Blog Archives: 2017

Austerlitz

(DE/UA 2016, Regie: Sergei Losnitza)

Keine Antworten
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Dokumentarfilm über KZ-Touristen. Ströme von Besuchern aus dem In- und Ausland. Gedränge. Regisseur Sergei Losnitza, Ukraine, lässt sie vor der Kamera passieren. Er fragt sich was. Was treibt die …

Ein Dokumentarfilm über KZ-Touristen. Ströme von Besuchern aus dem In- und Ausland. Gedränge. Regisseur Sergei Losnitza, Ukraine, lässt sie vor der Kamera passieren. Er fragt sich was. Was treibt die Menschen an? KZ-Massentourismus an einem heißen Sommertag. Regenschirme aufgespannt gegen die grelle Sonne. Kinderwagen, Kinder, junge Leute vor allem. Die Kamera steht jeweils Minuten lang fest positioniert. Die Touristen sind das Thema. Welches KZ ist eher egal. Zufällig rückt im Hintergrund ein Gedenkstein ins Bild. KZ Sachsenhausen also. Ja, und in der zweiten Filmhälfte wird wie von ungefähr eine Stimme vernehmbar. „Es geht weiter mit der Führung. Hört auf zu mampfen. In fünf Minuten könnt ihr wieder essen.“ Es geht weiter. Eine balanciert eine Flasche auf dem Kopf. Schon wieder wird in die Tüte mit den Erdnüssen gegriffen. Einige lächeln nicht – vor den Öfen im Krematorium. Selfies ohne Ende. Jemand posiert, an den Folter-Pfahl gepresst. Die Kamera bleibt unerbittlich stehen. Und fragt sich was.

Was? Sergei Losnitza, der überaus konsequente Regisseur, sagt es nicht. Er überlässt die Antwort uns. Oder genauer gesagt, mir. Und mir fällt was ein, an das ich seit meinem Kindesalter nicht mehr gedacht hatte. So alt wie viele Kinder in Losnitzas Film. In Lübeck, Holstentor. Die mittelalterliche Folterkammer. Die Streckbank. Die Zange zum Fingernägel-Rausziehen. Siebzig Jahre lang ist das jetzt gespeichert. Im Kopf. Was ich damit sagen will? Es ist leicht, sich darüber aufzuregen, wie Touristen sich benehmen. Oder die, die die eine Führung machen. Warum insistiert solch einer, dass es an Fakten fehle, die besagen, dass der Krematoriumsofen je in Betrieb genommen wurde? Warum sagt er das drei mal, während Geführte sich Tränen aus den Augen wischen? Was ist eigentlich mit den Führenden los? „Die Häftlinge bekamen täglich ein Stück Brot und Wassersuppe“. Wenig später: „Pause für Toilette und halben Sandwich!“.

Die Lösung? Da Losnitza seinen Film nicht kommentiert, liegt es an mir. Der Film ist mir nahe gekommen. Intensiv. Und ich will nicht, dass mir jemand und sei es eine Fernsehredaktion die Verantwortung abnimmt. Der Film ist ein großer internationaler Festivalerfolg. Und das ist keine Frage.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 12/2016

Allied – Vertraute Fremde

(USA 2016, Regie: Robert Zemeckis)

Back to the Past: Retroflair mit Nazis und Pitts Popo
von Drehli Robnik

Ein Agenten-Melodram im Zweiten Weltkrieg als Szenen einer Ehe. Hatte Angelina Jolie als Fee Maleficient in ihrem gleichnamigen Erfolgsfilm auf die Amputation ihrer Brüste (Verklust ihrer schönen Flügel) angespielt, so …

Ein Agenten-Melodram im Zweiten Weltkrieg als Szenen einer Ehe. Hatte Angelina Jolie als Fee Maleficient in ihrem gleichnamigen Erfolgsfilm auf die Amputation ihrer Brüste (Verklust ihrer schönen Flügel) angespielt, so zeigt uns nun Brad Pitt in ‚Allied – Vertraute Fremde‘ ein Familienleben unter Beobachtungsdruck. 1942 agiert er mit Marion Cotillard (‚I keep the emotions real!‘) in Casablanca als Ehepaar getarnt gegen die Nazis. Aus Tarnung und Simulation keimt wahre Liebe. In fabriksneu wirkenden Glanzdekors und -kostümen spielt hier manch Szene mit Echtheitsgarantie: Autosex im Sandsturm! Entlarvende Tests! Pitts echte Stunts! Cotillards echte Tränen! Beider echte Popos! Als das Paar nach absolviertem Nordafrika-Einsatz 1944 mit Baby in London lebt, gerät sie unter Verdacht, eine Nazi-Doppelagentin zu sein. Es folgt Spannung auf Weihnachtsfilmniveau.

Auffällig an diesem altvatrischen Film ist vielleicht noch dies: Heute, wo Faschismus wieder als globale politische Option etabliert ist, inszeniert Robert Zemeckis – als Regisseur nicht nur von ‚Back to the Future‘ einst ein großer Zeitreisender durch die US-Historie – den Nazi-Faschismus und die britische Geheimdienstbürokratie als in etwa gleich üble Herzlosigkeitssysteme, die einer Familie ihr Glück vermiesen. (Einer jungen Familie zumal: Pitt ist erst 53.) Da ist ‚Allied‘ so äquidistant wie damals in Sachen Einschätzung des Vietnamkriegs dieser Forrest… irgendwas so ähnlich wie Trump. Egal: We´ll always have Casablanca.

Paterson

(US 2016, Regie: Jim Jarmusch)

Alles wie immer
von Wolfgang Nierlin

Wie eine Insel der Zweisamkeit wirkt das kleine, schnucklige Einfamilienhäuschen mit der rosa Eingangstür. Hier wohnen Paterson (Adam Driver) und Laura (Golshifteh Farahani), ein auf selbstverständliche Weise verliebtes Paar, zusammen …

Wie eine Insel der Zweisamkeit wirkt das kleine, schnucklige Einfamilienhäuschen mit der rosa Eingangstür. Hier wohnen Paterson (Adam Driver) und Laura (Golshifteh Farahani), ein auf selbstverständliche Weise verliebtes Paar, zusammen mit ihrem trägen und ziemlich störrischen Hund Marvin, einer englischen Bulldogge. Wenn frühmorgens Sonnenlicht in warmen Streifen auf die noch schlafenden Körper fällt, wähnt man die Helden von Jim Jarmuschs neuem Film „Paterson“ in einer heilen, guten Welt. Tatsächlich ist diese, betrachtet man die Wohnungseinrichtung, bis in den letzten Winkel schwarzweiß gemustert. Vielleicht ziehen sich Gegensätze an. Jedenfalls ist Laura, die ihren kreativen Gestaltungsfuror auch auf Stoffe und Backwaren überträgt, die Tätige und Aktive. Immer motiviert, arbeitet sie an der Verwirklichung ihrer Träume. Dagegen wirkt Paterson, der seinen Mitmenschen stets aufmerksam und höflich begegnet, geradezu passiv. Als Busfahrer lauscht er den Geschichten seiner Fahrgäste. Tatsächlich ist Paterson aber ein stiller Dichter, der sein poetisches Licht unter den Scheffel stellt.

Die kleinen, unscheinbaren Dinge des Alltags sind der Stoff, aus dem Paterson seine wie hingetupft wirkenden Prosagedichte formt (die in Wirklichkeit Ron Padgett geschrieben hat). In ihnen kann eine Schachtel blauer Zündhölzer („Ohio Blue Tip Matches“) zum Anlass für ein Liebesgedicht werden. Diese und andere schreibt Paterson, der William Carlos Williams und Frank O’Hara verehrt, von Hand in ein Notizbuch. Morgens auf dem Weg zum Bus-Depot denkt er sich aus, was er vor Schichtbeginn, in der Mittagspause bei den großen Wasserfällen des Passaic River oder am Abend in seinem kleinen Kellerbüro dann aufschreibt. Einmal trifft er ein dichtendes Mädchen, das ihm ein selbst geschriebenes Poem vorträgt. Doch Paterson verschweigt sein eigenes künstlerisches Schaffen, von dem Laura meint, er müsse es öffentlich machen. Im Gegensatz zu Laura, lebt Paterson, ein Anhänger der analogen Welt, nach innen.

„Wenn man versucht, etwas zu verändern, macht man es nur noch schlimmer“, heißt es einmal in Jarmuschs ebenso bezauberndem wie melancholischem Film. Klar gegliedert nach den sieben Tagen der Woche und nur mit minimalen, fast gänzlich undramatischen Verschiebungen und Variationen arbeitend, feiert der amerikanische Regisseur mit seinem typisch lakonischen Humor sowohl die Langsamkeit des Seins als auch die tägliche Wiederholung von Ritualen. Zu diesen gehört Patersons Abendspaziergang mit Hund und der damit verbundene Besuch einer Bar, wo er auf einen Schach spielenden Barkeeper namens „Doc“ (Barry Shabaka Henley) und ein unglückliches Paar trifft: „Ohne Liebe hat nichts mehr Sinn“, klagt Everett (William Jackson Harper). Die große Welt spiegelt sich in der kleinen, die wie der Titelheld von Jim Jarmuschs wie beiläufig erzähltem, aber tiefsinnigem Film Paterson heißt und in New Jersey liegt. „Alles wie immer“, sagt Paterson meistens, wenn er, dessen Liebesglück sich in Begegnungen mit Zwillingskindern spiegelt, Auskunft über sein Wohlbefinden gibt. Und doch wird sein inneres Gleichgewicht am Ende der Woche empfindlich erschüttert.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Paterson‘.

Arrival

(USA 2016, Regie: Dennis Villeneuve)

Aliens verstehen? SciFi als Üben im Trüben
von Drehli Robnik

Als Titel schlicht, als Chiffre dicht: ‚Arrival‘ meint im gleichnamigen SciFi-Thriller-Puzzle zunächst einmal die von Aliens. Eine Ankunft from space (an zwölf verschiedenen Punkten auf der Erde – der Film …

Als Titel schlicht, als Chiffre dicht: ‚Arrival‘ meint im gleichnamigen SciFi-Thriller-Puzzle zunächst einmal die von Aliens. Eine Ankunft from space (an zwölf verschiedenen Punkten auf der Erde – der Film spielt großteils in einer Landschaft in Montana, USA) zeitigt prekäre Raumbeziehungen: Wie ein Riesen-Ei schwebt starr ihr schwarzes Schiff, darunter eine labyrinthische Zeltstadt voller Labors, Kriegsgerät und Monitorkonsolen, in der Wissenschaft und Militär um Deutungshoheit und Handlungsmacht bezüglich der Ankömmlinge streiten. Diese laden kleine Gruppen von Menschen zu sich in ihr Schiff, zur täglichen Kurzkonfrontation; das hat etwas von Ritual-Sitzungen wie auch von aufeinander aufbauenden Kurseinheiten.

Drohnenpanorama mit Alien-Ei und Zelt-Festung; alphornhafte (und alptraumhafte) Drone-Sounds in pulsiererendem Musikteppich; humane Abgesandte in orangefarbenen Schutzanzügen, beklommen schwebend im schwarzen Schacht des Schiffs; an einem milchigweißen Sichtfenster – einem der vielen Screens in diesem Film – dann die Begegnungen. Deren kosmische Dimension, samt globalen Massenpanikwirkungen und Armeeaufmärschen, die auf Monitoren mitlaufen, verknüpft der Plot eng mit dem Intimen: Körper- und Bewusstseinsfunktionen, Atmung und Kommunikation, stehen in Fragezeichen – mitunter ebenfalls auf Monitoren, die der Analyse etwa der Sprach-Sound- und Schrift-Patterns der Aliens dienen, und oft in kunstvoll gestalteter Trübung und Unschärfe des Bildes.

‚Arrival‘ ist auch das, was kommt, hat also eine zeitliche Dimension. Zukunft kann Angst machen (für die Militärs sind die Aliens ‚a rival‘), aber trotz und vielleicht gerade in aller Trübung können Orientierung und Verstehen entstehen. Eine Linguistin (packend gespielt von Amy Adams) steht für Öffnung, für Lernwilligkeit wie auch Sich-Aussetzen, als Haltung. Mehr Forschung denn Forschheit. Von Anfang an steht hier in Frage und will gedeutet sein, wessen Ankunft dieser Film erzählt: Sein Ablauf entfaltet ein Motivmuster, eine Beziehung von Traumatik wie auch von deren Umkehrung, um die Geburt und den Verlust eines Kindes. Mut und Wehmut kommen hier zusammen. Das ist rührend – und hier keinesfalls zu spoilern.

Vergleichsfilmtitel drängen sich auf, darunter auch ‚Close Encounters of the Third Kind‘ von 1977. In Spielbergs Psychodrama in Sachen Alien-Kontaktaufnahme und Sprachfindung führte das Abdriften eines Familienvaters in den Wahnsinn schlussendlich zum Spektakel einer Licht- und Sound-Orgel und weiter in die halb regressive, halb archivarische Wunscherfüllungsfantasie einer Rückerstattung verlorener Kindheit in Form eines leuchtend weißen Buben-Idylls. In ‚Arrival‘ dagegen steht eine Mutter im Zentrum, deren vernunftdurchdrungene Entschlossenheit sie zu Wagnissen und zu Eintritten in dunkle Szenarien befähigt, die aus einer Ökonomie der Sicherheits- bzw. Glücksmaximierung heraus als abwegig erscheinen.

‚Arrival‘ versprüht ein Ethos der Einübung in Zukunft als Risiko – und tut das in einer arrivierten Form: Regisseur Denis Villeneuve (aus Kanada, nunmehr Hoffnungsland vieler Ankömmlinge, die vor Trump flüchten wollen) ist eine sichere Bank für philosophierfreudige Genrekino-Variationen. Eine Forscherin unter martialischen Männern wie in ‚Sicario‘, ein Mindgame, in dem alles an seinen Platz kommt wie in ‚Incendies – Die Frau, die singt‘ oder ‚Prisoners‘: Faszination hat hier den Preis einer gewissen Betulichkeit, aber sie stellt sich ein. Und das kommt gut.

Théo und Hugo

(F 2015, Regie: Olivier ­Ducastel, Jacques Martineau)

Bei der Liebe verliebt
von Jürgen Kiontke

Die romantische Liebe will immer neu und in den schillerndsten Farben gemalt werden, sie ist Stütze des Individuums und Kern einer Gesellschaft, die nicht mehr richtig an sich glaubt und …

Die romantische Liebe will immer neu und in den schillerndsten Farben gemalt werden, sie ist Stütze des Individuums und Kern einer Gesellschaft, die nicht mehr richtig an sich glaubt und was anderes noch nicht gefunden hat.

Die Produktion der Sicht auf die Liebe obliegt dem Kulturbetrieb. Wie oft scheitert sie, herrscht doch die ­serielle Monogamie. Wenig Verantwortung für die Gefühle anderer übernehmen und dennoch größtmögliches Vertrauen herstellen, das soll man damit unter einen Hut kriegen. Dass die Liebe dennoch funktioniert, will das Kino gern beweisen – und entwirft die abenteuerlichsten Konstellationen. Je differenzierter und charmanter, desto überzeugender. Es gab schon der Liebe verfallene Zeichentrickautos und auch die Liaison zwischen Müllroboter und iPhone-Android.

Auch Menschen müssen sich verlieben. ‚Sagt mir mal, was der verrückteste Liebesfilm dieses Jahr ist‘, habe ich im Februar bei der Sektion Panorama der Berliner Filmfestspiele nachgefragt. So was wie 2012, Cheryl Dunyes ‚Mommy Is Coming‘, wo 300 Menschen den Saal so schnell verließen. Lesben-SM mit Eltern­besuch. Oder frühere Bruce-LaBruce-Werke. Die Antwort bei der Berlinale lautete: ‚Versuch’s mal mit ›Théo und Hugo‹.‘

Das ist ein Film von Olivier Ducastel und Jacques Martineau, die von sich sagen: ‚All unsere Filme handeln von Liebe. Aber diesmal wollten wir an den Ursprung zurück.‘ Da fängt der Film auch an. Es ist nicht so sehr das Personal – zwei junge Schwule, die fürs interessante Ambiente sorgen –, sondern die Art und Weise des Kennenlernens, die leicht ins Absurde weist. Théo (Geoffrey Couët) und Hugo (François Nambot) – Namen wie zwei Herrendüfte – lernen sich im Sexclub mehr oder weniger bei einer Gangbang-Party kennen. Die Männer sind weitestgehend nackt, bis auf Schuhe und Socken, in denen sie das Handy aufbewahren. Théo und Hugo sind ­jeweils anderweitig beschäftigt, halten aber Blickkontakt. So schön finden sie sich gegenseitig, dass Hugo den Kondomautomaten geflissentlich übersieht. Es kommt, wozu es kommen muss: zum ungeschützten Geschlechtsverkehr.

Man sieht die beiden Verliebten Schwanz an Schwanz durchs morgendliche Paris cruisen – bis der Verrat zufällig auffliegt: Hugo hatte eben nur Théo im Kopf – wörtlich, aber nicht die letzte Aidsaufklärungsbroschüre. Verzweifelt stürmt der junge Mann in die Akutsprechstunde, wo eine junge Ärztin ihm und den Zuschauern erklärt, was man macht, wenn man sich mit HIV infiziert hat. Denn Théo ist positiv.

Dreimal Blutcheck am Tag und jede Menge fieser Tabletten. Die Liebe der beiden ist im Eiltempo gealtert – der Meckerfaktor hoch wie beim ­alten Ehepaar. Konntest du nicht aufpassen? Ach, ich war mit den Gedanken woanders. So könnte es noch lange weitergehen. Aber die beiden Liebesspezialisten hinter der Kamera wissen auch: Die Zeit drängt, bald sind Nacht und Film zu Ende! Die Regisseure führen die liebenden Streitenden ans Ufer der Seine, man zeigt sich Wohnung und Geschlechtsorgan, dann graut der Morgen und sie wandeln in die aufgehende Sonne und die Seelen haben sich beruhigt.

Die Katastrophe führt ins Vertrauen, jetzt wird an der Beziehung gearbeitet. Eine Verharmlosung der Krankheit? Tja, das kann man so oder so sehen. Man mag sie kitschig finden oder als Komödie betrachten, die ­totale Liebe – starke Gefühle sind ja öfter mal was mit Klischee. Auch unsere beiden jungen Freunde können es kaum glauben: ‚Als wir miteinander gefickt haben, haben wir Liebe erschaffen‘, lautet ihr ­Fazit. Beziehungsweise: ‚Wir haben was für den Weltfrieden getan.‘

Ja, das haben ‚Théo und Hugo‘ wirklich. Prima Kino!

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Jungle World

Paterson

(USA 2016, Regie: Jim Jarmusch)

80er-Poesie
von Ulrich Kriest

Ist es ein untrügliches Zeichen dafür, dass man beginnt, alt zu werden, wenn man sich für einen Film von Jim Jarmusch erwärmen kann? War es nicht eher die furchtbare Erfahrung, …

Ist es ein untrügliches Zeichen dafür, dass man beginnt, alt zu werden, wenn man sich für einen Film von Jim Jarmusch erwärmen kann? War es nicht eher die furchtbare Erfahrung, wie sich ein studentisches Programmkino-Publikum über den kauzigen Humor von „Down by Law“ beömmelte, die den »Kult-Regisseur« für Jahrzehnte zum No-Go werden ließ? Wenn man sich nicht immer schon für alte Männer mit Spleens wie Tom Waits, Iggy Pop, Armin Müller-Stahl oder Neil Young interessierte, war wohl „Ghost Dog“ die erste Gelegenheit zur versöhnlichen Wiederbegegnung. Und „Broken Flowers“ hatte die Musik von Mulatu Astatke in petto.

Aber „Paterson“ ist ein ganz anderes Kaliber, erzählt dicht und durchdacht von Kreativität und Spontaneität, von der Lust, die Welt zu gestalten und von der Lust, für sich zu sein. Paterson, der so heißt wie die Stadt in New Jersey, in der er lebt, ist Busfahrer und Poet. Seine Poetik ist derjenigen William Carlos Williams‘ verpflichtet, der mit seiner Dichtung von Dingen, nicht von Ideen ausging. Auch WCW hat in Paterson gelebt, als Arzt gearbeitet und nebenher gedichtet.

Ein paar Tage folgen wir Paterson und seiner Frau Laura durch ihren Alltag. Seiner ist stark strukturiert, er war beim Militär; sie ist impulsiv und hat viele Träume. Gerade weil der Filme sich fast schon meditativ auf das oberflächlich Immergleiche des Alltags einlässt, werden schnell die kleinen Sensationen, die Begegnungen und die damit verbundenen Geschichten sichtbar. Wenn Paterson und Laura, die eine begnadete Designerin, Innenarchitektin, Bäckerin und Countrysängerin ist, gemeinsam ins Kino gehen, schauen sie sich „Island of Lost Souls“ von 1932 an und fühlen sich ein wenig wie im 20. Jahrhundert. Auch „Paterson“ selbst, mit seinem in der Stadt vielfach geteilten Faible für Poesie, fürs Schreiben, fürs Fotokopieren, fürs Handwerkliche, fürs Sammeln von Zeitungsausschnitten und seiner auffälligen Distanz zum Internet und allem, was damit zu hat, hätte sich, sagen wir: 1987 ganz wohl gefühlt. Manufactum-Arthaus? Altmodisch? Eher vielleicht nachhaltig – und bei aller »Verzauberung des Alltags« wohl auch ganz materialistisch ein zarter Hinweis darauf, dass man nicht länger damit rechnen sollte, dass die Kultur-Arbeit zum Broterwerb taugt.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Paterson'.

Terror in der Oper

(IT 1987, Regie: Dario Argento)

Das überwältigte Auge
von Ricardo Brunn

Während der Proben zu Verdis „Macbeth“ wird die Hauptdarstellerin von einigen zur Inszenierung gehörenden Raben attackiert und verlässt unter wütendem Getöse das Konzerthaus. Auf die Straße hastend wird sie von …

Während der Proben zu Verdis „Macbeth“ wird die Hauptdarstellerin von einigen zur Inszenierung gehörenden Raben attackiert und verlässt unter wütendem Getöse das Konzerthaus. Auf die Straße hastend wird sie von einem Auto erfasst und schwer verletzt. Betty (Cristina Marsillach), die wenig selbstbewusste Zweitbesetzung der Lady Macbeth, muss einspringen und bekommt nun die Chance ihres Lebens. Doch irgendetwas scheint nicht mit rechten Dingen zuzugehen. So wird ihr die Nachricht über den baldigen Einsatz nicht nur von einer rauen Telefonstimme, die keinem Mitarbeiter des Opernhauses zuzuordnen ist, übermittelt. Angeblich soll auch noch ein Fluch auf dem aufzuführenden Stück liegen. Und tatsächlich wird die erste Vorstellung von einem herabstürzenden Scheinwerfer und einem toten Platzanweiser kurz unterbrochen. Irgendjemand verfolgt Betty und geht dabei über Leichen.

„Terror in der Oper“ ist eine lose Adaption des Stoffes von Gaston Leroux aus dem Jahre 1910. Lose schon deshalb, weil Argento als Meister des Giallo – abgeleitet aus einer seit 1929 erscheinenden Kriminalbuchreihe, die Anlass zu diversen Verfilmungen gegeben hat – spätestens seit „Profondo Rosso“ (IT 1975) nur wenig auf einen stringenten Plot gibt. In den häufig als oberflächliche Whodunits angelegten Erzählungen kann der Zuschauer Logik sowie eine präzise Schauspielführung getrost vergessen. Dementsprechend neigen die zahlreichen Drei-Wort-Hauptsätze in „Terror in der Oper“ genauso wie die Bewegungen der Figuren dazu, jenen Erzählversatzstücken einer pornografischen Rahmenhandlung sehr nahe zu kommen. Aber Gialli sind auch nicht für ihre ausgefeilten Dialoge berühmt geworden. Schon gar nicht die von Dario Argento, der die Handlung selbst in Momenten der Verfolgung gern einmal aussetzt und seine Figuren stumm in labyrinthartigen Gängen und Raumverschachtelungen verloren gehen lässt. Die Form, das wird in solchen Momenten deutlich, triumphiert hier eindeutig über den Inhalt. Und auch wenn Argento die albtraumhaften Raumkonstruktionen und die bestechenden Farbdramaturgien seiner beiden Meisterwerke „Suspiria“ (USA 1977) und „Inferno“ (USA 1980) in „Terror in der Oper“ nicht wiederholt, variiert oder zu erweitern sucht und somit der Erosionsprozess seines visuellen Stils bereits abzusehen ist, erschafft er hier noch einmal einige seiner ikonografischsten Bilder im Versuch, den physischen und psychischen Grundlagen des Sehens auf den Grund zu gehen.

Nachdem Betty ihre erste Vorstellung als Lady Macbeth erfolgreich absolviert hat und ihr alle zu Füßen liegen, bekommt sie mitten in der Nacht Besuch von ihrem unbekannten Stalker, der sie angebunden an eine Säule und mit unter den Augenlidern geklebten Nadeln dazu zwingt, einen Mord mit anzusehen. Sollte sie die Augen schließen wollen, würden die Nadeln ihre Augenlider durchstechen. Der Killer, so scheint es, hat es nicht auf sie, sondern auf ihre Blicke abgesehen. Das zum Hinsehen gezwungene Auge ist zugleich natürlich das Auge des Zuschauers, das sich den Gewaltbildern des Horrorfilms nicht entziehen kann oder will. Gerade weil Betty weder Täter noch direktes Opfer ist, symbolisiert der Zwang zum Hinsehen das entkörperlichte Auge des Betrachters, das im Voyeurismus vermeintlich keine Verantwortung für das Gesehene trägt.

Der tatsächliche Gegenstand des Filmes ist nicht so sehr die Suche nach dem Mörder als die Kamera selbst und die Frage danach, wer eigentlich blickt. Die entfesselte Kamera, die an vielen Stellen des Filmes durch Bettys Wohnung und am Ende des Filmes in einem eindrucksvollen Flug durch den Konzertsaal jagt, entreißt den Blick des Zuschauers einer gesicherten Position. Desorientierung entwickelt Argento hier nicht durch unzuverlässige Räume, sondern durch eine Kamera, bei der objektiver und subjektiver Blick untrennbar miteinander verwoben sind. Selbst in den offensichtlichen point-of-views wird oftmals erst im Umschnitt klar, welcher Figur der Blick überhaupt zugeordnet werden kann.

In einer der beklemmendsten Szenen des Filmes – in der ein Mann sich Zutritt zu Bettys Wohnung verschaffen will und durch den Türspion von drinnen nicht als der Polizist identifiziert werden kann, als der er sich ausgibt – sehen wir die Großaufnahme einer Patronenkugel, die sich durch den Türspion hindurch einen Weg zum beobachtenden Auge bahnt und dieses somit jeden Erkenntnisvermögens beraubt. Das unbekannte und unheimliche Draußen drängt hier in doppelter Weise Ins Innere. Und es ist diese Kollision von drinnen und draußen, die als Definition für das Furchterregende und den Horror gelten kann. Selten hat ein Regisseur Macht und Ohnmacht des Blickes und damit die ganze Hilflosigkeit der Protagonisten so spürbar auf den Zuschauer übertragen, wie dies für Dario Argento zutreffend ist. In „Terror in der Oper“ führt er es uns noch einmal par excellence vor.

2017 wird „Suspiria“ vierzig Jahre nach der Erstaufführung als restaurierte 4k-Fassung für zwei Tage in den italienischen Kinos gezeigt. Ein Remake des Filmes unter der Regie von Luca Guadagnino ist ebenfalls für 2017 angekündigt. Auch hierzulande erfährt Dario Argentos Werk nicht zuletzt dank des 2013 von Marcus Stiglegger und Michael Flintrop herausgegebenen Buches „Dario Argento – Anatomie der Angst“ eine angemessene Würdigung. Leider sind nur wenige Filme und selten in ungeschnittener Fassung erhältlich. Wer sich also mit ein wenig mit Dario Argentos Werk beschäftigen möchte, dem sei auch „Terror in der Oper“ noch einmal sehr ans Herz gelegt. Der Film startet nach 30 Jahren nun doch noch in den deutschen Kinos.

American Honey

(GB/USA 2016, Regie: Andrea Arnold)

Verlorene Verlierer
von Wolfgang Nierlin

Eine junge Frau sucht im Container eines Supermarktes nach Lebensmitteln. Zusammen mit zwei jüngeren Geschwistern lebt sie bei ihrem (sexuell) übergriffigen Vater in sozial prekären Verhältnissen. Doch ganz klar sind …

Eine junge Frau sucht im Container eines Supermarktes nach Lebensmitteln. Zusammen mit zwei jüngeren Geschwistern lebt sie bei ihrem (sexuell) übergriffigen Vater in sozial prekären Verhältnissen. Doch ganz klar sind die Verwandtschaftsbeziehungen und Lebensumstände nicht gezeichnet. Diese stecken vielmehr in den Details einer verwahrlosten Wohnung, in der die Kinder sich selbst überlassen sind. Einschnürende Enge ist deshalb das deprimierende Gefühl, aus dem die 18-jährige Star (Sasha Lane) ausbrechen möchte. Die britische Regisseurin Andrea Arnold akzentuiert in ihrem neuen, vielgelobten Film „American Honey“ diese Dialektik zwischen Gefangenschaft und Freiheitssehnsucht, indem sie ihre Figuren in das fast quadratische Academy-Format „einsperrt“. Doch dann verliebt sich Star in den charmant unkonventionellen Jake (Shia LaBeouf), der sie für seine Drückerkolonne anwirbt.

Dabei ist das titelgebende Südstaatenmädchen mit dem assoziationsreichen Namen naiv und gutgläubig genug, um diesen Aufbruch zunächst als Versprechen für ein besseres Leben zu empfinden. Unterwegs durch die weite, sonnenbeschienene Landschaft gibt sich die bunte, stets bekiffte Truppe, die als eingeschworene Gemeinschaft erscheint, jedenfalls ziemlich relaxt, optimistisch und siegessicher: „Wir arbeiten nicht nur, wir erobern Amerika, wir feiern.“ Doch solche Sprüche, permanente Ausgelassenheit und regelmäßige Rauschzustände können nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Jugendlichen zu den Verlierern der Gesellschaft gehören. Versklavt und ausgebeutet von ihrer zwielichtigen Chefin Krystal (Riley Keough), die überdies ein undurchsichtiges Verhältnis zu ihrem Anwerber und Vorarbeiter Jake pflegt, gehen die Drücker von Tür zu Tür, um mit Tricks und Schwindeleien Zeitschriften-Abos zu verkaufen. Im Kontrast zum umgebenden Wohlstand erscheinen die Verlierer dabei nicht selten als Verlorene.

Man müsse diese Arbeit als Spiel auffassen, sagt Jake, der die Menschen blendet und verführt. Doch dafür ist Star zu aufrichtig, weshalb sie bald in Konflikte und zweideutige Situationen gerät, vor allem aber in ihrer Beziehung zu Jake und seinen Glücksversprechungen ernüchtert wird. Andrea Arnolds Interesse gilt dabei – trotz der dokumentarrealistischen Ästhetik ihres Films – weniger der Arbeit, sondern vielmehr dem Blick auf ein vielgestaltiges Land, dessen extreme soziale Ungleichheit von der Mitte bis zu den Rändern der Gesellschaft ebenso Wohlstand wie Armut und Verwahrlosung umfasst. Das Genre des Roadmovies ist dafür allerdings nicht nur ein Vehikel; das Unterwegssein, durch Musik und Drogenkonsum stimmungsvoll aufgeladen, erscheint selbst als Gegengewicht beziehungsweise Korrektiv dazu. „Dream baby dream. We gotta keep the fire burning“, tönt es einmal von Bruce Springsteen alias „The Boss“ aus dem Auto-Radio. Das klingt wie bittere Ironie angesichts jener unerreichbaren Wirklichkeit, durch die sich die Jugendlichen mit ihren vagen Träumen fas bewusstlos bewegen.

Hier findet sich eine weitere Kritik zu ‚American Honey‘.

Alles steht Kopf

(USA 2015, Regie: Pete Docter, Ronnie del Carmen )

Emojis in der Rübe
von Ricardo Brunn

Im Oktober 2015 hat Mark Zuckerberg bekannt gegeben, dass Facebook den Like-Button um fünf Emojis erweitern wolle. Die Nutzer hätten sich schon seit längerem eine größere Bandbreite in der Bewertung …

Im Oktober 2015 hat Mark Zuckerberg bekannt gegeben, dass Facebook den Like-Button um fünf Emojis erweitern wolle. Die Nutzer hätten sich schon seit längerem eine größere Bandbreite in der Bewertung von Katzenvideos, Urlaubsfotos und lebensbejahender Kalendersprüche in Serifenschrift auf zarten Sonnenuntergangsmotiven gewünscht. Der Traum von einem Dis-Like-Button bleibt damit zwar nach wie vor unerfüllt, Facebook liefert mit seinem Vorstoß jedoch einen Beleg für das in den vergangenen Jahren gesteigerte Interesse an menschlichen Emotionen im Silicon Valley. Es ist also außerordentlich spannend, wenn etwa zeitgleich zu Facebooks symbolträchtiger Ankündigung der neue Animationsfilm „Alles steht Kopf“ aus dem Hause Pixar erscheint, in dem als knuffige, dreidimensionale Figuren gezeichnete Emotionen das Verhalten eines Kindes steuern und dessen Erinnerungen verwalten.

Schon kurz nach Rileys Geburt übernimmt Freude als erste Emotion das Ruder der Schaltzentrale im Kopf des Mädchens. Nur Augenblicke später gesellt sich Kummer hinzu, schließlich noch Angst, Wut sowie Ekel, und alle wollen sie einmal die Regler am Kontrollfeld bedienen. Freude bemüht sich eifrig darum das Kommando zu behalten, denn keine Emotion ist ihrer Meinung nach für die Entwicklung Rileys wichtiger als sie selbst. Als Riley elf Jahre alt ist, muss sie mit ihren Eltern von Minnesota nach San Francisco ziehen. In dieser Situation gibt es für die fünf Freunde in Rileys Kopf ordentlich zu tun. Zu allem Überfluss befördern sich Freude und Kummer aus Versehen ins riesige Labyrinth des Langzeitgedächtnisses. Plötzlich sind Wut, Angst und Ekel auf sich allein gestellt. Mittels parallel geführter Erzählstränge kann der Zuschauer nun miterleben, was die emotionalen Querschläger in Rileys Innerem außen bewirken.

Der Zielgruppe entsprechend werden neuronale Abläufe in „Alles steht Kopf“ sehr vereinfacht dargestellt und das Figureninventar mit wenigen, dafür eindeutigen Attributen ausgestattet. Wut platzt als männlicher, feuerroter Klotz des Öfteren der Hemdkragen. Kummer, ein dickes, blaues Mädchen mit Brille, schlurft von einem Fettnäpfchen geradewegs ins nächste. Ekel schwirrt mit der Grazie einer Schulhofschönheit im knallgrünen Minirock durch die Gegend und so weiter und so fort. Das sorgt aufgrund der entstehenden Gegensätze und des beständigen Wechsels von Innen- und Außenperspektive für urkomische Situationen und rasantes Tempo. Doch die quietschbunte Bilderwelt von „Alles steht Kopf“ umweht ein bizarrer Reduktionismus, in dem die als Dauerslapstick verpackte Steuerung von und durch Emotionen über ein Schaltpult und Fragen zum Determinismus menschlichen Handelns auf irritierende Weise zusammenfallen.

Der englische Filmtitel „Inside Out“ ist nicht nur deshalb viel passender als der deutsche, weil die Handlungen Rileys als Konsequenzen der Steuerung drinnen erzählt werden. Das Innerste nach außen zu kehren bedeutet in der Psychopolitik des 21. Jahrhunderts Gedanken und Emotionen als Ressourcen zu begreifen und zu monetarisieren. Kaufentscheidungen, welche unter dem Begriff der Neuroökonomie erforscht werden, knüpfen Menschen immer häufiger an moralische Aspekte. Es geht immer seltener um das Produkt an sich, als um die Emotionen, die es auslöst. Sei es das Elektroauto, der Fairtradekaffee oder die CO2-Kompensation für Flugreisen. So fußt beispielsweise auch die gesamte Share Economy auf der Ausbeutung des Sozialen und damit der Emotionen. Außerdem spielen Emotionen und deren computergestützte Erfassung in der Debatte um die Erschaffung künstlicher Intelligenz eine wesentliche Rolle. Und natürlich genügt der Kommunikationsgesellschaft die Rationalität des viel beschworenen homo oeconomicus nicht mehr.

Dass die Rede fast ausschließlich von Emotion und nie vom Gefühl ist, liegt an der intentionalen Struktur, die die Emotion grundlegend vom unbestimmteren Gefühl unterscheidet. Das Bauchgefühl lässt sich nicht in Zahlen ausdrücken, Wut und Trauer bekommen einfach einen Button mit Emoji. Ein Teil unserer Persönlichkeit verschwindet hinter den Daten gerade so, als würde unsere Gefühlswelt zahlreiche Nuancen wie beispielsweise den dramatischen Unterschied zwischen Wut und Zorn oder Angst und Furcht nicht beinhalten. Algorithmen bedingen eine Reduktion auf wenige eindeutige Parameter. Alles was sich einer Berechnung und damit Quantifizierung entzieht, existiert dann nicht mehr. Auch „Alles steht Kopf“ stürzt sich mit Freude auf genau fünf Emotionen und lässt den Gefühlen keinen Raum mehr. In den Momenten, da sich ein Gefühl, das ein anderes Verhältnis zur Zeit bedingt, einstellen könnte, hastet die Erzählung weiter zum nächsten emotionalen Höhepunkt. Gefühl ist etwas Soziales. Das Spiel mit den Emotionen ist antisozial.

Es ist unter diesem Blickpunkt beachtenswert, dass zeitgleich zum gesteigerten Interesse der Industrie an den menschlichen Emotionen diese immer häufiger außer Kontrolle zu geraten scheinen und den öffentlichen Diskurs bestimmen. Wutbürger, Gutmensch und Lügenpresse sind die vorläufigen Ausdrücke dieses Zustandes dauerhafter Erregung. Und längst hat sich die „Diktatur der Emotionen“ (Byung-Chul Han) in den Sozialen Medien in Form von Shitstorms und Hatespeech, die sich im digitalen Echoraum immer schneller verbreiten, verselbstständigt, radikalisiert und den wissens- und faktenfeindlichen Argumentationen der Neuen Rechten den Weg bereitet. Wer dieser Tage im Kampf um die Gunst der Wähler nicht auf pure Emotionen setzt, verliert.

„Alles steht Kopf“ suggeriert, ohne jemals etwas anderes auch nur anzudeuten, dass wir ausschließlich von unseren Emotionen getrieben werden. Der Film geht sogar noch einen Schritt weiter und schaut an einer Stelle in die Köpfe einiger Tiere. Auch dort regieren die Emotionen. Diese Gleichsetzung von Mensch und Tier – die sich in der hohen Anzahl von Animationsfilmen, in denen sprechende Tiere ihre infantilen Abenteuer erleben, fortsetzt – befördert den Grundsatz der Neuroökonomie und des Silicon Valleys, dass der Mensch von neurochemischen Prozessen programmiert wird und es folglich keinen freien Willen gibt. Wenngleich sich nun durchaus vortrefflich darüber streiten ließe, ob es so etwas wie einen freien Willen geben kann, darf die radikale Reduktion und damit einhergehende Determinierung menschlichen Handelns sicher keine Antwort auf diese Frage sein. Sie wäre einfach zu absurd angesichts der Vielfalt unseres Daseins. Einer Vielfalt, die durch Quantifizierung, Massenkonsum, Monopolisierungen und vieles mehr in Gefahr ist. „Alles steht Kopf“ wird derweil in der Presse einhellig gefeiert, und die Rechnung geht für Disney wieder einmal auf. Souverän ist heute, wer über die Emotionen verfügt.

Affenkönig

(D 2016, Regie: Oliver Rihs)

Posterprinz
von Julia Olbrich

Wolfi alias „Affenkönig“ lädt seine drei alten Schulfreunde zu seinem 45. Geburtstag auf seinen Landsitz in die Provence ein. 20 Jahre haben sich die Vier nicht gesehen, und jetzt rückt …

Wolfi alias „Affenkönig“ lädt seine drei alten Schulfreunde zu seinem 45. Geburtstag auf seinen Landsitz in die Provence ein. 20 Jahre haben sich die Vier nicht gesehen, und jetzt rückt jeder von ihnen mitsamt Anhang an. Der gestresste Politiker Viktor kommt zusammen mit seiner schwangeren Freundin, Musiker Martin hat seinen pubertierenden Sohn dabei, und Hausmann Ralph leidet schon am Flughafen unter Frau und Tochter, die sich in Hormonschwankungen gegenseitig toppen. Vorfreude ist allen anzumerken, als sie anreisen, und jeder ist gespannt, was ein Aufeinandertreffen nach so langer Zeit mit sich bringt.

Diese Spannung hält sich auch beim Zuschauer noch über die ersten 15 Minuten, in denen sommerliche Landschaftsaufnahmen von Südfrankreich und gekonnt angerissene Charaktere Lust auf mehr machen. Doch anstatt sich sorgfältig weiter auf die Psychologie der Figuren zu konzentrieren, verfällt Filmemacher Oliver Rihs in unkoordinierten Aktionismus. Er lässt nackte Schönheiten miteinander Tischtennis-Spielen, Musiker Martin einen Strauß jagen oder die Männer in Reizwäsche einen Berggipfel hochradeln: was die unterschwellig spürbare Midlife-Crisis der Geburtstagsgäste so richtig schön zum Explodieren bringen könnte, mündet in einer Aneinanderreihung von Blindgängern. Daran kann auch das gut besetzte Schauspielensemble (u. a. Samuel Finzi, Oliver Korittke) nichts ändern, das sich redlich mit einem schlechten Drehbuch abmüht. Dieses enthält teilweise unterirdisch schlechte Dialogzeilen wie „Was ist denn mit deiner Nudel los, ist die nicht ganz al dente?“, mit der Wolfi wissen will, warum Ralphs Ehefrau einen Wutausbruch bekommt. Mit seinem Humor greift Regisseur Rihs in die Schublade „deftig und unter der Gürtellinie“. Doch was bei US-Komödien wie „Kindsköpfe“ oder „Hangover“, die ihre Mittvierziger-Helden ebenfalls auf Spaßtour schicken, hervorragend gelingt, endet bei „Affenkönig“ in einer Aneinanderreihung von Peinlichkeiten. Ob Wettrülpsen am Tisch oder ein beherzter Griff in den Po des Freundes, damit dieser beim Gruppensex eine Erektion bekommt – man mag kaum hinsehen vor lauter Fremdscham. Selbst „Borat“ wirkt dagegen wie Prince Charming.

„Affenkönig“ fehlt nicht nur eine Sympathie für die Figuren, die durchgehend schablonenhaft bleiben, sondern auch ein Gespür für das richtige Gag-Timing. 100 Minuten später, nachdem gefühlt jeder mit jedem im französischen Chalet Sex hatte, kann man nur noch müde mit der Wimper zucken. Ach „Affenkönig“, wärest du nur ein Filmplakat geblieben, denn das ist – zugegeben – richtig originell!

Café Belgica

(B/F 2015, Regie: Felix van Groeningen)

Rock 'n' Roll forever
von Wolfgang Nierlin

Zu Beginn des Films ist das titelgebende Café Belgica eine versiffte Kneipe, in der sich allabendlich ein buntes, freakiges Völkchen gestrandeter Existenzen trifft und der Alkohol in Strömen fließt. Dazu …

Zu Beginn des Films ist das titelgebende Café Belgica eine versiffte Kneipe, in der sich allabendlich ein buntes, freakiges Völkchen gestrandeter Existenzen trifft und der Alkohol in Strömen fließt. Dazu spielen lokale Genter Musikgrößen den Blues. Eingehüllt in dichten Zigarettenqualm ist diese Insel der Bierseligen und Aussteiger Fluchtraum und Gegenwelt, wo verlorene Träume im Suff ertränkt werden und das graue Leben überraschend heitere Züge annimmt. Geführt wird die kultige Spelunke von dem jungen Musikfan Jo (Stef Aerts), der seit frühester Kindheit auf einem Auge erblindet ist. Der sensible, sympathische Typ beginnt eine Beziehung mit Marieke (Hélène Devos) und plant die Erweiterung des Café Belgica zu einem Musikclub.

Unerwartete Unterstützung bekommt er dabei von seinem älteren Bruder Frank (Tom Vermeir), der eine neue Herausforderung sucht und „ein bisschen Rock ’n’ Roll“ gegen die Langeweile seines Familienlebens braucht. Frank hat nämlich Frau und Kind, zeigt sich aber wenig verantwortungsvoll. Stattdessen lechzt er nach der Freiheit eines anderen Lebens und wird zu Jos Geschäftspartner. Als schließlich der neue Club in einer rauschhaften, geradezu ekstatischen Nacht eröffnet wird, will die Dauerparty nicht mehr enden. „How long will this go on?“, heißt es in einem Song des von Soulwax mit großer stilistischer Bandbreite komponierten Soundtracks, während die Sehnsucht nach Entgrenzung alles verschlingt. Aus dem freudig begrüßten „Ort der Verdorbenheit“ wird eine sehr spezielle „Arche Noah“ des grenzüberschreitenden Miteinanders, die jedoch den Keim ihrer Zerstörung bereits in sich trägt.

Felix von Groeningen übersetzt in seinem Film „Café Belgica“ diesen fast utopischen Traum in intensive Bilder eines wüsten Exzesses aus Musik, Drogen und Sex. Weil sich dadurch in Konfliktsituationen private Freundschaften und geschäftliche Interessen zunehmend vermischen und überdies der versoffene Frank immer unsolider wird, schlägt die Bruderliebe um in einen Bruderkampf. Bald ist die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit, alternativem und echtem Leben unüberbrückbar. Frank verliert sich im Rausch, verrennt sich in Obsessionen und zerstört dabei Beziehungen. Fast scheint es, als manifestiere sich in seinen Abstürzen ein negatives Erbe, das ihn zum geborenen Verlierer und damit zum tragischen Helden macht. Doch dann gewinnt der umsichtige Jo in gleich mehrfacher Hinsicht die Kontrolle zurück. Felix von Groeningens Film „Café Belgica“ lässt sich auch als wehmütigen Abgesang auf das Ende einer Ära verstehen.

Jeder stirbt für sich allein

(D/F/GB 2016, Regie: Vincent Pérez)

Too much
von Dietrich Kuhlbrodt

Hans Fallada schrieb seinen Roman 1946. Über die kleinen Leute im Berlin sechs Jahre zuvor. Sechzig Jahre später macht die widerständige Moral Furore in Israel, den USA und in England. …

Hans Fallada schrieb seinen Roman 1946. Über die kleinen Leute im Berlin sechs Jahre zuvor. Sechzig Jahre später macht die widerständige Moral Furore in Israel, den USA und in England. Dort kam das Buch auf die Bestsellerlisten. Und jetzt ist der Film zu sehen. Auf dem internationalen Level, aber gedreht in Deutschland: ein bisschen in Berlin, ganz viel in Görlitz. Brendan Gleeson als Werkmeister, Emma Thomson als Ehefrau und beide in einem Mietshaus, das getreulich die Welt von damals widerspiegelt. Von der versteckten Jüdin bis zum fanatischen Nazi, vom Richter a. D. bis zur harmlosen Oma. Zwischen ihnen als Arbeiter Brendan und Mutter Emma mit ihrer politischen Heimlichkeit. In den Treppenhäusern ringsumher legen sie Postkarten aus, die zum Widerstand aufrufen. „Tötet Hitler“ lautet die moralische Botschaft. Und die Botschaft des Romans und eben jetzt auch des Films war und ist: Nicht alle Deutsche waren Nazis.

Okay – aber. Es ist der hohe, ja perfekte Stand des Filmhandwerks, das den Film allzu zudringlich macht. Wenn die Stars dezidiert sprechen und jeder Satz nachhallt, ja dann kann man ihn sich sicherlich besser merken. Auch dürfte die Synchronisation des Guten zuviel gemacht haben. Dass die Mimik der Schauspieler sich die ganze Zeit kaum verändert, mag sich ja der Regisseur einfallen haben lassen. Es würde der traurigen Stimmung des Filmwerks entsprechen. Dass aber von Anfang an eine tragische Musik dem Zuschauer vorgibt, wie er sich zu verhalten hat … – Es ist von allem too much, um es auf deutsch zu sagen.

Gut, es gibt auf allen Ebenen Topleistungen des Filmteams. Mit viel Liebe kommt in jeder Outdoor-Einstellung ein Oldtimer um die Ecke gefahren oder ein Bus oder – da schon wieder! – ein Zug aus dem Straßenbahnmuseum. Was? Die Tram fährt links? Na, das ist ein Hingucker.

Stopp! Ich will mich über den Film nicht lustig machen. Es gibt ja noch andere Zuschauer außer mir. „Jeder stirbt für sich allein“ ist wichtig und sozialpädagogisch wertvoll, und außerdem wird der Nazibulle, der die beiden kleinen Leute zur Strecke bringt, schließlich bekehrt. Auch er leistet Widerstand. Wer das ist? Ein Deutscher, Daniel Brühl.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret

Dieses Sommergefühl

(F/D 2016, Regie: Mikhaël Hers)

Media vita in morte sumus
von Ulrich Kriest

Schon Notker I. von St. Gallen soll es gewusst haben: „Mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen.“ Recht eigentlich ein Skandal. Als die Endzwanzigerin Sasha auf dem Nachhauseweg von …

Schon Notker I. von St. Gallen soll es gewusst haben: „Mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen.“ Recht eigentlich ein Skandal. Als die Endzwanzigerin Sasha auf dem Nachhauseweg von ihrer Arbeit im Künstlerhaus Bethanien im Park plötzlich umfällt und kurz darauf stirbt, ist das (auch) ein Schock für den Zuschauer, denn Regisseur Mikhael Hers hatte zuvor alles ganz unspektakulär, aber konzentriert gezeigt: ihr Aufwachen, ihr Ankleiden, ihre Arbeit, ihre Alltagsroutine. Nun ist die in Berlin lebende Französin tot – und der Film hat die vermeintliche Protagonistin verstörend früh verloren. Der Zuschauer ist gewissermaßen zu spät gekommen, um sie noch kennenzulernen, und er erfährt auch nicht, was genau geschehen ist. Sashas Familie – Vater, Mutter, Schwester Zoé – reist zur Erledigung der Formalitäten und der Beisetzung an. Fassungslos ist auch Sashas Freund Lawrence, ein – wie wir später erfahren werden – Schriftsteller, den es auch New York nach Berlin verschlagen hat.

Sashas Tod als Auftakt: der Film beobachtet, registriert, aber hält sich entschieden zurück, wovon er erzählen möchte und kann, auch weil das Ensemble von Figuren auf unterschiedliche Weise davon betroffen ist. Es gibt keine Rückblenden, die die Geschichte von Sasha und Lawrence rekapitulieren, (mit einer Ausnahme) keine Erinnerungen an das Vor-Leben, sondern nur die Gegenwart des Weiterlebens. In dieser Gegenwart trifft sich Lawrence mit June, einer Freundin aus New York. Man spricht miteinander und verbringt einige Tage zusammen. Ein Jahr später – es ist wieder Sommer – besucht Lawrence Zoé in Paris, die auch Mutter eines Sohnes ist. Deren Leben hat sich allerdings mittlerweile verändert: sie lebt getrennt von ihrem Mann und arbeitet nachts in einem kleinen Hotel. Gemeinsam besuchen Zoé und Lawrence eine Party, vermeiden oder versäumen aber, über ihre Trauer zu sprechen. So forciert der Film darauf besteht, dass sich »das Leben« gewiss nicht einer Dramaturgie von Plot Points fügt und Figuren nicht in Problembenennungs- und –bewältigungsdialogen miteinander sprechen, so arbeitet Hers doch subtil mit Verdichtungen, weil er der Versuchung nicht widerstanden hat, über die Protagonisten und ihre Begegnungen auch etwas von der Atmosphäre eines Lebensgefühls und unterschiedlichen Mentalitäten einzufangen. Dazu gehört auch der zumeist etwas mehr als nur skizzenhafte Einbezug von Neben- und Randfiguren, die weitere Geschichten andeuten oder auch erst ermöglichen. Oder auch der sehr spezifische Einsatz von extrem geschmackvoll kompilierter Musik.

Ein Besuch im Elternhaus in Annecy zeigt Zoé, wie ihre Eltern mit dem Verlust des Kindes umgehen. Ein weiteres Jahr vergeht. Mittlerweile ist Lawrence nach Brooklyn zurückgezogen und hat neue Bekanntschaften gemacht. Diesmal ist es Zoé, die auf dem Weg nach Tennessee einen Zwischenstopp eingelegt. Sie hat sich von ihrem Mann endgültig getrennt und hat sich eines alten Studienfreundes erinnert, den sie jetzt besuchen will. Auch Lawrence, noch immer trauernd, steht gerade im Begriff, sich neu zu verlieben. Man feiert Parties, besucht Konzerte, redet und lebt weiter. Mit seiner erfrischend wortkargen Studie über Trauerarbeit, die geradezu programmatisch sämtliche Konventionen einer Fernsehspieldramaturgie verweigert, versucht Mikhael Hers zugleich ein Soziogramm und ein Psychogramm einer Generation von Kreativen um die 30, die sich mit einiger Souveränität kosmopolitisch zwischen den hippen Orten der nördlichen Hemisphäre bewegt und bewegen kann, weil sich die Kulturen sehr weitgehend angeglichen haben. Wobei das Bild von Berlin aufgrund der gewählten Perspektive auf das Geschehen notwendig etwas unscharf bleiben muss.

Mit seinem interessanten Cast – Anders Danielsen Lie einmal mehr als sensibler Schriftsteller wie zuletzt schon in „Alice und das Meer“ und die Rohmer-Actrice Marie Rivière als Sashas Mutter – besetzt Hers sehr konsequent ein Feld zwischen Joachim Trier und Eric Rohmer. Auch Lana Cooper („Love Steaks“) als Lawrences Freundin June fügt sich bestens in dieses bunte Ensemble. So bleibt den Zuschauern dieses auf stille Weise intensiven und betont offenen Films sehr viel Zeit, die Figuren zu beobachten, sich in die Milieus und Interieurs zu vertiefen und sich von der zelebrierten und wie der Film selbst seltsam zwischen den Jahrzehnten irrlichternden Musik von Felt (!), Ben Watt (!!) oder auch Nick Garrie (!!!) zu verlieren. Jonathan Richman, eigentlich naheliegend, hätte hier nicht gepasst.

Hier und hier finden sich weitere Kritiken zu ‚Dieses Sommergefühl‘.

Frantz

(DE/FR 2016, Regie: François Ozon )

Die Farbe der Lüge
von Wolfgang Nierlin

Der Weg vom Blumenhändler zum Friedhof, über Kopfsteinpflaster und durch alte Gemäuer führt in die Trauer. Die junge Anna (Paula Beer) hat ihren Verlobten Frantz verloren und mit ihm alle …

Der Weg vom Blumenhändler zum Friedhof, über Kopfsteinpflaster und durch alte Gemäuer führt in die Trauer. Die junge Anna (Paula Beer) hat ihren Verlobten Frantz verloren und mit ihm alle Lebenslust. Wie überall in Deutschland sind kurz nach dem 1. Weltkrieg auch in Quedlinburg viele Opfer zu beklagen. Väter weinen um ihre gefallenen Söhne, leiden unter der Schmach der Niederlage und richten ihre im Schmerz gefangene Verbitterung gegen den Erbfeind Frankreich. Zu ihnen gehört auch der Arzt und Patriot Hans Hoffmeister (Ernst Stötzner), der zusammen mit seiner Frau Magda (Marie Gruber) in Frantz den Tod seines einzigen, anonym begrabenen Sohnes betrauert. Als eines Tages der junge Franzose Adrien (Pierre Niney), ein Violinist von kultivierter Erscheinung, an ihrer Haustür klingelt und sich zögerlich als Frantz‘ Vorkriegsfreund seiner Pariser Studienjahre ausgibt, weichen allmählich Misstrauen und Feindschaft. Vermittelt durch Musik, Kunst und gemeinsame Erinnerungen treffen sich die körperlich und psychisch Versehrten in kollektiver Trauer.

In seinem neuen, in Schwarzweiß und Cinemascope gedrehten Film „Frantz“ etabliert der französische Regisseur François Ozon zunächst ein gefühlvolles, sehr bewegendes Melodram, in das nur an wenigen Stellen die Farbe der Lüge und des Lebens einbricht. Seine spiegelbildlichen Konstruktionen von Leid und Zerstörung, Leben und Tod sind nicht frei von Klischees und ergreifendem Pathos. Ozon nutzt diese genretypischen Mittel aber nicht nur, um aus der Perspektive der Unterlegenen eine Geschichte über Schuld und Vergebung sowie die mögliche Freundschaft zweier benachbarter Länder zu erzählen; sondern die heilsame Wirkung des Erzählens als ein Erfinden von Geschichten wird selbst zum Thema. Die Kunst – und sei ihre Wahrheit noch so ironisch gebrochen – wirkt geradezu als Therapeutikum.

Die Lüge wird in „Frantz“, der in Teilen von Ernst Lubitschs Film „Broken Lullaby“ (1931) nach einem Theaterstück von Maurice Rostand inspiriert ist, zur schmerzlichen Bedingung des Weiterlebens. Im Zentrum von Ozons Film steht die zwischen aufkeimender Hoffnung und tiefer Verzweiflung schwankende Anna. In ihr laufen alle Fäden zusammen, kreuzen sich Wahrheit und Täuschung. Denn zunächst verstrickt sie sich in eine komplizierte, von Höhen und abrupten Tiefen gekennzeichnete Liebe zu Adrien, aus der sie sich später wieder wird lösen müssen. Wenn sie schließlich am Ende im Pariser Louvre (sic!) vor Édouard Manets düsterem Gemälde „Der Selbstmörder“ (1877/81) sitzt, ist sie zugleich Opfer und Emanzipierte. Anna ermöglicht den anderen in ihrem Umkreis, zu leben und findet durch die Lüge hindurch zu sich und ihren Gefühlen. Es ist, als mildere in diesem Augenblick der Wechsel zur Farbe diese im Grunde schwere Hypothek des Gewissens.

Girl on the Train

(USA 2016, Regie: Tate Taylor)

Wer hat schon heute noch einen Gärtner?
von Drehli Robnik

Früher einmal stammten Gebrauchskrimis zum Lesen oder zum Anschauen (und nebenbei Lesen) von Agatha Christie, spielten unter undurchsichtig verbandelten Tatverdächtigen mit Erbschaftszwist und Rachegelüsten auf feudalen Landsitzen in Dorchester, nahe …

Früher einmal stammten Gebrauchskrimis zum Lesen oder zum Anschauen (und nebenbei Lesen) von Agatha Christie, spielten unter undurchsichtig verbandelten Tatverdächtigen mit Erbschaftszwist und Rachegelüsten auf feudalen Landsitzen in Dorchester, nahe London, hielten uns mit übersehenen Details zum Narren, hatten am Ende eine Rückblende und entlarvten Sir Henry als den Mörder. Oder den Gärtner. (Also, sie entlarvten den Gärtner als den Mörder – nicht Sir Henry als den Gärtner.)

Heute stammen Gebrauchskrimis wie Paula Hawkins‘ ‚Girl on the Train‘ (der Titel verbirgt es nur mühsam) vom Romanbestseller ‚Gone Girl‘ ab, spielen unter als Traumatherapiesoziotop und per Smartphone verbandelten, fad verdächtigen Vorstadtweibern und -mandln mit Ehekrise und Kinderwunsch auf mittelständischen Landsitzen in Westchester, nahe New York, machen sich mit ihrem Perspektivwechselgeprotze zum Narren, bestehen aus oberschlauen Rückblenden und entlarven am Ende irgendwen als Mörder.

Wen, das darf keinesfalls gespoilert werden, sonst ist der ganze eh nicht so große Spaß an dem Film weg. Inszeniert hat ihn Allesfresser Tate Taylor, nicht düster wie Fincher, mehr so mit Problemfilmflair und in gedecktem Kolorit. Überall Schmerz; lässt aber eh bald nach. Am Ende ist Heilung da. Muss ja, sonst würde es nicht in der Voice-over der titelgebend manisch bahnfahrenden Heldin so groß ausbuchstabiert, von wegen, dass sie jetzt in einem anderen Zug sitzt und nach vorne schaut. Das Leben scheint irgendwie wie eine Zugfahrt zu sein – aber das ist jetzt wahrscheinlich eine eher gewagte Deutung.

Wie die meisten noch der nichtssagendsten Filme ist auch dieser recht okay und engagiert gespielt, mit Emily Blunt allen voran als Alkoholikerin mit Vodka-Nuckelflasche und Filmriss, aber ohne Makeup.

Blair Witch Project

(USA 1999, Regie: Daniel Myrick, Eduardo Sánchez)

Aktenzeichen XY
von Drehli Robnik

Ein No-Budget-Film als Horror-Welterfolg, Fälschung und Hypertext: ‚The Blair Witch Project‘ zeigt, wie Jugendliche, die an Hexen glauben, sich verirren; erst im Wald, dann im Internet. ‚Ihr redet nur von …

Ein No-Budget-Film als Horror-Welterfolg, Fälschung und Hypertext: ‚The Blair Witch Project‘ zeigt, wie Jugendliche, die an Hexen glauben, sich verirren; erst im Wald, dann im Internet.

‚Ihr redet nur von den Projekten und von eurem neuen Stück.
Manchmal frag ich mich, bin ich oder ihr verrückt.‘
Tocotronic

Der letzte Sommer war ein Horror-Sommer, zumindest in den US-Kinos, woraus sich für Österreich ein Horror-Winter ergibt: ‚The Haunting‘ blockiert noch mehrere Säle, mit ‚House on Haunted Hill‘ kommt bald ein weiterer Spukhaus-Film, und ‚Stigmata‘ weckt in den USA gerade Erinnerungen an den ‚Exorzist‘ (dessen Hauptdarstellerin Linda Blair hieß). ‚The Blair Witch Project‘ reitet auf einer Welle mit, die den Horror verschiebt: von der an Ekelgrenzen rührenden Fleischlichkeit des ‚body horror‘ (Splatter und Cyberpunk der Achtziger) zu einem eher atmosphärischen Gruseln. Schon 1998 deuteten die spukhausartigen SciFi-Ambientes von ‚Event Horizon‘ und ‚Sphere‘ eine Neue Unheimlichkeit an, die sich nun prätechnologischer Sujets bedient: Geister, Teufel und die ‚Blair Witch‘. Von der sieht man im nach ihr benannten Film nur Spuren – geflochtene Talismännchen, ein ausgerissener Zahn –, hört man nur Schreie und Rascheln im Wald. Gezeigt wird sie nicht, und zwar deshalb, weil es sie gibt. ‚Blair Witch Project‘, von Haxan Films, einem Team von Filmstudenten aus Florida, um 35.000 Dollar gedreht, ist eine gruslige, minimalistische ‚Fake-Doku‘, eine gefälschte Dokumentation zwischen Reality-TV und Found Footage.

1994 verschwanden drei Filmschul-Studis bei Arbeiten an einer Reportage über eine Hexenlegende in den Wäldern von Blair, unweit von Washington; gefunden wurde nur ihr gedrehtes Material. Diese auf den Werbeträgern sowie am Beginn des Films zu lesende Behauptung ist der Parameter, unter dem das Gezeigte verstanden sein will: Zwei Burschen und ein Mädchen interviewen Dorfleute, irren tagelang durch den Wald, werden nachts von der Hexe umspukt, leiden an panischer Angst und Erschöpfung, streiten sich und filmen einander dabei unentwegt (oft auf Video, manchmal auf 16mm, immer verwackelt), bis sie abrupt verschwinden. Das Bild dient, umso mehr, als es so räudig ist und nur seinen Herstellungsprozess zeigt, als Beweismittel, aber als gefälschtes. Beides sieht man zugleich: die Echtheit und ihre Fabrikation; der Reiz beim Anschauen liegt im Schwanken zwischen schauderndem ‚I want to believe‘ und Freude an der fälscherischen Virtuosität.

Man muss jedoch zweierlei bedenken: erstens die Naivität vieler Amis und anderer, die das ‚double-coding‘ nicht mitspielen, sondern, so heißt es, die rätselhaften Vorfälle eins zu eins nehmen. Zweitens den Umstand, dass ‚Blair Witch Project‘ (im Unterschied zu Fake-Dokus wie ‚Zelig‘, ‚Mann beißt Hund‘ oder der famosen Alien-Reportage ‚Die Delegation‘) eher ein intermedial wuchernder Hypertext als ein Film ist, work in progress, open case mit open end, ein Projekt: Der Kinofilm ist Gegenstand und Vorwand, Herz und Beiwerk einer cleveren PR-Kampagne – von an Schulen in den USA verteilten Vermisstenanzeigen über eine zum Kinostart gesendete TV-Fake-Doku bis zur ‚Blair Witch‘-Website. Sie ist die Matrix, aus der das Projekt entsteht; sie kocht Gerüchte, bewirbt den Film als Fall und seine dauerhaft auswertbaren Derivate als Indizien (Soundtrack, buchförmiges Polizei-Dossier, ‚unveröffentlichtes Material‘ auf Kaufvideos) und gibt der Rezeption einen Leitmodus vor: Das Film-Schauen wird überformt vom nachhaltigen Surfen, Chatten und Zuhause-Weiterkochen.

Klingt nach Kult. Klingt, als wäre alles Diskurs und Design, Marketing eines No-Budget-Videos nach dem Blockbuster-Prinzip, ‚Twin Peaks‘ auf echt plus Internet, wobei Laura Palmers Tagebuch das Notizheft der verschwundenen Videofilmerin auf der Website entspricht. ‚Documentation. Verifying existence. I am verifying that I am still here.‘ lautet ein Eintrag darin. Das formuliert ein anderes, zutiefst ‚filmbildliches‘ Projekt: Der oft bedrückende Realismus der fragilen, wackligen Bilder, der zerbrechliche Menschlein in einem Jammertal aus Verirrtheit, Erschöpfung und Todesangst zeigt, reiht ‚Blair Witch Project‘ unter die ‚Survival-Filme‘ der Neunzigerjahre. Etwas hat überlebt: Menschen verschwinden (auf sehr unterschiedliche Weise), aber es bleiben berührende, ‚authentische‘ Filmbilder, die ihre Existenz bezeugen, ihre verzweifelte Kreatürlichkeit vergegenwärtigen – bei Spielberg, auf der ‚Titanic‘ oder im Wald von Blair: kunstvoll kaputte Bilder vom Leid ermordeter Juden oder sterbender Soldaten; Kate Winslet, wie sie vor Kälte winselt; eine zitternde, verschnupfte Filmstudentin, die ihren Rest an Dasein in die Hi8-Kamera wimmert.

Das Pathos des Überlebens macht kulturellen Sinn als Drama jener Überflüssigkeit, die viele Leute (und Studierende) im Neoliberalismus an sich selbst empfinden; es beschwört aber auch das Überleben des Kinos, zumal das Projekt seiner Wiederbelebung als Handwerk mit Herz im Zeichen der Video-Amateur-Ästhetik. Artisan (‚Handwerker‘) heißt die Independent-Firma, die ‚Blair Witch Project‘ gekauft hat, von einem Team, das nach ‚Häxan‘ benannt ist, einer 1922 vom Dänen Benjamin Christensen gedrehten Horror-Spieldoku über Hexenkult. Natürlich, Dänemark: Dort dreht man heute auch auf Video, nach dem cinephilen Reinheitsgebot des Handkamera-Minimalismus, mit method actors in Selbsterfahrungsgruppen, die sich existenzielles Leid virtuos aus dem Leib schreien. ‚Dogma‘ nennen das die Dänen, und sie lügen nicht; ‚method filmmaking‘ nennen die Fälscher aus Florida ihre Art des Drehens als ‚Survival-Training‘ mit im Wald ausgesetzten Darstellern, die improvisieren, einander filmen und ihre Angst wirklich empfinden. Alles ‚Absolut Life‘: ein PR-Schmäh, dem im gleichnamigen ORF-Magazin ein Psychologe die Echtheit bescheinigte.

Dogma-Filme sprießen zur Zeit weltweit wie die Schwammerln, und vielleicht finden auch die Haxan-Wizards Nachahmungstäter, die mit der Digicam zum Trashfilm-Survival-Fake z.B. in den Wienerwald ausrücken. Die US-Parodie ‚The Blair Clown Project‘ ist bereits in Produktion; eine nettere Paraphrase hat ein texanischer Zeitungscartoonist mit seiner Deutung des Dramas als Leiden an Kopfhautjucken vorgelegt: ‚The Hair Itch Project‘.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Falter #48/1999

The Purge: Election Year

(USA / F 2016, Regie: James DeMonaco)

Black Power versus Nationalwahn im Wahljahr
von Drehli Robnik

Es begann 2013 als Home Invasion-Thriller rund um die Heimsuchung reihenhäuslich abgeschotteter weißer Mittelständler durch ihre Schuldgefühle und durch einen schwarzen Schutzsuchenden. Teil 3 wächst sich zur Gangland-Dystopie kreuz und …

Es begann 2013 als Home Invasion-Thriller rund um die Heimsuchung reihenhäuslich abgeschotteter weißer Mittelständler durch ihre Schuldgefühle und durch einen schwarzen Schutzsuchenden. Teil 3 wächst sich zur Gangland-Dystopie kreuz und quer durch Washington aus. ‚The Purge: Election Year‘ etabliert das Franchise-Setting viel zu kurz (immerhin, die krasse Sirene ist noch da): Für eine Nacht im Jahr dürfen alle, die wollen, ’säubern‘ – bis hin zum Mord (der hier nun gepimpt ist zu grotesken Foltern und Ritualen). Opfer dieses rechten Staatsneugründungsfeiertags (America – a nation reborn) sind zumeist Arme und People of Color. Eine weiße Präsidentschaftskandidatin mit Hipsterbrille will das ändern. Frank Grillo, der Held von ‚The Purge: Anarchy‘ (2014), spielt ihren Bodyguard. Er wird der neue Dolph Lundgren.

Rassismus- und Klassismuskritik ist hier Teil des umfassenden Action-Cosplay: Die weiße Altherren-Junta feiert ihre Allmacht in der Kathedrale, eine Black Power-Organisation richtet Ärztenotruf- und Selbstschutz-Dienste ein. Das ist grell, aber es ist nicht nichts – zumal im endlosen Election Year, dort wie hier.

Die glorreichen Sieben

(USA 2016, Regie: Antoine Fuqua)

Suicide Squad mit Bart und Hut
von Drehli Robnik

‚Die glorreichen Sieben‘ ist das Remake des gleichnamigen Gunslinger-Teamwork-Westerns von 1960, folgt aber dem Skript von Akira Kurosawas ‚Die sieben Samurai‘ von 1954 (auf dem wiederum sechs Jahre später der …

‚Die glorreichen Sieben‘ ist das Remake des gleichnamigen Gunslinger-Teamwork-Westerns von 1960, folgt aber dem Skript von Akira Kurosawas ‚Die sieben Samurai‘ von 1954 (auf dem wiederum sechs Jahre später der Western basierte). So heißt es im Abspann und im Promo-Interview zur aktuellen Verfilmung. Immerhin ist nun, wenn schon kein Samurai so doch ein Schwertkämpfer, gespielt vom Koreaner Byung-hun Lee, Teil der ‚Magnificent Seven‘ (O-Titel) im Western-Outfit.

Das ist nicht die einzige ethnische Innovation. Der 1960er Film war ambivalent: Er zeigte einerseits, ganz kolonial, die mexikanischen Bauern, denen sieben US-Profis gegen eine lokale Mordbrenner-Bande beistehen müssen, als feig und blöd; zugleich aber wurden sie im Dialog von ihren Ami-Helden-Helfern ständig um ihr sesshaftes Leben beneidet und so als legitime Spießer, eigentlich Pendants zu den vielen, die im Kino sitzen, rehabilitiert. Und es gab auch Anspielungen auf weißen Rassismus – gegenüber ‚Indianern‘ (zumal toten, die auf den Friedhof sollen).

Würde der 2016er Film Mexikaner so zeigen, als Dillo-Dorf bzw. Killer-Gang, wäre er für Trump. Ist aber nicht so: Er spielt in den USA, der Schurke ist quasi Immobilienhai (Peter Sarsgaard als obszön parlierender neofeudaler Grundherr). Die multiethnischen Sieben (schwarz, weiß, American Native, Latino, Asian) führt Denzel Washington in der ‚Yul Brynner-Rolle‘ recht souverän an, wieder unter seinem Hausregisseur Antoine Fuqua. Aus dem farblosen Dorfvolk sticht Haley Bennett als Girl with a Gun hervor.

In den Sixties waren die Sieben wortkarg, gelassen und prägend für Eastwoods und Djangos Coolness-Etüden; heute sind sie den Plaudertaschen von Tarantino-Western nachgestaltet. (An Western-Vorbildern blinkt da aber Verschiedenes durch, von Eastwoods ‚High Plains Drifter‘ bis Leones ‚My Name Is Nobody‘.) Die einstige Outsider-Melancholie weicht nun dem Freak-Chic einer Saloon-Therapiegruppe. Ethan Hawke ist schön schäbig, Vincent D’Onofrio zu bärig, Chris Pratt wär gern lustig. (Falls jemand fragt: Pratt spielt die Steve McQueen-Rolle, Hawke die von Robert Vaughn; aussehen tut er aber wie ein Downgrade von John Carradine als abgehalftertem Südstaaten-Gentleman in John Fords ‚Stagecoach‘. Ein Pendant zu Horst Buchholzens Rookie-Rolle gibt es nicht.)

Mehr erdig als nerdig ist die Action: knarrende Balken, rauschende Bärte, rauchende Colts, rächende Burschen. Am Ende Endlosgeballer, unter anderem mit der gefürchteten knatternden Gatling Gun, gute Stunts vom Pferd oder Dach aus, mehr als ein Hauch von Westernkulissenstadtshow. Geht aber eh okay. Zuletzt kommt noch Elmer Bernsteins tolles Titelthema. ‚The Magnificent Seven‘ von The Clash kommt nicht. Macht auch nix.

Ma Folie

(A 2015, Regie: Andrina Mracnikar)

Ver-rückte Wirklichkeit
von Wolfgang Nierlin

Ein langer Blick in einem Pariser Café setzt die Amour fou zwischen Hanna (Alice Dwyer) und Yann (Sabin Tambrea) in Gang. Zugleich überführt er die zunächst subjektive Perspektive des Zuschauers …

Ein langer Blick in einem Pariser Café setzt die Amour fou zwischen Hanna (Alice Dwyer) und Yann (Sabin Tambrea) in Gang. Zugleich überführt er die zunächst subjektive Perspektive des Zuschauers in eine objektive, die allerdings vorläufig bleibt. Denn Adrina Mračnikar inszeniert in ihrem eindrucksvollen Debütfilm „Ma folie“ mit zunehmender Intensität ein ebenso komplexes wie irritierendes Spiel mit der Wahrnehmung. Obwohl Setting und Handlung stets „realistisch“ bleiben, wird die „Wirklichkeit“ unsicher. Zwischen Wahrheit und Lüge, Einbildung und Realität bekommt das Leben Risse, droht es zu entgleiten.

Zurück in Wien erreichen Hanna, die als Psychotherapeutin mit traumatisierten Kindern arbeitet, nämlich Videobotschaften von Yann, sogenannte „Lettres filmée“, in denen sich Spielfilmschnipsel, Found footage-Material aus dem Internet und private Handyaufnahmen mischen. Diese unterlegt der verliebte Absender mit merkwürdig tragisch klingenden Sehnsuchtssätzen: „Ich übe, ohne dich zu sein.“ Und: „Du bist alles, was ich immer wollte.“ Mit diesem leicht bedrohlich wirkenden Ausschließlichkeitspathos zieht Yann bald darauf zu Hanna nach Wien, wo sich zwischen den beiden eine leidenschaftliche Liebe entspinnt. Deren Verrücktheiten führen jedoch auch zu Verrückungen des Alltags, zu Nachlässigkeiten und Versäumnissen. Vor allem aber reagiert Yann auf Hannas früheren, langjährigen Freund Goran (Oliver Rosskopf) mit unerwartet heftiger Eifersucht. Dabei zeigt er sich dominant und auf zunehmend verstörende Weise unberechenbar, bis es schließlich zum Bruch zwischen den beiden kommt.

Adrina Mračnikar verwandelt in der Folge ihren Liebesfilm konsequent in einen spannenden Psychothriller, der das Vertrauen der Heldin ins vorgeblich Tatsächliche, schließlich aber auch in sich selbst nachhaltig erschüttert. Schleicht sich der Horror zunächst noch durch Yanns zunehmend gewalttätiger aussehende Videobriefe in ihren Alltag, muss Hanna bald darauf erkennen, dass sie von ihm wie von einem dunklen Schatten „gestalkt“ und überwacht wird. Überlagert und gespiegelt findet sich diese latente Bedrohung, auf die Hanna mit Angst und Panik reagiert, durch Konflikte am Arbeitsplatz. Im dichten Gewebe aus unheilvollen Zeichen und Alpträumen, Schuldgefühlen und Stress, Selbst- und Fremdwahrnehmung werden Hannas Gewissheiten (und die der Zuschauer) empfindlich erschüttert. Die Wirklichkeit selbst scheint sich in Manipulationen und Täuschungen zu verlieren. Das Bild von ihr wird zu einer Frage der (filmischen) Perspektive, der psychischen Verfassung oder auch der Materialität des Aufnahmeträgers.

Alice und das Meer

(F 2014, Regie: Lucie Borleteau)

Irrfahrt der Gefühle
von Wolfgang Nierlin

Blau ist die Farbe dieses Films über die Sehnsucht nach Liebe inmitten unsteter Gefühle. Aus der Vogelperspektive erfasst die Kamera eine junge Frau beim Schwimmen im klaren, frischen Meer. Sie …

Blau ist die Farbe dieses Films über die Sehnsucht nach Liebe inmitten unsteter Gefühle. Aus der Vogelperspektive erfasst die Kamera eine junge Frau beim Schwimmen im klaren, frischen Meer. Sie ist nackt und schön, jung und frei. Am Strand hat Alice (Ariane Labed) Sex mit Félix (Anders Danielsen Lie), einem Comic-Zeichner aus Norwegen. Dieser zeichnet gerade ein Bild, auf dem Alice eine Meerjungfrau ist, die sich in die Fluten stürzt, während er selbst tränenüberströmt an Land zurückbleibt. Alices Element ist das Wasser. Als Zwitterwesen muss sie Leben, Liebe und Arbeit aufteilen zwischen den Tagen an Land und denen auf See. Tatsächlich arbeitet sie trotz ihrer zarten Erscheinung als zweite Mechanikerin auf einem Frachtschiff inmitten von Männern. Doch Alice ist selbständig und resolut genug, sich zu verteidigen und ihre Unabhängigkeit zu wahren.

„Fidelio, l’odyssée d’Alice“ heißt Lucie Borleteaus beeindruckender, eigenwillig gestimmter Debütfilm „Alice und das Meer“ im französischen Original. Zwischen Treue und sexueller Hingabe, Sehnsucht und Lust navigiert die maritime Heldin auf einer Irrfahrt der Gefühle durch das Blau einer schieren Unendlichkeit und gerät dabei in einen Konflikt zu ihrer „großen Liebe“ Félix, nach dem sie sich in Erwartung verzehrt. Denn auf der maroden „Fidelio“, die früher „Éclipse“ hieß, begegnet sie in Gestalt des Kapitäns ihrem früheren Ausbilder und Liebhaber Gaël (Melvil Poupaud), mit dem sie erneut eine stürmische Affäre beginnt. Alice, die sagt, sie werde „nie eine normale Frau sein“, will alles in der Liebe und setzt sich damit der Angst aus, „alles zu verlieren“. Denn nicht immer bleibt das, was auf See passiert, auch dort, wie ein alter Seemannsspruch behauptet. Und die Gefühle sind so unstet wie das schwankende Schiff auf den bewegten Wassern.

Ganz unaufdringlich und zart spielt Lucie Borleteau mit diesen Motiven und Metaphern, um ihren ansonsten realistischen Film in eine sinnliche Atmosphäre zu tauchen. Überraschend offen und freizügig begleitet sie die Odyssee ihrer sehnsuchtstrunkenen Heldin zwischen leidenschaftlichem Sex und der vergeblichen Suche nach Liebe. Von einer solchen handelt nämlich das Tagebuch eines verstorbenen, herzkranken Seemanns, dessen Kajüte Alice eingangs bezieht. In den Schattenseiten der poetischen Notate findet sie schließlich Kraft für ihr eigenes Leben. Gleichwohl lösen sich im Spiegel der Negation nicht einfach die Konflikte, sondern Lucie Borleteau schafft durch Ellipsen, Unausgesprochenes und beredte Blicke immer wieder Raum für die Ungewissheit. Das Schiff mit seinem engen, labyrinthischen Maschinenraum ist kein sicherer Ort und das Meer ist voller Gefahren und dunkler Lockungen, worauf schon der mysteriöse Beginn des Films hindeutet, wenn Alice in dunstiger Nacht die „Fidelio“ besteigt. Dazu passen Sätze aus dem Tagebuch des einsamen Seefahrers, wo es ahnungsvoll heißt: „Der Wind hat sich gelegt. Das Meer lächelt sein blaues, scheinheiliges Lächeln und versteckt seine Zähne aus weißer Gischt.“

War Dogs

(USA 2016, Regie: Todd Philips)

Dummdreiste Dudes drehen dickes Ding, oder: Was war nochmal Neoliberalismus?
von Drehli Robnik

Zur Mitte dieser fact-based Farce über zwei betrügerische US-Waffenhändler in den Bush- und Irakkriegsjahren gibt es eine Sequenz auf einer grotesken Rüstungsindustriemesse in Las Vegas (‚like Comicon with grenades!‘). Plötzlich …

Zur Mitte dieser fact-based Farce über zwei betrügerische US-Waffenhändler in den Bush- und Irakkriegsjahren gibt es eine Sequenz auf einer grotesken Rüstungsindustriemesse in Las Vegas (‚like Comicon with grenades!‘). Plötzlich taucht Bradley Cooper als ominös eingeführte Oberchecker-Nebenfigur auf. Der Star der ‚Hangover‘-Filme an deren Hauptschauplatz, in einem Ulk von ‚Hangover‘-Regisseur Todd Phillips: Dieser Moment sagt ,,He, ich mach einfach mein Ding!‘ – und signiert so quasi, worum es in ‚War Dogs‘ geht: das große Getting away with it.

Wie in ‚Hangover‘: Dudes auf Droge drehen es irgendwie. Spießig, zynisch, ramponiert, bei dubiosem Tun, das aufgetürmte Notlügen vor der Gattin verbergen: Rumalbern in Albanien, Fellatio in Falludja (‚This is a Muslim country! I can´t even get a blowjob here!‘). Die Orientalismen von Ugly Americans sind so offenherzig, ohne Relativierungsrahmen, ausgestellt wie ihre Deals: insbesondere das Repackaging veralteter, mit Embargo belegter chinesisch-albanischer Munition, die als Neuware ans Pentagon geht. Wenn Selbstüberschätzer mit RayBan zu ‚Wish You Were Here‘ in Zeitlupe die AK-47 melken, ist das ein Zitat der meistzitierten Kinokomikikone der Zehnerjahre: der Wolfpack-Zeitlupenpose wilder Dillos aus ‚Hangover‘.

Es kommt noch dicker: Jonah Hill spielt den Skrupelloseren (den Skrupulöseren gibt Miles Teller). Also heißt es Wolfpack of Wall Street, Vegas heißt Casino, die Dealer sind Good Fellas (in Fellatio-Not). Machos auf Koks improvisieren in einer kriminell ambitiösen Ökonomie zwischen Bröselprofiten und dem zu großem Kuchen, in Standbildern, Flashback und effektivem Timing von Sagern und Songs: Das ist Scorsese repackaged. Nur ist es weniger schlau (trotz auf entlarvend machender Titelinserts wie ‚God bless Dick Cheney´s America!‘); es ist auch nicht Hormonhabitusanalyse mit pädagogisch-kokettem Anspruch wie The Big Short‚. Es ist halt vorwiegend nur kokett, nicht mehr und nicht weniger (weder Kuchen noch Brösel): nettes Nullerjahre-Retro, Neoliberalismusnostalgie im Rückblick auf die Zeit vor dem endlosen Hangover.

Auf einmal

(DE/NL/FR 2016, Regie: Asli Özge)

Einer von euch
von Wolfgang Nierlin

Auf der inhaltlichen Ebene wissen wir von diesem Film nur, was uns seine Hauptfigur wissen lässt. Konsequent konzentriert sich Asli Özge in ihrem scharf beobachteten, gesellschaftskritischen Psychothriller „Auf einmal“ auf …

Auf der inhaltlichen Ebene wissen wir von diesem Film nur, was uns seine Hauptfigur wissen lässt. Konsequent konzentriert sich Asli Özge in ihrem scharf beobachteten, gesellschaftskritischen Psychothriller „Auf einmal“ auf das Erleben ihres Helden Karsten Böhm (Sebastian Hülk). Nach einer Party und dem Tod einer jungen Frau gerät der aus gutsituierter Kleinstadtfamilie stammende Banker ins Zwielicht und unter Verdacht. Weil er nicht rechtzeitig den Notruf gewählt hat, wird wegen unterlassener Hilfeleistung gegen ihn ermittelt. Zu Selbstvorwürfen und unterschwelligen Schuldgefühlen kommt also noch eine öffentliche Anklage hinzu, was durch die Enge der von Bergen eingekesselten Stadt Altena verstärkt wird. Selbst Karstens Freundeskreis reagiert mit Misstrauen und zunehmender Distanz. Seine Freundin Laura (Julia Jentsch) verlässt ihn; von seinem Arbeitgeber wird er versetzt. Während der äußere Druck steigt, gerät Karsten in eine gesellschaftliche Isolation.

„Denn an sich ist nichts weder gut noch böse, das Denken macht es erst dazu“, zitiert Asli Özge zu Beginn aus Shakespeares „Hamlet“. Ungeklärte Details, ein Anflug von Schwäche sowie Karstens „irrationales“ Handeln in der Unglücksnacht lassen die bösen Gedanken wachsen. Lügen und Geheimnisse treten zutage, aber auch die jeweiligen Eigeninteressen der Beteiligten. Mit Machtspielen versuchen diese, dem Konformitätsdruck standzuhalten und ihr Image zu wahren. Im kleinstädtischen Milieu werden dabei vor allem kulturelle und soziale Trennlinien sichtbar. Denn das Opfer stammt aus einer Familie von Russlanddeutschen.

Als seine Pflicht erfüllendes Mitglied des Systems, das noch in seinem persönlichen Rachefeldzug darauf bedacht ist, den Status quo wiederherzustellen, sagt Karsten einmal wutentbrannt zu seinen Eltern: „Das Schlimmste ist es, einer von euch zu sein.“ Bei einem kurzen Ausbruchsversuch in die Natur sieht man den Protagonisten hoch oben auf einem Berg, aus der Untersicht gerahmt von Gipfelkreuz und Deutschlandflagge. Mit einer ausgefeilten Bildsprache und einem unterkühlten Erzählduktus zeichnet Asli Özge in ihrem spannenden, mit vielen blinden Flecken versehenen Film eine widersprüchliche Figur, die sich einer einseitigen Identifikation entzieht. Und die unter dem Druck der Gesellschaft vom Opfer zum Täter wird, als sei dies ein Naturgesetz. Rammsteins brachialer, den Bandnamen zitierender Abspannsong wirkt diesbezüglich wie ein radikaler Schlussstrich unter Özges düstere, in Herbstfarben getauchte Gesellschaftsvision.

Meine Zeit mit Cézanne

(FR 2016, Regie: Danièle Thompson)

Szenen einer Freundschaft
von Wolfgang Nierlin

Der Gegensatz ist das Motiv dieser fast lebenslangen, in vielen Briefen dokumentierten Freundschaft. Entsprechend kontrastreich erzählt die französische Regisseurin und Drehbuchautorin Danièle Thompson in ihrem Film „Meine Zeit mit Cézanne“ …

Der Gegensatz ist das Motiv dieser fast lebenslangen, in vielen Briefen dokumentierten Freundschaft. Entsprechend kontrastreich erzählt die französische Regisseurin und Drehbuchautorin Danièle Thompson in ihrem Film „Meine Zeit mit Cézanne“ (‚Cézanne et moi‘) von der ebenso tiefen wie schwierigen Beziehung zwischen dem Schriftsteller Émile Zola und dem gleichaltrigen Maler Paul Cézanne. Wie der Titel des Biopics bereits andeutet, ist dafür die Perspektive des berühmten Autors bestimmend oder zumindest vorherrschend. Weshalb dieser auch gleich zu Beginn, inmitten eines Wusts von Manuskriptseiten, die Erinnerung in Gang setzt und damit auch die verschachtelte, zwischen verschiedenen Zeit- und Ortsangaben wechselnde Erzählkonstruktion. 1888 erwartet Zola an seinem stattlichen Wohnsitz in Médan, was historisch nicht belegt ist, seinen Künstlerfreund aus dem Süden und wirkt dabei eher unwillig.

Während Thompson in ihrem episodisch strukturierten, fast impressionistisch hingetupften Film die Kindheit und Jugend der beiden Freunde in Aix-en-Provence sehr kursorisch und gerafft behandelt und dabei zugunsten einer pittoresken Süßlichkeit einiges verschenkt, dehnt sie den künstlerischen Konflikt der beiden genialisch veranlagten Männer auf fast zwei Stunden. Denn in Paris reüssiert Zola (Guillaume Canet) bald zum gefeierten Schriftsteller, der sich als Kritiker für die umstrittenen Impressionisten einsetzt; er heiratet das Malermodell Alexandrine (Alice Pol), begehrt trotzdem das scheue Hausmädchen Jeanne (Freya Mavor) und ergreift Partei („J’accuse“) in der Dreyfus-Affäre. Dagegen erscheint der stets impulsiv, unangepasst und zornig auftretende Cézanne (Guillaume Gallienne), Spross einer wohlhabenden Familie, als verkanntes Genie, das sich von seinem Freund zunehmend verraten fühlt. Den Gnadenstoß versetzt ihm schließlich die Lektüre von Zolas autobiographischem Buch „Das Werk“, das 1886 (!) erscheint.

Der kompromisslose Avantgardist und Wegbereiter der Moderne, dem künstlerische Anerkennung und finanzieller Erfolg verwehrt bleiben, sieht darin ihre Freundschaft ausgebeutet. Zudem muss er, der selbst die Kunst über das Leben stellt und seine Lebensgefährtin Hortense (Déborah François) instrumentalisiert, erkennen, dass Zola ihn zwar finanziell unterstützt, aber nicht wirklich an ihn glaubt. Einmal sagt Cézanne: „Ich würde gerne so malen können wie du schreibst.“ Dabei ringt Zola insgeheim selbst oft schmerzlich um seine Kunst. Doch das alles wird von Danièle Thompsons etwas langatmigem Film, der an vielen reizvollen Originalschauplätzen gedreht wurde, in ausführlichen Dialogen und hitzigen Wortgefechten mehr behauptet als in Bildern erzählt. Diese bleiben ihrem Gegenstand weitgehend äußerlich. Sogar die künstlerischen Antriebe der beiden Protagonisten muten etwas blass an angesichts einer Freundschaft, die ihren Ausgang bei einem gemeinsam gegen andere Mitschüler ausgefochtenen Ringkampf nimmt.

Snowden

(USA / D / F 2015, Regie: Oliver Stone)

Ein Mann sieht nur mit dem Herzen alles
von Drehli Robnik

Prismen prägen das Bild. Es geht um Prismenprogramme, die die NSA einsetzt, um terrorverdächtige Formulierungen aus zahllosen weltweiten E-Mails zu filtern; da passt es doch gut, dass in ‚Snowden‘ manch …

Prismen prägen das Bild. Es geht um Prismenprogramme, die die NSA einsetzt, um terrorverdächtige Formulierungen aus zahllosen weltweiten E-Mails zu filtern; da passt es doch gut, dass in ‚Snowden‘ manch ein Objekt und Gesicht per Lichtbrechung deformiert und für das Auge schwer zu lesen ist.

Oliver Stones Biopic über den Whistleblower Edward Snowden sucht die Killer-App. Wie kann das Abstraktum ‚Überwachung als globaler Staatsmacht-Übergriff‘ anschaulich werden? Durch Satire-Montagen nach Art von Michael Moore? Durch Filmbilder, die – wie etwa in ‚Inside Wikileaks‘ – so aussehen, als wollten sie ein digitales Hirnsausen noch übertrumpfen? Beides gibt es hier (und einen Hongkong-Hotel-Interview-Videodreh mit Snowden und beherzten Zeitungsreportern als Rahmenhandlung zum Lebensstationenplot); aber der Akzent liegt weder darauf noch auf den Prismen selbst, sondern: Wie in all seinen Historienfilmen, von ‚Alexander‘ (dem Großen nämlich) über die gewalttätigen Sixties (‚Platoon‘, ‚Born on the 4th of July‘, ‚The Doors‘, ‚JFK‘) bis zum Schutt des ‚World Trade Center‘, setzt Stone als Regisseur auf das biografische Individuum als Erfahrungsträger. Das heißt, zur Machtkritik muss der echte Mann ran: Er ist es, der Bilderfluten und -brechungen wie auch den Zynismen seiner Zunft standhält (‚All das können wir machen!‘ sagt der Techniknerd, ‚All das müssen wir machen!‘ sagt die Staatsräson jeweils zu Snowden); der echte Mann verarbeitet Eindrücke, wägt sie gegeneinander und gegen Grundsätze ab, gelangt dabei zur ethischen Reife und lässt all das zum richtigen Zeitpunkt als Ausdruck, sprich: Monolog, raus. So weit, so konservativ und autoritär.

Stone bietet Imperialismusskepsis als eine Form von Amerikapatriotismus. Das macht sein Projekt knifflig. Dass er Snowdens Herzensprägung gar so unterkomplex rüberbringt, das wirkt, als würde es sicherheitshalber geschehen. Bis der NSA-Bub seinen verhärteten väterlichen Mentor zuletzt als ultimative Riesenmonitorpatriarchenfratze sieht, müssen wir in viele ostentativ ominöse, betriebsblinde, pathetische Gesichter blicken, die uns alle sehr viel sagen sollen; Snowdens liberale Freundin gibt dazu das Plauderton-Kontrastprogramm, ebenso ostentativ. Ein Sinn für bunkerartige Büroräume, die das durchwegs männliche Programmierermilieu mit formen, zeigt sich und dringt doch nicht ganz durch.

Nicolas Cage tritt als guter Mentor nur kurz auf; aber sein zur Trademark gewordenes Schmierenspiel scheint den Ton für alle darstellerischen Leistungen in diesem Film vorzugeben – für Melissa Leo, Zach Quinto und Tom Wilkinson als Hotelzimmerservice-Trio der kritischen Medien sowie für Rhys Ifans, Shailene Woodley und selbst Joseph Gordon-Levitt in der sympathischen Titelrolle. Am Ende steht Snowdens Exil in Moskau: Da wird es dann echt echt. Es soll nicht gespoilert werden – zum einen, weil es eh ein bissl klar ist; zum anderen ist es schon auch rührend.

Blair Witch

(USA 2016, Regie: Adam Wingard)

The Seventeen Year Witch
von Drehli Robnik

The Blair Witch Project‚ war 1999 der Auftakt zu vielem: Online-Ausfransung von Kino, virale Werbung für Konzeptfilme, Found Footage-Horror, Popularisierung von Mockumentary und Wackelkamera. Und es war ein toller Schocker …

The Blair Witch Project‚ war 1999 der Auftakt zu vielem: Online-Ausfransung von Kino, virale Werbung für Konzeptfilme, Found Footage-Horror, Popularisierung von Mockumentary und Wackelkamera. Und es war ein toller Schocker (sowieso das bessere Dogma-Kino) wie auch prägnante Bildwerdung eines medienhistorischen Moments: Es gab gerade soviel an Video für alle (und Netz für manche), dass alles mögliche gezeigt werden konnte, eben auch Bilderspuren dreier Slacker beim Rumtorkeln, Einander-Dokumentieren, Nuscheln und Kreischen in den Black Hill Forests von Maryland, aber doch so wenig, dass davon fast nichts wahrzunehmen war: nur Rauschen in Wald, Bild und Ton. Nix mit Hex.

Und nun (nach der üblen Überraschungserfolgs-Exploitation-Nicht-Fortsetzung von anno 2000) das Streber-Sequel ‚Blair Witch‘ vom an sich okayen Horrorhommagenjungmeister Adam Wingard: Hexenwald-Aufmarsch der Schönen in Teamstärke und unter Drones, mit Drohne und Fußfäulniswurm; Wackeln, Glitch und Kreisch im Dunkeln als Klassizismus; Endlosfinale im Handabdruck-Haus. Wo einst perfide Krudheit und Mangelökonomie waren, regieren nun Verfügbarkeit, Stilwille, richtige Regie und mäßiger Grusel. Daraus die Lehre: Es fehlt die Leere. Am besten kommt immer noch Lichtflattern auf dichten Blättern. Auch diesmal heißt es markenzeichenhaft ‚I´m so sorry!‘. Ja, eh ist’s schad.

Zeit für Legenden

(USA / CAN 2016, Regie: Stephen Hopkins)

Googeln hätt' geholfen
von Jürgen Kiontke

Die Biografie des Ausnahmesportlers Jesse Owens ist eine Mustererzählung des 20. Jahrhunderts. Vierfacher Goldmedaillengewinner bei der Hitler-Olympiade in Berlin 1936, Ikonendarsteller für die Menschenrechte, Schauläufer gegen Pferde, Kettenraucher, Diskriminierter, Jazzimpresario, …

Die Biografie des Ausnahmesportlers Jesse Owens ist eine Mustererzählung des 20. Jahrhunderts. Vierfacher Goldmedaillengewinner bei der Hitler-Olympiade in Berlin 1936, Ikonendarsteller für die Menschenrechte, Schauläufer gegen Pferde, Kettenraucher, Diskriminierter, Jazzimpresario, Werbeprofi, mehrmals pleite gegangen: Das Lebensprogramm, das der schwarze Ausnahmeathlet, 1917 geboren und 1980 gestorben, absolvierte, reicht mit Sicherheit für mehr als einen Kinofilm.

Allerdings offensichtlich nicht so ganz für den von Stephen Hopkins. Der hat sich zwar mit Stephan James einen sehr guten Hauptdarsteller ausgesucht – und rennt Weltklasse durch die Erzählung von Owens’ Zeit auf der Universität bis zum Bankett zu seinen olympischen Ehren, das er durch den Seiteneingang und den Lastenaufzug betreten darf. In der Uni durfte er nur duschen, wenn es ihm vom weißen Footballteam erlaubt wird; der Ruhm scheint nicht viel wert.

Noch mal richtig gut wird der Film, wenn es um die Diskussionen im Olympischen Komitee geht. Sollen die USA im nationalsozialistischen Deutschland auflaufen? Mit welchem Team? Da fallen Funktionär Avery Brundage prima Argumente ein, warum Juden nicht für die USA starten sollen.

Was ‚Zeit für Legenden‘ hingegen gar nicht hinkriegt, sind Hitler und Konsorten wie Joseph Goebbels, dessen Darsteller Barnaby Metschurat nicht nur optisch eine rechtschaffene Fehlbesetzung ist. Text hat man ihm auch nicht gegeben. Vielleicht hätte das Team den Propagandaminister vorher mal googeln sollen.

Gründe, den Film komplett zu verreißen, sind das trotzdem nicht. Was in der Hauptsache an James’ darstellerischen Fähigkeiten liegt. Darüber hinaus überzeugen einige Szenen in ihrer Modellhaftigkeit: Das Problem, dass Politik im Sport bis heute nichts zu suchen hat, wird mehrfach bei den Komitee- und Politikertreffen ausgeleuchtet. Jeremy Irons glänzt hier als Prototyp aller korrupten Funktionäre in der Rolle des US-Sportpolitikers Brundage, dem bei den olympischen Verhandlungen mit den Nazis wie beiläufig auffällt, dass er ja auch noch ein Bauunternehmen hat.

Owens hingegen ist am anderen Ende der Skala: Soll er das Sportfest boykottieren, um ein starkes Zeichen zu setzen, oder soll er einen extrastarken Wettkampf abliefern? Eine Debatte wie von heute. Nennen wir es eine Studie, eine sehenswerte.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 8/2016

Seefeuer – Fuocoammare

(F/I 2015, Regie: Gianfranco Rosi)

Leuchten im Kino
von Jürgen Kiontke

Gianfranco Rosis kontroverser Dokumentarfilm „Fuocoammare – Seefeuer“ zeigt das Leben auf Lampedusa, dem Anlaufziel für Flüchtlinge, aus dem Blickwinkel eines zwölfjährigen Jungen Samuele schaut, zielt und drückt ab. Mit seinem …

Gianfranco Rosis kontroverser Dokumentarfilm „Fuocoammare – Seefeuer“ zeigt das Leben auf Lampedusa, dem Anlaufziel für Flüchtlinge, aus dem Blickwinkel eines zwölfjährigen Jungen

Samuele schaut, zielt und drückt ab. Mit seinem Kumpel spielt er Krieg, aber käme es drauf an, hätte er schlechte Karten: Er hat ein träges Auge, er sieht nicht gut, er muss zum Arzt.
Samuele lebt auf Lampedusa, dem Hotspot der Flüchtlingswellen aus Nordafrika in Italien, dort wo die Seelenverkäufer der Schlepper anlanden oder gerettete Menschen hingebracht werden.

Auf einem Auge blind, das ist nicht nur der Zwölfjährige, der hier über die Wiese tobt, so will dies der Regisseur Gianfranco Rosi verstanden wissen, dessen Dokumentarfilm „Fuocoammare“ der Insel Lampedusa ein Denkmal setzt. Die Krankheit des Jungen, der Fischer werden soll und hier ganz normal aufwächst, soll eine Metapher sein für das Agieren in der Flüchtlingsdebatte. Und schon der Titel soll erhellen: Seefeuer, das ist das Licht der Leuchtraketen, die die Rettungskräfte auf der Suche nach Überlebenden untergegangener Schiffe abschießen. Denn Leuchtpunkte will auch Rosi mit seinem Film in der aktuellen Debatte setzen, das Schicksal der Bootsinsassen soll nicht vergessen werden, „Fuocoammare“ soll dazu beitragen.

Ein Film zwischen jugendlicher Lebensfreude und Todeszone – zum Beginn der Arbeiten war diese Entwicklung zunächst aber nicht abzusehen. Als Rosi auf die Insel kam, waren keine Flüchtlinge da, das Zentrum für die Erstaufnahme wurde renoviert und war für einige Zeit geschlossen. Da lag es nahe, das andere, das eigentliche Lampedusa kennenzulernen, abseits des großen politischen Themas. So blieb es bekanntlich nicht, und Rosi bleibt auch nicht bei Samuele stehen. Er filmt beim einzigen Insel-Arzt, Pietro Bartolo, der Rosi mit seinen Schilderungen überhaupt erst dazu gebracht hat, den Film zu drehen. Ja, der Film ist notwendig.

Zu Bartolo gehen Samuele und auch die Menschen, die übers Meer kommen. Er erzählt von den Notrufen, die in der Rettungszentrale einlaufen, von sinkenden Schiffen und Überlebenden, die er aufsucht. Und auch Rosis Kamera ist dabei, wenn die Rettungskräfte die Boote ausräumen. Bei einem der abgeschleppten Schiffe ist der Innenraum voller Leichen. Ein Moment, wo das Medium Kino gleichsam zu einem Ende findet: Da ist auf der einen Seite der Willen des Künstlers, authentische Bilder für sein Anliegen zu finden, und das dürfte in diesem Moment auch gelungen sein. Drastischere Bilder als die von den während der Überfahrt Verstorbenen lassen sich schwerlich filmen; wie die Menschen gestorben sind, mag sich das Publikum dann ausmalen.„Anders als beim Holocaust oder bei Ruanda gibt es simultan Bilder und nicht erst danach“, sagt Rosi. Niemand könne sagen, er habe nichts gewusst. „Das nimmt die Politik in die Verantwortung: So wie die Regierungschefs sich zum Klimagipfel treffen, müssen sie zu Flüchtlingsgipfeln zusammenkommen und gemeinsam die Probleme in den Herkunftsländern angehen. Und sie müssen sich gemeinsam um die Aufnahme der aus Kriegen, Hungersnöten und schrecklichem Elend Geflüchteten kümmern.“

Die Bilder haben aber noch eine andere Seite: Sie befördern auch den Gewöhnungseffekt. Mit der Verarbeitung zum stilisierten Dokumentarfilm ist zudem gerade der Wille, die Ereignisse in ihrer ganzen drastischen Weise aufzuzeigen, ad absurdum geführt – hat man es nicht mit einem Kunstprodukt zu tun, das in diesem Februar einen bedeutenden Filmpreis gewinnt und im nächsten Jahr tut dies ein anderer Film?
Der Kunstbetrieb befördert auch die Beliebigkeit, das Flüchtige und Serielle; morgen sehen wir uns etwas anderes an. Flucht, der Kultur-Event. Und was mag es überhaupt für einen Jungen bedeuten, neben den Toten als Hauptfigur zu agieren, und dann als Premieren-V.I.P. auf dem roten Teppich zu stehen? Diesem Dilemma, die Fragen nach der Reproduzierbarkeit des Schrecklichen, das später dann mal im Nachtprogramm von Arte versendet wird, umschifft Rosi, er debattiert es nicht. Und vielleicht ist es so am elegantesten: Er stellt die beiden Wirklichkeiten nebeneinander: Dort die Welt der Italiener, dort die Geflüchteten und mittendrin der Arzt.

Hätte es anders gehen können? Vielleicht ist für dieser Art Fragen keine Zeit. „Seefeuer“ soll im Kino leuchten, will ein brutaler, ein emotional krasser Film sein, der sein Publikum in die Wechselbadewanne der Gefühle taucht. Ist das Mittelmeer nicht auch so? Szenen wie die beschriebene folgen solche aus dem Alltagserleben Samueles, der reichlich Talent zum Slapstick hat. Sei es beim Spaghetti-Schlürfen oder auch bei der Vorbereitung auf das zukünftige Leben. Talent zum Lügen hat er nicht unbedingt, wenn die Familie sich nach den Hausaufgaben erkundigt. Aber Schule ist auch nicht unbedingt auf der Prioritätenliste ganz oben; Samuele soll schließlich Fischer werden, wie alle auf Lampedusa. Da gibt es ganz andere Probleme: Er ist seekrank, mit der Seefahrt hat er es nicht.

Dann wieder Zahlen. 400.000 Menschen haben in den letzten Jahren die Überfahrt riskiert, man rechnet mit 15.000 Toten. Die Schiffe feuern Leuchtraketen ab, Seefeuer. Wieder und wieder am nächsten Morgen sind die geborgenen Reste der maroden Boote zu besichtigen. Der Arzt Bartolo rückt dabei immer wieder erklärend ins Zentrum. Er untersucht die Flüchtlinge, wenn sie vom Boot kommen, kümmert sich um die Kranken und die Schwangeren, erklärt die Vorgänge, kritisiert die europäische Politik, die von den Einwohnern Lampedusas, einem Eiland von 20 Quadratkilometern, gemanagt wird.

Die Geflüchteten selbst kann Rosi nicht ins Bild setzen oder nur unzureichend, wenn nicht gleich als Verstorbene, dann als Wesen ohne Namen. Er habe zwar ein Jahr auf der Insel zugebracht, aber diese Menschen blieben immer nur ein bis zwei Tage, sagt Rosi. Nur einmal gelingt eine länge Einstellung: Ein Afrikaner rappt seinen Reiseweg durch die Wüste über Libyen bis nach Europa – ein trostloser, harter und trockener Sound, gesungene Klage. Gesprochen wird mit ihm und den Männern um ihn herum nicht. Gleichwohl stecke die Essenz des Dramas, denn diese Szenen brächen mit der Routine, die man vorher im Film erlebe: Ankunft der Boote, Flüchtlinge im Bus, die Stationen der Erstaufnahme – ein geregelter Ablauf, der sich fast täglich wiederhole.

Ein denkwürdiger, Film, einer, der noch nicht zu Ende ist. Mit seiner Mischung aus „skurrilen, traurigen, komischen und bedrückenden Szenen“ vermittle der Film das Ausmaß der ganzen Tragödie von Lampedusa, urteilte die Film-Jury von Amnesty International auf den diesjährigen Berliner Filmfestspielen und vergab den Amnesty-Filmpreis an „Seefeuer“ (und zu gleichen Teilen den iranischen Beitrag „Royahaye Dame Sobh“).
Die Berlinale-Hauptjury um Meryl Streep sah das nicht viel anders und vergab den Goldenen Bären ebenfalls an Rosi – so erhielt seit 60 Jahren das erste Mal ein Dokumentarfilm diese Auszeichnung.

Falsch liegt man damit nicht: Jetzt, im Sommer, ist der Film erschreckend aktuell. Um Lampedusa war es im letzten Jahr ruhiger geworden, jetzt aber, nach Türkei-Deal und Schließung der Balkan-Route, sind die Flüchtlinge einmal weiter ums Mittelmeer herumgewandert. Die Hauptwege laufen nun wieder über Italien; Bilder wie sie „Seefeuer“ zeigt, werden dann wieder die Nachrichten beherrschen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal 8/2016

Rudolf Thome – Überall Blumen

(D 2016, Regie: Serpil Turhan)

Arbeit gegen die Vergänglichkeit
von Wolfgang Nierlin

Das Filmerbe lagert in einer alten Scheune. Bedeckt von Staub und Spinnweben, finden sich hier Kopien, Requisiten, Plakate und Klappen. Es sind Gegenstände, in denen Filmgeschichte gespeichert ist und die …

Das Filmerbe lagert in einer alten Scheune. Bedeckt von Staub und Spinnweben, finden sich hier Kopien, Requisiten, Plakate und Klappen. Es sind Gegenstände, in denen Filmgeschichte gespeichert ist und die persönliche Geschichten erzählen. Öffentliches Interesse und private Erinnerungen vermischen sich in ihnen, sind förmlich miteinander „verwachsen“ – wie der Bauernhof im brandenburgischen Örtchen Niendorf, wo Rudolf Thome lebt, und dessen Filmemachen, das nach 28 Langfilmen an ein Ende gekommen scheint. „Das braucht man alles nicht mehr“, sagt der Regisseur von „Rote Sonne“ und „Berlin Chamissoplatz“ mit leichter Wehmut und wünscht sich zugleich, es wäre anders. Denn der 1939 geborene Thome, der gern ein wenig bekannter wäre und der seit seinem 2011 entstandenen „Ins Blaue“ keinen Film mehr realisieren konnte, hat Sorge, „aus dem Gedächtnis der Filmwelt zu verschwinden“. Einmal vergleicht er sich deshalb mit einem Mann im Treibsand, von dem nur noch der Kopf zu sehen ist, während der Körper immer mehr versinkt.

Serpil Turhans Film „Rudolf Thome – Überall Blumen“ richtet sich gewissermaßen gegen dieses allmähliche Verschwinden, das einen thematischen Rahmen bildet. Indem Thome ein neues Drehbuch beginnt, obwohl die Finanzierung noch ungewiss ist, und Turhan dies dokumentiert, arbeiten die beiden gegen die Vergänglichkeit. „Man muss immer positiv denken, sonst hätte ich schon längst keinen Film mehr gemacht und würde auch jetzt nicht dieses Drehbuch schreiben“, sagt Thome einmal zu seiner Tochter Joya, die selbst einen Film drehen will und dem Vater verspricht, ihn beim Crowdfunding seines Projekts zu unterstützen. Für Rudolf Thome, der früh seine geliebte Mutter verloren hat und der in einer Tagebucheintragung auch vom Tod seines zweiten Sohnes Max und seines langjährigen, ihm sehr nahe stehenden Kameramannes Martin Schäfer spricht, ist die künstlerische Arbeit aber nicht nur ein Mittel gegen das Vergessen, sondern vor allem der Versuch, von möglichst vielen Menschen geliebt zu werden.

Sein mit vielen Fotos und kurzen Filmen angereichertes Internet-Tagebuch ist insofern ein weiteres Kommunikationsmedium, mit dem Thome sein (künstlerisches) Leben „rettet“, indem er es mit anderen teilt. Immer wieder zitiert Serpil Turhan daraus, während sie in ruhigem, fast bedächtigem Rhythmus Thomes Alltag auf seinem Bauernhof dokumentiert. Dieser wird bestimmt von täglichen Ritualen und Routinen, der Arbeit im Garten inmitten einer üppigen Pflanzen- und Blumenwelt sowie Thomes täglichen Fahrradtouren. So entsteht ein ebenso intimes wie liebevolles Portrait, das unverstellt und direkt einen mal ungeduldigen und schroffen, dann wieder nachdenklichen und gefühlvollen Menschen zeigt. Spontan, fast absichtslos und wie nebenbei entwickelt Turhan, die in früheren Thome-Filmen als Schauspielerin und Assistentin mitgewirkt hat, Motive und Themen. Dabei teilt sie mit dem Portraitierten eine „Liebe zur Poesie des Alltäglichen“. Als Thome für sich erkennt, dass ihm wohl die Kraft fehlt, mit weniger als den einmal erreichten Produktionsstandards einen weiteren Film zu drehen, geht auf melancholische Weise ein Lebensabschnitt zu Ende. Zugleich beginnt jedoch ein neuer, für den der optimistische Filmemacher sich vornimmt, seine Autobiographie zu schreiben und neunzig Jahre alt zu werden.

Bibi und Tina 3: Mädchen gegen Jungs

(D 2016, Regie: Detlev Buck)

Tochter gegen Papa
von Lilly Thomas, Andreas Thomas

Da bibit sie also wieder, unsere Bibi, gemeinsam mit der teeniegen Tina, um unsere Jugend zu erfreuen, unsere desorientierte Jugend, zwischen Geocache (2015, zu Dreharbeitenzeit noch vor Pokémon Go) und …

Da bibit sie also wieder, unsere Bibi, gemeinsam mit der teeniegen Tina, um unsere Jugend zu erfreuen, unsere desorientierte Jugend, zwischen Geocache (2015, zu Dreharbeitenzeit noch vor Pokémon Go) und Dschungelcamp und angeblich entweder One Direction und Schminken. Das brüllen (jaja man nennt das hier rappen …) jedenfalls die Jungens über die Mädchen, die, angeblich auf einmal alle gegeneinander (oder besser Mädchen gegen Jungs, denn die brüllen zurück) sein sollen, auch was, über dessen Ursache der Film uns nichts erklärt. Ein künstlich herbeigeführter Konflikt kann nur einen künstlich herbeigeführten Film nach sich ziehen.

Ging es in den erfreulicheren ersten beiden Teilen (‚Bibi und Tina 1‘ und ‚Bibi und Tina 2‘) noch um so klar definierte themes wie: Pferd trifft Mädchen oder Mädchen trifft Junge, oder (die in quasi allen Kinderfilmen der letzten zehn Jahre unentbehrliche) ‚Der Alte Fritz‘-Darstellerin Katharina Thalbach (erster Preis für ‚Mützen, die ums Weggelassen werden betteln‘ (Max Goldt)), so kommt selbige letztere auch diesmal vor, aber auch sie wird weggelassen in diesem Stück, besser Stückwerk, das sich so was von gar nicht mehr einlassen mag auf eines seiner overloads an themes, sodass man geneigt ist, wegzugucken vor lauter theme-Stückelei. Handlung ist diesmal nicht mehr auffindbar, außer dass man gelbe Sterne zu sammeln hat á la ‚Ich bin ein Star, holt mich hier raus-Sternen‘, die ja eigentlich keine Kinder unter 12 kennen dürfen sollten, aber Bibi und Tina sind auch schon lange keine 12 mehr.

Die Darstellerinnen Lina Larissa Strahl (Bibi) und Lisa-Marie Koroll (Tina) werden beide im Dezember 2016 komplette 19 Jahre alt sein und Regisseur Detlev Buck ist mit seinen jungen 54 Jahren inzwischen so reif, dass er dem minderjährigen Publikum schöne alte Hippie-Witze erzählen kann, die das garantiert nicht versteht, nämlich dass man zum Beispiel beginnt, überall Affen zu erblicken, wenn man von komischen Pilzen (aus deutschen Walden) gegessen hat. Ganz davon ab, dass die Animation dieser Animals, äh, dieser Affen genauso wie der initiale Ritt Bibis auf dem Besen optisch unter aller Kanone ist, quasi jenseits von Pan Tau (kennt heute auch kein Teenieschwein mehr), genauso deplatziert und jugendlich empathiemangelnd ist die Präsentation und Parodie eines aus den Vorgängerfilmen überlebt habenden Kagmann (???, muss denn solch Name wirklich sein, als pädagogisches Element? Nanunanunanu!), der sowas von völlig auf dem Ausstieg-Öko-Buddha-Trip dahinschwebt, dass sich das Siebziger-Jahre-Fäustchen des Siebziger-Jahre-Insiders Buck herzlich in sich selbst hineinlachen mag, die Jugend von heute aber dabei sowas von nicht getouched ist, dass man würde sagen: Zielgruppe verfehlt, weil Zielgruppe ist Teenie und aus 2016 und nicht 1973.

Zu allem hinzukommt die Dominanz des Klanges, sprich der Wortmelodie, sings: Des Songs, also des gesungenen Worts, ‚immer dann, wenn die Gefühle zu groß werden für die Handlung‘ (Detlev Buck), also dauernd. Muss ja auch, denn heute verkaufst du ohne ‚Emotionen‘ keine Tüte Pommes, also muss, wie auch in den beiden Bibi und Tina-Vorgängern, wieder Mal Emotio-Spezialist Komponist Peter (‚bald hab ich auch ne Platte‘) Plate ran, welcher seine Feelings früher immer im Unterhemd oder auch gleich hemdlos (Wikipedia-Fotos) im Duo Rosenstolz für zerbrechende und dabei urst ambivalente oder dominante oder submissive Herzen gesorgt hatte.

Ganz ehrlich meine Meinung: Die Songs sind der Gewinner und das Wichtigste am Film (seien sie auch sonst nicht so ganz, was der Vater hört). Ich glaube, die Tochter meint mit ihm.

Was man also sieht, ist so ein wirklich quietschbunter Film, der die Augen bereits nach Minuten mit seinen Bonbonfarben verätzt sowie eine für ältere Althippies herrlich verquere Gelegenheit, Humor – gemeint sei hier damit: 70 Jahre alte Witze – neu und witzig einzuflechten, dabei außer acht lassend, dass man eigentlich die Jugend von heute unterhalten wollte.

Das Problem wiederum mit der Jugend: diese ist hier beispielsweise noch 10, ist teilweise leider bereit dazu, alles gut zu finden, zu glauben und akzeptieren, was die Power hat, den Weg ins Kino oder in die Charts zu finden. Deshalb verifiziert Jugend (jedenfalls in diesem Fall) zum Teil auch einfach das ihr Angebotene, und indem sie es glaubt, wird es Teil ihres eigenen Selbstbildes, Weltbildes, auch wenn es nur Gerüchte sind, Spekulationen aus den Köpfen alter Leute: Die Jugend hält für wahr, was das Kino zeigt, und sie übernimmt dessen Phänomenologie für sich. Die Kraft des Mediums ist realer als die Kraft der eigenen Wirklichkeit. Aber welche ist das schon noch heute, wenn nicht eine medial dominierte?

Und halt, hier sollten wir alle in uns gehen und uns fragen: Haben wir Eltern und Regisseure und überhaupt von irgendetwas Erwachsene und wir Filmkritiker unsere Hausaufgaben gemacht? Aber zuerst die Tochter: Hast du deine Hausaufgaben gemacht? Oder mal wieder zuviel gebibit und geteeniet?

Deadpool

(USA 2016, Regie: Tim Miller)

Ostern im Nonsensekino
von Ricardo Brunn

Was sich in „Ant-Man“ (USA 2015; R: Peyton Reed) und den Iron-Man-Teilen immer wieder angedeutet hat, wird in „Deadpool“ zur Gewissheit: Um von erzählerischer Phantasielosigkeit abzulenken, werden die schweren Geschütze …

Was sich in „Ant-Man“ (USA 2015; R: Peyton Reed) und den Iron-Man-Teilen immer wieder angedeutet hat, wird in „Deadpool“ zur Gewissheit: Um von erzählerischer Phantasielosigkeit abzulenken, werden die schweren Geschütze ironisch verklärter Selbstreflexion aufgefahren. Doch die dauerhafte Anwendung dieses Stilmittels unterstreicht die tesafilmdünne Geschichte um einen weiteren (Anti)Helden des leider unerschöpflichen Marvel-Strumpfhosenensembles in ihrer Durchsichtigkeit nur noch schärfer, als dass sie sie verschleiern könnte.

Nach einer Karriere als Special-Forces-Kämpfer verdingt sich Wade Wilson (Ryan Reynolds) als Söldner mit ziemlich losem Mundwerk. In seiner Stammkneipe trifft er eines Tages auf Vanessa (Morena Baccarin) und die große Liebe nimmt ihren an den Pornofantasien des Regisseurs geschulten Lauf. Als bei Wade Krebs diagnostiziert wird, bietet ein ominöser Anzugträger seine Hilfe an und Wade unterzieht sich einem riskanten Experiment im Labor des skrupellosen und wenig charismatischen Ajax (Ed Skrein). Ajax will mit seinen Experimenten jedoch nur die verborgenen Mutantenkräfte seiner Versuchsobjekte zu Tage fördern. In Wade Wilsons Fall sind das enorme Selbstheilungskräfte. Den Krebs kann Wade damit besiegen, doch haben die Nebenwirkungen der Mutation ihn zugleich so sehr entstellt, dass er seiner Freundin nicht mehr unter die Augen treten will. Stattdessen schlüpft er in ein knallenges Superheldenkostüm und macht als Deadpool sodann Jagd auf Ajax, um ihn dazu zu bringen, die Mutation rückgängig zu machen.

Während sich die Bilder eines sichtlich erschöpften Blockbusterkinos lauwarm über den Zuschauer ergießen, wendet sich Protagonist Wade alias Deadpool getreu den Comicvorlagen mit Kommentaren zum Geschehen wiederholt ans Publikum. Augenzwinkernd macht sich Ryan Reynolds über sich selbst und seine verschiedenen Superheldenauftritte in anderen Filmen lustig, verspottet die aus der zweiten Reihe stammenden X-Men-Helden, die Wade für ihre Sache gewinnen wollen. Es sind Versuche mit Humor über sich selbst hinaus auf irgendetwas zu verweisen. Ein Außerhalb existiert jedoch nicht, weil „Deadpool“ bei aller Selbstreflexion und Selbstreferenzialität ein Gefangener seiner eigenen computergenerierten Welt bleibt. Mit einer Hauptfigur im Selfie-Modus ist „Deadpool“ ein Metafilm ohne Metaebene.

Seinen entsprechenden Ausdruck findet dieses nur noch auf sich selbst bezogene Burnout-Kino im Easter Egg. Auf Youtube lassen sich zu „Deadpool“ und anderen Comicverfilmungen neueren Datums zahlreiche Videos finden, die akribisch sämtliche Anspielungen unter dem Sammelbegriff Easter Egg auflisten. Mehr als einhundert sollen es in „Deadpool“ sein und die User überbieten sich geradezu mit immer neuen Funden. Die Bandbreite reicht dabei von Namen auf Straßenschildern über Cameoauftritte bis hin zu Ausstattungsgegenständen. Zwar ist das Easter-Egg, das seinen Ursprung als versteckter Scherz in Computerprogrammen (die „barrel roll“ der Google-Startseite beispielsweise) und Videospielen hat und somit direkt auf die Zielgruppe der heutigen Comicverfilmungen abzielt, dem Zitat verwandt. Allerdings sind die Verweisstrukturen des Easter Eggs gänzlich anders gelagert. Das (Bild)Zitat verweist als Hommage nicht nur auf Vorbilder. Als Spiel mit Genremustern und damit einhergehend demonstrativen Brüchen mit Erzählkonventionen stellt es eine Auseinandersetzung mit der Filmgeschichte und den Möglichkeiten und Notwendigkeiten filmischen Erzählens dar. Indem es Bezug nimmt, bietet es im besten Fall den Ausgangspunkt für eine Interpretation.

Das Easter Egg kommt ohne Sinnzusammenhänge dieser Art aus. Ihm ist ein Warum nicht eingeschrieben. Es steht damit dem geschichts- und narrationsarmen Gimmick, dem Werbegag in seiner Beschaffenheit deutlich näher als dem Zitat. Es verweist nicht über die Grenzen des eigenen Kosmos hinaus. Genau hierin liegt auch seine Funktion, denn es besteht eine direkte Verbindung zwischen Easter Eggs im Film und der Suche nach Pokemons im Videospiel. Beides zielt auf einen Menschen, der ganz Konsument ist, Waren unhinterfragt sammelt und das Konsumprodukt in einen weiteren Konsumzusammenhang zu stellen bereit ist. Denn einmal gefunden lässt sich mit Easter Eggs und Pokemons nicht mehr viel anstellen, außer den Fund an sich zu verbalisieren. Finden und Sammeln sind Addition ohne die anschließende Möglichkeit für eine Erzählung und somit Bedeutung. Die Demonstration des Additiven in Youtube-Videos kommt folglich nicht nur dem Selbstdarstellungsdrang der User entgegen. Die Videos stellen zugleich das langanhaltendste und kostengünstigste Marketing dar, das ein Filmverleih sich wünschen kann. Das Easter Egg bedeutet Ostern für den Filmverleih, der sich die Hände reibt, während die Zuschauer immer weiter suchen und eigentlich gar nichts finden.

Belladonna of Sadness

(J 1973, Regie: Eiichi Yamamoto)

Erloschene Zukunft
von Wolfgang Nierlin

Groß und machtvoll erhebt sich das Schloss über dem mittelalterlichen Dorf mit den geduckten Häusern. Dessen in Armut und Not lebende Bewohner werden von einem finsteren Fürsten, der diabolische Züge …

Groß und machtvoll erhebt sich das Schloss über dem mittelalterlichen Dorf mit den geduckten Häusern. Dessen in Armut und Not lebende Bewohner werden von einem finsteren Fürsten, der diabolische Züge trägt, hemmungslos ausgebeutet. Schwarz ist die dominierende Farbe seiner Erscheinung. Als das junge Bauernpaar Jeanne und Jean den Bund fürs Leben schließt und sich ewige Liebe verspricht, fordert der Fürst die erste Liebesnacht mit der frisch vermählten Braut. Ganz sacht und schrittweise mischen sich zu Beginn von Eiichi Yamamotos aus dem Jahre 1973 stammenden Animationsfilm „Belladonna of Sadness“ (Die Tragödie der Belladonna), der digital restauriert jetzt wiederaufgeführt wird, blasse Farben ins Bild der unschuldig Liebenden. Bis der Fürst, begleitet von höllischem Gelächter, durch seine brutale Vergewaltigung der jungfräulichen Jeanne bewirkt, dass ein gewaltiger Strom von Blut aus ihrem Unterleib hervorbricht.

Damit steht für die Geschändete und ihren Mann am Beginn eines möglichen neuen Lebens ein Trauma. Die Zukunft ist erloschen, noch ehe sie begonnen hat, heißt es dazu in einem Lied. In ihrer Not erscheint Jeanne der Teufel, der sich ihrer Spindel entwindet, um daraufhin die Gestalt eines sprechenden Phallus anzunehmen. „Ich bin du selbst“, sagt der Verführer, der vorgibt, Jeannes „Ruf des Herzens“ zu folgen und ihre innersten Wünsche zu kennen. So verkauft die schöne, von ihren Seelenqualen überwältigte Braut zunächst ihren Körper, später ihre Seele dem Teufel und gewinnt dadurch zunehmend an Macht und Ansehen. Bald gilt sie als eine vom Teufel besessene Hexe. Während das Land in Hunger, Krankheit und Krieg versinkt, steigt Jeanne zu einer dem Fürsten nahezu gleichgestellten Herrscherin auf, die mit der als magisch geltenden Pflanze Belladonna (ein hier doppeldeutiger Name) und einer überschäumenden sexuellen Kraft Menschen heilt und damit zu ihrer Gefolgschaft macht. Ihre rachsüchtige Revolte kulminiert allerdings in Hybris („Ich will alles auf dieser Welt.“) und endet schließlich auf dem Scheiterhaufen.

Das erinnert nicht von ungefähr an das Schicksal der französischen Nationalheldin Jeanne d’Arc. Eiichi Yamamoto und sein Produzent Osamu Tezuka, der in Japan als legendärer Manga-Künstler gilt, haben sich für ihren Anime nämlich von Jules Michelets Traktat „La Sorcière“ (Die Hexe) von 1862 inspirieren lassen. Darin wendet sich der als radikaler Republikaner geltende Historiker gegen die Unterdrückung der Frau zur Zeit der mittelalterlichen Hexenverfolgung und portraitiert die Hexe als „Ärztin des Volkes“. In ausgedehnten, durch minimale Animation und eine intensive Tonspur gekennzeichneten Sequenzen evoziert Yamamoto surreale Bilder von Schrecken, Leid und Tod. Unterlegt mit zeittypischer Pop- und Jazzmusik, schwelgt der Film in einem psychedelischen Rausch aus Farben und ornamentalen Formen, deren Verschlingungen dem Konzept permanenter Verwandlung huldigen und so immer wieder Sex und Gewalt verschmelzen. Doch trotz dieser überbordenden Phantastik bleibt in Yamamotos Fabel über Macht und Unterdrückung, die mit dem Blick auf Eugène Delacroix‘ revoltierende Marianne als Motiv seines berühmten Gemäldes „Die Freiheit führt das Volk“ (1830) endet, stets die identifizierende Phantasie des Zuschauers gefordert.

Nerve

(USA 2015, Regie: Henry Joost, Ariel Schulman)

Game-Action zum Mitschreiben: Spielend lernen mit Nerve und etwas Verve
von Drehli Robnik

Von Drogennehmen und Discotanzen bis Rucksackreisen und Kochen: Das Kino war an sich stets gut darin, diverse Freizeittrends in Form von Filmdramen oder -satiren abzubilden. Schwerer allerdings tut es sich …

Von Drogennehmen und Discotanzen bis Rucksackreisen und Kochen: Das Kino war an sich stets gut darin, diverse Freizeittrends in Form von Filmdramen oder -satiren abzubilden. Schwerer allerdings tut es sich bei heutigen Netz-affinen Formen trendiger Bespaßung: Für die ist das Kino schlicht zu langsam und zu eitel. Soll heißen: Eine Romantic Comedy im Pokémon-Jagd-Milieu würde wohl erst in Produktion gehen, wenn der betreffende Hype längst Historie ist. (Das Kino taugt eher für ein Retro-Film-Vehikel, das 2026 den Monstersommer 2016 verkultet.) Und außerdem zeigt die Leinwand gern etwas, das im großen und ganzen schöner (beeindruckender, krasser) ist als all die Laptop-, Tablet- oder Handy-Screens. Der Vorjahrsschocker ‚Unfriended‘ (bzw. ‚Unknown User‘), der nichts als ein Rudelskype-Monitormenü im Bild hatte, war zwar irgendwie mutig – aber auch irgendwie nervig.

‚Nerve‘, ein Hollywood-Teen-Thriller mit Twen-Besetzung, geht eine vergleichbare Sache flexibler an, zeigt mit zunehmender Laufzeit weniger Splitscreens, Popups, Bildglitches und mit User-Kommentaren betextete Hochhauspanoramen. Die Story: Highschoolkids aus dem Speckgürtel der großen Stadt verstricken sich in New York in die titelgebende Gameshow aus dem (wuuuh!) Darknet. Das Spielprinzip: Weltweite Watchers verlangen einigen Players stets neue, live zu übertragende Mutproben ab – Fremden-Mann-Küssen, Luxuskleid-Klauen, Gerüst-Kraxeln. (Sogar ein Tattoo lässt die Heldin sich stechen – auf Geheiß der vielen, die ihre Direktiven an sie ins Spiel reintippen.)

Das ist so simpel wie die Bildungsroman-Logik (Unsichere Strebermaus reift unterm Beifall ihrer Nerve-Followers zur Badassbitch und sag’s der Divafreundin voll rein), das Action-Calvarium und die mittelschuldebattenkompatible Voyeurismus- und Geltungssuchtschelte im auf Gladiatorenarena gemünzten Finale. (Da schauen wir uns aber, bitte, zuerst lieber ‚The Purge‘ an und diskutieren den in legerer Runde ohne Prüfungszwang, liebe*r Frau Deutsch- bzw. Herr Ethik-Lehrer.) Am Ende wird dann auch ein bissl geschossen: Insgesamt aber ist der von Henry Joost und Ariel Schulman nach einem Erfolgsroman von Jeanne Ryan gedrehte Film merklich arm an Cyberthriller-typischen Gewaltmomenten und wohl für Zielgruppen gedacht, die eben dem ‚Ice Age‘ entwachsen sind, von den Erzählungen ihrer älteren Geschwister Hunger auf Filme mit Games – und mit verliebten Heldinnen – gekriegt haben, aber noch von Altersfreigaberegelungen umhegt sind. Zumindest im Kino.

Und doch: Aus den an sich banalen Mutprobensituationen entsteht da und dort mal so etwas wie Spannung, der Quasi-Echtzeit-Plot (einige Handy-gehetzte Nachtstunden) macht ein wenig Sog, der Dreamy Disco-Score ist irgendwann so entwaffnend wie die Romanze von Emma Roberts (als Komikerin besser) mit Dave Franco (Bruder von James, mit mehr Muckis und Tom Cruises Mund), und das Neonbunt im Styling ist Nicolas Winding Refn mit menschlichem Antlitz. Vielleicht wird diesem Film dereinst so etwas wie Prägnanz nachgesagt werden in Sachen einer (diffus skeptischen) Bildformung der Durchdringung jugendlichen Lebens und städtischer Ambiente mit sozialen Hetzwerken. Und für die Oldies (die schon dabei waren, als digital kapitalisierter Alltag noch Virtual Reality hieß) gibt’s die einst grungige Juliette ‚Strange Days‘ Lewis in der Rolle einer Krankenpflegerin und Mutter.

Alles was kommt

(F/D 2016, Regie: Mia Hansen-Løve)

Zerbrechliches Leben
von Wolfgang Nierlin

Das Sommerdomizil in der Bretagne ist ein verwunschener Ort. Direkt am Meer gelegen, abgeschirmt von Felsen und Bäumen und begrenzt von einem Blumengarten, beschreibt es eine perfekte Idylle. Hier verbringt …

Das Sommerdomizil in der Bretagne ist ein verwunschener Ort. Direkt am Meer gelegen, abgeschirmt von Felsen und Bäumen und begrenzt von einem Blumengarten, beschreibt es eine perfekte Idylle. Hier verbringt das Pariser Lehrer-Ehepaar Nathalie (Isabelle Huppert) und Heinz (André Marcon) mit seinen beiden Kindern Chloé und Johann die Ferien. Natur und Kultur, Muße und Arbeit bilden eine organische Einheit. Ablesbar ist das an den vielen Büchern und der geschmackvollen Einrichtung, mit denen Mia Hansen-Løve in ihrem neuen Film „Alles was kommt“ (L’avenir) die Schönheit einer intellektuellen Daseinsform wie mit flüchtigen Pinselstrichen skizziert. Doch wie die Gezeiten mit ihrem Wechsel von Ebbe und Flut ist auch dieses Leben nicht von Dauer. Zweimal erklingt im Verlauf des Films Franz Schuberts Lied „Über den Wassern zu singen“. Das korrespondiert mit Heinz‘ Aufforderung, Musik nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen. Im Blick auf Chateaubriands Grabstätte über dem Meer in der Schlusseinstellung der Exposition liegt also eine Vorbedeutung für das, was folgt.

„Können wir uns in andere reinversetzen?“, lautet die Eingangsfrage des Films. Nathalie und Heinz, beide leidenschaftliche Philosophiedozenten an renommierten Gymnasien, werden sich ein paar Jahre später trennen, ohne darüber einen Dialog zu führen. Doch weil ein Unglück angeblich selten allein kommt und Mia Hansen-Løve ihr sensibles Frauenportrait zu einer Lebenskrise verdichtet, folgen weitere Schicksalsschläge: Ihre unter Einsamkeit und Panikattacken leidende Mutter (Édith Scob) stirbt und Nathalies Verlag möchte aus marketingtechnischen Gründen ihre „veralteten“ Lehrbücher nicht mehr neu auflegen. Zu diesen Einschnitten und Veränderungen kommt noch, dass ihr ehemaliger Lieblingsschüler Fabien (Roman Kolinka), der über Adorno promoviert, sich von ihr emanzipiert und in eine anarchistische Kommune im Vercors zieht. Außerdem bekommt ihre Tochter Chloé (Sarah Le Picard) ein Kind. Zwar sagt Nathalie, sie liebe ihre Arbeit und führe ein intellektuell erfülltes Leben. Doch die von ihr bekundete „totale Freiheit“, in die sie durch diese Verluste gezwungen wird, fühlt sich nicht wie Glück an. Eher erscheint Nathalie als einsame Außenseiterin, die Schwierigkeiten hat, sich den neuen Verhältnissen anzupassen.

Immer ist die leicht forsch und autoritär wirkende Lehrerin leicht gestresst und in Bewegung. Das korrespondiert mit Denis Lenoirs flüssig und dynamisch gestalteter Kameraarbeit, den oft abrupten, harten Schnitten und den vielen Ellipsen. In diese dicht gefügte Erzählung implementiert Mia Hansen-Løve, die sich mehr für Rhythmus, Struktur und Atmosphäre ihres Films interessiert als für Figurenpsychologie und Handlungsaufbau, ein Geflecht intertextueller Referenzen und Zitate, in denen es unter anderem um das Verhältnis von Theorie und Praxis, Freiheit und Verantwortung, Jugend und Alter, vor allem aber um die Flüchtigkeit des zerbrechlichen Lebens geht. Das mutet in seiner impressionistischen Kürze und engen motivischen Verzahnung oft plakativ und klischeehaft an, transportiert als poetische Anrufung aber zugleich viel Sinnlichkeit, Gefühl, und Offenheit.

Wiener Dog

(USA 2016, Regie: Todd Solondz)

Solondz auf Bressons Spuren
von Ulrich Kriest

Buchstäblich auf den Hund gekommen ist Todd Solondz, der boshafte Psychopathologe des US-Suburbia, mit seinem neuen Film. Immerhin schafft er es mit ‚Wiener-Dog‘ erstmals seit ‚Palindrome‘ (2004) hierzulande wieder in …

Buchstäblich auf den Hund gekommen ist Todd Solondz, der boshafte Psychopathologe des US-Suburbia, mit seinem neuen Film. Immerhin schafft er es mit ‚Wiener-Dog‘ erstmals seit ‚Palindrome‘ (2004) hierzulande wieder in die Kinos. Formal bleibt sich Solondz in jeder Hinsicht treu, dient der titelgebende Dackel doch als dramaturgische Klammer von vier autonomen Episoden, die einerseits mit sardonischem Witz von Dummheit, Borniertheit, Ressentiments, Krankheit, Behinderung, Einsamkeit, Lebenslügen und Angst erzählen, andererseits aber auch Spuren ins Gesamtwerk legen.

So begegnen wir Dawn Wiener, der Protagonistin von ‚Willkommen im Tollhaus‘ (1995), die sich zu Beginn von ‚Palindrome‘ umgebracht hatte. Sie wiederum begegnet ihrem ehemaligen Klassenkameraden Brandon McCarthy wieder, der es mittlerweile zum wortkargen Junkie gebracht hat. Doch zunächst einmal wird der Hund einem Kind geschenkt, das gerade eine Krebserkrankung überstanden hat und einen Spielkameraden gut gebrauchen kann. Später wird Dawn Wiener Wiener-Dog vor dem Einschläfern bewahren, um ihn dann ihrerseits Brandons Bruder und seiner Frau zu überlassen, die beide Trisomie 21 haben. Diese und zwei weitere Episoden erzählt Solondz mit erstaunlicher Starbesetzung und dem ihm eigenen Humor und ideologischer Indifferenz.

Er selbst bringt Robert Bressons ‚Zum Beispiel Balthasar‘ ins Spiel: Das Elend der Menschen spiegelt sich im Auge der Kreatur, die die USA durchquert, um den gemarterten Seelen Trost zu spenden. Was dem Esel Balthasar am Ende die Schafherde, ist Wiener-Dog der Asphalt der neu gebauten Umgehungsstraße direkt neben dem Altersheim. Zwar trägt der ausgebrannte Filmhochschuldozent den sprechenden Namen Dave Schmerz, aber Solondz’ Haltung bringt wohl eher ein mexikanisches Mariachi-Trio auf den Punkt: ‚Amerika ist ein trauriger Elefant, der in einem See aus Verzweiflung langsam ertrinkt.‘ Die Schönheit in diesem Elend ist von so ausgesuchter Hässlichkeit in allen Details, dass Solondz den Blick nicht abwenden mag: Ein exquisites Travelling folgt geduldig den Resultaten gutgemeinter, aber grundfalscher Fütterung von Durchfallpfütze zu Durchfallpfütze. Fasziniert und faszinierend.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 9/2016

Bang Gang – Die Geschichte einer Jugend ohne Tabus

(F 2015, Regie: Eva Husson)

Emotionale Häutungen
von Wolfgang Nierlin

Das Motto von Eva Hussons Film „Bang Gang – Die Geschichte einer Jugend ohne Tabus“, der im französischen Original allerdings „Bang Gang, une histoire d’amour moderne“ heißt, stammt vom Tiefenpsychologen …

Das Motto von Eva Hussons Film „Bang Gang – Die Geschichte einer Jugend ohne Tabus“, der im französischen Original allerdings „Bang Gang, une histoire d’amour moderne“ heißt, stammt vom Tiefenpsychologen C. G. Jung: „Man wird nicht dadurch hell, dass man sich Helles vorstellt, sondern dadurch, dass man sich Dunkles bewusst macht.“ Es geht in Hussons teilnehmender Darstellung von zeitgenössischer Adoleszenz also nicht um die Abwehr des Negativen, sondern um einen mitunter schmerzlichen Prozess der Bewusstwerdung und der Häutung in einer emotional schwierigen Phase. Die Suche nach (sexueller) Identität, Liebe und gesellschaftlicher Teilhabe vollzieht sich demnach in der Erforschung von Grenzen und in der Konfrontation mit persönlichen Abgründen. Zwischen der Erfahrung des Andersseins und dem Wunsch nach Zugehörigkeit wächst das Ich. Nur die Bedingungen, unter denen dies geschieht, scheinen sich zu ändern. Darauf bezieht sich der französische Titel des Films, während der deutsche etwas reißerisch aufs Spekulative zielt.

Inspiriert von wahren Begebenheiten, zeichnet Eva Husson die Portraits von Jugendlichen, die an der Atlantikküste bei Biarritz leben und sich irgendwann regelmäßig zu Sexpartys treffen. Doch bis es zu diesem orgiastischen Grenzübertritt kommt, folgt Hussson behutsam der Entwicklung ihrer Protagonisten. Die beiden 16-jährigen Schülerinnen Laetitia (Daisy Bloom) und George (Marilyn Lima) sind beste Freundinnen. Während Laetitia, die von ihrem Vater kontrolliert wird, leicht unsicher wirkt und sexuell unerfahren ist, hat die mehr Freiheiten genießende George bereits mit mehreren Jungs geschlafen. Deren Namen verzeichnet sie wie Trophäen stolz in ihrem Tagebuch. Als sie sich jedoch mit dem etwas älteren Alex (Finnegan Oldfield) einlässt, der seine Affären schon nicht mehr zählt, wahlweise Pornos und Rhythmische Sportgymnastik schaut sowie Nähe und Gefühle meidet, erfährt die hübsche George eine tiefe Enttäuschung. Als schließlich auch noch Laetitia ihr erstes Mal ausgerechnet mit Alex erlebt, kommt es zum Bruch der Freundschaft.

In der Folge lässt sich George gehen und treiben. Ihre verletzten Gefühle und ihr verzweifelter Liebeswunsch werden zum Auslöser für Sexpartys, die zunächst harmlos und verspielt beginnen, sich unter dem Druck der Gruppe und der Dynamik eines hedonistischen Lustprinzips aber zu einer sexuell entgrenzten Parallelwelt auswachsen. In ihr finden nicht nur jugendliches Triebverhalten, sondern auch die Sehnsucht nach „Glück und Wärme“ ihren rauschhaften Widerhall. Sich lebendig und frei und „für immer gut fühlen“, lautet das Ziel. George will gar ein „Kernkraftwerk“ sein, „das im Innern Glücksenergie erzeugt“ und ihre Gefährten „in kleine Sonnen verwandelt“. Doch dann explodiert die instabile Utopie: Ein diskreditierendes Video zirkuliert, Geschlechtskrankheiten werden diagnostiziert, der „Skandal des Jahrzehnts“ wird öffentlich und die kollektive Ernüchterung unabwendbar.

Eine melancholische Verlorenheit grundiert den sexuellen Eskapismus dieses sehr sinnlichen Films, der gleich zu Beginn eine traumhafte, leicht entrückte Atmosphäre etabliert. Zwischen körperlicher Ekstase und schläfrigem Drogenrausch, getragen von sanften Synthie-Sounds und fernen Naturgeräuschen, bewegt sich die schweifende Kamera fast wie in Trance durch die vernebelte Szenerie aus nackten Körpern und zärtlicher Lust. Eva Hussons poetischer Blick gilt aber auch immer wieder dem Meer, bizarren Wolkenformationen und den in warme Rottöne getauchten Sonnenuntergängen. Ein anderes Mal sprechen die Bilder stumm. Der zunehmende Realitätsverlust und die Zerbrechlichkeit der Teenager, die nicht zuletzt Folgen sich auflösender Familienstrukturen sind, werden schließlich konfrontiert mit einer Reihe medial vermittelter Katastrophen: Mehrere Zugunfälle und eine große Hitzewelle fordern zahlreiche Opfer. Es scheint, als sei das „instabile System“ der Jugendlichen nicht nur in seinen Ursachen, sondern auch in seinen Wirkungen nichts anderes als ein Spiegelbild der Wirklichkeit.

Frühstück bei Monsieur Henri

(F 2015, Regie: Ivan Calbérac)

Wohlwollende Harmonisierung
von Wolfgang Nierlin

Eine Parallelmontage führt die gegensätzlichen Charaktere zusammen: den alten Misanthropen Henri Voizot (Claude Brasseur) und die junge Studentin Constance (Noémie Schmidt). Während der ungesellige Grantler, der früher Steuerbeamter war, seit …

Eine Parallelmontage führt die gegensätzlichen Charaktere zusammen: den alten Misanthropen Henri Voizot (Claude Brasseur) und die junge Studentin Constance (Noémie Schmidt). Während der ungesellige Grantler, der früher Steuerbeamter war, seit dem Tod seiner Frau zurückgezogen in einer großen Pariser Altbauwohnung lebt, hilft die hübsche Constance genervt auf dem elterlichen Marktstand in Orléans und fällt mal wieder durch die Fahrprüfung. Ihr fortgesetztes Scheitern transportiert als Motiv die schwierige Suche junger Menschen nach einem Platz im Leben und führt, nach einer eher streiflichtartigen Zimmersuche in Paris, geradewegs zur Untermiete beim mürrischen Pensionär, der schroff und unverblümt seine Anschauungen streut: „Das Leben ist nichts, was man schaffen oder verpfuschen kann.“

Manchmal versucht Henri, der immer sagt, was er denkt und dem offensichtlich nichts heilig ist, auf seine neue, misstrauisch beäugte Mitbewohnerin aber auch „ermutigend“ zu wirken: „Das Schicksal ist ein Haufen Scheiße.“ In Ivan Calbéracs leichthändig inszenierter und mit prägnantem Dialogwitz aufwartenden Generationenkomödie „Frühstück bei Monsieur Henri“, die sich dementsprechend auch mit der Macht der Väter beschäftigt, kommt es also eher später zu einer Annäherung der gegensätzlichen Protagonisten. Das gibt dem französischen Filmregisseur und Theaterautor, der sagt, die Komödie ermögliche „eine Versöhnung mit der Realität“ und relativiere im Lachen das Tragische, die Möglichkeit, kursorisch und mit einigem Tempo thematische Nebenschauplätze zu touchieren.

Als dramaturgisches Vehikel dient Calbérac dabei ein eher unwahrscheinliches unmoralisches Angebot: Gegen eine großzügige Mietminderung soll die offenherzige Constance, die erfolglos ein nicht näher bezeichnetes Fach an der Fakultät für „Literatur, Sprachen und Sozialwissenschaften“ studiert, die dem Alten verhasste Ehe seines Sohnes Paul (Guillaume de Tonquédec) mit Valérie (Frédérique Bel) aufmischen beziehungsweise auf die Probe stellen. Die leichtlebige und immer wieder scheiternde Studentin verdreht dem steifen Mittvierziger also wenig überraschend erfolgreich den Kopf, woraufhin dieser seine zweite Jugend erlebt. Nebenbei entdeckt Constance, von Henri heimlich gefördert, ihre verdrängte Liebe und Berufung zur Musik. Ivan Calbérac geht es in seinem inhaltlich leicht überfrachteten Film um die Lösung „innerer Blockaden“ und die Eröffnung neuer Perspektiven; wofür er sich nicht zuletzt auf Hermann Hesses Wort von der Selbstdeutung in der Vorrede zum „Demian“ beruft. Gefühlvoll, aber ohne wirkliche Tiefe steuert er seine Komödie zielsicher in eine wohlwollende Harmonisierung.

Ein einsamer Ort

(USA 1950, Regie: Nicholas Ray)

Die feministische Aneignung des Film Noir
von Nicolai Bühnemann

Humphrey Bogart ist großartig als zynischer, getriebener, abgehalfterter, gewalttätiger Hollywood-Drehbuchautor, den wir schon in der ersten Szene als Mann kennenlernen, der keiner Schlägerei aus dem Weg geht. Er gibt alles, …

Humphrey Bogart ist großartig als zynischer, getriebener, abgehalfterter, gewalttätiger Hollywood-Drehbuchautor, den wir schon in der ersten Szene als Mann kennenlernen, der keiner Schlägerei aus dem Weg geht. Er gibt alles, was er hat (und ich sage das als sowieso schon großer Bewunderer dieses Darstellers), um zu verdeutlichen, dass seine Figur, die sich wohl in einer seit Jahren andauernden Schaffenskrise befindet, kein „schlechter Mensch“ ist, sondern jemand, der sich im beständigen Kampf mit sich selbst, mit seinen eigenen Impulsen und Gefühlen befindet. Eine durch und durch zerrissene Figur, der man ihre Zerrissenheit schon in dem von ständigen Stimmungswechseln, ja, -brüchen bestimmten Mienenspiel ansieht.

Und doch bildet das heimliche Zentrum in Nicholas Rays „In a Lonely Place“ nicht er, sondern die Frau, Gloria Grahame. Als seine Nachbarin hat sie ein Auge auf ihn geworfen (sie auf ihn, die Attraktion geht vom Mann aus, das ist entscheidend in diesem Film) und fungiert zunächst als Entlastungszeugin bei der Polizei, als ein junges Naivchen, das Bogart unter dem Vorwand, ihm die Geschichte eines Romans, aus dem er ein Drehbuch machen will, zu erzählen, in seine Wohnung gelockt hat, wenig später ermordet aufgefunden wird. Nach anfänglichem Zögern der selbstbewussten Frau, die nicht nur vorgibt, zu wissen, was sie will, lässt sie sich auf eine Beziehung zu dem Mann ein. Doch Bogarts Temperament, seine auto- und fremdaggressiven Tendenzen lassen sie schon bald wieder an ihrer Entscheidung zweifeln.

Man könnte meinen, dass der Film aufgrund seiner Perspektivierung durch die Frau, die sich gegen die Einwände der Polizei, die Bogart lange Zeit für einen Mörder hält, gegen die Einwände ihrer Masseurin, die sie vor ihm und seinem Wesen warnt, ja, wohl zumindest teilweise auch gegen ihr eigenes besseres Wissen, auf diesen Mann einlässt, eher Melodram als Film noir ist. Vielmehr erscheint mir aber, dass Ray und sein Drehbuchautor Andrew Solt, dessen Script übrigens auf der Kurzgeschichte einer Frau, Dorothy B. Hughes, fußt, ein zentrales Motiv in der typischen (Gender-)Identifikationsstruktur des Noir auf den Kopf stellen. Die – zumindest potenziell – misogyne Geschichte vom Mann, der der femme fatale verfällt, obwohl er doch genau weiß, dass sie für ihn – und seine Konkurrenten um ihre Gunst – nur Verderben bringen kann, wird hier konterkariert durch die Geschichte einer Frau, die ihre Finger nicht von einem gefährlichen Mann lassen kann.

Jedenfalls wenn man „In a Lonely Place“ mit Billy Wilders im gleichen Jahr entstandenen, ungleich berühmteren „Sunset Boulevard“ vergleicht, scheint es, dass Filme über Drehbuchautoren immer auch Filme über die Krise(n) der Traumfabrik sind. Zwar verdeutlicht ein Dialog zu Beginn in einem Club, dass es prekäre Existenzen im Showbusiness mitnichten nur unter den Männern gibt, wenn Bogart eine junge Schauspielerin fragt: „How are you?“ und zur Antwort erhält: „Between pictures.“ Aber für den Hauptplot ist wiederum entscheidend, dass der gefallene Engel, der vom Glamour der Filmwelt nicht (mehr) erleuchtet wird, hier eben wieder der Mann ist. Der script writer als männliche Antwort auf all die Show- und dime for a dance-girls der Filmgeschichte.

Bleibt zu sagen, dass der Film seiner weiblichen Hauptfigur mit wesentlich mehr Verständnis und Empathie begegnet als viele andere Noirs ihren männlichen Pendants, für die die Frau letztlich nur als eine Art Verlängerung des eigenen Todestriebs fungiert. In der schönsten Szene des Films sitzen Bogart und Grahame zwischen anderen Leuten in einem Club an einem Flügel, auf dem eine schwarze Frau (um deren Hautfarbe hier keinerlei Aufhebens gemacht wird) einen wunderschönen romantischen Song spielt. Von der Totalen des Raumes gibt es einen Schnitt auf die Sängerin, die nun nur noch für die beiden singt, die die nächste Einstellung ganz für sich haben. Bogart zündet eine Zigarette an, gibt sie ihr, zündet dann sich eine an (egal, was militante Nichtraucher, die Zigaretten und Tabak heute mit „Schockbildern“ verunstalten lassen, dazu sagen, das zeitgenössische Publikum hat verstanden, dass das eine sehr zärtliche, fürsorgliche Geste ist, und wer wem eine Zigarette anzündet, wer sie annimmt oder auch ausschlägt, sagt in diesem Film sehr viel über die momentane Befindlichkeit des Paares aus), lehnt sich zu ihr hinüber, flüstert ihr ins Ohr, sie lächelt. Dieser Moment gehört ganz und gar ihnen – und wird doch jäh unterbrochen, als ein Polizist mit seiner Frau in der Bar erscheint und Bogart einen seiner „Anfälle“ bekommt, wenn auch einen vergleichsweise milden. Ist „In a Lonely Place“ – mehr oder weniger latent – schon eine ganze Weile auch ein Film über häusliche Gewalt, so wird er es am Schluss ganz explizit. Und bereits 1950 wussten Ray und sein Team, was für ein schwieriges, ambivalentes Thema das gerade für die Frau ist, weswegen es ja bis heute viel zu selten zur Anzeige gebracht wird. Ihr bleiben am Ende in einer endgültigen Aneignung der männlichen Rolle nur noch die Worte, die er geschrieben hat: „I lived a few weeks while you loved me.“ (Und wie viel besser hatte es frau doch damals schon manchmal, wenn sie wenigstens zum Abschied weinen darf!)

Dass der vielleicht wichtigste Film von Nicholas Ray, der sich hier als ganz großer, bedingungsloser Humanist offenbart, immer noch auf seine deutsche Heimmedien-Premiere wartet, ist für den oder die Zuständige für das Verwalten des Backkatalogs von Columbia hierzulande eine große Schande.

Bastille Day

(GB/USA/FR 2016, Regie: James Watkins)

Rechts blinken, links zuschlagen
von Nicolai Bühnemann

Eine nackte junge Frau schreitet die Treppen vor Sacre-Coeur hinab. Die so abgelenkte Aufmerksamkeit geifernder, applaudierender, eifrig fotografierender Männer macht sich Michael Mason (Richard Madden) zunutze, um ihnen mit flinken …

Eine nackte junge Frau schreitet die Treppen vor Sacre-Coeur hinab. Die so abgelenkte Aufmerksamkeit geifernder, applaudierender, eifrig fotografierender Männer macht sich Michael Mason (Richard Madden) zunutze, um ihnen mit flinken Füßen und noch viel flinkeren Fingern allerlei Wertgegenstände zu entwenden. Beinahe tänzelnd bewegt er sich von einem seiner Opfer zum nächsten. Ebenso flink wird er wenig später in der U-Bahn die junge Frau, die sich inzwischen angezogen hat, abservieren. Damit beendet der Film auch das Thema Paar-Beziehungen, da ist er noch keine fünf Minuten alt, ohne jemals wieder darauf zurück zu kommen. Im weiteren Verlauf geht alles so schnell und ist dabei derart aufs Wesentlichste reduziert, dass für Liebesdinge schlichtweg keine Zeit bleibt.

Michael ist Amerikaner, der sich in Paris sein Geld damit verdient, die Dinge zu verhökern, die er mit größtem Geschick klaut. Jedoch nimmt sein Schicksal eine unerwartete Wendung, als er eines Nachts der jungen Zoe (Charlotte Le Bon) eine Tasche klaut, die er, weil sie nichts Brauchbares enthält, auf einem Platz achtlos hinter sich schmeißt – und es plötzlich gewaltig rumst und vier Menschen ihr Leben verlieren. Denn in der Tasche befand sich eine Bombe, die Zoe in der vermeintlich leeren Zentrale einer nationalistischen Partei platzieren sollte, wobei sie jedoch einen Rückzieher machte, als sie merkte, dass sich in dem Gebäude eine Putzkolone befand. Michael wird zum Terrorverdächtigen und gerät damit ins Visier des in Paris operierenden, knallharten CIA-Agenten Sean Briar (Idris Elba), den er jedoch bald von seiner Unschuld überzeugen kann. Gemeinsam mit Zoe suchen sie nach den wahren Terroristen und kommen dabei einer Verschwörung auf die Spur, die sich in bis in höchste Regierungskreise erstreckt.

Die Figur des hart gekochten, kräftig zupackenden Agenten, der es mit seinen Vorgesetzten und ihren Befehlen eher nicht so hat, sieht Regisseur James Watkins, der sich mit seinem Debüt, dem noch in seiner britischen Heimat entstandenen Backwood-Splatterfilm „Eden Lake“ (2008), selbst als Mann fürs Grobe vorstellte, in der Tradition von Filmen wie „Dirty Harry“, „The French Connection“ oder „48 Hours“. Nun sind solche Vergleiche zur klassischen Moderne des Action-Kinos leicht gezogen, besonders wenn es darum geht, einen Film zu vermarkten. Das Erstaunliche ist aber, dass Idris Elba, der sich mit seiner Rolle als Dealer Stringer Bell in der visionären HBO-Serie „The Wire“ für Hollywood empfahl, tatsächlich eine Ausstrahlung und eine rein physische Präsenz an den Tag legt, wie sie Clint Eastwood, Gene Hackman oder Nick Nolte in ihren besten Tagen hatten (und tatsächlich steht Elba trotz seines hünenhaften Äußeren eher in der Tradition dieser Action-Mimen als der Generation nach ihnen, in den Achtzigern um Schwarzenegger und Stallone).

Georg Seeßlen schrieb über „Dirty Harry“ einmal, dass der Film mitnichten so rechts sei wie sein Protagonist. Das Update dieser Figur ist in der sich stetig verkomplizierenden politischen Realität des Jahres 2016 längst aus allen ideologischen Zusammenhängen gefallen. Die Motivation seines Handelns hat nichts mehr mit irgendwelchen Weltbildern zu tun. Einmal behauptet er, er tue, was er tut, weil sein Widersacher eine von ihm sehr geschätzte CIA-Kollegin auf dem Gewissen habe, aber das bleibt wenig glaubhaft. Vielmehr geht es ihm wohl um die pure Lust am Prügeln und Schießen und Befehle missachten. Und man kann Elba kaum genug dafür loben, dass dieser Brutalo-Anarchist, dem der Filme konsequent eine Back- oder Lovestory sowie jegliches andere Attribut verweigert, dass ihn menschlicher machen könnte, nicht nur charmant, sondern sogar sympathisch wirkt.

Noch viel toller ist es allerdings, dass diese Figur in den Kontext eines Films gestellt wird, der entgegen seines sonstigen Tempos ganz langsam eine dezidiert linke Agenda entwickelt. Da bekommt der Super-Agent Hilfe von einem Dieb und einer Frau unter Terrorverdacht, ja, im Finale sogar von linken Demonstranten, die eine Bank stürmen und damit in Anlehnung an den Titel gar eine neue Französische Revolution ausrufen, die für Momente geradezu physisch greifbar wird. Da nutzen nationalistische Politiker den Terror, um in den Nachrichten gegen muslimische Zuwanderer zu hetzen, von denen denn auch einer, wie wir ebenfalls aus den Nachrichten erfahren, von der Polizei auf einer Demo krankenhausreif geschlagen wird (das Paris des Films, der durchweg an Originalschauplätzen gedreht wurde, sieht sowieso nur manchmal aus wie aus der Gauloises-Werbung und wird inhaltlich mehr und mehr zu einem sehr konkreten historischen Ort). Da wird der Terrorismus zum Deckmantel, unter dem Leute aus den höchsten politischen Kreisen agieren, denen es, wie ihren Vorgängern im ersten „Stirb langsam“-Film, letztlich nicht um Politik, sondern um sehr viel Geld geht. Im Kontext des Genres mag man an Steven Seagal denken, der nach den Ausführungen seines großen Apologeten Vern, im Gegensatz zu seinen reaktionären Kollegen, Action-Filme immer wieder mit linken Politics anreichert oder auch an eine wesentlich konkretere Version des rührend infantilen Anti-Establishment-Duktus von James Camerons „Terminator 2“ (1992), in dem die Guten Rockerkluft und Public Enemy-T-Shirt und die Bösen fast durchweg Uniform tragen.

Was die Inszenierung der Action anbelangt, ist Watkins kaum etwas daran gelegen, das Rad neu zu erfinden. Er verzichtet auf CGI und setzt stattdessen auf die Unmittelbarkeit von Handkameras, die oft in subjektiven Einstellungen eingesetzt und immer direkt im Geschehen sind. Einen frühen Höhepunkt (und genau das richtige für Menschen mit Höhenangst wie mich) stellt eine Verfolgungsjagd über die Spitzdächer von Pariser Altbauten dar. Später geht es unter anderem im Laderaum eines zeitweise fahrerlos dahin schlingernden Transporters mächtig rund. Das World Building ist in „Bastille Day“, darin ist er „Mad Max: Fury Road“ nicht unähnlich, nichts was unabhängig von der Action geschieht, sondern es entsteht quasi nebenbei, während der Film mit atemberaubender Geschwindigkeit von einem set piece zum nächsten hetzt. Was Watkins gelungen ist, ist ein spektakulärer, brillant gespielter thinking man’s action movie ohne falsche intellektuelle Allüren. Hut ab!

Dies ist die leicht erweiterte Version eines Textes, der zuerst beim Perlentaucher erschienen ist.

Blow Out – Der Tod löscht alle Spuren

(USA 1981, Regie: Brian de Palma)

Ende einer Ära
von Nicolai Bühnemann

Alles dreht sich im Kreis. Die Spulen der Tonbandgeräte, die John Travolta in einer Szene hermetisch einzuschließen, zu umzingeln scheinen, die Kamera, der Film und alle Figuren in ihm. Aber …

Alles dreht sich im Kreis. Die Spulen der Tonbandgeräte, die John Travolta in einer Szene hermetisch einzuschließen, zu umzingeln scheinen, die Kamera, der Film und alle Figuren in ihm. Aber eben auch: der Filmstreifen in der Kamera, im Projektor. Und, so sagt es Brian de Palma, der vielleicht mit „Blow Out“ sein ultimatives Meisterwerk vorlegte, die Kamera lügt, 24-mal in der Sekunde. Nicht in einem Netz findet sich Travolta in diesem Film wieder, sondern in einer endlosen Spirale der Lügen und Inszenierungen, der Täuschungen und Ent-Täuschungen, der Traumata und vergeblichen Hoffnungen. Was auf der Strecke bleibt, während sich die Spirale, der Film im Projektor, weiter dreht, ist die Wahrheit. Auch die Liebe vielleicht, wenn es sie denn je gegeben hat (und: wer weiß das schon? Wer weiß überhaupt irgendwas in einem Film von Brian de Palma, diesem Meister der Verunsicherung?). Also kehrt am Ende, wenn sich die Kamera um John Travolta und Nancy Allen dreht, das Feiertagsfeuerwerk, hinter ihnen, um sie herum, alles zurück: das Trauma des Protagonisten, der Film dorthin, wo er begonnen hat.

Ekkehard Knörer bezeichnet Brian de Palma als „den wichtigste[n] Vertreter einer typischen Bewegung in der Formengeschichte aller Künste […], einer manieristischen Reaktion aufs Klassische“, also auf Hitchcock (auf dessen wohl ikonischste Szene, den Duschmord in „Psycho“, de Palma in seinen Filmen immer wieder zurückkommt, so auch in dem (Slasher-)Film-im-Film, mit dem „Blow Out“ beginnt, und wo diese Szene, ähnlich wie in Tobe Hoopers im selben Jahr entstandenen „The Funhouse“, in den Untiefen der „U-Kultur“ angekommen scheint), also auf Antonioni (dessen „Blow Up“ bereits im Titel anklingt, wobei jedoch die Prämisse dieses Films, in dem ein Fotograf durch immer weitere Vergrößerung eines Bildes versucht, ein Verbrechen aufzuklären, hier vom Visuellen ins Akustische verschoben wird).

In dieser Hinsicht stellt „Blow Out“ wohl einen (wenn nicht den) Kulminationspunkt im Schaffen de Palmas dar: Mehr Manierismus geht nicht! Der Film ist ein wahres Lexikon der stilisierten Filmsprache! So gibt es die wunderbare agile Plansequenz zu Beginn, für die Garret Brown, wie ein Jahr zuvor in „The Shining“, die von ihm erfundene Steadicam führte. In zahlreichen Einstellungen wurde ein Split-Diopter genutzt, um verschiedene Bildebenen scharf im Fokus zu haben (besonders eindrucksvoll in einer Einstellung, in der im Vordergrund eine Eule, im Hintergrund Travolta zu sehen ist oder einer anderen, in der, eine Reminiszenz an „The Night of the Hunter“, riesig ein Frosch im Bildvordergrund sitzt, ohne dass die Brücke hinter ihm deshalb out of focus wäre). Hiermit wie auch mit den direkten Split-Screens, einem weiteren Markenzeichen dieses Filmemachers, zeigt sich, wie genau die Cinemascope-Einstellungen dieses Films durchkomponiert sind, in denen immer wieder in unterschiedlichen Bildebenen Unterschiedliches passiert. Zu den komplizierten Dolly-und „Karussell“-Shots, bei denen sich die Kamera um sich selbst respektive die Protagonisten dreht, gesellen sich im Finale Furioso noch extreme Zeitlupen.

Zur extremen Stilisierung kommt noch die Selbstreflexivität des Films, der ja von Anfang an (auch) einer über das Filmemachen ist, in dem sich die Inszenierung von Wirklichkeit, als Prinzip des fiktionalen Films, bis in diverse Subplots hinein spiegelt. So kommt der Plot dadurch in Gang, dass Travolta, der den Allerweltsnamen Jack trägt, als Soundmann auf einer Brücke Geräusche für einen B-Film sucht, wobei er Zeuge eines Unfalls wird, hinter dem er durch einen Schuss, den er meint gehört zu haben, ein Verbrechen, später gar eine groß angelegte Verschwörung entdeckt. Er rettet Sally (Nancy Allen) aus einem im Fluss untergehenden Auto. Sie verdiente ihr Geld damit, sich mit Politikern oder anderen einflussreichen Männern in zwielichtigen Posen ablichten zu lassen, ohne, so behauptet sie zumindest, mit ihnen Sex zu haben. Eine weitere, im Bild manifest werdende Täuschung, Inszenierung. Über Jack erfahren wir, dass er einst für die Polizei arbeitete, bis ein Undercover-Ermittler durch einen Fehler, den er beim Anlegen einer Wanze machte, von Gangstern ermordet wurde. Die Rückblende ist fast wie ein weiterer Film-im-Film angelegt, diesmal kein Slasher, sondern ein Polizei-Thriller, und zeigt, dass das Aufdecken einer Inszenierung in der Welt dieses Films, wie in der etlicher Genrefilme vor und nach ihm, tödlich enden kann. Schließlich ist da noch John Lithgow als psychopathischer Killer, der eine ganze Mordserie „inszeniert“, obwohl es ihm doch eigentlich nur um ein einziges Opfer geht. Thomas Groh zeigt in seinen Anmerkungen auf, wie Jacks Rekonstruktionsarbeiten an den Bildern, die ein Fotograf von dem „Unfall“ geschossen hat, mit der Unterlegung der Tonspur seiner eigenen Aufnahmen die gesamte Genese des Mediums Film nachempfinden: „Aus einzelnen Bildern wird ein Daumenkino, daraus ein Stummfilm und schließlich, unter Hinzunahme der vorliegenden Tonspur, ein Tonfilm“.

Das faszinierende, das großartige an „Blow Out“ ist aber, dass alle Stilisierung und alle Selbstreflexivität hier nicht zu einer Distanzierung der Zuschauenden vom Geschehen auf der Leinwand führt. Die Tragödie der Travolta-Figur, die kein Held werden, nicht die Frau retten kann und schon gar nicht die Welt, trifft einen in der finalen Pointe mit voller, niederschmetternder Wucht. Lukas Foerster schreibt über den in den späten Siebzigern zu Starruhm gelangten John Travolta, er stehe ein „für eine neue Schauspielergeneration, die auch eindeutig nicht mehr New Hollywood angehört, das sieht man schon ihren Körpern an, erst recht ihrem Schauspiel.“ Mag das New Hollywood offiziell auch mit dem kolossalen Scheitern gigantomanischer, irrsinniger Produktionen wie „Apocalypse Now“ und „Heaven’s Gate“ enden sowie dem Aufkommen des Blockbusters, der den Studios zeigte, wie viel Geld man mit Filmen tatsächlich verdienen konnte, die kulturelle und politische Aufbruchsstimmung der Sechziger und Siebziger endet im US-amerikanischen Kino 1981 mit dem Schluss von „Blow Out“. Wenn der Mann, der immer versucht hatte Gutes zu tun, auf der richtigen Seite zu stehen und allem, der Wahrheit und der Liebe, zum Greifen nah war, nur damit ihm schließlich alles durch die Finger rinnen konnte, sich wieder in seinem Tonstudio verkriecht, um weiterhin billige Exploitationfilme zu vertonen, endet nicht nur ein Film, sondern eine Ära.

(Pink Floyd sangen schon zwei Jahre zuvor: But it was only a fantasy / The wall was too high as you can see / No matter how he tried he could not break free / And the worms ate into his brain)

Zur Blu-ray: Während „Blow Out” im Ausland schon lange in formidablen Blu-ray-Editionen vorliegt, etwa der Criterion Collection in den USA, gab es hierzulande bislang nur eine ziemlich schmucklose und über dies schon lange vergriffene DVD. Dem schafft Koch Media nun Abhilfe, indem sie den Film im Mediabook veröffentlichen, dass den Film auf beiden Formaten sowie eine Bonus-DVD enthält. Letztere beinhaltet einige Interview-Featurettes, in denen sich Produzent John Litto und Nancy Allen darüber freuen, dass der Film, der einst an den Kinokassen floppte, sich seitdem stetig zunehmender Beliebtheit erfreut. Das Interview mit dem Komponisten Pino Donaggio sowie der Booklet-Text von Martin Beine sind exklusiv für diese Edition angefertigt. Das interessanteste Gespräch ist aber sicherlich das mit Vilmos Zsigmond, mit imposant hoher Augenbrauenpartie und charmantem Akzent erinnert sich der Kamerameister an die Dreharbeiten und gibt ausführliche Auskunft über die Bildgestaltungsmanie de Palmas. So finden sich die amerikanischen Nationalfarben Rot, Blau und Weiß in diesem „Feiertagsfilm“ immer wieder in der Komposition einzelner Einstellungen, bis hin zur Kleidung der Protagonisten. Dieser vermeintliche Patriotismus erscheint in diesem inhaltlich so schwarzmalerischen Film natürlich als blanker Hohn.

Toni Erdmann

(D/A 2016, Regie: Maren Ade)

Verkleidet und nackt
von Wolfgang Nierlin

Zwei Tode rahmen Maren Ades tragikomische Vater-Tochter-Geschichte, von der sie in ihrem Film „Toni Erdmann“ erzählt. Das Uneigentliche, das mit seiner ironischen Distanz zwischen Winfried Conradi (Peter Simonischek) und Ines …

Zwei Tode rahmen Maren Ades tragikomische Vater-Tochter-Geschichte, von der sie in ihrem Film „Toni Erdmann“ erzählt. Das Uneigentliche, das mit seiner ironischen Distanz zwischen Winfried Conradi (Peter Simonischek) und Ines (Sandra Hüller) herrscht, kommt dann für lange Augenblicke zur Ruhe: Wann spürt sich der Mensch als Mensch? Was macht das Leben lebenswert? Und kann man das Glück immer nur in der Rückschau auf vergangene Erfahrungen und Erlebnisse fassen? Diese existentiellen Fragen begleiten die skurrilen Begegnungen zwischen Vater und Tochter, schwingen zwischen ihnen im permanenten Austarieren von Nähe und Distanz. Denn auf ganz verschiedene Weise sind beide Protagonisten Verkleidungskünstler und Maskenträger: Während Musiklehrer Conradi mit Perücke und falschem Gebiss seine Mitmenschen verunsichert, spielt Ines ihre Rolle als Unternehmensberaterin im „Ölbusiness“, die mit „Outsourcing-Projekten“ betraut ist.

Doch eigentlich bleibt ihre abgehobene Arbeit wenig griffig, fast abstrakt. Ihr von Stress, Anspannung und fortwährendem Zeitdruck begleitetes Geschäftsgebaren wird bestimmt von Äußerlichkeiten und Floskeln, verschwurbeltem Fachsprech und inszenierten Scheinkämpfen. Als Ines überraschend von ihrem eher unberechenbaren Vater in Bukarest besucht wird, ist sie einerseits peinlich berührt, weil der unkonventionelle Winfried ziemlich quer zu ihrem Alltag steht; andererseits fühlt sie sich an ihre Tochterpflichten erinnert. Sehr genau blickt Maren Ade mit den Augen des außenstehenden Vaters, den die Tochter am liebsten verstecken würde, auf die von hierarchischen Strukturen und unwürdigen Machtspielen geprägte Arbeitswelt von Ines. Existenzängste und eine tiefsitzende Einsamkeit beherrschen ihr Tun, dessen Brüchigkeit in vielen Details immer wieder aufblitzt und das zudem kontrastiert wird mit der Armut der umgebenden rumänischen Gesellschaft.

Als Winfried nach einer Auseinandersetzung früher als geplant abreist, ist Ines fast schon erleichtert. Doch dann kehrt der Vater völlig unerwartet in der ziemlich schrägen Gestalt des titelgebenden Helden Toni Erdmann zurück und konfrontiert mit seiner falschen Identität die Tochter mit ihrem Leben. Das führt zu einer Reihe grotesker Situationen und Verwicklungen, die aber nie nur komisch und irritierend sind, sondern immer auch ein bisschen traurig. Sehr realistisch übersetzt Maren Ade den familiären Konflikt zwischen Nähe und Distanz in ein schillerndes Spiel zwischen Verstellung und Echtheit, Verkleidung und Nacktheit. Auf dessen Höhepunkt singt Ines, von ihrem Vater am E-Piano begleitet, eine wunderbar gefühlvolle und zugleich vielfach gebrochene Version von Whitney Houstons Songklassiker „Greatest love of all“. Erst danach können die Hüllen fallen und kann Ines sich für einen zärtlichen Moment fallen lassen – ins wärmende, schützende Zottelfell des als Kuker verkleideten und damit die bösen Geister vertreibenden Vaters.

Deutschland. Dein Selbstporträt

(D 2016, Regie: Sönke Wortmann)

Ein Film wie eine Nationalhymne
von Jürgen Kiontke

Die Deutschen schauen gern in den Spiegel. Jetzt haben sie einen ganzen Film aus dieser Macke gemacht, eine Art Gesamtselfie aller, die da mitmachen wollten. Auf einer Homepage konnte man …

Die Deutschen schauen gern in den Spiegel. Jetzt haben sie einen ganzen Film aus dieser Macke gemacht, eine Art Gesamtselfie aller, die da mitmachen wollten. Auf einer Homepage konnte man Videos hochladen, in denen man zu sich und sonst so Stellung beziehen konnte. Deutschlandmuckel Sönke Wortmann schnitt daraus eine Art Best-of Germany, zunächst ein bisschen à la lustige Unfallvideos auf RTL2.

„Das ist meine Wohnung, penibel eingerichtet, ein bisschen unaufgeräumt, wie mein Seelenzustand“, kommentiert eine lädierte Frauenstimme ihr Video. „So ist es, wenn man von Freunden und Ehemann verlassen wurde. „Dunkel, dunkel, dunkel.“ Ey, super Film. Leider bleibt‘s nicht so lustig. Es ist der 20. Juni 2015, „Deutschland“ ist aufgerufen, diesen Tag bei sich zu Hause zu filmen und einzuschicken.

Es gibt Leute, die machen bei so was mit. Am frühen Morgen ist die Stimmung am besten. Es treten auf: deutsche Mutter, deutsche Ente, deutscher Autofahrer. Und der deutsche Hippie moniert: Wir hätten viel zu viele Gesetze, zum Beispiel sei das Wasserklosett vorgeschrieben.
Was den Deutschen außerhalb sanitärer Einrichtungen wichtig ist: Liebe, Freunde, Kuscheln, Behinderte, 3. Weltkrieg, Sex, Auto und das Wetter. Und Musik: Die ist so penetrant nationalpathetisch, dieses Selbstporträt hätte es auch zu längst vergangenen Zeiten schon getan.

Aus ungewöhnlichen Ecken des Landes stammen viele Filme: Aus dem Trachtenclub, den Vegetariern, dem Knast in Kassel, wo der Justizvollzugsbeamte sagt: „Ich liebe meine Arbeit, die festen Strukturen.“ Auch olle Asylbewerber findet Deutschland gut, blöd ist das mit der Duldung seit 23 Jahren. „Die, die jetzt kommen, sind gleich anerkannt“, schimpft der junge Libanese. Ach, schau mal: Der Ausländer schimpft über Ausländer. Irgendwann geht’s dann mit den Kindern los, den Blonden. – „Was ist für dich Deutschland“? – „Brabbelbrabbel“, es antwortet die Dreijährige. Darf man sowas überhaupt, die Gören so für politische Zwecke verwursten?
„Deutschland ist…“, brüllt der Film ab jetzt bis zum Abspann. 40 Minuten sind‘s noch. „…So toll, so super, so Deutschland!“, schallt’s aus dem Wald.

Da haben dann alle schon Schwarz-Rot-Gold an, und ein bisschen ist es wie am Ende von „Er ist wieder da.“ Ein Film wie eine Nationalhymne. Alle Strophen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 7/2016

Der Bunker

(D 2015, Regie: Nikias Chryssos)

'Das ist Erziehung'
von Nicolai Bühnemann

„Da kommt ja gar kein Licht hinein.“ „Aber auch keines hinaus.“ Und ums nicht (recht) Hineinkommen und (nie wieder) Hinauskommen geht es im Langfilmdebüt von Nikias Chryssos (Regie, Drehbuch, Produktion). …

„Da kommt ja gar kein Licht hinein.“ „Aber auch keines hinaus.“ Und ums nicht (recht) Hineinkommen und (nie wieder) Hinauskommen geht es im Langfilmdebüt von Nikias Chryssos (Regie, Drehbuch, Produktion). Der da zu Beginn hinein kommt in die Bunkerwohnung, aber bei dem, was hier vor sich geht, doch lange Zeit außen vorbleibt, ein Fremder, ist der Student (Pit Bukowski gibt ihn mit charakteristischer Hasenscharte und zunächst stoischer Ruhe angesichts des Abstrusen, ja, auch Grausamen, was ihm hier begegnet, unter der man doch mehr und mehr das Brodeln wahrnimmt). Abgeschiedenheit und Ruhe sucht er für seine Studien, die, wie so manches in diesem Film, absolut kryptisch, ein Rätsel bleiben. Die Schneelandschaft, durch die er den Bunker in den ersten Szenen erreicht, lässt kunstvoll offen, wie es um den Rest der Welt, (zumindest den Rest von Deutschland, denn hier befinden wir uns bei aller Abgeschiedenheit, allem aus Zeit und Raum Fallen des hermetisch abgeriegelten Schauplatzes) doch sehr deutlich bestellt ist.

Der ihn aufnimmt in seinen Bunkerkeller, in den kein Licht hinein kommt und keines hinaus, das ist der Vater (schnurrbärtig schmierig: David Scheller). Er macht dem Neueingetroffenen erst einmal ein Fußbad, was man mit Oliver Nöding schon deshalb nur schwer für ein Zeichen christlicher Nächstenliebe halten kann, weil er denkbar grotesk darüber witzelt, aus dem Wasser anschließend ein leckeres Süppchen für alle zu kochen. Zu der Familie, in die der Student hineingerät, gehören außer ihm noch die Mutter (matriarchalisch bis hysterisch: Oona von Maydell), sowie der achtjährige Sohn Klaus, der als einziger einen Eigennamen trägt, der über seine Funktion in der Versuchsanordnung dieses Films hinausgeht, und von einem erwachsenen, beeindruckend geschminkten Darsteller (noch verstörender als das restliche Personal: Daniel Fripan) gespielt wird.

Vier Figuren (fünf, rechnet man „Heinrich“ mit, eine Art Gottheit, die den Körper der Mutter bewohnt und durch eine vage cronenbergeske Wunde an ihrem Bein in Erscheinung tritt), ein Bunkerhaus, das die Kamera nur einmal verlässt und das auch nur, um zu zeigen, dass es draußen auch nichts gibt außer Schnee und kahlen Bäumen und den Bunkereingang, das ist das Ensemble und die Welt von „Der Bunker“. Chryssos filmt das mit größtem Gespür für Atmosphäre und Stimmung in Einstellungen, die luft- und lichdicht erscheinen und bei denen nur äußerst selten jemand den Bildkader betritt oder verlässt, die Figuren meist so statisch bleiben wie die Kamera. Die Scope-Blicke der Kamera können niemals in die Weite gehen, immer nur die vage an die Fünfziger erinnernde Tristesse des titelgebenden Schauplatzes mit einfangen. Jedes Bild ein eigener Bunker.

Es begibt sich nun, dass der Student, weil er bei den Knödeln noch mal einen Nachschlag nimmt, Schulden bei seinen Vermietern akkumuliert, die er begleichen soll, indem er Klaus unterrichtet. Der Bambusstecken wird ihm vom Vater gleich beim Betreten des Klassenzimmers gezeigt, von dem Gebrauch zu machen sei, sollte Klaus nicht parieren. Und mindestens so enervierend wie die Lernresistenz des Schülers sind die ständig wiederholten Fragen des Lehrers („Hauptstadt von Frankreich?“), die mit einem Nachdruck und einer Insistenz gestellt werden, die den Bambusstab auf den Fingern tatsächlich als logische Verlängerung des verbalen Drills erscheinen lassen. Es ist eine der hinterhältigen Pointen dieses Films, dass diese Art der Erziehung dann auch tatsächlich nur mit Schlägen funktioniert. Das Lernen der Hauptstädte, das zunächst nur mit Schummeln durch den Studenten vorgetäuscht wird, gelingt Klaus erst tatsächlich, als der Student vom Bambus Gebrauch macht. Die Verbände an den Händen des Jungen, durch die am Ende das Blut suppt, geben direkten Aufschluss über voranschreitende Lernleistungen.

Ödipales gibt es in der Konstellation des Films durchaus. Allerdings bezeichnenderweise nicht bei Klaus, sondern beim Studenten. Nachdem er Klaus besonders erfolgreich unterrichtet hat, kommt die Mutter zum sonderbar desinteressierten Fick in seinem Zimmer vorbei, bei dem er beständig weiter „arbeitet“, also seitenweise Papier mit konzentrischen Kreisen und Kästchen vollschmiert, um hinterher eine Wand seines Zimmers damit zu tapezieren. Und wenn der Student schließlich am Schluss die Schnauze endgültig voll hat von den Marotten seiner Gastfamilie, stürzt er sich kampfeslustig auf den Vater. Ob man hier mit Freud aber wirklich weiterkommt, ob es etwa um das Nicht-Überwinden des Ödipuskomplexes geht, der der Psychoanalyse ja als notwendiger Akt der Zivilisierung des Kindes, der Zügelung seines Urbedürfnisses nach sex and violence gilt, und der also zu dem, was man gemeinhin Erwachsenwerden nennt, unumstößlich dazu gehört, und ob das Ausbleiben dieser Überwindung eben zu erwachsenen Kindern führt, sei dahin gestellt.

Überhaupt bleibt der Film bei aller Geschlossenheit der Diegese wie der Form erfreulich offen für Lesarten aller Art – ohne sich irgendeiner von ihnen jemals ganz zu verpflichten. Sicherlich ist „Der Bunker“, in dem mit Klaus einem, gelinde gesagt, nicht übermäßig begabten Kind die Bürde aufgelastet wird, es bis zum Präsidenten schaffen zu müssen, dieser niemals auf eine normale Schule geschickt wird, weil er laut seiner Eltern dort unterfordert sei, auch ein groteskes Zerrbild der beinahe schon zum Klischee erstarrten gutbürgerlichen Familie, die ihre Kinder vom Geigen- zum Klavier- zum Schach- zum Schwimmunterricht bringen, ohne ihnen in ständiger Vorbereitung auf eine (Arbeits-)Welt, in der mensch nicht nur alles können, sondern in allem der oder die Beste sein muss, Raum für Freizeit, Spielen, Nichtstun zu lassen. „Das ist doch grausam.“ „Das ist Erziehung.“

Nachdem Drop-Out Cinema den Film im Januar in die Kinos gebracht hat, erscheint er nun am 22.07.2016 bei Bildstörung auf DVD und Blu-ray. Wie von diesem Label nicht anders gewohnt, handelt es sich dabei um bestens ausgestattete Scheiben, die neben einem einstündigen Making-Of, das in Interviews den gesamten Entstehungsprozess des Projekts von der – äußerst schwierigen – Finanzierung über den Dreh bis hin zum Schnitt nachzeichnet, auch einen Audiokommentar des Regisseurs enthält. Im Booklet schreibt Oliver Nöding sehr ausführlich über den Film und gibt in einem recht langen Exkurs gelehrigen Aufschluss über die Geschichte des deutschen Genre- (vor allem Horror-)Films von den „expressionistischen“ Klassikern der Zwanziger bis zur aktuellen Renaissance durch Filme wie „Der Bunker“, „Der Nachtmahr“, „Der Samurai“ (den ich hier mit aufzähle, auch wenn ich ihn immer noch nicht gesehen habe) oder „German Angst“ (wobei ich hier unbedingt noch „Tore tanzt“ mitrechnen würde, ein waschechter deutscher „torture porn“, no less). Neben dem üblichen (Trailer, Out-takes) wird die wirklich vorzügliche Edition abgerundet durch zwei Kurzfilme, die Chryssos während seines Studiums an der Filmakademie Baden-Württemberg realisierte: „Schwarze Erdbeeren“ (2005) und „Der Großvater“ (2012). Beide geben schon eindrucksvoll davon Zeugnis, wie er es versteht, aus einem Minimum an Figuren und Setting ein Maximum an Intensität und Atmosphäre herauszuholen.

Dolls

(I/USA 1987, Regie: Stuart Gordon)

Bad Parents Nightmare oder: Wie Mörderpuppen die schwarze Pädagogik auf den Kopf stellen
von Nicolai Bühnemann

Stuart Gordon und sein – zumindest als Regisseur immer noch sträflich unterschätzter – Kompagnon Brian Yuzna machten sich ab der Mitte der Achtziger Jahre nicht nur zu Erneuerern eines sich …

Stuart Gordon und sein – zumindest als Regisseur immer noch sträflich unterschätzter – Kompagnon Brian Yuzna machten sich ab der Mitte der Achtziger Jahre nicht nur zu Erneuerern eines sich in endlosen Slasher-Sequels und –Rip-Offs totlaufenden amerikanischen Horrorkinos, sie zählen mit ihren betont kleinen Filmen auch zu den großen subversiven Kräften des amerikanischen Films ihrer Zeit überhaupt. So wie die Splatterfilme von Craven, Hooper oder Romero in den Siebzigern auch als grimmige Antworten auf den Watergate-Skandal und den Krieg in Vietnam gelesen werden können, so reagieren Gordon und Yuzna mit den ihren auf die Zumutungen einer von der Politik von Reagan und Thatcher – und ihren Nachahmern – geprägten Dekade.

So formuliert etwa ein Film wie Yuznas erste – und wohl nach wie vor beste – Regiearbeit „Society“ (1989), weit über ihre ja schon im Titel steckende Gesellschaftskritik, durch die geradezu infantile Lust am deformierten, entgrenzten, fragmentierten, de- und rekonstruierten Körper Einspruch gegen die Körperpolitik des Neoliberalismus. So wird der durch diese Rolle zur Kultfigur unter Genre-Aficionados avancierte Jeffrey Combs als mad scientist Herbert West in den „Re-Animator“-Filmen, der die Toten wiederauferstehen lässt, einfach nur, weil er es kann, auch zum Albdruck eines keinem moralischen Gesetz unterworfenen, nur durch die eigenen Möglichkeiten der Reproduktion gezügelten Kapitals. Und was den sein berufliches Instrumentarium zum wirklich fiesen Morden missbrauchenden Zahnarzt aus Beverly Hills in den „Dentist“-Filmen anbelangt, well, you catch my drift …

Wie passt nun „Dolls“, 1985 unter der Regie von Gordon und der Produktion von Yuzna in Italien gedreht, aber erst 1987 in die Kinos gebracht, in dieses Bild? Nun, vielleicht sollte man damit beginnen anzumerken, dass wir es hier mit einem, auch für Gordon/Yuzna-Verhältnisse, in jeder Hinsicht kleinen Film zu tun haben. Mit wahrscheinlich recht überschaubarem Budget und – sieht man von der Vielzahl mordender Spielzeuge einmal ab – noch überschaubarerem Figurenensemble, erzählt „Dolls“ in kompakten 78 Minuten einen Plot, der zum Großteil in einem einzigen, freilich recht riesigen Haus spielt, und locker auf einen Bierdeckel passt. Dazu passt, dass sich die kritischen Töne hier nicht auf ein gesellschaftliches großes Ganzes beziehen, sondern vielmehr auf die Keimzelle der Gesellschaft abzielen: die Familie.

Und die Familie, Vater, (böse) Schwiegermutter, kleine Tochter, die wir in den ersten Szenen im Auto kennenlernen, ist kein Ort, an dem ein Kind großgezogen werden sollte, soviel steht fest! Die beiden ihre wohl chronische schlechte Laune sowieso schon permanent an der siebenjährigen Judy auslassenden Erwachsenen werden noch garstiger, als sie bei ihrem Urlaub im englischen Hinterland mit dem Auto im Schlamm stecken bleiben. Unterschlupf bietet ein altes Anwesen, das – scheinbar! – nur von dem alten Puppenbauer Gabriel Hartwicke (Guy Rolfe) und seiner Frau Hilary (Hilary Mason) bewohnt wird, und in dem schon der Kindskopf Ralph (Stephen Lee) mit zwei punkigen Anhalterinnen Zuflucht vor dem Gewitter gefunden haben. Doch Judy, die schnell in Ralph (der eigentlich gar nicht viel machen muss, außer ängstlich und in jeder seiner Bewegungen entschieden unerwachsen zu wirken, um eine der tollsten Figuren des Kinos der Achtziger zu werden) einen Verbündeten findet, bemerkt sehr bald, dass hier etwas nicht stimmt. Ist vielleicht an der Geschichte von dem Spielzeug, das, während man schläft, zum Leben erwacht, etwas dran? Und geht es bei diesem Eigenleben der vermeintlich unbelebten Puppenwelt am Ende gar mörderisch zu?

„Dolls“ setzt auf routinierten Grusel, der durch die finsteren, immer wieder vom draußen tobenden Unwetter durchblitzten Gänge des Anwesens und die wirklich creepy animierten Puppen entsteht. Dazu kommen noch einige recht garstige blutige Kills. Die Angstphantasie von dem lebenden bösen Spielzeug entwickelt sich am Schluss zur Erfüllung der Rachephantasie vom Anfang, aus der einen nun kein stiefmütterlicher Klaps mehr wecken kann. Dabei bleibt das Ende gerade dadurch ambivalent, dass es scheinbar so ganz und gar auf Ambivalenzen verzichtet, sich ganz auf die Seite der Kinder und Kind gebliebenen schlägt und die geldgeilen, gehässigen und gefühlskalten Erwachsenen von nun an dazu verdammt, Ihresgleichen zu zerfleischen. Schwarze Pädagogik einmal anders herum.

Der in Deutschland vollkommen unzeitgemäßerweise immer noch indizierte Film liegt in Österreich auf einer ordentlichen Blu-Ray-Edition von Koch Media und NSM vor.

Lou Andreas-Salomé

(D 2016, Regie: Cordula Kablitz-Post)

Selbstermächtigung einer starken Frau
von Wolfgang Nierlin

Die Filmemacherin Cordula Kablitz-Post hat ihr Biopic über die Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé raffiniert konstruiert: Während die Nazis im Mai 1933 öffentlich Bücher der von ihnen verfemten Autoren verbrennen, arbeitet die …

Die Filmemacherin Cordula Kablitz-Post hat ihr Biopic über die Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé raffiniert konstruiert: Während die Nazis im Mai 1933 öffentlich Bücher der von ihnen verfemten Autoren verbrennen, arbeitet die 72-jährige, altersschwache Dame (Nicole Heester) zusammen mit dem jungen, unglücklichen Germanisten Ernst Pfeiffer (Matthias Lier) in Göttingen an ihren Memoiren. Ihre Lebenserinnerungen stehen also von vornherein gegen das offiziell betriebene Vergessen durch ein barbarisches Regime, dessen Drohungen immer vernehmlicher werden. Zugleich nutzt die Regisseurin diesen Ausgangspunkt für Rückblenden in das bewegte Leben der emanzipierten Philosophin (Katharina Lorenz), das von Begegnungen mit zahlreichen Künstlern und Gelehrten geprägt war. Das Vergrößerungsglas, das die Portraitierte zum Lesen benutzt, ist deshalb zugleich das Instrument, mit dem Kablitz-Post auf exemplarische Weise bedeutende Episoden einer ungewöhnlichen Frauen-Biographie erhellt.

Dass es sich bei biographischen Arbeiten nur um die „halbe Wahrheit“ handeln könne, gibt die betagte Intelektuelle selbst zu bedenken. Insofern fokussiert Cordula Kablitz-Post ihren Film „Lou Andreas-Salomé, der mit einem stummen Nein beginnt, vor allem auf die Geschichte einer weiblichen Selbstermächtigung. Diese steht ziemlich quer zu den gesellschaftlichen Konventionen der Zeit. 1861 in St. Petersburg als Jüngste neben fünf Brüdern geboren, leidet das widerspenstige Mädchen zudem unter dem frühen Verlust des geliebten Vaters. „Werde die, die du bist“, sagt dieser einmal zu ihr. Zum Mentor und Vaterersatz wird ihr dabei der geistliche Privatlehrer der Familie, der durch seine Übergriffigkeit die Heranwachsende (Liv Lisa Fries) allerdings traumatisiert. Erst ihre spätere Begegnung mit Sigmund Freud (Harald Schrott) in den 10er Jahren des 20. Jahrhunderts bringt dieses verdrängte Kapitel zur Sprache.

Dazwischen liegen ihre Studienjahre in Zürich, ihre Kämpfe mit der Mutter, eine schwere Lungenkrankheit, vor allem aber ihre einschneidende Begegnung mit den geistesverwandten Philosophen Paul Rée und Friedrich Nietzsche in Rom. Doch noch wehrt Andreas-Salomé die Heiratsanträge ihrer zahlreichen Verehrer, die reihenweise liebeskrank oder verrückt werden, ab. „Kameradschaft, sonst nichts!“, lautet das Credo der Heiratsunwilligen, die nach Freiheit und Unabhängigkeit als Voraussetzungen für eine geistige Vervollkommnung strebt. Apollinisches und dionysisches Prinzip liegen bei ihr, Nietzsche folgend, in einem harten Konflikt, der erst später in ihrer leidenschaftlichen Liebesbeziehung zu dem um fast fünfzehn Jahre jüngeren Dichter Rainer Maria Rilke besänftigt wird.

„Sofern du willst ein Leben haben, raube dir’s.“ Dieses leitmotivische Zitat von Lou Andreas-Salomé beflügelt in weiten Teilen auch Kablitz-Posts Portrait einer unkonventionellen Künstlerin und starken Frau, die für viele Weggefährten zur Förderin und Inspirationsquelle wurde. Allerdings gerät der Regisseurin das Exemplarische dieses emanzipatorischen Widerspruchs gemäß den genretypischen Konventionen arg plakativ. Da muss das Mädchen auf Bäume klettern, als unfreiwillige Konfirmandin im Gottesdienst dem Pfarrer provozierend widersprechen oder als junge Gelehrte in der Begegnung mit Gleichgesinnten druckreif philosophische Sätze aufsagen. Das ist zwar meisten unterhaltend und manchmal sogar (unfreiwillig?) komisch, aber eben auch oberflächlich. Gelungener ist der Film in seiner motivischen Gestaltung. So befördert Lou Andreas-Salomés Analyse bei Freud neben der Bearbeitung ihres Traumas auch die Frage nach ihrer narzisstischen Persönlichkeit. Und ihre Begegnung mit Pfeiffer, die manchmal einem letzten Flirt mit einem seelenverwandten Verehrer ähnelt, akzentuiert neben der „geretteten Erinnerung“ noch einmal ein komplizenhaftes Lehrer-Schüler-Verhältnis.

Independence Day: Wiederkehr

(USA 2016, Regie: Roland Emmerich)

Sie versuchen es noch einmal!
von Drehli Robnik

Anmerkungen zu Postmemory und Realpolitik in ‚Independence Day: Wiederkehr‘ London liegt in Trümmern, ein Land ist ohne Führung, aber willens, seinen Unabhängigkeitstag neu zu definieren. Zugleich kommt es zu einer …

Anmerkungen zu Postmemory und Realpolitik in ‚Independence Day: Wiederkehr‘

London liegt in Trümmern, ein Land ist ohne Führung, aber willens, seinen Unabhängigkeitstag neu zu definieren. Zugleich kommt es zu einer Häufung von Präsidentenfiguren: Eine davon ist gewählt (das aber nur für kurze Zeit), eine ist ein charismatischer Altpräsident, eine ist ein interimistisches Vertretungsstaatsoberhaupt in Waffen. Währenddessen wittern feindselige Mächte, deren Eroberungsversuch damals nur ganz knapp abgewehrt werden konnte, ihre zweite Chance – und bekommen sie. Das ist endlich mal Katastrophen-SciFi mit Zeitbezug – nicht nur in Großbritannien nach dem Brexit-Votum und in Österreich nach dem Wahlwiederholungsentscheid. Das ist ‚Independence Day: Wiederkehr‘.

Im Sommer vor einer US-Präsidentenwahl legt Hollywood sich nicht gern fest (installiert nicht gern eine definitives Oberhaupt, sondern deren drei). Da trifft sich auch gut, dass Frauen, sofern sie hier nicht als Kriegerbraut oder im Pflegedienst fungieren, im baldigen Abgang (Exit) sind: Letzteres widerfährt denn auch der farblosen (weißen) US-Präsidentin – also übernimmt ein General (Eventmovie-Urgestein William Fichtner) die provisorische Staatsführung im Abwehrkrieg. Derweil treiben Pflichtgefühl und senile Bettflucht den Mann, der in Teil 1 Bill Clinton nachempfunden war (beide Male gespielt von Bill Pullman), als Altpräsident zurück in den Kampf.

‚Independence Day‘ beschwor 1996 ein globales Amerika im Zeichen von poppiger Geschichtsverwurstung (Zweiter Weltkrieg, Alien-Mythen des Kalten Krieges, Aufbrüche und Konflikte der Sixties) und von Multikultur, mit Akzent auf Kultur, vom Multi nicht zuviel: Postpolitische Memory Culture, Differenzen kontrolliert und begrenzt, in Form von Diversität zur Schau gestellt. Roland Emmerichs Neuauflage ersetzt die 1990er Gemeinschaftsparameter von Kultur und Gedächtnis durch die aktuellen von Geo- und Realpolitik (wie es schon im Vorjahr ein anderes Reboot, „Jurassic World‘, tat): Meines Feindes Feind ist mein Freund, also schmieden wir pragmatische, aber schwach fundierte Allianzen – das gilt für zentralafrikanische Warlords, für eine zweite Alien-Fraktion, gar für eine Französin (Charlotte Gainsbourg, heiser wie immer, diesmal in Safari-Shorts). Anstelle der zentralen Black-Jewish-Alliance Smith-Goldblum von 1996 trumpft nun die Welt- und Markt-Macht China auf und liefert halbe Hauptfiguren, zumal den Kommandeur der Mondstation und dessen Tochter.

Überhaupt sind hier alle Söhne und Töchter von irgendwem, zum Teil von Vorfahren aus dem ersten Film, zum Teil einfach so, weil die Realpolitik der Zweckbündnisse und zu umschmeichelnden neuen Absatzmärkte wenig an dauerhaften Bindungen zulässt, wenig an institutionellen Referenzen. Da bietet sich die Familie im Sinn eines stolzen Stammbaums an; der verweist nun aber weniger ins kulturelle Gedächtnis zurück (als Geschichtsüberformung nach Art der 1990er, siehe am allerexemplarischsten ‚Forrest Gump‘), auch nicht in die B-Movie-Historie, die ‚Independence Day‘ damals zur imperialen Staatskunst der Ironie als verordnetem Massenhabitus erhob. Sondern: Referenz ist nun vor allem der zwanzig Jahre alte Film selbst (den Emmerich persönlich seitdem noch gefühlte fünf Mal, de facto aber nur drei Mal in abgewandelter Form neu gedreht hat) – für den neuen Film, dessen Plot mit Gedenkfeierlichkeiten zu einem zwanzig Jahre zurückliegenden Krieg beginnt. Bei diesen Feiern hat der Ende 2015 verstorbene Schauspieler Robert Loggia einen letzten Filmauftritt, als greiser General, der eine Einstellung lang von der Veteranentribüne der ‚War of ’96‘-Gedenkzeremonie runtergrinst und dabei noch lächerlicher aussieht als mit der Camouflage-Mütze, die er vor zwanzig Jahren in ‚Independence Day‘ trug.

Staatsmachtträger treten hier als entweder lächerlich, dezentriert oder auf mehrere Figuren verteilt auf (die drei Präsis, keine/r davon ‚richtig‘). Das entspricht einem Zustand, in dem drei Präsidenten – zwei aus postpatriarchalen bzw. bürgerrechtlichen Nachfolgebewegungen der langen Sixties stammend (Clinton, Obama), einer aus dem Polit-Biotop der aggressiv Marktwirtschaftsdemokratie exportierenden Neocons (Bush jr.) – enttäuschte sozialstaatliche Hoffnungen bzw. desaströs gescheiterte Expansionsprojekte zurücklassen und die nachfolgenden Machthabenden durch Toupets, Irrsinn, Skandale (oder in exotischen Ländern durch verfassungsgerichtlich angeordnete Wahlwiederholung) so kompromittiert sind, dass das Eventkino die Formen ihrer – übersetzten – Bildwerdung (oder Anbetung) erst entwickeln wird müssen. Überhaupt: Welche Staatsmachtsymbole sollen Alien-Invasoren 2016 denn groß zertrümmern, wenn das Weiße Haus 1996 von Emmerich synchron mit Kapitol, New York und Los Angeles außerirdisch zerstrahlt und seitdem in mehreren Actionfilmen verwüstet wurde? Folgerichtig wird das Weiße Haus diesmal durch eine Flutwelle mit allerlei Großgeröll ’nur‘ gedepscht und geknickt. Dafür sind in ‚die Sequenz‘, die es in jedem Emmerich-Film geben muss, rezente historische und als Medienevents global halbwegs erinnerliche Zerstörungsereignisse eingearbeitet – der Tsunami, Hurricane Katrina sowie die terroristische Realinszenierung von 9/11, weshalb diesmal nicht mit Autos, sondern mit Megagerät geworfen wird: Es regnet Passagierjets. Und es hagelt Oneliner, die uns darauf einschwören, dass dieser Film an seinem Vorgänger zu messen und als größer einzustufen ist; einer davon ist sogar ganz lustig – ‚They like to get the landmarks,‘ wird trocken vermerkt, als die Alien-Armada gerade Londons Tower Bridge zerstört.

Der Rest ist ein langer Film, der sich kurz abhandeln lässt. Die Rechenleistung hat sich seit damals erhöht, Luftkampf und Telepathie werden diesmal zu Routinehandlungen für den kleinen Gusto zwischendurch, ‚Transformers‘ war eh auch öd, und der andere Hemsworth ist eh auch fesch. Jeff Goldblum meint es gut, Will Smith wusste es besser, und am Ende – als einmal mehr in der strahlend weißen Salzwüste Tabula Rasa gemacht und rasende Mehrfachhochzeit gefeiert wird (was aber nur noch wenig Sinn abwirft, weil in diesem Film andere Soziierungsformen dem bürgerlichen Paar den Rang abgelaufen haben: neben der Herkunftfamilie ist dies der sozial vernetzte Freundeskreis, der sich dauernd updatet und bei irgendwelchen turbulenten Ausflügen trifft) –, am Ende ertönen Rufe nach Alien-Asskicking in einem weiteren Sequel, die umso unbeholfener klingen, als dieser Film in den USA gefloppt ist. Na, geh! Sei noch vermerkt, dass hier ein schwules Altherren-Pärchen auftritt, das offenbar dann akzeptabel ist, wenn es die Oberdodln abgibt in diesem Postdemokratie-Panorama am Deppen-Dance-Day.

High-Rise

(GB/BEL 2015, Regie: Ben Wheatley)

Tower of Power auf Dauer, schick versifft
von Drehli Robnik

Oben die Oberschicht, unten die Unterschicht, mittendrin die Mittelschicht, bis das Haus zusammenbricht. Ein simples Sinnbild entnimmt die britische Sozialdystopie ‚High Rise‘ der titelgleichen Romanvorlage von J.G. Ballard aus dem …

Oben die Oberschicht, unten die Unterschicht, mittendrin die Mittelschicht, bis das Haus zusammenbricht. Ein simples Sinnbild entnimmt die britische Sozialdystopie ‚High Rise‘ der titelgleichen Romanvorlage von J.G. Ballard aus dem Jahr 1975. Ein Wohnturm als Raum- und Denk-Bild von klassengesellschaftlichen Gewaltpotenzialen, die fast widerstandslos epidemisch ausbrechen – Sagt uns das viel über Hochhäuser heute? Über Hubschrauberlandeplätze und Gated Communities der Reichen oder über hiesige Pendants: Stadtwohnraum als mehrstöckige Tragestruktur für Dachausbauten mit Terrasse oder Geldanlage in Nachfolge des (wohl deshalb einst wohnturmsilhouettenförmigen) Sparbuchs?

Muss ja nicht. Der Film spielt in der Gegenwart des Romans, also circa 1975. In diesem Jahr legte David Cronenberg sein themenähnliches Spielfilmdebüt ‚Shivers‘ vor und zeigte darin eine modernistische Wohnmaschine, wie in ‚High Rise‘ mit Sportanlage und Swimmingpool, im Verlauf des Umkippens von steriler Wohlstandsplanung in pansexuelle Aggression: letzte, ambivalente Grüße des Revolutionsgedankens, bevor er in Submilieu-Lifestyles verpuffte (siehe dazu Ballards/Cronenbergs ‚Crash‘). ‚High Rise‘ setzt Auflösung, Hysterie und Stromausfall als stets schon wuchernde Prozesse voraus und seinen Turmsolitär auf eine Großbrache mit Großstadt im fernen Hintergrund. Die Stockwerkstruktur wird nie sinnlich eigenlogisch; das Haus bleibt Behauptung, der Raum bleibt Bühne für Marotten: ein Pferd im Dachgarten, Sex und Suizid auf dem Balkon, Kindergeburtstagsparty auf Repeat.

Von allen Filmen, in denen das Kreativ-Pärchen Ben Wheatley (Regie) und Amy Jump (Drehbuch) Kopplungen von Irrsinnsgewalt und Normalverhalten durchtestet (Auftragsmörder als Mittelklasse-Ehemänner in ‚Kill List‘, Spießertouristen-Pärchen als psychotische Amour fou-Killer in ‚Sightseers‘, Altenglisches Auszucken im Wams mit Hilfe von Pilzen in Schwarzweiß in ‚A Field in England‘) – von all ihren spleenigen Genre-Mutationen und Brit-Kino-Hommagen (vom ‚Wicker Man‘ bis Kubrick) ist dies die teuerste, wirrste und längste. Positiv formuliert: ‚High Rise‘ spielt hinsichtlich Styling und Besetzung in einer anderen Liga als sonstige Hochhaus-Horrorfilme und Wohnviertel-Dystopie-Thriller, die das Kino der britischen Inseln in den letzten Jahren hervorgebracht hat.

Jedoch: Erstens kommt Wheatleys Renommee-Bomber an die räumliche, soziale und politische Prägnanz von Attack the Block‚ (Alien-SciFi-Satire in Wohntürmen am anderen Ende der Reichtumsskala, GB 2011) nicht einen Moment lang heran, und zweitens reicht sein Augen- und Ohrenfutter nur für die halbe Laufzeit: Dekadenzdekor auf Brutalismusbeton, versiffte Visionen in Bunt und in Zeitlupe, Partyexzesse zu ABBA und Krautrock (sogar, etwas anachronistisch DAF), Vögeln und Dögeln im leicht konfus versammelten Ensemble, das irgendwann (vielleicht nur konsequent, von wegen Entropie und so) nur noch in Indifferenz dahinbummelt und regrediert. Statt Kollektivität oder Chaos oder das eine im anderen wahrnehmbar zu machen, bietet ‚High Rise‘ Dialogduelle hochkarätiger Mimen: Ben Hiddleston, Sienna Miller, Elisabeth Moss, Luke Evans, Jeremy Irons (als der Architekt, der doch nur Gutes wollte oder seine Frau an sich binden oder Squash spielen, irgendsowas). Alle reden. Im Schlussbild redet aus dem Off Margret Thatcher über Segnungen des Kapitalismus, während Pfeifenblasen – pipe dreams bzw. bubbles – in den Himmel schweben. Ach ja, die Anfänge dieses Dingsda, dessen Name mit N beginnt und mit eoliberalismus endet. Dann wüten zum Abspann The Fall. Das will wohl voll vielsagend, urarg und dennoch schon auch schön sein. Aber wovor soll ich mich da jetzt groß gruseln, wenn ich in einem Land lebe, in dem demnächst ein völkischer Zahnarzt und sein Freund mit der Glock regieren?

Auge um Auge – Out of the Furnace

(USA/GB 2013, Regie: Scott Cooper)

Peace doesn't live here anymore
von Nicolai Bühnemann

Amerika ist im Krieg. Doch das rostbraune Kleinstadtamerika (kein mittelständisches Suburbia, sondern eine Arbeiterkleinstadt mit Stahlwerk, die damit eh schon irgendwie aus der Zeit gefallen scheint) in „Out of the …

Amerika ist im Krieg. Doch das rostbraune Kleinstadtamerika (kein mittelständisches Suburbia, sondern eine Arbeiterkleinstadt mit Stahlwerk, die damit eh schon irgendwie aus der Zeit gefallen scheint) in „Out of the Furnace“ ist so hermetisch, dass der Krieg im Irak ebenso gut auf einem anderen Planeten stattfinden könnte. Evident wird dieser Krieg am anderen Ende der Welt zunächst nur anhand der Narben, die Veteran Rodney Baze Jr. (Casey Affleck) – nicht nur auf dem Körper – trägt. Rodney will nicht im Stahlwerk arbeiten wie sein Bruder Russell (Christian Bale) und ihr Vater vor ihnen. „Fuck the mill,“ sagt er einmal wutentbrannt zu seinem Bruder. Das Aus-der-Familie-Fallen als endgültiges Aus-der-Welt-Fallen, noch aus dem letzten sozialen Zusammenhang (und sei er noch so patriarchal). Im amerikanischen Kino steht dieser Rodney in der Tradition der Vietnamsoldaten Travis Bickle und John Rambo, die nachhause zurückkommen nur um festzustellen, dass es „Zuhause“, gedacht einfach nur als ein Ort jenseits des ewigen Krieges, für sie nicht mehr gibt. Also kämpft Rodney weiter. Mit blanken Fäusten. Mann gegen Mann. Für Geld, um das es hier längst nicht mehr geht, für niemanden. (Oder auch: das Geld, das scheinbar alles bestimmt, das Schicksal (fast) jeder Figur besiegelt, ist nicht mehr das, wofür man kämpft und tötet, es ist vielmehr ein Vorwand, weiter zu kämpfen und weiter zu töten.)

Und wie in den im Horror-Kostüm gewandten amerikanischen Kriegsfilmen der Siebziger Jahre, „The Texas Chainsaw Massacre“, „The Hills have Eyes“ oder „Dawn of the Dead“, verläuft die frontier, die Front im Krieg zwischen Barbarei und Zivilisation (aber: was heißt das schon?) mitten durch das amerikanische Hinterland und ist maximal durchlässig. Jenseits von ihr, in den Bergen, in die die Polizei sich nur in gezielten SWAT-Team-Vorstößen traut, herrscht Harlan DeGroat (Woody Harrelson). Gleich zu Beginn demütigt und verprügelt er im Autokino eine Frau, während auf der Leinwand vor ihm die kalten, blaustichigen Bilder eines Films laufen, „The Midnight Meat Train“, der davon erzählt, wie ein Projekt der Zivilisierung in eine neue, durchorganisierte Form der Barbarei und des Menschenschlachtens führt. „I got a problem with everybody,“ sagt dieser DeGroat an einer Stelle und hat damit sein Verhältnis zur Welt erschöpfend beschrieben.

An Zivilisierungsversuchen mangelt es nicht. Die (freilich weniger gewichtige) Hälfte des Figurenensembles erfüllt nur die Funktion, den Versuch zu unternehmen, die andere Hälfte zu befrieden. Doch ob Frau (Zoe Saldana), Gesetzeshüter (Forest Whitaker) oder einfach nur etwas besonnener Gangster (Willem Dafoe), das Es der männlichen Gewalt, die Logik des Krieges, will kein beschwichtigendes Über-Ich zulassen. Nicht der Krieger wird zum Arbeiter, sondern der Arbeiter zum Krieger. Die Rache, auf die das hinausläuft, ist alles andere als eine Affekthandlung. Sie ist die Tat eines Mannes, der sehenden Auges, beinahe bedacht in sein Verderben rennt, weil er nicht anders kann, als die Spirale der Gewalt eine Runde weiter zu drehen, seinen Platz einzunehmen im kriegerischen Patriarchat. Wie einsam das macht, zeigt die letzte, als Epilog angelegte Einstellung. Amerika ist im Krieg und für diejenigen, die den Krieg nicht hinter sich lassen können, gibt es in „Out of the Furnace“ keinen Trost. Gerade deshalb ist dieser brillant besetzte, durch und durch düstere Film Schlechte-Laune-Kino der wuchtigsten Sorte.

Caracas, eine Liebe

(MEX/VEN 2015, Regie: Lorenzo Vigas)

So sehen Sieger aus
von Nicolai Bühnemann

Scharf ist der Hinterkopf eines Mannes im Bild zu sehen, während vor ihm, unter ihm, der auf einer Brücke steht, unscharf der Verkehr die Autobahn entlang fließt. „Desde allá“ lautet …

Scharf ist der Hinterkopf eines Mannes im Bild zu sehen, während vor ihm, unter ihm, der auf einer Brücke steht, unscharf der Verkehr die Autobahn entlang fließt. „Desde allá“ lautet der Titel des ersten langen Spielfilms von Regisseur Lorenzo Vigas, was soviel bedeutet wie „von der Ferne aus“ (über den dämlichen, vage exotistischen deutschen Verleihtitel „Caracas – Eine Liebe“ sei von hier an gnädig geschwiegen). Als entfernten Beobachter lernen wir diesen Mann kennen. Er taucht durch die in der Unschärfe gesichtslosen Menschenmengen der Straßen von Caracas, ohne sich nass zu machen. An einer Ampel kommt er einem jungen Mann etwas näher als er müsste, beschnuppert ihn. Wenig später setzt er sich im Bus neben ihn, fordert ihn, ein Bündel Geldscheine vorzeigend, auf, ihn in seine Wohnung zu begleiten. Dort angekommen, wahrt er seine Distanz. Benutzt das junge Fleisch nur als lebendige Wichsvorlage. Statt Körperkontakt nur begehrende Blicke von der Ferne des Sessels aus.

Armando (Alfredo Castro) ist ein relativ wohlhabender Mann in den Fünfzigern. Er lebt einsam und isoliert, scheint – so macht es schon die Exposition (etwas zu) deutlich – unfähig, menschliche Nähe zuzulassen, und sei sie auch rein körperlich. Betont distanziert ist auch das Verhältnis zu seiner Schwester, die er in einer Szene zu Beginn trifft. Im Gespräch geht es um ihren Vater, der für den weiteren Verlauf der Handlung eine gewisse Rolle spielt, jedoch ohne dass er jemals im Film zu sehen wäre.

Auf seinen Streifzügen durch die venezolanische Hauptstadt lernt Armando den jugendlichen Kleinkriminellen Elder (Luis Silva) kennen. Der macht es ihm zunächst schwerer als er es gewohnt ist. In seiner Wohnung angekommen, schlägt er ihn nieder, macht sich mit seinem Portemonnaie davon. Dennoch sucht Armando ihn wieder auf und es entwickelt sich eine Beziehung zwischen den beiden, in der sich die Verhältnisse von Macht und Begehren langsam zu verschieben beginnen, als Elder anfängt, sich jugendlich ungestüm in den älteren Mann zu verlieben. Kann Armando es schaffen, die sonst übliche Distanz zu den Objekten seines Begehrens aufzugeben? Oder verfolgt er am Ende in der Beziehung zu dem jungen Mann einen ganz anderen Plan?

Dem erfahrenen Schauspieler Alfredo Castro stellt der Film mit Luis Silva einen Laien an die Seite, der wie die Figur, die er spielt, aus den Armenvierteln von Caracas stammt. Der Regisseur betont, dass er nicht wollte, dass die beiden Darsteller sich vor Drehbeginn kennen lernen und hat den Film außerdem größtenteils chronologisch gedreht, damit sich die Dynamik der Beziehung der beiden Protagonisten, in der sich eine Vater-Sohn-Bindung mit einem amourösen Verhältnis vermengt, direkt vor der Kamera entwickeln konnte. Dazu findet Kameramann Sergio Armstrong im extrabreiten Scope-Format von 2,66:1 Bilder, die in ihrer Stil- und Geschmacksicherheit, in ihrer Betonung der Distanz zwischen den Figuren, etwa durch die Relation von Schärfe und Unschärfe, doch manchmal etwas selbstverliebt wirken.

Die Lesart des Films, dass es letztlich um einen Racheplan geht, ging mir erst im Gespräch mit Kritikerkollegen nach der Pressevorführung auf, ist aber durchaus plausibel. Damit nimmt der Film auch einen leichten Dreh in Richtung Genre, dem die Beziehung zwischen älteren Männern und jugendlichen Outcasts ja nie fremd war. Wobei diese Konstellation hier nicht nur ins Queere gewendet, sondern auch dadurch variiert wird, dass es dem älteren Mann hier mitnichten darum geht, seinen Counterpart zu retten, wie einst Robert De Niro die blutjunge Jodie Foster.

Einerseits zeigt diese Parallele, wie wenig Aufhebens der Film löblicherweise von der sexuellen Orientierung seiner Hauptfigur macht. Andererseits wirkt er gerade dort arg schematisch, wo er auch die Homophobie thematisiert, die gerade Elder in einer machistisch geprägten Gesellschaft entgegenschlägt. Die Mutter, die ihren Sohn wild schreiend als „Schwuchtel“ tituliert und aus dem Haus wirft, die einstigen vermeintlichen Freunde, die mit angewiderten Blicken die Straßenseite wechseln, all das wirkt wie auf einer Themenstrichliste abgehakt.

Ganz uninteressant ist „Desde allá“ trotz seiner Schwächen sicherlich nicht geraten, aber warum nun ausgerechnet solch ein Film den goldenen Löwen in Venedig abräumt, erschließt sich mir trotzdem nicht.

Ma Ma – Der Ursprung der Liebe

(S/F 2015, Regie: Julio Medem)

Ode an das Leben
von Wolfgang Nierlin

Von einem Tag auf den anderen ist für Magda (Penélope Cruz) alles anders. Eben ist die Madrider Lehrerin arbeitslos geworden und ihr Mann, ein Philosophieprofessor, mit einer seiner Studentinnen verreist, …

Von einem Tag auf den anderen ist für Magda (Penélope Cruz) alles anders. Eben ist die Madrider Lehrerin arbeitslos geworden und ihr Mann, ein Philosophieprofessor, mit einer seiner Studentinnen verreist, als sie bei einer Untersuchung erfährt, dass sie an Brustkrebs erkrankt ist. Zur gleichen Zeit erlebt der Talentscout Arturo (Luis Tosar), der für Real Madrid arbeitet, einen schweren Schicksalsschlag, als erst seine Tochter und kurz darauf seine Frau an den Folgen eines Verkehrsunfalls stirbt.

Die parallele Setzung dieses angehäuften, bald miteinander verschränkten Unglücks in Julio Medems neuem Film „Ma Ma – Der Ursprung der Liebe“ erscheint arg strapaziert. Im filmischen Kosmos des spanischen Regisseurs, der von jeher mit narrativen Symmetrien, symbolischen Entsprechungen und der Verschränkung gegensätzlicher Motive arbeitet, ist die ästhetische Konstruktion allerdings ein gewichtiger Teil der Handlung.

Dazu gehört auch, dass diese im Jahr 2012 angesiedelt ist, als Spanien eine schlimme Wirtschaftskrise durchmacht und zugleich Fußball-Europameister wird. Wenn sich also Magda und Arturo in einem Sportstadion treffen, wo Magdas talentierter Sohn Dani (Teo Planell) Fußball spielt, sind sie zwei Verwundete, die sich in ihrem Leid und Schmerz gegenseitig stützen. Während Magda nach Chemotherapie und Operation allmählich genest, werden die beiden ein Paar, ziehen zusammen und bilden eine Ersatzfamilie. Dabei bleibt Magda immer mutig dem Leben zugewandt. Diese Haltung verstärkt sich noch, als die Krankheit zurückkehrt und Magda auch noch schwanger wird.

Mit kunstvoll-geschmeidigen Vorausblenden erzeugt Medem eine eng verzahnte Erzähl- und Zeitstruktur und holt damit immer wieder Zukünftiges in die Gegenwart, als wäre es ein Teil von ihr. So wird das Handeln, das sich in Medems emotionalem Film in einem ständigen Austausch und ganzheitlichen Ausgleich der Kräfte und Energien vollzieht, von einer prinzipiellen Hoffnung getragen. Inspiriert von Thomas Schüttes Plastik „Bronzefrau Nr. 6“ und Gustave Courbets berühmtem Gemälde „Der Ursprung der Welt“, ist Julio Medems „Ma Ma“ deshalb vor allem eine filmische Verehrung der Frau und Mutter sowie eine „Ode an das Leben“ im Hier und Jetzt.

A Bigger Splash

(I/F 2015, Regie: Luca Guadagnino)

Feuchte Entladungen auf trockener Insel
von Ricardo Brunn

Idylle bedeutet gemeinsam in schöner Landschaft zu schweigen. Am Strand von Pantelleria zum Beispiel. Mit Sonnenbrille im Haar und Schlammpackung auf der Haut erholt sich Sängerin Marianne (Tilda Swinton) mit …

Idylle bedeutet gemeinsam in schöner Landschaft zu schweigen. Am Strand von Pantelleria zum Beispiel. Mit Sonnenbrille im Haar und Schlammpackung auf der Haut erholt sich Sängerin Marianne (Tilda Swinton) mit ihrem Freund Paul (Matthias Schoenaerts) hier von einer Stimmbandoperation, während die Hitze erbarmungslos jedes störende Geräusch unterdrückt. Doch so wie der dominante Spritzer auf David Hockneys Gemälde „A Bigger Splash“ von 1967 die Flächigkeit des Bildes zerreißt, legt sich Harry Hawkes (Ralph Fiennes) mit Tochter Penelope (Dakota Johnson) im Schlepptau wie ein lärmender Schatten aus der Vergangenheit in Luca Guadagninos gleichnamigem Film über das friedliche Paradies. Einst war Harry – das wird in einigen Rückblenden deutlich – Mariannes Produzent und mit ihr liiert, hat sie später mit dem wortkargen Paul bekannt gemacht. Nun will er sie zurück erobern.

Harry ist bei Guadagnino das, was in Hockneys Gemälde unsichtbar bleibt und dort in der Frage „Wer springt da eigentlich?“ einen analytischen Ausgangspunkt bildet. Als einziger des ungleichen Quartetts kann er vom kühlen Nass nicht genug bekommen und sorgt mit seinen bis zum Exzess wiederholten und sehr beherzten Sprüngen in den Pool zu jeder Tages- und Nachtzeit für kräftige Spritzer. Und so wie Hockneys Bild die Frage aufwirft, in welchem Verhältnis die eruptive Kraft des Spritzers zum strengen quadratischen Format und zur Flächigkeit des Farbauftrages steht, zwingen Harrys verbale Entladungen alle Beteiligten aus der schweigsamen Deckung heraus in die Reflexion über die eingegangenen Beziehungen. Entspricht also die Flachheit in der Darstellung der Umgebung in David Hockneys Gemälde der Wortlosigkeit des Paares Marianne-Paul, so stemmen sich Harrys „Spritzer“ vehement gegen die, in seinen Augen, Flachheit der bürgerlichen Lebenswelt des angeblich glücklichen Paares.

Indem er den Plot und sein Figureninventar im Vergleich zur filmischen Vorlage „Der Swimmingpool“ (FRK/IT 1969; R: Jacques Deray) mit formalen Spritzern augenzwinkernd dekonstruiert, versucht Guadagnino die emotionale Leere und Beziehungslosigkeit ins Zentrum der Betrachtung zu rücken. Zooms und Großaufnahmen des klassischen Kriminalfilms lenken die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf scheinbar wichtige Details, ohne dass diese Spuren weiterverfolgt werden. Auch die ab und an in die Handlung ragenden Bilder von Flüchtlingen lassen sich unter diesem Blickwinkel als Spritzer auf die dekadente Oberflächlichkeit der Protagonisten lesen, die im Angesicht der angespülten Menschen schweigend verharren. Die deutlichsten Spritzer resultieren aus der Verweigerung plakativer erotischer Momente. Swinton hat in ihrem androgynen Wesen nichts mehr von der unnahbaren Romy Schneider und Dakota Johnson ist in der Rolle von Harrys Tochter nicht die typisch laszive Lolita.

Allein, was dem bigger splash durch Reduktion und Konzentration im Bildaufbau von Hockneys Gemälde gelingt, verliert sich bei Luca Guadagnino in allzu gewollter Virtuosität. Der Anlauf für den Sprung ist einfach zu ambitioniert für all die kleinen Spritzer, die einem „A Bigger Splash“ dann zaghaft neckend mit den Fingern ins von der Hitze ausgetrocknete Gesicht schnippt. Die formalen Wege, die Guadagnino immer mit Blick auf das Gemälde und die filmischen Vorlage beschreitet, um sie kurz darauf wieder zu verlassen, werden durch eine mäßige dramaturgische Kraft zusammengehalten. So gegenläufig der Regisseur seine Figuren im Vergleich zur Vorlage von 1969 auch inszenieren will, interessanter wird dadurch kaum etwas. Das Beharren auf der Form beschädigt ihre Dreidimensionalität genauso wie die in den Beziehungsgefügen schlummernde Spannung. Fleißig schweigend und gestikulierend kann Swinton ihrer Figur nur wenig Aura verleihen, wirkt im Gegenteil unfreiwillig schrill bis arg bemüht. Dakota Johnson wiederum fehlt dann doch die Ambivalenz einer selbstbewusst mit der eigenen Sexualität umgehenden Ludivine Sagnier, die Francois Ozons Interpretation des Stoffes („Swimming Pool“; FRK 2003) erst so wunderbar machte. Selbst Matthias Schoenaerts bleibt in der Rolle des melancholischen Dokumentarfilmers ohne jeden (und ihm sonst so eigenen) Charme. Einzig Ralph Fiennes weiß das Maximale aus seiner Rolle herauszuholen, bekommt vom Drehbuch aber auch die besten Vorlagen.

So ist die selbstbewusste Behauptung der Autorenschaft in der Setzung des Regisseurnamens vor den Filmtitel trotz der großartigen Idee, die thematischen Grundzüge des Gemäldes von David Hockney kunstvoll in den Film hinüber fließen zu lassen, etwas großspurig geraten. „A Bigger Splash“ scheitert am Tunnelblick auf die eigene Form. Zu viele thematische Schlenker, zu häufiges Augenzwinkern angesichts des Krimiplots, dazu die recht ausladend inszenierte Dekonstruktion der Figuren und die lose Einbindung der Flüchtligsthematik führen zu rasantem Spannungsabfall. Die Ohrfeige am Schluss, als letzter Reflexion auslösender Spritzer, kommt somit ein wenig auch wie die Erlösung von einen Film, der sich wie ein Sommerurlaub anfühlt, in den man das falsche Buch mitgenommen hat. Da liegt man mit Sonnenbrille im Harr am heißen Strand und nach den ersten fünfzig Seiten wird klar, dass das Buch sich arg dahinschleppen wird und die kommenden Tage recht langweilig werden könnten, wenn nicht schnell eine andere Beschäftigung gefunden wird.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚A bigger Splash‘.

Rabid Dogs

(I 1974, Regie: Mario Bava)

In der Hölle der gedemütigten Frauen
von Nicolai Bühnemann

Von einer Sichtung von Mario Bavas „Rabid Dogs“ (OT: ‚Cani arrabbiati‘) vor etlichen Jahren ist mir vor allem das Ende des Films im Gedächtnis geblieben. Im Jahr 1974 greift dieser …

Von einer Sichtung von Mario Bavas „Rabid Dogs“ (OT: ‚Cani arrabbiati‘) vor etlichen Jahren ist mir vor allem das Ende des Films im Gedächtnis geblieben. Im Jahr 1974 greift dieser fiese kleine Thriller der Welle von Twist Ending-Filmen ab der zweiten Hälfte der Neunziger Jahre vor. Wie in „The Sixth Sense“, „Fight Club“ oder „The Others“ ist auch hier am Ende alles anders als es schien, wird den Zuschauenden durch eine finale Volte der Boden unter den Füßen weggerissen, die ganze bisherige Identifikationsstruktur über den Haufen geworfen. Es ist eine wahre Glanzleistung, dass das mit den sehr beschränkten Mitteln eines niedrig budgetierten B-Movies für mich – zumindest damals beim ersten Sehen – ebenso gut funktionierte wie mit denen mittelgroßer Hollywood-Produktionen 25 Jahre später. Dieses Ende, an dem es auf einmal keine Unschuldigen mehr gibt und wir einsehen müssen, dass wir unseren moralischen Einsatz gut 90 Minuten lang auf das falsche Pferd gesetzt haben, hat wohl auch maßgeblichen Einfluss auf mein Verständnis der nihilistischen Weltsicht des Exploitation-Kinos gehabt, dem der Glaube an das Gute im Menschen sehr gründlich abhanden gekommenen ist.

Nach dem Überfall auf die Lohnkasse eines Pharmaunternehmens können die drei Räuber Dottore (Maurice Poli), Trentadue (George Eastman) und Bisturi (Don Backy) mit einer Geisel, Maria (Lea Lander), entkommen. An einer Kreuzung steigen sie mit vorgehaltener Waffe in das Auto von Riccardo (Riccardo Cucciolla) ein, der ein krankes schlafendes Kind auf dem Rücksitz hat, und zwingen ihn, gemeinsam mit ihnen zu fliehen.

Es liegt beinahe auf der Hand, dass das – sehr buchstäblich – desillusionierende Ende des Filmes, der dieser Tage bei Tiberius Film in einer monumentalen, aber leider nicht ganz unproblematischen – dazu später mehr – 5-Disc-Edition erscheint, bei einer wiederholten Sichtung an Schlagkraft verliert. Umso erfreulicher, dass ich fast vergessen hatte, was für ein Meisterstück in inszenatorischem Minimalismus der Film, der auf dieses Ende zusteuert, doch ist. Aus der Not der Beschränkungen des Budgets wie des Schauplatzes des Films, der zum größten Teil in einem einzigen Auto spielt, weiß der hier bereits am Ende seiner Karriere stehende Genre-Maestro Bava eine Tugend zu machen, indem er die Gesichter seiner Darsteller_innen zum Hauptschauplatz macht. Der treibende Score von Stelvio Cipriani setzt zur äußersten Begrenzung des Raumes keinen Kontrapunkt, sondern unterstreicht ihn noch durch die kontinuierliche Variation einer einzigen Melodie. Das in rudimentärer Psychologie entwickelte Drama zwischen dem Figurenquintett ist keines, das unter der Oberfläche brodelt, es vollzieht sich vielmehr immer auf der Oberfläche ihrer zunächst nur schweiß-, später teils auch blutüberströmten Gesichter.

Da ist das verzweifelte, angstverzerrte Antlitz von Lea Lander. Da sind die irren, bärtigen, lüsternen Fratzen von Don Backy und George Eastman, die immer wieder so fies lachen, wie nur die Bösen in italienischen Genre-Filmen fies lachen können. Ihre Rollennamen heißen übersetzt Klinge nach der Mordwaffe of choice der einen Figur und 32 nach der Penislänge der anderen. Auch der glatt rasierte, sonnenbebrillte Maurice Poli hat einen sprechenden Namen: Er ist der Dottore, der Verstand, der die Aufgabe hat, die überschäumend maskuline, sadistische Energie von Schwert und Schwanz im Zaum zu halten, ohne dabei selbst zu nachsichtig mit den beiden Geiseln zu werden. Schließlich die undurchsichtigste der Figuren, der schnurrbärtige Riccardo Cucciola, für den die Rolle der bürgerlichen Anständigkeit eben das ist: eine Rolle.

Meisterlich eingesetzt sind die Mittel von Close-Up und Zoom. Einmal zoomt die Kamera von der Augenpartie Lea Landers durch das offene Autofenster zurück in die Halbtotale, nur um einige Einstellungen später den umgekehrten Weg zu beschreiten, zurück ins Innere des Autos, zurück auf die Augen, in denen längst keine Hoffnung auf einen Ausweg mehr schimmert. Zur Zwangssituation dieses Innenraums gibt es in „Rabid Dogs“ kein Außen mehr. In dieser Szene werden außerhalb des Autos die Leichen entsorgt, die während der Fahrt anfielen. Auch die größte Demütigung für die Lander-Figur erfährt sie außerhalb des Autos. Als sie eine Pinkelpause für einen Fluchtversuch nutzt, wird sie schließlich von Trentadue und Bisturi gestellt und dazu gezwungen, ihre Notdurft im Stehen und unter dem geilen Gelächter der beiden Männer zu verrichten.

Und dann ist da eben das Ende, das uns nackt zurücklässt, aller Illusionen und Hoffnungen beraubt, allein in einer feindlichen Welt. Vielleicht besteht der eigentliche Twist dieses Endes darin, dass es den Zuschauer in die Rolle des wehrlosen weiblichen Opfers drängt. Wenn der Abspann einsetzt, meint man das fiese Gelächter zu hören, das nun uns gilt, die wir entblößt vor diesem Film stehen.

Zur Blu-ray: Die Edition, mit der Tiberius Film „Rabid Dogs“ jetzt wieder zugänglich macht, beinhaltet das Original und das 2015 in französisch-kanadischer Koproduktion entstandene, original „Enragés“ betitelte Remake auf zwei Blu-rays und drei DVDs. Eigens für die Box angefertigt wurde ein Video-Intro mit Marcus Stiglegger. Ferner gibt es einen Audiokommentar von Tim Lucas sowie einige, bereits an anderer Stelle erschienene Features, die unter anderem Aufschluss über die turbulente Entstehungsgeschichte des Films geben, dessen Produktionsfirma noch vor Abschluss der Dreharbeiten pleite ging, und der so erst 1997, 23 Jahre nach dem Dreh fertiggestellt und veröffentlicht werden konnte. Das reich bebilderte Booklet bietet einen Text von Peter Blumenstock, der an der ersten DVD-Veröffentlichung des Films beteiligt war sowie einen von Thorsten Hanisch über George Eastman. Außerdem erfährt man etwas zu der alternativen Version des Films, für die Mario-Sohn, „Dogs“-Regieassistent und „Pop-Auteur“ (Eskalierende Träume) Lamberto Bava gemeinsam mit dem Produzenten Alfredo Leone 1996 neue Szenen drehen ließ, die Musik und das Ende des Films veränderten und ihn unter dem Titel „Kidnapped“ herausbrachten. Es ist schade, dass sich diese Version nicht in der Edition findet. Ebenso bedauerlich, aber wohl nicht zu vermeiden, ist, dass kein einheitliches HD-Master vorliegt und die Bildqualität so immer wieder und teilweise in ein und derselben Einstellung erheblich schwankt. Einen echten Fauxpas hingegen erlaubt sich das Label, was das Bildformat anbelangt. Das alte europäische Breitbildformat von 1,66:1 wurde auf 1,78:1 zurechtgestutzt, um minimale schwarze Balken an den Bildrändern heute üblicher Fernseher zu vermeiden. Eine Unart, die schon die Freude an den ansonsten formidablen Veröffentlichungen der Roland Klick-DVD-Box vorletztes Jahr oder der Blu-ray von Ulli Lommels „Die Zärtlichkeit der Wölfe“ erheblich schmälerte.

Zum Remake: Gerade bei solchen Klassikern, die sich im filmischen Minimalismus übten, in der äußersten Beschränkung von Schauplatz, Figurenpsychologie und -ensemble, machen es sich die Remakes, die die Stoffe für die Sehgewohnheiten eines nachgewachsenen Publikums updaten sollen, zur Aufgabe zu verkomplizieren, zu psychologisieren (vielleicht zeigt sich darin auch, wie sehr die Sehgewohnheiten inzwischen auch im Kino durch den Boom des neueren US-amerikanischen Qualitätsfernsehens beeinflusst werden). Das war etwa bei John Carpenters bereits 2004 neu aufgelegtem Meisterwerk „Assault on Precinct 13“ (1976) so und das ist bei „Enragés“, dem Regiedebut von Éric Hannezo, nicht anders. Also gibt es eine in rot getauchte Backstory der Gangster, die genau nachzuvollziehen ich nicht die geringste Lust verspürte. Also verfährt sich die Gruppe gegen Ende des Films in einem nächtlichen „Fest des Bären“, was schließlich auch den Bodycount erheblich in die Höhe treibt und den Film um einen kleinen Home Invasion-Twist anreichert. Also werden die Gesichter-im-Auto-Close-Ups, aus denen das Original maßgeblich bestand, auf das Notwendigste reduziert. So schlimm wie sich das vielleicht anhört, ist es freilich nicht, etwas mehr als das stylische Nichts von einem Film, das ich nach den ersten Einstellungen erwartete, ist „Enragés“ dann doch geworden. Jedoch treibt mich immer gerade bei grundsoliden Neuverfilmungen, die es doch nicht schaffen, aus einer neuen Zeit und einem anderen Schauplatz Kapital zu schlagen, die Frage nach ihrer Existenzberechtigung um. Ich halte es da eher mit Sidney Prescott und ihrer ersten Regel für Remakes: „Don’t fuck with the original.“

Sonita

(D/IR/CH 2015, Regie: Rokhsareh Ghaemmaghami)

Filmen ohne Distanz
von Marit Hofmann

‚Kannst du mich nicht kaufen?‘ Die Protagonistin blickt direkt in die Kamera, ihre Frage richtet sich an die Regisseurin. Das könne sie nicht, erklärt Rokhsareh Ghaem Maghami dem resigniert in …

‚Kannst du mich nicht kaufen?‘ Die Protagonistin blickt direkt in die Kamera, ihre Frage richtet sich an die Regisseurin. Das könne sie nicht, erklärt Rokhsareh Ghaem Maghami dem resigniert in einer Ecke kauernden Mädchen, denn eine Dokumentarfilmerin soll nun mal die Realität zeigen, nicht in sie eingreifen. Und die Realität ist, dass die 16jährige Sonita zurück nach Afghanistan muss, um mit einem Unbekannten zwangsverheiratet zu werden. Ihr Bruder braucht die 9.000 Dollar, die ihre Familie für sie bekommen soll, um sich selbst eine Braut zu kaufen. So ist ihre Bestimmung, so ergeht es jedes Jahr 15 Millionen Mädchen. Doch in diesem Film läuft gar nichts nach Plan, weder nach dem der Scharia noch nach dem des Filmteams.

In den drei Jahren, in denen die iranische Regisseurin das afghanische Mädchen begleitet, hat sich ein Vertrauensverhältnis entwickelt, das Maghami nicht unterschlägt: ‚Stell mir andere Fragen‘, fordert Sonita einmal oder: ‚Stell die Kamera aus. Ich will mich hinlegen und mein Kopftuch abnehmen.‘ Sonita ist als Kind auf der Flucht vor den Taliban als Illegale in Teheran zurückgeblieben. In einer NGO-Einrichtung für Flüchtlingskinder hat Maghami die Halbwaise entdeckt und drei Jahre lang mit der Kamera begleitet. Dort fördert man das Mädchen, das Kinderarbeit verrichten muss, erstmals; unter den im Vergleich zu Afghanistan liberaleren Bedingungen hat es den Traum entwickelt, Rapperin zu werden.

Natürlich greift ein Dokumentarfilmer immer schon durch seine Anwesenheit in das Geschehen ein – und hier ist es erstaunlich, in welch intimen Situationen die Kamera dabei ist: als NGO-Mitarbeiter Sonita helfen, ihre Fluchttraumata per Rollenspiel aufzuarbeiten; als die Kinder im inoffiziellen Schulunterricht aufschreiben sollen, wie sie sich ihre Wunscheltern vorstellen (Sonita nennt Michael Jackson und Rihanna); als Sonita in irritierend ausdruckslosem Tonfall mit ihrer Mutter diskutiert, die schließlich aus Afghanistan gekommen ist, um die bereits versprochene Braut gegen ihren Willen heimzuholen; als Sonitas Ersatzmutter, eine Sozialarbeiterin, mit der Mutter verhandelt, die aber auf alle Versuche, Mitgefühl für ihre eigene Tochter zu wecken, nur erwidert, sie selbst habe viel früher heiraten müssen, Tradition bleibe Tradition. Wenn sie 2.000 Dollar erhalte, würde sie Sonita allenfalls noch ein halbes Jahr Gnadenfrist im Iran gewähren. Die NGO kann und will das Geld, das ihrem Schützling langfristig nicht helfen würde, nicht zahlen.

Hier, kurz vor der Abreise von Mutter und Tochter (die Drohung, die Brüder würden sie sonst holen, steht im Raum), fällt die Regisseurin aus ihrer Rolle – und treibt in letzter Minute die 2.000 Dollar auf. Sie wird nun selbst zur Figur ihres eigenen Films und ist öfter im Bild. Selbst der Tonmann kommt mit dem Einwand zu Wort, dass sie die Realität nicht manipulieren dürfe. ‚Wenn wir nicht eingreifen, wäre der Film jetzt zu Ende‘, erwidert Maghami und macht aus ihrer Dokumentation nun auch einen Film über eine (nicht ganz uneigennützige) Filmemacherin, die nicht anders kann, als sich einzumischen – einen Film über Frauen, die nicht handeln dürfen, aber sich selbst dazu ermächtigen. Männer tauchen hier allenfalls als Randfiguren auf.

Die Gnadenfrist nutzt Sonita zum Songschreiben; sie bringt andere Flüchtlingsmädchen dazu, mit ihr in einem trostlosen Hinterhof zu rappen. Musikproduzenten sind weniger begeistert, nicht zuletzt, weil Frauen im Iran nicht erlaubt ist, als Solokünstler aufzutreten. Erst als Sonita einen Song über ihre eigene aktuelle Zwangslage schreibt, beißt ein Produzent an. Das Musikvideo, das sie unter dem Titel ‚Brides for Sale‘ auf Youtube stellt, mag etwas platt geraten sein, aber es entfaltet seine Wirkung und wird ein Erfolg. Das Intro ist geflüstert, ‚damit niemand hört, dass ich vom Verkauf von Mädchen spreche‘. Dann beginnt die traurige junge Frau im Brautkleid und mit einem Barcode auf der Stirn, laut zu werden: Sie singt von Frauen, die stumm bleiben müssen und ‚wie Schafe gehalten‘ werden. Wie kann sie der eigenen Mutter, die sie an einen Unbekannten verkaufen will, ihre ‚Menschlichkeit beweisen‘? ‚Was du mir antust, würden Ungläubige nicht Muslimen antun.‘ Sonitas Overacting im Musikvideo bildet einen Kontrast zur erschütternden Nüchternheit, mit der Mutter und Tochter im Dokumentarfilm um den Verkauf feilschen, und zur beeindruckenden Unaufgeregtheit, mit der die Frauen, die sich für Sonita engagieren, existentielle Themen erörtern.

Doch der Erfolg als Sängerin führt dazu, dass die iranische NGO sie nicht mehr unterstützen darf. Der Film nimmt nun nervenaufreibende Wendungen, wie sie ein fiktionales Drama nicht besser arrangieren könnte. Die Regisseurin wird mehr und mehr zur Mentorin und Dolmetscherin und fädelt ein, dass Sonita ein Musikstipendium in den USA bekommt. Auf den Freudentaumel folgt Höllenangst. Für die Reise braucht Sonita einen Pass, sie hat aber nie auch nur eine Geburtsurkunde besessen. Der einzige Ausweg: Sie muss zurück in ihren Heimatort, um die Papiere zu besorgen. Die Frauen fürchten, dass die Familie sie dort festhalten wird, und planen ein Täuschungsmanöver.

Zu Beginn des Films sieht man die noch kindlich wirkende Sonita auf das ausgeschnittene Bild eines Popstars ihren eigenen Kopf kleben. Am Ende wird der Teenagertraum, auf einer Bühne zu stehen und bejubelt zu werden, zumindest im kleinen wahr. Doch schwere Schuldgefühle der Mutter gegenüber begleiten Sonita noch lange. Man versteht besser, warum sich viele Mädchen nicht einmal zu wehren versuchen. Denn so unwahrscheinlich Sonitas Geschichte ist, täuscht der Film nicht über die realen Verhältnisse hinweg. Auf einen Befreiungsschlag kommen unzählige Tragödien. Wie es der Musikerin ohne das Eingreifen der Filmemacherin ergangen wäre, zeigt Maghami ebenfalls: Sonitas Freundinnen erzählen sich, zu welchem Preis sie verkauft werden (‚3.000 oder 12.000 Dollar, mit oder ohne Möbel‘), beneiden sich, wenn sie wenigstens keinen alten Mann heiraten müssen, und verschwinden irgendwann. Auch ihnen verleihen Film und Song eine Stimme.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 06/2016

Sky – Der Himmel in mir

(F/D 2015, Regie: Fabienne Berthaud)

Weiblicher Selbstfindungstrip
von Wolfgang Nierlin

Ein französisches Ehepaar reist auf Ferienfahrt im offenen Cabrio durch den Westen der USA. Die trockene Steppenlandschaft ist weit und der Himmel strahlend blau. In ihrem Kontrast spiegelt die Natur …

Ein französisches Ehepaar reist auf Ferienfahrt im offenen Cabrio durch den Westen der USA. Die trockene Steppenlandschaft ist weit und der Himmel strahlend blau. In ihrem Kontrast spiegelt die Natur das angespannte Verhältnis des Paares. Während die schöne Romy (Diane Kruger) sich frei und entspannt fühlt und die neuen, überwältigenden Eindrücke genießt, zeigt sich der ebenso gelangweilte wie genervte Richard (Gilles Lellouche) demonstrativ desinteressiert. Überdies ist der gutbürgerliche Beau, der sich viel lieber amüsieren würde, sexuell frustriert. Dass er dies ausgerechnet zwei fremden Damen an der Bar gesteht und dabei seiner Frau auch noch vorwirft, keine Kinder bekommen zu können, wirkt nicht gerade glaubwürdig. Doch immerhin ist er dabei betrunken. Und diese Mischung aus Frust und Suff muss bei dem gutmütigen Macho schließlich für einen Vergewaltigungsversuch an seiner Frau herhalten. Doch Romy wehrt sich und schlägt zu und flüchtet anschließend kopflos in die Nacht.

Fabienne Berthauds Film „Sky“ mit dem kitschigen deutschen Zusatztitel „Der Himmel in mir“ hat daraufhin seine stärksten Momente. Allein unterwegs, getrieben von Schuld und Angst, wirkt Romy förmlich ausgesetzt: Von Polizisten schikaniert und von fremden Männern angemacht, erlebt sie in einem heruntergekommenen Motel einen Alptraum. Mit Reminiszenzen an Edward Hoppers „Nighthawks“ und Bruno Dumonts „Twentynine Palms“ inszeniert die französische Regisseurin, die auch als Schriftstellerin arbeitet, einen düsteren Trip voller unterschwelliger Gefahr, Einsamkeit und latenter Gewalt. Hier und an anderer Stelle taucht sie ein in den „klimatisierten Alptraum“ eines anderen Amerika, das an seinen Rändern bestimmt wird von sozialer Verwahrlosung, Armut, Alkoholismus, rauer Männlichkeit und den Schicksalen illegaler Einwanderer.

Als Romy, von Schuldgefühlen geplagt, auf einer Polizeistation erfährt, dass Richard ihre Attacke überlebt hat, gleicht dies einer Absolution, die ihren Freiheitsdrang neu und mit allen Konsequenzen entfacht. Sie trampt nach Las Vegas, versucht sich im Bunny-Kostüm als Touristenattraktion und verliebt sich schließlich in den kriegsversehrten, ziemlich verlebt wirkenden Loner Diego (Norman Reedus), der von vornherein sagt er „vögele nur Huren“ und wolle keine Beziehung. Trotzdem zieht Romy zu dem todranken Park Ranger in die Einöde, entwickelt Häuslichkeit, findet einen Job als Bedienung und wird schließlich auch noch schwanger.

Fabienne Berthauds Roadmovie über eine weibliche Selbstfindung und einen schmerzlichen Neubeginn mündet also in überraschend traditionellen Bahnen. Auf ihrer Suche nach Liebe und Mutterglück gewinnt die Heldin Mut und Stärke, während sich die Männer, eindimensional und klischeehaft als selbstsüchtige Machos oder romantische Abenteurer gezeichnet, in ihre Opferrolle fügen müssen. Ihr von Kampf und Gewalt bestimmtes Dasein hat in Berthauds Sicht keine Zukunft; dagegen weist das mit Freiheitssehnsüchten und Naturmystik angereicherte Frauenbild, verkörpert von einer überraschend furchtlos und Instinkt geleiteten Protagonistin, geradezu ins Himmlische, Überzeitliche.

Shaandaar – Schlaflos verliebt

(IN 2015, Regie: Vikas Bahl)

Liebeswirren im Prinzregentensaal
von Michael Schleeh

Es ist eine Geschichte der Irrungen und Wirrungen, dabei eine leider allzu profane. Es geht – mal wieder – um eine Hochzeit: Die Königskinder zweier indischer Unternehmerdynastien sollen miteinander verheiratet …

Es ist eine Geschichte der Irrungen und Wirrungen, dabei eine leider allzu profane. Es geht – mal wieder – um eine Hochzeit: Die Königskinder zweier indischer Unternehmerdynastien sollen miteinander verheiratet werden. Das Dumme ist nur: Sie ist ihm zu dick, er ist ihr zu doof. Was sie an Pfunden zuviel hat, ist er an Gehirnzellen zu schlank. Darüber kann auch nicht der Sixpack hinwegtäuschen, den er den gesamten Film über ausstellt. Oder besser: Six-and-a-half-Pack, wie er einmal stolz im Film meint, da es der Hedonist nun geschafft habe, noch eine weitere halbe Muskelrolle seinem gestählten Körper anzutrainieren. Der Vater ist nicht weniger debil: Stets fuchtelt er mit einem goldenen Revolver umher und reißt generell wichtigtuerisch die Klappe auf. Und so überzogen das nun scheint, so ist es auch. Man fühlt sich wie in einem Zirkus, bei dem überall Manege ist. Alles Pailletten und immer Ramtamtam.

Oder wie in Downton Abbey, Staffel 1, der Fernsehserie aus England. Auch dort werden zwei verheiratet (zwei Adlige, die sich allerdings nach und nach lieben lernen) – und passenderweise rettet man derart auch noch das bankrotte Anwesen vor dem Ruin. In ‚Shaandaar‘ befinden wir uns ebenfalls im nördlichen England (ob auch in Yorkshire weiß ich nicht, es sieht zumindest genauso aus), in einem Downton Abbey frappierend gleichenden Anwesen (allerdings plus Disneyisierung und Zuckerwatte, mit noch mehr Türmchen und Lichterketten und manchmal pinkfarbenen Dächern), und die Hochzeit soll den Untergang abwenden. Die eigentlichen Hauptfiguren allerdings sind das von Alia Bhatt und Shahid Kapoor gespielte Außenseiterpärchen, sie die Halb-Schwester der Braut, Alia, er der charmante Wedding-Manager JJ, mit dem einige Konfusion hervorrufenden Namen Jagjinder Joginder. Der Film nun macht vor keinem Kitsch halt, und stellt seine infantile Cartoonisierung enthemmt zur Schau. Außer verschiedenen schwachbrüstigen Animationssequenzen, die stark in das Reich der Fantasie hinüberspielen, werden verschiedene Gefühlszustände – wie so häufig im Bollywood-Masala-Kino – durch instant Visualisierungen anschaulich gemacht. Als sich die beiden verlieben etwa, braust plötzlich ein Comic-Flugzeug durch den Bildkader und fliegt zwei Herzchenschleifen, verschiedene Glitzermomente werden mit künstlichem Sternchenregen garniert, ein befreiend luftiges Gefühl lässt die gestickten Kolibris von Alias Kostüm auffliegen, als wären es echte Vögel. Was bei S.S. Rajamoulis sagenhaftem Epos Baahubali‚ der Höhepunkt einer märchenhaften Stilisierung ist und wie nur konsequent den Sprung des Helden über die Untiefen des Wasserfalls bildmagisch versinnbildlicht, gerät in ‚Shaandaar‘ zur kitschigen Impulskapriole eines sich auf das Dekor beschränkenden Films. Denn der modus operandi der Erzählstrategie ist einzig und alleine die Ironie.

Ohne diese Ironie, die aus dem Film in jeder Szene quillt, wie der Rauch einmal aus Großmutters Ohren, puff puff, wäre ‚Shaandaar‘ nicht ‚Shaandaar‘ geworden. An diesem Film kann man nichts ernst nehmen, weil nichts ernst genommen werden will. Ein Auftauchen aus diesem Abgrund an Belanglosigkeit ist eigentlich nur an einer einzigen Stelle festzustellen, in einem kurzen Moment, in dem man dann den Film uneingeschränkt leiden mag: Es ist eine Song and Dance-Szene kurz vor Ende, in der alle Anwesenden für die übergewichtige Braut einstehen, ihre menschlichen Qualitäten hervorheben, die sie zweifellos hat (auch wenn sie wenig mehr tut als nett zu Lächeln in diesem Film), und dabei den sich auf oberflächliche Lendenreize beschränkenden Beinahe-Gatten so richtig vors Knie zu treten. Würde man sich bei dieser moralischen Keule etwas weniger so vollkommen auf der richtigen Seite fühlen, wäre die Angelegenheit noch schöner; aber viel mehr Komplexität ist hier leider nicht drin. Die IMDb-Wertung, bei der ich generell eher vorsichtig bin, sei hier für einmal zur Referenz erwähnt. Der Film hat gerade mal knapp über 3 Punkte (von zehn) eingeheimst. Da ist es vielleicht angebrachter, auf Abhishek Chaubeys upcoming ‚Udta Punjab‘ zu setzen, auf den von Anurag Kashyaps Phantom Films produzierten Drogenthriller, der gerade bei der indischen Zensurbehörde mächtig Wellen schlägt. Denn dort treffen Shahid Kapoor und Alia Bhatt erneut aufeinander.

nachtmahr

Der Nachtmahr

(D 2015, Regie: Akiz (Achim Bornhak))

Von Gnomen und Kugelmenschen
von Nicolai Bühnemann

Der erste Verweis auf die Filmgeschichte kommt schon vor den ersten Bildern. Einige Texteinblendungen warnen vor epileptischen Anfällen, aber: „Wie auch immer… Dieser Film sollte laut abgespielt werden.“ Mit dem …

Der erste Verweis auf die Filmgeschichte kommt schon vor den ersten Bildern. Einige Texteinblendungen warnen vor epileptischen Anfällen, aber: „Wie auch immer… Dieser Film sollte laut abgespielt werden.“ Mit dem Satz: „This film should be played loud“ begann auch Abel Ferraras „Driller Killer“ von 1979. Nur auf den ersten Blick scheint es schwer, den amerikanischen Film über einen frustrierten New Yorker Künstler (Abel Ferrara), der zum Bormaschinenmörder wird, und den deutschen über den heftig das Nachtleben der Stadt auskostenden Berliner Teenager Tina (großartig fragil: Carolyn Genzkow), der immer wieder ein sonderbarer Gnom erscheint, zusammenzudenken. Bei beiden Filmen handelt es sich um die Werke relativ unerfahrener Filmemacher – Ferrara hatte vor „Driller Killer“ nur einige Shorts und einen Porno mit dem wundervollen Titel „9 Lives of a wet Pussy“ gedreht, „Nachtmahr“-Regisseur und -Autor Akiz lediglich drei Kurzfilme -, für die das Kino zum Möglichkeitsraum wird, dessen Ausdrucksformen begierig, fieberhaft erprobt werden – und das Genre zu einer Art Repertoire, aus dem man sich nimmt, was man zum Verwirklichen einer jeweils sehr eigenen Vision benötigt. In beiden Filmen ist die Musik (jeweils live eingespielt, hier Techno auf diversen Partys, dort Punk, der beständig von einer in der Nachbarwohnung spielenden Band durch die Wände dröhnt), weit über die Funktion eines herkömmlichen Soundtracks hinaus, Ausdruck des delirierenden Lebensgefühls der Protagonisten und zugleich eng mit der Geschichte der Stadt, in der sie leben, verbunden. Schließlich geht es in beiden Filmen um einen Zustand des Verlorenseins in der großen Stadt, zeigen beide Filme relativ schonungslos, wie ihre Protagonisten immer weiter durch das soziale Raster ihres urbanen Umfelds fallen. Wo aber der Driller Killer nur Tod und Verderben bringen kann, findet Tina letztendlich die zarte und zärtliche Utopie eines Auswegs aus Einsamkeit und Entfremdung.

Doch damit nicht genug: „Der Nachtmahr“ schmeißt zum Ferrara noch den Spielberg, zu der denkbar düsteren Parabel über den Mann, dessen Fixierung auf den Bohrmaschinen-Phallus mit Nabelschnur-Kabel wohl auch bedeutet, dass er nicht erwachsen werden kann, das bittersüße Märchen über das Ende der Kindheit. Der Nachtmahr erinnert von Ferne her an E.T. und wird wie dieser auch in einem Krankenhaus landen. Diesen Bezug festigt der Film noch, indem er in Tinas Teenager-Zimmer eine E.T.-Puppe rumstehen lässt, wie sie auch in meinem Achtziger Jahre-Kinderzimmer stand. „Driller Killer“ meets „E.T.“? Und das in einem unabhängig und unter Guerilla-Bedingungen, mit Mini-Budget gedrehtem deutschen Coming of Age-Horrorfilm? Wenn das kein Grund zum Aufhorchen ist!

Nach den Texteinblendungen also begegnen wir Tina dort, wo sie zunächst gerade im ekstatischen Außersichsein ganz zu sich kommen kann: auf der Tanzfläche. Zuckende junge Körper im Rhythmus wummernder Bässe und blitzender Stroboskop-Gewitter. Ihre Freundin Babs (Sina Tkotsch) liefert zu den wilden Nächten die passenden Drogen. Nur mit ihrem Schwarm Adam (Wilson Gonzalez Ochsenknecht) will es nicht so richtig vorangehen, weil er sich ihr gegenüber bedeckt hält. Beim Pinkeln auf einer illegalen Poolparty erscheint Tina zum ersten Mal eine eigenartige Kreatur, die sie fortan immer wieder sehen wird, vorwiegend in der Villa, die die Siebzehnjährige zusammen mit ihren Eltern bewohnt. Die Eltern reagieren besorgt, aber durch und durch hilflos auf den sich scheinbar immer weiter verschlimmernden psychischen Gesundheitszustand ihrer Tochter. Sie engagieren einen Psychiater, der tut, was Psychiater eben tun: Er verschreibt Pillen, rät, sollte sich Tinas Zustand nicht bessern, zur Einweisung in eine Fachklinik. (Es ist eine der Ambivalenzen des Films, dass gerade der aalglatte, Tina gegenüber relativ überheblich auftretende Arzt ihr letztendlich den Tipp gibt, das Wesen anzusprechen, durch den der Plot eine entscheidende Wendung nimmt.)

Von den möglichen Entwicklungen, die seine Geschichte nehmen könnte, wählt Akiz zielsicher die interessanteste. Dass es sich bei Tinas Begegnungen mit dem Wesen um Albträume handelt, wie es ja bereits der Titel suggeriert, oder um eine drogeninduzierte Psychose, sind Lesarten, die der Film eine Weile lang zulässt, letztlich aber verwirft. Vielmehr kommt es zu einer zärtlichen Annäherung zwischen dem Mädchen und dem Nachtmahr, der sich, seinem für Tina zunächst bedrohlichen Äußeren zum Trotz, als ziemlich verfressener, aber durch und durch gutmütiger Geselle erweist. Wo Tina nicht nur ihre Familie, sondern auch ihre Feier-Clique zunehmend ratlos stimmt, alle ihre Bindungen zu schwinden scheinen, bildet das Wesen bald ihren letzten Bezugspunkt.

Filmlöwin Sophie Charlotte Rieger schreibt über die zunächst entsetzten Reaktionen des Mädchens auf das Wesen und die folgende Annäherung: „Der Ekel und die Angst vor dem unbekannten Wesen steht für die pubertäre Entfremdung des Mädchens* mit sich selbst. Der Nachtmahr ist all das, was sie nicht sein darf: Gefräßig, hässlich und kindlich… Die Liebe zu dem unansehnlichen Wesen ist die Liebe Tinas zu sich selbst, zu jenen Persönlichkeitsanteilen, die sie ängstigen, weil sie nicht den gesellschaftlichen Erwartungen an eine junge Frau entsprechen.“ Daraus folgt, dass Tina, in dem Maße, wie sie sich von ihrem Umfeld entfremdet, immer mehr zu sich selbst findet, dass in ihrer Freundschaft zu dem Wesen zusammenwächst, was zusammen gehört, bewusste und verdrängte Facetten ihrer Persönlichkeit langsam eine Einheit bilden.

Die durchweg starke Inszenierung entwickelt dann auch besondere Intensität, wenn sie die harsche Trennung des mühsam ausgesöhnten, nun einheitlichen Wesens zeigt. Dass die beiden auch ein Nervensystem teilen, sie blutet, wenn das Wesen sich schneidet, wäre eigentlich gar nicht nötig gewesen, um Akiz‘ psychoanalytische Konzeption dieses Doppelwesens, das Tina und der Nachtmahr bilden, zu verstehen.

Das Ende denkt die Abkehr von einer Gesellschaft, die Tina und ihre teenage angst in einem fort pathologisieren, den Weg hin zu sich selbst, dann bis in die letzte Konsequenz fort. Wie Platons Kugelmensch, dem es schlussendlich vergönnt ist, zu seiner Ureinheit zurückzukehren, fahren Tina/Nachtmahr im Auto davon und lassen uns in unseren Kinosesseln zurück – entfremdet von den „dunkleren“, verdrängten Anteilen unserer Selbst und mit dem Eros als einzigem Trost.

Dies ist eine überarbeitete, längere Version eines Textes, der zuerst im Perlentaucher veröffentlicht wurde.

Hier und hier gibt es zwei weitere Kritiken zu ‚Der Nachtmahr‘.

The Lobster – Eine unkonventionelle Liebesgeschichte

(GR/GB/NL 2015, Regie: Yorgos Lanthimos)

Animal Love
von Marit Hofmann

Ist das Land erst ruiniert, filmt es sich ganz ungeniert. Die wagemutigsten und gewitztesten europäischen Filme kommen derzeit von griechischen Regisseuren. Das beweist neben Athina Rachel Tsangari („Chevalier“) nun ein …

Ist das Land erst ruiniert, filmt es sich ganz ungeniert. Die wagemutigsten und gewitztesten europäischen Filme kommen derzeit von griechischen Regisseuren. Das beweist neben Athina Rachel Tsangari („Chevalier“) nun ein weiteres Mal Yorgos Lanthimos („Dogtooth“) – mit seinem ersten englischsprachigen Film.

„The Lobster“, der hier zunächst nur auf DVD erschienen ist, kommt nun kurzfristig doch noch ins Kino – und hat mit seinen imposanten, penibel arrangierten Bildkompositionen in kühlen Farben die große Leinwand verdient. Wie Tsangaris „Attenberg“ ist auch diese anthropologische Studie mit der Tierwelt verknüpft: In der nahen Zukunft, die „The Lobster“ gar schröcklich ausmalt, haben Menschen, die keinen Ehepartner finden, ihr Recht auf ein Leben in der City genannten Zivilisation verwirkt und werden in ein Tier ihrer Wahl verwandelt. (Woraufhin es vor Hunden wimmelt, aber auch ein Flamingo läuft einmal, von den Menschen unbeachtet, durchs märchenhafte Bild.) Wer wie der Protagonist David (als zukünftiger Hummer erstmals mit Bierbauch: Colin Farrell) von seiner Gattin verlassen wurde, landet in einem Hotel genannten Umerziehungslager, in dem ihm 45 Tage Zeit bleiben, unter den anderen (namenlos bleibenden) Singles eine Partnerin zu finden. Dabei sollen absurde tanzschulkniggeartige Vorführungen das Leben im Doppelpack schmackhaft machen.

Wo in der Gegenwart der Ausgangspunkt dieser Dystopie liegt, ist nicht schwer zu erraten: „Die Leute glauben, dass sie immer in einer Beziehung leben müssen“, sagt der Regisseur. Als gescheitert gelte, wer das nicht könne. Aus der Angst heraus, allein zu bleiben – beziehungsweise als Hummer im Kochtopf zu landen -, greifen die Singles im Film zu Täuschungsmanövern. Nicht Gefühle, sondern Übereinstimmung in einem gemeinsamen Merkmal (etwa Kurzsichtigkeit, Unverfrorenheit oder Neigung zum Nasenbluten) ist in dieser Welt Voraussetzung dafür, seine „bessere Hälfte“ zu finden. Als Präventionsmaßnahme gegen Ehekrisen bekommen Paare Kinder zugewiesen.

Die Off-Erzählerin von Davids Geschichte ist die Dame seines Herzens, der er tragischerweise erst begegnet, als er die Partnersuche aufgegeben hat und zu der illegalen im Wald lebenden Widerstandstruppe, den Loners, übergelaufen ist. Es ist die Flucht von einer Hölle in die andere: Bei den Loners, die eine tierisch toughe Léa Seydoux anführt, ist Masturbation zwar anders als im Hotel ausdrücklich erlaubt, dafür sind Flirten, Küssen und Geschlechtsverkehr strengstens verboten und werden nicht minder brutal bestraft. Während die Singles im Hotel und die Paare in der City eher steife Konversation betreiben und unnützes Wissen austauschen, führt einzig das heimliche Liebespaar in diesem Film leidenschaftliche Gespräche – und zwar in einer eigens ersonnenen Gebärdensprache. Für echte Gefühle ist kein Platz in dieser ganz und gar entsolidarisierten Welt; der einzige Ausweg, den die Liebenden sehen, ist ein Gewaltakt.

Am Ende geht das Licht aus. Und wenn du im wahrsten Sinne des Wortes geblendet aus dem Kino kommst, siehst du einen vorbeilaufenden Hund mit ganz anderen Augen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

Hannas schlafende Hunde

(D/AT 2016, Regie: Andreas Gruber)

Ja zur sentimentoaffinen Rezeption
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein großartiger Film, der im Kleinen – aus der Sicht eines neunjährigen Mädchens – die unfassbare Kontinuität vorführt, mit der die Nazis nach 1945 nicht nur Nazis blieben, sondern wie …

Ein großartiger Film, der im Kleinen – aus der Sicht eines neunjährigen Mädchens – die unfassbare Kontinuität vorführt, mit der die Nazis nach 1945 nicht nur Nazis blieben, sondern wie selbstverständlich in die Opferrolle schlüpften. In Wels, Oberösterreich. Nächste Grenzstadt zu Bayern ist Braunau am Inn. Regisseur Andreas Gruber, in Wels geboren, wohnt auch heute in Wels. Als Junge war er in derselben Clique wie Elisabeth Escher, deren Roman er jetzt verfilmt hat. Seinen größten Erfolg hatte er vor gut 20 Jahren mit der »Hasenjagd. Vor lauter Feigheit gibt es kein Erbarmen«. Bürger in und um Krems an der Donau erlegen mit Begeisterung Halbverhungerte, die aus dem KZ ausgebrochen waren. Die Beute wird aufgetürmt, wie es sich nach einer erfolgreichen Jagd gehört. Über hunderttausend Zuschauer hatte der Film in Österreich.

Zurück zu Hannas schlafenden Hunden. Die Jäger blasen in ihren traditionellen Uniformen wieder ihr Halali, diesmal in der Kirche. Die Töne kenn’ ich doch. SA marschiert, die Reihen fest geschlossen und Reaktion erschossen. Hannas Familie nimmt an der katholischen Kulturpflege teil. Sie will um Gottes Willen nicht auffallen. Das Geheimnis soll bleiben. Ein Familiengeheimnis, 20 Jahre nach dem Krieg. Hannas resolute, aber blinde Oma lüftet es. Hanna ist also Halbjüdin. Wird sie jetzt in der immer noch naziverseuchten Stadt ausgegrenzt werden?

Die Enkelin (Nike Seitz) und die Oma (Hannelore Elsner) befreien sich aus der Opferrolle, aus den Welser Verhältnissen. Und das ist körpernah gespielt. Weit, weit weg sind pädagogische Argumente. Oder die neuerdings für unabdingbar gehaltene Sensationsaufmachung à la ‚Der Jude ist schwul‘. Was in Grubers Film zählt, ist die Nähe, der eindringliche Blick auf die Details, die Beschränkung auf die Wiedergabe von Vorgefundenem – im Guten wie im Bösen. Und was sich einstellt, ist die einzigartige Beteiligung des Zuschauers, die Intensität des Wahrnehmens.– Gut, ich spreche von mir. Aber vielleicht nicht nur. In der Musik ist es doch normal, etwas con sentimento zu spielen und zu empfinden. Also schließe ich meine Eloge auf ‚Hannas schlafende Hunde‘ mit einem Ja zur sentimentoaffinen Rezeption.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 06/2016

A Bigger Splash

(IT / FR 2015, Regie: Luca Guadagnino)

Schatten im Paradies
von Wolfgang Nierlin

Die paradiesisch anmutende Inselidylle heißt Pantelleria und liegt im Mittelmeer zwischen Sizilien und Tunesien. Die heißen, staubigen Winde des Schirokko, vulkanisches Gestein, die Rede von den schlimmen Zerstörungen des 2. …

Die paradiesisch anmutende Inselidylle heißt Pantelleria und liegt im Mittelmeer zwischen Sizilien und Tunesien. Die heißen, staubigen Winde des Schirokko, vulkanisches Gestein, die Rede von den schlimmen Zerstörungen des 2. Weltkrieges und die aktuelle Not afrikanischer Flüchtlinge setzen in Luca Guadagninos psychologischem Liebesdrama „A bigger splash“ von Anfang an allerdings harte Kontraste. Der Rückzugs- und Erholungsort der gefeierten Rocksängerin Marianne Lane (Tilda Swinton), die hier mit Doku-Filmer Paul De Smedt (Matthias Schoenaerts) in zärtlicher Symbiose und schlafwandlerischer Trägheit die Tage verbringt, ist also unterschwellig bedroht. Und so dauert es nicht lange, bis der schwere Schatten eines Neuankömmlings das Glück intimer Zweisamkeit empfindlich stört: Harry Hawkes (Ralph Fiennes), hedonistischer Rockmusikproduzent alter Schule und Mariannes Ex-Lover, ist nämlich überschwänglich laut und immer gut drauf; vor allem aber erlaubt ihm sein übergroßes, vitales Ego keine Distanz.

Zur Überraschung aller hat Harry seine Tochter Penelope Lanier (Dakota Johnson) mitgebracht, die er so wenig kennt wie sie ihn und die vorgibt 22 Jahre alt zu sein, tatsächlich aber 17 ist. Die Wunden und Narben der Vergangenheit, Ungelöstes und Schwelendes sind in Guadagninos ebenso düsterem wie ironischem Film über sexuelles Begehren, leidenschaftliche Liebe und Tod also stets gegenwärtig. So hat Harry einst Marianne, die er jetzt zurückerobern will, mit Paul verkuppelt. Dieser wiederum versucht, nach einem Selbstmordversuch sein inneres Gleichgewicht zu finden, während Marianne ihre angegriffenen Stimmbänder schonen muss und deshalb meistens schweigt oder flüstert. Die geheimnisvoll-laszive Penelope wiederum legt es darauf an, Paul zu verführen: „Ich verliebe mich in alles, was schön ist.“. Das führt an einer späteren Stelle des Films schließlich zu flirrenden Zweideutigkeiten, Eifersucht und Rivalität zwischen den Männern.

Luca Guadagnino interessiert sich in seinem doppelbödigen Remake von Jacques Derays Film „Der Swimmingpool“ (1969) weniger für den kriminalistischen Plot, den er nicht nur reduziert, sondern auch ironisiert. Stattdessen kreiert er in „A bigger splash“ eine sinnlich enorm aufgeladene Atmosphäre aus Sommerhitze, nackten Körpern und leidenschaftlichem Begehren. Ein Hauch von Unwirklichkeit und lauernder Konflikte liegt über der schwülen, vordergründig unbeschwerten Szenerie, in der sich der Widerhall einer verklärten, aber ungelösten Vergangenheit mitsamt ihren verlorenen Utopien einnistet. Tote Fische, Schlangen und Geckos werden im ambivalenten Gefüge dieses künstlerisch eindrucksvoll gestalteten Films zu Vorboten künftigen Unheils. „Ändere nicht die Welt, sondern deine Ziele“, sagt einmal der besitzergreifende Harry zu dem auf Distanz bedachten Paul. Doch in „A Bigger Splash“ verlaufen die Wege in Serpentinen und enden in einem heftigen Platzregen.

Nur Fliegen ist schöner

(FR 2015, Regie: Bruno Podalydès)

Trockenübungen mit Wasser
von Wolfgang Nierlin

Michel Flanquart (Bruno Podalydès) ist ein Träumer. An seinem modernen Arbeitsplatz am Bildschirm taucht er ein in die schwebenden, farbigen Spiralnebel seiner 3-D-Entwürfe und hört dazu Johann Sebastian Bach. Mit …

Michel Flanquart (Bruno Podalydès) ist ein Träumer. An seinem modernen Arbeitsplatz am Bildschirm taucht er ein in die schwebenden, farbigen Spiralnebel seiner 3-D-Entwürfe und hört dazu Johann Sebastian Bach. Mit geschlossenen Augen überlässt er sich seiner Phantasiewelt. Vor allem träumt der wunderliche Mittfünfziger, der eine Jacke im Stil seines Flieger-Idols Jean Mermoz trägt und Antoine de Saint-Exupérys „Nachtflug“ zu seinen Lieblingsbüchern zählt, aber seit langem vom Fliegen. „Rätselhafte Erektionen“ habe ihm diese Leidenschaft in früheren Zeiten beschert, bekundet er gegenüber seiner Frau Rachelle (Sandrine Kiberlain). Bis er, angeregt durch einen betriebsinternen Austausch über Palindrome, auf das Kajak als Ersatzobjekt stößt.

Das einsitzige Paddelboot ist schnell bestellt. Und weil Michel nach eigenem Bekunden ein „Equipment-Typ“ ist, wächst seine Ausrüstung für die heimlich geplante Bootstour sukzessive. Bald verwandelt sich die Dachterrasse des Hauses nicht nur in ein Materiallager, sondern auch in einen Trainingsplatz für seine Trockenübungen; was Bruno Podalydès, der auch für Drehbuch und Regie des Films verantwortlich zeichnet, in seiner ebenso intelligenten wie märchenhaften Komödie „Nur Fliegen ist schöner“ (Comme un avion) mit trockenem Humor und feinem Gespür für den visuellen Witz dieses doppeldeutigen Tuns inszeniert. Denn Michel scheint dabei mit seinem magischen Traumobjekt förmlich abzuheben. Nicht umsonst lautet die Übersetzung des französischen Originaltitels „Wie ein Flugzeug“.

Der Traum vom anderen Leben trifft sich in Podalydès‘ poetisch-phantasievollem Film mit der Midlife-Crisis des Protagonisten, der einmal sagt, er habe das Tanzen verlernt und möchte „raus aus dem Trott“. Und so findet er sich schon bald inmitten einer sattgrünen Natur auf einem ruhigen Flüsschen des Burgunds und scheint dabei die Zeit zu vergessen. Doch die Tücken der Objekte und Situationen sowie die sinnenfrohe Aura eines idyllisch gelegenen Ausflugslokals, an dem Michel gleich zu Beginn strandet, bannen den flüchtenden Träumer. Die erotische Ausstrahlung der Wirtin Laetitia (Agnès Jaoui) und ihrer hübschen Bedienung Mila (Vimala Pons), nicht zuletzt aber auch die entspannend-surrealen Wirkungen des Absinth-Rauschs haben daran entscheidenden Anteil. So bricht unser Held immer wieder auf und kehrt doch stets an den gleichen Ort zurück, zu dem ihn ein freundlicher Strom wie ganz selbstverständlich trägt.

Der Nachtmahr

(D 2015, Regie: AKIZ)

Das andere Ich
von Wolfgang Nierlin

Zunächst einmal ist AKIZ‘ Film „Der Nachtmahr“, der erste Teil seiner sogenannten „Dämonischen Trilogie“ über „Geburt, Liebe, Tod“, ein forcierter Angriff auf die Sinneswahrnehmung: In den Stroboskopgewittern, die getaktet werden …

Zunächst einmal ist AKIZ‘ Film „Der Nachtmahr“, der erste Teil seiner sogenannten „Dämonischen Trilogie“ über „Geburt, Liebe, Tod“, ein forcierter Angriff auf die Sinneswahrnehmung: In den Stroboskopgewittern, die getaktet werden von harten Technobeats und wüsten Störgeräuschen (Musik u.a. von Alec Empire und Boys Noize), verlieren sich Raum und Zeit und Orientierung. Die in Lichtblitze zerlegte Wirklichkeit erscheint augenblickshaft, die Wahrnehmung ist irritiert. Zwischen Vergessen, Hypnose und Ekstase produzieren die überwältigten Sinne jedoch paradoxerweise eine gesteigerte Wahrnehmung: Wie im Drogenrausch ist das Erleben intensiviert und die Entgrenzung real. Körnige Nachtbilder in Rot und Blau, aufgenommen mit einer Weitwinkel-Optik und unter Verzicht auf künstliche Lichtsetzung, evozieren eine Atmosphäre zwischen Traum und Wirklichkeit, die auch den Zuschauer erfasst. Beeinflusst ist diese, so AKIZ, von der visionären Lyrik seines Vorbilds William Blake, die später auch im Film eine Rolle spielt, und dem expressionistischen Kino der 1920er Jahre.

Diese Täuschung der Sinne korrespondiert wiederum mit einer fortgesetzten Reflexion über das Verhältnis von Realität und Abbildung unter digitalen Bedingungen. Gleich zu Beginn wird die 18-jährige Tina (Carolyn Genzkow) auf einer rasanten Autofahrt zu einer illegalen Poolparty von einer Freundin ihrer Clique mit dem Foto eines fehlgebildeten Säuglings konfrontiert. Ein paar digitale Bearbeitungsklicks später verschmilzt Tinas Portrait mit dieser fremd anmutenden Kreatur, deren gnomhafte Gestalt das titelgebende, bald daraufhin erscheinende Traum-Wesen (eine Reminiszenz an J. H. Füsslis gleichnamiges Gemälde) vorwegnimmt. Tina erkennt sich aber auch in dem Unfallopfer eines Snuff-Videos, das bei der Party herumgereicht wird und zeigt, wie eine junge Frau beim Pinkeln auf der Straße überfahren wird. Ein Schock, der die Grenze von Leben und Tod berührt und Tina, als durchlebte sie im Folgenden eine Nahtoderfahrung, in ein Zwischenreich versetzt.

Ihre vielfach schmerzliche Begegnung mit ihrem anderen Ich führt das empfindsame, verletzliche und als Einzelkind aufgewachsene Mädchen, das von Liebekummer, Eifersucht und einem gestörten Selbstbild geplagt wird, unter Rückschlägen zu sich selbst. Das gefräßige, aber ungefährliche Monster „mit blinden Augen“, dem sie eines Nachts mit Abscheu in der Küche ihres wohlsituierten Elternhauses gegenübersteht und das zunächst nur sie sieht, verkörpert einen realen Alptraum und ist zugleich Spiegelbild ihrer Seele. Diesem nähert sie sich sukzessive an: Gegen die Widerstände und das Unverständnis ihrer etwas schablonenhaft gezeichneten Eltern und gegenüber einem Psychotherapeuten, der „unser Hirn“ als „das größte Mysterium auf Erden“ bezeichnet und damit Tinas Ängste und Verzweiflung als selbstproduzierte Sinnestäuschung klassifiziert. Während die verstörte junge Frau immer mehr zur Außenseiterin wird, kann man nicht nur anhand der Aufdrucke ihrer T-Shirts („Visiones“, „Strength“) ihren Weg zu sich selbst ablesen. Für AKIZ, so scheint es, gleicht dieser einer Neugeburt im kosmischen Kreislauf von Leben und Tod.

Hier gibt es eine weitere kritik zu ‚Der Nachtmahr‘.

The Witch

(BR / CDN / USA / GB 2015, Regie: Robert Eggers)

Frommer Koller, toller Ton, gottloser Bock: hipper Horror
von Drehli Robnik

Eigentlich ist das ja ein Allerweltsfilmtitel: ‚The Witch‘. Aber der hat es in sich, und es kommt noch etwas hinzu: In sich hat er das Doppel-V der nerdig-offiziellen Schreibweise als …

Eigentlich ist das ja ein Allerweltsfilmtitel: ‚The Witch‘. Aber der hat es in sich, und es kommt noch etwas hinzu: In sich hat er das Doppel-V der nerdig-offiziellen Schreibweise als VVitch, und hinzu kommt der Untertitel, die Byline ‚A New England Folktale‘. Sprich: Dieser Film will etwas.

Er spielt während Nordamerikas Kolonialfrühgeschichte, um 1630. Pilgrim Fathers, kleine Siedlungen an der Ostküste und so. Aus nicht näher erläuterten Gründen religiöser Dissidenz verlässt eine Familie mit fünf Kindern die Gemeinde und zieht weit fort, in eine abgelegene elende Farm am Waldrand. Das sich hinter ihrem Karren schließende Tor der Puritanersiedlung gibt gerade noch den Blick frei auf ein Stück sozialen Alltag in deren umbauten Inneren, zumal auf einige American Natives, die da zwischen den Halskrausen- und Häubchen-TrägerInnen spazieren: Die Kleingruppe, die hier nun wie so viele nach ihnen (und vor allem in so vielen Filmen) in einen Wilden Westen aufbricht, lässt auch die ‚Indianer‘ in der Zivilisation zurück; was sie an Begegnungen erwartet, ist nichtmenschlicher Art. Was sie an Erinnerungen zurücklassen, das gehört allerdings, so wird später en passant halbdeutlich, ohnehin ihrem Herkunftsland England; und ihre Herzen und Handlungen gehören ganz Gott. Ein Bild des kargen, frömmelnden Farmalltags wird hier entworfen, als Variation des (zumeist nicht kargen, sondern irgendwie obszön Glück konsumierenden) Genre-Szenarios vom Haus im Wald, in dem sich Hüttenkoller breitmacht, um in Wahn und Gewalt zu münden.

An Hellsicht – an präziser Einsicht from hell, if you will – für Machtspiele im gelebten Raum wäre hier mehr drin gewesen. Dieser US-Independent-Grusler läuft in Sachen des Sinns fürs Soziale und Historische doch bald ein wenig leer – das aber dafür auf Hochtouren. (Und auf die ist der Film dann vielleicht doch etwas zu merklich stolz.) Plot-Shifts und -Twists rund um unsere Mutmaßungen darüber, wer denn hier Kinder fortholt und alltägliche Anblicke ominös erscheinen lässt (ein Ziegenbock ist immer noch ein nützliches Haustier, auch wenn er zufällig schwarz ist, und Hasen, Hühnerleier, Äpfel, das sind doch eigentlich Teile einer Imagination, die bukolisch ist… oder barock… oder Bosch… Teufel!) –, diese Erzählmachinationen bilden den Rahmen, den die Regie des zuvor als Ausstatter tätigen Robert Eggers mit Dunkelheit (und Kerzenschein) füllt. Was sich in ‚The Witch‘ abzeichnet, bleibt oft und lange nur Andeutung, ein Hauch von Hexenhaus und von Black Sabbath (der Tätigkeit, nicht der Band).

Gediegen ist die Soundscape (mit melodischem Altenglisch voller thy und thou, mit Vaters Dubstep-tauglicher Bassstimme und manch tonloser Szene, in der Stil- und Motivverwandtschaften zu Kubricks ‚The Shining‘) ebenso wie das Ensemblespiel; alle engagieren sich mit Erfolg, Anya Taylor-Joy als ältere Tochter sticht hervor. Wer spoilt, wird auch heute noch am Scheiterhaufen verbrannt. Alles in allem ergibt dies eine in Kolorit, Setting, Personal und Zeigefreudigkeit reduzierte Anordnung, die mit Geschick an unseren Kinositzen oder Videocouchen zu rütteln versteht: Streicher kreischen, Chöre schwellen an, und abrupte Schnitte kippen uns in – ganz normale Anblicke. Und die tragen ihre Unheimlichkeit und ihre virtuose Gestaltung gleichermaßen zur Schau.

Green Room

(USA 2015, Regie: Jeremy Saulnier)

Small Film, Big Thrills, and a Major Threat at the Door
von Drehli Robnik

Warum heißt ein amerikanischer Film über einen Fluchtraum schlurfiger Linker, der von Rechtsextremen belagert wird, just ‚Green Room‘? Ach – vielleicht spielt das ja auf einen quasi titelgleichen François Truffaut-Film …

Warum heißt ein amerikanischer Film über einen Fluchtraum schlurfiger Linker, der von Rechtsextremen belagert wird, just ‚Green Room‘? Ach – vielleicht spielt das ja auf einen quasi titelgleichen François Truffaut-Film von 1978 an: ‚La chambre verte – Das grüne Zimmer‘. Allerdings: Mit diesem Film hat Jeremy Saulniers Survivalthriller ‚Green Room‘ eigentlich nur den Umstand gemeinsam, dass darin Wände (und Gewänder) mit Bildern und Insignien verehrter Ahnen übersät sind. In ‚Green Room‘ sind das die Fugazi-Aufkleber und Dead Kennedys-T-Shirts der Belagerten sowie die Hakenkreuzposter und White Power-Bomberjacken der Belagerer. (Bei Truffaut waren es Baudelaire und solche Kaliber.)

Eine Hardcore-Punkband von Nicht-mehr-Collegekids an der Armutsgrenze – eine fiktive Band namens The Ain’t Right – gerät durch eine dubiose Location-Empfehlung in eine von Skinheads und Rechtsrockern betriebene Konzerthalle in der Pampa. Nachdem sie ihren Auftritt zur Freude einiger in Zeitlupe pogender Hardcore-Kids (und ohne von den angepissten Bomberjackingern verprügelt zu werden) absolviert haben, werden sie zu ZufallszeugInnen eines Fememordes unter Neonazis und als solche mit dem Tod bedroht; erst heimlich und unter Vortäuschung, man wolle sie bis zum Eintreffen der Polizei festhalten, aber bald schon ganz offen. Also verschanzen sie sich im Backstageraum. Der ist gar nicht sooo grün, aber klein, versifft und voller Namensschriftzüge an den Wänden – und voller Plot-relevanter Objekte wie z.B. Öffnungen, die sich erst allmählich zeigen.

Saulnier, ein US-Indie-Regisseur („Blue Ruin“) mit Skatepunk-Vergangenheit, setzt Lagerbildung als gegeben und ein gewisses Maß an Begeisterung für spätsubkulturelle Pop/Rock-Lebenswelten als zumutbar voraus (was hier übrigens nix mit Zitatkino oder Bescheidwissertum über Musik-Obskuritäten zu tun hat, sondern mit dem Ernstnehmen eines Milieus, seiner Kämpfe und Sinnangebote und seiner schlimmen Seiten wie z.B. Nazi-Skins). Die Erzählung und Inszenierung zielt an allfälliger psychologischer Vertiefung wohltuend vorbei, aber nicht ins Schrille oder ins zerhäckselte Nichts, sondern auf die angemessene, schön rhythmisierte Entfaltung einer ebenso minimalistischen wie ergiebigen Situation.

‚Green Room‘ hält sich ganz an Pragmatik und ihre Details: kleine räumliche und personelle Frontverschiebungen, Infrastrukturen und Techniken (das gezielte Brechen eines Armes, das Verbinden einer offenen Wunde mit Gaffertape), improvisierte Kooperation und waffentaugliche Objekte (Feuerlöscher, Mikrofon-Feedback, Kampfhundgebiss). Das macht diesen Film zugleich packend und cool. Drastisch und gory ist hier die Action, kleinräumlich einfühlsam die Kamera, leicht skurril das herrlich ausrinnende Ende, delikat die Besetzung: Anton Yelchin als fragiler Bassist, Patrick Stewart als Obernazi, Saulniers ständiger Lieblingsdarsteller Macon Blair, den wir gern öfter sehen würden, sowie die stets mitreißende Imogen Poots als Skinhead.

Ein starker Eintrag im Geist Walter Hills und John Carpenters in die Liste aktueller Klaustrophobie- und Kellerfilme. Der 62-Sekunden-Song der Dead Kennedys, den die Band im Film covert und dabei auf mindestens 75 Sekunden zerdehnt, heißt übrigens ‚Nazi Punks Fuck Off‘. Das ist zeitlos wahr und schön.

X-Men: Apocalypse

(USA 2016, Regie: Bryan Singer)

Der Fluch des dritten Teils
von Nicolai Bühnemann

Blockbusterhistorisch jedenfalls ist der Zeitpunkt, an dem die Handlung von „X-Men: Apocalypse“ spielt, sorgsam ausgewählt. Einmal kommt eine Gruppe von Jungmutanten aus einem Kino, wo sie sich gerade „Return of …

Blockbusterhistorisch jedenfalls ist der Zeitpunkt, an dem die Handlung von „X-Men: Apocalypse“ spielt, sorgsam ausgewählt. Einmal kommt eine Gruppe von Jungmutanten aus einem Kino, wo sie sich gerade „Return of the Jedi“ angesehen haben, den Abschluss der ersten „Star Wars“-Trilogie von George Lucas, die in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern entscheidenden Anteil daran hatte, den Hollywood-Studios zu zeigen, wie viel Geld sich mit Filmen tatsächlich verdienen ließ, und damit auch vor einigen Dekaden den Grundstein legte für die nicht abreißen wollende Schwemme von Marvel-(und anderen Superhelden-)Filmen, die in unserer Gegenwart die Multiplexe dieser Erde füllen.

Nachdem uns ein Prolog ins Jahr 3600 vor Christus entführt, wo im alten Ägypten versucht wird, Apocalypse, den ersten und mächtigsten aller Mutanten, wiederauferstehen zu lassen, spielt sich die Haupthandlung stringent im Jahr 1983 ab und also genau ein Jahrzehnt nach den Ereignissen des Vorgängers „X-Men: Days of Future Past“ (2014), in dem Wolverine (Hugh Jackman) per Zeitreise ins Jahr 1973 geschickt wurde, um – in Manier der „Terminator“-Filme – eine wahrlich düstere Zukunft per Eingriff in die Vergangenheit zum Besseren zu wenden.

Apocalypse (in seiner aufgeblasenen blauen CGI-Erscheinung weit hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibend: Oscar Isaac) also sucht sich seine vier Reiter zusammen – gemutmaßt wird einmal darüber, ob er das aus der Bibel hat oder doch die Bibel von ihm –, um das Reich der Menschen auf Erden endgültig zu beenden und das Zeitalter der Mutanten einzuläuten. Seine Jünger findet er dabei hauptsächlich im Ruhestand, den sie so gestalten, wie es Mutanten, die ihrer Superkräfte müde sind, nun einmal tun: Erik Lansheer alias Magneto (Michael Fassbender) hat es sich, wie einst Wolverine in seinem ersten Solo-Auftritt „X-Men Origins: Wolverine“, mit Frau und Kind in einer Hütte im Wald in Polen gemütlich gemacht. Angel (Ben Hardy) ist tief gestürzt, nutzt seine Flügel zunächst, um in Ost-Berlin (!) vor johlendem und sonderbar subkulturell anmutendem Publikum im Ring harte Kämpfe auszuführen. Später dann ertrinkt er im Selbstmitleid und einer Flasche Schnaps, was wiederum von Ferne her an den desillusionierten, an sich und der Welt furchtbar leidenden Professor Charles Xavier (James McAvoy) aus „Days of Future Past“ erinnert, zumal sich dieser das Serum, das ihn von seinen Mutanten-Kräften „heilte“, täglich intravenös zufügen muss. Für die X-Men um Xavier und Mystique (Jennifer Lawrence) und seine School for Gifted Youngsters geht es nun darum, den Kampf aufzunehmen und – einmal mehr – die Welt zu retten.

„X-Men: Apocalypse“ ist der sechste Eintrag im Franchise (der achte, rechnet man die beiden „Wolverine“-Filme mit) und soll den Story Arc, der mit „X: First Class“ (2011) begonnen wurde, zu Ende bringen. Wo die ursprüngliche Trilogie (2000, 2003, 2006) relativ stringent eine in der „nicht allzu fernen Zukunft“ angesiedelte Geschichte um die ewige Rivalität von Charles Xavier (Patrick Stewart) und Erik Lansherr (Ian McKellen) und das immer wieder von verschiedenen Seiten torpedierte Bemühen, Menschen und Mutanten friedlich koexistieren zu lassen, erzählte, verhielt sich „First Class“ dazu noch als relativ gewöhnliches Prequel, das, während der Kuba-Krise 1962 spielend, schließlich auch erklärte, wo die Feindschaft von Xavier und Lansherr, die schon immer eine recht ambivalente Sache war, herrührte, wie jener in den Rollstuhl und dieser zu seinem Alias Magneto kam, und endete schließlich mit der Namensgebung der X-Men.

In „Apocalypse“ führte einmal mehr und damit zum vierten Mal bei einem „X-Men“-Film Mal Bryan Singer Regie, der sich in den Neunzigern mit dem Überraschungserfolg und später zum „Kultfilm“ avancierten Thriller „The Usual Suspects“ für Größeres vorstellte. Leider gelingt es Singer nicht, an die Qualitäten der Vorgänger anzuknüpfen. Die historischen Implikationen, wenn etwa Magneto, Überlebender der Shoah, seine Kräfte in „First Class“ dazu nutzte, alte Nazis, die sich in Argentinien einen ruhigen Lebensabend machen wollen, zur Strecke zu bringen, werden durch lachhafte mythologische Bezüge ersetzt, zum Beispiel wenn man Apocalypse sagen lässt: „I’ve been called many things over many lifetimes: Ra, Krishna, Yahweh.“

Für das Jahr 1983 interessiert sich dieser Film nicht die Bohne, wobei das Fight Club-Ost-Berlin einerseits wohl den Gipfel dieses Desinteresses darstellt, andererseits mündet dieses Desinteresse hier fast schon wieder in etwas Interessantem, weil sich der Film herausnimmt, eine von allen historischen Realitäten gründlich bereinigte Phantasie-Zeit zu erschaffen. Gefiel „Days of Future Past“ noch in dem raffinierten Spiel mit seinen zwei Zeitebenen, gerade im Finale, wenn parallel montiert wurde, wie in der Zukunft die Menschen, respektive die von ihnen mit Mutanten-Genen gebauten Sentinels, zum Vernichtungsschlag gegen die Mutanten ausholen, während in der Vergangenheit sich Präsident Nixon und seine Entourage in arger Bedrängung durch Magneto und die seinen fanden. Diese Doppel-Klimax hatte mehr Chuzpe als der seine Schauwerte in einem Reigen der Überbietungen aneinander reihende „Apocalypse“ als Ganzes.

Von den Action-Szenen, um die es ja in solchen Filmen vornehmlich geht, bleibt nur eine in Erinnerung, in der Quicksilver (Evan Peters) zu den Klängen von Eurythmics „Sweet Dreams“ die gesamte Belegschaft der unter dem Angriff Apocalypses zusammenbrechende Schule rettet, in Sekunden, die zu Minuten ausgewalzt werden. Eine ähnliche Szene gab es, nicht ganz so lang, aber kaum weniger spektakulär, auch schon im Vorgänger. Wie in „First Class“ nur in einem Cameo zu sehen ist Wolverine, der Mann mit den imposanten ausfahrbaren Krallen aus unkaputtbarem Adamantium-Stahl und dem noch imposanteren Backenbart. Durfte er dort aber immerhin noch das einzige F-Wort sagen, das man einem PG-13-Film durchgehen lässt, metzelt er sich hier etwas unmotiviert durch eine ganze Herrschar von Gegnern, um sodann wieder aus dem Film zu verschwinden.

Die Kommentare der Jungmutanten zum „Star Wars“-Film fielen mit der etwas zu bemüht cleveren Selbstironie, die vielen jüngeren Blockbustern eignet, dahingehend aus, dass dritte Teile immer die schlechtesten seien. Was das George Lucas-Universum anbelangt, bin ich persönlich ein „Return of the Jedi-“Mann, halte diesen Film für den besten des gesamten bisherigen Franchise, zu „Apocalypse“ aber passt diese Beobachtung wie die Faust aufs Auge. Ganz unironisch.

Dieser Text ist in ähnlicher Form zuerst beim Perlentaucher erschienen.

Der Nachtmahr

(D 2015, Regie: Akiz)

Laut und luizid: Sieh dich im Ding (und lass die Ohren klingen)
von Drehli Robnik

So schnell kann’s gehen: Eben noch angehende Bikini-Techno-Prinzessin am Berliner Wald-Freibad-Partypool, die das Auge des – trotz Gipsbein und feister Fresse – umschwärmten Jung-DJs Adam (Wilson Gonzalez Ochsenknecht) auf sich …

So schnell kann’s gehen: Eben noch angehende Bikini-Techno-Prinzessin am Berliner Wald-Freibad-Partypool, die das Auge des – trotz Gipsbein und feister Fresse – umschwärmten Jung-DJs Adam (Wilson Gonzalez Ochsenknecht) auf sich lenkt, stürzt die 18jährige Gymnasiastin Tina jäh in Dauerzustände von Peinlichkeit und Ausschluss. Schuld daran ist ‚Der Nachtmahr‘.

Dieser ist zum einen ein Alptraum, der in den Alltag sickert, Abläufe verwirrt, aber auch klar sehen lässt, wie viel an Normalisierungszwang und Konformismus in kess optimierten Nächten und in behüteten Schulmädchen- und Villenbewohnerstochtertagen angelegt ist. Zugleich ist der Nachtmahr lapidar verkörpert als elendes Wesen, das an Zwerg Nase, Alien-Embryo und E.T. erinnert. Einfach so taucht er auf in Tinas Leben, beansprucht mittels erbärmlichem Krabbeln, Rascheln und Gurren (Kennt noch jemand den ‚Exoten‘ aus ‚Dark Star‘?) ihre Fürsorge; sie teilt Jugendzimmer, Eiskasten, offenbar auch das Nervensystem mit ihm; so wird etwa auch sie ohnmächtig, wenn der Nachtmahr von einem polizeilichen Betäubungsgeschoss getroffen wird.

Allgemein gesehen – und dazu fordern gute Horrorfilme, auch märchenhaft-satirische wie dieser, ja immer ein Stück weit auf –, zeigt sich da, wie mitten im Mittelschicht-Hedonismus ein Ankömmling aus dem Nichts Aufnahme und Empathie einfordert. Das stößt auf bornierte, wohlstandspanische Ablehnung, nicht nur im Film. In diesem nun läuft das konkret und in aller Verdichtung präzis beobachtet so ab, dass Eltern, Freundinnen, auch der obergscheite Psychotherapeut, ihn nicht sehen und ihr nicht glauben; Tina wird in aller Behutsamkeit pathologisiert und weggedrängt. Zusammenleben ist der Horror. Sozial-Sein ist – genau bzw. im luziden Licht eines Nachtmahrs betrachtet – ein peinlich-obszönes Ding und tut weh.

Aber es sieht auch lustig aus. Aus dem Erlebensgefälle – für sie ist er ihr zweites Ich, für alle anderen gar nicht da (‚Mein Freund Harvey‘, den kennen wir aber schon noch, oder?) – resultieren in ‚Der Nachtmahr‘ einige Momente schöner Außenseiterkomik; etwa wenn Vaters Chef samt Gemahlin endlich zum Dinner kommen und die Tochter als tapfer ihr psychisches Problem bewältigendes Kind vorgeführt werden soll. ‚Ich bin doch kein Freak!‘, protestiert Tina einmal, darauf die Mutter mahnend: ‚Du, also, ‚Freak‘ ist ein ganz blödes, diffamierendes Wort.‘

Solche Momente – auch die Szene mit dem elterlicherseits (wie) versehentlich auf Tinas Geburtstagsgabentisch gelegten Psychiatrieklinik-Folder – arbeiten heraus, wie in einem Spaß-Idyll immer mehr Druck aufgebaut wird. Druck (und Spaß) macht aber auch das grelle Styling von ‚Nachtmahr‘-Regisseur AKIZ, bürgerlich Achim Bornhak: abrupte Übergänge in superlauten Techno und Industrial (Dancefloordialoge per Untertitel), Teeniehaut in Strobolicht, Milieumurmeln auf dem Schulhof und im Kifferzimmer. Kim Gordon (Ex-Sonic Youth-Bassistin) fällt auf als Englischlehrerin, die ihre Klasse William Blake’sche Gebärpoesie diskutieren lässt; Carolyn Genzkow brilliert als Gör mit Schnoferl, die zu sich steht – zu ihrem monströs externalisierten Defizienz-Selbst – und deshalb geht. Wie eine Springbreakerin, die fulminant abhaut, abfährt aus dem Springbreak. Ist ihr Name, so wie der des Regisseurs, ein chiffrenhaftes Kurzwort? Sie heißt TINA, aber: There Is No Alternative – das stimmt hier gar nicht. Du bist Ding, also hab dich lieb und dreh auf.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Der Nachtmahr‘.

The Whispering Star

(J 2015, Regie: Sion Sono)

Die Paketbotin aus der Ewigkeit
von Manfred Riepe

Lange Einstellungen, ruhige, geometrische Kamerafahrten, Beobachtung alltäglicher Dinge: Wenn im Kino das Vergehen von Zeit fühlbar gemacht werden soll, dann denkt man mit Grausen an Theo Angelopoulos oder den späten …

Lange Einstellungen, ruhige, geometrische Kamerafahrten, Beobachtung alltäglicher Dinge: Wenn im Kino das Vergehen von Zeit fühlbar gemacht werden soll, dann denkt man mit Grausen an Theo Angelopoulos oder den späten Tarkowski. Sion Sono, hierzulande bekannt durch seine lustvoll perverse Pop-Oper „Love Exposure“, hätte man eine solch introvertierte Meditation nicht zugetraut. Mit „The Whispering Star“ gelingt dem Japaner jedoch etwas, was im Kino selten funktioniert. Eine kontemplative Stilübung, bei der man gebannt zusieht – und zwar nicht deswegen, weil einem die Stimme der Vernunft zuwispert: das musst du jetzt gut finden, weil es Kunst ist.

Schon das Ungleichgewicht zwischen der manifesten Erzählebene und der Backstory ist eine Herausforderung. Der Film spielt die meiste Zeit über im Inneren eines schäbigen Containers. Es handelt sich um eines jener kargen „Übergangshäuser“ für jene Menschen, die aus dem radioaktiv verseuchten Fukushima evakuiert wurden. Sonos Ehefrau Megumi Kagurazaka spielt eine einsame Frau, die in dieser Enge Tee kocht. Immer wieder. Sinnlos erscheinende Einblendungen der Wochentage verdeutlichen, dass die Zeit still steht. Irgendwie scheint das aber kein Problem zu sein. Mal raucht die Frau eine Zigarette, dann spricht sie ihre Erinnerungen auf ein Tonband, das Smartphonebesitzer von heute wahrscheinlich gar nicht mehr bedienen könnten. Eine Kiste mit besprochenen Bändern zeigt, dass ihre Isolation schon ziemlich lange andauert. Warum nur macht der Frau diese monotone Eintönigkeit nichts aus?

Dieses Rätsel schlägt den Zuschauer in den Bann. Man nimmt Anteil an den hingehauchten Berichten Yoko Suzukis, so ihr Name. Ihren Erzählungen vom Wasserhahn, der seit Neuestem seltsame Geräusche von sich gibt, tropfen auch in unser Bewusstsein. Nach geraumer Zeit erst erblicken wir den Container aus der Außenperspektive. Zu sehen ist ein kleines japanisches Häuschen mit Holzvertäfelung, Fernsehantenne – und Düsenantrieb. Das seltsame Gefährt schwebt durch die Weiten der Galaxis. Na ja, Georges Méliès hätte diesen Filmtrick womöglich besser hinbekommen. Es geht Sono nicht um eine realistische Anmutung von Technik; er stellt das Genre geradewegs auf den Kopf. Sein fliegendes Holzhaus mit dem Gasherd und der bollernden Waschmaschine ist Anti-Science-Fiction.

Die per Schrifteinblendung erfolgende Erklärung zu Beginn, Yoko sei ein Androide, eine Maschine „mit künstlicher Intelligenz“, ist daher mit Vorsicht zu genießen. Was macht dieses Wunderwerk der Technik? Sie schrubbt den Boden und reinigt die Neonleuchte von toten Faltern, die sich hinter dem Lampenschirm aus Milchglasplastik verfangen haben. Bei Bedarf repariert sie auch den sprechenden Computer, der aus Röhren und alten Verlängerungskabeln besteht. Sonos charmante Retro-Offensive erinnert weder an das Bügeleisen aus „Raumpatrouille Orion“, noch an die holzvertäfelten Raumschiffe in David Lynchs „Wüstenplanet“. Mit seinen amüsanten Sci-Fi-McGuffins erschließt der japanische Regisseur Sphären, in die das Kino selten vordringt. Seine Weltraumreise ist eine poetische Assoziation.

In diesem Sinn schmuggelt der kreative Regisseur, der allein im Jahr 2015 fünf Filme ins japanische Kino brachte, ganz beiläufig die Backstory ein. In einer nicht näher definierten Zukunft, so erfahren wir nach einer dreiviertel Stunde Spieldauer, sei das Transportproblem gelöst. Menschen können ohne Zeitverlust jeden beliebigen Ort des Universums erreichen. Durch Teleportation. Jedes exotische Paradies ist nur noch so weit entfernt, wie das Nebenzimmer. – Es verwundert nicht, dass diese technologische Sensation in keiner Szene gezeigt wird. Ganz entspannt überspringt der Film den „Star Wars“ und „Star Trek“-Trash. Er zeigt gleich die degenerative Folgeerscheinung dieser ultimativen Übersättigung in Gestalt einer seltsamen Agonie, die sich in der gedämpften Grundstimmung des Films, seinen Schwarzweißbildern und dem durchgehenden Flüstern seiner Protagonisten ausdrückt.

Jene Menschen, die sich aller materieller Probleme entledigt haben, werden verkörpert von Laiendarstellern aus Fukushima. Die Ruinen der nach der nuklearen Katastrophe verlassenen Geisterstadt mit ihren abgestorbenen Bäumen setzt der Film eindrücklich in Szene. Die für Japan typische Fetischisierung der Technik und die ultimative Zerstörung durch die atomare Katastrophe verschmelzen zu einem eindringlichen Bild.

So versteht man, nach geraumer Zeit, auch Yoko Suzukis „Mission“. In einer Epoche, in der Entfernungen keine Rolle mehr spielen, schicken die Menschen sich auf die „altmodische“ Art Päckchen, die Yoko auf ihren langen Wegen von Stern zu Stern zum Teil mit mehrjähriger Verspätung anliefert. Hinter einem Gepäcknetz im Rückraum ihres fliegenden Containers sind Schachteln aufgestapelt. Yoko ist Paketbotin aus der Ewigkeit. In einer Epoche, in der Zeit und Raum keine Rolle mehr spielen, ist das Warten auf Yokos Päckchen futuristischer Luxus und Lebenselixier zugleich.

In den großen, stylischen Paketen, die Yoko ausliefert, befindet sich jeweils ein einzelner Gegenstand. Ein Filmschnipsel, eine Palette, ein Zigarettenstummel oder ein Schmetterling. Symbole, die das Gedächtnis an eine Zeit vor der großen Erstarrung auffrischen, als die Menschen noch auf konventionelle Weise miteinander „verkehrten“. Mit diesem metaphorischen „Verkehr“ schmuggelt Sono eine unterschwellige (Love-)Story ein. Die Paketbotin trifft einen einsamen Mann, der mit einer klappernden Blechdose unter der Schuhsole durch die Ruinen streift. Das ist schön und lächerlich zugleich. In der letzten Szene packt Yoko diese zertretene Dose in eines ihrer Pakete. Die Bestimmung ist klar. Vielleicht werden Yoko und dieser Mann sich treffen. Irgendwann.

Als „kleines Gedicht über das Verblassen von Erinnerungen“ bezeichnet Sono seinen Film treffend. Wer keine Poesie mag, dem wird dieses eigenwillige Sci-Fi-Retro-Kammerspiel langatmig und prätentiös erscheinen. Wer sich aber darauf einlässt, dass der Japaner nicht im landläufigen Sinn von Androiden und sprechenden Computern erzählt, der geht mit diesem Film auf eine etwas andere „Odyssee im Weltraum“. Die ist weder metaphysisch schwer wie bei Kubrick, noch satirisch wie bei Carpenter. Es ist die kontemplative Suche nach der verlorenen Zeit, die Begegnung eines pfeifenden Wasserkessels mit einer elektrischen Schatzkiste, irgendwo am Rand der Ewigkeit.

Remainder

(GB / D 2015, Regie: Omer Fast)

Reenactment als Trauerarbeit
von Andreas Busche

In der Filmtheorie zur Psychoanalyse ist die Arbeit mit der Erinnerung eine wesentliche Übung des Kinos. Das Spielfilmdebüt ‚Remainder‘ des israelischen Videokünstlers Omer Fast nach dem Roman von Tom McCarthy …

In der Filmtheorie zur Psychoanalyse ist die Arbeit mit der Erinnerung eine wesentliche Übung des Kinos. Das Spielfilmdebüt ‚Remainder‘ des israelischen Videokünstlers Omer Fast nach dem Roman von Tom McCarthy nimmt diese Form der Trauerarbeit ganz wörtlich. Protagonist Tom hat nach einem Unfall (ein Metallteil löste sich von der Dachkonstruktion eines Gebäudes) sein Gedächtnis verloren und muss erst wieder mühsam die Bilder in seinem Kopf zusammensetzen. Dabei hilft ihm ein kleines Vermögen von 8 ½ Millionen Pfund, die ihm die Versicherung als Entschädigung gezahlt hat. Die Rückkehr in sein altes Leben wird verkompliziert durch vermeintliche Freunde, an die Tom keine Erinnerung hat, und zwei bewaffnete Männer auf der Suche nach einem Koffer – vermutlich derselbe, der schon in der Eröffnungssequenz eine prominente Rolle spielt.

Fast bringt einen ruhigen, pulsierenden Rhythmus in die klinischen Erinnerungsbilder, und seine Montage dröselt diese mit kühler Analytik auseinander. Um Licht in die Sache zu bringen, heuert Tom eine Consultingfirma an, die ihm bei der Rekonstruktion seiner Vergangenheit helfen soll. Mit Darstellern beginnt er, Szenen aus seiner Erinnerung bis ins kleinste Detail nachzustellen: Gerüche, die Farbe des Himmels, Tauben auf dem Dach des Nachbarhauses. Mit obsessivem Perfektionismus simuliert er die Bilder in seinem Kopf, die als Reizauslöser für seine Erinnerung fungieren sollen. In seinem Wahn schont er weder seine Schauspieler (Gangster spielen Gangster) noch seinen ‚Projektleiter‘ Naz, der ihm, ohne eine Miene zu verziehen, die absurdesten Wünsche erfüllt. Und schon gar nicht sein Bankkonto, das es ihm ermöglicht, ganze Straßenzüge aufzukaufen und notfalls nachzubauen, um an jenen Punkt in seiner Vergangenheit vorzustoßen, an dem sich die Einzelbilder wieder zu einer Geschichte fügen. Der Koffer ist nicht nur der Schlüssel zu dieser Geschichte, sondern auch ihr MacGuffin.

Omer Fast hat die zentralen Themen seiner Videoarbeiten, Identität und die Konstruktion der Wirklichkeit, hier erstmals in einem größeren Rahmen umgesetzt. Ähnlich wie sein Protagonist erweist er sich dabei als versierter Erbauer von Welten. Sein Debüt ist kompliziert verschachteltes Kopfkino im Stile eines Thrillers, wobei die Gedankenprozesse seines Protagonisten interessanter sind als die Auflösung des Rätselspiels. Am Ende verliert sich Fast etwas selbstreferentiell in seinem Bilderlabyrinth, aus dem ihn nur noch die Logik der Möbiusschleife herausführen kann.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 05/2016

Chevalier

(GR 2015, Regie: Athina Rachel Tsangari)

Alle gegen alle und jeder für sich selbst
von Wolfgang Nierlin

Wie müde Froschmänner schleppen sich die vereinzelten Gestalten an Land. Erschöpft sacken sie in sich zusammen. In ihren dunklen, hautengen Anzügen wirken die Taucher, als kämen sie aus einer fernen, …

Wie müde Froschmänner schleppen sich die vereinzelten Gestalten an Land. Erschöpft sacken sie in sich zusammen. In ihren dunklen, hautengen Anzügen wirken die Taucher, als kämen sie aus einer fernen, fremden Welt; wobei die anonymisierten Körper Gleichheit vortäuschen. Tatsächlich kommen die Männer von der Jagd. In den Tiefen der Ägäis haben sie Beute gemacht, die sie jetzt mit letzter Kraft an den harten Felsen brutal zerschmettern; oder später auf der luxuriösen Jacht ihres reichen Gastgebers stolz für ein Gruppenfoto präsentieren. Wer hat den größten Fisch gefangen? Wie lange lässt sich der Atem anhalten?

Nicht nur beim Fischen oder sportlichen Wettstreit gerieren sich die sechs Männer, die sich Freunde nennen, wie kleine Kinder. Auch beim abendlichen Assoziationsspiel inklusive kleinteiligem Fachsimpeln herrscht eitle Uneinigkeit. Der nachdrücklich eingeforderte „gesunde Menschenverstand“ erweist sich offensichtlich als unzuverlässige Basis. Subjektivität und Egoismus erscheinen als die weitaus wirksameren Triebkräfte.
Unter der Haut aus Neopren verbergen sich also höchst unterschiedliche und widersprüchliche Charaktere, die allenfalls in ihrem Männlichkeitsverständnis einen gemeinsamen Nenner finden. Was vorgeblich gleich ist, besitzt verschiedene Züge; und wo Freunde sind, herrschen Rivalität und Konkurrenz, die sich bald in einer Art totalem Persönlichkeits- und Gesellschaftsspiel austoben dürfen und mitunter in offener Aggression münden.

„Die Frage war, was bedeutet es, ein Ritter im 21. Jahrhundert zu sein“, hat Athina Rachel Tsangari in einem taz-Interview über ihren Film „Chevalier“ gesagt. Der Titel bezeichnet zugleich den Siegelring, der dem Gewinner des perfiden Spiels, in dem es keine wirklichen Gewinner geben kann, versprochen ist. Denn die Stärken der Teilnehmer sind letztlich so banal und bedeutungslos wie ihre Schwächen. Nur das Bewusstsein des sich selbst vergewissernden Egos, das unter permanentem Leistungsdruck unablässig an seiner Selbstoptimierung arbeitet, scheint zu zählen, während sich die Subjekte gegenseitig belauern (oder verlogene Allianzen schmieden) und die Gesamtheit ihrer Lebensäußerungen objektivieren.

Unaufdringlich, fast beiläufig und mit verhaltener Ironie beobachtet Tsangari wie in einem Labor das soziale Verhalten der Spezies Mensch am Beispiel des Mannes. Im Kampf aller gegen alle und jeder für sich selbst ist der Sinn, „bessere Menschen zu werden“, nur eine selbsterhaltende Illusion des Ichs, das den messenden Vergleich braucht, um sich zu unterscheiden. Identität und Differenz bedingen sich gegenseitig und bedürfen deshalb des Spiels, das sich Leben nennt. Doch in und außerhalb von ihm – ob als Beobachter oder Beobachteter – scheint es zwischen Sich-Zeigen und Sich-Verbergen nur Einsamkeit zu geben.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Chevalier‘.

Wer hat Angst vor Sibylle Berg

(D 2015, Regie: Wiltrud Baier, Sigrun Köhler)

Und wenn sie kommt? Dann laufen wir!
von Ulrich Kriest

Zuletzt dann auch noch als Stimme bei Schulz und Böhmermann. Selbst wer aus guten Gründen nicht ins Theater geht, wer eher keine „Springer“-Magazine wie „Allegra“ liest, einen Bogen um sogenannte …

Zuletzt dann auch noch als Stimme bei Schulz und Böhmermann. Selbst wer aus guten Gründen nicht ins Theater geht, wer eher keine „Springer“-Magazine wie „Allegra“ liest, einen Bogen um sogenannte Bestseller und Bestseller-Listen macht, keine Kolumnen auf Spiegel online liest und nicht twittert, dürfte an der Aufgabe scheitern, die fortwährend kolumnierende und twitternde Bestseller-Theaterautorin Sibylle Berg nicht auf die eine oder andere Art zu »kennen«. Wie man so eine Medienfigur halt so kennt, die mit interessanten und viel versprechenden Zuschreibungen wie „Hasspredigerin der Singlegesellschaft“ oder „Kassandra des Klamaukzeitalters“ von Kritikern geschmückt wird, die sie in der Regel verehren. Weil sie so eine freche Schnauze hat und dann auch noch so frappant hässlich ist, dass es einem fast schon wieder als schön erscheinen mag.

Kurzum: Sibylle Berg ist eigentlich ein Fall für „Akte X“, ein unter die Menschen gefallender Alien. Traurig, einsam, kindlich, misantrophisch, intelligent, schnell und böse. Oder doch nicht? Da müsste doch etwas zu erzählen sein, werden sich auch die Filmemacherinnen Sigrun Köhler und Wiltrud Baier („Böller & Brot“) gedacht haben. Machbar, zumal Berg 2013 vor Ort am Stuttgarter Staatstheater eine Inszenierung eines ihrer Stücke begleitete. „Begleiten“ ist ein gutes Stichwort, denn die Filmemacherinnen begleiten die streitbare Autorin mit der Kamera. Mal in Stuttgart bei der Theaterarbeit, mal auf Wohnungssuche, mal auf Reisen, mal bei Veranstaltungen und mal im Privaten. Leider (natürlich!) ist die ständige Präsenz der „Doku-Schlampen“ (O-Ton: Berg) der Autorin etwas unangenehm, denn entgegen ihrem Ruf scheint Sibylle Berg ein scheuer und verschlossener Mensch zu sein, der die Zeitläufte eher aus der Distanz beobachtet und darauf dann mit lakonisch vorgetragenen Pointen und Zuspitzungen reagiert, die dann vor laufender Kamera auch gerne mal implodieren.

Berg scheint durchaus gewillt zu liefern, nur wird offenbar sehr wenig gefordert. So läuft der Film ausgesprochen lange hohl, weil der Zuschauer mit Bergs Einlassungen alleine gelassen wird. Einmal mehr rächt sich hier die dokumentarische Mode der montierten Kommentarlosigkeit, die eben nicht in jedem Fall Freiheit der Assoziation evoziert. Die sich gerne ironisch gebenden Filmemacherinnen geben zu verstehen, dass sie sich mit ihrem Film auch über den klassischen Literaturfilm lustig machen wollen. Das nennt man dann wohl Verdoppelung der Verweigerung, denn auch Berg macht sich ja über die Zumutungen des Filmporträts lustig. So erleben wir den offenbar begriffslosen Architektur- und Mode-Fan Berg in Los Angeles bei der in holprigstem Englisch staunenden Besichtigung der legendären Sheats-Goldstein-Residence, wo ihr von James Goldstein erst einmal eine Lektion in Sachen Coolness erteilt wird. Hilflos flüchtet Berg sich in die Rückversicherung in Richtung Kamera.

Skizzenhaft klappert der Film ein paar biographische Stationen Bergs ab: das Leben in der DDR, die Mutter Alkoholikerin, die Ausreise, Clown-Schule im Tessin, der lange Weg zur Bestseller-Autorin, der Autounfall – beim Sehen wünscht man sich, den Andeutungen hinterher zu googlen. Später im Film tauchen dann auch noch die Kollegin Helene Hegemann („Axolotl Roadkill“) und die Schauspielerin Katja Riemann auf, aber auch mit diesen Begegnungen weiß der Film wenig mehr anzufangen, als dass er eben Zeuge der letztlich ziemlich oberflächlichen Begegnung ist. Zwischenzeitlich hat der Zuschauer reichlich Gelegenheit, Berg dabei zuzuschauen, wie sie sich beim spröden Erzählen an den viel zu großen Füßen spielt, sich Bilder von Geschlechtskrankheiten anschaut, ab und zu einen Witz oder eine pfiffige Bemerkung versucht und nebenher immer wieder die Konstellation von Subjekt und Objekt in Frage stellt, indem sie die Kamera direkt adressiert.

Spannend ist das Ganze nun wirklich nicht, agierte Berg nicht mitunter eben auch arg affektiert, hätte man fast schon Mitleid mit ihr, dass sie aus diesem faden, mit ein paar formalen Mätzchen (Untertitel!) versehenen Projekt nicht ausstieg. Die Banalität des Bösen, einmal anders. So atmet man schließlich doch auf, wenn mit Bergs Verlegerin Kerstin Gleba und ihrem Lektor Wolfgang Matz zwei Personen vor die Kamera treten, die nicht nur spielen wollen, sondern etwas Verbindliches aus einer Außenperspektive zum Gegenstand des Porträts mitzuteilen haben. Aber zu diesem Zeitpunkt ist der Film, dessen Titel nicht grundlos das Fragezeichen fehlt, schon fast vorbei. Und irgendwie, denkt man, wäre das den Filmemacherinnen auch zu verbindlich. Könnte man doch eine Haltung zum Gezeigten ahnen.

Knock Knock

(USA, CHI 2015, Regie: Eli Roth)

Die Lust an der Zerstörung
von Nicolai Bühnemann

Bluttriefend kommt die Hand des jungen Mannes aus dem Slip seiner Angebeteten wieder hervor. Kein Menstruationsblut, sondern das Zeichen, dass die junge Frau den Virus hat, der in „Cabin Fever“ …

Bluttriefend kommt die Hand des jungen Mannes aus dem Slip seiner Angebeteten wieder hervor. Kein Menstruationsblut, sondern das Zeichen, dass die junge Frau den Virus hat, der in „Cabin Fever“ (2002), Eli Roths Debütfilm, eine Gruppe von College-Kids dezimiert, die Urlaub in einer Hütte im Wald machen. Die Verschränkung von Begehren und Tod, Verfall und Gewalt zieht sich durch Roths Werk. In seinen wohl bekanntesten Werken, den ersten beiden „Hostel“-Filmen (2005 und 2007, über den dritten, mit dem Roth nichts zu tun hatte, sei hier gnädig geschwiegen) findet sich diese Verbindung in der wirklich erschreckenden Prämisse eines unter dem Deckmantel eines Hostels geführten Clubs in Ost-Europa, der Gutsituierten für Unmengen von Geld die Möglichkeit gibt, ihre sadistischen Phantasien ungestraft ausleben zu können, indem sie entführte Touristen foltern und töten. Das Menschenmetzeln gegen Bezahlung als dreckige große Schwester der (Zwangs)Prostitution.

Es nimmt nun wenig wunder, dass Roths fünfter und aktueller Film ein Remake von Peter Traynors Home Invasion-Reißer „Death Game“ von 1977 ist, in dem ein Geschäftsmann, dessen Familie im Urlaub ist, unverhofften Besuch von zwei jungen Damen bekommt, die an seine Tür klopfen, unter dem Vorwand sich verlaufen zu haben und Zuflucht vor einem Gewitter zu suchen, ihn dann zunächst verführen, um ihn schließlich zu fesseln, seine Wohnung zu verwüsten und immer grausamere Spiele mit ihm zu spielen. Traynors Film bietet eine deutlich in der Zeit des amerikanischen ‚Golden Age of Porn‘ situierte Männerphantasie, die in einen Männeralbtraum von der vollkommen entfesselten, keiner Domestizierung in Ehe und Familie unterworfenen und also Verderben bringenden weiblichen Sexualität mündet (vielleicht ist es etwas komplizierter, vielleicht appelliert der Film an eine männliche Angst-Lust, durch die mann die Möglichkeit hat, ihn masochistisch zu rezipieren. Der deus ex machina, der die beiden Frauen in der letzten Einstellung unsanft aus dem Leben reißt, ist sicherlich auch ein christlicher Gott, der die patriarchale Ordnung (der Sexualität) wieder herstellt).

In Traynors Plot ist neben der Verschränkung von Gewalt und Begehren auch schon der gewisse Twist angelegt, der Roth in seinen Genre-Variationen interessiert. So sind es etwa in „Cabin Fever“ keine kannibalischen Hinterwäldler, Serienkiller oder Dämonen, mit denen es die Ausflügler zu tun bekommen, sondern eben eine todbringende Krankheit. Und die jungen Männer und Frauen in den „Hostel“-Filmen stoßen in der Fremde nicht auf eine archaische, sondern auf eine straff durchorganisierte, den Gesetzen eines völlig entfesselten Kapitalismus gehorchende Barbarei. Mit dem Cameo von „Cannibal Holocaust“-Regisseur Ruggero Deodato in „Hostel II“ wird der Neoliberalismus bis in seine letzte Konsequenz zu Ende gedacht: Die Reichen fressen die Armen (und in diesem Film muss die männliche Angstphantasie von der – bei Roth natürlich ganz buchstäblich – kastrierenden Frau, die sich in „Knock Knock“ nahtlos fortgesetzt findet, in erster Linie unverschämt reich sein, um ihr blankes Leben zu retten). Geradezu klassizistisch in seinem Zugriff auf das Genre mutet dagegen „The Green Inferno“ (2013) an, Roths gleichzeitige Verbeugung vor und Fortschreibung des italienischen Kannibalenfilms der Siebziger und Achtziger Jahre, in dem es um eine Gruppe von universitären Umweltaktivist/innen geht, die feststellen müssen, dass der indigene Stamm im Amazonas, den sie zu retten versuchen, in ihnen nicht mehr sieht, als eine willkommene Mahlzeit.

Im Gegensatz zum Original nimmt sich „Knock Knock“ viel Zeit für alles, was vor der Sex-Szene passiert. Ausführlich wird die Familie von Evan (Keanu Reeves) vorgestellt, bevor sie in den Wochenendurlaub fährt, wobei das glückliche Familienleben bis zur Karikatur überzeichnet wirkt, wie immer bei Roth möchte man auch mit seine „guten“-, seinen Opfer-Figuren keinen Kaffee trinken gehen. Wo der Mann in „Death Game“ sich nicht lange bitten ließ, der Film schnell zur Sache kam, sieht sich Evan den von dem Film geradezu ausgewalzten Übergriffigkeiten in Wort und Tat durch die beiden Frauen, Genesis (Lorenza Izzo) und Bell (Ana de Armas), ausgesetzt, wird durch ihre Ausführungen zu sexuellen Dingen sichtlich in Verlegenheit gebracht und kann sich vor tatschenden Händen kaum retten. Wenn die beiden Frauen Evan schließlich rumgekriegt haben, sehen wir Close-Ups von Brüsten und Händen, von Haut an Haut. Zwischenschnitte zeigen ein übergroßes Portrait von Evan und seiner Familie an der Wand. Die Szene endet mit einem top shot von Evans Villa, auf die der Regen niederprasselt. Die Lust der drei Hauptfiguren wird konterkariert von der Schuld Evans, für die das Familienfoto und der göttliche Blick, der wie die Naturgewalt von oben herab kommt, stehen.

Wie ernst diese religiösen Untertöne zu nehmen sind, die die beiden Frauen zu Racheengeln machen, die Evan für die Transgression des Gebots der Monogamie bestrafen, für sein Begehren, ist relativ schwer auszumachen. Einen weiteren Hinweis auf die Motive der beiden entnimmt „Knock Knock“ dem Original: Bell, die vorgibt, sie wäre erst fünfzehn, gibt Evan, den sie damit der Pädophilie bezichtigt, zu verstehen, sie sei als Kind von ihrem Vater missbraucht worden und nimmt nun stellvertretend Rache an ihm, den sie fortwährend „Daddy“ nennt. Genauso gut kann es jedoch sein, dass sie, anstatt sich „spielerisch“ an ihrem Trauma abzuarbeiten, mit den gängigen psychologischen Erklärungsmustern für ihr Verhalten „spielt“, wie es einst die männlichen Gewalttäter in einem anderen Home Invasion-Thriller taten, in Michael Hanekes „Funny Games“ (1997). Viel wichtiger als die Frage, warum die beiden jungen Frauen tun, was sie tun, scheint die teuflische Lust, die der Film an der Zerstörung, an der puren Anarchie hat, die sie anrichten. Sie legen die protzige, betont geschmackvoll eingerichtete Villa in Schutt und Asche, beschmieren die Wände und die Fotos und Bilder, die an ihnen hängen, zersägen die Skulpturen von Evans Frau, der Künstlerin Karen (Ignacia Allamand), zerbrechen – besonders grausam – vor seinen Augen die Platten Evans, der einst DJ war.

Angesichts des Films, der auf diese Einstellung folgt, erweist sich der establishing shot zu Beginn, der das Hollywood-Schild zeigt, als blanker Hohn. „Knock Knock“ ist eine in Chile gedrehte, mit diversen Partnern finanzierte amerikanisch-chilenische Koproduktion, die, auch wenn es sich Roth nicht hat nehmen lassen, wie immer in Scope zu filmen, ihre Billigkeit an kaum einer Stelle zu verhüllen trachtet, ja, sie geradezu lustvoll ausstellt. Wie schon in „The Green Inferno“ gibt Lorenza Izzo, Roths Frau, eine der Hauptrollen. Keanu Reeves wird im Part des Gefolterten und Gequälten einiges an Demütigungen abverlangt, trotzdem stellt er sich wohl kaum für einen Oscar vor. Vielmehr zeigt „Knock Knock“, wie sehr die Karriere des Darstellers, der einst in den Neunzigern den Helden in Publikumserfolgen wie „Speed“ oder „The Matrix“ geben durfte, inzwischen auf den Hund gekommen ist.

Dass sich Roth in der vergangenen Dekade zu einem enfant terrible des amerikanischen Genre-Kinos entwickeln konnte, liegt nicht nur an der Drastik seiner Gewaltdarstellungen, die nun in „Knock Knock“ eher psychischer als physischer Natur sind, sondern auch daran, wie sehr er auf die in gewissen Segmenten der aktuellen Film – und Fernsehserien-Produktion vorherrschende politische Korrektheit scheißt (man denke nur daran, wie unsympathisch, schließlich auch menschenverachtend und grausam die Aktivist/innen in „The Green Inferno“ dargestellt werden). Als Louis, ein Bekannter der Familie, der eine Ausstellung mit Karens Skulpturen veranstalten will, kommt, um diese abzuholen, entwenden die beiden Frauen ihm, der schnell merkt, dass hier einiges im Argen ist, sein Asthma-Spray. Als er einen Anfall erleidet, beginnen sie, sich das Spray, exaltiert und lachend wie immer, über seinen Kopf hinweg gegenseitig zu zuwerfen. „Monkey in the middle! Monkey in the middle!“, kreischt Bell dabei, um von Genesis, im Hinblick auf Louis‘ dunkle Haut, darauf hingewiesen zu werden: „You can’t say that, Belly, it’s racist.“

Die DVD und Blu-ray, auf der Universum „Knock Knock“ am 29.04.2016 direkt veröffentlicht, ist ordentlich ausgestattet. Sie beinhaltet neben einer ziemlich interessanten entfallenen Szene, die ausführlicher zeigt, wie die beiden Frauen die Villa verunstalten, ein eher belangloses alternatives Ende, ein Making of-Featurette und einen Audiokommentar von Roth, Nicolás López, Lorenza Izzo und Colleen Camp, die in „Death Game“ eine der beiden Frauen spielte, hier als Co-Produzentin fungiert und in einem Cameo als Nachbarin Vivian zu sehen ist.

Im Strahl der Sonne

(RU, DE, CZ, LV, KP 2015, Regie: Vitaly Mansky)

Vorgetäuschtes Leben in einem riesengroßen Gefängnis
von Wolfgang Nierlin

Bekanntlich ist das kommunistische Nordkorea unter der Führung der diktatorischen Kim-Dynastie seit Jahrzehnten abgeschottet vom Rest der Welt. Die unterdrückten Menschen leben in Armut, haben keinen Internet-Zugang und leiden immer …

Bekanntlich ist das kommunistische Nordkorea unter der Führung der diktatorischen Kim-Dynastie seit Jahrzehnten abgeschottet vom Rest der Welt. Die unterdrückten Menschen leben in Armut, haben keinen Internet-Zugang und leiden immer wieder unter Versorgungsengpässen. Indoktriniert von staatlicher Propaganda, die den öffentlichen Raum beschallt und auf großen Wandgemälden kitschigen Optimismus über „das schönste Land der Welt“ und seine „strahlende Zukunft“ verbreitet, scheint ihr Wissen und damit ihr Bewusstsein von einem möglichen anderen Leben streng reglementiert. Eine allumfassende Gehirnwäsche hat die Idee der Freiheit suspendiert und die individuellen Bedürfnisse gleichgeschaltet. Wer nicht mitmacht, wird bestraft. Die öffentlichkeitswirksamen Massenchoreographien geben über diese Zurichtung und gewaltsame Disziplinierung Auskunft, während aus der grauen Betonwüste von Pjöngjang bizarr überdimensionierte Steinskulpturen herausragen, die auf symbolische Weise dem Kommunismus huldigen.

Das alles und noch mehr kann man jedenfalls den Bildern und Tönen von Vitaly Manskys Film „Im Strahl der Sonne“ entnehmen. Dabei konnte der russisch-ukrainische Regisseur bei seinen streng überwachten Aufenthalten in der nordkoreanischen Hauptstadt durch „eine Lücke im System“ nur wenige geheime, also nicht zensierte Aufnahmen außer Landes schmuggeln. Denn meistens wurden die Dreharbeiten von Vertretern des Regimes arrangiert, sämtliche Inhalte waren bis in die Inszenierung hinein vorgegeben. Angetreten mit dem staatlich genehmigten Plan, über einen längeren Zeitraum das Leben des 8-jährigen Mädchens Zin-mi in alltäglichen Situationen zu portraitieren, musste Mansky bald feststellen, dass es nicht möglich war, „echtes Leben“ zu dokumentieren. Von der propren Musterwohnung und dem reichgedeckten Essenstisch, über den arrangierten Weg zur (im Winter unbeheizten!) Vorzeigeschule bis zu den fiktiven Arbeitsplätzen der Eltern in einer Textilfabrik und einer Molkerei entpuppte sich der vorgebliche Alltag als „eine große Täuschung“.

„Das einzig Reale, was wir zeigen konnten, war: das Arbeiten der Propaganda-Maschine und die Versuche des Regimes, ein falsches Bild zu erstellen“, sagt Vitaly Mansky, dessen besonderes Interesse totalitären Gesellschaften gilt. Und so dokumentiert er in seinem über weite Strecken beklemmenden und betroffen stimmenden Film vor allem, wie die filmische Propaganda funktioniert; was, nebenbei bemerkt, mit dem „normalen“ Filmemachen durchaus verwandt ist. Indem er bei den Proben heimlich die Kamera laufen lässt, macht er die jeweilige Inszenierung der Szene sichtbar. Darüber hinaus erklärt und kommentiert Mansky aus dem Off, was die aufgenommenen Bilder nicht zeigen dürfen. Man kann dies, wenn man will, als politische Gegenpropaganda auffassen. Allerdings bedient sich der Regisseur in langen Totalen, in denen Vorder- und Hintergründe in einen Dialog treten, sowie in der Montage aus „verbotenem“ und „offiziellem“ Filmmaterial auch ästhetischen Strategien, die weniger eindeutig sind und die deshalb die Mitarbeit des Zuschauers erfordern. Darüber hinaus sind es immer wieder die Gesichter der Menschen, ihre schweigenden Blicke sowie die Tristesse fast farbloser Stadtansichten, die „sprechen“. So spiegelt der Film, dessen Veröffentlichung das nordkoreanische Regime zu verhindern suchte, schließlich auf traurige Weise eine Hoffnungslosigkeit, die aus einem riesengroßen Gefängnis kommt.

Magical Girl

(ES 2014, Regie: Carlos Vermut)

Macht des Irrationalen
von Wolfgang Nierlin

Fast nichts ist vorhersehbar in Carlos Vermuts verstörend abgründigen Film “Magical Girl”, der 2014 beim Festival in San Sebastián mit der Goldenen Muschel ausgezeichnet wurde. Weil die szenisch gebaute Handlung …

Fast nichts ist vorhersehbar in Carlos Vermuts verstörend abgründigen Film “Magical Girl”, der 2014 beim Festival in San Sebastián mit der Goldenen Muschel ausgezeichnet wurde. Weil die szenisch gebaute Handlung und damit die erzählte Geschichte den Figuren und ihrer individuellen Logik folgen, wissen wir immer nur das, was ihre Subjektivität uns mitteilt. Schritt für Schritt begleiten wir sie in ihre persönliche Dunkelheit, ohne diese jemals zu durchdringen. Dabei müssen wir uns zu ihren Wünschen, Entscheidungen und Geheimnissen immer wieder neu in Beziehung setzen. Vermut, der zunächst als Comic-Zeichner bekannt wurde, inszeniert in seinem zweiten Spielfilm (nach „Diamond Flash“ von 2011) einen sehr kalkulierten Wechsel aus präzisen Blickrichtungen und offener, elliptischer Erzählweise. Was zunächst linear erscheint, wird später (auch zeitlich) aufgebrochen beziehungsweise aufgefächert in verschiedene Erzählstränge, die sich schließlich berühren, miteinander interagieren und letztlich eine große Kreisbewegung beschreiben.

Das Ganze und seine Teile gliedern sich mit einer gewissen formalen Strenge wiederum in drei Kapitel, ein Triptychon mit den Titeln „Welt“ (Mundo), „Teufel“ (Demonio) und „Fleisch“ (Carne), den – nach katholischem Katechismus – drei Feinden der Seele. Gerahmt und gespiegelt werden diese dunklen Leidenschaften und Triebe, die unter anderem von der Macht des Geldes motiviert werden, vom ewigen Konflikt zwischen Gefühl und Verstand. In „Magical Girl“ wird dieses Dilemma einmal als besonderes Problem der spanischen Mentalität apostrophiert, die demnach – als Beispiel wird der Stierkampf angeführt – in dieser Uneindeutigkeit gefangen ist. Schon der Prolog, in dem ein Lehrer-Schülerin-Verhältnis als traumatische Erfahrung verdichtet wird, etabliert diesen Konflikt. Die rationale Logik der Mathematik trifft hier auf den aufmüpfigen Widerspruch irrationaler, ja geradezu magischer Kräfte. Denn die junge Barbara (Marína Anduix) lässt vor den Augen ihres Lehrers Damián (José Sacristán) einen diesen diskreditierenden Zettel verschwinden. Für den Mathematiker ist dies ein Schock, von dem er sich nicht mehr erholen wird.

Auch die 12-jährige, an Leukämie erkrankte Alicia (Lucía Pollán) wird sich wohl nicht mehr erholen. Sie träumt davon, in wechselnde Identitäten zu schlüpfen und wünscht sich dafür das sündhaft teure Kleid ihrer Anime-Heldin Yukiko. Ihr alleinerziehender Vater Luis (Luis Bermejo), der sich mit rührender Aufmerksamkeit um seine Tochter kümmert, kann sich eine solche Ausgabe allerdings nicht leisten. Weil der Literaturlehrer seit einem halben Jahr arbeitslos ist, verkauft er seine Bücher einem Antiquar „nach Gewicht“. Doch bildet in Vermuts Film die soziale Krise der spanischen Gesellschaft nur den Resonanzraum für die persönlichen Abstürze der Figuren. Um an Geld zu kommen, bricht Luis beinahe in einen Juwelierladen ein, doch dann wird sein Schicksal verknüpft mit demjenigen der mittlerweile erwachsenen, psychisch kranken Bárbara (Bárbara Lennie), die mit dem ebenso wohlhabenden wie dominanten Psychiater Alfredo (Israel Elejalde) in einem unguten Abhängigkeitsverhältnis lebt. Unter dem Decknamen Pedro wird Luis Bárbara erpressen, die sich dafür wiederum auf qualvolle Weise bei einem reichen Sadisten prostituieren wird.

Carlos Vermuts hintergründiger, die Imagination anregender Film zeigt zunächst, wie aus einer ersehnten Wunscherfüllung ein Verbrechen erwächst und wie Abhängigkeitsverhältnisse und Machtmissbrauch zusammenhängen. Im Weiteren begleitet der ungewöhnliche, immer wieder überraschende Film – ein Vertreter des ‚anderen spanischen Kinos‘ – seine gebrochenen Figuren auf ihrem tragischen Weg in eine sukzessive Selbstzerstörung, in die sie regelrecht getrieben werden und die unausweichlich erscheint. Die geheimnisvolle, autoaggressive Bárbara, die sich selbst verletzt, um entbehrte Nähe zu spüren, trifft dabei ausgerechnet auf Luis, der sich einmal wünscht, unsichtbar und unberührbar zu sein. Die Macht des Irrationalen findet ihren mörderischen Vollstrecker schließlich in dem straffällig gewordenen Mathematiker (und Puzzle-Spieler) Damián, der sich in der Unordnung und Unvollständigkeit der wirklichen Welt fremd fühlt. Von Bárbara, mit der ihn ein traumatisches Verhältnis verbindet, wird er als düsterer Schutzengel erkannt und erkoren. In Carlos Vermuts konzentriert gezeichnetem Kosmos aus Verbrechen und Schuld, Einsamkeit und Untergang wird auf beunruhigende Weise der gnadenlose Rächer zum Zauberer: „Zuerst ist etwas da, dann ist es verschwunden“, lautet seine magische Formel.

Remake, Remix, Rip-Off

(D / TR 2014, Regie: Cem Kaya)

Der große Verhau
von Ulrich Kriest

„Yeşilçam fand immer eine Lösung. Egal wie, es fand immer einen Ausweg. Es war voller unqualifizierter Menschen, aber sie waren aufgeweckt.“ „Yeşilçam“ ist der Name einer Straße in Istanbul, die …

„Yeşilçam fand immer eine Lösung. Egal wie, es fand immer einen Ausweg. Es war voller unqualifizierter Menschen, aber sie waren aufgeweckt.“ „Yeşilçam“ ist der Name einer Straße in Istanbul, die in den 1960er und 1970er Jahren als Schaltzentrale der florierenden türkischen Filmindustrie fungierte. Hier wurden unter abenteuerlichen Bedingungen am Fließband populäre Yeşilçam-Filme produziert, um den Kinohunger des Publikums in den ländlichen Provinzen zu stillen. Wenn man allerdings keine Zeit, kein Geld, wenig Knowhow, defizitäre Technik und kein internationales Urheberrecht hat und überdies als in der Wolle gefärbter Strukturalist der Auffassung ist, dass es wenig mehr als 31 Geschichten zu erzählen gibt, dann ist handfester Pragmatismus in Sachen »Kultur der Aneignung« angezeigt: „Remake Remix Rip-Off“. Der in Deutschland aufgewachsene und in Berlin lebende Filmemacher Cem Kaya hat ein paar Jahre in die Recherchen zu seinem filmhistorischen Essay über die Yeşilçam-Filme gesteckt, hat zahlreiche Interviews mit den einstigen Protagonisten der Szene geführt und in hiesigen Videotheken – in der Türkei existiert kein Filmarchiv – nach den entsprechenden Filmklassikern geforscht. Das Resultat seiner Bemühungen kann sich wahrlich sehen lassen. Unterhaltsam, informativ und auf anregende Weise unbestimmt. Ist es Camp? Ist es Trash? Ist es subversiv? Und für wen und wann?

Einmal gibt es einen längeren Ausschnitt aus einem Gangsterfilm zu sehen: Der Super-Gangster ist von der türkischen Polizei gestellt und verhaftet worden. Er sei gewarnt worden, sich besser nicht mit der super intelligenten türkischen Polizei anzulegen, sagt der Gangster zerknirscht, was vom Kommissar sogleich bestätigt wird, gerne auch in minutenlangem redundantem Dialog. Die Yeşilçam-Filme sind also Exploitationkino vom Feinsten. Incredibly Strange Movies im besten Sinne, so schlecht, dass sie (in unseren Augen) schon wieder gut sind, um dem ambitionierten Titel von Kayas Film in jeder Hinsicht gerecht zu werden. Alles scheint erlaubt: Nicht nur, dass es von jedem Hollywood-Blockbuster jener Jahre wie „Der Zauberer von Oz“, „Manche mögen’s heiß“, „Dracula“, „Rambo“, „Superman“, „Star Wars“ oder „E.T.“ mindestens eine gewissermaßen ins Türkische übersetzte Version gibt. Bei einem Film wie „Der Exorzist“, dessen Original in der Türkei viele Jahre verboten war, musste man den Stoff erheblich säkularisieren, um ihn überhaupt für das türkische Publikum erzählen zu können. Mitunter wurden auch mehrere Blockbuster zu etwas Neuem »verschnitten«. So wurde die Yeşilçam-Version von „Rambo: First Blood“ kurzerhand um eine Rockerbande und einige Zombies ergänzt. Weil man nicht in der Lage war, die Spezialeffekte von „Star Wars“ selbst herzustellen, »lieh« man sich entsprechende Szenen aus den Originalfilmen, indem man sie über Nacht aus den Kopien herausschnitt. Der legendäre Film „The Man Who Saves The World“ von Cetin Inanc aus dem Jahre 1982 mixte auf diese Weise Bild- und Ton-Samples aus insgesamt 16 Filmen. Auch war Filmmaterial ein rares und kostspieliges Gut, weshalb es sich verbat, Szenen mehrfach zu drehen oder die Sicherheitsstandards bei den Dreharbeiten einzuhalten. „Im Westen wird der Schauspieler keinen Gefahren ausgesetzt“, heißt es einmal augenzwinkernd. Bestimmte Spezialeffekte wie explodierende Autos wurden kurzerhand und unübersehbar mit Spielzeug gedreht. Und auch die Filmmusiken wurden aus dem Ausland importiert und dann bei Gelegenheit gesampled. Weshalb an entscheidenden Stellen je nach Sujet gerne mal die immer gleichen Hits aus „Der Pate“, „Rocky“ oder „Emmanuelle“ zu hören sind. Herrlich, diese Chuzpe!

Nahe liegend auch die Versuchung, das Anekdotische von „Remake Remix Rip-Off“ in der Kritik schlicht zu verdoppeln. Sich in Streichen dieser Mavericks zu verlieren. Die Macher der Yeşilçam-Filme geben sich zumindest rückblickend pragmatisch bis schlitzohrig, bisweilen auch nostalgisch und beseelt von einer Freude am naiven Erzählen im Rahmen eines erklärt kommerziellen Massenkinos. An Kunst war nicht zu denken, aber die Miete wollte bezahlt sein. Für Cem Kaya, der zum Schluss seines Films auf Pornografie, Zensur, die exploitativen Arbeitsbedingungen bei der Produktion von TV-Serien und auch die Auseinandersetzungen um den Abriss des Emek-Kinos zu sprechen kommt, geht es bei seinem Film nur partiell um incredible strange films, lieber würde er den Blick weiten zugunsten einer kreativen Kultur der Aneignung, der Remixe und der Collage, die er durchaus in der kulturellen Tradition des oralen Erzählens verwurzelt sieht. Um diese Spuren deutlicher zu profilieren, hätte das Material, das Kaya präsentiert, allerdings systematischer (und weniger unterhaltsam) organisiert werden müssen. So steht hier die legitime Fan-Perspektive etwas unvermittelt neben möglichen kulturtheoretisch informierten Hypothesen.

Ein Hologramm für den König

(USA, D, FRK, GB 2016, Regie: Tom Tykwer)

Tatsächlich nur das Offizielle
von Ricardo Brunn

Für die Präsentation eines holografischen Kommunikationssystems hat sich der amerikanische Geschäftsmann Alan Clay (Tom Hanks) in die Wüste Saudi-Arabiens begeben. In einer Stadt, die gegenwärtig nur aus einem Zelt und …

Für die Präsentation eines holografischen Kommunikationssystems hat sich der amerikanische Geschäftsmann Alan Clay (Tom Hanks) in die Wüste Saudi-Arabiens begeben. In einer Stadt, die gegenwärtig nur aus einem Zelt und den Fundamenten einer brachliegenden Baustelle besteht, wartet er mit seinem IT-Team auf den König. Doch wann und ob dieser überhaupt erscheint, bleibt offen. Von der Heimatfront machen indes Alans Chef sowie seine Ex-Frau Druck, weil ersterer auf Erfolgsmeldungen wartet und letztere Geld für das Studium der gemeinsamen Tochter einfordert. Er wolle lieber niemand sein, sagt Alan über seine desolate Situation an einer Stelle der Romanvorlage des literarischen Multitaskers Dave Eggers. Doch als Vertreter muss Alan Clay fortwährend jemand sein. Benommen vom Jetlag und der Hitze macht er sich deshalb daran, die miserable Ausgangslage mit antrainiertem Unternehmergeist zu seinen Gunsten zu wenden. Aber egal was er anstellt, die Menschen um ihn herum haben für seine Fragen nur die immer gleiche Antwort parat: Der König kommt heute nicht. Immer mehr Widersprüche tun sich auf, während Alan wartet und wartet. Alles, so schreibt Eggers, funktioniere „auf zwei Ebenen, der offiziellen und der tatsächlichen“ in diesem sich unter der flimmernden Hitze rätselhaft gebenden Land.

Regisseur Tom Tykwer, der die Widersprüche des Landes am eigenen Leib erfahren musste, weil die Anfrage für eine Drehgenehmigung in Saudi-Arabien weder zu- noch jemals abgesagt wurde, begnügt sich in seiner filmischen Adaption mit der Darstellung der offiziellen Ebene. Das Tatsächliche interessiert ihn kaum. Die werbeclipartige Eröffnungssequenz, die Alan Clays Dilemma beschreiben soll, legt darüber unmissverständlich Zeugnis ab. Während Alan über ein Grundstück spaziert, adressiert er mit einer Ansprache lautstark das Publikum: Es solle sich einmal vorstellen, dass die Insignien des gutbürgerlichen Lebens – mein Haus, meine Frau, mein Auto – ohne jede Vorwarnung verschwinden können. Und prompt verpufft all das tatsächlich unter rosaroten Staubwölkchen. Die rasante Schnittfolge endet mit der Metapher des Lebens als Achterbahn, in der Alan, vom Rhythmus der Bilder getragen, dahinrauscht.

„Ein Hologramm für den König“ ist, das ist ein typisches Merkmal der Filme Tom Tykwers, ganz und gar auf die visuelle Wirkung hin angelegt. Von „Die tödliche Maria“ (D 1993) bis hin zu „Cloud Atlas“ (USA/D/HK 2012) sind seine Filme technisch immer sauberer geworden. Sein unbedingter Stilwille (die Verwendung von Split Screen, ausgeprägte Unschärfen, expressive Lichtsetzung, auffällige Montage, imposante Kamerafahrten) betont den Film in seiner Künstlichkeit so sehr, dass es oft so scheint, als würde die filmische Form überhaupt erst die Figuren aktivieren beziehungsweise deren Handeln motivieren. Die Zeit ist der Handlung gänzlich untergeordnet. Sie kann, wie in „Lola rennt“ (D 1998), sogar außer Kraft gesetzt und zurückgedreht werden, um die Handlung in eine andere Richtung zu lenken. Auch „Ein Hologramm für den König“ eilt von Szene zu Szene, schnell in den nächsten Tag zum nächsten Ereignis.

Die Zeit, die sich mitten in der Wüste in einem Zwischenraum aus ermüdender Erbarmungslosigkeit und meditativer Selbstreflexion ausbreitet und die amerikanische Geschäftigkeit aus den Angeln hebt, ja ihrer physikalischen Grundlagen beraubt, will Tykwer dem Zuschauer nicht zumuten. Stur rumpelt er durch den Roman und bebildert das geschriebene Wort. Der gedankliche Raum des manchmal etwas streberhaften Romans verliert sich bei Tykwer in der Konkretheit des Visuellen. Das Offizielle in Form des oberflächlichen Handlungsgerüsts siegt über das Tatsächliche der Temporalität und damit über die Möglichkeit Fragen nach einem Zugang zur dargestellten Welt zu stellen.

Mithilfe der filmischen Sprache zwingt Tykwer seinen Protagonisten fortwährend zum Handeln, wohingegen Dave Eggers eine Person zeigt, die nicht mehr in der Lage ist, auf die Situation, in der sie sich befindet, angemessen zu reagieren. Und während er am Schluss von einer großen Traurigkeit spricht, die alles einschließt, biedert sich Tykwer mit Gesten der Versöhnung und einer schauderhaft inszenierten Romanze an. Er macht Alan Clay wieder zum Gewinner einer menschenverachtenden Globalisierung. Die leisen Zwischentöne der geschriebenen Sprache können dem Druck des visuellen (Handlungs-)Fortschritts nicht standhalten.

Dass Clay und seinesgleichen so sehr „Nutznießer absurder Geschenke“ sind, dass sie nur noch von der eigenen Gesundheit geplagt werden, verkehrt der Regisseur in einen allzu leichten Selbstfindungstrip. Er unterschlägt, dass Alan in einer zentralen Szene beinahe einen Jungen erschießt, weil er selbst „keine Geschichten voller Tapferkeit hatte“ und „weil seine Versuche, so etwas wie ein Vermächtnis zu schaffen, gescheitert waren.“ Wie das Hologramm selbst sind die Figuren eine Täuschung. Sie haben ihre eigene Geschichte den Maßstäben der Rationalisierung und Optimierung unterworfen, weshalb es ihnen an Orientierung fehlt.

Tom Tykwers Film ist dem zu präsentierenden Hologramm und den Figuren in diesem Punkt sehr ähnlich. „Ein Hologramm für den König“ ist hübsches aber anspruchsloses Blendwerk, das von Tom Hanks – dessen humoristisches Talent in der Darstellung des Absurden hier kaum genutzt wird – nicht getragen werden kann.

Thief – Der Einzelgänger

(USA 1981, Regie: Michael Mann)

Man(n) at Work
von Nicolai Bühnemann

In der letzten Einstellung des Films geht James Caan alleine, verwundet in die großstädtische Nacht hinein, während die Kamera langsam nach oben entschwebt. Caan vergleicht „Thief“, Michael Manns ersten Kinofilm …

In der letzten Einstellung des Films geht James Caan alleine, verwundet in die großstädtische Nacht hinein, während die Kamera langsam nach oben entschwebt. Caan vergleicht „Thief“, Michael Manns ersten Kinofilm nach Arbeiten fürs Fernsehen, einem Menuett mit einer Form A-B-A, acht Takte, sechzehn Takte, acht Takte. Seine Figur Frank fängt an als ein Mann, dem nichts etwas anhaben kann, ein eiskalter Profi, der elf Jahre im Gefängnis verbracht hat. Im zweiten Teil gibt dieser Einzelgänger, wie ihn der deutsche Verleihtitel ankündigt, gleich auf mehreren Ebenen seine Unabhängigkeit auf: Er verliebt sich, zieht mit seiner Freundin Jessie (Tuesday Weld) zusammen, träumt von einer bürgerlichen Existenz. Doch, wesentlich verheerender, entscheidet sich Frank auch für den skrupellosen Chicagoer Mafiosi Leo (Robert Prosky) zu arbeiten, der dem Paar per illegaler Adoption ihren Kinderwunsch erfüllt, weil Jessie selbst keine Kinder bekommen kann und die Adoptionsagentur nicht bereit ist, einem Knacki wie Frank die Verantwortung für ein Kind zu übergeben. Im dritten und letzten Teil muss Frank wieder der werden, der er war, Frau und Kind in die Wüste schicken, die Autohandlung, die ihm als bürgerliche Fassade diente, in Flammen aufgehen lassen, einen martialischen Rachefeldzug gegen den Mob beginnen, der zwischenzeitig seinen Partner Barry (James Belushi) umgebracht hat. James Caans Figur steht im Jahr 1981 sichtlich auf der Schwelle zwischen den einsamen und introvertierten Anti-Helden des Hollywood in den Sechziger und Siebziger Jahren und den Action-Helden der späteren Achtziger.

Marcus Stiglegger schreibt über Frank, er sei „ebenso ungeschliffen wie die Diamanten, die er stiehlt und handelt.“ Diese Ungeschliffenheit produziert eine beständige Überforderung in den Dingen des „normalen“ Lebens. Nur in den beiden Einbruchsszenen, wenn er seinen väterlichen Freund Okla (Willie Nelson), ein Dieb wie er selbst, im Gefängnis besucht, nur wenn er jemanden mit einer Pistole im Gesicht rumwedeln oder schließlich im eruptiven Gewaltausbruch des Finales die Waffen sprechen lassen kann, scheint Frank ganz bei sich zu sein. Besonders deutlich wird Franks Unbeholfenheit in den Szenen mit Jessie. Zu ihrer Verabredung kommt er zwei Stunden zu spät, um die Angebetete, die heftig protestiert und ihn zum Teufel schicken will, eher in ein Diner zu entführen als zu geleiten. Wir sehen einen Mann, der es gewohnt ist, sich zu nehmen, was er haben will. Die Diner-Szene, in der Frank Jessie schließlich dazu überredet, bei ihm zu bleiben, ist eine der schönsten des Films. Der Mann, der sonst nur in seiner Arbeit aufzugehen scheint, beginnt für Momente sich zu öffnen, spricht von seinen Erfahrungen im Gefängnis und von seinem Verhältnis zu Okla. Im düsteren Chicago, in dem „Thief“ spielt, wird das Dinner zum Möglichkeitsraum, in dem ein anderes Leben fernab von der Männerwelt von Knast und Gangstertum greifbar nahe zu sein scheint.

Michael Mann drehte vor „Thief“ und dem Fernsehfilm „Jericho Mile“ einige dokumentarische Arbeiten, was für sein späteres Schaffen durchaus von Bedeutung ist. Die spezifische Ästhetik, die der Regisseur in den folgenden Dekaden immer weiter ausformulieren sollte, beruht auf einer Dialektik von Hyperrealismus und Stilisierung, Überhöhung. Nicht erst in seinen hochauflösend digital gedrehten Arbeiten der 00er Jahre „Collateral“, „Miami Vice“ und „Public Enemies“ lotet Mann die Grenze aus, an der Realismus in sein Gegenteil kippt. Dass die Kamera anders „sieht“ als das menschliche Auge und somit in der Lage ist, neue Erfahrungswelten zu eröffnen, bemerkte Walter Benjamin bereits 1924 in „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“: „Indem er [der Film] durch Großaufnahmen aus ihrem Inventar, durch Betonung versteckter Details an den uns geläufigen Requisiten, durch die Erforschung banaler Milieus unter der genialen Führung des Objektivs auf der einen Seite die Einsicht in die Zwangsläufigkeiten vermehrt, kommt er auf der anderen Seite dazu, eines ungeheuren und ungeahnten Spielraums uns zu versichern. Unsere Kneipen und Großstadtstraßen, unsere Büros und möblierten Zimmer, unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzuschließen. Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunde gesprengt, so dass wir nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen.“

Neben den nächtlichen Chicagoer Straßen, auf deren stets regennassem Asphalt sich die Neonleuchtschriften mit Tausenden Verheißungen spiegeln, fällt die Stilisierung auch in den beiden langen Einbruchsszenen auf, von denen eine den Film eröffnet, während die andere kurz vor dem großen Show-Down zu sehen ist. Nüchtern, hoch konzentriert gedreht und montiert, scheinen Inhalt und Form eins, die filmischen Mittel zum genauen Spiegel der Professionalität des gezeigten verbrecherischen Akts zu werden. Und doch ist da in der Arbeit mit extremen Close-Ups von penetrierenden Bohrern und geknackten Schlössern – in der ersten Szene –, mit den durch die Schweißgeräte in einem Meer aus Funken zerstiebenden Bildern – in der zweiten – jene Differenz dessen, was die Kamera zeigt zu dem, was das bloße Auge wahrnehmen kann, wie sie Benjamin formulierte.

In ihrer Arbeit zu verschwinden, die Rolle, die sie in ihrer Arbeitswelt spielen, kaum mehr von ihrem „wahren Selbst“ unterscheiden zu können, ist das Schicksal der Mannschen Antihelden. Und das nicht erst seit „Miami Vice“, in dem einer der Gangster über die beiden Protagonisten sagt, er traue ihnen nicht, weil sie zu gut sind in dem, was sie tun. In diesem Film ist das, mehr noch vielleicht als in anderen des Regisseurs, eher Fluch als Segen. Collin Farrell muss am Ende die Frau, die er liebt, in eine Zukunft ohne ihn entlassen, weil sie auf der anderen Seite des Gesetzes steht.

Auch in „Thief“ hat die Liebe letztlich keine Chance. Hier scheitert sie jedoch nicht an äußeren Zwängen, sondern an der inneren Konstitution des Einzelgängers und Arbeitstiers. „You’re family“, sagt Leo zu dem Dieb, als dieser seine Partnerschaft aufkündigen will. Was an dieser Stelle die „Crime Family“ meint, passt doch auch sonst zum Schicksal des Loners, der sich in jeglichen familiären Bindungen eben in erster Linie gebunden fühlt, gefangen, wie im Knast. Ganz in seinem Element ist dieser Mann wieder, wenn er der Beste in etwas sein kann (was ihm als Familienvater wohl schwerlich gelingen würde). Am Schluss darin, Körper in Zeitlupe von Kugeln durch die Luft schleudern und aufreißen zu lassen. So geht er am Ende in die Nacht hinein, wo niemand auf ihn wartet. Der Einzelgänger. Der Dieb.

35 Jahre nach seinem Erscheinen und nachdem der Film in Deutschland entweder gar nicht oder nur auf einer ziemlich schmucklosen DVD zu bekommen war, hat ihn OFDb Filmworks nun in einer wahrlich monumentalen Blu-Ray/DVD-Edition neu aufgelegt. Auf insgesamt fünf Discs gibt es den Film in drei verschiedenen Versionen. Abgerundet wird das Set durch einige Dokumentationen und Interview –Features, ein Poster und einen Audio-Kommentar sowie einen Booklet-Text von dem in Genrefilm-Veröffentlichungen ziemlich allgegenwärtigen Prof. Dr. Marcus Stiglegger.

Batman V Superman: Dawn of Justice

(USA 2016, Regie: Zack Snyder)

Batman im Taka-Tuka-Land?
von Lukas Schmutzer

Sie könne mit diesem ganzen Marvel-Zeug nichts anfangen, erklärte mir kürzlich eine Freundin auf die Frage hin, ob sie nicht „Batman V Superman“ sehen wolle. Sie müsse verstehen, erwiderte ich, …

Sie könne mit diesem ganzen Marvel-Zeug nichts anfangen, erklärte mir kürzlich eine Freundin auf die Frage hin, ob sie nicht „Batman V Superman“ sehen wolle. Sie müsse verstehen, erwiderte ich, Batman, dieser so ernste, um stete Ordnung bemühte Großkapitalist, sei der Held meiner Kindheit. Na, da sehe man gleich, wo wir uns unterscheiden: Ihre Heldin war diese fröhliche Rebellin mit Superkräften – Pippi Langstrumpf. Mal ganz im Ernst, dachte ich da, wieso eigentlich nicht: „Batman vs. Pippi Langstrumpf“? Gäbe das dem Franchise nicht eine ganz neue Wendung? Natürlich schwappen uns eingefleischten DC-Fans da die Ressentiments aus der Galle: Nur widerwilligst bewegen wir uns ja schon zwischen den beiden hegemonialen Territorien der Comic-Landschaft; und auf einmal wird da mit der Emigration nach Schweden gedroht? Doch dann, andererseits, wäre das doch auch nichts anderes als derselbe Heros in zwei Gestalten, die sich gegenseitig über einen Ozean hinweg aus ihren Territorien herausschleifen würden.

Zack Snyder, der Sinn für heikle Begegnungen schon in seinem Frühwerk bewiesen hat, lässt stattdessen zwei ur-amerikanische Narrative aufeinandertreffen (oder amerikanische Ur-Narrative, vielleicht trifft auch am genauesten: amerikanisch-narrative Urheit): Der Ziehsohn eines Farmers aus Kansas, mit der Hoffnung und den Idealen des Rednecks und aber überirdischen Kräften, der kreuzt seinen Weg mit dem des traumatisierten Milliardärssohnes, dem sich infolge des Mordes an seinen Eltern ein unstillbarer Gerechtigkeitsdrang eingeschrieben hat, welcher die Ungerechten tyrannisiert, indem er seinen Träger in die Selbst-Stählung treibt.

Produziert wurde mit dieser Begegnung nicht ganz l’art pour l’art, aber l’art pour l’Amérique, ein Reigen zahlloser Zitate und Selbstbezüglichkeiten, die den Film in eine große Tradition spannen: Die soll ihn tragen, während er darin selbst hängt wie ein Sack fauler Erdäpfel. Ohne seine Referenzen, auf die er sich verlassen kann; das heißt ohne die Gemeinplätze, die sich über seine Abgründe erstrecken, würde der Film umfallen, und keine Kraft könnte ihn dabei auffangen.

Eigentlich fällt so viel in diesem Film, dass er tatsächlich eines Superman bedarf, der das alles noch stabilisiert: Die Perlen fallen vom Hals der erschossenen Mutter, in Szene gesetzt als gelte es, für Tiffany zu werben. Bruce Wayne fällt in die Bathöhle. Der Bösewicht, Doomsday, fällt gleichermaßen vom Himmel wie scheinbar aus einem anderen Film (während Weta Digital die Gelegenheit am Schopf packte, um die alten Höhlentroll-Texturen aus den digitalen Archiven zu heben). Lois Lane fällt; und das tut sie, jetzt im übertragenen Sinne, sogar ununterbrochen. Tatsächlich geht sie in ihrer Rolle als damsel in distress so sehr auf, dass die spätere Einführung von Wonder Woman mehr wie ein Verlegenheitsakt angesichts drohender Sexismusvorwürfe wirkt. – Kommt ersterer zumindest in ihrer Hilflosigkeit eine zentrale Funktion im Handlungsgeflecht zu, besitzt letztere eigentlich kaum eine Funktion, die über die Wirkung des Paukenschlags hinausgeht.

Ja, die Paukenschläge. Fragte ich mich am Anfang noch, welche Motive des Scores wohl von Hans Zimmer stammen und welche von Junkie XL, wirbelt zuletzt alles in einem erschlagenden Einerlei, das auf nichts als auf die Dumpfheit der Schläge und Kampflaute abzielt, von denen der Film zuletzt gänzlich eingenommen wird. Immerhin, die maßlose Klimax ist auch eine Form von dramaturgischer Konsequenz: Wo viele nach der titelgebenden Prügelei mit einer Ruhephase rechnen und viele Regisseure, denen noch nicht Hören und Sehen vergangen ist, diese auch setzen würden, setzt Snyder noch etwas drauf. Schlag. Auf. Schlag. Auf Schläge und Tritte und Würfe folgen bedeutungsschwangere Worte, die uns vor allem erzählen, wie bedeutungsschwanger sie sind, bevor wieder Schläge folgen und Tritte und Herumwirbeln in der Luft und Atombomben und … irgendwann dachte ich mir, Zack Snyder hätte so viel von Pippi Langstrumpf lernen können.

Der Film wird weder sehenswert durch seinen Bombast noch durch seine Referenzen oder wortwörtlichen Zitate, die besser direkt in Frank Millers „The Dark Knight Returns“ konsumiert werden; allein seine Darsteller machen ihn interessant. Jesse Eisenberg als ein junger Lex Luthor wirkt in seiner befremdenden Genialität wie aus der Einöde sozialer Netzwerke geboren; Jeremy Irons gibt dem Butler Alfred eine Coolness, die der früheren Fürsorge Michael Caines geradezu entgegensteht; und Ben Affleck ist, auch wider meinen eigenen Erwartungen, ein grandioser Batman, und vielleicht – abgesehen von seinen inszenierten Hantelschwingereien, mit denen dort Identifikationspotential geschaffen wird, wo es eigentlich zu problematisieren wäre – der beste Bruce Wayne, der bisher im Kino zu sehen war.

Fritz Lang

(D 2015, Regie: Gordian Maugg)

Der andere in uns
von Wolfgang Nierlin

Am Anfang von Gordian Mauggs vielschichtigem Künstlerportrait „Fritz Lang“ steht gleich in mehrfacher Hinsicht die Krise: Die Goldenen Zwanziger neigen sich mit der heraufziehenden Weltwirtschaftskrise ihrem Ende zu, die Weimarer …

Am Anfang von Gordian Mauggs vielschichtigem Künstlerportrait „Fritz Lang“ steht gleich in mehrfacher Hinsicht die Krise: Die Goldenen Zwanziger neigen sich mit der heraufziehenden Weltwirtschaftskrise ihrem Ende zu, die Weimarer Republik befindet sich durch das Erstarken der Nationalsozialisten in einer gravierenden politischen Umbruchphase, der Stummfilm muss dem Tonfilm weichen und inmitten von allem ringt der Filmregisseur Fritz Lang um einen neuen Stoff. Eben noch hat sich der leicht überhebliche Lebemann in Damengesellschaft über das Aufkommen des Tonfilms und seinen renommierten Kollegen G. W. Pabst lustig gemacht, doch schon bald wird er mit „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ selbst seinen ersten „sprechenden Film“ realisieren. Wie es zu diesem „Tatsachenfilm“ gekommen sein könnte und wie sich dafür „die Bilder in ihm formten“, darüber erzählt und spekuliert Maugg auf gewagt Weise in seinem „Gegenfilm“ „Fritz Lang“, mit dem er zugleich einen „Blick in die Ideenwerkstatt des Regisseurs“ wirft.

Als „falschen Weg“ bezeichnet Fritz Lang, der von Heino Ferch als ebenso starke wie verletzte Künstlerpersönlichkeit verkörpert wird, sein bisheriges Werk. Die Gigantomanie seines Films „Metropolis“ (1927) mit all den „Menschenmassen und Maschinen“ will er hinter sich lassen, um den (einzelnen) Menschen ins Zentrum seiner Arbeit zu stellen. Und diesen findet er eines Morgens nach durchzechter Nacht – Lang trinkt, kokst und besucht Prostituierte – auf der Titelseite der Berliner Zeitung in dem Serienmörder Peter Kürten, der als „Vampir von Düsseldorf“ mit seinen grausamen Taten eine ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzt; und damit auch auf die Polizei einen erheblichen Fahndungsdruck ausübt. Überstürzt bricht Lang nach Düsseldorf auf, um neben und im Austausch mit dem legendären Kriminalrat Ernst Gennat (Thomas Thieme als cleverer Fuchs ) eigene Ermittlungen über den als „entartete Kreatur“ und „Bestie in Menschgestalt“ apostrophierten Kürten (Samuel Finzi mit dämonischer Kälte) anzustellen.

„Was fühlt der Täter bei seinen Taten?“, fragt Lang einmal in einer Mischung aus Schrecken, Faszination und Identifikation. Und was, so fragt gewissermaßen Maugg mit seinem Film, hat Langs akribisches Interesse an dem Frauen- und Kindermörder mit seinem eigenen Leben zu tun? Zugespitzt formuliert: Wie viel von Lang steckt in „M“?

Auf der filmischen Ebene beantwortet der im Umgang mit historischen Stoffen vertraute Gordian Maugg diese Frage, indem er die Realität, die Imaginationen und Erinnerungen seines Titelhelden unentwegt mischt und damit eine zwischen Wirklichkeit und Traum changierende Atmosphäre erzeugt. Dabei arbeitet er in die von Lutz Reitemeier aufgenommenen schwarzweißen Bilder auf versierte Weise immer wieder historisches Material aus unterschiedlichen Quellen ein. Das erzeugt augenblicklich eine merkwürdige Gegenwart des Vergangenen und ein flüchtiges Gefühl für eine ferne Epoche. Wobei Maugg hier nicht nur illustrativ arbeitet, sondern mit den historischen Aufnahmen die Handlung ergänzt und bereichert; in den besten Momenten, etwa einer an den russischen Revolutionsfilm erinnernden assoziativen Montagesequenz, transzendiert er zudem das Themenspektrum seines Films in etwas allgemein Existentielles.

Auf der inhaltlichen Ebene ist Fritz Lang dementsprechend dem Teil- und Mitteilbaren auf der Spur. Indem er recherchierend versucht, die von Kürten aus Rache für erlittene Misshandlungen begangenen Taten äußerlich nachzuvollziehen und zu verstehen, nähert er sich zugleich immer deutlicher seinem eigenen inneren Wesen. Dieses wird verdunkelt vom unaufgeklärten Tod seiner ersten Frau Elisabeth Rosentahl (Lisa Charlotte Friederich, die auch die Figur der Anna Kohn spielt, in einer bemerkenswerten Doppelrolle), bei dem Lang unter Mordverdacht gerät, traumatischen Kriegerlebnissen, einem schwierigen Verhältnis zum Vater und Schuldgefühlen gegenüber der Mutter. In kurzen, intensiven Flashs werden diese Erfahrungen vergegenwärtigt und nicht zuletzt visuell mit Kürtens Taten, die dieser im Verhör emotionslos schildert enggeführt. Diese gewagte Parallelisierung kulminiert schließlich in Langs Bekenntnis, er habe selbst gemordet. (Zumindest) Gordian Mauggs Fritz Lang findet also in der Widerspiegelung des Eigenen im Gegenüber seine Inspirationsquelle für „M“; ein Strukturprinzip, das im Grunde auch für den Film „Fritz Lang“ selbst gilt. Vermutlich lautet deshalb sein nachträglich hinzugefügter Untertitel „Der andere in uns“.

Sicario

(USA 2015, Regie: Denis Villeneuve)

Im Inneren des Ausnahmezustandes
von Ricardo Brunn

Auf der Suche nach Geiseln stürmt die idealistische FBI-Agentin Kate Macer (Emily Blunt) gemeinsam mit ihrer Spezialeinheit die Räume eines Vorstadthauses in der Nähe von Phoenix. In ihrer tiefschwarzen Polizeimontur …

Auf der Suche nach Geiseln stürmt die idealistische FBI-Agentin Kate Macer (Emily Blunt) gemeinsam mit ihrer Spezialeinheit die Räume eines Vorstadthauses in der Nähe von Phoenix. In ihrer tiefschwarzen Polizeimontur mit Helm und Schutzweste hebt sich Kate deutlich von der beigen Umgebung ab. Ihr zielsicheres Vorgehen ist unmissverständlich und gleicht in der Routine beinahe einer Übung. Kate bleibt deshalb gefasst, als im Haus keine Geiseln, dafür aber durch Zufall in den Wänden mehr als dreißig Leichen mit Plastiktüten über den Köpfen entdeckt werden. Sie bleibt gefasst, weil es – der Kontrast ihrer Kleidung zur Umwelt hebt dies hervor – eine klare Ordnung hinter den Dingen gibt, nach der dieses Problem gelöst werden kann. Auf die Frage eines Kollegen, was er der Staatsanwältin über den schrecklichen Fund sagen soll, antwortet Kate dementsprechend knapp: „The truth.“ Doch die Welt in Denis Villeneuves Drogenthriller „Sicario“ hat sich längst von jeder Ordnung und allen Gewissheiten verabschiedet. Hinter der rigipsdünnen Fassade Amerikas ist eine Unterscheidung von Recht und Unrecht unmöglich geworden. Und so endet die Hausdurchsuchung mit einer orientierungslosen Kate im Staub einer plötzlichen Explosion.

In der Folge der Ereignisse bekommt Kate die Möglichkeit als Teil eines Sonderkommandos unter Führung des Regierungsbeauftragten Matt Graver (Josh Brolin) und seines zwielichtigen Adjutanten Alejandro (Benicio del Toro) die Männer aufzuspüren, die für das Massaker im Vorstadthaus verantwortlich sind. Worum es allerdings wirklich geht, lassen Matt und der wortkarge Alejandro nie vollständig durchscheinen, weshalb Kate aufgrund ihres beinahe naiven Gerechtigkeitsglaubens mehr und mehr in das Geschehen hineingesogen wird. Denis Villeneuve inszeniert diesen Sog mit einer Spannung, die ihre Kraft aus einer ungeheuer präzisen Bildsprache und Montage entwickelt und den Zuschauer von Szene zu Szene treibt, ohne dass sich die nervliche Belastung entladen und Figuren wie Zuschauer erleichtern könnte.

Unter dem Druck der Ratlosigkeit und angestiftet von ihrem Kollegen Reggie (Daniel Kaluuya) sucht Kate während eines Auftrags schließlich das Gespräch mit Matt Graver. Wieder scheint an der Oberfläche eine Ordnung zu existieren, denn Graver und Alejandro berichten von einem geheimen Tunnel, der als Drogenroute genutzt wird. Reggies kraftvoller Appell „Just don’t keep us in the dark.“ scheint die Wogen am Ende des Gespräches zu glätten. Allerdings hebelt der Lichteinsatz in dieser als Schuss-Gegenschuss-Montage angelegten Szene alle Aussagen der Protagonisten vollkommen aus. Über den gesamten Dialog hinweg stehen nur Matt und Alejandro im Licht. Und während beide die Szenerie zur einen Seite in den ebenfalls beleuchteten Hintergrund verlassen, gehen Reggie und Kate auf der anderen Seite in die Dunkelheit einer Straße, die nirgendwo hin führt.

Auf diese Weise wird der in jeder Szene des Filmes präsente Wunsch nach Ordnung und moralisch eindeutiger Kategorisierung von der Inszenierung fortwährend unterwandert. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, wie die Landschaft in den exzellenten Bildern des Kameramannes Roger Deakins zu einem eigenständigen Charakter erhoben wird. In zahlreichen Luftaufnahmen gleitet die Kamera über endlos sich erstreckende geisterhafte Landstriche des Niemandslandes zwischen Arizona und Chihuahua. Zu keinem Zeitpunkt will sich irgendeine Orientierung einstellen; selbst bei den Flügen über den schwarzen Grenzzaun zu Mexiko nicht, weil unklar bleibt, auf welcher Seite des Zaunes Amerika liegt. Villeneuve suspendiert in „Sicario“ sämtliche Eindeutigkeiten und Referenzpunkte. Er erschafft mit den Worten Giorgio Agambens eine „Zone der absoluten Unbestimmtheit zwischen Anomie und Recht“. So sehr Kate glaubt sich auf (rechtlich) sicherem Terrain bewegen zu können, so sehr sind Recht und Unrecht ortlose Kategorien geworden. In seiner Annäherung an den Begriff des Ausnahmezustands bestimmt Agamben diesen als einen leeren Raum im Zentrum der Macht. In „Sicario“ ist das die Wüstenlandschaft genauso wie die häufig eingesetzten Hotelzimmer, verglaste und charakterlose Büroräume, Militärbasen oder eben das unfertige Vorortwohnhaus in der ersten Szene des Filmes. Abseits dieser Nicht-Orte findet wirkliches Leben nur an einem einzigen Schauplatz statt. Doch die Wohnung eines mexikanischen Polizisten und seiner Familie, deren Alltag in einer Nebenhandlung verfolgt wird, ist als Gefängnis inszeniert. Konsequent schaut die Kamera durch Türrahmen und Fenster oder nutzt die Gegenstände im Raum um die Protagonisten einzuschließen.

Tatsächlich befindet sich im Zentrum von „Sicario“ ganz wortwörtlich eine Leerstelle. Als sich für Kate nach 60 von 121 Minuten Laufzeit die Gelegenheit bietet, den Akt einer offensichtlichen Geldwäsche strafrechtlich verfolgen zu lassen, intervenieren ihre Vorgesetzten und klären sie darüber auf, dass ihr Sinn für Gerechtigkeit an diesem Punkt nichts bewirken wird, dass andere Wege eingeschlagen werden müssen, denn „The boundaries have been moved“. Die Szene in einem grauen Büro mit grauen Vorhängen, grauen Teppichen, grauen Stühlen und einer grau gekleidete Kate zeigt sehr deutlich, wohin sich diese Grenzen verschoben haben: In die Unbestimmtheit des Ausnahmezustandes.
Neben den dichten Staubwolken der Explosion in der ersten Szene visualisiert Villeneuve diese unscharfen Grenzverläufe, wenn er Schatten über Oberflächen wandern lässt oder bei einem Nachteinsatz die invertierten Bilder einer Wärmebildkamera die Unterscheidung von Freund und Feind nahezu unmöglich macht, weil alle Personen nur als graue Flecken erkennbar sind. Aus dem gleichen Grund bleiben auch die auf den ersten Blick an individuellen Hintergründen recht armen Figuren ganz bewusst auf unbefriedigende Art vage. Und nur so ist es möglich, dass Matt Graver die Aufgaben der Sondereinheit lächelnd mit Worten wie „to create chaos“ oder „to dramatically overreact“ beschreiben kann.

„Sicario“ erzählt von einer Gesellschaft, die ihren moralischen Kompass vollkommen verloren hat. Der permanente Ausnahmezustand, in dem sich Politik und Ökonomie heute nach Belieben bewegen, verunsichert das Individuum und treibt es schlussendlich in die Verzweiflung. Aus diesem Grund verliert sich Kate auch äußerlich immer mehr im Grau, bis sie am Ende des Filmes in hellgrauem T-Shirt und sichtlich mitgenommen auf den Balkon ihres ebenso grauen und in der Dämmerung umso fahler wirkenden Apartmentgebäudes tritt. Auf der leeren Straße dreht sich Alejandro zu ihr um. Vielleicht, weil er spürt, dass Kate eine Waffe auf ihn richtet. Vielleicht als Geste eines Abschieds. Die Inszenierung hebt Kate auf dem Balkon über Alejandro, verleiht ihr auf den ersten Blick die Macht in dieser Sekunde über Leben und Tod entscheiden zu können. Doch das Grau der Szenerie und die Leere in Kates Augen bestimmen den Ausgang dieser ungleichen Duellsituation noch bevor Kate selbst zu einer Entscheidung finden kann. Ein wenig erinnern diese Bilder an die Filme von Michelangelo Antonioni, enden diese doch ebenfalls häufig mit einem tageszeitlichen Übergang und überlassen ihre in diesen Momenten sprachlosen Protagonisten der Leere der Bilder.

Dieser Blickwinkel auf das verunsicherte und erschöpfte Subjekt unterscheidet „Sicario“ dramatisch von einem Film wie „Traffic“ (USA 2000; R: Steven Soderbergh). Auch dort ist der Drogenkrieg längst verloren, aber trotz allem stellt die Dramaturgie am Ende eine klare und den Zuschauer beruhigende Ordnung wieder her: Der kürzlich vereidigte DEA-Stabschef Robert Wakefield (Michael Douglas) schmeißt seinen Job aus moralischen Gründen, seine Tochter wird in eine Entzugsklinik geschickt und der Drogenpolizist Montel Gordon (Don Cheadle) bringt auch nach der größten Niederlage weiterhin motiviert Wanzen in den Häusern Verdächtiger an. Während die letzte Einstellung in „Traffic“ ein hoffnungsvolles Baseballspiel von Jugendlichen zeigt, verweist das Fußballspiel der Kinder am Ende von „Sicario“ (als Reminiszenz an „Traffic“) darauf, dass Ordnung und Sinn nur noch im kindlichen Spiel existieren. Und selbst dieser Moment wird vom Regisseur noch einmal gebrochen und seiner Unschuld beraubt.

Nomaden des Himmels

(KG 2015, Regie: Mirlan Abdykalykov)

Das Erbe bewahren
von Wolfgang Nierlin

Die Kamera schwenkt aus der Vogelperspektive über eine majestätisch anmutende Hochgebirgslandschaft im fernen Kirgistan. Dazu erklingt dezent Flötenmusik. Weit abgelegen von der Stadt lebt hier eine Nomadenfamilie in einem weitläufigen, …

Die Kamera schwenkt aus der Vogelperspektive über eine majestätisch anmutende Hochgebirgslandschaft im fernen Kirgistan. Dazu erklingt dezent Flötenmusik. Weit abgelegen von der Stadt lebt hier eine Nomadenfamilie in einem weitläufigen, von sattem Grün dominierten Tal. Die felsigen, teils schneebedeckten Berge werfen lange, dunkle Schatten; in der Nähe rauscht ein klarer, kalter Gebirgsfluss. Pferde werden in der anbrechenden Dämmerung zusammengetrieben. Dann tritt eine alte Frau aus der Jurte in die Nacht und bittet den Mond um Schutz und Geleit. Später spricht ihr Mann zu einem Vogel, der nach der Legende einmal ein Mensch war, und tröstet ihn mit einer Schale Stutenmilch. Seine kleine Enkeltochter Umsunai hört dabei aufmerksam zu.

In Mirlan Abdykalykovs Film „Nomaden des Himmels“ ist die reale mit der symbolischen Erzählebene von Anfang an verwoben. Das nomadische Leben im Einklang mit der Natur besitzt hier nicht nur eine materielle, sondern auch eine spirituelle Dimension, die sich aus einer tiefen Frömmigkeit und tradierten Mythen speist. Die Großeltern erzählen sie der neugierigen Enkelin, deren Vater einst beim Versuch, ein Fohlen zu retten, im reißenden Fluss ertrunken ist. In den naturmystischen, von Anthropomorphisierungen durchdrungenen Beispiel-Erzählungen spiegeln sich dabei die realen Verhältnisse, in denen der Konflikt zwischen einer traditionellen Lebensweise und den – mitunter etwas plakativ inszenierten – Drohungen eines zerstörerischen Fortschritts ausgetragen werden.

Während Umsunais älterer Bruder Ulan zum Architektur-Studium in die Stadt gezogen ist, kümmert sich ihre Mutter Shaiyr um die Pferdewirtschaft. Als sie von dem Meteorologen Ermek umworben wird, der in einer nahe gelegenen Messstation arbeitet, jedoch bald zurück in die Stadt ziehen will, muss sie sich entscheiden. Wie lässt sich die kulturelle Identität der Nomaden vor dem Verschwinden bewahren?, fragt Regisseur Abdykalykov mit seinem sehenswerten Film, dessen entspannter, undramatischer Bilderfluss sich dem ruhigen Lebensrhythmus seiner Protagonisten anvertraut. Als auch noch der Großvater stirbt und die Boten des modernen Lebens immer unmissverständlicher näher rücken, liegt es an den durch drei Generationen miteinander verbundenen Frauen, das Erbe zu bewahren.

Hördur – Zwischen den Welten

(D 2015, Regie: Ekrem Ergün )

Kino auf Psychopharmaka
von Ricardo Brunn

Die Diskussionen um den Status quo des deutschen Films reißen nicht ab. Regelmäßig wird die Abstinenz deutscher Werke auf den bedeutendsten Filmfestivals der Welt beklagt. Wird im Gegenzug in den …

Die Diskussionen um den Status quo des deutschen Films reißen nicht ab. Regelmäßig wird die Abstinenz deutscher Werke auf den bedeutendsten Filmfestivals der Welt beklagt. Wird im Gegenzug in den Erfolgsmeldungen der Fördererinstitutionen auf die beträchtliche Zahl an Koproduktionen mit deutscher Beteiligung hingewiesen (ohne Interesse an den tatsächlichen Beteiligungsverhältnissen). Als Antwort darauf wird die genre-, institutions- und budgetunabhängige Gleichförmigkeit der hiesigen Produktionen angeprangert. Die filmpolitischen Entwicklungen (etwa die FFA-Novellierung oder das noch druckfrische Eckpunktepapier zur nachhaltigen Stärkung der kulturellen Filmförderung des BKM) veranschaulichen wiederum den geringen Spielraum für Veränderungen auf politischer Ebene und das mangelnde Verständnis dafür, dass es mit einer Stärkung des künstlerischen Filmes in den Förderrichtlinien nicht getan ist. Die Sprachlosigkeit auf Podiumsdiskussionen wie „Kino machen Andere – Warum der deutsche Film nur unter sich feiert“ während der diesjährigen „Woche der Kritik“ vervollständigen das Vanitas-Stillleben des gegenwärtigen deutschen Filmes schließlich von Seiten der Filmkritik. Regisseur Ekrem Ergün, der nach einem Studium der Medienwissenschaften in Potsdam, Schauspiel in Berlin und anschließend Filmregie in New York studiert hat, illustriert mit seinem Spielfilmdebüt „Hördur“ unwillkürlich wie sehr das deutsche Kino derzeit im Stillstand verharrt.

In der Schule sieht sich Außenseiterin Aylin (Almila Bagriacik) den ständigen Mobbingattacken ihrer Mitschülerin Jaqueline (Ceci Schmitz-Chuh) ausgesetzt. Daheim gilt es den Verlust der Mutter zu verarbeiten, den Haushalt zu schmeißen und in der Rolle der Ersatzmama für den jüngeren Bruder zur Stelle zu sein. Irgendwann platzt Aylin der Kragen. Nach einer neuerlichen Attacke Jaquelines, holt sie zum Gegenschlag aus und wird prompt zu Sozialstunden verdonnert, die sie auf einem Pferdehof ableisten soll. Hier trifft sie auf das Islandpony Hördur. Doch entgegen den gängigen Pferdefilmmustern eines „Ostwind“ (Deutschland 2013; R: Katja von Garnier) oder den knisternden Brausepulverfässern der Bibi-und-Tina-Verfilmungen (Deutschland 2014, 2016; R: Detlev Buck) ist das Landleben in „Hördur“ kein Paradies entspannter Ausritte in den Sonnenuntergang, meditierender Aussteiger-Opas und idyllischer Nachmittage im Stroh, sondern erfährt einen realistischeren Einschlag. Aylin muss erst einmal auf Reitstunden verzichten und stattdessen der fortwährend schlechtgelaunten Pferdehofbesitzerin Iris (Felicitas Woll) beim Zaunbau auf dem Acker helfen.

Was auf den ersten Blick eine erfrischende Perspektive auf das Genre verspricht, führt geradewegs auf das Minenfeld des deutschen Problemfilms. Die fiese Mitschülerin Schackeline ist natürlich die typisch deutsche Assischlampe, die – als Teil der Stigmatisierungsstrategie Aylin zum Opfer ihrer Umwelt und Herkunft zu erklären – ihre Funktion wie einen Bauchladen vor sich her trägt. Aylins Vater (Hilmi Sözer) muss selbstverständlich schwarzarbeiten, weil das einerseits besonders prekär und andererseits so typisch Migrant ist. Mit seiner Tochter und seinem Sohn lebt der Witwer zudem im schäbigsten Haus der Stadt, vor dessen Eingang sich der Sperrmüll kunstvoll bis zu den Fenstern stapelt. Das alles wird dann mit dem üblichen, gefühlsduseligen Klaviergeklimper unterlegt sowie mit suizidgrau und valiumblau koloriert, als wären alle Protagonisten hart auf Psychopharmaka. Die kurzschlüssige Moral, die schlussendlich noch Sonne in Aylins Leben scheinen lässt, treibt dem Zuschauer den Zaunpfahl der Verständlichkeit endgültig ins Herz. Im Zuge dieses Hangs zu Eindeutigkeiten liefert der Film brav die Erklärung, dass der isländische Name Hördur übersetzt Krieger heißt. Zwischentöne oder gar Ambivalenzen werden zugunsten des Diktats der Funktionalisierung von vorn herein aufgegeben. Die Annäherung zwischen Iris und Aylin bleibt bloße Behauptung in technisch sauber gefilmten und montierten Einstellungen. Die Ergriffenheit über einen Vortrag Aylins in der Schule veranlasst die gute Aggro-Schackeline urplötzlich dazu ihr Verhalten zu überdenken. Und einer zu Beginn gezeigten Trennungsszene zwischen Iris und ihrem Freund folgt kurz vor Ende des Filmes überraschend eine nur einen Augenblick andauernde Versöhnungsgeste.

Jetzt lässt sich einerseits argumentieren, dass die kraftlose Inszenierung jugendlicher Stereotype auf die Unerfahrenheit des Regisseurs zurückzuführen ist. Die teils notwendige Reduktion auf das Exemplarische mit den Ansprüchen des angestrebten Realismus und den im deutschen Film gern überstrapazierten Symbolismen zu versöhnen ist ein Drahtseilakt, der „Hördur nicht gelingen will, was sich allein schon in der Darstellung der absurden Entfernung des Reiterhofs von der Stadt zeigt. Jeden Nachmittag muss Aylin nach der Schule aufs Land und wieder zurück fahren. Aber der symbolische Übertritt einschließlich noch symbolischerer Fährfahrt will sich aufgrund seiner zeitlichen Dimension und fehlender Referenzpunkte nicht in die ansonsten sehr um Realismus bemühte Szenerie einfügen lassen.

Auf der anderen Seite ist es mehr als bedenklich, dass die Überlegungen eines jungen Filmemacher zur Betrachtungsweise eines Genres ausschließlich in den oft beschriebenen vorauseilenden Gehorsam hineinführen, demzufolge Filme nach unausgesprochenen Erwartungen von Fernsehsendern und Förderanstalten gemacht werden. „Hördur“ sieht eben aus wie Coming-of-Age-Dutzendware und könnte auch „4 Könige“ (Deutschland 2015; R: Theresa von Eltz) oder „Am Himmel der Tag“ (Deutschland 2012; R: Pola Schirin Beck) heißen. Das allein ist eine Katastrophe, doch – so könnte eine These zur ewigen Frage nach der Qualität des deutschen Filmes lauten – „Hördur“ und die genannten Filme können gar nicht anders als schematisch sein. Denn so wie vorauseilender Gehorsam soziale Folgen hat und gesellschaftliches Zusammenleben verändert, verändert diese Form der (Selbst)Beschränkung früher oder später die Wahrnehmung und im Umkehrschluss die Fähigkeit oder den Drang zur kreativen Entfaltung. Es haben sich im deutschen Film ein thematischer Kanon und eine Ästhetik etabliert, die an den Begrenzungen und Simplifizierungen des Fernsehens und nicht an den Möglichkeiten und Komplexitäten des Kinos geschult wurden. Der deutsche Film ist von der Ausbildung bis zur Rezeption psychopharmakologisch. Kreativität wird auf eine zweifelhafte Normalität beschränkt und das Experiment als Krankheit diffamiert. Haltung ist unter diesen Bedingungen nicht möglich, denn wer kann unter Drogeneinfluss schon aufrecht stehen. Wenn ferner Institutionen wie die Filmbewertungsstelle Baden-Württemberg mit ihren an den fragwürdigen Maßstäben der Positivgesellschaft und des Like-Buttons ausgerichteten Urteilen ihre Plaketten vergeben und Filme wie „Hördur“ mangels Konkurrenz für den Deutschen Filmpreis nominiert werden, bekräftigt das den Status quo des deutschen Filmes.

Die eingangs erwähnte Erhöhung der finanziellen Mittel des BKM für den künstlerischen Film in diesem Jahr mündet demnach in der Frage, woher plötzlich die Künstler kommen sollen, für die dieses Geld gedacht ist, wenn in den Köpfen der Zuschauer und der (zukünftigen) Filmemacher seit Jahren der Kinobegriff neu konfiguriert wird. In diesem Zusammenhang genügt es sich vor Augen zu führen, wie routiniert inzwischen die Aussage getroffen wird, dass es keinen Unterschied zwischen Kino und TV mehr gäbe oder dass Serien das neue Kino wären. Gerade junge Filmemacher sollten sich deshalb umso mehr die Frage stellen, ob es nicht langsam an der Zeit ist, die Pillen abzusetzen und diesem angsterfüllten Kino des kleinsten gemeinsamsten Nenners mit Haltung zu begegnen.

Wild

(D 2016, Regie: Nicolette Krebitz)

Eingefangen, ausgewildert
von Ulrich Kriest

In „epd film“ hat Nicolette Krebitz auf die Frage „Wer oder was ist unterschätzt?“ keck geantwortet: „Das Fantasygenre als Ort der ernsthaften Auseinandersetzung mit Lebensfragen.“ Das ist im Land der …

In „epd film“ hat Nicolette Krebitz auf die Frage „Wer oder was ist unterschätzt?“ keck geantwortet: „Das Fantasygenre als Ort der ernsthaften Auseinandersetzung mit Lebensfragen.“ Das ist im Land der eifrigen Krimigucker und –leser schon eine steile These, die allerdings komplett überzeugt, wenn man „Wild“, Krebitz‘ neuen, dritten Spielfilm, gesehen hat. Ein Film, der – schöner Zufall! – gleichzeitig mit der dunklen Neuverfilmung der Geschichte vom Wolfsjungen Mogli in den Kinos startet. Fantasy, klar! Aber auch der zweite Teil von Krebitz‘ Satz passt: »ernsthafte Auseinandersetzung mit Lebensfragen« in Zeiten, in denen alles nur noch „U“ zu sein hat oder zu sein scheint.

Ausgangspunkt von „Wild“, der wie ein filmischer Traum erscheint, war ein Traum der Filmemacherin selbst, der um die sich häufenden Nachrichten von der Rückkehr der Wölfe nach Deutschland kreiste. Krebitz nahm das Bild vom unverhofften Wiedersehen gewissermaßen beim Wort und legte los mit ihrer Phantasie: „Werdet wild und tut schöne Dinge!“, war einmal ein Slogan in einer Zeit, in der der Strand unter dem Pflaster imaginiert wurde. Ania (seltsame, schöne Schreibweise) lebt in einer hässlichen Hochhaushaussiedlung am Rande einer hässlichen Stadt und arbeitet in einem Büro am Computer, wenn sie dem Chef keinen Kaffee bringt. „Hey Schatz, ich wünsch dir so, dass du deinen Weg raus findest aus diesem Büro!“, hat Tilman Rossmy mal gesungen. Und: „Jeden Tag sagst du dir: ich will das nicht mehr, ich gehör‘ nicht hier her!“

So weit ist Ania zu Beginn des Films noch nicht, dazu braucht es den Blickkontakt mit dem Wolf am Rande eines kleinen Wäldchens, am Rande der Straße, auf dem Nachhauseweg, überraschend. Sensationell, muss gleich erzählt werden. Nur wem? Dem schwer kranken Großvater, der im Krankenhaus liegt und dem das Essen dort auch nicht schmeckt. Ania beginnt ihre Drift gewissermaßen von einem Nicht-Ort, von einer Nicht-Existenz aus. So fremd und absurd dumm hat die zivile Normalität schon lange nicht mehr ausgesehen im Kino. Schon vor der Begegnung mit dem Wolf sieht man der Schauspielerin Lilith Stangenberg staunend bei ihrer Arbeit zu, versucht sich einen Reim zu machen auf diese Mischung aus Apathie und Devianz, aus Schlaffheit und Bockigkeit, aus Kindlichkeit und fast schon autistischer Selbstbestimmtheit.

„Wild“ nimmt den Zuschauer mit auf einen Trip: alles scheint möglich. Dass man auf den Balkon tritt und mit den Wölfen heult, dass man dem Chef erst einen Korb gibt und ihm nach dem Sex auf den Tisch scheißt. Dass man sich im Internet informiert, wie man einen Wolf fängt. Ist der Wolf am Stadtrand seinem Habitat so entfremdet wie Ania in ihrem Leben? Sagt man dazu Rollentausch, wenn man sich mit einem Wolf die Wohnung teilt, die dann zur stinkenden Höhle wird? Wenn Ania sich Schutzkleidung anlegt, um sich dem Wolf zu nähern, sieht das Bild dazu aus, wie einer Avantgarde-Tanztheater-Inszenierung entnommen. Oder einem Björk-Video.

Man kommt aus dem Staunen gar nicht mehr raus, was hier alles gewagt wird. Von der Hauptdarstellerin, klar, aber auch von der Regisseurin, vom Kameramann Reinhold Vorschneider, von Georg Friedrich, der seinen Frust über sein Leben immer nur für Sekunden des Kontrollverlusts rauslassen kann. „Ganz die Alte werden“, rät er ihr einmal. Aber der Zug, daran lässt Ania keinen Zweifel, ist abgefahren. Sie wolle gar nicht mehr so sein, wie sie einmal gewesen sei, sagt sie. Der Satz könnte aus einem cleveren Vampir- oder Werwolf-Film stammen! Wir, die wir wenig Zeit hatten, zu erkennen, wie sie einmal war, staunen über die Freiheit und Lust an der Auswilderung, die ruhig, bestimmt und konsequent der Logik des Beim-Wort-Nehmens folgt.

Man kann sich jetzt hinsetzen und überlegen, für was diese Geschichte von der Begegnung mit dem wilden Tier und der damit verbundenen Auswilderung Anias wohl stehen mag, für Mut zum Risiko, ein Ja zum feministischen Aufbruch oder ein anderes, nicht zivilisiertes Begehren, aber „Wild“ bezieht seine erstaunlich lang anhaltende Wirkmacht zunächst einmal aus dem, was hier – Traum oder nicht – ganz konkret und un-metaphorisch gezeigt wird. Weil es so ganz anders ist als das, was einem sonst so gezeigt und erzählt wird.

Die Kommune

(DK 2015, Regie: Thomas Vinterberg)

Unsere kleine Farm
von Ulrich Kriest

Irgendwann Mitte der siebziger Jahre in Kopenhagen. Der erfolgreiche Architekt und folglich auch als Hochschuldozent tätige Erik erbt eine große Villa in einem Nobelviertel, die für seine Kleinfamilie mit Ehefrau …

Irgendwann Mitte der siebziger Jahre in Kopenhagen. Der erfolgreiche Architekt und folglich auch als Hochschuldozent tätige Erik erbt eine große Villa in einem Nobelviertel, die für seine Kleinfamilie mit Ehefrau Anna, einer Nachrichtensprecherin des dänischen Fernsehens, und der 14-jährigen Tochter Freja viel, viel zu groß ist. Erik will das Erbe möglichst schnell ummünzen, aber Anna hat eine soziale Phantasie. Was, wenn man mit ein paar handverlesenen Freunden und Bekannten den „Terrorzusammenhang Kleinfamilie“ (Negt/Kluge) hinter sich ließe und eine neue, interessantere, dynamischere Form des Zusammenlebens experimentell ausprobiere? Und die viel zu hohen Unterhaltskosten könne man sich auf diese Weise ja auch teilen. Nach anfänglichem Zögern lässt sich Erik auf das kühn gedachte Experiment, das implizit ja auch eine offene Kritik an seiner abendfüllenden Qualität als Partner ist, ein und gemeinsam beginnt die Suche nach Mitstreitern, bis eine recht bunte Truppe mit ganz unterschiedlichen Lebensentwürfen beisammen ist: Freaks, Zwangsneurotiker, Flippige, gerne mit Migrationshintergrund und Geldsorgen – und dabei auch ein sehr krankes Kind mit geringer Lebenserwartung als running gag.

Regisseur Thomas Vinterberg selbst hat nach eigenen Angaben seine Jugend in einer Kommune verlebt und in einem Statement zum Film schreibt er: „Im Rückblick ist diese Zeit voller goldener Erinnerungen und absurder Momente. (…) Auch wenn die Kommune aus lauter gebildeten Menschen bestand, erscheint mir das damalige Leben heute als extrem naiv und idealistisch – es war voller Hoffnung auf die Zukunft …“. Solch milde Sätze schüren allerlei Erwartungen, von denen der Filme leider keine einzige einzulösen vermag. Was ja auch eine imponierende Leistung ist! Wie zuvor schon Lukas Moodyssons „!Zusammen!“ (2000), der gleichfalls 1975 spielte, transformiert Vinterberg »das Politische« des gewählten Themas der gegenkulturellen Institution Kommune in ein schales, sepiafarbenes Ausstattungsstück, in dem Bärte, Cordjackets und Norweger-Pullis den utopischen Gegenentwurf zur bürgerlichen Ordnung repräsentieren müssen. Aus dem hehren Anspruch der permanenten Revolution, durch fortgesetzte und insistierende diskursive Selbst- und Fremdbeobachtung einen „neuen Menschen“ ohne Repression und Besitzansprüche zu schaffen, wird bei Vinterberg die (leider ungelöste) Problematik der permanent nicht-ausgeglichenen Bier-Kasse.

Das Problem von „Die Kommune“ liegt nicht darin, dass Vinterberg den Aufbruchsgeist, der Mitte der siebziger Jahre ja eher schon eine Rückzugsbewegung in Richtung „Neue Innerlichkeit“ geworden war – an den Rändern der Bewegung standen schon ich-dissoziative Ausflüge nach Poona auf der Tagesordnung -, denunziert oder auch nur lächerlich macht, sondern vielmehr darin, dass er sein Thema in nuce verfehlt. Denn „Die Kommune“ erzählt gerade nicht vom kollektiven Zusammenleben im emphatischen (utopischen?) Sinne, sondern eher vom Zusammenleben in dem, was man später einmal „Zweck-WG“ nennen sollte. Willkommen bei Dietmar Schönherr und Vivi Bach in ihrem Mehr-Generationen-Haus für aufgeklärte Sozialdemokraten! Man kocht (manchmal) zusammen, feiert (manchmal) zusammen, unternimmt (manchmal) gemeinsame Ausflüge ans Meer und sitzt (manchmal) in Gruppe zusammen, um den Gemeinschaft diskursiv abzugleichen. Die anderen Mitbewohner bleiben dabei im Hintergrund, fungieren gleichsam als Chor mit skizzierten individuellen Marotten und wirken insgesamt als Karikaturen.

Während in der realen Welt dieser fiktiven »Kommune« gerade der Vietnam-Krieg zuende geht, die Neue Frauenbewegung sich formiert, post-koloniale Befreiungsbewegungen in Afrika Erfolge feiern, das „Archipel GULAG“ diskutiert wird und Terroranschläge in Stockholm und Wien für Aufsehen sorgen, widmet sich der Film statt politischen Diskussionen in Netzwerken Gleichgesinnter einer Szene über das Schwinden der »linken« Utopien, was immer auch eine Er-Nüchterung ist, lieber einer Variante des klassischen bürgerlichen Ehedramas, die bestenfalls zeigt, dass es mit Anspruch und Wirklichkeit der gewählten Lebensform wohl doch nicht so weit her war. Im Zeichen von Transparenz und Kommunikation wird gelogen und betrogen – und schließlich sogar die psychische Überforderung in Alkohol ertränkt. Ibsen lässt grüßen!

Es ist nämlich so, dass Erik, übrigens ein veritabler Choleriker, sich vom Leben in der Kommune überfordert sieht und lieber mit einer jüngeren Studentin Emma ein Verhältnis beginnt, was zunächst eine Affäre bleibt, dann aber – Anna ist mutig, aber, wie sich schnell zeigt, zu schwach – zum Einzug Emmas in die Kommune führt. Man kommt an dieser Stelle nicht umhin, dass die stets präsente und zumeist zurückhaltend spielende Trine Dyrholm (‚Das Fest‘, ‚Bungalow‘, ‚In einer besseren Welt‘) das von Vinterberg entworfene Szenario als Steilvorlage nutzt, um dem Affen darstellerisch Zucker zu geben. Zwar wirkt ihr Komplettzusammenbruch selbst für 1975 etwas zu forciert, aber auf einer ‚Berlinale‘, in der Meryl Streep in der Jury sitzt, ist das preiswürdig, wenngleich es nachdrücklich darauf aufmerksam macht, wie fadenscheinig Vinterbergs Film gearbeitet ist. Für die Geschichte eines Ehebruchs braucht es keine Kommune.

Die Begeisterung für Dyrholms Par-Force-Ritt, der die zweite Hälfte des Films in Jack Nicholson-Manier okkupiert, sollte indes nicht davon ablenken, dass Martha Sofie Wallström Hansen als ‚Freja‘ als das emotionale Zentrum des Films überzeugt. Tochter Freja nämlich – auch dies eine Parallele zu „!Zusammen!“ – beobachtet gewissermaßen als Alter Ego des Filmemachers das Treiben der überforderten Erwachsenen und beschließt instinktiv, die Vorteile des unterhaltsamen Gemeinschaftslebens mit einem Beharren auf Privatsphäre zu kombinieren, um fürderhin keinen Schaden zu nehmen. Was „Die Kommune“, der ja keine Satire und auch keine Denunziation sein will, dann allerdings auch nicht ganz konsequent zu Ende denkt und wirklich unsympathisch macht. Denn letztlich reproduziert Freja nur das, was sie ohnehin sieht und die Tatsache, dass der Film nicht nur seinen Figuren jegliche Fähigkeit zur Empathie abspricht, sondern diesen Mangel dann auch gleich noch in der Verachtung für seine Figuren teilt, was sich insbesondere bei der Darstellung des Todes des kleinen Vilads zeigt, die recht gleichgültig exekutiert wird, scheint der Perspektive Vinterberg inhärent. Zusammenfassend kann man sagen, dass die mannigfalten Schwächen und Halbgarheiten von „Die Kommune“ (und auch schon von „!Zusammen!“) viel weniger von den – gewiss streitbaren – experimentellen Formen des Zusammenlebens in den siebziger Jahren erzählen als vielmehr von einer Gegenwart, die bestimmte utopische Diskurse nur noch denkbar scheinen lässt, wenn sie mit Humor und Unverbindlichkeit gepaart und in lustiger »Verkleidung« diskreditiert werden. Man erinnere sich nur an die Comedy-Figur des „Martin“, wie sie Diether Krebs einst gespielt hat. So aber verkauft sich Nostalgie widerstandslos an die Fertigkeiten der Ausstattungsabteilung.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Die Kommune‘.

Die Kommune

(DK 2015, Regie: Thomas Vinterberg)

Zeitalter der Liebe
von Wolfgang Nierlin

Eine herbstlich-melancholische Stimmung grundiert Thomas Vinterbergs neuen Film „Die Kommune“, der auf ganz unterschiedliche Weise von Abschied und Neubeginn handelt. Eriks (Ulrich Thomsen) Vater ist gestorben. Er hinterlässt seinem Sohn, …

Eine herbstlich-melancholische Stimmung grundiert Thomas Vinterbergs neuen Film „Die Kommune“, der auf ganz unterschiedliche Weise von Abschied und Neubeginn handelt. Eriks (Ulrich Thomsen) Vater ist gestorben. Er hinterlässt seinem Sohn, einem Architektur-Dozenten um die Vierzig, eine stattliche Villa mit Garten in einem vornehmen Viertel Kopenhagens. Doch Erik will die eine Million Kronen schwere Immobilie lieber verkaufen, als sie mit seiner Frau Anna (Trine Dyrholm) und der 14-jährigen Tochter Freja (Martha Sofie Wallstrøm Hansen) selbst zu bewohnen. Das Haus sei zu groß und zu teuer. Man verliere sich darin, sagt Erik, während welkes Laub durch die Straßen treibt und er sich an seine Kindheit erinnert. Da hat Anna, die sich nach Veränderung sehnt, eine Idee: Wie wäre es, eine Kommune zu gründen, „um das phantastische Haus mit phantastischen Menschen zu füllen?“

Mitte der 1970er Jahre fällt dieser Vorschlag schnell auf fruchtbaren Boden: Die Utopie eines freien Zusammenlebens, bestimmt von gegenseitiger Offenheit und Toleranz, sind in Mode; das hierarchielose Kollektiv wird zum Modell für die neue Großfamilie. Und genau eine solche konstituiert sich nach einigen Vorstellungsrunden und intimen Bekenntnissen. Das ausgelassene, gemeinsame Nacktbaden ist für den enthusiastischen Beginn des Experiments fast schon obligatorisch. Doch im Stimmengewirr einer von viel Alkohol und dichtem Zigarettenrauch angefüllten Atmosphäre verliert der Einzelne an Gewicht, was vor allem der mitunter autoritär aufbrausende Erik schmerzlich zu spüren bekommt. Als er sich in seine 24-jährige Studentin Emma (Helene Reingaard Neumann) verliebt und diese bald darauf in die Wohngemeinschaft einzieht, wird das labile Gleichgewicht der Gruppe empfindlich gestört.

Vor allem Anna, die als TV-Nachrichtensprecherin arbeitet, leidet zunehmend unter der neuen Konstellation. Zwar gesteht sie Erik anfangs das „Recht“ zu, „seine Gefühle auszuleben“, gerät durch die schizophren anmutende Wohn- und Lebenssituation aber in eine schwere psychische Krise. In mehreren Parallelmontagen kontrastiert Vinterberg Annas bitteres Leiden mit den neuen emotionalen (Liebes-)Aufbrüchen in ihrer Familie. Zugleich zeigt sein sehenswerter Film, wie ein verletztes Individuum die Freiheitsträume des Kollektivs erschüttert. Betroffen vom allgegenwärtigen Gefühlschaos sind dabei vor allem die Kinder, die der dänische, selbst in einer Kommune aufgewachsene Regisseur nicht nur zu stillen Beobachtern macht, sondern zu starken Repräsentanten eines „Zeitalters der Liebe“. Dessen Ende scheint mit dem Verlust der Utopien zwar besiegelt, doch der zerbrechliche Kreislauf des Lebens kündet zugleich von einem Neubeginn.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Die Kommune‘.

Chevalier

(GR 2015, Regie: Athina Rachel Tsangari)

Muskelspiele
von Marit Hofmann

Den Bechdel-Test besteht dieser Film nicht: Frauen treten gar nicht auf, kommen nur mal als Stimmen am Telefon oder als züngelndes Gesichtsdetail beim Skypen vor. Der Film könnte der feministischen …

Den Bechdel-Test besteht dieser Film nicht: Frauen treten gar nicht auf, kommen nur mal als Stimmen am Telefon oder als züngelndes Gesichtsdetail beim Skypen vor. Der Film könnte der feministischen Comicautorin Alison Bechdel trotzdem gefallen. Denn Athina Rachel Tsangari, Begründerin des neuen griechischen Kinos, nimmt in diesem ‚Buddymovie ohne Buddys‘ ganz normale Machos hoch. Zunächst scheinen die sechs Kumpel noch auf einem harmlosen Ausflugstrip auf einer Luxusyacht den Männerhobbys Angeln und Angeben zu frönen. Doch das Gesellschaftsspiel Chinesisches Roulette aus Rainer Werner Fassbinders gleichnamigem Film sorgt auch hier für Eskalation. Antwortet bei Fassbinder ein Mädchen auf die Frage, was die zu erratende anwesende Person ‚im ›Dritten Reich‹ gewesen‘ wäre, ‚KZ-Leiterin von Bergen-Belsen‘ (und meint damit die eigene Mutter), lässt hier schon eine Frage wie ‚Was wäre die Person, wenn sie eine Frucht wäre?‘ die Männer ausrasten: ‚Ich soll eine Ananas sein?!‘ Schließlich einigen sich die Midlife-Crisis-Kandidaten auf ein neues Spiel: Wer ist ‚der Beste in allem‘? Jeder muss sich eine Prüfung ausdenken und Punkte verteilen – für den perfekten Cholesterinwert, die coolste Schlafposition, den geschicktesten Handwerker und natürlich das steifste Glied. Um herauszufinden, wer die glücklichste Beziehung führt, müssen die Männer ihre Frauen anrufen, und alle verfolgen mit gezückten Notizblöcken das Gespräch.

Nach ihren anthropologischen Studien in Attenberg‚ seziert Tsangari nun sehr treffend speziell maskuline Verhaltensweisen. Gespräche sind hier wie die sportlichen Aktivitäten Wettkämpfe in Form von Wissenstests und Koch-Know-howBattles (‚Bei wieviel Grad karamelisierst du?‘). Die Absurdität des Spiels würzt Tsangari mit surrealen Lautsprecherdurchsagen der Crew (‚Wir servieren heute Käsekuchen statt Zitronenkuchen. Wir bitten um Ihr Verständnis‘), die sich anstecken lässt vom Selbstoptimierungskampf. Dessen Ergebnis enthält uns Tsangari konsequenterweise vor. Sicher ist: Die Männer erweisen sich während dieses Kammerspiels auf See als nicht lernfähig. Freundschaft gibt es hier keine, auch wenn zwei der Typen martialisch ihre Blutsbrüderschaft zelebrieren. Die Kamera switcht zwischen Gruppentreffen, bei denen alle ein Pokerface aufsetzen, und den lonely wolfs, die sich in ihren Kabinen verzweifelt Mut zusprechen.

Restlos überzeugt von der Qualität des Films haben mich männliche Kritikerkollegen, die auffallend aggressiv reagierten. Einer brüllte in einen vollkommen stillen Moment kurz vor Schluss hinein: ‚Was soll das?!‘ Zweifellos haben auch Filmkritiker das Zeug dazu, der Beste in allem zu sein. Mein All Time Favorite unter den Zwischenrufen der männlichen Kollegen: ‚Hätte ich ganz anders geschnitten!‘

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 04/2016

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Chevalier‘.

Gestrandet

(D 2016, Regie: Lisei Caspers)

Klasse Kämpfe
von Marit Hofmann

‚Hier dreht sich alles um Kühe.‘ Fünf Eritreer, die die Behörden hinter dem letzten ostfriesischen Kuhkaff abgeladen und sich selbst überlassen haben, wundern sich über so manches. Zwei Ehrenamtliche haben …

‚Hier dreht sich alles um Kühe.‘ Fünf Eritreer, die die Behörden hinter dem letzten ostfriesischen Kuhkaff abgeladen und sich selbst überlassen haben, wundern sich über so manches. Zwei Ehrenamtliche haben sich ihrer angenommen. Ein pensionierter Lehrer gibt Deutschunterricht, erläutert den Kondomautomaten (‚When you love a woman, you must protect‘) und will sie ins Dorfleben integrieren – auf dass sie den Regionalsport ‚Boßeln mitnehmen in eure Heimat‘. Die Flüchtlinge machen derlei zunächst schüchtern lächelnd mit, nehmen auch einen Ein-Euro-Job an, in der Hoffnung, dass bald bessere Jobs winken. Als sich aber in vielen Monaten gar nichts tut, ihr Aufenthaltsstatus und das Schicksal ihrer Angehörigen ungewiss bleibt, wollen sie sich weder weiter ausbeuten lassen noch an Feel-goodAktivitäten beteiligen.

Diesen Prozess fängt die in der Nähe aufgewachsene Lisei Caspers in ihrer Dokumentation ein. Der gehörlose Osman, der in Gebärdensprache knapp von den Schrecken der Flucht durch die Wüste und dem Tod seiner Angehörigen erzählt, erweist sich als ausdrucksstärkster Interviewpartner. Die Regisseurin enthält sich des Kommentars, mischt unter die Szenen des tristen Alltags Wüstenbilder und – als Sinnbild des Stillstands – immer wieder: Kühe in der Weite des Flachlands.

Caspers erreicht ihr Ziel, ‚für das Schicksal der Flüchtlinge zu sensibilisieren … und unsere Umgangsweise mit ihnen zu hinterfragen‘. Denn sie beleuchtet auch die Rolle der Helfer, deren verständlicher Frust sich gegen die Flüchtlinge selbst richten kann: Während die eine selbst in Depressionen verfällt angesichts der zum Vegetieren Verdammten, ärgert sich der Lehrer über die nachlassende Motivation ’seiner Schützlinge‘: ‚In capitalism you have to fight.‘ Er wird später, als die fünf endlich ihre Anerkennung bekommen, teilweise ihre Angehörigen nachholen können und als ihr Lebensmut zurückkehrt, einräumen, dass er ihnen Unrecht getan hat. Die Langzeitstudie endet möglicherweise etwas zu hoffnungsvoll. Wie wird es den Porträtierten in fünf Jahren gehen? Fortsetzung erwünscht.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 04/2016

A Blast – Ausbruch

(GR/D/NL 2014, Regie: Syllas Tzoumerkas)

Im freien Fall
von Wolfgang Nierlin

Das antipsychologische Portrait einer Figur in den Fragmenten ihrer Geschichte: Maria (Angeliki Papoulia) gibt ihr Studium in Athen auf, um zwanzigjährig Yannis (Vassilis Doganis), den Kapitän eines Frachtschiffes, zu heiraten; …

Das antipsychologische Portrait einer Figur in den Fragmenten ihrer Geschichte: Maria (Angeliki Papoulia) gibt ihr Studium in Athen auf, um zwanzigjährig Yannis (Vassilis Doganis), den Kapitän eines Frachtschiffes, zu heiraten; sie haben zusammen drei Kinder, um die sich Maria kümmert, während ihr Mann auf See ist. Sehnsüchtig erwartet Maria seine Rückkehr. Dann stürzen sich die beiden hungrig in exzessiven, verschlingenden Sex, als gelte es, in der intensiven Umklammerung Freiheit oder ein Stück Heimat zu finden. Ihre selbstvergessene Beziehung trägt Züge einer Amour fou. Die Bilder der körperlichen Raserei und Ekstase sind in Marias Kopf, sie durchziehen als Erinnerungen den Film. Yannis schwört Maria ewige Liebe, die sie wiederum als Verschmelzung der Körper imaginiert, indem sie sich in einem Internetcafé, umringt von misstrauisch und verwundert dreinblickenden Männern, wüste Pornoseiten anschaut. Maria ist eine toughe, exaltierte junge Frau, eine aggressive Boxerin mit viel Kraft und Mut und körperlicher Energie; dabei immer laut und in Bewegung.

Was in der Nacherzählung chronologisch klingt, zerfällt in Syllas Tzoumerkas‘ fiebrigem Film „A Blast – Ausbruch“ in lauter Einzelteile, die zunächst unverbunden erscheinen. Gegenwart und Vergangenheit, Erinnerungen und Tagräume durchdringen sich fortwährend in einem teils rasanten Tempo. Sie vermischen und kommentieren sich, erzeugen Kontraste und Brüche, Anschlüsse, Ahnungen, vielleicht sogar Erkenntnisse. Das Zeit-Kontinuum ist aufgehoben und wird zugleich durch die Montage neu zusammengesetzt. Orte und Zeiten befinden sich in ständiger Fluktuation, woraus eine Gleichzeitigkeit resultiert. Auf Maria bezogen, führt das zu einer Überlagerung von außen und innen und in der Folge zu einer Art psychischem Überdruck. Dabei setzt Tzoumerkas‘ ebenso überhitztes wie analytisches Kino weder auf gefühlsmäßigen noch psychologischen Nachvollzug; vielmehr muss der Zuschauer die eher rudimentäre Handlung konstruieren, ergänzen und erfinden. Dabei passiert in „A Blast – Ausbruch“ nicht allzu viel, zumindest nicht sichtbar. Und wenn Maria ausrastet, bleiben wir immer auf Abstand, ist sie uns immer auch fremd.

Einen intimen, irritierenden Blick in ihre Seele, als Schlüsselszene gesetzt, gibt es dann doch: Von ungestillten, vielleicht sogar unbekannten Sehnsüchten, familiärer Fremdbestimmung und vor allem der finanziellen Schuldenlast ihrer Eltern zerrieben, sucht Maria eine Frauenselbsthilfegruppe auf. Sie sei „absolut unglücklich“ und führe „ein lächerliches Leben“, erklärt Maria der Runde. Deshalb wolle sie eine radikale Trennung von ihrer Familie vollziehen und dieser gegenüber fremde Menschen bevorzugen. Sie spüre lieber eine Schuld statt ihr bisheriges Leben weiterzuführen und tausche den unerträglich gewordenen Schmerz gegen die Vergeblichkeit. Was darauf folgt, ist der Titel gebende rabiate Ausbruch, eine Explosion aller verbliebenen Sicherheiten.

Geschickt verknüpft der griechische Regisseur Syllas Tzoumerkas in seinem (nach „Homeland“) zweiten Langfilm die Implosionen seiner Protagonistin mit den Erschütterungen seines krisengeschüttelten Heimatlandes. In Radio- und Fernsehnachrichten zeichnet er dieses als ein „sinkendes Schiff“, dessen langsames Untergehen mit dem persönlichen Schicksal der Heldin interagiert. Öffentliches und Privates, auf parallelen Ebenen miteinander in Beziehung gesetzt, vermischen sich unablässig; die epidemischen Insolvenzen der Gesellschaft, von Aufruhr und Intoleranz begleitet, dringen gewissermaßen in den individuellen Körper ein.

Im instruktiven, auf Englisch geführten Interview mit dem Regisseur, das der DVD beigegeben ist (das als „Booklet“ angekündigte Faltblatt gibt weniger her) sagt Tzoumerkas, seine Heldin befinde sich als Repräsentantin der jüngeren Generation „im freien Fall“. Die Krise einer kollabierenden Gesellschaft habe die persönlichen Beziehungen vergiftet. Deshalb suche Maria, die eingangs des Films die universalen Menschenrechte zitiert – unter anderem das Recht, sich frei zu bewegen und nach Glück zu streben -, eine radikale Veränderung und damit auch eine neue Identität. Gegen alle Desillusionierung verkörpere sie letztlich eine Hoffnung, ist Syllas Zoumerkas überzeugt. Denn, so seine These: „Freiheit ist stärker als die soziale Dynamik.“

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚A Blast – Ausbruch‘.

Feuer bewahren – nicht Asche anbeten

(D 2016, Regie: Annette von Wagenheim)

Dazwischen-Schweben
von Wolfgang Nierlin

„Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers“. Dieses Zitat des Komponisten Gustav Mahler hat die Dokumentarfilmerin Annette von Wagenheim in den Titel ihres Films „Feuer …

„Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers“. Dieses Zitat des Komponisten Gustav Mahler hat die Dokumentarfilmerin Annette von Wagenheim in den Titel ihres Films „Feuer bewahren – nicht Asche anbeten“ übernommen, der ein intimes Portrait des gefeierten Tänzers und Choreographen Martin Schläpfer zeichnet. Das Bild der lodernden Flammen, die es fortwährend zu füttern gelte, ist für den in der Schweiz geborenen Tanzkünstler zugleich eine Metapher für seine notwendige künstlerische Unruhe. Sich als Künstler nie zufrieden geben, sich nie ganz sicher sein oder auf dem Erreichten routinemäßig ausruhen, stattdessen aber den Zweifel nähren, bezeichnet Schläpfer zu Beginn aus dem Off des Films als Ausdruck seiner kreativen Beweggründe: „Immer ein bisschen on tour, nie ganz ankommen.“ Dazu zeigt ihn Annette von Wagenheim, die nach vielen Fernseharbeiten nun erstmals einen Kinofilm realisiert hat, als Bergwanderer in seinem Sommerdomizil in den Tessiner Alpen. Spätestens beim panoramatischen Gipfelblick gerät das Filmbild jedoch in eine leichte Schieflage zu dem, was Schläpfer meint.

Anders und weniger spekulativ sind dagegen die Aufnahmen von den Probearbeiten zu dem Tanzstück „Alltag“, das der renommierte Choreograph Hans van Manen zusammen mit Martin Schläpfer entwickelt. Dieser tanzt gewissermaßen ein Selbstportrait, in das seine eigene künstlerische Unruhe einfließt: grüblerische Phasen des Nachdenkens zusammengekauert auf einem Stuhl; die Suche nach Inspiration im Kreisen um sich selbst; die Zweifel an der Arbeit; schließlich die pure Lust und Freude am Tanzen. Dabei geht es Schläpfer jedoch nicht um ein klassisches Handlungsballett, sondern vielmehr um das energetische, sinnliche, erotische und nicht zuletzt geheimnisvolle Potential der Tanzkunst. Deren prinzipielle Flüchtigkeit korrespondiert mit dem Nichtfestlegbaren einer Kunst, deren abstraktes Merkmale, also beispielsweise ihre „Farbe“ und ihr „Klima“, sich in einem „Dazwischen-Schweben“ manifestieren, wie Schläpfer einmal formuliert.

Besonders deutlich wird das an der Erarbeitung von Adriana Hölszkys Auftragskomposition „Deep Field“, die den Untertitel „Zehn Klangbelichtungen einer Metamorphose“ trägt. Die Simultanität von Bewegungen im „imaginären Raum“ (Hölszky), das Nebeneinander von Leid und Freude oder auch das „Ineinander-Schieben“ von Fragmenten kennzeichnen diesbezüglich Schläpfers Denken in Gegensätzen und Widersprüchen. Die teils längeren Ausschnitte diverser Aufführungen machen das auf schöne Weise anschaulich. Schläpfers dialektischer Geist, seine Offenheit und sein anti-hierarchisches Unterrichten vermitteln sich aber auch in der praktischen Arbeit mit seiner Compagnie. Hier erleben wir einen leidenschaftlichen, hochkonzentrierten Choreographen, der nachdenklich und mit intensiven Blicken beobachtet, immer wieder aber auch selbst die Initiative ergreift, um das Gesagte tanzend zu unterstützen.

In seiner Kunst wolle er etwas Inneres ausdrücken, ohne allerdings zu sehr von sich selbst zu sprechen, sagt Schläpfer über die notwendige Distanz eines Künstlers zur eigenen Person. Annette von Wagenheim portraitiert ihn in ihrem ästhetisch eher konventionellen, am Fernsehformat geschulten Dokumentarfilm „Feuer bewahren – nicht Asche anbeten“ als einen in fortwährender Bewegung begriffenen Suchenden, der die Freiheit liebt und seine künstlerische Verantwortung sehr ernst nimmt. So zeigt sie Martin Schläpfer nicht nur als umtriebigen, gewissenhaften Choreographen, der mit diversen Gastspielen auch international Erfolge feiert, sondern auch als Direktor des Ballett am Rhein in Düsseldorf und Duisburg, der sich sowohl Stadt und Publikum als auch der zeitgenössischen Kunst verpflichtet fühlt.

Schließlich gewährt von Wagenheims informativer Film, der ebenso dem Künstler wie dem Menschen Martin Schläpfer gewidmet ist, auch einen Einblick in dessen Privatleben. „Ich übe Leben mögen“, lautet eines der Zitate, mit denen die Wände seines Düsseldorfer Eigenheims in bunter Fleckigkeit übersät sind. Sommers hingegen, wenn er, der sich ein „sonniges Gemüt“ bescheinigt, seine entlegene Einsiedlerhütte im Maggiatal beziehe und sich in der magischen Ruhe der Bergwelt die Zeit dehne, werde die Sinnfrage annulliert. Er fühle sich dann als Teil „von etwas“ und habe deshalb neuerdings damit begonnen, seine „Almgedanken“ aufzuschreiben.

Sibylle

(D / I 2015, Regie: Michael Krummenacher)

Notizen aus der Nachsaison
von Ulrich Kriest

Dass man Filme vor ihren Presseheften in Schutz nehmen muss, ist gängige Münze unter Filmkritikern. Gilt vielleicht sogar für Drehbücher, die zu (anderen) Filmen wurden. Soll man die ursprüngliche Idee, …

Dass man Filme vor ihren Presseheften in Schutz nehmen muss, ist gängige Münze unter Filmkritikern. Gilt vielleicht sogar für Drehbücher, die zu (anderen) Filmen wurden. Soll man die ursprüngliche Idee, die einem Projekt zugrunde lag, derart ehren, dass man sie gewissermaßen zumindest in Papierform in Erinnerung behält? „Sibylle“, so wird uns erzählt, handle davon, dass die gleichnamige „Architektin, Mutter und Ehefrau“ Bedrohliches erfahre, dass sie Schwierigkeiten habe, zur Ruhe zu kommen. Später wird dann noch das Stichwort „Burn-Out“ nachgeliefert. Das Psychogramm einer von der Vielzahl ihrer divergierenden Rollen überforderten Frau? Könnte sein.

Wir sehen eine Kleinfamilie im Urlaub am Gardasee. Nachsaison. Die Hotelanlage ist schon leer, aber die „Rambo“-Show im Themenpark ist noch ganz gut besucht. Warum hat der Vater wohl eine Tiermaske aufs Gesicht gemalt? Wenn die Familie noch schläft, begibt sich Sibylle auf morgendliche Spaziergänge hoch oben über dem See, wo sie einer auffallend ähnlich gekleideten und auffallend ähnlich gebauten Frau begegnet, die kurz darauf Opfer eines schweren Unfalls wird. Oder war es Selbstmord? Sibylle, die der Frau zu Hilfe eilt, macht eine traumatisierende Erfahrung, die sie jedoch – trotz einer Wunde, die sie davongetragen hat – zunächst für sich behält.

Der Schweizer Filmemacher Michael Krummenacher setzt sehr früh auf Genre-Elemente des Mystery-Thrillers oder auch des Horrorfilms, isoliert die Protagonistin von ihrer Familie, nutzt Informationen der Tonspur, die (zunächst) nicht so recht zur Handlung zu passen scheinen. Erst zurück in München wird dann deutlich, dass die Partnerschaft zu ihrem Mann Jan beruflich asymmetrisch ist oder zumindest als solche erscheint. Hier geriert sich Sibylle fast schon arrogant kompetenter, qualifiziert Vorschläge ihres „Arbeits- und Lebenspartners“ öffentlich als „Fingerübungen“ ab: „Ich spreche mich nicht mit dir ab, weil mir deine Mitarbeit erschreckend wenig weiterhilft!“, erklärt sie einmal erregt.

Doch derlei psychologisierendes »Szenen einer Ehe«-Futter erscheint fast schon als ungleichzeitige Einschüsse innerhalb eines dominierenden filmischen Diskurses, der längst auf Second-Order-Verbeugungen vor Kubricks „Shining“ (Fotos, Jazz-Musik, Gänge etc.) oder Polanskis „Der Mieter“ (Paranoia) eingeschworen scheint. Hier erscheint Entfremdung als eine Reise in den Wahn, wobei üblicherweise nie ganz ausgemacht ist, was Traum, was Realität ist.

Oder sollte sich der komplette Film als Abbild eines Wahns erweisen, zu dem »die Realität« nur noch momentan wie durch einen Schleier durchdringt? Wie steht es um die Chronologie der Ereignisse? Krummenacher und sein Team realisieren handwerklich makelloses, äußerst präzises und effektives Genre-Kino, das aus der Kunst der Hauptdarstellerin Anne Ratte-Polle Mehrwert schöpft, die hier souverän auf der Schwelle zwischen Horror, Erschöpfung und Hysterie agiert und einem expressionistischen Stummfilm entsprungen scheint. Am Schluss scheint eine zirkuläre Bewegung des Erzählens in der Verdoppelung des Kindsmords und des Doppelgänger-Motivs angedeutet und auch als Indiz des Bruchs variiert, was dem Film einen etwas überdeutlichen Bogen hin zum Beginn verleiht, als der ältere Sohn eine furchtbare Nachricht aus dem Internet pflückt.

Ob Krummenacher am Ende mit seinem Genre-Hybriden den Stoff überreizt hat oder ob die Mischung aus Psycho-, Mystery- und Horror-Thriller trägt, muss wohl jeder Zuschauer mit sich selbst ausmachen. Schließlich kann man ja auch aus Vorhersehbarkeit einen subjektiven Eindruck von Spannung beziehen und sich ansonsten an der reizvollen Dichte des Atmosphärischen erfreuen.

Much Loved

(F/MA 2015, Regie: Nabil Ayouch)

Gesellschaftliche Doppelmoral
von Wolfgang Nierlin

Die Prostituierten Noha, Randa und Soukaina bilden eine verschworene Gemeinschaft. Wenn sie sich im ziemlich ungezwungenen frivolen Geplänkel gegenseitig überbieten, schwingt neben aller Ironie über die Zustände immer auch eine …

Die Prostituierten Noha, Randa und Soukaina bilden eine verschworene Gemeinschaft. Wenn sie sich im ziemlich ungezwungenen frivolen Geplänkel gegenseitig überbieten, schwingt neben aller Ironie über die Zustände immer auch eine gute Portion Lebenslust mit. Die drei jungen Frauen wohnen und arbeiten zusammen in der marokkanischen Stadt Marrakesch. Sie helfen sich gegenseitig und träumen von einem besseren Leben. Sie bewegen sich durch eine heimliche, inoffizielle Welt, die trotzdem vielfache Beziehungen in die Gesellschaft unterhält. Noha, Randa und Soukaina sind die Schönen der Nacht, die von ihrem Chauffeur und gutmütigen Zuhälter Saïd zu den ausschweifenden Partys reicher, saudi-arabischer Geschäftsmänner in ein Luxushotel gebracht werden. Hier spielen sie souverän ihre Rollen, indem sie gleichzeitig als Unterhalterinnen, Liebhaberinnen und unterdrückte Sexarbeiterinnen fungieren. Ihre Persönlichkeiten sind gespalten zwischen selbstbewusstem Stolz und erzwungener Unterwürfigkeit.

Unerwartet offen und freizügig zeigt Nabil Ayouch in seinem bemerkenswert mutigen und äußerst gewagten Film „Much Loved“ die Arbeit der Prostituierten und die mit ihr verbundene gesellschaftliche Doppelmoral. Denn wie nebenbei thematisiert der französisch-marokkanische Filmemacher, dessen tabubrechender Film in Marokko prompt mit einem Aufführungsverbot belegt wurde, den verzweigten illegalen Geldfluss, der aus dem offiziell geächteten Gewerbe resultiert; und von dem viele profitieren, während sie gleichzeitig die Prostituierten verachten. Diese versorgen ihre Familien, „schmieren“ Türsteher von Diskotheken und werden von korrupten Polizisten (auch sexuell) ausgebeutet. Andererseits folgen auch die Frauen allein der Logik des Geldes, wenn sie Ausländer „abziehen“ und (auch emotional) betrügen.

Doch Nabil Ayouch will mit seinem Film nicht werten, sondern vor allem das wirkliche Leben der Mädchen zeigen, die er mit hervorragenden Laienspielerinnen besetzt hat. Dazu gehört nicht nur die Darstellung komplexer gesellschaftlicher Austauschprozesse, sondern auch die Thematisierung von Homosexualität und ihrer Unterdrückung, von Transvestitismus und sexueller Ausbeutung von Kindern. Der Film „Much Loved“ gibt einen ungewöhnlichen Einblick in die geheimen Refugien jenseits offizieller Verbote innerhalb einer muslimischen Gesellschaft, er handelt vom Verlust familiärer Beziehungen, aber auch von weiblicher Solidarität in einer Art Ersatzfamilie. Daneben, gewissermaßen im Vorbeifahren, blickt er immer wieder, melancholisch gestimmt, auf das alltägliche Leben in einer „verrückten Stadt“ mit ihrem vielfältigen Nebeneinander von Tradition und Moderne.

Deadpool

(USA 2016, Regie: Tim Miller)

Rebel Without A Cause
von Manfred Riepe

Die Superhelden sind nicht mehr das, was sie mal waren. Zumindest dieser Antiheld blieb schon beim ersten Auftritt blass. In „X-Men Origins: Wolverine“ war Deadpool 2009 als Über-Mutant zu sehen, …

Die Superhelden sind nicht mehr das, was sie mal waren. Zumindest dieser Antiheld blieb schon beim ersten Auftritt blass. In „X-Men Origins: Wolverine“ war Deadpool 2009 als Über-Mutant zu sehen, der die Fähigkeiten seiner Gegner in sich vereinte. Diese Inflation der Superkräfte langweilt. Als die Marvel-Figur erstmals 1998 im Comic „The New Mutants“ auftauchte, stach vor allem die Ähnlichkeit zum fast namensgleichen Blade Wilson ins Auge, einem Charakter, den die Zeichner vom Konkurrenzunternehmen DC entworfen hatten.

In seinem filmischen Relaunch kann dieser Typ, der obendrein wie ein Spiderman-Double aussieht, zwar nicht mehr „teleportieren“. Das heißt, er kann sich nicht mehr beliebig in Luft auflösen. Dafür redet der Supermaulheld nun noch mehr als früher. Mit seinem Gequassel durchbricht er gar die „vierte Wand“, um neben den Filmfiguren auch noch dem Zuschauer haarklein auseinanderzusetzen, welche Sauerei er als nächstes anstellt. Doch der Reihe nach.

Ex-Söldner Wade Wilson verdient sich sein Geld damit, dass er Frauen vor Stalkern schützt. Doch dann lernt er Vanessa Carlisle (Morena Baccarin) kennen, eine Hure mit goldenem Herzen. Das unerwartete Liebesglück haut ihn buchstäblich um. Diagnose: Lungenkarzinom im Endstadium. Was nun? Ein sadistischer Wissenschaftler mit dem sprechenden Namen Ajax (Ed Skrein) unterzieht Wilson einer S/M-artigen „Schmerztherapie“. Rund um die Uhr wird Wilson gefoltert. Zum Schweigen bringt man ihn dabei nicht. Allein seine Gene mutieren. Wade ist nun buchstäblich unkaputtbar, träg aber als Nebenwirkung die krebsartigen Wucherungen fortan im Gesicht. Verschiebung der Symptomatik.

Unter die Augen der schönen Vanessa wagt das frisch gebackene Biest sich nicht mehr. Für Wilson scheint dieser Verlust aber gar nicht so schlimm zu sein. Auf der Jagd nach dem Bösewicht, der ihm das angetan hat, entdeckt der geschwätzige Killer seine eigentliche Passion im Aufmischen ganzer Bataillone zweitklassiger Gegner. In Zeitlupe exzessiv ausgewalzte Action-Sequenzen zeigen Schwert-Enthauptungen und choreografierte Erschießungen im Sekundentakt. Da oft unklar ist, wer die seriell niedergemetzelten Gegner sind, bleibt der zynische Overkill weitgehend sinnfrei.

Zugegeben, der eine oder andere Witz zündet: „Explodierende Gebäude formen den Charakter“, heißt es aus dem Mund eines der X-Men. Aufrechte Mutanten, die noch gegen das Böse kämpfen, werden nebenbei als Spießer veralbert. Solche selbstreferentiellen Gags schaffen aber keine ironische Brechung, sondern den totalen Eskapismus. Schon im Vorspann, der die Macher des Films mit kalkulierter Respektlosigkeit veralbert, biedert die neue Marvel-Adaption sich hemmungslos an die Zielgruppe an. Spätestens im letzten Drittel, in dem der Held, der keiner sein will, die entführte Freundin befreit, die wie das Burgfräulein im gläsernen Schneewittchensarg gefangen gehalten wird, hält sich der Comicspaß in Grenzen.

An Ryan Reynolds, der unlängst in Marjane Satrapis rabenschwarzer Serienkiller-Farce „The Voices“ glänzte, liegt das nicht. Die buchstäblich nicht tot zu kriegende Deadpool-Figur funktioniert nicht. Bei den anderen Mutanten aus dem Marvel-Universum ist die Superkraft eine Chiffre für ihr jeweiliges Symptom. Das zeigt sich besonders schön bei der wundervollen Nebenfigur mit dem unwiderstehlichen Namen Negasonic Teenage Warhead. Brianna Hildebrand verkörpert diesen halbwüchsigen Trotzkopf, der seine unstrukturierte Wut auf die Welt in bösen Tweets und verheerenden Energieentladungen auszudrücken pflegt. Das macht irgendwie Sinn, denn die vermeintliche Superkraft ist eigentlich nur eine wörtlich genommene Metapher für menschliche, allzu menschliche Schwäche.

Doch Deadpool, dieser infantile Hofnarr im roten Nappaleder, hat keine wirkliche Mission. „Deadpool“, der Film, ist eine tricktechnisch durchschnittliche, übermäßig brutale Comicverfilmung mit einem prätentiös kontroversen Helden, der seine Metzeleien durch seinen forcierten Dauerkommentar als besonders „cool“ erscheinen lassen will. Der rebel without a cause tötet mit sportlichem Ehrgeiz und langweilt dabei mit seinem öden Metadiskurs. Was er eigentlich will? In einer beiläufigen Szene hackt er seine Hand ab und freut sich darauf, sich mit dem nachwachsenden Körperglied selbst zu befriedigen: In einer Babyhand fühlt sein Penis sich nämlich riesengroß an. So entpuppt „Deadpool“ sich als Masturbationsphantasie für kleine Nerds, sich ganz groß erleben dürfen.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Deadpool‘.

Der Bunker

(D 2015, Regie: Nikias Chryssos)

Im schwarzen Loch der Erziehung
von Wolfgang Nierlin

Der titelgebende Bunker liegt irgendwo im tief verschneiten Wald unter der Erde. Abgeschieden von der Welt und dem, was man das normale Leben nennt, hat sich hier eine sehr merkwürdige …

Der titelgebende Bunker liegt irgendwo im tief verschneiten Wald unter der Erde. Abgeschieden von der Welt und dem, was man das normale Leben nennt, hat sich hier eine sehr merkwürdige Familie in ihrer selbstgewählten Klaustrophobie eingerichtet. Die engen Räume, verziert mit allerlei Nippes, Retro-Kitsch und gemusterten Tapeten, zwingen mit ihren niedrigen Zimmerdecken die Bewohner förmlich zu einem gebeugten Gang. Das bizarre Inseldasein zwischen selbstgewählter Isolation und Gefangenschaft wird allerdings schon bald irritiert durch einen Gast (Pit Bukowski), der sich hier für seine ruhebedürftige wissenschaftliche Forschung einmietet. Der Hausherr und Vater (David Scheller) weist ihm ein ziemlich karges, dunkles und unwirtliches Kellerloch zu. Es komme zwar kein Licht herein, dafür aber auch keines hinaus, flunkert der Buch führende Vermieter. In Nikias Chryssos‘ ebenso verstörendem wie abgründigem Film „Der Bunker“, der Elemente des Kammerspiels, der absurden Komödie und des psychologischen Horrorthrillers in sich vereint, wird ein phantastischer Ort zum Versuchslabor für Erziehung und Lernen.

Während sich der junge Wissenschaftler, wahlweise Student oder Professor genannt, sehr angestrengt über den theoretischen Nachweis des „Higgs-Partikels“ hermacht, ist der ambitionierte Vater darum bemüht, seinen Sohn Klaus (Daniel Fripan) mit skurrilen Unterrichtsmethoden, aber vor allem gewaltsam „auf die Hauptstraße des Erfolgs“ zu führen. Tatsächlich ist der angeblich 8-jährige, eher zurückgebliebene als „hochbegabte“ Klaus irgendwo zwischen Kind und jungem Erwachsenen stecken geblieben. Seine dominante, intrigante Mutter (Oona von Maydell), die den androgyn wirkenden Jungen im inzestuösen Klammergriff hält, hat daran wesentlichen Anteil. Weil der stumpfsinnige Unterricht des „überlasteten“ Vaters nichts fruchtet, wird kurzerhand der widerwillige Student als Privatlehrer verpflichtet. Doch erst die körperliche Züchtigung des Schülers bringt den gewünschten Lernerfolg. Motiviert wird der pädagogische Zuchtmeister dabei von einem ironischen Deal: Zur Steigerung seiner forscherlichen Kreativität sowie als „Unterrichtsentschädigung“ ist ihm die Mutter sexuell zu Diensten.

Wie Giorgos Lanthimos in seinem themenverwandten Film „Dogtooth“ beschreibt auch Nikias Chryssos in seiner schwarzhumorigen Parabel „Der Bunker“ mit kalter Präzision und einem aberwitzigen Setting die Familie als geschlossenes Herrschaftssystem. In einem ebenso gewöhnlichen wie abseitigen Mikrokosmos inszeniert der deutsch-griechische, in Heidelberg aufgewachsene Regisseur mit suggestiven Mitteln den grausamen Psychoterror einer von hehren Bildungsidealen und Pseudo-Intellektualität getriebenen Erziehung. Deren ironisch-satirische Kontrastfolie bildet Musik von Chopin, Mozart, Beethoven und Pachelbel. Chryssos‘ schonungslos radikales Filmexperiment erfährt seine paradoxe Zuspitzung schließlich in dem Gedanken, dass die Eltern das Wachsen und die Selbständigkeit ihres Kindes verhindern, dieses aber zugleich durch gewaltsam eingetrichterte „Bildung“ „weltweit einsatzfähig“ machen wollen. Dass dagegen ausgerechnet die Entdeckung des Spielens als das elementarere Lernen erscheint, markiert den schön anarchisch inszenierten Wendepunkt hin zu einer Freiheit, die am Ende jedoch nur eine halbe Hoffnung zwischen Aufbruch und einer Bestätigung des Status quo bereithält.

Hier finden Sie ein Interview mit Regisseur Nikias Chryssos.

Mustang

(F/TR/D 2015, Regie: Deniz Gamze Ergüven)

Häusliches Gefängnis
von Wolfgang Nierlin

Unter die Vorspanntitel schieben sich von links und rechts, von oben und unten lange Linien, um in rechten Winkeln Raster oder Gitter zu bilden, die sich immer wieder neu formieren …

Unter die Vorspanntitel schieben sich von links und rechts, von oben und unten lange Linien, um in rechten Winkeln Raster oder Gitter zu bilden, die sich immer wieder neu formieren und dabei die Namen der Mitwirkenden einschließen. „Dramaturgisch gesehen“, sei ihr Debütfilm „Mustang“, „ein Gefängnisfilm“, sagt die in der Türkei geborene, hauptsächlich in Frankreich lebende Regisseurin Deniz Gamze Ergüven. Ihre jugendliche Erzählerin Lale (Günes Nezihe Sensoy), die jüngste von fünf Schwestern, konstatiert zu Begin aus dem Off nüchtern eine einschneidende Veränderung, die der Film im Folgenden thematisiert. Sie resümiert deshalb: „Alles ging den Bach runter.“ Damit ist schließlich auch ein schmerzlicher Abschied von der Kindheit gemeint. Allerdings verbindet die türkische Regisseurin in „Mustang“ ihre etwas andere, von äußeren Zwängen gesteuerte Coming-of-Age-Geschichte mit einer dezidierten Kritik an der traditionell patriarchalischen Gesellschaft der Türkei.

Seit dem Tod ihrer Eltern vor zehn Jahren leben Sonay, Selma, Ece, Nur und Lale bei ihrer Großmutter (Nihal Koldas) und ihrem autoritären Onkel Erol (Ayberk Pekcan) in einem kleinen beschaulichen Ort an der türkischen Schwarzmeerküste. Über weitere soziale und familiäre Hintergründe erfährt man fast nichts; die Zweck- oder Ersatzgemeinschaft bewohnt ein idyllisches Holzhaus im Grünen auf einem Hügel über dem Meer. Als die Sommerferien beginnen, planschen die bildschönen Schwestern auf dem Heimweg von der Schule mit gleichaltrigen Jungs im Wasser; und zwar mit wehenden Haaren und in voller Schuluniform, was man einigermaßen ungewöhnlich finden kann. Ein übermütiger Freiheitsdrang kommt in diesem ausgelassenen Spiel zum Ausdruck. Für die selbstbewusst und aufgeklärt auftretenden Geschwister bedeutet dieser Ausbruch, als wäre es der erste seiner Art, allerdings eine Zäsur. Denn die Strafe folgt auf dem Fuße: Neben körperlichen Züchtigungen hinter verschlossener Tür und einem ärztlichen „Jungfräulichkeitsbericht“ verhängt man über die rebellischen Teenager vor allem einen verschärften Hausarrest.

Die Haustür wird verschlossen, Telefone und Computer werden konfisziert und das häusliche Gefängnis verwandelt sich, so die aufgeweckte Lale, in eine „Fabrik für Ehefrauen“, in der die Mädchen – als sei dies etwas völlig Neues – fortan Kochen und Backen lernen und dazu „formlose, kackbraune Kleider“ tragen müssen. Schließlich sollen sie möglichst bald und in schneller Folge verheiratet werden, wobei Glück und Unglück nahe beieinander liegen. Neben der darin aufscheinenden Ausweglosigkeit, die den Mädchen fast jegliche Selbstbestimmung abspricht, deutet der Film die Doppelmoral des selbstherrlichen Onkels an, der sich offensichtlich sexuell an seinen Nichten vergeht. Gefangen in Langeweile und Ereignislosigkeit, entwickeln die Schwestern in ihrer Sehnsucht nach Freiheit ein heimliches Leben, gelingen ihnen immer wieder kleine Übertretungen und Ausbrüche. Doch fast unaufhaltsam lösen sich unter dem äußeren Druck die geschwisterlichen Bande.

Öfters wirkt das häusliche Gefängnis in Ergüvens Film wie ein idyllisches, von warmem, freundlichem Licht beschienenes Refugium, das die Gefangenschaft nicht wirklich spürbar macht und am Schluss, in origineller Umkehrung der Verhältnisse, für kurze Zeit sogar zum Schutzraum wird. Zwischen sommerlicher Schläfrigkeit und wildem Aufbegehren, wofür das Temperament des titelgebenden Wildpferdes steht, akzentuiert die Regisseurin vor allem die Sinnlichkeit und das Freiheitsstreben ihrer intelligenten Heldinnen als weibliche Gegenkraft zur Männerwelt. Hätte das auf diese Weise ein Mann gefilmt, stünde er wohl im Verdacht des lüsternen, wiewohl weichgezeichneten Voyeurismus. Dem angeprangerten Traditionalismus steht eine geradezu „unrealistische“ Freizügigkeit gegenüber, die man nicht leicht glauben kann. Auch mit der allzu gerafften Erzählung der Zwangsverheiratungen und anderen „Plötzlichkeiten“ hat man als Zuschauer seine Mühen. Allerdings beansprucht Deniz Gamze Ergüven für ihren Film „Mustang“, der zum Schluss hin dann noch einige Spannung entwickelt, auch keine realistische Erzählung, sondern versteht ihn als „eine Art Märchen mit mythologischen Motiven“. Und in solcherart Gegenwelt dürfen die Dinge dann wohl auch ein bisschen über dem Boden der Tatsachen schweben.

Der Kuaför aus der Keupstraße

(D 2016, Regie: Andreas Maus)

Keine besonderen Vorkommnisse
von Marit Hofmann

Wie arbeiten deutsche 'Verhörspezialisten'? Und was machen deutsche Filmemacher daraus, wenn sie Ermittlungsakten in die Finger kriegen? Zwei aktuelle Beispiele: Raymond Ley hat das Gedächtnisprotokoll der BKA-Leute, die Beate Zschäpe …

Wie arbeiten deutsche 'Verhörspezialisten'? Und was machen deutsche Filmemacher daraus, wenn sie Ermittlungsakten in die Finger kriegen? Zwei aktuelle Beispiele: Raymond Ley hat das Gedächtnisprotokoll der BKA-Leute, die Beate Zschäpe auf dem Weg zu ihrer Oma in entspannter Plauderatmosphäre vergeblich zum Auspacken bewegen wollten, zur Grundlage seines Ende Januar ausgestrahlten TV-Terrorakts 'Letzte Ausfahrt Gera. Acht Stunden mit Beate Zschäpe' (hier in der ZDF-Mediathek zu sehen) gemacht. Die an Zschäpes Klagen über die miese Knastkost anteilnehmenden Kripobeamten erscheinen besonnen; in ihrer aufrichtigen Sorge reden sie schon mal mit sich selbst ('Was weißt du, Mädchen?'), wenn Ley nicht weiß, wie er den ahnungslosen ZDF-Gucker sonst in den Fall einführen soll.

Während Ley in seinem 'Dokudrama' unter anderem auf die Expertise eines NPD-Funktionärs setzt, Mitleid mit den ratlosen Polizisten wecken und in absurd nachgestellten Szenen Tisch und Bett mit Beate und ihren Uwes teilen will, widmet sich Andreas Maus in 'Der Kuaför aus der Keupstraße' Opfern des NSU, die auch zu Opfern der Polizei wurden: die beim Kölner Nagelbombenattentat 2004 vor einem türkischen Frisörsalon Verletzten und ihre Angehörigen.

Haben Sie schon einmal Münzen in einen Spielautomaten geworfen? Wenn Sie dann noch aus der Türkei stammen und ein Anschlag auf Sie verübt wurde, macht Sie das hochverdächtig. Zumindest für die deutsche Polizei. Die Stärke der künstlerisch überambitionierten und mit einem überflüssigen poetischen Off-Kommentar versehenen Dokumentation: Die von Schauspielern auszugsweise nachgestellten Verhöre, denen Attentatsopfer noch Jahre danach stundenlang unterzogen wurden, machen klar, dass der 'Weg, vom Opfer – aus einer vollkommen normalen bürgerlichen Existenz heraus – zum Täter gemacht zu werden, sehr, sehr kurz' (Maus) ist. Die Ermittler bringen Eheleute und Geschäftspartner durch Unterstellungen und Verdächtigungen ('Ach, Sie spielen Oddset? Warum haben Sie das verschwiegen?', 'Wissen Sie, was Ihr Mann in seiner Stammkneipe macht?') gegeneinander auf, Freundschaften zerbrechen.

Eine fremdenfeindliche Tat, wie sie die Leute aus der Keupstraße vermuteten, hat die Kölner Polizei (wie ihre Kollegen bundesweit) von Anfang an ausgeschlossen, und sie räumt nach wie vor keine Fehler ein. Während die Staatsgewalt Zschäpe mit Süßigkeiten und Einladungen in den Biergarten ködern will, wurden die Opfer des NSU ein weiteres Mal fertiggemacht. Bis heute lässt man sie mit den psychischen Folgen nicht zuletzt der 'Polizeiarbeit' allein. Da hilft es auch nicht, wenn Bundeskuschelpräsident Gauck die Frisörfamilie fürs Gruppenfoto betatscht. Wenn Streifenwagen zum Schutze Gaucks die Keupstraße entlangrollen, kann einem am Ende dieses Films angst und bange werden. Hilfe, Polizei!

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

Where to Invade Next

(USA 2015, Regie: Michael Moore)

Sozialstaatssouvenirs von der Michael Moore-Eurotour
von Drehli Robnik

Michael Moore scheint im Alter weich zu werden. Schon vor Jahren, zur Zeit seiner Dokumentarsatiren-Hits Bowling for Columbine' (2002) und Fahrenheit 9/11' (2004) kein Leichtgewicht, ist der Mann mit der …

Michael Moore scheint im Alter weich zu werden. Schon vor Jahren, zur Zeit seiner Dokumentarsatiren-Hits Bowling for Columbine' (2002) und Fahrenheit 9/11' (2004) kein Leichtgewicht, ist der Mann mit der Kappe nun etwas gar schwabbelig schlaff geworden. Reduziert sich aus diesem Grund seine markenzeichenhaft scheinnaive Interaktion mit Leuten vor Ort im neuen Film 'Where to Invade Next' weitgehend auf gemütliche Sitzplauscherln? Das dynamisch gemeinte Leitmotiv einer Europa-Eroberungsrundreise, auf der Moore von Frankreich bis Finnland, von Portugal bis Slowenien US-Flaggen aufpflanzt, gibt nicht allzuviel her. Und an Cartoons und Found-Footage-Sequenzen aus alten Lehrfilmen gibts auch weniger als früher.

Weich wird Moore offenbar auch im Ansatz – der quasi lautet: Nicht immer nur negativ nörgeln, auch mal etwas positiv sehen und zeigen. Sein im Dialog mit besuchten Gegenübers forciert gespieltes Staunen, das in seinen Fimen ansonsten den jeweiligen Irrsinn von Amerikas Kapital- und Staatsmacht quittiert, gilt nun allerlei guten Ideen, die er als Invasorenbeute in Europa einheimst: bezahlter Urlaub in Italien, ganzheitliche Schuldbildung in Finnland, hochqualitatives Kantinenessen in öffentlichen Schulen in Frankreich etc. – eine Revue gesamteuropäischer Lösungen (so sagt mensch heute). Diese Lösungen sind hier (zumal für einen linken Filmemacher) viel zu sehr als mentalitäre Vorzüge oder optimierungstechnische Schlaumeierleistungen dargestellt, zu wenig als Resultat von gesellschaftlichen Kämpfen oder von historischer Reformpolitik (die Sozialstaaten der 1970er Jahre). Und um Kontraste zu Amerikas entfesseltem Markt und sozialem Kahlschlag zu betonen, bräuchte es kein derart idyllisiertes Europabild. Wäre Moore ein echter Schelm, dann dächte er bei seinem Deutschlandpanorama mit Happy Hacklern und zuhörenkönnendem Bossen wohl (auch, so wie nicht nur ich unweigerlich) an Hartz IV, Aufstockerjobs und Reichtumsschere. Stattdessen verknüpft er Anblicke wellnessender Bayern mit Hitler- und Holocaust-Archivbildern – um dann Deutschland als Geschichtsschuldkulturmeister und Stolpersteinspezialisten zu feiern, von dem Amerika lernen könne. (Aber wenn möglich, dann nicht von einer Schulpraxis der Holocaust-Vermittlung, die Empathie in von den Nazis deportierte Bevölkerungen durch das Einpacken von Handys und Lieblingsklimbim in symbolische Fluchtkoffer lehrt – wie in einer der von Moore gefeierten Sequenzen zu sehen.)

Zum Rassismus in der US-Geschichte und -Gegenwart gelingen Moore einige Montagen mit passendem Pathos: etwa von Drogenfreigabe in Portugal über die Kriminalisierung von Black Power-Milieus im amerikanischen War on Drugs zum Strafvollzug – liberal in Norwegen, brutal in den USA. Zu beidem, zum Besuch in den freundlichen Zellen und Haftgebäuden hier und den Überwachungskameravideos von uniformierten Misshandlungsorgien dort, lässt Moores Kontrastmontage das Lied 'We Are the World' erklingen, das freundlich-spleenige norwegische Gefängniswärter quasi als Mission-Statement eingesungen haben.

Feministisch angelegt ist der Endspurt des Films, der sich der jüngeren Frauengleichberechtigung in der Politik Islands widmet, sowie jüngsten Kämpfen (gegen islamistische Reaktionäre) um Verfassungsrechte und um die Legalisierung von Abtreibung in Tunesien. Ein bewegender Moment von Wortergreifung ist die kritische Rede einer tunesischen Journalistin und Aktivistin an Amerika, dessen Musik, Mode und Literatur sie so schätze und von dem sie sich im Gegenzug etwas mehr Interesse an ihrer Kultur erwarten würde.

Gegen Ende zieht Moore Lehren, die sich aus seiner Europa- (und Nordafrika-)Bildungsreise für die USA ergeben. Sie fallen durchwegs bemüht optimistisch aus: So darf sich sein notorischer Linkspatriotismus (und jeglicher andere) durch den immer wieder fallenden Hinweis geschmeichelt fühlen, dass die meisten der europäischen Segnungen auf ursprünglich amerikanische Ideen und Projekten beruhen. Na, dann … Außerdem sei es ganz einfach, quasi aus dem Exil in Oz wieder ins gelobte Kansas zurückzukehren, wie Moores Voice-over über eine Szene vom Ende des 'Zauberers von Oz' hinweg sinniert: Offenbar musst du nur wollen, und schon gilt 'Yes, we can!', bzw. bedarf es nur eines Klickens mit den roten Schuhen, und schon – schon ist die Berliner Mauer Geschichte. Vor deren Berliner Ruine spaziert Moore am Ende mit einem alten Kumpel; man erinnert sich fröhlich ans Mauer-Abtragen, damals, und ist sich sicher: Das könne jederzeit wieder geschehen. Schwupp, plötzlich war die Mauer weg: ein Fall von gutem Timing in Sachen historischer Gelegenheiten 1989. Aber ein Fall von schlechtem Timing in Sachen Filmstart 2016: Von den Zäunen, die – Schwupp – plötzlich da waren auf dem so lehrreichen Kontinent, ist in dem vor Monaten, zum Teil wohl auch vor Jahren, gedrehten Film klarerweise nichts zu sehen. Insofern haftet diesem Bild eines Europavolksstreichelzoos etwas doppelt Nostalgisches an.

Hail, Caesar!

(USA 2016, Regie: Ethan Coen, Joel Coen)

Dialektik
von Manfred Riepe

Dialektik wird unterschätzt. Aus diesem Grund könnte man auch den neuen Film der Coens unterschätzen. Auf den ersten Blick scheint „Hail, Caesar!“ nur die komische Version ihres düsteren Noir-Thrillers „Barton …

Dialektik wird unterschätzt. Aus diesem Grund könnte man auch den neuen Film der Coens unterschätzen. Auf den ersten Blick scheint „Hail, Caesar!“ nur die komische Version ihres düsteren Noir-Thrillers „Barton Fink“ zu sein, in dem die beiden Brüder aus Minneapolis sich schon einmal mit dem goldenen Zeitalter Hollywoods auseinander gesetzt haben. Dieser Eindruck ist nicht ganz falsch, führt aber in die Irre.

Wie die meisten Filme der Coens folgt auch „Hail, Caesar!“ einem doppelzüngigen Erzählprinzip, das sich in fast jeder einzelnen Szene spiegelt. So auch in dem wundervollen Moment, in dem George Clooney, der im Kostüm eines römischen Centurio vom Set eines Sandalenfilms entführt wurde, sich angeregt mit einem seiner Kidnapper unterhält: Herbert Marcuse. Wie andere Vertreter der kritischen Theorie befand dieser sich während der NS-Herrschaft in der US-amerikanischen Diaspora. Der stattliche Bungalow mit Meerblick, in dem die Coens diese Szene nicht zufällig ansiedeln, zeugt von dem Luxus, den linke Intellektuelle im amerikanischen Exil genossen.

Marcuse, gespielt von John Bluthal, hat dem entführten Leinwandstar (Clooney) inzwischen beigebracht, dass er Teil eines ausbeuterischen Systems ist, der Hollywood-Filmindustrie. Die Kidnapper sind fest davon überzeugt, die historische Wahrheit über die Befreiung der werktätigen Bevölkerung aus der Knechtschaft des Kapitals präzise voraussagen zu können – eine Anspielung auf den Sozialismus, der in den Augen seiner Anhänger zur exakten Naturwissenschaft verklärt wurde. Die Entführer wollen den berühmten Schauspieler dazu benutzen, um das Studio zu erpressen. Das Geld soll in den Kampf gegen das ausbeuterische System investiert werden, das sich auf diese Weise selbst abschafft. Das sei „dialektisch“.

George Clooney, der hier einen ähnlichen Trottel spielt wie schon in „Burn After Reading“, hat den Erklärungen der Professors gebannt gelauscht und teilt ihm sogleich mit, was von dessen revolutionären Ideen bei ihm angekommen ist. Dialektisch sei es, wenn er Danny Kaye (einem bekannten Komiker aus den 40er Jahren) den Rücken rasiert. Das Gesicht des Professors spiegelt tiefes Entsetzen. Man kann Marcuses Reaktion ebenso als Erleuchtung interpretieren. Hat dieser hemdsärmelige Schauspieler im Kostüm eines Römers die „Dialektik“ nicht sehr viel besser verstanden als der linke Gelehrte im Elfenbeinturm?

Die Botschaft ist zweideutig – aber eben nicht eindeutig zweideutig. Sie ist dialektisch. Dieses Changieren zwischen der Kritik an dem Budenzauber der Traumfabrik und einer gefühlvollen Hommage an die Leistungsfähigkeit der Hollywood-Industrie bestimmt den Grundgestus von „Hail, Caesar!“ Die doppelbödige Geschichte schildert einen typischen Arbeitstag von Eddie Mannix, dessen Figur eigentlich schon von Bob Hoskins in „Die Hollywood-Verschwörung“ verkörpert wurde. Die Coens erzählen aber nicht einfach eine weitere Episode über diesen legendären Troubleshooter, der als feinsinniger Mann fürs Grobe permanent Probleme lösen und Skandale vertuschen muss.

Eilt der von Josh Brolin verkörperte „Fixer“ von Set zu Set, so führen die Brüder im Vorbeigehen das Funktionieren grundlegender Genres vor Augen, vom Western über das Melodram und den Sandalenfilm bis hin zur Tanzrevue. Das Mitschreiben von Zitaten und Anspielungen würde wahrscheinlich mehrere Seminararbeiten füllen. Die Kunst der Coens besteht aber darin, Meta-Referenzen in die erzählte Geschichte einzubinden. Sieht man Scarlett Johansson als Nixe in einem Aqua Musical à la Esther Williams, so blickt man zwar permanent hinter die Kulissen. Man kann sich aber trotzdem an diesem geometrischen Farbenrausch erfreuen. Dialektik.

Diese sublime Korrespondenz von Form und Inhalt spiegelt sich nicht zuletzt in Mannix’ Bemühungen, den entführten Star aufzuspüren. Als Baird Whitlock (Clooney) schließlich wieder vor ihm steht und mit glühender Begeisterung von den kommunistischen Ideen seiner Entführer schwärmt, bringt der Problemlöser den Verblendeten mit ein paar gut gemeinten Ohrfeigen rasch wieder auf Kurs.

Man könnte dies als reaktionäre Geste der Unterwerfung deuten. Doch Mannix verkörpert weder einen Ausbeuter, noch einen Büttel des Kapitals. Von den ersten Bildern an verwenden die Brüder viel Sorgfalt auf die Zeichnung dieses Mannes, der trotz seines „30-Stunden-Tages“ noch Zeit findet zur Beichte. Wie so häufig bei den Coens spielt Religion eine Schlüsselrolle, weil es dabei um die Vaterfigur geht. Lässt man die Filme der Brüder im Geiste Revue passieren, so sieht man, dass in ihnen immer wieder väterlich anmutende Charaktere auftreten. Wobei es zwei Typen von Patriarchen gibt. Man kennt den Despoten, der sich dem Gesetz, das er repräsentiert, nicht selbst unterwerfen will, etwa Leo O’Banion in „Miller’s Crossing“, Sidney Mussburger in „The Hudsucker Proxy“ oder Jarry Lipnick in „Barton Fink“.

Daneben gibt es aber auch den „guten Vater“, der beispielsweise in einem Traum in „No Country For Old Men“ angerufen wird oder in „The Hudsucker Proxy“ als rettender Engel auftaucht. Ein solcher ist auch Eddie Mannix. Für ihn ist das Funktionieren des Studios wichtiger als das schnöde Geld. Weswegen er auch das gut dotierte Jobangebot von Lockheed ausschlägt. Wenn dieser Trobleshooter voller Selbstzweifel den Pater fragt, ob es Sünde sei, wenn man „immer das Schwierigste“ wolle, dann schmuggeln die Coens hier ganz nebenbei eine Ethik in den Film hinein. Auf ihre unnachahmliche Art haben die Brüder mit diesem Problemlöser einen demütigen Repräsentanten der Autorität entworfen, der seine Macht nicht missbraucht und sogar das Drehbuch für eine Bibelverfilmung von den Vertretern der wichtigsten Religionen absegnen lässt.

Dieser Film im Film birgt eine für die Coens typische Pointe. In einer Szene wie aus „Die zehn Gebote“ muss der vom Kommunismus „kurierte“ Clooney als bekehrte Seele eine flammende Rede über den Erlöser halten, der vor ihm ans Kreuz genagelt wurde. Durch die eingeblendeten Reaktionen der einfachen Bühnenarbeiter am Set wird suggeriert, dass dieser Monolog etwas Authentisches zu Gehör bringt, etwas spirituell Mitreißendes, das alle berührt. Auch dem Zuschauer im Kinosessel wird es warm ums Herz. Man fühlt sich zurückversetzt in jene Zeit, als man zum ersten Mal einen Monumentalfilm im Kino gesehen hat.

Doch dann stockt Clooney. Ihm will das finale Wort nicht einfallen, das allein seiner Rede Sinn verleiht: „Glauben“. Obwohl er damit als hohle Marionette und der Film im Film als zynische Manipulation entlarvt wird, wird aber – und das ist die Kunst der Coens – die spirituelle „Botschaft“ keineswegs entwertet. „Hail, Caesar!“, der Film, ist wie ein Möbiusband. Während man der Geschichte und der Geschichte über die Geschichte gleichzeitig folgt, kann man nie entscheiden, wann die fiktive Erzählung gebrochen wird und die Reflexion über das Geschilderte beginnt.

Im Vergleich zu früheren Filmen der Brüder könnte man hier die „emotionale Tiefe“ vermissen. Im Gegensatz zu „Fargo“ oder „Burn After Reading“ wird keine weitere Geschichte über jene tragischen Verlierertypen erzählt, die sich durch Verkettungen abstruser Umstände, an denen sie scheinbar keine Schuld haben, in schicksalhaftes Scheitern verstricken. Das porträtierte Studiosystem ist – trotz eine Serie unausweichlicher Pannen, Verfehlungen und Missgeschickte – eine Maschinerie, die auf geheimnisvolle Weise bestens funktioniert. Und deshalb ist auch der Tonfall in dieser zuweilen etwas barock anmutenden Komödie versöhnlicher. Verlierer gibt es in „Hail, Ceasar!“ auch, es sind aber nur Randfiguren. Es sind die Kommunisten.

Ein Mann namens Ove

(SE 2016, Regie: Hannes Holm)

Blockwart mit Orientierungsproblemen
von Julia Olbrich

Kennen Sie die Kleideraufbewahrungssysteme, wo man ganz viel Zeugs in einen Plastiksack quetscht und dann den Staubsauger nimmt, um alles auf wenige Zentimeter Raum einzuvakuumieren? Und wenn man später diesen …

Kennen Sie die Kleideraufbewahrungssysteme, wo man ganz viel Zeugs in einen Plastiksack quetscht und dann den Staubsauger nimmt, um alles auf wenige Zentimeter Raum einzuvakuumieren? Und wenn man später diesen Plastiksack wieder öffnet, da wird man fast erschlagen durch all das, was zum Vorschein kommt? Dann wissen Sie, wie es Ihnen mit der Tragikkomödie „Ein Mann namens Ove“ gehen könnte. Man verlässt das Kino und denkt sich: Ach, hätten die Filmemacher doch nur eine Serie draus gemacht!

Mit „Ein Mann namens Ove“ hat man sich an die Verfilmung des schwedischen Buch-Bestsellers mit gleichnamigem Titel gewagt, über 500 000 Exemplare sollen alleine in Schweden davon verkauft worden sein, der Roman erscheint außerdem in über 30 Ländern. Held der Geschichte im Buch wie jetzt auch im Film ist Ove, ein grantelnder Stinkstiefel im Rentenalter. Ove (Rolf Lassgard) ist der Typ Mensch, der jeden Regelverstoß als Angriff auf die eigene Person auffasst. In seiner Nachbarschaft tritt Ove als Blockwart auf, dem beim morgendlichen Patrouillengang nichts entgeht: Er notiert Falschparker, überprüft die Mülleimer auf korrektes Recycling und hebt Zigarettenstummel vom Boden auf.

Umso überraschender, dass Ove nicht rebelliert, als er nach 40 Jahren treuer Arbeit in seiner Firma eines Tages einfach so „wegrationalisiert“ werden soll. Mit scheinbarem Gleichmut hört sich Ove die Kündigung an, die ihm zwei aalglatte Anzugträger schmackhaft machen wollen. Tatsächlich ist der Rauswurf aus dem Betrieb für den 62-Jährigen eine Befreiung. Wenige Wochen zuvor ist Oves Ehefrau verstorben, nun gibt es nichts mehr, was ihn auf der Erde noch hält.

Also setzt Ove alles daran, so schnell wie möglich zu sterben. Doch das erweist sich als erstaunlich schwierige Aufgabe. Gleich bei seinem ersten Versuch wird er gestört durch die fröhlich-chaotische Multikulti-Familie, die neu in Oves Nachbarschaft zieht. Plötzlich weiß Ove nicht mehr, was zuerst erledigt werden muss: Zu sterben, oder seine Nachbarn in die Schranken zu weisen, die gerade dabei sind, den nächsten Blödsinn anzustellen.

In seinem Bemühen zu Sterben erinnert Ove an Harold aus „Harold und Maude“, und auch bei Ove scheitert ein Suizidversuch nach dem anderen. Vor allem Oves Nachbarin Parvaneh (Bahar Pars) schafft es, häufig dazwischenzufunken. Sie spürt seine verborgene Melancholie und bindet den kratzbürstigen Rentner kurzerhand in ihr Familienleben ein: spontane Krankenhausbesuche, Babysitting und Fahrstunden mit der Familienkutsche. Ove wird der Mann für alle Notfälle. Und er macht all das mit, weil die junge Nachbarin ihn an seine verstorbene Ehefrau erinnert.

Das erfährt der Kinozuschauer in Rückblenden. Und hier ist man schon beim Hauptproblem des Films angekommen: Er spielt zu wenig in der Jetzt-Zeit. Stattdessen muss sich der Zuschauer durch lange und viele Zeitsprünge durcharbeiten. Das stört gewaltig. Denn erstens fragt man sich, welche Geschichte erzählt werden soll: Geht es um Ove, den miesepetrigen Blockwart? Oder um den Ove aus der Vergangenheit – den rührigen Ehemann, den schüchternen Sohn? So viele Handlungsstränge und Zeitebenen mögen im Roman funktionieren, den Film bremsen sie jedoch. Das Ziel der vielen Rückblenden ist klar – der Zuschauer soll lernen, dass Ove nicht nur ein Anti-Held ist. Sondern eigentlich ein ganz großes Herz hat. Sicherheitshalber wird diese Quintessenz am Film-Ende gleich mehrmals direkt ausgesprochen, sodass man sie selbst mit zwei Promille kapieren würde. Garniert wird dies mit einer Filmmusik, die durch ihr ostentatives Drücken auf die Tränendrüse doch sehr an Rosamunde Pilcher-Filme erinnert.

Fairerweise muss man anmerken, dass sich Regisseur Hannes Holm mit der schlichten Tonalität seines Films konsequent an die Literaturvorlage hält. Denn das Buch „Ein Mann namens Ove“ von Autor Fredrik Backman ist kein Werk schwieriger Worte, und komplizierte Satzkonstruktionen findet man eher auf dem Mond als hier. Oder wie es Spiegel-Redakteure in einer Besprechung zu Backmans Nachfolgeroman auf den Punkt bringen: „Im Vergleich zu diesem Buch sind die Minions Quantenphysik.“

Die besten Momente hat der Film „Ein Mann namens Ove“, wenn die Hauptfigur so richtig fies sein darf. Diese Szenen sind originell, witzig und gut getimt. Darunter Oves Versuch, sich mit einem Strick zu erhängen, und selbiger einfach vom Deckenhaken abreißt. Kurzerhand marschiert Ove in den Baumarkt, wo er den Strick gekauft hat, und fordert sein Geld zurück: „Es hieß doch, der Strick sei universell einsetzbar!“ Eindeutig punkten kann der Film auch mit seinen Hauptdarstellern, allen voran Rolf Lassgard („Kommissar Wallander“), der den Ove spielt. Scheinbar mühelos wechselt Lassgard dabei vom polternden Rüpel zum trauernden Witwer, der ein diffuses Schuldgefühl verdrängen will.

Wer Fan des Buches war, muss beim Film keine Überraschungen fürchten. Man bekommt, was man bestellt – einfach aufbereitete Lebensweisheiten, hübsch fotografiert, am Ende siegt das Gute. Alle anderen Zuschauer werden möglicherweise enttäuscht sein, weil sie nach der Trailer-Vorschau mit mehr Tief- und Abgründigkeit gerechnet hätten. Und wo findet man dann Trost? Bei Filmen wie dem Animationsstreifen „Up“ (2009) oder „St. Vincent“ (2014) mit Bill Murray, die zeigen, wie man die Geschichte „Grantelnder Rentner mit weichem Kern“ um Lichtjahre eleganter erzählen kann.

Das Tagebuch der Anne Frank

(D 2016, Regie: Hans Steinbichler)

Jugendaffin ausgegrenzt
von Dietrich Kuhlbrodt

Geht doch! Ein deutscher Kinofilm – und es ist womöglich der erste -,der sich mit dem Tagebuch schreibenden Mädchen Anne Frank, 13 Jahre alt, beschäftigt, 1942 mit ihrer Familie im …

Geht doch! Ein deutscher Kinofilm – und es ist womöglich der erste -,der sich mit dem Tagebuch schreibenden Mädchen Anne Frank, 13 Jahre alt, beschäftigt, 1942 mit ihrer Familie im Versteck in Amsterdam. Vor der Tür suchen Nazis und Kollaborateure nach Juden zum Abtransport nach Auschwitz. Gedreht ist der Film, ohne Mitwirkung quotengeiler deutscher Fernsehanstalten, von Hans Steinbichler (‚Winterreise‘), Mitte vierzig. Er vollbrachte das Wunder – scheiße, das es dafür ein Wunder brauchte -,den originalen, mehr als siebzig Jahre alten Tagebuchtext der Dreizehnjährigen gegenwartsnah und jugendaffin in Bilder umzusetzen. Flüchtlinge, Stigmatisierung und so fort. Leute, das ist hochaktuell! Und die Wirkung stellt sich ohne jede Volkspädagogik ein. Klar, es ist die unglaubliche Präsenz und Authentizität der jungen Schauspielerin Lea van Acken, deren Bild den Film ins Heute bringt. Zum Schluss werden ihr bei der Aufnahmeprozedur im KZ die Haare geschoren. Sie kommentiert das nicht, sie zeigt keine Mimik, sie bleibt in Ordnung. Das ist jetzt die Ordnung. Die deutsche KZ-Ordnung.

Um meine Eloge abzuschließen, noch ein ordentliches Lob zum Schnitt. Ganz im Gegensatz zum TV-Verfahren, Hektik durch Action-Schnitt vorzutäuschen (die fusseligen Dreisekunden-Einstellungen), nehmen sich die Einstellungen im Anne-Frank-Film die Zeit, die es braucht, um Empathie und Nachdenklichkeit zu entwickeln. – Aber jetzt höchste Zeit, zu einem Schwachpunkt zu kommen. Das ist der Einsatz von Musik (Sebastian Pille). Vom easy listening bis zur Klavierbegleitung beim ersten sexy Kuscheln im Bett legen sich die dezenten Töne wie ein Vorhang vor die Szenen, die, statt unter die Haut zu gehen, zur Illustration degradiert werden, – naja, degradiert zu werden drohen.

Aber ich bleibe dabei. Die Gesamtwirkung des Films produziert ohne Extra-Dialog Nähe zum jungen Publikum und Nähe zu denen, die heute wieder aktuell geworden sind: Flüchtlinge, Vertriebene, Ausgegrenzte, Stigmatisierte und Diskriminierte.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 3/2016

The Hateful Eight

(USA 2015, Regie: Quentin Tarantino)

Hang Her High
von Harald Steinwender

Ein Schneewestern im Grand Guignol-Stil: ein großes Kasperletheater der Grausamkeiten, erzählt in sechs Kapiteln, mit feinziselierten Dialogen, allerlei Boshaftigkeiten in Wort und Bild, dramaturgisch mit (mindestens) doppeltem Boden, visuell so …

Ein Schneewestern im Grand Guignol-Stil: ein großes Kasperletheater der Grausamkeiten, erzählt in sechs Kapiteln, mit feinziselierten Dialogen, allerlei Boshaftigkeiten in Wort und Bild, dramaturgisch mit (mindestens) doppeltem Boden, visuell so breitbeinig-großspurig inszeniert, wie durch die Beschränkungen der Handlungsorte begrenzt. Die theatral anmutende Hauptbühne des grellen Schauerstücks: Minnie‘s Haberdashery, ein „Kurzwarengeschäft“, in dem es alles, wirklich alles, nur eben keine Kurzwaren gibt. Den klaustrophobischen Handlungsort fotografiert Tarantinos Stammkameramann Robert Richardson im luxuriös-verschwenderischen Breitwandformat Ultra Panavision 70, mit auffällig gesetzten Lichtspots, die nie glaubwürdig eine Motivation durch den filmischen Realismus behaupten. Das Format kam in der Filmgeschichte bislang gerade zehn Mal zum Einsatz, unter anderem für monumentale Extravaganzen wie William Wylers „Ben-Hur“ (1959) und Anthony Manns „The Fall of the Roman Empire“ („Der Untergang des Römischen Reichs“; 1964) – für ein Quasikammerspiel wie „The Hateful Eight“ ist das ein ziemlich teurer Witz auf Kosten der Filmgeschichte, aber durchaus schön anzusehen.

Natürlich ist auch Minnie‘s Haberdashery ein alles andere als karger Ort, sondern vielmehr ein barock überladener, multifunktionaler und überdimensionierter Tante-Emma-Laden mit Eisen- und Süßwarenabteilung, angeschlossener Bar, Lounge und Saloon, primitivem Restaurant und Ruhebereich (komplett mit Federbett). Als sozialer Raum ist diese aus groben Bretterbohlen zusammengenagelte zugige Monstrosität, durch deren Ritzen die Schneeflocken des vor der Tür tobenden Sturms in pittoresken Lichtbahnen tanzen, eine Miniatur der amerikanischen Gesellschaft und der Gemeinheiten, die sie hervorbringt. Das ist naheliegend und wurde ähnlich schon mit den offensichtlichen Vorbildern, der Wüstentaverne in Sergio Leones „C’era una volta il West“ („Spiel mir das Lied vom Tod“; 1968) und deren dreißig Jahre älterem funktionalem Vorbild, der Kutsche in John Fords Klassiker „Stagecoach“ („Ringo – Höllenfahrt nach Santa Fé“; 1939), betrieben. Bei Ford ging es um das amerikanische Bürgertum – repräsentiert u.a. durch einen korrupten Bankier, eine aufrichtige Prostituierte, eine bigotte Gesellschaftsdame, einen versoffenen Arzt und das von John Wayne gespielte virile Ringo Kid. Auf engstem Raum zusammengepfercht mussten sie in Kriegszeiten sich gegen den Feind im Inneren wie außen bewähren (um die Kutsche tobt ein Indianerkrieg, drinnen sitzen die Verräter, in der außerfilmischen Realität erschüttert der Zweite Weltkrieg die Menschheit).

Tarantino, der sich bevorzugt mit postklassisch/postmoderner Wendung auf die Filmgeschichte bezieht, arbeitet sich nach „Django Unchained“ freilich ein weiteres Mal an einer filmischen Meditation über „Rasse“ und Klasse, Nord und Süd, Mord und Totschlag, Freund- und Feindschaft ab. Dabei bezieht er sich explizit auf die Dekonstruktion des Westerngenres in Europa, wo Regisseure wie Sergio Leone und Sergio Corbucci Fords Western nach dem Krieg für sich entdeckten, um im Anschluss das Genre mit Hohn und Spott, Blut und Gewalt noch einmal neu zu erfinden und zugleich zu beerdigen. Wenn man so will, verfährt Tarantino nun mit Corbucci und Leone wie diese einst mit Ford und dem klassischen Western: Der Re-Lektüre folgen Anverwandlung und Umdeutung, bald Übersteigerung und Parodie, schließlich auch Threnodie oder absoluter Nihilismus. „The Hateful Eight“ betreibt all das, nicht unbedingt in dieser Reihenfolge, aber in ein und demselben Film. Als cineastische Exkursion in die Höhen und Untiefen der Filmgeschichte ist „The Hateful Eight“, wie kaum anders zu erwarten, ein Film mit mehrfacher Metaebene; auch, aber nicht ausschließlich, vor der Folie der Filmgeschichte zu lesen. Die wesentlichen Bezüge neben den bereits genannten, sind mal seriös, mal eher von den Rändern der Filmgeschichte geräubert: etwa von Archie Mayos Gangstermelodram „The Petrified Forest“ („Der versteinerte Wald“; 1936) und John Frankenheimers Eugene-O’Neill-Adaption „The Iceman Cometh“ (1973); von den nihilistischen Splatter-Eurowestern „Il grande silenzio“ („Leichen pflastern seinen Weg“, 1968; Sergio Corbucci) und „Condenados a vivir” („Todesmarsch der Bestien“; 1972; Joaquín Luis Romero Marchent); aber auch von späten Genre-Crossovers wie John Carpenters „The Thing“ („Das Ding aus einer anderen Welt“; 1982) und Antonia Birds „Ravenous“ (1999) oder dekadenten Hochglanzausstattungsfilmen wie Sidney Lumets schillerndem All-Star-Cast-Mystery „Murder on the Orient Express“ („Mord im Orient-Express“; 1974).

Wie bei Ford wird die Zwangsgesellschaft der „Hateful Eight“ von außen wie aus der Gemeinschaft heraus bedroht – draußen tobt ein Blizzard, drinnen herrscht das Motto „Jeder gegen Jeden und Gott gegen alle“. Alle sind hier Falschspieler, tragen falsche Namen und Aliase, lassen gefälschte Briefe kreisen und erzählen sich falsche (oder zumindest fragwürdige) Geschichten. Kurz: Sie sind Geschichtenerzähler, besessen davon zu reden – und sei es, dass sie sich dabei um Kopf und Kragen bringen. Selbst der filmische Raum lügt und erzählt demjenigen eine Geschichte, der die Zeichen zu lesen vermag: Unter dem Bretterboden liegt ein zweiter Raum (wir wollen an dieser Stelle besser nicht zu viel erzählen) und eine verräterische Spur aus Jelly Beans liefert einmal ein wichtiges Indiz, um einen Verräter zu enttarnen.

Es ist eine kuriose und mit galligem Witz überzeichnete Gesellschaft, die sich in der grotesken Herberge eingefunden hat. Da wäre etwa der von Kurt Russell gespielte Kopfgeldjäger John „The Hangman“ Ruth, ein in einen speckigen Bärenfellmantel gewickelter Trampel, der sich in jeder gesellschaftlichen Interaktion wie ein Elefant im Porzellanladen benimmt und niemandem außer sich selbst traut. Oder der von Sam Jackson gespielte ehemalige Ex-Nordstaatensoldat Major Marquis Warren, der als schwarzer Kopfgeldjäger bevorzugt Weiße tötet, Hercule Poirots Deduktionsgabe mit Sadismus und Blutdurst vereint und einmal eine unfassbare Geschichte über sexuelle Gewalt und fehlgeleitete Rache erzählen wird, deren filmische Bebilderung zum Geschmacklosesten zählt, was Tarantino in seiner ganzen Karriere inszeniert hat. Hinzu kommt ein wieseliger Redneck (Walton Goggins – die unterhaltsamste der Figuren), der als Outlaw-turned-Sheriff sich noch nicht ganz in seine den Rechtstaat tragende neue Rolle gefunden hat; und ein wortkarger Mexikaner (stoisch bis zur Versteinerung: Demián Bichir). Komplettiert wird das Ensemble durch einen affektierten Henker mit lächerlichem britischen Akzent und dubiosen rechtsphilosophischen Ansichten, den Tim Roth als grandiose Parodie auf Christoph Waltz angelegt; den schmierigen Cowboy-Outlaw Joe Gage (Michael Madsen), der wie eine schlecht gealterte Ausgabe von Waynes Ringo Kid wirkt, im Alter fett, träge und gemein geworden; sowie einen zauselhaften alten Südstaatengeneral, gespielt von Bruce Dern, der einst in Mark Rydells „The Cowboys“ (1972) Filmgeschichte schrieb, als er den „Duke“ John Wayne erschießen durfte. Mittendrin und nur scheinbar außen vor: die aasige Banditenkönigin Daisy Domergue (Jennifer Jason Leigh), um die die Handlung kreist und die in ihrer Hyänenhaftigkeit bestens zum restlichen Personal passt. Was alle eint, sind Niedertracht und Gehässigkeit, Rachsucht und Boshaftigkeit, Rassismus, Menschenhass und Zynismus. Wenn die skurrile Post-Sezessionskriegsgemeinschaft die zugige Hütte unter sich aufteilt, um abermals eine Grenze zwischen Nord und Süd zu ziehen, dann verweist das wie der grassierende Rassismus und die Misogynie weniger auf das historische Amerika um 1870, als auf den großen Graben, den Tea Party, Polit-Populisten wie Trump und die ausufernde Polizeigewalt gegen Minderheiten in den letzten Jahren aufgerissen haben.

Als Spektakel wird „The Hateful Eight“ mit seiner ausufernden Laufzeit von 167 Minuten – in der 70mm-Roadshow-Version sogar auf 187 Minuten gedehnt – für das große Publikum aber doch wohl eine Enttäuschung. Sicher, die ersten, fast ausschließlich von Dialogen und Morricones düsterem Score akzentuierten zwei Stunden sind als Abfolge geschliffenen Parlierens höchst unterhaltsam, kommen mitunter nahe an dem absurden Humor von Monty Python. Dann aber beginnt das große Sterben – und das wird so lang und qualvoll inszeniert wie einst in Tarantinos Debüt „Reservoir Dogs“ („Wilde Hunde“; 1992). Der Wechsel in Tonalität und Tempo, auch eine spät nachgereichte, für sich genommen zwar überragend inszenierte Rückblende, in der die Vorgeschichte erzählt wird, tun dem Film strukturell leider nicht gut. Schon bei „Django Unchained“ (2012) gab es einige Längen – das Splatstick-Finale war einfach zu viel des Guten, wirkte wie ein überflüssiges Addendum und Zeichen einer bislang ungekannten Unentschlossenheit dieses Filmemachers, der mit „Inglourious Basterds“ 2009 sein definitives Meisterwerk abgeliefert hat. Auch die rassistischen Grenzüberschreitungen, die er seitdem wie besessen als performative Akte in seinen Filmen ausagieren lässt, haben sich längst auf unangenehme Weise verselbstständigt. Hier läuft Tarantino Gefahr, zu seiner eigenen Parodie zu werden.

Wo die gefühlt hundertste Erwähnung des ätzenden „Nigger“-Wortes ihre Wirkung verfehlt, ist es diesmal die exzessive Gewalt gegen die einzige relevante Frauenfigur des Films, die in diesem wortgewaltigen Affektkino darauf angelegt ist, dem Kinopublikum eine dezidiert körperliche Reaktion abzuringen. Jennifer Jason Leighs Daisy bekommt mal die Faust ins Gesicht gedroschen, dann den Ellbogen aufs Auge, darf Zähne spucken und wird nach und nach zu blutigem Brei geschlagen. Das ist so konsequent wie schrecklich und bündelt im Guten wie im Schlechten das Progressive und Reaktionäre des Filmemachers Tarantino. Denn einerseits ist Daisy Domergue auf Augenhöhe mit den verwilderten Männern dieses Films: von rasender Wut und lauernder Kraft, mindestens so zäh und boshaft wie die Kerle und in ihrem unbedingten Überlebenswillen wohl auch die vernünftigste Figur im ganzen Ensemble. Wenn Leigh in der Kutsche den Ellbogen ihres Bewachers ins Gesicht gehämmert bekommt, dann legt die Schauspielerin in ihre anschließende Großaufnahme einen ganzen Strauß widersprüchlicher Regungen hinein: Wut und Trotz, Stolz und Überheblichkeit, Schmerz und Übelkeit, Hass und dunkle Erotik. Mal wirkt sie wie eine bleiche Geistererscheinung aus Kaneto Shindos expressivem Geister-Chanbara „Onibaba“ (1964), dann wieder so animalisch wie die Männer, wenn sie das Blut von ihren Lippen leckt, Schneeflocken mit offenem Mund isst oder Zähne durch den Raum spuckt. Aber so stark diese Figur trotz ihrer Ketten ist, der Film, der als groteske Komödie beginnt und als blutiger Körperhorror endet, degradiert sie letztlich doch über weite Strecken zum menschlichen Sandsack. Im Gegensatz zu Jamie Foxx‘ Django darf Daisy nie ihre Ketten verlieren.

In der Schlusseinstellung – und wer den Film noch nicht gesehen hat, sollte an dieser Stelle aufhören zu lesen – gelingt es Tarantino tatsächlich, in einem Bild fast alles zusammenzubringen, was sein Kino ausmacht: Grenzüberschreitung und Genrevermischung, den reaktionären und selbstgerechten Aufstand eines äußerst begabten Autodidakten gegen den Mainstream, dessen Teil er längst geworden ist, zugleich aber auch so etwas wie „kritisches“ Filmemachen. Wenn Daisy nach einem bösartigen Akt der frontier justice blutbesudelt vom Deckenbalken baumelt, darunter die feixenden, selbst sterbenden Männer, die auf dem Bett langsam ausbluten, dann ist sie eine Wiedergängerin des Gekreuzigten, der als Hommage an Sam Fullers Kriegsfilm „The Big Red One“ (1980) den Film in Großaufnahme eröffnet. Ihr grausamer Tod überhöht Daisy und verleiht ihr zudem den Rang einer Sozialbanditin. Es waren in den Filmen des von Tarantino immer wieder bis in Einzelbilder zitierten Sergio Leone (ebenso wie grundsätzlich im Westerngenre) ja immer die outcasts und Proletarier, die aufgeknüpft werden, die Aufwiegler, Egomanen und Anarchisten. Hängen war im viktorianischen England, auf das auch Roths Henker-Figur verweist, die Strafe für wiederholtes Betteln, in B. Travens Abenteuerromanen das Folterinstrument der imperialistischen Herrschaft gegen die indigenen Rebellen. Man hängte Aufrührer, Volkshelden; Menschen, deren Tod ausgestellt werden soll, um die Sanktion ins öffentliche Bewusstsein zu hämmern. Dass die männlichen Zeugen der Hinrichtung, zugleich selbsternannte Richter und Henker, selbst sterben, gerät im nihilistischen Kosmos dieses Films fast schon zu einem Moment der Hoffnung. Zugleich bringt diese höchst ambivalente Einstellung etwas auf den Punkt, das zentral im Westerngenre und im Subgenre des Buddy Movies steht, aber so offen und übereindeutig nie ausgestellt werden durfte: der (selbst dem Tod geweihte) Männerbund konstituiert sich allem voran aus der Vernichtung der Frau. Das mag man widerlich finden, es zerrt aber auch eine verdeckte Wahrheit des Kinos ins Licht.

Hier und hier gibt es einen weiteren Text zu ‚The Hateful Eight‘.

Im Schatten der Frauen

(F 2015, Regie: Philippe Garrel)

Beziehungsweise
von Ulrich Kriest

Schon ein seltsames Gefühl, den neuen Film von Philippe Garrel in einer ganz normalen Pressevorführung zu sehen. Bislang musste man sich immer etwas mühen, um dessen Filmen auf Festivals, im …

Schon ein seltsames Gefühl, den neuen Film von Philippe Garrel in einer ganz normalen Pressevorführung zu sehen. Bislang musste man sich immer etwas mühen, um dessen Filmen auf Festivals, im Fernsehen oder auch auf Trägermedien auf den Fersen zu bleiben. Filme, auf die man als Hörer der Musik von Nico ja automatisch aufmerksam wurde, weil das mysteriöse Cover von „Desertshore“ Bilder von „La Cicatrice Interieure“ zeigte. Nico lebte in den 1970er Jahren mit Garrel zusammen. Garrel, Sohn und Vater eines Schauspielers, dreht seit 1964 Filme mit einer unverwechselbaren Handschrift. Filme in schwarz-weiß (meistens), low budget, aber dafür auf 35mm in Cinemascope und mit exquisiten Kameraleuten wie Raoul Coutard oder – aktuell – Renato Berta. Ein Geheimtipp, hierzulande.

Lakonisch könnte man sagen: seine Filme wie „Ich hör’nicht mehr die Gitarre“ (1991) oder der international durchaus erfolgreiche „Unruhestifter“ (2004) erzählen von jungen Menschen, Liebe, Drogen und dem Filmemachen. Gleiches tut auch „Im Schatten der Frauen“, der vom Künstlerpaar Pierre und Manon erzählt. Die beiden arbeiten unter prekären Lebensbedingungen – gleich zu Beginn wird Manon vom Vermieter bezüglich des Zustands ihrer Wohnung zur Rede gestellt – an einer Dokumentation über die Résistance. Pierre ist dabei der »wichtige« Filmemacher, während Manon eher im Hintergrund agiert und auch für den Lebensunterhalt sorgt. Dass sich niemand für Pierres Filme interessiert, stört Manons Mutter, nicht aber Manon.

Eines Tages – die Filmemacher recherchieren in einem Filmarchiv – begegnet Pierre einer jungen Praktikantin und beginnt eine Affäre. Geplagt von Gewissensbissen, aber auch verliebt, versinkt Pierre in einer Form von larmoyantem Selbstmitleid, das man als Zuschauer kaum aushält. Dann, eines Tages, entdeckt Pierres Geliebte Elisabeth zufällig in einem Café, dass auch Manon einen Geliebten hat. Um Pierre an sich zu binden, beschließt Elisabeth, Pierre davon zu erzählen. Für Pierre bricht eine Welt zusammen. Die Freiheit, die er sich als Mann selbst nahm, kann er als Mann der Frau nicht zugestehen.

Er trennt sich, behandelt aber auch Elisabeth schlecht. Eine Erzählerstimme aus dem Off registriert: „Es war die Doppelmoral der Männer, die sagen, dass ist so, wie es ist, weil ich ein Mann bin – und dafür, dass ich ein Mann bin, kann ich nichts.“ Mit Hilfe der vorzüglichen Kameraarbeit von Berta und durch die Möglichkeiten der mise-en-scène erzählt Garrel fast wie ein Choreograf von den Unsicherheiten und Ungleichzeitigkeiten des Beziehungsdreiecks. Und weil Garrel das alles äußerst präzise, aber völlig unprätentiös und nicht ohne eine gewisse Nüchternheit, die man nicht als Boshaftigkeit missverstehen sollte, in Szene setzt, könnte man meinen, es hier mit einer Entdeckung, einem vergessenen Nebenwerk der Nouvelle vague zu tun zu haben.

Der Film fließt recht unspektakulär und ohne konventionelle dramaturgische Verdichtungen vor sich hin. Dazu passt, dass die Paare mal intensiv, mal redundant agieren – und manchmal ungeschönt auch beides gleichzeitig. Garrel zeigt, aber er wertet nicht. Oder doch? Schließlich erweist sich der Widerstandskämpfer, dessen heroischen Erzählungen Pierre aufgesessen ist, als Betrüger, als Kollaborateur. Pierre reagiert verstört, doch Manon pragmatisch. Warum nicht, wenn wir es schon mit Doppelmoral zu tun haben, mehrfach, ein Film über einen Kollaborateur, der sich als Widerstandskämpfer inszeniert.

Klar, dass die Geschichte von Pierre und Manon hier noch nicht zu Ende sein kann. „Im Schatten der Frauen“ ist ein so annähernd perfektes, dabei völlig aus der Zeit gefallenes und auch im besten Sinne zeitloses Kino-Abenteuer, dass man sich beim Sehen irritiert in einer Retrospektive wähnt.

The True Cost – Der Preis der Mode

(USA 2015, Regie: Andrew Morgan)

Ich hab nichts anzuziehen
von Jürgen Kiontke

Andrew Morgan begibt sich in „The True Cost – Der Preis der Mode” auf die Suche nach den Bedingungen, unter denen Fast Fashion hergestellt wird. Menschenrechte sind nicht dabei. Wenn …

Andrew Morgan begibt sich in „The True Cost – Der Preis der Mode” auf die Suche nach den Bedingungen, unter denen Fast Fashion hergestellt wird. Menschenrechte sind nicht dabei.

Wenn einem früher Klamotten nicht gefielen, tauschte man sie vielleicht wieder im Laden ein. Heute sind sie so billig, dass man sie einfach wegwirft. Fast Fashion, das ist das Zeug, was man zum Beispiel bei Handelsketten wie Primark erwirbt. „Jeden Tag hatte ich neue Tüten, aber nie was zum Anziehen“, beschreibt Lucy Siegle dieses Prinzip. Früher sei sie auch ein Shopping Victim gewesen, erzählt die englische Journalistin, die seit geraumer Zeit kritisch über die Mode-Großindustrie berichtet. „Gewählte Haut“ nennt sie die billigen Stoffstücke. Offensichtlich habe es sich bei großen Teilen der Konsumenten durchgesetzt, genau die mehrmals am Tag zu wechseln.

In anderen Weltregionen, da wo die Ware gewebt und zusammengenäht wird, haben die Modetrends tödliche Folgen: Sei es in den vergifteten Arealen der Lederindustrie am Ganges oder bei den zu traurigem Weltruhm gekommenen Näherinnen in Bangladesh: Dort stürzte vor zwei Jahren eine der Fabriken ein, die auch für viele deutsche Firmen gearbeitet hat: Rana Plaza. 1129 Tote hat es damals gegeben. Es gab keinen Arbeitsschutz und keine Bauaufsicht. Wer protestierte, wurde aus dem Verkehr gezogen. Auf 5000 Fabriken, die so funktionieren, wird das Land geschätzt.

Kritikerin Siegle gehört zu den vielen Stimmen, die Regisseur Andrew Morgan für seinen Film „The True Cost – Der Preis der Mode“ gesammelt hat. Er bietet viel und gute Recherche, die Morgan zuweilen drastisch aufbereitet. „True Cost“ leuchtet die Hintergründe der Produktion aus, liefert Fakten und Zahlen zu den größten Modehäusern und den Arbeitsbedingungen. Lange widmet er sich der Näherin Shima, die ihr Kind nur einmal im Jahr sieht, weil der Arbeitsort so weit entfernt ist. Mit Blick auf die prekären Verhältnisse nicht nur in Bangladesh sagt sie: „An dieser Kleidung klebt Blut.“

Belegt wird die gewalttätige Komponente auch mit Prügelszenen in der kambodschanischen Stadt Phnom Penh, wo Arbeiter für den Mindestlohn kämpfen. Drastisch sind die Bilder aus Indien, wo Arbeiterinnen in der Lederindustrie von schlimmen Vergiftungen berichten. Das verwendete Chrom zerstört die Haut. Und – wenn das nicht eine irrwitzige Analogie zum Modezirkus ist- führt zu Pigmentstörungen, wie sie „America’s Next Topmodel“-Teilnehmerin Chantelle Brown-Young weltberühmt gemacht hat, die aber an einer seltenen Krankheit leidet. Nun landen die Inderinnen nicht auf dem Laufsteg, sondern ihre „Eltern warten darauf, dass ihre Kinder sterben“, wie Expertin Vandana Shiva ausführt, denn: „Mit der Chemie ist es wie mit Drogen: Je mehr es gibt, desto mehr wird benutzt.“ Kontrastiert wird das ganze Elend mit Hochglanzbildern und TV-Ausschnitten von Modenschauen und Talkshows, Ausschnitten aus Youtube-Fashion-Kanälen junger Frauen im Fast-Fashion-Fieber. „Guckt mal, was ich heute wieder gekauft hab. Ich hatte nichts mehr anzuziehen.“

Es werden aber auch Gegenstrategien und Menschenrechtskampagnen vorgestellt – Initiativen wie die Clean-Clothes-Campaign finden allerdings keine Erwähnung, mehr Raum wäre hier durchaus angebracht gewesen. Andererseits gehört es zu den echt bemerkenswerten Momenten dieses Films, auch Top-Designerinnen wie Stella McCartney vor die Linse bekommen zu haben. Tenor: Wir haben es zwar nicht gleich gemerkt, aber: Nachhaltige Produktion ist eine Notwendigkeit.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal