Der Comic sei endlich erwachsen geworden, raunt es seit Jahren regelmäßig in der Tagespresse. Blicken wir mal zurück ins Jahr 1908 gen Sheepshead Bay im Süden von Brooklyn. Der Comic hing nach Presselogik noch nicht einmal am Schnuller, als sich der geniale Zeichner Winsor McCay, vermutlich 1869 geboren, auf seinem kreativen Höhepunkt befand. Seine zwei Serien „Dream of the Rarebit Fiend“ und „Little Nemo in Slumberland“ lassen so manchen aktuellen Graphic-Novel-Produzenten vor Neid erblassen. „Rarebit Fiend“ erschien schwarzweiß, mal halb-, mal ganzseitig in James Gordon Bennetts Zeitung New York Evening Telegram, „Little Nemo“ vierfarbig und ganzseitig in der Regel als Sonntag Supplement im ebenfalls von Bennett herausgegebenen New York Herald. „Rarebit Fiend“ startete 1904, „Little Nemo“ ein Jahr darauf, der Autor produzierte sie fortan parallel.
Für sein monatliches Arbeitspensum, Lizenzverkäufe eingeschlossen, konnte McCay rund 4000 Dollar einstreichen. Zum Vergleich: Das Proletariat musste damals versuchen, mit durchschnittlich neun Dollar die Woche zu überleben. Und auch der Kontostand der meisten weltweiten Comic-Künstler/innen heute kann da nicht mithalten. Das enorme Honorar war zu jener Zeit durchaus üblich. Die Comiczeichner galten als Aushängeschilder der Gazetten und profitierten enorm von den gegenseitigen Abwerbungsversuchen der Zeitungsverleger. Die Werke waren für Immigranten die einzige Möglichkeit, bezahlbares Amüsement zu erhalten. (1911 sollte McCay dann auch dem Angebot William Randolph Hearsts folgen und mit „Little Nemo“ zum Krawallblatt New York American wechseln, das er 1924 zugunsten des Herald Tribune wieder verließ.)
Kurzum: Obwohl das Medium kaum mehr als zehn Jahre alt war, genossen Comiczeichner bereits Starstatus. Aber wenn deutsche Journalisten Comics heute das Recht zur Führerscheinprüfung einräumen, denken sie nicht an Popularität, sondern ominös an Kunstfertigkeit, Komplexität und alles, was als Herrschaftswissen früher den Kunstdisziplinen vorbehalten sein sollte.
Im Taschen Verlag erschien bereits Ende 2014, herausgegeben vom Kunsthistoriker, Zeitungscomicexperten und –sammler Alexander Braun, eine Gesamtausgabe sämtlicher „Little Nemo“-Episoden, ergänzt um einen fast 140seitigen Text zu McCays Leben und Werk, von dem „Little Nemo“ nur einen Bruchteil ausmacht. Ein monolithisches Dokument und bester Anlass für weitere Kreationen der journalistischen Phrasenschmiede. Diese brillante Edition ist bereits vergriffen, darum folgte 2017 eine zweibändige Neuausgabe im kleineren Format und zum günstigeren Preis.
Für drei Cent bekamen die Leser/innen des New York Herald in „Rarebit Fiend“ groteske Szenarien geboten, die sich in der Schlusspointe stets als Alptraum wechselnder Figuren entpuppen, hervorgerufen durch den Verzehr von Käsetoast. Und diese Horrorphantasien haben es in sich; McCay selbst bezeichnete die Serie als „an adult entertainment“: Ein Mann liegt bei vollem Bewusstsein mit geschlossenen Augen und geöffnetem Mund im Bett, er kann sich nicht bewegen und deswegen auch nichts gegen die immer größere Schar Kleintiere unternehmen, die sein Gesicht als Nistplatz nutzen und schließlich bis zur Unkenntlichkeit zersetzen. In einer weiteren Episode transformiert sich der Hut einer Dame, den sie zum Ostersonntag ausführt, zu einem riesigen Vogel, der sie an den Haaren greift und mit ihr abhebt, an ihren Füßen zerrt der zappelnde Ehemann, bis Haar und Kopfhaut abreißen und das Paar zu Boden stürzt. Oder: Ein scheintoter Patient muss regungslos aus der Froschperspektive den gesamten Weg von der Todesdiagnose bis zu seinem Begräbnis mit ansehen.
Das Erwachen in „Rarebit Fiend“ ist also eine Erlösung, in „Little Nemo“ hingegen ist es ein Spiel mit der Serialität: Die Erzählwelt ist hier nicht abgeschlossen, sondern setzt sich mit jeder Episode fort, unterbrochen vom letzten Panel, in dem Nemo in seinem Bett aufwacht. Die Handlung ist eine Reise durch das Traumreich Schlummerland. Dorthin wird Nemo von König Morpheus gelockt, der ihn zum Spielgefährten seiner Tochter auserkoren hat. Obgleich Flip, der Widersacher des Königs, diese Begegnung regelmäßig vereitelt (er muss Nemo bloß erschrecken, damit der wieder aufwacht), trifft Nemo im März 1906 doch noch auf die Prinzessin, macht sich aber schon bald eigenmächtig und mit weiteren Figuren auf zur Erkundung des Königreichs.
Vom skizzierten Strich in „Rarebit Fiend“ wechselt McCay in „Little Nemo“ zum ornamentalen Farbenspiel, entwickelt pompöse Architekturen, experimentiert mit dem Seitenaufbau und definiert im Prinzip bereits die gesamten Stilmittel des Comics. Das geht so weit, dass er sogar Selbstreferenzialität als Spiel mit Illusionsmechanismen in einem Medium einsetzt, das seine eigene Geschichte erst zu schreiben beginnt: In der Episode vom 1. Dezember 1907 beispielsweise befinden sich Nemo und seine Begleiter vor einer geschlossenen Banketthalle. Hungrig und erzürnt darüber, dass ihr Zeichner schlecht für sie sorge, zweckentfremden sie die Panelränder als Werkzeuge, traktieren damit die Lettern des Titelschriftzugs „Little Nemo in Slumberland“ und lassen sich die Buchstaben schmecken. Kurz darauf reüssierte „Little Nemo“ bereits als bislang teuerstes Musical am Broadway. Solche Formen der Cross Promotion sind heute, Kinofilm zum Comic, allgegenwärtig. McCay hat 1911 mit „Little Nemo“ überdies den ersten Animationsfilm entwickelt.
Dabei hielt der Künstler auch mit Kapitalismuskritik nicht hinterm Berg: 1910 fliegt Nemo mit einem Luftschiff zum Mars und, ohne es zu ahnen, ins Herz des Terrors der Ökonomie. Verkaufs- und Werbeschilder zeugen schon aus der Ferne vom Privatbesitz des Mr. Gosh, der den überbevölkerten Planeten mit einer simplen Doktrin regiert: Alles hat seinen Preis, selbst die Luft, das Sonnenlicht und die Wörter: „Die Reichen können reden, die Armen müssen schweigen.“
Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET
Alexander Braun (Hg.): Winsor McCays Little Nemo – Gesamtausgabe. Zwei Bände.
Taschen Verlag, Köln 2017. 368/344 Seiten. Je 60 Euro