L.A. Wenn ich den Adapter in die Dose stecke, dann ist das meine private Systemüberlistung – was die Normen von Stecker und Spannung betrifft, und ich schere meine Glatze wie im good old Europe. Für komplexere Systeme braucht es jedoch einen Film wie 'Adaptation'. Wie überlebe ich zum Beispiel die Evolution? Es geht immerhin um drei oder vier Milliarden Jahre. Regisseur Spike Jonze zeigt es in knapp 55 Sekunden: vom Urknall über die Formierung der Erde, die Saurier, die Eiszeit, den Affen, den Menschen, das Konglomerat der Großstadt bis zum Kopf des Drehbuchautors, Charlie Kaufman. Der wird im Kreißsaal grade aus der Mutter gezogen. Er atmet. Der Film hat längst begonnen.
Legitimiert wird der Schöpfungsakt vom good old Darwin persönlich. Mit weißem Rauschebart. Ein Zwillingsgott. Denn in den Staaten muss er bekanntlich mit dem anderen konkurrieren, dem Fundamentalisten, der in den Schulen das Sagen hat – mit seiner hollywoodkompatiblen Story, die linear die Schöpfungsgeschichte erzählt. Wer sich dort auf Darwin beruft, ist Ketzer. Weshalb in den USA ein Darwin-Feature nach dem anderen entsteht, das wir dann – zuletzt im Februar – auf Arte sehen dürfen. Bloß ist das wieder linear erzählt und unadaptiv. Weshalb 'Adaptation' mit seinem 'aaaaa'-Programm benötigt wird: adaptiv, assoziativ, autobiografisch, anekdotisch, apokryph. Eben alles, was in der Datei oder den Kontaktanzeigen vor dem ersten Wort steht.
Wie überlistet ein Drehbuchschreiber in Hollywood das Hollywoodsystem? Dagegen angehen? Kompromisse schließen? Kämpfen? Leiden? Gar Hollywood mit eigenen Mitteln schlagen? 'Adaptation' entwickelt eine evolutionäre Strategie, die unschlagbar, weil nicht diskursiv, sondern autobiografisch ist. Weil der Filmheld nicht nur Kaufman heißt, sondern auch der Scriptwriter Charlie Kaufman ist, überdies (im Off) mitspielt und seinen Text spricht. Wer will dagegen anargumentieren, wenn der, der das Drehbuch zu 'Being John Malkovich' schrieb, jetzt im Set eben dieses Films mit sich hadert: 'Ich bin ein wandelndes Klischee.' Wie soll er aus einem Printwerk, das sich der Orchideenzucht widmet, einen spannenden Kinoplot machen? Wobei sowohl das Buch real existiert (The Orchid Thief) als auch die Autorin, und sie gab mit Freuden ihren Namen für den Film her wie vormals Malkovich. Bei soviel Legitimation durch die Wirklichkeit wird glaubwürdig, was sonst der Argumentation bedürfte. Wer wird sagen: Du hast das nicht erlebt? – Und doch gibt es den adaptiven Zwilling. Jede Orchidee hat den speziellen Partner, der organisch auf sie und nur auf sie fixiert ist und der, ist er ein Insekt, für ihren dreißig Zentimeter langen Blütenkelchschlauch mit seinem ebenso langen Rüsselschwanz eingerichtet ist. Kopulierend sichern beide sich die Existenz. Auch für den Dauerbrenner 'Casablanca', so erfahren wir, brauchte es ein Doppelwesen: die Drehbuchbrüder Epstein. Was uns wiederum Hollywood gelehrt hat.
Scriptwriter Kaufmann braucht also die spezielle Persönlichkeit, die ihn vor Frust, Depression und Suizid bewahrt. Charlie Kaufman (Nicholas Cage) kriegt im Film einen fiktiven Zwillingsbruder, einen eineiigen sogar. Der heißt Donald Kaufman (Nicholas Cage) und taucht auch im Abspann auf. Cage eine multiple Persönlichkeit? Zwilling Donald, auch Drehbuchschreiber, geht die Dinge straight und linear an. Für die multiple Szene entwirft er ein Klischeebild: den geborstenen Spiegel. Die Hollywoodproduzenten sind begeistert. Auch pflegt Bruder Donald den Direktkontakt mit Frauen. Eine toller als die andere, schleppt er sie in die Zwillingswohnung ab, während Charlie, sich selbst befragend, freudlos onaniert. Wodurch sich immerhin eine ebenso überraschende wie kitschige Szene nachträglich erklärt. Was nicht linear ist, springt hin und her. Zeitlich wenigstens.
Die Zwillinge verstehen sich oder verstehen sich nicht. Man braucht sich. Charlie, der frustrierte berühmte Autor, folgt einem brüderlichen Rat. Er besucht das Drehbuchseminar des noch berühmteren Hollywoodwriters Robert McKee. Selbstverständlich gibt’s den wirklich, und er tritt als sein eigenes Dokument im Film auf. Er gibt zum Besten, was hochberühmte Plotentwerfer zum Besten geben. Zielgerichtet zum Ziel! Im Berlinalepalast, wo ich den Film sah, gab’s Beifall von der falschen Seite. Hier war’s, wo Hollywood 'Adaptation' adaptierte. Im Kino wurde der verzweifelte Orchideen-Kaufman applaudierend zur Schnecke gemacht. Crash! Im Film jedoch bat die Schnecke Gott um Rat und siehe: Gott McKee gewährte ein Whisky-Privatissimum. Wenn vier Akte schon fertig geschrieben sind, okay, dann den fünften hinterher, der endlich den Plot bringt, Action, Sex und Drogen: den Schlussakt, 'der überrascht und verblüfft und die Dinge auf den Kopf stellt'.
Die gefestigte Orchideenbuchautorin (Meryl Streep), die gerade noch gelehrt mit lateinischen Namen operiert und beim Unbekannten im Fahrstuhl prompt die Hand an der Gassprühdose hat – sie fällt aus ihrem geschlossenen System heraus. Im fünften Akt. Sie lügt! Im Orchideenhaus produziert sie Drogen. Lange, grüne Bahnen zieht sie sich in die Nase. Ihr Gesicht ist um ein Jahrzehnt gealtert. Wilder Sex mit dem Orchideensammler! Währenddessen klären die Zwillingsautoren Kaufman endlich ihre alte Beziehung zum ersten Collegemädchen. Action! Verfolgungsjagden! Schüsse! Leichen! Ein Krokodil frisst in Floridas Sümpfen den sexsüchtigen Orchideensammler! – Alles kommt auf die Reihe. Welch ein Plot! Eigentlich war das die Story des straighten Bruder Donald gewesen. Der bekam glatt anderthalb Millionen für sein Buch. Im Film des anderen, zum Schlussakt komprimiert, wird die Hollywoodstory jedoch zur Hollywoodverstümmelung, zur Selbstverstümmelung der Zwillingsautorenschaft.
Grandios das! Jackass als Antwort auf das System der Filmindustrie. Tut dem, der’s sieht, nicht weh, und der Hollywoodkörper ist verletzt. Eine prima Systemüberlistung. 'Adaptation' ist erfreulich, und Spike Jonzes nächster Film ist auch schon fertig: 'Jackass – der Film'. Jonze, der Experte für Skatepunk und Videoclips, hat die MTV-Show 'Jackass' erfunden: eine Serie, in der sich aufgeregte nackte Männer mit Hilfe des Publikums den Hodensack an die Schenkel tackern, einmal links und einmal rechts. Die Selbstverstümmelung – ein Phänomen der US-Jugendkultur. Der Film zur Serie kam bei uns am 27. Februar in die Kinos. Aggression und Gewalt am eigenen Körper zu erfahren, ist hip. Das ist eine andere Größenordnung als die Selbstverstümmelungsdemonstration Hermann Nitschs und der anderen Wiener Aktionisten bei uns vor vierzig Jahren. – In 'Adaptation' verstümmelt Jonze die Kulturindustrie: im Mainstream den Mainstream. Die brave Meryl Streep ist jetzt Drogi und Sexschlampe. Verwüstet. – Autsch!
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 03/2003