“Sieh zu, dass du was erlebst!”, sagt Dr. Breuer (Josef Bierbichler) im saloppen Befehlston zu seinem zwar guten, aber auch gelangweilten Schüler Benjamin Hofmann (Samuel Schneider). Dessen in letzter Zeit auffälliges Desinteresse ist es auch, weshalb der Rektor eines Internats für Kinder reicher Eltern den knapp 17-Jährigen zum Schuljahresende zu sich einbestellt. Caroline Link konstruiert im Drehbuch zu ihrem neuen Film „Exit Marrakech“ diesen Vorwand, um die grundlegenden Antagonismen ihrer Coming-of-Age-Geschichte zu etablieren: Zum einen den Gegensatz zwischen theoretischer Freiheit und tatsächlich erfahrenem Leben, zum anderen den schwelenden Konflikt zwischen Ben und seinen geschiedenen und vielbeschäftigten Künstler-Eltern, die beide keine Zeit für ihren Sohn haben. Während die Mutter (Marie-Lou Sellem), eine Musikerin, für ein Engagement in Paris weilt, tourt Vater Heinrich (Ulrich Tukur) als Theaterregisseur mit Lessings „Emilia Galotti“ durch Marokko.
Also soll Ben seine Ferien mit seinem Vater in dem nordafrikanischen Land verbringen. Ein paar ökonomische, die Handlung raffende Schnitte später befindet sich der junge Mann mitten in dieser doppelten Fremde, namentlich in der titelgebenden Stadt Marrakesch, durch die er sich ziemlich ungezwungen und sorglos, ja fast schon aufreizend naiv bewegt. Das mag einerseits, nicht ganz glaubwürdig, einer jugendlichen Unbekümmertheit geschuldet sein; andererseits inszeniert Caroline Link damit den Widerstand des Heranwachsenden gegenüber dem einigermaßen klischeebeladenen Vater, der Paul Bowles liest und die Phantasie der Realität vorzieht. Für Links Marokko-Faszination bietet das wiederum den Anlass, ihren jugendlichen Helden mit einer fremden Lebenswelt zu konfrontieren, durch die sich dieser allerdings allzu selbstverständlich bewegt. Daraus gewinnt der Film zwar ebenso authentische wie malerisch-schöne Bilder, bleibt dem dokumentierten Leben allerdings letztlich äußerlich.
Genervt von seinem reservierten Vater, flüchtet Ben in diese exotische Welt, verliebt sich in die verführerische Prostituierte Karima (Hafsia Herzi), folgt ihr unumwunden in ihr entlegenes Heimatdorf in den Bergen, wo die Menschen arm sind und sehr traditionell leben, und wird ziemlich abrupt von ihr fallengelassen. Das allein ist schon viel Stoff, der von der Erzählung kaum mehr als behauptet wird und überdies erzähllogische Mängel aufweist. Jedenfalls landet Ben bald darauf zum „Dünensurfen“ in der Wüste, die der Seele gut tue, wie es bedeutsam heißt, wird überdies vom besorgten Vater hektisch gesucht und bald auch gefunden. Was dann folgt, ist eine teils dramatische Vater-Sohn-Geschichte im Gewand eines Roadmovies. Zögerlich und von Männlichkeitsritualen umstellt, nähern sich Ben und Heinrich schließlich einander an, wobei vor allem der Vater, der gesteht, die Kindheit seines Sohnes „komplett verpasst“ zu haben, lernen muss, Nähe zuzulassen. Die Realität, so die Botschaft, ist eben doch manchmal dringlicher und stärker als die Phantasie.
Wolfgang Nierlin führte für die Filmgazette mit der Regisseurin auch dieses Interview.