Im Januar des Jahres 2014 sitzt der Zeichner und Storyboard Artist Stéphane Lemardelé ebenso glücklich wie nachdenklich auf dem Sofa seines Ateliers und liest Bjørn Olaf Johannessens Drehbuch zu Wim Wenders‘ geplantem Film „Every thing will be fine“, in dem James Franco und Charlotte Gainsbourg für die Hauptrollen vorgesehen sind. Der deutsche Filmemacher hat entgegen seiner gewohnten, mehr spontanen Arbeitsweise den kanadischen, 1968 in Frankreich geborenen Zeichner engagiert, damit dieser ein detailliertes Storyboard der etwa 13-minütigen, ziemlich heiklen Eingangssequenz erstellt. Darin verursacht der von Franco gespielte Protagonist in der Eiseskälte des Québecer Winters einen tragischen, tiefe Schuldgefühle nach sich ziehenden Unfall. Weil die Dreharbeiten für den 3D-Film mit großem Team, bei hohen Minusgraden und in möglichst unberührter weißer Schneelandschaft kompliziert zu werden versprechen, setzt Wenders in diesem speziellen Fall auf ein Szenenbuch mit den einzelnen Einstellungsfolgen.
Und so fährt Stéphane Lemardelé von seinem entlegenen Wohnort in Sutton in das circa 110 Kilometer entfernte Montréal, um sich mit Wim Wenders und dem Set Designer Emmanuel Fréchette für Arbeitsgespräche zu treffen. Kleinteilig wird über den Ablauf des Unfalls, über Einstellungsgrößen, Kamerapositionen, Lichtstimmungen und zu vermeidende Spuren im Schnee gesprochen, während der Zeichner erste Skizzen anfertigt, die er dann später ausarbeitet. Daneben und mit Bezug auf sein aktuelles Projekt erzählt Wenders aus seinem reichen künstlerischen Arbeitsleben, von seinen Einflüssen, Inspirationen und praktischen Erfahrungen. In Anlehnung an den Realismus des US-amerikanischen Malers Eward Hopper erläutert der Regisseur sein Bestreben, mit filmischen und fotografischen Mitteln Realität festzuhalten und zu bewahren. Er berichtet von seinem Weg zum Geschichtenerzähler, reflektiert mit Blick auf sein großes Vorbild Yasujiro Ozu über den Film als Medium der Selbsterkenntnis und über die Gefahren inflationärer Bilderproduktion; bei der Besichtigung der Locations verweist er aber auch auf die inspirierende Kraft von Orten sowie auf die Notwendigkeit, bei der filmischen Arbeit zu improvisieren.
Stéphane Lemardelés „autobiografischer Dokumentar-Comic“ „Das Storyboard von Wim Wenders“ entwickelt in diesen Passagen ein ziemlich weit führendes und komplexes Künstlerporträt. Für dessen zeichnerische Darstellung verwendet er Bilder und Texte aus dem umfangreichen Œuvre des Regisseurs, der dabei auch seine diversen Referenzen benennt. So entsteht ein reichhaltiges Dossier von Wenders‘ künstlerischem Werdegang und seinen damit verbundenen filmästhetischen und poetologischen Einsichten. Daneben dokumentiert der ebenso informative wie anregende Comic, der sich augenzwinkernd auch selbst zum Thema macht, in schwarzweißen Bilderfolgen Lemardelés Arbeit am Storyboard, das schließlich in den Dreharbeiten umgesetzt wird. Hier gewährt die farbige Bildergeschichte einen Einblick in die vielfältige Arbeit des Filmemachens und seine Gewerke. Außerdem erzählt der Zeichner mit Blick auf die jeweilige Umgebung, auf Orte, Menschen und Dinge, fast absichtslos und nebenher Geschichten, die sich am Rande und parallel zu den Gesprächen und Ereignissen abspielen. Er entkoppelt dafür Text und Bild und eröffnet damit zugleich einen assoziativen Raum für die Übergänge und Anknüpfungspunkte zwischen Fiktion und Realität, Biografie und Ästhetik.
Stéphane Lemardelé: Das Storyboard von Wim Wenders. Aus dem Französischen von Harald Sachse und mit einem Vorwort von Wim Wenders. Splitter Verlag, Bielefeld 2023. 152 Seiten. 29,80 Euro