheimatet ist.

Hasta la Vista!

(BE 2011, Regie: Geoffrey Enthoven)

Leidlich beste Freunde
von Louis Vazquez

Zum Einstieg gibt es subjektive Bilder, die aus einer Highschool-Sexklamotte stammen könnten: Wogende Frauenbrüste sind in Zeitlupe zu sehen. Die Kamera schwenkt von einem Brustpaar zum anderen. Wer hier aber …

Zum Einstieg gibt es subjektive Bilder, die aus einer Highschool-Sexklamotte stammen könnten: Wogende Frauenbrüste sind in Zeitlupe zu sehen. Die Kamera schwenkt von einem Brustpaar zum anderen. Wer hier aber so ungeniert gafft und die bösen Blicke zweier Joggerinnen fängt, ist Philip (Robrecht Vanden Thoren), vom Hals abwärts gelähmt und auf einen Spezialrollstuhl angewiesen. Deshalb funktioniert die enervierend plakative Blickinszenierung der Exposition auf gewisse Weise sogar, ob so intendiert oder nicht, denn Frauenkörper kennt Philip höchstwahrscheinlich nur als mediale Abbilder. Mit seinen beiden besten Freunden – Lars (Gilles de Schryver) ist wegen einer Krebserkrankung ebenfalls auf einen Rollstuhl angewiesen, Jozef (Tom Audenaert) fast blind – verfolgt Philip ein Ziel, das auch auf besagte Klamotten zu verweisen scheint: Die drei wollen ihre Jungfräulichkeit verlieren.

In Südspanien soll es ein Bordell geben, das auf die Bedürfnisse von behinderten Gästen vorbereitet ist. Da wollen die drei Freunde unbedingt hin. Sie tarnen das Vorhaben als Weinreise und überzeugen tatsächlich ihre Eltern. Doch dann droht alles zu platzen, weil einer von ihnen schwerer krank ist als erwartet. Die Fahrt muss freilich trotzdem stattfinden – heimlich, unter noch komplizierteren Bedingungen. Schnell stellt sich Ernüchterung ein. Die Entzauberung des feuchten Traums beginnt damit, dass der neue Busfahrer Claude (Isabelle de Hertogh) sich als resolute und übergewichtige Fahrerin entpuppt …

„Hasta la vista“ ist ein tragikomisches Roadmovie mit viel Menschelei, das auf wahren Begebenheiten bzw. einer BBC-Dokumentation beruht. Auffällig ist dabei einmal mehr eins: Wenn ein Film über behinderte Menschen gefühlig und witzig sein soll, darf Geld bzw. seine Abwesenheit keine Rolle spielen, womöglich um das Publikum nicht zu überfordern. Anders ist es kaum zu erklären, dass in den entsprechenden Komödien (siehe „Ziemlich beste Freunde“) kaum jemand finanzielle Probleme zu haben scheint. Behindert und arm – die Tristesse eines solchen Lebens mag man schmunzelwilligen Zuschauern wohl nicht zumuten, wenn man wertvolle Anregungen in Sachen Toleranz und Menschlichkeit vermitteln will.

So ist es also kein Problem, einen behindertengerechten Bus und die entsprechende Begleitung zu organisieren, von Hotelkosten und den Ausgaben beim finalen Vergnügen ganz zu schweigen. Immerhin wird kurz erwähnt, dass Papa geschäftlich in Dubai unterwegs war, und da war dann eben noch Geld auf dem Sparbuch.

In manchen wahrhaftig wirkenden Momenten gelingt es „Hasta la Vista“ durchaus, von Intimität und Nähe zu erzählen und für die sexuellen Bedürfnisse von behinderten Menschen zu sensibilisieren. Aber spätestens gegen Ende verzettelt sich der Film von Geoffrey Enthoven, mit einer grässlichen Traumsequenz, in der die drei Freunde nicht behindert sind und sich weiß gekleidet in gleißendem Licht zulächeln, und einer Auflösung, die sowohl dem Tragischen als auch dem Versöhnlichen auf denkbar überkonstruierte Weise Tribut zollen will. Die konventionelle, ehemals womöglich bahnbrechende Idee, behinderte Menschen auch mal als Arschlöcher zu zeigen, wird ebenfalls überreizt: Irgendwann nervt die dauernde Misogynie nur noch. Ein leider viel zu gut gemeinter Film.

Total Recall

(USA / CAN 2012, Regie: Len Wiseman)

Real? Recall? Egal?
von Louis Vazquez

Die Geschichte, wie man sie aus Paul Verhoevens „Total Recall“ (1990) kennt, geht ungefähr so: Douglas Quaid, ein Arbeiter in einer dystopischen Zukunft, gelangweilt von seinem ereignisarmen Leben, geht zu …

Die Geschichte, wie man sie aus Paul Verhoevens „Total Recall“ (1990) kennt, geht ungefähr so: Douglas Quaid, ein Arbeiter in einer dystopischen Zukunft, gelangweilt von seinem ereignisarmen Leben, geht zu einer Firma, die durch implantierte Erinnerungen mehr Zufriedenheit verspricht. Die gefälschte Vorstellung, Abenteuer als Geheimagent erlebt zu haben, vielleicht sogar auf dem Mars gewesen zu sein, das wäre doch was. Beim Versuch der Gedächtnismanipulation kommt es aber zu technischen Problemen, weil die Erinnerungen des Helden zuvor offenbar schon einmal verändert wurden. Der Durchschnittsmann – nun ja, gespielt von Arnold Schwarzenegger – ist tatsächlich ein Geheimagent namens Hauser, ohne es selbst geahnt zu haben. Sein Arbeiter-Leben entpuppt sich als Tarnung, und er wird in einen komplizierten Konflikt zwischen skrupelloser Regierung und Aufständischen hineingezogen. Oder träumt er all die Abenteuer und sitzt noch immer im Behandlungsstuhl? So ganz sicher kann er sich nie sein.

Paul Verhoevens „Total Recall“ ist nicht nur ein ziemlich gelungener Actionreißer und Mindfuck, sondern ein weiterer Beleg dafür, dass der posthume Erfolg von Philip K. Dick als Vorlagenlieferant für Science-Fiction-Filme sein eigentliches Werk überstrahlt und er viel zu wenig gelesen wird. Für eine ganze Weile fand sich beispielsweise in Filmtexten immer wieder die Behauptung, Ridley Scotts „Blade Runner“ basiere auf einer Kurzgeschichte. Dass man „Do Androids Dream of Electric Sheep“ mit seinen über 200 Taschenbuchseiten durchaus als Roman bezeichnen kann, hat sich erst mit dem Start des Director’s Cut in den Kinos so langsam auch bis zu jenen Cineasten herumgesprochen, die keine Zeit mehr haben, selbst zu lesen.

Im Fall der Neuauflage von „Total Recall“ durch Len Wiseman („Underworld“, „Live Free or Die Hard“) verhält es sich nun so: Regisseur und Produzenten erwähnen zwar durchaus, dass Paul Verhoeven mal einen Film gemacht hat, betonen aber gleichzeitig, nicht ein Remake, sondern eine neue, gar getreuere Umsetzung von Philip K. Dicks zugrunde liegender Kurzgeschichte „We Can Remember It for You Wholesale“ im Sinn gehabt zu haben. Eine Schutzbehauptung, um den Verdacht der inspirationsfreien Geldschneiderei zu entkräften? Gewiss nicht. Man sei „neu inspiriert“ worden, heißt es im Presseheft. „Wir hatten den Eindruck, dass man der originalen Geschichte völlig neue Seiten abgewinnen könnte“, sagt Produzent Neal H. Moritz. Darüber kann herzhaft lachen, wer Dicks Kurzgeschichte kennt. Denn die „völlig neuen Seiten“ muss man mit Sicherheit neu dazu schreiben, weil die Vorlage gar nicht viel mehr liefert als die Grundidee des unbewussten Superagenten, der über den Versuch, sich Spionage-Abenteuer und eine Reise zum Mars implantieren zu lassen, enttarnt wird. Und darauf folgt kein komplizierter Plot, sondern recht schnell eine der schönsten und absurdesten Pointen im mit Wendungen gespickten Oeuvre von Philip K. Dick, die keine höher budgetierte Verfilmung sich je getraut hätte.

So viele neue Seiten sind letztlich gar nicht zu entdecken in der neu inspirierten Version. Len Wisemans „Total Recall“ ist nichts anderes als ein Remake von Verhoevens Film, das sich entgegen der behaupteten Intention sogar noch weiter von der kurzen Vorlage entfernt. Es verzichtet ganz auf die Idee einer Reise zum Mars, um stattdessen eine vermeintlich logischere, insgesamt jedoch recht bescheuerte Reise durch die Erde per Super-Fahrstuhl zu präsentieren, die sogar bedeutungsvoll im Vorspanntext erklärt wird, obwohl man besser stillschweigend darüber hinweg inszeniert oder besser ganz darauf verzichtet und sich etwas Besseres ausgedacht hätte. Ansonsten werden die Plotpoints der Original-Filmstory wiederholt, deren Autoren in den Credits brav neben den Neuinterpreten Kurt Wimmer und Mark Bomback genannt werden. Ausgerechnet die letzte zynische Wendung aber, in der sich der wahre Charakter des Helden ihm selbst erschließt, per direkter Gegenüberstellung via Bildschirm, wird in der Neuauflage komplett in den Sand gesetzt – aber bis dahin hat man das Interesse ohnehin schon verloren.

Von Verhoevens Härte ist nichts mehr übrig. Damit ist nicht unbedingt gemeint, dass viele der Gegner in Wisemans Version moderne Sicherheitsroboter sind und es eher Blechschäden statt Blutfontänen zu bestaunen gibt, denn mehr Gewalt hätte nicht automatisch einen besseren Film bedeutet. Verhoevens Ambivalenz und Subversion aber, seine überdrehte, cartoonhafte Over-the-Top-Inszenierung trafen den Geist der Vorlage viel eher als der Versuch, durch aufwändige Setpieces à la „Blade Runner“ seriöse, realistische Science-Fiction zu simulieren, und dann doch umso mittiger in Logikfallen zu tappen. Auch die wunderbaren Mars-Mutationen und der schwarze Humor – restlos getilgt für eine familienfreundliche Thriller-Light-Variante mit zu vielen Verfolgungsjagden.

In einigen Szenen ist es durchaus sympathisch, wie Wiseman mit der Erwartungshaltung von Kennern des Originals spielt. Doch meist fällt durch die Nähe zur Vorlage umso mehr auf, wie stark der Neuentwurf abfällt, etwa wenn er sich sogar um ein paar böse Formulierungen drückt und es statt „Get your ass to Mars!“ plötzlich nur noch heißt: Geh nach Hause, und suche dort nach einem weiteren Hinweis. Was tatsächlich ganz gut funktioniert ist die nun etwas ausführlichere romantische Backstory, die ehedem nicht unbedingt im Fokus des Teams Verhoeven/Schwarzenegger stand (und bei Philip K. Dick in der Tat gar keine Rolle spielt).

Insgesamt wirkt „Total Recall“ wie ein typisches Remake von der Stange: Es wird ignoriert oder nicht verstanden, was eigentlich am Original gut war, und trotzdem soll genau dasselbe noch einmal verkauft werden, und zwar möglichst allen. Drum bitte bloß nicht wehtun!

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

The United States of Hoodoo

(D 2012, Regie: Oliver Hardt)

Afrikanische Spezifika
von Andreas Thomas

Im Film „The United States of Hoodoo“ erklärt an einer Stelle eine Musikerin, dass alle Geräusche, die je an einem Ort hörbar waren, für immer an diesen Ort gebunden bleiben …

Im Film „The United States of Hoodoo“ erklärt an einer Stelle eine Musikerin, dass alle Geräusche, die je an einem Ort hörbar waren, für immer an diesen Ort gebunden bleiben und verharren, wenngleich sie auch nicht für jedermann hörbar sind.

Dieser Satz fasst schon in etwa Programm und Problem dieses Dokumentarfilmprojekts von Oliver Hardt und seinem Forschungsreisenden in Sachen Hoodoo, Darius James zusammen, denn genauso verhält es sich mit den Spuren der afrikanischen Kultur, sie blieben trotz massiver Verdrängung durch die weiße Vorherrschaft im Verborgenen und bahnten sich ihren Weg – für die, die sie wahrnehmen wollen und können. Ihren Weg in die, zunächst, amerikanische Musik-, Popkultur und in die moderne Kunst, aber auch etwa in den Hoodoo- bzw. Voodooglauben – der Film macht da keine klaren Unterscheidungen – neue amalgamische, mit indianischen Riten und dem auferlegten Katholizismus bzw. Protestantismus versehene Formen alter afrikanischer Religionen. Zugleich jedoch, und das ist ein kleineres Problem, ist diese Erkenntnis eine banale, denn schon lange bekannt, und sie beschränkt sich nicht nur auf die Genese eines afrikanischen Kulturerbes, sondern auf jede Art verschütterter oder unverschütteter Kultur: Teile davon bleiben erhalten oder sie auferstehen in mehr oder weniger mutierten Formen.

Den größeren Verdruss an diesem Projekt der Neuentdeckung Afrikas in Amerika, welches als eine Art selbsternanntes Roadmovie abrollt, aber bereitet mir die doch eher unkritische Bereitschaft von Autor und Regisseur Hardt und Co-Autor und Explorateur James, jedes und alles, was nur irgendwie afrikanisch konnotiert werden kann, zu glorifizieren, uneingedenk der Tatsache, wie mystisch der Quatsch auch ist, der dabei zum Teil an eine Oberfläche kommt, deren Oberflächlichkeit aber auch nicht hinterfragt wird: ist man doch froh über alles und jedes, was einem die Illusion von Wurzeln, Historie und Authentizität vermitteln kann.

Kurz dazu die Rahmenbedingungen des Films und zugleich die biografischen des Schriftstellers und US-Reisenden: Darius James lebt bereits seit 10 Jahren in Berlin, im „Exil“, wie er es ein wenig dramatisch bezeichnet, als er durch den Tod seines Vaters wieder mit seiner Herkunft, in vielfacher Weise, konfrontiert wird. Das Haus des Vaters, nördlich von New York gelegen, ist voller afrikanischer Masken und Kultgegenstände, deren religiös-mystische Dimension vom Vater stets verleugnet wurde. An eben der These, dass die afrikanischen Ursprünge auch in Zeiten der Unterdrückung und Verleugnung in den USA stark geblieben sind, hangelt sich nun der Sohn und Co-Filmautor James entlang, aber seine apostrophierte „Entdeckungsreise“ wirkt in weiten Teilen wie das Abklappern verschiedener ihm längst bekannter Menschen und ihrer jeweiligen afrikanischen Spezifika, denn als Buch-Autor hat er sich doch schon in mehreren Büchern mit dem Thema Voodoo, Hoodoo und „Baaaadassss“-Kultur und den einschlägigen Spezialisten befasst. Was er „entdeckt', das kennt er schon.

Besonders kurios fühlt sich sein Besuch in New Orleans an: Zur Belegung der These, wie vital afrikanische Kultur noch heute sei, wird einem Voodoo-Ritual beigewohnt, dessen Teilnehmer_innen durchweg Weiße sind. Seien wir nicht kleinlich, dass auch Weiße den Blues haben können, muss hier natürlich nicht gesagt werden und Kultur ist natürlich keine Frage der Hautfarbe. – Also doch nicht? Ging es nicht auch um Rückbesinnung auf die schwarze Identität?

Zunächst interessant ist die kaum bekannte Tatsache, dass da, wo heute mitten in Manhattan ein so genanntes „African Burial Ground National Monument“ steht, ein großer Friedhof liegt, in dem unzählige namenlose Sklaven verscharrt wurden, ehemalige Arbeiter, die die Hauptstadt des Weltkapitalismus errichteten. Aber auch hier darf die Religionsmystik nicht zu kurz kommen, und es muss ein gewisser „Legba“ heranzitiert, bzw. gar „kontaktiert“ werden, nach dem Voodoo-Glauben der Mittler zwischen Geister- und Menschenwelt. Dass übrigens Legba als „Protagonist“ des Films sogar im Presseheft (nicht im Filmabspann) aufgeführt wird, ist ein Scherz jener zweifelhaften Art, von denen auch der Film so manche aufweist.

Nur ein Mitwirkender und Interviewpartner von Darius James, der Schriftsteller und Berkeley-Professor Ishmael-Reed, weist den doch eher latent religiös-euphorisierten Autoren freundlich aber bestimmt darauf hin, dass der Segen der Menschheit ja nun wirklich nicht in irgendeiner Religion zu finden sei – er hat im Film den kürzesten Auftritt. Leider. Wenn es interessant zu werden droht und Gedanken zu Ende gedacht werden könnten, verliert „The United States of Hoodoo“ sein Interesse daran.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Oma & Bella

(D 2012, Regie: Alexa Karolinski )

Erzählen und Fehlen
von Carsten Moll

Eine kleine Einbauküche in Berlin-Charlottenburg. Zwei jüdische Damen in ihren 80ern sind beim gemeinsamen Kochen. Einmütig, konzentriert und schweigsam, ohne sich auch nur einmal in die Quere zu kommen. Immer …

Eine kleine Einbauküche in Berlin-Charlottenburg. Zwei jüdische Damen in ihren 80ern sind beim gemeinsamen Kochen. Einmütig, konzentriert und schweigsam, ohne sich auch nur einmal in die Quere zu kommen. Immer wieder kehrt Alexa Karolinskis Film in die Küche ihrer Großmutter Regina und deren Mitbewohnerin und Freundin Bella zurück und dokumentiert das Treiben der beiden Frauen. Ob beim Rasieren von Kalbsfüßen und Hähnchenschenkeln, beim Hagelzuckerkekse-Backen oder Borschtsch-Zubereiten, die Kamera ist nah dran an Gesichtern und Händen und blickt aufmerksam auf das Geschehen.

„Oma & Bella“ ist ein Film der kleinen Gesten, der unaufgeregt und ohne aufgesetzte Dramatik dem Alltag seiner Protagonistinnen folgt. Dabei bleiben die bewegten Biografien der beiden Holocaust-Überlebenden stets Fragmente, die sich als Anekdoten, Lieder, Alpträume und den jiddischen Speisen ihrer Kindheit mit der Textur eines banalen Alltags verweben. Karolinski versucht gar nicht erst aus dem Leben der Oma und deren bester Freundin eine runde Geschichte zu machen, stattdessen inszeniert sie mit äußerster Zurückhaltung das Erzählen und Erinnern als Teil der Lebenspraxis, fernab von falscher Sentimentalität und Holo-Kitsch.

Erzählen heißt nochmal überleben, meint Bella, die Partisanin der jüdischen Widerstandsbewegung war und ihre gesamte Familie im Dritten Reich verloren hat. Wie schwer das Erzählen fallen kann, sieht man an den Freundinnen von Regina und Bella; beim Rommé-Spiel erfasst die Kamera die eintätowierte KZ-Nummer einer Bekannten, mehr als dass sie in Auschwitz war und später auf Schindlers Liste stand, möchte sie nicht verraten. Bella und Regina aber nutzen den Raum, den der Film ihnen zur Verfügung stellt, drängen sich bisweilen gegenseitig zu reden, wenn vieles auch nur angedeutet bleibt. Die Offenheit, mit der sich die charismatischen Seniorinnen präsentieren, kommt wohl auch deshalb zustande, weil Regisseurin und Kamerafrau Karolinski keinen investigativen oder kritischen Zugang zum Leben der Großmutter sucht, sondern stets Enkelin bleibt. Da kommt sie nicht drum herum, noch einen Keks zu essen, obwohl sie schon satt ist oder tritt amüsiert aber folgsam vor die Kamera, um den Orangensaft zu trinken, den Regina ihr hingestellt hat. Wegen der Vitamine.

Der liebevolle Blick der Filmemacherin hinter der Kamera wird von den Protagonistinnen erwidert, vertrauens- und verständnisvoll erzählen sie nicht nur von jüdischer Kultur, sondern auch vom Nachtleben im Nachkriegsdeutschland, vom Familienleben und Altsein, mal nachdenklich, mal mit trockenem Witz. Wo das Leben der Einen anfängt und der Anderen aufhört, lässt sich kaum ausmachen, ihr Erzählen ist ein gemeinschaftliches, ein ständiges Ergänzen, Kommentieren und Übersetzen, selten auch ein Widersprechen. Karolinski verbindet Interviews mit Alltagsbeobachtungen zu einer losen, episodischen Struktur, die gelegentlich etwas beliebig wirken mag. Gleichzeitig lässt sie sich aber ganz auf den Rhythmus und Ton ein, den Regina und Bella vorgeben. So werden auch die Leerstellen Teil des Erzählens: verpasste Einsätze, vergessene Strophen und verschollene Fotografien.

Bavaria – Traumreise durch Bayern

(D 2012, Regie: Joseph Vilsmaier)

Sedativkino
von Ricardo Brunn

Grüne Wiesen und rosarote Blumen, die sich sanft im Wind wiegen. Rehe im Wald, auf der Suche nach Futter. Das rauschende Meer, das bei Sonnenuntergang gegen die Küste brandet. Ein …

Grüne Wiesen und rosarote Blumen, die sich sanft im Wind wiegen. Rehe im Wald, auf der Suche nach Futter. Das rauschende Meer, das bei Sonnenuntergang gegen die Küste brandet. Ein Mann, der auf einem Sterbebett liegend diese Bilder mit Tränen in den Augen auf einer großen Leinwand vor sich betrachtet und sanft zu den Klängen von Edvard Griegs „Peer Gynt“ entschläft.

In dieser Szene, die gegen Ende des Filmes „Soylent Green“, einem amerikanischen Science-Fiction-Film aus den 1970er Jahren, zu sehen ist, dringt die Hauptfigur Robert Thorn (gespielt von Charlton Heston) in eine Sterbehilfeeinrichtung ein, in die sich Thorns Freund und Vaterfigur Sol selbst eingewiesen hat, nachdem dieser das Geheimnis des titelgebenden Nahrungsmittels entdeckt hat. Doch Thorn kommt zu spät. Sol liegt bereits auf dem Sterbebett vor besagter Kinoleinwand und Thorn kann seinem alten Freund in diesen letzten Momenten nur noch beistehen, als auf der Leinwand die Naturaufnahmen erscheinen. Weinend schauen beide auf eine Welt, die nur noch im Dokument existiert und es ist ein rührender Moment, der in den Kitsch sackt, auch weil Charlton Heston eher ein Mann der Taten und weniger der Tränen ist.

Ähnliche Naturbilder wie die soeben beschriebenen können derzeit in großer Zahl auch im Kino bewundert werden. Die Naturdokumentationsschwemme der letzten Jahre hat an ihren Höhepunkten („¡Vivan las antipodas!“) eine poetische Kraft entfaltet, die das Verbindende im Gegensätzlichen und das Erhabene im Detail suchte. Manchmal kam ein ambitioniertes und mitunter pathetisches Mahnen an die Zerstörung unseres Planeten in kristallklaren Full-HD-Bildern („Home“) dabei heraus. Schlimmstenfalls gab es imposantes, aber für maximale Kinoausbeute stümperhaft zusammen montiertes Material aus bereits vorhandenen TV-Serien zu sehen („Unsere Erde“). Den Tiefpunkt dieses Phänomens markieren allerdings Filme („Deutschland von oben“), deren Bilder in ihrer beruhigenden und verklärenden Wirkung denen aus der beschriebenen Szene zu „Soylent Green“ in nichts nachstehen.

Eine nahe liegende Vermutung hinsichtlich der schieren Masse an cineastischem Nature and Wildlife ist natürlich: Je größer die Krise, desto größer der Bedarf an Zerstreuung. Und weil wir uns neben der monetären Krise neueren Datums seit Langem in einer ökologischen Krise befinden und die Zuschauerzahlen bei all diesen Filmen (für die Gattung des Dokumentarfilmes) astronomische Marken erreicht, wird mit einer immer einfacheren Formel munter weiter produziert. Plötzlich erstaunt die Fülle an kitschigen Naturbildern, die derzeit die Kinos sicher machen, kaum noch.

„Bavaria“, der neue Film von Joseph Vilsmaier, reiht sich in seiner Banalität und Einfältigkeit gut in diese Reihe ein. 50 Stunden lang hat Vilsmaier sich mit dem Hubschrauber im Daueranflug auf das so unsagbar schöne Bayern begeben, dass es an dieser Stelle einfach noch mal betont sei: Bayern ist traumhaft schön. Ansonsten gibt es nicht viel über diesen außerordentlich berechnenden Film zu sagen. Die Kamera gleitet, die Musik begleitet, der Schnitt rasselt die Sehenswürdigkeiten in bester Reiseprospektmanier aneinander, der Kommentar verdoppelt das Bild oder lässt historisch Brisantes elegant unter den Tisch fallen und irgendwann ist’s halt vorbei.

Die Schönheit eines Landes in einem Dokumentarfilm zu zeigen ist nichts Verwerfliches. Die Bilder in „Bavaria“ zehren jedoch nicht einmal mehr vom altmodischen Anspruch, Schönheit als Übereinstimmung von Mensch, Welt und Schöpfung zu begreifen. Im Unterschied zu „¡Vivan las Antipodas!“ existiert in „Bavaria“ kein Zusammenhang mehr zwischen der Darstellung von Schönheit und dem Anspruch auf eine irgendwie geartete Wahrheit. Vilsmaier geht es mit seinem Film ausschließlich um die triviale Abbildung des Schönen; um die Verheißung eines Glückes, das im Angesicht der Krisen um uns herum immer seltener erreichbar scheint. Damit wird der Film aus der Kunst heraus tief hinein in den Kitsch gerückt. Und hier liegt auch der Unterschied zu dem eingangs erwähnten „Soylent Green“, denn die Bilder andächtiger Ergriffenheit aus der Sterbebettszene erfahren am Ende des Filmes ihre fast zynische Brechung, wenn ebendiese Aufnahmen über den Abspann gelegt werden. Diesmal ist der Zuschauer allein der Adressat der Bilder und wird damit in die Position des sterbenden Mannes gesetzt.

Das Erstaunlichste an „Bavaria“ und seinen aktuellen Von-oben-Vorbildern ist demnach, dass die bisher dem Fernsehen eigene einschläfernde Dauerberieselung nun (dank der Macht der Sendeanstalten) auch im Kinodokumentarfilm eine Heimat findet. „Bavaria“ ist nichts weiter als Sedativfernsehen, das mit seiner Wirkung und der angesprochenen Zielgruppe gut zwischen das Traumschiff und die seichten Talks des ZDF-Adoptiv-Schwiegersöhnchens Markus Lanz passt und zum Zwecke des Profits für die große Leinwand fit gemacht wurde.

Übertroffen wird dies nur noch von den abstrusen Vermarktungsstrategien für den Film. Eine Sendung mit dem Titel „Talk in the City“, moderiert vom Generalsekretär der CSU, Alexander Dobrindt, fällt hierbei besonders ins Auge. Mit typisch bayrischem Selbstverständnis philosophieren Dobrindt, Vilsmaier und sein Pilot Hans Ostler eine Stunde lang über die technischen Herausforderungen des Filmes, witzeln über die im Film kaum zu sehenden Bauern und beschwören einmal mehr die Schönheit Bayerns. Kumpelhaft und hochgradig entzückt klopft der Moderator am Ende der Sendung dem Regisseur aufs Knie und bietet, schwanger vor Ergriffenheit, seine Hilfe an: „Wenn’s Probleme mit der Filmförderung gibt, dann bitte melden. Solche Filme müssen weiterhin in Bayern entstehen und gefördert werden.“ Ja genau, solche Durchhaltefilme brauchen wir.

Bevor nun aber die unsagbar teure Kameratechnik für weitere Naturdokumentationen dieser Art spazieren geflogen wird (ich freue mich schon auf „Sachsen von oben“ oder „das Ruhrgebiet von oben“), lieber noch ein paar eindrucksvolle Bilder zum Abschluss: Grüne Wiesen und rosarote Blumen, die sich sanft im Wind wiegen. Rehe im Wald, auf der Suche nach Futter. Das rauschende Meer, das bei Sonnenuntergang gegen die Küste brandet.

Underground

(YU / F / HU / D 1995, Regie: Emir Kusturica)

Lügenhafte Feste, satte Wahrheiten
von Dietrich Kuhlbrodt

Der Krieg in Bosnien wurde in Belgrad inszeniert. Anfang 1995 drehte dort Emir Kusturica, geboren in Sarajevo, seinen Film zu Ende – die gewaltige Schock- & Lach-Parabel, die einem ästhetisch …

Der Krieg in Bosnien wurde in Belgrad inszeniert. Anfang 1995 drehte dort Emir Kusturica, geboren in Sarajevo, seinen Film zu Ende – die gewaltige Schock- & Lach-Parabel, die einem ästhetisch und politisch den Boden unter den Füßen wegreißt, zur merkwürdigerweise immer neuen Verblüffung. Drunter ist, wie der Titel es verspricht, der Untergrund. Und der ist ein inszenatorischer Kunstbau von inflationären Maßen, der sich wie verrückt ausdehnt im Lauf der Geschichte oder richtiger des Es-war-einmal, das kurz vor dem Einmarsch der Nazis in Maribor, Slowenien, beginnt – ein kleiner Schutzkeller zunächst, der sich in den 169 Filmminuten zu einem Tunnelsystem ausweitet, das alle Schutzbauten Hitlers und Ceaucescus um ein Vielfaches übertrifft. Schließlich erfahren wir die Wahrheit: dass untergründig die Hauptstädte Europas verbunden sind, bspw. über die Subroute Berlin-Balkan-Athen, und wer heute vor dem Reichstag den Gullydeckel lüftet – ein letzter Blick zurück nach oben, gerade sind noch die Worte 'Dem Deutschen Volke' zu entziffern – , der kriecht bei irgendeinem bosnisch-kroatischen Massaker wieder ans Tageslicht, glücklich dem unterirdischen Wahnsinnsverkehr entronnen, ein Laster nach dem anderen schrammt an den Tunnelwänden entlang, Abgase verdunkeln das Abblendlicht.

Hitler hatte die Kapazität der Entlüftungsventilatoren falsch bemessen. Heute kassieren schwarzhäutige Blauhelme für unterirdische Flüchtlingstransporte. Waffenhändler machen Kasse für Lieferungen nach Serbien und Kroatien – egal, wer der Abnehmer ist. Wir sind beim Exjugoslawen Marko, dem schurkischen und gar nicht unsympathischen Helden und seiner Frau, der schönen und zweckmäßig optierenden Natalija. Gegen Schluss des Films sind sie reich, VIPs und all das; die Rückreise tritt das Waffenhändlerpaar standesgemäß im Mercedes 500 an, Kennzeichen M-TV 6769, doch halt, die gehbehinderten Dealergatten, doppelt riskant im Obergrund aktiv und das im Rollstuhl, werden in einer überaus imposanten Szene liquidiert und pyrotechnisch brillant in Brand gesetzt. Ein Fanal! Als lebende Fackel umkreist das vermögende und in geschlechtlicher Lust vereinte Rollstuhlpaar ein ruinöses Kruzifix, der Gemarterte hängt mit dem Kopf nach unten, ein Schimmel (Utopie!) durchquert die Hieronymus-Bosch-Landschaft von rechts nach links und umgekehrt. Ein Bild! Grande opéra! Schön und gerecht! Oder nicht? Denn das liebende, aber verkohlende Paar ist so ein richtiger Feind denn doch nicht, immer waren die beiden unsere Brüder-und-Schwestern, Jugoslawen, verdiente Funktionäre (er) und Künstler (sie) der kommunistischen Partei des Genossen Tito.

Wieder ist der Boden unter den Füßen weg. Wie war es doch zu Köln bequem, mit Heinzelmännchen umzugehn, äh: den Faschistenschweinen einerseits, den Guten (uns) andererseits. Kusturicas Welt lässt sich nicht sortieren, und wir stecken mittendrin im Schlamassel, bös involviert. Außerdem bin ich außerstande, das zu tun, was der Leser, die Leserin als Service erwartet, nämlich den Plot des Films wiederzugeben. Aber wie das, wenn einer – endlich! – das Bildermedium vom narrativen Ballast des Und-dann-und-dann-und-dann befreit; schließlich hat der Film der Literatur voraus, dass er auf die allseits bewunderten Höhlenzeichnungen zurückgeht, welche man mit Fug & Recht ja auch Undergroundinszenierungen nennen könnte. Wer auch würde ein kolossales, zudem noch schockierend komisches Bosch-Bild durch Ausplaudern der dort meinetwegen versteckten Fabeln angemessen wiedergeben wollen?

Meine Bemühungen sollen nur, ich bitte um Nachsicht, darauf hindeuten, dass Kusturicas Film 'Underground' tatsächlich in den Abgrund, aber auch in verlockende Tiefen von so etwas Verdächtigem wie der Seele, auch der Volksseele, eintaucht – und mehr oder weniger schelmisch auch wieder heraufkommt. Drum geht der Verkehr ins Untergründige auch gern durch Dorf- und andere altertümliche Brunnen, die infrastrukturell durch Jugoslawiens Fluss, die Donau, verbunden werden, so dass der Vater dort in einem Fischnetz gefangen werden kann. – Ein Unding, das verstandesmäßig aufdröseln zu wollen. Kurz: Wer sich Kusturicas 'Underground' besieht, hat keine Theorie des Untergrundkampfes zu gewärtigen, auch keine Vorlesung über die Strategie des Bosnienkriegs, wohl aber ein grandioses Abenteuer der Wahrnehmung, politisch und moralisch so offen, wie man es sich nur wünschen kann, jedenfalls dann, wenn in der bösen Realität die oberirdischen Grenzen geschlossen sind.

Ergebnis: Kusturica ist mit seinem Megafaszinosum 'Underground' Undenkbares gelungen, nämlich alle Parteien Ex- und Rest-Jugoslawiens an einen Tisch zu bringen, wo sie zu Zigeunerweisen in entspannter Atmosphäre an einem Tisch sitzen, am Donauufer; pathetisch ist von Verbrüderungen die Rede, Hoffnung! Einheit! Wir sind in der Schlusssequenz des Films, plötzlich geht der Blick in die Kamera: 'Verzeihen können wir, vergessen nie', heißt die Botschaft. Ein optimistisches Fest, aber dann – so geht’s halt zu in diesem Film, underwater in diesem Fall – löst sich die Halbinsel mitsamt der Festgesellschaft vom Ufer und treibt im großen Strom davon. Die Kamera, grad noch angesprochen, bleibt zurück. Wir hören etwas, was statt eines hoffnungsvollen Appells eher Grabrede ist: 'In Trauer und Freude werden wir an unser Land zurückdenken. Es war einmal …' Aber mit eben diesen Worten hatte der Film begonnen, und er hatte uns die Geschichte Jugoslawiens als unablässige Folge politischer Inszenierungen vorgestellt: Propaganda, Botschaften, Filmmedium, Kamera. Kusturica selbst stellt schließlich sein Werk augenzwinkernd in den Dienst der propagandistischen Lügeninszenierungen. Wahrhaftige Selbstironie, brüderliche.

Belgrad 1941. Die Serben Marko und Blacky betreiben ihren prosperierenden Waffenhandel – die Ware wird durch Überfälle auf Nazikonvois beschafft – als Kampf für die kommunistische Partei. Zwei Jahre später sind sie Volkshelden. Blacky wird vom schönen Nazi Franz (Ernst Stötzner) ebenso blutig wie grotesk gefoltert. Seine Flucht endet in einem Luftschutzkeller, während die Bomber der Alliierten 'das zu Ende führen, was die Deutschen begonnen hatten, und aus Belgrad eine Ruinenstadt machen'. Freund Marko, oberirdisch, übernimmt inzwischen Blackys Frau, die reizende junge Schauspielerin Natalija, und um diesen für ihn erfreulichen Besitzstand nach der Befreiung zu wahren, inszeniert er für die Volkshelden im Keller den Fortbestand von Besatzung und Krieg, wofür er ein Medium braucht. Er betreibt einen Minisender, der täglich 'Lili Marleen' und ähnliche Botschaften in den Keller schickt. Das geht jahrzehntelang gut. Die Eingeschlossenen finden ihr propagandagestütztes Leben ganz prima. Funktionär Marko rückt in die Riege von Titos Spitzenfunktionären auf, ein bisschen Waffenschieberei bleibt auch noch zu erledigen. Doch dann 'nimmt Tito das Geheimnis der Einheit Jugoslawiens' mit ins Grab. In die historischen Dokumentaraufnahmen von den Trauerfeierlichkeiten wird Held Marko einkopiert. Wir sehen ihn neben Helmut Schmidt und Kurt Waldheim die Trauerparade abnehmen, wozu alle Strophen des unausweichlichen 'Lili Marleen' erklingen – eine offensichtliche Mehrfachinszenierung.

Vor einem solchen pompös-komischen und unverstellt liebevollen Bild glaub ich gleichwohl: Die satte Wahrheit findet sich in der Inszenierung dieses prallen, lügenhaften Festes, das uns 'Underground' auftischt.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 11/1995

Holidays by the Sea

(F 2011, Regie: Pascal Rabaté)

Ungeordnete Triebe
von Wolfgang Nierlin

Was hat die Großaufnahme einer Schnecke im Vordergrund des Bildes mit dem verbissenen Wettrennen zweier Golfmobils (15 km/h) im Hintergrund zu tun, das sich vor der Kulisse eines gigantischen Industrieparks …

Was hat die Großaufnahme einer Schnecke im Vordergrund des Bildes mit dem verbissenen Wettrennen zweier Golfmobils (15 km/h) im Hintergrund zu tun, das sich vor der Kulisse eines gigantischen Industrieparks abspielt? Konkurrenzkämpfe und heimliche Leidenschaften, die Ordnung des Lebens und die Unordnung der Triebe bestimmen das obsessive Verhalten der Figuren in Pascal Rabatés Film „Holidays by the Sea“. Und weil seine stumme Komödie im französischen Original den etwas paradoxen, aber politisch anspielungsreichen Titel „Ni à vendre ni à louer“ („Weder zu kaufen noch zu vermieten') trägt, wirkt das versprengte Häufchen von Urlaubern, als sei es in einer merkwürdig entvölkerten Nachsaison gelandet. Am atlantischen Strand ist jedenfalls nichts los, im Hotel „L’Océan“ tummeln sich nur vereinzelt Gäste und im „Supermarché Diagonal“ sind viele Regale leer oder nur spärlich gefüllt, während sein Kassierer mit Lineal und Bleistift den Strichcode auf die Produkte zeichnet.

In den skurrilen Verhaltensweisen der Protagonisten, die Rabaté ins Groteske verzerrt oder ironisch überhöht, lassen sich immer wieder allzu menschliche Wahrheiten entdecken. Dabei lebt der Film des französischen Zeichners vor allem von seinem visuellen, ebenso verspielten wie verrückten Einfallsreichtum. Die Staffelung des Bildraums, seine Erweiterung durch das Wechselspiel von On und Off, Großaufnahme und Totale sowie die episodische Struktur der einzelnen Geschichten, die sich mitunter berühren oder überschneiden, erzeugen immer wieder einen visuellen, geradezu surrealen Witz und nicht selten schwarzen Humor. In einer Art erzählerischem Staffellauf und unter Verzicht auf Dialoge konzentriert sich Pascal Rabaté dabei auf den nackten Kern von Handlungen. In all dem ist sein Film ästhetisch verwandt mit den Arbeiten seiner Kollegen Jacques Tati, Pierre Étaix und Alex van Warmerdam.

Die Ab- und Umwege des Sexualtriebes sind das zentrale stoffliche Element dieses sommerlichen Ferienfilms der etwas anderen Art. So findet sich ein Masochist im Leder-Outfit, im Rollenspiel ans Bett gekettet, dann aber von seiner Domina verlassen, plötzlich in einer ganz realen Gefangenschaft. In einer anderen Episode kommen sich ein Mann (Jacques Gamblin) und eine Frau (Maria de Medeiros) auf der Jagd nach einem vom Wind fortgetragenen Drachen mit anhängender Halskette näher und landen dabei in einem Nudisten-Camp, während sich ihre jeweiligen Partner sexuell miteinander vergnügen. Parallelen, die zu Verwechslungen führen und Kontraste, die das Absurde sichtbar machen, strukturieren auch die anderen Geschichten, in denen es um Liebe, Sex und Tod geht und in denen die Spannung von Ordnung und Chaos zu einem echten Sturm, zu Eruptionen und Implosionen führt. Trotz allem oder gerade deshalb lautet das ganz und gar ironische Fazit des Films, gesungen von Mike Brank: „Les vacances à la mer, c’est super!“ Ferien am Meer sind einfach klasse.

A Gang Story

(F 2011, Regie: Olivier Marchal)

Odds Against Tomorrow: Les Lyonnais
von Harald Steinwender

Eine Gang-Story, keine Polizisten-Geschichte. Der ehemalige Polizist, Drehbuchautor und Regisseur Olivier Marchal wechselt die Seiten: von seinen staatlich sanktionierten Gewalttätern, die eigentlich das System stützen sollen und doch irgendwann im …

Eine Gang-Story, keine Polizisten-Geschichte. Der ehemalige Polizist, Drehbuchautor und Regisseur Olivier Marchal wechselt die Seiten: von seinen staatlich sanktionierten Gewalttätern, die eigentlich das System stützen sollen und doch irgendwann im korrupten Apparat anecken, so sehr über die Stränge schlagen und Sand ins Getriebe werfen, dass sie zu Outcasts werden, hin zu denen, die von Anfang an draußen sind und mit kriminellen Mitteln gegen die herrschende Ordnung opponieren. Doch was ändert sich mit dem Wechsel vom Polizeifilm (bzw. Polizistenfilm) zum Gangsterfilm? Nicht viel. Das ist kein Wunder, hat Marchal doch als Chronist der Schattenseiten des Flic-Daseins seine Polizeistücke stets in Schwarz gemalt, ohne jede Hoffnung und einzig im Glauben an das Scheitern seiner Protagonisten. Da ist es nicht weit zum Gangsterfilm, dessen Protagonisten laut Robert Warshow stets dem Untergang geweiht sind. Und Marchal ging schon in seinen Polars sehr weit. In 'Gangsters' (2002) erweisen sich die titelgebenden Gangster allesamt als Polizisten, '36 – Quai des orfèvres' ('36 – Tödliche Rivalen'; 2004) beginnt bereits mit dem gequälten Schrei eines Polizisten, der von den korrupten Kollegen im Knast lebendig begraben wurde, 'MR 73' (2008) ist der Polizeifilm im Fegefeuer, die Welt eine Bosch’sche Höllenvision, bevölkert von Serienmördern, Psychopathen und deren Opfern. Einzig im Blutbad konnten diese Geschichten enden. Marchals Kino ist ein Kino der Verdammten, die blindwütig gegen die falsche Ordnung und die bornierten Regeln des Betriebs anrennen.

Auch für die Gangster in 'Les Lyonnais' gibt es keine Erlösung, kein Vergeben und Vergessen. Auch sie sind gefangen in einem autoritären Männerbund, der sie zugleich beschützt wie zerstört. Selbst im Ruhestand bedroht den Gangster seine Vergangenheit: 'Aged 20. I didn’t know it, but it’s already too late. Your fate is set. … Your past’s your flesh and blood. And in the end it drags you down', räsoniert der noch namenlose Protagonist auf der Voice-over, bevor die Titel auf der Leinwand erscheinen. Kein Ausweg, nirgends, keine Hoffnung, nicht einmal in einem Film, der mit einer Taufe und einem großen Familienfest beginnt, das mit Authentizität und Liebe zum Detail in Szene gesetzt ist und den Familienmythos aus Coppolas 'The Godfather' ('Der Pate'; 1972) zitiert.

Edmond 'Momon' Vidal (Gérard Lanvin) ist dieser Mann, den seine Vergangenheit einholen wird. Ein alternder Gangster, modelliert nach dem echten Edmond Vidal, der in Lyon Anfang der 1970er Jahre mit seiner multiethnischen 'Gang des Lyonnais' einige spektakuläre Raubüberfälle durchgeführt hatte und von dessen Autobiografie sich Marchal und sein Kodrehbuchautor Edgar Marie inspirieren ließen. Gérard Lanvins Momon hat sich zur Ruhe gesetzt, sitzt, wie die Polizisten hoffen, nur noch in Kneipen herum, trinkt und spielt Boule Lyonnaise, den Sport der alten Männer. Momon ist ein massiger Kerl, der Bauch spannt sich unter dem Hemd, der graumelierte Henriquatre-Bart im bronzefarbenen Gesicht verleiht ihm Züge eines Renaissancefürsten, seine raumgreifenden Gesten und Bewegungen sowieso. Er ist ruhig und bestimmt, reflektiert und besonnen. Und doch strahlt er eine unterschwellige Aggression aus. Tatsächlich braucht es nicht lange, bis er in 'Les Lyonnais' einem nichtsnutzigen Junggangster mit einer dieser silbern glänzenden Boule-Kugeln beinahe den Schädel einschlägt. Trotzdem: an der Eskalation und der Rückkehr zum gewalttätigen Gangstertum hat er kein Interesse. Wie Marchals Bullen will er das Richtige und bewirkt stets das Falsche. Wie die Cops folgt auch Marchals erster Gangsterprotagonist einem archaischen Code, den er über alles stellt, auch wenn er längst weiß, dass falsch verstandener Stolz in den Tod führen kann. Und vorher wird er alles, was er liebt, und jeden, den er liebt, verlieren. 'Les Lyonnais' ist die Sorte Film, in der ein Protagonist sagt, er liebe seinen Hund sehr, und man ahnt gleich, dass das Tier bald abgeschlachtet werden wird.

Für Momon, dem Gangster aus der ärmlichen Roma-Siedlung, der sich mit Gewalt hochgekämpft hat und nun so viel besitzt, dass er angreifbar geworden ist, gilt wie schon für Al Pacinos alternden Paten in Coppolas 'The Godfather: Part III' ('Der Pate – Teil III'; 1990): 'Every time I’m out, they pull me back in.' Serge Suttel (Tchéky Karyo), ein Jugendfreund, der sich 13 Jahre versteckt gehalten hat, kehrt aus dem Untergrund zurück. Er war vor der Polizei abgetaucht und hat sich mit üblen Gestalten eingelassen, gemordet, mit Drogen gehandelt und sich einige einflussreiche Feinde gemacht. Nun entscheidet er sich am Tag der Taufe von Momons Enkel, seine leibliche Tochter zu besuchen, um die sich der alte Freund kümmert. Dabei wird er sogleich von Kommissar Brauner (Patrick Catalifo) und einem Polizeirollkommando niedergerungen. Im Knast wird es der Alte nicht lange machen, das ist Momon klar. Doch da er seiner Frau zuliebe der Gewalt abgeschworen hat, überlässt er die Aufgabe, Serge rauszuhauen, einigen jungen Heißspornen. Das Resultat, wie nicht anders zu erwarten: Ein Massaker. Und der Auftakt einer Serie von Gewalt und Gegengewalt, die Marchal ebenso konsequent wie kompromisslos auf das bittere Ende hin inszeniert.

Bezugspunkt dabei ist, wie schon in Marchals vorangegangener Polizeifilmtrilogie, die Filmgeschichte: Von Melvilles Gangsterfilmen, vor allem 'Le doulos' ('Der Teufel mit der weißen Weste'; 1962) und 'Le cercle rouge' ('Vier im roten Kreis'; 1970), die Stilisierung und die aufs Wesentliche begrenzte Inszenierung. Als Hommage à Coppola die inhaltlichen Verweise auf die 'Godfather'-Trilogie. Von José Giovanni das Existenzialistische und das Einfühlungsvermögen in den Kriminellen, der immer auch Produkt seiner Umwelt ist. Und natürlich von Leone die Art, wie Marchal virtuos drei Zeitebenen miteinander verwebt, dazu Zeittransitionen zwischen Jugend, Erwachsensein und Alter seiner Protagonisten vollzieht und zugleich den Mythos Männerfreundschaft entzaubert. Wenn der alte Momon sich an seine Jugend erinnert, dann verfährt Marchal wie Leone in 'Once Upon a Time in America' ('Es war einmal in Amerika'; 1984) mit Noodles (Robert De Niro) und dessen verschlungener recherche du temps perdu: der Wechsel in die Vergangenheit wird stets durch Matchcuts vollzogen oder von bedeutsamen Großaufnahmen eingeleitet, über die Grenzen der Zeit hinweg tauschen Momon und Serge Blicke aus, eine Schuss-Gegenschuss-Einstellung überbrückt schon einmal mehrere Dekaden.

Allen Zitaten und der ausgestellten Allusionstiefe zum Trotz ist 'Les Lyonnais' keinesfalls rückwärtsgewandt, sondern Bestandteil des gegenwärtigen postklassischen Noir-Kinos aus Frankreich, das Marchal mit seinen Filmen und seinen Drehbucharbeiten ganz maßgeblich beeinflusst hat. Tatsächlich sind die Franzosen aktuell neben den Südkoreanern die einzigen, denen es immer wieder gelingt, Genrekino im Geist der wilden 1960er/70er Jahre zu inszenieren – in Serie und höchst populär. Nicolas Boukhriefs 'Le convoyeur' ('Cash Truck'; 2004) und Gardiens de l’ordre' ('Off Limits'; 2010), Jacques Audiards 'De battre mon coeur s’est arrêté' ('Der wilde Schlag meines Herzens'; 2005) und 'Un prophète' ('Ein Prophet'; 2009), Fred Cavayés 'Pour Elle' ('Ohne Schuld'; 2008), Jean-François Richets 'L’instinct de mort' ('Public Enemy No.1 – Mordinstinkt'; 2008) und 'L’ennemi public n°1' ('Public Enemy No.1 – Todestrieb'; 2008) sowie Gilles Béhats 'Diamond 13' ('Diamant 13'; 2009) und Frédéric Jardins 'Nuit Blanche' ('Sleepless Night'; 2011) sind nur einige Beispiele einer Erneuerung des europäischen Genrekinos, wie sie in Deutschland völlig undenkbar erscheint. Vielleicht ist das der Grund, warum diese großartigen Filme bei uns fast nie auf der großen Leinwand zu sehen sind. Keine einzige Regiearbeit Marchals hatte in Deutschland einen Kinostart. Wer genug von der Beschränktheit der deutschen Verleiher hat, kann sich jetzt schon einmal 'Les Lyonnais' aus Frankreich als Blu-ray (mit englischen Untertiteln) bestellen. Es lohnt sich – der Film wächst mit jeder Sichtung. Eine Alternative hierzu bietet das 'Fantasy Filmfest', das zwischen dem 21. August und dem 13. September 2012 in sieben deutschen Großstädten stattfindet, und dessen Macher sich lobenswerterweise entschlossen haben, Marchals Film zu zeigen. Im Oktober folgt die deutsche DVD- und Blu-ray-Auswertung via EuroVideo.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Splatting Image #90, Juni 2012

The United States of Hoodoo

(D 2012, Regie: Oliver Hardt)

Some Deep New Orleans Shit
von Andreas Busche

Jeder Streifzug durch die amerikanische Geschichte des Voodoo führt zwangsläufig über New Orleans: The Big Easy, Stadt der guten und bösen Geister, wo die Lebenden in den Straßen ihre Toten …

Jeder Streifzug durch die amerikanische Geschichte des Voodoo führt zwangsläufig über New Orleans: The Big Easy, Stadt der guten und bösen Geister, wo die Lebenden in den Straßen ihre Toten zelebrieren. Und natürlich führt kein Weg vorbei an „Treme“, der neuen HBO-Serie des „The Wire“-Erfinders David Simon über das Leben in New Orleans nach Katrina. „Treme“ ist auch für Musikfans eine kleine Offenbarung, weil die Serie aus dem schillernden Repertoir lokaler Straßenmusiker, Blues-Prediger und Szene-Größen schöpft, die in unbezahlbaren Cameo-Auftritten ein Stück marginalisierter Musikgeschichte verkörpern. In der zweiten Episode zieht die New Orleans-Legende Coco Robicheaux vor den Augen eines Radiomoderators (Steve Zahn) ein Huhn aus dem Sack und schneidet dem Federvieh unter rituellen Beschwörungen den Hals durch. “Some deep New Orleans shit,” wie Zahn das Opfer lapidar kommentiert.

Tremé ist schon immer die erste Adresse für “deep New Orleans shit” gewesen. Der Stadtteil westlich des French Quarter stellt mit seinem ureigenen Synkretismus aus Aberglaube, Magie und westlichen Hochreligionen, europäischer, afrikanischer und karibischer Musiktraditionen, Voodoo und Southern Gothic, Fried Chicken und Gumbo, so etwas wie einen genuin amerikanischen Schmelztigel dar. Hier erfand Jazz-Legende Jelly Roll Morton in den Puffs von Storyville sein Maschinengewehr-Pianospiel; und in einer dieser düsteren Seitenstraßen soll es sich auch, so überliefert es der Musikanthropologe Alan Lomax, zugetragen haben, dass dessen Patentante, eine Expertin in schwarzer, kreolischer Magie, die Seele Mr. Mortons dem Teufel anbot. Jazz und Voodoo, das war von Beginn an eine fruchtbare Verbindung. Nach dem Ende des Bürgerkriegs hatten sich die befreiten Sklaven die zurückgelassenen Instrumente der Dixie-Marschkapellen geschnappt und auf dem Blech mit ihren Heiligen kommuniziert. Jazz war die säkularisierte Form der spirituellen Musik ihrer afrikanischen Vorväter. Mit allem Hokuspokus, der dazu gehörte.

Natürlich landet ein afro-amerikanischer Schriftsteller auf der Suche nach den Wurzeln seiner eigenen Spiritualität früher oder später in New Orleans. Darius James hat seine Affinität zu “Hokuspokus” aller Art bereits in den frühen neunziger Jahren unter Beweis gestellt. In seinem Kultroman “Negrophobia” erlebte die neureiche, blonde, sexgeile Teenagergöre Bubbles einen fantasmagorischen Trip durch das Spiegelkabinett des amerikanischen Rassismus. Von der schwarzen Haushälterin mit einem Voodoo-Fluch belegt, fällt sie durch das halluzinogene Raum/Zeit-Kontinuum einer afro-amerikanischen Figurentypologie. Hier begegnet sie cracksüchtigen Homeboys, dem Trickster Uncle Rap Ramus, Dr. Mengele Duck, dem Elvis Zombie und anderen popkulturell kodifizierten und deformierten Cartoongestalten. Spirituell war das vielleicht noch etwas unausgegoren, auf eine hochgradig delirante Weise aber erleuchtet.

Seine ersten tiefergehenden spirituellen Erfahrungen machte James Jahre später durch den Tod seines Vaters. Im dessen Nachlass stößt er zu seiner Überraschung auf eine Sammlung afrikanischer Masken. Hatten die Kultobjekte für seinen Vater etwa eine religiöse Bedeutung? Und in welcher Weise leben Ausdrucksformen afrikanischer Spiritualität in der gegenwärtigen amerikanischen Gesellschaft fort? Diese Fragen sind der Ausgangspunkt von Oliver Hardts Dokumentation “The United States of Hoodoo”, die Darius James auf seiner Spurensuche durch die Vereinigten Staaten begleitet. In New Orleans wohnt er einer Voodoo-Zeremonie bei. Und ein befreundeter Schamane erklärt ihm, warum Symbole und mythische Figuren afrikanischer Provenienz in den Überlieferungen amerikanischer Ureinwohner zu finden sind. Die Sklaven hatten sich mit den eingeborenen Amerikanern gegen die weißen Unterdrücker verbündet. Und die Europäer fürchteten, nicht zu Unrecht, die geballte Macht des Juju und des Animismus der indigenen Medizinmänner. Ende des 18. Jahrhunderts zettelten afrikanische Sklaven auf Haiti – angeblich mit Hilfe von Voodoopriestern – einen Aufstand gegen die französischen Kolonialisten an und vertrieben sie von der Insel. Rituale, eine Erkenntnis aus der christlichen Religionssoziologie, erzeugen Macht.

Diese Angst hat der weiße Mann bis heute nicht überwunden. Als Haiti vor zwei Jahren von einem Erdbeben verwüstet wurde, wetterte der Fernsehprediger Pat Robertson, das Erdbeben wäre Gottes Strafe für das haitianische Volk, das sich zweihundert Jahre zuvor mit dem Teufel verbündet hätte. Mit seinem Kommentar empfahl Robertson sich nebenbei auch für eine Rolle in Darius James’ nächstem Roman. Robertsons Tirade vereinte alle Klischees, die im westlichen Kulturzusammenhang bis zum heutigen Tag mit dem Begriff “Voodoo” assoziiert sind. 1929 reiste der amerikanische Okkultist William Seabrook nach Haiti, um die religiösen Bräuche der Einheimischen zu erforschen. Seinen Reisebericht “The Magical Island” verfilmte Hollywood drei Jahre später als Horrorfilm: “White Zombie” von Victor Halperin.

James versteht afrikanische Spiritualität weder als primitiven Volksglauben noch als festgeschriebenen Katechismus (weswegen der Filmtitel auch eine Abgrenzung zum traditionellen Voodoo-Begriff vornimmt), sondern als Seismograf einer bewusstseinserweiterten Realitätsauffassung – und somit auch als einen bilateralen, postkolonialen Diskurs im Sinne von Paul Gilroys “Black Atlantic”. Eine Schnittstelle von körperlicher und geistiger Welt, symbolisiert im Kreuzzeichen der Heiligenfigur Legba. (Auch Robert Johnson verkaufte seine Seele bekanntlich an einer Straßenkreuzung) Eine intelligente Energie, wie die Voodoo-Priesterin Sallie Ann Glassman es im Film nennt, als Orientierungshilfe für ein holistisches, moralisch verantwortliches Handeln. Und notfalls eben auch als strategische Waffe. In Ishmael Reeds “Mumbo Jumbo” (1972) nahm diese Spiritualität eine virale Gestalt an: Jes Grew war eine “Krankheit”, hervorgegangen aus der Polyrhythmik westafrikanischer Yoruba-Musik, Jazz, afro-karibischer Magie und der politischen Dynamik der Bürgerrechtsbewegung, die sich als eine Art Besessenheitstanz rasant unter der schwarzen Bevölkerung ausbreitete.

Reed kommt in “United States of Hoodoo” gewissermaßen als Stimme der Vernunft zu Wort. Er sieht in afrikanischer Spiritualität, ausgehend von der “schwarzen Erfahrung” der Sklaverei über die geschichtsbewussten Improvisationen im Jazz bis hin zu den religiösen Ursprüngen der Bürgerrechtsbewegung, die Grundlage für eine zeitgemäße Interpretation von Religion. Erst wenn sich der Mensch von allen kirchlichen Dogmen befreit habe, sei sein Geist offen für eine höhere spirituelle Erfahrung. Oder wie Darius James es auf seine unnachahmliche Weise formuliert: Unter Einfluss einer authentischen Voodoo-Erfahrung wird das menschliche Bewusstsein außer Kraft gesetzt. Eigentlich eine verlockende Vorstelllung. Mir jedenfalls fallen auf Anhieb ein paar Personen des öffentlichen Lebens ein, die von einer Voodoo-Behandlung geistig profitieren würden.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/12

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Die Ausbildung

(D 2011, Regie: Dirk Lütter)

Naiver Täter
von Wolfgang Nierlin

„Clean-desk-Policy“ lautet einer der modernen Arbeitsplatzgrundsätze in dem hellen, auf Transparenz zielenden Großraumbüro einer Firma für Klimatechnik. Wenn die Mitarbeiter, die hier für die Werbung und Betreuung von Kunden zuständig …

„Clean-desk-Policy“ lautet einer der modernen Arbeitsplatzgrundsätze in dem hellen, auf Transparenz zielenden Großraumbüro einer Firma für Klimatechnik. Wenn die Mitarbeiter, die hier für die Werbung und Betreuung von Kunden zuständig sind, nach Arbeitsschluss ihren Laptop samt Headset und ein paar wenigen Akten in einem sogenannten „Pilotenkoffer“ verschwinden lassen und diesen dann beim Verlassen des Büros in einem Regal deponieren, ist der Raum leer und seine gedämpfte Atmosphäre verwandelt sich in eine unheimliche Stille. Nichts Persönliches bleibt zurück, als würde hier auf Abruf oder nur vorübergehend gearbeitet werden. Und diese Abwesenheit individueller Spuren korrespondiert dabei nicht nur mit der zunehmenden Abstraktion von Arbeit, die ihren Inhalt durch ein System von Funktionen ersetzt hat, sondern auch mit den Mechanismen der Kontrolle, die sich ebenso subtil wie perfide den Mitarbeitern einschreiben. Denn die hierarchischen Machtstrukturen haben sich keinesfalls in den äußerlichen Leerstellen einer nur vorgetäuschten Wirklichkeit verflüchtigt; ihre Träger und Repräsentanten geben sich nur offener, geschmeidiger, toleranter und vertraulicher.

An diesem Punkt setzt Dirk Lütters beindruckender Film „Die Ausbildung“ mit seiner radikalen Verschränkung von Form und Inhalt ein. In streng kadrierten Bildern, mit distanziertem Beobachterblick und den Wiederholungsschleifen rhythmisierter Arbeitsprozesse und ebenso durchorganisierter Freizeitgestaltung, wird die Arbeitswelt zu einem entpersönlichten, fortwährend überwachten Gefängnis. Abweichung oder Funktionsuntüchtigkeit werden gnadenlos bestraft, weshalb die Angst davor zu einem enormen Anpassungsdruck und einer gravierenden Selbstdisziplinierung führt. Das bekommt gleich zu Beginn der etwa 20-jährige Auszubildende Jan Westheim (Joseph K. Bundschuh) zu spüren, der in einem Gespräch mit seinem Vorgesetzten Tobias Hoffmann (Stefan Rudolf), einer Gewerkschaftsvertreterin (Anja Beatrice Kaul), die zugleich seine Mutter ist, und der Abteilungsleiterin Susanne (Dagmar Sachse) sein Leistungsprofil und eine etwaige Übernahme in die Firma bespricht. Aber eigentlich ähnelt die Situation eher einem Verhör, das den Kandidaten suggestiv zwingt, sich selbst zu evaluieren und eine Fehleranalyse zu betreiben.

Die Pflicht zur eigenverantwortlichen Selbstoptimierung steht hinter dem scheinbar neutralen, Machtlosigkeit vortäuschenden Statement des Chefs: „Die Zahlen entscheiden.“ Um seiner offenen Forderung nach einer Leistungssteigerung Nachdruck zu verleihen, fördert Tobias versteckt Konkurrenzdenken und Mobbing, wobei ihm befristete Arbeitsverträge und Kündigungsdrohungen zusätzlich als strukturelle Druckmittel dienen. Mit der nicht zuletzt aufgrund privater Probleme überforderten Susanne hat er auch schon eine Schwachstelle im System ausfindig gemacht. Indem er Jan auf sie „ansetzt“, entsteht ein unterschwelliges Abhängigkeitsverhältnis. Dieses wird noch verstärkt, als sich Jan in die gleichaltrige Zeitarbeiterin Jenny Bolewski (Anke Retzlaff) verliebt und sich bei Tobias auch für ihre berufliche Zukunft engagiert. So wird Jan, dessen Charakter in diesem schwierigen und zugleich widersprüchlichen Spannungsverhältnis als schwankend, ungefestigt und passiv beschrieben wird, zu einer Art naivem Täter. Wenn er nach Feierabend im eigenen Auto den Geschwindigkeitsrausch sucht, in Einkaufszentren unterwegs ist oder viel Wert auf Kleidung und Körperpflege legt, erscheint er als typischer Vertreter einer Konsumentengeneration. Und doch gibt es bei ihm immer wieder auch kurze Momente eines nachdenklichen Zögerns, eines mitfühlenden Innehaltens und einer fast unmerklichen Sabotage, die als Zeichen eines erwachenden Bewusstseins den beängstigenden Konformismus der gar nicht schönen neuen Arbeitswelt zumindest in Frage stellen.

Track 29 – Ein gefährliches Spiel

(GB 1988, Regie: Nicolas Roeg)

Alltagskrisen
von Dietrich Kuhlbrodt

Regisseur Nicolas Roeg und Drehbuchautor Dennis Potter führen in ihrem neuesten Film, der Mitte Januar in der Bundesrepublik startet, Hör- und Sehgewohnheiten vor, dass einem Hören und Sehen vergeht Ein …

Regisseur Nicolas Roeg und Drehbuchautor Dennis Potter führen in ihrem neuesten Film, der Mitte Januar in der Bundesrepublik startet, Hör- und Sehgewohnheiten vor, dass einem Hören und Sehen vergeht

Ein Film, den man hemmungslos empfehlen kann. Einsteigen in den Chattanooga Choo Choo. Abfahrt bekanntlich Gleis 29. 'Pardon me, boy, is this the Chattanooga Choo Choo? Yes, yes! Track 29! All aboard!' Musik (Harry Warren) und Text (Mack Gordon) dieser Nummer aus dem Jahr 1941. Auch die anderen Hits sind aus der Zeit von Urahne, Großmutter, Mutter und Kind: 'M.O.T.H.E.R.' (Theodore Morse und Fiske O.Hara, 1915), 'When The Red Red Robin Comes Bob Bob Bobbin‘ Along' (Harry Woods, 1926), 'Young At Heart' (John Richards und Carolyn Leigh, 1954), 'Mother' (John Lennon, 1971). Die Songs, voll gepackt mit Emotionen und Lebensweisheiten, Anklagen und Ermutigungen, appellieren ans Gemüt dieser amerikanischen Normalstbürger, die in mehr oder minder dumpfer Stube versammelt sind. Ein traumatisches Emotionaldefizit: 'Mother, you had me, but I never had you, I wanted you, but you did’nt want me' (John Lennon). Empfehlung: 'Engstirnigkeit vermeiden, über Alpträume lachen. Das Unmögliche wa`gen, zum Äußersten gehen – to be young and high' (Carolyn Leigh).

Der Alltag im kleinstädtischen North Carolina – gedreht ist der Film in Wilmington und Wrigthsville Beach – ist normal, typisch amerikanisch, eben Horror, Alptraum, Engstirnigkeit. Wieder wird Linda (Theresa Russell) von ihrem Gatten abgefertigt, wenn sie den Wunsch, begattet zu werden, signalisiert: 'Das ist nicht möglich, Linda', sagt Dr. Henry Henry (Christopher Lloyd), Oberarzt der gerontologischen Abteilung im städtischen Krankenhaus. Dann setzt er zur Attacke gegen die unmöglichen Frauenwünsche an, nämlich seine Modelleisenbahnanlage in Betrieb, er schiebt eine Diskette ein: 'All aboard', und dann jagt der häusliche Chattanooga Choo Choo durch die Zimmer, dass es der armen Linda ein Alptraum ist. Empfehlenswert ist in dieser Situation ein großer terroristischer Anschlag.
Kaum gedacht, schon gezeigt. Der Film verhilft ihm zu blutiger Realität, genauer gesagt: der junge Martin (Gary Oldman) tritt in Aktion, ein Zugereister aus dem fernen Engelland, eine unmögliche Kombination von Sohn, Liebhaber und Rächer. Wenn er mit seinen starken Fäusten die Modellwagons zerquetscht, teure Sammlerstücke, fließt rotes Blut heraus. Aber möglicherweise ist der starke Mann nur eine neue, bisher unterdrückte Seite von Linda, denn als sie das Äußerste wagt und mit dem langen Küchenmesser nach oben geht, wo Gatte Dr. Henry am zentralen Eisenbahnschaltpult Regie führt, sieht man den jungen Martin eben dieses Messer schwingen. Splitternackt springt er bzw. sie dem Doktor an die Brust und stößt die Klinge tief in den Rücken, dass das Blut durch die Decke tropft. Lachend, young and high setzt sich Mutter Linda keck einen unmöglichen Hut auf, weiß mit großen schwarzen Punkten, startet ihr Kabriolet und bloß weg aus Wilmington.

Ich könnte schwören, daß ich diese Szene schon in einem Film gesehen habe. Aber in welchem? Keine große Schwierigkeit war es, Martins Mutter, 'a cleaning woman', im Kultfilm 'Tote tragen keine Karos' zu finden. Und wenn Martin mit seinen groben Affenhänden nach den Choo-Choo-Zügen greift, wie sie grade über die Hängebrücke fahren, dann ist das King Kongs schiere Kinowirklichkeit. Martin, der Retter, scheint jedoch auch aus den unendlichen Mysterien des Kosmos zu kommen, einer TV-Serie aus dem ewig laufenden Fernseher entsprungen. Einen SF-Helden menacing reality kündigt eine off-Stimme im TV-Gerät an. Linda hört mit einem Ohr hin; die Realität, in der sie lebt, kann gar nicht genug bedroht werden. Und schon ruft es grausig und hilfeflehend im Weltenraum: 'Mami, Mami', und ein Kind sucht seine Mutter. Später sind es Filmsequenzen auf dem Monitor, deren Handlung Linda aufgreift und weiterführt, wie zufällig. TV-Comic-Strips erlauben Bildverkürzungen und sprechende Nahaufnahmen. Linda sieht sich als Fünfzehnjährige wieder auf dem Jahrmarkt im Elektroscooter. Hinter ihr steht einer im Wagen. 'Blitzelblitzel' macht der Kontaktschleifer an der Decke. Die Großaufnahme erzählt die erste – böse – Liebesgeschichte. Für die, die Comics gelesen haben, also für alle.

Kurzum, 'Track 29' ist eine schrille Horrorkomödie. Und eine satte antiamerikanische Satire. Und ein mediales Kunstwerk ohnegleichen. Weil zum erstenmal konsequent und intelligent und souverän mit den Hör- und Sehgewohnheiten derjenigen operiert wird, die den Film hören und sehen – , so wenig konsequent und intelligent und souverän diese Rezeptionsformen sein mögen. Aber sie sind inzwischen selbst Realität geworden, haben sich an die Stelle dessen gesetzt, was wir äußere Wirklichkeit nennen. Regisseur Nicolas Roeg ('Wenn die Gondeln Trauer tragen', 'Castaway') ist es mit Hilfe eines überaus erfindungsreichen Drehbuchs (Dennis Potter) gelungen, die neue (mediale) Wirklichkeit operabel, für den einzelnen handhabbar zu machen und durch eine subversive Ästhetik die konservativen Lebensformen zumindest in North Carolinas Kleinstädten grinsend-grimmig zu attackieren. Wer den ganzen Tag den TV laufen lässt und eine Musi-Kassette nach der anderen einwirft, dem kann man nicht mit schlauen Diskursen kommen und mit sauberer Argumentation. Roeg und Potter haben stattdessen in 'Track 29' Hör- und Sehgewohnheiten vorgeführt, hör zu, sieh zu, die Dekoration, die Schauspieler, die Montage und Collage sind wichtiger als die Literatur und der explizierende Dialog. Verbal wird uns in diesem Film am wenigstens erzählt, und das unterscheidet ihn auf das Angenehmste von all diesen amerikanischen Filmen, in denen uns erklärt wird, was wir nicht gesehen und gehört haben und was wir infolgedessen nicht glauben können.

'Track 29' ist ein in US-Amerika produzierter Film, aber eine ziemlich Un-American activity. Ich würde sagen: very British. Erstens wegen Martin. Im Hämburger Place stellt er sich vor: 'My name is Martin. I’m from England', um festzustellen, dass er sich an diesem Ort nicht verständigen kann, jedenfalls nicht verbal über die Frage, wie er die Spiegeleier haben will. Autor Potter ist Brite, und er hat eingestandenermaßen in 'Track 29' den Kulturschock verarbeitet, den ihm Anfang des Jahrzehnts Los Angeles bereitet hatte: 'Das ist eine Stadt, die nicht nur physische Hässlichkeit kennzeichnet, sondern auch ein akuter geistiger Terror. ‚Track 29‘ spielt in einer Kultur, die die Menschen nur allzu leicht ihrer Identität beraubt'. Nicolas Roeg und Hauptdarstellerin Theresa Russell ('Die schwarze Witwe'), verheiratet, leben in London. Von hier aus verkündet Roeg sein Credo, dass 'Kino die Kunstform unserer Zeit ist' und dass er mit diesem Mittel 'Barrieren durchbrechen will'. Ehefrau Theresa Russell hatte sich bereits 1979 bei der Aufdeckung des Watergate-Skandals engagiert. In 'Blind Ambition', einem Film der auf John Deans Enthüllungen basierte, spielte sie die weibliche Hauptrolle.

Die britische Antwort auf den American Way of Life liefert am anschaulichsten und eindrücklichsten der Martin-Darsteller Gary Oldman, der zuletzt in 'Prick Up Your Ears' von Stephen Frears zu sehen gewesen ist. Ein hochtalentierter Schauspieler, der in 'Track 29' gefordert war – in einer Rollen- und Identitätenvielfalt, nämlich in immer neuen Ausgeburten von Lindas deformierter Phantasie. Eine glänzende schauspielerische Performance. Ein sechsjähriger, ungezogener, weinerlicher, trotziger Junge. Ein romantischer Liebhaber. Ein Engländer from Outer Space. Und gleichzeitig immer wieder Linda selbst: die defizitäre Frauenidentität. Rollenwechsel, Rollenspiel und Identitätserprobungen sind die britische Antwort auf Frust, Verkrustung und Stuss des American Way. 'Do you like games, Mami', fragt der junge Mann mit der Stimme des Sechsjährigen und fasst der schönen Linda unziemlich an die Brust. Schau-Spiele. Dann sagt er zu ihr: 'You can kiss me if you want'; aber das ist nicht seine, sondern Lindas Identität, die sich ins Spiel bringt.

'Track 29' ist ein Film des Schauspiels, der Akteure. Sie sind so gut und ungewöhnlich, wie man es sich aus therapeutischen und britischen Gründen nur wünschen kann. Listiger- und tückischerweise ist der Film so angelegt, dass die Schauspieler, sofern sie nicht britisch sind, aus der Rolle des typischen Amerikaners nicht herauskönnen. Zum Beispiel ist dem Dr. Henry Henry der 'Chattanooga Choo Choo'-Song zu weiter nichts als einem perversen Spielchen nütze, nämlich immer demselben. Christopher Lloyd spielt die lustige Masoszene mit derselben Mimik, wie er sie als Sado-Nazirichter im 'Falschen Spiel mit Roger Rabbit' zur Schau stellte. In 'Track 29' wird uns der Hit von 1941 wieder abgewöhnt, wenn Schwester Stein (Sandra Bernhard, mein Gott: seht Euch dieses Antlitz an!) die sterilen, aber roten Handschuhe überstreift und mit Inbrunst sowie im Takt auf den bloßen Oberarzthintern schlägt, dass die Lustschreie gellen und die Patienten auf ihren Rollstühlen aus der Fahrbahn geraten, draußen im Gang.

Christopher Lloyds Mimik ändert sich auch nicht, wenn er in einer großen Szene zum Präsidenten der Modelleisenbahnergesellschaft gewählt wird. Der Trainorama-Auftritt ist öffentlich und die Quintessenz aller TV-Aufnahmen, die wir vom amerikanischen Wahlkampf gesehen haben. Unter dem Union Jack fordert er geistige Disziplin und militärische Zucht. Was hat unsere große Nation zusammengeführt? Die Gleise waren es! (Zurufe, Zuschauer erheben sich von den Plätzen, Frauen heulen vor Rührung) Ich sage, was ich fühle. Wollt Ihr es wissen? (Ja! !) Ich schließe meine Augen. Ein Bild aus alten Zeiten. Wo wir wussten, wer wir waren, wo wir waren und wohin wir gingen. (Euphorische Schreie, orgiastischer Applaus, Luftballons steigen, der Chattanooga Choo Choo fährt ein, besetzt mit Girls, die rhythmisch mit ihren Tambourstäbchen schlagen, und unser Dr. Henry Henry-Darsteller stößt wieder seine Lustschreie aus, es sind die gleichen wie auf dem perversen Operationstisch im Stationstrakt, und es ist auch die gleiche musikalische Nummer. Womit Lloyds Spiel mimisch, aber leicht einsehbar bewiesen hat, dass zwischen privater und öffentlicher Perversität keinerlei Unterschied besteht und der schöne Chattanooga Choo Choo nebst reichster Hör- und Seherfahrung nichts nützt, wenn er lediglich als Reizauslöser für zwanghafte Wiederholungen benutzt wird, eben für den American Way of Life mindestens in diesem North Carolina).

Drehbuchautor Potter, Sohn eines Grubenarbeiters und Labour-Parlamentskandidat in den sechziger Jahren, hat die Konservativismus- und Nationalismusorgie dieses Wahlkampfs kenntnisreich nachempfunden und auf den Höhepunkt getrieben, und Regisseur Roeg hat in den Schauspielerorgasmus Szenen der Zerstörung, der Anarchie und des Umsturzes hineingeschnitten: eine manische, aber verdiente Antwort. Gott sei Dank gibt es King Kong, der Dr. Henry Henrys Lebenswerk plattmacht und seine Lustschreie abwürgt. Jeder, der Kinoerfahrung hat, weiß, wie das geht.

Zum Schluss des Horrortages ruft Linda die Freundin Arlanda (Colleen Camp) zu Hilfe. Arlanda ist unvergesslich, wie sie sich mit dem Papiertaschentuch die feuchten Achseln trocken reibt und im allerneusten Fitnessdress die Hanteln stemmt. Sie hat als typische Amerikanerin nichts gesehen und nichts gehört. Nicht mal den naughty boy Martin kriegt sie mit, selbst wenn sie danebensteht und er mit ihr spricht. Aber nun muss sie wählen. Zwischen der offenbar schwer psychotischen Linda und dem nicht minder geschädigten Gatten. Dr. Henry Henry lässt den Macho raushängen: 'Ich bin ein Doktor! Ich weiß, was ich tue', brüllt er und ohrfeigt seine Frau im Takt der roten Handschuhe, denn 'women and trains don’t mix'. (Ich nehme an, im Kino wird dies eine deutsche Synchronstimme sagen). Arlanda übt daraufhin Frauensolidarität und entscheidet: 'Herr Dr. Henry, Sie sind es, der verrückt ist', womit das amerikanische Upperclassdrama auch als das Drama einer Geschlechterunterdrückung definiert wird. Die Frau, daheim in der perfekten Zivilisation zwischen Massagestab und Swimmingpool, allein und einsam, sie registriert zuerst, dass 'das Leben leer, sinnentleert und zwecklos ist' (Linda). So dass der Aufbruch auf Gleis 29 mit Musik und allerlei Rollenspiel am besten von Frauen betrieben wird, die sich unartige aber liebe Jungs dazuholen, welche andererseits nichts anderes als manifeste feminine Hirngespinste zu sein brauchen. – Stimmt das Fazit? Egal. Einsteigen und abfahren ist immer noch besser als dableiben. In Wilmington.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 01/1989

Stammheim

(BRD 1985, Regie: Reinhard Hauff)

Hauffs Märchen Film
von Dietrich Kuhlbrodt

Wie der Baader den Prinzing zu Fall brachte und andere lustige Streiche aus der Festung Stammheim Ein Schaukampf am Hof des mächtigen Prinzing. Der Baader, obzwar Gefangener, fordert den Burgherrn …

Wie der Baader den Prinzing zu Fall brachte und andere lustige Streiche aus der Festung Stammheim

Ein Schaukampf am Hof des mächtigen Prinzing. Der Baader, obzwar Gefangener, fordert den Burgherrn höchstselbst heraus. Die Turnierregeln schreiben Wortgefechte vor. Hin und her wogt der Kampf. Und da, des Baader geschicktester Streich, fällt der große Prinzing. Erbärmlich nun und komische Figur. Denn er darf nicht mehr mitspielen und schon gar nicht vorsitzen. In der Stammheim-Sprache heißt das: er ist erfolgreich als befangen abgelehnt worden und muss abtreten.

Der Baader, ein junger Siegfried, schiebt sich die blonde Tolle zurück und freut sich des großen Siegs. Da steht er, strahlender Held, in Jeans und offenem Hemd, und schaut auf das Publikum. Die Männer in den schwarzen und roten Roben haben ihre Gewänder sorgsam in Falten gelegt. Und hinten, hinter der Barriere drängen sich die jungen Turniergäste. Kerls in Leder und Frauen mit der kunstvoll frisierten blonden Mähne. So könnten sie 1986 auch im Cafe Daisy in Blankenese sitzen. Und Baader, wie ihn Ulrich Tukur spielt, wäre einer der ihren, Tukur, ein hochbegabter und sehr beliebter Schauspieler, weiß, wie man sich in Szene setzt und wie man den eigenen Mythos schafft. Baader, 'ein ziemliches Schwein, ein Psychopath, ein Verrückter, – ein Mensch, der permanent die Schmerzgrenze überschritt; seine Brutalität, sein kindlicher Charme' (Tukur) wird in der Baader-Rolle als mythische Heldengestalt und als moderner Mensch, der voll im Trend liegt, angelegt. Tukur-Baader, Produkt modernen stylings, lässt sich zweifellos bestens vermarkten. Auch als Held eines Popsongs hätte Baader endlich Aussicht, in die Charts zu kommen. Tukur, freilich, spielt Theater, und Hauff macht aus dem Theater Film. Tukur will Baader 'politische Intentionen hier gar nicht absprechen, aber ich meine, die waren zur Zeit des Prozesses nicht mehr von der überragenden Bedeutung'. Ein wahres Wort.

Baader war zusammen mit seinen Mitgefangenen in Stammheim reduziert auf seine Rolle als Angeklagter, vorgeführt zwecks Ablieferung von Material für die Urteilsfindung. In der Rolle für einen Schauspieler wird Baader mehrmals vorgeführt, diesmal einem für Sprechkünste aufgeschlossenen Theaterpublikum. Und in der Filmvorführung reduziert sich Baader zum dritten Mal, als ästhetische Figur, als Dialoglieferant und als Bedeutungsträger in einer Welt des schönen Scheins. Denn Hauff hat einen gediegenen, redlichen, schönen, ja eleganten Film gemacht, der freilich den Nachteil hat, dass er den Widerstand, von dem so viel gesprochen wird, ästhetisch nicht vermittelt. Glatt, perfekt und supergepflegt sind die Bilder. Diese glauben nicht an das, was Baader, Meinhof, Ensslin, Raspe sagen. Ästhetisch gibt es keinen Widerstand gegen die bürgerlichen Normen. Baader und Meinhof reden ins Leere. Totaler könnte man sie nicht dementieren.

Hauffs Film ist gutgemeint, und er beherrscht das Kunstgewerbe. Aber der Biedersinn fruchtet nichts, im Gegenteil: er schreibt die Strategie der Richter von Stammheim ästhetisch fort und macht aus den Angeklagten, die vor neun Jahren in Stammheim den Tod fanden, heute nature morte, tote Gegenstände, Nippes fürs bürgerliche Interieur. Zum elektronisch verfremdeten Streichquartett gesellt sich ein zager Orgelton. Ulrike Meinhof in gedämpftem Licht. Der Ton blau in blau. Selbst die Farbe ihrer Schreibmaschine passt sich geschmackvoll ein. Das gepflegte Arrangement verrät, dass hier für eine Feier aufgeräumt wurde. Die Totenfeier für Ulrike Meinhof, inszeniert von der Firma Pietät & Takt: ein 'Stammheim'-Stilleben. Und die Ensslin, mit der Geige in der Hand, in der Isolationszelle: sanftes Licht umspielt ihr Antlitz, ihr Blick geht nach innen, Musik – Ja das ist hohe Isolations-Kunst. Ästhetisch sperrt sich nichts gegen diese Szene, im Gegenteil, sie vergoldet das Stammheimer Justizarrangement.

Die Zellen-Szenen ersetzen im Film den Blick hinter die Kulissen. Auf der Bühne selbst, dem Gerichtssaal, wird Theater gespielt, 192 Prozesstage in 107 Filmminuten. Drehbuchautor Stefan Aust hat hierfür das vierte Kapitel aus seinem Buch 'Der Baader Meinhof Komplex' benutzt. – In den Kulissen stellt er anhand von Zellenzirkularen und Briefen, die er zur Verfügung gehabt haben will, gruppendynamische Minispielszenen zusammen. Baader, Meinhof, Ensslin, Raspe – Opfer, die sich nicht mehr wehren können – werden im 'Stammheim'-Film nochmals observiert. Schon damals konnten sie nichts gegen Wanzen und Kameras ausrichten. Heute degradiert sie die bürgerliche Ästhetik des neugierigen Blick-hinter-die-Kulissen zum Gegenstand psychologischen Interesses.

Die Dramaturgie lässt den 'Stammheim'-Schauspielern keine Wahl. Sie müssen vor Gericht auftreten, und dies bühnenwirksam. Das machen sie daher so gut, dass man ihnen nicht glauben kann, was sie sagen,- nämlich dass sie sich im Hungerstreik befänden und verhandlungsunfähig seien. Denn sie sind in bester Bühnenform. Die Schlägereien mit den adretten Polizeibeamten zeugen von gezügelter Spielfreude. Die Kostüme sind gut gewählt, alles clean und propper. Wie sie das alles in 2 1/2 Wochen Drehzeit hingekriegt haben! Alles paletti! Alles Film! Alles frisch!

Das überschnelle, aber gut artikulierte Sprechen der Schauspieler verrät die meisterhafte Beherrschung von Bühnentechnik. Auch der Ton ist makellos. Freilich bedarf es einiger Anstrengung, die Inhalte aufzunehmen. Müheloser ist es da schon, den Weg in die psychische Entgleisung nachzuvollziehen. Man braucht dann nur noch hinzusehen. Drum kann sich der hervorragende Schauspieler Ulrich Pleitgen an die Rampe spielen. Er macht die Rolle des Vorsitzenden Richters Prinzing zu einem Kabinettstück. Als Gegenspieler von Tukur-Baader wird er aufgewertet. Schließlich geht es im 'Stammheim'-Film nur noch um ihn. Fällt er, fällt er nicht? Eine bange Frage. Die Dramaturgie des Films tut dem Richter viel Ehre an. Mit ihm wird die Justiz zur Hauptperson. Rise and fall of Prinzing: das zieht wieder die Aufmerksamkeit ab von dem, was Baader und Meinhof politisch beabsichtigen. Konsequenzen für die Gegenwart ergeben sich aus dem Duell Baader-Prinzing nicht. Der Fall Baader-Meinhof ist damit geschichtlich, dramaturgisch und ästhetisch erledigt. Hauff war zwar mit anderen Absichten an den Film herangegangen ('Der gesamte Komplex ‚Widerstand‘ ist in seiner Problematik aktuell, wie damals'), die von ihm für diesen Film benutzten Mittel der bürgerlichen Kultur haben ihn jedoch ganz woanders hingebracht. Die Mode und der Schick der spätachtziger Jahre haben Baader und Meinhof vereinnahmt. Irgendwann wird es einen Film geben, ein Video, eine Platte, eine Mode, die den Baader-Look und den Meinhof-Touch kreiert. 'Es war Jagd, Krimi, Bonnie und Clyde' (Drehbuchautor Aust). – Im 'Stammheim'-Film wird die Action noch ersetzt durch den Blick in die Baader-Meinhof-Seele. Es ist die falsche Aufklärung. Die Aufklärung, die Aust mit der Wiedergabe authentischen Materials über den Stammheim-Prozess beabsichtigt, scheitert daran, dass er keine Position bezieht. Formell kann er sich darauf zurückziehen, dass er sich mit der Ausbreitung von dokumentarischem Material (der Wiedergabe der Argumente) zufriedengeben kann oder muss. Tatsächlich ist Rede-Stoff auch einigermaßen ausgewogen ausgebreitet, ein jeder kommt zu seinem Wort. Aber der Trick mit dem dokumentarischen Prozess-Film funktioniert nicht. Buchstäblich durch die Hintertür, durch den Blick hinter die Kulissen, treibt das Drehbuch die politischen Kämpfer in die Psychologie und Pathologie: in den Wahnsinn. Eben das war seit Beginn des vorigen Jahrzehnts die Strategie des Staats die Straftäter zu entpolitisieren und den Kriminalfall durch die Justiz und schlimmstenfalls durch die Psychiatrie sauber zu erledigen. Die Richter blockten juristisch ab.

Der 'Stammheim'-Film ästhetisch

So wie der 'Stammheim'-Film funktioniert, ist die Bundesrepublik dieselbe geblieben. Und der Raspe-Spruch ('Die Bundesrepublik wird nach Stammheim nicht mehr dieselbe sein') wird vom Film selbst widerlegt, Jetzt ist es das liberale Bewusstsein, das die Rote Armee Fraktion problemlos vereinnahmt und stillstellt: eine Trophäe, ein Schmuckstück auf dem Vertiko. – Aust spricht von den Sympathien für die Angeklagten, 'auch als sie noch in Freiheit waren: eine Bewunderung für den Mut, die Entschlossenheit, die Konsequenz, mit allem zu brechen, was einem als bürgerliche Norm aufgegeben worden ist'. – Das Drehbuch und erst recht der Film unterlassen jedoch alles, was eine Umsetzung dieser Einsicht bedeutet hätte. Der Film lässt jeden Mut vermissen. Ästhetisch ist keinerlei Konsequenz gezogen, mit dem zu brechen, was den Wort- und Filmemachern als bürgerliche Norm, ein Buch oder einen Film herzustellen, aufgegeben ist. Der normgerechte Film, sein schöner Schein weisen auf Unentschlossenheit, Ängstlichkeit und Sorge ums gute Gewissen hin. Die Form widerspricht dem Inhalt der transportierten Argumentationsketten. Wer zu Wort kommt, hat den zugewiesenen Platz, die Redezeit und die Beschränkungen, wie wir sie von den aktuellen Podiumsdiskussionen kennen.

Ulrike Meinhof und Aust haben Ende der sechziger Jahre gemeinsam bei KONKRET gearbeitet. Heute hat Aust das letzte Wort – und die Kontrolle über das, was Baader und Meinhof gesagt und getan haben. Gefiltert durch Prozess, Buch, Theater und Film: Aust hat Verantwortung für eine Machtposition. Er wird sich fragen lassen müssen, ob es politisch verantwortlich, künstlerisch angemessen und menschlich vertretbar war, Baader-Meinhof im 'Stammheim'-Film ästhetisch zu bannen und politisch zu erledigen. Die ersten Reaktionen auf die geplatzte Premiere am 31. Januar in der Hamburger Kampnagel-Fabrik sprechen dafür, dass der Anspruch, Baader/Meinhof zu kontrollieren, nicht akzeptiert wird und auch nicht durchsetzbar ist. Totale – aber diesmal totale politische – Kontrolle war nach Ansicht Baaders eben der Gegenstand des Stammheim-Verfahrens. ('Gegenstand dieses Verfahrens ist die totale Kontrolle dieses Staates durch die Welt-Innenpolitik des US-Kapitals'). Die gutgemeinten Versuche, diesen Film zu produzieren, gingen über das Thalia Theater in Hamburg und das Hamburger Filmbüro zur Hamburger Wirtschaftsfilmförderung. Die Behörde mit dem Namen 'Filmbewertungsstelle Wiesbaden' vergab dem 'Stammheim'-Film das höchste Prädikat: besonders wertvoll. Und eingeladen wurde 'Stammheim' Ende März 1986 zur Teilnahme am Wettbewerb der Berliner Filmfestspiele. Was Aust und Hauff ästhetisch vereinnahmten, nimmt auch der Staat in Anspruch. Das führt sicherlich nicht zu der von Baader bezeichneten totalen Kontrolle. Die staatliche Beteiligung hat etwas Versöhnliches an sich. Will der neue Kompagnon teilhaben an der Erledigung und endlichen Bewältigung des 'Baader-Meinhof-Komplexes'? Das Interesse scheint ästhetisch-strukturell vorprogrammiert. Hauff, der in der staatlichen Förderung 'Öffnungen', sieht, die es 'immer noch gibt', müsste sich überlegen, ob es nicht auch umgekehrt geht: Öffnet sich der Film dem Staat? Hat er – Angehörige wie Gottfried Ensslin meinen es – die Funktion, 'bei Normalbürgern endgültig revolutionäre Hoffnung zu zerstören und innerhalb der Linken Spaltung zu betreiben'? (aus einem Flugblatt in der Hamburger Kampnagelfabrik).

Im 'Stammheim'-Film bleibt Tukur Sieger, auch Aust, Hauff, die deutsche Kultur. Wo die Baader-Meinhof-Gruppe abbleibt, das ist tragisch, zum Mitleiden, hoffnungslos und Schicksal. Da können sich alle einig sein. Oder nicht?

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 03/1986

Man for a Day

(D 2012, Regie: Katarina Peters)

What a (Wo)Man
von Ricardo Brunn

Es ist einer dieser skurrilen Kinomomente, die das Medium so faszinierend machen: Da tobt eine Debatte um das Ritual der Beschneidung quer durch das politische und religiöse Leben des Landes …

Es ist einer dieser skurrilen Kinomomente, die das Medium so faszinierend machen: Da tobt eine Debatte um das Ritual der Beschneidung quer durch das politische und religiöse Leben des Landes und just in diesem Moment kommt ein Dokumentarfilm über Gender-Konstruktionen in die Kinos, in dessen Prolog eine Beschneidung zu sehen ist, bevor in aller Gelassenheit der Titel des Filmes („Man for a Day“) eingeblendet wird. Ich will keine falschen Erwartungen wecken. Der hier besprochene Film kreist nicht um das Thema religiöser Beschneidung und ich werde diese Szene, wie der Film im Übrigen auch, nicht noch einmal aufgreifen. Als Auseinandersetzung mit den eigenen Kastrationsängsten, die der Film auszulösen vermag, und als Verweis auf die kuriosen Bezüge zwischen Realität und Film taugt der Exkurs aber allemal.

In „Man for a Day“ verfolgt Regisseurin Katarina Peters, die 2005 mit ihrem sehr privaten wie beeindruckenden Debütfilm „Am seidenen Faden“ für den Europäischen Filmpreis nominiert wurde, einen Workshop der Gender-Aktivistin und Performance-Künstlerin Diane Torr, die darin den Ursprüngen der Gender-Identität nachforscht. Die Teilnehmerinnen dieses Kurses, es sind zunächst einmal Archetypen wie die allein erziehende Mutter, die kesse Schönheitskönigin oder die selbstbewusste Politikberaterin, verwandeln sich unter Anleitung Torrs innerhalb einer Woche in Männer. Nicht die Mimesis oder die Annäherung steht hier im Vordergrund, sondern das Einlassen auf das Unbekannte, das Beherrschende und die damit verbundenen, eigenen Befangenheiten. Es geht um eine möglichst vollkommene Transformation mit der Absicht, männliche wie auch weibliche Verhaltensmuster sichtbar zu machen, zu verstehen und bestenfalls bewusst zu nutzen – oder um einfach „die Windstille, die Männer umgibt“ zu spüren, wie es eine der Teilnehmerinnen formuliert. Deshalb genügt es auch nicht, die langen Haare unter einer Mütze zu verstecken oder weiterhin mit lackierten Fingernägeln in Erscheinung zu treten, denn in ihrer neuen Rolle sollen die Teilnehmerinnen früher oder später auf die Straße und unter (echte) Männer treten.

Mit angenehmer Leichtigkeit hinterfragt der Film die soziokulturelle Konstruktion der Geschlechterrollen. Und es ist insbesondere dem ungeheuer genauen Blick von Diane Torr, der in der Montage durch Archivaufnahmen zu einigen ihrer Performances reflektiert wird, zu verdanken, dass der männliche Zuschauer das ein oder andere Mal angenehm irritiert im Kinosessel nach unten rutschen und über das eigene Gebaren schmunzeln muss: Der (öffentliche) Raum wird beispielsweise durch einen bestimmten Gang erobert, Augen bewegen sich prinzipiell nur mit dem Kopf und das Lächeln müssen sich die Teilnehmerinnen gleich als erstes abgewöhnen, denn Männer lächeln nicht grundlos. In seinen schönsten Momenten wird so der Gaze im Film spielend umgekehrt, ohne zum übermotivierten Zeigefingerfeminismus zu geraten.

Leider verzettelt sich der Film gegen Ende dann heftig. Solange er sich im geschützten Raum seiner Experimentieranordnung (Workshop) bewegt, funktioniert er. Problematisch wird es an den Grenzen dieses Systems. Zu sehr verlässt sich die Regisseurin auf das Ideengebäude von Diane Torr. Ohne sie und das Seminar verliert der Film seine Richtung und den Mut, sein Thema auch außerhalb des Kurses zu betrachten oder gar weiterzuentwickeln. Stattdessen wird dem Workshop teils redundantes Material nachgelagert. Inkonsequent werden Figuren noch ein Stück weiter begleitet, aber nicht zu Ende erzählt. Mit ihrer Zurückhaltung vermeidet die Regisseurin zwar, in die allzu offensichtlichen Gender-Fallen zu tappen (die archetypischen Hauptfiguren haben allesamt auch archetypische Probleme mit dem anderen Geschlecht), dadurch verfehlt der Film allerdings auch jede Abgeschlossenheit. Die Regisseurin ist so sehr auf das Zeigen aus sicherer Entfernung bedacht, dass am Ende weniger sichtbar gemacht wird als am Beginn möglich schien. Wenn Diane Torr mit ihrer Tochter in Venedig spazieren geht, ist das keine Annäherung an die charismatische Protagonistin, sondern vielmehr eine Ausrede, ihr und ihrer Motivation, sich mit Geschlechterrollen so intensiv auseinanderzusetzen, nicht näher kommen zu müssen. Vielleicht stand hier die bereits dreißig Jahre währende Freundschaft zwischen Regisseurin und Protagonistin einer objektiveren filmischen Begegnung im Weg.

Wirklich bitter ist jedoch, auch wenn es kleinlich erscheinen mag, der Kurzauftritt von Claudia Roth, die ach so überrascht ins Bild hineinperformt und vollkommen hin und weg ist, von so viel Aufmerksamkeit. Und dann steht sie für ein paar Sekunden da und darf bewundert werden – die Musterfrau der deutschen Politik. Doch weder dafür, noch als Erläuterung des beruflichen Umfelds einer der Protagonistinnen ist sie tatsächlich geeignet. Und es hilft auch nicht, dass Diane Torr im Anschluss an diese Szenen anmerkt, dass wir alle Schauspieler sind. Der Auftritt Claudia Roths ist vor allem Ausdruck für die politische Gesinnung der Regisseurin und damit unangenehm irritierend.

Am Ende bleibt das Gefühl, der Film hätte mehr aus seinem Sujet und seinen Figuren machen können. Zwar ist die Verwandlung der Kursteilnehmerinnen wunderbar amüsant anzuschauen, schafft aber beim Zuschauer zu keinem Zeitpunkt ernsthafte Verunsicherung, die bei diesem Thema durchaus reizvoll hätte sein können. Gerade über die Montage hätte der Film mit der Inszenierung der Identitäten spielen können und so auch seinen thematischen Überbau stützen und für das Publikum erfahrbarer machen können.

Vielleicht hätte ein Mann dem Schnitt gut getan, denn manchmal ist eine andere Sichtweise eben entscheidend hinsichtlich all der Verwirrungen zwischen den Geschlechtern.

Das verflixte 3. Jahr

(F 2012, Regie: Frédéric Beigbeder )

Komödien-Potpourri
von Wolfgang Nierlin

Die Gefühle sind nicht echt und glaubwürdig dargestellt schon gar nicht. In der ersten Hälfte von Frédéric Beigbeders Filmkomödie „Das verflixte 3. Jahr' („L’amour dure trois ans') werden die große …

Die Gefühle sind nicht echt und glaubwürdig dargestellt schon gar nicht. In der ersten Hälfte von Frédéric Beigbeders Filmkomödie „Das verflixte 3. Jahr' („L’amour dure trois ans') werden die große Liebe und die Zweier-Beziehungen, die sie begleiten, mit einem mächtigen Aufgebot virtuos eingesetzter filmischer Mittel denunziert. Den Auftakt dazu darf der lebenserfahrene Charles Bukowski machen: „Liebe ist wie ein Nebel am Morgen. Im ersten Licht des Tages löst sie sich auf.“ Zweifellos identifiziert sich mit diesem Statement wohl nicht nur der Regisseur und Schriftsteller Beigbeder, der für seinen Debütfilm einen eigenen Roman adaptiert hat, sondern auch sein larmoyantes Alter Ego Marc Marronier (Gaspard Proust). Der 30-jährige Pariser Literaturkritiker und Szenekolumnist hat auch gleich eine Allerweltstheorie für diesen angeblich empirischen Sachverhalt parat: „Liebe ist ein von vornherein verlorener Kampf gegen die Zeit.“ Demnach dauert sie drei Jahre; und deshalb findet sich der frustrierte Marc, nachdem ein stimmungsvoller Super-8-Vorspann sein verflossenes Liebesglück zusammengefasst hat, mit vielen anderen unglücklichen Paaren vor dem Scheidungsrichter.

Wenn sich Marc dann im ersten Kapitel seines aus dem Off erzählten Rückblicks auf das Scheitern der Liebe im Allgemeinen wie Besonderen in niveauvollem Weltschmerz, hedonistisch aufgehübschtem Selbstmitleid und schicker Verwahrlosung ergeht, zeigt sich die ganze Inhaltsleere, um die herum Beigbeders Hokuspokusfilm arrangiert ist. Denn hinter den sattsam bekannten Zeichen einer von Klischees durchwirkten Oberflächenästhetik gibt es kaum etwas, was dem echten Leben ähnelt, sondern das allenfalls und bis in die Negationen hinein Wunschvorstellungen projiziert. Insofern ist „Das verflixte 3. Jahr“ reinstes, durchaus souverän und abwechslungsreich gestaltetes Zutaten- und Reproduktionskino, das kreativ aussieht, mit größter Selbstverständlichkeit abschnurrt und kaum mehr als kurzweilige Unterhaltung bietet. Leider kommt noch dazu, dass Frédéric Beigbeder sein mäßig lustiges Komödien-Potpourri bis zu seinem vorhersehbar schmalzigen Happyend mit einer sehr traditionellen, um nicht zu sagen konservativen Liebes- und Geschlechterpolitik ummantelt.

Diese ist es wohl auch, die Marc ebenso zum schriftstellerischen Erfolg verhilft wie zum Verhängnis wird, als er sich seinen Liebes- und Beziehungsfrust in einem literarisch dürftigen Erfahrungsroman von der Seele schreibt. Nicht umsonst will der gefeierte Autor, der sich selbstverliebt als „sexistisches Arschloch“ bezeichnet, anonym bleiben. Die Modefotografin Alice (Louise Bourgoin), seine neue, heiß umworbene Liebe, hält das auf Bestseller getrimmte Buch nämlich für „Schreibdurchfall eines Wichsers“. Dass er schließlich trotzdem geoutet wird, liegt nicht nur in der retardierenden Erzähllogik der Dramaturgie, sondern vor allem in der damit verbundenen glorreichen Bekehrung des Helden zur wahren – jetzt rehabilitierten – Liebe, die ohne regenreiche Durststrecken und romantisch-schwärmerisch-männliche Selbstkasteiung in Beigbeders filmischem Liebeskitsch nicht zu haben ist. Oder handelt es sich hier etwa um eine Parodie des Genres? Dann fehlen ihr allerdings zumindest Abstand und Biss.

Woody Allen: A Documentary

(USA 2012, Regie: Robert B. Weide)

In Anbetracht der Endlichkeit
von Wolfgang Nierlin

Die Kindheitsidylle im damals noch beschaulichen und sicheren New Yorker Stadtteil Brooklyn endete für den kleinen, 1935 geborenen Allen Stewart Konigsberg in dem Moment, als er sich seiner eigenen Sterblichkeit …

Die Kindheitsidylle im damals noch beschaulichen und sicheren New Yorker Stadtteil Brooklyn endete für den kleinen, 1935 geborenen Allen Stewart Konigsberg in dem Moment, als er sich seiner eigenen Sterblichkeit bewusst wurde. In seiner Vorstellung war das unbeschwerte Glück und die Geborgenheit innerhalb einer großen, lebendigen Familie plötzlich nicht mehr von Dauer. Dazu begleitete den Heranwachsenden, der als schlechter, von den Lehrern gehänselter Schüler in der Schule wenig Freude hatte, zunehmend das Gefühl, nicht richtig in seine Familie zu passen; was von verschiedenen Familienmitgliedern mehr oder weniger bestätigt wird. Auch wenn Robert B. Weide in seinem ausführlichen Film „Woody Allen: A Documentary“ diesen Außenseiterstatus des werdenden Komikers kaum strapaziert, so ist er in der Lebens- und Werkbeschreibung doch stets präsent.

Schon der 16-jährige Gag-Schreiber und Stand-up-Comedian, der sich einen Künstlernamen zulegt und eine viereckige schwarze Brille zu seinem Markenzeichen macht, scheint dies zu bestätigen. Auf der Bühne des „Bitter End“ in Greenwich Village erarbeitet sich das Naturtalent Woody Allen mit Staunen erregendem Improvisationstalent, überbordendem Einfallsreichtum und viel Fleiß eine treue Fangemeinde. Doch obwohl der Komiker als „neue Stimme“ wahrgenommen und gefeiert wird, fühlt er sich als Performer unwohl. Noch im Rückblick auf sein umfangreiches, über vierzig Filme zählendes Œuvre merkt der Verfechter der „Quantitätstheorie“ selbstkritisch an, dass kaum ein guter darunter sei. Diese Skepsis in Bezug auf das eigene künstlerische Schaffen, seine etwas schrullige, altmodische, dabei jedoch ökonomisch höchst effiziente Arbeitsweise (seit seinen Anfängen hat Allen eine unverwüstliche Olympia-Schreibmaschine in Gebrauch) sowie seine kontinuierliche Arbeitswut (auch über schwierige Lebensphasen hinweg) belegen und verfestigen mit den Jahren Woody Allens Außenseiter-Status.

Die enorme Produktivität des New Yorker Filmkomikers erscheint dabei als Abwehr und zugleich als permanente Auseinandersetzung mit der eingangs zitierten Frage nach dem Sinn des Lebens in Anbetracht seiner Endlichkeit. Geradezu leitmotivisch ziehen sich deshalb die als absurd empfundenen Daseins- und Liebesverhältnisse durch seine Filme, weshalb er von einem der vielen interviewten Weggefährten und Zeitzeugen auch einmal als „Camus unter den Komikern“ bezeichnet wird. Im Verlauf seiner Karriere verbindet Allen dabei immer stärker sein komisches Talent mit seinem Hang zu ernsten Stoffen und zum Geschichtenerzählen, was sich in seinem höchst erfolgreichen Film „Annie Hall“ aus dem Jahre 1977 widerspiegelt, den der bescheidene Regisseur im Vergleich zu seinem umstrittenen „Stardust Memories“ (1980) allerdings als künstlerisch weniger gelungen einstuft.

Das Tragische habe, so Woody Allen, einen direkteren Bezug zur Realität als die distanzierende Komik. Unterstützt wird seine filmkünstlerische Entwicklung in dieser Hinsicht vom Bildgestalter Gordon Willis, dem „Fürst der Dunkelheit“, sowie seinen bevorzugten Schauspielerinnen Diane Keaton und Mia Farrow, die sein zunehmendes Interesse für eine weibliche Perspektive befördern. Außer einem knappen Hinweis auf den Einfluss von Bergman und Fellini erfährt man in Weides konventionell gestalteter Dokumentation, die sich mehr mit dem Menschen und Künstler als mit der Exegese seines Werks beschäftigt, jedoch leider nichts über Allens Cinephilie. Dass dieser die Praxis des Filmemachens im Vergleich mit der puren Freude des Schreibens als „Katastrophe“ empfindet, eröffnet wohl nicht absichtslos den Reigen seiner Statements. Seine Filme sind insofern gegen den stets künstlerisch wie auch existentiell drohenden Kontrollverlust gemacht, halten sich aber überraschenderweise nicht dabei auf, perfekt sein zu wollen. Sein Leben sei ein glückliches, trotzdem habe er das Gefühl, es immer wieder zu „vermasseln“, so Woody Allen.

Allein die Wüste

(D 2011, Regie: Dietrich Schubert)

Zwangserwärmung
von Andreas Thomas

Regen, Kälte und kein Ende. So schmeckt der Sommer. Filmemacher Dietrich Schubert tut genau das Richtige: Er packt sein Zelt und fährt dahin, wo die Hochs sich die Klinke in …

Regen, Kälte und kein Ende. So schmeckt der Sommer. Filmemacher Dietrich Schubert tut genau das Richtige: Er packt sein Zelt und fährt dahin, wo die Hochs sich die Klinke in die Hand geben. In die marokkanische Wüste, die Ende September mit Temperaturen von teilweise über 40 Grad ziemlich überdeutlich an Sommer erinnern, „wie er früher einmal war“ (Rudi Carrell).

Zugegeben, bei Schuberts Selbstversuch handelt es sich eher um eine selbstverordnete Zwangsisolation als um eine Rückerwärmung, die selbstgestellte Frage lautet: Wie lange kann ich die Wüste, wie lange kann ich mich ertragen?

Mit Mineralwasser, Brauchwasser und Verpflegung für etwa zwei Monate ausgestattet, kampiert Schubert neben einer Akazie, lässt sich die Sonne auf den Pelz scheinen und den Sandsturm um die Nase wehen. Er füttert täglich eine benachbarte Maus, damit sie ihn nicht mehr nachts durch ihr Knabbern wecken soll, nennt sie fantasiebegabt „Herr Maus“, und einen geselligen kleinen schwarzweißen Vogel, arabischer Name „Mula Mula“, nennt er „Frau Mula Mula“.

Entstanden aus der Idee, primär einen Selbsttest zu machen, sekundär darüber eventuell diesen Film zu drehen und tertiär diesen Film eventuell zu vermarkten, wirkt das Werk etwas unentschlossen und streckenweise ähnlich lethargisch wie sein Protagonist, Regisseur, Ton- und Kameramann in Personalunion, der ganz erstaunt berichtet, dass er es fertigbringt, stundenlang einfach da zu sitzen und in die erstaunlich vielseitige und vielfarbige Wüste vor dem Panorama hoher Berge zu schauen, ohne sich zu langweilen und ohne auch nur einmal ein Buch oder den Weltempfänger zu gebrauchen: Eine für den Siebzigjährigen sicherlich kathartische Erfahrung („Die Wüste ist eine Dusche für die Seele“), für den Zuschauer aber nur schwer optisch vermittelbar, besonders wenn der Selbstfindungsreisende ein doch weniger eloquenter und exhibitionistischer Mensch ist, als es dem Film gut täte.

Es wäre z.B. aufschlussreicher gewesen, hätte Schubert einmal die Kamera auf seine alltäglichen Verrichtungen gerichtet: Aufstehen, Waschen, Frühstücken, nur verbal erfahren wir von ihm, dass er stets versucht, die Stille in der Wüste nicht zu stören, indem er beim Abwaschen jedes laute Klappern vermeidet. Fast nichts erfahren wir über seine mitgebrachten Nahrungsvorräte, nur indirekt und zufällig, wenn Schubert „Herrn Maus“ mit Rosinen aus seinem Müsli füttert.

Dass die Wüste viel mit Selbsterfahrung zu tun hat, zeigen, wenn schon nicht dem Träumer selbst, dann wenigstens dem psychologisch interessierten Zuschauer, Schuberts Gewaltträume, die ihn überfordern, die zu Fluchtträumen werden; für jemanden, der als Kind selbst Flüchtling war, ist von Flucht zu träumen, nichts unbedingt Abwegiges. Und auch ein Traum von einem großen schwarzen Hund, der bald für immer eingesperrt wird, geträumt am Ende seines Aufenthaltes, spricht eine deutliche Sprache. Schubert brauchte offenbar erst einen Psychologen, der ihm erklären musste, dass er hier von sich selbst träumte.

„Allein die Wüste“ wäre vielleicht besser ein privates Erlebnis/Unternehmen geblieben. Für ein Interesse von größerer Tragweite fehlt es entweder an einer, sagen wir es ruhig, interessanteren Hauptfigur oder aber an einem Regisseur, der das kathartische Element, die Wüste, bewusst in den Mittelpunkt des Vermittlungsinteresses zu stellen versucht. Das aber hätte bedeutet, eine Intensität der Stille, der Sandstürme, der Weite zu zeigen, die nicht immer wieder durch Kommentare gestört würde, die man auf jedem Campingplatz vernehmen kann: „Wenn der Wind so bleibt, werde ich morgen wieder abreisen!“

Alpen

(GR 2011, Regie: Giorgos Lanthimos)

Eindringen in den Familienleib
von Wolfgang Nierlin

„Du bist noch nicht bereit für Pop“, verfügt der strenge Tanzlehrer im Kommandoton gegenüber seiner gehorsamen Schülerin. Die grazile Sport-Gymnastin (Ariane Labed) versucht sich in der Eröffnungsszene des Films an …

„Du bist noch nicht bereit für Pop“, verfügt der strenge Tanzlehrer im Kommandoton gegenüber seiner gehorsamen Schülerin. Die grazile Sport-Gymnastin (Ariane Labed) versucht sich in der Eröffnungsszene des Films an einer Choreographie zu Carl Orffs „Carmina Burana“, möchte aber viel lieber zu Popmusik tanzen. Ihr unzufriedener Trainer (Johnny Vekris) bleibt aber gnadenlos unnachgiebig, droht der eingeschüchterten Tänzerin sogar mit brutaler Gewalt. Wie schon in „Dogtooth“ analysiert der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos auch in seinem neuen Film „Alpen“ (Alpeis) hierarchische Machtverhältnisse und gewalttätige Abhängigkeitsbeziehungen. In absurd erscheinenden Arrangements und grotesken Handlungen skizziert er dabei eine parabolische Ordnung, deren bedrohliche innere Spannung zur Implosion neigt und sich mit einer Art gefährlichem Humor immer wieder in unvermittelten Schocks entlädt. Dabei ist „Alpen“ völlig undramatisch, geradezu indirekt erzählt, was sich vor allem in Schärfenverlagerungen, angeschnittenen Bildern und vielen Rückenansichten ausdrückt.

Auch in seinem Handlungskern, einer verrückten Versuchsanordnung aus absurdem Theater und Sciencefiction, dekliniert Lanthimos mit Ironie und doppeldeutigen Dialogen die destruktiven Spielregeln der Macht. So straft Mont Blanc (Aris Servetalis), Anführer einer Gruppe, die sich Alpen nennt, Ungehorsam und abweichendes Verhalten mit sadistischer Gewalt und Ausschluss. In den penibel recherchierten und geplanten Einsätzen betreut der Geheimbund die Angehörigen von Verstorbenen, indem seine Mitglieder deren frühere Rollen als Ehefrau, Tochter oder Freundin einnehmen und nachspielen, um den Verlust des geliebten Menschen zu mildern. In der theatralischen Wiederholung von Gesten, Sätzen und Handlungen wird dabei die Erinnerung beschworen und die verlorene Vergangenheit konserviert. Die Inszenierung eines falschen Lebens im richtigen funktioniert insofern fast wie ein Hollywoodfilm; nicht umsonst bilden die Namen populärer Filmstars, als wären sie Platzhalter von Träumen, den Subtext des Films.

So ist es die Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit, die das in mehrfacher Hinsicht abweichende Verhalten der Krankenschwester mit dem Decknamen Monte Rosa (Aggeliki Papoulia) motivieren. Diese spielt zum Einen die immer deutlicher sexuell konnotierten Rollen einer Ladenbesitzer-Gattin sowie einer Frau, die mit einer Blinden befreundet ist; zum anderen aber übernimmt sie auf eigene Rechnung die Rolle eines 16-jährigen Mädchens, das bei einem Unfall tödlich verunglückt ist und vermischt dabei die Ebene des Rollenspiels mit ihrem Privatleben. Monte Rosa lebt noch mit ihrem Vater zusammen, was Yorgos Lanthimos nutzt, um mit unterkühltem Blick von einem ungestillten Liebesverlangen in einer Vater-Tochter-Beziehung zu erzählen. Dafür pervertiert er nicht nur die Struktur des Inzests, sondern er inszeniert darüber hinaus das hilflose Begehren der traurigen Heldin als aggressives Eindringen in den Familienleib. Der Tyrann straft das mit sadistischer Gewalt. Ob sich darin auch gesellschaftliche Machtverhältnisse spiegeln, lässt der Film offen. In der Rahmenhandlung – gerade hat die Gymnastin zum Instrumental der bekannten Melodie „Popcorn“ getanzt – lässt Lanthimos die Schülerin zu ihrem väterlichen Lehrer über dessen fragwürdigen Erziehungserfolg jedenfalls sagen: „Du bist der beste Trainer der Welt.“

Tomboy

(F 2011, Regie: Céline Sciamma)

Rollentausch
von Wolfgang Nierlin

„Es ist der Blick der anderen, der darüber entscheidet, wer man ist“, sagt die französische Regisseurin Céline Sciamma. In ihrem neuen Film „Tomboy“ hält sie den Zuschauer relativ lange im …

„Es ist der Blick der anderen, der darüber entscheidet, wer man ist“, sagt die französische Regisseurin Céline Sciamma. In ihrem neuen Film „Tomboy“ hält sie den Zuschauer relativ lange im Ungewissen darüber, ob es sich bei der etwa 10-jährigen Hauptfigur um ein Mädchen oder einen Jungen handelt. Dieses gekonnte Spiel mit den schwebenden Einstellungen des Blicks, der nach identifizierbaren Merkmalen sucht, reflektiert das Verhältnis der Geschlechter; und er weist diesen zugleich Rollen zu. Wie der Filmtitel bereits andeutet, ist Laure (Zoé Héran) ein Mädchen, das sich nicht nur wie ein Junge kleidet, fühlt und benimmt, sondern mit seinem burschikosen Kurzhaarschnitt auch wie ein solcher aussieht. Dazu kommt noch, dass sie gerne Fußball spielt und auch vor Raufereien nicht zurückschreckt. Ihre maskulinen Bewegungen und Gesten sind Ausdruck eines androgynen Körpergefühls und sprechen zugleich von der Suche nach der eigenen Identität.

Der kontrollierende Blick in den Spiegel und die förmliche Einstudierung von Rollen zeigen aber immer auch den spielerischen Charakter dieser Unsicherheit. Dabei ist Laure emotional noch ganz Kind, das am Daumen nuckelt und sich nach väterlicher Geborgenheit sehnt. Wenn ihr Vater (Matthieu Demy) sie eingangs das Steuer seines Wagens lenken lässt, ihr später anbietet, an seinem Bier zu nippen und dann ankündigt, ihr das Pokerspiel beibringen zu wollen, thematisiert der Film auch die unterbewusste elterliche Projektion von Geschlechterrollen. Für ihre jüngere Schwester Jeanne (Malonn Lévana) wiederum ist Laure eine Mischung aus bester Freundin und beschützendem großen Bruder. Die Gefühlslage von Sciammas Heldin, von Zoé Héran ganz selbstverständlich und mit großer Natürlichkeit dargestellt, ist also äußerst komplex und widersprüchlich.

Als Laure mit ihrer Familie an einen neuen Wohnort umzieht, wo es für sie gilt, neue Freunde zu gewinnen, wird aus dem Spiel bald Täuschung und aus der Täuschung Lüge, die sich immer mehr zum Dilemma verdichtet. „Du bist nicht wie die anderen“, sagt die gleichaltrige Lisa (Jeanne Disson), als sich Laure ihr gegenüber als Mickäel vorstellt. Während zwischen den beiden Liebesgefühle aufkeimen und sich Laure in ihrer Jungs-Rolle immer besser in Lisas Clique integriert, gestaltet sich ihr Wechsel zwischen den Geschlechter-Welten immer schwieriger und komplizierter. Céline Sciamma inszeniert diese Kontraste als Spiel zwischen Wahrheit und Lüge. Die unverbrauchten Bilder ihres unaufdringlichen, geradezu luftigen Realismus spüren in alltäglichen Gesten Gefühlsnuancen auf. Angesiedelt in den Sommerferien an einem Ort inmitten der Natur und des Lichts, sind in „Tomboy“ die Aufbrüche entsprechend hoffnungsvoll und die Ausschlussverfahren umso schmerzhafter. Trotzdem findet sich zwischen Geheimnis, Scham und unvermeidlicher Wahrheit schließlich doch noch ein (zumindest vorläufig) gangbarer Weg für die Heldin.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Water Lilies

(F 2007, Regie: Céline Sciamma)

Enthaarungsinspektion
von Wolfgang Nierlin

Céline Sciammas Debütfilm „Water Lilies“ zeigt die Grausamkeit der Adoleszenz Die Übereinstimmung und das Gleichmaß bestimmen die Choreografie der Mädchenkörper, ihre Bewegungsabläufe und Formationen beim Synchronschwimmen. Während unter der Wasseroberfläche …

Céline Sciammas Debütfilm „Water Lilies“ zeigt die Grausamkeit der Adoleszenz

Die Übereinstimmung und das Gleichmaß bestimmen die Choreografie der Mädchenkörper, ihre Bewegungsabläufe und Formationen beim Synchronschwimmen. Während unter der Wasseroberfläche die Beine zappeln, rudern und lenken, setzen die geschminkten Gesichter über Wasser im gleichgeschalteten Rhythmus graziler Bewegungen ein künstliches Lächeln auf. Fragmentiert erscheinen die gedrillten Körper dieser „Mädchenarmee“ (Sciamma) in den Bildern uniformer Abläufe und ästhetisierter Schwimmfiguren. Das Verborgene und das Sichtbare, Schein und Sein sind hier in einem fortlaufenden Wechselspiel aufeinander bezogen, tauschen unablässig die Rollen. In einem Spannungsverhältnis stehen aber auch individuelle Anmut und Anpassungsdruck in bezug auf die Gruppe. Vom Muskeltraining bis zur Enthaarungsinspektion unterliegen die ausgestellten Körper einer strengen Kontrolle und Disziplin. Der sterile, kalte Raum der Schwimmhalle scheint diese militärisch anmutende Zurichtung noch zu unterstützen. Und doch ist dies zugleich der Ort, an dem die Konzentration auf den Körper verborgene Blicke und sexuelle Phantasien weckt.

„Für mich ist es ein schwüler Ort, wo Begierden geboren und Dinge offenbart werden“, sagt die 28-jährige französische Regisseurin Céline Sciamma, die ihren beeindruckenden Debütfilm „Water Lilies (Naissance des pieuvres) zu großen Teilen im Schwimmbad eines namenlosen Vororts spielen lässt. Überhaupt beschreibt ihr Pubertätsdrama eine hermetische, zeitlose Welt aus Leere und Langeweile, in der fast keine Erwachsenen oder Eltern vorkommen und in der alles auf die „Grausamkeit dieses Lebensabschnitts“ konzentriert ist. Der wirkliche Feind in der Adoleszenz, so Sciamma, ist man selbst. Alle Formen von Begierde seien unvermeidlich und nicht zu mildern. Und so ist jede ihrer Heldinnen in einem imaginären Netz aus unausgesprochenen Gefühlen und sexuellen Begierden, aus Hoffnungen und Enttäuschungen gefangen. In dieser Phase des Übergangs und der ersten Schritte auf fremdem Terrain ist alles Fühlen und Handeln von einer allgegenwärtigen Unsicherheit dominiert. Als Ausdruck der sich entwickelnden Individualität wird dieses Schwanken zwischen Offenheit und Schweigen in einem ambivalenten Körperbewusstsein reflektiert: dem selbstkontrollierenden Blick in den Spiegel, der Scham vor Nacktheit und der Sorge um den „falschen“ Körper(geruch). Céline Sciammas Blick auf die „Geburt der Weiblichkeit“ entfaltet ein psychologisch fein nuanciertes Geflecht aus verspielter kindlicher Unschuld und erwachsenen Sehnsüchten.

Die 15-jährige Marie (Pauline Acquart), ihr begehrender Blick und ihre vielstimmige Schüchternheit, bilden das Zentrum dieser an sich selbst leidenden, sich selbst verzehrenden Identität. Ihre Bewunderung und ihr Sehnen gilt der reifer wirkenden, schönen Floriane (Adèle Haenel), dem neidisch beäugten Star einer Gruppe von Synchronschwimmerinnen. Zugleich ist die Außenseiterin Marie mit der leicht übergewichtigen Anne (Louise Blachère) befreundet: eine kindlich-verschworene Freundschaft, die sakrosankte Züge trägt und die zunehmend überschattet wird von der Rivalität zwischen Floriane und Anne, die um den gleichen Jungen buhlen. Die sich entwickelnde Distanz hat aber noch einen anderen Grund: Weil Marie in Floriane verliebt ist, sie anhimmelt und ihr nahe sein will, lässt sie sich von ihr ausnutzen. Sie deckt die vermeintlich amourösen Abenteuer Florianes, die bei den anderen Mädchen im Ruf steht, eine sexuell erfahrene „Schlampe“ zu sein. Darüber entwickelt sich eine intime Nähe zwischen den beiden, eine ebenso komplizenhafte wie komplizierte Vertrautheit, die allmählich offenbart, dass Florianes Abgeklärtheit mehr Wunsch und Selbstschutz ist als Wirklichkeit und dass Maries Liebe unerfüllt bleiben muss.

Céline Sciamma zeigt in ihrem verhalten inszenierten, von subtilen Zwischentönen durchwirkten Film das geheime Ausloten der Gefühle, ihre Widersprüchlichkeit und ihr missverständliches Scheitern als qualvolle Dunkelheit, in der lichte Momente wie Hoffnungsblitze aufschimmern und wieder verglimmen. Fast ohne Handlungsdramatik übersetzt sie die Dialektik zwischen verborgenen Sehnsüchten und äußerem Schein in eine von verstörenden Selbstzweifeln geprägte Ungewissheit. Mehr mit Blicken, Gesten und Bewegungen als mit Worten werden Nähe und Distanz zwischen den Figuren ständig neu austariert. Sie habe „an den Gefühlen arbeiten“ wollen, „anstatt nur Gemütsverfassungen abzubilden“, sagt Sciamma. Dabei tritt die innere Gespaltenheit als Merkmal der Pubertät, die manchmal wie ein unter hormonellem Überdruck stehendes Entwicklungsstadium anmutet, deutlich hervor. Und doch bleiben gerade die Gefühle im Geheimen, Verborgenen. Immer wieder schleichen und stehlen sich die jugendlichen Heldinnen durch Hintertüren, Zaunlücken und über Gartenmauern davon in eine Angst, die aus der Sehnsucht kommt. Dabei finden sie eine Erlösung, die scheinbar dem Tod ähnelt, glücklicherweise aber doch weiterträgt.

Religulous – Man wird doch wohl fragen dürfen

(USA 2008, Regie: Larry Charles)

Schenkelklopfer
von Dietrich Kuhlbrodt

Wer sich über die Dummheit unserer Glaubensfanatiker amüsieren möchte, kommt garantiert auf seine Kosten. Und das Beste ist, dass sich die Fundis von George W. Bush bis Osama bin Laden …

Wer sich über die Dummheit unserer Glaubensfanatiker amüsieren möchte, kommt garantiert auf seine Kosten. Und das Beste ist, dass sich die Fundis von George W. Bush bis Osama bin Laden vor der Kamera lächerlich machen. Der Film formatiert sie zu ulkigen Gästen in TV-Shows, Einspielung oder Auftritt, Abtritt, der nächste bitte. Und in der Tat ist Moderator Bill Maher beliebter Showmaster mit 21 Emmy-Nominierungen. Kompagnon Larry Charles hatte inzwischen den legendären „Borat“-Film gemacht.

Jetzt also der Dokumentarfilm über den organisierten Hyperfiktionalismus. Gott und Allah lassen sich nicht überbieten, und wir wissen es, sobald wir im System drin sind. Maher und Charles wissen es auch, reisen wie Borat herum, lassen sich vorgeblich affirmativ aufs Gegenüber ein und verleiten zu törichten Statements. Wer das goutiert, sitzt virtuell im Showpublikum und haut sich auf den Schenkel. Nur zu! Der Papst inszeniert sich mit a little help vom Filmschnitt als Rockstar. Ha! In der Muslim Gay Bar in Amsterdam: „Ich hasse keine Schwule. Gott hasst sie.“ Ha! Vor den Kameras küsst der verrückte Rabbi den Holocaustleugner Ahmanishabad. Ha!

TV-mäßig werden die vielen Selbstdarstellungen moderiert. Jetzt wird es im Off Ernst. „Religion ist Opium fürs Volk“, hätten schon die Gründerväter der USA gewusst (offenbar alles Marxisten). Das Weltende naht? – Es ist schon da! Gletscher tauen. Twin Towers stürzen. Alles Gegenwart. Wieder erhebt Moderator Maher mahnend den Finger. „Don’t lecture!“ sagt er noch, ganz Profi, der Lacher gewiss. Dann aber kommt das Manifest gegen organisierte Religiosität (sowie gegen den Klimawandel, wäre zu ergänzen): „Go up or die!“ Kämpfen oder sterben! Ende des Wortschwalls.

Aktiver Eulenspiegel und Identifikationsfigur Borat hatte sich mit dem Vorgängerfilm ins kollektive Filmgedächtnis eingegraben. In „Religulous“ werden wir dagegen als Opfer des Religionsfundamentalismus angesprochen. Der Glaube des Bibelgürtels soll wanken. Drum, lieber Konkretleser, wenn Sie Mormone sind und sich darauf freuen, nach mustergültigem Familienleben von Gott einen Planeten zugewiesen zu bekommen, auf dass Sie, auch liebe Leserin, dort gottgleich herrschen, – wenn das so ist, sind Sie nach dem Filmbesuch nicht mehr sicher, dass es sicher ist. Stimmts?

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 04/2009

Time of the Gypsies

(YU / I / GB 1989, Regie: Emir Kusturica)

Die Seele eines Truthahns, bspw.
von Dietrich Kuhlbrodt

Je überschießender, desto wahrer: 'Time of the Gypsies', der neue Film des jugoslawischen Regisseurs Emir Kusturica, zeichnet trotz allen Kunstaufwands ein gänzlich ungekünsteltes Bild vom Leben und von den Träumen …

Je überschießender, desto wahrer: 'Time of the Gypsies', der neue Film des jugoslawischen Regisseurs Emir Kusturica, zeichnet trotz allen Kunstaufwands ein gänzlich ungekünsteltes Bild vom Leben und von den Träumen der slowenisch-kroatischen Roma

'Gott kam auf Erden, sah die Zigeuner – und nahm den ersten Flug zurück': Baba, die 1-Zentner-Oma (unvergesslich: Llubica Adzovic), läuft in diesem bemerkenswerten jugoslawischen Film zu mythologischer Höchstform auf, wenn die Not am größten ist, beispielsweise das Haus von einem Kran auf den Haken genommen wurde, Blitze zucken und Regen auf das freigelegte Interieur prasselt. Mangels Anwesenheit höherer Mächte fordern Katastrophen – und die gehören zum Alltag der slowenisch-kroatischen Roma – lediglich dazu auf, sich der eigenen Macht zu versichern. Also hört man Baba zu, macht sich den eigenen Glauben und hebt die Grenzen zwischen Traum ('Fata Morgana') und Wirklichkeit auf.

Wenn etwas Übernatürliches hoch am Himmel flattert, dann ist das natürlich nur der Truthahn des jungen Perhan, sein Spielgefährte, wir haben ihn längst kennengelernt. Beide hockten einander gegenüber, fixierten sich, und wenn der eine die Ellbogen hob, spreizte der andere die Flügel. Es war eine sehr intensive Beziehung gewesen, die leider damit endete, dass einer der beiden (der Truthahn) im Kochtopf schmorte. Wieder eine Katastrophe, diesmal von kannibalischem Format. Denn hatte nicht in diesem Geflügel ein Roma-Vorderer fortgelebt? Die Realität mußte darüber so außer Fassung geraten, dass sich mit Recht die Frage stellte, ob nicht wir eine Fata Morgana sind und die Wirklichkeit gottweißwo ist. Perhan, der Zigeunerjunge, kennt sich jedoch in dem unübersichtlichen Grenzgebiet zwischen Wirklichkeit und Traum aus, er bezieht daraus seine emotionale Stärke, während sein Vetter, auf Besuch aus Deutschland ('Deutschland ist meine Heimat'), sich mit einem Gastarbeitertraum zufriedengeben muss und nur noch imstande ist, im Schlaf Zahlen auf deutsch zu memorieren: 4 – 3 – 2 – 1, aber das zwölfmal hintereinander.

Höchste Zeit, die Filmfabel zu erzählen. Aber wer rekurriert schon aufs Libretto, wenn von einer Oper zu berichten ist? Denn den ebenso überwältigenden wie hoffnungsvollen Eindruck des Gesamtkunstwerks 'Time of the Gypsies' machen Kunst und Metaphorik seiner Bild- und Ton-(Musik-)Sprache. Sie übertragen einen Energiestrom und lösen die Fesseln des alltäglichen Einerleis … Der Kopf wird wieder frei zu neuen Taten …

Und die Euphorie macht eine Bauchlandung. – Wie wär’s mit folgender Vita: Emir Kusturica, 1955 in Sarajewo geboren, war der jugoslawischen Öffentlichkeit zunächst nicht als Filmregisseur, sondern als Fußballprofi bekannt (übers Kicken in Ljubljana und Umgebung fand er auch Zugang zur einheimischen Roma-Welt der 'Time of the Gypsies'). Als 21jähriger dreht er seinen ersten TV-Film über den spanischen Bürgerkrieg ('Guernica'). 1985 gewann er in Cannes die Goldene Palme für seinen Film 'Papa ist auf Dienstreise' (dessen Hauptdarsteller Davor Dujmovic spielt in 'Time of the Gypsies' die Rolle des Truthahnfreundes Perhan). Hollywood winkte: Nominierung für den Golden Globe und für den Oscar. Doch Kusturica winkte ab: Er wurde Bass-Gitarrist der Punk-Gruppe 'No Smoking'. Kusturica: 'Ich will nicht nach einem industriellen Prinzip arbeiten. Mir bereitet etwas Schwierigkeiten, was anderen offensichtlich nicht so schwer fällt: einen Grund zu haben, einen Film zu drehen, und das kann ich nur, wenn es für mich ein dringendes Bedürfnis gibt. Bei ‘Time of the Gypsies’ war das der Fall.' – 1989 wurde diese Einstellung in Cannes mit dem Preis für die beste Regie ('Time of the Gypsies') belohnt. Aber heute ist er doch in den USA. An der New Yorker Columbia Universität hat er einen Lehrauftrag für Filmregie angenommen, und mit Jerry Lewis, Faye Dunaway, Johnny Depp und Tom Waits dreht er gerade den Film 'Arroteeth Halibut'. – Wir sind damit nicht weg von der Zeit der Zigeuner, sondern mittendrin, denn:

Perhan, der Zigeunerjunge, hat sich längst an Orson Welles ein Beispiel genommen. Vor einem Kinoplakat imitiert er die Haltung des genialen Zigarrenrauchers und pafft bald nicht minder eindrucksvoll. Er braucht Geld, um die Mitgift für die schöne Azra (Sinolicka Trpkova) aufzubringen. Hierfür ist das kapitalistische Ausland zuständig. Der unglücklich Verliebte verlässt die armselige, aber intakte Heimat und schließt sich einer in Mailand operierenden Kinderbande an, die von Ahmed Dzid (Bora Todorovic) – Goldkette, weißes Jackett, Hut – geführt wird. Wohnungseinbrüche, professionelle Bettelei, Babyhandel, Prostitution, Gewalt: Sind das die Roma im Ausland? Die Zigeuner-Gang beutet aus, wie sie ausgebeutet wird. Aber Perhan hat die Kraft behalten, sich die Wirklichkeit zurechtzurücken. Oder, wie man es altmodisch ausdrücken könnte, Wunder zu tun. In Rom spendet der Papst Segen – urbi et orbi. Doch was der kann, kann Perhan längst. Sozusagen truthahnmäßig herbeifixiert, trifft er neben dem Brunnen, in welchem gerade die Touristenmünzen zusammengefegt werden, seine 13jährige Schwester (die ebenso alte Elvira Sali macht aus den wenigen Szenen eine Hauptrolle), die er belogen und verraten hatte. Zeit zur Umkehr. Perhan, vier Jahre älter und inzwischen selbst Gangsterboss, bricht seine einträgliche, aber verräterische Karriere ab. Die Zeit der Anpassung ist vorbei, denn 'seit ich mich selbst zu belügen begann, glaubte ich keinem Menschen mehr'. Jetzt glaubt er wieder an Gabel und Messer, die er durch schiere Willenskraft auf Reisen schicken konnte. Damals fand Oma Baba diese Kunst zwar schön, aber unnütz. Jetzt trifft das telekinetische Besteck die Halsschlagader eines Oberschurken.

Ja, was in diesem wundersam durchkomponierten Erziehungsroman zu Tränen rührt und zum Lachen reizt, ist der Glaube an die Unfehlbarkeit der auf die Reise geschickten Gabel. Selbst im Tod kann der Zigeunermensch noch erhöht werden, nämlich ca. drei Fuß über dem Erdboden schweben, – wenn es denn einer will. Selbst der Truthahn schafft diese Höhe, und das Geflügel, das aller Orten durch den Film huscht, macht vor, wie man abhebt. In 'Time of the Gypsies', in dem Opfer nicht erniedrigt, sondern erhöht werden, herrscht infolgedessen eine biologisch begründete Euphorie. Diese wird freilich nicht von den französischen Roma- und Sinti-Verbänden geteilt, die dem Film mangelnde Repräsentanz vorwarfen. Ein Zigeuner, der dort in die Gesellschaft integriert ist, das mag sein, 'ist so nicht'. Aber wie geht man mit Kräften und Emotionen um, die nicht integrierbar sind und deren man nicht verlustig gehen möchte? Kusturicas dokumentarisch gesättigtes Epos führt uns auf verlockende Weise vor, wie Nicht-Integrierbares – sagen wir: eine Utopie – nicht nur gewünscht, sondern gelebt werden kann. Freilich benötigen wir hierfür über eine schlüssige Beweisführung und wissenschaftliche Argumentation hinaus etwas mehr, nämlich ein Bild oder ein Lied, in dem wir expressiv werden können. Die magischen Realismen des Films 'Time of the Gypsies' sind da ein Angebot. Perhan und seine Sippe sind auf Du und Du mit etwas, was uns unbekannt ist – mit der Seele eines Truthahns zum Beispiel. Das scheint mir viel einladender zu sein, als die Forscherdistanz einzuhalten – etwa gegenüber Schamanen in einem fremden Land.

Wenn Perhan, statt die Lage zu analysieren und den Handlungsbedarf zu eruieren, in der Stunde höchster Not zum Akkordeon greift, dann entgeht er der Verzweiflung im Lied. Der Film ist in diesen Szenen Musik, so wie er in jenen poetischen Bildern seinen stärksten Ausdruck findet, die vorsätzlich die Grenzen des Dokumentarspiels verlassen. Dann öffnet sich der Horizont vor dem Schlamm und Schnee der armseligen Häuser, und auf dem Fluss treibt eine magische Prozession züngelnder Flammen, während die Gläubigen sich rituell im Fluss waschen. – Gewiss, die Roma kamen aus Indien. Die Kraft dieser Bilder besteht jedoch darin, dass sie dies nicht zum Ausdruck bringen, sondern schlicht expressiv sind. So beschränken sie sich nicht darauf, Aussagen zu treffen; mit ihrem offensichtlichen Überschuss laden sie zum Spiel ein, das gesellschaftliches Leben einübt.

Was also lehrt uns dieser Film? Erstens, dass das Verdikt über 'Verfall und Ende' unseres öffentlichen Lebens (Sennett) nicht unabänderlich ist. Zweitens, dass die Befolgung von Lehren nicht das Mittel ist, sich der eigenen Expressivität wieder zu versichern. Es ist daher zwar unangebracht, sich in Spekulationen über die gesellschaftliche und ästhetische Funktion dieses Films zu verbeißen. Aber wie sollte man sonst – in Worten – zum Ausdruck bringen, dass 'Time of the Gipsies', der sich mit einer marginalen Gruppe beschäftigt, durch Bilder und Töne etwas grundsätzlich Neues entwirft, das allgemein gültig zu werden verspricht?

Kusturica, der zusammen mit Gordan Mihic das Drehbuch für 'Time of the Gypsies' schrieb, vermeidet strikt jede essayistische Reflexion. Er beklagt nicht die emotionale Depravation des slowenischen Gastarbeiters, der deutsch träumt und daher nur noch rückwärts zählen kann. Er lässt stattdessen die Roma-Oma sagen: 'Lass mich träumen', wenn jeder Deutsche ihr sofortiges Handeln anempfehlen würde, und dann kommt der Roma-Traum, der alles andere als regressiv ist und der eine Wirklichkeit schafft. Was also passiert, wenn Danira, die verkrüppelte Dreizehnjährige, im Hospital von Ljubljana träumt: 'Beine wie von Marilyn Monroe'? Die Antwort kommt etliche Sequenzen später, sie lautet: 'Die Frau mit dem Silberzahn ist Opfer des Wolfes', und das ist überhaupt keine Antwort, sondern ein zweiter Traum. Dass geträumt und daraus Kraft geschöpft werden kann, ist die Antwort des Films. – Um naheliegenden Missverständnissen vorzubeugen: Das Traumbild (im Jugoslawischen: Fata Morgana) hat durchaus nichts mit bürgerlichem Eskapismus zu tun. Wenn, sagen wir, der Schleier der unglücklichen Braut mit rätselhaftem Eigenantrieb durch die Bilder gleitet, könnte man zwar das poetische Zuviel mit heimischer Sentimentalität füllen. In der Wiederholung dieses Bildes manifestiert sich jedoch gleichzeitig eine vitale und ungezügelte Emotionalität, die sich von dramaturgischen Standards nicht bremsen lässt. Wenn geschluchzt wird, dann hemmungslos, und wenn das komisch ist, darf gelacht werden, ebenso hemmungslos. Tränen und Gelächter sind nicht nur erlaubt: Sie sind die äußersten Grenzen dieser trotz allen Kunstaufwandes gänzlich ungekünstelten Veranstaltung, die 'Time of the Gypsies' heißt.

Wenn man von diesem Film sagen kann, dass seine Bilder und Töne im Gedächtnis überdauern werden, so liegt dies daran, dass sie nicht frei flottieren, sondern eine menschlich und gesellschaftlich definierte Basis haben. Regisseur Kusturica, der neun Monate lang mit den slowenisch-kroatischen Roma zusammenlebte und in dieser Zeit mit den Laiendarstellern dokumentarisches Material drehte, brauchte anschließend noch einmal sechs Monate, um in der Film-Montage die Struktur der Inszenierung zu finden. Doch 'Time of the Gypsies' blieb – je überschießender, desto wahrer – die Geschichte der Zigeuner aus Kusturicas Geburtsstadt, über die die Zeitungen berichtet hatten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 08/1991

Tierische Liebe

(AT 1995, Regie: Ulrich Seidl)

Blick in die Hölle
von Dietrich Kuhlbrodt

Feinrippunterhemd, Turnhose und Socken, so sitzt rechts auf dem Sofa der Schlecker-Peter, der so heißt, weil er Wiens Spitzenmann für Cunnilingus ist. Allerdings hat er grade den Telefonhörer am Ohr …

Feinrippunterhemd, Turnhose und Socken, so sitzt rechts auf dem Sofa der Schlecker-Peter, der so heißt, weil er Wiens Spitzenmann für Cunnilingus ist. Allerdings hat er grade den Telefonhörer am Ohr und nimmt den Telefonsexservice in Anspruch. Links auf dem Sofa ödet sich ein mittelgroßer Köter zu Tode. Die Hinterbeine hat er auseinander geklappt, so kann er das Genital der Kamera weisen. Letztere dokumentiert einwandfrei ihren eigenen subjektiven Blick auf eine Szene, die unschwer als floride Beziehungskrise beschrieben werden kann. Hierfür wäre eigentlich die uns allen sattsam bekannte Filmgattung der Beziehungsdramen und – komödien zuständig, um uns sofort mit Filmdialogen vollzulabern. Wie man einsehen wird, fehlt es den Wiener Heimtieren jedoch an der Möglichkeit, sich verbal zu artikulieren.

Was ein Segen ist. Weil der begnadete Wiener Dokumentarist Ulrich Seidl jetzt tun kann, wofür er berühmt ist, nämlich dem Bildermedium geben, was des Bildermediums ist: Mit dem unterschwelligen Affekt des Einverständnisses inszeniert er, wie der Mensch es mit dem Tier treibt. Seine Selbstdarsteller kommen erfreulich schnell zur Sache, auch wenn Stefanie Renée Felden, die Ex-Schauspielerin, erst ein Schaumbad nimmt, bevor sie mit ihrem Husky ins Bett steigt und liebevoll seinen Bauch streichelt. Dann geht sie dem Tier an die Eier, aber grade noch rechtzeitig: Schnitt!, und das verstehen wir, weil wir den Film ja im Kino sehen wollen.

Moralisch ist er insofern, als er voller Liebe ist und der Inszenator Ulrich Seidl sozusagen im herzlichen Einverständnis mit auf der Couch oder gar im spitzenbezogenen Himmelbett sitzt. Mondo cane ist weit weg, niemand wird verraten, wir sind erfolgreich Komplizen, der Film kommt nah, sehr nah. Bloß Werner Herzog bekam einen metaphysischen Schock: 'Noch nie habe ich im Kino so geradewegs in die Hölle geschaut', bekannte er nach dem Besuch der 'Tierischen Liebe', dann setzte er seinen düster umflorten Blick auf und reiste zu Filmaufnahmen ins ferne Mexiko. Wieder eine dieser Fluchten, bloß weil er nicht bringt, was doch der Husky auf dem Satinlaken mit Leichtigkeit vorführt: sich die eigenen Genitalien lecken. Aber er hätte doch ohne weiteres Zungenküsse tauschen können, mit dem großen struppigen Schmusehund, hier in Wien, im Abbruchhaus auf dem Gelände des ehemaligen Verschiebebahnhofs, hinter den hunderttausend alten Autoreifen, die auf den Abtransport nach Albanien warten.

Franz Holzschuh, jung, Bettler, braucht im kalten Winter was sehr Warmes. Er, ein Weglegekind, im Mistkübel gefunden und in Erziehungsheimen groß geworden – Franz Holzschuh also, so hören Sie doch, lieber Werner Herzog, hat Ambitionen und Visionen. Er träumt von der Liebe, und die Himmelsmacht machte es wahr, nur das Objekt hat gewechselt. Seit mehr als einem Jahr, aber das ist jetzt ein Nachtrag zum Film, lebt er als Lebensabschnittsgefährte mit der Filmassistentin der 'Tierischen Liebe' zusammen, Eva Roth. Das ist zum Mitfühlen, aber bevor einem die Tränen kommen, wollen wir des Stadtstreicherkollegen Erich Wögerer gedenken, der mit Franz Holzschuh ein 'symbiotisches Verhältnis' eingegangen war, wie uns Ulrich Seidl versichert hat. Jetzt muß Kellerratte Wögerer allein betteln gehen, während der Kumpel aus der Unterschicht aufgestiegen ist. Geht das in Ordnung? Durfte die Dokumentaristin eingreifen? – Wir geben ihnen ein weiteres Jahr und werden in der Septembernummer 1997 berichten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 09/1996

Das Vaterspiel

(D / AT / F 2008, Regie: Michael Glawogger )

Daheim bei Opa Judenkiller
von Dietrich Kuhlbrodt

Kill Daddy, online vertrieben, wird zum Hit. Ausgetüftelt hat das Computerspiel der autistische junge Ratz (Helmut Köpping), Sohn eines sozialdemokratischen österreichischen Ministers. Damit jeder virtuell gewaltbereite Sohn den Hass auf …

Kill Daddy, online vertrieben, wird zum Hit. Ausgetüftelt hat das Computerspiel der autistische junge Ratz (Helmut Köpping), Sohn eines sozialdemokratischen österreichischen Ministers. Damit jeder virtuell gewaltbereite Sohn den Hass auf den eigenen Pappa ausleben kann, kann er das Opfergesicht durch die Fresse des eigenen Vaters ersetzen, und ab geht’s, die Vatermutanten werden öffentlich massakriert, mitten im Straßenverkehr. Super. Auf der großen Leinwand auch.

Nun ist es so, dass Michael Glawogger, Megadokumentar- („Workingman’s Death“) und Spielfilmer („Contact High“, „Slumming“), einen 600-Seiten-Roman von Josef Haslinger verfilmt. Und damit wird es einerseits komplex. Andrerseits ist als Megalob zu sagen, dass man davon nichts merkt. Nichts Papierenes am Film. Dafür fleißig experimentellen Wagemut, freilich nicht moralischen. Denn es versteht sich, wenn neben den üblichen verdächtigen Filmförderern auch Arte, ORF, WDR, Degeto dabei sind, dass man zu Gewaltcomputerspielen mehr sagen muss. Sehr viel mehr. Diese Aufgabe übernimmt in einer Parallelhandlung, die zunächst unbegreiflich eingeschnitten wird, Ulrich Tukur, überlebender Jude aus Klaipeda/Memel. Und einziger Belastungszeuge in einem Ermittlungsverfahren zur Verfolgung von Judenprogromen in Lettland während des Krieges. Tukur sitzt in einem Vernehmungsraum der Zentralen Stelle zur Verfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Ludwigsburg. Fast emotionslos, die Kamera unbeweglich, und erzählt von einer Gewalt-Realität in Lettland, die man mit Kill your jews übersetzen könnte. Einer der Täter ist in Manhattan untergetaucht. In einem Keller. Gewalt-Spieler Ratz lernt ihn 1999 kennen.

Und nun? Vaterhass funktioniert nicht. Der Judenmörder ist von der Großvatergeneration. Mit der hat der junge Ratz keine Schwierigkeit. Außerdem leidet der alte Herr an einem Isolationssyndrom der autistischen Art. Kommunikationsunfähig. Damit kennt sich der Ministersohn aus. Die beiden kommen sich näher. Am Ende reden sie. „Ja, ich war der Mann am Maschinengewehr. Ich habe getötet. Das war meine Überzeugung“, sagt Opa Judenkiller. Töten ist menschlich, werden wir belehrt. Da wird der Daddykiller, der sein Enkel sein könnte, aber doch nachdenklich. Er versucht sein Gewaltspiel vom Online-Markt zu nehmen. Zu spät! Er hat die Rechte nicht mehr! Aber der gute Wille zählt. Außerdem ist Weihnachten, das Fest des Friedens. Die beiden Gewaltigen im Keller machen der Jingle-Bells-Puppe den Garaus und legen eine schön altmodische 33er Platte auf. Die Pastorale. Grad recht zur Adventszeit startet der Film „Das Vaterspiel“.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 11/09

Strajk – Die Heldin von Danzig

(D / P 2006, Regie: Volker Schlöndorff)

Geschichte wird gemacht
von Dietrich Kuhlbrodt

Filmautorin Silke Rene Meyer hat herausgefunden, wer es gewesen war, der, als der Streik der Werftarbeiter auf der Kippe stand, zum Kampf motivierte – und zur Gründung der Gewerkschaft Solidarnosz. …

Filmautorin Silke Rene Meyer hat herausgefunden, wer es gewesen war, der, als der Streik der Werftarbeiter auf der Kippe stand, zum Kampf motivierte – und zur Gründung der Gewerkschaft Solidarnosz. Lech Walesa? Nein, eine Frau war es gewesen, vor kurzem noch unbekannt: „Wer ist Anna Walentynowicz?“ (Dokumentarfilm von 2000). Jetzt, im Spielfilm von Volker Schlöndorff, heißt sie Agnieszka, und Katharina Thalbach leiht ihr ihr Gesicht, repräsentativ. Das Drehbuch wurde „in permanenter Rückkopplung“ mit Polen entwickelt (Produzent Professor Haase). Dreißig Jahre lang ist die Nahtschweißerin Heldin. 1970 Heldin der Arbeit. 1980 Heldin des Streiks in Danzig. Im Jahr 2000 geht sie heldenhaft am Stock. In Polen gibt es freie Wahlen, „doch Ungerechtigkeit gibt es noch immer“. Lech Walesa spielt eine Rolle am Rande. Er reagiert auf schmutzige Politik. Unsere Heldin aber agiert. Sie hat das Herz auf dem rechten Fleck. Sie ist resolut und gläubig.

Vor dem Monitor kniet sie und bekreuzigt sich. Karol Wojtyla, der neue Papst ist in Polen! Die Polen sind Papst! Paul Johannes II. betet im staatlichen Fernsehen: “Komm über uns, Hl. Geist, und wende das Antlitz dieser Erde zu.“ Erfüllt mit geistlicher Nahrung eilt die Heldin zur Werft und motiviert die zögerlichen Arbeiter: „Der Papst hat gesagt, wir brauchen die Solidarität der Menschenherzen“. Letztlich also war es der polnische Papst, der Solidarnosz gegründet hat. Wir wissen es jetzt, dank Schlöndorffs rückgekoppeltem Film, und wir können die Heldin, die hl. Agnieszka, verehren.

Solidarnosz wie es wirklich war. Um aufkeimende Zweifel zu beseitigen, legitimiert der Film seine Fiktionen durch zahlreiche dokumentarische Sechs-Sekunden-Einschnitte. Wir sehen sogar Brandt im Warschauer Getto knien, und bitteschön, das weiß jeder, dass er das tat. Allerdings fehlt eine solche Beglaubigung für die Wunder, die der Heiligen von Danzig widerfahren sind. Wir beten in der Bibel zur Gottesmutter: gebenedeit sei die Frucht deines Leibes. – „Du bist die Frucht dieser Liebe“, klärt Mutter Agnieszka ihren ungläubigen Sohn auf, und da es wir auch nicht vorher wussten, wissen wir es jetzt: Vater des Kindes ist nicht etwa Joseph, sondern Lech Walesa! Das ist eines frommen Spielfilm-Traktates würdig. Doch es kommt noch wunderlicher. „Ich hab Krebs“, seufzt sie, völlig am Boden. Dann die Nachuntersuchung. Die Ärzte, am Boden zerstört, sind fassungslos. Der Krebs ist weg, einfach weg, und dafür gibt es weder eine medizinische noch sonstwie eine naturwissenschaftliche Erklärung. „Freuen Sie sich“, fällt dem Chefarzt noch ein, säuerlich lächelnd. Sie, die auf der Stelle genas, stand auf und wandelte zum Vater ihrer Leibesfrucht, „einer Persönlichkeit ähnlich der des Papstes“ (Walesa-Darsteller Andrzej Chyra). Und wieder orgelt es hoch, das erbauliche Großorchester des Jean Michel Jarre. Er hatte schon 1986 dem Papst persönlich vorgespielt. Und wenn zum Schluss des Films dokumentarisch die Mauer fällt, dann wissen wir auch dies: diese unsere deutsche Einheit haben wir dem hl. Geist, der hl. Agnieszka sowie den Päpsten Paul Johannes II. und Lech Walesa zu danken. Amen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 03/2007

Winterkinder – Die schweigende Generation

(D 2005, Regie: Jens Schanze)

Familienaufstellung
von Dietrich Kuhlbrodt

Jens Schanze macht in seinem Diplomfilm einen Anlauf, die Familiengeschichte zu verarbeiten. Warum wird darüber geschwiegen, welche Rolle der Großvater vor 45 gespielt hat? Er war doch in der Partei …

Jens Schanze macht in seinem Diplomfilm einen Anlauf, die Familiengeschichte zu verarbeiten. Warum wird darüber geschwiegen, welche Rolle der Großvater vor 45 gespielt hat? Er war doch in der Partei was Höheres gewesen. In Schlesien. Was hat er erzählt? Nichts, wirklich nichts? Vor der Interviewkamera arbeitet es im Muttergesicht. Warum ringt sie sich nur mühsam zu einer Antwort durch? Der Film wird spannend. Wir wissen nicht, was kommt. Die langen Pausen zwischen Frage und Antwort oder Nichtantwort werden stehen gelassen. Zeit vergeht. Sie lädt zum Abwarten und Abschätzen ein. Wir sehen eine deutsche Mutter, die Würde wahrt.

Der Interviewer wird in Archiven fündig. Großvater war schon 33 in der SA. Im Krieg kämpfte er als Ortsschulungsleiter an der Heimatfront und schwor auf den Endsieg ein, bis zum März 1945. 'War Großvater ein Nazi?' Die Mutter windet sich. 'Wenn, würde ich Nationalsozialist sagen.' Nein, sie schafft es nicht. Weder ist sie fähig zu einer Kritik noch zu Emotionen. Sie hält sich bedeckt, selbst im KZ Groß-Rosen, dessen Außenstellen nahebei gelegen hatten. Sie kann dazu nichts sagen, selbst als der Sohn, unser Autor, sie jetzt ins Lager gebracht hat. Schnee. Deutlich sichtbar sind die Grundmauern der Baracken. Sie meint die Situation zu meistern, indem sie sich zurückhält. Kein Gedanke an die Opfer. Kein Mitleid mit anderen. Keine Betroffenheit. Nichts. Nichts.

Aus dem Off hören wir, dass die 30.000 KZ-Insassen 1944 eine Bedrohung für die Deutschen gewesen waren. 'Wenn da Bomben reinfielen und die Juden frei wären, dann wär’s fürchterlich' – für die Deutschen, die dann Opfer wären. Der Autor lässt dies stehen.

Der Nazi-Opa hat im antisemitischen Verein Deutscher Studenten einen Ehrenplatz. Als Alter Herr. Sein Porträt ist mit einem Trauerflor geschmückt. Für die Filmkamera wird 'Oh alte Burschenherrlichkeit' gesungen. Und vor der Kamera ein 'positives Verhältnis für Deutschland' gefordert. Der Film nimmt es zur Kenntnis. Ebenso, dass ein erster Nachkriegsbesuch in Schlesien zur Einsicht verhilft, dass es 'die Heimat bleibt'. Nichts ging verloren. Alles ist, wie gehabt.

Das Fazit? Nach langer Zeit vereint sitzt die Familie vor dem Monitor und guckt sich das Ergebnis an. 'Mutti ist irgendwie erleichtert.' Man ist sich nähergekommen. Man hat gesprochen. Alles ist gut. Eric Satie erklingt. War das die Aufarbeitung der Familiengeschichte? Die Mutter ist als amtierendes Oberhaupt bestätigt. Und respektvoll wird ihre Kritik am Film vernommen. Ihr erstes und letztes kritisches Wort: 'So sehe ich mich nicht. Ich finde, dass ich im Film sehr alt aussehe'. Heiterkeit, Sonne, Sommer, Versöhnung. Sommerkinder.

'Winterkinder', der Film, ist zum Fürchten. Es ist schlimmer als zuvor. Was überwintert hat und jetzt zu Wort kommt, ist gut für die Familie und schlecht für uns. Wieder hat Mutter eine Situation gemeistert. Jetzt haben wir das Wort. Wer sagt ihr, dass es auch außerhalb des Clans Menschen gab und gibt? Opfer der deutschen Familie? – Sohn Schanze, der Autor, reiht sich in der Schlusseinstellung zum Familienfoto ein. Format 35 mm. Gediegene Cadrage. Frontal. Applaus heischend.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2005

Bombay Diaries

(IN 2010, Regie: Kiran Rao)

Sublimierte Wirklichkeit
von Wolfgang Nierlin

Entlang Mumbais berühmter Meerespromenade Marine Drive geht die Fahrt in einem Taxi, während der Monsunregen gegen die Autoscheiben prasselt. Dabei gehört der subjektive Kamera-Blick aus dieser Exposition einer jungen Studentin …

Entlang Mumbais berühmter Meerespromenade Marine Drive geht die Fahrt in einem Taxi, während der Monsunregen gegen die Autoscheiben prasselt. Dabei gehört der subjektive Kamera-Blick aus dieser Exposition einer jungen Studentin namens Yasmin (Kriti Malhotra), von der wir zunächst jedoch nur erfahren, dass sie sich seit wenigen Monaten in der indischen Millionen-Metropole aufhält. Noch immer fühle sie sich fremd und leide unter Heimweh, sagt sie zum Taxifahrer. Die frische Meeresluft empfindet sie als Ausdruck des Verlangens. Tatsächlich ist Yasmin gerade dabei, ein Videotagebuch für ihre Schwester Imram zu realisieren. Melancholische Stimmungen, verursacht durch Liebeskummer, Fremdheitsgefühle und die Suche nach einem Halt, wechseln sich ab mit Bildern der brodelnden, höchst vitalen Stadt. Dokumentarisches und Persönliches verbinden sich in diesen filmischen Aufzeichnungen zu einem bewegenden Vermächtnis.

Als Hommage an die flirrende Intensität und gewaltige Energie der tropischen Hafenstadt versteht auch die indische Regisseurin Kiran Rao ihren Debütfilm „Bombay Diaries“ (Dhobi Ghat). Mit verschiedenen Aufnahmeformaten an Originalschauplätzen gedreht, folgt sie in ihrem episodisch gebauten Drama und unter wechselnder Perspektive verschiedenen Protagonisten, deren Wege sich (mitunter allzu oft und zufällig) kreuzen und deren Schicksale sich immer deutlicher miteinander verbinden. Dabei geht es um unerfüllte Liebe, die determinierende Kraft extremer sozialer Gegensätze, das Scheitern von Träumen und um den Mut zur Freundschaft. Physisch direkt und emotional berührend spürt Kiran Rao den geheimen Verbindungen zwischen ihren Helden nach, spinnt ihre Bewegungen ein in ein kalkuliert organisiertes System von Hinweisen und Zeichen und reflektiert darüber hinaus die Entstehung von Kunst.

Im Universum ihrer reizvoll konstruierten Parallelgeschichten ist es dem Maler Arun (gespielt von Raos Ehemann, dem Bollywoodsuperstar Aamir Khan) vorbehalten, nach einem Wohnungsumzug Yasmins Videotapes in einer Blechdose zu entdecken. Durch die Auseinandersetzung mit deren tragischer Geschichte gewinnt auch seine eigene Kunst neue Kraft und sein Blick aufs Leben eine neue Richtung. Verbunden ist er darin mit der jungen, überaus erfolgreichen Investmentbankerin Shai (Monica Dogra), die sich nach Jahren in den USA jetzt in ihrer Heimatstadt Mumbai als Fotografin versucht. Selbst wohlhabend und gutsituiert, spürt sie in ihren Bildern dem Leben der sozial benachteiligten Menschen nach, was im Film jedoch über den oberflächlichen Status der Illustration kaum hinausgeht. Begleitet wird sie auf ihren Streifzügen durch die Stadt und ihre entlegenen Bezirke – den bunten Märkten, Parfümerien, Baustellen und der im Original titelgebenden Wäscherei – von dem jungen Wäscher (und Rattenfänger) Munna (Prateik), der von einer Karriere als Filmschauspieler träumt und sich unsterblich in die schöne Shai verliebt. Uns so ist es letztlich die Sublimierung einer unmöglichen Liebe, die sich in Kiran Raos sehenswertem Film „Bombay Diaries“ immer wieder kinotauglich über eine authentische Wirklichkeitsdarstellung legt.

Vielleicht in einem anderen Leben

(Ö / D / UNG 2010, Regie: Elisabeth Scharang)

Von Revanche zur Gegengabe
von Drehli Robnik

April 1945 über Niederösterreich: Ein US Air Force-Pilot wirft Kaugummipapier aus seinem Cockpit; es segelt zur Erde, in die Hand eines jener ungarischen Juden, die grade von SS und Dorfleuten …

April 1945 über Niederösterreich: Ein US Air Force-Pilot wirft Kaugummipapier aus seinem Cockpit; es segelt zur Erde, in die Hand eines jener ungarischen Juden, die grade von SS und Dorfleuten nach Mauthausen getrieben werden. Ähnlich wie 'Forrest Gump' (mit seiner Feder) beginnt 'Vielleicht in einem anderen Leben' mit der Doppelung von Wunder und 'geworfener' Materie im Bild des schwebenden Futzels. Für das Bild des NS-Judenmordes in dieser ORF-Koproduktion ist das programmatisch.

Das Papier aus Amerika/vom Himmel verweist auf ein Schlupfloch in eine Wunderwelt der Rettung. Der Ungar, dem es zufiel – vor seiner Deportation Operettentenor – sagt: 'Die Welt will uns töten, also müssen wir so tun, als wären wir in einer anderen.' Irrealisierung qua Inszenierung, ein Standardmotiv neuerer Holocaust-Spielfilme. Wenn der Mann genussvoll am Kaugummipapier riecht, ist damit das Thema 'Subjektwerdung durch Genießen' etabliert. Um die mit ihm Deportierten aufzumuntern, ruft der Tenor: 'Wir können krepieren wie Ratten – oder Musik machen!' Also beginnen die in einen Stadel Gepferchten, die Erfolgsoperette Wiener Blut einzustudieren.

Das ist als improvisierter Schlupfweg in die Wunderwelt gemeint – und doch mehr als Eskapismus. Scharangs Film fehle, so Siegfried Mattl in seiner Kritik, Reflexion auf die Rolle von Filmoperetten wie Wiener Blut im NS-Propagandabetrieb. Mehr noch: Dass der Film impliziert, erst Wiener Blut mache Menschen zu solchen (und nicht bloß Ratten!), ist in diesem Kontext fatal. Auch wenn das nicht rassenbiologisch zugespitzt ist, wie im Wiener FPÖ-Wahlkampf – einen Vitalismus intensiver Gefühle teilt die Farce von 2011 mit der Filmoperette von 1942: Musik spendet unmittelbar Leben ('Blut… Saft… Kraft… Mut'), in Gegensatz zu einem Nicht-Leben, das in kalten Formen gefangen ist: in Kleinstaatlerei und Etikette (so zeigt es Wiener Blut) bzw. in herzloser Kälte (so zeigt es Scharang). Diese Kälte durchbricht eine Bäuerin, die den im Stadel Hungernden Brot und Suppe bringt. Zum Dank bietet der Tenor an, Wiener Blut für sie zu spielen.

'Die Fälscher' ist jener Holocaust-Erfolgsfilm, an den 'Vielleicht in einem anderen Leben' sich am offensichtlichsten anlehnt (zumal im Dialog über die Stofflichkeit von Suppe). Es geht um Doppelungen von Wunder und fühlbarer Materie: 'Die Fälscher' konterte den Massenmord im Zeichen der Fälschung, Inszenierung durch Kreativarbeiter; 'Schindlers Liste' hielt dem Holocaust eine Kino-Ontologie der Liste als Gedächtnis-Bildung entgegen; und Tarantino stellte NS-Geschichte ins Zeichen eines Archivs, das sich als sabotierbarer Bildbestand materialisiert. Doch Scharang (von der es bessere Filme über NS-Verbrechen gibt) zielt nicht auf Jewish revenge, sondern auf jüdische Dankbarkeit – und Richtung 'Revanche'. So hieß Götz Spielmanns Neo-Heimatfilm, in dem das Traumpaar Johannes Krisch/Ursula Strauss – bei Scharang Bauer und Bäuerin – ein Drama um Verlust und Wieder-Zulassen von Gefühlen absolvierte. Und nun: Holocaust als Setting einer Paartherapie, bei der Herr und Frau Österreicher zu sich und einander zurückfinden; sie spielt wieder Zither, er holt die alte Ziehharmonika raus und lässt Tränen zu. Sogar Sex gibts wieder.

Wellnesskultur als Heilung vom National(sozial)ismus hinzustellen, damit ist dieser Film nicht allein; aber so wie er Vitalitätstherapeutik und Wirklichkeitstranszendenz engführt, das lässt der Geschichte besonders wenig Raum.

Dieser Text erschien zuerst in: Bildpunkt, Zeitschrift der IG BILDENDE KUNST, Wien, Ausg. Frühling 2011

Das Haus auf Korsika

(F / B 2012, Regie: Pierre Duculot)

Ungewöhnliche Ruhe
von Wolfgang Nierlin

In einem kleinen, abgelegenen Bergdorf auf über 1100 Meter Höhe liegt das titelgebende „Haus auf Korsika“. Mit dem deftigeren französischen Originaltitel von Pierre Duculots Film „Au cul du loup“ könnte …

In einem kleinen, abgelegenen Bergdorf auf über 1100 Meter Höhe liegt das titelgebende „Haus auf Korsika“. Mit dem deftigeren französischen Originaltitel von Pierre Duculots Film „Au cul du loup“ könnte man sinngemäß auch sagen: „Am Arsch der Welt“. Zwölf Einwohner zähle der Ort, sagt der Bürgermeister zu Christina (Christelle Cornil), die nach beschwerlicher Reise eben angekommen ist. Überstürzt und eher planlos ist die 30-Jährige gegen den Widerstand ihrer Familie aufgebrochen, um auf Korsika das Erbe ihrer verstorbenen Großmutter anzutreten und ihren italienischen Wurzeln nachzuspüren. Inmitten einer ungewöhnlichen Ruhe und einer herrlichen Natur, im Kontakt mit der fremden Kultur (etwa dem polyphonen Männergesang Paghjella) und eigenwilligen Menschen wächst in ihr zugleich das Bedürfnis, den Traum von einem anderen Leben zu leben.

Der belgische Regisseur Pierre Duculot inszeniert in seinem sehenswerten Langfilmdebüt diese aufkeimende Aussteiger-Sehnsucht seiner Heldin im Kontrast zu ihrer belgischen Heimatstadt Charleroi. Berufliche Perspektivlosigkeit und ein einengender Freund im Verbund mit dem immer stärker werdenden Klammergriff der Familie, lassen Christina schließlich ausbrechen. Ein Jump cut setzt diesen harten Bruch mit dem gewohnten Alltag schließlich ins Bild, auch wenn innere Zweifel bleiben und die Rückschläge, von Hoffnungen und Enttäuschungen begleitet, erst beginnen. Doch Duculot, der seinen versöhnlichen Film – darin seinem erklärten Vorbild Robert Guédiguian verwandt – mit Anteilnahme und menschlicher Wärme erzählt, lässt seine Protagonistin nicht allein. Vielmehr beschenkt er sie mit familiärer Solidarität und neuem Mut.

Marley

(GB / USA 2012, Regie: Kevin Macdonald)

Verworfener Eckstein
von Wolfgang Nierlin

Das Portrait eines Außenseiters zeichnet Kevin Macdonald in seinem Dokumentarfilm „Marley“. Der charismatische Reggae-Musiker, geboren am 6. Februar 1945 in einem kleinen jamaikanischen Dorf und in Kingstons Armenviertel Trenchtown aufgewachsen …

Das Portrait eines Außenseiters zeichnet Kevin Macdonald in seinem Dokumentarfilm „Marley“. Der charismatische Reggae-Musiker, geboren am 6. Februar 1945 in einem kleinen jamaikanischen Dorf und in Kingstons Armenviertel Trenchtown aufgewachsen und künstlerisch sozialisiert, bezeichnet sich in einem seiner Lieder selbst einmal anspielungsreich als „verworfener Eckstein“. Bob Marley, Mischlingskind einer 18-jährigen schwarzen Mutter und eines flatterhaften 50-jährigen Offiziers der britischen Armee, reflektiert darin sein Gefühl der Vaterlosigkeit, das ihn offensichtlich zeitlebens begleitet hat. Noch in den Selbstaussagen dieses sehr detaillierten und materialreichen Films, daneben aber auch in den vielen Konzertausschnitten ist diese introvertierte Unnahbarkeit spürbar. Bob Marley ist der fremde Andere, dessen eindrucksvolles Leben und Werk Kevin Macdonald durch zahlreiche Interviews mit Zeitzeugen und den darin enthaltenen Perspektivwechseln zu erhellen sucht. Dabei mischen sich unentwirrbar Tatsachen und Legenden.

Marleys erste musikalische Gehversuche, beharrlich und mit Ehrgeiz vorangetrieben, fallen dabei ziemlich genau zusammen mit Jamaikas Unabhängigkeit im Jahre 1962. Auch an späteren Stellen der genau montierten Dokumentation gibt es immer wieder einen Austausch zwischen einschneidenden Ereignissen der Zeitgeschichte und Marleys künstlerischem Werdegang. Dabei wird die Musik zum Mittel einer sowohl persönlichen als auch gesellschaftlichen Befreiung. Bob Marley findet für sich einen Weg aus den bedrückenden sozialen Verhältnissen, kehrt aber auch mit zunehmendem Erfolg immer wieder dahin zurück. Denn seine anti-materialistische Einstellung feiert den Reichtum des Lebens und – nicht zuletzt auch im Reggae – das brüderliche Miteinander der Menschen.

Seine spirituelle Erdung bezieht Marley in diesem Zusammenhang aus seiner Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Rastafari, einer Religion, in der die Praxis von Liebe und Versöhnung eng mit dem Streben nach Befreiung verbunden ist. Aus diesem Kontext, in dem sich der Außenseiter mit den unterdrückten Sklaven identifiziert und die Rückkehr nach Afrika propagiert oder zumindest ersehnt, gewinnt Macdonalds Film einige seiner bewegendsten Momente. Beginnend mit Bildern von jenem berüchtigten „Door of no return“ im „House of slaves“ an der westafrikanischen Küste, von wo aus Millionen von Menschen „gestohlen“ und versklavt wurden, bis zu den Benefizkonzerten in Simbabwe und Gabun, erzählt „Marley“ eine Geschichte der Unterdrückung, die auch lange nach dem viel zu frühen Tod des Musikers im Jahre 1981 noch nicht zu Ende ist und insofern Relevanz besitzt.

Brasch – Das Wünschen und das Fürchten

(D 2011, Regie: Christoph Rüter)

„Schreiben heißt für mich, die Angst zu überwinden ...“
von Michael Schleeh

Immer wieder friert Christoph Rüter die Bilder des Films ein: Brasch nachdenklich, Brasch mit Zigarette, nonchalant, Brasch mit dunklen, stechend scharfen Augen. Um ihn herum: die Wohnung, Stapel von Papier, …

Immer wieder friert Christoph Rüter die Bilder des Films ein: Brasch nachdenklich, Brasch mit Zigarette, nonchalant, Brasch mit dunklen, stechend scharfen Augen. Um ihn herum: die Wohnung, Stapel von Papier, Bücherwände, Spiegel, die Fenster hinaus auf Berlin. Dokumentarische Interviewbilder, Schlaglichter, das Standbild als Poster. So wird man sich an ihn erinnern: die einprägsame Physiognomie, das zerfurchte Gesicht der späten Jahre. Es findet seinen Platz in der Erinnerung neben den frühen Fotos, die man von ihm kennt: mit Whiskeyflasche auf dem Tisch, entspannt die Beine auf dem Sofa übereinander geschlagen, eine gestikulierende Katharina Thalbach neben sich, die eine Zeit lang seine Lebensgefährtin war und mit der er in den Westen gegangen ist. Gegangen wurde.

Wo er zwar Erfolge feierte und hofiert wurde für sein Dissidententum, dem er aber misstraute und wo ihm auch nach und nach die Reibung am System verloren ging, ganz ähnlich wie einem Heiner Müller nach der Wende („Wer keinen Feind mehr hat, trifft ihn im Spiegel“). So ist es kein Wunder, dass er später, nach der Wiedervereinigung freilich, zurück in den ehemaligen Osten Berlins zog, nicht weit entfernt vom Berliner Ensemble. Sich dort abkapselte, rauchte, soff und ausgiebig kokste. Und wenn bei Heiner Müller noch die Tauben auf Berlin schissen, so ist es bei Brasch das Kokain, das auf die Stadt herabfällt: „Das schneit, Kinder, das schneit / die Horizonte werden weit, / der Schnee, so schönes Kokain / fällt nieder auf die Stadt Berlin“ (aus dem Gedicht „Der schnelle Schnee – Lied der Kokainintellektuellen“). Brasch arbeitete da an seinem Brunke-Mammutprojekt (später dann: „Mädchenmörder Brunke“, Roman bei Suhrkamp), für das sich zehntausende Manuskriptseiten auf dem Fußboden ansammelten und stapelten.

„Brasch – Das Wünschen und das Fürchten“ ist überwiegend chronologisch, entlang der Biographie des Schriftstellers arrangiert, der Lyriker, Dramatiker und Filmemacher zugleich war. Es werden etliche Dokumente, Ausschnitte und Spielfilmsequenzen von Christoph Rüter zu einem Mosaik montiert, das die Involviertheit des Künstlers in die verschiedenen Kunst-Bereiche portraitiert. Seine berühmte Nestbeschmutzer-Rede bei der Verleihung des Bayerischen Filmpreises in Anwesenheit von Franz-Josef Strauß ist im Film ebenso zu bewundern wie Sequenzen mit Brasch aus Hanns Zischlers Dokumentarfilm „Ich gehe in ein anders Blau“ über Rolf Dieter Brinkmann. Außerdem gibt es etliche Ausschnitte aus den Langfilmen „Engel aus Eisen“, „Domino“ und „Der Passagier“ (mit Tony Curtis) sowie aus den Theaterstücken „Lieber Georg“, „Rotter“ und „Liebe Macht Tod“. Aus der deutsch-deutschen Theater- und Literaturszene ist er nicht wegzudenken, auch wenn er nie die Popularität der ganz großen Namen erlangte. Gegen Ende finden sich dann verstärkt aufwühlende Handkameraaufnahmen, die Brasch in seiner Wohnung von sich selbst gemacht hatte, vor den Spiegeln und den vollgekritzelten Wänden, nach den Herzinfarkten und von der Krankheit gezeichnet. Sie zeigen ihn als fragile Person, die gleichwohl keineswegs kraftlos ist, sondern voller Energie zu stecken scheint. Aber eben die Kraft desjenigen, der auf der Suche ist, der seinen Platz nicht finden kann und sich an den politischen wie gesellschaftlichen Zuständen reibt.

Christoph Rüter gelingt ein intimes Portrait seines Freundes Thomas Brasch, das nie sentimental wird oder gar gekünstelt wirkt. Eine liebevolle und spannende Hommage zugleich, die von einer klaren Offenheit ist und in ihrem weiteren Horizont die Rolle der Schriftsteller und Intellektuellen in der Zeit vor und nach dem großen Umbruch der Wiedervereinigung darstellt. Eine Hommage, die bisweilen nicht nur melancholisch ist, sondern manchmal auch schmerzt. Wie Brasch im Interview mehrfach sagt: es ist die Wunde, die ihn interessiert, der Riss, der durch den Menschen geht.

Cosmopolis

(KAN / F 2012, Regie: David Cronenberg)

Der Proust der Stretchlimousine
von Ekkehard Knörer

In einer gleißendweisen Stretchlimousine begegnet Eric Packer, Finanzkapitalist, seinem persönlichen Schwarzen Schwan: Er hat sein Vermögen an eine allergrößte Wahrscheinlichkeit verwettet, den Fall des Yuan; mit diesem Hebel setzt er …

In einer gleißendweisen Stretchlimousine begegnet Eric Packer, Finanzkapitalist, seinem persönlichen Schwarzen Schwan: Er hat sein Vermögen an eine allergrößte Wahrscheinlichkeit verwettet, den Fall des Yuan; mit diesem Hebel setzt er per leveraged buyout aufs ganz große Geld. Der Yuan aber fällt nicht und fällt nicht, die Kurven auf den vielen Geldstromanzeigern im Innern der Stretchlimousine haben wir uns als Höllenfahrt ins Desaster vorzustellen: ein Ereignis jenseits des Erwartens.

Weiß neben weißen Stretchlimousinen in Reihe im Innern Manhattans. Sie gleichen einander von außen wie ein Yuan dem andern. Schwarz aber ist nicht nur der Schwan, eine Asymptote ans Schwarze ist auch Mark Rothkos berühmte Kapelle in Houston. Sie ist der Gegenstand von Packers Begehren, als Ausweis von dessen Maßlosigkeit: Auch sie will er kaufen. Und wird eines Besseren belehrt, das sein Begreifen jedoch übersteigt. Das nicht Käufliche ist in der Matrix der Ökonomie ein Grenzpunkt, mit dem sich so wenig wie mit einem Schwarzen Schwan rechnen lässt.

Ein Projektil, das sich in äußerster Verlangsamung durch New York bewegt, ist Packers Wagen. Das Fleisch welcher Wirklichkeit er dabei berührt, ist die Frage. Es gibt ein Drinnen und Draußen, ein Dringen nach Innen und ein Drängen nach außen, aber was hier wem korrespondiert, was hier durch was darstellbar ist, wie sich Repräsentation auf Wirklichkeit, das Konkrete auf die Abstraktionen, die Gegenwart aufs Archaische, das Geld auf die Welt, die Marktbewegung auf die Natur, Kosmos auf Polis, der Sex auf die Liebe, wie sich hier überhaupt etwas auf etwas bezieht: das muss, so die These des Buchs und des Films, unterbestimmt bleiben. Der Film fügt, was als Stücke von Wirklichkeit durch seine Darstellung treiben, einzig zur These zusammen, dass eindeutige Zusammenfügungen, die das eine durchs andere etwa erklären, jenseits der Möglichkeit auch der ästhetischen Repräsentation liegen.

Was so entsteht, ist jedoch – fast paradox – ein Überschuss an Lesbarkeit. Überdetermination und Unterbestimmung ergänzen sich zum Festmahl für die Allegorese, jedes Detail lockt die Deuter wie Blut im Wasser die Haie. Vor die Nase gehängt als Schlüsselwort wird einem die Asymmetrie: 'Ihre Prostata ist asymmetrisch' diagnostiziert der Arzt nach erfolgter Rektaluntersuchung im Wagen, die vor den Augen weiterer Insassen erfolgte. Die Erläuterung, die DeLillo als erlebte Rede des Helden noch gab, hat Cronenberg im Film gestrichen: 'But there was something about the idea of asymmetry. It was intriguing in the world outside the body, a counterforce to balance and calm, the riddling little twist, subatomic, that made creation happen.' Die Asymmetrie als Kraft, die die Dinge unmerklich aus dem Gleichgewicht stößt, aber schließt das wirklich was auf? Oder ist es nicht einfach ein weiteres Stück Allegorem in einem gewaltsam geradezu endlos sich öffnenden Text?

Oder nehmen wir Proust: Es ist nämlich die Stretchlimousine auch eine Proustkonfiguration. 'To proust', v.: Auskleidung des riesigen Wagens mit Kork und damit Schallisolation und damit Prousts Schreibzimmer und damit Bezug zu Erinnerungsbewegungen in Richtung des Wegs der Guermantes. Das so scheinbar irrationale Ziel, der Antrieb dieser Fahrt durchs allegorisch verstopfte New York, in dessen Straßenverkehr auch der Präsident unterwegs ist, ein Attentäter, der Packer ans Leder will, außerdem; der Antrieb und Anlass der Bewegung ist: Packer will zum Friseur. Irgendwann ist er dort und man begreift, es ist der Friseur, den er mit seinem Papa als Kind schon besuchte. Also quasi Biss in den Keks (aber Beginn keines großen Subjektentfaltungsromans), der Yuan will nicht fallen, der Drops ist gelutscht, was einzig noch folgt, ist das große Endspiel in sehr unklinischen Räumen, Paul Giamatti als Ex-Angestellter mit Rachegelüsten und Knarre. (Genauso nahe liegt, versteht sich, die andere Inkunabel der modernen Literatur: James Joyces 'Ulysses': Ein Mann, eine Stadt, ein Tag, Packers Bloomsday als Doomsday.)

Die Stretchlimousine als Projektil, aber auch ein Fenster zur Welt. Meist sind wir drinnen, meist wird der Raum in statischen Einstellungen grob, aber sehr scharfkantig aufgelöst, sehr toll sind Momente, in denen in einer Art Egoshooterperspektive die Leinwand Bildschirm wird und das Auto zum Raumschiff. Das ist sehr videokunstmäßig, da hat Cronenberg Mise-en-Scène-Ideen, die übers Papier, aus dem er weite Teile seines Films gebaut hat, hinausgehen. (Zugegeben, Thomas-Demand-artig gebaut: Aus dem Papier des Romans gebastelt, als New York – freilich von Toronto gedoubelt – hingestellt, fast täuschend echt abgefilmt.) Draußen, vor dem Fenster zur Welt, brennt ein Mann, toben Proteste, geht ein Gespenst um in der Welt, das Gespenst des Kapitalismus (daher hat Joseph Vogl den Titel seines Diaphanes-Bestsellers, der aus einer Lektüre von DeLillos Roman die Leitmotive seiner Analyse bezieht.)

Drinnen – im Drinnen, das die affektfreie Innenwelt des Finanzkapitals/Finanzkapitalisten ist – ist alles Zahl oder Sex, aber Sex ist – wie bei Cronenberg üblich – eine weitere Form der Entfremdung, die Körper haben sich nichts zu sagen, nicht die Augen gehen über und nicht die Gefühle, nur die Münder, meine Fresse, gehen die über: Die manieriert verknappten, mit Bedeutung aufgeladenen, durch und durch künstlichen Dialoge nimmt Cronenberg direkt aus dem Buch – dessen Dialogpassagen er, wie er in Interviews erklärt hat, in einem ersten Aneignungsakt erst mal komplett abschrieb – und legt sie seinen Darstellern in den Mund, aus dem sie wie Eiswürfel purzeln.

In der Theorie ist das sogar schön: Die Künstlichkeit und Kälte der DeLilloschen Dialoge ergreift Besitz von der Figur und macht diese im Illusionsraum des Kinos rücklings zu Papier; der Weg zur Expressivität ist damit verbaut – wogegen einzig Juliette Binoche mit einem furiosen Auftritt als Packers Kunstberaterin cum fuck buddy rebelliert – und eben darum etwas deplatziert wirkt. In der Praxis entfaltet sich das aber zu einer Dialogendlosigkeit, über der alles sonst so klar Konturierte in Geschwafel (Geschwafel höchster Ordnung, versteht sich) zerfließt. Wenig ist leider auch übrig von den grandios choreografierten Vorder- gegen Hintergrund-Mise-en-Scène-Installationen, mit denen Cronenbergs an Dialogen nicht armer Vorgängerfilm 'A Dangerous Method' bestach.

'Cosmopolis' gewinnt keinen Rhythmus, Cronenberg findet keine überzeugenden Mittel, etwa den Kontrast zwischen Innen und Außen zu formulieren. Das nimmt nicht zuletzt dem Showdown am Ende den Impact. Die ganz andere Räumlichkeit, in der Packers Höllenfahrt – wie eine Rückkehr in ein falsches Reales – dann endet, bleibt in der Inszenierung so formlos wie all die anderen Orte, die der Film mit Packers gelegentlichen Ausflügen aus dem Innern der Stretchlimousine ins ungeordnete Außen unternimmt. Eine Ausnahme gibt es, ein einziges Mal wagt sich die Kamera ins von keinen Schnitten zerhackte Fluide – ausgerechnet eine Buchhandlung ist dafür der Ort. In einer Subjektiven schlängelt sich der Blick an Büchertischen und Regalen vorbei, bis er auf Packers Ehefrau landet, die da in einer Ecke ein Buch liest. Es ist, als spürte der Film, der ein Buch war, dass er nicht Film ward. Das wäre dann sein schönstes Paradox: Einzig in einer Buchhandlung fühlt er sich so sehr zuhause, dass er sich zum jubilatorischen Kameragleiten befreit.

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Cosmopolis

(KAN / F 2012, Regie: David Cronenberg)

Einsteigen zur Aussprache
von Drehli Robnik

Ein junger Börsen- und Powerbroker will partout am anderen Ende Manhattans zum Friseur, während antikapitalistische Massendemonstrationen (bei denen riesige Rattenpuppen als apokalyptisches Sinnbild fungieren), ein attentatsbedrohter Präsidentenkonvoi und der Begräbniszug …

Ein junger Börsen- und Powerbroker will partout am anderen Ende Manhattans zum Friseur, während antikapitalistische Massendemonstrationen (bei denen riesige Rattenpuppen als apokalyptisches Sinnbild fungieren), ein attentatsbedrohter Präsidentenkonvoi und der Begräbniszug eines Sufi-Rappers die Straßen blockieren. Also fährt sein Chauffeur und Leibwächter ihn im Schritttempo und mit mehreren Stopps in der Limousine durch die Stadt; ständig steigt jemand für ein paar hundert Meter und Worte zu ihm in die Limousine ein (etwa Jay Baruchel als sein IT-Experte, Juliette Binoche als Kunsthändlerin und gierige Geliebte, Samantha Morton als philosophisch gestimmte Spekulationsberaterin).

'Cosmopolis' basiert auf dem 2003 erschienenen gleichnamigen Roman von Don DeLillo. Den Stationenlaufstoff hätte ein John Carpenter vielleicht als Actiongroteske im urbanen Indianerland verfilmt (nach Art seiner 'Escape'-Filme etwa). David Cronenberg hingegen – der das Regiehandwerk ebenfalls um 1970 mit SciFi- und Horrorfilmen begann, die allerdings noch weit konzeptueller angelegt waren – situiert das unberechenbare Raubtier im Inneren des Fahrzeugs und gestaltet den Umweg zum Haircut als Shortcut, im doppelten Sinn. Einerseits genügt 'Twilight'-Star Robert Pattinson in der Milliardärsrolle, um dem Regisseur neue, jüngere Zielgruppen zu erschließen – wenn auch nur kurzfristig, so doch über jene Strahlkraft und Breitenwirkung hinaus, die vom vormaligen 'Lord of the Rings'-König Viggo Mortensen in Hauptrollen der letzten drei Cronenberg-Filme ausgegangen war. (Für Pattinson in seiner anhaltenden Romanzenrollenbindung wird 'Cosmopolis' wohl einen jähen, riskanten Befreiungsschlag bedeuten, und er wechselt nun vom Vampir-Ethos des Dauerverzichts in den blass-schlaffen Habitus von einem, der von allem zu früh zuviel kriegt. Blutsaugersymbolik – geschenkt!)

Anderseits scheint Cronenberg einem später zugestiegenen Publikum eine Art Schnelldurchlauf durch das Repertoire seiner bisherigen Standardmotive zu bieten: der diskursanalytische Blick auf Kapitalmachtpraktiken und New Age-Hoffnungen; das Sich-Verstricken körperlicher Intimität in Endlossprachspiele (solche der Kunst, der Sucht, der Technologie, der Medizin, letzteres hier in Form einer privatärztlichen Rücksitzuntersuchung an Pattinsons Prostata, die sich als so asymmetrisch erweist wie weiland die Gebärmutter der Heldin von 'Dead Ringers'); ein Kopfschuss als (narrativ kompliziert konstellierter) Handlungsfluchtpunkt; ein Abbruchhaus als Tempel eines nur halb verständlichen Rituals; ein Auto als in aller Enge geräumiges Habitat voller Screens, Flüssigkeiten und Eigengeruch. (Und auch was die Verweigerung – oder Verhunzung? – einschlägiger Reize von Massenszenen betrifft, bleibt Cronenberg seiner Linie treu: Die Rattenattrappenmassendemos von 'Cosmopolis' stehen der Karikatur einer Pariser Mai-Straßenschlacht in 'M. Butterfly' in nichts nach.)

Zirkus Crones Greatest Hits – aber so, dass es alle Fans verstören wird, die aus Team Edward wie auch die aus Team David. Das haltlose Drauflosreden über Revolutionsapokalyptik, Referenzverlust des Geldes und die zwischen Kunstsammeln und Lebensmüdigkeit gähnenden Sinnkrisen der Reichen, das ist einfach extrem prätentiös; es schlägt etwa das Ennui- und Existenzialexperiment-Gehauche von 'Crash' um Längen, und es hat auch seine Längen, die fast schon atemberaubend und selbstwerthaft anmuten (der beinah halbstündige antiklimaktische Dialog zwischen Pattinson und Paul Giamatti am Filmende ist schlicht jenseitig). Das wird sich in Form von Verzweiflung auf Teenieblogs niederschlagen. Hingegen können Cinephile und viele, die glauben, der Kapitalismus sei erst durch seine jüngste Finanzkrise zur gesellschaftsbestimmenden Macht geworden, sich das mitunter wie eine Spätachtziger-Retro-Version von Cyber-Postmodernismus anmutende Gerede (Medienguru Professor Brian O’Blivion aus 'Videodrome' lässt grüßen, nicht zuletzt per Limousinenscreen) schönsaufen, indem sie, wie in Besprechungen von 'Cosmopolis' zu lesen, die Romanvorlage als 'prophetisch' und den Film als im emphatischen Sinn 'of our time' hinstellen. Nun ja. Dass wieder mal eine Krise kommen wird, dass Geld eigenlogisch und Krawall vorprogrammiert ist, sich das zu denken, bedarf es einer Art von Oberschlauheit, die durch die Metaphernakrobatik in den rezitierten Romandialogen von 'Cosmopolis' eh gut bedient wird. Ähnliches gilt für den Aha!-Konnex zwischen den Jackson-Pollock-artigen Farbspritzern im – wie so oft bei Cronenberg – abstrakt-graphistischen Vorspann und dem Auftritt von Mathieu Amalric als durchgeknallter Aktivist, der das 'Torten' von Finanzmagnaten und Politikern als Action Painting unserer Zeit apostrophiert. (Andererseits: Auch die im Rückblick liebenswertesten Eros-Erkrankungs-Filmdiagnosen eines Antonioni hatten ihre kunststil-, entfremdungs- und tauschabstraktionspädagogischen Momente, bei deren Bedeutsamkeit es dir die Schuhe auszieht.)

Für jene, die sich (wie ich) als Fans von Cronenberg immer wieder gut bedient und zwischendurch auch kurzfristig mal verarscht fühlen, ist der Bildungsmüll-Sprechdurchfall von 'Cosmopolis' eine zwiespältige Angelegenheit. Nicht dass Cronenbergs Filme nicht seit jeher ausgesprochen redselig gewesen wären: Das reicht von seinem Debüt 'Stereo' (1969), dessen monaurale Tonspur fast nur aus der voice over eines Klinikexperimentberichts bestand, über 'The Fly' (1985), dessen Handlung der Regisseur auf Anfrage einmal mit 'two people in a room, talking' beschrieb, bis zu seinem vorigen Film 'A Dangerous Method' (2011), einem Sprechstück über Autorität, Begehren und Projektionen aus den Anfängen der Psychoanalyse. (Sarah Gadon, die damals C.G. Jungs Gemahlin verkörperte, ist in 'Cosmopolis' als die jungvermählte Frau des Brokers zu sehen, die sich auf einigen Zwischenstopps zu sinnierenden Gesprächen mit ihrem Mann trifft. In 'Antiviral', dem Langfilmdebüt von Cronenbergs Sohn Brandon, spielt sie 2012 eine Hauptrolle.) Allerdings: In 'A Dangerous Method' ging der Anspruch der Sprechakte in die Richtung, den Spieleinsätzen der jeweiligen Zugänge von C.G. Jung, Sabina Spielrein und Sigmund Freud zum Wissenstypus und Ethos der Psychoanalyse im Format eines rührenden Beziehungsdramas gerecht zu werden, eben bis in die scharf konturierten Rededuelle hinein. (Man konnte da, schlicht gesagt, auch etwas draus lernen, und das ist nichts Schlechtes.)

Dem gegenüber frönt 'Cosmopolis' eher einer Verschwendungsökonomie der großen Worte, die folgerichtig in Entleerung mündet; solch nihilistischer Gestus – verwandt etwa jenem, mit dem 'Crash' Sexszenen bis zur Trockenlegung aller Spielfilm-Erotik akkumulierte – hat auch sein Gutes: Der Anspruch, durchs schauspielerisch-leiblich und im Alltagserfahrungsmilieu sorgfältig verkörperte Reden ließe sich eine phänomenologische Wahrheitstiefe in Sachen Wirtschaftspsychologie, Unternehmensgruppendynamik oder Karrieremoral erreichen, ein Anspruch, wie ihn zuletzt das Finanzkrisenkammerspiel 'Margin Call' erhoben hat, der wird hier beherzt fahrengelassen. All der Feuilletontalk mutiert – vermischt mit dem Flirrgitarrenambientscore von Howard Shore und der kanadischen Rockband Metric –, zu einer Art verbaler Soundscape, noch dazu in der bis zur Unbehaglichkeit im Kinosaal forcierten, äußerst ungewöhnlichen Sterilität der akustischen Atmosphäre in der gepanzerten, getönt verglasten und vor allem total schallisolierten Limousine, in deren Innenraum – alle Blasen- und Blasiertheitsmetaphorik von vornherein kurzschließend – die Hälfte des Films spielt. Ach, wie tot das tönt! Das ist Spaßverderberei auf hohem Niveau!

Es war wohl einfach wieder mal Zeit für einen Schuss ins eigene Knie auf offener Regielaufbahn. 'Crimes of the Future' (1970), 'Fast Company' (1979, ein Actiondrama über dragracing, das ebenfalls viel aus dem Daueraufenthalt im Autombil macht), 'M. Butterfly' (1993), 'Spider' (2002): Alle zehn Jahre macht Cronenberg einen Film, der ist genuin unwatchable – und das am besten mehrmals.

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Die Liebenden

(F / GB / CZ 2011, Regie: Christophe Honoré)

Leichtsinn, Hochmut, Lust und Wut
von Wolfgang Nierlin

Alles beginnt mit Schuhen. Zu der von Eileen gesungenen französischen Version des Nancy Sinatra-Songs „These Boots Are Made For Walkin’' gehen sie an den Füßen ihrer eleganten Trägerinnen in Großaufnahme …

Alles beginnt mit Schuhen. Zu der von Eileen gesungenen französischen Version des Nancy Sinatra-Songs „These Boots Are Made For Walkin’' gehen sie an den Füßen ihrer eleganten Trägerinnen in Großaufnahme durchs Bild. Ein besonders exquisites Paar, vom erfindungsreichen Roger Vivier für Christian Dior entworfen, hat die junge Schuhverkäuferin Madeleine (Ludivine Sagnier) eben geklaut, um nach Feierabend als Gelegenheitsprostituierte potentielle Freier zu verführen und ihr „Taschengeld“ aufzubessern. So zumindest lautet die „elterliche Legende“, wie ihre Tochter Véra (Chiara Mastroianni) im Rückblick erzählt. Als Madeleine bei einem ihrer Liebesdienste den tschechischen Arzt und Endokrinologen Jaromil Passer (Radivoje Bukvic) kennen lernt, ist es um sie geschehen. Sie heiratet, folgt ihrem leichtlebigen Ehemann schweren Herzens nach Prag und bringt im Jahre 1965 ihre Tochter Véra zur Welt, deren Aufwachsen der Film über wechselnde Schuhgrößen vermittelt.

In warmes Licht und cremige Farben taucht Christophe Honoré das Leben und die Liebe seiner Protagonisten. Mit leichter Hand und romantisierender Note erzählt er in seinem Musical „Die Liebenden“ („Les bien-aimés') von individuellen Aufbrüchen in einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche; und er entfaltet dafür eine kunstvoll gestaltete Chronik komplizierter Liebesverhältnisse, die einen Zeitraum von über vierzig Jahren umfassen. Aus wechselnden Perspektiven und zu ebenso wechselnden Zeitpunkten, an Schauplätzen in Paris, Prag, London, Montreal und Reims entsteht ein Panorama des modernen Beziehungslebens, in das Honoré, von Jacques Demy inspiriert, immer wieder melodramatische Gesangseinlagen seiner Liebeskranken setzt. „Ich kann nicht leben, ohne dich zu lieben“, singt etwa Madeleine, als sie im Jahr des Prager Frühlings von ihrem treulosen Mann betrogen wird und sich daraufhin von ihm trennt.

Damit ist das letzte Wort über dieser Beziehung, deren Partner in späteren Jahren von Catherine Deneuve und Milos Forman gespielt werden, aber noch nicht gesprochen. Schließlich zählt Jaromil zu beider Tugenden neben Leichtsinn und Hochmut, auch noch Lust und Wut. Und weil der Apfel nicht weit vom Stamm fällt, wie es in einem der Chansons heißt (oder auch: „Wie die Mutter, so die Tochter.“) ergeht es ihrer Tochter Véra in den Wechselfällen ihres Liebesverlangens kaum besser. Im Gegenteil: Während die Zeit vergeht und die Jugend endet, sie ihren Freund und Lehrer-Kollegen Clément (Louis Garrel) provozierend unbekümmert betrügt und dann irgendwann aufgibt, löst die Begegnung mit dem homosexuellen amerikanischen Rockmusiker Henderson (Paul Schneider) jenes große, geradezu ausschließliche und deshalb tragische Gefühl in ihr aus, das ihr schließlich zum Verhängnis wird: „Ohne deine Liebe kann ich nicht leben“, lautet die entscheidend abgewandelte Version ihres Liebesleids.

Ted

(USA 2012, Regie: Seth MacFarlane)

Wie Mutti Kunis dem Wahlberg einen Bären gebar
von Drehli Robnik

Hallo, Hollywoodsommerkonzeptkomödie zum Thema Unvernünftig-Bleiben! In diesem Format brachte der Vorjahrserfolg von 'Bridesmaids – Brautalarm' etwas Gendergleichberechtigung in Sachen Nicht-ganz-dicht-sein-Dürfen (im Kopf und auch sonst). Nun kommt 'Ted', das heißt: …

Hallo, Hollywoodsommerkonzeptkomödie zum Thema Unvernünftig-Bleiben! In diesem Format brachte der Vorjahrserfolg von 'Bridesmaids – Brautalarm' etwas Gendergleichberechtigung in Sachen Nicht-ganz-dicht-sein-Dürfen (im Kopf und auch sonst). Nun kommt 'Ted', das heißt: Es regieren wieder die Buben; und die müssen alles dürfen.

Auch mit Ende dreißig hält man an Jugendritualen und Kindheitshelden fest: Kiffen, Schweinigeln, Couchsurfen, Endlosfernsehen, alte Rockhits, alte Filme – zumal der 'Flash Gordon' von 1980, dessen Queen-Soundtrack und 'Star' Sam J. Jones hier einige gediegen phrasierte Retromomente feiern. Alltag als Konsumerinnerungsverkultung: 'Ted' exerziert das durch, sanft satirisch, sprich: propagandistisch, jedenfalls anbiedernder als es in rezenten einschlägigen Komödien mit Seth Rogen bzw. von Judd Apatow geschehen ist, im Wechsel zwischen obsessivem Kindergauben und einer ebenso obsessiven sarkastischen Desillusionierung, die uns wieder, öh: runterholt (Kennt man ja aus 'Shrek'.).

'Ted' will noch mehr: Der Titelheld ist ein – digital animierter – dauergeiler Plüschbär; wie der zum quasi-menschlichen ewigen Intimfreund des von Mark Wahlberg dargestellten (quasi-)menschlichen Helden wurde, das tut wenig zur Sache bzw. fällt in die Kategorie 'Kindergaube' (in einem Frühachtziger-Weihnachts-Intro, dessen sich selbst penetrant desavouierender Märchenonkelkommentar von Patrick Stewart gesprochen wird). Wie Ted sich benimmt, das fällt in die Kategorie Desillusionierung: Er spricht, säuft, kifft und steht so zu seinem ewigen Lebenspartner in einer Beziehung der Verdoppelung bzw. Verkörperung. Soll heißen: Ted ist zwar etwas kleiner und pummeliger als der von Wahlberg gespielte Autoverleihangestellte und Underachiever (und meistens nackt), aber sonst ganz gleich wie er, sein Double und Gegenüber, zugleich die plüschige Inkarnation dessen, was an dem Mann nicht Mensch ist, sondern ein exzessiver Identitätskern, ein Bär als ein Mehr, das hier eher ein Weniger ist, der Hardcore eines verendlosigten Bub-Bleibens – und eben Nicht-Eintretens in die Wechselseitigkeiten bürgerlicher Erwachsenheit. (Mit oder zwischen Deleuze, Agamben und Žižek gesagt: Das Bub-Bleiben im Medium des Antiautoritär-Bär ist die genderhegemonial hässliche Seite eines posthumanen, postpatriarchalen Tier-Werdens.)

Ted ist, was die Leute wollen, und die, die alles dürfen, was sie wollen, sind notorischerweise die Buben. Dies ist ein Retro-Film, und gegenwärtig retrokulturell bespielte Buben aus der Altersgruppe des Buben aus 'Ted' (oder etwas älter) erinnert dieser Kurzname weniger an einen Teddybär – und schon gar nicht an jenen US-Präsidenten (den ersten, weniger berühmten Roosevelt), nach dem der Legende nach das Stoffspielzeug international benannt wurde –, sondern eher an ein anderes Jugendmaskottchen namens TED, an den 'Tele-Dialog', mit dem die Fernsehshow 'Wetten, dass…?' (vormals: 'Wetten, daß…?') in den späten 1980er Jahren Geschmack und Wollen des Publikums in Sachen Wettkönig des Abends live und interaktiv ermittelte, unter Anleitung von Mastermind Frank Elstner, der später von dem auf Lebenszeit praktizierenden Buben-Ideologen Thomas Gottschalk abgelöst wurde, so wie der TED (damals der Gipfel der Tele-Demokratie, quasi der Wahl-Berg) später vom Web Zweinull. Und so wie übrigens Ted, also der aus der Hollywoodkomödie, wohl bald – in der Disziplin 'Bestückung von Büropinwänden und -screens mit triebgesteuert amoralisch sprücheklopfendem Flauschgetier' – Garfield ablösen bzw. dessen Weltherrschaftserbe antreten wird.

Bei der ostentativ tiefen Redseligkeit des Bären im Verbund mit dem plötzlich unter Leistungs- und Beziehungsdruck (es geht um eine heterosexuelle Beziehung zu einer Frau aus Fleisch und Blut, nicht Plüsch) gestellten Helden, beim Konzept von 'Ted' also, da ist auch 'Der Biber' mit im Spiel – mehr als nur ein herber Hauch des Titelplüschwesens aus der gefloppten, hochgradig eigenwilligen Mel Gibson/Jodie Foster-Groteske 'The Beaver' (2011) mit im Spiel. (Jetzt keine Wortspiele mit Justin oder der englisch-umgangssprachlichen Bedeutung dieses Worts – beides ist im Bubenkontext zu sehr aufgelegt.) Naja, und 'Alf' ist da wohl auch mit drin, aber auf dessen Vorbildfunktion weist der Dialog von 'Ted' eh mit pflichtschuldigem Augenzwinkern hin. Wer aber wollte die Mastermind-Funktion des für die TV-Serie 'Family Guy' renommierten Seth MacFarlane in Frage stellen? Der hat den Ted gesprochen und den Film inszeniert; in seiner Regie steuert Walter Murphy (der einst Beethovens Fünfte im Discosound verjazzte) einen gepflegten Swing-Score bei, und ein gaudiger Cast spielt durchwegs stark auf.

Viele der – auf Ethnizität (sowie Antisemitismus), Arbeitswelt und Körperausscheidungen fokussierten – Gags sitzen; viele auch nicht. Der Kurzauftritt von Norah Jones als herself bzw. Teds Fuckbuddy hat was; die vielen Promi-Namedrop-Injokes haben nix. Wenn Ted gefragt wird, wer der fettleibige stoppelglatzige Knabe hier im Raum ist, und er erwidert: 'That‘s Sinead O‘Connor. She don‘t look so good no more,' dann ist das billig (oder bärig). Wenn eine Fantasiesequenz lang der Wahlberg-character an seinen ersten Tanz mit seiner Freundin zurückdenkt und sich in die Rolle des Kapitäns in weißer Galauniform aus der Disco-Szene in 'Airplane!', der Großmutter aller Genreparodien (aus demselben Jahr wie 'Flash Gordon'), hineinimaginiert, eine Szene, die ja ihrerseits schon parodistische Paraphrase einer John Travolta-Tanzszene aus 'Saturday Night Fever' war – dann ist auch das billig, aber von einer Art, die hirnsausenmachend, weil völlig direkt und zugleich potenzierend ist, das Reenactment eines Reenactment, Parodie einer Parodie. Jedenfalls schlägt es die Retro-Traumszenen von Wahlbergs Mit-Surfen mit Flash (Gordon) in den wackeligen, aber ernst gemeinten Bildern des von ihm verehrten Films um Längen.

Das Finale läuft dann zunächst nach 'Toy Story'-Manier ab: Ted wird entführt, im Showdown auf einem Turm im Sportstadion zerfetzt und ist eigentlich schon so gut wie tot. Die nachfolgende Heilungsszene ist die endgültige Demontage dessen, was dem Bären-Buben in die Quere seines selbstverdoppelnd-narzisstischen Allmachtsphantasmas kommen könnte – nämlich der Frau, insofern sie Reiz auf und dadurch Macht über ihn ausüben könnte. Die ihre ganze Beziehung – zumindest den ganzen Film – lang von Ted genervte, aber doch vieles engelsmütig verzeihende Freundin des Helden muss dessen Bären wiedergebären; anders lässt sich die Szene von Teds Wiederbelebung auf einer Art OP-Tisch, bei der nur die Frau ihr lebensspendendes Wunder wirken kann (sie näht ihn zusammen!), aus dem dann eine Kernfamilie mit ein bis zwei Kindern hervorgeht, kaum verstehen. (Jedes andere Verstehen wäre sozusagen eine krampfhafte Überinterpretation.) Obwohl von Mila Kunis gespielt, soll die Freundin schlussendlich gerade nicht als attraktiv, sondern als alles schmunzelnd gewährende Pflegerin definiert sein und das Kind retten – das plüschige ihrer duldsamen Liebe wie auch das innere ihres Nicht-Mannes. Da zeugt es von einer fast genialen Form ironisch-impliziter Filmreferenz, dass die Hauptdarstellerin aus 'Flash Gordon' in 'Ted' nicht auftritt, obwohl sie aussieht wie Kunis als Omi und ihr Nachname für diesen stellenweise entbärlichen Film fast Programm sein könnte: Ornella Muti.

Töte mich

(D / F / CH 2012, Regie: Emily Atef)

Flucht vor dem Anfang
von Ricardo Brunn

Ein Mädchen steht an der Klippe und springt nicht. Weil sie sich für den Tod des Bruders verantwortlich fühlt, will Teenager Adele (Maria Dragus) ihrem Leben ein Ende setzen. Allein, …

Ein Mädchen steht an der Klippe und springt nicht. Weil sie sich für den Tod des Bruders verantwortlich fühlt, will Teenager Adele (Maria Dragus) ihrem Leben ein Ende setzen. Allein, es fehlt der Mut. Glücklich deshalb der Umstand, dass der entflohene Mörder Timo (Roeland Wiesnekker) zufällig im Haus der Eltern Adeles Schutz sucht und das Mädchen ihn sogleich darum bittet, sie von ebenjener Klippe zu stürzen. Timo, verwirrt, aber ganz Mann der Stunde, nimmt Adele erst einmal als Pfand und verspricht, sie in Frankreich (immer noch das beste Land, um sich als entflohener Sträfling abzusetzen, solange der Film nicht von einem anderen Staat koproduziert wird und deshalb dort gedreht werden muss) freizulassen und umzubringen, bevor er sich selbst nach Afrika absetzt.

Vollkommen gleich wie absurd konstruiert die Ausgangssituation in Emily Atefs neuem Film „Töte mich“ auch erscheinen mag, solange dieser Beginn in ein Geschehen aufgeht, seine Künstlichkeit nach und nach verblasst und schließlich in Vergessenheit gerät, sollte alles möglich sein. Und tatsächlich ist der Plot bemüht, sich zumindest geografisch vom Anfang zu entfernen, indem die für Road-Movies typischen Und-dann-Stationen konsequent aneinandergereiht werden. Da wird sich verlaufen, Nahrung ergattert, im Wald geschlafen. Zwingend ist das Ganze dabei selten, weil Nebenfiguren und Orte austauschbar bleiben und keine spürbaren Auswirkungen auf die Beziehung der beiden Protagonisten mit sich bringen. Aber egal, Hauptsache erst einmal weg vom Anfang, bloß nicht mehr dran denken, was da war mit der Selbstmörderin und dem Mörder, in der Hoffnung, es wird am Ende „diesen Moment, in dem es begann, nicht gegeben haben.“ (Antje Ravic Strubel)

Dumm nur, dass genau das nicht geschieht, dass der Anfang atlasschwer auf dem restlichen Film liegt und zum Gefängnis für die Figuren und die Dramaturgie wird, bis die Logik der Erzählung in sich zusammenbricht. Mit jeder neuen Szene wird die vorhergehende unweigerlich in Frage gestellt, weil die alchemistischen Versuche, den künstlichen Anfang zu überwinden oder zu plausibilisieren, in peinlichen Erklärungsnöten der Regisseurin münden, sie dabei immer nur auf die Ausgangssituation zurückgeworfen wird und ihre Figuren vollkommen aus den Augen verliert.

Diese stolpern in der Folge nicht nur planlos durch Wiesen und Wälder, bis jede Glaubwürdigkeit dahin ist, sondern auch durch die kantig herben Dialoge, die in ihrer Einsilbigkeit eigentlich nur für einen prädestiniert sind: Bruce Willis. So sehr sich Hauptdarsteller Roeland Wiesnekker auch bemüht, seinen laienhaft dahingesagten Sätzen doch noch Leben einzuhauchen, er scheitert am eigenen Talent genauso wie am Drehbuch und der Tatsache, dass er eben nicht Bruce Willis ist. Daneben rätselt sich die junge Maria Dragus von einem nichts sagenden Gesichtsausdruck zum nächsten, einfach weil sie nicht weiß, wie Todessehnsucht mimisch zu fassen sein könnte und das Drehbuch ihr auch keinerlei Raum bietet, dieses Gefühl in physische Aktionen zu übersetzen. Da ändert auch die lehrbuchartige Maskulinisierung der Hauptfigur gegen Ende des Filmes wenig. Diese bleibt ein dramaturgisches Mahnmal. Ein verzweifelter Versuch, den vernachlässigten Figuren doch noch eine Entwicklung abzuringen.

Der Anfang des Filmes ist bis zum Ende hin omnipräsent, weil eine Idee zu haben eben nicht genug ist. Deshalb ist „Töte mich“ auch nicht als Gegenpol zu etwaigen Migrationsgeschichten der letzten Jahre lesbar, denn selbst dieses Thema bleibt diffus und schlagzeilenartig. Außer der geografischen Stoßrichtung (Afrika) gibt es keine weitere Auseinandersetzung mit Migration oder eben deren Umkehrung im Angesicht der europäischen Krise (und in sechs (!) Jahren Drehbuchentwicklung hätte viel einfließen können). Alle Deutungen in diese Richtung können also nur als narzisstische Überinterpretationen gelesen werden, als Intellektualisierung eines Problems, das der Film selbst nicht geschaffen hat oder in irgendeiner Weise ernsthaft behandelt.

Letztlich ist „Töte mich“ großer Quatsch, weil der Film sich in jeder Hinsicht mit dem eigenen Pitch zufrieden gibt. Es hat einfach von Beginn an kein Entkommen vor dem Anfang gegeben.

2 Tage New York

(F / D 2011, Regie: Julie Delpy)

Handlungsturbulenzen
von Wolfgang Nierlin

Julie Delpy versteht sich hervorragend auf das abgründige Spiel mit der Selbstironie. Auch in ihrer neuen Komödie „2 Tage New York“, dem Gegenstück zu ihrem früheren Film „2 Tage Paris“, …

Julie Delpy versteht sich hervorragend auf das abgründige Spiel mit der Selbstironie. Auch in ihrer neuen Komödie „2 Tage New York“, dem Gegenstück zu ihrem früheren Film „2 Tage Paris“, gelingt dies deshalb so gut, weil sich die französische Schauspielerin und Regisseurin in der zentralen Rolle selbst besetzt hat. Respekt- und tabulos gegenüber sich selbst und ihrem Alter Ego Marion Dupres inszeniert sie die allzu menschlichen, tief im alltäglichen Leben wurzelnden Spleens und Neurosen ihrer gestressten Heldin und zeigt sich darin schlagfertig wie Woody Allen. Zugleich hält sie dem gesellschaftlichen Zeitgeist, seiner angeblichen Liberalität und Toleranz, den Spiegel vor, indem sie seinen normierten Wahnsinn und seiner geradezu institutionalisierten Angst mit intelligentem Witz und Spott belegt. Dabei dreht sich erneut alles um Sex. Oder anders gesagt: Der Körper und das Geschlechtliche determinieren über alle kulturellen Differenzen hinweg das Fühlen, Denken und Handeln der Menschen.

Mentalitätsunterschiede, kulturelle Gegensätze und sprachliche Kommunikationsbarrieren sind auch dieses Mal die treibende Kraft für Handlungsturbulenzen und einen geschliffenen Wortwitz. Marion, die in New York als Fotografin arbeitet, bereitet gerade eine Ausstellung vor, zu deren konzeptkünstlerischem Bestandteil (als parodistischer Seitenhieb auf den Kunstbetrieb) auch der Verkauf ihrer Seele gehört, als ihre Familie aus Paris zu einem Kurzbesuch eintrifft. Doch zunächst bleibt ihr verwitweter Vater Jeannot (Albert Delpy) mit geschmuggelten Wurst- und Käsewaren im Zoll hängen; und dann hat ihre exhibitionistische Schwester Rose (Co-Autorin Alexia Landeau) mit dem kiffenden Aufschneider Manu (Alex Nahon) auch noch einen Liebhaber aus Marions früherem Leben im Schlepptau. Die Konflikte, in Wortgefechten auf engem Raum verdichtet, sind also vorprogrammiert. Und das Klischee von den kulturell verfeinerten Franzosen wird dabei kräftig gegen den Strich gebürstet.

Als Barbaren aus einem früheren Jahrhundert erscheinen diese in den Alpträumen von Marions Freund Mingus (Chris Rock), dem Hauptleidtragenden. Den Radiomoderator trennen nämlich nicht nur Hautfarbe und Sprache von seinen Artgenossen aus Übersee, sondern auch die Manieren. Dazu kommt noch, dass er seine Freundin, die schimpfend und handgreiflich mit ihrer Familie kommuniziert, plötzlich kaum wieder erkennt. Deren krisenhaftes Leben nach Trennung und Schwangerschaft, flankiert von verhindertem Sex und von mäßigem beruflichem Erfolg, stehen eigentlich im Zentrum des Films. Mit ihren Fotos dokumentiert Marion ihre „Beziehungsentwicklung“ und beansprucht für diesen dargestellten „Mikrokosmos“ zugleich Allgemeingültigkeit. Und so erzählt Julie Delpy, filmisch verspielt, konfus und unbekümmert, entgegen der Absicht eher nebenbei von der anvisierten „Liebesgeschichte mit Happy End“. Das Puppenspiel in der Rahmenhandlung hält diesbezüglich nur notdürftig die teils losen, teils wirr geknüpften Erzählfäden zusammen. Als witzige, tempogeladene Nummernrevue funktioniert der Film jedoch recht gut.

Rock of Ages

(USA 2012, Regie: Adam Shankman)

Smells Like No Spirit
von Drehli Robnik

„Rock of Ages' erinnert an Franz Antel-Klamotten von circa 1971; ansonsten kann man dieser Verfilmung einer Backstagemusicalkomödie wenig zugutehalten. Das kostümfreudige Sich-zum-Dodel-Machen von Publikumslieblingen, hier im Ambiente eines Hair Metal-Clubs …

„Rock of Ages' erinnert an Franz Antel-Klamotten von circa 1971; ansonsten kann man dieser Verfilmung einer Backstagemusicalkomödie wenig zugutehalten. Das kostümfreudige Sich-zum-Dodel-Machen von Publikumslieblingen, hier im Ambiente eines Hair Metal-Clubs in L.A. 1987, haut halbwegs hin: Als Avatare von Paul Löwinger und Franz Muxeneder fungieren Alec Baldwin und Russell Brand (der im Hardrock-Zappelclown-Fach festhängt), Paul Giamatti ist Gunther Philipp, als Susi Nicoletti zieht Mary J. Blige Divenregister. Im Stuntcasting- und Schauwertzentrum dieser Designerproduktion besetzt Tom Cruise – um den Vergleich auf die rezente Pophitpotpourrimusicalwelle auszudehnen – die Position von Meryl Streep in „Mamma Mia!': Publikumsgenerationen verbindendes show horse, bei dem jede trotz des Alters gelingende Verrenkung und Entblößung in sich reflektiert und doppelt obszön wirkt.

Nix gegen Tom Cruise: Der macht, in der Rolle von Altrockgott Stacee Jaxx, zwischen Räkeln, Flüstern und Irrblick, den Gockel-Maniac mit gewohnter Verve. Aber das ist nicht so lustig wie sein Part in „Tropic Thunder', und es füllt nur ein Achtel des überlangen Films. Der Rest will ausgesessen sein: ein jetzt schon vergessenes junges Schmachtpaar, dressiertes Afferl, Einfühlung in die guten alten Achtziger, vor Techno, Grunge und Clinton, als Männer und Frauen noch performt haben, wie sehr sie ihre Intaktheit genießen. Brunftrock-Karaoke, Bildstilparaphrasen (Haarlicht, Draufsicht, Blaustich: grauslich), alles in jedem Sinn verschwitzt und tongue in cheek. Es regiert das Bewusstsein, das Gezeigte sei so wert- wie alternativlos: nahtlose Identifikation von Nihilismus und Hingabe im Modus des Überschmähs. Ergo befiehlt der alle zur Doppelhochzeit in L.A. am Wörthersee vereinende Schlusshadern „Don’t stop believing!'. Öhm.. warum eigentlich nicht?

Fast verheiratet

(USA 2012, Regie: Nicholas Stoller)

Eine materialistische Hollywoodkomödie
von Drehli Robnik

Immer wieder blendet dieser Film, auch mal zu Van Morrison-Klängen, zurück zum Magic Moment eines Kostümfests zu Silvester, bei dem Tom und Victoria zusammenkamen: er im Bunny-Plüschanzug, sie im Lady …

Immer wieder blendet dieser Film, auch mal zu Van Morrison-Klängen, zurück zum Magic Moment eines Kostümfests zu Silvester, bei dem Tom und Victoria zusammenkamen: er im Bunny-Plüschanzug, sie im Lady Di-Look. Im jahrelangen Verlauf ihrer Beziehung erweist sich: Sie ist ungleich klüger als Lady Di, er aber wird immer flauschiger, lässt Haar und Bart sprießen, trägt gar wieder den Bunnyplüsch als praktischen Hausanzug, braut zuhause seinen eigenen Met und regrediert generell ins Ungustiöse.

Ein Prozess jahrelangen Verfalls nach einem doch irgendwie guten Start ins Glück beginnt, als Victoria eine Psychologie-Postdoc-Stelle an der Universität Michigan annimmt und Tom mit ihr in den kalten Norden zieht, wobei er seinen Seafoodchefkochtraumjob in San Francisco gegen einen Posten in der örtlichen, nun ja: Sandwichbelegschaft eintauscht. Und während rundum Großeltern sterben, Eltern meckern, Schwestern gebären und im Inneren Beziehungskrisen knistern, schieben die beiden ihre Hochzeit immer wieder auf: Sie sind 'Fast verheiratet' im 'Five-Year Engagament' (so der Originaltitel des Films).

Am Ende aber lernen sie, dass all das Hinauszögern nix bringt: Das halb paralysierte, halb hyperaktive Warten auf den perfekten Zeitpunkt zur Jawort-Entscheidung füreinander – wo doch schon der alles entscheidende Beginnmoment nicht perfekt, sondern hasenhaft-hatschert war –, das ist die depressive Verendlosigung einer Nicht-Haltung des Alles-Offenlassens. Jene gesellschaftlichen Verhältnisse, die (über alle Individualpsychologie hinaus) den Leuten genau dies abverlangen – nämlich sich eben nur ja nicht festzulegen und sich dabei dem ständigen Imperativ der Perfektionierung dessen, was du bist und tust, zu unterziehen –, nennen die einen euphemistisch Flexibilisierung, die anderen nennen das kritischer Neoliberalismus oder Kontrollgesellschaft. Es läuft aufs selbe hinaus: auf den antrainierten Habitus eines Alltagshandelns, das sich immer relativiert, weil es allzuvieles mitzubedenken trachtet. Von solchem ins Zwangsreflexive freigesetzten Lifestyle hat etwa Maren Ades Film 'Alle anderen' 2009 ein sehr direktes Bild, ein (Deleuze’sches) Zeitbild nahezu, entworfen, und auch 'Fast verheiratet' zielt auf ein direktes Bild von Zeit, von sozial erlebter Zeit, die vergeht, nagt, sich als Erinnerung erhält, Egos spaltet: Wenn etwa Viktoria und ihre Schwester über das Elend von Elternschaft jammern wollen, während Schwesters Kinder dabei sind, müssen die beiden ihr verbittertes Gespräch aus Rücksicht auf die unschuldig glotzenden Kleinen als quakendes Reenactment eines Sesamstraße-Dialogs tarnen.

(Kleiner Exkurs) Solche Dialoge, denen unter dem und durch den Blick einer ahnungslosen dritten Instanz eine – oft lustig anmutende – Deformation auferlegt wird, kennen wir ja markenzeichenhaft aus komödiantischen Momenten klassischer Hitchcock-Thriller; etwa wenn in 'The Man Who Knew Too Much' Doris Day und James Stewart ihr geheimes Gespräch im Mittvollzug eines rund um sie stattfindenden sakralen Chorgesangs abwickeln müssen, weil man doch grade während der Messe in einer Kirche ist; oder wenn in 'North-by-Northwest' Cary Grants Flucht vor Geheimagenten die Form einer wortwitzig sabotierten Kunstauktion annimmt, weil der Flüchtende sich in den institutionellen Sprachspielrahmen der Versteigerung einklinkt, ohne dass seine Notlage dabei offenkundig würde. Diese Position des machtvollen Dritten, der den Dialog der Einen mit den Anderen dominiert, ohne es selbst zu merken, nehmen in der mit virtuosem Witz gespielten Szene von 'Fast verheiratet' die kleinen Kinder ein, in ihrer Funktion als verlebendigtes, verkörpertes neoliberales Kapital. Dieses Kapital fordert, dass du es optimal bewirtschaftest, ihm aber auch wirklich alle Chancen eröffnest, ihm auch nicht die kleinste Kränkung (etwa durch ein mitgehörtes harsches Wort) antust, dass du ihm gegenüber immer gutgelaunt bist, nie jammerst, immer fähig bleibst, dein Handeln zu reflektieren und zu ironisieren. Vermittelt über Stanley Cavells Gedanken vom zentralen Stellenwert der remarriage comedy (der Komödie der Wieder-Bekräftigung des Ehebundes) im Hollywood-Kino, zumal in dessen Beitrag zur Formierung eines tugendhaften, entscheidungsfreien amerikanischen Subjekts, ließe sich 'Fast verheiratet' auch in anderer Hinsicht Hitchcocks Filmen über heterosexuelle Pärchen auf der Flucht oder auf Ermittlungsreise gegenüberstellen. Die Frage ist jeweils, was eine Bindung garantiert, beglaubigt – der symbolisch-performative Akt eines Jaworts oder die Erfahrung gemeinsam bestandener Abenteuer? Remarriage comedies relativieren das Jawort zugunsten der Erfahrungstests, die es erst gültig machen, indem sie seine Bekräftigung ermöglichen (nach all den Abenteuern merken die zwei, wie sehr sie zusammengehören); Hitchcock und 'Fast verheiratet' – und andere jüngere US-Comedies aus dem verästelten Judd Apatow-Kreativbiotop – zeigen, wie sich Jawort und Erfahrung ineinander auflösen, weil das Abenteuer voller symbolischer Jawort-Momente steckt und zugleich das Symbolritual des Jawort-Gebens selbst zur endlosen Teststrecke wird, zum Prozess intensiver Vorbereitungen, Aufschübe, Absagen, Durchfälle und Vorabend-Dinners, der selbst abenteuerlich (und komisch) gerät. In dieser Hinsicht knüpft 'Fast verheiratet' natürlich ganz direkt an den Vorjahrskomödienerfolg von 'Bridesmaids' an. (Ende vom Ex-, wieder auf Kurs.)

Wie auch 'Bridesmaids', 'Hall Pass', 'Funny People', 'Forgetting Sarah Marshall – Nie wieder Sex mit der Ex', 'Knocked Up – Beim ersten Mal' und andere rezente Romantic Comedies (die vielleicht so romantisch gar nicht sind, weil sie eben der Logik des Tests und der Prüfung und noch der kritischen Prüfung der Prüfung folgen) ist 'Fast verheiratet' ein Film, der nicht nur zeigt, wie Leute in und aus ihrem Leben etwas lernen können, sondern aus dem auch wir etwas fürs Leben lernen können, vielleicht sogar für unseres. (Mainstream-Kino ist ein Ort, an dem lebenslanges Lernen Wirklichkeit wird und oft lustig ist.) (Oft natürlich auch Scheiße.) Was lernen wir aus 'Fast verheiratet'? Da ist zunächst eine paulinische Weisheit: Es ist besser zu heiraten als zu pennen. Also, in Paulus‘ Korintherbrief war von 'Brennen' statt 'Pennen' die Rede, aber – you get the picture. Es geht darum, nichts unnötig lang aufzuschieben. Vielleicht ist diese Lehre – wurstle nicht im Aufschub zugunsten des richtigen Augenblicks herum, sondern entscheide dich, und weiterwursteln kannst du danach ja immer noch – auch eher über die Paulus-Lektüre des kommunistischen Ereignisphilosophen und Kinopuristen Alain Badiou zu lesen, und dann würde sie sich als Variante einer handlungsethischen Lektion von Rosa Luxemburg erweisen: Der richtige Zeitpunkt zum Handeln ist dann, wenn du endlich handelst; Perfektion wird es nie geben. (Es ging da ums Ja zur Revolution, nicht zur Ehe, das nur nebenbei.)

Ist also 'Fast verheiratet' gar ein – wenn schon nicht kommunistischer, so doch – materialistischer Film? Die Art, wie er Symbol-Akt und Endlostest-Abenteuer ineinander auflöst, spricht dafür. Ebenso das Gespür für die vielgestaltige Bedingtheit bürgerlichen Lebens – insbesondere für Arbeitsplätze –, das der Film entfaltet: Was wir sind, ist materiell bedingt: durch Dauerwinter oder kauzige Mitmenschen, zumal Kolleg_innen, durch die Stofflichkeit von Kummerspeck und Designermenüs (bis hin zum nur bedingt geilen Phantasieszenario von Sex unter Einsatz von Kartoffelsalat, in das eine kauzige Kollegin Tom hineinzwingt), durch die sich uns auferlegende Beziehungsmaterie von Rivalitäten und Identitätszuschreibungen auf dem multiethnischen Uni-Campus.

Zweite Lektion, die hier aber eher zwiespältig zum Tragen kommt: das Lenin’sche Bonmot, wonach jede Köchin imstande sein muss, die Staatsmacht auszuüben. Dazu bedarf es eines revolutionär vereinfachten Staats und einer Köchin. Was aber, wenn wir es nicht mit einer Köchin zu tun haben, sondern mit einer hochqualifizierten Nachwuchspsychologin – und einem verkrachten Koch? In ihrem Postdoktorat an der Uni ist Viktoria zweifellos imstande, Macht auszuüben, nicht direkt die der Staatsinstitution als vielmehr die gouvernementale Macht, die Führungsmacht, die durch das Wissensregime der Universität und im besonderen durch ihre behavioristischen Psychologietests ausgeübt und ausgeformt wird. Die Logik von Film als Lebensteststrecke (schon Walter Benjamin wusste, dass das Kino uns in die Endlosausweitung der Testzone einführt) und die Logik von remarriage bzw. forever delayed marriage oder multiple almost-marriage comedy, sie beide bilden sich hier noch einmal ab in den Szenen der Befriedigungsaufschubfähigkeitstestanordnung, die sich Viktoria, ihr arroganter walisischer Chef (und zeitweiser Lover) und sein Team ausgedacht haben; eine 'Anordnung' im Doppelsinn (Sabine Nessel), ein Machtgefüge, das Viktoria irgendwann dann auch auf den Bartgebüsch und Bunnyplüsch tragenden und daheim vegetierenden Tom anwendet – um mit Schrecken zu sehen, dass ihr Endlosverlobter gleich die alten Donuts auffrisst, anstatt auf frische zu warten, dass er also das Zweitbeste jetzt anstatt das Beste irgendwann will (siehe Lektion Luxemburg). Auf das Ethos des Zweitbesten, das immer schon Bestes gewesen sein wird, sofern wir es hingebungsvoll wollen, groovet sich der Film gegen Ende ein, feiert etwa eine musikalische Glücksmontagesequenz lang, wie Tom – zurück in San Francisco, geheilt vom ressentimentalen Festhalten am Luxusrestaurantseafoodchefkochphantasma – seine eigene pfiffige, ganz dem Multiethnischen zugetane Homemade-Imbissbude betreibt; und da sehen wir plötzlich die als Psychologin zur Führungsmacht befähigte Viktoria als seine fröhliche Kochgehilfin. Das aber kann es nicht sein! Dass es kurz einmal – zum Glück geht der Film dann noch weiter, und die 'Köchin' dirigiert ja dann auch die ostentativ nicht-perfekt stattfindende Hochzeit – so aussieht, als wäre alles eitel Wonne, wenn das Männlein seinen bescheidenen Kreativarbeitertraum verwirklicht und das überqualifizierte Weiblein, aus den Fängen angemaßter Intellektualität befreit, sich an seiner Seite zur Familienbetriebshilfsarbeit einfindet.

Soll heißen: In genderpolitischer Hinsicht ist da noch room of improvement vorhanden, und dieser Aspekt von Apatow-Komödien ist exemplarisch verbildlicht im Anblick von Hauptdarsteller Jason Segel. Spätestens seit seiner markanten Nebenrolle in 'Knocked Up' und exemplarisch in 'Forgetting Sarah Marshall' spielt Segel ganz aus der Sanftheit seines babyspeckigen Riesenleibs, seiner Schmollippen und Dackelaugen, seiner muttermalübersäten Haut heraus – was? Den Typus des Frauenverstehers und Underachievers, der sich am Ende doch durchsetzt, und vor allem den Typus Mann, der gelernt hat, seine nicht-souveräne, massiv affizierbare, nah am Wasser gebaute Physis zu akzeptieren. Der Segel-Mann unterwirft die einstige ideologisch-phallische Allmacht der Testikel dem Test der bürgerlichen Realität und akzeptiert das Ergebnis, nimmt jene makelhafte Leiblichkeit, die (klassischen feministischen Filmtheorien zufolge) im maskulinistischen Film-Imaginarium das zugeschriebene Merkmal von Weiblichkeit war, bereitwillig auf sich – und behält sich doch die Definitionsmacht vor. Das zeigt sich schon allein daran, dass Hauptdarstellerinnen postromantischer Hollywood-Beziehungskomödien, die ähnlich wie Segel, Chris O’Dowd in 'Bridesmaids' oder Seth Rogen in 'Knocked Up', ostentativ nicht-perfekt aussehen, noch kaum denkbar sind – die müssen schon eher wie Mila Kunis oder Katherine Heigl daherkommen. (Der Look von Kristen Wiig in 'Bridesmaids' war da mal ein kleiner Schritt in Richtung Wirklichkeit.) (Und die Allianz zwischen Cameron Diaz als ihre reichlichen Reize schamlos und vom Filmplot erfrischend 'ungestraft' einsetzendes Working Girl und Jason Segel als laschem Underachiever in 'Bad Teacher' sei hier, en passant, als ein Bündnis zur Leistungsterrorverweigerung gewürdigt.)

Nun ja. Das soll nicht heißen, dass Segel in seinem Part in 'Fast verheiratet' nicht brilliert. Und auch Emily Blunt in der Rolle der zeitweiligen Köchin, die dann doch die Geschäfte wieder in ihrer Eigenschaft als Verhaltenssteuerungspsychologin lenken darf – wobei: In der vollentwickelten Kontrollgesellschaft ist ohnehin das Kochen längst zur verfeinerten Verhaltenssteuerungssozialtechnik avanciert –, auch Blunt, die in der Handlungskonstellation des Films (oder im Swiss Air-Kund_innenmagazin) seltsamerweise als Verkörperung einer optisch-erotisch nur zweitbesten Frau hingestellt ist, die demnächst mit 'saggy tits' herumlaufen wird (Wenn ihr Look für Nicht-ganz-so-toll-Aussehen und drohende Hängetitten steht, dann wär ich damit schon recht zufrieden), auch sie, let’s be blunt about it, ist toll wie immer. Blunt und Segel, die beide übrigens angenehm älter aussehen als sie sind, spielten schon in 'Gullivers Reisen' und im Muppets-Film, wie nun auch in 'Fast verheiratet', nach einem Skript bzw. in der Regie von Nicholas Stoller Seite an Seite. Lassen wir mal die kleinen Hormonriesen aus dem Gulliver-Film weg und machen lieber die Vergleichsperspektive mit den Muppets stark: Dann ist natürlich auch 'Fast verheiratet' ein Film, der von der Anerkennung des 'No Body Is Perfect' in Richtung – nur in Richtung! – eines musikalisierten Kommunismus des Wissens- und Kreativprekariats weist. Auch hier ein lustiges Paar inmitten eines starken Ensembles von Typen wie du und ich, mit etwas weniger Plüsch, aber ebensoviel reflektiertem Charme und humanem Schmäh. (Applaus! Applaus!)

Wagner & Me

(GB / CH / RU D / 2010, Regie: Patrick McGrady )

Voll die Antisemiten
von Dietrich Kuhlbrodt

Wer da von Me redet, Stephen Fry, ist ein in England wohl bekannter TV-Moderator, Fan der Musik Richard Wagners seit Kindesbeinen. 2009 öffnen sich die Pforten des Bayreuth-Tempels, für ihn, …

Wer da von Me redet, Stephen Fry, ist ein in England wohl bekannter TV-Moderator, Fan der Musik Richard Wagners seit Kindesbeinen. 2009 öffnen sich die Pforten des Bayreuth-Tempels, für ihn, den Gläubigen. Die Kamera ist dabei, und wir folgen dem bekennenden Anhänger des Wagner-Kults, wie er durch die heiligen Hallen schreitet und mit kindlicher Naivität, ob gespielt oder nicht, die Gefühle beschreibt, die ihn überwältigen. Er ist bei Proben dabei. Auf die Tasten des Pianos hatte der verehrte Richard Wagner höchstselbst seine Hände gelegt. Im sonst für die Öffentlichkeit unzugänglichen Festspielhaus reden die Prominenten mit ihm, empathisch. Ein Fest für ihn, für ihn ganz allein, und trotzdem dreht er nicht durch. Warum nicht? Stephen Fry hat ein Problem, er muss seinen Wagnerglauben rechtfertigen und verteidigen, und dazu braucht er einen klaren Kopf.

Fry hat einen jüdischen Hintergrund. Angehörige sind im KZ Auschwitz ermordet worden. Wagner war bekennender Antisemit. Hitler, der andere Wagnerfan, ließ dessen Musik auf dem Parteitagsgelände in Nürnberg erschallen. Hitler stand dazu auf dem steinernen Podium und reckte die rechte Hand. – „Wagner & Me“, der Film, rückt jetzt, bald sechzig Jahre
danach, den Podest ins Bild, Gras wächst drauf. Der Stein bröckelt, Stephen Fry bringt es nicht fertig, sich draufzustellen. Ja, was sagen?

Eben noch, in Bayreuth, kam der Satz „Ich bin ein Kind im Bonbonladen“. Jetzt erkennt er: „Hitler und die Nazis haben Wagner befleckt“. So rum wird’s für ihn richtig. Aber, Herr Fry, hatte Wagner, der Antisemit, nicht selbst einen Fleck auf seine Musik gemacht? – Neinnein, „er brauchte Feinde, um kreativ zu werden“, „er brauchte den Kick“. —

Momentmal, Her Fry, – aber der kann mich ja nicht hören. Er ist unterwegs, um sich Unterstützung zu holen. In St. Petersburg, im Mariinsky-Theater, spricht der weltberühmte Wagner-Dirigent Richtung Israel: „Wenn wir nach dem zweiten Weltkrieg hier Wagner aufführten, dann kann ihn jedes Land spielen“. – Aber waren die Stalinisten nicht voll die Antisemiten gewesen? – Wieder hört mich keiner. – Stephen Fry legt noch einen drauf. In London lässt er die weltberühmte Cellistin zu Wort kommen. Als Mädchen hatte sie im Gefangenen-Orchester Wagner gespielt – und Auschwitz überlebt. „Musik kann man nicht besudeln. Sie ist heilig“, hören wir. –

Haben wir die Argumente zusammen? – Herr Fry, Ihr Schlusswort! – “Ich verzichte doch nicht wegen Adolf Hitler auf Wagner, das große Genie“ – Danke. Aber hatten Sie nicht am Anfang gesagt, kokett, aber der Situation angepasst: „Ich bin eine Blamage“?

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 07/2012

Copacabana

(F / B 2010, Regie: Marc Fitoussi)

Antibürgerliche Reflexe
von Wolfgang Nierlin

Babou (Isabelle Huppert) heißt eigentlich Elisabeth Delmotte. Wenn sie sich eingangs von Marc Fitoussis tragikomischem Film „Copacabana“ schminken lässt und dabei mit ihrem Blick lange auf ihrem Spiegelbild verharrt, spürt …

Babou (Isabelle Huppert) heißt eigentlich Elisabeth Delmotte. Wenn sie sich eingangs von Marc Fitoussis tragikomischem Film „Copacabana“ schminken lässt und dabei mit ihrem Blick lange auf ihrem Spiegelbild verharrt, spürt man etwas von ihrer Gespaltenheit. Der Wunsch, ein anderer zu sein und ein Leben abseits der konventionellen Regeln zu führen, haben Babou zu dem gemacht, was sie ist: eine verträumte Müßiggängerin ohne rechten Plan und ein ausgeflippter Freak mit einem Hang zum Chaos, der das geregelte Spießerleben verabscheut. Einmal kommt sie, die es nicht lange in Arbeitsverhältnissen aushält und stets pleite ist, zu spät zu einem Vorstellungsgespräch in einer Konfiserie. Als sie daraufhin des Ladens verwiesen wird, rastet sie kurzerhand aus und räumt die Auslage ab. Babous Freiheitsdrang, gepaart mit der Angst, durch zu viel Nähe ihre Unabhängigkeit zu verlieren, haben sie aber auch einsam gemacht.

Das Unstete und Exaltierte sowie Babous vermeintlicher Mangel an Verantwortungsgefühl sind zugleich die Gründe, weshalb ihre 22-jährige Tochter Esméralda (gespielt von Hupperts Tochter Lolita Chammah) Abstand zu ihr hält und nur noch wenig mit ihr zu tun haben will. Die Sprachstudentin, die sich ihr Studium als Bedienung finanziert, schämt sich geradezu für ihre Mutter. Und weil sie deshalb diese zu ihrer geplanten Hochzeit explizit auslädt, kommt es zum Zerwürfnis. Tief gekränkt, nimmt sich Babou vor, ihr Leben zu ändern und dafür die gemeinsame Wohnung zu verlassen. Diese Umkehrung des Konflikts innerhalb einer Mutter-Tochter-Geschichte nutzt Marc Fitoussi für den nachdenklichen Witz seines Films, der seine schillernde Wirkung vor allem dem tragikomischen Spiel Isabelle Hupperts verdankt.

So wirkt Babou in ihrer lustvollen Antibürgerlichkeit immer auch ein wenig traurig, einsam und verloren. Als sie schließlich in Ostende bei einer dubiosen Immobilienfirma anheuert („Ich muss mich eingliedern.“), um auf der Straße potentielle Käufer für Ferienappartements zu werben, kontrastiert Fitoussi – vor allem über den Soundtrack vermittelt – Bilder der grauen, tristen Hafenstadt mit Babous titelgebender Brasilien-Sehnsucht. „Ich reagiere auf Begegnungen“, äußert sie einmal gegenüber einer Kollegin, um ihre unbestimmte, nicht festlegbare Lebensbewegung zu beschreiben. In den neuen, provisorischen Arbeits- und Lebensverhältnissen sind Nähe und Distanz in den Sozialkontakten bald austariert. Dabei bleibt Babou zwar einerseits ihrer Haltlosigkeit (etwa in ihrer Beziehung zum Hafenarbeiter Bart) treu, durchbricht durch eine unvermutete Einfühlsamkeit auf versöhnliche Weise aber auch ihr negatives Mutter-Image. Trotz diverser Drehbuchschwächen, die Fitoussi durch Ellipsen überspringt, ist diese Facette glaubhaft. Wenn gegen Ende Babous neu gewonnenes Vertrauen – zur Vorgesetzten Lydie (gespielt von der wunderbaren Aure Atika) – bitter enttäuscht wird, bestätigen sich auf ironisch-schmerzliche Weise doch noch ihre antibürgerlichen Reflexe und verlangen geradezu nach einem utopischen Ausbruch in brasilianische Farbigkeit.

Wanderlust – Der Trip ihres Lebens

(USA 2012, Regie: David Wain)

Oh du segensreicher Kapitalismus!
von Michael Schleeh

Ein New Yorker Yuppiepärchen hat sich eben noch beim Kauf einer völlig überteuerten Wohnung in bester Lage finanziell überhoben (sie (Jennifer Aniston) bekommt den Auftrag von HBO nicht, er (Paul …

Ein New Yorker Yuppiepärchen hat sich eben noch beim Kauf einer völlig überteuerten Wohnung in bester Lage finanziell überhoben (sie (Jennifer Aniston) bekommt den Auftrag von HBO nicht, er (Paul Rudd) wird fristlos entlassen, da die Firma überraschend pleite macht), da beschließen sie aus recht masochistischen Gründen, den Bruder Protz in der Provinz zu besuchen, um in dessen Firma unterzuschlüpfen. Beim Roadtrip durch das Land stranden sie allerdings, völlig ausgelaugt und übernächtigt, in einer Hippie-Kommune, deren Lebensmaxime den gewohnt Großstädtischen diametral entgegensteht. Eine Erfahrung, die sich als berauschend lebenserfrischend erweist. Hier könnte man vielleicht ein wenig verweilen, fantasieren sie lachend und euphorisiert bei der Weiterfahrt, nicht ahnend, dass sie in der kapitalistisch aufschneiderischen Welt des Bruders völlig Schiffbruch erleiden werden. Plötzlich nimmt der Flirt mit dem Aussteigerleben konkrete Züge an, und man erwägt, es mal zu probieren. Auf in den Tanz!

In dieser von Judd Apatow produzierten Komödie steht die amerikanische „recession“ als konfliktauslösende Prämisse zunächst im Vordergrund. Die Frau mit ihrem Bedürfnis nach einer repräsentativen Wohnlage erweist sich dann im Film als wankelmütige und orientierungslose Protagonistin, die auf der Suche nach dem rechten Wege im Leben ist: Filmemacherin, Autorin, Künstlerin und Kaffeebarbesitzerin wollte sie schon sein. Die Immobilie (die er finanziert) soll ihr also auch das Erwachsensein versichern (muss man extra erwähnen, dass in diesem Film Kinder keine Rolle spielen?). Er hingegen ist Rationalist und hat von Beginn an Vorbehalte, nennt die Dinge beim Namen und ist sich der Entscheidung weit weniger sicher als sie. Aber was tut man nicht alles für den häuslichen Frieden! Nein zu sagen ist nicht die Stärke dieses unfreiwilligen Komödien-Helden.

Und wenn sie dann im Land, wo Milch und Honig fließen, angekommen sind, werden gut eine Stunde lang Komödienszenen aneinander gereiht, Klischees und Standards bedient, und man hat auch mal wieder Sex (mit dem bärtigen Guru der Kommune (Justin Theroux) etwa). Sich zu öffnen fällt dem Helden allerdings schwer. Übersprungshandlungen kündigen sich an, obwohl ihm die hotteste Sexbiene gerne mal zu Diensten sein will. Das soll wohl irgendwie lustig sein. Oder politisch. Seine Moral, seine Verklemmtheit, seine Ordnungsliebe, die Erziehung oder sonst irgendwas machen ihm alles Körperliche schwer. Er kann sich halt nicht öffnen. Die ganze Sache geht ihm gegen den Strich, wohingegen seine Geliebte immer stärker zu sich selbst findet und sich von ihm entfernt. Sagt sie zumindest. So also droht ihm auch dieser Pfeiler seiner Existenz wegzubrechen.

Die apatowsche Pimmelwitzquote ist erfreulicherweise recht niedrig in „Wanderlust“ und beschränkt sich auf einen etwas quälenden running gag, der als leibhaftiger Nudist durch den Film stolpert. Als verhinderter Autor ist dieses Kommunenmitglied mit einer stilechten Intellektuellenbrille gekennzeichnet.

Und am Ende, da steht nach der Entzweiung des Liebespaars nicht nur die Reinstallierung der Beziehung, sondern auch, ganz dem Gesetz des Filmes folgend, die Gründung einer gemeinsamen Firma. Eine Drehbuchentscheidung, die nicht nur völlig konsequent ist, sondern auch die Ekelhaftigkeit des Filmes nochmal abschließend zu Bewusstsein bringt. Der Verlag übrigens hat Erfolg (freilich, was sonst). Mit den Romanen des bebrillten Nudisten … Von wegen Wirtschaftskrise! Schauet her, wie wir gerettet wurden!

Babycall

(NR / S / D 2011, Regie: Pål Sletaune)

Norwegen kann sehr kalt sein
von Ulrich Kriest

„Wo ist Anders?“, fragt eine männliche Stimme eine verletzt am Boden liegende Frau. Mit einer mysteriösen Szene – Rückblende oder Vorgriff, vielleicht – beginnt der neue Spielfilm des Norwegers Pal …

„Wo ist Anders?“, fragt eine männliche Stimme eine verletzt am Boden liegende Frau. Mit einer mysteriösen Szene – Rückblende oder Vorgriff, vielleicht – beginnt der neue Spielfilm des Norwegers Pal Sletaune, der vor ein paar Jahren mit dem kontroversen Psychohorror „Naboer“ für Aufsehen sorgte. „Babycall“ ist zugleich harmloser und ambitionierter, ändert aber auch wiederholt seinen Tonfall und spielt ein doppelbödiges Spiel mit den Konventionen des Films und den Erwartungen der Zuschauer.

Zu Beginn scheint „Babycall“ eine Sozialstudie a la „Fish Tank“: Anna (Noomi Rapace mal wieder ungebremst intensiv als Schmerzensfrau des skandinavischen Films) und ihr Sohn Anders ziehen in einen anonymen und tristen Wohnblock am Rande Oslo, der ihnen Schutz bieten soll vor dem gewalttätigen Ex-Mann und Vater der Kleinfamilie. Insbesondere Anna wirkt schwer traumatisiert, geht ungern unter Leute, verbarrikadiert sich in der Wohnung, lässt die Vorhänge geschlossen. Man lebt sehr zurückgezogen und fast schon symbiotisch aufeinander bezogen gegen die (potentielle) Bedrohung durch die Außenwelt. Einziger regelmäßiger Kontakt der Rest-Familie sind zwei Sozialarbeiter des Jugendamtes, die allerdings auf der Seite des Täter-Vaters zu stehen scheinen und stets etwas parteilich und respektlos nach dem Rechten schauen.

Wobei irgendwann auffällt, dass Anders‘ Sehnsucht nach Normalität wächst. Will er doch nicht länger bei der Mutter im Bett schlafen! Hat er doch beim Spiel einen neuen, schweigsamen Freund kennengelernt, der einen mysteriösen Einfluss auf Anders ausübt. Anna reagiert darauf zunächst mit dem Kauf eines Babyphons, um den Schlaf ihres Sohnes zu kontrollieren. Im Elektromarkt lernt sie den ruhigen Helge kennen, der ihr etwas Sicherheit zu geben scheint. Doch dann hört Anna eines Nachts das Wimmern eines Kindes durch Babyphon. Helge spricht von möglichen Frequenzüberlagerungen. Anna ahnt, dass irgendwo in der Siedlung ein Kind misshandelt wird und beginnt, sich wirklich seltsam verhaltende Nachbarn zu beobachten. Schließlich wird sie Zeugin einer Gewalttat, doch ihr Versuch einzugreifen scheitert.

Was sich jetzt in sozialrealistischer Manier auf eine krude Mischung aus „Tatort“ und Horrorfilm einzupendeln scheint, wird immer häufiger durch surreale „Schocks“ und „Flashes“ verfremdet, die allmählich Misstrauen gegen die Zuverlässigkeit der Erzählperspektive säen. Einmal misstrauisch geworden, kommen einem immer mehr Schönheitsfehler in den Sinn, die – wie zuvor – auf die paranoide Wirklichkeitserfahrung der Protagonistin bezogen werden können. War Anna zunächst nur traumatisiertes Opfer, so wird sie jetzt allmählich unheimlich. Was, wenn die Kinderschreie im Babyphon aus einer anderen Zeit kämen und subjektive Erinnerungen wären?

„Wo ist Anders?“ Regisseur Sletaune gelingt über weite Strecken die intelligent gemachte Konstruktion eines verstörenden Schwebezustands zwischen Realität und Wahn, der von David Lynch („Mulholland Drive“), Stanley Kubrick („The Shining“) oder Rainer Werner Fassbinder („Despair-Eine Reise ins Licht“) inspiriert sein könnte. Dumm nur, dass das Ganze dann schließlich zu etwas führen muss, was den ganzen Aufwand lohnt. Und genau hier liegt die Schwäche von „Babycall“! Die Auflösung der filmimmanenten Spannung wird letztlich durch einen ziemlich platten Coup de theatre geleistet, was nur insofern besticht, weil man den Film jetzt gerne wegen Falschaussage vor Gericht zerren würde. Die Beweisführung in diesem Verfahren könnte indes wirklich interessant werden: es steht Aussage gegen Aussage!

Trotzdem: neugierig geworden, wie es dem Film gelingen konnte, so viele falsche Fährten zu legen und den Kern der Handlung immer wieder neu zu setzen, macht man die Probe der Wiederholung. Doch beim zweiten Sehen enttäuscht der Film nur noch, weil nicht nur die Cleverness der Konstruktion des unzuverlässigen Erzählens sichtbar wird, sondern auch deren Willkür. Ärgerlich, man hätte schon bei der erste Szene der »richtigen« Handlung stutzig werden müssen! Dumm gelaufen. Muss man jetzt alles, was oben steht, in den Konjunktiv setzen?

Amador und Marcelas Rosen

(SPA 2010, Regie: Fernando León de Aranoa)

Magische Frömmigkeit
von Wolfgang Nierlin

Das sozialrealistische Setting des Films „Amador und Marcelas Rosen“ erscheint auf den ersten Blick klischeehaft; andererseits bleibt Fernando León de Aranoa nach seinen Arbeiten „Montags in der Sonne“ und „Princesas“ …

Das sozialrealistische Setting des Films „Amador und Marcelas Rosen“ erscheint auf den ersten Blick klischeehaft; andererseits bleibt Fernando León de Aranoa nach seinen Arbeiten „Montags in der Sonne“ und „Princesas“ seinem ausgeprägten Interesse für soziale Probleme treu, was ihn mit seinen Kollegen Ken Loach und Robert Guédiguian verbindet. Mit der introvertierten Perspektive seiner Protagonistin Marcela (Magaly Solier, bekannt aus dem Berlinale-Gewinner „Eine Perle Ewigkeit“) erzählt der spanische Regisseur auf verhaltene, mitunter etwas langatmige Weise die Geschichte einer weiblichen Selbstfindung unter prekären Lebensumständen. Marcelas einsame Eigensinnigkeit ähnelt darin jenem leicht kitschigen Bild einer allein auf ödem Grund sprießenden Blume, das den Film eröffnet und eine „Rosen-Metaphorik“ in Gang setzt, die den Film fortan durchzieht. Deren Bedeutung kreist um den Zusammenhang von Leben, Liebe und Tod.

Anfangs will Marcela aus Verhältnissen ausbrechen, die ihren Traum von einem besseren Leben nicht erfüllen. Ihrem Freund Nelson (Pietro Sibille), der mit seiner bolivianischen Einwanderer-Clique und „aufgefrischten“ Rosen an der Peripherie Madrids einen illegalen Blumenhandel betreibt, schreibt sie einen Abschiedsbrief. Doch dann wird sie ohnmächtig, entdeckt ihre Schwangerschaft und muss wieder zurück. Sie zerreißt den Brief, verwahrt die Schnipsel in einer kleinen Blechdose mit Habseligkeiten und verschweigt ihren Zustand, da der achtlose Nelson in anderen Kategorien von der Zukunft denkt. Schließlich findet sie Arbeit und ein bescheidenes Einkommen als Betreuerin des alten, bettlägerigen Amador (Celso Bugallo), der von seiner gestressten Familie vernachlässigt wird. Amador legt ein schwieriges Puzzle, das aus Wolken besteht, die sich auf der Meeresoberfläche spiegeln. Einmal vergleicht er das Leben mit einem Puzzle, dessen individuell verschiedene Teile jeder selbst für sich richtig zusammensetzen muss.

Ein anderes Mal deutet er seinen baldigen Tod an und bittet Marcela, seinen Platz für ihr Kind freizuhalten. Der Tausch von Leben und Tod im vorgestellten Kreislauf von Sterben und Wiedergeburt, aber auch Marcelas fast magische Frömmigkeit grundieren den Film und setzen ein Gegengewicht zur sozialen Überlebensnot. Rituelle Arbeits- und Handlungsabläufe bestimmen auch Marcelas Alltag. Fernando León de Aranoa verleiht diesem eine ebenso skurrile wie schwarzhumorige Note, als Amador stirbt und Marcela unter Schuldgefühlen ihren Dienst mit der Leiche fortsetzt, um weiterhin das nötige Geld für sich und ihr Kind zu verdienen. „Es geht darum, wie das Leben und der Tod dazu gezwungen sind zu koexistieren“, sagt der Filmemacher dazu. Immer wieder wird Marcela nach dem Namen des Kindes gefragt; und wiederholt verlangen Menschen, den Bauch der Schwangeren berühren zu dürfen, als ginge es darum, einen identifizierbaren Kontakt zum Leben herzustellen. Doch erst am Ende dieses poetischen Films, wenn alle Puzzles zusammengesetzt sind, huscht nach der Namensfrage ein wissendes, aber verschwiegenes Lächeln über Marcelas stilles Gesicht.

Die Wohnung

(D / ISR 2011, Regie: Arnon Goldfinger)

Wie uns Oma Gerda langsam unheimlich wurde
von Ulrich Kriest

In seinem Dokumentarfilm „Die Wohnung“ rekonstruiert der Filmemacher Arnon Goldfinger Familiengeschichte mit detektivischer Verve. „Fängt man an, von der Vergangenheit zu sprechen, findet man kein Ende mehr!“, heißt es gegen …

In seinem Dokumentarfilm „Die Wohnung“ rekonstruiert der Filmemacher Arnon Goldfinger Familiengeschichte mit detektivischer Verve. „Fängt man an, von der Vergangenheit zu sprechen, findet man kein Ende mehr!“, heißt es gegen Ende des Films einmal. Da ist der Filmemacher Arnon Goldfinger schon nicht mehr neugierig, sondern eher ratlos. Angefangen hatte der Film eher harmlos: Gerda Tuchler, die Großmutter des Filmemachers, war im hohen Alter von 98 gestorben und jetzt muss ihre Wohnung geräumt werden.

Erstes Problem: Gerda und ihr Mann Kurt konnten sich offenbar von wenigen Gegenständen trennen, durchaus zur Belustigung ihrer Nachkommen finden sich Sammlungen von eleganten Handschuhen, ziemlich angejahrter Pelzmode und allerlei Schnickschnack wie ein paar Ausgaben des Nazi-Kampfblattes „Der Angriff“. Zweites Problem: Gerda und Kurt haben Deutschland 1937 verlassen, wurden aber in Israel offenbar nie heimisch. Sie lernten kein Hebräisch, sprachen mit ihren Enkeln lieber englisch, hatten eine komplett deutschsprachige Bibliothek.

Noch irritierender: es existieren Fotos von Gerda und Kurt, die nach dem Krieg in der Bundesrepublik aufgenommen wurden. Mit auf den Fotos: ein deutsches Ehepaar. Kein Familienmitglied mag davon wissen, aber es tauchen Briefe auf, die von der Geschichte einer langen Freundschaft erzählen. Wer ist dieses Ehepaar von Mildenstein? Und wie kommt die Nazi-Propaganda in den Besitz von Gerda und Kurt? Warum haben sie sich davon nicht getrennt?

Goldfingers Mutter Hannah erklärt, man habe über Familiengeschichte nie länger gesprochen. Goldfinger macht sich auf die Suche, stößt auf Mauern des kollektiven Beschweigens und sich die Geschichte-Schönredens. Doch, siehe oben, wenn man mit der deutsch-jüdischen Vergangenheit anfängt, öffnen sich Tore des Schreckens – und aus einer ganz privaten Familiengeschichte wird eine-deutsch-israelische Co-Produktion.

Baron von Mildenberg war nicht nur ein Reisejournalist, der sich für das Leben in Palästina interessierte, sondern ein SS-Mann, der lange vor 1933 in die Partei eingetreten war, als Leiter des NS-Judenreferats direkter Vorgesetzter von Adolf Eichmann war, dann Referent im Reichspropagandaministerium wurde und schließlich mit bereinigtem Lebenslauf als Repräsentant von Coca-Cola sein Auskommen fand. Kurt Tuchler war ein glühender Zionist und träumte vom gelobten Land, sympathisierte also vielleicht sogar mit einigen Ideen Mildensteins vom Judenstaat in Palästina. An dieser Freundschaft unter kultivierten Menschen konnte offenbar auch der Holocaust nicht rütteln: obwohl Gerdas Mutter Ende 1942 in Theresienstadt »verschwand«, blieb man auch nach dem Krieg befreundet.

Von all dem haben die Kinder und Enkel Gerdas nichts gewusst. Goldfinger stöbert in Wuppertal auch Mildensteins Tochter Edda auf, eine eloquente Frau, die sich sehr gut an die jüdischen Freunde ihrer Eltern erinnert. Besser jedenfalls, als an die NS-Karriere ihres Vaters, die offenbar im Hause Mildenstein mit einer Legende kaschiert wurde. Doch Goldfinger lässt nicht locker, findet eine alte „Spiegel“-Story von 1966 über die Geschichte der SS, spricht mit dem Verfasser, geht in die Archive, befragt Historiker. Schließlich kommt es erneut zur Begegnung mit Tochter Edda, nur dass der mittlerweile von seinen Recherchen ziemlich überforderte Filmemacher jetzt Unterlagen dabei hat, die bestimmte Fragen zulassen. Die Situation wird rasch unbehaglich, obwohl der Tonfall noch immer freundlich ist. Doch hatte nicht kurz zuvor Hannah nicht achselzuckend gewarnt: „Würdest du einem Freund auf die Nase binden, dass sein Vater ein Mörder war, wenn er es selbst nicht weiß? Wozu?“

Wie in jedem guten Krimi bleiben am Schluss entscheidende Leerstellen, auf die sich niemand einen Reim zu machen weiß. Doch auf dem Weg dorthin wurde man Zeuge, dass nicht nur auf Täterseite nach 1945 geschwiegen wurde. Gleich zu Beginn des Films hatte ein Antiquar darauf hingewiesen, dass es in Israel Menschen gibt, die 10 oder 20 Jahre in Deutschland gelebt haben, danach aber 50 Jahre in Israel. Als Fremde, in der Diaspora, weil sie in ihrer Seele Deutsche blieben. So wie Gerda und Kurt?

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

17 Mädchen

(F 2011, Regie: Delphine Coulin, Muriel Coulin)

Marienkäfercheninvasion
von Wolfgang Nierlin

Der Kontrast zwischen kleinstädtischer Enge und der Weite des atlantischen Ozeans grundiert Delphine und Muriel Coulins Film „17 Mädchen“ („17 filles“), den die beiden Schwestern in ihrer bretonischen, von Umbrüchen …

Der Kontrast zwischen kleinstädtischer Enge und der Weite des atlantischen Ozeans grundiert Delphine und Muriel Coulins Film „17 Mädchen“ („17 filles“), den die beiden Schwestern in ihrer bretonischen, von Umbrüchen geprägten Heimatstadt Lorient gedreht haben. Es ist das Jahr, in dem die Marienkäferchen eine Invasion starten und die Natur gleich doppelt verrücktspielt. Denn nach und nach werden immer mehr minderjährige Mädchen absichtlich und auf Verabredung schwanger. Dass diese Schwangerschaften auch als Manifestation jugendlichen Widerstands gegen die beschränkte Erwachsenenwelt und ein vorgezeichnetes Leben zu verstehen sind, formuliert der Film mehr als Behauptung. Die sozialen Ursachen und familiären Anlässe – von der überforderten alleinerziehenden Mutter bis zum autoritären Gebaren der Lehrer und Eltern – sind nur angedeutet; stattdessen konzentrieren sich die französischen Filmemacherinnen in ihrem Coming-of-age-Film auf die Perspektive der Mädchen.

Deren ausgeprägt verschworenes Cliquenverhalten durchzieht dieses ebenso energiegeladene wie nachdenkliche Langfilmdebüt, dem tatsächliche Ereignisse zugrunde liegen, von Anfang an. Die 16-jährige Camille (Louise Grinberg), die erste Schwangere, ist inoffizielle Anführerin einer Bande von zunächst fünf Freundinnen, die den Schulsport schwänzen, in den Dünen kiffen und sich offensiv den erzieherischen Autoritäten verweigern. Dass sie andererseits auch Mitschülerinnen ausgrenzen, namentlich Florence (Roxane Duran), sagt viel über ihr Alter und noch mehr über ihre Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit, Liebe und Solidarität. Denn es ist schließlich ausgerechnet die Außenseiterin Florence, die, vom Verlangen nach Freundschaft und Teilhabe getrieben, das utopische und zugleich kindlich-naive Streben der Mädchen nach Freiheit und Unabhängigkeit in Gang setzt.

„Jetzt habe ich einen Grund, etwas aus meinem Leben zu machen“, formuliert Camille ihre neugewonnene Perspektive. Da sie nach der Geburt des Kindes sowohl ein Leben in der Schule als auch eines zu Hause habe und darüber hinaus voraussetzungslos geliebt werde, verfüge sie über „200 Prozent Leben“. Der Anspruch, es besser zu machen als die eigenen Eltern, deren hilflose Reaktionen weitgehend schematisch gezeichnet sind, lässt die Mädchen von einer gemeinsamen Schwangeren-Wohngemeinschaft träumen. Immer wieder beschwören die Schwestern Coulin, unterstützt von einem rockigen Soundtrack, die unbändige Kraft der Jugend und ihre Lust an der Regelverletzung. In einer poetischen Spannung dazu stehen melancholische Momentaufnahmen, in denen die Mädchen, fotografiert im Ambiente ihrer Jugendzimmer, über sich selbst nachdenken. Verstärkt wird diese unterschwellige Unsicherheit noch durch Blicke auf Details von Körpern und Haut, die das Zerbrechliche und die Verletzlichkeit der Jugendlichen festhalten. Und so sind auch die märchenhaften Träume der siebzehn Mädchen nur eine schmerzliche Etappe aus der Zeit des Übergangs.

Wader Wecker Vater Land

(D 2011, Regie: Rudi Gaul)

Altsentimentale
von Andreas Thomas

Beiden gemeinsam war und ist das Tremolo, zum Glück noch nicht der Tremor. Trotzdem kann der Dokumentarfilm „Wader Wecker Vater Land“ einen emotional erwischen, negativ emotional, gerade, wenn man in …

Beiden gemeinsam war und ist das Tremolo, zum Glück noch nicht der Tremor. Trotzdem kann der Dokumentarfilm „Wader Wecker Vater Land“ einen emotional erwischen, negativ emotional, gerade, wenn man in seiner sinistren Jugend versucht war, eine Art Vorbilder in ihnen zu sehen.

Auf ihre älteren Tage, nicht „mit letzter Tinte“, aber auch nicht mehr im vollen Saft der Jugend haben sich die schon immer ziemlich ungleichen Liedermacher Konstantin Wecker aus München (Jahrgang 1947) und Hannes Wader aus Bielefeld (Jahrgang 1942) zu einer gemeinsamen Tournee zusammengefunden, und – wie man anhand dieser Dokumentation von Rudi Gaul nachprüfen kann, es geschafft, größere Sääle kleinerer Städte unserer Republik zu füllen. Gekommen sind noch erstaunlich viele Altsentimentale, als Altlinke kann man heute wohl weder das Publikum noch die beiden Musiker bezeichnen, denn links ist ja irgendwie out heutzutage und höchstens was für Nostalgiker oder unverbesserliche Parteipolitiker.

Was musikalisch bei dieser Fusion des eher extrovertierten Showmannes und Politpianisten Wecker und des eher introvertierten Folk-Romantikers Wader herauskommt, reicht leider selten, wie der Film selbst mittels Archivmaterial beglaubigt, an die stimmungsvollen Auftritte beider aus den siebziger Jahren heran, und skurril wird es, wenn Wecker gar den eher steifen Wader dazu überredet, doch ein Intermezzo mit dem Caterina-Valente/Roberto-Blanco-Klassiker „Quando quando quando“ einzubauen, und das wohl tatsächlich für eine besonders witzige Idee hält.

Seine besten Momente – und eben das ist das Zwiespältige an diesem Film – hat der Film tatsächlich nicht, wenn er dem Endsechziger Hannes Wader dabei zusieht, wie er Spiegeleier brät oder wenn er ihm dabei zuhört, wie er einigermaßen ratlos über den Verlust seiner politischen Ideale spricht, sondern wenn er Konzerte aus den siebziger Jahren heranzieht oder Interviews. Mit beidem aber, den Bildern der desillusionierten Gegenwart und der revolutionär beseelten Vergangenheit und mit der beidem innewohnenden Diskrepanz, paraphrasiert er Zeitgeschichte, bebildert er die Geschichte einer Generation des Aufbruchs – und Abbruchs.

So sieht man z.B. Spotlights auf Stationen der politisch-künstlerischen Odyssee des Hannes Wader. Wader, der in den Sechzigern als romantisch-liberaler Liedermacher im Stil von George Brassens oder Bob Dylan begann, fühlte sich von seinem messianischen Nimbus in den Siebzigern so überfordert, dass er sich in die DKP flüchtete, sich ihren überschaubaren ideologischen Werten unterordnete, darin sozusagen intellektuell abtauchte, und so, wie er sagt, das Leid der Welt nicht mehr auf seinen eigenen Schultern tragen musste. Liest man Wader-Interviews aus dieser Zeit, hat man tatsächlich den Eindruck, dass hier jemand sich weigert, sein Gehirn zu benutzen. Den Fall der Mauer und den Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks erlebte Wader (für ihn konsequenterweise) dann als das Ende aller politischen Utopien und Ideale (so als würde der Kollaps des einen mehr oder weniger unmenschlichen Systems die Qualität des anderen mehr oder weniger unmenschlichen Systems verifizieren).

Der Höhepunkt der Absurdität seiner biografischen Entwicklung besteht in einem Auftritt Waders in der DDR vor SED-Bonzen im Friedrichsstadt-Palast. Unterstützt vom Chor des FDJ (oder dergl.) singt er ein Arbeiterlied. Udo Lindenberg („Sonderzug nach Pankow“) muss blau vor Neid geworden sein. Vom Rock’n’Roll übrigens (wobei man Lindenberg ja auch nicht allen Ernstes als „Rockmusiker“ bezeichnen kann) blieben beide Barden bis heute ungeküsst, vielleicht erklärt das auch das Festgefahrene an ihnen, ihren inhärenten Anachronismus.
Der einstige Folkmusiker Bob Dylan jedenfalls, das erklärte Vorbild Waders, wandte sich zum Zeitpunkt seiner wirksamsten „Messiashaftigkeit“ dem trivialen Rock’n’Roll zu und rettete damit womöglich nicht nur im übertragenen Sinn sein Leben. Was nicht heißt, dass Rockmusiker etwa dagegen gefeit seien, von ihren Fans heilig gesprochen und ausgesaugt zu werden.

Wader aber ging den Weg zurück zum Volkslied, zum Arbeiterlied, zurück in den Schoß der „Partei“ und Wecker löste seine Konflikte zwischen Ruhm und Alltag und zwischen Ideal und Wirklichkeit mittels Kokain. Der Rest ist Boulevard und bekannt. Dennoch: Das Erlöschen des Enthusiasmus‘ der Anfangszeit beider Musiker ist so bezeichnend wie schade, eben weil sich darin auch spiegelt, wie viel doch von dieser vitalen, wenngleich naiven, Energie, das heißt, wie viel von einem Glauben an die Veränderbarkeit der Welt dahingegangen ist.

Habermann

(D / AT / CZ 2010, Regie: Juraj Herz)

Sudetenland ist abgebrannt
von Harald Steinwender

August Habermann (Mark Waschke) ist ein erfolgreicher sudetendeutscher Holzfabrikant und bereitet seine Hochzeit mit der Tschechin Jana (Hannah Herzsprung) vor. Als deutsche Truppen in der Folge des 'Münchner Abkommens' im …

August Habermann (Mark Waschke) ist ein erfolgreicher sudetendeutscher Holzfabrikant und bereitet seine Hochzeit mit der Tschechin Jana (Hannah Herzsprung) vor. Als deutsche Truppen in der Folge des 'Münchner Abkommens' im Oktober 1938 das Sudetenland besetzen, erfährt Habermann, dass seine Ehefrau nach den 'Nürnberger Rassegesetzen' als 'Halbjüdin' gilt. Um Jana zu schützen, arrangiert er sich mit dem fanatischen SS-Sturmbannführer Kurt Koslowski (Ben Becker). Bald gerät er zwischen die Fronten von deutschen Besatzern und tschechischer Bevölkerung.

Der slowakische Filmemacher Juraj Herz ist vornehmlich für seine Märchenverfilmungen sowie für die exzentrische Geschichtsparabel Spalovac mrtvol' ('Der Leichenverbrenner'; 1969) bekannt. Mit der deutsch-tschechisch-österreichischen Koproduktion 'Habermann' versucht sich der heute 76-Jährige nun an einem Weltkriegsdrama, das neben dem NS-Terror auch die Vertreibung der Sudetendeutschen nach Kriegsende thematisiert. Das an sich legitime Unterfangen wird allerdings von der Inszenierung des Films unterlaufen, die so subtil wie ein Hieb mit einem Vorschlaghammer ist.

Besonders ärgerlich sind die reißerischen, mitunter kolportageartigen Elemente des Films, die durch den aufdringlich emotionalisierenden Score von Elia Cmiral zusätzlich herausgestrichen werden. Die Schlusssequenz des Films ist in dieser Hinsicht bezeichnend. Hier versteigt sich Herz dazu, nicht nur den Pogrom eines tschechischen Mobs gegen die Sudetendeutschen zu inszenieren, bei dem er den 'volksdeutschen' Helden Habermann zum christlichen Märtyrer stilisiert. Die blutrünstige Kolportage gipfelt zusätzlich in einer absichtsvoll geschichtsrevisionistischen Bildallegorie, mit der die Vertreibung der Sudetendeutschen zur historischen Neuauflage der Deportation der europäischen Juden wird.

Abgesehen von solchen im Gestus des Tabubruchs dargebotenen Set-Pieces krankt 'Habermann' an seinem unausgegorenen Drehbuch, das sich durch schlecht orchestrierte Figuren und sperrige Dialoge auszeichnet, die von den wild chargierenden Darstellern kaum mit Leben gefüllt werden. So gelingt es Mark Waschke nicht, seinen Habermann als zerrissenen Helden glaubhaft zu machen, Wilson Gonzalez Ochsenknecht spielt stocksteif, selbst die durchaus talentierte Hannah Herzsprung bleibt blass. Ben Becker wiederum nimmt es sportlich und agiert als herrischer Sturmbannführer so überzogen, dass die stereotyp angelegte Figur immerhin als irrwitzige Karikatur des typischen Leinwand-Nazis durchgeht. Einzig Radek Holub gelingt es, in dem zu Tiefstleistungen angeleiteten Ensemble durch einigermaßen nuanciertes Spiel aufzufallen.

Sicherlich hat der in erdige Farben gehaltene und stimmig ausgestattete 'Habermann' zumindest ästhetisch seine Momente. Herz und seinem Kameramann Alexander Surkala gelingen immer wieder technisch beeindruckende Sequenzen, etwa wenn die entfesselte Kamera beim Hochzeitswalzer mit der Braut durch die Menschenmenge tanzt. Für einen akzeptablen Film reicht dies aber nicht aus. Politisch ist 'Habermann' sowieso eine Frechheit. Wieso der Film beim 'Bayerischen Filmpreis' eine Auszeichnung für die 'beste Regie' erhielt und von der Wiesbadener Film- und Medienbewertungsstelle FBW mit dem 'Prädikat besonders wertvoll' ausgezeichnet wurde, wird wohl ein Geheimnis bleiben.

Lola

(PH / F 2009, Regie: Brillante Mendoza)

Manila, Open City
von Harald Steinwender

In einem Stadtteil von Manila versucht die verarmte Greisin Lola Sepa (Anita Linda), das Begräbnis ihres Enkelsohns zu organisieren, der bei einem Raubüberfall erstochen wurde. Sie sammelt Geld bei Verwandten, …

In einem Stadtteil von Manila versucht die verarmte Greisin Lola Sepa (Anita Linda), das Begräbnis ihres Enkelsohns zu organisieren, der bei einem Raubüberfall erstochen wurde. Sie sammelt Geld bei Verwandten, Freunden und in der Nachbarschaft. Die Bestattungskosten sind jedoch zu hoch. Währenddessen rät der Pflichtverteidiger des Täters dessen Großmutter, Lola Puring (Rustica Carpio), zu einer außergerichtlichen Einigung mit der Familie des Opfers. Daraufhin begibt sich auch Lola Puring auf eine verzweifelte Suche nach Geld. Schließlich treffen sich beide Frauen.

2009 erhielt der damals 50-jährige Regisseur Brillante Mendoza in Cannes für sein kontroverses Polizeidrama 'Kinatay' den Regiepreis. Dass der philippinische Filmemacher auch die leiseren Töne beherrscht, belegt er eindrucksvoll mit seinem zurückhaltenden Drama 'Lola'. Wie 'Kinatay' spielt auch 'Lola' in der Landeshauptstadt Manila. Repräsentative oder touristische Orte spart Mendoza jedoch aus. Stattdessen siedelt er seinen Film in den Slums der überfluteten Gemeinde Malabon an, ein undurchdringlicher Platzregen, der in vielen Szenen auf die Protagonisten niedergeht, verdeckt zusätzlich die Sicht.

Wie in 'Kinatay' steht ein Verbrechen im Zentrum der Geschichte. Doch im Gegensatz zu dem drastischen Vorgänger spart 'Lola' die Tat völlig aus. Mendoza interessiert einzig der Schmerz der Angehörigen und der schwierige Weg zur Versöhnung. Seine über 80-jährigen Hauptdarstellerinnen, beide in ihrer Heimat bekannte Schauspielerinnen mit jeweils über 30-jähriger Kinoerfahrung, beeindrucken durch naturalistisches Spiel.

Für seine einfache, aber berührende Geschichte über die beiden Lolas, so das philippinische Wort für Großmutter, wählt Mendoza einen kargen, aber höchst lyrischen Stil, der am französischen poetischen Realismus der 1930er Jahre und am italienischen Neorealismus der Nachkriegsära geschult ist. Im Mittelpunkt seines Films stehen einfache Menschen, Geldnöte und Alltagsprobleme. Raue Digitalbilder und Handkamera signalisieren Unmittelbarkeit, die Außenaufnahmen, ausschließlich vor Ort gedreht, Authentizität. Der Moment ist hier alles; Gesichter, Gesten und Blicke erzählen den Film. So werden die mühsamen Versuche einer alten Frau, im Sturzregen einen Schirm aufzuspannen und ein Streichholz anzureißen, zum Sinnbild für den Überlebenskampf in der feindlichen Umwelt.

'Lola' verlangt von seinem Publikum Geduld und den Willen zur genauen Beobachtung. Nur selten rafft die Montage Zeit, Alltagshandlungen werden in Echtzeit gefilmt, dramatische Zuspitzungen vermieden. Wer sich auf das etwas sperrige Sozialdrama einlässt, erhält einen Einblick in eine fremde Welt und eine Chance, abseits der tradierten Sehgewohnheiten neu sehen zu lernen.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Insidious

(USA / CAN 2010, Regie: James Wan)

Klein, aber fein
von Harald Steinwender

Die Lamberts sind eine ganz normale amerikanische Familie. Vater Josh (Patrick Wilson) arbeitet als Lehrer, seine Frau Renai (Rose Byrne) kümmert sich liebevoll um die drei Kinder. Doch der Umzug …

Die Lamberts sind eine ganz normale amerikanische Familie. Vater Josh (Patrick Wilson) arbeitet als Lehrer, seine Frau Renai (Rose Byrne) kümmert sich liebevoll um die drei Kinder. Doch der Umzug in das neue Traumhaus wird für die Familie zum Alptraum: Nachts sind merkwürdige Geräusche zu hören, Renai wird mit Geistererscheinungen konfrontiert und Dalton (Ty Simpkins), der 8-jährige Sohn der Lamberts, hat schreckliche Alpträume. Als der Junge schließlich in ein Koma fällt und kein Arzt helfen kann, zieht die Familie aus. Doch auch in das neue Heim folgen ihnen die bösen Geister. Schließlich rät Joshs Mutter Lorraine (Barbara Hershey), ein Medium (Lin Shaye) zu engagieren und den Kampf gegen das Übernatürliche aufzunehmen …

Vor acht Jahren inszenierte der australische Regisseur James Wan mit dem Horrorthriller 'Saw' ('Saw – Wessen Blut wird fließen?'; USA / Australien 2004) einen ruppigen Überraschungserfolg, der es bis heute auf sechs Fortsetzungen gebracht hat. 'Saw' war ein B-Horrorfilm, realisiert mit kleinem Budget, harten Schockeffekten und offensichtlichen Anleihen aus modernen Klassikern wie 'Seven' ('Sieben'; USA 1995; David Fincher). Bis heute ist Wan diesem Konzept treu geblieben. Auch 'Insidious', seine fünfte Kinoregiearbeit, ist mit einem Budget von 1,5 Millionen US-Dollar für eine geradezu lächerlich geringe Summe entstanden, auch hier spielt der Filmemacher deutlich auf Vorbilder wie 'Poltergeist' (USA 1982; Tobe Hooper & Steven Spielberg), 'The Exorcist' ('Der Exorzist'; USA 1973; William Friedkin) und 'The Haunting' ('Bis das Blut gefriert'; USA / UK 1963; Robert Wise) an.

Dennoch ist 'Insidious' kein reines Patchworkprodukt. Wan gelingt es, seine disparaten, aus der Filmgeschichte zusammengeklaubten Elemente mittels atmosphärischer Breitwandfotografie und gutem Timing zu einem effektiven Horrorthriller zusammenzufügen, der durchaus mit unerwarteten Wendungen überrascht. Dabei zieht das Grauen schleichend in den Alltag der Protagonisten ein. Der Terror, der schließlich über die amerikanische Musterfamilie einbricht, ereignet sich indes vor allem auf der Tonspur. Blut oder Ekeleffekte spart der Regisseur diesmal fast völlig aus, auch sorgt der Auftritt zweier verschrobener Geisterjäger für ein amüsantes Gegengewicht zu den Horroreinlagen.

'Insidious' ist ein über weite Strecken geradezu klassischer Genrefilm, ebenso schnörkellos wie effektiv inszeniert, höchst traditionsbewusst im Einsatz von Geisterbahneffekten, wie sie seit den frühen 1960er Jahren im Genre etabliert sind und die bis heute kaum etwas von ihrem Potential verloren haben. Damit leistet der Film genau das, was man im Kino von dieser Sorte Film erwartet. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Herbst

(TR / D 2008, Regie: Özcan Alper)

Sommer, Herbst und Tod
von Harald Steinwender

Nach zehn Jahren wird der politische Häftling Yusuf (Onur Saylak) vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Der ehemalige Mathematikstudent kehrt in sein Heimatdorf in der östlichen Schwarzmeerregion und zu seiner gebrechlichen …

Nach zehn Jahren wird der politische Häftling Yusuf (Onur Saylak) vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Der ehemalige Mathematikstudent kehrt in sein Heimatdorf in der östlichen Schwarzmeerregion und zu seiner gebrechlichen Mutter (Raife Yenigül) zurück. Bei einem Ausflug in die nahe gelegene Hafenstadt Rize lernt er die junge georgische Prostituierte Eka (Megi Kobaladze) kennen. Beide beginnen eine Affäre. Doch Yusuf hat sich bei einem Hungerstreik im Gefängnis eine Lungenkrankheit zugezogen.

Mit 'Sonbahar' ('Herbst / Autumn'; 2008) gelingt Regisseur Özcan Alper eine Persönlichkeitsstudie, die insbesondere von ihrer poetischen Bildsprache und den Darstellern getragen wird. Allen voran überzeugt die Debütantin Megi Kobaladze mit zurückgenommenem, aber stets authentischem Spiel. Auch der international bislang unbekannte Fernsehdarsteller Onur Saylak macht die Verlorenheit des gebrochenen Heimkehrers mit nuanciertem Spiel und sparsamen Gesten greifbar. Dialoge setzt der Regisseur dabei nur zurückhaltend ein. In dem ruhig inszenierten Film genügen stumme Blicke und kleine Alltagsmomente, um große Emotionen auszudrücken.

Regisseur Özcan Alper und Kameramann Feza Çaldiran binden die Landschaft der türkisch-georgischen Grenzregion symbolhaft in die Handlung ein, nutzen sie als Spiegel der Emotionen der Figuren. Immer wieder zeigt 'Sonbahar' in langen Einstellungen den Protagonisten, bisweilen gerahmt durch Türen, wie er auf die bewaldeten Berghänge der Umgebung blickt und seine neu gewonnene Freiheit zu genießen versucht. Doch dieser gerade einmal 32-Jährige, der zaghaft ein neues Leben beginnt, ist todkrank. Während der Spätsommer langsam in den Herbst übergeht und schließlich der erste Schnee fällt, schwinden auch Yusufs Kräfte.

Mit subtilen Verweisen auf die Gegensätze von Moderne und Tradition, Tourismus und Landflucht, Polizeistaat und säkularer Demokratie zeichnet 'Sonbahar' ein hintersinniges Psychogramm eines Landes im Umbruch. Beiläufig liefert der melancholische Film dazu Bruchstücke aus den Biografien seiner Figuren. Vereinzelt bricht dokumentarisches Bildmaterial in die Handlung ein; Bilder von Hungerstreiks, Gefängnisrevolten und Polizeigewalt, mit denen der Film die Traumatisierung des Protagonisten illustriert. Warum Yusuf inhaftiert wurde und was ihm in einem der berüchtigten Hochsicherheitsgefängnisse nahe Istanbul zugestoßen ist, erfahren wir allerdings nie. Alpers Metaphorik mag alles andere als innovativ sein. Bis zuletzt bleibt 'Sonbahar' jedoch ein sensibel und introspektiv erzähltes Spielfilmdebüt, das neben seiner Beherrschung der filmischen Mittel durch glaubwürdige Figuren überzeugt.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Five Minutes of Heaven

(GB / IR 2009, Regie: Oliver Hirschbiegel )

Reden hilft auch nicht
von Harald Steinwender

Als junger Mann hat Alistair Little (Liam Neeson) im Auftrag der protestantischen Ulster Volunteer Force den Katholiken James Griffin (Gerard Jordan) exekutiert. 30 Jahre später arrangiert ein Fernsehteam ein Treffen …

Als junger Mann hat Alistair Little (Liam Neeson) im Auftrag der protestantischen Ulster Volunteer Force den Katholiken James Griffin (Gerard Jordan) exekutiert. 30 Jahre später arrangiert ein Fernsehteam ein Treffen zwischen dem geläuterten Täter und dem Bruder des damaligen Opfers. Alistairs Begegnung mit Joe (James Nesbitt) soll vor laufender Kamera stattfinden, das Gespräch ein Zeichen der Versöhnung setzen. Doch der verbitterte Joe, der als 11-Jähriger die Hinrichtung seines Bruders mit ansehen musste, sinnt auf Rache.

Oliver Hirschbiegel hat über die letzten Jahre einige klaustrophobische Gesellschaftsparabeln inszeniert. In 'Das Experiment' (D 2001) schilderte er, wie ein sozialwissenschaftlicher Versuch in eine veritable Terrorherrschaft umschlägt. Sein ebenso pompöser wie düsterer Hitler-Film Der Untergang' (D 2004) konzentrierte sich auf die letzten Tage im Führerbunker, in der von der Kritik unterschätzten Dystopie 'The Invasion' (USA / Australien 2007) wiederum porträtierte er das gegenwärtige Amerika im Gewand des Science-Fiction-Films als Zwangskollektiv. Hirschbiegels Thema sind Menschen in Extremsituationen; Gewalt, Wahn und Politik in seinem Werk stets aufs engste miteinander verflochten. Da verwundert es kaum, dass der in Hamburg geborene, mittlerweile international tätige Regisseur sich mit 'Five Minutes of Heaven' nun dem seit 1969 schwelenden Nordirlandkonflikt widmet.

'Five Minutes of Heaven' konzentriert sich trotz einer Mitte der 1970er Jahre spielenden Exposition weitgehend auf die kammerspielartig inszenierten Ereignisse, die der Konfrontation seiner exemplarischen Protagonisten vorausgehen. Hinsichtlich Habitus und Einstellung könnten der Ex-Terrorist Alistair und sein Antagonist Joe nicht unterschiedlicher sein. Während Alistair mit seiner Vergangenheit gebrochen hat und sich seit seiner Haft für die Versöhnung der Bürgerkriegsparteien einsetzt, kann Joe die Tat nicht verzeihen. Der ehemalige Täter ist eloquent und reflektiert, das Opfer aufbrausend und irrational. Doch bald wird deutlich, dass beide gleichermaßen von der Tat gezeichnet sind. Als parabelhafte Miniatur über den Nordirlandkonflikt verweigert sich 'Five Minutes of Heaven' allzu einfachen Antworten. Eine wirkliche Versöhnung findet letztlich nie statt, zu tief sind die Wunden aller Beteiligten.

Wie in den vorangegangenen Filmen Hirschbiegels beeindrucken Sounddesign, Kameraarbeit und Ausstattung durch Präzision und Lokalkolorit – die technische Seite des Filmemachens ist fraglos die Stärke dieses Regisseurs. Dafür hakt es bei diesem auf dem Sundance Filmfestival mit einem Regiepreis ausgezeichneten Politdrama umso mehr an der Schauspielerführung. Während Liam Neeson wie gewohnt souverän spielt, da tendiert James Nesbitt zum exaltierten Überspielen und bühnenhaften Deklamieren. Gerade dieses darstellerische Ungleichgewicht lässt den frei auf realen Figuren basierenden, oft aber überkonstruiert wirkenden Film immer wieder aus der Balance geraten.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Verrückt nach Steve

(USA 2009, Regie: Phil Traill)

Distanzverlust
von Harald Steinwender

Die verhuschte Mary (Sandra Bullock) arbeitet als Kreuzworträtseldesignerin für ein kalifornisches Provinzblatt und lebt noch bei ihren Eltern. Um ihre komplexbeladene Tochter endlich zu verkuppeln, vermitteln diese ihr ein Blind …

Die verhuschte Mary (Sandra Bullock) arbeitet als Kreuzworträtseldesignerin für ein kalifornisches Provinzblatt und lebt noch bei ihren Eltern. Um ihre komplexbeladene Tochter endlich zu verkuppeln, vermitteln diese ihr ein Blind Date. Wider Erwarten ist Mary äußerst angetan von Steve (Bradley Cooper). Doch mit ihren brachialen erotischen Avancen verschreckt sie den Fernsehkameramann. Kurz entschlossen beginnt sie, Steve von Drehort zu Drehort zu folgen – sehr zu dessen Verdruss.

Licht und Schatten liegen manchmal dicht beieinander. Und so brachte die diesjährige Oscar-Verleihung Sandra Bullock nicht nur eine der begehrten Trophäen für ihre Hauptrolle in dem Drama 'Blind Side – Die große Chance' (2009; John Lee Hancock) ein. Am Tag zuvor erhielt die Schauspielerin für ihren Auftritt in der Komödie 'Verrückt nach Steve' ('All About Steve'; USA 2009) auch die 'Goldene Himbeere', den Anti-Oscar für die schlechteste Performance. So kam die 45-Jährige in das zweifelhafte Vergnügen, gleichzeitig zur besten und schlechtesten Darstellerin des Jahres gekürt zu werden. Das ist zumindest ein Novum in der amerikanischen Filmgeschichte.

In gewisser Weise ist Phil Traills gründlich vergeigtes Kinodebüt tatsächlich das negative Spiegelbild des bisweilen arg kitschigen Sportlerdramas 'Blind Side – Die große Chance'. In der Integrationsgeschichte verkörperte Bullock eine patente Mentorin, die selbstbewusst einen lernbehinderten Jungen in die Gesellschaft integriert. Umgekehrt zeigt 'Verrückt nach Steve' Bullock nun als sozial auffällige Außenseiterin – hyperaktiv, distanzlos, manisch-depressiv.

Dabei erweist sich gerade Bullocks Figur als Geduldsprobe für das Publikum. Mit geschmacklosem Batik-Kleidchen und feuerwehrroten Lackstiefeln verunstaltet, stolpert die Schauspielerin chargierend durch den lieblosen Plot und präsentiert vor allem ein aufgesetzt-nervöses Dauergrinsen und fahrige Gesten. Ihr Filmpartner Bradley Cooper als unwilliges Objekt der Begierde wirkt dagegen meist nur peinlich berührt. Einzig Thomas Haden Church als dümmlicher Reporter bringt etwas Stil in das aufwändig produzierte Desaster.

Das Ärgerlichste an der verklemmten Klamotte ist, dass sie die psychischen Probleme ihrer Hauptfigur gezielt für billige Witze ausschlachtet. So fällt Drehbuchautorin Kim Barker als Gipfel des Humors nichts anderes ein, als die Dauerquasselstrippe Mary in einer lahmen Anspielung auf Billy Wilders 'Reporter des Satans' ('Ace in the Hole'; 1951) in einem stillgelegten Bergwerksstollen mit einem taubstummen Kind stranden zu lassen. Selbst die Farrelly-Brüder, an deren derb-geschmacklosen Kassenerfolg 'Verrückt nach Mary' ('There’s Something About Mary'; 1998; Peter & Bobby Farrelly) der deutsche Verleih mit der Titelwahl anzuknüpfen versucht, zeigten immerhin ein wenig Zuneigung für ihre Figuren. Davon ist in dieser seelenlosen Travestie nichts zu spüren, die einzig durch die Verweigerung eines Happy Ends überrascht.

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Zelle 211 – Der Knastaufstand

(F / ES 2009, Regie: Daniel Monzón)

Riot in Cell 211
von Harald Steinwender

Zwei Hände, ein Feuerzeug; Dunkelheit, hartes Seitenlicht von Links. Ein hagerer Mann erhitzt einen Zigarettenfilter, formt den heißen Kunststoff mit bloßen Fingern, schleift ihn am Boden seiner Zelle so lange, …

Zwei Hände, ein Feuerzeug; Dunkelheit, hartes Seitenlicht von Links. Ein hagerer Mann erhitzt einen Zigarettenfilter, formt den heißen Kunststoff mit bloßen Fingern, schleift ihn am Boden seiner Zelle so lange, bis er eine scharfe Klinge gefertigt hat. Dann öffnet er sich damit über dem Waschbecken die Pulsadern. Die Kamera registriert diese Selbsttötung, distanziert-beobachtend, abwartend, um dann ins Schwarzbild abzublenden. Ein pessimistischer Auftakt für einen pessimistischen Film, genauer: einen Gefängnisfilm, dem vom Sujet her sowieso schon düsteren Genre par excellence.

Gefängnisfilme, ob in der Ausbrecher- oder Gangstervariante, als engagiertes Sozialmelodram oder harter Thriller, erzählen im Kern immer von zwei Sorten von Menschen: Wärtern und Gefangenen. Die einen sind im Genre immer der Spiegel der anderen, beide jeweils eine Seite der gleichen Medaille. Ohne Wärter keine Gefangene. Ohne Gefangene keine Wärter. Die Summe des Genres brachte Alan Clarke in 'Scum' ('Abschaum'; 1977 und 1979) auf den Punkt. Da erklärt ein Anarchist – eine Figur, die wie der Verräter, der Kapo, der Bandenführer, das ewige Opfer, der Mitläufer zu den Standardtypen des Genres zählt – einem Wärter in einer Kaffeepause, dass sie sich doch sehr ähnlich seien: Wärter wie Gefangene sind dem disziplinierenden Rhythmus des Systems Gefängnis unterworfen, werden permanent überwacht, befinden sich die meiste Zeit des Tages hinter Gittern, folgen stumpfsinnigen Routinen und Befehlen, deren Missachtung Sanktionen nach sich ziehen. Nur einen Unterschied gibt es: die Gefangenen sind nicht freiwillig hier.

Daniel Monzóns 'Cell 211' spitzt diesen Grundkonflikt zu und stellt ihn zugleich auf den Kopf, indem er den jungen Wärter Juan (Alberto Ammann) beim Antrittsbesuch am Vortag vor seinem regulären Arbeitsbeginn zum Gefangenen wider Willen macht, ihn mitten in einem blutigen Gefängnisaufstand wirft, so dass er sich als Gefangener ausgeben muss, um irgendwie zu überleben. Er geht eine Art Männerfreundschaft mit dem gewalttätigen Malamadre (Daniel Monzón) ein, dem Anführer des Aufstands. Über die folgenden Ereignisse wird er immer mehr zum echten Verbrecher. Bald übersteigt er Malamadre an Verve als Aufrührer und Killer. Freilich hat er zunächst kaum eine Wahl. Aber später ist dann alles egal, denn die Staatsgewalt draußen verstellt ihm alle Möglichkeiten, in sein normales Leben zurückzukehren und zu weit ist er sowieso schon gegangen. Was Monzón sagen will, ist offensichtlich: Eine Gesellschaft, die Gefängnisse entwirft und unterhält, schafft keine Disziplinierungsanstalten, sondern Institutionen, die vor allem eines produzieren: Gefangene, emotional und intellektuell verkrüppelte Menschen, die vor allem über Gewalt kommunizieren, strukturelle wie physische. Sie kennen es nicht mehr anders, der Knast sorgt dafür. Und Malamadre hat ganz recht, wenn er in Bezug auf seinen Aufstand bemerkt, dass die da draußen auch nur eines verstehen würden: Gewalt.

Daniel Monzóns Malamadre ist eine ungewöhnlich komplexe, auch widersprüchliche Figur im Genre: Ein Aufrührer mit pechschwarzen, funkelnden Augen, der mal gegen Drogen wettert, dann selbst kokst, der Anteilnahme ebenso wie eiskaltes Kalkül an den Tag legt, ein Anführer, der seine Jünger in den Tod führt (Malamadre – böse Mutter – ist natürlich ein 'sprechender Name'). Und trotz seiner soziopathischen Erscheinung agiert er letztlich auch wie einer von Hobsbawms Sozialrebellen. Malamadre hat nichts zu verlieren und nur wenig zu gewinnen und so rennt er gegen die Ordnung an, nicht blind, sondern mit den Mitteln eines archaischen Banditenführers. Sein vorgebliches Ziel ist die Verbesserung der Haftbedingungen und in seinem Selbstverständnis unterscheidet er sich kaum von den ETA-Aktivisten, die er als Geiseln nimmt, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Schließlich ist es ausgerechnet der ehemalige Wärter Juan, der ihn davon überzeugt, dass sich sowieso nichts ändern wird, wenn er sich von denen da draußen mit leeren Versprechungen abspeisen lässt. Was bleibt ist der blutige Exzess, der blindwütige Aufstand, wie er schon am Ende von Clarkes 'Scum' stand und vielleicht gerade durch seinen Blutzoll etwas bewirken kann.

'Cell 211' steht in der Tradition des sozial engagierten Gefängnisfilms. Monzóns Film ist kein Epos wie Jacques Audiards brillanter 'Un prophète' ('Ein Prophet'; 2009), kein zermürbender Trip in den Nihilismus wie John Hillcoats 'Ghosts … of the Civil Dead' ('Willkommen in der Hölle'; 1988), auch kein formales Experiment wie Sidney Lumets 'The Hill' ('Ein Haufen toller Hunde'; 1965) oder Nicolas Winding Refns 'Bronson' (2008). 'Cell 211' steht eher in der Tradition von George W. Hills stilprägendem 'The Big House' ('Hölle hinter Gittern'; 1930); Don Siegels düsterem 'Riot in Cell Block 11' ('Terror in Block 11'; 1954) und John Frankenheimers ausweglosem TV-Drama 'Against the Wall” – lupenreine, klassische Genrefilme ohne Schnörkel. Sein bitteres Ende erinnert an die Genreproduktionen der 70er Jahre, als es in Europa noch funktionierende Filmindustrien gab und Kompromisse noch nicht vom Gremienkino erzwungen wurden. Das macht 'Cell 211' trotz Logiklöchern und kleiner Mankos zu einem äußerst erfrischenden, begrüßenswerten Film.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Splatting Image, Heft 84

The Messenger – Die letzte Nachricht

(USA 2009, Regie: Oren Moverman)

Das letzte Kommando
von Harald Steinwender

Für die letzten drei Monate seines Militärdienstes wird US-Sergeant Will Montgomery (Ben Foster) dem erfahrenen Captain Tony Stone (Woody Harrelson) zugeteilt. Ihre Aufgabe ist es, den Angehörigen im Kampf gefallener …

Für die letzten drei Monate seines Militärdienstes wird US-Sergeant Will Montgomery (Ben Foster) dem erfahrenen Captain Tony Stone (Woody Harrelson) zugeteilt. Ihre Aufgabe ist es, den Angehörigen im Kampf gefallener Soldaten als Erste die schlechten Nachrichten zu überbringen. Während Stone scheinbar ungerührt Dienst nach Vorschrift absolviert, leidet Montgomery unter dem Mangel an Empathie, den das Protokoll vorschreibt. Als der junge Soldat sich in die Witwe Olivia (Samantha Morton) verliebt, zeigt sich, dass sein Vorgesetzter labiler ist, als es den Anschein hat.

Das US-amerikanische Kino hat den gegenwärtigen Irak-Krieg aus vielen Perspektiven beleuchtet. Kathryn Bigelow inszenierte den Einsatz eines Bombenentschärfungskommandos in dem Oscar-prämierten 'The Hurt Locker' ('Tödliches Kommando – The Hurt Locker'; 2008) als zermürbenden Kriegsthriller. Paul Haggis wählte für In the Valley of Elah' ('Im Tal von Elah'; 2007) einen Zugang über die Mittel des Melodrams. Errol Morris’ Dokumentarfilm 'Standard Operating Procedure' (2008) wiederum war ein aufwühlender Exkurs über US-Kriegsverbrechen.

Jeder dieser Ansätze hat seine Berechtigung, und all diese Filme zeugen von der fundamentalen Verunsicherung der Filmindustrie angesichts des unpopulären Kriegs in Irak. Gemein ist ihnen eine Tendenz zur Verinnerlichung, zur Reflexion, weg von der Darstellung unmittelbarer Kriegshandlungen. Auf der Ebene der Dramaturgie entfernt sich der Kriegsfilm immer weiter von den Wurzeln des Genres im Aktions- und Bewegungskino.

Oren Movermans eindringliches Drama 'The Messenger' steht ganz in dieser Tradition. Das Regiedebüt des gebürtigen Israelis verzichtet auf eine aufdringliche Botschaft ebenso wie auf Actionsequenzen. Im Fokus stehen vielmehr die direkten und indirekten Traumatisierungen der Soldaten und ihrer Verwandten. Jeder Gang zu einem weiteren Angehörigen wird für die Überbringer der Todesbotschaft zur Herausforderung, denn individuelle Anteilnahme ist ihnen untersagt. Jedes ihrer Worte steht im Vorfeld fest, aber die Reaktionen der Angehörigen bleiben unkalkulierbar.

'The Messenger' ist nicht nur ein Kriegsfilm, der an der 'Heimatfront' spielt, sondern auch ein Schauspielerfilm, der von seinen ausgezeichneten Darstellern lebt. Die Folgen der emotionalen Versteinerung, die der militärische Drill und das strenge Reglement aufzwingen, machen Ben Foster und Woody Harrelson ebenso deutlich wie den Abgrund, der sich unter ihrer mühsam aufrechterhaltenen Routine auftut. Im letzten Drittel wechselt 'The Messenger' sein Erzähltempo und wagt den Anschluss an Klassiker des 'New Hollywood'-Kinos. Wie in Hal Ashbys 'The Last Detail' ('Das letzte Kommando'; 1973) werden Motive des Roadmovies und des Buddy-Films aufgegriffen. 'The Messenger' bleibt jedoch ein bis zuletzt unbedingt sehenswertes Drama, das ohne vordergründige Effekte und falsches Pathos auskommt.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Leb wohl, meine Königin!

(F / SPA 2012, Regie: Benoît Jacquot)

Eisige Forciertheit
von Janis El-Bira

Die Übertragung der Eröffnungsgala aus dem Berlinale Palast in den Friedrichstadtpalast vor dem Eröffnungsfilm ist wohl so etwas wie der Kompromiss, den man eingehen muss, wenn man zwar nicht 'wichtig' …

Die Übertragung der Eröffnungsgala aus dem Berlinale Palast in den Friedrichstadtpalast vor dem Eröffnungsfilm ist wohl so etwas wie der Kompromiss, den man eingehen muss, wenn man zwar nicht 'wichtig' genug ist, um zur eigentlichen Veranstaltung eingeladen zu werden, aber dennoch ein bisschen 'offiziell' in die Filmfestspiele starten möchte. So schaut man geschlagene sechzig Minuten zu, wie Dieter Kosslick und Anke Engelke hemdsärmelig durch ein Programm stolpern, das alles und jeden feiert, aber irgendwie nicht die Filme, um die es gehen soll. Man hört ungläubig, wie Bernd Neumann Sätze sagt, die so anfangen: 'Kunst und Kultur und dazu zähle ich auch den Film …' und Klaus Wowereit sich offen am allermeisten darüber freut, dass er und niemand sonst es ist, der wieder als regierender Bürgermeister auf der Bühne stehen darf. Trotzdem ist das alles auch ein bisschen lustig: Einmal mehr nimmt man zur Kenntnis, dass Menschen in HD und Gesichter groß wie Tennisplätze in Wahrheit doch irgendwie unvorteilhaft aussehen – vor allem, wenn sie von einer erbarmungslos durch den Raum springenden Kamera ahnungslos just im Ausdruck tiefster, fernschweifender Langeweile eingefangen werden. Dann kann man förmlich sehen, wie alles, was dort geschieht, durch Diane Krugers stahlblaue Augen direkt hindurchgeht und irgendwo – man weiß es nicht – zu sein aufhört; verdenken kann man es ihr nicht.

Erfreulicher ist dagegen, dass Benoît Jacquots Eröffnungsfilm 'Les Adieux à la Reine' kein Ausfall ist, obwohl Schlimmes zu befürchten war: Die letzten Tage auf Schloss Versailles am Vorabend der französischen Revolution werden erzählt aus der Sicht einer jungen Dienerin (Léa Seydoux), die als Vorleserin Marie-Antoinettes (Diane Kruger) sozusagen aus unmittelbarer Nähe den Zerfall des 'ancien régime' miterlebt. Am Anfang ist das auch genau jener 'upstairs / downstairs'-Film, den man sich darunter vorstellt: Die Herrschaft ergeht sich in dekadentem Prunk, dafür sind 'unten' die Partys lustiger, die Frauen frivoler, die Pfaffen geil wie eh und je und ein alter Bibliothekar zwischen den Welten hat einen Buckel und spricht gerne dem Wein zu – alles wie gehabt, alles wenig aufregend. Jacquots Mittel sind konservativ-gradlinig und bleiben das auch. Dennoch macht es im Verlauf des Films immer mehr Spaß, dem ständigen Öffnen und Schließen der Türen und Gemächer zu folgen und zuzuschauen, wie die verknöcherten Hofschranzen nachts verunsichert aus ihren Kammern gekrochen gekommen, als die ersten Berichte von den Ereignissen in der Bastille im Schloss die Runde machen.

Mit fortschreitender Dauer bekommt die Erzählung von der ihrer Königin bedingungslos ergebenen Vorleserin eine zynische, fast grausame Note, wenn sie aufzeigt, dass der Gang aus der Unmündigkeit zunächst vor allem nicht Gewinn, sondern schwerwiegende Verluste bedeutet: Mit einem Marivaux’schen Kleider- und Identitätswechsel, der letztlich die Flucht ermöglichen soll, werden die erstarrten Hierarchien zwar im Spiel durchlässig, doch bedrückt dieser Tausch durch seine eisige Forciertheit und einen Moment völliger entblößter Nacktheit zwischen Aus- und Ankleiden. Das Bedecken und wieder Ent-Decken der Scham im Angesicht der Königin stellt Aufbruch und fatalistischen Gehorsam, Gewinn und Verlust im Anbruch der Aufklärung auf so engem Raum und so zart nebeneinander, dass das Festival einen ersten berührenden Moment geschenkt bekommt.

Dieser Text erschien zuerst anlässlich der Berlinale 2012 in der filmgazette.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Leb wohl, meine Königin!

(F / SPA 2012, Regie: Benoît Jacquot)

Die da oben
von Carsten Happe

Es wäre natürlich ein Leichtes, das bekannte Diane-Kruger-Bashing fortzusetzen, das sie sich seit ihren ersten Filmauftritten in „Troja' und „Das Geheimnis der Tempelritter' – inklusive einer grauenvoll emotionslosen Selbstsynchronisation – …

Es wäre natürlich ein Leichtes, das bekannte Diane-Kruger-Bashing fortzusetzen, das sie sich seit ihren ersten Filmauftritten in „Troja' und „Das Geheimnis der Tempelritter' – inklusive einer grauenvoll emotionslosen Selbstsynchronisation – wohlverdient hat. Aber dazu liefert „Leb wohl, meine Königin!', der Eröffnungsfilm der diesjährigen Berlinale, kaum einen Anlass. Ihre Performance als Marie Antoinette in diesem Schlüssellochblick auf die letzten Tage vor der Revolution ist angemessen und respektabel austariert zwischen königlicher Härte und kindlicher Unschuld – und erwartungsgemäß akkurater als Kirsten Dunsts lt-Girl in Sofia Coppolas hübsch misslungener Punk-Pop-Version.

Dabei ist Marie Antoinette hier nicht der Mittelpunkt, allenfalls das Licht, das die Motten, die Ratten und die Bediensteten des Hofes magisch anzieht. Insbesondere ihre Vorleserin Sidonie, die ihre Königin abgöttisch verehrt, ihr zum letztlich unglücklichsten Zeitpunkt zu nahe kommt und in dem Glanz und dem schönen Schein verbrennt. Lea Seydoux, die auf der Berlinale auch in Ursula Meiers „Sister' brillierte und sich mit Nebenrollen in „Midnight in Paris' und „Mission: Impossible – Phantom Protokoll' in Hollywood einen Namen gemacht hat, ist als Sidonie der größte Trumpf in Benoit Jacquots Film. Trotz ihrer Ergebenheit bleibt sie stets ein starker, selbstbewusster Charakter, gerade in dem Chaos, das über Frankreich hereinbricht; und ihr zu folgen durch die labyrinthische Architektur von Versailles, macht einen Gutteil der Faszination von „Leb wohl, meine Königin!' aus, der auf episches Pathos und Pomp weitgehend verzichtet und, möglicherweise in Anlehnung an Robert Altmans „Gosford Park', gekonnt aus der Frosch-Perspektive über „die da oben' erzählt.

Wobei Jacquots Film die kühle, sezierende Brillanz des US-britischen-Pendants nur selten erreicht – dafür bleiben die Dialoge oftmals zu flach, die Handlung zu wenig fokussiert und auch der ausgiebige Gebrauch der Handkamera suggeriert allenfalls Direktheit und Nähe, wo das bisweilen zu schematische Drehbuch sie nicht herzustellen vermag. Um jedoch seine Meinung über Diane Kruger ein wenig zu relativieren und 100 Minuten lang die derzeit aufregendste französische Darstellerin zu erleben – allein dafür lohnt dieses Blättern in einem eigentlich ausgelesenen Geschichtsbuch allemal.

Dieser Text erschien zuerst in: pony #74

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

The Cabin in the Woods

(USA 2010, Regie: Drew Goddard)

Im Steinbruch der Filmgeschichte
von Carsten Happe

Es sind die Archetypen, die das Horrorgenre am Leben erhalten und mit ewig frischem Blut versorgen, die Werwölfe und Mutanten, die Zombies, Vampire und verwandte Untote, die verrückten Wissenschaftler und …

Es sind die Archetypen, die das Horrorgenre am Leben erhalten und mit ewig frischem Blut versorgen, die Werwölfe und Mutanten, die Zombies, Vampire und verwandte Untote, die verrückten Wissenschaftler und ihre entfesselten Kreaturen, die garstigen kleinen Mädchen und die hinter der Fassade langweiligster Normalität sich verschanzenden Schlitzer und Serienkiller. Kaum ein anderes Genre als der Horrorfilm geriert sich ähnlich konservativ, seinen Regeln und Konventionen stets verpflichtet. Erfolgreiche Schemata werden wieder und wieder ausgebeutet, gelegentlich variiert, selten auch einmal dekonstruiert. Wes Craven zog in den Neunzigern mit „Freddy’s New Nightmare“ und insbesondere dem ersten Teil der „Scream“-Reihe effektive und augenöffnende Metaebenen in die gängigen Horrorkonstruktionen ein, entlarvte einerseits die Stereotypie und machte andererseits das Genre mit ironischen Brechungen für die Post-Post-Moderne flott. Bis die Torture-Porn-Welle der Nuller-Jahre einen sowohl ästhetischen wie auch ideologischen Rückschritt bedeutete – die auf einer spekulativen Ebene möglicherweise den politischen Gegebenheiten geschuldet war, jedoch in seiner grimmigen und unerbittlichen Art vor allem die Angstlust als zentrales Motiv des Horrorfilms ignorierte und letztlich wenig ergiebig um nichts als sich selbst kreiste. Dass sich auch das dekonstruierende Element nicht beliebig wiederholen ließ, zeigte Cravens eigener, uninspiriert modernisierter „Scream 4“. Den Gegenbeweis, dass sich auch im Jahr 2012 die penible Erfüllung der Genreregeln und das lustvolle Auskosten der ironischen Metatextualität zu einem homogenen Werk vermengen lassen, treten nun „Buffy“- und „Avengers“-Mastermind Joss Whedon sowie der „Cloverfield“-Autor Drew Goddard mit seinem Regiedebüt „The Cabin in the Woods“ an.

Die Selbstreferenzialität ist auch hier das dominierende Prinzip; visuelle Anspielungen und Zitate kanonischer Horrorfilme sind Legion und können wahrscheinlich erst bei einer Standbild-Analyse vollständig entschlüsselt werden. Aber auch beim ersten Sehen entwickelt sich ein unbändiger Spaß: Zunächst an der in bester „Breakfast Club“-Analogie aufgestellten Clique aus Sportler, Jungfrau, Streber, Flittchen und Nerd sowie ihren an Waldorf & Statler gemahnenden Gegenparts im unterirdischen Kontrollraum, die das zum Klischee erstarrte Motiv von der Privatparty in der Waldhütte und ihren obligatorischen ungebeten Gästen ins Rollen bringen und gleichzeitig Wetten darüber abschließen, wer von den ahnungslosen Teens als Erster ins Gras beißt.

Die Versuchsanordnung der ungleichen Gegner, die fast jedem Horrorfilm innewohnt, wird konsequent auf die Spitze getrieben. Anfängliche Befürchtungen, dass sich das Gemetzel in einem artifiziellen, in jeglicher Hinsicht überschaubaren Raum abspielt, werden allerdings schnell beiseite gewischt. Darin liegt auch eine Selbsterkenntnis der Filmemacher verborgen, die sich ab einem gewissen Punkt nicht länger hinter ihren Kontrollmonitoren und in den Schneideräumen verschanzen können und sich der brutalen Außenwelt stellen müssen. Ironischerweise wurde „The Cabin in the Woods“ bereits 2009 gedreht, konnte aber aufgrund struktureller Umwälzungen der Studios MGM und Lionsgate erst in diesem Jahr veröffentlicht werden. Die lange Lagerzeit hat dem Film jedoch keineswegs geschadet. Das Angebot an Mainstream-Horror in den vergangenen Jahren hat nur vielmehr verdeutlicht, wie weit „The Cabin in the Woods“ der Konkurrenz enteilt ist.

„Expect the worst“ ist ein weiteres der ungeschriebenen Genregesetze, und wie es sich in der zweiten Hälfte des Films, der nunmehr immer wildere Haken schlägt, dann auch gegen die Schöpfer der Gruselwelten richtet, das ist nicht weniger als furios zu nennen. Auf ihrer Achterbahnfahrt durch die Mythen und Legenden des Horrorfilms reißen Whedon und Goddard alle Regeln genüsslich nieder (und errichten sie aus den Trümmern wieder neu). Dass „The Cabin in the Woods“ vom US-Publikum eher lauwarm angenommen wurde, deutet dabei eher auf ebenso konservative Genrefans, die lieber ihre Protagonisten durch den Fleischwolf gedreht sehen wollen als ihre Gewohnheiten. Denn trotz der ironischen, manchmal auch zynischen Spiegelung der Konventionen gelingt Whedon und Goddard ein ebenso nervenzerrendes, blutspritzendes Spektakel wie auch der reflexive Diskurs über seine Bedingungen.

End of Animal

(KR 2010, Regie: Sung-Hee Jo)

Sozial unplugged
von Carsten Moll

Landstraße. Kein Baum. Ein Taxi bahnt sich seinen Weg durch südkoreanisches Niemandsland. Auf dem Rücksitz befindet sich die hochschwangere Sun-young – unterwegs von Seoul in ihr abgelegenes Heimatdorf zur Mutter …

Landstraße. Kein Baum. Ein Taxi bahnt sich seinen Weg durch südkoreanisches Niemandsland. Auf dem Rücksitz befindet sich die hochschwangere Sun-young – unterwegs von Seoul in ihr abgelegenes Heimatdorf zur Mutter – und lässt die graue Einöde vor dem Fenster vorüberziehen. Die Fahrt endet jäh, als ein mysteriöser Anhalter zusteigt und fast schon beiläufig mit einem Countdown das Ende der Welt einläutet: Bei Null angekommen blitzt ein blendend weißes Licht auf – Sun-young erwacht später mutterseelenallein im Taxi und findet sich in einer Welt wieder, in der keine Elektronik mehr funktioniert und in den Wäldern wilde Bestien lauern …

Bereits nach wenigen Minuten steigert sich Sung-hee Jos Debütfilm vom Roadmovie zum postapokalyptischen Film und damit zu einer Art Anti-Roadmovie; Straßen gibt es noch zur Genüge, bloß Bewegung, Vorankommen ist nicht mehr möglich. So irrt die junge Protagonistin auf der Suche nach Hilfe über beinahe zwei Stunden Laufzeit ziellos durch den verlassenen Landstrich und gerät dabei immer wieder an Fremde, die wenig vertrauenerweckend und ebenso ahnungslos wie Sun-young erscheinen. Die Welt ist kaputt, die materielle Sphäre lahmgelegt. Was bleibt, sind Menschen, die sich verstört an nutzlos gewordene Apparate und banale Accessoires klammern und sich das Leben gegenseitig zur Hölle machen. Der Überlebenskampf ist ein stiller und mit einer Zurückhaltung inszeniert, die Stillstand und Redundanzen einem konventionellen Spannungsaufbau und logischen Erklärungen vorzieht. Die Gewalt, die wieder und wieder ausbricht, bleibt genau wie die menschenfressenden Monster meist ungesehen im Off. Einzig auf der Tonspur tut sich stets was: Da dröhnt es monoton, ein Monster brüllt, das Walkie-Talkie rauscht und lautstark wird ein Schokoriegel verschlungen.

Der Vergleich mit Filmen wie John Hillcoats „The Road“ oder Michael Hanekes „Wolfzeit“ liegt beim Betrachten der trost- und farblosen Bilder nahe, „End of Animal“ verzichtet aber sowohl auf Hillcoats Sentimentalität als auch auf eine eindeutige moralische Lektion à la Haneke. Vielmehr noch erinnert Sung-hee Jos Film an das Theater des Absurden; wo Leerlauf herrscht, alle Ideale bereits aufgegeben wurden und die banalen Dialoge eher Folterinstrument als Mittel zur Verständigung sind. Dass der Film den Zuschauer_innen dabei immer wieder vermeintliche Hinweise zur Entschlüsselung der rätselhaften Vorkommnisse vorsetzt, mag beim Zuschauen noch motivieren, den Trip durch diese Welt aus Schmerzen, Schmatzen und Schlürfen durchzustehen. Wenn am Ende allerdings der Film selber wie ein ödes Niemandsland anmutet und keinem der zahlreichen Deutungsansätze von der religiösen Parabel bis zur Zivilisationskritik wirklich Raum gibt, bleibt ein schaler Nachgeschmack und ein Gefühl von Leere. Die Desillusionierung, die im absurden Theater das eigene Denken herausfordern will, bewirkt hier Lust auf bunte Täuschung und eskapistisches Vergnügen als Gegenprogramm zum pessimistischen Weltentwurf. Wenn Sun-young zum Schluss nach Durchleiden ihres ganz persönlichen Horrorszenarios bloß an das Leben davor anknüpfen will und sich unverändert nach sattem Alltag sehnt, kann man ihr das als Zuschauer_in nicht verübeln und durchaus nachvollziehen. Der Traum vom eigenen Kühlschrank schien nie tröstlicher. Die Apokalypse jedoch bleibt in „End of Animal“ ein zwar alptraumhaftes aber über das Erleben hinaus folgenloses Intermezzo.

DVD: Bild- und Tonqualität sind gut, die Sprachausgabe ist koreanisch mit deutschen Untertiteln. Auf der DVD finden sich noch einige Trailer zu Filmen aus dem Programm von Rapid Eye Movies.

Tabu – Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden

(Ö / Lux / D 2011, Regie: Christoph Stark)

Der Blick durchs Schlüsselloch
von Ulrich Kriest

Erinnert sich noch jemand an „Julietta“? Vor gut einem Jahrzehnt drehte der Regisseur Christoph Stark diesen Film nach Motiven von Kleists „Marquise von O.“. Wo es Eric Rohmer Mitte der …

Erinnert sich noch jemand an „Julietta“? Vor gut einem Jahrzehnt drehte der Regisseur Christoph Stark diesen Film nach Motiven von Kleists „Marquise von O.“. Wo es Eric Rohmer Mitte der 70er Jahre noch darum ging, ein filmisches Äquivalent zu Kleists eigenwillig gedrechselter Psycho-Prosa zu entwickeln, da ließ sich Stark seinerzeit eher von Kleists vorgängigem Sinn für die drastische Kolportage inspirieren. Er ließ die wohl behütete Schülerin Julietta von Stuttgart nach Berlin reisen, wo sie auf der Love-Parade mitfeierte und schließlich im Drogenrausch bewusstlos vom Rettungssanitäter Max vergewaltigt wurde.

Schon damals konnte man sich fragen, welche Funktion der Rekurs auf Kleist erfüllte, wo es Stark doch ganz nachdrücklich daran ging, seine Figuren möglichst authentisch im Hier und Jetzt der Berliner Party-Szene der Jahrtausendwende zu situieren. Wahrscheinlich, wir erinnern uns nicht mehr, ging es auch damals darum, einen klassischen Stoff einer jungen Generation von Lesern dadurch näher zu bringen, indem man sämtliche Spuren von Literarizität und Historizität tilgte. Und natürlich um ein paar gute Argumente bei der Finanzierung eines Filmprojektes. Christoph Stark hat seither durchaus erfolgreich fürs Fernsehen als Drehbuchautor und Regisseur gehobene Dutzendware der Marken „Tatort“ und „Bloch“ abgeliefert. Jetzt aber gilt’s wieder der klassischen Literatur und dem Kino!

„Tabu – Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden“ ist allerdings keine Literatur-Verfilmung, sondern eher eine Art von Schlüsselloch-Biopic auf der Grundlage einiger Vermutungen zur und einiger Fakten der Biografie des dunklen Expressionisten Georg Trakl, der in den ersten Wochen des 1. Weltkriegs, nach der Erfahrung der Schlacht von Grodek, an einer Überdosis Kokain starb. Es geht hier also ein weiteres Mal um die Ver-Filmung von Kunstproduktion, was bekanntlich – man denke an Filme wie „Pollock“ oder „Der Klang der Stille“ oder „Mit meinen heißen Tränen“ oder „Das Leben der Anderen“ – immer eine heikle Aufgabe ist.

Die Frage sei erlaubt: Ist Dichtung ein Handwerk oder doch eher eine existentielle Passion, die es dem genialischen Dichter abfordert, sich vom Weltschmerz und Drogenrausch verzehrt, seine Visionen mit letzter Tinte aus dem maladen Körper zu schneiden? Für Christoph Stark ist das keine Frage: er frönt hier auf Spielfilmlänge dem Pathos des romantischen Künstlermythos so entschieden, bis dieser nur noch lächerlich im Regen steht. Stark stellt sich in „Tabu“ den expressionistischen Drogenesser Georg Trakl als fiebrigen Schmerzensmann, als Bruder im Geiste eines Pete Doherty vor, dessen symbolistische Lyrik davon lebt, dass er mit ihr ein unglückliches inzestuöses Verhältnis zu seiner Schwester Gretl kompensiert. Weshalb er seine Gedichte auch vorzugsweise nackt und im Rausch im – huch! – Bordell ausführlich rezitiert, was die anwesenden, eher kunstfern dahinlebenden Prostituierten eher langweilt.

Kreativität gerät diesem schwülstig-schmierigen Blick durchs Schlüsselloch einer Dichterbiografie zu wenig mehr als einer misslichen Ersatz- oder Übersprungshandlung. Manch Germanist hätte wohl eher Nietzsche, Freud, Moderneerfahrung und Ich-Dissoziation ins Feld geführt, doch „Tabu“ mag es eindeutiger. Stark hat zu Protokoll gegeben, sein Film ziele aufs Allgemeine, auf die „innere Reise zweier Menschen, die sich nicht lieben dürfen“. Allerdings inszeniert er dies „Allgemeine“ nicht angemessen abstrakt, sondern komplett ironiefrei mit den Mitteln des Kostümfilms, wobei die sprachlichen Anachronismen und die hier ungebremsten pubertären Manierismen Lars Eidingers dem Film endgültig den Garaus machen. Hier wird also nicht nur gekokst, gesoffen, gelitten, gesündigt und mit Worten gerungen, sondern dies geschieht auch noch vor einem Ambiente, das sich skizzenhaft und parasitär von der Sphäre des „kulturell Wertvollen“ nährt.

Hier gibt es tatsächlich Szenen im Kaffeehaus, wo aus dem „Off“ jemand „Alma, komm jetzt!“ ruft, worauf ein Paar an der Kamera vorbei flaniert, bis jemand Anderes flüstert: „Das ist der Kokoschka!“ Ist er dann auch, wenn man so will. Mag auch der Ansatz, sich auf diese Weise der Literatur als Pop-Phänomen zu nähern, ein intellektuelles Desaster sein, so beweist Stark immerhin ein Händchen fürs Team: so findet der Kameramann Bogumil Godfrejow zeitweise ganz erstaunliche Bilder zum traurigen Treiben, die immer wieder vor Augen führen, was hier an Substantiellem verschenkt wurde. Und so wie „Julietta“ uns seinerzeit mit Lavinia Wilson bekannt machte, ist auch hier die intensive darstellerische Leistung von Peri Baumeister ein Versprechen auf künftig hoffentlich adäquatere Projekte. Insgesamt aber erinnert „Tabu“ in seiner Herangehensweise an „Egon Schiele – Exzesse“, jenen fast vergessenen Film von Herbert Vesely, der sich seinem Gegenstand auch nicht auf Augen-, sondern lieber auf Schamhaarhöhe näherte. Merke: Kunst ist schön, macht aber auch viel Arbeit.

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Snow White & the Huntsman

(USA 2012, Regie: Rupert Sanders)

Fauler Apfel mit Wurm
von Louis Vazquez

Neulich erst hat Tarsem Singh mit „Mirror, Mirror“ eine Schneewittchen-Verfilmung vorgelegt und damit etwas ziemlich Erstaunliches geleistet: Er hat einen lustigen Film inszeniert. Manche mögen seinen pompösen Stilwillen noch immer …

Neulich erst hat Tarsem Singh mit „Mirror, Mirror“ eine Schneewittchen-Verfilmung vorgelegt und damit etwas ziemlich Erstaunliches geleistet: Er hat einen lustigen Film inszeniert. Manche mögen seinen pompösen Stilwillen noch immer artsy fartsy finden und über die Witze nicht lachen können, aber die erzählerische Leichtigkeit seiner Märchen-Screwball-Komödie setzte doch einen wunderbaren Kontrapunkt zur Singh-typischen visuellen Opulenz. Und wenn dann noch Julia Roberts als böse Königin eitel und neidzerfressen losgrantelte, gab es eigentlich nicht viel zu meckern, zumal das Geschlechterbild – Männer und Frauen sind gleichermaßen bescheuert, außer Schneewittchen – nachgerade als aufgeklärt gelten muss. Jedenfalls im Vergleich zu „Snow White & the Huntsman“. Hier nämlich wird die böse Königin zur dämonischen Verkörperung aller Emanzipationsbemühungen und hasst, ganz unironisch, so ziemlich alle Männer.

„Snow White & the Huntsman“ ist einer jener Filme, die sich im Märchenkontext um eine vermeintlich „erwachsene“ Herangehensweise bemühen. Dass die formelhaft gestrickte Fantasygeschichte (mit dem inzwischen wohl obligatorischen Trollauftritt), die sich ein Storyerfinder und drei Drehbuchautoren ausgedacht haben, umso infantiler wirkt, ist die übersehene Kehrseite. Die Stationen der Heldenreise werden pflichtschuldig abgespult, viele überoffensichtliche Sätze („Sie ist die Auserwählte“) werden ausgesprochen – die meisten wohl vom bemitleidenswerten Bob Hoskins als Zwerg –, und eine Mobilmachungsrede von Schneewittchen kurz vorm entscheidenden Kampf hat mehr Pathos als drei Filme von Michael Bay zusammen, ist aber nicht ganz so gut geschrieben. Das große Finale wirkt sogar wie eine lästige Pflichtübung, weil absolut nichts Unerwartetes mehr passiert, außer, dass doch keine Entscheidung zwischen den zwei möglichen Prinzenanwärtern gefällt wird.

Seine Ernsthaftigkeit beschert dem Film einige Probleme. Kann man den berühmten Spieglein-Spruch wirklich mit einem Gesichtsausdruck deklamieren, als würde ein überambitioniertes Schülertheater Shakespeare vortragen? Der Werberegisseur (und laut Presseheft „angesagte Visualist“) Rupert Sanders jedenfalls gibt Charlize Theron Gelegenheit zu einer enttäuschenden und unfreiwillig komischen Performance. Die wenigen absichtlichen Gags dagegen, wenn etwa ein Zwerg das Disneysche „Heigh-Ho“ zitiert und zurechtgewiesen wird, wirken wie Fremdkörper zwischen dem Kraut und den Rüben. Ein komisches Highlight zumindest der deutschen Fassung ist sicherlich nicht beabsichtigt: Als nämlich der Jäger, der sein Herz fürs Schneewittchen entdeckt, zum ersten Mal namentlich aufgerufen wird, da zischt ein zorniges „Hans Määähn!“ durch den Kinosaal. Der huntsman wird konsequent nicht übersetzt, wie das Schneewittchen bzw. Snow White ja auch nicht.

„Weiß wie Schnee, rot wie Blut“ und nicht etwa „schwarz wie Ebenholz“, sondern „schwarz wie die Flügel eines Raben“ soll das anfangs ersehnte Kind werden. Der Grund dafür bleibt rätselhaft wie so vieles, denn zwar helfen Rabenvögel dem Schneewittchen einmal bei seiner Flucht, aber ansonsten heißt doch die böse Königin Ravenna und trägt den Raben im Namen. Sie ist es, die sich in einen Vogelschwarm auflösen kann, nicht das arme Schneewittchen.

Und das ist nur einer der vielen Widersprüche des Drehbuchs. Gute Ansätze führen ins Nichts, manche Szenen wirken zu lang oder sogar ganz überflüssig, und das Timing ist insgesamt alles andere als optimal. Aber Fantasybilder und -gestalten kann Rupert Sanders wirklich. Bei der Ankunft im Märchenwald wimmelt es derart von Kreaturen, dass man sich kurz an die Anime-Welten von Hayao Miyazaki erinnert fühlt. Zu Recht, denn bald darauf zitiert/kopiert Sanders eine Szene aus „Prinzessin Mononoke“, auch wenn sie im Kontext seines Schneewittchenfilms längst nicht so gut aufgehoben ist. Ob Sanders sich in die Warteschlange der Anwärter einreiht, wenn dereinst jemand eine zwar nicht nötige, aber gewiss trendgemäße Realverfilmung des immerhin schon 15 Jahre alten Zeichentrickklassikers mit echten Schauspielern und vielen bunten Effekten machen darf? Immerhin hätte er dann mal ein phänomenales Drehbuch.

Tabu – Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden

(AT / L / D 2011, Regie: Christoph Stark)

Vaginal ist scheiße!
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Film, der keinen Plan hat. Im Großen und Ganzen geht es um die Liebe zwischen den Geschwistern Georg und Margarete Trakl, die heftig, aber verboten ist, damals vor hundert …

Ein Film, der keinen Plan hat. Im Großen und Ganzen geht es um die Liebe zwischen den Geschwistern Georg und Margarete Trakl, die heftig, aber verboten ist, damals vor hundert Jahren erst recht. Sie endet, wie wir per Untertitel informiert werden, mit den Selbstmorden des Paares im Ersten Weltkrieg. Andererseits ignoriert das Plot den etablierten biografischen Rahmen und tut so, als ob es halt um einen Kostümfilm geht, der sich verbotenem Sex der Zeit um 1900 rum annimmt. Aber auch der Degetoschmonzes haut nicht hin, weil Tatortregisseur Christoph Stark sich intensiv den Fickszenen widmet, wie sie erst hundert Jahre später filmtauglich werden sollten. Anal ist okay, aber vaginal scheiße. Weil zur Verhütung nichts da ist, und dann kommt das Embryo. Tja, es kommt. Wir haben die Bescherung.

Für literarisch interessierte Bildungsbürger ist das nichts. Und für Kostümfreunde ist das zu unkostümiert, wenn Paarung zum Porno wird. Und für Sexhungrige ist das schlicht zu wenig – und zu viel an abgeilendem Bildungspathos (siehe Zweittitel des Films). Hinwiederum wirken die traklaffinen Dialoge hoffnungslos deplaziert, wenn daneben und durchaus in der Hauptsache banalstes Zeug geplappert wird – von den Protagonisten, die gute Miene zum bösen Spiel machen müssen, Stimmts, Grete? Lars Eidinger, der den Literaten Trakl spielt, muss sozusagen jeden Satz zu seiner Schwester mit „Grete“ beginnen und/oder enden. Grete, ist doch so, Grete. So etwa, Grete. Grete, ich hab von den Dialogen einen Schaden bekommen, Grete, und ich wollte den Film gar nicht verreißen, Grete, jedenfalls nicht ganz.

Denn es gibt etwas, das alles, was auseinanderstrebt, doch wieder zusammenhält. Und das ist die ausgeklügelte und fein differenzierte Lichtgestaltung. Alle Achtung. Da sieht man denn doch, dass die öffentlichrechtlichen Gelder professionell angelegt sind. Kann man denn das Wort Porno in den Mund nehmen, wenn die ansehnlichen nackten Körper im Licht altmeisterlicher Gemälde präsentiert werden, schwer ästhetisch in Licht und Schatten getaucht? Bravo, soweit. Auch die Kamera kann zeigen, was sie kann. Ein Gesicht sieht sich im dreigeteilten Spiegel als Triptychon. Einfach so. Das ist Kunst!

Es ist so, als ob der renommierte Tatortregisseur das Team hat machen lassen, was es möchte. Schief gegangen ist das Laissez-faire allerdings bei der Unmenge an Komparsen, die das Bild zum Bersten füllen, und kein Schwein weiß, was es tun soll – außer Schulter an Schulter gepresst irgendwohin zu gucken, ein jeder, wie es ihm beliebt. Sach doch, Grete, so wars doch, Grete!

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 06/2012

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Phase 7

(AR 2012, Regie: Nicolás Goldbart)

Slacker in der Endzeitzone
von Michael Schleeh

„Phase 7“ ist ein Endzeit-Virus-Thriller, der sich in der Anlage des Films sowohl bei Paco Plazas „Rec“ als auch bei Chris Goraks „Right at your Door“ bedient. Und freilich ebenso …

„Phase 7“ ist ein Endzeit-Virus-Thriller, der sich in der Anlage des Films sowohl bei Paco Plazas „Rec“ als auch bei Chris Goraks „Right at your Door“ bedient. Und freilich ebenso bei unzähligen anderen Filmen des Genres. Allerdings gesehen durch eine ironische Brille, denn der Protagonist ist der zum Erwachsensein gezwungene Slacker Coco, dessen Frau Pipi (Namen wie aus einem absurden Theaterstück) kurz vor der Entbindung des gemeinsamen Kindes steht. Und als hätte der sympathische Wuschelkopf mit dem S.O.D.-T-Shirt durch das ständige Herumkommandieren seiner Gattin, die mit einem aufbrausenden Temperament gesegnet ist, nicht schon genug zu tun, nein: plötzlich steht auch noch die Welt am Abgrund. Nach einem Einkauf in der Mall gelangt die junge Familie zurück in den Wohnblock, wo kurze Zeit später das Dekontaminierungsteam das Gebäude abriegelt und dann mit Schutzplanen versiegelt. Es ist ein tödlicher Grippevirus, der nun am Ein- und Ausdringen, je nachdem, gehindert werden soll. Das junge Paar denkt sich nichts dabei, Vorräte hat man ja eben noch ausreichend gekauft und kaputte Glühbirnen ersetzt der Nachbar, der in weiser Voraussicht für die Apokalypse vorgesorgt hat. Doch dann gehen die Froot Loops aus!

Nun, ganz so albern wird „Phase 7“ dann doch nicht, obwohl die Froot Loops tatsächlich zur Neige gehen. Coco wird alsbald in die Machtspiele und Konkurrenzkämpfe der Nachbarschaft hineingezogen und muss mit einem roten Anzug und Gasmaske herumlaufen – ohne zu wissen, ob dies überhaupt notwendig ist. Wenig später ist man auch bewaffnet. Und wer unter Quarantäne steht, vom Rest der Welt abgeschnitten ist, entwickelt eigene Hierarchien und Machtstrukturen. Im Kampf um Vorräte wird bald geschossen und Sprengfallen mit Stolperdrähten werden im Treppenhaus angebracht, die Schädel platzen durch den Splatterfilm und versauen die Korridore des Neubaus. Coco ist klar: das muss er jetzt hinkriegen, er muss Pipi hier rausschaffen, irgendwohin, wo es sicher ist. Doch draußen, da tobt die Welt.

„Phase 7“ ist ein Film, der ohne Zombies auskommt. Das ist schon mal gut, obwohl der Schritt zu einem „Rec 3“ nicht weit gewesen wäre. Hier diszipliniert sich Goldbart, wie überhaupt in diesem sehr strukturierten Film. Schauplatz ist beinahe ausnahmslos das Haus; eine handvoll Figuren sowie deren Interaktion ist alles, was dieser Film braucht. Dass ihm auf halber Strecke dann doch die Luft ausgeht, liegt daran, dass eigentlich nichts Interessantes mehr passiert. Zu vorhersehbar sind die kleinen Entwicklungen, zu redundant die Kabbeleien. Ein Thriller hätte hier mehr Plot gebraucht, oder mehr Wahnsinn, oder einen spannenderen Nebenstrang. Zum Ende hin wird es leider auch noch willkürlich, wie dann urplötzlich doch die asiatische Familie wie aus dem Nichts auftaucht und mal eben dem Protagonisten das Leben rettet. Etwas ärgerlich ist das sogar. Auch die Chancen, die die Architektonik des Gebäudes bietet, werden nicht wirklich genutzt. Dafür ist es auch einfach zu durchschnittlich und nichtssagend, und weit weniger reizvoll in Szene gesetzt, als das etwa der tolle „Rammbock“ (Marvin Kren, 2010) vorgemacht hatte, welcher gerade durch seinen Schauplatz und dessen inszenatorische Einbindung so überzeugen konnte. Ganz zum Schluss fahren die Überlebenden schließlich durch eine zerstörte Stadt auf ein unbestimmtes Hoffnungsziel zu. Wäre „Phase 7“ ein fünfzig Minuten kurzer Langfilm geworden, dann hätte er das Zeug zu einem kleinen Genre-Hit gehabt. So zerdehnt er sich wie Kaugummi auf dem Straßenpflaster unter einer heißbrennenden argentinischen Sonne.

Moonrise Kingdom

(USA 2012, Regie: Wes Anderson)

Mit der Axt durchs Puppenhaus
von Andreas Busche

Wes Anderson macht Puppenhaus-Filme. In seinen penibel arrangierten Kunstwelten kommt jedem Detail ein fester Platz zu. In den Produktionsnotizen zu seinem neuen Film „Moonrise Kingdom“ ist viel die Rede von …

Wes Anderson macht Puppenhaus-Filme. In seinen penibel arrangierten Kunstwelten kommt jedem Detail ein fester Platz zu. In den Produktionsnotizen zu seinem neuen Film „Moonrise Kingdom“ ist viel die Rede von Inneneinrichtungen, Farben, Requisiten, Vintagemode und Musik. Es geht immer um Haptik, Oberflächentexturen und ganz nebenbei auch um die Griffigkeit von Genres, zu denen Anderson ein gespaltenes Verhältnis pflegt – was sich unter Anderem in einer seltsam verhaltenen Affirmation von genrespezifischen Formalismen und nostalgischen Erinnerungsfragementen äußert, die leicht als Ironie missverstanden werden kann. Andersons Filme folgen einer Genrelogik, die von seinen Figuren, wenn sie sich bewusstlos gegen das Erwachsenwerden stemmen, immer wieder gekonnt unterlaufen wird.

In „Moonrise Kingdom“ gipfelt diese regressive Disposition in der Erkenntnis, dass die Kinder im Grunde schlauer als die Erwachsenen sind. Wir befinden uns im Jahr 1965. Sam und Suzy haben bereits eine Vorstellung von der Beschaffenheit der Erwachsenenwelt, und sie wenden deren Prinzipien konsequent auf ihre eigene Kindheit an. Sam „kündigt“ ordnungsgemäß bei seiner Pfadfindereinheit, während Suzy ihre erste Nouvelle Vague-Romanze durchlebt. Auf ihrem tragbaren Plattenspieler schmachtet Francoise Hardy, ihr blauer Lidschatten signalisiert eine Sehnsucht, die ausgerechnet ein nerdiger Junge mit Biberfellmütze erfüllen soll. Der kennt sich als Pfadfinder schließlich mit Überlebenstechniken aus. Und während die Erwachsenen (unter ihnen Bill Murray, Bruce Willis und Tilda Swinton) in gewohnt hysterischer Manier die Strukturen von Andersons eigenwilliger Realität erkunden, verwandeln die jungen Liebenden eine einsame Bucht in ihr kleines Refugium.

Andersons Imaginationskraft kann die Beschränktheit seiner Entwürfe jedoch nie ganz verhehlen. Zur domestizierten Nostalgie des Puppenhauses gesellt sich stets das Ordnungsprinzip des Setzkastens. Nur die Melancholie seiner Figuren weist über die Liebesgeschichte hinaus. Der Schlüssel zu dieser Grundstimmung ist das Jahr 1965. Nur wenige Jahre später, so erzählte Anderson nach der Premiere in Cannes, würden Sam und Suzy in einem völlig anderen Amerika leben. Wenn Suzy eine Schere in das Pfadfinderhündchen bohrt und Bill Murray axtschwingend durchs Puppenhaus läuft, überschattet dieses neue Amerika bereits das Mondscheinkönigreich.

Spieglein Spieglein – Die wirklich wahre Geschichte von Schneewittchen

(USA 2012, Regie: Tarsem Singh)

Wirklich Ware
von Oliver Nöding

Auch wenn der ungelenke Untertitel ein Bonus ist, den die deutsche Fassung von Tarsem Singhs Schneewittchen-Verfilmung für sich allein beanspruchen darf: Das Versprechen, nach der „wahren“ die „wirklich wahre“ Version …

Auch wenn der ungelenke Untertitel ein Bonus ist, den die deutsche Fassung von Tarsem Singhs Schneewittchen-Verfilmung für sich allein beanspruchen darf: Das Versprechen, nach der „wahren“ die „wirklich wahre“ Version einer Geschichte zu liefern, passt natürlich wunderbar in diese Zeit, die gespickt ist mit filmischen Remakes, Reboots und Prequels. Nicht das, was erzählt wird ist entscheidend, sondern nur noch, dass es neu ist – oder zumindest den Anschein von Neuheit erweckt. Und für diese Neuheit nimmt man ja auch gern in Kauf, dass jeder Anflug von Magie schon im Keim erstickt wird.

'Spieglein Spieglein' beginnt – wie man es von den Filmen Singhs erwartet – visuell berauschend mit einem wirklich atemberaubenden, animierten Prolog, der die Vorgeschichte des bekannten Märchens erzählt und an dessen Ende die schöne Königstochter Schneewittchen ohne ihren liebevollen, gutmütigen Vater und allein mit der boshaften, eifersüchtigen und eitlen Stiefmutter dasteht. Die Figuren erinnern optisch an aus glänzendem Marmor oder kostbarem Holz geschnitzte Puppen, die sie umgebenden Landschaften sind plastisch, aber gleichzeitig sehr stilisiert. So entsteht tatsächlich eine geheimnisvolle, jeder konkreten historischen Epoche enthobene Welt vor den Augen des Betrachters: Hier würde man gern verweilen – oder erfahren, was sich hinter den unbeweglichen Gesichtern der Figuren verbirgt. Der zickige Voice-over-Kommentar der bösen Stiefmutter (Julia Roberts), der erklärt, dass die bekannte Geschichte nun aus ihrer Sicht erzählt werde, lässt aber schon erahnen, dass es im Folgenden weniger düsterromantisch als vielmehr plump-modern zugehen wird. Und so ist es dann auch.

Zur Handlung: Nach dem Tod des beliebten Königs hat sich ewiger Winter über das Königreich gelegt, das von der herrschsüchtigen Königin rücksichtslos geknechtet wird. Trotzdem droht ihr der Konkurs: Ein wohlhabender Ehemann muss her. Der bald eintreffende Prinz Alcott (Armie Hammer) verliebt sich aber nicht in die Königin, sondern in deren bezaubernde Stieftochter Schneewittchen (Lily Collins), die daraufhin auf Geheiß der erbosten Königin vom treuen Diener Brighton (Nathan Lane) entsorgt werden soll. Weil der aber Mitleid mit ihr hat, lässt er sie in den tiefen Wäldern des Reichs frei – wo sie dann auf eine siebenköpfige Bande kleinwüchsiger Diebe stößt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten wickelt das bildhübsche Mädchen diese natürlich um den Finger und plant mit ihnen den Putsch gegen die böse Königin. Am Ende ist diese um Jahre gealtert und ihre Herrschaft zerschlagen. Schneewitchen heiratet den braven Prinzen, die Zwerge werden rehabilitiert und selbst der totgeglaubte König kehrt zurück, um sein Amt wieder aufzunehmen. Hach.

Man merkt es schon an dieser Nacherzählung: Allzu groß sind die Unterschiede zwischen dieser „wirklich wahren“ und der allseits bekannten Version des Märchens nicht. Das Vorhaben, die Geschichte aus der Sicht der bösen Stiefmutter zu erzählen, wird schon bald aufgegeben; wohl auch, weil viele populäre Elemente des Märchens sonst gänzlich unter den Tisch fallen müssten. Und hat es zunächst noch den Anschein, als unternehme Singh den Versuch, die märchenhaften Vorgänge zu entmystifizieren, kommen im weiteren Verlauf des Films stattdessen immer neue fantastische Elemente zu den bereits bekannten hinzu. Entmystifizierend im negativen Wortsinne ist lediglich der unsäglich platte Humor, der sich zunehmend in den Vordergrund drängt und die zuvor etablierte Stimmung wieder zerstört. Dabei wäre es wirklich interessant gewesen, etwa die tiefenpsychologische Bedeutungsebene des Märchens freizulegen, so wie Neil Jordan es einst mit 'Die Zeit der Wölfe' für Grimms „Rotkäppchen“ erfolgreich durchexerziert hatte. Mit Singh stand ein Regisseur zur Verfügung, dem man diese Aufgabe durchaus zutrauen durfte, versteht er sich doch zweifellos darauf, Seelenlandschaften in eindrucksvolle Bilder zu übersetzen, wie man seit 'The Cell' oder auch The Fall' weiß. Aber der Regisseur agiert hier von Beginn an auf verlorenem Posten, steckt in einem konzeptionellen Korsett fest, das ihn zum Choreografen aufwendig kostümierter Schauspieler degradiert. So prachtvoll 'Spieglein Spieglein' auch aussieht: Seine Bilder lassen jede Tiefe vermissen, sind lediglich auf Hochglanz polierte Postkartenmotive. Da ist nichts, was wirklich überraschen oder gar verstören würde.

Das verwundert nun nicht, wenn man weiß, wer hinter 'Spieglein Spieglein' steht: Produzent Brett Ratner ist bislang als zuverlässiger Lieferant stets seelenloser Massenware aufgefallen ist und darf jeder Inspiration als unverdächtig angesehen werden. Statt das Potenzial seiner Prämisse zu heben, geht es ihm allein darum, Entertainment für die ganze Familie zu bieten. Ein ehrenwertes Unterfangen, wenn 'Spieglein Spieglein' dabei nicht immer den naheliegendsten, dümmsten und unkreativsten Weg ginge. So bleibt am Ende ein Film, der Kindern vielleicht noch ans Herz zu legen ist, insgesamt aber angesichts des ins Rennen geworfenen Talents doch als Enttäuschung bezeichnet werden muss. Die wirklich wahre Geschichte von Schneewittchen ist wirklich nicht das Wahre.

Point Blank – Aus kurzer Distanz

(F 2010, Regie: Fred Cavayé)

Adrenalin: Paris
von Michael Schleeh

Der französische Polizeifilm, im Heimatland ein beliebtes Genre mit langer kinematographischer Tradition, hat es nicht leicht in Deutschland. Kaum einmal schafft er es auf die Kinoleinwand, zumeist wird er als …

Der französische Polizeifilm, im Heimatland ein beliebtes Genre mit langer kinematographischer Tradition, hat es nicht leicht in Deutschland. Kaum einmal schafft er es auf die Kinoleinwand, zumeist wird er als Direct-to-Digitalmedium–Actionreißer verheizt. Lediglich beim Fantasy Filmfest scheint sich der Policier einen festen Programmplatz erkämpft zu haben. Anhand von Fred Cavayés hartem Thriller „Point Blank“, in dem sich auch Spurenelemente des Cinema Beur nachweisen lassen, kann man einmal mehr plausibel nachvollziehen, warum diese französischen Nischengewächse mit ihrer kinetischen Energie auf die Kinoleinwand gehören, und woher und weshalb sich, über den Teich gedacht, Hollywood so gerne Inspirationen fürs obligatorische Remake holt.

Der Krankenpfleger Samuel Pierret (Gilles Lellouche) überrascht während der Nachtschicht eine unbekannte Person auf der Station. Eine Kontrolle der Patienten ergibt: das Beatmungsgerät des kurz zuvor eingelieferten und verletzten Sartet (Roschdy Zem) wurde abgeschaltet. Ein Mordversuch? Wieder zuhause wird Samuel in der eigenen Wohnung niedergeschlagen und die hochschwangere Gattin entführt. Ein unbekannter Anrufer zwingt ihn dazu, eben jenen Patienten, dem nach dem Leben getrachtet worden war, unbemerkt aus der Klinik zu schaffen und ihn anschließend gegen seine Frau einzutauschen. Was Samuel nicht weiß: mittlerweile ist auch die Polizei hinter dem Mann her und er selbst wird nach der abenteuerlichen, geglückten Entführung für einen Komplizen gehalten. Dass hinter der Sache ein Mordfall an einem Industriellen steckt, und er selbst immer tiefer in die unübersichtlichen Verschlingungen französischer, rumänischer und maghrebiner krimineller Vereinigungen hineingezogen wird, ist dabei wenig überraschend. Schließlich geht es nur noch ums Überleben und darum, Frau und ungeborenes Kind zu retten.

Und freilich ist es wieder auch einmal so, dass sich die Grenzen zwischen Gut und Böse aufheben, dass zwischen Polizist und Kriminellem kein Unterschied mehr besteht. Und abgesehen davon, dass alles nach Korruption und Bereicherung stinkt, muss auch Samuel schließlich gewalttätig werden, um der Gewalt Herr zu werden – einen Rest Menschlichkeit allerdings bewahrt er sich natürlich, unser Held. Dass sich der Fall für den Zuschauer nach bereits 40 Minuten geklärt hat, ist dabei eine interessante narrative Entscheidung. Der Plot gibt sich anschließend völlig an die Action hin, eine Verfolgungsjagd hetzt die andere, und Paris gleicht einem Kriegsgebiet. Hier wird irgendwann auch auf offener Straße und in den Stationen der Métro herumgeballert. Zum Showdown geht es dann ins Herz der Finsternis hinein, dorthin, wo alles Übel herkommt: ins Polzeirevier. In einem völlig auf Chaos und Atemlosigkeit getrimmten, fulminanten Finale scheint das Gebäude geradezu zu implodieren. Eine ziemlich überflüssig hinzukonstruierte Rahmenhandlung zwecks Suspensegenerierung und einige grobe Unwahrscheinlichkeiten sind dabei kleinere Kritikpunkte an einem nicht immer hundertprozentig stilsicheren und manchmal absurden, dafür aber rasanten und knackig-kurzen Actionfilm. Ein Film, der zwar etwas hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt, dafür aber Lust auf weitere Vertreter seines Genres macht. Auch ohne Vincent Cassel. Zut alors!

Das Turiner Pferd

(HU / F / D / CH 2011, Regie: Béla Tarr, Ágnes Hranitzky (Co-Regie))

Alles ist für ewig verloren
von Wolfgang Nierlin

In das Dunkel der Leinwand hinein erzählt eine Stimme aus dem Off eine Geschichte, die sich am 3. Januar 1889 in Turin ereignet haben soll. Demnach hat damals der Philosoph …

In das Dunkel der Leinwand hinein erzählt eine Stimme aus dem Off eine Geschichte, die sich am 3. Januar 1889 in Turin ereignet haben soll. Demnach hat damals der Philosoph Friedrich Nietzsche schluchzend ein misshandeltes Pferd umarmt, um es vor den Schlägen des Kutschers zu schützen. Kurz darauf habe er die legendären Worte „Meine Mutter, ich bin dumm“ gesprochen, bevor er in einen Zustand „geistiger Umnachtung“ gefallen sei. Die literarisch romantisierende Formulierung für Nietzsches psychische Erkrankung passt natürlich gut zu einem in Schwarzweiß gedrehten Film, der einen existentiellen Verdunkelungsprozess vorführt und konsequent in Stille und Finsternis mündet, als handle es sich dabei um eine negative oder umgekehrte Schöpfungs- und Menschheitsgeschichte. Der Hinweis am Ende des Prologs, wonach man nicht wisse, was aus dem Pferd geworden sei, sowie der Filmtitel „Das Turiner Pferd“ beanspruchen zugleich, die Geschichte dieser geschundenen Kreatur und ihres Herrn weiterzuerzählen. Im artifiziellen, formal extrem stilisierten Kosmos von Béla Tarrs Film wird diese zum exemplarischen Fall einer Untergangs- und Endzeitvision.

Der Blick des leidenden Tiers, das gegen den heulenden Sturmwind einen Wagen zieht, steht deshalb am Beginn der sich symbolisch über sechs Tage erstreckenden Handlung, die sich im kargen Wohn- und Arbeitsraum einer aus Stein gebauten Kate abspielt, wo der Kutscher mit seiner Tochter in ärmlichen Verhältnissen lebt. Aber eigentlich inszenieren der ungarische Regisseur Béla Tarr und sein kongenialer deutscher Bildgestalter Fred Kelemen (der auch als Filmemacher arbeitet), kunstvoll komponiert aus nur 29 Einstellungen, eher eine Nicht-Handlung, einen existentiellen Zustand des Immergleichen. Unterlegt mit der repetitiven Musik von Mihály Vig, wiederholen sich im reduzierten Setting des Films die alltäglichen Verrichtungen der Protagonisten unter leicht veränderten Perspektiven: Wie sich der alte Bauer Ohlsdorfer (János Derzsí) täglich wie von einem Totenbett erhebt, von seiner Tochter (Erika Bók) angekleidet wird und einen Schnaps trinkt; wie die beiden, wortlos und aufeinander abgestimmt, dann ihr Tagewerk erledigen, Wasser aus dem Brunnen schöpfen, gierig eine dampfende Kartoffel verschlingen, Wäsche waschen, Holz hacken und das Pferd versorgen. Der unaufhörliche gewaltige Wind, der draußen über die wüste Ebene fegt, liefert zu dieser schier ausweglosen Trost- und Perspektivlosigkeit gewissermaßen eine schrecklich-bedrohliche Melodie, gegen die sich das wärmende Feuer im Steinofen stemmt.

Doch dann schweigen plötzlich die Holzwürmer, der Brunnen versiegt, das Pferd will nichts mehr fressen und versinkt in Apathie und ein defätistischer Nachbar prophezeit „das Gericht der Menschen über sich selbst“: Alles werde „niedergemacht und zerstört“, alles sei „ergattert und verhext“, es gebe keine Nischen oder Rückzugsorte mehr. „Alles, alles ist für ewig verloren“, sagt der Unheilverkünder noch, bevor er wieder geht und die Tage (der Welt) allmählich in Dunkelheit und Stille versinken. Illusionslos formulieren Béla Tarr und sein langjähriger Co-Autor, der Schriftsteller László Krasznahorkai, ihre nihilistische Weltsicht in einem tiefdunklen, minimalistischen Film, der nach dem Willen seines Regisseurs und in der Konsequenz seines Gesamtwerks zugleich sein letzter sein soll. „Das Turiner Pferd“ handelt von den Folgen eines Sündenfalls, von „der Schändung“ eines „heiligen Ortes“, wie es in dem Buch heißt, das vorbeifahrende Zigeuner der Tochter schenken, und der ewigen Buße, die als Strafmaß daraus folgt. In ausgeklügelten Bildern, symmetrischen Einstellungen, abgezirkelten Kamerabewegungen und einer ausgefeilten Hell-Dunkel-Dramaturgie hält Tarr seine Zuschauer in einer bedeutungsvollen Distanz. Diese wird immer wieder dort aufgehoben und auf ebenso poetische wie berührende Weise verdichtet, wo Dinge bildfüllend zu Symbolen werden: Etwa das Wagenrad als Bild des ewigen Kreislaufs, die verschlossenen Stalltür, die auf ein Ende (der Geschichte) deutet oder auch das frisch gewaschene weiße Hemd an der Wäscheleine, das einmal die Leinwand in eine Tabula rasa für das Nichts und zugleich in eine ambivalente Projektionsfläche zwischen Reinheit und Auslöschung verwandelt.

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The Man from London

(HU / F / D 2007, Regie: Béla Tarr)

Im Dunkel gefangen
von Wolfgang Nierlin

Es gibt in Béla Tarrs Werk “The Man from London” (A London férfi) eine Ambivalenz von Zeigen und Verbergen, die in direkter Weise mit der Helldunkelmalerei des Films korrespondiert. So …

Es gibt in Béla Tarrs Werk “The Man from London” (A London férfi) eine Ambivalenz von Zeigen und Verbergen, die in direkter Weise mit der Helldunkelmalerei des Films korrespondiert. So wie der Protagonist Maloin (Miroslav Krobot), ein Gleisrangierer im Nachtschichtdienst, vom Dunkel der Tage förmlich gefangen ist, sind die Bilder von tiefschwarzen Streifen gegliedert. Die vom kongenialen Bildgestalter Fred Kelemen fotografierten Raster und Schatten vermitteln insofern ein Gefühl der Gefangenschaft und verleihen darüber hinaus dem Raum einen zwielichtigen Charakter, machen ihn zum Abbild der Seele. Kalter Nebel und ein distanzierter Blick auf den unwirtlichen Zugbahnhof im Hafengebiet einer namenlosen französischen Stadt verstärken diese triste Atmosphäre noch. Zugleich hält der Abstand das Geschehen in einer schwebenden Uneindeutigkeit. Das Transitorische des Ortes setzt sich fort in den Sprachen, den Handlungen, der Existenz.

Von seinem Rangierturm aus beobachtet der schweigsame Maloin einen Mord. Kurz darauf fischt er aus dem Hafenbecken einen Koffer voller Geld, das er unrechtmäßig an sich nimmt. So schleicht sich die Schuld in seinen einsamen, grauen Alltag, der sich in Ärmlichkeit und häuslichem Händel mit seiner Frau (Tilda Swinton) verliert. Bald darauf findet er sich mit seinen widerstreitenden Gefühlen in einem Spannungsfeld, das von Brown (János Derzsi), dem titelgebenden Dieb aus London, und dem ermittelnden Inspektor Morrison (István Lénárt) abgesteckt wird. Aber Béla Tarr interessiert sich weniger für die kriminalistischen Aspekte seiner Georges Simenon-Adaption; er inszeniert vielmehr eine bedrückend schwermütige Atmosphäre aus Lethargie und Hoffnungslosigkeit. Diese verdichtet die Sehnsucht nach Erlösung im existentiellen Drama des Lebens, seinem Stillstand.

Entsprechend reduziert ist die Handlung, sind die auf Gesten konzentrierten Bewegungen der Figuren im Raum, die choreographiert erscheinen. Wie auf einer Bühne, unterstützt durch expressive Ausbrüche und eine hypnotische repetitive Musik, bewegen sie sich und fügen sich so in die artifizielle Ordnung des Films, dessen Komposition jenseits konventioneller Erzähldramaturgien vor allem eine visuelle ist. Die langsame, stetige Entfaltung des Bildes, die durch ausgeklügelte Kamerabewegungen forciert wird, rechnet in Béla Tarrs Filmen mit der Zeit sowie mit den komplexen Austauschprozessen zwischen innen und außen.

Men in Black 3

(USA 2012, Regie: Barry Sonnenfeld)

I'd love to wear a rainbow every day
von Louis Vazquez

So manches Franchise wäre nach langen Jahren besser unangetastet geblieben. Normalerweise muss der Peitsche schwingende (bzw. in einem Kühlschrank eine Atombombenexplosion unbeschadet überstehende) Dr. Indiana Jones als mahnendes Beispiel herhalten. …

So manches Franchise wäre nach langen Jahren besser unangetastet geblieben. Normalerweise muss der Peitsche schwingende (bzw. in einem Kühlschrank eine Atombombenexplosion unbeschadet überstehende) Dr. Indiana Jones als mahnendes Beispiel herhalten. Einen gewissen Reiz aber haben derlei späte Fortsetzungen selbst beim miesesten Drehbuch: Das Verstreichen der Zeit wird nämlich sichtbar, ganz ohne Tricks. Und das sichtbare, echte Altern erzählt ja immer auch etwas über die Figuren, was nicht unbedingt im Drehbuch stehen muss. „Men in Black 3“ jedenfalls ist entgegen vieler Erwartungen ein ziemlich guter Sommerblockbuster geworden und dabei so knallunterhaltsam, dass man fast vergessen könnte, wie oft Konfektionskino in die Hose geht.

„Men in Black“ überzeugte 1997 als zeitgemäße Cartoon-Variante eines Paranoia-Films und stellte eine geheime NGO vor, die für die Belange der längst auf der Erde lebenden Aliens zuständig ist. Zehn Jahre nach der nicht ganz so mitreißenden ersten Fortsetzung erscheint „Men in Black 3“ in (nicht minder zeitgemäßem) 3D und kommt offensichtlich einigen Beteiligten sehr gelegen: Regisseur Barry Sonnenfeld hat seit „Die Chaoscamper“ (2006) nur noch Fernsehen gemacht, Will Smith in den letzten Jahren eher die Filmkarriere seines Sohnes Jaden („The Karate Kid“) befördert als die eigene. Die Rückkehr zur Erfolgsmasche – wie schön könnte man darüber lästern, wenn „Men in Black 3“ einen hingerotzten Eindruck hinterlassen würde. Etan Cohen aber – keiner der berühmten Brüder, aber immerhin Autor von „Tropic Thunder“ – hat ein witziges Drehbuch verfasst, das nicht nur einen Aufguss alter Ideen bietet, sondern darüber hinaus eine abgegriffene Zeitreisegeschichte. Die Kombination von beidem macht überraschend viel Spaß und ringt der üblichen Weltrettergeschichte ein paar neue Facetten ab.

Schon die feine Exposition spielt aufs Vortrefflichste mit Klischees: Eine aufgebrezelte Schönheit (Nicole Scherzinger) bringt einen Kuchen mit in ein Mondgefängnis, wo ihr Freund Boris the Animal (kaum zu erkennen: Jemaine Clement aus „Flight of the Conchords“), eine Art gemeingefährlicher Space-Biker, seit Jahrzehnten festsitzt. Zwar ist keine Feile in der Süßigkeit versteckt, aber so ähnlich, jedenfalls ist Boris bald darauf kein Gefangener mehr. Weil er noch eine Rechnung mit dem Agenten K (Tommy Lee Jones) offen hat, verändert er den Lauf der Zeit, indem er ins Jahr 1969 reist und K tötet. Da K sich nun nicht mehr, wie eigentlich geschehen, um einen Schutzschirm für die Erde kümmern kann, ist es Boris in der neuen Gegenwart möglich, den Planeten zu erobern. Agent J (Will Smith) erinnert sich als einziger Mensch noch an den eigentlich „richtigen“ Verlauf der Geschichte. Auch er reist deshalb in der Zeit zurück, um alles wieder hinzubiegen, muss sich aber mit der jüngeren Version des wortkargen K (dann gespielt von Josh Brolin) herumschlagen.

„Men in Black 3“ nutzt die Zeitreise ins Jahr 1969 zu einem (kleinen) satirischen Exkurs zur Rassentrennung, zwirbelt die ein oder andere historische Persönlichkeit in die Handlung und beschränkt die Möglichkeiten des Settings ansonsten auf eine wilde Jagd mit Sixties-Dekors und entsprechender Ausstattung. Macht aber nichts, weil allein die Interaktion der Hauptfiguren den Film locker trägt. Allerdings spielt ausgerechnet Tommy Lee Jones, in dessen Gesicht man so wunderbar das Verstreichen der Zeit bewundern kann, diesmal leider nur eine ziemlich kleine Rolle. Immerhin: Josh Brolin passt perfekt als jüngere Version, und man kann sich gut vorstellen, dass da im Erfolgsfall so eine Art Staffelübergabe geplant sein könnte.

Ein weiteres Highlight ist die Figur des außerirdischen Griffin (Michael Stuhlbarg), der sich als multidimensionales Wesen stets fragt, welche Version der Gegenwart er gerade erlebt und was wohl als nächstes geschieht. Da klingt dann sogar ein bisschen Douglas Adams (oder wenigstens Neil Gaiman) mit an. Manch andere Figur wirkt dagegen verschenkt: Emma Thompson kommt als woman in black definitiv zu kurz.

Dass Heldengeschichten meistens nicht ohne Pathos erzählt werden, ist klar, auch wenn die Men in Black zu deadpan sind, um in dieser Hinsicht wirklich zu nerven. Eine Figur aus den alten Filmen wird sogar gleich zu Beginn auf ziemlich komische Weise zu Grabe getragen. Dennoch hat „Men in Black 3“ wie schon seine Vorgänger ein Finale, das ein bisschen auf die Tränendrüse abzielt. Viel besser als die angebotene, rührselige Wendung ist aber der auch in diesem dritten Teil wieder eingesetzte Schlussgag, der die menschliche Hybris in gewisser Weise in die Schranken weist. (Zur Erinnerung: Im ersten Teil entpuppte sich unser Universum im Schlussbild als Inhalt einer Murmel.)

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Die Kunst zu lieben

(F 2011, Regie: Emmanuel Mouret)

Fesseln der Freiheit
von Wolfgang Nierlin

Um deine Leidenschaft zu befriedigen, musst du nämlich auch dein Gewissen befriedigen“, sagt der französische Filmemacher und Schauspieler Emmanuel Mouret. Sein neues kinematographisches Kleinod „Die Kunst zu lieben“ (L’art d’aimer), …

Um deine Leidenschaft zu befriedigen, musst du nämlich auch dein Gewissen befriedigen“, sagt der französische Filmemacher und Schauspieler Emmanuel Mouret. Sein neues kinematographisches Kleinod „Die Kunst zu lieben“ (L’art d’aimer), das viele Referenzen hat und (von Eric Rohmer und Jacques Demy bis zu Pascal Bonitzer und Christian Vincent) viele Erinnerungen an das französische Kino unbestimmt zum Schwingen bringt, handelt insofern von einem moralischen Dilemma: Wie lässt sich die „instabile Natur“ der Leidenschaft sowie ihr moderner Anspruch auf Freizügigkeit und Offenheit in Einklang bringen mit den Skrupeln des moralischen Gewissens? Oder anders gefragt: Wie verträgt sich die Theorie des sexuellen Begehrens mit der Praxis der Liebe? Im Prolog seines episodisch gebauten, locker geknüpften Films lässt Mouret einen jungen Komponisten ebenso sehnsüchtig wie vergeblich nach der wahren Liebe suchen. Zwar findet er die richtige Melodie, aber kein Herz, das durch sie zum Klingen gebracht werden würde.

Auch die meisten anderen Figuren in Emmanuel Mourets ironisch-verspieltem Lehrstück empfinden ein Verlangen, das einerseits ungestillt bleibt und sich andererseits auf unerwartete Weise doch erfüllt. Die tragische Exposition dient insofern als Kontrastfolie, um das Gelingen der Liebe ins rechte Maß zu setzen. So landet etwa ein junges, verliebtes Paar, dessen Partner sich die Freiheit des Fremdgehens zugestehen, nach verschiedenen vergeblichen Versuchen und Missverständnissen doch wieder bei sich selbst. Oder eine verheiratete Frau, gespielt von Ariane Ascaride, die einen unbändigen Hunger nach anderen Männern verspürt, wird gerade durch die von ihrem Mann gewährte Freiheit, umso stärker an ihn gefesselt. Auch für Isabelle (Julie Depardieu), die seit langem einen Liebhaber entbehrt, erfüllt sich das Liebesglück auf eher unerwartet unkonventionelle Weise.

Als müssten die Liebesuchenden zunächst einander fliehen, um sich (wieder) zu finden oder um sich ihres Gefühlsschatzes zu vergewissern, unterziehen sie ihr Begehren einer Prüfung, die den Wunsch mit der Wirklichkeit verhandelt. Doch selbst dort, wo der Traum Realität wird, lässt sich diese nicht einfach ergreifen. „Lehne nie ab, was dir angeboten wird“, lautet eines der Mottos, die Emmanuel Mouret den einzelnen Tänzen seines romantischen Liebesreigens vorangestellt hat. Oder auch, gleich zu Beginn des bezaubernd leichten filmischen Rondos: „Es gibt keine Liebe ohne Musik.“ Tatsächlich spielt diese selbst nicht nur eine prominente Rolle, sondern sie strukturiert als erzählerisches Mittel mit ihren Wiederholungen und Variationen, mit ihren Einschüben und Tempowechseln auch die Form des Films. Dieser ist in seiner künstlichen Abgeschlossenheit nie etwas anderes als reines Kino(vergnügen), mit dem Mouret bis in die Ausstattung und das Dekor hinein nach der perfekten Synthese von Form und Inhalt sucht.

Hell

(D 2011, Regie: Tim Fehlbaum)

In der Genrehölle
von Ricardo Brunn

Es mag mühselig sein, über Genrekino in Deutschland zu sprechen, doch es ist notwendig. Denn selbiges erschöpft sich vor allem in repetitiven Gesten und steht sich damit selbst im Weg, …

Es mag mühselig sein, über Genrekino in Deutschland zu sprechen, doch es ist notwendig. Denn selbiges erschöpft sich vor allem in repetitiven Gesten und steht sich damit selbst im Weg, obwohl es wichtige Impulse für eine vielfältigere Filmlandschaft geben könnte.

Das jüngste Beispiel in dieser Diskussion stellt Tim Fehlbaums apokalyptisches Road-Movie „Hell“ dar, dessen Plot, genrekonform, schnell erzählt ist: In einer Welt, in der die Sonne nahezu jedes Leben von der Erdoberfläche gebrannt hat, versucht eine Gruppe junger Menschen in die Berge zu gelangen, da dort Wolken, Vegetation und Wasser vermutet werden. Auf dem Weg dahin gerät die Gruppe in eine Falle fieser Kannibalen und muss sich später aus dem Versteck der menschenfressenden Hirnverbrannten befreien. Das Ende: Ein hoffnungsvoller Blick auf bergiges Land, dramatische Musik, Sonne, Abspann.

Jetzt kann man sich über das durchaus gelungene Szenenbild des Filmes freuen, das viel zur endzeitlichen Atmosphäre beiträgt, oder sich über die blassen Figuren ärgern, denen scheinbar mit der Farbe auch jede Charakterzeichnung entzogen wurde. Man kann zudem darüber schimpfen, dass Vieles aufstoßend dreist bei McCarthy’s „Die Straße“ abgekupfert ist oder aber die solide Inszenierung loben, in der gut zwischen Anspannung und Ruhe vermittelt wird und Licht und Dunkelheit gezielt gegeneinander montiert werden.

Das eigentliche Spannungsverhältnis, in dem der Film jedoch steht, ist unsere schwierige Beziehung zum Genrekino: Entweder unterziehen wir die eigenen Versuche darin argwöhnischer Beobachtung oder wir neigen dazu, sie überschwänglich zu loben, weil es endlich einmal (und darin liegt eine gewisse Sehnsucht) handwerklich Solides aus dem eigenen Land gibt. Diese Ambivalenz zieht sich bis in die Förderinstitutionen, wenn in jedem Antrag auf Filmförderung auch nach dem Genre gefragt wird, obwohl die meisten geförderten Filme traditionsgemäß keinem Genre zuzuordnen sind und die entsprechenden Anstalten auch nur sehr wenig Interesse an der Unterstützung von Genrefilmen zeigen. Genrekino, das erschöpft sich hierzulande meist in dumpfen Komödien regieführender Schauspieler. Da gilt es schon als mutig, wenn das ZDF einen Zombiefilm mitfinanziert.

Man würde sich mehr Natürlichkeit im Umgang mit Genrefilmen wünschen, doch das Problem ist vielschichtiger und hat letztlich mit der neuerlichen Debatte um die Identität des deutschen Kinos zu tun: Nach einer Phase der Erschöpfung in den 1960er und 70er Jahren hat nie eine Neubildung, sondern eine Loslösung vom Genrefilm eingesetzt, bedingt unter anderem durch das Filmförderungsgesetz, die Abwertung gegenüber dem Autorenkino sowie der Übermacht amerikanischer Großproduktionen. Die heutige Situation lässt sich am besten mit dem von Dominik Graf geprägten Begriff des „Relevanzfilms“ umschreiben: Wir produzieren mehrheitlich Filme, die auf eine – auch gezielt auf Fördertauglichkeit gerichtete – begrenzte Themenpalette (Nazis, RAF, Krankheit, DDR, Mittelstandskrisen) zurückgreifen und formal immer ähnlicher werden. Doris Dörrie hat zur diesjährigen Berlinale in anderem Zusammenhang auf diese Fehlentwicklung hingewiesen und spricht von einer Bipolarität des deutschen Kinos, das sich fast nur noch in Festivalfilme (der Relevanzfilm) und Publikumsfilme (die dumpfe Komödie) aufteilen lässt. Die Politik der Förder- und Sendeanstalten, kann man schlussfolgern, hat über Jahre hinweg zu einer eintönigen Filmlandschaft geführt. Es fehlt das Bewusstsein dafür, dass Kino Bandbreite benötigt.

An den Rändern dieser Filmwirtschaft entstehen so hin und wieder kraftlose Genrefilme, die sich im Nachahmen und Wiederholen bekannter Muster zumeist amerikanischer Vorbilder (in der Hoffnung auf Anschluss) erschöpfen. „Wir sind die Nacht“ (R: Dennis Gansel) wirkt beispielsweise wie ein eilig nachgeschobener Versuch, dem vor einigen Jahren international wiederbelebten Vampirfilm auch einen deutschen Beitrag hinzuzufügen. Und jetzt tritt eben „Hell“ mutlos in die endzeitlich wundgetretenen Fußstapfen bekannter Genrevertreter und begnügt sich in der Zurschaustellung altbekannter B-Movie-Konventionen dermaßen, dass man das Kino nach der Hälfte des Filmes auch beruhigt verlassen kann. Denn zu verpassen gibt es nichts. Etwas Eigenständig-Überlebensfähiges zu schaffen bleibt diesem Film verwehrt, weil er sich lieber auf das ewige „wir können das auch“ reduziert, anstatt gezielt eine eigene Position zu suchen.

Man muss also (und dieser Ambivalenz kann niemand entrinnen) „Hell“ zugleich unausstehlich finden und sich dennoch über den Film freuen, denn endlich gibt es einmal handwerklich Solides aus dem eigenen Land. Irgendwann kann man das sicher auch als (Genre-)Tradition bezeichnen.

Sharayet – Eine Liebe in Teheran

(USA / F / IR 2011, Regie: Maryam Keshavarz)

Raus aus Iran
von Carsten Moll

Atafeh und Shirin rasen durch das nächtliche Teheran. Weil diese Stadt anders nicht zu ertragen ist und das bildungsbürgerliche Zuhause für die beiden Freundinnen immer weniger Schutzraum als geschmackvoll eingerichtete …

Atafeh und Shirin rasen durch das nächtliche Teheran. Weil diese Stadt anders nicht zu ertragen ist und das bildungsbürgerliche Zuhause für die beiden Freundinnen immer weniger Schutzraum als geschmackvoll eingerichtete Gruft ist; draußen die patriarchalische Diktatur und drinnen Muttis erstarrtes Lächeln und ein gut gestimmtes Klavier als Zentrum des liberalen Familienkosmos. Als Ausweg: Verliebt sein ineinander. Tagträume, die aussehen wie Parfümwerbung. Ein paar Drogen. Und immer wieder Pop: anglophonen von Bonnie Tyler bis Le Tigre, aber auch persischen Hip Hop. Ein Ausweg ist das dann aber doch nicht, mehr ein hilfloses Pendeln zwischen Transgression und Repression, das Aufbegehren von politisch Illusionslosen, die nicht von San Francisco träumen, sondern froh sind, wenn sie es gemeinsam rüber nach Dubai schaffen. Hier versuchen zwei, ihr individuelles Glück gegen die Deutungshoheit von Staat und Familie zu behaupten, ein betrunken gegröltes „Auf Hollywood!“. Resignifikation und Aneignung. Fucking Iran.

Maryam Keshavarz‘ Spielfilmdebüt setzt immer wieder auf Melodramatisches: Die Geschichte (auch wortwörtlich ein Melodram: Handlung mit Musik) einer Emanzipation wird anhand einer bemerkenswerten mise en scène erzählt; die Farbdramaturgie macht Rot- und Blautöne zu Protagonisten, der Soundtrack rhythmisiert die Handlung und jeder Raum schreit heraus, was die Fassade lieber verschweigt. Zugegeben: Der Film ist nicht nur Melodram (ich behaupte, es sind aber mindestens 6/10 des Films), ein bisschen scheint Keshavarz das Künstliche, Pathetische und Exzessive abmildern zu wollen, indem sie immer wieder auch betont nüchterne Bilder im Sozialdrama- und Doku-Look liefert. Auf diese springt dann auch ein nicht geringer Teil der Kritiker_innen an und findet den Film dann trotz der melodramatischen Einschübe ganz gut: Authentizität, Abbild-Realismus und die Message überzeugen, Melodram bleibt hier Schimpfwort.

Ein Grund für die zwiespältigen Meinungen zu „Sharayet“ mag im Film selber liegen, der stellenweise einfach wirr und überladen ist. So reich er an Ideen ist, so unmotiviert wirkt mancher Einfall. Allein die Figur des Mehran, Atafehs fundamentalistischem Bruder und persönlichem Big Brother, ist eine Katastrophe und wirkt als überstrapazierte Allegorie wie ein Fremdkörper. In seiner Gestalt stolpert dann auch immer wieder etwas arg Thesenhaftes in den Film und ruiniert die subversive Trivialität so mancher Szene. Die Reduzierung des Films auf Statements oder eine Eins-zu-eins-Übersetzung von Realitäten wird dem Film aber ebenso wenig gerecht wie reflexartige Querverweise auf die Arabellion. Ihm das Melodram auszutreiben, um Bedeutung aus ihm zu destillieren, hieße nicht nur ihm die Haut abzuziehen, sondern auch sein Skelett zu zertrümmern. Spannender als in Keshavarz‘ Teheran-Simulation nach Bestätigung von Allgemeinplätzen à la „Im Iran werden Frauen unterdrückt“ zu suchen, dürfte es ohnehin sein, nachzuspüren, mit welchen Mitteln hier Bedeutung überhaupt erst produziert wird und sich auf die komplexe Ästhetik des Melodrams einzulassen.

Der Diktator

(USA 2012, Regie: Larry Charles)

Die Ambivalenz verlässt das Kino
von Dietrich Kuhlbrodt

Diktator Admiral General Aladeen stellt der Öffentlichkeit in seiner nordafrikanischen Republik die neue Atomrakete vor, die rein friedlichen Zwecken diene, wie er vor der Kamera sagt, mühsam ein Lachen unterdrückend. …

Diktator Admiral General Aladeen stellt der Öffentlichkeit in seiner nordafrikanischen Republik die neue Atomrakete vor, die rein friedlichen Zwecken diene, wie er vor der Kamera sagt, mühsam ein Lachen unterdrückend. Die Uno in New York lädt ihn ein, eine Rechtfertigungsrede zu halten. 14 Stunden wird sie dauern. Im »Geburtsort von Aids« wird er jedoch durch einen Doppelgänger ersetzt. Mit viel Glück findet er in Manhattan eine Stelle in einem veganen Bioladen.

Der Film lebt von einem Gag-Gewitter im TV-Comedy-Stil, wobei die PC-Verstöße austariert sind. Im Alltäglichen führt der exdiktatorische Ladenangestellte neue alte Sitten ein. Selbstverständlich kann man einen frechen Jungen, der Artikel aus den Regalen reißt und dem Personal den Mittelfinger zeigt, zu Boden schlagen. Und als Geburtshelfer im Laden ein Baby aus dem Mutterloch reißen (Großaufnahme) – es ist ein Mädchen – und nach der nächsten Mülltonne fragen. Es gibt für Aladeen vieles zu verbessern. Strafandrohung für Ladendiebstahl ist Waterboarding, und amerikanische Demokratie ist vielleicht doch nicht so schlecht. Ein Prozent Reiche und 99 Prozent Arme – kein Problem: ignore the poor. Die Reichen feuern ihre Angestellten. Der Diktator feuert auf seine Untergebenen. What’s the difference? Ich hab zu Haus meinen Diktator, und Texas hat sein Rechtssystem. Noch mal: What’s the difference? »Ist für euch Amerikaner schwer zu verstehen.« Aber wir kommen ins Geschäft.

Ich hab jetzt so zitiert, wie ich’s in der Pressevorstellung verstanden habe. Nicht lange vor dem Filmstart lief dort statt der deutschen Synchronfassung die original version – weiß der Teufel, warum. Eine gewisse Geheimhaltung umgab den Film bisher. Im New Yorker Waldorf Astoria wurde ebenfalls kurz vor Start eine Pressekonferenz abgehalten, auf der, wie in der »Berliner Zeitung« zu lesen war, hundert handverlesene Journalisten Fragen an den höchstselbst erschienenen Sacha Baron (eigentlich:Baruch) Cohen richten durften – vorformulierte Fragen des Verleihs.

Spielen wir Journalisten jetzt in der postfilmischen Marketingoffensive mit? Ja? Nein? Und wenn? Die Ambivalenz verlässt das Kino und wirkt nach außen. Hallo! Wo sind die Gewissheiten? Es gibt bei Baron Cohen keine. Es ist seine Methode, Urteile zu hintertreiben, gerne Vorurteile. Wie sieht unser Bild von islamischen Diktatoren aus? Wir sehen Karikaturen mit schwarzem Vollbart, Comicfiguren, Kriegsverbrecher, Böse voller Vorurteile gegen den demokratischen Westen.

Zweiter Schritt: Das Bild des Bösen verflüchtigt sich in der superaffirmativen Aladeen-Darstellung. Er wird lächerlich, absurd und komisch. Zu fürchten sind radikalkonservative Fundamentalisten in den USA, einer wie Sweeney, den der Film namentlich nennt, auf einem Level mit den Diktatoren. Da sie sich nicht unterscheiden, gibt’s kein Hindernis fürs große Ölgeschäft.

Ist »Der Diktator« also ein politischer Film? Sagen wir: eine therapeutische Lockerungsübung. Oder besser: eine prima Unterhaltungsshow zum zwischendurch heftig die Lufteinziehen. Die Comedy-TV-Kultur in Amerika wird ja nicht nur in Manhattans Bioladenmilieu gepflegt, sondern global. Sie wird weltweit verstanden, mehr oder weniger. Es scheint angebracht, den »Diktator« von den deutschen TV-Komikern abzugrenzen, die gern ihr Geschäft auf Kosten anderer betreiben. Baron Cohens Komik legt sich dagegen nicht fest. Der von ihm verkörperte Diktator wird im Laufe des Films nicht mehr vorgeführt. Er führt vor, zum Beispiel die Politiker der Uno-Vollversammlung. Wir müssen unsere Meinung ändern, und das, wie gesagt, in einer Show, die unterhält und sich verhält.

Im »Diktator« erscheint die Wirklichkeit medial. Live-Übertragungen, reale und fiktive, Moderatoren, bekannte und unbekannte – eine davon getrennte »objektive« Realität gibt es angeblich nicht, wie nach wie vor die Lehre ist. Baron Cohen ist also mit dem »Diktator« auf der Höhe der Zeit. Bitte aber zu beachten, dass das Alltägliche mitläuft. In den Straßen Manhattans liest ein Motorrollerfahrer den ausgesetzten Diktator auf. Cohen sitzt auf und fasst ihn um die Brust. »Lass die Brüste los«, sagt der. »Oh, the boy is a girl«, ist die Lektion. Zum Schlusskuss des Films wird er die schöne Retterin (Anna Faris) heiraten. Die Großaufnahme sagt es: voll melodramatisch und gar nicht komisch. Der Diktator ist zum Küssen. Vorher hat sie ihn noch zu ihrer Entlastung in ihm bisher entgangene Onaniemethoden eingewiesen. Wieder Großaufnahmen, euphorisch: Delphine springen. Das Wasser spritzt. Der Diktator ist toll sexy.

Im Film dominiert die Handlung. Wir sind damit weiter weg von Baron Cohens TV-Shows der neunziger Jahre, in denen er – im Paramount Comedy Cable Channel – die Figur des Ali G populär gemacht hat (»Eleven O’Clock Show«). In »Ali G in da House« hat er als Moderator durch unverschämte Fragen echte Gäste aus Politik und Showbusiness in Verlegenheit gebracht. Im Film »Borat« war er dann aus Kasachstan zur Feldforschung in die USA aufgebrochen – mit der kasachischen TV-Kamera in der Hand. Wieder war er Hauptperson und brachte seine Gesprächspartner in böse Verlegenheit. Böse, weil sie vor den gespielt naiven Fragen ungebremst die ungeheuerlichsten Vorurteile rausließen. Das war komisch und entlarvend zugleich. Der Staat Kasachstan hatte bekanntlich diplomatisch gegen den Film interveniert, und bei uns fühlte sich der Verband der Sinti und Roma durch den Film verletzt. Die Gefühle, angegriffen zu werden, haben im »Diktator« jedoch keinen rechten Platz mehr. Der von Baron Cohen gespielte Held ist kein Fragesteller mehr, er gibt Antworten. Ja, die amerikanische Demokratie der Armen hat doch etwas. Man trifft ohne weiteres auf ein schönes Mädchen, das man heiraten kann. Großes Finale: der Schlusskuss. Voll die Medienwirklichkeit. Noch Fragen?

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 06/2012

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Moonrise Kingdom

(USA 2012, Regie: Wes Anderson)

A Young Person’s Guide to Wes Anderson’s Cinema
von Harald Mühlbeyer

„The Young Person’s Guide to the Orchestra“ von Benjamin Britten: Auf einem hellblauen, batteriebetriebenen, knarzenden Taschenplattenspieler läuft das Stück, das die einzelnen Instrumente des Orchesters vorstellt und das Entstehen der …

„The Young Person’s Guide to the Orchestra“ von Benjamin Britten: Auf einem hellblauen, batteriebetriebenen, knarzenden Taschenplattenspieler läuft das Stück, das die einzelnen Instrumente des Orchesters vorstellt und das Entstehen der Harmonien erklärt.

Wes Anderson lässt seine Kamera dabei durch das Haus der Familie Bishop gleiten, in gleichmäßiger Parallelfahrt, durch alle Zimmer, über alle Stockwerke: gleich zu Anfang von „Moonrise Kingdom“ eine typische Anderson-Einstellung, der Film wird zum Gang durch ein Puppenhäuschen, das wie eine mehrstöckige Theaterbühne als Spielplatz für den Regisseur dient. Immer im Blick dabei: Suzy Bishop, die mit ihrem Fernglas direkt in die Kamera schaut, in die Ferne späht. Oder die ihre Nase in eines ihrer Abenteuerbücher steckt.

Eine solche Panoramafahrt durch ein aufgeschnittenes Haus, in das die Filmfiguren nach Gutdünken hingestellt sind – selbstverständlich unter strengen ästhetischen Gesichtspunkten, die Standort, Körperform, Raumaufteilung, nicht zuletzt die Farben beinhalten –, ist ein Markenzeichen von Wes Andersons filmischer Ästhetik; in „Moonrise Kingdom“ wird er sie durch diverse weitere Parallelfahrten, Rundumschwenks oder Totalen ergänzen: Ob nun Scout Master Ward seinen morgendlichen Gang an diversen Pfadfindern vorbei zum Frühstückstisch antritt, ob sich auf weiter Wiese Suzy und Sam treffen, um gemeinsam aufzubrechen, ob sie in weitem Rundumblick die paradiesische Umgebung von Wald und Küste sondieren: Stets gibt Anderson einen Gesamtüberblick, um zugleich die Künstlichkeit des filmischen Arrangements aufzuzeigen und das Zusammenspiel der einzelnen Bildelemente – gerade so, wie Benjamin Britten Streicher, Bläser und Schlagwerk vorstellt, in Einzelteilen, aber gemeinsam.

Ein Wes Anderson-Film ist im Grunde stets auch ein filmgewordenes Seminar über filmisches Sein und filmisches Wirken: Jedes Einzelelement wird betont, wird dabei völlig gleichwertig behandelt, und gleichzeitig wird das Bewusstsein geschaffen vom perfekten Zusammenklang, davon, dass das Ganze stets noch viel größer als die Summe von ohnehin außergewöhnlichen Einzelteilen ist. Andersons Filmtechnik ist die des Mosaiks: das aus vielen Bestandteilen besteht, die auch alle sichtbar sind, und die zugleich in ihrer Gesamtheit ein Bild ergeben.

Ein Bild, das bei Anderson auf jeden Fall symmetrisch wäre, auf jeden Fall mit leuchtenden Farben gestaltet – im Fall von „Moonrise Kingdom“ bevorzugt ein warmes Gelb –, das auf jeden Fall künstlich, gar skurril wirken würde, damit durchaus übertrieben – und dabei ganz lebensecht, in seiner hyperbolischen, überdrehten Art authentisch im nicht-fotorealistischen Sinn. Dass der Film von einem Erzähler (Bob Balaban) präsentiert wird, der einerseits im Rückblick kommentiert, andererseits ganz gegenwärtig anwesend ist in der Filmhandlung, ist fast schon ein selbstverständliches Detail.

Auf diese Weise erzählt Anderson seine Geschichte von einer großen Liebe – so ernsthaft, wie man nur sein kann, ohne ins Melodramatisch-Sentimentale zu rutschen, und so komisch, wie man nur sein kann, ohne eine der Figuren oder gar den Zuschauer vor den Kopf zu stoßen.

Sam liebt Suzy. Ihre erste Begegnung: Eine Auffühung von Benjamin Brittens „Noye’s Fludde“, die Noah-Geschichte mit einer Menge Tiere auf einer Bühne in der örtlichen Kirche. Sam büchst aus, blickt hinter die Kulissen – ein weiterer dieser langen andersonschen Kameragänge –, bis er hinter einem Kleiderständer hervorlugt und die als Vogel gekleideten Mädchen sieht. „Was bist du für ein Vogel?“ – „Ein Rabe.“ Damit ist die Liebe besiegelt.

Ein Jahr später büxen die beiden aus. Sam aus seinem Pfadfinderlager, Suzy aus ihrem Elternhaus, sie wollen in der Wildnis leben, gemeinsam, als Liebespaar: sie sind beide zwölf Jahre alt. Die Eltern – Bill Murray und Frances McDormand –, der Pfadfinderlagerleiter – Edward Norton –, der örtliche Sheriff – Bruce Willis – drehen hohl: wo sollen sie suchen auf dieser Insel, auf New Penzance, immerhin 25 Kilometer lang, vor Rhode Island gelegen? Die Flucht und das Verborgenbleiben, die Suchaktion von Polizei und Pfadfindern, der Druck, den Jugendamt (Tilda Swinton – ja: „Jugendamt“, das ist ihr Name!) ausübt: Das ist schon eine Menge Handlung, die Anderson noch anreichert durch eine Affäre zwischen Mrs. Bishop und dem Sheriff Captain Sharp und durch die angedeuteten Schwierigkeiten, die die Kinder stets bereiteten.

Sam wie Suzy gelten als schwer erziehbar, als unnormal, als emotional gestört. Sam wird von seinen Pflegeeltern per Telefonanruf verstoßen. Für den Umgang mit Suzy suchen die Eltern ein Rezept in schwarz eingeschlagenen Ratgeberbüchern. Was die beiden anderen antun? Es wird nicht gezeigt. Es wird nur im Briefwechsel angedeutet, den die beiden über ein Jahr lang miteinander führten: Lehrerin anschreien, schlafwandelnd ein Feuer legen, malen – unter anderem nackte Mädchen, Tobsuchtsanfälle. Kurz: Das ganz normale Programm derer, die in die Pubertät kommen. Und die auf stetes Unverständnis stoßen, weil sie ein bisschen exzentrisch sind. Die keine Freunde haben. Und keine suchen. Die gerne lesen – Suzy verliert sich in Büchern über tapfere Mädchen in fantastischen Welten, mit Buchcovern, die von verschiedenen Künstlern ganz liebevoll extra für diesen Film gestaltet wurden.

Die Liebe zwischen den Kindern, die selbstverständlich auf Ablehnung stößt: In ihr liegt die Wahrhaftigkeit, sie ist der Kern, in ihm liegt mehr Reife, mehr Erwachsensein als bei all den kindischen, mit sich selbst beschäftigten Erwachsenen um sie herum. Durch dramaturgisches Kreisen und inszenatorisches Abtasten kommt Wes Anderson diesem Kern immer näher, vergisst dabei auch die Spannung nicht – ein Finale auf dem Kirchturm, mitten im Hurrican-Sturm! – und stellt alles in einer uneigentlichen Mise en scene dar, der Film als ironischer Kommentar zu sich selbst. Wie Britten durch ein Orchesterstück zum Orchester führt, führt Anderson durch seinen Film zu seinem Film. Ganz leichtfüßig, scheinbar mühelos fügt sich alles zu einem großen Ganzen zusammen. Am Ende, während des Abspanns, wird gar das Making of der Filmmusik präsentiert, als Führer in die musikalische Welt von Alexandre Desplat.

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Janosch – Komm, wir finden einen Schatz!

(D 2012, Regie: Irina Probost)

Gemäßigt actionreich
von Andreas Thomas

Neben Astrid Lindgren hat seit den siebziger Jahren niemand so sehr seine Finger in der Sozialisation unserer Kinder gehabt wie Janosch, der verschrobene oberschlesische Hinterwäldler. Aber man möchte sagen, dass …

Neben Astrid Lindgren hat seit den siebziger Jahren niemand so sehr seine Finger in der Sozialisation unserer Kinder gehabt wie Janosch, der verschrobene oberschlesische Hinterwäldler. Aber man möchte sagen, dass die Geschichte der Kinderliteratur schon Schlimmeres hervorgebracht hat als Pippi Langstrumpf oder den Kleinen Tiger, man denke z.B. nur an den auch heute noch in den Kinderstuben anwesenden Inbegriff preußischer Sadopädagogik wie den „Struwwelpeter“. Die ungeheure Popularität von Janosch und Lindgren ist sicherlich deren hohem kreativen Output geschuldet – aber eben auch jenem gewissen Etwas, das die kindliche Seele anspricht, weil dessen Urheber die kindliche Seele verstanden haben.

Schön an Janoschs Oeuvre ist vor allem schon immer sein kreativer Wildwuchs gewesen, seine gegen den Strich gebürsteten, fantasiereichen Geschichten, in einer farbenfrohen Welt voll mit Schaustellern, Bären, Gänsen oder Fröschen, die lustige Namen tragen und nicht nur verschrobenes Zeugs erleben, sie sprechen auch eine ganz spezifische, nämlich die Janosch-Sprache, dem Deutschen zwar verwandt, aber immer als von Janosch kreierte erkennbar. Und mal von der von vornherein wie ein Konsumtionsprodukt erscheinenden Tigerente abgesehen, besitzt jede Figur bei Janosch einen individuellen und liebevollen Pinselstrich – eben den janoschschen Charakter, der sich – das bewiesen die fürs Fernsehen in den Achtzigern produzierten 26 Folgen von „Janoschs Traumstunde“ – problemlos und ohne Qualitätseinbußen in den Zeichentrickfilm überführen ließ. Fast noch lustiger als im Original des illustrierten Buchs gerieten etwa die 25-minütigen „Tiger und Bär“-Folgen, wenn etwa der Doktor Brausefrosch dem kranken Tiger (Diagnose: Streifen verrutscht!) in rheinischer Mundart den OP-Ablauf erklärt.

Rheinische Mundart gibt’s in „Janosch – Komm wir finden einen Schatz!“ leider nicht mehr, werden die Figuren doch von Symphatieträgern wie Michael Schanze (dessen tiefe Stimme sich anhört, als wäre er zwischenzeitlich in einen zweiten Stimmbruch gekommen), Elton oder Malte Arkona, einem KIKA-Moderator, gesprochen, und überhaupt merkwürdig ist, wie, seitdem Janoschs „Tiger und Bär“-Geschichten für das Kino adaptiert werden, das typisch Janoschsche daraus eher verbannt wird, so als wäre die Janosch-Phänomenologie, die Eigenwilligkeit seines Striches und seiner Sprache plötzlich nicht mehr kindgerecht oder zumindest nicht kinderkinokompatibel. Schon in der ersten Kinoadaption eines Janosch-Stoffes für die Leinwand, in „Oh, wie schön ist Panama“, fielen die Glätte und Rundheit der beiden Protagonisten Tiger und Bär unangenehm auf, doch vor allem waren sie ihrer Sprache und somit ihrer charakterlichen Eigenarten beraubt, und so der beiden Merkmale, die Janoschs Geschichten doch erst ausmachen.

Dieses zweifelhafte Verfahren der Verflachung wird nun leider auch (nach der 'Tigerentenbande', 2011) in der dritten Kinoaufbereitung fortgesetzt. Sowohl Tiger als auch Bär sehen aus wie rundköpfige Teddybären, also langweilig, und die dritte Hauptfigur, Jochen Gummibär, hat nichts mehr gemein mit seinem literarisch-grafischen Original: Wo jener klein wie ein Gummibär und zugleich mutig wie ein Löwe war, ist dieser hier groß und ängstlich darum bemüht, Freunde zu finden, also eher eine Allerweltsfigur …

Besonders auffällig ist die Langsamkeit der Inszenierung, jedenfalls wenn vorher ein Trailer von „Ice Age 4“ über die Leinwand donnerte, aber im Prinzip spricht dieses wohl eher für eine gelungene Zielgruppenorientierung. Die Zielgruppe selbst (hier Tochter, 5 Jahre) jedenfalls findet den Film „schön, vor allem, weil alle am Schluss Freunde geworden sind. Blöde an der Geschichte war, dass der Kater (GoKatz) so blöd war, außerdem hat er behauptet, er könne zaubern, obwohl er einen Magneten benutzt hat, um die Nadel im Heuhaufen zu finden.“

Wir bilanzieren: „Janosch – Komm, wir finden einen Schatz“ ist gemäßigt actionreich, transportiert eine humanistische Message („Der größte Schatz ist die Freundschaft“), ist insofern, wie deklariert, für Kinder ohne Altersbeschränkung geeignet, aber insofern für Erwachsene (und insgesamt und im Vergleich zu den Büchern sicherlich auch für Kinder pädagogische Mangelware) eher langweilig, weil der Eigensinn aus Sprache und Zeichnung getilgt ist: ein geglätteter Janosch ohne Janosch-Charme.

Adaption

(USA 2002, Regie: Spike Jonze)

Verstümmelungstechnik
von Dietrich Kuhlbrodt

L.A. Wenn ich den Adapter in die Dose stecke, dann ist das meine private Systemüberlistung – was die Normen von Stecker und Spannung betrifft, und ich schere meine Glatze wie …

L.A. Wenn ich den Adapter in die Dose stecke, dann ist das meine private Systemüberlistung – was die Normen von Stecker und Spannung betrifft, und ich schere meine Glatze wie im good old Europe. Für komplexere Systeme braucht es jedoch einen Film wie 'Adaptation'. Wie überlebe ich zum Beispiel die Evolution? Es geht immerhin um drei oder vier Milliarden Jahre. Regisseur Spike Jonze zeigt es in knapp 55 Sekunden: vom Urknall über die Formierung der Erde, die Saurier, die Eiszeit, den Affen, den Menschen, das Konglomerat der Großstadt bis zum Kopf des Drehbuchautors, Charlie Kaufman. Der wird im Kreißsaal grade aus der Mutter gezogen. Er atmet. Der Film hat längst begonnen.

Legitimiert wird der Schöpfungsakt vom good old Darwin persönlich. Mit weißem Rauschebart. Ein Zwillingsgott. Denn in den Staaten muss er bekanntlich mit dem anderen konkurrieren, dem Fundamentalisten, der in den Schulen das Sagen hat – mit seiner hollywoodkompatiblen Story, die linear die Schöpfungsgeschichte erzählt. Wer sich dort auf Darwin beruft, ist Ketzer. Weshalb in den USA ein Darwin-Feature nach dem anderen entsteht, das wir dann – zuletzt im Februar – auf Arte sehen dürfen. Bloß ist das wieder linear erzählt und unadaptiv. Weshalb 'Adaptation' mit seinem 'aaaaa'-Programm benötigt wird: adaptiv, assoziativ, autobiografisch, anekdotisch, apokryph. Eben alles, was in der Datei oder den Kontaktanzeigen vor dem ersten Wort steht.

Wie überlistet ein Drehbuchschreiber in Hollywood das Hollywoodsystem? Dagegen angehen? Kompromisse schließen? Kämpfen? Leiden? Gar Hollywood mit eigenen Mitteln schlagen? 'Adaptation' entwickelt eine evolutionäre Strategie, die unschlagbar, weil nicht diskursiv, sondern autobiografisch ist. Weil der Filmheld nicht nur Kaufman heißt, sondern auch der Scriptwriter Charlie Kaufman ist, überdies (im Off) mitspielt und seinen Text spricht. Wer will dagegen anargumentieren, wenn der, der das Drehbuch zu 'Being John Malkovich' schrieb, jetzt im Set eben dieses Films mit sich hadert: 'Ich bin ein wandelndes Klischee.' Wie soll er aus einem Printwerk, das sich der Orchideenzucht widmet, einen spannenden Kinoplot machen? Wobei sowohl das Buch real existiert (The Orchid Thief) als auch die Autorin, und sie gab mit Freuden ihren Namen für den Film her wie vormals Malkovich. Bei soviel Legitimation durch die Wirklichkeit wird glaubwürdig, was sonst der Argumentation bedürfte. Wer wird sagen: Du hast das nicht erlebt? – Und doch gibt es den adaptiven Zwilling. Jede Orchidee hat den speziellen Partner, der organisch auf sie und nur auf sie fixiert ist und der, ist er ein Insekt, für ihren dreißig Zentimeter langen Blütenkelchschlauch mit seinem ebenso langen Rüsselschwanz eingerichtet ist. Kopulierend sichern beide sich die Existenz. Auch für den Dauerbrenner 'Casablanca', so erfahren wir, brauchte es ein Doppelwesen: die Drehbuchbrüder Epstein. Was uns wiederum Hollywood gelehrt hat.

Scriptwriter Kaufmann braucht also die spezielle Persönlichkeit, die ihn vor Frust, Depression und Suizid bewahrt. Charlie Kaufman (Nicholas Cage) kriegt im Film einen fiktiven Zwillingsbruder, einen eineiigen sogar. Der heißt Donald Kaufman (Nicholas Cage) und taucht auch im Abspann auf. Cage eine multiple Persönlichkeit? Zwilling Donald, auch Drehbuchschreiber, geht die Dinge straight und linear an. Für die multiple Szene entwirft er ein Klischeebild: den geborstenen Spiegel. Die Hollywoodproduzenten sind begeistert. Auch pflegt Bruder Donald den Direktkontakt mit Frauen. Eine toller als die andere, schleppt er sie in die Zwillingswohnung ab, während Charlie, sich selbst befragend, freudlos onaniert. Wodurch sich immerhin eine ebenso überraschende wie kitschige Szene nachträglich erklärt. Was nicht linear ist, springt hin und her. Zeitlich wenigstens.

Die Zwillinge verstehen sich oder verstehen sich nicht. Man braucht sich. Charlie, der frustrierte berühmte Autor, folgt einem brüderlichen Rat. Er besucht das Drehbuchseminar des noch berühmteren Hollywoodwriters Robert McKee. Selbstverständlich gibt’s den wirklich, und er tritt als sein eigenes Dokument im Film auf. Er gibt zum Besten, was hochberühmte Plotentwerfer zum Besten geben. Zielgerichtet zum Ziel! Im Berlinalepalast, wo ich den Film sah, gab’s Beifall von der falschen Seite. Hier war’s, wo Hollywood 'Adaptation' adaptierte. Im Kino wurde der verzweifelte Orchideen-Kaufman applaudierend zur Schnecke gemacht. Crash! Im Film jedoch bat die Schnecke Gott um Rat und siehe: Gott McKee gewährte ein Whisky-Privatissimum. Wenn vier Akte schon fertig geschrieben sind, okay, dann den fünften hinterher, der endlich den Plot bringt, Action, Sex und Drogen: den Schlussakt, 'der überrascht und verblüfft und die Dinge auf den Kopf stellt'.

Die gefestigte Orchideenbuchautorin (Meryl Streep), die gerade noch gelehrt mit lateinischen Namen operiert und beim Unbekannten im Fahrstuhl prompt die Hand an der Gassprühdose hat – sie fällt aus ihrem geschlossenen System heraus. Im fünften Akt. Sie lügt! Im Orchideenhaus produziert sie Drogen. Lange, grüne Bahnen zieht sie sich in die Nase. Ihr Gesicht ist um ein Jahrzehnt gealtert. Wilder Sex mit dem Orchideensammler! Währenddessen klären die Zwillingsautoren Kaufman endlich ihre alte Beziehung zum ersten Collegemädchen. Action! Verfolgungsjagden! Schüsse! Leichen! Ein Krokodil frisst in Floridas Sümpfen den sexsüchtigen Orchideensammler! – Alles kommt auf die Reihe. Welch ein Plot! Eigentlich war das die Story des straighten Bruder Donald gewesen. Der bekam glatt anderthalb Millionen für sein Buch. Im Film des anderen, zum Schlussakt komprimiert, wird die Hollywoodstory jedoch zur Hollywoodverstümmelung, zur Selbstverstümmelung der Zwillingsautorenschaft.

Grandios das! Jackass als Antwort auf das System der Filmindustrie. Tut dem, der’s sieht, nicht weh, und der Hollywoodkörper ist verletzt. Eine prima Systemüberlistung. 'Adaptation' ist erfreulich, und Spike Jonzes nächster Film ist auch schon fertig: 'Jackass – der Film'. Jonze, der Experte für Skatepunk und Videoclips, hat die MTV-Show 'Jackass' erfunden: eine Serie, in der sich aufgeregte nackte Männer mit Hilfe des Publikums den Hodensack an die Schenkel tackern, einmal links und einmal rechts. Die Selbstverstümmelung – ein Phänomen der US-Jugendkultur. Der Film zur Serie kam bei uns am 27. Februar in die Kinos. Aggression und Gewalt am eigenen Körper zu erfahren, ist hip. Das ist eine andere Größenordnung als die Selbstverstümmelungsdemonstration Hermann Nitschs und der anderen Wiener Aktionisten bei uns vor vierzig Jahren. – In 'Adaptation' verstümmelt Jonze die Kulturindustrie: im Mainstream den Mainstream. Die brave Meryl Streep ist jetzt Drogi und Sexschlampe. Verwüstet. – Autsch!

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 03/2003

Der Diktator

(USA 2012, Regie: Larry Charles)

Real existierende Achselbehaarung
von Andreas Thomas

Im neuen Sacha-Cohen-Film fällt die Scheiße vom Himmel und in der UNO schwappt die Pisse auf die Politiker. Ich find‘ es einfach nur herrlich. Mindestens so herrlich wie den Diktator …

Im neuen Sacha-Cohen-Film fällt die Scheiße vom Himmel und in der UNO schwappt die Pisse auf die Politiker. Ich find‘ es einfach nur herrlich. Mindestens so herrlich wie den Diktator Aladeen (Cohen), der natürlich diktatorenmäßig den Anforderungen seiner Umwelt nie gerecht wird und deshalb so etwa jeden zweiten, mit dem er zu tun hat, hinrichten lässt.

Diktatoren, so lautet das Klischee, sind meist dunkelhaarig, bärtig und haben schicke Uniformen an. Cohen unternimmt nichts, um gegen dieses Klischee vorzugehen, er versucht, wie es eben auch bei Ali G In Da House, bei Borat und Brüno seine Art war, das Klischee überzuerfüllen, und dabei nebenbei jede Menge Lachreflexe zu produzieren, wobei das Lachen ihm wichtiger zu sein scheint als die allzu treffende und entlarvende Karikatur.

Cohens „Diktator“, Herrscher des Wüstenstaates Wadiya, ist nicht unbedingt die Summe aller bekannten Diktatoren, er ist vor allem großes und infantiles Kind, das, wenn es ein Spielzeug nicht bekommt, stinkig wird. Weil ein Ingenieur eine Atomrakete nicht in spitzer Form baut, lässt er ihn hinrichten, und bei seiner privat veranstalteten Olympiade nimmt er die Startpistole gleich selbst in die Hand, auch weil er damit jeden, der ihn überholen könnte, praktischerweise mitabknallen kann.

Eine entscheidende Wende in Aladeens Leben tritt ein, als er bei einem Staatsbesuch in New York gewaltsam seines Amtes enthoben, seines Bartes und somit seiner Identität beraubt wird, und er einen Job als Ökoladen-Verkäufer antritt. Er verliebt sich tatsächlich in eine Feministin, Veganerin, Antifaschistin und was frau noch so alles an in sein kann, mit – und das schlägt beim Kinopublikum dem Fass den Boden aus – real existierender Achselbehaarung. Wellen des Ekels bestürmen den Cineplexx-Saal und Cohen kennt die neuzeitliche Haar-Phobie seiner Pappenheimer und walzt das Thema Scham- und Achselbehaarung genüsslich aus. Interessanterweise erträgt das Publikum Exkremente, Urin und sogar Leichenteile (an nichts davon mangelt es dem „Diktator“) leichter als den Anblick einiger weniger gekräuselter Haare.

Tabu für Tabu checkt Cohen in seinem Film ab, und wo er Empfindlichkeit wittert, da geht er noch einmal so gern zur Sache. Dies gelingt Cohen in „Der Diktator“ besser und runder als in seinem letzten Spielfilm „Brüno“, der offenbar darunter gelitten hatte, dass in ihm „Opfer“ einkalkuliert waren, reale Personen, keine Filmfiguren, die mit Cohens z.T. brüskierenden Grenzüberschreitungen konfrontiert, in Schockzustände versetzt wurden. Cohens in seiner TV-Serie erfolgreich etablierte Provokation rassistischer, homophober oder anderer intoleranter Tendenzen seiner Gesprächspartner funktionierte in „Brüno“ nicht mehr richtig, entweder weil Brünos „Belastungstests“ auch jeden toleranzfähigen Bürger geschockt hätten oder aber, weil sie bei Cohens Bekanntheitsgrad definitiv nicht mehr unter neutralen und unverfälschten Testbedingungen gefilmt worden sein konnten.

Cohens und Regisseur Larry Charles‘ Konsequenz nun liegt darin, „Der Diktator“ als rein fiktiven Film konzipiert zu haben, und die in den vorigen Filmen zum Teil schon weit entwickelten und spielerischen, satirischen und überzeichnenden Ideen über den kompletten Film zu verteilen. Dadurch entfernt sich Cohen einen entscheidenden Schritt von seiner Art investigativem Journalismus‘ hin zur satirischen Komödie, mit ihm als Clown der Perversion, die einmal mehr auch hier eher die einer analen Phase als die eines blutigen Machtabusus‘ ist.

Die inflationäre Ausscheidungshäufung aber tut dem ganzen großen Spaß keinen Abbruch, im Gegenteil ist es sehr erfreulich, wie konsequent Cohen nicht davon lassen kann und will, und es macht ungeheuer Spaß mit Cohen zusammen zu regredieren. Kritiker haben dem Film „eine für eine gelungene Zivilisationskritik fehlende konzeptuelle Schärfe“ vorgeworfen. Ich interpretiere seine Nichtbereitschaft, den Diktator, wie man es wohl allgemein von Cohen erwartet, in irgendeiner vorausgesetzten Grässlichkeit auf einen Punkt zu bringen, als Verweigerung politisch korrekter politischer Inkorrektheit. Gerade wegen dieser Verweigerung haben Sacha B. Cohen und Larry Charles einen anarchischen, runden, und sehr witzigen Film zustande gebracht.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Das bessere Leben

(P / F / D 2011, Regie: Malgorzata Szumowska)

Spiegelbilder der Einsamkeit
von Wolfgang Nierlin

Streng genommen ist die erzählte Zeit in Malgoska Szumowskas Film „Elles“ (Das bessere Leben), der eine starke Form mit einer offenen Reflexion verbindet, auf einen einzigen Tag verdichtet. In ihn …

Streng genommen ist die erzählte Zeit in Malgoska Szumowskas Film „Elles“ (Das bessere Leben), der eine starke Form mit einer offenen Reflexion verbindet, auf einen einzigen Tag verdichtet. In ihn schiebt sich die Vergangenheit mit ihren personalisierten Erinnerungen, Phantasien und Fiktionen in unterschiedlichen Graden. Doch die erinnerte Zeit ähnelt in Szumowskas präzise kalkuliertem Film keiner Rückblende. Vielmehr entfalten die parallelen Erzählstränge ein sehr flächiges Bild gleichzeitgier Handlungen. Aus dieser Struktur haben sich etwaige Erzählhierarchien zurückgezogen, das Zentrum befindet sich ebenso in den Teilen wie in deren Summe. Alles Erzählte ist zugleich Gegenwart und Vergangenheit eines sich selbst vergewissernden Bewusstseins, das mit sich selbst im Gespräch ist.

Diese Introspektion, die Gewissheiten in Frage stellt, widerfährt Anna (Juliette Binoche). Die gutsituierte Pariser Journalistin schreibt für das Magazin „Elle“ gerade an einem Beitrag über Studentinnen, die als Prosituierte arbeiten. Deren (soziale) Motive, die Praxis dieser „verborgenen“ Arbeit, aber auch die Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte der jungen Frauen versucht Anna in langen Gesprächen mit Charlotte (Anaïs Demoustier) und Alicja (Joanna Kulig) zu erkunden. Dabei muss sie einige ihrer Hypothesen und Vorurteile revidieren. Denn die aus sozial schwachen Verhältnissen stammenden Studentinnen bedienen sich der Prostitution nicht nur, um gesellschaftlich aufzusteigen und am allgemeinen Wohlstand als Konsumenten zu partizipieren; sondern sie geben gegen alle Erwartung auch an, sich zu amüsieren und ihren Job eher erregend als erniedrigend zu finden -, auch wenn verschiedene Szenen dieses Klischee wiederum aus der anderen Richtung hinterfragen oder brechen.

Anna blickt während dieser Gespräche gewissermaßen in einen Spiegel und damit auf ihr eigenes Leben, dessen Abnutzungen und Selbstverständlichkeiten sich längst über ihre kaum noch identifizierbaren eigenen Bedürfnisse gelegt haben. Der Preis von Alltagsroutine und Wohlstand ist auch in „Elles“ zwischenmenschliche Entfremdung: Anna leidet unter Stress, Eheproblemen und den Schwierigkeiten mit zwei Kindern, die ihr immer mehr entgleiten. Aber Malgoska Szumowskas detaillierte filmische Analyse über die Zusammenhänge zwischen Leben und Arbeit, Liebe und Konsum geht noch tiefer, indem sie (nicht untröstlich, wie die Schlussszene suggeriert) durch den Schutzpanzer aus Lügen auf das einsame, brüchige Dasein blickt.

Attenberg

(GR 2010, Regie: Athina Rachel Tsangari)

Zarte Misanthropie
von Andreas Busche

Athina Rachel Tsangaris hinreißendes Coming-of-Age-Drama „Attenberg' ist typisch für das neue griechische Kino. Der Zeitpunkt, über ein neues griechisches Kino zu reden, könnte kaum unpassender sein. Die Politik hat dazu …

Athina Rachel Tsangaris hinreißendes Coming-of-Age-Drama „Attenberg' ist typisch für das neue griechische Kino.

Der Zeitpunkt, über ein neues griechisches Kino zu reden, könnte kaum unpassender sein. Die Politik hat dazu beigetragen, dass der Name Griechenland wenig positive Assoziationen weckt. Griechenland steht für Krise, Misswirtschaft, Krawalle auf den Straßen, Fremdenhass. Und damit übergreifend für ein Europa, das sich neu hinterfragen muss. Eine Filmkultur, die aus dieser Gemengelage erwächst, kann eigentlich nichts anderes hervorbringen als ein Kino der Krise. Dass Krisenkino aber keine Katastrophe sein muss, zeigt sich in diesem Frühjahr, weil mit Athina Rachel Tsangaris ebenso großartigem wie skurrilem Coming-of-Age-Drama „Attenberg', für das Ariane Labed 2010 in Venedig mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet wurde, und mit „Alpen' von Giorgos Lanthimos zwei Filme in die Kinos kommen, deren Regisseure viel für das Selbstverständnis des neuen griechischen Kinos getan haben. Lanthimos letzter Film „Dogtooth' (2009) war im vergangenen Jahr für den Oscar nominiert – als erster griechischer Film seit fast fünfzig Jahren.

Filme wie „Attenberg', das Alltagsporträt „Wasted Youth' (2010) von Argyris Papadimitropoulos und Jan Vogel oder Panos Koutras campy Transenliebesgeschichte „Strella' (2009) könnten unterschiedlicher kaum sein. Wenn Tsangaris weiibliche Hauptfiguren Marina und Bella indes mit Stechschritt-Choreografien ihrem Nicht-Einverstanden-Sein Ausdruck verleihen, der junge Skater Haris in „Wasted Youth' auf seinem Rollbrett ziellos die Un-Orte seiner Stadt abklappert und Strella auf High Heels unaufhaltsam durch die Straßen Athens stöckelt, erschließt sich im neuen griechischen Kino eine Dynamik, die unmittelbar ans gesellschaftliche Leben rührt.

Wie machen Menschen das bloß?

„Attenberg' ist charakteristisch für die Temperatur des neuen griechischen Kinos: Reserviert, auf liebenswerte Weise emotional verkorkst, latent soziophob, neugierig und dabei mit einer unwiderstehlichen, rohen Energie ausgestattet. Dem warmen, mediterranen Licht wirkt Tsangari mit analytischer Klarheit entgegen. Ihre Figurenkonstellationen gleichen konzeptuellen Entwürfen mit einer lockeren Distanz zu ihrem Gegenstand. Tsangari beschreibt diesen Abstand als notwendig, um den Blick für die Verhältnisse zu schärfen. Zu große Nähe, sagt sie, mache befangen.

Die Eröffnungsszene von „Attenberg' veranschaulicht Tsangarls Haltung auf rührige Weise. Da stehen sich Marina und Bella vor einer weißen Wand gegenüber, ganz nah, wie in einem Western-Showdown. Bella steckt Marina die Zunge in den Mund. „Wie fühlt sich das an? Du musst atmen, sonst erstickst du', belehrt Bella ihre Freundin. Kusstraining. Marina kennt Balzverhalten nur aus den Dokumentationen des Naturfilmers David Attenboroughs („Attenberg', wie Bella sagt). Der Umgang mit den eigenen Artgenossen, speziell den männlichen, fällt der 23-Jährigen schwer. „Wie machen Menschen das bloß?', wundert sie sich.

In „Attenberg' wird aufopferungsvoll inszeniert und nachgeäfft, doch Marinas Handlungen sind stiller Protest. Eine deviante Form der Trauerarbeit. Marinas Vater, einziger Verbündeter In ihrer zarten Misanthropie, liegt im Sterben, und ihr letztes Geschenk an ihn ist die körperliche Hingabe an einen anderen Menschen. Weil es mit 23 vielleicht doch mal an der Zeit ist, aber eben auch der Beruhigung des Vaters dient, der sich Sorgen macht um seine Tochter, die bislang nur mit dem Paarungsverhalten von Berggorillas vertraut ist. Und dann schenkt sie ihrem einsamen Vater, den sie sich immer ohne so ein Ding zwischen den Beinen vorgestellt hat, ein letztes Mal – mit Bella, die von Penisbäumen träumt und ohnehin für Marinas Vater schwärmt. Der ultimative Freundschaftsbeweis. „Attenberg' ist mit seinen hinreißend knutschenden, sabbernden, spuckenden, stechschreitenden Hauptdarstellerinnen die schönste Liebeserklärung dieses Kinofrühlings. „Les demoiselles d’Attenberg' sozusagen, nur dass statt der symphonischen Zuckerwatte, die 1967 Jacques Demys „Les demoiselles de Rochefort' süßte, bei Tsangari der Fürst der Entfremdung höchstpersönlich, Alan Vega, auf der Tonspur croont. Vegas entkörperlichter Rock’n’Roll beschreibt zugleich Marines Verhältnis zur Welt. Da ist es nur konsequent, dass genau vier Worte sie vor der inneren Vergletscherung retten: „Alan Vega ist Gott.' Marina verliebt sich erst in eine abstrakte Idee von Liebe und später in die konkrete Vorstellung davon.

Das Gefühl der Entfremdung ist so etwas wie das Leitmotiv im neuen griechischen Kino. Lanthimos Filme zum Beispiel erinnern in ihrem kühlen Versuchsaufbau eher an soziologische Experimente. In „Alpen' schlüpfen die Mitglieder einer seltsamen Bedarfsgemeinschaft in die Rollen Verstorbener – die der Tochter, der Geliebten, des besten Freundes. Monte Rosa, die weibliche Hauptfigur, spürt in diesen Re-Enactments einem Gefühl von Wahrhaftigkeit nach, das ihr längst abhanden gekommen ist. Aber alle Ausbruchsversuche aus Lanthimos‘ rigiden Wirklichkeitskonstruktionen sind von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Tsangari hingegen hat vor „Attenberg' zehn Jahre in den USA gelebt. Sie beschreibt das Gefühl des Außenseiters als einen essentiellen Zustand. „Als Filmemacherin ist es wichtig, zunächst eine Distanz zu schaffen, um sich ein klares Bild von den Verhältnissen zu machen.' Auch Konstantins Glannaris, dessen Migrantenporträt „From the Edge of the City' (1998) Tsangari einen wichtigen Referenzpunkt für das neue griechische Kino nennt, lebte viele Jahre im englischen Exil.

Florierende Mangelwirtschaft

Man könnte den neuen griechischen Film als florierende Mangelwirtschaft beschreiben. Für Tsangari ist die Solidarität untereinander die treibende Kraft. Die widrigen wirtschaftlichen Verhältnisse sind ausschlaggebend für die aufregende Entwicklung im aktuellen griechischen Kino, das gerade zwei Riesenschritte auf einmal nimmt. Während sich die Strukturen noch im Aufbau befinden, wird fleißig weiter produziert – ohne staatliche Förderung, mit Minimalbudgets, in zäher, aufopferungsvoller Kleinarbeit. Die Energien, die bei diesen Arbeitsprozessen freigesetzt werden, sind in den Filmen von Tsangari, Lanthimos & Co. förmlich zu spüren. Kein Wunder, dass das Kino aus Griechenland bei Festivals derzeit so hoch im Kurs steht. Griechenland hat sich lange im Glanz der eigenen glorreichen Vergangenheit gesonnt. Tsangari betrachtet die selbst gewählte Isolation angesichts der derzeitigen Wirtschaftskrise äußerst kritisch. In „Attenberg' bricht es einmal aus dem Vater heraus, als er über die Stadt blickt, die er selbst mitentworfen hat. Aspra Spitia ist ein perverses Konstrukt der sechziger Jahre, eine moderne, dem sozialistischen Ideal nachempfundene Arbeitersiedlung, finanziert vom Industriekapital des damals boomenden Griechenlands. Heute ist sie eineTotenstadt. Sie hätten eine lndustriekolonie auf einer Schafweide errichtet, meint der Vater verbittert. Ein Bild, das bis ins gegenwärtige Kino Griechenlands nachwirkt. Tsangari & Co. haben innerhalb kürzester Zeit vierzig Jahre Filmgeschichte aufgeholt. Dass sie dasselbe Schicksal wie Aspra Spitia ereilt, steht nicht zu befürchten.

Dieser Text erschien zuerst in: Pony #73