Schlingensief ist tot

Alles auf Anfang
von Dietrich Kuhlbrodt

Schlingensief ist tot. Aber das Spiel ist damit nicht aus. Jedenfalls nicht für mich. Denn umso gegenwärtiger ist mir die Zeit, als alles begann. Die Zeit mit Schlingensief.

1982/83 gab es im Hamburger Abaton-Kino eine Reihe mit dem damals attraktiven Titel „Unbekannte Filme von unbekannten deutschen Regisseuren“. Ich ging hin. Ich hatte es satt, das kommerzielle System zu bedienen und zum Starttermin zu bekakeln, was alle bekakelten. Ich sah „Tunguska, die Kisten sind da“ von einem Menschen, dessen Namen richtig auszusprechen, ich noch lange Mühe hatte. Schlin-gen-sief. Er war da, 22 oder 23, und hatte seinen berühmt gewordenen jungenhaften Charme, dem heute noch alle erliegen, und ich damals vorweg. Aja, der Film. Ich war begeistert. Danach die Diskussion. Ich wurde wütend. „Alles so pubertär“, wurde rumgemäkelt. Ich gab contra. Wieso wird das Wort „pubertär“ eigentlich negativ aufgeladen? Hallo, wie stets denn mit Rimbaud?? Voll in der Pubertät schrieb er das „Trunkene Schiff“, und als die Pubertät vorbei war, schrieb er nichts schlechtes, Rimbaud schrieb gar nichts. Also. Ich rief meinen Redakteur von der Frankfurter Rundschau an, den Herrn Schütte, und berichtete, was Großes ich erlebt habe. „Wieviel Spalten?“, fragte er cool zurück. „Vier!“ – „Foto?“ – „Ja!“ – So geschahs. Zwei Tage später bekam meine Sache den Titel „Schlingensief, der Rimbaud des neuen deutschen Films“, vierspaltig.

Schlingensief rief an. Ich spielte ein paar Monate später in „Menu total“ mit, gleich drauf in „Egomania“ (mit der jungen Tilda Swinton), und dann die Reihe nach.
Schlingensief hatte es raus, wie man’s macht, was keiner macht. Für die Aufnahme in die Hochschule für Fernsehen und Film in München beschafft er sich ein Empfehlungsschreiben von Wim Wenders, zu dem er vorher keinen Kontakt hatte. Er war extra zu den Festpielen nach Venedig gefahren. Wim Wenders nutzte aber nichts. Schlingensief wurde von der Schule hohnlachend abgewiesen. Was macht einer, der nun nicht Student wurde, dann? Falsche Frage. Was machte Schlingensief? Er beschloss, die Studiererei zu überschlagen. Gleich Professor werden! Oder doch Assistent beim Prof der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, Helmut Herbst. So geschah es. Und Offenbach und die Studenten der Filmklasse brachten unter der Regie des 22jährigen Hochschul-Assi Schlingensief „Tunguska oder die Kisten sind da“ zustande.

Wie das nachmachen? Wo lernt man Charisma? Eine dumpfe Ahnung bekam ich, als wir bei der Sendung „Der heiße Stuhl“ mitmachten. RTL Anfang der neunziger Jahre. Auf dem Stuhl saß eine junge Ministerin der Bundesregierung, Kohls Mädchen, Angela Merkel. Wir attackierten sie, Schlingensief und ich. Die Merkel guckte interessiert. Nach der Aufnahme kam sie auf uns zu, lächelte und fragte: „Seid ihr eine Blase?“ Was Schlimmes konnte sie nicht meinen, denn sie lud uns nachdrücklich ein, sie im Ministerium zu besuchen. Dabei hatte sie Augen nur für Schlingensief. – Mehr geht nicht.

2010: es ging, wie wir wissen, unbegrenzt viel mehr, kurz: alles. Und dann: game over.

Foto: © Filmgalerie 451