Archiv der Kategorie: Filmkritik

5 Jahre Leben

(D / F 2013, Regie: Stefan Schaller)

System Guantanamo
von Wolfgang Nierlin

Ein Mensch wird gefangen gehalten, obwohl überhaupt nicht klar ist, ob es dafür stichhaltige Gründe gibt. Er wird verhört, um diese Maßnahme zu rechtfertigen; und er wird gefoltert, um Geständnisse …

Ein Mensch wird gefangen gehalten, obwohl überhaupt nicht klar ist, ob es dafür stichhaltige Gründe gibt. Er wird verhört, um diese Maßnahme zu rechtfertigen; und er wird gefoltert, um Geständnisse zu erzwingen, deren Wahrheitsgehalt von vornherein fraglich ist. In jedem Fall aber legitimiert auf paradoxe Weise der Gefangene das Gefängnis, der Freiheitsentzug die Methoden des Verhörs. Das „System Guantanamo“ hat dies der Filmemacher Stefan Schaller, Absolvent der Filmakademie Ludwigsburg, genannt. Sein beeindruckender Abschlussfilm „5 Jahre Leben“, der auf Erlebnissen des ehemaligen Guantanamo-Häftlings Murat Kurnaz basiert, reiht sich zunächst ein in das Genre des politischen Gefängnisfilms. Zu dessen herausragendsten Arbeiten der jüngsten Vergangenheit gehören Marco Bechis „Junta“ und „Hunger“ von Steve McQueen. Auch Schaller zeigt einen Menschen, der staatlicher Willkür ausgesetzt ist, der körperlich und seelisch misshandelt, gedemütigt und entwürdigt wird.

Anders als seine Vorgänger erzählt „5 Jahre Leben“ allerdings eine Überlebensgeschichte unter extremen Bedingungen. Auch wenn Kurnaz (Sascha Alexander Geršak) einmal sagt, der Tod sei seine Waffe, führt er seinen Kampf trotz Hungerstreik und Einzelhaft eher mental als physisch. Dazu passt, dass der Regisseur seinen Blick weniger auf die Härten körperlicher Gewalt richtet, sondern auf das psychische Duell zwischen dem amerikanischen Verhörspezialisten Gail Holford (Ben Miles) und dem in Ketten gelegten Murat Kurnaz, der zunächst jegliche Kooperation verweigert. Insofern zeigt der Film, wie sich Holford mittels perfider Täuschungsmanöver in einer Art Psychokrieg immer wieder das Vertrauen des türkischstämmigen Bremers erschleicht und ihn in ein permanentes Wechselbad aus Hoffnung und Verzweiflung stürzt. Unsicherheit und Ungewissheit werden hier gewissermaßen total. „Ich weiß mehr über dein Leben als du selbst“, sagt Holford einmal in einer Schlüsselszene dieses Seelenterrors.

Stefan Schallers Inszenierung vermittelt Klaustrophobie und hilfloses Ausgeliefertsein durch zeitliche und räumliche Verdichtung. Dabei zeigt sein Film ein hochmodernes System totaler Kontrolle, das sich mit archaischen Formen der Zurichtung und Strafe verbindet. Ästhetisch weniger radikal als die oben erwähnten Werke, finden sich in „5 Jahre Leben“ aber auch dramaturgische Abmilderungen und Atempausen. Dazu zählen die kontrastierenden Rückblenden „nach draußen“, in Kurnaz‘ Vergangenheit, die inhaltlich mitunter etwas dürftig ausfallen; die dramatisch leider entschärfend wirkende Filmmusik von Enik; oder auch die tragische Freundschaft des tierliebenden Kurnaz zu einer Echse, die schließlich zur Metapher des Lebens und Überlebens im Exil der inneren Freiheit wird.

Die wilde Zeit

(F 2012, Regie: Olivier Assayas)

An der Revolution vorbeigeschrammt
von Andreas Busche

„Die neue Zeit ist zutiefst revolutionär und sich dessen bewusst. Auf keiner Gesellschaftsebene will man weitermachen wie bisher.“ Als die Situationisten 1972 ihre Kampfschrift Die wirkliche Spaltung in der Internationalen …

„Die neue Zeit ist zutiefst revolutionär und sich dessen bewusst. Auf keiner Gesellschaftsebene will man weitermachen wie bisher.“ Als die Situationisten 1972 ihre Kampfschrift Die wirkliche Spaltung in der Internationalen veröffentlichten, hatte sich die französische Linke weitgehend selbst kannibalisiert. Die Kämpfe von ‘68, als sich die Studenten und die Linke einen Sommer lang auf Augenhöhe mit der Arbeiterschaft wähnten, waren längst auf Nebenschauplätze verlagert. Der Protest diente nur noch Partikularinteressen. Wie sich die revolutionäre Zeit ohne wirklich revolutionäre Subjekte gestaltet, erzählt der französische Regisseur Olivier Assayas in seinem autobiographisch gefärbten Film “Die wilde Zeit”.

Der deutsche Titel ist so dämlich, dass er hier nur aus Chronistenpflicht Erwähnung findet. Im Originaltitel “Après Mai” (Nach-Mai) schwingt dagegen die Enttäuschung der spätgeborenen Jugend (zu der sich auch Assayas zählt) mit, an den revolutionären Prozessen knapp vorbeigeschrammt zu sein. Statt dessen durchlief diese Generation ihre politische Initiation in den Trümmern einer bürokratischen Widerstandsrhetorik.

“Après Mai” spielt am Übergang zur “neuen Zeit”: dem Coming-of-Age einer Jugend, die gerade noch die verlorene Freiheit erahnt und dafür gleich am Anfang von der Polizei brutal niedergeknüppelt wird, und dem Coming-of-Age eines revolutionären Gedankenguts, das sich nicht erst in Gremien und Räteabstimmungen legitimieren musste. “Après Mai” handelt also von Reifeprozessen. In den Moment, die Situation sozusagen, müssen sich Assayas’ jugendliche Protagonisten zwar noch einfühlen, aber die fiebrige Antizipation, an etwas Großem teilzuhaben, ist schon überwältigend – und gleichzeitig verdammt einschüchternd. Was tun, wenn einem theoretisch alle Möglichkeiten offenstehen?

Gilles, Assayas’ Alter ego, kriegt das situationistische Pamphlet erst ganz am Schluss in die Hände. Da öffnet “Après Mai” noch einmal die Synapsen, um frische Impulse in die bleierne Zeit der frühen Siebziger zu lassen. Aber Assayas stutzt auch diese aufkeimende Utopie mit einer letzten lakonischen (und gänzlich unhämischen) Volte. Gilles, der eine revolutionäre Syntax für ein revolutionäres Kino einfordert, fährt zur Arbeit am Set eines Nazi-/Monsterfilms. Das Kino des Feindes. Die anderen cinephilen Referenzen in “Après Mai” sind politisch über jeden Zweifel erhaben: Bo Widerbergs “Joe Hill” und “El Coraje del Pueblo” des bolivianischen Filmemachers Jorge Sanjinés, ein Klassiker des antiimperialen Kinos. Abends geht Gilles in einen experimentellen Filmclub, wo ihm seine verflossene Liebe, die immer in ihrer eigenen Zeit gelebt hat, von der Leinwand die Hand entgegenstreckt.

Assayas’ Beschäftigung mit dem politischen Radikalismus der Siebziger nimmt hier eine persönliche Wendung. Während “Carlos” die Auswüchse linker Politik auf einer globalen Skala rekapitulierte, kehrt Assayas nun an die Peripherie zurück, wo die politischen Deklamationen einige Nummern kleiner ausfallen. In der Pariser Vorstadt spielte schon sein anderer Siebziger-Jahre-Jugendfilm “L’eau froide” (1994), mit dem “Après Mai” mehr als nur die Namen seiner beiden Hauptfiguren Gilles und Christine gemein hat. Gilles, Christine, Alain und Jean-Pierre sind, ganz grundsätzlich, überhaupt nicht einverstanden und versuchen sich in verschiedenen Praktiken des (mehr oder weniger) zivilen Ungehorsams. Auf der Straße beziehen sie Prügel, im Schülerrat wird nur schlau gequatscht. Darum verzieren sie nachts die Fassade ihrer Schule mit Parolen.

Die nächtliche Aktion filmt Assayas wie aus einem Guss: eine begeisternde, agile Performance, die Bewegungsabläufe greifen nahtlos ineinander. Diese Inszenierung kommt der Idee von politischer Kunst in einem embryonalen Stadium schon recht nah. Das Kollektiv verleiht der politischen Position eine ästhetische Form. Assayas löst mit “Après Mai” gesellschaftliche Zusammenhänge und die Widersprüche von jugendlicher Identitätsfindung und staatlicher Zurichtung immer wieder auf so einleuchtende Weise erzählerisch auf. Und er spielt verschiedene Möglichkeiten alternativer Lebensentwürfe durch, auf die man sich als Teenager noch nicht festlegen will. Dazu gehören natürlich Sex, am besten auf Drogen, und wie immer bei Assayas: Musik. In “Après Mai” laufen der Hippie-Dippie-Folkrock der Incredible String Band, die dunkle Rorschach-Psychedelik eines Syd Barrett, der progressive Acid-Pop von Soft Machine und Kevin Ayers und der knarzige Kryptoblues Captain Beefhearts.

Es ist deutlich zu spüren, dass “Après Mai” auch Assayas’ persönliche Geschichte erzählt. Dennoch ist sein Film frei von jener Verklärung, mit der sich etwa Bertolucci in seiner weich gezeichneten Altmännerphantasie “Die Träumer” an die Pariser Unruhen an 1968 erinnerte. Die Aufregung, Wut und Verwirrung, die die Kamera aus unmittelbarer Nähe in den Gesichtern registriert, lässt erahnen, dass etwas mehr auf dem Spiel steht als die eigene Unschuld. Assayas nimmt die Träume seiner Protagonisten, genauso wie ihr vorläufiges Scheitern, sehr ernst. Gilles wendet sich dem Kino zu, Alain der Malerei, Christine geht mit einem Filmemacherkollektiv nach Italien, Jean-Pierre wird in der Gewerkschaft aktiv. Die Biographien driften – wie die politischen Bewegungen nach 1968 – langsam auseinander.

Politik begreift Assayas als Konzept, das man sehr unterschiedlich und auch sehr falsch ausgelegen kann. Dass der Begriff eine (richtige) Haltung gegenüber den Verhältnissen voraussetzt, hat er vor zehn Jahren der Witwe Guy Debords in einem langen Brief erklärt. “Selbst wenn du als Jugendlicher in den Siebzigern nicht für deine Überzeugung eintratst, bestand eine Verpflichtung, die dich als Subjekt in Relation zur Gesellschaft definiert: deine Verantwortung für die Welt. Aber dieses Verhältnis war nicht das Problem: Die eigentliche Herausforderung bestand darin, sich auf die richtige Methode und die richtigen Werte zu einigen, mit denen man den gesellschaftlichen Zuständen entgegentritt.”

Der Brief erschien kürzlich, erstmals in englischer Sprache, in der Textsammlung A Post-May Adolescence und liefert gewissermaßen den Schlüssel zu den psychedelischen Unschärfen und identifikatorischen Trial-and-Error-Prozessen in “Après Mai”. Assayas beschreibt das Scheitern von ’68 als eine Befreiung von politischen Dogmen – wofür ihm erst Debords Texte die Augen öffneten. Will man Assayas etwas vorwerfen, dann, dass sein Film endet, als es gerade interessant wird. Als Debords Versprechen einer “neuen Zeit” tatsächlich eine gesellschaftliche Brisanz besaß.

Olivier Assayas: A Post-May Adolescence. Synema, Wien 2012, 104 Seiten, 14 Euro
Kent Jones (Hg.): Olivier Assayas. Synema, Wien 2012, 256 Seiten, 22 Euro

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 6/2013

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Der große Gatsby

(USA / AUS 2012, Regie: Baz Luhrmann)

Der Kater ist berührend
von Andreas Busche

Gatsby also. Hätte F. Scott Fitzgerald ihn sich nicht schon vor neunzig Jahren ausgedacht, man müsste ihn erfinden. So gut passt er in unsere Zeit – erst recht in dem …

Gatsby also. Hätte F. Scott Fitzgerald ihn sich nicht schon vor neunzig Jahren ausgedacht, man müsste ihn erfinden. So gut passt er in unsere Zeit – erst recht in dem Format, in dem Baz Luhrmann ihn jetzt imaginiert: als dekadentes Blockbusterkino, das sich hartnäckig zu behaupten versucht zwischen effektstrotzenden Superhelden-Franchises und aufwendigem, leblosem Arthouse-Kitsch wie „Life of Pi“. Wer schon immer die Zeitlosigkeit von Fitzgeralds Gesellschaftsatire bewundert hat, darf sich wundern, warum sich Luhrmann mit dem Stoff so schwer tut. Die Themen liefern ja bereits die perfekte Vorlage, einen Steilpass geradezu: die Aufbruchsstimmung, der Exzess, der Größenwahn, die Melancholie – das böse Erwachen. Der große Gatsby, der amerikanische Traum: Nie klang er so zynisch wie heute.

Luhrmann, der Spezialist für den schönen Schein und täuschend echt emulierte Gefühle, hat natürlich keine originalgetreue Adaption im Sinn gehabt, als er „Der große Gatsby“ für die Leinwand adaptierte. Luhrmann ist Stilist, aber kein Feingeist wie Fitzgerald. Er schafft Synthesen. Synergieeffekte sagt man dazu in der Wirtschaft. Filmproduktionen im 100 Millionen plus-Bereich haben mit Kino im herkömmlichen Sinn ohnehin nur noch wenig gemein. Luhrmann arbeitet also konsequent. „The Great Gatsby“ ist ein Einrichtungsgegenstand in höchster Vollendung, mit voll integrierter Verwertungskette: der Soundtrack von Jay-Z, mit Kanye West, Lana del Ray und The XX (funktioniert leider überhaupt nicht, obwohl Sampling eigentlich eine Stärke des Hip Hop ist), die Ausstattung (Kostüme von Prada und Miu Miu), die visuellen Wunderwelten (die teuer gerenderten Digitalbilder haben einen kalten Glanz, Leo und Carey Mulligan bewegen sich wie Silhouetten vor Computerhintergründen). So ein Spektakel nach ästhetischen Krieterien zu bewerten, ist natürlich lächerlich.

Aber dann trifft der Exzess von „The Great Gatsby“ auch durchaus den Nerv der Zeit: irgendwann im letzten Drittel, als Di Caprio mutterseelenallein am Pool zwischen leeren Champagnerflaschen steht. Da macht sich erstmals Ernüchterung breit. Keine moralische Entrüstung, eher das nachvollziehbare Gefühl, dass der Rausch große Leere produziert. Wie Drogen. Oder das Spiel an den Märkten des Casinokapitalismus. Vielleicht will man auch um jeden Preis noch etwas Gutes in dieses Machwerk hineinlesen. Aber der Kater im letzten Drittel von Luhrmanns Film – die Leere, die kein Ausstatter, kein Champagner-Pop, kein Hollywoodstar nach dem wahnsinnigen Exzess der ersten halben Stunde mehr füllen kann, ist auf eine perverse Weise berührend. So etwa muss es sich anfühlen, wenn die fette Party endgültig vorbei ist.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 6/2013

Louise Hires a Contract Killer

(F 2008, Regie: Gustave de Kervern, Benoît Delépine)

„Wacht auf, Verdammte dieser Erde!“
von Wolfgang Nierlin

Schon die Exposition von Benoît Delépines und Gustave Kerverns Film „Louise Hires a Contract Killer“ („Louise-Michel') vermittelt einen guten Eindruck vom ziemlich schwarzen, merkwürdig schrägen und oftmals gewöhnungsbedürftigen Humor der …

Schon die Exposition von Benoît Delépines und Gustave Kerverns Film „Louise Hires a Contract Killer“ („Louise-Michel') vermittelt einen guten Eindruck vom ziemlich schwarzen, merkwürdig schrägen und oftmals gewöhnungsbedürftigen Humor der beiden französischen Komiker. Eine Trauerfeier in einem Krematorium wird von bizarren Pannen torpediert: Erst hat der Bestatter Probleme, den Sarg in den Verbrennungsofen zu bugsieren und dann versagt auch noch der Zündmechanismus, so dass die Einäscherung unterbrochen werden muss. Währenddessen wird von einem Tonband die klassenkämpferische Internationale abgespielt: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde!“ Das ist nicht nur makaber und ironisch, sondern durchaus auch doppeldeutig gemeint.

Denn obwohl der großsprecherische Vize-Chef einer kleinen Nähfabrik in der Picardie den verhärmten Arbeiterinnen mit salbungsvollen Worten gerade noch neue Kittelschürzen aushändigt, ist tags darauf die Produktionshalle der Manufaktur leer geräumt. In Zeiten der Krise gelte es, den „Kopf einzuziehen“. Und so beschließen die frustrierten Näherinnen kurzerhand, sich zu organisieren und ihre mageren Abfindungen zusammenzulegen. Aber nicht etwa für die Eröffnung einer Pizzeria oder einen Nacktfotokalender, sondern um einen Profikiller zu engagieren, der ihren Ex-Chef („Der Chef gewinnt immer.“) ins Jenseits befördern soll. Und weil die sonst eher stumpf und schweigsam vor sich hin starrende Louise (Regisseurin Yolande Moreau) diesen Racheplan einbringt, wird sie beauftragt, den Richtigen zu finden.

Der Richtige ist natürlich der Falsche: Ein vom Überwachungswahn besessener „Sicherheitsspezialist“ namens Michel (Regisseur Bouli Lanners), der dilettantisch ein Container-Dorf observiert und sich auch mal darin verirrt. Der abgebrannte Waffenfetischist stilisiert sich als „Killermaschine“, kriegt den blutigen Job und versagt kläglich. Denn eigentlich ist Michel eine Frau und Louise, die mit ihm loszieht, ein Mann. Tote gibt es trotzdem nicht wenige; und wenn das auch nicht immer die „Richtigen“ sind, so sind es doch auch nicht ganz die „Falschen“.

Trocken, politisch unkorrekt und manchmal geradezu beiläufig inszenieren Delépine und Kervern ihre triste Anarcho-Komödie, die nicht umsonst (siehe Originaltitel) der französischen Pariser Kommune-Aktivistin Louis Michel (1830-1905) gewidmet ist. Apostrophiert als „sozialer Western“, ist ihr lakonischer Film radikal, brutal und absurd, dazu gewürzt mit schlechtem Geschmack und visuellem Witz. Und auch noch nach den Abspanntiteln geht der Kampf weiter.

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Stoker

(USA / GB 2012, Regie: Park Chan-Wook)

Gefangen im Drehbuch
von Andreas Busche

2013 wird für den koreanischen Regisseur Park Chan-Wook ein gutes Jahr. Im Herbst darf man auf Spike Lees Remake des Rächerdramas „Oldboy“ gespannt sein; diese Woche kommt seine erste Hollywood-Regiearbeit …

2013 wird für den koreanischen Regisseur Park Chan-Wook ein gutes Jahr. Im Herbst darf man auf Spike Lees Remake des Rächerdramas „Oldboy“ gespannt sein; diese Woche kommt seine erste Hollywood-Regiearbeit „Stoker“ in die Kinos. Park gehört mit seiner Vorliebe für Pulp und Gewalt zu den eher schwer berechenbaren Filmemachern (Quentin Tarantino und Harmony Korine sind Fans), weswegen „Stoker“ vorsichtshalber auf einem amerikanischen Skript basiert. Wer Parks letzten Film „Thirst“ über einen Priester, der sich nach einer missglückten Blutinfektion in einen Vampir verwandelt, gesehen hat, kann nachvollziehen, dass man das westliche Mainstream-Publikum behutsam an den sonderlichen Lyrismus eines Park Chan-Wook, der auch schon mal Blutfontänen zu heißen Liebesschwüren arrangiert, heranführen muss. „Stoker“ dürfte allein schon wegen der beiden Hauptdarstellerinnen mehr Menschen interessieren als seine bisherigen Filme. Für sein Hollywood-Debüt konnten Nicole Kidman und Mia Wasikowska gewonnen werden: zwei ätherische Schönheiten, deren weiße Alabasterhaut sich ganz hervorragend als Leinwand für Parks Blutfantasien eignet.

Leider ist „Stoker“ etwas konventionell geraten, was vor allem am Drehbuch liegt, das sich unverhohlen bei Hitchcocks „Im Schatten des Zweifels“ bedient. Um Blut geht es in „Stoker“ nur noch in einem übertragenen Sinn: Park erzählt ein kleines, bösartiges Familiendrama als Schlüsselmoment eines sexuellen Coming-of-Age. Nach dem überraschenden Tod des Vaters bleiben Ehefrau Evelyn und die achtzehnjährige Tochter India allein mit dem Dienstpersonal in ihrem pompösen Herrenhaus zurück. Am Tag der Beerdigung steht unerwartet der Bruder des Verstorbenen, den die Frauen nur vom Hörensagen kannten, vor der Tür. Der gut ausehende Fremde findet sofort Anklang in dem hoffnungslos verklemmten Haushalt und nimmt die Einladung Evelyns, eine Weile zu bleiben, dankend an. Mutter und Tochter reagieren zunächst reserviert, doch je aufmerksamer der Mann sich Evelyn zuwendet, desto mehr regt sich Indianas Verlangen. Dass auch noch die Schwiegermutter unvermittelt im Haus auftaucht und wieder spurlos verschwindet, scheint niemanden zu verwundern.

Visuelle Extravaganzen finden in diesem restriktiven Ambiente keinen Raum. Park verlegt sich stattdessen auf die stimmungsvolle Psychologie des häuslichen Dramas – mit einigen Anleihen beim klassischen Psycho-Thriller. Damit beweist er erneut ein gutes Händchen für Atmosphäre, doch ein bißchen mehr vom Irrsinn seiner koreanischen Filme hätte “Stoker” durchaus vertragen. Parks US-Debüt ist die Antithese zu seiner Rache-Trilogie und “Thirst”: humorlos, gefangen im Skript und kontrolliert bis zum Ersticken. Selbst die latenten Gewaltausbrüche besitzen keine karthatische Qualität mehr.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Pony #83

To the Wonder

(USA 2012, Regie: Terrence Malick)

Herr, Deine Liebe …
von Harald Steinwender

Zwanzig Jahre lang, bis zu 'The Thin Red Line' ('Der schmale Grat'; 1998), galt Terrence Malick als 'runaway genius' (Peter Biskind), als ein verschollener Großmeister des US-amerikanischen Kinos, der sich …

Zwanzig Jahre lang, bis zu 'The Thin Red Line' ('Der schmale Grat'; 1998), galt Terrence Malick als 'runaway genius' (Peter Biskind), als ein verschollener Großmeister des US-amerikanischen Kinos, der sich nach gerade einmal zwei Filmen in den 1970er Jahren – der Gangsterballade 'Badlands' (1973) und dem Landarbeiter-Melodram 'Days of Heaven' ('In der Glut des Südens'; 1978), völlig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte.

In diesen zwanzig Jahren wuchs Malicks Ruf vom vielversprechenden Talent zum Kinomagier von nahezu mythischem Rang. Auch die Geschichten, die Zeitungen und Magazine über den öffentlichkeitsscheuen Regisseur und Drehbuchautor über die Jahre kolportierten, waren vor allem eines: Arbeit am Mythos. Malick halte sich in Paris auf, wo er einen Buchladen betreibe oder Philosophie an der Sorbonne lehre; er sei damit beschäftigt, Kierkegaard und Heidegger zu übersetzen; er reise seit Jahrzehnten um die Welt, um sein nächstes Projekt vorzubereiten; er lebe als Einsiedler im Wald. Überhaupt sei er verschwunden und niemand wisse, warum er sich aus Hollywood zurückgezogen habe. Dass der Regisseur sich zwischen 1978 und 1998 mitnichten vom Filmemachen verabschiedet hatte und es alles andere als ein Geheimnis war, was er zu dieser Zeit gemacht hat, kann man etwa dem kürzlich im 'Los Angeles Review of Books' erschienenen lesenswerten Essay von Michael Nordine entnehmen, der mit einigen Legenden aufräumt, auch wenn der Autor fraglos zu den Bewunderern Malicks zählt.

In Nordines Artikel erfährt man unter anderem, dass der heute 69-Jährige, der sein Geld offenbar in der Ölindustrie gemacht hat, schlicht aufgrund seines Reichtums in der Lage war, seine Filme selbst auszuwählen, und er zwar beständig neue Projekte entwickelt hat, von denen allerdings nur wenige je das Postproduktions-Stadium erreichten. Wer will, kann sich auf YouTube sogar ein Video ansehen, in dem das vermeintliche Phantom zu Countrymusik tanzt ('Terrence Dances'). Der J. D. Salinger des Kinos ist offenbar ein ganz normaler Mensch, allerdings mit einer nachvollziehbaren und stark ausgeprägten Abneigung gegen Publicity.

Nun ist es nicht so, dass Malicks Status als Ausnahmefigur des New-Hollywood-Kinos völlig unbegründet wäre. Sein Regiedebüt 'Badlands' zählt fraglos zu den Schlüsselwerken des US-Kinos der 70er Jahre. 'Days of Heaven' ist trotz aller Kitschmomente ein bis heute eindrucksvolles Porträt einer Ära und ein wuchtiges Melodram, das seinen exemplarischen Platz im Genre verdient hat. Und wer den Kriegsfilm 'The Thin Red Line' einmal auf einer ganz großen Kinoleinwand mit voll aufgedrehter Surround-Anlage sehen konnte, wird das Erlebnis kaum vergessen, auch wenn sich einige schwer erträgliche pseudophilosophische Exkurse in der vielstimmigen Voice-over-Erzählung des Dreistundenwerks finden ('Love – Where does it come from? Who lit this flame in us? No war can put it out, conquer it. I was a prisoner. You set me free.'). Auch Malicks Versuch, den Pocahontas-Mythos in 'The New World' (2005) neu zu deuten, hatte seinen Reiz. Aber spätestens The Tree of Life', unter großem Bohei 2011 auf dem Filmfestival Cannes der Weltöffentlichkeit präsentiert und dort mit der 'Goldenen Palme' ausgezeichnet, zeigte ernsthafte Verschleißerscheinungen der Methode Malicks, die sich der immer gleichen Autoren-Signaturen bedient und mit jedem neuen Film weiter in die Richtung eines christlichen, mitunter esoterischen inneren Dialoges entwickelt hat. Eine Kritiker-Kollegin wollte 'The Tree of Life' damals als 'einen Film wie ein Gedicht' umschreiben und gelangte durch eine Freud’sche Fehlleistung bezeichnenderweise zum 'Film wie ein Gebet'. Mit seinem jüngsten Werk, 'To the Wonder', ist Malick nun endgültig beim Predigen angelangt und legt dabei seinen Protagonisten einige der unerträglichsten Phrasen in den Mund, die ich abseits meines Konfirmationsunterrichts vor 22 Jahren ertragen durfte.

'To the Wonder' ist wie 'Days of Heaven' ein Melodram und erzählt von dem US-Amerikaner Neil (hölzern: Ben Affleck), der in Frankreich die Ukrainerin Marina (ätherisch: Olga Kurylenko) kennen und lieben lernt. Neil nimmt Marina und deren 10-jährige Tochter Tatiana (Tatiana Chiline) mit in seine Heimat. Doch im Alltag in Oklahoma kühlt die Beziehung bald ab. Während Marina bei einem von Javier Bardem mit versteinertem Gesicht gespielten (und freilich selbst mit dem Glauben hadernden) Pater spirituellen Beistand sucht, trifft Neil mit Jane (ebenfalls ätherisch: Rachel McAdams) eine Jugendfreundin wieder, mit der er eine Affäre beginnt. Dennoch finden Neil und Marina wieder zusammen, heiraten und entfremden sich abermals voneinander. Dabei verlässt der Film zunehmend die Begrenzungen einer herkömmlichen Narration, um sich schließlich in einer Serie von erratischen Bildkaskaden aufzulösen, die offenbar das religiöse Erwachen der beiden seit Jahren voneinander getrennten Partner behandeln.

Der Weg zur Transzendenz, den Malick seine Protagonisten beschreiten lässt, ist gepflastert mit visuellen Klischees: Immer wieder folgt die schweifende, gleitende Kamera den schönen Frauen, die wie in einem Postkartenmotiv durch Weizenfelder oder über Wiesen tanzen, rote Rosen im Schnee finden oder verzaubert über einen Strand wandeln, die verträumt zu ihren Männern oder Kindern aufblicken oder sich in der Sonne räkeln. Malicks Männer dagegen werfen ernste Blicke aus dem Fenster, brüten nach innen gekehrt über das Wunder der Natur, die Anwesenheit des Bösen in der Welt oder die Existenz an und für sich. Fast immer ist Emmanuel Lubezkis Kamera in Bewegung und spätestens, wenn sie das zehnte Mal über Wasserflächen gleitet, wird deutlich, dass sie den Blick Gottes imitieren soll, der hier ganz buchstäblich über Wasser wandelt. Die Tonspur dagegen gehört den Menschen, die zu den geschmäcklerischen Bildern meditieren und bleischwere, prätentiöse Sätze absondern – über die Bedeutung der Liebe und die Herrlichkeit Gottes, über die Liebe Gottes zu den Menschen und die Liebe der Menschen zu Gott. Wenn es hart auf hart kommt, dann blubbert Bardems Priester auf der Tonspur tiefgründige Einsichten wie diese: 'Gefühle ziehen vorüber wie Wolken. Liebe ist nicht nur ein Gefühl. (…) Du hast Angst, deine Liebe ist erloschen. Vielleicht wartet sie nur darauf, in etwas Höheres verwandelt zu werden. Erwache in der göttlichen Gegenwart, die jedem Mann, jeder Frau innewohnt. Erkenne einander in dieser Liebe, die niemals endet.' Halleluja!

Überhaupt reden die Menschen in Malicks Film niemals miteinander, sondern räsonieren über ontologische Befindlichkeiten, monologisieren über sich selbst, die Liebe oder Gott. Statt miteinander zu vögeln, 'gehen sie gemeinsam ein Stück des Weges'. Selbst wenn Afflecks Protagonist, der als für Umweltbelange zuständiger Bauaufseher arbeiten soll, im Boden einer Wohnsiedlung Blei und Kadmium findet, lässt Malick die Sonne und das göttliche Licht in die Kamera gleißen und glitzern, dass es eine Freude ist. Bald darauf schwenkt die Kamera zum Stoßseufzer 'My Hope!' in Holzhammersymbolik vom Acker zum Himmel. Die Orgel darf natürlich auf der Tonspur nicht fehlen und Stücke von Wagner, Haydn, Berlioz, Dvorák, Tschaikowski, Schostakowitsch und Bach ('Uns ist ein Kind geboren, Halleluja') erfreuen den Bildungsbürger. Irgendwann in Malicks Film sagt die Tochter Marinas aus erster Ehe: 'Irgendetwas fehlt hier!', und sogleich ist eine winzige Kinderhand zu sehen. Doch es ist nicht die Unfruchtbarkeit der Ehe zwischen Marina und Neil, sondern die Abwesenheit echten Lebens, von Gefühlen und Emotionen in diesem Film, die sich als Assoziation aufdrängt. Wenn die Voice-over von 'einer Lawine der Gefühle' stammelt, dann erscheinen all die schönen Bilder auf der Leinwand vor allem schrecklich leer und künstlich. Malicks Naturimpressionen wirken wie in Aspik eingeschlossen und seine Schauspieler wie unbeteiligte Statisten in einem drögen Kirchentagerbauungsvideo. Ohne den Gegensatz, den die irrationale Gewalt in seinen frühen Filmen darstellte, den Schmutz und den Wahn, der dort durchaus vorhanden war, wirkt all die Schönheit nur klinisch. Wenn Tatjana in einem Supermarkt auch noch bemerkt: 'Alles ist so sauber hier', dann möchte man laut auflachen darüber, dass Malick die Ironie dieses Kommentars wohl völlig abgeht. Er will die Leere des Konsumismus anklagen und überlädt seinen Film doch mit Oberflächenbildern.

So scheint es, als ob Malick ist eine Falle getappt ist, die Kubrick, mit dem er gerne verglichen wird, trotz aller Selbststilisierung vermieden hat: Er ist sein eigenes Genre geworden und kreist in seinen Filmen nur noch um sich selbst und die zum Fetisch gewordenen religiösen Erweckungs- und Erlösungsphantasien. Zwar gelingt ihm mit der endgültigen Dispensierung einer herkömmlichen Dramaturgie im letzten Akt nach fast zwei Stunden Ödnis eine zumindest visuell eindrucksvolle Koda. Das ändert aber nichts daran, dass man, wenn man nach all den klebrigen Seins-Diskursen endlich das Kino verlässt, das Bedürfnis verspürt, sich die hohle Predigt mit einem hochpotenten Antidot ganz schnell aus dem Kopf zu spülen. Etwa indem man ein wirklich schmieriges 70er-Jahre-B-Picture sieht, sich von einem hirnlosen Dolph-Lundgren-Direct-to-DVD-Actionfilm berieseln lässt oder sich dem kreativen Chaos eines amoralischen Bildersturms wie Harmony Korines Spring Breakers' aussetzt – kurz: die physisch greifbare Ambivalenz und Aufrichtigkeit eines gänzlich materialistischen Budenzaubers genießt. In diesem Sinn macht 'To the Wonder' durchaus Lust auf Kino. Nur eben nicht auf den nächsten Terrence-Malick-Film.

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Max Beckmann – Departure

(D 2013, Regie: Michael Trabitzsch)

Radiumhaltige Kraftkomplexe
von Wolfgang Nierlin

Imposante Aufnahmen von New York, seinen Wolkenkratzern und Straßenschluchten, an deren Enden das Blau des Ozeans funkelt, rahmen Michael Trabitzschs filmisches Künstlerportrait „Max Beckmann – Departure“. Eine zweite Klammer setzt …

Imposante Aufnahmen von New York, seinen Wolkenkratzern und Straßenschluchten, an deren Enden das Blau des Ozeans funkelt, rahmen Michael Trabitzschs filmisches Künstlerportrait „Max Beckmann – Departure“. Eine zweite Klammer setzt Beckmanns titelgebendes Triptychon „Abfahrt“, das in den Jahren 1932 – 1935 als Nr. 1 von insgesamt neun Triptychen entstand und im Museum of Modern Art ausgestellt ist. Seine Seitenteile zeigen auf schauerliche Weise den gequälten, geschundenen Menschen. In einer Selbstinterpretation des 1884 geborenen Künstlers, zitiert aus dem Off, heißt es dazu: „Das Leben ist Marter, Schmerz jeglicher Art.“ Dagegen evoziert die mittlere Tafel dieses bedrückenden Infernos das Paradies und die Möglichkeit der Erlösung: „Die Königin trägt den größten Schatz, die Freiheit, als ihr Kind auf dem Schoß. Die Freiheit ist das, worauf es ankommt. Sie ist die Abfahrt, der neue Beginn.“

In diesem Spannungsfeld zwischen Bedrängnis und Aufbruch, mythologischem Erbe und der dringenden Suche nach Transzendenz bewegen sich Leben und Werk dieses so vitalen Menschen und äußerst selbstbewussten Schöpfers. Als gegenständlicher Maler, der gegen den künstlerischen Zeitgeist die „raumtiefe“, figurative Malerei verteidigt, will er „durch die Realität“ „das Unsichtbare sichtbar machen“. Dabei verbindet er immer wieder den Alltag mit dem Mythos, um durch die „Gestaltung“ zur „Erlösung“ zu gelangen. „Meine Bilder sind radiumhaltige Kraftkomplexe“, notiert er in einem der Briefe, die in Trabitzschs Dokumentarfilm als Selbstzeugnisse eine starke, subjektive Stimme bilden. Diese wiederum steht in Beziehung zu den Interpretationen von Kunsthistorikern und Museumsleitern, die vor Beckmanns Bildern in einen – filmisch mitunter allzu forcierten – Dialog treten. Gewöhnungsbedürftige Profil-Aufnahmen vor halbdunklem Hintergrund, abrupte Perspektivwechsel auf die Sprecher sowie die Selbstinszenierung des Filmteams sorgen hier eher für Irritationen und Ablenkung denn für Einsichten und Konzentration.

Trotzdem zählt die Auseinandersetzung mit den Bildern zu den Stärken des Films. Ergänzt durch Zitate Beckmanns, historische Filmdokumente und einen emotional leicht einlullenden Soundtrack entsteht so eine thematisch verdichtete Passage durch das Leben und Werk dieses herausragenden Malers. Zu den gravierendsten Einschnitten seiner Vita gehören dabei die Erfahrungen der beiden Weltkriege, die Beckmann 1914 als freiwilliger Krankenpfleger und später, während der NS-Diktatur, im Amsterdamer Exil erlebt. Der Mensch als Marionette der Götter wird in seinen Zirkus- und Theaterbildern zum wiederkehrenden Motiv. Dagegen setzt Beckmann seine Kunst als einen Akt individueller Selbstbestimmung, deren Kraft sich möglichst auch auf den Betrachter übertragen soll und deren Antrieb die Suche nach einer höheren Wahrheit ist. In seinem letzten, kurz vor seinem Tod im Jahre 1950 vollendeten Triptychon „Die Argonauten“ verbindet sich diese Hoffnung in motivischen Anklängen an sein erstes Werk „Junge Männer am Meer“ von 1905. Und so schließt sich in mehrfacher Hinsicht ein Kreis.

Iron Man 3

(USA / CN 2013, Regie: Shane Black)

Wer bin ich und wenn ja, wie viele?
von Louis Vazquez

„The Avengers“ hat wehgetan. Nicht so sehr den Zuschauern, denn die kamen ja in Scharen zum Gipfeltreffen der Marvel-Superhelden. Arg gelitten hat aber Tony Stark (Robert Downey Jr.), der Iron …

The Avengers“ hat wehgetan. Nicht so sehr den Zuschauern, denn die kamen ja in Scharen zum Gipfeltreffen der Marvel-Superhelden. Arg gelitten hat aber Tony Stark (Robert Downey Jr.), der Iron Man, obwohl er auch bei seinem Auftritt im Ensemblefilm nie um einen flotten Spruch verlegen war. Fast jedoch wäre er im Kampf gegen Götter und Außerirdische den Opfertod gestorben. Ach komm, altes Heldenklischee, könnte man nun einwenden. Wer ist schließlich noch nicht zum Schein oder sogar ganz in echt gestorben und dann doch wieder zurückgekehrt?

Trotzdem muss Stark jetzt per Voiceover darüber sprechen, dass er nicht mehr ganz der Alte ist nach dem apokalyptischen Trubel, dass ihn Panikattacken überkommen und er nachts nicht mehr schlafen kann. Und das markiert schon den entscheidenden Unterschied zu den Avengers: Es soll wieder ein bisschen ernster zugehen bei Marvel, Ironie hin oder her. Die maßlose Action schlägt dem Helden aufs Gemüt. Ganz neu ist das freilich auch wieder nicht, denn moderne Superhelden richten ja traditionell den Blick nach innen und sehen nichts Begeisterndes. Im rasanten Stelldichein der Avengers ging das ein bisschen unter, weil man miteinander genug beschäftigt war. Nicht so in „Iron Man 3“. Zur allgemeinen Verunsicherung gesellen sich Fehler aus der Vergangenheit, die sich selbst Jahre nach der Läuterung des inzwischen altruistischen Großindustriellen Tony Stark noch rächen. Es geht um die Verantwortung von Wissenschaftlern, um einen sehr persönlichen Rachefeldzug und, nicht zuletzt, Schauwerte in gar nicht mal so beeindruckendem 3D.

Weil Terroristen auch im Blockbuster wieder ganz gut gehen, dürfen die Außerirdischen ausnahmsweise Pause machen. Stattdessen tritt der geheimnisvolle Mandarin (Ben Kingsley) auf den Plan und bombt auch mal gegen Zivilisten. Dabei soll man sich schon wieder an Bin Laden erinnert fühlen, aber letztlich wird der krude Bösewicht nicht wie Batmans Bane zum Überterroristen stilisiert, um Law-and-Order-Phantasien zu legitimieren, sondern alles ist ein bisschen komplizierter, alberner und deshalb sogar wirklich besser. Regisseur und Co-Autor Shane Black („Lethal Weapon“, „The Last Boy Scout“) bleibt bei aller Simulation von Tiefe und Anspruch dem ironischen Jungs-Kino treu, doch immerhin kann er sich in diesem Umfeld ohne größeren Blechschaden bewegen. Keine Selbstverständlichkeit, wenn man bedenkt, mit welcher Konsequenz kürzlich die eigentlich todsichere Stirb-Langsam-Franchise gegen die Wand gefahren wurde.

Weil die populärste Figur aus dem Marvel-Universum untrennbar mit ihrem derzeitigen Darsteller verbunden ist, darf Tony Stark weite Strecken des Films ohne Anzug bestreiten, wegen technischer Probleme, und weil „Iron Man 3“ so auch noch mit einer Spielberg-esken Episode um einen hilfreichen kleinen Jungen aufwarten kann, dem Stark zu einer Vaterfigur wird. Im großen Finale freilich stehen Anzüge ohne Zahl parat, die sich längst von ihrem Schöpfer emanzipiert haben. Man könnte natürlich versuchen, in dieser schizophrenen Trennung von Mann und Anzug bzw. der Vervielfältigung von Starks Persönlichkeit durch Dutzende ferngesteuerte Eisenmänner ein Statement zur Kriegsführung per Drohne zu sehen – besonders kritisch würde das aber eher nicht ausfallen. Denkbar wäre freilich auch die planmäßige Vorbereitung eines „Iron Man 4“ nicht nur ohne Robert Downey Jr. – er will ja vielleicht nicht mehr –, sondern gleich ganz ohne Schauspieler, denn die Anzüge können ja auch alleine.

Manches aber bleibt beim Alten: In „Iron Man 3“ wird wieder gestorben und auferstanden. Mal sehen, wie dringend die betreffende Figur in der Fortsetzung darüber reden muss.

I, Anna

(D / GB 2012, Regie: Barnaby Southcombe)

Hervorbrechender Schmerz
von Wolfgang Nierlin

Eine düstere, farblich ausgebleichte Szenerie großstädtischer Beton-Architektur bestimmt den Look von Barnaby Southcombes Neo-Noir-Thriller “I, Anna”. Schwach beleuchtete Tunnel und Unterführungen, nächtliche Diners à la Edward Hopper, mächtige Wolkenkratzer und …

Eine düstere, farblich ausgebleichte Szenerie großstädtischer Beton-Architektur bestimmt den Look von Barnaby Southcombes Neo-Noir-Thriller “I, Anna”. Schwach beleuchtete Tunnel und Unterführungen, nächtliche Diners à la Edward Hopper, mächtige Wolkenkratzer und anonyme Raumfluchten vermitteln ein Gefühl von Einsamkeit und Entfremdung. Vor allem das Barbican Center in London, wo ein Großteil des Films angesiedelt ist, verkörpert mit seinen wuchtigen, abweisenden Proportionen diese Stimmung aus Verlorenheit und existentieller Leere. Verstärkt wird diese dunkle Atmosphäre noch durch die melancholischen Songs von Richard Hawley und die nervös-irritierenden Sounds des französischen Elektronik-Duos K>i<d, durch die sich ein Element des Mysteriösen und Halluzinatorischen in die Bilder mischt. Es sind dies die zunehmend intensiveren Flashs auf Traumata, in denen die weibliche Hauptfigur gefangen ist und durch die sich die Koordinaten von Raum und Zeit verschieben.

Geheimnisvoll, merkwürdig unnahbar und fremd ist die Titelheldin Anna, gespielt von Southcombes berühmter Mutter Charlotte Rampling, von Anfang an. Nach der Trennung von ihrem Mann Simon sucht sie auf Single-Partys nach Anschluss. Dabei nennt sie sich Allegra und trägt ein rotes Kleid. Doch ihr Blick auf dieses Tun ist eher nüchtern und illusionslos. Einmal folgt sie einem Mann in dessen Appartement in besagtem Hochhaus. Später in der Nacht wird dieser erschlagen und blutüberströmt aufgefunden. Bald darauf erscheint Kriminalkommissar Bernie Reid (Gabriel Byrne), der seit der Trennung von seiner Frau an Schlafstörungen leidet, am Tatort. Doch die Spuren, die zunächst ins Verbrecher-Milieu zu führen scheinen, erweisen sich bald als falsch; und auch die Filmerzählung selbst dramatisiert die Ermittlungen dieses Mordfalls nur, um zu tieferen Schichten des Sujets vorzudringen.

Dessen Fokus liegt auf den beiden Protagonisten, ihrer schier unüberwindlichen Einsamkeit, dem langen Moment ihrer wechselseitigen Faszination sowie den parallelen und spiralförmigen Bewegungen, mit denen sie sich einander annähern. Barnaby Southcombe, der für sein Kinodebüt den gleichnamigen Roman von Elsa Lewin adaptiert hat, inszeniert diese Begegnung zweier Seelenverwandter als Trip in die dunklen, verborgenen Areale der menschlichen Psyche, von wo aus das Verdrängte seine eigene Wirklichkeit erschafft. In stimmungsvollen Bildern und Tönen lässt er den Schmerz in der Konfrontation mit der Erinnerung hervorbrechen, ohne ihn ganz auszulöschen. Vielmehr vermittelt „I, Anna“ eine Katharsis ohne Erlösung und eine Einsamkeit, die trotz allem menschliche Nähe und damit die Hoffnung auf einen Neubeginn zulässt.

Evil Dead

(USA 2013, Regie: Fede Alvarez)

Fünf Seelen bis zur Wiedergeburt
von Harald Steinwender

Eine abgelegene Hütte im Wald, eigentlich eher eine heruntergekommene Bretterbude, aber unter ihr befindet sich – gänzlich untypisch für Nordamerika – ein weitläufiger Keller. Dort, in diesem Keller liegt der …

Eine abgelegene Hütte im Wald, eigentlich eher eine heruntergekommene Bretterbude, aber unter ihr befindet sich – gänzlich untypisch für Nordamerika – ein weitläufiger Keller. Dort, in diesem Keller liegt der Schlüssel zu einem Tor zur Hölle: ein in Menschenhaut geschlagenes Buch mit mystischen Krakeleien, Beschwörungssprüchen in einer fremden Sprache und Tuschezeichnungen von Lovecraft’schen Ungeheuern. Diese Hütte im dunklen Märchenwald wartet nur darauf, dass eine Gruppe junger Erwachsener eintrifft, um dort die Nacht zu verbringen. Dann rumpelt es im Keller, bis die Twens – drei Frauen, zwei Männer – die Luke im Boden finden und in den Keller hinabsteigen. Und bald beginnt ein besonders Neugieriger von ihnen, in dem Buch zu blättern und unbeholfen die bösen Worte vorzutragen. Nun erwacht etwas in den Wäldern. Bäume und Gestrüpp entwickeln ein Eigenleben, Wurzeln und Zweige greifen nach einer der Frauen, einer der Äste fährt ihr zwischen die Beine. An Flucht ist nicht zu denken, die Natur hat sich gegen die zum Menschenopfer bestimmten Neuankömmlinge verschworen: Der nahegelegene Fluss tritt über die Ufer und flutet die einzige Straße, die einen Ausweg bieten könnte. Dann ergreift das Böse nach und nach von den unglückseligen Besuchern Besitz, die in Rage auf einander losgehen.

Die Dramaturgie erinnert an einen bösen Abzählreim, allerdings in einer sadistisch gewendeten Achterbahnvariante: Die Überbietungsstrategie setzt auf Terror und Schock und Ekel, und die Überlebenden richten bald alle Haushaltsutensilien und Waffen, die sich finden lassen, gegen die anderen und sich selbst – von der Axt über die Schrotflinte bis zur Königsdisziplin des Genres: der benzinbetriebenen Kettensäge. Neben der drastisch ausgespielten Gewalt spielen Suspense und Atmosphäre eine wichtige Rolle, auch als Rückgriff auf die Gothic-Wurzeln des Genres. So stehen gleichberechtigt neben all dem Blut und dem Gekröse die starken Bilder der schwarzen Romantik und der religiösen Apokalyptik: wabernder Kunstnebel; suggestive Kamerafahrten; die Sonne geht unerwartet am Tag unter; auch der fahle Vollmond versinkt bald im Schwarz einer ewigen Nacht. Wir kennen das: 'Und die Sonne ward schwarz wie ein härener Sack, und der Mond ward wie Blut; und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde'. Selten jedoch hat das Kino diese Bilder so drastisch und mit einer solch zügellosen Lust bis zur Groteske ausgelebt.

Die Geschichte von der Hütte im Wald und den fünf Seelen, die der Dämon bei seinem Erwachen frisst, hat der 22-jährige Sam Raimi vor mehr als 30 Jahren in seinem Kultklassiker 'The Evil Dead' ('Tanz der Teufel'; 1981) so furios wie lustvoll erzählt – für ein lächerlich geringes Budget von gerade einmal 375 000 US-Dollar und mit Freunden vor und hinter der Kamera (mit dabei als Schnittassistent: der junge Joel Coen, drei Jahre vor seinem Debüt 'Blood Simple'). Nun, 2013, erzählt der uruguayische Regisseur Fede Alvarez die gleiche Geschichte noch einmal, diesmal für 17 Millionen US-Dollar und im Auftrag des Produzenten Raimi. Der hat sich, ähnlich wie sein neuseeländischer Kollege Peter Jackson, längst mit Multimillionen-Dollar-Produktionen wie den drei 'Spiderman'-Filmen (2002-2007) und dem 3D-Disney-Spektakel 'Oz the Great and Powerful' ('Die Fantastische Welt von Oz'; 2013) als prestigeträchtiger Großregisseur etabliert. Alvarez dagegen, der nach einigen Kurzfilmen hier sein Spielfilmdebüt inszeniert, kehrt zurück zu den Wurzeln der einfachen Geschichte, die seit mehr als 30 Jahren durch das Kino geistert: Zunächst in Raimis Kurzfilmvariante 'Within the Woods' von 1978, mit der der Jungregisseur Investoren für seinen Debütfilm zu begeistern suchte; dann mit dem ersten 'Evil Dead', der den harten Horrorfilm der 70er Jahre geschult am Körperhumor der 'Three Stooges', dem Cartoon-Wahnwitz der 'Looney Tunes' und der Unbekümmertheit des internationalen Trash-Kinos als 'Splatstick' neu erfand. 1987 erreichte Raimi mit dem für das zehnfache Budget des Vorgängers realisierten 'Evil Dead II – Dead By Dawn' ('Tanz der Teufel 2') den Höhepunkt der Blut-&-Eingeweide-Grotesken der 80er Jahre. Der eher harmlose Slapstick-Horror von 'Army of Darkness' ('Armee der Finsternis'; 1992) mit seinen Anspielungen an den kürzlich verstorbenen Ray Harryhausen und die Sandalenfilme italienischer und US-amerikanischer Provenienz wurde bald abgelöst von einer Vielzahl mehr oder weniger gelungener Varianten der Ursprungsgeschichte. So versuchte sich Grimme-Preisträger Gert Steinheimer in seinem völlig vergeigten deutschen Beitrag 'Black Forest' 2010 an einer Medienkritik-Variante; Regisseure wie Eli Roth ('Cabin Fever'; 2002), Ti West ('Cabin Fever II: Spring Fever'; 2009) und Drew Goddard ('The Cabin in the Woods'; 2012) schufen Varianten, die mal die sexuelle Komponente betonten ('Cabin Fever'), mal mit Drogenmetaphorik spielten ('Cabin Fever II') oder gleich die ganze Formel in einer doppelt postmodern gedrechselten Meta-Variante zur Fortführung Jahrtausende alter Rituale mit modernen Mitteln umdeuteten (The Cabin in the Woods'). Nachdem alle denkbaren Varianten des Stoffs auserzählt sind, was bleibt Alvarez da noch für seine Neuauflage übrig? Er versucht das Naheliegende: Das Original noch einmal erzählen, mit möglichst wenigen Abweichungen von der Urgeschichte. Er will den Fans des Originals alles rechtmachen. Und verfehlt dabei doch den Kern des Originals.

Neu hinzugekommen im Remake ist ein Prolog, der den Zweck erfüllen soll, dem namenlosen Terror eine Mythologie zu geben – und der doch nur Verwirrung stiftet. Ebenfalls neu: die aufgesetzte Motivation für das blutige Wochenende im Wald. Diesmal ist der Vorwand kein Kurzurlaub, sondern ein Ausflug, bei dem die Studenten Eric, Olivia und Natalie (Lou Taylor Pucci, Jessica Lucas und Elizabeth Blackmore) ihrer Freundin Mia (Jane Levy) beim Drogenentzug beistehen wollen. Mit dabei beim 'cold turkey' im Wald ist deren Bruder David (Shiloh Fernandez). Was fehlt (tatsächlich verzichtbar): Der bestimmte Artikel 'The' im Titel. Und (umso schmerzhafter): Bruce Campbell, der Star der ersten drei 'Evil Dead'-Filme, der dort den menschlichen Sandsack gab. Rührend naiv und zu allem entschlossen war er zugleich das Herz und die Seele der Filme; eine Figur, über die das Publikum sich amüsieren und mit der es mitleiden konnte. In der Version von 2013 erhält Campbell nur einen Mini-Cameo – nach den Abspanntiteln und völlig uninspiriert. Das Personal des neuen 'Evil Dead' dagegen ist völlig austauschbar. Passé sind auch die Ironie, der überdrehte Witz und die Tragik, die Raimi trotz begrenzter Mittel, Laiendarsteller und semiprofessionellem Personal vor und hinter der Kamera allen Unzulänglichkeiten zum Trotz wie aus dem Nichts zauberte. In der Bundesrepublik, in der sein Film als 'Tanz der Teufel' Mitte der 1980er Jahre zum Fall für die Staatsanwaltschaft wurde, haben die Behörden bis heute den anarchischen Humor des Films nicht verstanden. Erst 1992 wurde das Verbot des Films wegen 'Gewaltverherrlichung' vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben und 'Tanz der Teufel' offiziell zu Kunst erklärt. Kurz darauf wurde der Film, der heute in Frankreich ab 12 (!), in Italien ab 14 und in den Niederlande ab 16 Jahren freigegeben ist, in seiner ungeschnittenen Fassung abermals indiziert. Nach einer Novellierung des entsprechenden Paragraphen 131 des Strafgesetzbuchs im Jahr 2003 gilt diese Fassung wieder als beschlagnahmt. Bis heute hat sich daran nichts geändert.

Diese besondere deutsche Situation dürfte Alvarez weder bekannt sein, noch ihn sonderlich beeindrucken. Tatsächlich steigert seine 'Evil Dead'-Neuauflage den Blutzoll des Vorgängers erheblich. Obendrein verzichtet er wie Franck Khalfoun in seinem durchaus ambitionierten 'Maniac'-Remake (Alexandre Ajas Maniac'; 2012) auf jegliche ironische Brechungen. So treten die Schauspieler im Remake vornehmlich als Kanonenfutter für die garstige Dämonenbrut an, die Alvarez nur allzu gerne von der Leine lässt, und kehrt der harte Horror der 'Video Nasties'-Ära der frühen 80er Jahre zurück. Zumindest auf die Kinoleinwand, denn auf DVD und Blu-ray sind beide Filme sichere Kandidaten für den Indizierungswahn der 'Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien'. Da gehe ich jede Wette ein.

Doch während jüngere Varianten des Stoffs wie 'The Cabin in the Woods' oder auch Sam Raimis Regiearbeit 'Drag Me to Hell' (2009) trotz ihrer ironischen Haltung gegenüber dem Genre tatsächlich etwas Innovatives erreichten und dem Stoff entweder eine neue Mythologie hinzufügen ('The Cabin …') oder die alten Geschichten effektiv modernisieren ('Drag Me …'), da bleibt Alvarez‘ Teufelstanz nur ein schwacher Abklatsch von Raimis Low-Budget-Klassiker. Der neue 'Evil Dead' wirkt schal und leer: Nur wenig findet sich hier von Raimis Sensibilität für schwarzromantische Bildwelten und seinen aus der Not geborenen technischen Innovationen, die er durch die mit einfachsten Mitteln realisierten rasanten Kamerafahrten in das Genre eingebracht hat. Auch wenn Alvarez‘ überwiegend auf CGI-Computereffekte verzichtet, wirkt sein Remake wie eine kalkulierte Nummernrevue, die sich nicht zwischen grotesker Übersteigerung des Körperhorrors und echtem Schmerz entscheiden kann. So ist die wirklich schockierende Erkenntnis der in den USA erstaunlich erfolgreichen 'Evil Dead'-Neuauflage (knapp 50 Millionen Einspiel in den ersten drei Wochen), dass es Raimi und Konsorten mehr als 30 Jahre zuvor mit einem Mini-Budget und selbstgemachten Stop-Motion-Effekten gelang, den effektiveren Horrorfilm zu inszenieren.

Einzig in der letzten Sequenz findet Alvarez zu einem originären, gänzlich apokalyptischen Bild: Während die Kettensäge wieder und wieder in einen zuckenden Körper fährt, beginnt es plötzlich Blut vom Himmel zu regnen. Hier gelingt es Alvarez immerhin, noch einmal das Groteske zu beschwören und zu so etwas wie einer eigenen Poesie der Gewalt zu finden. Aber sonst ist es, als hätten die Springteufel im Wald nicht nur die Seelen der verfluchten Collegestudenten gefressen, sondern gleich das Herz des Films.

Snitch – Ein riskanter Deal

(USA 2013, Regie: Ric Roman Waugh)

Fighting the Law
von Louis Vazquez

John Matthews (Dwayne Johnson) sitzt in der Klemme. Sein Sohn Jason (Rafi Gavron) wurde mit einem dicken Drogenpaket erwischt, das ihm ein vermeintlicher Freund untergejubelt hat. Jetzt drohen Jason zehn …

John Matthews (Dwayne Johnson) sitzt in der Klemme. Sein Sohn Jason (Rafi Gavron) wurde mit einem dicken Drogenpaket erwischt, das ihm ein vermeintlicher Freund untergejubelt hat. Jetzt drohen Jason zehn Jahre Haft, wenn er nicht selbst jemanden beschuldigen kann. Aber der Junge kennt niemanden sonst, der dealt. Weil das Rechtssystem sich in dieser Sache erbarmungslos zeigt – Straferlass gibt es nur gegen weitere Verhaftungen –, muss der Papa helfen. Staatsanwältin Joanne Keeghan (Susan Sarandon) verspricht ihm, die Strafe seines Sohnes zu reduzieren, wenn er für die Festnahme eines wirklich großen Fischs sorgen kann. Weil Matthews Speditionsunternehmer ist, will er sich zum Schein als Kurier anbieten. Sein vorbestrafter Angestellter Daniel (Jon Bernthal, „The Walking Dead“) soll ihm einen Kontakt zur Szene verschaffen …

Ex-Wrestler Dwayne „The Rock“ Johnson spielt die Hauptrolle, der ehemalige Stuntman Ric Roman Waugh führt Regie – gleich zwei gute Gründe für falsche Erwartungen. „Snitch“ ist nämlich kein Action-Spektakel, sondern ein Krimi-Drama mit Botschaft und leicht dokumentarisch angehauchter Ästhetik. Der Film beruft sich auf wahre Begebenheiten und will auf einen Missstand im amerikanischen Rechtssystem hinweisen, der vielen Drogenkonsumenten lange Haftstrafen beschert. Obwohl die Produzenten betonen, kein „message movie“ geplant zu haben, ist „Snitch“ doch sehr treffsicher eines geworden. Sein Anliegen trägt der Film stets deutlich in erklärenden Dialogen vor sich her, seine Geschichte erscheint wie ein Mittel zum Zweck. Sowohl dem Plot als auch den Figuren fehlt alles, was übers bloß Funktionale hinausgehen würde, zum Beispiel überraschende Entwicklungen. Michael Kenneth Williams etwa, der in „The Wire“ einen der interessantesten Gesetzlosen der Bewegtbildgeschichte spielte, darf hier bloß die Erwartungen ans Drogendealer-Klischee erfüllen. Susan Sarandon, die in einem so gut gemeinten Film natürlich nicht fehlen darf, hat noch die komplexeste Rolle: Staatsanwältin Keeghan ist Republikanerin und strebt eine politische Karriere an. Deshalb pocht sie auf die Einhaltung der strikten Gesetze, obwohl sie nicht unbedingt viel von ihnen hält.

Manchmal wird es durchaus interessant: Wenn etwa Matthews, der immerhin auch der Boss ist, seinem Untergebenen Daniel unverschämt viel Geld für seine Unterstützung anbietet. Denn Daniel ist noch auf Bewährung und will eigentlich mit seiner Vergangenheit abschließen. Aus dieser unmoralischen Verstrickung macht der Film aber letztlich nicht genug, sondern bleibt arg vorhersehbar und etwas langatmig. Überraschend, weil inkonsequent, ist höchstens das Finale. Plötzlich gibt es nämlich doch noch eine größere, wenn auch nicht gerade glaubwürdige Actionszene. Deren Inszenierung indes überzeugt so wenig wie der Film insgesamt.

Mutter & Sohn

(RO 2013, Regie: Calin Peter Netzer)

Alte Seilschaften
von Wolfgang Nierlin

Von Frau zu Frau beklagt sich eine Mutter über ihren erwachsenen Sohn. Ihr Verhältnis scheint distanziert und zerrüttet, der Kontakt weitgehend abgebrochen zu sein. Vor allem ärgert sich Cornelia (Lumini&#355;a …

Von Frau zu Frau beklagt sich eine Mutter über ihren erwachsenen Sohn. Ihr Verhältnis scheint distanziert und zerrüttet, der Kontakt weitgehend abgebrochen zu sein. Vor allem ärgert sich Cornelia (Lumini&#355;a Gheorghiu) aber darüber, dass Barbu (Bogdan Dumitrache) angeblich von seiner Lebensgefährtin Carmen (Ilinca Goia) dominiert wird. Was die resolute Frau und von besitzergreifender Eifersucht getriebene Mutter darüber weiß, erfährt sie aus zweiter Hand; etwa von der Putzfrau, die für ihre Auskünfte kleine Geschenke erhält. Cornelia ist nämlich nicht nur eine bestimmende Mutter, die mit Liebe und übertriebener Sorge über ihr einziges Kind wacht, sondern sie gehört als wohlhabende Innenarchitektin zur Funktionselite der postkommunistischen rumänischen Gesellschaft. Politiker, Ärzte, Rechtsanwälte und Künstler zählen zu den Gästen ihrer Geburtstagsfeier, die in einem gepflegten, dezent luxuriösen Ambiente stattfindet. Der selbstverständliche Wohlstand des gehobenen Bürgertums sowie die alten Strukturen und Methoden der Macht bilden in diesem Milieu eine unmoralische Allianz. Verbittert zitiert die Mutter ihren Sohn mit den Worten: „Diese Generation muss verschwinden.“

Aufmerksam, sensibel und höchst konzentriert erforscht der rumänische Regisseur C&#259;lin Peter Netzer in seinem preisgekrönten Film „Mutter & Sohn“ (Goldener Bär der Berlinale) diese Amalgamierung, die sich als Fortdauer alter Machtstrukturen unter neuen, kapitalistischen Verhältnissen verstehen lässt. Noch immer regieren alte Seilschaften, gehören Bestechung und Korruption zur Tagesordnung und wäscht eine Hand die andere. In vielen, spannungsgeladenen Szenen des Films wird das anschaulich, vor allem aber ist dieses fast schon gewissenlose Taktieren und Paktieren eine Art stillschweigend akzeptierte Währung im zwischenmenschlichen Austausch, der von Misstrauen, Lügen und hässlichen Machtkämpfen bestimmt wird. Offen oder verdeckt, unausgesprochen oder direkt geht es in vielen Gesprächen und diskret inszenierten Details um konsumgeile Geldgier und zynisches Erfolgsstreben.

Als Barbu bei einem Überholmanöver mit überhöhter Geschwindigkeit einen Verkehrsunfall verursacht, bei dem ein 14-jähriger Junge aus einer ärmeren Gesellschaftsschicht stirbt, kämpft die Mutter mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, um ihren Sohn vor einer Gefängnisstrafe zu bewahren. Dabei wird ein kompliziertes Geflecht aus gesellschaftlichen Hierarchien, sozialen Gegensätzen, Privilegien, aber auch Abhängigkeiten sichtbar. Vor allem aber thematisiert der realistische Film das problematische Verhältnis zwischen einer Mutter, die ihr Kind nicht loslassen kann, und einem Sohn, der sich aus dieser Umklammerung zu befreien versucht, um endlich selbständig zu werden. Dass diese private Ebene auch eine gesellschaftliche meint, deutet Netzer an. Sein kleinteiliger, dichter Erzählstil, der von langen Handkamera-Einstellungen getragen wird und seine starke Spannung genauem Beobachten und Zuhören verdankt, lenkt die Aufmerksamkeit immer wieder auf Details und findet so zu einer enormen Vielschichtigkeit. Diese befördert schließlich nicht nur unangenehme Wahrheiten ans Licht, sondern stellt auch die Frage nach Schuld und Vergebung.

Freier Fall

(D 2013, Regie: Stephan Lacant)

„Ist alles gut zwischen uns?“
von Ulrich Kriest

Marcs Welt ist überschaubar geblieben. Der junge Mann, sehr körperlich in Szene gesetzt von Hanno Koffler, ist einer Familientradition folgend bei der Bereitschaftspolizei gelandet, seine Freundin Bettina (Katharina Schüttler) erwartet …

Marcs Welt ist überschaubar geblieben. Der junge Mann, sehr körperlich in Szene gesetzt von Hanno Koffler, ist einer Familientradition folgend bei der Bereitschaftspolizei gelandet, seine Freundin Bettina (Katharina Schüttler) erwartet gerade das erste Kind, seine Eltern haben ihm die Doppelhaushälfte vorfinanziert und leben jetzt gleich nebenan. Uff! Wenn das Kind erst mal da sei, so Marc, werde Bettina sich darüber noch freuen. Man kann sich also gut vorstellen, wie überrascht Marc ist, als er während einer Fortbildung den Kollegen Kay (Max Riemelt) kennenlernt. Der ist sehr sportlich, kifft gerne, wirkt gleichermaßen geheimnisvoll wie leichtsinnig und kokettiert mit „Systemunterwanderung“. Zwischen den Männern funkt es.

Das müssen wir dem Film jetzt einmal glauben, denn er findet dafür weder Worte noch Bilder. Schwule, so könnte man denken, reden nicht viel, sondern gehen lieber joggen oder tanzen. Aber, so der Filmemacher Stephan Lacant, seinem Film gehe es auch gar nicht so sehr um die Liebe zweier Männer in einem Milieu, in dem Schwulsein noch immer ein Tabu darstelle, sondern eher um eine archetypische Konfliktlage aus Liebe, Hass, Verleugnung und Selbstfindung.

Aha! Und deshalb wird hier mit bestenfalls holzschnittartigen Figuren „Eine verhängnisvolle Affäre“ unter Homophoben nachgespielt? Obwohl völlig unklar bleibt, was den Phlegmatiker Marc letztlich aus der Reserve, aus dem closet gelockt hat? Marc bleibt sich nämlich selbst ein Rätsel. Kay, dem offenbar der Sinn nach Paarbildung steht, erhöht den Druck, aber auch Bettina schöpft falschen Verdacht. Dass zwei Männer … undenkbar! „Dazu haben wir dich nicht erzogen!“, zischt die ausgerechnet von Maren Kroymann gespielte Mutter Marcs. Ironie? Und dann ist Kay, dieser schwule Mephisto, so plötzlich verschwunden, wie er gekommen ist – und Marcs kleinbürgerlicher Lebensentwurf (wenn man denn ein so großes Wort dafür gebrauchen will!) ist ein Scherbenhaufen.

Jede Szene in „Freier Fall“ ist wenig mehr als die filmische Auflösung einer auf Papier vorformulierten These zu einem Recherche-Ergebnis. Natürlich – wo leben wir denn? – wertet der Film das Geschehen nicht, er exekutiert es lediglich. Leider trivial. Man sieht den sehr präsenten Darstellern gleichwohl sehr gerne dabei zu, wie sie in diesem Meer von biederem Trash den Kopf über Wasser zu halten versuchen.

Gut gemeinte, aber in sich ziemlich redundante Fernsehfilme wie „Freier Fall“, die selbst verstockt Sex ohne jede Lust bebildern und nicht so recht wissen, wohin mit sich, sind zugleich die unmissverständliche Antwort auf die scheinbar immergrüne Frage, warum es seit vielen Jahren keine deutschen Filme mehr in den Wettbewerb von Cannes schaffen. Weil in Cannes in der Regel eben keine Fernsehfilme laufen, sondern eher Filmkunst.

Die wilde Zeit

(F 2012, Regie: Olivier Assayas)

Konjunktiv II, sexy
von Ulrich Kriest

So ist es gewesen. So hätte es zumindest gewesen sein können. Hierzulande sind wir es ja schon seit ewigen Zeiten gewohnt, die frühen 70er Jahre mit ihren kollektiven und individuellen …

So ist es gewesen. So hätte es zumindest gewesen sein können. Hierzulande sind wir es ja schon seit ewigen Zeiten gewohnt, die frühen 70er Jahre mit ihren kollektiven und individuellen Suchbewegungen zwischen Pop und Politik zwischen den Polen „68“ und „77“ fixiert zu bekommen. Sprich: wer von „68“ reden will, darf von Schleyer und Stammheim nicht schweigen! Und umgekehrt? Wie uninteressant und unproduktiv solch Präsentieren alter Rechnungen, solch eine Affirmation des Status quo ist, konnte man gerade im Kino bei „Das Wochenende“ erleben. Politische Aktivisten, so könnte man glauben, sollen sich gefälligst erst einmal entschuldigen, wofür konkret, darüber reden wir, vielleicht, später. Aber eher nicht!

Anders der französische Filmemacher Olivier Assayas, Jahrgang 1955, der mit seinem neuen Film „Aprés Mai“ von der Zeit nach dem Mai ‘68 erzählen will, als die Revolution gescheitert war, aber für die Jugendlichen trotzdem noch immer etwas in der Luft lag.

„Something in the Air“ lautet denn auch der internationale Verleihtitel von „Die wilde Zeit“. Es ist ein Film, der mit größter Sympathie für seine Protagonisten davon erzählt, dass man sich seinen Reim auf die Gegenwart immer erst »danach« macht, was aber nicht notwendig dazu taugt, die jeweilige Gegenwart zu denunzieren. Es geht hier um eine historische Spurensuche, die – einen Gedanken von Greil Marcus aufgreifend – ein marginales und marginalisiertes Aktionsfeld rekonstruiert, basierend etwa auf dem Abdruck eines Lippenstifts auf einer Zigarette.

Assayas begleitet eine Gruppe von Jugendlichen, die sich durchaus als Teil einer historischen Bewegung verstehen, allerdings nur bedingt die Dogmen der »alten Politik« teilen. Wir sehen also einige Maoisten, Trotzkisten, Anarcho-Syndikalisten und Situationisten in unruhigen Zeiten, aber manche von ihnen wollen und werden später doch eher dichten, schreiben, malen oder filmen. Drogen und Musik kommen ins Spiel, gleichberechtigt zur Politik; ein exquisiter, von Kennerschaft und Zeitgenossenschaft zeugender Soundtrack mit Musiken von Syd Barrett, Kevin Ayers, The Incredible String Band oder Tangerine Dream weitet die Bilder atmosphärisch (zur Erinnerung: in „Das Wochenende“ fördert das Durchforsten der Vinyl-Sammlung des Ex-Terroristen ausgerechnet das Stones-Album „Love you Live“ zutage). Man soll, darf und muss zuhören, darf sich von Bildern und Tönen gefangen nehmen lassen. Assayas zielt mit seinem ambitionierten Erzählreigen auf eine antiautoritäre Polyphonie, die einen aufmerksamen Zuschauer erfordert.

Zugleich erzählt der Film, der erzählerisch lose um die autobiografische Figur Gilles herum organisiert ist, fast schon pastoral ein paar Liebesgeschichten, die mal enger, mal weniger eng mit dem politischen Bewusstsein der Akteure verknüpft sind. Es stehen allerlei bedeutsame Fragen im Raum: „Wie positionierst du dich?“ Oder: „Braucht der richtige politische Inhalt nicht auch eine entsprechende revolutionäre Syntax?“ „Oder ist allein schon diese Frage ein Ausdruck kleinbürgerlicher Ideologie?“ „Wie hat Kunst auszusehen, die die Massen erreicht?“ Hier werden keine stellvertretenden Pappkameraden für bestimmte diskursive Positionen durch die Kulisse geschoben, es wird vielmehr versucht, eine historische Atmosphäre filmisch lustvoll mit beseelten Akteuren zu rekonstruieren.

Ihm gehe es auf der Grundlage autobiographischer Erinnerungen zuvörderst darum, ein Gefühl für die Schönheit der Utopien jener Zeit zu vermitteln, hat Assayas in Interviews erklärt. Und die Jugendlichen von 1971 von Laien von 2012 hat spielen lassen, die die »Sprache von ‘68« wie eine Fremdsprache lernen mussten. Auch dies ist ein schöner (Seiten-)Aspekt dieses Films: wie kommt man von heute überhaupt noch nach 1971 zurück, als Darsteller? Intuitiv?

Kurz vor Schluss brennt dann erstmals ein Fluchtfahrzeug. Dass der aktionistische Schwung und die Energie des gegenkulturellen Aufbruchs auf Dauer nicht zu halten sind, zeigt sich auch darin, dass immer wieder einzelne Figuren in narrativen Lücken verschwinden und unvorhergesehen wieder auftauchen. Dieses Mäandern birgt Überraschungen. Denn wer gerade noch von einer spirituellen Erfahrung in Indien träumte und dorthin auch aufbrach, wird vielleicht dann doch »nur« ein Kunsthandwerker, der das herrschende System mit Deko-Ware beliefert. Und dem Maoisten von vorgestern werden die vielen Niederlagen und Desillusionierungen zu viel, weshalb er für die Strategie des bewaffneten Widerstands nicht mehr nur plädiert, sondern Taten sehen will und sich dazu jüngere Aktivisten sucht.

Die folgenden, terroristischen und katastrophischen 70er Jahre, so Assayas, die habe er ja mit seinem semi-dokumentarischen „Carlos“ bereits verhandelt. „Die wilde Zeit“ ist jedenfalls der schönste und wichtigste Film des Jahres, weil er dringender und für uns Ältere, die sich vielleicht noch an die siebziger Jahre erinnern, schmerzhafter denn je von der Schönheit der Utopie, der Revolte erzählt. „Die wilde Zeit“ schwärmt nicht ohne Melancholie, aber letztlich doch ausgelassen und fröhlich von der Frische des jugendlichen Lebendigseins. Die Geschichte mag sich anders entwickelt haben: aber beschädigt das die Ideen von „Aprés Mai“? So hätte es gewesen sein können.

Der Tag wird kommen

(F / B 2012, Regie: Gustave Kervern, Benoît Delépine)

Sich selbst revolutionieren
von Wolfgang Nierlin

Eingangs sieht man fast bildfüllend nur eine etwas spärliche Irokesenfrisur und eine Stirn, auf der drei Buchstaben tätowiert sind: „Not“ nennt sich der selbsternannte „älteste Punk Europas“, der mit bürgerlichem …

Eingangs sieht man fast bildfüllend nur eine etwas spärliche Irokesenfrisur und eine Stirn, auf der drei Buchstaben tätowiert sind: „Not“ nennt sich der selbsternannte „älteste Punk Europas“, der mit bürgerlichem Namen Benoît Bonzini (Benoît Poelvoorde) heißt und mit seiner programmatischen Verweigerungshaltung und einem kleinen Hund („Schäfer-Punk“) spazieren geht. Als verwilderter Neinsager, der sich dem kapitalistischen System widersetzt, erfüllt er äußerlich die üblichen Klischees des biertrinkenden, rotzenden, pöbelnden und provozierenden Außenseiters: Dem Werbeschild am Straßenrand versetzt er einen Fußtritt, den Überwachungskameras des Supermarktes zeigt er den Stinkefinger und den Kunden mit ihren überfüllten Einkaufswagen stellt er auf dem Parkplatz nach. „Ich bin frei!“, behauptet „Not“. Doch angesichts seiner isolierten Position unter Gleichgesinnten und der relativen Gleichgültigkeit seiner Mitmenschen, die ihn eher wie einen Außerirdischen betrachten, will man das nicht recht glauben. Bei einem Konzert der Punkband Les Wampas landet er nach einem ausgedehnten Crowdsurfing einmal symbolträchtig in einer Mülltonne.

Die beiden französischen Regisseure und Comedians Gustave Kervern und Benoît Delépine, die für ihren schrägen Humor bekannt sind („Louise Hires a Contract Killer“, „Mammuth“) wollen den unangepassten Helden ihres neuen Films „Der Tag wird kommen“ („Le grand soir“) als „modernen Diogenes“ verstanden wissen. Tatsächlich blickt das beobachtete Subjekt „Not“ zurück und entlarvt damit dasjenige, was es radikal ablehnt: die Konsumgesellschaft mit ihren Agenten der Überwachung und der Sicherheit, die sich die „verdächtigen Individuen“ und „nicht tragbaren“ Randfiguren mit Kameras, Trennscheiben und Security-Personal auf Distanz hält. Kervern und Delépine nutzen diese Dialektik immer wieder für ihren visuellen szenischen Witz, indem sie in oft lang stehenden Bildern einen lakonischen Dialog zwischen Vorder- und Hintergrund inszenieren, mit überraschenden Perspektivwechseln die Szenen in eine unerwartete Richtung lenken oder aber diese offen halten. Dazu kommen lange Einstellungen, in denen die Schauspieler Zeit für ausgedehnte Improvisationen haben: in Gastauftritten etwa der belgische Regisseur Bouli Lanners in der Rolle eines Wachmanns oder Gérard Depardieu als Wahrsager.

„Die Wahrheit ist viel zu schön, als dass du sie ertragen könntest“, erklärt dieser „Nots“ Bruder Jean-Pierre (Albert Dupontel). Eben hat der ziemlich angepasste Matratzen-Verkäufer, der von seinem Chef unter Verkaufsdruck gesetzt wird und der mit „Smartschaum“ auf Kundenfang geht, noch ein Loblied auf den „normgerechten Menschen“ angestimmt. Doch nach einem renitenten Kunden, verzweifelten Verkaufsbemühungen und einem wüsten Ausraster im Vollsuff ist der smarte Anzugsträger seinen Job los. Da hilft weder das wilde Herumballern mit der „Fingerpistole“ noch das aggressive Niederringen eines kleinen Bäumchens. Aber dann greift ausgerechnet „Not“ seinem Bruder unter die Arme, hilft ihm „locker“ zu werden und „mit sich zu haushalten“ und macht schließlich aus Jean-Pierre den Punker „Dead“.

„Der kürzeste Weg zur Freiheit ist geradeaus“, erklärt „Not“. Doch die Bewegungen der beiden Ausgestoßenen zwischen verhaltener Konsumkritik und zaghafter Sozialrevolte, zwischen Freiheitsbehauptung und sozialer Abhängigkeit bleiben merkwürdig harmlos und irgendwie irrelevant. Die Revolution findet nicht statt, weil die Gesellschaft ihre Abweichler mit Ignoranz bestraft. Vielleicht gibt es deshalb in dem Film auch einigen Leerlauf. Seiner mäßig trotzigen Botschaft, „weiterzumachen“ und „sich selbst zu revolutionieren“, fehlt jedenfalls die stoffliche Anschauung. Außerdem erschöpft sie sich in mehr oder weniger lustigen Gesten. „We are not dead“, aus zusammengeklauten Leuchtbuchstaben zusammengesetzt, ist davon eine der originellsten. Es ist dies zugleich die minimalste Konstante in einem ansonsten ziemlich tristen Leben, dem schließlich auch noch die Gewissheit der Herkunft entzogen wird: „Wir hatten keine Zukunft und haben jetzt nicht mal eine Vergangenheit.“

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Charlies Welt – Wirklich nichts ist wirklich

(USA 2012, Regie: Roman Coppola)

Film als reines Privatvergnügen
von Ulrich Kriest

Erwachsenwerden ist auch keine Lösung. Roman Coppola, Sohn von Francis Ford und Bruder von Sophia, hat seine Meriten als Drehbuchautor an der Seite von Wes Anderson („The Darjeeling Limited“, „Moonrise …

Erwachsenwerden ist auch keine Lösung. Roman Coppola, Sohn von Francis Ford und Bruder von Sophia, hat seine Meriten als Drehbuchautor an der Seite von Wes Anderson („The Darjeeling Limited“, „Moonrise Kingdom“), als Produzent von „Somewhere“ und „On the Road“ und als Regisseur von Musikvideos für The Strokes und Daft Punk verdient.

Sein Spielfilmdebüt „GQ“, eine experimentelle Film-im-Film-Hommage an den Pop der späten sechziger Jahre mit Verbeugungen vor „Modesty Blaise“, „Barbarella“ und Fellini, kam hierzulande nicht in die Kinos und war an den US-Kinokassen ein veritables Desaster.

„Charlies Welt“, der im Original den ungleich schöneren und treffenderen Titel „A Glimpse Inside the Mind of Charles Swan III“ trägt, erzählt von der midlife crisis des erfolgreichen Werbegrafikers Charles Swan III, dessen Leben komplett aus den Fugen gerät, als ihn seine Freundin Ivana verlässt. Wie in Trance stolpert Charles Swan III, gespielt von Charlie Sheen, durch ein surreales Kunst-Hollywood, das vollgestellt ist mit stylisher Pop Art und allerlei Regulars aus den Filmen von Wes Anderson: Jason Schwartzman und Bill Murray glänzen in Nebenrollen, Patricia Arquette ist auch von der Partie als Charles Schwester Izzy.

Charlie Sheen, der hier natürlich auch mit seinem öffentlichen Image als aus dem Ruder gelaufene Skandalnudel spielt, bekämpft seine Depressionen mit Alkohol und flüchtet sich in der Rolle des Kindskopfs, der die Frauen liebte, in Tagträume, die der Film dann sogleich in die (Film-) Realität überführt. Das führt zu amüsanten Sketch-Szenen, wenn beispielsweise Sheen und Schwartzman im Tom Mix-Cowboy-Outfit durch die Wüste reiten und plötzlich auf eine Gruppe sexy Indianerinnen treffen, die sich an einem Wasserloch waschen.

Angelockt von diesen Sirenen / Amazonen, geraten die beiden unbewaffneten Männer in einen Hinterhalt, bis ihnen von John Wayne / Bill Murray ein Gewehr gereicht wird. Trotzdem wird Sheen beim Versuch, mit der Anführerin der Indianerinnen, die wie Ivana aussieht, von einem Pfeil getroffen – und erwacht im Krankenhaus. Charlie ist, ein Blick in seinen Kopf hat das zu Beginn des Films unmissverständlich klargestellt, ein lässiger und larmoyanter Macho, dessen Hirn zu 70% ausschließlich mit Sex beschäftigt ist.

Mindestens so lässig wie sein Protagonist ist auch Coppolas Film selbst, der es sich mittels der Tagtraum-Logik erlaubt, jedem Einfall zu folgen, sei dieser nun gut (wie die Indianerszene) oder auch nur halb gut (wie die Begegnung mit russischen Taxifahrern, die nebenher Kaviar schmuggeln). „Charlies Welt“ erinnert immer wieder an jene kurze Phase des „New Hollywood“, als junge Kreative begannen, ihre Version der Nouvelle Vague als Fans in Szene zu setzen: man denke nur an Bob Rafelsons Monkees-Film „Head“. (Charles Swan(n) ist übrigens der Name des Protagonisten von Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“.) Dazu passt nicht nur, dass Charlie als Künstler auch für die Gestaltung des Covers des neuen Albums seines besten Freundes „Kirby“ (Schwartzman), einem jüdischen Countrysänger, zuständig ist, dessen Shooting als „Kitchen Sink Cowboy“ schließlich das Finale des Films ausmacht.

Dazu passt auch, dass Charlie bei der finalen Begegnung mit Ivana nicht nur eine überbordende Liebeserklärung macht, sondern seine Zukunftsvorstellung auch gleich als brillante Shownummer phantasiert: er und Ivana überzeugen mit einer grandios schmierigen Interpretation von „Aguas De Marco“ von Tom Jobim. In der Manier von Al Bano und Romina Power, versteht sich. Charlie singt auf portugiesisch und parliert mit seiner Haushälterin in Gegenwart eines Tukan, den er als Haustier hat, auf spanisch.

Dazu passt besonders, dass Coppola seinen ganzen Film auch als Vehikel instrumentalisiert, um einen Musiker vorzustellen, dessen Talent hinreicht, um den Besuch dieses Films anzuraten: Liam Hayes. Der Musiker darf im Laufe des Films ein gutes Dutzend eigener Songs spielen, ergänzt noch um zwei Songs, die von Coconut Records interpretiert werden, wohinter sich ein (gleichfalls sehr empfehlenswertes) Musikprojekt von Jason Schwartzman verbirgt.

Am Ende dieses sehr entspannten, fast schon skizzenhaften Films, der sich mehr für Style als für Inhalt interessiert, gönnt sich Coppola dann noch die Volte, die Figuren aus ihren Rollen heraustreten zu lassen und sich dem Publikum vorzustellen. In einer ungeschnittenen Einstellung am Strand mit Kran-Einsatz – wie damals, am Ende von Godards „One Plus One“ oder am Anfang von Orson Welles‘ „Im Zeichen des Bösen“.

MansFeld

(D 2013, Regie: Mario Schneider)

Frühlingsopfer
von Andreas Thomas

Filme über Kinder können sehr dankbare Filme sein, solange das Interesse an dem Sujet echt und der Blick auf die Kinder ein interessierter und offener ist. Der Dokumentarfilm „MansFeld“ von …

Filme über Kinder können sehr dankbare Filme sein, solange das Interesse an dem Sujet echt und der Blick auf die Kinder ein interessierter und offener ist. Der Dokumentarfilm „MansFeld“ von Mario Schneider ist ein dankbarer Film dieser Art! Der Regisseur, der schon 2007 mit „Heinz und Fred“ durch seine einfühlsame und zugleich respektvolle Beobachtung einer Vater-Sohn-Wohngemeinschaft überzeugen konnte, kehrte auch für seinen neuen Film zurück in seine Heimat, ins Mansfelder Land im Südharz in Sachsen-Anhalt, quasi auf der Suche nach dem Ort seiner Kindheit und – auf der Suche nach dem Kind an sich. Denn „MansFeld“ versucht sich an mehr als einer (in diesem Fall genau gesagt drei) „Kindergeschichte&#147;, der Film stellt – und dabei ist ihm eine Jahrhunderte alte Tradition der Region behilflich – schon die philosophische Frage nach Kindheit und Erwachsensein, danach, was beides trennt oder was beides vereint, danach was bleiben mag, wenn Kindheit endet, aber vor allem, was Kindheit eigentlich ausmacht.

Drei acht- und neunjährige Jungen aus einem kleinen Dorf, das im halb anheimeligen, halb bedrohlichen ewigen Schatten einer riesigen schwarzen Halde liegt, ein Andenken an den Kupferschieferbergbau und ein Überbleibsel eines der wichtigsten industriellen Ballungszentren der DDR, begleitet der Film: zur Schule, ins Zuhause, zur Schweineschlachtung, zum Spielen, zum Abendessen bis zum Schlafengehen und das alles so unauffällig und unaufdringlich und zugleich hautnah, dass man den Eindruck hat, die Kameras und das Filmteam seien sicherlich unsichtbar gewesen.
Das Wichtigste ist dabei das Ergebnis: Wir lernen drei Kinder kennen, weil wir Gelegenheit haben, ihre Gesichter zu studieren, und weil wiederum Gesichter von Kindern, wenn man sie lässt, das Ehrlichste sind, was man sich vorstellen kann. Dieses „Lassen“ meint nichts Geringeres als die volle Aufmerksamkeit für das und nur das, was diese Gesichter erzählen (einmal davon abgesehen, dass diese Kinder auch Interessantes mit Worten zu sagen haben), und sie erzählen es unverstellt, während um sie herum ihr Alltag geschieht.

Wie in modernen Dokumentarfilmen so üblich, wird an jedem Off-Kommentar gespart und (beinahe) jede Frage von Seiten des Filmteams vermieden. Das wirkt mitunter etwas verkrampft, weil es Situationen gibt, in denen eine kurze Erläuterung dem Verständnis der Szenerie gedient und dem Fluss der Schilderung auf die Sprünge geholfen hätte. So sieht man, dass der Vater eines Kindes offenbar ein Problem mit seinem Bein hat, dass diese Gehbehinderung die Folge eines Arbeitsunfalles ist und dass auf der Familie die mögliche Arbeitsunfähigkeit des Vaters lastet, das erfährt man dann leider erst aus dem Presseheft – so zur Hand.

In solchen Augenblicken werden leider zu Gunsten des Stils und der einheitlichen Ästhetik eines Films wichtige informative Aspekte vernachlässigt, mit anderen Worten: Impression statt Information mag schön sein, aber das Eine sollte und muss bitte nicht das Andere ausschließen … Womit die Gefahr, der heute Dokumentarfilme generell und auch begrenzt „MansFeld“ ausgesetzt sind, benannt wäre: Die Gefahr, die Ästhetisierung überzubewerten, die Gefahr, ins namenlos Mystische zu entgleiten, speziell bei Filmen über Kindheiten scheint das verführerisch zu sein (der vergleichbare Film “Die Kinder vom Napf“ sei hier erwähnt), das Unschuldige, Träumerische, Unmittelbare, das zweifelsohne auch jeder Kindheit zu eigen ist, zu verklären und mittels eines gerüttelt Aufwandes an Bild- und Tonmalerei ins Paradiesisch-Märchenhafte zu überhöhen.

Dieser Gefahr aber schafft es sich „MansFeld“ doch weitgehend zu entziehen, der Film bleibt auf dem Boden, bleibt so nah dran am Kind, dass er die vielen durchaus nicht nur verzauberten Teile seiner Wirklichkeit einfängt. Dazu gehört der Schulalltag, das Beisammensein in der Familie bei den Mahlzeiten, Einblicke in die Arbeitswelt der Eltern, was vom Archaischen des Tierschlachtens bis zur virtuellen Welt der modernen Computerarbeit reicht. Eine Ausnahmesituation besteht, besonders in der Abgeschiedenenheit des Mansfelder Landes, für den eher sensiblen 8jährigen Tom, der bei zwei „Müttern“ aufwächst, und sich vorsichtig mit männlichen Verhaltenscodizes auseinandersetzt, eher ein Suchender und Träumender, ganz anders als etwa Paul, der schon im Alter von 9 Jahren genau weiß, dass er Fleischer werden will.

Schön ist, wie der Film ganz natürlich aus seiner Betrachtung heraus dies alles nachvollziehen lässt, wie das Milieu uns prägt, wie auch prekäre wirtschaftliche Verhältnisse uns beeinträchtigen und wie die Kinder sie wahrnehmen, und wie Kinder sich dem Zeitpunkt nähern, dass sie diese Welt von uns Erwachsenen übernehmen müssen, ob sie wollen oder nicht.

Dieser adoleszente Wendepunkt wird im Mansfelder Land seit Jahrhunderten symbolisiert durch ein Ritual, in welchem die Männer von den Kindern vertrieben werden. Verkleidete Männer wälzen sich zu Pfingsten im Wald in Schlammlöchern und krallen sich in die Erde. Vertrieben werden sie von Peitschen schwingenden Jungs, auch die drei Jungs des Films sind dabei (offenbar ist hier übrigens weibliche Gleichberechtigung noch kein Thema). Der Kampf Winter gegen Frühling entspricht dabei der Ablösung der Generationen und dem Erwachsenwerden. Wie ursprünglich und wie wild dabei manche Szene gerät, das erinnert regelrecht an stammesrituelle Handlungen. Beeindruckend und befremdlich, wie solche Ekstase auf deutschem Boden möglich sein kann. Und es ist das Verdienst des Films, auch diese Ursprünglichkeit so hautnah und lebendig einzufangen, als wäre man dabei. Denn so kommt man auch den großen impliziten Fragen näher, nach dem Alten und Neuen, nach dem Werden und Vergehen, nach dem Aufbauen und Zerstören, ja schon ziemlich grundsätzlich eben der Frage nach dem Leben an sich, und das ist schon eine ganze Menge, oder?

Glänzend unterstützt übrigens wird der Film durch Musik von J.S. Bach und von Strawinskis „Le Sacre du Printemps“, das „Frühlingsopfer“, dessen musikalische Drastik wohl selten so gut in einen Film gepasst hat wie hier. Regisseur Schneider, ursprünglich studierter Musikfilmkomponist, komponierte auch den Original-Soundtrack des Films.

Am Ende scheint‘s, als wäre der Regisseur selbst so getragen von dieser berührenden Thematik, dass er sich es doch nicht verkneifen kann, das Schweigegebot zu brechen und man hört halblaut aus dem Off die philosophische Frage an Tom: „Warum spielst du?“ Der bringt den hoch fliegenden Regisseur mit seiner Antwort unmittelbar zurück auf den Boden: „Weil‘s Spaß macht!“ Der Film ebenso! Aber nicht nur: denn er berührt wirklich, so abgenutzt das Wort oft sein mag, hier stimmt‘s!

Mademoiselle Populaire

(F 2012, Regie: Régis Roinsard)

Richtige Frauen und richtige Männer
von Wolfgang Nierlin

“Alle Mädchen wollen Sekretärin werden”, sagt Louis Échard (Romain Duris). Glaubt man dem ebenso smarten wie arroganten Macho, der in Lisieux, einer Provinzstadt der Normandie, eine kleine Versicherungsagentur leitet und …

“Alle Mädchen wollen Sekretärin werden”, sagt Louis Échard (Romain Duris). Glaubt man dem ebenso smarten wie arroganten Macho, der in Lisieux, einer Provinzstadt der Normandie, eine kleine Versicherungsagentur leitet und sich dabei als ketterauchender Platzhirsch gebärdet, war das in den 1950er Jahren sogar ein Modetrend unter jungen Frauen. Sehnsüchtig den wohlhabenden, möglichst gut aussehenden Chef anhimmeln und mit Schreibmaschineschreiben, Stenographie und Telefonieren eigenes Geld verdienen: Das war, eingepackt in traditionelle Geschlechterrollen und selbstverständlichen Sexismus, fast schon eine Vorstufe weiblicher Emanzipation. Mit genüsslicher Ironie und teils doppelbödigem Humor blickt der französische Regisseur Régis Roinsard zurück auf die Klischees dieser so fern erscheinenden Jahre. Seine romantische Komödie „Mademoiselle Populaire“ ist allerdings keine kritische Stellungnahme zum Geschlechterdiskurs, die den ästhetischen Abstand zum Genre sucht oder ihm wenigstens Brechungen einziehen würde; vielmehr reproduziert er in heiter-beschwingtem Tonfall, mit cremefarbener Wärme und perfekter Ausstattung dessen auf relativ harmlose Unterhaltung zielenden Vorgaben.

Insofern zielt Roinsard mit seinem Film in gleich mehrfacher Hinsicht auf die Erfüllung der Traditionen. Um die etwas biederen Heile-Welt-Träume seines Liebes- und Erfolgsmärchens in Gang zu setzen, schickt er die hübsche Rose Pamphyle (Déborah François), selbstbewusste Tochter eines verwitweten Gemischtwarenhändlers aus der noch tieferen Provinz, zum begehrten Bewerbungsgespräch bei dem schnöselig-eleganten Versicherungsvertreter. Dieser stellt die schusselige junge Frau mit verklemmtem Blick auf ihren Sex-Appeal ein und hat bald nur noch eines im Sinn, um sein unterdrücktes Begehren zu sublimieren: Er will Rose zu einer modernen, erfolgreichen Frau formen. Das dabei die aufkeimende Liebe zwischen den beiden permanent auf Ersatzhandlungen umgelenkt und verschoben wird, ist der dramaturgischen Logik der Komödie geschuldet, die zielsicher auf folgende bejubelten Schlusssätze zusteuert: „So wie du bist, machst du mich sehr glücklich. Ich liebe dich.“

Ende gut, alles gut, könnte man sagen. Doch angesteuert wird dieses Happy End vor allem durch die Feststellung: „Männer und Frauen sind sehr unterschiedlich.“ Und so unterwirft der ehrgeizig auf Sieg fixierte Louis, ein traumatisierter Kriegsveteran und ehemaliger Sportsmann, seine gelehrige Schülerin Rose einem strengen Training im Schreibmaschineschreiben, um sie für die kuriosen Regionalmeisterschaften fit zu machen. Mit abzutippenden Literaturklassikern (u. a. „Madame Bovary“ und „Rot und Schwarz“), farbigen Tasten, abgedeckter Tastatur und wenig Lob drillt er Rose auf Höchstleistung. Aus ihrem bemerkenswert effizienten Zwei-Finger-Suchsystem auf einer alten Triumph wechselt sie zur Zehn-Finger-Technik, schafft bald um die 500 Anschläge pro Minute, wird nationale Meisterin, umschwärmter Star und Werbeträgerin der Firma Japy, bis sie schließlich zum finalen Showdown bei den Weltmeisterschaften in New York antritt. Régis Roinsard inszeniert diesen als spannendes Duell mit rasanten Schnitten auf fliegende Finger, Kreisfahrten der Kamera und geteiltem Bild. Tatsächlich ist Rose schneller als die Maschine. „Die Amerikaner sind gut fürs Geschäft, die Franzosen für die Liebe“, wissen die Männer. Und der Zuschauer lernt: Das alles gab und gibt es wirklich – nicht nur im Kino.

Oblivion

(USA 2013, Regie: Joseph Kosinski )

Das Design ist die Botschaft
von Ricardo Brunn

Das Kino der 1980er Jahre ist, zugespitzt formuliert, ein Kino der Oberfläche. Mit ungeahnten Schauwerten holen die in dieser Dekade entstandene Blockbuster wie „Indiana Jones“ (1981) oder „Aliens“ (1986) die …

Das Kino der 1980er Jahre ist, zugespitzt formuliert, ein Kino der Oberfläche. Mit ungeahnten Schauwerten holen die in dieser Dekade entstandene Blockbuster wie „Indiana Jones“ (1981) oder „Aliens“ (1986) die Zuschauer von den Fernsehsesseln zurück ins Kino und nutzen die neuen technischen Möglichkeiten für eindrucksvolles Production Design. Der Kunsthistoriker Jürgen Müller spricht in diesem Zusammenhang etwa von der „Apologie der Oberfläche“ und verweist auf die Obsession von Filmemachern wie Ridley Scott, mit der Ästhetik der Oberfläche die Illusionskraft des bewegten Bildes zu betonen und gleichzeitig zu hinterfragen. Denn als Grenze eines Innen und Außen wird die Oberfläche auch von der Frage nach den dahinter liegenden Wahrheiten bestimmt: In „Blue Velvet“ (1986) beispielsweise in Gestalt einer Reise an die hinter den Fassaden liegenden düsteren Orte amerikanischer Vorstadtnormalitäten.

Aber auch abseits des Kinos ist das Motiv der Oberfläche von eminenter Bedeutung für das Jahrzehnt. So beschreibt Bret Easton Ellis in seinen Romanen über die Neonlichtdekade eine übersättigte, gelangweilte und nur an Äußerlichkeiten interessierte Welt. Daneben hat Steve Jobs in den 80ern auf andere Art das Potenzial der Oberfläche erkannt und mit dem „Macintosh 128k“ (1984) nicht nur einen der ersten PCs mit einer grafischen Benutzeroberfläche auf dem Markt etabliert, sondern den Computer von seinem hässlichen Gehäuse zu befreien versucht und schließlich ein Unternehmen erschaffen, das vor allem perfektes Design und weniger perfekte Technik herstellt.

„Oblivion“ ist in vielen Aspekten ebenfalls ein Kind der 1980er Jahre und der Fixierung auf das Äußere. Regisseur Joseph Kosinski, 1974 geboren und mit den Filmen der Reagan-Ära groß geworden, lieferte bereits 2010 mit „Tron: Legacy“ eine Fortsetzung des Sci-Fi-Streifens „Tron“ (1982) ab, der sich in seinem spiegelnden und nur von Neonlicht durchzogenen Schwarz vollkommen der Oberfläche (und leider auch der Oberflächlichkeit) verschrieben hatte. In seinem zweiten Film knüpft Kosinski in ästhetischer Hinsicht direkt an den verunglückten „Tron: Legacy“ an, nur wird den diesmal strahlend weißen, spiegelnden und transparenten Dekors eine Geschichte an die Seite gestellt, die zumindest vom Kohärenzwillen des Regisseurs zeugt.

Im Jahr 2077 ist Techniker Jack Harper (Tom Cruise als WALL-E von Scientology, wenn man so will) zusammen mit seiner makellosen Kollegin Victoria (Andrea Riseborough) auf der von Aliens zerstörten Erde als Reparaturteam im Einsatz. Hier überwachen sie als letzte auf der Erde verbliebene Menschen riesige, über dem Meer schwebende Maschinen, die Ressourcen aus dem verwüsteten Planeten extrahieren.

Bereits in diesen einleitenden Szenen preist die Kamera das virtuose Design des Filmes, fliegt mit Jacks Gleiter ausgiebig über die in Schönheit erstarrte Erdoberfläche, die selbst in ihrer Zerstörung noch aufgeräumt erscheint oder ergötzt sich am gleichsam über dem Boden schwebenden Haus des Technikers, das (sich ganz der Form verschreibend) sogar mit einem durchsichtigen Swimmingpool aufwarten kann. Untermalt werden diese Zelebrierungen des schönen Scheins, in denen sich der Plot kaum entwickelt, mit dem Score der französischen Elektropop-Band M83, deren 80er-Jahre-Synthi-Wurzeln deutlich herauszuhören sind.

Das perfekte und bisweilen transparente Äußere verweist indes auch in „Oblivion“ auf ein Dahinter. Als Jack eine abgestürzte Rettungskapsel findet, in der eine Frau (Olga Kurylenko) im Tiefschlaf liegt, gerät das aseptische Technikerleben aus den Fugen und die wohldosierte Action nimmt ihren Lauf. Zugleich sorgen das im Titel angedeutete Motiv der Erinnerung sowie die damit einhergehende Frage nach dem Erkennen des eigenen Selbst für die nötigen Wendungen, denn Jack kennt die schöne Unbekannte bereits aus seinen Träumen.

In diesem Zusammenhang wirken die zahlreichen Filmzitate, die von „2001: Space Odyssee“ über „Mad Max – Jenseits der Donnerkuppel“ bis hin zu „Independence Day“ oder „Matrix“ reichen und mitunter nur knapp dem Plagiatsvorwurf entgehen, wie die Überreste eines vergangenen, sich erinnernden Kinos. Sogar Hauptdarsteller Cruise tritt gleichsam als Zitat seiner selbst auf, begann doch die Karriere des Saubermannes ebenfalls in den 1980er Jahren.

Dessen schauspielerische Leistung bleibt jedoch zu routiniert und glatt, weshalb die entstehende Liebesgeschichte zwischen Jack und der Rettungskapselschönheit zu keinem Zeitpunkt richtig Fahrt aufnehmen will. Ähnlich ergeht es den unter der Oberfläche liegenden Themen, die um Kritik am umweltbedrohenden Turbokapitalismus transkontinentaler Konzerne und dem im digitalen Zeitalter transparent gewordenen Menschen (Stichwort durchsichtiger Swimmingpool) kreisen, sich unter der Eindeutigkeit der Werbeästhetik aber als zu plakativ gebärden.

Getreu dem Grundsatz „Sometimes the design is the statement“, mit dem Ridley Scott einst die Kritik an seiner Versessenheit auf das Production Design in „Blade Runner“ kommentiert hat, erschafft Joseph Kosinski mit „Oblivion“ einen sehenswerten Oberflächenfilm, dem es leider an der Originalität und Subtilität seiner Vorbilder mangelt.

Eine Dame in Paris

(F / EST / B 2012, Regie: Ilmar Raag)

Subtile Einsamkeit
von Wolfgang Nierlin

Eine melancholische Stimmung, unterstützt durch die Musik der Pop-Jazzband Dez Mona, liegt über den ersten Bildern von Ilma Raags Film „Eine Dame in Paris“ („Une Estonienne à Paris“). Durch die …

Eine melancholische Stimmung, unterstützt durch die Musik der Pop-Jazzband Dez Mona, liegt über den ersten Bildern von Ilma Raags Film „Eine Dame in Paris“ („Une Estonienne à Paris“). Durch die dunklen, verschneiten Straßen einer namenlosen estnischen Stadt fährt ein Bus. Anne Rand (Laine Mägi), eine blasse, erschöpfte Frau mittleren Alters, befindet sich auf dem Heimweg zu ihrer alten, kranken Mutter. Unterwegs torkelt ihr im fahlen Licht einer Straßenlaterne ihr sturzbetrunkener Schwager Toomas entgegen. Seit zwölf Jahren ist Anne, die einmal Französisch studiert hat, danach aber als Altenpflegerin arbeiten musste, geschieden. Die erwachsenen Kinder sind aus dem Haus und Anne ist darüber einsam geworden. Eines Nachts hört die Mutter auf zu atmen und zu Annes Einsamkeit kommt das Alleinsein – ohne Perspektive und Aufgabe. Bis sie kurz darauf ein Jobangebot aus Frankreich erreicht: Sie soll in Paris eine alte, eigenwillige Estin betreuen.

Was wie ein tristes, nordisches Sozialdrama beginnt, verwandelt sich nach Annes Ankunft in der Seine-Metropole in ein subtiles Kammerspiel, in dessen Mittelpunkt gleich zwei einsame Frauen stehen. Denn die betagte Frida (Jeanne Moreau), eine ebenso elegante wie lebensüberdrüssige Dame, lebt fast vollständig isoliert; wäre da nicht noch ihr ehemaliger, jüngerer Liebhaber Stéphane (Patrick Pineau), den sie wie einen Sohn behandelt und der gegen ihren Willen die estnische Betreuerin engagiert hat. Das bekommt Anne bei der ersten Begegnung mit Frida auch gleich vehement zu spüren. Hinter dem von Stéphane als „unverblümte Art“ beschönigten Charakter der resoluten Dame steckt pure Misanthropie. Die herrische Alte, die weder etwas bedauert noch bereut, zeigt sich verbittert, gehässig und böswillig. Dahinter wiederum verbirgt sich ein tiefsitzendes Gefühl des Verlusts, mit dem Frida einem lustvollen Leben und ihrem verlorenen Liebhaber nachtrauert.

Anne kompensiert die demütigende Ablehnung zunächst mit nächtlichen Spaziergängen, auf denen ihre alten, fernen Träume einen Hauch von Erfüllung finden und ihr verschüttetes Selbstbewusstsein zu wachsen beginnt. Nach ersten Rückschlägen und Grenzziehungen nähern sich die beiden Frauen unter Stéphanes moderater Vermittlung aber auch zaghaft einander an, werden dabei kurzzeitig zu Komplizinnen und müssen ihr gegenseitiges Vertrauen doch immer wieder neu gewinnen. Ruhig und unspektakulär entwickelt Ilmar Raag dieses leise Drama zwischen zwei einsamen Frauen, deren unterschiedliche Temperamente aufeinander stoßen, sich aneinander reiben, um sich dem Austausch zu öffnen und die (innere) Heimatlosigkeit der Protagonistinnen zu durchbrechen. Das ist, gemessen an den großen, oft lautstarken Kinodramen vielleicht nicht viel, im Kontext dieses eher „kleinen“, aufrichtigen Films aber auch nicht wenig.

Paradies: Hoffnung

(AT / F / D 2013, Regie: Ulrich Seidl)

Teenage Fanclub
von Marit Hofmann

Das Paradies ist eine Pyjamaparty mit Flaschendrehen und verbotenen Schokoriegeln. Die Hölle ist der Drill im Diätcamp, aber so richtig anhaben kann er den Kindern nichts. Es ist ein sympathischer …

Das Paradies ist eine Pyjamaparty mit Flaschendrehen und verbotenen Schokoriegeln. Die Hölle ist der Drill im Diätcamp, aber so richtig anhaben kann er den Kindern nichts. Es ist ein sympathischer Zug von Realityschockfilmer Ulrich Seidl, dass er Skrupel hat, seine Teenagerprotagonistin ähnlichen Qualen und Abgründen auszusetzen wie deren weibliche Verwandte, die im Mittelpunkt der anderen Teile seiner „Paradies“-Trilogie stehen und gleichermaßen zu Peinigerinnen und Gepeinigten werden. Doch damit ist der letzte Teil auch der harmloseste und von der Realität am weitesten entfernte. Während die Mutter ihr Glück im Sextourismus sucht (siehe Paradies: Liebe') und die ultrakatholische Tante im herausragend beklemmenden „Paradies: Glaube“ missionieren geht, verliebt sich Melanie in ihren Ferien unglücklich in den Diätarzt. Mitleiden ist, anders als sogar bei der sich selbst geißelnden Fanatikerin, schwer möglich, denn dass aus dieser Schwärmerei nicht mehr wird als ein Traum im Märchenwald, macht eben: Hoffnung.

Eher belustigend wirken die schön komponierten, symmetrischen Bilder der anachronistisch wirkenden Schikanen zur Körpernormierung. Gilt die Erkenntnis der Jugendlichen, dass mit Erwachsenen keine Kommunikation möglich ist, auch für ihr Verhältnis zum Regisseur? Hätte er, getreu seinem Motto, „die Absicht der Inszenierung mit dem Zufallsprinzip in Verbindung“ zu bringen, seine jungen Protagonistinnen noch mehr Raum für ihre starken Improvisationen gelassen, hätte er vielleicht mehr über die Qualen einer Teenagerexistenz in der Jugendgruppenhölle erfahren.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 5/2013

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Love Alien

(D / HR / ES / AT 2012, Regie: Wolfram Huke)

Geschlossene Gesellschaft
von Marit Hofmann

„Die Pärchenlüge ist überall, ihr Anblick ist nicht schön“, sangen die Lassie Singers. Die Zumutung, die es für einen unfreiwilligen Dauersingle bedeutet, in einer medial übersexualisierten Welt zu leben, in …

„Die Pärchenlüge ist überall, ihr Anblick ist nicht schön“, sangen die Lassie Singers. Die Zumutung, die es für einen unfreiwilligen Dauersingle bedeutet, in einer medial übersexualisierten Welt zu leben, in der sich alles ums Doppelpack dreht und Liebe als Lebenssinn verkauft wird, führt Wolfram Huke in seiner Dokumentation erschütternd vor Augen. Davon, die omnipräsente heterosexuelle Zweierkiste als Lüge zu verstehen, ist er jedoch weit entfernt – nichts wünscht er sich sehnlicher als eine Liebesbeziehung, die er ebenso wie sexuelle Kontakte in den 30 Jahren seines Lebens nie gehabt hat.

Der Regisseur hatte zunächst vor, eine Dokumentation über andere zutiefst verunsicherte „Love Aliens“ zu drehen. Das Ganze geriet zum Selbstversuch mit Huke als Regisseur, Kameramann und Protagonist in Personalunion. Von seinem 29. bis 30. Geburtstag begleiten wir ihn bei seinen Versuchen, eine Frau zu finden: bei missglückten Dates, beim Ausfüllen von dämlichen Partnerbörsenprofilen, bei einer Therapeutin, die sein Vermeidungsverhalten analysiert, beim Frustessen und Abspecken und bei Stilberaterinnen, die ihm neben Eyebrow Waxing raten: „Du musst dich als Produkt betrachten.“ Denn wenn er ausstrahle, dass er nicht viel wert ist, „warum sollten andere dich dann kaufen?“ Da sage noch einer, die Thesen der israelischen Soziologin Eva Illouz von der Romantikindustrie und deformierten „Gefühlen in Zeiten des Kapitalismus“ seien übertrieben.

Huke lässt den Zuschauer nie vergessen, dass hier jemand sich selbst filmt: Beim Radfahren schauen wir mit über den Lenker, in der Badewanne sehen wir nur die Füße, wir kommen nachts in die dunkle Messiwohnung, in der niemand wartet, oder Huke legt die Kamera neben das halbleere Hoteldoppelbett, um in Selbstgesprächen seine Einsamkeit zu umkreisen.

Sein Film rührt an ein Tabu, das auch unsere aufgeklärten Kreise pflegen: Da redet man schon eher über angesagte Themen wie Polyamorie als über vermeintlich uncoole bis prüde Liebesabstinenzler und ihre Schamgefühle. Vor der Kamera spricht Hukes Mutter zum ersten Mal mit ihrem Sohn darüber, dass sie sich Sorgen um sein Jungfrauendasein macht, und gibt „der scheißegoistischen Gesellschaft“ die Schuld. Allerdings läuft der Regisseur in seiner gewagten und erstaunlich selbstironischen Selbstbeschau Gefahr, dass man den Film als Symptom begreift. So ist man versucht, Hukes Hang zur „Spiritualität“, zu Pilgerreisen und kirchlichem Weltjugendtag, als Flucht zu deuten. Auch die Kamera dient, wie die Therapeutin zu Recht bemerkt, dazu, ein Problem wegzuschieben, das vielleicht gar keins sein müsste. Das Projekt ist nicht, eine Freundin zu finden, sondern einen Film darüber zu drehen, dass man keine findet.

Der Sache nicht gerade dienlich ist, dass Huke sich an seinem 30. Geburtstag in ein Kloster zurückzieht, wo ihn die deprimierende Glückwunschmail einer Onlinepartnerbörse erreicht: „Bleiben Sie den Münchner Singles weiterhin treu!“ Immerhin gelangt er dort zu einer Einsicht, die ihn von der auch sexuell von Jesus besessenen Fanatikerin aus Ulrich Seidls „Paradies: Glaube“ unterscheidet: „Jesus ist keine Frau, das muss man mal festhalten.“

Dieser Text ist zuerst gekürzt erschienen in: Konkret 5/2013

Paradies: Hoffnung

(AT / F / D 2013, Regie: Ulrich Seidl)

Welpenschutz unter der Käseglocke
von Sven Jachmann

In den ersten beiden „Paradies“-Filmen leben die zwei weiblichen Hauptfiguren in der Hölle auf Erden – und schmeißen kräftig Brennholz nach. Dritte weibliche Figur in Seidls Trilogie der Christlichen Tugenden …

In den ersten beiden „Paradies“-Filmen leben die zwei weiblichen Hauptfiguren in der Hölle auf Erden – und schmeißen kräftig Brennholz nach. Dritte weibliche Figur in Seidls Trilogie der Christlichen Tugenden ist nun die dreizehnjährige Melanie (Melanie Lenz), Tochter der Sextouristin aus „Paradies: Liebe“ und Nichte der Radikalmissionarin aus „Paradies: Glaube“. Für das Leid, das ihr bevorstehen wird, trifft sie nicht die geringste Schuld – was sie auch zugleich von ihren Vorgängerinnen am stärksten unterscheidet. Bislang ist Melanie nur Opfer des gesellschaftlichen Blicks auf ihren leicht übergewichtigen Körper. Um Opfer und Täterin zu werden und sich, so ausbuchstabiert, in die Phalanx schmerzhaft ambivalenter Seidl-Charaktere einzureihen, fehlen ihr womöglich noch ein paar Jahre. Deswegen heißt ihr Ferienprogramm vorerst nur Drangsal der eigenen Physis und Psyche. Während die Mutter in Kenia ihre Einsamkeit mit kolonialen Gefühlen betäubt, muss Melanie den Sommer in einem Diätcamp verbringen.

Ankunft, Abschied, Antritt. In der symmetrischen Schönheit der hässlichen Einrichtung steckt, das war vorherzusehen, das Gesetz der Schwarzen Pädagogik. „Wir arbeiten hier mit Disziplin, Freunde. Disziplin ist das Um und Auf für den Erfolg, im Leben, im Sport und überall anders auch“, proklamiert der Sportlehrer (Michael Thomas), der sich ständig ruhigen Schrittes, mit ernstem Blick und abstehenden Armen durch die Turnhalle und Korridore bewegt, als würde er gerade in eine Wrestlingarena einmarschieren. Monoton lässt er die Pubertierenden Purzelbäume schlagen und im Kreis laufen; er steht derweil in der Mitte und schwingt die imaginäre Peitsche. Zu mehr Brutalität ist er nicht befugt. An anderer Stelle hält die Ernährungsberaterin die Gruppe an zum rhythmischen Chorgesang: „If you’re happy and you know it, clap your fat!“ Deutlicher darf sie die Jugendlichen nicht verhöhnen.

Demütigung, Bestrafung, Ausbeutung, Autorität, Regeln, Disziplin: Man weiß dank Seidl, welch fürchterliche Gestalten dies alles annehmen kann, was es aus Menschen macht, die ihrerseits wiederum andere Menschen machen. Liebe und Glaube wurden bereits suspendiert, an der Hoffnung jedoch hält Seidl fest, jedenfalls stärker als in all seinen anderen Filmen. Die Teenager ertragen die Dressur mit ruhiger Miene. Ihre Würde holen sie sich zurück, wenn sie unbeobachtet sind und sich dann über Verbote hinwegsetzen auf den üblichen Wegen pubertärer Grenzüberschreitungen: Rauchen, Saufen, Flaschendrehen, Strippoker, nachts den Kühlschrank plündern oder sich vom Gelände in die Dorfdisco davon stehlen. Die Disziplinierung schlägt fehl, einerseits. Und damit wäre tatsächlich eine gewisse Hoffnung verbunden. (Trotzdem folgt die Strafe immer auf dem Fuße, was da bspw. heißt, schweigend, ausgestreckt und unter den Augen des Sportlehrers die Nacht auf dem kalten Flurboden verbringen zu müssen.) Überhaupt scheinen die Kids am wenigsten an und mit ihren Körpern zu leiden. Ihre improvisierten Gespräche drehen sich ohne die geringste Gehässigkeit um andere Dinge, die ihre Welt bedeuten: Wie war der erste Kuss, wie das erste Mal? Und glaubst du, unser Diätarzt (Joseph Lorenz) steht auf mich?

Zum eher karikaturesken Blick auf die Kontrollanstalt gehört andererseits aber auch noch eine Lolitavariation: Melanie ist zum ersten Mal verliebt, ausgerechnet in besagten, vielleicht fünfzigjährigen Arzt (adrett und jung geblieben, Sakko-, aber kein Sockenträger), dessen Praxis sie täglich unter fadenscheinigen Vorwänden aufsucht. Es ist beachtlich, wie selbstbewusst das schweigsame Mädchen seine Autorität ins Wanken bringt. Es ist aber gleichfalls beängstigend, dass ihre Avancen nicht unerwidert bleiben: Spätestens wenn sie ihn mit dem Stethoskop abhört, vereinen sich fehlende Distanz und Doktorspiel zur latent bedrohlichen Situation.

Die Symmetrie der Bilder überträgt sich in eine Symmetrie der Handlungen. Hinter jedem unschuldigen Spiel lauert im zweiten Schritt die Gefahr: Melanies erstes Besäufnis bleibt harmlos. Ein paar Bier, abends, heimlich und in der Gruppe. Die zweite Sauftour endet im Exzess (und der hat schon aus den Erwachsenen der „Hundstage“ die abscheulichsten Eigenschaften hervorgekitzelt). Jägermeister, nachts, zusammen mit der Freundin in einer verranzten Kneipe, wohin man sich eigentlich schlich, um den letztlich doch zu gehemmten Arzt mit allen Mitteln des Kontrollverlusts aus dem Kopf zu bekommen. Nur Melanies trunkene Ohnmacht und die Intervention des Wirts bewahren sie schließlich vor der Vergewaltigung durch zwei Großmaul-Buddies.

Zweimal auch ziehen sich Melanie und der Doktor in den Wald zurück. Zuerst, während eines Gruppenausflugs, bleibt‘s bei einer Umarmung, die ihn sichtlich irritiert, weil die zarte Berührung alles über Melanies Sehnsucht nach einem Vaterersatz verrät. Die zweite Begegnung verläuft weitaus bizarrer: Vom Kneipenwirt alarmiert, macht der Arzt auf dem Rückweg zur Klinik mit Melanie halt auf einer Lichtung, legt das komatöse Mädchen ins Gras, schnüffelt an ihr wie ein scheuer Hund – und legt sich friedlich neben sie.

Selbstkontrolle der Verantwortungsträger, Naivität des Teenager-Ichs: Überall, wo die Jugendlichen mit so etwas wie Gesellschaft in Berührung kommen, lauert bereits die Destruktivität: in der Kälte der Familie, im Drill zur Selbstdisziplinierung und Hörigkeit durch die Institution, in den gerade noch gedeckelten Perversionen der Erwachsenensexualität. Ist es ein Welpenschutz, der die Kinder vor dem Allerschlimmsten bewahrt? Sie sind zu unschuldig, um ihre Situation zu begreifen, wohingegen die Erwachsenen ihren Krieg der Köpfe und Körper am unerbittlichsten noch unter ihresgleichen ausfechten. Ob das nun der Hoffnung, dem Optimismus, der Ruhe vor dem Sturm oder falscher Milde das Wort spricht, ist ohnehin keine Frage der korrekten Diagnose. Im Interview mit der filmgazette sagt Ulrich Seidl: „Wenn man wachen Auges und Geistes durch die Welt geht, ist Optimismus ja nicht wirklich möglich, nicht?“ Seine Konstruktion von Jugend unter einer brüchigen Käseglocke jedenfalls ist für Figuren und Publikum eine allemal erbauliche Erfahrung.

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Papadopoulos & Söhne

(GB 2012, Regie: Marcus Markou)

Tränen trotz Krise
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein postkapitalistisches Märchen, eine fette Krisenkomödie und obendrein etwas fürs Gemüt. Wer aus dem Kino kommt, der weiß nicht, behaupte ich mal, warum er feuchte Augen hat. Vom Lachen? Weils …

Ein postkapitalistisches Märchen, eine fette Krisenkomödie und obendrein etwas fürs Gemüt. Wer aus dem Kino kommt, der weiß nicht, behaupte ich mal, warum er feuchte Augen hat. Vom Lachen? Weils so schön war? Weil mitten in der fiesen Bankenstadt London, UK, der Sirtaki in der halbleeren Ladenzeile Einzug hält? Weil genau das, aber nicht die argumentierende Kapitalismuskritik einen in Wallung bringt. – Okay, mir gings so. Und um nicht weiter zu schwärmen, gehe ich jetzt auf reset.

Papadopoulos sen. ist längst nicht mehr griechischer Kellner, sondern Millionär im zweistelligen Bereich. Grade haben ihm die Banken das Papadopoulos Plaza finanziert. Und der Premierminister ehrt ihn als Europäischer Unternehmer des Jahres. Dann aber die Krise. Kredite weg. Insolvenz. Papadopoulos rauft er sich mit seinem Bruder zusammen. Beide bringen in einer Schattenseite von London den brach liegenden Fish&Chips-Laden in Gang. Ein paar Wirren unter Brüdern, mit den Döner-Nachbarn, mit den schon grade erwachsenen Kindern (Tochter geht mit sexy Jungtürken?? Sohn denkt nicht ökonomisch, sondern ökologisch und füllt Dach und Haus mit liebevoll gepflegten Pflanzen, und dabei bleibts), – und im Finale verbindet auf Londons Straßen der Sirtaki alle und jeden. Reih dich ein zu Fun&Family! Und Daddy bleibt doch der Größte: „Mach, was du willst, denn wir sind stolz auf dich!“

Ja, ich weiß, das Plot klingt naiv. Aber das ließe sich von Märchen auch sagen. Besser wäre von einem bollywoodhaften Finale zu sprechen. Finale mit Hintergrund: wie von ungefähr wird vom Clanchef Papadopoulos als King Lear gesprochen, und der endete dann ja auch als Clochard. Der Filmheld (Stephen Dillane fing 1990 seine Filmvita als „Hamlet“ an, im Film von Franco Zeffirelli) findet sich dagegen in der tanzenden Gemeinschaft auf der Straße wieder, unter Kindern und vielen vertrauten Gestalten, wiederzuerkennen aus den TV-Formaten. Zu begrüßen ist auch Öko-Sohn James (Frank Dillane), der vor vier Jahren noch als Marvolo Riddle in „Harry Potter und der Halbblutprinz“ die Herzen höher schlagen ließ.

Schön, jeder der Schauspieler hat schon mal dies und jenes gemacht. Deswegen müsste „Papadopoulos & Söhne“ ja noch nicht funktionieren. Tut er aber. Die Figuren des Films wirken insgesamt genommen authentisch. Man glaubt ihnen (weitgehend). Und siehe da, Regisseur (und Autor) Markus Marcou, griechisch-zypriotischer Abstammung, erzählt mit diesem Film, wie er sagt, auch seine Geschichte. Seine Vorliebe fürs Improvisionstheater bringt uns näher an den Film heran. Nix Leistungsgesellschaft, aber alle Menschen werden Brüder, oder so.

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: Konkret 07/2013

3/Tres

(UY / AR / D / CL 2012, Regie: Pablo Stoll Ward)

Kalter Krieg
von Wolfgang Nierlin

Eigentlich bilden Ana, Rodolfo und Graciela eine bürgerliche Kleinfamilie im heutigen Montevideo. Doch der uruguayische Regisseur Pablo Stoll Ward zeigt die Protagonisten seines Films „3/Tres“, wie der Titel bereits andeutet, …

Eigentlich bilden Ana, Rodolfo und Graciela eine bürgerliche Kleinfamilie im heutigen Montevideo. Doch der uruguayische Regisseur Pablo Stoll Ward zeigt die Protagonisten seines Films „3/Tres“, wie der Titel bereits andeutet, als vereinzelte Individuen, die sich längst aus dem Familienverbund entfernt haben. Unbestimmte Fliehkräfte dividieren sie auseinander. Die Parallelmontage ist deshalb das stilistische Mittel der Wahl, mit dem Pablo Stoll Ward den Wegen seiner Figuren durch einen unspektakulären, eintönigen Alltag folgt, dessen graue Realität immer wieder leicht entrückt oder schwebend erscheint. Ein distanziertes Verhältnis und eine gestörte Kommunikation innerhalb des in Auflösung begriffenen Familiengefüges bilden dabei nur den negativen Ausdruck einer Sehnsucht nach Liebe und Zusammengehörigkeit.

Kein Wunder steht auf dem Stoffplan von Anas (Anaclara Ferreyra Palfy) Geschichtsunterricht der kalte Krieg. Doch meistens bleibt die hübsche Schülerin, deren Bonus für gute Leistungen eingangs noch einiges Gewicht hat, dem Unterricht unentschuldigt fern. Relativ gleichgültig und lustlos lässt sie sich durch die Tage treiben und wirkt dabei abtrünnig, ohne wirklich rebellisch zu sein. Beim Sex mit ihrem Freund gibt sie sich ebenso leidenschaftlich wie gefühllos. Ana will mehr und vor allem etwas anderes. Auch ihr Vater Rodolfo (Humberto De Vargas), ein unmotivierter Zahnarzt mit einem Sinn für Grünpflanzen, sucht, nachdem er sich von seiner Familie getrennt hat, nach etwas Fehlendem. Doch von seiner neuen Lebensgefährtin Alicia sieht der rührend zwangsneurotische Ordnungsfanatiker nur volle Aschenbecher; und so kehrt er immer öfter in die alte Wohnung, zu Tochter und Frau, zurück. Aber auch Graciela (Sara Bessio) ist meistens abwesend: Wenn sie nicht gerade als Stenographin arbeitet und dabei gegen ihre Müdigkeit ankämpft, besucht sie ihre alte, kranke Tante im Hospital und verliebt sich darüber in einen anderen Besucher namens Dustin.

Die unordentliche, vernachlässigte und ziemlich renovierungsbedürftige Wohnung der Familie wird dabei zum Sinnbild der Beziehungen ihrer Mitglieder. „Du bedeutest mir alles“, sagt Rodolfo einmal zu Ana, während er beginnt, die Wohnung instand zu setzen und sich dabei zu reintegrieren. Ein anderes Mal sieht er sich allein Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ an, während Mutter und Tochter ihre Liebhaber treffen. Ein lakonischer Erzählduktus und ein (filmischer) Blick für die Absurditäten des Alltags kennzeichnen Pablo Stoll Wards melancholisch getönte Komödie, in der die Musik (u.a. von Iggy Pop und Reverb) eine prominente Rolle spielt. Auch wenn die inhaltlichen Parallelen und Entsprechungen mitunter etwas zu konstruiert erscheinen mögen, sind es doch gerade diese bewussten Setzungen und elliptischen Verknüpfungen, die „3/Tres“ ein paradoxes Flair, einen skurrilen Charme und nicht zuletzt einen verhaltenen Humor verleihen.

Das merkwürdige Kätzchen

(D 2013, Regie: Ramon Zürcher)

Rrrrrrrrrrrrrrr ...
von Ricardo Brunn

Irgendwer hat in der Nacht vor die Haustür gebrochen und die Ratten haben was zu essen. So beginnt ein ganz normaler Samstagmorgen im Leben einer deutschen Durchschnittsfamilie. Nach und nach …

Irgendwer hat in der Nacht vor die Haustür gebrochen und die Ratten haben was zu essen. So beginnt ein ganz normaler Samstagmorgen im Leben einer deutschen Durchschnittsfamilie. Nach und nach stehen alle auf, erzählen sich Anekdoten vom Abend davor oder vom angebrochenen Tag. Papa geht mit seiner Tochter einkaufen und die Älteste fragt, ob er ihr etwas Schönes mitbringt. 'Na klar', sagt Papa. 'Prima', sagt die Älteste und verschwindet in ihrem Zimmer. Später wird die Waschmaschine repariert und es wird gekocht, denn am Abend kommt die Tante zum Abendessen vorbei. Wir sehen dem nüchternen Alltag beim Vergehen zu und niemand erlebt eine schwere Krise, die Auslöser für eine dramatische Geschichte sein könnte. Wendungen sucht man hier vergebens. Die Erzählung des einen Tages, den der Film umspannt, ist beiläufig und nicht treibende Kraft. Sie wird durch Blicke, Räume und wie die Figuren über diese in Beziehung gesetzt werden, spielerisch vorangetrieben. Kern des Filmes bildet dabei die Küche als gemeinhin sozialster Wohnraum. Hier treffen alle Figuren zu irgendeinem Zeitpunkt aufeinander. In weiterer Staffelung folgen Flur, Wohnzimmer und die Räume der einzelnen Familienmitglieder. Dabei okkupiert das Kameraauge diese Räume nicht einfach so, sondern es gibt, und das macht einen Reiz des Filmes aus, im Film noch so etwas wie Privatsphäre, weil nicht auf jeden Blick ein klärender Gegenschuss folgt und die Kamera nicht in jeden Raum eindringen darf.

Ganz entfernt erinnern die eingefangenen Räume und die darin enthaltenen, sorgsam ausgewählten Accessoires an Arbeiten von Thomas Demand, in denen das Nachstellen gesellschaftlich relevanter Orte zu einer schwer fassbaren Atmosphärenverschiebung führt, zu der sich in Zürchers Film die Choreografie der Figuren und Dialoge zu einer großartigen Alltagsperformance verbinden. Es ist diese kunstvolle Rekonstruktion des vermeintlichen Alltags aus vielen (erfundenen) Einzelteilen, die die magische Kraft des Filmes ausmacht. In seiner Artifizialität entsteht ein fast kindlicher Blickwinkel auf das Leben. Sätze werden hervorgehoben, scheinbar unwichtige Details überhöht; Bilder prägen sich ein, nicht weil sie symbolisch aufgeladen sind, sondern weil der Blick auf ihnen haften bleibt, auch wenn die Figuren den Bildraum verlassen oder immer wieder durchqueren. Was bleibt hängen im Kinderkopf von einem solch normalen Tag? Es müsste ein Film wie dieser sein.

Natürlich ergeben sich ganz von selbst auch Brüche. Die jüngste Tochter kassiert ganz unvermittelt eine Ohrfeige für eine Nichtigkeit, die Mutter scheint die ganze Zeit über angespannt zu sein und bekommt (abgesehen von einer Einstellung in einem Café) außerhalb der Küche keinen Raum zugewiesen. Kommunikation unterbricht sie des Öfteren, indem sie abrupt ein Küchengerät einschaltet. Aber wie gesagt, nichts von alldem beansprucht, eine Fabel zu sein oder in Bedeutungsschwangerschaft abzugleiten. Alles bleibt Moment im sanften Fluss des Alltags als lockerem Happening. Und am Ende schnurrt das Kätzchen liebevoll und der Hund schaut ihr dabei zu, weil er den Klang so mag. Rrrrrrrrrrrrrrrrrr.

Dieser Text ist zuerst anlässlich der Berlinale 2013 in der filmgazette erschienen.

Halbschatten

(D / F 2013, Regie: Nicolas Wackerbarth)

Noch keiner da? Kein Problem, ich kann warten!
von Ricardo Brunn

Da steht sie und weiß erst mal nicht weiter. Als Merle (Anne Ratte-Polle) am schicken Südfrankreich-Haus ihres neuen Freundes Romuald ankommt, ist dieser nicht da und glänzt auch im weiteren …

Da steht sie und weiß erst mal nicht weiter. Als Merle (Anne Ratte-Polle) am schicken Südfrankreich-Haus ihres neuen Freundes Romuald ankommt, ist dieser nicht da und glänzt auch im weiteren Verlauf des Filmes vor allem durch Abwesenheit. Stattdessen muss sich Merle mit Romualds Kindern Emma und Felix arrangieren, die ihrer Pubertät freien Lauf lassen, was im Falle von 'Halbschatten' dann doch nicht so frei ist, denn im engen Korsett aus beklemmend objektiver Kameraführung und verkrampft aufgeladenen Dialogen und Handlungen bewegt sich der Film recht steif durch die Minuten seiner Dauer.

Damit wären zwei zentrale Motive des Filmes auch schon umrissen: Abwesenheit und das ausgestellte Warten auf deren Ende quälen alle Figuren im Film. Es geht um Aufmerksamkeit, darum, im Scheinwerferlicht einer gesunden (familiären) Beziehung zu stehen und den Halbschatten zu verlassen. Doch diesen Gefallen tut der Regisseur seinen Figuren nicht, die er in eine Dreiecksbeziehung ständiger, ambivalenter Anziehung und Abstoßung setzt, was in einer Szene kulminiert, in der Merle eine falsche (aber äußerlich gleiche) Geburtstagstorte für Emma kauft, sich darüber ausschweigt und abwartet, ob Emma den Betrug wittert. Überhaupt wirkt Merle in ihrem Hang zur Boshaftigkeit manchmal wie eine erwachsene Ausgabe Emmas. Was die Abwesenheit der Eltern nicht alles für gestörtes Personal hervorbringt.

Weil sich das mit dem Dastehen und Nicht-Weiterwissen für Merle kaum bessert, fasst sie am Ende den Entschluss, das Haus zu verlassen und lässt selbst den gerade doch noch angekommenen Romuald nichts davon wissen. Der wird sich schön wundern, wenn er merkt, dass wieder einer fehlt. In antonionischer Manier gibt es zu guter Letzt noch entleertes Bildmaterial zu sehen – Merle hat sich selbst aus dem Film geschlichen. Und wie bei Antonioni wird dem Film so ein Ende verweigert. Die von Beginn an unterkühlte Narration friert einfach ein.

'Die Geschichte wird sehr einfach sein', sagt Merle an einer Stelle im Film über ihre Arbeit an einem Roman, Probleme werde es aus anderer Richtung geben. Da sage noch einer, Wackerbarth könne bei allem manierierten Ernst nicht mit den Augen zwinkern.
Trotzdem. Vor zehn Jahren vielleicht noch stilbildend, umweht 'Halbschatten' dann doch so etwas wie ein sanfter Anachronismus. Ein Film, der sich der filmischen Mittel der Berliner Schule noch einmal vergewissert, aber ähnlich seiner Hauptfigur mit dem Aufbruch in neue Gefilde hadert und sich am Ende ein wenig tot läuft.

Dieser Text ist zuerst anlässlich der Berlinale 2013 in der filmgazette erschienen.

Top of the Lake

(AUS / USA 2012, Regie: Garth Davis, Jane Campion)

Lynch entschärft
von Janis El-Bira

Einer der längsten Filme, die dieses Jahr auf der Berlinale gezeigt wurden, ist eigentlich gar keiner: Jane Campions sechsstündiger 'Top of the Lake' ist ein Mehrteiler für’s Fernsehen, wo ja …

Einer der längsten Filme, die dieses Jahr auf der Berlinale gezeigt wurden, ist eigentlich gar keiner: Jane Campions sechsstündiger 'Top of the Lake' ist ein Mehrteiler für’s Fernsehen, wo ja bekanntlich vor allem Krimis bestens laufen; so auch hier: In einem neuseeländischen Dorf wird ein 12-jähriges Mädchen vollständig bekleidet aus dem die Landschaft prägenden Bergsee gezogen und verschwindet kurze Zeit später fast spurlos. Es stellt sich heraus, dass sie schwanger ist. Polizistin Robin macht sich auf eine umwegreiche Suche nach der Vermissten, die freilich ihre eigene, traumatische Vergangenheit nicht ausspart. Geschlagene sechs Stunden später ärgert man sich zwar nicht, die Sache gesehen zu haben und mal mehr, mal weniger gut unterhalten worden zu sein, wundert sich aber doch ob des Hypes, der diese Produktion umgibt. Über weite Strecken fühlt man sich wie in einer sehr ausgedehnten und um einige (entschärfte) Lynch’sche Absurditäten ergänzten Wallander-Folge. Es fehlt vielfach an Schlagkraft, die 'comfort zone' abendlicher Fernsehunterhaltung wird von manch gutem 'Tatort' effektvoller verlassen und wo die epische Länge eine Chance zu umfassenden Charakterskizzen böte, ergeht sie sich oft etwas zu sehr in Nebenstränge und Aufnahmen der (zugegeben sehr schönen) neuseeländischen Landschaft.

Die Auflösung kommt schließlich leider sowohl überhetzt als auch einigermaßen hanebüchen daher. Immerhin zeigt 'Mad Men'-Sekretärin Elisabeth Moss in der Hauptrolle vollen Einsatz und die Weite der spärlich besiedelten Berg-, Seen- und Wälderlandschaft sorgt für einige beunruhigende 'last frontier'-Erfahrungen im offenen Raum. Außerdem gibt es noch eine ganz unglaubliche Menge verblüffender Tätowierungen an den oft entblößten Leibern männlicher Hinterwäldler zu bewundern (die alle, wirklich alle miteinander verwandt sind und ihr Erbgut gerne auch mal geschickt in die bürgerlichen Schichten des Dorfes diffundieren lassen) und ein spiritistischer Trailerpark mit selbstsuchenden Frauen aus zerrütteten Verhältnissen sorgt für leidlich komisch-absurde Aufhellung. Am Ende reicht das aber doch alles eher für drei mittellange (oder sechs kurze) Abende auf der Fernsehcouch als für einen ganzen Tag im Kino.

Dieser Text ist zuerst anlässlich der Berlinale 2013 in der filmgazette erschienen.

Die Nonne

(F / D / B 2012, Regie: Guillaume Nicloux)

Nicht gänzlich enthaltsam
von Janis El-Bira

Ah, Qualitätskino! Schon die nüchtern-weißen Credits auf schwarzem Hintergrund lassen den Vordermann flüstern: 'Das ist jetzt Kunst.' Und dann auch noch Diderots oft verfilmte 'Nonne' – mit Isabelle Huppert in …

Ah, Qualitätskino! Schon die nüchtern-weißen Credits auf schwarzem Hintergrund lassen den Vordermann flüstern: 'Das ist jetzt Kunst.' Und dann auch noch Diderots oft verfilmte 'Nonne' – mit Isabelle Huppert in einer Nebenrolle als nicht gänzlich enthaltsame Oberin. Und los geht’s in feinen Rückblenden, mit eingesprochenem Kommentar und üppigem Spät-Rokoko-Dekor, gehüllt in Schlafmützen und weiße Nachthemden: Die 16-jährige Suzanne Simonin soll ins Kloster, will aber nicht (was sie ganz deutlich sagt), muss natürlich trotzdem und erlebt daselbst die Hölle aus gewaltsamer Erniedrigung und bizarren sexuellen Übergriffen. Am Ende hat sie Glück: Ein Schlüssel durch das Zellengitter erlaubt die Flucht über den Hinterhof.

Es ist schon bemerkenswert, mit welch indolenter Antiquiertheit Nicloux diese Geschichte vom Vorabend der Französischen Revolution noch einmal aufdröselt. Nichts weiß der Film zu berichten über die Selbsterhaltungsmechanismen eines repressiven Systems, nichts über den Konflikt zwischen Gehorsam und Auflehnung der jungen Frau im Zentrum der Geschichte. Stattdessen gibt es: nette alte Nonnen, fies-sadistische junge Nonnen, eifersüchtige Nonnen, indifferente Nonnen, eine fleischesfreudige Huppert-Nonne und eine Suzanne-Nonne, die keine sein will (und auch darüber nie in Zweifel gerät). Über quälend langweilige zwei Stunden wird die Handlung in der immer gleichen, völlig interesselosen Filmsprache dialoglastig und wie dabeistehend abgewickelt, Versatzstücke und Klischees reihen sich aneinander. Wenn die Huppert-Oberin dann nach mehr als einer Stunde endlich auftritt und sich direkt zu Suzanne ins Bett kuschelt, sind die von ihr umwegslos erzwungenen Küsse bloß noch unfreiwillig komisch. Ein Tiefpunkt im Wettbewerb und eine Zumutung.

Dieser Text ist zuerst anlässlich der Berlinale 2013 in der filmgazette erschienen.

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Camille Claudel, 1915

(F 2013, Regie: Bruno Dumont)

Alles erstickt
von Janis El-Bira

Unter den wilden Kindern des neuen französischen Körperkinos Ende der 1990er-Jahre war Bruno Dumont so etwas wie der Transzendentalist: So nah fuhr seine Kamera an das Fleisch seiner Figuren (verkörpert …

Unter den wilden Kindern des neuen französischen Körperkinos Ende der 1990er-Jahre war Bruno Dumont so etwas wie der Transzendentalist: So nah fuhr seine Kamera an das Fleisch seiner Figuren (verkörpert eher, im Sinne Bressons, von Darstellern als denn 'Schauspielern') heran, als wähne sie hinter den Poren, den Haaren und dem Schmutz unter den Fingernägeln ein belebtes Inneres, ein Seelenhaftes gar.

In 'Camille Claudel 1915' nun stößt dieser Zugriff auf die Grenze des Wahnsinns: Die Körper und Gesichter der Insassen jener südfranzösischen Anstalt, in die die Bildhauerin und frühere Rodin-Geliebte Camille Claudel 1913 von ihrer Familie verfrachtet wurde, zucken und speicheln unkontrolliert. Es ist, als sei hier alles opak geworden, als gäbe es keinen Weg mehr vom Körper zur Seele und wieder zurück. Camille selbst, von Juliette Binoche großartig gespielt (!), bildet die Ausnahme: Sie ist überempfänglich, jeder Sonnenstrahl, jeder Windhauch und jedes irre Hämmern, Heulen und Toben fallen bei ihr durch Ohren, Nase und Augen auf einen Bewusstseinsgrund, der es gleichwohl nicht mehr zu sortieren, keine Ordnung mehr zu schaffen weiß.

So reibt sich die Transparenz der Camille-Figur an der Opazität der Mauern, schalldämpfenden Teppichen, der Hochgeschlossenheit der betreuenden Schwestern und wahnentstellten Leibern und Gesichtern; schließlich auch an dem ihres Bruders, des Schriftstellers und bekehrten Ultrakatholiken Paul Claudel, den Dumont tatsächlich wie eine Bresson-Figur völliger Gesichtsregungslosigkeit als kalten Verwalter endlos daherdozierter Glaubensreflexionen vorstellt. Das ist dann bisweilen fast so unerträglich mitanzusehen, wie das Meiste von Claudel zu lesen ist. Doch fügt es sich irgendwo treffend in einen Film der völligen Ersticktheit. Dreißig Jahre in einer Anstalt sind ehrlicherweise nicht als Geschichte permanenter Auflehnung erzählbar, wohl aber als eine vom langsamen Vergessen und Vergessenwerden, vom Warten auf gar nichts, von Abstumpfung und unermesslicher Langeweile. Ein zermürbender Film.

Dieser Text ist zuerst anlässlich der Berlinale 2013 in der filmgazette erschienen.

Closed Curtain

(IR 2013, Regie: Jafar Panahi, Kamboziya Partovi)

Ein Nicht-Film
von Janis El-Bira

Das erste Bild des Films zeigt, vermittelt, sublimiert, das Eingesperrtsein Jafar Panahis, der in seiner iranischen Heimat mit einem zwanzigjährigen Berufsverbot belegt ist und doch irgendwie nach 'This Is Not …

Das erste Bild des Films zeigt, vermittelt, sublimiert, das Eingesperrtsein Jafar Panahis, der in seiner iranischen Heimat mit einem zwanzigjährigen Berufsverbot belegt ist und doch irgendwie nach 'This Is Not a Movie' (2011) nun schon seinen zweiten 'Nicht-Film' vorgelegt hat: Ein vergittertes Fenster, der Blick geht nach draußen. In der Ferne das Meer. Ein Taxi fährt vor, der Fahrer (Panahi selbst, wie wir später lernen werden) setzt einen älteren Mann samt Gepäck und Hund ab. Sie betreten das Haus, in dem wir, die Zuschauer, uns bereits befinden. Die Vorhänge vor den Fenstern werden eilig zugezogen, fahles Licht fällt noch durch sie hindurch. Man will nicht gesehen werden. In den Fernsehnachrichten werden grausam zugerichtete Hundekadaver von den Straßen der Städte abtransportiert: Hunde seien unrein und hätten keinen Platz mehr in der islamischen Republik. Der vierbeinige Begleiter des Mannes sieht es mit ganz und gar menschlichem Unbehagen. Plötzlich stehen ungebetene Gäste im Haus. Eine junge Frau und ein Mann, die sich als Geschwister ausgeben, sind auf der Flucht. Unruhe vor dem Haus, ihre Verfolger sehen wir nicht, aber hören sie umso deutlicher. Wie hier überhaupt immer wieder über die Tonspur ein unsicht-, aber hörbarer Raum außerhalb des Hauses behauptet wird, das wir nie verlassen: Eine Partygesellschaft fährt irgendwann lärmend vorbei, ein Hubschrauber dreht seine Runden.

Der Mann, sein Hund und die beiden Flüchtigen, das begreifen wir irgendwann, sind Filmfiguren des Regisseurs Panahi, der plötzlich selbst unvermittelt im Raum steht, und die Plakate seiner eigenen Filme an den Wänden, zuvor durch die Frau von ihren Staubabdeckungen befreit, selbst wieder eilig verhüllt. Figuren eines nicht-gedrehten, ungeschriebenen Films. Es beginnt ein Spiel mit doppelten, dreifachen, vierfachen Böden: Kein Changieren zwischen Realität und Fiktion jedoch, sondern eine konsequente Verschiebung dieser Kategorien bis an den Rand der Auflösung. Die Figuren sind Kinder ihres Autors, der Autor ist Kind seiner Figuren; der tödliche Gang ins Meer, von der Frau als Ausweg aus dem erzwungenen Schweigen angeboten, er wird aufgehoben im Film und durch das Filmmaterial: im rückwärtslaufenden Zeitraffer. Am Ende geht der Blick wieder aus dem vergitterten Fenster; in einem Schlussbild, so groß (und hier natürlich unverraten), dass allein dafür am Samstag ein 'Bär' den Weg dieses Films kreuzen müsste. (Letztlich wurde 'Parde' zumindest für das 'Beste Drehbuch' ausgezeichnet, Anm. Red.)

Dieser Text ist zuerst anlässlich der Berlinale 2013 in der filmgazette erschienen.

Der Hobbit – Eine unerwartete Reise

(USA 2012, Regie: Peter Jackson)

Pornografische Brillanz
von Ricardo Brunn

Eigentlich hat der kleine Hobbit keine große Lust auf eine kolossale Reise. Es mag am schlichten Gemüt Bilbo Beutlins (Martin Freeman) und seiner Vorfahren liegen, dem Reisen die heimische Hobbithöhle …

Eigentlich hat der kleine Hobbit keine große Lust auf eine kolossale Reise. Es mag am schlichten Gemüt Bilbo Beutlins (Martin Freeman) und seiner Vorfahren liegen, dem Reisen die heimische Hobbithöhle vorzuziehen. Vielleicht ahnt er aber auch, dass das bevorstehende Abenteuer, an dessen Ende ein gefährlicher Kampf gegen den Feuer speienden Drachen Smaug stehen soll, reichlich Potenzial für endlose Wanderungen über Bergketten und sich wiederholende Bedrohungsszenarien bereithält. So bleibt Bilbo Beutlin bei seinem sturen Nein auch dann noch, als ihm aufdringlich ulkige Zwerge die Tür einrennen, es sich gemeinsam mit Gandalf dem Zauberer in Wohnzimmer und Vorratskammer der Hobbithöhle gemütlich machen und irgendwann am Abend zu allem Überfluss ein Lied anstimmen, damit der Hobbit endlich nachgibt und die unerwartete Reise ihren erwarteten Anfang nehmen kann.

Diese Szenen sind schwer zu ertragen, zeugen sie doch vom verzweifelten Versuch des Regisseurs Peter Jackson, dem kindlichen und humorvollen Charakter der Romanvorlage J. R. R. Tolkiens gerecht zu werden. Während letztere quasi als Vorbereitung auf „Der Herr Ringe“ ein größeres Universum zwar erahnen lässt, jedoch nicht ausformuliert, streben Jackson und seine Drehbuchautoren in der filmischen Erzählung eine Ausführlichkeit an, die das knapp 400 Seiten umfassende Kinderbuch in ein überaus ernstes und bisweilen düsteres, dreiteiliges Epos von jeweils mehr als zweieinhalbstündiger Dauer verwandelt.

Dass Jackson die Reise trotz des holprigen und stellenweise unfreiwillig komischen Beginns im Folgenden gut im Griff hat, ist maßgeblich den gelungenen Action-Sequenzen zu verdanken, die in schöner Gleichmäßigkeit übereinandergeschichtet werden. Hier fliegt die entfesselte Kamera ein ums andere Mal durch den Raum, sodass schnell klar wird, wo der Film sein Zentrum hat. Und dass das durchaus eine Kunst ist, verrät schon ein Blick auf das oftmals minutenlange, fleischige Getümmel anderer Fantasy-Züchtungen wie „Zorn der Titanen“ (Regie: Jonathan Liebesman) oder „Krieg der Götter“ (Regie: Tarsem Singh).

Die Zielgruppe der Herr-der-Ringe-Verfilmungen fest im Blick, ist die erzählerische Gigantomanie mit einem Detailreichtum gezeichnet, der die rührende Verliebtheit Jacksons in das tolkiensche Universum widerspiegelt. Doch etwas an den Bildern irritiert das Auge, was insbesondere abseits des Spektakels in den ruhigen, erzählerischen Momenten des Filmes deutlich wird. Hier offenbart der Film einen Mangel an Figurenzeichnung, wenn den Zuschauer das Schicksal der Zwergenbande relativ kalt lässt: Im Gegensatz zur reisenden Gesellschaft in „Der Herr der Ringe“ fällt die Identifikation mit dem bunt gemischten Haufen rund um den grimmigen Thorin nämlich schwer. Einzig Bilbo Beutlin erscheint als dreidimensionaler und sich kontinuierlich verändernder Charakter. Schwerer wiegt jedoch, dass vielen Szenen trotz oder gerade wegen Jacksons Detailversessenheit immer eine hohe Künstlichkeit anhaftet, welche durch Anwendung eines neuen Aufnahmeverfahrens noch verstärkt wird.

Um der Akribie in Erzählung und Ausstattung auch in ästhetischer Hinsicht gerecht zu werden, wurde „Der Hobbit“ erstmals mit 48 anstatt wie bisher mit 24 Bildern pro Sekunde gedreht (High Frame Rate), wodurch (insbesondere bei Bewegungen) noch einmal wesentlich schärfere Resultate erzielt werden können. Doch die von Jackson angestrebte Genauigkeit führt zu einer „hyperrealen Überschärfe und Überdeutlichkeit“ (Byung-Chul Han), in der die Bilder ihr Geheimnis verlieren und die Welt des Bilbo Beutlin als Kulisse entlarven. Es entsteht ein Soap-Opera-Effekt, unter dem die Hobbithöhle aussieht wie das Bühnenbild einer deutschen Vorabendserie. Immer wieder stolpert der Blick über das billige Material, aus dem das Auenland gezimmert wurde oder bleibt am deutlich erkennbaren Make-up der Gesichter kleben. In ihrer Gemachtheit stellen sich die überscharfen Bilder so sehr aus, dass sich in ihnen das Kinobild gewissermaßen selbst aufhebt. Die erhöhte Bildschärfe führt nicht zu einer größeren Nähe zur erzählten Welt und den Figuren, sondern zu bloßer Distanzlosigkeit, in der jede Fantasie eliminiert wird, die sich im Kino als Bereitschaft darstellt, das Gezeigte für die Dauer des Filmes als Wirklichkeit anzunehmen. Was bleibt, ist eine pornografische Brillanz der Bilder, die viele Reize, aber jenseits des Spektakels eben keine Intensität mehr besitzt.

Der Hang zu immer klareren Bildern ist primär freilich als Strategie zur Erhöhung von Schauwerten im Kontext der in Bedrängnis geratenen Institution Kino zu verstehen. Die Überschärfe kann jedoch auch als Ausdruck der allgemeinen Forderungen der Gesellschaft nach mehr Transparenz gedeutet werden. Es ist demnach auch kein Zufall, dass die Entstehung von WikiLeaks, die Debatten um „Post Privacy“, die Verbreitung von Sicherheitskameras oder die Entstehung der Piratenpartei zeitlich etwa mit dem HDTV-Boom in den Wohnzimmern und der Digitalisierung der Kinos zusammenfallen. In diesem Sinne gehorcht beispielsweise auch die Wiederauferstehung der 3D-Technik der Maxime größtmöglicher Sichtbarmachung.

Wenn „das Pathos der Transparenz, das die heutige Gesellschaft erfasst“ nach Byung-Chul Han Resultat eines Mangels an Vertrauen (in die politische Macht) ist, dann kann die derzeitige Evolution der Kino- und TV-Technik als Reaktion darauf und vor allem als Ausdruck eines mangelnden Vertrauens in die Bilder verstanden werden. Somit ist „Der Hobbit“ (gedreht in HFR und 3D) der derzeit technisch brillanteste Film, der zugleich vom Misstrauen gegenüber den persuasiven Bildern des Kinos erzählt.

Ginger & Rosa

(GB / DK / KRO / KAN 2012, Regie: Sally Potter)

How I Learned To Worry And To Hate The Bomb
von Ulrich Kriest

Am 5. Oktober 1962 wurde „Love Me Do“, die erste Single der Beatles veröffentlicht und wurde ein mittlerer Erfolg. Am 14. Oktober 1962 machen US-Aufklärungsflugzeuge über Kuba Fotos, auf denen …

Am 5. Oktober 1962 wurde „Love Me Do“, die erste Single der Beatles veröffentlicht und wurde ein mittlerer Erfolg. Am 14. Oktober 1962 machen US-Aufklärungsflugzeuge über Kuba Fotos, auf denen unerhörte Dinge zu erkennen waren. Am 28. Oktober 1962 endet die Kuba-Krise, die die Welt hart an den Rand eines thermo-nuklearen Krieges führte. Am 11. Januar 1963 veröffentlichten die Beatles ihre zweite, nun weitaus erfolgreichere Single „Please Please Me“. Eine kulturhistorische Wasserscheide hat sich Sally Potter für ihren neuen Film ausgesucht, der von einer Jugend im Zeichen der Bombe erzählt. Hier der „Kalte Krieg“, Jazz und Existentialismus, dort die Beatles, die Popmusik, der Mai 68, der Feminismus und der Situationismus.

Der Film beginnt mit einer großen Geste: der Explosion einer Atombombe. Am 8. August 1945. Ein Kameraschwenk über ein Feld der Zerstörung wird datiert: Hiroshima 1945. Während der 2. Weltkrieg in Asien mit einem Paukenschlag endet, der als Menetekel die folgenden Jahrzehnte prägen wird, werden in London zwei Mädchen geboren, von Müttern, die einander bei der Geburt ganz nahe und solidarisch sind: Ginger und Rosa. Die Mütter bleiben befreundet, die Töchter wachsen als beste Freundinnen heran, Rosas Vater verschwindet. Und dann schreiben wir bereits das Jahr 1962, die Kuba-Krise zieht herauf – und die Impressionen einer Jugend in England sind unterlegt mit Popmusik, erst Jazz á la Django Reinhardt, dann „Take the A-Train“ und dann auch schon „Telstar“ von The Tornados. Selbst britischer Instrumental-Rock´n´Roll hält es 1962 mit der Devise „Watch the Skies!“ Diese Eröffnungssequenz skizziert mit meisterhafter Eleganz ein Szenario, dessen Übersichtlichkeit und Pointiertheit es mit einem Brechtschen Lehrstück aufnehmen kann.

Für Sally Potter, die mit „Ginger & Rosa“ ein weiteres Mal ihre Themen „Linke Politik“, Feminismus, Liebe und Musik anmischt, ist diese Klarheit des Erzählens allerdings überraschend. Es liegt nahe, diese Klarheit, die den Film formal wie inhaltlich prägt, als Referenz an die eigene Erinnerung zu nehmen. Und auch gleich das Pathos der Pubertät, dass das gesamte Weltgeschehen auf die eigene Biografie projiziert, mit zu inszenieren. Allerdings bricht Potter dieses Pathos nicht ironisch, sondern solidarisiert sich mit ihren Figuren, die ihren Platz in der Welt suchen.

Die britischen Arthaus-Ikone Potter, Jahrgang 1949, reüssierte 1983 mit „Gold Diggers“, einem unerhört einflussreichen Klassiker des feministischen Kinos, verfilmte betont originell Virginia Woolfs „Orlando“ und begeisterte viel zu wenige Zuschauer mit dem poetischen East meets West-Liebesfilm „Yes“, dessen Figuren in Pentameter-Versen miteinander kommunizierten. Kein Wunder also, dass Sally Potter mit ihren ästhetisch wie politisch hoch reflektierten Filmen hierzulande stets ein Geheimtipp geblieben ist. Das könnte sich jetzt allerdings ändern. Dass der sorgfältig gemachte Film trotz aller Zugeständnisse an die Zugänglichkeit ein emotionales wie intellektuelles Vergnügen ersten Ranges ist, spricht zudem Bände über den Zustand des Gegenwartskinos. „Ginger & Rosa“ erzählt modellhaft von einer Freundschaft zweier sehr unterschiedlicher Mädchen, deren Kindheit und Jugend im Zeichen der atomaren Vernichtung, Existentialismus und Jazz steht. Ginger, rothaarig, ist ein Feuerkopf, Dichterin und Denkerin, will instinktiv gegen die Bombe protestieren, während Rosa, ohnehin mehr an Jungen denn an Politik interessiert, sich auch gut vorstellen könnte zu beten. Die Mädchen wachsen auf in einem Milieu britischer Radikaler und Freidenker; Gingers Vater war als Pazifist im Gefängnis, publiziert anarchistischer Kampfschriften und hat sich dem radikalen Bruch mit bürgerlichen Konventionen verschrieben.

So radikal ist dieser Bruch, dass er eines Tages eine Liason mit Rosa eingeht, was Ginger wiederum in tiefste Depression treibt. Der emotionale Höhepunkt ereignet sich vor dem Hintergrund eines Friedensmarsches zum Atomwaffenlager von Aldermaston auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise. Der Vater bereut schließlich. Ohne viele Umschweife kommentiert Potter seine männliche Larmoyanz als fiese Bigotterie eines Mannes, der sexuell Kapital aus seiner Opferrolle als Linker schlägt. Das Private ist das Politische! Und „Ginger und Rosa“ erzählt die Geschichte einer Desillusionierung. Potter erzählt diese Geschichte retrospektiv mit allerlei Leerstellen und Zuspitzungen, aber weitgehend unter Verzicht auf illusionierendes Sozial- oder Lokalkolorit. Unvergesslich der Moment, in dem die beiden zutiefst verwirrten Mädchen zur Aufmunterung eine Single von Dave Brubeck und Paul Desmond auflegen: „Take Five“ als Seelenretter und (noch) nicht als Matinee-Soundtrack. Ein paar Jahre später wird der Soundtrack zur Zeit härter werden, wird die Beatlemania den Existentialismus ablösen. Aber in der Welt von Ginger und Rosa, im Oktober 1962, ist noch kein Platz für „Love Me Do“. Man mag bedauern, dass es „Ginger & Rosa“ etwas an Komplexität und Raffinesse mangelt, aber man den Film auch als Essay über die unscharfe und etwas verklärende Erinnerung der „68er“ verstehen. Als britisches Pendant etwa zu Andres Veiels „Wer wenn nicht wir“, als Kritik an linker Larmoyanz aus der Perspektive einer Generation, die eben keine Nazi-Väter, sondern WWII-Sieger zum Abarbeiten hatte.

Unsere Mütter, unsere Väter

(D 2013, Regie: Philipp Kadelbach)

Fünf Freunde im Krieg
von Marit Hofmann

»Warten Sie nicht auf einen hohen Feiertag, sondern versammeln Sie jetzt Ihre Familie!«, empfahl Frank Schirrmacher. Der Dreiteiler 'Unsere Mütter, unsere Väter', der Mitte März im ZDF gelaufen und jetzt …

»Warten Sie nicht auf einen hohen Feiertag, sondern versammeln Sie jetzt Ihre Familie!«, empfahl Frank Schirrmacher. Der Dreiteiler 'Unsere Mütter, unsere Väter', der Mitte März im ZDF gelaufen und jetzt auf DVD erschienen ist, besitze »in seiner unbestreitbaren Wucht und Monstrosität die Chance, den letzten Zeitgenossen noch einmal … die Zunge zu lösen«.

Und was kommt dabei heraus, wenn die Nazigeneration die Zunge löst? In der von seinem Vater inspirierten Fünf Freunde-Variante, die der Historytainment-Guru Nico Hofmann mit seiner bewährten Waffenschmiede Teamworx (Dresden', 'Rommel') produziert hat, reißt der Krieg eine fröhliche Runde junger Leute brutal auseinander. Der belesene Friedhelm geht nur widerwillig zur Wehrmacht, sein Bruder, ein Leutnant, wird zum Deserteur, dessen Freundin eine zu Tränenausbrüchen neigende Frontschwester. Zurück in Berlin bleibt eine Sängerin, die liiert ist mit dem Fünften im Bunde, einem Juden – das erste Signal, dass seine besten Freunde so ganz schlecht nicht sein können. Allein die Verhältnisse, die sind nicht so.

Die Bilanz dieses von den Medien als ungemein realistisch beklatschten Sturmgeschützes, das sich mit dem Off-Kommentar behelfen muss, wenn die Dramaturgie nicht weiter weiß: Zwei der arischen Sympathieträger sterben einen hochmoralischen Märtyrertod, ihr jüdischer Freund überlebt. Opfer sind alle drei Überlebenden gleichermaßen. Sie alle haben sich schuldig gemacht, auf Befehl getötet oder »Wehrkraftzersetzer« ans Messer geliefert, aber die Nazis wie du und ich leiden sehr darunter, viel mehr jedenfalls als ihre Opfer, denn die sind schließlich tot (und bleiben gesichtslos). »Der Krieg« – nicht etwa der Nationalsozialismus – »bringt das Schlechteste in uns zum Vorschein«, lautet das programmatisch selbstmitleidige Mantra.

Ralf Wiegand hat’s geschluckt und spricht in seiner Hymne in der »Süddeutschen« von »dieser vom Krieg verzehrten Jugend«, die »keine Generation traumatisierter Rächer geworden« sei. »Sie begründete statt dessen den längsten Frieden, den dieses Land je erleben durfte. Sie wurden trotz allem Mütter und Väter.« Nur die wahren, die fanatischen und vollkommen skrupellosen Nazis pflanzten sich offenbar nicht fort, denn das waren im Film wie im kollektiven Gedächtnis immer die anderen, unsere (Groß-)Eltern jedenfalls waren es nicht.

So soll auch Hofmanns 88jähriger Vater noch heute traumatisiert sein von seinen Erlebnissen beim Russland-Feldzug, von dem er als »gebrochener Pazifist« (Hofmanns Erzählungen) zurückgekehrt sei; und die Mutter (Ex-BDM) lobt den Junior, dies sei der erste Film über den Krieg, zu dem sie sagen könne: »Genauso war es.« Da schließen sich die auf des »FAZ«-Herausgebers Geheiß vor dem Volksempfänger versammelten Generationen gern an. Denn wie es gewesen ist, das bestimmen in Deutschland immer noch die Täter und ihre braven Söhne.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 04/2013

Now Is Good – Jeder Moment zählt

(GB 2012, Regie: Ol Parker)

Metastasen-Kino
von Carsten Moll

Wenn der Film beginnt, sind die Diagnosen längst gestellt, alle Therapieversuche gescheitert, kein Kampf wird mehr gekämpft. Tessa ist 17 und unheilbar an Leukämie erkrankt. Was bleibt, ist der Wunsch, …

Wenn der Film beginnt, sind die Diagnosen längst gestellt, alle Therapieversuche gescheitert, kein Kampf wird mehr gekämpft. Tessa ist 17 und unheilbar an Leukämie erkrankt. Was bleibt, ist der Wunsch, dem Leben doch noch etwas abzuringen, so lange dafür Zeit ist. Auf der Liste steht: Sex haben. Drogen nehmen. Das Gesetz brechen. Berühmt werden.

Die Zeit, die bleibt, das sind 100 Minuten Spielfilm. „Wie wollen Sie’s angehen? Das Todkranke-Mädchen-Ding oder haben Sie was Originelleres geplant“, fragt der todgeweihte Teenager einen Radiomoderator, als der Tessas Krankheit in seiner Show zur rührseligen Anekdote verwursten will. Die Frage nach der Originalität muss sich auch Regisseur und Drehbuchautor Ol Parker gefallen lassen, wenn er seine junge Protagonistin so selbstbewusst und -reflexiv die klischeehafte Medialisierung von Krebsleiden anprangern lässt. Und zumindest zu Beginn überrascht Parker, indem er sein Drama mit deutlichen Anleihen an Jason Reitmans und Diablo Codys „Juno“ inszeniert. Popmusik, ein Zeichentrickintro und vor allem Dakota Fanning als Tessa, die abgeklärt und mit trockenem Witz ihrer Umwelt begegnet, unterlaufen erst einmal die Sentimentalität, die der Stoff vom todkranken Mädchen mit sich bringt.

Als Twiggy-Verschnitt mit Kurzhaarfrisur, dünnem Körper und antrainiertem britischen Akzent posiert Fanning als Sterbende, und man kann es nicht anders sagen: Der Tod steht ihr gut, wenn ihr nicht gerade literweise Blut aus der Nase sprudelt. Zu mehr als einem Motor für die mechanische Dramaturgie taugt die tödliche Krankheit dann nämlich auch nicht.

Pflichtbewusst werden die Stationen bis zum Ableben im dramaturgisch richtigen Moment abgeklappert und dabei allerlei konventionelle Kinomomente generiert: ein Feuerwerk, bei Nacht im Meer baden, Schlittschuhlaufen, mit dem süßen Boy auf einer Bank im Schnee sitzen oder mit dem Motorrad fahren, während im Hintergrund Pferde galoppieren. So zahm und unaufregend lässt sich ein Teenagerleben in Szene setzen. Statt auf den Spuren von Diablo Cody zu wandeln, begibt sich Parker immer mehr ins Terrain stetig wuchernder Schmalz-Franchises à la Twilight und Nicholas Sparks und bedient sich einer kitschigen Ästhetik, die man auch aus Werbung und schlechter Modefotografie kennt.

Bei all den schwülstigen Bildern und Liebesschwüren, die im Verlauf der Handlung immer präsenter werden, bleiben Tessas Erfahrungen mit Sex, Drogen und auch ihr Sterben eher bloße Behauptung. Das Ableben der Protagonistin ist dann letzten Endes auch ein für alle Beteiligten versöhnliches, um die Sterbende herum wurden Mütter, Paare und Familien produziert, deren Glück im Angesicht des Todes noch mal so hell erstrahlt. So endet der Film mit ein paar warmen Worten der dahinsiechenden Tessa, dazu das überbelichtete Bild von einem Baby in der Frühlingssonne, zum Abspann noch ein Song von Ellie Goulding. Jetzt ist aber wirklich mal gut.

Sofia’s Last Ambulance

(BUL / D / KRO 2012, Regie: Ilian Metev)

Komm, wir zählen Schlaglöcher
von Ricardo Brunn

Mit dem Humor der Verzweifelten treibt es die Rettungssanitäter Krassi und Mila gemeinsam mit ihrem Fahrer Plamen jeden Tag aufs Neue durch die Straßen der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Stundenlang irren …

Mit dem Humor der Verzweifelten treibt es die Rettungssanitäter Krassi und Mila gemeinsam mit ihrem Fahrer Plamen jeden Tag aufs Neue durch die Straßen der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Stundenlang irren sie von einem Einsatz zum nächsten, müssen die Adressen der Zielorte mühsam suchen oder über das fortwährend ausfallende Funkgerät auf Anweisungen warten. Schnell wird klar, dass es in der Millionenmetropole nicht genügend Einsatzkräfte gibt, aber nur nebenbei erfährt man, dass die Drei das einzige Reanimationsteam der Stadt bilden, weshalb sie manchmal nur noch den Tod eines Patienten feststellen und sich dafür entschuldigen können, dass die Anfahrt vier Stunden gedauert hat.

Zwischen den Einsätzen zeigen die auf dem Armaturenbrett fest installierten Kameras die müden Gesichter der Protagonisten, wie sie Gespräche über Kündigungen anderer Sanitäter führen, die überfüllten Krankenhäuser verfluchen oder sich fragen, warum sie sich das alles antun, wenn es schon an der Grundausrüstung mangelt. So auch bei dem kleinen Mädchen, dem Mila auf der Fahrt ins Krankenhaus zur Beruhigung nur anbieten kann, gemeinsam die Schlaglöcher zu zählen, die den ungefederten Krankenwagen regelmäßig erschüttern, damit es die Schmerzen wenigstens für ein paar Sekunden vergessen kann.

In Ilian Metevs erstem abendfüllenden Dokumentarfilm „Sofia’s Last Ambulance“ genießt das Dokumentarische einen Raum, den es im Zuge einer Hybridisierung und Reality-Verscriptung in unterschiedlichen Medien seit einiger Zeit zu verlieren droht. Hier ist es nicht Nebenprodukt einer dramatischen Geschichte Einzelner im sich cineastisch wähnenden Breitwandformat und kokettiert auch nicht mit Voyeurismus oder Polemik, wie es bei einem solchen Thema ein Leichtes gewesen wäre (man denke nur an Michael Moores dampfwalzigen „Sicko“).

„Sofia’s Last Ambulance“ konzentriert sich stattdessen auf unkommentiertes Zeigen und lebt ganz und gar von seinen Leerstellen. Der Krankenwagen wird nur selten verlassen, Opfer werden nie gezeigt. Bei manchen Einsätzen sehen wir nur das angespannte Gesicht des Fahrers Plamen, während aus dem Off die Bemühungen Krassis und Milas um die Patienten zu hören sind. Und einen Unfall der Ambulanz erleben wir nur durch den sich in den Gesichtern der Ärzte abzeichnenden Schrecken. In der Folge dieser Herangehensweise bleiben viele Fragen offen. Einen genauen Blick in das marode Gesundheitssystem Sofias liefert der Film ebenso wenig wie ein zufrieden stellendes (vielleicht am Voyeurismus des Fernsehens geschultes und deshalb erhofftes) Porträt der drei Rettungssanitäter. Dagegen formt sich aus all den nebensächlichen Details, dem Spiel mit On und Off, den Halbsätzen und insbesondere den so entstehenden Auslassungen ein Gefühl dafür, welch scheinbar aussichtslosen Kampf das Bemühen um die Bedürftigen und Schwachen darstellt, die in Bulgarien tatsächlich kaum noch Zugang zur lebensnotwendigen Gesundheitsversorgung haben.

In der Reduktion und Konzentration erinnert das alles an Cristi Puius ersten Spielfilm „Der Tod des Herrn Lazarescu“ und dessen absurde Fahrt von einem überfüllten Krankenhaus zum nächsten. Ähnlich wie Puius Film stellt „Sofia’s Last Ambulance“ eine Reise ans Ende der Nacht dar, die von vornherein verloren ist und deren Protagonisten sich (wie der spätere Armenarzt Céline) täglich aufs Neue in der Ungewissheit üben, „woher man am nächsten Tag die Kraft holen soll, das, was man gestern getan hat, weiter zu tun […], und alles nur, um einmal mehr festzustellen, dass das Schicksal unbezwingbar ist, dass man unweigerlich wieder auf der untersten Treppenstufe landet, jeden Abend, voller Angst vor dem nächsten Tag, der immer ungewisser, immer trostloser ist.“ Und so bleibt am Ende des Filmes folgerichtig ein Platz im Führerhaus des Krankenwagens einfach leer.

The Loneliest Planet

(D / USA 2011, Regie: Julia Loktev)

Dialog mit dem Fremden
von Wolfgang Nierlin

Ein Ball fliegt, als käme er aus dem Nichts, über einen hohen Lattenzaun, an dem gerade die beiden jungen, amerikanischen Rucksacktouristen Alex (Gael García Bernal) und Nica (Hani Furstenberg) vorbeigehen. …

Ein Ball fliegt, als käme er aus dem Nichts, über einen hohen Lattenzaun, an dem gerade die beiden jungen, amerikanischen Rucksacktouristen Alex (Gael García Bernal) und Nica (Hani Furstenberg) vorbeigehen. Ist es Absicht, Zufall oder ein Versehen? Jedenfalls wirft Alex den Ball zurück zu dem unsichtbaren Beweger jenseits der Zaungrenze; und daraus wiederum ergibt sich ein spielerisches Hin und Her mit dem Ball, eine Art geheimnisvoller Dialog mit einem Unbekannten beziehungsweise mit dem Fremden, das sich nicht zeigt, aber doch wirkt und seine reale Anwesenheit behauptet. Es sind solche fast absichtslos hingetupften Momente voller visueller Poesie und schwebender Bedeutungen, in denen Julia Loktev das nie ganz greifbare Sujet ihres beeindruckenden Films „The Loneliest Planet“ ahnungsvoll verdichtet. Die Spannung resultiert dabei aus dem Ungesagten einer prinzipiellen Offenheit, die sich in raum-zeitlichen Sprüngen und einer elliptischen Handlungsstruktur artikuliert.

Dazu kommt die Lust an der Bewegung, an Atmosphäre und Stimmung, die sich bald mit grandiosen Landschaftspanoramen verbindet. Alex und Nica unternehmen nämlich eine mehrtägige Trekkingtour durch den Kaukasus, auf der sie von dem georgischen Guide Dato (Bidzina Gujabidze) geführt werden. Ihre demonstrative, verspielte Verliebtheit, ihr unbeschwertes Glück und ihre verschworene Intimität scheinen immun gegen Irritationen und kontrastierende Gefühle, die sich fast unmerklich immer wieder einstellen, etwa wenn Dato makabre Witze erzählt, auf die geheimnisvolle Wirkung von Steinen und Kräutern aufmerksam macht oder mit Zaubertricks überrascht. Doch für Alex und Nica ist das Fremde allenfalls kurios; ihr Weg kennt noch kein Ziel; sie stecken fest in einer Liebeskapsel, die alles absorbiert, ohne es zu reflektieren. Ihr permanentes, strahlendes Lächeln schwebt immer ein wenig über den Dingen und scheint auch nicht ganz frei von einem Hauch kultureller Überheblichkeit.

Das alles wird sich von einem Augenblick auf den anderen unumkehrbar ändern. Es ist ein Moment der Bedrohung und der Todesangst, der das scheinbar so sichere Beziehungsgefüge tief erschüttert, ja eine schockierende Entzweiung sowie einen Verlust der Unschuld bewirkt. Die Realität der Welt bricht den Kokon der Liebesabschottung gewissermaßen auf und führt zu einem irreparablen Vertrauensbruch. Dabei handelt es sich „nur“ um einen Reflex, der jedoch etwas Elementares ausdrückt. Misstrauen und Distanz, Sprachlosigkeit und ein gestörtes Selbstbild begleiten die Protagonisten fortan auf ihrem Weg durch eine Landschaft, deren majestätische Größe sie förmlich zu verschlucken scheint. Immer wieder inszeniert Julia Loktev diese gewaltige Natur, in der sich die Figuren, zunehmend vereinzelt und entfremdet, zu verlieren scheinen. Ihr stimmungsvoller, visuell betörender Film handelt aber auch von den Fallstricken der Kommunikation, sprachlicher Differenz und damit verbundener Unkenntnis respektive Blindheit. Erst als Dato in gebrochenem Englisch seine erschütternde Lebensgeschichte erzählt, gewinnt das fremde Andere – zumindest für Nica – eine ebenso greifbare wie berührende Wirklichkeit.

Der Tag wird kommen

(F / B 2012, Regie: Gustave Kervern, Benoît Delépine)

NOT und DEAD bauen Scheiß
von Dietrich Kuhlbrodt

Der konterrevolutionäre deutsche Filmtitel führt in die Irre. „Der Tag wird kommen“ … will sich fortsetzen etwa wie … an dem Ihr in das Reich des Herrn eingehen werdet. Oder …

Der konterrevolutionäre deutsche Filmtitel führt in die Irre. „Der Tag wird kommen“ … will sich fortsetzen etwa wie … an dem Ihr in das Reich des Herrn eingehen werdet. Oder ins Paradies der Einkaufszentren. – Damit sind wir zwar in der top location dieses Films. Aber mit falschen Erwartungen. Denn der Originaltitel des Films „Le grand soir“ steht als politischer Begriff fest: wir sind am Vorabend der Revolution.

Auwei, solche Botschaften haben bleierne Füße, und wie sollen dann Leute ins Kino à la mode kommen? Das wird sich der deutsche Verleih gesagt haben. Tatsächlich werden im Film zwar null politische Phrasen gedroschen. Aber es wird einwandfrei anarchisch gespielt. Im einem dieser von der Stadtmitte ausgesourcten Einkaufszentren. Mit dem Auto schnell (Parkplatz genug!), aber zu Fuß langweilig zu erreichen (Ausfallstraße, endlos).

Das Adverb NOT hat er auf seine Stirn tätowiert. Er: das ist der in die Jahre gekommene Punk, im Alter, in dem andere die midlife crisis kriegen. Er aber, weit und breit der älteste Punk-mit-Hund (Benoit Poelvoorde), ist sich einer Sache sicher: Die Antwort auf alles, was von ihm gewollt wird, ist das NICHT auf der Stirn.

Was nicht so gern gesehen wird, macht erst recht Spaß. Der Film lebt von diesen frechen und irrkomischen Momenten. Nackt duschen im Kreisverkehr auf der Insel. Sie ist geschmückt mit einem überdimensioniertem Kunstwerk, dem Nachbau einer altrömischen Wasserleitung. Ein Wasserfall ergießt sich (wir sind im Einkaufszentrum von Bègles bei Bordeaux). – Wie übernachten? Am besten samt Hund in einem der Kinderhäuser vor den Juniorshoppingauslagen. Und was ist mit dem Morgen-Yogurt? Den beiden reizenden Damen, die auf dem Parkplatz mit der Fernbedienung ihr Auto geöffnet haben, kommt er zuvor, nimmt sich aus der Einkaufstüte einen Becher und Danke auch.

Heile Punk-Anarcho-Welt, und wir sind nicht weit vom alten Diogenes-mit-Hund und seinem Es-ist-so-easy, Leute. Aber es geht weiter. NOT/NICHT hat Eltern. Sie betreiben ein Kartoffelbistro im Zentrum und füttern ihren Punk durch. Auch gibt es einen Bruder, Verkäufer im Bettenshop, verheiratet, 1 Kind. Es dauert nicht lange, und er ist Job, Frau und Kind los. NOT tätowiert ihm ein DEAD auf die Stirn. Dann gehen beide im Einkaufszentrum Scheiß bauen, wobei gern der ausgestreckte Mittelfinger benutzt wird, aber sowieso genug zu Bruch geht. Geil, das.

Dem Film fallen viele schöne Sachen ein. Von mehr als cineastischem Interesse ist die Anarchoperformance vor den Überwachungskameras. Wie das geht? Ankucken! Aber wohin führt das Ganze? Auch die lieben Pataterie-Eltern schmeißen hin. Was ist mit den anderen? NOT und DEAD sind beim stage diving im Punk-Club. Da geht was ab, Mann! Wenn auch voll Alk und sonst was, – ist das jetzt die vorrevolutionäre Gemeinschaft, die künftige Garde? Komm da was zum Vorschein?

Tja, die beiden Punk-Brüder sind nicht mehr an die 20, sondern an die 40. Sie wollen was bewegen. Sie rufen, wen sie kennen, zum meeting auf. Haben Altpunks weder iPod noch Facebook? Ergebnis: sie bleiben unter sich. Letzte Botschaft: Sie bauen aus den Leuchtbuchstaben der Läden und Märkte Buchstaben ab, bis sie den Schriftzug haben: we are NOT DEAD, aufgestellt und weithin sichtbar auf einem Hügel. In Hollywood-Manier.

Uff. Ein Lehrstück? Wohl denn doch nicht. Denn dem erhobenen Zeigefinger steht der dokumentarisch und teils improvisiert wirkende Charakter dieses Films entgegen. Die Regisseure Gustave Kervern und Benoît Delépine (Louise Hires A Contract Killer') haben ihren Anarchotypen Raum gelassen. Dialoge werden nicht abgefeiert; sie entstehen an Ort und Stelle. In einer Fülle von kleinen Szenen, kommen Leute zu Wort – schräge Voll-Persönlichkeiten -, die mit bösem Witz die Situation nicht nur beherrschen, sondern überhaupt erst herstellen. Geprobt ist das nicht. Und man glaubt, was man sieht, sofort. – Ja, herrgott, ich sags frei heraus, so abgenutzt wie das Wort ist: die Authentizität der vielen kleinen (und sowieso der großen) Mitwirkenden trägt den Film. Ohne dass dem kritischen Rezenten Bedenken kommen. Während des Films.

Auch nimmt man den Orten, an denen gedreht wird, ohne weiteres ab, dass sie so sind, wie sie sind. Okay, ich rede von locations und Bauten und Ausstattung. Wie üblich bei Spielfilmen. Aber jetzt aufgemerkt: vergessen Sie die drei Wörter. Gedreht ist in einem real existierenden Einkaufszentrum mit real laufenden Überwachungskameras und mit realem Publikum. Es nutzt die paradiesischen Konsumtempel zum Flanieren. Alles von hohem Wiedererkennungswert. Der Film kommt an, mit der Anarcho-Komik. Folge: Spezialpreis der Jury in Cannes. Geht doch!

Versteckte Botschaften gibt’s auch. Der dicke Depardieu, Wahrsager im Asia-Outfit, sieht die Zukunft voraus. Hinter ihm ein blauer Design-Horizont, der mit Picassos Friedenstauben übersät ist. Hallo! Verstanden?!

Was ich behaupte, ist, dass der Film eine unvermutete Langzeitwirkung haben wird. Dass die Bewegung mangels Einsatz moderner Kommunikationsmittel nicht zustande gekommen ist, – geschenkt. Denn wir sind nicht so weit. Wir sind, Sie erinnern sich, am Vorabend der Revolution. Und da geht’s ums Gewahrwerden, dass etwas bevorsteht, das mich aktiviert. Der gute alte Bloch schwärmte vom Vorschein, von etwas, das kommen wird. Und ähnlich, aber von der anderen Ecke, begeisterte Derrida die Nicht-Gestalt von etwas, mit dem ich, wir, die Gesellschaft schwanger geht. Das NICHT/NOT solange, bis die Gestalt geboren ist (Jawohl, das war Derridas Bild) und nicht tot ist, sondern lebt.

Sorry, die letzten Zeilen müssen nicht sein, ich hab sie nur grad im Kopf. Aber bittschön, man kann mithilfe des „Grand soir“ auch was ganz Praktisches in den Blick nehmen. Es ist ja nicht nur der Film allein. An allen Ecken und Kanten, in voller Breite häufen sich die Lamentos über den Zerfall der Gesellschaft, fette Beute des Neoliberalismus, des Markts, der Banken-Mafia. –An welchem Punkt der Maßverhältnisse schlagen die Lamentos um in eine neue Qualität?

Gute Frage. Der Film stellt sie, falls man ihn nur ein bisschen auf sich wirken lässt. Also dann: heute noch weiter anheizen, bis morgen der Siedepunkt erreicht ist.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 5/2013

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Paradies: Hoffnung

(AT / F / D 2012, Regie: Ulrich Seidl)

Im Straflager
von Wolfgang Nierlin

„Wir werden trainieren, bis die Schwarten krachen und die Kilos purzeln“, dekretiert der autoritäre Sport- und Fitnesslehrer (Michael Thomas) eines sogenannten Diätcamps gegenüber den übergewichtigen Neuankömmlingen der wie aus der …

„Wir werden trainieren, bis die Schwarten krachen und die Kilos purzeln“, dekretiert der autoritäre Sport- und Fitnesslehrer (Michael Thomas) eines sogenannten Diätcamps gegenüber den übergewichtigen Neuankömmlingen der wie aus der Zeit gefallenen Einrichtung. Mit Trillerpfeife, im Kommandoton und mit militärischem Drill fordert der sadistische Einpeitscher uneingeschränkte Disziplin und Unterwerfung im Dienst der Arbeit am überforderten, trägen Körper. „Rein in die Folterkammer!“, lautet etwa ein Befehl, der diese Erziehungsanstalt als Straflager ausweist und die in ihm exekutierten Formen körperlicher Zurichtung als potentiell faschistisch identifiziert. Regelverletzungen werden drakonisch bestraft, der Tagesablauf ist streng reglementiert und für Telefongespräche nach draußen gibt es eine sogenannte „Handy Time“.

Der österreichische Regisseur Ulrich Seidl hat mit „Paradies: Hoffnung“, dem abschließenden Teil seiner „Paradies-Trilogie“ eine Art Internats- bzw. Gefängnisfilm gedreht. Auf langen, hellen und vor allem leeren Fluren sind die Gruppenzimmer mit ihren Stockbetten wie Zellen angeordnet. Die darin herrschende Enge bildet ebenso einen irritierenden Kontrast zur Dominanz des Raums wie die übermächtige Stille, die jeden auffälligen Laut sofort als Abweichung und Übertretung anzeigt. Seidls präzise und bei aller Reduktion höchst mitteilsamen Bildkompositionen erfassen diese Formen der Internierung und Kontrolle in frontalen Ansichten und Symmetrien.

Die rigorose Körperarbeit, der die Mädchen und Jungen – alles Teenager – unterworfen sind, setzt diese Zwänge in den gleichgeschalteten Bewegungen und ihrer Anordnung im Raum fort. Dahinter formiert sich allerdings kein Widerstand oder gar eine Revolte. Vielmehr blendet Seidl äußere und innere Gefangenschaft ineinander: Viele der internierten Jugendlichen sind Scheidungskinder, die sich in ihrem Körper unwohl fühlen und überdies in die Wirren der Pubertät verstrickt sind. Das bekommt besonders die 13-jährige Melanie (Melanie Lenz) zu spüren, als sie sich in den gelangweilten Anstaltsarzt (Joseph Lorenz) verliebt. In Andeutungen, schwärmerischen Blicken, verschämten Gesprächen mit der Freundin, merkwürdigen Doktorspielen und einem die verbotene Annäherung sublimierenden Fetischismus erzählt Seidl von einer unmöglichen Beziehung und tiefem Liebeskummer. Wie zwei Tote liegen die beiden als ungleiches Paar einmal auf dem Waldboden nebeneinander. Für fast alles zwischen ihnen, was ihre Sehnsüchte, Zweifel und Hemmnisse erklären könnte, fehlt eine Sprache. Und diese Sprachlosigkeit fügt den Gefängnissen ein weiteres hinzu.

Meine Schwester

(F / I 2001, Regie: Catherine Breillat)

Das Ende der Unschuld
von Wolfgang Nierlin

Ob es besser sei, beim ersten Mal den Sexualpartner zu lieben oder aber emotional „neutral“ zu sein, fragen sich zwei junge Mädchen am Anfang des Films beim Spaziergang in einem …

Ob es besser sei, beim ersten Mal den Sexualpartner zu lieben oder aber emotional „neutral“ zu sein, fragen sich zwei junge Mädchen am Anfang des Films beim Spaziergang in einem Pinienwald. Während sich die 15-jährige Elena (Roxane Mesquida) zur romantischen Liebe bekennt und damit zu einer Sexualität des Gefühls, ahnt ihre jüngere Schwester Anaïs (Anaïs Reboux) schon früh die Verletzungen, die diesem Ideal jugendlicher Unschuld innewohnen und plädiert deshalb nüchtern für die Trennung der körperlichen von der seelischen Liebe. Vielleicht ist es dieser Dualismus, der die Zwölfjährige weniger angreifbar macht, sie schützt und letztlich überleben lässt. Jedenfalls erfahren beide Mädchen im Verlauf des Films auf schmerzhafte Weise das herbeigesehnte Ende ihrer sexuellen Unschuld. Eine gewissenlose Verführung und eine brutale Vergewaltigung, deren strukturelle Gleichsetzung geradezu schockierend und obszön wirkt, bilden die Schlüsselszenen in der Darstellung männlicher Gewalt. Schon ihr umstrittener Film „Romance“ handelte mit kühler Präzision von der Unmöglichkeit, Liebe und Sexualität miteinander zu verbinden. In „Meine Schwester“ ('A ma sœur“) treibt die französische Schriftstellerin und Filmemacherin Catherine Breillat mit analytischer Schärfe die Desillusionierung noch einen Schritt weiter: Ehe die Befreiung aus den Zwängen der Pubertät wirklich werden könnte, findet sie ein deprimierendes Ende.

Bereits das Lied über die als existentiell empfundene Langeweile der Adoleszenz, mit dem die vernachlässigte Anaïs ihre romantische Todessehnsucht ausdrückt, färbt die sowohl ungleiche wie symbiotische Beziehung der Geschwister tragisch. Da Elena schön und anziehend ist und sich beim Ferienaufenthalt in Italien am Meer bald in den römischen Jurastudenten und Frauenhelden Fernando (Libero de Rienzo) verliebt, bleibt für die dickleibige Anaïs nur noch der Spott ihrer Schwester und die Eifersucht einer von unterschwelligen Rivalitäten bestimmten Hassliebe. Für Elena ist die stille Zeugin geduldetes Anhängsel und entlastendes Alibi für ihre geheimen Stelldicheins gegenüber den ansonsten demonstrativ gleichgültigen Eltern. Trotzdem gibt es zwischen den beiden eine Komplizenschaft, die auf geradezu spiegelbildliche Weise die eine zum jeweiligen Teil der anderen macht. Während sich Elena ganz materialistisch über ihr Äußeres und die gängigen Statussymbole definiert, schöpft Anaïs mehr aus ihrem Inneren. Die Distanz schärft ihr den Blick und mit ihrem schweren Körper markiert sie Grenzen. Wenn sich am gewalttätigen Schluss diese Rollen scheinbar vertauschen, tatsächlich aber auf hässliche, vielleicht denunziatorische Weise bestätigt werden, liegt in der plötzlichen Willkür, mit der dies geschieht, eine gewollt schicksalhafte Konsequenz, die zu weit geht, aber in der Architektur des Films begründet liegt.

Breillats harte, ungeschönte Darstellung sexueller Probleme besitzt zwei längere Szenen, die eindringlich und genau den Fokus ihres Interesses konzentriert abbilden: Die dramaturgisch aufsteigende Verführungssequenz, in der Lorenzo mit Versprechungen, schönen Komplimenten und Liebesbeteuerungen die von Zweifeln, Ängsten und Zugeständnissen hin und her gerissene Elena sexuell gefügig macht; und die dem Höhepunkt folgende Autobahnfahrt nach den abrupt abgebrochenen Ferien, die von einer klaustrophobischen Atmosphäre und latentem Terror erfüllt ist. Betrug und Verrat, Sprachlosigkeit und Unverständnis vermitteln hier einen nüchternen Blick von der unaufhebbar erscheinenden Geschlechterdifferenz und fügen sich so zum ungeschminkten Bild zwischenmenschlicher Entfremdung.

The Best Offer – Das höchste Gebot

(I 2013, Regie: Giuseppe Tornatore)

Vexierspiel
von Harald Steinwender

'Nothing is what it seems' – das musste schon der von Donald Sutherland gespielte Kirchenrestaurator in Nicolas Roegs Venedig-Horrormärchen 'Don’t Look Now' ('Wenn die Gondeln Trauer tragen'; 1974) auf ziemlich …

'Nothing is what it seems' – das musste schon der von Donald Sutherland gespielte Kirchenrestaurator in Nicolas Roegs Venedig-Horrormärchen 'Don’t Look Now' ('Wenn die Gondeln Trauer tragen'; 1974) auf ziemlich grausame Weise erfahren. Ganz in dieser Tradition steht auch der von Geoffrey Rush gespielte Virgil Oldman in 'The Best Offer – Das höchste Gebot' ('La migliore offerta'). Der 63-jährige Auktionator mit dem 'sprechenden' Namen diniert in den feinsten Restaurants, feiert berufliche Erfolge und erweitert mit Hilfe seines Komplizen Billy – gespielt von einem verschmitzten, greisen Donald Sutherland – Stück für Stück seine eindrucksvolle Kunstsammlung. Doch Oldman, der alles besitzt und doch nichts hat, ist ein einsamer Sonderling, der sich von seiner Umwelt abkapselt, nie in seinem Leben mit einer Frau geschlafen hat und seine halblegal erworbenen Kunstschätze nur im Geheimen genießen kann. Erst als die mysteriöse Claire (Sylvia Hoeks) ihn bittet, ihren Familienbesitz zu schätzen und zur Versteigerung zu bringen, beginnt Oldman, sich dem Leben zu öffnen. Er meint, in der jungen Frau eine Seelenverwandte gefunden zu haben – und verstrickt sich in eine Affäre, bei der unter anderem ein besonders schwerer Fall von Agoraphobie und ein antiker Automaton, eine Art primitiver Roboter, eine Rolle spielen – und in deren Verlauf Oldman nicht nur erfährt, was die Liebe ist, sondern das Herz gebrochen wird.

Mit 'The Best Offer' hat der italienische Regisseur Giuseppe Tornatore – hierzulande vor allem bekannt für seine etwas sentimentale Ode an das Kino 'Nuovo Cinema Paradiso' ('Cinema Paradiso'; 1988) – einen im besten Sinn altmodischen Mystery-Thriller inszeniert: einen Film, der seine andeutungsvolle Geschichte mit einer Vielzahl falscher Fährten und kleiner Abschweifungen garniert und im Zweifelsfall stets der überraschenden Wendung und der surrealen Volte den Vorzug über bürokratisches Wahrscheinlichkeitsdenken gibt. Zwar verweigert Tornatore sich dem Blutzoll des italienischen Exploitation- und Formelkinos, doch zählen auch hier ganz wie in den gialli der 1970er Jahre vor allem Atmosphäre und Oberflächenreiz. So gleitet Fabio Zamarions Kamera zu Ennio Morricones gewohnt souveräner Filmmusik beinahe schwerelos durch exquisit ausgestattete Räume; die gedämpften Farben von Silber, Marmor und Tropenholz bestimmen die luxuriösen Breitwandbilder; in der Privat-Pinakothek des Protagonisten hängen dicht an dicht unzählige Frauenporträts von Raffael und Tizian, Renoir und Rubens, Goya und Degas.

Passend für einen Film über einen misanthropischen Kunstsammler – einen Mann, dem die Dinge schon grundsätzlich mehr zählen als die Menschen, die sie erschaffen haben – verliert sich der von seinen Obsessionen getriebene Antiheld zunehmend in den mit unzähligen kunsthistorischen Zeichen aufgeladenen (mitunter auch überladenen) Räumen, verwechselt Signifikant und Signifikat und wird schließlich zum Opfer einer raffinierten Fälschung. Der Australier Geoffrey Rush spielt den bald als törichten Alten erscheinenden Kunstfachmann: mal distinguiert-distanziert, dann wieder exaltiert-manieristisch, immer aber lustvoll überzeichnet und mit sichtlichem Spaß bei der Sache. Unterstützt wird er dabei effektiv von Jim Sturgess, Donald Sutherland und Sylvia Hoeks, letztere als obskures Objekt der Begierde des selbst höchst obskuren Protagonisten.

'The Best Offer' entwickelt sich schleichend von der Farce zum Alptraum mit surrealen Zügen, schlägt auf dem Weg dahin ein paar Haken und federt die Abgründe der Geschichte stets ab durch eine recht ironische Grundhaltung gegenüber den Figuren und den Regeln des Genres. Ohne allzu viel über die Handlung zu verraten, sei an dieser Stelle nur gesagt, dass Tornatores Film an David Finchers 'The Game' (1997) wie Roman Polanskis 'The Ninth Gate' ('Die neun Pforten'; 1999) und 'The Ghost Writer' ('Der Ghostwriter'; 2010) erinnert – was Plot, Stilwillen und die latent sadistische Haltung gegenüber der etwas bornierten Hauptfigur betrifft. Zugleich steht der Film deutlich in der Tradition von Tornatores frühen Kriminalfilmen 'Una pura formalità' ('Eine reine Formalität'; 1994) – in dem Polanski übrigens eine der beiden Hauptrollen spielte – und 'La sconosciuta' ('Die Unbekannte'; 2006), fällt aber gegenüber diesen Vorläufern etwas ab. Zu vorhersehbar bleibt ein bedeutender Plot-twist, die Bilder wirken letztlich doch ein wenig zu geschmäcklerisch. Aber selbst wenn dies kein ganz großer Wurf sein mag, ist 'The Best Offer' doch fraglos unterhaltsames, gut inszeniertes Krimikino, das man bedenkenlos für einen nostalgisch eingefärbten Kinobesuch empfehlen kann.

Paradies: Glaube

(D / F / AT 2012, Regie: Ulrich Seidl)

Groteske der Verzweiflung
von Ulrich Kriest

Es hätte der inkriminierten Masturbationsszene mit dem Kruzifix gar nicht bedurft, um „Paradies: Glaube“ wuchtig erscheinen zu lassen. Schon die Szenen, in denen sich die Protagonistin Gebete murmelnd, sich selbst …

Es hätte der inkriminierten Masturbationsszene mit dem Kruzifix gar nicht bedurft, um „Paradies: Glaube“ wuchtig erscheinen zu lassen. Schon die Szenen, in denen sich die Protagonistin Gebete murmelnd, sich selbst geißelnd oder auf Knien durch die Wohnung rutschend zeigt, sind beklemmend genug. Oder kratzen an der Grenze zur (unfreiwilligen) Komik. Die Masturbationsszene jedoch streift die Grenze zur Karikatur, weil hier eine These Seidls auf den (visuellen) Punkt gebracht wird, die man derart simplifizierend nun doch nicht sehen muss. Zum Glück sind in „Paradies: Glaube“ derlei polemische Zuspitzungen die Ausnahme.

Nachdem Ulrich Seidl im ersten Teil seiner „Paradies“-Trilogie seine mittelalte Protagonistin Teresa auf der Suche nach Liebe, Würde und Selbstbewusstsein in ein Ferien-Resort nach Kenia begleitet hatte, bleibt er im zweiten Teil bei deren Schwester Anna Maria (Maria Hofstätter, die Anhalterin aus „Hundstage“) in Wien. Die arbeitet als MTA in der Röntgenabteilung eines Krankenhauses und geht in ihrer Freizeit, im Urlaub mit einer „Wandermuttergottes“ im Milieu der Migranten und Abgestürzten missionieren.

Als katholische Fundamentalistin, die die Liebe zu Jesus etwas zu wörtlich nimmt, die sich schmerzhaften Bußübungen hingibt und deren Bet-Gruppe sich als „Sturmtruppe der Kirche“ bezeichnet. Wenn sich so eine Fanatikerin hingebungsvoll und streng gestrandeter Agnostiker und Andersgläubiger annimmt, dann sorgt das für eine unangenehme Portion Fremdscham, was an ältere Filme Seidls wie „Tierische Liebe“ oder „Hundstage“ erinnert. Aber die Szenen gehen in Fremdscham nicht auf, weil Missionare ja nicht nur in Ostfriesland auch gerne mal totgeschlagen werden. Und auch Anna Maria macht sich angreifbar in ihrer bohrenden Unnachgiebigkeit, ihrem Beharren auf Kontrolle. Ihre tapferen Missionsbegegnungen in den Wiener Vorstädten sind mal erschreckend, mal berührend, mal skurril und manchmal auch schon etwas gefährlich. Und führen darüber hinaus zu schönen Wiederbegegnungen mit Menschen, die man aus anderen Filmen Seidls bereits kennt wie »Busenfreund« René Rupnik, in dessen Wohnung der Platz für die „Wandermuttergottes“ recht knapp bemessen ist.

Doch denunziert Seidl die frömmelnde Katholikin so wenig wie er die Sextouristin in „Paradies: Liebe“ denunzierte: eher sorgt er sich um Zwischentöne. In der etwas groben Versuchsanordnung „Frömmlerin in einer säkularen Gesellschaft“ werden ganz andere Konflikte sichtbar. Und Seidl insistiert, bohrt nach, spielt: nachdem er Anna Maria einen Gutteil der Wegstrecke begleitet hat, erhöht er unvermittelt die Schmerzgrenze für die Figur. Plötzlich steht nämlich deren Mann Nabil in der Wohnung: ein querschnittgelähmter Ägypter, der insistierend seine Rechte als Ehemann einfordert und eifersüchtig reagiert, als er merkt, dass es Anna Maria offenkundig sehr ernst ist mit der Leugnung des Fleischlichen. Jetzt beginnt in der Wohnung ein erbitterter Glaubenskrieg, der zunächst um religiöse Symbole kreist. Letztlich jedoch geht es beiden Antagonisten nicht um Religion, sondern um Macht – und rasch wird klar, dass Anna Maria sich der Religion bedient, um sich von ihrem tyrannischen Ehemann zu emanzipieren. Dessen Rückkehr wird zu einer Herausforderung ihrer Gottgefälligkeit, die ohnedies nicht von Barmherzigkeit und der Achtung der Kreatur geprägt ist.

An ihrem Arbeitsplatz, wo sie es mit Kranken und Hilflosen zu tun hat, gibt sich Anna Maria kühl und professionell – und auch die in Pflege genommene Katze hätte sicher etwas mehr Fürsorge brauchen können. Es passt ins Bild, wenn Anna Maria ihrem gelähmten Gegner schließlich den Rollstuhl fortnimmt und die Türen verschließt. Wie in einer Groteske der Verzweiflung sieht man in einem der von Seidl betont artifiziell stilisierten Tableaus (Kamera: Ed Lachman) Nabil am Boden durch die Wohnung kriechen. Schimpfend und zeternd. Schrecklich. Drastisch. Brutal. Aufreizend komisch. Es ist nun nicht so, dass Anna Maria in ihrer forcierten Form des Glaubens Erlösung fände, sondern tatsächlich findet sie ihre Liebe zu Jesus nicht erwidert. Und dieses Erleben eines permanenten Scheiterns und Verfehlen der eigenen Sehnsüchte ähnelt fatal demjenigen »Schicksal« ihrer Schwester in Afrika. Aus der fundamentalen Einsamkeit führen keine Abkürzungen heraus, solange die Machtfragen nicht geklärt sind.

So wie die Sehnsucht nach Liebe unter den herrschenden Bedingungen zu Sextourismus führt, so führt die Sehnsucht nach Gnade im Glauben zur Bigotterie. Hier erwächst aus der Tabuisierung der Sexualität eine ganz besondere Lust, eine Angst/Lust, die, glaubt man Seidl, im Katholizismus strukturell angelegt ist. Auf den dritten Teil der Trilogie, der die jüngere Generation in den Blick nimmt, darf man gespannt sein, so freud- und erschütternd hoffnungslos sind die ersten beiden Bestandsaufnahmen ausgefallen.

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Spring Breakers

(USA 2013, Regie: Harmony Korine)

Dauerbespaßungshölle
von Andreas Busche

„Spring Break Forever“ lautet das psychedelisierende Mantra von Harmony Korines Anti-Pop-Märchen „Spring Breakers“. Die ungezügelte Lust vier junger Mädchen aus dem amerikanischen „heartland“ auf rauschhafte Bewusstseinszustände führt Korines Protagonistinnen in …

„Spring Break Forever“ lautet das psychedelisierende Mantra von Harmony Korines Anti-Pop-Märchen „Spring Breakers“. Die ungezügelte Lust vier junger Mädchen aus dem amerikanischen „heartland“ auf rauschhafte Bewusstseinszustände führt Korines Protagonistinnen in die Dauerbespaßungshölle jugendlicher Selbstentgrenzung. Der titelgebende „Spring Break“ markiert im Lehrplan amerikanischer College-Studenten das alljährliche Initiationsritual der niederen Instinkte: Sex, Alkohol und Drogen unter der Sonne Floridas, eine Art Ballermann für die verzogenen Wohlstandsgören am Übergang in die geregelten Biografien. Die hochgradig verstrahlten Frühjahrsfestivitäten stellen einerseits also einen Abschied dar, vom Elend der Provinz (ein „neues Leben“ imaginiert sich Faith, die Jüngste der Vier), und gleichzeitig eine Initiation. Das unausweichliche Erwachsenwerden ist die Kehrseite des „Spring Break“-Exzesses, an dessen Ende bestenfalls ein Platz im Humankapitalzoo winkt.

Korine wendet diese gesellschaftliche Zurichtungslogik konsequent in ihr Gegenteil, weil er seine Protagonistinnen zwar aus der Provinz befreit, ihnen den Übergang allerdings verwehrt. Sie stranden – mit Geld aus einem Raubüberfall – im „Spring Break“-Irrsinn, landen im Knast, werden von einem bizarren, drogendealenden Gangsterrapper namens Alien (James Franco mit Flechtfrisur und einer Metallbeißleiste, die Busta Rhymes und ODB neidisch machen würde) rausgehauen und enden, weitab von der knallbunten Fantasiewelt aus Wet-T-Shirt-Wettbewerben und Komasaufen, in einem düsteren Zwischenreich, in der nur noch die plötzlich seltsam deplatzierten Neon-Bikinis strahlen. Der Exzess der Party ebnet dem Exzess der Gewalt den Weg, und die Mädchen lassen sich seltsam fasziniert von dem charismatisch-debilen Alien mitreißen. Seelenverwandte nennt er seine „bitches“ und die geben nur zu gerne die „bösen Mädchen“ einer mittelprächtigen Gangsterrapper-Fantasie – respektive: der Fantasie eines auf Krawall gebürsteten Hipster-Regisseurs.

Korine hat dieses Moment des Übergangs implizit in seiner Geschichte verankert. Zwei der Darstellerinnen, Selena Gomez und Vanessa Hudgens, haben eine Vergangenheit beim Disney-Channel, ihre Figuren folgen also denselben Abnabelungsmechanismen, die sie selbst mit ihrer Rollenwahl vollziehen. Einem anderen Disney-Sternchen, Britney Spears, wird mit einer schmalzigen Piano-Ballade vorm Sonnenuntergang Reverenz erwiesen. Korine bedient sich einer eindeutigen Bildproduktion, entschärft die Fallen der Wahrnehmung aber durch forcierte Unterspielung. „Spring Breakers“ ist nicht hemmungslos geil, sondern hoffnungslos abgefuckt.

Dieser Text erschien zuerst in: Pony #81

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Romance 2 – Anatomie einer Frau

(F 2004, Regie: Catherine Breillat)

Weiblicher Selbsthass
von Wolfgang Nierlin

Kühl und artifiziell ist die experimentelle Versuchsanordnung, die Catherine Breillat in ihrem Film „Romance 2 – Anatomie einer Frau“ (Anatomie de l’enfer) etabliert. Die französische Regisseurin und Schriftstellerin hat dafür …

Kühl und artifiziell ist die experimentelle Versuchsanordnung, die Catherine Breillat in ihrem Film „Romance 2 – Anatomie einer Frau“ (Anatomie de l’enfer) etabliert. Die französische Regisseurin und Schriftstellerin hat dafür ihr Buch „Pornocratie“ adaptiert und als kammerspielartiges Zwei-Personen-Stück inszeniert, das in analytischen Sätzen und symbolischen Handlungen einen Diskurs über die prinzipielle Geschlechterdifferenz beziehungsweise die „Feindschaft zwischen Männern und Frauen“ entwickelt. Dabei wirkt der trocken sezierende Blick auf die Sexualität, vor allem aber auf das weibliche Geschlecht und seine metaphysischen Abgründe radikal desillusionierend. Zumindest die namenlose Protagonistin (Amira Casar), die sich zu Beginn des Films umbringen will („Weil ich eine Frau bin.“) scheint diesbezüglich von Ekel und Selbsthass erfüllt zu sein. Vier Nächte lang trifft sie sich in einem abgelegenen Haus am Meer mit einem Mann (gespielt vom italienischen Porno-Star Rocco Siffredi), um unter seinen Blicken etwas über sich und ihre Weiblichkeit zu erfahren.

Doch manchmal hat man den Eindruck, die Theorie gehe der Praxis voraus, was durch einen von Catherine Breillat selbst gesprochenen Text aus dem Off noch verstärkt wird. „Die Zerbrechlichkeit des weiblichen Fleisches erzwingt Abscheu oder Brutalität“, sagt die Frau. Und: „Der Frauenkörper lechzt nach Verstümmelung.“ Verhandelt wird in dieser ersten Nacht die „Obszönität der Frauen“, die, so die Behauptung, mit der geheimnisvollen Tiefe ihres Geschlechts, mit ihrer Weichheit und Schwäche verbunden sei. In der ebenso expliziten wie drastischen Auseinandersetzung mit dem Menstruationsblut, seiner „Unreinheit“ („Blut ohne Wunde“), aber auch seiner negativ besetzten Symbolkraft für das Leben, spitzt Breillat das Tabu der weiblichen Selbstverneinung noch zu.

„Die Frau ist die Krankheit des Mannes“, heißt es einmal in Erinnerung an die demütigenden Doktorspiele der Kindheit. Um das unersättliche Tier in ihr zu domestizieren respektive zu bezwingen, muss der Mann, so die These, die Frau gewaltsam unterwerfen. Es sei die Begierde des Mannes, die Frau zu töten, sagt sie zu ihm über sein Besitzdenken und seinen Zerstörungstrieb. Im Zurückschrecken des Mannes vor dem Unwiderruflichen und in seinem letztlich sexuellen Scheitern liegt sowohl ein schwacher weiblicher Trost als auch eine männliche Verzweiflung, deren Larmoyanz und Lächerlichkeit, belauscht bei einem Gespräch unter Männern, Breillats statischen, dunklen Film über die naturgegebene Feindschaft zwischen den Geschlechtern für einen Augenblick aufhellt.

The Broken Circle

(B / NL 2012, Regie: Felix van Groeningen)

Bluegrass in Belgien
von Carsten Happe

Die „Beschissenheit der Dinge', so der Titel von Felix van Groeningens letztem Film, lässt sich auch ohne weiteres auf den Beginn von „The Broken Circle Breakdown“ übertragen. So sehr die …

Die „Beschissenheit der Dinge', so der Titel von Felix van Groeningens letztem Film, lässt sich auch ohne weiteres auf den Beginn von „The Broken Circle Breakdown“ übertragen. So sehr die Eltern, die Ärzte und die Krankenschwestern sich bemühen, die Atmosphäre rund um die schwer erkrankte kleine Maybelle ist trostlos bis verzweifelt. Doch der Film tappt nicht in die Falle, ein weiteres Krebsdrama zu bebildern, er erzählt eine ganz andere Geschichte, die allein ein Blick auf die Eltern schon herausfordert: er der zottelige, vollbärtige Lebenskünstler-Typ, sie von Hals bis Fuß mit Tattoos verziert, Bildern und Erinnerungen aus ihrem Leben, ehemaligen Liebhabern, besonderen Eindrücken.

„The Broken Circle Breakdown“ springt frei und ungezwungen durch die Geschichte von Didier und Elise, ihrem unkonventionellen Leben – und ihrer großartigen Musik. In einer Bluegrass-Band. In Belgien. Was will man mehr? Bis der Schmerz sie – und den Film – wieder einholt. Und es nichts mehr zu retten gibt oder zu beschönigen. Aber auch da muss man durch, und wenn schon nicht die Liebe hilft, dann vielleicht noch die Musik, wenigstens.

Weit entfernt vom üblichen Formatkino, das zumeist in den ersten fünf Minuten bereits den weiteren, in geordneten Bahnen dahinplätschernden Verlauf skizziert, galoppiert van Groeningen quer durch sein mitreißendes Material, das mal ein Theaterstück war, aber sich kaum noch danach anfühlt, wohl aber vor hemmungslosen Emotionen fast auseinanderbricht, weil seine Charaktere so stark und so eigen daherkommen, dass es eine einzige Freude ist. Veerle Baetens als Elise und Johan Heldenbergh als Didier geben ihnen ein Gesicht und einen Körper und es ist so wertvoll für den Film, dass man sie zuvor (fast) noch nie gesehen hat, so sehr verschmelzen sie nun ohne die Last früherer Filme mit ihren Rollen. Und wie sie sich die Seele aus dem Leib spielen. Und mit Inbrunst ihre Musik zelebrieren. Genau das macht den Unterschied aus und kündet von der Seele dieses aufwühlenden und bezaubernden Films und von seiner Leidenschaft, die sich mit Worten kaum wiedergeben lässt, aber in jedem seiner Bilder, seiner Töne, seiner tiefempfundenen Gefühle steckt.

Sex Is Comedy

(F / PT 2002, Regie: Catherine Breillat)

Wahrheit der Körper
von Wolfgang Nierlin

Eine Filmcrew schleppt aufgeregt Equipment zu einem Sandstrand an der Atlantikküste. Es ist windig und kalt, die jungen, halbnackten Darsteller, die auf Kommando eine Kussszene spielen sollen, frieren und dann …

Eine Filmcrew schleppt aufgeregt Equipment zu einem Sandstrand an der Atlantikküste. Es ist windig und kalt, die jungen, halbnackten Darsteller, die auf Kommando eine Kussszene spielen sollen, frieren und dann zieht auch noch ein Unwetter auf. Jeanne (Anne Parillaud), die ebenso resolute wie machtbewusste Regisseurin kommandiert und schreit, kritisiert und schimpft, weil bei all diesen Unbilden die Illusionsmaschine nicht so richtig in Gang kommt und die Vorspiegelung eines täuschend echt aussehenden Lebens nicht gelingen will. An der Schnittstelle von Film und Leben liegen Falsches und Echtes schwer miteinander im Clinch und sind kaum noch zu unterscheiden. Das ändert sich ein wenig, als die Produktion auf das scheinbar sicherere Terrain des Studios wechselt, das Jeanne bevorzugt, weil es größtmögliche Kontrolle erlaubt: „Das Studio ist wie eine Kirche. Der Ort der Sprache. Die Sprache des Films.“

Jeanne mit ihrem Plädoyer fürs Artifizielle ist natürlich das Alter Ego der französischen Filmemacherin Catherine Breillat, die mit ihrer Film-im-Film-Parodie „Sex is Comedy“ ein überraschend heiteres und ironisches Selbstportrait voller Doppeldeutigkeiten und Fallgruben gedreht hat. Die fließenden Wechsel zwischen den verschiedenen Wirklichkeits- und Inszenierungsebenen gehören hier ebenso zum Genre wie verwickelte Produktionsbedingungen und launische Schauspieler. Breillat verschiebt aber die Gewichte und fokussiert ziemlich rückhaltlos und intim auf die Regisseurin als „Blutsaugerin“, die als besessene und liebende Künstlerin von Selbstzweifeln geplagt wird, unter ihrer Arbeit leidet („Der Film macht mich kaputt.“) und eifersüchtig über alles und jeden wacht. Vor allem ihr ambivalentes Verhältnis zu den beiden Schauspielern changiert dabei ständig zwischen Liebe und Hass, Anziehung und Abstoßung, Vertrauen und Verrat.

Im Ringen um den wahren Ausdruck spielt Jeanne die Darsteller, die von Grégoire Colin und Roxanne Mesquida verkörpert werden, immer wieder gegeneinander aus. Ihre Angst und Scham, ihre Macht und Ohnmacht werden in diesen Kämpfen von Jeanne produktiv für die Inszenierung genutzt, deren Höhepunkt die Verführung eines noch unschuldigen Mädchens ist. Das Verlangen darzustellen und dabei die Würde zu bewahren wird ebenso zur Aufgabe wie die Suche nach einem Ausgleich für die empfundene Unfreiheit am Set. Gut möglich, dass Catherine Breillat in dieser Schlüsselszene Erfahrungen verarbeitet, die sie bei ihrem vorhergehenden Projekt „Meine Schwester“ ('À ma sœur') gemacht hat. „Sex ist Comedy“ mündet jedenfalls in einer Katharsis, die schließlich den Rahmen des Spiels verlässt und auf ergreifende Weise die gesamte Filmcrew erfasst. „Wörter sind Lügen, Körper die Wahrheit“, heißt es einmal dazu an anderer Stelle über die Stärken gelingender Illusion.

Die letzte Mätresse

(F / I 2007, Regie: Catherine Breillat)

Abgrund der Zärtlichkeiten
von Wolfgang Nierlin

„Paris, Februar 1835, im Jahrhundert von Choderlos des Laclos“: Mit diesem Insert situiert, äußerlich betrachtet, Catherine Breillat das Geschehen ihres Films „Die letzte Mätresse“ („Une vieille maîtresse“) aus dem Jahre …

„Paris, Februar 1835, im Jahrhundert von Choderlos des Laclos“: Mit diesem Insert situiert, äußerlich betrachtet, Catherine Breillat das Geschehen ihres Films „Die letzte Mätresse“ („Une vieille maîtresse“) aus dem Jahre 2007. Es liegt in dieser Angabe zugleich ein Hauch von Bedauern über den Verlust einer gewissen moralischen Freizügigkeit, die den Leidenschaften und Trieben geschuldet ist. Einmal beklagt sich eine ältere Dame der Gesellschaft über die „Engstirnigkeit“ des Jahrhunderts im Unterschied zum vorhergehenden. Der Exzentriker und Dandy Jules-Amédée Barbey d’Aurevilly veröffentlichte seinen Roman über die schicksalhafte Liebesverfallenheit zweier Menschen, den Breillat für ihren Geschlechterdiskurs adaptierte, im Jahre 1851. In der Rahmenhandlung des Films fungiert das illusionslos-nüchterne Gespräch zwischen zwei Alten, dem Vicomte de Prony (Michael Lonsdale) und der Comtesse d’Artelles (Yolande Moreau) gewissermaßen als Auge der Gesellschaft, dessen überwachender Blick stets präsent ist und das Gerüchte, Spekulationen und Intrigen widerspiegelt.

Ausgelöst werden diese durch die geplante Heirat des etwa 30-jährigen, mittellosen Adligen Ryno de Marigny (Fu’ad Aït Aattou), einem verrufenen Wüstling, mit der jungen, tugendhaften Hermangarde de Polastron (Roxane Mesquida). Um seine aufrichtige Liebe und ehrlichen Absichten zu beweisen, beichtet er in einem langen nächtlichen Gespräch Hermangardes Großmutter und Vormund, der anteilnehmenden Marquise de Flers (Claude Sarraute), seine zehn Jahre währende Liebesbeziehung mit der spanischen Mätresse Señora Vellini (Asia Argento). In langen Rückblenden erzählt Catherine Breillat die Stationen einer Amour fou, in der die Liebenden, schicksalhaft und bis zur Verzweiflung aneinander gekettet, nicht mehr voneinander lassen können. Dabei sind beide abwechselnd Opfer ihrer Leidenschaft und eines unaufhörlichen Begehrens, in das sich immer wieder Hass, Eifersucht und Dominanzstreben mischen. „Etwas Schreckliches regiert mein Schicksal“, sagt Marigny und deutet damit auf die zerstörerische Seite der Liebe.

Die Flucht vor dem „Abgrund der Zärtlichkeiten“ wird von Breillat dabei in Korrelation gesetzt zu den Refugien der Einsamkeit, in die sich die Liebespaare wiederholt zurückziehen, um den Anfechtungen und Konventionen des gesellschaftlichen Lebens auszuweichen. In erlesenen Bildern und geistreich-doppeldeutigen Dialogen, in maßgeschneiderten Kostümen und geschmackvollen Interieurs inszeniert Catherine Breillat den Status quo einer Gesellschaft, in die die Liebe eindringt wie eine heimtückische Krankheit. Mit gewohnt unterkühltem Beobachterblick und in künstlich stilisierten Körper-Tableaus wandelt sich ihre „Komödie der Verführung“ dabei immer mehr zur Tragödie einer ebenso obsessiven wie destruktiven Liebe.

Georg Baselitz

(D 2013, Regie: Evelyn Schels)

Disharmonisch an die Weltspitze
von Andreas Thomas

Früher sah er aus, als würde er jederzeit, wenn es sein muss, Geiseln nehmen. Und machte damit den meisten seiner Kollegen keine Konkurrenz. Wenn man sich heute Fotos von der …

Früher sah er aus, als würde er jederzeit, wenn es sein muss, Geiseln nehmen. Und machte damit den meisten seiner Kollegen keine Konkurrenz. Wenn man sich heute Fotos von der Creme der deutschen Malerei aus den Achtzigern ansieht, Baselitz, Lüpertz, Immendorf, meist mit den Markenzeichen rasierte Glatze und schwarzer Bart, kann man Respekt kriegen – nicht nur vor der Kunst. Bis heute, hört man, sei Georg Baselitz noch immer der Meinung, dass Männer zur echten Malerei besser befähigt sind, weil sie (sinngemäß) über mehr Destruktivität und Aggressivität verfügten als Frauen.

Das entsprechende Bonmot fällt aber nicht im (gleichnamigen) Dokumentarfilm „Georg Baselitz“, den die mit dem Künstler befreundete Evelyn Schels über Leben und Arbeit des heute unwilder und bartlos aussehenden 75-jährigen Malers und Bildhauers gedreht hat. Gesettelter wirkt er, und auch seine Äußerungen bleiben im Rahmen. Geradezu distinguiert erscheint seine Frau Elke, die immer wieder mit einem Fotoapparat im Atelier auftaucht, den genervten Künstler bei der Arbeit und selbige im Progress festzuhalten („Immer knipsen, einfach immer nur knipsen!“) – als wenn nicht schon die eine Frau mit ihrem Aufnahmeteam reichen würde.

Doch im Gegensatz zum durch die Anwesenheit von Kameras schier erstarrten Gerhard Richter in der vergleichbaren Doku („<<TEXT:UNTERSTRICHEN>Gerhard Richter Painting“), scheint Baselitz sich nicht sonderlich durch Dreharbeiten gestört zu fühlen, eher gebauchpinselt, wenn er erklären kann, warum seine Leinwände immer auf dem Boden liegen müssen, wenn er malt („Meine Farben sind zu flüssig, an der Wand würde alles verlaufen“), was gleichzeitig erklärt, wozu die sieben großen Ventilatoren da sind.

Frau Elke dann im Einzelinterview, elegant, großbürgerlich distinguiert: „Georg ist ja leider nur die Nummer Drei in der Welt. Er würde das nicht zugeben, aber er möchte schon gerne die Nummer Eins sein.“ Später er: „Elke hätte natürlich am liebsten, dass ich die Eins bin, sie kommt nicht so gut damit zurecht, dass ich die Nummer Drei bin.“ (Bezug nehmen diese Nummern übrigens auf den so genannten Kunstkompass)

Konzern Baselitz drängt zur Weltspitze? Eine nicht so merkwürdige, sondern nahe liegende Vermischung von Kunst und Kapitalismus wird hier offenbar; ein Schlehmil, der Böses dabei zu denken trachtet: seit Jahrzehnten ist Kunst eine der sichersten Wertanlagen. Avantgarde, Moderne, Postmoderne – schön und gut, alles Geschmackssache. Wichtig ist der Marktwert des Künstlers, seine Präsenz auf den großen Ausstellungen und in den Galerien, nichtwahr?. In diesem Zusammenhang erhellend ist, dass beide Söhne Galeristen geworden sind – und eben keine Künstler …

Spotlights: Baselitz in Köln im großen Atelier, Baselitz in Imperia (Italien), zweiter Wohnsitz („Wo bekommt man in Italien deutsche Apfelbäume her, wenn man deutsche Apfelbäume malen will?“), Baselitz bei einer Ausstellungseröffnung am Seine-Ufer in Paris („Man ist jedes Mal wieder aufgeregt, ob das Neue angenommen wird“) in New York und in Salzburg. Baselitz als erschöpfter Bildhauer mit Kettensäge am groben Stamm, Schwerstarbeit mit Schwerstverletzungsgefahr.

Das Schönste aber (Geschmackssache) am Film sind die (meist gegenständlichen) Bilder, die Farben, und die Arbeit und das Ringen um das Bild. Wie oft Baselitz z.B. eine Stelle des Bildes schwarz überdeckt, dann wieder mit einem Lappen auswischt, mit Linien gestaltet, wieder komplett schwarz übergießt und wieder abwischt, das wirkt ebenso sinnlos wie einzig sinnvoll, und belegt die u.a. besonders körperliche und aktionsorientierte Dimension in Baselitz‘ Bildern (die ihre Initial-Impulse durch die Malerei der amerikanischen Abstrakten Expressionisten [Rothko, de Kooning, Pollock etc.] erhielt).

Seit seine Gemälde ab dem Jahr 1969 „auf dem Kopf stehen“, ist das das Baselitzsche Erkennungs-, Marken- und Erfolgszeichen geworden („Das Problem ist nicht der Gegenstand auf dem Bild, sondern das Problem ist das Bild als Gegenstand. Ich habe die („Frage“) gelöst, indem ich […] meine Gegenstände, meine Motive umgekehrt male. Also sie ohne die Bedeutung, die ein Gegenstand haben kann, darstelle. Denn wenn man sie umdreht, verlieren sie diese Bedeutung.“). Baselitz‘ radikale Idee wird in der Kunstwelt mitunter als Rettung des Gegenständlichen für die Kunst bewertet; und faszinierend sind die Ergebnisse, faszinierend bis ermüdend, denn im Kopf des Betrachters arbeitet alles doch stets gegen dieses Auf dem Kopf Stehende an und will wissen, wie es richtig herum aussieht.

Die aktuelle Erweiterung der Verdrehung ist, dass Baselitz Farbfotos seiner Frau zuerst ins Farbnegativ verkehrt, und dann – natürlich falsch herum – als Porträts auf die Leinwand bringt: Eine blaue Grande Gattin, incl. Perlenohrring, doppelt gemoppelt verkehrt herum, sozusagen.

Am meisten interessierte übrigens den Betrachter (i.e.: der Filmkritiker) vor dem Film: Wie malt Herr Baselitz denn nun diese umgekehrten Bilder? Erst richtig und dreht sie dann um? Oder sieht und malt er seine Motive immer gleich auf dem Kopf stehend? Diese Frage ist natürlich die Uninteressanteste überhaupt und beweist, wie wenig ich von Kunst verstehe. Sie wird deshalb auch hier nicht beantwortet, obwohl der Film eine Antwort zeigt.

Hingegen wirklich interessant ist ein eingespielter Auszug aus einem älteren Interview, in dem Baselitz aus dem Nähkästchen plaudert: „Mein Prinzip ist die Disharmonie, die Unausgewogenheit, die Zerstörung. Wenn ich links oben ein rotes Dreieck male, dann male ich rechts unten gerade keines […] – und das Unglück: Die Harmonie stellt sich ein, einfach so …“

Ob das Baselitzsche Harmonie-Dilemma nun auf ein ewiges und heimliches Grundgesetz der Bildenden Kunst per se zurück zu führen ist, wonach die Kunst, wie die Katze, was man auch dagegen tut, immer auf die Füße der Ausgeglichenheit fällt, oder ob das Genie des Herrn Baselitz nicht anders kann, als – trotz Triefaugen und Beulen in deren Knie – immer harmonische Figuren zu malen, dazu schweigt der Künstler und überlässt es uns, selbst unsere Köpfe zu verdrehen …

Dead Man Down

(USA 2013, Regie: Niels Arden Oplev)

Leiche im Eisschrank
von Gregor Torinus

2009 hatte der Däne Niels Arden Oplev mit der Stieg-Larsson-Verfilmung „Verblendung“ einen weltweiten Erfolg gelandet. Nur zwei Jahre später kam mit David Finchers hierzulande ebenfalls „Verblendung“ betitelter Neuinterpretation die zu …

2009 hatte der Däne Niels Arden Oplev mit der Stieg-Larsson-Verfilmung „Verblendung“ einen weltweiten Erfolg gelandet. Nur zwei Jahre später kam mit David Finchers hierzulande ebenfalls „Verblendung“ betitelter Neuinterpretation die zu erwartende Hollywoodversion des Stoffs in die Kinos. Der anfängliche Ärger der Europäer über eine weitere Vereinnahmung eines hiesigen Stoffs durch die kalifornische Traumfabrik wich schnell der dominierenden Feststellung, dass Finchers Fassung zumindest auf visueller Ebene der von Oplev weit überlegen sei. Auch die herausragende Leistung von Noomi Rapace in der Rolle von Lisbeth Salander schien auf einmal im Schatten der vermeintlich noch weit charismatischeren Rooney Mara zu stehen. Trotzdem brachte genau diese Rolle für Rapace den internationalen Durchbruch und seither war die Schwedin bereits in Filmen wie Ridley Scotts „Prometheus“ zu sehen. Nur um Niels Arden Oplev schien es in der Zwischenzeit merkwürdig ruhig geworden zu sein. Tatsächlich arbeitete Oplev nach „Verblendung“ zunächst nur als Regisseur für das dänische Fernsehen. Dabei wurde er nach „Verblendung“ von Angeboten aus Hollywood geradezu überschüttet. Doch anstatt gleich die erstbeste Gelegenheit wahrzunehmen, las sich der Däne durch über 250 Drehbücher, bis er schließlich eines fand, dass ihm der Umsetzung würdig schien. Hierbei handelte es sich um J.H. Wymans Skript zu dem Thrillerdrama „Dead Man Down“.

Der New Yorker Unterweltboss Alphonse (Terrence Howard) hat ein Problem. Ein Killer dezimiert aus unbekannten Gründen die Männer seiner Organisation. Die letzte Leiche wurde in einem Eisschrank von einem Paketdienst zugestellt. Erneut ist sie mit einem Fotoschnipsel und einer geheimnisvollen Botschaft versehen. Doch Alphonse meint jetzt zu begreifen, wer hinter der Sache steckt. Er startet eine blutige Racheaktion, bei der ihm sein neuer Mann Victor (Colin Farrel) das Leben rettet. Victor lebt alleine in einem Appartement am Rande der Stadt. Im gegenüberliegenden Haus wohnt die Französin Beatrice (Noomi Rapace) zusammen mit ihrer schwerhörigen Mutter (Isabelle Huppert). Beatrice beobachtet Victor und winkt ihm eines Abends schüchtern von ihrem Balkon aus zu. Kurz darauf schlägt die schöne, jedoch aufgrund eines Autounfalls im Gesicht mit Narben übersäte, Frau Victor vor, gemeinsam auszugehen. In einem Restaurant kommt es zu zaghaften Annäherungsversuchen der beiden in sich verschlossenen Charaktere. Doch plötzlich stellt Beatrice klar, dass sie auch ein konkretes Anliegen hat. Victor soll für sie den Mann umbringen, der sie betrunken angefahren hat und somit für ihre Entstellungen verantwortlich ist. Als Druckmittel dient ihr eine per Handy gemachte Aufnahme eines Mordes, den Victor in seiner Wohnung begangen hat. Aber auch Victor hat einen persönlichen Racheplan, den er um jeden Preis bis zum Ende ausführen will.

Bereits die Eröffnungsszene aus „Dead Man Down“ zeigt unmissverständlich, dass dieser Film sich nicht scheut, an Grenzen zu gehen. Victors bester Freund Darcy (Dominic Cooper) spricht mit einem Baby im Arm über seine späte Erkenntnis, dass menschliche Verbindungen das Wichtigste im Leben seien. Dann steigen die beiden schwerbewaffnet aus ihrem Wagen aus und schließen sich der Gruppe ihres Bosses Alphonse an. Der macht sich daran, den vermeintlichen Auftraggeber des geheimnisvollen Killers zur Rede zu stellen. Eine zunächst ruhige Befragung mündet plötzlich im unerbittlichen Kugelhagel, bei dem es nur auf einer Seite Überlebende gibt. Der extreme Kontrast zwischen an reinen Kitsch grenzender Gefühlsbetontheit und abrupter, harter Gewalt verblüfft. Im Gegensatz zu Filmen wie denen von Quentin Tarantino fehlt hier jede ironische Brechung. Dieser fast ans Absurde grenzende Auftakt ist vollkommen ernst gemeint. Verblüffend ist, dass diese oftmals krude Mischung aus Drama und Action, aus Liebesgeschichte und Rachethriller, außerordentlich gut funktioniert. Sechs Jahre hat Wyman an dem Skript gefeilt und dieser Einsatz macht sich im vorliegenden Ergebnis durchaus bemerkbar. Dem Autor gelingt das Kunststück, innerhalb bekannter Konventionen zu arbeiten, diese jedoch immer ein wenig zu verschieben. Alle Charaktere sind eine kleine Spur anders als ihre zahllosen allseits bekannten Vorgänger. Auch die Dialoge sind deutlich authentischer als in vergleichbaren amerikanischen Genreproduktionen. Als Beatrice und Victor sich zu ihrem vermeintlichen ersten Rendevouz treffen, ist ihre Sprachlosigkeit ein wahrhafter Ausdruck ihrer introvertierten Persönlichkeiten und von einer Eindringlichkeit, die ihren tiefsitzenden Schmerz offenbart.

Trotz der durchgängig hervorragenden Darstellerleistungen ist Terrence Howard als Mafiaboss Alfonse eine besonders positive Überraschung. Howard erschafft hier einen ganz eigenen Typus eines Mafiabosses, dessen weltgewandte Umgänglichkeit sich bald als kalte Professionalität entpuppt. In Neil Jordans Rachethriller „Die Fremde in Dir“ hatte der Schauspieler noch einen scheinbar besser zu ihm passenden Detective gespielt. „Die Fremde in Dir“ war der erste amerikanische Rachethriller seit Abel Ferraras „Die Frau mit der 45er Magnum“ (1981), der in Frage gestellt hat, ob die Ausführung der Rache tatsächlich zu einer Auflösung der Traumatisierung des Rächers führen kann. Doch während Ferrara zeigte, dass die Rache mehr eine Folge als eine Lösung des erlittenen Traumas ist, ergab sich Jordans Films am Ende doch wieder den Genrekonventionen und unterminierte damit seine eigene Aussage. „Dead Man Down“ wirft ebenfalls die Frage auf, ob Rache tatsächlich eine Möglichkeit zur Heilung der inneren Wunden ist. Wymans Skript hat die Chuzpe, diese Problematik einerseits ernsthaft anzureißen und zugleich die an das Genre verknüpften Erwartungen auf eine Art zu erfüllen, dass kein offensichtlicher Widerspruch entsteht. Eine wirkliche Vertiefung dieser Problematik steht jedoch weiterhin aus. Trotzdem ist „Dead Man Down“ ein Film, der gerade auch aufgrund seiner vielschichtigen und ausgearbeiteten Charaktere besticht. Den starken inhaltlichen Kontrasten entspricht ein intelligentes und perfekt umgesetztes visuelles Konzept. Vom kühlen Realismus setzen sich die teils brachialen Actionsequenzen und optischen Extravaganzen umso stärker ab. Spätestens wenn sich die Kamera von Paul Cameron („Collateral“) dann in rasanter Fahrt ein Treppenhaus hinunterschraubt, ist der irritierende Effekt durchaus mit Hitchcocks berühmter Treppenhausszene in „Vertigo“ (1958) vergleichbar. Das soll David Fincher erst einmal nachmachen.

Leg ihn um!

(D 2012, Regie: Jan Schütte)

Crowd Verdumming
von Andreas Thomas

Wie unlängst bei ähnlicher Gelegenheit erwähnt, leidet die aktuelle deutsche Komödie nicht nur unter ihrem eingeschränktem oder zu gut versteckten Humor, sie schert sich vor allem schon mal so was …

Wie unlängst bei ähnlicher Gelegenheit erwähnt, leidet die aktuelle deutsche Komödie nicht nur unter ihrem eingeschränktem oder zu gut versteckten Humor, sie schert sich vor allem schon mal so was von gar nicht um Logik, respektive Plausibilität. Doch wer hätte es gedacht: Auch wo der Mensch lachen soll, da will er ein logisches Fundament, damit es halt spaßig zusammenbrechen kann. Wo schon ein Fundament fehlt, da mangelt es an komischen Highlights, wenn dieses nicht existierende Ding nochmal demontiert werden soll.

Man fasst sich doch nur an den Kopf und will nicht glauben, alleine, was für Drehbücher so den lieben langen Tag geprüft und für gut und verfilmbar befunden werden. Im Fall von „Leg ihn um!“ macht schon die Grundidee so wenig Laune, weil so wenig Sinn, dass man den Eindruck hat, die deutsche Filmindustrie legt es derzeit geradezu drauf an, ihre Zuschauer danach zu testen, wie viel Blödheit man ihnen eigentlich noch unbemerkt unterjubeln und zugleich damit unterstellen kann. (Ich fürchte nur, mit Grund zu viel …)

Der große Mime Hans-Michael Rehberg (2 „Kommissare“, etliche Male „Der Alte“, jedoch auch Kino-Events wie Klicks „Supermarkt“, Fassbinders „Berlin Alexanderplatz“ oder „Schindlers Liste“) jedenfalls wohnt in einem Landhäuschen, hat verstreute vier Kinder mit drei Partnern, von denen allen übrigens einer unausstehlicher ist als der andere, wirklich „people that you’d love to hate“ (was dann schon die größte Stärke des Films ausmacht), und aufgrund eines nicht näher bezeichneten Krebses nicht mehr lange zu leben. Da er auch nicht gerne lange leiden will, lässt er die drei Ältesten via Privatsekretärin wissen, dass nur der ihn beerben darf, der ihn innert der nächsten Woche oder so um die Ecke bringt. Und weil er mindestens so ein Kotzbrocken ist wie seine Kinder, würde, so zeigt sich, eine eventuelle gegenseitige Zuneigung der Tat nicht im Wege stehen. Um den Mord am Papa dann auch noch verifizieren zu können, muss das mordende Kind übrigens noch den Hergang bitte auf Video aufzeichnen.

Punkt. Enough said. Ich habe keine Lust, den Ablauf weiter zu beschreiben, weil alleine diese Prämisse und weil deren selbstverständliche Akzeptanz und Nichthinterfragung durch diese idiotischen Kinder und durch das Drehbuch und durch die Regie schon den gesamten Film hindurch für mich die reine Zumutung waren.

Übrigens braucht sich dieser eine unglaubwürdige Initial-Schwachsinn nicht einsam zu fühlen, alle drei Minuten wartet der Film mit neuen abwegigen Drehbuchlöchern auf und gesteigert werden diese nur noch durch das, was man wohl für eine „bestens aufgelegte“ Crew gehalten hat. Der „Spontaneität“ und der „emotionalen“ Improvisation wurden offenbar Tür und Tor geöffnet, um den Film wohl wenigstens im Bereich der Performance realistisch wirken zu lassen, wenn schon im Bereich der Story nichts funktioniert; und was wir dann da haben, sind Schauspieler, denen erlaubt wurde, alles raus zulassen, speziell ihre Sau. Und das klingt hoffentlich so, wie es klingt, nämlich doch eher so, dass man es nicht gesehen haben will.

Zum crowd-funding, welches der übrigens reichlich amateurhaft fotografierte Film offenbar bedurfte, wie im Abspann zu lesen ist, gesellt sich auch product placement: Der Hagebaumarkt glänzt unangenehm durch quälende Sekunden zu langes Einblenden seines Firmenschildes und eine Jack Wolfskin-Jacke trägt die doch eher triste Jack-Wolfskin-Wirklichkeit unseres Straßenbildes nun leider auch auf die Leinwände der Jack-Wolfskin-infizierten Cineplexxe – oder eben auch nicht?

Dass der Film vom Inhalt und Ambiente her und wohl auch von der Handlungsidee (verkorkster Vater lädt verkorkste Kinder in sein Landhaus, wo die Masken fallen) her im weitesten Sinne in Richtung Thomas Vinterbergs “Das Fest“ tendiert, demonstriert leider einmal mehr und deutlicher, wie groß das Gefälle ist. Aber was rede ich: Enough said, jetzt wirklich! Und tschüss „Leg ihn um!“!

Nachtzug nach Lissabon

(D / PR / CH 2013, Regie: Bille August)

Das andere Leben
von Wolfgang Nierlin

„Wenn es so ist, dass wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist – was geschieht dann mit dem Rest?“ Dieser Satz trifft den Berner …

„Wenn es so ist, dass wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist – was geschieht dann mit dem Rest?“ Dieser Satz trifft den Berner Lateinlehrer Raimund Gregorius (Jeremy Irons) an einem verregneten Tag wie ein Schlag. Eben noch hat der zerstreut wirkende Altsprachler vor seiner Klasse über den Zusammenhang von Gedanke und Tat bei Marc Aurel philosophiert, nachdem er kurz zuvor eine junge Frau vom selbstmörderischen Sprung von der Kirchenfeldbrücke abhalten konnte. Jetzt muss er sich von einem Augenblick auf den anderen selbst entscheiden, ob er der Spur dieses Satzes, den die Lebensmüde samt dazugehörendem Buch in einem roten Regenmantel zurückgelassen hat, folgen will. Der Zufall hilft der Seelenverwandtschaft dabei gewissermaßen auf die Sprünge. Oder um es mit den Worten des fiktiven portugiesischen Schriftstellers Amadeu Inácio de Almeida Prado zu sagen, dessen geheimnisvolles Buch „Um ourives das palavras“ (Ein Goldschmied der Worte) Gregorius tief im Innern berührt: „Der wirkliche Regisseur des Lebens ist das Schicksal.“ Und so findet sich der Schweizer Lehrer kurz darauf in den malerischen Gassen Lissabons wieder.

Was er dabei fürs Erste zurücklässt, ist die Routine eines in Langeweile erstarrten bildungsbürgerlichen Lebens, in dessen schlaflosen Nächten er im geschmackvollen Ambiente seiner Wohnung gegen sich selbst Schach spielt. Jetzt stolpert er unverhofft mit wunderlich forschendem Blick und hungriger Neugier auf ein anderes Leben über fremdes Terrain, um die noch rätselhafte Geschichte jenes unbekannten Autors und Arztes zu rekonstruieren und dabei das Sehen neu zu lernen. Denn Bille August geht es in seiner soliden filmischen Adaption des Weltbestsellers „Nachtzug nach Lissabon“, den der Schweizer Philosophie-Professor Peter Bieri 2004 unter dem Künstlernamen Pascal Mercier veröffentlichte, vor allem um die Reise zu einem neuen Lebenssinn. Indem Gregorius im Verlauf seiner spannenden Recherche mit Hilfe zahlreicher Begegnungen und Gespräche allmählich das Lebenspuzzle Amadeu de Prados (Jack Huston) zusammensetzt, wird er mit seinen eigenen nicht gelebten Möglichkeiten konfrontiert. Daneben taucht er tief ein in die Widersprüche der jüngeren Geschichte Portugals zwischen Faschismus und Revolution.

Der routinierte dänische Regisseur Bille August inszeniert diese komplexe Thematik durch ein sorgsam konstruiertes Gewebe aus Rückblenden, in denen Gegenwart und Vergangenheit nahtlos ineinander übergehen. Weitgehend ohne ästhetische Überraschungen huldigt er in seiner mit Stars besetzten internationalen Großproduktion dem schönen, geschmackvoll ausgestatteten Bild. Anders als der Held des Films überlässt Augusts konventionelles und ein wenig behäbiges Qualitätskino nichts dem Zufall. Zudem unterstützt eine unausgesetzte musikalische Untermalung die emotionale Steuerung des Zuschauers. Trotzdem gibt es einige höchst dramatische Momente, in denen Freundschaften im Konflikt zwischen Politik und Liebe auseinanderbrechen, die Solidarität sich gegen das Unmenschliche behauptet, das individuelle und berufliche Ethos zwischen die gesellschaftlichen Fronten gerät und die Ironie der Geschichte die Paradoxien des Lebens vorführt.

Ein wirklich junges Mädchen

(F 1976, Regie: Catherine Breillat)

Im Kerker weiblichen Begehrens
von Wolfgang Nierlin

Würde man Catherine Breillats Debütfilm „Ein wirklich junges Mädchen“ ('Une vraie jeune fille') aus dem Jahre 1976, der wegen diverser Freizügigkeiten und Tabubrüche erst 1999 in den französischen Kinos gestartet …

Würde man Catherine Breillats Debütfilm „Ein wirklich junges Mädchen“ ('Une vraie jeune fille') aus dem Jahre 1976, der wegen diverser Freizügigkeiten und Tabubrüche erst 1999 in den französischen Kinos gestartet wurde, unter die Coming-of-age-Geschichten rubrizieren, käme dies einer Verharmlosung des Sujets gleich. Zwar thematisiert Breillat in dieser provozierenden Verfilmung ihres vierten Romans „Le Soupirail“ das sexuelle Erwachen eines jungen Mädchens, das sich Mitte der sechziger Jahre gleichermaßen eingeengt fühlt von der französischen Provinz und einem restriktiven Elternhaus; doch das eigentliche Gefängnis, in dem die 16-jährige Titelheldin steckt, ist ihr Körper: seine Lust, sein Verlangen und Begehren, das keine Erfüllung findet. Diese unstillbare Sehnsucht, als Zustand der Unfreiheit und des Leidens an der eigenen Jugend verstanden, lässt die Protagonistin eine Art destruktive „éducation sexuelle“ erleben, die mit einer ebenso exzessiven wie exhibitionistischen Lust an der Besudelung einhergeht. „Der Ekel macht mich klar“, schreibt Alice Bonnard (Charlotte Alexandra), von Erbrochenem befleckt, mit roter Tinte in ihr Tagebuch.

Catherine Breillat bewegt sich mit der Off-Erzählerin ihres Films in Genre der Bekenntnisliteratur. Wie in den Schriften Georges Batailles verbinden sich auch in Alices Erlebnissen und Tagträumen Eros und Tod, ein Hang zum Morbiden und Phantasien über Grenzverletzungen. Dabei ist das Feuchte und Flüssige ihr Element. Immer wieder suhlt sie sich in Ausscheidungen, in Dreck, Blut und Schleim; sie zerdrückt in ihrer Hand lustvoll ein rohes Ei, steckt sich am Frühstückstisch heimlich einen Kaffelöffel in die Vagina oder schlurft mit hängendem Höschen über eine zugemüllte Wiese. „Symbole machen mir keine Angst“, schreibt Alice in ihr Tagebuch. Und genau das formuliert auch Breillat mit ihrem Film, der artifiziell, distanziert und ein wenig ironisch ist und mit seiner Bildsprache – den gedehnten Augenblicken, der gelenkten Blickführung und einer Vermischung von Traum und Realität – zugleich an der damaligen Sexfilmproduktion partizipiert; trotz seiner schwülen Atmosphäre, exemplarischer Schauplätze und prototypischer Geschlechterkonstellationen allerdings mehr an der künstlerisch verfeinerten Variante eines Walerina Borowczyk, der übrigens zuvor Charlotte Alexandra für 'Thérèse philosophe', die zweite Episode seiner „Unmoralischen Geschichten“ verpflichten konnte.

Eingangs fährt die Internatsschülerin Alice mit dem Zug in die Sommerferien zu ihren Eltern in die Landes an die südwestfranzösische Atlantikküste. Von diesen unterdrückt, von der Gesellschaft misstrauisch beäugt und den jungen Männern aufgrund ihrer Jugend zurückgewiesen, streift sie, von ihrer unerfüllten Lust getrieben, durch die Gegend. Dabei sexualisiert sie mit ihrem sinnlichen Verlangen, ausgedrückt in hungrigen Blicken und neugierigen Berührungen förmlich ihre Umwelt, was Breillat immer wieder in gezielten visuellen Schocks inszeniert. Alices „Gefühl der Beklemmung“ löst sich dabei nicht. Stattdessen ergibt sie sich Unterwerfungsphantasien, in denen ein junger, ziemlich gutaussehender Mann namens Jim (Hiram Keller) eine zentrale Rolle spielt. Mit dieser Figur skizziert Breillat zugleich die kontrastierende Freiheit männlicher Sexualität, die, so ihre These, Frauen zu hörigen, willenlosen Opfern macht. Tatsächlich kommt es schließlich zu einer körperlichen Annäherung zwischen Alice und Jim, die in letzter Konsequenz allerdings nur noch tiefer in den Kerker eines übermächtigen weiblichen Begehrens führt.

Gegenwart

(D 2012, Regie: Thomas Heise)

Asche
von Andreas Thomas

Filme von Thomas Heise sind obskur, monolithisch, möchte man sagen. Sie sind das Gegenteil von dem, was man als „an die Hand nehmend“ bezeichnen möchte. Sie zeigen sehr (!) unkommentiert …

Filme von Thomas Heise sind obskur, monolithisch, möchte man sagen. Sie sind das Gegenteil von dem, was man als „an die Hand nehmend“ bezeichnen möchte. Sie zeigen sehr (!) unkommentiert und ausführlich „Material“ (auch ein Titel eines Heise-Films), sie zeigen beinahe das, was man „Found footage“ nennen könnte, also das, was ein Regisseur irgendwie von Außenstehenden gedreht vorgefunden und verwendet hat, mit wieder anderen Worten: Heise weiß, so scheint es, manchmal selbst nicht, wo Prioritäres und Sekundäres zu finden ist im Sucher der langsam gleitenden Kamera, und trotzdem sucht er, oder hört nicht auf zu suchen und zu filmen, bzw. statuiert er, dass in dem, was er sieht aber (noch) nicht benennen kann, Aussagen stecken über irgendetwas – z.B. eine bestimmte Zeit und ihre Geschichte oder eine Vergangenheit, oder das, was von einer Vergangenheit in einer Gegenwart steckt oder über eine Zukunft in einer, vielleicht dieser und unserer Gegenwart.

Für den Film „Gegenwart“ hat Heise sich sehr streng und monogam an einen Ort gehalten, auch die Zeit der filmischen Aufzeichnungen ist, so sagt es das Presseheft – denn Kommentare gibt es nicht in Heisefilmen – eine begrenzte, eine arbeitsreiche Zeit „zwischen den Jahren“ in einem Krematorium, denn die Särge mit Inhalt stapeln sich zwischen Weihnachten und Neujahr.

Zu Beginn sieht man weiße Partikel durch die Luft fliegen. Was ist das? Asche oder Schnee oder Parabel? Sind Filme über deutsche Krematorien Filme über die untrennbare deutsche und jüdische Geschichte? Niemand hats gesagt, geschweige denn der Regisseur, der filmt, dann doch erkennbar, nur tanzenden Schnee, der zeigt nur das eingefrorene Deutschland im Winter,und danach, distanziert und wenig am Detail interessiert, die eher routinierte, kühle und sachliche Arbeit bei der „Behandlung“, der „Verarbeitung“ von menschlichen Überresten. Auch hier eher Ahnung dessen, was da getan wird, als postletale Wahrheit, wegen der Kameradistanz, aber nicht zuletzt auch wegen des Schweigens oder nur gedämpften Austausches der am Vorgang beteiligten Arbeiter.

Einer von denen, einer mit Spiegelglatze (hat der Regisseur ihm gesagt, er solle das aus dramaturgischen Gründen anziehen?) trägt ein Thor Steinar-Muscleshirt und ist auch schön martialisch tätowiert. Minutenlang dürfen wir ihm dabei zusehen, wie er sich zuerst in den Ofen zwängt, dann Schamottesteine passgenau darin einzementiert: Ist das intendiert oder Zufall? Jedenfalls muss man schon aufpassen, um die Aufschrift zu erkennen; ich sage das nur, weil der Regisseur ja mal ein distanziertes Faible für ostdeutsche Neonazis hatte … (Nur dass dieses Krematorium hier ja dann unklischeegerecht irgendwo im Rheinland ist (was nicht im Presseheft steht)). Auch hier: Nebensache, natürlich, aber wo und was ist hier in dieser Doku die Hauptsache?

Was passiert hier eigentlich? Ist es wirklich zu erkennen, ist es wirklich interessant, oder schlafe ich gleich ein, weil alles, was hier passiert, genauso aussieht, wie alles, was überall passiert, wo gearbeitet wird? Jedenfalls so, wie ich Arbeit kenne, deutsche Arbeit? Macht Heise Filme über Deutschland oder über Arbeitsprozesse oder exakt über beides?

Die Särge stapeln sich zwischen Weihnachten und Neujahr. Diese vollautomatische Hochtechnologie, das erinnert an ein bestens schnurrendes und surrendes Atomkraftwerk, jedes tausendstel Grad im Ofen will registriert, jedes künstliche Hüftgelenk will säuberlich angehäuft sein, vom Zahnprothesengold (Gold, wo bleibt das Gold?) ganz zu schweigen. Und nochmal: geschwiegen wird hier sehr konzentriert, außer einmal, als der Senior der Firma, offenbar unaufgefordert, erzählt, dass er schon seit sechzig Jahren dabei ist und da drüben sein Junior, sein Enkel weitermachen wird. Aber das scheint Thomas Heise schon zu viel des verbalen Inputs.

Irgendwie und irgendwann ('fängt für uns die Zukunft an' – Nena) haben alle Gefilmten gemerkt, dass derart Persönliches für den Regisseur nicht hierher gehört und dass der Film schweigend und kommentarlos mehr zu erzählen hat, als mit Kommentar, – obwohl wir soeben via Worte auch viel über deutsche Tradition erfahren haben.

Am Ende macht Heise dann etwas Surrealeres als etwa ein David Lynch im Vorspann von „Mulholland Drive“. Etwas, was definitiv nicht beschreibbar ist. Das muss sein notwendiger Kontrapunkt sein. Ein Karneval der toten Seelen? Eine rheinländische Art von Verdauung der Gegenwart des Todes. Oder? Allenfalls monolithisch! Bitte selber kucken und erdulden, diesen schwierigen, langwierigen und so deutschen Film!

¡NO!

(CHILE 2012, Regie: Pablo Larraín)

Wenn die Freude kommt
von Andreas Busche

Politik und Werbung geben ein hübsches Paar ab. In den westlichen Mediengesellschaften, in denen die Inszenierung der politischen Sphäre die meinungsbildenden Diskurse längst übertönt, verlaufen die Grenzen ohnehin fließend. Tagespolitik …

Politik und Werbung geben ein hübsches Paar ab. In den westlichen Mediengesellschaften, in denen die Inszenierung der politischen Sphäre die meinungsbildenden Diskurse längst übertönt, verlaufen die Grenzen ohnehin fließend.

Tagespolitik erinnert heute an eine 'scripted reality'. Die Zuschauererwartungen haben maßgeblichen Einfluss auf die Rollenverteilung – der Konsument hat schließlich ein Anrecht darauf, vom Politzirkus wenigstens noch unterhalten zu werden.

Solche Zynismen sind natürlich nur angebracht, wo die inhaltlichen Positionen bereits so ununterscheidbar geworden sind, dass sich die Polit-Darsteller allein auf performativer Ebene Distinktionsgewinn verschaffen können.

Wie sich dagegen die Werbung zur Politik verhält, wenn tatsächlich etwas auf dem Spiel steht, zeigt der chilenische Regisseur Pablo Larrain in seiner Politsatire-goes-Thriller '¡NO!'.
1988 verkündete der damals schon schwer angeschlagene Diktator Pinochet siegesgewiss ein Referendum, das erstmals eine Volksabstimmung über seine 'Präsidentschaftskandidatur' vorsah. 15 Minuten Sendezeit im staatlich kontrollierten Fernsehen wurden der Opposition als Wahlkampfmittel zur Verfügung gestellt – verbannt ins Nachtprogramm. Larrain rekonstruiert diesen sonderbaren Wahlkampf, in den sich aus der Ferne selbst Hollywood zuschaltete.

Statt die Gräueltaten des Pinochet-Regimes in den Mittelpunkt der Kampagne zu stellen, engagiert die Opposition einen erfolgreichen, jungen Werber. Gael Garcia Bernal spielt diesen Hot Shot als unbedarften Sonnyboy, der nur eine vage Vorstellung davon hat, worauf er sich einlässt. Er fabriziert den Regimegegnern einen knallbunten Wahlkampf. 'Chile, die Freude kommt!' heißt das Motto seiner Kampagne. Zu sehen sind junge, gutgelaunte Menschen. Die Vorhut des Kapitalismus.

Larrain hat '¡NO!' mit Videokameras aus den achtziger Jahren gefilmt, um die Bildästhetik an das blässliche Archivmaterial anzupassen, das im Film reichlich Verwendung findet. Es ist ein schöner Gimmick, verdichtet aber auch das zeithistorische Porträt, das Larrain mit seinen nunmehr drei Pinochet-Filmen geschaffen hat. Die Thriller-Elemente bedienen sich dcer Paranoia-Tradition eines Costa-Gavras, darüber hinaus ist '¡NO!' auch historisch bemerkenswert. Er zeigt Chile am Übergang von einem repressiven, imperialistiisch-kapitalistisch gelenkten Staat zur 'freien' Marktwirtschaft.

Dieser Text erschien zuerst in: Pony #81

Shootout – Keine Gnade

(USA 2013, Regie: Walter Hill)

Analog ist besser!
von Ulrich Kriest

Die kleine Retro-Welle bewusst altmodischer und gradlinig körperbetonter Actionfilme wie „Drive“, „Jack Reacher“ oder „Parker“ und der überraschende Erfolg augenzwinkernder Rentner-Utopien wie „The Expandables“ verhilft auch Altmeister Walter Hill zu …

Die kleine Retro-Welle bewusst altmodischer und gradlinig körperbetonter Actionfilme wie „Drive“, „Jack Reacher“ oder „Parker“ und der überraschende Erfolg augenzwinkernder Rentner-Utopien wie „The Expandables“ verhilft auch Altmeister Walter Hill zu einer überraschenden Rückkehr ins Kino. Von Hill, der seine ganz große Zeit zwischen 1978 („Driver“) und 1989 („Und wieder 48 Stunden“) hatte, war in den vergangenen Jahre nicht mehr viel zu sehen, abgesehen vielleicht von seiner Regie bei der ersten Episode der Western-Serie „Deadwood“.

Zu seinen Glanzzeiten allerdings setzte Hill Maßstäbe im Actionkino, schrieb Drehbücher für Sam Peckinpah, drehte Spätwestern wie „Long Riders“, brachte den Vietnamkrieg in die Everglades („Die letzten Amerikaner“), erfand das Buddy Movie („Nur 48 Stunden“, „Red Heat“), injizierte dem Actionfilm Elemente des Pop-Musicals mit Videoclip-Ästhetik („Straßen in Flammen“) und antizipierte das Resultat von Mickey Rourkes Schönheitsoperationen in „Johnny Handsome“.

Der zuverlässige Handwerker Hill, mittlerweile 71 Jahre alt, lieferte seinerzeit Steilvorlagen für die Karrieren von Darstellern wie Charles Bronson, Willem Dafoe, Eddie Murphy, Arnold Schwarzenegger, Nick Nolte oder Bruce Willis – da passt es wie die Faust aufs Auge, wenn er in „Shootout – Keine Gnade“ erstmals mit Action-Ikone Sylvester Stallone arbeiten konnte.

Der spielt in dieser Verfilmung eines französischen Comics mit dem schönen Titel „Du plomb dans la tete“ einen alternden Auftragskiller namens James Bonomo, genannt Jimmy Bobo. Bobo ist zwar ein mit allen Wassern gewaschener Profi, macht aber gleich zu Beginn einen Fehler, als er die Zeugin eines Mordes am Leben lässt. Für diese kleine Schwäche muss sein junger Partner mit dem Leben bezahlen – und Bobos Name steht nun auch auf der Liste eines wirklich fiesen Killers (Jason Momoa). Doch der lässt sich davon nicht beindrucken, sondern startet einen Rachefeldzug. Man kann sagen: „Shootout“ sieht aus wie ein Stallone-Film von circa 1986, nur mit einem Stallone in der Hauptrolle, der nur 4 Jahre jünger als sein Regisseur ist.

Stallone sieht mittlerweile auch so alt aus, wie er ist, nur eben mit einem aufgepumpten Oberkörper. Ziemlich lächerlich also, geht aber als Comic-Figur á la Wastl durch. Es spricht für Hills Haltung, dass er gar nicht erst versucht, dem Genre mit Innovationen zu kommen. Er verlässt sich lieber auf all die Zutaten, mit denen er auch schon Mitte der 80er Jahre Erfolg hatte.

Da ist der wortkarge Gangster Bobo mit seinem altmodischen Ehrenkodex. Da ist seine hübsche Tochter (Sarah Shadi), die ihn erpressbar macht. Da ist der alerte, junge Bulle Taylor Kwon, der zu jedem Problem erst einmal sein Smartphone befragt, während Bobo lieber wortlos und ohne großes Aufheben von der Waffe oder den Fäusten Gebrauch macht. Kurzum: der Gangster und der Bulle müssen sich wohl oder übel zusammenraufen, um einer Bande von skrupellosen Immobilienspekulanten (Christian Slater ist auch mit von der Partie!) das Handwerk zu legen, die New Orleans auch ohne Bahnhofsprojekt zu gentrifizieren versuchen.

Zum Grande Finale gönnt sich Hill ein dynamisches Axt-Duell, was direkt aus „Straßen in Flammen“ stammen könnte. Bruchlos fügt sich herrlich altmodische Rockmusik ins Bild einer knurrigen Kritik der Gegenwart im und vor dem Kino.

Renoir

(F 2012, Regie: Gilles Bourdos)

Träume und Traumata
von Wolfgang Nierlin

Die Struktur eines Bildes werde durch die Farbe bestimmt, nicht durch die Linie, sagt Pierre Auguste Renoir (Michel Bouquet) über die zunehmende Tendenz zur Vereinfachung in seinem Alterswerk. Und an …

Die Struktur eines Bildes werde durch die Farbe bestimmt, nicht durch die Linie, sagt Pierre Auguste Renoir (Michel Bouquet) über die zunehmende Tendenz zur Vereinfachung in seinem Alterswerk. Und an einer anderen Stelle von Gilles Bourdos‘ Film „Renoir“ fordert der malende Schönheitssucher und lebensbejahende Impressionist, ein Bild solle „angenehm und freundlich“ sein und das Elend der Welt aussparen. Und genau ein solches Bild voller Wärme und Licht, voller Farben und sinnlicher Lust malt der französische Regisseur mit seinem in eine sommerliche Luftigkeit und traumhafte Poesie getauchten Film. Manchmal scheint es, als ließen sich die Bilder in eine unbestimmte Richtung treiben, als folgten sie der sogenannten „Korkentheorie“ („Im Leben muss man sich treiben lassen.“) des berühmten Malers. Der Wind rauscht in den Bäumen von Renoirs großem Garten, der zu seinem Anwesen „Les Collettes“ an der Côte d’Azur gehört. Goldenes Licht beleuchtet die Szenen, die den Blick immer wieder zum Meer hin öffnen. Und die geheimnisvoll ineinander verschlungenen Farbschlieren, die der Pinsel im Wasserglas hinterlässt, sind erotisch aufgeladen.

Doch in einer feinen Unterströmung wird diese üppige Feier des Lebens melancholisch getönt. Der alte Maler, von einem ganzen Frauenstaat umsorgt, trauert um seine verstorbene Frau und den Weggang seines Lieblingsmodells Gabrielle. Er leidet unter einer schmerzhaften Arthritis und muss bei seiner Arbeit im Rollstuhl sitzen. Zwar sind die Kriegswirren des Jahres 1915 fern, doch Bourdos spart ihre Zeichen nicht aus. In geradezu surrealer Anmutung kontrastiert er immer wieder das Leichte mit dem Schweren, die unbeschwerte Schönheit mit den Narben von Kriegsversehrten. Zu diesen gehören auch Renoirs älteste Söhne Pierre und Jean (Vincent Roittier), der mit einer schlimmen Beinverletzung und auf Krücken das Anwesen seines Vaters erreicht, wo er sich erholen will. Noch ist Jean, der später ein berühmter Filmregisseur werden wird, ohne Ambitionen und rechte Perspektive; noch erscheint der Krieg (und seine Mischung aus Heldentum, Kameraderie und Resignation) wie ein gefährlich falscher Ersatz für diesen Mangel.

Die Liebe zu einer Frau, so legt es zumindest der Film nahe, wird das ändern. Andrée (Christa Théret), genannt Dédée (als Schauspielerin wird sie später unter dem Namen Catherine Hessling bekannt werden), ist „das Mädchen aus dem Nichts, geschickt von einer Toten“, wie Renoir bei der Begrüßung seines neuen Modells sagt. Er blickt auf ihre Hände und sieht dabei ihre samtige Haut, er bewundert ihre Brüste und findet im Fleisch dieser jungen Frau jene für seine Bilder so wichtige Lebendigkeit. Dédée, temperamentvoll und rothaarig, natürlich und selbstbewusst, bezaubert zunächst den alten, dann den jungen Renoir und wird damit zur Muse und Geliebten. Wie Renoir in seinen Gemälden, so feiert auch Gilles Bourdos in seinem Film auf schwelgerische Weise die Lebendigkeit der Körper und die Farben der Natur. Die Traumata der Zeit werden darin als fernes, unwirkliches Echo verschluckt. Mit seinem Helden beschwört „Renoir“ den Eskapismus der Kunst als Mittel des Überlebens: „Der Schmerz geht vorbei, die Schönheit bleibt.“

Invasion

(D / AT 2012, Regie: Dito Tsintsadze)

Die Geburt einer Nation
von Ulrich Kriest

„Kommen große Kriege Wer ist gut, wer böse Der Erlöser ist schon lange tot Neue Völker kommen Alte Völker müssen gehn“ – F.S.K., Fragen der Philosophie – Josef hat schon …

„Kommen große Kriege
Wer ist gut, wer böse
Der Erlöser ist schon lange tot
Neue Völker kommen
Alte Völker müssen gehn“

– F.S.K., Fragen der Philosophie –

Josef hat schon bessere Zeiten gesehen. Mit Mitte 60 steht er alleine da: Sohn tot, Frau tot, riesige Villa an der Backe. Ihm bleibt als Trost nur der tägliche Besuch auf dem Friedhof. Dort begegnet ihm eines Tages eine Frau, die sich als Cousine seiner verstorbenen Frau vorstellt und Josef sehr freundlich begegnet. Josef erinnert sich nicht. Bei der nächsten Begegnung hat Nina, so der Name, ihren erwachsenen Sohn Simon dabei, der wiederum seine Frau Milena und deren Sohn Marco einführt. Es ist eine bunte, muntere Truppe, die sich allmählich in Josefs Villa einfindet und schließlich auch dort einzieht.

Josef, dem sichtlich sein Élan vital abhanden gekommen ist, ist ein guter Gastgeber, weil ihm die Vitalität seiner Gäste gut tut. Fast schon aufreizend symbolisch nimmt man das angegammelte Schwimmbad der Villa mit „Hallo“ wieder in Betrieb. Schließlich taucht auch noch Ninas Lebensgefährte Konstantin auf, ein Anwalt für Menschenrechte, der in der Villa sein Büro eröffnet, was noch ein paar mysteriöse Figuren aufs Gelände spült. Man feiert ausgelassene Feste, trinkt Wodka, hat Sex, meint Balkan-Beats zu hören. Lebensfreude galore, doch dann stellen sich erste Irritationen ein.

Allmählich wird Josef alles etwas zu viel, doch die »Invasoren« sind von ausgesuchter Höflichkeit. Als Josef seine Gäste schließlich auffordert, wieder abzuziehen, lautet die überraschende Antwort: „Endlich bist du soweit! Du musst dich verteidigen, sonst gehst du mitsamt deiner Kultur unter!“ Ein Erziehungsroman? Plötzlich kippt die buntscheckige Multi-Kulti-Komödie ins Parabolische: dachte man bislang noch, dass Josef heimlich, still und leise okkupiert wird, so erwacht jetzt recht unvermittelt sein Widerstandsgeist! Josef nimmt den Kampf auf und macht am Ende seinen Schnitt, der den zentralen Konflikt des Films in anderem Licht erscheinen lässt.

Dito Tsintsadze („Lost Killers“, „Schussangst“, „Der Mann von der Botschaft“), ohnehin ein Meister des Ungefähren und produktiv Offenen, gelingt eine erstaunliche Gratwanderung zwischen Realismus und Parabel: der Zuschauer mag sich selbst entscheiden, ob er es lieber als subtiles Kammerspiel oder als abstrakten Kulturkampf hat. Am Schluss taugt die titelgebende Invasion leider nur zum vitalen, aber letztlich hilflosen Opfer des kapitalistischen Vampirismus. Der Osten muckt kurz auf, fordert heraus, spielt mit Klischees, liefert Stichworte und doch letztlich, wenn es drauf ankommt, nur frisches Blut für eine nur scheinbar sterbende Klasse. Formuliert von einem aus Georgien stammenden Regisseur ist das ein ziemlich starkes Stück. Ob es nun selbstreflexiv oder bloß selbstmitleidig ist, lassen wir jetzt einmal offen.

Paradies: Glaube

(D / F / AT 2012, Regie: Ulrich Seidl)

Glaubenskrieg
von Wolfgang Nierlin

Eine Frau entblößt ihren Oberkörper, kniet in Anbetung nieder vor einem Kruzifix und geißelt sich mit einer Peitsche. Sie versteht dies als Opfer zur Vergebung der Sünden, zu deren schändlichsten …

Eine Frau entblößt ihren Oberkörper, kniet in Anbetung nieder vor einem Kruzifix und geißelt sich mit einer Peitsche. Sie versteht dies als Opfer zur Vergebung der Sünden, zu deren schändlichsten in ihren Augen die „sexuelle Besessenheit“ der Menschen zählt. „Sexuelle Verwilderung zerstört“, lautet einer der Sprüche an der Plakatwand ihres Schlafzimmers. Dieser korrespondiert wiederum mit einem schockierenden Erlebnis, das ihr widerfährt, als sie eines Abends auf ihrem Nachhauseweg durch einen Park Zeugin einer Orgie wird. Manchmal geht sie für ihr „tägliches Opfer“ auf Knien durch die Wohnung und trägt dabei einen Büßergürtel. Ihre Sommerferien nutzt die medizinisch-technische Angestellte, um in Wiener Problembezirken Einwanderer und sozial Schwache zu bekehren oder ihnen zum Schutz für eine gewisse Zeit eine sogenannte „Wandermuttergottes“ zu überlassen. Anna Maria (Maria Hofstätter) ist eine tiefreligiöse Katholikin, die sich zusammen mit ihren Glaubensbrüdern und –schwestern von der „Legio Herz Jesu“ als „Speerspitze des Glaubens“ und als „Sturmtruppe der Kirche“ versteht.

Ulrich Seidl zeigt in seinem Film „Paradies: Glaube“, dem zweiten Teil seiner Paradies-Trilogie, mit ebenso nüchternem wie genauem Blick diese radikale Glaubenspraxis als eine Art parallele Welt, die je nach Betrachterstandpunkt absurde, komische, ernste oder auch grausame Züge trägt. Mit seinem halbdokumentarischen Stil, der die schauspielerische Improvisation in authentischen Settings mit präzisen Bildkompositionen verbindet, thematisiert Seidl die existentiellen Widersprüche seiner Hauptfigur. So erscheint Annas sorgsam geregelter Alltag inmitten von Ordnung und Sauberkeit relativ freudlos. Gegenüber den emotionalen und sexuellen Bedürfnissen ihres querschnittsgelähmten Ehemannes Nabil (Nabil Saleh), der eines Tages unerwartet wieder bei ihr einzieht, zeigt sie sich kalt und hartherzig, während sie andererseits ein geradezu erotisches Verhältnis zu ihrem geliebten und verehrten Jesus-Bild unterhält.

„Die Erde ist schön, es liebt sie der Herr“, singt Anna und begleitet sich dazu auf ihrer Heimorgel. Wenn später, in einer der vielen intensiven Szenen des Films, der Versuch, eine Alkoholikerin zu bekehren, in wüsten Handgreiflichkeiten kulminiert, wird nicht nur dieser Satz, sondern auch Annas Tun ad absurdum geführt. Ihre Bemühungen und Opfer erscheinen mitunter nicht nur sinnlos, sondern auch fragwürdig. Besonders ihre glaubenskriegerischen Kämpfe mit ihrem moslemischen Ehemann, von Seidl mit verstörender Direktheit und teils schwer erträglicher, insistierender Deutlichkeit inszeniert, münden zunehmend in Intoleranz, offener Feindschaft und quälendem Hass. Für den Österreicher Ulrich Seidl, der in seinem Film „Paradies: Glaube“ eine schwierige ästhetische Gratwanderung zwischen einer teils brutal rückhaltlosen Darstellung und einem teils ausgestellt erscheinenden Elend unternimmt, ist dies die Kehrseite von einem ungestillten Bedürfnis nach Liebe und von unterdrückter Sexualität. Und er hält für diesen Mangel kaum Hoffnung bereit. Vielmehr endet sein Film mit dem Abspannlied im nihilistischen Zweifel, wenn es darin im Sinne der Vanitas um die „Nichtigkeit des Menschenlebens“ und die „Flüchtigkeit der Menschenschönheit“ geht.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Les Misérables

(GB 2012, Regie: Tom Hooper)

Inbrunst ohne Samtvorhang
von Carsten Happe

Das Musical gehört seit geraumer Zeit zu den totgesagten Genres, ähnlich dem Western, und doch erfreut es sich, wann immer ein Lebenszeichen an die Öffentlichkeit dringt, durchaus bester Gesundheit, sei …

Das Musical gehört seit geraumer Zeit zu den totgesagten Genres, ähnlich dem Western, und doch erfreut es sich, wann immer ein Lebenszeichen an die Öffentlichkeit dringt, durchaus bester Gesundheit, sei es in seiner klassischen Ausprägung oder in postmodernen, ironischen Formen. Ganz gleich ob „Moulin Rouge“ oder die konservativeren Adaptionen der Andrew Lloyd Webber-Schmachtfetzen „Evita“ oder „Das Phantom der Oper“ – die Filme überzeugten durch ihre hemmungslose Opulenz, die weder vor Kitsch noch Camp zurückschreckte, und die uneingeschränkte Emotionalität der Darstellungen wie auch der Inszenierung. Kurz gesagt: es geht bestenfalls in die Vollen, Pomp and Circumstance, Kostüme, Ausstattung, das ganze Programm.

Bei der Oscar-Verleihung 2011 wurden wir unbewusst Zeuge eines Vorsingens für die lange geplante, immer wieder verschobene Filmadaption des unerhört erfolgreichen Bühnenmusicals „Les Misérables“, als Moderatorin Anne Hathaway ihren Vorgänger Hugh Jackman mit einer parodistischen Version des Stücks „On My Own“ ansang, als der ihre Duettbemühungen schnöde zurückwies. Knapp zwei Jahre später singen und leiden sie schließlich gemeinsam auf der Leinwand und ihre Performances trugen sie auch in diesem Jahr erneut zu den Oscars.

Nachdem in den Achtzigern und Neunzigern bereits Alan Parker und Bruce Beresford für die Verfilmung ins Spiel gebracht wurden, oblag es schließlich Tom Hooper, Regisseur des leidlich überschätzten „The King’s Speech“, die barocke Pracht der Drei-Stunden-Bühnenshow auf die Leinwand zu hieven, und man kann ihm kaum vorwerfen, sich zurückgehalten zu haben. Die Kamera fliegt durch die pompösen Sets, als seien es die Berge von Mittelerde, der Sound dröhnt und tost, als ob er Gefahr liefe, zur zweiten Geige verdonnert zu werden. Diese Befürchtung ist natürlich vollkommen unbegründet, dominieren doch die Songs und Orchestrierungen das Geschehen über die kompletten zweieinhalb Stunden. Alle Darsteller haben nicht nur höchstselbst, sondern auch live am Set gesungen, wie die Produktion nicht ohne Stolz betont. Es wird nicht endgültig zu klären sein, aber vielleicht hat dieser Umstand letztlich auch Anne Hathaway zu ihrer Darbietung beflügelt, die in einer steinerweichenden Version des bitteren Lebensbilanz-Songs „I Dreamed a Dream“ gipfelt, dem uneingeschränkten Herzstück des Films und deutlichsten Empfehlungsschreiben dieser Oscar-Saison. Aber auch Russell Crowe, die ABBA-erprobte Amanda Seyfried und eben Hugh Jackman sind gut bei Stimme und leidenschaftlich bei der Sache – der leicht verstaubte Begriff der Inbrunst drängt sich mehrfach ins Bewusstsein.

Das Elend der literarischen Vorlage von Victor Hugo ist zwar zur pittoresken Pose verkommen und galoppiert schließlich eher als Behauptung durch die akkurat drapierten Szenenbilder, aber die Verve der atemlosen Inszenierung schwemmt selbst ein paar unsaubere Schnitte, lose Enden und Leerstellen in der Dramaturgie mühelos beiseite. Am Ende ist man erschöpft von den überlebensgroßen Gefühlen, von der Wucht und Zartheit der Melodien, vom Geist der Revolution und der Tragik der Figuren. Und es fehlt letztlich lediglich der schwere Samtvorhang, der über das finale Bild sanft zu Boden fällt, statt der schnöden, schlichten Abspanntitel.

Willkommen in der Bretagne

(F 2012, Regie: Marie-Castille Mention-Schaars )

'Positiver Realismus'
von Wolfgang Nierlin

Wenn man den Trailer zu diesem Film gesehen hat, dann weiß man schon ungefähr, was einen in Marie-Castille Mention-Schaars Komödie „Willkommen in der Bretagne“ („Bowling“) erwartet: Harmlose Witze über die …

Wenn man den Trailer zu diesem Film gesehen hat, dann weiß man schon ungefähr, was einen in Marie-Castille Mention-Schaars Komödie „Willkommen in der Bretagne“ („Bowling“) erwartet: Harmlose Witze über die Mentalitätsunterschiede zwischen Städtern und Provinzbewohnern, eine Menge Lokalpatriotismus („Die Bretagne – Man liebt sie oder nicht“) und vor allem ein geradezu hymnisches Loblied auf Freundschaft und Solidarität. „Willkommen in der Bretagne“ ist ein routiniertes Feelgoodmovie aus der Retorte, das ziemlich souverän erfüllt, was es sein will und deshalb langweilt. Mit erzählerischen Versatzstücken, einer holzschnittartigen Dramaturgie, genretauglichen Klischees und plakativen Handlungsmustern unterhält der Film sein geneigtes Publikum ebenso schwungvoll wie rundum verträglich. Weil dabei zugleich gesellschaftliche Missstände mit kämpferischer Hoffnung besiegt werden, charakterisiert die Regisseurin ihre Arbeit als „positiven Realismus“.

Ums Siegen geht es vor allem und gleich mehrfach. Während die nach wahren Begebenheiten inszenierte Haupthandlung den Arbeitskampf um den Erhalt einer Entbindungsstation in der bretonischen Kleinstadt Carhaix beschreibt, formieren sich zwischen den Fronten und über sie hinweg Freundschaft, Widerstand und Solidarität. So soll die aus Paris angereiste Personalmanagerin Catherine Lefèvre (Catherine Frot) die „Schwachstellen“ im System des Provinzkrankenhauses „korrigieren“. Dass sie dabei ausgerechnet die Entbindungsstation ins Visier nehmen muss, verleiht dem Plot eine leicht tragische Note. Denn zum einen sind die von Mathilde (Mathilde Seigner) und Firmine (Firmine Richard) angeführten Hebammen mit Herz und Seele bei der Arbeit; zum anderen bilden sie zusammen mit Catherine und der jungen Louise (Laurence Arné) über anfängliche Animositäten und Vorurteile hinweg bald ein erfolgreiches Bowling-Team.

Gekämpft wird aber nicht nur an politischen und sportlichen Fronten (zu denen auch eine Fahrprüfung mit einem wunderbar nerdigen Prüfer zählt), sondern natürlich auch im Privaten. Um Vertiefung geht es in diesen eher trivialen Streiflichtern auf familiäre Wunden und zeitweise angespannte Beziehungen aber nicht. Schließlich ist Mention-Schaars Unterhaltungsfilm auf „eine schöne und wahre Geschichte“ abonniert. Einer der ersten und zugleich letzten Sätze des Films lautet deshalb auch: „Jetzt hilft uns nur noch ein Wunder!“ Und man kann bei dieser warmherzigen Komödie aus dem Herzen der Bretagne sicher sein, dass dieses Wunder am Ende geschieht.

Django Unchained

(USA 2012, Regie: Quentin Tarantino)

Romantischer Rachefeldzug
von Andreas Busche

„Die Sklaverei war kein Sergio-Leone-Western“, kommentierte Spike Lee vor Weihnachten Quentin Tarantinos ambitionierte Italowestern-Hommage „Django Unchained“. Lees Bemerkung sorgte kurzzeitig für Irritation (von Tarantino noch überboten mit einer Sammleredition von …

„Die Sklaverei war kein Sergio-Leone-Western“, kommentierte Spike Lee vor Weihnachten Quentin Tarantinos ambitionierte Italowestern-Hommage „Django Unchained“. Lees Bemerkung sorgte kurzzeitig für Irritation (von Tarantino noch überboten mit einer Sammleredition von Django-Actionfiguren), wärmte aber nur eine Debatte auf, die schon im November Teile der kritischen US-Öffentlichkeit beschäftigt hatte. Anlass war damals Steven Spielbergs geschmackvolles Präsidentenporträt „Lincoln“, das die Kritik äußerst wohlwollend aufnahm, obwohl der Regisseur es nach „Amistad“ (1997) zum zweiten Mal geschafft hat, einen „historischen“ Film über die Sklaverei ohne ein einziges Bild der Unterdrückung – geschweige denn von einer Plantage – zu drehen. Ein sehr ziviler Film also über ein ganz und gar unzivilisiertes Thema. Spielberg delegiert wie schon mit „Amistad“ den Tatbestand der Sklaverei einfach in die Verantwortlichkeit der Justiz – als hinge der Seelenfrieden des amerikanischen Volkes ernsthaft von einem Verfassungsartikel ab. Dass in „Lincoln“ kein Afro-Amerikaner, außer als Sklave oder Soldat, zu Wort kommt, unterstreicht nur die Beschränktheit von Spielbergs Geschichtsbild. Es dominiert das Palaver alter weißer Männer.

Geschwafel kann man Tarantino nicht vorwerfen, schon dafür gebührt ihm Respekt. Sein Django ist genrebedingt ein Mann weniger Worte und grober Taten. Man kann eigentlich auch nichts Verwerfliches daran finden, dass ein ehemaliger Sklave durch den amerikanischen Süden reitet und Rassisten killt. Was die Moral betrifft … – damit hat es der Italowestern, auf den Tarantino sich bezieht (Teile des Soundtracks stammen von Ennio Morricone und Original-Django Franco Nero hat einen markanten Kurzauftritt), nie so gehabt. Doch die Politik des Genres hatte – hier irrt Lee – auf eine verwirrte Weise schon immer progressive Züge. Die Nischenökonomie des europäischen Exploitationkinos war in den Sechzigern und Siebzigern ein Quell radikaler gesellschaftlicher Ansichten. Der Italowestern mischte ganz vorne mit und stellte subalterne Herrschaftsverhältnisse auf den Kopf. Zapata-Western wie Damiano Damianis „Töte Amigo“, Giulio Petronis „Tepepa“ und Sergio Leones „Todesmelodie“ sind auch heute noch kluge Revolutionsfilme.

Es war „Django“-Regisseur Sergio Corbucci, der in „Navajo Kid“ einen Uramerikaner ein Massaker an seinem Stamm blutig rächen ließ. Und in „Django“ durfte Franco Nero den Ku-Klux-Klan mit einem Maschinengewehr niedermähen. Corbucci war ein harter Knochen – wer es nicht glaubt, sehe sich die Schlussszene von „Leichen pflastern seinen Weg“ an, in der der stumme Held im Schneematsch verblutet und die Bösen plündernd und vergewaltigend weiterziehen. Kein Wunder, dass sich Tarantino eher Corbucci als Leone verbunden fühlt. Ihre Filme haben ein Gewissen, aber zeigen keine Skrupel.

Tarantino hat wenig Interesse an wohltemperiertem, akkuratem Historienkino, soviel ist seit „Inglourious Basterds“ klar. Er zeigt, wie ein Sklave von einer Meute Hunde zerfleischt wird – halb im Off, in kurzen Einstellungen, bis die suggerierte Brutalität und die Schreie unerträglich werden. Nur Django guckt hin. „Ich habe lange genug unter Amerikanern gelebt.“

Tarantinos Filme beruhen auf einer anderen Geschichtlichkeit, der des Exploitationkinos, das immer an der Peripherie existierte. Darum kann er sich mit „Django Unchained“ einem vermeintlich politisch korrekten Historienkino (à la „Lincoln“) überlegen fühlen. Der Plot um einen ehemaligen Sklaven (Jamie Foxx), der als Partner eines weißen Kopfgeldjägers (Christoph Waltz) anheuert, um seine Frau aus den Händen eines sadistischen Plantagenbesitzers (Leonardo DiCaprio) zu befreien, ist eine zwingende Italowesternidee, die auch Tarantinos Liebe zum Blaxploitationkino entgegenkommt. HipHop-Stücke, Foxx‘ Sonnenbrille, sein ätzend blaues Landadel-Outfit, das geradezu „Pimp“ schreit – Tarantino versichert sich durch den Rückgriff auf unterschiedliche kulturelle Codes (Djangos Frau hört auf den schönen Metanamen Broomhilda von Shaft) der Überzeitigkeit. Die „blackness“ ist auf ein Publikum zugeschnitten, dem man, wie ein Kollege treffend bemerkte, erst erklären muss, dass das Jahr 1858, in dem der Film spielt, vor dem amerikanischen Bürgerkrieg war.

Vor dem Hintergrund dieser Überzeitigkeit wird die inflationäre Verwendung des (historisch korrekten) Wortes „Nigger“ tatsächlich etwas problematisch. Bei Tarantino klingt das N-Wort automatisch mehr nach Gangster Rap denn nach Mark Twain. Aber Spike Lee übertreibt: Sklaverei ist in „Django Unchained“ kein Insiderwitz unter Filmnerds, allein schon, weil Tarantino ästhetisch in zwei unterschiedlichen Gewaltmodi operiert. Die Gewalt gegen Sklaven weidet er nicht spekulativ aus, sie ist unmittelbar und schockierend – im Gegensatz zu Schießereien mit Rednecks und Plantagenbesitzern, bei denen ansehnliche Blutfontänen spritzen. Die B-Movie-Idee von Mandingo-Kämpfen, Gladiatorenwettkämpfen unter Sklaven, fungiert lediglich als drastische Metapher für die Unmenschlichkeit des Plantagensystems. Eine US-Kritikerin bemängelte diesbezüglich, dass es Tarantinos Film an Solidarität mangele. Aber das zentrale Filmmotiv ist ein romantisches (Django als Siegfried), kein sozialrevolutionäres. So weit geht Tarantinos Liebe zum Italowestern dann doch nicht.

Es gibt aber Momente, in denen Tarantino andeutet, daß er auch Erhellendes über die amerikanischen Herrschaftsverhältnisse zu sagen hätte. Einmal hält DiCaprio am Beispiel eines Totenschädels einen sinistren Monolog über das Wesen der Unterwürfigkeit. In einer anderen Szene dreht Samuel L. Jackson als sein Lakai (eine faszinierend undurchsichtige Figur, die ein eigenes B-Movie verdient hätte) kurzerhand die Machtverhältnisse um, wenn er mit Whiskeyglas im Sessel seines Herrn Platz nimmt und diesen belehrt. Am Ende jedoch ergötzt sich Tarantino vor allem an seinen Rachephantasien. Dass nach „Inglourious Basterds“ ausgerechnet ein Deutscher den Sklaven mit den Werkzeugen der Aufklärung aus seiner Unmündigkeit befreit – Waltz spielt den Aufklärer mit denselben Manierismen wie den Nazi -, ist wiederum eine Ironie, die eines Quentin Tarantino würdig ist.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 02/2013

The Master

(USA 2012, Regie: Paul Thomas Anderson)

Vom Aussterben bedroht
von Andreas Busche

Vielleicht muss man zunächst zwei Schritte zurücktreten, um das Gesamtbild zu betrachten. Für manche Filme und Filmemacher arbeitet bekanntlich die Zeit. Und um eine historische Perspektive geht es Paul Thomas …

Vielleicht muss man zunächst zwei Schritte zurücktreten, um das Gesamtbild zu betrachten. Für manche Filme und Filmemacher arbeitet bekanntlich die Zeit. Und um eine historische Perspektive geht es Paul Thomas Anderson mit „The Master“ definitiv, womit er sich nach dem preisgekrönten Öldrama „There will be Blood“ wohl endgültig von den kaleidoskopischen Vorstadterzählungen aus „Boogie Nights“ oder „Magnolia“ verabschiedet hat. „The Master“, Andersons lang angekündigter „Scientology-Film“, schwelgt in großen Momenten wie ein klassisches Hollywood-Epos. Erinnerungen an eine vergangene Kino-Ära. Der Film will keinen Moment verhehlen, dass er einer sterbenden Spezies angehört. Irritierend daran ist nur, wie kraftlos und taub sich die Nostalgie anfühlt, die Anderson mit viel technischem Aufwand und Liebe zum Detail heraufbeschwört.

Diese Benommenheit beschreibt auch die mentale Kondition von Freddie Quell (Joaquin Phoenix). Freddie ist wie viele andere junge Amerikaner aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrt – entlassen in eine Gesellschaft, die noch damit beschäftigt ist, die Produktivkräfte des Krieges in ein neues Wirtschaftswunder umzumünzen. Doch der traumatisierte Freddie fühlt sich in dieses neue Amerika nicht mehr integrierbar – ein Drifter ohne Ziel. So landet er eines Nachts auf der Yacht von Lancaster Dodd (Philip Seymour Hoffman). Dodd hat gerade eine Bewegung namens “Die Sache” ins Leben gerufen, die über ein Produkt verfügt, das dem neuen Amerika für seine Reise in eine prosperierende Zukunft noch fehlt: Selbsterkenntnis. Verabreicht in Form eines kruden Glaubensbekenntnisses aus New Age-Spinnereien, Westentaschenpsychologie, philosophischen Versatzstücken und obskurer Science-Fiction. Er nimmt Freddie unter seine Fittiche, will ihn zum Modellsoldaten seiner “Sache” erziehen. Doch der will und kann sich nicht mehr einfügen.

Diese überschaubare Geschichte erzählt Anderson mit verschwenderischer Grandezza. Da segelt ein weißes Schiff unter der Golden Gate Bridge in den Sonnenuntergang und es werden noch einmal die alten Kameraobjektive entstaubt, um die Gesichter von Hoffman und Phoenix in extremen Close-Ups wie archaische Widescreen-Landschaften in Szene zu setzen. Jede Einstellung ist für die Ewigkeit, nur verweigert sich Anderson – wie Freddie – jeder Vereinnahmung. Dodd ist kein Ron L. Hubbard, “The Master” kein Film über Scientologie – eher über die gesellschaftlichen Umstände, die eine Organisation wie Scientology ermöglichten. Und er endet als trippiges Resozialisierungsdrama mit den Produktionsmitteln eines “Lawrence von Arabien”. Man wundert sich über die erratische Großzügigkeit, mit der Anderson Gelegenheiten verschenkt. “The Master” ist ein Meisterwerk als formale Behauptung.

Die Nacht der Giraffe

(ID / HK / D 2012, Regie: Edwin)

Auswilderung
von Wolfgang Nierlin

Allein und auf der Suche nach dem Vater streift ein kleines Mädchen mit tapsenden Schritten durch einen wundersamen Wald. Durch eine üppige, sattgrüne Vegetation aus tropischen Gewächsen, aus Gräsern, Sträuchern …

Allein und auf der Suche nach dem Vater streift ein kleines Mädchen mit tapsenden Schritten durch einen wundersamen Wald. Durch eine üppige, sattgrüne Vegetation aus tropischen Gewächsen, aus Gräsern, Sträuchern und Blattwerk führt der Weg. Die Luft ist feucht, warm und von exotischen Lauten erfüllt, in die sich von fern das Murmeln eines Baches mischt. Eine träumerische Ruhe und zauberhafte Gemächlichkeit evozieren diese ersten Bilder von Edwins Film „Die Nacht der Giraffe“, in denen der indonesische Filmemacher eine paradiesisch anmutende Gegenwelt beschwört. Entspannt und konfliktfrei, in schweifenden Bewegungen und ohne bestimmte Richtung erkundet Edwin diesen verwunschenen Ort, der zugleich Asyl und Heimat ist. Der Ragunan-Zoo von Jakarta strahlt diesbezüglich eine ungewöhnliche Durchlässigkeit und Harmonie aus. Nachts sitzen Obdachlose zusammen am Lagerfeuer; die Tiere erscheinen in ihrer Gefangenschaft besänftigt und relativ „frei“; und das kleine Mädchen findet ein neues Zuhause.

Dann ist Lana (Ladya Cheryl) eine erwachsene junge Frau, die als Pflegerin und Zooführerin arbeitet und in eine große Tier- und Menschenfamilie integriert ist. Immer wieder behaupten wissenschaftliche Inserts über das Verhalten der Arten eine prinzipielle Nähe von Mensch und Tier. Diese strukturieren zugleich die Handlung, indem sie Lanas Entwicklungsgeschichte als eine „éducation sentimentale“ verschlüsseln. An deren Anfang steht Lanas Freundschaft zu der Giraffe Jera und die Sehnsucht nach Berührung. Später wird sie für die Liebe zu einem mysteriösen Cowboy (Nicholas Saputra), einem schweigsamen Zauberer, der mit dem Feuer spielt und allerlei Tricks beherrscht, den Zoo verlassen. Als dieser sich in einer spektakulären Performance sprichwörtlich in Rauch auflöst, folgt auf Lanas „Auswilderung“ die „Umsiedlung“. Dabei landet sie im „Club Planet Spa“, einem Studio für erotische Massagen.

Hier ist es fast wie im Zoo, wenn es um ein entspanntes körperliches Wohlbefinden geht. Lana massiert, pflegt und streichelt fremde Männerkörper und sehnt sich zugleich nach ihrer Giraffe. Einmal schlüpft sie in ein Leopardenkostüm und wird dadurch zu einem erotischen Fetisch, einem verführerischen Tier. „Wenn das Gefühl der Sehnsucht ein Ort wäre, wäre es der Zoo“, sagt Edwin. Verspielt und undramatisch, unter weitgehender Vermeidung äußerer (auch gesellschaftlicher) Konflikte und dabei auf traumwandlerische Weise schwebend spürt er einem Verlorenheitsgefühl nach, das ein existentiell grundsätzliches ist und vielleicht deshalb so merkwürdig unbestimmt bleiben muss: zwischen Dableiben und Weggehen, zwischen Aufbruch und Rückkehr.

Die Jagd

(DK 2012, Regie: Thomas Vinterberg)

Vom Rufmord bis zur Selbstjustiz
von Carsten Happe

Zugegeben, Mads Mikkelsen dreht schon eine Menge Schrott. Für jeden „Casino Royale“ ein „Walhalla Rising“, für jeden „Nach der Hochzeit“ ein „The Necessary Death of Charlie Countryman“, der sich unerklärlicherweise …

Zugegeben, Mads Mikkelsen dreht schon eine Menge Schrott. Für jeden „Casino Royale“ ein „Walhalla Rising“, für jeden „Nach der Hochzeit“ ein „The Necessary Death of Charlie Countryman“, der sich unerklärlicherweise auch noch in den diesjährigen Wettbewerb der Berlinale schmuggeln konnte, statt leise und unbemerkt als Download zu verglühen. Dass er dennoch zwischendurch ein richtig guter Darsteller sein kann, der offenbar vor allem die entsprechende Schauspielführung braucht, zeigt Mikkelsen nun in Thomas Vinterbergs „Die Jagd“, für die er zwar überraschend, aber kaum unverdient im vergangenen Jahr in Cannes als bester Darsteller prämiert wurde.

Es ist allerdings auch eine dankbare Rolle, ein fast an Hitchcock erinnerndes Konzept des „wrong man“, des unschuldig Beschuldigten, der fortan gejagt wird. Nur dass hier die Prämisse keinen Thriller folgen lassen kann, sondern ein erschütterndes Drama, wie sich aus einer kleinen, unbedachten Äußerung, in der die Worte „Schwanz“ und „hart“ vorkommen, ein Mob formiert, der von Rufmord bis Selbstjustiz vor nichts, erst recht nicht der Wahrheit, Halt macht. Die ominösen Worte entstammen dem Mund der fünfjährigen Klara, der Tochter des besten Freundes von Lucas, dem allseits geschätzten Kindergärtner. Und sie bringen eine Lawine ins Rollen, die den besonnenen Familienvater in den Abgrund zu reißen droht, zumal die heile Fassade durch seine Scheidung bereits Risse bekommen hat. Indizien werden zu Beweisen, Vermutungen zu Tatsachen – Thomas Vinterberg zieht alle Register einer selbstgerechten moralischen Entrüstung, die sich allzu schnell verselbständigt und schließlich nur noch Verwüstungen hinterlässt. Dabei ist weniger die Frage virulent, ob Lucas wirklich pädophil sein könnte, sondern vielmehr erschreckend – eben weil es so plausibel entwickelt wird –, wie machtlos die Vernunft vor der (Vor-)Verurteilung kapitulieren muss.

„Die Jagd“ verzichtet auf jeden angestrengten Symbolismus oder ähnliche Mätzchen und vertraut ganz auf die Wucht ihrer Geschichte und die Präsenz ihres – endlich wieder einmal – phänomenalen Hauptdarstellers Mads Mikkelsen. Zweifellos der eindringlichste Film des Dogma-Mitbegründers Thomas Vinterberg seit dessen Urknall mit „Das Fest“ vor mittlerweile fünfzehn Jahren.

Der Hypnotiseur

(S 2012, Regie: Lasse Hallström)

Versatzstücke
von Wolfgang Nierlin

Der Film nähert sich seinem Sujet aus der Vogelperspektive und etabliert damit einen stimmungsvollen, visuell eindringlichen Rahmen. Im Cinemascope-Bild erstreckt sich eine schneebedeckte Stadtlandschaft, durchzogen von Rauchschleiern, bis zum Horizont. …

Der Film nähert sich seinem Sujet aus der Vogelperspektive und etabliert damit einen stimmungsvollen, visuell eindringlichen Rahmen. Im Cinemascope-Bild erstreckt sich eine schneebedeckte Stadtlandschaft, durchzogen von Rauchschleiern, bis zum Horizont. Das Dämmerlicht einer kalten, klaren Wintersonne lässt Stockholm als erstarrte, unbelebte Eiswüste erscheinen. Fremd und abweisend, geheimnisvoll und verloren ist diese Welt, ja geradezu in Schlaf und Vergessen versunken. Bis im Wechsel zur Nahaufnahme eine schnelle, kurze Montage aus Messerstichen und Blut diese trügerische Ruhe aufschreckt und den unvermittelten Auftakt zu einer brutalen Mordserie setzt. Inszeniert ist das als zeichenhaftes Genreversatzstück und als kriminalistische Beschwörungsformel fern der Realität, die im weiteren Verlauf der Geschichte trotzdem immer wieder das Erzählen stabilisieren soll, das insofern zweigleisig verfährt. Weil sich der Score der Eröffnungssequenz nahtlos auch über die Bilder der Bluttat legt, erscheint diese unbeabsichtigt als etwas Beiläufiges, fast Nebensächliches.

In Lasse Hallströms Literaturverfilmung „Der Hypnotiseur“ ist der Rahmen tatsächlich eindrucksvoller als der Inhalt. Und auch auf inhaltlicher Ebene muss man die Aufklärung der Morde eher als erzählerisches Vehikel für die Bearbeitung einer krisenhaften Ehe- und Familiengeschichte verstehen. Die Familie steht dann allerdings gleich in mehrfacher Hinsicht im Zentrum des Interesses. Um die Hintergründe des Verbrechens und den Täter zu ermitteln, nimmt Kommissar Joona Linna (Tobias Zilliacus), eine etwas blasse Figur, die zudem ziemlich viele Klischees polizeilicher Arbeit erfüllen muss, Kontakt auf zu dem umstrittenen Arzt und Traumatologen Erik Bark (Mikael Persbrandt). Dieser soll mit dem Mittel der Hypnose einen Jungen befragen, der seit der schrecklichen Ermordung seiner Eltern und einer jüngeren Schwester im Koma liegt. Als Eriks Sohn Benjamin kurze Zeit später unter mysteriösen Umständen entführt wird, entwickelt sich der Film unter überraschenden Wendungen und mäßiger Spannung einerseits zum Psychothriller.

Andererseits skizziert Hallström in einem etwas realistischeren Modus durch die Einführung seines Titelhelden das Bild einer in Auflösung begriffenen Ehe. Die Malerin Simone (Lena Olin) hat das Vertrauen in ihren Mann verloren, seit dieser sie mit einer Kollegin betrogen hat. Außerdem steckt Erik in einer beruflichen Krise und schluckt, von Schuldgefühlen verfolgt, starke Schlafmittel. Wie ein nur Halbwacher aus einer Zwischenwelt geht diese Figur durch den Film. Als eine Art somnambuler Traumdeuter wird Erik in mehrfacher Hinsicht zwischen Bewusstem und Unbewusstem vermitteln und schlafende Erinnerungen wecken. Dieser Durchbruch dient sowohl der Lösung des Kriminalfalles als auch der Wiederherstellung des familiären Status quo. Lasse Hallström erzählt das routiniert, durchaus nicht vorhersehbar, aber auch nicht immer stringent und schlüssig. Vor allem aber entschärft und vertreibt er mit einem allzu forcierten Happyend die Dunkelheit einer abgründigen Parallelgeschichte, die von einer verstörend krankhaften Mutterliebe handelt.

Quellen des Lebens

(D 2012, Regie: Oskar Roehler)

Wie man dank Kansas wurde, was man ist
von Ulrich Kriest

„There is no place like home.“ aus: „The Wizard of Oz“ (1939) Kriegsheimkehrer-Drama, Wirtschaftswunder-Burleske, Schriftsteller-Bohème im Zeichen des Existentialismus, antiautoritäre Revolte, Post-Hippie-Adoleszenz, Deutscher Herbst – das wären wohl die Stationen …

„There is no place like home.“
aus: „The Wizard of Oz“ (1939)

Kriegsheimkehrer-Drama, Wirtschaftswunder-Burleske, Schriftsteller-Bohème im Zeichen des Existentialismus, antiautoritäre Revolte, Post-Hippie-Adoleszenz, Deutscher Herbst – das wären wohl die Stationen der Familienchronik, die Oskar Roehler mit „Quellen des Lebens“ vorlegt. Hat man natürlich schon ein paar Dutzend Male gesehen. Aber wie sieht die westdeutsche Geschichte aus, wenn man Fassbinder zwar kennt und bewundert, letztlich aber doch lieber den Ton von „Mein Leben als Hund“ von Lasse Hallström anschlagen möchte? Roehler hat ja davon gesprochen, dass man eigentlich einen John Waters oder einen David Lynch bräuchte, um den Irrsinn und die Widersprüche der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft filmisch auf den Punkt zu bringen. Ist ’ne hübsche Idee, aber mangels Interesse der Amis hat Roehler den Job jetzt selbst gemacht. Herausgekommen ist dabei ein großer Bilder-Verschiebe-Bahnhof, der Konventionelles vielleicht nicht um-, aber überschreibt.

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Familiengeschichte ist bei Oskar Roehler immer auch Sittengeschichte, formuliert durch das Bildinventar der Filmgeschichte hindurch. Nicht umsonst hat man Roehler, der als Drehbuchautor für Christoph Schlingensief bekannt wurde, gerne mit Rainer Werner Fassbinder verglichen. Zunächst, dank verstörender Filme wie „Suck My Dick“ oder „Der alte Affe Angst“ mit dem Fassbinder von „Satansbraten“ oder „In einem Jahr mit 13 Monden“, der dem Kulturbetrieb den Spiegel vorhielt und von Liebes- und Machtspielen, vom verzweifelten Kampf um Liebe und Anerkennung erzählte. Mit „Quellen des Lebens“, der Verfilmung von Teilen seines semi-autobiografischen Romans „Herkunft“, wagt sich Roehler jetzt an eine fast dreistündige Chronik Westdeutschlands zwischen 1949 und 1977 als freier Familiengeschichte. Roehler begibt sich also auf ein Terrain, das Fassbinder mit Filmen wie „Die Ehe der Maria Braun“ oder „Lola“ bereitet hat, schlägt dabei aber gleichzeitig provokantere und versöhnlichere Töne an.

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Als Erich Freytag 1949 aus der Gefangenschaft in Russland zurückkommt, wird er nicht mit offenen Armen empfangen, sondern als stinkender Störenfried wahrgenommen. Nur sein Sohn Klaus hält in dieser Situation zu ihm. Doch Erich lässt nicht locker, beansprucht den alten Platz in der Familie und im Ehebett. Wenige Jahre später wird aus dem linientreuen Nazi ein erfolgreicher Produzent von Gartenzwergen werden. „Quellen des Lebens“ fängt an wie ein typischer Roehler-Film: schrill, trashig und von einem derben Humor geprägt. Doch hier geht es nicht um den BRD-Kammerton: Holocaust, Restauration, Wiederbewaffnung. Roehler ist nachsichtiger, seine Figuren sind fluid. Mag der Großvater auch ein strammer Nazi und an der Ostfront in allerlei Verbrechen verwickelt gewesen sein, jetzt, während des Wirtschaftswunders, entwickelt sich Erich zu einem souveränen Patriarchen, der die Dinge anpackt, die anzupacken sind. Und noch etwas später wird er als Großvater alles tun, um seinem Enkel Oskar ein Familienleben zu schenken. Filmisch gestalten Roehler und sein Kameramann Carl-Friedrich Koschnick jene Jahre als eine Mischung aus Trümmerfilm mit surrealen Melodram-Momenten, die direkt aus den Filmen von Douglas Sirk oder Todd Haynes entsprungen sein könnten.

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Als Klaus sich entschließt, Schriftsteller zu werden und Gisela, Tochter aus reichem Hause, kennenlernt, mischt sich dunkler Existentialismus in die Farbpalette des Films. Später werden Klaus und Gisela nicht nur Oskar in die Welt setzen, sondern sich auch gegenseitig das Leben zur Sartre-Hölle machen. Gisela Elsner erweist sich als literarisches Talent, die mit großem Ego und dem Roman „Die Riesenzwerge“ im Literaturbetrieb der frühen sechziger Jahre reüssiert. Roehler hatte dem Leben seiner exzentrischen Mutter bereits mit „Die Unberührbare“ ein filmisches Denkmal gesetzt. War er seinerzeit noch milde, so schildert er jetzt ihre gemeine Asozialität mit einem unerhörten Furor. Lavinia Wilsons Darstellung dieser Figur, immer am Rande der Hysterie, dabei stets kapriziös, gehört zu den Glanzlichtern dieses Films. In diese trübe Konstellation hinein wird Oskar geboren:, ein ungeliebtes und missachtetes Kind. Die Jahre des antiautoritären Aufbruchs schildert Roehler aus der naiven Perspektive eines Kindes, das verständnislos Zeuge der Lebensexperimente seiner Eltern wird. An den 68ern wird kein gutes Haar gelassen: die Generation der um 1960 Geborenen zeigt der Film als Opfer zweier Täter-Generationen, wobei die Nazi-Großeltern sich immerhin noch zu einer menschlichen Größe aufschwingen. Nachdem der Film über die Darstellung von Giselas Eltern noch Momente einer überkandidelten Schlagerfilm-Groteske in sich aufgenommen hat – allein der Auftritt von Margarita Broich lohnt das Eintrittsgeld! -, gilt der Rest des Films den Irrungen und Wirrungen des jungen Oskar zwischen Internat und erster Liebe, dargestellt in der Manier eines Jugendfilms, wie man sie in den siebziger Jahren zu Dutzenden im Fernsehen sehen konnte. Ungelenke Jugendliche mit seltsamen Frisuren und Brillen, die zu den Klängen von Lobos „I’d love you to want me“ versuchen müssen, einen Ort in der Welt zu finden.

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Trotz ein paar dramaturgischer Schwächen nimmt für Roehlers Ambition ein, dass seine Rekonstruktion von dreißig Jahren westdeutscher Geschichte stets subjektiv bleibt. Die großen historischen Momente, die solch einen Stoff üblicherweise strukturieren, also etwa das WM-Finale 1954, die Kuba-Krise, die Ermordung Kennedys, das Attentat auf Rudi Dutschke, die Mondlandung oder die RAF – all das sucht man hier glücklicherweise vergebens. Diese Freiheit und der Mut Roehlers, sich gerade nicht zur wertenden moralischen Instanz aufzuschwingen, macht „Quellen des Lebens“ zu einem großen Wurf. Dieser Haltung der gelassenen Milde entspricht sogar ein passender philosophischer Song: „Dust in the Wind“ von Kansas. Derlei pathetischen Kitsch hätte es bei Fassbinder nicht gegeben, bei Schlingensief vielleicht schon. Ironisch gebrochen, denn wie heißt es in „The Wizard of Oz“ so schön: „Well Toto, we’re not in Kansas anymore!“ Bedenkt man, dass es Roehler war, der die Rock’n’Roll meets Autoscooter-Geschichte „Lulu und Jimi“ bereits als Pastiche von „Wild at Heart“ anlegte und dass sich „Wild at Heart“ sich deutlich auf „The Wizard of Oz“ bezog, dann ahnt man, was Roehler mit „Quellen des Lebens“ im Sinn gehabt haben könnte. Oder nicht?

Zum Film gibt es hier auch ein Interview!

Django Unchained

(USA 2012, Regie: Quentin Tarantino)

Ambitioniert gescheitert
von Louis Vazquez

Als es hieß, dass Quentin Tarantino einen Italowestern inszenieren würde, verwunderte das nicht unbedingt, denn der Einfluss eben jenes Genres war schon häufiger in seinen Filmen zu erkennen, siehe „Kill …

Als es hieß, dass Quentin Tarantino einen Italowestern inszenieren würde, verwunderte das nicht unbedingt, denn der Einfluss eben jenes Genres war schon häufiger in seinen Filmen zu erkennen, siehe „Kill Bill: Vol. 1 und 2“ oder „Inglourious Basterds“. Ein lupenreines Imitat sollte man nun allerdings nicht erwarten, denn „Django Unchained“ steht Blaxploitation-Western wie Jack Arnolds „Boss Nigger“ (1975) näher als Sergio Corbuccis vermeintlichem Original. Tarantino selbst nennt seinen Film deshalb einen „Southerner“ und erfindet sich damit gleich ein eigenes Genre.

Der Sklave Django (Jamie Foxx) wird von einem als fahrendem Zahnarzt getarnten Kopfgeldjäger mit dem bedeutungsschwangeren bzw. -schweren Namen Dr. (Martin Luther?) King Schultz (Christoph Waltz) aus einer misslichen Lage befreit. Im Gegenzug soll er für den Doktor, der aus Düsseldorf stammt, seine ehemaligen Besitzer identifizieren, die inzwischen per Steckbrief gesucht werden. Dafür schenkt Schultz ihm nicht nur die Freiheit, sondern macht ihn auch zum Partner bei der Kopfgeldjagd und verspricht ihm seine Unterstützung dabei, seine Frau Broomhilda (Kerry Washington) aus der Hand des mächtigen Sklavenhalters Calvin Candie (Leonardo DiCaprio) zu befreien. Doch bis es so weit kommt, verbringt der Film viel Zeit damit, Django mit dem Leben eines Kopfgeldjägers vertraut zu machen und bietet zunächst alles, was man von Tarantino erwartet: grandios verspielte Szenen mit geschliffenen Dialogen und großen Waltz-Momenten, Standoff-Situationen mit überraschendem Ausgang und einen Auftritt des KKK, den die Monty Pythons kaum alberner hätten inszenieren können.

Mit der Ankunft auf der Plantage des Oberbösewichts Candie allerdings vollzieht der Film eine radikale Richtungsänderung und wechselt die Tonart. Die Ironie muss Pause machen, Rassisten drangsalieren Sklaven, und die Gewaltdarstellung wird schwer erträglich. Richard Fleischers brutaler Sklavenhalterfilm „Mandingo“ scheint ganz plötzlich zur Hauptinspirationsquelle von „Django Unchained“ zu werden. Da verwundert es nicht, dass Spike Lee und Quentin Tarantino wohl eher keine gemeinsamen Grillpartys mehr veranstalten dürften. Selbst wenn man sich darauf einlassen mag, dass Tarantino – mit gewiss guten Absichten – ein unangenehmes Kapitel der amerikanischen Geschichte mit den Mitteln des B-Movies, des Exploitationfilms gar, für breite Zuschauerschichten aufbereiten will, selbst wenn man sich mit der Figur von Samuel L. Jackson abfindet, der einen abgrundtief bösen, von der Macht korrumpierten Haussklaven spielt, so weist das Drehbuch doch große Schwächen genau da auf, wo es seine Brillanz zu beweisen versucht, sodass der Film plötzlich disparat und orientierungslos wirkt.

Suspensereiche Undercover-Aktionen scheinen es Tarantino seit seinem Debüt mit „Reservoir Dogs“ angetan zu haben. In „Inglourious Basterds“ entwickelte er gleich mehrere Situationen, in denen die Söldner in Nazi-Rollen schlüpfen müssen. In „Django Unchained“ schließlich scheint Tarantino sich an einer ultimativen Suspense-Inszenierung zu versuchen: Um Broomhilda legal befreien zu können, gibt Schultz vor, einen Mandingo-Kämpfer kaufen zu wollen, einen Sklaven, der gegen andere Sklaven auf Leben und Tod kämpfen muss. Nur durch den Bezug zum grausamen Hobby des Sklavenhalters Candie sei dessen Interesse zu wecken, zumal es um tausende Dollars gehen würde. Djangos Frau Broomhilda soll quasi nebenbei für kleines Geld mitgekauft werden, weil sie wegen der Abstammung ihrer Vorbesitzer Deutsch spricht – der perfekte Vorwand für Schultz.

Doch der Versuch, den Pop-Pastiche in ein aberwitzig motiviertes Kammerspiel zu überführen, scheitert, weil Tarantinos Drehbuch sich kaum um auftretende Logiklöcher schert, die man in einem Actionfilm zwar vernachlässigen würde, nicht aber bei einer solchen Konstruktion, deren Zweck es doch sein soll, dem Gegner gedanklich einen Schritt voraus zu sein. Weil zudem Leonardo DiCaprio mit Verve Szenen an sich reißen darf, kommt auch die wunderbare Chemie zwischen Foxx und Waltz nicht mehr zum Tragen. DiCaprio legt seine Figur als Dämon mit Charme an und fordert den Vergleich mit Waltz’ Hans Landa aus „Inglourious Basterds“ geradezu heraus, doch er belegt den zweiten Platz nur mit großem Abstand.

Besonders unglaubwürdig wirkt die Auflösung der Situation: Im entscheidenden Moment nimmt man einer Figur eine irrationale bzw. sehr emotionale Handlung nicht ab, weil sie sich zuvor ganz anders präsentierte. Der Spannungsaufbau mündet dann doch wieder in einen so blutigen wie goutierbaren Shootout, in dem sich alle Rachephantasien erfüllen. „Django Unchained“ versucht damit zur Erzählweise zurückzukehren, die die erste Stunde des Films prägte, doch das wirkt vor allem inkonsequent.

Tarantinos Film steckt voller Ambition und guter Ideen, und doch scheint es diesmal, dass er sein Drehbuch besser noch einmal einer Revision unterzogen hätte – und sei es, um wenigstens den Gastauftritt von Franco Nero ein bisschen origineller zu gestalten.

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Tabu – Eine Geschichte von Liebe und Schuld

(PT / BR / D / F 2012, Regie: Miguel Gomes)

Mäander
von Wolfgang Nierlin

Eine merkwürdige Expedition, ja eine geradezu mythische Prozession im Herzen Afrikas vollzieht sich im Prolog von Miguel Gomes‘ neuem Film „Tabu“. Ein furchtloser Entdecker, von dem der Off-Erzähler sagt, er …

Eine merkwürdige Expedition, ja eine geradezu mythische Prozession im Herzen Afrikas vollzieht sich im Prolog von Miguel Gomes‘ neuem Film „Tabu“. Ein furchtloser Entdecker, von dem der Off-Erzähler sagt, er sei traurig, will nach dem Tod seiner geliebten Frau ans Ende der Welt fliehen, weil er ihren Verlust nicht verwinden kann. Die Bilder, die seinen Weg durch den Dschungel zeigen, sind schwarzweiß und werden von einem Jazz-Piano begleitet. Ein Hauch von Exotik und von fernen Abenteuern liegt über der Szenerie, die aus einem alten Stummfilm stammen könnte oder zumindest visuell dessen Geist beschwört; was im Verbund mit dem fabelhaften Erzähler wiederum dazu führt, dass sich in die tragische Geschichte auch ein leiser Humor mischt. „Deinem Herzen kannst du nicht entfliehen“, erkennt der Held und steigert dadurch noch seine Todessehnsucht. Bis er sich schließlich in einer Verzweiflungstat unter den Augen der Eingeborenen einem Krokodil zum Fraß vorwirft, von dem es heißt, dass es die Traurigkeit des Getöteten in sich aufnehme.

Wahrheit und Legende, Imagination und Wirklichkeit liegen in den Filmen des 1972 in Lissabon geborenen Regisseurs Miguel Gomes nahe beieinander. Mit unbändiger Fabulierlust erzählt er seine mäandernden, abschweifenden und sich immer weiter verzweigenden Geschichten, deren Zusammenhang oft unklar bleibt und deren lose Enden sich mitunter im Unbestimmten verlieren. In ihnen vermischen sich auf ebenso nachdenkliche wie humorvolle Weise Verrücktes und Absurdes, Alltägliches und Menschliches. Dabei arbeitet der Filmemacher immer wieder ganz ungezwungen und selbstverständlich mit ästhetischen Irritationen und narrativen Brüchen, mit Andeutungen und filmgeschichtlichen Referenzen. In „Tabu“ etwa zitiert er den gleichnamigen, thematisch verwandten Film von Friedrich Wilhelm Murnau aus dem Jahre 1931, indem er dessen Kapitelüberschriften in umgekehrter Reihenfolge für seinen eigenen Film übernimmt.

Der mit „Das verlorene Paradies“ betitelte erste Teil spielt im Lissabon der Gegenwart zwischen den Jahren 2010 und 2011 und verknüpft diesen Ort mit einer Erinnerung, die den Verlust der Unschuld auf eine noch unbekannte Vorgeschichte bezieht. Die katholische Friedensaktivistin Pilar (Teresa Madruga), rein, sanftmütig und hilfsbereit, figuriert darin als Heilige und gute Seele mit einem offenen Ohr und Herzen für die Sorgen und Nöte der anderen. Als Integrationsfigur wird sie zum Katalysator für deren Sehnsucht nach Vergebung und Erlösung. Vor allem die alte, resolute Nachbarin Aurora mit ihren scheinbar wahnhaften Geschichten beschäftigt ihr Nachdenken und Beten. Als Aurora (Laura Soveral) plötzlich stirbt, wechselt der Film den Erzählmodus und wird im zweiten, mit „Paradies“ betitelten Teil zu einer poetischen Bildergeschichte, über die sich die Stimme von Auroras früherem Geliebten Gian Luca Ventura (Henrique Espírito Santo) legt.

Dieser erzählt von jener unsterblichen und zugleich „verbrecherischen“ Liebe, die er als junger Mann (Carloto Cotta) Jahrzehnte zuvor „auf einer Farm in Afrika“ am Fuße des mythischen Monte Tabu mit der damals frisch verheirateten und schwangeren Aurora (Ana Moreira) erlebt hat: „Ich verinnerlichte Aurora als absolute, allumfassende Realität.“ Doch die Schatten der Gegenwart liegen von Anfang an über dieser verbotenen Liebe der Vergangenheit. Und auch der Kolonialismus, eher als atmosphärische Störung und visuelle Unterströmung präsent, liegt in den letzten Zügen. Was hier in wortlosen Blicken, unbestimmten Gefühlen von Verlust, Schuld und Trauer und fernen, verblichenen Erinnerungen erzählt wird, könnte auch der Imagination von Venturas Zuhörerin Pilar (oder auch der Phantasie des Kinopublikums) entstammen. Miguel Gomes sagt: „‘Tabu‘ ist ein Film über die Vergänglichkeit, darüber, dass Dinge verschwinden und nur noch als Erinnerung, als Phantasmagorie, als Bilder in unserem Kopf existieren – oder eben als Film.“

Lincoln

(USA / IN 2012, Regie: Steven Spielberg)

One Man Gang
von Carsten Happe

Möglicherweise sieht ein Themenabend auf arte zur Sklaverei in den Vereinigten Staaten in zwei oder drei Jahren wie folgt aus: 20:15 Uhr 'Lincoln', 22:45 Uhr Django Unchained', 1:30 Uhr Frankreichs …

Möglicherweise sieht ein Themenabend auf arte zur Sklaverei in den Vereinigten Staaten in zwei oder drei Jahren wie folgt aus: 20:15 Uhr 'Lincoln', 22:45 Uhr Django Unchained', 1:30 Uhr Frankreichs Kulturminister im Gespräch mit Steven Spielberg und Quentin Tarantino über diametral entgegengesetzte Ansätze zum Ende der Sklaverei.

Es ist ein frappanter Zufall, dass diese beiden Filme fast gleichzeitig veröffentlicht werden, bieten sie doch derart weit entfernte Herangehensweisen an ein Thema, derart unterschiedliche ästhetische Konzeptionen, dass sich ein Vergleich zwar vollkommen ausschließt – auch wenn beide mit aussichtsreichen Oscar-Chancen ins Rennen gehen, mitunter in den gleichen Kategorien – aber eine Verknüpfung durchaus reizvoll erscheint.
Während sich Tarantino frei flottierend durch die (Film-)Historie ballert und leider auch kalauert und sein Popkultur-Zitat-Kino mühelos im Westerngenre verankert, verspricht Spielbergs „Lincoln“ zunächst klassisches Biopic-Drama altmodischer Prägung, distinguiert, kontrolliert, erwartungsgemäß. Und doch tappt er weder in die befürchtete Filmbiographienfalle, ein komplettes Leben abbilden zu wollen, noch ein verklärendes Abziehbild eines verbrieften Helden nachzuschieben.

In seinen letzten Lebensjahren – nur die deckt Tony Kushners mit geschliffenen Dialogen gespicktes Drehbuch ab – tritt Abraham Lincoln als gewiefter, in sich ruhender Politiker auf, dessen Herzensangelegenheit es ist, den Verfassungszusatz zur Abschaffung der Sklaverei zu verabschieden, und dessen Herkulesaufgabe, die erforderliche Mehrheit dafür zu gewinnen. Mit einem Wort: „Lincoln“ dreht sich um politisches Kalkül und dem gemäße Taktiken, alte weiße Männer zur Stimmabgabe in die gewünschte Richtung zu lenken. Das ist bei aller Akkuratesse der historischen Rekonstruktion, bei aller Opulenz der ausgewaschenen Bilder und der angenehm zurückhaltenden Musik von Spielbergs altem Weggefährten John Williams leider auch entsprechend langatmig. So bleibt es vor allem der beeindruckenden Metamorphose Daniel Day-Lewis‘ in den 16. Präsidenten der Vereinigten Staaten vorbehalten, das Interesse an Spielbergs gediegener Geschichtsstunde über zweieinhalb Stunden wachzuhalten. Womit sich allerdings wieder der Kreis zu Tarantinos „Django“ schließt – auch hier retten die entfesselten Darsteller den ebenso überlangen Film über die Zeit.

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Gangster Squad

(USA 2012, Regie: Ruben Fleischer)

Best-Dressed Baller-Männer
von Ulrich Kriest

Los Angeles 1949. Eine Stadt am Abgrund und keine rettende Fledermaus in Sicht. Der skrupellose Aufsteiger und Mobster Mickey Cohen hat die Stadt mit Gewalt an sich gerissen und schickt …

Los Angeles 1949. Eine Stadt am Abgrund und keine rettende Fledermaus in Sicht. Der skrupellose Aufsteiger und Mobster Mickey Cohen hat die Stadt mit Gewalt an sich gerissen und schickt in den ersten Minuten des Films schon mal eine Botschaft gen Chicago – als Zweiteiler. Bei der LAPD hat man sich längst damit abgefunden, bestimmte Orte als Cohen-Territorium zu akzeptieren und besser nicht zu betreten. Lieber guckt man dabei zu, wie skrupellose Zuhälter sich an der Central Station an junge, naive Starlets ranmachen, um sie der Zirkulation zuzuführen.

Alle Polizisten? Nein, Sergeant John O’Mara hält sich nicht an die Regeln der Korruption, sondern dagegen. Mit eisernen Fäusten und sehr zum Leidwesen seiner schwangeren Frau. Die dann sehr aktiv wird, als O’Mara vom Polizeichef Parker den Auftrag bekommt, eine Gangster Squad zusammen zu stellen, um als Vigilantes dem Verbrechen Widerstand entgegen zu setzen. Nein, jetzt gelten keine Dienstvorschriften mehr. O’Mara hat schnell eine schlagkräftige, ethnisch bunt gemischte Truppe von Spezialisten beisammen: der eine ist Scharfschütze, der nächste ist ein genialer Bastler – und Ryan Gosling ist ja wohl sowas von cool, dass auch Cohen Gangsterbraut Grace hingerissen ist.

Natürlich ist diese Geschichte nicht neu. Selbst Mickey Cohen sind wir im Kino bereits begegnet. Erinnern wir uns an „L.A. Confidential“, an „Mulholland Falls“ oder an „The Black Dahlia“, dann ahnen wir woher der Wind weht. Auch „Chinatown“ könnte einem noch in den Sinn kommen. Genauso ist es auch Regisseur Ruben Fleischer gegangen, der eine Art von Mash-Up dieser Filme und vielleicht auch einiger anderer archetypischer James Ellroy-Geschichten zusammengestellt hat, um der Selbstjustiz ein Hohelied zu singen. Wichtiger als Story und Atmosphäre waren Fleischer und seinem Team allerdings der edle Look ihres Films, der zudem auch noch in der schmissigen Manier eines Hard-Boiled-Comics erzählt ist.

Interessant ist, dass der Film mit James Brolin, Ryan Gosling, Giovanni Ribisi, Michael Pena, Robert Patrick, Nick Nolte und Emma Stone erstklassig besetzt ist – und mit Sean Penn in der Rolle von Mickey Cohen noch einen Trumpf in der Hinterhand hat. Die Anzüge und Hüte der Herren sehen umwerfend aus, die Frisuren der Damen auch. Die Gewaltdarstellung ist apologetisch und der Kult des Mündungsfeuers nach den jüngsten Amokläufen vielleicht etwas geschmacklos. Aber es hätte dieser Amokläufe nicht bedurft, um zu erkennen, dass es sich bei „Gangster Squad“ um einen Rechtsausleger von Film handelt, der seine reaktionäre Botschaft von Auge um Auge, Zahn um Zahn in feinstem Zwirn camoufliert vorträgt.

Lincoln

(USA / IN 2012, Regie: Steven Spielberg)

Der harte Handel
von Ulrich Kriest

Es ist gewiss kein Zufall, wenn Steven Spielberg sich ausgerechnet jetzt mit „Lincoln“ an einem Biopic des mythischen US-Präsidenten versucht. Spielberg zeigt ein zerrissenes Land im Bürgerkrieg, dessen Präsident mit …

Es ist gewiss kein Zufall, wenn Steven Spielberg sich ausgerechnet jetzt mit „Lincoln“ an einem Biopic des mythischen US-Präsidenten versucht. Spielberg zeigt ein zerrissenes Land im Bürgerkrieg, dessen Präsident mit allerlei Kniffen versucht, das bestehende Kriegsrecht und die letzten Monate des Krieges dazu zu nutzen, die Nation zu einen, indem ein künftiger Konflikt – unterschiedliche Haltungen zur Sklaverei und zur angeborenen Gleichheit im home of the brave, land of the free – antizipatorisch gelöst wird.

Oberflächlich geht es hier »nur« um die Abschaffung der Sklaverei, aber eigentlich geht es um die Geburt der Nation aus dem Geist der Debatte. Wie in einem furiosen Theaterstück mit erstklassigen Schauspielern zeigt Spielberg die endlosen Debatten um die Sklaverei im Repräsentantenhaus, die Hinhalte-Manöver und Finten, geführt mit messerscharfen, leidenschaftlichen Dialogen. Die Sache mit der Sklaverei muss vom Tisch, bevor der Krieg vorbei ist, aber dafür muss der Krieg verlängert werden. Spielbergs Film ist grandioses Diskurs-Kino, das tief eintaucht in die Seltsamkeiten der Geschichte. Gezeigt wird ein tief gespaltenes Amerika mit vielfältigen multikulturellen Wurzeln, das stolz auf seine post-koloniale Geschichte ist, in dem aber sehr unterschiedliche Uhren sehr unterschiedlich schlagen. Da treffen Aufklärer auf Rassisten, religiöse Sektierer auf eloquente Demokraten und politische Köpfe auf politische Amateure – und disputieren engagiert.

Spielbergs Zeitreise ist voller Witz und Esprit, zeigt Lincoln als eigensinnigen Kauz, der seine Umgebung mit den immer gleichen Geschichten und Anekdoten nervt, aber letztlich doch so schlau und in sich ruhend geduldig ist, um sein Projekt gegen alle Widerstände durchzusetzen. Daniel Day Lewis verleiht dem Mythos »Lincoln« sehr menschliche Züge und spielt doch einen Mythos, der gerne einmal zur Silhouette in einem unterbelichteten Film stilisiert wird. Jedenfalls lohnt sich ein vergleichender Blick auf John Fords „Der junge Mr. Lincoln“ (1939), in dem Henry Fonda Lincoln verkörperte, um die aktuelle Fallhöhe von „Lincoln“, seine „Arbeit am Mythos“ einschätzen zu können.

Trotz allem ist die Sklaverei in „Lincoln“ nur ein randständiges Thema, mit dem Politik »gemacht« wird. Hier kommt punktgenau (ausgerechnet!) Quentin Tarantino ins Spiel, der mit „Django Unchained“ einen Sklaverei-Southern gedreht hat, der an Brutalität und Wildheit wenig zu wünschen übrig lässt. „Django Unchained“ ist gewissermaßen die Pop-Antwort auf die staatstragende Reminiszenz Spielbergs. Anachronismen weisen beide Filme auf. Tarantino mischt auf bekannt eigenwillige und filmhistorisch kompetente Weise Zitate aus der Filmgeschichte („Django“) mit Zitaten aus der Literaturgeschichte (hier, ausgerechnet, die Nibelungensaga) und exorziert gewissermaßen im und durch den Blutrausch den sentimentalen Kitsch von „Vom Winde verweht“. Dafür kann man Tarantino lieben. Wie bereits bei seinem Vorgänger „Inglourious Basterds“ nutzt er die Möglichkeiten des Kinos zu einer lustvollen Korrektur der Geschichte: Sklaven mischen die Sklavenhaltergesellschaft auf. Wobei gewiss nicht jeder Zuschauer im Kino die frivole Lust Tarantinos an der Rache teilen wird. So kommentieren und ergänzen sich beide Filme wechselseitig.

„Lincoln“ beginnt mit einer Szene nach der Schlacht, als der Präsident sich von zwei afro-amerikanischen Soldaten, die auf Seiten der Union gekämpft haben, gütig seine eigene Rede vortragen lässt und zufrieden ist: „Haben Sie nach den Krieg schon etwas vor?“ Vielleicht zum Teil einer Bürgerrechtsbewegung werden? Eine Option mit Zukunft, wenn man über ein anständiges Zeit-Budget verfügte. 150 Jahre später wird ein in Honolulu geborener Rechtsanwalt „Lincoln“ als Morgengabe seiner zweiten Amtszeit erhalten. Ob Obama auch „Django Unchained“ gesehen hat/sehen wird?

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Frankenweenie

(USA 2012, Regie: Tim Burton)

Back to the Roots
von Sven Jachmann

Hätte man eigentlich erwartet, dass derselbe Regisseur, der 1996 in „Mars Attacks!“ seinen damals von Hochkarätern überquellenden Cast bereits nach wenigen Minuten von dauergrinsenden Marsmännchen reihenweise dezimieren ließ, die deshalb …

Hätte man eigentlich erwartet, dass derselbe Regisseur, der 1996 in „Mars Attacks!“ seinen damals von Hochkarätern überquellenden Cast bereits nach wenigen Minuten von dauergrinsenden Marsmännchen reihenweise dezimieren ließ, die deshalb die Erde heimsuchten, weil ihn die Erinnerung an die ähnlich gestalteten Comicfiguren auf den Kaugummibildern seiner Jugend noch als Erwachsenen verfolgte, hätte man also geglaubt, dass so ein herzensguter Sadist des Kinos und Liebhaber der noch so ranzigsten Popkultur-Erscheinungen seiner späteren Lesart von „Alice im Wunderland“ einzig quietschbunte Texturen und schauwertsfixierte Technikbegeisterung abringen würde?

So bedauerlich es mit anzusehen war, wie in Tim Burtons letzten Filmen das eigenwillige Zusammenspiel aus bedingungsloser Verbrüderung mit den gesellschaftlichen Outcasts, Neigung zum Horrorklassizismus als Geste der biografischen Verbeugung, Begeisterung für den nicht nur melancholischen sondern auch destruktiven Geist der Schwarzen Romantik und Archivierung der randständigsten Erscheinungen und Protagonist/inn/en des Phantastischen Kinos zur linkischen Formel erstarrte, auf dem Gebiet des Stop Motion-Animationsfilms bleibt er ein Zepterträger.

„Nightmare before Christmas“ (1993, Regie: Henry Selick), an dem Burton als Produzent rege mitwirkte, „Corpse Bride“ (2005, zusammen mit Mike Johnson) und nun „Frankenweenie“: Burton verwaltet erneut einen gewaltigen Fundus an (Horror-)Filmgeschichte, diesmal ist jedoch seine eigene inbegriffen. 1984, damals noch Animationszeichner für Disney und trotz der hohen Position als Concept Artist von den Produktionszuständen des Studios eher enttäuscht, schuf Burton seinen ersten, gut halbstündigen Realkurzfilm „Frankenweenie“, eine kleine Geschichte über die große Liebe eines Jungen zu seinem Hund, die über den Tod hinausgeht. Im Hause Disney zeigte man sich von der bizarren Frankenstein-Fabel not amused und versenkte das Ergebnis in den Archiven, wo der Film ein Jahrzehnt, bis zur Veröffentlichung der „Nightmare before Christmas“-Laserdisc, die ihn als Bonusmaterial enthielt, unter Verschluss blieb.

Burton konserviert und restauriert nunmehr auch sein eigenes Werk, und dass er dieses abermals von Disney budgetierte Puppentrickfilm-Remake als 3D-Produktion in, wie schon den Vorgänger, schwarz-weiß präsentiert, darf man wohl als filmgeschichtliche Verbeugung (schließlich schwamm schon Jack Arnolds „Schrecken vom Amazonas“ 1954 in 3D-Optik durch die Lagune), im Hinblick auf kommerzielle Richtlinien mindestens aber auch als nachgeholte Selbstbehauptung verstehen. Am im Kern identisch gebliebenen Plot wurde natürlich etwas geschraubt, um ihn auf 80 Minuten zu dehnen.

Inhaltlich nach wie vor eher an der Literaturvorlage denn an James Whales „Frankenstein“-Verfilmung orientiert, in der die Unschuld des Monsters ein wenig abgeschwächt werden musste, geht die Gefahr nicht im Geringsten vom exhumierten und wiederbelebten Hund Sparky aus, sondern von den bigotten Einwohnern des Suburbia-Kosmos New Holland. Dem achtjährigen Victor Frankenstein wird nicht das mad scientist-Gesetz – die Strafe für die Hybris wahlweise Gott oder die Natur auf die Probe zu stellen – zum Verhängnis, sondern nun im Speziellen eine Handvoll hinterhältiger Mitschüler. Heimlich wiederholen sie mit ihren toten Haustieren Victors Experiment, nachdem sie spitzgekriegt haben, dass er seinen vom Auto überfahrenen Hund Sparky mithilfe der rudimentären Kenntnisse aus dem Physikunterricht ins Leben zurückholen konnte. Ihre einstige Niedlichkeit lassen die mutierten Wiederkehrer jedoch arg vermissen und so überträgt sich der Frankenstein-Stoff in die Motive der monster movies der 50er Jahre.

Durch das Burtonville in „Frankenweenie“ lustwandelt man vom Universal- und Hammer-Horror zu Godzilla und zurück, ist aber schon deshalb eine Spur näher an den Vorbildern dran, weil beiden dieselben tricktechnischen Bedingungen zugrunde liegen. Zitat und Demut vor der Herkunft aus der gemeinsamen Schule reichen sich stets die Hände. Das besitzt, wie zu Burtons besten Zeiten, mal einen utopischen, mal einen gehässig-subversiven Anstrich: Vincent suspendiert nicht die Vernunft, die sich rächt, weil er, traurig über seinen Verlust, etwaige Grenzen der Naturwissenschaft überschreiten würde. Vincent reinstalliert das Kino ganz unnostalgisch als Traummaschine, indem er dem Tod ganz einfach und ohne böses Nachspiel ein Schnippchen schlägt. Sparky jedenfalls ist, abzüglich ein paar neuer Nähte auf dem Fell, fidel und gutmütig wie zu Lebzeiten, der reaktionäre Regelkanon des Genres mitsamt seinem Bestrafungskatalog ist Burtons Sache nicht. Da ist die New Holland-Gesellschaft, die das Fremde sogleich kontrollieren oder vernichten will, ein ganz anderes Kaliber. Wenn durch ihre Reihen eine (da will man dem hiesigen YPS-Relaunch glatt noch etwas abgewinnen) Gruppe wildgewordener Urzeitkrebse tobt, ist Burtons Versöhnung mit den Außenseitern endlich auch mal wieder Rache der popkulturellen Auslegeware.

Vergiss mein nicht

(D 2012, Regie: David Sieveking)

Mit der Kamera gegen das Vergessen
von Carsten Happe

Das oftmals bemühte Zitat „write what you know“ wird sowohl William Faulkner als auch Mark Twain zugeschrieben, was wohl kaum letztgültig zu klären sein wird. Es ist jedoch eine universale …

Das oftmals bemühte Zitat „write what you know“ wird sowohl William Faulkner als auch Mark Twain zugeschrieben, was wohl kaum letztgültig zu klären sein wird. Es ist jedoch eine universale Wahrheit, die auch vor dem Medium Film keineswegs Halt gemacht hat. Insbesondere im dokumentarischen Bereich gibt es unzählige (auto-)biographische Filme, deren fehlende Distanz ihre herausragende Qualität darstellt.

Regisseur David Sieveking hat sich für seinen Debütfilm „David Wants to Fly“ auf eine persönliche Reise in die transzendentale Meditation begeben, den Spuren David Lynchs und des Beatles-Gurus Maharishi Mahesh Yogi folgend. Sein Nachfolgewerk allerdings ist noch intimer, unmittelbarer: „Vergiss mein nicht“ begleitet Davids Mutter ins Reich der Alzheimer-Demenz und letztlich auch in den Tod. Dass der Film trotz seines Sujets keineswegs eine rührselige, bedrückende Nabelschau geworden ist, liegt an David Sievekings außergewöhnlichem Gespür für die leichten Momente, die trotz aller Tragik immer wieder durchscheinen. Während Davids Mutter Gretel dem Vergessen anheimfällt, entdeckt der filmende Sohn ihre bewegte Vergangenheit und lernt die Geschichte seiner Familie aus einem völlig neuen Blickwinkel kennen.

Dass der Film sich letztlich so hoffnungsvoll, so einnehmend und liebevoll entwickelt, liegt nicht zuletzt an der ereignisreichen Lebensgeschichte der Gretel Sieveking und ihrer auch im hohen Alter einnehmenden Persönlichkeit sowie nicht minder an David Sievekings offener und aufrichtiger Herangehens-, eigentlich eher Herantrauensweise – sowohl vor als auch hinter der Kamera – an das schwierige Unterfangen, die eigene Familie den Filmaufnahmen und dem Kinopublikum auszuliefern. So ist „Vergiss mein nicht“ alles andere als ein exhibitionistischer Blick auf ein öffentlich weitgehend tabuisiertes Thema geworden, sondern vielmehr eine zärtliche Liebeserklärung an ihm – und damit auch uns – wichtige Menschen.

Babamin Sesi – Die Stimme meines Vaters

(TR 2011, Regie: Orhan Eskikoy, Zeynel Dogan)

Archiv der Erinnerung
von Wolfgang Nierlin

Ein ruhiger Blick in die weite Gebirgslandschaft der südöstlichen Türkei eröffnet Orhan Eskiköys Film „Die Stimme meines Vaters“ (Babamin Sesi). Dass dieses Bild auch einen bestimmten Ort und seine tragische …

Ein ruhiger Blick in die weite Gebirgslandschaft der südöstlichen Türkei eröffnet Orhan Eskiköys Film „Die Stimme meines Vaters“ (Babamin Sesi). Dass dieses Bild auch einen bestimmten Ort und seine tragische Geschichte meint, vermittelt sich erst allmählich im sparsamen, aber stetigen Informationsfluss der undramatisch inszenierten Erzählung. Wenn an deren Ende diese Perspektive nach einem 360 Grad-Schwenk der Kamera unter anderen Vorzeichen wiederkehrt, wirkt diese doppelte Rahmung wie ein Schlusspunkt und ein Neubeginn; oder wie die Bekräftigung einer schmerzlichen Identität.

Eine alte, einsame Frau in einem alten Haus lauscht einer Tonbandstimme, die aus der Vergangenheit kommt. Verputz rieselt von den Wänden, während Mustafa von seiner Arbeit im fernen Ausland und von seiner Sehnsucht nach der Familie in der Heimat spricht. Der Austausch der Tonbänder ersetzt den schriftlichen Briefverkehr und konstituiert zugleich ein Archiv der Erinnerung. Immer wieder sind diese Stimmen, die als akustische Rückblende fungieren, vernehmlich, während die Kamera die Räume und Bilder der Abwesenden abtastet.

Die alte Basê steht im Zentrum dieser zerrissenen Familie alewitischer Kurden, die unter Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung leidet. Der ältere Sohn Hasan hat sich einer Widerstandsgruppe angeschlossen, während sein Bruder Mehmet (Zeynel Dogan) zusammen mit seiner Frau Gülizar in Diyarbakir lebt. Weil er sich Sorgen um seine Mutter macht und mehr über seine Familiengeschichte erfahren will, fährt er zu einem Besuch in die Heimat. Doch Basê zeigt sich zunächst wenig kooperativ, fast abweisend: In die Stadt will sie nicht ziehen und über ihre Erinnerungen will sie nicht sprechen.

„Ist es denn so schlimm, die eigene Vergangenheit zu kennen?“ fragt einmal Mehmet, der sich der Verdrängung widersetzt. In poetischen Bildern und subtilen Andeutungen entwickelt Orhan Eskiköy die komplexen Themen seines Films, in dem sich die Mitglieder der Familie Dogan selbst spielen. Immer wieder öffnet sich der Blick, gibt es gleitende Übergänge zwischen Heimat und Fremde, Erinnern und Vergessen. Dabei vermittelt sich auch der Reichtum von Kultur und Sprache. Für Hasan sammelt Basê seltene kurdische Wörter. Deren semantische Erläuterung wird selbst zu einer Geschichte über Verlust und Sehnsucht.

Cäsar muss sterben

(IT 2012, Regie: Paolo und Vittorio Taviani)

Die Ahnung der Freiheit
von Wolfgang Nierlin

Blutrot ist der Bühnenhintergrund in der Schlussszene dieser Aufführung von William Shakespeares Tragödie „Julius Cäsar“, wenn der „ehrenwerte“ Verschwörer Brutus (Salvatore Striano) seine Getreuen bittet, ihn zu töten. Starke Männer …

Blutrot ist der Bühnenhintergrund in der Schlussszene dieser Aufführung von William Shakespeares Tragödie „Julius Cäsar“, wenn der „ehrenwerte“ Verschwörer Brutus (Salvatore Striano) seine Getreuen bittet, ihn zu töten. Starke Männer mit durchdringenden Blicken und einer schweren, dunklen Vergangenheit stehen ihm gegenüber. Sie alle sind Strafgefangene der römischen Haftanstalt Rebibbia, wo sie aufgrund der Schwere ihrer Verbrechen im Hochsicherheitstrakt interniert sind. Nur einer unter ihnen, der die Rolle des Strato spielt, weigert sich nicht, den tödlichen Dolchstoß zu führen. Dann fällt der Vorhang einer umjubelten Aufführung. Doch während sich für das Theaterpublikum die Gefängnistore öffnen, kehren die Gefangenen in ihre Einzelzellen zurück. Die Ahnung der Freiheit, gewonnen im Spiel, und ein verändertes Bewusstsein nehmen sie mit: „Seitdem ich weiß, was Kunst ist, ist diese Zelle ein Gefängnis geworden“, sagt einer von ihnen.

Paolo und Vittorio Taviani, die Altmeister des italienischen Kinos, haben diese Szene an den Anfang und an das Ende ihres mit dem Goldenen Bären ausgezeichneten Films „Cäsar muss sterben“ gesetzt. Dazwischen dokumentieren sie, in Schwarzweiß gedreht, die Probenarbeiten an wechselnden Orten der Strafanstalt, die mit ihrer Beton-Architektur, dem begrenzten Raum und reduzierten Mitteln eine äußerste Konzentration auf Text und Spiel bewirkt. Bereits das Casting sechs Monate vor der Aufführung, bei dem die Bewerber zwei gegensätzliche Stimmungen spielen, zeigt ausdrucksstarke Mimen, die zu einer enormen Gefühlsverdichtung fähig sind. Sie alle haben schon Einiges erlebt, was sich Körper, Gesicht und Stimme eingeprägt hat und in der Konfrontation mit Shakespeares Text nach Ausdruck verlangt. Nicht umsonst fordert sie der Regisseur auf, in ihrem je eigenen Dialekt zu sprechen und eigene Ideen in die Inszenierung einzubringen.

Nach der Rollenverteilung werden zunächst ihre Namen, dann ihre Delikte, die vom Drogenhandel bis hin zum Mord reichen, und schließlich ihr jeweiliges Strafmaß eingeblendet. Während sie im Folgenden Text und Stück erarbeiten und dabei ein hohes Maß an Eigeninitiative und Disziplin zeigen, kommt es immer wieder zu Interferenzen. Das eigene Leben mit seinen Erfahrungen mischt sich ein und führt so zu einem produktiven, Reibungen erzeugenden Austausch mit der Kunst. Immer wieder auch treten die Schauspieler aus ihren Rollen, um ihr Tun zu reflektieren, was mitunter etwas künstlich wirkt. Doch nicht zuletzt durch eine dramatisch-wuchtige Musik, eine ausgeklügelte filmische Inszenierung und die dramaturgisch geschickte Integration realer Schauplätze ins Probengeschehen fiktionalisieren die Brüder Taviani auf eindrucksvolle Weise das dokumentarische Material. So wird der Gefängnishof zum Forum, auf dem der tote Cäsar aufgebahrt liegt, während die Strafgefangenen in der Rolle des römischen Volkes hinter ihren vergitterten Fenstern „Freiheit“ skandieren.

Aurora

(RO / F / CH / D 2010, Regie: Cristi Puiu)

Dämmerzustand
von Wolfgang Nierlin

Die Zeit fühlt sich an wie eine ausgedehnte, permanente Gegenwart, in der man sich verliert. Obwohl die erzählte Handlung in Cristi Puius dreistündigem Film „Aurora“ etwa eineinhalb Tage umfasst, hat …

Die Zeit fühlt sich an wie eine ausgedehnte, permanente Gegenwart, in der man sich verliert. Obwohl die erzählte Handlung in Cristi Puius dreistündigem Film „Aurora“ etwa eineinhalb Tage umfasst, hat man als Zuschauer Schwierigkeiten, sich in dem Wechsel von Hell und Dunkel zurechtzufinden. Die Atmosphäre des Films ähnelt einem langgezogenen Dämmerzustand, aus dem es kein Erwachen gibt und von dem sich nicht genau sagen lässt, ob auf ihn Tag oder Nacht folgen. Die Schlaflosigkeit des von Puiu selbst gespielten Protagonisten Viorel spiegelt diese irritierende Zeitverschiebung, ja befördert sie in einem physischen und räumlichen Sinn. In langen, ungeschnittenen Einstellungen bewegt er sich an Orten, die vom Betrachter nicht nur identifiziert, sondern mitunter auch umgedeutet oder überhaupt erst definiert werden müssen. Sein Weg führt von der eigenen, aufgrund von Renovierungsarbeiten provisorischen Wohnung zu derjenigen der Mutter, wo er noch ein Zimmer hat, oder auch zur Wohnung seiner von ihm geschiedenen Frau. Unterwegs ist er aber auch in den grauen, von kaputten Hausfassaden gesäumten Straßen Bukarester Außenbezirke, auf dem tristen Gelände einer metallverarbeitenden Fabrik und auf öffentlichen Plätzen.

Die Spuren, die Viorel dabei auslegt, erscheinen eher verschlungen als linear. Sie konstituieren eine Flächigkeit, deren einzelne Bestandteile sich erst nach und nach zusammenfügen. In einem ausführlichen Interview mit der Zeitschrift „Cargo“ hat Cristi Puiu seinen elliptischen Film selbst als eine Art „unvollendetes Puzzle“ bezeichnet. Weil das, was sich wissen und erkennen lässt, ständig unsicher ist und in Frage steht, hinterfragt Puiu immer wieder seinen Standpunkt als Erzähler, indem er Zweifel und Ungewissheiten streut oder Informationen vorenthält und so seinen Film in einen permanenten Schwebezustand versetzt. Eine parataktische Syntax, eine Dramaturgie des Peripheren und das Interesse für scheinbar nebensächliches sind deshalb hervorstechende Merkmale seiner filmischen Narration. Die Spannung resultiert dabei gerade aus der relativen Aktionslosigkeit eines konzentrierten Beobachtens, das seinen Blick wiederum häufig mit demjenigen der Hauptfigur teilt.

Diese ist schweigsam, in wenigen Szenen auch extrem konfrontativ und direkt, meistens aber misstrauisch und zögerlich. Viorel agiert aus der Deckung heraus; sein prüfender Blick, sein Innehalten in der Bewegung und seine präzisen Ansagen sind fast zwanghaft auf Kontrolle aus. Sie zeugen von einer tiefgreifenden Unsicherheit und dem Gefühl einer existentiellen Differenz zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit, durch die sich Viorel manchmal bewegt wie ein großes, tapsendes Baby. Sein wunderlicher Blick ist sich selbst ungewiss und zeugt von einer schwankenden Identität. Ebenso vage muss aber auch das bleiben, was wir von Viorel wissen können, der einmal als „großer Sanfter“ bezeichnet wird und der im Verlauf der Handlung vier Menschen ermordet. Bei seinem Geständnis der Taten gibt er bezüglich seiner Motive zu Protokoll, dass die Komplexität von Beziehungen durch das System der Rechtsprechung nicht erfasst werden könne. Der Einzelne, der sich selbst nicht kennt, empfindet sich hier demnach als Opfer einer diffusen Ordnung, gegen die er vergeblich anrennt. Dazu sagt Cristi Puiu in besagtem Interview: „Wir sind weit davon entfernt zu verstehen, was wir auf dieser Erde machen. In ‚Aurora‘ geht es in erster Linie auch darum.“

Movie 43

(USA 2013, Regie: Elizabeth Banks, Steven Brill, Steve Carr, Rusty Cundieff, James Duffy, Griffin Dunne, Peter Farrelly, Patrik Forsberg, James Gunn, Bob Odenkirk, Brett Ratner, Jonathan van Tulleken)

Dauersack!
von Harald Mühlbeyer

Steht nicht geschrieben in einer apokryphen Offenbarung: „Und es werden herniedergehen die großen Sterne und sich wandeln in glimmenden Mist, und es wird sein eine Komödie ohne Lachen, die da …

Steht nicht geschrieben in einer apokryphen Offenbarung: „Und es werden herniedergehen die großen Sterne und sich wandeln in glimmenden Mist, und es wird sein eine Komödie ohne Lachen, die da aber wird erzeugen Heulen und Zähneklappern, und ihr verfluchter Name wird sein ein Zeichen, das ist Dreiundvierzig“?

Wer „Movie 43“ kennt, weiß, dass dieser ein Vorzeichen des Jüngsten Gerichts sein muss. Vergesst Mayakalender und Sektenfirlefanz: Wenn Hollywood eines seiner Urversprechen nicht einfach nur bricht, sondern völlig ignoriert, ist der Welt Ende nahe. Richard Gere, Kate Winslet, Hugh Jackman, Halle Berry, Emma Stone, Gerard Butler, Kate Bosworth, Liev Schreiber, Naomi Watts, Seann William Scott, Uma Thurman, Johnny Knoxville, Elisabeth Banks, Justin Long, Emma Stone, Christopher Mitz-Plasse, Chloë Grace Moretz – und das sind noch nicht mal alle, die hier mitmachen. Eine der größten Filmbesetzungen aller Zeiten – in einem der miesesten Streifen seit jeher. Sollten nicht große Namen garantieren, zumindest für gute Unterhaltung? Was haben die Produzenten in der Hand gegen diese Stars, sie zum Mitmachen zu erpressen? Wurden sie trunken gemacht, um ein krakeliges Kreuz unter einen Vertrag zu setzen? Sind es nur Doubles, computergenerierte Roboter? Oder ist tatsächlich ihr Urteilsvermögen im Arsch?

Der Film will orientiert sein am „Kentucky Fried Movie“; entsprechend episodisch sind die einzelnen Szenen angelegt, inszeniert jeweils von einem anderen mehr oder weniger prominenten Regisseur (unter anderem Brett Ratner, der ja sowieso noch nie was Gescheites hingekriegt hat). Eine Parade von Filmchen, von denen nur einer als Sketch zu erkennen ist, ein Speed-Dating von Robin, der stets von Batman auf alberne Weise gestört wird, bis beide eine Bombe des Pinguins entschärfen und einen bösen Komplott um Supergirl bzw. dem Riddler auf die Spur kommen. Witzig ist es nicht, aber immerhin ist ein Bemühen erkennbar. Regie führte James Duffy, der eine Art Sequel/Remake schuf seines vorherigen Kurzfilms „Robin’s Big Date“.

Das Date ist ein sich wiederholender Standard, die erste Szene ist symptomatisch: Kate Winslet beim Blind Date mit Hugh Jackman, begehrter Junggeselle der High Society – gesegnet mit Hoden am Hals. Ja: Dort hängt sein fieser, labbriger, unansehnlicher, mit einer hässlichen Zierleiste versehener, haariger, mit gekrausten, mit gekrüllten, mit abgeknickten Haaren gespickter, faltiger alter Dauersack, mit Eier drin und Sacksuppe: Das ist der krasse Gag der Episode, hahaha! – nein, witzig ist das nicht. Regie führte Peter Farrelly, der ja schon seit vielen Jahren im tiefen Loch sitzt.

Solcherart ist das Grundmuster vieler der „Sketche“ – irgendeine Unsinns-Voraussetzung, die breitgetreten wird, ohne dass sich irgendwas darauf aufbauen würde. Anna Faris bittet ihren Freund, der ihr gerade einen Heiratsantrag machen will, sie aus Liebe vollzukacken. Im Supermarkt beschimpfen sich zwei Liebende mit sexuell aufgeilenden Anzüglichkeiten, direkt ins eingeschaltete Kassierermikrophon rein. Johnny Knoxville hat für Seann William Scott zum Geburtstag einen Gerard-Butler-Kobold gefangen, um an einen Goldtopf zu kommen, Chloë Grace Moretz bekommt als 13jährige beim Teenagerdate ihre erste Periode und keiner weiß damit umzugehen. Komische Fallhöhe? Fehlanzeige.

Regie bei der Menstruationsszene führte die Schauspielerin Elisabeth Banks, die auch in der letzten Episode von James Gunn mitspielt: Darin wird sie von der pumucklartig in den Film gezeichneten Comickatze Beezel gehasst, dem Lieblingstierchen ihres Freundes. Gunn hatte zuvor die Superheldenpersiflage „Super“ gedreht, und wie er damals schlichtweg zu spät kam, nach „Kick-Ass“, wirkt auch sein Beezel-Film wie ein eher öder Nachklapp zu „Ted“.

Zusammengehalten wird alles von einer Art Rahmenhandlung um doofe Teenager, die im Internet nach dem mysteriösen „Movie 43“ fahnden, und es ist nur gequälte Selbstironie, wenn es von diesem Film im Film heißt, wer ihn sähe, verliere diverse Gliedmaßen und seine Eingeweide. Denn genauso wirkt der gesamte verdammte Film auf der Leinwand, wenn man seine Augen nicht rechtzeitig auf Durchzug stellt. Dieser Internetfilm „Movie 43“ im Film „Movie 43“ löst übrigens den Weltuntergang aus. Also machet euch bereit, das Ende ist nahe!

Zero Dark Thirty

(USA 2012, Regie: Kathryn Bigelow)

Jagdfieber
von Ulrich Kriest

Eigentlich ist das ja eine hübsche Pointe, wenn Kathryn Bigelow und der Drehbuchautor Mark Boal in Interview zu „Zero Dark Thirty“ erzählen, dass das Filmprojekt über die Jagd auf Osama …

Eigentlich ist das ja eine hübsche Pointe, wenn Kathryn Bigelow und der Drehbuchautor Mark Boal in Interview zu „Zero Dark Thirty“ erzählen, dass das Filmprojekt über die Jagd auf Osama Bin Laden schon in trockenen Tüchern war, als der im Mai 2011 im pakistanischen Abbottabad von einer US-Spezialeinheit gestellt und hingerichtet wurde. War das ein Happy End? Wohl kaum. Eher eine nationale (internationale?) Triebabfuhr mit Zeitverzögerung. Wer erinnert sich nicht an das berühmte Foto von Obama, Hillary Clinton und anderen aus dem Stab, die gebannt den Live-Stream des Militäreinsatzes verfolgen? Dieses Bild fehlt übrigens in „Zero Dark Thirty“, weil das Gezeigte nicht auf der Ebene des Politischen verhandelt werden soll. Dazu später mehr.

Am Anfang steht das Menetekel von „9/11“, mit dem Kathryn Bigelow ihren Film „Zero Dark Thirty“ eröffnet. Die Leinwand bleibt schwarz, aber man hört die Stimmen der Opfer des Terroranschlages aus der Luft. Stimmen voller Angst und Verzweiflung, Menschen, wissend, dass sie diesen Morgen nicht überleben werden. Als Präsident Bush damals unmittelbar nach den Anschlägen vor die Fernsehkameras trat, versprach er der traumatisierten Nation: „We’ll hunt them down!“ So, als sei das Ganze ein alter Indianerfilm, ein böser Traum. Aber nichts anderes als die geduldige, von Rückschlägen nicht zu erschütternde Einlösung dieses Versprechens, die Jagd auf Osama Bin Laden bis hin zur Nacht seiner Exekution durch eine Spezialeinheit in Pakistan, zeigt Bigelows Film – und ist doch zugleich das verstörende Psychogramm einer jungen CIA-Agentin, die von dieser Jagd geradezu besessen scheint.

Die Energie, die vom traumatischen Vorstellungskomplex „9/11“ ausgeht, reicht für eine lange, mühsame, aber ausdauernde Jagd, die gleichwohl gegen die wechselnden Moden und Opportunismen der Politik behauptet werden muss. Und gegen die kontrapunktisch eingesetzten Terroranschläge von Al-Qaida, die die Ermittlungsarbeiten strukturieren und vor allem eine ständige, nie nachlassende Gefahr beschwören, die von diesem Terrornetzwerk ausgeht: Madrid, London, Bali, Islamabad.

Nachdem ein paar Freunde und Mitarbeiter Mayas bei einem aberwitzig in Szene gesetzten und auch aberwitzig naiv geplanten Kontakt mit einem Informanten Opfer eines Selbstmordanschlages wurden, wird die ganze Angelegenheit fast schon zu einem persönlichen Feldzug, wenn Maya äußert, es sei vielleicht Schicksal, dass sie dem Anschlag entging, weil sie »die Sache« zu Ende bringen solle. Doch solch »kritische«, weil sentimentalen Momente gönnt sich der Film nur selten. Zumeist zeigt Bigelow die Arbeit der Geheimdienste unterkühlt als hoch professionell: man überwacht, sammelt Daten und Fakten, wertet aus, stellt Zusammenhänge her, geht Spuren nach, bringt Ordnung in ein Chaos von Informationen.

Und Bigelow zeigt auch: genau, die CIA foltert, um an Informationen zu gelangen und tötet als Konsequenz dieser Informationen; in verschiedenen Ländern unterhält man Geheimgefängnisse, in denen man Menschen verschwinden lassen kann. Vieles, was in den Jahren des „War against Terror“ zum Skandal wurde und vielleicht noch werden wird, wenn es denn überhaupt an die Öffentlichkeit kam oder kommt, wird von Bigelow ganz nüchtern registriert. Menschenrechte sind in Kriegszeiten etwas Relatives und Verhandelbares. Man kann diese Nüchternheit des Film als Indifferenz kritisieren.

Die Filmemacherin sagt von sich, sie habe keine Agenda gehabt, nur ihre Recherche – und ein paar Informationen aus erster Hand. Tritt der Film deshalb mit journalistischem Anspruch auf? In den USA wird „Zero Dark Thirty“ heftig kritisiert, weil man dem Film vorwirft, er legitimiere Folter, weil die Informationen, die durch Folter geschöpft worden seien, letztlich zur Liquidation Bin Ladens geführt hätten. Tatsächlich aber führen Informationen, die im Chaos der ersten Tage nach „9/11“ untergingen, zum Versteck von Bin Laden. Also: warum wird in „Zero Dark Thirty“ dann so ausgiebig gefoltert? Weil ausgiebig gefoltert wurde? Eine Gespensterdiskussion, die den Film grundsätzlich verfehlt, weil hier nichts legitimiert oder kritisiert wird.

Weit interessanter als die Beantwortung dieser Frage ist die Figur der manischen Jägerin Maya, gespielt von Jessica Chastain, die in ihrem Habitus fast an eine mythische Westernfigur erinnert (oder an Kapitän Ahab!) und die, als die Jagd endlich beendet ist, fassungslos ins Leere blickt und in Tränen ausbricht. Man kann diese Schlusspointe individualpsychologisch interpretieren – oder politisch. Ersteres scheint ein wenig vermessen bei einer Figur, die keine Geschichte (und eigentlich auch keine Gegenwart) hat; letzteres scheint eine interessante Gewichtung: Denn die Fixierung auf einen allmächtigen Bösewicht, der als Gegenüber fungiert, entspricht längst nicht mehr der nicht-hierarchischen rhizomartigen Vernetzung des globalen Terrors, sondern, eben, der Dramaturgie eines Indianerfilms.

In diesem Sinne wäre der groß angelegte Showdown von Abbottabad im Mai 2011 im dritten Abschnitt des Films eine verquere militaristische Farce, in der ein Spezialkommando mit großer Professionalität eine heikle Mission erfolgreich durchführt – und letztlich doch die Struktur des internationalen Terrors verfehlt, ja, verfehlen muss. „Zero Dark Thirty“ zeigt auch diesen ernüchternden Befund, der keinerlei Pathos oder Genugtuung zulässt, sondern eigentlich ein Scheitern aus politischer Kurzsichtigkeit konstatiert. So ist der Film ein durchaus temporeicher, spannender, fast schon dokumentarischer, aber vor allem höchst unbequemer Polit-Thriller voller unangenehmer Wahrheiten und politischer Ambivalenzen, dessen Einschätzung letztlich dem einzelnen Zuschauer und seiner politischen oder moralischen Haltung überlassen bleibt.

Diese fehlende Eindeutigkeit mag man bedauern, aber zugleich ist diese Offenheit ein Indiz dafür, dass Bigelow zumindest in einem Punkt irrt, nämlich wenn sie behauptet, ihr Film sei unpolitisch. Das Gegenteil ist der Fall. Dass eine Frau im Zentrum des Films steht, ist nicht neu im Werk Bigelows („Blue Steel“), für Profis hatte sie eh schon immer ein großes Herz („Tödliches Kommando“). Zumal, weil sie selbst das Image des toughen Tomboys, die gerne Genrefilme dreht, vor sich her trägt. Dazu passt der anti-bürokratische Zug von „Zero Dark Thirty“, wenn Maya sich bei ihrer Jagd durch wechselnde politische Großwetterlagen gestört fühlt. Wenn Obama einmal davon spricht, exterritoriale Gefängnisse schließen zu lassen, dann wirkt das aus Mayas Perspektive, die die Perspektive der Geheimdienste ist, bestenfalls unprofessionell.

Viel wichtiger ist jedoch der Respekt, den die Männer vom Einsatzkommando, die den Fall „Bin Laden“ abschließen werden, ihr, die sich selbst einmal als „motherfucker“ bezeichnet, entgegenbringen. Profis unter sich! Und vielleicht, weil die Geschichte ihr ins Drehbuch gepfuscht hat, hat Kathryn Bigelow ihren Film nach den Kapiteln „Folter“ und „Ermittlung“ um den Teil „Hinrichtung“ ergänzt, gefilmt durch schicke Nachtsichtgeräte, obwohl der Triumph am Schluss doch mehr als schal ausfällt. Action-Shoot-outs mit Spezial-Einsatzkommandos und Helikoptern bringen die Welt nicht mehr in Ordnung. So zeigt „Zero Dark Thirty“ 2013, dass George W. Bush 2001 irrte, als er glaubte, mit der Logik Hollywoods auf den Terror antworten zu wollen. Die Hinrichtung Bin Ladens ist schlicht ein Fehlschlag, der auch nicht dadurch camoufliert werden kann, dass man die Leiche im Indischen Ozean verschwinden ließ. Die Zeit der Super-Gangster ist vorbei. Als Maya das erkennt, hat sie ein Drittel ihres Lebens in die Jagd investiert. Diagnose: Burn-out (einer Nation).

Hannah Arendt

(D / F / LUX 2012, Regie: Margarethe von Trotta)

Gespenst mit Schnupfen
von Wolfgang Nierlin

Der Kontrast von Licht und Dunkelheit als Zeichen der Suche nach Aufklärung bestimmt den Prolog von Margarethe von Trottas neuem Film „Hannah Arendt“: Der Lichtkegel einer Taschenlampe, die nach der …

Der Kontrast von Licht und Dunkelheit als Zeichen der Suche nach Aufklärung bestimmt den Prolog von Margarethe von Trottas neuem Film „Hannah Arendt“: Der Lichtkegel einer Taschenlampe, die nach der Verhaftung des Kriegsverbrechers Adolf Eichmann durch den israelischen Geheimdienst Mossad auf einer Landstraße in der Nähe von Buenos Aires liegen bleibt; die aufleuchtende Flamme des Feuerzeugs, an dem sich die kettenrauchende Titelheldin ihre Zigarette anzündet; und die Lichter des nächtlichen New York, wo die jüdische Emigrantin eine neue Heimat gefunden hat und als Philosophie-Dozentin an der New School lehrt. Nach ihrer Flucht aus dem französischen Internierungslager Gurs sei ihr Amerika wie ein Paradies erschienen, sagt Hannah Arendt (Barbara Sukova) einmal zu ihren Studenten. Eine gewisse Unbeschwertheit und ein leichter Tonfall kennzeichnet dann auch die ersten Szenen des Films: Etwa die ironischen „Frauengespräche“ mit der Schriftstellerin Mary McCarthy (Janet Mc Teer), die immer wieder von der Sekretärin Lotte Köhler (Julia Jentsch) wegen eingehender Telefonate unterbrochen werden; das neckische Liebesgeflüster mit ihrem sinnlich-vitalen Ehemann Heinrich Blücher (Axel Milberg); oder auch die von angeregten Diskussionen bestimmten Hausgesellschaften des „Tribe“.

Stets steht die resolute Hannah Arendt unaufdringlich, aber nachdrücklich im Zentrum der Aufmerksamkeit dieses Portraitfilms, der titelgemäß die ganze Person meint und sich dafür auf einen Abschnitt ihres Lebens konzentriert. Dieses gewinnt dadurch eine schöne Plastizität. Als 1961 in Jerusalem der Prozess gegen Eichmann beginnt, reist Arendt als Berichterstatterin für den „New Yorker“ nach Israel. Was sie dort eindringlich beobachtet und später im gewissenhaften Studium ganzer Aktenberge von Gerichtsprotokollen analysiert, ist das eklatante Missverhältnis zwischen dem vorgeblichen Monster Eichmann im Glaskäfig, den traumatischen Zeugenaussagen der Opfer und der offensichtlichen Mittelmäßigkeit des Angeklagten. Dieser stellt sich dar als Bürokrat und gehorsamer Befehlsempfänger, als „Teilchen des Ganzen“ und als Gesetzestreuer ohne Schuld- und Verantwortungsgefühl. Nie habe er persönlich einen Juden verletzt. „Eichmann ist kein Mephisto“, sagt Arendt zu ihrem jüdischen Freund und Mentor, dem Zionisten Kurt Blumenfeld (Michael Degen), sondern „ein Gespenst mit Schnupfen“ und einer „grauenvollen Amtssprache“. Diese Unfähigkeit, sich durch Denken als kohärente, verantwortliche Person zu begreifen, kulminiert schließlich in jenem berühmt gewordenen Satz von der „Banalität des Bösen“.

Eine solche Vermenschlichung der ungeheuerlichen NS-Verbrechen, verbunden mit der tabuisierten Frage nach der Mitverantwortung der Judenräte, stößt nach der Veröffentlichung der Artikelserie „Eichmann in Jerusalem“ auf erbitterten Widerstand, offene Feindschaft und hasserfüllte Verleumdung. Margarethe von Trotta zeigt in diesen Passagen eine unbedingte Denkerin und kämpferische Frau, die sich der vorherrschenden Meinung nicht beugt, mit ihren Kontrahenten spannende Rededuelle führt und in einer ebenso mitreißenden wie bewegenden Rede vor Studenten und Professoren (von Kamerafrau Caroline Champetier und Cutterin Bettina Böhler hervorragend dynamisiert) ihre Sicht der Dinge verteidigt. Dieser unbeugsame Wille, durch leidenschaftliches Denken dem Verstehen näher zu kommen, bezieht die Regisseurin in wenigen, prägnanten Rückblenden auf Hannah Arendts Begegnung mit dem Philosophen Martin Heidegger (Klaus Pohl), der zu ihrem Lehrer und Liebhaber wird. „Denken ist ein einsames Geschäft“, doziert dieser. Es führe weder zu Wissen noch zu notwendigem Handeln. Dass Heidegger nach dem Krieg in einer Begegnung mit Arendt keine Erklärung für seine nationalsozialistische Verstrickung findet, macht diese Sätze so brisant. Denn der dunkle Schatten des Mitläufertums legt sich damit von der anderen Seite her eben auch auf den denkenden Menschen.

Marina Abramovic: The Artist Is Present

(USA 2012, Regie: Matthew Akers)

Performance-Kriegerin
von Wolfgang Nierlin

“Künstler müssen Krieger” sein, sagt die 1946 in Belgrad geborene Partisanen-Tochter und Performance-Künstlerin Marina Abramovic. Durch eine enorme Konzentrationsleistung, die dem schwachen Fleisch des Körpers geistige Stärke und Ausdauer entgegensetzt, …

“Künstler müssen Krieger” sein, sagt die 1946 in Belgrad geborene Partisanen-Tochter und Performance-Künstlerin Marina Abramovic. Durch eine enorme Konzentrationsleistung, die dem schwachen Fleisch des Körpers geistige Stärke und Ausdauer entgegensetzt, arbeitet sie mit „kommunistischer Disziplin“, so die serbische Performerin selbstironisch, an einer Veränderung des Bewusstseinszustandes. Indem sie sich innerlich „leer macht“ und „ganz auf die Gegenwart“ fokussiert, verschmelzen im öffentlichen Raum der Performance Kunst und Leben, wird die dabei erfahrene Zeit teilbar. Immer wieder rückt dabei der Körper, seine Nacktheit und Verletzlichkeit ins Zentrum. Dieser wird gewissermaßen zum Synonym für den dünnen Firnis der Zivilisation. Vor allem ihre „Relation Works“, die sie in den 1970er Jahren zusammen mit ihrem seelenverwandten Lebens- und Arbeitsgefährten Ulay realisierte, handeln auf verstörende Weise von dieser Grenzverletzung. Bewegungslos, stumm und fastend dokumentieren diese Performances nicht nur extreme Körperzustände, sondern auch spirituelle Kraft.

Als Konzentrat, Verdichtung und Zuspitzung dieser Erfahrungen lässt sich ihre Performance „The Artist Is Present“ verstehen, die sie vom 14. März bis zum 31. Mai 2010 im New Yorker Museum of Modern Art im Rahmen einer Werkschau und unter enormem Publikumsandrang aufführte. In dem fast mönchisch anmutenden Setting aus zwei Holzstühlen und einem Tisch (der später weggenommen wird) sitzt Marina Abramovic in einem wallenden, zwischen den Farben Rot, Blau und Weiß wechselnden Kleid täglich sieben Stunden, um mit ihrem intensiven Blick zum Spiegelbild für die jeweiligen Gegenüber zu werden; wobei sie diese mit jeweils gleicher, respektvoller Aufmerksamkeit betrachtet. Die Künstlerin fungiert auf diese Weise als Projektionsfläche für die Gefühle derjenigen, die ihren Blick suchen. Entsprechend emotional reagieren viele der Besucher, die in der Begegnung mit Abramovics Blick auf sich selbst zurückgeworfen werden.

Matthew Akers‘ Dokumentarfilm, der unter gleichlautendem Titel diese Performance sowie die monatelangen Vorbereitungen dazu dokumentiert, zeigt den merkwürdigen oder angesichts des Hypes auch bezeichnenden Kontrast zwischen theatralischem Spektakel und meditativer Versenkung, die beim faszinierten Publikum immer wieder aufmerksames Staunen und geradezu kathartische Reaktionen auslöst. Abramovic schaffe einen „charismatischen Raum“ und „visualisiere die Zeit“, erläutert Kurator Klaus Biesenbach dazu. Die Geschichte dieser oft schmerzlichen Body Art, verbunden mit Abramovics künstlerischem Werdegang, wird in zahlreichen historischen Filmschnipseln streiflichtartig beleuchtet, wobei die Zusammenarbeit mit Ulay einen gewissen Schwerpunkt bildet. Doch Akers geht es weder um Analyse noch Vertiefung oder gar kritische Distanz. Sein rasant montierter, teilnehmender und mit vielen Interview-Häppchen garnierter Film, der zudem von minimalistischer Musik in Endlosschleife unterlegt ist, zielt eher darauf, durch Nähe zum Gegenstand die künstlerische Suggestion zu verstärken. Der Mensch hinter der Kunst gewinnt dadurch nur wenig Kontur. Aber vielleicht muss man Abramovics Performance „The Artist Is Present“, wie Biesenbach meint, als Selbstportrait einer in die Welt verliebten Künstlerin betrachten.

Das schlafende Mädchen

(D 2011, Regie: Rainer Kirberg)

Potenziell lehrreich
von Louis Vazquez

Filme, die fingiertes „Found Footage“ präsentieren, findet man seit geraumer Zeit vor allem im Horrorgenre, auch wenn gelegentlich ein origineller Superheldenfilm („Chronicle“), ein Komödienversuch über eine eskalierende Facebook-Party („Project X“) …

Filme, die fingiertes „Found Footage“ präsentieren, findet man seit geraumer Zeit vor allem im Horrorgenre, auch wenn gelegentlich ein origineller Superheldenfilm („Chronicle“), ein Komödienversuch über eine eskalierende Facebook-Party („Project X“) oder ein inkonsequent umgesetztes Polizeidrama („End of Watch“) dazukommen. Schade, dass ein Großteil der aufs Genre eingeschworenen Filmegucker wohl eher nicht auf „Das schlafende Mädchen“ aufmerksam werden wird, zumal das Label „Künstlerporträt“ sich für manche Ohren womöglich sogar abschreckend anhört. Dabei ist der Film alles andere als sperrig, sondern vielmehr höchst unterhaltsam und dazu eine ziemlich eindringliche Erfahrung.

„Das schlafende Mädchen“ spielt Anfang der 1970er Jahre im Umfeld der Düsseldorfer Kunstakademie und gibt sich konsequent als Videoprojekt des Beuys-Schülers Hans (Jakob Diehl) aus. Hans erforscht mit Hilfe des neuen Mediums den Raum, rückt sich immer wieder selbst ins störungsanfällige Schwarzweißbild und inszeniert sich. Er reflektiert und hinterfragt in experimentellen Sequenzen das Wesen der Kunst und diskutiert bei laufender Kamera mit seinem besten Freund Philipp (Christoph Bach) darüber. Mal ist die Kamera im Raum platziert, mal wird sie von Hans geführt, sodass seine Stimme nur aus dem Off zu hören ist. Und plötzlich entwickelt sich sogar eine Geschichte: Bei einer Aufnahme im Stadtpark gerät Ruth (Natalie Krane) ins Bild. Sie scheint im Park zu leben und weckt sofort Hans’ Interesse. Bald wird sie ihm zur Muse und zur Geliebten, zum Motiv und zum Kunstprojekt. Sie blüht dabei zunächst auf und beginnt, an der Akademie als Aktmodell zu arbeiten – was Hans freilich für keine so gute Idee hält. Auch mit Philipp versteht Ruth sich gut und sie wird immer unabhängiger von Hans, der selbst abends in der Disco nicht von seiner Arbeit, d.h. der Kamera, lassen kann. Er deutet Ruths Entwicklung als Flucht und Selbstbetrug: Für ihn soll sie doch bitteschön das verirrte Mädchen aus dem Wald bleiben und nicht zum „Glamour-Girl“ werden. Um sie in seine nicht mehr angemessene Vorstellung zu zwingen, wird Hans so manipulativ und verzehrend wie der Blick seiner Kamera, deren Einsatz längst einen obsessiven Charakter hat.

Rainer Kirberg, ehemals selbst Kunststudent in Düsseldorf, dürfte Cineasten vor allem wegen seines Films „Die letzte Rache“ (1980) ein Begriff sein, der die Ästhetik expressionistischer Stummfilme evozierte, gleichzeitig aber NDW-Stücke musicalartig in seine phantastische Erzählung einbettete – eine wohl einzigartige Begegnung. Auf den ersten Blick scheint „Das schlafende Mädchen“ visuell weniger auffällig, doch dieser Eindruck trügt. Hans, der hier an die Stelle des Filmemachers tritt, erweist sich schnell als ziemlich begabter und einfallsreicher Selbst- und Welterforscher – mit dem entsprechenden Hang zum Wahnsinn. Das Material hat er, so suggerieren achronologische Montagen später, zumindest zum Teil bereits in seinem Sinn arrangiert. Die Kamera entpuppt sich dabei auch als Machtinstrument eines autoritären Charakters, sodass neben zärtlichen und komischen Momenten dann doch auch der Horror ins Spiel kommt, wenn die Beziehung zu Ruth sich zwischenzeitlich zum grausamen Zweikampf entwickelt. Mit scheinbarer Leichtigkeit balanciert der Film die verschiedenen Elemente seiner Erzählung. So wird das fiktive Video-Relikt und Zeitdokument zum Künstler- und Kunstporträt und gleichermaßen zur Geschichte einer Amour Fou.

„Das schlafende Mädchen“, der bereits auf der Berlinale 2011 zu sehen war, ist ein ungewöhnlicher, bereichernder Film, der trotz seiner radikalen Form nie aufdringlich konstruiert wirkt, und der – obwohl potenziell lehrreich – nie didaktisch daher kommt. Dass die Figuren eindringlich, aber stets mit dem nötigen Maß gespielt werden und hier nichts manieriert oder affektiert wirkt, ist auch keine Selbstverständlichkeit. Gewiss einer der interessantesten deutschen Filme, die dieses Jahr zu sehen sein werden – in viel zu wenigen Kinos.

Crazy Horse

(F / USA 2011, Regie: Frederick Wiseman)

Kurven-Ballett
von Wolfgang Nierlin

Das Spiel der Verführung, als Kunst der erotischen Inszenierung verstanden, hat auf der Varieté-Bühne des berühmten Pariser Nachtclubs Crazy Horse eine lange Tradition. Seit der Gründung des legendären Revue-Theaters im …

Das Spiel der Verführung, als Kunst der erotischen Inszenierung verstanden, hat auf der Varieté-Bühne des berühmten Pariser Nachtclubs Crazy Horse eine lange Tradition. Seit der Gründung des legendären Revue-Theaters im Jahre 1951 durch seinen langjährigen Leiter Alain Bernardin wird hier die Verfeinerung sexueller Lust zelebriert. „Paroxysme“, „Désir“ oder auch ganz gewöhnlich „Baby Buns“ lauten etwa die frivolen Titel der einzelnen Programmteile. Tanzende junge Frauen mit makellosen Körpern bedienen im Crazy Horse sehr freizügig typische Männerphantasien, indem sie Geschichten erzählen von Lust und Begierde, leidenschaftlicher Liebe, Unterwerfung und Befreiung. Sie sind rivalisierende Raubkatzen im Käfig, Astronautinnen des Begehrens, Fische in einem illuminierten Aquarium, von schweren Seilen umschlungene Gefangene oder aber Soldatinnen der Erotik, die in Reih und Glied und Gleichschritt ihr Publikum erobern.

Das Besondere dieser erotischen Kurzgeschichten liegt aber in der visuell eindrucksvollen Inszenierung, die den geheimnisvollen Wechsel zwischen Nacktheit und Verhüllung in ein Spiel aus Licht, Farben und Formen verwandelt. Die Körper und ihre synchronen oder auch symmetrischen Bewegungen werden auf diese Weise modelliert und überhöht. Andererseits sorgen komplizierte Spiegeleffekte und reizvolle Schattenspiele für eine regelrechte Zerstückelung des weiblichen Körpers in seine erotischen Bestandteile. Der zerlegende Blick des Voyeurs wird so vorweggenommen, durch Prismen und optischen Täuschungen multipliziert und zugleich wieder aufgehoben. Dann verwandeln sich die kreisenden Körper entweder in ein obszönes Kurven-Ballett oder aber in abstrakte Landschaften aus Erhebungen und Vertiefungen.

In sehr ausführlichen Filmausschnitten dokumentiert der amerikanische Filmemacher Frederick Wiseman in seinem neuen Film „Crazy Horse“ diese gewagten und zugleich künstlich unterkühlten Inszenierungen. Wie schon in „La danse – Das Ballett der Pariser Oper“ blickt er aber auch hier hinter die Kulissen und zeigt mit scheinbar neutralem Blick die Arbeit der Techniker und Bühnenarbeiter, der Kostümbildner und der künstlerischen Leitung. Wir werden zu Teilnehmern von Proben, einem rigoros körperzentrierten Bewerberinnen-Casting, das die Natur der Sache mit der Würde der Frauen kontrastiert, und den engagierten Diskussionen des Choreographen Philippe Decouflé, der für Neuerungen kämpft. Geradezu intim wird der Blick, wenn wir den Frauen beim Frisieren, Schminken und Ankleiden zusehen können. Wiseman zeigt das kommentarlos, verzichtet dabei auf Interviews oder herausgehobene Einzelportraits, als verschwände er als Autor hinter seinem Material. Keiner bestimmten Absicht scheint sein Wechsel zwischen Vorder- und Hintergrund, Bühne und Kulisse, drinnen und draußen zu folgen. Er zeigt und beobachtet, was ist und wählt doch aus. Und so lösen sich aus dem a-chronologischen Strom der Bilder und in Analogie zu den fragmentierten Frauenkörpern immer wieder Details, die sich an anderer, späterer Stelle in ein größeres, flächigeres Bild, einen lineareren Zusammenhang einfügen.

Red Dawn

(USA 2012, Regie: Dan Bradley)

Nichts Neues an der Heimatfront!
von Ulrich Kriest

Gespannt sein durfte man auf dieses Remake des trivial-reaktionären Klassikers „Die rote Flut“, ist doch der Film von 1984 felsenfest im Freund/Feind-Denken einer längst obsolet gewordenen bipolaren Weltordnung verankert. Regisseur …

Gespannt sein durfte man auf dieses Remake des trivial-reaktionären Klassikers „Die rote Flut“, ist doch der Film von 1984 felsenfest im Freund/Feind-Denken einer längst obsolet gewordenen bipolaren Weltordnung verankert. Regisseur John Milius und sein Co-Drehbuchautor Kevin Reynolds hatten seinerzeit eine Invasion der USA durch Truppen aus Kuba und Nicaragua unter sowjetischer Führung fantasiert, die es einer Gruppe von Teenagern in Colorado erlaubte, ihre aus dem Vietnam-Trauma gezogenen Guerilla-Lehren subversiv einmal in der Praxis am überlegenen Feind zu erproben.

Zumindest rückblickend kann „Die rote Flut“ mit einem erstaunlichen Darsteller-Ensemble punkten. Für die Freiheit stiegen 1984 Patrick Swayze, C. Thomas Howell, Charlie Sheen und Jennifer Grey in den Ring, auch Harry Dean Stanton war damals mit von der Partie. Zudem überrascht der in jeder Hinsicht recht grob gestrickte Film durch die Volte, dass ein kubanischer Führungsoffizier Skrupel bekommt, den vom sowjetischer Oberbefehlshaber befohlenen Terror gegen die Bevölkerung zu exekutieren, weil er bislang stets auf Seiten von Unabhängigkeitsbewegungen kämpfte. Dem skrupellosen Russen war solch idelogischer Ballast egal, schon damals.

Man durfte also durchaus gespannt sein, welches Szenario das Remake entwerfen würde, um die Erfahrungen von 9/11 und den Kriegen im Irak oder Afghanistan in den bekannten Stoff zu integrieren. Doch „Red Dawn“ wurde nur halbherzig in der Gegenwart verortet: unbekümmert von realistischen Ansprüchen und jeder intellektuellen Anstrengung abhold, hat der Second Unit-Regisseur Dan Bradley nun tatsächlich nur eine fade Kopie des Originals abgeliefert. Nur, dass die Invasoren diesmal aus Nordkorea kommen und sich folglich den US-amerikanischen Nordwesten statt des Mittleren Westens ausgesucht haben.

Dort in der Provinz scheint das Leben stehen geblieben zu sein und kreist noch immer um Football und Familie. Angeführt von einem Ex-Marine mit Irak-Erfahrungen verwandeln sich auch 2012 weiße Middleclass-Teenager auf rasante Weise in opferbereite Guerilleros, die zwischen dem Ballern und Bomben markige Reden schwingen über ererbte Freiheit, die man zu verteidigen lernen muss. Einmal heißt es sehr schön, dass dieses Stück Land für die Invasoren nur „some place“, während es für die patriotischen Kids immerhin die Heimat sei. Ihr Partisanenkampf folgt der einfachen Strategie, die Okkupation für die Besatzer so blutig zu gestalten, dass ein Abzug der Truppe alternativlos sei. Derlei prägnante Oneliner sind mit einem unmissverständlichen Score unterlegt, der keinen Zweifel aufkommen lässt, dass hier mit keiner Ironie zu rechnen ist. Derart unverfroren wird hier mit rassistischen Untertönen – Verräter und Kollaborateure sind Afro-Amerikaner oder Menschen mit einem Rest von demokratischem Selbstverständnis – einem autoritären, anti-demokratischen Führerprinzip nebst bewaffneter Selbstverteidigung das Wort geredet, dass man „Red Dawn“ als filmische Antwort der Waffenlobby auf die jüngsten Massaker in den USA interpretieren möchte.

Für die jugendliche Zielgruppe – in den USA erhielt der Film ein „PG-13“ – wurde diese Geschmacklosigkeit mit ein paar Liebeständeleien und etwas Bruderzwist angereichert, vielleicht auch, um von den unterirdischen Darstellerleistungen abzulenken. Ursprünglich, der Film wurde bereits 2009 gedreht, war übrigens eine Invasion der Chinesen geplant gewesen, aber nachdem sich in China Proteste gegen diese Option regten, wurde im Verlauf der Post-Production auf Nordkorea umgestellt. Was immerhin dem Geist dieses Films entspricht: allem Freiheitspathos zum Trotz folgt die Ideologie der Ökonomie.

The Impossible

(ESP / USA 2012, Regie: Juan Antonio Bayona)

Dabei sein ist alles!
von Louis Vazquez

Ob Porno, Horror- oder Katastrophenfilm: Film ist grundsätzlich auf die Schaulust der Zuschauer angewiesen. Umso interessanter, wenn ein Werk als „true story“ verkauft wird, denn wie die Ejakulation im Porno …

Ob Porno, Horror- oder Katastrophenfilm: Film ist grundsätzlich auf die Schaulust der Zuschauer angewiesen. Umso interessanter, wenn ein Werk als „true story“ verkauft wird, denn wie die Ejakulation im Porno sollen ja auch die inszenierten Gefühle wirklich so stattgefunden haben, was die Anteilnahme verstärken dürfte. Nachdem der Vorspanntext von „The Impossible“ ein paar Eckdaten zum verheerenden Tsunami vom 26.12.2004 in Erinnerung gerufen hat, der weit über 200 000 Menschen in Südostasien das Leben kostete, verschwinden nach und nach alle Worte von der Leinwand, bis nur noch die Beteuerung der Wahrhaftigkeit übrig bleibt. Eine seltsam energische Beschwörung von Echtheit, die zunächst nur kurz irritiert. In den folgenden zwei Stunden bestätigt sich allerdings die dumpfe Vorahnung, dass hier noch aufdringlicher als üblich mit großen, wahren Gefühlen hausiert wird.

„The Impossible“ erzählt vom Schicksal einer Touristenfamilie: Maria (Naomi Watts) und Henry (Ewan McGregor) verbringen mit ihren drei Söhnen Weihnachten in einem thailändischen Ferienresort. Der Tsunami reißt die Familie auseinander. Maria, Henry und die Kinder irren in zwei Gruppen durch die zerstörte Landschaft, verpassen sich einmal knapp und haben am Ende das Glück, sich wieder in die Arme schließen zu können.

Man könnte glauben, der Titel des Films sei im Bewusstsein gewählt worden, dass die Darstellung einer realen Katastrophe, die noch nicht allzu lange zurückliegt, gewisse Probleme bereitet und sich deshalb bei der Inszenierung womöglich die Frage gestellt hat, was denn wie darzustellen wäre. Vielleicht hat man darüber nachgedacht, an welchen Stellen man distanziert bleibt, welche Ereignisse man verfremdet, abstrahiert oder besser gar nicht zeigt. Doch der Film zeugt nicht eben davon, sondern setzt ganz und gar auf Affekterzeugung durch naturalistisches Re-enactment, mit erstklassigen Effekten und vielen nachgeweinten Tränen. Regisseur Juan Antonia Bayona, bekannt vor allem für seinen Schauerfilm „Das Waisenhaus“ (2007), versteht sein Handwerk vor allem wenn es um emotionale Thrills geht. Wie er das Beben und die herannahende Welle inszeniert, zeigt deutlich, dass er bei Spielberg (und vermutlich Emmerich) sehr genau hingeschaut hat. Wann es aber reicht mit dem Spektakel, das weiß er nicht, und deshalb fühlt man sich als Zuschauer bald nicht mehr überwältigt, sondern für dumm verkauft. Denn dass man auch ohne visuelle Steilvorlagen und aufdringliche Musik Mitgefühl entwickeln kann, scheint der Film nicht recht zu glauben und geht lieber auf Nummer sicher – doppelt und dreifach.

Mit subjektiven Bildern und dem entsprechenden Sounddesign rückt er dicht an die Opfer, die unter Wasser gedrückt werden. Er zeigt, wie das Geröll einem Kinderkörper blutige Wunden reißt, weil man sich das ja sonst offenbar nicht vorstellen kann. Das immerhin halbwegs schlüssige Konzept der Subjektivierung wird aber schnell wieder aufgeweicht, weil man unter Wasser leider nichts von der Welle sieht, die die Effektspezialisten doch so täuschend echt nachempfunden haben. Deshalb saust die Kamera immer wieder nach oben und fängt die Attraktion per Top Shot ein, sodass in Sachen Überwältigung keine Wünsche offen bleiben dürften. Hier wird das Unmögliche möglich gemacht.

Das Martyrium der Menschen – sprich: Touristen, denn Thais dürfen hier zwar als Helfer auftreten, stehen aber vor allem für ein Organisationschaos – zeigt der Film lieber etwas ausführlicher und gönnt immer noch einen zweiten, besser sogar dritten Blick auf die Details – etwa eine Wunde oder das Blut, das aus ihr ins schlammige Wasser spritzt. Gut gespielt werden die Angst und die Schmerzen noch dazu, sodass Naomi Watts sich womöglich einen Oscar erschrien und erwimmert hat. Sollte den drastischen Bildern indes die Hoffnung auf eine besondere dokumentarische Qualität zugrunde liegen, so scheitert dieser Anspruch an der Dramatisierung der Ereignisse. „The Impossible“ wirkt auf unerträgliche Weise melodramatisch, zugespitzt und so vereinfacht, dass die „wahre Geschichte“ zur Legitimation starbesetzter Exploitation verkommt. Dass der Film aus einer spanischen Familie Engländer macht um der besseren Vermarktung willen – geschenkt. Aber kam tatsächlich erst ein Touristenjunge auf die Idee, im Krankenhaus mit einer Namensliste durch die Zimmer zu gehen, um Vermisste wieder mit ihren Familien zusammen zu bringen, weil die Thailänder beim Krisenmanagement dermaßen überfordert waren? Möglicherweise ist diese Episode schon nicht mehr so true, aber schön gefühlig zu erzählen, und so wird die Geschichte zur Schmonzette, für die es kein Echtheitszertifikat gebraucht hätte, es sei denn, um ein wenig fester auf Tränendrüsen drücken zu können. Katastrophenfilmfans aber können aufatmen: Um sie zu versöhnen, wird der Alptraum einer Figur prompt als Gelegenheit genutzt, die Ankunft der Welle später im Film noch einmal in aller Pracht zu zeigen.

„The Impossible“ zeugt von Talent und Beflissenheit in den technischen Mitteln, ist aber ohne Maß und Bedacht inszeniert und wird deshalb zum perfekten Surrogat für Katastrophentouristen. Filmischer Realismus und Überwältigung können manchmal eben das grundfalsche Konzept sein.

Yossi

(ISR 2012, Regie: Eytan Fox )

Eine Liebe erblüht
von Dietrich Kuhlbrodt

Das Sequel zum Militärfilm „Yossi und Jagger – eine Liebe in Gefahr“ (damaliger Verleihtitel). Vor zehn Jahren hatte der Film Aufsehen erregt: eine schwule Liebe zwischen Oberleutnant Yossi und Leutnant …

Das Sequel zum Militärfilm „Yossi und Jagger – eine Liebe in Gefahr“ (damaliger Verleihtitel). Vor zehn Jahren hatte der Film Aufsehen erregt: eine schwule Liebe zwischen Oberleutnant Yossi und Leutnant Jagger, beide im Waffenrock und in Feindesland (Libanon). Der Darsteller des jungen Jagger war damals Teenieschwarm gewesen. Leider hatten die heißen-Küsse-im-kalten-Schnee ein jähes Ende gefunden, als im Libanon eine libanesische Mine explodierte.

Yossi (Ohad Knoller), um gefühlte Jahrzehnte gealtert, ist 2012 Oberkardiologe, aber von damals schwer traumatisiert. Mürrischer Single (Eigenbrötler). Abends macht er sich Nudeln und holt sich vor dem Monitor einen runter. Ein Fehler beim Sten-Einsetzen am offenen Herzen! Sauerstoff! „Patient, hören Sie mich??“ – Wir sind im Arztfilm der TV-Serien, aber das wird sich ändern.

Dem Yossi wird vom Chef eine Auszeit verordnet. Im Liegestuhl am Roten Meer liest er Thomas Mann, Tod in Venedig. Schon wird er von einem hübschen Boy angemacht, Tom (Oz Zehavi). Der junge Soldat urlaubt dort mit seinen Kameraden. Er, jünger als der leider tote Jagger, umgarnt und umgirrt den Älteren. Wenn dieser Mahler hört, weiß der Junge, dass es sich um Gustav handelt. Zwischen denen muss es was werden.

Es hilft ein nächtliches Nacktbad sowie eine Nacht im Hotelbett. „Wir bleiben hier für immer“, sagt der Kardiologe. Auf der unterhaltsamen Tonspur wird von Zwölfjährigen geschwärmt: „Twelve years old in your mamas clothes“. Auch ertönt der Song „Men of Israel“ sowie „Love Boy“ und „Will you love me tomorrow“, und aus ist der Film. „Yossi – eine Liebe erblüht“ müsste der Verleih ihn betiteln.

Aus dem Arztfilm vom Anfang ist eine schwule Schmonzette im Stil von Wie-angle-ich-mir-einen-Millionär geworden. Dazu gehört die Macho-Perspektive auf Jungs, die nichts anderes wollen, als an den Mann zu kommen. Schade eigentlich für den kleinen Soldaten, der als offen Schwuler in seiner Heteroclique super eingebunden ist. Die Cliquenszenen sind schauspielmäßig das Beste am Film. Sie geben immerhin dem Dialog die Gelegenheit, das Heimlichgetue von „Yossi und Jagger – eine Liebe in Gefahr“ zu revidieren. Die einladende Botschaft im Sequel heißt: „Die Armee akzeptiert jetzt Schwule'.

“Yossi“ ist Altmännerphantasie-vorm-Monitor – plus eingestreute deutsche Hochkultur. Die schlicht gestrickte TV-Dramaturgie und die platten Dialoge lassen das Filmende nicht nur voraussehen, sondern – sorry, Tom, natürlich bist Du schwer attraktiv! – geradezu ersehnen.

PS. Bin ich zu streng? Vermies ich Tom-Tadzios bezauberndes Spiel, einen verblockten alten Mann in Wallung zu bringen? Oder hab ich nicht wahrgenommen, dass der junge Soldat sich dienstleistend eines psychisch Geschädigten annimmt? – Antwort: all das und noch viel mehr könnte sein. „Yossi“ stellt jedoch keine Fragen. Yossi geht’s nur um Yossi.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret

Spring Breakers

(USA 2013, Regie: Harmony Korine)

Ficken, kotzen, Regeln brechen
von Dietrich Kuhlbrodt

Den Film zu gucken, ist ein krasses Rezeptionsabenteur. Er mutet zunächst als Collegefilm-ohne-College an. Einmal im Jahr schwärmen US-Amerikas Jungstudenten aus, um die Sau rauszulassen. In Florida. Ficken, ficken, fixen. …

Den Film zu gucken, ist ein krasses Rezeptionsabenteur. Er mutet zunächst als Collegefilm-ohne-College an. Einmal im Jahr schwärmen US-Amerikas Jungstudenten aus, um die Sau rauszulassen. In Florida. Ficken, ficken, fixen. Alk, Alk, Alk. Drogen, Drogen, Drogen. Kotzen, kotzen, kotzen. Regeln brechen (Das hatten wir auch mal. Aber die Regeln waren politische gewesen, und einen Bibelgürtel hatten wir nicht gehabt. Keinen richtigen jedenfalls). Was wir im Film sehen, ist eine brutale Funmaximierung. Bis zum Gehtnichtmehr.

Vier Mädchen machen sich auf nach Florida. Geld für die Reise? Ist nicht da. Was tun Fun-Süchtige? Pussy-Riot-Stoffmasken überziehen, Waffen in die Hand nehmen, einen Laden überfallen, randalieren, Geld abgreifen und den Fluchtwagen abfackeln.

Jubel! Ultimativer Spaß! Und dann der Sonnenuntergang in Florida. Mann! Ja, um Männer geht’s den Girls. Vielleicht mal ein feuchter Kuss zwischen Frauen, aber das kennt man ja. Was machts. Es geht zum Dreier. Beim Sonnenuntergang. Im Wasser. Der Fick ist züchtig, weil Regisseur Harmony Korine auf eine Unterwasserkamera verzichtet. Er hat irgendetwas vor mit seinem Film. Was? Die Dialoge fangen an zu nerven, so banal und dürftig wie sie sind. Sie wiederholen sich. Die Szenen wiederholen sich. Sie werden immer platter. Keine Außenaufnahme, ohne dass hinten die Sonne untergeht. Gefühlte Hundertmal (das muss eine Schweinearbeit gewesen sein, wie soll das gehen, wenn, wie üblich beim Filmedrehen, ein Take wiederholt werden soll?).

Hat Harmony eventuell Takes nicht wiederholt? Gut möglich. Denn viele Szenen muten dokumentarisch an. Und tatsächlich hat der Film bei Außenaufnahmen Zuschauer in turbulente Szenen einbezogen. Das fördert den authentischen Effekt der Fun-Explosion. Fun-Implosion wäre der bessere Ausdruck. Bloß dass der Film sich hütet, eine Botschaft zu verkünden. Er beschränkt sich strikt auf das Zeigen. Von Britney Spears ist die Rede. Aber das führt auch nicht weiter. Die Spears reduziert sich auf fun-mit-Sonnenuntergang.

Der Film endet mit dem Zerfall der 4-Mädchen-Gruppe. 2 fahren frustriert in Bussen-ohne-Sonnenuntergang nach Haus. 2 lassen sich von Macho-Gangsta James Franco (ex Spider Man; jetzt Silberzähne und Rastalocken) anheuern. Das sind die Zwei, die ihn zum Schluss abknallen – total cool. Tot liegt er auf der Fun-Brücke. Ende? Nö. Neue Version.

Er macht die Augen auf. Er guckt den Frauen nach. Die Kamera wird subjektiv. Sie sieht die Funmeisterinnen auf dem Kopf weggehen. – Da kommt filmästhetische Freude auf, gell? Momentmal, videoästhetische, wollte ich sagen. Und, ehrlich, macht es nicht Spaß, allmählich, beim Verfertigen der Filmwahrnehmung, eine spielfilmlange Hiphop-Ästhetik zu rezipieren? Bei Youtube sind die Dinger 6 oder 9 Minuten lang. Hier aber 90 Minuten. Und außerdem kann man mit gehörigem Rezeptions-Spaß das Entstehen dieser Ästhetik verfolgen.

Ich sah es jedenfalls mit Vergnügen, wie die Filmhandlung (das Narrative) ihre dominante Rolle verliert und Platz macht für allerlei Mutwillen, mit dem, was Kamera und Ton bieten können, zu spielen. Korine war, so sagt er, zum Initiationsritus nie nach Florida gefahren. Er war skater kid in New York gewesen, dort mit Skater-fun voll abgefüllt.

Mit „Spring Breakers“ hat er ein Rezeptionswunder geschaffen. Alle Voraussagen, auch meine, gehen dahin, dass der Film fiftyfifty als geile Fleischbeschau genossen werden wird (die Mädchen stehen nachts vor einer gelb beschienenen Mauer auf der Straße. In neongelben Bikinis. Links die Reklame von 'Cleaners': Free pick up and delivery). Oh Mann, ist das ein Ding. – Die andere Hälfte der Zuschauer wird in der Fun-Implosion eine Entlarvung des amerikanischen (natürlich des neoliberal gewollten) Konsumwahns sehen, der alles beseitigt, was nicht den Marktgesetzen dient. – Ich finde, es grenzt an ein Wunder, einen Film so doppelkompatibel hinzukriegen. In Venedig bekam er 2012 den Publikumspreis.

Ein Einzelfilm als Film, vielleicht. In der Musikvideoszene ist das kipplige Spiel nichts Außergewöhnliches. Meine Lieblingsgruppe HGich.T (heut geh ich tot) treibt ihr Spiel mit denen, die ich jetzt Grownup Breakers nennen müsste, – also mit denen, die die Regeln des Erwachsenwerdens genussvoll brechen. Macht das Spaß, in der Hauptschuhle (sic) Klopapierrollen ins Klo zu stopfen. Oh Mann, hätte ich auch machen können, damals. Ich könnte den Spaß jetzt nachholen. Aber der Spaß ist doch gänzlich sinnfrei! – Ja eben, er ist die pure Aufsässigkeit des Fünfzehnjährigen gegen gutes Benehmen.

Warum erzähl ich das jetzt? Weil es das kontinentaleuropäische Gegenbeispiel für die Exzesse des Florida-Funs in den USA ist. Die angebliche Aufsässigkeit der sogenannten Spring Breakers ist system- und konsumtechnisch gewollt. Die boys and girls bedienen sich der Angebote des Funmarkts und lassen sich ausnehmen.

Stimmt das aber, was ich behaupte? Jedenfalls dann, wenn man 'Infinite Jest' / 'Unendlicher Spaß' liest. Ich bin inzwischen auf Seite 904 angelangt und überzeugter Fun-Kritiker. Der Roman bringt die Marktgesetze des unendlichen Spaßes ins Spiel, ohne markige Worte und mitnichten explizit. An der Tennisakademie gucken die Jungs auch mal nach Kontinentaleuropa, Rat suchend. Oder gleich nach Kanada, wo es unendlich spaßig ist, vor einem heranfahrenden Zug die Beine auf die Gleise zu legen. Wer sie als letzter wegnimmt, hat gewonnen – und vielleicht die Beine ab. Dann gesellt er sich zur Terrorgruppe der Rollstuhlfahrer. Zu den Fun-Terroristen.

Aber das führt jetzt zu weit. In 'Spring Breakers' sind wir im Vorstadium. Hier ist es noch das Fun-System, das die Alleinherrschaft ergriffen hat. Und zwar indem es raffinierte, freilich auch übertriebene Verführungskunst entfaltet. Die vier Girls in aufreizenden Posen, in saugeilen Bikinis, dich frech fixierend, sie sind die Hingucker. Sie sind es für den Mann Harmony Korine! Hallo, Werbung! Hallo, Vorabendserie! Übrigens waren zwei der Girls vorher (bei Disney) Prototypen der Sittsamkeit, des korrekten American Girl – und nun das, der Bruch. Und ebendas gehört zum genialen Spiel des Films, über den Sprung hinaus, die Codes der Correctness zu brechen – nicht durch Behauptungen, sondern durch Hypercodierung.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 3/2013

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

The Sessions – Wenn Worte berühren

(USA 2012, Regie: Ben Lewin)

Die Eroberung der Sexualität
von Wolfgang Nierlin

Der amerikanische Journalist und Dichter Mark O’Brien (John Hawkes) lebt in seinem Kopf. Wegen einer Polio-Erkrankung ist der fast vollständig bewegungsunfähige Enddreißiger permanent auf fremde Hilfe angewiesen. Vor allem muss …

Der amerikanische Journalist und Dichter Mark O’Brien (John Hawkes) lebt in seinem Kopf. Wegen einer Polio-Erkrankung ist der fast vollständig bewegungsunfähige Enddreißiger permanent auf fremde Hilfe angewiesen. Vor allem muss der im kalifornischen Berkeley lebende Universitätsabsolvent, dessen Muskeln nicht arbeiten, viele Stunden des Tages in einer sogenannten Eisernen Lunge liegen, die ihm beim Atmen hilft. Doch trotz dieser schweren Behinderung besitzt Mark einen äußerst wachen Geist und eine feine Ironie, die ihm eine gewisse Reflexionsdistanz erlauben. Mit seiner „dynamischen Stimme“ in einem „schlaffen Körper“ klebe er „an der Unterseite der Existenz“. Als „zutiefst gläubiger Mensch“ und Katholik, der regelmäßig seinen Beichtvater Brendan (William H. Macy) aufsucht, glaube er „an einen Gott mit Sinn für Humor“. Wenn eingangs von Ben Lewins tragikomischem Film „The Sessions – Wenn Worte berühren“ eine an seinem Gesicht streifende Katze einen Juckreiz bei ihm auslöst, sagt, seine innere Stimme in beschwörenden Wiederholungen: „Kratz mit deinem Geist!“

Es ist diese aus dem Off erzählende Stimme, die von der Kraft der Phantasie angesichts des Ungleichgewichts zwischen Körper und Geist spricht; und die dem Film zugleich seine dichte Struktur gibt, indem sie in fließenden Übergängen ins On der Dialoge wechselt, unter denen die Beichte maßgeblich ist. Dieses leichtfüßige narrative Gleiten bewirkt immer wieder fast unmerkliche Sprünge in Zeit und Raum und implementiert so der authentischen Geschichte einen fiktionalen Flow. Denn der selbst im Alter von sechs Jahren an Kinderlähmung erkrankte Ben Lewin hat sich für sein Drehbuch zum Film neben Mark O’Briens ungewöhnlichem Leben vor allem von dessen Aufsatz „Treffen mit einer Ersatzpartnerin“ (On Seeing a Sex Surrogate) inspirieren lassen.

Diese Sitzungen mit einer Sexualtherapeutin (Helen Hunt), in denen Mark nach langen Jahren der Abstinenz endlich seinen Körper und seine Sexualität entdeckt, bilden den emotionalen Kern des Films. In Entsprechung zu Marks Direktheit, seiner Liebessehnsucht und seinen erwachenden sexuellen Wünschen inszeniert Lewin ungezwungen und mit natürlicher Offenheit Cheryls „Körperbewusstseinsübungen“. Behutsam und in kleinen Schritten hilft die zwischen beruflicher Reflexion, gespielter Lust und tatsächlichem Gefühl changierende Therapeutin ihrem Klienten Mark, seine kostbare Sexualität und damit auch körperliche „Vollständigkeit“ zu erfahren. Dafür muss der gelehrige Schüler, der zuvor die Erlaubnis des Priesters einholt, zunächst Angst- und Schuldgefühle überwinden. Dass die Eroberung der Sexualität auch für Nichtbehinderte nicht immer einfach und normal ist, zeigt der Film – quasi spiegelbildlich dazu – in kleinen, organisch eingefügten Streiflichtern. Die Verbindung von Sex, Imagination und Gefühl führt Mark O’Brien schließlich zu jener Liebe, die sein befreundeter Priester als eine Reise bezeichnet und die mit der „Vorahnung eines Seelenschmerzes“ verbunden ist.

Der Geschmack von Rost und Knochen

(F 2012, Regie: Jacques Audiard)

Visuelle Drastik
von Wolfgang Nierlin

Ali (Matthias Schoenaerts) ist ganz in der Gegenwart und im Körper verankert. Direkt und ohne Umschweife geht er aufs Leben los. Seine animalische Kraft und unbändige Energie verlangt nach einem …

Ali (Matthias Schoenaerts) ist ganz in der Gegenwart und im Körper verankert. Direkt und ohne Umschweife geht er aufs Leben los. Seine animalische Kraft und unbändige Energie verlangt nach einem spontanen Ausdruck. Dabei reagiert er völlig instinktiv, unkompliziert und auf seine Weise klar. Dass er in seinem Fühlen unsensibel, naiv und mitleidlos erscheint, gehört ebenso zu diesem Charakter wie sein furchtloses, gewalttätiges Handeln. Ali ist einer jener hartgesottenen Typen, die ihr Leben als permanenten Kampf führen, als bewegten sie sich durch die Gesellschaft wie durch eine rohe, wilde Natur. Sein Mangel an ziviler Anpassung führt zu einer permanenten Verletzung der sozialen Grenzen und Codes, in die er eingeschlossen ist, ohne sie zu reflektieren. Ali ist wahr, tabulos und ungezwungen, weil sein Körper die Regeln nicht kennt.

Eingangs von Jacques Audiards Film „Der Geschmack von Rost und Knochen“ („De rouille et d’os“), einem ziemlich forcierten Liebes- und Sozialdrama, sieht man ihn zusammen mit seinem 5-jährigen Sohn Sam von Belgien aus an die Côte d’Azur reisen. Die beiden trampen, fahren im Zug, ernähren sich von Abfällen und mittels kleiner Diebstähle. Audiard filmt Bewegungen, akzentuiert den Atem und lässt die Körper sprechen. Bei Alis Schwester Anna angekommen, entfaltet der Film einen sozialen Raum aus miesen Wohnverhältnissen, schlecht bezahlten Jobs, Beziehungslosigkeit und elterlicher Vernachlässigung. Physisch direkt und mit musikalischem Kleister, der die Suggestionen markant dosiert, inszeniert Audiard Alis Neuorientierung. Bald darauf lernt dieser als Türsteher einer Diskothek mit Namen „L’annexe“ die attraktive Stéphanie (Marion Cotillard) kennen, die in eine Schlägerei verwickelt ist.

Stéphanie trainiert im Marineland von Antibes Orca-Wale. Doch die erste Szene, die sie bei der Arbeit zeigt, kulminiert gleich in einer schrecklichen Katastrophe, bei der sie beide Unterschenkel verliert. Auch im weiteren Verlauf der Erzählung arbeitet der französische Filmemacher immer wieder mit dramatischen Zuspitzungen, denen man nicht immer folgen will und deren Deutlichkeit oft von visueller Drastik flankiert wird. Nach dem Schock legen sich bei Stéphanie nur langsam schmerzliche Trauer und Entsetzen. Depressiv und einsam meidet sie das Licht, bis ausgerechnet Ali sie wieder in Kontakt bringt mit dem Leben. Er ermuntert sie zum Baden im Meer, begleitet sie in die Disco und beginnt mit ihr ganz unkompliziert, aber zunächst auch unverbindlich eine sexuelle Beziehung.

Offen und ungefiltert kontrastiert Jacques Audiard immer wieder Stéphanies Behinderung mit der sie umgebenden Realität und thematisiert dabei Vertrauen, Lebensmut und Versöhnung, die selbst noch den Wal einschließt. Doch bevor Ali, der in brutalen Kampfspielen seine Natur auslebt und dabei „dazuverdient“, die Flucht vor seinen Gefühlen aufgeben kann, muss er in der Logik des Films erst selbst zu einem Versehrten werden. Audiard strapaziert auf ambivalente Weise die Metapher der menschlichen Bestie, die nur gezähmt Heilung erfahren kann und dadurch zur Integration fähig wird. Die Mittel des Überwältigungskinos sind dabei seine nützlichen Assistenten.

Das Wochenende

(D 2012, Regie: Nina Grosse)

Familienaufstellung
von Dietrich Kuhlbrodt

Aufarbeitung der RAF-Vergangenheit in der Familie. Eine politische Familienaufstellung mit der Prominenz von Film und Fernsehen (Koproduzent ZDF). RAF-Mann Sebastian Koch verlässt nach 18 Jahren den Knast und nimmt in …

Aufarbeitung der RAF-Vergangenheit in der Familie. Eine politische Familienaufstellung mit der Prominenz von Film und Fernsehen (Koproduzent ZDF). RAF-Mann Sebastian Koch verlässt nach 18 Jahren den Knast und nimmt in einem ehemaligen Gutshaus Platz, jetzt edles Ferien- und Landhaus von Barbara Auer, gelegen im brandenburgischen Zerlow (Filmförderung Berlin-Brandenburg). Dort findet sich seine Ex ein, Katja Riemann, mit ihrem Neuen, Tobias Moretti, sowie sein Sohn, der äußerst aggressive Robert Gwisdek. Begrüßen können wir dort auch den alten Genossen Sylvester Groth und den reizenden Teenager Elisa Schlott.

Im gepflegten Landhaus sitzt die Familie zu Tisch und zofft sich. Die Dialoge sind ausgefeilt und gewichtig. Zwischen den Sätzen herrscht Stille. Nein, vage Klaviertöne füllen die Pausen, auch ein wenig Cello. Es wird bedeutsam. Ein Kammerspiel. Draußen schwärmen ständig Vögel hinweg. Was soll uns das sagen? Auf Erden Zoff, im Himmel Harmonie?
Identifizieren können sich sicherlich Riemann-Fans mit Riemann und so weiter. Aber auch mit der Rolle, die sie verkörpert? Steht die Prominenz im Weg? Egal. Wir wären dann in einem Starfilm. Sind wir aber am „Wochenende“ nicht. Problem: die Riemann kann sich nicht entscheiden zwischen Moretti und Koch. Exknacki Koch gefällt ihr vielleicht als verbiesterter Macho, der nichts weiter will, als sich an dem Mitglied der RAF-Familie zu rächen, das ihn damals verpfiffen hat. Wird ihm das gelingen? Wird dem Film gelingen, diese Frage für spannend zu halten? Beide Fragen sind schlussendlich zu verneinen. Katja Riemann entscheidet sich in den letzten Filmminuten. Sie entscheidet sich für sich, verlässt die Familie und geht ihres Weges; und der Zuschauer, denke ich, tut es ihr nach. Hallo, es funktioniert! Abspann!

Nun ist es nicht so, dass der Film im Upperclass-Ambiente nicht Atmosphäre, gar politische Einsicht vermittelt. RAF-Mann Koch muss sich anhören: Du bist heute Pop! Oder die Gegenthese: Ihr wart alle Killer! – Das gibt doch zu denken! Und dann liefert Sohn Gwisdek sogar blutige Action. Autoaggressiv gibt er der Fahrstuhlwand Kopfnüsse. Ich denke, so denkt einer, der in Berlin „politisch aktiv in der linken Szene“ ist, an seinen Vater. Sowas kommt von so was. Ist doch so. Kein Wunder, dass der junge Gewalttäter während der Familienaufstellung die Hand des Alten ergreift und auf den heißen Grill drückt, dass es nur so zischt. So sind eben die Linken. Andererseits muss man bedenken, dass vom RAF-Kampf heute durchaus was zu gebrauchen ist, denn „der Kapitalismus kollabiert“. – Recht so! Aber Nina Grosse (Regie und Buch) baut zum Ausgleich dann doch lieber eine ausführliche und körpernahe Sexszene ein. Zwischen Riemann und Koch. Hinkucker? Wegkucker? Muss jeder Zuschauer selbst entscheiden.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 4/2013

Un amour de jeunesse

(F / D 2011, Regie: Mia Hansen-Løve)

Sommer der Liebe
von Wolfgang Nierlin

„Für mich zählt nur die Liebe. Sie ist der einzige Grund zu leben“, sagt die 15-jährige Schülerin Camille (Lola Créton) zu ihrem um ein paar Jahre älteren Freund Sullivan (Sebastian …

„Für mich zählt nur die Liebe. Sie ist der einzige Grund zu leben“, sagt die 15-jährige Schülerin Camille (Lola Créton) zu ihrem um ein paar Jahre älteren Freund Sullivan (Sebastian Urzendowsky), der gerade sein Studium abgebrochen hat. Dieses Ausschließlichkeitsgefühl des ungewöhnlich ernsten Mädchens, das davon völlig absorbiert ist, steht in einer permanenten Spannung zu dem Freiheitsdrang des verspielten, noch suchenden Jungen und macht die leidenschaftliche Liebe der beiden fragil. Während Camille alle Gedanken auf ihre Sehnsucht nach Gleichklang und Symbiose richtet und jede Störung als Zeichen der Untreue interpretiert, besteht Sullivan auf ein eigenes Leben und auf eigene Erfahrungen. Für ihn ist noch alles Anfang und im Fluss, er flieht die Form und das Fertige. Als er im September des Jahres 1999, nach einem Sommer der Liebe und des getrübten Glücks, zu einer längeren Südamerika-Reise aufbricht, stürzt Camille in eine Krise. Ihr melancholisches Wesen verwandelt sich in Schwermut, ihr Kummer in Lebensüberdruss.

Man muss Mia Hansen-Løves Film „Un amour de jeunesse“ körperlich erfahren, sich seiner melancholischen Grundstimmung hingeben und sich von ihm mitnehmen lassen durch den Raum und die Zeit der Jugend, die er beschreibt. Offenheit und Bewegung sind dementsprechend die Merkmale von Hansen-Løves fast beiläufig und absichtslos wirkender Inszenierung. Ihr dynamischer Stil mit seinen schnellen Schnitten, Perspektivwechseln und Ellipsen versetzt alles in einen Fluss. Im Wechsel der Jahreszeiten vergehen so fast zehn Jahre, werden die dunklen Wintermonate in der Stadt von lichten, duftenden Sommern auf dem Land abgelöst. Alles ist Veränderung, nur wahrnehmbar in der Rückschau dieser Erzählung im Präteritum. In genau beobachteten oder hervorgehobenen Details verschieben sich die Gewichte, wechseln Stimmung und Atmosphäre und verwandelt sich Melancholie in Nostalgie.

Camilles Coming-of-age-Geschichte bleibt dabei das Zentrum: Wie sich nach einem Selbstmordversuch der Schmerz langsam von ihr ablöst, ohne ins Vergessen abzurutschen; wie sie sich während ihres Architekturstudiums vorsichtig in ihren Dozenten Lorenz (Magne-Håvard Brekke) verliebt und schließlich, behutsam und kontinuierlich, eine neue Perspektive auf ihr Leben gewinnt. Widersprüche und Zufälle sind dabei ihre stetigen Begleiter, ebenso eine grundsätzliche Einsamkeit, die sie nie ganz verlässt. Die „Form eines Schimmers“ entspringe der Dunkelheit, doziert Lorenz. Und: „Du musst dein Leben selbst gestalten, um du selbst zu werden.“ Als Camille nach Jahren Sullivan wiederbegegnet, der sich kaum verändert hat, ist die alte Liebe schnell neu entflammt: „Ich habe dich in mir wie eine Krankheit“, gesteht Camille. Doch am Ende dieses schönen Films treibt ihr Sommerhut, den sie einst von Sullivan geschenkt bekommen hat, verloren auf jenem Fluss (nämlich der Loire), der Camilles Vergangenheit mit ihrer Gegenwart verbindet. Dazu singen Johnny Flynn und Laura Marling den dunkel schimmernden Song „The water“: „All that I have is a river/The river is always my home.“

Das Venedig-Prinzip

(D 2012, Regie: Andreas Pichler)

Stadt als Beute
von Ricardo Brunn

Es ist ein Bild von monumentaler Größe: Ein überdimensionales Kreuzfahrtschiff schiebt sich langsam wie ein Raubtier auf Beutefang, in die Flucht einer beschaulichen Gasse Venedigs und überragt die zierlich schiefen …

Es ist ein Bild von monumentaler Größe: Ein überdimensionales Kreuzfahrtschiff schiebt sich langsam wie ein Raubtier auf Beutefang, in die Flucht einer beschaulichen Gasse Venedigs und überragt die zierlich schiefen Häuser der historischen Stadt; fast so, als würde es diese jeden Moment zermalmen. An Bord des Liners tummeln sich Urlauber, die in einem Stakkato die Welt bereisen, ohne genau zu wissen, in welchem Land sie gerade sind und die die Reise erst viel später und anhand der geschossenen Fotos rekonstruieren. Und es gibt immer mehr von diesen „Take-away-Touristen“, wie sie ein Venezianer an einer Stelle von Andreas Pichlers Dokumentarfilms „Das Venedig Prinzip“ nennt. So viele, dass die Reedereien in Zukunft noch größere Schiffe mit noch mehr Passagieren in die Lagunenstadt befördern wollen, in der schon jetzt täglich so viele Touristen durch die engen Gassen flanieren, wie es noch Einwohner gibt.

Dieses Bild des einlaufenden Schiffes beherrscht den gesamten Film. Umgekehrt würde man vom Schiff aus wahrscheinlich eine traumhafte Anfahrt auf die romantischste Stadt der Welt erleben. Und es sind gerade diese Blicke, mit denen der Film spielt, die er immer wieder verkehrt und vergleicht um Kontraste herauszuarbeiten, ohne dabei auf die Postkartenmotive zurückzugreifen, die jeder kennt. So treibt der Film ein zauberhaftes Spiel mit den Gegensätzen, die diese Stadt lähmen.

Zum Beispiel der Immobilienmakler, der uns durch eine Geisterstadt führt und Wohnungen zeigt, die er, aufgrund der maroden Bausubstanz, eigentlich nicht verkaufen könnte und für seine Kunden doch in schwärmerischen Worten beschreiben muss, während draußen romantisierte Pärchen in der Gondel vorüberfahren, von den schönen Häusern schwärmen und von „echten“ Italienern ein Ständchen gesungen bekommen, – die im Anschluss in tristen Räumen den durchschnittlichen Touristen beschreiben und das Spiel mit ihm entlarven.

Auf diese Weise nutzt der Film seine Protagonisten geschickt, um von den Träumen zu erzählen, von denen Venedig lebt und die deshalb um jeden Preis aufrecht erhalten werden müssen. Doch die Träume der Besucher sind alles, was der Stadt noch bleibt, denn die jungen Leute ziehen aufs Festland, weil die Mieten steigen und im Umkehrschluss die Läden und Märkte schließen, da ihnen die Kundschaft fehlt. Wer keine Gondel, keinen Souvenirshop oder kein Hotel besitzt, hat keine Überlebenschance in diesem historischen Vergnügungspark, wie ein Bewohner der Stadt, der den Touristen stattdessen ein Foto mit sich anbietet, ironisch vor Augen führt.

Mehr von dieser direkten Auseinandersetzung hätte dem Film sicher gut gestanden, allein schon um dem ewigen Untergangsmythos Venedigs, dem auch der Film allzu gern verfällt, entgegenzuwirken. Die Stadtverwaltung, der die Hände gebunden zu sein scheinen oder die bereitwillig wegschaut und die Perspektive der Tourismus-Konzerne, die in Venedig Millionen verdienen, bleiben außen vor. Vieles überlässt der Film dem Zuschauer, zum Beispiel auch an all die Kunstschätze zu denken, die langsam ins Meer erodieren. Auch erste Erfolge der Bürger im Kampf gegen den Ausverkauf der Stadt blendet der Film aus. Stattdessen gibt es romantisch-apokalyptische Bilder des alljährlichen Acqua alta, welche noch einmal die Bedrohungslage Venedigs verdeutlichen sollen, mit der die Stadt schon immer Geld verdient hat.

Durch diesen riskanten Verzicht gelingt es dem Film jedoch, das beschriebene Prinzip, der Titel deutet es an, universeller zu erzählen und auf andere Städte übertragbar zu halten, deren Innenstädte ebenfalls langsam ihrer Bewohner entledigt werden, um Platz zu machen für die 'Barbaren' (wie eine betagte Protagonistin die Touristen im Film nennt), die dann nur für einen Tag kommen oder ihre teuer gekauften Wohnungen nur an Weihnachten nutzen. In Venedig tritt dieses allgemeine und mittlerweile sich immer weiter verselbstständigende Prinzip des Ausverkaufs eines globalisierten Turbotourismus nur am deutlichsten zu Tage und bietet so, wie nebenbei, die eindrucksvollsten Gegensätze.

Beasts of the Southern Wild

(USA 2012, Regie: Benh Zeitlin)

Philosophie des Fleisches
von Wolfgang Nierlin

Für die kleine, kindlich-weise Erzählerin Hushpuppy (Quenzhané Wallis) ist es „der schönste Platz der Welt“. Dabei sind die Lebensbedingungen in „Bathtub“, einer Bayou-Siedlung im Süden Louisianas, alles andere als anheimelnd: …

Für die kleine, kindlich-weise Erzählerin Hushpuppy (Quenzhané Wallis) ist es „der schönste Platz der Welt“. Dabei sind die Lebensbedingungen in „Bathtub“, einer Bayou-Siedlung im Süden Louisianas, alles andere als anheimelnd: Hier leben die Menschen in primitiven, heruntergekommenen Bretterbuden im gesellschaftlichen Abseits; sie sind verarmt und schlecht ernährt, umgeben von Wasser, Schrott und Dreck; und schon der nächste Sturm, der drohend über dieser Existenz aufzieht, könnte das wenige zunichte machen. Doch die täglichen Härten scheinen die verwegenen Bewohner gegen alle Unbill imprägniert zu haben. Wirklich hässlich sind für das 6-jährige Mädchen aber die Industrieanlagen jenseits des großen Damms, der von Hushpuppy als „Mauer“ und „Grenze“ bezeichnet wird. Damit ist zugleich der Antagonismus zwischen trockener und feuchter Welt benannt, den Benh Zeitlin und das Künstlerkollektiv Court 13 in der Einleitung ihres wild wuchernden Films „Beasts oft he Southern Wild“ als Hommage und Loblied auf die ausgelassene Lebenslust, pure Vitalität und unbändige Fröhlichkeit der „Bathtubianer“ inszenieren.

Doch nach dem Freuden-Feuerwerk kommt der Sturm, den Zeitlin als Vorbote einer globalen Umweltkatastrophe und Ausdruck einer „kaputten Welt“ versteht. Im Universum hänge alles miteinander zusammen, sagt Hushpuppy. Schon die kleinste Störung des Gleichgewichts könne zu irreparablen Schäden führen. Allerdings thematisiert Benh Zeitlin weder eine verfehlte Umweltpolitik noch zeigt er sich angesichts der amerikanischen Klassengesellschaft und dem eklatanten sozialen Gefälle zwischen Reichen und Armen als Kapitalismuskritiker – was man durchaus bedauern kann. Stattdessen akzentuiert er in seiner magisch-surrealen Endzeitvision einen ebenso bildgewaltigen wie kruden Sozialdarwinismus, eine Art Philosophie des Fleisches, die vom Recht des Stärkeren, vom Fressen und Gefressen-Werden bestimmt ist. Sehr amerikanisch nimmt sich darin als eine Art Selbstermächtigungsphantasie die Zucht zur Härte für den permanenten Überlebenskampf aus.

Denn darum geht es vor allem im Verhältnis der kleinen Hushpuppy zu ihrem zähen, aber herzkranken Vater Wink (Dwight Henry), einer unerschütterlichen Kämpfernatur. Selbst nach den Verwüstungen des Sturms behauptet er gegen das Offensichtliche, „alles unter Kontrolle“ zu haben. Entsprechend impft der unnachgiebige Erzieher seiner Tochter den notwendigen Überlebenswillen und den Mut zur Selbständigkeit ein. Zeitlin positioniert in seiner Bewunderung für die „zähesten Menschen Amerikas“ seine ebenso eigensinnigen wie aufrechten Protagonisten am Rande der Gesellschaft, ja beschreibt diese als einen wilden Stamm, der sich der Zivilisierung und Eingliederung widersetzt.

Bei aller Sympathie für unbeugsame Außenseiter, die auf ihrer Selbstbestimmung beharren, erscheint Zeitlins biologistische „Du bist ein Tier“-Weltsicht mit ihren ganzheitlichen Implikationen, gemessen an den sozialen Realitäten und ihren Erfordernissen, als politischer Eskapismus. Und auch wenn sein überbordendes, von märchenhaften Übertreibungen und phantastischen Zuspitzungen wimmelndes Bilder-Kino, das mit Laiendarstellern an realen Schauplätzen entstand, eigenwillig und echt, unverfälscht und unabhängig erscheint, so besitzt es doch auch jene, nicht zuletzt emotionalen Produktionswerte des Mainstreamkinos, die für beruhigende Wiedererkennbarkeit und Identifikation sorgen.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Anna Karenina

(GB / F 2012, Regie: Joe Wright)

Ironische Operette
von Wolfgang Nierlin

Russisches Kaiserreich 1874. Ein Vorhang öffnet sich und gibt den Blick auf eine Bühne frei. Hier wird Theater gespielt. Doch eigentlich ist auch das Theater Fiktion, denn das Publikum ist …

Russisches Kaiserreich 1874. Ein Vorhang öffnet sich und gibt den Blick auf eine Bühne frei. Hier wird Theater gespielt. Doch eigentlich ist auch das Theater Fiktion, denn das Publikum ist aus Pappe, die Musik kommt aus dem Off und der Raum, von wechselnden Kulissen imaginiert, erstreckt sich über die Bühnenränder hinaus. Seine wechselnden Rahmen und Staffellungen verlagern das Geschehen zuweilen hinter die Bühne, unter das Volk auf dem Schnürboden oder auch ins Freie. Diese doppelte Distanzierung in Joe Wrights Literaturverfilmung „Anna Karenina“ macht aus Tolstois berühmtem Ehe- und Gesellschaftsroman zunächst eine ironische Operette im Walzertakt. En passant versetzt die gleitende Kamera das Schauspiel in Tanz, wechselt dabei wie im Flug Schauplätze und sorgt auf diese Weise für eine enorme Verdichtung von Raum und Zeit. Die Inszenierung arbeitet gewissermaßen gegen die Illusion, löst aus den Ehegeschichten den Rohstoff und blickt zugleich auf die Historie.

Die Theatralisierung, die sich darstellerisch in übersteigerten dramatischen Gesten und lustvoll stilisierten Choreographien Bahn bricht, schafft aber auch die Verwandlung. Bezaubernd, phantasievoll und nahe am Kitsch zitiert sie die Opulenz des Kostümfilms als einen verführerischen Rausch von Farben und Formen, kleidet Keira Knightley in herrliche Kostüme oder lässt ihr schönes Gesicht durch geheimnisvolle Schleier funkeln. Daraus resultiert ein intensives Kino der Blicke und Gesten, die das Begehren regelrecht zelebrieren und dabei dramatisch verdichten. In einer der diesbezüglich eindrucksvollsten Szenen, auf dem Höhepunkt des Ballabends, wenn sich die Gefühle und Körper entscheiden, lässt die Montage eines beschleunigten Reißschwenks zwischen den Protagonisten ihre Gesichter in Liebe und Enttäuschung, Hoffnung und Angst förmlich erstarren.

Einerseits darf der Schürzenjäger Oblonsky sagen: „Romantische Liebe ist die letzte Illusion der alten Ordnung.“ Der Gutsbesitzer Konstantin Levin widerlegt hingegen diesen Satz, indem er das alte Ideal unter Zweifeln und Anfechtungen noch einmal durchdekliniert. Für das ehebrecherische Paar Anna und den Grafen Vronsky gilt wiederum: „Für uns gibt es keinen Frieden, sondern nur Verzweiflung oder vollkommenes Glück.“ Unter den ächtenden Blicken der Gesellschaft, die jede moralische Verfehlung mit gnadenlosem Ausschluss straft, vollzieht sich das Drama einer zerstörerischen Liebe, die sich der gesellschaftlichen Konvention wiedersetzt, eher als schleichende Krankheit denn als Exzess. Sie habe nicht nur „das Gesetz gebrochen, sondern die Regel“, sagt einmal der betrogene Staatsbeamte Karenin (Jude Law) zu seiner untreuen Frau Anna. Seine Gottesfürchtigkeit, sein stilles Leiden und seine Fähigkeit zur Vergebung spielen eine wesentliche Rolle in Joe Wrights ästhetisch vielschichtiger Adaption des russischen Literaturklassikers.

Schlussmacher

(D 2013, Regie: Matthias Schweighöfer)

Der Rest ist Schweiger
von Ulrich Kriest

Ein Mann mit einer Mission. Paul Voigt begegnet wildfremden Menschen, um diesen zu erzählen, dass sie das große Los gezogen haben. Sie sind jetzt nämlich wieder solo und können sich …

Ein Mann mit einer Mission. Paul Voigt begegnet wildfremden Menschen, um diesen zu erzählen, dass sie das große Los gezogen haben. Sie sind jetzt nämlich wieder solo und können sich mal wieder so richtig austoben. In Zeiten, in denen die Geschäfte von Hochzeitsplanern gut gehen, ist es nur eine Frage der Zeit und der Phantasie, sich auch die wahrscheinlich etwas unangenehmere Dienstleistung vorzustellen. Paul ist ein Schlussmacher: im Auftrag seiner Agentur fährt er durch die Lande, beendet Beziehungen, verteilt ein kleines Trostpflästerchen und gibt schulterklopfend launig ein paar Tipps zur Krisenbewältigung. Aalglatt, professionell – und immer ein Lächeln auf den Lippen. Paul ist sehr erfolgreich in seinem Job, er steht kurz vor der tausendsten Trennung – und damit vor einem Karrieresprung.

Keine Frage: Matthias Schweighöfer hat sich bei seiner zweiten Regiearbeit erneut eine Rolle auf den Leib geschneidert. Spielte er in „What a Man“ noch den gebrochenen, beziehungsscheuen, nicht mehr ganz jungen Macho, der lernen muss, dass man sich als Mann nicht ändern muss, sondern lieber auf die richtige Frau wartet, so spielt er hier den traumatisierten, bindungsscheuen, nicht mehr ganz jungen Macho, der lernen muss, dass Liebe nichts für Feiglinge ist. Auch sonst gilt: Never change a winning team! Der Erfolg von „Schlussmacher“ an den Kinokassen scheint auch diesmal ausgemacht, denn Schweighöfer hält sich geradezu mimetisch an die sexistisch-sentimentalen Erfolgsformeln aus dem Hause Schweiger: hält man sich mit seinen Ansprüchen in Sachen Humor, Originalität und Handwerk etwas zurück, ist kommerziell erfolgreiches Unterhaltungskino hierzulande keine Zauberei.

„Schlussmacher“ erzählt von Pauls Lehrjahren des Gefühls, denn der ist seit der Trennung seiner Eltern traumatisiert, hält Abstand zu anderen Menschen und zahlt Gefühle nur in kleiner Münze aus. Sehr zum Bedauern seiner höchst attraktiven und ausgesprochen geduldigen Freundin Nathalie, die sich gar nicht zu wundern scheint, was für einen seltsamen Job Paul hat. Doch dieser Job ist natürlich eine Comedy-Steilvorlage: Wenn Paul die unfrohe Botschaft zumeist überraschend für sein Gegenüber vorbringt, ist Situationskomik die Regel. Da bestreitet die Cholerikerin schon mal cholerisch eine Cholerikerin zu sein und schlägt die Wohnung kaputt. Auch Thorsten, genannt Toto, reagiert auf die von Paul vorgetragene Botschaft seiner Freundin Katharina fassungslos, hält sich für ein Opfer der »Versteckten Kamera«. Doch dann will er sich, verzweifelt, umbringen – und nun hat Paul ein echtes Problem: einen Kindskopf mit großem Herzen an der Backe.

Wie es sich für ein Buddy Movie gehört, geht das ungleiche Paar auf eine Reise quer durch die Republik, deren pittoreske Locations zugleich Existenz- und Arbeitsbescheinigungen diverser Filmförderungsanstalten sind. Am Ende der Reise soll es Paul zum Teilhaber seiner Agentur gebracht haben. Reine Routine! Doch mit Toto im Gepäck ist an Routine nicht mehr zu denken; das Leben wird zu einem Abenteuerspielplatz voller »lustiger« Episoden. Wobei der Zuschauer schon ein ausgeprägtes Faible für abgedroschene Klischees, aufdringliches Product-Placement, abgestandenen oder pubertären Humor wie Furz-Witze oder Haarewaschen in der Toilettenschüssel, missglückte oder verschenkte Zitate aus transgressiven Hollywood-Komödien und Witze über Schwule, Lesben und fettleibige Frauen mitbringen sollte, um auf seine Kosten zu kommen.

Es gilt: Humor ist, wenn man trotzdem lacht, nicht mit, sondern über die Figuren, zumal das Team Schweighöfer und Milan Peschel (Toto) vor der Kamera durchaus funktioniert (allerdings scheinen die Sunny Boy-Manierismen Schweighöfers mittlerweile bloß noch routiniert und eindimensional: er spielt immer für die Galerie) und all die derben, teilweise strunzdoofen Scherze ja ohnehin nur die Zeit verkürzen, bis der Film die erwartbare sentimentale Keule auspackt. Wir erinnern uns: „Liebe ist nichts für Feiglinge!“ Toto, der nicht nur eine Nervensäge, sondern auch eine Seele von Mensch ist, bringt diese Formel ins Spiel und knackt damit die nur scheinbar harte Schale des alerten Geschäftsmanns Paul. Am Schluss heißt es dann mit John Paul Young besänftigend „Love is in the Air!“ und der miese Job in der Trennungsagentur ist Geschichte.

„Schlussmacher“ ist Dudelfunk auf der Leinwand, sein Publikum insgeheim oder auch mal geradeheraus verachtend und so ambitions-, lieb- und leidenschaftslos, als sei er im Autopilot-Modus gedreht worden, montiert aus Einfällen, die sich in den vergangenen vierzig Jahren auf dem Fußboden des Schneideraums angesammelt hatten. Dass er ein Erfolg mit Ansage werden wird, ist nur ein Symptom der Krise.

Blank City

(USA 2010, Regie: Céline Danhier)

Live fast, film fast!
von Andreas Thomas

„I belong to the blank generation and I can take or leave it each time …” sang 1977 Richard Hell mit den Voidoids, zur Zeit der Initialzündung des Punk. Und …

„I belong to the blank generation and I can take or leave it each time …” sang 1977 Richard Hell mit den Voidoids, zur Zeit der Initialzündung des Punk. Und diese “Blank Generation” lebte in jener “Blank City”, dem heruntergekommenen New York der mittsiebziger Jahre, in abbruchreifen Häusern, die man z.B. noch zum Teil in Filmen wie „Taxi Driver“ oder „Permanent Vacation“ bewundern kann, Jim Jarmuschs erstem Spielfilm, in dem ein junger Mann meditativ durch Abbruchhalden schlendert. Jarmusch ist neben Susan Seidelman („Susan … verzweifelt gesucht“) oder Vincent Gallo („The Brown Bunny“) einer der wenigen übriggebliebenen bekannten Filmemacher aus der sogenannten „No Wave“-Zeit, und neben Amos Poe, John Waters oder Lydia Lunch kommentiert er für den Dokumentarfilm „Blank City“ von Céline Danhier unzählige Filmschnipsel, Ausschnitte aus zumeist Super8-Filmen oder Konzertausschnitte von Bands wie den Voidoids oder James Chance and the Contortions, denn die Darsteller und Regisseure in den Filmen konnte man seinerzeit auch genauso in einer Band finden, frei nach dem Motto: „Gitarre spielen kann ich auch nicht, also gründe ich eine Band.“

No Wave war eine radikale und einflussreiche künstlerische Bewegung, die sich zwar auf New York beschränkte, deren Wirkungsgeschichte sich aber bis heute nachvollziehen lässt. Ihre Wurzeln gehen auf Dada und Surrealismus zurück, sind nicht denkbar ohne William Burroughs oder Bob Dylan, in Andy Warhol und den Aktivitäten seiner „Factory“ bündeln sich ihre künstlerische Vorbilder; auf musikalischem Terrain standen sicherlich u.A. The Velvet Underground für das Pate, was sich Mitte der Siebziger in New Yorker Clubs wie dem relativ kleinen CBGB’s ereignete, wo sich plötzlich eine Häufung unbekannter, genialer Musiker begegnete: Blondie spielte nach Patti Smith, oder die Talking Heads vor den Ramones. Auf filmischem Gebiet orientierte sich die No Wave-Clique, in der quasi jeder mit jedem zu tun und zu arbeiten hatte, an John Cassavetes, dem „Erfinder“ des „Independent-Films“, sowie an den improvisierten Schmalfilmen von Andy Warhol, in denen jeder ein Star sein konnte, und die darauf achteten, dass darin niemand irgendwem vormachen wollte, er sei ein Schauspieler …

Musikalisch, cineastisch, gesamttkünstlerisch aber war die No-Wave-Bewegung wild entschlossen, der breiten und etablierten (Pop- und Kunst-)Kultur ihrer Epoche den Rücken zu kehren, und, wie alle wichtigen Strömungen in der Kunst davor, befreite sie dieses Rezept zu kreativen Prozessen von innovativer Nachhaltigkeit. Musikalisch folgte aus ihr Punk, New Wave, Independent et al., cineastisch etablierte sich mit ihrer Hilfe schließlich ganz das sogenannte Independent–Kino.

„Blank City“ fokussiert sich nun hauptsächlich auf den einen, den filmischen, Ausschnitt des Gesamtbildes, und allein die Filmproduktion jener Tage zwischen 1975 bis Anfang der achtziger Jahre, so lässt die Fülle des verwendeten Materials erahnen, muss so überbordend gewesen sein, dass ihr die Doku nur rudimentär gerecht werden konnte. Sekundenschnipsel von O-Material werden mit Oneliner-Voice-Over oder Sekundenschnipsel-Interviews aus dem Heute montiert, dass es eine Art ist und leider keine Ruhepunkte entstehen können. Dabei führt gerade die Menge des Was, also der Information (die nichtsdestoweniger fundiert und wertvoll ist), zu mangelnden Einsichten in das Wie. Wenn man von keinem der Werke der No-Wave-Macher auch nur wenig mehr als kurze Einstellungen zu sehen bekommt, dann gestaltet sich der Prozess des Nachvollzugs von Atmosphäre und/oder Stilistik etwas schwierig. So ist „Blank City“ dann doch eher ein informativer Film für Kenner der Szene geworden als ein Appetitmacher für Novizen.

End of Watch

(USA 2012, Regie: David Ayer)

Labyrinth des Verbrechens
von Michael Schleeh

Dem heute in Los Angeles spielenden Polizeifilm müssen neue Aspekte abgewonnen werden, wenn man nicht völlig altmodisch und redundant daherkommen will. „End of Watch“ versucht dies durch die Verwendung von …

Dem heute in Los Angeles spielenden Polizeifilm müssen neue Aspekte abgewonnen werden, wenn man nicht völlig altmodisch und redundant daherkommen will. „End of Watch“ versucht dies durch die Verwendung von found footage-Material zu erreichen, das sowohl mit einer Handkamera als auch mit zwei Mini-Kameras, die an der Bruststasche der beiden Cops angebracht sind, erstellt wurde. Diese Kameras sind nicht viel größer als ein Bleistift, sie sind völlig unauffällig und begleiten die Cops bei jedem Einsatz. Dieses nicht gerade brandneue stilistische Mittel soll dem Zuschauer die Selbsttäuschung ermöglichen, live und authentisch überall dabei sein zu können: ob das nun der Besprechungsraum auf dem Polizeirevier ist, der Streifenwagen bei der alltäglichen Routinearbeit, oder die Hochzeit des Kollegen, bei der volltrunken herumgealbert wird.

In „End of Watch“ geht es um die beiden „ghetto street cops“ Brian Taylor (Jake Gyllenhaal, der auch produziert hat) und Mike Zavala (Michael Peña), die in South Central L.A. Dienst tun, also einem der heißesten Pflaster der USA. Genauer: es geht um eine von nicht ganz ernst gemeinten Machismen geprägte Männer-Freundschaft vor dem Hintergrund des Polizeialltags. Denn die Einsätze, zu denen die Funkstreife gerufen wird, sind zumeist kleinere, gleichwohl schockierende Vergehen vor dem Hintergrund der noch viel schwereren Verbrechen, die stets im Schatten der nächsten Gasse lauern. Da legt man sich schon mal mit einem hühnenhaften Kerl an und boxt es aus. Oder hält aus Jux und Dollerei einen Wagen an, weil dessen freie Sicht durch eine vorm Rückspiegel baumelnde CD beeinträchtigt sei. So schreitet der Film voran, von Ereignis zu Ereignis, recht zusammenhanglos, und da wird schnell klar, dass es eben nicht um den großen Fall, den Skandal, den Serienkiller geht, sondern um die Freundschaft zweier Männer, die im Angesicht des Todes etwas so Banales wie „einfach nur ihren Job machen“. Mit viel Zynismus, Mut, und Mut zum Risiko, als Versicherung nur die schusssichere Weste und den Partner. Dass dann die erzählerische Crux des Films in der Destruktion dieser Freundschaft liegen muss, ist vorhersehbar.

Der Auslöser für die Katastrophe ist das zufällige Hineingeraten in die Machenschaften eines mächtigen Drogenkartells. Wenn man der Schlange auf den Schwanz tritt, so der schwer bewaffnete Mann von der dazu eilenden Spezialeinheit, wendet sie den Kopf und schlägt zurück. Jedoch, die Warnung scheint nicht richtig anzukommen bei den beiden. Es geht also um sehr ernste Dinge: Menschenhandel, Drogen, Waffen. Hier findet der generell recht spannende, kurz getaktete Film zu einigen sehr intensiven, emotional aufwühlenden Szenen. Und als sie sich bei einem weiteren Einsatz noch einmal mit dem Kartell anlegen, landen sie auf der Abschussliste und werden in einen Hinterhalt gelockt, aus dem ein Entkommen unmöglich scheint.

Da ist der Film aber schon beinahe vorbei. Auch hier wird der lebensgefährliche Einsatz wieder zum Prüfstein der Freundschaft, diesmal allerdings mit gravierenden Folgen. Und so bedrohlich der Film auf seinen Wegen durch das feindlich anmutende Stadtgebiet die ganze Zeit über wirkte, so trist endet es nun hier in einer stinkenden, schlecht ausgeleuchteten Hinterhofgasse. Dass der Film dann ganz am Ende noch einmal einen versöhnlichen Erinnerungshaken schlägt, dürfte jedoch nicht so gut ankommen. Und verweist auch noch einmal in aller Deutlichkeit auf eines der Probleme vieler dieser aus „Original-Material“ montierten Filme. Da die subjektive Perspektive nicht konsequent durchgehalten, sondern immer wieder mit Bildern einer klassischen Kameraführung angereichert wird, verschwimmt die klare Kontur der Autorschaft. Am Ende bleibt das Gefühl zurück, manipuliert worden zu sein, und so bringt sich der Film aufgrund formaler Unschärfen selbst um einen großen Teil seiner Wirkmächtigkeit. Nichtsdestotrotz ist „End of Watch“ ein testosteron- und adrenalingesättigter Powertrip am Rande der amerikanischen Nacht und ein Blick in das taghell schmerzhaft gleißende Labyrinth des Verbrechens eines unentrinnbaren Molochs.

Winternomaden

(D / CH / A 2012, Regie: Manuel von Stürler)

Aus einer fernen Zeit
von Wolfgang Nierlin

In der Abenddämmerung wirkt die Schafherde wie ein schwarzes Band, das sich schier endlos durch die verschneite Winterlandschaft schlängelt. Es sind Bilder wie aus einer fernen Zeit, die Camille Cottagnoud …

In der Abenddämmerung wirkt die Schafherde wie ein schwarzes Band, das sich schier endlos durch die verschneite Winterlandschaft schlängelt. Es sind Bilder wie aus einer fernen Zeit, die Camille Cottagnoud für Manuel von Stürlers Dokumentarfilm „Winternomaden“ („Hiver Nomade') aufgenommen hat. Ihre Archaik kontrastiert immer wieder die Zivilisation, die nie ganz abrückt, doch wie ein fremdes Wesen die Wege der Hirten flankiert. Wenn etwa eingangs des Films das sanfte Getrappel der Schafe sich vom Verkehrslärm entlang einer Straße absetzt; oder wenn wiederum Autos von dem achthundert Leiber zählenden Herden-Körper umschlossen werden. Einmal hat eine moderne Wohnsiedlung, vom Hirten abschätzig „Disneyland“ bezeichnet, die Landschaft verändert; ein anderes Mal versperren Bauern, die sich um ihre Felder sorgen, feindselig den Weg. Doch das einfache Leben in der Natur, umgeben von Tieren, schafft immer wieder starke Gegenbilder als Quellen der Energie und Entspannung: ein einfaches Zeltlager am Waldrand; die Ruhe am wärmenden Lagerfeuer; ein Vollmond am bewölkten Nachthimmel; eine friedliche Morgenstimmung am Fluss.

Sein Beruf sei vom Aussterben bedroht, sagt der 54-jährige Hirte Pascal Eguisier, der sein Handwerk bei einem Bergamasker Schäfer gelernt hat und seit nunmehr 32 Jahren als passionierter Wanderhirte durch die Westschweiz zieht. Zusammen mit seiner jungen Kollegin Carole Noblanc, drei Eseln und vier Hunden bricht er auf zu einem Viehtrieb, der wie eine Reise anmutet, vier Monate dauert und der eine Wegstrecke von etwa 600 Kilometern umfasst. Unterwegs gibt es immer wieder Schwierigkeiten bei der Futtersuche, mit tiefem Gelände oder ausbrechenden Schafen. Auch lautstarke Konflikte zwischen dem forschen Pascal und der bretonischen Aussteigerin Carole bleiben nicht aus, die jedoch bald wieder versöhnlicheren Tönen weichen oder auch kleinen Neckereien. Mehrmals werden die beiden Schäfer auch zum Essen eingeladen, mal von Fremden, mal von Freunden. Doch bei aller kurzzeitigen Geselligkeit bleiben sie Abgeschiedene im Draußen, den Elementen der Natur ausgesetzt. „Ich bin überzeugt, irgendwo ist ein Beschützer, der uns leitet“, sagt Pascal.

Als teilnehmender Beobachter, ohne Kommentare oder Interviews begleitet Manuel von Stürler dieses Unterwegssein durch die Stimmungen der Natur, um das symbolische, religiös konnotierte Bild eines einfachen Hirtenlebens wiederzubeleben. Dabei geht es ihm sowohl um dessen „Schönheit und Reinheit“ als auch um „die ganze Komplexität“ und „harte Realität beim Führen der Herde“. Wie schon Erich Langjahrs thematisch verwandte „Hirtenreise ins dritte Jahrtausend“ beschreibt auch Manuel von Stürlers „Winternomaden“ alte Zyklen in neuer Zeit. Wenn im Verlauf des Viehtriebs die gemästeten Schafe sukzessive vom Patron fürs Schlachthaus abgeholt werden und so am Ende nur noch wenige Leittiere übrigbleiben, handelt der Film nicht nur vom Abschluss einer langen gemeinsamen Wanderung, sondern auch von einem wehmütigen Abschied zwischen Mensch und Tier.

The Man with the Iron Fists

(USA 2012, Regie: RZA)

Enter the RZA, Bushido-Style
von Louis Vazquez

Er war der Mastermind des Wu-Tang Clan. Er hat den Soundtrack für Jim Jarmuschs „Ghost Dog: The Way of the Samurai“ geschrieben. Und er hat für Quentin Tarantino den Score …

Er war der Mastermind des Wu-Tang Clan. Er hat den Soundtrack für Jim Jarmuschs „Ghost Dog: The Way of the Samurai“ geschrieben. Und er hat für Quentin Tarantino den Score zu „Kill Bill Vol. 1“ komponiert. Wenn er dann noch behauptet, seit frühester Kindheit Samuraifilme aufgesogen und sich für Shaolin und Kung Fu begeistert zu haben, dann nimmt man Robert „RZA“ Diggs schnell ab, dass er für die Regie eines Martial-Arts-Films prädestiniert sei, zumal Filmemachen schon immer sein Traum war, sagt er. Und weil Tarantino mittlerweile ein guter Kumpel ist und ihm hilfreich unter die Arme griff, kommt jetzt sein Debütfilm in die Kinos. Blöderweise werden dessen Schwächen umso deutlicher, wenn man sich „Ghost Dog“ und „Kill Bill“ als Vorbilder und Koordinaten ins Gedächtnis ruft.

Jarmuschs „Ghost Dog“ bietet nicht nur die seit Melvilles „Le samouraï“ schönsten ausgedachten Zitate zum vermeintlichen Verhaltenskodex des Samurai, sondern präsentiert und hinterfragt auch einen anachronistischen Ehrbegriff, der nur noch alten, weißen Männern etwas nützt. Der schwarze Samurai vom Rand der Gesellschaft muss in den Tod gehen. Ein komödiantischer, böser und trauriger Film, der sich denkbar weit von der genrespezifischen Action entfernt hat. Tarantinos Action-Spektakel „Kill Bill“ vereint dagegen alle denkbaren Vorbilder, macht noch einen Abstecher zum Italowestern und bietet nicht zuletzt eine starke Heldin, die er in einer schrecklichen und schrecklich guten Exposition mit brachialen Mitteln zur Sympathieträgerin macht. „The Man with the Iron Fists“ im Vergleich mit diesen beiden Werken als Jungsphantasie zu bezeichnen, würde bedeuten, die Phantasie männlicher Heranwachsender stark zu unterschätzen.

Die Story ist so simpel wie unübersichtlich: Einen befreiten Sklaven (RZA) verschlägt es im 19. Jahrhundert in ein abgelegenes chinesisches Dorf, wo er sich als Schmied verdingt und Waffen für die verschiedenen streitlustigen Clans fertigt. Als der Kaiser eine Ladung Gold durchs Land schickt, gerät der Blacksmith zwischen die Fronten. Da ist zum Beispiel der Clan des Bösewichts Silver Lion (Byron Mann), dem sich der heldenhafte Zen Yi (Rick Yune) entgegen stellt, um Rache für seinen getöteten Vater zu nehmen. Da sind aber auch der undurchsichtige Jack Knife (Russell Crowe) mit seinem Faible für Klingen und Madame Blossom (Lucy Liu), die das örtliche Hurenhaus leitet. Dort bietet die schöne Lady Silk (Jamie Chung) ihren Körper feil, die Geliebte des Blacksmith. Mit ihr will er irgendwann alles hinter sich lassen, wenn der Geldkoffer erst voll genug ist. Ein befreiter Sklave, der (mit schlechtem Gewissen) von Waffengeschäften profitiert, aber das Geld braucht, um eine Leibeigene freizukaufen – die Idee ist aberwitzig und deshalb höchst interessant. Nur leider entwickelt das Drehbuch von RZA und Eli Roth daraus letztendlich gar nichts, so wie auch der Gastauftritt von Blacksploitation-Ikone Pam Grier bestenfalls eine Randnotiz wert ist.

RZA inszeniert stattdessen einen Film aus Fanperspektive, der sich von den großen Vorbildern nicht lösen kann oder will und die Geschichte des Martial-Arts-Films zitiert, von den Shaw-Brothers-Produktionen bis zur japanischen „Okami“-Reihe. Auch eine kurze Verneigung vor John Woo über ein Musikzitat darf da natürlich nicht fehlen. Die Kampfszenen sind durchaus gelungen und werden gelegentlich beeindruckend dargeboten, sie sind allerdings nicht immer gut inszeniert. Wie Tarantino scheint RZA ein Fan von Brian De Palma zu sein und erweist dem Vorbild nicht nur mit einem Top Shot über die Räume des Bordells seine Referenz, sondern auch mit vielen Split Screens. Die sehen aber oft eher aus, als müssten sie problematisches Ausgangsmaterial kaschieren.

Mithin unerträglich indes sind die nicht nur holzschnittartigen Figuren des Films, deren Sexismus in keinem Moment kritisch hinterfragt wird. Insbesondere Russell Crowe hat einige lustig gemeinte Szenen als Puffkunde, bei denen man ungläubig ins Presseheft guckt und sich fragt, ob hier wirklich RZA sein Regiedebüt abgibt, weil man ihm solche Humorversuche bzw. so einen Scheißdreck gar nicht zugetraut hätte. Die Frauenfiguren schließlich dürfen nicht einmal mehr witzig sein, sondern erfüllen brav alle Hurenklischees. RZAs Film wirkt in besseren Momenten wie ein blutig-bunter, aber langatmiger Comicstrip, in schlechteren traut man seinen Augen und Ohren nicht. Rat- und unterhaltsamer wäre es also, sich stattdessen einen beliebigen Klassiker zum Beispiel des Hong-Kong-Kinos noch einmal vorzunehmen und den Abend mit ein paar Soulplatten ausklingen zu lassen.

The Walking Dead. Season 2

(USA 2011, Regie: Ernest R. Dickerson, Bill Gierhart u.a.)

I had to kill him! No, you had not.
von Michael Schleeh

Der schmutzige Look der Serie, der sich schon durch das verwendete 16mm-Format einstellt, und der im Netz viel Kritik vor allem unter den Hochglanzfetischisten hervorgerufen hat, führt die Serie auf …

Der schmutzige Look der Serie, der sich schon durch das verwendete 16mm-Format einstellt, und der im Netz viel Kritik vor allem unter den Hochglanzfetischisten hervorgerufen hat, führt die Serie auf einer ästhetischen Ebene zu ihrem inhaltlichen Zentrum zurück: zur zerstörten Welt. Die Eigenschaft des Ausgangsmaterials mit seinen Rauschwerten, den immer wieder deutlich sichtbaren Texturen und dem geliebten wie gefürchteten Filmkorn, lässt sich als Allegorie zur postapokalyptischen Welt und zum zerstörten Gesellschaftsgefüge lesen, in welcher der Überlebenskampf der Protagonisten permanent durch die Sinnhaftigkeit ihres Tuns hinterfragt wird.

Im Interview auf studiodaily berichtet Kameramann David Boyd davon, wie mit verschiedenen Filmformaten experimentiert worden sei, 35mm, 16mm, RedOne, usw., und dass man sich schließlich für die etwas härteren und kälteren Bilder des Super 16-Formats entschieden hätte. 'The Walking Dead' wurde mit drei gleichzeitig laufenden Arriflex 416 gedreht, ohne zugewiesene Hierarchien, und dann sei erst später entschieden worden, welche Sequenz aus welcher Einstellung und Position zu verwenden sei.

Und diese Welt, in der sich die Überlebenden aus Staffel 1 (2010) befinden, hat sich als ein worst case scenario bestätigt: die Zombifizierung ist überall. Die Gruppe um Rick Grimes (Andrew Lincoln) und seine Familie, Frau Lori (Sarah Callies) und Sohn Carl, um Cop-Kollege und Liebes-Affäre Shane (Jon Bernthal), um Glenn, Sohn koreanischer Einwanderer, Dale, den weißbärtigen älteren Herren, der das Gewissen der Gruppe symbolisiert, den Drifter Daryl, dessen Bruder in Atlanta auf dem Hausdach zurückgelassen wurde, sowie einiger anderer Figuren, nimmt in Staffel 2 zunächst die Form einer Odyssee an. Man hat den RV wieder in Stand gesetzt sowie einige PKWs fahrbar gemacht. Daryl heizt mit einem schwarzen Chopper, verziert mit SS-Runen auf dem Tank, durch den Film wie in einer Reminiszenz an „Easy Rider“; das Motiv des Fahrens als das eigentliche Freiheitsmoment der Serie. Doch schon nach kurzer Zeit – man ist auf dem Weg ins Fort Benning, einem Militärstützpunkt, wo es Hilfe und so etwas wie eine Zukunft für alle geben soll – bleibt man in einem riesigen Blechchaos inmitten liegen gebliebener Fahrzeuge und ausgebrannter Automobile auf der Interstate stecken. Offensichtlich sind hier schon mehrere Horden der Zombies, genannt „Walker“, durchgezogen. Diese entwickeln sich mittlerweile zu relativ rabiaten Bestien, da so langsam das Futter ausgeht – einige können sich kaum mehr bewegen, sind kurz vor dem Verenden. Da geschieht ein Unglück: die kleine Sophia wird bei einem Angriff im nahe gelegenen Wald von der Gruppe getrennt und geht verloren. Und es ist kurz vor der einbrechenden Dunkelheit nicht mehr möglich, sie wiederzufinden – was naturgemäß etliche Konflikte innerhalb der Gruppe auslöst. Im weiteren Plotverlauf, und da findet die Staffel ihren zentralen Handlungsort, gelangt man zu einem Farmhaus, in dem ein Arzt mit Familie überleben konnte, und wo sich der Gruppe eine unverhoffte Idylle offenbart. Natürlich ein Frieden auf Zeit, denn sowohl die Konflikte innerhalb der Gruppe nehmen zu, insbesondere zwischen Rick und Shane, und auch eine Entscheidung über die zukünftige Route steht an.

Die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Tuns wird in einzelnen Folgen mehrfach thematisiert und führt zum inhaltlichen Kern der Serie führt: Welche sind die Werte, die es zu erhalten gibt? Ist es in einem Szenario „nach jeder Zivilisation“ überhaupt möglich, sozial zu bleiben? Was macht die Menschlichkeit, die Mitmenschlichkeit aus? Die an grundlegende Probleme des menschlichen Miteinanders rührenden Fragen müssen jedoch unbeantwortet bleiben. Das dichotome Problem des Festhaltens an der moralischen Zivilgesellschaft versus deren Aufgabe zum Zwecke des Überlebens ist letztlich die inhaltliche Crux von „The Walking Dead“, und wird an verschiedenen Exempeln und Konfliktfällen durchgespielt. Da gerät Staffel 2 bisweilen zum Ensemble- oder Problemfilm, denn die Zombiebedrohung tritt für eine Zeitlang in den Hintergrund und das Miteinander der Menschen gerät in den Fokus.

Damit einher geht eine deutliche Verlangsamung der ansonsten rasant gehaltenen Ereignisse. Ganz wunderbar gelingt es den Machern, das Tempo variabel zu halten und Akzente zu setzen; letztlich, um so den Horizont der Serie zu erweitern und sie aus der rein additiven Kettenhaftigkeit der Ereignisse herauszulösen. Ihr tiefere Ebenen hinzuzufügen und Konflikte zu inszenieren, die allgemeingültige sind. Natürlich werden elementare serielle Strukturen beibehalten, erkennbar z.B. am stets verwendeten Cliffhanger, der am Ende einer jeden Folge die Daumenschrauben gehörig zuzudrehen weiß. Der sich einstellende Suchtfaktor der zweiten Staffel ist enorm. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis das Chaos erneut losbricht – und so viel sei verraten: Die Staffel endet mit einem unglaublich actionreichen Finale, das den grünen Rasen Georgias mit hektoliterweise Blut in ein saftiges Rot färben wird.