Blog Archives: 2017

Maria und ich

( , Regie: )

Glücklich, was sonst?
von Sven Jachmann

Menschen reagieren auf das, was ihnen fremd ist, in der Regel mit Angst, Ignoranz oder offenkundiger Abscheu. Dass es hierzu nicht mehr braucht, als eine geringfügig angehobene Lautstärke der Stimme …

Menschen reagieren auf das, was ihnen fremd ist, in der Regel mit Angst, Ignoranz oder offenkundiger Abscheu. Dass es hierzu nicht mehr braucht, als eine geringfügig angehobene Lautstärke der Stimme und die gelegentliche Demonstration introvertierter Launen, erzählt der spanische Comiczeichner und Illustrator Miguel Gallardo in dieser liebevollen Hymne auf seine (im Jahre 2007, dem Entstehungszeitraum der Geschichte, zwölfjährige) Tochter Maria.

Maria ist Autistin, was bedeutet, dass sie in unpassenden Augenblicken ihre Forderungen besonders lautstark vertritt, geregelte Abläufe für die innere Stabilität bevorzugt, ausnahmslos in der dritten Person spricht oder die Abscheu gegenüber ihr unsympathischen Gesprächspartnern durch dezentes Kneifen unterstreicht, Zuneigung übrigens ebenso. Und es bedeutet, dass ihr ungewöhnliches Auftreten sie dazu verdammt, immer wieder von erbosten Blicken traktiert zu werden. Von denen gibt es in der autobiografischen Erzählung reichlich, in der Gallardo von den letzten Urlaubstagen der beiden während der Sommerferien im Süden von Gran Canaria berichtet.

Genau genommen ist „Maria und ich“ auch eine Schulung des Blickens. Bereits Marias erster Auftritt am Flughafen rückt sie innerhalb des Plots wie auch der Erzählökonomie ins Zentrum: Von dem hektischen Treiben hilflos überfordert, macht sie durch laute „Ceiba ist hässlich“-Rufe auf sich aufmerksam, und die Reaktionen der Fluggäste folgen prompt: „So ein schlecht erzogenes Kind!“ „Allerdings, gute Frau!“ Nur wenige Seiten später blicken auf einem ganzseitigen Panel gleich dreizehn Augen streng auf das pechschwarz gezeichnete Duo herab – ein schönes Sinnbild für die stillen Sanktionen des öffentlichen Raums, in dem die Gesetze der Normativität zwar ohne physische Gewalt, dennoch mit suggestiver Härte und insgeheimem Hass geltend gemacht werden. Aber Gallardo erzählt zugleich vom Gegengift zur erduldeten Ablehnung: Mit Humor und Selbstironie erobern sich die zwei den öffentlichen Raum ganz einfach zurück, machen sich freiwillig zum Zentrum der Aufmerksamkeit. Im Speisesaal trägt Maria ein knallrotes T-Shirt mit der Aufschrift „I’m unique just like everyone else“. Überhaupt ist ihr stets zufriedenes Gesicht der einzig herzliche Ruhepol in der Phalanx einer meist nicht gerade entspannt dreinblickender Touristenschar.

Denn trotz des ethnologischen und sarkastischen Blicks auf das Verhalten der Urlauber ist das Buch in erster Linie Gallardos Liebeserklärung an seine Tochter, das zugleich spielerisch in die Lebenswelt Autismus einführen will. Dieses Vorhaben wird denn auch zum ästhetischen Prinzip. Formal wählt er den Mittelweg aus Comic und illustrierter Ich-Erzählung. Auf gerade mal sechs Seiten finden sich comicspezifische, eine sequentielle Lesart erfordernde Panelanordnungen, auf den restlichen ergänzen meist grobe Skizzen den handschriftlichen Fließtext.

So wie Gallardos Zeichnungen Maria zeit ihres Lebens amüsieren, eine grundlegende Basis ihrer Kommunikation bilden und ihr außerdem als wichtige Orientierungshilfe im Alltag dienen (denn Kinder mit Autismus besitzen ein exzellentes visuelles Gedächtnis, gleichzeitig eine geringe Frustrationstoleranz, weswegen die regelmäßige Arbeit mit Piktogrammen eine für sie leichtere Strukturierung ihrer Aktivitäten ermöglicht), macht er sich also ihren Blick zueigen und lässt ihn zu jenem der Leser werden, indem er das geschriebene Wort durch Zeichnungen unterstützen, aber nicht notwendig ergänzen lässt. Auf diese Weise gerät Maria zweifach in den Mittelpunkt der Geschichte: als Figur und durch ihre Perspektive auf die Welt. Pointierter könnte man auch sagen, dass die Codierung der Geschichte Maria sowohl in narrativer als auch narratologischer Hinsicht individualisiert, ohne sie ungewollt zum Symptom ihrer Krankheit zu degradieren oder den Plot zu einem schwerfällig lesbaren Erzählexperiment ausschweifen zu lassen. Die avisierte Aufmerksamkeit hat jedenfalls gefruchtet: Dank des Buchs sind Miguel und Maria auch die Hauptakteure ihres eigenen Dokumentarfilms, der vom spanischen Fernsehen produziert wurde.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: taz

Maria & Miguel Gallardo: „Maria und ich“
Aus dem Spanischen von Isa Marin Arrizabalaga.
Reprodukt, Berlin 2010, 64 Seiten, 14 Euro

(Alle Bilder: © Reprodukt)

Die besten Filme des Jahres 2016

( , Regie: )


von

Die 20 Lieblingsfilme 2016 unserer Kritiker/innen: 1. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 897 2. Wild (R: Nicolette Krebitz) 494 3. Cemetery Of Splendour (R: A. Weerasethakul) 365 4. The Hateful …

Die 20 Lieblingsfilme 2016 unserer Kritiker/innen:
1. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 897
2. Wild (R: Nicolette Krebitz) 494
3. Cemetery Of Splendour (R: A. Weerasethakul) 365
4. The Hateful Eight (R: Quentin Tarantino) 302
5. The Lobster (R: Yorgos Lanthimos) 261
6. The Big Short (R: Adam McKay) 260
7. Arrival (R: Denis Villeneuve) 258
8. Right Now, Wrong Then (R: Hong Sang-soo) 256
9. Paterson (R: Jim Jarmusch) 215
10. Wiener Dog (R: Todd Solondz) 187
11. Zoomania (R: B. Howard, R. Moore, J. Bush) 187
12. Vor der Morgenröte (R: Maria Schrader) 186
13. The Revenant (R: Alejandro González Iñárritu) 186
14. L’Avenir (R: Mia Hansen-Love) 184
15. Son Of Saul (R: László Nemes Jeles) 184
16. The Whispering Star (R: Sion Sono) 182
17. American Honey (R: Andrea Arnold) 181
18. Captain Fantastic (R: Matt Ross) 179
19. Hail, Caesar! (R: Ethan Coen, Joel Coen) 175
20. Marketa Lazarova (R: Frantisek Vlacil) 171

* * *

Ricardo Brunn
1. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 98/100
2. Alles andere zeigt die Zeit (D 2015, R: A. Voigt) 96/100
3. Cemetery Of Splendour (R: A. Weerasethakul) 92/100
4. Vor der Morgenröte (R: Maria Schrader) 91/100
5. The Neon Demon (R: Nicolas W. Refn) 88/100
6. Dieses Sommergefühl (R: Mikhael Hers) 85/100
7. Arrival (R: Denis Villeneuve) 83/100
8. Wild (R: Nicolette Krebitz) 81/100
9. Der Wert des Menschen (R: Stéphane Brizé) 75/100
10. Mikro & Sprit (R: Michel Gondry) 71/100

Carsten Happe
1. Raum (R: Lenny Abrahamson) 87
2. American Honey (R: Andrea Arnold) 85
3. Captain Fantastic (R: Matt Ross) 84
4. Rogue One: A Star Wars Story (R: G. Edwards) 82
5. Arrival (R: Denis Villeneuve) 80
6. The Nice Guys (R: Shane Black) 79
7. Midnight Special (R: Jeff Nichols) 77
8. 10 Cloverfield Lane (R: Dan Trachtenberg) 75
9. Wild (R: Nicolette Krebitz) 74
10. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 72

Marit Hofmann
1. The Lobster (R: Yorgos Lanthimos) 97
2. American Honey (R: Andrea Arnold) 96
3. Cemetery Of Splendour (R: A. Weerasethakul) 95
4. Sonita (R: Rokhsareh Ghaemmaghami) 94
5. Chevalier (R: Athina R. Tsangari) 93
6. Les Sauteurs (R: A. B. Sidibé, E. Wagner, M. Siebert) 92
7. Gestrandet (R: Lisei Caspers) 90
8. Safari (R: Ulrich Seidl) 85
9. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 84
10. Nocturnal Animals (R: Tom Ford) 79

Sven Jachmann
1. The Big Short (R: Adam McKay) 90
2. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 90
3. Der Bunker (R: Nikias Chryssos) 85
4. The Lobster (R: Yorgos Lanthimos) 85
5. Raving Iran (R: Susanne Regina Meures) 80
6. The Witch (R: Robert Eggers) 80
7. Wild (R: Nicolette Krebitz) 80
8. Wiener Dog (R: Todd Solondz) 75
9. The Hateful Eight (R: Quentin Tarantino) 70
10. Der Nachtmahr (R: Akiz) 70

Jürgen Kiontke
1. Théo und Hugo (R: O. Ducastel, J. Martineau) 95
2. Saint Amour (R: B. Delépine, G. Kervern) 90
3. Grüße aus Fukushima (R: Doris Dörrie) 85
4. National Bird (R: Sonia Kennebeck) 80
5. Monsieur Chocolat (R: Roschdy Zem) 75
6. The True Cost – Der Preis der Mode (R: A. Morgan) 70
7. Sonita (R: R. Ghaemmaghami) 65
8. Urmila (R: Susan Gluth) 60
9. Sumé – The Sound of a Revolution (R: Inuk S. Hoegh) 55
10. Colonia Dignidad (R: F. Gallenberger) 50

Ekkehard Knörer (in „Cargo“)
1. Cemetery Of Splendour (R: A. Weerasethakul) 93
2. L’Avenir (R: Mia Hansen-Love) 89
3. Bella e perduta (R: Pietro Marcello) 89
4. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 87
5. Die Geträumten (R: Ruth Beckermann) 86
6. Salt and Fire (R: Werner Herzog) 83
7. Right Now, Wrong Then (R: Hong Sang-soo) 82
8. Marketa Lazarova (R: Frantisek Vlacil) 81
9. The Big Short (R: Adam McKay) 80
10. Hail, Caesar! (R: Ethan Coen, Joel Coen) 80

Ulrich Kriest
1. L’Avenir (R: Mia Hansen-Love) 95
2. Overgames (R: Lutz Dammbeck) 94
3. Wild (R: Nicolette Krebitz) 93
4. Louder than Bombs (R: Joachim Trier) 90
5. Son Of Saul (R: László Nemes Jeles) 85
6. Paterson (R: Jim Jarmusch) 84
7. Die Prüfung (R: Till Harms) 81
8. Love & Friendship (R: Whit Stillman) 80
9. Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte (R: C. Belz) 72
10. Alipato – The Brief Life of an Ember (R: Khavn) 70

Außerdem: 11. The Forbidden Room (R: Guy Maddin, Evan Johnson) 65, 12. Wiener Dog (R: Todd Solondz) 63, 13. The Assassin (R: Hou Hsiao-hsien) 61, 14. Tschick (R: Fatih Akin) 60, 15. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 60

Top 10 2016 (Dokumentar-/Essayfilm): Overgames, Die Prüfung, Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte, Cahier africain, Landstück, Feuer bewahren – Nicht Asche anbeten, Heart of a Dog, Safari, Im Strahl der Sonne, Wer ist Oda Jaune?

Wolfgang Nierlin
1. Das unbekannte Mädchen (R: J.-P. und Luc Dardenne) 98
2. Paterson (R: Jim Jarmusch) 95
3. Vor der Morgenröte (R: Maria Schrader) 95
4. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 95
5. Der Wert des Menschen (R: Stéphane Brizé) 92
6. Wiener Dog (R: Todd Solondz) 92
7. Schneider vs. Bax (R: Alex van Warmerdam) 92
8. Im Schatten der Frauen (R: Philippe Garrel) 90
9. Right Now, Wrong Then (R: Hong Sang-soo) 90
10. Heart of a dog (R: Laurie Anderson) 85

Julia Olbrich
1. Zoomania (R: B. Howard, R. Moore, J. Bush) 100
2. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 100
3. Vaiana (R: Ron Clements, John Musker) 90
4. Spotlight (R: Tom McCarthy) 80
5. Findet Dorie (R: A. Stanton, A. MacLane) 77
6. Willkommen bei den Hartmanns (R: S. Verhoeven) 75
7. Dope (R: Rick Famuyiwa) 75
8. How to be single (R: Christian Ditter) 75
9. Sausage Party (R: G. Tiernan, C. Vernon) 70
10. Freeheld (R: Peter Sollett) 65

Manfred Riepe
1. The Whispering Star (R: Sion Sono) 100
2. The Big Short (R: Adam McKay) 90
3. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 80
4. Frantz (R: Francois Ozon) 70
5. Julieta (R: Pedro Almodóvar) 60
6. Café Belgica (R: Felix Van Groeningen) 50
7. Hail, Caesar! (R: Ethan Coen, Joel Coen) 40
8. Spotlight (R: Tom McCarthy) 30
9. Wiener Dog (R: Todd Solondz) 20
10. Raum (R: Lenny Abrahamson) 10

Michael Schleeh
1. Baahubali (R: S.S. Rajamouli) 92
2. The Hateful Eight (R: Quentin Tarantino) 90
3. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 88
4, Wild (R: Nicolette Krebitz) 86
5. The Revenant (R: Alejandro G. Iñárritu) 85
6. Cemetery Of Splendour (R: A. Weerasethakul) 85
7. Right Now, Wrong Then (R: Hong Sang-soo) 84
8. Sweet Bean (R: Naomi Kawase) 83
9. The Whispering Star (R: Sion Sono) 82
10. The Assassin (R: Hou Hsiao-hsien) 80

Harald Steinwender
1. Son of Saul (R: László Nemes) 99
2. Die Hände meiner Mutter (R: Florian Eichinger) 99
3. Arrival (R: Denis Villeneuve) 95
4. Captain Fantastic (R: Matt Ross) 95
5. Marketa Lazarová (R: Frantisek Vlacil) 90
6. Green Room (R: Jeremy Saulnier) 90
7. The Revenant (R: Alejandro G. Iñárritu) 85
8. The Hateful Eight (R: Quentin Tarantino) 85
9. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 85
10. The Neon Demon (R: Nicolas W. Refn) 80

Andreas Thomas
1. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 90
2. Zoomania (R: B. Howard, R. Moore, J. Bush) 87
3. Wild (R: Nicolette Krebitz) 80
4. The Hateful Eight (R: Quentin Tarantino) 57
5. Hail, Caesar! (R: Ethan Coen, Joel Coen) 55
6. Paterson (R: Jim Jarmusch) 36
7. The Revenant (R: Alejandro G. Iñárritu) 16
8. N/A
9. N/A
10. N/A

„Es ist schwerer geworden die inneren Konflikte der Menschen abzubilden“

( , Regie: )


von Ricardo Brunn

Für seinen Film „Alles andere zeigt die Zeit“ hat der Regisseur Andreas Voigt am 20. Januar 2017 den Bayerischer Filmpreis für Dokumentarfilm überreicht bekommen. Im Interview mit der Filmgazette spricht …

Für seinen Film „Alles andere zeigt die Zeit“ hat der Regisseur Andreas Voigt am 20. Januar 2017 den Bayerischer Filmpreis für Dokumentarfilm überreicht bekommen. Im Interview mit der Filmgazette spricht er über die Arbeit an der Leipzig-Reihe, Menschen, die nirgendwo ankommen und nach dem Fall der Mauer innere Mauern errichteten sowie die Schwierigkeit Dokumentarfilme heute zu finanzieren.

Ricardo Brunn: Herr Voigt, in Ihren Filmen spielen Züge ein sehr große Rolle. Fahren Sie auch privat lieber mit dem Zug?
Andreas Voigt: Als ich noch jünger war, fand ich das durchaus spannend mit dem Auto in vier Stunden von Berlin nach Frankfurt zu fahren, was eigentlich völliger Schwachsinn ist. Zum Glück kann man das mit der Bahn heute auch hinkriegen. Ich fahre sehr gern Bahn, weil ich dann im Bordrestaurant sitzen und die Landschaft an mir vorbeiziehen lassen kann.

Für mich haben Zugfahrten immer etwas Melancholisches. Diese Mischung aus Aufbruch und Abschied, dieser Zwischenraum in einer Zwischenzeit, die einen zur Reflexion zwingt, macht mich immer völlig fertig.
Zugfahren ist immer in gewisser Weise melancholisch. Die Melancholie, die man bei der Fahrt im ICE erlebt, unterscheidet sich auch noch mal erheblich von der einer langsamen Fahrt in der Regionalbahn. Aber prinzipiell hat das auch etwas mit der Grundstimmung zu tun, in der man sich selbst im Moment der Fahrt befindet.

Mich interessiert das deshalb, weil für Ihre Filme dieses Gefühl eines vorübergehenden Zustandes prägend ist. Vieles in Ihren Filmen, seien es politische Verhältnisse oder die Figuren, bleibt in einer Art Schwebe. In „Invisible“ geht es sogar ganz konkret um diese Ungewissheit, die in einem Zwischenraum entsteht. Die portraitierten Flüchtlinge sind gefangen zwischen den Ländern, zwischen den Bürokratien. Ihnen wird somit ein trostspendendes Ankommen verwehrt.
Wir sind doch alle mehr oder weniger in diesem Schwebezustand. Wir leben in konkreten sozialen, politischen und ökonomischen Umständen, egal, ob wir Straßenbahnfahrer, Lehrer, Hure oder Politiker sind. Und mittlerweile haben die meisten verstanden, dass das Leben leider kein Prozess hin zu etwas Besserem ist. Wir sind eher so ein Tumbleweed, ein Knäuel, das vom Wind durch die Wüste getrieben wird. Ich will damit nicht sagen, dass es in der Welt keine Zusammenhänge, keine Kausalitäten gibt, aber es beschreibt dieses Gefühl, von dem ich glaube, dass es uns doch sehr bestimmt.

Mir scheint, dass sich Ihr Interesse an diesem Gefühl einer Schwebe, das sich auch als fehlender Halt beschreiben lässt, sehr stark aus der Zeit des Mauerfalls speist, der für die Leipzig-Reihe das prägende Motiv ist.
Letztlich mache ich natürlich Filme immer aus einer Grundstimmung heraus, die ich als Autor, als Filmemacher habe. Ich will das gar nicht so hoch hängen, aber es ist so eine Art seismographisches Grundgefühl. Also, ein Gefühl dafür, was gerade in einer Gesellschaft und mit einem selbst in dieser Gesellschaft geschieht.
Was die sentimentale Grundstimmung in meiner Leipzig-Reihe angeht, so hat das schon etwas mit einer Abschiedssituation zu tun. „Alfred“ ist 1986 zu DDR-Zeiten entstanden. Da gab es diese Abschiedsstimmung schon. Damals primär als Abschied von einem Menschen und dessen persönlicher Geschichte. Wir dachten, dass man solche Geschichten erzählen muss, weil sie in der Gesellschaft damals sehr wenig erzählt worden sind.
In „Leipzig im Herbst“ wollten wir erst einmal nur beschreiben und zeigen, was da auf den Strassen eigentlich los war. Das ist zuallererst eine Materialsammlung, die wir aus der Sicht von unten, aus der Sicht der Demonstranten und Bürger gemacht haben. Die waren wir ja selbst auch.
Bei „Letztes Jahr Titanic“ war dann klar, dass es sich um einen Abschied von einem Land handelt. Es ist eine Auseinandersetzung und auch eine Bewältigung eigener Befindlichkeiten, eigener Geschichte und eine erste Auseinandersetzung mit dem Neuen, das in diesem Moment dazukam. Und das war ja auch nicht widerspruchsfrei. Insofern ist das Filmemachen, und das war es besonders auch in der Wendezeit, der Versuch, das eigene Leben zu bearbeiten und zu bewältigen, denn Brüche dieser Art erlebt man nicht so oft.

Meine Eltern wurden 1960/61 geboren und sind in der DDR aufgewachsen. Ich entdecke sehr viele Gemeinsamkeiten zwischen ihnen und den Protagonisten der Leipzig-Reihe. Mein Eindruck ist, dass dieser Bruch von Vielen materiell ganz gut verarbeitet wurde. Auf emotionaler Ebene sieht das oftmals ganz anders aus. Da sieht man Menschen, die sehr hohe Fassaden aufgebaut haben.
Die sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse prägen uns sehr nachhaltig. Isabel formuliert das in der Szene beim Bügeln in „Große Weite Welt“, die in „Alles andere zeigt die Zeit“ noch einmal vorkommt, ja recht deutlich. Sie musste sich anpassen, Geld spielte plötzlich eine große Rolle. Sie machte nichts mehr ohne Gegenleistung.

Und sie hat sich eine Umgebung geschaffen, die ihr Innerstes komplett abschirmt. Also, schnelles Auto, funktionale Wohnung, Vogelspinne als Haustier.
Ja, unser materielles Sein – und das meint nicht nur den Besitz – bestimmt unser Bewusstsein. Das ist der Schlüssel dafür. (lacht)

Das Resultat dieser verpassten Verarbeitung, jetzt unabhängig von Isabel, sehen wir heute zum Teil auf dem Theaterplatz in Dresden, wo die Parolen aus dem Herbst 1989 plötzlich instrumentalisiert werden.
Das ist interessant, da schließt sich tatsächlich ein Bogen zu Pegida. Denn da steht nicht nur die bildungsferne Schicht. Viele von denen, die da schreien, haben ihr materielles Leben ganz gut auf die Reihe bekommen. Aber das Darunterliegende, die eigene Psyche, die Verletzungen, eben nicht. Das darf man nicht unterschätzen.

Könnten Sie sich vorstellen, mit diesen Demonstranten die Leipzig-Reihe, die zu einem Großteil ja dieses Unverarbeitete in Bildern zu fassen versucht, fortzusetzen?
Ich würde da natürlich gern weiterarbeiten. Nicht sofort, weil sich bestimmte Entwicklungen und Widersprüche erst einmal zuspitzen müssen, damit man die gut filmisch darstellen kann. Aber wir drehen natürlich für unser kleines Archiv weiter, weil sich jetzt gerade auch bei den Protagonisten aus „Alles andere zeigt die Zeit“ Neues ergibt. Kann auch sein, dass nie ein neuer Film daraus wird. Wir müssen auch mal schauen, ob wir eine kleine Förderung dafür bekommen können. Das ist nahezu unmöglich geworden für diese Art der Arbeit einfach mal 3.000 Euro zu bekommen, um dann Material zu sammeln, Entwicklungen erst einmal zu dokumentieren. Der Förderprozess ist langwierig und nicht flexibel genug. Die Bedingungen für die Dokumentarfilmförderung sind insgesamt viel schwieriger geworden.

Können Sie das genauer ausführen?
Ich muss voranstellen, dass solche Filme ohne die deutsche Filmförderung, die sich in den letzten 20 Jahren fundamental verändert hat, überhaupt nicht möglich wären. Bis Mitte der Neunziger Jahre war das eher eine kulturelle Filmförderung, in der die wirtschaftlichen Aspekte eine untergeordnete Rolle spielten. Das hat sich sehr stark verändert ab Ende der Neuziger Jahre. Wir haben beispielsweise für „Alles andere zeigt die Zeit“ die Schlussförderung von 30.000 Euro nicht zusammenbekommen. Der Film ist dann nur zustande gekommen, weil der Produzent und ich jeweils auf 15.000 Euro verzichtet haben. Natürlich weiß ich schon lange, dass man mit solchen Filmen keine Zuschauermassen ins Kino kriegt, was wiederum die Finanzierung erheblich erschwert. Auf der anderen Seite denke ich, dass es im Dokumentarfilm darum geht, ein Dokument einer Zeit, in der man selbst gelebt hat, zu schaffen. Unabhängig von irgendwelchen Zuschauerzahlen.

Warum erodiert das Fundament für diese Art des Dokumentarfilms aus Ihrer Sicht?
Die Entertainisierung unseres Lebens und damit auch des Dokumentarfilms hat in den letzten Jahren sehr stark zugenommen.

Sie meinen die Vielzahl an Musikdokumentationen oder Naturdokureihen wie „Die Nordsee von oben“, „Deutschland von oben“, „Bavaria“ et cetera?
Ja, all so was. Da versucht man ein schwindendes Publikum zu erreichen, das eben zunehmend unterhalten und nicht mit schwierigen Themen belästigt werden will. Und dabei muss man auch noch irgendwie wirtschaftlich sein. Das ist das Eine.
Beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen ist das noch einmal eine ganz andere Nummer. Die sind am Dokumentarfilm gar nicht mehr interessiert. Und nutzen die Produzenten auch schamlos aus, weil sie wissen, dass die Produzenten einen Sender für die Förderung brauchen, weshalb sie ihre eigenen Finanzierungsanteile an den Filmen auf ein Minimum zurückfahren. Das sind dann die Regeln des Spiels.

Lassen sich die Spielregeln ändern?
Bei der ARD werden etwa zwei Drittel des Budgets nicht mehr für das Programm, sondern nur noch für die Struktur, die Gehälter und für Pensionen ausgegeben. Und innerhalb der bestehenden Strukturen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens lässt sich das auch nicht verändern. Die Festgefahrenheit hat etwas mit der Größe der Apparate und einem Mangel an Transparenz zu tun. Und ich glaube nicht, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen, für das ich ja auch arbeite und über dessen Existenz ich im Grunde genommen sehr froh bin, auf Dauer strukturell wie ein sozialistischer Staatsbetrieb geführt werden kann. (Pause) Ich darf das sagen, weil ich das früher, zu Ostzeiten, miterlebt habe. (lacht)

Von außen scheint es manchmal so, als ob der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht mehr um seine gesellschaftliche Verantwortung weiß?
Ja, ja, das ist richtig. Das wissen die wenigsten dort. Das liegt auch daran, dass du bestimmte Typen nicht mehr hast. Da sitzen heute BWLer und Juristen. Zwischendrin vielleicht noch ein Germanist oder Politikwissenschaftler. Es gibt einfach keine Macher in Redaktionsverantwortung mehr. Die wenigsten Redakteure oder Redakteurinnen verstehen den filmischen Schaffensprozess und wissen kaum, was sie da eigentlich tun.
Das öffentlich-rechtliche Fernsehen befindet sich seit vielen Jahren in einer selbst gewählten Auseinandersetzung mit dem Privatfernsehen. Das schafft unheimlich viel Druck.

Und dieser Druck ist absolut überflüssig und künstlich, weil die Öffentlich-Rechtlichen im Gegensatz zum Privatfernsehen durch eine Gebühr finanziert werden. Aber da scheinen die Kräfte einer Quantifizierung zur besseren Vergleichbarkeit allen Schaffens stärker zu sein.
Das steckt von Grund auf in unserem System. Es geht um eine Durchökonomisierung jeglichen Lebensprozesses und was wir heute erleben ist die Verschärfung dieser Verhältnisse. Denn natürlich geht es auch im Film darum, mit weniger Mitteln noch mehr zu produzieren.

Ich habe das Gefühl, dass die Montage in Ihren Filmen über die Jahre schärfer geworden ist. Hat das auch etwas mit diesem ökonomischen Druck, der auf Ihnen und Ihren Figuren lastet, zu tun?
Eine Gesellschaft besteht wesentlich aus ökonomischen Interessen und großen Widersprüchen zwischen denen, die integriert sind und denen, die draußen sind. Das will ich schon beschreiben.

Das beginnt bei Ihrem Film „Glaube, Liebe, Hoffnung“, in dem sie sehr bewusst junge Neonazis gegen den „Immobilienhai aus dem Westen“ setzen.
Als ich damals 1991/1992 recherchiert habe, wurde die rechte Radikalisierung im öffentlichen Raum sehr deutlich. Und der Immobilienbesitzer Jürgen Schneider ist eingebettet in dieses eine Jahr, in dem wir mit den Jugendlichen drehen, was natürlich einen unheimlichen Kontrast erzeugt. Das ist mir damals auch sehr vorgeworfen worden. Der damalige ARD-Programmdirektor fand es skandalös, dass einer der führenden deutschen Unternehmer so dargestellt wird wie in meinem Film, dass er also in diesem Kontext auch mit Neonazis gezeigt wird. Aber was ist denn passiert? Was erschreckt uns denn so? Unsere Gesellschaft besteht aus ganz vielen parallelen Zuständen, Parallelwelten, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Aber betrachtet man sich die ökonomischen und die psychologischen und sozialen Auswirkungen, dann hängt das schon alles zusammen. Es geht darum, Wirklichkeit zu beschreiben. Unabhängig davon, ob ich das gut oder schlecht finde. Es muss beschrieben werden als ein komplexer Zusammenhang. Und wenn du eben von denen ganz unten erzählst, ist es gut in gleichem Atemzug von denen oben zu erzählen. Beide haben ja nur scheinbar nichts miteinander zu tun. Die begegnen sich nie im alltäglichen Leben, bestenfalls medial. Und dann begegnen sie sich eben doch, weil sie verschiedene Rollen im gleichen ökonomischen System haben und es zu Wechselwirkungen kommt. Und denen da unten wird das langsam klar. Die goutieren das, was die da oben machen, nicht mehr. In diesem Spannungsfeld entstehen die Konflikte, in denen wir uns im Moment bewegen. Und das ist nur der Anfang dieser Konflikte. Die werden gerade globaler. Dahinter steckt mehr. Es geht genau darum, mithilfe des Dokumentarfilmes diese Spannungsfelder zu beschreiben.

Diese Spannungsfelder rahmen Sie häufig, wodurch sich nicht selten ein weiterer Kommentar ergibt. In „Glaube, Liebe, Hoffnung“ ist das die wüstenähnliche Landschaft eines Tagebaus im Winter. Das ist etwas, was die Anfänge und Enden Ihrer Filme sehr prägt. Was bedeuten in diesem Zusammenhang Bilder für Sie?
Ein Film braucht einen bestimmten Rahmen. Wenn ich mit der Arbeit beginne, denke ich viel darüber nach, wie die ersten fünf und die letzten drei Einstellungen aussehen könnten. Es geht beim Bildermachen darum, eine gewisse Stimmung zu erzeugen. Es gibt da diesen schönen Satz zur Doppeldeutigkeit des Begriffs der Einstellung: ‚Eine Einstellung ist der Blick der Kamera; die kann man nicht probieren, die hat man.’ Und ich glaube, darum geht es beim Bildermachen. Wir sehen jeden Tag irgendwelche Bilder, aber das sind eben irgendwelche Bilder. Wenn man jedoch eine Geschichte von dieser Welt erzählen will, dann spiegelt man diese Welt. Und das bedarf einer Auseinandersetzung mit unserer jeweiligen Sicht auf die Welt. Und die wiederum wird durch unsere Erziehung, unsere Sozialisation und Bildung, durch unseren gesellschaftlichen Status geprägt.
Bilder in einem Film sind auch nie zufällig. Sie können durch einen Zufall entstanden sein, aber wenn sie im Film sind, im Kontext mit anderen Bildern, sind sie eben nicht mehr zufällig. Selbst wenn sich der Autor darüber keine Gedanken gemacht hat, haben sie eben trotzdem eine Bedeutung.

Sie haben einmal davon gesprochen, dass „die Dinge viel stärker im Kopf oder im Bauch stattfinden“ als früher, was dazu führt, dass es schwerer wird das zu zeigen. Was genau meinen Sie damit?
In den Achtziger Jahren konnte man eine Kamera auf der Straße aufstellen und allein durch den Dreck in der Luft konntest du direkt eine Stimmung erzeugen. Zeig eine leere Straße mit Ruinen und die mausgrauen Klamotten der Leute und jeder weiß, was gemeint ist. Es gab im Osten eine bestimmte Äußerlichkeit, die sofort für eine Innerlichkeit stand. Und das ist heute anders.
Die Grundkonflikte kannst du heute nicht mehr im Äußeren so stark sichtbar machen, weil sie eher in die Köpfe der Menschen gewandert sind, nach innen. Es ist schwieriger geworden das in Bildern zu beschreiben. Das Interesse des Dokumentarfilms an Ostdeutschland und Osteuropa direkt nach der Wende hat viel mit dieser Direktheit zu tun. Es ging darum, dass es dort Bilder gab, die du sonst nirgendwo machen konntest und die du auch heute nicht mehr machen kannst.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Angleichung der äußeren Umgebung in den Städten und der Schwierigkeit die inneren Konflikte der Menschen darzustellen?
Es hat viel mit unserer Lebensweise zu tun. Unsere ökonomischen Prozesse sind viel stärker in uns hineingegangen, weil sich unsere Arbeit auch stark verändert hat.
Diese Arbeit in „Letztes Jahr Titanic“, also die Eisengießerei, die sieht aus wie bei Adolph von Menzel im 19. Jahrhundert. Die Bilder sind aber gerade einmal 25 Jahre alt. Die Körperlichkeit, die du früher in solchen Bildern fandest und die ja etwas ganz Spezifisches erzählt, die begann sich Ende der Neunziger Jahre aufzulösen, weil sich auch die technischen Prozesse verändert haben. Die ist heute nicht mehr so sichtbar und damit natürlich auch bestimmte Widersprüche nicht. Da ist der Dokumentarfilm gefordert, dies auf eine andere Art nach außen zu tragen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Über den Sachcomic "Das Überleben der Spezies"

( , Regie: )

Kapitalismuskritik und sprechende Pferdearschlöcher
von Sven Jachmann

Mit der Diversifizierung des Comic-Marktes entwickelt sich auch das Themenspektrum in die Breite. Vielleicht erleben Sachcomics deswegen derzeit einen kleinen Boom. Ältere Linke mögen sich daran erinnern, dass der Rowohlt …

Mit der Diversifizierung des Comic-Marktes entwickelt sich auch das Themenspektrum in die Breite. Vielleicht erleben Sachcomics deswegen derzeit einen kleinen Boom. Ältere Linke mögen sich daran erinnern, dass der Rowohlt Verlag schon Ende der 1970er Jahre eine ganze Flut an Comiceinsteigerfibeln auf den Markt schmiss („Marx“, „Lenin“, „Freud“, „Mao“, „Trotzki“ etc. „für Anfänger“). Ein ästhetisch recht zweifelhaftes Lesevergnügen, das heute mit ähnlicher Konzeption (von Adorno bis Foucault) vom Wilhelm Fink Verlag fortgeführt wird. Wirklich eigensinnige Versuche wie Scott McClouds kanonisierter Meta-Comic „Comics richtig lesen“, immerhin bereits 1993 erschienen, bleiben Ausnahmeerscheinungen. Oft gewinnt man eher den Eindruck, dass seitens der Macher die Wahl des Mediums mit einer didaktisch grundierten Geringschätzung des selbigen einhergeht: Die Leute lesen keine schwere Bücherkost, also entschlacken wir den Inhalt und reichern ihn mit Bildern an. Holen wir die faulen Leser/innen dort ab, wo sie sind.

Die gleichnamige Marx-Biografie des Knesebeck Verlags (2013) mag da noch durch sympathische Superheldenreferenzen punkten. Die Beiträge in „Die große Transformation“ (Jacoby & Stuart) hingegen, ein Comic über den Klimawandel, der sich 2013 zumindest branchenintern als kleiner Bestseller erwies, vereint all die langweiligen Fehltritte, die in dem Genre widerfahren können: Viel Text, entweder vermittelt von talking heads oder einer „Kamera“, die einer BBC-Doku gleich durch die Schauplätze schwebt, aufgelockert durch Diagramme und Landkarten und koordiniert von einem „Moderator“ – nicht mehr als eine starre Spiegel TV-Reportage ohne Akustik.

Paul Jorion, Ökonom an der Universität in Brüssel und Wirtschaftskolumnist der Le Monde, und Grégory Maklès, französischer Comiczeichner u.a. der World of Warcraft Parodie „Stevostin“, zeigen in ihrer Gemeinschaftsarbeit „Das Überleben der Spezies“, wie es besser geht. Gewiss will das Duo ebenfalls vermitteln, im Zweifel aber lieber agitieren, und aus dieser unverblümten Haltung spricht zutiefst humanistische Sorge. Die bedingt sich aus ihrer zentralen Frage danach, warum und inwiefern der Finanzmarkt-Kapitalismus die Menschheit flächendeckend ins Elend stürzt. Die Antworten sind weniger Theorie denn fatalistischer Witz, arrangiert als andauernder, galliger Assoziationsstrom, in dem Figuren und Schauplätze so schlagartig wechseln wie in den besten Zeichentrickpassagen eines Michael Moore Films.

Da sind zunächst die Arbeitnehmer. „Fast jeder gehört dazu, zu den 99 Prozent. Berufstätig, ehemals berufstätig oder auf Arbeit hoffend. Sie werden gepäppelt, gepflegt und perfekt in Schuss gehalten – so steht es jedenfalls in den Arbeitsverträgen, die sie mit viel Schwung unterzeichnen.“ Visualisiert als Lego-Männchen entwickeln sie allerlei Methoden, um die apokalyptischen Wirtschafts- und Katastrophenmeldungen zu vergessen: noch mehr fernsehen, Familien gründen, Politikern vertrauen, gegen Werbung protestieren. Aber sitzt das Lego-Männchen Das Überleben der Spezies lesend daheim im Sessel, wird es von Schuldgefühlen gequält: zu viel Zeug, Papierverbrauch, Plastiksessel (natürlich ein Lego-Stein) nicht recycelbar. Sein Psychiater kann das larmoyante Klagen nicht mehr hören: „Es liegt nicht an ihnen! Sondern an der Welt!“

Es folgt die Geschichte des Überschuss (in deren Verlauf jenem Menschen, der zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte mittels Kraft und Keule andere für sich die Beeren pflücken lässt, oben auf seinem einsamen Kontrollhügel zwar schnell langweilig wird, aber: „Hauptsache Arbeit.“) und sie endet bei zwei weiteren Akteuren: dem Arbeitgeber (ein grimmiger General) und dem Kapitalisten (der Monopoly-Zylinderträger). Lebenspartner, die sich die Welt so machen, wie sie ihnen am besten gefällt: als Monopoly-Spiel (und so wird auch uns von den zweien fortan das Wirtschaftssystem erklärt). Bevor das naive Lego-Männchen am runden Tisch bei der Verteilung des Überschusses, ein gigantischer Wall aus Geldbündeln, die Internationale anstimmt, halten sie es mit Scherzanrufen als Finanzberater bei Laune und versprechen bombastische Kredite: „Simpel, aber man muss drauf kommen: Man gibt diesem Trottel seinen eigenen Anteil von dem Überschuss, der durch seine zukünftige Arbeit entstehen wird. Und kassiert obendrein noch Zinsen!“

Widerstand? „Wie kann es sein, dass fast die gesamte Menschheit beinahe die gesamte Arbeit erledigt und nahezu den gesamten Überschuss einer Schar von Heißsporen und Zockern überlässt?“ Switch zu einem Pferderennen vor einer Phalanx aus Monopoly-Kapitalisten: Ein Pferd stürzt und verletzt sich. Der Reiter eilt zu Fuß zum Ziel, derweil das Tier vom Richter erschossen wird. „Wenn es um Wettbewerb geht und nicht um Zusammenarbeit, dann ist Mitgefühl weniger gefragt als Effektivität.“

Weil das Kapital ererbt wird, erhält der (noch) zur Poesie neigende Sohn des Monopoly-Männchens schließlich eine Führung über die Schauplätze und Stationen des Marktes und der Macht. Dabei vernehmen sie auch durchaus empörte Stimmen: „Wie sieht es mit einer Erhöhung des Weihnachtsgeldes für die Angestellten aus?“ Aber dem klagenden Anus eines grasenden Rennpferdes schenkt natürlich niemand Gehör.

Jorison und Maklès mögen keine neuen Lesarten des apokalyptischen Weltverlaufs verkünden, aber ihre Wut über das destruktive Wesen des Kapitalismus übersetzen sie in angemessen ätzende Bilder.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Junge Welt

Paul Jorison (Text) / Grégory Maklès (Zeichnungen): Das Überleben der Spezies
Aus dem Französischen von Marcel le Comte.
Egmont Graphic Novel, Köln 2014, 120 Seiten, 24,99 Euro

(Alle Bilder: © Egmont Graphic Novel)

msgl

MSGL. Mein schlecht gezeichnetes Leben

( , Regie: )

Schwarzer Mann im Kinderzimmer
von Sven Jachmann

Autobiographische Graphic Novels erschienen in den letzten Jahren zuhauf: über die erste Liebe, das elende Aufwachsen auf dem Dorf, die Zeit an der Kunsthochschule, die Flucht in eine Punkerjugend, über …

Autobiographische Graphic Novels erschienen in den letzten Jahren zuhauf: über die erste Liebe, das elende Aufwachsen auf dem Dorf, die Zeit an der Kunsthochschule, die Flucht in eine Punkerjugend, über tote Väter, lebende Mütter, Kreativitätskrisen, Pornosüchte oder Vorzüge der Prostitution. Der italienische Zeichner Gipi, bereits 2006 mit dem Comic-Oscar („Bestes Album“) auf dem Comicfestival Angoulême für seine beeindruckend aquarellierten „Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte“ ausgezeichnet, erforscht mit seinem Beitrag „MSGL – Mein schlecht gezeichnetes Leben“ also nicht unbedingt Neuland.

Wer überdies eine den Vorgängerwerken ebenbürtige Optik erwartet hat, könnte enttäuscht werden. Von wenigen Fantasiesequenzen abgesehen, wurde der eigenwillige Aquarellstil durch außerordentlich schlichte, schwarzweiße Skizzen ersetzt, vom Text deutlich dominiert. Da will jemand erzählen, von sich, und augenscheinlich soll kein opulentes Handwerk von den Worten ablenken. Es ist keine Aufstiegsgeschichte in den Salon der internationalen Comicstars, zu denen Gipi heute fraglos zählt. Es ist ein Blick zurück auf die Jugend mit den Augen des Erwachsenen und ein Blick auf das Erwachsensein mit der Wut eines Jugendlichen, und weil die Neigung, den eigenen Lebensweg als Folge kausaler Prozesse zu begreifen, viel Lug und Trug in sich birgt, eher Ausdruck von Erzähl- und Lebensstationssortierzwängen ist, verzichtet Gipi auf jede Ordnung und arrangiert sein Material assoziativ, episodisch, manchmal auch fernab der logischen Regeln irgendeines Realismus. Das ist mitunter knallhart und schonungslos selbsthassend, aber bevor die Authentizitätsfalle zuschnappt, sät Gipi lieber selbst Zweifel und lässt bspw. in einem Gespräch mit seiner Schwester, wenn auch scherzhaft, seine Sicht korrigieren („Er hatte doch eine Pistole, oder?“ – „Einen Blumenstrauss.“). Ein recht galliger Scherz, denn was die beiden diskutieren, ist wahrscheinlich die Erinnerung an eine gemeinsame Missbrauchserfahrung.

An Drastik mangelt es ohnehin nicht: Da wird ein Junge im Spiel mehr oder weniger versehentlich ins Feuer geworfen (Was wohl aus ihm wurde?), da stürzen Drogenexperimente den jungen Gipi über mehrere Monate in eine schwere Psychose, da reiht sich ein zehntägiger Knastbesuch an vielleicht jugendpathetische, aber eben doch blutige Suizidversuche und über allem thront der schwarze Mann, der, so könnte eine Wahrheit aussehen, nachts ins Kinderzimmer gestiegen ist, um das Geschwisterpaar zu vergewaltigen. Zwischen all diesen Ereignissen verschiebt sich die erzählerische Sicherheit: Mal spricht Gipi zu den Leser/innen, mal zu einem seiner Ärzte, der ihn sogar nachts aufsucht, recht gelangweilt wie stümperhaft fragend Gipis Ausführungen folgt und offensichtlich ganz andere Absichten hegt. Fast möchte man glauben, sein desinteressierter Gestus diente Gipis Selbstqual als prophylaktische Immunisierung gegen die Angst, die Leser/innen könnten ähnlich reagieren. Schlechte Medizin. Unter all den autobiographischen Versuchen der vergangenen Jahre ist dies gewiss einer der konzeptionell kompaktesten und verstörendsten. Hat die Falle also doch noch zugeschnappt.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Junge Welt

Gipi: „MSGL. Mein schlecht gezeichnetes Leben“
Aus dem Italienischen von Giovanni Peduto.
Berlin 2015, Reprodukt, 144 Seiten, 20 Euro

(Alle Bilder: © Reprodukt)

Vaterland

Nina Bunjevac: Vaterland. Eine Familiengeschichte zwischen Jugoslawien und Kanada

( , Regie: )

Traumadeutung
von Sven Jachmann

Eigentlich ein recht alltägliches Szenario: Ein verheiratetes Paar trennt sich, die Frau sucht sich schleunigst eine neue Bleibe und nimmt die Kinder mit. Der Mann zeigt sich reumütig, sucht sie …

Eigentlich ein recht alltägliches Szenario: Ein verheiratetes Paar trennt sich, die Frau sucht sich schleunigst eine neue Bleibe und nimmt die Kinder mit. Der Mann zeigt sich reumütig, sucht sie regelmäßig auf, kauft, wahrscheinlich zum ersten Mal, Blumen, wähnt sich geläutert. Ein neuer Versuch wird gewagt und schon nach wenigen Tagen ist die einstige familiäre Tristesse wieder zurück, schlimmer als zuvor. Das wäre weder außergewöhnlich noch sonderlich erwähnenswert, ahnte man als Leser/in nicht bereits, dass das Verhältnis von weitaus Schlimmerem als nur gegenseitiger Entfremdung beherrscht ist. Jede Nacht schiebt die Frau, Sally Bunjevac, einen massiven Kleiderschrank vor das Schlafzimmerfenster, um sich und ihre drei Kinder, die Töchter Sarah und Nina und den Sohn Petey, vor etwaigen Bombenanschlägen zu schützen, und dies nicht etwa in einem Bürgerkriegsgebiet, sondern inmitten einer ruhigen kanadischen Arbeitersiedlung im Jahr 1975.

Sally flieht vor ihrem Ehemann Peter Bunjevac, weil er ein antikommunistischer serbisch-nationalistischer Terrorist ist, der aus seinem politischen Exil in Kanada als Teil der Gruppe „Freedom of the Serbian Fatherland“ Attentate auf jugoslawische Einrichtungen in Nordamerika verübt, und sie ist die Mutter der Autorin und Zeichnerin dieses Comics, Nina Bunjevac. 1975 wagt Sally noch einmal den endgültigen Bruch und kehrt auf einer vorgetäuschten Urlaubreise mit den beiden Töchtern, aber ohne ihren Sohn zu ihrer Familie nach Zemun in Jugoslawien zurück. Nina Bunjevac, 1974 in Toronto geboren, hat ihren Vater im Prinzip nicht kennengelernt. 1977 stirbt Peter Bunjevac bei der Vorbereitung eines Anschlags durch eine vorzeitig ausgelöste Bombendetonation. Mit „Vaterland“ wagt die Zeichnerin eine Annäherung. Es ist der Versuch, sowohl das Verhalten der Mutter als auch den ideologischen Wahn des Vaters zu verstehen, beides etwas, dessen Ursachen ihr erst viel später begreiflich werden. Politische Geschichte wird zur Interpretationshilfe, die Bunjevacs eigenen völlig maroden Familienroman wenigstens strukturell in Ordnung bringen soll. Das darf man nicht als Geschichtslektion missverstehen. Bunjevac verbindet zwar mehrere Zeitebenen miteinander – Gespräche mit der Mutter für das Buch, die Jahre nach der gemeinsamen Flucht aus Kanada, die Biografie ihres Vaters vom Halbwaisen unter faschistischer Besatzung bis zum Tod als Terrorist, die Geschichte des Balkans im Krieg und unter Titos Herrschaft –, aber der Knoten will nicht halten.

Das Trauma, das sich schon vor Peter Bunjevacs Tod tief in Ninas Familie eingenistet hat, wird durch beständiges Schweigen oder politische Jetzt-erst-recht!-Überzeugungen gefüttert, und der Rückgriff auf die Geschichte des Balkans kehrt die Paradoxien innerjugoslawischer Konflikte hervor, die sich in Ninas zerstrittener Familie spiegeln, löst sie aber nicht auf: „Ich habe ausführlich die Geschichte dieser Region erforscht und versucht den Grund des Konflikts zwischen Serben und Kroaten zu begreifen, aber je tiefer ich komme, desto geringer scheint die Zahl der belegten Konflikte zwischen den beiden, fast identischen Gruppen zu sein; zumindest vor dem 20. Jahrhundert.“ So erweist sich auch Bunjevacs Familiengeschichte als mythologisch so aufgeladen, dass keine Wahrheit mehr abgeschöpft werden kann: Es gebe, erzählt die Autorin, zwei Versionen davon, was mit ihrem Großvater passiert ist, nachdem die jugoslawische Armee kapituliert hatte. „In der ersten Version ging er zu den Partisanen und wurde 1945 von den Deutschen an der syrmischen Front gefangengenommen. In der zweiten Version kam er nach Hause und wurde von der Ustascha gefangengenommen, nachdem er den Kirchturm bestiegen hatte, um das Dorf alleine gegen den anrückenden Feind zu verteidigen.“ Gewiss ist allein sein Tod im berüchtigten KZ Jasenovac, wo „die Deutschen die >Unerwünschten< eliminierten. Mit so viel Leidenschaft, die man braucht, um einen Dieselmotor zu perfektionieren.“

„Vaterland“ ist außerdem eine Autobiografie ohne Gedächtnis: Das Buch endet dort, wo Nina Bunjevacs Erinnerung einsetzt. Die schwarzweißen Panels sind akribisch schraffiert und wirken wie in Schockstarre eingefroren. Kein Leben, auch keine comiccharakteristischen Soundwords, die Bilder von Bombenexplosionen bleiben stumm, gemarterte Menschen (und auch Tiere) schreien lautlos. Die aufwendige Zeichentechnik sucht Distanz zum Inhalt ihrer Bilder: lieber den tiefsitzenden Identifikationsimpuls blockieren, als mit resümierendem Verstehen das Familienalbum schließen. Deswegen wird die Bildsprache auch dann und wann symbolisch, manchmal vielleicht etwas zu sehr: Wenn das erste Kapitel mit dem Bild von ungeschlüpften Eiern in einem Vogelnest beginnt, die sich später, als ein Brief samt Zeitungsartikel die Nachricht von Peters Tod an Sally überbringt, zu silhouettenartigen Raben gewachsen, zuhauf in den dunklen Gewitterhimmel erheben, mag man darüber streiten, ob hiermit balkanisches Kolorit („In der Traumdeutung, wie sie auf dem Balkan Tradition ist, bedeutet von Vögeln zu träumen, dass der Träumer Nachrichten erhalten wird.“) oder womöglich eine etwas raunende Poesie des Schreckens, die schon Clarice Starlings Lämmer schreien ließ, ihren Weg bahnt. Um das zu klären, liebe Leser/innen, tauschen Sie bitte Ihr Geld gegen dieses Buch. Es kostet genausoviel wie Christian Wehrschütz‘ History-Schocker „Brennpunkt Balkan“, ist um 156 Seiten klüger und riecht sogar besser.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 5/2015

Nina Bunjevac: Vaterland. Eine Familiengeschichte zwischen Jugoslawien und Kanada
Aus dem Englischen von Axel Halling. Berlin 2015, Avant Verlag, 156 Seiten, 24,95 Euro

(Alle Bilder: © Avant Verlag)

"Elektra" und "Ms. Marvel" zwischen Trash und genialem Relaunch

( , Regie: )

Superheldinnen im Comic
von Christoph Haas

Superheldinnen haben es nicht immer einfach. Als die Fantastic Four debütierten, regten sich manche Fanboys darüber auf, dass das Team kein reiner Männerbund war, sondern tatsächlich eine Frau mitmischte. Das …

Superheldinnen haben es nicht immer einfach. Als die Fantastic Four debütierten, regten sich manche Fanboys darüber auf, dass das Team kein reiner Männerbund war, sondern tatsächlich eine Frau mitmischte. Das ist lange her, über 50 Jahre. Heute dürfen und können Heroinnen längst alles, was ihre männlichen Kollegen machen. Weniger populär sind sie, von einigen Ausnahmen wie der kecken Catwoman abgesehen, aber nach wie vor. Zudem sind sie oft einem lächerlichen Aussehens- und Dresscode unterworfen: Melonengroße Brüste müssen ebenso sein wie Outfits, die an die Berufskleidung von Stripperinnen und Dominas erinnern.

Etwas aus dem Rahmen fällt da die 1981 von Frank Miller erfundene Auftragskillerin Elektra, in deren character design sich Crime-, Noir- und Superheldenelemente in interessanter Weise miteinander verbinden. Ursprünglich war sie nur eine Nebenfigur in „Daredevil“. Sechs Jahre später stellte Miller sie dann in den Mittelpunkt der brillant erzählten Action-Horror-Miniserie „Elektra Assassin“, deren von Bill Sienkiewicz direkt kolorierte, extravagante Bilder die Lektüre zu einem rauschhaften, tripähnlichen Erlebnis werden ließen. Alle weiteren Auftritte Elektras blieben erheblich unter diesem Niveau, und so ist es auch bei ihrem aktuellen Abenteuer. Hier kriegt es die Ninja-Dame mit Cape Crow zu tun, einem Killer im Ruhestand, dazu mit Bloody Lips, einem kannibalistischen australischen Serienmörder, der die Fähigkeiten und Erinnerungen seiner Opfer übernehmen kann. „Blutlinien“ ist wüster Trash, der Sensationen stapelt (Dinosaurier kommen ebenfalls vor) und sich dabei leider völlig ernst nimmt. Die Zeichnungen Mike del Mundos imitieren, teilweise ungeschickt, Sienkiewicz, verbunden mit ein paar Einflüssen von Bilal und Frank Frazetta.

Ein kleiner, überraschender Anlass zum Jubeln ist dagegen die neue „Ms. Marvel“-Serie. In ihrer bürgerlichen Identität war diese Heldin, die es seit 1977 gibt, bislang ein leuchtend blondes, langbeiniges All-American Girl namens Carol Danvers. Mit dem Relaunch hat sich dies radikal verändert: Kamala Khan, wie Ms. Marvel nun im normalen Leben heißt, lebt nicht im coolen New York, sondern im biederen New Jersey. Sie ist gerade 16 Jahre alt und eher ein Nerd: brünett, mittelhübsch, nicht allzu groß und schüchtern. In ihrer Freizeit publiziert sie im Internet Fanfiction. Vor allem aber: Kamala ist das Kind pakistanischer Einwanderer und daher, als erste amerikanische Superheldin, eine Muslimin.

Mit dieser Figur ist der Autorin G. Willow Wilson (einer aus Kamalas Heimatstadt gebürtigen Islamkonvertitin) nichts Geringeres als ein zeitgemäßes Update von Spider-Man geglückt. Wie der Netzschleuderer ist Ms. Marvel kein Übermensch, sondern ein friendly neighbourhood superhero. Die Welt braucht sie – zumindest am Anfang – nicht zu retten; stattdessen bewahrt sie ein Mädchen vor dem Ertrinken und verhindert einen Überfall in einem kleinen Supermarkt. Ansonsten muss sie in körperlicher wie seelischer Hinsicht erst einmal lernen, mit den Kräften, die ihr plötzlich zugefallen sind, zurechtzukommen.

Mit wenigen Strichen, aber differenziert skizziert Wilson, was es für Kamala bedeutet, als Muslimin aufzuwachsen, im Zangengriff zwischen partyfreudigen Mitschülern, die ihr mitunter mit Spott, mit Misstrauen begegnen, und einer Familie, die Wert auf Glauben, Tradition und Bildung legt. Die religiösen Werte, denen sich Kamalas Eltern verpflichtet fühlen, erscheinen als ambivalent: Friedlichkeit und soziale Verantwortung gehen Hand in Hand mit patriarchalischem Zwang. Kamalas Bruder, ein Nichtstuer, verkörpert die Versuchungen des Islamismus.

Ausbalanciert werden diese schwierigen Themen durch die zart kolorierten Bilder von Adrian Alphona, die zwischen Realismus und cartoonhafter Übertreibung oszillieren, wie auch durch Komödiantisches – etwa wenn sich Kamala in ihrer neuen Rolle tollpatschig anstellt oder feststellen muss, wie sehr ihr Kostüm im Schritt kneift. Die schönste Pointe besteht aber darin, dass „Ms. Marvel“, bei aller Innovation, den Superheldenmythos letztlich auf seine Ursprünge zurückführt: Denn schon Clark Kent alias Superman, der vom Planeten Krypton auf unsere Erde gelangte, ist ja nichts anderes als – ein Migrant.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: taz

W. Haden Blackman (Text), Mike del Mundo (Zeichnungen): Elektra. Band 1 & 2
Aus dem amerikanischen Englisch von Carolin Hidalgo.
Panini Comics, Stuttgart 2015, 124/140 Seiten, je 16,99 Euro

G. Willow Wilson (Text), Adrian Alphona (Zeichnungen): Ms. Marvel. Bd. 1-3
Aus dem amerikanischen Englisch von Carolin Hidalgo.
Panini Comics, Stuttgart 2015/2016, 124/140/180 Seiten. 16,99/16,99/19,99 Euro

(Alle Bilder: © Panini Comics)

Ulf S. Graupner, Sascha Wüstefeld: Das UPgrade. Band 1-3

( , Regie: )

Superhelden made in GDR
von Christoph Haas

Ist von Superhelden die Rede, dann denkt man an übermenschliche Kräfte und Probleme mit der Geheimidentität, an bunte Kostüme, abgefeimte Superschurken und die Straßenschluchten amerikanischer Großstädte. An eines aber denkt …

Ist von Superhelden die Rede, dann denkt man an übermenschliche Kräfte und Probleme mit der Geheimidentität, an bunte Kostüme, abgefeimte Superschurken und die Straßenschluchten amerikanischer Großstädte. An eines aber denkt man bestimmt nicht: die DDR.

Genau dort, in Dresden, ist Ronny Knäusel zu Hause, Jungpionier der zweiten Klasse in der Polytechnischen Oberschule „Fritz Heckert“. Im Sommer 1973, ausgerechnet an dem Tag, an dem er Kindergeburtstag feiern will, entdeckt Ronny, dass er in der Lage ist, sich durch Gedankenkraft blitzschnell von einem Ort zum anderen zu bewegen.

So landet er unversehens in Ostberlin, wo anlässlich der mit großem Aufwand gefeierten Weltfestspiele der Jugend der kalifornische Rockstar Cosmo Shleym auftritt. Mit dessen Song „Palms in Sorrow“ scheint die Teleportationskraft des Siebenjährigen auf geheimnisvolle Weise verbunden zu sein. Ein paar Jahre später, als Ronny erwachsen ist, wird er DDR-Bürger, die ihre Heimat verlassen wollen, mit seiner Gabe gefahrlos über die Grenze transportieren.

„Das UPgrade“ lässt zusammenwachsen, was nicht zusammengehört. Im Aufeinandertreffen der Gegensätze liegt für Sascha Wüstefeld und Ulf S. Graupner der Reiz ihrer Serie. „Es geht“, wie Wüstefeld erklärt, „nicht nur um die USA und die DDR, sondern auch darum, zwei sehr unterschiedliche Figuren zusammenzubringen: den Star und das Kind, später den alten und den jungen Mann, die lebende Legende und den Loser. Kontraste interessieren uns allgemein sehr, deswegen ist unser Comic so ein wilder Genremix geworden“.

Die beiden Künstler, die an Text und Zeichnungen gleichermaßen beteiligt sind, verarbeiten in „Das UPgrade“ Erinnerungen an die eigene Kindheit in der DDR ebenso detailreich und witzig wie ihre Liebe zur Musik, speziell zum oft melancholisch eingefärbten Sunshine Pop der Beach Boys.

Der gealterte Cosmo ähnelt dem späten, übergewichtigen Elvis, in seinem Schwanken zwischen Genie und Wahnsinn trägt er aber eindeutig die Züge Brian Wilsons. Dazu kommt ein kräftiger Schuss Science-Fiction.
„Das UPgrade“ setzt im Jahr 2738 vor Christus ein, als eine rätselhafte kosmische Substanz in der Gegend des heutigen Mexiko eintrifft, zeitgleich mit einer außerirdischen Agentin, die fortan in wechselnden Gestalten durch die Weltgeschichte reist und als atombusige, energische Krankenschwester an der Entbindung des kleinen Ronny beteiligt ist. Wie das alles zusammengehört, wird in der insgesamt auf zehn Bände angelegten Serie erst nach und nach deutlich werden.

Allerdings gibt es schon einige Andeutungen, da Graupner und Wüstefeld nicht linear erzählen, sondern zwischen den Handlungsmomenten, die zu sehr verschiedenen Zeiten spielen, abrupt hin und her springen. Der dynamische und überdreht visuelle Stil des „UPgrade“ ist von Animes beeinflusst, aber auch von den klassischen Walt-Disney-Zeichentrickfilmen und deren flächigen Bildern. Wichtiges Vorbild ist zudem das DDR-Comic-Heft „Mosaik“ der Sechziger.

„Damals waren Sachen möglich, die sich diese Zeitschrift, für die wir ja selbst eine Zeitlang gearbeitet haben, heute nicht mehr erlaubt“, meint Wüstefeld bedauernd. „Die Digedags waren nicht, wie nach ihnen die Abrafaxe, an die historische Wirklichkeit gebunden. Sie konnten, inspiriert von Sputnik und Gagarin, durch den Weltraum reisen und erlebten Abenteuer, die wie Drogentrips wirkten. Da gab es unglaubliche Farben und Figuren mit kuriosen Physiognomien.“

Nun wird das Werk noch einmal neu herausgebracht in einer großformatigen Ausgabe, die eine bessere Wahrnehmung des Artworks erlaubt. Drei Bände der Serie liegen bereits vor. Im Gegensatz zu anderen deutschen Autoren-Comics geht „Das UPgrade“ nicht mit einem großen Kunstanspruch hausieren. Umso beachtlicher ist, wie viel Ehrgeiz Graupner und Wüstefeld darauf verwenden, ihr Publikum zu unterhalten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: taz

Ulf S. Graupner, Sascha Wüstefeld: Das UPgrade. Band 1-3
Cross Cult Verlag, Ludwigsburg 2015/2016, je 64 Seiten, je 20 Euro

(Alle Bilder: © Cross Cult)

Die Frau im Spiegel

( , Regie: )

Ein Versuch über Douglas Sirk anlässlich der Gesamtretrospektive im Zeughauskino
von Nicolai Bühnemann

Am Ende landet die Liebe ziemlich buchstäblich im Müll. Und für den Mann, der die femme fatale zunächst geküsst, später erdolcht hat, weil er sich der Besessenheit für sie, die …

Am Ende landet die Liebe ziemlich buchstäblich im Müll. Und für den Mann, der die femme fatale zunächst geküsst, später erdolcht hat, weil er sich der Besessenheit für sie, die seine ganze Existenz zu durchdringen, zu verderben schien, nur so meinte entledigen zu können, gibt es nicht mal einen Abgang in Würde. Basierend auf einem Roman von Anton Tschechow, dessen Handlung ins Russland der 1910er Jahre verlegt wurde, erzählt „Summer Storm“ (1944) die Geschichte der tödlichen Obsession eines Richters (George Sanders) für eine junge Frau aus armen Verhältnissen (Linda Darnell). Der Regisseur dieses Films heißt Douglas Sirk und war doch, als er entstand, noch nicht der Douglas Sirk, der später in die Filmgeschichte eingehen sollte. Zwar hatte der 1897 in Hamburg geborene Hans Detlef Sierck seinen Namen bereits amerikanisieren lassen, als er 1937 – also einige entscheidende Jahre, in denen Sirk, der ursprünglich vom Theater kam, bereits als Regisseur unter anderem für die Ufa arbeitete, später als die meisten seiner Exil-Kollegen – mit seiner jüdischen Frau aus Nazideutschland, mit Stationen über Frankreich und Holland in die USA floh, doch sein Name sollte sich erst in den Fünfzigern etablieren, durch eine Reihe von stilbildenden Melodramen, die der Regisseur für Universal realisierte: „There’s Allways Tomorrow“, „All That Heaven Allows“, „Written on the Wind“ oder „Imitation of Life“. Georg Seeßlen schreibt über das Genre: „Jedes Melodram erzählt eine Liebesgeschichte; das heißt, was sonst notwendiges Beiwerk ist (welcher populäre Film kommt ohne Liebegeschichte aus?), bildet hier das Zentrum. Die Liebesgeschichte des Melodrams wird zumeist aus der Perspektive einer Frau, zumindest aus einer „weiblichen“ Perspektive gesehen.“

Doch die „Frauen-Filme“, durch die der Regisseur berühmt werden sollte, kündigen sich bereits in seinen früheren Arbeiten an, so etwa auch in „Summer Storm“, der mitnichten so misogyn ist, wie es die Tagline auf der DVD befürchten lässt: „The most beautiful woman that God ever forgot to put a soul into!“ Besagte Frau will erst einmal einfach nur raus aus dem Elend, aus der kargen Hütte, die sie mit ihrem Vater und einer Ziege bewohnt (und wenn ihr bärtiger Vater, als sie nachhause kommt, mit der leeren Flasche in der Hand lallt, sie möge ihm einen Kuss geben, ist das wohl der deutlichste Hinweis auf sexuellen Missbrauch, den sich ein amerikanischer Film zur Zeit des Hays Codes erlauben konnte). Sie, die sich geradezu kindlich freut über ihr erstes Paar Stiefel, das ihr einer ihrer vielen Verehrer schenkt, weiß, dass ihr einziges Kapital ihre Schönheit, ihre enorme Wirkung auf Männer ist. Und die Männer, ob ein etwas wohlhabenderer Bauer oder Vertreter einer betont dekadenten, champagnerschlürfenden Aristokratie, verfallen ihr denn auch wie die Fliegen. Im Kern mag dieser Film noch die Tragödie eines zynischen Mannes sein, der sich seinem Begehren für die „falsche“ Frau nur durch Mord entledigen kann. Bei der Zeichnung seiner zentralen Frauenfigur aber ringt er dem Mythos vom männerverschlingenden Vamp, dadurch dass er ihr Motiv ernst nimmt, einige Ambivalenzen ab.

War Sirks erster amerikanischer Film „Hitler’s Madman“ (1943), in dem es um die Verbrechen des SS-Obergruppenführers Reinhard Heydrich (John Carradine) in der besetzten Tschechoslowakei geht, den Anschlag auf ihn und die grausame Vergeltung des Regimes, noch seine deutliche Abrechnung mit der Nazidiktatur, widmete er sich in den weiteren Vierzigern überwiegend dem Film Noir – wie einige andere deutsche Exilanten, die halfen, das amerikanische Kino dieser Zeit entscheidend mitzuprägen. Die Hinwendung zu dieser Strömung beginnt vielleicht mit „Summer Storm“, der zugleich der erste von drei Filmen des Regisseurs war, in denen George Sanders die Hauptrolle spielte – auch wenn der Plot hier einem Werk der russischen Literatur entlehnt ist und nicht in einer amerikanischen Groß-, sondern einer russischen Kleinstadt spielt.

Ein wahres Meisterstück des Film Noir, das, wie jeder gute Genrefilm, die Regeln des Genres nicht nur erfüllt, sondern transzendiert, ist ihm mit „Sleep, My Love“ („Schlingen der Angst“, 1948) gelungen. Im Plot geht es um Betrug, Untreue, Liebe und Mord und Hazel Brooks spielt eine betont unterkühlte und biestige Bilderbuch-femme fatale. Aber dann gibt es da eben noch eine andere Frau, Alison Courtland, Claudette Colbert gibt sie als wahre Menschenfreundin in Schwierigkeiten, deren Perspektive der Film ab den ersten Szenen einnimmt, in denen sie sich in einem Zug vom heimatlichen New York nach Boston wiederfindet, ohne zu wissen, wie sie hier hingekommen ist. Der Film hat vier Protagonist_innen, die drei Paare bilden, von denen eines wohl seit längerem nur noch von den ehelichen Banden zusammengehalten wird, während die anderen beiden zunächst keine werden dürfen, weil sie durch eben diese Bande nicht legitimiert werden, sondern ihnen entgegenstehen. Nur in der Geschichte um Mr. Courtland, der versucht seine Frau zunächst in den Wahnsinn, schließlich in den Tod zu treiben, um es sich mit dem Geld, das sie in die Ehe brachte, und Daphne (Brooks) gut gehen zu lassen, handelt es sich um einen Film Noir. Dem gegenüber steht ein Liebesfilm um Allison und den wort- und weltgewandten, humorvollen Bruce Elcott (Robert Cummings), den sie auf ihrem ungewollten Trip nach Boston kennenlernte. Exemplarisch wird diese Konstellation in einer Szene, die beide Paare parallel montiert: Daphne und Mr. Courtland sehen wir sichtlich angespannt bei Champagner in einer zwielichtigen Bar (also einem Noir-Ort par excellence), während Allison und Bruce es sich bei Reiswein auf einer chinesischen Hochzeit so richtig gut gehen lassen.

Wie in seinen späteren Melodramen wird die Ehe hier nicht zum Hort des Glückes, sondern steht diesem diametral entgegen. Verbildlicht wird das in dem Ungeheuer von einem Haus, das die Courtlands bewohnen. Das Treppenhaus, durch das am Ende spektakulär jemand stürzen wird, scheint vor allem da zu sein, um gitterartige Schatten zu werfen. Ihren Wintergarten bezeichnet Allison einmal als Dschungel, und in einigen Außenaufnahmen erscheint das Haus, in dem sich Schreckliches ereignet, als Spukschloss. (Eine pikante Pointe des Films besteht übrigens darin, dass sich auch ein (falscher) Psychiater an der buchstäblichen Pathologisierung der Frau beteiligt – und mag man in dessen Namen Dr. Rhinehart gar eine Anspielung auf Reinhardt Heydrich sehen?) Schlussendlich erzählt „Sleep, My Love“ auch von einer, nach Seeßlen, sehr typischen Melodram-Bewegung, nämlich der „von der alten zur neuen Familie […], von der partriarchalischen zur, wenn man so will, liberalen Familie.“

Der bereits ein Jahr zuvor entstandene „Lured“ („Angelockt“) ist ein in London angesiedelter Whodunit, in dem die von Lucille Ball gespielte Protagonistin zunächst als Tänzerin in einem Nachtclub arbeitet (und der Tanz mit Männern gegen Geld erinnert nicht nur an selige Pre-Code-Zeiten, sondern ist wohl auch der deutlichste Hinweis auf Prostitution, der einem amerikanischen Film zur Zeit des Hays Codes durchgehen konnte), was sie auch in eine Reihe stellt mit der Zarah Leander-Figur in „Zu neuen Ufern“ (1937) und der ebenfalls eher prekär im Show Business beschäftigten Barbara Stanwyck-Figur in „All I Desire“ („All meine Sehnsucht“, 1953). Sie wird vom Scotland Yard engagiert, um einem dichtenden, Baudelaire verehrenden Serienkiller auf die Schliche zu kommen, der es auf junge hübsche Frauen abgesehen hat und den sie finden soll, indem sie Annoncen in die Zeitung setzt. Die Schwarz-Weiß-Fotografie des Films mit ihren expressionistischen Licht-Schatten-Spielen ist durchgehend eine Pracht. Der absolute Höhepunkt ist aber wohl der Auftritt von Boris Karloff als wahrlich unheimlicher Modeschöpfer, der als einer der ersten auf die Anzeigen reagiert. Der Mann, der einst wahnsinnig wurde, als man ihm seine entscheidende Kreation und damit seine Karriere stahl, lässt Ball nun vor einer Gesellschaft, die aus Schaufensterpuppen und einem ausgesucht hässlichen, mit „Eure Exzellenz“ angeredeten Hund besteht, ebendiese Kreation vorführen. Hier kochen die Neurosen, die Paranoia und die Perversionen hoch, dass Freud seine wahre Freude gehabt hätte.

Seine Noir-Phase beschloss Sirk am Ende der Vierziger mit einem Film, der nach dem Drehbuch eines anderen Hollywood-Veteranen entstand, dessen Werk sich von dem seinen – zumindest auf den ersten Blick – kaum mehr unterscheiden könnte, nämlich Samuel Fuller. Jedoch wurde Fullers Drehbuch „The Lovers“ für den schließlich „Shockproof“ (1949) betitelten Film umgeschrieben, und Sirk war mit dem wohl wesentlich glücklicheren Ende des fertigen Films unzufrieden.


Szenenfoto aus „La Habanera“ (© Universum Film)

Doch machen wir einen Sprung zurück, ins Deutschland der Dreißiger Jahre. „Zu neuen Ufern“ und „La Habanera“ (1937) sollen hier nicht interessieren als die Filme, mit denen Zarah Leander, die zu einer der größten Diven des „Dritten Reichs“ wurde, ihren Durchbruch in Deutschland feierte, sondern als Fingerübungen für die amerikanischen Melodramen, durch die Sirk berühmt wurde. Leander gibt in beiden Filmen die furchtbar leidende Frau als Gefangene der Verhältnisse. Und das in ersterem ganz buchstäblich: Wegen eine Scheckbetrugs, den sie auf sich nimmt, um die Militärkarriere ihres Freunde, des eigentlich Schuldigen, nicht zu gefährden, wird sie ins australische Gefängnis Parramatta deportiert. Der Film ist damit auch ein Vorläufer des Exploitation-Subgenres der women-in-prison-Filme. Ob die Filme, wie Kritiker immer wieder schrieben, subversive Elemente gegenüber der herrschenden Nazi-Ideologie enthielten, wie sie etwa Wolfgang Paul sah, für den in „den Frauengefängnissen in Australien […] das KZ [drinsteckt], fast lehrstückhaft“, ob die „Gesellschaft, in der Männer das Sagen haben und Frauen die Gefühle“ (Hans Günther Pflaum) tatsächlich eine Kritik am Patriarchat darstellt oder es sich doch um eine affirmative Festlegung des Status Quo handelt, sei dahin gestellt (für die gesellschaftskritische Lesart spricht immerhin, dass beide Filme nicht im Deutschland ihrer Gegenwart, sondern im England und Australien des Neunzehnten Jahrhunderts bzw. auf Puerto Rico spielen, also die Kritik, die sie üben, auf die Verhältnisse in fremden Ländern und vergangenen Zeiten beruhen, was sich auf die Zensoren beschwichtigend ausgeübt haben mag). Jedenfalls findet Sirk schon hier beeindruckende Bilder der Gefangenschaft, wenn er Leander immer wieder mit Moskitonetzen oder Geländern, die gitterartige Schatten werfen, in Tür- und Fensterrahmen oder Spiegelbildern (die später zu einem seiner Markenzeichen werden sollten) in den genau kadrierten Einstellungen einschließt. Den absoluten Höhepunkt stellt in dieser Hinsicht sicherlich der Webstuhl im Gefängnis dar, dessen Balken und Fäden die Bilder zu zerschneiden scheinen und so die Luft zum Atmen nehmen, was höchstens noch von der Einstellung am Ende von „All That Heaven Allows“ getoppt wird, in der Jane Wyman per Spiegelung in ihrem nagelneuen Fernseher eingeschlossen scheint.

Überhaupt: „All That Heaven Allows“, vielleicht Sirks endgültiges Meisterwerk, in dem er all die kritischen Tendenzen, die schon in seinen Leander-Filmen zumindest rudimentär angelegt waren, bis zu ihrem bitteren Ende fortdenkt. Und hier wird die Kritik ganz konkret, bekommt Ort und Zeit: das Kleinstadtamerika der Fünfziger Jahre. Und Rainer Werner Fassbinder, dessen Idol Sirk war und der sich vielleicht gerade an diesem Film orientiert hat, was sein Gespür für die bedrückende Enge bestimmter Milieus und für die Boshaftigkeit im Zwischenmenschlichen anbelangt, schreibt dazu: „Nach dem Film ist die amerikanische Kleinstadt das letzte, wo ich hinwollte.“


Szenenfoto aus „All That Heaven Allows“ (© Hanse Sound)

Jane Wyman spielt eine alternde Witwe (und die Leinwand leuchtet zu Beginn in herrlichem herbstlichen Technicolor, um zu verdeutlichen, dass das ganz und gar ihr Film ist), die sich in ihren wesentlich jüngeren Gärtner, den Naturburschen Rock Hudson verliebt. Eine Liaison, die den Argwohn, ja, die radikale Ablehnung ihrer beiden erwachsenen Kinder und den neureichen Kreisen des Ortes auf sich zieht, in denen sie sowieso schon eine Außenseiterin ist. Die patriarchale Instanz des bösen Vaters sieht Seeßlen in einigen Filmen Sirks „in einer so groteske[n] wie realistische[n] Sehweise […] in den Kindern der Heldinnen fortgeführt“. Umso pikanter ist es, dass die Tochter in einem fort psychologische Phrasen drischt, dazu ihre Brille abnimmt und den Bügel in den Mund steckt. Sie erleidet später einen regelrechten Zusammenbruch, was sie kaum sympathischer, aber doch immerhin menschlicher macht als ihren aalglatten, eine große Karriere in Übersee anstrebenden Bruder. Der Verzicht auf die eigenen Bedürfnisse, die eigene Sexualität, den die Kinder zunächst so vehement einfordern, wird Wyman später kaum gedankt, achselzuckend zur Kenntnis genommen. Es kommt zu einem Happy End, für das es eigentlich schon zu spät ist und bei dem auch ein Reh vor dem Fenster nicht fehlen darf.

Übrigens kehrte Sirk auf dem Höhepunkt seines Erfolges, Ende der Fünfziger, den USA und dem Filmschaffen den Rücken, ging nach Europa, wo er Regie am Theater führte, an einer Filmhochschule lehrte und 1987 verstarb, ohne jemals wieder einen langen Spielfilm gedreht zu haben.

Eigentlich hatte ich diesen Text begonnen mit dem Vorhaben, hauptsächlich über einige von Sirks unbekannteren, nicht „kanonisierten“ Filmen zu schreiben, also nicht die Handvoll berühmter Melodramen, mit denen sein Name immer noch hauptsächlich in Verbindung gebracht wird. Es ergab sich aber, dass Sirk auch in den Arbeiten, die vordergründig keine Melodramen war, ein Meister des Melodramatischen war. Dieser Text wird dem gesamten Werk des Regisseurs, der Komödien gedreht hat, Western, Musicals, nicht gerecht, vermag es aber vielleicht die Entwicklung einiger seiner typischen Motive nachzuvollziehen. Umso erfreulicher ist es, dass das Berliner Zeughauskino von Juli bis September 2016 eine Retrospektive zeigt, die mit einer einzigen Ausnahme alle Filme Douglas Sirks umfasst und so die Gelegenheit gibt, sein einmaliges Werk in seiner Gesamtheit zu entdecken und zwar, wie es sich gehört, von 35mm-Kopien.

Die Horrorcomics "Outcast" und "Rachel Rising"

( , Regie: )

Dämonen austreiben
von Christoph Haas

Im Horror kommt es, mehr noch als bei anderen Genres, auf die Dosierung an. Manches von dem, was Leuten früher die Haare aufstellte, wirkt heute recht harmlos. Der Wettlauf um …

Im Horror kommt es, mehr noch als bei anderen Genres, auf die Dosierung an. Manches von dem, was Leuten früher die Haare aufstellte, wirkt heute recht harmlos. Der Wettlauf um immer heftigere Schockeffekte führt allerdings mitunter zu Filmen und Comics, deren ästhetisches Leitprinzip sich auf die Frage „Schaust du noch oder kotzt du schon?“ reduzieren lässt. Dieser primäre Appell an die sadistischen Neigungen und die Ekelschwelle des Publikums ist zynisch; davon abgesehen kann eine nur kurz unterbrochene Abfolge gröbster Reize ziemlich langweilig sein.

Ein Autor, der sich meisterhaft darauf versteht, ausgefuchstes, episches Erzählen mit Momenten ungeheuren Schreckens zu verbinden, ist Robert Kirkman, der seit über zwölf Jahren die Zombie-Serie „The Walking Dead“ schreibt. Parallel hat er mit „Outcast“ nun ein neues Projekt gestartet.

Kyle Barnes, die Hauptfigur, ist ein junger Mann, der nach Jahren der Abwesenheit in seine Heimatstadt zurückgekehrt ist. Einen guten Ruf hat er bei den Einwohnern nicht, da er seine Frau und seine kleine Tochter, die getrennt von ihm leben, schwer misshandelt haben soll. In Wahrheit verfügt Kyle über eine Gabe, die ihm erst nach und nach bewusst wird: Er kann Dämonen austreiben. Dies bringt ihn mit dem örtlichen Reverend zusammen und mit einem Polizisten, dessen Partner in einem Anfall schwerer Besessenheit zum Mörder geworden ist. Es macht Kyle zudem aber für einen Fremden interessant, der plötzlich auftaucht, einem nur scheinbar freundlichen, unterweltlichen Herrn, dessen Ziele vorerst in dem Dunkel bleiben, aus dem er kommt.

Mit „Outcast“ knüpft Kirkman souverän an eine sozialkritische Horrortradition an, wie sie sich etwa in den Filmen George A. Romeros findet. Das kalte, frühwinterliche West Virginia, in dem die Serie spielt, ist keine ländliche Idylle, nicht einmal eine trügerische, sondern ein Hort der gedämpften Verzweiflung. Der Noir-Touch von Paul Azacetas Zeichnungen – die ausgezeichnete Kolorierung stammt von Elizabeth Breitwieser – unterstützt den Eindruck, dass die Dämonen, von denen die Menschen heimgesucht werden, sich auch als Metapher für psychische Versehrungen begreifen lassen. Und deren Ursache sind unverkennbar gesellschaftliche Missstände: Niemand, gleich welchen Alters, kann sich hier anders als mit großer Mühe über Wasser halten; alle leben mindestens am Rande des Prekariats. Der Amerikanische Traum ist in „Outcast“ schon lange gründlich zerbrochen.

Ebenfalls in die nordamerikanische Provinz, in einen Ort mit dem Unheil verheißenden Namen Manson, führt Terry Moores aktuelle Serie „Rachel Rising“. Moore ist mit „Strangers in Paradise“ bekannt geworden, einer Reihe, an der von 1993 bis 2007 arbeitete. Während sich dort Soap-Opera- und Thrillerelemente bunt miteinander mischten, ist „Rachel Rising“ lupenreiner Horror.

Die Titelheldin erwacht eines Morgens, mit dem Gesicht nach unten, in einer Grube im Wald. Sie kämpft sich mühsam aus der Erde und taumelt heim. Was genau mit ihr passiert ist, daran kann sie sich nicht erinnern, aber offenbar hat jemand versucht, sie umzubringen. Dies war nicht erfolgreich, zumindest nicht ganz: Rachel lebt, obwohl sie, allen Anzeichen nach, biologisch so gut wie tot ist. Zeitgleich erscheint in Manson eine junge Frau namens Lilith, die bei jedem ihrer Auftritte Gewalt und Verderben provoziert. Sie ist vor 300 Jahren in Manson getötet worden, weil sie eine Hexe ist, und will an der kleinen Stadt furchtbare Rache nehmen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: taz

Robert Kirkman (Text), Paul Azaceta (Zeichnungen): Outcast, Band 1-2
Aus dem amerikanischen Englisch von Marc-Oliver Frisch.
Cross Cult, Ludwigsburg 2015/2016, Je 160 Seiten, Je 22 Euro

Terry Moore: Rachel Rising, Band 1-6
Aus dem amerikanischen Englisch von Resel Rebirsch
Schreiber & Leser Verlag, Hamburg 2014–2016, Je 128 Seiten, Je 14,95 Euro

(Alle Bilder aus „Rachel Rising“: © Schreiber & Leser)

Über Berthets neue Graphic Novel "Dein Verbrechen"

( , Regie: )

Klassischer Noir ohne Fusel
von Bernd Kronsbein

Australien im Jahre 1970. Irgendwo im Outback verbringt Thomas Wentworth sein Leben als Schafzüchter. An seiner Seite der Hund Commonwealth, der die Einsamkeit mit ihm teilt. Nur der gelegentliche Besuch …

Australien im Jahre 1970. Irgendwo im Outback verbringt Thomas Wentworth sein Leben als Schafzüchter. An seiner Seite der Hund Commonwealth, der die Einsamkeit mit ihm teilt. Nur der gelegentliche Besuch des Eingeborenen Friday, der Vorräte und Zeitungen bringt, durchbricht die Monotonie. Und die Erinnerung an eine wunderschöne Frau, die seine Tagträume erhellt. Aber Wentworth heißt eigentlich Greg Hopper und das Leben in der Wüste führt er nicht, weil er die Abgeschiedenheit mag, sondern weil er auf der Flucht ist. Seit 27 Jahren. Lee Duncan, die Frau seiner Träume, ist ebenfalls seit exakt 27 Jahren tot. Und Greg wirft man vor, sie ermordet zu haben.

Doch da geschieht ein Wunder. Sein Bruder Ikke gesteht auf dem Sterbebett, dass nicht sein Bruder Greg der Mörder war, sondern er selbst, Ikke. Und so kann Greg plötzlich in die Zivilisation zurückkehren, begleitet vom Geist seiner Vergangenheit und der bohrenden Frage: Warum hat Ikke das getan?

Dein Verbrechen“ ist geradezu klassischer Noir-Stoff und damit bestens aufgehoben in der sehr lesenswerten „Noir“-Reihe von Schreiber & Leser. Aber nicht Dashiell Hammett und Raymond Chandler standen Pate, sondern James M. Cain und Jim Thompson, die ihre Stoffe noch ein bisschen näher an den Abgründen der menschlichen Psyche angesiedelt haben. Hier gibt es keinen Privatdetektiv mehr, der als letzte Bastion von Würde und Anstand zynisch die verkommene Welt kommentiert und mit Fusel wegsäuft. Hier sind die alltäglichen Betrüger, Diebe und Mörder ganz unter sich und ihre Verbrechen geschehen meist sehr spontan aus Geilheit, Eifersucht und Gier.

Der schmale Band von Zidrou („Lydie“, und Autor der neuen „Rick Master“-Serie) und dem wunderbaren Philippe Berthet („Der Ideenhändler“, „Pin-Up“) folgt Greg Hopper ins kleine Nest Dubbo City, das genauso miefig ist, wie der Name klingt. Hier erinnert sich noch jeder an „seine“ Tat und selbst die, die vor 27 Jahren noch gar nicht geboren waren, wurden bestens von ihren Eltern und Großeltern ins Bild gesetzt. Und ganz allmählich tauchen die beiden Autoren ein in die Vergangenheit und setzen das Puzzlebild der Ereignisse zusammen, die zu Gregs Flucht führten. Und das mit einer Virtuosität, die man nicht allzu oft antrifft. Da verzeiht man auch ein paar ungelenke, etwas arg bedeutungsschwangere Dialogzeilen und genießt den klugen Aufbau des Plots, die kleinen Hinweise, die die Wahrheit der Dinge immer mehr infrage stellen und jedes Bild dieses Zeichners, der so präzise und zurückgenommen erzählt.

Wer Blut geleckt hat, sollte sich anschließend umgehend „Perico“ und „Die Straße nach Selma“ besorgen, zwei weitere abgeschlossene „Noir“-Stoffe, die Berthet inszeniert hat und in derselben Reihe erschienen sind. Und über eine Neuausgabe lange vergriffener Einzelbände wie „Das Auge des Jägers“ oder „Kojoten der Prärie“ würde man sich auch freuen. Nur so ein Gedanke.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: comic.de

Zidrou (Szenario), Philippe Berthet (Zeichnungen): Dein Verbrechen
Schreiber & Leser, Hamburg 2016, 64 Seiten, € 18,80

(Alle Bilder: © Schreiber & Leser)

François Bourgeon: Reisende im Wind 6.1 & 6.2

( , Regie: )

Filmisches Erzählen
von Sven Jachmann

Als 1979 François Bourgeons erstes Album der insgesamt fünfbändigen Reihe „Reisende im Wind“ erschien, kam dies einer kleinen Revolution im frankobelgischen Comic gleich. Da war zunächst die ungewöhnliche Form, die …

Als 1979 François Bourgeons erstes Album der insgesamt fünfbändigen Reihe „Reisende im Wind“ erschien, kam dies einer kleinen Revolution im frankobelgischen Comic gleich. Da war zunächst die ungewöhnliche Form, die den bis dato geltenden Seitenumfang von 48 bzw. 64 Seiten nach eigenem Gusto ausweitete und somit die Erzählung nicht mehr dem Format unterordnete.

Da war zudem die manierierte, sehr filmische Art und Weise des Erzählens selbst. Dominierten bislang starre Seitenarchitekturen die Bande desinèe – den Comic des französischsprachigen Raums – in Form regelrecht normierter Seitengestaltungen und schematischer Streifenanordnungen, nutzte Bourgeon nicht bloß die Montage der Panels zur Stimmungserzeugung, sondern die Komposition der gesamten Seite.

Zu guter Letzt war da natürlich die epische Geschichte um die 17-jährige Isa, die es Ende des 18. Jahrhunderts durch eine dramatische Verwechslung auf ein französisches Kanonenboot verschlägt. Diese Odyssee führt sie schließlich bis nach Afrika, wo sie in schonungsloser Drastik auf die Kehrseite ihrer aufklärerischen Epoche, die Grausamkeit des Kolonialismus und der Sklaverei trifft. Aufgrund seiner jahrelangen Recherchen, die in das detailfreudige Setting einflossen, gelang Bourgeon ein abgründiges Sittengemälde, das trotz der vordergründigen Konzeption als Abenteuererzählung viel über die Machtkonstellationen und Herrschaftsmechanismen, vor allem über die Zurichtung sexueller Identitäten jener Zeit offenbart. Das revoltierende Verhalten Isas verrät keine gesellschaftskritische Agenda, sondern fungiert vielmehr als Schutzwall gegen eine stets präsente, drohende Ohnmacht vor Verhältnissen, deren Unveränderbarkeit buchstäblich und darob umso grausamer ist. All dies erregte einst zahlreiche Diskussionen über die neuen erzählerischen Möglichkeiten des sogenannten Comicromans.

Reisende im Wind“ zählt längst zu den kanonisierten Klassikern und erhielt beim Splitter Verlag eine Neuauflage, nachdem das Werk jahrelang im deutschsprachigen Raum nur noch antiquarisch erhältlich war. Darüber hinaus hat Bourgeon seinem Werk auch noch einen weiteren, zweibändigen und ebenfalls bei Splitter publizierten Zyklus hinzugefügt. Gut 80 Jahre später im amerikanischen Sezessionskrieg angesiedelt, kombiniert er darin zwei Handlungsstränge, die vornehmlich über die historische Kontinuität des Menschen als Ware und den Krieg als moralischen Ausnahmezustand räsonieren.

Die erste Hälfte gleicht einem materialistisch geerdeten Antiwestern: Nachdem ihr Haus beschlagnahmt wurde, durchquert die junge Isabeau Murrait das Land auf der Suche nach ihrem Bruder. Unterstützung erhält sie von dem französischen Fotografen Quentin Coustans, dessen politische Neutralität während dieser Reise peu à peu zu zerbröckeln droht. In der zweiten Hälfte treffen sie auf Isabeaus Urgroßmutter, jene Isa des ersten Zyklus, die rückblickend ihre weitere Geschichte erzählen wird.

Durch diese Verknüpfung zweier Zeitstränge etabliert Bourgeon eine Linearität historischer Entwicklungen, in der einzig die Tradierung von Herrschaft beständig bleibt: Die Sklaverei und eine unentwegte Atmosphäre der Gewalt begleiten die Versuche beider Frauen, ihre Autonomie und moralische Integrität angesichts fehlender politischer Humanität zu behaupten. Deshalb ist diese Fortsetzung alles andere als ein fragwürdiger Versuch, einem erfolgreichen Konzept noch ein paar halbgare Ideen abzuringen: Methodisch weitet Bourgeon sein Erzählgerüst vom einstigen Sittengemälde zum nunmehr epochalen Abgesang zivilisatorischer Mystifizierung aus.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: taz

François Bourgeon: Reisende im Wind 6.1 & 6.2
Aus dem Französischen von Tanja Krämling.
Splitter Verlag, Bielefeld 2009/2010, 88/72 Seiten, je 17,80 Euro

(Alle Bilder: © Splitter Verlag)

Über die Graphic Novel "Quai d’Orsay. Hinter den Kulissen der Macht"

( , Regie: )

So finster die Macht
von Sven Jachmann

Dass der Untertitel Hinter den Kulissen der Macht hier ausnahmsweise hält, was er verspricht, ist das Resultat einer außergewöhnlichen Liaison. Für seine Comicerzählung „Quai d’Orsay“, benannt nach jener Pariser Straße, …

Dass der Untertitel Hinter den Kulissen der Macht hier ausnahmsweise hält, was er verspricht, ist das Resultat einer außergewöhnlichen Liaison. Für seine Comicerzählung „Quai d’Orsay“, benannt nach jener Pariser Straße, die zum Metonym des französischen Außenministeriums wurde, suchte sich der Zeichner Christophe Blain, der sonst solo oder mit engen Freunden arbeitet, ungewöhnliche Verstärkung. Mit Authentizität darf man rechnen, wenn sich hinter dem Pseudonym seines Co-Autors Abel Lanzac ein früherer Redenschreiber des zwischen 2002 und 2004 amtierenden französischen Außenministers Dominique de Villepin verbirgt. Die Anonymität wird nicht nur angesichts der Popularität des zweibändigen Werks, das sich in Frankreich über 300.000mal verkauft hat und in Deutschland als Gesamtausgabe erschien, die richtige Wahl gewesen sein. So amüsant wie hier wurde das Werden und Wirken des hemdsärmeligen Staatsadels noch nie analysiert.

Lanzacs Alter ego Arthur Vlamnick ist ein unerfahrener Doktorand, der als „Berater des Ministers in sprachlichen Fragen“ in den Stab Alexandre Taillard de Vorms gerät, Lanzacs Version des konservativen Villepine. So sehen wir ihn aus Vlamicks Perspektive: als Maschinenwesen X-OR, als Darth Vader, als charismatische Führungsperson im Dauereinsatz. Taillard will politisch eine ganze Menge, vor allem aber den vorhersehbaren Krieg im Irak (der hier Lousdem heißt) abwenden. Der Minister tarnt seine geradezu manische soziale Inkompetenz als Charisma: Jedes Gespräch, jede Begegnung, jede Konferenz endet mit großen Gesten, jovialem Pathos und der Selbstüberschätzung eines hyperaktiven Strategen, der seine Sicht auf die Weltkonflikte mit gezücktem Stabilo auf markige Zitate vorzugsweise Heraklits eindampft – sofern er seine Mitarbeiter nicht dazu anhält, ihm diese Arbeit abzunehmen. Es ist schließlich in der Tat eine bizarre Aufgabe, Immergleiches in immer neue Worte zu kleiden.

Blain nutzt hierzu das Serialitätsprinzip des Comics in Perfektion. Taillards Hände, größer als der Kopf dieses Hünen, sind meist in Bewegung, wirbeln symmetrisch zum Redeschwall, bis sie mit gewaltigem „WAMM“ auf dem Tisch landen. Dann ist die Ansprache vorbei; ihre Dynamik rührte aus der ständigen Wiederholung dieser Gesten, weniger aus dem Inhalt. Selten wurde im Comic eine Figur so präzise durch Soundwords charakterisiert: „WAMM“ schlagen die Türen, „WAMM“ klatschen die Hände, und „TACK TACK TACK“ tönt es aus dem Ministermund, wenn er seine Argumentationsketten übereinanderstapelt. Die kleinen Variationen im Konterfei und Händewirbeln erinnern nur um so vehementer an den geistigen Stillstand, über den diese laute Selbstüberzeugung hinwegtäuschen soll.

Das gegenteilige Prinzip gilt übrigens für den Auftritt Berlusconis, dessen ganze Schmierlappigkeit in gerade mal sechs Bildern für die Ewigkeit zusammengefasst ist. Aber das schauen Sie sich bitte selbst an.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 1/2013

Christophe Blain (Zeichnungen) / Abel Lanzac (Text): Quai d’Orsay: Hinter den Kulissen der Macht
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock.
Reprodukt, Berlin 2012, 200 Seiten, 36 Euro

(Alle Bilder: © Reprodukt)

Nine Antico: Coney Island Baby

( , Regie: )

Sex-Ikonen des 20. Jahrhunderts
von Sven Jachmann

Im Jahr 1972, als „Deep Throat“ seinen unvergleichlichen Siegeszug an den US-amerikanischen Kinokassen antreten sollte, gab es weder das selbstreflexive Erzählen des Post-Porn noch ein kulturwissenschaftliches oder medientheoretisches Interesse an …

Im Jahr 1972, als „Deep Throat“ seinen unvergleichlichen Siegeszug an den US-amerikanischen Kinokassen antreten sollte, gab es weder das selbstreflexive Erzählen des Post-Porn noch ein kulturwissenschaftliches oder medientheoretisches Interesse an der Pornografie. Das Phänomen trat quasi blank auf und führte, setzt man das minimale Budget von 25.000 US-Dollar und das spätere millionenfache Einspielergebnis zueinander ins Verhältnis, zu einer der nach wie vor weltweit erfolgreichsten Produktionen der Filmgeschichte.

Spätestens mit der 2005 produzierten, nostalgisch wirkenden Dokumentation „Inside Deep Throat“ kann das Werk von 1972 zudem als kanonisch gelten. Vielleicht drückt sich in der schlichtweg falschen und oft kolportierten Behauptung, dass „Deep Throat“ der erste narrative Pornofilm überhaupt sei, aber immer noch ein Unbehagen daran aus, dass tatsächlich der Film über die Frau mit der Klitoris im Hals für ausverkaufte Säle im Mainstream-Kino sorgte.

Was „Deep Throat“ jedoch zweifellos und folgenschwer definieren sollte, war eine Grammatik des Pornos, die den Phallus und den finalen Cumshot plotimmanent und visuell als oberste Priorität setzt und somit die Ökonomie des männlich-sexuellen Blicks filmisch weiter festschrieb. Dadurch wurde der Film in der Tat ein wichtiger Repräsentant seiner Ära.

Zwei unterschiedliche Dekaden der US-amerikanischen Sexindustrie sind es auch, von denen die 1981 geborene, französische Zeichnerin Nine Antico in ihrem zweiten (und ersten auf Deutsch übersetzten) Comic „Coney Island Baby“ in Gestalt von Bettie Page und Linda Lovelace erzählt. Beide waren Ikonen ihrer Zeit. Bettie Page war das Pin-up-Starlet der 50er Jahre und als BDSM-Model für Ewigkeiten in die Zeichenwelt der Popkultur eingeschrieben. Linda Lovelace wiederum, die Hauptdarstellerin aus „Deep Throat“, startete später in den frühen 1980er Jahren einen durchaus widersprüchlichen Kreuzzug gegen die Pornografie.

Nine Antico erzählt ihre Bildgeschichte nicht nach einem klassisch biografischen Muster, an dessen Ende durch das Arrangement von Fakten eine suggestive Wahrheit steht. Überraschend wird Hugh Hefner, der Gründer des Playboy-Magazins, auf der ersten Comic-Seite als Erzählinstanz installiert. Antico lässt Hefner vor zwei jungen Playboy-Bunnys in spe die wechselhaften Karrieren von Page und Lovelace entfalten, um die beiden noch zögernden Frauen – zumindest vorgeblich – an die Kehrseiten des Geschäfts zu erinnern.

„Mädchen, habt ihr überhaupt eine Ahnung, worauf ihr euch einlasst?“, fragt er mit breitem jovialen Grinsen auf dem ersten Panel des Buchs. Die Szene zeigt ihn allein, ausgestattet mit Pfeife und Bademantel. Am Ende von Nine Anticos gezeichneter Reise in die Hefner-Vergangenheit kann man wohl sagen: Nein, haben sie nicht. Aber ein paar Gesetze der Industrie sollten sie dennoch indirekt gelernt haben. Vor allem eines: In der Kultur der Pornografie, die jede Ambivalenz mittels der Illusion eines Images bannt, kann sich ein Aufbegehren nur im Sinne des Marktes und der Kräfte, die ihn beherrschen, artikulieren.

Neben der Ökonomie ist eine dieser Kräfte, das könnte man zur Ausgangsthese von „Coney Island Baby“ erklären, der männliche Blick, der die Lust zum industriellen Produkt verfertigt. So erzählt Anticos Plot im Prinzip von drei Entwicklungen und ihrer gegenseitigen Abhängigkeit: vom Aufstieg und tiefen Fall zweier Stars ihrer Zunft, von der Geschichte der Pornoindustrie, die abhängig vom technischen und moralischen Standard ihrer Zeit genötigt ist, Mythen über sich und ihre Stars zu erzeugen, und von den Männern, die diese Geschichten und Stars verwalten.

Dass als fiktiver Erzähler ausgerechnet Hugh Hefner mit väterlicher Empathie und großem Bedauern die Leidenswege seiner einstigen Stars ausbreitet, ohne dabei seine Rolle in einer der mächtigsten Schaltstellen dieser Bildproduktionsindustrie zu registrieren, ist weniger ein Zeichen moralischer Entrüstung als ein adäquates Mittel, um die Künstlichkeit der Erzählung zu unterstreichen: Wenn man von einer Welt der Mythen erzählt, fällt es schwer, nicht versehentlich selbst in die Mythenfalle zu tappen und falsche Wahrheiten zu schaffen; besser also, wenn man stets daran erinnert wird.

So gleicht sich auch der schwarz-weiße, skizzenhafte Zeichenstil diesem Programm an. Immer wieder fehlen beispielsweise Nase, Mund oder Augen der Figuren. Am ausdrucksstärksten geraten die Mienenspiele oftmals dann, wenn reale bzw. ikonische Bilder zitiert werden, die letztlich einzigen handfesten Zeugnisse, denen man Glauben schenken muss.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: taz

Nine Antico: Coney Island Baby
Aus dem Französischen von Martin Budde.
Edition Moderne, Zürich 2011, 232 Seiten, 28 Euro

(Alle Bilder: © Edition Moderne)

Über Andreas‘ Pulp-Meisterwerk "Capricorn"

( , Regie: )

Sinfonie einer Großstadt
von Bernd Kronsbein

Das New York einer unbestimmten Zukunft. Oder einer Parallelwelt, die der unseren ähnelt, aber nicht gleicht. Hierher kommt der namenlose schwarzhaarige Mann mit schwarzem Mantel und schwarzem Koffer. Die Aussätzigen …

Das New York einer unbestimmten Zukunft. Oder einer Parallelwelt, die der unseren ähnelt, aber nicht gleicht. Hierher kommt der namenlose schwarzhaarige Mann mit schwarzem Mantel und schwarzem Koffer. Die Aussätzigen vor der Stadt nennen ihn „Capricorn“ und weisen ihm gleich eine schicksalhafte Aufgabe mit ziemlich schwurbeligen Worten und kryptischen Hinweisen zu: Er soll diese verdorbene Stadt retten.

Kaum hat er die Schluchten zwischen den Wolkenkratzern betreten, wird er in eine wilde Geschichte hineingezogen, die immer seltsamer und immer verwickelter wird. Ein Zeppelin stürzt ab, eine Katze führt zu einem alten Stollen, ein merkwürdiger grüner Ausschlag überwuchert Menschen… Und an Bord des Zeppelins befand sich ein „Ding“, an dem die geheimnisvolle uniformierte „Gilde“ und der Gangsterboss Cole gleichermaßen interessiert sind.

Capricorn“ entführt in eine klassische Kolportagegeschichte, die sich dreht und windet, die in die tiefsten Tiefen dieses so fremden New Yorks führt – und sogar noch darunter – und in die höchsten Türme, die bis in den Himmel ragen. Hier ist man vor keiner Überraschung gefeit, hier ist definitiv alles möglich und höchstens von der Fantasie des Erzählers begrenzt. Dieser Erzähler, das ist Andreas (Martens), der 1951 im ostdeutschen Weißenfels geborene Autor und Zeichner, der in Düsseldorf an der Kunstakademie und im belgischen l’Institut St Luc sein Handwerk lernte und schon seit Jahrzehnten in Frankreich zu Hause ist.

Und was für ein Erzähler dieser Andreas – wie er sich verkürzt als Autor seiner Comics nennt – ist! Die Komposition seiner Seiten ist geradezu architektonisch und so präzise, dass man das Gefühl hat, den Zirkel und das Geodreieck noch über dem Papier schweben zu sehen. Das hat eine Wucht, die das Mäandernde der Geschichte und die Abwesenheit von lebendigen Charakteren vergessen lässt. Man geht, fährt, stürzt und fliegt mit diesen schablonenhaften Figuren durch eine bizarre Welt, an der man sich nicht sattsehen kann. Capricorn, Cole, Ash, Astor und wie die Personen noch so heißen, sie sind nur Begleiter, die ihre skizzenhaften Rollen in einem Spiel spielen, das weit größer ist als sie selbst. Was Andreas hier macht, ist Weltenschöpfung. Und die Menschen in dieser Konstruktion sind Staffage; Figuren, deren Treiben man mit Verwunderung und Amüsement verfolgt.

Dieser erste Band der lange überfälligen Gesamtausgabe von „Capricorn“ enthält drei der insgesamt 19 im Original zwischen 1997 und 2015 erschienenen Bände. Nach „Cromwell Stone“ und „Rork“ (2 Bände) setzt der Hamburger Verlag Schreiber & Leser damit seine Andreas-Ausgabe fort, für die man nur dankbar sein kann. Dankbar auch deshalb, weil zwar speziell in den 1990ern viele seiner Arbeiten auch auf Deutsch erschienen, aber eben im Fall von „Cromwell Stone“, „Rork“ und „Capricorn” leider nie beendet wurden. Dass sich das nun ändert ist ein großer Glücksfall und lässt hoffen, dass auch einige seiner Einzelalben wieder (oder erstmals) den Weg nach Deutschland finden. Zum Beispiel sein völlig singuläres kleines Meisterwerk „Das rote Dreieck“ (1995).

Andreas: Capricorn Gesamtausgabe 1
Schreiber & Leser, Hamburg 2016, 144 Seiten, 29,80 Euro
Dieser Text ist zuerst erschienen auf: comic.de

(Alle Bilder: © Schreiber & Leser)

Über Richard Corbens "Creepy"-Klassiker und die Zombie-Revitalisierung "Revival"

( , Regie: )

Wenn die Mumie erwacht
von Christoph Haas

Jahrelang haben Archäologen nach dem Grab des ägyptischen Hohepriesters Khartuka gesucht. Jetzt ist es drei skrupellosen amerikanischen Abenteurern gelungen, dort einzudringen. Sie wandern durch unterirdische Gänge und Hallen, um schließlich …

Jahrelang haben Archäologen nach dem Grab des ägyptischen Hohepriesters Khartuka gesucht. Jetzt ist es drei skrupellosen amerikanischen Abenteurern gelungen, dort einzudringen. Sie wandern durch unterirdische Gänge und Hallen, um schließlich den Schatz zu finden, von dem sie geträumt haben. Reich beladen gehen sie zurück, fallen aber der wieder zum Leben erwachten Mumie des Priesters zum Opfer. Karthuka triumphiert – aber mit einem hat er nicht gerechnet: dem bissigen Hund der Räuber, der eine Schwäche für alte Knochen besitzt.

„Grab des Grauens“ – im Original: „Terror Tomb“ – heißt diese Geschichte. Sie ist exemplarisch für die insgesamt vierzig Beiträge, die Richard Corben, unterstützt von wechselnden Szenaristen, zwischen 1970 und 1978 für die Magazine „Creepy“ und „Eerie“ gezeichnet hat. Die wichtigsten dieser Frühwerke des 1940 in Missouri geborenen Künstlers sind im Laufe der Jahre schon auf Deutsch erschienen, allerdings in verschiedenen Publikationen. Nun sind sie alle in einem dicken, großformatigen Band versammelt und in deutlich verbesserter Druckqualität.

Corben war immer ein umstrittener Zeichner. Seine Verehrer schätzen die Wucht und ungeheure Akribie, mit der er Fantasiewelten zu gestalten vermag; mit Großtaten wie „Bloodstar“ (1976) und „Den“ (1978) zählt er zu den Pionieren der Graphic Novel. Seine Verächter – zu denen früher auch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien gehörte – stoßen sich dagegen an den splatterigen Gewaltdarstellungen und vor allem an dem bizarren Körperkult, den Corben betreibt.

Die prototypische Heldin seiner Comics läuft gerne mehr oder minder nackt herum und schaut aus wie eine ins Phantasmagorische gesteigerte Jayne Mansfield. Der prototypische Held kann einen Bodybuilder vor Neid erblassen lassen; manche Leser haben sich von diesen Muskelpaketen zudem an das Virilitätsgeprotze faschistischer Bildhauerei erinnert gefühlt.

Eine solche Wahrnehmung verfehlt jedoch das Spezifische von Corbens Ästhetik. Die Über-Frauen und -Männer, die sein Werk bevölkern, sind nur die vergleichsweise realistische Spielart eines allgemeinen Hangs zum Grotesken. Die „Creepy“- und „Eerie“-Storys zeichnen sich durch eine Mischung aus krudem Horror und schwarzem Humor aus. Zu ihr passen all die Physiognomien, die Corben mit evidenter Lust an der Schönheit des Hässlichen entwirft: Gesichter, die Gummimasken gleichen, zugleich prall und von Falten durchzogen; insektenartige Außerirdische; Monster, die wie ein Haufen Eingeweide oder Lovecrafts Ctulhu-Wesen aussehen.

Hinzu kommt die exzentrische, entschieden antinaturalistische Kolorierung. Sonnenuntergänge sind schaurige Symphonien in eitrigem Gelb und blutigem Rot; Szenen, die in der Nacht oder unter der Erde spielen, leuchten in düsterem Blau und Violett. Wie bei den Arbeiten von Moebius, die im selben Zeitraum entstanden sind, bedeutet der Akt des Kolorierens bei Corben stets mehr als ein bloßes Buntmachen von Schwarzweißzeichnungen. Die Farbe ist hier einerseits ein Wert an sich, andererseits fügt sie den Bildern etwas latent Surreales hinzu.

Die Lektüre des Sammelbandes erlaubt es, Corbens Platz in der Geschichte des amerikanischen Comics genauer zu verorten. Dies gilt speziell für sein Verhältnis zu Robert Crumb. Auf den ersten Blick wirken die zwei wie Antipoden: dort der radikale Selbstentblößer, einer der Begründer des autobiografischen Comics, hier der Horror- und Fantasyspezialist, der seine Obsessionen in den Mantel des Genres hüllt.

Schaut man genauer hin, ergibt sich allerdings durchaus eine Parallele. Viele Geschichten von Crumb, wie etwa „Fritz the Cat“, lassen sich als eine Underground-Version der Funny Animal Comics aus dem Hause Disney lesen. Ähnlich ist bei Corben, bis in Details, der Einfluss der EC-Comics der Fünfziger zu spüren, an die „Creepy“ und „Eerie“ generell anzuknüpfen suchten. Beide Zeichner stehen im Spannungsfeld zwischen Bewahren und Erneuern; der eine unterminiert, der andere radikalisiert eine Tradition, die sie im selben Atemzug fortsetzen.

Eine der Standardfiguren des Horrorgenres fehlt bei Corben völlig: der Zombie. Diese Sonderform des Monsters hat, nach einer ersten Blüte in den Siebzigern, zuletzt einen so massiven Boom erlebt, dass man sich inzwischen bei jedem weiteren einschlägigen Film oder Comic fragt: Was soll da noch Neues kommen? Eine Möglichkeit hat der Autor Tim Seeley gefunden. Die Serie „Revival“, die er schreibt, beruht auf einer ziemlich großartigen Grundidee: Zwar sind es auch hier die Toten, die wiederkehren, aber eben nicht als auf Frischfleisch gierige Untote, sondern schlicht als die, die sie zum Zeitpunkt ihres Ablebens gerade waren.

Die „Erweckten“, wie sie genannt werden, hocken also seelenruhig vor dem Fernseher, sie gehen ihrer gewohnten Arbeit nach oder nehmen ein unterbrochenes Studium wieder auf. Was dies für sie und ihre Angehörigen bedeutet – daraus ließe sich ein Comic entwickeln, in dem psychologische, moralische und philosophische Fragen im Vordergrund stünden. Aber darum geht es in „Revival“, wenn überhaupt, nur sehr am Rande. Geschickt gemixt werden vielmehr Crime-, Mystery- und Horrorelemente: Im Zentrum steht eine junge, kleinstädtische Polizistin, deren Aufgabe es ist, sich um Verbrechen oder Streitigkeiten zu kümmern, die im Zusammenhang mit den „Erweckten“ stehen.

„Revival“ erscheint in den USA als fortlaufende Serie im Monatsabstand; bisher liegen gut dreißig Hefte vor. In der deutschen Ausgabe sind die ersten fünf von ihnen vereint, und so spannend sie zu lesen sind, leidet der Gesamteindruck ein wenig darunter, dass es sich letztlich um eine stark ausgedehnte Exposition handelt. Seeley ist so sehr bemüht, Spuren zu legen, die er in Zukunft verfolgen kann, dass dies auf Kosten der Kohärenz geht.

Stärken und Schwächen haben auch die Zeichnungen von Mike Norton. Sie sind routiniert, aber etwas hölzern. Ausdrucksvolle Gesichter wollen Norton nicht immer gelingen; so hat man manchmal Schwierigkeiten, die Polizistin von ihrer jüngeren, „erweckten“ Schwester zu unterscheiden. Am besten zeichnet Norton die rätselhafteste Figur des Comics: den Geist eines Soldaten, der ruhelos durch die Wälder streift. Er ist riesig und hat lange Gliedmaßen. Im Verhältnis zum überschlanken Körper ist sein Kopf, in dem leere, dunkle Augenhöhlen sitzen, viel zu groß. Er ist furcht- und mitleiderregend zugleich – und in seiner Biegsamkeit, seiner lebhaften Körpersprache wirkt dieser totenblasse Flüchtling aus dem Jenseits viel lebendiger als die Menschen, die er heimsucht.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: taz

Richard Corben: Creepy Gesamtausgabe
Deutsch von Gerlinde Althoff u. a.
Splitter Verlag, Bielefeld 2014, 352 Seiten, 49,80 Euro

Tim Seeley (Text) und Mike Norton (Zeichnungen): Revival 1: Unter Freunden
Deutsch von Frank Neubauer.
Cross Cult, Ludwigsburg 2013. 128 Seiten. 18 Euro

(Alle Bilder: © Splitter Verlag)

„Extreme Charaktere in einem extremen Raum“

( , Regie: )


von Wolfgang Nierlin

Interview von Wolfgang Nierlin mit Nikias Chryssos, dem Regisseur von „Der Bunker“ über Familie als repressives System und und extreme Räume. Wolfgang Nierlin: In Ihrem Film „Der Bunker“ mischen sich …

Interview von Wolfgang Nierlin mit Nikias Chryssos, dem Regisseur von „Der Bunker“ über Familie als repressives System und und extreme Räume.

Wolfgang Nierlin: In Ihrem Film „Der Bunker“ mischen sich auf unorthodoxe Weise absurde Gesellschaftsparabel und schwarzhumorige Satire, bizarres Horror-Kammerspiel und skurriles Coming-of-Age-Drama. Damit entzieht er sich nicht nur einer vorschnellen Einordnung, sondern steht auch ziemlich einmalig in der gegenwärtigen deutschen Filmlandschaft. Woher stammen Ihre filmischen Vorlieben und Interessen?
Nikias Chryssos: Mir ist wichtig, dass man den Film nicht gleich in eine Genre-Schublade steckt. Da er frei und unabhängig von Filmförderung entstanden ist, musste er auch nicht in ein bestimmtes Genre gepresst werden. Dadurch war es für mich möglich, mit Genre-Versatzstücken, die ich mag, zu spielen. So sieht man dem Film an, dass es viele offene Referenzen und Lesarten gibt. Ich wollte mit verschiedenen Elementen experimentieren und dabei Humor und Abgründiges kombinieren. Da sich meine Interessen vom Horrorfilm bis zur Slapstick-Komödie erstrecken, konnte ich verschiedene Themen integrieren, ohne mich dabei auf eine Sache festlegen zu müssen. Eines dieser Themen ist die antiautoritäre Erziehung von A. S. Neill, dem Gründer der von Schülern selbst verwalteten Summerhill-Schule. Sein Buch „Die grüne Wolke“ war diesbezüglich ein wichtiger Einfluss. Desweiteren interessierten mich an dem Stoff: die Rolle des Studenten, der bestimmte Erwartungen an sich hat und in eine kreative Hölle gerät; ein sehr beengtes Familienleben, in dem man einander ausgeliefert ist und sich gegenseitig nicht entkommen kann; und schließlich Eltern, die nicht erlauben, dass sich das Kind von ihnen löst. Ich wollte mit extremen Charakteren in einem extremen Raum spielen. Am Anfang standen also der Ort und die vier Figuren.

Der titelgebende Bunker ist ein Ort, an dem die Familie ähnlich wie in Giorgos Lanthimos‘ Film „Dogtooth“ auf begrenztem Raum von der Außenwelt isoliert und auf sich selbst zurückgeworfen ist. Fungiert die kammerspielartige Laborsituation als Vergrößerungsglas für die Darstellung von Familien- und Erziehungsstrukturen?
Ja, dadurch entsteht die Möglichkeit, dass man sehr verdichtet erzählen kann; zum anderen waren es pragmatische, die Finanzierung betreffende Gründe. Ich habe also überlegt, wie ich etwas Allgemeingültiges visuell interessant erzählen kann. Und so kam ich auf einen Raum, den ich wie in einem Experiment beobachte. Nicht nur der Film ist eine Art Versuchsanordnung, bei der es darum geht, eine festgefügte, stabile Familienstruktur – wie in Pasolinis „Teorema“ – durch einen Außenstehenden zu irritieren, sondern auch das Filmemachen selbst wurde zum Experiment mit unsicherem Ausgang. Der Bunker war also ein doppeltes Experimentierfeld.

Familie erscheint in Ihrem Film als repressives System. Lernen durch Strafe wird zum probaten Mittel der allgemeinen Lebensertüchtigung. Im Widerspruch dazu hindert die Mutter ihr Kind am Wachsen. Welche Funktion hat in diesem Zusammenhang der studentische Lehrer?
Es gibt Familienstrukturen, in denen es immer einen braucht, an dem die anderen ihre Frustrationen ablassen können, der also gewissermaßen der Sündenbock ist. Der Student verhilft dem Zuschauer aber auch zu einer genaueren Beobachtung des beschriebenen Systems. Der Bunker wiederum steht für ein Paradox: Er symbolisiert einerseits das repressive System selbst, einen höllischen Ort, an dem mit Sexualität belohnt und mit Prügeln bestraft wird; und gleichzeitig markiert er die Abschirmung vor der unsicheren Außenwelt. So schützt die Mutter mit ihrem Klammergriff zwar ihr Kind, nimmt ihm dadurch aber auch die Luft zum Atmen und lässt es keine anderen Erfahrungen machen. Der Junge wird zwar auf die Welt vorbereitet, ist aber nie für sie bereit, weil ihn sein Lernen nicht dafür befähigt. Dadurch bleibt er immer „ungenügend“. Die von den Eltern gesteckten Ziele sind zwar hoch, doch er kann sie nicht erfüllen und ist überfordert. Am Schluss löst er sich zwar, wird aber unvorbereitet in die Welt gelassen. Der Film stellt insofern eine überzogene Version von Familienleben dar und verwendet dafür archaische Bilder.

Sie beschreiben in Ihrem Film traditionelle Rollenbilder in einer gewöhnlichen Familienkonstellation, wobei der Mutter als Verführerin und Intrigantin mit einem Hang zum Übersinnlichen eine besondere Rolle zukommt. Sind die Figuren in ihren jeweiligen Rollen gefangen?
Ich habe die Familie tatsächlich als eine Sekte oder religiöse Gemeinschaft gesehen, in der alle direkt oder indirekt „Heinrich hörig“ sind. Heinrich ist die behauptete Gottheit, mit der die Mutter als einzige kommunizieren kann, wodurch sie die anderen im Griff hat. Dazu kommt noch, dass sie durch Sex die anderen Familienmitglieder belohnt oder aber durch seinen Entzug bestraft. Aus dem Kontakt mit Heinrich gewinnt sie ihre Autorität. Mit ihm kommuniziert sie durch eine offene Stelle an ihrem Bein. Diese ist zugleich ein körperliches Bild für eine Wunde, die nie heilt; beziehungsweise eine Art „Besessenheit“, die von der Mutter allerdings romantisiert wird.

Der ziemlich eigenwillige Humor Ihres Films resultiert einerseits aus der bizarren raum-zeitlichen Verdichtung, andererseits lebt er von ironischen, seltsam elaboriert klingenden Dialogen und einem musikalischen Kontrastprogramm. Zielt das bildungskritisch auf die Nivellierung von Trash und sogenannter Hochkultur?
Ich habe das nicht als Kritik an der Hochkultur empfunden, sondern eher als Gegensatz zwischen der angeblichen Bildung der Familie und ihrer tatsächlichen Ahnungslosigkeit. Dafür steht vor allem die Figur des Vaters. Es ist bizarr und grausam, wenn man sein Kind zur schönsten Musik, die je geschrieben wurde, prügelt. Zugleich steckt in diesem Bild der Widerspruch, dass der Mensch einerseits hohe Kunst schaffen kann, andererseits primitiv und gewalttätig ist. Mir ging es dabei vor allem um den Kontrast.

Gegen die Gesellschaft, für das Glück

( , Regie: )

Zum Werk Eloy de la Iglesias
von Nicolai Bühnemann

Bei den kursiven, meist in Klammern stehenden deutschen Titeln handelt es sich um eigene Übersetzungen, weil es keine offiziellen deutschen Titel gibt. Im Folgenden werden dann immer die spanischen Originaltitel …

Bei den kursiven, meist in Klammern stehenden deutschen Titeln handelt es sich um eigene Übersetzungen, weil es keine offiziellen deutschen Titel gibt. Im Folgenden werden dann immer die spanischen Originaltitel verwendet.

 

Prolog: Linke Politik, schwules Begehren

Die Blicke des Mannes sind erforschend, mühsam sein Begehren verbergend. Im Gegenschuss der Junge, der lacht. Zwischenschnitte zeigen die Bilder an den Wänden: Lenin, Marx, Che, Allende. Der Junge bricht das Unbehagliche an der Situation auf, bevor es noch recht aufkommen mag, indem er sich in den Schritt greift, aufsteht und sich zum Sex anbietet. Eine Schlüsselszene im Schaffen Eloy de la Iglesias, weil sie mit ihrer Pop-Art-Montage in wenigen Sekunden sein Projekt der Verschränkung von (linker) Politik und (schwulem) Begehren auf den Punkt bringt. Der Film, aus dem diese Szene entstammt, „El diputado“ („Der Abgeordnete“, 1979) ist weder der beste, den de la Iglesia gedreht hat, noch der erste, der nach dem Tod Francisco Francos 1975 und den ersten demokratischen Wahlen 1977 entstand. Und doch ist es vielleicht sein ultimativer „Coming-Out-Film“, derjenige, in dem die politischen und sexuellen Themen des Filmemachers, die er in der Diktatur noch in schillernde Genre-Formen verstecken musste, am offensichtlichsten zu Tage treten. Erzählt wird von einem linken Politiker (José Sacristán), der sich mitten im Wahlkampf in einen jungen Stricher verliebt. Als seine Frau, vor der er aus seinen homosexuellen Gelüsten nie ein Geheimnis gemacht hat, von der Situation erfährt, kommt es zu einer Dreiecksbeziehung, in der die Ambivalenz zwischen einer Vater-Mutter-Kind-Bindung und einer sexuellen Ménage-à-trois nie ganz aufgelöst wird. Eine Liebe, die – nicht nur aufgrund der immer noch starken faschistischen Kräfte, die im Hintergrund intrigieren – nur tragisch enden kann. Dass sich das Begehren im verzweifelten Kampf mit den gesellschaftlichen Realitäten befindet – und dabei meist den Kürzeren zieht –, ist eines der Motive, die sich durch das Werk De la Iglesias ziehen.

* * *

1. Ein Leben in 22 Filmen

Eloy Germán de la Iglesia Diéguez wurde 1944 in eine wohlhabende baskische Familie geboren. Er wuchs in Madrid auf, wo er Philosophie und Literatur studierte, außerdem belegte er Kurse in einer Filmhochschule in Paris. Mit zwanzig hatte er bereits umfangreiche Erfahrungen als Autor, Produzent und Regisseur beim Fernsehen. 1966 entstand mit dem Kinderfilm „Fantasía 3“ seine erste Arbeit fürs Kino, gefolgt von dem Melodram „Algo amargo en la boca“ („Etwas Bitteres im Mund“, 1969) und dem Boxer-Drama „Cuadrilatero“ (1970). Nachdem diese beiden Filme, derentwegen De la Iglesia auch erstmals mit der franquistischen Zensur in Konflikt kam, an der Kinokasse scheiterten, feierte er 1971 mit dem experimentell angehauchten, vage gialloesken Psychothriller „El techo de cristal“ („Das Glasdach“) seinen ersten kommerziellen Erfolg. Die junge Marta (Carmen Sevilla), deren Mann im Urlaub ist, verdächtigt ihre Nachbarin, die über dem Glasdach in ihrem Schlafzimmer lebt, ihren Mann ermordet zu haben – eine Konstellation, die von Ferne her an Hitchcocks „Rear Window“ erinnert, wobei jedoch hier sowohl die Verdächtigte als auch ihre Beobachterin, die hier eigentlich eher eine Lauscherin ist, Frauen sind. Während das Murder Mystery auf seine kunstvolle (Nicht-)Auflösung zusteuert, nimmt sich der Film viel Zeit, den Voyeurismus und seine Beziehung zum Kino abzuhandeln. Blicke durch Fenster ziehen sich bereits ab dem Vorspann durch den Film und immer wieder werden Frauen, wenn sie alleine – und vorzüglich halbnackt – sind, von einem Unbekannten fotografiert. In einer seiner schönsten Szenen referiert Ricardo, ein benachbarter Künstler und Verehrer, beim Angeln am Fluss über diesen Zusammenhang und nimmt dabei auch Bezug auf Godards Ausspruch, Film sei Wahrheit 24 mal in der Sekunde. Eine Auffassung, die vielleicht gerade für den späteren De la Iglesia von Bedeutung sein mag, der er aber in „El techo de cristal“ noch eher skeptisch gegenübersteht.

1973 stellte das produktivste Jahr in der Karriere des Filmemachers dar, in dem er gleich drei Filme realisieren konnte. Darunter auch sein wohl über das Produktionsland Spanien hinaus bekanntester, international unter dem so reißerischen wie irreführenden Titel „The Cannibal Man“ vermarkteter „La semana del asesino“ („Die Woche des Mörders“). Hier wird der in einer Fleischfabrik angestellte Marcos (Vicente Parra) zum Serienkiller wider Willen, der, nachdem er im Streit einen Taxifahrer erschlagen hat, immer weiter mordet, um seine Taten zu verbergen. Der einzige Halt in seinem von der Hitze des Sommers in Madrid angetriebenen Weg in den Wahnsinn besteht in der Freundschaft zu dem Boheme Néstor (Eusebio Poncela), der in einem der schicken neuen Appartement-Blocks direkt gegenüber von Marcos‘ schäbiger Hütte am Stadtrand lebt. Die kruden blutigen Mordszenen werden so konterkariert von einer zaghaften, zärtlichen schwulen Liebesgeschichte, die in der vom Regisseur beabsichtigten Fassung des Films wohl wesentlich expliziter war. Die Szenen, die für eine Veröffentlichung in Spanien der Zensur zum Opfer fielen, finden sich auf der hervorragenden deutschen Blu-ray aus dem Hause Subkultur Entertainment – leider ohne Ton – und zeigen unter anderem, wie sich Marcos und Néstor leidenschaftlich küssen, während die Kamera sich taumelnd um sie herum dreht.

Diese Einstellung, die an einige – kurioserweise später entstandene – Filme Brian de Palmas erinnert, findet sich auch in „Nadie oyó gritar“ („Niemand hörte die Schreie“). Auch hier umkreist die Kamera ein sich küssendes Liebespaar: Elisa (Carmen Sevilla) und Miguel (Vicente Parra). Die Liebe der beiden, die letztlich nur tragisch enden kann, entwickelt sich wiederum sehr langsam aus einer Komplizenschaft: Elisa erwischt ihren Nachbar Miguel dabei, wie er seine ermordete Frau in den Fahrstuhlschacht wirft. Miguel tut der Zeugin seines Verbrechens nichts unter der Bedingung, dass sie ihm hilft, die Leiche verschwinden zu lassen. Ihre Beziehung, die im einmaligen Sex und einem wunderbar gefilmten Schaumbad gipfelt, scheint für beide der Ausweg zu sein aus einer Welt, in der Liebe und Begehren ganz den Gesetzen des Marktes unterworfen sind. Zu Beginn sehen wir Elisa durch London flanieren, wo sie einen älteren wohlhabenden Mann gegen großzügige Bezahlung einmal im Monat besucht. Auch der erfolglose Schriftsteller Miguel hat seine Frau Nuria nur wegen ihres Geldes geheiratet und leidet nun kolossal unter dieser lieblosen Verbindung zu einer lieblosen Frau. Elisa wiederum hält sich einen jüngeren Lover, der von ihr finanziell abhängig ist. Mit dieser von Tony Isbert gespielten Figur und der Fetischisierung ihres sportlichen, vornehmlich nur mit einer recht engen Badehose bekleideten Körpers kommt auch ein Schuss, wie man in Nürnberg sagen würde, gleaze (=gay sleaze) in den Film. Hier bewahrheitet sich, was Micheal Kinzl auf critic.de schreibt: „Besonders an der Sexualisierung des männlichen Körpers zeigt sich, wie queer de la Iglesias Arbeiten sein können, ohne homosexuelle Figuren in einem besonders guten Licht dastehen zu lassen oder überhaupt von ihnen zu erzählen.“ „Nadie oyó gritar“ ist vielleicht der reinste Genre-Film, den de la Iglesia gedreht hat und bei dem er sich auch mit größtem Geschick den gängigen Mitteln des zeitgenössischen europäischen Genre-Kinos bedient; so gibt es etwa ein paar atemberaubend lange Zooms, die auf den Augenpartien seiner Protagonisten enden, Close-Ups von blutenden Gesichtern, die zunächst mehr verbergen als zeigen und ein dreifach hintereinander geschnittenes böses Erwachen, nach dem der eigentliche Albtraum erst beginnt.

Im Gegensatz zu diesem relativ stringent erzählten Thriller verbindet „Una gota de sangre para morir amando“ („Dead Angel – Einbahnstraße in den Tod“, wörtlich: „Ein Blutstropfen, um liebend zu sterben“) verschiedene Versatzstücke und Zitate aus den Kubrick-Filmen „A Clockwork Orange“ und „Lolita“ zu einem bunten Reigen schierer B-Movie-madness. Sue Lyon, die bei Kubrick Lolita spielte, aber sonst kaum weiter Karriere machte, gibt eine Krankenschwester, die junge Männer ermordet. Dabei trifft sie auf einen adoleszenten Kleinkriminellen aus einer Motorrad-Gang. Letztlich sind die bürgerlichen Figuren wesentlich brutaler und skrupelloser als die juvenile delinquents und das Experiment zur Rehabilitierung von Kriminellen, an dem Lyons Mann arbeitet (und das nicht von ungefähr durch ein Fenster beobachtet wird, das an einen zeitgenössischen Fernsehbildschirm erinnert), fliegt einem in den letzten Einstellungen des Films in einem veritablen Splatter-Exzess um die Ohren.

In „Juego de amor prohibido“ („Verbotenes Liebesspiel“, 1975) nimmt ein Lehrer, Don Luis (Javier Escrivá), ein von zuhause ausgerissenes Schülerpaar (John Moulder-Brown und Inma de Santis) bei sich auf, um sie im Keller einzusperren und seine sadistischen Spiele mit ihnen zu treiben. Die Versuchsanordnung, an der sich nur zu leicht gesellschaftliche Machtverhältnisse ablesen lassen, gerät außer Kontrolle, als sich Jaime, der schon länger bei Don Luis lebt und ihm als eine Art Diener hörig ist, mit den beiden jungen Menschen verbündet.

Der Umbruch von der Diktatur zur parlamentarischen Monarchie, auf Spanisch Transición genannt, gab de la Iglesia größere Freiheiten, sich explizit sexuellen Themen zuzuwenden. So erzählt er in „La otra alcoba“ („Das andere Schlafzimmer“, 1976) von einer wohlhabenden und wunderschönen Frau, deren Mann, ein angesehener Wissenschaftler, nicht zeugungsfähig ist, weshalb sie sich auf den Angestellten der örtlichen Tankstelle einlässt. Trotz einiger Szenen, die den proletarischen Mann ausdrücklich zum Objekt der Begierde und des Begehrens der bürgerlichen Frau machen (am schönsten wohl eine imaginierte Sex-Szene, in der es die beiden inmitten einer Lache aus Motorenöl treiben), dient er letztlich nur als Samenspender, den man sich, wenn er nicht mehr benötigt wird, auch mal mit regelrecht mafiösen Mitteln vom Leib hält.

„La criatura“ („Die Kreatur“, 1977) nimmt seinen Ausgang auch mit einem lange unerfüllten Schwangerschaftswunsch. Als sich dieser für ein junges Paar endlich verwirklicht, verliert die hochschwangere Frau das ungeborene Kind, nachdem sie von einem großen schwarzen Hund angefallen wird. Im Urlaub am Strand begegnet ihr ein ebensolcher Hund, den sie kurz entschlossen bei sich aufnimmt und für den sie, von ihrem Mann immer skeptischer beobachtet, eine regelrechte Obsession entwickelt. Wie in „El diputado“ bleiben familiäre, sprich: mütterliche und sexuelle Gefühle nicht klar voneinander getrennt, diffundieren immer weiter. Gibt sie dem Hund zunächst den Namen Bruno, den eigentlich ihr Sohn erhalten sollte, verwandelt er sich im Folgenden immer mehr in einen Liebhaber, mit dem sie sogar symbolisch Hochzeit feiert.

Wo die zoophile Beziehung hier am Ende zur Utopie eines Auswegs aus der zum Gefängnis gewordenen bürgerlichen Ehe wird, gibt es für die Titelfigur in de la Iglesias nächstem Film „El Sacerdote“ („Der Priester“, 1978) kein Entrinnen aus dem Zwiespalt seines eigenen Begehrens und der Unterdrückung desselben in seiner Position als katholischer Priester. Er, allerorts geplagt von sexuellen Phantasien und Visionen, geht im Kampf gegen seine Sexualität bis zum Äußersten und kann erst darin seine Katharsis erleben, einsehen, dass sein Glaube falsch ist, ihn zur Verleugnung eines wichtigen Teils seiner Identität zwingt.

Nach „El diputado“ drehte de la Iglesia 1980 zunächst eine seiner wenigen rein komödiantischen Arbeiten: „Miedo a salir de noche“ („Angst, nachts auszugehen“) (auch wenn sich ein gewisser, oft ziemlich bizarrer Humor vor allem in den Achtzigern durch seine Filme zieht). Wird die steigende Kriminalität hier noch aus der Sicht einer bürgerlichen Familie erzählt, die sich kaum noch aus dem Haus traut, sollte der Regisseur diese Entwicklung in seinem folgenden Film „Navajeros“ („Die Messerstecher“, ebenfalls von 1980) ganz aus der Sicht der Marginalisierten, der Jugendlichen in den Armenvierteln am Rande von Madrid, betrachten, die von ihrer Misere in die Kriminalität gezwungen werden. Dieser und einige der darauf folgenden Filme, namentlich „Colegas“ („Kumpel“, 1982), das Fixer-Drama „El pico“ („Der Schuss“, 1983), das so erfolgreich war, dass es im folgenden Jahr mit „El pico 2“ fortgesetzt wurde, sowie „La estanquera de Vallecas“ („Die Tabakhändlerin von Vallecas“, 1987), sein letzter Film vor seiner großen Schaffenspause, die sich bis ins neue Jahrtausend hinziehen sollte, machten de la Iglesia zu einem der Hauptvertreter des so genannten cine quinqui, das sich in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren mit – oft authentischen – Fällen von Jugendkriminalität befasste.

Zwischenzeitlich hatte der Filmemacher noch 1985 „Otra vuelta de tuerca“ gedreht, eine Verfilmung von Henry James‘ Geisternovelle „The Turn of the Screw“ (1898). In seiner Version, deren Titel man mit „Eine weitere Drehung der Schraube“, aber auch mit „Eine andere Drehung der Schraube“ übersetzen kann, wird aus dem Kindermädchen, das feststellen muss, dass die beiden Kinder, die sie auf einem ländlichen Anwesen hütet, Verbindungen zur Geisterwelt haben, ein junger Mann, der sich den Verführungsversuchen seines dreizehnjährigen Zöglings ausgesetzt sieht. Die James’sche Schraube wird so nicht nur ins Queere gedreht, gleiches gilt für die sexuellen Subtexte, die in dem viktorianischen Text unter der Oberfläche brodelten.

Seit 1983 konsumierte de la Iglesia regelmäßig Heroin. Immerhin sollte er die jugendlichen „Stars“ seiner quinqui-Filme, José Luis Manzano und José Luis Fernández Eguia „El Pirri“, gecastet als Laien in ihrem und dem Milieu der Filme, den Madrilener Vorstädten, überleben, die im Alter von 29 respektive 23 Jahren von den Drogen dahingerafft wurden. Aufgrund seiner gesundheitlichen Situation konnte der Regisseur nach 1987 keinen weiteren Film realisieren, bis er 2001 eine Folge für eine Fernsehserie drehte und sich 2003 mit „Los novios búlgaros“ („Bulgarian Lovers“) ein letztes Mal in den Kinos zurückmeldete. Leider ein eher enttäuschendes Comeback, weil der Regisseur mit der Geschichte von einem Mann, der sich in einen jungen Bulgaren verliebt, von dem er gnadenlos ausgenutzt und in kriminelle Machenschaften verwickelt wird, zwar an seine gängigen Themen und Motive anknüpfen, dabei aber nicht zu alter Größe zurückfinden konnte. Eloy de La Iglesia verstarb im März 2006 an einem Krebsleiden.

* * *

2. Ausbeutungsverhältnisse: Klasse, Körper, Begehren

Einen der deutlichsten Bezüge auf Klassenunterschiede im Werk Eloy de la Iglesias findet sich in „La semana del asesino“ (so deutlich, dass es schon ein kleines Wunder ist, dass diese Szene wohl unbeschadet durch die franquistische Zensur kam). Spät abends sitzen Marcos und Néstor in einem Café und trinken einen Milch-Shake, als sich ihnen einige Polizisten nähern und nach ihren Ausweisen verlangen. Während ersterer, panisch ob der Leichen, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits in seinem Schlafzimmer stapeln, seine Papiere vorzeigt, sagt letzterer nur lapidar, dass er den Ausweis zuhause habe. An dieser Stelle schaltet sich der Besitzer des Cafés ein und gibt den drei Polizisten zu verstehen, dass er Néstor kenne und dieser in dem neuen luxuriösen Appartement-Block um die Ecke wohne. Mit diesem Hinweis auf den hohen sozialen Status des Mannes ändert sich das harsch autoritäre Verhalten der Männer schlagartig. Betont freundlich geben sie Néstor zu verstehen, dass er dazu verpflichtet sei, sich ausweisen zu können und gehen dann ihrer Wege.

In diesem Film werden Klassenunterscheide auch durch die Wohnsituation der beiden Protagonisten thematisiert, die vis-a-vis wohnen und doch aus verschiedenen Welten stammen (wobei auch das Thema Gentrifizierung implizit anklingt). Ferner kommt es in den Dialogen mehrfach vor, dass Marcos die distinguierte Ausdrucksweise des wesentlich gebildeteren Néstor nicht versteht. Vor allem aber etabliert „La semana del asesino“ dadurch, dass es Néstor ist, der zuerst auf Marcos aufmerksam wird, ihn mit dem Fernglas von seinem Balkon aus beobachtet und ihn schließlich auch anspricht, ein Motiv, das sich im folgenden Werk de la Iglesias mehrfach wiederholt: das Begehren der gehobenen Klassen für den proletarischen Mann.

In „Una gota de sangre para morir amando“ sind es junge Männer mit sozialen Problemen, die von einer Krankenschwester verführt und ermordet werden. In „La otra alcoba“ gibt es zwar eine schöne Frau mit zahlreichen Verehrern, sexualisiert wird aber vor allem der Körper des auch hier proletarischen Mannes (wobei es sicherlich zu kurz greift, dies allein auf die sexuellen Präferenzen des Regisseurs zurück zu führen). Der Vorspann zeigt, mit einem romantischen Song unterlegt, wie er sich umzieht, seine Motorradkleidung bis auf die Unterhose ablegt und den Blaumann anzieht, den er bei seiner Arbeit als Tankwärter trägt. Zusätzlich ausgedehnt wird die Szene dadurch, dass das Bild eingefroren wird, wenn der Titel und die Credits erscheinen. (Überhaupt, dies nur am Rande: Vorspänne! Eine heute weitestgehend in Vergessenheit geratene eigene Kunst des Kinos, die de la Iglesia mitunter mit ähnlicher Versessenheit pflegte wie die Italo-Western oder seine US-amerikanischen Kollegen Martin Scorsese und Spike Lee.) Später phantasiert die reiche und schöne Frau mit ihm Sex zu haben, im Schnee, im Motorenöl. Wo sich der Mann jedoch stürmisch in sie verliebt, bereit ist, für sie seine Verlobte zu verlassen, versteht sie es, Libido von Liebe zu unterscheiden und letztlich ihren gesellschaftlichen Vorteil zu wahren. Von dem proletarischen Mann nimmt sich die bürgerliche Frau, was sie braucht, ihren Spaß und seinen Samen, und lässt ihn dann fallen, nimmt sogar in Kauf, dass ihr Mann ihr den lästig gewordenen Liebhaber mit überaus groben Mitteln vom Hals hält.

Dass die (hier eher sub-)proletarischen Männerkörper bis aufs letzte ausgebeutet werden, den Reichen Material sind, mit dem man nach Gutdünken und stets zum eigenen Vorteil verfährt, wird in „Colegas“ auf die Spitze getrieben. Zwei Kumpel aus armen Verhältnissen (Antonio Flores und José Luis Manzano) versuchen, Geld für eine Abtreibung für ein Mädchen (Rosario Flores) zu organisieren, die die Schwester des einen und die Freundin des anderen ist. Zunächst verschlägt es sie dabei in einen Sauna-Club, in dem sich ältere wohlhabende schwule Männer mit Jungen wie ihnen vergnügen (es ist durchaus interessant, dass es in de la Iglesias Werk immer wieder Schwule aus den oberen Schichten des sozialen Spektrums sind, die sich – oftmals gegen Bezahlung – mit ärmeren, (vermeintlich) heterosexuellen Männern einlassen. Außer in „Colegas“ findet sich diese Konstellation auch in „La semana del asesino“, „El diputado“, „El pico“ und „Los novios búlgaros“). Der Versuch der beiden Jungs, sich das Geld so zu beschaffen, scheitert daran, dass sie, als ihnen zwei ältere Männer einen blasen, keinen hochkriegen. Die Ausführlichkeit, in der das dargestellt wird, ist ebenso wenig (komödiantischer) Selbstzweck wie eine Szene später im Film, in der sich die beiden als Drogenkuriere versuchen, die Haschisch aus Marokko nach Spanien schmuggeln sollen. Der arabische Dealer reicht ihnen eine Dose Nivea und verkündet in gebrochenem Spanisch, dass es „mucha crema“ bedürfe, um sich die Päckchen in den Arsch zu schieben. Mit weit gespreizten Beinen und schmerzverzerrten Gesichtern sehen wir sie sich abmühen. Ein Lacher sicherlich nicht nur für den Hofbauer-Kommandanten Christoph Draxtra, mit dem und einigen anderen lieben Cine-Menschen ich den Film in Frankfurt auf der großen Leinwand erleben durfte, aber eben auch ein weiterer Verweis darauf, dass alles, was diese beiden Jungen – und viele wie sie – haben, um an Geld zu kommen, der eigene Körper ist.

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3. Unterdrückungsverhältnisse: Macht, Autorität, Angst

In der oben bereits erwähnten Café-Szene in „La semana del asesino“ folgt dem Close-Up der Schweißtropfen auf Marcos‘ Stirn eine Reihe von schnell hintereinander geschnittenen Einstellungen, die den Adler an der Mütze des Polizisten zeigen, dann den an seiner Uniform, dann seinen Knüppel, dann seine Pistole im Halfter, dann wieder Marcos‘ schwitzendes Gesicht. Die Insignien der Macht der Staatsgewalt werden für Marcos zu Insignien der Angst. Zu seinem ersten Verbrechen wurde er von einem Taxifahrer getrieben, der nicht zulassen wollte, dass Marcos und seine Freundin in seinem Auto rumknutschen. Auch hier tritt der ältere Mann als Autorität auf, dessen Prüderie stellvertretend für ein ganzes System stehen mag. Dass Marcos immer weiter mordet, aus einem Unfall die Woche des Mörders wird, liegt in seiner Angst vor der (franquistischen) Obrigkeit begründet.

Doch die Angst, die gerade die Armen, die Marginalisierten nicht zu Unrecht vor den Autoritäten haben, steht und fällt nicht mit dem Generalissimo. In „La estanquera de Vallecas“ überfallen ein Mann (José Luis Gómez) und sein jüngerer Komplize (José Luis Manzano) eine Tabakhandlung, die von einer älteren Frau (Emma Panella) und ihrer jungen Nichte (Maribel Verdú) betrieben wird. Der Überfall steigert sich, als die Polizei anrückt, zur Geiselnahme, aus der wiederum eine Party wird, die sich mit dem in Filmen so oft und auch hier zitiertem Stockholm-Syndrom nur sehr unzulänglich beschreiben lässt. Während sich draußen auf dem Platz ein Tumult bildet, die Polizei hart durchgreift und zuschlägt, Klassen- und Wahlkampf betrieben wird, verbrüdern und verschwestern sich drinnen die Menschen, die, auch wenn sie zunächst augenscheinlich in Täter und Opfer unterteilt sind, doch durch etwas verbunden werden: ihre Armut. Eine zarte Utopie, die am Ende in den Polizeisirenen untergeht (dass zu Beginn des Films der Madrilener Polizei gedankt wird, „ohne deren Kooperation dieser Film nicht hätte gedreht werden können“, erscheint bei dem schlechten Abschneiden der Ordnungshüter in diesem Film als blanker Hohn).

Mit einer wahrlich furchterregenden Autoritätsfigur bekommen es auch die beiden jugendlichen Ausreißer, die von zuhause abgehauen sind, um ihre Sexualität frei und selbstbestimmt ausleben zu können, in „Juego de amor prohibido“ zu tun. Don Luis (Javier Escrivá) ist Lehrer, Wagnerianer, gefällt sich in der Rolle von Shakespears Tyrannenfigur Macbeth, die er auswendig kann und fleißig rezitiert und spielt mit den beiden ein Spiel, als wäre er ein Sadescher Souverän. Sein Haus wird, wie es mit großbürgerlichen Häusern und Wohnungen in de la Iglesia-Filmen öfter der Fall ist, von Ritterrüstungen geziert, was wohl vor allem im spanischen Kontext auf eine monarchistische Gesinnung schließen lässt. Dass sich die Machtverhältnisse in seinem Haus gegen seine Gunst verändern, ist vor allem seinem Diener Jaime geschuldet, den er einst wohl ebenso wie das junge Paar bei sich „aufgenommen“ hat, und der sich nun gegen seinen Herren stellt. Sind es bei Iglesias, nicht nur in seinen quinqui-Filmen, stets die Jungen, die am meisten unter den bedrückenden Verhältnissen zu leiden haben, so ist Jaime eine Figur, die genau zwischen ihnen und ihrem Peiniger steht, nicht nur was ihr Alter, sondern auch was ihren „sozialen Status“ in Don Luis‘ kleinem Gesellschaftsmodell anbelangt. Das grausame (Gesellschafts-)Spiel des alten Patriarchen weicht zunächst den anarchischen Spielen der neuen jungen Hausherren, die das Haus verwüsten und mit Plakaten von ihren Teenie-Idolen vollhängen. Zu der Utopie eines Lebens ohne Angst (wozu auch zählt: ohne Geldsorgen, weil der einstige Herr fleißig Schecks unterschreibt) gehört auch ein polygames Beziehungsgeflecht. Das Ende allerdings ist dann von bemerkenswerter Ambivalenz. Noch von seinem Totenbett aus schafft es Don Luis zu säen, was einst seine Macht begründete: Angst. Am Ende lässt das Mädchen das Haus aufräumen, lässt großbürgerlich dinieren, als hätten sich nur die Spieler geändert, nicht aber das Spiel. In der letzten Einstellung des Films sehen wir sie in ihrem Bett liegen, durch ein reich verziertes Gitter eingeschlossen mit den beiden Männern, denen sie nie ganz vertrauen wird.

In „El sacerdote“, de la Iglesias Abrechnung mit der in seinem Heimatland so einflussreichen katholischen Kirche, die er – wenig überraschend – vor allem wegen ihrer Lustfeindlichkeit anprangert, ist es vor allem die Angst vor dem eigenen Begehren, das sich mit den Werten beißt, die mehr als durch Introjektion angenommenes Über-Ich wirken denn als tatsächliche äußerliche Autorität, die das Schicksal des Protagonisten besiegelt. Die Kirche kommt auch in anderen Filmen, in denen sie nur am Rande auftaucht, nicht gut weg. In „La criatura“ wendet sich der Mann, nachdem er seine Frau vergewaltigt hat, an einen Priester und bekommt ein nachträgliches Okay für sein Handeln, weil die Frau ihre „ehelichen Pflichten“ zu erfüllen habe. In „La otra alcoba“ wendet sich die Frau wegen der Zeugungsunfähigkeit ihres Mannes an einen Geistlichen, der ihr erklärt, dass unter solchen Bedingungen auch die Annullierung einer Ehe möglich sei. Was erstaunlich liberal klingen mag, lässt doch auf eine Beschränkung der Sexualität auf den Zeugungsakt schließen, die der Lust an der Liebe, wie sie aus dem Werk de la Iglesias spricht, diametral entgegensteht.

Für die Kleinbürger-Familie in „Miedo a salir de noche“ wird die Angst vor der während der Epoche der Transición rapide steigende Kriminalität, von der die Medien ohne Unterlass berichten (der wiederum großartige Vorspann montiert die entsprechenden Schlagzeilen der Zeitungen zu einem einzigen großen Potpourri des Schreckens), zum Selbstläufer, der obskure Blüten trägt. So macht das neue Superschloss an der Tür die eigene Wohnung zur Falle, die man nur noch mithilfe der Feuerwehr über den Balkon verlassen kann, und die Entscheidung, scharf bewaffnete Sicherheitsleute auf den Straßen patroullieren zu lassen, kostet am Ende ausgerechnet die sympathischste und unaufgeregteste Figur des Films das Leben. Die Angst vor der körperlichen Versehrtheit kommt in einer Phantasie der Kleinbürger von nächtlichen Angriffen (auch eine böse kleine Schwester der Sex-Phantasien in „La otra alcoba“ und „El sacerdote“) mit einer Drastik zum Ausdruck, die – nicht nur im Kontext einer Komödie – verstört. Zu sehen ist, wie einer der Männer einer Frau mit einer Kneifzange eine Brustwarze abreißt (mit Momenten wie diesem generiert sich de la Iglesia immer wieder als Bürgerschreck). Eine Komödie ist „Miedo a salir de noche“ auch wegen eines für diesen Filmemacher erstaunlich wenig ambivalenten Happy Ends. Letztlich überwindet die Familie ihre Angst, geht nachts aus und wird dafür mit einem Feuerwerk am Himmel von Madrid belohnt.

* * *

4. Auteur des Cine Quinqui: Jugend, Kriminalität, Drogen

Eine Familie, Vater, Mutter, Kind, sitzt beisammen und sieht fern. Angekündigt wird „A Clockwork Orange“ (die perfekte Abendunterhaltung für den etwa sechsjährigen Sohn der Familie by the way). Doch statt auf der Mattscheibe kommt der Kubrick-Klassiker direkt ins Wohnzimmer einer nicht ganz so durchgestylten, roheren, aber dafür umso durchgeknallteren Version. Mitten drin statt nur dabei findet sich die Familie, als es an der Tür klingelt und sie sich plötzlich mit einer peitschenschwingenden Biker-Gang mit orangenen Helmen konfrontiert sieht. Nachdem die jungen Männer das spacige Wohnzimmer (auch eine merklich billigere Variante von Kubricks berühmten futuristischen Pop-Art-Interieurs) gründlich zerlegt und die Familie erniedrigt haben, zerrt einer von ihnen die Mutter ins Schlafzimmer. Ein anderer sucht ein zweites Schlafzimmer für sich und den Vater (passierten schwule Männer Francos Zensur-Behörden, solange sie sadistische, „degenerierte“ Bösewichter waren?). Einer bleibt mit dem kleinen Sohn im Wohnzimmer zurück, streicht ihm kurz übers Gesicht und fährt dann fort, das Mobiliar mit der Peitsche in Trümmer zu legen (eine Ersatzhandlung für eine dritte Form des Begehrens, die im Spanien des Jahres 1973 dann doch endgültig zu weit gegangen wäre und deshalb nur in einem Gewaltausbruch ihr Ventil finden darf?).

Juvenile delinquency war bei de la Iglesia nicht erst ab „Navajeros“ ein Thema, sie findet sich bereits in seinem noch unter dem Franco-Regime entstandenen „Una gota de sangre para morir amando“, aus dem auch die obige Szene stammt. Doch wo sie hier noch reines Zitat ist, das aus anderen Filmwelten entlehnt wurde, die in anderen gesellschaftlichen Kontexten entstanden, wird sie dort ganz konkret, bekommt einen geografischen (die Vororte von Madrid) und historischen (die Epoche der Transición, bei deren gewaltigem Umbruch die Ärmsten auf der Strecke blieben) Kontext. (Es ist beinahe eine Ironie der Geschichte, dass mir der de la Iglesia der Franco-Zeit noch etwas lieber ist als der der Transición. So schillernde, komplett eigensinnige, sich am Medium Film und seinen Ausdrucksmitteln berauschende Filme wie „La semana del asesino“ oder „Una gota de sangre para morir amando“ und –mit kleineren Abstrichen – auch „El techo de cristal“ und „Nadie oyó gritar“ finden sich bei dem späteren de la Iglesia, der „machen konnte, was er wollte“, zumindest meiner bescheidenen Meinung nach nicht mehr.)

„Navajeros“ ist ein Film, der zunächst sehr Heterogenes miteinander verbindet. Da ist ein quasi dokumentarischer Anspruch, der mit einer Texttafel beginnt, die verkündet, dass die Figuren des Films zwar frei erfunden seien, er aber nichtsdestotrotz auf Tatsachen beruhe. Diese Programmatik setzt sich nahtlos fort in der Figur eines von José Sacristán gespielten Journalisten, der an einer Reportage über Jugendkriminalität arbeitet und zu diesem Zweck den jungen „Intensivtäter“ „El Jaro“ (José Luis Manzano) und seine Bande interviewen will. Nüchtern zeigen die dieser Figur gewidmeten Einschübe, wie Statistiken und Fakten zum Thema juvenile delinquncy in eine Schreibmaschine getippt werden, wobei es vor allem darum geht, zu belegen, dass die jungen Täter größtenteils den ärmsten Schichten der Gesellschaft angehören und somit soziale Benachteiligung den Ursprung ihres Verhaltens darstellt.

Dann ist da aber auch die geradezu spielerische Überhöhung des gezeigten Lifestyles der Protagonisten, der auch einhergeht mit der Sexualisierung ihrer Körper – insbesondere: des athletischen Körpers Manzanos -, und die sie zu einer Art lumpenproletarischer Antihelden stilisiert. Für die Handtaschen, Autos und Motoräder klauenden, Überfälle begehenden und Drogen nehmenden Jungs, die nicht einmal das strafmündige Alter von sechzehn Jahren erreicht haben, wird die Stadt zu einem riesigen Spielplatz, auf dem sie sich all das einfach mit Gewalt nehmen, was die Gesellschaft versucht, ihnen vorzuenthalten. Auch wenn der Film nicht verhehlt, dass für einige der Protagonisten ihr schnelles Leben mit einem frühen Tod endet, bewahrt er sich doch dabei eine gewisse, beinahe befremdliche Leichtigkeit, indem er seinen Figuren trotz aller widrigen Umstände ein gehöriges Maß an Lebensfreude zugesteht. Die Parallelmontage, mit der „Navajeros“ endet, verbindet das im Schrotflintenfeuer vergehende Leben mit einer echten und in allen Details gezeigten Geburt.

Solidarität gibt es dabei auch zwischen den prekären Spaniern und Menschen – vor allem Frauen –, die auf der Suche nach einem besseren Leben hier gestrandet sind, und sich nun durch Prostitution ihr Geld verdienen. Unterschlupf und Zuneigung findet El Jaro bei der alternden mexikanischen Hure Mercedes (gespielt vom einstigen Star Isela Vega, die unter anderem auch in Peckinpahs „Bring me the Head of Alfredo Garcia“ (1974) eine Hauptrolle spielte). Eine der schönsten Szenen des Films zeigt, wie die beiden leidenschaftlichen Sex haben und dann wild herumtollen, wobei sie unter anderem kerzengerade ausgestreckt auf seiner Schulter liegt, während er sich im Kreis herum dreht. Dieses Motiv wiederholt sich auch in „El pico“ und „El pico 2“, wo Betty, die Freundin des (ebenfalls von Manzano gespielten) Protagonisten, eine diesmal aus Argentinien stammende Prostituierte ist. In „Los novios búlgaros“ schließlich gibt es einen – zu Beginn des neuen Jahrtausends nun problemlos offen schwul lebenden – bürgerlichen Protagonisten, der sich mit dem anschaffenden Migranten jedoch aufgrund der Klassenunterschiede nicht verbrüdern kann, sondern ziemlich gnadenlos von diesem ausgenommen wird, wobei es nicht so sehr der „böse Andere“ ist, sondern eher die romantischen Projektionen der Hauptfigur auf eine von vornherein nur ökonomisch ausgerichtete Beziehung, die jede Menge Herzschmerz verursachen.

In „El pico“ kommen die beiden jugendlichen Protagonisten nicht aus prekären Verhältnissen, sondern sind – sehr symbolträchtig – Sohn eines linken Abgeordneten und eines Kommandanten der Guardia Civil, die erst durch ihre Heroinabhängigkeit auf die schiefe Bahn kommen, zu dealen beginnen, und schließlich im Affekt einen Doppelmord begehen. Der Film spielt größtenteils in Bilbao und das Thema der terroristischen baskischen Unabhängigkeitsbewegung ETA, das in mehreren Arbeiten de la Iglesias am Rande durchscheint, wird hier am ausführlichsten behandelt. Im Gegensatz zu „Navajeros“ interessiert sich dieser Film wesentlich weniger für Bandenkriminalität als für die Drogen sowie die ausführliche Schilderung eines überaus ambivalenten Vater-Sohn-Konflikts.

Einerseits verhehlt der Film kaum seine Faszination für den puren Akt des Drogenkonsums, wenn etwa sehr ausführlich gezeigt wird, wie sich die beiden Jungs mithilfe von Betty ihren ersten Schuss setzen. Andererseits berücksichtigt de la Iglesia auch alle negativen Seiten des Konsums – von der tödlichen Überdosis bis hin zu dem Baby eines Dealer-Paars, das heroinabhängig auf die Welt kam, und nun nach Stoff schreit. Im zweiten Teil, in dem der von Manzano gespielte Charakter die erste Hälfte im Knast verbringt, bis ihn sein Vater von der Guardia Civil – einmal mehr – und wiederum mit ziemlich mafiösen Mitteln frei bekommt, gibt es eine Szene, die ein wahrer Albtraum für jeden Spritzen-Phobiker ist und gleichzeitig das krasse Gegenbild zum mythisch überhöhten ersten Schuss des Vorgängers. In Manzanos Hand wird die Spritze zur Stichwaffe gegen sich selbst, die er immer wieder in der Vene hin und her bewegt, grob ausjustiert bis das Blut fließt.

In „El pico“ findet sich auch ein meines Wissens einzigartiger Versuch für einen weiteren Aspekt der Drogenabhängigkeit genuine verstörende Bilder zu finden: den Entzug. Wo sich unzählige Filme daran versucht haben, Mittel zu finden, einen Drogenrausch angemessen zu bebildern, will de la Iglesia mit Zeitlupen und Überblenden, unterlegt von einem dräuenden Soundteppich, die Leiden des jungen Mannes beim Turkey physisch erlebbar machen.

Mit fünf Filmen, die diesem Genre zugerechnet werden können, wurde de la Iglesia zu einem der Hauptvertreter des cine quniqui, zu dem auch so namhafte Filmemacher wie Carlos Saura („Deprisa, deprisa“ („Los, Tempo“, 1981)) oder Pedro Almodóvar („Qué he hecho yo para merecer esto!!“ („Womit habe ich das verdient?“, 1984)) Werke beisteuerten. Wie auteristisch de la Iglesias Filme aus diesem Zusammenhang sind, wurde mir eigentlich erst richtig klar, als ich mir „Deprisa, deprisa“ angesehen hatte, einen Film aus der selben Zeit, der im selben Milieu spielt und dessen jugendliche Protagonisten größtenteils das gleiche tun (Autos klauen, Überfälle begehen, Drogen nehmen), und dennoch sind die Unterschiede frappierend, weil man in jeder Szene merkt, dass es hier keine de la Iglesia-Figuren sind, die sich in de la Iglesia-Situationen behaupten müssen.

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Epilog: Verbotene Liebe oder ein großer Melodramatiker

„Das Melodram“, schreibt Georg Seeßlen, „kritisiert die Gesellschaft im Namen des individuellen Glücks, das nichts als sich selber will. Es ergreift Partei für das jeweils kleinere System in der sozialen Struktur: für die Gemeinde gegen die Gesellschaft, für die Familie gegen die Gemeinde, für das Individuum gegen die Familie.“ Natürlich zielt der politisch motivierte Filmemacher mit seinen kleinen Geschichten immer wieder auf das große Ganze der Gesellschaft ab. Es geht ihm um eine Kritik an den gesellschaftlichen Institutionen: die Familie, der Klerus, das Militär, die Polizei, den Franquismus und die junge Demokratie, deren frischer Wind die ärmsten der Armen nicht mitnimmt und in der die Diktatur – nicht nur in Form von Guardia Civil-Kommandanten, die sich darüber beschweren, dass ihnen die demokratischen Gesetze ihre Arbeit erschweren, anstatt sie zu erleichtern – fortlebt.

Der Modus dieser Kritik jedoch ist ein grundsätzlich melodramatischer, der anprangert, dass das individuelle Glück, die Liebe, die bei einem revolutionären Geist wie de la Iglesia nicht immer nur eine Angelegenheit zwischen zwei Menschen sein muss, gegenüber den gesellschaftlichen Realitäten keine Chance hat. In „Nadie oyó gritar“ hält die böse Matriarchin (Gegenstück zum bösen, über seinen Tod hinaus wirkungsmächtigen Patriarchen in „Juego de amor prohibido“) von Anfang an im Hintergrund die Fäden in der Hand. In „La semana del asesino“ kann die Beziehung zwischen Marcos und Néstor durch die Zensur – gewissermaßen eine Form von extradiegetischem gesellschaftlichem Zwang – in der Kinofassung nur platonisch bleiben und muss auch schließlich ins Nichts führen (wobei De la Iglesia in Interviews gesagt haben soll, dass das Ende, bei dem Marcos sich der Polizei stellt, nicht das von ihm gewünschte war). Zwar können Betty und Paco in „El pico 2“ – anders als El Jaro und Mercedes in „Navajeros“ und der Priester und seine Verehrerin in „El sacerdote“ – zueinander finden, hierbei wird aber mit ironischen Seitenhieben die bürgerliche Ordnung von Militär, wo Paco, nun doch seinem Vater folgend, Karriere macht, und Familie aufrechterhalten. Wie in „Juego de amor prohibido“, wo diese zunächst symbolisch eingerissen, aber schließlich aus ihren Trümmern wieder neu errichtet wird. In „La otra alcoba“ bleiben die Klassenunterschiede evident und das Begehren der bürgerlichen Frau für den proletarischen Mann mündet nur in der Ausbeutung von letzterem. In „El diputado“ und „Otra vuelta de tuerca“ können die Beziehungen zwischen Alt und Jung letztlich nur tödlichen Ausgang nehmen. Die Solidarität unter den Armen in „La estanquera de Vallecas“ hilft ihnen am Ende auch nicht gegen die Polizei. Und schließlich scheitert das bürgerliche Individuum in „Los novios búlgaros“ an seinem eigenen Glauben an die Liebe und dem Unverständnis der anderen, die sich diese Illusion schlichtweg nicht leisten können.

So pessimistisch, wie es nun erscheinen mag, ist dieses Werk dann allerdings nicht, weil de la Iglesia doch immer die Lust am Leben und der Liebe seiner Protagonist/innen gegen die gesellschaftlichen Zwänge und Normen aufrecht erhält. Können ihre Geschichten auch meist nur tragisch enden, so hatten sie doch immer noch: ihre Gemeinschaft, ihre anarchischen Spiele, den Sex, das Rumtollen im Schlafzimmer, im Schwimmbad, in der überschäumenden Badewanne. Ein kleines bisschen Glück im Leben vor dem Tod.

Mein Dank geht an das Filmkollektiv Frankfurt, deren Hommage an Eloy de la Iglesia die seltene, ja, bisher in Deutschland einmalige Gelegenheit bot, einige seiner Filme so zu sehen, wie man Filme aus dem analogen Zeitalter immer sehen sollte: von 35mm auf eine große Leinwand projiziert. Lobend erwähnt seien auch Subkultur Entertainment und die Edition Salzgeber dafür, dass sie mit „The Cannibal Man“ und „Bulgarian Lovers“ immerhin zwei der Filme dieses Regisseurs in Deutschland auf DVD bzw. Blu-ray zugänglich gemacht haben. Pionierarbeit, der andere Labels folgen mögen! Schließlich sei noch der namenlose DVD-Händler erwähnt, an dessen Stand auf einer Filmbörse ich in einer 1,50 Euro-Kiste eine spanische Disc von „Nadie oyó gritar“ fand, die für mich die erste Berührung mit dem Schaffen dieses Regisseurs und jeden verdammten Cent wert war.

Der südafrikanische Comickünstler Anton Kannemeyer parodiert die kolonialistische Bildpolitik Hergés

( , Regie: )

Anton im Kongo
von Sven Jachmann

In der Tintinologie ist man sich einig: Die Anfänge von Hergés kosmopolitischem Duo Tim und Struppi standen unter keinem guten Stern, eher unter dem Banner antikommunistischer Propaganda und rassistischen Irrsinns. …

In der Tintinologie ist man sich einig: Die Anfänge von Hergés kosmopolitischem Duo Tim und Struppi standen unter keinem guten Stern, eher unter dem Banner antikommunistischer Propaganda und rassistischen Irrsinns. Tatsächlich lassen sich vor allem ihre ersten beiden Abenteuer „Tim im Lande der Sowjets“ und „Tim im Kongo“, 1930 und 1931 erstmals erschienen, heute nicht ohne Kotztüten lesen. So ist das eben, heißt es dann, Hergé war auch nur ein Kind seiner Zeit; sein Erbe für den europäischen Comic bleibt unbestritten, und jeder fängt mal dumm an. Die ligne claire entwickelte sich zur Rückversicherung europäischer narrativer und stilistischer Eigenständigkeit gegenüber der Dominanz der amerikanischen comic books, unterschiedliche Gegenwartskünstler wie Jacques Tardi, Seth oder Chris Ware wären ohne die „klare Linie“ kaum denkbar. Anfang 2012 entschied sogar ein Gericht in Brüssel, dass zum Kulturerbe gewachsenes Zeitkolorit rassistische Bilder von Afrikanern sticht, und wies eine Verbotsklage des kongolesischen Studenten Bienvenu Mbutu Mondondo ab. Außerdem sprach doch Hergé selbst von „Jugendsünden“ und veröffentlichte 1946 eine überarbeitete Fassung! Und überhaupt: „Tim und Struppi“-Alben haben sich weltweit etwa 215 Millionen Mal verkauft!

Die jüngst erschienene Sammlung von Anton Kannemeyers Comic- und Illustrationsarbeiten fixiert die kolonialistische Bildpolitik in Hergés Tim im Kongo. Schon das Cover ist, ja, was eigentlich? Parodie? Satire? Dekonstruktion? Punk? Visual history? Jedenfalls eine ligne claire-Variation des ursprünglichen Titelbilds, auf dem Tim und ein schwarzer Handlanger im Auto die Savanne der belgischen Kolonie durchqueren. Aus Tim wurde nun allerdings Kannemeyer, der fahren lässt und Shell- und Texaco-Kisten als Proviant geladen hat; ihre fröhliche Missionstour hinterlässt brennende Hütten, überfahrene Tiere, Verstümmelungen und Leichen. Das Struppi-Äquivalent sitzt nicht auf der Rückbank, sondern attackiert einen einbeinigen Kongolesen, dessen Gesichtszüge mit dicken, roten Lippen sich durch keine individuellen Charakteristika von den weiteren schwarzen Figuren abheben. Wie bei Hergé.

Anton Kannemeyer, der auch unter dem Pseudonym Joe Dog publiziert, ist in Deutschland bislang praktisch unbekannt, das Buch die erste deutsche Übersetzung. Hierzulande reicht seine Prominenz leider nicht einmal für einen Wikipedia-Eintrag, in New York hängt er bereits im Museum of Modern Art. 1967 in Kapstadt, privilegiert durch ein höchst autoritäres weißes Elternhaus, in die Apartheid hineingeboren, lernte er die Protektion der calvinistisch legitimierten Rassentrennung seitens der Buren von der Pike auf. Im Interview mit dem Deutschlandfunk sagt Kannemeyer: „Das einzige, was mir damals Hoffnung oder ein Gefühl gab, dass es neben Elend noch etwas anderes geben könnte, war Tim.“ 1992 gründete er zusammen mit seinem Grafik-Design-Kommilitonen Conrad Botes die Zeitschrift Bitterkomix, die nach wie vor erscheint. Höchste Auflage: gerade mal 4000 Exemplare, aber ausreichend dafür, dass alte Ausgaben mittlerweile zu hohen Sammlerpreisen gehandelt werden. Das nimmt durchaus wunder, weil radikale Gesellschaftskritik im Comic auch außerhalb der kleinen Szene Südafrikas im Regelfall soviel Aufmerksamkeit erwarten kann wie die Neueröffnung eines Bistrocafés in Hildesheim, solange kein Promi das Zepter schwingt. Indes trifft Kannemeyers Arbeit offensichtlich die richtigen. Er erntete Verbote, Drohbriefe, Farbanschläge auf Ausstellungen. Im Nachwort zitiert Jonas Engelmann den Künstler so: „Wenn die Leute sagen: ‚Oh, das ist schön’ und danach deine Arbeiten vergessen, muss das für einen Künstler deprimierend sein. Ich brauche Reaktionen.“

Kannemeyer versucht weder als Weißer eine schwarze Perspektive auf Rassismus zu simulieren, noch will er in seinen „Tim und Struppi“-Satiren die frühen Arbeiten Hergés des Rassismus überführen; der ist eh manifest. Der Zeichner füllt das, was sich in der Vorlage ideologisch in den weißen Zwischenräumen der Panels abspielt, mit den Projektionen der weißen Elite, ihrem Hass, ihren Ängsten und kolonialistischen Machtphantasien, ähnlich verstörend und rabiat, wie man es als Spiel mit dem Autobiografismus von Robert Crumb kennt. Da erschießt Kannemeyer – analog zu Tim, dem selbiges allerdings mit Gazellen widerfährt – auf der Jagd gleich zehn Schwarze, immer in dem ständigen Glauben, seine Beute verfehlt zu haben; man kann sie schließlich nicht unterscheiden. In einer Illustration zitiert er einfach nur die Definitionen der Oxford Wörterbücher für weiß („unbefleckt, rein, makellos, ohne Schuld“) und schwarz („dreckig, jämmerlich, bösartig, roh“). Oder er gießt mit einem Wasserschlauch und mürrischer Miene die afrikanische Landkarte, „fertile land“, der Boden ist gesäumt von Dutzenden erigierten Riesenschwänzen.

Das Leitmotiv ist Gewalt: vor und hinter den Grenzen der Gated Communitys, vor und nach der Apartheid, als Wort und als Tat. In der bizarren Kurzgeschichte „Sonny“ erreicht die Gewalt mit der Familie die kleinste gesellschaftliche Einheit: Ein Vater missbraucht seinen Sohn im abgedunkelten Schlafzimmer, der Sohn flüchtet in den Garten und blickt im letzten Bild von außen durchs Fenster, hinter ihm die Grenze des hohen Zauns, drinnen die symmetrische Ordnung eines bürgerlichen Wohnzimmers. Sein abermals an Tim angelehntes charakterloses Konterfei und seine räumliche Position zwischen zwei Sphären der Gewalt erheben den Jungen zum doppelten character: als Opfer, das durch die Projektionen des Vaters jedes individuellen Ausdrucks beraubt wird, und als Täter, in dessen entindividualisiertem Antlitz sich bereits der autoritätshörige Geist des Rassisten ankündigt. Für Versöhnlichkeit ist in Kannemeyers Bildern kein Raum mehr frei.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 1/2015

Anton Kannemeyer: Papa in Afrika
Aus dem Englischen von Mathias-Emanuel Hartmann.
Avant Verlag, Berlin 2014, 64 Seiten, 19,95 Euro

(Alle Bilder: © Avant Verlag)

„Der europäische Film ist online nicht sichtbar“

( , Regie: )


von Ricardo Brunn

Ricardo Brunn führte ein Telefoninterview mit Dr. Christian Bräuer, Geschäftsführer der Yorck-Kino GmbH und Vorstandsvorsitzender der AG Kino, zur Entscheidung, „The Lobster“ ohne Filmverleih in die deutschen Kinos zu bringen, …

Ricardo Brunn führte ein Telefoninterview mit Dr. Christian Bräuer, Geschäftsführer der Yorck-Kino GmbH und Vorstandsvorsitzender der AG Kino, zur Entscheidung, „The Lobster“ ohne Filmverleih in die deutschen Kinos zu bringen, über sich wandelnde Verwertungsketten und die Sichtbarkeit von Filmen im digitalen Zeitalter.

Ricardo Brunn: „The Lobster“ wurde bereits vor zwei Monaten auf DVD veröffentlicht. Der Film ist hochkarätig besetzt, hat in Cannes einen Preis gewonnen und es hierzulande trotzdem nicht ins Kino geschafft. Jetzt bringen Sie den Film nachträglich auf eigene Faust heraus. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Christian Bräuer: Ich habe den Film in Cannes gesehen und für mich war sehr schnell klar, dass es einer der besten des Festivals war. Da sicher war, dass er ins Kino kommen würde, habe ich erst einmal abgewartet. Aber er kam nicht. Mich haben dann Leute angerufen und meine Kollegen und ich mussten sie beruhigen. Wir haben denen gesagt, dass der Film sicher noch kommen würde. Dann ist er auf DVD erschienen und wir waren schon ein wenig verblüfft. „The Lobster“ ist ein einzigartiger, ein besonderer Film. Und wie viele Filme dieser Art gibt es denn im Jahr? Wir haben uns deshalb dazu entschlossen das zu probieren und ihn selbst herauszubringen. Das ist natürlich ein Risiko, aber ich hoffe da behalten wir auch wirtschaftlich Recht. Wir sind jedenfalls sehr gespannt und bekommen derzeit viele Dankesmails von unserem Publikum zu dieser Entscheidung.

Das heißt, Sie haben die Position des Filmverleihs übernommen?
Nein, wir sind kein Filmverleih. Die Rechte liegen bei Park Circus. Wir haben die Kollegen dort kontaktiert und die Bedingungen ausgehandelt. Da wir das Marketing und damit das gesamte Risiko selbst tragen müssen, wollten wir den Film in den Städten, in denen wir Kinos haben, exklusiv bringen. Prompt haben dann viele Kinos in anderen Städten gesagt, dass sie diesem Beispiel folgen wollen, was uns in unserer Entscheidung bestärkt. Ich sehe das einfach so, dass wir Kinos die Chancen der Digitalisierung an dieser Stelle nutzen müssen. Kinos haben ja immer schon viele Angebote neben dem regulären Programm gehabt. Und wenn ein Film eben nicht über den Verleih in die Kinos kommt, können wir das in solchen Einzelfällen ausprobieren.

Man könnte den Eindruck gewinnen, diese Einzelfälle häufen sich. „Under The Skin“ (R: Jonathan Glazer) ist nur nach Engagement des Zebra-Kino e. V. sowie medialer Aufmerksamkeit in den Kinos gestartet, „Son of Saul“ (R: László Nemes) nur dank des Oscars. „99 Homes“ von Ramin Bahrani war auf keiner Leinwand zu sehen. Schafft es das Uneindeutige, was sich schwer vermarkten lässt oder schwierige Themen behandelt zunehmend nicht mehr ohne die Initiative Einzelner in die Kinos?
Das ist deutlich zu pauschal. Gewisse Filme haben sich schon immer schwer getan. Und die genannten mögen vielleicht herausfordernd sein, etwas bieten, was wir vielleicht nicht gewohnt sind, worauf wir uns einlassen müssen, aber das ist doch das Tolle an der Kunst. Im Einzelfall wird man immer streiten, warum dieser Film, dafür aber jener nicht ins Kino kommt. Das ist in der Filmförderung nicht anders. Warum wird Film A gefördert und Film B nicht? Das ist bei Kunst so, man streitet sich. Im Filmverleih kommen dann natürlich noch Fragen zum wirtschaftlichen Potential und den Risiken hinzu. Rein formal gesehen ist der Weg ins Kino ja sogar leichter geworden. Es starten heute doppelt so viele Filme wie vor zehn Jahren. Allerdings ist es wiederum auch so, dass das zu wechselseitiger Kannibalisierung führt. Es stellt sich dann die Frage, wie man für einzelne Filme Aufmerksamkeit generieren kann. Ich glaube, je mehr Filme kommen, umso mehr gewinnt dann das Kuratieren an Bedeutung.

Ist der „nachträgliche“ Kinostart von „The Lobster“ demnach eine Art Testlauf für andere Herausbringungsstrategien oder eine veränderte Verwertungskette als Reaktion auf die Digitalisierung und den VoD-Markt?
Die Kinos waren immer aktiv, hatten immer spezielle Kulturprogramme, Festivals und Filmreihen und klar bietet uns die Digitalisierung neue Wege und Möglichkeiten. Für mich ist es unverändert auch wichtig auf Filme zu setzen. Wir müssen den Perlen möglichst zum Erfolg verhelfen, aber auch eine Nische bedienen, die vielleicht nicht so viele anspricht. Wichtig ist: Wir brauchen gute Verleiharbeit und gutes Marketing, sonst – und das ist halt tragisch – scheitern gute Filme, obwohl man weiß, wenn sie gut vermarket werden, hätten sie eine Chance. Die Kinos können diese Arbeit nicht leisten. Das ist ja die Leistung des Verleihs, genau auf diese Punkte spezialisiert zu sein. Das heißt aber auch nicht, dass wir uns selber beschneiden müssten. Alle Kinos wissen, es kommen mehr und mehr Filme. Und die wenigsten sagen, wir brauchen noch mehr Filme. Es ist auf der anderen Seite gerade in der Vielfalt entscheidend, sich die Perlen zu suchen. Das sehe ich als unsere Pflicht bzw. unsere Leidenschaft. Und wenn diese Perlen dann eben im Ausnahmefall über andere Wege kommen, sei es das Festival oder die Filmreihe, und in einzelnen Vorstellungen gezeigt werden, dann ist das eben eine Möglichkeit.

Die genannten Filme sind in vielen Ländern Europas regulär ins Kino gekommen. Sind Schwierigkeiten in der Herausbringung eines künstlerischen Filmes ein spezifisch deutsches Problem?
Im Gegenteil, wir haben in Deutschland eine sehr lebendige Arthaus-Szene auf allen Ebenen, also: Produktion, Verleih und Kino, die nur noch in Frankreich stärker ist. Wir jammern jetzt über diese Filme. In anderen Ländern starten erheblich weniger Filme oder viel später und nur in ausgewählten Kinos. England ist beispielsweise komplett auf Amerika fokussiert. Da gibt es viele kleine Filme nur noch in ausgewählten Vorstellungen. Was man aus meiner Sicht immer nicht sieht, ist, wie fragil das Ganze eigentlich ist. Die Gefahr ist, dass die Vielfalt schwindet und es einseitiger wird. Hollywood hat global angelegte Marketingstrategien. Große nationale Blockbuster schaffen das hierzulande auch noch. Die werden einfach ins Kino gepusht. Ich will das prinzipiell auch gar nicht verteufeln. Das ist einfach nur das reale Umfeld, dem man sich stellen muss. Und der Videomarkt ist online noch viel stärker von Global Playern dominiert als er das bislang war. Die Ausrichtung am Mainstream wird noch viel stärker werden als das bisher der Fall ist. Und globaler Mainstream ist nicht der deutsche, der französische oder der rumänische Film.

Hat der künstlerische Film in den Portfolios der VoD-Riesen keinen Platz?
Zumindest steht er nicht in deren Fokus. Die haben jetzt Prestigeprojekte in Frankreich und Deutschland, um sich einen Markt zu erschließen. Wenn man dieses Geschäft wirtschaftlich betreibt, muss man Risiko minimieren. Risikominimierung war schon immer Sache des Mainstreams und nicht irgendeiner Kunstnische. Die Unterhaltungsindustrie wurde die letzten Jahre immer von Amerika dominiert. Es geht den Unternehmen um globale Strategien und Kunst ist da ein Risiko. Diese Filme wird man sicher hier und da zwecks Imagegründen haben. Das ist jetzt auch kein Vorwurf, das ist nun mal deren Geschäftsmodell, aber es muss einem als Konsument einfach klar sein. Und entsprechend ist das ein wichtiges Thema in der ganzen Debatte um Digitalisierung: Wie wird der europäische Film online ein Erfolg, weil er da derzeit einfach nicht sichtbar ist.

Ist die Herabsetzung oder Abschaffung der Sperrfristen, wie sie derzeit zum Beispiel von Martin Hagemann in die Diskussionen um die Novellierung des Filmfördergesetzes eingebracht wird, eine sinnvolle Reaktion auf die Herausforderungen durch die Großprojekte der US-Studios und VoD-Anbieter?
Mit allem Nachdruck: Kinos brauchen den Schutz der Sperrfristen. Wir brauchen das exklusive Produkt. Das geht ansonsten zu Lasten der kleinen Kinos. Wir kämpfen da ganz massive als AG Kino. Schauen Sie sich einmal eine typische Startwoche eines Blockbusters an: Am Anfang sind es vorrangig die Multiplexe, die den Umsatz haben. Da läuft dann auf 8 von 12 Leinwänden der neue Bond. Ist das Vielfalt? Nein. Ist das Erfolg? Ja. Der kleine deutsche Film muss sich erst herumsprechen. Die Filmkunstkinos haben oft nur ein oder zwei Leinwände. Da braucht es Zeit. Indem ich die Sperrfristen kürze, schwäche ich die Vielfalt. Da verstehe ich Martin Hagemann nicht. Er schadet den Filmen, denen er helfen will. Er möchte befreit sein von einer Kinoauswertung in der Hoffnung bei Video-on-demand kleine Umsätze zu generieren. Aber eins ist klar, VoD ist noch stärker am Mainstream orientiert als das Kino derzeit. Im Kino haben deutsche Filme beispielsweise einen Marktanteil von 25%, im Videomarkt 10%. Und der Dokumentarfilm geht vollkommen unter. Die großen Player wollen so früh wie möglich an das Produkt ran, was aus deren Blickwinkel natürlich verständlich ist, aber das schadet den Kinos. Wirtschaftlich ist das nachvollziehbar, aber ist das kulturelle Vielfalt oder gar das kulturelle Experiment? Ganz sicher nicht.

Wenn Filme also schneller wieder aus den Kinos verschwinden, weil der Rechteinhaber andere Auswertungsstufen angehen möchte, würden noch mehr Filme in noch kürzeren Abständen in die Kinos kommen?
Das ist genau das, was passiert. Und für all diese Filme bleibt noch weniger Zeit. Die wechselseitige Kannibalisierung nimmt zu und am Ende, man sieht das ja jetzt schon, haben die Top-10-Filme einen hohen Marktanteil und alle anderen Filme teilen sich den Rest. Auf der anderen Seite wird sich der Kampf um die Budgets hin zu den großen VoD-Anbietern verschieben. Netflix hat gerade einen Antrag beim DFFF gestellt. Die wollen an den Kinofördertopf und behaupten, sie würden einen Film mit Day-and-Date-Release-Strategie ins Kino bringen. Aber sind wir mal ehrlich: Die wollen doch gar nicht ins Kino. Und die machen auch keinen kleinen Arthouse-Film oder Dokumentarfilm. Die wollen einen Markt erschließen. Also sage ich ganz klar: Dem einzelnen Film, der sich nicht durchgesetzt hat, schadet eine kürzere Sperrfrist sicher nicht. Aber in der Masse ist das eine strukturelle Frage. Deswegen sind die Kinobetreiber alle extrem besorgt. Die kriegen ja die Filme zum Teil erst ab der sechsten Woche, nachdem sie in größeren Städten oder Kinos gelaufen sind. Wenn die Leute aber wissen, dass es den Film bereits nach wenigen Wochen online gibt, geht keiner mehr in diese Kinos. Exklusivität ist da für mich sehr wertvoll. Alles, was immer und überall verfügbar ist, verliert an Wert.

Ich habe Anfang des Jahres „Alles andere zeigt die Zeit“ von Andreas Voigt nur durch Zufall im Kino gesehen. Der Film lief fast ausschließlich in Sondervorführungen, war nach knapp zwei Wochen wieder von der Bildfläche verschwunden. Die Sperrfrist hat diesem Film nicht gerade zum Erfolg verholfen.
Ohne die Sperrfrist hätten Sie vielleicht nicht mal einen Kinobetreiber, der diesen Film gezeigt hätte. Der Film hatte auch kaum ein Marketingbudget. Natürlich müssen wir schauen, wie wir für die guten Filme eine angemessene Auswertung bekommen. Das ist dann unsere Aufgabe, bei Filmen, von denen wir überzeugt sind wie jetzt eben bei „The Lobster“, zu schauen, wie das Publikum zu finden ist und wie der Film dann auf allen Ebenen Erfolg haben kann. Wie schaffen wir es, dass die Leute mitkriegen, dass der Film im Kino oder bei Video-On-Demand läuft? Ich will ja auch, dass VoD ein Erfolg wird, verstehen Sie mich da nicht falsch. Es geht darum, wie man vom Kino auf DVD und Onlineplattformen überleiten kann. Das ist aus meiner Sicht die zentrale Frage. Und ohne Kinostart, da stimmen mir auch die Kollegen aus dem Videosegment zu, gibt es keine Sichtbarkeit. Aber wir wissen auch, echte Filmkultur bleibt eine Nische. Das war schon immer so.

Wie könnte ein Lösungsansatz aussehen?
Schauen Sie, bei den meisten Filmförderungen stehen Produktion und Standort im Vordergrund. Und im Zweifel fördert man Dinge, von denen man nicht ganz überzeugt ist, Hauptsache es wird produziert. Und dann verlässt man sich weitestgehend darauf, dass das Produzierte gesehen wird. Wenn man jedoch einen Stoff fördert, von dem man will, dass er später auch gesehen wird, dann muss man das auch entsprechend unterstützen. Wenn also das BKM die kulturelle Filmförderung stärken will und Wagemut fördern möchte, finde ich das toll. Aber wir müssen bedenken, dass das Ganze nur funktionieren wird, wenn man dem auch Herausbringungsbudgets an die Seite stellt. Da darf man nicht einseitig sein. Wenn nur die eine Seite wächst, steigt auch der Frust auf der anderen Seite, weil bestimmte Filme nicht ins Kino kommen oder untergehen. Das ist dann Erfolglosigkeit mit Ansage. Und da muss man jetzt sozusagen diese zweite Seite bedenken und neben den Filmverleihen auch die Kinos in der lokalen Marketingarbeit unterstützen. Gerade für den kleinen Film ohne große Marketingbudgets ist deren Arbeit von besonderer Bedeutung. Vielleicht muss man so weit gehen, dass die Kinos selbst Marketinganträge stellen können. Wir machen alle schon sehr viel Marketing. Selbst kleine Kinos haben oft schon jemanden, der die Presse für sie macht. Und unser Vorteil ist ja gerade, dass wir den Zuschauer direkt ansprechen können, im Gegensatz zu einem global agierenden Unternehmen. Das Unternehmen kann nur Daten von seinen Kunden sammeln. Wir kennen das Publikum, haben persönlichen Kontakt. Viele unterschätzen auch das Publikum. Die Menschen sind nach wie vor neugierig, die haben ein Gespür für Filme. Und wenn die Filmförderung will, dass diese Filme gesehen werden, sollte sie sich dahingehend stärker Gedanken machen. Wir sollten manchmal einfach mutiger sein, denn am Ende sind wir immer froh, wenn wir mutig gewesen sind. Meistens zumindest, wenn man nicht gerade enttäuscht wird. (lacht)

Nachtrag der Redaktion: Auf Facebook hat Martin Hagemann, der im Gespräch mit Dr. Christian Bräuer mehrfach erwähnt wird, auf das Interview reagiert. Sein Kommentar ist unter folgendem Link zu finden: https://www.facebook.com/martin.hagemann.564/posts/10153583165871651

Horror ganz nah am Hier und Jetzt

( , Regie: )

Nachruf auf Regisseur Wes Craven
von Thomas Groh

Wes Craven war einer der großen Modernisierer des Horrorkinos. Das Kino der Gewalt verstand er als gesellschaftlichen Echoraum. „Um nicht in Ohnmacht zu fallen, wiederholen Sie stets: Es ist bloß …

Wes Craven war einer der großen Modernisierer des Horrorkinos. Das Kino der Gewalt verstand er als gesellschaftlichen Echoraum.

„Um nicht in Ohnmacht zu fallen, wiederholen Sie stets: Es ist bloß ein Film!“ Ein Film allerdings, der sich gewaschen hat und auf grobkörnigem 16-mm-Material alle Register zieht, um dem Horrorkino die Gemütlichkeit künstlicher Dekors gründlich auszutreiben. Wohl auch deshalb musste „Das letzte Haus links“ (1972), ein bis heute beherzt an den Nervenenden des Publikums zerrendes Stück Kino, mit solchen Werbesprüchen auf Distanz gebracht werden. Viel geholfen hat es zumindest hierzulande nicht: Seit Jahren befindet sich der Film im Giftschrank der Amtsgerichte. Wo der Schrecken zu real wird, zücken Staatsanwälte gerne den Beschlagnahmebeschluss.

Der Regisseur dieses von der deutschen Zensur geadelten Meisterwerks heißt Wes Craven. In seiner offiziellen Filmografie steht es an erster Stelle. Die zuvor unter Pseudonym gedrehten Pornos zählen nicht zum Werkskanon, bilden aber die Lehrjahre dieses stets betont kultiviert auftretenden Elder Statesman of Horror: Ohne den grob-materiellen Realismus des Pornos, ohne dessen strategischen Distanzverlust wäre „Das letzte Haus links“, ein loses Remake von Ingmar Bergmans „Jungfrauenquelle“, kaum denkbar.

Mehr als George A. Romero zuvor mit „Night of the Living Dead“ verortete Craven den Horror ganz nah am Hier und Jetzt und holte das angestaubte Genre damit wieder an den Puls der Zeit: Der Vietnamkrieg, die Attentate auf Kennedy und Martin Luther King, die blutige Niederschlagung der sich ihrerseits radikalisierenden Bürgerrechts- und Studentenbewegungen bilden das soziohistorische Hintergrundrauschen, das sich allabendlich via 16 mm, dem gängigen Material der TV-Nachrichten, auf den heimischen Bildschirmen konkretisierte und es den jungen Leuten dämmern ließ, dass an der Sache mit dem Menschen, der dem Mensch ein Wolf ist, akut was dran ist. Dieser profunden Verstörung seiner Generation verlieh Craven adäquaten Ausdruck: Das Kino der Gewalt verstand er nicht als burleske Jahrmarktsattraktion, sondern als gesellschaftlichen Echoraum.

Mit Romero und David Cronenberg bildet Craven so etwas wie das intellektuelle, linksliberale Triumvirat des nordamerikanischen Horrorfilms. Gemeinsam modernisierten und entrümpelten sie das Horrorkino, luden es neu auf und machten es damit wieder brauchbar als Echolot. Von ihrer Pionierarbeit zehrt das Genre bis heute.

* * *

Intellektueller Splatter

Pornofilme, Splatterfilme – intellektuell? Was in Old Europe als unwahrscheinlich gilt, wird bei Craven zum Ausweis einer großartig amerikanischen Biografie: Aufgewachsen in einer religiösen Familie, schlug der 1939 in Ohio geborene, junge Mann zunächst den klassisch humanistischen Bildungsweg ein und arbeitete nach einem Philosophiestudium als Dozent, bevor er die Universität verließ und sich über den Umweg des Bahnhofskinos gen Hollywood aufmachte. Der akademische Betrieb hat ihm längst verziehen: Die seit den 90er Jahren entstehenden „Horror Studies“ widmen sich dem verlorenen Sohn mit besonderer Vorliebe.

Was daran liegt, dass Craven es mit der Modernisierung des Horrorfilms in den 70er Jahren nicht auf sich bewenden ließ. Als nach „Halloween“ alle Welt Slasherfilme mit maskierten Häschern drehte, schenkte er dem Horrorkino 1984 mit dem Klingenhandschuh-Serienkiller Freddy Krueger aus „Nightmare“ einen seiner populärsten Mythen und lud das gerade realistisch gewordene Genre wieder phantasmatisch auf: Anders als seine diesseitigen Kollegen ging der von Brandmalen entstellte Krueger seinen jugendlichen Opfern in deren Träumen nach. Aus handfesten Gründen: Krueger ist das dunkle Geheimnis der schweigenden Elterngeneration, die den einstigen Schulhausmeister einst eigenhändig in den Ofen geschoben hatte.

Die Ahnung, dass Krueger sich an Schulkindern vergangen hat und seine Dämonie sich somit auch als Konkretion kindlicher Traumatisierungen deuten lässt, buchstabierte das missratene Remake von Samuel Bayer (2010) kleinteilig aus. Craven vertraute noch auf die Intelligenz des Publikums, das den Film auch als Allegorie auf die weltvergessen hedonistischen 80er deuten konnte, die sich der Schrecken der 70er Jahre bewusst werden. Anders als das reaktionäre Segment des Horrorfilms wühlte Craven immer auch auf der eigenen Seite nach den Wurzeln des Schreckens.

* * *

Notorisch unaustreibbares Gespenst

Krueger ging derweil zu Cravens Missfallen als notorisch unaustreibbares Gespenst in Serie – unter der Regie anderer. Cravens Rückkehr zum Franchise im Jahr 1994 ist deshalb auch als zornige Negation zu verstehen: nicht als immanente Fortsetzung angelegt, sondern als fiktive Meditation darüber, wie Freddy Cast und Crew des ersten Teils heimsucht. „Freddy’s New Nightmare“ (1994) aktualisiert die romantische Fantasie, dass fiktionale Geschöpfe ihren Schöpfern tatsächlich entgegentreten.

Zugleich dient der Film als Vorstudie zur „Scream“-Reihe, Cravens vielleicht wichtigster Hinterlassenschaft, einer wütende Abrechnung mit dem Slasherfilm, die das Genre zugleich auf die Ebene postmoderner Reflexion hebt: Die Regeln und Mythen des Genres selbst sind es, die hier in konkreter Aussprache der Figuren bewusst gemacht und in selbstkannibalistischer Manier verhandelt werden: Wiederholung und Differenz, die Welt als Wiederkehr des Immergleichen – nur eben als Zitat eines Zitats.

Große Kunst entsteht dort, wo sich Künstler reflexiv zu ihrem Feld verhalten, darin eine eigene Position finden und behaupten. In seinen besten Filmen trieb Craven das Genre der Angst stets voran, dachte es neu, stülpte es verblüffend um. Am Sonntag (den 30.08.2015 – fg-Redaktion) erlag der intellektuelle Horror-Hexenmeister einem Hirntumor. Im Kino könnte man auf eine Rückkehr hoffen. Am Ende ist es eben doch nicht bloß ein Film.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: taz, 31.08.2015

Peter Kern (13.2.1949 – 26.8.2015)

( , Regie: )

Der kompromisslos-radikale Autorenfilmer war ein aus der Zeit gefallenes Relikt
von Ulrich Kriest

Seine eigenen Filme blieben konsequent unter dem Radar einer größeren Film-Öffentlichkeit, aber den Mann dahinter, den „Total Filmmaker“ Peter Kern, den konnte man schwerlich übersehen. Mit seinem fulminantem Übergewicht setzte …

Seine eigenen Filme blieben konsequent unter dem Radar einer größeren Film-Öffentlichkeit, aber den Mann dahinter, den „Total Filmmaker“ Peter Kern, den konnte man schwerlich übersehen. Mit seinem fulminantem Übergewicht setzte er sich auf Festivals in Szene, thronte im Frühstücksraum, wuchtete sich in die Kinosäle oder war einfach nur faszinierend präsent. Man kam mit ihm schnell ins Gespräch, musste dann allerdings im Gespräch aufmerksam sein und mit allem rechnen, denn Kern provozierte gern und redete sich in Rage. Der Wiener hatte dezidierte Meinungen zu den TV-Verantwortlichen, zu Österreich, zur Kulturpolitik im Allgemeinen und auch zur Filmkritik – und machte Talkshow-Auftritte gerne zu Spektakeln der liebevollen Streitlust.

Kern war als kompromisslos-radikaler Autorenfilmer ein Relikt, aus der Zeit gefallen. Er wusste das und spielte auch damit als zorniger Selbstdarsteller. Der Sohn einer Arbeiterfamilie sammelte erste Bühnenerfahrungen bei den Wiener Sängerknaben und auf dem Theater, bevor er in den 1970er Jahren zu einem profilierten Schauspieler-Gesicht des Neuen deutschen Films wurde. Entdeckt von Peter Lilienthal, drehte er mit Wenders („Falsche Bewegung“), Geißendörfer („Sternsteinhof“), Syberberg („Hitler-Ein Film aus Deutschland“), Bockmayer („Flammende Herzen“) und gehörte zwischen 1973 und 1978 zur Fassbinder-Entourage, spielte in „Faustrecht der Freiheit“, „Bolwieser“ und „Despair-Eine Reise ins Licht“. Gemeinsam mit Kurt Raab führte er Regie in dem legendären Trashfilm „Die Insel der blutigen Plantage“, produzierte Schroeters „Der lachende Stern“ und spielte unter Zadeks Regie in „Die wilden Fünfziger“. Kern arbeitete als Darsteller mit Monika Treu, Ulrike Ottinger und Werner Schroeter, arbeitete als Regisseur, Drehbuchautor, Cutter und Produzent an eigenen Projekten wie „Crazy Boys-Eine Handvoll Vergnügen“, „Gossenkind“ oder „Ein fetter Film“, in denen er seine Homosexualität und seinen Körper offensiv zum Thema machte. In Christoph Schlingensief fand Kern dann einen Geistesverwandten, spielte in dessen Filmen „Terror 2000“ und „United Trash“ mit und war auch an Schlingensiefs Theaterarbeiten beteiligt. Mit durchaus vergleichbarer Leidenschaft, Unmissverständlichkeit und Chuzpe drehte Kern in steter Folge Low-Budget-Spielfilme, die immer auch Interventionen waren: „Haider lebt – 1. April 2012“, „Donauleichen“, „Blutsfreundschaft“, „Die toten Körper der Lebenden“ und „Diamantenfieber“. 2011 wurde er, der stets nach dem „Humus der Anarchie“ (Kern) grub, in Hof mit dem Filmpreis für sein Lebenswerk ausgezeichnet; seinen nunmehr letzten Film „Der letzte Sommer der Reichen“ stellte er im Februar im Rahmen der „Berlinale“ vor. 66jährig ist Peter Kern in einem Wiener Krankenhaus gestorben.

Dieser Text erschien zuerst in: Filmdienst

„Gegen den Mainstream des Vergessens“

( , Regie: )


von Wolfgang Nierlin

Wolfgang Nierlin: Warum haben Sie Ihren Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“ betitelt, da dieser doch, auf die Perspektive der Hauptfigur bezogen, eine entgegengesetzte Blick- und Handlungsrichtung einnimmt? Lars Kraume: …

Wolfgang Nierlin: Warum haben Sie Ihren Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“ betitelt, da dieser doch, auf die Perspektive der Hauptfigur bezogen, eine entgegengesetzte Blick- und Handlungsrichtung einnimmt?
Lars Kraume: Tatsächlich haben wir über den Titel „Fritz Bauer gegen den Staat“ nachgedacht, aber dieser schien mir nicht richtig, weil Fritz Bauer nicht gegen, sondern für den Staat war. Er setzte sich auch für die Demokratisierung, die Öffnung und die Modernisierung des Staates ein. Ganz bestimmt richtete sich seine Arbeit nicht gegen Deutschland, sondern war im besten Sinne patriotisch. Nur wandte er sich eben gegen den Mainstream des Vergessens. Im Titel „Der Staat gegen Fritz Bauer“ schwingt natürlich eine Doppeldeutigkeit mit: Einerseits ist das eine juristische Formulierung vor Gericht, also der Staat gegen ein Individuum, andererseits steckt darin ein David-gegen-Goliath-Prinzip. Und schließlich drückt dieser Titel im Kern aus, was im dritten Akt, dem Höhepunkt der Handlung, passiert: Der Staat verweigert Fritz Bauer die Auslieferung Eichmanns aus Israel; und das ist der Kern der ganzen Erzählung. Natürlich ist der Filmtitel aber auch eine Zuspitzung und Provokation.

Sie stellen an den Anfang Ihres Films ein Bild, das Fritz Bauers realen Tod in der Badewanne gewissermaßen vorwegnimmt und zugleich relativiert. Wollten Sie Bauer als Opfer zeigen oder welche Absichten stehen dahinter?
Bauer starb 1968 so, wie wir das zu Beginn des Films zeigen. Wenn man 2015 einen Film über ein historisches Thema macht, dann geht es zum einen um historische Genauigkeit. Daneben ist ein Film eine Abstraktion, die das Geschehen aus der heutigen Sicht zeigt. Und deshalb wäre es nicht richtig gewesen, ihn mit dem hilflos in der Badewanne ertrunkenen Bauer enden zu lassen. Das ließe sich schließlich auch als symbolisches Bild verstehen, das nicht widergespiegelt hätte, wie wir uns nach meiner Meinung an ihn erinnern müssen. Ich finde, dass er ein unnachgiebiger Kämpfer war, der die Demokratie in Deutschland voran gebracht hat und der eben trotz aller Widerstände nicht von seinem Schreibtisch gewichen ist. Und weil er von dort aus gewirkt hat, endet der Film mit einem kämpferisch hinter dem Schreibtisch stehenden Bauer. Dieses Bild ist einem der bekanntesten Fotos nachempfunden, das es von Bauer gibt und das der Fotograf Stefan Moses aufgenommen hat. Den Unfall in der Badewanne wollten wir trotzdem im Film haben, weil er zeigt, wie Gegner und Anhänger versucht haben, diesen als Mord oder Selbstmord zu deuten. Zum anderen steckt darin der Hinweis auf den ruhelosen Geist von Fritz Bauer, der nur noch mit Schlaftabletten ein paar Stunden Ruhe finden konnte. Wir wollten also auch die düstere Seite seiner Persönlichkeit thematisieren. Man muss einfach verstehen, dass ein Film näher am Theater ist als an der Biographie eines Historikers.

Könnte man diese Eröffnungsszene auch als eine Art Erweckung oder Vitalisierung des Helden verstehen?
Das erste und das letzte Bild eines Films müssen immer miteinander in Verbindung stehen. Sie symbolisieren die Reise, die die Figur gemacht hat, also wie sie in unserem Fall aus einer hilflosen Situation heraus neue Kraft gewinnt. Fritz Bauer findet diese zum einen durch den Teilerfolg bei der Ergreifung von Eichmann, zum anderen in seiner Vorbildfunktion für die junge Generation beim Kampf gegen den Paragraphen 175. Und erst danach steht er hinter seinem Schreibtisch und sagt seinen Widersachern, dass er sich nicht vertreiben lässt.

Warum bedurfte es für Sie zusätzlich der fiktiven Figur des homosexuellen Staatsanwaltes Karl Angermann, um den restaurativen Geist der Nachkriegszeit darzustellen?
Ein Spielfilm lebt von zunehmender Dramatisierung; und so muss man einen Höhepunkt im Rahmen der Geschichte finden. In der Haupthandlung ist dieser Höhepunkt die Ergreifung Eichmanns, während uns die Nebenhandlung um den Paragraphen 175 dazu dient, die Aktivitäten der Antagonisten zu fiktionalisieren. Weil es keine Dokumente darüber gibt, mussten wir die Tätigkeiten der Gegenspieler erfinden. Der Sub-Plot liefert zudem ein klares Bild davon, wie gewisse Moralvorstellungen der Nazis in der jungen Republik ungebrochen einfach weiter Bestand hatten und beispielsweise Homosexuelle strafrechtlich verfolgt wurden. Dazu muss man wissen, dass in den Konzentrationslagern auch Hunderttausende von Schwulen gestorben sind. Die junge Republik hätte also gut daran getan, das im Paragraphen 175 zementierte Unrecht abzuschaffen. Doch die Demokratisierung erfolgte in langsamen Schritten und gerade diesbezüglich war Bauer mit seiner Vorbildfunktion für die junge Generation wichtig. Wir haben also eine Figur erfunden, die diese Generation repräsentiert. Das war schon deshalb naheliegend, weil Bauer mit jungen Staatsanwälten arbeitete, an die er seine Hoffnungen knüpfte.

Sie haben im Presseheft den Film zum einen als „Erlösungsgeschichte“, zum anderen als „Heldengeschichte“ bezeichnet. Was meinen Sie damit?
Held ist natürlich ein vielfach codierter Begriff. Im Filmjargon ist der Held per se zunächst einmal der Protagonist. In der dramatischen Kunst wiederum muss der Held die Welt erneuern. Und gerade das macht Bauer: Er erneuert mit seinem demokratischen Ansatz und seinem humanistischen Geist die Gesellschaft, in der er wirkt. Dies geschieht hier wie im Theater in Form einer sogenannten Heldenreise, einer Bewegung oder Entwicklung von etwas Schlechtem zu etwas Besserem. Genau darin spiegelt sich die Erlösungsgeschichte. Das Schlechte ist die Kraftlosigkeit, die Mutlosigkeit und die Verzweiflung, mit der der Film anfängt. Zu Beginn erscheint Bauer in seinem Dienstzimmer völlig isoliert: Er traut seinen Staatsanwälten nicht, er traut seiner Behörde nicht, aus seinem Büro verschwinden Akten. Und er sagt diesen markanten Satz: „Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich Feindesland.“ Schließlich scheint er auch sich selbst und seiner Wahrnehmung nicht mehr richtig zu trauen. Seine Heldenreise beginnt schließlich, als er auf die Schlüsselfigur Eichmann hingewiesen wird. Für mich ist ein Held jemand, der sich gegen alle Widerstände für die Gerechtigkeit einsetzt. Im Kontext der Erlösungsgeschichte bedeutet dieses letztlich persönliche Motiv, dass er als zurückgekehrter Emigrant, der im Ausland tatenlos der Tyrannei und dem millionenfachen Morden zusehen musste, das Gefühl hatte, etwas gutmachen zu müssen, ohne dabei zum Rachejuristen zu werden. Als er sich diesbezüglich seinem Kollegen öffnet, wird auch diesem klar, dass man sich dem Unrecht nicht beugen darf. Mit Erlösungsgeschichte ist also gemeint, den Kampf weiterzukämpfen.

Sie zeigen auch die dunklen Seiten der Figur, seine Einsamkeit, seine Nikotinsucht und den äußeren Druck, der auf ihm lastet. In welchem Verhältnis stehen diese zu seinem positiven Heldentum?
Er war nicht ganz isoliert, aber er war trotzdem jemand, der auf eine bestimmte Art einsam war – nicht zuletzt, weil er aufgrund seiner mutmaßlichen Homosexualität mit niemandem zusammenleben konnte. Wir haben versucht, dafür Bilder zu finden. Er hat diese gebrochene Seite, aber er ist zugleich heldenhaft in seiner Art, wie er mit der jungen Generation, zum Beispiel im Kellerclub, redet. Da kann man gut sehen, was für ein Demokrat er war und wie er seinen Ton findet.

In der kammerspielartigen Verdichtung des Stoffes gewinnt der Film Züge eines Lehrstücks. Möchten Sie Ihrerseits – wie Ihre Figur – aufklären?
Wir wollten vor allem ein Portrait von Bauer machen. Und zu einem Portrait von Bauer gehört natürlich auch die Enge der Dienstzimmer. Ich hätte mir gewünscht, Bauer hätte in Argentinien recherchiert, aber das wäre nur eine unrealistische Filmbehauptung gewesen. Das Spezielle unserer Erzählung ist, dass wir einen Politthriller mit eher unkonventionellen Mitteln gedreht haben und dabei versuchen, filmsprachliche Klischees zu vermeiden.

Endet Ihr Film eher mit einem moralischen denn mit einem realen Sieg?
Ich würde das Ende am liebsten als Pyrrhussieg beschreiben, aber ich glaube, diese Bezeichnung stimmt nicht ganz. Bauer wollte immer eine möglichst breite Diskussion anstoßen. Das hat aber bei Eichmann nicht geklappt. Deshalb ist sein Erfolg ein halber Sieg. Hinsichtlich der dramatischen Konstruktion bedeutet das jedoch zugleich: Er ist erlöst, weil er einen Teilerfolg errungen hat, zugleich aber auch die Widerstände spürt, die dann sein Weiterarbeiten motivieren. Der Höhepunkt seines juristischen Schaffens ist schließlich der Auschwitz-Prozess, der dann ein paar Jahre später folgt.

Wurde die heldenhafte Größe Bauers bereits von seinen Zeitgenossen erkannt?
Unter den Studenten seiner Zeit wurde er je nach politischem Standpunkt ganz sicher für seine offenen Worte geschätzt. Alexander Kluge hat ihn in seinem Film „Abschied von gestern“ auftreten lassen und ihm vor kurzem ein Buch gewidmet. Und auch mein Lehrer Reinhard Hauff hat ihn sicherlich geschätzt. Diese Generation wusste schon, wer Bauer ist. Für sie war er ein leuchtendes Vorbild.

Angewandte Filmkritik #1-10

( , Regie: )


von Jürgen Kiontke

Angewandte Filmkritik #10: Weihnachtsfeier (Kino, vollbesetzt mit Filmkritikern, es soll der übliche Weihnachtsblockbuster gezeigt werden) Filmkritiker: Hey Anke, bist du nachher bei uns auf der Weihnachtsfeier? Filmkritikerin: Es reicht doch …

Angewandte Filmkritik #10: Weihnachtsfeier
(Kino, vollbesetzt mit Filmkritikern, es soll der übliche Weihnachtsblockbuster gezeigt werden)

Filmkritiker: Hey Anke, bist du nachher bei uns auf der Weihnachtsfeier?
Filmkritikerin: Es reicht doch wohl, wenn ich das ganze Jahr mit euch arbeiten muss. Da muss ich doch nicht auch noch mit euch feiern.

Angewandte Filmkritik #9: Wanderarbeit
Von Regisseuren sagt man, sie stünden zuweilen mit einem Bein im Knast, weil sie für die Finanzierung ihrer Filmprojekte schon mal Kopf und Kragen riskierten. Schauspieler unterzeichnen kurze Zeitverträge. Um den Rest des Jahres im Flur der Künstlervermittlung in der Arbeitsagentur rumzuhängen.

Statisten werden nicht reich; über die Entwicklung des Praktikums beim Film zu Zeiten des Mindestlohns werden noch Studien erwartet. Und gleich verschiedene Gewerkschaften dauerbestreiken manche Kinos wegen der Dumpinglöhne.

Nun murrt eine weitere Berufsgruppe: Die der Festivalmitarbeit. Geschätzte 400 Filmfestivals gibt es in Deutschland. „Während diese Entwicklung rasant voranschritt, blieb ein Aspekt bislang unbeachtet: Filmfestivals sind Arbeit- und Auftraggeber“, schreiben die Initiatoren des Aufrufs „Festivalarbeit gerecht gestalten“, zu denen Andrea Kuhn vom Menschenrechtsfilmfestival in Nürnberg und Grit Lemke vom Dokfilmfest Leipzig gehören.
In Betriebswirtschaftsdeutsch heißt es weiter: „Sie bilden mittlerweile ein eigenes, zahlenmäßig relevantes Arbeitsmarktsegment im Rahmen der Kreativwirtschaft.“ Die Entwicklung der vielfältigen Festivallandschaft, „deren Bedeutung innerhalb des filmwirtschaftlichen Verwertungskreislaufs auch als Standortfaktor nicht hoch genug zu schätzen ist“, wäre niemals möglich gewesen „ohne die Arbeit – und vor allem Selbstausbeutung! – tausender Festivalarbeiter*innen“. Festivalarbeit sei Saisonarbeit, deshalb wachse auch das Festivalnomadentum.

Nun soll gerecht und nachhaltig entlohnt werden und nicht immer nur der Werkvertrag unterschrieben. Honorarempfehlungen und Tarife müssten entwickelt und auch Fortpflanzung sowie Ableben abgesichert werden. Denn: „Ein Kind zu bekommen, krank oder gar alt zu werden, ist in unserer Branche nicht angeraten, da Mindeststandards sozialer Absicherung hier oft nicht gelten“.

Standortpolitik und Wanderarbeit – auch die Beweger der bewegten Bilder sind hin- und hergerissen. Als die ersten Filmkritiken erschienen, war das „ursprünglich plebejisch-proletarische Medium der Jahrmärkte und Wanderkinos über die Destillen- und Ladenkinos der Vorstädte hinaus in die kulturellen Reservate des Bürgertums in den Zentren der Großstädte“ vorgedrungen, heißt es bei dem Medienwissenschaftler Hans-Bernd Heller. Es scheint, dass die Jahrmärkte – und vor allem ihre Arbeitsbedingungen – hinterher gewandert sind.

Angewandte Filmkritik #8: Meyer, Schauspielerverband
Ein Mensch, der in seinem Beruf wahrscheinlich täglich als Experte angewandter Filmkritik gefragt sein dürfte, ist Hans-Werner Meyer, Schauspieler und Vorstandmitglied des Bundesverbands Schauspiel. Meyer hat schon in über 120 Film- und Fernsehproduktionen mitgespielt; die schön gestaltete Homepage seines Verbands ist voller wertvoller Informationen für die Klientel, die er vertritt. Vielgefragte Stichworte heißen zum Beispiel: Arbeitslos – Bewerbung – Hartz IV – Pensionskasse – Sozialer Schutz – Tarifverhandlungen.

Ich kann mir vorstellen, wie Herrn Meyers Arbeits- und Beratungspraxis aussieht. Und wie es scheint, ist er an einem Punkt angelangt, an dem man kein Drehbuch mehr für gute Sätze braucht – vor allem, wenn es um die materielle Praxis seiner Schützlinge geht.

Aus Anlass einer britischen Studie, die zu dem Ergebnis kam, dass nur wenige britische Schauspieler aus dem Arbeitermilieu kommen, wurde Meyer neulich gefragt, aus welchen Schichten die deutschen Schauspieler stammen. Meyers Antwort: „Auch wenn vielleicht grundsätzlich weniger Schauspieler aus dem Prekariat stammen, landen die meisten bedauerlicherweise doch am Ende dort.“

Vielleicht sollten auch Drehbuchschreiber sich mal von Meyer beraten und Sätze diktieren lassen, damit der deutsche Film aus dem Quark kommt.

Angewandte Filmkritik #7: Im Ultraschall
Auch wenn es keine Filmkritik gäbe: Es würde Menschen geben, die von sich aus 16 Stunden am Tag im Dunkeln sitzen und anderen bei der Arbeit zuschauen. Denn: „Filmkritik ist eine Haltung“, wie Frédéric Jaeger sagt. Er muss es wissen. Er ist der Chef des Verbandes der deutschen Filmkritik.

Filmkritik ist damit aber auch eine Alltagshandlung. Niemand, schon gar nicht der das Dunkle liebende Filmexperte, bleibt davon unbewertet. Ach, schnieef, das war eine Schmonzette! Das ging ganz schön an die Nieren – Aua!

Erst kürzlich hatte ich das Vergnügen, Opfer einer solchen Rezension zu werden. Der vom Schauspiel unbeeindruckte Autor schrieb nach Sichtung eines Dokumentarfilms im Ultraschall-Design über das Innenleben seines Protagonisten: „Konkrement in der oberen Kelchgruppe, 6,4 Millimeter. Wir empfehlen URS.“

Echt jetzt: Keine dramaturgisch überzeugende Performance geliefert. Das Gesundheitssystem als gefürchtete Kulturinstanz. Was wir anderen antun – den Worth-, Rie- und Brüggemanns dieser Welt -, nämlich behaupten, ihre Filme seien nicht überzeugend, unsere ganzen Kritikeransprüche blabla, können wir nicht mal am eigenen Körper einlösen. Und das schlimme Schlussurteil kommt erst noch: „Äußere Genitalien unauffällig.“

Eine urologische Untersuchung wie eine Rosamunde-Pilcher-Verfilmung.

Angewandte Filmkritik #6: Zahnarzt
„Die Darstellung des Zahnarztes im Film ist für den Berufsstand wenig schmeichelhaft. Das Bild ist geprägt durch ein stereotypes marktschreierisches Muster, das sich medial gut verkaufen lässt: Gewalt, Habgier und ein schräger Charakter.“
(aus: Zahnärztliche Mitteilungen, Zeitschrift der Bundeszahnärztekammer)

Angewandte Filmkritik #5: Nachruf
Der Literaturkritiker Helmuth Karasek war auch Filmkritiker, ich durfte ihn sogar mal ganz nah in diesem Beruf erleben. Es war im Jahr 1998, da saß ich in der Pressevorführung des Monsterschockers „Octalus – Der Tod aus der Tiefe“. Es ging um Riesenwürmer, die ein Schiff von unten anbohrten und die gesamte Besatzung auffraßen.

Es war stockdunkel im Kino, als sie dies taten. Da näherte sich von hinten ein Schatten, irgendetwas Gefährliches. Ich erschrak mich mächtig, dann sah ich: Es waren zwei Füße in Strümpfen. Ich drehte mich herum und sah, dass sich hinter mir Kollege Karasek im Sessel flätzte – Schuhe aus und die Mauken auf die Kopfstütze des Sessels neben mir drapiert. Ganz schön ungehobelt, der Kritiker! Ein Leben auf großem Fuß, sozusagen. Wo der Mensch tot ist, sagt man natürlich nichts Schlechtes nach über ihn und seine Einzelteile – sondern: Danke für den haptischen Horror aus den Tiefen des Kinos. Und so endet mein Nachruf mit dem Satz: Ruhet in Frieden, Kritikerfüße!

Angewandte Filmkritik #4: Doing Gender
Nach dem Film „Ewige Jugend“

„Sehr real.“
„Geschlecht ist eine Konstruktion. Alter nicht.“

Angewandte Filmkritik #3
Kinobesucherin I: „Dit is der Marky Mark. Der heißt Mark Wahlberg jetze.“

Kinobesucherin II: „War dit nichn Nazi? Der hat doch Schwarze vaprüjelt, inner Gang…!“

Kinobesucherin I: „Nee, der hatte den doof anjemacht. Und sein‘ Bruder wollta ooch vateidijen, der Marky Mark. Aba jetze is allit jut. Der hatte voll die Muckis, deswejen hatta ooch Unterwäsche jemodelt.“

Angewandte Filmkritik #2
(Gymnasium in Deutschland, 10. Klasse)

Filmkritiker: „Hallo, ich stelle heute den Beruf des Journalisten vor.“

Mädchen 1: „Muss ich mitschreiben?“

Filmkritiker: „Ja! Ich arbeite als Filmkritiker und komme übrigens grad vom Filmfest. Ich zeig euch mal einen Ausschnitt aus dem Eröffnungsfilm.“

(Eine Minute Schweigen)

Mädchen 1: „Den kenn ich. Das ist der aus dem Nazifilm, der hieß… Wie hieß der noch?“

Mädchen 2: „’Napola’“. So inner Schule von der SS.“

Mädchen 3: „Ey, guck ma‘, das ist doch der, den die Dani so krass gestalkt hat! Die hatte nachher alles von dem, Handynummer, E-Mail, Adresse…“

Junge: „Die ist jetzt im Krankenhaus.“

Mädchen 3: „Ich will auch Filmkritikerin werden! Verdient man da viel?“

Ich: „Geht so…“

Mädchen 3: „Egal, ich schaff das schon!“

Mädchen 1: „Vielen Dank für den Vortrag. Das war echt cool.“

Angewandte Filmkritik #1
(Zwei junge Frauen im Kino, vor der Pressevorführung von „Mein Herz tanzt“, dem neuen Film von Eran Riklis über arabische Israelis.)

Filmkritiker: „Und für wen schreibt ihr?“

Autorin I: „Wir sind von der Bundeswehr. Die Jungs brauchen ja auch mal einen Film über eine Liebesbeziehung. Und Mädels haben wir ja auch!“

Autorin II: „Außerdem passt das ja wie die Faust aufs Auge – zum 50. Jahrestag der diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und Deutschland.“

Diese Texte sind zuerst erschienen in: Konkret

Bild: Woody Allens „Annie Hall“ (1977) (© MGM / 20th Century Fox)

Die besten Filme des Jahres 2015

( , Regie: )


von Redaktion

Die 25 Lieblingsfilme 2015 unserer Kritiker/innen: 1. Mad Max: Fury Road (R: G. Miller) 935 2. It Follows (R: David R. Mitchell) 763 3. The Look of Silence (R: J. …

Die 25 Lieblingsfilme 2015 unserer Kritiker/innen:
1. Mad Max: Fury Road (R: G. Miller) 935
2. It Follows (R: David R. Mitchell) 763
3. The Look of Silence (R: J. Oppenheimer) 645
4. Taxi Teheran (R: J. Panahi) 552
5. A Most Violent Year (R: J.C. Chandor) 524
6. Inherent Vice (R: P. T. Anderson) 513
7. Der Letzte der Ungerechten (R: C. Lanzmann) 442
8. Unsere kleine Schwester (R: H. Kore-eda) 348
9. Foxcatcher (R: B. Miller) 339
10. Leviathan (R: A. Zvyagintsev) 336
11. Blackhat (R: M. Mann) 331
12. Love & Mercy (Pohlad) 290
13. Knight of Cups (R: T. Malick) 247
14. Alles steht Kopf (R: P. Docter) 236
15. Den Menschen so fern (D. Oelhoffen) 231
16. Die Lügen der Sieger (R: C. Hochhäusler) 230
17. Ex Machina (R: A. Garland) 223
18. A Girl Walks Home Alone At Night (R: Amirpour) 220
19. Es ist schwer ein Gott zu sein (R: A. German) 179
20. Whiplash (R: D. Chazelle)179
21. Norte, the End of History (R: L. Diaz) 175
22. The Tribe (R: M. Slaboshpytskiy) 172
23. Der Perlmuttknopf (R: P. Guzmán) 170
24. Amour Fou (R: J. Hausner) 168
25. Erinnerungen an Marnie (R: H. Yonebayashi) 167

* * *

Ricardo Brunn
1. I Want To See The Manager (R: H. Lang) 94/100
2. It Follows (R: D. R. Mitchell) 92/100
3. Mad Max: Fury Road (R: G. Miller) 90/100
4. Es ist schwer ein Gott zu sein (R: A. German) 89/100
5. Unsere kleine Schwester (R: H. Kore-eda) 88/100
6. Erinnerungen an Marnie (R: H. Yonebayashi) 84/100
7. Amour Fou (R: J. Hausner) 83/100
8. Foxcatcher (R: B. Miller) 83/100
9. The Tribe (R: M. Slaboshpitsky) 79/100
10. Eden (R: M. Hansen Love) 78/100

Nicolai Bühnemann
1. Mad Max: Fury Road (R: G. Miller) 92
2. Slow West (R: Macclean) 87
3. Blackhat (R: M. Mann) 86
4. It Follows (R: David R. Mitchell) 84
5. Ein Junge namens Titli (R: Behl) 82
6. Foxcatcher (R: B. Miller) 81
7. The Gambler (R: Wyatt) 80
8 Die Lügen der Sieger (R: C. Hochhäusler) 79
9. Focus (R: Ficarra, Requa) 75
10. Star Wars: The Force Awakens (R: J.J. Abrams) 70

Andreas Busche
1. Mad Max (R: G. Miller) 100
2. A Most Violent Year (R: J.C. Chandor) 95
3. Bande des filles (R: C. Sciamma) 90
3. Taxi Teheran (R: J. Panahi) 90
5. Steve Jobs (R: D. Boyle) 85
6. Foxcatcher (R: B. Miller) 80
6. Unsere kleine Schwester (R: H. Kore-eda) 80
6. Der Letzte der Ungerechten (R: C. Lanzmann) 80
6. Leviathan (R: A. Zvyagintsev) 80
10. Look of Silence (R: J. Oppenheimer) 75
10. Manuscripts Don’t Burn (R: M. Rasoulof) 75
10. It Follows (R: David R. Mitchell) 75

Janis El-Bira
1. Der Letzte der Ungerechten (R: C. Lanzmann) 94
2. Knight of Cups (R: T. Malick) 89
3. A Most Violent Year (R: J.C. Chandor) 88
4. Taxi Teheran (R: J. Panahi) 84
5. Saint Laurent (R: B. Bonello) 84
6. Mad Max: Fury Road (R: G. Miller) 81
7. Queen of the Desert (R: W. Herzog) 78
8. Carol (R: T. Haynes) 78
9. The Duke of Burgundy (R: P. Strickland) 73
10. Love & Mercy (R: B. Pohlad) 72

Carsten Happe
1. Inherent Vice (R: P. T. Anderson) 93
2. Dorf der verlorenen Jugend (R: J. Rønde) 91
3. Mad Max: Fury Road (R: G. Miller) 89
4. A Perfect Day (R: F. León de Aranoa) 86
5. Star Wars: Das Erwachen der Macht (R: J.J. Abrams) 85
6. It Follows (R: David R. Mitchell) 84
7. MI 5 – Rogue Nation (R: C. McQuarrie) 84
8. Lost River (R: R. Gosling) 82
9. Victoria (R: S. Schipper) 80
10. The Duke of Burgundy (R: P. Strickland) 79

Sven Jachmann
1. Der Letzte der Ungerechten (R: C. Lanzmann) 90
2. It Follows (R: David R. Mitchell) 90
3. The Look of Silence(R: J. Oppenheimer) 90
4. Es ist schwer ein Gott zu sein (R: A. German) 90
5. Mad Max: Fury Road (R: G. Miller) 82
6. A Most Violent Year (R: J.C. Chandor) 80
7. Inherent Vice (R: P. T. Anderson) 80
8. Warte, bis es dunkel wird (R: A. Gomez-Rejon) 80
9. Alles steht Kopf (R: P. Docter) 75
10. Cobain: Montage of Heck (R: B. Morgen) 70

Ekkehard Knörer (in „Cargo“)
1. Der Letzte der Ungerechten (R: C. Lanzmann) 90
2. A Most Violent Year (R: J. C. Chandor) 85
3. Norte, the End of History(R: L. Diaz) 85
4. Taxi Teheran (R: J. Panahi) 82
5. National Gallery (R: F. Wiseman) 81
6. Knight of Cups (R: T. Malick) 81
7. Königin der Wüste (R: W. Herzog) 81
8. Blackhat (R: M. Mann) 80
9. Inherent Vice (R: P. T. Anderson) 79
10.Mad Max: Fury Road (G. Miller) 76

Ulrich Kriest
1. Norte, the End of History (R: L. Diaz) 90
2. Taxi Teheran (R: J. Panahi) 88
3. Amour Fou (R: J. Haussner) 85
4. Ich will mich nicht künstlich aufregen (R: M. Linz) 84
5. Die Lügen der Sieger (R: C. Hochhäusler) 84
6. Gefühlt Mitte Zwanzig (R: N. Baumbach) 82
7. Une jeunesse allemand (R: J.-G. Périot) 80
8. Inherent Vice (R: P. T. Anderson) 78
9. Eine neue Freundin (R: F. Ozon) 78
10. Art Girls (R: R. Bramkamp) 78

Leider verpasst: National Gallery, Ich seh Ich seh, Das ewige Leben, Es ist schwer ein Gott zu sein, Maidan, Härte, Das blaue Zimmer, Broadway Therapy
Bewusst verpasst: Das brandneue Testament, Star Wars Episode VII, Bridge of Spies, Heil, Spectre, Ich und Kaminski, Königin der Wüste

Schmerzhaft überschätzt: Carol, Birdman, Victoria, Der Staat gegen Fritz Bauer, Alles steht Kopf
Leider enttäuschend: Ewige Jugend, Knight of Cups, Als wir träumten, The Interview, Men & Chicken

Tim Lindemann
1. The Look Of Silence (R: J. Oppenheimer) 95
2. Inherent Vice (R: P. T. Anderson) 85
3. It Follows (R: David R. Mitchell) 85
4. Eden (R: M. Hansen-Love) 80
5. Carol (R: T. Haynes) 80
6. Ex Machina (R: A. Garland) 75
7. Leviathan (R: A. Zvyagintsev) 75
8. A Girl Walks Home Alone At Night (R: Ana L. Amirpour) 70
9. Ich seh Ich seh (R: V. Franz, S. Fiala) 70
10. The Babadook (R: J. Kent) 65

Wolfgang Nierlin
1. Mord in Pacot (R: R. Peck) 95
2. Leviathan (R: A. Zvyagintsev) 93
3. The Tribe (R: M. Slaboshpytskiy) 93
4. Ewige Jugend (P. Sorrentino) 92
5. Der Perlmuttknopf (R: P. Guzman) 90
6. Atlantic (R: J.-W. van Ewijk) 90
7. Unsere kleine Schwester (R: H. Kore-eda) 88
8. Den Menschen so fern (R: D. Oelhoffen) 85
9. The Look of Silence (R: J. Oppenheimer) 85
10. Love & Mercy (R: B. Pohlad) 83

Julia Olbrich
1. 4 Könige (R: T. von Eltz) 91
2. Dope (R: R. Famuyiwa) 89
3. Birdman (R: Alejandro G. Inarritu) 85
4. Spy – Susan Cooper undercover (P. Feig) 84
5. Alles steht Kopf (R: P. Docter) 83
6. Steve Jobs (R: D. Boyle) 79
7. Straight Outta Compton (R: F. Gary Gary) 75
8. Dating Queen (R: J. Apatow) 68
9. Der Marsianer (R: R. Scott) 59
10. N/A

Sven Pötting
1. Der Perlmuttknopf (R: P. Guzmán) 80
2. The Look of Silence (R: J. Oppenheimer) 75
3. Horse Money (R: Pedro Costa) 70
4. El club (R: P. Larraín) 70
5. Victoria (R: S. Schipper) 68
6. Birdman (R: Alejandro G. Inarritu) 65
7. A Blast – Ausbruch (R: S. Tzoumerkas) 65
8. A Girl Walks Home Alone at Night (R: Ana L. Amirpour) 60
9. Still the Water (R: N. Kawase) 55
10. Der Staat gegen Fritz Bauer (R: L. Kraume) 55

Manfred Riepe
1. A Girl Walks Home Alone At Night (R: Ana L. Amirpour) 90
2. Mad Max: Fury Road (R: G. Miller) 80
3. Das brandaktuelle Testament (R: J. van Dormael) 75
4. Aus unerfindlichen Gründen (R: G. Reisz) 70
5. Mistress America (R: N. Baumbach) 65
6. Den Menschen so fern (R: D. Oelhoffen) 60
7. Gefühlt Mitte Zwanzig (R: N. Baumbach) 55
8. Taxi Teheran (R: J. Panahi) 50
9. Härte (R: R. von Praunheim) 45
10. In meinem Kopf ein Universum (R: M. Pierzyca) 40

Drehli Robnik
1. Das ewige Leben (W. Murnberger) 90
2. It Follows (R: David R. Mitchell) 85
3. A Most Violent Year (R: J.C. Chandor) 80
4. Ex Machina (R: A. Garland) 75
5. Taxi Teheran (R: J. Panahi) 70
6. Love & Mercy (R: B. Pohlad) 65
7. Mad Max: Fury Road (R: G. Miller) 60
8. Last Shelter (G. I. Hauzenberger) 55
9. 1001 Nacht – Teil 1 (R: M. Gomes) 50
10. ex aequo The Look of Silence (R: J. Oppenheimer); Wie die anderen (R: C. Wulff) 45/45

Michael Schleeh
1. Mad Max: Fury Road (R: G. Miller) 95
2. Unsere Kleine Schwester (R: H. Kore-eda) 92
3. The Look of Silence (R: J. Oppenheimer) 90
4. She’s Funny That Way (R: P. Bogdanovich) 85
5. Dil Dhadakne Do (R: Z. Akhtar) 83
6. Ruined Heart (R: KHAVN) 81
7. Erinnerungen an Marnie (R: H. Yonebayashi) 79
8. Knight of Cups (R: T. Malick) 77
9. Blackhat (R: M. Mann) 75
10. American Sniper (R: C. Eastwood) 74

Harald Steinwender
1. Sicario (R: D. Villeneuve) 99
2. Inherent Vice (R: P. T. Anderson) 98
3. Dheepan (R: J. Audiard) 97
4. A Most Violent Year (R: J.C. Chandor) 96
5. Foxcatcher (R: B. Miller); Whiplash (R: D. Chazelle) 95
6. Mad Max: Fury Road (R: G. Miller); Blackhat (R: M. Mann) 90
7. Kingsman: The Secret Service (R: M. Vaughn); Codename U.N.C.L.E. (R: Guy Ritchie) 89
8. Leviathan (R: A. Zvyagintsev); Der Letzte der Ungerechten (R: C. Lanzmann) 88
9. Das Märchen der Märchen (R: M. Garrone); It Follows (USA 2014; R: David R.Mitchell) 87
10. Den Menschen so fern (R: D. Oelhoffen); Macbeth (R: J. Kurzel) 86

Leider verpasst: „Incompresa“ (R: A. Argento); „Mission: Impossible – Rogue Nation“ (R: C.McQuarrie); „Ex Machina“ (R: A. Garland); „Eden“ (R: Mia Hansen-Løve); „Victoria“ (R: S. Schipper); „Es ist schwer ein Gott zu sein“ (R: Aleksey German); „Ich und Kaminski“ (R: W. Becker); „Inside Out“ (R: P. Docter); „Der Staat gegen Fritz Bauer“ (R: L. Kraume); „Er ist wieder da“ (R: D. Wnendt); „Crimson Peak“ (R: G. del Toro); „Black Mass“ (R: S. Cooper); „The Tribe“; (R: M. Slaboshpitsky); „Love“ (R: G. Noé); „The Duke of Burgundy“ (R: P. Strickland); „Das brandneue Testament“ (R: J. Van Dormael); „Jane Got a Gun“ (R: G. O’Connor)

Andreas Thomas
1. The Look of Silence (R: J. Oppenheimer) 90
2. Taxi Teheran (R: J. Panahi) 88
3. Selma (R: Ava DuVernay) 85
4. Whiplash (R: D. Chazelle) 84
5. Ich seh Ich seh (R: S. Fiala & V. Franz) 83
6. It Follows (R: David R. Mitchell) 81
7. Alles steht Kopf (R: P. Docter) 78
8. Ex Machina (R: A.Garland) 73
9. Love & Mercy (R: B. Pohlad) 70
10. Die Lügen der Sieger (R: C. Hochhäusler) 67

6 x Robert Altman

( , Regie: )


von

Am 20. Februar 2015 wäre Robert Altman 90 Jahre alt geworden. Im Kino erinnert der Dokumentarfilm „Altman“ an sein opulentes Werk, und auch die filmgazette dankt mit einem großen Altman-Dossier. …

Am 20. Februar 2015 wäre Robert Altman 90 Jahre alt geworden. Im Kino erinnert der Dokumentarfilm „Altman“ an sein opulentes Werk, und auch die filmgazette dankt mit einem großen Altman-Dossier. Harald Steinwender rekapituliert in einem langen Essay Altmans wechselhafte Karriere; Nicolai Bühnemann, Janis El-Bira, Lukas Foerster, Sven Jachmann und Andreas Thomas haben sich einige seiner Filme erneut angesehen.

* * *

American Dreamers/American Losers – Eine kursorische Passage durch Robert Altmans Werk

von Harald Steinwender

I. Altman, Hollywood Survivor
„It’s all just one film to me. Just different chapters.“
(Robert Altman)

Robert Altmans (1925-2006) Karriere verlief nie linear, sondern war geprägt von Aufs und Abs, von Kurven und Knicks, von dauerhaften Kämpfen, die er mit Studios und Produzenten führte, und nicht zuletzt von einer äußerst wechselhaften Beziehung zum Publikum: Mal war er zur rechten Zeit am rechten Ort, dann wieder down and out. Altman war ein maverick director, immer dabei und doch außen vor. Am ehesten am Puls der Zeit war er in den 70er Jahren. Lediglich „M*A*S*H“ („M.A.S.H.“; 1970) – auch heute noch sein bekanntester Film – und „The Player“ (1992) waren wirklich große kommerzielle Erfolge, die dem Regisseur seinen Status als Außenseiter in Hollywood sicherten. Durch „M*A*S*H“ erhielt Altman die Möglichkeit, seinen großen Korpus von Filmen zu realisieren. Quer durch alle Genres entstanden ab seinem Kinodebüt von 1957, dem Jugenddrama „The Delinquents“, bis zu dem melancholischen Ensemblestück „A Prairie Home Companion“ („Robert Altmans Last Radio Show“; 2006) in seinem Todesjahr 35 Kinospielfilme, zahlreiche Fernsehfilme, Dokumentationen und Serienepisoden sowie Filme, die er für befreundete Filmemacher wie Alan Rudolph produzierte.

Hollywood Survivor heißt ein Buch, das der Autor Daniel O‘Brien 1995 über Altman veröffentlicht hat. Und in der Tat hat dieser Filmemacher Hollywood im doppelten Sinn überlebt: Indem er teils außerhalb – mit seiner eigenen Produktionsfirma Lion‘s Gate – und teils innerhalb des kommerziellen Studiosystems – angewiesen auf dessen finanzielle Mittel – mehr als 50 Jahre gearbeitet hat. Mit seinen meist günstig produzierten Filmen musste Altman selten künstlerische Kompromisse eingehen. Obwohl immer wieder totgesagt, hat er sowohl seine (meist finanziellen) als auch Hollywoods (vor allem künstlerischen) Krisen relativ unbeschadet überstanden. Seine Freiheit und Individualität als Filmemacher waren Altman immer wichtig. Darin ähnelt er selbst den obsessiven Außenseitern und Glücksspielern, die seine Filme bevölkern.

Ihren Tiefpunkt erreichte Altmans Karriere in den 80er Jahren, in denen er nach einer Reihe von Flops und der Comicverfilmung „Popeye“ („Popeye, der Seemann mit dem harten Schlag“; 1980) – Altmans einzigem desaströs gescheiterten Versuch im Blockbusterkino – gezwungen war, wieder überwiegend für das Fernsehen zu arbeiten. Dort hatte er nach Lehrjahren im Werbe- und Industriefilm 30 Jahre zuvor angefangen, wie viele der später berühmt gewordenen Protagonisten des New Hollywood, darunter Sidney Lumet, John Frankenheimer, William Friedkin und Steven Spielberg.

Altmans einziger Flirt mit dem Blockbuster-Kino: „Popeye“ (1980)

Generell zollte Altman der moral majority in seinen Filmen wenig Respekt. Genrekonventionen demontierte oder unterwanderte dieser Regisseur mit Subversion und Lust an der Destruktion. Auch heute stehen seine Werke den künstlerischen Standards des Gros des US-amerikanischen Films formal wie inhaltlich diametral entgegen. Markant ist besonders Altmans episodische, oder besser: polyphone Erzählweise. Der Einsatz von Weitwinkel-Linsen und die fast ausschließliche Bevorzugung des Breitwandformats Panavision zielen auf tiefenscharfe filmische Räume ab, den Ereignissen im Zentrum des Vordergrundes wird stets die Peripherie zur Seite gerückt. Hintergrund und Nebenhandlungsstränge werden übers Bild hinaus vom Sounddesign, der Kakophonie des echten Lebens nachempfunden, als gleichberechtigte Erzählebenen behandelt. Die einander überlappenden Dialoge, ein weiteres Markenzeichen, sind bereits in Altmans frühen Fernseharbeiten auffällig. Diese Inszenierung ist horizontal, nicht-hierarchisierend, gewissermaßen „basisdemokratisch“, insbesondere im Umgang mit den Schauspielern, die bei Altman stets zum Improvisieren angehalten waren.

Altmans Hohn und Spott gegenüber nationalen Heiligtümern Amerikas konnte freilich auf Dauer kaum erfolgreich sein in einer Nation, in der ein aggressiver Patriotismus Teil des medialen Diskurses ist. Als die Blütezeit des New Hollywood sich dem Ende zuneigte und die großen Studios begannen, sich im Zuge des entstehenden Blockbuster-Systems neu zu konsolidieren, hatte das US-Publikum das Interesse an Pessimismus, Selbstkritik und Gewalt auf den heimischen Kinoleinwänden verloren. Als exponierter Vertreter dieses Kinos war Altman für seinen satirischen, mitunter zynischen Blick auf die Vereinigten Staaten bekannt. Ein exemplarisches Beispiel ist „Buffalo Bill and the Indians, or Sitting Bull‘s History Lesson“ („Buffallo Bill und die Indianer“), den der Regisseur 1976 pünktlich zum 200. Jahrestag der Gründung der USA ablieferte: eine einzige Denunziation der Mythen und der Geschichte Amerikas, die sich trotz großem Budget und veritablem Staraufgebot, darunter Paul Newman, Burt Lancaster, Geraldine Chaplin, Harvey Keitel und Shelley Duvall, nur im kommerziellen Abseits bewegen konnte. Nicht nur, dass Paul Newman seinen William Cody als groteske Witzfigur anlegte, auch seine Antagonisten, die „Indianer“, bleiben dem Zuschauer fremd (überhaupt der Titel: Erhält Sitting Bull hier die Geschichtslektion? Gibt er sie?). Nichts lädt zur Identifikation ein in diesem Film, der mit dem Hissen des Sternenbanners und dem pompös-sarkastischen Zwischentitel „Robert Altman‘s absolutely unique and heroic enterprise of inimitable lustre“ einsetzt. Auch die Showsequenzen dieser „Frühform der Mythenproduktion im Dienst der Eroberer“ (Hans Günther Pflaum), die Cody betreibt, sind so inszeniert, dass sich das Kinopublikum an den zur Schau gebotenen Attraktionen nicht delektieren kann. Wenn Codys Truppe etwa eine Standardszene des Western probt, die Verteidigung eines Blockhauses gegen angreifende Indianer, dann sehen wir vom Spektakel vor allem die Beine der Pferde, scheinbar sinnlos im Kreis reitend – eine Beschränkung des Bildkaders, die an Robert Bressons ikonoklastische Aufarbeitung der Artus-Sage „Lancelot du Lac“ (1974) erinnert.


So geht Nestbeschmutzung: „Buffalo Bill and the Indians, or Sitting Bull‘s History Lesson“ (1976)

Aggressiv wird in diesem bitteren Film der Gegenstand von Buffalo Bills „Wild West“ angegangen, die Eroberung und „Zivilisierung“ des Westens als Gründungsmythos des Genres. Sie ist nichts weniger als der Genozid an den Native Americans, daran lässt Altman keinen Zweifel, und Codys Show verharmlost und feiert diesen in einer publikumsfreundlichen Form. Als Kommentar zu den 200-Jahr-Feierlichkeiten wurde Altmans Film seinerzeit vor allem als Nestbeschmutzung verstanden. Und natürlich wendet der Regisseur die Kritik auch gegen die eigene Branche, zeichnet die „Wild West“-Show als Vorläufer Hollywoods, wenn er in der Eröffnungssequenz „La nuit américaine“ („Die amerikanische Nacht“; 1973) zitiert, Truffauts drei Jahre zuvor realisierten Film über das Filmemachen: Wie dort beobachtet die Kamera die Proben einer Inszenierung, bevor wir hinter die Spiegel blicken und hinter den Kulissen einer aufwändigen Illusionsmaschinerie ankommen, in der sich die eigentliche Handlung ereignet – eine (freilich selbst inszenierte) Demaskierung der Inszenierung.

 

II. Träumer und Verlierer, Verrückte und Außenseiter

„Verrückt zu sein, ist im Widerspruch zur Mehrheit zu sein.“
(Ambrose Bierce)

Robert Altman galt immer als der „europäischste“ der New-Hollywood-Regisseure, als Filmemacher mit einer charakteristischen Handschrift und einer ihm eigenen Weltanschauung, dieser Vision du Monde, die von den Cahiers-du-Cinéma-Autoren und späteren Nouvelle Vage-Regisseuren als wichtigste Signatur eines Auteurs identifiziert wurde – in strikter Abgrenzung zu den angeblich reinen Handwerkern des kommerziellen Kinos. Die Themen seiner Filme jedoch sind durchweg amerikanisch, die Geschichte der Vereinigten Staaten zieht sich durch sein Werk: Von dem düsteren Bild der Pionierzeit in „McCabe & Mrs. Miller“ (1971) über die Konsolidierung des Showbusiness in „Buffalo Bill and the Indians“, über die Prohibitionsjahre in „Thieves Like Us“ („Diebe wie wir“; 1974) und „Kansas City“ (1996), den Zweiten Weltkrieg in dem Fernsehfilm „The Caine Mutiny Court-Martial“ („Caine – Die Meuterei vor Gericht“; 1988), den Korea- und Vietnamkrieg in „M*A*S*H“ und „Streamers“ („Windhunde“; 1983), den Watergate-Skandal und der Präsidentschaft Nixons in „Secret Honor“ („Secret Honor – Die geheime Ehre des Präsidenten“; 1984) bis hin zu den multiperspektivischen Porträts der zeitgenössischen Gesellschaft in „Nashville“ und der Raymond-Carver-Adaption „Short Cuts“ (1993). „We must be doing something right to last 200 years“, heißt es in einem pathetischen Song, den der Countrysänger Haven Hamilton (Henry Gibson) in „Nashville“ singt. Doch was Amerika vielleicht richtig gemacht haben könnte, das zeigt Altmans Werk eigentlich so gut wie nie.

Dabei mangelt es in Robert Altmans Filmen nicht an Träumern und Visionären: Mal sind sie auf der Suche nach materiellem Gewinn durch Unternehmertum wie Warren Beattys Herumtreiber und Julie Christies Zuhälterin in „McCabe & Mrs. Miller“, mal hoffen sie auf den großen Gewinn beim Poker-Turnier wie die Glücksspieler in „California Split“ (1974). Andere haben sich in ihrer Traumwelt eingerichtet, driften wie Elliott Goulds phlegmatischer Privatdetektiv Marlowe in „The Long Goodbye“ („Der Tod kennt keine Wiederkehr“; 1973) somnambul durchs Leben oder haben sich dem Wahn ergeben wie die titelgebenden „3 Frauen“ (Shelley Duvall, Sissy Spacek, Janice Rule) in „Three Women“ (1977), die in einer abgekapselten Welt ohne soziale Verbindungen nach außen vegetieren. Altmans Figuren pilgern ins Showbiz wie in „Nashville“, wo sie auf die große Karriere als Musiker oder Sänger hoffen, oder die Autoren in „The Player“, die sich künstlerisch gerne auf Vittorio De Sicas „Ladri di biciclette“ („Fahrraddiebe“; 1948) berufen, aber offensichtlich doch nur ihr Stück vom Kuchen abhaben wollen. Bisweilen sind die Träume bescheiden, wie der von Mrs. Miller (Julie Christie), eine kleine Pension zu betreiben, mal sind sie maßlos und schlicht irrsinnig, wie der Traum, fliegen zu können, den der menschenscheue Erfinder (Bud Cort) in „Brewster McCloud“ („Auch Vögel können töten“; 1970) hegt.

Verrückt, naiv und weltfremd sind die meisten dieser Protagonisten, wie es sich für Träumer gehört. Scheitern tun sie allesamt. Robert Altman selbst war ein passionierter Glücksspieler, der, wie Ron Manns Dokumentarfilm „Altman“ (2014) zeigt, gerne alles auf eine Karte setzte. Er wusste, dass das Verlieren zum Spiel gehört. Die Figuren in seinen Filmen gehen dabei meist zu Grunde. Brewster McCloud (Bud Cort) stürzt zu Tode, McCabe (Warren Beatty) wird erschossen, der lethargische Privatdetektiv Marlowe (Elliott Gould) tötet seinen einzigen Freund und die Isolation der „3 Frauen“ verstärkt sich in der Wüste nur.

Verlieren gehört zum Spiel: „The Long Goodbye“ (1973)

Ein Grund für das Scheitern von Altmans Antihelden liegt auch in ihrer Verweigerung dem Zeitgeist gegenüber, darin hat der Regisseur, wenn man so will, auch die eigene Karriere reflektiert. McCabe mit seinen romantischen Anwandlungen und Marlowe mit seinem bedingungslosen Glauben an die Freundschaft sind Relikte im kapitalistischen Amerika. Über Mrs. Miller, die Repräsentantin dieser Moderne, bemerkt McCabe einmal: „You are freezing my soul.“ Und tatsächlich muss es einem fühlenden Menschen in einer solchen Welt frösteln. In „McCabe & Mrs. Miller“ drehen sich die Gespräche von Anfang an um Deals, die zu besiegeln sind; Investitionen, die aufgebracht werden müssen. Alles und jeder hat seinen Preis, seien es die Huren, die McCabe einkauft; eine Flasche Whisky; eine Nacht mit Mrs. Miller; McCabes Unternehmen oder eine „mail-order bride“, die sich ein Mann in die Wildnis liefern lässt. Selbst die Natur befindet sich in diesem Schneewestern in einem Zustand der Vereisung. Am Ende erfriert McCabe im Schneetreiben, während die Dorfkirche abbrennt und Mrs. Miller im Opiumrausch dämmert.

Mit dem Scheitern seiner Figuren hat Altman immer auch von einer Gesellschaft erzählt, die sich durch den Glauben an den „Amerikanischen Traum“ vertröstet. Auch die Armen und Marginalisierten hätten ihre Chance, würden sie sie nur ergreifen, heißt es. Doch das Glücksversprechen, das sich aus der 1776 verfassten Unabhängigkeitserklärung herleitet, erscheint als reine Ideologie, wenn die individuelle Selbstverwirklichung am kapitalistischen Verwertungszusammenhang scheitert. Was helfen einem Arbeitseifer, Genügsamkeit, Selbstdisziplin und Spontaneität, Bereitschaft zum Wettbewerb, Pragmatismus und Risikobereitschaft, wenn sich die Aufsteigergeschichte „from rags to riches“ doch immer nur für die anderen erfüllt?

 

III. Motive, Themen: Ehe und Familie, Militär und Religion

„Dami centu lire / e mi ni vaiu a lamerica / Maladitu lamerica / e chi la spriminta.“

(„Gib mir hundert Lire / und ich mach mich nach Amerika / Verfluch Amerika / und den Mann, der es erfunden hat.“)
(Traditionell, italienische Volksweise)

Robert Altman als erklärter liberal, als „linker“ Filmemacher, hat sich an der US-amerikanischen Mentalität und ihrer Doppelmoral abgearbeitet, Institutionen wie Familie, Religion und Militär angegriffen. Der Regisseur zeigt sich dabei weniger als zynischer Pessimist denn als Moralist ohne Utopie.

In seinem programmatisch betitelten Ensemblestück „A Wedding“ („Eine Hochzeit“; 1978), einem seiner heute weitgehend vergessenen, aber besten Filme, nutzt Altman in barock überzeichneter Manier die turbulenten Ereignisse rund um eine katastrophal verlaufende Hochzeitsfeier, um die sorgfältig errichteten Fassaden der Wohlanständigkeit aller Beteiligten zu demontieren. Auftakt der Feierlichkeiten bildet als böses Omen der Tod der Großmutter (gespielt von Stummfilmstar Lillian Gish), der im Folgenden von den Beteiligten vertuscht wird. Bald erfahren wir von der Heroinabhängigkeit der Mutter des Bräutigams und dem Alkoholismus des Hausarztes. Außereheliche Affären ergeben sich und werden wieder beendet. Als Krönung der für die Anwesenden peinvollen Offenbarungen stellt sich heraus, dass die Schwester der Braut vom Bräutigam schwanger ist. Die eigentlichen Probleme erwachsen jedoch weniger aus den Regelverstößen an sich, sondern aus dem bigotten Umgang mit den gesellschaftlichen Regeln, dem sozialen Korsett, das letztlich der Disziplinierung und Zurichtung des Einzelnen gilt. So zeigt „A Wedding“ Amerika en miniature als Verdrängungsgesellschaft und die Familie als einen Ort, an dem Menschen unfähig sind, mit dem Tod in ihrer Mitte, ihrer Sexualität, schlicht grundsätzlich mit Menschlichkeit umzugehen. Am Ende von „A Wedding“ beschließt der Vater des Bräutigams, ein assimilierter Immigrant, der sich in den USA seinen amerikanischen Traum erfüllt hat und als Einziger die Werte seiner neuen Heimat verinnerlicht hat, nach Italien zurückzukehren. Es ist Flucht und Verweigerung gegenüber der amerikanischen Gesellschaft, für den Filmhistoriker Robert Phillip Kolker „der einzige noble Akt in diesem Film.“

Altmans Drei-Stunden-Epos „Short Cuts“, das zusammen mit „The Player“ in den 90er Jahren das Comeback des Regisseurs einleitete, widmet sich im Gegensatz zu den Neureichen von „A Wedding“ den Wohlstandsverlierern, den Menschen, die in ihren nur äußerlich adretten Häuschen – mit oder ohne Pool, ein Distinktionsmerkmal – im suburbanen Los Angeles leben. Auch hier erscheint die Familie als dysfunktionaler Ort erbarmungslos geführter Grabenkämpfe. Schon die in der Exposition über der Stadt kreisenden Hubschrauber, die einen sinnlosen Kampf gegen eine unsichtbare Fruchtfliegenplage führen, suggerieren einen allgegenwärtigen Kriegszustand. Acht Familien und 22 Protagonisten lässt Altman in seiner Raymond-Carver-Anthologie auf- und gegeneinander antreten. Die Ehemänner sind schmierige Schürzenjäger, wahnhaft eifersüchtig, einer wird aus seiner sexuellen Frustration heraus zum Mörder. Die Frauen fügen sich mal unterwürfig in ihre Rolle oder rebellieren mit aggressiv-vulgärer Selbstermächtigung. Entfremdung zwischen den Ehepartnern ist die Regel. Die allgemeine Unfähigkeit zur Kommunikation mündet in zwischenmenschlichen Katastrophen; eine mit der Kettensäge ausgeführte Gütertrennung erscheint da fast harmlos. So gilt auch hier, was Robert Phillip Kolker in seiner einflussreichen New-Hollywood-Studie A Cinema of Loneliness konstatiert: „Altman sees the family as a barren place, as barren as the ideology it reproduces and which reproduces it.“


Familie als dysfunktionaler Ort erbarmungslos geführter Grabenkämpfe: „Short Cuts“ (1993)

Weitere gesellschaftliche Institutionen, die bevorzugt zur Zielscheibe von Altmans Spott wurden, sind Militär und organisierte Religion. „M*A*S*H“ ist hier fraglos ein Paradebeispiel: Ein Film, dessen Protagonisten sich mit strikt antiautoritärer Haltung jedweder Obrigkeit widersetzen, letztlich allerdings auch einer ernsthaften Auseinandersetzung mit militärischen Strukturen. Da sind Altmans späte Filme wie „The Caine Mutiny Court-Martial“ und „Streamers“ schärfer gegen den Militärapparat selbst gerichtet. Doch wenn die Kritik an Militarismus in „M*A*S*H“ in der Veralberung der Autoritäten teilweise ihr Ziel verfehlt, die blutrünstigen Bilder aus den OP-Sälen und vom Zusammenflicken zerfetzter Körper für den neuerlichen Fronteinsatz waren zur Hochzeit des Vietnamkrieges höchst effektiv. Die anti-religiösen Tendenzen, die sich durch das Werk dieses Regisseurs ziehen, der katholisch erzogen wurde, Jesuiten-Schulen besuchte, früh schon aus der Kirche austrat und im Zweiten Weltkrieg als Bomberpilot gedient hatte, sind insbesondere in „M*A*S*H“, „McCabe & Mrs. Miller“ und „A Wedding“ von einem unversöhnlichen Tonfall. Der von Robert Duvall in „M*A*S*H“ gespielte fanatisch religiöse Major etwa ist ein bigotter Egoist, der so lange von den anarchischen Ärzten gedemütigt wird, bis er in der Zwangsjacke abtransportiert werden muss – eine Szene, die klar auf den Applaus des Publikums hin inszeniert ist. Die im gleichen Film gezeigte parodistische Eucharistie vor einem geplanten Freitod ist ebenso blasphemisch wie die Hochzeitszeremonie des debilen Bischofs (John Cromwell) in „A Wedding“. In „McCabe & Mrs. Miller“ ist der Dorfpfarrer eine bösartige Karikatur, der sich selbst die Kamera verweigert, die von seinem ersten Auftritt nur eine Detaileinstellung der Füße zeigt und kurz darauf seine erste Großaufnahme sabotiert, indem sie das Gesicht durch den unteren Teil einer Petroleumlampe verdeckt. Dieser Pfarrer, ein Außenstehender der Gesellschaft, ein engstirniger, verhärmter Mann, verhindert McCabes Zuflucht in die Kirche mit Waffengewalt und wird schließlich in einer explizit gewalttätigen Szene erschossen.

Gewaltdarstellungen sind in Altmans Filmen selten, was sie in ihren unerwarteten Ausbrüchen jedoch umso effektiver macht. Der zerfetzte Arm des Priesters in „McCabe & Mrs. Miller“, der nur noch an Sehnen und Knochen hängt, oder die im Stil Sam Peckinpahs als Zeitlupen-Agonie zerdehnte Erschießung eines Cowboys (Keith Carradine) im gleichen Film; der Schlag mit einer zersplitternden Cola-Flasche in das Gesicht einer jungen Frau in „The Long Goodbye“; das Erschlagen einer anderen Frau mit einem Felsbrocken in „Short Cuts“; oder die Erschießung des Gangsterliebchens (Jennifer Jason Leigh) in „Kansas City“: Die Gewalt kommt in diesen Szenen völlig überraschend, scheinbar aus dem Nichts. Sie ist keine Konzession an Genrekonventionen, weder Gratifikation noch Mittel der Katharsis, sondern, ganz konkret am Körper der Figuren erfahrbar gemacht, ein Schock. Immer verschafft sie sich fast pathologisch ihr Ventil, bricht aus den Menschen heraus. Und sie ist stets fehlgeleitet. In „The Long Goodbye“ etwa schlägt der Gangster seiner Freundin die Flasche ins Gesicht, um Marlowe (Elliott Gould) seine irrwitzige Logik zu erklären: Wenn es um Geschäftliches geht, ist er bereit, einem geliebten Menschen Schreckliches anzutun, und sei es nur, um zu verdeutlichen, was er einem Gegner antun könnte. So sind die Gewaltausbrüche immer auch Demonstrationen von Macht.

Stärker präsent als physische Gewalt ist strukturelle Gewalt. In jedem Altman-Film verweist zumindest ein kleiner Plot-Twist auf den der Gesellschaft inhärenten Rassismus. Manchmal eher als Randnotiz, wie in der Fernsehproduktion „The Caine Mutiny Court-Martial“, in der ein jüdischer Rechtsanwalt (Eric Bogosian) den auch in den USA zur Zeit des Zweiten Weltkrieges virulenten Antisemitismus zu spüren bekommt. In „Buffalo Bill and the Indians“ und „Brewster McCloud“ dagegen wird der Rassismus in den Vordergrund gerückt. Der titelgebende „Held“ des einen Films ist ein eitler und geschichtsverfälschender Rassist, der historische Fakten wie die Schlacht der Sioux gegen General Custer am Little Big Horn in seiner „Wild West“-Show so abwandelt, dass Buffalo Bill am Ende den Sieg über Sitting Bull davonträgt. Dem Publikum könne man ein ‚unhappy ending‘ ja nicht zumuten. Und das Amerika, in dem McCloud lebt, wird fast ausschließlich von Rassisten, Antisemiten und Schwulenhassern bevölkert.


Abspaltungen des eigenen Ichs: „Three Women“ (1977)

Im weitesten Sinn zählen auch Altmans melodramatische Filme über psychisch labile Frauen – „That Cold Day in the Park“ (1969), „Images“ („Spiegelbilder“; 1972) und „Three Women“ (1977) – zu den Erzählungen struktureller Gewalt. Sie visualisieren psychische Deformierungen mit teilweise (alp-)traumähnlicher, bisweilen mystischer Bildsprache: Doppelgänger und Doppelgängerinnen, Halluzinationen und Abspaltungen des eigenen Ichs bevölkern diese Filme. Der Wahn der maßlos einsamen Frauen, die hier ins Zentrum der Erzählung gerückt werden, erscheint als Ergebnis gesellschaftlicher Zwänge. Millie (Shelley Duvall) in „Three Women“ etwa kann nur noch von Kochrezepten, kalorienarmer Ernährung, Dinner-Partys und Mode plappern. Ihre Wohnung erinnert an ein Puppenhaus, ihr abscheuliches, gerne vorgetragenes Motto lautet: „Clean is sexy“. Ihre ganze Erscheinung ist eine groteske Übererfüllung gesellschaftlicher Ansprüche.

Im Gegensatz zu diesen „Erforschungen der Innenräume“ (Georg Seeßlen), die sich vor allem dem Ergebnis von Zwang und Normierung zuwenden, finden sich im satirischen Werk Altmans immer wieder die Demütigungen und die Ausbeutungen, die zu den psychischen Deformationen führen. Die fragile Sängerin Barbara Jean (Ronee Blakley) und die naive Sueleen Gay (Gwen Welles), zwei der 24 Personen, denen wir in „Nashville“ so scheinbar zufällig folgen, sind Frauenfiguren, die vom Betrieb geradezu zermalmt werden. Während der Star Barbara Jean von ihrem Ehemann und Manager bis zum wiederholten Nervenzusammenbruch und ihrer schlussendlichen Erschießung auf die Bühne getrieben wird, wird Sueleen Gay zu einem erniedrigenden Strip in einer Kneipe genötigt. Auch im ambivalenten „M*A*S*H“ hatte die grausame Behandlung einer hierarchiehörigen Offizierin (Sally Kellerman), die von den sexistischen Ärzten doppeldeutig „Hot Lips“ getauft wird, vor allem das Ziel, der in ihrem Konformismus nonkonformistischen Frau die männlich dominierte Rollenverteilung des Lazaretts aufzuzwingen. So nimmt selbst die Autoritätsverweigerung eine sexistische Form an.

 

IV. Hooray for Hollywood: Anti-Genrefilme und Ensemblefilme – oder: Zwei Wege, nicht das Übliche zu zeigen

„Hollywood Hollywood / Fabulous Hollywood / Celluloid Babylon”
(Don Blanding, zitiert nach dem MGM-Musical-Short „Star Night at the Cocoanut Grove“; 1935)

Altmans „Genrefilme“ können kaum Western, Detektivfilme oder Gangsterfilme genannt werden, da sie eher die Demontage ihrer Genres und deren Mythen betreiben. Die tradierten Stereotype der Formel fehlen oder sind zur Unkenntlichkeit deformiert. Der längst nicht mehr hardboiled, sondern nur noch träge Detektiv löst in „The Long Goodbye“ seinen Fall nicht mittels Empirie oder Deduktion, sondern eher durch Zufall. In Altmans „Western“ ist von Cowboys, Indianern und Helden keine Spur, es sei denn, Schausteller und Trickbetrüger verkörpern diese für zahlendes Publikum. In „Thieves Like Us“ werden keine mythischen Gangsterbilder oder Märtyrertode evoziert, sondern möglichst realistische Menschen mit ihren Fehlern gezeigt – Kette rauchend, mit grauen Gesichtern und schiefen Zähnen. Die Mythen, Legenden und Ikonen, die Bausteine dieser Genres, werden als Produkte von Übertreibung und Aufschneiderei, bisweilen sogar bewusster Geschichtsverfälschung demaskiert. Buffalo Bills Legende wurde von einem gewitzten Dime-Novel-Autor erfunden. Die Ernennung McCabes zum Revolverhelden ergibt sich beim Tratsch im Saloon aus der Beobachtung, dass er einen schwedischen Revolver trägt. Ironischerweise wird dann ausgerechnet der Showdown im Schnee, der McCabe tatsächlich zur Legende erheben könnte, von keinem Bürger der Frontier-Stadt beobachtet. Altmans beste Filme sind eine Absage an jeden populären Heroismus, betreiben immer auch Gegengeschichtsschreibung von unten.

Jeder ist zum Mord fähig: „Gosford Park“ (2001)

Im Gegenzug zu seinen Filmen, die beständig Genreregeln verweigern, hat Altman mit seinen Ensemblestücken „Nashville“, „Short Cuts“ und „Gosford Park“ (2001) einen anderen Weg eingeschlagen: Filme mit bis zu zwei Dutzend gleichberechtigten Hauptrollen, die Bestandsaufnahme und Allegorie abgründiger gesellschaftlicher Missverhältnisse sind. Diese Filme bündeln gesellschaftskritische Motive, sind durchsetzt von Seitenhieben auf die (Show-)Welt von Film und Fernsehen, Politik und Theater und keinem Genre eindeutig zugehörig. Mit ihnen hat Altman sein eigenes zwischen Melo und Komödie, Drama, Satire und Zeitbild angesiedeltes Subgenre geschaffen, dem sich Paul Thomas Anderson mit „Boogie Nights“ (1997), „Magnolia“ (1999) und der „The Long Goodbye“-Hommage „Inherent Vice“ (2015) als würdiger Nachfolger angenommen hat.

In Altmans Ensemblefilmen wird Politik in einer Art universeller Zirkusmaschinerie veranstaltet, in „Buffalo Bill and the Indians“ ganz wortwörtlich. Die Menschen in „Nashville“ inszenieren sich für den Markt der Eitelkeiten und die allgegenwärtigen Medien. Mit der Einsamkeit der meist passiven Individuen, ihrem generellen Desinteresse an Politik, grassierendem Rassismus und Sexismus zeigen diese Filme eine Welt, in der eine solidarische Gemeinschaft unmöglich erscheint. Selbst in der galligen Klassenkampf-Parabel „Gosford Park“ scheint jeder der 20 Protagonisten zum Mord fähig, egal ob er der Ober- oder Unterschicht angehört. Und im Panoptikum der 24 Hauptfiguren von „Nashville“ redet nahezu jeder aneinander vorbei und dies wird durch das von Altman von Anfang bevorzugte Stilmittel, das permanente Durcheinanderplappern auf nur einer Tonspur, verstärkt.

Bei einem so pessimistischen Blick auf eine Gesellschaft, in der Politik und Show-Welt identisch sind, liegt die Demontage von Hollywood natürlich nahe – dem Ort, an dem die amerikanische Ideologie propagiert und potenziert wird. „The Long Goodbye“, in L.A., im Herzen der Filmindustrie angesiedelt und gedreht, ist durchsetzt von ironischen Referenzen an Hollywood: ein Sicherheitsmann, der Marlowe stets mit Imitationen berühmter Filmstars begrüßt; ein ironisches Zitat aus „Double Indemnity“ („Frau ohne Gewissen“; 1944; R: Billy Wilder), wenn ein Dobermann statt der erwarteten Femme Fatale die Treppe herunterkommt; oder der einleitende und den Film beschließende Song „Hooray for Hollywood“. „The Long Goodbye“ ist zugleich ein Film über eine kaputte Gesellschaft. Die Gangster, Ärzte, selbst die Frauen der benachbarten Hippiekommune, besonders aber der vermeintliche Freund Terry Lennox (Jim Bouton) sind Ausgeburten einer verlogenen und egoistischen Gesellschaft, die Marlowes Existenz nur wahrnehmen, wenn sie etwas von ihm wollen. Eine Ironie, ganz im Sinne Altmans, muss es gewesen sein, dass er mit „The Player“ sein großes Comeback erleben durfte; einem Film, der Hollywoods ewiges Wiederkäuen der gleichen Muster karikiert – den Umstand, an dem die US-Filmindustrie vor den Innovationen der Regisseure des New Hollywood beinahe zugrunde gegangen wäre.

Don’t Worry, Be Happy: „Nashville“ (1975)

Die Figuren in Altmans Filmen müssen „endlose Wege durch Zwänge, Selbstdarstellungen und Konventionen zurücklegen, um schließlich doch an der Unvereinbarkeit individueller Wünsche mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu scheitern“ (Georg Seeßlen). Dabei verweist die ständige Präsenz nationaler Symbole, etwa die grausig falsch gesungene Nationalhymne am Anfang von „Brewster McCloud“, die das Breitwandformat füllende US-Flagge in der Schlusssequenz von „Nashville“ oder die Gestaltung der Titel in den Nationalfarben, auf die Lage der Nation. Am Ende von „Nashville“ steht die musikalische Beschwörung amerikanischer Tugenden bei der Wahlveranstaltung eines Politikers (Thomas Hal Phillips), der von sich behauptet, er wäre bis zum Alter von 27 arm gewesen, hätte sich also dem amerikanischen Traum entsprechend „from rags to riches“ hochgearbeitet. Unterbrochen wird sie in einer traurigen amerikanischen Tradition von einem Attentäter, der aus dem Auditorium heraus eine Sängerin erschießt. Aber schon kurz darauf klatscht das Publikum wieder zu dem Song „It don‘t worry me“. Es ist eine Hymne der demonstrativen Ignoranz dem aktuellen Geschehen gegenüber wie auch zu jeder gesellschaftlichen Verantwortung. Dazu steigt die Kamera in den Himmel, distanziert sich wie am Ende von „Buffalo Bill and the Indians“ vom Geschehen. Die Show wird ewig weitergehen, ihre Opfer bleiben auf der Strecke und werden vergessen. „Es ist unser Schicksal als Nation gewesen“, bemerkte der US-amerikanische Historiker Richard Hofstadter, „keine Ideologie zu haben, sondern eine zu sein.“ Gegen diese Ideologie rannte Altman stets an. Nicht alle seiner Filme waren Meisterwerke, sehenswert aber sind alle – manche als Zeitdokument, andere gerade wegen ihrer Fehler, einige aber, darunter „The Long Goodbye“, „McCabe & Mrs. Miller“ und „Nashville“, weil sie schlicht zum Besten zählen, was das US-Kino bis heute hervorgebracht hat.

Literatur:
– Biskind, Peter: „Easy Riders, Raging Bulls“, Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 2000.
– O’Brien, Daniel: „Robert Altman. Hollywood Survivor“, Continuum, London 1995
– Hembus, Joe: „Das Western-Lexikon“, 3. Auflage, Carl Hanser Verlag / Wilhelm Heyne Verlag, München/Wien 1995.
– Jansen, Peter W. / Schütte, Wolfram (Hg.): „Robert Altman“, Reihe Film 35. Hanser Verlag, München / Wien 1981 (dort: Hans Günther Pflaum: Kommentierte Filmografie).
– Kael, Pauline: „Deeper Into Movies“, Little, Brown and Company, Boston 1973.
– Koebner, Thomas: „Robert Altman“, In: Ders. (Hg.): „Filmregisseure. Biographien, Werkbeschreibungen, Filmographien“, Reclam, Stuttgart 1999, S. 26-31.
– Robert Phillip Kolker: „A Cinema of Loneliness“, Second Edition. New York / Oxford 1988.
– Seeßlen, Georg: „Nicht ins Leben – auf dem Markt. Über Filme des amerikanischen Regisseurs Robert Altman“, In: konkret, Heft : 5/1990, S. 70-74.
– Thompson, David (Hg.): „Altman on Altman“, Faber and Faber, London 2006.

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The Delinquents (USA, 1950)

 

Wessen Sprache?
von Lukas Foerster

So ganz nachvollziehbar ist nicht, warum Janices Eltern ihrer Tochter verbieten wollen, weiterhin mit ihrem boyfriend Scotty auszugehen. Sie sei erst 16 – ok, das ist ein Argument. Aber dann reden sie davon, dass sie noch zu jung sei, um sich festzulegen, dass es nicht angehen könnte, dass das junge Paar immer zusammen unterwegs sei, Pläne für eine gemeinsame Zukunft schmiede, sich Liebesbriefe schreibe und so weiter. In ihrem Alter müsse es doch darum gehen, die Welt kennen zu lernen, unterschiedliche Erfahrungen zu machen usw. Eigentlich auch ein Argument, klar. Aber meinen die Eltern das wirklich so? Fordern sie ihre Tochter tatsächlich dazu auf, erst einmal ein paar Männer auszuprobieren, bevor sie sich festlegt? Eigentlich geht es in dem Dialog um etwas anderes: Es ist ziemlich offensichtlich, dass das “going steady”, das sie Janice und Scotty verbieten wollen, nur eine Chiffre ist für “having sex”. Entweder trauen sich die Eltern nicht, auszusprechen was sie denken; oder der Film traut sich nicht, sie aussprechen zu lassen, was eigentlich gemeint ist. So oder so ist die Szene, was „The Delinquents“ auch als Ganzes ist: ein schönes sittengeschichtliches Artefakt der 1950 Jahre.

Seinen ersten langen Kinofilm drehte Altman in seiner Heimatstadt Kansas City, Missouri. „The Delinquents“ wurde vom Besitzer einer kleinen Kinokette produziert, der hoffte, mit dem gut einstündigen Juvenile-Delinquency-Reißer jenen Exploitationfilmmarkt zu erobern, auf dem seinerzeit vor allem American International Pictures reüssierte (tatsächlich war der Film laut Wikipedia ein Drive-In Hit und spielte bei gerade einmal 63000 $ Produktionskosten eine runde Million Dollar ein). Den Konventionen des Exploitationkinos zu verdanken ist insbesondere ein Voice-Over-Kommentar, der sich zweimal, ganz am Anfang und ganz am Ende, zu Wort meldet und der fast im Schulmädchenreportstil Wert darauf legt, dass die vorgeführten Attraktionen nicht als eben solche, sondern als warnendes Beispiel zu verstehen sind. Wobei die Warnung begleitet wird von der Bitte, doch bitte die Jungs und Mädels, die im Film auftauchen, zu verstehen zu versuchen; denn das bräuchten sie vor allem anderen: Verständnis (Altmans im selben Jahr entstandener Dokumentarfilm „The James Dean Story“ zielt in dieselbe Richtung: Da wird der soeben beerdigte Schauspieler gründlich durchverstanden, unter anderem mithilfe lustiger Symbolgrafiken).

Dass „The Delinquents“ nicht unbedingt mehr, aber doch etwas anderes ist als ein Exploitationfilm unter vielen, zeigt sich daran, wie sich die Spielhandlung zum Voice-Over-Kommentar, also die Diegese zu ihrer Rahmung verhält. “Echte” Exploitationfilme verbleiben für gewöhnlich innerhalb der festgesetzten Grenzen eines von beiden Seiten her durchschauten Spiels: Der Voice Over der Schulmädchenreportfilme (anderswo übernehmen teils auch einzelne Figuren innerhalb der Handlung diese Funktion) verdammen eben jene “unmoralischen” Attraktionen, die der Film in allen Bildern affirmiert und feiert; eben deshalb bleiben die Exzesse der Exploitation dem gutbürgerlichen Selbstverständnis stets verhaftet – als dessen bloße Negation. Bei Altman dagegen unterscheidet sich der Voice Over vom Rest des Films wie eine Sprache von einer anderen. Die Welt der Jugendlichen hat schlicht und einfach nichts zu tun mit den paranoiden Anrufungen der guten Gesellschaft. Was auch heißt: Sobald die Jugendlichen den Eltern entwischt sind, agieren sie nicht deren Fantasien aus, sondern ihre eigenen. Allerdings gelingt es ihnen nur einmal, vollständig zu entwischen: Die eindrücklichste Sequenz des Films ist eine Partyszene, in der der Film einen Modus der Intimität erkundet, der unterm elterlichen Kontrollblick unmöglich ist.

Durchweg toll ist die Sprache der Jugendlichen, die noch nicht auf den manchmal etwas anstrengenden Hyper- bzw Postrealismus der späteren Altmanfilme hinauswill, die aber auch nicht einfach nur „Milieu“ konstruieren will. Statt dessen hört man den Jungs und Mädchen bei den Versuchen zu, eine eigene Sprache zu finden, die offensichtlich noch der ihrer Eltern verhaftet bleibt, aber Schritt für Schritt mehr Freiheitsgrade erlangt (ohne gleich wieder in klischeeisierte Redewendungen zu kippen). Mehr als ein nachgeschobenes, langgezogenes “man” oder gelegentlich ein “what’s happening” ist selten drin, aber das zeigt nur die beengte Welt an, in der sich die (fast durchweg mit zu alten Schauspielern besetzten) “Jugendlichen” bewegen. Toll ist eine Szene, in der mehrere von ihnen nacheinander von ihren Eltern aus einer Polizeistation gezerrt werden. Sichtbar wird da ein Artikulationsproblem auf beiden Seiten.

Tom Laughlin, der Hauptdarsteller, ist schon optisch super: Muskeln, die noch nicht wissen, wozu sie gut sind, die Physis ist dem Geist voraus, der massive Körper, nicht der im Grunde gefügig bleibende Geist drängt über die diversen Rahmen des Kleinstadtlebens hinaus (passend dazu artikuliert sich sein Freiheitsdrang als Vollrausch). Sein love interest, Rosemary Howard, ist sonderbar puppenhaft, verzieht kaum eine Miene, wirkt auf rührende Art zerbrechlich. Howard hatte, laut IMDb, weder vorher noch nachher als Schauspielerin gearbeitet, vor der Kamera hat sie sich, bei diesem ihrem einzigen Auftritt, offensichtlich nicht geöffnet, sondern komplett verschlossen. Versiegelt sogar. So bleibt sie, auf ewig faszinierend, ein Geheimnis, das das Kino zwar sichtbar gemacht, aber nie gelüftet hat.

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M*A*S*H (USA, 1969)

 

Irre, überall
von Sven Jachmann

Das Schlachtfeld spielt in „M*A*S*H“ keine Rolle, umso mehr der Alltag in einem amerikanischen Militärlazarett. Den hat das Personal von zu Hause mitgebracht. Man spielt Football oder wettet, ärgert sich über Vorgesetzte, säuft, raucht, kriegt den Tag schon irgendwie rum. Die Ärzte schrauben im Akkord fröhlich an den blutenden Körpern, malträtieren die Verwundeten mit ihren Werkzeugen, als reparierten sie Maschinen; ein Priester tänzelt unbeholfen zwischen den OP-Tischen wie ein neuer Hilfsarbeiter, für den sich niemand verantwortlich fühlt. Aus den Lautsprechern schallen absurde Durchsagen oder schlechter japanischer Pop, eigentlich kein Unterschied zu dem, was auch an den Orten jenseits des Krieges bei Laune halten soll. Es ist der trostlose Alltag der Heimat, nur schlammiger und farblich entschlackt. Freizeit im Regenwald.

Schnell fällt der Groschen, dass hier alle auf sehr stoische Weise irre geworden sind. Der Sarkasmus in Altmans gewiss erfolgreichstem Film – Goldene Palme in Cannes, einen Oscar fürs Drehbuch und eine nutzlose Fortsetzung als elf Staffeln umfassende TV-Serie – setzt schon mit der Frage ein, ob der Wahnsinn indes erst hier, im Koreakrieg, begonnen hat. Korea: Natürlich wusste damals trotzdem jeder, dass Vietnam gemeint war. Je offener die Form, desto universaler und zugleich konkreter wird die Chiffre: Es gibt keinerlei weitere Hinweise auf ein (reales) Kriegsgeschehen, keine Erklärungen, nicht mal eine strategische Besprechung, geschweige denn einen Kampf. Erst so erkannte man sich wieder. Zu jener Zeit war die Aufführung des Films in vielen US-Soldatenkinos verboten.

Altman peitscht den technischen Apparat so ausgiebig, dass er seine späteren Ensemblefilme als hyperaktive Variante vorweg nimmt. Eine Kamera in ständiger Bewegung, Stimmeninferno auf der Tonspur, schnelle Anschlüsse, eher verfolgte denn geleitete Figuren. Orientierung bedeutet Ordnung, und die ist weder hierarchisch noch sozial noch narrativ intakt. Weil sie das nie, nur im Mythos ist, aber kein konservativer Produzent so etwas weder hören noch sehen will, hat Altman den Dreh taktisch zwischen die beiden parallel angefertigten Kriegsfilme „Tora Tora Tora“ und „Patton“ gemogelt, den Favoriten der 20th Century Fox, und lieber auf bekannte Schauspieler/innen verzichtet.

Krieg ist nur als Konsequenz präsent, als zerstörte Körper, die die drei Ärzte Hawkeye (Donald Sutherland), Trapper John (Elliott Gould) und Duke (Tom Skerritt) zu retten versuchen – und die sich im Verlauf doch noch als Hauptfiguren eignen. Immerhin reichen sie uns die Hand, geben die Rebellen, scheißen auf jede Vorschrift und bewahren zumindest im Operationszelt ihr Gewissen (oder doch nur ein Berufsethos?), aber ihre albernen Streiche, die alle Dogmen der strammen Überzeugungstäter/innen aus gutem Grund verspotten, gelingen nur mit fratzenhafter Miene: Als sich ein impotenter Zahnarzt zum Selbstmord entschließt, weil er befürchtet, schwul zu werden, arrangiert man ein letztes Abendmahl, verabreicht ihm zeremoniell ein Todespillenplacebo („Jetzt war deine ganze Ausbildung für die Katz.“) und überlässt die Wiedererweckung der verlorenen Männlichkeit der Krankenschwester. Und der Sex zwischen einer autoritären Oberschwester und einem ebenso dienstergebenen Major unterhält dank eines heimlich unterm Feldbett platzierten Mikrofons das gesamte Camp; so entblößt die Gruppe nicht nur deren aufgeplusterte puritanische Doppelmoral, sondern ihre derangierten Identitäten gleich mit. Schon bald wird der Major in einer Zwangsjacke die Heimreise antreten und die Oberschwester als Cheerleader – die andere, geschlechtliche Seite der Unterwerfung – vergebens um die Gunst des Männerbundes buhlen. Langeweile und Rebellion vertragen sich ebenso wenig wie Antikriegsfilme und idealistische Helden.

Im Krieg stirbt angeblich zuerst die Wahrheit. Das behauptet zum einen, dass vor dem Krieg keine Lügen existierten. Altmans kaputtes Ensemble erinnert zum anderen daran, dass die Wahrheit ohnedies taumelt, sobald sie gegen die Gaudi des rücksichtslosen Vergnügens antreten muss. Und sei es bloß die konkrete Wahrheit eines Sterbenden: Mitten in einer Operation am offenen Schädel wird Duke vom hereinstürmenden Hawkeye mit der Nachricht überrascht, dass sie wieder nach Hause können. Für den Rest der Arbeit fehlt ihm sofort die Lust: „Kannst du das nicht alleine wieder zunähen?“ Im Insert stürzt er bereits am Flughafen als bejubelter Kriegsheimkehrer unter tosendem Beifall in die Arme der Familie. Phantasie? Zeitsprung? Resistenz, Ethos, jede gute Absicht ist im Griff der Institutionen so biegsam wie ein Knicklicht. Und mit dieser pessimistischen Bilanz, man muss ihn dafür lieben, lässt uns Altman dann zurück. Letzter Satz: „Goddamn army – that is all!“

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McCabe & Mrs. Miller (USA, 1971)

 

Ökonomie der Liebe und des Todes im Grenzland
von Janis El-Bira

Manche Orte tragen eine Verheißung im Namen. Otterbach, Monbrunn, Watterbach, Reuenthal, schreibt Adorno, versprächen ihrem Klang nach nichts weniger als kindliches Glück: „Man glaubt, wenn man hingeht, so wäre man in dem Erfüllten, als ob es wäre.“ Begibt man sich aber tatsächlich auf die Reise, dann „weicht das Versprochene zurück wie der Regenbogen.“ Der Wanderer treibt die Glücksverheißung vor sich her und beruhigt sich immerzu mit dem Gedanken, er sei schlicht bereits zu nah dran. Am Ende sieht er den Odenwald vor lauter Bäumen nicht.

In „McCabe & Mrs. Miller“, dem für mich schönsten (und traurigsten) Film Robert Altmans, heißen die Orte Presbyterian Church und Bear Paw. Die Verheißung dieser Namen liegt wohl nicht im Glück direkt, sondern eher in dessen weltlich-vergoldeter Form, das das Grenzland zwischen Zivilisation und Wildnis verspricht: Hier lässt sich noch Neues aufbauen, ein famoser Reibach machen, wenn man nur weiß, wie. McCabe (Warren Beatty) glaubt es zu wissen, wenn er auf seinem Gaul zu Beginn des Films nach Presbyterian Church schaukelt. Ein Kaff im Entstehen ist das, inmitten der Wälder, aus deren Holz seine halbfertigen Dächer gezimmert sind. McCabe hat sofort ein Auge für die Bedürfnisse der Arbeiter, die es im Dauerregen und -schnee dieser Landschaft nach Frauen und Alkohol verlangt. Beides bringt er ihnen. Den Alkohol lässt er mit lockerer Zunge beim Pokern springen, die Huren holt er aus dem Nachbarort und baut für sie Zelte direkt neben den Baugerüsten, hinter denen das Dorf entsteht. McCabe ist zufrieden. Sein Wirtschaftsmodell ist auf ergreifend simple Art nachfrageorientiert. Den eigenen Aufwand hält er gering, der Ertrag ist ordentlich. „I’m a businessman“, sagt McCabe trocken. Sein Glück will er in Presbyterian Church mit Suff und Sex machen. Der Verkauf von Träumen gehört nicht zu seinem Programm; er behält sie lieber für sich, gerade weil er an sie glaubt. „Are you a Catholic?“, wird er einmal gefragt. Das nun auch nicht, aber ein guter, trickreicher Amerikaner alten Schlags ist er trotzdem.

Die Erschütterung kommt in Gestalt von Mrs. Miller (Julie Christie), einer eleganten, aber hartgesottenen Edelprostituierten. Von einem dampfgetriebenen Wagen lässt sie sich lärmend ins Dorf ziehen, als sei sie selbst die Galionsfigur der Industrialisierung. „You have to spend money in order to make money“, bläut sie McCabe beim Abendessen ein – und verwandelt im Anschluss dessen schäbige Huren-Zelte in einen glänzenden Freudentempel mit heißem Wasser, weichen Betten, teuren Drinks und Frauen, die eine exotische Aura umgibt: „One of them is said to be an authentic Chinese princess“, murmeln die Männer fortan in der Kneipe. Jetzt müssen sie vor Ort baden, bevor sie zu den Huren dürfen. Im neuen Kapitalismus kann die „Ware“ nicht mehr einfach nur bezahlt werden, vielmehr muss man sich ihrer würdig erweisen. „Just count the roses on the wallpaper“, sagt Mrs. Miller andererseits, wenn eine der Frauen die Arbeit zu sehr schmerzt. Ein Ausfall der „Leistung“ ist nicht vorgesehen. In der Kette der Verheißungen darf keine Lücke entstehen, damit die Selbstgenerierung von Bedürfnissen kein Ende hat. Die meiste Zeit ist Mrs. Miller selbst ein funktionierendes Glied dieser Kette, hebt für fünf Dollar, dem höchsten „Satz“ in ihrem Haus, bereitwillig den Rock. Danach benebelt sie sich mit Opium, das einzig in ihr zu wecken weiß, was nicht von ökonomischem Charakter ist. Leonard Cohen, dessen Songs beträchtlich zur Berühmtheit des Films beigetragen haben, umsäuselt ihre Träume und ihre drogenverschleierte Liebe zu McCabe.

Zu einem der seltsamsten amerikanischen Filmpaare hat Robert Altman McCabe und Mrs. Miller zusammen geschmiedet. Sie hängen an einander, weil der eine die Träume hat, die das Opium der anderen nur vorgaukeln kann. Und weil die eine die Kälte der Welt da draußen versteht, die der andere mit markigen Sprüchen und eisernem Rechtsvertrauen wegwischt. Retten aber können sie einander nicht. Für die Kapitalistin bleibt der Rausch, für den Träumer nur noch der hoffnungslos anachronistische Duelltod im alles einebnenden Schnee, der den Ort, der ihm Glück versprach, unter einer dämpfenden Decke verhüllt. Am Ende tanzen die Bewohner von Presbyterian Church um ihre Kirche, die sie mit größter Mühe vor einem Feuer retten konnten. Sie feiern ihren Gemeindegeist und das hochragende Symbol der Zivilisation in ihrer Mitte, hier, in diesem gottverlassenen Loch. Zum Beten jedoch hat diese Kirche in „McCabe & Mrs. Miller“ nie jemand betreten.

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The Player (USA, 1992)

 

Sex, Lügen und Filme
von Nicolai Bühnemann

„The Player“ war Robert Altmans Comeback-Film. Nach seinem kolossalen Misserfolg mit “Popeye” hatte er in den Achtzigern nur kleinere, niedrig budgetierte Filmprojekte sowie Arbeiten fürs Theater und das Fernsehen realisieren können. Es nimmt wenig wunder, dass er ausgerechnet mit einem Film zum großen Publikum zurückkehrte, der sich als Abrechnung mit dem Zynismus und der Skrupellosigkeit der Traumfabrik versteht, die ihn selbst ächtete.

Man könnte sagen, dass Hollywood in diesem Film sich selbst spielt. Ganze Heerscharen von Schauspiel-Prominenz konnte Altman für kleine Cameos in seinem Film verpflichten. Bei der IMDb kann man lesen, dass es keinen anderen Film gibt, in dem so viele Oscar-Gewinner mitwirkten, und dass, hätten die Stars ihre gängigen Gagen kassiert, alleine für sie über Hundert Millionen Dollar fällig gewesen wären. Harry Belafonte, Jeff Goldblum, Nick Nolte, Cher, Anjelica Huston und viele, viele andere sitzen als sie selbst in Bars oder Hotellobbys rum, erscheinen auf Partys oder spielen Rollen in den diversen Filmen-im-Film, die es in „The Player“, einem Film über Filme und das Filmemachen, zu sehen gibt.

„The Player“ beginnt mit einer Plansequenz. Am Anfang ist ein Gemälde zu sehen, das ein Filmset zeigt. Es gibt eine Klappe und jemand ruft „Action“. Der Film, der gedreht wird, ist der Film, den wir sehen: „The Player“. Die Kamera fährt zurück und gibt den Blick auf ein Filmstudio frei, über dessen Gelände sie sich die nächsten acht Minuten bewegen wird, verschiedenen Menschen und Autos folgend, zwischendurch innehaltend, um durch ein Fenster in ein Büro zu blicken, in dem sich Studio Executive Griffin Mill (Tim Robbins) – meist ziemlich obskure – Ideen für neue Filme anhört. Durch diese Plansequenz laufen zwei Männer, die Kamera folgt ihnen eine Weile, verliert sie dann aus den Augen und findet sie später wieder, die gelehrte Unterredungen über Plansequenzen führen: den Anfang von Welles „Touch of Evil“, Hitchcocks „Rope“, der durch versteckte Schnitte vorgibt, aus einer einzigen Einstellung zu bestehen. Neben der Einführung des Schauplatzes und des Protagonisten Mill, der allerdings hier noch nicht deutlich als solcher zu erkennen ist, konstituieren solche Dopplungen und die Blicke „The Player“. Blicke durch Scheiben, durch Gitter, durch Vorhänge explizieren leitmotivisch die Kinoleinwand als Fenster, das eine Sicht auf die Filmindustrie preisgibt.

Die Konkretion dieses Bildes ist Mill. Den Stars gegenüber immer höflich und galant, verhält er sich im Kampf mit einem rivalisierenden Emporkömmling machtgeil und herrschsüchtig. Eine regelrechte Schicksalsmacht ist er für diejenigen, die wesentlich tiefer in den Hierarchien des Business rangieren: die Drehbuchautoren. Mill entscheidet, welche Filme gemacht werden und welche nicht, und er sagt an einer Stelle, dass die zwölf Filme, die sein Studio im Jahr produziert, aus etwa 100.000 Ideen ausgesucht werden. Man könnte es wohl kurz und mit den Worten Burt Reynolds‘ sagen, den er einmal beim Lunch in einem Restaurant trifft: Mill ist ein Arschloch – wäre da nicht das beeindruckende Spiel Robbins‘, das Ambivalenzen schafft und mit diesem Arschloch mitfiebern lässt.

Einer der Autoren, deren Scripts nicht berücksichtigt wurden, die nicht zum kleinen Kreis der Auserwählten zählen, will es Mill heimzahlen. Er schickt ihm Droh-Postkarten. Bei dem Versuch, diesem anonymen Kontrahenten auf die Schliche zu kommen, stolpert Mill in einen Film Noir-Plot um Schuld, Sex, Lügen und Filme. Er macht sich auf die Suche nach dem Drehbuchschreiber David Kahane, den er für den Urheber der Postkarten hält. Als er versucht, Kahane zuhause zu erreichen, spricht und flirtet er mit dessen Freundin June Gutmondsdottir (Greta Scacchi). Mill ruft sie mit seinem Handy an, während er bei ihr im Vorgarten steht und sie beobachtet und entwickelt sogleich eine Obsession für sie.

Mill trifft sich darauf mit Kahane in einem kleinen Kino (De Sicas „Fahrraddiebe“ läuft hier, der Drehbuchautor wird mit einer anderen Form des Kinos assoziiert). Es kommt zu einem Streit, der eskaliert. Im Blau der Nacht, das sich mit dem Rot der Leuchtreklamen vermischt wie in einem jener Neo-Noirs, die in den Achtzigern Hochkonjunktur hatten, erschlägt Mill sein Gegenüber im Affekt – und schafft sich damit nicht nur eine potenzielle Bedrohung, sondern auch einen sexuellen Konkurrenten in der Gunst Junes vom Leib, der er sofort weiter nachsteigt.

Altman sagt, dass June eine Frau sei, die direkt Mills Phantasie zu entstammen, von ihm erfunden zu sein scheint. Darin ähnelt sie Otto Premingers „Laura“, die eines der Filmplakate zeigt, die die Wände in Mills Büro säumen und von der Kamera immer wieder bedeutungsvoll ins Bild gerückt werden. Die schöne und junge Titelfigur dieses klassischen Film noir wurde von einem älteren Mann, einem zynischen und snobistischen Zeitungskolumnisten, ganz nach dessen Vorstellungen geformt. Tödlich war dort nicht die Frau, sondern die Obsession, die der Mann für sie entwickelte, der nicht ertragen konnte, dass seine Laura, seine Kreation, einem anderen Mann „gehören“ sollte. Dass diese fleischgewordene Männerphantasie nun einen eigenen Willen und vor allem einen eigenen Männergeschmack entwickelte, musste also zwangsläufig zur Katastrophe führen.

Letztlich stellt sich June als Negation dieser Laura dar, so wie das Ende von „The Player“ die Negation eines Film noir-Endes ist, wo, das verlangte schon der in den Vierzigern aktive production code, Schuld schließlich gesühnt werden, der Mann seine mörderische Besessenheit für die Frau mit dem Leben bezahlen musste. June ist sexy und verführerisch, ohne irgendwelche Ansprüche zu stellen. Sie ist für Mill von Anfang an verfügbar, hält seinen sexuellen Avancen jedoch lange stand, nur damit sich das angestaute Begehren schließlich in einer umso frenetischeren Sex-Szene entladen kann, in der nur die schwitzenden, stöhnenden, einander küssenden Gesichter der beiden zu sehen sind. Angetrieben auf ihrem Weg zum Orgasmus von den minimalistisch experimentellen Klängen des großartigen Scores. Das Geständnis, das Mill in dieser Szene ablegt, will sein Gegenüber gar nicht hören, es fällt auf ein wissendes, befriedigtes und erschöpftes Lächeln. Es wird für Mill keinerlei Konsequenzen haben und die Frau lädt hier zumindest die Schuld der Mitwissenden auf sich.

Überhaupt ist die Frage, wie Filme enden, ein zentrales Element im Filmdiskurs von „The Player“. Durchexerziert wird das anhand eines Film namens „Habeas Corpus“, den Mills Studio produziert. Die Idee, wie sie ein ambitionierter Drehbuchautor entwarf, besagt, dass es in dem Film um eine Frau gehen soll, die unschuldig in der Todeszelle sitzt und am Ende hingerichtet wird. Die Besetzung des Films sollte nach dem Motto laufen: „No stars, just talent.“ Im Epilog von „The Player“, der ein Jahr nach der Haupthandlung spielt, ist das Ende des Films zu sehen, den Hollywood aus dieser Story macht. Im letzten Moment wird Julia Roberts von Bruce Willis aus der Gaskammer befreit. Die Frage, warum er so lange gebraucht habe, beantwortet er mit dem One-Liner „Traffic was a bitch“, mit dem der Film endet.

Man mag diese Kritik an einem Hollywood, das noch jeden Stoff im Interesse seiner besseren Verkäuflichkeit verwässert, plump und wenig differenziert finden. Auch könnte man sich gerade am Ende an der metafiktionalen Cleverness stören, mit der Altman seinen Film zu sich selbst werden lässt. Mill bekommt einen Anruf von dem wahren Verfasser der Postkarten, der ihm von der Idee für einen Film erzählt. Der Film, den er hört, ist der Film, den wir sehen: „The Player“. Das ändert nichts daran, dass „The Player“ als packender Genrefilm so gut funktioniert wie kaum ein anderes Werk des Regisseurs. Immer wieder verdichtet sich der konsequent durchgehaltene Spannungsbogen zu kleinen kabinettstückartigen Höhepunkten, zum Beispiel mit einer Klapperschlange auf dem Beifahrersitz von Mills Auto. Oder in einem Verhör Mills durch die toughe Mordkommissions-Ermittlerin Avery (superb: Whoopi Goldberg), die zunächst die ganze Szene hindurch eine Packung Tampons sucht, um dann etwas zu haben, womit sie rumspielen kann, und das für den Verhörten als – vor allem auditiver – Albtraum aus dem schallenden Lachen der Beamten und dem „One of us“-Singsang aus „Freaks“ endet.

Auch faszinierte mich, wie Altman die Konvention des Happy Ends ausspielt – in einer letzten Doppelung kopiert das Ende von „The Player“ per One-Liner das Ende von „Habeas Corpus“ – und sie zugleich satirisch aushöhlt und negiert. In Robert Altmans Hollywood gewinnen am Ende die Bösen.

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Short Cuts (USA, 1993)

 

This is the End
von Andreas Thomas

Zerstörung bringende Hubschrauberstaffeln eröffneten „Apocalypse Now“, den legendären (Anti-)Kriegsfilm von Francis Coppola – Tösende Hubschraubertrupps ziehen ihre Bahn über das abendliche Los Angeles. So beginnt Robert Altmans berühmtes „Short Cuts“.

„Die Zeit ist gekommen, wieder einmal in den Krieg zu ziehen. Nicht gegen den Irak, internationale Terroristen oder das ehemalige Jugoslawien, sondern gegen die Fruchtfliege…“ Mit diesen Worten lässt Altman einen Fernsehkommentator „Short Cuts“ einleiten, den raffiniert verschachtelten, großzügig komponierten Episodenfilm über das L.A. zu Beginn der 1990er Jahre.

Nicht weniger als acht Ehepaare aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten stehen im Mittelpunkt dieses analytischen Reigens, kleine Familien, die scheinbar willkürlich aus der weitläufigen Nachbarschaft des San Fernando Valley herausgegriffen sind, denen, jede für sich, eine gleichermaßen alltägliche wie dramatische Entwicklung widerfährt, Kleinsteinheiten, die sich gegenseitig immer wieder touchieren. Berührungen, vom zufälligen Besuch desselben Geschäfts bis zum Unfall mit Todesfolge. Die soziale Interdependenz eben, ein Film als ein Mikrokosmos, der exemplarisch den Zustand einer Gesellschaft vorführt.

Ein großspuriger Polizist (Tim Robbins), der versucht seiner ewig krakeelenden Kinderschar, dem ihn ankläffenden Hund, in die Arme geschiedener Frauen zu entfliehen (wo er sich in ähnlichen Situationen wiederfindet), eine Frau (Jennifer Jason Leigh), die, während sie die Windeln ihrer Tochter wechselt und ihr Mann, der Pool-Cleaner (Chris Penn) verstört zuhört, die knappe Haushaltskasse mit Telefonsexdiensten aufstockt, ein Paar (Andie McDowell und Bruce Davison), das hilflos mitansieht, wie der kleine Sohn stirbt, die Bedienung in einem Drive In (Lily Tomlin), die sich von geilen alten Anglern unter den Rock schielen lassen muss, ein von Kopfschmerzen gepeinigter Arzt (Mathew Modine), der seine malende Ehefrau (Julianne Moore) verdächtigt, fremdgegangen zu sein, eine egozentrische Jazzsängerin (Annie Ross), die die Hilferufe ihrer Tochter (Lori Singer) nicht wahrnimmt. Alle leben in einem dauerhaften Spannungszustand, in Unruhe, Aggressivität, die sich selten oder nie entladen kann. Jedes dieser Familiengefüge ist gestört, wenn nicht schon zerbrochen. Falls dazu Gelegenheit besteht, sich bewusst zu machen, was falsch läuft, so gelingt es nicht, sich damit auseinander zu setzen oder nach Ursachen zu forschen. Der kalte Krieg ist zu Ende, der „Krieg gegen die Fruchtfliege“ hat begonnen: Materielle Zwänge und eine schweigende Übereinkunft mit dem alles dominierenden monetären und hedonistischen Zeitgeist bestimmen die Lebensweise. Voller Sarkasmus und gereizt, selbst bei ihren Freizeitbeschäftigungen, leben sie, wie sie es gerade können, selten sind sie zufrieden, meistens überdreht.

Die Destruktivität, der Zynismus, der dieser Normalität innewohnt, fordert kleine und große Tribute. Da ist es noch freundlich, wenn der eifersüchtige Hubschrauberpilot in Abwesenheit seiner Ex-Frau deren gesamtes Mobiliar zersägt (nur – und hier blitzt die Altmansche Satire hell auf – der Fernseher überlebt), oder wenn der Konditor die Mutter des schwer kranken Jungen mit anonymen Anrufen terrorisiert, nur weil sie derzeit keine Angaben zur Dekoration der Geburtstagstorte machen kann. Vier Leichen bringt dieses kalifornische Paradies hervor, keine von ihnen ist eines natürlichen Todes gestorben. Die überarbeitete Drive-In-Bedienung reagiert zu spät, als der Sohn des Fernsehmoderators vor ihrem Auto über die Straße läuft. Die Tochter der Jazzsängerin kommt nicht über den Tod des Jungen hinweg – vor allem aber nicht über die Unmöglichkeit mit ihrer Mutter darüber zu reden zu können – und nimmt sich das Leben. Ein Angler (Fred Ward) stellt fest, dass da, wo er gerade in den Fluss pinkelt, eine weibliche Leiche – ein Mordopfer, wie sich später zeigt – angeschwemmt wurde. Kein Grund für das Anglerquartett den Ausflug vorzeitig zu beenden. Man befestigt die Tote und angelt neben ihr weiter bis zum nächsten Tag. Die Normalität des Telefonsex als Job schließlich macht den ehelichen Verkehr zu etwas Unnormalen oder Unmöglichem, weil das Intime zu einer Ware geworden ist. Der Gefühlsstau des derangierten Gatten entlädt sich im Augenblick, als die Erde bebt…

Ein Erdbeben und ein „Krieg gegen die Fruchtfliege“. Zwei Ereignisse werden von allen geteilt. In zwei Momenten, am Anfang und am Schluss, erinnert der Film an die Einheit von Zeit und Raum diese Großversuchs. Einleuchtend macht er den großen Aufriss und führt all die gesehenen kleinen Schicksale – nicht nur für diese beiden Augenblicke – zu einem umfassenden, gemeinsamen Schicksal zusammen. Beides, der angestrengte Kampf des Menschen gegen Widrigkeiten der Natur (mit Mitteln, über deren Gefährlichkeit Unklarheit herrscht) und der „göttliche“, allwissende Fingerzeig des Bebens, weckt auf wunderbare Weise Verständnis für das Wesen von Gemeinschaft an sich, weil wir die einzelnen Partikel am Ende zu kennen scheinen, und weil wir ahnen können, wie sie zusammengehören – und wie sie übergreifenden Gesetzmäßigkeiten untergeordnet sind.

Irgendwann trifft der berühmte Fernsehkommentator den Reiniger seines Pools und fragt: „Hey Jerry, wie läuft denn der Krieg?“ „Die Bösen sind am Gewinnen, Sir“, antwortet der beiläufig. In eben dieser Beiläufigkeit erzählt auch „Short Cuts“ von einer „Gesellschaft ohne Verantwortlichkeit, Scham und Intimität“ (Lexikon des internationalen Films), von einem als Frieden getarnten Kriegszustand. Der Film bedient sich häufig überzeichnender Mittel, die insofern Satire „at it’s best“ sind, weil sie genau da die Realität treffen, wo sie am besten zu erkennen ist: ein kleines bisschen außerhalb ihrer selbst. Und „Short Cuts“ wimmelt nur so von mitreißenden Schauspielern, die die Palette von der albernsten Komik bis zur ernstesten Tragik spielfreudig und konzentriert beherrschen. „Short Cuts“ ist lang, etwa 180 Minuten, doch „Short Cuts“ ist nie langweilig. Im Gegenteil, je länger „Short Cuts“ dauert, desto süchtiger macht er nach diesem ungeheuerlichen, deprimierenden, aberwitzigen, nach Menschen riechenden, nach Wahrheit schmeckenden Film.

„Ohne Provokation geht die Welt nicht weiter“

( , Regie: )


von Wolfgang Nierlin

Wolfgang Nierlin spricht mit Andreas Dresen über seinen neuen Film „Als wir träumten“. Wolfgang Nierlin: Beschreibt Ihr neuer Film „Als wir träumten“ ein Lebensgefühl, das entscheidend bestimmt wird von einer …

Wolfgang Nierlin spricht mit Andreas Dresen über seinen neuen Film „Als wir träumten“.

Wolfgang Nierlin: Beschreibt Ihr neuer Film „Als wir träumten“ ein Lebensgefühl, das entscheidend bestimmt wird von einer zeitgeschichtlichen Umbruchsituation, der sogenannten „Wende“?
Andreas Dresen: Es geht um ein Lebensgefühl, das verbunden ist mit einer bestimmten Phase im Leben, die jedem – unabhängig von Region und Zeitepoche – „widerfährt“. Es ist eine Phase des Erwachsenwerdens, in der junge Leute gerne Grenzen austesten und überschreiten, um die Erwachsenenwelt auf die Probe zu stellen. Auf der anderen Seite liegt unter dieser Erzählung vom Erwachsenwerden eine bestimmte historische Folie. Das verschärft die beschriebene Situation, weil der Film in einer Zeit zwischen den Welten spielt, als das alte System der DDR zusammengebrochen war: Die alten Regeln hatten keine Gültigkeit mehr und die neuen waren noch nicht zu sehen, so dass sich ein schier unendliches Reich der Freiheit aufgetan hat. Bezogen auf den Stoff des Films, fällt die Phase der Pubertät und des Erwachsenwerdens zusammen mit dieser gesellschaftlichen Konstellation. Das ist natürlich ein ziemlicher Zündstoff: Die Dinge spitzen sich zu, werden dramatischer, größer und auch großartiger.

Warum haben Sie den konkreten Ort sowie die zeitpolitischen Umstände nur am Rande thematisiert?
Das war nur die Folie, auf der diese Geschichte angesiedelt ist. Auch in Clemens Meyers Roman spielt das nur eine sekundäre Rolle. „Als wir träumten“ ist eine Geschichte über Freundschaft, Liebe und Verrat, über Gangs und vor allen Dingen über das „Herausaltern“ aus der Phase, in der man noch große Träume vom Leben hat. Am Schluss landen die Figuren dann irgendwie in der Erwachsenenwelt. Deswegen hat der Titel auch eine Präteritum-Form. Diese Phase ist irgendwann vorbei. Brecht hat das mal sehr schön in seinem Drama „Im Dickicht der Städte“ gesagt: „Das Chaos ist aufgebraucht. Es war die beste Zeit.“ Und so könnte man das in dem Fall auch sagen. Letztendlich gibt es eine solche Zeit im Leben jedes Menschen, wenn auch nicht in dieser Extremform. Was natürlich auch davon abhängt, in welchem Milieu man groß wird. Bei mir war das auch nicht so extrem, aber bestimmte Dinge aus dieser Geschichte sind mir natürlich sehr wohl vertraut.

Und wovon träumen die jugendlichen Protagonisten des Films?
Von der Liebe, von ihrem ersten eigenen Techno-Club und davon, dass dort tolle Frauen hinkommen. Sie träumen vom Glück, in geklauten Autos durch nächtliche Straßen zu rasen, sich frei zu fühlen und aus der scheinbar so engen Welt der Leipziger Vorstädte zu fliehen. Und partiell geling ihnen das tatsächlich. Dann fühlen sie sich wie die Könige der Welt. Auch wenn ihre Welt nur eine kleine ist. Aber es gibt schon Momente, in denen sie aufblühen und sich scheinbar das alles realisiert.

Die Jugendlichen werden aber weniger von einer Zukunftsperspektive getrieben als vielmehr vom Leben im Hier und Jetzt. Diese Momente gedehnter Zeit bestimmen auch die filmische Form, in der die lineare Erzählung aufgehoben ist zugunsten eines episodischen Erzählens, das sich inhaltlich wiederum mit dem rauschhaft-ekstatischen Lebensgefühl verbindet. Wie kam es dazu? Ist das schon im Roman angelegt?
Der Roman ist partiell sehr filmisch. Er ist aber auch im klassischen Sinne nicht dramaturgisch gebaut, hat also keine dramatischen Spannungsbögen. Er erzählt tatsächlich in Momentaufnahmen. Das hat natürlich auch mit dem Alter der Protagonisten zu tun, bei denen das Leben im Hier und Jetzt stattfindet. Sie leben im Rausch, fahren mit einem geklauten Auto durch die Nacht und was morgen ist, interessiert sie nicht. Das Leben zu planen oder gestaltend in die Hand zu nehmen, gehört ja auch zum Erwachsenenleben und kommt erst mit dem Älterwerden. Wenn man jung ist, lebt und genießt man den Moment. Ich fand gerade schön, dass es in dieser Erzählung Momente eines scheinbar dramaturgischen Stillstands gibt. Wir haben uns deshalb schon drei Minuten Zeit gelassen, die Jungs einfach nur mit einem geklauten Auto durch die Stadt fahren zu lassen. Und es geht eben nicht darum, ob die geschnappt werden oder nicht, wie es ein klassisches filmdramaturgischen Korsett vorgegeben hätte. Hier geht es nur darum, dass sie diesen Rausch haben und dass sie das erleben. Und später sitzen sie auf der Polizei, aber wie die Polizei sie gekriegt hat, wird nicht erzählt. Das war für den Film uninteressant.

Warum haben Sie diesmal die sozialen Hintergründe, also beispielsweise die Schulverhältnisse und die Elternhäuser, weitgehend ausgespart?
Das hat damit zu tun, dass das in dieser Zeit tatsächlich weniger eine Rolle gespielt hat, also gewissermaßen historisch bedingt ist. In dieser Zeit, Anfang der neunziger Jahre, waren die Erwachsenen einfach schlicht mit sich selbst beschäftigt und größtenteils überfordert. Auch mir ging es so: Ich war Ende Zwanzig, kam von der Filmhochschule und durch die radikal veränderten Lebensverhältnisse im Osten war man mit Krankenversicherungen und nebulösen Schreiben vom Finanzamt beschäftigt, um sein Leben in den Griff zu kriegen. Dazu kam noch, dass sich plötzlich das ganze Schulsystem änderte und die Lehrpläne umgekrempelt wurden. Es gab Diskussionen über schuldhafte Verstrickungen, wenn jemand im Osten Staatsbürgerkunde unterrichtet hat. Und so stand plötzlich die damalige Generation der Jugendlichen allein da. Die Erwachsenen waren in der Zeit, in der sie die Jugend an die Hand hätten nehmen müssen, schlichtweg nicht präsent. Sie glänzten durch Abwesenheit und spielen insofern weder im Roman noch im Film eine Rolle. Weil niemand da war, der die Grenzen hätte aufzeigen können, war aber auch das Reich der Freiheit größer. So konnte man in jenen Jahren gesellschaftliche Räume besetzen. Überall in den Vorstädten gab es Industriebrachen, weil die ganzen Betriebe pleite machten. Das wiederum war eine Sternstunde für diejenigen, die illegal einen Techno-Club eröffnen wollten. Diese schossen wie Pilze aus dem Boden, auch in Berlin. Das war das Zeitgefühl dieser frühen neunziger Jahre. Erst später, so nach und nach, griff die Ordnungsmacht ein.

Woher kommt eigentlich die Wut und Zerstörungslust der Jugendlichen? Mit zunehmendem Drogenkonsum richtet sich diese schließlich immer mehr gegen sie selbst. Ist das auch ein Reflex auf das alte System?
Ja, sicher. Wenn man aus so einer Fürsorgewelt kommt, die dann plötzlich zusammenbricht, als würde man quasi aus dem Aquarium in einen Ozean gekippt, in dem man schwimmen muss, dann ist das wie eine Explosion der Energie oder gedeckelter Kräfte. Plötzlich sind alle Grenzen weg. Doch die Abgründe und Gefahren hinter dieser Freiheit werden für die Protagonisten erst nach und nach sichtbar. Dass zur Freiheit auch die Übernahme von Verantwortung gehört, müssen sie erst noch schmerzhaft erfahren.

Sehen Sie Parallelen zwischen Ihrem und dem kürzlich veröffentlichten Film „Wir sind jung. Wir sind stark“ von Burhan Qurbani?
Was die Handlungszeit und das Alter der Protagonisten betrifft schon, ansonsten sind das aber zwei sehr verschiedene Geschichten, weil sich bei „Wir sind jung. Wir sind stark.“ die Energie dann in eine ganz andere Richtung Bahn bricht. Bei uns geht es mehr um einen Aufbruch in die Welt der Freiheit, während dort das politische Thema im Vordergrund steht. Unsere Jungs wollen dagegen in erster Linie etwas erleben, etwas zu Stande kriegen und provozieren. Das ist also erst auf einer zweiten Ebene politisch. Wir haben zwar auch Nazis im Film, die aber nicht wirklich Nazis sind, sondern eher marodierende Jungs ohne Ideologie. Solche Gruppen waren dazu da, den Jugendlichen in dieser wilden Zeit Halt und Struktur zu geben. Das Politische ging erst später los, als Parteien wie die NPD diese Gruppen unterlaufen und für sich instrumentalisiert haben. Doch am Anfang waren das eher verunsicherte Jungs, die mit Nazisymbolen provozieren wollten, ohne ideologisch zu sein. Man muss das also auch als eine Form der Rebellion verstehen.

Folgen auf den Rausch zwangsläufig die Ernüchterung und damit das Ende der Jugend?
Ja, das ist genau so. Aus Jungs werden Erwachsene und irgendwann sind die Träume der Kinder- und Jugendzeit ausgeträumt. Dann muss man sich irgendwie in die Gesellschaft integrieren oder anpassen. Das machen die Protagonisten ja auch. Am Ende des Films sind sie erwachsen. Ich finde das durchaus nicht deprimierend. So ist eben der Lauf der Dinge. Jede Jugend ist mal zu Ende, und man muss anfangen zu funktionieren in der Welt. Und dann wächst die nächste Generation heran, stellt ihre Fragen, macht ihren Scheiß und provoziert. Aber das ist auch schön, denn ohne Provokation geht die Welt nicht weiter, dann entwickelt sich nichts, dann bleibt alles nur wie es ist. Ich denke, es ist das Privileg der Jugend, loszustürmen, einfach Scheiße zu bauen und die andern zu ärgern. Dann muss man sich als Erwachsener in seiner Angepasstheit auch mal provozieren lassen, auch wenn es die eigenen Kinder sind und es einem nicht passt. An Clemens Meyers Roman mochte ich immer, dass er auch eine kleine Hymne auf Anarchie und Lebenslust ist. Und sei’s drum, dass sich diese Lebenslust dadurch Bahn bricht, dass man im bürgerlichen Sinne einen Haufen Scheiße baut; aber gerade daraus sprechen auch Kraft und Lebenslust.

„Cinema of Outsiders: Part II“ im Berliner Zeughauskino

( , Regie: )

Kino des Exzesses
von Nicolai Bühnemann

Es ist heiß in New York. So heiß, dass die Zeitungen voll davon sind und die Menschen in der großen Stadt nach einer kühlen Erfrischung lechzen – am Hydranten, am …

Es ist heiß in New York. So heiß, dass die Zeitungen voll davon sind und die Menschen in der großen Stadt nach einer kühlen Erfrischung lechzen – am Hydranten, am Eisstand oder mit ins Liebespiel integrierten Eiswürfeln. Die sengende Hitze eines schwülen Sommertages bietet für Spike Lee in „Do The Right Thing“ das ideale Wetter, um dem melting pot in seiner Peripherie, dem überwiegend von ärmeren Afroamerikanern bewohnten Bedford-Stuyvesant in Brooklyn, gehörig auf den Zahn zu fühlen. Und das weit gefächerte Figurenensemble um den von Lee selbst gespielten Mookie und die Pizzeria, in der er arbeitet, wird angetrieben von Vorurteilen, rassistischen Ressentiments, kulturellen Missverständnissen, Neid und Angst vor sozialer Vertreibung. Die Aggression, die an allen Ecken und Enden brodelt zwischen Schwarzen, Weißen, Braunen und Gelben, zwischen den Kulturen, Ethnien, Generationen, Geschlechtern und sozialen Schichten wird sich am Abend in einem heftigen Gewaltausbruch entladen. So pessimistisch, wie Lees Bestandaufnahme zum Zusammenleben unterschiedlicher Menschen in den USA Ende der Achtziger letztlich ausfällt, so sehr ist „Do The Right Thing“ auch ein im Sonnenlicht glänzender Film geworden voller Humor und Freude am Stil und den Ausdrucksformen urbaner Kultur(en).

Der Film ist Teil einer Reihe, die diesen April im Berliner Zeughauskino zu sehen ist: „Cinema of Outsiders: Part II“. Lees Meisterwerk schlägt auch eine Verbindung zum ersten Teil der Reihe, der 2013 das Augenmerk auf das US-amerikanische Independent-Kino der 1980er legte. Wie der Abschlussfilm des Vorgängers, Steven Soderberghs „Sex, Lies, and Videotape“, wurde auch „Do The Right Thing“ auf dem Filmfestival von Cannes 1989 uraufgeführt. In der Fortsetzung steht nun das US-Kino der Neunziger Jahre im Mittelpunkt, wobei das Augenmerk auf ambitionierten Filmemacherinnen und Filmemachern liegt, die versuchten innerhalb der großen Studios Filme nach ihren eigenen Vorstellungen zu drehen und dabei öfters auf erhebliche Widerstände stießen.

Darunter sind Regisseure wie Lee und Soderbergh, die sich mit eigenem Stil und eigenen Themen im Mainstream oder jedenfalls an dessen Rändern zu etablieren suchten. Andere wie Abel Ferrara oder John McNaughton hatten ihre Ursprünge im Exploitation- oder Autorenfilm (oder auch: dem Autoren-Exploitationfilm) und bekamen mit dem Horrorfilm „Body Snatchers“ und der starbesetzten Krimikomödie „Mad Dog and Glory“ (beide 1993) erstmals größere Produktionen anvertraut. Wieder andere blickten bereits auf eine bewegte Karriere zurück, etwa Stanley Kubrick, der mit der Schnitzler-Adaption „Eyes Wide Shut“ 1999 seinen ersten Film nach 12 Jahren realisierte, der sein letzter bleiben sollte oder Brian De Palma, dessen „Carlitos’s Way“ (1993) zu sehen ist, und der nach Dominik Graf „Mitte der 1990er Jahre als der glänzendste und gepeinigtste unter den US-amerikanischen Filmregisseuren seiner Generation“ galt.

Es nimmt dann auch wenig wunder, dass sich in vielen der gezeigten Filme die prekäre Situation ihrer Macher in der Filmindustrie zu spiegeln scheint. Die Geschichten erzählen vom unerbittlichen Kampf um seinen Platz in einer mal indifferenten, mal offen feindseligen Welt. In Albert Brooks „The Muse“ ist dieses Umfeld Hollywood, wo ein von Brooks selbst gespielter Drehbuchautor zu Beginn noch einen Preis einheimst, nur um wenig später nicht nur von einem besonders ekelhaften Studio Executive zum alten Eisen erklärt zu werden. „You lost your edge“, bekommt er zu hören, wo er auch hinkommt. Abhilfe soll eine Muse (Sharon Stone) verschaffen. Gewissermaßen ein Spiegelfilm zu Robert Altmans großem „The Player“ (1992), der seinerseits gut in diese Reihe gepasst hätte, in dem der ekelhafte Studio Executive, der die Screen Writers gar nicht nett behandelt, die Hauptrolle spielt. In „Carlito’s Way“ versucht ein alternder Gangster (Al Pacino) sich nach einem Gefängnisaufenthalt ein neues Leben aufzubauen und muss schließlich merken, dass einem in der Welt, die ihm umgibt, Gnade mit anderen, mit jüngeren und hungrigeren zum Verhängnis werden kann.

Szene aus „Showgirls“ (Foto: © Universum)

„Da ist immer jemand jüngeres und hungrigeres auf der Treppe hinter dir“ (die dich sehr buchstäblich zu Fall bringen wird) ist denn auch Gina Gershons Prognose für die Welt der „Showgirls“ in Las Vegas, in der Elizabeth Berkley als junge Tänzerin in Paul Verhoevens gleichnamigem Film (1995) Fuß zu fassen versucht. Das Show Business ist in „Showgirls“ eine infernalische Angelegenheit voller knallharter Hierarchien und extremem körperlichen Drill, bei dem Brustwarzen schon mal mit Eiswürfeln zum Stehen gebracht werden. Frau hat hier keine Chance sich zu behaupten, ohne sich zu verkaufen. Was Jacques Rivette über den Film schreibt, der von der Kritik gnadenlos verrissen wurde und beim Publikum durchfiel, und den er selbst für Verhoevens besten amerikanischen und persönlichsten hält, mag für viele in dieser Reihe gelten: „Es geht ums Überleben in einer Welt, die von Arschlöchern bevölkert ist.“

In Ferraras „Body Snatchers“ schließlich ist das Böse, das einem ans Leder will, nicht mehr nur ein äußerliches, sondern es dringt bis tief ins Innere des eigenen Körpers ein. In angenehm ökonomischen 80 Minuten holt Ferrara zu einem Rundumschlag in Genreform aus, der in dieser Reihe nur in „Do the Right Thing“ seinesgleichen findet und darüber hinaus das bitterböse, politisch ambitionierte US-Horror-Kino der Siebziger Jahre – insbesondere vielleicht von George A. Romero – fortschreibt. (Zu dem ohnehin eine Verbindung besteht, nämlich dadurch, dass John Carpenter mit „Memoirs of an Invisible Man“ (1992) im Programm vertreten ist.) Die adoleszente Protagonistin bekommt es auf einem Militärstützpunkt, auf dem ihr Vater als Biologe Untersuchungen durchführt, mit den außerirdischen Körperfressern zu tun, die die Menschen aussaugen und emotionslose Duplikate von ihnen erstellen, die nach und nach die Welt erobern sollen. Mit seinem Coming-of-Age-Film vor apokalyptischer Kulisse, in dem die Welt immer schon ein bisschen zu kaputt und abgefuckt ist, um das Erwachsenwerden in ihr noch als Option erscheinen zu lassen, eignet sich Ferrara das Genre an, um es für seine eigenen Zwecke zu gebrauchen. Für die emotionale Vergletscherung des Menschen, von der er erzählt, bildet sowohl das Militär als auch die dysfunktionalen Familiengefüge einen optimalen Nährboden.

Das Kino der Neunziger präsentiert sich in dieser Reihe immer wieder als ein Kino des Exzesses. In Amy Heckerlings Komödie „Clueless“ etwa ist es ein Exzess dessen, was man wohl first world problems nennt. Welche Sorgen beschäftigen eine Teenagerin (gespielt von Alicia Silverstone), die qua Geburt in Beverly Hills aller materiellen Sorgen auf Lebenszeit enthoben ist? Dieser Frage geht Heckerling 90 Minuten lang nach in einem Film, der sich bei allen Überspitzungen ins Satirische durch ein großes Interesse an Milieu und Figuren auszeichnet, einer Faszination davon, wie sich seine jugendlichen Hauptfiguren kleiden, wie sie reden, lieben, sich verhalten. Darin könnte man „Clueless“ beinahe als Gegenstück zu „Do the Right Thing“ am entgegengesetzten Ende des sozialen Spektrums bezeichnen.

Der wohl exzessivste Film der Reihe allerdings – vielleicht zusammen mit „Showgirls“ – ist Joe Dantes „Gremlins 2: The New Batch“. Warner Bros. drängte Dante zu einer Fortsetzung des sehr erfolgreichen ersten Teils, hatte dann aber einige Probleme mit seiner Vorstellung, wie dieses Sequel aussehen sollte. Dem Gebot folgend, dass in Fortsetzungen alles größer zu sein habe, wurde die Handlung von einer Kleinstadt in einen voll technisierten New Yorker Wolkenkratzer verlegt. Was schon mit einer wahrlich Dantesken Vision von Stadtentwicklung und futuristischen Technologien beginnt, wird mit voranschreitender Laufzeit immer wahnwitziger, immer durchgeknallter. Während sich die schleimigen Monster und Effizienz optimierten Chaosstifter immer wieder neue Arten einfallen lassen, den süßen kleinen Gizmo zu foltern, treibt der Film vor allem sein selbstreferenzielles und metafiktionales Spiel auf die Spitze. Opfer der Gremlins wird unter anderem ein Filmkritiker, der in seiner Fernsehshow zu einem epochalen Verriss des ersten „Gremlins“-Films anhebt. An einer Stelle bleibt der Film stehen und verbrennt im Projektor, an dem sich, wie man sogleich sieht, zwei Gremlins zu schaffen machen. Derart unterbrochen wurde eine Vorstellung von „Gremlins 2“. Zeit für Hulk Hogan, der im Publikum sitzt, aufzustehen, um den Kreaturen eine gehörige Ansage zu machen, damit der Film weiter gehen kann.

US-amerikanische Filme der Neunziger Jahre wieder und neu zu entdecken, dürfte gerade für diejenigen wie mich eine Herzensangelegenheit sein, deren Filmsozialisation maßgeblich in dieser Dekade erfolgte. Es ist umso löblicher, dass das Zeughauskino und Kurator Hannes Brühwiler die Gelegenheit geben, dies von historischem Filmmaterial zu tun. Mit Ausnahme von „Eyes Wide Shut“ werden alle Filme von 35mm-Kopien gezeigt. Eine Praxis, die im musealen Kinobetrieb eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, es aber leider nicht ist.

Land der Kaputten

( , Regie: )

Eine Passage durch die „Mad Max“-Filme
von Nicolai Bühnemann

Wenn sich die Motorengeräusche verzogen haben, bleibt für Max von seiner Familie, von Frau und Kind, nur noch ein Ball und ein Kinderschuh auf der Weite der Straße zurück. Auf …

Wenn sich die Motorengeräusche verzogen haben, bleibt für Max von seiner Familie, von Frau und Kind, nur noch ein Ball und ein Kinderschuh auf der Weite der Straße zurück. Auf der Straße, die in dem von dem australischen Regisseur und einstigen Arzt George Miller inszenierten und für etwa 400.000 Dollar selbst produzierten, sensationell erfolgreichen und unzählige Male kopierten „Mad Max“ von 1979, zum Austragungsort der letzten Schlachten wird. Der Schlachten zwischen einem in der dystopischen nahen Zukunft nur noch in Rudimenten vorhandenen Gesetz und den Outlaws. Der Schlachten zwischen den Punks und den Hippies. Der Schlachten zwischen den stark homosexuell dargestellten Bikern und der heterosexuellen bürgerlichen Kleinfamilie. „Mad Max“ erzählt von einer doppelten Rache, einer Rache für eine Rache und somit von einem Kreislauf der Gewalt, der sich beliebig fortführen ließe. Der Polizist Max Rockatansky (gespielt vom damals noch gänzlich unbekannten Mel Gibson) bringt im Dienst den Rocker Nightrider zur Strecke. Als dessen Männer aus Rache Max‘ Familie umbringen, ist es an ihm, der zwischenzeitlich den Dienst quittiert hatte, um sich ganz Frau und Kind zu widmen, seine schwarze Lederkluft wieder anzulegen und bedingungslose Jagd auf die Biker zu machen. Die letzten 20 Minuten des Films, in denen gezeigt wird, wie Max einen seiner Widersacher nach dem anderen niedermetzelt, bilden für sich genommen einen kompromisslosen, dramaturgisch abgeschlossenen und – schon rein zeitlich – aufs Äußerste reduzierten Rache-Actioner.

Was die erste Stunde des Films so interessant macht, ist, neben der einen oder anderen fulminant in Szene gesetzten Verfolgungsjagd – gleich die erste zu Beginn dauert satte zehn Minuten –, wie ein Genrefilm als offener Text konzipiert wird. In den Szenen mit seiner Frau spricht Max über seine Gefühle zu ihr, über die Gefühle, die er in der Jugend für seinen Vater hegte, als er noch nicht in der Lage war, diese zu kommunizieren. In diesen Szenen entsteht ein Möglichkeitssinn dafür, dass aus Max Rockatansky ein anderer hätte werden können. Nicht Mad Max. Nicht der ewig durch das Wasteland driftende Road Warrior, der er im zweiten Teil ist. In dem Gesellschaftsbild des Films, das man sicherlich nicht mögen muss, ist die Familie der letzte Hort der Zivilisation, etwas außerhalb der durch und durch fetischisierten Männerwelt aus Leder, Benzin und dröhnenden Motoren. Mit seiner Familie verliert Max auch die Sesshaftigkeit und es bleibt ihm nur noch die Straße (und die Suche nach Ersatzfamilien, nach einem Zusammenleben, das in den folgenden drei Filmen immer neue Formen annimmt, was unter anderem auch bedeutet, dass die Rolle, die Frauen in der Welt der Filme übernehmen, immer wieder neu definiert wird: von der Frau als Hüterin der Familie in „Mad Max“ bis zur – mindestens – ebenbürtigen Mitstreiterin im Kampf auf der Straße in „Mad Max: Fury Road“, dem kürzlich erschienen vierten Teil des Franchise).

Der zweite Teil, im Original „The Road Warrior“ betitelt, konnte zwei Jahre später, nach dem immensen Erfolg des Erstlings schon mit wesentlich höherem Budget realisiert werden. Herausgekommen ist ein Film, der eine reziproke Beziehung zur Bilderproduktion der Populärkultur unterhält. Einerseits ein Film, der sich nimmt, was er braucht beim Western, bei der Ästhetik verschiedener Subkulturen und der Bibel. Und andererseits einer, der die Vorstellung von einer post-apokalyptischen Zukunft, einer Welt nach dem Zusammenbruch, entscheidend mitgeprägt hat.

„The Road Warrior“ beginnt mit einer Art Recap, das nicht nur die Geschichte des ersten Teils rekapituliert, sondern zugleich vom endgültigen Zusammenbruch der Zivilisation berichtet, in einem Szenario, das im Kontext des Jahres 1981 an einen heiß gewordenen Kalten Krieg erinnern mag. Max verschlägt es, wie einen einsamen Westerner, in eine kleine Stadt, die eher einer Ölraffinerie gleicht, in der einige Tapfere den beständigen Angriffen von Lord Humungus und seiner Truppen standhalten, die es auf die großen Benzinreserven abgesehen haben. Die homoerotische Zeichnung der Bösen ist so offensichtlich, dass es schwerfällt von einem Subtext zu sprechen. Humungus selbst sieht aus wie eine SM-Phantasie. Nur eine lederne Unterhose bedeckt seinen Bodybuilder-Körper, sein Gesicht eine Art stählerne Hockeymaske. Seine Mitstreiter tragen schwarzes Leder, das das Gesäß frei lässt und führen einander an Ketten herum, die an Hundehalsbändern befestigt sind. Doch die Homophobie dieser Konstellation ist ein zweischneidiges Schwert. Max, den wir zu Beginn als familiy man kennenlernen und der den Verlust seiner Familie wohl nie wirklich verkraftet hat, wird nicht nur durch die „schwulen Männer“ von außen bedroht, sondern er droht immer wieder auch, diesen gleich zu werden. Im zweiten Teil gelingt es ihm etwas mehr sich abzugrenzen, einen Unterschied zu machen als im ersten. Laut Georg Seeßlen geht es in Mel Gibson-Filmen immer auch um die Konstruktion von Männlichkeit. Und diese Männlichkeit scheint (zumindest in den ersten beiden „Mad Max“-Filmen, ganz anders verhält es sich sicherlich in „Fury Road“, nun allerdings auch ohne Mel Gibson) immer schon eine prekäre, in ihrer (hetero-)sexuellen Identität tief verunsicherte zu sein.

Szene aus „Mad Max 2: The Road Warrior“ (Foto: © Warner)

Jedenfalls bietet sich Max nach einigem Hin und Her an, mit der Bevölkerung der Ölraffinerie den Exodus zu unternehmen. Mit einem Truck, der stark genug ist, ihren riesigen Tank zu ziehen, geht es los in Richtung eines Landes, das weit jenseits der Wüste liegen soll (und von dem einige alte Klapppostkarten mit Bildern von Bounty-Stränden mit Palmen und Damen im Bikini zeugen. Wahrlich eine ausgesucht triste touristische Vorstellung des gelobten Landes!). Als sich Humungus und seine Männer an ihre Fersen haften, beginnt eine jener großartigen, ikonischen Verfolgungsjagd, die für Lukas Foerster den eigentlichen Kern der Reihe ausmachen.

1985 entstand der dritte Teil, „Mad Max Beyond Thunderdome“, der bei vielen Fans der ersten beiden Filme einen etwas schweren Stand hat, wohl vor allen Dingen, weil er gerade in der zweiten Hälfte eine wesentlich familienfreundlichere Endzeitvision liefert, die düstere B-Movie-Dystopie der Vorgänger mit einem wesentlich lichteren Abenteuer-Blockbuster fortführt, in dem weniger mit tödlichen Waffen geschossen und mehr mit Pfannen geschlagen wird.

Mit dem zweiten Sequel wird auch klar, dass das Franchise nicht nur keine fortlaufende Geschichte erzählt, sondern dass mit jedem Film auch eine neue, etwas anders gelagerte Welt konstruiert wird. Und das Hermetische dieser jeweiligen Welten erklärt auch den unerbittlichen, frenetischen Vorwärtsdrang der Filme, in denen es jedes Mal aufs Neue darum geht nicht nur den Verfolgern, sondern gleich der ganzen gezeigten Welt zu entkommen (in „The Road Warrior“ etwa berichtet ein Voice-Over zum Schluss, dass die Flucht Richtung Norden erfolgreich war, die Bilder dieses Ortes jenseits der gezeigten Realität bliebt der Film uns aber schuldig).


„Mad Max 3: Beyond Thunderdome“ (Foto: © Warner)

In „Beyond Thunderdome“ nun besteht diese Welt zunächst aus der Stadt Bartertown, die von Aunty Entity (Tina Turner mit blonder Mähne und Kettentop) mit eiserner Hand und nach von ihr selbst geschriebenen Gesetzen regiert wird. Der Energiebedarf dieser Stadt wird durch Methangas gedeckt, das in der sogenannten Underworld, einer Art unterirdischer Fabrik, produziert wird – aus Schweinescheiße. In dieser Unterwelt herrscht MasterBlaster, ein kleinwüchsiger Mann (Master), der auf den Schultern eines Riesen (Blaster) sitzt und die sogar einen Namen teilen. Entity will sich Blaster entledigen, um die Macht des Gespanns zu brechen. Dazu kommt ihr Max gerade recht, der Blaster im Thunderdome herausfordern soll, der stählernen Kuppel, in der alle Konflikte in Bartertown als öffentliche Spektakel ausgetragen werden, und wo nur eine Regel gilt: „Two men enter, one man leaves.“

Wo Bartertown erneut eine Referenz an die klassische Frontier-Stadt im Western und, aufgrund des eifrigen Handels mit allerlei Waren sowie der Arbeitsteilung zwischen Stadt und Unterwelt, auch ein Bildnis eines wieder erstarkenden Kapitalismus ist, gelangt Max von hieraus in ursprünglichere, paradiesischere Gefilde. Nachdem er, weil er sich letztlich nicht bereit erklärte Blaster zu töten, aus der Stadt verstoßen wird, nimmt ihn ein Stamm von Kindern zu sich auf. Edle Wilde, die es sich ironischerweise gerade zum Vorsatz gemacht haben, die Erinnerung an eine Welt vor ihrer Zeit aufrecht zu erhalten: die großstädtische Zivilisation. In Max meinen sie den lang erwarteten Auserwählten gefunden zu haben, einen Piloten namens Captain Walker, der sie zurück in das Reich ihrer Vorfahren führen soll. Die religiösen Zwischentöne des Vorgängers werden auf die Spitze getrieben, wenn Max langsam in seine Erlöser-Rolle hineinwächst und abermals den Auszug per rasanter Verfolgungsjagd einleitet.

Nach dreißig Jahren und einer Karriere, die ihn mitunter in ganz andere Bereiche des kommerziellen Kinos führte („Schweinchen Babe“, „Happy Feet“), kehrt George Miller nun zum „Mad Max“-Franchise zurück. „Mad Max Fury Road“ ist nicht nur ein erneut Maßstäbe setzendes, furioses Action-Spektakel geworden, sondern der vielleicht auch konsequenteste Film der Reihe. An einem Ort namens Citadel regiert der Herrscher Joe Immortan über die dreckigen, zerlumpten, verlausten und durstigen Massen, indem er ihnen das Wasser streng rationiert. Die „Mad Max“-Filme waren immer schon auf recht eigentümliche Weise Kostüm-Kino und die Maskenbildner tragen vor allem hier ihren entscheidenden Anteil zur Eindrücklichkeit, zur beispiellosen Expressivität des Szenarios bei. Citadel ist die Heimat der Durchgeknallten, das Land der Kaputten, und seine Bewohner tragen ihre Durchgeknalltheit und Kaputtheit auf ihren deformierten Körpern. Mit Tätowierungen und Brandings, mit Narben und Geschwüren, mit dem silbernen Lack, den sich die Heranwachsenden dieses Ortes immer wieder selbst in ihre leichenbleichen Fressen sprühen. Die Traumata, die es verursacht, an einem solchen Ort aufzuwachsen und zu überleben, sind so nach außen, auf die Körperoberflächen gekehrt.

Szene aus „Mad Max: Fury Road“ (Foto: © Warner)

An einen Erlöser will in dieser Welt niemand mehr glauben und so mag der Wechsel in der Besetzung der Titelfigur, die nun von Tom Hardy gespielt wird, der in der Darstellung gebrochener Helden einige Erfahrung hat (zuletzt etwa in „Kind 44“ oder – noch wesentlich besser – in „The Drop“) auch eine Abkehr von der Religion und den politics eines Mel Gibson bedeuten. Damit einhergehend verfolgt „Fury Road“ auch eine regelrecht feministische Agenda. In der patriarchalen Ordnung von Citadel scheinen Frauen nur als Lieferanten von Muttermilch und Babys ihren Platz zu haben. Die von Charlize Theron gespielte, einarmige Imperatorin Furiosa, für viele die eigentliche Hauptfigur des Films, macht sich mit einem Tanklaster Immortans aus dem Staub. Bei sich hat sie fünf Frauen, eine davon hochschwanger, die vorher Sexsklavinnen waren.

Nach einer ersten Verfolgungsjagd, die Max ziemlich hilflos, mit einer eisernen Maske vorm Gesicht an eines der überdimensionierten, phantasievoll gestalteten Fahrzeuge verbringt, sieht Max die Frauen, die bei dem Laster stehen und aus einem Schlauch Wasser trinken. Ein Bild, das konzipiert ist wie eine Oase in der rostbraunen Wüstenwelt des Films. Im Folgenden steht kein großer Plot der wilden Raserei durch das Wasteland im Wege, die für einen gegenwärtigen Blockbuster in erstaunlichem Maße auf CGI verzichtet und stattdessen auf handgemachte Effekte und reale Körper und Fahrzeuge in Bewegung setzt.

Über eine entscheidende Pointe verfügt der Film jedoch noch. Chalize Theron muss einsehen, dass das gelobte Land, in das sie ihre überwiegend weiblich besetzte Karawane führen wollte und das schlicht „Green Land“ genannt wird, nicht mehr existiert. Nachdem sie ihre Enttäuschung in die Wüste hinaus geschrien hat, lässt sie sich schließlich von Max überreden, den Rückweg nach Citadel anzutreten. Verfolgt von Joe Immortans Monstertruck-Fuhrpark, der von einem eigenen riesigen Boxenwagen mit vier Trommlern und einer feuerspeienden Gitarre mit Live-Musik beschallt wird, brettern sie wieder dahin zurück, von wo sie am Anfang aufbrachen. Ihr Ziel ist nicht mehr die Ferne, sondern die Abschaffung von Immortans Schreckensherrschaft und die gerechte Verteilung der hiesigen Ressourcen. Empowerment statt Erlösung.

Matthias Wannhoff: Unmögliche Lektüren. Zur Rolle der Medientechnik in den Filmen Michael Hanekes

( , Regie: )

Denken wie Film
von Lukas Schmutzer

Was sind unmögliche Lektüren? Im Gespräch mit Katharina Müller sagt Michael Haneke an einer Stelle: „Den Großteil der filmwissenschaftlichen Sachen, die ich über mich gelesen habe, hab ich nach kürzester …

Was sind unmögliche Lektüren? Im Gespräch mit Katharina Müller sagt Michael Haneke an einer Stelle: „Den Großteil der filmwissenschaftlichen Sachen, die ich über mich gelesen habe, hab ich nach kürzester Zeit aufgehört zu lesen, weil ich nicht weiß, wovon die reden. Jedenfalls nicht von meinen Filmen.“ Hat Haneke Recht, öffnet sich zwischen dem Werk und den Werkzeugen der Rezeption eine Kluft: Anstatt den Film abzutasten, würde ein verblasstes Bild desselben in einen Theoriekomplex eingegliedert, der nach einer ganz anderen Logik funktioniert als das Werk selbst.

„Unmögliche Lektüren“ von Matthias Wannhoff trägt den Untertitel „Zur Rolle der Medientechnik in den Filmen Michael Hanekes“. Diese Rolle wird, grob gesagt, in sich wiederholenden Versuchsanordnungen untersucht, an denen drei Parteien partizipieren: (1) Jeweils ein Film Michael Hanekes („Benny’s Video“, „Funny Games“ und „Caché“), (2) die Hermeneutik und (3) die medienmaterialistische Theorie in der Tradition von Friedrich Kittler und Wolfgang Ernst, bzw. in der Untersuchung von „Funny Games“ auch das Denken von Vilém Flusser.

Betrachtet man diesen Lageplan im Kontext der Haneke’schen Äußerung, ergeben sich schon im Vorhinein Fragen: Braucht es die Medientheorie, um die innere Logik eines Films zu erfassen? Was wäre der Gewinn, wenn man Koinzidenzen aufzeigt? Lernt daraus die Medientheorie? Lernt daraus der Film? Kann mehr als ein Leistungsnachweis erfolgen, im Sinne von: Das lässt sich mit Kittler ausgezeichnet erklären, lesen sie ihn!? Oder könnte diese Begegnung etwas für die Kittler’sche Theorie bringen, im Sinne von: Hanekes Filme erschüttern die Theorie an diesem Punkt, das muss man nochmal überdenken?

Kittlers Medientheorie hat zur Grundlage, dass es Medien sind, die unsere Lage bestimmen, und damit das, was gesagt, gedacht, geschrieben werden kann. Ein in diesem Sinne medientheoretisches Unterfangen würde auf keine inhaltiche Interpretation hinauslaufen, sondern auf das Klären der Frage, inwiefern das Medium „Film“ erst bestimmte Aspekte der Werke Hanekes ermöglicht, die so z.B. in Schrift oder Fotografie allein nicht möglich wären. Diese Frage steht nicht im Mittelpunt von „Unmögliche Lektüren“, sondern ein paradox anmutendes Unternehmen: „Vielmehr gilt es, technikzentrierte Theoriebildung und ästhetische Praxis als gleichberechtigte Orte der medientheoretischen Reflexion aufzufassen, die beide auf ihre Weise über Medientechnik nachdenken – mit der Besonderheit allerdings, dass diese Weisen in einem auffälligen Ähnlichkeitsverhältnis zueinander stehen.“ (10) Es geht also darum, die Filme auf Inhaltsebene als Medientheorie zu lesen. Schon die Einleitung thematisiert dieses Problem, dass hier eine Theorie aus etwas sprechen soll, wo die zugrunde liegende Perspektive eigentlich das Rauschen der Medien hören will. Das Schlusskapitel versucht dem Problem beizukommen, indem es zeigt, wie die Art und Weise, in der in Hanekes Filme Störungen auftreten, Erkenntnis gestiftet wird – aber, ließe sich einer solchen conclusio erwidern, sind dann Hanekes Filme tatsächlich Medientheorie, oder erzwingen sie vielmehr gewisse Reflexionen, in der Art und Weise, wie sie Medien inszenieren?

Eine solche Fragestellung hält sich „Unmögliche Lektüren“ auf Distanz. Sie klingt z.B. in Äußerungen an, die Haneke selbst im Rahmen von Interviews getätigt hat, und die die vorliegende Studie bezichtigt, einen „blinden Fleck“ (14) zu haben. Die Filme Hanekes sollen quasi gegen die Interpretation ihres Schöpfers verteidigt werden: „Nicht nur methodisch, sondern bereits sachlich gilt daher, dass die Eigeninterpretationen Hanekes – aus medientheoretischer Perspektive – ihrerseits ausgeklammert werden müssen, um überhaupt so etwas wie interpretatorisches Neuland betreten zu können.“ (14) Wie Wannhoff in diesem Zusammenhang zeigt, stehen Hanekes Äußerungen in der Tradition der Kritischen Theorie, zu der Kittler – es sei hier mit eigentlich verfälschender Zurückhaltung ausgedrückt – ein distanziertes Verhältnis pflegte.
(Was die Studie in diesem Zusammenhang anmerken hätte können, aber ihrer weiteren Argumentation auch nicht in die Quere kommt, wäre, dass sich gefühlt genauso viele Stellen finden lassen, in denen Haneke betont, er wolle die Zuschauer lieber mit ihrer Interpretation alleine lassen – „I don’t want to impose my own views beyond what I have already committed to film.“)

Doch wie arbeitet „Unmögliche Lektüren“ konkret mit den Filmen? Die grundlegende Strategie besteht darin, anhand präziser Beobachtungen die zentralen Konflikte der Filme nicht etwa auf die Konfrontation verschiedener sozialer Klassen o.ä., sondern auf das Agieren von Medientechniken zurückzuführen. Dabei werden die untersuchten Filme zunächst gegen verschiedene Hermeneutiker ausgespielt – da Hanekes Filme das Scheitern von Kommunikation zum Ausdruck bringen, ist dies nachvollziehbar.

Die Untersuchung von „Benny’s Video“ demonstriert dann eindrucksvoll, welche Wege medientheoretische Reflexionen der Rezeption eröffnen können: Es wird gezeigt, dass die Hauptfigur des Films (und aufgrund der Montage auch der Zuschauer), genau dort zur Reflexion über gewaltvolles Handeln gezwungen wird, wo die Gewalt nicht mehr durch die Medientechnik aufgezeichnet wird.

In „Funny Games“ wird eine „Krise der Linearität“ im Sinne Flussers festgestellt, die von Medien ausgeht – etwa dadurch, dass ein Mörder die Handlung des Films per Fernbedienung zurückspulen und verändern kann. Ob eine solche Krise prinzipiell von Medien verantwortet sei, wie an dieser Stelle behauptet, müsste allerdings weit ausführlicher diskutiert werden, als dies im Rahmen der Untersuchung geschieht (nicht erst das als Beleg herbeizitierte „Pulp Fiction“ hat in sich verwickelte Handlungsstränge). Gerade bei „Funny Games“ scheint mir diese These aber besonders problematisch: Schickt dieser Film nicht eine Familie ins Verderben, und dies mit einer sonst ungesehenen Linearität, in deren Dienste verschiedene Medien stehen?

„Caché“ schließlich zeige die Unfähigkeit eines Hermeneutikers, mit anonymen Videos umzugehen, die ihm zugeschickt werden. Die medientheoretischen Überlegungen, die hier getätigt werden, unterscheiden die Videos von einem herkömmlichen Drohbrief und weisen darauf hin, wie das entsprechende Medium eine Autorlosigkeit erzwinge. Ähnlich wie bei „Funny Games“ fragt sich aber, ob hier nicht mit mehr Nachdruck differenziert werden müsste – auch wenn die Videobilder ohne „Autor“ sein mögen, beraubt man den Film um viele seiner Ebenen, wenn nicht ausreichend berücksichtigt wird, dass die Videokamera zuweilen gehalten worden ist. Damit kann „Unmögliche Lektüren“ zwar auf Blindstellen hindeuten, läuft aber Gefahr, noch einmal so viele zu schaffen, wie im Rahmen der Untersuchungen aufgedeckt werden sollten.

Matthias Wannhoff: Unmögliche Lektüren. Zur Rolle der Medientechnik in den Filmen Michael Hanekes.
Kulturverlag Kadmos, 2. Aufl., Berlin 2015. 176 Seiten. 22,50 Euro

Wim Wenders: Die Pixel des Paul Cézanne und andere Blicke auf Künstler

( , Regie: )

Filmemacher Wim Wenders wird siebzig und veröffentlicht eine neue Textsammlung
von Wolfgang Nierlin

Bevor Wim Wenders, der am 14. August siebzig Jahre alt wird, Filme gemacht hat, hat er wie seine Kollegen von der Nouvelle Vague über Filme geschrieben; und zwar zunächst in …

Bevor Wim Wenders, der am 14. August siebzig Jahre alt wird, Filme gemacht hat, hat er wie seine Kollegen von der Nouvelle Vague über Filme geschrieben; und zwar zunächst in der Zeitschrift Filmkritik, dem, so Wenders‘ etwas verkürzte Charakterisierung, „Zentralorgan der ‚Münchner Sensibilisten‘“. Über die Jahre sind so mehrere Textsammlungen entstanden, in denen der vielseitig interessierte Künstler, der neben seiner umfangreichen Arbeit als Spiel- und Dokumentarfilmregisseur auch fotografiert, dem Zusammenhang von Denken, Schreiben, Sehen und Filmemachen auf der Spur ist. Den jeweiligen Ausgangspunkt seiner Texte bilden oft Erinnerungen an Dreharbeiten, Begegnungen mit befreundeten Filmemachern oder auch die Auseinandersetzung mit den Werken unterschiedlicher Künstler, die nicht selten in ebenso empfindsame wie bewegende Lobreden mündet. Diese Künstlerportraits beschreiben einen vielschichtigen Dialog, der nicht nur Wenders‘ eigene ästhetische Vorlieben und Interessen spiegelt, sondern auch Korrespondenzen innerhalb seines Werkes sichtbar macht.

„Die Pixel des Paul Cézanne und andere Blicke auf Künstler“ lautet der Titel von Wim Wenders‘ neuem Buch, in dem sich der Autor mit Filmregisseuren, Malern, Fotografen oder auch dem japanischen Modedesigner Yohji Yamamoto (über ihn hat er den Film „Aufzeichnungen zu Kleidern und Städten“ gemacht) und der Choreographin Pina Bausch (über ihr Tanztheater ist der 3D-Film „Pina“ entstanden) beschäftigt; und das er ganz programmatisch, gewissermaßen mit einer existentiellen Setzung à la Descartes beginnt: „Ich schreibe, also denke ich.“ Wenders charakterisiert in dem so betitelten Aufsatz sein Schreiben als prozessuales, empirisches Erkenntnisinstrument, das intuitiv und spielerisch funktioniert. Erst durch die Sichtbarkeit als „geschriebenes Bild des Gedankengangs“ verschafft ihm das Schreiben intellektuelle Klarheit und im Weiteren auch eine Art Selbstvergewisserung. Dabei gewährt er dem Leser nicht nur intime Einblicke in seinen Arbeits- und Schreibprozess, sondern liefert sehr anschaulich und unverstellt auch eine Kostprobe desselben.

Überhaupt erweist sich der international renommierte Filmemacher in seinen Texten als genauer, empfindsamer Beobachter, der mit einer gewissenhaft forschenden Sprache um größtmögliche Klarheit ringt und dabei eine ansteckende Begeisterungsfähigkeit für die Gegenstände seiner Betrachtung vermittelt. Diesen nähert er sich sinnlich-konkret, mit Kennerschaft und einer großen Menschenliebe, vor allem aber im Bewusstsein einer künstlerischen Verwandtschaft. Was Wim Wenders an seinen Kollegen und Freunden bewundert, kennzeichnet von Anfang an auch sein eigenes visuelles Schaffen: Die Suche nach Wahrheit in der Verdichtung von Realität.

Diese in der gegenwärtigen Kunstkritik als unzeitgemäß apostrophierten Begriffe findet Wenders etwa rehabilitiert in den Fotografien von Barbara Klemm. „Die Dinge so zu zeigen, wie sie ‚wirklich‘ sind“, sei deren offensichtlicher Beweggrund. Verdichtete Realität bemerkt Wenders aber auch in den „magischen gegenständlichen Bildern“ des amerikanischen Malers Edward Hopper, dessen aufs Wesentliche reduzierten Ansichten auf vereinzelte Menschen zu „Vor-Bildern“ für viele Einstellungen in Wenders-Filmen wurden, etwa in „Der amerikanische Freund“ (1976) oder auch später in „The Million Dollar Hotel“ (2000). Dass Hopper darüber hinaus auch ein Geschichtenerzähler ist, verbindet ihn mit jenen Filmregisseuren, deren Werke Wenders voller Bewunderung und Zuneigung sehr anschaulich beschreibt und analysiert.

Zu ihnen zählen das Erzählergenie Samuel Fuller, der überdies in mehreren Wenders-Filmen als Gaststar aufgetreten ist, der Stilist Douglas Sirk, den Wenders aufgrund seiner bildgewaltigen Melodramen zum „Dante der Soap Operas“ erklärt, sowie Anthony Mann, dessen Western im jungen Besucher der Pariser Cinémathèque Mitte der 1960er Jahre die Filmbegeisterung erst weckten. „Reines, pures Kino“, getragen von einer „eigenen Handschrift“ entdeckt Wenders in den Filmen Manns und staunt über deren „gelassenen Erzählfluss“, die „visuelle Kraft“ ihrer Bilder sowie die „wundersame Geschlossenheit“ von Inhalt und Form. Das Kino Anthony Manns spricht eine eigene Sprache. Sein Realismus zielt auf keinen verborgenen Hintersinn, sondern ist „reine Evidenz, reines Sein“; was Wenders mit diesen Worten schließlich vor allem im Blick auf das „himmlische Kino“ von Yasujiro Ozu formuliert. In der Begegnung mit den Filmen des japanischen Meisterregisseurs erlebt er unverhofft einen „Zustand der Glückseligkeit“; und er betritt dabei zugleich „das (inzwischen längst verlorene) Paradies des Filmemachens.“

Wim Wenders: Die Pixel des Paul Cézanne und andere Blicke auf Künstler
Herausgegeben von Annette Reschke
Verlag der Autoren, Frankfurt a. M. 2015,
216 Seiten, 15 Euro

Zum Tod von Harun Farocki

( , Regie: )

Sich treu bleiben, indem man sich verändert
von Ulrich Kriest

„Haben Sie diesen Film für das Kino oder das Fernsehen gemacht?“ – „Nein, dieser Film ist gegen das Kino und gegen das Fernsehen gemacht!“ PR-Slogan zu „Zwischen zwei Kriegen“ (1977/78) …

„Haben Sie diesen Film für das Kino oder das Fernsehen gemacht?“ – „Nein, dieser Film ist gegen das Kino und gegen das Fernsehen gemacht!“
PR-Slogan zu „Zwischen zwei Kriegen“ (1977/78)

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Im Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart, Berlin wird noch bis zum 18. Januar nächsten Jahres die Werkreihe „Ernste Spiele“ von Harun Farocki zu sehen sein. Im Museum der Moderne, Salzburg werden aktuell seine Videoinstallationen „Schnittstelle“, „Ich glaubte Gefangene zu sehen“ und „Das Silber und das Kreuz“ gezeigt – und seit Montag nun auch der Film „Bilder der Welt und Inschrift des Krieges“. Am 16. August premiert im Rahmen der Ruhrtriennale im Essener Museum Folkwang die Videoinstallation „Eine Einstellung zur Arbeit“ von Farocki und Antje Ehmann. Ende September startet dann auch „Phoenix“, der neue Film von Christian Petzold, an dessen Drehbüchern Farocki seit vielen Jahren mitgearbeitet hat. Gerade erst, im Januar, wurden in zahlreichen Artikeln aus Anlass des 70. Geburtstages das Werk Harun Farockis und seine unerhörte Produktivität gewürdigt. Schon angesichts dieser kurzen Aufzählung erscheint die Nachricht von seinem unerwarteten Tod, die uns vor ein paar Tagen erreichte, wie ein Skandal. Und es erscheint wie eine überaus verständliche Geste des Protests, wenn auf der Website der Nationalgalerie das Todesdatum erst einmal auf den 30. August 2014 datiert wird. Man wird doch wohl noch hoffen dürfen!

„Qui est Farocki?“, fragten die Cahiers du cinéma 1981, als Harun Farocki gerade mit dem Spielfilm „Zwischen zwei Kriegen“ auch international reüssiert hatte. Damals umfasste seine Filmographie, die 1966 mit zwei Kurzfilmen fürs Fernsehen beginnt, bereits 40 Titel. Der Filmhistoriker Thomas Elsaesser hat sich einmal erinnert, dass er Farocki in einem Vortrag 1983 noch als „Westdeutschlands bekanntesten unbekannten Filmemacher“ vorgestellt habe. Als wir uns Mitte der 1990er daran machten, eine Monografie zu Farocki in Angriff zu nehmen, taten wir es im Bewusstsein, mit diesem Projekt wohl zehn Jahre zu spät zu sein und auf Lücke arbeiten zu müssen. Es war nicht genug Platz für den Essayisten Farocki, den glänzenden Polemiker („Ohne die Zinsen für zu spät ausgezahlte Honorare hätten alle Sender ein Stockwerk weniger.“), den Redakteur der legendären „Filmkritik“, den Schauspieler, Produzenten und Godard-Fan. Es war damals kein Problem, Autoren zu gewinnen, bedurfte aber eines größeren Aufwandes, an die seinerzeit bereits oder erst 79 Filme heranzukommen. Zeitgleich arbeitete auch Tilman Baumgärtel an seiner Werkmonografie, so dass 1998 gleich zwei Bücher zu Farocki erschienen. Seither ist die Liste der Publikationen zu Farocki ziemlich angeschwollen, zumal die Arbeit in der Kunst-Szene mit der Installation „Schnittstelle“ (1995) gerade erst begonnen hatte. Im Sommer 2002 konnte Thomas Elsaesser Farocki in „Senses of Cinema“ bereits als „Deutschlands bekanntesten wichtigen Filmemacher“ vorstellen.

Will man den politischen wie ästhetischen Weg Farockis von seinen Anfängen im Hamburger Bohéme-Treffpunkt „Palette“ in den frühen 1960er Jahren – bei Hubert Fichte firmiert Farocki als „der schiefe Inder“ mit dem Wittgenstein unter dem Arm – über die (kurze) Zeit als Student der dffb, die langen Jahre als freier Filmemacher, der unter prekären Bedingungen produziert bis hin zu der Zeit, als Farocki in der Kunstszene durchgesetzt war und selbst an diversen Akademien lehrte, nachzeichnen, dann lohnt die Erinnerung an die große Harun Farocki-Ausstellung im Museum Ludwig Köln von 2009. Begleitet von einer umfänglichen Filmreihe waren dort ständig zu sehen: die komplexe Installation „Deep Play“ (2007), eine vielschichtige und höchst informative Aufbereitung von Bildern vom und zum WM-Endspiel 2006 zwischen Frankreich und Italien, die Installation „Arbeiter verlassen die Fabrik in elf Jahrzehnten“ (2006) – eine Variation des Films „Arbeiter verlassen die Fabrik“ von 1995 – und die Installation „Immersion“ (2009) über ein Computerprogramm der US-Armee zur Therapie traumatisierter Soldaten aus dem Irak-Krieg, die neueste Arbeit Farockis für Abspielstätten jenseits von Kino und Fernsehen. Zu sehen war aber auch die selbstreflexive erste Installation „Schnittstelle“, die der Filmemacher 1996 auf Einladung des Musée Moderne d‘art de Villeneuve d‘ Ascq produzierte und auch ein ganz früher Farocki-Kurzfilm: „Die Worte des Vorsitzenden“, ein fantasievoller und erstaunlich frischer Agit-Prop-Film mit Pop-Elementen und konzisem Witz von 1967, produziert im Umfeld des legendären Schah-Besuchs in Berlin. Als Regie-Assistentin fungierte hier Helke Sander, die Kamera führte Holger Meins, die damals mit Farocki zum ersten Jahrgang der dffb gehörten. Wie Wolfgang Petersen. In Köln bekam man einen Eindruck über die intellektuelle, ästhetische und politische Spanne seiner Arbeiten zwischen Lehr- und Agitationsfilmen, Beiträgen für das Kinderfernsehen, Essayfilmen, Direct Cinema-Studien, Found-Footage-Filmen und Spielfilmen, die auch Ausdruck einer Suchbewegung waren, die auch Irrtümer und Fehlschläge produktiv zu machen wusste.

In einem Gespräch mit der Filmzeitschrift „Revolver“ im Januar 2003 hat Farocki selbst seinen zweiten Bildungsweg nach „1968“ so beschrieben und sich selbstkritisch von ein paar seiner heftigsten Polemiken der 1970er distanziert: „Ich glaube, was (Hartmut) Bitomsky und ich um 1970 drehten, Filme zur Unterrichtung der Politischen Ökonomie, da waren wir auch so etwas wie eine K-Gruppe, da hatten wir uns mit der Rebellion übernommen und mussten nun einen ganz unangemessen ernsten Ton anschlagen. In diesen Arbeiten wird klar, dass wir nur Abstraktionen im Kopf hatten – wenn wir wenigstens die verfilmt hätten! Es ist dann so gekommen, dass ich etwas lernen musste, da begann mein Zweiter Bildungsweg. Ich ging wohl stark von den Vorstellungen einer Avantgarde aus wie in der Sowjetunion, einer künstlerischen Avantgarde parallel zur politischen. Da fehlte mir gänzlich der Gegenstand für, vom Vermögen mal zu schweigen. Wer nicht so dachte, der hatte es leichter und hatte auch eine Wirkung, wie eben diese “Arbeiterfilme”, aber auch Helke Sander und Helma Sanders-Brahms. Die griffen auf, was man jetzt am Leben ändern konnte. Oder Rosa von Praunheim: Das hat alles Wirkung gehabt.“

Nach den beiden „Spielfilmen“ „Zwischen zwei Kriegen“ und „Etwas wird sichtbar“, die Farocki international bekannt machten, folgte eine Phase der Neu-Orientierung, als sich Farocki sich binnen kürzester Zeit mit vier Arbeitsweisen von „Kollegen“ auseinander setzte: Heiner Müller, Peter Weiss, Robert Bresson und Danièle Huillet und Jean-Marie Straub. Im „Revolver“-Gespräch bringt er diese Neu-Orientierung auf den Punkt: „Desillusionierung in einem guten Sinne: ent-täuschen, also Täuschung weg. So, wollen wir doch mal lieber die Welt anschauen, in der wir leben. In den 80er Jahren fing ich mit “Direct Cinema”-Filmen an.“ Welt-Anschauung: „Leben-BRD“ (1990) zeigt, wie eine Gesellschaft spezialisierte Räume ausbildet, in denen man den Alltag trainieren kann. „Die Schulung“ (1987) und „Die Umschulung“ (1994) zeigen Managertraining vor und nach dem Mauerfall. „Worte und Spiele“ (1998) zeigt, wie man Alltagsmenschen für einen Auftritt im Fernsehen trainiert. Immer wieder hat Farocki Menschen bei der Arbeit gezeigt, sei es am Set eines Films, sei es bei der Produktion eines „Playboy“-Centerfolds, sei es bei der Vorstellung einer Werbekampagne, sei es beim Verhandeln über Risikokapital. Letzterer Film – „Nicht ohne Risko“ (2004) – sammelt Material, dass Farocki wiederum bei seiner dramaturgischen Mitarbeit an Christian Petzolds „Yella“ produktiv machen konnte.

„Leben-BRD“ war Farockis letzter Film, der eine Kino-Öffentlichkeit erreichte, die man als der Rede wert bezeichnen könnte: Der Film wurde an 30 Orten „im fast schon wiedervereinigten Deutschland“ (Farocki) gezeigt. „Als „Videogramme einer Revolution“ 1993 in Berlin in zwei Kinos Premiere hatte, kam in beide Kinos je ein Zuschauer“, schreibt Farocki rückblickend in der Broschüre „Rote Berta Geht Ohne Liebe Wandern“. Und folgert daraus: Diese Erfahrung habe ihm gezeigt, „dass für mich »Das Kino« nicht einmal mehr ein Ort der symbolischen Präsenz war.“

Beachtlich und vielleicht das größte Kapital, dass Farocki in die Waagschale zu werfen hatte, war die Flexibilität seiner Formate. In den seltensten Fällen sind diese abendfüllend: „Die Worte des Vorsitzenden“ dauern 3 Minuten, der Film über die Dreharbeiten zu „Klassenverhältnisse“ von Huillet/Straub (1983), in dem Farocki auch mitspielte, gerade einmal 26 Minuten, „Die Schöpfer der Einkaufswelten“ (2001), der sich mit der Architektur-Politik der Shopping-Malls beschäftigt, immerhin 72 Minuten. Aus dem Umfeld der Arbeit an „Zwischen zwei Kriegen“ stammt eine Äußerung Farockis, die von der Produktionslogik eines freien Autors erzählt, der notwendig für verschiedene Medien und Formate produzieren muss:

„Nach dem Vorbild der Stahlindustrie, wo jedes Abfallprodukt in den Produktionsprozess zurückfließt und kaum eine Energie verloren geht, versuche ich einen Verbund meiner Arbeiten. Die Grundlagenforschung zu einem Stoff finanziere ich mit einer Rundfunksendung, bestimmte dabei studierte Bücher behandle ich in Buchsendungen, und manches, was ich bei dieser Arbeit sehe, kommt in Fernsehsendungen.“

In einem Interview mit dem Magazin „SPEX“ hat Farocki einmal von „Produktionsgelegenheiten“ gesprochen, die sich mitunter sehr spontan ergeben. Wolle man diese Gelegenheiten nutzen, sei man gut beraten, immer ein paar Projekte immerhin soweit entwickelt zu haben, um ebenso spontan reagieren zu können. Aber die Neigung Farockis zur kurzen Form hatte auch noch andere Gründe – und vor allem hatte sie Methode:

„Gelegentlich hielten mir Freunde vor, ich habe nun schon fünf Jahre lang, seit „Videogramme einer Revolution“, keinen »großen Film« mehr gemacht. Keinen abendfüllenden und keinen, den man mit einem Buch vergleichen könnte, eher kurze Filme wie Artikel, die man in Zeitschriften veröffentlicht. (…) Ich sagte natürlich, nur von einem karrieristischen Gesichtspunkt aus, käme es auf diese Art von Hauptwerken an. Es sei doch gänzlich unmodern, einem bildenden Künstler vorzuwerfen, er oder sie mache nur Zeichnungen und käme nicht mehr zu den großen Formaten in Öl. Tatsächlich gibt es wenige Filmemacher oder Filmemacherinnen, die einen kurzen Film fürs Kino, für das Fernsehen oder für sonst eine Distributionsform machen, nachdem sie einen abendfüllenden Film gemacht haben. Es wurde mir bewusst, dass ich lieber die kleine Form wählte: und das, weil ich nichts Großes zu sagen hatte. Schließlich war die Sache, zu der ich mit meiner Arbeit beitragen wollte – die soziale Revolution – gerade nachdrücklich abgesagt worden. 1989 war das Gegendatum zu 1917.“ Beide Aspekte, die Farocki hier anspricht, gilt es zu bedenken. Der abendfüllende Film, besser noch: abendfüllende Spielfilm gilt als Zielpunkt einer Karriere, die über kurze und mittellange Talentproben führt. Ist die Regel, kann man immer wieder in Festivalkatalogen überprüfen. Dass Farocki eher der kleinen Form zuneigte, verhinderte vielleicht am nachdrücklichsten, dass ihn eine größere Öffentlichkeit als das wahrgenommen hat, was er war: ein europäischer Intellektueller von Rang.

Und was ist mit 1917? Nicht nur die unterschiedlichen Phasen der Projektentwicklung profitieren vom Verbund der Arbeiten, sondern auch die Filme kommunizieren auf mehreren Ebenen. Mitunter erlaubte es die Arbeitsweise Farockis über die Jahre immer wieder dasselbe Thema zu beackern – aus wechselnden Perspektiven und mit einem sich wandelnden Blick auf historische Veränderungen. Der Filmtitel „Bilder der Welt und Inschrift des Krieges“ bündelt so unterschiedliche Filme und Installationen wie „Nicht löschbares Feuer“, „Etwas wird sichtbar“, „Erkennen und verfolgen“ oder „Ernste Spiele“. Ein anderes zentrales Thema, das viele Filme Farockis durchzieht, ist die Arbeit, besser: die Reflexion auf das Verschwinden körperlicher Arbeit aus dem öffentlichen Raum. Wenn Farocki 1988 in einem verdeckten Selbstporträt den Schriftsteller und Schmid Georg K. Glaser porträtierte, spielte das Nachdenken über Arbeit und Kunst ebenso eine zentrale Rolle wie es Jahre später beim Durchmustern der Filmgeschichte für den Film „Arbeiter verlassen die Fabrik“ aufscheint.

Wie gesagt: Seit „Leben-BRD“ sind Farockis Filme nicht mehr regulär in die Kinos gekommen und schon dieser Film hatte nach Farockis Ansicht nichts mehr mit 1917 zu tun. Auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen brach seither als zuverlässiger Partner weg. Immer häufiger wurden die kurzen Filme nur noch gebündelt, selten und zu sehr später Stunde versendet. Der Filmemacher sah sich gezwungen, aber immerhin auch in der glücklichen Lage, in die in- und ausländische Kunstszene, in Galerien und Ausstellungskontexte wie die „documenta“ abzuwandern zu können, zumal er in diesem Rahmen vielleicht sogar mehr Zuschauer als im Fernsehen und Kinematheken erreicht. Typisch für Farocki, dass er auch diese Bewegung auf luzide und hintersinnige Weise reflektiert hat: „Wird eine Arbeit von mir im Fernsehen gezeigt, so kommt es mir vor, als würfe ich eine Flaschenpost ins Meer, stelle ich mir einen Fernsehzuschauer vor, so ist er frei erfunden. In einem Kino scheint es mir jedoch, als könnte ich die kleinsten Schwankungen in der Aufmerksamkeit der Zuschauer auffassen und auf die Konstruktion des Filmstücks zurückschließen. Die Zuschauer von Vorführungen in Kunsträumen sprechen mich häufiger an als die von Kinovorführungen, ich kann aber schwerer verstehen, was ihre Worte bedeuten.“

Die Auseinandersetzung mit dem Arbeiten Farockis bietet die Gelegenheit, eine undogmatische linke intellektuelle Biografie nach »1968« nachzuvollziehen, die vielleicht exemplarisch, wenngleich nicht unbedingt verallgemeinerbar sein dürfte: von der Ideologie zur Welt-Anschauung, vom Materialismus zum Strukturalismus, vom Hinarbeiten auf die Revolution bis zu deren Abwicklung („Videogramme einer Revolution“ (1990)), von der Disziplinargesellschaft (Foucault) zur Kontrollgesellschaft (Deleuze). Farockis international Maßstäbe setzende – davon vermittelt die zur Londoner Ausstellung erschienene, extrem prominent besetzte Aufsatzsammlung „Against What? Against Whom?“ einen fast schon aufdringlich gewichtigen Eindruck – und politisch redliche Entwicklung einer »offenen« und stets neugierigen Anschauung der Welt wird fehlen. In seiner beharrlichen und scharfsinnigen Arbeit entlockte Farocki immer wieder industriell gefertigten Bildern aufmerksam Widersprüche und Überschüsse, zeigt die Sinn-produzierenden Bewegungen des ideologischen Apparats an der Schnittstelle von Mensch und Maschine und ist dabei immer auch, verdeckt mitunter durch einen trocken-lakonischen Witz, Trauerarbeit gewesen.

Dieser Text erschien zuerst gekürzt in: Jungle World 32/2014

Lisa Andergassen u.a. (Hg.): Explizit! Neue Perspektiven zu Pornografie und Gesellschaft

( , Regie: )

Brain Sex
von Sven Jachmann

In linksautonomen Jugendzentren wird hierzulande rege und ernsthaft darüber diskutiert, ob man auswärtigen Bands, die nach einem Auftritt den Schlafraum nutzen, besser keinen Onlinezugang gewähren sollte. Anlass zur Grundsatzdebatte ist …

In linksautonomen Jugendzentren wird hierzulande rege und ernsthaft darüber diskutiert, ob man auswärtigen Bands, die nach einem Auftritt den Schlafraum nutzen, besser keinen Onlinezugang gewähren sollte. Anlass zur Grundsatzdebatte ist der unkontrollierbare Rezipient, dem man nicht permanent auf die Finger schauen kann: Es bestünde schließlich die Gefahr, dass sich jemand im Netz pornografisches Material anschaue.

Diese Angst weist weit darüber hinaus, wie die hiesige Rechtssprechung Pornografie zu reglementieren versucht. Sexualdarstellungen in Medien sind Angelegenheit des Jugendschutz- und Strafrechts. Zentrales Movens ist eine Bewahrpädagogik: Kinder und Jugendliche sollen vorm Einfluss der Pornografie geschützt werden; Erwachsenen ist Handel, Besitz und Konsum erlaubt, sofern nicht geltende Gesetze des Strafrechts verletzt werden, etwa im Falle von Kinder- oder sogenannter Gewaltpornografie. Dass sich die Pornoparanoia einiger Juze-Hygieniker in einem Nutzungsverbot qua Verdacht gegenüber Erwachsenen äußert, übertrifft selbst die Forderung des ultrachristlichen CSU-Hardliners Nobert Geis, der sich 2013 vergeblich für eine „Porno-Schranke“ im Internet einsetzte.

Dass auf Grundlage moralischer Empörung unliebsame mediale Darstellungsformen nötigenfalls auch mittels totaler Zensur verhindert werden, ist in einem body genre wie dem Pornofilm nichts Neues. Bereits 2010 veröffentlichte Bertz + Fischer, die wichtigste Adresse für kluge deutschsprachige Filmliteratur, den Reader „Sex und Subversion. Pornofilme jenseits des Mainstreams„. Das Buch ist sowohl eine Kraftdemonstration der interdisziplinär fundierten, in Deutschland sich erst langsam formierenden porn studies als auch eine Reise ins Reich der Möglichkeiten des Pornofilms – eine Bestandsaufnahme pornografischer Vielfalt.

Dieser Tage wird es thematisch ergänzt durch die auf eine Vortragsreihe zurückgehende Aufsatzsammlung „Explizit! Neue Perspektiven zu Pornografie und Gesellschaft“. Zur vormals eher spezifischen Sicht auf Film gesellt sich nun der allgemeinere Ansatz, Pornografie auch gesellschaftsanalytisch zu fassen. „Sie ist eine mächtige ökonomische, mediale und juristische Kategorie. Ihre Bedeutungsproduktion ist untrennbar mit gesellschaftlichen, politischen und historischen Entwicklungen verknüpft“, heißt es im Vorwort der Mitherausgeberin Lisa Andergassen.

Pornografie ist, ebenso wie ihr Publikum, zur Flexibilität genötigt. Das beginnt bereits mit ihrer rechtlichen Definition, die in Deutschland bewusst uneindeutig ist. „Pornografie ist“, so Andergassen, „kein ‚Tatbestand‘, der, einmal bestimmt, bestehen bleibt, sondern kann jeweils nur temporär festgeschrieben werden.“ Oliver Castendyk referiert die deutsche Rechtsprechung, nach der drei Elemente kumulativ zusammenspielen müssen, damit man von Pornografie sprechen kann: Sex muss „grob aufdringlich“ dargestellt werden, der Inhalt muss auf „die Aufreizung des Sexualtriebs abzielen“ und „sonstige menschliche Bezüge“ ausblenden. Reiner Hardcore ist also nicht obligatorisch. Das lässt Spielraum zur Anpassung an jeweils geltende Normen, im Guten wie im Schlechten: Analog zur „sozialethischen Desorientierung“, die der Staat prophylaktisch beim Konsum von Gewalt verhindern will, soll auch die „sexualethische Desorientierung“ des Jugendlichen im Zaum gehalten werden. Nur: Wann tritt diese ein? Und wie lässt sich dieses Erziehungsziel mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz vereinbaren, demzufolge „Menschen wegen ihrer sexuellen Identität nicht benachteiligt werden dürfen“, ganz gleich, ob jemand nun eine kontextlose Sexualität bevorzugt oder sich an als Gewaltpornografie verbotenen Bildern von bestimmten BDSM-Spielarten delektiert?

Jenseits staatlicher Erziehungsfragen interessiert sich das Wissenschaftsteam des pornresearch.org-Fragebogens für die „Auseinandersetzung junger Menschen mit Pornografie“. Befragte: 5.490. Ergebnis: Es „gibt ein großes Bewusstsein dafür, dass Pornografie ein ‚Genre‘ ist“, das wie ein „erotischer Schaufensterbummel“ genutzt wird, sowohl „banal“ als auch „wichtig“ ist, Identität, Neugier, Libido, Ekel, Körpererfahrung, Humor und Selbstreflexion schult.

Also anything goes? Postpornografie, Alternative Porn, die Etablierung pornografischer Bilder im Kunst- und Kulturbetrieb – der Ruch intellektueller Extravaganz, der in für bildungsbürgerliche Kreisen der Siebziger die Kinoeintrittskarte für heutige Klassiker wie „Deep Throat“ oder „Behind the Green Door“ zum Gutschein für performative Entdeckerfreude erhob, ist nicht reanimierbar und hochgradiger Differenzierung und Spezialisierung gewichen. Die Authentizitätsfalle lauert nicht allein hinter der Semantik relativ offensichtlicher Angebote wie Amateurpornos oder Pornos für Gothics, Punks, Raver etc. Authentizität wird, analysiert die US-Filmwissenschaftlerin Giovanna Maina am Beispiel von furrygirl.com, über das gleichzeitige Zusammenspiel thematisch unterschiedlicher Kanäle – Paysites, Blogs, Webcam-Profile bis hin zur öffentlichen Amazon-Wunschliste – zurück ins Boot geholt. Porno muss vielleicht vom echten Leben ununterscheidbar werden, also auch das Nichtperfekte integrieren, um gegenüber den Mainstream-Narrativen Nischen zu entwickeln. Für den Medientheoretiker Jan Distelmeyer endet, in einer kleinen Variation seiner brillanten Studie über die DVD als „flexibles Kino“, diese vermeintliche Freiheit des Postinformationszeitalters jedoch bereits beim Interface der großen Pornowebsites und dessen Versprechungen von Ermächtigung, Kontrolle und Individualisierung: „Die Ermächtigungsgeste der ‚Befähigung zum Handeln‘ wird in besonderer Weise durch die Ordnung der Auswahl unterstützt. Sie suggeriert Macht dort, wo sie eigentlich im wahrsten Sinne des Wortes vorprogrammiert ist und wir im Ausüben von Freiheit und Macht des Wählens aus gegebenen Inhalten mit gegebenen Mitteln den Vor-Schriften der Programmierung folgen.“

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 09/2014

Lisa Andergassen / Till Claassen / Katja Grawinkel / Anika Meier (Hg.): Explizit! Neue Perspektiven zu Pornografie und Gesellschaft
Bertz + Fischer, Berlin 2014, 172 Seiten, 16,90 Euro 

Triumph für Peter Kern

( , Regie: )

Widerspenstig, radikal, unerhört
von Nicolai Bühnemann

Sobald er das Wirtshaus und den Film betritt, gibt’s Freibier für alle und alle Augen und Ohren sind bei ihm und der schlüpfrigen Anekdote, die er erzählt. Dabei spielte Peter …

Sobald er das Wirtshaus und den Film betritt, gibt’s Freibier für alle und alle Augen und Ohren sind bei ihm und der schlüpfrigen Anekdote, die er erzählt. Dabei spielte Peter Kern in Hans W. Geissendörfers „Sternsteinhof“ (1975) nicht nur eine seiner wenigen größeren, sondern auch eine seiner wenigen dramatischen Rollen. Bekannt wurde Kern vor allem durch seine kleineren Auftritte bei fast allen, die im Neuen Deutschen Film Rang und Namen hatten. Wie Elfriede Jelinek es formulierte: „Er kommt immer vor. Aber mehr auch nicht.“ Und Toby Ashraf bezeichnet seinen fetten Körper, der durch dieses Vorkommen zu seinem Markenzeichen wurde, als den „Körper des Neuen Deutschen Films“. In Rainer Werner Fassbinders „Faustrecht der Freiheit“ war er der Florist Fatty, der Franz Biberkopf (Fassbinder) den Lottoschein verkaufte, der weitreichende, schließlich fatale Folgen für ihn haben sollte. In Ulrike Oettingers „Johanna D’Arc of Mongolia“ bittet er in der transsibirischen Eisenbahn zuerst fürstlich zu Tisch, später dann auch zu Gesang und Tanz. Später war er dann unter anderem auch in Christoph Schlingensiefs „United Trash“ und „Terror 2000“ und in Rosa von Praunheims „Die Jungs vom Bahnhof Zoo“ zu sehen. Das Vorkommen behielt Kern auch in seinen eigenen Filmen als Regisseur bei. In vielen der knapp dreißig Filme, die er seit den Achtziger Jahren gedreht hat, hat er kurze Cameos.

Schon sein Spielfilm-Debüt „Crazy Boys – Eine Handvoll Vergnügen“ zeigte nicht nur seinen Willen, neue Wege zu beschreiten, neue Perspektiven zu wählen, sondern gibt auch Aufschluss darüber, warum eine Kerns Schaffen gewidmete Reihe den Namen „Schauplatz Körper“ trägt. Zu einem der Hauptschauplätze des Films werden die Körper vierer Männer, die in einem Strip-Lokal nur für Frauen arbeiten. Kern greift nicht nur Filmen der Gegenwart, die sich mit der Prostitution von Männern beschäftigen, wie „Magic Mike“ oder „Paradies: Liebe“ um fast dreißig Jahre vor, er spielt in schrillen Achtziger-Jahre-Dekors und -Klamotten auch alle Implikationen der Konstellation von „Freierinnen“ und Sexarbeitern, weiblichem Subjekt und männlichem Objekt des begehrenden Blickes durch. Von der Degradierung zum (Sex-)Objekt, über die kurze Halbwertzeit, die auch Männer in diesem Gewerbe haben, bis zu den Schwierigkeiten, Geschäft und Liebe auseinanderzuhalten.


Szene aus „Gossenkind“ (foto: © filmgalerie 451)

Verlief das wilde Treiben in „Crazy Boys“ weitgehend in gängigen komödiantischen Bahnen, ist Kerns dritter Film, „Gossenkind“ (1992) ein einigermaßen konventionelles Sozialdrama. Aber der Regisseur nutzt das Genre, um Unerhörtes zu erzählen. Oder eher: Unsichtbares sichtbar zu machen, dorthin zu sehen, wo alle anderen weggucken. Es geht um die Beziehung eines Familienvaters (Winfried Glatzeder) zu Axel, einem vierzehnjährigen Stricher mit markanter Elvis-Tolle. Das Skandalon daran ist Kerns Weigerung, sich ein Urteil über diese Liebe zu erlauben, die eines der letzten Tabus in einer durch und durch sexualisierten Gesellschaft darstellt, wie sie der Film skizziert. Dem Milieu wie aus einem Horrorfilm, aus dem Axel stammt, steht ein Bürgertum gegenüber, das verlogen ist bis zur Persönlichkeitsspaltung.

Sowohl das Thema Sexarbeit als auch die unmögliche Liebe bilden Konstanten in Kerns filmischem Schaffen. „Domenica“ (D 1993) entstand „basierend auf Motiven von Erzählungen“ von Domenica Nierhoff, die es durch ihren Weg von der Prostituierten zur Sozialarbeiterin als „Hure mit dem goldenen Herzen“ in diversen Talkshows zu einiger Bekanntheit brachte. Zwischen der realen Nierhoff, die beginnt, ihre Geschichte zu erzählen, und dieser fiktiv nacherzählten Geschichte liegt in Kerns Film nur ein einziger Kameraschwenk. Lukas Foerster schreibt, der Film rolle „anhand der Biographie Niehoffs die gesamte Geschichte der Bundesrepublik“ auf.

„Jeder kriegt sein Fett weg“ heißt eine DVD-Edition der Filmgalerie451, die einige Filme Kerns zugänglich macht. Einerseits natürlich eine weitere Anspielung auf den Leibesumfang des Filmemachers, ist es andererseits auch als Anspielung auf seine politische Radikalität zu verstehen, die vor niemandem Halt macht. Ein gutes Beispiel dafür ist die Mockumentary „April 2021 – Haider lebt“ (2002). Ein deutsches Fernsehteam um August Diehl macht sich im von den USA besetzten Österreich des Jahres 2021 auf die Suche nach dem ehemaligen, angeblich toten Kanzler Jörg Haider (zur Zeit des Filmdrehs war Haider wieder Regionalpolitiker; dass er es 2008, wenige Monate vor seinem Tod, bei der Bunderatswahl mit seiner rechtspopulistischen BZÖ auf immerhin 10,7 % schaffte, gibt dem Film einen beinahe prophetischen Anstrich). Neben anderen Höhepunkten aus der Welt der Politik trifft Diehl auch im „Arbeiterheim Helenenthal“ auf die senilen Reste der österreichischen Sozialdemokratie, deren Widerstand sich auf die Erinnerung an ein missglücktes Attentat auf Haider, das Rauchen von Joints und das Singen der „Internationale“ beschränkt.

Kerns Filme wurden oft mit winzigen Budgets gedreht, sahen aber wesentlich teurer aus, als sie tatsächlich waren. In „Blutsfreundschaft“ (2009) geht es um die Liebe eines achtzigjährigen Nazi-Gegners zu einem achtzehnjährigen Neo-Nazi. Aus diesem Plot macht der Regisseur einen Film, formal mitunter an die rohe Unmittelbarkeit des Exploitation-Kinos gemahnend, der in fast epischem Ausmaß von dem schizophrenen Umgang mit Homosexualität unter alten und neuen Nazis, der Verwicklung in alte und neue Schuld und der Kraft der Vergebung erzählt.


Szene aus „Sarah und Sarah“ (foto: © filmgalerie 451)

Um eine Schicksalsgemeinschaft gesellschaftlicher Außenseiter und die sich anziehenden Gegensätze Jung und Alt geht es auch in Kerns vorletztem Film „Sarah und Sarah“ (2013). Die beiden titelgebenden Sarahs sind eine über achtzigjährige Frau, die einst in Nazi-Propagandafilmen mitspielte, und ein krebskranker Junge, dem nur noch wenige Wochen zu leben bleiben. Die Welt des Films, erstmals im Schaffen Kerns in Schwarz-Weiß und im Cinemascope-Format gefilmt, wird unter anderem bevölkert von dubiosen Pharma-Vertretern („Wir sind christlich, sozial und beherrschen den Markt.“), eifrigen Gerichtsvollziehern („Es hat wenig Sinn, sich vor der Exekutive zu verbergen.“) und sensationsgeilen Reporterinnen („ÖRF, immer objektiv.“). Eine an Skurrilität schwer zu überbietende Jahrmarktsszene und ein Kruzifix im Klo gibt es auch. Im Kern aber geht es Kern nicht um den Tabubruch an sich, sondern darum, den alten und den sterbenden Körper sichtbar zu machen, und sie damit von dem Tabu zu befreien, mit dem sie die Gesellschaft belegt.

Schauplatz Körper: Tribute to Peter Kern“ hieß eine Veranstaltung, die, mitinitiiert von der Filmgalerie 451, vom 14. bis zum 18. August im Berliner Kino Arsenal anlässlich von Kerns 65. Geburtstag, vor allem den Filmemacher Peter Kern ehrte. (Übrigens hatte Kern mit dem Wort „Tribute“ seine Probleme, weswegen er die Veranstaltung in einer Radiosendung kurzerhand in „Triumph für Peter Kern“ umtaufte, was an den vier Abenden im Arsenal als running gag herhielt.). Zu sehen waren „Sternsteinhof“, „Crazy Boys“, „Domenica“ und „Sarah und Sarah“. Das üppige Rahmenprogramm beinhaltete Grußworte (u. a. das oben zitierte von Elfriede Jelinek), Publikumsdiskussionen und diverse Filmausschnitte. Das breite Medienecho und die teilweise regelrecht euphorische Aufnahme Kerns und seiner Filme im stets gut gefüllten, großen Saal des Arsenals zeigen die Bereitschaft, mit Peter Kern einen widerspenstigen Geist im deutschen wie im österreichischen Filmbetrieb neu- oder wiederzuentdecken, dessen Werk leider aufgrund rechtlicher Probleme zu großen Teilen schwer zugänglich ist.

(Portrait von Peter Kern: © picture alliance / dpa / Sebastian Kahnert)

Alain Badiou: Kino. Gesammelte Schriften zum Film

( , Regie: )

Ein Kind der Film-Clubs und eine Waise der Idee der Revolution
von Ulrich Kriest

Wie bereits im Falle von Gilles Deleuze, Gérard Genette und Jacques Rancière ist auch das Denken des französischen Philosophen und Mathematikers Alain Badiou in besonderem Maße dem Kino und/oder dem …

Wie bereits im Falle von Gilles Deleuze, Gérard Genette und Jacques Rancière ist auch das Denken des französischen Philosophen und Mathematikers Alain Badiou in besonderem Maße dem Kino und/oder dem Film verpflichtet. Die Kunst und insbesondere die unreine siebte Kunst, der Film, ist für Badiou eine der Voraussetzungen seiner Philosophie. Ein aktuell erschienener, recht voluminöser Band versammelt Texte des französischen Philosophen aus den vergangenen 50 Jahren zum Film und/oder Kino, die Badiou als ciné-fils zeigen, der sich dem Film nicht als Kritiker, sondern als Philosoph nähert. Was heißt das? Badiou reagiert reflexiv auf die Tatsache, dass ein Film „wirkt“, ganz konkret, dass ein Film – gut oder auch nicht so gut – ihn berührt: „Wenn ich darüber spreche, wenn es mich berührt, dann versuche ich herauszufinden, warum. Ihre Art und Weise die Zeit zu bezeugen hat mich berührt, und ich gebe ihnen zurück, was sie mir gegeben haben.“

Angefangen vom frühesten, 1957 in der links-katholischen Zeitschrift „Vin nouveau“ veröffentlichten Text „Die kinematografische Kultur“ bis hin zum jüngsten hier versammelten Text – einer knappen Auseinandersetzung mit Clint Eastwoods „A Perfect World“ – zeigt sich Badiou dabei als Kind der Cinémathèque française, das im Rahmen seiner Überlegungen immer wieder auf die Klassiker, auf Murnau, Griffith, Welles, Chaplin, Stroheim oder Ozu zurückkommt. Als Aktivist der 68er-Bewegung wurde Badiou zum Anhänger Althussers und versuchte dessen Marxismus mit der strukturalistischen Psychoanalyse Lacans zu vermitteln. „1968“, so Badiou, sei eine große Sache gewesen, die allerdings nicht direkt „die ihr entsprechende Politik produziert“ habe: „1968 warf viel eher die Frage nach einer Neuerfindung der Politik auf, als selbst eine politische Sequenz zu bilden.“

In den folgenden 1970er Jahren gehörte Badiou zu den Gründungsmitgliedern der radikalen maoistischen Gruppe UCFml und publizierte in der „Zeitschrift für marxistisch-leninistische Intervention in Film und Kultur“ „Le Feuille foudre“. Der Film erschien für marxistische Interventionen gerade deshalb besonders interessant, weil er eine Massenkunst ist: „Millionen Menschen (lieben) ein Meisterwerk in dem Moment, wo es erscheint.“ Und: Film „ist eine gemeinsame Kunst: Man weiß, wenn man manche Filme sieht, dass man sie gemeinsam mit Millionen anderer Menschen sieht. Diese Tatsache weist nicht darauf hin, was der Film wert ist, weder im positiven noch im negativen Sinne, eher darauf, dass der Film eine Art Schule für alle darstellt.“ Im Umfeld von Le Feuille foudre bedeutete eine solche Einschätzung des Films als „unreine Massenkunst“ zunächst einmal radikale, teilweise sehr aggressiv vorgetragene Ideologiekritik. Badiou sagt dazu heute: „Wir fügten unsere umfassende Filmleidenschaft gewissermaßen in den Rahmen der revolutionären Stimmung der Epoche ein.“ Filme wie „Lacombe Lucien“, „1900“, „Mado“ oder „Die Wanderschauspieler“ werden Ende der 1970er Jahre mit viel Schwung als „revisionistisch“ und als „konterrevolutionärer Populismus“ entlarvt, wobei Badiou rückblickend darauf hinweist, dass die filmanalytischen Argumente der internen Diskussionen nuancierter ausfielen als die polemischen Urteile, die schließlich in Tribunalen gefällt wurden. 1978 las sich das noch so: „Eine glaubwürdige fortschrittliche Kunst (aber auch eine revolutionäre Kunst) muss in Hinblick auf die Geschichte der Formen eine Kunst ihrer Zeit sein (während die Revolution die Zeit verändert). Sie muss im Hinblick auf die aktuelle Formenwelt derart Position beziehen, dass sie als der einzigartigen Bewegung der Kunst innerlich begriffen wird, und diese aktuelle Formenwelt gleichzeitig in den Dienst der Mobilisierung für fortschrittliche Inhalte stellen.“

Schon früh wird bei der Lektüre der Texte Badious klar, wie sehr sich das Verständnis vom Film als „Massenkunst“ mit dem Interesse an einem politischen Interventionismus reibt. Zumal die erklärte Massenkunst den Cineasten Badiou nicht gerade zur Auseinandersetzung anregt. Zwar kann er mit triftigen Gründen einen Film wie Schlöndorffs „Die Fälschung“ als „schädlich“ im Klassenkampf kritisieren, doch am Ende der Kritik weiß man wenig mehr, als dass Schlöndorffs Film ohnehin kein Gegner auf Augenhöhe gewesen ist. Anders sieht es da schon mit Bressons „Der Teufel möglicherweise“ aus, der gleichzeitig mit formaler Meisterschaft eine Position der extremen Rechten vertritt – und dennoch etwas Richtiges zeigt: dass diese „von Bequemlichkeiten überquellende Welt in Wahrheit ein trauriger Niedergang ist.“ Immer wieder fragt der Philosoph Alain Badiou: Was kann uns dieser oder jener Film als Subjekt über den Zustand der Welt sagen? Oder auch: „Was mich interessiert, ist, was dieser Film für die aktuellen Debatten bedeuten kann, was er bezeugt.“ Manches Mal bleibt Badiou im Allgemeinen und Apodiktischen stecken, wenn es ihm darum geht, den Film als philosophisches Experiment zu fassen, ihn als „Metapher des zeitgenössischen Denkens“ zu verstehen und produktiv zu machen. Das verbleibt dann gerne im Ungefähren, wenn es beispielsweise heißt: „Ein Film ist eine Behauptung im Denken, ist eine Bewegung des Denkens, ein Denken, das gleichsam mit seiner künstlerischen Anordnung verbunden ist.“ Oder: „Unter allen Künsten ist der Film sicherlich diejenige, die die Fähigkeit besitzt, zu denken und eine absolut unbestreitbare Wahrheit zu erzeugen. Sie ist durchtränkt von der Unendlichkeit der Wirklichkeit.“ Oder: „Das Thema eines Films ist nicht seine Geschichte, seine Handlung, sondern das, wozu dieser Film Stellung nimmt, und die filmische Art und Weise, wie er das tut.“

Zum Glück gibt es Godard, den exemplarischen Zeitgenossen, der Badiou filmische Vorlagen liefert, die den Philosophen zur Hochform auflaufen lassen. Ein Glücksfall ist Badious Aufsatz zu Godards „Passion“, denn hier vermag er einzulösen, was sonst gern flüchtig bleibt: den Nachweis der Zeitgenossenschaft eines Films. Einer Zeitgenossenschaft freilich, die notwendig abstrakt bleiben muss, weil „Passion“ zunächst nur Fragen stellt: „Wie steht es am Beginn dieser 1980er-Jahre um die Möglichkeiten des Denkens und des Lebens? Es ist ein Film über die Möglichkeiten; auch deshalb ist er nicht leicht zu erfassen, weil er sich weniger auf die Realität oder die Fragmente der Wirklichkeit bezieht als eben auf die Möglichkeit. Wie steht es um die Möglichkeiten des Denkens und des Lebens oder um das Leben als Denken des Lebens? Das ist das eigentliche Thema des Films.“ Godard liefert auf all diese Fragen keine eindeutigen Antworten, aber er schafft immerhin filmische Situationen, die diese Frage diskutieren. „Passion“, so Badiou, sei ein Film des Übergangs, des „Zwischenraums“: „Etwas, das es früher gab, gibt es nicht mehr, aber etwas von dem, was kommen sollte, kommt nicht.“

Nun ist „Passion“ alles andere als „Massenkunst“, ist eher ein schwieriger, elitärer Kunst-Film voller Anspielungen an die Hochkultur und Kunstgeschichte. Ein Problem? Nein, denn längst ist der Philosoph so weit, dass er dem Film noch die Möglichkeit der Massenkunst nachrühmt. Die unreine Kunst des Films kämpft um ihre Reinheit – und den „Waisen der Idee der Revolution“ bezeugt schon die Zeugenschaft dieses Kampfes eine „Lektion in Sachen Hoffnung“. Es gibt keinen umfassenden, endgültigen Sieg mehr, aber mitunter kleine und auch vorübergehende Siege über die unreine Welt: „Man darf nicht verzweifeln. Ich denke, das erzählt uns der Film. Und dafür müssen wir ihn lieben.“ So wird der Film zu einem Ort der Utopie: „Über einen Film zu sprechen bedeutet weniger, über die Ressourcen des Denkens zu sprechen als über seine Möglichkeiten, wenn die Ressourcen des Films durch die Gunst der anderen Künste erst einmal gesichert sind. Es geht darum, aufzuzeigen, was dort außer dem, was da ist, noch sein könnte.“

Dieser Text ist zuerst gekürzt erschienen in: Filmdienst 18/2014

Alain Badiou: Kino. Gesammelte Schriften zum Film
Herausgegeben von Peter Engelmann, übersetzt von Paul Maercker, Passagen Verlag, Wien 2014, 368 Seiten, 42 Euro

Die besten Filme von 2014

( , Regie: )


von

Die 20 Lieblingsfilme 2014 unserer Kritiker/innen 1. Boyhood (R: R. Linklater) 722 2. The Wolf of Wall Street (R: M. Scorsese) 645 3. Die Wolken von Sils Maria (R: O. …

Die 20 Lieblingsfilme 2014 unserer Kritiker/innen
1. Boyhood (R: R. Linklater) 722
2. The Wolf of Wall Street (R: M. Scorsese) 645
3. Die Wolken von Sils Maria (R: O. Assayas) 585
4. Nymph()maniac (R: L. von Trier) 570
5. Under the Skin (R: J. Glazer) 502
6. Interstellar (R: C. Nolan) 492
7. Zwei Tage, eine Nacht (R: J.-P. und L. Dardenne) 472
8. Night Moves (R: K. Reichardt) 420
9. Snowpiercer (R: Joon-ho Bong) 414
10. The Grand Budapest Hotel (R: W. Anderson) 409
11. Phoenix (R: C. Petzold) 406
12. Gone Girl (R: D. Fincher) 404
13. Mommy (R: X. Dolan) 360
14. Maps to the Stars (D. Cronenberg) 332
15. Die geliebten Schwestern (R: D. Graf) 327
16. Timbuktu (R: A. Sissako) 314
17. Norte, the End of History (R: L. Diaz) 267
18. Die Frau des Polizisten (R: P. Gröning) 263
19. Winterschlaf (R: Nuri B. Ceylan) 257
20. Her (R: S. Jonze) 252

* * *

Ricardo Brunn
1. Phoenix (R: C. Petzold) 92/100
2. Die Frau des Polizisten (R: P. Gröning) 91/100
3. Land der Wunder (R: A. Rohrwacher) 90/100
4. Interstellar (R: C. Nolan) 90/100
5. Heli (R: A. Escalante) 88/100
6. Mommy (R: X. Dolan) 87/100
7. The Wolf of Wall Street (R: M. Scorsese) 85/100
8. Under the Skin (R: J. Glazer) 85/100
9. All is Lost (R: J. C. Chandor) 83/100
10. Zwei Tage, eine Nacht (R: J.-P. und L. Dardenne) 81/100

Nicolai Bühnemann
1. Snowpiercer (R: Joon-ho Bong) 94
2. Timbuktu (R: A. Sissako) 89
3. Maps to the Stars (R: D. Cronenberg) 85
4. Die Wolken von Sils Maria (R: O. Assayas) 82
5. Phoenix (R: C. Petzold) 81
6. Zwei Tage, eine Nacht (R: J.-P. und L. Dardenne) 80
7. Gone Girl (R: D. Fincher) 80
8. Le passé (R: A. Farhadi) 78
9. American Hustle (R: David O. Russell) 76
10. Thou Wast Mild and Lovely (R: J. Decker) 75

Andreas Busche
1. Mommy (R: X. Dolan) 100
2. Boyhood (R: R. Linklater) 95
3. Das merkwürdige Kätzchen (R: R. Zürcher) 90
4. Land der Wunder (R: A. Rohrwacher) 90
5. Lucy (R: L. Besson) 80
6. Die langen hellen Tage (R: N. Ekvtimishvili, S. Groß) 80
7. Die geliebten Schwestern (R: D. Graf) 80
8. Nightcrawler (R: D. Gilroy) 80
9. Umsonst (R: S. Geene, David O. Russell) 80
10. Timbuktu (R: A. Sissako) 75

Janis El-Bira
1. Norte, The End of History (R: L. Diaz) 90
2. Boyhood (R: R. Linklater) 88
3. Winterschlaf (R: Nuri B. Ceylan) 87
4. Like Someone in Love (R. A. Kiarostami) 87
5. Die Wolken von Sils Maria (R: O. Assayas) 87
6. Die geliebten Schwestern (R: D. Graf) 85
7. Nymphomaniac (R: L. von Trier)  82
8. Interstellar (R: C. Nolan) 79
9. The Second Game (R: C. Porumboiu) 77
10. I Used To Be Darker (R: M. Porterfield) 76

Carsten Happe
1. Enemy (R: D. Villeneuve) 94
2. Her (R: S. Jonze) 92
3. Under the Skin (R: J. Glazer) 89
4. Höhere Gewalt (R: R. Östlund) 88
5. I Origins (R: M. Cahill) 86
6. Clouds of Sils Maria (R: O. Assayas) 83
7. The Disappearance of Eleanor Rigby (R: N. Benson) 81
8. Love Steaks (R: J. Lass) 80
9. The Grand Budapest Hotel (R: W. Anderson) 79
10. Gone Girl (R: D. Fincher) 76

Marit Hofmann
1. Zwei Tage, eine Nacht (R: J.-P. und L. Dardenne) 96
2. Le Passé (R: A. Farhadi) 95
3. Night Moves (R: K. Reichardt) 94
4. Mommy (R: X. Dolan) 93
5. Im Keller (R: U. Seidl) 92
6. The Wolf of Wall Street (R: M. Scorsese) 91
7. Nymphomaniac (R: L. von Trier) 87
6. Timbuktu (R: A. Sissako) 85
9. Nächster Halt Fruitvale Station (R: R. Coogler) 83
10. Love Steaks (R: J. Lass) 80

Sven Jachmann
1. The Wolf of Wall Street (R: M. Scorsese) 90
2. Boyhood (R: R. Linklater) 90
3. Her (R: S. Jonze) 90
4. Gone Girl (R: D. Fincher) 85
5. Die Wolken von Sils Maria (R: O. Assayas) 80
6. Godzilla (R: G. Ewards) 80
7. Snowpiercer (R: Bong Joon-ho) 80
8. Nymph()maniac (R: L. von Trier) 80
9. Night Moves (R: K. Reichardt) 80
10. Blutgletscher (R: M. Kren) 75
11. The Sacrament (R: Ti West) (DVD-Premiere) 85

Jürgen Kiontke
1. Der blinde Fleck (R: D. Harrich) 90
2. Art War (R: M. Wilms) 85
3. Zeit der Kannibalen (R: J. Naber) 81
4. Besser als Nix (R: U. Wieland) 80
5. Geron (R: Bruce La Bruce) 75
6. Traumland (R: Petra B. Volpe )74
7. Strand der Zukunft (R: K. Aïnouz) 70
8. Pride (R: M. Warchus) 69
9. Timbuktu (R: A. Sissako) 65
10. Concerning Violence (R: G. Olsson) 50

Ekkehard Knörer
1. Interstellar (C. Nolan) 89
2. Norte, the End of History (R: L. Diaz) 85
3. Boyhood (R: R. Linklater) 84
4. Die Wolken von Sils Maria (R: O. Assayas) 83
5. Die geliebten Schwestern (R: D. Graf) 82
5. Like Someone in Love (R: A. Kiarostami) 82
5. Tao Jie – Ein einfaches Leben (R: A. Hui) 82
8. In Sarmatien (R: V. Koepp) 81
8. Edge of Tomorrow (R: D. Liman) 81
10. Maps to the Stars (R: D. Cronenberg) 80;

Außerdem: Nymph()maniac 1 (R: L. von Trier) 80; Lucy (R: L. Besson) 80

Ulrich Kriest
1. The Grand Budapest Hotel (R: W. Anderson) 90
2. Oktober November (R: G. Spielmann) 89
3. Phoenix (R: C. Petzold) 88
3. Under the Skin (R: J. Glazer) 88
3. Die Wolken von Sils Maria (R: O. Assayas) 88
6. Höhere Gewalt (R: R. Östlund) 87
7. Die Frau des Polizisten (R: P. Gröning) 85
7. Map to the Stars (R: D. Cronenberg) 85
9. Night Moves (R: K. Reichart) 80
10. Pfarrer (R: Kolbe/Wright) 75

Außerdem: Koepp: In Sarmatien (75), Scorsese: The Wolf of Wall Street (70), Koreeda: Like Father, Like Son (70)

Nicht zu vergessen: Farrellys: Dumm und dümmehr, Schäfer: Deutschboden, Farhadi: Le passé, Szumowska: Im Namen des …, Geene: Umsonst, Dardennes: Zwei Tage, eine Nacht, Lass: Love Steaks, Nichols: Mud

Leider verpasst: Graf: Die geliebten Schwestern, Rohrwacher: Land der Wunder, Toback: Verführt und verlassen, Zürcher: Das merkwürdige Kätzchen, Dumont: P´tit Quinquin

Tim Lindemann
1. Boyhood (R: R. Linklater) 95
2. The Tribe (R: M. Slaboschpyzkyj) 90 (Festival-Premiere)
2. Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach (R: R. Andersson) 90
3. Borgmann (R: A. van Warmerdam) 85
4. Feuerwerk am hellichten Tag (R: N. Ekvtimishvili, S. Groß) 85
5. Snowpiercer (R: Bong Joon-ho) 80
6. Under The Skin (R: J. Glazer) 80
7. Foxcatcher (R: B. Miller) 75
8. The Wolf of Wall Street (R: M. Scorsese) 75
9. Enemy (R: D. Villeneuve) 70
10. The Grand Budapest Hotel (R: W. Anderson) 70

Ilija Matusko
1. Under the Skin (R: J. Glazer) 85
2. Nymphomaniac 1 (R: L. von Trier) 85
3. Mommy (R: X. Dolan) 80
4. The Second Game (R: Corneliu Porumboiu) 80
5. Höhere Gewalt (R: R. Östlund) 75
6. Winterschlaf (R: Nuri B. Ceylan) 75
7. Das Salz der Erde (R: W. Wenders) 70
8. Her (R: S. Jonze) 70
9. A Touch of Sin (R: Jia Zhangke) 70
10. Nebraska (R: Alexander Payne) 70

Wolfgang Nierlin
1. Winterschlaf (R: Nuri B. Ceylan) 95
2. Norte, the End of History (R: L. Diaz) 92
3. Le passé (R: A. Farhadi) 92
4. Night Moves (R: K. Reichardt) 90
5. 12 Years a Slave (S. McQueen) 90
6. Les Salauds (R: C. Denis) 88
7. Die Frau des Polizisten (R: P. Gröning) 87
8. Nymphomaniac 1 & 2 (R: L. von Trier) 85
9. Borgman (R: A. van Warmerdam) 83
10. Kreuzweg (R: D. Brüggemann) 80

Sven Pötting
1. The Grand Budapest Hotel (R: W. Anderson) 85
2. 20.000 Days on Earth (R: I. F./J. Pollard) 85; A Touch of Sin (R: Jia Zhangke) 85; Heli (R: A. Escalante) 85
3. Die geliebten Schwestern (R: D. Graf) 80
4. Phoenix (R: C. Petzold): 80
5. Boyhood (R: R. Linklater) 80
6. Only lovers left alive (R: J. Jarmusch) 75
7. The Wolf of Wall Street (R: M. Scorsese) 70
8. Snowpiercer (R: Bong Joon Ho) 70
9. Wie der Vater, so der Sohn (R: H. Koreeda) 70
10. Zwei Tage, eine Nacht (R: J.-P. Dardenne, L. Dardenne) 65

(„A Touch of Sin“und „Heli“ sind zwar schon von 2013, in NRW liefen sie aber erst dieses Jahr regulär in den Kinos.)

(anonym)
1. Under the Skin (R: J. Glazer) 80
2. Godzilla (R: G. Edwards) 80
3. Zwei Tage, eine Nacht (R: J.-P. Dardenne, L. Dardenne) 75
4. Robocop (R: José Padilha)  75
5. Amour fou (R: J. Hausner) 70
6. Dawn of the Planet of the Apes (R: M. Reeves) 70
7. Das große Museum (R: J. Holzhausen) 65
8. Phoenix (R: C. Petzold) 65
9. 300 – Rise of an Empire (R: N. Murro) 60
10. Aimer, boire et chanter (R: A. Resnais) 60

Lukas Schmutzer
1. Das finstere Tal (R: Andreas Prochaska) 97
2. Interstellar (R: C. Nolan) 94
3. Das große Museum (R: J. Holzhausen) 86
4. Grand Budapest Hotel (R: W. Anderson)85
5. Wie der Wind sich hebt (R: H. Miyazaki) 84
6. No Turning Back (R: S. Knight) 83
7. Maps to the Stars (R: D. Cronenberg) 82
8. The Clouds of Sils-Maria (R: O. Assayas) 82
9. Les Combattants (R: T. Cailley) 78
10. The Wolf of Wall Street (R: M. Scorsese) 74

Harald Steinwender
1. Boyhood (R: R. Linklater) 100
2. 12 Years a Slave (R: S. McQueen) 95
3. The Wolf of Wall Street (R: M. Scorsese) 95
4. Das finstere Tal (R: A. Prochaska) 90
5. Interstellar (R: C. Nolan) 90
6. L’étrange couleur des larmes de ton corps (R: H. Cattet, B. Forzani) 85
7. Gone Girl (R: D. Fincher) 85
8. Calvary (R: J. M. McDonagh) 85
9. Enemy (R: D. Villeneuve) 85
10. Snowpiercer (R: Joon-ho Bong) 80

Andreas Thomas
1. Oktober November (R: G. Spielmann) 91
2. Boyhood (R: R. Linklater) 90
3. American Hustle (R: David O. Russell) 80
4. 22 Jump Street (R: C. Miller, P. Lord) 79
5. Night Moves (R: K. Reichardt) 76
6. Gone Girl – Das perfekte Opfer (R: D. Fincher) 78
7. Zwei Tage, eine Nacht (R: J.-P. Dardenne, L. Dardenne) 75
8. The Wolf of Wall Street (R: M. Scorsese) 65
9. Nymph()maniac (R: L. von Trier) 63
10. Auf der Suche nach Heilern – Ich bin ein Hypochonder (R: R. von Praunheim) 60

Christian Keßler: Wurmparade auf dem Zombiehof

( , Regie: )

Er mag Müll
von Sven Jachmann

Trashfilme auszulachen, ist nicht Christian Keßlers Ding. Bereits mit dem Begriff beginnen die Probleme: „Einen Film als Müll zu bezeichnen, und sei es auch englischer Müll, ist eine Abwertung, eine …

Trashfilme auszulachen, ist nicht Christian Keßlers Ding. Bereits mit dem Begriff beginnen die Probleme: „Einen Film als Müll zu bezeichnen, und sei es auch englischer Müll, ist eine Abwertung, eine Beleidigung.“ Weshalb Keßler alles herzlichst umarmt, was Mut zeigt, Ambitionen versprüht und sich von kreativen oder produktionsökonomischen Fehlern nicht beirren lässt, manchmal aber trotzdem scheitert, jedenfalls nach den Maßstäben der Illusionstechniken desinfizierter Hollywood-Unterhaltung. Mutig kann es schließlich auch sein, beispielsweise im Zuge der Siebziger-Tierhorrorwelle einen ernsthaften Schocker über flauschige Killerkaninchen („Night of the Lepus“) zu drehen, während alle anderen in der Klasse auf gestandene Ekelgaranten aus der Insekten- und Amphibienwelt setzen.

Wenn Keßler lacht, dann nicht aus Hohn darüber, dass ein Filmteam seine Fähigkeiten überschätzt hat, sondern weil man ohne den Esprit irrsinniger Ideen schnell vergessen kann, was die Welt im Guten überhaupt noch zusammenhält. Sein Herz schlägt für die Poesie der Schwäche und des Unvollkommenen, einerlei wie rüde und bizarr sie manchmal dargeboten sein mag. Folglich weiß er weder vergangenen („Angriff der Killertomaten“) noch heutigen (von „Sharknado“ oder Filmen mit Troma-Entertainment-Charme keine Spur) Versuchen, Trash als Masche zu verkaufen, irgend etwas abzugewinnen. „Im Grunde sind sie Kommerzprodukte, die echte Subversivität nur simulieren. Sie sind wie politisches Kabarett bei öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern. Sie sind wie Bier ohne Alkohol.“ Denn: „Im Idealfall funktionieren die Filme auch ohne ihre gleichzeitige Abwertung.“

Und dann geht’s in medias res: 40 Filme, eingeteilt in zehn Themenblöcke wie Bauernfilme, Beklopptenfilme, Kirchenfilme oder Penisfilme. Der Reiseleiter lässt nichts, sondern tobt sich aus. Das Buch bündelt Artikel, die ebenfalls in der seligen „Splatting Image“ – Keßlers einstige Hausgazette, die im Dezember 2012 nach 92 Ausgaben leider aufgegeben hat – hätten erscheinen können.

„Wurmparade auf dem Zombiehof“ ist das filmjournalistische Pendant zu einer guten Party: Man säuft mit alten Bekannten – Frank Henenlotter („Basket Case“), Ed Wood („Glen or Glenda“), Wenzel Storch („Der Glanz dieser Tage“), John Waters („Pink Flamingos“) -, freut sich über kuriose neue Gesichter, die den Abend mit wirren Vorschlägen am Laufen halten – Nathan Schiff („They don’t Cut the Grass anymore“), Brad Grinter („Blood Freak“) -, und klebt dem testosteronvernebelten Nazi-Nachbarn süße Katzenspuckies auf den Briefkasten (John Waynes „The Green Berets“).

Über all den lehrreichen, lustigen, stets wichtigen und leidenschaftlichen Bergungsarbeiten, die Keßler da leistet, schwebt jedoch auch ein wenig Melancholie. Einerseits erinnert ein solches Buch immer daran, wie sehr Filmgeschichtsschreibung funkeln kann, wenn der Blick sich mal auf die wenig geschätzten und gleichwohl zahlenmäßig überlegenen Gestrandeten richtet. Andererseits stammt das Gros der behandelten Filme aus den sechziger, siebziger und achtziger Jahren, „Operation Dance Sensation“ hat als einziger überhaupt noch die 2000er Marke überschritten. Die Luft für Giftmischer, Eigenbrötler und gerissene Marktschreier scheint im gegenwärtigen Filmgeschäft erheblich dünner geworden zu sein.

Christian Keßler: Wurmparade auf dem Zombiehof. Vierzig Gründe, den Trashfilm zu lieben.
Martin Schmitz Verlag, Berlin 2014, 288 Seiten, 18,80 Euro

 

Robert Warshow: Die unmittelbare Erfahrung

( , Regie: )

Warshow ist im Kino
von Sven Jachmann

Robert Warshow starb mit 37 – zu früh, um heute als filmtheoretischer Klassiker zu gelten. Der Herzinfarkt ereilte ihn 1955. Die Form, in der sich über Film angemessen sprechen lässt, …

Robert Warshow starb mit 37 – zu früh, um heute als filmtheoretischer Klassiker zu gelten. Der Herzinfarkt ereilte ihn 1955. Die Form, in der sich über Film angemessen sprechen lässt, wurde da noch gesucht; die Idee, mit postmodernistischer Rückendeckung E und U zu versöhnen, war noch nicht geboren; wie dem Film als Zwittererscheinung aus Industrie und der Kunst begegnet werden kann, war längst nicht ausgemacht. Ist es auch heute nicht, nur spricht kaum jemand mehr darüber.

Warshow bewegte sich im Kreise der New York Intellectuals, schrieb für den „Commentary“ und die „Partisan Review“ über jüdischen Humor, Hemingway, Kafka und „Krazy Kat“, vor allem aber über Film. Er war dezidiert links und zugleich Antikommunist, beherrschte das ethische Räsonieren des bürgerlichen Intellektuellen, ließ sich aber nicht von Arthur Millers mechanischem Humanismus oder den Mittelschichtsleitlinien des „New Yorker“ verarschen.

Das Hauptwerk, seine Filmtexte, ist nicht ganz Theorie und nicht ganz Kritik, eher ein phänomenologisches, vorurteilsloses Herantasten an die Bausteine der Emotionserzeugung, dem er sich mit Verve hingab. Dahinter steht die Verabschiedung zweier Positionen der damaligen Kritik: Warshow akzeptiert Film als Kunst, reduziert ihn aber nicht darauf, und er registriert den Film soziologisch als Indikator gesellschaftlicher Prozesse, übersieht aber darüber nicht die eigene Verflechtung in Normen, Wertesysteme und Ideologien („Ich bin es, der ins Kino geht.“). Also weder Rudolf Arnheim noch Siegfried Kracauer – beide sind aber notwendiger Ausgangspunkt für die „unmittelbare Erfahrung“, wie Warshows nun ins Deutsche übersetztes Textvermächtnis heißt.

In Filmen und dem Nachdenken darüber bündelt sich nach Warshow ein Verhältnis zur Welt. In seinen noch am ehesten kanonisierten Texten zum Western und Gangsterfilm klingt das so: „Im Grunde ist der Gangster zum Scheitern verurteilt, weil er zum Erfolg gezwungen ist, nicht weil die Mittel, die er anwendet, unrecht sind.“ Und der Cowboy „will nicht seine Macht vergrößern, sondern seine eigenen Werte behaupten, und seine Tragik besteht darin, dass selbst solch begrenzte Bedürfnisse nicht erfüllt werden können“.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 2/2015

Robert Warshow: Die unmittelbare Erfahrung. Filme, Comics, Theater und andere Aspekte der Populärkultur.
Aus dem Englischen von Thekla Dannenberg.
Vorwerk 8, Berlin 2014, 256 Seiten, 24 Euro

„Alle sind wunderschön angezogen“

( , Regie: )


von Sven Jachmann

Wenzel Storch, Jahrgang 1961, ist Filmemacher, Autor, Comiczeichner und Grundlagenforscher der Popgeschichte des deutschen Katholizismus. Sein erstes Theaterstück „Komm in meinen Wigwam“ läuft zurzeit in Dortmund. Sven Jachmann: Du hast …

Wenzel Storch, Jahrgang 1961, ist Filmemacher, Autor, Comiczeichner und Grundlagenforscher der Popgeschichte des deutschen Katholizismus. Sein erstes Theaterstück „Komm in meinen Wigwam“ läuft zurzeit in Dortmund.

Sven Jachmann: Du hast keine große Verbindung zum Theater, und trotzdem wird dein Stück „Komm in meinen Wigwam“ seit Oktober in Dortmund aufgeführt. Die Kritik ist begeistert und jede Vorstellung ausverkauft. Wie geht das?
Wenzel Storch: Eines Tages habe ich eine Mail vom Intendanten Kay Voges bekommen, ob ich nicht Lust hätte, mal was am Theater zu machen. Ins Spiel gebracht hatte mich wohl Jörg Buttgereit, der ja schon seit einer ganzen Weile erfolgreich in Dortmund inszeniert. Dann haben wir uns – im Kreise von drei, vier Dramaturgen – mal unverbindlich getroffen, und dabei wurde dann das „Wigwam“-Projekt ausgeheckt.

Gibt es Vorbilder im Theaterbereich, oder war das ein Sprung ins kalte Wasser?
Nein, Vorbilder gibt es nicht. Ich bin überhaupt kein großer Theaterfreund und habe das bei diesem ersten Treffen auch deutlich raushängen lassen. Ich habe mich vielleicht drei- oder viermal in meinem Leben ins Theater verirrt, das erste Mal mit der Schule, da mussten wir uns den „Zerbrochenen Krug“ im Stadttheater anschauen. Das war eine klägliche Veranstaltung, todlangweilig und nervtötend. Ansonsten kenne ich Theater nur aus dem Fernsehen. Da sieht man manchmal Leute, die sich die Kleider vom Leibe reißen und laut kreischend um riesige Kloschüsseln herum rennen, und dazu donnert irgendwelche Opernmusik. Jetzt, bei „Komm in meinen Wigwam“, sind aber alle wunderschön angezogen, wie sich das für ein römisch-katholisches Theaterstück gehört. Dass auf der Bühne alles so hübsch aussieht, ist das Verdienst der Ausstatterin Pia Maria Mackert. Als wir wegen des Stücks zum ersten Mal telefoniert haben, haben wir uns – quasi zur Einstimmung – Kastelruther-Spatzen-Videos auf Youtube angeguckt. Dabei hat sie sich totgelacht – da war also sehr schnell klar, dass das eine gute Zusammenarbeit werden würde. Denn mit der Ausstattung steht und fällt natürlich das Stück, gerade, wenn man vorher drei ziemlich ungezügelte Ausstattungsfilme gedreht hat.

Du hast mal in einem Interview gesagt, dass stets das gefundene Material den Weg deiner Filme bestimmt hat. War das beim Theater anders? Oder anders gefragt: Wie viel Theaterbetrieb hat den Storchschen Hang zur unangeleinten Ideenakkumulation im Zaum gehalten? Bestand irgendwann die Gefahr, sich zu verzetteln?
Eigentlich nicht. Ich hatte einfach Glück, dass ich inspirierte Leute um mich hatte. Und was die unangeleinten Ideen anbetrifft, da hatte ich mich beim Schreiben schon vorsorglich am Riemen gerissen. Was nicht heißt, dass nicht ein paar tolle Ideen am Ende doch noch unter den Tisch gefallen wären. Aber so ist das ja immer – und es ist natürlich unglaublich luxuriös, einen solchen Riesenapparat zur Verfügung zu haben. Werkstätten, die einem einfach alles basteln, was man haben will … Aber natürlich: Die Angst, dass das am Ende nicht funktioniert, die saß mir ziemlich im Nacken. Nach der ersten Hauptprobe dachte ich: O Gott, das wird eine einzige Katastrophe!

Waren deine zuvor in Konkret veröffentlichten Essays zu Berthold Lutz und der christlichen Aufklärungs- und Erbauungsliteratur der 50er und 60er Jahre erste Wahl für ein Theaterstück?
Nein, überhaupt nicht. Ich hätte lieber katholisches Bauerntheater gemacht – also schön stumpf und „narrativ“ Messbuben und Schwarzröcke über die Bühne stampfen lassen. Was mir da im Kopf herumspukte, ging eher in Richtung Komödienstadl, nur eben sakral-psychedelisch. Ich glaube, das schien den Dortmundern dann zu gewagt, denen schwebte – ich nehme an, aus Sicherheitsgründen – eher ein Mix aus Spielszenen, Storch-typischen Kulissen und Filmeinsprengseln vor. Ich nehme an, um sich ein bisschen abzusichern, die kannten ja meine Filme und wollten keinen Reinfall erleben. Da kam mir dann der Einfall mit der Berthold-Lutz-Revue – der zu diesem Zeitpunkt übrigens noch lebte und auf den ich in Konkret vor ein paar Jahren ein rund 20-seitiges Loblied singen durfte. Die Aufgabe war also, einen katholisierenden Essay auf die Bühne zu bringen, und da kam mir dann sehr bald die Idee mit dem bunten Gemeindeabend, in dem christliches Laienspiel genauso Platz haben würde wie irgendwelche Filmschnipsel oder Tanzeinlagen.

Wie und unter welchen Kriterien hast du die Schauspieler ausgesucht?
Die wurden mir sozusagen auf dem Silbertablett serviert. Mein Dramaturg Thorsten Bihegue, der im Stück den Privatgelehrten aus Heiligenhafen spielt, hat die aus dem Dortmunder Laienspiel-Pool rekrutiert: Kaplan Buffo, der siebzigjährige Held des Stücks, entstammt dem Seniorentheater, die Nonnen sind dem hundertköpfigen Sprechchor entsprungen und die jungen Menschen – der aufgeweckte Bub, das quirlige Mädel und die beiden Messdiener – sind Mitglieder der sogenannten Theaterpartisanen. Der einzige professionelle Schauspieler ist Ekkehard Freye, der spielt den öligen Gemeindevorsteher. Thorsten Bihegue hatte das Stück also im Vorfeld schon perfekt besetzt, das brauchte ich dann nur noch abzunicken. Der hatte seine Finger auch dick und fett in den Tanzszenen drin – zum Beispiel, wenn die Barmherzigen Schwestern ihren erotischen Ringelpiez aufführen. Dieser anmutige Reigen – so was zu choreographieren ist nicht unbedingt mein Gebiet, da wäre ich ohne den Dramaturgen aufgeschmissen gewesen.

Dein Stück ist ein bunter katholischer Revueabend, viel Witz, viel Kritik, und auch viel Distanz durch bizarre Überhöhung. Vermutlich bist du alleiniger Experte auf dem Gebiet christlicher deutscher Aufklärungsliteratur. Gab es Titel oder Passagen in den verwendeten Büchern, die du absichtlich weggelassen hast, weil sie zu krass, schlichtweg zu angsteinflößend waren?
Eigentlich nicht. Obwohl, es gibt da sehr finsteres Zeug. Die Texte des Berthold Lutz, so schlimm sie sind, haben ja noch einen halbwegs freundlichen Ton, und manchmal blitzt sogar ein poetischer Funke auf. Aber es gibt auf dem Sektor der katholischen Sexliteratur auch Autoren, die sind einfach nur brutal und roh, da fühlt man sich untenrum regelrecht begrapscht. Und um zu zeigen, was für eine unappetitliche Parallelwelt da existiert hat, gibt es ja dann den Ausdruckstanz des Privatgelehrten, der sich gegen Ende des Stücks als „Deutschlands Traktate-Instanz Nummer 1“ entpuppt. Da tobt er zu einer weichgespülten Version von „Silvermachine“ in nicht gerade christlichen Verrenkungen über die Bühne, während im Hintergrund ein nicht enden wollendes Kleinschriften-Stakkato über die Leinwand flackert. Schmuddelhefte mit Titeln wie „Alles spricht von Liebe“, „Was ist denn schon dabei?“, „Sie tun es ja alle“, „Wieso nicht vor der Ehe?“, „Zu Hause dicke Luft“ und wie die Dinger alle heißen.

Du kommst aus einer hardcorereligiösen Familie, und in deinen Arbeiten als Regisseur und Autor spielen die Selbstpräsentation, Ideen und Leitbilder des Katholizismus eine riesige Rolle. Was ist eigentlich deine Erklärung dafür, dass so viele Menschen so beharrlich auf Gott zählen?
Manchmal denke ich ja, die sind alle irre … Aber ernsthaft: Die einen glauben halt an den lieben Gott, und die anderen suchen Trost bei Andrea Berg oder Helene Fischer. Ich kann das gut verstehen. Mit elf habe ich zum Beispiel geglaubt, dass Black Sabbath die beste Band der Welt ist. Und das glaube ich im Grunde heute noch. Wenn ich die Macht dazu hätte, würde ich das zur Staatsreligion erklären und dafür Steuern erheben. Und für diesen meinen Glauben jede Menge Respekt einfordern.

Du siehst Dich weder als Cineast, noch bist du sonderlich am Theater interessiert, hast dich aber trotzdem in beiden Bereichen ausgetobt und jedes Mal absolut außergewöhnliche, originäre Werke geschaffen. Ist das immer Zufall oder auch kreative Methode?
Das ist Zufall, das folgt keiner Methode. Als Karl-May-Leser habe ich allerdings gelernt, dass es keinen Zufall gibt. Bei Karl May ist in solchen Fällen immer die Hand Gottes im Spiel.

Hast du nun Theaterblut geleckt?
Theaterblut geleckt – das klingt etwas unappetitlich. Aber ja, natürlich: „Komm in meinen Wigwam“ gefällt mir selber ja auch viel zu gut. Also werde ich in der nächsten Spielzeit mein Glück noch einmal versuchen. Im Moment sitze ich gerade am Entwurf für ein zweites Stück, das höchstwahrscheinlich „Das Maschinengewehr Gottes oder Das Geheimnis der magischen Hostie“ heißen wird. Es wird also wieder katholisch, und Premiere soll im Dezember sein.

Dieses Interview ist zuerst erschienen in: Junge Welt, 04.02.2015.

Die besten Filme des Jahres 2013

( , Regie: )


von

  Die 20 Lieblingsfilme 2013 unserer Kritiker/innen: 1. Spring Breakers (R: H. Korine) 1038 2. The Act of Killing (R: J. Oppenheimer, C. Cynn) 751 4. Frances Ha (R: N. …

 

Die 20 Lieblingsfilme 2013 unserer Kritiker/innen:
1. Spring Breakers (R: H. Korine) 1038
2. The Act of Killing (R: J. Oppenheimer, C. Cynn) 751
4. Frances Ha (R: N. Baumbach) 716
3. Gravity (R: A. Cuarón) 607
5. Der Fremde am See (R: A. Guiraudie) 572
6. Django Unchained (R: Q. Tarantino) 513
7. Zero Dark Thirty (R: K. Bigelow) 499
8. Blau ist eine warme Farbe (R: A. Kechiche) 486
9. To the Wonder (R: T. Malick) 430
10. The Master (R: P. T. Anderson) 388
11. Only God Forgives (R: Nicolas W. Refn) 327
12. La grande bellezza (R: P. Sorrentino) 266
13. Blancanieves (R: P. Berger) 255
14. Der Geschmack von Rost und Knochen (R: J. Audiard) 248
15. Inside Llewyn Davis (R: E. Coen, J. Coen) 244
16. Computer Chess (R: A. Bujalski) 240
17. Paradies: Liebe (R: U. Seidl) 234
18. Liberace (R: S. Soderbergh) 229
19. Die wilde Zeit (R: O. Assayas) 175
20. Wadjda – Das Mädchen Wadjda (R: H. Al-Mansour) 171

* * *

Ricardo Brunn
1. Room 237 (R: R. Ascher) 89
2. Finsterworld (R: F. Finsterwalder) 82
3. La Grande Bellezza (R: P. Sorrentino) 81
4. The Act of Killing (R: J. Oppenheimer) 80
5. Der Geschmack von Rost und Knochen (R: J. Audiard) 76
6. Der Fremde am See (R: A. Guiraudie) 75
7. The Master (R: P. T. Anderson) 73
8. Blau ist eine warme Farbe (R: A. Kechiche) 70
9. Only God Forgives (R: Nicolas W. Refn) 65
10. Gravity (R: A. Cuaron) 60

Nicolai Bühnemann
1. Spring Breakers (R: H. Korine) 85
2. Tore tanzt (R: K. Gebbe) 82
3. Un amor – Eine Liebe fürs Leben (R: P. Hernández) 82
4. Inside Llewyn Davis (R: E. & J. Coen) 80
5. Pain & Gain (R: M. Bay) 79
6. Gravity (R: A. Cuarón) 79
7. Tage am Strand (R: A. Fontaine) 78
8. Texas Chainsaw 3D (R: J. Luessenhop) 78
9. Room 237 (R: R. Ascher) 73
10. Stein der Geduld (R: A. Rahimi) 67

Andreas Busche
1. The Act of Killing (R: J. Oppenheimer) 95
2. Frances Ha (R: N. Baumbach) 90
3. Computer Chess (R: A. Bujalski) 90
4. Beyond the Hills (R: C. Mungiu) 90
5. Kid Thing (R: D. Zellner) 85
6. Silver Linings (R: David O. Russell) 85
7. Blau ist eine warme Farbe (R: A. Kechiche) 85
8. Spring Breakers (R: H. Korine) 85
9. Zero Dark Thirty (R: K. Bigelow) 85
10. Elysium (R: N. Blomkamp) 80

Janis El-Bira
1. Spring Breakers (R: H. Korine) 87
2. Gravity (R: A. Cuarón) 85
3. Der Fremde am See (R: A. Guiraudie) 85
4. Zero Dark Thirty (R: K. Bigelow) 84
5. Ihr werdet euch noch wundern (R: A. Resnais) 84
6. The Act of Killing (R: J. Oppenheimer) 82
7. Oben ist es still (R: N. Leopold) 80
8. To the Wonder (R: T. Malick) 78
9. Leviathan (R: L. Castaing-Taylor & V. Paravel) 76
10. The Master (R: P. T. Anderson) 75

Lukas Foerster
1. Spring Breakers (R: H. Korine) 92
2. To the Wonder (R: T. Malick) 90
3. Jaures (R: V. Dieutre) 87
4. Zero Dark Thirty (R: K. Bigelow) 86
5. 00 Schneider – Im Wendekreis der Eidechse (R: H. Schneider) 82
6. Computer Chess (R: A. Bujalski) 81
7. The Act of Killing (R: J. Oppenheimer) 80
8. Sleepless Knights (R: C. Diz, S. Butzmühlen) 80
9. Liberace (R: S. Soderbergh) 79
10. Stein der Geduld (R: A. Rahimi) 79

Carsten Happe
1. Spring Breakers (R: H. Korine) 87
2. Frances Ha (R: N. Baumbach) 86
3. Gravity (R: A. Cuarón) 86
4. To The Wonder (R: T. Malick) 84
5. Finsterworld (R: F. Finsterwalder) 83
6. The Hobbit: The Desolation of Smaug (R: P. Jackson) 82
7. Take This Waltz (R: S. Polley) 81
8. Captain Phillips (R: P. Greengrass) 80
9. The Congress (R: A. Folman) 78
10. Les Misérables (R: T. Hooper) 78

Marit Hofmann
1. Inside Llewyn Davis (R: J. & E. Coen) 89
2. Django Unchained (R: Q. Tarantino) 85
3. Blau ist eine warme Farbe (R: A. Kechiche) 79
4. The Master (R: P. T. ANderson) 72
5. Paradies: Glaube(R: U. Seidl) 69
6. The Act of Killing (R: J. Oppenheimer) 84
7. Blue Jasmine (R: W. Allen) 68
8. Venus im Pelz (R: R. Polanski) 68
9. Liberace (R: S. Soderbergh) 65
10. Frances Ha (R: N. Baumbach) 65

Sven Jachmann
1. Zero Dark Thirty (R: K. Bigelow) 82
2. Django Unchained (R: Q. Tarantino) 80
3. The Act of Killing (R: J. Oppenheimer & C. Cynn) 80
4. 00 Schneider – Im Wendekreis der Eidechse (R: H. Schneider) 78
5. Paradies Liebe (R: U. Seidl) 75
6. Inside Llewyn Davis (R: E. und J. Coen) 75
7. Spring Breakers (R: H. Korine) 73
8. The Master (R: P. T. Anderson) 73
9. Gravity (R: A. Cuarón) 72
10. Francis Ha (R: N. Baumbach) 70
11. The Lords of Salem (R: R. Zombie) (DVD) 70

Ekkehard Knörer
1. Spring Breakers (R: H. Korine) 84
2. Ihr werdet euch noch wundern (R: A. Resnais) 84
3. Der Fremde am See (R: A. Guiraudie) 82
4. Jaurès (R: V. Dieutre) 80
5. The Act of Killing (R: J. Oppenheimer & C. Cynn) 80
6. Cäsar muss sterben (R: Gebr. Taviani) 80
7. Zero Dark Thirty (R: K. Bigelow) 78
8. Camille – Verliebt nochmal (R: N. Lvovsky) 78
9. Vaters Garten – Die Liebe meiner Eltern (R: P. Liechti) 77
10. Oben ist es still (R: N. Leopold) 76

Ulrich Kriest
1. To The Wonder (R: T. Malick) 89
2. Die wilde Zeit (R: O. Assayas) 85
3. Vaters Garten (R: P. Liechti) 84
4. Hans Dampf (R: C. Mrasek & J. Schmidt) 83
5. Frances Ha (R: N. Baumbach) 82
6. The Legend of Kaspar Hauser (R: D. Manuli) 80
7. The Act of Killing (R: J. Oppenheimer) 80
8. Oslo, 31. August (R: J. Trier) 80
9. Jung & schön (R: F. Ozon) 80
10. Immer Ärger mit 40 (R: J. Apatow) 78

Außerdem: The Counselor (R: R. Scott) 78; Blau ist eine warme Farbe (R: A. Kechine) 75; Paradies-Trilogie (R: U. Seidl) 70; Mud (R: J. Nichols) 75; Ihr werdet euch noch wundern (R: A. Resnais) 69; Ich fühl mich Disco (R: A. Ranisch) 69; Finsterworld (R: F. Finsterwalder) 68;
00 Schneider – Der Wendekreis der Eidechse (R: H. Schneider) 67; Prince Avalanch (R: D. G. Green) 65; Michael Kohlhaas oder Die Verhältnismäßigkeit der Mittel (R: A. Lehmann) 64; Liberace (R: S. Soderbergh) 59

Wolfgang Nierlin
1. Jenseits der Hügel (R: C. Mungiu) 100
2. Die große Schönheit (R: P. Sorrentino) 95
3. Ich und Du (R: B. Bertolucci) 93
4. Blau ist eine warme Farbe (R: A. Kechiche) 92
5. Die wilde Zeit (R: O. Assayas) 90
6. Die andere Heimat (R: E. Reitz) 85
7. The End of Time (R: P. Mettler) 83
8. Der Fremde am See (R: A. Guiraudie) 80
9. Spring Breakers (R: H. Korine) 80
10. Frances Ha (R: N. Baumbach) 77

Drehli Robnik
1. Wadjda – Das Mädchen Wadjda 90
2. Lincoln (R: S. Spielberg) 87
3. World´s End (R: E. Wright) 86
4. Soldate Jeannette (R: D. Hoesl) 85
5. Diamantenfieber (R: P. Kern) 84
6. Only God Forgives (R: Nicolas W. Refn) 83
7. Spring Breakers  (R: H. Korine) 82
8. Jack the Giant Slayer (R: B. Singer) 81
9. Der Fremde am See (R: A. Guiraudie) 80
10. ex aequo Gravity (R: A. Cuaron) 79 / Prisoners (R: D. Villeneuve) 79 / Elysium (R: N. Blomkamp) 79

Michael Schleeh
1. Spring Breakers (R: H. Korine) 92
2. Only God Forgives (R: Nicolas W. Refn) 89
3. To The Wonder (R: T. Malick) 89
4. Leviathan (R: L. Castaing-Taylor & V. Paravel) 86
5. Paradies: Liebe (R: U. Seidl) 85
6. Zero Dark Thirty (R: K. Bigelow) 84
7. Django Unchained (R: Q. Tarantino) 81
8. Blancanieves (R: P. Berger) 80
9. Frances Ha (R: N. Baumbach) 77
10. Stoker (R: Park Chan-wook) 76

Lukas Schmutzer
1. Django Unchained (R: Q. Tarantino) 100
2. The Congress (R: A. Folman) 85
3. Der Fremde am See (R: A. Guiraudie) 84
4. Paradies: Hoffnung (R: U. Seidl) 81
5. The Grandmaster (R: Wong Kar-Wai) 80
6. The Place Beyond the Pines (R: D. Cianfrance)  80
7. Venus im Pelz (R: R. Polanski) 75
8. Blau ist eine warme Farbe (R: A. Kechiche) 70
9. Elysium (R: N. Blomkamp) 70
10. Computer Chess (R: A. Bujalski) 69

Harald Steinwender
1. Spring Breakers (R: H. Korine) 100
2. Der Geschmack von Rost und Knochen (R: J. Audiard) 100
3. The Master (R: P. T. Anderson) 95
4. Prisoners (R: D. Villeneuve) 95
5. Blau ist eine warme Farbe (R: A. Kechiche) 90
6. La Grande Bellezza (R: P. Sorrentino) 90
7. Only God Forgives (R: Nicolas W. Refn) 90
8. Blancanieves (R: P. Berger) 90
9. Liberace (R: S. Soderbergh) 85
10. Django Unchained (R: Q. Tarantino) 85

Andreas Thomas
1. Spring Breakers (R: H. Korine) 90
2. The Act of Killing (R: J. Oppenheimer, C. Cynn) 90
3. Frances Ha (R: N. Baumbach) 87
4. Django Unchained (R: Q. Tarantino) 82
5. Das Mädchen Wadjda (R: H. Al-Mansour) 81
6. Gravity (R: A. Cuarón) 79
7. MansFeld (R: M. Schneider) 79
8. Fack Ju Göthe (R: B. Dagtekin) 78
9. Der Tag wird kommen (R: G. Kervern & B. Delépine) 75
10. Paradies: Liebe (R: U. Seidl) 74

Louis Vazquez
1. Das schlafende Mädchen (R: R. Kirberg) 85
2. Blancanieves (R: P. Berger) 85
3. Die Eiskönigin – Völlig unverfroren (R: C. Buck & J. Lee) 80
4. Les Misérables (R: T. Hooper) 80
5. Wir sind die Millers (R: Rawson M. Thurber) 75
6. No! (R: P. Larraín) 75
7. Die Tribute von Panem – Catching Fire (R: F. Lawrence) 75
8. Gravity (R: A. Cuarón) 75
9. 2 Guns (R: B. Kormákur) 70
10. Der große Gatsby (R: B. Luhrmann) 70

Paul Drogla – Vom Fressen und Gefressenwerden. Filmische Rezeption und Re-Inszenierung des wilden Kannibalen

( , Regie: )

Kolonialistisches Phantasma mit Knochen im Haar
von Nicolai Bühnemann

Für Robinson Crusoe bedeutete der Fußabdruck am Strand der Insel, auf der er sich eigentlich alleine wähnte, zunächst einmal: Gefahr. Wie sich bald herausstellt: eine kannibalische Gefahr. Die Spuren des …

Für Robinson Crusoe bedeutete der Fußabdruck am Strand der Insel, auf der er sich eigentlich alleine wähnte, zunächst einmal: Gefahr. Wie sich bald herausstellt: eine kannibalische Gefahr. Die Spuren des wilden Menschenfressers lassen sich in der westlichen Kultur bis in ihre ersten überlieferten Schriftzeugnisse zurückverfolgen: Von Homer und Herodot in der Antike, über die Berichte der „Entdecker“ und Eroberer aus der „Neuen Welt“ ab Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, bis zur Populärkultur des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts, in der sich die Kannibalen-Figur – in immer weiter ausdifferenzierter Form – großer Beliebtheit erfreut.

Braucht jede Zivilisation eine Vorstellung der Barbarei, um sich in Abgrenzung von dieser ihrer eigenen Identität zu versichern, so ist eines der gängigen Stigmata zur Kennzeichnung (und Abwertung) von Alterität im Abendland die Anthropophagie. An den Rändern der bekannten Welt, sei es im alten Griechenland, sei es im Europa der Renaissance, da lebten, so wurde immer wieder behauptet und nie bewiesen, Stämme oder Völker, die gewohnheitsmäßig Menschenfleisch verzehrten. Eine Vorstellung, die von jeher westlicher Moral und (Ess-)Kultur zu widersprechen schien, ein Tabu. Andererseits aber wohl auch eine Vorstellung, die dem Kolonialismus dazu diente, durch die (behauptete) Unmenschlichkeit der anderen die Eigene zu rechtfertigen. Wer so unzivilisiert ist, dass er das Fleisch anderer Menschen isst, der muss „zivilisiert“ werden – auch wenn es sein Leben kostet.

In den letzten Jahrzehnten ist dieses Phänomen, wohl nicht zuletzt durch das Aufkommen neuer Studienrichtungen wie den race- oder post colonial studies in der geisteswissenschaftlichen Forschung, kontrovers diskutiert worden. Paul Droglas Studie „Vom Fressen und Gefressenwerden“ nimmt Bezug auf diesen Diskurs, indem er zunächst das Thema genau absteckt, dann aber genreübergreifend untersucht. Es geht um den nativen Kannibalismus, in Abgrenzung etwa von Hunger-Kannibalismus oder „kultivierten“ kannibalischen Serien-Killern à la Hannibal Lecter. Die Darstellung soll ausschließlich im Medium Film untersucht werden, hier aber über den Tellerrand des Horror- und Thriller-Genres hinaus. Eine der zentralen Thesen, die dadurch belegt werden soll, lautet, „dass sich ein kolonialistisches Phantasma durch konstante filmische Rezeption zu einem eigenständigen, funktionalisierten und genre-übergreifenden Motiv entwickelt hat“.

Drogla untersucht zunächst kurz die Entwicklung des Motivs in Texten aus dem Europa der Antike und der frühen Neuzeit. Gerade die Eroberung Amerikas stelle auch für die kulturell vermittelte Vorstellung des Kannibalen eine „elementare Zäsur [dar], die bis heute nachwirkt.“ Dass das Wort cannibales auf Kolumbus zurückgeht, übrigens wohl als Produkt sprachlicher und kultureller Missverständnisse, und den bereits in der Antike geprägten Begriff der Anthropophagie im neueren Sprachgebrauch weitestgehend abgelöst hat, ist bezeichnend.

Nach dieser Vorarbeit unterscheidet Drogla sechs Kategorien in der Darstellung des wilden Kannibalen im Film, die er von den Anfängen der Filmgeschichte bis in die Gegenwart verfolgt. Zunächst das „Freitags-Stereotyp“, das sich auf die gleichnamige Figur in Daniel Defoes Roman „Robinson Crusoe“ bezieht, ein wilder Kannibale, der zum treuen Diener der Titelfigur wird. Bearbeitungen dieses letztlich in seiner Unterwürfigkeit, seiner „Zivilisierbarkeit“ durch das koloniale Subjekt positiv aufgefassten Menschenfressers finden sich in den diversen filmischen Adaptionen, aber auch in den Robinsonaden, die die Schiffsbruchthematik aufgreifen.

Dann eine „vielseitige und individuelle Interpretation des wilden Menschenfressers auf fiktionaler Basis mit vereinzelter ethnologischer Realitätsnahe“, überwiegend im Abenteuerfilm. Als drittes das „Cartoon- und Comedy-Klischee oder auch [der] Komödien-Kannibale“, den man vor allem in Abenteuerkomödien oder Zeichentrickfilmen antrifft. Die vierte ist „eine pseudo-dokumentarisch inszenierte Variante, die auf die Attraktion von Nacktheit und Gewalt aus ist.“ Drogla zeigt, dass diese schon in der Stummfilmzeit dazu diente, um durch ein behauptetes dokumentarisches Anliegen Zensurbestimmungen zu umgehen, und „exotische“ nackte Menschen auf die Leinwand bringen zu können. Aufgegriffen wurde diese Variante ab Beginn der Sechziger in den sensationalistischen Mondo-Filmen. Das sich in den frühen Siebzigern in Italien herausbildende und sich in den folgenden Jahren im Bahnhofskino einiger Beliebtheit erfreuende Sub-Genre des Kannibalenfilms, biete, so Drogla, eine „rohe Bestien-ähnliche und vertierte [fünfte] Variante, die frei von nahezu jeder Kultur [ist] und in Kombination mit extremen Gewaltexzessen inszeniert wird.“ Schließlich, vor allem im historischen und historisierenden Film, gebe es „eine historisch fundierte, wenn auch nicht einwandfrei realistische Variante, zumeist basierend auf Reiseberichten und entsprechenden Interpretationen.“
Drogla weist darauf hin, dass die Schnittmengen zwischen diesen Kategorien groß sind und sie überdies von einer „rassistischen Komponente“ geeint werden. Dann widmet er jeder der Kategorien ein eigenes Kapitel, in dem er sie mit einer Vielzahl von Filmen zu untermauern sucht, wobei es ihm eher um die Analyse des Motivs als um die des jeweiligen Films als Ganzes geht.

Dabei zeigt er einerseits, wie die Darstellung des Kannibalen repetitiv und erweiternd fortgeschrieben wird, sucht jedoch auch immer nach Beispielen, die von dem Versuch zeugen, das stereotype Kannibalen-Motiv zu unterwandern oder zu dekonstruieren. Etwa in „Man Friday“ (Regie: Jack Gold, USA 1975), einer Robinson Crusoe-Adaption, die nicht mehr aus der Perspektive Robinsons, sondern aus der Freitags erzählt wird. „Der Kannibale ist hier viel eher der Zivilisierte, wirkt im direkten Vergleich zu Robinson erhaben und weise und wird zu einem Idealbild des Menschen geformt, der uneigennützig und genügsam agiert.“ (Leider habe ich den Film nicht gesehen. Mir scheint aber nach Droglas Ausführungen, dass er Anschluss an das Blaxploitation-Kino der Siebziger sucht, das, ganz kurz gesagt, allerlei Genres mit schwarzen Protagonisten und afroamerikanischer Populärkultur, vor allem Musik und Mode, variierte. Auf diesen Zusammenhang, der sich schon durch die Besetzung Freitags mit „Shaft“-Star Richard Roundtree herstellen lässt, und der durch die Verbindung der filmischen Inszenierung von „Rasse“ mit dem Kannibalen-Motiv interessant wird, geht Drogla leider nicht ein.)

Die beliebte Zeichentrick-Serie „The Simpsons“ greift in der Figur des Sideshow Mel das Stereotyp des Comic-Kannibalen durch äußere Attribute, z.B. den Knochen im Haar auf, um es auf vielfältige Weise zu verkehren und ad absurdum zu führen. Im Kapitel zum Kannibalenfilm widmet sich Drogla einige Seiten lang Ruggero Deodatos „Cannibal Holocaust“, der erfolgreichste und bekannteste Vertreter dieser Gattung und der einzige, der, nach Ansicht des Autors, „einer intensiven Analyse wert ist.“ Deodato verbindet in seinem – auch unter Splatter-Aficionados bis heute heftig umstrittenen – Film die buchstäbliche Ausschlachtung blutrünstiger Schauwerte mit einer sehr gekonnten, auf größtmögliche Authentizität abzielenden Inszenierung und allerlei medien- und zivilisationskritischen Diskursen. Drogla schreibt dazu: „Das Schicksal der Expeditionsteilnehmer [die zuerst unter einem kannibalischen Stamm im Amazonas ein Massaker anrichten, diesem dann selbst zum Opfer fallen] ist dem Zuschauer von Anfang an bewusst“. Der Film ziehe also „ein Gros seines Spannungspotenzials nur noch aus der Neugier des Rezipienten und aus dem unbedingten Willen, das grausame Mahl auch tatsächlich zu sehen. Auf diese Weise wird jedoch dem Betrachter seine eigene Gier nach dem Inneren anderer Menschen vorgeführt. Das Fleisch anderer wird hier durch Schauen verzehrt. Deodato legte offen, dass jeder, der seinen Film bis zum Ende ansieht, einen kannibalischen Akt vollführt. Und natürlich provoziert er durch die extreme Härte des Finales Entsetzen. Er ruft ein Grauen über die Fähigkeit des Menschen, anderen Menschen bereitwillig und existenziell zu schaden, hervor und schafft so einen Film, der lange nachwirkt.“ Im Hinblick darauf, dass die Darstellung der gezeigten Stämme wesentlich differenzierter ausfällt als in anderen Genre-Vertretern schließt Drogla, „dass ‚Cannibal Holocaust‘ der einzige Kannibalenfilm zu sein scheint, der nicht nur das Fleisch, sondern auch den dazugehörigen, zumindest anfangs unversehrten, Menschen in den Fokus rückt.“

In einem Exkurs beschäftigt sich Drogla auch mit George A. Romeros „Night of the Living Dead“ von 1968. Romeros Menschenfleisch fressende Zombies sind zwar keine nativen Kannibalen; der „aufsehenerregende […] Tabubruch“ dieses Film stelle jedoch „eine entscheidende Zäsur dar und macht den expliziten Kannibalismus für den Horrorfilm erst zugänglich“, was ihn auch zur Initialzündung für den wenige Jahre später aufkommenden Kannibalenfilm mache. Darüber hinaus radikalisiere Romero das Genre-Kino auch politisch und stelle es in den Dienst einer grimmigen Gesellschaftskritik. Eine Innovation, ohne die, ein Hinweis von mir, auch ein Film wie „Cannibal Holocaust“ kaum denkbar wäre.

Im letzten Kapitel vor dem Fazit untersucht Drogla die Darstellung von Kannibalen in Filmen nach der Jahrtausendwende. Einmal mehr widerspricht er den Ergebnissen bisheriger Arbeiten zum Thema, die konstatieren, dass sich das Motiv in der Gegenwart weitestgehend überlebt habe. Diese zu kurz greifende Auffassung führt er auf die ausschließliche Fokussierung der Forschung auf den Horrorfilm im Allgemeinen und die blutrünstigen Fressorgien des Kannibalenfilms im Besonderen zurück. Er zeigt auf, dass in Filmen wie Peter Jacksons „King Kong“-Remake von 2005 oder dem zweiten Teil der „Fluch der Karibik“-Reihe von 2007 das Kannibalen-Stereotyp nicht nur mühelos den Sprung ins Mainstream-Kino des 21. Jahrhunderts geschafft habe, sondern dessen rassistische Kodierung dabei auch kaum hinterfragt werde.

Drogla schließt mit der Feststellung, dass „das derart verfestigte Kannibalen-Stereotyp bis heute gebraucht und gewollt wird.“ Da sich das Kino von diesem Motiv nicht verabschieden werde, komme die entscheidende Rolle dem Zuschauer zu. „Wichtig ist am Ende, wie der Betrachter den Kannibalen für sich interpretiert und welche Rollen er ihm zuschreibt oder auch: Welche er durch ihn dekonstruieren kann und will.“

„Vom Fressen und Gefressenwerden“ ist insgesamt ein informatives, stilistisch ansprechendes Buch, das einen guten Überblick über die bisherige Forschung gewährt und deren Perspektive mit interessanten eigenen Ansätzen entscheidend erweitert.

Paul Drogla: Vom Fressen und Gefressenwerden. Filmische Rezeption und Re-Inszenierung des wilden Kannibalen
Tectum Verlag, Marburg 2013, 154 Seiten, 19,95 Euro

„Ein schwimmendes Mosaik“

( , Regie: )

Ulrich Kriest im Gespräch mit Philp Gröning über "Die Frau des Polizisten".
von Ulrich Kriest

Ulrich Kriest im Gespräch mit Philp Gröning über „Die Frau des Polizisten“. Ulrich Kriest: Vorweg möchte ich sagen, dass ich Ihren Film regelrecht genossen habe, weil sein Reichtum einen Sog …

Ulrich Kriest im Gespräch mit Philp Gröning über „Die Frau des Polizisten“.

Ulrich Kriest: Vorweg möchte ich sagen, dass ich Ihren Film regelrecht genossen habe, weil sein Reichtum einen Sog entwickelt, der in den Bann schlägt und dann doch viel offen lässt, wo man mit sich in den Film einsteigen kann. Merkwürdig scheint mir allein schon die Wahl des Filmtitels. „Die Frau des Polizisten“ – nachdem man den Film gesehen hat, klingt das fast wie über Bande gespielt. „Der Polizist“ oder „Das Kind des Polizisten“ wären ja auch denkbar. Wenn man Ihren Film zum Fernsehspiel runterkürzen würde und die Geschichte konventionell erzählen würde, wäre es komplett langweilig. Weil man das Thema „Häusliche Gewalt“ ja schon hundertmal vorgesetzt bekommen hat.
Philip Gröning: Es wäre total langweilig, weil es keine Erfahrung mehr wäre. Mir gefällt es, dass sie sagen, sie hätten den Film genossen, weil er so spannend ist. Er ist so spannend, weil er so lang ist. Eine Erfahrung im Kino braucht Zeit.

Dafür braucht es aber Verbündete. Wenn man auf Festivals deutsche Filme sieht, sieht man das Programm-Schema der Förderer immer gleich mit. Ein Dreistundenfilm passt da nicht recht rein. Für „das Kind des Polizisten“ muss man ins Kino gehen, oder?
Ja, dafür sollte man schon ins Kino gehen. Zwar wird es den Film sicher auch irgendwann anderswo und vielleicht auch zu einer vernünftigen Zeit zu sehen geben, aber das Kino ist dafür schon der ideale Ort. In Italien lief „Die große Stille“ übrigens bei der RAI zur Primetime. Ich sehe mich ja eher als europäischen Regisseur, aber es stimmt schon, in Deutschland werden solche Filme zu ungewöhnlichen Zeiten gesendet. Warum? Das weiß ich nicht. Ich halte es auch für sehr unvernünftig, weil ein Publikum dafür da ist, wie die Quoten mir zeigen. Wobei ich persönlich noch nicht erlebt habe, dass mir eine Redaktion in die Filmlänge hereingeredet hätte. Ich höre eher: Mach deinen Film! Trotzdem hoffe ich, dass mein Film einen Platz im Kino findet, weil das Kino die intensivste Erfahrung eines zeitbasierten Mediums möglich macht.

Nun ist Ihr Film formal ungewöhnlich. Man braucht fast eine halbe Stunde, bevor man ahnt, worum es gehen könnte. Wenn wir das erste Mal Gewalt sehen, entwickelt sie sich völlig inadäquat aus einer konventionellen Situation heraus. Es passt nicht ins Bild. Deshalb noch einmal zur Eingangsfrage: Ist nicht der junge Polizist der Protagonist?
Durch die Kapitelstruktur setzt sich der Film für jeden Zuschauer in der Erinnerung neu zusammen. Man kann den Polizisten für den Protagonisten halten. Gestern Abend hatte ich eine Kinovorführung, da wurde gesagt, dass die Figur des Polizisten wahnsinnig schwach sei, während die Figur der Frau des Polizisten so genau gezeichnet sei. Das finde ich sehr interessant, weil das offenbar durch die Kapitelstruktur bewirkt wurde.

Interessant ist schon, dass die Figuren so unterschiedlich gezeichnet sind. Während der Polizist durchaus ein Außerhalb der Familie kennt, geht sie komplett in der Mutter-Kind-Dyade auf. In der Geburtstagszene versucht er geradezu aktiv zu verdrängen, dass er ein Kind hat und so zu tun, als könne man noch immer spontan Sex haben.
(lacht)

Er bekommt nicht geregelt, dass die Familie mit einem Kind entschieden umstrukturiert wird, oder? Zehn Jahre später hätte er vielleicht souveräner reagiert, aber zu diesem Zeitpunkt reagiert er noch auffällig auf Verunsicherungen. Inadäquat.
Wurde er verdrängt in der Gunst der Mutter? Weiß ich gar nicht. Die Konstruktion ist ja eher, dass er einen schweren Liebesmangel hat. Bei ihm liegt unter allem eine Verlassenheitsangst. Eine Panik, dass man ihn entwerten könnte. Dieses Verhungertsein schlägt in Panik um, die in Gewalt umschlägt. Ich habe versucht zu zeigen, wie man mit Menschen in seiner Umgebung umgeht: entweder du gibst Liebe weiter oder du gibst Zerstörung weiter! Man gibt immer beides weiter, aber dieser Mann hat einfach zu wenig Liebe erfahren. Der kann nur aufnehmen. Deshalb greift meines Erachtens eine psychologische Erklärung, die davon ausgeht, dass er mit dem Kind nicht klarkommt, zu kurz. Es liegt ein grundsätzlicher Mangel vor.

Das klingt jetzt schwer nach Theweleit …
Keine Ahnung, habe ich nie gelesen. Könnte sein.

Der nicht zu Ende geborene Mann …
Kein Mensch ist jemals zu Ende geboren. Da gefällt mit Gabriel Garcia Marquez‘ „Der Herbst des Patriarchen“ schon besser. Da gibt es die Szene mit dem Tod und dem Patriarchen, der sagt: Moment, jetzt habe ich doch gerade erst verstanden, wie man lebt. Und der Tod sagt: Genau! Weil man verstanden hat, wie man lebt, stirbt man. Das ist der Sinn des Ganzen!

Nun ist der Polizist ein Polizist. Im Presseheft lese ich den schönen Satz, dass ein Polizist eigentlich immer zu spät kommt.
Das ist ein Ergebnis der Recherche. Wenn man mit einem Film anfängt, hat man ganz viele Klischees im Kopf. Wie funktionieren gewalttätige Beziehungen? Wie ist der Alltag eines Polizisten? Dann habe ich dankenswerter die Gelegenheit bekommen, Polizisten bei ihrer Arbeit zu begleiten. Da war ich dann doch überrascht, dass die Arbeit des Polizisten nicht so aussieht wie im Krimi, sondern eher eine Arbeit der großen Ohnmacht ist. Als Kind denkt man ja, dass ein Polizist Macht hat und handelt. Aber de facto kommt ein Polizist immer zu spät. Das fand ich überzeugend, auch, weil es so traurig ist.

Wie korrelieren beide Aspekte? Der gewalttätige Mann und der Polizist? Die Recherche des Berufsbildes und die Recherche der Gewalttätigkeit? Der Film könnte ja auch „Der Mann der Verkäuferin“ heißen.
Der Film richtet sich nicht gegen den Beruf des Polizisten. Man ist nicht gewalttätig, weil man Polizist ist. Und man wird auch nicht Polizist, weil man gewalttätig ist. Ich habe den Polizisten eher aus erzählerischen Gründen gewählt. Unter einem Polizisten kann sich jeder etwas vorstellen. Ich brauche keine Erzählzeit zu verschwenden. Das Schild „Polizist“ auf seinem Hemd sagt alles. Der Moment, wenn die Mutter das Kind weckt, ist der archaische Moment der Mutter. Da braucht man auch nicht mehr zu erzählen. Den Rest der Zeit kann der Zuschauer nachforschen, was der Film mit ihm oder ihr zu tun hat. Das finde ich gut, denn detaillierte soziale Verortungen von Figuren werden immer gern genutzt, um Geschichten abzuwehren. Im Sinne von: das geht mich nichts an.

Dazu ergänzend gefragt: Wie wichtig ist das Set Design der kleinen Wohnung des Paares?
Ha! Ja, das ist ein Wunder der Ausstattung! Wir haben dieses Haus gefunden. Was für ein Grundriss! Einerseits beklemmend, andererseits gar nicht mal so klein. Eigentlich okay für so eine kleine Mittelschichtsfamilie. Dann haben wir viel Arbeit in die Ausstattung investiert. Auch wieder viel recherchiert. Wie sehen die Wohnungen von Frauen, die Gewalterfahrungen gemacht haben, aus? Mein Eindruck: es soll alles gut und ordentlich aussehen. Was mir auch auffiel: ein Mangel an privaten Rückzugsräumen. Das haben wir bedacht – und dann das Haus wirklich komplett umgebaut. Die Decken rausgerissen, damit wir von oben Licht machen konnten, damit 360 Grad-Schwenks möglich wurden. Die Wände wurden durchbrochen, um unmögliche Kameraperspektiven möglich zu machen. Dadurch sollte eine Präsenz des Zuschauers in diesen Räumen erlebbar werden.

Ich empfand die Wohnung aber nicht „Mittelschicht“, sondern eher als ein vollgepacktes, leicht abgewohntes Nest. Roland Klick hat mal erzählt, wie schwierig es ist, Räume realistisch als bewohnt zu gestalten. Der Dreck um den Lichtschalter …
Wie gesagt: Da ist sehr viel umgebaut worden. Türen wurden versetzt. Dann haben wir tapeziert und anschließend patiniert. Zweimal sogar. Weil die Wohnung sah zunächst nur dreckig aus, aber nicht benutzt. Roland Klick hat völlig Recht. Die Szenenbildner haben aber großartige Arbeit geleistet. In einer Wohnung ist der Schmutz ja nicht irgendwo, sondern an ganz bestimmten Stellen. Das hat auch schon etwas mit den Figuren zu tun. Wir haben auf diese Arbeit viel Zeit verwendet und auch den Drehbeginn noch mal verschoben. Wenn das Set nicht fertig ist, gefährdest du deinen Film.

Ermöglicht solch handwerkliche Professionalität einem Film, dafür an Dialog zu sparen? In deutschen Filmen wird ja gerne alles in Dialog aufgelöst. Das sind ja zumeist Filme für Blinde.
(lacht) Das ist eine Erfahrung, die ich von der „großen Stille“ mitgebracht habe. Wenn ich ausführlich Schweigen zeigen will, muss die Materialität der Welt so sein, dass ich als Zuschauer wirklich zuschauen will. Die Drehbuchmanie in Deutschland ist wirklich ein Riesenproblem. In unserem Film gibt es viele offene, leichte Szenen, die nach der Maßgabe einer normalen Drehbuchdramaturgie rausgeschmissen werden würden. Weil es zu dünn scheint, dass eine Mutter ein Kind weckt. Da würde dann noch ein Aspekt dazu gepackt werden, bis der Zuschauer zugetextet ist. Damit wird die herrschende Bedeutungsangst überwunden. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass der Zuschauer glücklich ist, wenn er einfach mal wahrnehmen darf. Einfach mal gucken, ohne permanent Indizien zu notieren oder die Schuldfrage zu stellen.

Das wird durch die Einteilung in Kapitel unterstrichen. Es gibt gerade keine lineare Eskalationsdramaturgie, sondern ein stetes Atemholen und Neuansetzen. Der letzte Satz der Frau des Polizisten lautet: „Du bist doch gut!“ Dafür gönnt sich der Film insgesamt 17 Minuten Schwarzfilm.
Genau. „Du bist doch auch gut!“ ist ihr letzter Satz. Das hängt mit der Mechanik solcher Beziehungen zusammen. Da sind große Abhängigkeiten im Spiel. Die Scham isoliert. Die beiden sind für einander die ganze Welt. Alles findet innerhalb dieser kleinen Beziehungskugel statt, deshalb können die sich nicht voneinander lösen. Die Hoffnung, dass alles „gut“ wird, begleitet eine gewalttätige Beziehung jeden Tag. Durch die strikte Kapiteleinteilung entsteht ja auch eine virulente Ungewissheit. Man weiß nicht, was als Nächstes kommt. Damit vermittelt sich die Bedrohung, die in periodischer Gewalttätigkeit drin ist.

Es gibt ja Szenen, die völlig rausfallen. Die wirklich überraschen. Wenn er zum Beispiel aus dem Polizeiwagen heraus in die Kamera singt. Er ist ja auch ein netter Kerl.
Er ist auch ein netter Kerl. Ein netter Kerl, der sich bemüht. Der unter Druck steht. Er will alles perfekt machen: ein guter Ehemann, ein guter Vater, ein guter Polizist. Er will perfekt sein, weil er nicht glaubt, dass man ihn allein dafür lieben könnte, dass er existiert. Und das Singen der Lieder, die Mühe, Konzentration und Aufregung erlaubt dem Zuschauer, sich in Gedanken zurück in die eigene Kindheit zu bewegen, als man solche Lieder gemeinsam einübte. Es sind schon Stilisierungen, die von der Verletzlichkeit des Menschen erzählen.

Mich hat besonders das Spiel des Kindes bzw. der Kinder begeistert. Diese Unschuld in Gegenwart der Gewalt skandalisiert den Film und schwächt den Skandal gleichzeitig ab, weil man weiß, dieses Kind bleibt.
Das ist eine Frage der Interpretation. Vielleicht ist das Kind am Schluss auch tot. Vielleicht sind alle drei am Schluss tot. Das habe ich auch schon von Zuschauern gehört. Vielleicht ist der Film auch nur ein Traum? Oder die Erinnerung des Kindes. Das ist das Interessante an der Struktur des Films: Jeder setzt ihn sich so zusammen, wie er es braucht.

Dann habe ich es gebraucht, dass das Kind überlebt.
Super! Dieser Film ist wie ein schwimmendes Mosaik, das sich jeder selbst zusammensetzen kann. Ganz verschieden, offenbar. Der Film wirft viele Fragen auf. Er fragt zum Beispiel, wie man sich als Mensch dazu verhält, dass man lebt und dass andere Menschen auch leben.

Im Presseheft sprechen Sie explizit von der „Tugend der Liebe“. Was ist damit gemeint?
Ich beziehe mich da auf Platon, der irgendwo mal geschrieben hat, Tugend bedeute, das Wertvollste der eigenen Seele schützen. Das bedeutet einerseits, dass jeder Mensch etwas Eigenes hat. Es bedeutet aber auch, dass falsche Tugenden wirklich etwas Vergiftendes haben. Die Mühe, die sich der Polizist gibt, hat etwas Vergiftendes, obwohl er selbst diese Bemühtheit wohl als Tugend bezeichnen würde. Ich nicht.

Sie haben sich eingangs als internationalen Filmemacher bezeichnet. Wenn Sie die Filmlandschaft anschauen: Sehen Sie dort Verbündete? Weil es ja irgendwo auch altmodisch ist.
Filme zu machen?

Solche Filme zu machen.
Da bin ich mir nicht sicher. Ist es altmodisch, ist es experimentell? Mit diesem Film in Venedig in den Wettbewerb eingeladen zu werden, könnte ein Indiz dafür sein, dass manchen dieser Film nicht altmodisch erscheint. Das ist weit nach vorne gedacht. Da ist auch nicht experimentell, also am Rande des Geschehens, sondern steht im Zentrum des Geschehens. Solche Filme bringen das Kino voran. Die deutsche Filmszene ist durch ein Missverständnis zu brav geworden. Viele Leute glauben, dass ihnen die Geldgeber oder Fernsehredaktionen nicht erlauben würden, etwas zu machen. Und deshalb versuchen sie es erst gar nicht, etwas auszuprobieren. In Wirklichkeit würde und wird man auch für mutige Dinge Geld bekommen. Mein Film ist ja auch finanziert worden. Wen ich sehr ernst nehmen kann, ist Pia Marais. Auch, wenn ich ihren letzten Film nicht vollkommen finde, ist sie eine tolle Regisseurin.

Okay, das ist jetzt aber ein überschaubarer Kreis! (lacht)

Christoph Hochhäusler und Benjamin Heisenberg würde ich auch noch dazu zählen.

Noch mal zurück zum Begriff „altmodisch“! Eine A-Festival-Perspektive, sofern wir nicht von der „Berlinale“ sprechen, ist ja schon eine ganz besondere Perspektive, weil der Wettbewerb ein Statement des Kurators ist. Ich dachte eher an die normale Öffentlichkeit, den Kinostart, die Fernsehausstrahlung, den Kulturbetrieb. Ist da die Verbindlichkeit Ihres Films nicht ziemlich »out of fashion«?
Ich denke, dass der neue Film – so wie auch „Die große Stille“ – eine lange Lebensdauer haben wird. Ich denke nicht, dass das ein altmodischer Film ist. Ich glaube, dass das Publikum konsequent unterfordert wird und sich freut, mal etwas Anderes im Wortsinne zu sehen. So, wie Sie ja sagten, dass Sie den Film sehr genossen hätten. Ich spüre das Bedürfnis, andere Erfahrungen machen zu wollen. Dieses Hingeschmissene, wo die Bilder nicht auf der Höhe sind … Sagen wir mal so: letztlich ist es genauso viel Arbeit, einen guten Film zu machen wie es ist, einen schlechten Film zu machen.

Vielen Dank für das Gespräch!

„Warum erzählen wir uns nicht gegenseitig unsere Geschichten?“

( , Regie: )

Ein Gespräch mit dem Regisseur Christian Schwochow über seinen neuen Film „Westen“.
von Ulrich Kriest

Ein Gespräch mit dem Regisseur Christian Schwochow über seinen neuen Film „Westen“. Ulrich Kriest: Ich habe „Westen“ auf dem Festival in Saarbrücken gesehen und jetzt noch einmal. Beim zweiten Sehen …

Ein Gespräch mit dem Regisseur Christian Schwochow über seinen neuen Film „Westen“.

Ulrich Kriest: Ich habe „Westen“ auf dem Festival in Saarbrücken gesehen und jetzt noch einmal. Beim zweiten Sehen wird er noch interessanter, weil subtiler und vielschichtiger. Mir kam ein alter Film von Christian Ziewer in den Sinn. Dessen „Aus der Ferne sehe ich dieses Land“ spielt unter linken Exil-Chilenen, die sich in West-Berlin neu orientieren müssen. Der wurde 1978 gedreht. In diesem Jahr spielt jetzt auch „Westen“. Es herrscht in beiden Filmen eine vergleichbar farblose Atmosphäre von Kälte, Enge, Muffigkeit und Bürokratie.
Christian Schwochow: Diesen Film kenne ich leider nicht. Mir ging es darum, die Enge der Ankunft physisch spürbar zu machen. In diesen Notaufnahmelagern lebte man ja mit fremden Menschen auf engstem Raum. Das Lager war wie ein Organismus, der nie schlief. Man war immer in Begleitung von Menschen, auch, wenn man sie nicht gesehen hat. So farblos, wie es Ihnen erschienen ist, ist der Film übrigens nicht. Es ist sogar mein bislang farbigster Film geworden.

Warum erzählt man so eine Geschichte denn 2014 noch? Nicht aus Nostalgie, nehme ich an?
Aus verschiedenen Gründen. Ich habe den Roman von Julia Franck vor zehn Jahren gelesen, als er gerade publiziert wurde. Damals mehrten sich Bücher von Autoren mit einem ost-deutschen Hintergrund, die einen anderen Blick auf jene Zeit warfen. Julia Francks Roman entwickelte einen Sog, weil er eine besondere Welt entwarf, die mir fremd war. Die Ausreise meiner Familie aus der DDR verlief ja komplett anders. Ich kannte solche Lager nicht, aber ich kannte diese Emotion: sich in ein neues Leben sehnen und nicht zu wissen, was einen erwartet. Und dann anzukommen und lernen zu müssen, dass ein Neuanfang wesentlich schwieriger ist als erwartet. Ich weiß, dass das damals das Schicksal von vielen Menschen war – und bis heute ist. Denn das ist eine universelle Geschichte, dafür braucht es die DDR gar nicht. Anders als meine vorherigen Filme wurde „Westen“ mittlerweile in ganz viele Länder verkauft. Das freut mich natürlich.

Ein gutes Stichwort. Als im Herbst 1989 die Mauer fiel, so wird uns gerne erzählt, freuten sich die Menschen wie Bolle über das Ende der deutschen Teilung. Man feierte auf den Straßen Berlins, dass die Brüder und Schwestern aus dem Osten endlich zum Bananenkaufen mit ihren Trabbis über den Kudamm fahren durften. Ihr Film spielt 1978, das Begrüßungsgeld kommt auch vor, aber ansonsten hält sich in Ihrem Film die Gastfreundschaft des Westens sehr in Grenzen.
Die Nacht des Mauerfalls 1989 war sicherlich einzigartig und auch ehrlich. Dennoch bin ich der Meinung, dass sich beide Seiten anders miteinander hätten beschäftigen müssen. Man hat erwartet, dass sich Ostler schnell anpassen. Das ist bis heute so. Wenn ein „Spiegel“-Titel „60 Jahre Deutschland“ erscheint, dann repräsentiert die Titelblatt-Collage fast ausschließlich Ereignisse der westdeutschen Geschichte. Die DDR wird als das kleinere, das weniger wichtige Deutschland gesehen. Das wird im Osten wahrgenommen – und führt mitunter zu einer nicht angemessenen Selbstwahrnehmung als Opfer. Insgesamt scheint mir zu wenig Neugier im Spiel zu sein. Warum erzählen wir uns nicht gegenseitig unsere Geschichten?

So wie es „Westen“ tut?
Ja. Als meine Familie damals, im Herbst 1989 in den Westen kam, wurden wir freundlich empfangen, aber man war auch mit uns überfordert. Ich war voller Eindrücke der Ereignisse, aber meine Mitschüler wussten nicht damit umzugehen, dass da plötzlich ein politisiertes Kind in der Klasse saß. Die anfängliche Neugier schlug schnell in Anpassungsdruck um.

Es gibt in Ihrem Film eine schöne Szene, wenn sich das Kind Alexej erstmals einer Kindergruppe vorstellen soll und beim Lehrer auf Unverständnis stößt, obwohl man dieselbe Sprache spricht. Weil der Lehrer nicht weiß, wie ein Pionierhalstuch ausschaut.
Diese Szene kommt eins zu eins aus meinem Leben.

In einer Parallelhandlung greift die staatliche Macht im Osten wie im Westen auf den nackten Körper der Protagonistin zu. Im Westen mit der Pointe, dass sie von der untersuchenden Ärztin auf ihre „Lagertauglichkeit“ hin geprüft wird. Ist das nicht etwas zu dick aufgetragen?
Das ist in der Realität noch viel extremer gewesen. Die Ausgebürgerten wurden misstrauisch behandelt, weil man befürchtete, sie könnten Krankheiten übertragen. Das hatte schon etwas sehr Beängstigendes.

Sie schildern die Atmosphäre in diesem Notaufnahmelager derart beklemmend, dass mir nicht ganz klar wurde, warum Sie das Ganze noch mit dieser Geheimdienst-Geschichte aufgeladen haben.
Die Geheimdienstgeschichte ist bereits im Roman drin. Seit Snowden wissen wir, dass Geheimdienste eine ganz andere Bedeutung hatten und haben, als wir immer geglaubt haben. Es geht immer auch um Manipulation durch Information.
Nelly ist keine Opferfigur. Sie hat mit aller Kraft versucht, sich in der DDR nicht brechen zu lassen. Und sie kämpft auch im Westen weiter. Trotzdem sind ihr in der Vergangenheit Verletzungen zugefügt worden, die jetzt wieder aufbrechen, sich durch den Gang der Ereignisse verstärken und phasenweise zu dieser Paranoia führen. Ihr Misstrauen wächst.

Sie trifft im Osten wie im Westen auf eine analoge männliche Macht-Arroganz.
Ich habe das metaphorischer gesehen. Sie droht zwischen den Großmächten zerrieben zu werden. Von Zuschauern, die sich selbst als links verstehen, ist auch schon kritisiert worden, dass ich den Wechsel von der DDR in die BRD so zeige, als handle es sich um einen Wechsel von Bayern nach Baden-Württemberg.

Vielleicht ist Deutschland insgesamt kein schöner Ort zum Leben?
Das haben jetzt Sie gesagt.

Wenn im Notaufnahmelager gefragt wird, ob man öfter an eine Rückkehr in die DDR denke, ist das doch ein Hinweis darauf, wie toll die BRD ist, oder?
Das lasse ich mal so stehen.

Es geht in allen Ihren Filmen immer wieder um die Frage der Identitätsfindung, manchmal verbunden mit der Frage nach Heimat wie in „Novemberkind“ oder jetzt „Westen“, manchmal etwas allgemeiner wie in „Die Unsichtbare“.
Diese Fragen haben mich immer beschäftigt und sie werden mich auch weiterhin beschäftigen.

„Westen“ taugt nicht zur sentimentalen Geschichtsverklärung, wie sie in den letzten Jahren Mode geworden ist. Er spuckt der hegemonialen BRD-DDR-Erzählung geradezu in die Suppe. Ist das ihre Absicht?
Ja. Es gibt nichts Langweiligeres als Filme, die gut eingespielte gesellschaftliche Übereinkünfte bestätigen. Die deutsch-deutsche Teilung hat komplexe Konfliktlagen erzeugt, die durch die Art und Weise, wie die Wiedervereinigung abgelaufen ist, nicht gelöst wurden, sondern vielleicht erst virulent wurden. Darüber kann man ja mal nachdenken.

Ihr Film spielt 1975 und 1978. Zwar sind die Räume gerne eng gehalten, aber manchmal wird doch der Blick geöffnet und man sieht einen Straßenzug oder fährt durch ein nächtliches West-Berlin. Da spielt das Set-Design vom Oldtimer über die Mode und Frisuren bis zum Achselhaar der Protagonistin eine Rolle. Welchen Ehrgeiz haben Sie diesbezüglich entwickelt?
Auf der großen Kino-Leinwand kann man sich nicht verstecken! Das ist beim Fernsehspiel etwas einfacher. Wenn man sich entscheidet, etwas Historisches zu machen, dann muss man auch genau sein. Da wächst dann mein Ehrgeiz. Wobei ich nicht versucht habe, mich im Detail auf ein ganz bestimmtes Jahr festzulegen, weil das dem Erzählfluss schaden kann. Also einerseits keine Fehler im Detail, andererseits eine gewisse Zeitlosigkeit im Ganzen durch eine Beiläufigkeit. Ich mag es nicht, wenn das Historische als Historisches so angeberhaft ausgestellt wird.

Michael Flintrop / Marcus Stiglegger (Hg.): Dario Argento. Anatomie der Angst

( , Regie: )

The killing camera
von Sven Jachmann

Wollte man in den 80er Jahren hierzulande etwas über Dario Argento erfahren, dessen Filme immerhin seit 1970 in den Kinos liefen, half selbst vermeintliche Expertise nicht weiter: Das Autorenduo Ronald …

Wollte man in den 80er Jahren hierzulande etwas über Dario Argento erfahren, dessen Filme immerhin seit 1970 in den Kinos liefen, half selbst vermeintliche Expertise nicht weiter: Das Autorenduo Ronald M. Hahn und Volker Jansen bspw. zog zornesrot in seinem „Lexikon des Horrorfilms“ – 1985 erstmals erschienen und seither in Genrefankreisen kultisch verlacht ob seiner kompilierten Idiotie – gegen jeden Film vom Leder, der die Folgen physischer Gewalt ins Bild übersetzt. Argento galt den beiden als Prototyp des geldgeilen Drastikpornografen. Auf seinen bizarren, in Deutschland mit zweijähriger Verspätung 1984 uraufgeführten Giallo-Nachklapp „Tenebrae“ wird nicht geblickt, sondern gekotzt:

„Ein amerikanischer Schriftsteller besucht Rom (…) und zieht die Leichen an wie ein Kuhfladen die Fliegen. (…) Da spritzt das Blut, da fliegen die Fleischfetzen. (…) Warum investieren diese italienischen Schlächterfilm-Produzenten nicht mal fünf Mark in irgendeinen Vielleser, der ihnen aus den Abertausenden von Horrorbüchern, die seit Johannes Gutenberg selig auf den Markt gekommen sind, eine zünftige Geschichte heraussucht? (…) Ja, merkt denn kein Mensch, dass dieses Wichtelhirn den Leuten mit seinen Filmen immer und immer wieder die gleichen Geschichten vorsetzt?“

Den Rest an filmkritischer Arbeit erledigte fast im Alleingang der Katholische Filmdienst, dessen Bannspruch „Wir raten ab“ für Argentos Filme so sicher war wie die pünktliche Aboauslieferung der sich über die Filme ausschweigenden Tageszeitung. Und wieso sollte sie auch berichten? Die Auswertungen beschränkten sich seit 1984 allein auf den Videomarkt (was nur noch ein einziges Mal 1999 mit dem kläglichen Kinostart von „Das Phantom der Oper“ unterbrochen werden sollte), die Filme wurden reihenweise gekürzt und indiziert. Im Fall von „Tenebrae“ erfolgte 1987 sogar die bundesweit Beschlagnahmung. Der italienische Regiestar, dessen Popularität und Anerkennung in seinem Heimatland zeitweise mit Hitchcock konkurrieren konnte, war in der Bundesrepublik ein Marktschreier und Schmuddelkind, dem bloß ein loyales Fandom die Treue hielt. Da bot auch die Hanser Filmbuchreihe keinen Trost.

Erst seit wenigen Jahren kommt Bewegung ins Spiel, folgen edle DVD-Editionen, Festivalretrospektiven und feuilletonistische Rehabilitationen. Unter der Herausgeberschaft von Marcus Stiglegger und Michael Flintrop erschien nun überdies ein 300seitiger Argento-Reader, den man, schon der editorischen Pionierarbeit wegen, für das Filmbuch des Jahres nominieren müsste, so denn ein solcher Preis nicht bloß als individualisierte Stimme Hans Helmut Prinzlers existierte. Das Material ist gewaltig, die Ansätze sind vielfältig und reichen weit über das geschätzte Tryptichon aus komplizierten Kamerafahrten, starken Farbkontrasten und pittoresken Mordinszenierungen hinaus: Marcus Stiglegger führt schwärmerisch in Argentos Ouevre ein, Johanna Barck und Jörg von Brincken arbeiten seine Affinität zur Bildenden Kunst (die derart prägnant den Filmraum besetzt, dass Barck sie als „Rolle“ skizziert) und Bühne (Grand Guignol) heraus, Ingo Knott und Heiko Nemitz die mitunter eher kolportierten als tatsächlichen Parallelen zu Mario Bava und Brian De Palma, Dominik Graf würdigt die Scores von Ennio Morricone und Goblin (deren Keyboarder Claudio Simonetti außerdem in einem Interview zu Wort kommt) und betrauert abermals das Ende des Euro-Sleaze, Harald Steinwender untersucht filmstilistische und narrative Spezifika in Argentos Westerndrehbüchern, Sebastian Selig schlendert über die einstigen „Suspiria“-Schauplätze in München und Freiburg, Michael Flintrop rekapituliert die haarsträubende hiesige Zensurgeschichte von Argentos Filmen, Ivo Ritzer fokussiert den von der Kritik oftmals erhobenen Vorwurf der Misogynie gendertheoretisch und liest Argentos Gialli als immerwährenden Kampf zwischen Mann und Frau „um die Kontrolle des Phallus“, der sich auch in eine weder männlich noch weiblich konnotierte Blickdramaturgie überträgt, die ihrerseits von einer autonomen Omnipotenz außerhalb klar definierter Erzählerinstanzen zeuge. Daran indirekt anknüpfend analysiert Johannes Binotto besonders eindrücklich die ungewöhnliche autonome Inszenierung des Raums, die so weit geht, dass die Welt außerhalb des Bildkaders selbst in einer trügerisch deutlichen Einstellung für die Figuren so überraschend wie für uns zur Gefahr für Leib und Leben werden kann. In „Suspiria“ etwa muss die vor ihrem Mörder fliehende Figur nur noch ein kleines Zimmer von rechts nach links durchqueren, um an ein Fenster zu gelangen. Aber bereits mit dem ersten Schritt stürzt sie in ein gewaltiges Drahtgeflecht unterhalb des Bildrandes, das sie, im Gegensatz zu uns, eigentlich hätte sehen müssen. Binotto: „Was außerhalb des Bildes liegt, ist nicht das banale Horschamp im Sinne dessen, was nebenan oder im Umfeld existiert, sondern vielmehr ein grausiges, unmögliches Außerhalb, das sich von einem Moment zum anderen verwandeln kann. Was die Figur (und uns Zuschauer) zerrüttet, ist nicht der Verfolger, sondern vielmehr der filmische Raum selbst, von dem man nie wissen kann, wie er sich außerhalb des Bildausschnitts fortsetzt. Dieser Raum, der sich mit jeder Kamerabewegung neu gestaltet, ist gerade darum tödlich. Die Kamera selbst, als Raum schaffende Maschine, ist der Killer.“ Solch gescheite Beobachtungen wünscht man sämtlichen schenkelklopfenden Logiklochjägern unters Kopfkissen!

Die zweite Sektion besteht aus chronologisch aufbereiteten Kritiken zu jedem einzelnen Film, komplettiert von einer fast 30seitigen Filmo- und Bibliografie. Spätestens hier kann man lernen, dass ein Zuviel an Liebe manchmal auch nüchterne Augen trügen mag. Der Drang, Argento endlich als grenzenlos visionären auteur zu umarmen, wirkt angesichts seines verirrten Spätwerks einesteils etwas blindwütig, aber auf Jahrzehnte der Ignoranz und des Spotts muss vielleicht auch erst einmal mit Leidenschaft reagiert werden.

Michael Flintrop / Marcus Stiglegger (Hg.): Dario Argento. Anatomie der Angst
Bertz+Fischer, Berlin 2013, 304 Seiten, 25 Euro

Daniela Sannwald: Lost in the Sixties. Über Mad Men

( , Regie: )

It’s a Mad, Mad, Mad (Men’s) World
von Harald Steinwender

Fernsehserien sind en vogue. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht in einer der großen Tageszeitungen ein Vergleich zu einer der (gar nicht mal so neuen) „Qualitätsserien“ gezogen wird …

Fernsehserien sind en vogue. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht in einer der großen Tageszeitungen ein Vergleich zu einer der (gar nicht mal so neuen) „Qualitätsserien“ gezogen wird – sei es im Wirtschaftsteil, in der Kommentarspalte oder im Feuilleton. Anfang Mai durfte sich sogar ein schlecht gelaunter Redakteur auf der Titelseite der Süddeutschen unter der lyrischen Überschrift „Suff, Sex, Mord“ an der zu diesem Zeitpunkt erst in den USA ausgestrahlten 4. Staffel der HBO-Serie „Game of Thrones“ abarbeiten (SZ vom 5. Mai 2014). Zwar stellte der Autor mit einigen arg aus dem Zusammenhang gerissenen Szenenbeschreibungen und den üblichen kulturpessimistischen Ausschmückungen (zu viel Gewalt, zu viel Sex, zu wenig Moral) vor allem seine begrenzte Kenntnis der aktuellen Serienlandschaft unter Beweis, die doch wesentlich härteren Stoff bereithält. Aber immerhin: Ein Sturm im Wasserglas über die aktuelle Staffel einer Serie, die bei uns noch nicht einmal gezeigt wurde, gilt einer der vier größten deutschen Tagesszeitungen mittlerweile als relevant genug, um auf die Titelseite gehoben zu werden. Das zumindest ist auch eine Botschaft über die gesteigerte Aufmerksamkeit, die Fernsehserien inzwischen zuteil wird.

Dabei sind es nicht nur die sogenannten Bildungsbürger, die sich an den „horizontal“ erzählten, oft „romanhaft“ genannten Serien erfreuen. Die neuen Serien, die sich durch episch ausgebreitete, verschlungene Handlungsbögen und eine Vielzahl von ambivalent gezeichneten Haupt- und Nebenfiguren auszeichnen und sich zunehmend die Schauwerte des Kinos nutzbar machen, sind längst Mainstream. Sie erreichen nicht nur ARTE-Seher, sondern auch die RTL 2-Zuschauerschaft. In den Kaufhäusern stapeln sich die DVD- und Blu-ray-Boxen. Sender wie HBO, AMC und Showtime, die als Produzenten fungieren, sind plötzlich so bekannt wie große Filmstudios. Und warum auch nicht: Die Sender lassen sich den Spaß, der auch eine das Image fördernde Werbemaßnahme ist, tatsächlich einiges kosten. Die erste Staffel von „Game of Thrones“ (2011ff.) war HBO geschätzte 50 bis 60 Millionen US-Dollar wert, „Rom“ (2005-2007; HBO, BBC & RAI) sogar 100 Millionen. Serien wie „Boardwalk Empire“ (2010ff.; HBO) spielen in einer ähnlichen Liga; der Pilot von „Lost“ (2004-2010; ABC) galt schon vor zehn Jahren als teuerster „Fernsehfilm“ aller Zeiten.

Längst versuchen auch in Europa Fernsehsender, die neue Lust am Erzählen und die damit einhergehenden Freiheiten zu nutzen – in Frankreich etwa die Polizeiserie „Braquo“ (2009ff.; Canal+), in Italien die Gangsterserie „Romanzo criminale“ (2008-2010; SKY), im hohen Norden eine ganze Reihe von Nordic Noirs wie „Forbrydelsen“ („Kommissarin Lund – Das Verbrechen“; 2007-2012), „Borgen“ (2010ff.) und „Broen“ / „Bron“ („Die Brücke – Transit in den Tod“; 2011ff.). Nur das deutsche Fernsehen ist in Bezug auf fiktionales serielles Erzählen (noch?) eine Art Todeszone, sieht man einmal von der Koproduktionsbeteiligung des ZDF an einigen skandinavischen Serien ab. Zwar gibt es spezifische, über Jahrzehnte gewachsene autochthone Formate wie „Tatort“ und „Polizeiruf“, die jede Woche ein Publikum von 8 bis 10 Millionen Zuschauern erreichen. Doch das sind strenggenommen keine Serien, sondern Reihen mit jeweils abgeschlossenen Einzelfolgen. Als zuletzt das ZDF ankündigte, eine Art „deutsches ‚Breaking Bad‘“ im Taunus inszenieren zu wollen, sorgte der Sender mit der geplanten Besetzung von Bastian Pastewka in der Hauptrolle eher für Spott. Ansonsten arbeitet noch Tom Tykwer für die Degeto an einer historischen Serie mit dem Arbeitstitel „Berlin Babylon“. Realisiert aber ist noch keines der beiden Projekte.

Auf dem deutschen Büchermarkt dagegen haben sich die Qualitätsserien schon ihre Nischen erkämpft. Da wäre zum einen die wachsende Anzahl von wissenschaftlichen Readern und Monografien, wobei letztere meist auf überarbeiteten Promotionsschriften beruhen. Zum anderen erscheinen in Buchform immer mehr populärwissenschaftlich ausgerichtete Essays zum Thema. Insbesondere der Züricher Verlag Diaphanes hat sich hier mit der kleinformatigen, aber verdienstvollen Reihe „Booklet“ hervorgetan, die einige lesenswerte Essays zum Kanon der neuen Serien versammelt (besonders lohnend: Daniel Eschkötters Band zu „The Wire“ und Ekkehard Knörers Bändchen zu „Battlestar Galactica“). Mit „Lost in the Sixties“ legt Daniela Sannwald nun im Berliner Bertz+Fischer-Verlag, in dem bereits Essays zu „The Wire“ (Jens Schröter: „Verdrahtet“; 2012) und zur Drastik aktueller US-Serien erschienen sind (Ivo Ritzer: „Fernsehen wider die Tabus“; 2011), ein Buch zu „Mad Men“ vor, das die neue Reihe „Prime Time“ begründet.

Die Wahl von „Mad Men“ für den Auftakt einer Reihe zum seriellen Erzählen leuchtet ein. Denn auf Deutsch liegt schlicht noch keine brauchbare Literatur zu der vielgelobten Serie vor, obwohl diese unter den neuen Serien der letzten fünfzehn Jahre tatsächlich eine Sonderstellung einnimmt. Das von Matthew Weiner konzipierte Format, seit 2007 auf dem US-amerikanischen Pay-TV-Sender AMC zu sehen, setzt weniger auf die harten Lockmittel der neuen Serien – Sex, Gewalt und exzessiver Gebrauch von Schimpfwörtern –, sondern ist vor allem ein rauschhaft durchkomponiertes Period Piece, das ganz darin aufgeht, die Designs und Ideologien, die Kunstströmungen und (Körper-)Politiken der Jahre von 1960 bis 1969 in siebeneinhalb Staffeln in atemberaubendem Retro-Chic aufleben zu lassen. Außergewöhnlich ist dabei die Entscheidung der Serienmacher, innerhalb der bis ins kleinste Detail durchkomponierten Arrangements von Zeitbildern sogar die Körper der Schauspieler den damaligen Schönheitsidealen entsprechend in das Konzept einzubeziehen, etwa durch die Besetzung der nach heutigen Idealen „zu üppigen“ Schauspielerin Christina Hendricks als resolute Sekretärin Joan. Oder die Verpflichtung Jon Hamms für den Protagonisten Don Draper, der im Zentrum der multiperspektivisch erzählten Saga über die kleinen und großen Intrigen und Machenschaften der Werbetexter der New Yorker Madison Avenue steht. Sehr treffendend beobachtet Daniela Sannwald auf S. 105 ihrer Studie „Lost in the Sixties“: „Don Draper jedenfalls ist in jeder Zoll der erfolgreiche Geschäftsmann der 1960er: ordentlich in Einreiher, weiße Hemden, schmale Schlipse und glänzende Schnürschuhe gekleidet, mit exakt gescheiteltem, brillantine-glänzendem, klassischem Fassonschnitt und männlich-markanten Gesichtszügen unterm Trilby. Und selbst die Physis des Darstellers Jon Hamm – eher breit und kräftig als athletisch durchtrainiert – passt zum männlichen Erscheinungsbild jener Dekade, in der Mittelschichtmänner schon in jungen Jahren gesetzt wirken mussten, um von ihresgleichen ernst genommen zu werden und damit teilzuhaben an der uneingeschränkten Macht ihrer Klasse.“ Es sind solche bewusst getroffenen produktionstechnischen Entscheidungen der Serienmacher hinsichtlich Besetzung und Ausstattung, die „Mad Men“ so erfolgreich als Mimikry an eine Ära mit ihrer Ästhetik und ihren dominanten Themen funktionieren lassen – eine Sorgfalt zudem, die früher ausschließlich dem Kino vorbehalten war, das finanziell in der Lage war, diesen Aufwand zu betreiben.

Daniela Sannwald strukturiert ihren 140-seitigen Streifzug durch den „Mad Men“-Kosmos anhand von acht Figuren, denen sie jeweils ein Kapitel widmet und die in besonderem Maß für kulturelle Strömungen und Konzepte wie Klasse, „Rasse“, Geschlecht innerhalb der Serie stehen. Da wären etwa die „Karrierefrau“ Peggy Olsen (Elisabeth Moss), der Vertreter der „Männlichkeit in der Krise“ Don Draper oder der Repräsentant der Kriegsgeneration Roger Sterling (John Slattery). Das abschließende Kapitel ist der Figur der jungen afroamerikanischen Sekretärin Dawn Chambers (Teyonah Parris) gewidmet, die von der Autorin als Symbol für den Einzug ethnischer Minderheiten in die Mitte der Gesellschaft gelesen wird – und als Beleg für den unbestreitbaren Rassismus der WASP-Gesellschaft von „Mad Men“, die in den bislang veröffentlichten 86 Folgen klar den Ton angibt. Diese Struktur ist durchaus konsequent, da „Mad Man“ als typischer Vertreter der gegenwärtigen drama series vor allem character-driven ist, also sich vor allem durch die Orchestrierung ihrer Figuren und deren Entwicklung über den Lauf vieler Jahre auszeichnet: Aufstieg und Fall; Rückschläge und Niederlagen; überraschende Comebacks und unerwartete Schicksalsschläge; periodischer Größenwahn und das Abgleiten in ganz realen Wahnsinn, Alkoholismus und Sexsucht; das Scheitern von Ehen und Freundschaften; Einkehr und Retrospektion – das alles ist für die einzelnen Figuren möglich. Und jeder Aspekt davon hat das Potential, etwas über die sechziger Jahre zu erzählen.

„Lost in the Sixties“ ist genau beobachtet, gut geschrieben und überzeugend argumentiert. Auch die 30 Bilder sind intelligent ausgewählt und belegen anschaulich, dass die Serienmacher sich an realen Werbekampagnen der Zeit orientiert haben, die selbst Geist und Ungeist der Ära bündelten. Besonders aufschlussreich ist hier z.B. die auf Seite 13 reproduzierte Werbeanzeige der Daisy Manufacturing Company, die 1966 in der Zeitschrift „Boys‘ Life“ erschien, und in der der Hersteller seine Gewehre als ideales Kindergeschenk (!) zu Weihnachten anpreist – die Werbezeile „Daisy will make it a Christmas to remember“ klingt heute eher wie eine Drohung. Weniger überzeugen die immer wieder von der Autorin gezogenen Parallelen zur bundesdeutschen Gesellschaft dieser Jahre – speziell angesichts eines Gegenstandes, der klar im Herzen der US-amerikanischen Populärkultur verankert ist. Auch wünscht man sich manchmal, die Analyse würde öfter über den reinen „Text“ der Serie herausgehen und stärker formale Gestaltungsmittel, Schauspiel und dramaturgische Entwicklungen innerhalb der Serie berücksichtigen, zu denen etwa das zunehmende Abgleiten in an Sitcoms erinnernde Szenarien zählt, das ab der sechsten Staffel auffällt. Das sind aber nur kleine Kritikpunkte. Insgesamt liegt mit Daniela Sannwalds Studie eine lesenswerte und kurzweilig geschriebene Einführung in das „Mad Men“-Universum vor, die ein gelungener Auftakt zu der neuen Reihe „Prime Time“ ist.

Daniela Sannwald: Lost in the Sixties. Über Mad Men
Bertz+Fischer, Berlin 2014, 148 Seiten, 9,90 Euro

„Ich glaube fundamental an genau gestellte Fragen. Sie sind die eigentliche, tiefe Bedeutung des Erzählens, ja, von Kunst überhaupt.“

( , Regie: )

Ein Gespräch mit Götz Spielmann aus Anlass seines neuen Films „Oktober November“
von Ulrich Kriest

Ein Gespräch mit Götz Spielmann aus Anlass seines neuen Films „Oktober November“. Ulrich Kriest: Herr Spielmann, Sie unterrichten an der Wiener Filmakademie das Drehbuchschreiben, was ich insofern bemerkenswert finde, weil …

Ein Gespräch mit Götz Spielmann aus Anlass seines neuen Films „Oktober November“.

Ulrich Kriest: Herr Spielmann, Sie unterrichten an der Wiener Filmakademie das Drehbuchschreiben, was ich insofern bemerkenswert finde, weil ich gerade im Drehbuch die große Stärke von „Oktober November“ erkenne. Der Film ist unerhört dicht, voller motivischer Signale, Echos, Doppelungen und Spiegelungen – fast wie eine angeregte Diskussion voller neuer, wiederholter, variierter Ideen. Wie erzählt man solch eine komplexe Konstellation von Figuren, ohne die Zuschauer zu unter- oder überfordern. Wie geht man an ein solches Projekt heran?
Götz Spielmann: Das war tatsächlich die größte Herausforderung, den komplexen Stoff in eine schlüssige, dichte Erzählung zu bringen. Ich wollte einen Film machen, der dem Leben möglichst nahe kommt, das war mein Ausgangspunkt, mich dem erzählerisch zu nähern, was ich als Essenz des Lebens spüre. Wenn man das so ausspricht, klingt es banal, aber genau so war es. Das Erzählen heute folgt sehr oft, auch im Arthaus-Film, der immer gleichen dramatischen Struktur, der sogenannte „klassischen“ Dramaturgie. Ich wollte davon unabhängig erzählen, nicht nach der Schablone, sondern radikal, frei. Das war mein Beginn. Es war überraschend schwierig, das eigene Können beiseite zu schieben.

In ihrem Film fallen Sätze wie „Kein Mensch weiß, wie er wirklich ist!“ oder „Du bist nicht das, was du denkst!“ Geben solche Sätze den Kammerton ihres Films vor?
Vielleicht sind da und dort ein paar gedankliche Hinweise versteckt, wie man die Geschichte betrachten oder deuten könnte. Bei manchen mögen diese Sätze etwas zum Klingen bringen.

Mir schien der Aspekt wichtig, dass man sich seiner Biografie nur durch Sprache versichern kann. Man erzählt sich Geschichten, Erinnerungen und hofft darauf, dass sich mit dem Gegenüber eine Kongruenz herstellen lässt. Bei den beiden Schwestern gelingt das ganz lange nicht.
Ich würde vorschlagen, hier statt von Biografie von Identität zu sprechen. Der Film stellt die Frage nach unserer Identität, anhand von den Lebensläufen einiger Figuren, mir den beiden Schwestern im Zentrum. Ob man sich derer nur durch Sprache versichern kann? Ich weiß nicht… Vielleicht ist es ja gerade die Sprache, ihr Definitionszwang, der uns unsere Identität verschleiert. Könnte ja sein.

Im Presseheft finden sich dazu ein paar Fragen: Wer bin ich? Bin ich das, was ich sein will? Warum bin ich so, wie ich bin? Bin ich das, was ich sein kann? Insbesondere die letzte Frage ist ja geradezu philosophisch. Ihre Filme bestechen durch eine ungewöhnliche Verbindlichkeit. Sie wirken auf mich durchdacht, aber fragend.
Das freut mich, wenn das so spürbar wird. Ich glaube fundamental an genau gestellte Fragen. Sie sind die eigentliche, tiefe Bedeutung des Erzählens, von Kunst überhaupt. Und je genauer und umfassender die Frage gestellt ist, desto verbindlicher ist sie auch. Dann setzt sie etwas in Gang, in Bewegung, generiert Reaktion, Veränderung. Die genaue Frage ist weitaus radikaler als die sogenannte „Gesellschaftskritik“, die derzeitige Kunst häufig so unverbindlich absondert.

Wenn Verena an der Bücherwand des Arztes entlang geht, sagt sie, dass sie zu wenig gelesen habe. Und dann: „Das kann man ja noch ändern!“ Ist sie da zu optimistisch?
Ach, wer weiß. Veränderung ist ja möglich und nicht unbedingt nur Illusion. Ich jedenfalls bin kein Fatalist.

Man tut als Zuschauer gut daran, den Figuren nicht nur zuzuhören, sondern ihnen auch beim Spiel genau zuzuschauen. Es wird nicht immer alles ausgesprochen, was zwischen den Figuren mitschwingt. In der ersten Szene der Begegnung zwischen den Schwestern erzählt die Art und Weise, wie sie sich zueinander oder besser gegeneinander setzen, mehr über ihr Verhältnis als die Worte, die sie wechseln. Wie haben Sie diese Intensität hergestellt?
Das betrifft den ganzen Arbeitsprozess, das Drehbuch, die Proben mit den Schauspielern, die gemeinsame Arbeit an den Figuren, ihren Beziehungen, ihren Vorgeschichten, und zuletzt die Arbeit am Set. „Oktober November“ ist episch erzähltes Kino, allerdings ohne den Aufwand, den episches Erzählen normalerweise treibt. Ein episches Kammerspiel, könnte man sagen. Nicht getrieben vom üblichen Plot, der, wenn er funktioniert, manche Ungenauigkeit verzeiht. Wir wussten, dass wir in jeder Szene ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit, Lebendigkeit erreichen müssen, damit sie überhaupt Sinn macht. Der Film braucht diese Intensität des Schauspiels, weil er sonst auseinanderfällt. Ein hohes Risiko natürlich.

Etwas aus dem Rahmen fällt meines Erachtens die Figur des David, mit dem Sonja offenbar kurzzeitig ein Verhältnis hatte. David scheint mir ein konventionelle Funktionsfigur, die zunächst dazu dient, Sonjas Einsamkeit und Depression ins Spiel zu bringen.
Andererseits ist er ja durch die Begegnung mit Sonja verändert worden, in eine Art Wahrhaftigkeit gefallen, gibt seine Ehe preis, weil er dort Kälte und Gleichgültigkeit findet und nicht mehr aushält.

Was ja auch auf Sonja gemünzt sein könnte, die ja in der Öffentlichkeit immer eine professionelle Maske aufhat.
Ja, sie hat eine öffentliche, professionelle Identität. Eine Fassade, hinter der sich viel Ratlosigkeit, Leere und Traurigkeit verbirgt.

Der Ehebruch wird im Film gleich mehrfach gespiegelt, in der Ehe der Eltern, in der Ehe zwischen Verena und Michael. Der Film registriert das, wertet aber nicht.
Natürlich nicht. Ich habe ja weder ein Weltbild zu verkünden noch eine Ideologie noch eine Moral. Bin weder Politiker noch Priester. Ich erzähle Geschichten. Der Zuschauer braucht keine Belehrung, wie er dies oder jenes zu bewerten habe.

Eine etwas rätselhafte Figur erscheint mir der Landarzt, der in mehrfacher Hinsicht – als Arzt und Mann – mit der Familie konfrontiert wird. Mich hat diese Figur an bestimmte Dramen des Naturalismus erinnert, wo ja auch immer ein Beobachter von Außen hinzukommt. Ist der Landarzt im Film der Stellvertreter des Erzählers?
Möglich, er ist ja auch, wie Sie sagen, Beobachter, wie der Regisseur auch. Aber das sind keine bewusst gesetzten Zusammenhänge.

Diese Figur wird als Einsiedler eingeführt, dem – neben dem Beruf – die Bücher und die Musik genügen. Der Arzt scheint mit seiner Empathie geradezu weise und strahlt eine große Ruhe aus. Besonders überrascht: die Figur kommt damit durch, wird nicht gebrochen.
(lacht) Ja, im Zeitalter des „kritischen Bewusstseins“ mag es merkwürdig sein, wenn man von Figuren erzählt, deren Leben einigermaßen in Ordnung ist, einfach so. Es war übrigens schwierig zu besetzen, denn die Figur braucht gelassenes Charisma, um zu funktionieren. Ich bin sehr froh, dass Sebastian Koch diese Rolle übernommen hat.

An dem Arzt beißt sich die geübte Flirtmaschine Sonja die Zähne aus. Er lässt sie ziemlich kühl abblitzen.
Er durchschaut ihr Spiel und legt den Finger auf ihre Wunde, wenn er sie fragt: „Bewundert und geliebt werden? Geht das überhaupt zusammen?“ Sie erschrickt, als er diese Frage stellt. Eine Illusion wird ihr plötzlich sichtbar.

Sonja bekommt im Lauf des Films gewissermaßen den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie, die ohnehin eine schwach ausgebildete Identität hatte, verliert diese auch noch durch die Aufdeckung eines Familiengeheimnisses. Ist das als eine Chance zu werten?
Ich denke es mir so, ja. Illusionen, Irrtümer abzulegen ist erst einmal schmerzhaft, die Ent-Täuschung tut weh. Aber danach lebt es sich besser.

Die Begegnung zwischen Sonja und dem Landarzt findet unmittelbar nach einer Begegnung Sonjas mit einer Gruppe von Pilgern auf einem Berggipfel statt. Hier lässt sich der Film Zeit für ein Vaterunser. Dass der Vater sich nach der Nahtod-Erfahrung so stark verändert, wird von Verena einmal mit der Bemerkung „Vielleicht ist er ja religiös geworden?“ kommentiert. Auf dem Krankenbett spottet wiederum der Vater über die Pilger: „Die Leute suchen nach etwas und marschieren in der Gegend herum. Dabei braucht man gar nicht suchen. Es ist alles da und gut so, wie es ist.“ Welche Rolle spielt bei der Auseinandersetzung mit der Identitätsfrage die Spiritualität? Darf man diese Spur auch auf den Filmemacher Götz Spielmann beziehen?
Die Frage nach unserer Identität lässt sich ja nur sinnvoll stellen, wenn wir die größte Gewissheit unseres Lebens einbeziehen: dass es endlich ist, dass wir sterblich sind. Da kommt man ja ganz von selbst auch auf spirituelle Fragen und Ebenen, weil diese Tatsache vom Verstand nicht zu begreifen ist. Er muss überschritten werden, will man auf dieser Ebene lebendig bleiben. Nichts anderes ist Spiritualität. Sie steht nicht im Gegensatz zu Vernunft und Intellekt, sondern findet dort statt, wo der Intellekt nicht hinreicht. Kunst ist doch überhaupt erst dann relevant, wenn sie auch eine spirituelle Ebene hat. Wo die fehlt, ist es bloß bebilderte Ideologie für eingeweihte Konsumgruppen, die sich wechselweise ihre Urteile und Vorurteile bestätigen. Kann man ja bei den großen Festivals gut beobachten.

Bleibt noch eine abschließende Anmerkung! Sie zeigen ja durchaus ausführlich auch die Schauspielerin Sonja bei der Arbeit, indem Se Bilder von Dreharbeiten zeigen, die gewissermaßen einerseits Sonjas Professionalität belegen, andererseits aber auch wie ein Brecht’scher Verfremdungseffekt funktionieren. Das fand ich unerhört riskant, weil es dem Film doch gerade um die Erzeugung darstellerischer Intensität geht, gerade auch (aber nicht nur), wenn das lange, mühselige Sterben des Vaters gezeigt wird. Diese Szene sind ja genau so »gemacht« wie die Fernsehkrimi-Szenen, aber man vergisst das ganz schnell wieder. Hier hätte der ganze Film scheitern können. So, wie er jetzt gelungen ist. Waren Sie sich dieses Risikos bewusst?
Ja sehr, natürlich. Wenn man mittelmäßiges Filmemachen im Film zeigt, forciert man eine kritische Wachheit des Zuschauers. Um die geht es mir aber grundsätzlich. Ich habe zwar das Ziel, emotionales Kino zu machen, aber eines, das den Zuschauer nicht manipuliert, auch nicht durch Kitsch, sondern das ihm die Freiheit lässt, bei aller Emotion immer auch bei sich selbst zu bleiben.

Georg Seeßlen: Lars von Trier goes Porno

( , Regie: )

Kollision der Systeme
von Nicolai Bühnemann

Der dänische Filmemacher Lars von Trier ist selten um eine Provokation verlegen. Das weiß man nicht erst, seit ihn das Filmfestival in Cannes 2011 wegen seiner Sympathiebekundungen für Adolf Hitler …

Der dänische Filmemacher Lars von Trier ist selten um eine Provokation verlegen. Das weiß man nicht erst, seit ihn das Filmfestival in Cannes 2011 wegen seiner Sympathiebekundungen für Adolf Hitler zur persona non grata erklärte.
In seinem Film „Idioten“, 1998 nach dem von ihm verfassten Dogma95-Manifest gedreht, war er einer der ersten, die Hardcore-Einstellungen in die europäischen Arthäuser brachte. In „Antichrist“ (2010) wiederholt sich nicht nur das, es gibt darüber hinaus auch eine drastische Szene weiblicher Genitalselbstverstümmelung. Da wunderte es wenig, als von Trier verlauten ließ, dass er mit „Nymph()maniac“ an einer Art Porno arbeitete. Es geht um die Lebensgeschichte der „Nymphomanin“ Joe (Charlotte Gainsbourg), die sie dem alternden „Asexuellen“ Seligman (Stellan Starsgard) erzählt, der sie eines Nachts, übel zugerichtet, in der dunklen Gasse, in der er lebt, findet und zu sich in die Wohnung nimmt. Die Geschichte beginnt bei ihren frühesten Kindheitserinnerungen und endet mit ihrer Begegnung mit Seligman in ihrem fünfzigsten Lebensjahr. Ihr Bericht ist in acht Kapitel unterteilt und dauerte ursprünglich knapp fünf Stunden. Für die Kinoauswertung wurde er um etwa eine Stunde gekürzt und dann als Zweiteiler veröffentlicht. Lars von Trier soll zu seiner Hauptdarstellerin gesagt haben, „Nymph()maniac“ sei „ein Porno, in dem du sehr viel reden musst“.

Nun hat Georg Seeßlen, was seinen Text-Output anbelangt wohl Deutschlands fleißigster Film-, Kultur- und Gesellschaftskritiker der letzten paar Jahrzehnte, ein Buch „(nicht nur) über NYMPHOMANIAC“, sondern (unter anderem auch) über Lars von Trier geschrieben. Wie immer bei Seeßlen geht es ums große Ganze, um einen weit gefassten gesellschaftlichen Kontext, der teilweise die Perspektive auf den Filmemacher und sein Schaffen vorgibt, teilweise sich aber gerade in der Betrachtung des Kunstwerks erst offenbart.

„Lars von Trier goes Porno“ beginnt mit einer Einleitung über die Schwierigkeiten, ein Buch über Lars von Trier zu schreiben: „Denn dieser Filmverrückte oder Verrücktfilmer hat in seinem mittlerweile durchaus umfangreichen Werk mehr als eine Diskurs- und Interpretationsfalle aufgebaut. Hinter jedem entschlüsselten Statement lauert ein grinsender Regisseur, der einem eine lange Nase dreht und sich kaputtlacht.“

Das erste Kapitel stellt die Frage: „Who the fuck is Lars von Trier?“ und gibt eine Vielzahl (möglicher) Antworten. Es erzählt von einem Mann, dem sein „aufklärerische[s], linke[s] und intellektuelle[s] Elternhaus […] als eine Maschinerie zur Unterdrückung von Emotionen“ erschien. Einen Filmemacher und seit der Gründung der Zentropa 1992 auch Filmproduzenten, der mit seinem größtenteils sorgsam in thematische Trilogien unterteilten Werk immer wieder für Aufsehen sorgte, Erfolge bei Kritik und Publikum einheimste, und der doch in keiner seiner Positionen Chancen auf einen „Sympathie-Preis“ hat.

Es folgt „Ein offenes Theorem über Film und Pornografie“, in dem Seeßlen das Phänomen untersucht, warum es so schwierig ist, die Sexualität als „natürlichen“ Teil des Lebens in expliziter Darstellung, also pornographischen oder Hardcore-Szenen, in eine filmische Erzählung zu integrieren. „Die Provokation einer Hardcore-Szene (insbesondere in einem Zusammenhang, der diese nicht als „normal“ erscheinen lässt) ist möglicherweise zugleich geprägt von Lust und Angst, von Angst vor der Lust und Lust an der Angst. Der Blick ist stets das ausgeschlossene und zugleich eingeschlossene Dritte; es gibt keinen Fluchtweg.“ Daraus ergebe sich, dass explizite Darstellungen der Sexualität „in der westlichen Kultur vom Mainstream ausgesperrt und ins Ghetto der Pornografie eingesperrt“ seien, das Bilderverbot erzeuge jedoch ein zwanghaftes Sehen und Zeigen in Form von „“Exhibitionismus“ (Zeigen, was andere nicht sehen wollen) und „Voyeurismus“ (Sehen, was andere nicht zeigen wollen)“. Damit sind zugleich zwei zentrale Begriffe in Seeßlens Überlegungen zur Pornografie etabliert, die in der kapitalistischen Aneignung der Sexualität doch immer in einem Missverhältnis zueinander stehen müssen: „Der freie Markt ist, auch was die sexuelle Ökonomie anbelangt, eine Illusion.“

Wie das Projekt einer „anderen Pornografie“ aussehen könnte, wird in einem Kapitel zu den „Puzzy Power“-Filmen untersucht. Die vier Pornofilme, die die Zentropa zwischen 1998 und 2005 produzierte, basierten auf einem von Trier’schen Manifest, das unter anderem vorschrieb, dass sie eine Spielfilmhandlung haben müssten und auf fetischisierende Close-Ups und erniedrigende Cumshot-Szenen zu verzichten sei. Seeßlen legt dar, warum die – kommerziell ziemlich erfolgreichen – Filme künstlerisch ziemlich uninteressant sind. Mag man dem Autor darin auch zustimmen, ist dieses Kapitel für mich dennoch das schwächste des Buches. Nur dass die Puzzy Power-Filme per Manifest eine Handlung haben müssen, bedeutet nicht, dass es sonderlich viel Freude oder Erkenntnis bringen würde, seitenlange Inhaltsangaben von Porno-Filmen, und seien sie noch so gut gemeint, zu lesen.

Wenn es dann in der zweiten Hälfte um die Filme Lars von Triers im allgemeinen und „Nymph()maniac“ im besonderen geht, scheint Seeßlens Buch ganz zu sich zu kommen. Zunächst widmet er sich den Frauenfiguren in „Trier-Country“. Dabei legt er besonderes Augenmerk auf die wiederkehrende Inszenierung der Frau als weiblichem Christus, die unter anderem auch eine „subtile Form des cineastischen Selbstportraits“ sei. Dem oft erhobenen Misogynie-Vorwurf, ob dieser Darstellung der Frauen als Opfer, oder der Frauen, die zu Opfern werden, in einer Entmachtung, bei der sie den Blick und die Sprache verlieren, begegnet Seeßlen unter anderem mit der Feststellung, aus von Triers Filme werde „so deutlich wie sonst selten, wie Blick und Sprache (männliche) Macht konstituieren.“ Zentral in der Auseinandersetzung mit dem von Trier’schen Frauenbild sind die Begriffe von „sacrifice (der selbstgewählten oder möglicherweise auch von einer höheren Macht bestimmten Hingabe an Schmerz, Leid und Tod zum Zwecke einer Rettung oder Erlösung anderer) und als victim (dem möglicherweise zufälligen, möglicherweise aufgrund bestimmter „Opfer-Eigenschaften“ ausgewählten Objekt von Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch)“. Vom victim zum sacrifice zu werden, also auch vom Subjekt zum Objekt der „Opferung“, scheint für die von Trier-Frau auch eine, natürlich denkbar düstere, Form der Ermächtigung, zum Bespiel in der Szene in „Nymph()maniac“, in der Joe in einer Selbsthilfegruppe für Sex-Süchtige auf ihrer Bezeichnung als Nymphomanin (sacrifice) gegenüber dem victim der Sexsüchtigen besteht.

Das nächste Kapitel untersucht die Entwicklungen bestimmter Motive von „Antichrist“ zu „Nymph()maniac“, der beiden Filme, die mit „Melancholia“ als Mittelteil die sogenannte Trilogie der Depressionen bilden. Ausgehend von der These, dass es für von Trier immer darum gehe, „unter das naturwissenschaftliche Bild der Welt zu gelangen, auf das wir uns geeinigt haben, oder aber auch dahinter“, spürt Seeßlen ein weiteres zentrales Motiv im Schaffen von Triers auf: „Die männliche Wissenschaft im Kampf gegen die weibliche Spiritualität.“ Die Überlegungen hierzu beziehen sowohl die mythische Gestalt der Nymphe mit ein als auch eine erste Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Nymphomanie“. Wobei es, so Seeßlen, einmal mehr zu kurz greife, die Bemühungen des Mannes durch die Wissenschaft, der weiblichen Sexualität habhaft zu werden, sie zu unterdrücken und zu kontrollieren, als rein misogynes Unterfangen zu deuten, gehe es von Trier doch immer dezidiert um das Scheitern dieser Versuche.

Schließlich befasst sich das letzte Kapitel ganz mit „Nymph()maniac“. Der Teilung des Films gemäß ist es in zwei „Passagen“ untergliedert. In der ersten gibt es eine akribische Analyse und Interpretation des Films. Die zweite geht ihn noch einmal, systematisch, Kapitel für Kapitel durch.

„Nymph()maniac“ sei, so der Autor, kein Spielfilm, sondern ein Essay: „Lars von Trier erzählt keine Geschichte und behandelt kein Thema. Er lässt narrative, musikalische, ikonografische, mathematische, semantische, gestisch-mimische, religiöse, philosophische und emotionale Systeme miteinander reagieren. Miteinander kollidieren, um genau zu sein.“ So vielfältig wie die Bezugssysteme, in denen sich der Film bewegt, so vielfältig sind auch Seeßlens Ansätze, ihn zu entschlüsseln. Neben dem Bezug zum bisherigen Schaffen des Regisseurs, zur „echten“ Pornografie und zur Religion, untersucht er auch die Musik, von Bach über Rammstein bis zur von Charlotte Gainsbourg gesungenen Version von „Hey Joe“ im Abspann, ebenso die Bezüge zu Klassikern der Weltliteratur wie „Geschichten aus 1001 Nacht“ oder Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“. Kein Detail, das nicht für die Interpretation „verwertbar“ gemacht werden würde, von der Klammer in der Schreibweise des Titels über die Kapitelstruktur und die Tagline: „Forget about Love“ bis zu den unterschiedlichen Schnittfassungen des Films.

Die für mich wohl interessanteste der interpretatorischen Schneisen, die das Buch durch den Film zieht, beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Sexualität, Sprache und Identität. Seeßlen schreibt: „Der Zwang in Joe, so scheint es, ist weniger die Sexualität als das Sprechen.“ Und: „Joe […] sucht von Anfang an nicht Lust, sondern Identität.“ Wenn eine wichtige Funktion der Sexualität in der bürgerlichen Gesellschaft darin bestehe, Identität zu konstruieren („Ich liebe, ich begehre, also bin ICH.“), handle „Nymph()maniac“ auch davon, wie Sexualität zu einem der letzten Identitätsstifter überhaupt geworden sei. Joes Krise, als sie sich verliebt und, weil Liebe und Sexualität für sie nur als Antagonisten denkbar sind, keine sexuelle Lust mehr spüren kann, wird damit auch und vor allem zu einer Identitätskrise: „Das Gefühl „da unten“ nichts mehr zu spüren, die Scham nicht, das Geschlecht nicht, die Identität nicht.“ Unter der genuin von Trier‘schen Prämisse, „dass es weniger die Sexualität als vielmehr eben die Liebe ist, die Verbindung von beidem ohnehin, welche Macht, Ausbeutung und Unterdrückung generiert“, erscheine die „Nymphomanin“ als „Freiheitskämpferin“ für einen „Radikalsubjektivismus“: „Jeder ist er selbst. Und Joe ist nicht wie die anderen.“ „Joe will ja keine „Frau“ werden, „wie es sich gehört“, oder „wie es sein soll“, sondern ein Subjekt (der Lust), ganz und gar einzeln und einzig.“ Indem er das Scheitern dieses Lebensmodells zeigt, so folgert Seeßlen am Schluss, stelle sich Von Trier der „Pornografisierung (eines Lebens, des Lebens)“ und darin scheitere auch das von ihm selbst immer wieder versuchte Projekt, Hardcore-Szenen in einen Spielfilm zu integrieren: „Die radikale Pornografisierung eines Körpers führt so zwangsläufig zur Zerstörung dieses Körpers, wie die radikale Pornografisierung einer Erzählung zwangsläufig zur Zerstörung dieser Erzählung selbst führt.“

„Nymph()maniac“ werde so zu einem Werk grundlegender Negation, ein Film darüber, wie sich die Menschen weder in der Sexualität noch in der Sprache noch im Akt des Filmemachens „näher kommen“ können: „Es gibt keine „Geschlechterbeziehungen“, keinen „Geschlechtsverkehr“. Es gibt Schwänze, Münder, Mösen, Ärsche. Löcher. Und Gesichter, auf denen sich abzeichnet, wie man durch Lust sich voneinander trennt, statt sich zu vereinen. […] So wenig wie es einen Geschlechtsverkehr gibt, so wenig gibt es ein Gespräch. Weder das zwischen Film und Zuschauer (NYMPHOMANIAC ist auch ein Film über die Sinnlosigkeit, Filme zu machen) noch das zwischen den Protagonisten.“

Dem Buch, das bei Bertz+Fischer als siebter Band der Reihe „Sexual Politics“ erschien, merkt man – wie vielen Seeßlen-Texten – an, dass es ziemlich schnell geschrieben wurde. Immer wieder entsteht ein Gefühl der Redundanz und auch die Strukturierung leuchtet mir nicht immer ein. Das ändert nichts daran, dass Georg Seeßlen mit dem umfassenden Theorie- und Gedankengebäude von „Lars von Trier goes Porno“ ein zukünftiges Standardwerk in der deutschsprachigen von Trier-Rezeption geschaffen hat – und vielleicht darüber hinaus im hiesigen akademischen Diskurs über Pornografie. Ein Buch ganz bestimmt nicht nur über „Nymphomaniac“.

Georg Seeßlen: Lars von Trier goes Porno
Bertz+Fischer, Berlin 2014, 224 Seiten, 12,90 Euro

(Un)verkäufliche Symbolik

( , Regie: )

Über zweieinhalb Minuten Ophüls
von Janis El-Bira

„Qu’est-ce que je dois faire?“, kokettiert Louises, d.i. Danielle Darrieux’ Stimme. Wir sehen mutmaßlich ihre Hände: Sie gleiten prüfend und sorgfältig abwägend über Juwelen, Armreife, Ringe, diamantbesetzte Kruzifixe. Schmuckschatullen öffnen …

Qu’est-ce que je dois faire?“, kokettiert Louises, d.i. Danielle Darrieux’ Stimme. Wir sehen mutmaßlich ihre Hände: Sie gleiten prüfend und sorgfältig abwägend über Juwelen, Armreife, Ringe, diamantbesetzte Kruzifixe. Schmuckschatullen öffnen und schließen sich mit sanftem Klicken. Die Kamera wandert, zieht sie fort von den Kleinoden hin zur Garderobe. Eine Schranktür gibt ausladende Ballkleider, eine andere Pelze und Hüte frei. Im Chanson, das im Hintergrund plätschert, heißt es, auch der Verkauf einer ganzen Phalanx brächte nicht einmal 20.000 Francs. Wir verstehen also, was Ophüls uns zeigt: Die Waffen einer Frau. Weniger militärisch: „Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß“. Ein getragenes, ja leicht abgetragenes Leben. Das Leben einer Unsichtbaren, müsste man ergänzen, denn was wir nicht sehen, ist Louise selbst. Doch sie kommentiert: Nein, nicht dieses. Hiervon kann sie sich unmöglich trennen. Das hier? Eher würde sie sich selbst ertränken. Ein Anderes kommt in Frage, doch „das Problem ist: Es war sein Hochzeitsgeschenk.“ Sie streicht über die Ärmel der Pelze, als seien sie das Haar eines Geliebten. Es herrscht Ausverkauf im Haus der Dame.

Schließlich greift sie schweren Herzens nach einem Hut und beim Anprobieren sehen wir erstmals ihr Gesicht: In einem Spiegel, als Reflexion. Wir bemerken, dass ihre Stimme zu Beginn nicht bloß zur Hörbarkeit gebrachter Gedanke war. Sie spricht laut (doch mit wem?). Sie legt ein Collier an. Nein, ausgeschlossen. Vielleicht lieber das funkelnde Kreuz? „Oh non, j’adore!“ Die Ohrringe sind es, das Hochzeitsgeschenk, über die sie den fatalen Beschluss fasst: „Sie gehören mir. Ich kann mit ihnen tun, was ich will.“ Sie wird sie verkaufen, denn sie ist verschuldet. Tragisch werden sie zu ihr zurückkehren, wenn sich die Sprache der Liebe und die Sprache des Geldes babylonisch verschränken.

Die Anfangsszene von Max Ophüls’ „Madame de…“ (1953) ist in ihrer Art nicht zu übertreffen. Vor allem jedoch ist ihre Prämisse nur filmisch einlösbar. Da ist diese sich in einem säuselnden „Als ob“, einer Dauerprüfung der Spieloptionen bewegende Stimme Louises, die ironische Brechung ihrer Bemerkungen im Text des Chansons, die Begegnung mit dem optischen Widerhall ihres Gesichts im Spiegel: Kaum irgendwo war oder ist Film so entpersonalisiert, objektiviert und derart bar aller Identifikationsangebote. Stattdessen sind es die vermeintlichen Akzidenzien eines höchstwohlhabenden „fin de siècle“-Paares, die hier die Hauptrolle spielen. Wir können nicht immer auseinanderhalten: Betrachtet eine unsichtbare Louise ihre Besitztümer oder blicken nicht vielmehr jene, sinnbildlich gesprochen, auf sie zurück? Was würden sie dort sehen? Wohlmöglich geht dieser Blick ins Dunkel eines unauflösbaren Widerspruchs: Louise setzt den Hut nicht auf (und das begreifen wir erst vor dem Spiegel), weil sie seinen Verkaufswert schätzen will. Sie trägt ihn, weil er dazu gehört: Zum Collier, zu den Ohrringen – zu ihrem Gesicht, zu ihr. Er ist eine Verlängerung ihres Körpers. Es scheint, als könne ihr Gesicht überhaupt nur schön sein, wenn der Hut es abrundet, es schirmt und rahmt. Stolz ist somit ihr Blick, in dem Moment, da sie ihn im Spiegel in die richtige Position gebracht hat. Es sind die Dinge selbst, die sie zur Frau machen, die sie ist. Ihre Rückübersetzung in Geldwerte gebiert eine schreckliche Dialektik: Sie muss abstoßen, um wiederzuerlangen. Das wäre nun an sich weniger furchtbar, handelt es sich dabei doch zunächst einmal bloß um eskalierenden Kapitalismus. Das „Versilbern“ ungeliebter Geschenke aber hat einen Fallstrick in der Unverkäuflichkeit des Symbolischen. Es mag sein, dass Louise sich nicht mehr groß um das Initiationsgeschenk einer nunmehr vor allem äußerlich existierenden Ehe schert. Ihr Satz, sie könne mit den Ohrringen tun, was sie wolle, sie gehörten schließlich ihr, stimmt aber dennoch nur auf den ersten Blick. Die Tragik besteht darin, dass sie das Symbolische zwar in sich selbst tilgen, nicht jedoch vom Gegenstand ablösen kann. Dieser bleibt allzeit neu aufladbar – Symbol der Liebe, Symbol des Reichtums, Symbol der gesellschaftlichen Zugehörigkeit. So nimmt sie später die Ohrringe aus anderen, geliebteren Händen erneut entgegen – und kann doch noch immer nicht über sie verfügen, denn aus der Symbolgeschichte des kostbaren Geschmeides gibt es kein Entkommen.

Was hier zum Verkauf steht, ist nicht ein Paar Ohrringe: Es ist Louise selbst; ihr Körper, wie er sich allein im Spiegel, mit Hut und Collier als vollständig erfindet. Die Ohrringe zu verkaufen bedeutet, Begehren symbolisch weiterzugeben, wegzuschenken; heißt, zu Geld machen zu wollen, was auf gefährliche Weise jenseits der Tauschsphäre liegt. Hier kommt niemals ungebrochenen Herzens raus, wer noch immer unvorsichtig mit zweierlei Maß messen will: Die Symbolik des Kreuzes bleibt in der Anfangsszene ebenso unantastbar und unverkäuflich, wie später die romantische Neuaufladung der vom Geliebten wiedergebrachten, geschenkten Ohrringe. Louise hätte wohl gut daran getan, sie direkt einschmelzen, ihren reinen Materialwert zu Geld machen zu lassen. Doch unmöglich – sie sind schön und schöner noch an den Ohren im Spiegelbild einer Frau. Jeder Spiegel ist, wie jedes Filmbild (nicht nur) bei Ophüls, eine Rahmung. Ophüls hat diesen Rahmen nie gesprengt, doch schon in den ersten zweieinhalb Minuten „Madame de…“ drückt sein Außen tiefe Risse ins blattvergoldete Holz.

(Alle Bilder: © Arthaus)

Norbert Grob, Hans Helmut Prinzler und Eric Rentschler (Hg.): Stilepochen des Films. Neuer Deutscher Film

( , Regie: )

Neueinsteiger-Brevier
von Ulrich Kriest

Einen anspruchsvollen Ansatz verfolgt eine neue, von Norbert Grob, Hans Helmut Prinzler und Eric Rentschler konzipierte und herausgegebene, auf acht Bände angelegte Reihe im Reclam-Verlag. Ausgehend von Panofskys Stilbegriff soll …

Einen anspruchsvollen Ansatz verfolgt eine neue, von Norbert Grob, Hans Helmut Prinzler und Eric Rentschler konzipierte und herausgegebene, auf acht Bände angelegte Reihe im Reclam-Verlag. Ausgehend von Panofskys Stilbegriff soll versucht werden, „eine andere Perspektive auf die Geschichte des Films zu werfen“. Die Herausgeber formulieren ihr Vorhaben so: „Das Unterschiedliche im Einzelnen soll auf gemeinsame Merkmale hin untersucht werden, das Gemeinsame in den einzelnen, unterschiedlichen Ausdrucksformen gewürdigt werden.“

Eine längere Einleitung gibt den Rahmen der „Stilepoche“ vor, der dann nach Möglichkeit durch Analysen einzelner Filme – hier: von „Zwei unter Millionen“ (1961) bis „Heimat“ (1984) – ergänzt, erweitert und konkretisiert wird. Zugleich – und hier schwächelt das Konzept erheblich – soll jeder Band der Reihe auch als Nachschlagewerk der jeweiligen Stilepoche fungieren. Nicht nur, dass es hierzu mindestens eines Personen- und Filmtitel-Registers bedurft hätte, an dem aber leider unverständlicherweise gespart wurde. Es müssen dafür zudem die exemplarischen Filmbeschreibungen um zumindest kursorische Hinweise auf der Oeuvre des betreffenden Filmemachers erweitert werden, was dazu führen kann, dass der gewählte Einzelfilm gegen das Gesamtwerk ausgespielt wird (Kluge), dass der Autor ein Gesamtwerk skizziert, dass die Stilepoche weit übersteigt (Lemke) oder dass schlicht ausgeblendet wird, dass ein Filmemacher das Filmemachen seit Jahrzehnten eingestellt hat (Syberberg).

Vielleicht ist eine so umfassend erforschte Stilepoche wie die Zeit des Neuen Deutschen Films zwischen 1962 und 1984 auch nur ein unglücklich gewählter Start der Reihe, denn das Buch bietet weder hinsichtlich der Auswahl der Filme (immerhin: die „Berliner Arbeiterfilme“ von Ziewer & Co. wurden endlich einmal nicht vergessen, wenngleich auch nicht zum »Sprechen« gebracht) noch hinsichtlich von Überblick und Einzelanalysen neue Einsichten, die über Thomas Elsaessers Standardwerk zum Thema „New German Cinema“ sonderlich hinausgehen. Okay, es gibt den erwartbar schönen Text von Dominik Graf zu Lemke, es gibt einen überraschenden Text von Michael Althen zu Rudolf Thome, aber sonst kaum Überraschungen, sieht man einmal von der Merkwürdigkeit ab, dass Jutta Brückner und Helma Sanders-Brahms sich gegenseitig für ihre Filme auf die Schultern klopfen müssen. Ein anderes Manko des Buches, geschuldet sicherlich der geschmeidigen Routine, mit der solche Projekte heutzutage wieder oder noch immer tendenziell bargeldlos »gestemmt« werden, ist die prinzipiell affirmative Haltung der Autoren gegenüber den von ihnen gewählten Filmen (Reitz). So erhält man den Eindruck einer »Stilepoche« mit einer ganz erstaunlichen Abfolge von zumindest gelungenen Filmen, ein Eindruck, der sich doch erheblich reibt an dem schlechten Ruf, den der Neue Deutsche Film bei jüngeren Filmemachern und Kritikern mittlerweile durchaus genießt. Man wünschte sich, dass die Herausgeber ein paar jüngere Autoren ins Team der Beiträger gebeten und die gewählten Autoren stärker auf das Konzept der Reihe verpflichtet hätten. So bleibt der Band ein nützliches Brevier für interessierte Neueinsteiger, aber für Kenner der Materie überflüssig.

Norbert Grob, Hans Helmut Prinzler und Eric Rentschler (Hg.): Stilepochen des Films. Neuer Deutscher Film
Reclam Verlag, Stuttgart 2012, 349 Seiten, 9.80 Euro

„In meinen Filmen gibt es keine Botschaften“

( , Regie: )

Rudolf Thome im Gespräch mit Wolfgang Nierlin über seinen Film „Ins Blaue“.
von Wolfgang Nierlin

Rudolf Thome im Gespräch mit Wolfgang Nierlin über seinen Film „Ins Blaue“. Wolfgang Nierlin: In der Kunst- und Literaturgeschichte symbolisiert die Farbe Blau die Sehnsucht nach Liebe und Ferne, aber …

Rudolf Thome im Gespräch mit Wolfgang Nierlin über seinen Film „Ins Blaue“.

Wolfgang Nierlin: In der Kunst- und Literaturgeschichte symbolisiert die Farbe Blau die Sehnsucht nach Liebe und Ferne, aber auch das Streben nach Unendlichkeit und Erkenntnis. Wofür steht sie in Ihrem Film „Ins Blaue“?
Rudolf Thome: Als ich Germanistik studierte, so um die Jahre 1961/62, habe ich eine Seminararbeit über Gottfried Benn geschrieben. Bei ihm spielt die Farbe Blau eine große Rolle. Sie verbindet sich für ihn mit dem Mittelmeerischen. Dafür steht bei ihm der Satz: „Die Tiefe ist außen.“ Damit drückt er aus, dass die Deutschen immer hinter die Dinge schauen wollen. Sie interessieren sich nicht für das sichtbare Außen, sondern primär für das, was das Außen ausdrückt, also den Sinn oder eine Botschaft. Und das ist etwas, was mich überhaupt nicht interessiert. „Die Tiefe ist außen“: Das gilt auch für alles, was ich bisher gemacht habe. In meinen Filmen gibt es weder Gesellschaftskritik noch Botschaften, sondern nur das, was man sehen kann.

Aber handelt Ihr Film, der als Film-im-Film die Dreharbeiten zu einem Roadmovie schildert, nicht auch von einer Bildungsreise oder einer Sinnsuche?
Der Mönch, der darin auftaucht, sagt gegenüber seinem Abt, er habe drei junge Frauen getroffen, die auf der Suche nach dem Sinn des Lebens sind, also könne man sagen, auf der Suche nach Gott. Das passt eben zu seiner Rolle. Zum anderen bildet diese Suche den Hintergrund für das Thema von Nikes Film, die als Regisseurin die Dreharbeiten des Film-im-Films leitet. Das ist also nicht mein Film (lacht). Ich spiele einerseits mit diesen zwei verschiedenen Ebenen; andererseits ist Nikes Film natürlich auch mein Film. Ich bin der Erzähler von beiden Filmen. Ich verstecke mich gewissermaßen nur hinter der Figur Nike.

Wieso lassen Sie für Nikes Film einen Mönch, einen Philosophen und einen stummen Fischer auftreten, also archetypische Figuren?
Das musste so sein. Das sind gewissermaßen Klischee-Figuren oder Klischee-Modelle.

Warum sind es gerade drei Frauen, die auf diese Männer treffen und warum entwickeln sich aus diesen Begegnungen Liebesgeschichten?
Wie soll man das beantworten? Die Liebe passiert eben. So hat sich beispielsweise Janina Rudenska, die Darstellerin der Josephine, die im Film dem stummen Fischer begegnet, während der Dreharbeiten in einen italienischen Philosophie-Studenten verliebt. Der sprach kein Wort deutsch und sie sprach kein Italienisch. So hat sich für sie ihre Rolle im Film gewissermaßen im Leben fortgesetzt.

Die Frauen in Ihren Filmen erscheinen oft als Komplizinnen, die eine Bande bilden und unabhängig wirken. Warum suchen sie dennoch ihr Glück in der Liebe zum anderen Geschlecht?
Es gibt keine Gründe, warum Menschen sich verlieben. Und gerade wenn sie sich aus ihrem normalen Lebenszusammenhang lösen, wie zum Beispiel bei einer Reise, passieren solche Dinge. Das ist eben einfach so. Und ich fand das lustig und interessant.

Was hat Sie daran gereizt, einen Film übers Filmemachen zu drehen? Eine offensichtliche Referenz, gerade in Bezug auf das Haus am Meer, bildet ja Jean-Luc Godards „Die Verachtung“.
Als ich dieses sehr spezielle Haus als Drehort ausgewählt habe, war dieses Bild als Erinnerung da, aber es war nicht der Grund für meine Wahl. Auch in meinem Film „Das rote Zimmer“, in dem ebenfalls ein ungewöhnliches Haus vorkommt, spielt der Ort eine wichtige Rolle. Manche Drehorte sind für mich genauso wichtig wie die Schauspieler. Aber natürlich ist das Haus am Meer auch eine Reminiszenz an Godard; und zugleich einer meiner Träume.

Wie kam es dann aber bei Ihnen dazu, einen Film-im-Film zu realisieren?
Ich bekam die Anregung von meiner Tochter, die jetzt auch angefangen hat, Filme zu machen. Sie hatte mir im Scherz vorgeschlagen, einen Film über eine Tochter zu drehen, die Filme macht und dabei mit ihrem alten Vater, einem Filmregisseur, zusammen ist. Und so habe ich später diese Idee aufgegriffen. Ansonsten ist dieses Thema eher eine abschreckende Sache, weil die Branche einen Film-im-Film ablehnt. Es gibt diesbezüglich ja berühmte Vorläufer-Filme, etwa von Truffaut und Fassbinder. Was ich jedoch mache, ist völlig anders und hat auch noch nie jemand gemacht. Das findet man allenfalls bei Hong San-soo, den ich allerdings zu der Zeit, als ich das Drehbuch geschrieben habe, noch nicht kannte.

Warum reizt Sie der Blick aufs eigene Metier zur Ironie?
Ironie gibt es nicht nur hier, sondern in allen meinen Filmen. Das ist meine Art, Geschichten zu erzählen.

Im Film sagt der von Vadim Glowna gespielte Produzent einmal: „Alle meine Filme sind realisierte Träume.“ Gilt dieser Satz auch für Ihre Arbeit?
Ja, aber nicht direkt eins zu eins. Denn das würde ja heißen, dass die Konstellation, in der ein Mann mit mehreren Frauen zusammen ist, einen von mir realisierten Traum abbildet. Aber so einfach geht das nicht, im Gegenteil. Ich mag es zwar, mit dieser Idee zu spielen, aber für mich im Leben ist es kein Traum, mit mehreren Frauen zusammen zu sein. Ganz und gar nicht. Nein. Solche Konstellationen sind mehr von Goethes „Wahlverwandtschaften“ inspiriert, die ich ja zweimal verfilmt habe. Das ist spannender und reizvoller. Wie zum Beispiel in meinem Film „Paradiso“, wo ein Mann zu seinem 60. Geburtstag die sieben wichtigsten Frauen seines Lebens einlädt. Ich wollte die Biographie eines Künstlers zeigen und seine Vergangenheit, die durch seine Frauen erzählt wird.

Porträtieren Sie sich in der Figur des Produzenten selbst?
Ich bin eben auch Regisseur und Produzent, genauso wie Vadim Glowna. Klar gibt es da autobiographische Momente. Ich habe sogar mit dem Gedanken gespielt, die Rolle selbst zu übernehmen, falls ich keinen geeigneten Darsteller finde. Aber dann kam die Idee mit Vadim Glowna, der das Drehbuch las und dann den Film um jeden Preis machen wollte. Ich war erleichtert und fand ihn viel geeigneter. Er ist der bessere Schauspieler und kann viel differenzierter sprechen. Und so war ich froh um ihn.

Sie haben davon gesprochen, seit den Dreharbeiten zu „Ins Blaue“ eine neue Lust beim Filmemachen zu spüren.
Das rührt daher, dass Kamerafrau und Tonmeister entgegen der sonst üblichen Praxis bereit waren, die erste Probe schon zu drehen. Ich habe nämlich die Erfahrung gemacht, dass Schauspieler bei der Probe eine Szene für sich erfinden und dadurch unglaublich natürlich wirken. Wenn das dann aber toll ist und wir nicht drehen, geht es entweder verloren oder bei der Aufnahme ist nur noch die Hälfte der Energie und Spontanität spürbar. Also bestehen etwa 40 bis 50 Prozent der im Film vorkommenden Szenen aus Probeaufnahmen. Das ist absolut ungewöhnlich. Ich will Szenen nicht immer wiederholen müssen, was heutzutage durch das digitale Drehen noch erleichtert wird, weil ich auf dem Monitor sofort alles sehen kann. Ich merke, dass mir diese neuen Möglichkeiten Auftrieb geben. Ich kann damit gut umgehen und es passt zu meiner Arbeitsweise. Das ist die neue Kraft und Energie, die ich verspüre. Mir fehlt jetzt nur noch das Geld.

In Ihrem Film geht es auch um die Suche nach Sinn und Erkenntnis und die Frage nach den letzten Dingen. Was ist Ihre Lebensphilosophie? Sind Sie ein religiöser Mensch?
In vielen meiner Filme kommen religiöse Dinge vor. Zum Beispiel taucht in „Das Geheimnis“, in dem es auch eine „Wahlverwandtschaften“-Konstellation gibt, plötzlich ein Mann mit einem riesigen Kreuz auf, der lange kein Wort spricht, bis er plötzlich gegenüber seiner Gastgeberin das Schweigen bricht und unvermittelt sagt: „Ich bin Jesus Christus.“ Und sie antwortet: „Ich glaube nicht an Jesus Christus, ich bin Jüdin.“ Das ist kein Joke, das ist schon ernst. Wenn man die Bibel ernst nimmt, ist es möglich und denkbar, dass plötzlich in irgendeiner Situation ein zweiter Sohn Gottes auftaucht, der das wirklich ist, wenn man daran glaubt. Das kann ja passieren. So wie Marquard Bohm das spielt und wie es gedreht ist, wird man mit dieser Frage konfrontiert. Ich nehme die Religion ernst. Ich bin sehr religiös erzogen worden und war auf einem christlichen Internat. Ich besitze eine gewisse Religiosität und habe die Bibel gelesen, aber ich könnte nicht sagen, dass ich ein richtig gläubiger Christ bin. Philosophie wiederum spielt schon seit meiner Internatszeit eine Rolle, wo ich einen Deutschlehrer hatte, der ein glühender Jaspers-Verehrer war. Später habe ich dann auch Philosophie studiert und mich vor allem für den Existentialismus Albert Camus‘ begeistert, aber auch Heidegger gelesen. Viele Jahre später bei der Arbeit an dem in der blauen Hanser-Reihe erschienen Buch über Roberto Rossellini, bei dem ich mitgemacht habe, kam dann noch der Religionsphilosoph Georg Picht dazu, auf den mich der SZ-Filmkritiker Rainer Gansera hingewiesen hat. Picht fasziniert mich vor allem durch seine Sprache, die ich liebe. Sein Buch „Kunst und Mythos“ habe ich verschlungen wie einen Krimi. Das hat mich total fasziniert. Und insofern tauchen Dinge, die Picht geschrieben hat, immer wieder als Hintergrund in meinen Filmen auf.

„Wenn man zu vorsichtig ist, erlebt man nichts mehr“

( , Regie: )

Interview mit der Regisseurin Caroline Link über ihren neuen Film „Exit Marrakech“
von Wolfgang Nierlin

Für ihre Literaturverfilmung „Nirgendwo in Afrika“ aus dem Jahre 2001 wurde Caroline Link mit dem Oscar ausgezeichnet. Jetzt ist die Regisseurin für die Dreharbeiten zu ihrem neuen Film „Exit Marrakech“ …

Für ihre Literaturverfilmung „Nirgendwo in Afrika“ aus dem Jahre 2001 wurde Caroline Link mit dem Oscar ausgezeichnet. Jetzt ist die Regisseurin für die Dreharbeiten zu ihrem neuen Film „Exit Marrakech“ auf den afrikanischen Kontinent zurückgekehrt, um eine Vater-Sohn-Geschichte zu erzählen, die im Austausch mit einer fremden Kultur dramatisiert wird. Im Interview mit der Filmgazette sprach sie über ihre Faszination für Marokko, die Werte seiner Bewohner und die Offenheit für Erfahrungen beim Reisen.

Wolfgang Nierlin: Warum heißt Ihr Film „Exit Marrakech“?
Caroline Link: Ich wollte mit dem Titel „Marrakech“ signalisieren, dass Marokko eine große Rolle spielt; und „Exit“ war für mich der Begriff für eine Autobahnausfahrt, womit ich Bewegung oder auch das Genre des Roadmovies assoziiert habe. Mehr steckt nicht dahinter.

Warum haben Sie die Geschichte eines Vater-Sohn-Konflikts aber gerade in Marokko, also in einer fremden Kultur und Landschaft angesiedelt?
Genauso wichtig wie der Vater-Sohn-Konflikt ist mir das Land an sich. Ich habe in diesem Sinne etwas unorthodox entschieden, dass ich einen Film gerade dort drehen möchte, auch wenn ein solches Vorgehen nach Lehrmeinung eher unüblich ist. Ich habe aber vor zwanzig Jahren eine Reise mit meinem Mann Dominik (d.i. der Filmregisseur Dominik Graf) durch Marokko gemacht und ich wollte überprüfen, ob mich dieses Land immer noch so inspiriert und ob ich es immer noch so interessant finde in seiner Anmutung von Gefahr und Archaik, Verführung und Fremdheit. Im Hinterkopf hatte ich schon länger diese Konstellation von einem Sohn, der seinen Vater kaum kennt, bevor die beiden sich auf einer Fahrt dann näher kommen. Diese zwei Elemente waren mir also gleichermaßen wichtig. Ich habe sie dann zusammengefügt wegen meiner Wiederbegegnung mit Marokko. Die gleiche Geschichte hätte mich in Deutschland überhaupt nicht interessiert.

Welcher Austausch findet insofern statt zwischen dem Land und den Protagonisten?
Das Land ist dazu da, den Jungen der Gefahr auszusetzen, sich zu verlieren. In einem europäischen Land hätte das weniger funktioniert als in einem, in dem man die kulturellen Spielregeln nicht kennt. Ich wollte, dass das Publikum die ganze Zeit eine Gefahr von Bedrohung für diesen Jungen spürt.

In diesem Zusammenhang hat mich überrascht, wie unbekümmert, ja naiv er Land und Leuten begegnet. Ist das seiner Jugend geschuldet oder entspringt das eher einer Trotzhaltung gegenüber dem Vater?
Das ist für mich eine Art, zu sein. Der Junge ist unvorbelastet, er hat nicht so viele Ängste. Ich kann mich mit ihm identifizieren, weil ich früher auf Reisen auch unglaublich viel Mist gemacht habe, was glücklicherweise gut ausgegangen ist. Dem Jungen wollte ich diese Eigenschaften im Kontrast zu seinem Vater geben, der meint, schon alles gesehen, gelesen und erlebt zu haben. Ich fand diese Unbekümmertheit im Übrigen nicht so ungewöhnlich. Ich kenne junge Leute, die zwar einerseits ein stückweit naiv oder auch unvorbelastet sind; das ist aber andererseits auch ein großes Geschenk, wenn man so offenherzig sein kann. Man riskiert viel, aber dadurch passieren auch die tollsten Begegnungen. Wenn man immer zu vorsichtig ist und schon alles zu wissen meint, erlebt man auch nichts mehr.

Was fasziniert Sie persönlich an Marokko?
In diesem Land wollte ich lernen, was die Marokkaner an unserer Kultur nicht mögen und warum sie ihr feindselig gegenüber stehen. Ich habe verstanden, dass unser überheblicher und teils abwertender Umgang mit ihrer Kultur für Zorn sorgt. Es gibt Werte beziehungsweise ein Bild von der islamischen Gesellschaft, das mich berührt und das ich sehr wertvoll und kostbar finde. Zum Beispiel der weitaus weniger ausgeprägte Individualismus im Sinne von Egomanie. Die Menschen sind viel weniger damit beschäftigt, für sich selbst das Beste zu wollen, wenn es ihrer Community nichts bringt. Die Verbundenheit in der Familie oder der Dorfgemeinschaft hat mich diesbezüglich sehr beeindruckt. Für die Marokkaner ist unsere Welt sehr kalt. Jeder kümmert sich um sich selbst, und dass bei uns die Familie eine in Auflösung begriffene Institution ist, finden sie erschreckend. Mich fasziniert das Gefühl für Geborgenheit, Zusammengehörigkeit und Verantwortung füreinander. Man kann das daran beobachten, wie die Menschen körperlich aneinander hängen und sich nah sind. Dagegen wirken wir wie verklemmte Klötze.

Im Film sagt der Vater zu seinem Sohn: „Die Phantasie ist spannender als die Realität.“ Was meinen Sie dazu?
In der Figur des Heinrich steckt ziemlich viel von meinem Lebensgefährten Dominik Graf. Das Zitat stammt zum Beispiel von ihm. Ich bin das Gegenmodell dazu. Aber das ist keine Bewertung. Das Beste ist immer die Kombination. Nur in der Literatur zu versinken, würde ich allerdings nicht wollen, denn dann bräuchte ich das Haus ja gar nicht mehr zu verlassen.

Wird der Vater eigentlich zukünftig mehr Zeit haben für seinen Sohn?
Nein, er wird wahrscheinlich die gleichen Fehler mit seiner zweiten Familie machen wie mit seiner ersten, denn wir können uns alle ja gar nicht wirklich verändern. Wenn es allerdings einmal ein Bewusstsein dafür gibt, dann ist auf beiden Seiten ein gewisses Verzeihen und Akzeptieren möglich. Manchmal braucht es bloß diese Einsicht. Schließlich sehnt man sich immer nach Versöhnung, auch wenn man den anderen schrecklicherweise nicht verändern kann.

„Give me some rope I’m coming loose…“

( , Regie: )

Über den „Cliffhanger“ im wörtlichen Sinne
von Lukas Schmutzer

Im Kindesalter schürfte mir diese Szene einen nachhaltigen Schock ein: Ein als Bergretter auftretender Sylvester Stallone baumelt da an einem Drahtseil zwischen den Felsen einer berauschenden Landschaft in schwindelerregender Höhe. …

Im Kindesalter schürfte mir diese Szene einen nachhaltigen Schock ein: Ein als Bergretter auftretender Sylvester Stallone baumelt da an einem Drahtseil zwischen den Felsen einer berauschenden Landschaft in schwindelerregender Höhe. Nur noch an seiner Hand hängt die Freundin seines besten Freundes, die aufgrund eines hanebüchenen Materialfehlers droht, in die Tiefe zu stürzen. Der Titel des Films lautet bezeichnenderweise „Cliffhanger“ und trägt in der deutschen Lokalisierung den Untertitel „Nur die Starken überleben“ – die Freundin des besten Freundes gehört zweifelsohne nicht in diese Riege, sie schlüpft Mr. Stallone wortwörtlich durch die Finger, was Regisseur Renny Harlin in verzerrten Gesichtern und einem Sturz in Slow Motion festhält.

Derartige Szenen kennt der geübte Kinogänger aus zahlreichen Actionfilmen der vergangenen Jahrzehnte: Ob Conan, der (neuere) Barbar oder Indiana Jones, überall hängt ein Held, eine „damsel in distress“, oder deren Antagonist von Klippen, Hochhäusern, Brücken. Es handelt sich um eine der beliebtesten Methoden, einen Filmhelden zu traumatisieren. Gegen Ende des Films hat das traumatische Erlebnis dann in einer ähnlichen Form wiederzukehren, wird in der Regel jedoch anders (besser) aufgelöst. Natürlich können solche Szenen auch einmalig und unwiederholt in einem Film auftreten – auch dann nimmt das Erlebnis meist konkreten Bezug zu einer der Handlung zugrundeliegenden Problematik. So werden im Showdown von „Die Hard“ an einem Hochhausfenster mehrere der in den Figurenkonstellationen schlummernde Konflikte aufgelöst (man beachte, woran sich Alan Rickman da festkrallt!).

Insofern die Teilnehmer und die Faktoren solcher Sequenzen changieren, ist es schwer, sie auf einen bestimmten Aspekt zu reduzieren. Einmal sind es Klippen, die die Kulissen bilden, das andere Mal eine Brücke oder auch ein Hubschrauber, in dem gefochten wird. Anders als etwa im Duell eines Westerns können sich in dieser Form der Konfrontation – die ich schlicht „Cliffhanger“ nennen möchte – auch Freunde begegnen; und ebenso anders als im Westernduell mischt sich eine weitere Partei ein, eine äußere Notwendigkeit, die den Teilnehmern das Leben schwer macht (namentlich: die Schwerkraft). Nehmen weitere Akteure teil, sind verschiedenste Allianzen möglich.

Innerhalb dieses Feldes von Familienähnlichkeiten, die sich nicht in einem Punkt zusammenfassen lassen, möchte ich eine zentrale These einschreiben, welche auf den folgenden Seiten erprobt werden wird: Vor einer nicht zu bändigenden, gefährlichen Natur, die in das Walten des Menschen eindringt, drücken sich in einem Cliffhanger jene agonalen Kräfte aus, die der Filmhandlung ihre Spannung verleihen. Ein Cliffhanger lässt sich als Erzählung in der Erzählung, als ein Mini-Drama lesen, das zentrale Konflikte des größeren Ganzen repräsentiert. Unterschiedlichste Konstellationen sind prinzipiell möglich, wenngleich sich bestimmte Klischees abzeichnen (mit der „damsel in distress“ wurde auf einen solchen bereits hingewiesen). Der Korpus, den ich hierfür zusammengestellt habe, besteht fast ausschließlich aus Hollywoodproduktionen. Vor allem die Bergfilme der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts würden Potential für derartige Betrachtungen bieten, insofern sie auch einige Gewohnheiten des Nachkriegs-Hollywoods verfremdeten; doch bedürfte selbst das Herausnehmen einiger weniger Beispiele einer ausführlichen Analyse der zuweilen prekären ideologischen Rahmenbedingungen, die in diesem Text nicht geleistet werden könnte. Deshalb sei diese Filmepoche vorerst ausgeklammert, auch wenn dadurch eine Art Loch in der Betrachtung zurückbleiben mag. Entsprechend versteht sich auch die folgende Darstellung weniger als umfassende historische Auffächerung, sondern vielmehr als schlichter Fingerzeig auf ein Phänomen, das der Aufmerksamkeit verdient.

Eigentlich bezeichnet der Begriff „Cliffhanger“ nicht zwei innerhalb eines Films wiederkehrende Situationen, zwischen denen sich dessen Handlung aufspannt, sondern vielmehr den offen gelassenen Ausgang eines Films, der die Spannung bis zu dessen Fortsetzung streckt. (Man könnte natürlich argumentieren, dass auch Sylvester Stallones anfänglicher Kampf offen bleibt: Denn indem er durch sein Versagen traumatisiert wird, ist die Angelegenheit noch nicht beendet, und muss zwangsweise wiederkehren. Diese Spannung hätte den Film zu tragen.) Thomas Hardy lieferte mit seinem Fortsetzungsroman „A Pair of Blue Eyes“ im Jahr 1873 die Form dieses Kunstgriffs: Zunächst lässt Hardy seine Figur Henry Knight am letzten Büschel Gras von einer Klippe hinabhängen, und dann verschiebt er die Auflösung der misslichen Lage über das Kapitelende hinaus, was zum Zeitpunkt der Erstpublikation ein Monat Wartezeit für den Leser bedeutete. Das Paradigma, das Hardy geschaffen hat, ist allerdings umfassender: Schon in „A Pair of Blue Eyes“ finden wir den Cliffhanger als eine wiederholte Situation vor. Einige Kapitel zuvor beobachtet der reifere Henry Knight mit seinem kühlen Wissenschaftler-Blick die angebetete Elfride, wie sie am Geländer des Turms der West Endelstow Church balanciert. Sein Beschützerinstinkt lässt ihn gar wütend werden ob der Eigenermächtigung des jungen Mädchens, das da ohne Erlaubnis von Erzieher oder von Vernunft so leichtfertig handelt: „His face flushed with mingled concern and anger at her rashness.“ Aufgebracht mischt er sich in ihr Tun ein, worauf sie über ein aus einer Fuge wachsendes Büschel Gras stolpert und sich gerade noch auf die richtige Seite rettet, an der Henry Knight sogleich zur Stelle ist, um sie zu belehren. Intuitiv weiß sie wenige Minuten später: „Well, I felt on the tower that something similar to that scene is again to be common to us both.“ Mit wissenschaftlicher Kühle hält sich Knight ihre Zukunftsvision vom Leib; seine Perspektive bleibt darüber hinaus zu eindimensional, als dass er sich eine andere Besetzung vorstellen könnte – er selbst kann sich nur in der dominanten, befehlsgebenden Position eines Sylvester Stallone denken: „That such a thing has not been before, we know. That it shall not be again, you vow [Hervorhebung L.S.]. Therefore think no more of such a foolish fancy.“

Doch es kommt anders, als er Elfride zufällig am Bristol Channel wiedertrifft. Gemeinsam spazieren die beiden auf einer „Cliff without a name“ bis zum oberen Rand einer Böschung, die am Ende der Klippe in den Abgrund mündet. Knight, der eben noch das Entstehen der Windströmungen an dieser exponierten Position beschrieben hat, stapft im nächsten Moment die Böschung hinunter, um seinen vom Wind verwehten Hut zu retten. Ein plötzlicher Regenguss macht es ihm sodann unmöglich, im entstandenen Schlamm wieder hinan zu kommen; nachdem noch ein Stein wegbricht, endet Knight als Cliffhanger an einem Grasbüschel, über das Elfride am Kirchenturm noch gestolpert war.

Auch diese Art des Cliffhangers – als einen Balanceakt in schwindelerregender Höhe – hat Hardy nicht erfunden. Es wird gemutmaßt, dass er sie sich von einem kurzen Text von Leslie Stephen abgeschaut hat, „A Bad Five Minutes in the Alps“, der ausschließlich von einem Bergwanderer handelt, der abrutscht und sich am Fels über dem Abgrund festkrallt. (vgl. Halperlin 1980) Einem Jahrhundert, das sich durch alpinistische Bemühungen ausgezeichnet hat, wird der Topos des drohenden Absturzes allerdings auch schon zuvor geläufig gewesen sein – sozusagen als düstere Kehrseite des stilisierten Wanderers über dem Nebelmeer. (vgl. Scharfe 2007) Das, was Hardys Darstellung bemerkenswert macht, ist, wie sie alpine Ängste mit weiteren Konflikten verwebt, Konflikte, welche anders als die alpinistischen nicht der Gesellschaft entkommen wollen, sondern im Gegenteil in deren Innerstes zurückweisen.

Nachdem Elfride, im Versprechen, für Hilfe zu sorgen, hinter der Böschung verschwunden ist, sieht sich Knight einem Relikt einer vergangener Epoche gegenüber: Er blickt auf einen fossilen Trilobiten, der sich im Überlebenskampf offenbar als nicht „fit“ genug erwiesen hat. Ein Schicksal, das nun auch Knight droht. Seine gefährliche Lage kränkt das Selbstverständnis des aufgeklärten Menschen; aus seiner wissenschaftlichen Distanz wurde er zurück in den Überlebenskampf gerissen, den viele andere vor ihm verloren haben. Der baufällige Kirchturm tritt in Analogie zum lebensuntüchtigen Gliederfüßer – der eine wie der andere endet als Relikt einer vergangenen Zeit. (vgl. Radford 2003, 50ff)

Ironischerweise fühlt sich Knight kraft seines Intellekts noch immer dem Trilobiten überlegen, und er vollbringt das Kunststück, auch in der großen Gefahr sich mit wissenschaftlicher Strenge vom unmittelbaren Geschehen zu distanzieren, wenn er den Gliederfüßer aus dem Jetzt ins Erdaltertum befördert und mit kühlem Verstand dessen Lebensumstände imaginiert. Seinen trotz körperlich fehlender „Fitness“ funktionierenden Verstand stellt er erneut unter Beweis, als Elfride mit einem Haufen von Leinenfetzen in den Händen zurückkehrt: Er beginnt, seine eigene Rettungsaktion selbst anzuleiten. Sie solle die Fetzen zusammenzubinden und jeden der Knoten einzeln testen, damit er auf einem improvisierten Seil aus seiner misslichen Lage entkommen könne – was zuletzt gelingt.

Zurück in Sicherheit stürzt Knight in eine erneute Krise: Erst jetzt kann er den so plötzlich seltsamen Wurf von Elfrides Kleidern deuten – unter der einen obersten Schicht ist sie nackt! Zum Seilbau hat sie sich ihrer Unterwäsche entledigt und rettete sein Leben, indem sie ihn an diese Wäsche ließ. Aus dem Cliffhanger fertigt Hardy nicht nur eine extreme, sondern vor allem eine intime Szene. Knight verbietet sich, die pikante Situation (Elfride läge ihm seiner Ansicht nach willig in den Armen) zu seinen Gunsten (aus-)zu nutzen. Zu seinen erotischen Möglichkeiten hält er dieselbe Distanz wie zu dem Trilobiten. Knight verwehrt sich seine Triebe; genau das rettete sein Leben; und genau das hält ihn von Elfride fern. Einer demütigenden Situation begegnet er mit Distanz.

Stellt man die Szene auf dem Kirchturm der späteren auf der namenlosen Klippe gegenüber, so zeigt sich: Beide Male nehmen die prekären Situationen vor gleichgeschalteter Kulisse einen glimpflichen Ausgang, während Knight und Elfride ihre Rollen vertauschen; in der Rhetorik würde man von einem Chiasmus sprechen. Keiner der Beteiligten trägt ein Trauma davon; vielmehr wird das Erlebnis zu einer weiteren, verdichtenden Episode in ihrer Beziehung zueinander, die selbst wiederum durchaus traumatischer Natur sein kann – die Anglistin Joanna Devereux zeigt etwa in ihrer Dissertation, wie Elfride als Objekt der Begierde erst von den männlichen Blicken Knights konstruiert wird. (vgl. Devereux 2003, 1-19) Diesen Blicken ist sie gerade in den Extremsituationen ausgesetzt.

Auch in Renny Harlins „Cliffhanger“ geht es in der Anfangsszene nicht nur um „distress in the mountains“, sondern um mehr: Um eine „damsel in distress in the mountains“, die zwischen zwei Männern über dem Abgrund hängt. Wie ist es dazu gekommen? Der erfahrene Kletterer und Bergretter Hal schleppt seine unerfahrene Freundin Sarah zu einer allem Anschein nach anspruchsvollen Bergtour, mit dem Versprechen, dass diese „besser als Sex“ sei. Irgendwie schafft es Hal, sich noch am Gipfel sein „aus Vietnam“ lädiertes Knie erneut zu lädieren, worauf die Bergrettung ausrücken muss und was einem sich als Sylvester Stallone ausgebenden Ausnahmekletterer Anlass gibt, eindrucksvoll, überhängend und völlig ungesichert zu seinem Filmfreund emporzusteigen. Dem Zuschauer vermittelt das: Der Kerl gehört definitiv zu jenen Starken, die im deutschen Untertitel so wirksam beschworen werden. In einem sich am Gipfel entspinnenden Wortwechsel entlarvt Sylvester Stallones Figur Gabe die Vietnam-Verletzung seines Freundes als einen Badezimmer-Ausrutscher, kurz bevor er beginnt, mit dessen Freundin zu kokettieren.

Egofight im Bergmassiv – Szene aus „Cliffhanger“ (Foto: © Studiocanal)

Hal wollte mit der Tour seine Freundin beeindrucken, was damit endet, dass er von seinem ohnehin fähigeren Freund gerettet werden muss, der nun obendrein mit jener Freundin flirtet. Als Sarah schließlich in Not gerät, ist es gerade Gabe, der den Ton angibt und die Rettungsaktion leitet. Dass Gabes Plan doch einmal schiefgeht, versetzt seinen Freund Hal endlich in die Lage, Kritik an dem schillernden Freund üben zu dürfen („Du hast es auf deine Weise gemacht und jetzt ist sie tot!“, heißt es später). In der Einstiegssequenz wird nicht der Tod einer Frau verhandelt, sondern der Konflikt zweier Männer-Egos. Die Grundspannung von Sylvester Stallones Figur ist dann auch die etwas narzisstische Auseinandersetzung mit seiner eigenen Potenz (bin ich fähig? kann ich das? kann ich helfen?), die er allerdings schon bald wieder unter Beweis stellen wird, sodass letztlich der tatsächlich eintretenden Wiederkehr des anfänglichen Traumas kaum noch Bedeutung zukommt. Eine andere Frau wird dann die Lücke der Verunglückten schließen, während Stallone erneut in die Situation gerät, diese Frau an seinem Arm hochziehen zu müssen.

Der Bergretter Gabe bleibt über der schwindelerregenden Tiefe handlungsfähig; und auch Henry Knight schaut nicht seinem eigenen Tod ins Auge, sondern dem des Trilobiten im Erdaltertum. Der Schwindel – bzw. die Freiheit davon – als genuin alpinistischer Topos wird im Cliffhanger zur Bedingung der Möglichkeit allen Handelns. Was wundert es da, dass Hitchcocks „Vertigo“ mit einem Cliffhanger anhebt (wenn auch in urbaner Kulisse)? Bei einer Verfolgungsjagd bleibt der Polizist Scottie Ferguson an einer Regenrinne auf den Dächern San Franciscos hängen; der bemerkenswerte Ausgang lässt nicht den Hängenden, sondern den Retter scheitern: Aufgrund seiner Hilfsbereitschaft stürzt dieser in den Tod. Scottie wird indessen hängengelassen, ohne dass sich die Unterwäsche einer Elfride ergreifen ließe (und auch an dem Büstenhalter, den er in der Folgeszene zu Gesicht bekommt, kann er sich nicht mehr aus seinem Trauma herausziehen). Scottie beschäftigt die eigene Potenz, die sich im Helfen, Sorgen, Beschützen, aber auch im Gestalten einer begehrten Frau erprobt. Laura Mulvey macht in ihrem klassischen Essay „Visual Pleasure and Narrative Cinema“ den Blick als einen wesentlichen Agenten dieses Begehrens aus: „Vertigo focuses on the implications of the active/looking, passive/looked-at split in terms of sexual difference and the power of the male symbolic encapsulated in the hero.“ (Mulvey 2009, 25) Im Cliffhanger, wo das Verhältnis eines aktiven Helfers zu einem/einer passiven Hilfsbedürftigen aufs Engste verdichtet wird, zeigt sich dieses männliche Blicken als instabil. Kurz nach seinem ersten Schwindelanfall sieht der hilfsbedürftige Scottie seinen helfenden Kollegen in den Tod stürzen. Später kann Scottie seine Position noch einmal wechseln, wenn er Judy vor dem Ertrinken rettet. Nebst der Golden Gate Bridge springt er ihr ins Wasser hinterher (ein ähnlich intimer Moment wie am Bristol Channel, allerdings ohne die entsprechenden Höhenmeter) und bemerkt: Er ist noch zur Hilfe fähig, er kann für sie da sein, wie er es später immer wieder betonen wird. Vor den Folgen seiner Nähe kann er sie nicht mehr bewahren, weil ihn in der Position des Helfers die Höhenangst ergreift: Man mag sich fragen, ob nicht ebenso das Bewusstsein des am Anfang in den Tod fallenden Helfers zu seiner Angst und seiner Hemmung beiträgt – ein Bewusstsein dessen, dass es auch gefährlich sein kann, als aktiver Part zu helfen und zu gestalten. Was Elfride auf dem Kirchturm noch erspart blieb, stößt Judy zu.

Henry Knight wird gar nicht traumatisiert; stattdessen eröffnet ihm der Cliffhanger erotische Möglichkeiten (die er sich verwehrt). Sylvester Stallone/Gabe, der Bergretter, kann sein Trauma in einer Wiederkehr abändern und seine Hemmungen so überwinden. Scottie kann die Begegnung mit der Höhe niemals zu seinen Gunsten wenden: Das, was er begehrt, bekommt er nie zu fassen.

Abhängen – Szene aus „Safety Last!“ (Foto: © Universal)

Als Hommage an zahlreiche stumme Abenteuerfilme zeigt ein Film im Film in „The Artist“ einen im Treibsand versinkenden Helden, der von seiner verzweifelten Geliebten nicht mehr gerettet werden kann. Mit den letzten Worten gesteht der Held, sie nie geliebt zu haben. Dass der Held stirbt, wäre noch zu verkraften; aber dass er dabei noch das Beziehungsgeflecht, in das ihn die ganze Handlung verwickelt hat, einfach zertrennt und seine Liebe als nichtig erklärt (während Judy in „Vertigo“ zumindest sich noch aus Schuld in den Tod stürzt), kann einem – wenn auch fiktiven – Publikum, das nach tiefen Emotionen giert, nicht bekommen. Nur die Natur behält hier ihre tödliche Härte. Dagegen macht Harold Lloyd das Publikum glücklich. Sein Gipfelsturm in „Safety Last!“ soll alle Probleme des durchschnittlichen Städters bewältigen. Mit seiner waghalsigen Erstbesteigung arbeitet er sich in die Mitte der Gesellschaft. Lloyd erklimmt die Fassade eines Wolkenkratzers, auf dessen Dach er von seiner Freundin nicht nur erwartet, sondern regelrecht aufgefangen wird. Auf die berühmte Einstellung, in der Lloyd an dem Zeiger einer Turmuhr über dem Abgrund baumelt, folgt Lloyds verzweifeltes Schnappen nach einem Seil, das sein vor der Polizei fliehender Freund herabgelassen hat. Für Lloyds Not halten die beiden Parteien – Verbrecher und Gesetzesvertreter – in ihrer Verfolgungsjagd dann auch kurz inne, um das Seil zu halten; die Gesellschaft, egal wie zerstritten, steht für die Notleidenden gerade, aber nur bis zu dem Punkt, an dem sie nicht mehr notleiden. Den Aufstieg hat man gefälligst selbst zu bewerkstelligen.

In der Batman-Trilogie von Christopher Nolan birgt ein jeweiliger Cliffhanger die Grundbewegung jeden einzelnen Films. In „Batman Begins“ hilft der Vater dem jungen Bruce Wayne aus einer Höhle, in die er gestürzt ist; bei einem Überfall kann Bruce Wayne aber nicht seinem Vater helfen. Stattdessen rettet Bruce später eine andere Vaterfigur, seinen Mentor, als dessen regloser Körper von einer Explosion auf eine abschüssige Eisplatte geschleudert wird, die über einem Abgrund endet. Wayne zögert nicht, ihm nachzurutschen, ihn zu ergreifen und im letzten Moment die Zacken seiner Armschienen ins Eis zu rammen; der eine Arm hängt am Eis, der andere hält den Lehrmeister. Mit einem sogar eines Sylvester Stallone würdigen Kraftaufwand hebt ihn Wayne zurück über die Kante. Unmittelbar davor hatte der Lehrmeister seinen Schüler an sein Kindheitstrauma (der Angst vor Fledermäusen) herangeführt und ihn bewogen, dem entgegenzutreten. Zugleich hat aber Wayne zu seinem Mentor unüberbrückbare Differenzen in wesentlichen Belangen festgestellt – er distanziert sich von den Regeln seines Lehrmeisters. Indem er diesen aber vor dem Tod bewahrt, bewahrt er auch dessen Regeln sowie seinen eigenen Konflikt mit diesen Regeln (anders als Elfride, die in der Notsituation Knights Anweisungen gehorcht und auch weiterhin von ihm geformt wird). Seine Selbstwerdung kann erst beendet sein, wenn er sich seinem Lehrmeister ein weiteres Mal gestellt hat – auf diese Weise vollführt der Film den Spagat zwischen dem Erzählen von Batmans Ursprung und der Notwendigkeit eines Bösewichts.

Im Nachfolger „The Dark Knight“ hat der Joker Batman überwältigt; auf ihm liegend, beginnt er mit dem längst bekannten Spielchen: „You know how I got these scars?“ Batman aber lässt nicht mit sich spielen: „No. But I know how you’ve got these“, womit er die Zacken seiner Armschienen ankündigt, an denen im Vorgänger noch das Leben seines Mentors hing. Nun fliegen sie dem Joker ins Gesicht und dieser im nächsten Moment aus dem hohen Stockwerk. Dämonisch lachend fällt er in die Tiefe, bevor er aufgefangen, zurück in die Höhe gezogen und kopfunter hängen gelassen wird. Im sich nun entfaltenden Dialog stehen/hängen sich Batman und der Joker wie zwei diametrale metaphysische Prinzipien gegenüber.

In der chaotischen Dramaturgie des letzten Teils „The Dark Knight Rises“ findet sich ebenso ein Cliffhanger, der diesmal ohne Widerpart auskommt: Bruce Wayne braucht kein Seil, keine Elfride und keine Unterwäsche, er erkämpft sich unter maximalem Risiko selbst den Weg zurück in die Höhe, aus der er hinabgeworfen wurde.

Thronfolge im Eilverfahren – Szene aus „König der Löwen“ (Foto: © Disney)

Nicht nur Freunde und Retter begegnen sich über dem Abgrund, sondern auch Todfeinde. Ausgerechnet die Disney-Studios haben dafür sehr treffende Bilder gefunden: In „The Lion King“ kommt eine Variante des Hamlet-Konflikts in Cliffhanger-Form zum Ausdruck, wenn Mufasa, der König der Löwen, aus einer Schlucht herausklettert, auf dessen Grund eine wildgewordene Antilopen-Herde rast, während sein machthungriger Bruder Scar oben wartet. Dieser krallt sich die königlichen Tatzen und lässt ihn mit einem gehauchten „long live the king“ wissen, dass er im Begriff ist, die Erbfolge an sich zu reißen, bevor er ihn in die Antilopen-Herde zurückwirft. Der rechtmäßige Thronfolger Simba sieht den Tod des Vaters; anders als Prinz Hamlet kennt er nicht den Tathergang, sondern fühlt sich aufgrund der Intrigen seines Onkels selbst für den Tod verantwortlich. So ist bei ihm auch keine Melancholie und kein erhöhter Drang ins Selbstgespräch feststellbar, sondern die Flucht in die Verdrängung. Wo Hamlet angesichts seiner Nachdenklichkeit zu keiner Tat fähig ist, ist es Simba lange aufgrund seiner vermeintlichen Schuld. Er unterwirft sich einem listigen Bösen in dem Moment, wo er sein schlechtes Gewissen akzeptiert. Als er sich zuletzt doch der Vergangenheit stellt, ist es diesmal er selbst, der unter Scar an der Klippe hängt; damit Simba die Wahrheit erkennt, bedarf es erneut der Worte Scars, die siegessicher den eigentlichen Königsmörder entlarven. Erst da kann Simba die Herrschaft seines Onkels brechen. Simba kann nur reagieren, nicht agieren.

Ähnlich wird das Liebesleben des jungen Prinzen reflektiert; Simba und seine Kindheitsfreundin Nala stürzen während einer Rauferei wenn nicht über Klippen, so doch über eine Böschung (die auch, wie wir von Hardy wissen, in die ungebändigte Natur führen kann). Am Ende dominiert Nala über Simba, sie liegt oben. In einer Wiederholung dieses Kampfes (auf ebenem Boden) erkennen sich die beiden als junge Erwachsene wieder; der ernsthafte Kampf kippt dabei ins Kindliche, sobald Nala ihn erneut für sich entschieden hat. Ein letztes Mal wird dieses Spiel wiederholt, diesmal kullern sie wieder eine Böschung ins Unbekannte hinab, nur lässt Nala sich jetzt überwältigen, wobei sie, rücklings liegend, Simba und mit ihm dem Zuschauer einen Blick zuwirft, so lasziv, wie man es in einem Disney-Film nicht für möglich gehalten hätte. Damit erschöpft sich die weibliche Handlungsmacht in „The Lion King“ in der binären Option von Sich-Verwehren und Sich-Hingeben.

Zwischen all diesen männlichen Allmachtsfantasien, männlichen Konflikten und männlichen Überlebenskämpfen hat Kathryn Bigelow die Hyperbel inszeniert: Die Leere, der Abgrund ist da überall, der rettende Fels auf einen Rucksack reduziert, und die heikle Balance zwischen Hängen und Stürzen, die sonst mit aller Kraft aufrechterhalten wird, bereits durch den kontinuierlichen Fall beider Parteien ausgetauscht.

Am Höhepunkt von „Point Break“ sehen wir einen Fallschirmsprung (an sich schon „Sex with the gods“, wie es zuvor im Film geheißen hat) ohne Fallschirm, wenn der Jungspund Johnny Utah seinem sportlich-spirituellen Mentor sowie Gegenspieler und Erpresser Bodhi aus dem Flugzeug hinterherspringt. Utah, als FBI Agent ein Vertreter des Gesetzes, hat durch Bodhi einen Way of Life gefunden, der mehr Erfüllung und mehr Freiheit als die staatliche Karriere verspricht. Dass dieser Way of Life auch dunkle Seiten umfasst, muss Utah im Rahmen seiner Ermittlungen entdecken.

Szene aus „Point Break“ (Foto: © Warner)

Bereits einen Fallschirmsprung zuvor – hier noch in freundschaftlicher Gesellschaft – wird erprobt, wer es wagt, später die Reißleine zu ziehen. Das Spiel endet in einer Art Remis, als sich Bodhi an Utahs Rucksack vergeht. Bei dessen Wiederholung meint man fast, Bodhi hätte Utahs waghalsigen Ausstieg absichtlich provoziert, so selbstverständlich begrüßt er seinen Freund in der Luft. In gewisser Hinsicht ist der Adrenalinjunkie Utah damit längst auf die Seite des Adrenalinjunkies Bodhi übergelaufen. Zwar geht es auch hier (wie in Harlins Cliffhanger) um das Leben einer Frau, die hier am Boden als Geisel wartet, doch verhandelt die Konfrontation vielmehr die Egos der beiden Männer (wie in Harlins Cliffhanger), die sich direkt gegenüberstehen (nicht wie in Harlins Cliffhanger). Diesmal wird Johnny an der Reißleine Bodhis ziehen – eine Kreuzstellung zum vorangegangenen Sprung; nur dass mit diesem Streich beide Leben gerettet werden.

Wird ein Cliffhanger tatsächlich zu dokumentieren versucht, zeigt sich zuallererst, wie elendig langsam und lange sich eine solche Szene gegenüber dem Imaginären Hollywoods hinziehen kann (nur bei Hardy dehnt sich die Szene in die Länge): „Touching the Void“ (2003) erzählt von der Seilschaft zwischen Simon Yates und Joe Simpson bei einer Besteigung des Siula Grande in den Anden. Beim Abstieg bricht sich Simpson ein Bein. Yates entschließt sich, den Verletzten über die steilen Schneefelder abzuseilen. Als das Gelände unerwartet immer steiler wird und ein tobender Sturm die Kommunikation zwischen den Seilpartnern verhindert, endet Simpson unterhalb eines Felsvorsprungs, unfähig sich hinaufzuziehen. Eine Stunde hält ihn der unwissende Yates bis zur Erschöpfung, bevor er das Seil mit einem Messer kappt. Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass, obwohl sie, anders als die bekannten Stilisierungen, auf ein tatsächliches Geschehen verweist, zugleich auch die trostvollere Auflösung bietet: Der Sturz ins Leere kann, anders als bei „Cliffhanger“, anders als bei „Vertigo“, im Guten enden, der Natur kann auch in der Aussichtslosigkeit ein Sieg abgerungen werden. Wie in Vertigo beginnt mit dem Cliffhanger erst Simpsons Leidensweg; doch Simpson ist gefallen, nicht hängen geblieben, und kämpft sich gegen seine Ängste in dem unwegsamen Gelände, in das er gefallen ist, voran. Es liegt im Grunde eine ähnlich pathetische Bewegung wie in „The Dark Knight Rises“ vor: Der Mensch, der sich im Alleingang gegen die ungebändigte Natur behauptet.

Darstellungen einer derart drohenden Naturgewalt finden sich vor allem in Panoramen der Sintflut, wie sie in der Kunstgeschichte oft entworfen wurden (vgl. die Arbeiten von Michelangelo, Baldung, Jan Brueghel des Älteren, Wtewael, Poussin, und vielen anderen). Dort retten sich in zahlreich aneinandergereihten Szenen Menschen selbst sowie ihre Angehörigen vor den Fluten auf Felsen – oder auf die schutzverheißende Arche des „gerechten“ und „untadeligen“ Noachs (Gen 6,9); denn mit der Sintflut wollte Gott alle Menschen, die er erschaffen hatte und die in Sünde lebten, „vom Erdboden vertilgen“ (Gen 6,7). Später wurde die Arche allgemeiner als Kirchengemeinschaft gedeutet, die für ihre Angehörigen allein Schutz in einer gefährlichen Welt zu bieten vermag. Wer von dieser Gemeinschaft abfällt, findet sich im chaotischen Treiben der Vergänglichkeit wieder.

In vielen Szenen der Sintflutdarstellungen lassen sich Cliffhanger in nuce finden – Kinder werden auf Felsen hinaufgereicht, Männer klettern auf Bäume, vergeblich klammert man sich an die Arche. Ob sich dieser Kontext als Hintergrundrauschen bis in die filmischen Cliffhanger gehalten hat? Vielleicht ist es das, was James Stewart alias Scottie Ferguson Angst bereitet: Der Fall in die Fluten angesichts seines sündigen Begehrens. Die Form der Spirale, die Hitchcocks ganzen Film bestimmt, wird so zum Mahlstrom einer Sintflut, der mit Strafe droht. Dann würde die Logik, die Scotties Handeln lähmt, lauten: Wenn ich meinem Begehren nachgehe, droht mir die Strafe. Ganz ähnlich (aber mit anderen Folgen) nimmt sich Henry Knight zurück; diese Deutung würde dann auch seiner wissenschaftlichen Distanz eine mythische Herkunft zusprechen.

Eine der frappierendsten Sintflutdarstellungen stammt von Anne Louis Girodet-Trioson, die 1806 im Salon de Paris erstmals ausgestellt wurde. Sie zeigt einen Familienvater, der mit aller Kraft sich an einem sich im Bersten befindenden Ast festkrallt, während er den eigenen Vater, Frau und Kinder hält. Girodet-Trioson war es nicht um das biblische Motiv gegangen, er wollte seine Darstellung säkular verstanden wissen; fälschlicherweise wurde das Gemälde als „Scène du déluge“ ausgestellt, wo der eigentlich intendierte Titel des Malers „Scène de déluge“ gewesen war – „du“ würde eine bestimmte Sintflut bezeichnen, die Sintflut, während „de“ eine unbestimmte Sintflut bezeichnet.

Interpreten sehen in dem Gemälde Zeitbezüge, etwa eine Kritik an den Verhältnissen der napoleonischen Zeit: Der Fall in die Fluten als der drohende Rückfall in das Chaos der französischen Revolution. (vgl. Cleaver 1978, 96f) Dieser zeitgenössische symbolische Gehalt ist für die vorliegende Betrachtung weniger von Bedeutung als die unmittelbare Komposition des Bildes und dessen konkrete Referenzen auf eine Familie, die droht, auseinander zu reißen. Es ist eine Komposition, der im Spielfilm neue Symboliken aufgeprägt wurden: Girodet-Trioson fand eine imaginäre Form, für die Hardy Jahrzehnte später einen symbolischen Rahmen schaffen sollte.

Anders als frühere Sintflut-Panoramen wie etwa in der sixtinischen Kapelle zeigt Girodet Trioson ein Fragment, um nicht zu sagen: eine Nahaufnahme anstatt einer Totale. Es war dann dies auch einer von vielen Punkten, der zeitgenössische Kritiker verstörte. Man merkte weiters an, dass eine Skulptur dem Inhalt angemessener gewesen wäre (aber auch eine Skulptur scheitert noch an der Darstellung jener Bewegungsfolgen, die später das Kino darstellen konnte). Dann fragte man sich, ob so eine hoffnungslose Situation überhaupt dargestellt werden dürfe, denn man wollte von einem Kunstwerk bewegt, aber nicht von Kummer überwältigt werden (gemessen an dem Schockpotential heutiger Kunst für uns eine seltsam unzeitgemäße Forderung). Die Brutalität des Bildes selbst irritierte; dass der ältere Sohn sich an den Haaren der Mutter in die Höhe zog. Es verwirrte, dass manche Muskeln angespannt waren, andere wiederum entspannt; dass die Muskeln des Großvaters durchtrainiert waren, während seine Füße taub wirkten. Es benötigte eine Artistenfamilie, bemerkte man, um derartige Haltungen auszuhalten. Wie gelangte man überhaupt in eine solche Lage? Sei die ganze Komposition nicht einfach unglaubwürdig? (vgl. Cleaver 1978, 96f) Ich stelle mir vor, dass das Bild damals auf die ersten Betrachter sehr ähnlich wie die Eröffnungssequenz von Harlins „Cliffhanger“ heute auf ein (noch nicht an die Schockambitionen heutiger Kunst und heutiger Filme gewöhntes) Kind gewirkt haben muss. Der Konsens 1806 war: Ein grandioses Gemälde, aber sowohl in Motivwahl als auch in Ausführung etwas zu angestrengt.

Wenn die Sintflut in Wes Andersons jüngstem Werk „Moonrise Kingdom“ eine Art Metaerzählung bildet, und dieses Werk obendrein noch die fragilen Verhältnisse von Generationen, Gesellschaft und innerhalb von Familien zum Thema hat, schiene es aus der bis hierher dargelegten Perspektive nahezu angebracht, auch einen Cliffhanger einzubauen, in dem sich diese Konflikte verdichten. Zu meiner eigenen Überraschung habe ich, am selben Tag, an dem ich die soeben geschilderten Zusammenhänge erstmals für mich skizzierte, abends im Kino auch einen zu Gesicht bekommen. Ein Kirchengebäude fungiert in „Moonrise Kingdom“ selbst als Arche, von der zwei Heranwachsende in jedem Sinne abzufallen drohen: Bevor man sie wie am Ende ihres ersten gemeinsamen Weges erneut trennt, wollen die beiden Verliebten vom Kirchturm springen. Bruce Willis – der dem Zuschauer in „Die Hard“ noch versicherte: „I promise I will never even think about going up in a tall building again“ – wagt sich angeseilt hinterher, während rings herum das Unwetter tobt. Die Besetzung ist freilich kongenial gewählt: In Bruce Willis vereinen sich Ziehvater und Actionheld, Unternehmer und Versöhner. Er ist es, der zwischen Interessen der Kinder und dem Gesetz des Jugendamtes vermittelt, und als der göttliche Blitz diese Vermittlung noch einmal auf die Probe stellt (und zugleich einen „plausiblen“ Tathergang für einen Cliffhanger schildert), ist auch er allein es, der der Naturgewalt etwas entgegenzusetzen hat.

Bruce Willis agiert mutig, aber noch nicht souverän. In keiner der bisher analysierten Szenen konnte irgendein Teilnehmer eine Souveränität gegenüber den Naturmächten für sich beanspruchen. Freilich, Patrick Swayzes „Bodhi“ kitzelt das Spiel mit dem Tod. Und Heath Ledgers Joker, ein „pervertierter Übermensch“ (Daniel Bickermann im mittlerweile leider eingestellten Schnitt), darf als einziger der göttlichen Strafe höhnisch entgegenlachen. Simba musste erst von seiner Schuld erlöst werden. Und alle anderen kämpfen oder resignieren mit ihren Menschenmitteln gegen die Grausamkeiten des Werdens. Jene Hybris, die den Kampf gegen die Natur entwerten würde, sie zu einem Spiel ohne dem höchsten aller Einsätze degradierte, war bisher noch nicht zu finden.

This thing called life – Szene aus „Blade Runner“ (Foto: © Warner)

In „Blade Runner“ wird der Androide Roy Batty zuletzt zur Personifikation dieser Hybris, wenn er seinen vormaligen Jäger und Mörder seiner Angehörigen Rick Deckard über die Dächer von L.A. jagt (man hatte mit dem Gedanken gespielt, das Zukunfts-L.A. als eines, das mit San Francisco zusammengewachsen war, darzustellen; was dann nicht nur eine formale sondern auch eine seltsame urbane Nähe zu Hitchcocks Vertigo herstellen würde; vgl. Sammon 1996, 75). An der Außenfassade kletternd, an den Simsen balancierend, über die Häuserschluchten springend – Ridley Scott inszeniert die Urbanität als postapokalyptisches Gebirge, das, als Menschenwerk der Schwerkraft trotzt (der Turmbau zu Babel folgt in der Bibel direkt auf die Sintflut). Roy Batty weiß sich in den Höhen zu behaupten, während Deckard an der Kante eines Metallvorbaus über dem Abgrund endet. Schwerkraft und Strafe existieren auch noch hier. „Quite an experience to live in fear, isn’t it?“, fragt Batty von oben herab. „That’s what it is to be a slave.“ Ein Herrschaftsverhältnis etabliert sich, Batty hat sich, William Blakes Orc gleich, von seinen Fesseln gelöst, zur Freiheit aufgeschwungen und andere sich unterworfen. Deckard aber trotzt dieser Übermacht, wenn er im Moment seines Versagens – und dieser Moment ist so kurz, dass er kaum bemerkbar ist – Batty entgegenspuckt. Dieser Trotz muss den lebensliebenden Batty so imponieren, dass er reflexartig – auf den reflexhaften Antrieb dieser Handlung verweist ein Zitat Scotts vom Set (Sammon 1996, 194) – Deckard auffängt und in aufrechter, erhabener Haltung mit einem Arm zurück aufs Dach hebt.

Die Ängste, denen Scottie in „Vertigo“ ausgesetzt ist, tangieren Roy nicht einmal; kein Schwindel befällt ihn. Er ist kein Mensch, sondern als Replikant „menschlicher als der Mensch“. Die einzige Steigerung, die hierzu noch möglich wäre: Anstatt souverän mit den Naturgesetzen umgehen zu können, diese einfach zu brechen. Auch das wurde in Form des Cliffhangers in Bilder gefasst.

Stellt man den Titel von Hayao Miyazakis „Das Schloss im Himmel“ Hitchcocks „Vertigo“ gegenüber, so fällt bereits hier eine gewisse Spannung auf: Letzterer handelt von dem Schwindelgefühl, das der Höhenangst entspringt; der andere bezeichnet einen Ort, an dem sich dieses Schwindelgefühl permanent aufdrängen müsste. Darüber hinaus wäre ein Schloss an sich bereits ein Zeichen von Souveränität – dadurch, dass es in die Lüfte erhoben wird, findet es noch einmal eine Steigerung.

Der Film handelt von Pazu, dessen Vater ein Leben lang erfolglos nach dem ominösen fliegenden Schloss namens Laputa gesucht hat; diese Sehnsucht wurde Pazu in die Wiege gelegt. Für Sheeta, als Nachfahrin jenes über Laputa herrschenden Geschlechtes, ist die Suche nach dem Schloss zugleich eine Suche nach ihrer eigenen Herkunft; aufgrund dieser genealogischen Herkunft spiegelt sie auch die Sehnsucht Pazus.

Es geht auch anders – Szene aus „Das Schloss im Himmel“ (Foto: © Universum)

Die Liebesbeziehung zwischen Pazu und Sheeta bleibt meist subtilen Andeutungen unterworfen, ihre Körperlichkeit wird nie explizit, aber niemals auch gehemmt – sie zögern nicht mit ihren Berührungen, sie kommen sich wie selbstverständlich kontinuierlich näher, bis zu jenem Punkt im letzten Drittel des Films, an dem sie sich aneinandergebunden vorfinden. Diese Beziehung wird bereits im ersten Drittel als Cliffhanger codiert. Beide hängen von einer Eisenbahnbrücke herab, Pazu krallt sich am Holz fest, Sheeta mit der anderen Hand haltend, bis er zuletzt loslassen muss, und beide in die Schlucht darunter fallen. Bis zu diesem Punkt sehen wir eine konventionelle Rollenverteilung mit einem Ausgang nicht wie bei „Cliffhanger“ (wo die Frau fällt), nicht wie bei „Vertigo“ (wo der Helfer fällt), und auch nicht wie bei „Blade Runner“ (wo beide Parteien in Sicherheit enden). In Miyazakis Film fallen beide.

Zwischen dem binären Code Rettung/Sieg oder Sturz in den Tod (nur Joe Simpson überlebt ihn) findet Miyazaki allerdings eine dritte Auflösung zwischen männlichem Sieg und männlicher Niederlage: Sheeta wurde ein Flugstein vererbt, den sie um den Hals trägt, und der beide Parteien sanft zu Boden schweben lässt. Anders als in „The Lion King“ lässt sich die Frau hier nicht überwältigen, sondern löst die Situation nach dem Versagen des Mannes selbst (und unbewusst) auf. Ähnlich wie sein Vater im Suchen des Luftschlosses versagte, versagt Pazu im Cliffhanger; doch kommt die Kraft des gesuchten Schlosses zu ihm – Laputa nimmt sich seiner an, statt andersherum. Die jeweils vererbten und aufeinander verweisenden Leidenschaften der beiden Hauptcharaktere binden sich im Taumel des Cliffhangers (bzw. des Sturzes) aneinander. Hier begegnet uns tatsächlich das Gegenteil zu Vertigo: Der Konflikt wird nicht durch den vergeblichen Kampf bestimmt, sondern durch das Loslassen überwunden, vor dem sich James Stewart so sehr fürchtet.

Literatur:
– Cleaver, Dale: „Girodet’s Déluge, A Case Study in Art Criticism“, in: Art Journal. Vol. 38, No. 2,
1978, 96-101.
– Devereux, Joanna: Patriarchy and Its Discontents. Sexual Politics in Selected Novels and Stories of Thomas Hardy. Ed. by William Cain. London/New York: Routledge 2003 [=Studies in Major Literary Authors. Outstanding Dissertations #17].
– Halperlin, John: „Leslie Stephen, Thomas Hardy, and ‘A Pair of Blue Eyes’“, in: The Modern Language Review. Vol. 75/No. 4. Oct. 1980, 738-745.
– Mulvey, Laura: „Visual Pleasure and Narrative Cinema“, in: Dies.: Visual and other pleasures.
Second Edition (First Edition 1989). Houndmills Basingstoke: Palgrave Macmillan 2009, 14-27.
– Radford, Andrew: Thomas Hardy and the survivals of time. Aldershot: Ashgate, 2003.
– Sammon, Paul M.: Future Noir. The Making of Blade Runner. New York: HarperCollins 1996.
– Scharfe, Martin: Berg-Sucht. Eine Kulturgeschichte des frühen Alpinismus 1750-1850. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2007.

Jan Distelmeyer – Das flexible Kino. Ästhetik und Dispositiv der DVD und Blu-ray

( , Regie: )

Was man alles nicht darf
von Sven Jachmann

Der Geist des neuen Kapitalismus: Jan Distelmeyer hat die Versprechungen und Begrenzungen des DVD-Kinos untersucht. Als die DVD vor 15 Jahren das Licht der Welt erblickte, wurde ihr gigantischer Siegeszug …

Der Geist des neuen Kapitalismus: Jan Distelmeyer hat die Versprechungen und Begrenzungen des DVD-Kinos untersucht.

Als die DVD vor 15 Jahren das Licht der Welt erblickte, wurde ihr gigantischer Siegeszug seitens der Industrie mit dem Slogan „It’s more than just a movie“ flankiert. Ein Motto, das uns gemeinen Filmnerds bereits augenscheinlich einleuchtete: Zu gewaltig war der Schritt von der klobigen und ungemein verschleißanfälligen VHS-Kassette zur digitalen Simulation eines mehr oder minder verlustfrei für die Ewigkeit konservierten Kinofilms. Einen Kampf um die Rückbesinnung auf die unleugbaren Vorzüge eines nie vollends verdrängten Vorgängermediums, Stichwort Vinylplatte vs. CD, dürfte für das Videoband jedenfalls niemand mehr ausfechten wollen.

Anlässlich des 15jährigen Jubiläums hat Jan Distelmeyer mit „Das flexible Kino“ die erste deutschsprachige Monografie zur DVD (und auch zur Blu-ray) vorgelegt, gleichfalls ist es die Habilitationsschrift des Medienwissenschaftlers. Auf die technischen Eigenschaften, die die DVD zum derzeit omnipräsenten (Heimkino-)Trägermedium des Films prädestinieren, geht Distelmeyer nur bedingt ein. Statt dessen verknüpft er in exzellenter Manier diese ästhetisch-technologischen Voraussetzungen mit den Versprechungen auf Interaktivität und Gestaltungsvielfalt, die die Begriffe „Versatilität“ und „Digital“ im Verbund lancieren – ein Zusammenspiel, das Distelmeyer unter Rückgriff auf Foucaults Begriff des „Dispositivs“ weiterdenkt. Denn die Selbstermächtigung, zu der der Zuschauer beim Griff zur Fernbedienung angehalten wird, ist nicht ohne deren gleichzeitige Machtlosigkeit zu haben.

„It’s more than just a movie“ meint zweierlei: Es ist ein Appell an den Zuschauer, auf interaktiven Wegen den Film in bislang vollkommen neuartigem Ausmaß zu gebrauchen und eine Präsentation des Films, in der er sich, eingebettet neben animierten Menüs, Audiokommentaren, geschnittenen Szenen, alternativen Enden, variierenden Kameraperspektiven, isolierten Tonspuren, Making ofs, Featurettes, Interviews, Trailern, Gag Reels, Easter Eggs, Spielen, Kurzfilmen usw., sozusagen als eine Informationseinheit unter vielen entpuppt. Für den Film bedeutet beides, dass seine technische Reproduzierbarkeit völlig neue Formen erlangt, bei denen gefragt werden muss, was denn eigentlich sein Original sein mag? Die abgespeckte Kinoversion oder der notorische Director’s Cut auf DVD? Die synchronisierte Fassung? O-Ton, mit der entsprechenden Synchro als Untertitelleiste? Die Fassung, in der der Held am Ende überlebt oder doch noch stirbt? In der die entfallenen Szenen per Knopfdruck integriert wurden? Schwarzweiß oder in Farbe? 16:9 oder die alte 4:3-Version, die mit dem Pan & Scan-Verfahren neue Montagen erstellte? Haben gar die Betriebseinstellungen des DVD-Players die Entscheidungen gefällt? Oder zählt letztlich ganz einfach das, was im Kino gesehen wurde? „Der Rückzug auf »den Film auf DVD« beendet diese Diskussion nicht, er entfacht sie neu“, so Distelmeyer. Auch der Film und seine vermeintliche Autorschaft stellen also ihre Flexibilität unter Beweis, und es entbehrt nicht der Ironie, dass die DVD ursprünglich als Übergangsmedium konzipiert wurde, das sich als „möglicherweise zu perfekt“ erweisen sollte – ihre in der Entwicklung von Anfang an avisierte Konvergenz mit mehr als wie bislang nur einem Abspielgerät macht sie fit fürs Streaming-, Digital Copy- und Video on Demand-Zeitalter.

So polymorph der Film an sich, so begrenzt ist letztlich die Freiheit der Konsumenten, die sich schnell mit der Machtfrage konfrontiert sehen, nämlich sobald sie die DVD einlegen. Ein Vorgang, dem bereits die Einteilung des Erdballs in Regionalcodes vorausging – Selbstermächtigung beweisen da jene, die ihr Abspielgerät entsprechend präparierten. Neben Zwangstrailern und Anti-Raubkopie-Spots (deren Eingriff die den Ablauf der Inhalte regulierende UOP, User Operation Prohibition, kontrolliert und mitunter einschränkt) folgt dann auf Texttafeln die Belehrung darüber, was sie mit ihrem erworbenen Produkt alles nicht anstellen dürfen. Hier ist die Versatilität am nachhaltigsten außer Kraft gesetzt, nicht zuletzt, weil auf diese Weise die „Machtstellung jenseits der Nutzungsrechte bekräftigt“ und „Konsequenzen von Verstößen gegen die damit eingesetzte Ordnung bedeutet“ werden, die Androhung staatlicher Gewalt (Gefängnis, FBI) inklusive.

Penibelst und mit phänomenologischem Esprit arbeitet sich Distelmeyer durch sämtliche Erscheinungen des DVD-Dispositivs, in denen er immer wieder den Geist des neuen Kapitalismus entdeckt, die Verschränkung von Aktivität und dem sich Sich-Fügen in das Bestehende, das von externen Kräften bestimmt wurde – bis hin zum nie endenden DVD-Menü: denn ein Auswurf-Button ist im DVD-Interface nicht vorgesehen. Diskursiv sucht selbst ein solches Detail den paradigmatischen Anschluss an die Einübung in die Bedingungen der Flexibilisierung, die die DVD als Gesamterscheinung suggeriert. Denn, so fragte Distelmeyer bereits in einem früheren Aufsatz zum Thema, „was passt besser zu den Anforderungen einer »Informationsgesellschaft«, zum Aufruf permanenter Weiterbildung und dem politischen Programm »Lebenslanges(!) Lernen« als ein Angebot, mit dem auch die unverdächtigste Unterhaltungsware per Knopfdruck in eine Art Bildungsquelle verwandelt werden kann!“

Dieser Text ist zuerst erschienen in: junge Welt, 7.11.2012

Jan Distelmeyer: Das flexible Kino – Ästhetik und Dispositiv der DVD und Blu-ray
Bertz+Fischer, Berlin 2012, 288 Seiten, 25 Euro

„Ich muss Geschichten erzählen“

( , Regie: )


von Ricardo Brunn

Ein Gespräch mit Axel Ranisch an der Abendkasse der Deutschen Oper über seinen Abschlussfilm „Dicke Mädchen“, seinen amüsanten wie provokanten Text „Sehr gutes Manifest“ und die Schwierigkeiten als Neuling in …

Ein Gespräch mit Axel Ranisch an der Abendkasse der Deutschen Oper über seinen Abschlussfilm „Dicke Mädchen“, seinen amüsanten wie provokanten Text „Sehr gutes Manifest“ und die Schwierigkeiten als Neuling in der Branche Fuß zu fassen.

Ricardo Brunn: Axel, was siehst du dir heute Abend an?
Axel Ranisch: „Carmen“.

Georges Bizet. Vier Akte.
Genau. Verteilt über drei Stunden. (lacht)

Schön.
Ja, ich freu mich.

Morgen gehst du mit deinem Debütfilm „Dicke Mädchen“, der gerade einmal 500 Euro in der Produktion gekostet hat, auf Kinotour. Der Film wird in 25 Städten starten. Das ist für ein Werk dieser Größe recht ungewöhnlich. Bist du aufgeregt?
Gestern hatten wir zum Beispiel im „International“ eine Vorführung, da war ich extrem aufgeregt – schrecklich. Vor einer Woche haben wir den Film im Seniorenheim gezeigt – da ging’s.

Zählen die Zuschauer im Seniorenheim denn für die Referenzfilmförderung mit, für die ja eine bestimmte Zuschauerzahl erreicht werden muss?
Weiß ich gar nicht? (lacht) Aber wenn am Ende 100 Zuschauer fehlen sollten, dann zählen die natürlich mit.

Hat dein ehemaliger HFF-Lehrer Rosa von Praunheim den Film auch schon gesehen?
Ja, der fand ihn scheiße. Fantasielos und langweilig. Und er hat gesagt, dass all meine Sachen, die ich vorher gemacht habe, besser waren.

Einige Ideen aus Kurzfilmen von dir fließen ja in „Dicke Mädchen“ mit ein. Ich erinnere mich zum Beispiel an den Bolero mit Taschentuch. Aber insgesamt war ihm der Film dann doch nicht schräg genug?
Ja. Er wollte unbedingt, dass Mutti wieder aufersteht und solche Sachen.

Du hast den Film ausschließlich mit einer Mini-DV-Kamera, deiner Oma und zwei befreundeten Schauspielern gedreht. War der Verzicht auf ein größeres Produktionsumfeld und dementsprechenden Aufwand eine bewusste Entscheidung oder aus der Not geboren?
Das ist eine Mischung aus beidem. Ich brauchte einfach einen Abschlussfilm. Außerdem hatte ich große Lust wieder zu drehen, weil ich in den drei Jahren zuvor nur am Drehbuch zu „10 Meter“ geschrieben habe…

Der ursprünglich dein Abschlussfilm werden sollte?
Ja, genau. Und ich kam mir schon total bekloppt vor als Regisseur keinen Film mehr zu drehen. Und deswegen haben wir dann einfach „Dicke Mädchen“ gemacht – so ziemlich ohne Vorsatz. Es gibt ja zwei Philosophien, einen Film zu machen. Entweder kannst du dir ganz lange etwas ausdenken und viel Geld investieren, aufwändig Schauspieler casten, die Drehorte suchen und alles sehr genau gestalten. Oder du machst es so: Drei Schauspieler, Kamera, Wohnung, zwei Seiten Manuskript. Und dann ist aus dem, was wir hatten, „Dicke Mädchen“ entstanden. Wir wollten keinen Aufwand und wir wollten keine Kompromisse. Ich wollte die Kamera machen und die einzige Kamera mit der ich umgehen konnte, war meine eigene. Und so haben wir die Not zum stilistischen Mittel erklärt. Und dann hat sich das doch als sehr rund herausgestellt mit diesem Homevideo-Look und dem 4:3-Format. Aber ich überleg schon manchmal, ob es schöner wäre, wenn der Film besser ausschauen würde; wenn ich den Lichtkoffer doch noch ausgepackt hätte.

Umgehst du mit dieser Herangehensweise auch die Möglichkeit, die Motivation für das eigene Erzählen zu verlieren? Wenn man drei oder fünf Jahre an einem Drehbuch sitzt, kann ich mir vorstellen, dass man irgendwann den Kontakt zu seinem Projekt verliert.
Ja. Irgendwann nach elf Drehbuchfassungen hatte ich die Schnauze voll von „10 Meter“ und die Lust an diesem Film habe ich erst wieder gewonnen, nachdem ich mit „Dicke Mädchen“ einfach losgelegte und auch für mich einen Weg fand, wie ich Filme gern machen möchte. Für „10 Meter“ hatte ich jetzt 500.000 Euro und wenn es beim nächsten Film nicht klappt, dann mach ich’s halt ohne das Geld. Denn wenn man dringend Filme machen will, es gibt ja unterschiedliche Motivationen, aber wenn man sich ausprobieren will, experimentieren will, Spaß haben will, dann versteh ich auch nicht, warum man so lange warten soll. Ich bin nicht so geduldig. Ich bin aber auch kein Perfektionist, kein visueller Typ. Das Problem bei mir ist einfach, dass ich immer erzählen muss. Ich muss Geschichten erzählen.

Zum Film gibt es einen Begleittext, der mich interessiert, das „Sehr gutes Manifest“. Worum geht es darin?
Also, erst mal ist das ein sehr persönliches Manifest, das keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit stellt. Ich will niemandem vorschreiben, wie er Filme zu machen hat. Aber es soll eine Anregung für Absolventen und junge Filmemacher sein, die ihren ersten großen Film machen wollen und dass der ja nicht zwingend diesen ganzen bürokratischen Apparat braucht. Wir haben uns nach „Dicke Mädchen“ hingesetzt und haben formuliert, unter welchen Bedingungen wir am liebsten arbeiten. Und diese Bedingungen stehen grundsätzlich den Bedingungen, wie normalerweise Filme in Deutschland gemacht werden, diametral entgegen. Insofern geht es schon um ein autorenfreundlicheres und mutigeres Filmemachen und wie man es fördern sollte. Denn wenn du heute einen Film drehen möchtest, der eine halbe Million Euro Budget haben soll, und du willst die Sender dabei haben und die Förderanstalten, dann musst du Kompromisse eingehen. Du musst dich mit den Leuten an den Tisch setzen und die wollen alle mitreden für ihr Geld. Das ist ganz logisch. Und gerade am Anfang, wenn man noch keine Erfahrung besitzt oder die Selbstsicherheit, zu seinen Ideen zu stehen, kann man sich ganz leicht reinquatschen lassen. Das ist aber nicht nötig. Denn beim ersten Film hast du noch so eine Art Welpenschutz, da kannst du auch Mist bauen. Da kannst du die Schauspieler ausbeuten und dich selber und deine Freunde usw. Das geht beim ersten Film, da kann man das noch verzeihen. Und das ist auch das Schöne an „Dicke Mädchen“. Der Film ist zu 100% Axel Ranisch. Der trägt meine Handschrift. Und mit dieser Visitenkarte kann ich meine künstlerische Vision empfehlen. Und das hat mir so viele Türen geöffnet. Deswegen ist so ein Manifest vor allem ein Ansporn, zu den Leuten zu sagen: Schaut doch erst einmal, was ihr erzählen wollt und macht das einfach. Denn es geht ja.

Ich hatte auch den Eindruck, dass es im Text sehr stark um die Bedingungen, unter denen filmisches Erzählen entstehen kann und soll, geht. Da ist dieser entscheidende Satz: „Redakteure, Produzenten und Förderer dürfen und sollten sehr gutes Geld geben.“ Inhaltlich jedoch …
Genau. Sie sollen nicht bevormunden. Konstruktive Mitsprache ist etwas Tolles, aber Bevormundung ist ein Problem. In dem Moment, wo ein Sender oder ein Produzent sagt, wir müssen den Schauspieler nehmen, weil sich dann der Film besser verkaufen lässt und mehr Zuschauer macht oder wenn die Liebesgeschichte im Vordergrund stehen soll, damit der Zuschauer sich besser mit den Figuren identifizieren kann, da wird es wirklich problematisch.

Bei allem Humor, von dem der Text getragen wird, ist das „Sehr gute Manifest“ also die Beschreibung einer Fehlentwicklung und damit eine Kritik an den Institutionen, die Kino fördern und unterstützen sollen?
Da bin ich vielleicht der Falsche, denn ich bin leider nicht so richtig frustriert. <<TEXT:KURSIV>>(lacht)<<>> Ich habe jetzt mit „10 Meter“ einen Film gemacht, der Fördergelder hatte und einen Sender und trotzdem wieder so ziemlich 100% Axel Ranisch geworden ist. Und deswegen bin ich gerade sehr glücklich, auch wenn der Weg dorthin ein langer war und auch wenn man jetzt sagen kann, er musste erst mal „Dicke Mädchen“ drehen, um die zu überzeugen. Aber es ist ja dann doch gelungen. Ich bin da auch einfach sehr dankbar. Ich glaube aber an das Erneuerungspotential des Systems.

Was sollte sich denn ändern?
Redakteure und Produzenten interessieren sich für junge Talente, weil sie deren Handschrift in ihren Kurzfilmen spannend finden und weil sie glauben, in jemandem ein Potential entdeckt zu haben, das sie gern fördern würden. In zweiter Instanz dann auch den Mut zu besitzen, den Filmemachern dieses Potential einfach einzugestehen, sie machen zu lassen und sie in ihrer Handschrift zu unterstützen, daran fehlt es dann wiederum.

Klingt nach einem Paradox. Man will jemanden fördern, das bedeutet, dass man Sachen zulässt. Mit der Unterstützung kommt aber gleichzeitig die Einschränkung, weil ein Film dem Sendekonzept oder dem Markt entsprechen muss.
Die Sender haben die Quote und sie sind ängstlich, dass die Zuschauer wegschalten. Das merke ich doch auch, wenn wir drehen und es dann heißt: In der und der Szene sind Unschärfen, das müssen wir noch mal drehen, sonst ruft der Zuschauer im Sender an und sagt: ‚Das ist unscharf, das kann ich besser.’ Dass es zu meiner Arbeitsweise gehört, dass die Kamera beim improvisierten Schauspiel reagieren muss, es dabei zu Unschärfen kommt und dass ich die auch sehr willkommen heiße, spielt keine Rolle. Für mich ist so etwas völlig absurd und ich spüre dann wieder, was für ein bürokratischer Apparat so ein Sender ist. Da wird als Begründung auch schon einmal gesagt: ‚Hmm, da ist der Techniker, der den Film abnimmt, der wird das sehen und der wird sagen, das geht nicht.’ Und dann schicken sie uns den Film zurück und nehmen ihn nicht ab.

Das ist ein schönes Beispiel für die Paranoia in diesen Anstalten einerseits. Auf der anderen Seite geht es neben der Bevormundung junger Regisseure demnach auch um die Bevormundung des Zuschauers, wenn ihm unterstellt wird, er hätte Angst vor Unschärfen.
Es wird dem Publikum nicht selbst überlassen, was es gerne sehen möchte. Wir haben zum Beispiel auch vier Jahre lang die Diskussion geführt, ob bei „10 Meter“ nicht Axel Prahl die Hauptrolle spielen sollte, statt Heiko Pinkowski. Schließlich habe ich „Dicke Mädchen“ gedreht und sie konnten sehen, wie toll Heiko ist, erst dann haben sie mir vertraut. Und auf diese Art entstehen in der deutschen Filmlandschaft ganz viele Filme gar nicht, weil die Sender beteiligt sind.

Kannst du das genauer erklären?
Ich meine damit, dass du sofort eine bestimmte Zensur im Kopf hast. Jetzt haben wir zum Beispiel bei „10 Meter“ eine Forelle aus einem Zuchtteich getötet, aber das können wir nicht zeigen, weil dann wieder vermutet wird, dass der Zuschauer anruft und sagt: ‚Da wird ne Forelle getötet.’ Und so können bestimmte Filme halt gar nicht entstehen. Ich rede dabei noch nicht einmal von pornografischen Szenen und Gewaltexzessen oder ähnlichen Sachen.

Du hast „10 Meter“ am Ende so drehen können, wie du wolltest, weil „Dicke Mädchen“ den Sender überzeugt hat. Könnte man sagen, dass die vorhin angesprochene Erneuerung nur darüber funktionieren kann, dass man, wie es Dominik Graf einmal formulierte, es den Sendern unterjubelt?
Ja. Man muss hintenrum überzeugen und geduldig sein. Und es ist immer möglich, dass man Rückschläge erleidet und seinen 500-Euro-Film machen muss, aber man muss geduldig und freundlich bleiben. Natürlich geht es auch darum, dass die Verantwortlichen am Ende begriffen haben, dass ich Recht habe(lacht), aber auf eine sehr freundliche und humorvolle Weise. Man muss und will ja zusammenarbeiten.

Der Film „10 Meter“ trägt mittlerweile den Titel „Ich fühl mich Disco“ und befindet sich derzeit in der Postproduktion. Das Interview führte Ricardo Brunn am 6. November 2012 in Berlin.

Optimismus ist ja nicht wirklich möglich, nicht?

( , Regie: )


von Andreas Thomas

Ulrich Seidls neuer Film „Paradies: Liebe“, der erste Teil einer Trilogie, kommt am 3. Januar 2013 in die deutschen Kinos. Anlass für Andreas Thomas, ein Telefongespräch mit dem großen österreichischen …

Ulrich Seidls neuer Film „Paradies: Liebe“, der erste Teil einer Trilogie, kommt am 3. Januar 2013 in die deutschen Kinos. Anlass für Andreas Thomas, ein Telefongespräch mit dem großen österreichischen Pessimisten zu wagen.

Andreas Thomas: Guten Tag, Herr Seidl. Kennen Sie die Filmzentrale bzw. Filmgazette eigentlich, für die ich schreibe und arbeite?
Ulrich Seidl: ZENTRALE?

Filmzentrale.
Nein, ich glaub‘ nicht! Im Moment kein Begriff …

Also, die Filmzentrale ist ein Internet-Filmmagazin, ein deutsches, …
Ja?

… und wir beschäftigen uns hauptsächlich damit, Filmkritiken zu sammeln, aus allen möglichen Bereichen, also aus vielen Zeitschriften, aus dem Internet, zum Teil schreiben wir selber. Also, da findet man eine ziemlich große Bandbreite von Filmkritiken. Aber das nur so als Erläuterung, Sie können ja mal reingucken, wenn sie möchten.
Findet man unter „Filmzentrale“, nicht?

Ja, genau, mhh. – So!
Was wollen Sie?

Ja, ich hab ein paar Fragen vorbereitet, die sich eigentlich eher um biografische Sachen drehen. Zum Beispiel habe ich erfahren, dass Sie aus einer streng religiösen Familie stammen, und Sie sollten auch mal Priester werden. Wie katholisch war denn Ihre Erziehung, und wie katholisch waren und sind Sie eigentlich noch heute?
Also, meine Erziehung war sehr katholisch, wie gesagt, und davon bin ich auch geprägt, also „streng katholische Familie“, glaub ich, sagt ja schon etwas. Darüber hinaus war ich natürlich dann Ministrant, war auch in katholischen Internatsschulen, und hab dann da meine Gymnasialzeit verbracht. Das war bei den Jesuiten und das war bei den Schul-Brüdern, ja …

Würden Sie im weitesten Sinne sagen, dass Ihre Entscheidung, oder auch Ihre Art, Filme zu machen, von Ihrem christlichen Denken, oder so ähnlich, beeinflusst worden ist?
Naja, bei mir war ja das so: Ich hab sozusagen gegen mein Elternhaus und gegen die Kirche und auch gegen das Internat und letztendlich überhaupt gegen die Autorität rebelliert, und hab mich daran auch sozusagen gestärkt, ja? Also, mir ist es darum gegangen, diese Art von Verlogenheit und auch Oberflächlichkeit – also man muss ja da unterscheiden: Das eine ist das christliche Gedankengut, das andere ist, was die Kirche oder was die Schule daraus macht und gemacht hat. Und das passt ja in vielerlei Hinsicht nicht zusammen. Also, ich finde, ich bin sicher so geprägt, auf der einen Seite von einem urchristlichen Gedankengut der Solidarität – das habe ich aber genauso gefunden in einem eigentlich kommunistischen Gedankengut.

Es gibt ja auch immer wieder Leute, die sagen, auch der Kommunismus sei in seiner ideologischen Ausrichtung wieder eine Art apokalyptischer Glaube, der auch christliche Züge trägt …
Ja, ich glaube, da gibt’s gewisse Gemeinsamkeiten, also der Gedanke der Solidarität oder „gleiches Recht für alle“ oder solche Dinge, Umverteilung …

Dieser christliche Grundgedanke kommt ja als Thema in Ihren Filmen immer wieder vor …
Das weiß ich nicht, was sozusagen mein Thema ist, mein großes Thema ist wahrscheinlich die Vereinsamung, die Einsamkeit des Menschen, die Entwürdigung. Also die ganzen subtilen Szenen, um die es in meinen Filmen geht, um Unterdrückung, um Ausbeutung, um Machtverhältnisse, die ja oft auch auf sexuellem Weg ausgetragen werden. Letztendlich geht es um die Würde des Menschen, es geht um die gegenseitige Ausnutzung und Unterdrückung, die überall so stark vertreten ist.

Bei manchen Ihrer Filme hat man den Eindruck, dass es nur das gibt, also wenn ich zum Beispiel „Hundstage“ nehme. Da kommen die Leute ja eigentlich nicht raus, die sind ja eigentlich völlig gefangen in dieser Verstrickung der Einsamkeit und Unterdrückung und Entwürdigung. Werner Herzog hat ja mal über Ihre Filme gesagt, das wäre ein Blick in die Hölle, und es kommt einem fast so vor, als würden Sie konsequent nur das Gegenteil vom Paradiesischen zeigen, als wäre Gott wirklich weggelaufen aus dieser Welt oder wäre schon lange gestorben …
Darauf kann ich Ihnen eines sagen: Erstens einmal bin ich davon überzeugt, dass die Wirklichkeit noch viel ärger ist, als es je ein Film überhaupt zeigen kann. Alles, was ich im Film zeig‘, ist, glaub ich, auch abgeschwächt oder nur ein Teil der Wirklichkeit. Das ist das Eine, was ich drauf sagen will, das andere ist: Warum ich so was zeige, ist ja, weil ich sozusagen dem Zuschauer einen Spiegel vorhalte, damit man sich die Dinge bewusst macht, man ist ja auch ein Teil von dem, was man hier auf der Leinwand sieht, als Zuschauer. Und der Ansatz ist ja immer nach Veränderung und … Würde des Menschen. Es geht nicht darum, auf etwas zu beharren: „Es ist ja alles so fürchterlich!“, sondern man zeigt das Fürchterliche, wenn Sie so wollen, damit es weniger fürchterlich wird. Sonst würd‘ man das ja gar nicht machen.

Genau. Sonst kann man das ja gleich verschweigen …
… bleiben lassen

Und dann fördert man es ja eigentlich eher, wenn man es nicht benennt …
Ja.

Trotzdem, als ich „Hundstage“ vor zehn Jahren zum ersten Mal sah, hatte ich damals spontan geschrieben, da hätte man das Bedürfnis zu beten. Ich muss dazu über mich sagen, ich habe zwar ein christliches Elternhaus, mein Vater war Pastor, aber ich habe mich auch radikal davon abgewandt, also ich bin auch sehr kritisch mit der Kirche, und habe auch einige Phasen durchgemacht, um mich davon zu emanzipieren – aber trotzdem kam mir nach dem Sehen von „Hundstage“ die Idee: „Entweder verzweifeln oder beten“ – da hatte ich die Assoziation: Das ist eine von Gott verlassene Welt, und da gibt es gar keine Möglichkeit, rauszukommen … Und das widerspricht vielleicht doch Ihrer Idee, die Sie da eben formuliert haben, die besagt, okay, wenn man es zeigt, dann kann man es auch verändern. Ich hatte gerade bei dem Film den Eindruck, dass es gar nicht veränderbar ist, es sei denn, ein Gott schreitet ein.
Ja, das mag bei Ihnen so sein, oder gewesen sein, das ist bei jedem auch anders, nicht? Ich seh‘ es eben anders, aber selbst wenn Sie beten, dann gibt es ja auch Hoffnung.

Wobei ich das nicht machen würde …
Ich weiß schon, wie’s gemeint ist. Aber Sie verstehen: Das kann nicht sein, dass man solche Filme macht, um irgendwas zu bestätigen, was fürchterlich ist, sondern man zeigt das Fürchterliche, damit man irgendwie Wege sucht, es zu verändern. Also den Pessimismus, der mir ja oft vorgehalten wird, den finde ich ja erstens a priori überhaupt nicht abwertend, weil genauso könnte ich den Optimismus abwerten, weil der Optimismus beschönigt alles. Und den Pessimismus empfinde ich, in dem Sinn, dass man ja was anderes sucht, eigentlich als den richtigen Ansatz. Wenn man wachen Auges und Geistes durch die Welt geht, ist Optimismus ja nicht wirklich möglich, nicht?

Das ist wirklich richtig, ja! – Eine Frage habe ich auch in Bezug auf Ihr Land, also Österreich. Es ist ja ziemlich auffallend, dass gerade aus Österreich viele Leute kommen, die, ähnlich wie Sie, als Pessimist bezeichnet werden, Elfriede Jelinek, zum Beispiel, oder Thomas Bernhard oder auch Michael Haneke, das sind ja alles Leute, Sie inbegriffen natürlich, die erzählen sehr krasse Sachen oder sie machen sehr krasse Filme, zeigen ganz schlimme Verhältnisse. Warum kommt das alles aus Österreich, warum kommt so was nicht z.B. aus Deutschland, was würden Sie sagen?
Ja, also ich weiß nicht, warum es keine deutschen Filmemacher gibt, die Ähnliches tun. Klar ist einmal, dass das, was wir zeigen, also dieser unbarmherzige Blick oder diese harte Kritik an dem Land, – also, das könnte man in jedem Land tun!

Meinen Sie wirklich, ja?
Mein‘ ich wirklich. Ich könnte meine Filme auch in jedem westlichen Land drehen, weil es die Problematik, die Themen überall in der Welt gibt. Also wenn ich von Einsamkeit rede, rede ich von der Einsamkeit des westlichen Menschen …

Aber es geht um den westlichen Menschen hauptsächlich, ja?
Auf jeden Fall – ja!

Da hätten wir dann ja diese Brücke zu Kenia, zu Ihrem neuen Film, „Paradies: Liebe“, …
Aber da geht‘s ja auch um den westlichen Menschen, klar, nicht nur, aber eigentlich ja: Wir gehen hinunter. Die Hauptfigur ist eine Frau aus Österreich. Aber um auf Ihre Frage einzugehen: Warum kommen diese Filme aus Österreich? Das ist schwierig zu beantworten. Es gibt ja zum Beispiel auch in der bildenden Kunst seit den fünfziger Jahren diesen Wiener Aktionismus, – wir leben ja quasi seit Jahrhunderten,- die Habsburger Zeit war ja auch so ein Obrigkeitsstaat. Wenn man jemand sehr lange unterdrückt, dann wehrt sich die Kunst dagegen, auch schonungslos. Das ist das Eine, das Andere, die jüngste Vergangenheit, haben wir ja quasi jahrzehntelang nicht aufgearbeitet, nicht? Wir wurden ja aufgezogen in dem Glauben, Österreich war ein Opfer des Nationalsozialismus. Wir waren von Anfang an Täter, nicht? Das wurde immer versteckt und unter den Teppich gekehrt, und das ist dann in der Kunst ein Ventil, dass man sich dagegen wehrt, gegen dieses Unterdrücken, nicht? – Das kann man natürlich nicht sicher sagen, das kann nur so eine Hypothese sein. – Ich kann’s nicht, und ich gehöre ja auch keiner Gruppe an, ich bin ja auch ein Einzelgänger, so wie der Haneke auch ein Einzelgänger ist. Mein Ansatz, Filme zu machen – ich hab mit der Fotografie begonnen – war auch immer, Wahrheiten aufzuzeigen, was Wahres zu zeigen, was hervorzuholen, bewusst zu machen.

Sie haben also angefangen eher mit einem künstlerischen Aspekt, mit der Fotografie, mit dem Bild?
Ja, mit der Malerei war das Interesse da, mit der Fotografie. Ich habe ja sehr lange gebraucht, habe sehr spät mit den Filmen angefangen, bin spät auf die Filmschule gegangen – ich war schon sechsundzwanzig -, weil ich mir das selbst zu wenig zugetraut habe. Das hat wiederum mit meinem Elternhaus zu tun, weil ein künstlerischer Beruf nicht in Frage gekommen wäre. Ich hab für mich selber ein bisschen gebraucht, bis ich dann diesen Entschluss gefasst hab. Auf der anderen Seite war das auch sehr gut, weil ich halt in dieser Zeit ja nicht nur studiert hab‘, sondern sehr viel gearbeitet hab‘ in verschiedensten Betrieben undsoweiter und ich find das eine sehr tolle Lebensschulung, zu arbeiten, Arbeiter zu sein. Also ich hab‘ in Fabriken gearbeitet, als Chauffeur, ich hab‘ unterschiedlichste Dinge gemacht, was damals möglich war … Quasi am Ende der Woche das Geld ausbezahlt zu bekommen, das find ich – GANZ RICHTIG! Zu wissen, wie es dem Arbeiter geht. Insofern war ich schon etwas reifer, wie ich angefangen habe auf der Filmschule und bin dann auch nach zwei Jahren weggegangen, weil ich nicht damit einverstanden war, dass man von mir dort einfach die Erfüllung eines Lehrplans erwartet. Ich finde, dass man auf einer Filmschule, von Seiten des Lehrkörpers her versuchen muss, die Talente der verschiedensten Studenten zu fördern und zu entwickeln. Ich hab nur zwei Filme gemacht auf der Filmschule, schon der zweite war ein Skandal. Es wurde von der Filmakademie behauptet, dieser Film schade dem Ansehen der Wiener Filmakademie. Sie haben den Film quasi eingezogen, aber das Urheberrecht war beim Studenten, das „Materialrecht“ war bei der Universität. Ich konnte mir also mit eigenem Geld Filmkopien ziehen lassen, was ich auch gemacht hab, um den Film weiter zu vertreiben …

Aber Sie hatten auch das Geld?
Das hab‘ ich mir damals ausgeborgt. Also es war eh nur eine Filmkopie, die ich dann hab‘ zirkulieren lassen.

War das dann eigentlich schon Ihre Abschlussarbeit?
Ich hab‘ keine gemacht. Die Wiener Filmschule dauert fünf Jahre.

Und seitdem sind Sie selbstständig gewesen?
Ja, ich hab dann versucht, mit Eigenmitteln, in Eigenproduktion, also „frei“, einen Film zu machen, bin aber dann nach einer bestimmten Produktionszeit ohne Mittel hängen geblieben, und der Film wurde auch nicht fertig gestellt. Ich hab‘ dann sieben Jahre lang gebraucht, um meinen ersten Kinofilm finanzieren zu können. Das war ganz schrecklich. Seit dem ersten Kinofilm sind meine Filme aber immer erfolgreich gewesen, und dadurch konnte ich immer jeden Film machen, den ich machen wollte.

Nochmal eine Frage zu Ihrem letzten Film „Paradies: Liebe“. Wenn man sich die früheren Filme anguckt, wirken die noch auf eine Art unerbittlicher, da habe ich den Eindruck, Sie wollen noch genauer in das Schwarze, in das Dunkle gucken, um das zu konfrontieren, und bei den letzten Filmen, also zum Beispiel auch bei „Paradies: Liebe“, da gibt es ja Momente, die sind fast heiter. Also wenn die Frauen da zum Beispiel feiern mit diesem schwarzen Jungen am Schluss, können die ja auch über sich selber lachen. Die sind ja nicht ganz so rettungslos verloren in ihrer Einsamkeit, sondern sie kommunizieren ja auch darüber und können auf eine Art eine Distanz herstellen auch zu ihrem Leiden. Sie leiden natürlich schon – aber das ist ein Aspekt, den ich in den früheren Filmen nicht gefunden habe. Ich habe den Eindruck, das verändert sich so ein bisschen in Ihren Filmen. Sehen Sie das auch so?
Nein, ich seh‘ das nicht so. Also, in meinen Filmen hat es immer auch Humor gegeben, immer. Mal mehr, mal weniger, aber eigentlich war der immer vorhanden. Und ich glaube einfach, dass das Thema und die Anlage und der Schauplatz, wo dieser Film „Paradies: Liebe“ spielt, einfach populärer ist, oder einfach mehr Raum lässt. Das ist halt was anderes, als wenn man bei „Import Export“ (lacht) in der Geriatrie oder in der Ukraine im Schnee steckt. Es geht ja viel um Liebe, um Nacktheit, um Körperlichkeit, ich glaube, es liegt ein bisschen daran.

Obwohl es natürlich auch um Demütigung geht …
Natürlich: Um Sexismus, um Rassismus, um Kolonialismus, olles!

Um beiderseitige Demütigung übrigens auch … Die Frau wird ja auch regelmäßig gedemütigt, wenn sie sich dieser Situation aussetzt. Therese heißt sie, nicht?
Ja, ja.

Nun noch eine ganz andere, allgemeinere Frage: Gibt es irgendwelche Filme oder Filmregisseure, die Sie beeinflusst haben?
Natürlich, wie ich angefangen habe, Filme zu machen, also bevor ich auf die Filmschule gegangen bin, hat es natürlich Regisseure gegeben, die mir sehr nahe waren, die mich in ihren Bann gezogen haben. Das betrifft aber sozusagen nicht mehr meine heutige Arbeit, ja?

Aha!
Das war einmal, da könnt ich ein paar nennen. Da ist zum Beispiel der Pasolini für mich wichtig, auch der Buñuel, auch der Erich von Stroheim, Jean Eustache, auch Tarkovskij, John Cassavetes natürlich …

Also, ich seh da schon noch Verbindungen, das bleibt ja nicht ganz aus …
Ja, natürlich. Werner Herzog auch. Um ein paar jetzt zu nennen …

Haben Sie vielleicht eine Idee, welches Ihr absoluter Lieblingsfilm ist?
Nein, das hab‘ ich nicht. Mit Lieblingsfilmen tu ich mich schwer.

Das könnte ich wahrscheinlich auch selber nicht, ist vielleicht auch eine doofe Frage …
Ja …

Dann wollte ich Ihnen noch nachträglich gratulieren, sie hatten vor etwa zehn Tagen Ihren 60. Geburtstag, oder?
Danke vielmals!

Und Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute!
Ihnen auch alles Gute!

„Die Perspektive will nicht bloß ein weiteres Schaufenster sein!“

( , Regie: )


von Ricardo Brunn

Ein Gespräch mit Linda Söffker, der Leiterin der „Perspektive Deutsches Kino“ über die Berlinale 2012 und Veränderungen innerhalb der Sektion, Aussichten auf 2013 sowie den steten Kampf um Aufmerksamkeit. Ricardo …

Ein Gespräch mit Linda Söffker, der Leiterin der „Perspektive Deutsches Kino“ über die Berlinale 2012 und Veränderungen innerhalb der Sektion, Aussichten auf 2013 sowie den steten Kampf um Aufmerksamkeit.

Ricardo Brunn: Das Programm für die kommende Berlinale steht fest. Sechs Spiel-, drei Dokumentar- und zwei Kurzfilme haben es in die Auswahl geschafft. Wie entsteht ein Programm der Perspektive?
Linda Söffker: Erst mal heißt es Filme sichten, dann abwarten und setzen lassen. Oft ist es einfach auch Glückssache. Am Anfang habe ich höchstens das Gefühl vom letzten Jahr, was da gut war. Und dann ist es so, dass das Erste, was einen begeistert – vielleicht etwas total Trashiges – das bestimmt natürlich ein wenig das Gefühl für ein mögliches Programm. Dann schaue ich weiter und sehe, dass das nur ein Eckpunkt des Programms sein kann. Jetzt müsste es eigentlich so etwas wie einen kunstvollen Dokumentarfilm als Gegenpol geben. Nach drei oder vier ausgewählten Filmen stelle ich vielleicht fest, dass ich noch einen Film von einer Frau brauche. Da mach ich mir nichts vor, natürlich spielen solche Sachen eine Rolle. Es gibt da kein Rezept, sondern es kommt häufig auch darauf an, wie man drauf ist.

Schauen Sie bei der Auswahl mit einem Auge auch darauf, wie das Programm von der Öffentlichkeit angenommen werden könnte?
Natürlich behaupte ich, ich habe die besten Filme ausgewählt. Nur, das ist eben eine sehr persönliche Kategorie. Ich achte selbstverständlich darauf, ob sich Themen heraus kristallisieren. Vor allem muss man immer darauf achten, Abstand zu wahren und was mir sehr dabei hilft, ist, dass ich die Filme auch anderen Leuten zeige, also beispielsweise meinem Freund oder einem unserer Auszubildenden. Am Ende muss ich zwar auf meinen Bauch hören und das machen, was ich für richtig halte, aber ich hole da schon gern mehrere Meinungen ein.

Bei der vergangenen Berlinale haben Sie eine Veränderung bei der Auswahl der Filme vorgenommen. Es liefen deutlich weniger Studentenfilme in der Perspektive als in den Jahren zuvor. Bei den Langfilmen war es gerade einer, bei den mittellangen Filmen und den Kurzfilmen etwa 50%. Wie kam es zu dieser Veränderung?
Ich habe mir im letzten Jahr viel Zeit genommen, auch die Filme genau zu sichten, die keinen Hochschulhintergrund hatten, um zu sehen, was es da Interessantes gibt, um dem auch Raum zu geben. Das sind oftmals Filme, die mit wesentlich weniger Unterstützung, also Beihilfen von einer Hochschule in Form von Equipment, einer Ausbildung und so weiter entstehen. Die Filmemacher sind sehr auf sich gestellt. Das allein macht natürlich keinen guten Film aus, aber ich wollte einfach schauen, was es da gibt. Mir ist zudem in den letzten Jahren aufgefallen, dass die Kurzfilme und die mittellangen Filme immer Hochschulfilme waren. Es gibt aber auch Filme von Nichthochschülern, die dieses Format bedienen. Und das war schon mein Ehrgeiz zu zeigen, dass da interessante Filme sind. Ich habe einfach ein Herz für unabhängige Filmemacher.

Ging es mit der Umgestaltung des Programms also auch darum, eine Lücke für die Perspektive im Festivaldschungel zu finden?
Ich will gar nicht den Vergleich zu anderen Festivals aufmachen. Auf der Berlinale laufen deutsche Nachwuchsfilme ja auch im Wettbewerb und in den anderen Sektionen. Maren Ade zum Beispiel oder Burhan Qurbani. Da muss die Perspektive auch ihr Feld finden und ihre Berechtigung haben. Man muss ja immer sein Alleinstellungsmerkmal herausarbeiten, wie es so schön heißt. Die Perspektive will nicht nur ein weiteres Schaufenster für den Nachwuchs sein!

Das heißt, es gibt ein Darstellungs- oder Wahrnehmungsproblem?
Ja, klar. Ich selbst nehme das natürlich nicht so wahr, ich bin ja der Mittelpunkt der Perspektive (lacht). Deswegen muss man immer ein wenig an den Rand gehen, um das mitzubekommen. Aber natürlich, wenn die Berlinale der große Laster ist, ist die Perspektive nur eines von vielen Rädern. Wir sind Teil der Berlinale und die Berlinale wird als Ganzes wahrgenommen. Und sich da, auch gegenüber anderen deutschen Festivals, als Reihe inhaltlich abzusetzen, das ist eine Arbeit, die ich betreibe und von der ich hoffe, dass sie zumindest wahrgenommen wird und auf einem guten Weg ist. Mir geht es wirklich darum mich zu öffnen.

Kommt es manchmal vor, dass Sie auf anderen Festivals sind und dort Filme sehen, bei denen Sie denken: „Verdammt, warum lief der jetzt nicht bei mir?“
Ja (geflüstert). „Oh Boy“ wäre ein Film gewesen, der so was von nach Berlin gepasst hätte. Da war ich richtig neidisch, als ich den in München gesehen habe, weil ich im Februar schon so ein Gefühl hatte, dass der gut werden würde. Aber da war er eben noch nicht fertig.

Ist es frustrierend, wenn Filmemacher auch ganz bewusst nicht in die Perspektive wollen?
Ich hoffe immer, dass jeder Film sein Festival findet. Natürlich bin ich davon überzeugt, dass die Perspektive und das, was wir für den Nachwuchs unternehmen, gut ist. Aber jeder hat natürlich andere Ansprüche. Und vielleicht sagen die Produzenten und Filmemacher: ‚Nein, in die Perspektive will ich nicht’, warum auch immer. Manchmal ist das im Nachwuchsbereich auch Unerfahrenheit. Ich kämpfe dann um die Filme und versuche zu überzeugen. Das ist auch ein großer Teil meiner Arbeit. Es gibt aber bestimmte Sachen, die kann ich nicht sprengen. Wenn jemand eine internationale Karriere machen möchte und sein Film in die Quinzaine des Réalisateurs eingeladen wird, dann kann ich nichts machen. Dort bekommt er vielleicht mehr internationale Aufmerksamkeit. Ich wäre auch blöd, wenn ich mich da quer stellen würde. Am Ende muss das jeder für sich entscheiden.

Ist die Tatsache, dass es in der Perspektive keinen Preis für den besten Film zu gewinnen gibt, vielleicht ein Problem für die Wahrnehmung der Sektion?
Das stimmt ja so nicht. Wir haben den Preis des Deutsch-Französischen Jugendwerks DFJW Dialogue en Perspective, der in diesem Jahr auch zum ersten mal mit 5.000 € dotiert ist. Das ist eine deutsch-französische Jury bestehend aus jungen Leuten zwischen 18 und 29 Jahren. Ich finde das auch einzigartig, dass keine Experten den Preis vergeben. Das ergibt eine besondere Sichtweise auf Film. Außerdem habe ich im letzten Jahr den Made in Germany – Förderpreis Perspektive etabliert, der von Glashütte Original gestiftet wird und mit 15.000 Euro dotiert ist.

Und der ohne Frage Aufmerksamkeit generieren wird und zudem ein sehr gutes Instrument ist junge Filmemacher zu binden, weil sie bei kommenden Projekten unterstützt werden können. Trotzdem ist es ein Unterschied, ob man eine Jury bestehend aus namhaften Produzenten, Regisseuren und Schauspielern hat, gerade im Vergleich mit anderen Festivals, meinen Sie nicht?
Sie müssen auch sehen, es gibt viele Preise innerhalb der Berlinale. Das ist ein bestehendes Konstrukt, aus dem nicht jeder ausbrechen kann wie er will. Wir müssen auch andere Werte schaffen, warum ein Film in der Perspektive laufen sollte. Es geht darum, wie die Filmemacher wahrgenommen werden, wir schaffen eine besondere Aufmerksamkeit, indem wir viele Treffen und Empfänge organisieren. Im vergangenen Jahr hatte ich zum Beispiel viele Filmemacher, die schon über vierzig waren, und trotzdem sind die das erste Mal über den roten Teppich gelaufen und haben sich auf internationalem Parkett bewegt.

Die Veränderung der Programmstruktur und der Förderpreis waren im vergangenen Jahr Mittel, Aufmerksamkeit auf die Perspektive zu lenken und die Wahrnehmung zu verbessern. Wird es in diesem Jahr weitere Veränderungen geben?
Was wir im letzten Jahr beispielsweise zum ersten Mal gemacht haben, war Reden über Film, eine Gesprächsreihe über die Filme der Perspektive. Das möchte ich gern weiterführen, weil mir immer ein Ort gefehlt hat, an dem wir in Ruhe mit den FilmemacherInnen reden konnten. In diesem Rahmen ist es möglich, die Filme thematisch zu verbinden und mit mehreren FilmemacherInnen über ein Thema zu reden, also beispielsweise „Über Umwege zum ersten Film“ oder „Produzieren ohne Fernsehen“. Außerdem wird, wie schon erwähnt, der Dialogue en Perspective mit 5.000 Euro dotiert sein. Und ich konnte Emily Atef für den Juryvorsitz gewinnen.

Wo würden Sie die Perspektive nach etwas mehr als 10 Jahren des Bestehens und nach zwei Jahren als Leiterin der Sektion in Zukunft gern sehen?
Ich schaue nicht so gern zurück. Für mich spielt im Blick auf die zukünftige Perspektive eine Rolle, Regisseurinnen und Regisseure zu finden, die nicht immer die Hauptstraße benutzen. Bei mir geht es um die Vorstellung, dass, wie es Lars Henrik Gass (Festivalleiter der Kurzfilmtage Oberhausen, Anm. d. Red.) gesagt hat, wenn man auf ein Festival geht, es genauso ist, wie wenn man in eine gute Buchhandlung geht und dort beim Stöbern etwas findet, wonach man vorher nicht gesucht hat. Man schaut eben nicht einfach nach den Bestsellern. Und so stell ich mir das für die Perspektive auch vor.

Vielen Dank für das Gespräch und viel Glück für die kommende Berlinale.

„Man muss das Erbe aufheben und mit ihm weiterleben“

( , Regie: )


von Wolfgang Nierlin

Ein Gespräch mit Jeanine Meerapfel anlässlich ihres Films „Der deutsche Freund“. Wolfgang Nierlin: Warum erzählen Sie Ihren Film „Der deutsche Freund“ im Modus der Erinnerung, also in Form einer Rückblende, …

Ein Gespräch mit Jeanine Meerapfel anlässlich ihres Films „Der deutsche Freund“.

Wolfgang Nierlin: Warum erzählen Sie Ihren Film „Der deutsche Freund“ im Modus der Erinnerung, also in Form einer Rückblende, die Anfang und Ende zusammenschließt?
Jeanine Meerapfel: Das ist eine klassische, epische Form, die dem Zuschauer die Möglichkeit gibt, diese Geschichte anzunehmen und trotzdem in Frage zu stellen, also ihre Fiktionalität zu erkennen. Damit verbindet sich nicht dieser apodiktische und hyperrealistische Anspruch, dass die Geschichte genau so ist, sondern dass sie so sein könnte. Diese Haltung interessiert mich in meinem Film. Das ist ein Angebot.

Die von Ihnen erzählte Geschichte umfasst eine Zeitspanne von fast dreißig Jahren und verbindet Privates mit Politischem, die Liebe der beiden Protagonisten mit den zeitgeschichtlichen Umbrüchen. Hätten Sie gerne, die Mittel vorausgesetzt, einen längeren, epischeren Film drehen wollen?
Was hätte ich da erzählen sollen? Im Prinzip spielt sich die Geschichte der beiden Protagonisten vor dem Hintergrund der großen Geschichte ab. Aber nicht diese interessiert mich, sondern die Geschichte dieser Menschen. Da brauche ich vieles bloß anzudeuten. Die meisten Zuschauer, die diesen Film sehen werden, wissen über die Studentenproteste von 1968, über Chile oder auch die Militärdiktatur in Argentinien Bescheid. Dafür gibt es genügend Informationen. Ich wollte aber nicht einen Film darüber machen, sondern einen über zwei Menschen, die die Geschichte Ihrer Eltern, also eine jüdische und im Kontrast dazu eine nationalsozialistische, immer noch in sich, quasi auf ihren Schultern tragen. Und ich wollte zeigen, wie sie sowohl mit dieser Geschichte umgehen als auch mit derjenigen, die sie selber erleben müssen.

Repräsentieren die beiden Figuren auch exemplarisch das deutsch-jüdische Verhältnis und geben insofern die beiden prototypischen Namen Friedrich und Sulamit einen Hinweis darauf?
Ob die beiden Figuren exemplarisch sind, weiß ich nicht. Jedenfalls sind sie sehr besonders, und sie sind Repräsentanten dieser Generation. Typen mit einem solchen familiären Hintergrund wie bei Friederich habe ich in Deutschland viele getroffen. Diese hatten immer ihren Pass versteckt, weil sie sich schämten, Deutsche zu sein; sie haben lange mit ihren Eltern und mit sich selbst gehadert; und sie hatten deshalb große Schwierigkeiten, sich selbst zu lieben und anzunehmen. Das ist mir sehr aufgefallen, als ich nach Deutschland kam.

Damit verbindet sich auch eine starke These in Ihrem Film, nämlich dass die Aversion gegenüber dem eigenen Elternhaus und der eigenen Geschichte, verstärkt durch diesbezügliche Schuldgefühle, zur politischen Radikalisierung dieser Generation geführt hat.
Das ist genau der Punkt. Und das ist etwas, was ich in Deutschland wirklich gesehen habe und was mich zugleich sehr erschrocken hat. Ich habe beobachtet, dass diese Menschen meiner Generation es nicht schaffen werden, sich selbst und andere zu mögen, wenn sie sich weiterhin so zerfleischen und Hass empfinden. Sie mussten erst einmal diesen Hass überwinden, um in der Lage zu sein, zu leben.

War dieser Selbsthass auch ein maßgeblicher Grund für den Terrorismus?
Das wäre mir zu einfach. Aber es gab etwas Selbstmörderisches in diesen ganzen Aktionen. Denken Sie an die Leute, die in die RAF gegangen sind; denken Sie an Holger Meins, den ich gekannt habe und der sich zu Tode gehungert hat. Jenseits der ideologischen Haltung gab es da eine unglaubliche selbstzerstörerische Kraft. Das kannte ich gar nicht. Das habe ich in dieser Stärke erst in Deutschland erlebt, gespürt und kennengelernt. Und gerade darüber wollte ich erzählen. Zumal es bislang außer Andres Veiels Film „Wer wenn nicht wir“, der sich mit Bernward Vesper und Gudrun Ensslin beschäftigt, sehr wenig darüber gibt. Ich finde, dass das hier eine wichtige Entwicklungsphase war, die großes und zugleich gefährliches Potential hatte.

Der Film erzählt in diesem Zusammenhang auch von der Spannung zwischen politischer Überzeugung und aktivem politischem Handeln und den Konflikten, die sich aus einem etwaigen Missverhältnis ergeben.
Das war auch merkwürdig. Ich lebte ja 1968/69 in Deutschland. Wenn man sich in bestimmten Gruppen nicht beteiligte, hat man sich sogar schuldig gefühlt; zum Beispiel wenn die anderen sehr viel aktiver und politischer waren und zum Arbeiten und Agitieren in die Fabriken gegangen sind. Und wer das nicht tat, war bürgerlich. Ich habe zu der Zeit sogar eine Psychoanalyse gemacht, was als extrem bürgerlich galt. Es gab da einen massiven Druck. Bezogen auf den Film bedeutet dies, dass sich Sulamit in der Beziehung zu Michael beschützt fühlt wie bei einem väterlichen Freund. Zwar liebt sie ihn auch, aber anders als Friedrich, den sie seit ihrer gemeinsamen Kindheit liebt und der sie seither nicht mehr loslässt. Zugleich hat sie das Gefühl, dass sie für ihn, der in einem argentinischen Gefängnis sitzt, etwas tun muss.

Könnte man sagen, dass Friedrichs Schuldgefühle ihrer Liebe im Weg stehen?
Natürlich. Ganz stark. Solange Friedrich (oder auch jeder andere Mensch) in solch selbstzerstörerischer Weise mit sich selbst hadert, ist keine Öffnung für die Liebe und den anderen möglich. Friedrich kann den anderen nicht sehen, weil er zu sehr damit beschäftigt ist, sein Erbe zu verdauen und das auszuhalten, sodass er sich dem Anderen nicht öffnen kann. Die Erbschaft steht zwischen ihnen, das ist die Last.

Bezogen auf die bundesrepublikanische Gesellschaft, war es vermutlich auch das teilweise Fortwirken nationalsozialistischer Gewalt und Unterdrückung, die die politische Radikalisierung dieser Generation bewirkt hat.
Ich glaube, wenn diese jungen Menschen irgendwann in der Lage waren, das zu überwinden oder zumindest zu akzeptieren oder es aber in der Rebellion ausformuliert haben, um ihre Identität zu finden, dann sind das, vorausgesetzt sie haben diesen zerstörerischen Selbsthass überlebt, wunderbare Menschen geworden. Und ich behaupte, dass diese Menschen auch diese Republik geändert und menschlicher gemacht haben. Diejenigen, die überlebt haben oder nicht in den Terror geflüchtet sind, wurden zu Menschen mit einer unglaublich positiven Ausstrahlung. Das ist das andere, das neue Deutschland, das ich liebe und erst hier kennengelernt habe.

Beschreibt Ihr Film insofern auch eine Identitätssuche?
Bei der Identitätssuche lernen wir in jedem Moment unseres Lebens etwas, was man uns mitgegeben hat, also zum Beispiel Erziehung und Überlieferung, neu zu verstehen, indem wir es irgendwie neu kombinieren. Ich glaube, das Wichtige in der Beziehung der beiden Protagonisten besteht darin, dass sie lernen müssen, das Erbe, das sie mitbekommen haben, mitzunehmen, also im philosophischen bzw. Hegelschen Sinne aufzuheben und weiterzuleben. Wenn ihnen das gelingt, dann kann man von einer Identität sprechen, auch von der Identität eines Paares, egal wie kompliziert das ist. Mir scheint das ganz wichtig zu sein, ob man in der Lage ist, die Erbschaft aufzuheben. Bis heute sehe ich dieses Thema in Deutschland, Argentinien und anderswo. Man kann nichts vergessen und man kann nichts beiseite lassen; man kann nur damit weiterarbeiten und weiterleben. Darum diese Geschichte.

Die besten Filme von 2012

( , Regie: )


von

Die 20 Lieblingsfilme 2012 unserer Kritiker: 1. Moonrise Kingdom (R: W. Anderson) 720 2. Holy Motors (R: L. Carax) 617 3. Revision (R: P. Scheffner) 501 4. Liebe (R: M. …

Die 20 Lieblingsfilme 2012 unserer Kritiker:
1. Moonrise Kingdom (R: W. Anderson) 720
2. Holy Motors (R: L. Carax) 617
3. Revision (R: P. Scheffner) 501
4. Liebe (R: M. Haneke) 437
5. Tabu (R: M. Gomes) 436
6. Der Junge mit dem Fahrrad (R: J.-P. und L. Dardenne) 422
7. Drive (R: Nicolas W. Refn) 413
8. Haus der Sünde (R: B. Bonello) 404
9. Barbara (R: C. Petzold) 321
10. Totem (R: J. Krummacher) 315
11. Das Turiner Pferd (R: B. Tarr) 271
12. Attenberg (R: Athina R. Tsangari) 265
13. Once Upon a Time in Anatolia (R: Nuri B. Ceylan) 262
14. Police, adjective (R: C. Porumboiu) 257
15. Der Aufsteiger (R: P. Schoeller) 249
16. Dame, König, As, Spion (R: T. Alfredson) 248
17. Martha Marcy May Marlene (R: S. Durkin) 245
18. The Cabin in the Woods (R: D. Goddard) 179
19. Shame (R: S. McQueen) 176
20. Oh Boy! (R: Jan O. Gerster) 175

* * *

Ricardo Brunn
1. Turin Horse (R: B. Tarr) 100/100
2. Holy Motors (R: L. Carax) 100/100
3. Drive (R: Nicolas W. Refn) 95/100
4. Once upon a time in Anatolia (R: Nuri B. Ceylan) 90/100
5. Liebe (R: M. Haneke) 89/100
6. Police, adjective (R: C. Porumboiu) 87/100
7. Killing them softly (R: A. Dominik) 86/100
8. ¡Vivan las Antipodas! (R: V. Kossakovsky) 85/100
9. L’exercice de l’Etat (R: P. Schoeller) 84/100
10. Tinker Taylor Soldier Spy (R: T. Alfredson) 83/100

Andreas Busche
1. Attenberg (R: Athina R. Tsangari) 100
2. Searching for Sugarman (R: M. Bendjelloul) 100
3. Holy Motors (R: L. Carax) 90
4. Magic Mike (R: S. Soderbergh) 90
5. Tabu (R: M. Gomes) 90
6. Winterdieb (R: U. Meier) 90
7. Revision (R: P. Scheffner) 90
8. Martha Marcy May Marlene (R: S. Durkin) 85
9. Tomboy (R: C. Sciamma) 85
10. Totem (R: J. Krummacher) 85

Janis El-Bira
1. Das Turiner Pferd (R: B. Tarr) 91
2. Holy Motors (R: L. Carax) 89
3. Liebe (R: M. Haneke) 86
4. Tabu (R: M. Gomes) 85
5. Police, adjective (R: C. Porumboiu) 84
6. Moonrise Kingdom (R: W. Anderson) 83
7. Haus der Sünde (R: B. Bonello) 81
8. Once Upon a Time in Anatolia (R: Nuri B. Ceylan) 80
9. Stille Seelen (R: A. Fedortschenko) 77
10. Cäsar muss sterben (Paolo und Vittorio Taviani) 75

Lukas Foerster
1. Holy Motors (R: L. Carax) 94
2. Revision (R: P. Scheffner) 89
3. Ay büyürken uyuyamam (R: S. Gören) 89
4. Prometheus (R: R. Scott) 88
5. L’apollonide (R: B. Bonello) 87
6. Police, Adjective (R: C. Porumboiu) 86
7. Tabu (R: M. Gomes) 86
8. The Five-Year Engagement (R: N. Stoller) 85
9. Der Junge mit dem Fahrrad (R: J.-P. und L. Dardenne) 84
10. Nachtschichten (R: Y. Löcker) 83

Carsten Happe
1. Beasts of the Southern Wild (R: B. Zeitlin) 91
2. The Cabin in the Woods (R: D. Goddard) 89
3. Das Leben gehört uns (R: V. Donzelli) 85
4. Drive (R: Nicolas W. Refn) 83
5. Moonrise Kingdom (R: W. Anderson) 82
6. Argo (R: B. Affleck) 80
7. The Avengers (R: J. Whedon) 79
8. Liebe (R: M. Haneke) 77
9. Dame, König, As, Spion (R: T. Alfredson) 76
10. Barbara (R: C. Petzold) 75

Sven Jachmann
1. Michael (R: M. Schleinzer) 85
2. Der Aufsteiger (R: P. Schoeller) 85
3. Der Junge mit dem Fahrrad (R: J.-P. und L. Dardenne) 80
4. Work Hard – Play Hard (R: C. Losmann) 80
5. Drive (R: Nicolas W. Refn) 80
6. Martha Marcy May Marlene (R: S. Durkin) 80
7. Amer (R: H. Cattet, B. Forzani) 80
8. Attenberg (R: Athina R. Tsangari) 75
9. Der Diktator (R: L. Charles) 70
10. Totem (R: J. Krummacher) 70

Ekkehard Knörer
1. Der Junge mit dem Fahrrad (R: J.-P. und L. Dardenne) 83
2. Barbara (R: C. Petzold) 81
3. Magic Mike (R: S. Soderbergh) 81
4. The Yellow Sea (R: Na Hongjin) 80
5. Fast verheiratet (R: N. Stoller) 79
6. Policeman (Ha-shoter) (R: N. Lapid) 78
7. Moonrise Kingdom (R: W. Anderson) 78
8. Revision (R: P. Scheffner) 78
9. Die Kunst zu lieben (R: E. Mouret) 78
10. Haus der Sünde (R: B. Bonello) 77

Ulrich Kriest
1. Holy Motors (R: L. Caraxs)
2. Tabu (R: M. Gomes)
3. Revision (R: P. Scheffner)
4. Das Turiner Pferd (R: B. Tarr)
5. Work Hard – Play Hard (R: C. Losmann)
6. Oh Boy (R: Jan O. Gerster)
7. Killing Them Softly (R: A. Dominik)
8. Der Aufsteiger (R: P. Schoeller)
9. The Three Stooges (R: B. Farrelly, P. Farrelly)
10. Totem (R: J. Krumbacher)

Harald Mühlbeyer
1. Oh Boy! (R: Jan O. Gerster) 95
2. 3 Zimmer/Küche/Bad (R: D. Brüggemann) 95
3. Hesher (R: S. Susser) 95
4. Ruby Sparks (R: J. Dayton, V. Faris) 90
5. Moonrise Kingdom (R: W. Anderson) 90
6. Looper (R: R. Johnson) 90
7. Die Wand (R: Julian R. Pölsler) 90
8. Ted (R: S. MacFarlane) 90
9. Killer Joe (R: W. Friedkin) 90
10. Der Verdingbub (R: M. Imboden) 90

Wolfgang Nierlin
1. Liebe (R: M. Haneke) 95
2. Once upon a time in Anatolia (R: Nuri B. Ceylan) 92
3. Attenberg (R: Athina R. Tsangari) 90
4. Holy Motors (R: L. Carax) 89
5. Shame (R: Steve McQueen) 86
6. Barbara (R: C. Petzold) 85
7. Un amour jeunesse (R: M. Hansen-Love) 84
8. Aurora (R: Cristi Puiu) 83
9. Michael (R: M. Schleinzer) 80
10. Moonrise Kingdom (R: W. Anderson) 79

Joachim Schätz
1. Tabu (R: M. Gomes) 95
2. Die Muppets (R: R. Afiley) 92
3. The Deep Blue Sea (R: T. Davies) 91
4. Haus der Sünde (R: B. Bonello) 90
5. Der Junge mit dem Fahrrad (R: J.-P. und L. Dardenne) 85
6. Revision (R: P. Scheffner) 83
7. Moonrise Kingdom (R: W. Anderson) 80
8. Policeman (R: N. Lapid) 78
9. The Grey (R: J. Carnahan) 77
10. Holy Motors (R: L. Carax) 75

Michael Schleeh
1. The Yellow Sea (R: Na Hong-jin) 88
2. Guilty of Romance (R: S. Sono) 85
3. Arirang (R: Kim Ki-duk) 83
4. Revision (R: P. Scheffner, 2012) 81
5. Barbara (R: C. Petzold, 2012) 80
6. Was Bleibt (R: H.-C. Schmid) 78
7. Moonrise Kingdom (R: W. Anderson) 75
8. Mondomanila (R: Khavn) 73/100
9. Bombay Beach (R: A. Har’el) 72
10. Die Frau in Schwarz (R: J. Watkins) 70

Harald Steinwender
1. Les Lyonnais (R: O. Marchal) (Festival) 95
2. The Cabin in the Woods (R: D. Goddard) 90
3. Viva Riva! (R: D. Munga) 90
4. Drive (R: Nicolas W. Refn) 90
5. Tinker Taylor Soldier Spy (R: T. Alfredson) 90
6. Shame (R: S. McQueen) 90
7. End of Watch (R: D. Ayer) 85
8. Small Town Murder Songs (R: Ed Gass-Donnelly) 85
9. The Girl With the Dragon Tattoo (R: D. Fincher) 85
10. Skyfall (R: Sam Mendes) 85

Andreas Thomas
1. Der Junge mit dem Fahrrad (R: J.-P. und L. Dardenne) 90
2. Liebe (R: M. Haneke) 90
3. Totem (R: J. Krummacher) 80
4. Cosmopolis (R: D. Cronenberg) 75
5. Der Dikator (R: L. Charles) 70
6. Haus der Sünde (R: B. Bonello) 69
7. Mondomanila (R: Khavn) 68
8. Der Fluss war einst ein Mensch (R: J. Zabeil) 65
9. Moonrise Kingdom (R: W. Anderson) 62
10. Drive (R: Nicholas W. Refn) 60

Louis Vazquez
1. Life of Pi (R: Ang Lee) 95
2. Liebe (R: M. Haneke) 95
3. Moonrise Kingdom (R: W. Anderson) 90
4. Cosmopolis (R: D. Cronenberg) 85
5. Call Me Kuchu (R: K. F. Wright, M. Zouhali-Worrall) 85
6. Skyfall (R: S. Mendes) 85
7. Martha Marcy May Marlene (S. Durkin) 80
8. Chronicle (R: J. Trank) 80
9. The Tall Man (R: P. Laugier) 80
10. Miss Bala (R: G. Naranjo) 80

„Ich würde von einem magischen Realismus sprechen“

( , Regie: )


von Ulrich Kriest

Nachdem sein Film „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ 2010 für eine Kontroverse gesorgt hatte, überraschte Oskar Roehler 2011 mit dem Roman „Herkunft“ – einer semi-autobiografischen Familiengeschichte, die gleichzeitig eine …

Nachdem sein Film „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ 2010 für eine Kontroverse gesorgt hatte, überraschte Oskar Roehler 2011 mit dem Roman „Herkunft“ – einer semi-autobiografischen Familiengeschichte, die gleichzeitig eine Geschichte West-Deutschlands ist. Schreiben kann Roehler, der ja als Drehbuchautor für Christoph Schlingensief reüssierte. Jetzt hat Roehler mit Star-Besetzung einen Teil von „Herkunft“ verfilmt, mit Stars wie Moritz Bleibtreu, Meret Becker oder Jürgen Vogel. „Quellen des Lebens“ ist ein echter Roehler geworden: trashig, poppig, hysterisch und ein wenig sentimental. Kurzum: Die BRD – wie sie Oskar Roehler erinnert. Kein Horrorfilm.

Ulrich Kriest: Wenn Oskar Roehler davon spricht, er verfilme jetzt Familiengeschichte, dann ist das Publikum zumindest vorgewarnt, mit allem zu rechnen, oder?
Oskar Roehler: (lacht) Na ja, dieses Kino, mit dem ich bekannt geworden bin, ist ja nun auch schon etwas länger vorbei. Ich meine dieses „Wollen, aber nicht hundertprozentig Können“. Filme wie „Der alte Affe Angst“ ist ja schon etwas Anderes.

Zugegeben, dieser ursprüngliche Roehler-Furor des Ungebremsten, den ich persönlich immer sehr erfrischend fand, ist einer größeren Professionalität gewichen. Aber eine Szene wie zu Beginn von „Quellen des Lebens“, wenn der Soldat nach Jahren der Kriegsgefangenschaft nach Hause kommt und dort eben nicht willkommen ist, sondern stört und dies auch gezeigt bekommt, habe ich so böse im deutschen Film nicht mehr gesehen seit Peter Lorres „Der Verlorene“.
Das nehme ich jetzt mal als Kompliment. John Waters meets the Trümmerfilm. (lacht) Ich habe beide Seiten in mir. Vielleicht konnte ich früher diese beiden Seiten nicht so richtig ausbalancieren. Und musste deshalb einen wüsten Film wie „Suck My Dick“ auf den strengeren „Die Unberührbare“ folgen lassen. Auch „Lulu und Jimi“ war ja noch ein wilder Film. Davon ist jetzt auch noch ein Moment in „Quellen des Lebens“ – etwa in der Figur der Großmutter mütterlicherseits -, aber es sprengt den Film nicht mehr auf. Dieses Sprühen von Lebensenergie und Hysterie, diese Groteske des Kleinbürgerlichen – es ist alles noch vorhanden. Das gab es ja alles auch in der Realität – so schlimm ist Deutschland jetzt auch nicht. Ich verliebe mich immer in exzentrische Figuren wie den Chauffeur. Man darf ja nicht vergessen: damals war alles derart mit Tabus und Ängsten behaftet, dass darunter schon eine vulkanische Kraft lauerte, die an den unmöglichsten Stellen und Momenten aufbrechen konnte. Ich bin immer ein großer Fan der Filme eines John Waters gewesen. Sonst hätte ich ja gar nicht mit Schlingensief arbeiten können. Aber diese Form der Komödie findet man in Deutschland ja sonst gar nicht. Man kennt zwar die Filme von Waters, David Lynch oder der Coen-Brüder, aber sie haben keinen Platz in unserem künstlerischen Haushalt gefunden.

Beteiligen Sie sich also nicht an der begeisterten Wiederentdeckung der alten Folgen von „Der Kommissar“ mit Erik Ode und ihren absurd-surreal-hysterischen Qualitäten? Weil doch der Schlüssel-Song „I’d love you to want me“ von Lobo, der in Ihrem neuen Film eine gewichtige Rolle spielt, durch eine „Kommissar“-Folge populär wurde?
Doch, ich erinnere mich daran, wie abgespaced die Filme damals waren. Eine ähnliche Stimmung erinnere ich auch aus den ersten fünf, sechs Filmen von Rainer Werner Fassbinder. So eine debile, brutale Erotik. Dumpf-brütend und surreal. In Deutschland wirkt selbst die Gesellschaftskritik noch brav und gehorsam. Diese Situation hat eigentlich erst Schlingensief aufgebrochen, wenn er sich etwa beim „Deutschen Kettensägenmassaker“ auf Trash bezogen hat. Das mache ich ja nicht. Bei mir würde ich lieber von einem magischen Realismus sprechen im Sinne einer poetisch-subjektiven Überhöhung von Realität. Ich spiele mich nicht als Historiker auf.

Wenn man den Roman „Herkunft“ gelesen hat, ist man nach den fast drei Kinostunden von „Quellen des Lebens“ fast ein wenig enttäuscht, dass es nicht gleich noch einmal drei Stunden weitergeht. Ist ein zweiter Teil von „Quellen“ geplant?
Da ist tatsächlich etwas geplant, allerdings nicht in dieser epischen Form. Fürs Fernsehen drehe ich eine kleine Serie von Filmen, in denen mein Protagonist in die dunklen Abgründe der achtziger Jahre in West-Berlin geschickt wird. Das wird lustig, eine schwarze Komödie.

Was hat es mit dem Titel des Films – „Quellen des Lebens“ – auf sich?
Wenn man den Film gesehen hat – und dann taucht der Titel „Quellen des Lebens“ auf, dann ist man zu Tränen gerührt. So ging es mir jedenfalls. Dieser Titel passt perfekt für den Film. Es geht ja um das Leben. Da wäre der Titel „Herkunft“ viel zu spröde und zu starr.

Sie haben ja zunächst einen autobiografischen Roman geschrieben und anschließend Teile dieses Stoffes in eine filmische Chronik übersetzt. Sie haben immer als Drehbuchautor gearbeitet – und zudem gibt es ja bereits Filmbilder, die den Zeitraum Ihrer Chronik behandeln. Es gibt die einschlägigen Retro-Szenarien von Fassbinder, es gibt die ganzen RAF-Filme, die ja auch immer »68« umkreisen usw. Wie versucht man angesichts dieser Bilderflut, originell zu bleiben?
Mein Film ist nicht am Reißbrett entstanden wie so viele andere deutsche Filme. Mir geht um eine andere Wahrheit als die ideologische Wahrheit eines Dokumentarfilmers, der auf genaue Recherche setzt. Ich gehe einen entschieden anderen Weg. Gäbe es Vorbilder für meinen Film, die es nicht gibt, dann wäre es wohl eher ein Film wie „Mein Leben als Hund“ von Lasse Hallström. Das ist ein poetischer, sehr subjektiver Film, der doch ein Gesellschaftsporträt ist. Ähnliches habe ich versucht. Ich hatte ja den Roman geschrieben. Der lag da, um ihn zu studieren. Wie ein Koch, konnte ich über bestimmte Zutaten nachdenken. Das Ganze hat ja etwas Allegorisches, wenn es um die Jugend oder das Erwachsenwerden geht, aber ich brauchte nicht mehr zu recherchieren. Das lag ja alles vor mir, das waren Figuren meiner Kindheit, von denen mein Schicksal abhing. Der Fundus, aus dem ich schöpfe, ist mein eigenes Leben, auf das ich ohne große Betroffenheit zurückblicke. Wie ein Seemann, der eine gefährliche Reise beschreibt, die lange zurückliegt. Wobei das offene Meer hier zur Seelenlandschaft wird. Es geht um ein sinnliches Erzählen, das ganz stark von der eigenen Lebenserfahrung geprägt ist. Und da haben mich die Figuren stärker interessiert als die politischen Umstände der Zeitgeschichte. Ich wollte nicht etwa Geschichte von außen erzählen. Deshalb urteile ich auch nicht über die einzelnen Figuren, sondern lasse ihnen Widersprüche und Komplexität. Ich bin kein Oberlehrer.

Und daraus resultiert eine mittlere Erzähllage, die nicht auf das Exemplarische zielt: keine Kriegsverbrecher, keine Jugendrevolte, keine Notstandsgesetze, keine RAF.
Oberflächlich gesehen nicht. Aber Momente davon stecken vielleicht doch im Film drin, nur vielleicht etwas phantasievoller verpackt als üblich. Es werden gerade nicht die Dinge erzählt, die man schon tausendmal in anderen Filmen gesehen hat. Oder sie werden anders, persönlicher, auf Anekdoten gründend erzählt. Mein Film ist die Gegenbewegung zum Üblichen. Ich erzähle ohne ein ehrenwertes Anliegen, ohne Botschaft und auch nicht aus rein kommerziellem Interesse. Ich mache Kino und kein News-TV.

Wobei Ihre schmerzhafte, aber schillernde Biografie natürlich einen Standortvorteil in Sachen „Erzählstoff“ birgt. Nicht jeder hat zwei Schriftsteller mit reichlich Macken zu Eltern …
Aber ich schildere das nicht aus kulturhistorischer Perspektive, sondern durch die Augen eines Kindes, das vernachlässigt wird. Ganz naiv.

Anders als in den üblichen Drehbuch-Gräbern des deutschen Films fehlt bei Ihnen die Szene, in der plötzlich Heinrich Böll in der Tür steht und zu Ihrem Vater sagt: „Wir treffen uns morgen im PEN-Club, um über den Schah-Besuch Anfang Juni zu beraten. Die Ulrike von „konkret“ wird auch dabei sein!“
(lacht) Nein, so einen Quatsch könnte ich nie schreiben. Außerdem zeige ich ja ganz unterschiedliche Milieus: da sind die Emporkömmlinge der Nachkriegszeit, die Neureichen aus der Provinz, die Schriftsteller, die Durchschnittsfamilie. Da steckt viel Witz, aber auch jede Menge Wahrheit über die Deutschen drin.

Die Großeltern, die von Margarita Broich und Thomas Heinze gespielt werden, könnten direkt aus einem Schlagerfilm der späten 50er Jahre kommen. Darin wären sie neureiche Exzentriker, gespielt vielleicht von Boy Gobert und Grete Weiser, die dann von Heinz Erhardt oder Freddy Quinn »erzogen« werden würden. Bei Ihnen fehlt nur eben dieser opportunistische Erziehungsprozess zum Guten, zum Mainstream oder?
Interessante Idee, aber wahrscheinlich hätte es die Exzentrik und die Gewalt dieser Beziehung dann doch nicht in den Schlagerfilm geschafft. Im Schlagerfilm war selbst das Exzentrische letztlich bieder. Anekdotisch ist jedoch die Szene, in der das Ehepaar vor den Fernsehnachrichten sitzt und der Mann plötzlich anfängt, auf Willy Brandt zu schimpfen. Daran erinnere ich mich nur zu gut: Abend für Abend ging die Brüllerei los, wenn Brandt auf dem Bildschirm erschien. Dann wurde es eng im Wohnzimmer. Drei Tage später entlud sich der Frust dann in einem Ehekrach. Ein Elend im goldenen Käfig. Über dieses Grauen hat bislang niemand Filme gemacht, höchstens in Ansätzen Fassbinder mit „Die Sehnsucht der Veronika Voss“.

Was Fassbinder bestimmt gefallen hätte, sind die von Sonja Kirchberger, Meret Becker, Margarita Broich und Lavinia Wilson jeweils hervorragend gespielten starken Frauen. Von denen geht eine ungeheure Energie aus!
(lacht) Ja, da habe ich mir mal etwas Mühe gegeben! Wozu gab es schließlich „Maria Braun“ und „Lili Marleen“? Man kann die Dinge auch mal richtig ausleuchten und tollen Figuren den ihnen zustehenden Raum geben. Es muss nicht alles immer grau und verdruckst sein.

Irgendwann in diesem Film werden Sie selbst geboren und zeigen Ihre Entwicklung vom vernachlässigten Kind zum verliebten Jugendlichen. Wie funktioniert diese autobiografische Dimension?
Ich musste da irgendwie durchkommen, durch meine Familien und Ersatz-Familien. Beim Versuch, dies zu schaffen, wurde ich zumindest phasenweise zum Clown. Was für mich und vielleicht für den Film den Vorteil hatte, dass ich nicht alles immer so ernst, so moralinsauer genommen habe.

„Ich bin der absolute Mittelpunkt“

( , Regie: )

Werner Herzog erhält den Deutschen Filmpreis
von Alexander Lohninger

Am 26. April 2013 wurde Werner Herzog mit dem Deutschen Filmpreis für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Über den Stellenwert eines egozentrischen Sonderlings und seinen Beitrag zum europäischen Gegenwartskino. „The surface is …

Am 26. April 2013 wurde Werner Herzog mit dem Deutschen Filmpreis für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Über den Stellenwert eines egozentrischen Sonderlings und seinen Beitrag zum europäischen Gegenwartskino.

„The surface is misleading“, rechtfertigte der Regisseur David Lynch einmal die Diskrepanz zwischen seinem düsteren, surrealen Werk und seiner freundlichen, außerordentlich „normalen“ Art – eine Erklärung, die auch auf seinen Kollegen Werner Herzog passen könnte. Erwägt man nur die Fassade Herzogs, entsteht schnell der Eindruck des kauzigen Deutschen, der als Exot in Los Angeles lebt und sich in Interviews oder kleinen Schauspielrollen als Exzentriker geriert. Irrlichternd existiert er in seinen Filmen und gibt sich immer ein wenig weltfremd, ja fast außerirdisch. Infolge dieser Selbststilisierung wird Herzog sogar unter seinen Anhängern manchmal nicht ganz ernst genommen, gerne für Parodien herangezogen und entweder als Wahnsinniger oder als Witzfigur verklärt. Die Vergabe des deutschen Filmpreises an Herzog unterstreicht jedoch, dass unter der Oberfläche der medialen Repräsentation einer der faszinierendsten Regisseure der Gegenwart steckt, dessen Werk eine einzigartige Aura ausstrahlt.

Am Grunde von Herzogs Schaffen steht das Gefühl der Halbherzigkeit, das beim Betrachten von ausgewaschenen Motiven aus Werbung, Postkarten, Fernsehen oder Reisekatalogen aufkommt; es bildet die Prämisse für eine obsessive Suche nach Bildern, die „unserer Zivilisation angemessen sind“. Für Herzog geht vom Status Quo der inadäquaten, weil unendlich oft widergekauten Bilder eine Gefahr aus, die er mit jener eines atomaren Unfalls oder heilloser Überbevölkerung gleichsetzt. Wenn wir nicht bessere, ungesehene Bilder finden, so Herzog, „werden wir aussterben wie Dinosaurier“. Das aus diesen Aussagen hervorgehende Gefühl von Dringlichkeit bringt ihn dazu, die nicht von der Hand zu weisenden Qualen des Filmemachens immer wieder auf sich zu nehmen. Viele von Herzogs Filmen, vor allem sein Frühwerk, fallen in die Kategorie der Low- oder gar No-Budget-Produktionen und gingen oft mit erheblichen Produktionsschwierigkeiten einher. Grausame Unfälle, unverhoffte Gefängnisaufenthalte oder plötzliche, schwere Erkrankungen hätten andere vielleicht für immer abgeschreckt. Herzog jedoch scheint sich mit diesen extremen Bedingungen gut arrangieren zu können, ja das Filmemachen ist für ihn per definitionem ein außerordentlich körperliches Handwerk. „Filmemachen kommt nicht von abstraktem, akademischem Denken“, statuiert er, „es kommt aus den Schenkel und Hüften. Und aus der Bereitschaft, 20-Stunden-Tage durchzuarbeiten“. Die Präferenz von Athletik gegenüber Ästhetik entstammt wohl Herzogs persönlicher Affinität zu sportlicher Betätigung. Neben Fußball und Skispringen in seiner Jugend ist das Gehen von entscheidender Bedeutung; die Bewegung in der Landschaft scheint für sein Schaffen gar so wichtig, dass er, wie er sagt, lieber ein Auge als ein Bein verlieren würde. Würde er ein Bein verlieren, dann würde er sofort aufhören Filme zu machen, denn physisch fordernde Räume wie der Dschungel Südamerikas, die Antarktis, oder französische Höhlen, also Orte, an denen er sich abarbeiten kann, gegen die er antreten kann, scheinen für die Inkubation von Herzogs Filmen essentiell zu sein.

Dennoch, so wird er nicht müde zu betonen, geht es ihm nicht um Abenteuer, um das Ausgeliefertsein oder den Thrill; es geht darum, vor Ort eine Intensität zu finden, die sich durch mühsame und oft auszehrende Arbeit auf die Leinwand übertragen lässt. Sein Kino brauche die Umwelt als etwas, auf das es reagieren kann, denn nur in natürlicher Umgebung können die benötigten Reibungen passieren, die seine Filme letztendlich zur Entfaltung bringen. Mag sein, dass Herzog mit dieser Herangehensweise in seiner Karriere stellenweise die Grenzen der Vernunft überschritten hat (für die Dokumentation „La Souffrière“ ist er auf die damals evakuierte Insel La Gouadeloupe geflogen, um im Angesicht einer verheerenden Vulkanexplosion die letzten verbliebenen Einwohner zu treffen), aber diese raren Negativbeispiele sollten nicht über den Mut und die Konsequenz hinwegtäuschen, mit der er seine Suche nach ungesehenen Bildern betreibt. Nicht nur, dass er auf allen Kontinenten inklusive der Antarktis gedreht hat, sogar das All hat er ernsthaft in Betracht gezogen – an Bord eines NASA Raumschiffes wäre er, hätte man ihn gelassen, der erste Filmemacher in der Schwerelosigkeit gewesen – welcher andere Regisseur kann sich schon solche Furchtlosigkeit attestieren?

* * *

Die Ekstase der Wahrheit

Wenn in „Fitzcarraldo“ das berüchtigte Boot von hunderten Statisten im Film über einen zuvor entwaldeten Hügel im Amazonas Gebiet gezogen wird, kann man die Reibung zwischen Herzogs Fiktion und dem harten Untergrund der Realität in eindrucksvoller Intensität wahrnehmen. Die Qualen und Rückschläge, die der Regisseur im Zuge dieser Mammutaufgabe drei Jahre lang ertragen hat, sind in der Filmgeschichte wohl einzigartig, und doch illustriert dieses Martyrium anschaulich, wie sehr sich diese physisch extremen Sysiphos-Torturen bezahlt machen können. Das Bild des ohne jeden Spezialeffekt über den Berg wandernden Bootes, das sich schließlich für immer ins Gedächtnis jedes Zusehers gebrannt hat, wird Herzogs Suche nach nie zuvor erblickten Bildern mehr als jedes andere gerecht. Zudem ist es einer jener Momente, in denen er an das Unerklärliche stößt, an etwas, das über die blanke, faktische Realität hinausgeht. Herzog charakterisiert diese mysteriösen Augenblicke als die „Ekstase der Wahrheit“ (the ecstasy of truth), als Momente, die den Zuseher illuminieren, zutiefst berühren oder in fast religiöser Manier erfüllen. Diese erhebende Erfahrung ist, „was uns Kino im besten Falle geben kann. Es ist ein fernes Ziel und kaum jemals zu erreichen, aber es ist wonach ich suche“. Um diese Absicht innerhalb jener Arenen, die der Regisseur sich an seinen Drehorten aufbaut, zu erfüllen, versucht er konsequent, mit seinen Inszenierungen neue Wege zu beschreiten.

Szene aus „Fitzcarraldo“ (Foto: © arthaus)

Das Kernmerkmal seiner Regie ist das Verwischen der Grenzen von Dokumentation und Spielfilm: Einerseits involviert er in seine Spielfilme oft Bevölkerung, die beim Dreh vor Ort anzutreffen ist (also beispielsweise die Ureinwohner in „Fitzcarraldo“), gibt kompletten Laiendarstellern gar die Hauptrolle (Bruno S. in „Stroszek“) oder bindet seine Filme sehr stark an reale Qualitäten der Landschaft. Andererseits bricht er, in konsequenter Opposition zur cinéma verité Bewegung, die Regeln des Dokumentarfilms und redefiniert dessen Form: Er legt den Dargestellten Sätze in den Mund, probt diese und wiederholt die Szenen wie im Spielfilm; so lange, bis eine von ihm fabrizierte und stilisierte Wahrheit zur Geltung kommt. „Objektivität existiert ohnehin nicht“, verlautbart Herzog, „und ich möchte keinen objektiven Film machen.“ Anstatt sich wie die von Dokumentaristen wie Frederick Wiseman propagierte Fliege an der Wand zu verhalten, die die Realität vor der Kamera in keinster Weise stören möchte, versucht Herzog das glatte Gegenteil zu sein, nämlich „eine Hornisse, die zusticht“. Diese Haltung ist sicher ein Eckstein von Herzogs Bedeutung für das Kino; in einer Zeit, wo die spurenlose, digitale Manipulation von Filmmaterial mit jedem Durschnittscomputer durchgeführt werden kann, wo die Mutabilität der Filmkunst im Kern eingeschrieben ist, wirkt Herzogs Attitüde, die alt gewordene Ansprüche auf Objektivität hinter sich lässt, erfrischend und konsequent. Sie führt letztendlich dazu, dass der Zuseher eine von Herzog offen und ehrlich empfundene Wahrheit betrachten kann, und macht keinen Hehl daraus, dass jeder Dokumentarfilm am Ende nicht eine Betrachtung von ungestörter Wirklichkeit ist, sondern ähnlich wie der Spielfilm ein stilisiertes Kunstprodukt, das aber die Fähigkeit besitzt Wahrheit jenseits von Fakten zu kommunizieren. Diese Loslösung von der blanken Realität ist definitiv ein Alleinstellungsmerkmal Herzogs: In fast amerikanischer Tradition lässt er auch in seinen Spielfilmen die blanke Realität hinter sich, porträtiert eine Dorfgemeinschaft beispielsweise mit hypnotisierten Darstellern, besetzt einen Film nur mit Kleinwüchsigen oder zieht eben Schiffe über einen Berg. Es ist nicht verwunderlich, dass Herzog in Deutschland respektive Europa in der Vergangenheit für seine Orientierung in Richtung aggressiver Inszenierung oft weniger gut aufgenommen wurde und schließlich seinen Wohn- und Arbeitssitz nach Los Angeles verlegte, durchkreuzt er mit seinen Ansichten doch die ewig-realistische Tradition des europäischen Kinos nach dem Zweiten Weltkrieg.

* * *

Herzog als geheimer Protagonist

Herzog ist sich dieser inszenatorischen Einzigartigkeit mehr als bewusst und scheut nicht davor zurück, offen darüber zu sprechen. In Herzog-typischer Manier verglich er sich hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Position einmal gar mit Franz Kafka: Ähnlich wie Kafka beackere er im Verborgenen den Kern unserer Zivilisation, präge und verstehe als einer der wenigen unsere Zeit. Er sehe sich aber nicht als Außenseiter – ganz im Gegenteil: „Ich bin der absolute Mittelpunkt. Alle Anderen sind Außenseiter. Ich besetze die Mitte, alles um mich herum wirkt eher bizarr und marginal.“ Will man Werner Herzogs Werk in seiner Gesamtheit verstehen, ist diese fast naive Egozentrik, dieses überbordende Selbstbewusstsein der entscheidende Schlüssel: Nicht nur gab ihm dieser unerschütterliche Selbstglaube die Kraft, schier unmenschliche Zerreißproben durchzustehen und seine Filme gegen alle Widerstände durchzusetzen, auch thematisch spielt seine eigene Person in seinem Werk eine nicht zu unterschätzende Rolle. Bei genauem Hinsehen bemerkt man die autobiographischen Aspekte, die in die Figuren seiner Filme einfließen, unabhängig ob in Spielfilm oder Dokumentation. Graham Dorrington, der Protagonist der Dokumentation „The White Diamond“, erinnert mit seiner von manischen Visionen inspirierten Mission in den Tiefen des südamerikanischen Dschungels doch stark an Herzogs Erfahrungen mit der Produktion von „Fitzcarraldo“.

Szene aus „The Dhite Diamond“ (Foto: © arthaus)

In ähnlicher Weise spiegelt sich Herzog in Timothy Treadwell, der Hauptfigur von „Grizzly Man“, vor allem in dessen Bedürfnis sich durch das Filmemachen eine künstlerische Identität zu erschaffen und die Welt durch seine Kamera wahrzunehmen. Über die Figur Fitzcarraldo sagt Herzog im Audiokommentar der DVD, dass er fast Kinskis Rolle übernommen hätte, dass er sich in manchen Momenten sogar wie ein Alter Ego Fitzcarraldos fühlt; eine Behauptung, die auch auf den Skispringer Walter Steiner aus „Die Große Ekstase des Bildschnitzers Steiner“ zutreffen könnte. Herzog steht als geheimer Protagonist in der Mitte seines Werkes; alles fängt bei ihm an und hört mit ihm auf. Aus einem schier unerschöpflichen Reservoir an Geschichten produziert er kontinuierlich Filme, und erweitert mit jedem Neuzugang seine Persona um ein zusätzliches Segment. Am Ende ist Herzog nicht bloß „the good soldier of cinema“, als der er sich einmal bezeichnet hat – ein guter Soldat, der dem Kino selbstlos-disziplinierte Dienste inmitten des immer substanzloser werdenden Mainstreams geleistet hat – er ist auch selbst zu einer in seinen Filmen verewigten Kunstfigur geworden, die immer deutlicher aus dem Werk hervorragt. Natürlich geht mit diesem Phänomen die Versuchung einher, Herzog auf seine kuriose Selbstsicherheit oder auf sonstige sonderbare Qualitäten seines Auftretens zu reduzieren, um in der Folge nur seinen eingeübten Gestus und nicht das dahinterstehende Oeuvre von über sechzig Filmen wahrzunehmen. Widersetzt man sich jedoch der Verlockung und versteht seine stilisierte Persönlichkeit eher als Schlüssel zu seinem Schaffen, findet man Zugang zu einem der komplexesten Werke des Gegenwartskinos, das völlig zu Recht mit der höchsten Ehrung der deutschen Filmförderung ausgezeichnet wird.

Mariella Schütz: Explorationskino – Die Filme der Brüder Dardenne

( , Regie: )

Die Erforschung der Nebensachen
von Andreas Thomas

Eine „Inauguraldissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie“, die nicht jedem Freund dardennescher Filme Freude bereiten wird. In ihrer bei Schüren veröffentlichten Doktorarbeit geht die Romanistin und …

Eine „Inauguraldissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie“, die nicht jedem Freund dardennescher Filme Freude bereiten wird.

In ihrer bei Schüren veröffentlichten Doktorarbeit geht die Romanistin und Filmwissenschaftlerin Mariella Schütz akribisch der These nach, dass die Filme der Brüder Luc und Jean-Pierre Dardenne eine dritte Form von Kino seien, so genanntes „Explorationskino“ (Wortschöpfung der Autorin), weil sie zwischen Dokumentation und Fiktion zu verorten seien. Im Mittelpunkt stehen dabei Analysen der Dardenne-Filme „Rosetta“, „Le Fils“ und „L’Enfant“, die immer wieder um die Frage kreisen, wie solch sperrige Filme ein so großes Publikum erreichen können. Kaum hinterfragt sind dabei aber schon ihre Begriffe von Fiktion und Dokumentation, wenn sie z.B. als Charakteristikum des „explorativen Kinos“ „sensationslose und diskrete Spurensuche“ anführt, “wobei die Spannung durch das Schwanken zwischen Involvierung, Teilnahme und Beobachtung, Distanz entsteht.“

Davon abgesehen, dass Grammatik und Satzbau (wie auch in diesem Beispiel) spätestens vor der Veröffentlichung beim Schüren Verlag dringend eines offenbar nicht vorhandenen Lektorats bedurft hätten, zählt Schütz hier erzählerische Eigenschaften auf, die natürlich seit Jahrzehnten zum Repertoire des fiktionalen Kinos gehören; wenngleich – und hier findet sich der Aufhänger, an dem das komplette Werk von Schütz baumelt – die Dardenne-Filme natürlich im Gewand der dokumentarischen Authentizität daher kommen. Es kann also nicht davon die Rede sein, dass sich das so genannte Explorationskino der Dardennes irgendwo zwischen fiktionalem und dokumentarischem Kino befindet, denn es stellt auch nur eine von unzähligen Spielarten fiktionalen filmischen Erzählens dar, eine, zugegeben, die die Aufmerksamkeit und aktive Beteiligung des Zuschauers auf besondere Weise fordert.

Der Art und Weise, wie diese Filme das machen, widmet Schütz einen Großteil ihrer Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit über Gebühr, wenn pseudophilosophische Stilblüten solcher Art daraus erwachsen: „Nur im Aufbruch fertiger Normen wird man kreativ. Dies bedarf Mut, weil es eine Zumutung ist, über die man anmutend neue Vermutungen entwerfen kann.“ Es geht Schütz vornehmlich dabei in erster Linie um das Wohl und Wehe des Rezipienten, dem es durch die dardenneschen Filme möglich werde, ein „Feingefühl und Verständnis für prinzipielle Fragen des eigenen wertorientierten, zwischenmenschlichen Verhaltens und Handelns<<>>“ zu entwickeln. Es sei in den Filmen der Dardennes nicht wichtig, „eine Antwort darüber zu finden, ob Rosetta richtig handelt, ob sie gerecht behandelt wird, ob soziale Randgruppen mehr oder weniger Geld vom Staat erhalten sollen, ob die soziale Marktwirtschaft gerecht ist oder nicht oder wie die Schuldfrage von Francis oder von Bruno zu beantworten ist“, die Dardenne-Rezeption, so Schütz, führt immer so ausschließlich in den persönlichen Bereich, dass für übergreifende soziale oder ökonomische Betrachtungen trotz aller von Schütz auf einigen Buchseiten entwickelter „Intersubjektivität“, die durch das „explorative“ Kino zustande kommen möge, der gesellschaftlich-politische Zusammenhang verschlossen bleibt. Der Dardenne-Zuschauer verharrt, nach Schütz, bei Fragen, wie: „Weiche ich vor Unschönem und Abstoßendem aus? Bin ich offen für ein Überdenken meiner (Vor-)bilder? Kann ich eigentlich loslassen? Verrenne ich mich in eine ‚fixe Idee‘? Wovor habe ich Angst?“ Etc. pp. Man könnte meinen, Schütz habe einen Wochenend-Selbsterfahrungskurs belegt, anstatt einen Dardenne-Film gesehen zu haben.

Natürlich erschweren die Dardenne-Filme dem Zuschauer den Zugang, weil sie versuchen, möglichst wenige Klischees zu bedienen, möglichst viele Fragen zu stellen und möglichst wenige Antworten zu geben. Aus ihren Filmen spricht ein starkes Bedürfnis nach dem Unverfälschten, Unmanipulierten, offenbar weil sie selbst den Anspruch haben, möglichst nah an unsere Wirklichkeit heran zu kommen. Deshalb verlangen sie auch vom Zuschauer eine wache und kritische Aufmerksamkeit, ein Sich Einlassen können, auch auf Szenen und (wackelige) Bilder, die ihn zunächst befremden, weil er sie nicht gewohnt ist und weil sie zunächst aus dem filmischen Zusammenhang heraus nicht erklärbar sind.

Dieses Verfahren wird von Schütz zwar richtig erkannt, aber sie bleibt annähernd 240 Seiten lang im Stadium der Rezeptions-Analyse stehen, als wäre die dardennesche Inszenierungstechnik schon auch Inhalt, Kernaussage und das künstlerische Ziel ihrer Filme, und als ginge es in ihren Filmen lediglich darum, die Wahrnehmung des Zuschauers zu verändern, seine Sicht auf die Welt oder gar ihn selbst zu „therapieren“, so zuschauerzentriert jedenfalls liest sich das bei Schütz.

Eine übergründliche Auseinandersetzung mit den Phänomenen des veränderten Zeigens/Wahrnehmens einer „widerständigen Wirklichkeit“ mag zwar ihren Sinn haben, solange man den Eindruck behält, dass die Autorin dahinter den Film (auch im „intersubjektiven Sinne“) verstanden haben möge, kritisch wird es aber dann, wenn offenbar wird, dass sie zentrale Punkte der Handlung trotz intensiver Analyse nicht erkennen kann: In einer der wichtigsten Szenen von „Rosetta“ beobachten wir, wie Rosettas Freund und Arbeitskonkurrent Riquet in einen Teich fällt und Rosetta zunächst keine Anstalten unternimmt, ihm herauszuhelfen, obwohl sie selbst kurz vorher erfahren hat, wie schwierig es ist, sich alleine aus dem morastigen Boden des Teiches zu befreien. Aus dem unmittelbaren Filmzusammenhang können wir schlussfolgern, dass, wenn Riquet „weg wäre“, sie seinen Arbeitsplatz bekommen würde, denn in der Szene davor fragt Rosetta Riquets Chef, ob, sobald eine seiner Stellen frei würde, sie diese übernehmen könne, und er bejaht. Alles deutet darauf hin, dass Rosetta seinen Tod durch Ertrinken wenn nicht sogar aktiv herbeiführen will (sie lässt nämlich offenbar absichtlich die ihr von ihm gereichte Hand los, als er sich über den Teich beugt, um etwas heraus zu holen, so dass er hineinfällt – auch das entgeht der Autorin), sie ihn zumindest durch unterlassene Hilfeleistung in Kauf nehmen würde, nur um einen, nämlich seinen, Job zu bekommen.

Schütz macht sich da andere Gedanken: „Der Ruf nach Hilfe wird von Rosetta nicht erwidert. Sie beobachtet ihn, scheint zu überlegen, ob sie ihn seinem Schicksal überlassen soll, holt dann aber einen langen Stock, um ihm aus dem Wasser zu helfen. Ihr Zögern und die Entscheidung zur Hilfeleistung werden später im Streitgespräch mit Riquet aufgegriffen. In dieser ehrlichen Nichterfüllung unserer Erwartungshaltung liegt das realistische Moment der Filme der Brüder Dardenne. Auch in unserer Realität ist es nicht üblich, dass sich unsere Wünsche erfüllen, dass unsere Sehnsüchte so „einfach“ befriedigt werden. Deshalb schauen wir uns auch gerne romantische, märchenhafte, etc. Filme an, gerade weil sie unsere Phantasien erfüllen.“

Aha! Wenn man Schütz also folgen mag, dann handelt Rosetta nur deshalb so unkonventionell (und implizit mörderisch!), weil die Erwartungshaltung des Zuschauers unterlaufen werden soll, welcher – auch dies wird übrigens bündig und pauschal unterstellt – sowieso lieber „Die fabelhafte Welt der Amelie“ sehen würde als „Rosetta“. Ein genialer pädagogischer Schachzug der Dardennes. Auch hier steht für Schütz offenbar der Zuschauer und sein Rezeptionsvermögen oder -unvermögen im Mittelpunkt des Dardenne-Vermittlungs-Interesses. Dass die Figur Rosetta aber selbst und handlungsintern ein Motiv für ihre unterlassene Hilfeleistung haben könnte (und zwar im Interesse einer dezidierten Filmhandlung), entgeht der Autorin in ihrem ständigen Kreisen um Wahrnehmungsweisen, um die „Widerständigkeit“ des explorativen Kinos und um das problematische Befangensein im persönlichen Vorurteil, das aufzubrechen die Dardenne-Brüder angetreten sind …

Ein anderer, grundlegender, Analysefehler ist das Übersehen einer im Film „La Promesse“ tatsächlich unterlassenen Hilfeleistung, die zum Tode führt. Als ein „illegaler“ Arbeiter während einer polizeilichen Kontrolle vom Gerüst fällt, deckt sein Chef und Vermieter zusammen mit seinem Sohn den Schwerverletzten mit einer Plastikplane zu und schüttet obendrein noch Sand darüber, damit ihn die Kontrolle nicht entdeckt. Schließlich lässt er den Familienvater sterben, um seinen kleinen Illegalen Betrieb aufrecht erhalten zu können. In „La Promesse“ wird ein Mensch bei lebendigem Leib begraben. Bei Schütz wird aus dieser Ungeheuerlichkeit nur ein Unfall bzw. eine traurige Nebensache: „Die Abhängigkeit zwischen Vater und Sohn gerät ins Wanken, als Igor Hamoidou, der bei Bauarbeiten vom Gerüst fällt, im Sterben ein Versprechen gibt: Nach seinem Tod wird er sich um dessen Frau und Sohn kümmern.“

Kein Wort von Schütz über diesen Totschlag, über dieses für den Film zentrale Motiv, weil die Autorin ihn ganz einfach nicht bemerkt hat. Für eine Arbeit, die besonders das genaue Hinsehen propagiert, durchaus ein Armutszeugnis.

Ein Buch, das sich mit den Brüdern Dardenne befasst, sollte zumindest deren in allen ihren Spielfilmen immer wieder kehrendes Hauptmotiv erkennen und thematisieren: der verminderte Wert des Menschenlebens als Gradmesser der sozialen Kälte unserer Gesellschaft. Es würde nun den Rahmen dieser Rezension sprengen, diese Beispiele im Einzelnen zu erläutern, aber der rote Faden ist deutlich erkennbar: In der Vorgeschichte von „Le fils“ wurde ein Junge offenbar ohne einen nachvollziehbaren Grund getötet, in „L’enfant“ verkauft ein Vater sein eigenes Baby, in „Lornas Schweigen“ wird aus Profitgründen ein „Junkie“ ermordet. In allen Beispielen liegt einer zeitgenössisch-gesellschaftlichen Bestandsaufnahme eine situative Bewertung bzw. Abwertung des menschlichen Lebens zugrunde. Jedoch nur einmal, bei „L’enfant“, worin ja konkret ein Mensch mit materiellem Wert gemessen und bezahlt wird, wird die Autorin auf diese Parabelhaftigkeit aufmerksam und geht ihr ausführlicher auf den Grund. „Lornas Schweigen“ hingegen wird wieder so abgehandelt, dass es einem kalt den Rücken herunter läuft:

„Ihr aktueller und und letzter Film LA SILENCE DE LORNA (2008) greift wie die vorangehenden Filme der Brüder einen Aspekt auf, der alltäglich ist und daher eigentlich keiner besonderen Aufmerksamkeit bedarf. Ein typisches „fait divers“, das wir nicht mehr beachten, weil es unzählige vergleichbare Schicksale gibt: Eingehen einer Scheinehe, um eine Staatsbürgerschaft zu erlangen, Drogenentzug, Schwarzarbeit, Schlepperbanden. Wie bei den anderen Filmen stellt sich die Frage, wieso sich die Brüder damit befassen und einen Film daraus machen.“

Kein Wort über das grauenhafte Zentrum des Films, die in der monetären Logik der Protagonisten folgerichtige kaltblütige Ermordung eines jungen Mannes, von der wir hoffen wollen, dass Schütz diese nicht als belanglos empfindet, obwohl sie sie auch im weiteren Verlauf ihrer Darstellung nur einmal erwähnt.

Da Schütz ausgerechnet dieses in den Dardenne-Filmen zentrale Thema des Wertes eines Menschenlebens zu selten im Auge hat, verlieren sich ihre Beobachtungen häufig an der Peripherie. Auch der von ihr gern und mehrfach bemühte Philosoph Heidegger verhilft da nicht zu mehr Tiefenschärfe, aber wirkt immerhin als Vergrößerungsglas der Unschärfe, wenn sie ihn zitiert: „Die Sache ist so, weil man es sagt. In solchem Nach- und Weiterreden, dadurch sich das schon anfängliche fehlen der Bodenständigkeit zur völligen Bodenlosigkeit steigert, konstituiert sich das Gerede.“ (Orthografische Fehler des Buches sind hier übernommen) Sollte sich beim Leser dieser Zeilen kein Schwindelgefühl einstellen, so tragen sie aber auch nichts zur Erhellung der Dardenne-Filme bei, selbst wenn Schütz das (laut Schütz von Heidegger nicht pejorativ gemeinte) „Gerede“ in ein „Gesehe“ verwandelt.

Im Übrigen beeinträchtigen nicht nur die orthografischen Fehler den Lesegenuss, auch die vielen in der Originalsprache belassenen englischen und französischen Zitate erheben das Werk zwar zu wissenschaftlichem Rang, erschweren aber den Erkenntnisgewinn des Normalfilmverbrauchers, und das ist schade, denn offenbar sind es vor allem die Dardenne Brüder selbst, die ihr Werk in diesem Buch am besten, hier in offenbar radebrechendem Englisch, beschreiben können:

„In a social situation, the market, where everyone is put into competition with everybody else – in a context where people are in permanent rivalry and organised like that by society and the economy – how is someone like Rosetta going to be able to love someone when the situation asks her to consider him as her enemy, her rival? How am I going to be able to love my rival and get beyond that? If not – will I kill him, make him fall? That’s what interests us.” (Orthografische Fehler übernommen)

Hätte Schütz sich ebenso wie die Dardennes für diese zentrale Frage aller ihrer Filme interessiert, dann hätte sie vielleicht auch jenen roten Faden des buchstäblichen Werts eines Menschenlebens als Gradmesser für die Werte der Gesellschaft wahrgenommen und aufgegriffen, so aber bietet sie nur ein Beispiel dafür, dass Doktorarbeiten nichtmal abgeschrieben sein müssen, um enttäuschend zu sein.

Mariella Schütz: „Explorationskino – Die Filme der Brüder Dardenne“
Schüren, 2010, 260 Seiten, 24,90 Euro

Destroy All Movies!!!: The Complete Guide to Punks on Film

( , Regie: )

Überfällige Geschichtsrevision
von Oliver Nöding

Was haben so unterschiedliche Filme wie Penelope Spheeris‘ „Suburbia“, Uli Edels „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo”, der Troma-Film „Atomic Hero“, Mark L. Lesters „Die Klasse von 1984“, …

Was haben so unterschiedliche Filme wie Penelope Spheeris‘ „Suburbia“, Uli Edels „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo”, der Troma-Film „Atomic Hero“, Mark L. Lesters „Die Klasse von 1984“, Howard Deutchs Teenieromanze „Pretty in Pink“, die Achtzigerjahre-Hitkomödie „Crocodile Dundee“, Verhoevens „RoboCop“, Dennis Hoppers „Out of the Blue“, Scorseses „Die Zeit nach Mitternacht“, Julian Schnabels Biopic „Basquiat“ oder die G.G.-Allin-Doku „Hated“ miteinander gemein? Die Antwort: In allen sind Punks in mehr oder weniger prominenten Rollen vertreten und das qualifiziert sie automatisch dazu, in „Destroy All Movies!!! The Complete Guide To Punks On Film“ besprochen zu werden.

Filmische Nachschlagewerke gibt es wie Sand am Meer. Neben umfangreichen Enzyklopädien wie dem „Lexikon des internationalen Films“, das den Anspruch erhebt, jeden im Westen irgendwie erhältlichen oder einmal gezeigten Film zu listen, oder einem Werk wie Thomas Koebners „Filmregisseure“, das sich Biografie und Werk der vermeintlich wichtigsten Regisseure der Filmgeschichte essayistisch annähert, kann man mittlerweile zu nahezu jedem Genre oder Subgenre das passende Lexikon finden, wobei sich vor allem die schillernde Welt des Exploitationfilms durch ein kaum zu überschauendes Angebot hervortut.

Ob Splatter-, Zombie-, Frauengefängnis-, Kannibalen- oder Vampirfilm, ob Mex-, Blax-, Sex-, Nazi- oder Nunsploitation: Jedes noch so kleine B-Film-Phänomen ist publizistisch bereits akribisch aufgeschlüsselt und urbar gemacht worden. Nun gesellt sich mit „Destroy All Movies!!! The Complete Guide To Punks On Film“ jenem ausufernden Angebot ein Buch hinzu, dessen Herausgeber sich der Aufgabe verschrieben haben, eine Filmgeschichte des „Punks“ zu schreiben. Alphabetisch nach dem internationalen (also meist englischen) Verleihtitel sortiert, finden sich auf 460 großformatigen Seiten rund 1.100 Einträge zu Filmen aus aller Herren Länder und einem Produktionszeitraum, der ungefähr das letzte Viertel des vergangenen Jahrhunderts abdeckt. Was das Buch von den oben beschriebenen Genre-Enzyklopädien abhebt und seinen großen Reiz ausmacht, ist die Lockerheit der Auswahlkriterien, die die Autoren zugrunde gelegt haben: Eingang in das Buch fand jeder Film, der wenigstens einmal einen „Punk“ – bzw. einen Menschen, der einen solchen darstellen soll oder als solcher zu identifizieren ist – ins Bild setzte. Somit widmet sich der weit überwiegende Teil des Buches mitnichten dem „echten“ Punkfilm, also einem Subgenre, das den Punk und seine Subkultur thematisiert, möglicherweise sogar selbst Erzeugnis dieser Subkultur ist oder sich zumindest darum bemüht, ihn besonders authentisch darzustellen, sondern der Abbildung dieser Figur durch die neuere Filmgeschichte hindurch.

„Destroy All Movies!!! The Complete Guide To Punks On Film“ emanzipiert sich so vom reinen Gebrauchswert als Nachschlagewerk und tritt ein in die Sphäre der Kulturkritik: Es wird deutlich, wie der Punk und seine Bedeutung in der Massenkultur trivialisiert und marginalisiert, er negativ auf die Funktion des grellen Bürgerschrecks oder positiv auf die des durchgeknallten Paradiesvogels reduziert wurde. Dieser Zug tritt in der Gegenüberstellung mit der Subkultur ernsthaft verpflichteten Independent-Produktionen, die sich um eine vorurteilsfreie, differenzierte Zeichnung des Punks und der Szene, der er angehörte, bemühten, noch deutlicher hervor. Den Autoren kommt mithin nicht nur das Verdienst zu, die Kluft zwischen Wirklichkeit und massenmedialer Aufbereitung transparent zu machen, sie skizzieren anhand eines ganz konkreten Beispiels gleichzeitig die historisch-dialektische Entwicklung einer einst subversiven Kultur über Rezeption, Aneignung, Umformung und Trivialisierung bis zu ihrer Neutralisierung.

Seinem Sujet angemessen, ist „Destroy All Movies!!! The Complete Guide To Punks On Film“ jedoch keine trockene theoretische Abhandlung geworden: Die einzelnen Texte sind von Fans des Abseitigen intelligent, pointiert und witzig geschrieben, zeichnen sich zudem durch eine frische Perspektive aus, die die Wiederentdeckung vernachlässigter oder aber längst vergessener Filme begünstigt. Ergänzt werden die von kurzen Absätzen bis zu längeren Aufsätzen reichenden Filmtexte immer wieder durch Interviews mit Musikern, Filmschaffenden und Schauspielern, die die Entstehungsgeschichte der Filme beleuchten oder über ihre Verbindungen zur Punkszene berichten. So kommen u. a. Ian McKaye, Wolfgang Büld, Ulli Lommel, Penelope Spheeris, Allan Arkush, Martah Coolidge, Bruce LaBruce, Nick Zedd und zahlreiche weitere zu Wort, die nicht gerade zu den üblichen Verdächtigen zu zählen sind.

Da das Buch auch gestalterisch ein absolutes Schmuckstück geworden ist, sich in seinem dreifarbigen Design an den handkopierten Fanzines der Szene orientiert und wahrscheinlich bald vergriffen sein dürfte, muss man es eigentlich als Pflichtkauf bezeichnen – zumindest für Leser, die des Englischen mächtig sind, denn leider gibt es das Buch nicht in deutscher Übersetzung. Für diese jedoch dürfte die Investition von knapp 26 Euro noch nie punkrockiger gewesen sein als hier.

Zack Carlson, Bryan Connolly (Hg.): Destroy All Movies!!!: The Complete Guide to Punks on Film
Fantagraphics Books, 2010, 460 Seiten, 25,99 Euro. engl.

Christian Keßler – Die läufige Leinwand. Der amerikanische Hardcorefilm von 1970 bis 1985

( , Regie: )

The Resurrection of Porn
von Sven Jachmann

Es besteht wohl wenig Zweifel daran, dass die Entstehung des Videomarkts in den 1980er Jahren dem narrativen Pornofilm zumindest in Fragen der Experimentierfreude das Genick gebrochen hat. Natürlich gibt es …

Es besteht wohl wenig Zweifel daran, dass die Entstehung des Videomarkts in den 1980er Jahren dem narrativen Pornofilm zumindest in Fragen der Experimentierfreude das Genick gebrochen hat. Natürlich gibt es sie noch, jene bizarren Werke, die nicht notwendig stimulieren, sondern weitaus lieber normativ geratene Sehgewohnheiten irritieren möchten. Ebenso werden speziell in den USA große Anstrengungen unternommen, mit hochbudgetierten Produktionen, oftmals in Gestalt unsäglicher Remakes von massenerprobten Franchise-Titeln wie „Pirates of the Caribbean“, „Spiderman“ oder „Lord of the Rings“, wenigstens ein paar Scheinwerfer des Rampenlichts auf das eigene Werden und Wirken gerichtet zu sehen. Trotzdem muss der Befund wohl lauten: Porno oszilliert gegenwärtig sehr diametral zwischen Nische und Einfallslosigkeit, und ganz gleich welche Gründe dafür verantwortlich sein mögen – die Dominanz des so genannten Gonzoformats seit der Blütezeit der Videokamera, die leichte Verfügbarkeit der Pornographie im Internet -, es fällt nach der Lektüre von Christian Keßlers Handbuch durchaus schwer, nicht reflexartig eine vergangene Epoche zu preisen, in der eine Art filmischer Anarchismus offenbar sehr konstant den Produktionsprozess begleitete.

Keßler begibt sich (wieder mal – man schlage nach in seinen Büchern „Das wilde Auge“ (1997) und „Willkommen in der Hölle“ (2002), worin er sich dem Giallo-Kino bzw. dem Italowestern widmete) in die äußerste Peripherie der Filmgeschichte und folgt diesmal bei seiner Exkursion der Zeitachse des amerikanischen Hardcorefilms von 1970 bis 1985, sozusagen vom Vorabend des „Deep Throat“-Phänomens zu the Year Porn broke, als die Dark Brothers mit „New Wave Hookers“ eine im Prinzip bis heute anhaltende Welle an style-over-substance-Filmen lostreten sollten. Was Keßler dabei akribisch leistet, ist Geschichtsaufarbeitung von gewaltigem Wert. Zwar wurde der pornografische Film auch im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren verstärkt zum Studienobjekt der Film- und Kulturwissenschaften (jüngste Beispiele sind etwa der Reader „Sex und Subversion“ bei Bertz+Fischer oder Sabine Lüdtke-Pilkers Monographie über feministische Frauenpornografie „Porno statt PorNO“ bei Schüren), an filmhistorischen Arbeiten mangelt es hingegen nach wie vor.

Welch schwieriger Weg da noch bevorstehen könnte, beweist letztlich Keßlers Buch selbst, dessen Editionsgeschichte dank unzähliger Absagen ganze acht Jahre beanspruchen sollte, bis es schließlich nun vom ehrwürdigen Martin Schmitz Verlag als bibliophiles Hardcover veröffentlicht wurde. Ein beeindruckendes Kompendium: Elf Interviews mit RegisseurInnen, ProduzentInnen und DarstellerInnen komplettieren die insgesamt 90 Filmbesprechungen, die mit Verve und fast erschlagender Informationsfülle Produktionsbedingungen, die Personenkonstellationen der Kreativen wie auch den film- und sozioökonomischen Kontext beleuchten. So entsteht das recht schillernde Panoptikum einer Zeit, in der auf 35mm-Material von gesellschaftskritischen Ansätzen über Musicals bis zur verstörenden Groteske kein Sujet gescheut wurde, um dem Sex auf der Leinwand nicht noch irgendeine originelle Sichtweise abzuringen. Dies bedingte sich auch aus der Form des Genres selbst: Den Produzenten war es in der Regel gleichgültig, in welche Geschichten die Kopulationen gebettet wurden, sofern es nur explizit zu Werke ging. Mit beispielsweise „Friday the 13th“-Regisseur Sean S. Cunningham oder Abel Ferrara sind unter den Beteiligten auch einige populäre Namen gestreut, insgesamt jedoch wird sich unter den LeserInnen sicher höchstens eine Handvoll finden, die auch nur einen Bruchteil der rezensierten und ohnehin nur schwer zu beschaffenen Filme gesehen hat. Für eine eher von Mythen und Aversionen denn ernsthaften Historisierungsbemühungen umrankte Erscheinung des Films, die der Großteil der hiesigen Filmpublizistik schon deshalb ignorieren muss, weil es schlicht und ergreifend an spezifischen Kenntnissen mangelt, fungiert das Buch als eine überfällige dezidierte Feldforschung von unten und sollte bereits jetzt zu den Standardwerken zählen.

Christian Keßler: „Die läufige Leinwand. Der amerikanische Hardcorefilm von 1970 bis 1985“
Martin Schmitz Verlag, 2011, 280 Seiten, 29,80 Euro

„Kein Stoff, den ich spontan als Slapstick Comedy inszenieren würde!“

( , Regie: )


von Ulrich Kriest

Ein Gespräch mit Wolfgang Murnberger über seinen neuen Film „Mein bester Feind„, dessen etwas mühsame Produktionsgeschichte, seine eigenen fort bestehenden Bedenken, einen Buddy-Film vor dem Hintergrund des Holocaust zu drehen …

Ein Gespräch mit Wolfgang Murnberger über seinen neuen Film „Mein bester Feind„, dessen etwas mühsame Produktionsgeschichte, seine eigenen fort bestehenden Bedenken, einen Buddy-Film vor dem Hintergrund des Holocaust zu drehen und über seine Probleme mit Filmkritikern, denen zu solchen Filmen immer nur Lubitsch oder neuerdings Tarantino einfällt. Das Gespräch fand Anfang August am Stadtrand Wiens statt, wo Wolfgang Murnberger gerade einen neuen Fernsehfilm dreht.

Ulrich Kriest: Mir hat ihr neuer Film sehr gut gefallen, weil er mir das intellektuelle Vergnügen bereitet hat, eine Meta-Ebene zur Handlung einzunehmen, von der aus ich das Räderwerk der Dramaturgie betrachten konnte. Immer wieder in „Mein bester Feind“ gibt es Konstellationen, bei denen überhaupt nicht ausgemacht ist, wie der Film weitergehen wird. Es ist sozusagen allerhand, vielleicht sogar alles möglich.
Wolfgang Murnberger: Hmm, woran denken Sie dabei konkret?

Ein Beispiel: Der Jude trägt die SS-Uniform und behauptet, er sei ein Nazi. Der Nazi trägt die KZ-Kleidung und behauptet, er sei der Nazi. Dann taucht die Geliebte des Nazis auf, die früher einmal die Geliebte des Juden war. Und sie entscheidet sich spontan, tja, für die alte Liebe. Was aber zu diesem Zeitpunkt und in einer durch und durch korrumpierten Umwelt alles andere als selbstverständlich ist.
Solche Szenen sind auch für mich klar die Höhepunkte des Films. Sie sind es bereits vom Drehbuch her gewesen und ich habe von Beginn an gewusst, dass dieser Film ein Kammerspiel sein wird. Es sind genau diese feinen Momente, wo es um Kammerspiel und gutes Schauspiel geht – das hat mich an der ganzen Geschichte am meisten interessiert.

Wie sind Sie denn zum Projekt gekommen?
Als ich das Buch von Paul Hengge zum ersten Mal gelesen habe, habe ich spontan gedacht: das geht nicht, irgendwie. Ich habe es nicht verstanden. Es hat geheißen: es sei so wie „Sein oder Nichtsein“ vom Ernst Lubitsch. Und dann habe ich es gelesen – und gerade mal die eine Szene mit dem Kleidertausch ist – vielleicht! – so wie der Lubitsch. Aber es ist insgesamt kein Stoff, den ich spontan als Slapstick Comedy inszenieren würde.

War denn ursprünglich eine Slapstick Comedy geplant?
Ich bin ja erst sehr spät in dieses Projekt hereingekommen. Das Buch ist ja schon sehr lange in Deutschland von Produktion zu Produktion gewandert. Es gab Probleme mit der Finanzierung, weil der Film ein Zwitter war. Keine Komödie, kein Drama. Anfangs war noch sehr viel Slapstick drin: besoffene SS-Soldaten, die nicht wissen, wem sie gehorchen sollen. Das habe ich alles reduziert, weil ich etwas Anderes erzählen wollte. Natürlich ist das Ganze auch ein Märchen, aber ich habe immer gesagt: jede einzelne Szene dieses Films hätte in der Wirklichkeit stattfinden können. Ich habe vom Autor sogar einen Originalbericht bekommen, der von einem jüdischen Häftling erzählt, der sich eine SS-Uniform angezogen hat, um zu überleben. Der Film ist also wirklich aus unendlich vielen Geschichten zusammengesetzt, die alle für sich hätten geschehen können. In seiner Gesamtheit ist die Erzählung mit ihren Auf-und-Abs und den ganzen Brüchen allerdings schon eine Konstruktion. Aber ich mag ja Zwitter im Kino eigentlich ganz gern. Aber anders als beim „Knochenmann“ konnten wir hier nicht Vollgas in jede Richtung geben: Vollgas in die Spannung, Vollgas in den Horror, Vollgas in den Humor – bei der Vorlage von Paul Hengge war unsere Bewegungsfreiheit eingeschränkt. „Mein bester Feind“ war von Anfang an ein feineres Gespinst als „Der Knochenmann“. Obwohl alles da ist: die Dramatik, der Humor und, klar, die Schrecken des Holocaust.

War das reizvoll oder problematisch?
Ich muss sagen: Während der ganzen Geschichte hatte ich immer Angst davor, wie die jüdischen Leute auf den Film reagieren. Dass man den Holocaust so in einen Nebel in den Hintergrund stellt, um davor eine, im weitesten Sinne, Verwechslungskomödie zu drehen. Oder einen Buddy-Film mit einem Nazi und einem Juden.

Wobei der von Georg Friedrich gespielte Rudi mir ja etwas zu beschränkt scheint, um Verbrecher zu sein, oder? Ist er nicht ebenso sehr auch ein Opfer seiner relativen Naivität?
Ich persönlich glaube ja, dass die meisten zu blöd waren, um Verbrecher zu sein. Aber gerade die vielen Mitläufer, die die SS-Uniform angezogen haben, um Karriere zu machen, darf man nicht einfach abtun. Sie wussten, dass sie sich auf eine böse Seite stellen. Aber was da genau wartete, war vielen nicht klar.

Zumal die Figur des Rudi ja ihrerseits auch bloß benutzt wird. Was die Moral der Figur ins Spiel bringt. Der muss sich seine Schuld, für die er ja durchaus ein Empfinden hat, auch später immer wieder schön reden.
Genau das hat mich an der Figur interessiert. Vom Autor her war Rudi viel böser gedacht. Mein Vater war ja auch ein Nazi. Zwar nicht bei der SS oder der SA, aber bei der Wehrmacht. Aber von der Gesinnung her, hätte der auch dort sein können. Ich bin aufgewachsen mit dieser Gesinnung. So: »Ja, wir haben geglaubt, der hat uns endlich einmal Schuhe anziehen können! War ja auch nicht alles schlecht, was der Hitler gemacht hat. Okay, das mit den Juden, das war nicht in Ordnung!« Die Dimensionen des Verbrechens hat die Täter-Generation auf diese Weise auf Distanz gehalten. Und ich bin auch mit der Selbstverständlichkeit aufgewachsen, dass wir Nachgeborenen eh darüber gar nicht urteilen können und dürfen, weil wir nicht dabei waren. Trotzdem ist mein Vater da so rein gerutscht. Der hat nicht gewusst, was der Plan war: die Vernichtung der Juden.

Ungewöhnlich bei Ihrem Film, aber zum Zwitterwesen des Films durchaus passend, ist die ständige Präsenz der Gewalt, die auch unter den Nazis herrscht.
So funktioniert meines Erachtens die Diktatur. Durch die Unterdrückung der eigenen Leute, durch den Zwang und auch die Lust ein Rädchen in einer Hierarchie zu sein, wo der Druck von oben nach unten weitergereicht wird. Die SS-Uniform fungiert abstrakt als Code. Man trägt nicht Uniform, weil man ein bestimmte politische oder moralische Haltung hat. Sondern man muss eine Haltung zeigen, weil man eine bestimmte Uniform trägt. Man ist nicht böse, sondern man muss signalisieren können, dass man aktuell das Spiel des Bösen spielt. Und Moritz Bleibtreu muss diese Haltung im Selbstversuch entwickeln. Learning by doing. Nicht zu vergessen: die Verführung, die von der Uniform ausgeht. Eine meiner liebsten Szenen im Film ist diejenige, wenn Moritz Bleibtreu sich als Jude zum ersten Mal mit der SS-Uniform im Spiegel sieht und plötzlich findet, dass die Uniform schaut nicht so schlecht aus am Körper. Diese Uniformen waren einfach ein wahnsinnig gutes corporate design. Wenn man so über SS-Uniformen sprechen darf. Moritz spielt diese etwas gewagte Szene ganz großartig.

Ein rätselhafter Moment ist ja der Kleidertausch selbst. Partisanen und die Wehrmacht nähern sich gleichzeitig der Absturzstelle des Flugzeugs. Und dann hat Moritz Bleibtreu plötzlich die SS-Uniform an, als die Nazis eintreffen. Instinkt?
Ich habe das bewusst nicht aufgelöst. Wahrscheinlich hat er gesehen, dass es deutsche Soldaten sind, die sich dem Haus nähern. Ich habe da auf Moritz‘ Gesicht geschnitten, aber so einen „Wicki“-Effekt mit Sternchen kann man ja nicht bringen. Leider!

Er zieht die Uniform an und pokert, weil er nicht einmal ahnt, worauf er sich eingelassen hat. In so eine SS-Uniform muss man erst hineinwachsen, oder?
Meine große Angst war ja, wie gesagt, dass ich mit „Mein bester Feind“ noch immer jüdische Gefühle verletzen könnte. Mich plagte das schlechte Gewissen, den Holocaust als Hintergrund für so eine Geschichte zu nutzen.

Aber eigentlich sind diese Debatten doch alle längst geführt worden. Darf man ein KZ inszenieren? Darf man über Hitler lachen?
Ich habe für mich entschieden, dass ich diesen Film drehen darf, weil das Drehbuch von einem jüdischen Autor geschrieben wurde. Ich weiß nicht, wie die ganze Geschichte ausschauen würde, wenn ein deutscher Autor das Drehbuch geschrieben hätte. Ich weiß nicht, ob es diesen Film dann überhaupt gegeben hätte.

Der Autor dient als Alibi?
Mir hat es zumindest am Anfang geholfen. „Inglourious Basterds“ war sicher einfacher zu realisieren, so als Hau drauf!–Italo-Western mit den ganzen Geschichtsverdrehungen. Ich bin dagegen ja sehr nah am Realismus! Oder nehmen wir „Der Junge im gestreiften Pyjama“! Dessen Schluss habe ich nicht ausgehalten! Als Regisseur würde ich diese Szene niemals inszenieren wollen. In die Gaskammer gehen, das könnte ich nicht. Überhaupt: diese dramaturgische Keule, dass der SS-Sohn in der Gaskammer umkommt. Nur, um die die Geschichte zu Ende zu bringen. Ich fall‘ da eh sofort raus, weil ich die Komparsen, die Bulimiker sehe. So eine Gewalt würde ich nur im Off darstellen! Da möchte ich mir kein Bild machen.

Haben Sie „Auschwitz“ von Uwe Boll gesehen?
Nein!

Der gibt vor, endlich einmal den Alltag in einer Todesfabrik zeigen zu wollen. Mit den Mitteln des hyper-realistischen Exploitation-Kinos und allen mutmaßlichen Alltagsbanalitäten! Und hofft dann auf einen kleinen Skandal.
Da habe ich noch gar nichts davon gehört.

Da haben Sie aber Glück gehabt! Ihr Film aber ist doch im besten Sinne auch ein Memento Mori. Von der strukturellen Anlage des Film als ein Märchen bis zur letzten Einstellung, dem vermeintlichen Triumph der Überlebenden, der durchaus Züge von Unversöhnlichkeit trägt.
Was Georg Friedrich am Schluss sagt, spiegelt für mich die Einstellung eines Großteils der österreichischen Gesellschaft zu dieser ganzen Geschichte wider: »Brauchst nicht glauben, dass ich nicht weiß, was ein schlechtes Gewissen ist!« Dieses Eingeständnis, dass man ganz genau weiß, was man Böses getan hat. Und gleichzeitig die Haltung, dass man irgendwann einmal eine Entschädigung für die enteignete Galerie zahlen wird. Und dann sagt der Nazi zum Juden: »Ich hab‘ schwere Zeiten gehabt.« Der Georg Friedrich ist in diesem Augenblick auch mein Vater.

Georg Friedrich ist hier etwas gegen sein immer etwas exaltiertes Image besetzt, oder?
Moritz Bleibtreu war ja bereits für die Hauptrolle besetzt, als ich zum Projekt stieß. Wir haben dann gemeinsam in Wien den Darsteller des Rudi gesucht und uns übereinstimmend für Georg Friedrich entschieden. Ich denke, dass das gut passt. Georg Friedrich als der Sohn der Putzfrau, der bringt das mit. Mich hat das gefreut, dass er mal nicht einen Zuhälter oder Dealer spielt.

Haben Sie noch weitere Änderungen am Drehbuch vorgenommen?
Im Original hatten die Juden den Michelangelo hinter einem Hitler-Porträt versteckt. Dass ist dann wieder eher Slapstick. Eine hübsche Idee, aber leider gar nicht plausibel. Warum sollte ein jüdischer Kunsthändler sich ein Hitler-Bild aufhängen? Ich wollte aber ein Märchen, das so realistisch wie möglich erzählt wird. Da passte der Hitler nicht.

Was impliziert dieser Anspruch für die konkrete Arbeit mit den Schauspielern?
Als wir mit dem Film begonnen haben, haben wir jede Szene in zwei Versionen geprobt. Einmal die so genannte „realistische Variante“ (wie verhält sich ein Mensch in dieser Situation tatsächlich?), einmal die sogenannte „Chaplin-Variante“, eine etwas überhöhte, mehr gespielte Variante. Je länger wir geprobt haben, desto häufiger haben wir uns für die „realistische Variante“ entschieden, weil wir die jeweilige Szene und die in ihr herrschenden Gefühle ernst nehmen wollten. Aber es gab immer wieder Momente, wo wir uns gesagt haben: »Vielleicht geht es auch eine Spur leichter!« Und auch davon sind Szenen in den Film herein gekommen. Wir haben uns tatsächlich auf einem sehr wackligen Weg bewegt.

Macht sich Moritz Bleibtreu über solche Dinge Gedanken, bevor die Proben anfangen?
Was ich an Moritz sehr schätze, ist die Qualität seiner Vorbereitung. Der hat sich mit den Möglichkeiten des Spiels im Kopf auseinander gesetzt, weil er ernst nimmt, was er macht. Deshalb kann er bei den Proben auch Varianten anbieten.

Er kam ja zu den Dreharbeiten gewissermaßen als Dr. Joseph Goebbels, direkt von Oskar Roehlers „Jud Süss“, wo er seine Rolle mit Verve als Knallcharge interpretierte.
Ich mochte das sehr, wenngleich Roehlers Film ein paar Tendenzen hat, etwas zu moralisch oder pädagogisch zu sein.

Aber das Hysterische scheint mir schon sehr gelungen.
Finde ich auch. Und allemal besser als …

… Dani Levys komplett unlustige Hitler-Komödie.
Mir wurde ja ständig Lubitschs „Sein oder Nichtsein“ vorgehalten. Aber ich finde diesen Vergleich absurd. Lubitschs Film twisted andauernd. Das ist eine so geniale Komödie, die man mit meinem Drehbuch einfach nicht vergleichen kann. „Mein bester Feind“ hatte vielleicht ein, zwei Szenen oder Momente, die in Richtung Lubitsch hätten laufen können, aber die waren wirklich spärlich gesät im Drehbuch. Bei Lubitsch geht das die ganze Zeit so, deshalb ist der Film ja so turbulent. Aber im Falle von „Mein bester Feind“ hätte sich die Handlung noch mindestens dreimal drehen müssen, um zumindest den Eindruck von Turbulenz zu erwecken. Ich liebe Lubitsch und insbesondere diesen Film, aber das war einfach nicht da. Aber halblustige Sachen auf superlustig inszenieren, so wie es Dani Levy gemacht hat, das ist halt ganz heikel.

Und zudem eine Frage des Handwerks, denn Levys Film fehlt jedes Gespür für Timing. Wie wichtig ist ein intelligentes Drehbuch?
Ganz wichtig. Lubitschs Film ist ja unerhört intelligent. Man lacht ja über die Intelligenz der Witze mehr als über die Witze selbst. Das ist alles so elegant. Aber so ein Drehbuch muss man erst mal schreiben.

Bei „Mein bester Feind“ kommt die Spannung weniger aus dem Plot als vielmehr aus der Frage: wie weit wird der Film gehen? Oder, um Lars von Trier in Cannes zu zitieren: Wie komme ich hier jetzt wieder raus? Es wird eine durchaus komplexe Konstellation geschaffen, die sich an unseren Genre-Erwartungen reibt und man genießt geradezu, wie intelligent der Film dieses Problem löst, um die Handlung voranzutreiben.
Ein Film taucht in den „Berlinale“-Kritiken zu „Mein bester Feind“ immer wieder auf: Tarantinos „Inglourious Basterds“. Um diesen Film wurden von der Filmkritik ganz erstaunliche Theorien herumgeschichtet, die so tun, als sei dieser Film eine jüdische Selbstermächtigung zur Rache im Kino. Was ich eher geschmacklos finde, zumal angesichts der Qualität des Films, die ich nicht so fraglos annehme.
Mich wundert der Vergleich auch. Weil ich finde, dass Tarantino Trash ist, während mein Film fast das Gegenteil ist. Ich wurde in Wien zu einem Vortrag eingeladen, wie man die Gräuel der Nazis im Film darstellen kann. Da ging es dann um Filme wie „Inglourious Basterds“ oder „Zug des Lebens“. Da meinte dann ein Zuschauer in der Diskussion, ein Fehler meines Films sei, dass es keine Toten gäbe. Und da frage ich mich: Ist es heute ein Qualitätsmerkmal eines Films, wie viele Tote es gibt? Bei Tarantino bleibt ja kaum einer übrig. Wobei ich finde, dass Tarantinos Film schon sehr viele schöne Momente hat. Keine Frage!

Wie reagieren Sie auf die Kritik an Ihrem Film?
Meine ursprüngliche Angst hat sich ja geradezu umgedreht. Als der Film auf der „Berlinale“ lief, bekam ich viel Zuspruch von den anwesenden jüdischen Kulturschaffenden und –vermittlern. Es sei ein wunderbarer Film geworden, der die Intention von Paul Hengge einlöse, in einem Film über jene Zeit, Juden nicht nur als abgemagerte Gestalten hinter Stacheldraht zu zeigen. Dass das für die funktioniert hat, hat mich irrsinnig gefreut. Und dann kamen die Alt-68er-Kritiker daher und sagen mir, dass das ein „No Go!“ sei. Gegen den guten Geschmack und dann auch noch so harmlos.

Wie in Woody Allens „Stadtneurotiker“, wo es heißt: Das Essen ist furchtbar – und dann sind die Portionen auch noch so klein.
Genau. „Mein bester Feind“ ist schon vom Ansatz nicht politisch korrekt. Es sei denn, ich hätte 500 Leute umgebracht wie der Tarantino.

Horrorbürokraten

( , Regie: )

Der Zensurfall "Texas Chainsaw Massacre"
von Sven Jachmann

Der filmhistorisch längst kanonisierte, in Deutschland aber bislang verbotene Klassiker „Texas Chainsaw Massacre“ wurde in erster Instanz von seinem Schmuddelimage befreit. Es liegt mittlerweile über drei Jahre zurück, dass das …

Der filmhistorisch längst kanonisierte, in Deutschland aber bislang verbotene Klassiker „Texas Chainsaw Massacre“ wurde in erster Instanz von seinem Schmuddelimage befreit.

Es liegt mittlerweile über drei Jahre zurück, dass das kleine DVD-Label Turbine Medien aus Münster verkündete, es habe die Rechte an Tobe Hoopers berüchtigtem Horrorfilm-Klassiker „Texas Chainsaw Massacre“ (1974) erworben und wolle fortan alle juristischen Mühen auf sich nehmen, um den Film in Deutschland in einer ungekürzten und restaurierten Fassung zu veröffentlichen. Was auf den ersten Blick nach Alltagsroutine eines DVD-Verleihs klingen mag, bedeutete faktisch einen langen steinigen Weg. Denn „Texas Chainsaw Massacre“ ereilte das gleiche Schicksal wie rund 130 weitere Filme, die seit dem Höhepunkt der sogenannten Horrorvideodebatte Mitte der 1980er Jahre ins Visier der Polizei, Staatsanwälte und Gerichten gerieten: Er galt im Sinne des Paragraphen 131 StGB als gewaltverherrlichend und sozialethisch desorientierend und wurde daher 1985, nach einer Indizierung drei Jahre zuvor, in einer um rund neun Minuten gekürzten Fassung bundesweit beschlagnahmt. Ein faktischer Bannspruch, der den Kompetenzbereich des Jugendschutzes in Richtung einer grundsätzlichen sozialen Kontrolle ausdehnt: Im Gegensatz zur Indizierung, die für Verleih und Vertrieb (die durch Handelsbeschränkungen, generellem Werbeverbot und nicht zuletzt einem höheren Mehrwertsteuersatz von 19 statt 7 Prozent wirtschaftlich gebeutelt werden) bereits folgenschwer ist, die jedoch zumindest den informierten Filminteressierten immerhin die begrenzte Möglichkeit zur Rezeption einräumt, gilt ein Verbot blank und betrifft alle Distributionsbereiche: Verleih, Handel, Import, Export und Vertrieb von beschlagnahmten Filmen sowie deren öffentliche Vorführung sind untersagt. Zudem wird jedwedes Material des Verleihs, das zur Vervielfältigung dienen könnte (neben den Trägermedien also etwa auch Masterbänder), beschlagnahmt und zerstört. Hohe Bußgelder und eine zweijährige Haftstrafe drohen bei Zuwiderhandlungen. Während Privatbesitz nach wie vor erlaubt ist, sind also sämtliche legalen Beschaffungswege des inkriminierten Films nach einem richterlichen Verbot gekappt. Im Beschlagnahme-Beschluss diagnostizierte man damals: „Der Film „Ketten-Sägen-Massaker“ ist sicher kein Werk der Kunst … , stellt weder eine Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte dar noch zielt er auf das kritische Bewußtsein des Betrachters ab.“

Angesichts dieses Rattenschwanzes an juristischen Konsequenzen und rechtskräftiger Kunstexegese erstaunt die fast beiläufige Pressemeldung vom 12. September im Webforumsthread von Turbine Medien: „Mit Wirkung zum 6. September 2011 hat die 31. große Strafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main die allgemeine Beschlagnahme des Films „The Texas Chainsaw Massacre“ (1974) aufgehoben. Das Gericht reagiert damit auf die Beschwerde der Turbine Classics GmbH, die sich gegen den Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 11. August 2010 wehrte … Das Gericht begründete nun auf zehn Seiten, warum das Werk Tobe Hoopers nicht gegen Paragraph 131 StGB verstößt und sprach den Titel damit nach 26 Jahren des „Verbots“ vom Vorwurf einer Verherrlichung oder Verharmlosung von grausamen oder sonst unmenschlichen Gewalttätigkeiten beziehungsweise einer die Menschenwürde verletzenden Darstellungsweise frei.“

Der erste Schritt hin zu einer legalen ungekürzten Veröffentlichung ist also getan, ein filmhistorisch längst kanonisierter Klassiker in erster Instanz von seinem Schmuddelimage befreit. Mag sich hinter dieser Freispruchpraxis gar ein Zugeständnis an die veränderten Sehgewohnheiten der heutigen Zuschauer verbergen? Schließlich sind die weitaus expliziteren und frei erhältlichen Remakes und Prequels der Splatterklassiker aus den 1970er und 1980er Jahren derzeit im Horrorkino federführend. „Texas Chainsaw Massacre“ hat 2003 Regisseur Marcus Nispel außergewöhnlich grimmig aktualisiert (2006 folgte noch ein müdes Prequel von Jonathan Liebesman). Man kann sich nur freuen, dass der Blick auf zeitgenössische Entwicklungen des Horrorfilms nun auch strafrechtlich bedenkenlos einen regelrechten Archetyp, ohne den ebenso die gegenwärtige Revitalisierung des Backwoodhorrors im Mainstreamkino kaum vorstellbar wäre, berücksichtigen darf. Allerdings: Statt hieraus vorschnell ein Umschwenken oder einen Lernerfolg der Behörden abzuleiten, denke man doch fürs erste lieber ans Haus, das Verrückte macht. Für Turbine Medien erwies sich nämlich eine weitere Beschlagnahmung von „Texas Chainsaw Massacre“ im Jahre 2010 als unerwarteter Glücksfall.

Ist ein Film langjährig beschlagnahmt, bleiben den Rechteinhabern wenige Möglichkeiten, um das alte Urteil anzufechten. Wie der Produktionsleiter von Turbine Medien, Christian Bartsch, im Artikel „Paragraphenmassaker“ für das Filmmagazin „Schnitt“ schreibt, standen die Chancen für „Texas Chainsaw Massacre“ sogar nicht schlecht, nach einer erneuten Vorlage bei der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) eine Freigabe ab 16 Jahren zu erhalten. Das Problem: Eine Neuprüfung von indizierten Filmen ist der FSK untersagt. Ein Verbot hingegen läuft nicht irgendwann aus, sondern verjährt, was lediglich bedeutet, dass der Film nach drei bzw. zehn Jahren nicht mehr eingezogen werden darf und statt dessen automatisch für die nächsten 25 Jahre auf dem Index steht. Eine Listenstreichung des indizierten Films darf der Rechteinhaber zwar nach zehn Jahren beantragen; die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM), die sonst die Indizierungen beschließt, darf jedoch weder eigenmächtig noch auf Listenstreichungsantrag aktiv werden, weil der gerichtliche (wenn auch verjährte) Beschlagnahmebeschluss über den Kompetenzen der BPjM anzusiedeln sei. So deutete jedenfalls urplötzlich die Vorsitzende der BPjM Elke Monssen-Engberding den betreffenden Paragraph 18 Abs. 5 des Jugendschutzgesetzes, der die automatisierte Listenaufnahme vorschreibt, nachdem sich bereits 2008 bei einer Neuprüfung im 12-köpfigen Gremium abzeichnete, dass die Mehrheit für eine weitere Indizierung von „Texas Chainsaw Massacre“ ausbleiben würde. Erst ein neuer richterlicher Urteilsspruch, so führte sie später in einem Aufsatz in BPjM Aktuell 4/2008 aus, der dem Film etwaige Inhalte im Sinne des Paragraphen 131 abspreche, würde eine Aufnahme des Falls seitens der BPjM möglich machen. Diese Situation trat nun ein, weil die weitere Beschlagnahmung einer billigen alten DVD-Edition von „Texas Chainsaw Massacre“ im Jahr 2010 Turbine Medien als aktuelle Rechteinhaber auf den Plan rief und dies, obwohl man die betroffene Edition kurioserweise überhaupt nicht zu verantworten hat. Erst dieser obskure Zufall und die Tatsache, dass das Gericht in diesem Verfahren Teile der Argumentation von Turbine Medien gegen den Beschlagnahmebeschluss von 1985 aufgriff, führte aus dieser Sackgasse und letztlich zum Freispruch durch das Landgerichts Frankfurt am Main am 6. September 2011 – was nunmehr bedeutet, dass die BPjM, folgt man der Legitimationsstrategie ihrer Vorsitzenden, in schwere Erklärungsnöte geriete, sollte man sich tatsächlich immer noch gegen eine Listenstreichung aussprechen.

Wenn also durch aktuelle Remakes vielleicht angefixte Filmfans nach dem vermeintlichen Präzedenzfall „Texas Chainsaw Massacre“ hoffen, ihre Seherfahrung demnächst mit weiteren im Giftschrank verwahrten Originalen abgleichen zu können (bspw. George A. Romeros „Dawn of the Dead“, Wes Cravens „The Last House on the Left“ oder Charles Kaufmans „Muttertag“) oder gar eine vollständige Reprise heutiger Blockbuster-Regisseure vom Schlage eines Sam Raimis oder Peter Jacksons erwarten (deren Frühwerke „Tanz der Teufel“ bzw. „Braindead“ in Deutschland verboDer Zensurfall &quot;Texas Chainsaw Massacre&quot;ten sind), dann sollten sie lieber etwas Frustrationstoleranz entwickeln: Die hiesigen Normen und kulturellen Werte scheinen in einem solch rasanten Wandel begriffen, dass die Zensurbehörden nur hinterherkommen, wenn sie über ihre selbstgebauten Hindernisse stolpern.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2011

Jörg Buttgereit (Hrsg.) – Nekromantik

( , Regie: )

Liebe und Tod revisited
von Sven Jachmann

Deutsche Splatterfilme an der Schwelle zu den 90er Jahren: es gab Andreas Schnaas, Olaf Ittenbach, Andreas Bethmann und Konsorten. Ihre Werke waren ungelenke Studien der Rezeption ihrer hierzulande verfemten meist …

Deutsche Splatterfilme an der Schwelle zu den 90er Jahren: es gab Andreas Schnaas, Olaf Ittenbach, Andreas Bethmann und Konsorten. Ihre Werke waren ungelenke Studien der Rezeption ihrer hierzulande verfemten meist italienischen Vorbilder: ein Fragment von Handlung lieferte den Anlass zum Splattern ohne Anspruch, will heißen: Erzähl- oder Schauspielbefähigung hatten hinter dem Effektfetisch auf ihre Einschulung zu warten. Und dann gab es noch Jörg Buttgereit, den Pionier der Berliner Supper-8-Szene. 20 Jahre ist es nun her, als sein Erstlingslangfilm „Nekromantik“ das Licht der Welt erblickte. Eine irritierende und sehr raue Melange aus Exploitation und Poesie, in der der junge Robert und seine Freundin Betty ihre Liebe zu Leichen erkunden. Zumindest so lang Robert durch seine Mitarbeit in der Firma Joes Säuberungsaktion für Nachschub sorgen kann. Denn mit seiner Entlassung verliert er auch Betty und ergreift verzweifelt die letzte Möglichkeit, ihre Nähe zu gewinnen: Im düsteren Finale aus Blut und Sperma ersticht er sich selbst, um ihr fortwährend als Toter ein guter Liebhaber zu sein.

Der Rest ist Legende: der Gore-Bauer war verschreckt, ein etwas progressiver gesinntes Publikum verhalf dem Film zum Kultstatus. Veröffentlichungen in Japan und den USA folgten, in Deutschland hingegen drohte das Banner der Zensur. Indizierung, gar zeitweise Beschlagnahmung der Fortsetzung 1993, bis der richterliche Freispruch die künstlerischen Ambitionen anerkannte und das kleine Jelinski & Buttgereit Label gerade noch vor dem Konkurs rettete.

Nun hat Herausgeber Buttgereit sechs ihm in verschiedenartiger Weise nahestehende Autoren ausfindig gemacht, um das Phänomen Nekromantik ein weiteres Mal beleuchten zu lassen. Er selbst hält sich vornehm zurück, steuert lediglich ausführliches Bildmaterial des Produktionsprozesses bei. Eine entsprechende Vielfalt ist geboten: Marcus Stiglegger liest „Nekromantik 2“ raumtheoretisch als Chiffre der verfallenen und sich neu formierenden Stadt Berlin, die Nekrophilie der beiden Protagonisten als Metapher „einer bröckelnden Betonwelt“; Christian Keßler geht in die Zeit zurück und betrachtet seine erste Begegnung aus der Warte des Fanboys, der, angeheizt ob der Gerüchte um letzte Tabubrüche, die der Film zelebriere, „irritiert, genasführt und in den Magen gepufft“ zurückblieb, sah man sich stattdessen doch „konfrontiert mit einem unglücklichen, isolierten Mann, dem die Natur einen grimmigen Streich spielt.“ Der Beginn einer wundervollen Freundschaft. Neben Beiträgen von Dietrich Kuhlbrodt und Claus Löser sind es insbesondere, positiv wie negativ, jene Johannes Schönherrs und Linnie Blakes, die nochmals gesondert herausragen. Schönherr vollzieht den reality check eines Totengräbers, führt beiläufig ein in die Wirrungen einer in manchen Teilen zutiefst Angst einflößenden Zunft und lässt ein unangenehmes Gefühl dafür entstehen, was Verwaltung des Todes, aber auch Beziehung zum Körper nach seinem Ableben in seiner raubtierkapitalistischen Tragweite wirklich bedeuten. Sein Fazit: „Ich würde auf jeden Fall die liebevolle Fürsorge von Leuten wie Rob und Betty bevorzugen, sobald meine Zeit gekommen ist.“

Die englische Filmwissenschaftlerin Linnie Blake nun, laut Klappentext spezialisiert auf die Artikulierung nationalspezifischer Traumata im Horrorkino, verortet Buttgereits künstlerisches und ideologisches Anliegen in der Tradition des Neuen Deutschen Films, genauer gesagt in dessen Erkundung einer unzureichend aufgearbeiteten Vergangenheit. Dieses Vorhaben führt in seiner ganzen Absurdität schon mal zu einer Parallelisierung des Werk Buttgereits mit dem Syberbergs, der in seinem Machwerk „Hitler – Ein Film aus Deutschland“ das deutsche Volk als ein vom kollektiven zum handfesten Dämon Hitler sich materialisierten Unbewussten verführtes imaginiert, also weniger eine Schuldbekenntnis bezüglich Papis Machenschaften abverlangt, als eher dessen Entschuldigung pompös zelebriert, somit auch keinerlei Verwandtschaft – im Gegensatz zur Auffassung der Autorin – zu Claude Lanzmanns Methode der Spurensuche des Vergangenem in der Gegenwart aufweist, sondern sie höchstens mythologisierend ins Reaktionäre verkehrt.

Was das alles mit „Nekromantik“ zu tun hat? Eingedenk der unleugbaren Nazicodierungen in beiden Filmen sowie den zentralen Themen Sex und Tod bestehe eine Verbindung zwischen Buttgereit und dem Neuen Deutschen Film. Mit dem Schrecken der Vergangenheit und seiner ausbleibenden Aufarbeitung als Prämisse liege somit die Mitschuld des Mediums Film an diesem Zustand auf der Hand und dies exerziere Buttgereit beispielhaft durch, lautet die schmalbrüstige These. Von den Entsymbolisierungsstrategien des Punkrock keine Spur, ein zweijähriger Sid Vicious mit Hakenkreuz-T-Shirt kann dann eben etwas mehr bedeuten, als den Anschluss an einen Strang nationaler Filmkultur.

Davon abgesehen ist das Buch in allen Belangen empfehlenswert, mit dem minimalen Manko, dass es komplett zweisprachig vorliegt, was einerseits die Erprobung der englischen Sprachfähigkeiten erleichtern mag, andererseits jedoch den Inhalt radikal halbiert.

Jörg Buttgereit (Hrsg.): „Nekromantik“
Martin Schmitz Verlag, 2007. 232 Seiten. 17,80 Euro

Lars Dammann – Kino im Aufbruch. New Hollywood 1967 – 1976

( , Regie: )

Das riecht nach Wandel
von Sven Jachmann

2004 widmete die Berlinale dem New Hollywood eine Retrospektive, der dazugehörige Katalog wurde im selben Jahr bei Bertz+Fischer veröffentlicht, gleiches gilt für die Taschenbuchausgabe von Peter Biskinds Anekdotensammlung „Easy Riders, …

2004 widmete die Berlinale dem New Hollywood eine Retrospektive, der dazugehörige Katalog wurde im selben Jahr bei Bertz+Fischer veröffentlicht, gleiches gilt für die Taschenbuchausgabe von Peter Biskinds Anekdotensammlung „Easy Riders, Raging Bulls“, der im Jahr zuvor noch die gleichnamige und nicht minder geschwätzige Dokumentation Kenneth Bowsers vorausging.

Vielleicht mag es mit der derzeitigen Erstarrung der noch im Milleniumjahr sehr experimentierfreudig anmutenden Traumfabrik zusammenhängen, dass der Blick immer wieder auf dieses filmhistorische Phänomen schweifen will. Trotzdem erstaunt, dass sowohl die hiesige als auch internationale Publikationslage zuvorderst dem Autorenbegriff verhaftet bleibt, die Perspektive auf einige herausragende Filmschaffende zentriert oder vereinzelte motivische oder ökonomische Aspekte hervorhebt, um das Neue dieser Hollywoodära entsprechend zu unterfüttern.

Insofern leistet Lard Dammann mit seiner, in der filmwissenschaftlich orientierten Aufblende–Reihe des Schüren Verlags veröffentlichten, Studie eine wahre Pionierarbeit. So stehen nicht nur ästhetische Positionen und Spezifika, das Verhältnis des neuen, eben auch europäisch grundierten Hollywoodkinos der fast schon mystifizierten movie brats zu seinem klassischen Ausläufer, im Fokus seines Interesses, sondern auch die ökonomischen und soziopolitischen Rahmenbedingungen samt ihrer Interdependenzen, die diese kurzzeitige Handlungsfreiheit der Regisseure im Produktionsprozess begleiteten. Folglich setzt die Arbeit mit dem Niedergang des klassischen Studiosystems ein. Die Beharrlichkeit der schwerfälligen Produktionsfirmen strukturell auf die veränderten Sehgewohnheiten eines sich verjüngernden, fragmentierten Publikums nicht zu reagieren, sondern stattdessen weiterhin auf familientaugliche Filme zu setzen, die spätestens mit dem Einzug des Fernsehens an Popularität einbüßten, ist für diesen Niedergang ebenso relevant wie die Entwicklung eines flexiblen Exploitation- und Undergroundkinos, wo der Spielraum zwischen Manierismus und Gesellschaftskritik bereits einige Tendenzen des New Hollywood ankündigte. Immerhin verdienten sich hier einige Protagonisten, von Peter Bogdanovich bis Francis Ford Coppola, ihre ersten Sporen.

Dezidiert geht Dammann all dieses Strängen nach: Von Fragen nach den Besonderheiten der postadoleszenten Gegenkultur in den 60er Jahren und ihrem Ausdruck in Werken wie „The Graduate“ (Die Reifeprüfung) oder „Cool Hand Luke“, ihrer Transformation zur widerständischen Protestkultur unter dem Eindruck des Vietnamkriegs bis hin zur Watergate–Affäre, dem Niederschlag dieser gesellschaftlichen Entwicklungen im zunehmend düsteren Politthriller oder in den zwischen Desillusion und Groteske changierenden Kriegsfilmen „The Deer Hunter“ und „Catch 22“, von der Liberalisierung der (Vor-)Zensur bis hin zur veränderten Darstellung der Paarbeziehungen erschöpft der Autor in einer beeindruckenden Materialdichte so ziemlich jeden Aspekt, um im Schlusskapitel der Frage nachzugehen, ob und inwiefern das New Hollywood für die Gestalt des heutigen postklassischen Blockbusterfilms nachhaltig verantwortlich ist, ob sich neben den seit „Jaws“ und „Star Wars“ unleugbar veränderten Produktions- und Vermarktungsbedingungen auch eine bestimmten Erzähltradition fortsetzt.

Mäkeln kann man bloß wegen minimaler Details: An das oft verweigerte Stichwort- und Personenverzeichnis hat man sich ja beim Verlag bereits gewöhnt. Leider sind aber auch mindestens zwei zitierte Bücher im Literaturverzeichnis nicht zu finden, wie auch so mancher Paraphrase eine genaue Seitenangabe gut getan hätte. Zudem wäre in manchen sozialstrukturellen Beschreibungen eine soziologische Studie vielleicht präziser gewesen als Roger Cormans posthume Einschätzungen. Und ob das „gesamte Genre des Horrorfilms maßgeblich im Mainstream beheimatet (ist): ideologisch, narrativdramaturgisch und filmökonomisch“ (S.237), sei mal mit den Verweisen auf „Texas Chainsaw Massacre“, „Carnival of Souls“ und „Dawn of the Dead“ dezent in Frage gestellt.

Lars Dammann: „Kino im Aufbruch. New Hollywood 1967 – 1976“
Schüren Verlag, 2007, 384 Seiten, 24,90 Euro

Die besten Filme des Jahres 2011

( , Regie: )

Der Kritiker-Poll der filmgazette
von

Die 20 Lieblingsfilme unserer AutorInnen 2011 1. Melancholia (Lars von Trier) (50,2 Punkte) 2. The Tree of Life (Terrence Malick) (48) 3. Unter dir die Stadt (Christoph Hochhäusler) (40,2) 4. …

Die 20 Lieblingsfilme unserer AutorInnen 2011
1. Melancholia (Lars von Trier) (50,2 Punkte)
2. The Tree of Life (Terrence Malick) (48)
3. Unter dir die Stadt (Christoph Hochhäusler) (40,2)
4. Die Höhle der vergessenen Träume (Werner Herzog) (38,4)
5. Arrietty – Die wundersame Welt der Borger (H. Yonebayashi) (36)
6. Alles, was wir geben mussten (Mark Romanek) (35)
6. Winter’s Bone (Debra Granik) (35)
8. Die Liebesfälscher (Abbas Kiarostami) (29,1)
9. Vier Leben (Michelangelo Frammartino) (27,2)
10. Über uns das All (Jan Schomburg) (27)
11. Black Swan (Darren Aronofsky) (26)
12. Le Havre (Aki Kaurismäki) (25)
13. Wer ist Hanna? (Joe Wright) (24)
14. Putty Hill (Matthew Porterfield) (23)
15. Meek’s Cutoff (Kelly Reichardt) (19)
16. Eine dunkle Begierde (David Cronenberg) (18)
16. Schlafkrankheit (Ulrich Köhler) (18)
16. Mad Circus (Álex de la Iglesia) (18)
19. Film Socialisme (Godard) (16)

* * *

Janis El-Bira
1. Die Liebesfälscher (Abbas Kiarostami) 10pkt
2. Melancholia (Lars von Trier) 9pkt
3. The Tree of Life (Terrence Malick) 9pkt
4. Höhle der vergessenen Träume (Werner Herzog) 8pkt
5. Le Havre (Aki Kaurismäki) 8pkt
6. Another Year (Mike Leigh) 8pkt
7. Unter dir die Stadt (Christoph Hochhäusler) 8pkt
8. Film Socialisme (Jean-Luc Godard) 8pkt
9. Source Code (Duncan Jones) 7pkt
10. Das rote Zimmer (Rudolf Thome) 7pkt

Ricardo Brunn
1. Copie conforme (A. Kiarostami)
2. Melancholia (L. von Trier)
3. Le quattro volte (M. Frammartino)
4. The Tree of Life (T. Malick)
5. Arrietty (H. Yonebayashi)
6. Polisse (Maïwenn)
7. Nader und Simin (A. Farhadi)
8. Die Haut in der ich wohne (P. Almodovar)
9. Day is done (T. Imbach)
10. Contagion (S. Soderbergh)

Lukas Foerster
1. Copie conforme (Abbas Kiarostami)
2. Karigurashi no Arietti / Arrietty (Hiromasa Yonebayashi)
3. The Tree of Life (Terrence Malick)
4. Sonnensystem (Thomas Heise)
5. Le quattro volte (Michelangelo Frammartino)
6. The Mechanic (Simon West)
7. To Die Like a Man (Joao Pedro Rodriguez)
8. Putty Hill (Matthew Porterfield)
9. How Do You Know (James L. Brooks)
10. Le Havre (Aki Kaurismäki)

Carsten Happe
1. Alles, was wir geben mussten 9/10
2. Blue Valentine 9/10
3. Over Your Cities Grass Will Grow 8/10
4. The Tree of Life 8/10
5. Black Swan 8/10
6. The Fighter 8/10
7. Super 8 8/10
8. Über uns das All 8/10
9. Mission: Impossible – Phantom Protokoll 8/10
10. Brautalarm 8/10

Sven Jachmann
1. Meek’s Cutoff (Kelly Reichardt) 9
2. Winter’s Bone (Debra Granik) 9
3. Arrietty (Hiromasa Yonebayashi ) 8
4. Le Havre (Aki Kaurismäki) 8
5. Picco (Philip Koch) 8
6. Schlafkrankheit (Ulrich Köhler) 8
7. 9 Leben (Maria Speth) 8
8. Melancholia (Lars von Trier) 7
9. Alles, was wir geben mussten (Mark Romanek) 7
10. Trollhunter (André Øvredal) 7

Ekkehard Knörer
1. Die Liebesfälscher 9,1
2. To Die Like A Man 8,5
3. Höhle der vergessenen Träume 8,4
4. Le premier venu 8,4
5. Habemus Papam 8,3
6. Melancholia 8,2
7. Unter dir die Stadt 8,2
8. Vier Leben 8,2
9. Yuki & Nina 8,0
10. Rango 8,0 / Film Socialisme 8,0

Ulrich Kriest
1. Schlafkrankheit
2. Mad Circus
3. Portraits deutscher Alkoholiker
4. Die Höhle der vergessenen Träume
5. Unter dir die Stadt
6. 3 Kreuze für einen Bestseller
7. Das unsichtbare Mädchen
8. Atmen
9. Meek´s Cutoff
10. Eine dunkle Begierde

Harald Mühlbeyer
1. Der Albaner
2. Balada triste de trompeta / Mad Circus
3. Black Swan
4. Hesher – noch kein deutscher Vertrieb
5. Die Höhle der vergessenen Träume
6. Melancholia
7. Michael
8. Rango
9. Submarine
10. Über uns das All

Wolfgang Nierlin
1.To die like a man (Joao P. Rodrigues)
2. Vier Leben (M. Frammartino)
3. Die Mühle und das Kreuz (Lech Majewski)
4. Meek’s Cutoff (Kelly Reichardt)
5. Another Year (Mike Leigh)
6. Nader und Simin (Asghar Farhadi)
7. Melancholia (Lars von Trier)
8. Biutiful (Alejandro G. Inárritu)
9. Picco (Philip Koch)
10. Les amours imaginaires (Xavier Dolan)

Joachim Schätz
1. Putty Hill
2. A Dangerous Method
3. Bridesmaids / Brautalarm
4. The Tree of Life
5. Kaboom
6. Attack the Block
7. Vier Leben / Four Lions
8. Tournée
9. Troll Hunter
10. Mondo Lux – Die Bilderwelten des Werner Schroeter

Michael Schleeh
1. Melancholia (Lars von Trier) 9/10
2. Arrietty (Hiromasa Yonebayashi) 9/10
3. Unter Dir die Stadt (Christoph Hochhäusler) 9/10
4. Le Havre (Aki Kaurismäki) 8/10
5. Drive (Nicolas Winding Refn) 8/10
6. Das rote Zimmer (Rudolf Thome) 8/10
7. Winter’s Bone (Debra Granik) 7/10
8. Kaboom (Gregg Araki) 7/10
9. 9 Leben (Maria Speth) 7/10
10. The Tree of Life (Terrence Malick) 7/10

Harald Steinwender
1. Carnage (Roman Polanski)
2. Polisse (Maïwenn)
3. Winter’s Bone (Debra Granik)
4. The King’s Speech (Tom Hooper)
5. Hanna (Joe Wright)
6. Trolljegeren (André Øvredal)
7. Hanyo (Sang-soo Im)
8. Perfect Sense (David Mackenzie)
9. Black Swan (Darren Aronofsky)
10. Meek’s Cutoff (Kelly Reichardt)

Marcus Stiglegger
1. Winter’s Bone 10/10
2. Wer ist Hanna? 9/10
3. The Tree of Life 9/10
4. Unter Dir die Stadt 9/10
5. Alles, was wir geben mussten 9/10
6. Last Night 8/10
7. Melancholia 8/10
8. Eine dunkle Begierde 8/10
9. Black Swan 8/10
10. Sucker Punch – Extended Cut 8/10

Andreas Thomas
1. Le Havre (Aki Kaurismäki) 9
2. Meek’s Cutoff (Kelly Reichardt) 9
3. Schlafkrankheit (Ulrich Köhler) 8
4. Die Liebesfälscher (Abbas Kiarostami) 8
5. Melancholia (Lars von Trier) 8
6. Über uns das All (Jan Schomburg) 7
7. Eine dunkle Begierde (David Cronenberg) 7
8. True Grit (Joel & Ethan Coen) 7
9. Source Code (Duncan Jones) 6
10. Winter’s Bone (Debra Granik) 6

Louis Vazquez
1. Kokuhaku – Geständnisse (Tetsuya Nakashima) 10
2. Über uns das All (Jan Schomburg) 9
3. Hanna (Joe Wright) 9
4. Arrietty (Hiromasa Yonebayashi) 10
5. Never Let Me Go (Mark Romanek) 10
6. Cave of Forgotten Dreams (Werner Herzog) 9
7. Midnight in Paris (Woody Allen) 10
8. Winter’s Bone (Debra Granik) 9
9. Die Mondverschwörung (Thomas Frickel) 9
10. Restless (Gus Van Sant) 9

Rechte Körper in Bewegung

( , Regie: )

Warum der deutsche Film für rechte Gewalt kaum adäquate Bilder findet
von Ulrich Kriest

Kurz vor Weihnachten 2011 schickte die ARD ihren beim Publikum unbeliebtesten „Tatort“-Ermittler auf den „Weg ins Paradies“. Der durchaus spannende Film begann mit einem Selbstmord-Anschlag in Marokko und kulminierte in …

Kurz vor Weihnachten 2011 schickte die ARD ihren beim Publikum unbeliebtesten „Tatort“-Ermittler auf den „Weg ins Paradies“. Der durchaus spannende Film begann mit einem Selbstmord-Anschlag in Marokko und kulminierte in einem buchstäblich in letzter Sekunde abgewendeten Terroranschlag in Hamburg. Als Undercover-Agent infiltrierte der Ermittler Cenk Batu (Mehmet Kurtulus) eine islamistische Terrorzelle, die ausgerechnet von einem deutschen Konvertiten namens Christian Marschall (Ken Dukem) geleitet wird. Ausführlich zeigt der Film, wie sich der mit einer falschen Identität ausgestattete Ermittler und der Konvertit belauern, wie sich die Terrorzelle gegen die Gefahr einer Infiltration abschottet. Es geht darum, möglichst kein potentielles Ziel für die Ermittlungsbehörden abzugeben, im Alltag konsequent klandestin zu agieren. Am Schluss kann der Terroranschlag auch deshalb verhindert werden, weil auch der vorgebliche Verbindungsmann zu Al Quaida seinerseits ein Agent des syrischen Geheimdienstes ist. Double Penetration: bei aller Qualität als ungewöhnlicher „Tatort“ ist „Der Weg ins Paradies“ auch ein feucht-fiktionaler Traum von der letztlich erfolgreichen Arbeit der Geheimdienste. Allerdings: der Film zeigte auch die fast zum Topos des Fernsehkrimis gewordene Rivalität zwischen den ermittelnden Behörden, das Kompetenzgerangel und das herrschende Misstrauen untereinander, das für aktive V-Leute lebensgefährlich werden kann.

Ein paar Wochen zuvor wurde die Republik von der Existenz einer anderen Terrorzelle erschüttert: die sich Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) nennende Gruppe soll zwischen 2000 und 2007 zehn Morde, zahlreiche Banküberfälle und einige Bomben- und Brandanschläge verübt haben. Besonders prekär ist in diesem Zusammenhang die Rolle, die der Thüringer Verfassungsschutz und konkurrierende Polizeibehörden bei der Überwachung und/oder Verfolgung der terroristischen Vereinigung gespielt haben.

Wenn jetzt das Spielfilmdebüt „Kriegerin“ von David Wnendt in den Kinos anläuft, könnte es als der Film zur „Zwickauer Zelle“ wahrgenommen werden. Schließlich ist spätestens jetzt die Emanzipation der Frauen als Akteure innerhalb der rechten Szene virulent geworden. Leider ist „Kriegerin“ kein gelungener Film, aber immerhin auf interessante, weil aussagekräftige Weise, gescheitert.

„Kriegerin“ blickt in die ostdeutsche Provinz, auf eine jugendliche Clique von aggressiven Rechtsradikalen. Im Mittelpunkt steht die junge 20jährige Marisa (Alina Levshin), die scheinbar über ein geschlossen rechtes Weltbild verfügt. Man sieht sie mit ihrer Clique durch einen Nahverkehrszug ziehend, beinahe wahllos Reisende traktieren. Später wird Marisa mit ihrem Auto zwei junge Asylbewerber von der Straße drängen, weil diese sich gegen Provokationen der Clique gewehrt haben. Marisa bekommt Gewissensbisse, freundet sich mit dem Jüngeren der Asylbewerber (Sayed Ahmed Wasil Mrowat) an und sucht nach Möglichkeiten, sich von der rechten Szene zu distanzieren.

So weit, so trivial. Erweitert wird diese Geschichte einer Absetzung nun durch die Geschichte einer Inklusion: die 15jährige Svenja (Jella Haase) hat Probleme mit ihren Eltern; sie schlittert hinein in die rechte Szene. Beide Biografien kreuzen sich – und das ist natürlich schon das Resultat einer pädagogisierenden Dramaturgie. Im Presseheft zum Film schreibt der Filmemacher Wnendt: „Der Film gibt keine abschließenden, einfachen Antworten. Er beleuchtet aber die für den Rechtsextremismus ursächlichen Faktoren und macht klar, dass es nicht um ein Jugendphänomen geht, sondern dass rechte Tendenzen ein Problem sind, das weit in alle Gesellschafts- und Altersschichten vorgedrungen ist.“

Nun ja, angesichts der Aktivitäten der Zwickauer Zelle darf man solche Aussagen wohl als Understatement werten. Wnendt hat nach eigenen Angaben viel Zeit auf Recherchen in der rechten Szene verwandt. Die Ergebnisse dieser Recherchen sind direkt in seinen Film geflossen: wir werden Zeugen von extremer Gewaltbereitschaft, sehen toll gestylte rechte Körper in Bewegung und erfreuen uns allerlei sprechender Tattoos wie „88“ oder „14 Words“. Die Figuren, die wir sehen, sind zornig, weil sie konkret erleben müssen, wie wenige Perspektiven es in ihrem Leben gibt. Die Eltern sind schwach oder auch überstreng, vielleicht, weil sie sich ohnmächtig in ihr Schicksal ergeben haben. Im Falle Marisas kommt ihr Großvater ins Spiel, der sie zur „Kriegerin“ gemacht hat. Man könnte jetzt nachrechnen, ob dieses eigenwillige Generationenmodell vom Alt-Nazis zur Neo-Nazi-Enkelin trägt, aber das ist nicht der Punkt: jede Szene in „Kriegerin“ geht mit ihrer Authentizität hausieren. Wenn Neonazis sich in Gruppen treffen, dann singen sie Nazi-Lieder und gucken Nazi-Propaganda-Filme wie „Der ewige Jude“ – und fahren anschließend im BMW bewaffnet durch die Gegend, um Ausländer zu klatschen.

Irgendwann wird ein junger Neo-Nazi sagen, er wolle jetzt Taten statt Worte sehen und sich eine Waffe beschaffen. Und wenn Marisa ihren Freund Sandro abweist, wird er sagen: „Warum erwiderst du meine Liebe nicht? Fotze!“ Unfreiwillig zeigt sich an dieser Stelle, dass die Darstellung rechter Gewalttäter in der deutschen Pop-Kultur stets unter dem Gebot potentieller Lächerlichkeit steht. Wie sangen einst Die Ärzte? „Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe / Deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit / Du hast nie gelernt dich zu artizikulieren / Und deine Eltern hatten niemals für dich Zeit.“

Dass die rechte Szene als eine Art Ersatzfamilie attraktiv ist, davon erzählte bereits der Film „Die Erben“, den Walter Bannert 1982 drehte. Dieser Film war eine Art filmischer Reflex auf den Anschlag auf das Münchener Oktoberfest 1980 und spürte nach, was Jugendliche in Wehrsportgruppen treibt. Auch hier gibt es bereits alte Wochenschaubilder zu sehen und sentimentale Erinnerungen alter Kameraden zu hören. Zum Skandal wurde „Die Erben“ allerdings durch ein paar Szenen, in denen etwas zu frei mit der Darstellung jugendlicher Sexualität umgegangen wurde.

Interessanterweise hat sich die deutsche Öffentlichkeit selten ein Bild der rechten Szene zu machen versucht. Meist blieb es beim Topos des dumpf-alkoholisierten Skinhead mit Springerstiefel, Bomberjacke und Baseball-Schläger. Erst nach 1989/90 und als Reaktion auf die Zunahme rechter Gewalt in der ehemaligen DDR wurde das Thema wieder interessant für deutsche Filmemacher. Dokumentaristen wie Thomas Heise („Stau – Jetzt geht´s los“, 1992; „Neustadt Stau – Der Stand der Dinge“, 1999/2000) oder Andreas Voigt („Glaube Liebe Hoffnung“, 1994) recherchierten mit großer Geduld in der Szene und brachte Rechte unkommentiert vor die Kamera: als Entwurzelte, Frustrierte und Suchende. Als Winfried Bonengel schließlich 1993 mit „Beruf: Neonazi“ versuchte, die Selbstinszenierung Ewald Althans‘ als smartem Neonazi zu dokumentieren, hagelte es Kritik, dass der Filmemacher dem Neonazi naiv eine Plattform zur Selbstinszenierung verschafft habe. So genau wollte man es dann doch nicht wissen, was in den Köpfen der Täter vorgeht. Oder was sie denken, was wir darüber wissen sollten.

Anfang der 1990er Jahre widmeten sich ein paar Fernsehspiele wie „Die Bombe tickt“ (1993), „Hass im Kopf“ (1994) oder „Der Verräter“ (1995) mit ostentativ ausgestellten aufklärerischen Intentionen der Thematik, während Filme wie „Romper Stomper“ (1992) oder auch „American History X“ (1998) auch von der Faszination der Körperlichkeit von Skinheads, Hooligans und Neonazis zu erzählen wussten. Filme über rechte Gewalt haben häufig etwas Reißerisches, was gerade unter dem Deckmantel von Authentizität in die Filme gerät. Gerade, weil man den Akteuren bestreitet, intellektuell satisfaktionsfähige politische Vorstellungen und Konzepte zu entwickeln oder zu hegen, setzt man auf „Action“ und Adrenalin. Da kann man mit Handkamera und Montage ganz nah ran, allerdings immer mit der Gefahr, die Faszination, die von der Gewalt und den Körpern ausgeht, zu verdoppeln.

Wnendt hat, wie gesagt, für sein Spielfilmdebüt in der rechten Szene recherchiert, längst bevor der Name Beate Zschäpe kursierte. Doch zu welchem Behuf? Bedeutungsvoll raunend verkommen seine Beobachtungen zu Motivations-Signalen einer schlichten Problemfilm-Dramaturgie. Von der kriminellen Rationalität des Nationalsozialistischen Untergrunds sind diese wütenden Provinz-Skinheads meilenweit entfernt. Und die ganze Nazi-Ideologie, das macht Marisas Läuterung deutlich, ist hier immer noch so etwas wie ein grippaler Infekt. Man ist mal kurz befallen, macht Lärm und Ärger, aber dann ist es auch schon wieder vorbei damit. Politisch ernstnehmen, so die untergründige Botschaft des Films, braucht man das ganze nicht. So ähnlich mögen auch die mit der „Zwickauer Zelle“ befassten Behörden gedacht haben.

Dieser Text erschien zuerst in: Pony #70

Klaus Kreimeier: Traum und Exzess – Die Kulturgeschichte des frühen Kinos

( , Regie: )

Das Summen der Maschine
von Andreas Thomas

„Ich sehe in mich – alles bewegt sich Blicke um mich – nichts ist so wie gestern Alles löst sich auf Alles ist erlaubt“ (Roter Mond, Der Moderne Man, 1982) …

„Ich sehe in mich – alles bewegt sich
Blicke um mich – nichts ist so wie gestern
Alles löst sich auf
Alles ist erlaubt“
(Roter Mond, Der Moderne Man, 1982)

Wo liegen die Anfänge des Kinos, was änderte sich mit dem Eintreten des Films in die Kultur, wie bezeichnend ist die Etablierung des Mediums Film für seine Zeit?
Als ein veritabler Zeitreisender entpuppt sich nach seiner „UFA-Story“ (Filmbuch des Jahres 1992) wieder einmal der Medienwissenschaftler, Kritiker und freie Publizist Klaus Kreimeier, wenn er mit seinem neuen über 400 Seiten umfassenden Buch „Traum und Exzess – Die Kulturgeschichte des frühen Kinos“ nicht nur nach den Entstehungsbedingungen des Kinos forscht, sondern auch herausarbeitet, wie folgerichtig die Entwicklung der Kinematographie in ihrer Zeit vor einhundert Jahren stattfand, nicht nur aufgrund der zu ihrer Zeit gegebenen technologischen Voraussetzungen, auch in einer Logik eines veränderten Rezeptionsbedürfnisses in der Moderne.

Kreimeiers akribische, mehrfache Sichtung hunderter Filme der Frühphase des Kinos und sein intensives Studium zeitgenössischer Dokumente, Romane, Zeitungsberichte aus dem Kulturgeschehen der Epoche seit Mitte des 19. Jahrhunderts führt zu einer plastischen Reise in die Geburtsphase der Moderne, eine Reise, an deren Ziel wir mehr über die Medienwirklichkeit unserer Gegenwart und über Globalisierung erfahren haben werden, als wir zu träumen wagten.

Im Wirkungsverhältnis vom Film zum Menschen spiegeln sich, wie Kreimeier zeigt, das Bewusstsein des Menschen der Moderne konstituierende Faktoren, eine neue, beschleunigte Auffassung der Wirklichkeit, ein Multitasking der Sinne sozusagen, und das Entwickeln neuer, unterbewusster, halbbewusster (Traum-)Verarbeitungsstrategien, ohne die wir in der modernen, schnellen, entindividualisierten Welt nicht überleben könnten.

Das Kino spiegelt zugleich die Verfeinerung der Marktstrategien und die Entwicklung moderner Betriebswirtschaft: die massenhafte und industrielle Verbreitung und Erfassung des Mediums Film, welches aus dem „Jahrmarkt- und Schaustellergewerbe des 19. Jahrhunderts [hervorging]“, von der „Etablierung ‚vertikaler‘ Produktions- und Vertriebsstrukturen bis zum modernen Marketing.“

In der Genese des Kinos und des Films, so also Kreimeiers Lesart der Kinogeschichte, bildet sich eine komplette moderne Kulturgeschichte und zugleich eine Geschichte der modernen Wirtschaft mit all ihren wechselseitigen Verzweigungen und Verflechtungen ab, mit anderen Worten, in unserem subjektiven Träumen im Kinosaal ist auch immer das Summen der Maschine, und nicht nur das des Projektors, eingepflanzt …

„Traum und Exzess“ ist nicht nur ein reichhaltiges und facettenreiches Nachschlagewerk zur frühen Filmgeschichte, es ist auch ein aufschlussreiches Lesebuch zur Moderne, ihrem Geist und ihren Triebkräften.

Klaus Kreimeier: „Traum und Exzess – Die Kulturgeschichte des frühen Kinos“
Paul Zsolnay Verlag, 2011, 414 Seiten, 29,80 Euro

Kopfkino: Die Aura der Dinge

( , Regie: )


von Klaus Kreimeier

Dieser Beitrag entstand für die Veranstaltung: „Gedankenfilme – Storyboards aus bild- und filmwissenschaftlicher Perspektive“. Eine Gemeinschaftsveranstaltung der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen und des Einstein Forums, Potsdam, …

Dieser Beitrag entstand für die Veranstaltung: „Gedankenfilme – Storyboards aus bild- und filmwissenschaftlicher Perspektive“. Eine Gemeinschaftsveranstaltung der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen und des Einstein Forums, Potsdam, im Rahmen der Ausstellung „Zwischen Film und Kunst. Storyboards von Hitchcock bis Spielberg“ vom 14. November 2011.

Nosferatu

In diese Abbildung muss man sich erst einmal hineindenken. Es handelt sich um eine Rückseite aus dem Drehbuch von Henrik Galeen zu Friedrich Wilhelm Murnaus Film „Nosferatu“ (1921); das Original wird von der Cinématheque Francaise aufbewahrt. Das Schreibmaschinenmanuskript hat Murnau mit handschriftlichen Bemerkungen versehen, und auf den Rückseiten des Textes finden sich gelegentlich Zeichnungen, offensichtlich auch von Murnaus Hand. Benutzt wurde transparentes Durchschlagspapier, so dass unter den Strukturen der Zeichnung, wie ein Palimpsest, die Struktur des Schreibmaschinentextes auf der Vorderseite zu sehen ist: seitenverkehrt und auf den Kopf gestellt. Das dicke schwarze Kreuz über dem zweiten Absatz besagt, dass die entsprechende Einstellung abgedreht wurde.

Was ist auf diesem Blatt zu sehen? Zu erkennen sind teils hingestrichelte, teils fein ziselierte Details, die auf eine Szene im 2. Akt von „Nosferatu“, Hutters Ankunft auf dem Schloss des Grafen Orlok, verweisen: der Grundriss des Saals mit den Ausgängen zur Burgterrasse und der Tür zu Hutters Zimmer, das Gewölbe über einer Fensternische, eine Aufrisszeichnung mit der Saaldecke und gotischen Fen-stern, unten auf der Seite ein Detail, das Murnau mit der Erläuterung „Feuerpfanne im Kamin“ versehen hat.

Die Zeichnungen Murnaus und anderer in den Drehbüchern der frühen 20er Jahre sind keine Storyboards. Aber sie sind aus jenem Stoff, aus dem die Träume vom fertigen Film gestaltet sind – die Träume, die der Regisseur oder sein Storyboard-Zeichner vom Endprodukt träumen. Das Kino im Kopf der Hersteller, das im Drehbuch sprachliche Form gewinnt und verschiedene Phasen der Verbildlichung durchläuft, bevor es auf der Leinwand Realität wird und vom Zuschauer in sein eigenes Produkt, in das Kopfkino des Betrachters verwandelt wird. Zusätzlich besteht der Charme dieser Drehbuchseite darin, dass sich aus der durchscheinenden Textform des Manuskripts gleichsam „erste Bilder“ herauszukristallisieren scheinen – während das Schriftbild verbleicht, gewinnt die Bildschrift an Präzision und Kontur. Dies gilt freilich nur im metaphorischen Verständnis – denn die Zeichnungen, die Murnau hier wie Notizen aufs Papier geworfen hat, beziehen sich auf eine ganz andere Szene als jene, die auf der Vorderseite des Manuskripts beschrieben wird.

Als Medienwissenschaftler hat man schnell Begriffe wie „Medienwechsel“ oder „Intermedialität“ parat – beide verfangen hier nicht. Sie gelten für die Beziehungen, die verschiedene Medien gleichberechtigt und demokratisch miteinander unterhalten. Zwar bestehen zwischen Drehbuchtext, Zeichnung und Film Beziehungen, diese aber unterliegen einer festgelegten Hierarchie. Drehbuch und Zeichnung sind immer schon Kino: das Kino im Kopf der Hersteller, das Notate, Skizzen, Vorstufen, Entwürfe benötigt, um zum Kino auf der Leinwand und im Kopf des Zuschauers zu werden. Besonders die Texte deutscher Drehbücher der 20er Jahre haben sich die Deskription von Bildern, potentiellen Filmbildern zur Aufgabe gemacht: sie beschreiben, oft bis ins Detail, was sich vor der Kamera ereignen soll oder ereignen könnte. Die Drehbücher des begnadeten Carl Mayer z.B. zu „Hintertreppe“ oder zu Murnaus „Der letzte Mann“ kann man als geschriebene Storyboards lesen: gerade mit ihren Interjektionen, ihrer Sprunghaftigkeit, ihrer eigenwilligen Interpunktion eilen sie nicht nur der Atmosphäre und dem materiellen Inhalt, sondern auch den Kamerabewegungen und der Montageform des Films voraus.

Die spontan hingeworfenen Zeichnungen Murnaus sind von ganz anderer Qualität. Ein wesentlicher Unterschied zum Medium Storyboard besteht natürlich darin, dass Murnau in diesen Skizzen nicht die Sequentialität der Bilder vorwegnimmt, sondern sich auf Dinge, Architekturelemente, im weiteren Sinne die Objektwelt seines Films konzentriert. Die Fensternische, die Täfelung der Saaldecke, die gotischen Fensterbögen, die Feuerpfanne (auf anderen Seiten finden wir Torbögen, Treppenstufen, Truhen und Schränke, sogar Kacheln, Schlüssel und Türklopfer) – es sind diese und ähnliche Objekte, auf die sich Murnaus antizipierende Phantasie richtet und die im Film als Ensemble auratischer Dinge wiederkehren. Ich nenne sie auratisch, weil es sich nicht um tote Gegenstände handelt, nicht um simplen Dekor, ebensowenig wie die Architekturelemente auf Kennzeichen einer bestimmten ‚location’ zu reduzieren sind. Die Dinge, so will es in Murnaus Filmen scheinen, bergen ihr eigenes Geheimnis, sie sind beunruhigend und verfügen über eine autonome, emblematische Existenz.

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Spellbound, Alptraum-Sequenz

Diese „Aura der Dinge“ ist freilich auch den modernen Storyboards nicht fremd. Gewiss macht ein Storyboard zunächst und vor allem Vorschläge für das Organisationsschema der Bilder, für ihre Abfolge und innere Beziehung untereinander, für den Wechsel von Einstellungsgrößen, Kameraperspektiven und Montageformen, also für die Grammatik des Films. Eine Obsession für die Objektwelt und ihre spezifische Visualität ist jedoch bei vielen Zeichnern nicht zu übersehen. In Menzies’ und Bazevis Storyboard zur Traumsequenz in „Spellbound“ ist diese Obsession unverkennbar von Salvador Dalí inspiriert; Selznick hatte Dalí ja auch gebeten, Entwürfe zu zeichnen. Hitchcock wollte, wie er im Gespräch mit Truffaut zu Protokoll gab, „spitze und scharfe Konturen, härter als die Bilder des eigentlichen Films“ – einen magischen Realismus oder fotografischen Hyperrealismus, der auch menschliche Formen und Figuren, zumal Augen, wie Objekte erscheinen lässt.

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Apocalypse Now, Hubschrauber-Sequenz

Besonders das Science Fiction-Genre und Kriegsfilme provozieren die Zeichner, den Menschen als Maschine darzustellen oder ihn in der Maschine verschwinden zu lassen. Ivor Beddoes fixiert sich auf die Waffen in „Star Wars“, Dean Tavoularis, wie in diesem Bild, auf die Hubschrauber in „Apocalypse Now“. Geniale Strichführung einerseits – Detailgenauigkeit andererseits: eine Wahrnehmung des mechanisierten und industrialisierten Krieges, die auch vielfach in der Comic-Literatur begegnet, etwa in den Zeichnungen Jacques Tardis über die Grauen des Ersten Weltkriegs. Nicht zufällig ist es die – geheimnisvolle oder fatale – Aura der Dinge, die eben jene Bilder evoziert, die wir als Kinozuschauer in unserer Erinnerung, also in unserem eigenen Kopfkino, mit Filmen wie „Star Wars“ oder „Apocalypse Now“ verbinden. Oder mit einem Film wie „Hammett“ von Wim Wenders.

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Hammett – Schreibmaschine groß, seitlich

Offenbar verleiht gerade das Denken in Filmbildern, das Kino im Kopf des Zeichners den Dingen und ihrer Ausstrahlung einen besonderen Stellenwert. Die Alex Tavoularis zugeschriebene Storyboard-Sequenz für die Exposition von „Hammett“ (1982) wird der hypotaktischen Grammatik des filmischen Erzählens gerecht, konzentriert sich jedoch fast ausschließlich auf die Nahansicht von Objekten. Die Schreibmaschine, das unbeschriebene Blatt, der überquellende Papierkorb, der überfüllte Aschenbecher, Whiskyflasche und Schnapsglas – das sind die lebensnotwendigen Utensilien des Kriminalromanautors.

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Hammett – Papierkorb

Tavoularis inszeniert diese Gegenstände mit zeichnerischen Mitteln, rückt sie in den Focus und antizipiert mit der Kadrage den ‚frame’ des Filmbildes. Er macht Vorschläge. Er wechselt zwischen Nah-, Groß- und Detaileinstellungen, zwischen dem Blick von der Seite, aus halber Höhe oder extremer Aufsicht. Dabei werden aus den Gebrauchsgegenständen – Insignien, Dinge, die ihre eigene Geschichte erzählen und zugleich auf etwas anderes verweisen: auf das Schicksal dessen, der sich ihrer bedient.

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Hammett – Aschenbecher

Die Produktionsgeschichte von „Hammett“, 1979 bis 1982, ist äußerst kontrovers und für Wenders mit bitteren Erfahrungen, auch in der Auseinandersetzung mit dem Produzenten Coppola, verbunden. Am Ende, 1982, sind fast vier Jahre vergangen und vier Drehbuchautoren verbraucht. In einer der vielen schwierigen Phasen schlägt Coppola einen ungewöhnlichen Zwischenschritt vor: er lässt Wenders eine Hörspielfassung herstellen, die von Alex Tavoularis, dem Bruder des Produktionsdesigners Dean Tavoularis, in Zeichnungen übersetzt wird, also in ein Storyboard, das bereits eine szenische Fassung, nämlich das Hörspiel, zur Grundlage hat. Gleichzeitig soll der gezeichnete Film im klassischen Sinn Vorstufe und Arbeitsinstrument für den gedrehten Film sein. Zeichnungen und gesprochene Dialoge lässt Coppola in einem Computer speichern – im Jahr 1979 absolut revolutionär. Das Ergebnis ist jedoch so enttäuschend, dass Coppola das Drehbuch aus dem Fenster geworfen haben soll.

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Hammett – Schreibmaschine, seitlich

Die Ironie will es, dass die Zeichnungen von Alex Tavoularis – bei allen Änderungen, Umbesetzungen und Verzögerungen, die Wenders hinnehmen muss – für die Einführungsszene ihre antizipierende Kraft behalten haben: die Aura der Dinge hat ihre Magie bewahrt. Vor allem natürlich die Schreibmaschine, mit deren Tastatur der Film, nach einer Kamerafahrt von außen nach innen und über die Schulter des Autors blickend, der Film beginnt und die der verwickelten Handlung mit ihren zwei Ebenen eine Struktur verleiht.

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Hammett – Der Autor an der Schreibmaschine, von oben

Dashiell Hammett, der Krimi-Autor, beendet gerade eine Geschichte, aber es zeigt sich, dass er als unfreiwilliger Detektiv in einen realen Kriminalfall verwickelt werden muss, um diese Geschichte noch einmal neu aufzurollen und ihr ein stimmiges Ende zu geben. Den Wechsel zwischen den beiden Ebenen strukturiert auch im weiteren Verlauf des Films die Schreibmaschine: jener Apparat, dem der Transfer zwischen Leben und Kunst, Realität und Phantasie aufgetragen ist.

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Hammett – Schreibmaschine, groß, von oben

So taucht das Wort „The End“ zweimal auf: am Anfang, wenn Hammett sein Manuskript abschließt – und am Ende, wenn der reale Kriminalfall gelöst, das neue Manuskript vollendet und so auch der Film zu seinem Schluss gekommen ist. Die Schreibmaschine, das viele zerknüllte Papier, der Aschenbecher mit seinen vielen Kippen, der nur vom Lichtkreis der Lampe erhellte Schreibtisch – all dies evoziert die tief verschattete Welt, durch die sich der Detektiv ebenso wie der Kriminalschriftsteller bewegt.

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Hammett – Schnapsglas, Manuskript

Zum Manuskript gehört der Alkohol, weil diese erbärmliche Welt nicht ohne ihn zu ertragen wäre: Das verbindet die Rolle des Detektivs, der das Verbrechen bekämpft, mit der des Autors, der die Niederlagen und die seltenen Siege im Kampf gegen das Verbrechen protokolliert. Es verbindet ebenso Sam Spade, den literarischen Helden Dashiell Hammetts, mit Phil Marlowe, seinem Pendant und Kollegen in den Romanen Raymond Chandlers.

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Hammett – Der Autor und der Schnaps

Die Exposition des Films führt alles zusammen: die düstere Stimmung der hardboiled novel, kreiert von Hammett und Chandler, den „Malteser Falken“ und „The Big Sleep“, den Film noir und seinen Mythos, den Humphrey Bogart mit begründet hat. Dies ist zweifellos Wim Wenders zu danken, aber die Objektwelt, das Ensemble der Dinge, die Tavoularis in seinem Storyboard exponiert hat, liefert die authentische Skizze zum ausgemalten Tableau.

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Bildnachweise:
„Nosferatu“: Lotte H. Eisner: Murnau. Mit dem Faksimile des von Murnau beim Drehen verwendeten Orginialskripts von Nosferatu. Kommunales Kino Frankfurt am Main 1979, S. 525
„Spellbound“: David O. Selznick Collection, Harry Ransom Center, University of Texas, Austin
„Apocalypse Now“: American Zoetrope Films, San Francisco
„Hammett“: Deutsche Kinemathek, Sammlung Wim Wenders, Berlin

Ulrich Kriest (Hg.) – Formen der Liebe. Die Filme von Rudolf Thome

( , Regie: )

Forschungsreisen ins Unbekannte
von Wolfgang Nierlin

Das Buch „Formen der Liebe“, herausgegeben von Ulrich Kriest, widmet sich Rudolf Thomes Filmen. Im Juni 1979 schreibt Rudolf Thome unter dem starken Eindruck von Renate Samis Videofilm „Geschichten erzählen“ …

Das Buch „Formen der Liebe“, herausgegeben von Ulrich Kriest, widmet sich Rudolf Thomes Filmen.

Im Juni 1979 schreibt Rudolf Thome unter dem starken Eindruck von Renate Samis Videofilm „Geschichten erzählen“ einen Text mit dem Titel „Das ist eine Utopie. Das Kino, von dem ich träume“. Darin entwickelt der Filmemacher und Kritiker eine Poetologie seines eigenen filmischen Schaffens, die sich als Bestandsaufnahme, Selbstvergewisserung und zugleich als programmatische Neuorientierung verstehen lässt. In seinem schwärmerischen Plädoyer für „ein Kino der Unschuld und der Naivität“ träumt Thome von Filmen, die konkret und sinnlich, einfach und subjektiv sind. Das persönlich Erfahrene und die tatsächliche Wirklichkeit, das scheinbar Nebensächliche („das Unwichtige ist das Wichtige“) und das Unfertige sollen sich auf einfache, möglichst ungekünstelte Weise zu einem Kino verbinden, in dessen Mittelpunkt die Schauspieler stehen: „Das einzige, was einen Film schön macht: die Leute vor der Kamera, was die tun, wie die sich bewegen.“

Wiederveröffentlicht findet sich der Text in dem umfangreichen Reader „Formen der Liebe – Die Filme von Rudolf Thome“, den der Filmpublizist Ulrich Kriest anlässlich Thomes 70. Geburtstag (im November 2009) herausgegeben hat. Zahlreiche Filmkritiker, Weggefährten und Mitarbeiter des Regisseurs entwickeln darin in Aufsätzen und ausführlichen Interviews ein facettenreiches Bild von dessen Leben und Werk, das „eigensinnig aus dem Abseits heraus produziert“ (Kriest) mittlerweile 27 Spielfilme und 6 Kurzfilme umfasst. Dabei wechseln sich historische Beiträge mit aktuellen ab und ermöglichen so immer wieder einen Abgleich von „zeitlicher“ Fern- und Nahsicht.

Einen ebenso persönlichen wie aufschlussreichen Einblick in seine geradezu abenteuerliche Arbeitsweise liefert Thome selbst mit dem biographischen Abriss „Überleben in den Niederlagen“, der Anfang 1980 in den ersten beiden Ausgaben der Zeitschrift „Filme“ publiziert wurde. Mit feiner Ironie – im Übrigen auch ein Wesensmerkmal seiner Filme – schildert Thome seine Anfänge in München mit u. a. „Detektive“ und „Rote Sonne“, seinen Umzug und filmkünstlerischen „Neubeginn“ in Berlin, vor allem aber die vielen Komplikationen, Rückschläge und Durchhaltephasen dieser rund achtzehn Jahre umfassenden Zeitspanne.

In diesem Beitrag wird das Jahr 1980 zum Einschnitt und der in jenem Sommer überwiegend in Kreuzberg gedrehte Film „Berlin Chamissoplatz“ zum Kristallisations- und Anknüpfungspunkt. „In meinem innerlichen wie äußerlichen Unglück war das Einzige, was mich in diesem Augenblick noch am Leben reizen konnte, eine Liebesgeschichte“, schreibt Thome über das Projekt, das er schließlich mit den Schauspielern Hanns Zischler und Sabine Bach realisieren kann. Als der Film dann nach seiner von Kontroversen begleiteten Uraufführung bei den Hofer Filmtagen durchfällt, ist es der damalige „Zeit“-Kritiker Hans-Christoph Blumenberg, der mit seinem Aufsatz „Eine Liebe in Deutschland“ nicht nur „Berlin Chamissoplatz“ rehabilitiert, sondern in einem Streifzug durch Thomes Werk dessen wesentlichsten Merkmale aufzeigt. Rudolf Thome, der sein Filmemachen einmal als „ein Abenteuer, eine Forschungsreise ins Unbekannte“ bezeichnet hat, erscheint darin als genau beobachtender Chronist bundesrepublikanischer Zeitläufte respektive Wirklichkeiten und als höchst sensibler Erzähler utopischer Beziehungsgeschichten, in denen sich als „Dialektik der Liebe“ (Thome) wiederum die bundesrepublikanische Wirklichkeit konserviert.

Ulrich Kriest (Hrsg.): Formen der Liebe – Die Filme von Rudolf Thome
Band 8 der Edition „film-dienst“
Schüren Verlag, Marburg 2010, 352 Seiten, zahlr. Abb., 29.90 Euro

Frank Schnelle / Andreas Thiemann – Die 50 besten Horrorfilme

( , Regie: )

Drei Dinge auf einmal
von Sven Jachmann

Solche Bücher sind und bleiben eine Frage des Standpunkts: Einerseits kann kein Filmkanon der Welt den Ansprüchen der Repräsentativität genügen. Darüber weiter zu räsonieren wäre Zeilenschinderei. Andererseits würden allein die …

Solche Bücher sind und bleiben eine Frage des Standpunkts: Einerseits kann kein Filmkanon der Welt den Ansprüchen der Repräsentativität genügen. Darüber weiter zu räsonieren wäre Zeilenschinderei. Andererseits würden allein die Genres der Länder, ihre Traditionen und Interdependenzen lexikalisch erfasst die Bücherregale unter ihrer monströsen Last begraben. Deswegen greifen die Autoren Frank Schnelle und Andreas Thiemann (ähnlich wie bei ihrem Vorgänger „Die 100 besten Filme aller Zeiten“, der 2007 ebenfalls beim Bertz+Fischer Verlag erschien) vorsorglich zu einem Kniff: Anstatt eine subjektive Auswahl zu treffen, die sich unweigerlich der in so vielerlei Hinsicht berechtigten Kritik der gewaltsamen Lücke aussetzen und das Autorenteam adressieren würde, lassen sie bereits existierendes Material sprechen, werteten rund 50 Bestenlisten von Journalisten, Autoren und Fans aus Büchern, Zeitschriften, Magazinen, Horror-Websites und Foren aus und präsentieren somit den Querschnitt bereits verfügbarer (im Anhang dokumentierter) Versuche der Kanonisierung – eine „Horrorliste aller Horrorlisten“, wie es der Klappentext formuliert.

Zu kritisieren gäbe es viel, vermisst wird eine ganze Menge und ungerecht ist das Ganze sowieso. Es entscheidet also allein der Geschmack: Wer filmhistorisches, genretheoretisches oder kulturwissenschaftliches Herantasten erwartet, fokussiert per se nicht solche Publikationen. Die Texte sind äußerst kurz geraten – pro Film zwei Seiten -, wollen allenfalls Zuneigung von der Dauer eines schüchternen Blicks vermitteln und müssen den begrenzten Platz zudem noch mit Stabangaben, Editionsempfehlungen und reichhaltigen Illustrationen teilen. Zwar versuchen die Autoren eklatante Lücken durch zehn weitere Empfehlungen zu schließen, füttern damit aber selbstverständlich vor allem den bösartigen Schlund des Listenwesens: Hätte nicht wenigstens ein Film die immerhin schon über eine halbe Dekade anhaltende Entwicklung zum drastischen Körperkino der verfemten so genannten torture porns abbilden müssen? Gab es in Spanien nicht wesentlich mehr zu entdecken als Alejandro Amenábars Debütfilm „Tesis“ angesichts einer jahrzehntelangen Tradition der Exploitation, die auf diesen Wegen notgedrungen ihre Francokritik verhüllen lernen musste? Überhaupt: wieso „The Descent“, aber kein Jean Rollin oder wenigstens Peter Jackson? Und grundsätzlich: Erzählt die Präsenz der sympathischen Zombieparodie „Shaun of the Dead“ nicht viel von der Geschichtsvergessenheit und Gegenwartsfixierung der Klassikersuchenden, wenig jedenfalls von der zweifelhaften Initialwirkung, die dem Film bereits qua Berücksichtigung angedichtet wird?

Bevor man sich also dabei ertappt, die bessere Liste zu entwerfen und dem Werk deswegen vorschnell an den Kragen will, sollte erinnert werden, was es sein möchte und darum zwangsläufig wird: nicht mehr und nicht weniger als eine Einladung für Neulinge zum ersten Erkunden eines fremden, enorm wuchernden Terrains und, wahlweise, eine begeisterte Bewunderung eines bestechlichen Strangs des narrativen filmischen Feldes, der immer schon in gleichen Teilen zur Subversion und Transzendenz wie zur erzkonservativen Reaktion neigte, oder eben eine einzige Provokation für diejenigen, denen solch kriterienscheuende Kanonisierungsversuche mehr Unheil als Segen stiften, weil sie sich unkritisch auf ihre Empirie verlassen. Alle drei Aspekte erfüllt das Buch ziemlich souverän.

Frank Schnelle / Andreas Thiemann: „Die 50 besten Horrorfilme und die Blu-rays oder DVDs, die Sie haben müssen
Bertz+Fischer, Berlin 2010, 152 Seiten, 7,90 Euro

TV-Event: FilmFight

( , Regie: )

Reden über Film? Bullshit!
von Ulrich Kriest

Zugegeben, es hat ein paar Jährchen gedauert, bis man beim Bayerischen Rundfunk auf die Idee gekommen ist, man könne über Film doch ebenso gut live streiten wie einst im Literarischen …

Zugegeben, es hat ein paar Jährchen gedauert, bis man beim Bayerischen Rundfunk auf die Idee gekommen ist, man könne über Film doch ebenso gut live streiten wie einst im Literarischen Quartett über Literatur. Zum Filmfest München präsentierte die „Kino Kino“-Redaktion am 25. Juni 2011 das neue Format „FilmFight“ – eine Live-Talkshow unter verschärften Bedingungen. Man hatte sich – so stand zu lesen – einiger der besten Filmkritiker hierzulande versichert, hatte das Publikum im Saal großzügig mit Drinks versorgt und im zuverlässig penetrant selbstgefälligen Henryk M. Broder auch die „Ringrichter“-Position des Reich-Ranicki kongenial besetzt: wie Mickey Rourke in „The Wrestler“ zelebrierte Broder als „The Hammer“ seinen Einzug in die Manege, wo bereits ein wohl zwei Köpfe größer gewachsenes Bunny seiner harrte. Unter Zeitdruck sollten nun die ausgewählten Filmkritiker Doris Kuhn, Daniel Kothenschulte, Barbara Schweizerhof, Hans Ulrich Pönack, Rainer Knepperges und Norbert Körzdörfer möglichst kontrovers über Hollywood-Mainstream wie auch über internationale Filmkunst disputieren und dabei nach Möglichkeit ein Fass aufmachen. Laut Redaktion sollte es so kommen: „FilmFight – Der ‚Kino Kino‘ Talk“ ist gelebte Streitkultur und liefert Antworten auf immer aktuelle Fragen: Was können wir in Filmen entdecken und erleben? Was erzählt Kino heute über uns selbst und unsere Zeit? Welchem Film gelingt etwas, welchem gar nichts?“

Ausgesucht hatte man zum Auftakt dafür ein recht buntes Programm: „Alles koscher“, „Brownian Movement“, „Schlafkrankheit“, „Nader und Simin“ und „Larry Crowne“. Doch statt kundigem Räsonnement folgte nur ein ärgerlicher Austausch von mal lustlos, mal echauffiert Dahingemeintem von Pönack, Broder und Körzdörfer gern auf dem Stammtischniveau ihrer Hausmedien abgehandelt. „Was erzählt Kino heute über uns selbst?“ Wenn ein Film vieles offen lässt wie „Brownian Movement“, wenn ein Film gar für „Berliner Schule“ steht wie „Schlafkrankheit“, dann ist das prinzipiell „Bullshit“ (Pönack) oder ein „ARTE-Film nach Mitternacht mit Fernbedienung“ (Körzdörfer). Wenn ein Film schon nicht anders kann, als aus dem Iran zu kommen, dann sollte er mindestens ein paar Berliner Bären in die Waagschale zu werfen haben, damit er für den Boulevard als „bedeutend“ interessant wird. Wer angesichts derart mangelnder Neugier, Offenheit und einem durchs jeweilige Medium bereits deformierte Berufsethos etwa feministische (Kuhn) oder auch allgemein politische Perspektiven (Kothenschulte) in die Runde warf, hatte sogleich verloren – und wurde vom Schreihals Pönack oder vom Ironiker Broder entsprechend populistisch abgewatscht. Einzig Rainer Knepperges verfiel auf die subversive Idee, sich mit trockenen One-Linern am Ringrichter zu reiben. Alle anderen akzeptierten leider nur allzu gerne, dass ein einverständiges Lachen über Broders »freche« Sprüche hier als Billett auf eine gemeinsame Zukunft bei „FilmFight“ hinzunehmen war.

Augen-Blicke aus der verlorenen Zeit

( , Regie: )

Nachtrag zum 90. Geburtstag von Chris Marker
von Janis El-Bira

Der entscheidende Moment ist letztlich erahnbar: Das Aufwachen der jungen Frau gegen Mitte von Chris Markers in Standbildern erzähltem Klassiker „La Jetée“ (1962), der Übergang vom Unbewussten zum Bewussten und …

Der entscheidende Moment ist letztlich erahnbar: Das Aufwachen der jungen Frau gegen Mitte von Chris Markers in Standbildern erzähltem Klassiker „La Jetée“ (1962), der Übergang vom Unbewussten zum Bewussten und damit von der Serie von „stills“ zu den plötzlichen Bewegtbildsekunden wird vorbereitet in einer Reihe weicher Überblendungen, die bereits Bewegtheit zu suggerieren scheinen. Und doch: Das Aufschlagen der Augen, die für einen kurzen Moment ruhig in die Kamera blicken, bleibt überwältigend, fast etwas verstörend. Als sei ausgerechnet der Besuch bei einer Toten zum konstitutiven Moment der Selbstfindung des namenlosen männlichen Protagonisten geworden: Ich sehe dich, du siehst. Er, „marked by an image from his childhood“, wie es am Anfang im Kommentar heißt, ist die Laborratte einer kalterstarrten, postapokalyptischen Zukunft (Gegenwart des Films), weil sein Erinnern zum Nicht-Vergessenkönnen geworden ist. Zeuge eines Gewaltaktes war er als Kind geworden, hat einen Mann am Flughafen von Paris-Orly sterben sehen – und kann doch vor allem das weiche, zwischen Erstaunen und Entsetzen wechselnde Gesicht einer jungen Frau am Rande des Geschehens nicht vergessen. Weil die Furchen, die die Szene (die Bildfolge) des Horrors und das friedliche Einzelbild in seine Erinnerung gegraben haben, tief sind wie die Narben, die man ein Leben lang nicht mehr loswird, ist er ein ideales Versuchstier: Ein auf seinem Trauma Zeitreisender soll zur Rettung der Gegenwart antreten, indem er ins Reich der Toten, der zu Staub Zerfallenen geschickt wird – um sie sprechend und helfend zu machen und vielleicht mitzubringen, was seiner Zeit fehlt.

Das Totenreich aber ist ebenfalls eine Welt der festgefrorenen Bilder. Ein gefundenes Fotoalbum der eigenen und kollektiven Erinnerung – wirr und verselbständigt, wiedererkennbar und doch verändert. Durch dieses Album wird der Namenlose gezerrt, lebt in seinen und fremden „mental images“, bis er – sofort ohne jeden Zweifel – die Frau aus seiner Kindheit erkennt. Er folgt ihr wie James Stewart in „Vertigo“ Kim Novak folgte, sieht sie, genau wie jener, in einem Blumengeschäft, und auch für die Unbekannten aus „La Jetée“ wird für kurze Zeit der Alptraum der Vergessensunfähigkeit zum Traum der vergessenden Liebenden: Ohne Erinnerungen und ohne Pläne erleben sie reine Gegenwart und wandern unter den Bäumen der Tuilerien durch ein Paris vor der Katastrophe.

Unheimlich jedoch, wie uns auch diese Episode unverändert in Gestalt eines „Fotoromans“ unbewegter Schwarzweißbilder erzählt wird – als seien diese und alle Bilder vor allem Andenken, an Vergangenes und Zukünftiges gleichermaßen („Souvenir d’un avenir“, wie folgerichtig ein Film heißt, den Chris Marker 2001 mit Yannick Bellon realisierte). In einem Museum betrachten die Spazierenden ausgestopfte Tiere: Ausgerechnet Markers „stills“ betrügen diese um die langen Jahre angesammelten Staubs in ihren Fellen. Die toten, höchst lebendig konservierten Tiere treffen auf die gleichfalls toten Menschen, deren Augen – wie den Knopfaugen der Präparate – jeder Fokus zu fehlen scheint. Jean-Louis Schefer hat in einem vielbeachteten Essay zu „La Jetée“ auf die Diskrepanz zwischen Zeit und (Erinnerungs)Bild und ihre tragische Überwindung hingewiesen: Der „Held“ stirbt nach den 28 Minuten des Films, indem die Zeit schließlich doch die Brücke schlägt zwischen dem Schreckens- und dem Sehnsuchtsbild seiner Erinnerung. Das Bild der Gewalt, das seit seiner Kindheit sein Bewusstsein vernarbt hat, ist das Bild seines eigenen Todes. Er findet ihn in jenem Moment, als er schließlich noch einmal am Flughafen auf die junge Frau zulaufen will und darin von der Zeit unerbittlich überholt wird: Ein „Agent“ aus der Zukunft/seiner Gegenwart ist ihm gefolgt und tötet ihn am Rande des Rollfelds – vor den Augen seiner selbst als Kind.

Kaum jemand hat für das Kino die Topographien des Erinnerns, der Zeit, des Sehens und Blickens so unermüdlich erkundet wie Chris Marker. In den erstaunlichsten Blick-Momenten seines Filmens – wie dem plötzlich animierten Augenöffnen in „La Jetée“ oder der halbzufällig in die Kamera blickenden jungen Frau an der Küste von Guinea-Bissau in „Sans Soleil“ (1982) – scheint man plötzlich glauben zu wollen, dass der „Augen-Blick“ die am ehesten adäquate Maßeinheit der Zeit sein muss: Augen(paare) als physiologische Bedingung des Sehens, Blicke als dessen Strukturierung und so als ein möglicher Ort der Synthese von Zeit, die wir im Richten des Blickes – und, mit Husserl gesprochen, zwischen Protention und Retention – leiblich erfahren. Immer wieder werden bei Marker Augenpaare vermeintlich auf „uns“, in Wahrheit auf das Objektiv gerichtet: die leeren Augen der Statuen und ausgestopften Tiere in „La Jetée“, die elektronischen Augenpaare aus den Computern und Fernsehern in „Sans Soleil“, die Augen der grinsenden Katzen (neben den Eulen Markers Lieblingstiere) an den Pariser Hauswänden in „Chats Perchés“ (2004). Manchmal – wie in „La Jetée“ oder in den Augen des todkranken Andrei Tarkovski in Markers „Une journée d’Andrei Arsenevich“ (2000) – sind Blicke darunter, die erschaudern lassen in der vollen Gegenwärtigkeit und gleichzeitigen Vergänglichkeit, die sie behaupten: In das Gesicht der Zeit zu schauen, ist bisweilen kaum zu ertragen, wenn es zurückblickt. Es wundert nicht, dass es von Chris Marker selbst kaum Fotos oder Filmaufnahmen gibt. Ein kurzer Augen-Blick in Wim Wenders Tokio-Film „Tokyo-Ga“ (1985) markiert eine der wenigen und die vielleicht schönste Ausnahme: Marker versteckt sich in einer Tokioter Bar, die nach „La Jetée“ benannt ist, hinter einem Blatt mit Zeichnungen von Katzen und Eulen – und riskiert dann doch einen sekundenkurzen Blick. Wie zur Sicherheit allerdings nur mit einem Auge.

Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit ist der große Welt- und Zeitreisende des Kinos, der Filmemacher, Autor, Fotograf, Video- und Computerkünstler und – für seine jüngsten Arbeiten – rege YouTube-User Chris Marker in der vergangenen Woche am 29. Juli 90 Jahre alt geworden.

Die besten Filme des Jahres 2010

( , Regie: )


von

Die 20 Lieblingsfilme unserer AutorInnen 2010 1. Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben (Weerasethakul) (51) 2. Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen (Herzog) (48) 3. A Serious Man …

Die 20 Lieblingsfilme unserer AutorInnen 2010
1. Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben (Weerasethakul) (51)
2. Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen (Herzog) (48)
3. A Serious Man (Coen) (39)
4. Vorsicht Sehnsucht (Resnais) (36)
5. Der Fantastische Mr.Fox (Anderson) (33)
6. Shutter Island (Scorsese) (30)
7. Von Menschen und Göttern (Beauvais) (29)
8. Mary & Max (Elliot) (27)
9. Walhalla Rising (Refn) (DVD) (27)
10. Carlos – Der Schakal (Lange Fassung) (Assayas) (25)
11. Im Schatten (Arslan) (24)
12. Enter the Void (Noé) (20)
13. A Single Man (Ford) (20)
14. The Social Network (Fincher) (19)
15. The Road (Hillcoat) (19)
16. Mother (Bong Joon-ho) (18)
17. Das Kabinett des Dr. Parnassus (Gilliam) (16)
18. Der Räuber (Heisenberg) (15)
19. Villa Amalia (Jacquot) (14)
20. Ruhr (Benning) (12)

* * *

Daniel Bickermann
1. The Fantastic Mr. Fox
2. A Single Man
3. A Serious Man
4. The Kids are alright
5. Ponyo
6. Renn, wenn du kannst
7. Up in the air
8. The Social Network
9. Winter’s Bone
10. Nord

Janis El-Bira
1. Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben
2. Vorsicht Sehnsucht
3. Nothing Personal
4. Von Menschen und Göttern
5. Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen
6. 36 Ansichten des Pic Saint-Loup
7. Shutter Island
8. Un Lac
9. Der Karski-Bericht
10. Lola

Lukas Foerster
1. Les herbes folles
2. Ruhr
3. Shutter Island
4. My Name Is Khan
5. Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives
6. Eyyvah Eyvah
7. She’s Out of My League
8. Weihnachten? Weihnachten!
9. Survival of the Dead
10. Enter the Void

Thomas Groh
1. Der Räuber
2. Bad Lieutenant: Port of Call New Orleans
3. The Last Exorcism
4. Buried – Lebend begraben
5. Villa Amalia
6. Mary & Max
7. Still Walking
8. Gentlemen Broncos
9. The Social Network
10. The Kids Are Allright

Sven Jachmann
1. The Road
2. Mary & Max
3. Shutter Island
4. Life During Wartime
5. A Serious Man
6. Moon
7. Buried
8. Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben
9. Toy Story 3
10. Der Karski-Bericht

Ekkehard Knörer
1. Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben
2. Vorsicht Sehnsucht
3. Villa Amalia
4. Bad Lieutenant – Port of Call New Orleans
5. Gamer – Play oder be played
6. Der Räuber
7. La Danse
8. Our Beloved Month of August
9. Von Menschen und Göttern
10. Ponyo

Ulrich Kriest
1. Im Schatten
2. Uncle Boonmee …
3. Valhalla Rising (DVD)
4. My Son My Son What Have Ye Done (DVD)
5. Kinatay
6. Vorsicht Sehnsucht
7. Still walking
8. Carlos – Der Schakal
9. Ein Prophet
10. Scott Pilgrim vs. The World

Harald Mühlbeyer
1. A Serious Man
2. The Imaginarium of Dr. Parnassus
3. Der Fantastische Mr. Fox
4. Inception
5. Im Schatten
6. Knight and Day
7. In ihren Augen
8. Mammuth
9. Goruden Suranba (Golden Slumber)

Wolfgang Nierlin
1. Von Menschen und Göttern
2. Carlos
3. Im Schatten
4. Min dit
5. Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben
6. Somewhere
7. Our beloved month of August
8. Süt
9. Fish Tank
10. Mademoiselle Chambon

Oliver Nöding
1. Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt
2. Walhalla Rising
3. Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen
4. Universal Soldier: Regeneration
5. Der fantastische Mr. Fox
6. Undisputed 3: Redemption
7. Brooklyn’s Finest
8. Enter the Void
9. Survival of the Dead
10. Ninja: Revenge will Rise

Joachim Schätz
1. Carlos (extended version)
2. Fantastic Mr. Fox
3, Me and Orson Welles
4. Uncle Boonmee who can recall his past lives
5. Lola
6. Mother
7. A Serious Man
8. Les Herbes Folles (aka Vorsicht Sehnsucht!)
9. Greenberg
10. Paranormal Activity 2

Harald Steinwender
1. Shutter Island (Martin Scorsese; USA 2010)
2. Un prophète (Jacques Audiard; F 2009)
3. Enter the Void (Gaspar Noé; F-D-I 2009)
4. I Am Love (Luca Guadagnino; I 2009)
5. The Messenger (Oren Moverman, USA 2009)
6. The Social Network (David Fincher; USA 2010)
7. The Road (John Hillcoat; USA 2009)
8. Mother (Joon-ho Bong; Südkorea 2009)
9. The American (Anton Corbijn; USA 2010)
10. Carlos (Olivier Assayas; F-D 2010)

Marcus Stiglegger
1. Valhalla Rising
2. A Single Man
3. Enter the Void
4. The American
5. Bad Lieutenant – Port of Call New Orleans
6. The Road
7. Gesetz der Straße – Brooklyn’s Finest
8. Red Riding Trilogy
9. Centurion
10. Bedways

Andreas Thomas
1. Von Menschen und Göttern (Xavier Beauvois)
2. Precious – Das Leben ist kostbar (Lee Daniels)
3. Mary & Max (Elliot)
4. The Social Network (David Fincher)
5. Rammbock (Marvin Kren)
6. Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen (Werner Herzog)
7. The Happiest Girl in the World (Radu Jude)
8. A Serious Man (Joel & Ethan Coen)
9. Giravolte – Freewheeling in Roma (Carola Spadoni)
10. Ruhr (James Benning)

Louis Vazquez
1. Mother (Joon-ho Bong)
2. My Winnipeg (Guy Maddin)
3. Ich sehe den Mann deiner Träume (W. Allen)
4. Das Kabinett des Doktor Parnassus (T. Gilliam)
5. A Serious Man (Ethan & Joel Coen)
6. Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen (W. Herzog)
7. Mr. Nobody (Jaco Van Dormael)
8. Mary & Max (Adam Elliot)
9. Ponyo (Hayoao Miyazaki)
10. Still Walking (Hirokazu Kore-eda)

 

Frieda Grafe – Schriften. Herausgegeben von Enno Patalas

( , Regie: )

Anleitung für parasitäre Texte
von Dietrich Kuhlbrodt

Lieber Leser, versuch’s doch mal, und sag, was du siehst, und nicht das, was du weißt. Eine Blume ist dann weder Metapher noch Symbol noch Position im Ordnungssystem. »Suppose, to …

Lieber Leser, versuch’s doch mal, und sag, was du siehst, und nicht das, was du weißt. Eine Blume ist dann weder Metapher noch Symbol noch Position im Ordnungssystem. »Suppose, to suppose, suppose a rose is a rose, is a rose.« Gertrude Stein entzog sich den Zwängen von Logik und Kausalität und dachte in Analogien und Assoziationen. Wer mochte, konnte sich ihr hierarchiefrei beigesellen. Frieda Grafe, größte deutsche Filmdenkerin, berichtet über „Zwei Jahre aus meinem Leben mit Gertrude Stein“, geschrieben 1978 und nun wieder erschienen als Band 6 der auf zwölf Bände angelegten „Schriften“.

Frieda Grafe ging mit der viel Älteren, die 1946 gestorben war, ein „Verhältnis“ ein, eins auf Zeit. Das funktionierte. Nicht (nur) als Experiment, sondern als Lebensgemeinschaft. Und die basierte auf dem lebendigen »Duktus von Gesprochenem«, den Stein in geschriebener Sprache eingefangen hatte. »Unmittelbarer ist dieser neuen Sprache das Verhältnis des Schreibers zu seinem Gegenstand. Der Leser kann den Wechsel spüren und wird impliziert.« Die Jüngere, Grafe, die diesen Satz schreibt, ist impliziert, und wer das liest, wird beteiligt. Vorbei ist es mit abfertigender Kritik und Beurteilung. Wir sind auf der Seite von Lebensexperiment und Abenteuer.

Frieda Grafe schreibt über das, was sie bei und mit der Lektüre erlebt. Das sind Glossen, Statements, Aspekte, Parallelen, Momente. Jeder kann ein- und aussteigen. Stein ist ein halbes Jahrhundert nach ihrem Tod barrierefrei und unverbindlich offen für Gemeinschaften auf Probe. Jedenfalls, wenn man es so wie die neugierige und sympathisierende Autorin macht. Im Essay steht gern links ihr Statement und rechts der parallele Stein-Text. Aber dann wird es intim, sprachlich. In das Statement mischen sich Texte der älteren Freundin ein, wir wechseln gelegentlich von Satzteil zu Satzteil vom Englischen ins Deutsche und zurück. Bald gucken wir von der einen zur anderen. Wer hat das nun gesagt?

„Mein Leben mit Gertrude Stein“ ist ein großartiges Gemeinschaftsabenteuer. Wer sich vor zu engem Kontakt fürchtet, sichert sich ab; doch er wird niemals immun werden. Das könnte Frieda Grafes Fazit sein, würde sie explizit werden wollen. Wir erfahren, dass Steins »neues Schreiben« mit ihrer eigenen, der jüdischen Geschichte zu tun hat: »Deutsche Juden, die auswandern aus Bayern«, gebeutelt, »bis die private Ausgangssituation sich ausweitet zu allgemeiner Erfahrung. So bleibt das Verfahren ihr Leben lang: vom Alltäglichsten ausgehend, Statements machen, die deshalb überzeugen, weil sie ganz momentan sind, nie als Teil eines Systems gedacht oder zu denken sind. Sie sind deshalb auch nicht abgesichert, aber ihre Beweglichkeit bewegt Gedanken« (Grafe).

An dieser Stelle mischt sich im Buch ein Dritter ein: Enno Patalas, der Herausgeber der Schriften, lange Zeit Direktor des Filmmuseums in München, ein archivaffiner Mann. Auf der rechten Seite druckt er als Kommentar die amtliche Auskunft des Bürgermeisters der Gemeinde Weickersgrüben von 1977 ab: »Die Familie Stein lebte zusammen mit anderen israelitischen Familien im sog. ›Judenschloß‹, seit ca. 1750 eine Unterkunft v. Thüngscher Schutzjuden. Aus den Schriften geht hervor, dass Michael Stein ›Deputiant‹ und Vorsteher der Armenpflegschaft der israelitischen Gemeinde war. Über seinen Sohn Schmeie Stein ist die Niederschrift über dessen Befreiung vom Wehrdienst vorhanden. Für ihn zahlte ein Oppenheimer aus Hessdorf zu diesem Zweck 50 Gulden.«

Natürlich ist das ein Fund und eine willkommene Information. Auch so hätte das Buch aussehen können. Es wäre eins über und nicht eins mit Gertrude Stein gewesen. Frieda Grafe, Stein-empathisch, dagegen: »Die Kultur ist männlich, damit die generellste aller sozialen Einrichtungen, die Sprache. Die Frauen zur Kultur auch zuzulassen, verändert nichts, solange sie sich biegen lassen müssen.« Aber, »was bisher dem großen Traum von Transparenz und Klarheit im Denken der Männer sich widersetzte, die Materie, die man unterbutterte, das ist das Anderssein der Frauen. Die Subkultur.« Frieda Grafe war mit dem Herausgeber verheiratet. 2003 starb sie.

Als fünfter Band der „Schriften“ ist „Film/Geschichte“ erschienen – mit dem Zweittitel „Wie Film Geschichte anders schreibt“. Auch hier geht es um das Wahrnehmen und das Schreiben darüber. Grafe schreibt über ihr „Verhältnis“ zum Geschriebenen, dass sich ihr Text durch den Umgang mit den Kinobildern von Grund auf verändert habe. »Als Filmkritiker ist man nie ein richtiger Profi, … man bleibt ein Amateur, dessen Beruf es ist, parasitäre, hybride Texte zu verfassen. Aber es ist die Chance, die durch Jahrhunderte zementierte Überlegenheit der Sprache über stumme Ausdrucksformen in Frage zu stellen. Im Foto hat man konzentriert, momentan und raumhaft, was man sprachlich nur mit spürbarer Mühe und immer mit dem Beigeschmack einer ungehörigen Narrativität auf die Reihe bringt.«

Die Texte stehen angenehm unmoderiert nebeneinander, sie laden zur Geselligkeit ein. Was ich imaginiere, sind zwei Jahre aus meinem Leben mit Frieda Grafe. Ich kenne sie seit den sechziger Jahren aus dem Redaktionskollektiv der Zeitschrift »Filmkritik«. Mein erstes Ossobuco, von ihr bereitet. Nein, der Loup de mer in La Baule. Die große Essayistin war eine diesseitige Frau. Sie grenzte nicht aus, und sie ließ sich nicht ausgrenzen. Sie schreibt in diesem Band ebenso über »Mode aus Hollywood« wie über das »Sehen mit fotografischen Apparaten«. Es geht von Riefenstahl zu Eisenstein (»Die einfache Masse ist der Künstler«). Im Film ist der Autor nicht der individuelle Künstler; er wird von Grafe entthront – in einem Vortrag, der bisher nur in französischer Übersetzung zu lesen war.

Wir sind der Film! Dochdoch, das Publikum nimmt sich die Freiheit, pathetisch zu werden. Frieda Grafe gesteht jedoch auch den »Grandhotels in der Unterhaltungsindustrie« eine Rolle für Filmgeschichte und -festivals zu: »Um hors saison in Badeorten die Betten zu belegen, entstanden Filmfestivals.« Auch wenn Berlin kein Badeort ist, weiß ich nun, warum ich dort alljährlich im Berlinalemonat Februar im unwirtlichen Nassschnee herumirren muss. Ins Hotel werde ich mit Sicherheit nicht gehen, aber parasitäre, hybride Texte werde ich schreiben. Oder vielleicht doch nicht, wenn ich mit Frieda Grafe gemein werde. Sie ist greifbar nah. Begreife, zu begreifen zu begreifen, Frieda Grafe ist Frieda Grafe ist Frieda Grafe.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 03/2005

Band 5: Film/Geschichte
Brinkmann & Bose, Berlin 2004, 224 Seiten, 25 Euro

Band 6: Zwei Jahre aus meinem Leben mit Gertrude Stein
Brinkmann & Bose, Berlin 2004, 320 Seiten, 30 Euro

Band 7: In Großaufnahme. Autorenpolitik und jenseits. »SZ«-Filmseiten 1973-1984, mit Herbert Achternbusch in Filmen, Büchern und Bildern
Brinkmann & Bose, Berlin 2005, 176 Seiten, 20 Euro

„Ich habe entschieden, das Sprechen nicht zu zeigen“

( , Regie: )


von Wolfgang Nierlin

Sophie Heldman im Gespräch über ihren Film „Satte Farben vor Schwarz“. Wolfgang Nierlin: Warum haben Sie Ihren Film „Satte Farben vor Schwarz“ im Milieu des gehobenen Wohlstandsbürgertums angesiedelt? Sophie Heldman: …

Sophie Heldman im Gespräch über ihren Film „Satte Farben vor Schwarz“.

Wolfgang Nierlin: Warum haben Sie Ihren Film „Satte Farben vor Schwarz“ im Milieu des gehobenen Wohlstandsbürgertums angesiedelt?
Sophie Heldman: Ich habe das Drehbuch geschrieben aufgrund einer wahren Begebenheit. Das Paar, das mich zu dieser Geschichte inspiriert hat und das heute Mitte achtzig wäre, ist zehn Jahre früher aus dem Leben gegangen. Diese beiden Menschen hatten bei null angefangen und sich zu Wohlstand hochgearbeitet. Sie waren keine Künstler oder Außenseiter, sondern kamen aus der Mitte der Gesellschaft meines Schweizer Heimatortes Zug. Das hat mich interessiert. In der weiteren Recherche zum Stoff habe ich dann gemerkt, dass es mir dabei um die Wirtschaftswundergeneration beziehungsweise die Generation der Babyboomer geht, die wieder zu Wohlstand gekommen ist, für den sie aber auch viel gearbeitet hat. Die Repräsentanten dieser Generation haben zugleich das Leben bewusst genossen. Ein solches Paar steht im Mittelpunkt meines Films.

Meine Frage zielte auf den Eindruck, dass die Bilder, die diesen Wohlstand beschreiben, auch eine Form materieller Gefangenschaft oder Einengung vermitteln.
Auf die Frage, was ist bürgerlich und was interessiert mich an den Problemen reicher Menschen, die sich mir in der ersten Phase des Drehbuchschreibens stellte, hatte ich zunächst keine Antwort. Doch dann habe ich entdeckt, dass es darauf ankommt, wie man diesen Stoff erzählen möchte. Ich hatte plötzlich Lust, ganz genau hinzusehen mit einer Art soziologischem Blick, der auch etwas Ambivalentes hat.

Ich möchte noch einen Schritt weiter gehen in der Analyse dieses Milieus, das in der filmischen Beschreibung für mich auch eine Art von Gefangenschaft ausdrückt, die bis zur Sprachlosigkeit geht. So wird beispielsweise die Krankheit des männlichen Protagonisten kaum kommuniziert. Was ist der Grund dafür?
Mir geht es nicht so. Ich habe mich in dem Film für Ellipsen entschieden, weil es um existentielle Fragen geht. Ich wollte keinen bevormundenden Film machen, sondern dem Zuschauer die Möglichkeit geben, seinen eigenen Blick zu entwickeln. Mir gefällt gerade, dass jeder das darin sehen kann, was für ihn stimmt. Für mich ist das kein sprachloses Paar; ich habe lediglich entschieden, dieses Sprechen nicht zu zeigen, weil ich den Zuschauern den Reichtum an eigener Interpretation nicht wegnehmen wollte. Mein Instinkt sagte mir, dass man es schon versteht und dass es vielleicht auch nicht schlecht ist, wenn man es nicht versteht. Denn vielleicht kommt das ja später. Der Eindruck der Sprachlosigkeit hat vielleicht mit der Wahrnehmung zu tun, dass sonst immer alles ausgesprochen wird. Aber bei diesem Thema wollte ich dem Zuschauer nichts wegnehmen.

Spiegelt sich dieses von mir empfundene Kommunikationsdefizit nicht auch im Verhältnis des Protagonisten zu seinen Kindern beziehungsweise zu seiner Enkelin? Ich hatte den Eindruck, dass der von Bruno Ganz dargestellte Fred oft abwesend, fast nicht erreichbar wirkt.
Erwachsene sind nicht immer verfügbar. Niemand hat den Anspruch auf jemand anderen. Manchmal erreicht man sich und manchmal erreicht man sich nicht. Insofern haben meine Figuren auch keine Kommunikationsprobleme. Ich glaube vielmehr, dass unterschiedliche Menschen unterschiedlich miteinander kommunizieren; und es gibt nicht nur eine Form von Wärme oder eine Form von Kälte, genauso wie es auch nicht eine Form von Emotionen gibt. Ich wollte eine Nähe zeigen, die aus der Distanz entspringt. Was der Zuschauer da rein interpretiert, bleibt ihm freigestellt.

Erzählt für Sie der Film auch eine Liebesgeschichte?
Nicht nur, aber es ist sicher eine Geschichte, die von einem Paar erzählt, das ein Leben lang durch ein starkes Band miteinander verbunden ist. Ich stütze mich dabei auf Beobachtungen, die ich an solchen Paaren gemacht habe. Dazu kommt vieles, was die Schauspieler aus ihrer Lebenserfahrung eingebracht haben, wobei ich vor allem deren Ambivalenz spannend finde. Ich wollte insofern eine echte Beziehung zeigen.

Wie war eigentlich die Zusammenarbeit mit Senta Berger und Bruno Ganz und wie kam es dazu?
Ich kann nicht für die beiden sprechen und weiß insofern auch nichts über ihre Motivation, an diesem Film mitzuarbeiten. Was mich betrifft, habe ich fünf Jahre lang intensiv am Drehbuch gearbeitet und dadurch ein intimes Verhältnis zu den Figuren entwickelt. Und aus dieser Intimität heraus habe ich die Schauspieler gefunden, die das Potenzial hatten, zu diesen Figuren zu werden. Das hat also ganz eng mit dem Stoff zu tun. Senta Berger und Bruno Ganz waren meine Wunschbesetzung. Ohne sie hätte ich den Film nicht gemacht. Und ohne sie hätte auch die Sprachlosigkeit der Figuren nicht so funktioniert. Diese ist von mir insofern gewünscht, als man durch sie ein Gefühl für die Sprache innerhalb von Beziehungen bekommt. Das ist so, als würde man mit der Lupe an etwas herangehen, was sich dann vergrößert und das man deshalb auch nicht erklären muss. Dies war nur mit diesen beiden Schauspielern und der Spannung, die sie zueinander entwickeln, möglich. Und ich bin sehr froh, dass das geklappt hat.

Am Schluss des Films bringen sich die Ehepartner um. Warum blenden Sie die Reflexion über diese Entscheidung, die gerade in der Perspektive der Frau andere Voraussetzungen hat, in Ihrem Film aus?
Damit es im Zuschauer reflektiert wird. Ich habe auf Erklärungen verzichtet, damit man selbst eine Haltung dazu entwickeln kann. Meine Absicht war es, die aktuelle gesellschaftliche Debatte darüber, wie man sterben möchte, aufzugreifen. Zum anderen wollte ich aber auch dem Nachdenken und den Vorstellungen über das Älterwerden eine Facette hinzufügen. Wenn der Film diesbezüglich Fragen aufwirft, ist das gut.

Sie haben an der dffb studiert. Fühlen Sie sich der sogenannten Berliner Schule zugehörig? Mir scheint es stilistische Verwandtschaften in Ihrem elliptischen, unkommentierten Erzählen zu geben.
Ich glaube es existieren Verwandtschaften über Filmgenerationen und Länder hinweg. So gibt es beispielsweise eine Nähe zwischen Fassbinder, Ozon und Almodóvar. Ich fühle mich dem taiwanesischen, bereits verstorbenen Regisseur Edward Yang verbunden. Seine zurückhaltende Art, von Gefühlen zu erzählen, liebe ich besonders. Young wiederum war in den siebziger Jahren ein großer Fan des Neuen deutschen Films. Was die Vertreter der Berliner Schule betrifft, die es ja in dieser Form nicht gibt, interessiert mich vor allem der Versuch, Geschichten auf andere, ungewöhnliche Weise zu erzählen und damit auch andere Gedanken und Gefühle auszulösen. In Bezug auf meine Arbeit war die wahre Geschichte emotional und gedanklich so stark und vielschichtig, dass ich dies in einem Film erzählen wollte. Die Perspektive, die ich mit meiner Art des Erzählens schließlich darauf entwickelt habe, ist nur eine mögliche unter anderen. Jeder nimmt von diesem Film, der große existentielle Fragen verhandelt, das für ihn Passende mit. Dabei mache ich mich nicht zum Sprachrohr der beschriebenen Generation. Mein Film ist insofern kein Plädoyer für den Freitod im Alter, auch wenn ich die Entscheidung meiner Protagonisten nachvollziehbar und mutig finde.

Link zur Filmkritik zu „Satte Farben vor Schwarz„.

Simon Spiegel – Die Konstitution des Wunderbaren. Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films

( , Regie: )

Liebe deinen Nächsten
von Sven Jachmann

Mit seiner in der Reihe Zürcher Filmstudien veröffentlichten Dissertation hat der in Zürich lehrende Filmwissenschaftler Simon Spiegel eine kleine Glanzleistung hingelegt: Speist sich die gegenwärtige Literatur zur Science Fiction vornehmlich …

Mit seiner in der Reihe Zürcher Filmstudien veröffentlichten Dissertation hat der in Zürich lehrende Filmwissenschaftler Simon Spiegel eine kleine Glanzleistung hingelegt: Speist sich die gegenwärtige Literatur zur Science Fiction vornehmlich aus filmhistorischen Monographien oder ausgiebigen Analysen einzelner Werke („Matrix“ – Jetzt noch entschlüsselter, „Alien“ – Eine systemtheoretische Aporie?) geht es ihm vornehmlich darum, eine Poetik zu entwerfen, die nicht doktrinär jene Argumente zur Hand reicht, was gute SciFi von schlechter zu scheiden habe, sich also als normative Legitimation begreift und dieser Satzung den Gegenstand unterordnet, sondern danach fragt, wie das, was gut erscheint, überhaupt funktioniert, sprich welche Regeln, Strukturen und Eigenarten der Qualitätsgenese eines Kunstwerks in die Hände spielen.

Zu diesem Zwecke gliedert sich die Arbeit in zwei Blöcke: einem strengen Definitionsversuch, was unter Science Fiction, samt ihres kulturhistorischen Hintergrundes, überhaupt zu verstehen sei (hierfür unterscheidet Spiegel zwischen Modus und Genre, um auch denjenigen Elementen nachspüren zu können, die nicht als genuine SciFi zu erfassen sind oder bereits vor dem Begriff existierten) folgt der eigentliche, sympathisches Understatement nebenbei, „Versuch“, ein eigenes Poetik-Konzept zu skizzieren, den „Search of Wonder“ anzutreten.

Dass dieses nicht der Weisheit letzter Schluss sein muss, merkt Spiegel mit Verweis auf die bloß literaturtheoretischen Instrumentarien selbst an, leistet aber bereits angesichts der mannigfaltigen Filmbeispiele eine beeindruckende Vorarbeit (von denen einige übrigens ausschnittweise auf der beigefügten DVD einen plastischeren Ausdruck der Szenenanalyse vermitteln dürfen).

An dieser Stelle sei noch mal nachdrücklich die Offenheit seines Zugriffs gegenüber den vermeintlich trivialen Vertretern des Genres betont: so lasse sich die Güte eines Klassikers u.U. erst durch einen Vergleich zu den weniger gelungenen Werken seiner Zunft wirklich eruieren. Folglich sollten sie auch einer ernsthaften Beschäftigung unterzogen werden, und eine solche Abkehr vom snobistischen Dünkel manch arrivierter Kollegen soll gefälligst Schule machen.

Welche Erkenntnisse gibt uns die Studie nun mit auf den Weg? Wie der Baukasten SciFi zusammen gesetzt ist. Wie die Differenzen der möglichen und der unmöglichen Welten gegenüber anderen phantastischen Erzählformen beschaffen sind; wie SciFi als „naturalisiertes oder technizistisches Wunderbares“ in Abhängigkeit zur realistischen Darstellungsweise steht; wie sich die Effekte des Fremden im Zusammenspiel mit der technologischen Entwicklung insbesonders im SciFi-Film in einer zukünftigen Perspektivierung niederschlägt, um nicht bereits beim Erscheinen einen Retrocharme zu besitzen, der der Naturalisierung entgegenläuft und so, und an ihm kommt auch Spiegel nicht vorbei, den Sense of Wonder unterläuft, jenen Begriff, in dem sich all diese Elemente zum ästhetischen Genuss, zur im Laufe der Zeit abnehmenden Erfahrung des Erhabenen, zur eigentlich zukunftsgerichteten Suche, im Kern aber sehnsüchtig erinnerten Vergangenheit verdichten.

Im Schlusswort schreibt Spiegel: „(…) Wahrscheinlich steht er (der SoW, Anm.d.Verf.) als Grunderfahrung am Beginn jeglicher Liebe zur Kunst – vielleicht sogar der Liebe überhaupt.“

Deswegen sei das Buch auch jedem Sci-Fi-Desinteressierten wärmstens empfohlen. Einen besseren Beziehungsratgeber hat es seit Jahren nicht mehr gegeben.

Simon Spiegel: „Die Konstitution des Wunderbaren. Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films“
Schüren Verlag, Marburg 2007, 386 Seiten, 24,90 Euro

Detlef Kannapin – Dialektik der Bilder. Der Nationalsozialismus im deutschen Film

( , Regie: )

Der Rezipient, das unbekannte Wesen
von Dietrich Kuhlbrodt

„Das Buch ist all jenen gewidmet, die die Zeit des deutschen Faschismus als das Grundübel der Geschichte des 20. Jahrhunderts betrachten und die jeden Beitrag zur historischen Aufklärung über diese …

„Das Buch ist all jenen gewidmet, die die Zeit des deutschen Faschismus als das Grundübel der Geschichte des 20. Jahrhunderts betrachten und die jeden Beitrag zur historischen Aufklärung über diese Zeit begrüßen.“ Wer dazu gehört, wird auch die sorgfältige Arbeit begrüßen, mit der Filme, die die Nazizeit behandeln, „in den historischen und gesellschaftlichen Kontext einzuordnen“ unternommen wird. 542 Fußnoten! Akademisches Niveau ist gesichert. Dem Buch liegt eine Dissertation zugrunde.

Endlich macht jemand Ernst damit, freies Spiel in die Blickrichtung zu bringen: von der Filmanalyse (was will der Autor damit sagen?) zu dem, der im Kino oder vor dem Fernseher sitzt (was sagt mir das?), und wieder zurück. Das Ergebnis ist selbstredend „widersprüchlich“. Die Dialektik der Bilder ist von „potentieller Unabgeschlossenheit in den Erkenntniswerten“.

Sehr wahr. An Beispielen fehlt es nicht. Muster für außerfilmische Rezeptionssteuerung ist im Fall „Der Untergang“ eine „unheilvolle Allianz von ökonomischer Spekulation, publizistischer Macht und personalisierter Geschichtsschreibung“. Nun ja, der „Spiegel“ gehört nicht zu denen, denen das Buch gewidmet ist. Ich hätte mir gewünscht, mehr über „den“ Rezipienten, das unbekannte Wesen, zu lesen. Unser Autor avisiert zum Schluss den „Kampf der Rezipienten um die richtige Interpretation“. Doch werden die von Fest und Eichinger konditionierten Hitler-Gucker eher Hitler-Konsumenten sein und keine aufgeklärten Kämpfer für die gute Sache.

Wir werden da, wo Kannapin aufhört, weitermachen müssen. Hitler-Konsumenten sind das Produkt einer erfolgreichen Großkampagne. Wie auch in der populären Kultur sind Kaufentschließung und Senderwahl wenig rational begründet. Aber um diese Rezipienten wird es doch gehen müssen. Im Blick von Kannapin sind sie jedoch nicht, statt dessen wirft er Georg Seeßlen „unzureichende Wahrnehmung der Filme über die NS-Zeit“ vor.

Ja, mein Gott, es geht doch nicht darum, ob die Rezeption richtig oder falsch ist, sonst können wir den Blick auf den Konsumenten gleich ganz lassen. Wer recht hat, das bin ich, und alles andere werde „durch die hier vorgestellten historisch-politischen Einzelanalysen hinfällig“ (drittletzter Satz im Buch). Detlef Kannapin, das kann doch nicht wahr sein! Die traditionelle, aber unzureichende Filmanalyse soll das letzte Wort haben? Alles zurück auf Anfang? Ich bin entrüstet – entrüstet wie Seeßlen über die Behandlung der Nazizeit im deutschen Film, der „so kläglich, so verräterisch versagt, daß es schon deswegen schwerfällt, ihn zu verteidigen“. Das Zitat steht auf der letzten Seite im Kannapin-Buch, und wenn es Polemik ist, bitte, so ist es auch meine, als Rezipient.

Wie man sieht, ist das Buch an- und aufregend. Wenn es zum Widerspruch reizt, hat es seine Wirkung erreicht, und es ist beim Thema geblieben, der Widersprüchlichkeit des Bildes im Film. Es lässt sich einfach nicht erledigen.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 06/2006

Detlef Kannapin: „Dialektik der Bilder. Der Nationalsozialismus im deutschen Film“

Karl Dietz Verlag, Berlin 2005. 289 Seiten. 9,90 Euro

„Was muss passieren, damit etwas passiert?“

( , Regie: )


von Ulrich Kriest

Ein Gespräch mit Andres Veiel, nicht nur über „Wer wenn nicht wir“. Ulrich Kriest: Was hat Dich inspiriert, Dich doch noch ein weiteres Mal mit dieser Materie zu beschäftigen? Andres …

Ein Gespräch mit Andres Veiel, nicht nur über „Wer wenn nicht wir“.

Ulrich Kriest: Was hat Dich inspiriert, Dich doch noch ein weiteres Mal mit dieser Materie zu beschäftigen?
Andres Veiel: Durchweg alle Filme, die bislang über die RAF gemacht wurde, haben in sich selbst eine Begründung gesucht und auf Bilderschleifen vertraut, die für mich nichts erklären: Bilder vom 2. Juni 1967, die Schüsse auf Rudi Dutschke, Osterunruhen. Mich interessierte, warum von all den vielen tausend Menschen, die damals auf den Straßen waren, gerade Gudrun Ensslin und Andreas Baader diesen Weg gewählt haben. Warum sind nicht mehrere hundert oder wie in anderen Ländern mehrere tausend Leute abgetaucht? Das erklärt sich aus den bekannten Bilderschleifen eben nicht. Deshalb muss man sich andere Treibsätze, andere Aufladungen angucken. Und die sind dann sehr spezifisch und individuell. Man muss ins Ursachendickicht reingehen!

Was heißt das konkret?
Nehmen wir die frühen sechziger Jahre, den Algerienkrieg. Das war der erste Kolonialkrieg, der ein bisschen näher rückte. Frantz Fanon. Pontecorvos „The Battle of Algiers“, der ja für Baader sehr wichtig war. Oder Gudrun Ensslin, die in den USA war, erfüllt von einer großen Liebe zu diesem Land, die dann in tiefe Enttäuschung umschlug, als Kennedy ermordet wurde. Wo dann die frühen Bilder aus Vietnam für eine ganz starke Aufladung sorgen. Die dann wiederum gleichgesetzt werden mit Bildern vom Holocaust. Es gilt folglich einen neuen Genozid zu verhindern. Diese junge Frau mit ihrem ausgeprägten Sensorium für Ungerechtigkeit trifft jetzt auf einen Vater, der einen Weg nicht konsequent gegangen ist, der auf halbem Weg zum Widerstand stehen geblieben ist. „Du kannst es ja besser machen als ich!“ Das gängige Klischee vom Aufstand gegen faschistoide Eltern muss man in Frage stellen. Das wurde auch etwas delegiert. Da steht vieles unvermittelt nebeneinander. Bernward Vesper protestiert einerseits in der „Spiegel“-Affäre und versucht andererseits die Werke seines Vaters zu verlegen.

Warum ist das wichtig, das zu erzählen?
In allen RAF-Filmen wird bislang final argumentiert. Man geht davon aus, was nachher passiert ist, bricht es auf das Faktische, die Einschusslöcher, herunter und kommt in Kausalitätsschleifen hinein. Ich wollte da raus, dem Zufall einen Raum geben. Angebote machen, die in dieser Form noch nicht gemacht wurden.

Ich musste bei dieser Gemengelage, bei Vespers Ungleichzeitigkeit an einen anderen Täter-Sohn denken: an Thomas Harlan. Bist Du bei deiner Recherche auf weitere Parallelbiografien gestoßen? Sind die repräsentativ?
Ja, zum Beispiel Niklas Frank, der vor vielen Jahren mit seiner Abrechnung „Der Vater“ für einiges Aufsehen sorgte. Man kann auch „Die Reise“ als Abrechnung mit dem Vater lesen. Liest man aber die Briefe Vespers an seinen Vater von 1961/62, dann sieht die Sache etwas anders aus. Es geht um eine Bindung zum Vater, um den Versuch, diese Bindung zu kappen, um sich neu zu definieren. Die Briefe an den kranken Vater zeugen aber auch von einer ungewöhnlichen Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit, die Bernward ihm entgegenbringt. In der „Reise“ steht dann ein Satz im Konjunktiv: »Könnte es sein, dass mein Vater mich geliebt hat?« Liest man die Briefe, wird aus dem Konjunktiv ein Indikativ. Sieht man dann die Verfilmung der „Reise“ von Markus Imhoof, dann wird sie dem Verhältnis von Vater und Sohn in keiner Weise gerecht, weil diese Ambivalenz fehlt. Diese Ambivalenz ist aber ein Grund dafür, dass er den Vater nie losgeworden ist. Es bestand also ein Nachbesserungsbedarf.

Hast Du den Eindruck, der recherchierten Komplexität der Beziehungen auch filmisch gerecht geworden zu sein?
Das müssen andere entscheiden. Ich kann nur so viel sagen, dass jeder Moment, jede Entscheidung, jeder Schnitt von mir alleine verantwortet wird. Mir hat niemand reingeredet.

Aber zum Beispiel die besondere Qualität der Vater-Sohn-Beziehung hat sich mir in Deinem Film nicht erschlossen. Ich fand das nicht sehr weit von Imhoofs „Die Reise“ entfernt.
Das finde ich nicht. Bei Imhoof ist der Vater ein aggressives Monstrum. Bei mir ist es eher ein zärtliches Verhältnis der Nähe. Deshalb ist ja auch der Satz: „Die Katzen sind die Juden unter den Tieren.“ so wichtig, weil hier ein Bruch ist. Lässt man den Satz weg – und ich habe damit experimentiert -, dann wird jeder Zuschauer das Vater-Sohn-Verhältnis als positiv empfinden. Genau diese Bindung ist aber entscheidend, weil hierin der Grund liegt, dass Bernward nicht von seinem Vater weggekommen ist.

Ich hatte gedacht, dass Du das dramaturgisch aufgeteilt hast. Weil es ja auch noch die Szene gibt, in der Walter Jens Bernward rät, den Dichter Will Vesper fallen zu lassen, um den Vater Will Vesper zu retten. Wenn man Koenen liest, dann sind Vespers Aktivitäten zwischen links und rechts ja noch um ein Vielfältiges komplizierter. Mit diversen Alter Egos für diverse Zielgruppen.
Das gilt aber nur bis 1961/62. Dann zieht er sich da allmählich heraus. Es gab ja auch mal den Plan, das Feuilleton der Nationalzeitung zu übernehmen. Ab 1963/64, nach der Begegnung mit den Kreisen um Roehler in Berlin, hat er begriffen, dass er sich als Opfer des Vaters einrichten muss. Als Opfer eines monströsen und repressiven Vaters. „Die Reise“ ist ja ein Versuch, diesen Vater zu bannen.

Die Filme, die sich in irgendeiner Weise mit der RAF beschäftigen, sind ja mittlerweile fast ein eigenes Genre. Zieht man die dazu erschiene Literatur hinzu, dann entsteht ein ungeheurer Echo-Raum. Liest man heute mal wieder Austs „Baader Meinhof Komplex“, dann begegnen einem immer wieder Stellen, die zu einer Art Drehbuch geworden sind. Zugleich scheint die RAF sehr weit weg und Jüngeren zumal kaum mehr vermittelbar. Andererseits greift auch Dein Film auf bekannte Fotografien von etwa Michael Ruetz zurück. Dein Film trifft also im Kino und auch in der Medienöffentlichkeit auf ganz unterschiedliche Publika. Wie bist Du damit umgegangen?
Natürlich sind wir in Deutschland mit diesen Bilderschleifen belastet, je nachdem, wie stark sich jemand damit beschäftigt hat. Das Interessante für mich war die Reaktion aus dem Ausland. Wo der Film als Film wahrgenommen wird. Hier wird auch die Thematik des Films anders wahrgenommen. In Spanien, wo es bis 1975 eine Militärdiktatur gab, interessierte man sich sehr für die Vater-Sohn-Beziehung. Was wird weitergegeben zwischen den Generationen? Wie verhält man sich zu Täter-Vätern? In Italien, in Russland, in Indien – überall wird das diskutiert, mit je spezifischen Unterschieden und Gewichtungen. Viele Kritiker aus dem Ausland waren überrascht, als sie erfuhren, dass die Protagonisten in „Wer wenn nicht wir“ einen realen Bezugspunkt hatten. Denen ging es eher abstrakt um den Umgang mit historischer Schuld. Denen ging es nicht darum, wer Walter Jens jetzt genau ist. Bei der deutschsprachigen Kritik ist dann eher wieder dieser Gestus des Landvermessertums vorherrschend: »Mein Baader-Bild ist aber anders!« Wobei natürlich mittlerweile auch Baader-Bilder zirkulieren, die aus den diversen Filmen stammen.

Was ja eine durchaus interessante Entwicklung ist. Wenn man mal die Abfolge der Baader-Darsteller im Laufe der Jahre Revue passieren ließe – Heinz Hönig, Claude-Oliver Rudolph, Ulrich Tukur, Sebastian Koch, Moritz Bleibtreu -, könnte man daraus durchaus eine Studie über Männlichkeitsvorstellungen fertigen.
Wobei man dann wieder bei der Frage ist: Was macht das Faszinosum dieser Figur aus? Ich habe versucht, die Figur von ihrer Beschädigung her in den Blick zu nehmen. Andreas Baader wird ja früh von seiner Mutter zur Pflege zur Großmutter weggegeben. Nur ab und zu kommt die Mutter zu Besuch und überschüttet das Kind dann mit Liebe. Um dann wieder zu verschwinden. Für ein kleines Kind ist das nicht zu rationalisieren, sondern es erlebt die Trennung von der Mutter als existentielle Krise. Ich will jetzt nicht psychologisieren, aber vielleicht rührt Baaders Unberechenbarkeit instinktiv aus dieser Erfahrung. Baader ist bislang, so scheint mir jedenfalls, aus der Verletzbarkeit nicht interpretiert worden. Baader erfindet sich ständig neu, weil er seine Rolle im Leben erst noch finden muss. Schließlich findet er eine neue Rolle als Guerillero.

Wie sind derlei marginale Neubewertungen einzuschätzen?
Ich würde das nicht als marginal bezeichnen. Jenseits aller Kausalitäten zeichne ich das Bild eines Menschen, dessen Treibsätze sehr greifbar sind. Damit verletze ich allerdings bestimmte Bilder, die bislang gesetzt wurden. Ich habe hier in Stuttgart im Staatstheater vor einiger Zeit Auszüge aus dem Drehbuch vorgetragen. Ein konkret physisches Resultat dieser Veranstaltung war, dass ich mir die Brille putzen musste, weil die Menschen derart nah an mich herangetreten sind, weil sie ihre Gudrun nicht mehr wiedergefunden haben. Ihre Gudrun war nicht diejenige, die sich selbst verletzt hat. Das passte nicht ins Bild, ihr vordergründig Masochismus unterzuschieben. Aber man muss das ertragen lernen; ich musste mir das schließlich auch in der Recherche zumuten. Ich habe diese Briefe gefunden, wo sie an Andreas Baader schreibt, dass sie Vergewaltigungsphantasien habe. Man kann das natürlich ausblenden. Muss man das wirklich so genau wissen? Mir war klar: dafür muss ich Übersetzungen finden. Es ist wirklich eine Reise ins Offene, die nicht länger darauf beharrt, dass Gudrun Ensslin nur eine Frau war, die politisch auf bestimmte Bilder reagiert hat. Es geht darum, Eindeutigkeiten zu vermeiden und eine Schwebe herzustellen. Das hat ganz konkret auch die Arbeit mit den Darstellern am Set bestimmt. Ich habe mich von den Schauspielern überraschen lassen. Am Ende stellt das Material die Fragen, die ich an das Material selbst habe – und die werden an den Zuschauer weitergereicht.

Nun stellst Du diese Fragen an das Material schon länger sehr intensiv. Im Zusammenhang mit Deinem Film „Die Überlebenden“ hast Du erzählt, dass Du in den siebziger Jahre nach Stammheim gefahren bist, um den Prozess zu verfolgen. Das heißt, dass Du Baader und Ensslin noch live erlebt hast. War der Eindruck so massiv, dass Du seit mehr als 30 Jahren Familienaufstellung betreibst?
Stammheim war für mich nicht wichtig in dem Sinne: ich habe Gudrun Ensslin live gesehen. Ich habe sie genau fünf Minuten erlebt, dann wurde sie aus dem Saal geschleppt, weil sie den Richter beleidigt hatte. Was für mich wichtig war, war die Aufladung dieser Zeit. Ich hatte längere Haare, war aber noch in der Jungen Union. Die Haare haben ausgereicht, um mich einem Lager zuzuordnen, auf das ich mich erst hinbewegte. Irgendwann hat mich dann ein Funktionär der CDU beiseite genommen und mir erzählt, dass ein Dossier über mich existiere und dass ich, wolle ich in diesem Staat noch etwas werden, meine Aktivitäten etwas zurückschrauben müsse. Da war mir klar: in diesem Staat will ich nichts mehr werden. Es waren die Umstände jener Zeit, die Erschießung des Schotten MacLeod in Stuttgart-Asemwald, die Umstände des gesteigerten Fahndungsdrucks, die mich radikalisierten. Was man heute kaum noch vermitteln kann: wenn man damals auf der Autobahn von der Polizei herausgewunken wurde, musste man sehr vorsichtig sein, wenn man nach dem Ausweis nestelte.

Du hast in „Black Box BRD“ noch eine andere Biografie aufgearbeitet, diejenige von Wolfgang Grams. Bist Du bei deiner Arbeit auf vergleichbare Konstellationen und Dynamiken zwischen den Generationen gestoßen?
Der Vater von Wolfgang Grams war Mitglied der Waffen-SS. Ich habe damals ziemlich lange gebraucht, bis der Vater darüber vor der Kamera sprechen wollte. Interessanterweise gab es zwischen Wolfgang und seinem Vater kaum wirkliche Auseinandersetzungen darüber. An einem bestimmten Punkt wurde der Frieden gewahrt. Andererseits hat die Tatsache, dass es personelle Kontinuitäten von der NS-Zeit bis weit in die 70er und auch 80er Jahre hinein gegeben hat, bei Wolfgang Grams zu einer erheblichen Sensibilisierung geführt, was die Auseinandersetzung mit Repräsentanten des Staates anging. Man würde sich auf die Ebene von Kurzschlüssen psychologischer Modelle begeben, wollte man behaupten, er hat die anstehende Auseinandersetzung nicht innerhalb der eigenen Familie geführt, sondern stellvertretend mit Funktionsträgern mit NS-Vergangenheit. Solchen Schlussfolgerungen begegne ich mit großer Reserve. Um es etwas grundsätzlicher in den Blick zu nehmen: vergleicht man die Erzählweise von „Black Box BRD“ mit derjenigen von „Wer wenn nicht wir“, dann muss man feststellen, dass „Black Box BRD“ ungleich überwältigender und in der Erzählung der Politisierung von Wolfgang Grams fast ein Feel Good-Movie ist.

Warum ein Feel Good-Movie?
Weil ich hier eine glatte Erzählung montiert habe: die gegenkulturelle Clique geht quasi bruchlos in die Erfahrung, den Eros des Straßenkampfs über. Das ist eine schöne Behauptung! „Wer wenn nicht wir“ blickt viel genauer auf das Beziehungsgefüge. Bernward Vesper hat bei Straßenschlachten nicht mitgemacht; er hat das Schreiben vorgezogen. Auch Gudrun Ensslin war jemand, der über Bücher, über das Durchdringen von Texten versucht hat, politisch zu argumentieren. Auch sie hat keinen erotischen Genuss aus dem Straßenkampf gezogen. Da muss man historisch genau arbeiten! Gudrun und Bernward haben vielleicht ein kontrollierteres Verhältnis zu sich selbst; sie lassen sich nicht so rauschhaft gehen wie Wolfgang Grams und einige seiner Freunde. Welcher Film ist also genauer? Ich denke, dass „Wer wenn nicht wir“ in seiner Genauigkeit gnadenloser ist. Das Material, das ich gefunden habe, hat mir selbst wehgetan! Ich möchte das so gar nicht wissen. Das war schon einmal so, als ich die Arbeit an „Die Überlebenden“ eineinhalb Jahre ad acta gelegt habe und stattdessen „Balagan“ gedreht habe. Anschließend habe ich mich wieder den „Überlebenden“ zugewandt und einen Weg gesucht, dass für mich Schmerzhafte als Teil eines Beziehungsgefüges umzusetzen – ohne Thilo zu verlieren. So ähnlich ging es mir jetzt wieder, aber man muss diese Spannungen und Widersprüche aushalten. Dass Bernward und Gudrun auch Nazi-Literatur verlegen, stört den Wunsch nach Identifikation. Dass die so starke Gudrun sich zwei Männern unterwirft, stört auch. Man mag die Figuren in solchen Momente nicht. Man kann sich jetzt fragen: ist das ein Ausdruck des damals herrschenden Frauenbildes? Oder ist das Teil eines verstörten Menschen, der im entscheidenden Augenblick doch nicht an sein Potenzial glaubt? Das sind Fragen, die mein Film zu stellen versucht. Man kann das verweigern. Was hat die Sprache dieser Körper mit der Politik zu tun? Man erhält durch solche Fragen die Möglichkeit, in gewisser Weise »neu« auf diese Menschen zu gucken. Angesichts der Komplexität der Verhältnisse verbieten sich Eindeutigkeiten.

Handelt sich Dein Film hier nicht ein kaum lösbares Problem ein? Einerseits willst Du Widersprüche so komplex wie möglich zeigen, andererseits musst Du immer auch an das aktualisierbare Wissen des Zuschauers denken. Liest man beispielsweise Henner Voss‘ Erinnerungen an Bernward Vesper („Vor der Reise“), dann ist die Figur dort unendlich komplexer und widersprüchlicher als in Deinem Film. Andererseits sind die Szenen im Zusammenhang mit dem Wahlkontor selbst für jemanden, der sich mit der Materie auseinander gesetzt hat, kaum verständlich. Braucht es das Buch zum Film?
Na ja, man kann natürlich mit so einer Perspektive in die Textur des Films eindringen. Aber wenn man aus Indien kommt und all diese Zusammenhänge nicht kennt, funktioniert der Film trotzdem. Wenn man das Material von „Wer wenn nicht wir“ abklopft, die Chancen und auch das Scheitern analysiert, kann man – und zwar durchaus auch auf das Heute bezogen – fragen: Was muss passieren, damit etwas passiert?

Das wäre jetzt sozusagen der Link zu aktuellen Bürgerbewegungen. Aber ich muss trotzdem noch mal zurück nach 1966. Versteht man im Ausland auch so etwas Subtiles wie jenes durchaus ernsthafte Engagement für die SPD, was ja nur ungefähr drei Monate legitim war, bevor die Große Koalition zustande kam?
Ja. Man versteht ja auch: Ex-Nazi wird Kanzler. Jeder, der in einer Diktatur aufgewachsen ist, wird diese elementare Empörung begreifen. Diese Erfahrung habe ich während der „Berlinale“ gemacht. Vielleicht hat es der Film ja im Ausland sogar einfacher, weil hierzulande ja die Projektionscontainer zum Bersten gefüllt sind. Dass ich mich mit meinem Film auf besetztes und explosives Terrain begebe, wusste ich nicht erst seit der Veranstaltung im Staatstheater Stuttgart.

Es gibt im Film diese Fahrt, diesen Aufbruch nach Berlin. Im VW Käfer, Bernward Vesper mit cooler Sonnenbrille, Gudrun steht auf dem Beifahrersitz und guckt aus dem Schiebedach. Ist das nicht ein Film-Klischee? Wie passt das in Deinen Film?
Zunächst einmal basiert diese Szene auf einer Beschreibung von Walter Jens. Tatsächlich war es noch viel filmischer, denn Bernward hatte ein Cabrio. Und dann hat Gudrun rauchend hinten auf dem Verdeck gesessen. So à la Staatsbesuch. Die haben sich ja auch in der Öffentlichkeit inszeniert, haben sich durch Literatur und Filme inspirieren lassen.

Gerade Kino findet in „Wer wenn nicht wir“ kaum statt. Einmal ist man in Tübingen im Kino, aber da scheint es fast wichtiger, dass man im Kinosaal rauchen darf. Welcher Film gezeigt wird, bleibt völlig unklar.
Das wäre doch auch blöd, oder? Wenn ich hier „Jules und Jim“ genommen hätte, hätte das sofort Belegcharakter gehabt. Die Triangelisierung der Beziehungen ist doch eh virulent.

Gilt das auch für den Einsatz von Popmusik? Du unterlegst die Bilder von Straßenschlachten nicht mit „Revolution“ oder „Street Fighting Men“, sondern mit „Summer in the City“.
Das ist schon ein ironischer Kommentar.

Interessant war ein anderer Song, den ich bei „Breaking the Waves“ von Lars von Trier entdeckt habe und den Du jetzt auch verwendest: „In a broken dream“ von Python Lee Jackson. Es singt Rod Stewart. Wie bist Du darauf gekommen?
Es gibt eine sehr schöne Version dieses Songs von Joseph Dean-Osgood, nur mit Gitarre. Die hat allerdings nicht die Kraft des Originals. Der Song ist ja von 1972, fällt also aus der Zeit heraus. Es geht im Film ja wiederholt um die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Also: Kuppelei-Paragraph, „Spiegel“-Affäre, „Gegen den Tod“ – und dazu dann „In a broken dream“ – das scheint mir ein idealer Soundtrack zum Aufbruch. Es ist ja ein sehr lyrischer Text, der gar nicht zum Geschehen passt, nichts illustriert, aber auch nichts vorwegnimmt. Da steckt eine große, aber unbestimmte Sehnsucht drin. Ich entscheide da zunächst aus dem Bauch heraus. Wir haben für jedes Archiv-Material ungefähr 50 Titel ausprobiert. „Summer in the City“ war zum Beispiel die erste Wahl, aber ich war lange unsicher, ob das funktioniert. Aber es passt sehr schön und nimmt den Bildern etwas Respekt.

Ich hatte das eher auf Uwe Timms Roman „Heißer Sommer“ bezogen.
Den kenne ich nicht.

Ein Roman über die Studentenbewegung, teilweise ein Schlüsselroman, erschienen 1974. In dem Buch geht es auch um das enorme Tempo jener Zeit und die Radikalisierung aus der Erschöpfung der Akteure, die Dissoziation der Bewegung nach der Schlacht am Tegeler Weg im November 1968.
Da muss man als Filmemacher aber genau sein. Ensslin und Baader waren im November 1968 nicht erschöpft, sondern im Gefängnis.

Aber Bernwards Erschöpfung ist doch mit Händen zu greifen.
Das hat aber eher mit dem Versuch zu tun, seine Rolle als alleinerziehender Vater und seinen Beruf unter einen Hut zu bekommen. Das ist eine existentielle Überforderung, hat aber nichts mit dem Tegeler Weg zu tun. Hätte ich einen Film über die Haschrebellen gedreht, wäre das wohl anders.

Im Presseheft zum Film ist davon die Rede, dass Ensslin und Vesper gemeinsam nach Berlin aufbrechen, um die Welt zu erobern. Aber beim Sehen des Films hatte ich nie den Eindruck von etwas Glamourösem, sondern fand das Paar eher verzagt und erfolglos.
Das stimmt aber nicht! Bernward Vesper war längere Zeit ein höchst erfolgreicher Verleger, dessen Bücher teilweise ganz erstaunliche Auflagen hatten. Der ist bestimmt kein Loser! Natürlich ist Verlagsarbeit Knochenarbeit, die erledigt man nicht mit dem Habitus eines Popstars. Das zu zeigen, war mir schon sehr wichtig.

Das Gespräch fand am 1. März 2011 in Stuttgart statt.

Link zur Filmkritik zu „Wer wenn nicht wir„.

Marcus Stiglegger – Terrorkino. Angst/Lust und Körperhorror

( , Regie: )

Die unerträgliche Leichtigkeit des Leids
von Sven Jachmann

Es ist schon eine Crux mit dem Horrorfilm: Als somatisches Kino der Extreme stimuliert er seit jeher konservative Stimmen, die in seiner dunklen Ästhetik den Verfall aller Sittlichkeit und jedweden …

Es ist schon eine Crux mit dem Horrorfilm: Als somatisches Kino der Extreme stimuliert er seit jeher konservative Stimmen, die in seiner dunklen Ästhetik den Verfall aller Sittlichkeit und jedweden Anstands vorangekündigt sehen. Entsprechend laut ist bei ihnen das Gebrülle nach rigiden Maßnahmen der Zensur. Ebenso stimuliert der Horrorfilm Dekade für Dekade Heerscharen von Kinogängern, denen er dank seines sehr genrespezifischen Hangs zur Revitalisierung und Transformation offensichtlich immer noch Schock und Schauder abzuringen weiß. Woraus sich dieses anhaltende Faszinosum speist, ist jenen kulturpessimistischen Stimmen egal. Ihnen genügt die Serialität der graphischen Gewalt, um sie als pornografischen Rhythmus und somit als primitives Delektieren der Körperdestruktion zu identifizieren. Die in diesem Sinne befürchtete, aber von der Medienwirkungsforschung nur schwer zu verifizierende Folge: emotionale Verrohung. So erhält sich bereits seit der Frühzeit des Kinos ein Diskurs, der unter dem Deckmantel des Jugendschutzes zum Sturm gegen die schmutzige Ästhetik aufruft und letztlich unverhohlen um die Deutungshoheit dessen kämpft, was die bewegten Bilder zeigen und leisten dürfen und was nicht.

Auch die internationalen Diskussionen um die so genannten torture porns, denen sich der Siegener Filmwissenschafter und durch zahlreiche Bücher und Aufsätze ausgewiesene Genrekenner Marcus Stiglegger in seiner leider äußerst knapp geratenen Exkursion widmet (und die zugleich den Auftakt der neuen Kultur & Kritik-Reihe des Bertz + Fischer-Verlags im Pocketformat bildet), folgen dieser Dramaturgie. Deswegen beschreibt der Begriff auch weniger ein Subgenre des Horrorfilms, sondern fungiert viel mehr als ideologischer Kampfbegriff, dessen Semantik die vermeintliche Verrohung bereits ausbuchstabiert, so dass sich suggestiv die Frage, ob es sich bei den inkriminierten Filmen überhaupt um Kunstwerke handelt, von selbst erledigt. Im Fahrwasser der Erfolge von Filmreihen wie „Hostel“ oder „Saw“ hat sich insbesondere im europäischen Raum ein gewalttätiges Kino etabliert, das auf den ersten Blick streng vereinnahmt ist von sich stark ähnelnden erzählerischen Mustern. In einem Satz zusammengefasst: In den backwoods und suburbs lauert der mal mehr mal weniger bürgerliche Mensch und setzt mit rabiater Aggression dem Körper seiner Opfer zu. Streng genommen, ließe sich bereits fragen, ob es sich bei diesen Werken überhaupt um Horrorfilme handelt, denn in ihnen ist jede Ahnung einer metaphysischen Existenz getilgt (einer der Gründe, weswegen Stiglegger auf den Terrorfilmbegriff ausweicht). Die augenscheinlichste Verbindung besteht darin, dass sich beide reichlich beim Splatter als Methode bedienen, und dies ist weit mehr als eine kleinkrämerische Frage nach der korrekten Zuordnung im filmwissenschaftlichen Jargon. Denn die Konzentration auf die Destruktion des menschlichen Körpers ist für Stiglegger das Fundament für seine genrehistorischen und kulturanalytischen Überlegungen.

Um den Ritt durch die Filmgeschichte nicht völlig ausufern zu lassen und die Spezifika des oftmals auf Drastik und dem Arrangement von set pieces setzenden gegenwärtigen Körperhorros zu akzentuieren, greift Stiglegger auf Batailles ästhetisch-philosophisches Konzept der Souveränität zurück. Dadurch erhebt er den Zuschauer in die Rolle eines ethisch in eine Schieflage geratenden Subjekts, und diese Schieflage ist nur mit den Modi der Inszenierung zu denken: Die Erhabenheit des sich real gerierenden Grauens ist entweder gekoppelt an eine Distanzeinbuße oder an eine Distanzzunahme, beides drängt den Zuschauer zu einer Positionierung gegenüber den präsentierten Gewaltakten. Die können exploitativ (wie etwa im Großteil der italienischen Kannibalenfilme der 70er Jahre) und ebenso auf sadomasochistische Weise empathisch daherkommen. Für Letzteres würde die (stets pornographisch konnotierte, also mechanisierten Lustgewinn unterstellende) Kritik des Selbstzweckhaften gegenstandslos, weil sie eine Komplizenschaft des Zuschauers mit dem dargebotenen Grauen attestiert, die allenfalls ambivalent, jedenfalls ganz und gar nicht eindeutig ist: Das Switchen zwischen Täter- und Opferperspektive ist dann ebenfalls lesbar als psychologisches Rollenspiel des Souveräns, der seiner tyrannischen Impulse überführt wird, beispielsweise wenn in „Hostel 2“ der Körper zur letztgültigen Ressource degradiert ist, seine Warenhaftigkeit sich buchstäblich in der Verfügungsgewalt über seine Folter und Zerstörung verdichtet und aus der Schlachtplatte eine radikalisierte Kapitalismusparabel wird.

Gerne hätte man noch mehr von diesen politischen Implikationen gelesen. Stiglegger belässt es bei einigen Andeutungen, etwa wenn er die Gewalttätigkeiten als Reaktion auf eine viel gewalttätigere Realität versteht, deren offiziösen Bildproduktionen nicht zuletzt anhand der Folgen des 11.9. einem Paradigma der gleichzeitigen Teilnahme und Distanz gehorchen. Dies wäre auch der einzige Kritikpunkt: An Material erreicht das Büchlein den Umfang einer länger geratenen Hausarbeit. Eine solche Kritik kollidiert jedoch mit dem (von mir mal unterstelltem) Selbstverständnis der Kultur & Kritik-Reihe, nämlich schnell und pointiert auf zeitgenössische Diskurse zu reagieren. Und in diesem Sinne präsentiert Stiglegger nicht nur einen lückenlosen Überblick, sondern auch den ersten Baustein für eine Theorie des zeitgenössischen Terrorkinos.

Marcus Stiglegger: „Terrorkino. Angst/Lust und Körperhorror“
Bertz+Fischer Verlag, Berlin 2010, 108 Seiten, 45 Fotos, 9,90 Euro

„Jede Figur ist bei mir mit dem Raum verbunden“

( , Regie: )


von Wolfgang Nierlin

Ein Gespräh mit Thomas Arslan über seinen neuen Film „Im Schatten“ und das Verbrechen als Existenzform. Wolfgang Nierlin: Warum haben Sie nach einer Reihe persönlicher Filme mit Ihrer neuen Arbeit …

Ein Gespräh mit Thomas Arslan über seinen neuen Film „Im Schatten“ und das Verbrechen als Existenzform.

Wolfgang Nierlin: Warum haben Sie nach einer Reihe persönlicher Filme mit Ihrer neuen Arbeit „Im Schatten“ einen Genrefilm gedreht? Was reizt Sie am Kriminalfilm? Und gibt es entgegen dem ersten Anschein auch Verbindungen zu Ihrem früheren Werk?
Thomas Arslan: Zum Einen wollte ich mich vom allzu Persönlichen entfernen, zum anderen fasziniert mich das Krimi-Genre sowohl im Film als auch in der Literatur schon ganz lange. Daneben versuche ich mit jedem neuen Film, auch etwas Neues auszuprobieren. Strukturell ähnlich geblieben ist ein bestimmtes Interesse für die Topographie einer Stadt, also in diesem Fall für Berlin.

Ihr Film hat mich an die Kriminalfilme von Jean-Pierre Melville erinnert, zum Beispiel in Bezug auf die hermetische Geschlossenheit des Milieus, die Austauschbarkeit von Gut und Böse, die Präzision der kriminellen Arbeit und die Einsamkeit des Helden. Ist das eine bewusste Referenz und gibt es noch andere Vorbilder?
Melville ist eine Referenz unter vielen, und ich schätze ihn sehr. Ich habe mich jedoch nicht direkt an ihn angelehnt, da er in seinen Gangsterfilmen mit extremen Überhöhungen arbeitet. Dagegen versuche ich mit meinem Film „Im Schatten“, die Balance zu halten zwischen einer formalen Stilisierung und der Verankerung des Stoffes in der Alltagswirklichkeit.
Andere Referenzen betreffen auf Seiten des Films Don Siegel, in der Kriminalliteratur Bücher von Richard Stark. Er schreibt Erzählungen, in denen es eine minutiöse Innenansicht des Verbrechens gibt und in denen die Arbeitsabläufe als solche eine ganz zentrale Rolle spielen. Also: Wie sieht der Alltag von jemandem aus, der sich im kriminellen Feld bewegt? Bücher, die das beschreiben, finde ich diesbezüglich am faszinierendsten; und hier lag für mich ein Ausgangspunkt.

Ihr Film beeindruckt und gewinnt maßgeblich Spannung durch genaue filmische Beobachtung. Würden Sie diese Qualität als realistisch oder dokumentarisch bezeichnen?
Zwar ist mein Film stark stilisiert, aber in anderer Weise als die überhöhten Filme von Melville. Andererseits ist er aber auch nicht einfach dokumentarisch. Der Blick auf die Stadt ist in seiner Nüchternheit vielmehr eingebettet in das sehr stilisierte Konstrukt, wodurch der Ort aufgeladen wird. Mich hat stark interessiert, die präexistenten Versatzstücke des Genres mit dem Konkreten der Stadt Berlin kurzzuschließen. Es gab einige Szenen, die wir fast dokumentarisch gedreht haben; da finden auch Zufälligkeiten Eingang. Zum Beispiel haben wir die Autoszenen im fließenden Verkehr gedreht.
Es war mir wichtig, die Konkretheit der Stadt und die Stimmigkeit der Topographie, also ein Spektrum der Stadt Berlin, in seiner Heterogenität zu zeigen. Das wurde dadurch möglich, dass die Protagonisten fortwährend in Bewegung sind, sich beschatten; insbesondere die Hauptfigur, die kein Zentrum hat und ständig den Ort wechselt. Das hat mir die Möglichkeit gegeben, relativ viel von der Stadt zu zeigen. Und das ist natürlich wiederum durch die Genre-Elemente aufgeladen.

Wie in Ihren früheren Filmen zeigen Sie auch diesmal, wie durch die Bewegung der Figuren Raum erschlossen wird. Welche Ideen verbinden Sie damit? Geht es auch darum, dem Schein der Illusion das reale Sein entgegenzusetzen?
Entleerte Genre-Muster allein hätten mich nicht gereizt. Es war mir schon wichtig, meine Geschichte im gegenwärtigen Berlin zu verankern und die Orte präsent zu machen. Jede Figur ist bei mir mit dem Raum verbunden, in dem sie – zu welchem Zeitpunkt auch immer – agiert. Diese Relation ist mir grundsätzlich wichtig: der Raum und die Personen als Ensemble. Das schafft mehr Komplexität, als wenn man Personen isoliert von dem, was sie umgibt. Zugleich stellt mich das beim Filmen jeweils vor neue Aufgaben.
Wenn man den Raum ernst nimmt, fließt zwangsläufig etwas Dokumentarisches in den Film ein. So eine Szene hat einen erzählerischen Zweck und ist zugleich ein Dokument, indem sie fotografisch bewahrt, was danach mitunter verschwindet.

Inwieweit wird diese Realitätsdarstellung durch einen langsamen Erzählrhythmus und lange Einstellungen befördert, also eine Ästhetik der Reduktion, die Ihren Filmen eigen ist?
Ich starte keinen Film mit der Prämisse, einen langsamen oder schnellen Film zu machen, sondern ich versuche, ein richtiges Tempo zu finden. Oft sind die Tempi, die man sieht, abgewrackte Aufstülpungen auf irgendetwas. Ich versuche, das Tempo aus dem zu entwickeln, was erzählt werden soll. Es muss einen Grund geben, entweder die Kamera zu wechseln oder zu schneiden. Der Rhythmus sollte sich also aus der Erzählung ergeben und nicht dieser übergestülpt werden.

Warum haben Sie sich diesmal für die digitale Aufnahmetechnik entschieden?
Die Entscheidung für die sogenannte „Red“-Kamera hatte primär finanzielle Gründe. Wir hatten einen sehr kleinen Etat von knapp 500.000 Euro, was für einen Spielfilm sehr wenig ist. Das war der Hauptgrund. Auf dieser Basis haben wir uns mit der Kamera beschäftigt, also mit ihren Möglichkeiten und Grenzen. Ansonsten war es ein ganz klassischer Dreh, der sich kaum vom Drehen mit 16-mm oder 35-mm unterschieden hat.
Was das Bild anbelangt, hat die „Red“ eine wesentlich reduziertere Grün- und Rot-Palette. Das ist in den Wald-Szenen schon kritisch. Die Grünnuancen von herkömmlichem Filmmaterial sind sehr viel höher als diejenigen von den etwas besseren digitalen Kameras. So sehen diese Szenen etwas artifizieller aus; und auch die Schärfe wirkt etwas technischer als bei 35-mm, die organischer ist, weil sie nicht in Schärfenscheiben gestaffelt wird. Man kann mit der „Red“ trotzdem ganz vernünftig drehen.

Würden Sie sagen, dass sich „Im Schatten“ im Genre erschöpft, oder geht er darüber hinaus? Etwa in der Charakterisierung des Helden als eine Art moderner Sisyphos, der zwar überlebt, aber nichts gewinnt, sondern alles wieder verliert.
Auch wenn ich beim Schreiben nicht daran gedacht habe, kann man das ruhig so sehen. Allerdings geht es mir nicht um eine moralische Beurteilung des Verbrechens, sondern um seine Darstellung als eine Existenzform. Im Gegensatz zu Jacques Mesrine, der von Kick zu Kick eilt, betrachtet mein Protagonist Trojan sein Metier als Handwerk, das er nüchtern und professionell ausführt.
Ich wollte meinen Helden am Ende auch nicht sterben lassen, was ich als zu klassisch empfunden hätte. Zugleich sollte er aber auch nicht triumphierend mit dem Geld davonkommen. Das hätte eine unnötige Bedeutung geschaffen, woran ich nicht interessiert bin. Mir ging es darum, zu zeigen, dass diese Existenzform an einen Punkt kommt, wo sie wieder neu beginnen muss und weitergeht, zugleich aber auch wieder in Frage gestellt wird. Ich habe eher versucht, ungewünschte Bedeutungen zu eliminieren. So war es möglich, ihn lebend aus dem Film zu entlassen; und das ist gleichzeitig ein Punkt, wo es wieder von vorne losgehen muss.

Könnte man in Ihrem Helden auch ein Selbstporträt des Künstlers als Filmemacher sehen?
Das kann man natürlich auch darin sehen, obwohl es vermessen wäre, die Filmarbeit als gefährlich zu beschreiben. Wenn man es aber metaphorisch betrachten möchte, so geht es um jemanden, der arbeitet, der Geldprobleme hat und ein Projekt auf die Beine stellen muss, dessen Ausgang ungewiss ist.

Fühlen Sie sich der sogenannten „Berliner Schule“ zugehörig? Können Sie mit diesem Begriff für sich etwas anfangen?
Es ist natürlich ein mittlerweile sehr abgenutztes Label, das sich keiner von uns ausgedacht hat und natürlich haben solche Begriffe eine ziemlich kurze Halbwertszeit. Wenn man über Jahre mit so einem Begriff hantiert, höhlt sich der immer mehr aus, so dass er jeden Inhalt verliert. Nach Jahren des Gebrauchs ist er nicht mehr nützlich und insofern könnte ich gut darauf verzichten.

Welches Verhältnis haben Sie als Filmemacher deutsch-türkischer Herkunft zum aktuellen türkischen Autorenfilm? In Ihrem Dokumentarfilm „Aus der Ferne“ besuchen Sie etwa den Regisseur Nuri Bilge Ceylan.
Ich habe kein spezielles Verhältnis dazu, freue mich aber natürlich über gute Filme im Kino; und da gehören die von Ceylan dazu, der ein außergewöhnlicher Filmemacher ist, dessen Arbeit ich verfolge. Ich habe mich für „Aus der Ferne“ mit ihm getroffen, als er seinen Film „Jahreszeiten“ geschnitten hat. Insofern gibt es ein Interesse verbunden mit Sympathie an seiner Arbeit. Aus meiner Sicht hat das aber weniger mit dem Türkischen zu tun, sondern ich sehe das eher auf einer kinematographischen Ebene.

Zärtliche Skizzen zur Aufsässigkeit der Dinge

( , Regie: )

Eine kleine Verneigung vor Jacques Tati
von Janis El-Bira

„Die Aufsässigkeit eines Zuhandenen tritt dann auf, wenn es als noch vorliegende Aufgabe stört und nach Erledigung ruft.“ – Martin Heidegger Eine Szene aus „Mon Oncle“ (1958): Beinahe statuarisch steht …

„Die Aufsässigkeit eines Zuhandenen tritt dann auf, wenn es als noch vorliegende Aufgabe stört
und nach Erledigung ruft.“ – Martin Heidegger

Eine Szene aus „Mon Oncle“ (1958): Beinahe statuarisch steht ein stattlicher Herr mittleren Alters im grauen Anzug vor seinem Haus, einem ebenso wie er selbst grauen und ebenso wie er selbst tadellos reinlichen Designkasten mit zwei wachsamen, kreisrunden Glubschaugen, die sich als Fenster tarnen. Er steht dort, weil er offenbar kurz davor ist, zur Arbeit aufzubrechen. Diesen Aufbruch begleitet seine Frau in der Eingespieltheit allmorgendlicher Routine: In einem giftgrünen Plastikumwurf, der beim Gehen entsetzlich quietscht, eilt sie heran, bringt Zigaretten, Hut, Fahrerhandschuhe, Aktentasche, zupft an seinem Anzug und putzt währenddessen unablässig an allem herum, was ihr begegnet. Selbst beim Auto, in dem Vater und Sohn nun sitzen, wird noch während des Losfahrens kurz „feucht drübergewischt“, bevor sie den beiden mit ihrem Putzlappen nachwinkt, der dabei eine gewaltige Wolke Staub gleich einem giftigen Fremdkörper in die klinisch-sterile Welt entlässt.

Der Schöpfer dieser Szene, Jacques Tati, der mit der Figur des Monsieur Hulot in ihrer Verbindung von Keatons analytischer Strenge mit Chaplins erschütternder Verletzlichkeit vielleicht deren einzig würdigen Erben kreiert hatte, ist häufig mit dem bösen Label des „Zivilisationskritikers“ bedacht worden. Was jedoch in der beschriebenen Szene gleichsam wie eine Ahnung von der Spießbürgerhölle der Zukunft klingen mag, ist dies beim Betrachten dann nur für denjenigen, der Tatis Welt fatalerweise mit den Augen eines Geschichtenerzählers zu sehen versucht. Da mögen Haus, Garten und Garage des in den üblichen Rollenklischees gefangenen Ehepaares wie ein sich perfekt selbst verwaltendes System der Kälte wirken, da erscheint die Frau einsam und getrieben in ihrem Wahn, auch noch mikroskopische Staubpartikel zu eliminieren. Aber Jacques Tati war kein großer Geschichtenerzähler, kein Anprangerer und Stellungbezieher, sondern ein Bildermacher und begnadeter Choreograph des Balletts der menschlichen Lebenswelt. Sein Interesse galt dem verrückt-verspielten „Wie“ unserer artifiziellen Umwelt, weniger dem „Warum“. So sind seine Filme übersprudelnde Feiern der Form geworden, in denen die kontextuell entlegendsten Dinge einander auf bisweilen absurde, jedoch geradezu erschreckend sinnfällige Weise gleichen können. Nur dort, wo diese Art liebevoll-verknüpfenden Blickens (und Hörens!) den Gedanken leitet, kann eine Szene entstehen wie jener sensationelle Massenautounfall aus dem Spätwerk „Trafic“ (1971), in der alles heiter und kunterbunt kracht, rummst, kreiselt und zerschellt und plötzlich alle aussteigen, sich strecken und recken als kämen sie aus ihren Betten und ein Priester vor der offenen Motorhaube seines schrottreifen Wagens niederkniet, verzweifelt die Arme ausbreitet und nach und nach einige Teile aus dem Motorraum entfernt, um sie prüfend ins Licht zu halten: Wohl nur, weil die katholische Liturgiereform in den Jahren der Entstehung von „Trafic“ erst seit kurzem in Kraft war, sehen wir ihn hierbei noch von hinten…

Freilich wird in diesem Chaos der Assoziationen niemand auf einen solch halsbrecherischen Spießrutenlauf geschickt wie Monsieur Hulot – Tatis Alter Ego, dargestellt von ihm selbst. Seine klassisch gewordene Silhouette – leicht gebückter Gang, als hätte er Lasten zu tragen, Trenchcoat, Hut, Pfeife – steht wie die Antithese zur geradezu mathematischen Exaktheit seiner Umwelt und jener der anderen Menschen darin. Hulot scheint, als sei er vom Mond gefallen; er ist ein eigentlich hoffnungslos Geworfener in einem Leben, das ihm schon vor langer Zeit viel zu schnell geworden ist. In seiner Welt gab ein Stuhl keine entwürdigenden Geräusche von sich, wenn man sich auf ihn setzte („Playtime“, 1967), ging eine Kaffeekanne zu Bruch, wenn man sie zu Boden warf („Mon Oncle“) und grüßte selbstverständlich überall mit einer leichten Verbeugung und dem Antippen des Hutes, selbst dann, wenn man zuvor bereits binnen von Sekunden das größte Chaos angerichtet hatte („Die Ferien des Monsieur Hulot“, 1953). Aber: Auf gleichzeitig herzzerreißende wie urkomische Weise macht er einfach mit. Irgendwie scheint er zu ahnen, dass ihm kaum Schlimmeres geschehen kann, als dass er mal mit einem Bein auf den spiegelglatten Oberflächen der Büroflure wegrutscht, wie es in „Playtime“ in ebensolcher Regelmäßigkeit wie Beiläufigkeit am Bildrand oder im Hintergrund passiert.

Dieser Hulot ist einer der großen Positiven und Vertrauensvollen des Films. Seine Fremdheit ist ihm nicht Hindernis, sondern Grund zur Neugierde. Er arbeitet sich entschlossen ab an den Dingen, die man ihm in die Hand drückt und wie das sanfte Kameraauge Tatis auch die Frau in ihrem grünen Hauskittel noch mit einem geradezu lustvollen Blick in ihrer schrillen Verrücktheit würdigt, so läuft auch der fast stets wortlose Monsieur Hulot durch seine Umwelt mit dem Bestreben, die Objekte gar nicht erst zur Aufgabe, gar nicht erst zum „Aufsässigen“ werden zu lassen. Kaum irgendwo wird dies schöner gegenwärtig als in Hulots (und Tatis) beständigem Hadern mit gläsernen Oberflächen – insbesondere Türen aus so einwandfrei poliertem Glas, dass man sie als solche nicht mehr erkennen kann. In der berühmten Szene aus „Playtime“, in der ein ganzes Schickeriarestaurant im Zuge einiger kleinerer Unfälle während einer mondänen Party nach und nach munter zerlegt wird, scheitert Hulot zunächst an einer solchen Tür, indem er gegen sie rennt und diese in tausend Scherben zersplittert. Wenig später aber wird dann kurzerhand nur noch der Türknauf hin und her bewegt, um so das Öffnen der nicht mehr vorhandenen Tür zu symbolisieren und die ahnungslosen Gäste standesgemäß hinein zu lassen.

Wo sich die Perfektion der Technik uns so weit entzogen hat, dass wir keinen Unterschied mehr merken, ob sie da ist, oder nicht, stört es auch nicht, wenn sie eigentlich ganz fehlt, so lange ihre ursprünglich banalen Effekte in die Wirklichkeit hinübergerettet werden können. So funktionieren das Kino und die Komik des Jacques Tati, gefiltert und ausgeführt durch den schlaksigen Körper des Monsieur Hulot, als radikale Behauptung der zur Kommunikation sinnvollen Zeichen in ihrer An- und (oft technokratisch bedingten) Abwesenheit: Mit „Slam your Doors in Golden Silence“ wird in einer Szene von „Playtime“ für Türen geworben, die sich vollständig geräuschlos ins Schloss werfen lassen sollen – was dies für das nunmehr kaum noch effektvolle Ende eines Streits bedeuten kann, wird der Film uns wenige Minuten später zeigen. An anderer Stelle werden zwei riesige, nebeneinanderliegende Wohnzimmerfenster zum Ort eines kuriosen Schauspiels: Während man links gebannt auf einen (unsichtbaren) Fernseher zu schauen scheint, entledigt sich rechts ein Herr seiner Jacke. Ein bescheidener Striptease ist die Folge – zusammengesetzt einzig im Kopf des Zuschauers.

Wer die Welt so sehen kann, wie Tati es getan haben muss, für den wird sie zwangsläufig zum wunderbaren Spektakel. Und so ist es nur schlüssig, dass sein tragischer letzter Film, „Parade“ (1974), der nach dem finanziellen Desaster von „Playtime“ als weitgehend auf Video gedrehte Produktion für das schwedische Fernsehen daherkam, als Sujet das Urspektakel selbst wählte – den Zirkus. Hier tritt Jacques Tati als Zirkusdirektor auf und einmal sehen wir ihn, wie er mit wilden Tieren und auf dem Rücken von Pferden in der Manege steht. Allein, keines von ihnen ist zu sehen. Tati spielt lediglich seine Reaktionen und simuliert die Bewegungen in Gestalt eines kleinen Tanzes der Andeutungen. Uns mag das als letzte Selbstinszenierung eines genialen Künstlers traurig erscheinen – Kinderaugen wären jedoch gewiss groß geworden. Aber Kinder sehen die Welt ja bekanntlich anders.

Georg Seeßlen – George A. Romero und seine Filme

( , Regie: )

Die Welt als Wille zum Verfall
von Sven Jachmann

Dass sich der Vampir im Gegensatz zum Zombie nie so recht als gesellschaftlicher Seismograph eignete, sondern viel stärker den gesellschaftlichen Regress figürlich fortsetzte, hat vielleicht damit zu tun, dass sich …

Dass sich der Vampir im Gegensatz zum Zombie nie so recht als gesellschaftlicher Seismograph eignete, sondern viel stärker den gesellschaftlichen Regress figürlich fortsetzte, hat vielleicht damit zu tun, dass sich in ihm idealtypisch die Ängste der Herrschaft vor ihrem Niedergang ausdrückten – früher wohl die Furcht der Aristokratie vor der Verschmelzung mit dem Bürgertum, heute sicher die Furcht des Bürgertums vor der Verschmelzung mit den unkeuschen Instinkten des Pöbels. Dass der Zombie hingegen vor allem als Chiffre des Zerfalls, des sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen, denkbar ist, liegt vornehmlich an jenem Mann, dessen Oeuvre mit vorliegender Publikation endlich seine längst überfällige Huldigung erhält, einem der, wie Seeßlen schreibt, „linkesten Filmemacher“, den die Industrie hervorgebracht hat.

Anlässlich seines 70. Geburtstags spendiert der auf die Herausgabe bibliophiler Klassiker der phantastischen Literatur spezialisierte kuk-Verlag dem seinen Ruf als Zombieregisseur auch noch in seinem Spätwerk tüchtig unterfütternden George A. Romero seine erste deutschsprachige Monographie, und allein dieser Umstand setzt tragikomisch fort, wie es um Romeros Position im Filmbusiness bestellt ist. Von den Reaktionären stets verhasst, von den Progressiven nicht minder umschwärmt, bleibt er Zeit seines Lebens ein Maverick unter den Mavericks. Denn als diese die Sprache der Kinoindustrie insofern transformierten, dass sie dem Sperrigen, Ausgegrenzten, Wahnsinnigen und Nihilistischen eine gedämpfte Stimme verliehen, blieb Romero im ideologisch kompostierten Unterbau gefangen. Das galt zu den Zeiten New Hollywoods, und es gilt heute unvermindert, wo videocliperfahrene Jungspunde seine Werke für die Gegenwart in solch hochbudgetierten Dimensionen einer Relektüre unterziehen, von denen Romero in seinen eigenen Produktionen nur träumen kann. Dass also die einschlägigen Filmbuchverlage ihre Finger von dieser Edition ließen, könnte glatt als medial-habituelle Übertragung seiner Position innerhalb der Filmgeschichte gelesen werden – geschätzt, aber irgendwie auf Lebenszeit verfemt.

Romeros Flirt mit dem Mainstream war nie von großem Glück beschieden. Die Radikalität seiner Zombietrilogie „Night of the Living Dead“, „Dawn of the Dead“ und „Day of the Dead“, in der der Kapitalismus unrühmlich als Groteske seiner inhärenten Strukturen der Vernichtung, als Totalität der sozialen Verwahrlosung gelesen wurde, konnte ebenso wenig in die Bildproduktion des aseptischen feel goods übertragen werden, wie die soziologische und religionskritische Verzweiflung seiner Mikro- und Makrostudien „Martin“ und „The Crazies“. „Monkey Shines“ und „Stark“ wurden in den späten 80ern und frühen 90ern veritable Flops, erst 2006, mit „Land of the Dead“, versuchte sich Romero erneut an der Ausstaffierung seiner Zombiemythologie, mit wechselndem Erfolg wie „Diary of the Dead“ und nun jüngst „Survival of the Dead“ bewiesen. Seine randständige und von einem grundlegenden Pessimismus infizierte Sicht auf die Welt ficht dies indes nicht im geringsten an; letztlich bewahrt da einer Haltung, wo andere ihre Verzweiflung als kokettes Spiel mit der Formvielfalt eines Mediums zu kontrollieren lernen, das ihnen als Präsentationsfläche für eine schlechte Welt im Kinosaal dient, die uns daran erinnern soll, wie schön die Welt doch eigentlich außerhalb seiner geschlossenen Türen ist. Gut gelaunt jedenfalls lassen Romeros Filme einen nicht zurück. Bei ihm ist der Zombie die menschliche Katastrophe, die zeitgenössischen Vampire hingegen können momentan nicht viel mehr, als uns vor der Erosion konservativer Werte zu warnen.

Dass und warum Romero mit seiner spröden Härte – der Bildgröße, der Montage, dem Schnitt, selbstredend den in den seltensten Fällen optimistischen Sujets – mehr Gesellschaftskritiker denn manierierter Filmemacher ist, lässt sich an Georg Seeßlens Werkbetrachtung detailliert nachvollziehen, an der einzig zu bekritteln wäre, dass sie ein wenig wie ein Schnellschuss wirkt: Es gibt keine Fotos, das Schriftbild ist recht großzügig gesetzt, die Passagen über die Mythopoetik der Untoten gleichen hie und da den Beobachtungen aus Seeßlens Mammutwälzer „Horror“ aus dem Schüren Verlag, einige Filmanalysen sind eigentlich getarnte ausgedehnte Inhaltsangaben und auch der Bibliographie hätten ein paar weitere Einträge sicher nicht geschadet. Dennoch: als einführendes Werk in die Welt eines der schillerndsten Filmemacher ist es zukünftig unumgänglich.

Georg Seeßlen: „George A. Romero und seine Filme“
kuk Verlag, Bellheim 2010, 368 Seiten, 23 Euro

„Man muss alles in einem Film unterbringen“

( , Regie: )

Zum achtzigsten Geburtstag des Filmemachers Jean-Luc Godard, dem Erneuerer des modernen Kinos
von Wolfgang Nierlin

„Vor 1958 habe ich zehn Jahre Filme gemacht, indem ich ins Kino ging und Artikel schrieb.“ Bereits für den jungen Jean-Luc Godard, am 3. Dezember 1930 in Paris als Sohn …

„Vor 1958 habe ich zehn Jahre Filme gemacht, indem ich ins Kino ging und Artikel schrieb.“ Bereits für den jungen Jean-Luc Godard, am 3. Dezember 1930 in Paris als Sohn einer wohlhabenden Schweizer Familie geboren, gibt es zwischen Denken, Schreiben und Filmemachen nur einen quantitativen Unterschied. Der 20-jährige cinephile Ethnologie-Student, der wissbegierig die vom legendären Henri Langlois zusammengestellten Filmprogramme der Cinémathèque Française besucht und ab 1950 für die Gazette du Cinéma unter dem Pseudonym Hans Lucas Kritiken schreibt, formuliert hier sein frühes Selbstverständnis als Filmemacher, indem er Theorie und Praxis in eins setzt. Als ästhetisches und politisches Programm wird diese Maxime sein zukünftiges Filmschaffen bestimmen und zugleich die Schnittmenge von Leben, Liebe und Arbeit bilden. Hinter dem Zitat steht aber auch der Anspruch, aus der kritischen Opposition zum zeitgenössischen französischen Kino die ästhetischen Mittel für die eigene Filmpraxis zu gewinnen.

Zusammen mit seinen Freunden François Truffaut, Jacques Rivette, Eric Rohmer und Claude Chabrol, die ebenfalls alle schreiben und unter André Bazin, ihrem filmtheoretischen Mentor und Chefredakteur, zum Kritiker-Pool der Cahiers du Cinéma gehören, entwickelt er für den Film jene einflussreiche „Politik der Autoren“ mit, die die Ende der 1950er Jahre einsetzende „Nouvelle Vague“ beflügelt und bis heute im Autorenfilm weiterlebt. Ihr Markenzeichen ist zuerst die persönliche Handschrift des Regisseurs, sein Stil, dem selbst das Studiosystem Hollywoods nichts anhaben kann und der Filmschöpfer wie Alfred Hitchcock, Howard Hawks und Fritz Lang für die jungen Film-Enthusiasten zu Vorbildern macht. Im Weiteren geht es den innovativen Filmautoren darum, eigene Stoffe und Drehbücher zu inszenieren, ihre Filme der tatsächlich erfahrenen Lebenswirklichkeit zu öffnen und, so Godard, „die Dinge, so wie sie sind“, zu zeigen. Selbstbewusst resümiert der Filmrebell in einer Eloge auf Truffauts Debüt „Les 400 coups“ („Sie küssten und sie schlugen ihn“), in der Godard scharf gegen „Papas Kino“ polemisiert, mit den Worten: „Die Filmautoren sind dank uns endlich in die Geschichte der Kunst eingezogen.“

Godards eigener praktischer Eintritt in diese Geschichte der Filmkunst vollzieht sich im Frühjahr 1960 mit der Pariser Uraufführung seines ersten Langfilms „A bout de souffle“ („Außer Atem“). Dessen filmsprachliche Regelverstöße, flankiert vom Mut zur Improvisation und der Abbildung ungefilterter Alltagswirklichkeit, zeigen nicht nur einen unorthodoxen Umgang mit der Tradition, sondern geben zugleich Zeugnis von einer neuen Freiheit. Impulsiv, spontan und schnell wie der Film, der auf einem Exposé Truffauts basiert und im verwaschenen Modus des Gangsterfilms amerikanische B-Pictures zitiert, ist auch die Arbeitsweise Godards, der für sich und mit jedem weiteren Film das Kino quasi neu erfindet. Während der folgenden Dekade entstehen in rascher Abfolge Werke, die von einem permanenten Fragen und Infragestellen, vom Spiel mit Formen und Möglichkeiten und vom offenen Widerspruch gekennzeichnet sind.

„Was ich nicht richtig finde, ist, dass man gezwungen wird, Filme so zu machen wie andere“, hat Jean-Luc Godard einmal in einem Interview gesagt. Insofern entspringen alle seine Arbeiten auch einer Verweigerung. Seine dialektische Suchbewegung zwischen den Genres und Stilen verbindet sich hier mit der Aversion gegenüber den kapitalistischen Produktionsbedingungen der Filmindustrie. Diese Opposition wird immer wieder theoretisch beschworen und zieht sich als ästhetische Kritik zugleich durch sein Œuvre, was bedeutet, dass Godard in seinen Filmen und mit Hilfe von ihnen nicht nur die Bedingungen und Konventionen der filmkünstlerischen Arbeit untersucht (wie zum Beispiel in „Le mépris“ [„Die Verachtung“]), sondern auch die dem Medium inhärenten Bedingungen der Bilderproduktion. Und das wiederum führt in seinen komplexen Studien zurück oder hinüber zu den Überformungen und Deformationen einer Wirklichkeit, die es nur noch aus zweiter Hand gibt und die ihrerseits von Inszenierungen, Manipulationen und Indoktrinationen verstellt ist.

Besonders deutlich wird das in dem 1966 entstandenen Film „2 ou 3 choses que je sais d’elle“ („Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß“), der, angetrieben von einem soziologischen Interesse, einmal mehr Dokument und Fiktion, Essay und Diskurs als Instrumente der Wirklichkeitserforschung in sich vereint. Die Komplexität dieser Realität wiederum, das gleichzeitige, bruchstückhafte Nebeneinander ihrer Phänomene, spiegelt sich in der nicht-mimetischen, mit Verfremdungseffekten infiltrierten Konstruktion seines Films. Zitate, Werbe- und politische Slogans, Schlager, Reflexionen und intellektuelle Diskurse sind sein Material, das Godards unbedingte Zeitgenossenschaft belegt und zugleich den offenen, antiillusionistischen Charakter seiner Kino-Kunst unterstreicht. Dabei beziehen seine experimentierfreudigen, bilderstürmerischen Collagen aus Bildern und Tönen immer auch die anderen Künste, also Literatur, Musik und Malerei mit ein.

„Die Kunst heute, das ist Jean-Luc Godard“, hat der französische Schriftsteller Louis Aragon bereits Mitte der 60er Jahre gesagt. Tatsächlich avancierte Jean-Luc Godard in jenen Jahren mit Filmen wie „Vivre sa vie“, „Un femme mariée“, „Pierrot le fou“ und „Masculin-féminin“ zum wichtigsten Erneuerer des Kinos. Sein Credo, man müsse alles in einem Film unterbringen mit seiner unverkennbar rationalen Stoßrichtung, verdeckte aber nie die romantisch-melancholische Sehnsucht eines im Grunde poetischen Wahrheitssuchers. Nach „Week end“ von 1967, seinem Abgesang auf das Kino und die bürgerliche Kultur und dem Mai 68 radikalisiert er allerdings seine Arbeit, um zusammen mit Jean-Pierre Gorin im Kollektiv der „Gruppe Dziga Vertov“ „politisch Filme zu machen“. Weitgehend „unsichtbar“ sind diese Filme und die darauf folgenden, auf Video gedrehten, aus seiner Zeit in Grenoble geblieben.

Erst in den achtziger Jahren, nach seinem Umzug in die Schweiz, kehrte er mit Filmen wie „Passion“ (1982), „Prénom Carmen“ (1983) und „Je vous salue, Marie“ (1983) in die Kinos zurück. Von der Filmwissenschaft als „Trilogie des Erhabenen“ apostrophiert, sind diese Filme mit ihrer zeitlosen Schönheit zu Klassikern des postmodernen Kinos geworden. Ein Publikum fanden sie allerdings kaum noch. Und so ist einer der wichtigsten zeitgenössischen Filmemacher fast in Vergessenheit geraten, wären da nicht gelegentlich Ehrungen (wie unlängst die Verleihung des Ehren-Oscars) oder auch ein neuer Film, der in diesem Jahr (zumindest in Frankreich und der Schweiz) veröffentlicht wurde. Sein Titel: „Film Socialisme“. Genährt von einem ausufernden Bewusstseinsstrom aus Bildern und Tönen, unternimmt „JLG“ darin eine Mittelmeer-Kreuzfahrt zu „unseren Wiegen der Menschheit“: als melancholische Odyssee durch Zeit und Geschichte und als vielstimmige geschichtsphilosophische Reflexion zu der Frage „Quo vadis Europa?“. Am 3. Dezember feiert Jean-Luc Godard in dem kleinen Ort Rolle am Genfer See seinen 80. Geburtstag.

Zwischen Gender Studies und Endlichkeitsfragen

( , Regie: )


von Wolfgang Nierlin

Ein Gespräch mit dem Regisseur Tom Tykwer über seinen neuen Film „Drei“. Wolfgang Nierlin: Im Presseheft wird Ihr neuer Film „Drei“ als „romantische Komödie“ bezeichnet. Sind Sie damit einverstanden? Tom …

Ein Gespräch mit dem Regisseur Tom Tykwer über seinen neuen Film „Drei“.

Wolfgang Nierlin: Im Presseheft wird Ihr neuer Film „Drei“ als „romantische Komödie“ bezeichnet. Sind Sie damit einverstanden?
Tom Tykwer: Diese Genrebezeichnung wurde als Label benutzt, weil es eben gerade um den Bruch mit den Konventionen geht und man trotzdem neue Perspektiven auf den Begriff bekommen soll. Mein Film ist zweifellos romantisch und hat viele komödiantische Aspekte; er hat aber auch noch andere, kantigere Zonen, die mir ebenso wichtig sind. Der Film benutzt also bestimmte Genrekonventionen und versucht zugleich, sie situativ zu überwinden.

Seit langem werden im Kino Dreierbeziehungen erzählt. Was hat Sie gereizt, dieser Tradition eine neue Komponente hinzuzufügen?
In der Entwicklung des Stoffs war es tatsächlich eher ein Film über eine Zweierbeziehung. Dabei hat mich interessiert, wie in einer langjährigen Partnerschaft die Energie über Ersatzspannungen lebendig gehalten wird und wie das im gelungenen Fall aussieht. Mein Film stellt diesbezüglich ja eine gute Beziehung vor. Aber auch diese ist vor Versuchungen nicht gefeit, weil wir alle nicht auf die Welt gekommen sind, um unseren Frieden und unser Glück mit nur einer Person zu finden. Vielmehr richten wir uns aus einer sozialen Verpflichtung und einer vom Über-Ich geprägten Lebenseinstellung darauf ein. Daraus entstehen wiederum Spannungsfälle, die der Film untersucht. Die Dreierkonstellation kam dadurch zustande, dass ich von menschlichen Versuchungen sprechen wollte, wobei das Objekt der Begierde ein und derselbe Mann ist. Verständlich wird das dadurch, dass beide über eine lange, gemeinsame Zeit einander ähnlich, fast geschwisterlich geworden sind, was ihnen in ihrer Suffizienz ähnliche Defizite beschert. Dadurch wird es plausibel, dass sie ihre Sehnsüchte auf dasselbe Objekt projizieren. Und dann wurde es plötzlich ein Film, von dem ich dachte, den gab es noch nie.

Ihre Filme handeln oft vom Zufall, sind aber so gemacht, dass sie wenig dem Zufall überlassen. Warum ist das so?
Unser Arbeitsprinzip ist es, uns mit größtmöglicher Genauigkeit vorzubereiten und eine möglichst genaue Vision des Films zu entwickeln. Man kann dem Film aber auch ansehen, dass bei seiner Entstehung immer wieder auf Unvorhergesehenes eingegangen wurde; das bezieht sich vor allem auf die Schauspieler, die immer wieder Momente erwischt haben, die nicht abrufbar oder vorhersehbar waren. Innerhalb des Systems, sozusagen unter seinem „ästhetischen Dach“, herrschen also große Freiheiten. Jeder Film ist eine wahnsinnig organisierte Angelegenheit. Ich bin gut darin, ein größtmögliches Maß an vorbereitetem Konzept mitzubringen, um dann eine maximale Offenheit den Abwegen und Überraschungen gegenüber zu haben. Aus dieser Spannung entwickelt sich für mich das Interessante am Kino, also dass es eine von Technologie geprägte Kunstform ist und durch die Schauspieler zugleich etwas Unwägbares dazu kommt. Unser System ist auf jeden Fall offen genug, das immer zu erlauben.

Wie haben Sie die Figuren entwickelt?
Wir haben geprobt, um etwas über die Grundstimmung des Films zu erfahren. Dabei sollten die Situationen uns und den Zuschauer an eigene Erfahrungen erinnern. Es gab also das Bedürfnis, die „Hautnähe“ des Films nahe am Zuschauer entlang zu entwickeln, weshalb die Figuren nicht bigger than life erscheinen sollten.

Was ist die Funktion der vielen Zitate und Anspielungen auf Bücher und Kunst, die im Film auftauchen?
Das sind für mich keine Zitate, sondern Alltagserscheinungen von Kulturarbeitern. Wenn ich die Quelle der Inspiration jetzt offenlegen würde, wäre damit eine Banalisierung verbunden, weil jeder seine eigene Assoziationswelt zu „Moby Dick“ oder zu Shakespeare oder zu den ganzen kulturellen Klassifizierungen hat. Die Zuordnungen sind sehr heterogen, da sich die Figuren in kulturell facettenreichen Kontexten zwischen Hochkultur, Street-Art und Popmusik bewegen. Die vielen Akzente werden unterschiedlich gesetzt, um darauf hinzuweisen, dass das ein sehr breit gefächerter Horizont ist, den ich heutzutage für sehr normal halte, weil Kulturproduktion uns in unserem Alltag ganz selbstverständlich begleitet. Das zeigt sich nicht nur in unserer Gesprächskultur, sondern darüber hinaus findet durch diese Zuordnungen kultureller Erzeugnisse auch eine Selbstdefinition statt. Das kann man auch beispielsweise an Facebook ablesen, das nichts anderes als eine Repräsentation von Individualität ist, die durch einen Bezug auf kulturelle Erzeugnisse plastisch gemacht wird. Das fasziniert mich, weil das im Kino sonst keinen Niederschlag findet. Andererseits gibt es Subthemen, die den Film zusammenhalten und die sich zwischen Gender Studies und Endlichkeitsfragen bewegen, wovon fast jeder Seitensprung des Films durchsetzt ist, also von einem Bezugssystem, das auch für die Story des Films wichtig ist.

In Ihrem Film spielt die Stadt Berlin eine große Rolle. Repräsentiert sie mit ihren Schauplätzen den Aufbruch der Figuren?
Für mich ist Berlin kein freierer Ort als andere Orte. Die Menschen füllen die Möglichkeitsräume aus und nicht die Stadt. Die Stadt ist einfach das Porträt eines Heimatortes und insofern ist „Drei“ auch ein Heimatfilm. Für uns war es wichtig zu zeigen, dass die Figuren diesen Ort nicht distanziert wie eine Kulisse durchschreiten, sondern wir wollten den Film in einer subjektiven Vertrautheit mit einem auch beschützenden Ort erzählen. Die Stadt sollte kein abstrakter Background sein.

Erzählt Ihr Film eine utopische Liebesgeschichte und wenn ja, warum bedarf es dafür einer Dreierbeziehung?
Ich finde da ist keine Utopie im Spiel. Das Schlussbild ist diesbezüglich eher ein Epilog für einen Film, der den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten unserer Liebesfähigkeit zugewandt ist und der keine bessere Idee vom Zusammenleben propagiert, sondern Figuren in einer bestimmten kritischen Situation betrachtet und sie in bestimmten Momenten wagemutige Schritte tun lässt, die sich vielleicht nicht jeder traut. Fast alle Menschen suchen nach einer Perspektive, um den Widerspruch zwischen der Sehnsucht nach einem verbindlichen Zweisamkeitsmodell und den Trieben, die uns davon wegtreiben, zu leben. Damit spielt der Film, ohne dass er dafür eine Lösung hätte. In der dramatischen Zuspitzung erreicht er deshalb seinen Höhepunkt, sobald sich die drei Auge in Auge gegenüber stehen. Darauf läuft der Film hinaus. Alles was danach noch kommt ist ein Epilog, der von einem optimistischen Grundgestus getragen wird. Insofern wirft sich der Film als Komödie lustvoll in seine Probleme.

Die Realitätsebene des Films wird immer wieder von phantastischen Elementen durchbrochen. Wie fügen sich diese in den Kontext?
Das ist Ausdruck einer Subjektivität, mit der sich die Figuren aus dem Diesseits und der Konkretion herauslösen. Das geschieht oft gerade dann, wenn die Situationen spröde sind. Das Kino ist geradezu prädestiniert, dieses komische Doppelwesen, das der Mensch ist, einzufangen, also seine Bezugnahme auf das Jetzt und sein gleichzeitiges Wegdriften in manchmal unheimliche Zonen. In Träumen geht das oftmals über in den Alltag. Diese Irritationen sind für das Kino ein gefundenes Fressen, weil es die erzählerischen und technischen Möglichkeiten hat, diesem komischen Doppelzustand des Menschen nahe zu kommen.

Ihr Film beinhaltet zwei Modelle der Lebensbetrachtung: ein mehr lineares, vielleicht deterministisches und – in Anlehnung an Hermann Hesses Gedicht „Spuren“ – ein konzentrisches des Wachsens. Wozu neigen Sie?
Wir können nicht anders als hin und her zu pendeln zwischen beidem, also zwischen Endlichkeit und latenter Unendlichkeit, weil wir genetisch in einer Verbindung stehen, die länger ist als unser Leben und die sich fortsetzt und verästelt. Es gibt also eine Linie, die ungebrochen ist und eine, die herausgeschnitten wird aus dem Zeitfluss. Dem Bewusstsein näher ist zwar dieser Ausschnitt, andererseits gibt es eine Phantasiewelt, die die Endlichkeit zu transzendieren versucht, uns befreit und beglückt. Der Film handelt von beidem. Bei der Liebe geht es immer um Transzendenz, die dazu da ist, uns zu erlösen von dem Profanen und Banalen und dabei vor allem von einem limitierten Erfahrungs- und Zeithorizont. Die Liebe und der Sex schenken uns Momente, in denen das vergessen wird. Und deshalb ist die Liebe das wichtigste Thema des Lebens und das Thema der meisten Filme.

Das Interview führte u.a. Wolfgang Nierlin zusammen mit Kollegen im Rahmen eines Pressegesprächs im Heidelberger Studio Europa.

Link zu einer weiteren Filmkritik zu „Drei„.

Romy – Die unveröffentlichten Bilder aus Inferno/L’enfer von Henri-Georges Clouzot

( , Regie: )

Bis ans Ende des Wahnsinns
von Wolfgang Nierlin

Das Motiv des Plots ist geradezu archetypisch: Marcel Prieur (Serge Reggiani), ein etwa 40-jähriger Hoteldirektor, verdächtigt seine schöne Frau Odette (Romy Schneider) des Ehebruchs, gar der Nymphomanie. Während einer langen …

Das Motiv des Plots ist geradezu archetypisch: Marcel Prieur (Serge Reggiani), ein etwa 40-jähriger Hoteldirektor, verdächtigt seine schöne Frau Odette (Romy Schneider) des Ehebruchs, gar der Nymphomanie. Während einer langen Nacht erinnert er sich an ihr gemeinsames Leben und häuft auf den schmalen Grat, der die vertraute Geliebte von der betrügerischen Fremden trennt, allerhand Vermutungen und Verdächtigungen. So wachsen aus der Angst die Zweifel; und die obsessive Suche nach Gründen und Beweisen steigert seine krankhaften Visionen zum Wahnsinn der Eifersucht.

Um diese halluzinative Perspektive möglichst wirksam auf den Zuschauer zu übertragen, plant Henri-Georges Clouzot, der Autor des Stoffes und als „the French Hitchcock“ ein Regisseur von hohem Renommee („Lohn der Angst“, 1953; „Die Teuflischen“, 1955), einen ebenso modernen wie revolutionären Film. Während die Alltagsszenen seiner Eifersuchtsgeschichte in Schwarzweiß gedreht werden sollen, wünscht er sich für die Schock-Bilder der Besessenheit rauschhafte Farben und ein ganzes Arsenal von Beleuchtungseffekten. In der ersten Hälfte des Jahres 1964 experimentiert Clouzot, ein profunder Kenner der Gegenwartskunst („Picasso“, 1955), deshalb mit ausgetüftelten Lichtbewegungssystemen, mit Spiegeleffekten, Kristallgegenständen und Prismen; und er lässt sich dafür von der kinetischen Kunst Victor Vasarelys, Joël Steins und Jean-Pierre Yvarrals inspirieren. Die beiden Letztgenannten werden gar zu Mitarbeitern dieses außergewöhnlichen Filmprojekts, dessen Titel unmissverständlich „L’enfer“ (Inferno) lautet.

Für den ehrgeizigen Filmschöpfer Clouzot und seine 25-jährige Hauptdarstellerin Romy Schneider, die gerade bemüht ist, ihr Sissi-Image abzustreifen, soll der Film zu einem Vehikel für einen künstlerischen und zugleich privaten Neuanfang werden. Doch nach der langen, intensiven Probearbeit kommt alles anders: Als Anfang Juli 1964 die Dreharbeiten der mit unbegrenztem Budget ausgestatteten und einer ganzen Armada hochqualifizierter Techniker besetzten Produktion in der Auvergne beginnen, ist der unter Dauerstress und Schlaflosigkeit leidende Clouzot schon ziemlich erschöpft. Dazu kommen ein manischer Perfektionismus und ständige Auseinandersetzungen mit dem Hauptdarsteller Serge Reggiani, die dazu führen, dass dieser an einer Depression erkrankt und die Produktion verlässt. Nach drei Wochen erleidet Clouzot plötzlich einen Herzinfarkt. Die Dreharbeiten werden abgebrochen, „L’enfer“ wird zu einem Dokument filmischen Scheiterns und zum filmhistorischen Mythos, der seither von einigen Geheimnissen und Rätseln umrankt wird. Erst 1994 kann schließlich Claude Chabrol den Stoff mit Emmanuelle Béart und François Cluzet verfilmen.

Was aber ist aus dem von Clouzot abgedrehten Filmmaterial geworden? Antworten darauf gibt Serge Brombergs zusammen mit Ruxandra Medrea realisierter Dokumentarspielfilm „L’enfer d’Henri-Georges Clouzot“ (2009), der die Geschichte dieses gescheiterten Projekts unter Verwendung des bislang unzugänglichen Filmmaterials nacherzählt. Zusammen mit Erinnerungen ehemaliger Mitarbeiter, unter ihnen der „Nouvelle vague“-Kameramann William Lubtchansky und der spätere Regisseur Costa-Gavras, ist dieses nun in fotografischer Form zu bewundern in dem schön gestalteten Buch „Romy – Die unveröffentlichten Bilder aus Inferno/L’enfer“. Diese zeigen eine für die damalige Zeit ungewohnt laszive, experimentierfreudige und vor allem „farbige“ Romy Schneider und nehmen den späteren Image-Wandel des Stars gewissermaßen (nachträglich) vorweg. Ihr Portrait als Schauspielerin muss deshalb nicht revidiert werden. Allerdings schließen Film und Buch eine Lücke, indem sie Einblick gewähren in Clouzots bislang unsichtbares Ideenlabor. Und sie geben Zeugnis von einem verrückten Filmabenteuer und einer bis zum filmischen Größenwahn gesteigerten Besessenheit. Ob man aus diesem Scheitern lernen sollte, „dass man bis ans Ende seines Wahnsinns gehen muss“, wie einer der Zeitzeugen meint, ist aber eher zu bezweifeln.

Serge Bromberg (Hrsg.): „Romy – Die unveröffentlichten Bilder aus Inferno/L’enfer von Henri-Georges Clouzot“
Schirmer/Mosel, München 2010, 160 Seiten, 198 Abbildungen in Farbe und Duotone, 29,80 Euro

Der Film „Die Hölle von Henri-Georges Clouzot“ erscheint am 15. Juli 2010 auf DVD in der Edition Arthaus Premium bei Kinowelt, Leipzig.

Brevier für Zombiebelagerungen

( , Regie: )


von Joachim Schätz

Ein altes Berliner Mietshaus, eine überrumpelte Gruppe von Durchschnittsmenschen, eine unnachgiebige Bedrohung: „Rammbock“, das robuste Langfilmdebüt des Filmemacher-Duos Marvin Kren (Regie) und Benjamin Hessler (Buch), ist nicht nur der erste …

Ein altes Berliner Mietshaus, eine überrumpelte Gruppe von Durchschnittsmenschen, eine unnachgiebige Bedrohung: „Rammbock“, das robuste Langfilmdebüt des Filmemacher-Duos Marvin Kren (Regie) und Benjamin Hessler (Buch), ist nicht nur der erste deutsche Zombiefilm, der es über Genre-Liebhaberkreise hinaus schaffen könnte, sondern vor allem ein vergnüglicher Rückfall ins 90er-Jahre-Genre des „Action-Kammerspiels“ (© Drehli Robnik und Isabella Reicher). Als Berlin von virusinfizierten „Wütenden“ überrollt wird, verbarrikadieren sich die Zufallsbekanntschaften Michael (Michael Fuith) und Harper (Theo Trebs) in einer Wohnung. Mit den anderen Überlebenden im Haus interagiert man zuerst nur über das hofseitige Fenster. Aber als die Türen die Meute nicht mehr draußen halten können, arbeiten sich Michael und der Installateur-Lehrling Harper (Theo Trebs) durch die Geschosse des Mietshauses – notfalls auch mit dem filmtitelgebenden Stoßwerkzeug. Aber wie dreht man so ein Rammbock-Manöver? Und wer schminkt die Zombies? Regisseur Marvin Kren, 1980 in Wien geboren, gab der Filmgazette telefonisch Auskunft über die „nuts and bolts“ seiner Zombiebelagerung.

Joachim Schätz: „Rammbock“ wurde als Teil einer Nachwuchsinitiative der Redaktion „Das kleine Fernsehspiel“ des ZDF produziert. Diese Initiative sieht 200.000 Euro pro Projekt vor. Waren das die einzigen Mittel, oder habt ihr noch Förderungen bekommen?
Marvin Kren: Nein, es war die Voraussetzung, dass wir damit auskommen mussten. Das Kleine Fernsehspiel wollte Stoffe entwickeln, die schon innerhalb eines Jahres zur Ausstrahlung kommen können. Durch das Fördersystem dauert es sonst oft ziemlich lang, bis Filme realisiert werden. Manche Projekte treffen in der Konzeptionsphase total einen Zeitgeist. Aber bis sie dann ins Kino oder Fernsehen kommen, gibt es schon drei andere Filme zum gleichen Thema.

Welche Abstriche muss man machen, um mit so einem Budget einen Film zu drehen, der diese Action- und Horrorelemente hat?
Naja, es gibt halt kaum Geld für irgendwen. Wir hatten 13 Drehtage. So etwas kann man auch nur in Berlin machen. In Österreich würde das gar nicht funktionieren mit den starken Filmgewerkschaften. Wichtig war dieses Bewusstsein: Wir machen einen Zombiefilm, und man nimmt uns ernst. Das hat das gesamte Team stark motiviert.

Wie habt ihr ein Mietshaus gefunden, das den Vorgaben des Drehbuchs entsprach?
Eigentlich wollten wir in Hamburg drehen, weil ich in Hamburg in so einer ähnlichen Hinterhof-Situation lebe. Das ist hier noch spannender, weil die gegenüberliegende Seite meist näher ist und man die anderen viel genauer sieht. Aber in Hamburg gab es keinen Leerstand. Die Produktionsfirma war in Berlin, und die haben dann in Kreuzberg dieses Haus gefunden. Ich glaube, die Eigentümer haben uns auch ein bisschen benützt, um die restlichen verbliebenen Mieter zu verjagen.

Das Haus war noch bewohnt?
Im Haus lebten noch zwei Mieter, wobei einer über unsere Anwesenheit richtig glücklich war. Im Gegensatz zum Bestreben der Immobilienfirma war er sehr angetan, dass er Gesellschaft hatte. Es war auch sehr unheimlich, glaub ich, alleine in dem Haus zu leben.

Und wie viel wurde dann vor Ort gedreht?
Alles.

Auch die Szene, in der eine Wand mit einem Rammbock durchstoßen wird?
Die Rammbock-Szene haben wir ganz gut erschummelt. Wir wollten zuerst echt eine Mauer einreißen, das haben wir aber wegen der Statik nicht machen können. Deshalb haben wir eine künstliche Mauer aufgestellt, wo normalerweise eine Flügeltür zu einem anderen großen Zimmer war, und den Rammbock dort durch laufen lassen.

Was war am schwierigsten?
Die Actionsequenzen waren natürlich anstrengend, aber was am meisten Konzentration und Nerven verlangt, sind die Gore-Effekte. Die kosten einfach extrem viel Zeit. Zuerst müssen Schläuche gesetzt werden, wo das Blut rausspritzt, und da stehen dann viele Leute außerhalb des Bildausschnittes und bedienen Spritzen und Pumpen. Drüber muss man eine künstliche Haut auflegen, wo die Schlauchausgänge Platz finden. Die Tricktechniker waren sehr schnell und einfallsreich, aber man kann so einen Effekt maximal zweimal machen: Das Kostüm ist dann im Eimer, und die Kunsthaut muss wieder trocknen. Dafür muss man einen halben Tag einrechnen.
Uns war bereits in der Kalkulationsphase klar, dass wir keinen Film machen können, wo Köpfe abgehackt werden. Wir wollten aber sowieso nie einen klassischen Gore-Film machen. Gore kommt für mich, obwohl die Italiener das dann prominent gemacht haben, aus einer amerikanischen Tradition: vom Verwenden von Waffen, und aus einem Selbstverständnis, sein Leben, sein Haus und seinen Besitz konsequent mit einer Waffe zu verteidigen. In einem europäischen Setting funktioniert das nicht richtig.

Wer hat das Zombie-Make-Up gemacht? Wo findet man die nötige Expertise?
Das war Stefan von Essen. Der ist spezialisiert auf Silikon-Effekte. Normalerweise macht er Veronica Ferres einen schwangeren Bauch und Wasserleichen und so. Der war total euphorisiert von der Chance, im Horror zu arbeiten. Wir haben uns im Vorfeld zusammengesetzt, ganz viele Horrorfilme studiert, Hautkrankheiten-Bücher, Arten von Blindheit, und haben uns ein eigenes, möglichst stimmiges Krankheitsbild für unsere „Wütenden“ kreiiert.

Und was hat deine Mutter, die österreichische Film- und Fernsehschauspielerin Brigitte Kren, gesagt, als du ihr eine Zombierolle angetragen hast?
Naja, ich hab mit meiner Mutter eine Abmachung, dass sie in jedem Film von mir mitspielen muss. Es gab schon in der Konzeptionsphase diese Idee mit der Zombienachbarin. Und für mich war sofort klar, dass sie das perfekt spielen kann. Sie hat – als Schauspielerin – unglaubliche Ausbrüche drauf.

Ein europäischer Träumer

( , Regie: )

Sergio Leones ,Kino über das Kino’
von Harald Steinwender

Amerika als mythischer Projektionsraum, das Genrekino und seine Regeln, ritualisierte Handlungen und Gewalt in Männerbünden, Helden, die von traditionellen Schurken kaum zu unterscheiden sind. Den Stil betreffend: Übernahe Großaufnahmen, rabiat …

Amerika als mythischer Projektionsraum, das Genrekino und seine Regeln, ritualisierte Handlungen und Gewalt in Männerbünden, Helden, die von traditionellen Schurken kaum zu unterscheiden sind. Den Stil betreffend: Übernahe Großaufnahmen, rabiat gegen atemberaubende Weitwinkeltotalen geschnitten; ein enger Bund der Musik an die Montage; Ironisierungen, Brüche und Stilisierungen. Unfraglich war der italienische Regisseur Sergio Leone (1929 – 1989) ein Filmemacher mit einer distinktiven Handschrift; ein auteur. Zugleich war er aber auch der Schöpfer einiger der größten kommerziellen Erfolge des europäischen Kinos. Bereits sein erster Western „Für eine Handvoll Dollar“ (1964) avancierte zu einem der erfolgreichsten Nachkriegsfilme Italiens und begründete ein ganzes Subgenre, den Italowestern. Mit seiner „Dollar“-Trilogie etablierte er Clint Eastwood als Star. Mit „Spiel mir das Lied vom Tod“ (1968) gestaltete er den „ersten postmodernen Western“ (Bernardo Bertolucci). Sein Spätwerk „Es war einmal in Amerika“ (1984), ein ausufernder Gangsterfilm von epischen vier Stunden Länge, wurde gar zur definitiven Hommage an das klassische Hollywoodkino. Während seine ersten Filme insbesondere von der deutschen und amerikanischen Filmpublizistik als Apotheosen der Gewalt aufgefasst wurden – die Cahiers du Cinéma dagegen fanden von Anfang auch Lob –, gelten „Spiel mir das Lied vom Tod“ und „Es war einmal in Amerika“ inzwischen als Meisterwerke des Genrekinos. Eine Vielzahl von gegenwärtigen Hollywoodregisseuren bezieht sich zudem auf Leones Oeuvre; von den Coens bis zu Tarantino, den Hughes Brothers, John Woo und Robert Rodriguez.

Sergio Leone wurde am 3. Januar 1929 im römischen Viertel Trastevere geboren. Die pessimistische Note seiner Filme hat er oft auf diese Herkunft zurückgeführt: „Ein Römer zu sein, das bedeutet anders zu sein … fatalistisch zu sein. Hinter uns liegen ein verfallenes Weltreich und das Wissen um all die Dummheiten, denen wir uns über die Jahrhunderte schuldig gemacht haben. Mehr noch: Die historischen Zeugnisse unseres Reichs sind quer über die ganze Stadt verstreut, als dauerhafter Beweis unserer Fehler.“ Tatsächlich erlebte der junge Leone in der „ewigen Stadt“ ganz unmittelbar die Fortsetzung dieser katastrophischen Geschichte in die Gegenwart: das Ende des italienischen Faschismus, die Besetzung durch die Deutschen in den letzten Kriegsjahren, schließlich die Befreiung durch die Amerikaner. Kulturell war es das Hollywood-Kino, das im Faschismus nur zwangssynchronisiert in die italienischen Kinos kam, aber zumindest bis 1939 noch gezeigt wurde, das einen nachhaltigen Einfluss auf Leone ausübte: „Unsere Welt war wahrhaftig die Straße und das Kino. Vornehmlich die Filme, die aus Hollywood kamen! Niemals die französischen Produktionen oder die italienischen ,telefoni bianchi’“, so der Regisseur später. Diese Faszination für die US-Populärkultur prägte sein gesamtes Werk.

Leones Weg in die italienische Filmindustrie war gewissermaßen vorherbestimmt: Der Vater Vincenzo Leone war einer der italienischen Filmpioniere, die Mutter Edvige Valcarenghi eine unter ihrem Künstlernamen Bice Walerian bekannte Stummfilmdiva. Ab 1939 nahm Vincenzo, der unter dem Pseudonym Roberto Roberti seit Anfang der 1910er Jahre Regie führte, seinen Sohn mit zu den sound stages der römischen Filmstadt Cinecittà. In seinem letzten Film, „Il folle di marechiaro“ (1952, gedreht 1944 und 1949), hatte der junge Leone einen ersten Kurzauftritt als amerikanischer GI und arbeitete als unbezahlter Regieassistent. Auch in Vittorio De Sicas neorealistischem „Fahrraddiebe“ (1948) wirkte der damals 19-jährige als unbezahlter Regieassistent mit und trat abermals in einer kleinen Statistenrolle auf. Das Jurastudium gab er bald auf und begann, wie sein Vater zuvor, sich im italienischen Genre-Kino zu verdingen. Bis zu seinem offiziellen Regiedebüt „Der Koloss von Rhodos“ (1961) arbeitete er knapp 15 Jahre im italienischen Studiosystem; als Statist und Drehbuchautor, vor allem aber als Regieassistent von mindestens 30 Genrefilmen, darunter viele der damals populären „Sandalenfilme“. Zudem wirkte er in der Second Unit von fünf US-Produktionen mit, die in Cinecittà gedreht wurden, an Mervyn LeRoys „Quo Vadis“ (1951) zum Beispiel, der ersten der ins „Hollywood am Tiber“ ausgelagerten Runaway-Produktionen, die im antiken Rom angesiedelt waren, später auch an William Wylers Kolossalfilm „Ben-Hur“ (1959). Aufgrund einer Erkrankung des damals fast 70-jährigen Mario Bonnard, stellte Leone dessen Regiearbeit „Die letzten Tage von Pompeji“ (1959) alleine fertig. Die achte italienische Version von Bulwer-Lyttons Roman wurde so zu seinem inoffiziellen Regiedebüt. Auch „Der Koloss von Rhodos“ (1961), mit dem ihm erstmalig der Credit als Regisseur zugestanden wurde, war ein weiteres dieser farbenfrohen Breitwandspektakel, die die Franzosen auf den Namen Peplum getauft hatten. Es waren dann auch die französischen Kritiker, welche die hier zumindest im Ansatz schon vorhandenen Qualitäten des Regisseurs erkannten. Der junge Bertrand Tavernier zeigte sich in der Cinéma von Leones „äußerst graziösem Werk“ und seinem Umgang mit der Ausstattung begeistert, die Cahiers du Cinéma wagten in Bezug auf die mise-en-scène gar den Vergleich mit DeMilles Monumentalfilmen.

„Der Koloss von Rhodos“ hätte der Beginn von Leones Karriere im zu dieser Zeit boomenden Peplum sein können. Doch der junge Regisseur hielt sich zunächst drei Jahre zurück, in denen er unter anderem dem Hollywood-Maverick Robert Aldrich im zweiten Team von „Sodom und Gomorrha“ (1962) für ein paar Wochen assistierte, um dann ein reichlich obskures Projekt zu beginnen: die Dreharbeiten für einen italienisch-europäischen Western in der südspanischen Landschaft um Almería, mit einem relativ unbekannten US-amerikanischen Fernsehdarsteller in der Hauptrolle besetzt und an Akira Kurosawas „Yojimbo“ (1961) angelehnt.

Trotz des Erfolgs der deutschen Karl-May-Verfilmungen galt der Western – als literarische Gattung ebenso wie als Filmgenre – zu dieser Zeit noch als originär amerikanisches Sujet; „so amerikanisch wie Apfelkuchen“, wie es Jim Kitses ironisch formuliert, oder in den Worten André Bazins: als das amerikanische Genre par excellence. Mit „Für eine Handvoll Dollar“ sollte sich dies zumindest für ein Jahrzehnt grundlegend ändern. Auch wenn die Handlung in weiten Zügen von Kurosawa übernommen war, so lag die besondere Wirkung dieser europäischen Koproduktion doch gerade darin, dass der Stoff in ein Westernsetting übertragen worden war. In Bezug auf den klassischen Western definiert sich Leones Film „vorwiegend durch die Negation, ist eher Skizze als Fleisch, eher Idee als Anschauung“ (Brigitte Desalm). Wenn uns Luigi Lardanis animierte Vorspannsequenz nach einer flirrenden Sonnenhalluzination vor rotem Hintergrund in eine südspanische Wüste entlässt, dann befinden wir uns in einer ausgedörrten und feindlichen Umgebung, einer Art Vorhölle, die nichts mit den Tälern, Bergen und der Weite des amerikanischen Westens gemein hat. Wenn die US-Western als Thema oft die Nutzbarmachung des Landes behandelten, die Verwandlung der Wüste in einen Garten, so ist bei Leone das Land wieder zur Wüste geworden und wird es auch in den Folgefilmen bleiben – ein Anti-Eden, eine terra damnata. In der gesamten „Dollar“-Trilogie, die Leone mit den beiden Fortsetzungen „Für ein paar Dollar mehr“ (1965) und „Zwei glorreiche Halunken“ (1966) schuf, gibt es keine Versuche, den Boden zu bearbeiten, wir sehen nie auch nur einen einzigen Cowboy, eine Rinderherde oder eine Weidelandschaft. Auch Indianer, im Western sonst Signifikant der Wildnis, sind in Leones erster Trilogie vollständig abwesend. Jim Kitses, der Autorenkritiker des Genres, hat hieran eine prägnante Beobachtung zum Wandel des Western in der europäischen Anverwandlung gemacht: Dieser „Westen ohne Fortschritt“ sei ein Ergebnis der Internalisierung der Grenze; in Leones Filmen habe die Wildnis und die Rohheit des Landes auf die Gesellschaft selbst übergegriffen. Wenn diese Filme aber in einem metaphorischen Grenzgebiet spielen, so ist dieses doch immer auch ein explizit italienisches, nämlich das des Übergangs zum Mezzogiorno, diesem „postkolonialen Raum“ innerhalb der Nation Italien, der wie eine innere Grenze Italien trennt. Durch ihr düsteres Bild einer gescheiterten Moderne reflektierten diese Western die ethischen Erschütterungen, die die Modernisierung Italiens in der Nachkriegszeit mit sich brachte. Ihr Erfolg galt italienischen Filmwissenschaftlern wie Lino Micciché als Ausdruck des grassierenden Zynismus der italienischen Gesellschaft und des Verfalls tradierter Werte und Normen hin zu den neuen, einzigen anerkannten „Werten“: Geld und Macht.

Die stärkste der Verkehrungen, die Leone im Hinblick auf den klassischen Western vornahm, lag freilich in dem von Clint Eastwood verkörperten Protagonisten begründet: Statt des positiven Westernhelden, der Ritterfigur Amerikas, trat mit Eastwoods namenlosem Revolvermann eine gewissenlose Söldnerfigur an. Nun war, wie Pauline Kael bemerkte, nicht mehr der Held zum Glück auch der beste Schütze, sondern der beste Schütze wurde zum Helden. Im Gegensatz zum klassischen Westerner, etwa Alan Ladd in George Stevens’ „Shane“ (1953), verteidigte der Eastwood-Protagonist keine idyllische Frontier-Gesellschaft mehr; er hatte sich vielmehr mit der bösen Welt arrangiert. Einzig in den ritualisierten Duellen folgte die Figur noch einer Art ehrenhaftem Code.

Die besondere Bedeutung von Leones Filmen für das Genre gründete auch in ihrer aggressiven und experimentellen Inszenierungsweise, insbesondere den formelhaften Spielereien und selbstreferenziellen Brüchen. Der spätere Regisseur Dario Argento, der Mitte der 60er Jahre als Journalist für die Tageszeitung Paese Sera arbeitete, beschrieb die Wirkung von „Für eine Handvoll Dollar“: „Wir waren überrascht, denn dies war ein Western, wie wir uns ihn erträumt hatten – der historische Western war nicht so innovativ, nicht so verrückt, nicht so stilisiert, nicht so gewalttätig.“ So fängt Massimo Dallamanos Kamera im extravaganten Showdown dieses Films im Staub liegend die Stiefel der Protagonisten ein, die sich in den Breitwandbildkader schieben und ihn in der ganzen Breite ausfüllen. Weitwinkelaufnahmen, die Figuren in die Tiefe des Bildraums staffeln, kontrastieren mit Teleaufnahmen, die auf der Klimax der Duelle so nahe an die maskenhaften Gesichter gesetzt sind, dass sie mehr Detaileinstellungen als Großaufnahme bilden. Die einzelnen auf einander folgenden Einstellungen von Gesichtern und Details vermitteln hier keine neue Information mehr, sind eher Abfolgen von filmischen Tautologien. Im „Triell“, das den Höhepunkt von „Zwei glorreiche Halunken“ bildet, präsentiert uns Leone fast drei Minuten lang immer schneller hintereinander geschnittene Serien von jeweils drei Detaileinstellungen: Zuerst drei Gesichter, dann die drei Revolvergurte der Gegner, drei Augenpartien, dann drei Hände nahe den Revolvern, wieder drei Augenpartien und abermals Hände. Das waren Innovationen, die in vergleichbarer Weise höchstens am Rand des Genres in den Vereinigten Staaten zu sehen waren, etwa bei Robert Aldrich und Samuel Fuller, in Filmen wie „Vera Cruz“ (1954) und „Vierzig Gewehre“ (1957).

Die 14-minütige Exposition von „Spiel mir das Lied vom Tod“ aber, das war ein absolutes Novum. Gemessen an ihrem minimalen narrativen Gehalt ist bereits die Länge der Sequenz ausufernd: An einem gottverlassenen Viehbahnhof kommen drei Männer an, terrorisieren wortlos den Bahnhofsvorsteher und seine Frau und warten auf den Zug. Nach dessen Ankunft tritt ihnen ein mysteriöser Fremder entgegen, der die Männer erschießt. Nicht mehr, nicht weniger. Aber wie das inszeniert wird: Mit einem von Ennio Morricone orchestrierten Geräuschraum, der als Musique concrète den Auftritt von Jack Elam, Woody Strode und Al Mulock begleitet. Wie wir alle Zeit der Welt haben, diesen Männern beim Warten zuzusehen, wie sich Elam mit einer lästigen Schmeißfliege duelliert, Mulock seine Knöchel knacken lässt und damit zur Geräuschmusik beiträgt, oder wie Strode unbewegt dasteht, einer Ikone des Stoizismus gleich, während auf seinen fast kahlgeschorenen Schädel rhythmisch die Wassertropfen eines lecken Tanks schlagen. Der Holzboden unter den Männern, ein Flickwerk endloser Bretterlinien aus verzogenen Bohlen und Planken, bildet in den streng komponierten bodennahen Weitwinkelbilder ein Muster, das an einen ausgedörrten Salzsee erinnert – zugleich roh und poetisch, von einer atemberaubenden Schönheit, die die Hässlichkeit der Figuren, die Armseligkeit des Stationshauses und die Banalität des Wartens transzendiert. Und dann der Auftritt von Charles Bronson als „Mann mit der Mundharmonika“: Mit einem Crescendo der Geräuschmusik fährt die Eisenbahn ein, überfährt wie in Fords „Das eiserne Pferd“ (1924) die Kamera und Leones Regie-Credit fällt von rechts oben ins Bild, wie eine Schranke, die den gerade einfahrenden Zug stoppt. Als dieser dann wieder abfährt, steht Bronson plötzlich da: wie eine Statue, die gerade vom Zug abgeladen wurde oder als ob der Zug nur ein hunderte Tonnen schwerer Vorhang war, der für seinen Auftritt zur Seite gezogen wurde. Wenn Leone zuvor die Zeit dehnt, indem er uns mit scheinbar endlosen Bildern von Männern konfrontiert, die träge in der Hitze vor sich hin starren, und sie zugleich durch die Montage rafft, die zwei Stunden tote Zeit in zehn Minuten Film komprimiert, dann parodiert er natürlich auch Zinnemanns „Zwölf Uhr Mittags“ (1952). Leones Filme waren immer das, was Lino Micciché als ein „Kino über das Kino“ bezeichnet hat oder Sylvie Pierre als „ein dreister kinematografischer Narzissmus“ galt; ein ästhetisches und inhaltliches Vorausgreifen der filmischen Postmoderne und ihrer Oberflächenreize, ein Zitieren durch die Filmgeschichte.

Grundlegend für Leones Filme ist die Tendenz zur Überhöhung, zur überladenen Ausstattung, zum exzessiven Einrichten von tableaux vivants. Das zentrale Erinnerungsbild im Flashback von „Spiel mir das Lied vom Tod“ ist mit seiner gemäldehaften Symmetrie wohl das beste Beispiel. Der Lynchmord im Zentrum des Bildes ist gleich dreifach gerahmt: Von den Tafelfelsen und der Weite des Monument Valley, in dessen Tiefe eine Windhose tobt, von einem frei inmitten der kargen Landschaft stehenden Steinbogen und schließlich vom Mörder und seinen Komplizen, die vor und um Bronsons jüngere Inkarnation und seinen Bruder wie Renaissance-Engel lagern. Dieses singuläre, in seiner Hyperrealität atemberaubende Panoramabild, eingefangen in einer irrealen Aufsicht, ist eine der außergewöhnlichsten und erinnerungswürdigsten Einstellungen der Filmgeschichte, die beim ersten Sehen auf einer großen Leinwand als nachhaltiger Schock wirkt: In ihrer Traumlogik nie vollständig greifbar.
Auch Leones Post-Western „Todesmelodie“ (1971) lässt sich insbesondere als Abfolge großer Momente und überlebensgroßer Tableaus lesen, eine Tendenz, die in „Es war einmal in Amerika“ zu einem Abschluss kommt. Leone verwebt hier drei Zeitebenen durch Matchcuts und Soundcuts, inszeniert einen Tanz zwischen den Dekaden, doch verbleibt der Film gänzlich in einer hermetisch abgeschlossenen, labyrinthischen Welt. Der Titel verspricht ein Es war einmal, doch die Erzählung hat noch nicht einmal diesen vagen Ausgangspunkt: Ob wir den Erinnerung eines alten Gangsters (Robert De Niro) folgen, der sich an den Orten seiner Kindheit und Jugend auf der Suche nach seiner verlorenen Zeit befindet, oder wir nur dem Opiumtraum dieses Mannes folgen, alles also eine drogengeschwängerte Fantasie ist, das bleibt letztlich unklar. Am Ende des Films betritt De Niros junger Gangster noch einmal das Opiumhaus, in dem wir ihm am Anfang begegnet sind. Die Kreisbewegung des Films kommt zu einem Abschluss. In Aufsicht zoomt die Kamera durch die Gaze eines Baldachins in eine Großaufnahme De Niros, der direkt in die Kamera blickt. Langsam erfüllt ein breites Grinsen sein Gesicht, das Bild friert ein und die Schlusstitel erscheinen. Mit dieser letzten Einstellung stellt Leone alles in Frage, was wir zuvor gesehen haben: De Niros schwer bestimmbares Grinsen könnte genauso gut boshaft sein und mit dem direkten Blick in die Kamera die Zuschauer verspotten, die seinen – und Leones – Lügen gefolgt sind. Hat uns da einer ein Märchen erzählt – Once Upon a Time in an Opium Den? Dabei ist das Opiumhaus auch eine Metapher für das Kino selbst ebenso wie für Leones Faszination gegenüber dem amerikanischen Kino: Wenn der ganze Film einen Opiumtraum illustriert, so nimmt der Träumer zugleich die Bilder und Erzählungen der Hollywood-Gangsterfilme in seine Erinnerung auf, von Griffiths „The Musketeers of Pig Alley“ (1912) bis zu Coppolas „Der Pate – Teil II“ (1974). In diesem Opiumhaus außerhalb der Zeit spielt zudem ein indonesisches Schattentheater das Ramayana, einen Welterschaffungsmythos, in dem die Figuren Rama und Ravana als Repräsentationen von Gut und Böse sich in einem ewigen Kampf befinden. Das ist das Rohmaterial des Kinos: Schatten auf einer Wand und eine Geschichte über Gut und Böse.

Leones zweite Trilogie, die „Amerika“-Trilogie von „Spiel mir das Lied vom Tod“ über „Todesmelodie“ bis zu „Es war einmal in Amerika“, ist als Triptychon vom Werden Amerikas angelegt, aber als europäischer Traum von Amerika, also aus einer Perspektive, die Amerika als Legende begreift und als historischen Raum weitgehend ignoriert. Leone geht, wie Georg Seeßlen so treffend bemerkt hat, von der „,Erinnerung’ der Europäer an ihre eigene Phantasie von Amerika“ aus und bezieht sich auf die Mythen des US-amerikanischen Kinos und der US-Literatur – der Westen der frontier, die Turbulenzen der gescheiterten Befreiungskämpfe Mexikos und die Gangsterherrschaft der Prohibitionsära. In diesem Sinn ist der Titel des Auftaktfilms der Trilogie eine luzide Zusammenfassung: „C’era una volta il West“ bedeutet korrekt übersetzt „Es war einmal der West“ – nicht „Es war einmal im Westen“, wie der US-amerikanische Titel verspricht oder gar der Imperativsatz „Spiel mir das Lied vom Tod“, den der deutsche Verleih wählte. Der italienische Titel ist treffender in seinem Verweis auf die populäre Form, den Märchencharakter und den Mythos (C’era una volta). Er vereint die romantische Sehnsucht nach dem Vergangenen, den Traum der europäischen Emigranten von der Neuen Welt, die Projektion der Intellektuellen und der italienischen Antifaschisten während der Mussolini-Jahre, sowie den mythischen Westen, der in der Nostalgie des Cinephilen fortlebt, der seiner vom Kino genährten Phantasmen der Kindheit gedenkt. Er verwendet nicht das italienische Wort für Westen, ovest, sondern das englische West. Und zugleich unterschlägt der Titel nicht die biografische Enttäuschung über die Entzauberung des Traums: der Weste(r)n, das war einmal, ist nicht mehr, zumindest nicht mehr so wie damals. Stuart Kaminskys Wertung in der St. James Film Directors Encyclopedia wirkt auf den ersten Blick vielleicht etwas hoch gegriffen, doch sie trifft den Kern: „Seit Franz Kafkas ,Amerika’ hat kein europäischer Künstler sich mit solcher Intensität der Bedeutung von amerikanischer Kultur und Mythologie zugewandt. Sergio Leones Karriere ist bemerkenswert in ihrer unnachgiebigen Aufmerksamkeit für zugleich Amerika und den amerikanischen Genrefilm. In Frankreich nutzten Truffaut, Godard und Chabrol das amerikanische Kino als Ausgangspunkt ihrer eigenen Vision. Aber Leone, ein Italiener, ein Römer, der erst nach fünf Filmen über die USA begann, Englisch zu lernen, widmete den Großteil seines kreativen Lebens dieser Erforschung.“

In den fünf Jahren nach „Es war einmal in Amerika“ versuchte Leone, ein weiteres Großprojekt zu organisieren. „Leningrado“ sollte, frei auf Harrison Salisburys „The 900 Days – The Siege of Leningrad“ (1969) basierend, die Schlacht um Leningrad im Zweiten Weltkrieg als italienisch-sowjetische Koproduktion auf die Leinwand bringen. Es wäre sein erster Film seit „Der Koloss von Rhodos“ geworden, der wieder auf dem europäischen Kontinent gespielt hätte. Aber Leone litt an einem Herzleiden und die aufwändigen Dreharbeiten zu dem letzten Film hatten ihn stark angegriffen. Am 30. April 1989 starb er an einem Herzstillstand, während er im Fernsehen „I Want to Live“ (1958) von Robert Wise sah, dem er 1955 bei „Der Untergang von Troja“ assistiert hatte. Er wurde gerade einmal 60 Jahre alt.

(Im Bertz+Fischer-Verlag ist im November 2009 die Monografie „Sergio Leone – Es war einmal in Europa“ (400 S., 25 EUR) erschienen, in der sich Harald Steinwender ausführlich mit dem Werk Leones befasst.)

Schlingensief ist tot

( , Regie: )

Alles auf Anfang
von Dietrich Kuhlbrodt

Schlingensief ist tot. Aber das Spiel ist damit nicht aus. Jedenfalls nicht für mich. Denn umso gegenwärtiger ist mir die Zeit, als alles begann. Die Zeit mit Schlingensief. 1982/83 gab …

Schlingensief ist tot. Aber das Spiel ist damit nicht aus. Jedenfalls nicht für mich. Denn umso gegenwärtiger ist mir die Zeit, als alles begann. Die Zeit mit Schlingensief.

1982/83 gab es im Hamburger Abaton-Kino eine Reihe mit dem damals attraktiven Titel „Unbekannte Filme von unbekannten deutschen Regisseuren“. Ich ging hin. Ich hatte es satt, das kommerzielle System zu bedienen und zum Starttermin zu bekakeln, was alle bekakelten. Ich sah „Tunguska, die Kisten sind da“ von einem Menschen, dessen Namen richtig auszusprechen, ich noch lange Mühe hatte. Schlin-gen-sief. Er war da, 22 oder 23, und hatte seinen berühmt gewordenen jungenhaften Charme, dem heute noch alle erliegen, und ich damals vorweg. Aja, der Film. Ich war begeistert. Danach die Diskussion. Ich wurde wütend. „Alles so pubertär“, wurde rumgemäkelt. Ich gab contra. Wieso wird das Wort „pubertär“ eigentlich negativ aufgeladen? Hallo, wie stets denn mit Rimbaud?? Voll in der Pubertät schrieb er das „Trunkene Schiff“, und als die Pubertät vorbei war, schrieb er nichts schlechtes, Rimbaud schrieb gar nichts. Also. Ich rief meinen Redakteur von der Frankfurter Rundschau an, den Herrn Schütte, und berichtete, was Großes ich erlebt habe. „Wieviel Spalten?“, fragte er cool zurück. „Vier!“ – „Foto?“ – „Ja!“ – So geschahs. Zwei Tage später bekam meine Sache den Titel „Schlingensief, der Rimbaud des neuen deutschen Films“, vierspaltig.

Schlingensief rief an. Ich spielte ein paar Monate später in „Menu total“ mit, gleich drauf in „Egomania“ (mit der jungen Tilda Swinton), und dann die Reihe nach.
Schlingensief hatte es raus, wie man’s macht, was keiner macht. Für die Aufnahme in die Hochschule für Fernsehen und Film in München beschafft er sich ein Empfehlungsschreiben von Wim Wenders, zu dem er vorher keinen Kontakt hatte. Er war extra zu den Festpielen nach Venedig gefahren. Wim Wenders nutzte aber nichts. Schlingensief wurde von der Schule hohnlachend abgewiesen. Was macht einer, der nun nicht Student wurde, dann? Falsche Frage. Was machte Schlingensief? Er beschloss, die Studiererei zu überschlagen. Gleich Professor werden! Oder doch Assistent beim Prof der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, Helmut Herbst. So geschah es. Und Offenbach und die Studenten der Filmklasse brachten unter der Regie des 22jährigen Hochschul-Assi Schlingensief „Tunguska oder die Kisten sind da“ zustande.

Wie das nachmachen? Wo lernt man Charisma? Eine dumpfe Ahnung bekam ich, als wir bei der Sendung „Der heiße Stuhl“ mitmachten. RTL Anfang der neunziger Jahre. Auf dem Stuhl saß eine junge Ministerin der Bundesregierung, Kohls Mädchen, Angela Merkel. Wir attackierten sie, Schlingensief und ich. Die Merkel guckte interessiert. Nach der Aufnahme kam sie auf uns zu, lächelte und fragte: „Seid ihr eine Blase?“ Was Schlimmes konnte sie nicht meinen, denn sie lud uns nachdrücklich ein, sie im Ministerium zu besuchen. Dabei hatte sie Augen nur für Schlingensief. – Mehr geht nicht.

2010: es ging, wie wir wissen, unbegrenzt viel mehr, kurz: alles. Und dann: game over.

Magische Momente 36

( , Regie: )

Taxi Driver
von Klaus Kreimeier

Klassik – diesen gediegenen, wenn auch etwas goldstaubübersprühten Begriff haben uns die Literatur- und Kunstwissenschaftler geschenkt. Geht es um Dichtung oder Malerei, stiftet er Ordnung: „Hochklassik“, „moderne Klassik“; in diesen …

Klassik – diesen gediegenen, wenn auch etwas goldstaubübersprühten Begriff haben uns die Literatur- und Kunstwissenschaftler geschenkt. Geht es um Dichtung oder Malerei, stiftet er Ordnung: „Hochklassik“, „moderne Klassik“; in diesen Gefilden ist Orientierung möglich, man kennt sich aus. Wie viel schwerer macht es uns da die Kinematografie! Einerseits ist sie als Kulturgut im bildungsbeflissenen Bürgertum noch immer nicht ganz angekommen; sonst müssten wir nicht darum kämpfen, dass uns die Filme des letzten Jahrhunderts erhalten bleiben und nicht in den Archiven an chemischer Zersetzung zugrunde gehen. Andererseits hat die Filmindustrie den Klassik-Begriff hemmungslos usurpiert und ihren Marketing-Kampagnen einverleibt. In den USA verläuft die Karriere eines Films vom opening weekend über die ersten box office-Zahlen zum „Klassiker“ oft rasant. Als Cinéast fasst man das Hudelwort nur noch mit spitzen Fingern an, sucht nach Synonymen; und schreibt am Ende, mit Bauchgrimmen und doch aus voller Überzeugung: „Taxi Driver“ von Martin Scorsese (USA 1976) ist ein Klassiker unserer Filmgeschichte. Und ein Juwel dazu. Punkt.

Wie kommt das? Nach vier Jahrzehnten hat der Film die Patina einer romantischen Ballade angesetzt, die uns, hochmoralisch, die alte Geschichte vom Kampf des Individuums gegen die Gesellschaft erzählt. Vom einsamen Wolf, der durch die Nächte der verruchten Großstadt streift und Körper und Seele gegen das Böse stählt: gegen Kriminalität und Sittenlosigkeit, gegen „die Nutten, den Dreck, die Straße“. Ein raues Märchen, das den Taxifahrer Travis (Robert De Niro) beinahe zum Mordanschlag auf einen Präsidentschaftskandidaten treibt, ihn als Amokläufer im Bordell ein schauriges Gemetzel veranstalten lässt und am Ende zum Helden nobilitiert. Zu einem Ritter sonder Furcht und Tadel, der eine zarte Kindfrau (Jodie Foster) dem Sumpf der Bronx und den Klauen ihres Zuhälters entreißt. Die alten Geschichten, die alten (Kino-)Mythen sind da, doch Scorsese zerlegt sie, geht nicht ihren Klischees in die Falle. Er ertränkt alle Romantik, alles Märchenhafte in Blut und kruder Gewalt, und er macht seinen Helden zur komischen Nummer, wenn er zeigt, wie Travis vor dem Spiegel mit nacktem Oberkörper, Lederholster und vier großkalibrigen Schießeisen seine Selbstoptimierung zur bewaffneten Ordnungsmacht betreibt.

Und dann ist da ein Dialog, der könnte von Beckett sein. Nach einer harten Taxifahrernacht spricht Travis seinen Kollegen Wizard (Peter Boyle) an. Auf der Straße das normale Chaos, keifende Prostituierte und miese Typen. „Du kennst dich doch aus“, sagt Travis, „es ist nur, ich habe…“ – „Hängst ein bisschen durch?“, fragt Wizard. „So was kann jedem passieren“. Aber Travis hat’s ziemlich erwischt: Er würde gern was Vernünftiges tun. Prüfender Blick des andern. „Kein Taxifahren?“; „Nein, es ist… ich weiß nicht. Ich würde gern…“ Jetzt gucken sich beide fragend an. Wizard sagt: „Ich sehe das so: Ein Mann nimmt einen Job an, der Job wird Teil seines Lebens. Du bist, was du tust.“ Travis druckst herum, schweigt. „Du kriegst einen Job, und dann wirst du wie der Job. Dem einen geht’s dreckig, dem anderen gut. Wichtig ist, dass man lebt. Beschissen werden wir so oder so.“ Travis grinst und findet, das sei das Dämlichste, was er je gehört habe. „Ich bin nicht Bertrand Russell“, sagt Wizard. „Ich weiß immer noch nicht, was du willst.“; „Das weiß ich selber nicht.“; „Schalt mal ab und mach Pause“, sagt Wizard. „Ich weiß Bescheid. Das wird schon.“ Er geht zu seinem Wagen, steigt ein, fährt los. Travis ragt verloren in den dunklen Morgen, ein einsamer Sinnsucher, ratlos ins Dasein geworfen, um ihn flackern die Lichtgewitter der Stadt.

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Magische Momente 35

( , Regie: )

Le Mystère des roches de Kador
von Klaus Kreimeier

Die Kamera blickt in eine Art Labor, drei Herren stehen im Vordergrund, einer hält einen Filmstreifen begutachtend gegen das Licht. Im Hintergrund eine Leinwand, Vorhänge werden zugezogen, der Raum wird …

Die Kamera blickt in eine Art Labor, drei Herren stehen im Vordergrund, einer hält einen Filmstreifen begutachtend gegen das Licht. Im Hintergrund eine Leinwand, Vorhänge werden zugezogen, der Raum wird abgedunkelt. Geschäftiges Treiben, Leute in weißen Kitteln eilen hin und her. Eine Filmprojektion steht bevor. Und eine junge Frau, Suzanne, soll aus einer tiefen Depression herausgeholt werden. Ein paar letzte Anweisungen, dann schauen alle gespannt auf eine weißgewandete Gestalt, die wie schlafwandelnd, von einer Helferin gestützt, den Raum betritt. Einer der Herren geht auf sie zu, blickt ihr prüfend in die Augen, geleitet sie behutsam zu einem Stuhl, wendet ihren Kopf der Leinwand zu. Der Raum ist nun völlig dunkel, die einzigen Lichtquellen sind die Projektorlampe, die weiße Fläche der Leinwand – und das Gesicht Suzannes, das das Licht reflektiert. Im Gegenschuss sehen wir, was sie auf der Leinwand sieht. Wir sehen, wie sie es sieht und auf das Gesehene reagiert.

In den frühen Jahren der Filmgeschichte scheint es oft wie Zauberei, wenn die Kinematografie ihr ureigenes technisches Instrumentarium aufdeckt, mit ihm selbstreferentiell spielt oder es selbstreflexiv zum Thema macht. Ein neues Medium schlägt die Augen auf, es erwacht zu seinen Möglichkeiten und stellt sie als Film im Film zur Schau – meist schrill-schräg-ironisch wie bei Max Linder oder Charlie Chaplin, die gern ihre Studios ins Chaos stürzen und mit den Tricks der Illusionsfabriken ihr eigenes Metier lustvoll dekonstruieren. Ganz anders „Le Mystère des roches de Kador“ (Das Geheimnis der Felsen von Kador) von Léonce Perret (Frankreich, 1912): Film im Film funktioniert hier als Maschinerie, die aufwendig ein Verbrechen re-konstruiert und seine Nachinszenierung nutzt, um den Täter zu überführen und das Opfer von seinem Trauma zu befreien. Suzanne soll das, was ihr und ihrem Geliebten angetan wurde, nach-erleben, um aus der Nacht der Trauer in den Tag, in die Wirklichkeit zurückkehren zu können.

Auf der Leinwand, der Filmleinwand im Film, rollt eine Mordgeschichte ab. Ein junger Mann, ein Strand, ein Boot, eine von düsteren Felsen gerahmte Bucht. Plötzlich bricht der Mann zusammen, rafft sich wieder auf, schleppt sich schwer verletzt weiter, findet den scheinbar leblosen Körper einer Frau, zieht ihn in das Boot. Wir sehen diese Bilder, wir sehen im Halbdunkel die Zuschauerin und, in einem Zwischenschnitt, ihr Gesicht, das Entsetzen in ihren Augen. Wir kennen die Bilder, weil wir zuvor das „reale“ Verbrechen gesehen haben und seine dokumentarische Rekonstruktion am Ort des Geschehens verfolgen konnten. Die Projektion des Materials, auf Veranlassung und unter Aufsicht eines Therapeuten, wird nun zu einem psychoanalytisch-kinematografischen Prozess. Trauma und Erinnerung, Film und Hypnose werden, im doppelten Sinne, zu einem flashback vereint, der auch uns, den Zuschauern, etwas vermittelt: Wir lernen, so der Kritiker Ekkehard Knörer, „was es heißt, Filme zu sehen. Wir erkennen wieder, was wir (nicht) erlebt haben.“

Am Ende der Szene ist der Raum schlagartig erhellt, Suzanne steht vor der weißen Leinwand, sie wankt, man fängt sie auf, großes Durcheinander, ihr Geliebter beugt sich über sie, sie betastet sein Gesicht, und ein Zwischentitel sagt uns: „Elle pleure, elle est sauvée.“ Suzanne weint – und sie ist gerettet. Ein psychotherapeutisches Experiment, „mediengestützt“, hat sie aus ihrer Depression erlöst und dem Leben zurückgegeben.

Viele Jahrzehnte später hat Jean-Luc Godard in seinen „Histoire(s) du cinéma“ (Fr 1989) Perrets Film ein Denkmal gesetzt.

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Magische Momente 34

( , Regie: )

Le Chat (Die Katze)
von Klaus Kreimeier

Simone Signorets Gesicht ist wie aus Stein, in altersgrauem Leid erstarrt. Vor ihr, auf dem Küchentisch, liegt ein Revolver, und sie wird schießen, dreimal wird eine Detonation die verbrauchte Luft, …

Simone Signorets Gesicht ist wie aus Stein, in altersgrauem Leid erstarrt. Vor ihr, auf dem Küchentisch, liegt ein Revolver, und sie wird schießen, dreimal wird eine Detonation die verbrauchte Luft, die klebrige, erstickende Stille um sie herum zerreißen.

Was die ehemalige Tänzerin und Akrobatin Clémence Bouin vor vielen Jahren mit ihrem Mann Julien (Jean Gabin) verbunden haben mag, ist längst erloschen. Geblieben ist wortloser Krieg, sind Enge und Eingeklemmtsein und ein Nicht-Atmen-Können in der vollgestopften Wohnung mit ihren stumpfen Farben, ihrem unfrohen Licht. Man spricht nicht miteinander, man schreit sich an und verkriecht sich gedemütigt wieder ins Schweigen. Auch draußen tobt Krieg: Das alte Stadtviertel, in dem die beiden wohnen, wird abgerissen. Staub und Schlamm überall und schweres Gerät, das Häuser und ganze Straßenzüge zerlegt. Julien, nun ja, er hält sich eine Geliebte, aber das einzige Wesen, das ihn noch mit dem Leben verbindet, ist eine zugelaufene Katze. In ihr sieht Clémence ihre Nebenbuhlerin, ihre abgrundböse Feindin, ihre ärgste Konkurrenz. Lange „passiert“ nichts in diesem Film; es gibt nur das Schlachtfeld des Alltags, doch wenn Clémence und Julien sich zufällig anblicken, scheint es, als warteten sie auf etwas.

„Gut gespielt, doch zu emotional“, so bemäkelte seinerzeit der katholische Filmdienst Pierre Granier-Deferres Drama „Le Chat“ (Die Katze, Frankreich/Italien 1971). In der Tat: in dieser bürgerlichen Hölle taugen die Gefühle nur als Waffen – zu viel, zu emotional für einen Kritiker, der im Dienst der Kirche im Kino sitzt: er musste, 1971, auf Erlösung hoffen und, schon zum Schutz des eigenen Seelenheils, auf Maßeinheiten und Obergrenzen achten.

Clémence nimmt den Revolver in die Hand, blickt ihn an. Wollte man die nun folgende, fünfzig Sekunden lange Montage in ihre kleinsten Einheiten zerlegen, müsste man die aufgestaute Wut beschreiben, den Hass, der jede Bewegung dieser Frau mit Mordentschlossenheit auflädt. Wie sie nach der Waffe greift, ihren Lauf nach oben richtet, sie dann mit beiden Händen packt. Das krampfhafte Zucken um ihren Mund. Bildfüllend, zwei Sekunden lang: der Kopf der Katze, ihre riesigen Pupillen – als wüsste sie, dass sie auf ihre Mörderin blickt. Dann, total gesehen: Die Katze duckt sich neben einen Schrank, huscht aus dem Bild, ins andere Zimmer. Ein Ruck geht durch Clémence‘ Körper, sie folgt ihrem Opfer, der Katzenkopf wendet sich ihr zu, der erste Schuss. Rauch zieht durch das Bild, die Katze entwischt durch einen Türspalt. Der zweite Schuss; wieder die beiden Hände, die den Revolver halten. Clémence hetzt durch die enge Wohnung, man hört den dritten Schuss – und dann steht Julien in der Tür, beide starren entgeistert auf das tote Tier. Ein Tableau wie aus grauem, bröselndem Zement.

Auf der Berlinale 1971 wurde „Le Chat“, der Darsteller wegen, für den Goldenen Bären nominiert, am Ende haben Simone Signoret und Jean Gabin den Silbernen erhalten. Egal – kein noch so edles Metall wird ihrer Leistung gerecht.

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Magische Momente 33

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Frankenstein
von Klaus Kreimeier

Zuerst ist sein Rücken zu sehen, er füllt die ganze untere Bildhälfte: ein Brocken, ein Berg von einem Menschen, nein: ein Turm, der sich schwer und schwarz und zögernd auf …

Zuerst ist sein Rücken zu sehen, er füllt die ganze untere Bildhälfte: ein Brocken, ein Berg von einem Menschen, nein: ein Turm, der sich schwer und schwarz und zögernd auf Wanderschaft begibt. Schlurfende Geräusche lassen ahnen, dass er die ersten ruckartigen Schritte versucht. Dann bewegt sich der Kopf – nicht geschmeidig, wie sich ein menschlicher Kopf bewegt, sondern so, als habe eine unsichtbare Hand eine Mechanik in Gang gesetzt. Im Halbprofil: ein Gesicht wie aus bleichem Stein gehauen, Licht fällt auf knochige, eingefallene Wangen. In Großaufnahme die Gesichtslandschaft von vorn, unstetes Flackern in den halb geöffneten Augen. Abrupt wendet sich der Riese seinem Schöpfer zu, dem Doktor Frankenstein, der ihn nicht aus den Augen lässt, der ihn mit den eigenen Körperwendungen sanft dirigiert, ihm leise Anweisungen erteilt, „Komm her“, „setz dich“: Wie ein Erfrorener, der aus seiner Starre erwacht, probiert das massige Wesen Haltungen, Gesten, eine Neigung des Kopfes aus, knickt in der Mitte ein und lässt sich schließlich steif in einen Sessel fallen. Eine Dachluke wird geöffnet, Tageshelle flutet ihm jäh ins Gesicht, sein Blick irrt in die Höhe, widerstrebend erst, dann gierig heben sich seine Arme, greifen seine Hände nach dem Licht.

Mit der Erschaffung des anonymen Monsters in „Frankenstein“ (James Whale, USA 1931) hat die Universal, vulgo Hollywood, den Kosmos der Populärkultur um eine Marke bereichert, die ihresgleichen sucht. Es war die Geburtsstunde eines Mythos (obwohl es schon 1910 einen frühen Vorläufer, den für Edison produzierten „Frankenstein“ von J. Searle Dawley gab). Es war die wirkliche und wahre Geburtsstunde Boris Karloffs als Universal-Star – wenngleich er zuvor schon fast siebzig Filme gedreht hatte und und nur noch zwei weitere Auftritte als Monster folgen werden (1935 in „Bride of Frankenstein“, 1939 mit Bela Lugosi in „Son of Frankenstein“). Und es begann ein massenpsychologisch denkwürdiger Vorgang, in dem ein Name vom Schöpfer auf die erschaffene Figur selbst übertragen und somit eine hochkomplexe Chiffre für die Hybris unserer Kultur etabliert wurde. Auf der langen Wanderung, die das Kennwort „Frankenstein“ in ungezählten amerikanischen, britischen, japanischen Verfilmungen, seriellen TV-Adaptionen und Romanreihen bis in unsere Gegenwart zurücklegte, hat unser symbolsüchtiges Gedächtnis das Markenzeichen „Frankenstein“ mit dem Bildzeichen der Monster-Kunstfigur Boris Karloff zur Einheit verschmolzen. Ein gedanklicher Automatismus, auf den die Industrie stets erfolgreich spekuliert hat – selbst dann noch, als uns deutsche Filmtitel-Ingenieure mit „Frankenstein und die Ungeheuer aus dem Meer“ (1966) Godzillas Tiefsee-Horror verkaufen wollten.

Vielleicht hat Maskenbildner John P. Pierce vorausgeahnt, was er mit seiner Kunst anrichten würde – angeblich musste sich Karloff an jedem Drehtag vier Stunden lang seinen subtilen Manipulationen unterziehen, bevor die erste Klappe fallen durfte. Während Mary Shelly in ihrer legendären Romanvorlage von 1818 das „elende Monstrum“ mit seinen „wässrigen Augen“, „eingeschrumpften Gesichtszügen“ und „schmalen, schwarzen Lippen“ zu einem Inbild des Hässlichen ausmalte, hat Pierce den harten Kanten und Ecken des Kopfes, der schrundigen Haut, den strengen Mundwinkeln einen Anflug von Trauer eingeschrieben: Hier scheint eben jene Menschlichkeit auf, die dem Monstrum im Konflikt mit der Spezies „Mensch“ zum tragischen Schicksal werden sollte. Pierce hat es verstanden, Gut und Böse, Humanität und Inhumanität in den Mikrostrukturen der Physiognomie auszuhandeln.

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Magische Momente 32

( , Regie: )

Abre los ojos (Öffne die Augen)
von Klaus Kreimeier

Noch bevor der Vorspann abrollt, gleiten wir in eine Welt, die grundlegend in Unordnung geraten ist. Gerade haben wir César kennengelernt, haben gesehen, wie er sich aus dem Bett herausarbeitet, …

Noch bevor der Vorspann abrollt, gleiten wir in eine Welt, die grundlegend in Unordnung geraten ist. Gerade haben wir César kennengelernt, haben gesehen, wie er sich aus dem Bett herausarbeitet, sich unter die Dusche schlängelt, durch seine Loftwohnung hastet und im VW-Käfer davonbraust. Die Spanier lieben ihre männlichen Stars besonders, wenn sie aufs Haar den Jünglingen in ihren hochglanzkaschierten Werbemagazinen gleichen und jene Klischees bedienen, die sich in den Neunzigern mit der Vorstellung eines smarten Startup-Unternehmers verbunden haben. Eduardo Noriega in Alejandro Amenábars „Abre los ojos“ (Öffne die Augen, Sp/Fr/It 1997) ist ein solcher Beau, was ihn freilich vor seinem schrecklichen Schicksal nicht bewahren wird.

César fährt durch die Innenstadt von Madrid. Hochhäuser, Balkone und Balustraden, pompöse Postmoderne und viel Neobarock, die Sonne scheint, es ist ein schöner Vormittag, die Uhr zeigt kurz nach zehn. Etwas stimmt nicht. Erst irritiert, dann staunend, schließlich fassungslos blickt der junge Mann in eine gläsern-jenseitige, geisterhaft-entseelte Szenerie: Auf den Straßen der prächtigen Stadt sind keine Menschen, Madrid ist wie leergesaugt. Mitten auf einer Kreuzung lässt er den Wagen stehen, steigt aus, blickt um sich, schaut zu den Fassaden hoch, lauscht: kein Laut, kein Lebewesen, eine Verkehrsampel blinkt ihre Signale ins Nichts. César beginnt zu laufen, torkelt, läuft weiter, als rette ihn das Laufen vor etwas, das nach ihm greift, rennt und rennt in die Tiefe der totenstarren, sterbensstillen Stadt.

Am Ende des Films wird es so etwas wie eine Auflösung des Rätsels geben, auf dem Weg dahin aber hat Amenábar so viele Mysterien, auch Ungereimtheiten aufeinander getürmt, dass dem Zuschauer jegliche Hoffnung auf Plausibilität vergangen sein dürfte. Spanien hat die Liebe zum Barock an die Labyrinthik vieler seiner Filme weitergegeben – das haben vor allem seine Kinohelden zu büßen, vor allem dann, wenn sie, wie César, nach einem Autounfall an einer schweren posttraumatischen Bewusstseinsstörung leiden, wenn ihr Gesicht entstellt ist und sie zwischen Erinnerung und Traum, realen und surrealen Erzählebenen hin- und hergejagt werden. Doch damit nicht genug – am Ende findet sich César gar in den Fängen einer Kyronik-Firma wieder, die ihre Kunden im Sterbefall einfrieren und nach aufwendiger Reanimation in einer virtuellen Realität wiederauferstehen lässt. Borderline-Kino somit, Surrealismus plus Science fiction, beides in barocker Opulenz. Zwei Frauen komplizieren zusätzlich die Geschichte, von denen die eine, Nuria (Najwa Nimri), César nachstellt und die andere, Sofía (Penélope Cruz), ihn und uns im ungewissen lässt, ob sie überhaupt existiert.

Sehr leicht, wie ein Hauch weht die Liebesgeschichte zwischen César und Sofia in diesen reichlich flamboyanten Film; Nähe und Fremdheit bleiben in pendelnder Balance. In einem Park sieht César aus der Ferne eine schmale Gestalt, weißer Mantel, weiße Mütze, auch das Gesicht ist weiß geschminkt, unter dem Mantel ein blaukariertes Clownsgewand. Es ist Sofia, er hat sie auf seiner Geburtstagsfeier kennengelernt, nun zögert er, sich ihr mit seinem zerstörten Gesicht zu nähern. Sie stellt sich in Positur, erstarrt zu einem lebenden Bild: Das ist der Job, der sie ernährt. César bleibt vor ihr stehen, wirft eine Münze auf das Tuch zu ihren Füßen, fragt: „Habe ich mich so verändert?“ Regen setzt ein, verwischt die Schminke auf ihrem Gesicht. Sie löst sich aus ihrer Pose, lächelt ein wenig künstlich, fragt, wie es im geht. Er sagt: „Du willst mir nicht mehr ins Gesicht sehen.“ Sie geht auf ihn zu, streichelt seine von Narben entstellte Wange, dann wird der Regen stärker, und sie gehen auseinander, jeder geht seinen Weg.

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Magische Momente 31

( , Regie: )

The Night of the Hunter (Die Nacht des Jägers)
von Klaus Kreimeier

Zwei Kinder, John und Pearl, sind auf der Flucht vor einem Mörder, tagelang treiben sie stromabwärts auf einem Kahn durch eine wuchernde Flusslandschaft, kämpfen gegen ihre Angst. Nachts ist der …

Zwei Kinder, John und Pearl, sind auf der Flucht vor einem Mörder, tagelang treiben sie stromabwärts auf einem Kahn durch eine wuchernde Flusslandschaft, kämpfen gegen ihre Angst. Nachts ist der Himmel über ihnen eine schwarze Scheibe, in die sich am Horizont das metallene Weiß eines Lichtstreifens schiebt; als stechende Silhouetten heben sich Bäume, Hütten, Zäune vor ihm ab. Und der Schattenriss des Mörders, der am Ufer zu Pferde die Kinder verfolgt. Der Mörder singt. Er singt ein altes Kirchenlied, er singt von Trost und ewigem Frieden in Gott. Die Nacht ist so still, dass sich der Gesang von der Gestalt des Reiters abzulösen scheint, das Lied steigt zu den Sternen und überwölbt die Welt: „Leaning, leaning, leaning on the everlasting arms“. Der Sänger ist ein Heuchler, ein Wanderprediger, der durch die Lande zieht und den Leuten das Seelenheil verspricht, doch ihnen nach dem Leben trachtet und die Macht über sie erringen will.

Roger Ebert adelte „The Night of the Hunter“ (USA 1955) mehr als vierzig Jahre nach der Premiere zu einem der bedeutendsten amerikanischen Filme; sein Pech sei nur gewesen, dass die Kritiker ihn in keine Schublade stecken konnten und das Publikum seine waghalsigen Stil- und Genremischungen nicht goutieren mochte. Es sei gewiss „risky“ gewesen, schrieb Ebert 1996, Humor und Horror zu kombinieren und beide mit expressionistischen Mitteln zu überhöhen. Die erste Regiearbeit des großen Charakterdarstellers Charles Laughton war auch seine letzte – ein ähnliches Debakel wollte er nicht noch einmal riskieren. Aber: Was für ein zwingender, erschreckender und erschreckend schöner Film ist das doch, so Ebert. „And how well it has survived its period.“ Wie wahr! Aus dem Amerika der Depressionsjahre, in denen er spielt, strahlt er bis in unsere Zeit, in das amerikanische Wahljahr 2016. Nur sind aus wanderpredigenden Schurken wie jenem Harry Powell (Robert Mitchum) politische Fundamentalisten und Demagogen wie Ted Cruz und Donald Trump geworden – und aus den bigotten Kleinbürgern von 1930, die dem Heuchler zu Füßen liegen, die rasenden Wutbürger der Tea-Party.

Die Geschichte, die dieser Film erzählt, hat harte Konturen, und doch schwebt sie in einem Modus des Fantastisch-Irrealen, bebt zwischen Angst und Hoffnung, Terror und Erlösung, Wirklichkeit und Traum. John und Pearl finden Zuflucht bei der Witwe Rachel Cooper (Lillian Gish), die in ihrem Haus eltern- und obdachlose Kinder umsorgt: Wie im Märchen taucht ihre rettende Gestalt auf und verweist doch nur auf die bittere Realität, die sie bekämpft – moralische Verwahrlosung, physische Not und psychisches Elend in einem reichen Land. Und wie in einem märchenhaften Western entwickelt sich der Show down. Wieder ist es Nacht, im gleißenden Mondlicht liegt Rachel Coopers Holzhaus, draußen am Zaun lauert Powell, der mordende Prediger, und singt. „Leaning, leaning, safe and secure from all alarms…“ Im Haus schlafen die Kinder; auf der Veranda sitzt Rachel, das Gewehr auf dem Schoß. Es kommt zum Refrain, und was nun geschieht, ist so irritierend wie folgerichtig und durchkreuzt jede Norm, die Liturgie der Kirche und die Hollywoods zugleich. Beide, Powell mit seinen Mordgelüsten und Rachel, mit dem Finger ab Abzug, singen nun gemeinsam: „Leaning on Jesus, leaning on Jesus, safe and secure from all alarms; leaning on Jesus, leaning on Jesus, leaning on the everlasting arms.“

Der Kampf zwischen Gut und Böse als Duett – wohl eines der seltsamsten, die in einem Film gesungen wurden. Das Ende ist ordnungsgemäß: Powell, ins Haus eingedrungen, wird durch einen Schuss aus Rachels Gewehr verletzt und an die Polizei ausgeliefert.

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juli akin

Magische Momente 30

( , Regie: )

Im Juli
von Klaus Kreimeier

Es gibt keine Theorie des magischen Moments im Film, was nur logisch ist – handelt es sich doch um eine eher subjektive, zudem etwas wacklige Kategorie. Magie lässt sich schwerlich …

Es gibt keine Theorie des magischen Moments im Film, was nur logisch ist – handelt es sich doch um eine eher subjektive, zudem etwas wacklige Kategorie. Magie lässt sich schwerlich verwissenschaftlichen. Andererseits haben wir es mit einer kinematografischen Konstruktion zu tun, so dass es möglich ist, die verzaubernden Augenblicke im Kino auf ihre Bauelemente hin zu untersuchen und ihre spezifischen Mischungen zu benennen. Ein besonders geeignetes Beispiel dafür ist Fatih Akins Film „Im Juli“ (Deutschland 2000), der als Road Movie alle nur denkbaren komischen, abenteuerlichen, märchenhaft-phantastischen, kriminal- oder gangsterfilmhaften Momente aneinander reiht. Da dürfen die magischen nicht fehlen – schon darum, weil dieser Film gleich als Märchen beginnt: Der Hamburger Lehramtskandidat Daniel sieht sich unversehens im Besitz eines Zauberrings, verziert mit dem Sonnensymbol der Maya, der soll ihm den Weg zu seiner Traumfrau weisen. Dass ihn auf einer bulgarischen Landstraße das Naturereignis einer Sonnenfinsternis (der ganz realen vom 11. August 1999) überrascht, ist somit kein Wunder, jedoch wunderbar in den Drehplan eingebaut und gefilmt. Eine einsame Landstraße, eine Leiche im Kofferraum, eine schwarze Sonne – das ist Hitchcock mit einem Schuss Naturmagie.

Magische Momente sind in der Regel entweder durch das Genre oder, wie in diesem Fall, durch die Handlung legitimiert. Im Mystery-Genre stehen sie sich oft gegenseitig im Weg, lassen uns Hören und Sehen vergehen, finden aber die besondere Bewunderung der Technik-Freaks. Häufen sie sich, mögen sie als Mittel der Ironie durchgehen, versacken jedoch meistens in Stillosigkeit. In den wirklich großen Augenblicken des Kinos verdanken sie sich dem Kinematischen selbst, der Essenz des filmischen Erzählens und seiner Affinität zum Traum – sie sind dann cinéma pur.

Auf einer rein handwerklichen Ebene schließlich – „Im Juli“ wurde ja von einem guten Handwerker gemacht – kann man ihr Konstruktionsprinzip studieren. So scheinen die Bauteile in jener Szene, in der die Liebe zwischen Daniel (Moritz Bleibtreu) und Juli (Christiane Paul) die ersten zarten Keime treibt, dem Versandkatalog einer Firma für romantische Effekte (und Affekte) entnommen: Auf einem Donaukahn rauchen die beiden in lauwarmer Nacht gemeinsam einen Joint, am Himmel steht prall der Vollmond, alles ist in die magische Farbe Blau getaucht, entsprechend hingebungsvoll trällern sie im Duett „Blue Moon“, Richard Rodgers‘ Evergreen von 1933. (Im Drehbuch war „Friday I’m In Love“ von The Cure vorgesehen, das war leider zu teuer.) Und obwohl keine Steigerung mehr möglich scheint, erleben die Liebenden eine reale Elevation, die sie waagrecht schwebend in den mutmaßlich siebenten Himmel trägt. Einige Kritiker hatten schnell den Begriff „surrealistisch“ zur Hand, dabei hat die richtige Elevation, als „Erheben der Gebeine“, ihre Wurzeln in der römisch-katholischen Liturgie.

Eine andere Elevation scheitert kläglich und rutscht in jene Ambivalenz, die schon Heinrich Heine als romantische Ironie bezeichnet hat. Daniel will, nach genialer Berechnung aller physikalischen Parameter, sein geklautes Auto über einen Fluss setzen. Er startet, gibt Vollgas, hebt ab, das Vehikel schreibt einen eleganten Bogen in die Luft, doch bevor der Moment sich ins Magische schwingen könnte, kippt der Wagen in den Sturzflug und platscht zwei Meter vor dem Ufer ins Wasser.

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Magische Momente 29

( , Regie: )

The Third Man (Der dritte Mann)
von Klaus Kreimeier

Die perspektivische Anordnung des Bildes könnte präziser, ausgetüftelter nicht sein – und ist doch, im strengen, kantigen Schwarzweiß dieses Films, von überwältigender Schönheit. Eine Allee auf dem Wiener Zentralfriedhof, in …

Die perspektivische Anordnung des Bildes könnte präziser, ausgetüftelter nicht sein – und ist doch, im strengen, kantigen Schwarzweiß dieses Films, von überwältigender Schönheit. Eine Allee auf dem Wiener Zentralfriedhof, in die Bildtiefe strebend, an beiden Seiten von kahlen Bäumen flankiert. Die schwarzen Äste ragen wie verrenkte Arme in die Luft, ihre Zweige gleichen Stacheln. Links vorn im Bild lehnt lässig ein Mann, Joseph Cotten, gegen eine mit Holzscheiten beladene Karre, den Hut in den Nacken geschoben, die Hände in den Taschen, den offenen Mantel zurückgeschlagen, wartend. Das Licht ist von fahler Transparenz; es könnte zu einem zaghaften Wiener Vorfrühlingstag gehören, aber es ist Herbst, die letzten Blätter fallen, torkeln verspielt zu Boden. Über der Szene schwebt Anton Karas‘ Zithermusik, die neben Orson Welles in der Starrolle des Harry Lime „The Third Man“ (Carol Reed, UK 1949) zum Weltruhm verholfen hat. Jetzt am Ende des Films, nach so viel Tragik, Elend, Tod, nach Verrat und Verbrechen im Wien der Nachkriegszeit, trudeln die zarten Klänge etwas erschöpft um sich selbst, als erhofften sie nicht mehr viel, als warteten sie nur noch, mit uns und Joseph Cotten, auf irgend etwas, vielleicht auf eine ganz kleines, unscheinbares und sehr unwahrscheinliches Glück.

David O. Selznick, neben Alexander Korda Koproduzent des Films, hatte sich für das politische Durcheinander in der Viersektorenstadt Wien mehr antisowjetische Propaganda und sympathischere Amerikaner gewünscht – und auch ein rundum gelungenes Happy end wäre ihm vermutlich lieber gewesen. Carol Reed ist solchen Einflüsterungen nicht erlegen, er hat mit den schräg verkanteten Bildern seines Kameramanns Robert Krasker, dem illusionslosen Plot, den low-key-Lichtern in der regennassen Schwärze der Straßen und den Abwasserkanälen der Stadt seinen ganz eigenen, entschlossen depressiven film noir gemacht.

Aus der Tiefe des Bildes nähert sich die Gestalt einer Frau. Als habe sie sich aus dem Fluchtpunkt der Allee gelöst, schreitet sie sehr ruhig, sehr gleichmäßig, sehr aufrecht direkt auf die Kamera zu. Es ist Alida Valli, sie trägt einen eleganten Mantel und einen breitkrempigen Hut. Joseph Cotten blickt in ihre Richtung, die Blätter fallen unentwegt von den kahlen Bäumen, begleitet von den zirpenden Zitherklängen, und es könnte nun etwas geschehen, es könnte zu einem Blickkontakt zwischen den beiden kommen oder irgend etwas eintreten, auf das wir mit Joseph Cotten warten, obwohl wir wissen, dass es unmöglich ist, und obwohl auch Cotten weiß, dass es nicht stattfinden wird, weil es der falsche Film wäre oder so etwas wie das richtige Leben im falschen, und darum eben nicht stattfinden kann. Und weil es so ist, geht Alida Valli kerzengerade, ohne ihm den Kopf zuzuwenden, an ihm vorbei, verschwindet rechts im Vordergrund aus dem Bild. Cotten verharrt erst reglos, dann steckt er sich eine Zigarette an, der aufsteigende Rauch verhüllt sein Gesicht.

Kitsch oder Sentiment? Vielleicht eine Gratwanderung. Den richtigen Kitsch, das Happy end, das im Film nicht zustande kam, hat Drehbuchautor Graham Greene wenig später in seinen Roman geschrieben.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin

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