Erinnert sich noch jemand an „Julietta“? Vor gut einem Jahrzehnt drehte der Regisseur Christoph Stark diesen Film nach Motiven von Kleists „Marquise von O.“. Wo es Eric Rohmer Mitte der 70er Jahre noch darum ging, ein filmisches Äquivalent zu Kleists eigenwillig gedrechselter Psycho-Prosa zu entwickeln, da ließ sich Stark seinerzeit eher von Kleists vorgängigem Sinn für die drastische Kolportage inspirieren. Er ließ die wohl behütete Schülerin Julietta von Stuttgart nach Berlin reisen, wo sie auf der Love-Parade mitfeierte und schließlich im Drogenrausch bewusstlos vom Rettungssanitäter Max vergewaltigt wurde.
Schon damals konnte man sich fragen, welche Funktion der Rekurs auf Kleist erfüllte, wo es Stark doch ganz nachdrücklich daran ging, seine Figuren möglichst authentisch im Hier und Jetzt der Berliner Party-Szene der Jahrtausendwende zu situieren. Wahrscheinlich, wir erinnern uns nicht mehr, ging es auch damals darum, einen klassischen Stoff einer jungen Generation von Lesern dadurch näher zu bringen, indem man sämtliche Spuren von Literarizität und Historizität tilgte. Und natürlich um ein paar gute Argumente bei der Finanzierung eines Filmprojektes. Christoph Stark hat seither durchaus erfolgreich fürs Fernsehen als Drehbuchautor und Regisseur gehobene Dutzendware der Marken „Tatort“ und „Bloch“ abgeliefert. Jetzt aber gilt’s wieder der klassischen Literatur und dem Kino!
„Tabu – Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden“ ist allerdings keine Literatur-Verfilmung, sondern eher eine Art von Schlüsselloch-Biopic auf der Grundlage einiger Vermutungen zur und einiger Fakten der Biografie des dunklen Expressionisten Georg Trakl, der in den ersten Wochen des 1. Weltkriegs, nach der Erfahrung der Schlacht von Grodek, an einer Überdosis Kokain starb. Es geht hier also ein weiteres Mal um die Ver-Filmung von Kunstproduktion, was bekanntlich – man denke an Filme wie „Pollock“ oder „Der Klang der Stille“ oder „Mit meinen heißen Tränen“ oder „Das Leben der Anderen“ – immer eine heikle Aufgabe ist.
Die Frage sei erlaubt: Ist Dichtung ein Handwerk oder doch eher eine existentielle Passion, die es dem genialischen Dichter abfordert, sich vom Weltschmerz und Drogenrausch verzehrt, seine Visionen mit letzter Tinte aus dem maladen Körper zu schneiden? Für Christoph Stark ist das keine Frage: er frönt hier auf Spielfilmlänge dem Pathos des romantischen Künstlermythos so entschieden, bis dieser nur noch lächerlich im Regen steht. Stark stellt sich in „Tabu“ den expressionistischen Drogenesser Georg Trakl als fiebrigen Schmerzensmann, als Bruder im Geiste eines Pete Doherty vor, dessen symbolistische Lyrik davon lebt, dass er mit ihr ein unglückliches inzestuöses Verhältnis zu seiner Schwester Gretl kompensiert. Weshalb er seine Gedichte auch vorzugsweise nackt und im Rausch im – huch! – Bordell ausführlich rezitiert, was die anwesenden, eher kunstfern dahinlebenden Prostituierten eher langweilt.
Kreativität gerät diesem schwülstig-schmierigen Blick durchs Schlüsselloch einer Dichterbiografie zu wenig mehr als einer misslichen Ersatz- oder Übersprungshandlung. Manch Germanist hätte wohl eher Nietzsche, Freud, Moderneerfahrung und Ich-Dissoziation ins Feld geführt, doch „Tabu“ mag es eindeutiger. Stark hat zu Protokoll gegeben, sein Film ziele aufs Allgemeine, auf die „innere Reise zweier Menschen, die sich nicht lieben dürfen“. Allerdings inszeniert er dies „Allgemeine“ nicht angemessen abstrakt, sondern komplett ironiefrei mit den Mitteln des Kostümfilms, wobei die sprachlichen Anachronismen und die hier ungebremsten pubertären Manierismen Lars Eidingers dem Film endgültig den Garaus machen. Hier wird also nicht nur gekokst, gesoffen, gelitten, gesündigt und mit Worten gerungen, sondern dies geschieht auch noch vor einem Ambiente, das sich skizzenhaft und parasitär von der Sphäre des „kulturell Wertvollen“ nährt.
Hier gibt es tatsächlich Szenen im Kaffeehaus, wo aus dem „Off“ jemand „Alma, komm jetzt!“ ruft, worauf ein Paar an der Kamera vorbei flaniert, bis jemand Anderes flüstert: „Das ist der Kokoschka!“ Ist er dann auch, wenn man so will. Mag auch der Ansatz, sich auf diese Weise der Literatur als Pop-Phänomen zu nähern, ein intellektuelles Desaster sein, so beweist Stark immerhin ein Händchen fürs Team: so findet der Kameramann Bogumil Godfrejow zeitweise ganz erstaunliche Bilder zum traurigen Treiben, die immer wieder vor Augen führen, was hier an Substantiellem verschenkt wurde. Und so wie „Julietta“ uns seinerzeit mit Lavinia Wilson bekannt machte, ist auch hier die intensive darstellerische Leistung von Peri Baumeister ein Versprechen auf künftig hoffentlich adäquatere Projekte. Insgesamt aber erinnert „Tabu“ in seiner Herangehensweise an „Egon Schiele – Exzesse“, jenen fast vergessenen Film von Herbert Vesely, der sich seinem Gegenstand auch nicht auf Augen-, sondern lieber auf Schamhaarhöhe näherte. Merke: Kunst ist schön, macht aber auch viel Arbeit.