Seit 2015 bzw. 2017 arbeitet der in Paris lebende Comickünstler Riad Sattouf an zwei Langzeitchroniken, die beide ganz unterschiedliche Protagonisten von der Kindheit bis zum jungen Erwachsenenalter begleiten: In „Der Araber von morgen“ erzählt Sattouf seine eigene Biografie, vom Aufwachsen in Libyen und Syrien unter diktatorischen Verhältnissen und islamischer Strenge, bis die Familie 1991 endgültig nach Frankreich übersiedelt, wo das familiäre Bündnis zerbricht, als der Vater mit seinem entführten jüngsten Sohn nach Syrien zurückreist. In „Esthers Tagebücher“ wiederum visualisiert Sattouf quasi in Echtzeit die Erlebnisse und Gedanken der titelgebenden Esther, Tochter eines Freundes Sattoufs, die wöchentlich als One-Pager im französischen Nachrichtenmagazin L’Obs und jährlich als Sammelausgaben erscheinen. Beide Serien sind mittlerweile beim fünften Band angelangt, und beide Figuren haben darin nun das 14. Lebensjahr erlangt. Die Pubertät wütet also heftig, und eine Engführung der Serien zeigt, dass subtile und manifeste Gewalt der patriarchalischen Welt, in die beide Jahr für Jahr ungeschützter hineinwachsen, sowohl Esther als auch Riad immer heftiger zusetzen. Weil sie inzwischen jenes Alter erreicht haben, in dem sich das Systemische hinter den Gemeinheiten und der Ungerechtigkeit des Alltags spürbar herausschält.
Riad wird von der verzweifelten Mutter zusehends in deren Bemühungen hineingezogen, den entführten Sohn aus Syrien zurückzuholen. Weil die Bemühungen nicht fruchten, überträgt sie die Wut, die eigentlich dem Vater gilt, auf den sensiblen Riad. Auch hier ist männliche Macht nicht nur Anlass der Krise, sondern auch Grund dieses Misslingens: Bei der syrischen Botschaft legt man sofort auf, als man eine schluchzende Frauenstimme hört. Die gelegentlichen Worte des Trostes und Mitgefühls des Vorgängerbandes sind Vorwürfen und unbewussten Appellen an Riads Männlichkeit gewichen. Riad indes hat im Grunde schon genug damit zu tun, zwischen sadistischen Hofbullies, antisemitischen Schulfreunden und prügelgeilen Jugendlichen auf dem Schulweg eine möglichst unsichtbare Rolle für sich zu finden. In diesem Band deutet sich an, dass die Comickunst einmal ein Rettungsanker sein wird.
Was Esther, in deren Figur sich zugleich das Porträt der ersten Youtube-Generation verdichtet, an Entwicklungsstufen der pubertären Männlichkeits- wie Weiblichkeitstransformation beobachtet und erträgt, ist qualvoll: Mitschüler, die die Mädchen obszön beschimpfen und begrapschen, ein ignorierter Jugendlicher auf dem Pausenhof, der in Tränen ausbricht, wenn man ihn anlächelt, Achtklässlerinnen, die bei Minusgraden bauchfrei schaulaufen, ein feministisches, kämpferisches Mädchen, das auf der Grundschule gemobbt wurde und die SMS aufbewahrt hat, um „dran zu denken, niemals zu verzeihen“ („Hässliche wie dich mus man abvakeln“, „Dreckshure“), und überall, wirklich überall Homophobie bzw. Typen, die die Härtecodes des HipHop verinnerlicht haben.
Bereits in den Vorgängerbänden erschwerten bestürzende Ereignisse – Terroranschläge in Frankreich, Trumps Amtsantritt, der Wahlsieg Macrons, Sympathien für Le Pen in ihrem Freundeskreis – es Esther, ihr politisches Desinteresse aufrechtzuerhalten. Aber genervte Feuerwehrmänner, die einen Obdachlosen in seiner Kotze liegen lassen, und die Klimakrise, die der Politik allenfalls Beschwichtigungen und ihrem älteren Bruder bizarre Verschwörungstheorien entlockt, festigen ihren Gerechtigkeitssinn. Dass der von ihr verehrte Vater – ein überzeugter Linker, der die Kinder für Atheismus, Rassismus und Ungleichheit zu sensibilisieren versucht – sie ausgerechnet bei diesem Thema während der familiären Fernsehrunde gemeinsam mit dem Bruder auslacht („Esther gründet die Ökofaschopartei, das ist zu hoch für uns“), dürfte ein weiterer Baustein sein.
Sattouf liefert zwei ausgeklügelte, vielerlei anschlussfähige soziologische Mikrostudien. Obgleich es hier und dort etwas zu lachen gibt – zu lernen gibt es allemal mehr. Vor allem, dass der Mythos einer unschuldigen Kindheit und Jugend denen gehört, die wegen glücklicher Zufälle nichts zu befürchten hatten. Oder aufseiten der Schläger standen. Dass das Ganze nicht unter der Last des Beobachteten zusammenbricht, verdankt sich Sattoufs luftigem Zeichenstil, der sich an Jean-Jacques Sempés Karikatur-geschulte reduktionistische Bildwelten sozusagen anschmiegt. Auch so ein Chronist, der über die Kindheit keine Lügen verbreiten konnte. Der markante Unterschied: Wo sich Sempé in seinen Arbeiten gelegentlich zu pittoresken Kolorierungen hinreißen ließ, arbeitet Sattouf streng mit vier Farbvariationen. Dem 21. Jahrhundert ist womöglich das Schwelgerische abhanden gekommen.
Riad Sattouf: „Der Araber von morgen – Band 5“.
Aus dem Französischen von Andreas Platthaus. Penguin-Verlag, München 2021. 184 Seiten. 24 Euro
Riad Sattouf: „Esthers Tagebücher – Band 5“.
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. Reprodukt, Berlin 2021. 56 Seiten. 20 Euro