Archiv der Kategorie: Comic

Quentin Tarantino

( , Regie: )

Das Blut in den Adern Amerikas
von Wolfgang Nierlin

Schon das bunte, wildwüchsige Album-Cover dieser schlicht „Quentin Tarantino“ (OT: „Quentin par Tarantino“) betitelten Graphic Novel, die der französische Comic-Zeichner Amazing Ameziane gestaltet hat, stimmt angemessen beziehungsreich auf die folgende …

Schon das bunte, wildwüchsige Album-Cover dieser schlicht „Quentin Tarantino“ (OT: „Quentin par Tarantino“) betitelten Graphic Novel, die der französische Comic-Zeichner Amazing Ameziane gestaltet hat, stimmt angemessen beziehungsreich auf die folgende biografische Bilder-Erzählung ein. Von einem Stapel Videokassetten, einem Godard-Filmplakat zu „Bande à part“, zahlreichen Fan-Artikeln, einem Baseballschläger, einem Kriminalroman bis hin zur Oscar-Trophäe sind hier verspielt und detailreich jene Elemente versammelt, die sich als Referenzen und Einflüsse durch das Leben und Werk des US-amerikanischen Filmregisseurs ziehen. Dieser liegt derweil in lässiger Gangsterpose, mit einer rauchenden Pistole bewaffnet, inmitten dieses schillernden Sammelsuriums, bevor er dann in der Exposition des fantasievoll und abwechslungsreich gezeichneten Bandes als selbstbewusster Barkeeper das Mixen eines Drinks mit seiner Arbeit als Filmemacher vergleicht. Nach seinen eigenen, imaginären Regeln erfülle er die verrücktesten Wünsche und erzeuge dabei eine Angstlust, der sich der Zuschauer im Vertrauen auf den Regisseur hingeben müsse.

Der zu Beginn der 1970er Jahre als Améziane Hammouche geborene Comic-Künstler integriert in seiner Comic-Biografie Tarantinos postmoderne Stilvielfalt, indem er dem Buch nacheinander den Look einer VHS-Videokassette, einer Comic-Serie, vor allem aber eines dokumentarischen Interviews gibt, in dem sich der Portraitierte mit sich selbst unterhält. Die Zeichnung wechselt dabei von kleinteiligen Panels, über markante talking heads bis hin zu Portraits in Plakatgröße, die dann eine ganze Seite dominieren. Sprunghafte Schnitte und Szenenwechsel erinnern an Filmtechniken und machen die packende Erzählung immer wieder überraschend. Neben Infos über Weggefährten und Statements von Kollegen erzählt mit ansteckender Begeisterung Tarantino selbst, indem er mit vielen Anekdoten, Insider-Wissen, aber auch mit gesellschaftspolitischen Streiflichtern auf seinen Black-Lives-Matter-Aktivismus und den Weinstein-Skandal mehr oder weniger chronologisch durch sein Werk führt. Dieses zu kennen, ist zwar nicht zwingend, scheint aber Voraussetzung zu sein. Zumindest Amazing Ameziane erweist sich als exzellenter Kenner des „tarantinoesken“ Universums.

Popkulturelle Einflüsse, autobiografische Bezüge und ein ausuferndes Filmwissen werden entsprechend am künstlerischen Werdegang des Regisseurs gespiegelt. 1963 als Sohn einer noch minderjährigen Krankenschwester geboren, von wechselnden Vätern erzogen und als schlechter, aber überdurchschnittlich intelligenter Schüler belächelt, wird der Junge hauptsächlich vom Kino, von Romanen und Comics sozialisiert. Mit 16 Jahren verlässt er die Schule, jobbt in einem Pornokino und ist Stammgast in den „Video Archives“. „Um erwachsen zu werden, muss man also alles über das Kino wissen“, sagt der junge Quentin, der seine Stoffe in den fiktiven Welten seiner Vorbilder finden wird, sie aber zugleich in der Realität verankert. Er nimmt Schauspielunterricht, schreibt wie besessen erste Drehbücher und feiert schließlich mit „Reservoir Dogs“ (1992) und „Pulp Fiction“ (1994) preisgekrönte Erfolge, die seinen Kultstatus befördern.

Er wolle „aus populärer Kunst anspruchsvolle Kunst erschaffen“ beziehungsweise, frei nach Picasso, „Gestohlenes verbessern“. Dabei wildert er mit Querverweisen auch in seinem eigenen Werk, das er – trotz zahlreicher neuer Ideen – als fanatischer Anhänger des analogen Films mit seinem bevorstehenden zehnten Kinofilm abschließen will. Seinen trashigen Grundsätzen, die sich nicht zuletzt in bizarren Gewaltfantasien austoben, will der nerdige Filmfreak aber treu bleiben: „Kino ist das Blut in den Adern Amerikas, und diese Blut findest du nur, wenn du die Adern öffnest.“

Amazing Ameziane: Quentin Tarantino • Aus dem Französischen von Christoph Haas • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 240 Seiten • Hardcover • 35,00 Euro

Das Storyboard von Wim Wenders

( , Regie: )

Die Wirklichkeit bewahren
von Wolfgang Nierlin

Im Januar des Jahres 2014 sitzt der Zeichner und Storyboard Artist Stéphane Lemardelé ebenso glücklich wie nachdenklich auf dem Sofa seines Ateliers und liest Bjørn Olaf Johannessens Drehbuch zu Wim …

Im Januar des Jahres 2014 sitzt der Zeichner und Storyboard Artist Stéphane Lemardelé ebenso glücklich wie nachdenklich auf dem Sofa seines Ateliers und liest Bjørn Olaf Johannessens Drehbuch zu Wim Wenders‘ geplantem Film „Every thing will be fine“, in dem James Franco und Charlotte Gainsbourg für die Hauptrollen vorgesehen sind. Der deutsche Filmemacher hat entgegen seiner gewohnten, mehr spontanen Arbeitsweise den kanadischen, 1968 in Frankreich geborenen Zeichner engagiert, damit dieser ein detailliertes Storyboard der etwa 13-minütigen, ziemlich heiklen Eingangssequenz erstellt. Darin verursacht der von Franco gespielte Protagonist in der Eiseskälte des Québecer Winters einen tragischen, tiefe Schuldgefühle nach sich ziehenden Unfall. Weil die Dreharbeiten für den 3D-Film mit großem Team, bei hohen Minusgraden und in möglichst unberührter weißer Schneelandschaft kompliziert zu werden versprechen, setzt Wenders in diesem speziellen Fall auf ein Szenenbuch mit den einzelnen Einstellungsfolgen.

Und so fährt Stéphane Lemardelé von seinem entlegenen Wohnort in Sutton in das circa 110 Kilometer entfernte Montréal, um sich mit Wim Wenders und dem Set Designer Emmanuel Fréchette für Arbeitsgespräche zu treffen. Kleinteilig wird über den Ablauf des Unfalls, über Einstellungsgrößen, Kamerapositionen, Lichtstimmungen und zu vermeidende Spuren im Schnee gesprochen, während der Zeichner erste Skizzen anfertigt, die er dann später ausarbeitet. Daneben und mit Bezug auf sein aktuelles Projekt erzählt Wenders aus seinem reichen künstlerischen Arbeitsleben, von seinen Einflüssen, Inspirationen und praktischen Erfahrungen. In Anlehnung an den Realismus des US-amerikanischen Malers Eward Hopper erläutert der Regisseur sein Bestreben, mit filmischen und fotografischen Mitteln Realität festzuhalten und zu bewahren. Er berichtet von seinem Weg zum Geschichtenerzähler, reflektiert mit Blick auf sein großes Vorbild Yasujiro Ozu über den Film als Medium der Selbsterkenntnis und über die Gefahren inflationärer Bilderproduktion; bei der Besichtigung der Locations verweist er aber auch auf die inspirierende Kraft von Orten sowie auf die Notwendigkeit, bei der filmischen Arbeit zu improvisieren.

Stéphane Lemardelés „autobiografischer Dokumentar-Comic“ „Das Storyboard von Wim Wenders“ entwickelt in diesen Passagen ein ziemlich weit führendes und komplexes Künstlerporträt. Für dessen zeichnerische Darstellung verwendet er Bilder und Texte aus dem umfangreichen Œuvre des Regisseurs, der dabei auch seine diversen Referenzen benennt. So entsteht ein reichhaltiges Dossier von Wenders‘ künstlerischem Werdegang und seinen damit verbundenen filmästhetischen und poetologischen Einsichten. Daneben dokumentiert der ebenso informative wie anregende Comic, der sich augenzwinkernd auch selbst zum Thema macht, in schwarzweißen Bilderfolgen Lemardelés Arbeit am Storyboard, das schließlich in den Dreharbeiten umgesetzt wird. Hier gewährt die farbige Bildergeschichte einen Einblick in die vielfältige Arbeit des Filmemachens und seine Gewerke. Außerdem erzählt der Zeichner mit Blick auf die jeweilige Umgebung, auf Orte, Menschen und Dinge, fast absichtslos und nebenher Geschichten, die sich am Rande und parallel zu den Gesprächen und Ereignissen abspielen. Er entkoppelt dafür Text und Bild und eröffnet damit zugleich einen assoziativen Raum für die Übergänge und Anknüpfungspunkte zwischen Fiktion und Realität, Biografie und Ästhetik.

Stéphane Lemardelé: Das Storyboard von Wim Wenders. Aus dem Französischen von Harald Sachse und mit einem Vorwort von Wim Wenders. Splitter Verlag, Bielefeld 2023. 152 Seiten. 29,80 Euro

Alice Guy

( , Regie: )

Die erste Filmregisseurin der Welt
von Wolfgang Nierlin

„Nur Wissen wird dir Kraft geben, die Herausforderungen des Lebens zu bestehen“, sagt Émile Guy einmal zu seiner 12-jährigen Tochter Alice. Das 1873 in Saint-Mandé bei Paris geborene Mädchen, dessen …

„Nur Wissen wird dir Kraft geben, die Herausforderungen des Lebens zu bestehen“, sagt Émile Guy einmal zu seiner 12-jährigen Tochter Alice. Das 1873 in Saint-Mandé bei Paris geborene Mädchen, dessen Eltern in Chile leben und das zunächst bei seiner Großmutter in der Schweiz aufwächst, muss nämlich wiederholt das Internat wechseln. Das jüngste von fünf Geschwistern ist zwar fröhlich, neugierig und lebenslustig, leidet aber immer wieder unter den schmerzlichen Trennungen und Vertröstungen, unter Angst und der strengen Erziehung in den Klosterschulen. Viel später, als „eine Frau mit Prinzipien“, als emanzipierte Filmregisseurin und als selbstbewusste, durchsetzungsfähige Filmproduzentin, wird Alice Guy sagen: „Den Mutigen gehört die Welt.“ Zu diesem Zeitpunkt Anfang der 1910er Jahre lebt die Filmpionierin bereits mit ihrem Mann Herbert Blaché und zwei kleinen Kindern in den USA und leitet das von ihr gegründete Studio Solax, mit dem sie in großer Zahl einaktige Kurzfilme produziert.

Die vielen Lebensstationen dieser ungewöhnlichen Frau, die, lange Zeit vergessen, erst spät als „erste Filmregisseurin der Welt“ rehabilitiert wurde, lassen sich nun in dem spannenden Comic „Alice Guy“ von Catel & Bocquet nachvollziehen. Der französische Autor und Szenarist José-Louis Bocquet und die aus dem Elsass stammende Illustratorin Catel Muller, die sich zuvor unter anderem mit Kiki de Montparnasse und Josephine Baker beschäftigt haben, verdichten in ihrer biografischen Graphic Novel das ereignisreiche, von Höhen und Tiefen durchwirkte Leben der Filmpionierin in strenger zeitlicher und mit jeweils wechselnden Orten verbundener Chronologie. Catels feine und auf das Wesentliche konzentrierten Schwarzweißzeichnungen sowie Bocquets elliptische, an markanten Ereignissen und Umbrüchen orientierte Erzählweise lassen anhand der biografischen Szenen zugleich das Kolorit und den Aufbruchsgeist einer ganzen Epoche erstehen.

Denn das Portrait und die wechselvolle Geschichte von Alice Guy sind eng verknüpft mit der Entwicklung des Kinematographen, mit technischen Erfindungen, dem Wettbewerb der konkurrierenden Pioniere und dem Ringen um Wirtschaftlichkeit. „Die Vergangenheit nutzen und die Zukunft erfinden, das ist unsere gemeinsame Geschichte“, beschwört Léon Gaumont, mit dem Alice Guy ihre ersten wichtigen Schritte unternimmt, einmal den Geist ihrer Firma. In der Auseinandersetzung mit den Brüdern Lumière, mit dem Kinomagier Georges Méliès oder auch ihrem frühen Drehbuchautor und später berühmt werdenden Regisseur Louis Feuillade geht es aber auch um filmästhetische Fragen im weiten Feld zwischen Realismus und Illusion, Authentizität und Täuschung. Außerdem behandelt der gewichtige Band, der durch eine detaillierte Chronologie und umfangreiche Kurzbiografien ergänzt wird, mit Alice Guys Kämpfen für weibliche Selbstbestimmung und gegen rassistische Diskriminierung oder auch sexuelle Übergriffe innerhalb ihres Metiers Themen, die gerade heutzutage wieder aktuell sind.

Dass die Filmregisseurin, die in der ersten Hälfte ihres langen Lebens Hunderte Filme realisierte, später nahezu vergessen war und in der Filmgeschichtsschreibung zunächst ein Schattendasein fristete, erkennt Alice Guy ziemlich nüchtern und desillusioniert bereits 1922 bei ihrer Rückkehr nach Frankreich: „Niemand hat mich vergessen. Weil ich im französischen Kino einfach nicht mehr existiere.“ Angesichts ihrer Arbeit mit einem Medium, das lebendige Bewegungen aufzeichnet und fixiert, um Unwiederbringliches festzuhalten, liegt darin auch eine gewisse tragische Ironie. Seit ihrem Tod im Jahre 1968 hat sich diese bittere Einschätzung allerdings wesentlich verändert, wofür nicht zuletzt der jetzt in deutscher Übersetzung vorliegende Comic ein schönes Beispiel ist. Neben einem informativen Vorwort des Publizisten und Verlagsredakteurs Sven Jachmann ist dem niveauvoll gestalteten Buch außerdem eine Filmografie und eine Bibliografie beigegeben.

Catel Muller (Zeichnerin), José-Louis Bocquet (Szenarist): Alice Guy – Die erste Filmregisseurin der Welt • Aus dem Französischen von Antje Riley • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 400 Seiten • Hardcover • 45,00 Euro

„Das Kino, das ich mit zur Welt gebracht habe“ – Die Filmpionierin Alice Guy

( , Regie: )

Auszug aus dem Vorwort der soeben beim Splitter Verlag erschienenen Comicbiografie „Alice Guy. Die erste Filmregisseurin der Welt“
von Sven Jachmann

„Es gibt nichts im Zusammenhang mit der Inszenierung eines Films, was eine Frau nicht ebenso leicht wie ein Mann machen könnte, und es gibt keinen Grund, warum sie nicht jede …

„Es gibt nichts im Zusammenhang mit der Inszenierung eines Films, was eine Frau nicht ebenso leicht wie ein Mann machen könnte, und es gibt keinen Grund, warum sie nicht jede technische Seite dieser Kunst vollkommen meistern könnte. Die Technik des Theaters ist von so vielen Frauen gemeistert worden, dass sie ebenso gut als ihre Domäne wie die des Mannes betrachtet wird, und die Bearbeitung von Theaterstücken für den Film entrückt dies in keiner Weise ihrer Sphäre. Die Film- wie die Theatertechnik ist ein geeignetes Feld für weibliche Aktivitäten.“
(Alice Guy, 1914)

Alice Guy wurde am 1. Juli 1873 in Saint-Mandé östlich von Paris geboren und starb am 24. März 1968 in Wayne, New Jersey. In den Jahren dazwischen, vor allem in der ersten Hälfte ihres Lebens, machte sie Filmgeschichte. „Be Natural“, Pamela B. Greens Dokumentarfilm über Alice Guy aus dem Jahr 2018, beginnt mit dem Satz: „Am Anfang des Kinos steht eine Frau.“ Zu pathetisch? Entscheiden Sie selbst:

Alice Guy war die erste Filmregisseurin der Welt, ebenso die erste Produzentin und Drehbuchautorin. Sie inszenierte und produzierte an die 500 Filme, agierte in einigen frühen davon auch in Nebenrollen. Bis 1907 war sie Produktionsleiterin der französischen Firma Gaumont, die zwischen 1905 und 1915 das größte Studio der Welt besaß (sämtliche Produktionen bis 1905 können Alice Guy zugeschrieben werden, erst danach kamen Regieassistenten ins Unternehmen). 1910 gründete sie in New York die Solax, ihr eigenes Studio, in dem mehr als 300 Filme aller Couleur produziert wurden. Im März 1896, da war sie 23, drehte Alice Guy mit „La Fée aux Choux“ (Die Fee der Kohlköpfe) den vermutlich ersten Spielfilm der Filmgeschichte. 1906 realisierte sie die Großproduktion „La Vie du Christ“ (Das Leben Christi) mit über dreihundert Statistinnen und Statisten. Von 1900 bis 1906 inszenierte sie ca. 100 Phonoszenen und erwies sich damit überdies als Pionierin des Tonfilms. Sie gehörte zu den ersten, die mit Tricktechnik experimentierten, verwendete Split-Screens, Zeitraffer und Zeitlupe, Stopptrick, Doppelbelichtung und Rückwärtsbewegungen. Und Alice Guy war kühn bei der Wahl ihrer Motive in einer Zeit, in der die Rollenzuschreibungen der Geschlechter als Naturgesetz galten. Damals hätte sich niemand sonst getraut, einen Film „J’ai un hanneton dans mon pantalon“ (Ich habe einen Maikäfer in meiner Hose) zu nennen. Sie schon. In ihrer Komödie „Les Résultats du Féminisme“ (Ergebnisse des Feminismus) von 1906 sehen wir häusliche Szenen, in denen Männer bügeln und Kinder betreuen, während die Frauen in Macho-Posen Zigarre rauchen, Zeitung lesen und sich bedienen lassen. Außerhalb der heimischen vier Wände zeigt sich dasselbe Szenario: Frauen versuchen mit rüder Selbstgefälligkeit Männer zu verführen, selbige nehmen Reißaus, wenn sich ihnen auf der Straße Frauen nähern. In ihren amerikanischen Filmen behandelte Alice Guy oft politische Themen: Antisemitismus, Einwanderung, Arbeitskämpfe. Als sie 1912 in der Planungsphase des Films „A Fool and His Money“ ihren weißen Stars mitteilte, dass sie für die Produktion mit schwarzen Schauspieler*innen zusammenarbeiten würden, stieß sie auf einhellige Entrüstung: Das sei schlecht für die Karriere. Angewidert von diesem Rassismus, ließ sich Guy nicht beirren und drehte den ersten Film mit rein afroamerikanischem Cast.

Konsultiert man ältere wie neuere filmhistorische Grundlagenwerke, wird man darin wenig bis nichts über Alice Guys Pionierleistungen finden. Kein Wort in Ulrich Gregors und Enno Patalas‘ „Geschichte des Films“, haufenweise Unterschlagenes und Männern Zugeschriebenes in Georges Sadouls „Geschichte der Filmkunst“ (der seine Fehler später zumindest teilweise einräumen sollte, nachdem Guy für Aufklärung sorgte), nichts in der fünfbändigen „Fischer Filmgeschichte“, ein lapidarer Satz in der von Geoffrey Nowell-Smith herausgegebenen „Geschichte des internationalen Films“. Dafür gibt es viele Gründe: Die ersten Kinofilme waren nicht mit Credits versehen, Mitwirkende zu identifizieren, bedeutet akribisches, jahrelanges Stöbern in Dokumentenbergen. Das Copyright für Filme lag in den Anfängen des Films noch in weiter Ferne, und die unzähligen öffentlichen Vorführungen in den Pariser Sälen verbreiteten keineswegs nur den Zauber einer neuen Kunst, sondern aus praktischer Sicht eben auch Ideen, die, einmal vorgeführt, hemmungslos geklaut und modifiziert wurden. Das Gros von Guys Filmen ist nicht archiviert und für immer verschollen (ihren zweiten Lebensabschnitt hatte sie vergeblich damit verbracht, die Werke ausfindig zu machen). Und der wichtigste Aspekt: Die Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts wurde vornehmlich von Männern geschrieben, die frühe in Ermangelung vieler seinerzeit kursierender Werke außerdem in erster Linie als Technikgeschichte. Das musste Guy bereits zu Lebzeiten schmerzlich erfahren. Die erste große Firmenchronik von Gaumont wurde, in den Worten der französischen Filmemacherin Claire Clouzot, „so geschrieben, dass man nur noch ihren bekanntesten Vertreter, Louis Feuillade, feiern kann“. Große Genies und Industrielle mit gutem Geschäftssinn, umringt von willfährigen Zulieferern und Ausführenden; Alice Guy, kreativer Mittelpunkt und Motor des Unternehmens, wird in Léon Gaumonts Erinnerungen zur Randerscheinung degradiert.

Für ihre Autobiographie, die sie 1953 beendet, findet Alice Guy keinen Verlag. Eine alte französische Regisseurin, die von der Zeit und ihrer Rolle erzählt, als die Bilder laufen lernten? Ohne Schlüpfrigkeiten aus der Welt der Stars? Wer soll das lesen? Die Memoiren erscheinen erst nach ihrem Tod. Und sie eröffnet das erste Kapitel lakonisch: „In einer Zeit, in der die Retrospektiven in Mode gekommen sind, finden vielleicht auch die Erinnerungen der ersten Filmregisseurin in der Öffentlichkeit einigen Gefallen. Ich will kein literarisches Werk schreiben, sondern möchte die Leser einfach unterhalten und ihr Interesse an ihrem großartigen Freund – dem Kino, das ich mit in die Welt gesetzt habe – durch Anekdoten und persönliche Erinnerungen gewinnen.“ Der letzte Absatz lautet: „War es ein Erfolg oder ein Misserfolg? Ich weiß es nicht. Ich habe achtundzwanzig Jahre ein sehr intensives und interessantes Leben gelebt. Wenn mich meine Erinnerungen manchmal ein wenig melancholisch stimmen, dann denke ich an die Worte Roosevelts: Es ist hart zu scheitern, doch es ist schlimmer, es niemals versucht zu haben.“

Catel Muller und José-Louis Bocquet haben für diese Comicbiographie viel Intensives und Interessantes aus Alice Guys Leben zusammengetragen, sie liefern nicht zuletzt ein Update des gegenwärtigen Forschungsstands. Filmgeschichte ist ein andauernder Prozess der Relativierung und Neubewertung, und mit den Mitteln der neunten Kunst versuchen die beiden, an einige Leerstellen der siebten zu erinnern. Sie verhelfen Alice Guy zu ihrem Recht und führen uns in eine Epoche zurück, als das Filmemachen noch nicht auf Traditionen des Erzählens aufbauen konnte, sondern dessen Regeln überhaupt erst einmal entdecken musste. Nach diesem Comic wird niemand mehr vergessen, dass wir dies nicht allein Méliès und den Gebrüdern Lumière verdanken.

Catel Muller (Zeichnerin), José-Louis Bocquet (Autor): Alice Guy. Die erste Filmregisseurin der Welt • Aus dem Französischen von Antje Riley • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 400 Seiten • Hardcover • 45,00 Euro

Von Mäusen und Menschen

( , Regie: )

In den Staub geschrieben
von Jonas Engelmann

Kurz nach dem Ende der Weltwirtschaftskrise veröffentlichte John Steinbeck die aus der Perspektive zweier Wanderarbeiter erzählte Novelle „Von Mäusen und Menschen“. Die Zeichnerin Rébecca Dautremer hat die Geschichte neu interpretiert. …

Kurz nach dem Ende der Weltwirtschaftskrise veröffentlichte John Steinbeck die aus der Perspektive zweier Wanderarbeiter erzählte Novelle „Von Mäusen und Menschen“. Die Zeichnerin Rébecca Dautremer hat die Geschichte neu interpretiert.

„I ain’t got no home, I’m just a-roamin’ ’round / Just a wan-drin’ worker, I go from town to town/And the police make it hard wherever I may go / And I ain’t got no home in this world anymore“, singt Woody Guthrie in dem Song „I Ain’t Got No Home in This World Anymore“ auf dem Album „Dust Bowl Ballads“ aus dem Jahr 1940. Als „Dust Bowl“ werden die schweren Staubstürme in den Jahren 1935 bis 1938 bezeichnet, die die Landwirtschaft in den USA und in Kanada stark schädigten. Die Stücke des legendären Albums „Dust Bowl Ballads“ waren von Guthries Zeit als Korrespondent der demokratischen Wahlkampfzeitung Light: The Demo-cratic Leader inspiriert. Guthrie war 1938 durch den Bundesstaat Kalifornien gereist, um über das Elend der Wanderarbeiter und anderer billiger Arbeitskräfte zu berichten, die infolge des Börsencrashs 1929, der sinkenden Nachfrage und fallenden Preise ihre Höfe oder Anstellungen verloren hatten und auf der Suche nach kurzfristiger Beschäftigung Richtung Westen gezogen waren.

„Seltsam, wie klein und bedeutungslos Bücher angesichts solcher Tragödien werden“, notierte John Steinbeck in einer Reportage angesichts des Ausmaßes der damaligen Armut. Wie Guthrie arbeitete der Autor und spätere Literaturnobelpreisträger in den Hungerjahren als Reporter und beschrieb in seinen Stücken die Situation der Arbeitsmigranten. Im Auftrag der San Francisco News verfasste er eine Serie von Artikeln, die das harte Leben der entwurzelten Wanderarbeiter aus der Dust Bowl zum Thema hatten. Steinbeck rüstete einen alten Bäckerwagen zum Wohnmobil um und fuhr damit zu Auffanglagern und Straßencamps, um dort mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Seine im April 1938 im Monterey Trader veröffentlichte Reportage „Starvation under the Orange Trees“ (Hungern unter den Orangenbäumen) gehört zu seinen bekanntesten journalistischen Arbeiten. Darin berichtet er von einem Vater, der seinen Sohn verloren hat. „Ich hörte, wie ein Mann mit monotoner Stimme erzählte, er habe keinen Arzt für seinen ältesten Sohn bekommen, der mit Lungenentzündung im Sterben lag, aber als er tot war, kam sofort jemand. Für die Toten findet man leicht einen Arzt, aber für die Lebenden nicht. (…) Nächstes Jahr wird der Hunger wiederkommen, und übernächstes Jahr auch, bis wir aus unserem Koma erwachen.“ Diese Recherchen lieferten eine Grundlage für zahlreiche seiner Romane und Erzählungen der Folgejahre. Am bekanntesten ist wohl der Roman „The Grapes of Wrath“ („Früchte des Zorns“) von 1939, der im folgenden Jahr mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde.

Aufgrund seiner Solidarität mit den Abgehängten, und weil er die Schattenseiten des American Dream schilderte, wurde Steinbeck bald von Antikommunisten angefeindet und bedroht, dabei ordnete er sich selbst gar keinem politischen Lager zu. Als er sich später in der McCarthy-Ära nicht für des Kommunismus verdächtige Kollegen einsetzen wollte und einige Jahre darauf den Vietnam-Krieg halbherzig verteidigte, griffen Linke ihn an. Schließlich hatte man ihn für einen Sozialisten gehalten.

Eine Literatur, die sich auf die Seite der ausgebeuteten Arbeiter stellt, sei für Steinbeck „ein Gebot der Menschlichkeit, nicht des politischen Standpunkts“ gewesen, schreibt seine Biographin Annette Pehnt. Durch und durch überzeugt war Steinbeck jedoch von der Reformpolitik des Präsidenten Franklin D. Roosevelts, der den Schriftsteller zweimal ins Weiße Haus einlud. Im Rahmen des von Roosevelt 1933 initiierten innenpolitischen Reformprogramms des New Deal wurden auch Kunst und Kultur gefördert; beispielsweise das Federal Writers’ Project, das Schriftsteller unterstützte, die sich mit der US-amerikanischen Gesellschaft befassten und der Arbeiterklasse in der Öffentlichkeit Gehör verschafften.

Für Steinbecks schriftstellerisches Selbstverständnis dürften auch seine Erfahrungen als Hilfsarbeiter auf kalifornischen Farmen, Baustellen und in Fabriken ausschlaggebend gewesen sein. Als Student hatte er in den frühen zwanziger Jahren in vielen Jobs gearbeitet. 1925 brach er sein Studium an der Stanford University nahe Palo Alto sogar ganz ab und schlug sich danach für eine Weile als Gelegenheitsarbeiter durch. Geboren und aufgewachsen im kalifornischen Salinas, in einer von Armut geprägten Gegend, kannte Steinbeck die Not aus eigener Anschauung. Obwohl er selbst aus einer Familie der bürgerlichen Mittelschicht stammte – seine Mutter Olive war Lehrerin, sein Vater John Ernst Finanzbeamter – und die damit verbundenen Privilegien zu schätzen wusste, fühlte er sich den Meschen der Arbeiterklasse in ihrem täglichen Existenzkampf eng verbunden. In seiner Zeit als Hilfsarbeiter, in der er auch mit den anderen Arbeitern in Baracken wohnte, legte er eine umfangreiche Materialsammlung an, hielt Begegnungen und Gespräche fest und machte Notizen. So entstand ein Fundus aus Biographien, Dialogen, Schauplätzen und Geschichten, der für seine schriftstellerische Arbeit wichtig wurde.

Auch die Figur des geistig behinderten Lennie aus der 1937 erschienenen Novelle „Of Mice and Men“ („Von Mäusen und Menschen“) soll von einer realen Begegnung aus dieser Zeit inspiriert worden sein. Die Erzählung ist nicht nur aufgrund der zahlreichen Filmadaptionen eines der bekanntesten Werke Steinbecks; durch das überschaubare Figurenensemble, den reduzierten Handlungsradius, die klare Sprache und die aufrüttelnde Darstellung von Armut und seelischer Not ist die Novelle in vielen Ländern Schullektüre geworden. In „Von Mäusen und Menschen“ erzählt er von den beiden Wanderarbeitern George Milton und dem riesenhaften Lennie Small, die gemeinsam auf der Suche nach Arbeit durch Kalifornien ziehen. Schon früh deutet sich an, dass die beiden von ihrer vorigen Arbeitsstelle f!iehen mussten. „Wir sind abgehauen. Sie waren hinter uns her, aber sie haben uns nicht gekriegt“, schildert George seinem Freund Lennie die Lage.

Später wird sich herausstellen, dass der überstürzte Aufbruch etwas mit Lennies Zwängen zu tun hat. Der kindlich wirkende Mann mit dem zwanghaften Bedürfnis, alles Weiche und Flauschige zu berühren, hatte das Kleid eines Mädchens gestreichelt. Ein Verhalten, das als sexuelle Belästigung interpretiert wurde, weswegen die beiden vor einem wütenden Mob fliehen mussten. „Sie schreit los und wir müssen uns in einem Bewässerungsgraben verstecken und die Kerle suchen uns den ganzen Tag und wir müssen uns im Dunkeln rausschleichen und aus dem Staub machen“, erklärt George seinem Freund, was eigentlich passiert ist.

Nun sind George und Lennie auf dem Weg zu einer anderen Farm, auf der Feldarbeiter gebraucht werden. Dort werden sie in der kargen Gemeinschaftsunterkunft einquartiert, die Steinbeck mit genauem Blick beschreibt: „An den Wänden standen acht Schlafstellen, fünf davon waren mit wollenen Bettdecken hergerichtet, die anderen drei zeigten die nackte Sackleinwand. Über jeder Schlafstelle war eine Apfelkiste an die Wand genagelt, mit der Öffnung nach vorn, so dass zwei Regalbretter für das persönliche Eigentum des Inhabers der Schlafstelle entstanden.“

Curley, der Sohn des Farmbesitzers, steckt bereits bei der ersten Begegnung mit den neuen Arbeitern sein Revier ab. George ist alarmiert. „Hör zu, Lennie, die Sache hier ist nicht geheuer. Du wirst Schwierigkeiten kriegen mit diesem Curley. Ich hab so was schon öfter erlebt. Er hat dich gewissermaßen abgetastet. Jetzt bildet er sich ein, dass du Angst vor ihm hast, und er wird dir bei der ersten Gelegenheit eine reinhauen“, prophezeit er Lennie. In der Tat geraten die beiden aneinander und Lennie bricht Curley nach dessen Provokationen die Hand, woraufhin dieser alsbald Abstand zu dem Riesen Lennie hält.

Gespiegelt wird das gewalttätige Szenario in der Tierwelt, die in Steinbecks Novelle eine wichtige Rolle spielt: Zunächst streichelt Lennie eine Maus schier zu Tode; ein Hundewelpe, um den sich Lennie kümmert, überlebt seine Art der Zuwendung nicht; später wird der alte, kranke Hund eines Farmarbeiters erschossen – um ihn zu erlösen. Die Tiere sind unschuldig und doch dem Tod geweiht, sie sind ein Symbol für die Aussichtslosigkeit, die Zwänge und Enge des eigenen Lebens hinter sich zu lassen. Ein Lebenstraum Lennies ist es, die Verantwortung für Kaninchen auf einer eigenen Farm zu übernehmen, wozu es aber niemals kommen wird.

Es gibt eine weitere Figur, die wie die Tiere als eine bedrohte erscheint, der jedoch die Unschuld der Tiere fehlt und die daher zugleich als Bedrohung wahrgenommen wird, als Verführerin und Störung der klaren Verhältnisse. Curleys namenlose Ehefrau irritiert die männlich geprägte Welt auf der Farm schon durch ihre Anwesenheit, die Männerblicke auf ihren Körper werden begleitet von Getuschel hinter ihrem Rücken: „Weißt du, was ich denke? Ich denke, Curley hat … eine Nutte geheiratet.“

Auch sie wird zum Opfer. Als Lennie einmal mit ihr allein im Stall ist und ihr Haar berühren darf, verliert er dabei die Kontrolle und versucht, ihre Hilferufe zu ersticken: »“ie fuhr fort, sich zu wehren, und ihre Augen waren wild vor Schreck. Da schüttelte er sie und wurde böse auf sie. ‚Hör auf zu schreien‘, rief er und schüttelte sie und ihr Körper zappelte wie ein Fisch. Und dann wurde sie still, Lennie hatte ihr das Genick gebrochen.“ George ist verzweifelt und weiß sich nicht anders zu helfen, als seinen Freund am Ufer eines Flusses zu erschießen, um ihn vor Curleys brutaler Rache zu bewahren.

Mit diesem Ende ist die männlich geprägte Ordnung der Farm wiederhergestellt, in der die namenlose Frau als Störfaktor erscheint, als Objekt der Begierde wie auch der Rache. Mit Lennie stirbt auch der gemeinsame Traum von ihm und George, eines Tages ein eigenes Stück Land zu besitzen, dessen Ertrag nur ihnen gehört – eine Hoffnung, die wohl viele der damaligen Wanderarbeiter hegten.

Auch wenn zwischen Autor und Werk zu unterscheiden ist, verbindet doch dieses Bild von Männlichkeit, in dem Frauen namenlose Objekte bleiben und Konflikte durch Gewalt gelöst werden, den Autor mit seinen Protagonisten. „Ich werde ihnen Männlichkeit vermitteln. Soweit es möglich ist, sollen sie selbst für sich verantwortlich sein. Sie sollen mit Männern und Tieren zu tun haben und mit Respekt behandelt werden“, hat er als Erziehungsideal für seine damals zwei und vier Jahre alten Söhne im Gespräch mit seiner Frau formuliert. Umso spannender ist es, dass die Novelle „Von Mäusen und Menschen“ nun aus weiblicher Perspektive als Comic neu interpretiert worden ist. Die französische Illustratorin Rébecca Dautremer hat den ungekürzten Text in eine über 400seitige Graphic Novel überführt und dabei Themen in den Mittelpunkt gerückt, die in Steinbecks Text eher angedeutet werden.

Die Novelle wirkt durch ihre Dialoge, die zurückhaltende Erzählerstimme und die Einteilung in Kapitel, deren Handlung jeweils an einem Ort angesiedelt ist, wie für eine Film- oder auch Comicadaption gemacht. Seitenlang werden die ausführlichen Gespräche der beiden Männer bebildert. Deutlich interessanter wird es immer, wenn die Autorin den Text vernachlässigt, um sich auf die eigene Interpretation zu konzentrieren. Im Nachwort schreibt sie dazu, von sich in der dritten Person sprechend: „Da sich die Kommunikation mit den dreißiger Jahren als verwirrend erwies, machte Rébecca Dautremer schließlich, was sie wollte.“

Diese Freiheit der Interpretation schlägt sich nieder in den diversen Stilen, die im Comic nebeneinanderstehen: dem Naturalismus verp!ichtete Landschaften, Bildzitate aus zeitgenössischen Comics, Kinderbüchern und Werbeanzeigen, Karikatur, Holzstich und Aquarell, Art brut, Kinderzeichnung und Kitsch. So zeigt sie Lennies Gedankenwelt, seine Träume von einem unabhängigen Leben auf einer eigenen Farm, in einem zwischen Kinderbuch und Art brut angesiedelten Stil. Diese immer wieder eingeschobenen Phantasiebilder stehen in Kontrast zu den in dunkleren Farben gehaltenen Abbildungen der harten Realität des Farmlebens.

Doch selbst in diese Traumwelt dringt gegen Ende des Comics ein bedrohliches Moment ein; ein Riesenkaninchen erscheint Lennie und beginnt, auf ihn einzureden: „Du wärst den Schuss Pulver nicht wert, mit dem man dich zur Hölle schießen sollte. Gott weiß, dass George alles getan hat, um dich aus dem Schlamassel zu ziehen, aber es hat nichts genützt. Wenn du dir einbildest, George würde dich Kaninchen versorgen lassen, dann bist du noch verrückter als sonst. Das tut er nicht. Er wird dir mit einem Stock die Hölle austreiben, das wird er tun.“ Kurz darauf ist Lennie tot und George zieht allein weiter zur nächsten Farm, von seinem Lebenstraum so weit entfernt wie nie zuvor.

Auch in der zeichnerischen Auseinandersetzung mit Curleys Ehefrau, die leider namenlos bleibt – ein Umstand, den bereits Steinbecks Zeitgenossen kritisiert hatten –, bringt Dautremer ihre eigene Perspektive ein. Während Steinbeck die Frau als durchaus schuldiges Opfer darstellt, das den Farmarbeitern Avancen macht und verführerische Blicke zuwirft, zeigt die Zeichnerin vor allem die Blicke der Männer auf den Frauenkörper: George und Lennie verheddern sich im Comic in ihrem Kleid, verlieren sich in ihrem Dekolleté und werden schließlich von ihren eigenen Projektionen zu Fall gebracht.

Immer wieder gelingt es der Zeichnerin, die Vorstellungen der damaligen Zeit zu hinterfragen und Aspekte hervorzuheben, die in der Vorlage nur angedeutet wurden. Einzig negativ zu vermerken bleibt, dass der Comic zu schön wirkt; zu perfekt sind die Zeichnungen, zu virtuos die Stil- und Farbwechsel, ist doch das Interessante an Steinbecks Novelle gerade die Kargheit der Handlung und der Sprache, in der sich die Armut der Lebensverhältnisse spiegelt. Der Staub, von dem auch Woody Guthrie gesungen hat, der sich nicht abschütteln lässt und sich bedrohlich über alles legt, ist in der Comicadaption verschwunden. Lesenswert jedoch bleibt die Graphic Novel allemal.

Dieser Beitrag erschien zuerst in: Jungle World 15/2023

Rebecca Dautremer (Zeichnerin), John Steinbeck (Autor): Von Mäusen und Menschen • Splitter Verlag, Bielefeld 2022 • 424 Seiten • Hardcover • 49,80 Euro

Schatten der Gesellschaft

( , Regie: )

Aus dem sozialen Dunkel
von Christoph Haas

Comic-Reportagen sind eine tolle Sache. So richtig populär sind sie in der deutschen Szene aber nicht, zumindest im Vergleich zu den allgegenwärtigen autobiografischen Comics. Sich mit sich selbst zu beschäftigen, …

Comic-Reportagen sind eine tolle Sache. So richtig populär sind sie in der deutschen Szene aber nicht, zumindest im Vergleich zu den allgegenwärtigen autobiografischen Comics. Sich mit sich selbst zu beschäftigen, mit den eigenen Erfahrungen und Kümmernissen, scheint für viele Zeichnerinnen und Zeichner attraktiver zu sein, als sich einmal gründlich in der Welt umzuschauen. Genau dies aber liebt Sebastian Lörscher. Nach Reiseberichten aus Bangalore in Südindien, aus Haiti und Österreich ist seine aktuelle Veröffentlichung den Obdachlosen Berlins gewidmet.

Im Winter 2019 hat Lörscher mehrfach zwei Anlaufstätten besucht, die in der Hauptstadt Menschen ohne Wohnsitz zur Verfügung gestellt wurden. Beide Orte sollten, wenn man auf der Straße kaum noch leben konnte, Schutz vor Kälte bieten: eine rund um die Uhr geöffnete Zwischen­ebene am Bahnhof Lichtenberg und ein ausschließlich zur Übernachtung ab 20 Uhr zugängliches Zelt am Containerbahnhof. Aus den Begegnungen dort ist die Reportage entstanden.

Von drei Frauen und zwölf Männern zeichnet Lörscher jeweils ein Doppelporträt. Das erste zeigt die Person ohne Gesichtszüge; der Bleistiftstrich ist dick und verläuft oft in Zickzacklinien. Beim zweiten, behutsam mit Buntstiften kolorierten Porträt ist der Strich feiner und ruhiger, und die Gesichtszüge sind vorhanden. Aus einem Schemen ist plötzlich ein Mensch geworden.

Bild aus „Schatten der Gesellschaft“ (Jaja Verlag)

So widerruft Lörscher, allein mit visuellen Mitteln, die traurige Aussage des obdachlosen Uwe, der sich und seinesgleichen als „Schatten der Gesellschaft“ bezeichnet: „Wir existieren, aber der Gesellschaft sind wir ein Dorn im Auge. Man will uns eigentlich gar nicht sehen.“ Die Statements der Obdachlosen rückt Lörscher unkommentiert zwischen die Porträts. Einer hat eine Arbeitsstelle als Reinigungskraft in einem Kaufhaus; dass er obdachlos ist, weiß fast keiner seiner Kollegen. Der wertvollste Besitz eines ehemaligen Informatik- und Philosophiestudenten ist der Duden; ihn durchforstet er „jede Nacht kreuz und quer“, um „neue Begriffe und Definitionen“ zu lernen.

Da sind, natürlich, die dem Alkohol und Drogen Verfallenen, aber auch diejenigen, die sich in geordnete Verhältnisse zurücksehnen. Andere wiederum wollen ihre Existenz gerade als Verabschiedung von bürgerlichen Zwängen und als große Freiheit begreifen.

Knapp die Hälfte der Porträtierten hat Lörscher im April 2020 erneut getroffen. Manche von ihnen waren zu diesem Zeitpunkt auf einem guten Weg – so kann der Band, anders als erwartet, vorsichtig optimistisch enden. Auf einfühlsame, respektvolle Weise, ohne jeden unangenehmen Beigeschmack von Voyeurismus gelingt es Sebastian Lörscher so, eine Handvoll Menschen dem sozialen Dunkel, in dem sie hausen, für einen Moment ihres Lebens zu entreißen.

Dieser Text erschien zuerst am 03.03.2023 in der taz.

Sebastian Lörscher: Schatten der Gesellschaft. Die Obdachlosen von Berlin • Jaja Verlag, Berlin 2022 • 128 Seiten • Softcover • 15,00 Euro

Adele Blanc-Sec

( , Regie: )

Pastiche und Parodie
von Christoph Haas

Die 1970er waren das Golden Age der französischen Erwachsenen-Comics. Ein Schönheitsfehler aus heutiger Sicht: An den Zeichentischen saßen fast ausschließlich Männer. Ein paar Zeichnerinnen gab es zwar, etwa die geniale …

Die 1970er waren das Golden Age der französischen Erwachsenen-Comics. Ein Schönheitsfehler aus heutiger Sicht: An den Zeichentischen saßen fast ausschließlich Männer. Ein paar Zeichnerinnen gab es zwar, etwa die geniale Claire Bretécher, aber sie waren eine kleine Minderheit. In den Comics selbst fehlte es dagegen nicht an Frauen, allerdings war ihre Darstellung einer spezifisch männlich-heterosexuellen Perspektive verpflichtet. Sie waren Schau-Objekte: jung und hübsch, gerne vollbusig und – nun, da keine Zensur mehr griff – sehr oft nackt.

Eine der wenigen Ausnahmen von dieser Regel heißt Adele – im Original: Adele Blanc-Sec, erfunden von Jacques Tardi. In krassem Kontrast zu dem, was sonst üblich war, tritt sie fast immer hochgeschlossen auf. Sie muss sich nicht ausziehen, um zu gefallen, und sie ist auch keine Nebenfigur. Sie ist Schriftstellerin und die Heldin ihrer Serie. Sie raucht, trinkt und legt die Füße auf den Tisch. Darunter, dass sie allein lebt, ohne love interest, scheint sie nicht zu leiden. Die unglaublichen Geschehnisse, in die sie verwickelt wird, durchlebt sie mit cooler, fast schon stoischer Resilienz.

Die ersten fünf „Adele“-Bände erschienen in schneller Folge zwischen 1976 und 1980. Danach wurden die Abstände immer größer, weil der 1946 geborene Tardi zu einer Generation von Zeichnern gehört, die sich von dem Zwang, einer Serie verpflichtet zu sein, zu emanzipieren suchte und Einzelpublikationen bevorzugt. Der zehnte, abschließende Band kam erst im letzten Herbst heraus. Jetzt liegt die Serie in einer dreibändigen Gesamtausgabe vor, die der Schreiber & Leser-Verlag für die deutsche Version um kenntnisreiche Vorworte ergänzt hat.

Die Abenteuer Adeles spielen in Paris zwischen 1911 und 1923. Am Anfang taucht meistens ein Monster auf: ein Flugdinosaurier oder ein Urzeitmensch, eine lebende Mumie, ein gigantischer Krake oder ein Minotaurus. Im Anschluss daran entwickeln sich mehrere, ineinander verknäulte Handlungsstränge, die nicht nur das Lesepublikum, sondern auch die Heldin perplex sein lassen können: „Was für ein Durcheinander!“, seufzt Adele schon am Ende des ersten Bandes. Manches wird nicht auserzählt, und dafür, Ereignisse oder das Verhalten von Figuren schlüssig zu motivieren, interessiert sich Tardi nur bedingt. Wenn ein Mad Scientist Adele unerbittlich mit seinem Hass verfolgt, dann – wie eine andere Figur erklärt – hasst er sie halt; mehr ist da nicht zu sagen.

© Schreiber & Leser / Casterman / Tardi

„Adele“ ist eine Mischung aus Pastiche und Parodie. Einerseits orientiert Tardi sich an der französischen Pulp Fiction der Belle Époque und ihrer Folgejahre: an der Kioskliteratur, den Romanen Gaston Leroux’ („Das Phantom der Oper“, 1910) und den von den Surrealisten hochgeschätzten Serials Louis Feuillades („Fantômas“, 1913–1914; „Les Vampires“, 1915–1916). Hinzu kommen Verweise auf Poe und Sherlock Holmes, auf Frankenstein und King Kong. Andererseits nimmt Tardi das, was er erzählt, permanent auf die Schippe: durch Übersteigerung ins Haarsträubende und Groteske, durch ironisierende Dialoge und Blocktexte. Gleich fünf Mal steht über einem Panel, das den Pariser Justizpalast zeigt, dass „dessen mittelalterliche Türme sich wie Galgen abzeichnen: düstere Symbole für Unterdrückung und Willkür“.

So wenig dieses Pathos ernst gemeint ist, deutet es zugleich auf die linken, anarchistischen Überzeugungen Tardis, die mehrfach aufblitzen. Die diversen Mad Scientists sind Witzfiguren, aber auch das Verbindungsglied zwischen dem furchtbaren Arzt in Büchners „Woyzeck“ und einem Dr. Mengele. Am Ende des vierten Bandes beginnt der Erste Weltkrieg, dem Tardi mehrere Comics gewidmet hat. Das vorletzte Panel ist schwarz; das letzte zeigt mit Bajonetten versehene Gewehrschäfte, die emporgereckte Skelettarme assoziieren lassen. Und wenn sich im Abschlussband Mumien ausgerechnet in der Academie française zu einer Tagung zusammenfinden, ist nicht schwer zu erschließen, was Tardi von dieser ehrwürdigen Institution hält.

„Adele“ ist kein Comic für Kinder, zeigt aber, wie sehr Tardi dem Erbe Hergés verpflichtet ist. Seine Art, Menschen zu zeichnen, ist etwas realistischer, hat aber noch ein Semi-Funny-Gepräge. An einer Stelle zitiert er direkt aus „Tim und Struppi“: In „Die sieben Kristallkugeln“ erscheint Tim die Mumie eines Inkakönigs im Traum; ebenso ergeht es Adele mit einem assyrischen Dämon. Mit Hergé verbindet Tardi zudem die dokumentarische Sorgfalt in Bezug auf Schauplätze. In die Geschichte der Comics wird er auch als Chronist eines vergangenen Paris eingehen. Liest man die 475 Seiten von „Adele“ am Stück, kann die unablässige Folge von irrwitzigen Vorfällen, Twists und Enthüllungen ein wenig ermüden. Zum Hineinträumen sind dafür stets die Bilder von Paris, das Tardi gerade nicht als Stadt der Lichter zeigt, sondern in Noir-Stimmungen: in der Nacht, verschneit oder, am schönsten, in dichtem Regen.

Dieser Text erschien zuerst am 05.02.2023 in der taz.

Jacques Tardi: „Adele Blanc-Sec“. Sammelband I – III.
Aus dem Französischen von Wiebke Besson, Resel Rebiersch und Martin Budde. Schreiber & Leser, Hamburg 2021–2023. Band I und II 160 Seiten, jeweils 29,80 Euro; Band III 224 Seiten, 39,80 Euro

Corto Maltese

( , Regie: )

Nonchalant zwischen den Welten
von Christoph Haas

Zwei unterschiedliche Ansätze gibt es mittlerweile, wenn es um die Fortsetzung klassischer europäischer Comic-Serien geht. Der eine besteht darin, im Wesentlichen so weiterzumachen wie bisher. Verbunden mit behutsamen Modernisierungen, wie …

Zwei unterschiedliche Ansätze gibt es mittlerweile, wenn es um die Fortsetzung klassischer europäischer Comic-Serien geht. Der eine besteht darin, im Wesentlichen so weiterzumachen wie bisher. Verbunden mit behutsamen Modernisierungen, wie etwa bei „Blake & Mortimer“. Und das kann durchaus unterhaltsam sein. Der andere Ansatz ist die mehr oder minder radikale Neuerfindung. Ein Beispiel hierfür ist Émile Bravos großartiger Vierteiler „Spirou oder: die Hoffnung“, in dem der Held sich im okkupierten Belgien des Zweiten Weltkriegs zurechtfinden muss.

An den aktuellen „Corto Maltese“-Bänden kann man gleich beide Ansätze studieren. Erfunden wurde der „Seemann ohne Schiff“, der im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts weltweit unterwegs ist, 1967 von Hugo Pratt. Bis zum Jahr 1991 erschienen dreizehn überwiegend umfangreiche Alben. Mit Pratts Tod 1995 ruhte die Serie vorerst, bis sie 2015 von Juan Díaz Canales (Text) und Rubén Pellejero (Zeichnungen) wiederbelebt wurde. Nach Abenteuern in Kanada, Ägypten und Tasmanien spielt „Nacht in Berlin“ nun in Deutschland, und zwar im Jahr 1924.

Dort angekommen, erfährt Corto, dass Professor Steiner, einer seiner besten Freunde, ermordet worden ist. Dieser war im Besitz einer seltenen Tarotkarte, für die sich auch eine okkultistisch-esoterisch orientierte Geheimgesellschaft interessiert. Gleichzeitig jagen sowohl Mitglieder der KPD als auch Kryptonazis hinter Dokumenten über die rechtsextreme Terrorgruppe „Operation Consul“ her. Corto navigiert wie immer nonchalant zwischen den Fronten, bis ihn eine Begegnung auf dem jüdischen Friedhof in Prag kurz die Fassung verlieren lässt.

Die „Operation Consul“ hat es wirklich gegeben. Sie ging aus rechtsextremen Freikorpsverbänden hervor und war unter anderem für die Ermordung Walther Rathenaus verantwortlich. In „Nacht in Berlin“ treten zusätzlich aber auch prominente Protagonisten der Weimarer Zeit auf. Etwa die Schriftsteller Joseph Roth und Gustav Meyrink, der Sozialdemokrat Friedrich Ebert, die Sängerin Marlene Dietrich oder der Boxer Max Schmeling. Auch der Stummfilm wird herbeizitiert und zum Leben erweckt. In einem Kino läuft Murnaus Drama „Der letzte Mann“. Der lange, gekrümmte Schatten, den Corto nun nächtlich in dem Comic auf eine weiße Wand wirft, erinnert an Nosferatu. An weiteren Stellen der Erzählung werden berühmte Szenen aus Fritz Langs „Dr. Mabuse, der Spieler“ und Murnaus „Faust“ nachgebildet.

Bild aus „Corto Maltese. Nacht in Berlin“ (Schreiber & Leser)

Diese Überfülle an Referenzen – eine Traumszene führt auch an den Prager Kaiserhof um 1600 – tut dem Comic allerdings insgesamt nicht so gut. Das Einflechten realer Personen und Ereignisse hat zwar immer schon zu den Markenzeichen von „Corto Maltese“ gehört. „Nacht in Berlin“ liest sich jedoch, als hätte Juan Díaz Canales vor der Niederschrift seines Szenarios eine entsprechende Checkliste angelegt und diese dann Punkt für Punkt abgearbeitet.

Verweise auf Zeit-und Kulturgeschichte

Erhellend ist hier ein Vergleich mit „Das Humboldt-Tier“. Dieser aktuelle Comic von Flix ist am selben historischen Ort und nur wenige Jahre später angesiedelt. Doch Flix gelingt es, die Verweise auf Zeit- und Kulturgeschichte dezent einzustreuen, anstatt die Handlung zu überlagern. Auch visuell ist „Nacht in Berlin“ weniger aufregend. Pellejero bietet doch eine etwas gefälligere Variation des expressiven Stils Pratts.

Ganz anders hingegen ist der Fall bei dem Band „Schwarzer Ozean“ gelagert. Hier überrascht allein schon der Name des Zeichners: Bastien Vivès. Der ist bislang weniger für Genre-Comics bekannt als für sensible Graphic Novels wie „Der Geschmack von Chlor“ und „Polina“. Und die zweite Überraschung: „Schwarzer Ozean“ spielt 2001, in den Wochen vor und nach den Anschlägen von 9/11. Corto ist hier ein moderner Pirat. Als seine Kumpane sich bei einem Angriff auf eine Yacht im Chinesischem Meer als skrupellose Mörder herausstellen, rettet er dem Überfallenen, einem älteren Japaner, das Leben. In Tokio angekommen, wird Dr. Fukuda jedoch während einer Kabuki-Aufführung ermordet. Wie sich herausstellt, war er alles andere als harmlos, sondern Mitglied einer ultranationalistischen Politsekte. Zudem hütete er ein altes Buch, in dem von einem sagenhaften Goldschatz die Rede ist, den die Inkas vor den Konquistadoren versteckt haben.

Colin Powell wechselt Worte auf Hebräisch

Erstaunlich mühelos gelingt es Vivès und seinem Szenaristen Martin Quenehen, den Corto-Maltese-Mythos ins 21. Jahrhundert zu transponieren. Die etwas rätselhaften, eigenwilligen Frauenfiguren, die Pratt gerne erfand, werden jetzt durch eine kühle japanische Geheimagentin, eine engagierte Dokumentarfilmerin und eine peruanische Heilerin ersetzt.

Bild aus „Corto Maltese. Schwarzer Ozean“ (Schreiber & Leser)

Radikale Umweltschützer legen sich mit Hochseefischern an; in einer Szene wechselt Colin Powell im Vorübergehen auf Hebräisch ein paar Sätze mit Corto. Klingt wild, doch nichts daran wirkt aufgesetzt, alles ist schlüssig. Ein genderfluider, sehr junger Corto gleitet eher passiv-träumerisch durch die locker gefügte Handlung, in der Figuren erscheinen und verschwinden und vieles nur angedeutet bleibt.

Anders als Pratt arbeitet Bastien Vivès nicht mit harten Schwarz-Weiß-Kontrasten, verzichtet aber ebenfalls oft auf detaillierte Hintergründe. Als dritte „Farbe“ kommen bei ihm Grautöne ins Spiel. Und: „Schwarzer Ozean“ ist ausschließlich am Laptop gezeichnet. Solche Arbeiten haben zumeist, mögen sie auch elegant aussehen, etwas Steriles. Doch dies ist hier nicht der Fall. Der skizzenhafte Stil, den Vivès perfekt beherrscht – manchmal verzichtet er sogar darauf, Augen und Münder zu zeichnen –, lässt den Einsatz von Tuschepinsel oder -feder nicht vermissen.

Wegen hasserfüllter Äußerungen in sozialen Medien und aufgrund einiger nicht zu Unrecht umstrittener pornografischer Comics ist der zuvor stets gefeierte Vivès in Frankreich jüngst sehr in die Kritik geraten. Eine ihm gewidmete Ausstellung beim Comic-Festival in Angoulême wurde abgesagt.

„Schwarzer Ozean“ steht für die helle Seite seines Könnens, auch dank des sehr guten Szenarios. Hugo Pratt hätte an dem Band sicherlich uneingeschränkte Freude gehabt.

Dieser Text erschien zuerst am 24.01.2023 in der taz.

Juan Díaz Canales (Text), Rubén Pellejero (Zeichnungen): „Corto Maltese. Nacht in Berlin“. Aus dem Spanischen von Daniel Nogueira und Resel Rebirsch. Schreiber & Leser Verlag, 88 Seiten. 24,80 Euro

Martin Quene­hem (Text), Bastien Vivès (Zeichnungen): „Corto Maltese. Schwarzer Ozean“. Aus dem Französischen von Resel Rebirsch. Schreiber & Leser Verlag, 184 Seiten. 24,80 Euro

Stockhausen. Der Mann, der vom Sirius kam

( , Regie: )

Der egozentrische Messias
von Christoph Haas

Comic-Verlage lieben Biografien. Meistens geht es in ihnen um berühmte Männer, seltener um berühmte Frauen, und oft lesen sie sich eher zäh: Hat man doch wenig mehr zu erwarten, als …

Comic-Verlage lieben Biografien. Meistens geht es in ihnen um berühmte Männer, seltener um berühmte Frauen, und oft lesen sie sich eher zäh: Hat man doch wenig mehr zu erwarten, als dass brav Lebensstationen ins Bild gesetzt werden. Noch beliebter sind bei Verlagen autobiografische Comics. Sie gelten ja als so herrlich authentisch – dennoch sehnt man sich bei der zwanzigsten sensiblen Coming-of-Age-Story mitunter nach einem knalligen Superhelden-Abenteuer.

Mit „Der Mann, der vom Sirius kam“ hat sich der Schriftsteller und Filmemacher Thomas von Steinaecker – in den Kinos lief kürzlich sein Werner-Herzog-Porträt „Radical Dreamer“ – also sehr viel vorgenommen: die Verbindung zweier nicht unproblematischer Comic-Formen. Denn einerseits schildert er das Leben Karlheinz Stockhausens von dessen Kindheit bis in die 1970er, andererseits erzählt Steinacker parallel von der extremen Faszination, die das Werk des 1928 geborenen Avantgarde-Komponisten auf ihn, seit er zwölf Jahre alt war, ausgeübt hat. Das Ergebnis ist ein Band von nahezu 400 Seiten, monumental in seinem Anspruch, aber durchweg gelungen – ein besserer deutschsprachiger Comic wird 2022 nicht erscheinen.

„Der Mann, der vom Sirius kam“ setzt im Sommer 1989 ein. Die Familie Steinaecker lebt in Viechtach, tief in der bayerischen Provinz. Abwechslung in deren gähnender Langeweile bieten Thomas nur Bücher, Filme und Musik. Mit seinem Bruder nimmt er Popsongs im Rundfunk auf; die Eltern versorgen ihn mit Kunstmusik-LPs. Als ihm der Vater den „Gesang der Jünglinge im Feuerofen“ in die Hand drückt, ist dies ein Erweckungserlebnis: Zum Unverständnis seiner gleichaltrigen Umwelt kann Thomas von diesen Klängen nicht genug kriegen. Als er beginnt, eine Biografie Stockhausens zu lesen, blendet der Comic in dessen Leben über.

Stockhausen wächst während des „Dritten Reichs“ auf. Sein Vater ist Lehrer und Nazi, ein Musterbild des autoritären Charakters. Die psychisch kranke Mutter wird 1941 in der „Heil- und Pflegeanstalt“ Hadamar er­mordet. Auf traumatische Erfahrungen als ­minderjähriger Sanitäter in der ­Endphase des Zweiten Weltkrieges folgt ein Musikstudium in Köln und Paris. Den großen Durchbruch bringt 1956 die zugleich bejubelte und ausgebuhte Uraufführung der „Jünglinge“; daran schließt sich eine internationale Karriere an, die Stockhausen in viele Länder führt.

Bild aus „Stockhausen. Der Mann, der vom Sirius kam“ (Carlsen)

Die Schattenseiten Stockhausens und seines Kunstverständnisses verschweigt der Comic nicht. Der Komponist, der sich gerne als Außerirdischer imaginierte, war von einer ungehemmten Egozentrik, unter der seine privaten Beziehungen leiden mussten. Er sah sich als eine Art Messias, der mit seiner Musik sowohl „die göttliche Ordnung widerspiegeln“ als auch eine „bessere Gesellschaft hervorbringen“ wollte. In seinem zwanghaft radikaler Innovation verpflichteten Großkünstlertum, das ihn schließlich die 9/11-Anschläge als geniales „Konzert“ preisen ließ – ein Skandal, der hier noch nicht vorkommt –, ist Stockhausen heute eine historische Figur.

Diskret, aber ohne Scheu macht Stein­aecker im Wechsel von bio­grafischen und autobiografischen Passagen ­zudem deutlich, woher seine Stock­hausen-Verehrung als junger Mensch rührte. Sie war nicht nur, wie in den von ihm geliebten Science-Fiction-­Filmen, eine Evasion in eine andere, ­aufregende Welt, sondern auch motiviert von der wohl nicht allzu großen Auf­merksamkeit, die ihm sein Vater entgegenbrachte. Dieser erscheint im Comic als in seinem bürgerlichen Beruf übermäßig eingespannt und wenig glücklich; zu Hause verschanzt er sich regelmäßig hinter der Süddeutschen Zeitung. Dass unter dieser Voraussetzung ­Stockhausen für Stein­aecker Züge eines Ersatzvaters hatte, wird nirgendwo ausgesprochen, ist jedoch evident.

Ein Ereignis ist „Der Mann vom ­Sirius“ auch aufgrund der Zeichnungen, die David von Bassewitz am ­Computer gemalt hat. Im Vergleich zu „Vasmers Bruder“ (2014), seinem bislang ­einzigen anderen Comic, hat Bassewitz seinen Stil radikal verändert. Flirtete er in seinem Debüt mit dem Fotorealismus, sind seine Bilder nun von einer skizzen- und aquarellhaften Lockerheit. Auf eine Rahmung der Panels verzichtet er ebenso wie auf deren traditionelle Reihung. Ungeheuer stark sind die überwiegend in Grau und Braun gehaltenen Szenen aus Stockhausens Jugend, die NS-Mief und -Brutalität, ohne auf visuelle Klischees zurückzugreifen, bedrückend vergegenwärtigen.

Nicht weniger als sieben Jahre haben Steinaecker und Bassewitz für die Arbeit an „Der Mann vom Sirius“ gebraucht. Mit dem zweiten, abschließenden Band hoffen sie schneller, in vier Jahren, fertig zu werden. Dass man sich so sehr auf eine Fortsetzung freut, kommt nicht oft vor.

Dieser Text erschien zuerst am 25.10.2022 in der taz.

Thomas von Steinaecker (Text), David von Bassewitz (Zeichnung): „Stockhausen. Der Mann, der vom Sirius kam“. Carlsen Verlag, ­Hamburg 2022. 392 Seiten. 44 Euro

Die Katze des Rabbiners

( , Regie: )

Stimme der Mitmenschlichkeit
von Jonas Engelmann

„Es ist nicht meine Aufgabe, die Dinge so darzustellen, wie sie sind“, lässt Joann Sfar in seiner Comicreihe „Die Katze des Rabbiners“ einen an Marc Chagall angelehnten jüdischen Maler sein …

„Es ist nicht meine Aufgabe, die Dinge so darzustellen, wie sie sind“, lässt Joann Sfar in seiner Comicreihe „Die Katze des Rabbiners“ einen an Marc Chagall angelehnten jüdischen Maler sein künstlerisches Konzept auf den Punkt bringen. Ein Konzept, das für den fiktiven Chagall ebenso wie für den 1971 in Nizza geborenen Comiczeichner gilt: Nicht die Welt, wie sie ist, bildet er ab, sondern eine Welt, wie sie sein könnte. In dieser Welt kann eine sprechende Katze darauf bestehen, ihre Bar Mitzvah zu feiern und sich mit dem Rabbi über religiöse und philosophische Fragen streiten. In anderen Geschichten von Sfar tritt ein debiler Golem auf, hat eine verführerische Madragore Liebeskummer, hadert ein sensibler Vampir mit seinem Schicksal und verbünden sich jüdische Gangster mit einer Klezmer-Band gegen die ihnen feindlich gesinnte Umgebung. Die Protagonisten von Sfar, der zunächst Philosophie und danach Kunst studiert und in nur wenigen Jahren ein kaum mehr überschaubares Werk veröffentlicht hat, sind allesamt Außenseiter, beladen mit Komplexen und Problemen, Ängsten und Hoffnungen, sie suchen Liebe, Freundschaft und Geborgenheit in einer feindlichen Welt.

Über all diesen Figuren jedoch thront die Katze des Rabbiners, die Reihe begründete Sfars Ruf, einer der innovativsten französischen Comiczeichner seiner Generation zu sein – und einer der erfolgreichsten: Die Alben haben sich in Frankreich weit über eine Million Mal verkauft und auch die von Sfar selber realisierte Kinoversion fand ein großes Publikum. In Deutschland ist Sfars Werk noch zu entdecken, das sich durch alle Genres und Stile bewegt: zwischen fantastischer Literatur und Philosophie, Geschichts-Comic und surrealen Welten, Kinder-Comics und Vampirgeschichten, Aquarelltönen und kargem Schwarz-Weiß, mit schnellen Strichen gezeichneten Seiten und detailreichen Porträts.

Bild aus „Die Katze des Rabbiners. Sammelband 4“ (Avant-Verlag)

Die jüdisch-algerische Lebenswelt der „Katze des Rabbiners“ in den 1920er-Jahren ist geprägt von Gesprächen über das Wort Gottes und die Erschaffung der Welt, Wissenschaft und Religion, Rassismus und Zionismus. Das sephardische Judentum Algeriens war zu Beginn des 20. Jahrhundert geprägt von der Nachbarschaft zur arabischen Welt und der Auseinandersetzung mit dem jüdisch-französischen Einfluss in der nordafrikanischen Kolonie. Algerische Juden besaßen die französische Staatsbürgerschaft und konnten in den urbanen Zentren ein weitgehend freies religiöses Leben führen, allen antisemitischen Anfeindungen zum Trotz. Erst 1940, durch die deutsche Besetzung Frankreichs, verloren sie unter dem Vichy-Regime ihren sicheren Status und waren Ausgrenzungen und Enteignungen ausgesetzt. Den prekären Status algerischer Juden deutet Sfar mehrfach an, wenn etwa der Rabbi in einem Café aufgrund seiner Religionszugehörigkeit nicht bedient wird oder die Suche nach einem Jerusalem in der Wüste als Zufluchtsort eine immer größere Bedeutung annimmt. Dennoch bot Algerien Juden im frühen 20. Jahrhundert ein Umfeld für philosophische Zerstreuung. Als brutales Spiegelbild der „Katze des Rabbiners“ hat Sfar die im Zarenreich zur Jahrhundertwende angesiedelte Reihe „Klezmer“ geschaffen. Beide Reihen bilden auch die Erfahrungswelt des Künstlers selbst ab, dessen Familie einerseits aus Nordafrika und andererseits aus der heutigen Ukraine stammt. In „Die Katze des Rabbiners“ treffen die beiden Welten aufeinander: Einer der Protagonisten aus der „Klezmer“-Reihe hat im soeben erschienenen vierten Sammelband der „Katze des Rabbiners“ einen Gastauftritt.

„Die Juden ließen sich derart lange beißen, verfolgen und anbellen, dass sie letztendlich die Katzen den Hunden vorzogen“, weiß die Katze des Rabbiners. Und auch der aktuelle Band ist wieder geprägt von diesem unsicheren Status des jüdischen Lebens, von den Projektionen und Ausgrenzungen, mit denen Juden trotz ihres sicheren juristischen Status zu leben hatten. Der vorliegende Band bündelt zwei in Frankreich als Einzelbände erschienene Episoden, eine blickt zurück auf die Anfänge der sprechenden Katze, auf das Leben ihrer Besitzerin, der Rabbinertochter Zlabya und deren Emanzipation vom Vater. In der zweiten Geschichte „Geht zurück nach Hause!“ werden ganz explizit die Anfeindungen gegenüber den algerischen Juden thematisiert und deren Suche nach einem Ort ohne diskriminierende Zuschreibungen.

Das Heilige Land, so hoffen sie, könnte ein solcher Ort sein, doch bleibt diese Hoffnung in den 1920er-Jahren noch eine reine Imagination. Verschiedene Figuren erzählen von ihren Erlebnissen in Palästina, letztlich entscheiden sie sich, Algerien noch eine Chance zu geben, ein Nebeneinander der Religionen zu leben. In dem Zusammenprall der Kulturen, dem fruchtbaren Streit und in gemeinsamen Feiern verwirklicht sich die Utopie eines anderen Miteinanders, in dem sich aus den unterschiedlichen Stimmen eine gemeinsame erhebt: die Stimme der Mitmenschlichkeit. Joann Sfars Utopie hofft darauf, dass jüdische Stimmen in der Kunst eine Sprache praktizieren, die nicht nur von Juden verstanden wird. Der Künstler selbst arbeitet, wie er einmal erklärte, mit jedem seiner Werke an der Verwirklichung eben dieser Utopie.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 20.10.2022 in: ND

Joann Sfar: „Die Katze des Rabbiners Band 4“.
Aus dem Französischen von Annika Wisniewski. Avant-Verlag, Berlin 2022. 160 Seiten. 30 Euro

Wovon man nicht erzählen kann

( , Regie: )

Wie in aktuellen Comics der Krieg und seine Folgen verarbeitet werden
von Jonas Engelmann

„Billy Pilgrim hat sich von der Zeit losgelöst“, schreibt Kurt Vonnegut in seinem 1969 erschienenen Roman „Schlachthof 5 oder der Kinderkreuzzug“. Pilgrim, der Protagonist des autobiografisch gefärbten Buches über einen …

„Billy Pilgrim hat sich von der Zeit losgelöst“, schreibt Kurt Vonnegut in seinem 1969 erschienenen Roman „Schlachthof 5 oder der Kinderkreuzzug“. Pilgrim, der Protagonist des autobiografisch gefärbten Buches über einen US-amerikanischen Soldaten, der als Kriegsgefangener die Bombardierung Dresdens erlebt, ist nach seiner Rückkehr in die USA nicht mehr in der Lage, sein Leben als den chronologischen Ablauf von Ereignissen zu begreifen, zu stark haben ihn seine Erfahrungen, sowohl den Deutschen als auch den Bomben ausgeliefert zu sein, geprägt und beschädigt zurückgelassen. Vonnegut spiegelt dieses Aus-der-Zeit-gefallen-Sein auf einer Science-Fiction-Ebene, die „Schlachthof 5“ durchzieht: Billy Pilgrim wird nicht nur von Außerirdischen des Planeten Trafalmador entführt, sondern springt darüber hinaus wortwörtlich durch die biografischen Stationen seines eigenen Lebens: „Billy ist als seniler Witwer schlafen gegangen und an seinem Hochzeitstag erwacht. Er ist 1955 durch eine Tür geschritten und 1941 durch eine andere herausgekommen.“

Als Vonneguts satirischer Antikriegsroman erschien, musste sich sein 1922 geborene Autor aufgrund der Darstellung sexueller Handlungen und fluchender US-amerikanischer Soldaten im Zweiten Weltkriegs wegen „Ketzerei“ mit allerlei juristischem Hickhack herumschlagen: Das Buch wurde immer wieder aus Bibliotheken entfernt sowie in einzelnen Distrikten oder Bundesstaaten verboten – zuletzt 2011 an einer High School in Missouri. Im Roman selbst wird der Widerstand gegenüber Geschichten, die nicht das Bild des heldenhaften Soldaten reproduzieren, sondern sichtbar machen, was Krieg für die unmittelbar Beteiligten eben auch bedeutet – Schmerz, Zerstörung, Todesangst –, bereits vorweggenommen, wenn der Erzähler etwa im ersten Kapitel davon berichtet, wie seinem Vorhaben, ein Buch über seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg zu schreiben, mit Ablehnung begegnet wird.

Bild aus „Schlachthof 5“ (Cross Cult)

Ryan North und Albert Monteys haben den Roman nun als Comic adaptiert, und dabei alles Wesentliche gelungen in das andere Medium übertragen. Im Zentrum steht die Beschädigung des Protagonisten durch die Erlebnisse im Krieg, die sein Leben buchstäblich völlig aus den Fugen geraten lässt. Das erzählerische Konzept, die Verstörung nicht lediglich zu beschreiben, sondern an die Leser weiterzureichen, hinterlässt einen stärkeren Eindruck, als es ein weiterer Blick in die Schützengräben leisten könnte. Eine solche Perspektive auf Krieg war bei Erscheinen von „Schlachthof 5“ ein Novum in der Literatur, und auch im Comic sollte es noch einige Jahre dauern, bis vom Krieg jenseits der handelsüblichen Heldengeschichten – auch Superman, Captain America und andere Superhelden hatten sich beim Militär dienstverpflichtet – erzählt werden konnte.

In den Jahren zuvor war über den Krieg vor allem unter der Oberfläche reflektiert worden, etwa in den zahlreichen Horror-Comics, die von den vierziger bis Mitte der fünfziger Jahre eine kurze erste Blütezeit erlebten. Die brutalen Storys um Rache, Dämonen und Geister der Vergangenheit hat der Comic-Historiker Alexander Braun auch als eine direkte Folge des Zweiten Weltkriegs gedeutet, der den Zeichnern ein „gehöriges Maß an Lebenserfahrung“ mit auf den Weg gegeben habe. Die Zeichner, von denen zahlreiche als Soldaten gedient hatten, vereinte, so Braun in „Horror im Comic“, das Gespür dafür, „wie sich eine existentielle Bedrohung von Leib und Leben anfühlte.“ Diese Erfahrungen, die sich in den Comics voller Blut, zerstörter Körper und Rachefantasien Bahn brachen, trafen auf eine Generation jugendlicher Leser, für die solche Comics eine geradezu therapeutische Funktion hatten. Georg Seeßlen hat über das Bedürfnis der Jugend in den Fünfzigern nach Bildern von Splatter, Blut und abgetrennten Köpfen geschrieben: „Die Gewalt des Weltkrieges, die die Jugendlichen nur durch die von Träumen und Kriegsneurosen geprägten Erzählungen der Väter und die allenthalben sichtbaren Wunden, die er dem amerikanischen Selbstverständnis beigebracht hatte, erfuhren, diese Gewalt musste aufgearbeitet, die schemenhafte, tabuisierte Bedrohung musste in Bildern ausgedrückt werden.“ Während die gesellschaftliche Stimmung sich angesichts der wirtschaftlichen Hochkonjunktur in Richtung Zukunft orientierte, Millionen neu errichteter Eigenheime neue soziale Strukturen in den Vororten entstehen ließen und die Vergangenheit dabei eher störend im Weg stand, gärte unterhalb der Oberfläche eine Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der kriegstraumatisierten Väter, die über ihre Kriegserlebnisse oftmals schwiegen. Als einer der Orte dieser Auseinandersetzung stellten sich ebendiese Horror-Comics mit Titeln wie „The Haunt of Fear“, „The Vault of Horror“, „Tales from the Crypt“ oder „Shock“ heraus, die sich bis Mitte der Fünfziger millionenfach verkauften. Nach Zensurmaßnahmen und einer Kampagne der Medien gegen den vermeintlichen Schund kehrten erst mit der Underground-Comic-Revolte ab den späten Sechzigern Sex und Gewalt wieder in das Medium zurück. In den Folgejahren entstanden Arbeiten, die sich mit den Schrecken des Krieges und seinen Folgen für das Individuum beschäftigen, etwa des Franzosen Jacques Tardi, dessen erste Auseinandersetzung mit dem Thema, „Die wahre Geschichte des unbekannten Soldaten“, 1974 erschien, oder Will Eisners autobiografisches „Zum Herzen des Sturms“ von 1991.

Zwei EC-Titelbilder aus Alexander Brauns Ausstellungskatalog „Horror im Comic“ (Avant-Verlag)

In den letzten Monaten fällt die Häufung von Veröffentlichungen auf, die den Horror des Krieges nicht mehr wie in den Fünfzigern in Geschichten um Geister und Dämonen verstecken müssen und in denen die beschädigte Psyche derjenigen in den Mittelpunkt gerückt wird, die unmittelbar am Krieg beteiligt waren, sei es als Soldaten oder als Zivilisten. So verzahnt etwa der Italiener Gipi in seinem Album „Eine Geschichte“ die Biografie des erfolgreichen Schriftstellers Silvano Landi mit der seines Urgroßvaters, der seine Erfahrungen als Soldat im Ersten Weltkrieg niemals verarbeitet hat: In Todesangst hat er einen verletzten Freund getötet, damit dieser nicht den Feind auf sie aufmerksam macht. Gipi rückt die transgenerationelle Traumatisierung in den Mittelpunkt: Die Erinnerungen des Enkels Silvano an den Urgroßvater sind vor allem davon geprägt, was dieser nicht erzählen konnte. Durch Briefe und Tagebücher vom Schlachtfeld, die er auf dem Speicher findet, wird er mit dessen Gedankenwelt konfrontiert. Es entfaltet sich eine bereits vorhandene Schizophrenie, weswegen er nach einem Zusammenbruch in eine Psychiatrie eingewiesen wird. Gipi verbindet die beiden Zeitebenen durch die Verschränkung von Schlüsselbegriffen und Motiven, die den Protagonisten in die Vergangenheit und ins Kriegsgeschehen ziehen.

Während Gipi die Auswirkungen eines Krieges auf die kommenden Generationen in den Mittelpunkt rückt, ist es in „Das Gutachten“ von Jennifer Daniel die Verdrängung. Wir befinden uns in einer Bonner Vorortsiedlung im Juli 1977, kurz vor dem sogenannten Deutschen Herbst, inmitten eines Krimis um Schuld, Verdrängung und Traumata. In flächigen, gedeckten Farben, die an den Farbstich auf Fotografien dieser Zeit erinnern, zeigt Jennifer Daniel das Gefühl der Enge, der Unbeweglichkeit, das jene Jahre ausgezeichnet hat. Herr Martin arbeitet als Fotoassistent in der Bonner Rechtsmedizin und wird nachts von seinen Kriegserinnerungen heimgesucht, die er mit Alkohol und einem geordneten Leben in den Griff zu bekommen versucht. Unglücklich blickt der Mann sich Morgen für Morgen durch seine dicke Hornbrille im Spiegel an, das Verhältnis zu seiner Familie ist nicht von Herzlichkeit und Liebe geprägt, sondern von Gleichgültigkeit. Dieser Mensch, der viel Energie darauf verwenden muss, seine Vergangenheit als Wehrmachtsoffizier zu vergessen, und der nichts anderes als Gehorsam gelernt hat, wird in eine Krimistory um eine bei einem Autounfall umgekommene RAF-Sympathisantin verwickelt. Infolgedessen emanzipert er sich, überwindet seine Unterwürfigkeit und beginnt, die Muffigkeit der Zeit, in der er lebt, in Frage zu stellen. Er bezahlt dieses Aufbegehren mit dem Leben – hinter den Bildern, die nur auf den ersten Blick an Bilderbücher jener Jahre erinnern, lauern Abgründe.

Bild aus Olga Lawrentjewas „Surwilo“ (Avant-Verlag)

Die russische Comiczeichnerin Olga Lawrentjewa dagegen zeigt die Beschädigung in der Psyche der unmittelbar vom deutschen Angriffskrieg Betroffenen. Die 1986 geborene Zeichnerin porträtiert in „Surwilo. Eine russische Familiengeschichte“ in kräftiger, schwarzer Tusche das Leben ihrer Großmutter Walentina Surwilo, deren Vater Wikenti Kasimirowitsch im November 1937 denunziert wird und den stalinistischen Säuberungen zum Opfer fällt. Für die Familie endet mit der Verhaftung ihr Leben in Leningrad, sie muss in die Verbannung, nach Baschkortostan am östlichen Rand Europas. 1940 kehrt Walentina nach Leningrad zurück, und arbeitet in einem Gefängnisspital als Pflegerin. Mittlerweile hat die deutsche Wehrmacht der Sowjetunion den Krieg erklärt. Im Krankenhaus erlebt Walentina die über zweijährige Belagerung Leningrads. Von ihrer Familie überlebt niemand diese Kriegsjahre: „Ich lebe für alle“, sagt sie rückblickend zu ihrer Enkelin. Lawrentjewa sucht in ihren Zeichnungen nach Bildern für das Schweigen, für das, wovon Walentina Surwilo nicht berichten kann – was sich in einer düsteren Schwarzweiß-Ästhetik niederschlägt: Nur wenig Licht scheint im Leben von Walentina auf.

1958 wird ihr Vater rehabilitiert, was zumindest der nächsten Generation ein normales Leben ermöglicht, wenn auch die Angst, jederzeit einen geliebten Menschen verlieren zu können, sich tief in die Familiengeschichte eingegraben hat. „Ich habe in Angst gelebt. Sie war immer da. In mir und um mich – ich war daran gewöhnt“, fasst Walentina zusammen. Lawrentjewa geht es in „Surwilo“ weniger darum, Weltgeschichte in Comicform zu erzählen, vielmehr will sie Bilder dafür finden, wie sich weltgeschichtliche Ereignisse, Krieg und Verfolgung, Hunger und Tod, auf das Individuum auswirken. „Auch die Erinnerung bewaldet sich. Alles gerät durcheinander. Details gehen verloren“, schreibt sie über die Erinnerungen ihrer Großmutter. Einige Details konnte sie durch ihren Comic bewahren, andere sind im Dickicht des Waldes verloren gegangen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in: Konkret 07/2022

Kurt Vonnegut (Autor), Ryan North (Autor), Albert Monteys (Zeichner): „Schlachtshof 5 oder Der Kinderkreuzzug“. Aus dem Englischen von Mathias Wieland. Cross Cult, Ludwigsburg 2022. 192 Seiten. 35 Euro

Alexander Braun: „Horror im Comic“. Avant-Verlag, Berlin 2022. 456 Seiten. 49 Euro

Gipi: „Eine Erzählung“. Aus dem Italienischen von Myriam Alfano. Avant-Verlag, Berlin 2022. 128 Seiten. 28 Euro

Jennifer Daniel: „Das Gutachten“. Carlsen, Hamburg 2022. 208 Seiten. 25 Euro

Olga Lawrentjewa: „Surwilo. Eine russische Familiengeschichte“. Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer. Avant-Verlag, Berlin 2022. 312 Seiten. 28 Euro

Spirou oder: die Hoffnung & Aber ich lebe

( , Regie: )

Stark sein, die Grauzonen sehen
von Christoph Haas

Vor 31 Jahren erschien der zweite, abschließende Teil von Art Spiegelmans „Maus“. Der Band, in dem der New Yorker Zeichner das Leben seines Vaters während des Holocaust schildert, erregte großes …

Vor 31 Jahren erschien der zweite, abschließende Teil von Art Spiegelmans „Maus“. Der Band, in dem der New Yorker Zeichner das Leben seines Vaters während des Holocaust schildert, erregte großes Aufsehen. Er wurde als erster Comic mit dem Pulitzer Prize ausgezeichnet. Was die öffentliche Anerkennung des Mediums betraf, war „Maus“ ein internationaler Durchbruch. Auch außerhalb von Fankreisen wurde nun anerkannt, dass es möglich ist, mit „Sprechblasenbildern“ mehr als nur Geschichten von Schlümpfen und Superhelden zu erzählen.

Heute wundert sich niemand mehr über Comics, die von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Judenverfolgung handeln. Dass sie eine künstlerische Herausforderung bedeuten, ist allerdings weiterhin so. Dies gilt erst recht, wenn eine ursprünglich für ein minderjähriges Publikum erfundene Figur plötzlich dem Eiswind der Historie ausgesetzt wird. Der französische Zeichner Émile Bravo hat dies etwa bereits in seiner außergewöhnlichen „Spirou“-Graphic Novel „Porträt eines Helden als junger Tor“ (dt. 2013) getan.

Spirou im Zweiten Weltkrieg

Der vor allem in der Version André Franquins populär gewordene rothaarige junge Mann in Pagenuniform agiert hier im Brüssel des Jahres 1939. Er verliebt sich in eine Jüdin und wird über die Arbeit in seinem Hotel Zeuge diplomatischer Verwicklungen unmittelbar vor Beginn des Zweiten Weltkriegs.

Zuletzt hat Bravo nachgelegt, und zwar in ganz großem Stil. „Spirou oder: die Hoffnung“ besteht aus vier Teilen, in denen fast ein Jahrzehnt Arbeit stecken dürfte. Die fast 320 Seiten hat Bravo zunächst vorgezeichnet. Beim lange währenden Reinzeichnen kam er sich, nach eigener Aussage, manchmal vor „wie ein technischer Zeichner, der für einen Architekten arbeitet“.

Eine gewisse Ironie liegt darin, dass Bravo sich grafisch weniger an Franquin orientiert als an dessen mächtigstem Konkurrenten Hergé, dem Schöpfer von „Tim und Struppi“. Dies geht so weit, dass Spirou seine Uniform ablegt und mit Knickerbocker und Mütze Tim zum Verwechseln ähnlich sieht – was im Comic von anderen Figuren wiederum amüsiert wahrgenommen wird.

„Spirou oder: die Hoffnung“ schließt nun nahtlos an „Por­trät eines Helden als junger Tor“ an. Die Handlung erstreckt sich vom Januar 1940 bis in den Sommer 1945. Nach dem deutschen Überfall und der Kapitulation Bel­giens verliert Spirou den Arbeitsplatz. Sein naiv-großspuriger Freund Fantasio, der von einer Karriere als Reporter träumt, tappt mit seinem Schreiben für die von den Besatzern kontrollierte Zeitung Le Soir zunächst in die Falle der Kollaboration. Dann aber engagiert er sich für den Widerstand. Mit Spirou reist er durch das Land, vorgeblich, um für Kinder ein Puppentheaterstück aufzuführen. In Wahrheit aber, um Botschaften zu schmuggeln und unauffällig bei der Rettung gefährdeter Menschen zu helfen.

Ausschnitt aus Émile Bravos „Spirou oder: die Hoffnung“ (Carlsen Verlag)

Mit einer Fülle von Figuren, die teils wiederholt, teils nur in ein, zwei Szenen präsent sind, entfaltet Bravo ein Panorama des Lebens im okkupierten Belgien. Er zeigt nicht nur die Ex­treme von Gut und Böse, sondern die große Grauzone, die dazwischen besteht. „Spirou oder: die Hoffnung“ ist nicht die Comic-Entsprechung eines Spielfilms wie „In­glo­rious Basterds“; zöge man Filme zum Vergleich heran, wäre eher an Jean Renoirs „Die große Illusion“ oder Roberto Rossellinis „Paisà“ zu denken.

Es gibt keinen großen Spannungsbogen; das Episodische dominiert. Und nicht alles geht gut aus: Mit dem deutschjüdischen Maler-Ehepaar Felix Nußbaum und Felka Platek hat Bravo zwei reale Personen in den Comic integriert – trotz aller Bemühungen Spirous werden beide, wie in der historischen Wirklichkeit, deportiert und ermordet. „Spirou oder: die Hoffnung“ zeigt Tod, Folterkeller und Züge, die nach Auschwitz fahren, spart die Konzentrationslager aber aus.

Eine andere Graphic Novel, das kanadisch-israelisch-deutsche Gemeinschaftsprojekt „Aber ich lebe“, führt hingegen auch an diese Orte des größtmöglichen Grauens. Versammelt sind hier die Berichte von vier Zeitzeugen, die als unter zehnjährige Kinder den Holocaust überlebten.

Kinder im KZ und in den Verstecken

Emmie Arbel, in Holland geboren, war in Ravensbrück und Bergen-Belsen interniert. David Schaffer, aus Rumänien vertrieben, vegetierte mit seiner Familie unter größten Entbehrungen in den Wäldern Transnistriens, während ebenfalls in Holland die Brüder Nico und Rolf Kamp dank eines kleinen Unterstützernetzes von einem Versteck ins andere gereicht wurden.

„Aber ich lebe“ wurde angeregt von einer Professorin an der University of Victoria. So unterschiedlich die Schicksale der auftretenden Überlebenden, so unterschiedlich sind auch die Zeichenstile. Miriam Libicki fängt David Schaffers Erinnerungen in Aquarellbildern ein, die an kindliche oder naive Malerei erinnern. Gilad Seliktar abstrahiert stark. Er beschränkt sich auf die Farben Blau, Beige und Schwarz und lässt die Kamp-Brüder vor oft nur skizzierten Hintergründen auftreten.

Beide Beiträge sind gelungen, aber am stärksten ist doch der über Emmie Arbel, für den Barbara Yelin („Irmina“, „Der Sommer ihres Lebens“) verantwortlich ist. Erzählgegenwart und Erinnerung lässt Yelin fließend ineinander übergehen, und die ästhetisch wie moralisch überaus schwierige Aufgabe, die Höllenwelt der Lager bildlich darzustellen, meistert sie ohne einen einzigen Fehltritt.

Anderthalb Millionen jüdischer Kinder unter zwölf Jahren wurden während der Kriegsjahre ermordet. Dass nun Stimmen von Kindern, die davongekommen sind, gehört werden, heißt auch, Stimmen zu hören, die bislang kaum zu Wort gekommen sind. Dass die vier in „Aber ich lebe“ es trotz ihrer traumatischen Erfahrungen geschafft haben, ein normales Berufs- und Familienleben wie andere auch zu führen, ist eine Leistung, die man nur bewundern kann.

„Ich weiß, was ich will und was ich nicht will“, sagt Emmie Arbel im Anhang des Buchs: „Ich fürchte mich vor nichts und niemandem. Was ich in den Lagern gelernt habe, hat mich gelehrt, mutig und stark zu sein, und diese Erfahrungen prägen mich bis zum heutigen Tag.“

Dieser Text erschien zuerst am 14.08.2022 in: Taz

Émile Bravo: „Spirou oder: die Hoffnung“. Aus dem Franzö­sischen von Ulrich Pröfrock. Carlsen Verlag, Hamburg 2018-2022. Vier Bände. Je 48 bis 118 Seiten. Je 12 bis 16 Euro

Barbara Yelin/Miriam Libicki,/Gilad Seliktar: „Aber ich lebe. Vier Kinder überleben den Holocaust. Nach den Erinnerungen von Emmie Arbel, David Schaffer, Nico und Rolf Kamp.“ Aus dem Englischen von Rita Seuß. C. H. Beck Verlag, München 2022. 176 Seiten. 25 Euro

Volle Leichenhalle

( , Regie: )

Hang zur Groteske
von Christoph Haas

Jean-Patrick Manchette verstarb 1995, mit gerade 52, an Lungenkrebs. Zuvor hatte er mit zehn zwischen 1971 und 1981 erschienenen Romanen dem französischsprachigen Krimi die Maigret-Gemütlichkeit ausgetrieben. Manchette verehrte hard boiled …

Jean-Patrick Manchette verstarb 1995, mit gerade 52, an Lungenkrebs. Zuvor hatte er mit zehn zwischen 1971 und 1981 erschienenen Romanen dem französischsprachigen Krimi die Maigret-Gemütlichkeit ausgetrieben. Manchette verehrte hard boiled writers wie Dashiell Hammett, Donald E. Westlake und Ross Thomas. Aber er ahmte sie nicht nach, sondern eignete sich ihr Vorbild produktiv an. So wurde er zum Chronisten seiner Gegenwart. Scheinbar nebenbei liefert sein Werk ein gültiges Zeitbild der 1970er, in ihrer ganzen desillusioniert-schäbigen Schlaghosenhaftigkeit.

Es gibt mehrere Adaptationen Manchettes in Film und Comic. Der düstere Polit-Thriller „Nada“, verfilmt von Claude Chabrol, kam schon 1974 ins Kino. Zwischen 2005 und 2011 hat Jacques Tardi aus drei weiteren Romanen tolle Graphic Novels gemacht („Killer stellen sich nicht vor“, „Zum Abschuss freigegeben“, „Im Visier“). Auch der 1947 geborene Max Cabanes schätzt Manchette wohl sehr: „Volle Leichenhalle“ ist sein vierter Comic nach einer Vorlage des Autors.

Eugène Tarpon, die Hauptfigur, ist ein ehemaliger Polizist. Bei einer Demonstration hat er, halb aus Panik, halb aus Versehen, einen Demonstranten getötet. Nach dem Ausscheiden aus dem Dienst versucht er sich erfolglos als Detektiv. Ausgerechnet als er resigniert beschlossen hat, zu seiner alten Mutter aufs Dorf zurückzukehren, taucht mitten in der Nacht eine junge Frau namens Memphis Charles bei ihm auf. Sie erzählt aufgelöst, dass ihre Mitbewohnerin Griselda brutal ermordet worden ist. Als Tarpon ihr empfiehlt, die Polizei aufzusuchen, schlägt sie ihn nieder.

Wieder zu Bewusstsein gekommen, bricht er zum Tatort auf, nur um sich dort sofort der Polizei verdächtig zu machen. Dies bleibt allerdings nicht seine einzige Sorge. Tarpon wird mehrfach gekidnappt, erst von einer Gruppe gewaltbereiter Linksextremisten, dann von amerikanischen Gangstern, die im Dienst eines rätselhaften Mannes stehen, der zwar dauernd in Tränen ausbricht, aber keinen Zweifel daran lässt, bei der Verfolgung seiner Ziele nicht wählerisch zu sein. Zur Seite steht Tarpon nur Haymans, ein alter, eigentlich in Pension befindlicher Kriminalreporter, der auf Polizeistationen herumhängt, weil er nicht von seinem Job lassen will.

© Schreiber & Leser

Im politischen Subtext von „Volle Leichenhalle“ teilt Manchette nach zwei Seiten gleichermaßen aus. Einerseits wird in der Darstellung der Terrorgruppe als dusseliger, irrer-wirrer Haufen die völlige Verachtung deutlich, die der gleichwohl ausgesprochen linke Manchette für diese Form von Aktivismus hegte. Andererseits legt der Roman eine Spur antisemitischer und faschistischer Tendenzen bloß, die bis in die Zeit der Okkupation zurückreicht. Am Ende ist es ein blutverschmierter Papierfetzen aus Wilhelm Reichs „Massenpsychologie des Faschismus“, der Tarpon plötzlich verstehen lässt, wer Griselda umgebracht hat.

Anders als Tardi, der Manchette in schwarz-weißen Tuschezeichnungen umgesetzt hat, bedient Cabanes sich der Farbe. Sichtlich Spaß scheint er daran zu haben, immer wieder durch kleine Hinweise die Zeit, zu der die Handlung spielt, zu verdeutlichen. Tapeten haben grelle Muster, die einem sofort die Augen schmerzen lassen; im Kino läuft Stanley Kubricks „A Clockwork Orange“; ein Polizist, der in einem Auto sitzend Tarpon beschattet, liest das von 1959 bis 1989 herausgegebene Comic-Magazin „Pilote“.

In der Lobby des Hotels Hilton begegnet Tarpon dem Ehepaar McCartney; Paul trägt die kleine Stella auf dem Arm. Der weinende Mann gleicht dem Gangsterboss Kingpin aus dem Marvel-Universum. Sowohl in seinem Figuren-Design als auch bei der Schilderung von Szenen der Gewalt – von „Action-Szenen“ mag man nicht sprechen – hat Manchette einen Hang zur Groteske. Tardi wird beidem virtuos gerecht; Cabanes tut sich etwas schwerer. Er mag es eigentlich elegant, und mitunter hat man den Eindruck, dass es ihm etwas wehtut, nicht im konventionellen Sinn schönere Bilder zu Papier bringen zu dürfen. Bei den Visagen Tarpons und Haymans legt er seine Hemmungen aber ab: Mit vertikalen und horizontalen Strichen markiert er drastisch die Verwüstungen, die das Leben und die Jahre bei diesen Männern hinterlassen haben.

Dieser Text erschien zuerst am 26.07.2022 in: Taz

Max Cabanes (Zeichnungen), Doug Headline (Text): „Volle Leichenhalle“. Aus dem Französischen von Claudia Sandberg. Schreiber & Leser, Hamburg 2022. 104 Seiten. 24,80 Euro

Jonas Valentin & Simon vom Fluss

( , Regie: )

Erwachendes Bewusstsein
von Christoph Haas

In nicht wenigen Comics spielt die Natur eine große Rolle. Was wäre der Western ohne die Landschaften, vor allem im Südwesten der USA, was wäre die Science Fiction ohne die …

In nicht wenigen Comics spielt die Natur eine große Rolle. Was wäre der Western ohne die Landschaften, vor allem im Südwesten der USA, was wäre die Science Fiction ohne die fantasievolle Schilderung der Fauna und Flora ferner Planeten? In den allermeisten Fällen wird die Natur aber schlicht als etwas Gegebenes betrachtet; sie ist malerische Kulisse menschlicher Aktivitäten. Ökologische Probleme und die Notwendigkeit eines achtsamen Umgangs mit der Umwelt werden, zumal in Genre-Comics, kaum verhandelt. Aber es gibt Ausnahmen, darunter zwei bemerkenswerte frühe Beispiele: die frankobelgischen Serien „Jonas Valentin“ und „Simon vom Fluss“.

Die Ursprünge von „Jonas Valentin“ liegen in einer Rubrik, die der 1956 geborene Frank Pé ab 1978 im „Spirou“-Magazin zeichnete und schrieb. Dort ließ er seinen jugendlichen Helden, der im Original „Broussaille“ – französisch für „Gestrüpp“, aber auch „Strubbelkopf“ – heißt, über einheimische Wildtiere referieren. Aus dieser unterhaltsamen Form von Biologieunterricht gingen Kurzgeschichten hervor und in Zusammenarbeit mit dem Szenaristen Michel de Bom alias Bom fünf zwischen 1987 und 2003 veröffentlichte Alben, die der Splitter Verlag nun in einer sehr gut aufbereiteten, zweibändigen Gesamtausgabe lizensiert hat.

Geheimnis einer Höhle unter dem Museum

In „Der Traum des Wals“, seinem ersten albumlangen Abenteuer, wird Jonas von Träumen heimgesucht, die in rätselhafter Verbindung zu einem alten Buch stehen, das er zufällig in einem Antiquariat erwirbt. Zugleich fliegen riesige Möwenschwärme durch die Stadt. In einer Höhle, die sich tief unter dem Brüsseler Museum für Naturgeschichte befindet, macht Jonas schließlich eine überraschende Entdeckung. In „Der Hüter des Lichts“ reist er zu seinem liebenswürdig-cholerischen Onkel René aufs Land. In der Nähe von dessen Haus wird eine große Fabrik gebaut, die in umweltschonender Weise dem Recycling diverser Wertstoffe dienen soll.

Sequenz aus „Jonas Valentin“ (Splitter Verlag)

Frank Pé gehört einer Generation an, die ab Anfang der 1980er auf ganz eigene Weise die frankofone Comic-Szene erneuert hat. Im Vorwort der Gesamtausgabe erklärt er: „Wir hatten kein Interesse, ‚Erwachsenen-Comics zu machen, denn damals bedeutete das, nackte Frauen zu zeichnen mit großen Brüsten oder Science Fiction mit hermetischen Szenarien.“ Pé und seine Mitstreiter orientierten sich an den klassischen frankobelgischen Comics von André Franquin, Maurice Tillieux und Hergé, modernisierten aber deren Ansätze.

So entstanden Werke, in denen sich die scharfe Trennlinie zwischen Comics für Minderjährige und für Erwachsene verwischt. „Jonas Valentin“ ist hierfür ein mustergültiges Beispiel, wegen der Thematisierung von Umweltfragen, aber auch wegen des poetisch-fantastischen Einschlags, den die Serie besitzt: So imaginiert Jonas etwa die schlecht gelaunten Insassen einer Straßenbahn als auf einem gigantischen Katzenwels reitend. In einem grün-schwarz kolorierten Albtraum zersplittert mit einer Glasscheibe auch die Panelreihung, und große Panels, die an Einstellungen aus Hitchcocks „Die Vögel“ erinnern, zeigen aus extremen Perspektiven die Stadt, über der eine Möwe fliegt.

Rücksichtslose Militaristen und Ausbeuter

In „Simon vom Fluss“ komponiert Claude Auclair seine Seiten ebenfalls sorgfältig und großzügig. Mitunter ordnet er die Panels zu dekorativen, symmetrischen Tableaus an, nach dem Vorbild von Edgar P. Jacobs („Blake und Mortimer“). Oder er beschränkt sich auf drei, vier große Panels im Hoch- und Querformat, die ihre Gegenstände in effektvollem Wechsel aus der Nähe und Distanz zeigen. Immer wieder nimmt Auclair auch die heute so populäre Lost-Places-Fotografie vorweg.

Am eindrücklichsten gelingt ihm die Darstellung pittoresken Verfalls: funktionslos gewordene Strommasten, marode Bahnhöfe, menschenleere Großstadtstraßen und -plätze. „Simon vom Fluss“ spielt in einem postapokalyptischen Frankreich. Nach einer Ära der Kriege und Bürgerkriege ist die Zivilisation weltweit zusammengebrochen. Ansatzweise erhalten hat sie sich in einigen Industriekomplexen und Großstädten, den „Zentren“.

Bild aus „Simon vom Fluss“ (Cross Cult)

Dort allerdings regieren rücksichtslose Militaristen und Ausbeuter. Die übrigen Menschen leben wie in vorindus­triellen Zeiten verstreut in kleinen Siedlungen. Simon, als Sohn eines bedeutenden Wissenschaftlers noch vor dem großen Untergang geboren, durchstreift diese Welt wie ein Trapper in einem Spätwestern; sein physiognomisches Vorbild ist Robert Redford in „Jeremiah Johnson“ (1972). „Simon“ besteht aus neun zwischen 1973 und 1988 erschienen Bänden, die CrossCult in einer dreibändigen Gesamtausgabe versammelt, deren üppiger redaktioneller Teil für die deutsche Übersetzung noch etwas ergänzt wurde.

Wie Frank Pé war Claude Auclair, der 1990 mit gerade 46 Jahren verstarb, ein Erneuerer der Comic-Tradition; allerdings arbeitete er nicht für „Spirou“, sondern für das Konkurrenz-Magazin „Tintin“, das sich damals gleichfalls zu verjüngen suchte. Zeichnerisch ist er stark Joseph Gillain alias Jijé, dem Lehrmeister Jean Girauds, verpflichtet. Inhaltlich bietet die Lektüre von „Simon“ eine Zeitreise – nicht nur in die Zukunft, sondern in die Entstehungszeit dieses Comics. Vom erwachenden feministischen Selbstbewusstsein und der Ablehnung gewalttätiger Männlichkeit über die Gefahren der Atomkraft und die spirituell gefärbte Hoffnung auf eine Versöhnung mit der Natur bis hin zum Leben in Gemeinschaften Gleichgesinnter – die Post-68er-Diskurse, die hier verhandelt werden, sind unübersehbar.

Das kommt teilweise etwas naiv und in den Dialogen arg deklamatorisch daher. Zumindest in der aktuellen Weltlage mag man darauf dennoch nicht mit Ironie reagieren: Auclair beschwört nicht nur die Katastrophe, sondern auch die Kraft der Utopie.

Dieser Text erschien zuerst am 14.06.2022 in: Taz

Bom (Text), Frank Pé (Zeichnungen): „Jonas Valentin“. Gesamtausgabe Band 1.
Aus dem Französischen von Max Murmel und Uta Schmidt-Burgk. Splitter Verlag, Bielefeld 202., 272 Seiten. 49,80 Euro

Claude Auclair (Text und Zeichnungen): „Simon vom Fluss“. Gesamtausgabe Band 1 und 2.
Aus dem Französischen von Paul Derouet und Hartmut Becker. CrossCult Verlag, Ludwigsburg 2021 und 2022. 186 und 192 Seiten. Je 35 Euro

Ein Sommer am See

( , Regie: )

Keine Nostalgie
von Sven Jachmann

Dass die Jugend eine unbeschwerte Angelegenheit sei, ein Lebensabschnitt voller Freiheit, die so später niemals wiederkehren werde, ist natürlich eine blanke Lüge, vom vermeintlich unabhängigen Leben der Erwachsenen gar nicht …

Dass die Jugend eine unbeschwerte Angelegenheit sei, ein Lebensabschnitt voller Freiheit, die so später niemals wiederkehren werde, ist natürlich eine blanke Lüge, vom vermeintlich unabhängigen Leben der Erwachsenen gar nicht erst zu reden. Schlechte Coming-of-Age-Erzählungen inszenieren Jugend als melancholischen Abschied: Etwas Gutes geht vorbei, und was sich stattdessen am Horizont auftut, ist zwar ungewiss, aber deswegen nicht weniger aufregend.

Die u. a. mit dem Ignatz- und Eisner-Award, dem Printz Honor und dem Caldecott Honor für besondere Bilderbuchkunst ausgezeichnete Graphic Novel „Ein Sommer am See“ der kanadischen Cousinen Mariko und Jillian Tamaki hebt sich von solchen Mythen ab. Denn der titelgebende (und, so steht zu vermuten, letzte) Sommer am See entlässt seine beiden Hauptfiguren, die Freundinnen Rose und Windy vor allen Dingen ratlos. Alljährlich sehen sich die zwei beim Familienurlaub am Avago Beach. Aber zu den einst sorglosen Spielen am Strand treten nun neue Komponenten: Rose himmelt insgeheim den jugendlichen Drugstore-Verkäufer des kleinen Nests an, und die eineinhalb Jahre jüngere Windy spricht womöglich etwas zu oft über ihre wachsenden Brüste. Weder erwachsen noch kindlich üben sie sich in Initiationsritualen, wie sie diese neue Parallelwelt zu verlangen scheint: Man trainiert die diffuse Furcht in den eigenen vier Ferienhauswänden beim Schauen von Splatterklassikern wie „Texas Chainsaw Massacre“ oder „Freitag der 13.“ und versucht sie draußen in der Begegnung mit Gleichaltrigen durch leidlich ausgestellte Coolness zu überspielen.

Seite aus „Ein Sommer am See“ (Reprodukt)

Die Rechnung geht jedoch nicht auf. Langsam dämmert Rose, dass der Kioskschwarm in einem ausgesprochen tristen White-Trash-Dasein versackt ist, und auch ihren Eltern hilft das Naturidyll nicht mehr, um an der Illusion einer intakten Ehe festzuhalten, seit die Mutter nach einer Fehlgeburt an Depressionen leidet. Eine zunächst beiläufige Passage wie die, in der der Vater auf der Anreise seine Familie im Auto mit der Metalmusik von Rush malträtiert, wirkt rückblickend wie sein hilfloser Versuch, jene Jugendphase nostalgisch zu konservieren, der Tochter Rose wiederum gerade entgleitet. Und das ist eben nicht immer aufregend, sondern oft ein schmerzhafter Wandel: Die Krise der Eltern wird plötzlich manifest; der Körper verändert sich zum Träger sexueller Merkmale und wird anders angeschaut; aus albernen Spielen werden peinliche Angelegenheiten.

Mariko und Jillian Tamaki gewähren den beiden Mädchen viele Momente der Flucht. Sie bewahren sich ihre Ausgelassenheit, lästern über die Dorfjugendlichen, scherzen über Zukunftspläne. Und trotzdem: Wenn Rose und Windy auf prächtigen, in sanftem Blau gestalteten Doppelseiten den Wald erkunden, die eine links, die andere rechts positioniert, kündigt sich in dieser Distanz bereits ihre gegenseitige Entfremdung an. Hinter den beschwingten Zeichnungen, jeder unscheinbaren Geste lauert stets die Falle des Erwachsenwerdens. Und was aus der Welt der Erwachsenen in Roses und Windys Leben dringt, hat mit Glück und Freiheit nicht viel gemein. Da wollen die Tamakis weder ihnen noch uns falsche Hoffnungen machen.

Mariko Tamaki (Autorin), Jillian Tamaki (Zeichnerin): „Ein Sommer am See“. Reprodukt, Berlin 2020. 320 Seiten. 9,90 Euro (Taschenbuch) bzw. 29,90 Euro (reguläre Ausgabe)

Berichte aus Russland

( , Regie: )

Selbst mit den Tätern hatte sie Mitleid
von Christoph Haas

„Aufzeichnungen aus Jerusalem“ von Guy Delisle – das ist die Comicreportage, die sich in Deutschland mit am besten verkauft. Den Preis für das beste internationale Album beim Comic-Salon in Erlangen …

„Aufzeichnungen aus Jerusalem“ von Guy Delisle – das ist die Comicreportage, die sich in Deutschland mit am besten verkauft. Den Preis für das beste internationale Album beim Comic-Salon in Erlangen erhielt 2012 Joe Sacco für seine nicht unumstrittene israelkritische Recherche „Gaza“. Und auch deutsche Zeichnerinnen und Zeichner machen sich inzwischen gerne auf, um mit dem Stift in der Hand die Welt, in der wir leben, zu erkunden. Kurz gesagt: Comicreportagen sind in. Im Bereich jenseits des Mainstreams sind sie möglicherweise dabei, der Autobiografie den Rang als beliebteste Ausdrucksform abzulaufen.

Aber sind sie nicht zugleich ein nostalgisches, ein heillos anachronistisches Unternehmen? Bilder von fast allem, was geschieht, sei es schön oder schrecklich, stehen uns heute innerhalb kürzester Zeit zur Verfügung. Bis eine Comicreportage, erst recht größeren Umfangs, fertiggestellt ist, vergehen dagegen gerne einige Monate. Und tut sich das gezeichnete Bild nicht schwer, im Betrachter eine so große Wirkung zu erzeugen wie Fotos oder Filme?

Nein, genau das Gegenteil ist der Fall. Gerade angesichts der Bilderflut – und das heißt auch: der Flut an schlechten und falschen Bildern –, die über uns hereinbricht, gewinnt das gezeichnete Bild wieder an Bedeutung. Weil es keine Unmittelbarkeit vorgaukelt, sondern immer als reflektiert und komponiert identifizierbar ist, besitzt es eine Intensität, die der schnelleren Konkurrenz oft verloren gegangen ist. Auch die Zeitverzögerung muss ja nicht unbedingt ein Nachteil sein, erlaubt sie doch eine größere Gründlichkeit als in den dem Tag verpflichteten Medien.

Sequenz aus „Berichte aus Russland“ (Reprodukt)

Genau diese Vorzüge finden sich auch in den „Berichten aus Russland“, die der italienische Comic-Künstler Igort vorlegt. Es handelt sich um den zweiten Teil eines Diptychons, das früheren Staaten der Sowjetunion gewidmet ist. In den „Berichten aus der Ukraine“, bei uns 2011 erschienen, kontrastiert Igort Eindrücke vom aktuellen Leben vor Ort mit den Biografien mehrerer alter Ukrainerinnen und Ukrainer. Die „Berichte aus Russland“ tragen den Untertitel „Der vergessene Krieg im Kaukasus“. Sie erinnern an den Zweiten Tschetschenienkrieg (1999–2009) und an die 2006 ermordete Journalistin Anna Politkowskaja.

Igort geht es nicht darum, das Leben Politkowskajas oder die Geschichte des schmutzigen Krieges im Kaukasus systematisch und vollständig darzustellen. Er setzt Schlaglichter, arbeitet in assoziativer Verknüpfung bestimmte Aspekte heraus. Wichtig sind ihm der ungewöhnliche Mut, aber auch die offenbar stets unerschütterliche Sanftheit Politkowskajas. Im Interview mit Igort hebt die französische Übersetzerin der Journalistin hervor, dass diese, wenn sie mörderischen Menschenrechtsverletzern begegnet sei, zugleich als „Anklägerin und Verteidigerin“ gehandelt habe: „Ihr Mitleid für die Täter ist oft deutlich zu spüren. Mitleid, weil diese Menschen traurige Schicksale haben, weil sie gebrochen und verzweifelt sind.“

Zugleich dokumentiert Igort, oft unter Angabe der Quelle, aus der seine Informationen stammen, die Schandtaten, die in Tschetschenien, vor allem von den berüchtigten russischen Spezialeinheiten, begangen wurden. Tschetscheninnen und Tschetschenen kommen zu Wort, erzählen von Vergewaltigung, Folter und Mord, von endlosem Erfindungsreichtum, was physische und psychische Grausamkeit angeht. Aber auch ein russischer Soldat tritt auf, ein Patriot und Idealist, der unbekümmert in den fernen Krieg zieht und zerbricht, als man ihn zwingt, einen Jungen, der fast noch ein Kind ist, zu erschießen.

„Berichte aus Russland“ ist ein Comic, der einem Tränen der Wut in die Augen treibt, und mehr als einmal ist man versucht, den Blick abzuwenden. Aber man hält dann doch durch. Nicht etwa weil Igort das Grauen, die Schlächterei ästhetisiert oder zu einem Spektakel macht. Sondern weil ihm etwas Unglaubliches gelingt: den Opfern, durch die Art, wie er sie zeichnet, die Würde zurückzugeben, die ihnen mit brachialer Gewalt genommen werden sollte.

Dieser Text erschien zuerst am 24.11.2012 in der taz.

Igort: „Berichte aus Russland“. Aus dem Italienischen von Federica Matteoni. Reprodukt, Berlin 2012. 176 Seiten. 24 Euro

Im Spiegelsaal

( , Regie: )

Unendliche Wachsamkeit
von Sven Jachmann

Die schwedische Bestseller­autorin und studierte Politikwissenschaftlerin Liv Strömquist gehört weltweit zu den erfolgreichsten Comickünstlerinnen. Ihre Comicessays sind originäre Beiträge zur feministisch-soziologischen Theorie- und Kulturgeschichtsvermittlung. In ihrer neuesten, mittlerweile fünften Veröffentlichung …

Die schwedische Bestseller­autorin und studierte Politikwissenschaftlerin Liv Strömquist gehört weltweit zu den erfolgreichsten Comickünstlerinnen. Ihre Comicessays sind originäre Beiträge zur feministisch-soziologischen Theorie- und Kulturgeschichtsvermittlung.

In ihrer neuesten, mittlerweile fünften Veröffentlichung „Im Spiegelsaal“ geht es um das „Imperium der Bilder“ (Susan Bordo) unter den Bedingungen einer veränderten Öffentlichkeit im Social-Media-Zeitalter, in dem wir als Konsument*innen und Produzent*innen zugleich agieren. Mit viel Theorieprominenz im Gepäck seziert Strömquist kleine Gesten und Selbstverständlichkeiten des Alltags, an denen sich die neoliberale Zurichtung ablesen lässt.

Denn Isolation, Vereinzelung, Individualisierung sind beliebte Schlagworte im Regime der Selbstoptimierung. Wie kommt es, fragt Strömquist, dass der Anblick schöner Menschen stets mit Selbstzweifeln und einem Gefühl der Unvollkommenheit einhergeht? Weshalb bleibt es nicht bei „schierer Verzückung über die Schönheit der Schöpfung“? Sie lässt den Kulturanthropologen René Girard antreten: „Der Mensch begehrt, was andere Menschen begehren.“ Aber er „ist ein Wesen, das nicht weiß, was es begehrt“. Das führt zu mimetischer Rivalität. So erklärt zumindest Girard das Entstehen des Schlankheitsideals als Konkurrenzerzeugnis.

Sequenz aus Liv Strömquists „Im Spiegelsaal“ (avant-verlag)

Auch im Wandel der Ehe steckt sie notgedrungen, die Notwendigkeit der Selbstinszenierung. Es hat, so Strömquist, „keine praktische Bedeutung oder Funktion mehr, sich mit jemandem zusammenzutun, außer dass man Liebe/sexuelle Anziehung füreinander empfindet. Und deshalb ist, wie hübsch/sexy/fuckable man ist, heute wichtiger, weil es quasi der einzige Grund für eine Beziehung ist.“ Ein Pfeife rauchender Zygmunt Bauman ergänzt: „Fragile zwischenmenschliche Bande sind charakteristisch für das fluide, moderne Leben. Daher ist es ein Leben (…) in nie endender Wachsamkeit.“

Ein weiterer Aspekt der Bedeutung des Aussehens ist die Kopplung von Konsumgesellschaft und Sexualität. Strömquist argumentiert mit der Soziologin Eva Illouz, dass sich die Sexualität seit den 1970ern „mit Hilfe eines breiten Konsumwarensortiments zu inszenieren“ habe. Die einst geforderte Keuschheit bedeutet kein Prestige mehr, und die Erfindung von Verhütungsmitteln macht diese Norm überflüssig, sodass sich die Sexualität selbst „zu einer neuen Art von Status und Kompetenz entwickelte“. Das korrespondiert mit der Allgegenwart visueller Medien im Spätkapitalismus. Strömquist schreibt, dass wir chronisch exhibitionistische und voyeuristische Beziehungen entwickelt haben, dirigiert von den Plattformen der Großkonzerne, auf denen eine Flut an mit Filtern überzogenen Fotos unser Selbst zur Schau gestellt wird und für Good Vibrations sorgen soll. „Optimierte Oberflächen ohne Negativität“, wie Strömquist den Philosophen Byung-Chul Han zitiert. Da kann man sich schnell nach der nächsten Epoche, einer besseren Idee sehnen, und freundlicherweise lässt Strömquist eine Seite frei, damit man die Idee aufschreiben kann.

Die starken Thesen lassen einen manchmal übersehen, dass sich hinter den minimalistischen Zeichnungen perfektes Handwerk verbirgt. Und schon die Veröffentlichung als Druckwerk kann in der Hegemonie des digitalen Schaufensters als kleiner subversiver Akt gelesen werden, wie Strömquist in einem Interview mit der österreichischen Tageszeitung Der Standard verrät: „Beim Lesen eines Comics kann niemand aufzeichnen, wie lange du ein Bild betrachtest, und dir dann eine Produktempfehlung schicken. Ich genieße es, eine politische Diskussion zu führen – ohne dass sie jemand kommentieren, teilen oder liken kann.“

Liv Strömquist: „Im Spiegelsaal“.
Aus dem Schwedischen von Katharina Erben. Avant-Verlag, Berlin 2021. 168 Seiten. 20 Euro

Der Duft der Kiefern

( , Regie: )

Wir haben doch nichts gewusst!
von Sven Jachmann

Im Jahr 2014 legte Comickünstlerin Barbara Yelin mit „Irmina“ eine brillante Miniaturstudie darüber vor, wie Mitläufertum ohne ideologische Überzeugung bei den Nazis funktionierte. Die Berliner Comiczeichnerin und Illustratorin Bianca Schaalburg …

Im Jahr 2014 legte Comickünstlerin Barbara Yelin mit „Irmina“ eine brillante Miniaturstudie darüber vor, wie Mitläufertum ohne ideologische Überzeugung bei den Nazis funktionierte. Die Berliner Comiczeichnerin und Illustratorin Bianca Schaalburg knüpft in ihrer ersten Graphic Novel „Der Duft der Kiefern“ gewissermaßen daran an und seziert anhand ihrer eigenen Familienbiographie das langlebigste deutsche Tätermantra der Nachkriegsgeschichte: Wir haben doch nichts gewusst! Umgekehrt und bevor es Brauch wurde, Rechten bei jeder sich bietenden öffentlichen Gelegenheit mit Emphase ein Ohr zu leihen, gab es mal eine Zeit, in der der antifaschistische Impuls mit einer einzigen Frage an bundesrepublikanischen Küchentischen zum ersten Mal spürbar wurde: Oma, Opa, wart ihr eigentlich Nazis? Schaalburg stellt sie ebenfalls, und die Suche nach der Antwort ist das akribische Zusammentragen von Spuren, die das reflexhafte „Nö“ wider- und die Kultur der Verdrängung, die Abwehr der Schuld offenlegen.

Schaalburgs Mutter stirbt 2004 an Krebs, die Großmutter ein Jahr darauf an Demenz. Die schwere Art-­Déco-Garnitur, die die Großeltern 1933 zur Hochzeit geschenkt bekamen und die von Schaalburg übernommen wird, als die Großmutter ins Pflegeheim kommt, ist das erste von zahlreichen Elementen, die Schaalburg dazu nutzt, die Vergangenheit in der Gegenwart zu identifizieren. Dies wird der Ausgangspunkt ihrer gemeinsam mit ihrem Sohn durchgeführten Recherche: Verwandte werden befragt, Archive konsultiert, riesige Aktenordner durchsucht, jahrelang Informationen und Dokumente gesammelt und in diesen „Familienroman“ Schaalburgs integriert.

Ob Opa – 1933 Buchhalter bei der Deutschen Arbeitsfront, während des Krieges mit Verwaltungsarbeiten in Riga betraut, mehr ist zunächst nicht bekannt – nun Überzeugungstäter oder Mitläufer war, klärt sich nicht bis ins letzte Detail, aber das Material ist aussagekräftig genug: bereits 1926 Eintritt in die NSDAP, Truppführer in der SA, Schaalburgs Mutter Edda wurde nach der Tochter des Reichsmarschalls Göring benannt, und schließlich ist da noch ein Foto aus dem Jahr 1944, aufgenommen in Riga. Der Opa sitzt auf einem abgemagertem Pferd vor einer Holzbaracke, da war er schon zum Leutnant befördert. Man darf ausschließen, dass die „Verwaltungsarbeit“ ohne Kenntnis der Ermordung der über 40.000 Juden und Kriegsgefangenen im Wald von Biker­nieki absolviert wurde. „Ich war ja nicht so politisch. Ich wusste von nichts“, belog also die Großmutter ihre Enkelin in einer früheren Passage.

Seite aus „Der Duft der Kiefern“ (Avant-Verlag)

Schaalburg erzählt hauptsächlich in drei farblich klar unterscheidbaren Zeitebenen: Sie zeigt die Forschungsarbeit der Gegenwart, ihre 70er-Kindheit (und ebenso das Leben der Mutter) im familiären Klima der Vermeintlichkeiten und die Komponenten des privilegierten Lebens im deutschen Faschismus. Wenn Oma 1979 ihrer elfjährigen Enkelin sagt, dass sie keine Juden kannte, sahen wir bereits einige Seiten zuvor, wie sie sich 1939 in der Berliner Waldsiedlung Zehlendorf, wo die Familie seit 1936 lebt, auf der Straße mit dem jüdischen Arzt Fritz Demuth unterhält: „Sie sehen aber ziemlich angeschlagen aus, werter Doktor. Sie könnten, mit Verlaub, auch mal einen Urlaub gebrauchen. Oder eine Kur, haha.“ – „Nun, wissen Sie, ich war gerade fünf Wochen in Sachsenhausen…“ – „Ach, wie schön! Das liegt doch hinter Oranienburg an der Havel? Eine ganz besonders hübsche Gegend. Ich war da mal wandern.“

Als Schaalburg drei Stolpersteine genau dort, wo sich das Haus der Familie befindet, entdeckt und sich herausstellt, dass diese drei getöteten jüdischen Bewohner „ausziehen mussten, um für die arischen Familien Platz zu schaffen“, zeichnet sie drei weiße Figurenkonturen ins historische Dekor und imaginiert dann auf Basis der spärlichen Dokumentenlage neun Seiten lang ihren mutmaßlichen weiteren Weg bis zum Tod – ein Versuch, die anonymen Biographien nicht dem Geschichtszugriff der Vergangenheitsbewältiger zu überlassen. Vorm Bild schreckt sie dabei aus gutem Grund zurück, aber der Prosatext dringt ich-perspektivisch bis in die Gaskammern vor. Als hätte es 70 Jahre Literaturstreit zwischen Zeitzeugen und folgenden Generationen jüdischer Holocaustüberlebender über die angemessene Darstellung der Shoah nie gegeben.

Wie ernst es dem Nachkriegs­deutschland mit der Akzeptanz der Schuld war, exemplifiziert Schaalburg selbst auf zwei Seiten anhand des Versuchs des Neffen eines der deportierten und enteigneten Bewohner, vom „Wiedergutmachungsamt“ und der „Entschädigungsbehörde“ Rückerstattung zu beantragen. Nach 14 Jahren wurde der Antrag desillusioniert zurückgenommen. „Keine Aussicht auf Wiedergutmachung.“ Die gesellschaftspolitische Abwehr kann unter umgekehrten Vorzeichen auch leicht die Kunst infiltrieren: Wo Deutsche mimetisch bis in die Konzentrationslager vordringen, lauert unweigerlich der Schlussstrich, der Augenblick des „Verstehens“ befördert die Erinnerung zu den Akten. Dabei beweist Schaalburgs Arbeit, dass dieser Prozess niemals abgeschlossen sein darf.

Bianca Schaalburg: „Der Duft der Kiefern“.
Avant-Verlag, Berlin 2021. 208 Seiten. 26 Euro

Save It for Later

( , Regie: )

Die gute alte Menschlichkeit
von Sven Jachmann

Es fällt schwer, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Vor allem: Wie soll man die marode Weltlage und das Erstarken protofaschistischer Bewegungen seinen Kindern erklären? Der US-amerikanische Comickünstler Nate Powell …

Es fällt schwer, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Vor allem: Wie soll man die marode Weltlage und das Erstarken protofaschistischer Bewegungen seinen Kindern erklären? Der US-amerikanische Comickünstler Nate Powell hat den Versuch in sieben Comic-Essays unternommen und die gesammelten Beiträge nun in seinem Buch „Save It for Later“ veröffentlicht. Meist chronologisch angeordnet, angefangen bei Trumps Wahlsieg 2016 und 2020 beim globalen Coronaausbruch endend, porträtiert er dabei eher unfreiwillig die Mittelklasse auf dem Höhepunkt ihrer Selbstzerfleischung.

November 2016, der Tag danach: „Vielleicht hast du dein Kind an dem Tag zur Schule gebracht. Bist von einem Würmchen gedrückt worden, das zu klein ist, um zu begreifen, was für ein krasser Richtungswechsel stattgefunden hat. Oder dass es überhaupt eine Richtung gibt. Ich beneidete Babys und tote Freunde. Verfluchte mich dann dafür. Ihr euch ja vielleicht auch.“ Der Kopf der Würmchen ist, im Gegensatz zu den naturalistisch skizzierten Erwachsenen, stets als niedliches Tier, als Vogel, gar als Einhorn gezeichnet – eine visuelle Grammatik der Unschuld, die im gesamten Medium tradiert ist und auch auf der Zeichenebene den Generationenkonflikt implementiert, wie Powell ihn zwischen Babyboomern und der Generation X registriert. Das Problem solcher Dichotomisierungen unterschiedlicher Kohortenangehöriger ist meist, dass diese Auge-in-Auge-Konfrontation tiefsitzende strukturelle Prozesse unterschlägt, die jede Generation zugleich betreffen. Was geht in einem Land vor sich, das zwei Drittel der weltweiten Antidepressiva-Produktion verbraucht, in dem die Erosion der Arbeiterklassefamilien dazu geführt hat, dass Autounfälle als hauptsächliche Todesursache für Menschen unter 50 von Opiaten abgelöst wurden? Diese Fragen stellt nicht Powell, dafür muss man den Kulturanthropologe Wade Davis konsultieren.

Seite aus Nate Powells „Save It for Later“ (Carlsen)

Bei Powell liest man kein einziges Mal die Worte Klasse oder Kapitalismus, die Krise, die er beschreibt, ist vornehmlich seine eigene. Die Selbstkritik wird kokett, wenn er, spät nachts allein auf einem Bildschirm die Wahlergebnisse verfolgend, räsoniert: „Unsere weiße Mittelschichtperspektive war durch eine recht stabile soziale und politische Wirklichkeit geformt worden. Unser Glaube galt Mechanismen, die die Gesellschaft weiterentwickelten. Eindeutig die Folge einer zu selbstzentrierten Warte, die ihrem moralischen Ereignishorizont nicht hat entrinnen können.“ Zuvor erklärt er seiner fünf- oder sechsjährigen Tochter beim Zubettgehen: „Wenn du aufwachst, wird sich etwas Historisches ereignet haben. Unser Land wird endlich die erste Präsidentin gewählt haben.“ Man kann schon nicht mehr unterscheiden, ob hier nun kindliche Beschwichtigung oder in Mythos umgeschlagene Aufklärung im Spiel ist.

Analytischere Beobachtungen gelingen Powell in Passagen außerhalb des Familienbande. Wie bei den Nachbarn die Barrieren fallen und sie immer freimütiger extrem rechte Insignien im Garten oder auf dem Auto präsentieren. Wie ihm auf einer Comic-Con 2011 der erste als Hitler verkleidete Cosplayer begegnet. Wie Pop- und Alltagskultur immer stärker von einer paramilitärischen Ästhetik affiziert werden: den Wandel des Hummer-Geländewagens zum Pick-up-Truck, der als durchmilitarisiertes, schwarzes Fahrzeug das zivile Leben erreicht, an dem alle individuelle Zeichen entfernt, auch die Scheiben schwarz getönt und Kühlergrille nach Militärdesign adaptiert wurden, verbindet Powell in wenigen Bildern mit der Rückkehr des Vollbarts, der wie Sonnenbrille oder Kopfbedeckung die persönliche Wiedererkennung erschwere und mittlerweile auch in der US-amerikanischen Armee wieder zugelassen ist – angefangen als Ausnahmefall für Special Forces und Söldnereinheiten bei Einsätzen im Nahen Osten, Zentralasien und Afrika. Eine semiotische Glanzleistung!

Nur leider die Ausnahme unter ansonsten symptomatischen Korrelationen: „Doch im Rahmen unserer größten Krise der Neuzeit habe ich mich unbestreitbar dem Patriotismus nie näher gefühlt. Ich erkenne, was wir verlieren: ein unvollkommenes, grundlegendes Verständnis, dass diese Gesellschaft uns allen gehört.“ Auf Nationalismus mit besserem Nationalismus reagieren, das Kollektiv mit dem Kollektiv exorzieren – verstehe einer diese Mittelklässler. Vielleicht, fragt womöglich ein lesender Arbeiter, befindet sich der Kapitalismus derzeit in einem Transformationsstadium, in dem er weder das die Vergangenheit beschwörende Versprechen auf Wohlstand für alle noch Powells gepriesene Errungenschaften der Demokratie überhaupt noch benötigt? Dann erwiese sich Powells Rausschmeißer-Credo, dass „der Schlüssel zur Zukunft die Menschlichkeit ist“, nicht mal mehr als Kalenderweisheit tauglich. Schlimmer noch: Wie soll er das bloß seiner Familie erklären?

Nate Powell: „Save It for Later“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Christian Langhagen. Carlsen, Hamburg 2021. 160 Seiten. 24 Euro

Esthers Tagebücher & Der Araber von morgen

( , Regie: )

Bloß raus hier
von Sven Jachmann

Seit 2015 bzw. 2017 arbeitet der in Paris lebende Comickünstler Riad Sattouf an zwei Langzeitchroniken, die beide ganz unterschiedliche Protagonisten von der Kindheit bis zum jungen Erwachsenenalter begleiten: In „Der …

Seit 2015 bzw. 2017 arbeitet der in Paris lebende Comickünstler Riad Sattouf an zwei Langzeitchroniken, die beide ganz unterschiedliche Protagonisten von der Kindheit bis zum jungen Erwachsenenalter begleiten: In „Der Araber von morgen“ erzählt Sattouf seine eigene Biografie, vom Aufwachsen in Libyen und Syrien unter diktatorischen Verhältnissen und islamischer Strenge, bis die Familie 1991 endgültig nach Frankreich übersiedelt, wo das familiäre Bündnis zerbricht, als der Vater mit seinem entführten jüngsten Sohn nach Syrien zurückreist. In „Esthers Tagebücher“ wiederum visualisiert Sattouf quasi in Echtzeit die Erlebnisse und Gedanken der titelgebenden Esther, Tochter eines Freundes Sattoufs, die wöchentlich als One-Pager im französischen Nachrichtenmagazin L’Obs und jährlich als Sammelausgaben erscheinen. Beide Serien sind mittlerweile beim fünften Band angelangt, und beide Figuren haben darin nun das 14. Lebensjahr erlangt. Die Pubertät wütet also heftig, und eine Engführung der Serien zeigt, dass subtile und manifeste Gewalt der patriarchalischen Welt, in die beide Jahr für Jahr ungeschützter hineinwachsen, sowohl Esther als auch Riad immer heftiger zusetzen. Weil sie inzwischen jenes Alter erreicht haben, in dem sich das Systemische hinter den Gemeinheiten und der Ungerechtigkeit des Alltags spürbar herausschält.

Riad wird von der verzweifelten Mutter zusehends in deren Bemühungen hineingezogen, den entführten Sohn aus Syrien zurückzuholen. Weil die Bemühungen nicht fruchten, überträgt sie die Wut, die eigentlich dem Vater gilt, auf den sensiblen Riad. Auch hier ist männliche Macht nicht nur Anlass der Krise, sondern auch Grund dieses Misslingens: Bei der syrischen Botschaft legt man sofort auf, als man eine schluchzende Frauenstimme hört. Die gelegentlichen Worte des Trostes und Mitgefühls des Vorgängerbandes sind Vorwürfen und unbewussten Appellen an Riads Männlichkeit gewichen. Riad indes hat im Grunde schon genug damit zu tun, zwischen sadistischen Hofbullies, antisemitischen Schulfreunden und prügelgeilen Jugendlichen auf dem Schulweg eine möglichst unsichtbare Rolle für sich zu finden. In diesem Band deutet sich an, dass die Comickunst einmal ein Rettungsanker sein wird.

Bild aus „Der Araber von morgen – Band 5“ (Penguin Verlag)

Was Esther, in deren Figur sich zugleich das Porträt der ersten Youtube-Generation verdichtet, an Entwicklungsstufen der pubertären Männlichkeits- wie Weiblichkeitstransformation beobachtet und erträgt, ist qualvoll: Mitschüler, die die Mädchen obszön beschimpfen und begrapschen, ein ignorierter Jugendlicher auf dem Pausenhof, der in Tränen ausbricht, wenn man ihn anlächelt, Achtklässlerinnen, die bei Minusgraden bauchfrei schaulaufen, ein feministisches, kämpferisches Mädchen, das auf der Grundschule gemobbt wurde und die SMS aufbewahrt hat, um „dran zu denken, niemals zu verzeihen“ („Hässliche wie dich mus man abvakeln“, „Dreckshure“), und überall, wirklich überall Homophobie bzw. Typen, die die Härtecodes des HipHop verinnerlicht haben.

Bereits in den Vorgängerbänden erschwerten bestürzende Ereignisse – Terroranschläge in Frankreich, Trumps Amtsantritt, der Wahlsieg Macrons, Sympathien für Le Pen in ihrem Freundeskreis – es Esther, ihr politisches Desinteresse aufrechtzuerhalten. Aber genervte Feuerwehrmänner, die einen Obdachlosen in seiner Kotze liegen lassen, und die Klimakrise, die der Politik allenfalls Beschwichtigungen und ihrem älteren Bruder bizarre Verschwörungstheorien entlockt, festigen ihren Gerechtigkeitssinn. Dass der von ihr verehrte Vater – ein überzeugter Linker, der die Kinder für Atheismus, Rassismus und Ungleichheit zu sensibilisieren versucht – sie ausgerechnet bei diesem Thema während der familiären Fernsehrunde gemeinsam mit dem Bruder auslacht („Esther gründet die Ökofaschopartei, das ist zu hoch für uns“), dürfte ein weiterer Baustein sein.

Sattouf liefert zwei ausgeklügelte, vielerlei anschlussfähige soziologische Mikrostudien. Obgleich es hier und dort etwas zu lachen gibt – zu lernen gibt es allemal mehr. Vor allem, dass der Mythos einer unschuldigen Kindheit und Jugend denen gehört, die wegen glücklicher Zufälle nichts zu befürchten hatten. Oder aufseiten der Schläger standen. Dass das Ganze nicht unter der Last des Beobachteten zusammenbricht, verdankt sich Sattoufs luftigem Zeichenstil, der sich an Jean-Jacques Sempés Karikatur-geschulte reduktionistische Bildwelten sozusagen anschmiegt. Auch so ein Chronist, der über die Kindheit keine Lügen verbreiten konnte. Der markante Unterschied: Wo sich Sempé in seinen Arbeiten gelegentlich zu pittoresken Kolorierungen hinreißen ließ, arbeitet Sattouf streng mit vier Farbvariationen. Dem 21. Jahrhundert ist womöglich das Schwelgerische abhanden gekommen.

Riad Sattouf: „Der Araber von morgen – Band 5“.
Aus dem Französischen von Andreas Platthaus. Penguin-Verlag, München 2021. 184 Seiten. 24 Euro

Riad Sattouf: „Esthers Tagebücher – Band 5“.
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. Reprodukt, Berlin 2021. 56 Seiten. 20 Euro

Beate & Serge Klarsfeld. Die Nazijäger

( , Regie: )

Die Mörder machen weiter
von Sven Jachmann

Der Prozess gegen den „Schlächter von Lyon“ Klaus Barbie am 11. Mai 1987 ist der dramaturgische Höhepunkt dieser Comicbiographie über Beate und Serge Klarsfeld. Es war Frankreichs erster Prozess wegen …

Der Prozess gegen den „Schlächter von Lyon“ Klaus Barbie am 11. Mai 1987 ist der dramaturgische Höhepunkt dieser Comicbiographie über Beate und Serge Klarsfeld. Es war Frankreichs erster Prozess wegen „Verbrechen gegen die Menschheit“. Im Comic wird die Anklage verlesen: „Da der Angeklagte 1952 und 1957 bereits in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde wegen Kriegsverbrechen, Mord, Plünderung, Brandstiftung, Folter und Hinrichtung im Schnellverfahren, klagen wir ihn in drei Punkten an: der Razzia in der Union Générale des Israélites de France am 9. Februar 1943…“ Und ab hier sieht man Barbies Gesicht als Detailaufnahme auf den nächsten beiden Panels: „Die Deportation der jüdischen Kinder von Izieu am 6. April 1944, der letzte Transport, der Lyon in Richtung Auschwitz verlassen hat, am 11. August 1944.“ Barbie lächelt bildfüllend. Zufrieden, stolz, triumphierend, so lange mit seinen Taten davongekommen zu sein, vielleicht auch wissend, dass ihm die deutsche Verdrängungskultur der „Vergangenheitsbewältigung“ jahrzehntelang in die Karten spielte.

Entnazifizierung bedeutete: Es gab die Nazielite und Deutsche. Die einen waren tot und damit verurteilt, die anderen waren nicht Hitler und somit freigesprochen. Im Kino kamen sie nicht vor, Nazis wurden rausgeschnitten oder raussynchronisiert: Hitchcocks „Notorious“, Jacques Tourneurs „Berlin Express“, John Hustons „African Queen“, Michael Curtiz’ „Casablanca“ – allesamt nazifreie Zone (und das Protokoll der Prüfungssitzung der FSK, in dem die „Casablanca“-Neufassung 1952 angeordnet wird, zeichnet ein ehemaliger Korvettenkapitän der Kriegsmarine). Hitlers Helfer waren Befehlsempfänger, Arbeit ist nun mal Arbeit, Fleiß eine Tugend auch beim Genozid. Es gab also weit und breit keine Täter, weder in der Sprache noch in den Institutionen, und damit das so bliebe, wurde 1968 still und leise das „Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten“ verabschiedet, das schlagartig Tausende Nazimörder amnestierte. Die Ohrfeige, die Beate Klarsfeld auf dem CDU-Parteitag am 7. November 1968 Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger verpasst hat und mit der auch der Comic einsetzt, galt nicht nur dem einstigen hochrangigen NSDAP-Mitglied, sondern diesem gesamten Leugnungs- und Relativierungskomlex.

Seite aus „Beate & Serge Klarsfeld. Die Nazijäger“ (Carlsen)

Der französische Untertitel der Graphic Novel „Un Combat Contre ­L’Oubli“ lautet übersetzt in etwa „Kampf gegen das Vergessen“, Motto der Klarsfelds und Motto des Buches. Die deutsche Version „Die Nazijäger“ suggeriert weitaus reißerischer ein Politthrillerformat, das Szenarist Pascal Bresson und Zeichner Sylvain Durange glücklicherweise nicht anstreben. Sie skizzieren die Jagd nach Kurt Lischka, Herbert Hagen und Klaus Barbie, hohe Nazis, die für die Verbrechen in Frankreich verantwortlich waren und straffrei blieben. Das liest sich fraglos spannend, wird aber mehr noch mit der Allgegenwart der bundesrepublikanischen Entlastungskultur enggeführt: Eine Verurteilung in Frankreich bedeutete zugleich, dass die Täter in Deutschland nicht mehr rehabilitiert werden konnten. Der Comic erzählt von der Selbstverständlichkeit des Weitermachens der Mörder – Kurt Lischka fand man ganz banal im Kölner Telefonbuch –, von einem Kampf um Gerechtigkeit, in dem die Deutschen nur Nestbeschmutzerei und Wundenstocherei sahen, von jahrzehntelangen Recherchen und juristischen Fallstricken, von all den Entbehrungen und der Lebensgefahr, die die Aufklärungs- und Kampagnenarbeit dem Ehepaar Klarsfeld abverlangten, sie ließen sich weder von Drohanrufen, Briefbomben noch Attentaten beirren. Somit legt der Comic das Vermächtnis der Klarsfelds gegen eine neue Kultur des Relativierens an, in der die Nazis als Parlamentarier, als Pogrommob, mordende Terrorbanden und Einzeltäter, in Polizei und Bundeswehr, als Zeitungsmacher, Talkshowgäste, Diskursrichter, Onlinedemagogen und Bestsellerautoren kleingeredet werden. Das letzte Wort im letzten Panel lautet: „Danke.“

Pascal Bresson (Autor), Sylvain Durange (Zeichner): „Beate & Serge Klarsfeld. Die Nazijäger“.
Aus dem Französischen von Christiane Bartelsen. Carlsen, Hamburg 2021. 208 Seiten. 28 Euro

Will Eisner – Graphic Novel Godfather

( , Regie: )

„Mann, Sie werden besser!“
von Sven Jachmann

Über den US-amerikanischen Comickünstler Will Eisner (1917-2005) lässt sich nur in Demut sprechen. Er war an den maßgeblichen Umbrüchen, die das Medium voranbringen und dessen Geschichte bestimmen sollten, nicht nur …

Über den US-amerikanischen Comickünstler Will Eisner (1917-2005) lässt sich nur in Demut sprechen. Er war an den maßgeblichen Umbrüchen, die das Medium voranbringen und dessen Geschichte bestimmen sollten, nicht nur beteiligt, sondern hat sie initiiert. Das nahm schon in seinen Teenager-Jahren seinen Anfang: 1936 gründete er mit 19 einen der ersten sogenannten comic packager, eine Comicdienstleiteragentur, wie sie bald zuhauf und landesweit die Zeitungen und Verlage mit Material für ihre Beilagen und comic books versorgten.

1940 startete sein erster Karriere-Monolith „The Spirit“ nicht etwa als Comicheft, sondern, bis heute ein Novum, als siebenseitige Short Story eines sechzehnseitigen Zeitungscomicsupplements. Das bedeutete eine deutlich höhere Auflage, bessere Honorare und überdies den Verbleib der Rechte an der Spirit-Figur bei Eisner. Der Erfolg der noch jungen Superheldenhefte am Kiosk setzte die Zeitungssyndikate unter Druck, also versuchte man mit einem Comicheft als Beilage zu kontern.

Eisner konnte den kindischen Heldenphantasien nichts abgewinnen, darum stattete er seine Spirit-Figur so rudimentär wie möglich mit Elementen des Genres aus: Denny Colt trägt eine Augenmaske und operiert, da er nach einem Anschlag für tot gehalten wird, aus einem geheimen Rückzugsort unter dem Wildwood-Friedhof Central Citys. Das musste genügen. Statt eines kosmischen Heros präsentierte Eisner einen verletzbaren Detektiv des Großstadtdschungels aus dem Crime-Fiction-Arsenal des Pulp. Statt einen verbindlichen Titelschriftzug zu etablieren – eine vermarktbare Trademark, die nicht zuletzt Eisner die Arbeit erleichtert hätte – experimentierte er jede Woche aufs neue mit der Typographie und dem gesamten Eröffnungsbild, und als das von den Auftraggebern nach einer Handvoll Episoden bemängelt wurde, konnte Eisner ebendieses Formspiel kurzerhand zum Wiedererkennungsmerkmal erklären. Dass man dem gerade mal 23jährigen Zeichner so viel Chuzpe durchgehen ließ, ist wohl nur mit der Goldgräberstimmung jener Zeit zu erklären.

Doppelseite aus Alexander Brauns Monographie „Will Eisner – Graphic Novel Godfather“ (Avant-Verlag)

„The Spirit“ wurde zu Eisners Laboratorium, in dem er die Vielfalt des grafischen Erzählens erprobte und vorantrieb. Einflüsse aus Film Noir, Expressionismus und Literatur zeigten sich im Einsatz von Licht und Schatten, in kühnen Montagen und Experimenten mit Panelstrukturen und Seitenaufbau, mit dem Verhältnis von Zeit und Raum und schließlich mit dem Medium selbst: In einer Episode von 1942 kapern Gangster nicht nur Eisners Atelier, sondern seinen Comic. Sie schlagen ihn, der gerade eine neue Spirit-Story zeichnet, nieder und beenden an seiner statt die Geschichte: „Kohle kassieren fürs Herumsitzen und Bildchen malen. Das ist das wahre Leben!“ Zwar kann der Spirit sie am Ende aus dem Studio vertreiben, doch fehlt Eisner nun die Zeit, die Deadline einzuhalten. Nach einem erfreuten Blick auf ihre zurückgelassenen Zeichnungen rät ihm der Spirit, einfach das Material der Gangster zu verwenden. Und tatsächlich zeigt sich der Redakteur begeistert: „Großartig! Und die Zeichnungen, Mann, Sie werden besser!“ Was Eisner an Variationsreichtum des seriellen Erzählens gegen die Superhelden-Konkurrenz auffährt, ist noch heute von einmaliger Innovationskraft – selbst die zeichnenden Kollegen belächelten Eisners Überzeugung von der Gleichwertigkeit des Comics mit allen anderen erzählenden Künsten.

Bis 1952 wurden 645 „Spirit“-Episoden veröffentlicht. Die Blaupause. Erst 1978 konnte Eisner mit seiner Vision, uneingeschränkt von Zwängen des Formats und inhaltlichen Vorgaben Ernst machen. Da erschien „Ein Vertrag mit Gott“, programmatisch mit der Gattungsbezeichnung Graphic Novel. Vier schwarzweiße, miteinander verbundene Kurzgeschichten, Studien der Subalternen, speziell des migrantisch-jüdisch-amerikanischen Milieus im New York der 1920er- bis 1950er-Jahre. Ein moralisierender Duktus fehlt. Aber stets ist klar, dass das Leid der Figuren stellvertretend im Kleinen abbildet, was sie im Großen zur Ohnmacht zwingt. Eisner erzählt von überflüssigen Menschen, die im Bewusstsein ihrer Austauschbarkeit jeden Impuls der Revolte hilflos gegen sich selbst richten. Und er erzählt seine eigene Geschichte, von seinem soziologischen Kosmos, wenn man so will.

Das Jüdische und der Antisemitismus sind konstante Leitmotive, hier und mehr noch in einigen der rund 20 weiteren Graphic Novels, die noch folgen werden. In der Autobiografie „Zum Herzen des Sturms“ beispielsweise schildert Eisner die Wiederbegegnung mit einem Jugendfreund in einem Cafe kurz vor dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg. Schnell spekuliert dieser, dass Eisner als Jude sicherlich um die Einberufung herumkommen werde, halluziniert dann ein jüdisches Komplott inklusive Vernichtungsphantasie – und lädt Eisner zum Essen ein. Als der Zeichner ein paar Seiten später einem besorgten Geschäftspartner beim Lunch offenbart, dass er sich keineswegs von der Einberufung befreien lassen wolle, lautet dessen Kommentar bei Eisners Abgang: „Juden.“ Kurze Sequenzen, die das Strukturprinzip der pathischen Projektion des Antisemiten pointiert illustrieren: Wie der Jude (und Atheist) Eisner auch handeln mag, es ist verkehrt. Dass der Hass auf Juden die Shoah überlebte und moderne Antisemiten, die keine mehr sind, sich bis in vermeintlich aufgeklärte Zirkel am kleinen Land Israel als Projektionsersatz abreagieren, hat Eisner in späten Jahren immer mehr besorgt. Kurz vor seinem Tod veröffentlichte er „Das Komplott. Die Protokolle der Weisen von Zion“, einen Sachcomic über die bis heute weltweit verlegte Hetzschrift und Fälschung.

Bis zum 27. Juni sind Eisners Werke in der Ausstellung „Will Eisner – Graphic Novel Godfather“ im Dortmunder Comicmuseum schauraum: comic + cartoon zu sehen. Der gleichnamige bibliophile Ausstellungskatalog von Kurator Alexander Braun ist die erste deutsche Eisner-Monografie, ein Meisterstück der Comicgeschichtsprosa und eine besonders pittoreske Kreisbewegung: 2015 und 2020 erhielt Braun für seine editorische Leistung an den „Little Nemo“- und „Krazy Kat“-Gesamtausgaben jeweils einen US-amerikanischen Eisner-Award.

Diese Kritik erschien zuerst am 27.05.2021 in: Junge Welt, Literaturbeilage Leipziger Buchmesse

Alexander Braun: „Will Eisner. Graphic Novel Godfather“.
Avant-Verlag, Berlin 2021. 384 Seiten. 39 Euro

Bei mir zuhause

( , Regie: )

Weshalb das Private mal politisch war
von Sven Jachmann

„Bei mir zuhause“, der dritte autobiographische Comic der Darmstädter Künstlerin Paulina Stulin, ist ziemlich vieles gleichzeitig: eine Offenlegung ihres eigenen Lebens, vielleicht sogar ein Tagebuch, ein Dokument des Alltags, eine …

„Bei mir zuhause“, der dritte autobiographische Comic der Darmstädter Künstlerin Paulina Stulin, ist ziemlich vieles gleichzeitig: eine Offenlegung ihres eigenen Lebens, vielleicht sogar ein Tagebuch, ein Dokument des Alltags, eine Feier der Begegnungen, ein Politikum auf gleich mehreren Ebenen, eine Comicreportage über das Dasein in den urbanen und subkulturellen Strukturen einer kleineren Großstadt; mit über 600 Farbseiten im Hardcover zu gerade mal 35 Euro für den Jaja-Verlag mindestens ein editorisches Wagnis, ein künstlerisches für die fünf Jahre am Werk arbeitende Zeichnerin sowieso und ganz grundsätzlich die klügste Slice-of-Life-Erzählung seit Jahren. Das Wagnis hat sich gelohnt: Schon nach wenigen Monaten ging Stulins Graphic Novel in die dritte Auflage, und es muss der Weltuntergang dazwischengefunkt haben, wenn „Bei mir zuhause“ in 20 Jahren nicht als Klassiker seiner Zeit behandelt wird.

Stulin erzählt von sich über einen Zeitraum von ungefähr einem Jahr, und das auf eine unaufgeregte Weise radikal. Sie ist das Zentrum jeder Passage, wir begleiten sie bei der Sozialarbeit in der Jugendbetreuung, beim Trip mit der Freundin nach Portugal, im Drogenrausch, auf Partys und an ihrem 30. Geburtstag oder ins Krankenhaus. Das erzählerische Genie zeigt sich besonders beim schnellen Stimmungswechsel, immer zusammengehalten vom pointierten Mienenspiel und den präzis verknüpften Panelperspektiven. Beispielsweise wenn sich auf vier textlosen Seiten ein One-Night-Stand ankündigt, von der Kneipe bis zu Stulins Dachgeschosswohnung, der „Kamerablick“ von der Halbtotalen immer mehr zum Close-Up der Körper wechselt und dann, als der Typ auf die Bitte, doch schon mal Musik rauszusuchen, irgendeinen Radiosender mit Werbegebrüll anschmeißt, sich abrupt offenbart, dass er ein Idiot ist: „Also so richtige Lieblingsalben habe ich jetzt nicht direkt. Ich höre halt, was gerade läuft. Soll ich einen anderen Sender reinmachen?“ Wenn die Stulin-Figur ihm sogar bis zum nächsten Morgen ihr Zuhause überlässt, mitten in der Nacht zu einer Freundin flieht und in der Tür mit einem versehentlich runtergerissenen Regal die Kinder weckt, gleicht das der aus Melancholie gezimmerten Situationskomik der besten Judd-­Apatow-Filme.

© Jaja Verlag

Das sind die humorvollen Momente. Zu gleichen Teilen dokumentiert Stulin die abgründigen Ereignisse, die Augenblicke, in denen die Gesellschaft ihre widerliche Fratze offenbart. Am einsamen Strand von Portugal beschreibt sie die Begegnung mit einem vermummten Exhibitionisten. Oder wie sich die Hermetik im autonomen Laden in Darmstadt langsam aufzulösen beginnt, als ein Bekannter auf einmal rechte Reden schwingt. Ab da ist die Party vorbei, und es ist längst augenscheinlich, dass der Comic auch als Zeitkapsel konzipiert ist. Dazu passt die Figur Stulins. In ihr spiegeln sich all die Widersprüche des Alltags, denen man auch mit der ausgefeiltesten Theorie nicht entkommt: „Wärst du noch so hot wie früher, hätte ich dich mitgenommen“ denkt sie, als sie nach fünf Jahren einen Bekannten wiedertrifft. Mit einem sich selbst geißelnden Blick radelt sie nach Hause. Weisen die Straßenpfeile in ihre Fahrtrichtung schon den Weg in die Körpernorm? Und ist der Wunsch abzunehmen die Kapitulation vorm Gesundheitsdiskurs und Fitnesswahn, vor Selbstdisziplinierung und Leistungsbereitschaft? „Normschön zu sein, würde mir zweifellos das Leben erleichtern.“ Etwas später mahnt das versteinerte Lachen der Hard Bodies aus den Youtube-Videos zum Trimmen.

Stulin rückt sich oft ins unvorteilhafte Licht, mehrfach setzt sie sich gänzlich unbekleidet ins Bild und zweifelt an sich selbst. Und in diesen intimen Szenen erinnert man sich, weshalb das Private mal politisch war. Heute, wo der Begriff „Opfer“ als Schimpfwort verwendet wird und Schwäche dem neoliberalen Apparat ein Graus ist, taugt eine solche Zurschaustellung von Fragilität mehr denn je zur Herausforderung des Status quo. An der Welt zu leiden, mag heute nicht mehr zeitgemäß sein. Wie man es trotzdem kann, ohne dabei zerrieben zu werden, dafür liefert „Bei mir zuhause“ sehr viel Anschauungsmaterial.

Paulina Stulin: „Bei mir zuhause“.
Jaja Verlag, Berlin 2020. 612 Seiten. 35 Euro

Alfred Hitchcock – Der Mann aus London

( , Regie: )

"Das Visuelle ist mein Stil"
von Wolfgang Nierlin

„Du bist nicht mehr der Meister des Suspense, sondern der Regisseur der Angst“, sagt Alma zu ihrem Mann Alfred Hitchcock. Es ist das Jahr 1960 und der Film „Psycho“ versetzt …

„Du bist nicht mehr der Meister des Suspense, sondern der Regisseur der Angst“, sagt Alma zu ihrem Mann Alfred Hitchcock. Es ist das Jahr 1960 und der Film „Psycho“ versetzt gerade das Kinopublikum weltweit in Angst und Schrecken. In dem biographischen Comic „Alfred Hitchcock 1 – Der Mann aus London“ stellen der Zeichner Dominique Hé und der Szenarist und Filmhistoriker Noël Simsolo gleich zu Beginn Szenen des berühmt-berüchtigten Duschmordes den vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen der Zuschauer gegenüber. Dieses der filmischen Montage verwandte Kompositionsprinzip mit seiner extremen Verdichtung charakterisiert auf der formalen Erzählebene die insgesamt sieben Kapitel des ersten Bandes, der den Lehrjahren des späteren Meisterregisseurs gewidmet ist. In parallel gesetzten Short Cuts, in Rückblenden und Erinnerungen an Dreharbeiten wechselt der schwarzweiß und mit klaren Konturen gezeichnete Comic nahtlos zwischen Vergangenheit und Gegenwart und schafft so auch fließende Übergänge zwischen imaginierten und realisierten Filmen sowie zwischen deren Produktion und Rezeption.

Die beiden französischen Autoren etablieren dieses vielschichtige, von doppeldeutigem Humor und zahlreichen Anspielungen grundierte Verfahren durch ein langes Gespräch, das Alfred Hitchcock im Sommer 1954 mit Cary Grant und Grace Kelly führt. Anlässlich der Dreharbeiten zum Film „Über den Dächern von Nizza“ sitzen die drei im Carlton Hotel von Cannes und widmen sich „vertraulichen Plaudereien“, in denen der Regisseur den beiden Schauspielern aus seinem Leben erzählt und dabei tiefen Einblick gewährt in seinen Charakter und seine Denkweise. Frühkindliche Angsterfahrungen, eine strenge katholische Erziehung sowie eine starke Mutterbindung machen den jungen „Hitch“ bald zum Außenseiter, was er durch übermäßiges Essen und einen ausgeprägten Hang zum Voyeurismus kompensiert. Daneben interessiert er sich für die Mördergeschichten der vermischten Nachrichten, besucht häufig und gerne das Crime Museum of Scotland Yard und entdeckt seine Leidenschaft für Theater und Kino.

Seite aus „Alfred Hitchcock“ (Splitter Verlag)

Mit seinem Eintritt in die amerikanische Filmproduktionsfirma Famous Players-Lasky, der späteren Paramount Pictures, wo Hitchcock auch seine Frau und ständige künstlerische Beraterin Alma Reville kennenlernt, vollzieht sich Schritt für Schritt eine Karriere, die von beharrlichem Ehrgeiz, aber auch von flexibler Anpassungsfähigkeit gekennzeichnet ist. Der angehende Regisseur tummelt sich zunächst in verschiedenen Gewerken, macht sich schlau, vernetzt sich und entwickelt zunehmend selbstbewusster und dominanter bald eigene Ideen und Interessen. Inspiriert vom amerikanischen Film, vom deutschen Expressionismus und dem zeitgenössischen Theater, werden dem effizient und stets wirtschaftlich denkenden Kinoarbeiter Mitte der 1920er Jahre erste Regie-Aufträge anvertraut, denen Hitchcock immer erkennbarer seine persönliche Handschrift einschreibt. Am Übergang vom Stumm- zum Tonfilm zeigt sich der bald bekannteste und bestbezahlteste Regisseur Englands besonders erfinderisch und trickreich, wenn es darum geht, zu synchronisieren oder verschiedene Sprachversionen zu drehen.

Immer wieder visualisieren die beiden Comic-Autoren Hitchcocks Produktionsgeschichten und Filmerzählungen mittels Storyboards, Filmplakaten und vor allem Streiflichtern auf diverse Dreharbeiten, die den Meister in seinem Element zeigen. Wir erleben seinen abgründigen Humor, offene Anzüglichkeiten, listige Gemeinheiten und seinen Hang zum unverhohlenen Sadismus. Um die „wahre menschliche Natur zu offenbaren“, kultiviert Hitchcock das „Spiel mit dem Schein“ und eine Spannung, die möglichst lange die Dinge in der Schwebe hält. „Mich interessiert vor allem die Art, wie man eine Geschichte erzählt“, erklärt der Regisseur dem französischen Filmtheoretiker und Bewunderer André Bazin, der ihn am Set in Nizza besucht. Dieses Selbstverständnis als Autor mit einem persönlichen visuellen Stil macht ihn später zum erklärten Vorbild der Nouvelle Vague-Regisseure und dient ihm Ende der 1930er Jahre zugleich als Ausweis und Visitenkarte bei seinem Aufbruch in die Vereinigten Staaten: „Ich bin ein Künstler, der immer die gleiche Blume malt, aber jedes Mal etwas besser.“ Der sich in Vorbereitung befindende zweite Band dieser sehr anregend gezeichneten Künstlerbiographie träg deshalb den Titel „Der Meister des Suspense“.

Diese Kritik erschien zuerst am 27.02.2021 in der Rhein-Neckar-Zeitung.

Noël Simsolo (Autor), Dominique Hé (Zeichner): „Alfred Hitchcock Band 1: Der Mann aus London“.
Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter Verlag, Bielefeld 2020. 160 Seiten. 24 Euro

Die Bombe

( , Regie: )

Immer dieses Uran!
von Sven Jachmann

Im Kinofilm hat die Atombombe thematisch seit den Fünfzigern ihren festen Platz. Im zweiten großen künstlerisch-visuellen Medium des 20. Jahrhunderts, dem Comic, ist sie eine unsichtbare Macht, die postapokalyptische Landschaften, …

Im Kinofilm hat die Atombombe thematisch seit den Fünfzigern ihren festen Platz. Im zweiten großen künstlerisch-visuellen Medium des 20. Jahrhunderts, dem Comic, ist sie eine unsichtbare Macht, die postapokalyptische Landschaften, derangierte Lebensverhältnisse, mutierte Bestien und verstrahlte Superhelden zu verantworten hat.

Nun aber, 75 Jahre nach dem Bombenabwurf, folgt das Comic-Künstlertrio Didier Alcante, Laurent-Frédéric Bollée und Denis Rodier den Spuren der Täter mit einem 470seitigen Trumm, in dem vier Jahre Arbeit und, wie man dem Nachwort entnehmen kann, die lebenslange Liebe Alcantes zu Japan stecken. Die Autoren untersuchen die moralphilosophischen und kriegspsychologischen Grundlagen der Entwicklung der Bombe. Die Erzählform ist eine kuriose Mischung aus History-Thriller und Mystik-Dokumentarcomic. Weil verbürgte Sachlichkeit die Basis jedes Spannungsbogens ist, gingen der Produktion penible Recherchen voraus.

Der Band erzählt chronologisch von der Idee der Bombe über ihre Entwicklung bis zum Inferno und lässt dabei viel Wissenschafts- und Politikprominenz auftreten – beginnend mit dem Physiker und Molekularbiologen Leo Szilard, der 1933 den Entschluss fasst, Deutschland, nachdem die Nazis ihre mörderischen Absichten immer weniger verhehlen, zu verlassen und der seine Theorien zur Kernfusion an die Columbia-Universität mitnimmt. Wir sehen Einstein väterlich zweifeln, Richard Oppenheimer die Leitung des Manhattan-Projekts antreten, wir sehen, wie sich das ursprüngliche Ziel, Deutschland beim Bau der Atombombe zuvorzukommen, bereits mitten im Zweiten Weltkrieg durch die Antizipation des Kalten Krieges wandelt, wie Missgunst und Karrieresucht ebenso wie Ideale und moralische Zerwürfnisse die wissenschaftlichen, politischen und militärischen Apparate unter Spannung setzen.

Besonders perfide nehmen sich die Testversuche von Plutonium auf den menschlichen Organismus aus: Nachdem die Wahl auf einige todgeweihte Krebskranke gefallen ist, denen in Krankenhäusern ohne ihr Wissen das radioaktive Schwermetall injiziert wird, stellt sich bei einem, dem bereits Milz, Leber, Bauchspeicheldrüse und neunte Rippe entfernt wurden, heraus, dass er gar nicht an Krebs erkrankt ist. Eine Petitesse: „Wir brauchen mehr human products“, fordert der Arzt.

Seite aus „Die Bombe“ (Carlsen Verlag)

Der Blick fällt in Labore, Büros und Hinterzimmer, die sich nach stundenlangen Diskussionen mit dichtem Zigarettenrauch füllen, bis Entscheidungen getroffen sind; er folgt Widerstandskämpfern bei den Sabotageaktionen des norwegischen Vemork-Wasserkraftwerks, die die Deutschen an der für die Atombombe nötigen Schwerwasserproduktion hindern sollen, und fällt schließlich auf die von Soldatenleichen gesäumten Ufer der Insel Okinawa. Allein bei der Darstellung der japanischen Bewohner*innen und ihres Alltags nahm man sich aus Pietät einige fiktionale Freiheiten.

Es geht mitunter unübersichtlich multiperspektivisch zu. Hin und wieder helfen aber Bildperspektive und Blickmontage dabei, die Orientierungslosigkeit zumindest emotional zu mildern und, auch das, ideologisch zu steuern: Stalins Gesicht erscheint zum ersten Mal als Spiegelung in einem schneeverhangenen Fenster des Kreml, in dem seine Augen zunächst nur schwarze Höhlen sind, und wir spüren: Da geht’s finster zu. Als dagegen der US-Kriegsminister Henry L. Stimson beim Zwiegespräch mit General Groves im Pentagon verbietet, Kyoto zu bombardieren, weil es die „Wiege der japanischen Zivilisation“ sei, und sich aus der Nahaufnahme seines Gesichts die Rückblende zu einer Romanze an ebendiesem Ort herausschält, fühlen wir: Der Mann trägt viel Liebe in sich.

Wenn der Analyse das Vertrauen entzogen wird, müssen ikonische Bilder aushelfen. Ohnehin wird die Aufklärung von der ersten Seite an vom Mythos überstimmt, mit dem der Ich-Erzähler anhebt: „Am Anfang war das Nichts. Doch dieses Nichts enthielt bereits alles. (…) Dann trat das Leben auf den Plan, entwickelte sich, Schritt voran. Das betraf mich nicht. Doch ahnte ich, dass diese seltsamen Kreaturen, aufrecht auf ihren zwei Beinen, eines Tages das Werkzeug meiner Bestimmung sein würden… dass sie eines Tages diese Energie entfesseln, die in mir pochte, toste, brodelte. Doch wann? Und wie?“

Der da zu uns spricht und fortan alle Schritte der menschlichen Naturunterwerfung kommentieren wird, ist weder Gott noch Teufel, sondern das Uran selbst. Dass der Zeichner Rodier zuvor über ein Jahrzehnt an „Superman“-Comics einen schnellen, auch mal zur Erregung neigenden Stil trainieren konnte, lässt sich an der gelegentlich von Dynamik durchgeschüttelten Bildgestaltung erkennen. Dass die Autoren Uran den Ultrabösewicht andichten, legt nahe, dass sie die entscheidenden Akteure nicht an ihren Absichten und Taten messen wollen, sondern einer Ontologie der Naturgewalt, die im Menschen ihren gefährlichsten Komplizen gefunden hat, die Verantwortung geben. Und so lauten die letzten Worte: „Glauben Sie, meine Geschichte ist zu Ende? Oder hat sie womöglich erst begonnen?“ Wir werden alle sterben. Das Uran hat gesprochen.

Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 08/2020

Didier Alcante (Autor), Laurent-Frédéric Bollée (Autor), Denis Rodier (Zeichner): „Die Bombe“.
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. Carlsen, Hamburg 2020. 472 Seiten. 42 Euro

Gevatter

( , Regie: )

Im Angesicht des Todes
von Sven Jachmann

„Eigentlich kann jeder Krebs kriegen.“ Mit diesem Satz beantwortet Tims Mutter, eine Ärztin, mit medizinischer Sachlichkeit die Frage des vielleicht fünfjährigen Jungen, was denn Krebs sei. Es sind Sätze wie …

„Eigentlich kann jeder Krebs kriegen.“ Mit diesem Satz beantwortet Tims Mutter, eine Ärztin, mit medizinischer Sachlichkeit die Frage des vielleicht fünfjährigen Jungen, was denn Krebs sei. Es sind Sätze wie diese, die ein ganzes späteres Leben ins Wanken bringen können, wenn sich zum ersten Mal die Erkenntnis ins junge Bewusstsein frisst, dass alles ein Ende hat.

Kunst und Kultur sind monströse Sublimationsinstrumente, sie tätscheln uns den Kopf, damit der selbstoptimierte Blick nach vorne nicht andauernd zum Friedhof abschweift. Oft bieten sie einen ziemlichen Gefühlskarneval, der die Wahrheitspolonaise mit ganz großen Schritten ins Unbewusste führt.

Familien werden, manchmal auch gegen jede Vernunft, gegründet, damit wir nie ganz gehen müssen, Religionen gehegt, weil das Leben überall enden darf, nur nicht im Sarg; die Popkultur hat ganze Genres auf Eros und Thanatos erbaut (Horror, Pornografie, Melodramen, Liebesromane, Dark Wave, Black Metal…).

Der in der DDR aufgewachsene, in Leipzig lebende und als 51jähriger den etwas gereifteren Teil des Lebens antretende Comickünstler, Karikaturist, Illustrator, Drehbuchautor, Trickfilmregisseur und Musiker Schwarwel drückt in seiner fünfteiligen autobiografischen Heftserie „Gevatter“ die Stopptaste beim Verdrängungsspiel und schaut uns ernst wie mitfühlend in die Augen.

Sein Alter Ego Tim tut dies gleich zum Einstieg buchstäblich: Die Gesamtseite zeigt sein Gesicht, sauber aufgeteilt in 3×3-Panelreihen, die Zwischenräume fragmentieren das Konterfei und etablieren metaphorisch das Thema der Erzählung: den Tod und wie das Wissen um ihn ein Ich in Stücke reißen kann.

Diese Seitenkomposition eröffnet alle Hefte, und mit jeder Nummer verschwindet immer mehr Gewebe aus Tims Antlitz. Schwarwels schwarzweißen Zeichnungen mit ihren harten Kontrasten erinnern an eine luftige Version des Stils von Charles Burns, der in seinen Comics dem Verfall ebenfalls sehr prosaische Metaphern abzutrotzen versteht.

Tim, 33 Jahre, steht an der Bahnsteigkante und will springen. Im letzten Moment erinnert er sich aber an einen Pakt aus der Vergangenheit, ruft seinen Freund an, dem er mal geholfen hat, und nimmt nun seinerseits Hilfe in Anspruch. Der Freund vermittelt ihn an einen befreundeten Psychiater und mit wechselndem Fokus oszilliert der Plot zwischen Gesprächssituation und (nicht immer) chronologischen Rückblenden in Tims Kindheit und Jugend.

Seite aus „Gevatter“ (Glücklicher Montag)

Es braucht nur wenige Seiten, bis man sich dabei ertappt, wirklich jedes Panel auf das Thema Tod zu untersuchen. Dahinter verbirgt sich die unsichtbare Hand eines begnadeten Comicerzählers: das Zusammenspiel aus Stil und Inhalt so stringent zu dirigieren, dass das Thema nie aus dem Blick gerät, aber genügend Distanz zu wahren, damit die Empathie das Thema nicht grob verschlingt.

Geradlinigkeit wird mit Flashbacks und Traumsequenzen kontrastiert, wir bleiben immer auch im Kopf des Protagonisten. Und die alltäglichen und traumatisierenden Kristallisationspunkte auf den Lebensstationen sind zahlreich.

Manchmal sind sie augenscheinlich, manchmal nur kleine Details: die sehr gruselig inszenierte Großmutter, vor der sich die kleinen Enkel fürchten; der Tod des Hamsters (den der Vater, ebenfalls Arzt, sogleich mit dem Skalpell seziert); kindliche Cowboy-und-Indianer-Kämpfe, die im gespielten Tod enden, „Gespenster Geschichten“-Comichefte aus dem Westen (immerhin lebt das gesamte Horror-Genre von der Manifestation des Verdrängten und Abjekten), Slayers „Angel of Death“-Song, Punk (der „No Future“ zum Programm erklärt), aber genauso das Sterben und die Selbstmorde von Verwandten und Nachbarn.

Besonders verstörend ist eine Vergewaltigung in der Nähe von Tims Familienhaus bei Nacht. Tim, mittlerweile im jugendlichen Alter, sein Vater und ein Nachbar verfolgen den Täter bis zu einem Sportplatz, Tim schlägt dabei mehrfach mit einer Eisenstange auf dessen Schädel ein, aber der Vergewaltiger rennt unbeirrt, nur keuchende Töne ausstoßend weiter. Nachdem sich die Gruppe aufgeteilt hat, entdeckt ihn Tim alleine in einem Gebüsch hockend, regungslos starrend wie ein Tier. Eine schauderhafte Szene, die mit der Ankunft der Polizei aufgelöst wird.

Bis dahin sitzt bei Tim und uns der Schock tief, wie schnell und unbemerkt der Gerechtigkeitswille vom Vergeltungsdrang, die Selbstermächtigung von der Lebensgefahr, das fremde und das eigene Leben vom Tod in einer eskalierenden Situation mit einem Wimpernschlag abgelöst werden kann.

Die bislang veröffentlichten drei der fünf geplanten Hefte zählen zum Besten, was der hiesige Comic derzeit zu bieten hat. Als Gemeinschaftsprojekt mit der Funus-Stiftung sind sie bei Schwarwels und Sandra Strauß‘ Verlag und Animationsstudio Glücklicher Montag erschienen. Editorisch ist viel Liebe zum Detail eingeflossen. Die Aufmachung erinnert an Zeiten, als der selige Indie-Verlag Jochen Enterprises mit ambitionierten Heft-Editionen die 90er durchzustehen half.

Jede Ausgabe beinhaltet nebst weiteren Beiträgen ein Dossier und ein Interview mit Schwarwel sowie mit den Künstler*innen (bislang: Sarah Burrini, Ingo Römling, Sascha Wüstefeld), die die zusätzlichen Variantcover gezeichnet haben. Die letzten beiden Hefte sollen im Laufe dieses Jahres erscheinen.

Diese Kritik erschien zuerst am 23.08.2020 in: Der Tagesspiegel

Schwarwel (Autor und Zeichner): „Gevatter“.
Glücklicher Montag, Leipzig 2019/2020. Bislang 3 Hefte. Je 36 Seiten. Je 3,90 Euro

Fante Bukowski

( , Regie: )

Ein Leben, das Feuer gleicht
von Sven Jachmann

Männliche Kotzbrocken mit gänzlich uncharismatischem Außenseiter-Profil, die im Erzählbogen keinerlei Entwicklung durchlaufen, besitzen im nordamerikanischen Comic eine recht skurrile Tradition. „Wilson“, dem Misanthropen aus Daniel Clowes’ gleichnamigem Comic, möchte man …

Männliche Kotzbrocken mit gänzlich uncharismatischem Außenseiter-Profil, die im Erzählbogen keinerlei Entwicklung durchlaufen, besitzen im nordamerikanischen Comic eine recht skurrile Tradition. „Wilson“, dem Misanthropen aus Daniel Clowes’ gleichnamigem Comic, möchte man niemals im realen Leben begegnen, und die Comiczeichner Joe Matt und Chester Brown gehen in ihren autobiografischen Werken mit ihren Comic-Alter-Egos ziemlich hart ins Gericht, indem sie ungeschönt ihre Pornosüchte (Matt in „Peepshow“) beziehungsweise das Leben als Freier (Brown in „Ich bezahle für Sex“) thematisieren.

Auch der Autor und Cartoonist Noah Van Sciver gönnt sich in seiner ersten ins Deutsche übersetzten und vor kurzem hierzulande erschienenen Graphic Novel „Fante Bukowski“ einige selbstkritische Auftritte: als erfolgloser Comiczeichner, der keine Peinlichkeit auslässt, um im Fahrwasser des Erfolgs seiner neuen Freundin Audrey Catron endlich zu Ruhm zu gelangen – oder wenigstens an die richtigen Leute.

Die junge Autorin landete kürzlich einen Belletristik-Bestseller und verzweifelt seitdem an den Regeln und Marketing-Gepflogenheiten des Kulturbetriebs. Deswegen und dank Van Scivers pathologischem Selbstmitleid denkt sie immer wieder sehnsüchtig an ihre kurze Schwärmerei für die titelgebende Hauptfigur Fante Bukowski ein Jahr vor ihrem großen Durchbruch zurück – was man gleichfalls als Verweis auf die selbstherrliche Männerromantik in der Outsider-Literatur verstehen muss, denn gegen Fante Bukowskis Egomanie und Literatennarzissmus ist Van Sciver sogar noch eine deutlich kleinere Hausnummer.

Seite aus „Fante Bukowski“ (Avant-Verlag)

Die Figur „Fante Bukowski“ ist eigentlich der Rechtsanwaltsgehilfe Kelly Perkins, und sein mäßiges Talent als Autor offenbart sich bereits in der Wahl dieses Pseudonyms. Mit 23 Jahren schmeißt er den Job in der Anwaltskanzlei des Vaters, weil er Autor werden will. Schon Seite 2 zeigt ihn an der Schreibmaschine beim Verfassen einer Kurzgeschichte: „Und die beiden Männer schauten sich in die Augen und wussten, ihr Leben würde von nun an einem Feuer gleichen. Einem Feuer, das brennt. Ende.“ Dass solcherlei literarischer Dilettantismus mit Absagen quittiert wird, kann freilich nur den Lektoren geschuldet sein: „Lektoren mobben wie in der Schule! Trunken vor Macht!“ Denn: „Meine Brillanz ist immer meine Schwäche gewesen.“

Bukowski haust fortan verwahrlost und unregelmäßig von der Mutter subventioniert in abgerockten Hotelzimmern, besäuft sich, schreibt. Das muss bei den Pseudonymlieferanten, den US-amerikanischen Schriftstellern Charles Bukowski und John Fante, schließlich ähnlich abgelaufen sein. Er schmeißt sich auf Partys an schmierige Agenten und Redakteure ran, veröffentlicht Gedichte in Literaturzeitschriften mit 20er-Auflage, steht auf Lesebühnen, vertickt ein doppelt gefaltetes DIN-A4-Blatt als überteuertes Lyrik-Fanzine und verkauft sich selbst und allen anderen dieses Treiben megalomanisch als Pionierleistung. Und wie sich Bukowski mit jedem Jahr aufgedunsener durch die subkulturellen Nischen und Sektglas-Zusammenkünfte bläht, ist ein ziemlicher Spaß, weil Van Sciver ganz egalitär sowohl den anachronistischen Underground-Chic als auch die Hochkulturbetriebseitelkeiten im Visier behält.

Diese Kritik erschien zuerst am 29.7.2020 in: ND

Noah Van Sciver: „Fante Bukowski“.
Aus dem Englischen von Benjamin Mildner. Avant-Verlag, Berlin 2020. 416 Seiten. 30 Euro

Über Spanien lacht die Sonne

( , Regie: )

Lesen Sie privat Kommentare im Internet?
von Sven Jachmann

Onlinekommentar-Bereiche sind die vollgeschmierten Klotüren des Internets, und irgendjemand muss die Scheiße ja wegmachen. In Kathrin Klingners neuer Graphic Novel „Über Spanien lacht die Sonne“ beginnt die Handlung im Sommer …

Onlinekommentar-Bereiche sind die vollgeschmierten Klotüren des Internets, und irgendjemand muss die Scheiße ja wegmachen. In Kathrin Klingners neuer Graphic Novel „Über Spanien lacht die Sonne“ beginnt die Handlung im Sommer 2015 mit dem Bewerbungsgespräch der Hauptfigur Kitty, einer mit fünf Schwarzklecksen angedeuteten Häsin. Es geht um einen Agenturjob als Moderatorin für Onlinekommentare. Erste Frage des Chefs in spe: „Lesen Sie denn privat Kommentare im Internet?“ Dann wird ihr eine Aufgabe gestellt: „Ich lese Ihnen ein paar Kommentare vor, und Sie sagen mir einfach, was Sie davon halten.“ Kitty bekommt jedenfalls den Job. In dieser Exposition bleiben wir von Hate Speech noch verschont, doch später werden sich Abgründe auftun, man wird auf reichhaltige rassistische, antisemitische und frauenfeindliche Aussagen stoßen.

Die Comic-Künstlerin Klingner kann auf einen großen Erfahrungsschatz zurückgreifen: Sie selbst arbeitet seit 2013 im Nebenjob als Onlinekommentar-Moderatorin. Der Ernst des Themas und der Lage ließe womöglich einen analytischen Comic-Essay erwarten, aber Klingner setzt lieber auf eine effektivere Methode: Humor. Der reduktionistische schwarz-weiße Zeichenstil lenkt zwangsläufig den Blick aufs Detail, den Ausdruck der Figuren, ihre Gespräche inner- und außerhalb des Büros, ihren Umgang mit dem Gepöbel der User – das erinnert, was das Dehnen der Zeit und das Spiel mit der Monotonie der Bilder betrifft, im Ansatz an eine Dogma-Version des großen französischen Comic-Workaholics Lewis Trondheim. Klingner geht es allerdings noch galliger an. „Migrationswahnsinn. Putin. Ukraine. Schuldkult.“ Bei der Lektüre trinkt Kitty Kaffee und isst eine Stulle.

Seite aus „Über Spanien lacht die Sonne“ (Reprodukt)

In einer anderen Passage ist in den oberen Panelabschnitten ein extrem rechter Kommentar voller Bürgerkriegsfantasien zu lesen, der untere Teil zeigen Kitty in der U-Bahn und beim Einkaufen. Das konterkariert doppeldeutig die Paranoia des geifernden Users: Der harmlose Alltag nimmt seinen Lauf, und gleichzeitig könnte jeder Smartphone-Nutzer, dem Kitty draußen begegnet, ein anonymer rechter Troll sein. Man mag darüber spekulieren, was die tägliche Konfrontation mit solch ungezügeltem Hass mit den digitalen Reinigungskräften anstellt. Offenbar nicht viel. Die Figuren tingeln unspektakulär durch ihre Freizeit, machen Hausarbeit, bringen die Kinder zur Schule, schlagen die Zeit am Rechner tot. Eine, ein Ex-Kneipier, besäuft sich oft, wird dann sentimental und versucht, die Barfrau zu betatschen. Alle Figuren sind im Guten wie im Schlechten erschreckend normal und „eigentlich die falsche Besetzung, um die Welt vor der Verrohung aus dem Internet zu retten“, sagt Klingner in einem Interview. Der Comic ist weniger eine Untersuchung der Motive der Hassgroßmäuler im Netz als vielmehr eine pointierte Chronik moderner Arbeitsverhältnisse unter den Bedingungen digitaler Zügellosigkeit.

Diese Kritik erschien zuerst am 22.7.2020 in: ND

Kathrin Klingner (Autorin und Zeichnerin): „Über Spanien lacht die Sonne“.
Reprodukt, Berlin 2020. 128 Seiten. 20 Euro

They Called Us Enemy

( , Regie: )

Verdachtsfall Ethnie
von Sven Jachmann

Berühmt wurde der Schauspieler George Takei als Hikaru Sulu in der ersten „Star Trek“-TV-Serie. Seine Graphic Novel „They Called Us Enemy“, für die er mit der Zeichnerin Harmony Becker sowie …

Berühmt wurde der Schauspieler George Takei als Hikaru Sulu in der ersten „Star Trek“-TV-Serie. Seine Graphic Novel „They Called Us Enemy“, für die er mit der Zeichnerin Harmony Becker sowie den Autoren Justin Eisinger und Steven Scott zusammenarbeitete und der 1994 eine Autobiografie vorausging, liefert allerdings keinen Gossip vergangener Drehtage. Vielmehr geht es um die Erfahrungen aus Takeis Kindheit: Nach den Angriffen auf Pearl Harbor wurden im Frühling 1942 rund 120.000 japanischstämmige Bürger*innen der USA in Internierungslager deportiert. Sie wurden enteignet, alles, was sie nicht mit sich tragen konnten, ging an den Staat über. Verdachtsfall Ethnie, mehr brauchte es nicht.

Takei erzählt aus Kinderperspektive und im unaufgeregten Manga-Stil von seinen fast vier Jahren in zwei Lagern in Rohwer, Arkansas und Tule Lake, Kalifornien. Ein Zeitzeugendokument, das sich an jüngere Leser*innen richtet: Die chronologischen Abschnitte beginnen mit der medialen Hysterie, die den Rassismus in der Bevölkerung schürt. Historische Daten wechseln sich ab mit der Opferperspektive von Takeis Familie. Deportation, Unterbringung, medizinische Versorgung, Ernährungssituation, Schulunterricht, politische Konflikte zwischen den Insassen – Takei beschreibt detailliert den Alltag eines Lebens hinter Stacheldraht und unter Gefängnistürmen. Immer wieder arbeitet er den Kontrast zwischen dem heraus, was ihm als Kind noch als Abenteuer vorkommt, und der zermürbenden Hilflosigkeit der Eltern. Weil Nachrichten nur als Gerüchte ins Lager gelangen, gibt es kaum verlässliche Informationen, und als die Camps nach Kriegsende aufgelöst werden, kann die mittellose Familie nur mutmaßen, wie stark der Rassismus mittlerweile hinter den Zäunen grassiert.

© Cross Cult

Über einige patriotische Elogen auf die Errungenschaft der US-Demokratie im letzten Drittel sollte man ob ihres naiven Eifers hinweglesen. Takei, der seine Popularität seit Karrierebeginn zur politischen Aufklärung nutzt, möchte die Jugend eben für die Brüchigkeit demokratischer Freiheiten sensibilisieren, mit historischen Parallelisierungen auf die Folgen von Trumps Demagogie hinweisen. Da mag sich in der Wahl des bei Jugendlichen nicht mehr angesagten Mediums ein ähnlich betagter Zugang offenbaren wie in seinem Glauben an die „geheiligten Ideale unserer Volksdemokratie“.

Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET 7/2020

George Takei, Justin Eisinger, Steven Scott (Autoren), Harmony Becker (Zeichnerin): „They Called Us Enemy“.
Aus dem Englischen von Christian Langhagen. Cross Cult, Ludwigsburg 2020. 208 Seiten. 25 Euro

Julie Doucets allerschönste Comicstrips

( , Regie: )

Keine Regenerationsorte
von Sven Jachmann

Die Comics von Julie Doucet teils 25 Jahre nach ihrer deutschen Erstveröffentlichung in dieser Sammlung erneut zu lesen, ist eine sehr melancholische Angelegenheit. Nicht, weil früher alles besser war, sondern …

Die Comics von Julie Doucet teils 25 Jahre nach ihrer deutschen Erstveröffentlichung in dieser Sammlung erneut zu lesen, ist eine sehr melancholische Angelegenheit. Nicht, weil früher alles besser war, sondern weil ihre Comics immer zwischen den beiden thematischen Polen Angst und Langeweile pendeln, die heute im neoliberalen Cyberspace einen dialektischen Bund eingegangen sind. Angst ist politisch, weil sie zur Kontrollinstanz der prekären Arbeitsverhältnisse gemacht wurde. Und Angst ist der ständige Begleiter der stets eingesetzten Figur Julie Doucet: Angst zu versagen, die Illustrationsjobs von neuen Auftraggebern nicht zu packen, die Abgabetermine beim Kunststudium zu versemmeln, kein Geld mehr zu haben oder Bier, sich auf wichtige Absprachen mit zugedröhnten Freunden nicht verlassen zu können, Angst vor merkwürdigen Träumen (die sie oft zu Kurzgeschichten verarbeitet) oder den Blicken anderer, überhaupt Angst, sich alleine in der Öffentlichkeit zu bewegen, weil jederzeit ein epileptischer Anfall kommen kann.

In diesen Mustern hat sich angekündigt, was man heute als Begleiterscheinung prekären Schaffens zu akzeptieren genötigt ist, damals hat die Romantisierung einer vermeintlich selbstgewählten DIY-Künstlerexistenz sie noch übertönt – eine Falle, in die Doucet niemals getappt ist. Dazu kommt die Darstellung von Langeweile: Die Figur Doucet, wie die Künstlerin Frankokanadierin, möchte ihr Englisch verbessern, trifft sich mit einem Freund im Pub, aber letztlich saufen sie die ganze Nacht ohne Ergebnis durch. Oder sie wacht morgens auf, quält sich aus dem Bett, trinkt Kaffee, starrt ins Leere, trinkt Kaffee, holt Post, dann sieben Bier, lacht über Cartoons, die sie zeichnen könnte, sitzt am Ende benebelt und frustriert am Tisch: „Äh… tja… ich glaube, es lohnt sich nicht weiterzumachen.“

Der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher schrieb 2014: „Wir bewegen uns ständig im Langweiligen, aber unser Nervensystem ist so überreizt, dass wir nie den Luxus haben, uns zu langweilen.“ Sich im künstlerischen Feld zu langweilen, heißt heute prokrastinieren und wäre kaum ohne eine Zwischenmeldung auf Instagram geduldet, und wenn man eh schon mal da ist… Das digitale Stahlgewitter lähmt das innere Chaos durch Content-, Diskussions- und Ablenkungszwang, alle sind allein, weil niemand allein ist. Bei Doucet spiegelt sich das innere Chaos, dem zumindest noch geordnete Panels gegenüberstehen, in der Unordnung der Räume: Der Boden und die Tische sind übersät mit Gegenständen, viele Panels sind geradezu Wimmelbilder. Das sind keine Regenerationsorte jenseits des draußen tobenden Grauens. Wenn die herumliegenden Stifte, Tassen, Bügeleisen und Flaschen zum Leben erwachen und die Zeichnerin beschimpfen, wird auch das Vertraute zur Gefahrenquelle. Allein, Doucet ignoriert sie lässig.

© Reprodukt

Diese groteske Stimmung unterstreichen die Zeichnungen, besonders der intensive Schwarzeinsatz. Possierliche Figuren mit weiten Augen und übergroßen Köpfen blicken dich herzlich an. Aber das Schwarz um sie herum wirkt unheimlich, die weißen Stellen scheinen die Figuren in einen Lichtkegel zu tauchen, den sie besser nicht verlassen sollten – visuelle Habachtstellung für die Leser*innen, weil jederzeit die Traumstruktur wieder auf den Plan treten könnte oder einfach eine harmlose Gesprächssituation zu kippen droht. Schnell wird es unbehaglich, und das liegt meist an den männlichen Figuren. Es wird heftig gemansplaint, als es dafür noch gar keinen Begriff und nur wenig Bewusstsein gab. Die Typen drängen sich in Doucets Bude, vereinnahmen sie mit scheinheiligen Suizidankündigungen, obwohl sie in derselben Nacht einen Abgabetermin einhalten muss, oder beginnen bei der ersten Begegnung den Smalltalk mit sexualisierenden Spitzen: „Weißt du, ich bin in Ordnung, ich krieg ihn noch hoch, kein Problem!“ Doucets längster Comic „New Yorker Tagebuch“ (in dieser Edition leider nicht enthalten), in dem sie von ihrem Umzug von Montreal nach New York in die Bruchbude ihres Partners, einem erfolg- wie ambitionslosen Comiczeichner, erzählt, zeigt das Paradebeispiel eines toxischen Beziehungsverlaufs: Je mehr Doucet als Künstlerin reüssiert, desto rasanter wächst sein Neid und mit ihm die Kontrollsucht bis hin zur Torpedierung ihrer Arbeit.

Julie Doucets Comics sind keine ergebnisoffenen Gesprächsangebote, sondern feministische Kampfansagen ohne Triggerwarnung, weil es die Freiheit braucht, Scheiße ohne Rücksichtnahme abzubilden. In jeder Seite steckt der Esprit der riot grrrls. Das rief schon in den Neunzigern Kritik hervor, als einige Shops Doucets zunächst selbstverlegte, dann vom kanadischen Indieverlag Drawn & Quarterly herausgegebene Heftreihe „Dirty Plotte“ (Plotte ist in etwa das frankokanadische Pendant zu cunt) wegen Obszönität und Gewalt gegen Frauen (die in keiner der Storys zu finden ist) aus dem Sortiment genommen haben. Zu Beginn der Nullerjahre wandte sich Doucet endgültig vom Comic ab. Das fühlt sich 20 Jahre später kein Stück besser an.

Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET 6/2020

Julie Doucet (Autorin und Zeichnerin): „Julie Doucets allerschönste Comicstrips“.
Aus dem Englischen von Jutta Harms. Reprodukt, Berlin 2020. 168 Seiten. 20 Euro

Wenn die Kränkungen überhandnehmen

( , Regie: )


von Sven Jachmann

„Wie gut, dass wir darüber geredet haben“ – Im Titel des (Lang-)Comicdebüts der Mainzer Illustratorin Julia Bernhard verbirgt sich bereits bittere Ironie, denn in den Gesprächen, die die 25jährige namenlose …

„Wie gut, dass wir darüber geredet haben“ – Im Titel des (Lang-)Comicdebüts der Mainzer Illustratorin Julia Bernhard verbirgt sich bereits bittere Ironie, denn in den Gesprächen, die die 25jährige namenlose Protagonistin in zehn Kapiteln führt, übernimmt sie meist den defensiven Part der Zuhörerin. Lakonisch erträgt sie die eloquenten Klagen einer Freundin, die voller Abscheu jede Geste ihres offensichtlich schwer egozentrischen Partners zerpflückt, aber sofort umschwenkt, als der sich per SMS einlädt. Sie überhört die beleidigenden Kommentare ihrer Oma. Sie lässt sich von einem narzisstischen Typen erklären – der nur Sex will, aber tiefgründig daherredet – dass sie nie in einer Beziehung gewesen seien: „Nur weil ich gesagt habe, ich sähe da in Zukunft Potenzial für eine Beziehung. Daten ist wie Wahlkampf. Da erzählt man halt, was der andere hören will. Aber es käme doch auch kein Mensch auf die Idee, Wahlkämpfe ernst zu nehmen, oder?“

Die Gespräche sind also keinesfalls schön, die Partner herablassend, widersprüchlich, oft auch beleidigend, ohne es zu bemerken. In der Zurückhaltung der Protagonistin spiegelt sich der stille gesellschaftliche Konsens, dass Frauen geduldig und einsichtig auf die noch gröbste verbale Scheiße zu reagieren haben. Die Monologe sind fast noch schlimmer: Zu Hause handelt sie sich vom schmorenden Toaster oder einer vertrockneten Zimmerpflanze Vorwürfe ein. Die Zeichnungen folgen einigen illustrativen Schemata: Hintergründe und Bilder des Interieurs zeigen nur die Panels, in denen geschwiegen wird, beide Sprechende besitzen in allen Passagen eine eigene Hintergrundfarbe, Gegenstände und weitere Figuren geraten nur dann ins Bild, wenn die Protagonistin auf sie blickt, deren Antlitz wir aber während der Unterhaltungen nicht sehen, weil dann deren Perspektive eingenommen wird.

Der Erzählrhythmus diktiert eine bedrückende Ordnung, aus der sich offensichtlich nicht entkommen lässt. Sehr wohl bietet sie uns bei der Lektüre Orientierung, aber für die Protagonistin stiftet sie den erbarmungslosen Takt des Immergleichen, zwischen den Panels ist kein Raum für irgendein utopisches Anderssein. Zum Schluss wiederholen sich sogar die Kapitelzählungen: Auf acht folgt neun folgt acht und die Protagonistin wälzt sich auf ihrem Sofa, bis sie buchstäblich davon verschlungen wird und verschwunden ist, auf dem Poster darüber steht „Eat. Shit. Die.“. Dieser metaphorische Rückzug lässt sich auch als Reaktion auf die selbstherrlichen Worte eines Mackers nach dem Sex ein paar Kapitel zuvor verstehen: „Ich bin ja ein sehr spiritueller Mensch. Emotionale Bindung behindert mich total in meiner Entwicklung. (…) Vögeln ist okay, aber ich will nicht angerufen werden, wenn du angefahren worden bist oder so.“ Wenn die Kränkungen überhandnehmen – der eigene Körper etwa nur als Fickmaterial taugt, solange er und seine Trägerin unversehrt sind und keine Schicksalsschläge nerven –, bleibt manchmal nur die Flucht nach innen. Auch dies ist eine geschlechtsspezifisch antrainierte.

Seite aus „Natürliche Schönheit“ (Avant-Verlag)

Die schwedische Comickünstlerin, Autorin und Radiomoderatorin Nanna Johansson geht in „Natürliche Schönheit“ weitaus rüder, aber auch weniger pointiert zu Werke. Der Band ist ein Kompendium humoristischer Arbeiten und versammelt verschiedenste Formen: Cartoons, Kurzcomics, Werbeanzeigen- und Magazincover-Parodien, verfremdete Fotos. Die Zeichnungen sind schnell und reduktionistisch, die Farben grell. Es geht um Schönheitsideale und -normen, Selbstoptimierung und -vermarktung, Geschlechterverhältnisse und medialen Schwachsinn, sei es die „Stahlgewitter“-Unterhaltung der alten Medien oder ihr Fortwesen im uneigentlichen Influencer-Gestammel.

Die Themen sitzen, die Pointen nicht immer. Witzig sind die Momente, in denen Johansson Beobachtetes mit Absurdem und Kritik kreuzt. Etwa „Der Typ mit der klitzekleinen Freundin erzählt von seiner Freundin – während sie dabei ist“. Oder eine wichtige Information der Optimierungsbehörde über Oberschenkellücken: „Für gewöhnlich empfehlen wir eine Lücke, durch die ein sehr kleiner Berufssoldat mit Bürstenhaarschnitt hindurchpasst, ohne mit Haar oder Ohren gegen Ihre Oberschenkel zu stoßen.“. Recht bieder bleibt’s, wenn die Kritik selbst die Pointe bildet („Was für ein toller Hund!“ – „Ja, wenn nur sein Arsch nicht so fett wäre!“). Vielleicht weil es daran erinnert, dass der Feminismus im 90er-Comic-Underground viel radikaler und energischer war, wenn beispielsweise Julie Doucet aus Wut über ihre Periode zu Godzilla mutiert und die ganze Stadt mit Menstruationsblut ersäuft. Oder aus Roberta Gregory in „Bitchy Bitch“ ein grölendes, kackendes Riesenbaby platzt: „Ich hab mehr Rechte als du, Mama! Ich werde meinem Abgeordneten schreiben! Ich will Nintendo!“ Ihre Reihen erschienen nicht ohne Grund im Eigenverlag. Dagegen nimmt sich Johanssons Ansatz aus wie eine Emma-Ausgabe im Zahnarztwarteraum.

Dieser Text erschien zuerst in: Junge Welt, Literaturbeilage 12.03.2020

Julia Bernhard (Autorin und Zeichnerin): „Wie gut, dass wir darüber geredet haben“.
Avant-Verlag, Berlin 2019. 96 Seiten. 20 Euro

Nanna Johansson (Autorin und Zeichnerin): „Natürliche Schönheit“.
Aus dem Schwedischen von von Katharina Erben. Avant-Verlag, Berlin 2019. 152 Seiten. 20 Euro

West, West Teaxs

( , Regie: )

Vom gesellschaftlichen Druck
von Sven Jachmann

Gesellschaft ist gefährlich. Das spürt man auf jeder Seite in Tillie Waldens gewaltigem Comicwerk. Man weiß nie, wann die destruktiven Kräfte vollends entfesselt werden, aber meist liegt etwas Unheilvolles in …

Gesellschaft ist gefährlich. Das spürt man auf jeder Seite in Tillie Waldens gewaltigem Comicwerk. Man weiß nie, wann die destruktiven Kräfte vollends entfesselt werden, aber meist liegt etwas Unheilvolles in der Luft. Die 1996 geborene Texanerin agitiert nicht in ihren Comics, es geht selten manifest politisch zu. Und doch erzählt jedes Werk vom gesellschaftlichen Druck, der die Figuren zu Entscheidungen und Handlungen drängt, deren Tragweite ein Weitermachen unter den bisherigen Bedingungen unmöglich macht. Waldens Protagonistinnen leben und lieben in Angst, und die Liebe ist zugleich der Lichtblick hinter der poetischen Melancholie der Bilder. Es lohnt sich durchzuhalten, aber in dem Durchhaltewillen steckt bereits der ständige Kampf zwischen Macht und Ohnmacht, und die Figuren laufen auch Gefahr, unter die Räder zu geraten.

Tillie Walden ist 23 Jahre jung, und in ihr muss ein immenser Erzähldrang toben. Für ihr Debüt, die von Hayao Miyazaki inspirierte Phantastikstory „The End of Summer“ von 2016, gab es gleich den Ignatz Award. Es folgten einige kurze Comics, unter denen „I Love this Part“ heraussticht: eine traurige Liebesgeschichte zweier Mädchen, die das Versteckspiel an der High School nicht durchhalten. Die Verbindung endet, auch weil die Furcht vor der eigenen Homosexualität zu groß wird, und auf stets einem Panel pro Seite sehen wir die Erinnerungsorte ihrer gemeinsamen Vergangenheit.

© Reprodukt

Waldens 2017 veröffentlichte, 400 Seiten fassende autobiografische Graphic Novel „Spinning“ (auf Deutsch später unter dem Titel „Pirouetten“ erschienen) gewann 2018 den Eisner-Award, den wichtigsten US-Comic-Preis, für den ein Jahr zuvor schon ihr Webcomic „On a Sunbeam“ nominiert war. Letzteren, eine Science-Fiction-Love-Story, die sich durch das Genre mit queerfeministischer Attitüde arbeitet, hat Walden mit Uhrwerkspräzision kapitelweise innerhalb eines Jahres online gestellt. Er kann nach wie vor for free gelesen werden, obwohl First Second Books, ein Verlag der Holtzbrinck-Gruppe, ihn Ende 2018 als über 500seitigen Trumm auf den US-Buchmarkt geworfen hat.

2019 kam, auch in deutscher Übersetzung, mit „West, West Texas“ (im Original „Are You Listening?“) ein 300 Seiten starker Roadtrip in einen imaginären Twin-Peaks-Westen heraus. Der Klappentext verrät, dass Walden gern um acht Uhr abends zu Bett geht. Funktionieren ohne Wenn und Aber scheint die oberste Direktive ihrer Kindheit zu lauten, die Folgen entfaltet sie in ihrer eigenen Coming-of-Age- und Coming-out-Geschichte „Pirouetten“. Waldens Teenagerleben hält der Drill des Eiskunstlaufens fest im Griff: Training vor und nach der Schule, Wettbewerbe, Anpassungs- und Konkurrenzdruck. Desinteressierte (Mutter) wie gutgläubige (Vater) Eltern zwingen sie zur Flucht in die Sprachlosigkeit, von der die erste Liebe wenigstens eine Pause verspricht: „Ich erinnere mich nicht an Schmetterlinge oder ein Gefühl von Freiheit, sondern nur an Angst. Angst, weil ich lesbisch war. Angst, weil wir in Texas waren. Angst vor all dem Hass, den ich aus Youtube-Videos kannte und von dem ich wusste, dass er real war. Aber von meiner Angst, die sich wie ein Eisklumpen in meinem Magen zusammenballte, würde ich mich nicht unterkriegen lassen.“

„West, West Texas“ könnte die informelle Fortsetzung von „Pirouetten“ sein, eine erste zaghafte Lektion in Empowerment, die die zwei Hauptfiguren auf die Straßen der texanischen Landschaft führt. Die eine, Bea, ist gerade 18 geworden und haut von Zuhause ab, die andere, die 27jährige Lou, will ihre Tante auf dem Land besuchen und nimmt Bea kurzerhand mit, als sie sich zufällig auf einer Tankstelle begegnen. Unausgesprochen wissen beide, dass man sich nicht die ganze Wahrheit offenbart.

© Reprodukt

Der Comic ist kein brachiales Road Movie, das die genreimmanente Outlaw-Romantik aufmöbelt, vielmehr eine stille Reise durch die Americana-Topografie. Die latente Tragik hinter diesem gemeinsamen Aufbruch will zwischen den Zeilen in den lakonischen Gesprächen zwischen Bea und Lou registriert werden. Als sie eine entlaufene Katze mitnehmen, um das Tier zum Besitzer ins nirgends verzeichnete West, West Texas zu bringen, entwickelt sich der Trip endgültig zur Seelenlandschaftsodyssee mit David-Lynch-Appeal. Blutrote Wolken drücken vom Himmel herab und verschlingen die Straßen, einsame Hütten hängen vertikal an bebenden Felsen, und zwei unheimliche Männer vom Verkehrsamt für Fernstraßenverwaltung mit merkwürdigem Interesse an der Katze treten als Verfolger auf den Plan. Schließlich entpuppt sich die immer beklemmendere Landschaft als – womöglich – surrealistische Traumaarchitektur und Metapher für eine verletztliche Identität.

Feministische Comics sind derzeit ziemlich gefragt, meist aber in Gestalt von Autobiografien oder Sachcomics. Tillie Walden, die offenbar jedes Genre mit feministischem Bauplan neu zusammenzusetzen versteht und in solch jungen Jahren ein Ouevre hervorgebracht hat, auf das andere Künstler als Lebenswerk stolz wären, ist ein, mit Verlaub, genialer Branchen-Solitär, der später mal, so die Welt durchhält, die Klassikerabteilung am Leben erhalten wird.

Dieser Beitrag erschien zuerst in: KONKRET 02/2020

Tillie Walden (Autorin und Zeichnerin): „West, West Texas“.
Aus dem Englischen von Barbara König. Reprodukt, Berlin 2019. 320 Seiten. 29 Euro

Alack Sinner

( , Regie: )

Erst hard boiled, dann Noir-Poesie
von Christoph Haas

Wer Schwarz-Weiß-Comics liebt, kommt nicht um Argentinien herum. Einer der wichtigsten Vertreter der Szene, die sich dort ab den Fünfzigern herausbildete, war der Szenarist Héctor Oesterheld, der 1978 im Auftrag …

Wer Schwarz-Weiß-Comics liebt, kommt nicht um Argentinien herum. Einer der wichtigsten Vertreter der Szene, die sich dort ab den Fünfzigern herausbildete, war der Szenarist Héctor Oesterheld, der 1978 im Auftrag der damals herrschenden Junta verschleppt und ermordet wurde.

Für den jungen Hugo Pratt, der aus Italien übergesiedelt war, schrieb er den Frühwestern „Ticonderoga“, für Francisco Solano López das düstere Science-Fiction-Epos „El Eternauta“ (beide 1957–1959). Auch der geniale, experimentierfreudige Zeichner Alberto Breccia war Argentinier; von ihm sind auf Deutsch „Eternauta 69“ und ein Band mit Lovecraft-Adaptionen aus den Siebzigern erhältlich.

Alle genannten Comics sind in den vergangenen Jahren beim Avant-Verlag erschienen, der nun ein weiteres, unentbehrliches Meisterstück argentinischer Provenienz präsentiert. „Alack Sinner“ ist allerdings im Exil entstanden, in Italien und Frankreich. Als Carlos Sampayo und José Muňoz 1975 mit der Serie begannen, war es ihnen unmöglich, in ihrer Heimat zu arbeiten.

Bis 2006 fügten sie neue Episoden hinzu, die stets zu ihrer Publikationszeit spielen und oft mit jeweils aktuellen politischen Ereignissen verknüpft sind: vom Vietnamkrieg über die Nicaragua-Politik der USA in den Achtzigern und den ersten Irakkrieg 1990 bis zu den 9/11-Anschlägen.

Seite aus „Alack Sinner“ (© Avant-Verlag)

Alack Sinner, der New Yorker Privatdetektiv, ist zunächst ein kräftiger Mann in den besten Jahren; später bekommt er einen Bauch, immer mehr Falten im Gesicht und eine Lesebrille; am Ende ist er Großvater. Anders als sonst in Serien steht die Zeit nicht still; sie vergeht wie im wirklichen Leben. Aber nicht nur Sinner verändert sich; mit ihm verändern sich im Laufe der Jahre seine Schöpfer, die immer selbstständiger und kühner agieren.

Die frühen, an amerikanischen Zeitungsstrips geschulten Zeichnungen von Muňoz sind noch recht akkurat-realistisch, während Sampayo versucht, in die großen Fußstapfen von Raymond Chandler und Ross Macdonald zu treten.

Das ist ordentlich gemacht, in jeglicher Hinsicht, aber noch etwas epigonal. In „Der Fall Webster“ wird der Chef einer Werbeagentur von Unbekannten bedroht; in „Fillmore“ liegt eine junge, reiche Erbin mit ihren Eltern im Clinch; in „Er, dessen Güte grenzenlos ist“ herrscht Unordnung in einer sehr frommen Pastorenfamilie. Das Schema ist klar: Sinner erhält einen Auftrag, der sich zum Mordfall auswächst und von ihm in bewährter Hard-Boiled-Manier geklärt wird.

Mit diesem routinierten Durchspielen von Genreregeln ist bald jedoch Schluss. Eine lange, ursprünglich 1984 veröffentlichte Geschichte trägt den signifikanten Titel „Begegnungen“. In ihr geht es um Leute, auf die Sinner trifft, teilweise auf einer Reise, und um Geschehnisse, in die er eher zufällig verwickelt wird. Vom Handelnden wird er zum Beobachter, zu einem, der sich treiben lässt. Anstelle der Spannungsdramaturgie tritt ein episodisches, elliptisches Erzählen, das alle Eindeutigkeiten verabschiedet.

Auch wenn Sampayo sich, wie später in „Nicaragua“ und „Der Fall USA“, dem Genre des Polit-Thrillers annähert, bleibt es bei dieser Gewichtung: Die eigentliche Kriminalhandlung bleibt bewusst bruchstückhaft; sie ist weniger bedeutend als die Schilderung der Figuren und der Welt, in der sie leben.

Schlüssig ist daher, dass Muňoz Sinner visuell gerne die hervorgehobene Position verweigert, die ihm als Hauptfigur eigentlich zukäme. Dies gilt sogar in dramatischen Momenten, etwa wenn Sinner mit seiner Schwester spricht, die Opfer einer Vergewaltigung geworden ist.

Seite aus „Alack Sinner“ (© Avant-Verlag)

Die Szene findet auf der Straße statt, aber in einem großformatigen Panel sind die Sprechenden nur im Hintergrund zu sehen, während Vorder- und Mittelgrund von sieben Passanten bevölkert sind, deren groteske Physiognomien zeigen, welches Vergnügen Muňoz an karikaturistisch zugespitzter Darstellung, speziell von Gesichtern, hat. Manchmal erlauben Denk- oder Sprechblasen auch einen ganz kurzen Einblick in das Innere solcher Statisten: Sinner ist in der großen Stadt letztlich bloß einer von Millionen; viele Schicksale weben neben dem seinen.

In der Farbgestaltung verzichtet Muňoz völlig auf Grautöne, setzt ganz auf den harten Kontrast von Schwarz und Weiß. Das ist nicht ungewöhnlich, wohl aber, wie viel Raum er dem Schwarz öfter gibt. So zeigt eine Doppelseite, wie Alack Sinner mit Enfer, seiner afroamerikanischen Freundin, schläft. Obwohl es in dem Zimmer höchstens halbdunkel ist, dominiert völlig das Schwarz; weiß sind nur die Körperkonturen und einige gezielt hervorgehobene Details.

Solche Bilder erinnern ein wenig an Fotonegative, haben aber nichts Geisterhaftes, sondern eine ganz eigene Film-Noir-Poesie. Muňoz kreiert einen barocken Minimalismus, in dem Reduktion und Verspieltheit keine Gegensätze bilden, sondern miteinander harmonieren.

Der 700 Seiten starke Band enthält alle Sinner-Geschichten. Bedauern muss man das im Vergleich zu den großzügig angelegten französischen Erstausgaben deutlich verkleinerte Format ebenso wie das Fehlen eines Vor- oder Nachwortes, das die Serie ästhetisch und historisch verortet. Aber das sind nur kleinere Mängel – die Freude darüber, dass dieser Meilenstein der Comic-Moderne zum ersten Mal komplett auf Deutsch vorliegt, können sie nicht mindern.

Diese Kritik erschien zuerst am 14.01.2020 in der taz.

Carlos Sampayo (Autor), José Muñoz (Zeichner): „Alack Sinner“.
Aus dem Spanischen von André Höchemer. Avant-Verlag, Berlin 2019. 704 Seiten. 49 Euro

Sabrina

( , Regie: )

Die große Leere
von Sven Jachmann

Am Comic, dem der Kulturbetrieb im Vergleich zu allen anderen Künsten allenfalls zögerlich Beachtung schenkt, lässt sich sehr schön studieren, dass Zuneigung und Ablehnung im öffentlichen Räsonieren immer dann eine …

Am Comic, dem der Kulturbetrieb im Vergleich zu allen anderen Künsten allenfalls zögerlich Beachtung schenkt, lässt sich sehr schön studieren, dass Zuneigung und Ablehnung im öffentlichen Räsonieren immer dann eine dialektische Verbindung eingehen, wenn die gewohnten Sezierinstrumente auf etwas Fremdes treffen. So war Nick Drnasos Graphic Novel „Sabrina“ 2018 als erster Comic überhaupt für den britischen Booker Prize nominiert. Den gab es dann zwar nicht, aber die Pressemeldung war omnipräsent. Weshalb eine solche Sensation erst 2018 erfolgte bzw. was bei der Vergabe der weit mehr als tausend Literaturpreise hierzulande möglicherweise schiefläuft, wurde in keinem der Beiträge erörtert.

„Sabrina“ ist auch der erste Comic, über den das Literarische Quartett diskutierte, das war auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Sibylle Berg zeigte sich ehrlich angetan, der Rest verlor sich im ratlosen Lobpreisen; Christine Westermann bilanzierte ihre zuvor geäußerte Begeisterung anschließend so: „Es ist meine erste Graphic Novel, ich fürchte, es wird meine letzte sein.“

Dem 1989 geborenen, in Chicago lebenden Comickünstler Nick Drnaso ist mit seinem zweiten Werk ein politisches Meisterstück gelungenen. Auf den ersten zwölf Seiten sehen wir Sabrina: wie die junge Frau sich mit ihrer Schwester im Haus der verreisten Eltern trifft und die Katze versorgt, wie die Schwestern Anekdoten austauschen, sich über Alltagsangelegenheiten ärgern – bis Sabrina sich schlafen legt. Als sie am nächsten Morgen das Haus durch den Vorgarten verlässt, ist das ihr letzter Auftritt. Sie wird bestialisch ermordet, und die folgenden 190 Seiten rekonstruieren nicht etwa die Tat, sondern das katastrophale mediale Echo darauf.

Sequenz aus „Sabrina“ (Blumenbar)

Die Perspektiven wechseln zwischen Sabrinas Schwester Sandra, die vom Medienrummel am meisten abbekommt, Sabrinas Lebensgefährten Teddy, der sich depressiv in der Wohnung von Calvin verschanzt, einem alten Freund aus Schultagen. Calvin kümmert sich eher hilflos um Teddy, quält sich seinerseits mit einem Job als militärischer Überwachungstechniker herum. Eigentlich will er seit der Scheidung zu Exfrau und Tochter nach Florida ziehen, ignoriert freilich, dass er dort gar nicht erwünscht ist, das Ende seiner Karriere würde es außerdem bedeuten.

Alle drei Figuren eint, dass sie ihre Trauer und Traumata allein bewältigen. Die Gespräche ähneln eher einem Ringen darum, mit letzter Not ein Ich zu behaupten, das sich im Dröhnen medialer Diskurse zusehends zerstäubt. Bei der Arbeit wirkt Calvin in sich zurückgezogen, zu Hause am Rechner führt er seine Arbeit gewissermaßen, über Kopfhörer mit den Kollegen verbunden, mit Ballerspielen fort. Sandra versucht ihren Schmerz auf der offenen Bühne einer Bar rauszulassen, indem sie über die Hassmails spricht, die sie seit dem Mord bekommt; sie erntet verschämte Blicke und fühlt sich danach noch isolierter als vorher. Teddy blendet seine Umwelt nahezu vollkommen aus, allein die Radiosendung eines Preppers und Verschwörungstheoretikers, der Sabrinas Tod für ein fingiertes Ablenkungsmanöver der Regierung hält, spendet ihm bizarren Trost: Dieser Version zufolge könnte sie schließlich noch am Leben sein.

Weil der Täter, ein 23jähriger Nachbar ihrer Eltern, ein Video von Sabrinas Ermordung ins Netz stellte und es danach an Zeitungen und Fernsehsender schickte, ist die öffentliche Aufmerksamkeit riesig. Schnell häufen sich in den „sozialen Medien“ Spekulationen über den Wahrheitsgehalt des Verbrechens; die Hinterbliebenen müssen doppelt leiden, seit ihnen statt Empathie virtueller Hass und Misstrauen entgegenschlagen.

Seite aus „Sabrina“ (Blumenbar)

Irgendwann wird einem klar, dass die gesamte Ästhetik des Comics darauf ausgerichtet ist, eine anomische Gesellschaft abzubilden, in welcher der soziale Notstand sozusagen unbemerkt den Alltag dirigiert. Die reduktionistische Graphik, dominiert von ausgeblichenem Grau, Braun und Beige, erinnert ein wenig an Chris Ware, stärker allerdings an den Ligne-claire-Stil: Hergés puristische visuelle Programmatik einer Abenteuererzählung. Indes wird sie hier auf eine deformierte Welt bezogen, in der das einzige Abenteuer, sofern man es so nennen will, darin besteht, das Elend irgendwie zu ertragen. Die repetitive Anordnung der kleinen Panels, die manchmal von halbseitigen Bildern unterbrochen werden, auf denen die gebrochenen Gesichter der Figuren im Profil zu sehen sind, kontrastiert diese erzählerische Ordnung mit der ins Chaos driftenden Vorstellung von Menschlichkeit. Hintergründe sind mit wenigen Strichen angedeutet, in den Häusern wie auf den Straßen herrscht Einsamkeit. Leere allerorten.

Im letzten Drittel erhält Calvin E- Mails mit Morddrohungen eines ano­nymen Verschwörungstheoretikers. Sind sie real oder die Zermürbungstaktik eines skrupellosen Kollegen, der es auf Calvins Beförderung abgesehen hat? Aufgelöst wird es nicht. Paranoia lässt sich nicht mit Logik oder Empirie exorzieren. Drnasos Medienkritik besteht nicht zuletzt darin, zu zeigen, wie leicht Paranoia aus einer vergifteten Gesellschaft erwächst, wenn Technik und Öffentlichkeitsmaschinen die Werkzeuge reichen, Wahrheit zur Verhandlungssache zu degradieren.

Dieser Text erschien zuerst am 19.12.2019 in: Junge Welt

Nick Drnaso (Autor und Zeichner): „Sabrina“.
Blumenbar, Berlin 2019. 208 Seiten. 26 Euro

Wir waren Charlie

( , Regie: )

Bis er die Tür erreicht
von Sven Jachmann

Am 7. Januar 2015 stürmten zwei Al-Qaida-Terroristen die geheimen Redaktionsräume des Satiremagazins Charlie Hebdo. Sie massakrierten den zufällig anwesenden Gast Michel Renaud, Franck Brinsolaro, den Leibwächter des Chefredakteurs, die beiden …

Am 7. Januar 2015 stürmten zwei Al-Qaida-Terroristen die geheimen Redaktionsräume des Satiremagazins Charlie Hebdo. Sie massakrierten den zufällig anwesenden Gast Michel Renaud, Franck Brinsolaro, den Leibwächter des Chefredakteurs, die beiden Kolumnisten Elsa Cayat und Bernard Maris, den Lektor Mustapha Ourrad, die vier Zeichner Cabu, Georges Wolinski, Philippe Honoré, Bernard Verlhac resp. Tignous sowie den Chefredakteur und Zeichner Stéphane Charbonnier alias Charb. Zuvor hatten die Attentäter den Hausmeister Frédéric Boisseau erschossen, bei ihrer Flucht wurde außerdem der Polizist Ahmed Merabet hingerichtet.

Wie viele Stimmen über das Ereignis seither aus dem medialen Apparat sprudeln, ist schwer zu sagen. Am wichtigsten und gleichermaßen verstörend sind die gezeichneten bzw. geschriebenen Dokumente der Überlebenden und Hinterbliebenen: Catherine Meurisses Traumaverarbeitung in der Graphic Novel „Die Leichtigkeit“; Maryse Wolinskis Erinnerungen an ihren Mann Georges Wolinski, „Schatz, ich geh zu Charlie!“; die Aufarbeitung „Der Fetzen“ des Journalisten Philippe Lançon, der den Anschlag mit zerstörtem Unterkiefer überlebte. Des weiteren Charbs zwei Tage vor seiner Ermordung beendeter Essay „Brief an die Heuchler“, eine wütende Streitschrift, die die diskursive Karriere des Islamophobie- zuungunsten des Rassismus-Begriffs nachzeichnet und sich nun wie ein posthumes Charlie Hebdo-Manifest zur Errettung der Meinungsfreiheit liest; und schließlich Luz‘ 2015 erschienener Comic „Katharsis“, in dem er das verzweifelte Weiterleben unter der Last der Erinnerungen schildert.

Luz (Rénald Luziers) rettete, dass er sich wegen seines Geburtstags zur Redaktionskonferenz verspätete. Von ihm stammt auch das „Alles ist vergeben“-Titelbild der ersten Ausgabe nach dem Attentat, heute vermutlich die berühmteste Karikatur in der Geschichte des Mediums. Im September 2015 trat er von seinem Posten als Interims-Chefredakteur zurück. Was das Blatt ihm und überhaupt für die gesamte politische Publizistik Frankreichs bedeutete, davon berichtet Luz in seiner soeben übersetzten, über 300 Seiten starken und in Frankreich bereits im Herbst 2018 veröffentlichten Graphic Novel „Wir waren Charlie“.

Seite aus „Wir waren Charlie“ (Reprodukt)

Es ist kein Blick zurück in Zorn, und die zu erwartende Trauer ist allenfalls Ausgangspunkt für Luz, seine ein knappes Vierteljahrhundert dauernde Arbeit in der Redaktion als ausgesprochen lustige Entwicklungs- und Episodengeschichte zu erzählen – die wohl letzte große Reportage eines Comicjournalisten, der sich heute nicht mehr anonym in der Öffentlichkeit bewegen, seine Arbeit nie wieder fortsetzen kann.

Alles beginnt mit einem Traum, zugleich eine tieftraurige Ouvertüre: Luz erklimmt – dargestellt mit weißen Konturen in schwarzer Negativ-Ästhetik, die Schabkarton-Zeichnungen ähnelt – mühsam eine Treppe, bis er eine Tür erreicht. Er tritt hindurch und auf der Folgeseite offenbart sich, nun im umgekehrten, strahlenden Schwarzweiß, das ehemals laute Redaktionsleben. Sämtliche „Charlies“ sitzen am Tisch, prüfen Texte, diskutieren Zeichnungen, allein Luz kann sich nicht artikulieren, seine Sprechblasen bleiben leer. Als die Gruppe zu einem Absacker aufbricht, blickt ihnen Luz, nun wieder im Negativ, durchs Fenster hinterher. Ein Albtraum, der in die farbige, vornehmlich blau aquarellierte Gegenwart überleitet, von der aus Luz für den Rest der Nacht mit viel Bier seine prägenden, dann wieder schwarzweißen Charlie-Erlebnisse abruft.

Man merkt rasch, dass es Luz darum geht, das Magazin von den Schmauchspuren der Geschichte nach 2015 zu befreien, den Nebel so weit zu lichten, bis wieder jenes Blatt erscheint, das noch nicht zu betrauern war. Das ist insofern politisch, als Luz‘ sukzessive Integration in die Redaktionsstruktur – angefangen hat er als staunendes 20jähriges Landei – mit der Berichterstattung über gesellschaftliche Ereignisse Frankreichs und im Rest der Welt verbunden war. Die bringt ihn als Comicreporter 1994 von den Banlieus bis ins kriegserschütterte Bosnien-Herzegowina während eines Waffenstillstands 1995, nicht selten gerät er dabei in gefährliche Situationen. Auf einer SM-Party 2014 oder beim Undercovereinsatz bei den Jung-Gaullisten während der Präsidentschaftswahl in Frankreich 1995 ist das Zeichnen weniger riskant: „Manchmal hat so eine Reportage fast nichts gekostet … Ein Fahrschein und schon begann das Abenteuer … Mit einem Metro-Ticket nahm man den Leser mit in unbekannte Gefilde.“

Natürlich ist das Buch auch ein Loblied auf das Handwerk des Zeichnens: Da ist der konzentrierte Cabu, die graue Eminenz, der fernsehbekannte Starzeichner, dem die Leute auf der Straße begeistert hinterherrufen – der Mentor, der Luz eher zufällig den Job verschafft und später einmal den konsternierten Kollegen mit rührender Bescheidenheit zeigt, wie man bei öffentlichen Veranstaltungen heimlich mit der Hand in der Jackentasche zeichnet. Da ist der immer eine Spur zu vulgäre und unnahbare Charb, dem sich Luz über die gemeinsame Liebe zu den „Simpsons“ nähert, und von dem sich lernen ließ, dass Dynamik mitunter die Gesetze der Proportionen eintütet.

Kurz vorm Zubettgehen sagt Luz: „Ich kenne keinen, der Regen so sehr mochte wie Cabu. Dabei ist das für einen Zeichner das schlimmste Wetter … Ja, genau darum geht’s, unter den unwahrscheinlichsten Bedingungen zeichnen zu können.“ Das ist der Geist Charlies, der auch diesen Comic beflügelt: nicht den Geschichtsbüchern zu überlassen, wie über Charlie Hebdo gedacht und gesprochen werden soll.

Dieser Text erschien zuerst am 16.10.2019 in: Junge Welt, Beilage Literatur zur Buchmesse Frankfurt am Main

Luz (Autor und Zeichner): „Wir waren Charlie“.
Aus dem Französischen von Vincent Julien Piot, Tobias Müller und Karola Bartsch. Reprodukt, Berlin 2019. 320 Seiten. 29 Euro

Krazy Kat

( , Regie: )

Aus dem Keller ins Feuilleton
von Sven Jachmann

George Herriman (1880-1944) war der erste und einzige Comickünstler, dem der US-Zeitungsmagnat William Randolph Hearst, es muss irgendwann zwischen 1910 und 1920 gewesen sein, eine Festanstellung auf Lebenszeit anbot. Zu …

George Herriman (1880-1944) war der erste und einzige Comickünstler, dem der US-Zeitungsmagnat William Randolph Hearst, es muss irgendwann zwischen 1910 und 1920 gewesen sein, eine Festanstellung auf Lebenszeit anbot. Zu einer Zeit, in der Comics im Trial-and-Error-Verfahren ihr Zeitungspublikum fanden und bei Misserfolg genauso schnell wieder verloren, kann dieses Refugium, das Hearst Herriman verschaffte, indem er ihn allen kommerziellen Drucks enthob, gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ob dieses Angebot den Comic-Zeichner vor rassistischen Maßnahmen schützen – Herriman war colored, was er zeitlebens zu verleugnen suchte, und Schwarze blieben von den Karrieren in Zeitungsredaktionen ausgeschlossen – oder schlichtweg die sorgenfreie Arbeit an dessen Werk sicherstellen sollte, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. An Herrimans Comicstrip “Krazy Kat” hatte Hearst jedenfalls einen Narren gefressen, und der eher wechselhafte Erfolg der Serie wird dafür nicht der Grund gewesen sein.

Krazy Kats erster Auftritt hätte leicht übersehen werden können. 1910 tauchte im Panelboden einer Episode von Herrimans Daily Strip “The Dingbat Family” eine klitzekleine Maus auf, die sich an eine etwas debil ins Leere starrende Katze heranschleicht, ihr einen Kieselstein an den Hinterkopf wirft und sie ratlos zurücklässt. Diese Erzählschema etablierte sich über die Jahre im Gegensatz zur “Family”, die ein Stockwerk höher lebte, sehr erfolgreich als Strip im Strip und kulminierte 1913 schließlich in einer eigenen Serie.

Die Vier-Bild-Geschichten dominierte zuerst der zeitgenössische Slapstick, aber das sollte sich spätestens ändern, als “Krazy Kat” 1916 zusätzlich als großformatige wöchentliche Sonntagsseite in den Hearst-Zeitungen erschien. Es scheint fast so, als hätte Herriman nur auf diesen Moment gewartet, um all dem poetischen Überschuss der Serie endlich auch formal freien Lauf zu lassen.

Die Grundkonstellation mit ihrer tragikomischen Dimension eines humanistischen Existentialismus bleibt erhalten: Der Mäuserich Ignatz Mouse, trotziger Vertreter eines Realitätsprinzips, an dem er dauernd scheitert, hasst die am ehesten als androgyn zu bezeichnende Katze Krazy Kat mit Inbrunst, weswegen er ihr bei jeder gebotenen Gelegenheit einen Ziegelstein an den Kopf schleudert. Die wiederum, eine in sämtlichen Belangen gutmütige Tagträumerin, legt diesen Gewaltakt stets als Liebesbeweis aus, bemerkt weder Schmerz noch Missachtung und frohlockt deshalb mit jedem Steinwurf umso mehr.

Seite aus „Krazy Kat“ (Taschen Verlag)

Die Riege der Hauptfiguren komplettiert Offissa Pupp, Polizist, Bulldogge und die vielleicht traurigste Gestalt im Duell der Obsessionen, ist er doch Krazy Kat verfallen. Als Pragmatiker hat Offissa Pupp allerdings verstanden, dass er, von Krazy links liegen gelassen, nichts weiter tun kann, als kompensatorisch mit jeder Faser seines Seins Schaden von Krazy abzuwenden. So knastet er Ignatz regelmäßig ein oder ahndet bereits den Ziegelsteinbesitz. Weder wird der Mäuserich jemals Erlösung finden noch Krazy Sehnsüchte entwickeln, die nicht fetischistisch besetzt sind. Puppi ist der einzige, der wenigstens sein eigenes auswegloses Dilemma begreift, zugleich aber beharrlich als Korrektiv einer Welt fungiert, die keinerlei Gesetzen gehorcht.

Denn das fiktive Coconino County, inspiriert von den Wüstengegen des Westens, einem realen Landstrich desselben Namens in Arizona und der Navajas-Kultur ist ein L’art pour l’art-Territorium, dessen Schönheit sich daraus speist, dass hier die Unordnung jede Gesetzmäßigkeit suspendiert hat: Hintergründe und Tageszeiten wechseln mit jedem Panel (!), alle Gegenstände, ob Banane oder Kokosnuss, können mitunter ein zuckersüßes Eigenleben führen, und was das Comic-Medium an erstem Regelwerk entwickelt hat, verkehrt sich flugs ins Gegenteil, wenn etwa die Figuren den Zeichner ansprechen und in sein Tintenfass zurückspringen oder die LeserInnen im Schlusspanel einer Sonntagsseite von einem Wegweiserschild erfahren, dass die vermeintlich assoziative Bildfolge eine ganz andere Geschichte erzählt, wenn man die Seite noch einmal rückwärts liest.

In der Zeitung führte “Krazy Kat” bis zu Herrimans Tod 1944 eine etwas paradoxe Doppelexistenz: Als schwarzweißer Tagesstrip sehr beliebt, als Experimentierfeld auf der Sonntagsseite von Publikum und Redakteuren verkannt, musste Hearst ein wenig tricksen: Bis 1935 wurde “Krazy Kat” sonntäglich als erster Comic überhaupt im Kulturteil untergebracht, erst danach erschien die Serie farbig im Comic-Supplement.

Es sind diese Farbseiten, die der Taschen Verlag für die fantastische, von Comic-Historiker Alexander Braun betreute Edition kompiliert hat. Man entdeckt ein Werk, dessen lyrisch-metaphysischer Eigensinn schon postmodern war, als für den Comic gerade die Moderne anbrach.

Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET 09/2019

Alexander Braun (Hrsg.): „George Herrimans ‚Krazy Kat‘. Die kompletten Sonntagsseiten in Farbe 1935–1944“.
Taschen Verlag, Köln 2019. 632 Seiten. 150 Euro

Hitler

( , Regie: )

Kein hoheitsvoller Diktatorenpomp
von Sven Jachmann

1970 erschien die Hitler-Biografie des Mangaka Shigeru Mizuki (1922-2015) zunächst als Vorabdruck in dem japanischen Magazin „Manga Sande“, dann 1971 als Buch. Hätte sie damals auch ein deutscher Verlag veröffentlicht, …

1970 erschien die Hitler-Biografie des Mangaka Shigeru Mizuki (1922-2015) zunächst als Vorabdruck in dem japanischen Magazin „Manga Sande“, dann 1971 als Buch. Hätte sie damals auch ein deutscher Verlag veröffentlicht, hätte das einen Skandal ausgelöst.

Nennenswerte Auftritte im Comic hatte Hitler zuvor einzig in den Vierzigern als variantenreicher Superhelden-Antagonist, doch war dies bloß die propagandistische Fortsetzung des Krieges auf der popkulturellen Bühne – in Deutschland erschien nichts davon. Die unvermeidliche Darf-ein-Comic-das-Frage richteten die hiesigen Medien erstmals 1989 ausgerechnet an Art Spiegelman, als der erste „Maus“-Band auf Deutsch erschienen ist. Im selben Jahr kamen Friedemann Bedürftig und Dieter Kalenbach mit ihrer zweibändigen „Hitler“-Comicbiografie, einer deutsche Eigenproduktion des Carlsen-Verlags, weitaus glimpflicher davon. Zwar nölte man im Feuilleton ob methodischer Mängel und comicimmanenter – es sind ja nur Bilder, da käst der Kopf – Komplexitätsreduktionen, die Fortschreibung der NS-Mythologie mittels abgezeichneter Propagandabilder aus den Archiven, in die ein fotorealistischer, in Gedankenblasen seine origin story protokollierender Hitler maximalcharismatisch plaziert ist, störte aber weniger. Ein Paradebeispiel unaufgeklärter Aufklärung – pathetische Hitler-Bildnisse, die posthum immerzu katzbuckelnd raunen: „Ja, mein Führer, selbstverständlich, mein Führer.“

Mizukis Comic-Führer mit seinem fast immerzu narzisstisch von sich selbst berauschten LSD-Blick würde niemals ins Fahrwasser solch hoheitsvollen Diktatorenpomps geraten. Seine minimalistische, karikaturesk stilisierte Gröfaz-Variation bewegt sich zwar ebenfalls vor detailliert erfassten, zugleich grob gerasterten Hintergründen und Kulissen – ein Markenzeichen Mizukis -, läuft aber keineswegs Gefahr, aus Naivität die Bildpolitik des NS-Regimes ins Heute zu verlängern. Der Kontrast zwischen Hitlers durchaus bizarr verfremdetem Konterfei und den monströsen Taten der Deutschen ist der entmystifizierende Hebel, mit dem Mizuki seinen Zugriff auf Geschichte ans Comicmedium selbst koppelt – mit der Folge, dass wir nie versucht sind, der Illusion einer finalen Biografie zu erliegen.

In Kalenbachs und Bedürftigs Wahl der Mittel ist es unumgänglich, dass wir ganz und gar zu Hitler werden (im deutschen Comic hatte der „Untergang“ also schon 15 Jahre früher seinen Einsatz). Mizukis Hitler dagegen lockt nicht, „denkt“ nicht, er spricht, und die 17 Kapitel bewahren eine dokumentarische Beobachterposition – aber nie ganz und gar: Wenn der Autor Hitler als einzige Figur mit comichaften Zügen im Kreise der realistisch gezeichneten Parteigenossen und Sympathisanten plaziert und durch diese gegensätzlichen Stile also ohne Unterlass akzentuiert, dann, um ihn auf Distanz zu halten. Die Empathie bleibt chancenlos, die Hand des Zeichners allgegenwärtig, das strukturiert die Wahrnehmung.

Seite aus „Hitler“ (Reprodukt)

Die Opfer indes sind bloß zu Beginn und am Ende auf wenigen Seiten zu sehen, es sind Bilder von KZ-Häftlingen, Leichenbergen und versteckten Resistance-Kämpfern, die in Paris die Gestapo jagt; diese Bilder sind die erzählerische Klammer, die unmittelbare Erinnerung daran, wohin der Weg jener Comicfigur, die uns auf dem ersten Bild hasserfüllt in der Hitlergrußpose anblickt, geführt hat. Der Plot verlässt nie die Perspektive des innersten Täterkreises und zeichnet Hitlers Weg vom Maler-Loser aus Wien bis zum Bunkersuizid nach.

Der Antisemitismus taucht als konstantes Element in Adolfs psychotischen Wutausbrüchen auf, allerdings nicht als ideologischer Kitt, der die Deutschen nicht nur bis zur Shoah verband. Man sollte nicht vergessen: Muzaki war als Laie auf dem Forschungsstand der Siebziger (welche Irrtümer und Fehler ihm unterliefen, zeichnet Jens Balzer im Vorwort kundig nach), noch dazu in einem Täterland, in dem die „Vergangenheitsbewältigung“ ähnlich wie in Deutschland ablief: Schuldabwehr, Geschichtsrevisionismus und Täter/Opfer-Relativierungen bildeten auch in Japan bis weit in die Siebziger den Kern der Debatten. Ohnehin liegt Mizukis Fokus weniger auf einer blanken ideengeschichtlichen Rekonstruktion der Entwicklungen denn in der Absicht, nachfolgenden Generationen eine Flaschenpost zu hinterlassen. Trotzdem ist die wutschnaubend ausgearbeitete Rolle des willfährigen, finanziell potenten Bürgertums und der politischen Elite bei der Unterstützung Hitlers und der NSDAP eine lesenswerte Erinnerungsstütze, auch mit Blick auf die alltäglichen Kotaus, die beim gegenwärtigen Rechtsruck zu beobachten sind.

Mizukis Plan ist also aufgegangen. Sein lebenslanger pazifistischer Eifer rührt aus eigenen traumatischen Kriegserlebnissen: 1943, mit 21 Jahren, wurde er zur Armee einberufen. Während der Stationierung auf Neubritannien verlor der Linkshänder 1945 bei einem Luftangriff seinen linken Arm, nur deshalb ist er der einzige Überlebende aus seiner Truppe. „Mein Schicksal wäre ein anderes gewesen. Mein Leben wäre nicht im Krieg ruiniert worden, und ohne Hitler hätte ich immer noch meinen linken Arm. Wie also könnte ich nicht an ihm interessiert sein, und an der Frage, was für ein Mensch er wirklich war?“

Die fürchterlichen Erlebnisse in der kaiserlichen Armee schildert Mizuki in seinem weiteren berühmten Werk, das gleichzeitig mit „Hitler“ unter dem Titel „Auf in den Heldentod!“ bei Reprodukt in deutscher Übersetzung erschienen ist. Rund 50 Jahre später, aber immer noch zur rechten Zeit. Dass mit diesen ersten Veröffentlichungen eines immensen Werks außerdem endlich ein japanischer Künstler zu entdecken ist, der dort so renommiert und populär ist wie in Europa höchstens René Goscinny, darf man ruhig als Bonus-Geschichtslektion verstehen.

Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET 06/2019

Shigeru Mizuki (Autor und Zeichner): „Hitler“.
Aus dem Japanischen von Jens Ossa. Reprodukt, Berlin 2019. 288 Seiten. 18 Euro

Shigeru Mizuki (Autor und Zeichner): „Auf in den Heldentod!“.
Aus dem Japanischen von Jens Ossa. Reprodukt, Berlin 2019. 384 Seiten. 20 Euro

Gerahmter Diskurs. Gesellschaftsbilder im Independent-Comic

( , Regie: )

Wiederholen und Werden
von Sven Jachmann

Obwohl sich der deutschsprachige Comicmarkt in puncto Vielfalt seit einigen Jahren zu neuen Höhen aufschwingt, gilt das für Publikationen einer begleitenden Comictheorie nur bedingt. Der jährliche Ausstoß an Readern, Monografien, …

Obwohl sich der deutschsprachige Comicmarkt in puncto Vielfalt seit einigen Jahren zu neuen Höhen aufschwingt, gilt das für Publikationen einer begleitenden Comictheorie nur bedingt. Der jährliche Ausstoß an Readern, Monografien, historischen Grundlagenwerken und analytischen Einführungen geht über den zweistelligen Bereich nicht hinaus. Jonas Engelmann, Literaturwissenschaftler, Kulturjournalist und Mitinhaber des Ventil Verlags, hat nun seine Dissertation über „Gesellschaftsbilder im Independent-Comic“ veröffentlicht, und – Achtung: kontrafaktische Spielerei! – selbst wenn die deutschsprachige Comicforschung so viele Adepten hervorbringen würde wie die Wirtschaftswissenschaften Kapitalismusapologeten, zählte Engelmanns Arbeit zum mit Abstand Besten, was Comictheorie zu leisten imstande ist.

Engelmanns wichtigster Stichwortgeber ist Ole Frahm. Dessen 2010 erschienenes Buch „Die Sprache der Comics“ (Philo Fine Arts) ist ebenfalls ein comictheoretischer Glücksfall. Beide Autoren sind sich einig in der Annahme, die Ankunft des Comics im Kulturbetrieb sei ein eher zweifelhafter Segen, weil die Adaption bürgerlicher Kunstbegriffe zur Beschreibung und Definition des Mediums seine strukturellen Eigenarten grundlegend verkenne. Die Forschung werde dominiert von einem teleologischen Geschichtsverständnis sowie einer Fixierung auf formale Erzählmethoden. Man stelle sich einmal vor, die kritische Analyse eines Films würde aus der Identifizierung des Einsatzes von Zooms und Reißschwenks und ihrer narrativen Verbindung bestehen – absurd.

Was bei bürgerlichen Kunstkategorien wie Avantgarde, Werk, Identität oder Original auf der Strecke bleibe, sei die „parodistische Ästhetik“ des Comics, die für Frahm wie Engelmann sein „Wesen“ auszeichnet. Weil der Comic prinzipiell mittels Unabgeschlossenheit und Wiederholung operiert – aufgrund seiner massenmedialen Herkunft, der Kluft zwischen den Zeichenebenen Bild und Text, der mit Bedeutung zu füllenden Lücke zwischen den Panels, den handlungsleitenden Figuren, die von Bild zu Bild stets nur die gleichen, niemals dieselben sind, der strukturellen Wiederholung im inhaltlichen Kontext der Panels, der Seite und des gesamten Albums etc. -, lasse er „die Sehnsucht nach Identität, einem Original oder der Wahrheit ins Leere laufen.“ „Comics sind (…) Parodien der Vorstellung eines Originals, in denen die Konstruiertheit sinnhafter Ordnungen sichtbar wird.“ Die Folge: „Eine spezifische Selbstreflexivität, in der Kämpfe um Deutungsmacht und Wahrheit ausgetragen werden.“ Ich möchte glatt behaupten, dass man mit solcherart politischer Relektüre von Comicästhetik und –geschichte am Tisch deutschsprachiger Comicforschung schnell ziemlich einsam dasitzt.

Penibel arbeitet sich Engelmann durch die Rezeptions- und Definitionsgeschichte des Comics und bietet zugleich eine ideale Einführung, die nicht mit Überraschungen geizt: Wer hätte hinter dem allseits als Comicfresser verschrieenen Psychiater und jüdischen Münchener Immigranten Fredric Wertham einen Vertreter der Kritischen Theorie erwartet, dessen bis heute als Zensurtraktat missverstandene Untersuchung „Seduction of the Innocent“ von 1954 weniger die Rettung des Abendlandes vor dem Comicschund, als die sich im Comic spiegelnden Deformationen von Gesellschaftsbildern im Blick hatte? Seine theoretischen Grundlagen und analytischen Zentralbegriffe „Wiederholung“ und „Werden“ entwickelt Engelmann zunächst exemplarisch anhand von Art Spiegelmans „In the Shadow of No Tower“, einer Erzählung über 9/11. Engelmanns Thesen lauten: Weil der Comic Wirklichkeit nur verfremdet darstellen kann, muss er Objektivität gar nicht erst beanspruchen, sondern kann sich gleich die Frage stellen, woher seine Bilder zur Darstellung der Wirklichkeit kommen, sowohl werk- und mediumsimmanent als auch diskursiv. Und: In den leeren Flächen, Panelzwischenräumen und seriellen Darstellungen verbirgt sich das politische Potential der Comics. Die Konstellation der Figuren und Zeichen zueinander materialisiert sich mit jedem Bild neu – Ausgangslage, um über das Verhältnis von Subjekt, Identität und Geschichte nachzudenken. Entsprechend ist das Weiß des Zwischenraums ein Ort, „der keine letztgültige Wahrheit für sich beanspruchen kann, sondern über ‚Wahrheit‘, ‚Geschichte‘ und ‚Stereotype‘ reflektiert.“ Auch wenn diese selbstreflexive Struktur Universalität beansprucht, sie kommt erst, räumt Engelmann ein, im Independent-Comic zum Einsatz.

Die Beweisführung gliedert sich in drei Themenblöcke: Rassismus, Krankheit (unterteilt in AIDS und Epilepsie) und Religion, eingeleitet vom kulturgeschichtlichen und historisch-soziopolitischen Forschungsstand. Die analysierten Comics dürften größtenteils als kanonisiert gelten: Hergés „Tim und Struppi“-Album „Tim im Kongo“ und die subversive Aneignung dieses Klassikers durch die französische OuBaPo-Gruppe und einige Künstler der südafrikanischen Comiczeitschrift „Bitterkomix“; Charles Burns‘ AIDS-Parabel und 50er Horrorcomic-Transformation „Black Hole“; Frederik Peeters‘ autobiografische Perspektive auf AIDS als Metapher, „Blaue Pillen“; David B.s Comic über Epilepsie als familiäre Krisenerzählung, „Die heilige Krankheit“; Julie Doucets formales Spiel mit der eigenen Epilepsie im „New Yorker Tagebuch“; außerdem Marjane Satrapis „Persepolis“, ihre oft als Autobiografie fehlgedeutete Geschichte über die wechselseitigen Projektionen auf den Iran und den Westen, sowie Joann Sfars „Klezmer“, eine Dekonstruktion antisemitischer Stereotypen.

Statt eines Fazits ein Appell: Sollte Ihr innerer Deutschlehrer ob einiger weniger Grammatikfehler oder der in wissenschaftliche Arbeiten leider unvermeidlichen Wiederholungen insbesondere den Rotstift sehen, anstatt sich von klugen Argumenten überzeugen zu lassen, suchen Sie sich im Netz eine Kommentarfunktion Ihrer Wahl. Die Verbliebenen belohnen sich mit einem neuen Standardwerk der Comictheorie.

Dieser Text erschien zuerst 2013 in: PONY Magazin #86

Jonas Engelmann: „Gerahmter Diskurs. Gesellschaftsbilder im Independent-Comic“.
Ventil Verlag. Mainz 2013. 336 Seiten. 24,90 Euro

Little Nemo

( , Regie: )

Ein Meisterwerk
von Sven Jachmann

Der Comic sei endlich erwachsen geworden, raunt es seit Jahren regelmäßig in der Tagespresse. Blicken wir mal zurück ins Jahr 1908 gen Sheepshead Bay im Süden von Brooklyn. Der Comic …

Der Comic sei endlich erwachsen geworden, raunt es seit Jahren regelmäßig in der Tagespresse. Blicken wir mal zurück ins Jahr 1908 gen Sheepshead Bay im Süden von Brooklyn. Der Comic hing nach Presselogik noch nicht einmal am Schnuller, als sich der geniale Zeichner Winsor McCay, vermutlich 1869 geboren, auf seinem kreativen Höhepunkt befand. Seine zwei Serien „Dream of the Rarebit Fiend“ und „Little Nemo in Slumberland“ lassen so manchen aktuellen Graphic-Novel-Produzenten vor Neid erblassen. „Rarebit Fiend“ erschien schwarzweiß, mal halb-, mal ganzseitig in James Gordon Bennetts Zeitung New York Evening Telegram, „Little Nemo“ vierfarbig und ganzseitig in der Regel als Sonntag Supplement im ebenfalls von Bennett herausgegebenen New York Herald. „Rarebit Fiend“ startete 1904, „Little Nemo“ ein Jahr darauf, der Autor produzierte sie fortan parallel.

Für sein monatliches Arbeitspensum, Lizenzverkäufe eingeschlossen, konnte McCay rund 4000 Dollar einstreichen. Zum Vergleich: Das Proletariat musste damals versuchen, mit durchschnittlich neun Dollar die Woche zu überleben. Und auch der Kontostand der meisten weltweiten Comic-Künstler/innen heute kann da nicht mithalten. Das enorme Honorar war zu jener Zeit durchaus üblich. Die Comiczeichner galten als Aushängeschilder der Gazetten und profitierten enorm von den gegenseitigen Abwerbungsversuchen der Zeitungsverleger. Die Werke waren für Immigranten die einzige Möglichkeit, bezahlbares Amüsement zu erhalten. (1911 sollte McCay dann auch dem Angebot William Randolph Hearsts folgen und mit „Little Nemo“ zum Krawallblatt New York American wechseln, das er 1924 zugunsten des Herald Tribune wieder verließ.)

Kurzum: Obwohl das Medium kaum mehr als zehn Jahre alt war, genossen Comiczeichner bereits Starstatus. Aber wenn deutsche Journalisten Comics heute das Recht zur Führerscheinprüfung einräumen, denken sie nicht an Popularität, sondern ominös an Kunstfertigkeit, Komplexität und alles, was als Herrschaftswissen früher den Kunstdisziplinen vorbehalten sein sollte.

Im Taschen Verlag erschien bereits Ende 2014, herausgegeben vom Kunsthistoriker, Zeitungscomicexperten und –sammler Alexander Braun, eine Gesamtausgabe sämtlicher „Little Nemo“-Episoden, ergänzt um einen fast 140seitigen Text zu McCays Leben und Werk, von dem „Little Nemo“ nur einen Bruchteil ausmacht. Ein monolithisches Dokument und bester Anlass für weitere Kreationen der journalistischen Phrasenschmiede. Diese brillante Edition ist bereits vergriffen, darum folgte 2017 eine zweibändige Neuausgabe im kleineren Format und zum günstigeren Preis.

Für drei Cent bekamen die Leser/innen des New York Herald in „Rarebit Fiend“ groteske Szenarien geboten, die sich in der Schlusspointe stets als Alptraum wechselnder Figuren entpuppen, hervorgerufen durch den Verzehr von Käsetoast. Und diese Horrorphantasien haben es in sich; McCay selbst bezeichnete die Serie als „an adult entertainment“: Ein Mann liegt bei vollem Bewusstsein mit geschlossenen Augen und geöffnetem Mund im Bett, er kann sich nicht bewegen und deswegen auch nichts gegen die immer größere Schar Kleintiere unternehmen, die sein Gesicht als Nistplatz nutzen und schließlich bis zur Unkenntlichkeit zersetzen. In einer weiteren Episode transformiert sich der Hut einer Dame, den sie zum Ostersonntag ausführt, zu einem riesigen Vogel, der sie an den Haaren greift und mit ihr abhebt, an ihren Füßen zerrt der zappelnde Ehemann, bis Haar und Kopfhaut abreißen und das Paar zu Boden stürzt. Oder: Ein scheintoter Patient muss regungslos aus der Froschperspektive den gesamten Weg von der Todesdiagnose bis zu seinem Begräbnis mit ansehen.

Seite aus „Little Nemo“ (Taschen Verlag)

Das Erwachen in „Rarebit Fiend“ ist also eine Erlösung, in „Little Nemo“ hingegen ist es ein Spiel mit der Serialität: Die Erzählwelt ist hier nicht abgeschlossen, sondern setzt sich mit jeder Episode fort, unterbrochen vom letzten Panel, in dem Nemo in seinem Bett aufwacht. Die Handlung ist eine Reise durch das Traumreich Schlummerland. Dorthin wird Nemo von König Morpheus gelockt, der ihn zum Spielgefährten seiner Tochter auserkoren hat. Obgleich Flip, der Widersacher des Königs, diese Begegnung regelmäßig vereitelt (er muss Nemo bloß erschrecken, damit der wieder aufwacht), trifft Nemo im März 1906 doch noch auf die Prinzessin, macht sich aber schon bald eigenmächtig und mit weiteren Figuren auf zur Erkundung des Königreichs.

Vom skizzierten Strich in „Rarebit Fiend“ wechselt McCay in „Little Nemo“ zum ornamentalen Farbenspiel, entwickelt pompöse Architekturen, experimentiert mit dem Seitenaufbau und definiert im Prinzip bereits die gesamten Stilmittel des Comics. Das geht so weit, dass er sogar Selbstreferenzialität als Spiel mit Illusionsmechanismen in einem Medium einsetzt, das seine eigene Geschichte erst zu schreiben beginnt: In der Episode vom 1. Dezember 1907 beispielsweise befinden sich Nemo und seine Begleiter vor einer geschlossenen Banketthalle. Hungrig und erzürnt darüber, dass ihr Zeichner schlecht für sie sorge, zweckentfremden sie die Panelränder als Werkzeuge, traktieren damit die Lettern des Titelschriftzugs „Little Nemo in Slumberland“ und lassen sich die Buchstaben schmecken. Kurz darauf reüssierte „Little Nemo“ bereits als bislang teuerstes Musical am Broadway. Solche Formen der Cross Promotion sind heute, Kinofilm zum Comic, allgegenwärtig. McCay hat 1911 mit „Little Nemo“ überdies den ersten Animationsfilm entwickelt.

Dabei hielt der Künstler auch mit Kapitalismuskritik nicht hinterm Berg: 1910 fliegt Nemo mit einem Luftschiff zum Mars und, ohne es zu ahnen, ins Herz des Terrors der Ökonomie. Verkaufs- und Werbeschilder zeugen schon aus der Ferne vom Privatbesitz des Mr. Gosh, der den überbevölkerten Planeten mit einer simplen Doktrin regiert: Alles hat seinen Preis, selbst die Luft, das Sonnenlicht und die Wörter: „Die Reichen können reden, die Armen müssen schweigen.“

Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET

Alexander Braun (Hg.): Winsor McCays Little Nemo – Gesamtausgabe. Zwei Bände.
Taschen Verlag, Köln 2017. 368/344 Seiten. Je 60 Euro

Jenseits

( , Regie: )

Dort draußen lauern Gefahren
von Sven Jachmann

Märchen sind das Grauen. Nicht nur, weil sie mittels unsittlicher Methoden, der Bestrafung, zum sittsamen Verhalten erziehen wollen, sondern auch, weil sie durch die Kraft der Fantasie ein erstes Gespür …

Märchen sind das Grauen. Nicht nur, weil sie mittels unsittlicher Methoden, der Bestrafung, zum sittsamen Verhalten erziehen wollen, sondern auch, weil sie durch die Kraft der Fantasie ein erstes Gespür dafür bereiten, dass die Welt dort draußen mit so mancher Gefahr aufwarten kann. Deswegen besteht das Figurenarsenal des Märchens aus Archetypen, deren Eigenschaften zugleich von konservativen Geistern zu zivilisatorischen Standards erhoben werden, im Guten wie im Schlechten: die bösartige Prinzessin als Zeichen ungehemmter Machtlust, die tugendhafte Magd als Zeichen moralischer Integrität, das rastlose Kind als Zeichen ungebremster Entdeckerfreude, dem indes noch die Genügsamkeit der Erwachsenen gelehrt werden muss.

Was aber passiert, wenn diese Archetypen ohne ihre erzählerische Funktion, außerhalb der Grenzen des Märchenbuchs und der Fantasie der Leser, die sie eigentlich leiten sollen, einer ihnen fremden Welt ausgesetzt sind? Dann sind wir im Comic „Jenseits“ von Kerascoet (das Pseudonym des Zeichnerduos Marie Pommepuy und Sébastien Cosset) und Fabien Vehlmann angekommen.

Dort beginnt alles ganz harmlos beim verspielten Kaffeekränzchen. In niedlichsten Aquarellbildern spricht ein schüchternes Pärchen vom vergangenen Kostümball und kämpft sich zaghaft zum ersten Kuss vor, als plötzlich und unerklärlich monströse Tropfen von der Decke fallen und die Bilder wie auch die Figuren in einem düsteren Lila zu ersticken drohen. Die orientierungslose Flucht durch die überschwemmten Gänge nach draußen gelingt – und endet vor der Leiche eines jungen Mädchens, dessen Körper nun buchstäblich von den Gestalten und Fabelwesen ihrer Erinnerung verlassen wird. Wie aus einem unbrauchbar gewordenen Wirt strömen sie Parasiten gleich aus den Öffnungen des Leichnams und versuchen sich fortan in der neuen Umgebung einzurichten.

Seite aus „Jenseits“ (Reprodukt)

Erst hier beginnt die tatsächliche Drastik, die aus dem funktionslos gewordenen Zustand der archetypischen und kindlichen Identitäten erfolgt. Sie können sie nämlich nicht ablegen und gehen nun an ihrer eigenen oder der von ihnen unverstandenen Natur um sie herum zugrunde: Eine Prinzessin hat zu herrschen und kann deswegen das einäugige Mädchen lebendig begraben lassen, weil sie ein Monster ist; ein jungenhafter Abenteurer sucht die Gefahr und muss elendig verrecken, wenn sie sich als hünenhafte Wespe erweist; und der arglose Versuch einer Ballerina, es den Drosselküken gleich zu tun und sich von deren Mutter mit Insekten füttern zu lassen, endet mit geplatztem Kiefer. Adäquat zu den sich steigernden Exzessen verwest die Leiche des Mädchens im Hintergrund.

Mehr noch als eine augenscheinlich groteske „Herr der Fliegen“-Variation ist die Erzählung eine Form des zu Ende gedachten Märchens, dessen Akteure im Prinzip hier nur das schrankenlos ausleben, wofür sie geschaffen wurden, und dies mit jenem kindlichen Eifer und jener Naivität betreiben, die sonst ihren Rezipienten zu eigen sind. Das Ganze liest sich wie die Rache der schwarzen Pädagogik der Märchen. Die Figuren verstehen nichts von Gefahr, und so führen ihre Expeditionen zwar in den Tod, aber der wiederum ruft keine Läuterung hervor. Das macht die zuckersüßen Bilder, die gleichermaßen als Kinderbuchillustrationen funktionieren könnten, auf eine so schaurige Weise doppeldeutig: Wer bestraft hier wen? Der Mythos vom unschuldigen Kindsein das verkommene Weltbild der moralisch degenerierten Märchen oder umgekehrt? Rätselhaftigkeit ist nicht der schlechteste Indikator für exzellente Kunstwerke.

Dieser Text erschien zuerst am 09.01.2010 in der taz.

Fabien Vehlmann, Kerascoët: „Jenseits“.
Aus dem Französischen von Kai Wilksen.
Reprodukt, Berlin 2016. 96 Seiten, 20 Euro

Die Sprache des Comics

( , Regie: )

Das Funktionieren des Wahns
von Christoph Haas

Die Sprache des Comics – das meint in diesem Buch nicht etwa das, was in den Sprechblasen steht. Ole Frahm geht es vielmehr darum zu begreifen, was dem allzu lange …

Die Sprache des Comics – das meint in diesem Buch nicht etwa das, was in den Sprechblasen steht. Ole Frahm geht es vielmehr darum zu begreifen, was dem allzu lange als trivial verschrienen Medium spezifisch ist und was es in ästhetischer Hinsicht Besonderes zu leisten vermag. „Comics lachen über sich selbst und alles Hohe“, erklärt der Autor eingangs und zieht daraus den programmatischen Schluss: „Sie sind eine Parodie auf die Referenzialität der Zeichen.“ Die für den Comic typische Verschränkung von Bild und Schrift führt aufgrund deren „heterogener Materialität“ zu einer Selbstreferenzialität, zu „gegenseitigen Wiederholungen ohne Original“, die den „Anspruch auf eine Wahrheit außerhalb der Zeichen“ negieren.

Die Parodie ist in dieser Perspektive kein Sonderfall des Comics, sondern dessen wesentliches Strukturmerkmal, das sich bereits früh erkennen lässt. So deutet Frahm etwa die Wimmelbilder von Richard F. Outcaults „Yellow Kid“, der ab 1895 erschien, als Anlässe für einen lustvollen visuellen Kontrollverlust: Der „umherirrende Blick der Leser muss die durch nichts zu vereinheitlichende Heterogenität der Zeichen ohne Herkunft, flanierend zwischen Sehen und Lesen, genießen lernen“.

In George Herrimans surrealer Funny Animal-Serie „Krazy Kat“, die 1913 debütierte, entdeckt Frahm nicht nur kuriose Gender-Verdrehungen, sondern auch „eine implizite Kritik am Umgang mit Helden- und Schreckensbildern“, die der Erste Weltkrieg hervorbrachte. Wie sehr die katastrophale Geschichte des 20. Jahrhunderts sich in den Comics niedergeschlagen hat oder von ihnen bewusst reflektiert worden ist, macht Frahm immer wieder deutlich: sei es in den schlichten Abenteuern von Hans-Rudi Wäschers „Nick, der Weltraumfahrer“, sei es in den grotesken Science-Fiction- und Horrorstorys aus dem Hause EC oder in Jacques Tardis Erzählungen aus dem Grabenkrieg.

Ein Glanzstück des Bandes ist die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus im Werk Hergés – sonst kein Thema für die Comic-Community. In seiner brillanten Analyse von „Im Reiche des schwarzen Goldes“ und „Der geheimnisvolle Stern“ gelingt es Frahm, den Schöpfer von „Tim und Struppi“ weitgehend zu exkulpieren: Die „antisemitische Projektion“ bestätigt sich in den Alben nur scheinbar, in Wahrheit wird mit satirisch-fantastischen Mitteln „das Funktionieren dieses Wahns“ ausgestellt.

Die Ambition des Autors, die im kleinen Feld der deutschen Comic-Forschung nahezu einzigartig ist, bildet sich auch in seiner Schreibweise ab. In ihrer hohen Verdichtung, der Redundanz fremd ist, in ihrem Anspruch, sowohl pointiert-essayistisch wie theoretisch fundiert und präzise zu argumentieren, ist sie dem Vorbild Adornos und Walter Benjamins verpflichtet. Das schließt eine Neigung zum Kryptischen und Verstiegenen ein, ist aber allemal angenehmer als die sonst doch so häufig anzutreffende, lahme Wissenschaftsprosa. Nur ein Vorwurf ist diesem auch hübsch gestalteten Buch zu machen: Die Abbildungen sind so winzig, dass man öfters die Lupe zur Hand nehmen muss, um Ausführungen zu Details nachvollziehen zu können.

Diese Kritik erschien zuerst am 09.08.2010 in der taz.

Ole Frahm: „Die Sprache des Comics“.
philo fine arts, Hamburg 2010. 380 Seiten. 22 Euro

Vakuum

( , Regie: )

Unbemerkte Apokalypse
von Sven Jachmann

Im pessimistischen Strang der Coming of Age-Erzählungen ist Glück ein Versprechen, das sich erst weit hinter den Grenzen der Vorstädte einlösen lässt. Die mentale Stagnation, die die Einwohner Suburbias in …

Im pessimistischen Strang der Coming of Age-Erzählungen ist Glück ein Versprechen, das sich erst weit hinter den Grenzen der Vorstädte einlösen lässt. Die mentale Stagnation, die die Einwohner Suburbias in ihren aufgeräumten Häusern zum stillen Leiden verdonnert, korrespondiert meist umso beharrlicher mit gewaltigen Fluchtplänen: in die Großstadt, wo möglicherweise doch noch brauchbarere Lebensmodelle pulsieren. In der Regel ist jedoch allein diese Sehnsucht bereits die größte Bewegung, zu der die Figuren imstande sind.

Auch dem namenlosen jugendlichen Pärchen, das sich im formidablen Comicdebüt „Vakuum“ des Hamburger Zeichners und Illustrations-Absolventen der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Lukas Jüliger in einem namenlosen amerikanischen Städtchen gegenseitig findet, bleibt nicht viel mehr als die Illusion, an diesen Ort nur noch für kurze Zeit gefesselt zu sein. Die haben sie auch bitter nötig: Innerhalb der erzählten Spätsommerwoche entfesselt Jüliger ein ganzes Arsenal devianter Erscheinungsformen, die sich zweifellos als Abbild der passiven Aggression der Erwachsenen artikulieren. Wo einerseits ein Familienfreund beim Spieleabend lüstern und unter verschämter Duldung aller anderen der Tochter des Gastgebers hinterherglotzt, da vergewaltigt andererseits ein introvertierter Junge während des privaten Nachhilfeunterrichts die Schulschönheit, bevor er sich mit einer Tablettenüberdosis umbringt. „Weil er lieber noch etwas Schönes erleben und allein sterben wollte, anstatt auf die Apokalypse zu warten“, wird später die kryptische Erklärung seines Bruders lauten.

Die Apokalypse ist längst eingetreten, nur hat sie hier niemand bemerkt. Die Schüler verabreden sich nachts, um heimlich Bilder von der Leiche des Selbstmörders in der Kühlzelle zu machen. Es geht weder um Abschied noch Nervenkitzel, eher um die Bestätigung, dass selbst der Tod dem Leben keine sensationellen Aspekte hinzuzufügen weiß. Am traurigsten ist die stoische Teilnahmslosigkeit, mit der alle das Geschehen hinnehmen. „Vakuum“ ist eine Sammlung ausdrucksloser Mienen, die von langen schmalen Körpern mit nadeldünnen Armen und Beinen durch eine von allen Primärfarben bereinigten, ausgewaschenen Welt navigiert werden und weil keine Speedlines und Geschwindigkeit suggerierende Schnitttechniken die Figuren stützen, wirkt auch jedwede Bewegung eigentümlich eingefroren.

Das junge Paar (von den beiden nimmt er als gleichzeitiger Ich-Erzähler eine prononciertere Rolle ein) bewegt sich auf die alterstypischen biografischen Bruchstellen zu und weil sie wissen, dass das nichts Gutes verheißt, verwässern sie die Gewissheit mit Alkohol und Drogen. Zu ihnen gehört auch irgendwie Sho, einst der einzige Freund des Jungen, den allerdings ein gemeinsames Drogenexperiment der beiden in ein bizarres Phlegma geführt hat. Seither radiert Sho mithilfe grotesker Rituale erst all seinen materiellen Besitz, schließlich seine ganze Identität aus. Und erneut ist es nicht diese maschinelle Beharrlichkeit, sämtliche Spuren eines entgleisten Lebens durch vollkommene Selbstaufgabe zu verwischen, die irritiert, sondern die regungslose Akzeptanz, mit der die zwei Verliebten Shos Verfall begleiten – und sich auch trotz der fatalen Folgen unbeirrt ihrer Romantik sicher sein können. Dass man nur in der Jugend – für den Arbeitszwang weitgehend zu jung, für die Lügen der Lehrer und Eltern zu alt – die Zeit besitzt, an den Widersprüchen des Lebens geduldet zu verzweifeln, ruft diese Perle unter den hiesigen Comicproduktionen ziemlich radikal ins Gedächtnis zurück.

Dieser Text erschien zuerst in: Junge Welt

Lukas Jüliger (Text und Zeichnungen): „Vakuum“.
Reprodukt, Berlin 2012. 128 Seiten. 20 Euro

Berichte aus Russland

( , Regie: )

Selbst mit den Tätern hatte sie Mitleid
von Christoph Haas

„Aufzeichnungen aus Jerusalem“ von Guy Delisle – das ist die Comicreportage, die sich in Deutschland mit am besten verkauft. Den Preis für das beste internationale Album beim Comic-Salon in Erlangen …

„Aufzeichnungen aus Jerusalem“ von Guy Delisle – das ist die Comicreportage, die sich in Deutschland mit am besten verkauft. Den Preis für das beste internationale Album beim Comic-Salon in Erlangen erhielt 2012 Joe Sacco für seine nicht unumstrittene israelkritische Recherche „Gaza“. Und auch deutsche Zeichnerinnen und Zeichner machen sich inzwischen gerne auf, um mit dem Stift in der Hand die Welt, in der wir leben, zu erkunden. Kurz gesagt: Comicreportagen sind in. Im Bereich jenseits des Mainstreams sind sie möglicherweise dabei, der Autobiografie den Rang als beliebteste Ausdrucksform abzulaufen.

Aber sind sie nicht zugleich ein nostalgisches, ein heillos anachronistisches Unternehmen? Bilder von fast allem, was geschieht, sei es schön oder schrecklich, stehen uns heute innerhalb kürzester Zeit zur Verfügung. Bis eine Comicreportage, erst recht größeren Umfangs, fertiggestellt ist, vergehen dagegen gerne einige Monate. Und tut sich das gezeichnete Bild nicht schwer, im Betrachter eine so große Wirkung zu erzeugen wie Fotos oder Filme?

Nein, genau das Gegenteil ist der Fall. Gerade angesichts der Bilderflut – und das heißt auch: der Flut an schlechten und falschen Bildern –, die über uns hereinbricht, gewinnt das gezeichnete Bild wieder an Bedeutung. Weil es keine Unmittelbarkeit vorgaukelt, sondern immer als reflektiert und komponiert identifizierbar ist, besitzt es eine Intensität, die der schnelleren Konkurrenz oft verloren gegangen ist. Auch die Zeitverzögerung muss ja nicht unbedingt ein Nachteil sein, erlaubt sie doch eine größere Gründlichkeit als in den dem Tag verpflichteten Medien.

Genau diese Vorzüge finden sich auch in den „Berichten aus Russland“, die der italienische Comic-Künstler Igort vorlegt. Es handelt sich um den zweiten Teil eines Diptychons, das früheren Staaten der Sowjetunion gewidmet ist. In den „Berichten aus der Ukraine“, bei uns 2011 erschienen, kontrastiert Igort Eindrücke vom aktuellen Leben vor Ort mit den Biografien mehrerer alter Ukrainerinnen und Ukrainer. Die „Berichte aus Russland“ tragen den Untertitel „Der vergessene Krieg im Kaukasus“. Sie erinnern an den Zweiten Tschetschenienkrieg (1999–2009) und an die 2006 ermordete Journalistin Anna Politkowskaja.

Igort geht es nicht darum, das Leben Politkowskajas oder die Geschichte des schmutzigen Krieges im Kaukasus systematisch und vollständig darzustellen. Er setzt Schlaglichter, arbeitet in assoziativer Verknüpfung bestimmte Aspekte heraus. Wichtig sind ihm der ungewöhnliche Mut, aber auch die offenbar stets unerschütterliche Sanftheit Politkowskajas. Im Interview mit Igort hebt die französische Übersetzerin der Journalistin hervor, dass diese, wenn sie mörderischen Menschenrechtsverletzern begegnet sei, zugleich als „Anklägerin und Verteidigerin“ gehandelt habe: „Ihr Mitleid für die Täter ist oft deutlich zu spüren. Mitleid, weil diese Menschen traurige Schicksale haben, weil sie gebrochen und verzweifelt sind.“

Zugleich dokumentiert Igort, oft unter Angabe der Quelle, aus der seine Informationen stammen, die Schandtaten, die in Tschetschenien, vor allem von den berüchtigten russischen Spezialeinheiten, begangen wurden. Tschetscheninnen und Tschetschenen kommen zu Wort, erzählen von Vergewaltigung, Folter und Mord, von endlosem Erfindungsreichtum, was physische und psychische Grausamkeit angeht. Aber auch ein russischer Soldat tritt auf, ein Patriot und Idealist, der unbekümmert in den fernen Krieg zieht und zerbricht, als man ihn zwingt, einen Jungen, der fast noch ein Kind ist, zu erschießen.

„Berichte aus Russland“ ist ein Comic, der einem Tränen der Wut in die Augen treibt, und mehr als einmal ist man versucht, den Blick abzuwenden. Aber man hält dann doch durch. Nicht etwa weil Igort das Grauen, die Schlächterei ästhetisiert oder zu einem Spektakel macht. Sondern weil ihm etwas Unglaubliches gelingt: den Opfern, durch die Art, wie er sie zeichnet, die Würde zurückzugeben, die ihnen mit brachialer Gewalt genommen werden sollte.

Dieser Text erschien zuerst in der taz.

Igort (Autor und Zeichner): „Berichte aus Russland“.
Aus dem Italienischen von Federica Matteoni. Reprodukt, Berlin 2012. 176 Seiten. 24 Euro

Ich, René Tardi & Auf den Spuren Rogers

( , Regie: )

„Du verfluchst die ganze Welt“
von Sven Jachmann

„Papa, was hast du Schreckliches getan?“ – „Ich weiß, aber wenn ich dir sage, dass der Krieg nun mal nichts Schönes ist, wirst du mich als alten Idioten beschimpfen.“ Der …

„Papa, was hast du Schreckliches getan?“ – „Ich weiß, aber wenn ich dir sage, dass der Krieg nun mal nichts Schönes ist, wirst du mich als alten Idioten beschimpfen.“ Der hier von der zweiten Generation über seine vermeintliche Mittäterschaft im Nationalsozialismus befragt wird, ist kein deutscher Landser, sondern ein antimilitaristischer französischer Berufssoldat und Panzerfahrer: René Tardi war 56 Monate lang als Kriegsgefangener im Stalag II B in Hinterpommern inhaftiert. Sein Sohn, Jacques Tardi, hat sich später als akribischer, obsessivster und radikalster Comicchronist der Erosion der Moderne erwiesen und in seinem riesigen Werk immer wieder ihren frühen Kollaps, den Ersten Weltkrieg, umkreist, stets auf Bodenhöhe, aus Sicht der kleinen Leute in den Schützengräben.

Tardis jüngste Veröffentlichung (just wurde der dritte und abschließende Band herausgebracht) über die Erlebnisse seines Vaters im Zweiten Weltkrieg schließt zwei Lücken: zum einen im Familienroman, in dem Tardis Vater sich als Repräsentant der demütigenden Niederlage Frankreichs, also als Träger eines nationalen Mythos, eingeschrieben hat (der Schwiegervater, Veteran des Ersten Weltkriegs, erzählt Jacques Tardi im Interview mit der Comicfachzeitschrift „Alfonz“, empfing René stets mit den verächtlichen Worten: „Hier kommt unser großer Kämpfer!“). Zum anderen schließt Jacques Tardi eine Lücke in seinem Œuvre, in dem der Zweite Weltkrieg bislang höchstens als Blaupause in Erscheinung trat (in einigen Passagen der Léo-Malet-Adaption „120, rue de la Gare“, für die Tardi bereits mit seinem Vater zusammengearbeitet hat).

Das Thema französische Kriegsgefangenschaft berührt mindestens zwei unterschiedliche nationale Vergangenheitsbewältigungsdiskurse: In Frankreich begnügt man sich mit Feiern zu Ehren der Widerstandskämpfer, statt auch der Kriegsgefangenen zu gedenken, die das Vichy-Regime den Nazis überlassen hat. In Deutschland hingegen scheint man zu glauben, dass Vernichtungskrieg und Holocaust ohne Täter, Mitläufer oder wenigstens Mitwisser möglich waren. Es ist wohl selbsterklärend, dass solcherlei Paradoxa auch im Comic kaum vorkommen. Umso erstaunlicher, dass 2013 neben Tardis Erzählung mit „Auf den Spuren Rogers“ ein weiterer französischer Comic erschienen ist, der sich desselben Themas annimmt.

Was Tardi mit dem Illustrator und Comicdebütant Florent Silloray und der Geschichte seines Großvaters Roger Brelet am stärksten verbindet, ist das Schweigen. Beide Protagonisten gerieten als Mittzwanziger in mehr als fünf Jahre währende deutsche Kriegsgefangenschaft (Brelet wurde ins Stalag IV B in Mühlheim deportiert); beiden wurde nach ihrem Tod von ihren Nachkommen eine Stimme verliehen; beide hätten andernfalls ihre Erinnerungen dank des Zusammenspiels von familiärer Tabuisierung und nationalspezifischer Geschichtsklitterung unwiderruflich mit ins Grab genommen. Aber schon im Anlass zum Sprechen offenbart sich ein Unterschied zwischen der zweiten und dritten Generation: Tardi drängt seinen Vater zur Niederschrift all der Erlebnisse im Stalag II B, um sie als Material für einen Comic zu verwenden, und bekommt über 40 Jahre nach dessen Rückkehr drei vollgeschriebene Schulhefte inklusive erläuternden Skizzen überreicht. Florent Silloray erfährt 2007 zufällig während eines Familientreffens vom Tagebuch seines Großvaters, 50 Seiten Notizen, zwischen 1939 und 1941 im Arbeitslager verfasst, die Silloray als wichtigste Quelle seiner Spurensuche dienen. Thematische Überschneidungen gibt’s allerhand: erster Einsatz im Kriegsgebiet, Fluchtversuche, Kämpfe, Gefangennahme, Transport, Lageralltag, Mangelernährung, hygienische Missstände, Zwangsarbeit, Schikane und Misshandlungen. Was indes beide, Tardi und Silloray, aus ihrem Material zimmern, könnte methodisch kaum gegensätzlicher sein, und diese Differenz bemisst sich nicht bloß an den verschiedenen Quellen oder am unterschiedlichen Umfang der Werke, es ist auch eine erkenntnistheoretische, die grundsätzlich an die Sprache des Comics geknüpft ist.

Seite aus „Auf den Spuren Rogers“ (Avant-Verlag)

Silloray erzählt zwei Handlungsstränge, seine eigene Gegenwart und die Vergangenheit seines Großvaters, ästhetisch säuberlich voneinander getrennt: Die Vergangenheit ist braunocker, die Gegenwart kennt mehr Farben. Silloray recherchiert, trifft Historiker und Gedenkstättenleiter. Er folgt den Stationen seines Großvaters, wir sehen die Orte damals (mit Brelet und Originalzitaten aus seinem Tagebuch) und heute (mit Silloray). Der Enkel versucht den „Wörtern des Notizbuchs Bilder“ zuzuordnen. „Am Ende des Tages glaube ich gar, in der Ferne ein Pferdegespann zu sehen, das eine Kreuzung überquert.“

Ob er damit einem ganz persönlichen Einfühlungsversuch oder eher der aufklärerischen Strategie beispielsweise eines Claude Lanzmann folgt, der in „Shoah“ die Orte als „Nicht-Orte der Erinnerung“ reinszeniert, um die Spurentilgung der Nazis zu verhindern, um die von ihrer Historie reingewaschenen und dadurch sinnentleerten Orte wieder ihrer grausamen Bedeutung zuzuführen, ist unklar. Der gewünschte Dokumentarismus jedenfalls endet spätestens dann, wenn brachial ein allwissender Erzähler auftritt, wenn der Blick in die Vergangenheit zwei Räume vereint („Zur gleichen Zeit in Douet …“) oder während Sillorays Aufenthalt in einem menschenleeren Dorf tatsächlich als Beleg für Isolation „irgendwo in der Ferne ein Hund bellt“. So interessant Roger Brelets Bericht, so wenig demonstrieren die Bilder und ihr Arrangement mehr als ihre Illustrationsfunktion für einen Erzähler, der nicht so recht weiß, ob er von sich selbst, von seinem Zugriff auf Geschichte oder von der Geschichte seines Materials sprechen will.

Seite aus „Ich, René Tardi. Kriegsgefangener im Stalag II B.“ (Edition Moderne)

Tardis Bilder sind schwarz, weiß und grau, nur an drei Stellen wird Farbe eingesetzt: beim blutroten Himmel, auf Hakenkreuzfahnen und auf der Vichy-Flagge. Drei untereinander angeordnete Breitwandpanels pro Seite, keine extravagante Seitenarchitektur – dies ist keine Einladung zur Kontemplation. Jacques Tardi will eine „Geschichte der Besiegten“ erzählen, keine Chronik der französischen Kriegsgefangenen. Auch er personifiziert sich selbst als Comicfigur, aber schon deren Physiognomie besitzt einen diskursiven Überbau. Als kleiner Junge schreitet er gemeinsam mit seinem Vater René durch dessen Erinnerungen, stellt ihm, meist aus der Sicht eines aufschneiderischen Kriegsgegners, der Jacques Tardi in seiner Jugend war, impertinente Fragen, deren Antworten er selber weiß. Der Generationenkonflikt vergangener Tage wird direkt vor Ort fortgesetzt. „Ich frage mich noch heute“, sagt der Vater, „wie diese Scheißarmee je funktionieren konnte, mit dieser Kluft zwischen Offizieren und Soldaten. Eine durch und durch aristokratische Armee, deren Führer keinen Kontakt zur Truppe hatten.“ „Aber Papa“, erwidert der Sohn, „diese Armee hat doch nie funktioniert.“ Zwar sind sie ständige Gesprächspartner, interagieren aber nie physisch. Unbeteiligt und wie ein Geist steht der Sohn an der Seite seines Vaters. So bleibt für den Jungen ungefährliche Kulisse, was dem Vater grausamer Kriegsschauplatz ist. Tardi bedient sich dazu außerordentlicher surrealer Effekte und Metaphern: Auf den ersten 50 Seiten unterhält sich der Junge etwa überwiegend mit einem Panzer, in dem der Vater sitzt.

Zugleich ist diese Methode Claude Lanzmanns Spurensuche näher: Tardi versetzt den Vater zurück an die Orte seiner biographischen Katastrophe und lässt ihn von dort aus das Vergangene erneut durchleben, was er ihm früher im Zuge pubertärer Revolten versagt hat. So artikuliert sich das Trauma eines Überlebenden, der schon zu Lebzeiten dem Tode nahe war. Alles, was ein nur resümierendes „Verstehen“, das Schließen der Akte, also das Historisieren fördern könnte, die positivistische Lesart der Objektivität, umschifft Tardi durch diese Figurenkonstellation. Obendrein lässt er sich regelmäßig in die Karten seiner Geschichtskonstruktion gucken: „Ich habe genug von diesen Scheißpanzern!“ ruft René. Jacques erwidert: „Umso besser! Langsam habe ich keine Lust mehr, immer nur Tanks zu zeichnen!“ An keiner Stelle dominieren die Lügen der Geschichtsschreibung oder die Deutungshoheit eines „objektiven“ Erzählers über das Leid der Erfahrung. Es ist mehr wie in Art Spiegelmans berühmtem Comic „Maus“: Tardis Vater kotzt Geschichte aus, chronologisch, voller Bitterkeit und viel zu spät. René Tardi starb 1986. In seiner letzten von Medikamenten verzerrten Erinnerung saß er wieder ängstlich in seinem Panzer und zermalmte die Deutschen.

Die Deportation ins Stalag IIB beschreibt René Tardi so: „Da du den Typen mit dem Dünnpfiff nicht umbringen kannst, verfluchst du den Waggon, die Kameraden, Frankreich, die Politiker, die Boches (die Deutschen; S. J.), die ganze Welt. Du verfluchst die Menschen, die ein Bett besitzen, fern vom Gestank nach Scheiße. Du machst kein Auge zu, weil du immerzu an die Niederlage denken musst, an den Beginn deiner Existenz deines Sklavendaseins, und daran, dass du nun ohne Essen und Trinken mit all diesen Idioten zusammengepfercht bist, die du freiwillig nie hättest kennenlernen wollen.“

Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET 11/2013

Jacques Tardi (Autor und Zeichner): „Ich, René Tardi. 3 Bände“.
Aus dem Französischen von Christoph Schuler. Edition Moderne, Zürich 2013-1019. 200/128/160 Seiten, 35/32/32 Euro

Florent Silloray (Autor und Zeichner): „Auf den Spuren Rogers“.
Aus dem Französischen von Volker Zimmermann. Avant Verlag, Berlin 2013. 112 Seiten, 24,95 Euro

Blast

( , Regie: )

A Portrait of a Serial Killer
von Sven Jachmann

„Wenn Sie verstehen wollen, dann müssen Sie durchmachen, was ich durchgemacht habe.“ Mit diesen Worten diktiert der inhaftierte Polza Mancini den Takt des Gesprächs bei seinem Verhör. Vier Bände lang …

„Wenn Sie verstehen wollen, dann müssen Sie durchmachen, was ich durchgemacht habe.“ Mit diesen Worten diktiert der inhaftierte Polza Mancini den Takt des Gesprächs bei seinem Verhör. Vier Bände lang (erschienen bei Reprodukt), auf über 800 Comicseiten führt er das ihn befragende Beamtenduo durch sein persönliches Melancholia. Was als Aussteigergeschichte beginnt, endet als journey into the mind of a serial killer. Was Polza überaus eloquent als seine transzendentale Fluchtbewegung beschreibt, ist für die Leser/innen ein fiebriges Psychogramm. Als sich der adipöse Autor von Gastronomiebüchern dazu entschließt, ohne Erklärung seine Frau zu verlassen, den zivilisatorischen Aderlass zu wagen und mit naturmystischer Begeisterung in den Wäldern zu leben, stand Töten nicht auf seiner Agenda. Zumindest glaubt er sich das, und wir glauben ihm. Ein zuverlässiger Erzähler ist er allerdings ganz und gar nicht. Aber die Polizisten sind froh über seinen ausschweifenden Mitteilungsdrang, wenigstens sechs Morde gilt es aufzuklären.

Polzas Erscheinung ist seltsam erhaben und grotesk zugleich: Auf dem äußerst massigen Körper thront ein runder, halsloser Glatzkopf mit langer, schmaler Nase und müden Augen, der Mund ist meist zu einem Lächeln verzogen. Ein Panzer, der sich gegen die jahrzehntelang erlittenen Qualen gefeit glaubt. Ein obsessiver Vagabund, der sich während des Winters in fremde Häuser einnistet, wohlwissend, dass er hier nur wenige Tage bleiben kann und doch wie ein Süchtiger das Leben der anderen anhand ihres Besitzes erforscht, Devotionalien aus einer anderen Welt. Ihnen wie auch der Natur begegnet Polza als teilnehmender Beobachter mit nietzscheanischem Ego: „Der Naturzustand kennt weder Moral noch Gerechtigkeit, freien Willen, Vernunft, Werte oder Verpflichtungen… Welch Erleichterung, nur Zuschauer solch wilden Wucherns zu sein. Der schönste Sommer meines Lebens, ganz gewiss.“

Sucht ist auch der Motor, der Polzas schwerfälligen Körper dauernd in Bewegung hält: Alkohol, Tabletten, Schokoriegel, harte Drogen genauso wie fremde Lebenswelten, Selbstverstümmelung und immer wieder der „Blast“, ein epileptischer, von Visionen begleiteter Zusammenbruch, den er seit seinem ersten Auftreten beständig herbeisehnt – alles ist Material, um Polzas Exzesse zu befeuern, das Vergessen voranzutreiben, ihn selbst seines Lebens zu versichern. So sitzt er gutmütig da, räsoniert, doziert über seine Biografie, als Kind verspottet, als Erwachsener malträtiert, und nur die gelegentlichen Anflüge entrückter Selbstgefälligkeit erinnern daran, wie viel Schmerzen und Qualen seinem freiwilligen Geständnis vorausgingen.

„Deine Mutter hat’s mit einem Schwein getrieben! Dein Vater war ein Schwein! Fette Sau!“, ruft ihm ein Junge zu und stiehlt seine Kleidung, als Polza ein Bad in einem Kanal genießt. Kein Naturzustand ohne Gesellschaft, die ihm Grenzen setzt, lautet die grausame Lektion, die Polza ein ums andere Mal in die Hände neuer Peiniger treibt: Der „Heilige Jacky“, ein obdachloser Einsiedler, Büchernarr, Drogendealer, Psychopath und Mörder, schlägt Polza bei ihrer ersten Begegnung mit einer Eisenstange krankenhausreif, pflegt ihn anschließend aber wieder gesund. Zwei herumstreunenden Landstreichern gewährt Polza, wenn auch skeptisch, einen Platz am Lagerfeuer. Später werden sie ihn auf außerordentlich sadistische Weise ausrauben, foltern und vergewaltigen.

Um sich die Erniedrigungen dienstbar zu machen, damit das Leiden, ja der ganze Körper, dem es eingeschrieben ist, verschwindet, braucht Polza den Blast. Mit ihm verwandelt sich der filigrane schwarzweißgraue Tuschestil in bunte Kinderzeichnungen, die stets die bizarre Erscheinung eines Moai, einer Steinfigur der Osterinsel, beendet. „Hier heilen meine Narben. Mein Körper ist keine Strafe mehr. Hier bin ich ein Werk. Warum also fortgehen?“ Polza sucht die vollkommene Selbstauflösung des Ichs, nur ohne den Tod. Schließlich führt seine Odyssee zu Roland Oudinot, einem verurteilten, auf Psychopharmaka gesetzten Triebtäter und Vergewaltiger, und dessen Tochter, die ihren Vater vor dem Rückfall zu bewahren versucht. Gemeinsam vegetiert das traumatisierte Trio in Rolands Landhaus, bis auch hier die Gewalt Einzug hält.

Zeichner und Autor Manu Larcenet hat sich von der durchaus niedlichen Semi-Funny-Optik seiner früheren Arbeiten vollends verabschiedet. Die Bilder schwitzen und bluten. Der französische Comiczeichner hat die Panels zunächst einzeln angefertigt und sie erst am Rechner zu ganzen Seiten arrangiert. Das bildet die Grundlage der assoziativen Bilderflut, die auf Polzas Blast als Höhepunkt zusteuert. Es gibt viele Vorankündigungen, doch spätestens im erzählerisch genial eingeflochtenen langen Epilog, in dem die Polizisten für einen Dokumentarfilm über den Fall interviewt werden, offenbart sich, dass der Blast Polzas abgründige Täterseite verdrängen helfen soll. Das ist der Link zum von Panikattacken geplagten Fotografen aus Larcenets anderem Meisterwerk „Der alltägliche Kampf“: Die Suche nach einem Zuhause, die Angst vor der Brutalität einer sozial katastrophalen Welt treibt beide in den psychischen Ausnahmezustand. Der eine muss lernen, seinen Alltag wieder auf Spur zu bringen, der andere kann in kein normales Leben zurückkehren, weil er es nie führen durfte, aber seine Lebenszeit darauf verwendete, dies zu vergessen.

Den zweiten Blast-Schub beschreibt Polza so: „Ich war perfekt. Auch ich ein sanfter Riese. Befreit von meinem fetten Leib, ohne die Last der Erinnerung, ohne Geschichte. Es war einzigartig.“ So verstörend zärtlich wurde die grenzenlose Empathie mit einem Mörder auch in Serienkillererzählungen jenseits der Comics selten ausgelotet und mit der Forschung nach gesellschaftlichen Ursachen verbunden.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 9/2015

Manu Larcenet (Autor und Zeichner): „Blast Bd. 1-4“.
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. Reprodukt, Berlin 2013-2015. Je 208 Seiten. Je 29 Euro

Jimmy Corrigan

( , Regie: )

Der unglücklichste Junge der Welt
von Sven Jachmann

Genies leben nicht nur mitten unter uns, sie erkennen sich auch gegenseitig. Art Spiegelman hat in den achtziger Jahren als Gründer und Herausgeber des Anthologiemagazins „Raw“ einen unschätzbaren Beitrag für …

Genies leben nicht nur mitten unter uns, sie erkennen sich auch gegenseitig. Art Spiegelman hat in den achtziger Jahren als Gründer und Herausgeber des Anthologiemagazins „Raw“ einen unschätzbaren Beitrag für die Popularisierung dessen, was damals noch hier und da als Avantgardecomic bezeichnet wurde, geleistet. Und er hat 1987 aus Zufall den gerade mal 20jährigen US-Comiczeichner Chris Ware entdeckt und zweimal in „Raw“ publiziert.

Sich so jung inmitten der Elite des europäischen und amerikanischen Comics wiederzufinden, dürfte nicht die schlechteste Schule gewesen sein. 1993, zwei Jahre nach dem Ende von „Raw“, entwickelt Ware seine eigene Heftreihe „ACME Novelty Library“, bereits ab der ersten Nummer dabei: die ersten Gehversuche von Jimmy Corrigan, einem Antihelden, der Ware acht Jahre später, nachdem die Fortsetzungsgeschichte überarbeitet als gut 380seitige Graphic Novel erscheint, unsterblich machen wird – und dies verstehe man bitte nicht pathetisch.

Die Anerkennung dieser „Great American Novel“, wie es allerorten hieß, war und ist einmütig: Sämtliche relevanten Auszeichnungen, seien sie branchenintern (Eisner Award, Harvey Award, Kritikerpreis des Angoulême-Festivals) oder darüber hinaus (2001 als erster Comic überhaupt der Guardian First Book Award), und höchste Adelungen hat sie eingeheimst (das „Wall Street Journal“ bemühte als literarische Vergleichsreferenz James Joyce‘ „Ulysses“). Weil Ware das Spektrum des Comics narrativ und formal entscheidend transformiert hat, war „Jimmy Corrigan“ für die 2000er Jahre mindestens so wichtig wie Spiegelmans „Maus“ für die Achtziger und Neunziger. Ein Stück Comicgeschichte also, dessen deutsche Veröffentlichung Reprodukt als editorische Glanzleistung vorgelegt hat: mal handgelettert, mal ahmt sie mit Computerfonts die Typographieexperimente nach. Angesichts von Wares Vorliebe für Redaktionselemente (Anleitungen für Ausschneidebögen, lexikalische Einträge), wechselnde Schrifttypen, Werbeanzeigen im Stil der dreißiger bis fünfziger Jahre, mit Inschriften versehene ornamentale Bild- und Seitenkompositionen, Piktogramme, Logos und mitunter daumennagelgroße Sprechblasen in streichholzschachtelformatigen Panels kann man jetzt schon von der anspruchsvollsten Übersetzungsarbeit des Jahres sprechen.

Jimmy Corrigan ist nicht, wie der Untertitel behauptet, „der klügste Junge der Welt“, vielleicht aber der unglücklichste. Und seine Geschichte ist, wie jedes anständige Meisterwerk, vieles, aber nichts davon in Gänze: eine Studie der Einsamkeit, eine Sozialgeschichte der USA, ein Familienroman, ein Bildnis der Entfremdung, eine Superheldendekonstruktion, ein Zeichenexperiment, ein autobiographisches Therapeutikum. Jimmy Corrigan hat bereits als Kind greisenhafte Züge und führt als Mann ohne Eigenschaften ein völlig isoliertes Büroangestelltendasein. Er träumt von einer Beziehung mit seiner Kollegin, erhält aber allenfalls Anrufe von seiner dominanten Mutter aus dem Altersheim. Ein Leben zwischen Hemmungen, Fluchtphantasien, Ritualen, Ängsten und Sprachlosigkeit. Dann kommt plötzlich ein Brief seines Vaters, den er nie kennengelernt hat. Der will im Rentenalter seine Fehler wiedergutmachen und lädt Jimmy zu sich nach Chicago ein. Jimmy tritt eine Reise an, die 100 Jahre und zwei weitere Generationen zurück in die Vergangenheit führt. Man wird nur schwer sagen können, ob er danach ein glücklicherer Mensch geworden ist.

Die Kunstfertigkeit der epochalen Erzählung besteht darin, dass Ware jedes Verständnis von Linearität außer Kraft setzt und die Zeitebenen als assoziative Reflexe arrangiert, die sich durch keinerlei Merkmale des Erzählens, beispielsweise Farbenveränderungen, mehr unterscheiden lassen. Es gibt keine vorsortierenden Instanzen: Aus Jimmys Perspektive gründen Realität wie Fiktion auf denselben Prinzipien des Leids und dies zurück bis zur Generation des Urgroßvaters (dessen Antlitz mit Jimmys identisch ist). So gleiten wir unversehens von der Realität in Angstphantasien und wieder zurück in die Realität und können weder das eine noch das andere als gewichtigere Erzähleinheit identifizieren. Wares monolithische Kompositionen zwingen zu penibler Lektüre, man lernt schnell, dass schon die geringste Detailveränderung ein folgenschwerer Zug sein kann. Die kaleidoskopische Geschichte einer Familie voller Verlierer zum Schluss bloß mit Hilfe weniger Pfeile in einem zweiseitigen Piktogramm um eine politische Dimension zu erweitern und zu einer Chronik rassistischer Mentalität umzudichten, schafft eben nur ein genialer Konstrukteur.

Im Nachwort, das hier kokett „Entschuldigung“ heißt, beansprucht Ware selbst über die Erzählzeit noch die Kontrolle: „Ich wünschte, mein Vorhaben wäre mir besser gelungen… Dessen ungeachtet fiel mir bei der letzten ‚Überarbeitung‘ auf, dass die vier oder fünf Stunden, die das Lesen dieser Geschichte mitsamt ihren Irrtümern, Auslassungen und Unzulänglichkeiten dauert, etwa der Zeit entsprechen, die ich mit meinem Vater verbracht habe, sei es persönlich oder am Telefon.“

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 6/2013

Chris Ware (Autor und Zeichner): „Jimmy Corrigan. Der klügste Junge der Welt“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Heinrich Anders und Tina Hohl. Reprodukt, Berlin 2013. 384 Seiten. 39 Euro

Alte Meister

( , Regie: )

Auge in Auge mit Tintoretto
von Sven Jachmann

Es ist nur auf den ersten Blick ein Kontrast, wenn Nicolas Mahler – seines Zeichens Wiener Comiczeichner und Cartoonist, Meister der bildpoetischen Reduktion – Thomas Bernhards wortgewaltigen, als „Komödie“ apostrophierten …

Es ist nur auf den ersten Blick ein Kontrast, wenn Nicolas Mahler – seines Zeichens Wiener Comiczeichner und Cartoonist, Meister der bildpoetischen Reduktion – Thomas Bernhards wortgewaltigen, als „Komödie“ apostrophierten Roman „Alte Meister“ als Comic adaptiert. In Bernhards Werken führen konzentriertes Abschweifen und Wiederholen zu einer Flut aus Stänkerei, Verzweiflung und Abscheu – verbunden mit der existenziellen Einsicht, dass nur die Negation des Wortes den gesellschaftlichen Zumutungen standhält.

Mahler dagegen bugsiert eine seiner komischsten Figuren, Flaschko, einfach in eine Heizdecke, lässt sie, so umhüllt, regungslos und lakonisch Strip für Strip über die Welt sinnieren und pointiert mit diesem Bild bereits die tragikomische Simplizität allen Lebens. Den gemeinsamen Bezug zur Kunst, die in den „Alten Meistern“ als Thema und Schauplatz, dem Wiener Kunsthistorischen Museum, riesigen Raum beansprucht, liefert die obsessive Fixierung auf mit Lebenssinn hochgejazzte Substitute: Ob Gemälde oder Heizdecke, an irgendetwas muss schließlich geglaubt werden, damit die Verzweiflung über die Hilflosigkeit des Menschen nicht gewinnt. Manche genießen dabei eben nur den privilegierten Luxus, die eigene Flucht vor der Desillusionierung sich selbst als höheren Anspruch verkaufen zu können. „Was denken wir und was reden wir nicht alles und glauben, wir sind kompetent und sind es doch nicht, das ist die Komödie, und wenn wir fragen, wie soll es weitergehn?, ist es die Tragödie“, sagt Reger, die Hauptfigur in Mahlers und Bernhards Werk.

Eigentlich sogar die einzige Figur, denn auch wenn Reger in seinem Freund Atzbacher einen geduldigen wie schweigsamen Zuhörer für seine Tiraden gefunden hat, dominiert er selbst in den Beobachtungen des allenfalls nominellen Icherzählers Atzbacher fast jedes Wort. Seit über dreißig Jahren verbringt Reger jeden zweiten Vormittag auf der Sitzbank des Wiener Kunsthistorischen Museums im Bordone-Saal, Auge in Auge mit Tintorettos „Weißbärtigem Mann“, und erledigt mit apodiktischem Furor die „Alten Meister“ nicht nur der Malerei: Velázquez („Staatskunst!“), Dürer („Ur- und Vor-Nazi!“), Stifter („Kitschmeister!“), Heidegger („Pantoffel- und Schlafhaubenphilosoph der Deutschen, nichts weiter!“).

In Bernhards Roman arbeitet Reger als Feuilletonist für die Times. Im Comic fehlt jede Berufsbezeichnung, was der Enttäuschung, die mit Regers ritualisierten Besuchen verbunden ist, noch grundsätzlichere Züge verleiht. Zur Inspiration für die tägliche Arbeit braucht er den Bordone-Saal, sein „Denk- und Lesezimmer“ jedenfalls nicht.

Mahler reduziert Regers über 300-seitigen, im Prinzip pausenlosen Monolog wider alle Heilsversprechen der Kultur auf 150 Seiten Comicerzählung, mit meist einem Panel pro Seite. Physiognomisch wird er zur typischen Figur des Mahler-Repertoires: ein schwarzweißes, gedrungenes Männchen ohne Augen und mit einer gewaltigen Nase. Die galanten Schmähreden über die österreichische Gesellschaft bleiben bei Mahler ausgespart. Da verfährt er gegen die Autorität der Vorlage, getreu der Maxime Regers: „Wer alles liest, hat nichts begriffen.“ Es braucht nur ein Detail, um aufs Ganze zu kommen, zumindest „wenn wir Glück haben“.

Und diese Details transferiert Mahler perfekt in die Zeichenwelt des Comics, indem er zum einen die Hybris in den Werken der „Alten Meister“ mitunter urkomisch entblättert. Über die enge Verwandtschaft von Parodie und Dekonstruktion lernt man bei Mahler bereits eine ganze Menge, wenn er nur die mimische Ausdruckslosigkeit seiner Zeichnungen auf Giottos „Anbetung der Heiligen Drei Könige“ überträgt – dann strahlt kein Fluidum mehr, sondern bleibt nichts weiter als: eben Staatskunst.

Zum anderen gleicht er den Repetitionszwang in Regers Entgleisungen dem seriellen Prinzip des Comics an. Stets identisch sitzen die kleinen Figuren den Kunstwerken gegenüber, die in geradezu absurder Größe auf sie herabblicken. Die Monotonie der Bilderserie verführt nicht zur Demut, im Gegenteil. Hinter den Schimpfkanonaden Regers verbirgt sich, so gibt er am Schluss preis, auch die Trauer über den Tod seiner Frau und die Enttäuschung, dass dieser museale Tempel der Bewunderung das Höchste verspricht, aber nichts hält. Tintorettos „Weißbärtiger Mann“ weiß sich gegen die Enttäuschung sogar perfide zu wehren: Er hält Reger stand: seinem Gefühl, seinem Verstand und seinen Ritualen.

Dieser Text erschien zuerst in der taz.

Nicolas Mahler (Text und Zeichnungen): „Alte Meister“.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 160 Seiten, 19,50 Euro

Blotch. Der König von Paris

( , Regie: )

Zerrbild des reaktionären Bürgertums
von Sven Jachmann

Blotch ist der selbst ernannte Liebhaber alles Schönen. Aber eigentlich ist er bloß das karikaturesk nicht sonderlich verfremdete Zerrbild des reaktionären Bürgertums. Blotch ist auch der selbst ernannte Rubens der …

Blotch ist der selbst ernannte Liebhaber alles Schönen. Aber eigentlich ist er bloß das karikaturesk nicht sonderlich verfremdete Zerrbild des reaktionären Bürgertums. Blotch ist auch der selbst ernannte Rubens der Neuzeit. Aber eigentlich ist er das Alter Ego seines Schöpfers Christian Hincker, besser bekannt als Blutch, international gefeierter Comicautor und Erzähltausendsassa aus Frankreich. Genauer gesagt ist Blotch das antizipierte Bildnis dessen, was Blutch die größte Sorge bereitet: „Mit Blotch exorziere ich das, wovor ich mich am meisten fürchte: Routine und Verbitterung.“

Blotch ist seines Zeichens Karikaturist des fiktiven, konservativen Pariser Witzblättchens Fluide Glacial, eine Parodie jener gleichnamigen realen wie renommierten Satirezeitschrift, in der die jeweils fünf Seiten umfassenden abgeschlossenen, aber durchaus aufeinander Bezug nehmenden Kurzgeschichten ursprünglich veröffentlicht wurden. Nun im Jahre 1936 angesiedelt, wird es in seiner ausgestellten Biederkeit zur ideologischen Vorhut der Vichy-Regierung, zum Tummelplatz für selbstverliebte und gleichsam talentfreie Künstlerexistenzen, die, zumindest den Namen nach, den realen Mitarbeitern unschwer erkennbar nachempfunden sind: Aus Goossens wird Goussein und in seiner Reihe „Der alltägliche Kampf“ greift Manu Larcenet selbst hin und wieder auf die hier verwendete Variante „Larssinet“ zurück.

Diese augenzwinkernde Akzeptanz des gelegentlich arg sarkastischen Tonfalls lässt sich wohl damit erklären, dass dieser Verbund habitualisierter Schaumschläger mit Blotch in der Tat seinen König gefunden hat. Der feilt im Titelpanel jeder Story akribisch wie selbstgefällig auf einem leinwandgroßen Stück Papier an seiner Signatur – wo nichts ist, soll Blotch werden. Ansonsten ist er, kurz gesagt, ein rechtes Stück Scheiße: reaktionär, rassistisch, chauvinistisch, opportunistisch, intrigant, narzisstisch und erfolgssüchtig bis in die letzte Pore, wird sein mangelndes Talent als Zeichner und Humorist allenfalls von einer grenzenlosen Hybris übertroffen, mit deren Hilfe er sich tagtäglich als die Speerspitze des französischen Kunstbetriebs imaginiert.

Dafür ist ihm nur jedes Mittel recht: Will er eine Frau beeindrucken, gibt er sich schon mal notgedrungen als sein Erzfeind Jean Bonnot aus, nur um folgend in einen Lobgesang zu verfallen, in dem er das Talent seines großen Vorbilds, Blotch, preist; einem nervösen Redaktionsneuling klaut er schamlos dessen Ideen, nachdem er ihm jeden Anflug von Mut ausgeredet hat, und die Ermordung des berühmten Schriftstellers Saint-Chamoux ist vor allem Anlass, dessen letzte Worte, freilich umgemünzt, im Presseinterview der Nachwelt zu verkünden: „Seien sie gewiss, Blotch, wenn ich die Stimme Frankreichs bin, so sind Sie das Herz!“ Dass dessen Tod erst durch Blotchs unterlassene Hilfeleistung eintreten konnte, bleibt indes sein Geheimnis.

Auch wenn sich hierin die dunkle Kehrseite des Autors, die Angst vor der drohenden Selbstgefälligkeit, artikulieren mag, ist Blotch doch zugleich die Abrechnung mit dem wohl nie versiegenden Genie- und Personenkult des Kunst- und Comicmarkts. Davon bleiben auch die Paratexte nicht unberührt: Auf der letzten Seite verfällt die Prominenz von André Gide über François Mitterrand bis Pablo Picasso der Huldigung jenes Meisters, von dessen Verkommenheit wir zuvor ausgiebig Zeugen werden durften. Das ficht nicht zuletzt den Glauben an die sittliche Wirkung der schönen Künste an (die zu produzieren Blotch ohnehin nicht in der Lage ist), insbesondere angesichts eines historischen Rahmens, der unmittelbar auf die vollkommene moralische Kapitulation des Bürgertums zusteuert.

Der schwarz-weiße, die Konturen immer wieder variierende Strich und das Formspiel der Schraffuren, die als Hintergründe die Figuren manchmal regelrecht zu verschlingen drohen, ist dann auch Hommage an die Illustrationskultur der 30er-Jahre. Wenn Blutch jedoch ausgerechnet Frans Masereel zitiert, Blotchs wohl größtdenkbaren Antipoden, bleibt auch die Hommage gleichzeitige Selbstanklage. Wenn das Resultat zu solch wundervoll hassenswerten Figuren führt, beruhigt indes die Gewissheit: Wo Blotch ist, wird Blutch bleiben.

Dieser Text erschien zuerst in der taz.

Blutch (Text und Zeichnungen): „Blotch. Der König von Paris“.
Aus dem Französischen von Kai Wilksen. Avant Verlag, Berlin 2009. 104 Seiten, 17,95 Euro

Am falschen Ort

( , Regie: )

Die Partymeute tobt
von Sven Jachmann

Bereits im ersten Bild sind Verletzung und Einsamkeit vereint: Ein grau gezeichneter Mann kauft eine Menge Flaschen Alkohol für seine Party und auf die scherzhafte Frage der Verkäuferin, ob sie …

Bereits im ersten Bild sind Verletzung und Einsamkeit vereint: Ein grau gezeichneter Mann kauft eine Menge Flaschen Alkohol für seine Party und auf die scherzhafte Frage der Verkäuferin, ob sie auch eingeladen sei, folgt mit einem freundlichen Lächeln lapidar: „Nein.“

Was zu Beginn arrogant anmutet, soll sich später als soziale Befangenheit herausstellen: Gert, so heißt der Mann, schmeißt eine Party, aber die wenigen Gäste, allesamt ehemalige Schulfreunde, kommen nicht bloß aus unschuldiger Feierlaune. Man wartet auf den heimlichen Star des Abends, der nicht erscheinen wird, Robbie. Die zeitschindenden Versuche Gerts, die sichtlich unmotivierte Schar mit Wodka, Jimi Hendrix und ständigen Anrufen auf Robbies Handy milde zu stimmen, tragen dabei eher zum Austausch dezenter Feindseligkeiten untereinander bei.

Mit fast fetischistischer Beharrlichkeit erwartet man Robbies Ankunft. Sonst gibt es nicht viel zu sagen, und als irgendwann offensichtlich wird, dass Robbie (es obliegt den Lesern, ihn als das einstige Take-That-Mitglied zu identifizieren) sich in seinem eigenen Club Harem feiern lässt, löst sich die Gruppe in Hochgeschwindigkeit auf.

Der 1986 geborene, belgische Zeichner Brecht Evens gestaltet die Party-Orte als weitläufige Räume des ritualisierten Exzesses und findet in seiner dritten Comicarbeit (die 2010 vom Fumetto Festival mit einer Ausstellung geadelt und außerdem auf dem Comicfestival Angoulême mit dem Preis für das „Innovativste Werk“ ausgezeichnet wurde) eine Bildsprache, die die Dialektik von Wunsch und Zwang, von Freiheit und Fesseln auf bedrückende Weise schön stilisiert.

Aquarelliert und ohne einen konturierenden Strich situiert er die Figuren in offene Panels. Stimmen werden nicht durch Sprechblasen, sondern bloß durch Farben zugeordnet, wie auch die Figuren mittels Farbnuancen charakterisiert und unterscheidbar werden. Das ist ein großer Reigen, in dem immer wieder alles – Farben, Figuren, Hintergründe, Schatten, Gegenstände und auch Töne – miteinander zu verschmelzen droht. Alles ist bedrückend pittoresk, denn auch die Party-Räume sind sozial hierarchisiert oder anders gesagt: mythologisch besetzt.

Der Kontrast zur verhaltenen Wohnungsparty samt ignoriertem Gastgeber folgt im zweiten Teil. Die frisch verlassene Noemi geht zweifelnd in den Club Harem, um ihr angeschlagenes Ego zu pushen und gerät zufällig an Robbie, dem alle Besucher zu Füßen liegen. Es kommt zum One-Night-Stand und endet tags darauf wieder im Harem, den im dritten Teil auch Gert aufsucht, um mit Robbie, eingeschüchtert von den majestätischen Backstageräumen, in alten Jugendtagen zu schwelgen, während drei Stockwerke tiefer, unter der Küchen- und Orgienetage, die Partymeute tobt.

Der Plot dichotomisiert nicht die Lebenswelten in dekadenten Glamour und bedrückenden Alltag. Bei Evens verhalten sich alle gleichermaßen bescheuert, selbstsüchtig, intrigant, ängstlich, flüchten panisch vor der Erkenntnis, dass unter dem Frust der identitären Last noch mehr Einsamkeit lauert. Evens übersetzt diese Fluchten in wunderschöne Bilder, die ironisch ihre Doppeldeutigkeit ausstellen. Die Farbenpracht im Club Harem gleicht einem Refugium für die Körper, die buchstäblich geschluckt werden. Gleichzeitig besteht kein Zweifel daran, dass einzig Robbie, stets grinsend und immer höflich, der König des Spektakels bleibt. Die Gäste sind die Statisten seines Films, und mit diesen Worten bittet er auch Noemi, irgendetwas von sich preiszugeben, was sie über diesen Status erhebt. So bleibt er der Regisseur einer dekadenten Veranstaltung, deren Flüchtigkeit nur ihm bewusst zu sein scheint. Die Entfremdung lauert nicht mehr unter der schillernden Oberfläche des Rauschs, stattdessen hat sie sich das Gewand der Ekstase übergeworfen. Wenn sich im letzten Bild die Blicke aller Anwesenden neugierig auf Neomis Freundin richten, die während ihrer Arbeit im Friseursalon am Telefon euphorisch von der vergangenen Nacht palavert, ist völlig undurchsichtig geworden, in welcher gesellschaftlichen Sphäre wir uns eigentlich befinden – keine Arbeit ohne Party und umgekehrt.

Dieser Text erschien zuerst in der taz.

Brecht Evens: „Am falschen Ort“.
Aus dem flämischen Niederländisch von Andreas Kluitmann. Reprodukt, Berlin 2010. 176 Seiten, 24 Euro

Der Sommer ihres Lebens

( , Regie: )

Die Vergangenheit einer Altersheimbewohnerin
von Christoph Haas

Als Comic-Zeichner oder -Zeichnerin berühmt zu werden ist schwer genug. Wer Szenarios schreibt, hat es noch um einiges schwerer. Die Evidenz von Bildern ist so stark, dass man sich beim …

Als Comic-Zeichner oder -Zeichnerin berühmt zu werden ist schwer genug. Wer Szenarios schreibt, hat es noch um einiges schwerer. Die Evidenz von Bildern ist so stark, dass man sich beim Lesen eines Comics – ähnlich wie beim Anschauen eines Films – selten bewusst macht, wie wichtig die Person ist, die den Plot, der einen gerade fesselt, ersonnen hat. Kein Wunder also, dass es nur eine Handvoll Szenaristen schaffte, sich einem größeren Publikum einzuprägen; Alan Moore („Watchmen“) etwa oder René Goscinny („Asterix“).

Im deutschsprachigen Raum gibt es keine hauptberuflichen Comic-Szenaristen. Der Markt ist nicht groß genug; dazu kommt, dass im Graphic-Novel-Bereich viele der Künstlerinnen und Künstler gerne ihre eigenen Autoren sind. Umso bemerkenswerter ist es, dass mit dem 1977 geborenen Thomas von Steinaecker nun einer der wichtigsten jüngeren deutschen Schriftsteller ein Szenario für Barbara Yelin („Irmina“) verfasst hat. Ganz überraschend ist das nicht: Steinaecker ist seit Jahren als Comic-Kritiker tätig; außerdem hat er bereits in seinen 2008 erschienenen Roman „Geister“ Comic-Elemente integriert.

Die Hauptfigur in „Der Sommer ihres Lebens“ heißt Gerda Wendt. Sie ist Bewohnerin eines Altenheims. Früher hat sie nicht gerne auf das, was war, zurückgeblickt. Aber jetzt tut sie es. Sie spürt dann, dass sie noch nicht gestorben ist, obwohl ihr dies manchmal so vorkommt. Also erinnert Gerda sich: Wie sie in ihrer Kindheit und Jugend eine Außenseiterin war, weil sie sich stets nur für Zahlen und Sterne interessierte. Wie sie studierte und eine Universitätskarriere als Astrophysikerin abbrach, um dem etwas verbummelten Gitarristen und Musiklehrer Peter eine gute Ehefrau sein zu können. Wie Peter sie betrog und sie wieder allein auf sich gestellt war.

Das Leben Gerdas hat Momente, die für Biografien begabter Frauen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts – und auch heute noch – typisch sind. Ein außergewöhnliches Leben ist es nicht – und dennoch stellt dieser Comic die ebenso schlichte wie erschütternde Wahrheit, dass jeder Mensch eine Welt und jeder Tod ein Weltuntergang ist, in einer Weise vor Augen, wie es, in gleich welchem Medium, nur selten so klug, so eindringlich geschieht.

Das hat viel damit zu tun, wie Steinaecker zu erzählen versteht. So sind die fließenden Übergänge von der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder zurück meisterhaft vermittelt. Wenn Gerda im ersten Stockwerk des Heims vergeblich ihr Zimmer sucht, löst dies die Erinnerung an ihre Schulzeit aus, wo sie in Mathematik stets die Note „Eins“ erhielt. Später verwandelt sich das Soundword „Tapp! Tapp! Tapp!“, das das schnelle Laufen der kleinen Gerda untermalt, in ein „Kwi! Kwi! Kwi“ – das Geräusch, das der Rollator hervorruft.

Darüber hinaus ist „Der Sommer ihres Lebens“ von einem fein gesponnenen Netz der Leitmotive durchzogen. Peter spielt Gerda den „Beatles“-Song „Blackbird“ vor; Amseln flattern durch den Comic und werden zu Seelenvögeln; ist vom Fliegen die Rede, schwingen untergründige Bedeutungen mit. Mehrfach blickt Gerda auch in den Sternenhimmel. Als Kind kann sie den Großen Bären nicht erkennen. „Aber du musst doch nur die Punkte verbinden“, sagt ihr Vater, „die einzelnen Punkte ergeben ein Bild.“ Genau das ist die Aufgabe, die Steinaecker hier dem Leser, der Leserin stellt: einzelne, exemplarische Szenen zum Ganzen eines Lebens zusammenzufügen.

Dass der Autor mit der gleichaltrigen Barbara Yelin eine Partnerin für dieses ambitionierte Projekt gefunden hat, ist ein großes Glück. Wenn Hergé, der Schöpfer von „Tim und Struppi“, der Meister der „Klaren Linie“, der sauber gezogenen Konturen war, dann ist Yelin eine Meisterin des kunstvoll ungenauen Strichs. Sie löscht die Spuren des Arbeitsprozesses nie völlig, sodass ihre Zeichnungen wie kolorierte Scribbles wirken, zugleich detailliert und skizzenhaft. In „Der Sommer ihres Lebens“ wagt sie sich zudem an komplexe, aber nie überspannt-selbstverliebte Panelarchitekturen, die zum Teil über zwei oder drei Seiten reichen.

Ursprünglich sollte „Der Sommer ihres Lebens“ in einer Tageszeitung erscheinen, bevor er zum Webcomic wurde, veröffentlicht auf hundertvierzehn.de, einer Site des Fischer Verlags, wo er nach wie vor einzusehen ist. Fünfzehn Kapitel entsprechen dort jeweils nur einer Seite, die sich durch Scrollen von oben nach unten erschließt. Im Buch besteht jedes Kapitel aus drei bis fünf Seiten. Durch dieses energische Ummontieren verlieren manche der Seitenkompositionen an Kühnheit, andere dagegen sind sogar noch schlüssiger. In welcher Version auch immer: „Der Sommer ihres Lebens“ ist nicht nur ein berührendes Werk, sondern führt auch prägnant vor, wie fruchtbar Teamarbeit im Comic sein kann.

Thomas von Steinaecker (Text), Barbara Yelin (Zeichnungen): „Der Sommer ihres Lebens“.
Reprodukt Verlag, Berlin 2017. 80 Seiten, 20 Euro.

Dieser Text erschien zuerst in der taz.

AYA

( , Regie: )

Im Hotel der tausend Sterne
von Christoph Haas

Über den nächtlichen Marktplatz spannt sich ein Van-Gogh-Himmel. Grünblau ist er, überzogen mit weißen Schraffuren und unruhigen schwarzen Schlieren. Ein Sichelmond überstrahlt mit seinem hellen Leuchten die Milchstraße. Tagsüber drängen …

Über den nächtlichen Marktplatz spannt sich ein Van-Gogh-Himmel. Grünblau ist er, überzogen mit weißen Schraffuren und unruhigen schwarzen Schlieren. Ein Sichelmond überstrahlt mit seinem hellen Leuchten die Milchstraße. Tagsüber drängen sich hier im Zentrum von Yopougon, einem quartier populaire der riesigen ivorischen Metropole Abidjan, die Menschen. Jetzt erfüllen die verlassenen Tische und Stände einen anderen Zweck: Von missgünstigen Erwachsenen ungestört, ist es den jugendlichen Anwohnern an diesem Ort möglich, miteinander zu reden, zu flirten und auch Zärtlichkeiten auszutauschen.

Zu den Stammkunden des „Tausend-Sterne-Hotels“, wie es allgemein ironisch genannt wird, zählen die Mädchen Bintou und Adjoua. Sie bandeln beide mit Moussa an, dem eher nichtsnutzigen Sohn des neureichen Bonaventure Sissoko, der die örtliche Bierbrauerei besitzt. In dieser arbeitet wiederum Ignace, der Vater von Aya. Sie ist zwar die beste Freundin von Bintou und Adjoua, kann über deren Affären aber nur den Kopf schütteln. Aya ist nicht primär darauf aus, sich einen Mann zu angeln; ihr großer Traum besteht darin, Ärztin zu werden.

Aya“ ist bereits vor ein paar Jahren vom Carlsen Verlag auf Deutsch veröffentlicht worden. Die Neuauflage von Reprodukt vereint erstmals alle Einzelalben in zwei voluminösen Bänden. Schon anlässlich des ersten Erscheinens wurde darauf hingewiesen, dass dieser Comic sich in erfrischender Weise von dem sonst üblichen, durch Katastrophen geprägten Afrikabild abhebt.

In „Aya“ gibt es also weder Kindersoldaten noch ethnische Konflikte, weder Hungersnöte noch Korruption. Das Abidjan der späten Siebziger, das die dort gebürtige Marguerite Abouet schildert, ist vielmehr Schauplatz alltäglicher, familiärer Konflikte, die überwiegend universalen Charakter besitzen. Das liegt auch daran, dass Abouet sich stark am Vorbild der Soap-Opera orientiert. Zwar kehren bestimmte Motive wieder, dennoch wird in „Aya“ keine zusammenhängende Geschichte erzählt. Stattdessen verknüpft Abouet lose Ereignisse und Konflikte, die teils aufeinander folgen, teils parallel laufen.

So leichthändig Abouet erzählt, so ist doch bedauerlich, dass ausgerechnet die Hauptfigur etwas blass bleibt. Abgesehen davon, dass sie sich hartnäckig dem erwarteten weiblichen Rollenverhalten verweigert, würde man doch gern etwas mehr über Aya erfahren. Sehr geschickt ist die Autorin allerdings darin, das Ernste mit dem Komischen zu verbinden. Wenn junge Männer auf der Straße Aya dreist anquatschen, wird die Grenze zur sexuellen Belästigung schnell überschritten.

Die Eltern von Moussa, die in einem Art-déco-Traumhaus wohnen und arme Mitbürger gern verächtlich als „Bauern“ bezeichnen, verdeutlichen die Kluft zwischen Reich und Arm, zwischen Stadt und Land. Und Albert, der Bruder von Adjoua, leidet unter seinem Schwulsein, das er höchstens sich, nicht aber seiner strikt homophoben Umwelt eingestehen mag.

In den Bildern von Clément Oubrerie dominieren Gelb-, Ocker- und Brauntöne, savannenhafte Farben, von denen sich die bunte Kleidung vor allem der weiblichen Figuren abhebt. Trotz der lockeren Strichführung ist unterschwellig ein Einfluss der Ligne claire zu verspüren. Moussa mit seinem etwas leeren Gesicht und seiner Haartolle wirkt wie ein flegelhafter Halbbruder von Hergés Tim. Sowohl in erzählerischer wie in zeichnerischer Hinsicht verbinden sich in „Aya“ Elemente unterschiedlicher Provenienz zu einem unterhaltsamen Ganzen.

Dieser Text erschien zuerst in der taz.

Marguerite Abouet (Text) und Clément Oubrerie (Zeichnungen): „Aya“
Aus dem Französischen von Kai Wilksen. Reprodukt Verlag, Berlin 2014. 360 Seiten, 39 Euro

Marguerite Abouet (Text) und Clément Oubrerie (Zeichnungen): „Aya: Leben in der City“
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. Reprodukt Verlag, Berlin 2014. 376 Seiten, 39 Euro

Wimbledon Green

( , Regie: )

Melancholische Sammlerwut
von Sven Jachmann

Es gibt in Pixars „Ratatouille“ die berühmte Szene, in der der gefürchtete Restaurantkritiker Anton Ego skeptisch vom ihm dargebotenen Mahl kostet und mit dem ersten Biss schlagartig in seine Kindheit …

Es gibt in Pixars „Ratatouille“ die berühmte Szene, in der der gefürchtete Restaurantkritiker Anton Ego skeptisch vom ihm dargebotenen Mahl kostet und mit dem ersten Biss schlagartig in seine Kindheit an Mutters Küchentisch zurückversetzt wird. Das schönste ästhetische Erlebnis, sagt uns das wohl, ist vor allem die Überwältigung bei der Suche nach jener Erfahrung des Glücks, die uns die größte Geborgenheit versprach, und da kann der Kritiker noch so viel mäkeln, er wird schon verstummen, wenn er auf etwas trifft, was dieses Glück am reinsten konserviert. Man kann das natürlich auch regressiv verstehen, als stoisches Dümpeln im flow der kindlichen Unschuld, als Widerwillen Neues und Anderes zu verstehen, als infantilen Wiederholungszwang, zu dessen Gunsten sogar die Kunst instrumentalisiert wird, weil sie das fragwürdige Versprechen, Essenz des Glücks zu sein, immer wieder bricht.

An diesem Widerspruch kommt der kanadische Zeichner und Autor Seth ins Spiel. Die Figuren in seinen Geschichten bewegen sich an der Schnittstelle von Konservatismus und Extravaganz. Schon deshalb sind sie leicht entzifferbare Chiffren ihres Schöpfers. Der sehnt wie sie eine Zeit herbei, in der die Moderne als Signum für Ordnung und sicherheitsstiftende (eben auch mentale) Serialität, eines zaghaften Fortschreitens zum Besseren, ob nun künstlerisch oder ideologisch, galt. Das ist natürlich pure Projektionsleistung, und deshalb steckt in Seths Figurenarsenal auch stets eine Melancholie, die zwar Veränderungen fürchtet und das Vergangene betrauert, der es noch mehr aber vor ihrer eigenen Erosion graust. In „Eigentlich ist das Leben schön“ liest sich das sehr manifest, wenn Seth als Comic-Figur einen unbekannten, fiktiven Cartoonisten der Zeitschrift New Yorker ausfindig zu machen versucht, vor allen Recherchebemühungen aber seinen Selbstzweifeln und Identitätskrisen das Primat einräumt und seine gelegentliche Abscheu vor Bettlern und Nonkonformisten nur schwer verbergen kann. Bevor ideologiekritisch losgepoltert wird: Diese Xenophobie ist gleichermaßen Teil der Selbstzweifel und rückt vor allem die kultivierte Nostalgie – das Faible für das golden age of comic, überhaupt die Glorifizierung vergangener Jahrzehnte – ins eben auch akut Neurotische. Seths Begeisterung gilt nicht den Außenseitern und Losertypen an sich, sondern den Exzentrikern, die die Nostalgie zur Tugend erhoben haben; um diese Ambivalenz weiß er selbst am besten.

Wimbledon Green ist ganz sicher kein Losertyp. Immerhin ist er, so verrät bereits der Untertitel, der größte Comicsammler der Welt. Und um das zu erreichen, braucht es schon das Kapital eines Großindustriellen. Viel mehr gibt es über ihn eigentlich nicht zu erfahren, denn Wimbledon Green ist zwar die Hauptfigur, aber nicht der narrative Mittelpunkt, genau genommen handelt es sich bei ihm nicht mal um einen runden Charakter: Wenn er auftritt, dann nur mit typisierenden Eigenschaften, irgendwo zwischen gierigem Jäger und unnahbarem Aristokrat, der beharrlich und eitel, aber stets würdevoll seiner Gegner aussticht. Die Geschichte ist ein Mosaik und bedient sich der Stilmittel des Dokumentarfilms: talking heads, ehrfürchtige Bewunderer wie erbitterte Konkurrenten, dominieren die aufs Minimum reduzierten Panels, von denen sich durchaus bis zu 30 auf einer Seite tummeln können, immer die Frage erörternd, wie dieser Green bloß an seine Position gelangen konnte. Klar ist: Der Mann ist ein Unikum. „Er erkannte das Erscheinungsjahr an der Platzierung der Heftklammern“, sagt zu Beginn ein konsternierter Händler.

Es geht hier aber weniger um eine Biographie, auch nicht einzig um eine Hommage. „Wimbledon Green“ ist auf den ersten Blick Oral History, die Apotheose einer vergangenen wie fiktiven Comickultur. Es gibt Bilder der Glanzstücke aus Greens Sammlung, Ausschnitte seiner Lieblingscomics und der reduziert-cartooneske Stil (für den sich der Autor unnötigerweise im Vorwort entschuldigt) scheint mittels seiner Flüchtigkeit mit aller Mühe einer vom Vergessen bedrohten Epoche nachkommen zu wollen, bevor ihre Artefakte unwiederbringlich verloren sind. Die furiose, augenzwinkernd und überspitzt für die Sammlerszene variierte Verfolgungsjagd im Mittelteil, in der in bester Superheldenmanier einige Sammler inklusive Green zur Jagd auf ein besonders rares Heft ansetzen, geht dann jedoch über die Hommage an den dichotomen Kampf zwischen Helden und Antagonisten hinaus. Denn unschwer zu erkennen stilisiert sich Seth selbst in Gestalt des Jonah zu Greens ärgstem, vor Verbrechen nicht zurückschreckendem Widersacher. Eitelkeit, Selbstmitleid, Kulturpessimismus, Narzissmus, Exzentrik, Egozentrik, Bigotterie, allesamt Eigenschaften, derer sich der Seth aus „Eigentlich ist das Leben schön“ immer wieder geißelt, die auch schließlich dafür verantwortlich sein werden, dass Jonah von Green das Handwerk gelegt wird. Wenn also Green im Epilog sinnierend durch die nächtlichen Straßen flaniert (und wir von den talking heads zuvor erfuhren, dass er von einem Tag auf den nächsten verschwunden war), über den Tod seiner Mutter nachdenkt (und wir zuvor im Vorwort erfuhren, dass der Autor während der Entstehung des Werks den Verfall seiner demenzerkrankten Mutter miterleben musste) und dadurch abschließend doch noch mit biographischen Details ausgestattet wird, dann ist das Zepter des vom Selbsthass zerfressenen Egozentrikers an den Melancholiker weitergereicht worden, dessen Sammelmanie urplötzlich wiederum etwas ungemein Trauriges besitzt: das Wissen darum, dass kein Artefakt der Welt das Glück konservieren kann und dass die Suche danach eine unendliche bleiben muss. Sollte Seth vielleicht also immer dieselbe Geschichte erzählen – seine eigene -, dann tut er das beeindruckend variantenreich.

Seth (Text und Zeichnungen): Wimbledon Green. Der größte Comicsammler in der Welt.
Aus dem amerikanischen Englisch von Kai Wilksen und Uli Pröfrock. Edition 52, Wuppertal 2009. 128 Seiten. 25 Euro

FÜNFTAUSEND KILOMETER IN DER SEKUNDE

( , Regie: )

Wirklich folgenschwere Entscheidungen
von Sven Jachmann

Dass die Menschen im Klammergriff von Flexibilisierung und Mobilität auch in ihrer Konstellation als Liebespaare jederzeit von der Entfremdung eingeholt zu werden drohen, mag kein besonders origineller Befund mehr sein. …

Dass die Menschen im Klammergriff von Flexibilisierung und Mobilität auch in ihrer Konstellation als Liebespaare jederzeit von der Entfremdung eingeholt zu werden drohen, mag kein besonders origineller Befund mehr sein. Trotzdem begibt sich der italienische und nach Zwischenstationen in Berlin und Norwegen nun in Paris lebende Comiczeichner Manuele Fior in seiner vierten Buchveröffentlichung an die Chronik einer Beziehung und mit ihr an all die äußeren wie inneren Hürden, die das Versprechen auf Glück zur ungewollten Tortur derangieren.

Zwar spielt das Thema Liebe in sämtlichen Werken Fiors eine gewisse Rolle, in der 2011 beim Comicfestival von Angoulême mit dem Preis für das beste Album ausgezeichneten Graphic Novel „Fünftausend Kilometer in der Sekunde“ jedoch wächst es zum strukturierenden Element. Viel Gutes weiß Fior der Liebe nicht zu bescheinigen. Bereits der Titel spricht von der Distanz, die die beiden Hauptfiguren Lucia und Piero räumlich trennt und von ihnen auch nicht mental überwunden werden kann. Fünftausend Kilometer liegen zwischen Oslo, wo Lucia ein Auslandssemester antritt, und Kairo, dem Ort von Pieros neuem Arbeitsplatz als assistierender Archäologe. Fünftausend Kilometer und eine Sekunde Zeitverzögerung, die beim behutsamen Telefongespräch ihre Trennung auch zeitlich zementiert. Zu diesem Zeitpunkt sind die zwei bereits kein Paar mehr, aber zumindest Pieros erotische Fieberträume zeugen von immensen Qualen, die sich kaum verarbeiten lassen.

Der narrative Clou besteht nun darin, dass Fior all jene bereits tausendfach kolportierten Elemente, die das Idyll und die Intensität einer jungen Liebe besingen, ausspart. Stattdessen werden in sechs Kapiteln und einem kurzen Epilog die Nachwehen arrangiert, Situationen, denen folgenschwere Entscheidungen vorausgingen, sodass die Liebe selbst zur Leerstelle gerät, die schmerzhafte Konsequenzen erzeugt. Dabei beginnt alles so leichtfüßig wie im französischen Kino: In grün-gelben Wasserfarben und schwüler Atmosphäre beobachtet der schüchterne Piero zusammen mit seinem ruppigen Freund Nicola die neuen Mieter beim Einzug ins Nachbarhaus gegenüber. Aus Langeweile wird Interesse, als sie unter den Neuankömmlingen Lucia erspähen.

Nur wenige Tage und ein paar aufmunternde Jungsgespräche später jubelt Piero auf dem Mofa seinem ersten Date entgegen. Es folgt jedoch kein adoleszenter Liebestaumel, sondern jäh die Trennung. Im anschließenden Kapitel erreicht Lucia ein paar Jahre später ihre norwegische Gastfamilie, verliebt sich in den Mitbewohner Sven, nutzt die neue Umgebung, um sich von der mittlerweile zermürbenden Liaison mit Piero zu befreien. In wechselnder Chronologie, die immer ein paar Jahre ausspart, geht es weiter: Piero kommt in Kairo an und erfährt dort unmittelbar, dass seine neue Freundin schwanger ist. In Oslo wiederum verkracht sich Lucia, die mittlerweile ebenfalls ein Kind erwartet, mit Sven und plant dann ihre Rückkehr nach Italien.

Die die Gefühle der Figuren duplizierenden Farben, die jedem Kapitel eine strenge Signatur verleihen, ersetzen dabei überflüssige Worte. Sie werden zum Platzhalter des in der Erzählung behaupteten, jedoch nie gezeigten Glücks. Nach einem besonders radikalen Zeitsprung, wenn mindestens ein Jahrzehnt verstrichen und das nächtliche Szenario vollends in ein dunkles, verwaschenes Lila getränkt ist, treffen sich Lucia und Piero in einer Pizzeria ihrer alten Heimatstadt wieder: älter, reflektierter, korpulenter, resignierter, aber immer noch von einer gegenseitigen Faszination beflügelt.

Es ist ein bedrückendes, emotionales Niemandsland, in das Fior die zwei sehnsüchtig Darbenden, die sich nur noch verstohlen in Worten nahe sein können, entlässt. Ein kurzer trauriger Augenblick, in dem die beiden auf der Kundentoilette jede Selbstkontrolle fahren lassen, führt ihnen schließlich vor Augen, dass sich die Unschuld aus vergangenen Zeiten nie wiederherstellen lässt. Und es bleibt ununterscheidbar, was eigentlich für dieses Dilemma verantwortlich ist: Eine freie Entscheidung aus der Vergangenheit oder ein Rationalitätsprinzip, das sich als Druck der Verhältnisse zwischen die Liebenden zwängt und ihnen eine unumkehrbare Wahl zwischen Beruf oder Beziehung abverlangt.

Dieser Text erschien zuerst in der taz.

Manuele Fior: „Fünftausend Kilometer in der Sekunde“.
Aus dem Italienischen von Maya della Pietra. Avant Verlag, Berlin 2011. 144 Seiten. 19,95 Euro

UNVERGESSENE ZEITEN

( , Regie: )

Schicksalhafter Faden
von Sven Jachmann

Es ist natürlich eine verlockende Vorstellung: Der 40-jährige Robert Andrew Wicks begibt sich in eine Hypnosetherapie, deren Ziel eigentlich darin besteht, ihm endlich das Rauchen abzugewöhnen. Doch anstatt wie vermutet …

Es ist natürlich eine verlockende Vorstellung: Der 40-jährige Robert Andrew Wicks begibt sich in eine Hypnosetherapie, deren Ziel eigentlich darin besteht, ihm endlich das Rauchen abzugewöhnen. Doch anstatt wie vermutet einen spirituell aufgeladenen Spuk zu erleben, befindet er sich urplötzlich wieder auf der High School und erlebt seine Teenagerzeit ein zweites Mal, allerdings mit dem erwachsenen Bewusstsein von seiner eigenen Vergangenheit. Das ist ein popkulturell schon oftmals erprobtes Szenario, und das weiß natürlich auch Robert, der sich sofort ans Zeitreiseparadoxon der „Zurück in die Zukunft“-Trilogie erinnert fühlt. Tatsächlich gleicht das Setting eher dem aus Francis Ford Coppolas High-School-Romanze „Peggy Sue hat geheiratet“ oder Jiro Taniguchis epochaler Jugendreflexion „Vertraute Fremde“.

Robert durchlebt seine Vergangenheit erneut, wenige Tage vor seinem ersten Zug an einer Zigarette. Angespornt von dem Glauben, in dieser Situation bloß triumphierend ablehnen zu müssen und damit die notwendige Katharsis auszulösen, versucht er die jungen Tage zu genießen, holt ein wenig versäumte Rebellion nach, verabredet sich mit dem Mädchen, das ihm früher so unnahbar erschien und begegnet den innerfamiliären Konflikten nun mit mehr Empathie. Trotzdem bleibt eine Leerstelle bestehen. Denn obwohl Robert der angebotenen Zigarette widersteht, kehrt er nicht in sein gegenwärtiges Leben zurück.

Und diese Leerstelle ist es auch, die aus der für Alex Robinsons Verhältnisse außerordentlich kurzen Erzählung im Gewand einer Coming-of-Age-Geschichte eine dramatische Introspektion uneingestandener Ängste zaubert. Bereits in seinen vorherigen, mehrere 100 Seiten umfassenden Mammutwerken „Tricked“ (unter dem Titel „Ausgetrickst“ ebenfalls bei der Edition 52 erschienen) und „Box Office Poison“ tänzelten die Figuren leichtfüßig am Abgrund, zusammengehalten von einem roten, schicksalhaften Faden, der sie vom Glück schlagartig ins existenzielle Elend führte.

Das erinnerte hier und da, insbesondere was die immer bedrohlichere und so unausweichlich erscheinende Engführung der individuellen Krisen betrifft, an „Magnolia“ von Regisseur Paul Thomas Anderson. Und so wie Anderson im Anschluss an „Magnolia“ zunächst einmal Understatement betrieb, indem er „Punch Drunk Love“ drehte, gewinnt man auch bei Robinson den Eindruck, dass sich hier ein Autor nach den zahlreichen Auszeichnungen für seine Vorgänger erst mal Luft verschaffen musste und sich nun an der kleineren Form versucht.

Der Plot kapriziert sich völlig auf Roberts jüngeres Pendant, und dank des Twists am Schluss gerät der heitere Duktus der Schulerlebnisse zum bitteren Durchmarsch ins Herz eines fortwährenden Traumas. Das wirkt umso bedrückender, weil Robinsons schwarzweißen Zeichnungen sich vor allem auf ein differenziertes Minenspiel konzentrieren und Robert eine unwissentliche Unschuld andichten, die er als Erwachsener nur mittels Verdrängung aufrechterhalten kann. Immer wieder brechen die Panels auseinander, überlappen sich in parallelen Montagen, als wollten die verborgenen Erinnerungen in den Erzählkosmos hineinbrechen.

Somit offenbart sich Roberts Odyssee durch seine eigene Vergangenheit auch für den Leser als unerwartetes Puzzlespiel, der wie Robert zum Schluss realisieren muss, dass das Rauchen die sicherlich unbedeutendste Chiffre dieser nachgeholten Sinnsuche war. Letztlich fügt sich also auch Roberts Figur in die Phalanx von Robinsons gebrochenen Alltagshelden, deren mannigfaltige Fluchtversuche stets und meist recht tragisch in der kathartischen Konfrontation mit ihrer mentalen Verdrängungspraxis enden. Dass Alex Robinson dieses Muster auch in ein im Kern humoristisches Sujet brillant zu integrieren schafft, ist nur geringfügiges Zeichen für seine exponierte Stellung innerhalb der gegenwärtigen amerikanischen Comicautorengarde.

Dieser Text erschien zuerst in der taz.

Alex Robinson: „Unvergessene Zeiten“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Plein. Edition 52, Wuppertal 2010. 128 Seiten, 12 Euro

Lulu – Die nackte Frau

( , Regie: )

Sie war noch niemals in New York
von Ricardo Brunn

Plötzlich ist sie da. Obwohl sie sich in der Rückschau natürlich über einen längeren Zeitraum angekündigt hat, überrascht ihr Auftritt doch den, den sie erwischt: Die Sehnsucht aus dem eigenen …

Plötzlich ist sie da. Obwohl sie sich in der Rückschau natürlich über einen längeren Zeitraum angekündigt hat, überrascht ihr Auftritt doch den, den sie erwischt: Die Sehnsucht aus dem eigenen Leben auszubrechen. Sehnsucht weniger im Sinne eines Fernwehs, sondern als schmerzvoller Abschied, als Versuch vermeintlichen Sackgassen zu entkommen, weil die Lebenssituation wie ein unauflöslicher Betonklotz erscheint, es keine Außenperspektive mehr gibt, die einen anderen Blick und damit Offenheit suggerieren könnten. Und zuerst ist diese Sehnsucht eine gedankliche Flucht verbunden mit der Frage, in was man da nur hineingeraten ist und Leben nennt. Irgendwann werden die Fragen mehr und gewichtiger, nur gesellen sich zu ihnen keine Antworten. Bleischwer und ausweglos folgt ein Tag auf den anderen. „Noch einmal voll von Träumen sein, sich aus der Enge hier befrei’n“, heißt es bei Udo Jürgens, der Zeit seines Lebens von nichts anderem als der Sehnsucht gesungen hat. Und eines Tages verschwindet man dann tatsächlich aus dem eigenen Leben, lässt alles zurück. So wie Lulu, 40 Jahre alt und Mutter dreier Kinder nach einem missglückten Bewerbungsgespräch plötzlich von ihren Füßen aus dem Alltag heraus getragen wird. Ein Anruf bei der Familie noch, der beruhigend gemeint ist, aber auf der Gegenseite nur Unverständnis provoziert, dann ist sie allein mit dem Schlüssel in der Hand in einem Hotelzimmer. Mit dieser Plötzlichkeit einer sich in Wirklichkeit verwandelnden Sehnsucht beginnt der französische Autor Étienne Davodeau seine nicht weniger als großartig zu nennende Graphic Novel „Lulu – Die nackte Frau“.

Das, was über Lulus Verschwinden bekannt ist, darüber berichten ihre Freunde und die Familie. Und weil es so plötzlich geschehen ist wird auch der Erzähler kurz zurückgepfiffen und gebeten mit seinem Bericht zu warten bis die Kinder ins Bett gebracht wurden. In der Folge werden Vermutungen angestellt und tatsächlich Erlebtes zusammengetragen. Man wechselt sich ab, bleibt ratlos stehen, nimmt den Faden der Erzählung wieder auf, begibt sich auf Spurensuche in das Leben einer Person, die man dachte zu kennen. Lulu selbst liefert keine Antworten für ihr Verhalten. Étienne Davodeau begleitet sie einfach durch die Welt. Nur in zaghaften Nebensätzen wird Lulus Dilemma deutlich, wenn sie sich ausmalt, was in den kommenden Jahren Gutes passieren hätte können und sie darauf einfach keine Antwort findet. Die Beschreibungen und Dialoge nähern sich mit ehrlichem Staunen Lulus unauflösbarem Gefühlsstau. Es ist die Kraft der Berichterstattung, die hier die Reflexion ermöglicht, die nach dem Ende so häufig einsetzt und für verständnisvolle Klarheit sorgt. Auf diese Weise setzt der Autor den vielen Momenten der Erzählung, die allen Klischees des Road Movies sehr nah rücken, eine Ernsthaftigkeit in der Betrachtung der Figur entgegen, die von großem Respekt und Verständnis geprägt ist. Behutsam bewegt sich Davodeau an der Schwelle entlang, an der Sehnsucht in Wirklichkeit kippt, das Ende einen Anfang bedeutet oder irgendwo dazwischen im Moment verharrt.

Wie stark diese Graphic Novel ist lässt sich auch an den unspektakulären Bildern ersehen, denen in ihrer Schlichtheit ein Höchstmaß an Spannung zu Eigen ist. Den pastellig abgelebten und verwaschenen Farben sieht man 40 Jahre Dasein und die Ratlosigkeit der Protagonistin einfach an. Wie Kaffeeflecken auf einer Tischdecke evozieren sie Gedanken an die Vergangenheit. Der unruhige Strich umrandet labil die Bildkader und verleiht den Gesichtsausdrücken eine erdrückende Kraft. Das Ende und einen Neuanfang nie fest im Blick, aber latent in jedem Bild erspürbar, erwachsen aus den zittrigen Zeichnungen knochige und zugleich anmutige Physiognomien, die in ihrer schnoddrigen Einfachheit Raum für die Lebenserfahrung und die Unsicherheit der Figuren lassen. Dicke Wangen, schiefe Nasen und ungekämmtes Haar erzählen von der Enge und den Irrwegen, die das Leben einem manchmal aufzwingt. Und plötzlich bekommen die Bilder eine Breite in denen sich das weiß und die Nacktheit, im Sinne einer neuen Offenheit, ungewohnt und deshalb noch unsicher ausdehen darf, wenn Lulu den Strand erreicht.

Nacktheit ist in „Lulu – Die nackte Frau“ ausschließlich auf die emotionalen Zustände der Protagonisten zu beziehen, die hier von außen (in der Beschreibung von Freunden und Familie) und von innen (wenn wir ganz nah bei Lulu sind) erfahrbar werden und die eigene Nacktheit in der Welt transzendieren. Aus Davodeaus Buch wird jede Leserin geschüttelt und um einige Erfahrungen bereichert ins eigene Leben zurückkehren. Und wie das Leben selbst gern elliptisch seine Bahnen zieht und immer wieder Situationen schafft, die einem bekannt vorkommen, zur Reflexion zwingen oder zum andächtigen Schweigen raten, schwingt auch „Lulu – Die nackte Frau“ – ohne, dass es konstruiert wirken würde – in einer Kreisbewegung aus, entlässt die LeserInnen mit dem Gefühl, dass die belebende Kraft der Flucht auch ins Leben zurück führen kann, weil dadurch erst ein Referenzrahmen geschaffen wird, der das Erlebte mit anderen Augen sehen lässt. Und es liegt eine große Beruhigung darin, dass das Leben diese Ellipsen schlägt, nicht nur erbarmungslos nach vorne prescht und Zurückliegendes in Zurückgelassenes verwandelt. Selbst, wenn manchmal die physische Rückkehr nicht möglich ist, der Geist darf irgendwann beruhigt an den Anfang erinnern, als eine große Offenheit die Angst vor der Nacktheit einfach hinfort gespült hat und einen Sprung ins Leben ermöglicht hat.

Étienne Davodeau: Lulu – Die nackte Frau. Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter Verlag. Bielefeld 2012. 160 Seiten, 24,80 Euro

Dieser Text ist zuerst erschienen in: comic.de

VALENTINA UNDERGROUND & FRITZ THE CAT

( , Regie: )

Dauergeiler Kater und bizarre Bondage-Posen
von Christoph Haas

Das „Schwarze Quadrat“ von Malewitsch, die Sex Pistols, Oliver Stones Film „Natural Born Killers“ – vieles von dem, was früher mächtig Skandal gemacht hat, ist inzwischen längst ein Klassiker. Aber …

Das „Schwarze Quadrat“ von Malewitsch, die Sex Pistols, Oliver Stones Film „Natural Born Killers“ – vieles von dem, was früher mächtig Skandal gemacht hat, ist inzwischen längst ein Klassiker. Aber es gibt auch den umgekehrten Fall. Manches, das zu seiner Entstehungszeit als aufregend galt, erweist sich später als schlecht gealtert; es ist zum bloßen Dokument geworden. Die zerfließenden Uhren von Dali – sind die eigentlich nicht doch recht kitschig? Und das Spätwerk von Heinrich Böll – ist es nicht ebenso obsolet wie die erbitterten ideologischen Grabenkämpfe der siebziger Jahre?

Auch bei den prachtvollen neuen Ausgaben von Robert Crumbs „Fritz the Cat“ und Guido Crepax’ „Valentina“ lautet die Frage: Wie lesen sich diese Werke heute? Beide Zeichner gehören einer Generation an. Crumb wurde 1943 geboren, der 1933 geborene Crepax verstarb 2003. Beide begannen Mitte der Sechziger, Comics zu machen, die stark vom libertären Geist dieser Ära geprägt sind und zuvor undenkbar gewesen wären – noch in den Achtzigern setzte die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften mehrere Publikationen von Crepax auf den Index.

Der Ruf, den „Fritz the Cat“ genießt, beruht auf gerade 15, zwischen 1964 und 1972 entstandenen Geschichten. Allerdings ist nur ein Drittel mehr als einige Seiten lang; ein paar One-Pager sind auch darunter. In „Hier kommt Fritz“ besucht der Kater zum Auftakt seine Mutter auf dem Land und treibt es bei dieser Gelegenheit gleich mit seiner kleinen, drallen Schwester. In „Ein Groupie geht aufs Ganze“ ist Fritz ein Rockstar, der ein Vogelmädchen, das ihn verfolgt, mit Haut und Federn auffrisst. Zum Schluss, in „Fritz the Cat Superstar“, ereilt ihn dann sein Schicksal: Er wird von einer eifersüchtigen Verehrerin mit einem Schraubenzieher erstochen.

Im Grunde geht es Crumb hier mit gar nicht klammheimlichem Vergnügen immer nur um das eine: Er lässt den Kater sich als asozia­les und dauergeiles Monster aufführen. Das war seinerzeit ein Schock, nicht zuletzt weil diese anthropomorphe Tierwelt der dreckige, subkulturelle Gegenentwurf zu den sauberen Disney-Comics war, in denen Sex und Gewalt nicht die geringste Rolle spielen durften. Dieser Effekt hat sich nun jedoch stark abgenutzt – nicht dass Fritz sympathisch geworden wäre, aber wer Gangster-HipHop und „Game of Thrones“ gewöhnt ist, der findet das wüste Treiben, das hier gefeiert wird, auch nicht mehr völlig ungewöhnlich.

Sehr deutlich wird im Gegenzug, wie sehr „Fritz the Cat“ ein Frühwerk ist. Erst in „Superstar“ hat Crumb sich zeichnerisch ganz gefunden; erst hier besitzen seine schraffurreichen Bilder jene sagenhafte, fast reliefartige Plastizität, für die er berühmt ist. Was die Schilderung von Trieben und Obsessionen angeht, sind seine autobiografisch inspirierten Arbeiten, mit denen er in den frühen Siebzigern anfing, viel differenzierter. Dass er Fritz sterben ließ, hatte daher wohl nicht nur damit zu tun, dass ihn der Rummel nervte, den Ralph Bakshis Zeichentrickversion des Comics ausgelöst hatte: Crumb war dieser Figur vielmehr künstlerisch entwachsen.

Nur wenig später als „Fritz the Cat“ betrat „Valentina“ die Bühne der Erwachsenen-Comics. Die junge Frau ist eine italienische Fotografin. In „Die Lemnos-Kurve“, ihrem ersten, 1965 erschienenen Abenteuer, deckt sie zusammen mit dem amerikanischen Kunstkritiker und Galeristen Phil Rembrandt ein Mordkomplott im Rennfahrer-Milieu auf. Phil wird ihr Partner, außerdem besitzt er eine Doppelidentität: Mit paranormalen psychischen Kräften ausgestattet, bekämpft er unter dem Namen Neutron das Verbrechen. Weitere Abenteuer konfrontieren Valentina und Phil immer wieder mit den „Unterirdischen“, einem Volk, das in den Tiefen der Erde lebt. Die Plots in „Valentina“ sind fast immer teils trivial, teils arg konstruiert oder sprunghaft-verworren. Gern dienen sie auch als Vorwand, die Heldin – oder andere weibliche Figuren – zu entkleiden und in bizarren Bondage-Posen zu zeigen.

Aber das ist eben nicht alles. Zu einer spannenden Lektüre wird der Comic durch die diversen Elemente, mit denen Crepax ihn anreichert und die ihn zu einem hybriden, schillernden Gebilde jenseits von Genregrenzen machen.

Ein wiederkehrendes Motiv sind Partyszenen; die schicken Interieurs und die Gesprächsfetzen zeugen von den künstlerischen und intellektuellen Interessen der damaligen In-Crowd. Die Liebe des Zeichners zum Jazz und den klassischen amerikanischen Zeitungscomics ist ebenso erkennbar wie sein berufliches Vorleben als erfolgreicher Werbegrafiker. Und schließlich gibt es auch einen verdeckt autobiografischen Zug: Phil Rembrandt ist physio­gnomisch Crepax nachgebildet, während dessen Ehefrau Louisa – die sich zur Doppelgängerin des Stummfilmstars Louise Brooks stilisierte – das Vorbild für Valentina abgab.

Ein guter Zeichner im konventionellen Sinne war Crepax nicht. Um korrekte Proportionen, sei es bei der menschlichen Anatomie, sei es bei Raumverhältnissen, kümmert er sich wenig, und seine Figuren haben oft eine marionettenhafte Steifheit. Aber er ist ein Meister im Umgang mit der Tusche; wie er große schwarze Flächen und feine schwarze Linien zu kombinieren weiß, das ist von einer großen Eleganz. Zu seinen Markenzeichen gehört das Arbeiten mit zum Teil sehr kleinen, rechteckigen oder quadratischen Panels, die einen Vorgang in viele Teile zerlegen und mitunter auf merkwürdige Weise den Eindruck entstehen lassen, die Zeit stehe still.

Crepax hat bis in die neunziger Jahre an „Valentina“ gezeichnet. Die Geschichten in den beiden Bänden, die jetzt vorliegen, stammen alle aus der Zeit bis 1972. Die mit Abstand beste ist die kürzeste und untypischste. In „Das standhafte Mädchen aus Papier“ ist die Heldin noch ein Kind, das sich in Andersens Märchen vom Zinnsoldaten hineinträumt. Imagination und Wirklichkeit gehen nahtlos ineinander über, und auf diesen zehn Seiten gelingt Crepax ein einfühlsames, geniales Comic-Äquivalent zur Bewusstseinsstrom-Prosa der literarischen Moderne.

Robert Crumb: „Fritz the Cat“
Aus dem amerikanischen Englisch von Heinrich Anders. Reprodukt Verlag, Berlin 2017. 128 Seiten, 29 Euro

Guido Crepax: „Valentina“ & „Valentina Underground“
Aus dem Italienischen von Günter Krenn und Paolo Caneppele. Avant-Verlag, Berlin 2015 und 2016. 208 bzw. 222 Seiten, jeweils 34,95 Euro

Dieser Text erschien zuerst in: taz

Herbst in der Hose

( , Regie: )

Altersgerecht altern
von Jürgen Kiontke

Das Thema Rente gilt als gnadenlos unhip, aber was heißt das schon. ­Viele junge Menschen beteiligen sich zum Beispiel an der derzeitigen ­Alterssicherungskampagne der Gewerkschaften. Kein Wunder, sie ­müssen noch …

Das Thema Rente gilt als gnadenlos unhip, aber was heißt das schon. ­Viele junge Menschen beteiligen sich zum Beispiel an der derzeitigen ­Alterssicherungskampagne der Gewerkschaften. Kein Wunder, sie ­müssen noch ein ganzes Leben schuften, da will man sich irgendwann ausruhen.

Die, die es in den Ruhestand geschafft haben, finden ihn wahrscheinlich auch ganz gut. Es sei denn, sie brauchen einen Nebenjob, um sich das altersbedingte Nichtstun zu ­finanzieren. Dann gibt es noch die Sandwich-Generation: Die ist, wie der Comiczeichner Ralf König, zwischen 50 und 60 Jahre alt und sagt sich schon ein Leben lang: „Ich bekomme sowieso nichts.“ Das stimmt. Nur dass dieser Umstand so langsam, aber sicher auch für diejenigen näherrückt, die ihr Leben dem Spaß gewidmet haben. Mit den Worten von Königs schwulen Figuren gesagt: „Ob wir uns später das Opernabo noch leisten können?“

Bald ist es so weit! Auch, dass das Leben für die älteren Semester dreimal so schnell vorübergeht wie für einen, der auf die Führerscheinzulassung wartet, ist Thema von Königs Prachtband mit dem sein Sujet etwas ins Alberne ziehenden Titel „Herbst in der Hose„. Trotz der Brisanz des Themas: Viele Comics über die Rente gibt es wohl nicht. Dabei schafft es König spielend, daraus Funken zu schlagen. Die beiden Hauptfiguren des für seine Knollennasen berühmten Zeichners, Konrad und Paul, sind in die Jahre gekommen. Königs Helden, homo­sexueller Durchschnitt, erlauben ihrem Schöpfer eine drastische Sprache – ein Markenzeichen neben seiner zeichnerischen und dramatur­gischen Genialität. Und so begibt sich der Leser auf eine knapp 200seitige Abenteuerreise Richtung alters­bedingter Mittellosigkeit. Die macht sich zwar zunächst in der schwulen Hose bemerkbar, dabei wird es aber nicht bleiben. Das Altern ist universell.

Das Buch ist pointiert gezeichnet und mehraktig im Stil einer griechischen Tragödie erzählt. Lustig ist es mitnichten, aber zugespitzt. In der Welt gezeichneter Bücher nimmt es eine Mittelstellung ein. Ein anderer Zeichner machte neulich darauf aufmerksam, dass Graphic Novels vom gagorientierten Comic weg zum endlos-langweiligen Brabbeln führen. Dementsprechend ist Königs neues Werk eindeutig ein Comic. Im Zentrum des Geschehens steht die Andropause, die Zeit der Wechseljahre für den Mann: Die Lederhose passt nicht mehr, ich kriege keinen mehr hoch.

Heiligabend wurde mit einer Rotweinflasche und Sissi-Filmen verbracht. Und die Freunde? Brigitte hat Hitzewallungen. Sie sagt: „Silvester war ich allein, und jetzt bloß keine Betroffenheit.“ Ins Bett gegangen ist sie vor Mitternacht und es hat ihr nicht mal was ausgemacht. Allein ist sie damit nicht. Die Partys haben sich seltsam verändert. Es gibt keine mehr.
Warum zieht es einen nicht mehr raus? Am schlimmsten sind die schleichenden Prozesse. Paul war im Club und musste entdecken, dass er kein Sexobjekt mehr ist. Da bleibt man gern zu Hause.

Königs Figuren, ob Mann oder Frau, sind sich einig: Frech ist, wenn hinter einem hergepfiffen wird. Schlimmer ist, wenn keiner hinter einem herpfeift. Dazu der Alltag: Wenn Paul und Konrad die heterosexuellen Freunde besuchen, kriegen sie die neue Gastherme gezeigt. Man wird nachlässig in der Öffentlichkeit. Die Knackarschhose für die Disko geht nicht mehr zu? Zieh doch einfach den Slip drüber! „Früher dachte ich: Schon eine Brille tragen ist der Tod“, heißt es an einer Stelle.

Altersgerecht altern, das wär’s. Der Verfall des eigenen Körpers ist jetzt alltägliche Realität. Die einzige Chance, der Depression zu entgehen. ­besteht darin, das Alter vorzuziehen. „Ich bin in einer Seniorenwandergruppe und es stört mich nicht“ – so lauten die neuen Strategien der Entlastung. Mit Jack-Wolfskin-Sandalen und North-Face-Jacke sieht man nur dann doof aus, wenn man auch wahrgenommen wird. Aber alte Menschen sieht man nicht. Wer jünger ist, schaut schon aus Gründen der Scham einfach woanders hin. Nicht nur draußen, sondern auch im House-Club.

Zwischen den Kapiteln nehmen die Jammergestalten von Königs antikem Chor ihren Platz ein. Bald ist nur noch ein schmerzverzerrter Mund zu sehen, der die ganze Seite einnimmt. Eine Schreckensmaske, ein Abbild des Alters. Ein Mund, der ­keine Zähne hat.

König hat eine philosophische Comic Novel geschaffen. Am Ende steht der Tod, das wissen wir zwar alle, aber man spürt es erst im höheren Alter. König lässt den Tod – noch – nicht richtig heran an seine gezeichnete Alterskohorte 50 plus. Es sind die Hochbetagten, die im ­Altersheim, denen es richtig schlecht geht. Die Eltern der Knubbelfiguren übernehmen diesen Job, sie leben noch, so gerade. „Ich empfinde ­sogar mein Ableben als spannenden Vorgang“, lässt König einen 90jährigen sagen. Ebenso beiläufig lässt er mitteilen, dass man sich ab 80 die Hoden in den Hintern stecken kann, das habe er durch Zufall entdeckt („Das geht jetzt“). Viel wird von dem berichtet, was sonst in der Hose los beziehungsweise nicht mehr los ist. Die Witze schließen häufig unter der Gürtellinie ab.

Ich habe das Buch mitgenommen ins Bateau Ivre, eine schön-schrammelige, semihippe Kneipe in Berlin-Kreuzberg. Man sitzt dort draußen an der Hauswand; wer unter 30 ist, nimmt sein Frühstück um 17 Uhr flüssig ein und trägt die mit prekären Jobs finanzierten Tattoos zur Schau. Am Nebentisch sitzen die Comic­figuren in echt, sie sind jung und haben zerrissene Hosen. Man redet über Jobs, in denen weder Hosenlöcher noch Tätowierungen gebraucht werden. Sie wissen nicht, wie man den Job kriegt, geschenkt. Sie wissen auch nichts von den Nierensteinen und kaputten Knien von Königs ­Figuren. Beziehungsweise von meinen. Haben die es gut.

Auf Seite 89 fühle ich mich direkt angesprochen: „Jürgen rief gerade an. Georg hatte einen Herzinfarkt. Die Einschläge kommen näher.“ ­Gerade kommt einer, es ist ein recht alter Einschlag. Er ist schon der Zehnte, der binnen kurzer Zeit den Mülleimer nach Pfandflaschen durchwühlt.

Ein Blick zurück ins Buch: „Es gibt nicht mal schwule Altenheime“, ­werfen Konrad und Paul dazwischen. „Wir könnten sie auch gar nicht ­bezahlen.“ – „Sei sparsam – mit Geburtstagen, davon wird man alt.“ Für das Alter gibt es in Königs Buch sogar eine Definition: wenn aus ­Drogen Medikamente werden. „Wusstest du, dass viele Schwule im Alter entweder depressiv werden – oder gleich Suizid begehen?“

Ich muss eine Pause machen, lege das Buch weg und schaue mir den Facebook-Account an. Ein Kollege hat Folgendes gepostet: Auf einer indonesischen Insel werden alle drei Jahre die Toten aus den Gräbern geholt, abgestaubt und fein angezogen. Dann feiert man ein Fest mit ihnen. Gut zu wissen, dass es ein Leben nach dem Leben gibt.

„Ein Werk der Reife also und eine ganz unverlogene Auseinander­setzung mit dem Unvermeidlichen“, schreibt der Verlag zu Königs Buch. Manchmal wünscht man sich mehr Härte von ihm, aber er ist eine freundliche Frohnatur. Für sein ­Lebenswerk wird der Comizeichner Ralf König mit dem diesjährigen ­Wilhelm-Busch-Preis ausgezeichnet. Zu Recht.

Ralf König: „Herbst in der Hose“
Rowohlt, Hamburg 2017. 176 Seiten. 22,95 Euro

Dieser Text erschien zuerst in: Jungle World

kobane

KOBANE CALLING

( , Regie: )

Gegenaufklärung – Zerocalcare in Rojava
von Sven Jachmann

Der italienische Comic-Künstler Zerocalcare (ein Pseudonym für Michele Rech) blickt im Prolog seiner Comicreportage „Kobane Calling“ unter sternklarem Himmel aus drei römischen Metrostationen Entfernung auf die Stadt Kobane und lässt …

Der italienische Comic-Künstler Zerocalcare (ein Pseudonym für Michele Rech) blickt im Prolog seiner Comicreportage „Kobane Calling“ unter sternklarem Himmel aus drei römischen Metrostationen Entfernung auf die Stadt Kobane und lässt sich von Widerstandskämpfer Gasip, dem „Asterix aus Mesopotamien“, die Akustik des Krieges dechiffrieren: „Wenn du Ratatata hörst, ist es der IS. Hörst du Tum Tum Tum, sind wir es.“ „Und Boom?“ „Kommt drauf an. MG-Feuer und dann Boom, das sind die Amerikaner. Boom und sonst nix, das ist der IS. Feuer von links nach rechts ist der IS. Von rechts nach links, das sind wir. Ganz flach, knapp über dem Boden, sind die Türken.“ – „… Was zur Hölle mache ich hier?“

Comic-Reportagen haben zur Zeit einen guten Stand, vielleicht weil die Welt ihn längst verloren hat. Die großen Namen des Genres – Sarah Glidden, Guy Delisle, Joe Sacco – haben bemerkenswerte Werke geschaffen; sie entwickeln ihre Arbeiten mit dem Ethos des gewissenhaften Journalisten. Was im Umkehrschluss meist bedeutet: Haltung (und das ist im Comic unweigerlich eine visuelle Komponente) ist allenfalls ein Nebenprodukt, und wenn sie doch in Erscheinung tritt, etwa in Saccos Gaza, in dem israelische Soldaten ohne Ausnahme mit hasserfüllten Gesichtern gezeichnet sind und Antisemitismus wie Terrorismus keine Rolle spielen, sobald letzterer nicht Israel zugeschrieben wird, dann in den Grenzen medialer Narrative wie dem Evergreen „Israelkritik“ und der daran gekoppelten mahnenden Empörung aus, versteht sich, steter freundschaftlicher Verbundenheit.

Haltung hat Zerocalcare reichlich zu bieten. Das erklärt sich aus seinem politischen Werdegang. Erst Punk, Straight Edger, Hausbesetzer, Anarchist, dann nachhaltig politisiert durch den Mord an Carlo Giuliani bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua 2001. Seit vielen Jahren lebt er im linken römischen Viertel Rebibbia, und seine starke Verbundenheit mit diesem Ort, der Alltag als linksgrün versiffte Zecke prägt denn auch das Gros seiner autobiografischen Comic-Erzählungen, die in Italien als Webcomic rege gelesen werden und sogar als gedrucktes Buch Bestseller sind.

„Kobane Calling“, sein neuestes und das erste ins Deutsche übersetzte, verkaufte sich dort rund 150.000mal. (Selbst mit einer Null weniger wäre das, gemünzt auf hiesige Verhältnisse, jenseits der Stammarken bereits ein Riesenerfolg. Wann hört das endlich auf?) Darin verlässt Zerocalcare sein geliebtes Viertel (das gleichwohl weiterhin eine große Rolle spielt) und fährt zweimal, 2014 und 2015, ins kurdische Autonomiegebiet Rojava, das sich aus syrischen, türkischen, iranischen und irakischen Teilen zusammensetzt, um, so lautet das selbsterklärte Ziel der Gruppe Autonomer, humanitäre Hilfe zu leisten und eine Medienkampagne aufzubauen, in deren Mittelpunkt die von kurdischen Milizen gegen den IS verteidigte syrische Stadt Kobane steht. Beim ersten Mal blickt man noch von türkischem Boden aus auf die vom IS besetzte Stadt, die zweite Reise führt die Gruppe mitten hinein.

Was Zerocalcares Werk von anderen unterscheidet: Er nimmt sich mit, das heißt sowohl ein in früheren Comics erprobtes fiktives Figurenarsenal, beispielsweise ein Mammut, das Rebibbia repräsentiert und ihn ständig der Doppelmoral überführen will, als auch seine westliche Sozialisation, die er nicht nivelliert, sondern ständig als Folie für Vergleiche nutzt. Darum wimmelt es in dem Buch von Figuren aus „Fist of the North Star“, „Dragon Ball“, den „Simpsons“, „Star Wars“, „Spider-Man“, „Monsters in my Pocket“, den „Muppets“ und zig weiteren Popkulturerscheinungen. Die verbinden sich mit der linken Erkenntnis, dass von Kriegsbildern kaum mehr als eine mediale Strategie kursiert. Beispiel: Auf einem Panel steht ein maskierter IS-Kämpfer mit Zeigestock vor einer Tafel, auf der die meistgeklickten Top-3-Netz-Videos zu sehen sind: 1. Kätzchen fällt in Torte, 2. Enthauptung einer US-Geisel, 3. alles über Eros Ramazotti. – „Wir können noch besser werden.“

„Kobane Calling“ ist der Versuch einer Gegenaufklärung als unabgeschlossener Prozess, dauernd betont Zerocalcare seine dramaturgischen Entscheidungen. Nebenbei eignet sich dieses Vorgehen, die sarkastische Selbstkritik in Permanenz und ganz grundsätzlich der phantastische karikatureske Zeichenstil, die Traditionen des US-amerikanischen Undergroundcomics als politische Hebebühne an.

Schließlich macht Zerocalcare keinen Hehl aus seiner Begeisterung für den demokratischen Föderalismus der Kurden, wie er im Gesellschaftsvertrag von Rojava fixiert ist (das „Recht auf die eigene ethnische, religiöse, geschlechtliche, sprachliche und kulturelle Identität“, auf Bildung, soziale Sicherheit, Gesundheit und Arbeit), vor allem die feministische Praxis hinterlässt starke Eindrücke. Diese Emphase führt nicht nur zu einigen die Doppelzüngigkeit der türkischen Regierung entlarvenden Passagen – sie leistet dem IS stillschweigend und skrupellos Beihilfe im Kampf gegen die Kurden –, sondern am Ende und Höhepunkt des Buches sogar in die irakisch-iranischen Kandil-Berge zu den geheimen Militärcamps der PKK – wo der Punk Zerocalcare, unerwartet wie die Leser/innen, auf Cemil Bayık trifft, Mitgründer der PKK und Nummer zwei nach dem Vorsitzenden Öcalan. Ich habe selten im Comic das Saukomische mit der Sensation so eng tanzen sehen.

Zerocalcare: „Kobane Calling“
Aus dem Italienischen von Carola Köhler. Avant-Verlag, Berlin 2017. 268 Seiten. 24,95 Euro

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret

Mohnblumen aus dem Irak

( , Regie: )

Knubbelnasen im Krieg
von Sven Jachmann

Ein Künstler- und Ehepaar: Lewis Trondheim ist gegenwärtig der beste humoristische Comiczeichner, den Frankreich zu bieten hat, Brigitte Findakly hat seit den frühen Achtzigern als Koloristin wiederum die Werke der …

Ein Künstler- und Ehepaar: Lewis Trondheim ist gegenwärtig der beste humoristische Comiczeichner, den Frankreich zu bieten hat, Brigitte Findakly hat seit den frühen Achtzigern als Koloristin wiederum die Werke der wichtigsten Comiczeichner Frankreichs, die die Gegenwart zu bieten hat, visuell perfektioniert, darunter Joann Sfar, Manu Larcenet, Riad Satouff und Trondheim selbst. Mit „Mohnblumen aus dem Irak“ legt das Paar nun gemeinsam eine Graphic Novel vor, eine autobiografische Geschichte über Findaklys Jugend im Irak, den sie 1973 14jährig verließ, als die Familie nach Frankreich emigrierte.

An Satouffs „Der Araber von morgen“ erinnern Thema und ästhetisches Programm. Hier wie dort sind überaus niedliche Knubbelfiguren einem autoritären religiösen Regime ausgesetzt, und der Schock sitzt tief, sobald man den meist tragischen, manchmal komischen Passagen die süßen Zeichnungen entreißt und sie an eine ganz reale Lebensgeschichte knüpft.

Es ist eine Geschichte über das Durchhalten, den schmalen Grat zwischen Opportunismus und Opposition zu meistern, ohne der Verzweiflung anheimzufallen. Die Eltern – beide Christen, der Vater ein Militärarzt, die Mutter Hausfrau – sind sichtlich bemüht, Findakly eine sorgenfreie Kindheit im Irak der Sechziger zu bereiten. Aber der Spielraum ist begrenzt: Fahnenappell und Hymnengesang in der Grundschule; Frauenzeitschriften und Lexika, aus denen Israel getilgt ist; abgehörte Telefonate, bei denen der lauschende Zensor zu schimpfen beginnt, sobald die Gesprächspartner vom Arabischen ins Französische wechseln; eine Klassenfahrt nach Mossul, um den Schülerinnen und Schülern die an Straßenlaternen aufgeknüpften Leichen gelynchter Baath-Millizionäre zu präsentieren; vor Kinofilmen platzierte Texttafeln, die zur Denunziation von Dissidenten aufrufen.

Findaklys und Trondheims Bildeinfälle, die sich nie von Verbitterung versehren lassen, sind genial: Leitmotivisch werden immer wieder laufende Soldaten ins Bild gesetzt, bewaffnet, den Blick zum Himmel gerichtet, treu ergeben, stilistisch absolut kaffeetassenkompatibel. Meist sind es fünf, wenn nach einem Putsch wieder mal einstige Verbündete massakriert wurden, gelegentlich auch nur drei. Die laufen dann und wann in die entgegengesetzte Richtung. Das Wesen des Krieges streift auch deshalb die Groteske, weil es so fürchterlich mechanisch ist.

Brigitte Findakly, Lewis Trondheim: „Mohnblumen aus dem Irak“
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. Reprodukt. Berlin 2017, 112 Seiten, 18 Euro.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

diabolischer sommer

Ein diabolischer Sommer

( , Regie: )

Der Blick im Rückspiegel
von Johannes Binotto

Nach ihrem Meisterwerk „Souvenirs de l’empire de l’atome“ (dt.: Das Imperium des Atoms, erschienen bei Carlsen) von 2013 durfte man gespannt sein auf die nächste Zusammenarbeit zwischen dem Szenaristen Thierry …

Nach ihrem Meisterwerk „Souvenirs de l’empire de l’atome“ (dt.: Das Imperium des Atoms, erschienen bei Carlsen) von 2013 durfte man gespannt sein auf die nächste Zusammenarbeit zwischen dem Szenaristen Thierry Smolderen und dem Zeichner Alexandre Clérisse. Und wie schon in ihrem Vorgänger ist auch dieser neue Comic-Roman „L’été diabolik“ (dt. Ein diabolischer Sommer, ebenfalls Carlsen) eine Hommage und zugleich zeitgenössische Revision der Bildwelten vergangener Popkultur. Im „Imperium des Atoms“ hatten die Science-Fiction-Träume aus Kioskromanen der Fünfziger Jahre und deren melancholische Hintergrundgeschichte den Anlass gegeben, hier nun wird in den Erinnerungen an die delirierenden Pulp-Comics der Sechziger Jahre um maskierte Schurken und deren düsterer Erotik geschwelgt. Allen voran ist es natürlich (und wie die merkwürdige Schreibweise des französischen Titels bereits klar macht) Diabolik, der böse Held aus den italienischen Comics der beiden Schwestern Angela und Luciana Giussani, der als teuflischer Schutzpatron über dem Geschehen thront und dessen hypnotischer Blick einem schon vom Cover des Comic-Bandes entgegenstarrt. Der Blick wird einen auch später nicht loslassen. „Ein Mann schaut in den Rückspiegel seines Autos und sieht in jenem Wagen, der ihn verfolgt, die Augen des maskierten Diabolik hinter dem Steuer“ – mit dieser Vision, so sagt der Autor Thierry Smolderen, hat alles angefangen, eine Vision, die ihm dann später auch in Mario Bavas psychedelischer Diabolik-Verfilmung von 1968 wiederbegegnet ist.

Rückspiegelungen – darum geht es, im konkreten wie übertragenen Sinn und auf allen Ebenen. Nicht nur dass der „L’été diabolik“ Rückschau auf die Comics der Sechziger hält, auch seine Geschichte ist die einer konstanten Revision: „Combien de fois ai-je passé cette journée en revue depuis l’été 67…“ – damit setzt die Erzählung des Protagonisten Antoine Lafarge ein. Sein Bericht ist eine Erzählung im Rückspiegel, en revue, in Erinnerung an die Geschichte eines fatalen, teuflischen Sommers voll von verbrecherischer Lust und Angst. Es ist der Sommer, in dem Antoine die eigene Sexualität erkundet und die Abgründe der anderen Personen. Ein Sommer, in dem man sich selbst und alles andere neu gespiegelt sah. Rückspiegelung über Rückspiegelung. Und auch diese retrospektive Erzählung selbst wird später in einem Epilog erneut der Revision unterzogen und mit ihr schließlich alles, was Antoine über diesen Sommer, über sich und seine Familie zu wissen glaubte. Diese Frage nach der Familie und der ungewissen, in Revisionen sich auflösender, Genealogie stellt hinter den grellen Maskeraden einer rasanten Kriminal- und Sexgeschichte denn auch das heimliche Zentrum dieser Rückspiegelungsgeschichte dar. Jenseits aller explosiver Action geht es auch, und vielleicht vor allem, um eine recht alltägliche und ziemlich traurige Geschichte von Vätern und Söhnen und deren rätselhaften Verhältnissen. Das findet sich übrigens auch im Geschöpf Diabolik verkörpert: als Mann ohne Gesicht, der in seinen Abenteuern laufend die Identität wechseln kann, ist er zugleich auch frei von allen familiären Zusammenhängen. Diabolik hat keine Eltern und keine Kinder, kennt keinen Anfang und kein Ende, keine Jugend und kein Alter. Diabolik ist da – so wie der Trieb bei Freud, der weder Zeit noch Negation kennt. Doch zugleich hat das Triebwesen Diabolik freilich eine ganze Reihe von Vätern, wie auch Thierry Smolderen im Nachwort von „L’été diabolik“ hinweist. Natürlich ist Diabolik ein Nachfahre von Fantômas und Arsène Lupin und von all den maskierten Helden der US-Comics. „Die leere Maske des Phantoms springt problemlos von Kontinent zu Kontinent“, schreibt Smolderen. Genealogie entpuppt sich als Vererbung einer Verkleidung. Darum kann Diabolik niemals sterben: weil er nur eine Maske ist, die man sich überziehen kann. Die Haut wird zur Substanz.

Auch die sagenhaften Zeichnungen von Alexandre Clérisse in diesem Band sind solche Maskenhäute – flächig und ohne Tiefe, in denen man sich gerade deswegen so komplett verlieren kann. Jede Seite und jedes Panel ist für sich schon ein wunderbarer Druck, den man ausschneiden, an die Wand hängen und immer wieder betrachten möchte. Da kann es einem passieren, dass man den Faden der Handlung verliert, weil man einzig dem Genuss der Bilder nachgeht. Wer sich so in der Betrachtung der untiefen Bilder versucht, macht es wohl genau richtig. Zum Trieb, den Diabolik verkörpert, gehört ja schließlich auch, vom Pfad einer zielgerichteten Lektüre abschweifen zu können. Der Trieb ist nicht kohärent, er diffundiert. Er geht in alle Richtungen. Auf manchen Seiten zeichnet Clérisse wie die Figuren sich durch ihre extravaganten Häuser bewegen als ein einziges großes Bild. Die Architektur wird in der Zeichnung zum Escher-Raum, wo oben und unten, hinten und vorne nicht mehr recht aufgehen. Der gezeichnete Raum ein verdrehtes Labyrinth. Und wenn in der Mitte des Bandes, im Zusammenhang mit Antoines ersten LSD-Erfahrungen, die Bilder vollends zu delirieren beginnen, die Panels wabern und der Text in Kaugummischrift aufgeblasen wird, dann steigert das nur ins Extrem, wie es einem auch auf den anderen Buchseiten gehen kann. Selbst wenn man nichts vom Text verstehen würde und nur die Bilder bewundert, hat man schon mehr als genug mitbekommen. Ähnlich, wie man auch die alten Diabolik-Comics bewundern kann, ohne ein einziges Wort Italienisch zu sprechen.

Die Bilder illustrieren nicht, so wenig wie der Text die Bilder beschreibt. Die Bilder erzählen mit, anders und in Spiegelungen, die man zu entdecken hat. Wenn Antoines Vater sich ein Glas Wasser füllt und damit nach oben in sein Zimmer geht, erkennen wir das Motiv des leuchtenden Glases in seiner Hand auf der dunklen Treppe wieder als jenes giftige Glas Milch in Alfred Hitchcocks „Suspicion“ und der Mann mit der Kamera, der den Attentäter auf dem Hügel filmt, erkennen wir früher als er sich selbst als Abraham Zapruder. So nehmen die Bilder vorweg, was Antoines Bericht wieder wird revidieren müssen und umgekehrt. So wie man nach vorne in einen Rückspiegel schaut, der vor meinen Augen zeigt, was hinter meinem Rücken passiert. Wahrlich ein diabolischer Genuss.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Filmbulletin

Thierry Smolderen, Alexandre Clérisse: „Ein diabolischer Sommer“
Carlsen, Hamburg 2016, 128 Seiten, 24,99 Euro

(Alle Bilder: © Carlsen Verlag)

Vertrag Gott

Ein Vertrag mit Gott

( , Regie: )

Wiedersehen mit einem Klassiker
von Sven Jachmann

Will Eisner ist US-amerikanische Comicgeschichte. Mit seiner 1940 gestarteten Serie „The Spirit“ befand er sich an der Schaltstelle zwischen formaler Experimentierfreude und avancierter Pulperzählung. Seine von Film Noir inspirierten Settings …

Will Eisner ist US-amerikanische Comicgeschichte. Mit seiner 1940 gestarteten Serie „The Spirit“ befand er sich an der Schaltstelle zwischen formaler Experimentierfreude und avancierter Pulperzählung. Seine von Film Noir inspirierten Settings legten die ersten Weichen zur Modernisierung des Superheldengenres. Erst spät veröffentlichte der 1917 geborene die erzähltheoretischen Basiswerke „Comics & Sequential Art“ (1985) und „Graphic Storytelling“ (1995) (beide sind unter dem Titel „Comics als erzählende Kunst: Grundlagen und Prinzipien“ als Neuausgabe von Carlsen für den Juni angekündigt). Sie deklinierten Eisners Agenda des grafischen Erzählens durch. 2005 starb er.

Nun bringt Carlsen seine Mietshausgeschichten „Ein Vertrag mit Gott“ neu als Softcover im Graphic Novel Paperback-Segment heraus. Er schuf sie in den 1970er-Jahren. Es sind Milieustudien der Subalternen, speziell des migrantisch-jüdisch-amerikanischen Milieus im New York der 1920er- bis 1950er-Jahre, mit denen er außerdem erstmals den Begriff Graphic Novel lancieren sollte.

Der vorliegende Band versammelt die drei Alben „Ein Vertrag mit Gott“, „Lebenskraft“ und „Dropsie Avenue“, die, neben der autobiografischen Erzählung „Zum Herzen des Sturms“ und seiner Auseinandersetzung mit dem modern-antisemitischen Urmythos, der Protokolle der Weisen von Zion, in „Das Komplott“, Eisners Hauptwerk bilden. Das Vorwort aus Eisners Feder und eine umfangreiche Werkbetrachtung von Andreas C. Knigge geben der Edition überdies einen angemessen bibliophilen Anstrich.

Ihrer Struktur nach sind die Geschichten Novellen. In allen vier Erzählungen aus „Ein Vertrag mit Gott“, die in der Bronx der 30er-Jahre angesiedelt sind, zwingt eine unerhörte Begebenheit die Figuren in eine Notlage, aus der sie sich nicht mehr befreien können: Ein Rabbi, dessen Tochter gestorben ist, wendet sich traumatisiert vom Glauben ab und zerbricht an der Realität der Immobiliensyndikate; ein arbeitsloser, aber talentierter Straßensänger erweckt in einer abgehalfterten Operndiva die Hoffnungen auf ein gemeinsames Comeback und geht an seinem Alkoholismus zugrunde; ein mürrischer, einsamer Hausmeister wird von einem Kind in den Suizid getrieben; eine Gruppe von Pärchen schafft es während des Urlaubs nicht, die Hemmungen der Bürgerlichkeit abzulegen, und kehrt entsprechend desillusioniert in den Bronx-Alltag zurück.

Ein moralisierender Duktus fehlt. Aber stets ist klar, dass das Leid der Figuren stellvertretend im Kleinen abbildet, was sie im Großen zur Ohnmacht zwingt. Eisner erzählt von überflüssigen Menschen, die im Bewusstsein ihrer Austauschbarkeit jeden Anflug der Revolte hilflos gegen sich selbst richten. Die Geschichten sind ambivalent, uneindeutig ist die Schuld für die oftmals grausigen Taten. In der größtenteils wortlosen Geschichte „Der Super“ um einen Hausmeister etwa begegnet uns dieser zunächst als grobschlächtiges Ekel, der einen fragenden Mieter aggressiv einschüchtert.

Für das Gefühl der Beklemmung braucht Eisner kein Dekor, lediglich ein paar Striche symbolisieren die Wand, an die er den Mieter drängt. Nachdem der Hausmeister später von einem diebischen Mädchen in den Hinterhof gelockt wird, um von den empörten Anwohnern fälschlich als Triebtäter identifiziert zu werden, nimmt die Architektur der Gebäude erdrückende Formen an. Nur wenige Striche skizzieren seine Verzweiflung und die Entscheidung zum Selbstmord – die ganze Universalität des Leids im schwarzweißen, karikaturesken Strich, Kongruenz aus Form und Inhalt.

Die Art, wie durch die Verweigerung alles visuell Pompösen und plotimmanent Eindeutigen umso präziser der Leserblick auf die Gewalt des Lebens gerichtet wird, bietet ein perfektes Studium darin, wie einzigartig die Bildsprache des Comics die abgründigsten Themen zu kommunizieren weiß.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: taz

Will Eisner: Ein Vertrag mit Gott
Aus dem Englischen von Carl Weissner und Matthias Wieland, Carlsen, Hamburg 2017, 528 Seiten, 19,99 Euro

(Alle Bilder: © Carlsen Verlag)

Die Präsidentin

( , Regie: )

Frontbericht
von Sven Jachmann

Ein Comic als Brandbrief? Ja, das funktioniert. In ihrer Graphic Novel „Die Präsidentin“ nutzen der Historiker Francois Durpaire und der Comiczeichner Farid Boudjellal die Realität als dystopische Folie und entwerfen …

Ein Comic als Brandbrief? Ja, das funktioniert. In ihrer Graphic Novel „Die Präsidentin“ nutzen der Historiker Francois Durpaire und der Comiczeichner Farid Boudjellal die Realität als dystopische Folie und entwerfen ein Modell, das Frankreich und Europa blühen könnte, sollte Marine Le Pen 2017, ausgestattet mit dem höchsten parlamentarischen Amt qua regulärem Wahlerfolg, im Élysée-Palast regieren.

Und wie es einer guten Science-Fiction-Erzählung geziemt, ist das beängstigend, weil exakt analysierte politische Entwicklungen der Gegenwart nicht nur kontrafaktisch weitergedacht werden – es genügt schon die Vorstellung, wie die Rechten mit den realen Werkzeugen politischer Macht, die ihnen die Verfassung bietet, hantieren. Dafür orientiert sich Durpaire ganz einfach am Parteiprogramm des Front National und entwickelt einen Crash-Kurs „FN-Regierung in 100 Tagen“: EU-Austritt, digitale Überwachung, Beseitigung des Verfassungsgerichts, mediale Gleichschaltung durch Subventionsstopps und Diskreditierung von Journalisten, rassistische Arbeitsmarktpolitik, noch mehr Abschiebungen. Mit den altbekannten Folgen: Inflation, mehr Arbeitslosigkeit, Armut und enthemmte Aggression in der Bevölkerung. Wie autoritäre Polizeistaaten jener Provenienz entstehen, kann man bereits in Polen, Ungarn, Russland oder der Türkei verfolgen.

Auch dass die Graphic Novel beim Brexit richtig lag, ist weitaus mehr als zufällig geglückte Prophezeiung: Durpaire arbeitet heraus, dass Demokratien gegen sich selbst ausgehebelt werden können, und die daraus erwachsende rechte Herrschaft droht, sie ein für allemal, nicht bloß für vier Jahre, abzuschaffen.

Dieses alarmierende Urteil können weder die statischen Zeichnungen noch die arg zwanghafte Rahmenhandlung um eine Résistance-Kämpferin und deren Enkelkinder, die als generationenübergreifende Repräsentanten der gegenwärtigen Spannbreite der Linken stellvertretend den Front National über sich ergehen lassen müssen, nivellieren. Ja, selbst ein vorwortender Ulrich Wickert nimmt sich da als gebührend vor sich hinwickerndes Mahnmal aus.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret

Francois Durpaire (Szenario), Farid Boudjellal (Zeichnungen): Die Präsidentin
Aus dem Französischen von Edmund Jacoby.
Verlag Jacoby & Stuart, Berlin 2016, 160 Seiten, 19,95 Euro

(Alle Bilder: © Jacoby & Stuart)

Querschläger

( , Regie: )

Volltreffer
von Johannes Binotto

„Querschläger“ – der Titel ist wohl auch als selbstreflexiver Kommentar über die Genese dieses Comics zu lesen, wobei das französische Orginal „Bulles perdues“ sogar noch etwas treffender ist: Verlorene Kugeln, …

Querschläger“ – der Titel ist wohl auch als selbstreflexiver Kommentar über die Genese dieses Comics zu lesen, wobei das französische Orginal „Bulles perdues“ sogar noch etwas treffender ist: Verlorene Kugeln, die etwas anderes treffen als das anvisierte Ziel. Tatsächlich basiert Querschläger auf einem nicht-realisierten, verlorenen Drehbuch des amerikanischen Regisseurs Walter Hill, das nun nicht als Film, sondern als Bildergeschichte auf Papier verwirklicht wurde. Hill hatte für seinem letzten Film „Bullet to the Head“ die dreiteilige französische Comicreihe „Du plomb dans la tête“ adaptiert und war in dem Zusammenhang mit deren Autor Matz (eigentlich Alexis Nolent) zusammengetroffen. Dieser hatte die Regie-Legende gefragt, ob er über nicht realisierte Stoffe verfüge, die sich für eine Comic-Adaption eignen würden. Hill, selber seit Jahren ein Comic-Enthusiast, bot ihm aus seiner Sammlung die Geschichte um den Gangster Roy Nash und dessen blutige Jagd nach der Hoffnung. Das Resultat, ist nun auch auf 120 Seiten zu genießen. Beispiel für eine schöne Verkehrung: wo sich sonst das zeitgenössische amerikanische Kino beim Comic bedient, macht hier der Comic, was Hollywood sich nicht mehr zutraut.

Ob es dieses Wissen um die Entstehungsgeschichte ist, dass man glaubt, dem Comic seine filmische Herkunft zu erkennen? Immer wieder rücken einzelne Panels Details ins Bild, so wie in den Großaufnahmen eines Film: eine Hand, die zur Waffe greift, die Grammophonnadel auf der Platte. Und dann immer wieder jene Panels auf, welche sich über die ganze Breite der Seite ziehen: Cinemascope-Bilder. Sie zeigen den einsame Held in den dunklen Strassen der Großstadt, den Hut ins Gesicht gezogen oder ein verlassenes Westernstädtchen im Staub der Prärie. So entsteht das große Pathos dieser Gangstermoritat. In manchen Aussichten sieht es aus, als würden die Figuren vor Fotografien stehen, ein Eindruck wie man ihn von den Rückprojektionen aus den Filmen der 1940er kennt. Wenn zum Schluss Nashs Gegenspieler mit seinen vier Revolvermännern auf den Salon zuschreitet, in dem der finale Showdown stattfinden wird, zitieren die Bilder nicht zuletzt Walter Hills eigenen Western „The Long Riders“.

Koloriert hat der Zeichner Jef (eigentlich Jean-François Martinez) seine Bilder in dunstigen Farben, grad so, als läge über allen Räumen ein leichter Schleier: Nebel, Staub, Zigarettenrauch und Pulverdampf. Es sind Klischees, ohne Zweifel. Aber gerade über sie zapft der Comic das visuelle Gedächtnis seiner Leser an. Unweigerlich hat man als Leser und Betrachter das vage Gefühl, diese Geschichte bereits zu kennen. Der neue Comic wirkt bereits wie ein alter Klassiker, dessen Handlungsmuster uns vertraut sind: Der knallharte Gangster Roy Nash lässt sich aus dem Knast holen, um den Preis, dass er für die Bosse einige alte Rechnungen begleicht. Daneben aber verfolgt der Killer seine eigene Mission. Das leichte Mädchen Lena, die einzige Frau, die ihm je etwas bedeutete, will er finden und aus dem Sumpf der Unterwelt retten. Wir ahnen schon bald, wie übel dies alles herauskommen wird.

Virtuos ist „Querschläger“ denn auch weniger, weil er seine Geschichte besonders originell, als vielmehr weil er sie so konsequent erzählt. So wie Hills Filme sich nicht am aktuellen Zeitgeist, sondern an der Tradition der maverick directors von Raoul Walsh bis Sam Fuller orientieren, ist auch sein Comic im Stile alter hard boiled Romane verfasst: brutal und lakonisch. Großartige Figuren, wie etwa der schweigsame Ex-Boxer Panama Kid, den man Roy Nash als Fahrer mitgibt, werden in nur wenigen kurzen Bildern vollends plastisch. Gerne hätte man mehr über jene auffälligen Narben um seine Augen gewusst und was hinter seinem stoischen Gesicht wohl vor sich geht. Umso bitterer sein Ende. Statt eines großen Abgangs nur ein Tableau vom Grund des Hafenbeckens: Panama Kid mit Beton an den Füssen, zwischen anderen verrottenden Leichen. So macht der Comic kurzen Prozess und zelebriert zugleich Atmosphäre. Der schnell und heftig explodierenden Gewalt werden nicht mehr Bilder gewidmet, als dem langen Warten darauf, dass sie sich ereignen möge. Die Stimmung hüllt uns ein.

Irritierend ist allenfalls die Art und Weise, wie der Protagonist gezeichnet ist, mit einer auffällig femininen Physiognomie, die Augen immer schwarz umrandet, wie mit Mascara. Eher Transvestit als harter Kerl. Und doch passt dieser queere Touch nicht schlecht zu dem Killer, der eigentlich die sentimentalste aller Figuren ist. An Sex hingegen scheint Nash nicht interessiert, selbst dann, wenn sich die Frauen ihm anbieten. Und auch seine Retterfantasie gegenüber Lena scheint nicht erotisch motiviert, sondern ist eher der Versuch, einen letzten Rest Unschuld zu retten in dieser verkommenen Welt, vergeblich. So ist Nashs Haltung die, welche aus dem ganzen Comic spricht: melancholische Nostalgie. Das Leben gleitet ihm durch die Finger und dazu passt denn auch, dass man Nash aus dem Gefängnis schmuggelte, indem man ihn als angebliche Leiche in einen Sarg nagelte. Als lebender Toter ist er fortan dazu verdammt, weiterzumachen, auch wenn er all das verloren hat, wofür zu leben sich überhaupt lohnt. Am Ende sitzt er in seinem Hotelzimmer, wie anfangs in der Zelle. Mit nichts in der Tasche, außer Erinnerungen.

Uns freilich ist das nicht genug. Wir warten auf den nächsten Band. Walter Hills Kino geht weiter, als Comic vielleicht noch gelungener als auf der Leinwand. Der ins fremde Medium abgelenkte Querschläger hat ins Schwarze getroffen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Filmbulletin

Walter Hill, Matz, Jef: „Querschläger“
Aus dem Französischen von Tanja Krämling, Splitter Verlag, Bielefeld 2015, 128 Seiten, 24,80 Euro

Der Fährmann

( , Regie: )

Die Suche nach dem Paradies in der Postapokalypse
von Bernd Kronsbein

In fast jeder postapokalyptischen Welt gibt es irgendwo das Paradies, einen mythisch-mystischen Sehnsuchtsort, zu dem manch einer der letzten Überlebenden in der Hoffnung aufbricht, dort ein besseres Leben zu finden. …

In fast jeder postapokalyptischen Welt gibt es irgendwo das Paradies, einen mythisch-mystischen Sehnsuchtsort, zu dem manch einer der letzten Überlebenden in der Hoffnung aufbricht, dort ein besseres Leben zu finden. Meist gibt es diesen Ort gar nicht oder er entpuppt sich als tödliche Falle, aber das gehört zum Motiv quasi dazu.

Interessanterweise gibt es diesen Ort in der langlebigen postapokalyptischen Comicserie „Jeremiah“ nicht, die der Belgier Hermann (Huppen) seit über dreißig Jahren schreibt und zeichnet und die es mittlerweile auf sagenhafte 34 Bände gebracht hat. Und dabei hätte die Welt, in der der Titelheld und sein Kumpel Kurdy unterwegs sind, ihn doch bitter nötig, ist sie doch zersetzt von Stadtstaaten, die von miesen Typen aller Couleur tyrannisiert werden. Bis das Duo auftaucht, sich die Sache nicht mit ansehen kann und zumindest für den Moment für Ruhe sorgt. Und dann lakonisch weiterzieht.

Das Fehlen eines Paradieses in „Jeremiah“ scheint Hermanns Sohn Yves H. keine Ruhe gelassen zu haben, der mittlerweile bei jedem zweiten Album seines Vaters als Szenarist fungiert. Und nachdem die beiden erst kürzlich den großartigen Rachethriller „Old Pa Anderson“ vorgelegt haben, kommt nun „Der Fährmann“ (Erko-Verlag), ein Band, der durchaus als „Spin-Off“ von „Jeremiah“ verstanden werden kann. Im Geiste sowieso, aber auch, weil auf Seite 2 ein ziemlich prägnantes Bild auftaucht, das in mancherlei Hinsicht stellvertretend für die postapokalyptische Welt von Hermann steht. Und ja, im Schatten der zerstörten Monobahn sitzt ein Typ mit Feder am Helm, der ohne Zweifel Kurdy ist, der prollige Kumpan Jeremiahs.

Aber mehr als diese Hommage – oder diesen Gastauftritt, ganz wie man will – gibt es nicht. Ansonsten steht „Der Fährmann“ ganz für sich und begleitet ein anderes Duo, Sam und Samantha, auf der Suche nach jenem diffusen Paradies in einer desolaten Landschaft nach dem Untergang der Zivilisation. Sie wissen nicht viel darüber und der Weg dahin ist teuer.

Man ahnt schnell, dass das nicht gut ausgehen kann und die Huppens geben sich auch keine Mühe, das zu verschleiern. Aber in dieser Welt ist selbst das kleinste bisschen Hoffnung besser als gar keine, aber selbst das kleinste bisschen Hoffnung ist bestenfalls trügerisch, schlimmstenfalls eine Lüge. Und so nimmt die Geschichte ihren unerbittlichen Verlauf und nimmt zunehmend surreale Züge an. Dass hier Realität und Wahn, Traum und Albtraum, Leben und Tod längst nicht mehr zu trennen sind, illustrieren die ständig wechselnden Farben und Formen des Himmels, unter dem die Figuren eine klassische Tragödie ausspielen.

Bis am Ende alle Farben weichen.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: Comic.de

Yves H. (Text), Hermann (Zeichnungen): Der Fährmann
Erko-Verlag, Wuppertal 2016, 56 Seiten, 14,95 Euro

In God We Trust

( , Regie: )

Gleitmittel Vatikan
von Sven Jachmann

Dieser Comic wird Christen zur Weißglut treiben, Atheisten glücklich machen. Linken wird er das Herz öffnen, Rechten im besten Fall ein paar Infarkte bescheren. Elegante Bildererzähler in der Nachfolge Will …

Dieser Comic wird Christen zur Weißglut treiben, Atheisten glücklich machen. Linken wird er das Herz öffnen, Rechten im besten Fall ein paar Infarkte bescheren. Elegante Bildererzähler in der Nachfolge Will Eisners wünscht man sich allerorten, aber das schmutzige Erbe eines Robert Crumb wird derzeit nur verhalten gepflegt. Doch wer sich sorgt, dass dem Comicgenre im Zuge der großen Graphic- Novel-Sause Wut, Witz und Punkrock ausgetrieben werden, dem dürfte „In God We Trust“ die Angst ein wenig nehmen.

Winshluss erzählt auf knapp 100 Seiten die Geschichte des Alten wie Neuen Testaments neu. Klingt erst einmal langweilig, und 2009 trat Crumb höchstselbst mit Genesis den Beweis an, dass ein solches Vorhaben ordentlich in die Hose gehen kann, wenn einzig Ehrfurcht vor biblischen Metaphern den Zeichenstift führt – Kunst für Büchertische auf Kirchentagen.

Dort wird „In God We Trust“ niemals ausliegen, denn obgleich die Aufmachung mit Goldprägedruck und Lesebändchen im edlen Hardcover vollendet schwergewichtig daherkommt, wartet im Innern die brachiale Mogelpackung. Das war schon bei Winshluss’ 2009 veröffentlichter Groteske „Pinocchio“ (leider der einzigen weiteren deutschen Übersetzung seines mittlerweile zweistelligen Werks) der Fall und wurde vom Betrieb sogar honoriert: Auf dem Angoulême-Festival wurde das Buch als bestes Album ausgezeichnet, also mit dem Comic-Oscar, in Deutschland folgte in Erlangen der Max-und-Moritz-Preis für die beste internationale Veröffentlichung, der Comic-Globe.

Schön, dass sich der Künstler davon nicht domestizieren ließ, sondern in „In God We Trust“ sintflutartig einen Kotzeteppich über den christlichen Aberglauben ausbreitet. Das beginnt bereits mit der Dürer-Variation auf dem Schmutztitel: zwei abgehackte Hände, die zum Gebet geformt sind.

Auf der ersten Seite heißt uns der Erzähler willkommen: St. Franky, ein dem Bier erlegener Mönch und nunmehriger Engel, der die Episoden einleitet und dabei immer besoffener wird. Schon auf der zweiten Seite folgt das formatfüllende Bildnis Gottes: ein dicker, haariger, nur mit hautengem Slip bestückter Kerl (auf dem Sack prangt die Aufschrift God) mit langer Matte und Bart, Typus Bauarbeiter mit Metal-Affinität. Glückselig hüpft er von Wolke zu Wolke und bejubelt sich selbst: „Ha! Ha! Ha! Ich bin der große Weltenschöpfer!“ Selbstmitleid ist ihm nicht fremd, sei es, wenn er hypernervös Maria zu becircen versucht oder seine Depressionen auf Tequila, Pilzen und Koks wegquatscht („Am liebsten hätte ich ja Musik gemacht …“). Das Ganze leitet St. Franky so ein: „Viele von euch wollen mehr erfahren über die Begegnung von Gott und Maria … Dazu habe ich jede Menge SMS bekommen. Und auch welche, die anfragen, ob Gott ein Rechter ist … Das geht euch aber nichts an!“

Der Tonfall wird bleiben, nicht jedoch der Stil. Episodisch arbeitet sich Winshluss an den Höhepunkten des Bibeltextes ab – Schöpfungsgeschichte, Adam und Eva, Kreuzigung Jesu, Tag des Jüngsten Gerichts und so weiter – und passt die Zeichnungen dem jeweiligen Format an. Das sind mal Werbeanzeigen oder Detektivgeschichten, Fünfziger-Jahre-Monsterparanoia-Movies oder Superheldenparodien (God vs. Superman!). Seine alternativen Geschichtsschreibungen sind in puncto Ideenvielfalt nicht minder originell als das Original: Vielleicht lässt sich die Auferstehung Jesu mittels der beiden Römer erklären, die, statt seine Grabstätte zu verschließen und zu bewachen, lieber saufen gegangen sind, woraufhin ein Bär Jesus’ Überreste fraß und ein zufällig des Weges strauchelnder Bettler namens José den traumatisierten und deswegen leichtgläubigen Jüngern ein geeigneter Ersatz war („Hallo Jungs, ich heiße José und bin obdachlos.“ – „JESUS!?!“). Zwischendurch informiert eine Werbeanzeige: „Die Wege des Herrn sind unergründlich … die der Chorknaben allerdings nicht! Optimale Penetration bei größter Diskretion: Gleitmittel Vatikan!“ Eine weitere preist „Das Leiden Christi“ an: das präzise Modell des heiligen Kreuzes zum Selberbauen. Während sich zwei Kinder blutig ans Kreuz schlagen, frohlocken die Eltern im Hintergrund: „Sieh doch, Schatz. Sind sie nicht süß?! … Sollen wir noch eine dritte Nummer schieben …?“

So begrüßenswert die Institutionalisierung des Comics auch ist, weil sie langfristig möglicherweise mehr als nur einer Handvoll Künstler/innen ein regelmäßiges Einkommen ermöglicht, so vorhersehbar ist auch, dass eine großangelegte Leck-mich-Attitüde wie die Winshluss’ an den Hochschulen, die nun mal das Trainingscenter für den Markt sind, keine Chance hat. Gottlob wird selbiger noch nicht in Gänze von Weh und Weihe der Controller gesteuert.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 8/2016

Winshluss: In God We Trust
Aus dem Französischen von Uli Pröfrock.
Avant Verlag, Berlin 2016, 104 Seiten, 29,95 Euro

(Alle Bilder: © Avant Verlag)

Totem

Totem

( , Regie: )

An der Wand die Fuchsmaske
von Christoph Haas

All diese Coming-of-Age-Geschichten – mit besonders großer Neugierde schlägt man sie nicht mehr auf. Vor einigen Jahren waren sie ein attraktiver Gegenentwurf zu den diversen Genrestoffen, die in der Welt …

All diese Coming-of-Age-Geschichten – mit besonders großer Neugierde schlägt man sie nicht mehr auf. Vor einigen Jahren waren sie ein attraktiver Gegenentwurf zu den diversen Genrestoffen, die in der Welt der Comics nach wie vor dominieren. Inzwischen sind sie fast selbst zu einem Genre geworden, mit oft standardisierten Inhalten und Wendungen. Die autobiografische Nabelschauerei, die sie mitunter betreiben, kann einem schon mal auf die Nerven gehen.

Aber dann gibt es immer wieder die herrlichen Ausnahmefälle, die zeigen, was möglich ist, wenn sich große Talente der Sache annehmen. Im letzten Jahr war dies „Ein Sommer am See“ von Mariko und Jillian Tamaki; nun ist es „Totem“, entstanden in einer Zusammenarbeit des belgischen Szenaristen Nicolas Wouters mit dem in Berlin lebenden Zeichner Mikael Ross.

Die Graphic Novel beginnt mit Bildern von einem unheimlichen Spiel. Der zwölfjährige Louis simuliert einen Chirurgen, der seinem drei Jahre jüngeren Bruder Thomas einen Plüsch-Godzilla aus dem Magen operiert. Pürierte Tomaten dienen als Blut, zwei kaputte Bügeleisen als Defibrillator. Als alles vorbei ist und aufgeräumt werden soll, bricht Thomas plötzlich zusammen. Woran er leidet, erfährt man nie; bald darauf jedoch kämpft er im Krankenhaus mit dem Tod.

Die Eltern schicken Louis in ein Pfadfinderlager in die Ardennen, nahe der französischen Grenze. Von Sommer keine Spur, es regnet dauernd in Strömen. In der Gruppe herrscht zudem eine Atmosphäre, die weniger an die Ideale von Robert Baden-Powell als an den „Herrn der Fliegen“ denken lässt. Die Stärkeren drangsalieren, sowohl in physischer wie in psychischer Hinsicht, die Schwächeren, und die unbarmherzigen Prüfungen, die den Jungen von ihren Anführern, einem Bruder-Schwester-Paar, auferlegt werden, leiten einen Prozess der Verrohung und Enthemmung ein, der zum Rückfall in archaisch-tribalistische Verhaltensmuster führt.

So begibt sich der Comic schließlich in ein Zwischenreich, in dem Traum und Wirklichkeit, Fantastisches und Reales nicht mehr deutlich voneinander zu trennen sind. Louis trifft nicht nur auf seinen Bruder, sondern auch auf einen Leo­parden, der aus dem Zoo ausgebrochen ist. Selbst zum Fuchs geworden, durchstreift er an dessen Seite die Wälder und findet Unterschlupf in einem der Bunker der Maginot-Linie, deren Trümmer auf Gewaltzusammenhänge verweisen, von denen sich hier ein spätes, gespenstisches Echo vernehmen lässt.

Das große, fast quadratische Format des Bandes steht im Kontrast zu den überwiegend kleinen Panelgrößen. Trotz der betörenden Aquarell- und Buntstiftkombinationen ergibt sich kaum je der Eindruck einer majestätischen Natur; die Figuren wirken im Draußen wie eingesperrt. Sehr groß ist die Sicherheit, mit der Mikael Ross auswählt, was er wann und wie abbildet. Dies gilt vor allem bei ersten Auftritten, etwa wenn eine hübsche, ganz in Schwarz gekleidete Frau im Camp auftaucht oder wenn der Leopard auf einem riesigen umgestürzten Baumstamm steht und dem vor Schrecken starren Louis tiefgründig, forschend in die Augen blickt.

Meisterhaft ist der doppelte Schluss von „Totem“. Auf eine herzzerreißende Szene zwischen den Brüdern, die den Anfang variiert, folgt ein versöhnender Moment, der eine an den Ereignissen gereifte Gemeinschaft von Freunden zeigt. An der Wand aber hängt, von einem Hund misstrauisch angeknurrt, die Fuchsmaske, die Louis im Wald getragen hat – ein Zeichen dafür, dass sich die Abgründe, von denen dieser Comic erzählt, immer nur temporär schließen können.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: taz

Nicolas Wouters (Text), Mikael Ross (Zeichnungen): „Totem“
Deutsch von Claudia Sandberg.
Avant-Verlag, Berlin 2016, 128 Seiten, 29,95 Euro

(Alle Bilder: © Avant Verlag)

Maria und ich

( , Regie: )

Glücklich, was sonst?
von Sven Jachmann

Menschen reagieren auf das, was ihnen fremd ist, in der Regel mit Angst, Ignoranz oder offenkundiger Abscheu. Dass es hierzu nicht mehr braucht, als eine geringfügig angehobene Lautstärke der Stimme …

Menschen reagieren auf das, was ihnen fremd ist, in der Regel mit Angst, Ignoranz oder offenkundiger Abscheu. Dass es hierzu nicht mehr braucht, als eine geringfügig angehobene Lautstärke der Stimme und die gelegentliche Demonstration introvertierter Launen, erzählt der spanische Comiczeichner und Illustrator Miguel Gallardo in dieser liebevollen Hymne auf seine (im Jahre 2007, dem Entstehungszeitraum der Geschichte, zwölfjährige) Tochter Maria.

Maria ist Autistin, was bedeutet, dass sie in unpassenden Augenblicken ihre Forderungen besonders lautstark vertritt, geregelte Abläufe für die innere Stabilität bevorzugt, ausnahmslos in der dritten Person spricht oder die Abscheu gegenüber ihr unsympathischen Gesprächspartnern durch dezentes Kneifen unterstreicht, Zuneigung übrigens ebenso. Und es bedeutet, dass ihr ungewöhnliches Auftreten sie dazu verdammt, immer wieder von erbosten Blicken traktiert zu werden. Von denen gibt es in der autobiografischen Erzählung reichlich, in der Gallardo von den letzten Urlaubstagen der beiden während der Sommerferien im Süden von Gran Canaria berichtet.

Genau genommen ist „Maria und ich“ auch eine Schulung des Blickens. Bereits Marias erster Auftritt am Flughafen rückt sie innerhalb des Plots wie auch der Erzählökonomie ins Zentrum: Von dem hektischen Treiben hilflos überfordert, macht sie durch laute „Ceiba ist hässlich“-Rufe auf sich aufmerksam, und die Reaktionen der Fluggäste folgen prompt: „So ein schlecht erzogenes Kind!“ „Allerdings, gute Frau!“ Nur wenige Seiten später blicken auf einem ganzseitigen Panel gleich dreizehn Augen streng auf das pechschwarz gezeichnete Duo herab – ein schönes Sinnbild für die stillen Sanktionen des öffentlichen Raums, in dem die Gesetze der Normativität zwar ohne physische Gewalt, dennoch mit suggestiver Härte und insgeheimem Hass geltend gemacht werden. Aber Gallardo erzählt zugleich vom Gegengift zur erduldeten Ablehnung: Mit Humor und Selbstironie erobern sich die zwei den öffentlichen Raum ganz einfach zurück, machen sich freiwillig zum Zentrum der Aufmerksamkeit. Im Speisesaal trägt Maria ein knallrotes T-Shirt mit der Aufschrift „I’m unique just like everyone else“. Überhaupt ist ihr stets zufriedenes Gesicht der einzig herzliche Ruhepol in der Phalanx einer meist nicht gerade entspannt dreinblickender Touristenschar.

Denn trotz des ethnologischen und sarkastischen Blicks auf das Verhalten der Urlauber ist das Buch in erster Linie Gallardos Liebeserklärung an seine Tochter, das zugleich spielerisch in die Lebenswelt Autismus einführen will. Dieses Vorhaben wird denn auch zum ästhetischen Prinzip. Formal wählt er den Mittelweg aus Comic und illustrierter Ich-Erzählung. Auf gerade mal sechs Seiten finden sich comicspezifische, eine sequentielle Lesart erfordernde Panelanordnungen, auf den restlichen ergänzen meist grobe Skizzen den handschriftlichen Fließtext.

So wie Gallardos Zeichnungen Maria zeit ihres Lebens amüsieren, eine grundlegende Basis ihrer Kommunikation bilden und ihr außerdem als wichtige Orientierungshilfe im Alltag dienen (denn Kinder mit Autismus besitzen ein exzellentes visuelles Gedächtnis, gleichzeitig eine geringe Frustrationstoleranz, weswegen die regelmäßige Arbeit mit Piktogrammen eine für sie leichtere Strukturierung ihrer Aktivitäten ermöglicht), macht er sich also ihren Blick zueigen und lässt ihn zu jenem der Leser werden, indem er das geschriebene Wort durch Zeichnungen unterstützen, aber nicht notwendig ergänzen lässt. Auf diese Weise gerät Maria zweifach in den Mittelpunkt der Geschichte: als Figur und durch ihre Perspektive auf die Welt. Pointierter könnte man auch sagen, dass die Codierung der Geschichte Maria sowohl in narrativer als auch narratologischer Hinsicht individualisiert, ohne sie ungewollt zum Symptom ihrer Krankheit zu degradieren oder den Plot zu einem schwerfällig lesbaren Erzählexperiment ausschweifen zu lassen. Die avisierte Aufmerksamkeit hat jedenfalls gefruchtet: Dank des Buchs sind Miguel und Maria auch die Hauptakteure ihres eigenen Dokumentarfilms, der vom spanischen Fernsehen produziert wurde.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: taz

Maria & Miguel Gallardo: „Maria und ich“
Aus dem Spanischen von Isa Marin Arrizabalaga.
Reprodukt, Berlin 2010, 64 Seiten, 14 Euro

(Alle Bilder: © Reprodukt)

msgl

MSGL. Mein schlecht gezeichnetes Leben

( , Regie: )

Schwarzer Mann im Kinderzimmer
von Sven Jachmann

Autobiographische Graphic Novels erschienen in den letzten Jahren zuhauf: über die erste Liebe, das elende Aufwachsen auf dem Dorf, die Zeit an der Kunsthochschule, die Flucht in eine Punkerjugend, über …

Autobiographische Graphic Novels erschienen in den letzten Jahren zuhauf: über die erste Liebe, das elende Aufwachsen auf dem Dorf, die Zeit an der Kunsthochschule, die Flucht in eine Punkerjugend, über tote Väter, lebende Mütter, Kreativitätskrisen, Pornosüchte oder Vorzüge der Prostitution. Der italienische Zeichner Gipi, bereits 2006 mit dem Comic-Oscar („Bestes Album“) auf dem Comicfestival Angoulême für seine beeindruckend aquarellierten „Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte“ ausgezeichnet, erforscht mit seinem Beitrag „MSGL – Mein schlecht gezeichnetes Leben“ also nicht unbedingt Neuland.

Wer überdies eine den Vorgängerwerken ebenbürtige Optik erwartet hat, könnte enttäuscht werden. Von wenigen Fantasiesequenzen abgesehen, wurde der eigenwillige Aquarellstil durch außerordentlich schlichte, schwarzweiße Skizzen ersetzt, vom Text deutlich dominiert. Da will jemand erzählen, von sich, und augenscheinlich soll kein opulentes Handwerk von den Worten ablenken. Es ist keine Aufstiegsgeschichte in den Salon der internationalen Comicstars, zu denen Gipi heute fraglos zählt. Es ist ein Blick zurück auf die Jugend mit den Augen des Erwachsenen und ein Blick auf das Erwachsensein mit der Wut eines Jugendlichen, und weil die Neigung, den eigenen Lebensweg als Folge kausaler Prozesse zu begreifen, viel Lug und Trug in sich birgt, eher Ausdruck von Erzähl- und Lebensstationssortierzwängen ist, verzichtet Gipi auf jede Ordnung und arrangiert sein Material assoziativ, episodisch, manchmal auch fernab der logischen Regeln irgendeines Realismus. Das ist mitunter knallhart und schonungslos selbsthassend, aber bevor die Authentizitätsfalle zuschnappt, sät Gipi lieber selbst Zweifel und lässt bspw. in einem Gespräch mit seiner Schwester, wenn auch scherzhaft, seine Sicht korrigieren („Er hatte doch eine Pistole, oder?“ – „Einen Blumenstrauss.“). Ein recht galliger Scherz, denn was die beiden diskutieren, ist wahrscheinlich die Erinnerung an eine gemeinsame Missbrauchserfahrung.

An Drastik mangelt es ohnehin nicht: Da wird ein Junge im Spiel mehr oder weniger versehentlich ins Feuer geworfen (Was wohl aus ihm wurde?), da stürzen Drogenexperimente den jungen Gipi über mehrere Monate in eine schwere Psychose, da reiht sich ein zehntägiger Knastbesuch an vielleicht jugendpathetische, aber eben doch blutige Suizidversuche und über allem thront der schwarze Mann, der, so könnte eine Wahrheit aussehen, nachts ins Kinderzimmer gestiegen ist, um das Geschwisterpaar zu vergewaltigen. Zwischen all diesen Ereignissen verschiebt sich die erzählerische Sicherheit: Mal spricht Gipi zu den Leser/innen, mal zu einem seiner Ärzte, der ihn sogar nachts aufsucht, recht gelangweilt wie stümperhaft fragend Gipis Ausführungen folgt und offensichtlich ganz andere Absichten hegt. Fast möchte man glauben, sein desinteressierter Gestus diente Gipis Selbstqual als prophylaktische Immunisierung gegen die Angst, die Leser/innen könnten ähnlich reagieren. Schlechte Medizin. Unter all den autobiographischen Versuchen der vergangenen Jahre ist dies gewiss einer der konzeptionell kompaktesten und verstörendsten. Hat die Falle also doch noch zugeschnappt.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Junge Welt

Gipi: „MSGL. Mein schlecht gezeichnetes Leben“
Aus dem Italienischen von Giovanni Peduto.
Berlin 2015, Reprodukt, 144 Seiten, 20 Euro

(Alle Bilder: © Reprodukt)

Vaterland

Nina Bunjevac: Vaterland. Eine Familiengeschichte zwischen Jugoslawien und Kanada

( , Regie: )

Traumadeutung
von Sven Jachmann

Eigentlich ein recht alltägliches Szenario: Ein verheiratetes Paar trennt sich, die Frau sucht sich schleunigst eine neue Bleibe und nimmt die Kinder mit. Der Mann zeigt sich reumütig, sucht sie …

Eigentlich ein recht alltägliches Szenario: Ein verheiratetes Paar trennt sich, die Frau sucht sich schleunigst eine neue Bleibe und nimmt die Kinder mit. Der Mann zeigt sich reumütig, sucht sie regelmäßig auf, kauft, wahrscheinlich zum ersten Mal, Blumen, wähnt sich geläutert. Ein neuer Versuch wird gewagt und schon nach wenigen Tagen ist die einstige familiäre Tristesse wieder zurück, schlimmer als zuvor. Das wäre weder außergewöhnlich noch sonderlich erwähnenswert, ahnte man als Leser/in nicht bereits, dass das Verhältnis von weitaus Schlimmerem als nur gegenseitiger Entfremdung beherrscht ist. Jede Nacht schiebt die Frau, Sally Bunjevac, einen massiven Kleiderschrank vor das Schlafzimmerfenster, um sich und ihre drei Kinder, die Töchter Sarah und Nina und den Sohn Petey, vor etwaigen Bombenanschlägen zu schützen, und dies nicht etwa in einem Bürgerkriegsgebiet, sondern inmitten einer ruhigen kanadischen Arbeitersiedlung im Jahr 1975.

Sally flieht vor ihrem Ehemann Peter Bunjevac, weil er ein antikommunistischer serbisch-nationalistischer Terrorist ist, der aus seinem politischen Exil in Kanada als Teil der Gruppe „Freedom of the Serbian Fatherland“ Attentate auf jugoslawische Einrichtungen in Nordamerika verübt, und sie ist die Mutter der Autorin und Zeichnerin dieses Comics, Nina Bunjevac. 1975 wagt Sally noch einmal den endgültigen Bruch und kehrt auf einer vorgetäuschten Urlaubreise mit den beiden Töchtern, aber ohne ihren Sohn zu ihrer Familie nach Zemun in Jugoslawien zurück. Nina Bunjevac, 1974 in Toronto geboren, hat ihren Vater im Prinzip nicht kennengelernt. 1977 stirbt Peter Bunjevac bei der Vorbereitung eines Anschlags durch eine vorzeitig ausgelöste Bombendetonation. Mit „Vaterland“ wagt die Zeichnerin eine Annäherung. Es ist der Versuch, sowohl das Verhalten der Mutter als auch den ideologischen Wahn des Vaters zu verstehen, beides etwas, dessen Ursachen ihr erst viel später begreiflich werden. Politische Geschichte wird zur Interpretationshilfe, die Bunjevacs eigenen völlig maroden Familienroman wenigstens strukturell in Ordnung bringen soll. Das darf man nicht als Geschichtslektion missverstehen. Bunjevac verbindet zwar mehrere Zeitebenen miteinander – Gespräche mit der Mutter für das Buch, die Jahre nach der gemeinsamen Flucht aus Kanada, die Biografie ihres Vaters vom Halbwaisen unter faschistischer Besatzung bis zum Tod als Terrorist, die Geschichte des Balkans im Krieg und unter Titos Herrschaft –, aber der Knoten will nicht halten.

Das Trauma, das sich schon vor Peter Bunjevacs Tod tief in Ninas Familie eingenistet hat, wird durch beständiges Schweigen oder politische Jetzt-erst-recht!-Überzeugungen gefüttert, und der Rückgriff auf die Geschichte des Balkans kehrt die Paradoxien innerjugoslawischer Konflikte hervor, die sich in Ninas zerstrittener Familie spiegeln, löst sie aber nicht auf: „Ich habe ausführlich die Geschichte dieser Region erforscht und versucht den Grund des Konflikts zwischen Serben und Kroaten zu begreifen, aber je tiefer ich komme, desto geringer scheint die Zahl der belegten Konflikte zwischen den beiden, fast identischen Gruppen zu sein; zumindest vor dem 20. Jahrhundert.“ So erweist sich auch Bunjevacs Familiengeschichte als mythologisch so aufgeladen, dass keine Wahrheit mehr abgeschöpft werden kann: Es gebe, erzählt die Autorin, zwei Versionen davon, was mit ihrem Großvater passiert ist, nachdem die jugoslawische Armee kapituliert hatte. „In der ersten Version ging er zu den Partisanen und wurde 1945 von den Deutschen an der syrmischen Front gefangengenommen. In der zweiten Version kam er nach Hause und wurde von der Ustascha gefangengenommen, nachdem er den Kirchturm bestiegen hatte, um das Dorf alleine gegen den anrückenden Feind zu verteidigen.“ Gewiss ist allein sein Tod im berüchtigten KZ Jasenovac, wo „die Deutschen die >Unerwünschten< eliminierten. Mit so viel Leidenschaft, die man braucht, um einen Dieselmotor zu perfektionieren.“

„Vaterland“ ist außerdem eine Autobiografie ohne Gedächtnis: Das Buch endet dort, wo Nina Bunjevacs Erinnerung einsetzt. Die schwarzweißen Panels sind akribisch schraffiert und wirken wie in Schockstarre eingefroren. Kein Leben, auch keine comiccharakteristischen Soundwords, die Bilder von Bombenexplosionen bleiben stumm, gemarterte Menschen (und auch Tiere) schreien lautlos. Die aufwendige Zeichentechnik sucht Distanz zum Inhalt ihrer Bilder: lieber den tiefsitzenden Identifikationsimpuls blockieren, als mit resümierendem Verstehen das Familienalbum schließen. Deswegen wird die Bildsprache auch dann und wann symbolisch, manchmal vielleicht etwas zu sehr: Wenn das erste Kapitel mit dem Bild von ungeschlüpften Eiern in einem Vogelnest beginnt, die sich später, als ein Brief samt Zeitungsartikel die Nachricht von Peters Tod an Sally überbringt, zu silhouettenartigen Raben gewachsen, zuhauf in den dunklen Gewitterhimmel erheben, mag man darüber streiten, ob hiermit balkanisches Kolorit („In der Traumdeutung, wie sie auf dem Balkan Tradition ist, bedeutet von Vögeln zu träumen, dass der Träumer Nachrichten erhalten wird.“) oder womöglich eine etwas raunende Poesie des Schreckens, die schon Clarice Starlings Lämmer schreien ließ, ihren Weg bahnt. Um das zu klären, liebe Leser/innen, tauschen Sie bitte Ihr Geld gegen dieses Buch. Es kostet genausoviel wie Christian Wehrschütz‘ History-Schocker „Brennpunkt Balkan“, ist um 156 Seiten klüger und riecht sogar besser.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 5/2015

Nina Bunjevac: Vaterland. Eine Familiengeschichte zwischen Jugoslawien und Kanada
Aus dem Englischen von Axel Halling. Berlin 2015, Avant Verlag, 156 Seiten, 24,95 Euro

(Alle Bilder: © Avant Verlag)

"Elektra" und "Ms. Marvel" zwischen Trash und genialem Relaunch

( , Regie: )

Superheldinnen im Comic
von Christoph Haas

Superheldinnen haben es nicht immer einfach. Als die Fantastic Four debütierten, regten sich manche Fanboys darüber auf, dass das Team kein reiner Männerbund war, sondern tatsächlich eine Frau mitmischte. Das …

Superheldinnen haben es nicht immer einfach. Als die Fantastic Four debütierten, regten sich manche Fanboys darüber auf, dass das Team kein reiner Männerbund war, sondern tatsächlich eine Frau mitmischte. Das ist lange her, über 50 Jahre. Heute dürfen und können Heroinnen längst alles, was ihre männlichen Kollegen machen. Weniger populär sind sie, von einigen Ausnahmen wie der kecken Catwoman abgesehen, aber nach wie vor. Zudem sind sie oft einem lächerlichen Aussehens- und Dresscode unterworfen: Melonengroße Brüste müssen ebenso sein wie Outfits, die an die Berufskleidung von Stripperinnen und Dominas erinnern.

Etwas aus dem Rahmen fällt da die 1981 von Frank Miller erfundene Auftragskillerin Elektra, in deren character design sich Crime-, Noir- und Superheldenelemente in interessanter Weise miteinander verbinden. Ursprünglich war sie nur eine Nebenfigur in „Daredevil“. Sechs Jahre später stellte Miller sie dann in den Mittelpunkt der brillant erzählten Action-Horror-Miniserie „Elektra Assassin“, deren von Bill Sienkiewicz direkt kolorierte, extravagante Bilder die Lektüre zu einem rauschhaften, tripähnlichen Erlebnis werden ließen. Alle weiteren Auftritte Elektras blieben erheblich unter diesem Niveau, und so ist es auch bei ihrem aktuellen Abenteuer. Hier kriegt es die Ninja-Dame mit Cape Crow zu tun, einem Killer im Ruhestand, dazu mit Bloody Lips, einem kannibalistischen australischen Serienmörder, der die Fähigkeiten und Erinnerungen seiner Opfer übernehmen kann. „Blutlinien“ ist wüster Trash, der Sensationen stapelt (Dinosaurier kommen ebenfalls vor) und sich dabei leider völlig ernst nimmt. Die Zeichnungen Mike del Mundos imitieren, teilweise ungeschickt, Sienkiewicz, verbunden mit ein paar Einflüssen von Bilal und Frank Frazetta.

Ein kleiner, überraschender Anlass zum Jubeln ist dagegen die neue „Ms. Marvel“-Serie. In ihrer bürgerlichen Identität war diese Heldin, die es seit 1977 gibt, bislang ein leuchtend blondes, langbeiniges All-American Girl namens Carol Danvers. Mit dem Relaunch hat sich dies radikal verändert: Kamala Khan, wie Ms. Marvel nun im normalen Leben heißt, lebt nicht im coolen New York, sondern im biederen New Jersey. Sie ist gerade 16 Jahre alt und eher ein Nerd: brünett, mittelhübsch, nicht allzu groß und schüchtern. In ihrer Freizeit publiziert sie im Internet Fanfiction. Vor allem aber: Kamala ist das Kind pakistanischer Einwanderer und daher, als erste amerikanische Superheldin, eine Muslimin.

Mit dieser Figur ist der Autorin G. Willow Wilson (einer aus Kamalas Heimatstadt gebürtigen Islamkonvertitin) nichts Geringeres als ein zeitgemäßes Update von Spider-Man geglückt. Wie der Netzschleuderer ist Ms. Marvel kein Übermensch, sondern ein friendly neighbourhood superhero. Die Welt braucht sie – zumindest am Anfang – nicht zu retten; stattdessen bewahrt sie ein Mädchen vor dem Ertrinken und verhindert einen Überfall in einem kleinen Supermarkt. Ansonsten muss sie in körperlicher wie seelischer Hinsicht erst einmal lernen, mit den Kräften, die ihr plötzlich zugefallen sind, zurechtzukommen.

Mit wenigen Strichen, aber differenziert skizziert Wilson, was es für Kamala bedeutet, als Muslimin aufzuwachsen, im Zangengriff zwischen partyfreudigen Mitschülern, die ihr mitunter mit Spott, mit Misstrauen begegnen, und einer Familie, die Wert auf Glauben, Tradition und Bildung legt. Die religiösen Werte, denen sich Kamalas Eltern verpflichtet fühlen, erscheinen als ambivalent: Friedlichkeit und soziale Verantwortung gehen Hand in Hand mit patriarchalischem Zwang. Kamalas Bruder, ein Nichtstuer, verkörpert die Versuchungen des Islamismus.

Ausbalanciert werden diese schwierigen Themen durch die zart kolorierten Bilder von Adrian Alphona, die zwischen Realismus und cartoonhafter Übertreibung oszillieren, wie auch durch Komödiantisches – etwa wenn sich Kamala in ihrer neuen Rolle tollpatschig anstellt oder feststellen muss, wie sehr ihr Kostüm im Schritt kneift. Die schönste Pointe besteht aber darin, dass „Ms. Marvel“, bei aller Innovation, den Superheldenmythos letztlich auf seine Ursprünge zurückführt: Denn schon Clark Kent alias Superman, der vom Planeten Krypton auf unsere Erde gelangte, ist ja nichts anderes als – ein Migrant.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: taz

W. Haden Blackman (Text), Mike del Mundo (Zeichnungen): Elektra. Band 1 & 2
Aus dem amerikanischen Englisch von Carolin Hidalgo.
Panini Comics, Stuttgart 2015, 124/140 Seiten, je 16,99 Euro

G. Willow Wilson (Text), Adrian Alphona (Zeichnungen): Ms. Marvel. Bd. 1-3
Aus dem amerikanischen Englisch von Carolin Hidalgo.
Panini Comics, Stuttgart 2015/2016, 124/140/180 Seiten. 16,99/16,99/19,99 Euro

(Alle Bilder: © Panini Comics)

Ulf S. Graupner, Sascha Wüstefeld: Das UPgrade. Band 1-3

( , Regie: )

Superhelden made in GDR
von Christoph Haas

Ist von Superhelden die Rede, dann denkt man an übermenschliche Kräfte und Probleme mit der Geheimidentität, an bunte Kostüme, abgefeimte Superschurken und die Straßenschluchten amerikanischer Großstädte. An eines aber denkt …

Ist von Superhelden die Rede, dann denkt man an übermenschliche Kräfte und Probleme mit der Geheimidentität, an bunte Kostüme, abgefeimte Superschurken und die Straßenschluchten amerikanischer Großstädte. An eines aber denkt man bestimmt nicht: die DDR.

Genau dort, in Dresden, ist Ronny Knäusel zu Hause, Jungpionier der zweiten Klasse in der Polytechnischen Oberschule „Fritz Heckert“. Im Sommer 1973, ausgerechnet an dem Tag, an dem er Kindergeburtstag feiern will, entdeckt Ronny, dass er in der Lage ist, sich durch Gedankenkraft blitzschnell von einem Ort zum anderen zu bewegen.

So landet er unversehens in Ostberlin, wo anlässlich der mit großem Aufwand gefeierten Weltfestspiele der Jugend der kalifornische Rockstar Cosmo Shleym auftritt. Mit dessen Song „Palms in Sorrow“ scheint die Teleportationskraft des Siebenjährigen auf geheimnisvolle Weise verbunden zu sein. Ein paar Jahre später, als Ronny erwachsen ist, wird er DDR-Bürger, die ihre Heimat verlassen wollen, mit seiner Gabe gefahrlos über die Grenze transportieren.

„Das UPgrade“ lässt zusammenwachsen, was nicht zusammengehört. Im Aufeinandertreffen der Gegensätze liegt für Sascha Wüstefeld und Ulf S. Graupner der Reiz ihrer Serie. „Es geht“, wie Wüstefeld erklärt, „nicht nur um die USA und die DDR, sondern auch darum, zwei sehr unterschiedliche Figuren zusammenzubringen: den Star und das Kind, später den alten und den jungen Mann, die lebende Legende und den Loser. Kontraste interessieren uns allgemein sehr, deswegen ist unser Comic so ein wilder Genremix geworden“.

Die beiden Künstler, die an Text und Zeichnungen gleichermaßen beteiligt sind, verarbeiten in „Das UPgrade“ Erinnerungen an die eigene Kindheit in der DDR ebenso detailreich und witzig wie ihre Liebe zur Musik, speziell zum oft melancholisch eingefärbten Sunshine Pop der Beach Boys.

Der gealterte Cosmo ähnelt dem späten, übergewichtigen Elvis, in seinem Schwanken zwischen Genie und Wahnsinn trägt er aber eindeutig die Züge Brian Wilsons. Dazu kommt ein kräftiger Schuss Science-Fiction.
„Das UPgrade“ setzt im Jahr 2738 vor Christus ein, als eine rätselhafte kosmische Substanz in der Gegend des heutigen Mexiko eintrifft, zeitgleich mit einer außerirdischen Agentin, die fortan in wechselnden Gestalten durch die Weltgeschichte reist und als atombusige, energische Krankenschwester an der Entbindung des kleinen Ronny beteiligt ist. Wie das alles zusammengehört, wird in der insgesamt auf zehn Bände angelegten Serie erst nach und nach deutlich werden.

Allerdings gibt es schon einige Andeutungen, da Graupner und Wüstefeld nicht linear erzählen, sondern zwischen den Handlungsmomenten, die zu sehr verschiedenen Zeiten spielen, abrupt hin und her springen. Der dynamische und überdreht visuelle Stil des „UPgrade“ ist von Animes beeinflusst, aber auch von den klassischen Walt-Disney-Zeichentrickfilmen und deren flächigen Bildern. Wichtiges Vorbild ist zudem das DDR-Comic-Heft „Mosaik“ der Sechziger.

„Damals waren Sachen möglich, die sich diese Zeitschrift, für die wir ja selbst eine Zeitlang gearbeitet haben, heute nicht mehr erlaubt“, meint Wüstefeld bedauernd. „Die Digedags waren nicht, wie nach ihnen die Abrafaxe, an die historische Wirklichkeit gebunden. Sie konnten, inspiriert von Sputnik und Gagarin, durch den Weltraum reisen und erlebten Abenteuer, die wie Drogentrips wirkten. Da gab es unglaubliche Farben und Figuren mit kuriosen Physiognomien.“

Nun wird das Werk noch einmal neu herausgebracht in einer großformatigen Ausgabe, die eine bessere Wahrnehmung des Artworks erlaubt. Drei Bände der Serie liegen bereits vor. Im Gegensatz zu anderen deutschen Autoren-Comics geht „Das UPgrade“ nicht mit einem großen Kunstanspruch hausieren. Umso beachtlicher ist, wie viel Ehrgeiz Graupner und Wüstefeld darauf verwenden, ihr Publikum zu unterhalten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: taz

Ulf S. Graupner, Sascha Wüstefeld: Das UPgrade. Band 1-3
Cross Cult Verlag, Ludwigsburg 2015/2016, je 64 Seiten, je 20 Euro

(Alle Bilder: © Cross Cult)

Die Horrorcomics "Outcast" und "Rachel Rising"

( , Regie: )

Dämonen austreiben
von Christoph Haas

Im Horror kommt es, mehr noch als bei anderen Genres, auf die Dosierung an. Manches von dem, was Leuten früher die Haare aufstellte, wirkt heute recht harmlos. Der Wettlauf um …

Im Horror kommt es, mehr noch als bei anderen Genres, auf die Dosierung an. Manches von dem, was Leuten früher die Haare aufstellte, wirkt heute recht harmlos. Der Wettlauf um immer heftigere Schockeffekte führt allerdings mitunter zu Filmen und Comics, deren ästhetisches Leitprinzip sich auf die Frage „Schaust du noch oder kotzt du schon?“ reduzieren lässt. Dieser primäre Appell an die sadistischen Neigungen und die Ekelschwelle des Publikums ist zynisch; davon abgesehen kann eine nur kurz unterbrochene Abfolge gröbster Reize ziemlich langweilig sein.

Ein Autor, der sich meisterhaft darauf versteht, ausgefuchstes, episches Erzählen mit Momenten ungeheuren Schreckens zu verbinden, ist Robert Kirkman, der seit über zwölf Jahren die Zombie-Serie „The Walking Dead“ schreibt. Parallel hat er mit „Outcast“ nun ein neues Projekt gestartet.

Kyle Barnes, die Hauptfigur, ist ein junger Mann, der nach Jahren der Abwesenheit in seine Heimatstadt zurückgekehrt ist. Einen guten Ruf hat er bei den Einwohnern nicht, da er seine Frau und seine kleine Tochter, die getrennt von ihm leben, schwer misshandelt haben soll. In Wahrheit verfügt Kyle über eine Gabe, die ihm erst nach und nach bewusst wird: Er kann Dämonen austreiben. Dies bringt ihn mit dem örtlichen Reverend zusammen und mit einem Polizisten, dessen Partner in einem Anfall schwerer Besessenheit zum Mörder geworden ist. Es macht Kyle zudem aber für einen Fremden interessant, der plötzlich auftaucht, einem nur scheinbar freundlichen, unterweltlichen Herrn, dessen Ziele vorerst in dem Dunkel bleiben, aus dem er kommt.

Mit „Outcast“ knüpft Kirkman souverän an eine sozialkritische Horrortradition an, wie sie sich etwa in den Filmen George A. Romeros findet. Das kalte, frühwinterliche West Virginia, in dem die Serie spielt, ist keine ländliche Idylle, nicht einmal eine trügerische, sondern ein Hort der gedämpften Verzweiflung. Der Noir-Touch von Paul Azacetas Zeichnungen – die ausgezeichnete Kolorierung stammt von Elizabeth Breitwieser – unterstützt den Eindruck, dass die Dämonen, von denen die Menschen heimgesucht werden, sich auch als Metapher für psychische Versehrungen begreifen lassen. Und deren Ursache sind unverkennbar gesellschaftliche Missstände: Niemand, gleich welchen Alters, kann sich hier anders als mit großer Mühe über Wasser halten; alle leben mindestens am Rande des Prekariats. Der Amerikanische Traum ist in „Outcast“ schon lange gründlich zerbrochen.

Ebenfalls in die nordamerikanische Provinz, in einen Ort mit dem Unheil verheißenden Namen Manson, führt Terry Moores aktuelle Serie „Rachel Rising“. Moore ist mit „Strangers in Paradise“ bekannt geworden, einer Reihe, an der von 1993 bis 2007 arbeitete. Während sich dort Soap-Opera- und Thrillerelemente bunt miteinander mischten, ist „Rachel Rising“ lupenreiner Horror.

Die Titelheldin erwacht eines Morgens, mit dem Gesicht nach unten, in einer Grube im Wald. Sie kämpft sich mühsam aus der Erde und taumelt heim. Was genau mit ihr passiert ist, daran kann sie sich nicht erinnern, aber offenbar hat jemand versucht, sie umzubringen. Dies war nicht erfolgreich, zumindest nicht ganz: Rachel lebt, obwohl sie, allen Anzeichen nach, biologisch so gut wie tot ist. Zeitgleich erscheint in Manson eine junge Frau namens Lilith, die bei jedem ihrer Auftritte Gewalt und Verderben provoziert. Sie ist vor 300 Jahren in Manson getötet worden, weil sie eine Hexe ist, und will an der kleinen Stadt furchtbare Rache nehmen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: taz

Robert Kirkman (Text), Paul Azaceta (Zeichnungen): Outcast, Band 1-2
Aus dem amerikanischen Englisch von Marc-Oliver Frisch.
Cross Cult, Ludwigsburg 2015/2016, Je 160 Seiten, Je 22 Euro

Terry Moore: Rachel Rising, Band 1-6
Aus dem amerikanischen Englisch von Resel Rebirsch
Schreiber & Leser Verlag, Hamburg 2014–2016, Je 128 Seiten, Je 14,95 Euro

(Alle Bilder aus „Rachel Rising“: © Schreiber & Leser)

Über Berthets neue Graphic Novel "Dein Verbrechen"

( , Regie: )

Klassischer Noir ohne Fusel
von Bernd Kronsbein

Australien im Jahre 1970. Irgendwo im Outback verbringt Thomas Wentworth sein Leben als Schafzüchter. An seiner Seite der Hund Commonwealth, der die Einsamkeit mit ihm teilt. Nur der gelegentliche Besuch …

Australien im Jahre 1970. Irgendwo im Outback verbringt Thomas Wentworth sein Leben als Schafzüchter. An seiner Seite der Hund Commonwealth, der die Einsamkeit mit ihm teilt. Nur der gelegentliche Besuch des Eingeborenen Friday, der Vorräte und Zeitungen bringt, durchbricht die Monotonie. Und die Erinnerung an eine wunderschöne Frau, die seine Tagträume erhellt. Aber Wentworth heißt eigentlich Greg Hopper und das Leben in der Wüste führt er nicht, weil er die Abgeschiedenheit mag, sondern weil er auf der Flucht ist. Seit 27 Jahren. Lee Duncan, die Frau seiner Träume, ist ebenfalls seit exakt 27 Jahren tot. Und Greg wirft man vor, sie ermordet zu haben.

Doch da geschieht ein Wunder. Sein Bruder Ikke gesteht auf dem Sterbebett, dass nicht sein Bruder Greg der Mörder war, sondern er selbst, Ikke. Und so kann Greg plötzlich in die Zivilisation zurückkehren, begleitet vom Geist seiner Vergangenheit und der bohrenden Frage: Warum hat Ikke das getan?

Dein Verbrechen“ ist geradezu klassischer Noir-Stoff und damit bestens aufgehoben in der sehr lesenswerten „Noir“-Reihe von Schreiber & Leser. Aber nicht Dashiell Hammett und Raymond Chandler standen Pate, sondern James M. Cain und Jim Thompson, die ihre Stoffe noch ein bisschen näher an den Abgründen der menschlichen Psyche angesiedelt haben. Hier gibt es keinen Privatdetektiv mehr, der als letzte Bastion von Würde und Anstand zynisch die verkommene Welt kommentiert und mit Fusel wegsäuft. Hier sind die alltäglichen Betrüger, Diebe und Mörder ganz unter sich und ihre Verbrechen geschehen meist sehr spontan aus Geilheit, Eifersucht und Gier.

Der schmale Band von Zidrou („Lydie“, und Autor der neuen „Rick Master“-Serie) und dem wunderbaren Philippe Berthet („Der Ideenhändler“, „Pin-Up“) folgt Greg Hopper ins kleine Nest Dubbo City, das genauso miefig ist, wie der Name klingt. Hier erinnert sich noch jeder an „seine“ Tat und selbst die, die vor 27 Jahren noch gar nicht geboren waren, wurden bestens von ihren Eltern und Großeltern ins Bild gesetzt. Und ganz allmählich tauchen die beiden Autoren ein in die Vergangenheit und setzen das Puzzlebild der Ereignisse zusammen, die zu Gregs Flucht führten. Und das mit einer Virtuosität, die man nicht allzu oft antrifft. Da verzeiht man auch ein paar ungelenke, etwas arg bedeutungsschwangere Dialogzeilen und genießt den klugen Aufbau des Plots, die kleinen Hinweise, die die Wahrheit der Dinge immer mehr infrage stellen und jedes Bild dieses Zeichners, der so präzise und zurückgenommen erzählt.

Wer Blut geleckt hat, sollte sich anschließend umgehend „Perico“ und „Die Straße nach Selma“ besorgen, zwei weitere abgeschlossene „Noir“-Stoffe, die Berthet inszeniert hat und in derselben Reihe erschienen sind. Und über eine Neuausgabe lange vergriffener Einzelbände wie „Das Auge des Jägers“ oder „Kojoten der Prärie“ würde man sich auch freuen. Nur so ein Gedanke.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: comic.de

Zidrou (Szenario), Philippe Berthet (Zeichnungen): Dein Verbrechen
Schreiber & Leser, Hamburg 2016, 64 Seiten, € 18,80

(Alle Bilder: © Schreiber & Leser)

François Bourgeon: Reisende im Wind 6.1 & 6.2

( , Regie: )

Filmisches Erzählen
von Sven Jachmann

Als 1979 François Bourgeons erstes Album der insgesamt fünfbändigen Reihe „Reisende im Wind“ erschien, kam dies einer kleinen Revolution im frankobelgischen Comic gleich. Da war zunächst die ungewöhnliche Form, die …

Als 1979 François Bourgeons erstes Album der insgesamt fünfbändigen Reihe „Reisende im Wind“ erschien, kam dies einer kleinen Revolution im frankobelgischen Comic gleich. Da war zunächst die ungewöhnliche Form, die den bis dato geltenden Seitenumfang von 48 bzw. 64 Seiten nach eigenem Gusto ausweitete und somit die Erzählung nicht mehr dem Format unterordnete.

Da war zudem die manierierte, sehr filmische Art und Weise des Erzählens selbst. Dominierten bislang starre Seitenarchitekturen die Bande desinèe – den Comic des französischsprachigen Raums – in Form regelrecht normierter Seitengestaltungen und schematischer Streifenanordnungen, nutzte Bourgeon nicht bloß die Montage der Panels zur Stimmungserzeugung, sondern die Komposition der gesamten Seite.

Zu guter Letzt war da natürlich die epische Geschichte um die 17-jährige Isa, die es Ende des 18. Jahrhunderts durch eine dramatische Verwechslung auf ein französisches Kanonenboot verschlägt. Diese Odyssee führt sie schließlich bis nach Afrika, wo sie in schonungsloser Drastik auf die Kehrseite ihrer aufklärerischen Epoche, die Grausamkeit des Kolonialismus und der Sklaverei trifft. Aufgrund seiner jahrelangen Recherchen, die in das detailfreudige Setting einflossen, gelang Bourgeon ein abgründiges Sittengemälde, das trotz der vordergründigen Konzeption als Abenteuererzählung viel über die Machtkonstellationen und Herrschaftsmechanismen, vor allem über die Zurichtung sexueller Identitäten jener Zeit offenbart. Das revoltierende Verhalten Isas verrät keine gesellschaftskritische Agenda, sondern fungiert vielmehr als Schutzwall gegen eine stets präsente, drohende Ohnmacht vor Verhältnissen, deren Unveränderbarkeit buchstäblich und darob umso grausamer ist. All dies erregte einst zahlreiche Diskussionen über die neuen erzählerischen Möglichkeiten des sogenannten Comicromans.

Reisende im Wind“ zählt längst zu den kanonisierten Klassikern und erhielt beim Splitter Verlag eine Neuauflage, nachdem das Werk jahrelang im deutschsprachigen Raum nur noch antiquarisch erhältlich war. Darüber hinaus hat Bourgeon seinem Werk auch noch einen weiteren, zweibändigen und ebenfalls bei Splitter publizierten Zyklus hinzugefügt. Gut 80 Jahre später im amerikanischen Sezessionskrieg angesiedelt, kombiniert er darin zwei Handlungsstränge, die vornehmlich über die historische Kontinuität des Menschen als Ware und den Krieg als moralischen Ausnahmezustand räsonieren.

Die erste Hälfte gleicht einem materialistisch geerdeten Antiwestern: Nachdem ihr Haus beschlagnahmt wurde, durchquert die junge Isabeau Murrait das Land auf der Suche nach ihrem Bruder. Unterstützung erhält sie von dem französischen Fotografen Quentin Coustans, dessen politische Neutralität während dieser Reise peu à peu zu zerbröckeln droht. In der zweiten Hälfte treffen sie auf Isabeaus Urgroßmutter, jene Isa des ersten Zyklus, die rückblickend ihre weitere Geschichte erzählen wird.

Durch diese Verknüpfung zweier Zeitstränge etabliert Bourgeon eine Linearität historischer Entwicklungen, in der einzig die Tradierung von Herrschaft beständig bleibt: Die Sklaverei und eine unentwegte Atmosphäre der Gewalt begleiten die Versuche beider Frauen, ihre Autonomie und moralische Integrität angesichts fehlender politischer Humanität zu behaupten. Deshalb ist diese Fortsetzung alles andere als ein fragwürdiger Versuch, einem erfolgreichen Konzept noch ein paar halbgare Ideen abzuringen: Methodisch weitet Bourgeon sein Erzählgerüst vom einstigen Sittengemälde zum nunmehr epochalen Abgesang zivilisatorischer Mystifizierung aus.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: taz

François Bourgeon: Reisende im Wind 6.1 & 6.2
Aus dem Französischen von Tanja Krämling.
Splitter Verlag, Bielefeld 2009/2010, 88/72 Seiten, je 17,80 Euro

(Alle Bilder: © Splitter Verlag)

Über die Graphic Novel "Quai d’Orsay. Hinter den Kulissen der Macht"

( , Regie: )

So finster die Macht
von Sven Jachmann

Dass der Untertitel Hinter den Kulissen der Macht hier ausnahmsweise hält, was er verspricht, ist das Resultat einer außergewöhnlichen Liaison. Für seine Comicerzählung „Quai d’Orsay“, benannt nach jener Pariser Straße, …

Dass der Untertitel Hinter den Kulissen der Macht hier ausnahmsweise hält, was er verspricht, ist das Resultat einer außergewöhnlichen Liaison. Für seine Comicerzählung „Quai d’Orsay“, benannt nach jener Pariser Straße, die zum Metonym des französischen Außenministeriums wurde, suchte sich der Zeichner Christophe Blain, der sonst solo oder mit engen Freunden arbeitet, ungewöhnliche Verstärkung. Mit Authentizität darf man rechnen, wenn sich hinter dem Pseudonym seines Co-Autors Abel Lanzac ein früherer Redenschreiber des zwischen 2002 und 2004 amtierenden französischen Außenministers Dominique de Villepin verbirgt. Die Anonymität wird nicht nur angesichts der Popularität des zweibändigen Werks, das sich in Frankreich über 300.000mal verkauft hat und in Deutschland als Gesamtausgabe erschien, die richtige Wahl gewesen sein. So amüsant wie hier wurde das Werden und Wirken des hemdsärmeligen Staatsadels noch nie analysiert.

Lanzacs Alter ego Arthur Vlamnick ist ein unerfahrener Doktorand, der als „Berater des Ministers in sprachlichen Fragen“ in den Stab Alexandre Taillard de Vorms gerät, Lanzacs Version des konservativen Villepine. So sehen wir ihn aus Vlamicks Perspektive: als Maschinenwesen X-OR, als Darth Vader, als charismatische Führungsperson im Dauereinsatz. Taillard will politisch eine ganze Menge, vor allem aber den vorhersehbaren Krieg im Irak (der hier Lousdem heißt) abwenden. Der Minister tarnt seine geradezu manische soziale Inkompetenz als Charisma: Jedes Gespräch, jede Begegnung, jede Konferenz endet mit großen Gesten, jovialem Pathos und der Selbstüberschätzung eines hyperaktiven Strategen, der seine Sicht auf die Weltkonflikte mit gezücktem Stabilo auf markige Zitate vorzugsweise Heraklits eindampft – sofern er seine Mitarbeiter nicht dazu anhält, ihm diese Arbeit abzunehmen. Es ist schließlich in der Tat eine bizarre Aufgabe, Immergleiches in immer neue Worte zu kleiden.

Blain nutzt hierzu das Serialitätsprinzip des Comics in Perfektion. Taillards Hände, größer als der Kopf dieses Hünen, sind meist in Bewegung, wirbeln symmetrisch zum Redeschwall, bis sie mit gewaltigem „WAMM“ auf dem Tisch landen. Dann ist die Ansprache vorbei; ihre Dynamik rührte aus der ständigen Wiederholung dieser Gesten, weniger aus dem Inhalt. Selten wurde im Comic eine Figur so präzise durch Soundwords charakterisiert: „WAMM“ schlagen die Türen, „WAMM“ klatschen die Hände, und „TACK TACK TACK“ tönt es aus dem Ministermund, wenn er seine Argumentationsketten übereinanderstapelt. Die kleinen Variationen im Konterfei und Händewirbeln erinnern nur um so vehementer an den geistigen Stillstand, über den diese laute Selbstüberzeugung hinwegtäuschen soll.

Das gegenteilige Prinzip gilt übrigens für den Auftritt Berlusconis, dessen ganze Schmierlappigkeit in gerade mal sechs Bildern für die Ewigkeit zusammengefasst ist. Aber das schauen Sie sich bitte selbst an.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 1/2013

Christophe Blain (Zeichnungen) / Abel Lanzac (Text): Quai d’Orsay: Hinter den Kulissen der Macht
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock.
Reprodukt, Berlin 2012, 200 Seiten, 36 Euro

(Alle Bilder: © Reprodukt)

Nine Antico: Coney Island Baby

( , Regie: )

Sex-Ikonen des 20. Jahrhunderts
von Sven Jachmann

Im Jahr 1972, als „Deep Throat“ seinen unvergleichlichen Siegeszug an den US-amerikanischen Kinokassen antreten sollte, gab es weder das selbstreflexive Erzählen des Post-Porn noch ein kulturwissenschaftliches oder medientheoretisches Interesse an …

Im Jahr 1972, als „Deep Throat“ seinen unvergleichlichen Siegeszug an den US-amerikanischen Kinokassen antreten sollte, gab es weder das selbstreflexive Erzählen des Post-Porn noch ein kulturwissenschaftliches oder medientheoretisches Interesse an der Pornografie. Das Phänomen trat quasi blank auf und führte, setzt man das minimale Budget von 25.000 US-Dollar und das spätere millionenfache Einspielergebnis zueinander ins Verhältnis, zu einer der nach wie vor weltweit erfolgreichsten Produktionen der Filmgeschichte.

Spätestens mit der 2005 produzierten, nostalgisch wirkenden Dokumentation „Inside Deep Throat“ kann das Werk von 1972 zudem als kanonisch gelten. Vielleicht drückt sich in der schlichtweg falschen und oft kolportierten Behauptung, dass „Deep Throat“ der erste narrative Pornofilm überhaupt sei, aber immer noch ein Unbehagen daran aus, dass tatsächlich der Film über die Frau mit der Klitoris im Hals für ausverkaufte Säle im Mainstream-Kino sorgte.

Was „Deep Throat“ jedoch zweifellos und folgenschwer definieren sollte, war eine Grammatik des Pornos, die den Phallus und den finalen Cumshot plotimmanent und visuell als oberste Priorität setzt und somit die Ökonomie des männlich-sexuellen Blicks filmisch weiter festschrieb. Dadurch wurde der Film in der Tat ein wichtiger Repräsentant seiner Ära.

Zwei unterschiedliche Dekaden der US-amerikanischen Sexindustrie sind es auch, von denen die 1981 geborene, französische Zeichnerin Nine Antico in ihrem zweiten (und ersten auf Deutsch übersetzten) Comic „Coney Island Baby“ in Gestalt von Bettie Page und Linda Lovelace erzählt. Beide waren Ikonen ihrer Zeit. Bettie Page war das Pin-up-Starlet der 50er Jahre und als BDSM-Model für Ewigkeiten in die Zeichenwelt der Popkultur eingeschrieben. Linda Lovelace wiederum, die Hauptdarstellerin aus „Deep Throat“, startete später in den frühen 1980er Jahren einen durchaus widersprüchlichen Kreuzzug gegen die Pornografie.

Nine Antico erzählt ihre Bildgeschichte nicht nach einem klassisch biografischen Muster, an dessen Ende durch das Arrangement von Fakten eine suggestive Wahrheit steht. Überraschend wird Hugh Hefner, der Gründer des Playboy-Magazins, auf der ersten Comic-Seite als Erzählinstanz installiert. Antico lässt Hefner vor zwei jungen Playboy-Bunnys in spe die wechselhaften Karrieren von Page und Lovelace entfalten, um die beiden noch zögernden Frauen – zumindest vorgeblich – an die Kehrseiten des Geschäfts zu erinnern.

„Mädchen, habt ihr überhaupt eine Ahnung, worauf ihr euch einlasst?“, fragt er mit breitem jovialen Grinsen auf dem ersten Panel des Buchs. Die Szene zeigt ihn allein, ausgestattet mit Pfeife und Bademantel. Am Ende von Nine Anticos gezeichneter Reise in die Hefner-Vergangenheit kann man wohl sagen: Nein, haben sie nicht. Aber ein paar Gesetze der Industrie sollten sie dennoch indirekt gelernt haben. Vor allem eines: In der Kultur der Pornografie, die jede Ambivalenz mittels der Illusion eines Images bannt, kann sich ein Aufbegehren nur im Sinne des Marktes und der Kräfte, die ihn beherrschen, artikulieren.

Neben der Ökonomie ist eine dieser Kräfte, das könnte man zur Ausgangsthese von „Coney Island Baby“ erklären, der männliche Blick, der die Lust zum industriellen Produkt verfertigt. So erzählt Anticos Plot im Prinzip von drei Entwicklungen und ihrer gegenseitigen Abhängigkeit: vom Aufstieg und tiefen Fall zweier Stars ihrer Zunft, von der Geschichte der Pornoindustrie, die abhängig vom technischen und moralischen Standard ihrer Zeit genötigt ist, Mythen über sich und ihre Stars zu erzeugen, und von den Männern, die diese Geschichten und Stars verwalten.

Dass als fiktiver Erzähler ausgerechnet Hugh Hefner mit väterlicher Empathie und großem Bedauern die Leidenswege seiner einstigen Stars ausbreitet, ohne dabei seine Rolle in einer der mächtigsten Schaltstellen dieser Bildproduktionsindustrie zu registrieren, ist weniger ein Zeichen moralischer Entrüstung als ein adäquates Mittel, um die Künstlichkeit der Erzählung zu unterstreichen: Wenn man von einer Welt der Mythen erzählt, fällt es schwer, nicht versehentlich selbst in die Mythenfalle zu tappen und falsche Wahrheiten zu schaffen; besser also, wenn man stets daran erinnert wird.

So gleicht sich auch der schwarz-weiße, skizzenhafte Zeichenstil diesem Programm an. Immer wieder fehlen beispielsweise Nase, Mund oder Augen der Figuren. Am ausdrucksstärksten geraten die Mienenspiele oftmals dann, wenn reale bzw. ikonische Bilder zitiert werden, die letztlich einzigen handfesten Zeugnisse, denen man Glauben schenken muss.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: taz

Nine Antico: Coney Island Baby
Aus dem Französischen von Martin Budde.
Edition Moderne, Zürich 2011, 232 Seiten, 28 Euro

(Alle Bilder: © Edition Moderne)

Über Andreas‘ Pulp-Meisterwerk "Capricorn"

( , Regie: )

Sinfonie einer Großstadt
von Bernd Kronsbein

Das New York einer unbestimmten Zukunft. Oder einer Parallelwelt, die der unseren ähnelt, aber nicht gleicht. Hierher kommt der namenlose schwarzhaarige Mann mit schwarzem Mantel und schwarzem Koffer. Die Aussätzigen …

Das New York einer unbestimmten Zukunft. Oder einer Parallelwelt, die der unseren ähnelt, aber nicht gleicht. Hierher kommt der namenlose schwarzhaarige Mann mit schwarzem Mantel und schwarzem Koffer. Die Aussätzigen vor der Stadt nennen ihn „Capricorn“ und weisen ihm gleich eine schicksalhafte Aufgabe mit ziemlich schwurbeligen Worten und kryptischen Hinweisen zu: Er soll diese verdorbene Stadt retten.

Kaum hat er die Schluchten zwischen den Wolkenkratzern betreten, wird er in eine wilde Geschichte hineingezogen, die immer seltsamer und immer verwickelter wird. Ein Zeppelin stürzt ab, eine Katze führt zu einem alten Stollen, ein merkwürdiger grüner Ausschlag überwuchert Menschen… Und an Bord des Zeppelins befand sich ein „Ding“, an dem die geheimnisvolle uniformierte „Gilde“ und der Gangsterboss Cole gleichermaßen interessiert sind.

Capricorn“ entführt in eine klassische Kolportagegeschichte, die sich dreht und windet, die in die tiefsten Tiefen dieses so fremden New Yorks führt – und sogar noch darunter – und in die höchsten Türme, die bis in den Himmel ragen. Hier ist man vor keiner Überraschung gefeit, hier ist definitiv alles möglich und höchstens von der Fantasie des Erzählers begrenzt. Dieser Erzähler, das ist Andreas (Martens), der 1951 im ostdeutschen Weißenfels geborene Autor und Zeichner, der in Düsseldorf an der Kunstakademie und im belgischen l’Institut St Luc sein Handwerk lernte und schon seit Jahrzehnten in Frankreich zu Hause ist.

Und was für ein Erzähler dieser Andreas – wie er sich verkürzt als Autor seiner Comics nennt – ist! Die Komposition seiner Seiten ist geradezu architektonisch und so präzise, dass man das Gefühl hat, den Zirkel und das Geodreieck noch über dem Papier schweben zu sehen. Das hat eine Wucht, die das Mäandernde der Geschichte und die Abwesenheit von lebendigen Charakteren vergessen lässt. Man geht, fährt, stürzt und fliegt mit diesen schablonenhaften Figuren durch eine bizarre Welt, an der man sich nicht sattsehen kann. Capricorn, Cole, Ash, Astor und wie die Personen noch so heißen, sie sind nur Begleiter, die ihre skizzenhaften Rollen in einem Spiel spielen, das weit größer ist als sie selbst. Was Andreas hier macht, ist Weltenschöpfung. Und die Menschen in dieser Konstruktion sind Staffage; Figuren, deren Treiben man mit Verwunderung und Amüsement verfolgt.

Dieser erste Band der lange überfälligen Gesamtausgabe von „Capricorn“ enthält drei der insgesamt 19 im Original zwischen 1997 und 2015 erschienenen Bände. Nach „Cromwell Stone“ und „Rork“ (2 Bände) setzt der Hamburger Verlag Schreiber & Leser damit seine Andreas-Ausgabe fort, für die man nur dankbar sein kann. Dankbar auch deshalb, weil zwar speziell in den 1990ern viele seiner Arbeiten auch auf Deutsch erschienen, aber eben im Fall von „Cromwell Stone“, „Rork“ und „Capricorn” leider nie beendet wurden. Dass sich das nun ändert ist ein großer Glücksfall und lässt hoffen, dass auch einige seiner Einzelalben wieder (oder erstmals) den Weg nach Deutschland finden. Zum Beispiel sein völlig singuläres kleines Meisterwerk „Das rote Dreieck“ (1995).

Andreas: Capricorn Gesamtausgabe 1
Schreiber & Leser, Hamburg 2016, 144 Seiten, 29,80 Euro
Dieser Text ist zuerst erschienen auf: comic.de

(Alle Bilder: © Schreiber & Leser)

Über Richard Corbens "Creepy"-Klassiker und die Zombie-Revitalisierung "Revival"

( , Regie: )

Wenn die Mumie erwacht
von Christoph Haas

Jahrelang haben Archäologen nach dem Grab des ägyptischen Hohepriesters Khartuka gesucht. Jetzt ist es drei skrupellosen amerikanischen Abenteurern gelungen, dort einzudringen. Sie wandern durch unterirdische Gänge und Hallen, um schließlich …

Jahrelang haben Archäologen nach dem Grab des ägyptischen Hohepriesters Khartuka gesucht. Jetzt ist es drei skrupellosen amerikanischen Abenteurern gelungen, dort einzudringen. Sie wandern durch unterirdische Gänge und Hallen, um schließlich den Schatz zu finden, von dem sie geträumt haben. Reich beladen gehen sie zurück, fallen aber der wieder zum Leben erwachten Mumie des Priesters zum Opfer. Karthuka triumphiert – aber mit einem hat er nicht gerechnet: dem bissigen Hund der Räuber, der eine Schwäche für alte Knochen besitzt.

„Grab des Grauens“ – im Original: „Terror Tomb“ – heißt diese Geschichte. Sie ist exemplarisch für die insgesamt vierzig Beiträge, die Richard Corben, unterstützt von wechselnden Szenaristen, zwischen 1970 und 1978 für die Magazine „Creepy“ und „Eerie“ gezeichnet hat. Die wichtigsten dieser Frühwerke des 1940 in Missouri geborenen Künstlers sind im Laufe der Jahre schon auf Deutsch erschienen, allerdings in verschiedenen Publikationen. Nun sind sie alle in einem dicken, großformatigen Band versammelt und in deutlich verbesserter Druckqualität.

Corben war immer ein umstrittener Zeichner. Seine Verehrer schätzen die Wucht und ungeheure Akribie, mit der er Fantasiewelten zu gestalten vermag; mit Großtaten wie „Bloodstar“ (1976) und „Den“ (1978) zählt er zu den Pionieren der Graphic Novel. Seine Verächter – zu denen früher auch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien gehörte – stoßen sich dagegen an den splatterigen Gewaltdarstellungen und vor allem an dem bizarren Körperkult, den Corben betreibt.

Die prototypische Heldin seiner Comics läuft gerne mehr oder minder nackt herum und schaut aus wie eine ins Phantasmagorische gesteigerte Jayne Mansfield. Der prototypische Held kann einen Bodybuilder vor Neid erblassen lassen; manche Leser haben sich von diesen Muskelpaketen zudem an das Virilitätsgeprotze faschistischer Bildhauerei erinnert gefühlt.

Eine solche Wahrnehmung verfehlt jedoch das Spezifische von Corbens Ästhetik. Die Über-Frauen und -Männer, die sein Werk bevölkern, sind nur die vergleichsweise realistische Spielart eines allgemeinen Hangs zum Grotesken. Die „Creepy“- und „Eerie“-Storys zeichnen sich durch eine Mischung aus krudem Horror und schwarzem Humor aus. Zu ihr passen all die Physiognomien, die Corben mit evidenter Lust an der Schönheit des Hässlichen entwirft: Gesichter, die Gummimasken gleichen, zugleich prall und von Falten durchzogen; insektenartige Außerirdische; Monster, die wie ein Haufen Eingeweide oder Lovecrafts Ctulhu-Wesen aussehen.

Hinzu kommt die exzentrische, entschieden antinaturalistische Kolorierung. Sonnenuntergänge sind schaurige Symphonien in eitrigem Gelb und blutigem Rot; Szenen, die in der Nacht oder unter der Erde spielen, leuchten in düsterem Blau und Violett. Wie bei den Arbeiten von Moebius, die im selben Zeitraum entstanden sind, bedeutet der Akt des Kolorierens bei Corben stets mehr als ein bloßes Buntmachen von Schwarzweißzeichnungen. Die Farbe ist hier einerseits ein Wert an sich, andererseits fügt sie den Bildern etwas latent Surreales hinzu.

Die Lektüre des Sammelbandes erlaubt es, Corbens Platz in der Geschichte des amerikanischen Comics genauer zu verorten. Dies gilt speziell für sein Verhältnis zu Robert Crumb. Auf den ersten Blick wirken die zwei wie Antipoden: dort der radikale Selbstentblößer, einer der Begründer des autobiografischen Comics, hier der Horror- und Fantasyspezialist, der seine Obsessionen in den Mantel des Genres hüllt.

Schaut man genauer hin, ergibt sich allerdings durchaus eine Parallele. Viele Geschichten von Crumb, wie etwa „Fritz the Cat“, lassen sich als eine Underground-Version der Funny Animal Comics aus dem Hause Disney lesen. Ähnlich ist bei Corben, bis in Details, der Einfluss der EC-Comics der Fünfziger zu spüren, an die „Creepy“ und „Eerie“ generell anzuknüpfen suchten. Beide Zeichner stehen im Spannungsfeld zwischen Bewahren und Erneuern; der eine unterminiert, der andere radikalisiert eine Tradition, die sie im selben Atemzug fortsetzen.

Eine der Standardfiguren des Horrorgenres fehlt bei Corben völlig: der Zombie. Diese Sonderform des Monsters hat, nach einer ersten Blüte in den Siebzigern, zuletzt einen so massiven Boom erlebt, dass man sich inzwischen bei jedem weiteren einschlägigen Film oder Comic fragt: Was soll da noch Neues kommen? Eine Möglichkeit hat der Autor Tim Seeley gefunden. Die Serie „Revival“, die er schreibt, beruht auf einer ziemlich großartigen Grundidee: Zwar sind es auch hier die Toten, die wiederkehren, aber eben nicht als auf Frischfleisch gierige Untote, sondern schlicht als die, die sie zum Zeitpunkt ihres Ablebens gerade waren.

Die „Erweckten“, wie sie genannt werden, hocken also seelenruhig vor dem Fernseher, sie gehen ihrer gewohnten Arbeit nach oder nehmen ein unterbrochenes Studium wieder auf. Was dies für sie und ihre Angehörigen bedeutet – daraus ließe sich ein Comic entwickeln, in dem psychologische, moralische und philosophische Fragen im Vordergrund stünden. Aber darum geht es in „Revival“, wenn überhaupt, nur sehr am Rande. Geschickt gemixt werden vielmehr Crime-, Mystery- und Horrorelemente: Im Zentrum steht eine junge, kleinstädtische Polizistin, deren Aufgabe es ist, sich um Verbrechen oder Streitigkeiten zu kümmern, die im Zusammenhang mit den „Erweckten“ stehen.

„Revival“ erscheint in den USA als fortlaufende Serie im Monatsabstand; bisher liegen gut dreißig Hefte vor. In der deutschen Ausgabe sind die ersten fünf von ihnen vereint, und so spannend sie zu lesen sind, leidet der Gesamteindruck ein wenig darunter, dass es sich letztlich um eine stark ausgedehnte Exposition handelt. Seeley ist so sehr bemüht, Spuren zu legen, die er in Zukunft verfolgen kann, dass dies auf Kosten der Kohärenz geht.

Stärken und Schwächen haben auch die Zeichnungen von Mike Norton. Sie sind routiniert, aber etwas hölzern. Ausdrucksvolle Gesichter wollen Norton nicht immer gelingen; so hat man manchmal Schwierigkeiten, die Polizistin von ihrer jüngeren, „erweckten“ Schwester zu unterscheiden. Am besten zeichnet Norton die rätselhafteste Figur des Comics: den Geist eines Soldaten, der ruhelos durch die Wälder streift. Er ist riesig und hat lange Gliedmaßen. Im Verhältnis zum überschlanken Körper ist sein Kopf, in dem leere, dunkle Augenhöhlen sitzen, viel zu groß. Er ist furcht- und mitleiderregend zugleich – und in seiner Biegsamkeit, seiner lebhaften Körpersprache wirkt dieser totenblasse Flüchtling aus dem Jenseits viel lebendiger als die Menschen, die er heimsucht.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: taz

Richard Corben: Creepy Gesamtausgabe
Deutsch von Gerlinde Althoff u. a.
Splitter Verlag, Bielefeld 2014, 352 Seiten, 49,80 Euro

Tim Seeley (Text) und Mike Norton (Zeichnungen): Revival 1: Unter Freunden
Deutsch von Frank Neubauer.
Cross Cult, Ludwigsburg 2013. 128 Seiten. 18 Euro

(Alle Bilder: © Splitter Verlag)

Über den Sachcomic "Das Überleben der Spezies"

( , Regie: )

Kapitalismuskritik und sprechende Pferdearschlöcher
von Sven Jachmann

Mit der Diversifizierung des Comic-Marktes entwickelt sich auch das Themenspektrum in die Breite. Vielleicht erleben Sachcomics deswegen derzeit einen kleinen Boom. Ältere Linke mögen sich daran erinnern, dass der Rowohlt …

Mit der Diversifizierung des Comic-Marktes entwickelt sich auch das Themenspektrum in die Breite. Vielleicht erleben Sachcomics deswegen derzeit einen kleinen Boom. Ältere Linke mögen sich daran erinnern, dass der Rowohlt Verlag schon Ende der 1970er Jahre eine ganze Flut an Comiceinsteigerfibeln auf den Markt schmiss („Marx“, „Lenin“, „Freud“, „Mao“, „Trotzki“ etc. „für Anfänger“). Ein ästhetisch recht zweifelhaftes Lesevergnügen, das heute mit ähnlicher Konzeption (von Adorno bis Foucault) vom Wilhelm Fink Verlag fortgeführt wird. Wirklich eigensinnige Versuche wie Scott McClouds kanonisierter Meta-Comic „Comics richtig lesen“, immerhin bereits 1993 erschienen, bleiben Ausnahmeerscheinungen. Oft gewinnt man eher den Eindruck, dass seitens der Macher die Wahl des Mediums mit einer didaktisch grundierten Geringschätzung des selbigen einhergeht: Die Leute lesen keine schwere Bücherkost, also entschlacken wir den Inhalt und reichern ihn mit Bildern an. Holen wir die faulen Leser/innen dort ab, wo sie sind.

Die gleichnamige Marx-Biografie des Knesebeck Verlags (2013) mag da noch durch sympathische Superheldenreferenzen punkten. Die Beiträge in „Die große Transformation“ (Jacoby & Stuart) hingegen, ein Comic über den Klimawandel, der sich 2013 zumindest branchenintern als kleiner Bestseller erwies, vereint all die langweiligen Fehltritte, die in dem Genre widerfahren können: Viel Text, entweder vermittelt von talking heads oder einer „Kamera“, die einer BBC-Doku gleich durch die Schauplätze schwebt, aufgelockert durch Diagramme und Landkarten und koordiniert von einem „Moderator“ – nicht mehr als eine starre Spiegel TV-Reportage ohne Akustik.

Paul Jorion, Ökonom an der Universität in Brüssel und Wirtschaftskolumnist der Le Monde, und Grégory Maklès, französischer Comiczeichner u.a. der World of Warcraft Parodie „Stevostin“, zeigen in ihrer Gemeinschaftsarbeit „Das Überleben der Spezies“, wie es besser geht. Gewiss will das Duo ebenfalls vermitteln, im Zweifel aber lieber agitieren, und aus dieser unverblümten Haltung spricht zutiefst humanistische Sorge. Die bedingt sich aus ihrer zentralen Frage danach, warum und inwiefern der Finanzmarkt-Kapitalismus die Menschheit flächendeckend ins Elend stürzt. Die Antworten sind weniger Theorie denn fatalistischer Witz, arrangiert als andauernder, galliger Assoziationsstrom, in dem Figuren und Schauplätze so schlagartig wechseln wie in den besten Zeichentrickpassagen eines Michael Moore Films.

Da sind zunächst die Arbeitnehmer. „Fast jeder gehört dazu, zu den 99 Prozent. Berufstätig, ehemals berufstätig oder auf Arbeit hoffend. Sie werden gepäppelt, gepflegt und perfekt in Schuss gehalten – so steht es jedenfalls in den Arbeitsverträgen, die sie mit viel Schwung unterzeichnen.“ Visualisiert als Lego-Männchen entwickeln sie allerlei Methoden, um die apokalyptischen Wirtschafts- und Katastrophenmeldungen zu vergessen: noch mehr fernsehen, Familien gründen, Politikern vertrauen, gegen Werbung protestieren. Aber sitzt das Lego-Männchen Das Überleben der Spezies lesend daheim im Sessel, wird es von Schuldgefühlen gequält: zu viel Zeug, Papierverbrauch, Plastiksessel (natürlich ein Lego-Stein) nicht recycelbar. Sein Psychiater kann das larmoyante Klagen nicht mehr hören: „Es liegt nicht an ihnen! Sondern an der Welt!“

Es folgt die Geschichte des Überschuss (in deren Verlauf jenem Menschen, der zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte mittels Kraft und Keule andere für sich die Beeren pflücken lässt, oben auf seinem einsamen Kontrollhügel zwar schnell langweilig wird, aber: „Hauptsache Arbeit.“) und sie endet bei zwei weiteren Akteuren: dem Arbeitgeber (ein grimmiger General) und dem Kapitalisten (der Monopoly-Zylinderträger). Lebenspartner, die sich die Welt so machen, wie sie ihnen am besten gefällt: als Monopoly-Spiel (und so wird auch uns von den zweien fortan das Wirtschaftssystem erklärt). Bevor das naive Lego-Männchen am runden Tisch bei der Verteilung des Überschusses, ein gigantischer Wall aus Geldbündeln, die Internationale anstimmt, halten sie es mit Scherzanrufen als Finanzberater bei Laune und versprechen bombastische Kredite: „Simpel, aber man muss drauf kommen: Man gibt diesem Trottel seinen eigenen Anteil von dem Überschuss, der durch seine zukünftige Arbeit entstehen wird. Und kassiert obendrein noch Zinsen!“

Widerstand? „Wie kann es sein, dass fast die gesamte Menschheit beinahe die gesamte Arbeit erledigt und nahezu den gesamten Überschuss einer Schar von Heißsporen und Zockern überlässt?“ Switch zu einem Pferderennen vor einer Phalanx aus Monopoly-Kapitalisten: Ein Pferd stürzt und verletzt sich. Der Reiter eilt zu Fuß zum Ziel, derweil das Tier vom Richter erschossen wird. „Wenn es um Wettbewerb geht und nicht um Zusammenarbeit, dann ist Mitgefühl weniger gefragt als Effektivität.“

Weil das Kapital ererbt wird, erhält der (noch) zur Poesie neigende Sohn des Monopoly-Männchens schließlich eine Führung über die Schauplätze und Stationen des Marktes und der Macht. Dabei vernehmen sie auch durchaus empörte Stimmen: „Wie sieht es mit einer Erhöhung des Weihnachtsgeldes für die Angestellten aus?“ Aber dem klagenden Anus eines grasenden Rennpferdes schenkt natürlich niemand Gehör.

Jorison und Maklès mögen keine neuen Lesarten des apokalyptischen Weltverlaufs verkünden, aber ihre Wut über das destruktive Wesen des Kapitalismus übersetzen sie in angemessen ätzende Bilder.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Junge Welt

Paul Jorison (Text) / Grégory Maklès (Zeichnungen): Das Überleben der Spezies
Aus dem Französischen von Marcel le Comte.
Egmont Graphic Novel, Köln 2014, 120 Seiten, 24,99 Euro

(Alle Bilder: © Egmont Graphic Novel)

Der südafrikanische Comickünstler Anton Kannemeyer parodiert die kolonialistische Bildpolitik Hergés

( , Regie: )

Anton im Kongo
von Sven Jachmann

In der Tintinologie ist man sich einig: Die Anfänge von Hergés kosmopolitischem Duo Tim und Struppi standen unter keinem guten Stern, eher unter dem Banner antikommunistischer Propaganda und rassistischen Irrsinns. …

In der Tintinologie ist man sich einig: Die Anfänge von Hergés kosmopolitischem Duo Tim und Struppi standen unter keinem guten Stern, eher unter dem Banner antikommunistischer Propaganda und rassistischen Irrsinns. Tatsächlich lassen sich vor allem ihre ersten beiden Abenteuer „Tim im Lande der Sowjets“ und „Tim im Kongo“, 1930 und 1931 erstmals erschienen, heute nicht ohne Kotztüten lesen. So ist das eben, heißt es dann, Hergé war auch nur ein Kind seiner Zeit; sein Erbe für den europäischen Comic bleibt unbestritten, und jeder fängt mal dumm an. Die ligne claire entwickelte sich zur Rückversicherung europäischer narrativer und stilistischer Eigenständigkeit gegenüber der Dominanz der amerikanischen comic books, unterschiedliche Gegenwartskünstler wie Jacques Tardi, Seth oder Chris Ware wären ohne die „klare Linie“ kaum denkbar. Anfang 2012 entschied sogar ein Gericht in Brüssel, dass zum Kulturerbe gewachsenes Zeitkolorit rassistische Bilder von Afrikanern sticht, und wies eine Verbotsklage des kongolesischen Studenten Bienvenu Mbutu Mondondo ab. Außerdem sprach doch Hergé selbst von „Jugendsünden“ und veröffentlichte 1946 eine überarbeitete Fassung! Und überhaupt: „Tim und Struppi“-Alben haben sich weltweit etwa 215 Millionen Mal verkauft!

Die jüngst erschienene Sammlung von Anton Kannemeyers Comic- und Illustrationsarbeiten fixiert die kolonialistische Bildpolitik in Hergés Tim im Kongo. Schon das Cover ist, ja, was eigentlich? Parodie? Satire? Dekonstruktion? Punk? Visual history? Jedenfalls eine ligne claire-Variation des ursprünglichen Titelbilds, auf dem Tim und ein schwarzer Handlanger im Auto die Savanne der belgischen Kolonie durchqueren. Aus Tim wurde nun allerdings Kannemeyer, der fahren lässt und Shell- und Texaco-Kisten als Proviant geladen hat; ihre fröhliche Missionstour hinterlässt brennende Hütten, überfahrene Tiere, Verstümmelungen und Leichen. Das Struppi-Äquivalent sitzt nicht auf der Rückbank, sondern attackiert einen einbeinigen Kongolesen, dessen Gesichtszüge mit dicken, roten Lippen sich durch keine individuellen Charakteristika von den weiteren schwarzen Figuren abheben. Wie bei Hergé.

Anton Kannemeyer, der auch unter dem Pseudonym Joe Dog publiziert, ist in Deutschland bislang praktisch unbekannt, das Buch die erste deutsche Übersetzung. Hierzulande reicht seine Prominenz leider nicht einmal für einen Wikipedia-Eintrag, in New York hängt er bereits im Museum of Modern Art. 1967 in Kapstadt, privilegiert durch ein höchst autoritäres weißes Elternhaus, in die Apartheid hineingeboren, lernte er die Protektion der calvinistisch legitimierten Rassentrennung seitens der Buren von der Pike auf. Im Interview mit dem Deutschlandfunk sagt Kannemeyer: „Das einzige, was mir damals Hoffnung oder ein Gefühl gab, dass es neben Elend noch etwas anderes geben könnte, war Tim.“ 1992 gründete er zusammen mit seinem Grafik-Design-Kommilitonen Conrad Botes die Zeitschrift Bitterkomix, die nach wie vor erscheint. Höchste Auflage: gerade mal 4000 Exemplare, aber ausreichend dafür, dass alte Ausgaben mittlerweile zu hohen Sammlerpreisen gehandelt werden. Das nimmt durchaus wunder, weil radikale Gesellschaftskritik im Comic auch außerhalb der kleinen Szene Südafrikas im Regelfall soviel Aufmerksamkeit erwarten kann wie die Neueröffnung eines Bistrocafés in Hildesheim, solange kein Promi das Zepter schwingt. Indes trifft Kannemeyers Arbeit offensichtlich die richtigen. Er erntete Verbote, Drohbriefe, Farbanschläge auf Ausstellungen. Im Nachwort zitiert Jonas Engelmann den Künstler so: „Wenn die Leute sagen: ‚Oh, das ist schön’ und danach deine Arbeiten vergessen, muss das für einen Künstler deprimierend sein. Ich brauche Reaktionen.“

Kannemeyer versucht weder als Weißer eine schwarze Perspektive auf Rassismus zu simulieren, noch will er in seinen „Tim und Struppi“-Satiren die frühen Arbeiten Hergés des Rassismus überführen; der ist eh manifest. Der Zeichner füllt das, was sich in der Vorlage ideologisch in den weißen Zwischenräumen der Panels abspielt, mit den Projektionen der weißen Elite, ihrem Hass, ihren Ängsten und kolonialistischen Machtphantasien, ähnlich verstörend und rabiat, wie man es als Spiel mit dem Autobiografismus von Robert Crumb kennt. Da erschießt Kannemeyer – analog zu Tim, dem selbiges allerdings mit Gazellen widerfährt – auf der Jagd gleich zehn Schwarze, immer in dem ständigen Glauben, seine Beute verfehlt zu haben; man kann sie schließlich nicht unterscheiden. In einer Illustration zitiert er einfach nur die Definitionen der Oxford Wörterbücher für weiß („unbefleckt, rein, makellos, ohne Schuld“) und schwarz („dreckig, jämmerlich, bösartig, roh“). Oder er gießt mit einem Wasserschlauch und mürrischer Miene die afrikanische Landkarte, „fertile land“, der Boden ist gesäumt von Dutzenden erigierten Riesenschwänzen.

Das Leitmotiv ist Gewalt: vor und hinter den Grenzen der Gated Communitys, vor und nach der Apartheid, als Wort und als Tat. In der bizarren Kurzgeschichte „Sonny“ erreicht die Gewalt mit der Familie die kleinste gesellschaftliche Einheit: Ein Vater missbraucht seinen Sohn im abgedunkelten Schlafzimmer, der Sohn flüchtet in den Garten und blickt im letzten Bild von außen durchs Fenster, hinter ihm die Grenze des hohen Zauns, drinnen die symmetrische Ordnung eines bürgerlichen Wohnzimmers. Sein abermals an Tim angelehntes charakterloses Konterfei und seine räumliche Position zwischen zwei Sphären der Gewalt erheben den Jungen zum doppelten character: als Opfer, das durch die Projektionen des Vaters jedes individuellen Ausdrucks beraubt wird, und als Täter, in dessen entindividualisiertem Antlitz sich bereits der autoritätshörige Geist des Rassisten ankündigt. Für Versöhnlichkeit ist in Kannemeyers Bildern kein Raum mehr frei.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 1/2015

Anton Kannemeyer: Papa in Afrika
Aus dem Englischen von Mathias-Emanuel Hartmann.
Avant Verlag, Berlin 2014, 64 Seiten, 19,95 Euro

(Alle Bilder: © Avant Verlag)