„Ich würde von einem magischen Realismus sprechen“

von Ulrich Kriest


Nachdem sein Film „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ 2010 für eine Kontroverse gesorgt hatte, überraschte Oskar Roehler 2011 mit dem Roman „Herkunft“ – einer semi-autobiografischen Familiengeschichte, die gleichzeitig eine Geschichte West-Deutschlands ist. Schreiben kann Roehler, der ja als Drehbuchautor für Christoph Schlingensief reüssierte. Jetzt hat Roehler mit Star-Besetzung einen Teil von „Herkunft“ verfilmt, mit Stars wie Moritz Bleibtreu, Meret Becker oder Jürgen Vogel. „Quellen des Lebens“ ist ein echter Roehler geworden: trashig, poppig, hysterisch und ein wenig sentimental. Kurzum: Die BRD – wie sie Oskar Roehler erinnert. Kein Horrorfilm.

Ulrich Kriest: Wenn Oskar Roehler davon spricht, er verfilme jetzt Familiengeschichte, dann ist das Publikum zumindest vorgewarnt, mit allem zu rechnen, oder?
Oskar Roehler: (lacht) Na ja, dieses Kino, mit dem ich bekannt geworden bin, ist ja nun auch schon etwas länger vorbei. Ich meine dieses „Wollen, aber nicht hundertprozentig Können“. Filme wie „Der alte Affe Angst“ ist ja schon etwas Anderes.

Zugegeben, dieser ursprüngliche Roehler-Furor des Ungebremsten, den ich persönlich immer sehr erfrischend fand, ist einer größeren Professionalität gewichen. Aber eine Szene wie zu Beginn von „Quellen des Lebens“, wenn der Soldat nach Jahren der Kriegsgefangenschaft nach Hause kommt und dort eben nicht willkommen ist, sondern stört und dies auch gezeigt bekommt, habe ich so böse im deutschen Film nicht mehr gesehen seit Peter Lorres „Der Verlorene“.
Das nehme ich jetzt mal als Kompliment. John Waters meets the Trümmerfilm. (lacht) Ich habe beide Seiten in mir. Vielleicht konnte ich früher diese beiden Seiten nicht so richtig ausbalancieren. Und musste deshalb einen wüsten Film wie „Suck My Dick“ auf den strengeren „Die Unberührbare“ folgen lassen. Auch „Lulu und Jimi“ war ja noch ein wilder Film. Davon ist jetzt auch noch ein Moment in „Quellen des Lebens“ – etwa in der Figur der Großmutter mütterlicherseits -, aber es sprengt den Film nicht mehr auf. Dieses Sprühen von Lebensenergie und Hysterie, diese Groteske des Kleinbürgerlichen – es ist alles noch vorhanden. Das gab es ja alles auch in der Realität – so schlimm ist Deutschland jetzt auch nicht. Ich verliebe mich immer in exzentrische Figuren wie den Chauffeur. Man darf ja nicht vergessen: damals war alles derart mit Tabus und Ängsten behaftet, dass darunter schon eine vulkanische Kraft lauerte, die an den unmöglichsten Stellen und Momenten aufbrechen konnte. Ich bin immer ein großer Fan der Filme eines John Waters gewesen. Sonst hätte ich ja gar nicht mit Schlingensief arbeiten können. Aber diese Form der Komödie findet man in Deutschland ja sonst gar nicht. Man kennt zwar die Filme von Waters, David Lynch oder der Coen-Brüder, aber sie haben keinen Platz in unserem künstlerischen Haushalt gefunden.

Beteiligen Sie sich also nicht an der begeisterten Wiederentdeckung der alten Folgen von „Der Kommissar“ mit Erik Ode und ihren absurd-surreal-hysterischen Qualitäten? Weil doch der Schlüssel-Song „I’d love you to want me“ von Lobo, der in Ihrem neuen Film eine gewichtige Rolle spielt, durch eine „Kommissar“-Folge populär wurde?
Doch, ich erinnere mich daran, wie abgespaced die Filme damals waren. Eine ähnliche Stimmung erinnere ich auch aus den ersten fünf, sechs Filmen von Rainer Werner Fassbinder. So eine debile, brutale Erotik. Dumpf-brütend und surreal. In Deutschland wirkt selbst die Gesellschaftskritik noch brav und gehorsam. Diese Situation hat eigentlich erst Schlingensief aufgebrochen, wenn er sich etwa beim „Deutschen Kettensägenmassaker“ auf Trash bezogen hat. Das mache ich ja nicht. Bei mir würde ich lieber von einem magischen Realismus sprechen im Sinne einer poetisch-subjektiven Überhöhung von Realität. Ich spiele mich nicht als Historiker auf.

Wenn man den Roman „Herkunft“ gelesen hat, ist man nach den fast drei Kinostunden von „Quellen des Lebens“ fast ein wenig enttäuscht, dass es nicht gleich noch einmal drei Stunden weitergeht. Ist ein zweiter Teil von „Quellen“ geplant?
Da ist tatsächlich etwas geplant, allerdings nicht in dieser epischen Form. Fürs Fernsehen drehe ich eine kleine Serie von Filmen, in denen mein Protagonist in die dunklen Abgründe der achtziger Jahre in West-Berlin geschickt wird. Das wird lustig, eine schwarze Komödie.

Was hat es mit dem Titel des Films – „Quellen des Lebens“ – auf sich?
Wenn man den Film gesehen hat – und dann taucht der Titel „Quellen des Lebens“ auf, dann ist man zu Tränen gerührt. So ging es mir jedenfalls. Dieser Titel passt perfekt für den Film. Es geht ja um das Leben. Da wäre der Titel „Herkunft“ viel zu spröde und zu starr.

Sie haben ja zunächst einen autobiografischen Roman geschrieben und anschließend Teile dieses Stoffes in eine filmische Chronik übersetzt. Sie haben immer als Drehbuchautor gearbeitet – und zudem gibt es ja bereits Filmbilder, die den Zeitraum Ihrer Chronik behandeln. Es gibt die einschlägigen Retro-Szenarien von Fassbinder, es gibt die ganzen RAF-Filme, die ja auch immer »68« umkreisen usw. Wie versucht man angesichts dieser Bilderflut, originell zu bleiben?
Mein Film ist nicht am Reißbrett entstanden wie so viele andere deutsche Filme. Mir geht um eine andere Wahrheit als die ideologische Wahrheit eines Dokumentarfilmers, der auf genaue Recherche setzt. Ich gehe einen entschieden anderen Weg. Gäbe es Vorbilder für meinen Film, die es nicht gibt, dann wäre es wohl eher ein Film wie „Mein Leben als Hund“ von Lasse Hallström. Das ist ein poetischer, sehr subjektiver Film, der doch ein Gesellschaftsporträt ist. Ähnliches habe ich versucht. Ich hatte ja den Roman geschrieben. Der lag da, um ihn zu studieren. Wie ein Koch, konnte ich über bestimmte Zutaten nachdenken. Das Ganze hat ja etwas Allegorisches, wenn es um die Jugend oder das Erwachsenwerden geht, aber ich brauchte nicht mehr zu recherchieren. Das lag ja alles vor mir, das waren Figuren meiner Kindheit, von denen mein Schicksal abhing. Der Fundus, aus dem ich schöpfe, ist mein eigenes Leben, auf das ich ohne große Betroffenheit zurückblicke. Wie ein Seemann, der eine gefährliche Reise beschreibt, die lange zurückliegt. Wobei das offene Meer hier zur Seelenlandschaft wird. Es geht um ein sinnliches Erzählen, das ganz stark von der eigenen Lebenserfahrung geprägt ist. Und da haben mich die Figuren stärker interessiert als die politischen Umstände der Zeitgeschichte. Ich wollte nicht etwa Geschichte von außen erzählen. Deshalb urteile ich auch nicht über die einzelnen Figuren, sondern lasse ihnen Widersprüche und Komplexität. Ich bin kein Oberlehrer.

Und daraus resultiert eine mittlere Erzähllage, die nicht auf das Exemplarische zielt: keine Kriegsverbrecher, keine Jugendrevolte, keine Notstandsgesetze, keine RAF.
Oberflächlich gesehen nicht. Aber Momente davon stecken vielleicht doch im Film drin, nur vielleicht etwas phantasievoller verpackt als üblich. Es werden gerade nicht die Dinge erzählt, die man schon tausendmal in anderen Filmen gesehen hat. Oder sie werden anders, persönlicher, auf Anekdoten gründend erzählt. Mein Film ist die Gegenbewegung zum Üblichen. Ich erzähle ohne ein ehrenwertes Anliegen, ohne Botschaft und auch nicht aus rein kommerziellem Interesse. Ich mache Kino und kein News-TV.

Wobei Ihre schmerzhafte, aber schillernde Biografie natürlich einen Standortvorteil in Sachen „Erzählstoff“ birgt. Nicht jeder hat zwei Schriftsteller mit reichlich Macken zu Eltern …
Aber ich schildere das nicht aus kulturhistorischer Perspektive, sondern durch die Augen eines Kindes, das vernachlässigt wird. Ganz naiv.

Anders als in den üblichen Drehbuch-Gräbern des deutschen Films fehlt bei Ihnen die Szene, in der plötzlich Heinrich Böll in der Tür steht und zu Ihrem Vater sagt: „Wir treffen uns morgen im PEN-Club, um über den Schah-Besuch Anfang Juni zu beraten. Die Ulrike von „konkret“ wird auch dabei sein!“
(lacht) Nein, so einen Quatsch könnte ich nie schreiben. Außerdem zeige ich ja ganz unterschiedliche Milieus: da sind die Emporkömmlinge der Nachkriegszeit, die Neureichen aus der Provinz, die Schriftsteller, die Durchschnittsfamilie. Da steckt viel Witz, aber auch jede Menge Wahrheit über die Deutschen drin.

Die Großeltern, die von Margarita Broich und Thomas Heinze gespielt werden, könnten direkt aus einem Schlagerfilm der späten 50er Jahre kommen. Darin wären sie neureiche Exzentriker, gespielt vielleicht von Boy Gobert und Grete Weiser, die dann von Heinz Erhardt oder Freddy Quinn »erzogen« werden würden. Bei Ihnen fehlt nur eben dieser opportunistische Erziehungsprozess zum Guten, zum Mainstream oder?
Interessante Idee, aber wahrscheinlich hätte es die Exzentrik und die Gewalt dieser Beziehung dann doch nicht in den Schlagerfilm geschafft. Im Schlagerfilm war selbst das Exzentrische letztlich bieder. Anekdotisch ist jedoch die Szene, in der das Ehepaar vor den Fernsehnachrichten sitzt und der Mann plötzlich anfängt, auf Willy Brandt zu schimpfen. Daran erinnere ich mich nur zu gut: Abend für Abend ging die Brüllerei los, wenn Brandt auf dem Bildschirm erschien. Dann wurde es eng im Wohnzimmer. Drei Tage später entlud sich der Frust dann in einem Ehekrach. Ein Elend im goldenen Käfig. Über dieses Grauen hat bislang niemand Filme gemacht, höchstens in Ansätzen Fassbinder mit „Die Sehnsucht der Veronika Voss“.

Was Fassbinder bestimmt gefallen hätte, sind die von Sonja Kirchberger, Meret Becker, Margarita Broich und Lavinia Wilson jeweils hervorragend gespielten starken Frauen. Von denen geht eine ungeheure Energie aus!
(lacht) Ja, da habe ich mir mal etwas Mühe gegeben! Wozu gab es schließlich „Maria Braun“ und „Lili Marleen“? Man kann die Dinge auch mal richtig ausleuchten und tollen Figuren den ihnen zustehenden Raum geben. Es muss nicht alles immer grau und verdruckst sein.

Irgendwann in diesem Film werden Sie selbst geboren und zeigen Ihre Entwicklung vom vernachlässigten Kind zum verliebten Jugendlichen. Wie funktioniert diese autobiografische Dimension?
Ich musste da irgendwie durchkommen, durch meine Familien und Ersatz-Familien. Beim Versuch, dies zu schaffen, wurde ich zumindest phasenweise zum Clown. Was für mich und vielleicht für den Film den Vorteil hatte, dass ich nicht alles immer so ernst, so moralinsauer genommen habe.

Foto: © X-Verleih