Alice Guy

Die erste Filmregisseurin der Welt
von Wolfgang Nierlin

„Nur Wissen wird dir Kraft geben, die Herausforderungen des Lebens zu bestehen“, sagt Émile Guy einmal zu seiner 12-jährigen Tochter Alice. Das 1873 in Saint-Mandé bei Paris geborene Mädchen, dessen Eltern in Chile leben und das zunächst bei seiner Großmutter in der Schweiz aufwächst, muss nämlich wiederholt das Internat wechseln. Das jüngste von fünf Geschwistern ist zwar fröhlich, neugierig und lebenslustig, leidet aber immer wieder unter den schmerzlichen Trennungen und Vertröstungen, unter Angst und der strengen Erziehung in den Klosterschulen. Viel später, als „eine Frau mit Prinzipien“, als emanzipierte Filmregisseurin und als selbstbewusste, durchsetzungsfähige Filmproduzentin, wird Alice Guy sagen: „Den Mutigen gehört die Welt.“ Zu diesem Zeitpunkt Anfang der 1910er Jahre lebt die Filmpionierin bereits mit ihrem Mann Herbert Blaché und zwei kleinen Kindern in den USA und leitet das von ihr gegründete Studio Solax, mit dem sie in großer Zahl einaktige Kurzfilme produziert.

Die vielen Lebensstationen dieser ungewöhnlichen Frau, die, lange Zeit vergessen, erst spät als „erste Filmregisseurin der Welt“ rehabilitiert wurde, lassen sich nun in dem spannenden Comic „Alice Guy“ von Catel & Bocquet nachvollziehen. Der französische Autor und Szenarist José-Louis Bocquet und die aus dem Elsass stammende Illustratorin Catel Muller, die sich zuvor unter anderem mit Kiki de Montparnasse und Josephine Baker beschäftigt haben, verdichten in ihrer biografischen Graphic Novel das ereignisreiche, von Höhen und Tiefen durchwirkte Leben der Filmpionierin in strenger zeitlicher und mit jeweils wechselnden Orten verbundener Chronologie. Catels feine und auf das Wesentliche konzentrierten Schwarzweißzeichnungen sowie Bocquets elliptische, an markanten Ereignissen und Umbrüchen orientierte Erzählweise lassen anhand der biografischen Szenen zugleich das Kolorit und den Aufbruchsgeist einer ganzen Epoche erstehen.

Denn das Portrait und die wechselvolle Geschichte von Alice Guy sind eng verknüpft mit der Entwicklung des Kinematographen, mit technischen Erfindungen, dem Wettbewerb der konkurrierenden Pioniere und dem Ringen um Wirtschaftlichkeit. „Die Vergangenheit nutzen und die Zukunft erfinden, das ist unsere gemeinsame Geschichte“, beschwört Léon Gaumont, mit dem Alice Guy ihre ersten wichtigen Schritte unternimmt, einmal den Geist ihrer Firma. In der Auseinandersetzung mit den Brüdern Lumière, mit dem Kinomagier Georges Méliès oder auch ihrem frühen Drehbuchautor und später berühmt werdenden Regisseur Louis Feuillade geht es aber auch um filmästhetische Fragen im weiten Feld zwischen Realismus und Illusion, Authentizität und Täuschung. Außerdem behandelt der gewichtige Band, der durch eine detaillierte Chronologie und umfangreiche Kurzbiografien ergänzt wird, mit Alice Guys Kämpfen für weibliche Selbstbestimmung und gegen rassistische Diskriminierung oder auch sexuelle Übergriffe innerhalb ihres Metiers Themen, die gerade heutzutage wieder aktuell sind.

Dass die Filmregisseurin, die in der ersten Hälfte ihres langen Lebens Hunderte Filme realisierte, später nahezu vergessen war und in der Filmgeschichtsschreibung zunächst ein Schattendasein fristete, erkennt Alice Guy ziemlich nüchtern und desillusioniert bereits 1922 bei ihrer Rückkehr nach Frankreich: „Niemand hat mich vergessen. Weil ich im französischen Kino einfach nicht mehr existiere.“ Angesichts ihrer Arbeit mit einem Medium, das lebendige Bewegungen aufzeichnet und fixiert, um Unwiederbringliches festzuhalten, liegt darin auch eine gewisse tragische Ironie. Seit ihrem Tod im Jahre 1968 hat sich diese bittere Einschätzung allerdings wesentlich verändert, wofür nicht zuletzt der jetzt in deutscher Übersetzung vorliegende Comic ein schönes Beispiel ist. Neben einem informativen Vorwort des Publizisten und Verlagsredakteurs Sven Jachmann ist dem niveauvoll gestalteten Buch außerdem eine Filmografie und eine Bibliografie beigegeben.

Catel Muller (Zeichnerin), José-Louis Bocquet (Szenarist): Alice Guy – Die erste Filmregisseurin der Welt • Aus dem Französischen von Antje Riley • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 400 Seiten • Hardcover • 45,00 Euro

Foto: © Splitter Verlag