Archiv der Kategorie: Filmkritik

Das Mädchen und der Künstler

(ESP 2012, Regie: Fernando Trueba)

Skulptur der Trauer
von Wolfgang Nierlin

Die Farben der Natur sind schwarzweiß in Fernando Truebas Film „Das Mädchen und der Künstler“ („El artista y la modelo“). Trotzdem bringt ein konstant intensives Sonnenlicht die Bilder zum Leuchten, …

Die Farben der Natur sind schwarzweiß in Fernando Truebas Film „Das Mädchen und der Künstler“ („El artista y la modelo“). Trotzdem bringt ein konstant intensives Sonnenlicht die Bilder zum Leuchten, indem es durch zauberhafte Schatten die Körper und Gegenstände modelliert. Zwischen Helle und Dunkel, Jugend und Alter, Lebenslust und Vergänglichkeit changiert dieses ausnehmend schöne filmische Poem von Anfang an. Während der alte, lebensmüde Maler Marc Cros (Jean Rochefort) auf seinem Morgenspaziergang einen verwitterten Astknochen, ein leeres Nest und einen skelettierten Vogelschnabel als Zeichen der Vergänglichkeit betrachtet, pulsiert unweit auf dem Marktplatz eines kleinen südfranzösischen Städtchens das Leben. Menschen flanieren, erledigen Einkäufe oder sie entspannen sich auf der Terrasse des Café de la paix, von wo aus sie das Treiben beobachten, während der Glockenschlag der nahen Kirchturmuhr das Verrinnen der Zeit signalisiert. Doch die Idylle trügt, wie eine Naheinstellung auf die Beine der Vorübergehenden zeigt, unter die sich Soldatenstiefel von Uniformierten mischen.

Einerseits hält sich der Krieg in diesem Film und an diesem Ort am Rande der Pyrenäen im Hintergrund; andererseits sind im Sommer des Jahres 1943 seine Drohungen dezent gegenwärtig. Eine junge, verwahrloste Streunerin (Aida Folch) mit zerkratzten Beinen schläft auf einer Treppe im Freien, bevor sie sich an einem Brunnen wäscht. Später erfahren wir, dass sie aus Katalonien stammt, Mercè heißt und aus einem Lager abgehauen ist. Noch später gibt sie sich als Widerstandskämpferin zu erkennen, die als Bergführerin Flüchtlinge über die nahe Grenz schmuggelt. Doch das alles weiß die Marktgängerin Léa (Claudia Cardinale) noch nicht, als sie das schöne, anmutige Mädchen vom Fleck weg als Modell für ihren als Maler und Bildhauer arbeitenden Mann engagiert, der sich seit Jahren in einer Schaffenskrise befindet. Kurz darauf nimmt Mercè Logis in dem faszinierenden Atelier-Häuschen des Künstlers, das abgeschieden auf einer Anhöhe liegt.

Das titelgebende Verhältnis des Malers zu seinem Modell wurde als Sujet in den letzten Jahren im Kino vielfach aufgegriffen. Wechselnde Facetten finden sich etwa in Jacques Rivettes „Die schöne Querulantin“, Peter Webbers „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ oder jüngst in Gilles Bourdos‘ „Renoir“. Wie letztgenannter Film beschäftigt sich auch Truebas Hommage an den Triumph der Schönheit mit dem schmerzlichen Nachdenken über das Verhältnis von Alter und Jugend, Leben und Tod. Doch die Blicke und Gefühle, die, vermittelt durch die beiden Protagonisten, zwischen diesen Polen liegen, hüllt der Regisseur schamvoll zurückhaltend in ein spannungsvolles Schweigen, in dem wiederum auf ganz eigene Weise Liebe, Erotik und Sinnlichkeit miteinander verschmelzen.

Im Motiv des Künstlers als Lehrer reflektiert Fernando Trueba darüber hinaus eine Theorie der Kunst, die der realistischen Darstellung verpflichtet ist. Es gehe darum, sagt Marc Cros einmal, indem er Paul Cézanne zitiert, „den Rat der Natur“ einzuholen, um einen Moment aus dem vielgestaltigen Kontinuum der Natur und ihren wechselnden Formen herauszulösen. Dass dabei die Frau als unmittelbare Erscheinung der göttlichen Schöpfung im Mittelpunkt seiner Arbeit stehe, gehört zu den ebenso amüsanten wie erhellenden Spitzfindigkeiten des Portraitierten. Dass seine langwierige Suche nach dem notwendig wahren Moment in der Kunst schließlich in einer Skulptur der Trauer über die (eigene) Endlichkeit kulminiert, macht diesen subtilen Film am Ende ebenso tragisch wie tröstlich.

Tage am Strand

(F / AU 2013, Regie: Anne Fontaine)

Schreckliches Glück
von Wolfgang Nierlin

Ziemlich paradiesisch mutet der Küstenort Seal Rocks in New South Wales im Osten Australiens an: Weite Sandstrände, türkisblaues Wasser, großartige Wellen und eine freundlich scheinende Sonne sorgen für traumhafte Lebens- …

Ziemlich paradiesisch mutet der Küstenort Seal Rocks in New South Wales im Osten Australiens an: Weite Sandstrände, türkisblaues Wasser, großartige Wellen und eine freundlich scheinende Sonne sorgen für traumhafte Lebens- und Arbeitsbedingungen, vor allem aber für einen Zustand der Entrückung. Die französische Filmregisseurin Anne Fontaine hat für dessen schwelgerische Beschwörung in ihrem neuen Film „Tage am Strand“ (Adore) noch einmal auf 35 mm und in Cinemascope gedreht. Der Blick zum Horizont und auf diese märchenhafte, fast unwirklich erscheinende Kulisse richtet sich deshalb nicht selten von einem Haus hoch oben über dem Meer auf die Szenerie. Hier leben seit vielen Jahren Lil (Naomi Watts) und die Galeristin Roz (Robin Wright). Die beiden gutaussehenden Mitvierzigerinnen sind „beste Freundinnen“ und ihre erwachsenen Söhne Ian (Xavier Samuel) und Tom (James Frecheville) fast wie Geschwister.

Wenn die beiden Adonisse eingangs mit ihren Surfbrettern über gigantische Wellen gleiten, geschieht dies unter den bewundernden Blicken ihrer Mütter. Sie seien wie „junge Götter“ konstatieren die Frauen in einer Mischung aus nostalgischer Sehnsucht und inzestuösem Begehren. Bald darauf entsteht eine ungewöhnliche Vierecksgeschichte, in der Roz und Ian, Lil und Tom eine Liebebeziehung eingehen. Das wirkt arg konstruiert, wenig entwickelt und in der Gefühlsintensität der beiden Paare ungleich verteilt. Anne Fontaine inszeniert diese Grenzverletzung, die mehr gewollt als motiviert erscheint, als schwülstige Frauenphantasie über ein ebenso unverhofftes wie „schreckliches Glück“. Dieses kann natürlich nicht von Dauer sein, auch wenn das Setting Zeitlosigkeit suggeriert.

Anne Fontaine hat für ihren Film „Tage am Strand“ die Erzählung „Die Großmütter“ der kürzlich verstorbenen Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing adaptiert, die in ihrer Geschichte wiederum reale Begebenheiten verarbeitet hat. Fontaines Faszination für Entsprechungen und Symmetrie lässt in Aufbau und Dialog allerdings vieles hölzern erscheinen. Die Charaktere, in den Nebenrollen zur puren Staffage degradiert, bleiben flach und klischeehaft, vor allem aber geheimnislos, denn die beabsichtigte Offenheit verliert sich immer wieder im allzu Offensichtlichen. Doch das Sichtbare ist in „Tage am Strand“ nur eine schöne Kulisse für ein Leben, das unterbelichtet bleibt, und für Gefühle, die nur behauptet werden.

Lunchbox

(IND 2013, Regie: Ritesh Batra)

Von der Kraft des Erzählens
von Wolfgang Nierlin

Mit den ersten Bildern dieses Films tauchen wir ein in das pulsierende, chaotisch anmutende Leben der indischen Millionen-Metropole Mumbai. Überfüllte Vorortzüge, Rikscha-Fahrer im strömenden Regen, überfrachtete Kuriere und Lieferanten, dazwischen …

Mit den ersten Bildern dieses Films tauchen wir ein in das pulsierende, chaotisch anmutende Leben der indischen Millionen-Metropole Mumbai. Überfüllte Vorortzüge, Rikscha-Fahrer im strömenden Regen, überfrachtete Kuriere und Lieferanten, dazwischen Impressionen von Tauben, Schuhputzern und singenden Arbeitern vermitteln davon einen authentischen Eindruck. Der in Mumbai aufgewachsene Regisseur Ritesh Batra hat für sein höchst sehenswertes Spielfilmdebüt „Lunchbox“ mit dokumentarischen Mitteln an Originalschauplätzen gedreht. Die Vielfalt der Ethnien und sozialen Schichten sowie damit verbundene kulturelle, religiöse und nicht zuletzt kulinarische Unterschiede bilden den gewichtigen, für den westlichen Zuschauer eher unauffälligen Erzählrahmen seiner Geschichte. Auch mit den sogenannten Dabbawallas ist Batra aus einem früheren, unvollendeten Dokumentarfilmprojekt bestens vertraut: Diese transportieren täglich Tausende von Mittagessen, die von Frauen oder in Kantinen gekocht werden, in einer mehrteiligen Lunchbox zu den überwiegend männlichen Adressaten in den Betrieben, wobei ein ausgeklügeltes Kodiersystem dafür sorgt, dass es praktisch nie zu Fehllieferungen kommt.

Doch gerade ein solch unwahrscheinliches Versehen bildet die Handlungsgrundlage für Ritesh Batras lebensklugen Liebesfilm. Weil die junge Hausfrau und Mutter Ila (Nimrat Kaur) von ihrem ihr gegenüber gleichgültig gewordenen Ehemann vernachlässigt wird, versucht die leidenschaftliche Köchin mit einem besonders schmackhaften Essen seine Liebe oder zumindest seine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Jedoch landet gerade diese Mahlzeit irrtümlich bei dem feinsinnigen Buchhalter Saajan (Irrfan Khan), der in der Schadensabteilung eines Versicherungsunternehmens arbeitet und nach 35 Jahren Berufsleben kurz vor der Pensionierung steht. Als Ila das Versehen bemerkt, fügt sie der nächsten Lunchbox eine Nachricht an den fremden Mann bei, der seinerseits darauf antwortet. Bald darauf entspinnt sich ein reger Briefwechsel zwischen der unglücklichen Ehefrau und dem vereinsamten, sonst eher schweigsamen Witwer, der zurückgezogen lebt. Darin geht es um persönliche Sorgen, Nöte und Hoffnungen, aber auch um den modernen Wandel innerhalb der indischen Gesellschaft.

Gerade das altmodische Instrument des Briefeschreibens wird zum Gegenpol dieser schmerzlich empfundenen Veränderungen: „Ich glaube, wir vergessen Dinge, wenn wir niemandem davon erzählen können“, heißt es einmal über die bewahrende Funktion dieses schriftlichen Austauschs. Sinnlich, spannend und komplex inszeniert Ritesh Batra diesen Kreislauf der Briefe, in den die verschiedenen Leben der Protagonisten mit ihren jeweiligen Erinnerungen und Sehnsüchten assoziativ ineinanderfließen. Dabei bezieht der Regisseur mit dem Hilfsbuchhalter Shaikh (Nawazuddin Siddiqui), dessen offensiven Optimismus der in sich gekehrte, stets konzentriert agierende Saajan zunächst als allzu aufdringlich empfindet, noch eine dritte Figur mit ein, die unter einer schweren Familiengeschichte leidet. Sukzessive führen die zirkulären Bewegungen des Films die Handelnden aufeinander zu, ohne ihre inneren Verbindungen auch äußerlich miteinander zu verschmelzen. Eher geht es um die Kräfte und neugewonnenen Energien, die aus Missverständnissen und Fügungen resultieren. Der mehrfach zitierte Satz dazu lautet: „Manchmal fährt der falsche Zug zum richtigen Bahnhof.“

Ich fühl mich Disco

(D 2013, Regie: Axel Ranisch)

In der Schwebe
von Wolfgang Nierlin

Wenn Mutter Monika (Christina Große) und ihr pubertierender Sohn Florian (Frithjof Gawenda) im Siebziger-Jahre-Look und mit aufgemalten Schnurrbärten unter einer glitzernden Discokugel tanzen, fühlt sich das ziemlich unbeschwert und frei, …

Wenn Mutter Monika (Christina Große) und ihr pubertierender Sohn Florian (Frithjof Gawenda) im Siebziger-Jahre-Look und mit aufgemalten Schnurrbärten unter einer glitzernden Discokugel tanzen, fühlt sich das ziemlich unbeschwert und frei, cool und irgendwie symbiotisch an. Dann schwebt der Raum, die Sterne leuchten und zusammen mit ihrem Schlagersänger-Idol Christian Steiffen singen die beiden hingebungsvoll „Ich sehne mich so sehr nach Sexualverkehr“. Was natürlich auch eine Parodie aufs Genre ist. Der dickleibige Vater Hanno Herbst (Heiko Pinkowski) kann naturgemäß damit wenig anfangen und bleibt außen vor, zumal er sich seinen Sohn weniger musisch wünscht. Er ist aber auch wütend, weil „Flori“ in der ziemlich witzigen Eingangsszene von Axel Ranischs neuem Film „Ich fühl mich Disco“ bei einer aufgezwungenen Fahrstunde sein geliebtes, von Jugenderinnerungen umflortes Moped der Marke Simson schrottet.

Da sich der übergewichtige Teenager sowieso lieber ein Klavier wünscht und abends vor der Mattscheibe mehr Interesse an schwulen Soldaten als an nationalen Fußballhelden entwickelt, sind die Konfliktlinien der sympathischen Tragikomödie schnell gezeichnet. Der ebenso umtriebige wie produktive Film- und Opernregisseur Axel Ranisch, der vor einem Jahr mit seiner kultigen No-Budget-Produktion „Dicke Mädchen“ einen kleinen Überraschungserfolg erzielte, verbindet seine berührende Vater-Sohn-Geschichte mit einem Coming-of-Age-Drama. In dessen Verlauf erlebt der homosexuelle Florian nicht nur sein Coming-out, sondern er muss gemeinsam mit seinem Vater auch einen schweren menschlichen Verlust verwinden. Denn eines morgens erleidet die geliebte Ehefrau und Mutter einen schlimmen Schlaganfall und fällt in ein tiefes, lebensbedrohliches Koma.

Die Zeit, in der die medizinischen Apparate die bewusstlose Monika in der Schwebe zwischen Leben und Tod halten, wird für Vater und Sohn unter dieser außerordentlichen Belastung zu einer Phase der persönlichen Annäherung. Diese ist jedoch zunächst von Missverständnissen und Rückschlägen geprägt. Dabei erlebt vor allem Florian, der sich in den gleichaltrigen Turmspringer Radu (Robert Alexander Baer) verliebt, ein sexuelles Erwachen zwischen Hoffnung und Enttäuschung. Allerdings ist Ranischs origineller Film weit weniger schwer als dies sein Inhalt nahelegt: Immer wieder transzendiert er die Alltagsrealität mit Tagträumen ins Phantastische, verleiht der Imagination Flügel und dem Traurigen eine spielerische Leichtigkeit. In diesen schwerelosen Szenen, getragen vom komischen Ernst wundervoller Schauspieler, kehrt die Bewusstlose für Augenblicke zurück ins Leben oder träumen sich die Protagonisten unter den sanften Klavierklängen Rachmaninows an ferne Orte. Für Entlastung und eine gewisse Zuversicht sorgen aber auch die Gastauftritte von Rosa von Praunheim als Sexualtherapeut und von Christian Steiffen, der zum Schluss in Partylaune sein titelgebendes „Ich fühl mich Disco“ zur allgemeinen Aufmunterung und Erheiterung darbietet.

Dicke Mädchen

(D 2012, Regie: Axel Ranisch)

Gefühlsecht
von Wolfgang Nierlin

Schon die altmodisch-verschnörkelte Retro-Anmutung der Vorspanntitel, unterlegt mit musikalischem Sentiment, lässt erahnen, dass im Folgenden filmästhetisch einiges kompromisslos anders ist als üblicherweise. Am ehesten noch ähnelt Axel Ranischs mit Freunden …

Schon die altmodisch-verschnörkelte Retro-Anmutung der Vorspanntitel, unterlegt mit musikalischem Sentiment, lässt erahnen, dass im Folgenden filmästhetisch einiges kompromisslos anders ist als üblicherweise. Am ehesten noch ähnelt Axel Ranischs mit Freunden und der eigenen Oma gedrehter No budget-Film dem dänischen Dogma-Look oder auch dem Improvisationskino von John Cassavetes. Spontan, provozierend direkt und unverstellt echt agieren hier die Darsteller in einem realistischen Setting. Und die Mini-DV-Kamera verfolgt und begleitet ihre Aktionen ohne Ansehung der jeweiligen Lichtverhältnisse. Ranisch geht es nicht um eine künstliche Dramatisierung, sondern um eine möglichst authentische Darstellung, was sich im Szenischen und Theaterhaften seines Films wiederspiegelt. Immer wieder gibt es Rollenspiele innerhalb der Rollen, in denen sich skurrile Anlässe mit wahren Gefühlen, Komik und Tragik verbinden. Manchmal verlieren diese Performances aber auch Spannung und laufen leer.

Der Junggeselle Sven (Heiko Pinkowski) lebt mit seiner alten, unter Demenz leidenden Mutter Edeltraut (Ruth Bickelhaupt) zusammen. Die beiden haben ein herzliches Verhältnis und schlafen im gleichen Bett. Wenn Sven nach dem Frühstück zur Bank muss, wo er seit dreißig Jahren arbeitet, kommt Daniel (Peter Trabner), um die alte Dame zu betreuen. Das geschieht sehr liebevoll und unverkrampft, wobei vor allem durch Edeltrauts Aussetzer in der Kommunikation immer wieder berührende tragikomische Momente entstehen. Einmal, nach einem Tag der Sorge, veranstalten die drei einen feucht-fröhlichen bunten Abend mit Tanz und Clownerien und Musik. Das Leben wird zum Fest, die Gemeinschaft erlebt Geborgenheit. Doch in der Nacht, die darauf folgt, stirbt Edeltraut friedlich; und Sven wird von einer großen Trauer überwältigt. Weil er aber zugleich immer deutlicher zärtliche Gefühle für Daniel entwickelt, wird dieser nicht nur zum Tröster und Liebesersatz, sondern auch – und durch einige schmerzliche Kämpfe hindurch – zu einem Katalysator für einen neuen Aufbruch. Axel Ranisch schildert diese Befreiung nach einem doppelten Verlust völlig unverkrampft und gegen etwaige Vorurteile und Tabus.

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Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht

(D / F 2013, Regie: Edgar Reitz)

Stimme des Herzens
von Wolfgang Nierlin

Ein Pferd irrt verloren durch die engen, morastigen Gassen eines alten Dorfes, während eine Stimme wie von fern und fast schon murmelnd sich unter die aufsteigende Geräuschkulisse legt. Sie gehört …

Ein Pferd irrt verloren durch die engen, morastigen Gassen eines alten Dorfes, während eine Stimme wie von fern und fast schon murmelnd sich unter die aufsteigende Geräuschkulisse legt. Sie gehört Jakob Adam Simon (Jan Dieter Schneider), dem jüngsten Sohn des Dorfschmieds, der sich mit seiner Lektüre in ferne Länder träumt und darüber die Arbeit vergisst. Von seinem strengen Vater wird er dafür drangsaliert und verflucht, weil die Nöte des Lebens ein anderes Tun verlangen. Jakob gilt ihm deshalb als Faulpelz und Nichtsnutz, der dem Müßiggang frönt. Unverstanden von seiner Umgebung, zieht sich der Tagträumer immer wieder in die Waldeinsamkeit zurück, um zu lesen oder von hoch oben einem langen Treck von Auswanderern nachzublicken. Denn wir schreiben das Jahr 1842 und wie überall im Land herrschen auch in dem fiktiven Hunsrücker Dorf Schabbach Armut und Not, Unterdrückung und Ausbeutung.

In der Nacht zum 1. April beginnt Jakob im Schein einer Kerze heimlich mit der Niederschrift seines Tagebuchs, jener „Chronik einer Sehnsucht“, die im Verlauf von Edgar Reitz‘ fast vierstündigem Film „Die andere Heimat“ zu einem „Bericht verlorener Träume“ wird. Als Seelenverwandter der Romantiker, der mehrere Fremdsprachen beherrscht und sich besonders nach den Indianern in der neuen Welt sehnt, notiert der Außenseiter, nur der „Stimme des Herzens“ folgen zu wollen, denn allein das im Herzen gespeicherte Wissen könne nicht verlorengehen. Im heraufziehenden Vormärz sympathisiert Jakob aber auch mit den Idealen der Freiheit, diesem „heiligen Recht in uns“. Einmal sieht man ihn auf einer Floßfahrt mit aufrührerischen Studenten auf der Mosel, bei der er angeschossen wird; ein anderes Mal, am Ende einer feucht-fröhlich-revolutionären Kerwe, landet er mit einem Gesinnungsgenossen im Kerker.

Edgar Reitz verbindet diese romantisch-freiheitlichen Motive, in denen sich Fernweh und Aufbruch spiegeln, mit einem detaillierten Zeit- und Gesellschaftsbild, in das, vom Kometenschweif des Jahres 1843 unheilvoll illuminiert, nicht zuletzt kosmische Kräfte eindringen. „Alles ist aus dem Lot“ konstatiert ahnungsvoll der Arzt im „Unglückswinter“ desselben Jahres, als eine schwere Diphterie-Epidemie vielen Kindern das Leben raubt. „Besseres als den Tod findet man überall“, sagen diejenigen, die gewillt sind, die Heimat für immer zu verlassen. In Cinemascope und strahlendem Schwarzweiß, mit sehr plastischen Bildern und wenigen, herausgehobenen Farbtupfern zeigt Reitz ebenso sinnlich wie poetisch, was diese Heimat ist: Armut, Frömmigkeit und dörfliche Gemeinschaft durch alle Nöte hindurch, aber auch die Arbeit der Hände und die Ernte, Liebe und Enttäuschung, umfasst und gerahmt vom Werden und Vergehen sowohl im Großen wie im Kleinen. „Des Menschen Natur ist es, Abschied zu nehmen“, schreibt Jakob in sein Tagebuch über jene stetige Sehnsuchtsangst nach einer anderen Welt. Doch in seiner Geschichte eines verhinderten Aufbruchs werden schließlich das Dableiben und das Festhalten an der Wissenschaft zur (geistigen) Heimat.

Jung & Schön

(F 2013, Regie: François Ozon)

Die fremde Andere
von Wolfgang Nierlin

Durch ein Fernglas fällt der Blick auf die knapp 17-jährige Isabelle (Marine Vacth), die sich im Bikini auf einem Strandtuch am Meer niederlässt. Bereits die erste, betont subjektive und isolierende …

Durch ein Fernglas fällt der Blick auf die knapp 17-jährige Isabelle (Marine Vacth), die sich im Bikini auf einem Strandtuch am Meer niederlässt. Bereits die erste, betont subjektive und isolierende Einstellung in François Ozons neuem Film „Jung & schön“ (Jeune & jolie) setzt den Voyeur und Zuschauer in ein wechselvolles Verhältnis zum Objekt seiner Betrachtung. Diese schwankt zwischen Nähe und Distanz und spekuliert in der Folge über die geheimen Beweggründe und Handlungsmotive einer heranwachsenden Frau, die sich allen Erklärungsversuchen immer wieder zu entziehen scheint. Isabelle wirkt nachdenklich und melancholisch, faszinierend unnahbar, woraus auch die Freiheit der Schönheit spricht, und trotzdem irgendwie verloren. Ihr Schweigen bedeckt ein weites Feld neuer Gefühle und Erfahrungen und ist zugleich Projektionsfläche für die Phantasien derjenigen, die ihr begegnen. Wenn sie ihrer Mutter (Géraldine Pailhas) widerspricht oder sie belügt, dient das nicht nur dem Selbstschutz, sondern auch der Abgrenzung: Weder möchte sie ihre Geheimnisse mit jemandem teilen, noch will sie sich überhaupt in eine allgemeine adoleszente Ordnung integrieren oder gar einem Verständnis durch Erwachsene unterwerfen. Isabelle ist die fremde Andere, die gerade die Differenz als ihre Identität entdeckt.

Wenn sie sich von Felix (Lucas Prisor), ihrer deutschen Ferienbekanntschaft, nach banalem Vorgeplänkel inklusive Eisessen ganz pragmatisch und lustlos entjungfern lässt, hat sie eine Vision, in der sie neben sich steht und auf ihr Tun blickt. In dieser Beobachterdistanz liegt eine mitfühlende Verschworenheit und zugleich ein Abschied, in den sich ein neues Wissen mischt. Kurz darauf feiert Isabelle ihren 17. Geburtstag im Familienkreis, die Sommerferien enden und Françoise Hardy singt ein Lied über die Veränderung, die aus einem Mädchen eine Frau macht. Kurz darauf, zurück in Paris, wird aus der Schülerin des Lyceée Henri IV ohne Umschweife und Erläuterung eine Prostituierte, die sich unter dem Pseudonym Léa mit älteren, wohlhabenden Männern trifft und für ihre Dienste 300 Euro verlangt. Doch nicht das Geld treibt die schöne junge Frau aus gutsituiertem Elternhaus an; vielmehr sucht sie nach Orientierung und neuen Erfahrungen und erobert dabei für sich ein noch unbesetztes Terrain.

Konzentriert und offen betrachtet François Ozon die Heldin seiner unterkühlt inszenierten Coming-of-Age-Geschichte, die er nach den vier Jahreszeiten und – damit verbunden – nach Chansons von Françoise Hardy gegliedert hat. Während Isabelle neugierig ihre Wirkung auf Männer erprobt, ihre verhaltene Lust am Abenteuer entdeckt und ein Gefühl der Bestätigung erfährt, erlebt sie zugleich sexuelles Begehren, Zärtlichkeit und Vertrauen. Gerade das setzt ihr abweichendes Verhalten in Opposition zur teilweisen Verlogenheit ihrer familiären Umgebung. Als ihr Doppelleben durch einen tragischen Vorfall bekannt wird, reagiert diese in Gestalt der Mutter mit Unverständnis und Strafe. Ozon analysiert gerade diese Scheinheiligkeit der Erwachsenenwelt im Zentrum der Familie, der sich Isabelle verweigert. Hardys an den Schluss gesetztes Chanson „Je suis moi!“ („Ich bin ich!') markiert aber nur ein trotziges Aufbäumen gegenüber jenen zunehmenden Verlusten, denen der Prozess des Erwachsenwerdens unweigerlich folgt und deren erste Erschütterungen Isabelle in Ozons nachdenklichem Film erfährt.

Carrie

(USA 2013, Regie: Kimberly Peirce)

Mobbingmelodram in Blut
von Drehli Robnik

Ist es ein Entwicklungsgesetz oder nur ein kleinbürgerliches Bauchurteil, das besagt, mit der Welt im Allgemeinen und mit Horrorfilmremakes im Besonderen würde alles immer ärger? Egal, denn: Die Neuverfilmung von …

Ist es ein Entwicklungsgesetz oder nur ein kleinbürgerliches Bauchurteil, das besagt, mit der Welt im Allgemeinen und mit Horrorfilmremakes im Besonderen würde alles immer ärger? Egal, denn: Die Neuverfilmung von Stephen Kings Romandebüt 'Carrie' widerspricht dieser Tendenz, ist sie doch um einiges gesitteter als Brian De Palmas Erstadaption von 1976. Diese allerdings hatte die Latte schon recht hoch gelegt, so etwa (um einmal nicht eine der prominenten Blutvergießensszenen zu nennen) in einem Dialog zwischen Nancy Allen als zickiger High-School-Bully und dem jungen John Travolta: Als sie ihn per Blowjob im Auto überredet, bei ihrem perfiden Komplott gegen die Titelfigur mitzutun, stößt sie, bevor sie ans Werk geht, noch inbrünstig 'God, I hate Carrie White!' aus.

Solche Gefühlsverdrehung bietet der 2013er-Film über ein von ihrer christlich-paranoiden Mutter zu Buß- und Selbstabtötungsexerzitien gezwungenes, von Mitschüler_innen hämisch gemobbtes, allerdings telekinetisch begabtes Mädchen nicht. Auch zu dem im besten Sinn ungesunden Konzeptbarock von De Palmas Inszenierung, die vitale Mädchenkörper in ornamentalen Draufsichten, Buntlicht, Extremzeitlupen, Tonlöchern, Splitscreen und Schwulstmusik (Pino Donaggio auf den Spuren von Bernard Herrmann und Softsex-Scores) regelrecht suspendierte, zu solchem Suspense also hat das Remake kein Pendant. Und so bewegend die auf Freakrollen nahezu abonnierte, schon bald siebzehnjährige Chloe Grace Moretz als Carrie auch spielt – an Sissy Spaceks irre, dürre, fleckig-bleichhäutige Erscheinung anno ’76 kommt das nicht heran.

Dennoch macht der Psychoschocker von Kimberly Peirce (zuletzt 2008 das Iraktrauma-Roadmovie 'Stop-Loss') recht gute Figur. Er erhält und kultiviert die melodramatische Luzidität des Sujets, das Ineinander von Rührung und Einsicht: Der Empathiefokus auf Carrie, auf ihre Nöte, ihre Ängste beim späten Pubertieren, ihren keimenden Widerstand gegen den Terror ihrer Mutter, ihre auf der Prom-Night-Party keimenden, schwelgenden, dann mit einem Schlag bzw. Schwall enttäuschten Glückshoffnungen, das zeigt sich hier zugleich – in Spannung – mit einem satirischen Panorama von Schule als Machtraum einer schier unauflöslichen Verstricktheit in allseitige Demütigung (die nunmehr auch auf Handyvideos zurückgreifen kann). Wenn etwa die Sportlehrerin Carrie in Schutz nimmt, so geschieht das nicht ohne drakonische, fast sadistische Rituale der Strafe für ihre Peinigerinnen.

Und die Neuverfilmung fügt auch manches hinzu: ein Mehr an Action, (Ton-)Effekten und Blut – gar nicht so sehr in der notorischen Duschszene, sondern rund um Julianne Moore als Mutter, etwa auch bei Carries Geburt, die wir hier in einer neuen Eröffnungsszene und einem Hauch von Prequel zu sehen bekommen. (Wenn‘s denn sein muss…) Und da ist schließlich das Thema religiöser Fundamentalismus samt Zwangsaskese: 1976, noch kurz bevor mit Jimmy Carter die Religion Wiedereinzug in die große US-Politik hielt, da hatte diese Motivik etwas von Altbestandsgrusel, von verbissenem Nachwirken einer doch schon überwundenen Macht. Heute hat sie eine im schlechten Sinn ungesunde Aktualität.

Inside Llewyn Davis

(USA 2013, Regie: Ethan Coen, Joel Coen)

Es ist einfach Folkmusik
von Andreas Busche

Eine gut abgehangene Todeszellenballade – gibt es einen besseren Auftakt für einen Film der Coen-Brüder? „Hang me, oh, hang me / I’ll be dead and gone / wouldn’t mind the …

Eine gut abgehangene Todeszellenballade – gibt es einen besseren Auftakt für einen Film der Coen-Brüder? „Hang me, oh, hang me / I’ll be dead and gone / wouldn’t mind the hangen‘ / but the layin‘ in the grave so long …“ „Inside Llewyn Davis“ eröffnet mit drei Minuten reinstem Hinterwäldler-Existentialismus. Kein Genre hat mit so schönen, klaren Stimmen Mörderseelen und Outlaws besungen wie die amerikanische Volksmusik. Tod und Gott, Schuld und ewige Erlösung – hier mühten sich noch einfache Leute mit schwerem Gedankengut ab.

Das kultivierte Beatnik-Publikum im Gaslight Café im New Yorker Greenwich Village zeigt sich dann auch tief ergriffen von den morbide schillernden Konfessionen aus dem Herzen der Finsternis. Llewyn Davis spielt um sein Leben, ohne es zu ahnen. Als er nach seinem Auftritt eine Zigarettenpause am Hinterausgang einlegt, erwartet ihn im schummerigen Straßenlicht eine schemenhafte Gestalt. Ihre Unterhaltung ist kurz und kryptisch, ein echter Coen-Dialog, dann verpasst der Unbekannte Llewyn aus heiterem Himmel eine Abreibung. Ein Schlag in die Fresse: Damit beginnt der neue Film von Joel and Ethan Coen.

Man sollte von ihnen keinen Film über die Anfänge der New Yorker Folkszene erwarten, auch wenn Bruno Delbonnels Kamera das Village in ein nostalgisch gefärbtes, ockeriges Licht taucht – eine Farbpalette, die direkt vom Plattencover von 'The Freewheelin’ Bob Dylan' inspiriert ist. Eigentlich machen die Brüder keine Filme über etwas. Orte, historische Figuren oder Genres interessieren sie höchstens als Ressource zur Erforschung der menschlichen Existenz. Es gibt demnach zwei mögliche Lesarten von „Inside Llewyn Davis“. Dass die Coens ihren Film ganz bewusst in jenem historischen Moment ansiedeln, in dem Folkmusik zum Massenphänomen wurde – das heißt: als die Kräfte des Marktes die überschaubare Greenwich-Village-Szene übernahmen. Oder dass in der Drehbuchidee, ihren erfolglosen Antihelden just in dem Moment von der Bühne abtreten und in der Gosse liegen zu lassen, als ein gewisser Robert Zimmerman auf den Plan tritt, die alte Gehässigkeit der Coens zum Vorschein kommt.

Llewyn Davis ist eine fiktive Figur, sie beruht aber auf einer wahren Biographie, bei der sich die Regisseure bedient haben. Dave Van Ronk war ein Veteran der Greenwich-Szene und ein Folktraditionalist. Das Stück 'Hang me' stammt im Original von ihm, ebenso die Idee für den Filmtitel: 'Inside Van Ronk' heißt sein Album aus dem Jahr 1963. Als die Platte rauskam, kippte die Stimmung in den Greenwich-Village-Folkclubs gerade. 'The Freewheelin’ Bob Dylan' eroberte die Charts, Peter, Paul and Mary sangen auf dem Washingtoner Freiheitsmarsch vor einer Million Menschen 'Blowin‘ in the Wind', und plötzlich standen ein paar ehemalige Hobos an der Spitze einer nationalen Protestbewegung.

Van Ronk beschreibt in seinen Memoiren 'The Mayor of MacDougal Street', wie diese Entwicklung an ihm vorübergegangen ist. 'Inside Van Ronk' war 1963 nach Marktlage ein Anachronismus (das Album bestand größtenteils aus Traditionals); bereits zwei Jahre zuvor hatte der Produzent Albert Grossman Van Ronk beim Casting für ein neues Folktrio (den späteren Peter, Paul and Mary) als zu altmodisch und für die Jugend unverträglich ausgemustert. Bei den Coens wird diese vielleicht entscheidende Episode in Van Ronks Karriere kurzerhand umgedreht: Llewyn sagt Grossman ab, weil er die adretten “Preppies” mit ihren Strickpullovern und Harmoniegesängen verachtet.

Sein einziger Freund Jim (Justin Timberlake) gehört zu der Sorte Folk-Entrepreneur, die den Crossover zum Pop mitmacht. Als die beiden zusammen das launige Rock’n’Roll-Stück 'Please, Mr. Kennedy' aufnehmen, streicht Llewyn missmutig das Geld ein und verzichtet dafür auf Tantiemen an dem späteren Überraschungshit. Llewyn ist eine Coen-Figur par excellence. Immer an vorderster Front dabei, immer einen Schritt zu spät. Jims Frau, die Llewyn möglicherweise geschwängert hat, nennt ihn einmal 'König Midas idiotischen Bruder'. Was Llewyn anfasst, verwandelt sich in Scheiße.

In bewährter Coen-Tradition entwickelt sich „Inside Llewyn Davis“ zu einer Odyssee, die über Umwege einen Bogen zurück zum Anfang der Geschichte schlägt. Sogar einen Odysseus gibt es – so heißt die Katze eines befreundeten Ehepaares, auf dessen Couch Llewyn manchmal übernachtet. Ihre Flucht über die Feuerleiter wird zum Auslöser von Llewyns persönlicher Odyssee über die Sofas befreundeter Musiker und die Fußböden schlecht gelaunter Exaffären (Carrey Mulligans Missmut ist spektakulär) bis hin zu dem schicksalhaften Auftritt in Grossmans Büro in Chicago.

Das Déjà-vu ist der Modus operandi der Coens, aber sie erheben es auch zum Überlebensprinzip von Llewyn. Die Zirkelstruktur des Films nimmt klaustrophobische Züge an. Die Räume ziehen sich so eng zusammen, bis die dämmerigen Hausflure, durch die Llewyn sich zwängen muss, irgendwann alle gleich aussehen. Und eine nächtliche Autofahrt mit John Goodman endet als David-Lynch-Albtraum. Wie sein antikes Vorbild ist Llewyn ein Getriebener, der in den wenigen klaren Momenten, in denen er über einen freien Willen verfügt, konsequent die falschen Entscheidungen trifft. Damit kommt „Inside Llewyn Davis“ – für Coen-Verhältnisse – einer Charakterstudie schon ziemlich nah.

Die zeitlichen Bezüge zur Greenwich-Village-Szene sind aber immer etwas mehr als ein atmosphärisches Hintergrundrauschen. Obwohl es nur am Rande um ein Schlüsselmoment der US-Folkmusik geht, verhandelt der Film grundsätzliche Geschmacksfragen, weil Llewyn eben auch an seinen künstlerischen Idealen scheitert. Paradoxerweise überschüttet er am absoluten Tiefpunkt seines Niedergangs eine alte Frau mit Hohn und Spott, die auf der Bühne des Gaslight ein Volkslied aus dem ländlichen Amerika vorträgt. Llewyns Behauptung von Authentizität ist allerdings nur eine romantische Pose.

So wird wenigstens die Musik, wenn schon nicht die Geschichte des Folkrevivals, zur erzählerischen Kraft des Films. Die Lieder (produziert von T-Bone Burnett, gesungen von Hauptdarsteller Oscar Isaac, Timberlake und Mulligan) heben über weite Strecken den Plot auf, was die episodische Struktur verstärkt. Dafür tragen die Songs den kulturellen Konflikt in „Inside Llewyn Davis“ aus (Mulligans engelsgleiches “500 Miles” gegen Timberlakes halbstarke Rockybilly-Nummer “Please, Mr. Kennedy”). Die Coens wären sicher die letzten, die eine Lanze für die Unverfälschtheit und das Authentische brechen würden. Aber ihre ehrliche Freude an der Musik, ohne doppelten Boden oder süffisantes Grinsen, nimmt man „Inside Llewyn Davis“ ab.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 12/12

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Ich und du

(I 2012, Regie: Bernardo Bertolucci)

Im Versteck
von Wolfgang Nierlin

Lorenzo (Jacopo Olmo Antinori) lässt den Kopf hängen und verweigert jegliche Auskunft und Kooperation, wenn er seinem Psychotherapeuten gegenübersitzt. Das 14-jährige Problemkind, dessen Eltern getrennt leben, habe ein ausgeprägt „starkes …

Lorenzo (Jacopo Olmo Antinori) lässt den Kopf hängen und verweigert jegliche Auskunft und Kooperation, wenn er seinem Psychotherapeuten gegenübersitzt. Das 14-jährige Problemkind, dessen Eltern getrennt leben, habe ein ausgeprägt „starkes Selbst“ und leide infolgedessen an einer narzisstischen Störung, lautet die Diagnose. Wenn Lorenzo die Arztpraxis verlässt, betritt er eine Wendeltreppe, deren Spirale geradewegs sein kompliziertes Seelenleben einschließt. „Boys Don’t Cry“ singen The Cure, was wir als Zuschauer ebenso laut und die Leinwand erfüllend hören wie der in sich gekehrte Jugendliche, der sich mit seinem Kopfhörer und öfters auch mit einer übergestülpten Kapuze von der Außenwelt abschottet. Gegenüber seiner alleinerziehenden Mutter Arianna (Sonia Bergamasco) pflegt er einen provozierenden Widerstandsgeist; in der Schule schwimmt der schweigsame Einzelgänger gegen den Strom und weiß es trickreich zu arrangieren, dass er die einwöchigen Skiferien schwänzen kann.

„Allein geht es mir super“, sagt Lorenzo einmal. Also bezieht der experimentierfreudige Außenseiter heimlich ein Versteck, das für ihn zu einem ambivalenten Refugium wird, weil es im Kellerraum ein paar Stockwerke unter der elterlichen Wohnung situiert ist. Ausgestattet mit Proviant für sieben Tage, mit Büchern und Musik, richtet sich Lorenzo zwischen Staub und Gerümpel im einsamen, dunklen Untergrund ein. Dabei verkörpert das verdreckte Verlies für Lorenzo ebenso die Freiheit eines selbstgewählten Exils. Der italienische Meisterregisseur Bernardo Bertolucci setzt in seinem neuen, nach fast zehnjähriger Pause entstandenem Film „Ich und du“ („Io e te“) diese Dialektik zwischen oben und unten, Licht und Dunkelheit, Ausbruch und Einschluss faszinierend anspielungsreich und vieldeutig ins Bild. So entfaltet sich Lorenzos äußerliche Regression ins Klaustrophobische zugleich im „Bauch des Hauses“, wo das geräuschvolle Ader-System der Wasserleitungen zusammenläuft und Heizungsrohre für wohlige Wärme sorgen.

Als plötzlich und unerwartet Lorenzos ältere Halbschwester Olivia (Tea Falco) das Versteck entdeckt und vehement Einlass begehrt, scheint es mit der Abgeschiedenheit zunächst vorbei zu sein. Die zornige junge Frau ist eine heimatlose Drogenabhängige auf Entzug, die ihre künstlerischen Ambitionen als Fotografin an die Heroinsucht verloren hat. Olivia sucht nach Erlösung aus dem Gefängnis aus Drogen und Ich-Bezogenheit und erlebt weitgehend hilflos die Hölle der Entzugserscheinungen, die Bertolucci ungeschminkt zeigt, wobei sich Schönheit und Schmerz vermischen. Zeitweise wirken die beiden Geschwister wie Tiere im Käfig, dann wieder wie Schicksalsgenossen, die sich langsam einander annähern und an einem verborgenen Ort nach Erneuerung streben. Mit deutlichen Reminiszenzen an seinen Film „Die Träumer“ inszeniert Bertolucci einen Eskapismus, der sich immer mehr von den raum-zeitlichen Koordinaten löst, stattdessen zu einer Logik des Gefühls findet und damit auch zu einer inneren Verbundenheit der Protagonisten.

Auf dem Höhepunkt dieser sehr sinnlichen Reise zu sich selbst und zum Anderen, deren einzelne Etappen durch das weite Feld der Imagination und des Schlafs führen, singt David Bowie zur Melodie seines Songs „Space Oddity“ einen höchst poetischen italienischen Text, den der Lyriker Mogol „Ragazzo solo, ragazza sola“ betitelt hat und in dem es ebenso traurig wie schön heißt: „In meinen Augen wohnt ein Engel, der nicht mehr fliegen kann.“ Dabei umarmen sich die Geschwister zum Tanz, der wiederum zum gegenseitigen Versprechen wird. Später, am siebten Tag der Woche, tauchen sie frühmorgens gemeinsam wieder aus ihrem Kellerversteck auf. Die Kamera beschreibt bei ihrem Abschied voneinander eine Plansequenz, folgt dann Lorenzo, während Bowies Songs – jetzt auf Englisch – nach dem Countdown der ersten Strophe zur Zeile „This is ground control to Major Tom“ anschwillt und das Bild die Bewegung seines Helden einfriert. In dieser ebenso schönen wie ergreifenden Hommage an den Schluss von François Truffauts „Sie küssten und sie schlugen ihn“ („Les quatre cents coups“) richtet Lorenzo seinen vieldeutig offenen Blick, der einen neu gewonnenen Standpunkt mit einer ungewissen Zukunft vereint, gegen die Gesetze des Kinos auf den Zuschauer.

Das große Heft

(UNG / D 2013, Regie: János Szász )

“And everybody putting everybody else down” (Lou Reed, 1942-2013)
von Andreas Thomas

Was man heute eine “Coming-Of-Age”-Geschichte nennt, nannte man früher noch eher Entwicklungs- oder Bildungsroman, und war dann auch eher kein Film, sondern Buch. Da in der Moderne sich die Auffassung …

Was man heute eine “Coming-Of-Age”-Geschichte nennt, nannte man früher noch eher Entwicklungs- oder Bildungsroman, und war dann auch eher kein Film, sondern Buch. Da in der Moderne sich die Auffassung breitmachte, dass die Umstände schon so definitorisch seien, dass an „Entwicklung“ oder „Entwicklungsspielraum“ kaum mehr zu denken sei, machte sich das literarische Modell des Entwicklungsromans eher rar, machte anderen, temporären, deskriptiveren Formen („Short Story“) Platz, und erschien selbst wenn, dann eher nur mehr in paradoxer Gestalt. In „Die Blechtrommel“ etwa ist das Subjekt ein Kind, das, angesichts einer vernunftlosen Welt, nicht wachsen – also nicht erwachsen werden – möchte. Für „Harry Potter“ muss direkt und gleich eine abenteuerliche Parallelwelt geschaffen werden, in der es noch so was wie eine „Schule des Lebens“ gibt, in der er überhaupt noch wachsen, also aufsteigen und reifen kann.

Parallel zu dieser verkümmerten „großen“ Form der Entwicklungsgeschichte koexistiert aber natürlich auch seit Jahrzehnten schon die kleine, unauffälligere und unprätentiösere Version des so genannten Coming-of-Age-Films, bei dem es, wie in der Literatur auch, ums Erwachsenwerden geht, mit dem Unterschied, dass dieser Prozess, da er bezeichnenderweise auf das Körperliche (wenn schon das Geistige nicht wirklich mehr entwicklungsfähig ist) i.e. das Sexuelle, reduziert ist, oftmals mit dem ersten Geschlechtsverkehr vollendet und der Film vorbei ist (Filme, wie z.B. die „American Pie“-Serie könnte man ja eher „Coming Of Sperm“- Filme nennen) und wenn er dabei gesellschaftliche Wirklichkeit touchiert hat, kann man ja schon von Glück sagen.

Erwachsenwerdenfilme beschäftigen sich also heute meistens nur mit der Frage, wie das mit dem Sex funktioniert und doch sehr selten damit, wie man eigentlich mit und in dieser komischen Welt leben oder überleben kann, ohne dabei sich oder seine Träume zu verraten. Oft geht diese populäre Sinnsuche-Spielart des Coming of Age ja dann bis ins Rentenalter weiter („Desperate Housewifes“, „Sex and the City“).

Der ungarische-deutsche Film „Das große Heft“ ist da noch aus anderem Holz geschnitzt. Als Verfilmung des mehrfach ausgezeichneten, gleichnamigen Romans von Ágota Kristóf ist sein Thema der große Weltentwurf ex negativo, aus der unbestechlichen Sicht eines unbenannten Zwillingsbrüderpaars, das, zunächst in bildungsbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, zum Schutz vor einem (ja, irgendwie dann doch dem 2. Welt-!) Krieg von der unbenannten Stadt aufs namenlose Land verbracht wird, zur ihm gänzlich unbekannten Großmutter, die, wie weiland Heidis Großvater, ein mürrisches Einsiedlerdasein fristet, vom Dorf als Hexe verschrien, und die ihre eigenen Enkel als „Hundesöhne“ bezeichnet und sie entsprechend behandelt.

Der dem vorherigen Wohlstand abgewonnene Firnis von Kultur und humanistischer Lebensart ist mit Beginn des Krieges weggespült; bei der Großmutter herrscht das ungeschminkte Prinzip von Überleben oder Sterben. Nur ein elterliches kulturelles Relikt und Vermächtnis ragt noch in diesen Rückfall in die Barbarei: ein großes leeres Schreibheft und der Auftrag, darin die „Dinge so festzuhalten, wie sie wirklich waren“ bzw. sind. So werden die Zwillinge selbst zu den Chronisten ihres Lebens, und damit der Härte des Lebens in ihrer Zeit und damit des Krieges und damit zur Kernthese des Films/Romans, die sich etwa wie folgt zusammenfassen lässt: Menschlichkeit und Nächstenliebe und alle teuer gehandelten moralischen Werte sind nur Lug und Trug in unserer anscheinend so hoch entwickelten Gesellschaft und überleben kann nur, wer sich illusionslos auf diese Tatsache einstellt. Der Clou der Geschichte aber ist nicht nur die Erkenntnis, dass die Welt eine grausame ist, sondern die Stilisierung dieser Erkenntnis zur neuen Maxime moralischen Handelns.

Was nun vermutlich im Roman (den der Autor dieser Zeilen nicht kennt), da wortreicher als der Film, ausbuchstabiert sein mag, versucht der Film mit drastischen Bildern (die Jungen, um sich gegen die täglichen Schläge der Großmutter zu immunisieren, schlagen und halten sich gegenseitig solange die Backe hin, bis die Schmerzen nicht mehr ihr Inneres erreichen; da das Töten ein notwendiges Mittel zum Überleben bedeutet, üben sie sich im Erlegen von Tieren und sie üben sich im Erdulden von Hunger und Kälte, damit ihre Würde nicht mehr durch diese physischen Widersacher gebrochen werden kann) auszugleichen und zu evozieren: Das Erwachsenwerden als Ab- bzw. Verhärten, aber – vielleicht ist es dem Schreiben des „Großen Hefts“ geschuldet – auch als Entwicklung zu einer Ehrlichkeit bzw. Wahrhaftigkeit, die die Eltern trotz aller guten Umgangsformen niemals praktizierten, schließlich ein Über-das-stumpfe-Agieren-und-Reagieren-Hinauswachsen zu einer echten Autonomie.

Und so hat sie die “Schule des (grausamen) Lebens“, als sie ihre Mutter endlich abholen will, näher zu ihrer grausamen, aber dabei ehrlichen und darin verlässlichen Großmutter gebracht, und auch der Vater entpuppt sich am Ende als lieb- und würdeloser Egoist. Quod erat demonstrandum!

Vermutlich kann die Lektüre des Romans mehr Licht in ein paar Entwicklungsschritte bringen, die der Film eher andeutet, aber der Film von Regisseur János Szász wurde mit spürbar viel Hingabe (Kamera: Christian Berger („Das weiße Band“)) zum Stoff erarbeitet. „Das große Heft“ ist ein überzeugender, atmosphärischer Film, der stilistisch ein wenig klassisch wirkt, was ihm zum Vorteil gereicht, denn gemeint ist hier, dass ihn das in die Nähe von Film-Klassikern versetzt, weniger, dass er altmodisch wirkt, wenn auch ein unabstreitbares Bisschen. Und wenn er auch Fragen offen lässt, dann kann man ihm das deshalb gut verzeihen, weil er einen seltenen, da großen (Ent-)Wurf wagt, das Porträt einer brutalen und verlogenen Welt, eine Universalanalyse, in der, wie in jeder echten Erkenntnis, der Keim zu einem Gegengift steckt.

Tanja – Life in Movement

(AUS 2011, Regie: Sophie Hyde, Bryan Mason)

Weiterleben im Werk
von Wolfgang Nierlin

Der Film „Tanja – Life in Movement“ widmet sich dem Erbe der Tänzerin Tanja Liedtke „Ich möchte eine Blume sein“, habe sie sich als Dreijährige gewünscht, sagt Tanja Liedtke, während …

Der Film „Tanja – Life in Movement“ widmet sich dem Erbe der Tänzerin Tanja Liedtke

„Ich möchte eine Blume sein“, habe sie sich als Dreijährige gewünscht, sagt Tanja Liedtke, während die flirrenden Bilder einer fast schwerelos wirkenden Tänzerin vorüberziehen. Dass dieser kindliche Wunsch doch nicht ganz unmöglich war, habe sie dann später in einer Aufführung des „Blumenwalzer“ gemerkt. Also wurde das 1977 in Stuttgart geborene, langgliedrige Mädchen in den Tanzunterricht geschickt: Zunächst in Madrid, wohin die Familie zog, später an Ballettschulen in London. „Ich fand das, was ich tief im Inneren wirklich tun wollte“, bekennt die junge Frau mit einer sympathisch offenen Ausstrahlung in der Rückschau. „Es wurde meine Liebe und Leidenschaft. Es ging mir in Fleisch und Blut über.“ Was man sofort glaubt, wenn man Szenen sieht, in denen ihre körperliche Beweglichkeit und ein pantomimisches Talent ganz unangestrengt zu ausdrucksstarken, dabei unkonventionellen Bildern zusammenfließen. Nach Engagements in Australien und London überträgt man der Tänzerin und aufstrebenden Choreographin überraschend die Leitung der renommierten Sydney Dance Company. Doch noch ehe sie die Stelle antreten kann, wird sie im August 2007 mit 29 Jahren durch einen tragischen Unfall aus dem Leben gerissen.

Bryan Masons und Sophie Hydes Dokumentarfilm „Tanja – Life in Movement“ ist insofern zunächst Hommage und filmischer Nachruf auf eine begabte junge Tänzerin und Choreographin. In Erinnerungen von Freunden, Kollegen und Familienmitgliedern, in Filmausschnitten umjubelter Aufführungen und privaten Videos wird die schmerzliche Trauer über diesen unglaublichen Verlust vermittelt und spürbar. Im Weiteren dokumentieren die Filmemacher Tanja Liedtkes Erbe, indem sie die Probearbeiten ihres früheren Ensembles, einer Gruppe ausgesprochener Individualisten, bei der Einstudierung ihrer Choreographien beobachten. Diese werden von ihrem ehemaligen Lebens- und Arbeitspartner Solon Ulbrich geleitet. Doch wie lässt sich diese Gruppe zusammenhalten, wenn ihre Hauptperson fehlt? Und wie lässt sich eine Kunst realisieren und vor allem weiterentwickeln, wenn die Inspirationen der maßgeblichen Ideengeberin nur noch Erinnerung sind?

Der Tanja Liedtke gewidmete Dokumentarfilm zeigt dieses schwierige Ringen als Prozess der Annäherung und Vergewisserung. Im Nachdenken über ihre Choreographien „Twelfth Floor“ („Zwölfter Stock') und „Construct“, in denen es zum einen um die Erforschung eines „erzwungenen Zusammenlebens“, zum anderen um die Erschaffung von Lebenswelten geht, zeigt sich, wie eng bei dieser außerordentlichen Tanzkünstlerin Leben und Kunst zusammenhängen. Vor allem die Bilder des Eingesperrt-Seins in einer verrückten Welt reflektieren die inneren Kämpfe und Selbstzweifel dieser ebenso stark wie zerbrechlich wirkenden Tänzerin. Auch wenn die Trauer über ihren Verlust als Schatten über dem Film liegt, so zeigt dieser anhand der Arbeit ihre Ensembles doch auch das Weiterleben Tanja Liedtkes in ihrem Werk.

Mein erster Berg

(CH 2012, Regie: Erich Langjahr)

Trink, oh Auge ...
von Wolfgang Nierlin

„Ich bin in der Innerschweiz aufgewachsen mit Blick auf die Rigi“, lautet der erste Satz in Erich Langjahrs neuem Film „Mein erster Berg“. Damit stellt der renommierte Schweizer Dokumentarist gleich …

„Ich bin in der Innerschweiz aufgewachsen mit Blick auf die Rigi“, lautet der erste Satz in Erich Langjahrs neuem Film „Mein erster Berg“. Damit stellt der renommierte Schweizer Dokumentarist gleich zu Beginn seines „Rigi-Films“ einen gewichtigen persönlichen Bezug zu seinem Beobachtungsgegenstand her. Ein weiteres schriftliches Insert, das den historischen Rahmen absteckt, weist darauf hin, dass auf der ersten Karte der Eidgenossenschaft aus dem Jahre 1480, einer sogenannten Mappa Mundi, das berühmte Bergmassiv als „Zentrum der Welt“ bezeichnet wird. Nimmt man zu diesen knappen Angaben die Daten und Zeugnisse bekannter Schriftsteller hinzu, die am Ende des Films aufgelistet sind, entsteht eine Klammer, die das spannungsreiche Sujet in nuce zusammenfasst: Es liegt irgendwo zwischen Gottfried Kellers zitiertem „Trink, oh Auge, was die Wimper hält“ und Hermann Hesses kritischem Tagebucheintrag von 1945: „Fühle mich fremd dort und abgestoßen von der Fremdenindustrie.“

Weitere Worte und Sätze sind nicht nötig im Film von Erich Langjahr, der vollständig auf einen Kommentar und auf Interviews verzichtet, um stattdessen die Bilder sprechen zu lassen. Diese sind unspektakulär, aber genau und zu einem ruhigen, fast meditativen Erzählfluss montiert. Erich Langjahr ist ein wohltuend zurückhaltender, ebenso geduldiger wie beharrlicher Beobachter, der in wechselnden Perspektiven und im Wechsel der Jahreszeiten die Arbeit und das touristische Treiben am Berg dokumentiert. Trotz der subtil registrierten Kontraste bleibt seine Tonlage mild und changiert dabei in Bild und Ton immer wieder zwischen Nähe und Distanz, wodurch kuriose, fast verfremdende Effekte entstehen: Etwa wenn die riesige Flagge der Schweiz, die gerade noch mühsam am Berg angebracht wird, später aus der Ferne wie ein kleiner Punkt aussieht; oder wenn die Freizeitvergnügungen der Touristen von Arbeitsgeräuschen aus dem Off begleitet werden. Daneben gibt es Bilder, die geradezu unwirklich oder futuristisch anmuten: eine Freiterrasse, die in den Lüften zu schweben scheint; oder auch der Sendemast auf der Rigi-Kulm, der im winterlichen Eis und Schnee wie eine Skulptur aussieht.

Im Zentrum des Films steht allerdings ein Portrait des Rigi-Älplers Märtel Schindler, eines vielseitig begabten und beschäftigten Handwerkers und Bergbauern, dem kein Gewerke fremd zu sein scheint. Schweigsam, in sich gekehrt und fast ohne Mienenspiel hinterm dichten Bart, fällt er Bäume für den Bau eines Blockhauses und überwacht die Arbeiten auf der Baustelle; daneben schlägt er Pfähle für einen Elektrozaun ein, hilft beim Gleisbau und treibt Kühe und Ziegen auf die Alm. Wie schon in seinen früheren Arbeiten dokumentiert Langjahr Arbeitsvorgänge und Handwerkstechniken und bewahrt sie damit vor dem Vergessen. Dabei entsteht eine eindringliche Konzentration auf das gezeigte Geschehen, auf die körperliche Kraftanstrengung der Handwerker und die Präzision ihrer Arbeit.

Facettenreich und unaufdringlich kontrastiert der Filmemacher diese Mühen des täglichen Lebens mit Landschaftspanoramen, idyllisch anmutenden Naturschönheiten, aber auch mit den sportlichen Freizeitaktivitäten der Touristen und den mit modernen technischen Gerätschaften vollzogenen Bausünden am Berg. In deren Lärmkulisse schieben sich immer wieder die sanften Klänge von Hans Kennels dunkel getöntem Alphorn-Jazz. Auch Erich Langjahrs ethnographisch geprägtes Interesse an Alltagskultur und Brauchtum, vor allem aber sein distanziert-einfühlsamer Blick darauf bleibt bei aller unterschwellig mitschwingender Kritik versöhnlich gestimmt: „Ich versuche in diesem Film die Mitte auszuloten, die Mitte einer Landschaft und die Mitte eines Lebensbildes. Dies auch im Sinne eines Zeitbildes aus der Mitte der Schweiz“, schreibt Erich Langjahr, der bei seinem Film auch für die Kamera und den Schnitt verantwortlich zeichnet.

Computer Chess

(USA 2013, Regie: Andrew Bujalski)

Komplizierte Verbindungen
von Andreas Busche

Das Problem der Paarbildung ist für Computernerds zunächst ein theoretisches. Irgendwann, sagt einer der Informatiker in Andrew Bujalskis retroverliebter Farce „Computer Chess“, würden Computer zur Partnervermittlung eingesetzt. An die einzige …

Das Problem der Paarbildung ist für Computernerds zunächst ein theoretisches. Irgendwann, sagt einer der Informatiker in Andrew Bujalskis retroverliebter Farce „Computer Chess“, würden Computer zur Partnervermittlung eingesetzt. An die einzige Frau in der Runde richtet er die Frage, wie ihre Strategie in dieser Hinsicht aussehe. Die zuckt nur verschüchtert mit den Schultern. Dazu habe sie leider keine Meinung. Bujalskis Film spielt im Jahr 1984. Die meisten Dinge, die man heute wie selbstverständlich mit dem Computer anstellt, waren damals noch reine Utopie. Zum Beispiel, sie mit sich herumzutragen. Im tiefsten Miozän des Computerzeitalters basierte der Fortschrittsglaube von Wissenschaftlern auf Kühlschrank-großen Rechenmaschinen. „Computer Chess” gewinnt aus diesem Umstand einen beträchtlichen Witz, auch wenn der historische Abstand nicht das primäre Ziel von Bujalskis Beobachtungen ist.

„Computer Chess” berichtet aus einer seltsamen Zeit, als die Idee, dass Computer einmal den Menschen ablösen würden, noch ein Schreckenspotential besaß, mit dem die Informationswissenschaften lustvoll spielten. Auf einer Konferenz von Schachcomputer-Programmierern etwa, wo im sportlichen Wettkampf (Computer gegen Computer) das beste Programm gekrönt wird. Eine andere Gefahr war allerdings schon damals greifbar, wenn auch nur in der Fantasie der Schachnerds: dass das Pentagon an ihren Forschungen Interesse haben könnte.

Genauso gut könnte die Vorstellung, dass die umständlichen Schach-Programme irgendeinen praktischen Wert für das Militär hätten, aber auch einem grassierenden Wahnsinn geschuldet sein, der in Bujalskis Film langsam um sich greift. Das Tagungshotel wird von einer unerklärlichen Katzenplage heimgesucht, zudem hat sich eine Selbsterfahrungsgruppe eingemietet. Der Kontakt dieser beiden gegensätzlichen Welten sorgt vor allem unter den steifen Mathematikern für Verstörung. Nach der freundlichen Annäherung eines älteren Swinger-Ehepaares ergreift einer der Konferenzteilnehmer überstürzt die Flucht.

Verbindungen, technische wie menschliche, erweisen sich in „Computer Chess“ als schwierigste Hürde. Das galt schon für die frühen Filme Bujalskis. Mit „Computer Chess” hat der „Mumblecore”-Pionier nun allerdings eine formal überzeugende Metapher für die Anschlussunfähigkeit seiner Figuren gefunden: Er hat seinen Film auf einer historischen U-Matic-Videokamera gedreht, in schwarz-weiß. Die Schwerfälligkeit der Übersetzungstechnologien unterstreicht die Hilflosigkeit der bizarren Eskapaden. Die Protagonisten von „Computer Chess“ sind nicht nur in der Welt verloren, sondern auch in ihren Aufzeichnungsmedien.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: pony #88

Captain Phillips

(USA 2013, Regie: Paul Greengrass)

Gebt unserem Leiden ein Ziel (oder drei): Saving Captain Phillips
von Drehli Robnik

'Apollo 13', Saving Private Ryan', Cast Away': Tom Hanks‘ Erfolgsfilme von vor rund 15 Jahren waren immer auch Entwürfe dessen, was es heißt, westlich-amerikanisch zu sein. Im Bild des mit …

'Apollo 13', Saving Private Ryan', Cast Away': Tom Hanks‘ Erfolgsfilme von vor rund 15 Jahren waren immer auch Entwürfe dessen, was es heißt, westlich-amerikanisch zu sein. Im Bild des mit Haut, Haar und allen Sinnen unter Sterne, Stranddünen und Sperrfeuer geworfenen Hanks hieß das: eine Identität zu haben, und zwar insbesonders deshalb, weil man eine schmerzliche Geschichte voller Erfahrungen des Scheiterns und Verlusts hat, aus denen gerade noch das nackte Leben gerettet werden konnte. Survivor zu sein, das schien sinnreicher als gleich völlig ich- und geschichtslos in die verheißungsvolle Zukunft der Globalisierung/Digitalisierung/Finanziarisierung (Weltmarktwerdung der Welt) einzutreten.

Das war die Stunde des Hollywood-Blockbusterkinos in seiner – oder zumindest einer – goldenen Ära: Zugleich mit dem Abschied von traditionellen, patriarchal-heroischen Modellen der Handlungsmächtigkeit vermittelte es einen Realismus des schier Gespürten und nobilitierte so im Zeichen des Traumas (mehr oder minder) nahe, vorzugsweise zeitgeschichtliche Vergangenheiten: das space race, der Zweite Weltkrieg oder auch, in diesem Fall ohne Tom Hanks, das Malheur mit diesem Transatlantikschiff. Und das Trauma, so schien es, barg in sich den Schlüssel zum Triumph.

Mit Hanks in alter Größe und einem Titel, dem nur das „Saving' im Auftakt fehlt, knüpft „Captain Phillips' an diese Tradition an, ohne in ihrer Fortführung aufzugehen. Basierend auf einem Pirateriefall von 2009 geht es um die bangen Stunden, die der US-Titelheld nach Kaperung seines Frachters vor Somalia als Geisel lokaler Kidnapper durchleidet, bevor Navy SEALS ihn retten. Auf Landungsboot, Floß und Raumkapsel aus den 1990er Hanks-Hits folgt hier das Rettungs(kapsel)boot, das im Zentrum des Showdown steht bzw. in Richtung Piratenstrand dahintreibt.

Nun ist aber die Welt von heute, im Unterschied zu jener der späten 1990er, so gründlich globalisiert wie die sogenannte 'Krise', in die das Kapital sie gestürzt hat. Also verlagert sich der Schwerpunkt des Hanks‘schen Identitätenbauens vom Trauma als intimem Schatz, der universalisierbar ist (man kannte das dann etwa auch aus Guido Knopps Geschichtsfernsehen: Traumatisiert sind wir doch, bitteschön, alle …), hin zu etwas, das ostentativ geteilt ist, und das scheint hier eine Art radikaler, existenzieller Verunsicherungs-, gar Prekaritätserfahrung zu sein. Also werden Analogien herausgestellt.

In dieser wild wechselnden Zeit müssen unsere Kids hart sein, damit sie nicht untergehen, parliert eingangs Herr zu Frau Philipps; seine Worte sollen hier umso lebenswahrer klingen, je mehr sie als kleinbürgerliches No-na-Statement im Zustand totaler Verstricktheit formuliert und phrasiert sind. (Herrlich, dieses hochtönige Knarren in Hanksens Stimme!) Und umso wahrer schließlich auch, weil ja alsbald junge Somalis antreten, den Captain ebendies spüren zu lassen, nämlich wie hart Kids, eben auch diese Kidnapperkids, sein können, wenn sie nicht untergehen wollen und unterm Druck allgemeinmenschlicher Konkurrenz ihr Geschäft ausüben wollen. 'We all got bosses', sagt der Captain im spannenden Psychoduell zum Entführer, der sich die Autorität eines Kapitäns anzumaßen versucht, etwa indem er seinerseits behauptet, er sei Businessmann. Die Inszenierung vergleicht die überlasteten Schiffsmotoren (Frachtertriebwerk versus Piratenbootaußenbordmotor) miteinander oder lässt die Alphamänner des Films einander per Fernglas Aug in Aug sehen.

Auf beiden Seiten, beim Captain und seiner Crew, bei den Piraten und ihrem Low-Level-Anführer vor Ort, herrschen Angst und Not, Ganzkörpereinsatz mit reichlich Schweiß(fleck), bis hin zum Pinkelnmüssen als Fluchtversuchsvorwand – da ist er wieder, Tom Hanks bei einer Routinetätigkeit in seinen klassischen Rollen – und Aufbietung von Improvisationsfähigkeit: Die einen kommen mit Kalaschnikows aber dafür zum Teil barfuß, die anderen wehren sich zunächst mit Feuerlöschschläuchen, Leuchtraketen und Glasscherben.

Paul Greengrass (prominent geworden als Regisseur des zweiten und dritten Bourne-Films) variiert die Faktendemut und das Ohnmachtspathos seines 9/11-Flugzeugentführungsreißers 'United 93': Bild und Stimmen zittern, alles erscheint in schmutzigblassen Farbtönen, auch in der Kommandozentrale der US Navy herrscht eine Zeit lang Überforderung und selten Heldenpose. Irgendwie sind offenbar auch in 'Captain Phillips' alle Opfer.

Wenn aber ein Film so sehr mit dem 'Absaufen' aller Heroik in einer eigendynamischen und zunehmend verfahrenen Situation kokettiert, dann zählt umso mehr, was an Unterschied bleibt. Das war schon in 'United 93' so, wo – bei allem Herumreiten auf allseitiger Geworfenheit und Verwirrtheit – zunehmend ein Kontrast zwischen dem Fatalismus der islamistischen Kidnapper/Attentäter und der Handlungsentschlossenheit und -kraft seitens westlich-amerikanischer Flugzeugpassagiere markiert wurde. Auch in 'Captain Phillips' fragt sich: Wer ist noch handlungsfähig? Und: Wer weiß? Nun, weiß ist der Captain, fast seine gesamte Crew und fast jeder seiner uniformierten Retter; alle Piraten hingegen sind 'Schwarzafrikaner', wie man in Schengistan so sagt. Ja, aber so war das halt, bitteschön, und wenn das so war und alle Bedrohlichkeit in diesem Drama dunklen Teint hatte, dann muss man es halt auch so zeigen. Ideologie? Wir nie!

Alles beruht auf Fakten. Und die gebieten Demut – sei es in Form des Anblicks von Hanks als Leidensikone (und wie der am Ende leidet! Schade, dass er für einen neuen Jesus-Kreuzigungsfilm schon ein bissl zu alt und speckig ist); sei es in der Schmucklosigkeit, die die Inszenierung hier fast schon wieder zum Kitsch erhebt; sei es schließlich (auf Kathryn Bigelows Spuren wandelnd) im trockenen Habitus des Präzisionshandwerks seitens jener, die im Nachtsichtfadenkreuz Ziele ausschalten. Harte Zeit braucht sichere Hand (und wackeln tun eh schon die Kamera und das Boot).

Jung & schön

(F 2013, Regie: François Ozon)

Das Geheimnis der Jugend
von Ulrich Kriest

Ihre Sommerferien verbringt Isabelle (Marine Vacth) gemeinsam mit ihren Eltern, ihrem jüngeren Bruder und einer befreundeten Familie am Meer. Sie wird in diesen Ferien nicht nur ihren 17. Geburtstag feiern, …

Ihre Sommerferien verbringt Isabelle (Marine Vacth) gemeinsam mit ihren Eltern, ihrem jüngeren Bruder und einer befreundeten Familie am Meer. Sie wird in diesen Ferien nicht nur ihren 17. Geburtstag feiern, sondern auch zum ersten Mal mit einem Jungen schlafen. Felix aus Deutschland ist nett und gibt sich Mühe, aber Isabelle schaut sich buchstäblich selbst beim Sex zu.

Als ihre Familie ihr kurz darauf mit Kuchen und Kerzen zum Geburtstag gratuliert, ist sie vor Rührung den Tränen nahe, aber für Felix ist der Zug da schon längst abgefahren. Ein paar Wochen später – der Film ist episodisch durch die vier Jahreszeiten strukturiert – begegnen wir Isabelle, wie sie sich in einem eleganten Hotelzimmer prostituiert. Sie arbeitet ohne Zuhälter, findet unter dem Pseudonym Lea ihre Kunden via Internet, verlangt 300 € pro Date und agiert zunehmend selbstsicherer. Ihre Ersparnisse sind schon ziemlich angewachsen, als die Sache durch einen tragischen Zufall auffliegt. Eines Tages steht die Polizei bei Isabelles Eltern vor der Tür, mit kompromittierenden Fotos und allerlei Fragen. Insbesondere Mutter Sylvie fällt aus allen Wolken, während Stiefvater Patrick die ganze Sache nicht überdramatisieren will. Bruder Victor würde sich, selbst gerade pubertierend, für ein paar pikante Details interessieren, aber er hat die ältere Schwester ja auch schon am Strand mit dem Fernglas beim Sonnenbad beobachtet. Doch der eigentliche Skandal: Isabelle scheint völlig indifferent, ohne jedes Schuldbewusstsein und auch ohne Peinlichkeit.

Francois Ozon, dem es immer schon ein Leichtes war, mit aufreizend einfachen Plot-Konstruktionen überraschend verbindlich, zugleich spielerisch und vor allem mit filmischen Mitteln sehr ernsthafte Fragen über Leben, Tod, Familie und Gefühle zu formulieren, interessiert sich nicht sonderlich für eine realistische Auseinandersetzung mit der Frage der Prostitution. Ihm, der seinen Film konsequent um seine faszinierende Hauptdarstellerin als Blickfang herum entwickelt hat, geht es auch nicht so sehr um Psychologie. Stattdessen stattet er Isabelle mit einer Art von Geheimwissen aus, das ihr einen völlig neuen Blick auf die Fassade bürgerlicher Wohlanständigkeit zwischen Hotelzimmer, Schule und eigener Familie zu werfen erlaubt. Mag ihr die Begegnung mit Felix gezeigt haben, dass Sex vielleicht völlig überschätzt wird, so haben ihr die professionellen Kontakte zu zumeist älteren und kultivierten Männern gezeigt, dass sie diesen etwas geben kann, was die Männer anderswo offenbar nicht oder nicht mehr oder nicht mehr so bekommen: das Erlebnis von »Jugend« als Inszenierung. Und zwar selbst, wenn sie glücklich verheiratet sind.

Einmal beobachtet Isabelle überraschend ihre Mutter beim unmissverständlichen Flirt mit einem Freund der Familie. Wie kann die Mutter es nun noch wagen, sie für ihr Handeln zu kritisieren? Befragt, warum sie sich prostituiert habe, bleibt sie eine Antwort schuldig. Nein, es war nicht das Geld. Nein, es war nicht der Sex. Die Mutter besteht empört auf einer Therapie. Doch wie kann Isabelle den Psychiater ernst nehmen, der so alt wie ihre Kunden ist und der überdies für seine Sitzungen nur 70 € pro Stunde bekommt. Trotzdem: als Isabelle sich einmal kurz öffnet, spricht sie davon, dass nicht der Sex sie interessiert habe, sondern die Spannung im Hinblick auf die Begegnung mit den Unbekannten. Und auch der Nachvollzug der Begegnungen sei so reizvoll gewesen, dass sie stets weitergemacht habe. Erst der Tod ihres Lieblingskunden beim Sex habe ihr schließlich den Spaß verdorben. Und ganz zum Schluss wird sie noch einmal zu einer Verabredung in ein Hotel gehen. Doch da erlebt sie eine Überraschung, eine Begegnung mit einer Person, die einen völlig anderen, aber nicht minder sehnsüchtigen Blick auf sie wirft.

„Jung & schön“ ist also ein leichter, experimenteller Essay über den Blick, der den Zuschauer ins Spiel einbezieht – und zugleich ein Film über das unbestimmte Schweben des Erwachsenwerdens. Mag sein, dass man einst seine Eltern durch die Länge der Haare, durch die »richtige« Musik oder durch politische Ansichten provozieren konnte. In unseren aufgeklärten und liberalen Zeiten, in denen die experimentierfreudigen Kinder der siebziger Jahre zu mit allen Wassern gewaschenen Eltern geworden sind, laufen derlei rebellische Strategien komplett ins Leere. Ozon zeigt dagegen, dass moralische Indifferenz, gepaart mit Wissen und Schweigen, durchaus noch Sprengkraft besitzt. Er tut dies allerdings, ohne zu werten – und lässt seiner Figur ihr Geheimnis. Isabelle verweigert sich radikal dem Zwang zum intimen Austausch mit der Mutter, die genau daran fast zerbricht. Amüsant ist dagegen Ozons Idee, dass die Erwachsenen, die um Isabelles Geschichte wissen, ihr, der femme fatale, plötzlich mit Misstrauen begegnen. Als der Mann, der vielleicht ein Verhältnis mit Isabelles Mutter hat, Isabelle nach einem sehr schlecht bezahlten Babysitter-Job nach Hause fahren will, übernimmt unvermittelt seine Frau diese Aufgabe. Darüber kann Isabelle nur lachen.

Als zusätzliche Kommentarschiene hat Ozon zudem noch vier wunderschön melancholische Chansons von Francoise Hardy aus den sechziger Jahren eingesetzt, die das, was der Film zeigt, noch einmal in einem anderen Medium spiegeln, variieren oder dementieren. Aber will man mit Anfang 20 seine spannende Gefühlswelt schon auf Retro-Chanson-Niveau verhandelt wissen? Andererseits: warum nicht, denn irgendwo sind die Dinge, von denen Francoise Hardy singt, ja noch sehr aktuell. Oder zumindest nicht so alt wie der Sound der Musik, zu der sie vorgetragen werden.

Venus im Pelz

(F 2013, Regie: Roman Polanski)

Gefangener der Kunst
von Wolfgang Nierlin

Anklänge an Ravels „Boléro“ mischen sich von fernher in Alexandre Desplats Soundtrack, während die Kamera im Gewitterregen und dämmrigen Licht durch eine menschenleere Allee gleitet, bevor ihre Bewegung in einem …

Anklänge an Ravels „Boléro“ mischen sich von fernher in Alexandre Desplats Soundtrack, während die Kamera im Gewitterregen und dämmrigen Licht durch eine menschenleere Allee gleitet, bevor ihre Bewegung in einem alten Pariser Theater zur Ruhe kommt. Ihr subjektiver Blick gehört der Schauspielerin Vanda (Emmanuelle Seigner), die durchnässt und verspätet zu einem Casting eintrifft, das der Theaterregisseur Thomas (Mathieu Amalric) leitet. Dieser sucht für seine selbst adaptierte Bühnenfassung von Leopold von Sacher-Masochs berühmter Novelle „Venus im Pelz“ eine geeignete Hauptdarstellerin, wurde bislang aber nur enttäuscht. Entnervt und im Gehen begriffen, hat er zunächst auch wenig Lust, die ziemlich ausgeflippte, forsch und bestimmend auftretende Vanda vorsprechen zu lassen. Doch dann gelingt es der ebenso schillernden wie mysteriösen Schauspielerin den Regie-Neuling zu erweichen. Denn bald lässt sich bei der in vielen Rollen versteckten Vanda nicht mehr ausmachen, wo ihr Spiel beginnt und endet.

Nach Yasmina Rezas „Der Gott des Gemetzels“ hat Meisterregisseur Roman Polanski mit David Ives‘ Broadwayerfolg „Venus im Pelz“ erneut ein Theaterstück verfilmt. Nur zwei Personen, ein minimalistisches Setting, bestehend aus Bühne und Saal, sowie ein anspielungsreicher, vieldeutiger Text sind nötig, um eine perfekte Theater-Illusion zu erzeugen. Diese wird freilich immer wieder durchbrochen oder in eine andere Richtung gelenkt. So finden sich die beiden Protagonisten bald verstrickt in die Rollen des Stückes, in dem die Herzen eines „Hypersensualisten“ und einer heidnischen „Göttin“ in Liebe aneinander gekettet sind und der Mann als „Asket der Wollust“ die „Lust an der Demütigung“ entdeckt: „Ich bin ihr Sklave, seit sie diesen Raum betraten.“

Das trifft auch immer deutlicher auf Thomas zu, der Vandas „Hunger nach Dominanz“ anstachelt und herausfordert und sich dabei immer mehr öffnet. Im permanenten Austausch zwischen Spiel und Realität findet schließlich ein Rollentausch statt. Nacheinander wird Vanda zur Regisseurin, die auch mal den Text ergänzt, zur freudschen Analytikerin und zur Mänade, die das Stück als frauenfeindlich und sexistisch brandmarkt und dabei ihre erotische Macht in einem wilden Freudentanz zelebriert. Thomas wiederum, hinter dem man auch Polanski selbst vermuten darf – neben der Besetzung mit seiner Ehefrau Emmanuelle Seigner lassen sich weitere Spuren in sein Leben und Werk ausmachen -, verwahrt sich gesellschafts- und theaterkritisch gegen solch simple Deutungen und wird dabei zum schutzlos ausgelieferten Gefangenen seiner obsessiven Liebe. „Gott hat ihn gestraft und hat ihn in eines Weibes Hände gegeben“, wird wiederholt das aus dem apokryphen Buch Judith stammende Motto von Sacher-Masochs Novelle zitiert. Wenn das Theater-Licht erlischt und das Spiel der Imagination endet, bleibt der Regisseur als Gefangener seiner Kunst zurück.

Die Nonne

(F / D / B 2012, Regie: Guillaume Nicloux )

Rebellisches Herz
von Wolfgang Nierlin

In einem blauen Kleid sitzt die 16-jährige Suzanne Simonin (Pauline Étienne) am Spinett und unterhält die feine Gesellschaft. Der Verehrer, den das schöne Mädchen mit ihrem Spiel bezaubert, ist allerdings …

In einem blauen Kleid sitzt die 16-jährige Suzanne Simonin (Pauline Étienne) am Spinett und unterhält die feine Gesellschaft. Der Verehrer, den das schöne Mädchen mit ihrem Spiel bezaubert, ist allerdings für eine ihrer Schwestern bestimmt. Weil sie keine nennenswerte Mitgift zu erwarten hat, schickt man Suzanne ins Kloster. Anders als in Denis Diderots Ende des 18. Jahrhunderts erschienenem Roman „La religieuse“ transportiert dieser schnell vollzogene Schritt in Guillaume Nicloux‘ neuer filmischer Adaption des berühmten Stoffes -eine andere, seinerzeit ein mehrjähriges Aufführungsverbot nach sich ziehende Interpretation, realisierte Jacques Rivette 1965 – noch keine dunklen Vorahnungen oder gar eine unausweichliche Perspektivlosigkeit. Die Farbe Blau setzt sich in ihrer Ordenstracht fort und in ihrem aus dem Off zitierten schriftlichen Bericht bekennt sie, Jesus Christus zu lieben und am Klosterleben Gefallen zu finden. Trotzdem strebt die selbstbewusste junge Frau kein gottgeweihtes, der Welt entsagendes Leben an. Zu dem fühlt sie sich nicht berufen. Als Suzanne nach ihrem Noviziat das Gelübde verweigert, kommt es zum Eklat.

„Deine Geburt ist meine einzige Sünde“, bekommt sie daraufhin von ihrer Mutter (Martina Gedeck) zu hören, die damit einen Fehltritt bekennt. Denn Suzanne ist die uneheliche Tochter eines reichen Barons (Lou Castel), für dessen väterliche Zuneigung Nicloux eine Rahmenhandlung erfindet. Doch bevor sich diese Perspektive auf eine mögliche hellere Zukunft öffnet, schickt der französische Regisseur und Romancier die Protagonistin in dunkelste Isolationshaft. „Jeder denkt nur an sich in dieser Welt“, bekommt sie von ihrem Beichtvater zu hören, bevor sie ins Kloster zurückkehrt und ein Gelübde ablegt, an das sie sich später nicht erinnern kann. Konzentriert und ohne Abschweifung inszeniert Guillaume Nicloux diese unschuldige Gefangenschaft und findet zusammen mit seinem Kameramann Yves Cape Bilder, denen die Ausweglosigkeit eingeschrieben ist. An Originalschauplätzen in Bronnbach und Maulbronn gedreht, besitzt der Film darüber hinaus einen historisch authentischen Resonanzraum.

Kalte Gänge in fahlem Licht, vergitterte Zellen und immer dunklere Verliese visualisieren Suzannes Leidensgeschichte, die Pauline Étienne auf beeindruckende Weise in eine facettenreiche Darstellung zwischen Resignation und Verzweiflung, Widerstand und Rebellion übersetzt. „In der Welt mag sich die Freude am Quälen, am Peinigen erschöpfen; in den Klöstern währt sie ewig“, heißt es bei Diderot an einer bezeichnenden Stelle. Dagegen und damit auch gegen die fortgesetzten Strafen, die von der ebenso schönen wie grausamen Schwester Christine (Louise Bourgoin) verhängt werden, lässt Nicloux seine moderne kämpferische Heldin aufbegehren: „Mein Leib ist hier, aber mein Herz keineswegs. Es ist draußen.“ Um schließlich mit lauter, sich überschlagender Stimme zu rufen: „Ich will hier raus!“. Suzannes langer Weg in die Freiheit, dem Nicloux eine vielleicht dann doch zu optimistische zeitgenössische Vorbildfunktion andichtet („Die Welt erwartet dich, Suzanne. Sie braucht Menschen wie dich.“), ist hier allerdings noch nicht zu Ende. Eine Versetzung ins Kloster Saint-Eutrope, wo sie dem lüsternen Begehren und den eifersüchtigen Nachstellungen der Oberin (Isabelle Huppert) ausgesetzt ist, fügt den körperlichen eine neue Dimension seelischer Qualen hinzu. Dabei wechselt die Farbe der Ordenskleidung von einem hellen Blau in ein dunkles Rot.

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Das radikal Böse

(AT / D 2013, Regie: Stefan Ruzowitzky)

Falsche Glaubenseinheit
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Dokumentarfilm mit Spielfilmszenen. 1941 in Osteuropa. Ein ganzes „Volk“ von Juden, so der Film, wird dort von jungen deutschen Polizisten ermordet. Die historischen Aufnahmen von den Erschießungskommandos und den …

Ein Dokumentarfilm mit Spielfilmszenen. 1941 in Osteuropa. Ein ganzes „Volk“ von Juden, so der Film, wird dort von jungen deutschen Polizisten ermordet. Die historischen Aufnahmen von den Erschießungskommandos und den Massengräbern werden eingeblendet. Dann aber wendet sich der Film in den reenacted Sequenzen den uniformierten Jungs zu, die mit ihren vertrauten Stimmen (Devid Striesow, Sebastian Urzendowsky) einander ihr Leid klagen. Sinnierend sitzen sie nach getaner Arbeit im Wald. „Es war mir eigentlich einfach nicht mehr möglich. Ich musste mich übergeben. Was machen wir bloß? Ich bin seelisch gebrochen. Ich bin impotent geworden.“ Leidvoll hält einer nach dem anderen seinen Kopf in die Kamera, und ich verstehe, sie werben um Empathie. Auch sie sind Opfer. Opfer des Holocaust.

Moment mal. Um den Holocaust, um seine Einmaligkeit, geht’s dem Film gar nicht. Im Gegenteil. Die Wissenschaftler, die Regisseur Stefan Ruzowitzky jetzt zu Rate zieht, darunter ein US-amerikanischer Heerespsychologe, wenden sich in im letzten Drittel des Films in ausführlichen Statements der Frage zu, wie „man“ das psychologisch macht, Leute wie die vom Polizeibataillon oder gar ein komplettes (deutsches) Volk oder heutzutage die Soldaten von der US-Army dazu zu bringen, ihre Einsätze durchzuführen. Der Kampf gegen das Böse, den Satan, wir erinnern das. Also eine brennende Frage. Der Army-Psychologe an der Militärakademie Westpoint („Das Erlernen des Tötens im Krieg und der Gesellschaft“) hat dazu viel zu sagen, und er sagt es.

Das mit den Massenerschießungen durch das Polizeibataillon, – geschichtlich gesehen war das doch immer so, lernen wir. „Das war doch ihr Job!' 'Sie waren doch so jung!“ Tja, der Fehler sei, erkennt der Experte, dass sie nicht wie wir an die Individualität glaubten, sondern an die Gruppe. Schon die Spartaner hätten sich als Gruppe ausgewiesen – durch Rastalocken, die Römer dagegen durch Kurzhaarschnitt, und vor hundert Jahren trugen unsre Jungs Bärte und heute eben nicht! „Amerikaner würden sich in so einer Situation (wie der vom Erschießungskommando; D.K.) nicht anders verhalten. Wir müssen versuchen zu verstehen, um dann moralisch urteilen zu können.“

Gibt es im Film Widerspruch? Nein! Nix Einmaligkeit des Holocaust? Alles ganz normal, „Bei den Tutsi und Hutu in Ruanda war das doch auch so“, „Unschuldige werden überall in der Welt getötet“, und so geht’s auch weiter? „Jeder einzelne muss was tun“, d.h. das Individuum muss ran, sagt die liberale Ideologie.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 1/2014

Alphabet

(AT / D 2013, Regie: Erwin Wagenhofer)

Für eine Kultur der Liebe
von Wolfgang Nierlin

Während wir ausgetrocknete Landschaften des Death Valley sehen, behauptet der englische Bildungsexperte Sir Ken Robinson in markigen Worten, die menschliche Kultur beruhe auf der „Kraft der Vorstellung“. Diese Fähigkeit werde …

Während wir ausgetrocknete Landschaften des Death Valley sehen, behauptet der englische Bildungsexperte Sir Ken Robinson in markigen Worten, die menschliche Kultur beruhe auf der „Kraft der Vorstellung“. Diese Fähigkeit werde aber, so seine radikale These, systematisch durch eine falsche Erziehung und unangemessene Bildungseinrichtungen zerstört. Um dies zu ändern und damit Wachstum zu generieren, brauche es veränderte Rahmenbedingungen. Dass er dafür das nicht ganz stimmige Bild vom Regen wählt, der auf ausgedörrten Boden fällt, ficht ihn nicht an. Denn dem Dokumentaristen Erwin Wagenhofer, der dieses Statement als Rahmen für seinen dezidiert einseitigen und parteiischen Film „Alphabet“ wählt, geht es um grundsätzliche, ebenso brisante wie diskussionswürdige Fragen: Wie erziehen wir unsere Kinder? Was ist Bildung? Sind unsere Schulen fürs Lernen geeignet? Und was hat das alles mit unserer Gesellschaft und unserer Lebensweise zu tun?

Beunruhigende Beobachtungen dazu macht der österreichische Regisseur zunächst in China, dem Land der Pisa-Sieger: Standardisierte Lerninhalte, extremes Konkurrenzdenken, die Nivellierung individueller Unterschiede und staatlich kontrollierte Wettbewerbe formten die Kinder zu „Prüfungsmaschinen“ statt zu Menschen, sagt der chinesische Bildungskritiker Yang Dongping. Die Parole über diesem rigiden, für die kindliche Entwicklung ungesunden System laute: „Kinder dürfen nicht an der Startlinie verlieren.“ Dabei verlören sie aber ihr Ziel als Menschen. Diese gewiss etwas zugespitzte Einschätzung, die durch leicht plakative Bilder öder Schulhöfe, trister Stadtansichten und diszipliniert arbeitender Schulkinder unterstützt wird, findet ihre Entsprechung in den Analysen und Meinungen weiterer Experten.

So erklärt etwa der prominente Göttinger Hirnforscher Gerald Hüther, wie die angeborene Genialität der Kinder durch schulische Leistungsfixierung sukzessive verloren gehe. Unsachlich, fast demagogisch wird es allerdings, wenn der Schulkritiker unreflektiert einen unzulässigen Zusammenhang herstellt zwischen durch eine verfehlte Bildung „abgerichteten Menschen“, Fabrikarbeitern und willigen Befehlsempfängern der Nazi-Diktatur. Wagenhofers kritische Bestandsaufnahme ist jedoch heterogener und widersprüchlicher, als dies zunächst den Anschein hat. So wendet sich etwa mit dem Telekom-Personalvorstand Thomas Sattelberger ein systemimmanenter Kritiker gegen die zunehmende Ökonomisierung unterschiedlichster Lebensbereiche, die Hamburger Schülerin Yakamoz Karakurt liest ihren bewegenden Aufsatz über eine durch unser Schulsystem bedingte verlorene Kindheit und der mit dem Down-Syndrom geborene Hochschulabsolvent Pablo Pineda Ferrer aus Spanien plädiert für ein „Konzept der Liebe“.

Auf tief beeindruckende Weise wiederum findet sich dieses verwirklicht in dem von Arno Stern entwickelten Malspiel, das das ganze Wesen des Kindes aktiviere und dabei bewirkt, dass es zu sich selber komme. Gerade weil Wagenhofer nicht beansprucht, repräsentative oder gar erschöpfende Antworten zu geben, ist sein Film „Alphabet“ geeignet, Diskussionen anzustoßen. Schließlich geht es ihm darum, eine Bewegung zu erzeugen, die es ermöglichen soll, einen dringend notwendigen Perspektivwechsel vorzunehmen, um überhaupt die beunruhigenden Dimensionen des Problems in den Blick zu bekommen.

Il Futuro – Eine Lumpengeschichte in Rom

(I / CL / D / ES 2013, Regie: Alicia Scherson)

Allein in der Welt
von Wolfgang Nierlin

Nüchtern und schnörkellos, lakonisch und desillusioniert ist der Ton, den Roberto Bolaño in seinem Buch „Lumpenroman“ anschlägt. In seinem letzten, noch vor seinem frühen Tod veröffentlichten Roman erzählt der gefeierte …

Nüchtern und schnörkellos, lakonisch und desillusioniert ist der Ton, den Roberto Bolaño in seinem Buch „Lumpenroman“ anschlägt. In seinem letzten, noch vor seinem frühen Tod veröffentlichten Roman erzählt der gefeierte chilenische Schriftsteller aus der Perspektive seiner jugendlichen Heldin Bianca eine Geschichte der Trauer, die in eine mysteriöse Atmosphäre absoluter Verlorenheit getaucht ist. Seit dem Unfalltod ihrer Eltern wähnt sich die junge, apathisch wirkende Frau „allein in der Welt“ und hat das „Gefühl, auf einem fremden Planeten zu leben“. „Es gab bloß die Illusion von Nähe“, sagt Bianca, die zusammen mit ihrem jüngeren Bruder in einem römischen Vorort wohnt. Mit exzessivem Fernsehkonsum versuchen die beiden Geschwister, ihre innere Leere zu vergessen und spiegeln dabei doch nur ihre Verzweiflung. Die Gedanken an eine bessere Zukunft verlieren sich für Bianca im Nirgendwo und die Nächte bleiben für sie merkwürdigerweise blendend hell: „Es war egal, ob ich die Augen schloss oder offen hielt.“

In ihrer „Il Futuro“ betitelten Verfilmung des Stoffes hält sich Alicia Scherson eng an die literarische Vorlage. Mit einer Off-Erzählerin, geheimnisvollen Sounds, dunklem Licht und Bildern einer parallelen Medienwelt evoziert die chilenische Filmemacherin eine gedrückte, von Antriebslosigkeit und Schwermut erfüllte Stimmung. Sie verzehre sich offenen Auges, sagt Bianca (Manuela Martelli), die gleichgültig gegenüber sich selbst ist, sich treiben lässt und auf ihre Tränen wartet. Doch nur einmal, als sie im Fernsehen Jean Vigos „L’Atalante“ sieht, stiehlt sich eine Träne aus ihrem Auge. Dabei versteht Scherson wie schon Bolaño diese Traurigkeit auch als Ausdruck einer europäischen Krise „am Rande des Zusammenbruchs“.

Als Biancas Bruder (Luigi Ciardo), der in einem Fitness-Studio arbeitet und im Film Tomás heißt, eines Tages zwei zwielichtige, fremde Männer mit nach Hause bringt, bekommt die Geschichte eine kriminalistische Wendung. Die beiden „Blutsbrüder“ nisten sich bei dem Geschwisterpaar ein, beginnen nacheinander mit Bianca zu schlafen, was Bolaño fast beiläufig schildert und Scherson nur andeutet, und eröffnen ihr irgendwann ihren listigen Plan: Bianca soll das Vertrauen eines alternden, erblindeten Filmstars gewinnen, der in einem abgedunkelten Palast lebt und in seinem Safe angeblich viel Geld hortet. Zwar interessiert sich Alicia Scherson auch für das „lächerliche Abenteuer“ aus dem Fundus trivialer Stories, akzentuiert aber vor allem die zärtliche Annäherung zwischen Bianca und Maciste (Rutger Hauer), dem Ex-Kampfsportler und Mister Universum, der vor etlichen Jahren als herkulischer Held zum gleichnamigen Star einer berühmten Sandalenfilmreihe avancierte. Jetzt trägt er die Schutz suchende Frau auf seinen starken Armen wie ein Kind und zugleich wie eine Geliebte. Doch auch Maciste ist ein Versehrter, der unter einer Schuld leidet und der das „Gesetz des Lebens“ als einen Prozess vom Guten hin zum Bösen begreift.

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Das lüsterne Quartett

(USA / D / I 1970, Regie: Radley Metzger)

Sexual Healing
von Wolfgang Nierlin

„Die Realität von heute ist dazu bestimmt, Ihnen morgen als Illusion zu erscheinen“, lautet ein Zitat aus Luigi Pirandellos Drama „Sechs Personen suchen einen Autor“, das Radley Metzger seinem 1970 …

„Die Realität von heute ist dazu bestimmt, Ihnen morgen als Illusion zu erscheinen“, lautet ein Zitat aus Luigi Pirandellos Drama „Sechs Personen suchen einen Autor“, das Radley Metzger seinem 1970 entstandenen Film „The Lickerish Quartet“ („Das lüsterne Quartett“) als Motto vorangestellt hat. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich Metzgers künstlerisch ambitionierter Erotikfilm durch seine Film-im-Film-Struktur und den damit verbundenen Austausch unterschiedlicher Fiktionalisierungsgrade unentwegt und dabei theoretisch komplex. Auf der Realitäts- bzw. Erzählebene des Films „The Lickerish Quartet“ betrachtet eine aristokratische Kleinfamilie, bestehend aus Vater, Mutter und erwachsenem Sohn, im geräumigen Wohnzimmer eines alten, herrschaftlichen Schlosses einen Amateursexfilm. Während dieser in Schwarzweiß projiziert wird, wechselt die Montage fortwährend zwischen dem Gegenstand und seinen Betrachtern, die sich in Spekulationen und Streitereien über den Realitätsgehalt des Dargestellten ergehen.

Einmal wird der Sexfilm, in dem sich zwei Paare miteinander vergnügen, ironisch als „moderne Studie zum Realismus“ apostrophiert. Ein anderes Mal kontert der Vater (Frank Wolff) die moralischen Einwände seines Sohnes (Paolo Turco), indem er einerseits auf den Illusionscharakter des Gesehenen hinweist, andererseits dessen subjektive Konstruktion akzentuiert: „Weißt du, Geschmacklosigkeit liegt im Auge des Betrachters.“ Wird also die Filmwirklichkeit maßgeblich von den Wunschvorstellungen der Zuschauer moduliert? Die Echtheit des Gezeigten ist in „The Lickerish Quartet“ jedenfalls brüchig und wird in der Folge zudem vielfach gebrochen. Im ausführlichen Audiokommentar, in dem Radley Metzger für seinen kunstvoll komponierten, stilistisch brillanten Film die alternativen Titel „Gedankenspiel“ (sic!) und „Dreamplay“ anführt, sagt der Regisseur im Gespräch mit dem Filmhistoriker Michael Bowen, er reflektiere mit dieser Arbeit vor allem „die Impermanenz des Films“ bzw. die Unbeständigkeit des Zelluloids.

Was Metzger damit meint, zeigt der Film im Hauptteil, wenn die Familie bei der Motorradfahrer-Stuntshow auf einem Jahrmarkt die mutmaßliche Hauptdarstellerin (Silvana Venturelli) kennenlernt und sie zu sich ins Schloss einlädt, um sie mit dem Film zu konfrontieren. Aber dessen Bilder sind nicht mehr dieselben. Trügen lediglich die Erinnerungen der Betrachter (und des Publikums) oder handelt es sich bei dem Film um eine sich wandelnde Projektionsfläche für die Wünsche und das Begehren der Zuschauer? Auf der fiktionalen Handlungsebene von „The Lickerish Quartet“ haben die Familienmitglieder, einschließlich der Mutter (Erika Remberg), jedenfalls nacheinander Sex mit der schönen Fremden, die zwischen Phantasiefigur und Phantom changiert und durch ihre sexuelle Hingabe heilend, ja versöhnend wirkt.

In einem anderen Sinn ähnelt sie damit dem mysteriösen Gast in Pasolinis „Teorema“. Mit kurzen Flashs in die Vergangenheit bearbeitet Metzger jedoch primär die persönlichen Konflikte der Figuren im Spiegel des Begehrens. Die filmtheoretischen Implikationen dieses medialen Verwirrspiels spitzt er schließlich noch zu, indem er die Darsteller der beiden Filme die Rollen tauschen lässt und damit die Illusion mit der Wirklichkeit gleichsetzt.

Jung & schön

(F 2013, Regie: François Ozon)

Körpereinsatz, ironisch
von Carsten Happe

Es braucht nur ein einziges Bild, eine eigentlich simple Einstellung, und die Stimmung ist gesetzt, gleich vom ersten Moment an. Durch ein Fernglas sehen wir ein junges Mädchen, um die …

Es braucht nur ein einziges Bild, eine eigentlich simple Einstellung, und die Stimmung ist gesetzt, gleich vom ersten Moment an. Durch ein Fernglas sehen wir ein junges Mädchen, um die 16, an einem Strand liegen. Die Sonne strahlt herab, das Mädchen öffnet ihr Bikini-Oberteil, die Musik von Philippe Rombi schwillt leicht unheilvoll an – wir sind unmissverständlich in einem ikonografischen Film von François Ozon. Kaum ein anderer Regisseur versteht es, mit so wenigen Mitteln ein derart typisch „französisches“ Flair auf die Leinwand zu zaubern und dabei dem Klischee ein ironisches Augenzwinkern beizumengen.

Das Mädchen heißt Isabelle und wird in diesem Sommer erstmals die körperliche Liebe entdecken und im darauf folgenden Herbst auch die käufliche Liebe, und Ozon lädt diesen überraschenden Schritt nach dem verspielten ersten Kapitel nicht mit banalen Erklärungen auf, er zeigt lediglich und lässt seine Erzählung für sich sprechen. Aus dem unbedarften Mädchen wird innerhalb weniger Schnitte eine kühl berechnende junge Frau ohne Illusionen, die sich älter gibt und gut situierte Herren in schmucklosen Hotelzimmern trifft. Und gerade weil Ozon so wenig Psychologisierendes preisgibt, lädt sich das Verhalten Isabelles ins Ungeheuerliche auf: Was treibt sie an? Ist es lediglich das Geld? Die Lust an der Grenzerfahrung? Eine verquere Form jugendlicher Rebellion? Von allem etwas?

Wir kommen im ganzen Verlauf des Films nie näher an Isabelle heran, ebenso wenig wie ihre Mutter, auch wenn sie das Doppelleben ihrer Tochter eines Tages entdeckt und naturgemäß schockiert ist (aber vielleicht auch nicht allzu sehr). Denn Marine Vacth, die Darstellerin der Isabelle und französisches Supermodel für Yves Saint Laurent und Chloé, verleiht Isabelle trotz allen Körpereinsatzes eine Aura der Unnahbarkeit und des Geheimnisses. Selbst – oder gerade – wenn sie völlig nackt ist, gibt sie längst noch nichts von sich preis. Die allzu schnell herbeizitierten Vergleiche zu Buñuels „Belle de jour“ greifen allerdings jenseits einer gewissen Unterkühltheit ins Leere. François Ozon ist kein Regisseur des Surrealen, selbst das geflügelte Baby in „Ricky“ verwurzelte er in eine naturalistische Bildsprache – die das Groteske freilich noch überhöhte.

Ein junges Mädchen prostituiert sich, nicht aus Not oder Zwang, es wird weder moralisiert noch pathologisiert – „Jung & schön“ erzählt schnörkellos und doch raffiniert, insbesondere gegen Ende, und mit großer Souveränität von einem undurchschaubaren Charakter, subtil und unverwechselbar, nun ja: französisch. Ozon eben.

Ihr werdet euch noch wundern

(F 2012, Regie: Alain Resnais)

Theater und Film-im-Film
von Wolfgang Nierlin

In vielen Filmen des französischen Meisterregisseurs Alain Resnais ist nichts real, alles ist Kunst und führt doch zurück zum Leben. Zwar werden eingangs seines neuen Films „Ihr werdet euch noch …

In vielen Filmen des französischen Meisterregisseurs Alain Resnais ist nichts real, alles ist Kunst und führt doch zurück zum Leben. Zwar werden eingangs seines neuen Films „Ihr werdet euch noch wundern“ („Vous n’avez encore rien vu') diverse französische Filmschauspieler – und zwar insgesamt dreizehn! – unter ihren richtigen Namen angerufen und damit nebenbei auch vorgestellt, doch darin liegt zugleich Symbolkraft: Der Klang von Namen wie Pierre Arditi, Sabine Azéma, Mathieu Amalric, Lambert Wilson, Anne Consigny oder auch Michel Piccoli umgibt selbst eine mythische Aura. In ihnen ist Filmgeschichte, sind Erinnerungen an Filmfiguren und Kinoerlebnisse gespeichert. Wenn dann auch noch ein Toter die Leinwandhelden zu sich nach Hause einlädt, dieses architektonisch ungewöhnliche Domizil auf einer Bergkuppe in der südfranzösischen Provinz thront und bald nach der Ankunft der Gäste die üblichen Koordinaten von Raum und Zeit außer Kraft gesetzt sind, dann befindet sich der Zuschauer im filmischen Universum Resnais‘, für das gilt: Nichts ist unmöglich.

Sogleich richtet sich der verstorbene Theaterregisseur Antoine d’Anthac (Denis Podalydès), der nach der Trennung von einer sehr viel jüngeren Frau zuletzt sehr abgeschottet gelebt hat, in einer Videobotschaft an die versammelten Schauspielerfreunde. Über viele Jahre hinweg haben diese Freunde Rollen in seiner „Euridyce“ gespielt, weshalb er sie jetzt bittet, die Inszenierung des Stücks durch eine junge Theatergruppe namens „Compagnie de la Colombe“ zu begutachten und diese gegebenenfalls zur Aufführung freizugeben. Kurz darauf sehen sich die renommierten Mimen mit der filmischen Aufzeichnung dieser Arbeit konfrontiert und beginnen in Erinnerung an die früher selbst einmal gespielten Rollen, in diese hineinzuschlüpfen und in ihnen gewissermaßen zu leben. Bald verwischen die Grenzen zwischen Film, Theater und Film-im-Film und die verschiedenen Fiktionen fließen munter ineinander. Dabei bedient sich Alain Resnais erzählerisch der Reihung und Spiegelung, der Verdoppelung und der Variation. Währen die Imaginationen der Schauspieler auf Mimesis zielen, arbeitet seine Inszenierung gegen die Illusion.

Zwei Stücke von Jean Anouilh, „Cher Antoine oder Die verfehlte Liebe“ und „Eurydike“, dienen ihm dabei als Inspirationsquelle und Textgrundlage. Wobei vor allem die unsterbliche Liebesgeschichte zwischen Orphée und Eurydice, die hier gleich doppelt und dreifach besetzt ist, Spiel und Handlung bestimmt. Diese führt bekanntlich ins „Land der Phantome“, über das keine Auskünfte erlaubt sind. Und wie die Heldin Eurydice, so kehrt auch Antoine d’Anthac für kurze Zeit ins Leben zurück. Er habe sich eben ihrer Liebe versichern wollen, gesteht er seinen befreundeten Schauspielern. Sein „Sinn für Inszenierungen“ und „unerwartete Wendungen“ sowie seine „Schwäche für Effekte“ sei ihnen ja hinlänglich bekannt. Natürlich könnten diese Sätze auch von dem mittlerweile 91-jährigen Alain Resnais stammen. Tatsächlich aber sagt dieser: „Schließlich sind wir hier doch beim Film! Und da macht es eben Spaß, Dinge zu tun, die im Theater nicht möglich wären.“

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Exit Marrakech

(F / D 2013, Regie: Caroline Link)

Dringliche Realität
von Wolfgang Nierlin

“Sieh zu, dass du was erlebst!”, sagt Dr. Breuer (Josef Bierbichler) im saloppen Befehlston zu seinem zwar guten, aber auch gelangweilten Schüler Benjamin Hofmann (Samuel Schneider). Dessen in letzter Zeit …

“Sieh zu, dass du was erlebst!”, sagt Dr. Breuer (Josef Bierbichler) im saloppen Befehlston zu seinem zwar guten, aber auch gelangweilten Schüler Benjamin Hofmann (Samuel Schneider). Dessen in letzter Zeit auffälliges Desinteresse ist es auch, weshalb der Rektor eines Internats für Kinder reicher Eltern den knapp 17-Jährigen zum Schuljahresende zu sich einbestellt. Caroline Link konstruiert im Drehbuch zu ihrem neuen Film „Exit Marrakech“ diesen Vorwand, um die grundlegenden Antagonismen ihrer Coming-of-Age-Geschichte zu etablieren: Zum einen den Gegensatz zwischen theoretischer Freiheit und tatsächlich erfahrenem Leben, zum anderen den schwelenden Konflikt zwischen Ben und seinen geschiedenen und vielbeschäftigten Künstler-Eltern, die beide keine Zeit für ihren Sohn haben. Während die Mutter (Marie-Lou Sellem), eine Musikerin, für ein Engagement in Paris weilt, tourt Vater Heinrich (Ulrich Tukur) als Theaterregisseur mit Lessings „Emilia Galotti“ durch Marokko.

Also soll Ben seine Ferien mit seinem Vater in dem nordafrikanischen Land verbringen. Ein paar ökonomische, die Handlung raffende Schnitte später befindet sich der junge Mann mitten in dieser doppelten Fremde, namentlich in der titelgebenden Stadt Marrakesch, durch die er sich ziemlich ungezwungen und sorglos, ja fast schon aufreizend naiv bewegt. Das mag einerseits, nicht ganz glaubwürdig, einer jugendlichen Unbekümmertheit geschuldet sein; andererseits inszeniert Caroline Link damit den Widerstand des Heranwachsenden gegenüber dem einigermaßen klischeebeladenen Vater, der Paul Bowles liest und die Phantasie der Realität vorzieht. Für Links Marokko-Faszination bietet das wiederum den Anlass, ihren jugendlichen Helden mit einer fremden Lebenswelt zu konfrontieren, durch die sich dieser allerdings allzu selbstverständlich bewegt. Daraus gewinnt der Film zwar ebenso authentische wie malerisch-schöne Bilder, bleibt dem dokumentierten Leben allerdings letztlich äußerlich.

Genervt von seinem reservierten Vater, flüchtet Ben in diese exotische Welt, verliebt sich in die verführerische Prostituierte Karima (Hafsia Herzi), folgt ihr unumwunden in ihr entlegenes Heimatdorf in den Bergen, wo die Menschen arm sind und sehr traditionell leben, und wird ziemlich abrupt von ihr fallengelassen. Das allein ist schon viel Stoff, der von der Erzählung kaum mehr als behauptet wird und überdies erzähllogische Mängel aufweist. Jedenfalls landet Ben bald darauf zum „Dünensurfen“ in der Wüste, die der Seele gut tue, wie es bedeutsam heißt, wird überdies vom besorgten Vater hektisch gesucht und bald auch gefunden. Was dann folgt, ist eine teils dramatische Vater-Sohn-Geschichte im Gewand eines Roadmovies. Zögerlich und von Männlichkeitsritualen umstellt, nähern sich Ben und Heinrich schließlich einander an, wobei vor allem der Vater, der gesteht, die Kindheit seines Sohnes „komplett verpasst“ zu haben, lernen muss, Nähe zuzulassen. Die Realität, so die Botschaft, ist eben doch manchmal dringlicher und stärker als die Phantasie.

Wolfgang Nierlin führte für die Filmgazette mit der Regisseurin auch dieses Interview.

Vive la France – Gesprengt wird später

(F 2013, Regie: Michaël Youn)

Ziemlich schlechteste Staatsfeinde
von Drehli Robnik

Zwei lockenköpfig-täppische Möchtegernselbstmordattentäter aus dem fiktiven 'Taboulistan' (einen von ihnen spielt Regisseur Michael Youn) wollen nach Paris, um den Eiffelturm in die Luft zu sprengen. In jeder von ihnen auf …

Zwei lockenköpfig-täppische Möchtegernselbstmordattentäter aus dem fiktiven 'Taboulistan' (einen von ihnen spielt Regisseur Michael Youn) wollen nach Paris, um den Eiffelturm in die Luft zu sprengen. In jeder von ihnen auf dem Weg durchreisten Genussregion werden sie verkannt: Korsische Separatisten kidnappen sie als vermeintliche Sommervillenschnösel, Marseiller Fußballfans attackieren sie als Pariser, der metropolitane Sprengstoffnerd in Designerklamotten hält sie für stylishe Coolnesstadikalisten, eine humanitär engagierte Fernsehreporterin begleitet sie, weil sie in ihnen Opfer des EU-Grenzregimes sieht. (Bruhaha, als ob’s sowas gäbe!) Gut gegessen wird überall, lustig geredet sowieso (erst recht in deutscher Synchro, die bekanntlich jeder Komödie noch das gewisse Je-ne-sais-quoi hinzufügt), dazwischen eine ménage à trois mit der zunehmend zum Aufputz degradierten Polizistin.

Die Grundidee, dass Nationalidentität heute nur in Form wechselseitiger Projektion partikularer Marotten zu haben sei, ist gar nicht schlecht. Der Rest ist es. Hinter barbarischer Schale tritt weicher Kern hervor, hinterm Terrorismusulk die Tourismusklamotte (samt Dodeltanz, très culte). Anders als die hier ausgiebig und schamlos beklauten, thematisch einschlägigen Komödien Borat' und Four Lions' (oder selbst noch die in Form von Übererfüllung orientalistische Stereotypen verdrehenden 'OSS'-Krimiparodien mit Jean '<<TEXT:UNTERSTRICHEN>The Artist' Dujardin) hat 'Vive la France – Gesprengt wird später' keine Perspektive auf sein Panorama von Ethnien – außer der vom Fremdenverkehrsamt verordneten und mit alten Chansons zugeklebten Helikopterperspektive, aus der recht aufdringlich Frankreichs Reize zelebriert werden.

Only Lovers Left Alive

(D / USA / GB / F / CY 2013, Regie: Jim Jarmusch)

Alles dreht sich im Kreis
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Film über Sammler, die ihre Schätze zeigen. Beim einen (Tom Hiddlestone) gibt es ein sich drehendes Vinyl zu sehen und zu hören sowie die seltensten Gitarren aus den fünfziger, …

Ein Film über Sammler, die ihre Schätze zeigen. Beim einen (Tom Hiddlestone) gibt es ein sich drehendes Vinyl zu sehen und zu hören sowie die seltensten Gitarren aus den fünfziger, sechziger Jahren – in Detroit, Michigan. Bei der anderen, in Marrakesch, fährt in Großaufnahme Tilda Swintons Zeigefinger über die erlesensten Drucke der letzten fünf, sechs Jahrhunderte. Wer will, kann mitlesen, wenn er denn Chinesisch kann. – Nichts sagen! Sich ergreifen lassen! Wenn’s geht.

Die beiden Sammler sind ein Paar, das intensiv zusammenlebt, wenn auch geografisch getrennt. Die Quantentheorie sagt uns, warum. Teilchen nämlich, so wird es uns erklärt, die einmal zusammengehört haben, sorgen auch nach der Teilung dafür, dass sie allen Veränderungen zum Trotz einander verbunden, also angeglichen bleiben. – Hätten Sie’s gewusst?

Aber nun die Hauptsache: Unsere beiden Teilchen sind Vampire, voll zivilisiert, die sich den Stoff nicht selbst besorgen, sondern auf Dealer angewiesen sind. Sie brauchen den Stoff absolut rein. Wegen der Umweltschäden. Also kommen wir ins Krankenhaus, wo Spenderblut verzockt wird. Bezahlt wird mit Geldbündeln aus dem Geldautomaten. – Wie geht das? Mit einer feinen Sammlung gültiger Kreditkarten.

Und wie weiter? Ich mach’s kurz: Die Zivilisation, das sind heute Zombies. Alle, alles krank. Die beiden Sammlervampire behüten die Kultur. Sie sind die Guten. Die anderen, also wir, die Schlechten. Denn inzwischen kann auch das Blut aus der Klinik kontaminiert sein. Die Zivilisation ist scheiße, und es macht keinen Spaß mehr, Blut-am-Stiel zu schlecken.

Wieder eine Zwischenbemerkung: Ich verhalte mich mit meinem Text ungehörig, denn der Film ist garantiert ironiefrei und humorlos sowieso. Die Vampire meinen es mit der Eis-am-Stiel-Szene ernst. Bloß, ich meine es auch ernst damit, dass der Jarmusch-Film mich enttäuscht hat und ich leider auf Distanz gegangen bin. Jarmusch, der Regisseur von „Mystery Train“ und „Dead Man“! Und jetzt? Ja, traurig ist es und soll es wohl sein, tröpfelnde Sätze zu hören, die sich aus gespitzten Mündern lösen. Tilda Swinton, Merksätze absondernd, ganz auf die prätentiöse Art? Klappt doch niemals! Warum nicht? Jarmusch weiß es: wegen der Entzugserscheinungen! Die beiden Dealer von Denver und Marrakesch sind tot oder kontaminiert. Andere Dealer gibt es laut Drehbuch (Jarmusch) nicht. – Also zurück zur Natur? – Mein Rat, Finale abwarten.

Wer will, findet im Film Erbauliches darin, sich mit dem Plattenspieler im Kreis zu drehen. Eine hochästhetische Montage-, Überblendungs- und Tontechnik vom Feinsten. Und es drehen sich die Platte, der Sternenhimmel, die Verkehrsinsel, die Bänder am Mischpult, die beiden Vampire im Paartanz der Sechziger. Im Kreis. – Tja. Sag ich doch.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 12/2013

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Liberace – Zuviel des Guten ist wundervoll

(USA 2013, Regie: Steven Soderbergh)

Die große Erzählung
von Andreas Busche

Für dramatische schwule Rollen gilt etwa das gleiche, was Kate Winslet in der britischen Comedy-Serie „The Extras' mal über die Hauptrollen in Filmen über den Holocaust gesagt hat: Sie sind …

Für dramatische schwule Rollen gilt etwa das gleiche, was Kate Winslet in der britischen Comedy-Serie „The Extras' mal über die Hauptrollen in Filmen über den Holocaust gesagt hat: Sie sind reines Oscar-Material. Michael Douglas‘ letzte denkwürdige Rolle liegt inzwischen eine Weile zurück, einen Oscar wird er aber auch für seine Darstellung der amerikanischen Las Vegas/Camp-Ikone Liberace in Steven Soderberghs gleichnamigem Biopic nicht bekommen. Produziert hat der amerikanische Bezahlsender HBO, in den USA lief der Film nur im Fernsehen. In Europa dagegen kommt „Liberace' noch in die Kinos.

In anderen Händen als in Soderberghs hätte „Liberace' leicht zur Farce geraten können. Soderbergh interessiert sich freilich nur vordergründig für den flamboyanten Glamour, in dem die Chimäre Liberace abgetaucht war. Liberace war ein wandelndes Paradoxon. Er lebte der Öffentlichkeit eine blütenweiße Scheinexistenz vor, während seine Auftritte eindeutige Codes aussendeten, die 1977, das Jahr, in dem der Film beginnt (zu Silvesters „I Feel Love'), für Insider leicht dechiffrierbar waren. „Ich wusste gar nicht', meint Matt Damen als Liberaces späterer Liebhaber Scott Thorson beim Anblick der älteren Damen und Herren, „dass dieses Publikum etwas so Schwules gut finden würde.' „Sie wissen nicht, dass er schwul ist', erklärt ihm sein Begleiter.

Soderbergh erzählt diesen Widerspruch mnicht als persönliches Drama, sondern als Spiel, das Lberace eine nicht unbeträchtliche Macht uber seine Mitmenschen verlieh. Douglas spielt diese Figur, die auf den Memoiren von Scott Thurson beruht, als zerrissenen Charakter: einerseits getrieben von seiner Lust auf junge Männer, andererseits als zutiefst paranoiden Menschen, der hinter jeder Zuwendung Verrat witterte. Wenn Liberace (mit Hermelinmantel und goldenem Rolls-Royce) und Scott gemeinsam billige Sexclubs aufsuchen, kommt darin ein Überlegenheitsgestus: die Unantastbarkeit des Superstars zum Ausdruck. Gleichzeitig kündigt die Szene einen dramatischen Bruch an, der mit einer Schlagzeile über den Tod Rock Hudsons schließlich auch gesellschaftlich evident ist.

„Liberace' ist für Soderbergh-Verhältnisse ein interessantes Schlussplädoyer. Nachdem seine letzten Kinofilme etwas guerillamäßig heruntergedreht waren, beweist er nun ausgerechnet mit einem Fernsehfilm, dass er die große Kinoerzählung noch immer beherrscht.

Prisoners

(USA 2013, Regie: Denis Villeneuve)

Aufgeladen und unterhöhlt
von Drehli Robnik

'Prisoners' ist ein psychologischer Thriller, bei dem Zweimal-Anschauen Sinn ergibt. Nicht weil er so toll ist – obwohl er schon recht gut ist –, sondern weil er sich den Luxus …

'Prisoners' ist ein psychologischer Thriller, bei dem Zweimal-Anschauen Sinn ergibt. Nicht weil er so toll ist – obwohl er schon recht gut ist –, sondern weil er sich den Luxus eines komplexen Plots leistet und gegen Ende soviel an Neubewertungen von Figuren auffährt, dass es Spaß machen wird, Aha-Effekte beim nunmehr mehr-wissenden Zuschauen auszukosten.

Es beginnt mit der Entführung zweier Mädchen in einer spätherbstlichen Kleinstadt in Pennsylvania. Alles ist geladen: geladen mit zeitweiliger Hochspannung in mustergültigen Suspensekonstruktionen, aufgeladen mit ungeahnten moralischen Potenzialen und gestauten Aggressionen in den Akteuren; beladen mit Kälte, Schnee, heftigem Regen im Ambiente, gesättigt mit gemessen beobachtetem, müdem middle class-Leben in Milieu-Räumen, die der Kanadier Denis Villeneuve in seinem US-Regiedebüt in abgestuften Graustichen und schwermütigen Musikakzenten moduliert. Schließlich ist einiges auch stark symbolisch aufgeladen in materiellen Räumen, die das Motiv des Gefängnisses, Kehrseite des Typus 'Schutzraum', variieren.

Die Väter der entführten Mädchen verschleppen ihrerseits einen – von der Polizei allerdings schon aus der U-Haft entlassenen – Tatverdächtigen, einen geistig verwirrten, kaum des Sprechens fähigen jungen Mann, und foltern ihn. Der Akzent des Films liegt dabei auf dem moralischen Problem solchen Folterns im Zeichen einer ticking clock-Situation – nicht auf Vorstellungen einer Nobilität von Rache oder irgendwelchen magenumstülpenden Schauwerten wie im Folterhorrorkino des letzten Jahrzehnts und dessen Thriller-Derivaten. Das Verlies des übel Zugerichteten mutet unversehens wie ein Beichtstuhl an, eben einer der vielen Räume von vieldeutigem Ge- und Befangen-Sein in diesem Film. Zu Beginn erscheinen Baumreihen im Wald, überschrieben mit dem lapidaren Titel 'Prisoners', wie Gitter – ein Bild, das später im beiläufigen Anblick eines Hamsterkäfigs nachhallt. Das Symbol-Bild eines Labyrinths erweist sich als unlebbarer Wohnraum; immer wieder tun sich doppelte Böden und Keller auf. Es ist kaum ein Zufall, dass einer der Entführer-Väter, der weiße, mit Vornamen ausgerechnet Keller heißt.

Hugh Jackman spielt diesen Familienvater, einen Handwerker, der ganz befangen ist in seinem Selbstverständnis als stets bereiter Beschützer (mit Lebensmotti wie 'Be ready!') und in dem Versuch, die Kränkung dieses Selbstbildes abzuwehren, indem er irgendetwas tut, und sei es, dem Tatverdächtigen Schmerzen zuzufügen, während er als frommer Christ sich selbst in Schuldgefühlen zerreißt. Ihm gegenüber agiert der Polizeidetektiv (Jake Gyllenhaal), der die Ermittlungen im Fall der verschwundenen Mädchen leitet, seinerseits befangen in einem Selbstbild der Handlungsmächtigkeit, zunehmend frustriert, diesen Fall nun offenbar nicht lösen zu können. So wie der eine in Sprichworte und Gebet verfällt, ist der Cop ständig am Fluchen, und den Vornamen Keller kontrastiert der Nachname des Ermittlers – Loki, der entweder in den USA ganz normal ist oder in cross-referencing mit dieser Figur aus der Thor-(Kino-)Saga gelesen oder aber auf seinen Gleichklang mit low-key gehört werden sollte.

Am besten ist 'Prisoners', wenn er low-key bleibt, wenn er andeutet und nicht ausformt, ausformuliert: So bleibt etwa weitestgehend offen, auf welche Prägungen Detective Lokis markante Hals- und Fingerrücken-Tattoos und vor allem sein ständiges Zwinkern (kaum jemals eine Mainstreamfilm-Hauptfigur mit so einem Tic gesehen!) verweisen. Zugleich bleibt – in einem tollen Ensemble: Martin Lawrence, Paul Dano, Melissa Leo, die bereits in Kleinstadtfamilien-'History of Violence' erprobte Maria Bello u.a. – Raum offen für Überraschungen in Hinblick auf die jeweilige Handlungsfähigkeit bzw. -moralität von Figuren: dies zunächst insofern, als alle Figuren, etwa auch der andere Vater (der lokale Tierarzt) und seine Frau oder die in Depressionen und Beruhigungsmittelüberdosierung abdriftende Frau des Handwerkers, ihre 'Auftritte' bekommen, sich kurz in den Vordergrund des Geschehens spielen.

Vor allem aber entfaltet 'Prisoners' eine breite Palette an Momenten, in denen wir, am Leitfaden des Bildes und seiner/unserer Genre- und Sozial-Prägungen, Figuren verkennen und bald darauf neu einschätzen müssen. Das betrifft nicht nur das surprise ending, sondern – schalten wir für aus Geringfügigkeitsgründen den Spoiler Alert einmal aus – etwa auch die Art, wie Vater Keller und die Seinen als konservative, bigotte, abstiegsgefährdete weiße Kleinbürger eingeführt werden, die dann zum Thanksgiving-Festmahlsritual ihre besten Freunde besuchen: ganz unerwarteter Weise, als Abweichung im Klischeebild sozialer Borniertheit, eine African American-Familie; wobei dann der Gastgeber in amikaler Weise darüber witzelt, dass er als Nicht-Weißer sich ja viel zu sehr für 'The Boss' Springsteen begeistert.

Solches Spiel mit Verkennung und Reflexivität in bezug auf uneindeutige soziale Identitäten ist in 'Prisoners' Programm, von der Eröffnungsszene an, in der Vater Keller und sein Sohn als Hobbyjäger (bzw. Erntedank-Familienversorger) im Wald ein Reh schießen und dabei im Umschnitt in ihren markanten orangefarbenen Signalwesten ins Bild kommen. Ein schönes, dichtes Bild – körpernaher Schutzraum (als Schutzkleidung), der symbolisch wird: Wenn du sicher sein willst, musst du dich exponieren; wenn du Gewalt ausübst, bist du im selben Moment potenzielles Ziel der Gewalt anderer, auch unbeabsichtigter Gewalt. Immer wieder wendet die Inszenierung den Status von Figuren im Verhältnis zu agency: Sind sie Handelnde oder Handeln Erleidende? Entführer oder Entführter? Täter oder Opfer? Aktiv oder passiv? Das betrifft die Art, wie in 'Prisoners' oft der Akt des Sprechens vom Ausdruck eines weichen, erschöpften Seufzens kaum zu unterscheiden ist, ebenso wie die ethische Lektion, in deren Umsetzung zwei Männer der Tat (die Jackman- und Gyllenhaal-Figuren) sich schmerzlich in ihre Ohnmacht fügen lernen. Verletzung ist Vernetzung: die Universalität des Traumas ergibt hier ein Geflecht von Sozialisierung.

Eben letzteres ließe sich – auf den Spuren von Bemerkungen zur 'ethischen Wende', die der Politik-, Kunst- und Filmtheoretiker Jacques Rancière u.a. anhand von 'Mystic River', einem dankbaren Vergleichsfilm zu 'Prisoners', formuliert hat – auch als ästhetische Ausprägung einer Vorstellung von Gemeinschaft, von Recht und Politik, kritisieren, in der das Trauma, die Verwundung und ihr Nachwirken, die einzige Währung im Sich-Austauschen über Formen des Zusammenseins ist. 'Prisoners' ließe sich als ein in diesem postpolitischen, postkritischen Sinn 'ethischer' Film kritisieren: Wenn alle Opfer sind, hat niemand Macht, gibt es nichts und niemanden anzugreifen und keinen Spielraum für eine Idee von Befreiung. Zum anderen ließe sich dem Film aber auch ein starker Sinn für Leben im Zeichen von Prekarität zugutehalten (ein Sinn, der sich nicht gleich in den neoaristokratisch-faschistisch hohen Ton irgendwelcher notwendig schuldiger dunkler Ritter hinaufschraubt).

Etwas preiswerter angelegt, lässt sich an 'Prisoners' auch monieren, dass das Ineinandergreifen von Wendungen, das Keimen von Symbolik aus dem Leiblich-Gelebten und die Verwobenheit von Schicksalen, dass das hier am Filmende so dicht aufgeht, dass alles sich fügt, alles quasi seinen 'Sinn' bekommt und dass wenn schon nicht Folter, so doch die paranoide 'Be ready!'-Vorsorgegesinnung von Vater Keller als etwas gar zu legitim erscheint (in der Art von: Erst nachträglich zeigt sich, wozu das alles, auch das Verbrühen eines Verdächtigen mit kochend heißem Wasser, gut war).

Dem Film eilen Vergleiche mit 'Das Schweigen der Lämmer' voraus. Es spricht Bände (und es spricht von unserer heutigen, krisenkulturellen, prekaritätsgesellschaftlichen Sehnsucht nach sozialen Banden), wie weit dieser gedämpfte, an Lasten tragende Thriller entfernt ist vom Gestus des Ungeahntes-Ausstellens und des Auslotens postnormaler Identitäten in dem 1990er-Klassiker; nichtsdestotrotz spielt 'Prisoners' durchaus in dessen Liga mit.

Die Schlangenpriesterin

(USA 1944, Regie: Robert Siodmak)

Campy Eye-Candy
von Michael Schleeh

Robert Siodmaks zweiter Film für die Universal ist die leider etwas in Vergessenheit geratene Abenteuerromanze 'Cobra Woman' bzw. 'Die Schlangenpriesterin'. Siodmak selbst soll gesagt haben, der Film sei ein unterhaltsames …

Robert Siodmaks zweiter Film für die Universal ist die leider etwas in Vergessenheit geratene Abenteuerromanze 'Cobra Woman' bzw. 'Die Schlangenpriesterin'. Siodmak selbst soll gesagt haben, der Film sei ein unterhaltsames Späßchen, und, nun, das ist er auch. Er wartet mit einem wunderbar hanebüchenen Plot auf und nimmt sich dabei zugleich völlig ernst. Und dann schlappt immer wieder ein quäkender Schimpanse durch das Bild, der Sidekick von Lon Chaney übrigens. Sensation auf Sensation wird aufgefahren, Exotik en masse.

Tiefdekolletierte Damen mit langen Beinen in prunkvollen Gemächern, die mit hauchdünnen Gewändern kaum ihre Reize zu verhüllen imstande sind, treffen auf Männer in kurzen Röcken mit viel Muskeln und breiten Brustkörben. Ihre Lanzen sind schön und handbemalt, eine Mischung aus tödlicher Waffe und den Hirten-Wanderstäben der Heiligen Drei Könige.

Die Kulissen sind offenkundig aus Pappmaschee, doch das stört keineswegs bei den atemberaubenden Tiefblicken, die einem in Täler gegönnt werden oder in Burggräben, bei den breiten Panoramen auf Städte am Horizont. Die dichtbewaldete Urwaldinsel ist ein Dschungel, wie auch der eigentliche Plot selbst, der sich um zwei Zwillingsschwestern windet, die eine bösen, die andere guten Charakters. Doppelgängermotiv und Spiegelsequenz gleich am Anfang.

Sexbombe María Montez schwingt sich rotbelippt durch den Film, dass man das Atmen vergisst. Nun, kein Wunder, steht es dem Helden zu, die Entführte zu retten und wieder von der Barbareninsel heim ins zivilisiert englisch sprechende Reich zu holen, auch wenn sie eigentlich die Hohepriesterin eines ganzen Volkes ist, dem sie als Erstgeborene rechtmäßig vorstehen darf. Es ist ihr auch egal, dass die Queen, also ihre Mutter, gemeuchelt wird, wenn da so ein Korsar sie zu befreien gewillt ist und mit auf seine Segeljolle nimmt. Aber man soll nicht spotten, der Film ist ein wilder Ritt und macht Spaß und fühlt sich ein wenig wie ein irre gelaufener Shaw Brothers-Kostümfilm an. Und so oft gibt es das im Westen in dieser Form nun auch wieder nicht.

Für Robert Siodmaks Reputation hat der Film wenig gebracht, wie man sich denken kann – man erinnert sich lieber an seine stilbildenden Film noirs. Zu Unrecht. Im schönsten Technicolor erstrahlt er nun wieder, auf Blu-ray gemastert und veröffentlicht von der Firma Ostalgica. Ohne Beschädigungen lässt er sich genießen, mit zwar ordentlich Bildrauschen bisweilen in den hellen Flächen, aber sonst kann man wenig meckern. An der sonstigen Umsetzung allerdings hapert es. Die englische Originaltonspur etwa ist doppelt so laut gemischt wie die deutsche, jedoch weniger gelungene Synchronisation. Untertitel gibt es keine, wenn man sich für den Originalton entscheidet. Drückt man allerdings auf die UT-Taste der Fernbedienung, schwebt mysteriöserweise ein Kinovorhang auf das „Kino-Originalformat“ 4:3 herab und deckt die Balken links und rechts des Bildes ab. Es liegt noch eine 16:9-Fassung vor, allerdings muss man dann auf Bildinhalte verzichten. Das Bonusmaterial ist wenig erquicklich, vor allem findet man es im Menü erst mal nicht. Es ist unter „Einstellungen“ subsumiert, dort, wo man die Sprachfassung anwählen kann. Dieses Menü reagiert zudem nur mit großer Verzögerung, sodass die Bedienung erst etwas geübt werden muss. Da kann man nun neben dem Originaltrailer des Films noch eine ganze Reihe Trailer anschauen, die die sonstigen Veröffentlichungen von Ostalgica bewerben. Eine animierte Schrifttafelsequenz Marke Rob Roy (= brennendes Pergament in schlecht lesbarer, mittelalterlich abstrakt geschwungener sowie grob verpixelter Schrift) informiert anekdotisch über Leben und Werk Siodmaks und schaltet auf Blatt 2 um, bevor man die Chance hatte, richtig fertig zu lesen. Naja. Dann findet sich noch ein Kurzfilm mit dem Titel 'Nachrichten' auf der DVD, der mir von Siodmak gar nicht bekannt war. Kann er auch nicht, dieser ist von einem ganz anderen Regisseur und interessanterweise ein zeitgenössisches HIV-Drama. Was der da verloren hat, das weiß vermutlich nur das Orakel von der Cobrainsel. Die Blu-ray der Schlangenpriesterin ist eine schöne, aber durchaus merkwürdige Veröffentlichung, an der man vielleicht noch etwas hätte feilen können – und die eigentlich nur aufgrund des Bildes die Anschaffung rechtfertigt.

Insidious: Chapter 2

(USA 2013, Regie: James Wan)

Möbelrücken, Geistervermöbeln, Spukmelken
von Drehli Robnik

Bei 'Insidious: Chapter 2' ist manch unwillkommene Ironie am Werk. Dieses Spukhaussequel scheint von jenen Horrorfilmen (bis hin zum diesjährigen Sommerhit The Conjuring') abzukupfern, die ihrerseits an den Erfolg von …

Bei 'Insidious: Chapter 2' ist manch unwillkommene Ironie am Werk. Dieses Spukhaussequel scheint von jenen Horrorfilmen (bis hin zum diesjährigen Sommerhit The Conjuring') abzukupfern, die ihrerseits an den Erfolg von Insidious' (2011) angeknüpft hatten. Dessen Macher, übrigens auch die Masterminds des vor fast zehn Jahren stilprägenden 'Saw' – Regisseur James Wan und Drehbuchautor Leigh Whannell (letzterer auch eine Hälfte des notorisch unlustigen comic relief-Geisternerd-Duos) – tun sich für Teil 2 nicht zuwenig an, sondern zuviel: Dieses haunted house ist zu prall gefüllt, dieser Familienfluch kommt zu vollmundig daher.

Teil 1 ging noch von einem Fluidum der Leere und Beiläufigkeit im white middle class-Alltag aus: Ein paar undeutliche Sounds, Huscher im Augenwinkel und massig kaltweiß strahlende Lampen vor viel schwarzgetöntem Mobilar in Weitwinkel machten alles sehr unheimlich – bis dann der Film in Familienparapsychologie, Kostüm- und Ausstattungspomp (in den Gruselkammern von 'Saw' bewährt') abschweifte und mit pathetischer Jenseitsaction endete.

Genau da setzt nun Teil 2 nahtlos an, will sofort viel, fährt reichlich Plot, Figuren und Dialog (zumal umständliche Erklärungen, immer ein schlechtes Omen) auf, setzt den queernessfeindlichen Unterton und die Unsitte, sich mit Geistern zu prügeln, als wären sie Kickboxer, fort. Es ist mehr wie in einer Sitcom als in einem bezwingenden Horrorfilm: Ständig kommt jemand zur Tür rein und will was; manche von denen kennt man von früher; alle – insbesondere der zuletzt auch in 'The Conjuring' als 'begeisterter' Familienvater eingesetzte Patrick Wilson und Barbara Hershey (1982 die Hauptdarstellerin in dem tollen Spukpsychothriller 'The Entity') – spielen unter ihrem Niveau, das dafür aber ungebremst. Eine Rückblende ins Jahr 1986 gibt es auch, weiters die Ruine eines Krankenhauses, und als obermorbides altes Lied erklingt nun 'Row, row, row the Boat' (2011 war es noch 'Tiptoe through the tulips').

Ein paar Mal geht er aber eh noch gut rein, der heutzutage gern vorgeführte Kleiderkasten-, Klopfzeichen- und Alte-Videos-Analysierschmäh, und die Kammer mit dem Wald aus unter Leintüchern versteckten erstarrten Groteskkörpern hat designerisch etwas vom alten Geisterfilm-, öh,-Spirit.

Ender`s Game – Das große Spiel

(USA 2013, Regie: Gavin Hood)

Leadership & Battleship im SciFi-Driller
von Drehli Robnik

Wie manch neuerer SciFi-Film beginnt 'Ender`s Game' recht abrupt, indem er uns in einen trailerhaft anmutenden Zusammenschnitt von Luftschlachtpanoramen und ins rasende Nacherzählen einer eh schon urlang laufenden Vorgeschichte vom …

Wie manch neuerer SciFi-Film beginnt 'Ender`s Game' recht abrupt, indem er uns in einen trailerhaft anmutenden Zusammenschnitt von Luftschlachtpanoramen und ins rasende Nacherzählen einer eh schon urlang laufenden Vorgeschichte vom Krieg gegen invasive Insekten-Aliens stürzt. Was früher ein Action-Finale gewesen wäre, fungiert nun als Auftakt (naja, warum nicht?) und etabliert das Setting; ab dann tritt die zweite aktuelle SciFi-Konvention in Kraft: Initiation eines Erlösers durch ritualisierte Schulung für bzw. durch Kampfspiele. 'Das große Spiel' (so der offenbar aus dem UfA-Fundus entlehnte Titelzusatz) ist hier nicht als 'Hunger Game' betitelt, sondern nach Teenageprotagonist Ender (Asa Butterfield, vor zwei Jahren als Scorseses Hugo Cabret im Einsatz) benannt; dessen Vorname will von Andrew abgeleitet sein, aber – glauben Sie jemandem, der mit Andreas-Ableitungen Erfahrung hat – da klingt doch mehr der nom de guerre eines Enders, Beenders, an, der, wie es im Dialog heißt, den 'war to end all wars' anführen soll. Mal sehen, was die deutsche Synchro daraus macht, es stehen ja charmant aufgeladene Vokabeln wie 'Endkampf' oder 'Endsieg' im semantischen Raum.

Lehrer und Spielleiter beim Endspiel ist nicht der Herr Papa (wie unlängst Will Smith in After Earth'), sondern Harrison Ford als strenger Colonel auf der Suche nach einem juvenilen Leader im totalen Krieg und dabei bereit, Kinder zu schinden und auf Dauer aus ihren Familien heraus in orbitale Schulungszentren zu verpflanzen. Ihn flankieren Ben Kingsley als gesichtstätowierter Flottencharismatiker mit Maori-Herkunft und andere als ethnic markierte Uniformierte.

Es wird trainiert, schikaniert und selektiert, steif in der Gamezone rumgeschwebt und gelehrig dem Zauber der Autorität gehuldigt. Teambildung, Willensbildung, Herzensbildung, Einbildung (vieles hier ist ja, siehe Titel, offenbar bloß ein Spiel, und die Raumschiffschlacht am Ende sieht – ohne allen Retrochic – aus wie Sequenzen, für die ich in den 1980ern viel Geld in den Münzeinwurf von Arcadegames gesteckt habe). Viel und Tiefes geredet wird hier sowieso (ist quasi Ehrensache!). Monitoring rules, als Tätigkeit wie auch als kommunikationstechnische Bildform.

Der Film von Gavin Hood (der schon besser inszeniert hat, etwa 2007 bei 'Rendition') basiert auf einem Post-Vietnam-Militäresoterikroman von Orson Scott Card, der, so heißt es, als Standardlektüre bei den US Marines dient. Früher einmal kam sowas auf obszön und satirisch-reflexiv ins Kino und hieß dann 'Starship Troopers' (oder auf deppert, dann hieß es 'Top Gun'); heute kommt das als normal daher, der Schnitt so indifferent wie die Raumstationsbauten. Der tongue in cheek-Drillfaschismus bietet kein provokantes – geschweige denn staunenmachendes oder zumindest infantiles – Bild mehr in Zeiten, in denen per Bootcamp als innovativer Bildungsproblemlösungsansatz und per Castingshow als konkurrenzförderndes Arbeitsmarktmodell regiert werden will. Spielen tun mittlerweile eh alle, wenn sie arbeiten, lernen oder sich zu Businessninjas weiterbilden.

Die Fünf-Minuten-vor-Schluss-Wendung hin zum plötzlichen Schuldgefühl vor der Alien-Spezies (die kaum je ins Bild kommt) ist immerhin hanebüchen. An der – gelinde gesagt – Vernichtungsentschlossenheitsmoral, die 'Ender´s Game' versprüht, ändert dieses Ende wenig; aber zumindest lässt es mit ungewohnter Offenherzigkeit an die Wand fahren, was sich zuvor 105 Minuten lang zu Marschtrommelrhythmen und Pathosstakkati dahingeschleppt hat, im Wechsel zwischen Flotten im All, Fallen im Spiel und Falten im Antlitz (zumal bei Führungspatriarch Ford). Ein Team Stronach von einem Film.

Finsterworld

(D 2013, Regie: Frauke Finsterwalder)

Soundgebilde
von Carsten Happe

Wo fängt man an bei einem Film wie „Finsterworld“, der von einem scheinbar aus der Zeit gefallenen Land erzählt und von dem Abgrund, der hinter der mühsam aufrechterhaltenen Fassade lauert? …

Wo fängt man an bei einem Film wie „Finsterworld“, der von einem scheinbar aus der Zeit gefallenen Land erzählt und von dem Abgrund, der hinter der mühsam aufrechterhaltenen Fassade lauert? Vielleicht bei der Regisseurin, die wirklich Frauke Finsterwalder heißt, und die ebenso wie ihre Filmfigur Franziska Feldenhoven, die von der einmal mehr brillant aufspielenden Sandra Hüller verkörpert wird, eigentlich Dokumentarfilme dreht und von daher den genauen Blick für Details erkennen lässt. Oder vielleicht bei Finsterwalders Ehemann Christian Kracht, den Bestsellerautor, der gemeinsam mit ihr das Drehbuch verfasst hat, und hier ebenso wie in seinen Romanen von „Faserland“ bis „Imperium“ eine so leicht erscheinende Sprachmächtigkeit in die Erzählung und die Dialoge eingebracht hat, die im deutschen Film selten zu finden sind.

Und dann, wenn das Drehbuch so funkelt und seine Doppelbödigkeit weit über die verschachtelten Episoden hinausstrahlt, dann kommen sie alle, die Granden des deutschen Films und des Theaters und veredeln die messerscharfen Sätze mit ihrer Lust am Spiel: Michael Maertens als psychotischer Fußpfleger, der alten Damen Kekse schenkt, Ronald Zehrfeld als Polizist und Furry Fan, der seine Freizeit am liebsten im Bärenkostüm verbringt, „Feuchtgebiete“-Star Carla Juri als uniformiertes Schulmädchen, die nach einem Streich ihrer Mitschüler im Ofen einer KZ-Gedenkstätte landet. „Finsterworld“ scheut nicht davor zurück, selbst bizarrste Grenzgegenden auszuloten; dahin zu gehen, wo es wirklich weh tut, und bleibt mit seinem Blick, seiner Erzählhaltung immer in einer sanft ironischen Distanz, die den Film so ungeheuer unterhaltsam macht.

So wie Kracht in „Faserland“ die Republik von Nord nach Süd durchquert hat, zieht „Finsterworld“ einen Querschnitt durch die deutsche Befindlichkeit, längs an allen Generationen entlang, weder repräsentativ noch exemplarisch, aber mit dem Gespür für den Sound des Landes, der zwischen Absurdität und Sarkasmus pendelt (Corinna Harfouch und Bernhard Schütz als grandios giftendes Ehepaar), zwischen peinlicher Betulichkeit und allzu politisch korrektem Vergangensbewältigungszwang, kurz: die Leinwand in einen Spiegel verwandelt, der absichtlich verzerrt, aber erst dadurch das wahre Gesicht offenbart. Schön grausam und grausam schön.

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Aus dem Leben eines Schrottsammlers

(F / SI 2013, Regie: Danis Tanovic)

Etwas zu nah
von Andreas Busche

Als 1999 auf den Filmfestspielen von Cannes die Filme Rosetta' von Jean-Pierre und Luc Dardenne und Bruno Dumonts Humanité' die Hauptpreise abräumten, warfen erboste Kritiker der Jury um David Cronenberg …

Als 1999 auf den Filmfestspielen von Cannes die Filme Rosetta' von Jean-Pierre und Luc Dardenne und Bruno Dumonts Humanité' die Hauptpreise abräumten, warfen erboste Kritiker der Jury um David Cronenberg angesichts der formalen und sozialen Tristesse beider Filme lautstark 'Publikumsfeindlichkeit' vor. Lange Plansequenzen, wortkarge Protagonisten, die beim verzweifelten Marschieren entlang der gesellschaftlichen Peripherie meist aus der Rückansicht gefilmt wurden, der Verzicht auf dramatischen Musikeinsatz und ein schmuckloser, fast dokumentarischer Gestus in den Alltagsbeobachtungen waren damals noch völlig ungewohnt für ein cinephiles Festivalpublikum, das sich mehr mit dem wohlfeilen, bürgerlichen Kunstkino eines Manoel de Oliveira oder eines Pedro Almodóvar, die im selben Jahr ebenfalls ausgezeichnet wurden, identifizieren konnte.

Knapp 15 Jahre später sind die filmischen Mittel, die an 'Rosetta' und 'Humanité' so vehement moniert wurden, selbst zu einem Klischee des internationalen Festivalkinobetriebs geworden. Diese Form von Cine-Miserabilismus hat inzwischen sogar ein eigenständiges Marktsegment geschaffen, das unter völlig verkehrten ökonomischen Voraussetzungen die Idee des 'Dritten Kinos' aus den sechziger Jahren wiederbelebt. Produziert werden die Filme aus den Philippinen, Saudi-Arabien oder dem Tschad heute kaum noch in den Heimatländern der Regisseure, sondern von Europa aus: für einen sich rasant ausdifferenzierenden Weltkinomarkt.

Auch 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' des bosnischen Regisseurs Danis Tanovic fällt in diese Kategorie. Tanovic reaktiviert alle Klischees des globalen Elendskinos. Auf der diesjährigen Berlinale wurden daher ganz folgerichtig seine beiden Hauptdarsteller Nazif Mujic und Senada Alimanovic für ihren selbstlosen Einsatz ausgezeichnet. Tanovic’ Film fährt allerdings eine Doppelstrategie, denn er bedient sich einerseits der dokumentarischen Manierismen des kritischen World Cinema, bricht diese Inszenierung aber mit einem Kunstgriff. Nazif und Senada, wie auch ihre Kinder Sandra und Semsa, spielen sich selbst. Vielmehr spielen die vier ihre eigene Geschichte nach, auf die Tanovic vor einigen Jahren in der Zeitung gestoßen ist. Nazif und Senada, die mit ihren Töchtern in dem Roma-Dorf Poljice leben, machten damals Schlagzeilen, weil das Ehepaar die nötige Geldsumme für eine lebensrettende Operation nicht aufbringen konnte. Senadas ungeborenes Baby ist gestorben, es musste schnellstmöglich aus ihrer Gebärmutter entfernt werden. 980 bosnische Marka sollte die Operation kosten. Kein Arzt ließ sich erweichen, sie umsonst durchzuführen. Die Medien berichteten über den Fall als Beispiel für den grassierenden Rassismus gegenüber ethnischen Minderheiten in den ehemals jugoslawischen Teilstaaten.

Tanovic, der 2001 mit seinem Debütfilm No Man’s Land' den Oscar gewonnen hat, inszeniert diese Human-Interest-Geschichte jetzt als sprödes Dokudrama mit dem Pathos eines kritischen Prekarismus, wie ihn etwa das Neue Rumänische Kino in den vergangenen Jahren bereits erfolgreich in der Formensprache des europäischen Arthaus-Kinos etabliert hat. Dass der Regisseur für 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' auf das populäre, aus dem Trash-TV bekannte Scripted-Reality-Format zurückgreift, entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie. Tanovic leitet aus diesem Besetzungscoup (bis auf die Ärzte spielen alle Protagonisten sich selbst) jedoch weder weiterführende Erkenntnisse ab, noch erkennt er in dem Vorfall eine politische Dimension. Die Unterordnung der Form unter die Geschichte stellt zunächst – ähnlich dem ungarischen Roma-Drama 'Just the Wind', das im Juli in den deutschen Kinos zu sehen war – lediglich eine Intensität her. Tanovic geht es in erster Linie um die (Nach-)Empfindung eines menschlichen Schicksals in einem Unrechtssystem. Eine Diagnose, wie in den klügeren Filmen des rumänischen Kinos, bleibt aus.

Dafür zeigt Tanovic die physischen Beschwerden dieses Lebens um so eindringlicher. Zeit wird hier mit fortschreitender Spieldauer eine immer kritischere Ressource – obwohl 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' mit einer Länge von 75 Minuten relativ kurz ausfällt. Nazifs einzige Einnahmequelle ist der Metallschrott, der im Nirgendwo des verschneiten bosnischen Hinterlandes an jeder Straßenkreuzung herumzuliegen scheint. Zwei nahezu identische Szenen verleihen der Odyssee von Nazif und Senada – mal mit, mal ohne Kinder im Schlepptau – einen erzählerischen Rahmen: Nazif und sein Nachbar Kasim ('Bruder' nennen sich hier die Menschen in einer fast altmodisch solidarischen Geste) nehmen mit Hämmern und Äxten ein Auto auseinander, bis die Einzelteile in den Lieferwagen des Freundes passen. Der Lohn der Arbeit, als sie die Teile später beim Schrotthändler abgeben, ist allerdings ernüchternd. Früh ist also klar, dass für Nazif und Senada die finanziellen Mittel für ein menschenwürdiges Leben in weiter Ferne liegen. 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' verfällt über diese Erkenntnis in eine Art Schockstarre.

Die Konsequenz, mit der Tanovic seine Geschichte umsetzt, legt die Beschränkungen dieser Ästhetik dann auch schonungslos offen. Das Bekenntnis zum 'Reenactment' als wirkungsvollem Abbildungsmodus beschreibt eher die Ohnmacht der Regie gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen. Als letzte Möglichkeit der Anteilnahme wird dem Zuschauer ein Identifikationsangebot gemacht, dem er sich nicht entziehen kann. 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' ist zu spröde, als dass es zum Elendskitsch oder gar zu der Form von magischem Realismus taugt, mit dem der US-Independentfilm seit einiger Zeit seine gesellschaftlichen Bilanzen aufzuhübschen versucht.

Tanovic ist immer dann am besten, wenn er Bewegungen inszeniert, in deren Verschleppungen sich bereits die ganze Vergeblichkeit dieses Überlebenskampfes abzeichnet. Das sind dann meist kurze, sehr filmische Vignetten innerhalb eines ästhetischen Gesamtzusammenhangs, in dem sonst Gesten dominieren. 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' ist etwas zu nah an seinen Figuren dran, um eine Wirkung über die bloße Empörung hinaus zu entfalten. Das System kommt nur selten hinter dem Einzelschicksal zum Vorschein. Zu sehen sind stattdessen Menschen, die anderen Menschen das Leben zur Hölle machen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 10/2013

Prince Avalanche

(USA 2013, Regie: David Gordon Green)

Pioniere der Landstraße, einsam
von Ulrich Kriest

Wir schreiben das Jahr 1988. Waldbrände haben die Landschaft im texanischen Nirgendwo verwüstet, viele Häuser zerstört, wenige Menschen getötet. Nichts, woran man sich erinnern müsste. Doch Alvin und Lance ziehen …

Wir schreiben das Jahr 1988. Waldbrände haben die Landschaft im texanischen Nirgendwo verwüstet, viele Häuser zerstört, wenige Menschen getötet. Nichts, woran man sich erinnern müsste. Doch Alvin und Lance ziehen los, um das Land urbar zu halten, denn die Natur schläft nicht. Mit ihrer kleinen Fahrbahnmarkierungsmaschine und nur dem Nötigsten an Ausrüstung retten die beiden mit gelben Mittelstreifen und Fahrbahnrand-Reflektorpfosten der Zivilisation Terrain. Ganz klar: Alvin und Lance sind Pioniere in der ehrwürdigen Tradition des Westerns, nur, dass ihnen Gefahr nicht länger von Indianern, sondern eher von sich selbst droht. Konflikte liegen erstaunlich früh in der Luft.

Zum Glück gibt es Hierarchien: Alvin ist der Boss, Lance wurde von ihm angestellt. Vielleicht aus Mitleid, vielleicht auch aus Eigennutz, denn Alvin ist mit Lances Schwester Madison liiert, wenngleich nicht gerade glücklich. Aber vielleicht trügt ihn, der seine romantischen Gefühle altmodisch in Briefe kleidet, auch hier die Erinnerung. Die Arbeit ist monoton – und die Straße wie ein Beatles-Song: lang und gewunden. Da bleibt hinreichend Zeit, um Regeln des Zusammenlebens auszuhandeln. Zum Beispiel das „Equal-Time-Agreement“ in Bezug auf den Kassettenrekorder, der mitgeführt wird, um die Zeit zu vertreiben. Alvin, stets etwas zugeknöpft, hört während der Arbeit eine Kassette mit einem Deutsch-Sprachkurs, um sein Deutsch zu verbessern, möglicherweise in Vorbereitung eines lange geplanten Urlaubs im alten Europa. Lance dagegen, ein leicht rebellischer Jungspund, würde lieber Indie-Rock hören, um bei der Arbeit nicht einzuschlafen. Er nutzt die Gunst des Augenblicks, um die Bänder auszutauschen. Alvin stellt ihn zur Rede. Argumente fliegen. Schließlich konstatiert Alvin, der Boss, dass das „Equal-Time-Agreement“ in Sachen „Bildung und Studium“ nicht greife, sondern nur nach Dienstschluss, wenn es um „Erholung“ gehe. Schließlich gibt sich Alvin aber versöhnlich. Mit Depeche Mode befindet er: „Enjoy the Silence!“ Was für Lance keine Lösung ist. „Prince Avalanche“ ist (auch) eine heitere Western-Komödie voller erstklassig getimter, lakonischer Dialoge.

Der Film ist aber (auch) als Zwei-Personen-Stück vor verheerter Landschaft eine melancholisch-existentialistische Parabel über Temperamente, Arbeit, Kreativität, Liebeskonzepte, Einsamkeit und Zivilisationsflucht. Als später Jünger von Albert Camus scheint der grüblerische, introvertierte und irgendwo auch sehr ängstliche Alvin sich Sisyphos sehr wohl als glücklichen Menschen vorstellen zu können, während der ganz und gar diesseitige Comic-Leser Lance es gar abwarten kann, am Wochenende in die Stadt zu fahren, um mit wechselndem Erfolg dort diversen Röcken nachzusteigen. Am besten stehen seine Chancen bei den regionalen Miss America-Vorausscheidungen, wo man als nicht mehr ganz junger Bursche gerade bei den Verliererinnen der Gewinner sein kann. Ist eine Sache der Hormone. Sagt Gentleman Lance, der seinem besten Freund auf einer Party die Freundin ausspannen wollte, es aber nur bis ins Vorzimmer der Lust schaffte, weil plötzlich der beste Freund dazukam, der jetzt nur noch Ex-Freund ist und wirklich nicht so viel trinken sollte. Die Frau mit den dicken, kurzen Beine, die Lance zuvor noch verschmäht hatte, knutschte da schon mit jemandem in der Ecke herum, den Lance noch nicht einmal kannte. Am nächsten Tag war Sonntag, da war Kirche und kein Sex. Was für ein skandalös verlorenes Wochenende!

So sitzt man während der Arbeitspausen zusammen und erzählt sich gegenseitig aus seinem Leben, mit gebotenem Ernst – und vielleicht heißt erwachsen werden ja, dass einem aufgeht, dass man es komplett verbockt hat. Am Ende wissen beide, dass Beleidigungen nur der hilflose Versuch sind, das Gegenüber auf die eigene Unsicherheit aufmerksam zu machen. Ein Paradoxon: die Beleidigung als Hilferuf.

Mit „Prince Avalanche“ kehrt der US-Filmemacher David Gordon Green nach seinen Ausflügen ins Reich der derben Komödien („Ananas Express“, „Bad Sitter“) zu seinen unabhängigen Anfängen zurück. Sein Debüt „George Washington“ (2000) gilt als einer der Schlüsselfilme des „neuen Realismus“ der US-Indie-Szene, womit Filme wie „Winter‘s Bone“, „Shotgun Stories“, „Mud“ oder „Wendy and Lucy“ gemeint sind, Filme von der Rückseite des amerikanischen Traums, die von Arbeit und Armut des „Real America“ erzählen. Green überformt den oftmals spröden Realismus dieser Filme mit surrealen Momenten und Schüben, was die forcierte Langsamkeit des Erzählens unter der Hand psychedelisch werden lässt. Dazu passt, dass ein erklärtes Vorbild von Green bei „Prince Avalanche“ der Naturmystiker Terrence Malick („To the Wonder“) war. Aus der konkreten Erfahrung im Verlauf der Dreharbeiten, dass die Natur sich den verwüsteten Raum sehr schnell zurück erobert, reagierte der Filmemacher mit ausführlichen Tier- und Naturbeobachtungen, die die Idylle in der Zerstörung feiern und dem Film einen eigenwilligen Rhythmus verleihen.

Wenige Begegnungen mit Passanten bleiben seltsam in der Schwebe, könnten auch »Gespenster« („Nosferatu“) sein. Alkohol kommt ins Spiel. Dieser Zug des Films unterstützt nicht nur die eigenbrötlerischen Anwandlungen Alvins, der mitunter als ein kauziger Wiedergänger des Einsiedlers Henry David Thoreau erscheint, sondern wird seinerseits durch den vorzüglichen Country-Folk-Psychedelia-Soundtrack von Explosions in the Sky und David Wingo unterstützt. So scheint bei mancher Begegnung am Wegesrand durchaus nicht ausgemacht, ob sich der Film nicht längst ins Reich der Phantasie verabschiedet hat. Auch das ist eine alte Western-Geschichte: wer zu lange der Stille der Natur lauscht, der wird irgendwann zur Kriegsbemalung greifen. Und zur Rohrzange als Tomahawk.

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Gold

(D 2013, Regie: Thomas Arslan)

Nackt und verrückt in Zeit und Raum
von Wolfgang Nierlin

„Das Gold zieht alle möglichen Menschen an“, sagt einmal Gustav Müller (Uwe Bohm), der als Journalist für eine New Yorker Zeitung arbeitet. Im Sommer des Jahres 1898 befindet er sich …

„Das Gold zieht alle möglichen Menschen an“, sagt einmal Gustav Müller (Uwe Bohm), der als Journalist für eine New Yorker Zeitung arbeitet. Im Sommer des Jahres 1898 befindet er sich zusammen mit einer kleinen Gruppe von Goldsuchern unter der Leitung des großspurigen „Unternehmers“ Wilhelm Laser (Peter Kurth) unterwegs nach Dawson im Norden Kanadas. Auf 1500 Kilometern führt der Weg in einer noch weitgehend unbekannten Inlandroute durch unerforschte Wildnis, weite Gebirgslandschaften und tiefe Wälder. Aber das sagt der windige Reiseleiter seinen Mitreisenden nicht. Doch die gedrückte, wenig hoffnungsfrohe Stimmung in der Gruppe, gegenseitiges Misstrauen und eine allgemeine Bangigkeit verheißen sowieso nichts Gutes. Man redet wenig; und zu den Reisestrapazen, Orientierungsproblemen und zum schlechtem Essen kommen bald noch Pannen und Unfälle dazu: Ein Planwagen geht zu Bruch, ein Mitreisender stürzt vom Pferd, ein anderes Pferd stirbt vor Erschöpfung.

Der Mythos vom schnellen Reichtum, in der Exposition von Thomas Arslans Spätwestern „Gold“ mit dem Fund eines fast Handteller großen Nuggets beschworen, lockt gegen Ende des 19. Jahrhunderts Tausende auf den beschwerlichen, oftmals tödlichen Weg zum Klondike River. Als Verheißung eines besseren Lebens erscheint das wertvolle Edelmetall auch den Suchenden, Verzweifelten und Verfolgen in Arslans Film. Unter ihnen befinden sich der Familienvater Joseph Rossmann (Lars Rudolph), der für die Reise engagierte Pferdepfleger Carl Boehmer (Marko Mandi&#263;), der zwar am meisten weiß, aber als Angestellter nichts zu sagen hat, und die junge, schon von ihrem Mann geschiedene Emily Meyer (Nina Hoss). Soziale Not, vielfältige Enttäuschung und eine deprimierende Perspektivlosigkeit nähren die Hoffnung der Goldsucher auf eine vielleicht bessere Zukunft. Doch je trügerischer diese wird, desto tragischer erscheint ihre Unternehmung; vor allem auch weil es für sie als Gefangene ihrer je persönlichen Geschichten kein Zurück in ein früheres Leben gibt.

Die Erfahrung von Raum und Zeit als wechselwirkenden Koordinaten, verstärkt noch durch die Landschaftspanoramen des Kameramanns Patrick Orth und die atmosphärischen, langgezogenen Gitarrensounds von Dylan Carlson, sind Arslans nüchtern-konzentriertem Film wesentlich. Die möglichen Unbilden des Wetters spielen darin merkwürdigerweise keine (dramatische) Rolle. Stattdessen dehnt der Regisseur das raum-zeitliche Erleben seiner Protagonisten bis zu dem Grad, an dem bange Hoffnung in pure Verzweiflung umschlägt: Ausgesetzt in einer überwältigenden Natur und verloren in der Zeit, erscheinen ihnen Vergangenheit und Zukunft gleich weit, um nicht zu sagen unerreichbar entfernt. Umstellt wird diese existentielle Verlorenheit zudem zunehmend von Zeichen des Todes, etwa von schwarzen Wolken am Abendhimmel, von morschen Ästen, die wie gefährliche Tierfratzen aussehen oder auch von einem einsamen Wanderer sowie einem verzweifelten Selbstmörder. Und auch die immer kleiner werdende Gruppe bleibt nicht verschont von Wahnsinn und Tod. Nackt und verrückt verschwindet einer der Goldsucher im Wald, ein anderer gerät in eine tödliche Bärenfalle. Dass es inmitten der Hoffnungslosigkeit auch ein kurz aufkeimendes, zärtliches Liebesglück gibt, gehört zu den ebenso schönen wie traurigen Momenten des Films.

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Sâdhu – Auf der Suche nach der Wahrheit

(CH 2012, Regie: Gaël Métroz)

Aus der Menschenferne
von Wolfgang Nierlin

Seit acht Jahren lebt Suraj Baba als Einsiedler in einer Höhle des Himalaya auf über 3000 Metern Höhe. Hier in Gangotri, wo der Ganges, Indiens heiliger Fluss, entspringt und die …

Seit acht Jahren lebt Suraj Baba als Einsiedler in einer Höhle des Himalaya auf über 3000 Metern Höhe. Hier in Gangotri, wo der Ganges, Indiens heiliger Fluss, entspringt und die Felsen ausgewaschen hat, übt sich der junge Hindu in Askese und Meditation, um sein Bewusstsein zu erweitern. Suraj Baba ist ein Sâdhu, ein „guter, heiliger Mann“ und „Wahrheitssucher“, der sich von seiner Familie getrennt hat und als Bettler ein einfaches, reines und keusches Leben führt. In seiner Grotte, beschränkt auf das Nötigste, backt und kocht er am offenen Feuer. Eine Ratte leistet ihm Gesellschaft. In anderen Szenen von Gaël Métroz‘ intimem Filmporträt „Sâdhu“ taucht der Mann mit den langen Haaren und dem üppigen Bart in das kalte Wasser des Flusses und bittet Gott um Wegweisung. Denn seine geistigen Kämpfe und inneren Zweifel sind längst nicht befriedet. Suraj Baba ist ein Fragender, der sich nach Frieden sehnt und dabei ein gewinnendes Lächeln besitzt.

„Was ist die Essenz des Lebens?“ „Wohin soll ich gehen?“ „Hat Gott überhaupt Antworten?“ Suraj Baba ist kein erleuchteter Weiser, der mit seinem Wissen in sich selbst ruht. Vielmehr stockt sein Reden immer wieder, bricht ab oder verliert sich im Vagen. „Worte sagen wenig über deine Gefühle“, erklärt er sein Schweigen, das vielleicht gerade aus der Menschenferne kommt. Stattdessen singt er in bestem Englisch, das ihn als einen Gebildeten ausweist, selbstkomponierte Folksongs und begleitet sich dazu auf der Gitarre. Métroz‘ Erzählstoff und die Möglichkeiten seiner inhaltlichen Entwicklung sind insofern mitunter etwas dürftig – ein Mangel, der auch durch die stimmungsvollen Bilder majestätischer Landschaften nur bedingt kompensiert werden kann.

In diese bricht der Sâdhu schließlich auf, um zum Ursprung von etwas Konkretem zu gehen und damit meint er die heiligen Seen Tibets. Seine Pilgerreise führt ihn allerdings zuerst zum hinduistischen Fest Kumbh Mela in Haridwar, wo Heerscharen von Pilgern sich im Ganges von ihren Sünden reinwaschen. Zwar begrüßt Suraj Baba die Abwechslung, doch er erlebt sich inmitten des außerordentlich beeindruckenden Treibens, das er als einen „großen Zirkus“ und als „Theater“ empfindet, auch als einen individualistischen Skeptiker, der nach Gott fragt und nach einem eigenen Lebensweg sucht. Dieser führt ihn schließlich auf eine lange Wanderung über Nepal bis in die hochgebirgige Grenzregion zu Tibet, was Gaël Métroz in (film)logistisch nicht immer stimmigen Reiseimpressionen verdichtet. Immer wieder heften sich dabei die Gefühle des Suchenden an die sinnlichen Erfahrungen des Lebens. Und man spürt, wenn Suraj Baba in einer der emotionalsten Szenen durch seine Zweifel hindurch vom Loslassen spricht, wie viel Selbstüberwindung ihn diese Aufgabe kostet.

Rush – Alles für den Sieg

(USA / GB / D 2013, Regie: Ron Howard)

Je lauda es wird, desto mehr niki ein
von Drehli Robnik

Das ungebremst neoliberale Rennfahrerretrodrama “Rush” Bedeutsamkeit auf Hochtouren: Autorennen als Authentiktest, die Formel 1 als Pathosformel, 1976 als (österreichisches oder warum nicht gleich globales?) Schlüsseljahr, das Spiel mit dem nahen …

Das ungebremst neoliberale Rennfahrerretrodrama “Rush”

Bedeutsamkeit auf Hochtouren: Autorennen als Authentiktest, die Formel 1 als Pathosformel, 1976 als (österreichisches oder warum nicht gleich globales?) Schlüsseljahr, das Spiel mit dem nahen Tod als Spiegel einer Lebendigeit, die uns Heutigen echt und fern anmuten soll (sagt zumindest die Retrokultur). Oder zielt das Rennfahrer-Biopic-Drama 'Rush' – zugespitzt aufs WM-Duell zwischen dem Briten James Hunt und dem Wiener Niki Lauda 1976 – gar ins Universelle? (Oder gilt solch ein auf nichts weniger als das Menschliche überhaupt bezogener Anspruch eh nur in Österreich, wo Lauda ein Nationalheiliger und allzu gern gehörter Wirtschaftsvernunftapologet ist und der Tag seines gesichtsverändernden Rennunfalls auf dem Nürburgring als geschichtsverändernder, gar dunkelster Tag der jüngeren Landesgeschichte gilt – die immerhin auch z.B. einiges an politischen Morden aufzuweisen hätte… Jedenfalls wird in Filmmagazinbesprechungen und Zeitschriftenfeuilletons hierzulande Großes dieser Art über 'Rush' behauptet, und dafür, dass meine Rezi dort ansetzt, seien alle Un-Ösis und Sonstigen um Verzeihung gebeten.)

'Rush' also als Bild, so heißt es, 'einer Konfrontation von universeller Gültigkeit'? Nun, je lauter ein solcher Allgemeingültigkeitsanspruch sich, auch filmisch, anmeldet – und mit den routiniert, als wär´s ein Red-Bull-TV-Feature, heruntergesäbelten close-ups dröhnender Motorendetails und den eingestreuten Glamrock-Hadern von 'Rush' ist das ziemlich laut (aber eh auch lauwarm) –, je mehr also der Zug ins Schlechthinige fährt und führt, desto mehr gilt es, dies ganz in seiner historischen Vermittlung zu verstehen. Sprich: Die Frage gilt dem Gegenwartsinteresse, das sich da in eine bunte Vergangenheit, sowie deren Haar- und Textilmoden zurückprojiziert. 'Why this film now?' So hat der Filmtheoretiker Thomas Elsaesser einmal diese kategorische Frage verdichtet formuliert.

Mensch kann 'immer' sagen, dass hier der Neoliberalismus, mit seinen Wert- und Stilpräferenzen, sich reflektiert im revuehaften Rückblick-Bild der Pop- und Technokulturabenteu(r)er seiner abenteuerlichen Frühphase, die von circa 1960 bis irgendwann in die späten 1980er reicht (mithin also jene Jahre und Jahrzehnte umfasst, die im heutigen Retro-Repertoire am stärksten als Referenzstile vertreten sind; schon klar, die Supercoolen zitieren heute 1940er Swing- oder Frühneunziger-Grunge-Kultur). Wie gesagt: Das lässt sich 'immer' sagen. Und was gäbe es Abgedroscheneres, als das rasende Autobusiness als Sinnbild der Businessautokratie im 'Turbokabitalismus' zu lesen. Deshalb gilt zunächst: But why 'Rush' now? Recht spezifisch bietet dieser Film anhand der Formel 1 der Mittsiebziger die triumphale Selbstabbildung eines sehr heutigen, sehr aktuellen Neoliberalismus, der das, was so allgemein 'die Krise' heißt, ziemlich intakt überstanden, Aufprallschäden veräußert (bzw. verstaatlicht), Einspruch minimiert hat – und ergo ganz einfach, schamlos dieselbe Tour weiterfahren kann. Insofern ist gerade die totale Abgedroschenheit aller dröhnenden Sinnbildlichkeit dieses Films der Schlüssel zum Spezifischen seiner Sinnbildung. Das atemberaubende Ausmaß, in dem er business as usual treibt und dies zugleich als völlig alternativlos anschreibt, ist das Besondere und besonders Unangenehme an 'Rush'.

Wenn eine öd inszenierte Runde – und es gibt auch viele nicht öd inszenierte Runden im Autorenn-Kino, angefangen beim Split Screen von John Frankenheimers 'Grand Prix' (1966) oder noch früher –, wenn also eine öd inszenierte Runde nicht weiter stört, warum nicht 74 davon? Wenn das Konfliktschema nach fünf Minuten ausgemalt ist, warum es nicht 118 weitere Minuten lang breittreten? Dieses Konfliktschema bezeichnet zum einen die Bedeutsamkeit, die dieser Film so hartnäckig, wortreich, ausführlich und bei allem Flottschnitt auch behäbig verdeutlicht, dass selbst diejenigen mitschreiben können sollen, die noch gar nicht schreiben können, zum anderen umreißt es das Ausmaß an Wahl, das der sich selbst feiernde Neoliberalismus uns läßt: Partylöwe/Betthase James Hunt versus Technokrat Niki Lauda, Leistung durch Spaß versus Leistung durch Selbstzucht, Berlusconi oder Wirtschaftskammerpräsident – kapitalmachtförmig motorisierte narzisstische Hormonstörung, nobilitiert als Ideologie tatkräftiger Durchsetzungskraft, Gewinnen also, auf beiden Seiten, mithin allseits, unausweichlich.

There is no alternative, so why not more of the same? (Parallelen zu aktuellen Wahlergebnissen verbieten sich von selbst.) Warum also nicht noch ein period-pic-Drama mit 1970er-Medienevent samt ungleichen Männlein-Rivalen und Schlussapplaus von Ron Howard, der uns ja schon etwa 'Apollo 13' und Frost/Nixon', aber auch Exemplare von Kino zum Nebenbei-Bügeln wie z.B. die DaVinci-Code'-Adaptionen beschert hat? Warum nicht Blondheit und Body von Chris Hemsworth melken, wenn er eh demnächst ein zweites Mal den Thor macht? Warum nicht abermals, nach Der Untergang' und Der Baader-Meinhof-Komplex', Alexandra Maria Lara in der Rolle des Rehauges an der Seite eines narzisstischen Power-Animals aus der jüngeren Geschichte, das allerdings diesmal – engagiert gespielt von Daniel Brühl – nicht Deutsch, sondern lupenreines Wiener(engl)isch spricht?

So wird, um über 'Rush' auch mal was Gutes zu sagen, dieses kuriose Idiom, die Kombi von Wienerisch und Englisch eben, wieder einmal in seiner ganzen filmischen Strahlkraft gewürdigt, und Daniel Brühl – der nicht von ungefähr bei Tarantino den Rennstall- und Trikotkollegen eines einschlägig prägnant parlierenden Na(r)zis(s)ten gespielt hat –, reiht sich in eine große Tradition ein, die von Lorre über Landa zu Lauda reicht.

Gravity

(USA / GB 2013, Regie: Alfonso Cuarón)

Immersionstherapie: Erdung im Airlock mit Bullock
von Drehli Robnik

Schweben, driften, schlingern, entlangschrammen, auf- und abprallen: Imposant ausgekostet wird hier ein ganzes Inventar von Kräften, die auf Masseteile (nicht zuletzt auf menschliche) wirken, wenn das außer Kraft ist, was …

Schweben, driften, schlingern, entlangschrammen, auf- und abprallen: Imposant ausgekostet wird hier ein ganzes Inventar von Kräften, die auf Masseteile (nicht zuletzt auf menschliche) wirken, wenn das außer Kraft ist, was diesem Raumfahrtdrama seinen Titel gibt: 'Gravity', die Schwerkraft.

Unter dem, was hier wirkt, ist die Fliehkraft kategorial, geht es doch in einer minimalistischen, aber im Detail äußerst wendungsreichen Echtzeiterzählung ums Fliehen, um eine hundertminütige Flucht: aus der Unlebbarkeit des Weltalls, über drei havarierte Orbitalstationen (wie sie heute in etwa so im Einsatz sind) hinweg zur Erde zurück: Hubble-Teleskop, Raumstation ISS, eine russische, zuletzt eine chinesische Station. Thematisch lässt 'Gravity' sich in eine Tradition von Filmen über realistische, in ihrer Katastrophik hautnah-existenzielle Raumfahrt-Pannen einordnen (so uns das Einordnen Spaß macht), also nix da Aliens, eher wie 'Marooned', 'Apollo 13', Teile von Mission to Mars'. Aber in seinem (syn-)ästhetischen Appeal doch sehr anders.

Nicht nur Physik, auch die Physis ist in 'Gravity' exponiert: der Leib, eingezwängt in Raumanzughaut und Technikhaus, verwundbar und intim – und zwar intim mit dem Publikum, dessen vielen Sensorien. Die IMAX-affine Inszenierung von Alfonso Cuarón, das Sounddesign zumal, betont Atmung und Selbstgespräche; sie hält sich an die Vorgabe von Stille im All (tolle Actionszenen bieten daher stummes Bersten rundum, zu dem der ansonsten leise dahinatmosphärende Trance-Score anschwillt) und hält die Erde lapidar im Hintergrund. Vielmehr: Eine Umhüllung ist er hier, der blaue, nachts schwarze, aber mit Lichtpunkten übersäte Planet – eine Bildform dessen, was der Globalismus der Story dann zunehmend breit ausspurt: Eine US-Wissenschafterin gibt sich in ihrer Not ganz dem Funkempfang eines chinesischen Wiegenliedes hin, das sie mehr einhüllt als dass sie versteht. Diverse Stationen des Wieder-Einswerdens mit dem Kreatürlichen, vom Wolfsgeheul zum Froschgehüpf, ergeben sich ebenfalls auf dem Weg.

Das Gravitätische von 'Gravity', das Forciert-Tiefe und -Reflexive, auch Reflektierte (etwa in Spiegelbildern in den Sichtfenstern der Raumhelme), es liegt in dem, was hier offenbar aufgerufen ist, zwischen kleinem Körper und großem Kosmos zu vermitteln. Was sich an Religiösem, Mystischem, Metaphysischem ergeben würde, wenn das Allzu-Zerbrechliche hier in Direktkontakt zum Umfassend-Unendlichen gesetzt wäre (ein Grenzwert, dem einmal ein Filmemacher beim psychedelischen Durchfliegen des Stargate ziemlich nah gekommen ist), das muss hier gar nicht bedacht, gefeiert oder kritisiert werden, weil ohnehin etwas Profanes, mitunter auch Abgeschmacktes dazwischentritt und reibungslose Übersetzung gewährleistet: eine – immerhin g´schmackig servierte – Fusion aus Demutsethik und Positiv-Denken-Therapie, Beten-Lernen und Nicht-Aufgeben, Zum-Trauma-Stehen und Über-sich-Hinauswachsen. Das Erlösungs- und Stilbemühen aus Cuaróns vorigem Film hallt in all der Stille nach: 'Gravity' beginnt so endlos ungeschnitten wie Children of Men' endete; zehn Minuten Plansequenz, das hat was von Tarkovskij ebenso wie von Muskelspiel.

Für letzteres ist in 'Gravity' George Clooney zuständig, ohne wirklich da zu sein. Beschränken wir uns auf die Andeutung, dass seine Erscheinung hier beschränkt ist – darauf etwa, dass sie ganz Gesicht ist, ganz schöne Stimme, darin Anflüge Clark Gable´scher Unerschütterlichkeit, Dranbleiben an der Suche nach dem russischen Vodka-Vorrat, wo doch schon Erstickungs- und Erfrierungstode nahe sind. Hat Clooney nicht vor gut zehn Jahren in einem Hollywood-Remake von Solaris' (aus der Cameron/Soderbergh-Ecke) die Hauptrolle gespielt? Ums Aktivieren von Wunschenergie geht es auch hier, sowie um deren Gendering: Clooneys Männlichkeit fungiert in 'Gravity' als eine Art Vermächtnis, motivierender Auftrag, und da kommt noch eine rufzeichenhaft markant platzierte, ostentativ unvollständige Anekdote über eine überraschende Begegnung mit einer Lesbe hinzu, aus der die Dekonstruktivist_innen und Online-Klatschonkeln unter uns wohl noch was machen werden können.

Das All ist hier ganz schweigender Raum, der Mensch vorwiegend körperlose Stimme. (Die von Ed Harris ist auch dabei, und wer sich an die romantische Kosmologie der atemluft- und folglich stimmlosen, dafür getippten Liebeskommunikation in Camerons 'The Abyss' erinnert, SMS-Melodram avant la lettre – naja, auch so ein Technikpannen-Quasi-Raumfahrt-Film, aber: 'Keep Pantyhose on!') Der Rest des extrem limitierten Humankapitals von 'Gravity' ist große Show von Sandra Bullock. Am Filmende ist sie demonstrativ wieder geerdet und aufrecht. (Naja… Darf sie das, weil sie doch immer noch mit vielen leichtgewichtigen Rollen als American Sweetheart-Girl Next Door assoziiert ist? Oder gerade deshalb umso weniger?) Bis dahin aber leitet, geleitet und gleitet, ihr langer Leib uns durch ein Inventar, durch das jeder Bild-Raum hier auch zur Motivschatzkammer des Science Fiction-Kinos gerät. Abgesehen von einem Hauch von 'Speed' (Bullock, unter fernmündlicher Anleitung überfordert und zu sarkastischen Sagern provoziert, beim Steuern eines schwer zu kontrollierenden Fortbewegungsmittels) und entfernten Anklängen an den romantischen Survivalismus von Titanic' (schon die dritte Cameron-Referenz hier), weht es hier Momente aus Barbarella' und Alien', aus 2001' und 'Dark Star' herüber – Bezüge, die der rührenden Wirkung mancher Szenen keinen Abbruch tun. Umso mehr ist 'Gravity' ein Akt filmischer Immersion in eine Anmutung von 'Für alle etwas', verrichtet aber ebendieses Geschäft ziemlich elegant.

Tore tanzt

(D 2013, Regie: Katrin Gebbe)

Tore tumbt
von Andreas Thomas

Wer kennt zufällig den Willi aus der Kindersendung „Willi will‘s wissen?“ und wer hat, wie ich, ernsthafte Probleme damit, sich das regressive, permanente Grinsen besagten Willis anzugucken? Warnung: Für Willi-Phobiker …

Wer kennt zufällig den Willi aus der Kindersendung „Willi will‘s wissen?“ und wer hat, wie ich, ernsthafte Probleme damit, sich das regressive, permanente Grinsen besagten Willis anzugucken? Warnung: Für Willi-Phobiker ist der Film „Tore tanzt“ schon mal nix, denn titelstiftender Tore hat sich offenbar dieses Grinsen bei Willi bis zur Perfektion abgeguckt, und, das passt schon: da wo Willi (wer nicht fragt, bleibt dumm) natürlich berufsmäßig immer dumm ausschauen muss, weil er auch kindgerecht dumm fragen muss (denn wer alles wissen will, muss immer dumm fragen), da will „es“ auch Tore wissen, man könnte nur sagen, mit einer ziemlich großen Einschränkung, denn er will nur eines wissen: „Welchen Plan hat Gott für mich ausgeheckt?“ Und sonst nichts.

In Sachen Dummheit schlägt Tore nun somit den guten alten Willi, denn er ist so ein mittelalterliches Relikt, das nicht mal selber denken oder fragen oder logisch ableiten kann wie Willi, sondern Zeichen, Wunder und „Böses“ braucht, damit er „Gutes tun“ kann. Tore, so in etwa 18 Jahre, ist ein sogenannter „Jesus-Freak“, Mitglied einer ziemlich ekstatischen und freakigen hamburger Jesus-Punk-Community, und der Film beginnt mit Tores Taufe in einem See, wonach Tore ganz schön ekstatisch guckt. Dann führt der Film ihn mit ein paar Jesus-Kumpels zu einem Rastplatz, wo ein Auto nicht anspringt und er mal so richtig regredierend grinsen darf, weil er nämlich in Ermangelung eines Starterkabels seinen direkten Draht nach oben demonstrieren kann („Bitte Gott, hilf mir diesen Motor zu starten. Wenn‘s nicht klappt, glaub ich trotzdem an dich!“), die Motorhaube küssen und – oh Wunder, oh Wunder: der Motor geht wieder – richtig entrückt und debil ekstatisch sein kann. Den zunächst eher nur grätzig wirkenden Autobesitzer und Familienvater lädt Tore („Ich bin der neue Messias!“, debiles Lächeln: „War ein Scherz.“) zu einer dieser Jesus-Punk-Erweckungsfeierlichkeiten ein, wo Tore dann leider weniger Pogo tanzt als zuckt, weil er nämlich einen epileptischen Anfall erleidet. Er selbst wird das Phänomen später als: „Der Heilige Geist kam über mich“ definieren, und mit dieser Art des „Über Tore Kommens“ wird der Heilige Geist im Lauf des Films nicht sparen – meist in Augenblicken, in denen Tore von der Weltlichkeit der Welt überfordert zu sein scheint.

Zunächst aber nimmt Benno, der Familienvater mit dem Auto, Tore mit zu seiner Datscha, wo Ersterer mit seiner kleinen Patchworkfamilie den Sommer in einer Kleingartenkolonie verbringt und zunächst auch nett und freundlich rüberkommt. Dass er Tore dann doch nicht erst ins Krankenhaus bringt, bloß weil der sagt, der Heilige Geist war beteiligt, dafür wollen wir noch dieses Mal die eher proletarisch-rustikale Denkweise von Benno verantwortlich machen, nicht ein typisch deutsches inkonsistentes Drehbuch.

Nicht inkonsistent, sondern immer schräger erscheint das Drehbuch aber sukzessive, wenn man die weitere Entwicklung Tores verfolgt. Hatte man zu Beginn noch darauf gehofft, dass sich der Film irgendwie und analytisch der Verwirrung des Geistes junger, fanatisierter Menschen widmet und die eine oder andere kluge Beobachtung dabei macht, bleibt einem schon langsam die Spucke weg, als Tore in seiner Christen-Punker-WG nicht damit klar kommt, dass sein Kumpel so etwas wie ein voreheliches Sexualleben praktiziert. Gerade so, als habe er statt eines nackten Girls einen Mord beobachtet, wendet er sich blass und angeekelt ab, um auszuziehen (aber nicht sich …). Auch jetzt kann man sich natürlich noch darüber freuen, wie deutlich der Film die Absurdität und die Inhumanität überkommener christlicher Dogmen und ihre psychologisch problematischen Folgen herausstellt.

Das sich einstellende Problem ist nur: Der Film hat das offenbar überhaupt nicht vor! Im Gegenteil. Tore, der wieder zu Benno und dessen Familie flüchtet, wird selbstloser und asketischer und selbstkasteiender von Filmminute zu Filmminute, und wo diese Entsagungen zu Gunsten des Heiligen Geistes noch nicht ausreichen, da hilft freundlich Benno nach, der sich parallel dazu mehr und mehr als das personifizierte Böse entpuppt, indem er dem doch auch mal nicht grinsenden, aber immer noch dumm guckenden Tore auf die Nase boxt, gegen seine Schienbeine tritt, oder dann irgendwann ihn einfach mal so in einen veritablen Brutalo-Männerpuff steckt (die sonderbarste Kreation dieses an sich schon die kleinbürgerlichen Verhältnisse fantasievoll gestaltenden Films), wo ihn plötzlich die Schrebergartenkumpels, die doch vorher wirklich noch ganz nett und normal wirkten, aber so was von gründlich in den Arsch ficken. Armer unter der Dusche von rückwärts blutender Tore, der aber nun weiß, dass Gott ihn hierher geschickt hat. Und das hat ja auch sein Gutes.

Spätestens als Tore gemerkt hat, dass Benno sich natürlich auch noch an seiner eigenen Stieftochter vergeht (und das wiederum Benno gemerkt hat), gehts Tore nun ans Eingemachte. Er wird Ziel diverser Sadismen, ein besonders subtiler ist das Zufügen einer Lebensmittelvergiftung durch Einfütterung von vergammeltem Fleisch. Und so fällt der leider kaum mehr zum Sympathieträger Taugende von einer Kotzerei in die andere, von einer Ohnmacht in die nächste, nur um sich umso lustvoller weiter peinigen zu lassen, denn Gott hat ja seinen Gefallen daran, wenn der Christenmensch dem Widersacher sämtliche Backen hinhält. Tore, nicht faul, hat derer zahlreiche.

Und Benno (irgendwie verständlich) lässt nun erst recht richtig die Sau raus, zeigt, wie richtig gemein er sein kann, indem er die Nachbarskatze in einer Regentonne ertränkt (folgerichtige Reaktion Tores: epileptischer Anfall, folgerichtige Reaktion eines deutschen Drehbuchs: Kein Hahn kräht nach, kein Nachbar fragt nach einer Katze, die nass und tot auf dem Rasen liegt), und seine Freundin und auch ihre Freundin, komischerweise, finden das auch alles ganz witzig, besonders, wenn Tore eher tot als lebendig, auf dem Boden liegt, denn dann können sie anfangen, ihn mit ihren Stöckelschuhen zu triezen und zu demütigen. Ja, auch über diese doch so harmlos wirkenden Damen, bisher eher nur des Lasters lustiger Umtrünke verdächtig, ist nun das abgrundtiefe Böse gekommen. Das gibt uns zu denken. Denn so sind sie, die Atheisten, und so waren sie schon, bevor sie Atheisten waren (also bevor Gott zu wirken anhub).

Leider sieht der Film in all dieser Figurengebung auch keinerlei Ambivalenzen, geschweige denn biografische Kausalitäten oder folgerichtige Entwicklungsschritte, er und seine unheilschwanger schwankende Kamera und seine zum Ertauben hypnotisch dräuend rumpelnde Musik schieben den Zuschauer stattdessen zu seinem altbekannten dichotomischen Endurteil: Die Menschheit ist von Natur her böse, und ihr zu helfen ist nur Gott imstande, oder Jesus, der daselbst sich opfert und zermatscht im Tümpel liegt. Es gibt nämlich noch ein dezent angedeutetes Happy End. Aber nicht für Tore, sondern für die Stiefkinder. War nämlich doch kein Scherz, dass Tore der neue Messias ist.

Ein Film mit einer Message und mit einem Messias. Wie lange haben wir darauf schon gewartet? Wie schön, dass die Problematik der Welt immer mal wieder so einfach herzuleiten ist, und überhaupt Danke für dein Opfer, Jesus/Tore! Jetzt schmeckt uns die Butter auf dem Brot wieder und die fiesen Prolls und Päderasten gehen sich alle schämen.
Schlussbemerkung: Was soll dieser Film? Das Thema Passionsgeschichte hat doch schon Lars von Trier mehrfach in seinen Filmen und besonders vielschichtig und doppelbödig und dreifach gebrochen in „Breaking the Waves“ verhandelt. Bis ins Detail kann man wiedererkennen, an welchen Stellen sich die Regisseurin von „Tore tanzt“ von diesem Film hat inspirieren lassen. Aber wo Trier die Reflexion über das Wesen der christlichen Religion(en) erfolgreich befördert hatte (da wo „Breaking the Waves“ als Film das Zeug hatte, gleichzeitig Atheisten zum Christentum zu bekehren und Christen zum Atheismus), betäubt Katrin Gebbe die letzten Zuckungen des Gehirns mit einer Totschlagargumentation, die ja doch selbst unreflektiert stumpf-christlichsten Wesens ist.

Mein Urteil: Tore, ja, gerne, aber bitte nur von Hannover 96.

Der Fall Wilhelm Reich

(AT 2012, Regie: Antonin Svoboda)

Ungepanzerte Empfindungen
von Wolfgang Nierlin

Im Wien des Jahres 1925 spricht der junge Wilhelm Reich vor Psychoanalytikern, unter denen sich auch sein Lehrer Sigmund Freud befindet, über die Funktion des Orgasmus und stößt dabei auf …

Im Wien des Jahres 1925 spricht der junge Wilhelm Reich vor Psychoanalytikern, unter denen sich auch sein Lehrer Sigmund Freud befindet, über die Funktion des Orgasmus und stößt dabei auf offene Ablehnung. Während die Kamera das Halbrund des Hörsaals nachzeichnet und damit die Reaktionen der Zuhörerschaft – alles Herren in weißen Kitteln – übermittelt, hören wir die Stimme des Reich-Darstellers Klaus Maria Brandauer aus dem Off. Diese klingt zurückhaltend, wenig bewegt, fast ausdruckslos. Im Prolog von Antonin Svobodas Film „Der Fall Wilhelm Reich“ tendiert das konkrete Setting zur Abstraktion und der genau datierte Anlass sucht das Beispielhafte. Das Biopic des österreichischen Regisseurs, der zuvor unter dem Titel „Wer hat Angst vor Wilhelm Reich?“ schon eine TV-Dokumentation über den umstrittenen Psychiater realisiert hat, besitzt unverkennbar einen Hang zur trockenen Sachlichkeit, die mitunter leider auch etwas blutleer wirkt. Dazu kommt noch, dass trotz des dokumentarischen Zugriffs vieles inhaltlich vage und nur angedeutet bleibt.

Dabei sucht Svoboda auf der wissenschaftlichen respektive ideologischen Ebene durchaus den harten Kontrast, um nicht zu sagen, die plakative Polemik. Über einen Zeitraum von dreißig Jahren, die in punktuellen Zeitsprüngen und Ortswechseln als verschachtelte Erzählung wiedergegeben werden, entfaltet der Film Reichs ganzheitliches Denken, die Prinzipien seiner Orgon-Therapie und seine Experimente mit dem sogenannten Cloudbuster. Dabei zeichnet er den als „Sexguru“, „Wunderheiler“ und „Scharlatan“ verschrieenen Forscher, der vor den Nazis fliehen musste und Mitte der fünfziger Jahre vor ein amerikanisches Gericht gezerrt wird, weniger als rebellischen Provokateur denn als liebenden Vater, klugen Wissenschaftler und zurückhaltenden Aufklärer. In seiner therapeutischen Arbeit will dieser das Fließen der als Orgon bezeichneten Lebensenergie verbessern, um Blockaden zu lösen, zu den „ungepanzerten Empfindungen“ durchzudringen und damit die Selbstheilungskräfte zu aktivieren.

Als selbstbewusster, unabhängiger Geist, dessen Wahlspruch „It can be done“ lautet, ist Reich allerdings vielfältigen Vorurteilen und Anfeindungen ausgesetzt, aber auch wissenschaftlichen Zurückweisungen, die er produktiv zu nutzen versucht. In einer Parallelhandlung zeigt Antonin Svoboda die menschenverachtenden Experimente seines Gegenspielers Dr. Cameron (Gary Lewis), der mit fragwürdigen Methoden an einem noch fragwürdigeren Konzept der Bewusstseinskotrolle arbeitet. Zur Folter ist es hier nicht mehr weit. Weitere politische Implikationen finden sich aber auch in Wilhelm Reichs kritischer Opposition zu den atomaren Tests der USA und den damit verbundenen Gefahren. So entsteht das Portrait eines visionären Humanisten, dessen mahnende Stimme und alternative Forschungen aus gesellschaftpolitischen Gründen systematisch unterdrückt wurden.

Der Schaum der Tage

(F 2013, Regie: Michel Gondry)

Gang unter Wasser auf und davon
von Wolfgang Nierlin

Die Wahrheit der Kunst hat nichts mit der Plausibilität ihrer Darstellungen oder dem Realitätsgehalt ihrer Geschichten zu tun, vielmehr erfindet die Kunst ihre eigene Logik und Sprache. So in etwa …

Die Wahrheit der Kunst hat nichts mit der Plausibilität ihrer Darstellungen oder dem Realitätsgehalt ihrer Geschichten zu tun, vielmehr erfindet die Kunst ihre eigene Logik und Sprache. So in etwa lässt sich das Zitat des französischen Schriftstellers und Jazzmusikers Boris Vian weiterspinnen, das Michel Gondry seiner ziemlich versponnenen Verfilmung von Vians zum Kultbuch avancierten Roman „Der Schaum der Tage“ („L’écume des jours“) voranstellt. Denn natürlich regiert hier wie dort die reine Phantasie, als könne man mit ihr der schnöden Welt- und Alltagsschwere entfliehen. Nichts scheint unmöglich, das Surreale ist auf ganz selbstverständliche Art und Weise Bestandteil der Realität. Entsprechend verspielt und bunt, verrückt und lustvoll überbordend sind die Einfälle in Gondrys filmischer Adaption. Seine Freude an Maschinen und den ebenso phantastischen wie tückischen Möglichkeiten ihrer Mechanik findet ihre Entsprechung in der Lust, Dingen ein Eigenleben zu schenken und Gegenstände zu verlebendigen. Besonders reizvoll und charmant ist dabei der symbiotische Austausch zwischen alten Gerätschaften und modernen Funktionsweisen.

In der vielgestaltigen Welt des wohlhabenden Junggesellen und Müßiggängers Colin (Romain Duris), der ein „Auskommen ohne Arbeit“ hat und von seinem sympathischen Koch Nicolas (Omar Sy) kulinarisch extravagant verwöhnt wird, ist es also durchaus nicht ungewöhnlich, wenn Cocktails am Piano per Tastendruck gemixt werden, sich die Türklingel wie ein Käfer in Bewegung setzt oder den Tanzenden lange Beine wachsen. Einmal spricht der große Philosoph Jean-Sol-Partre (Philippe Torreton), der von Colins Freund Chick (Gad Elmaleh) abgöttisch verehrt wird, aus einer zu einem Rednerpult umfunktionierten Pfeife heraus; ein anderes Mal schwebt Colin mit seiner Freundin Chloé (Audrey Tautou) in einer kitschigen Pappmaché-Wolke, die von einem Kran gezogen wird, über den Dächern von Paris. Kurz darauf heiraten die beiden und gleiten in einem fröhlich-schwebenden Gang unter Wasser auf und davon.

Bis hierher erzählt Michel Gondry vom puren Glück: Das Leben ist ein Fest, die Welt erstrahlt in mannigfachen Farben und die Einbildung ist dabei eine willfährige Helferin. Doch auf die Dauer wirkt das leider auch ermüdend, zumal die Figuren in Gondrys visualisiertem Ideenstrom unterzugehen drohen. Die Phantasie folgt gewissermaßen ihrer eigenen assoziativen Logik. Das ändert sich, als Chloé schwer erkrankt und der Arzt eine „merkwürdige Musik im linken Lungenflügel“ diagnostiziert, die später als Seerose identifiziert wird. Plötzlich verliert die Welt ihre Farben, die Menschen altern schneller und das Schöne verschwindet im Grau. Und ebenso plötzlich, als bedürfte es dieses Schreckens, ist man wieder wach und folgt mit einem schmerzlichen Gefühl der Tragik des Unausweichlichen.

Der Fremde am See

(F 2013, Regie: Alain Guiraudie)

Merkwürdige Liebe, tödliches Begehren
von Wolfgang Nierlin

Die große Schönheit von Alain Guiraudies Film „Der Fremde am See“ („L’inconnu du lac“) ist geradezu klassisch und zeitlos. Wie ein Kammerspiel bezieht er einen Großteil seiner Spannung aus der …

Die große Schönheit von Alain Guiraudies Film „Der Fremde am See“ („L’inconnu du lac“) ist geradezu klassisch und zeitlos. Wie ein Kammerspiel bezieht er einen Großteil seiner Spannung aus der Einheit von Ort, Zeit und Handlung, die sich an einem See in Südfrankreich abspielt. Dabei rhythmisieren wiederkehrende Einstellungen auf emblematische Schauplätze sowie wechselnde Lichtstimmungen, die von der Bildgestalterin Claire Mathon unter natürlichen Bedingungen in höchst nuancierten Abstufungen eingefangen wurden, diese starke Struktur, verleihen ihr eine gewisse Geschmeidigkeit und hauchen ihr Leben ein. Daneben sorgen Naturgeräusche für ein sehr beredtsames Off, indem sie den eng gesetzten Rahmen mit Hilfe der Phantasie des Zuschauers auf das Nicht-Gezeigte hin erweitern. Überhaupt gibt es immer wieder Andeutungen und Verweise, die die Handlung in diese Lücken führt, ohne sie auszuformulieren.

An ungefähr zehn aufeinanderfolgenden Ferientagen besucht der junge, gutaussehende Franck (Pierre Deladonchamps) besagten wildromantischen See, der ein beliebter Treffpunkt für schwule Männer ist. Das Spiel der Blicke, das Cruisen im angrenzenden Wald, offener Geschlechtsverkehr und unverhohlener Voyeurismus charakterisieren diesen Ort als eine eigengesetzliche parallele Welt, die auf Außenstehende teils unverständlich wirkt. Vor allem die Anonymität sexueller Beziehungen, ihr unverbindliches, flüchtiges und scheinbar unkompliziertes Wesen, lassen den in einem mutmaßlichen Mordfall ermittelnden Kommissar (Jérôme Chappatte) von einer „merkwürdigen Art der Liebe“ sprechen. Dabei erzeugt das Begehren ebenso ein differenziertes Gefühlsspektrum aus Liebe, Eifersucht und Angst. Alain Guiraudie durchzieht das engmaschige Gewebe seines Films mit Diskursen über das Schwulsein, umlagert damit gewissermaßen sein Sujet des Begehrens und findet dafür ebenso freizügige wie ehrliche Bilder, die, so die Absicht des Regisseurs, „das Gefühl der Liebe mit der Obszönität der Triebe verschmelzen“ lassen.

Die Grenzen des Begehrens auszuloten, indem sich das Verlangen förmlich in einen dunklen Abgrund stürzt, markiert das zentrale Interesse Guiraudies. Georges Batailles Satz, wonach die Erotik „die Bejahung des Lebens bis in den Tod hinein“ ist, diente ihm dabei als Referenzpunkt, wie der französische Filmemacher in einem Interview sagt. In seinem Film „Der Fremde am See“ lässt er seinen liebes- und sexhungrigen Protagonisten deshalb auf den attraktiven, aber mysteriös und gefährlich wirkenden Michel (Christophe Paou) treffen, dem er wider alle Vernunft und besseres Wissen verfällt. Doch neben „der Angst vor dem Ende der Lust“ reflektiert Alain Guiraudie vor allem in der Figur des verlassenen und schwermütigen Henri (Patrick D’Assumçao) auch Formen der Einsamkeit. Mit dem resignierten Familienvater freundet sich Franck auf berührende Weise an, ohne ihm helfen zu können oder ihn, verstellt durch das eigene Begehren, überhaupt zu verstehen.

Prince Avalanche

(USA 2013, Regie: David Gordon Green)

Die Fahrbahn markieren
von Andreas Busche

Zwei Männer schieben ihre Wägelchen durch eine menschenleere, desolate Landschaft. Sie sind keine Freunde, sie haben nicht einmal sonderlich viele Gemeinsamkeiten – nur einen gemeinsamen Auftrag: die Landstraße mit gelben …

Zwei Männer schieben ihre Wägelchen durch eine menschenleere, desolate Landschaft. Sie sind keine Freunde, sie haben nicht einmal sonderlich viele Gemeinsamkeiten – nur einen gemeinsamen Auftrag: die Landstraße mit gelben Mittelstreifen zu versehen. Manchmal müssen sie auch eine Straßenmarkierung in die Erde rammen.

Die Prämisse von David Gordon Greens seltsam entrücktem Buddy-Movie „Prince Avalanche“ klingt nach gepflegter, stilisierter Indie-Langeweile, aber die gähnende Monotonie legt sukzessive eine leise Selbstfindungskomödie über zwei ungleiche Männer frei, die natürlich irgendwann ihre Freundschaft entdecken – auch weil sie nichts Besseres zu tun haben, als sich selbst hoffnungslos entfremdet über das Leben zu sinnieren oder sich mit Kriegsbemalung durch die verkrüppelten Wälder zu jagen.

Alvin gibt die freudlose Arbeit Gelegenheit, über die Beziehung zu seiner Freundin Madison nachzudenken und nebenbei für den gemeinsamen Urlaub Deutsch zu lernen. Lance (Emily Hirsch) ist von der Ödnis und dem pedantischen Alvin zu Tode genervt. Seine Schwester Madison hat ihm den Sommerjob mit ihrem Freund besorgt, aber eigentlich würde er lieber Parties feiern und herumvögeln. Davon kann an diesem gottverlassenen Flecken allerdings nicht die Rede sein.

Es ist der Sommer 1988. Das texanische Hinterland hat eine Reihe von heftigen Flächenbränden erlebt, die die Gegend in eine verkrüppelte Einöde verwandelt haben. Darüber hinaus besitzen der Ort und die Zeit keine weitere Spezifität. Alvin und Lance rollen ihre Farbwagen bloß durch eine Art postapokalyptische Landschaft und haben sich dabei in den Haaren. Viel passiert nicht. Zweimal begegnet ihnen ein alter Trucker, höchst amüsante Intermezzi wie aus einem Lynch-Film. Ein anderes Mal spricht Alvin mit einer alten Frau in ihrem ausgebrannten Haus, in dem er für einen kurzen Moment die Sehnsucht nach einem erfüllten Leben nachspielt. Alvin und Lance sind weitgehend auf sich allein gestellt – eine Gefühl, das der Film auch beim Zuschauer forciert.

David Gordon Greens Selbstfindungskomödie lakonisch zu nennen, wäre eine glatte Untertreibung. „Prince Avalanche“ erinnert an eine Miniatur, die in schöner Eintönigkeit von der Einsamkeit zweier Kind-Männer erzählt. Jeder von ihnen versucht auf seine Art, das Leben in den Griff zu kriegen und befindet sich dennoch ständig auf der Flucht. Judd Apatow-Stammkraft Paul Rudd (mit adrett gestutztem Schnauzer) und Emily Hirsch (schon wieder „into the wild“) haben sich das Drehbuch, das auf einer isländischen Komödie basiert, gemeinsam ausgedacht und mit David Gordon Green, einem Erneuerer des US-Indiekinos, spontan vor der imposanten Kulisse der texanischen Waldbrände gedreht. Für Green war es nach mehreren Studio-Produktionen eine Rückkehr zu seinen Wurzeln. Die Landschaft bekommt dann aber doch noch eine allegorische Qualität. Spät im Film beginnen die ersten Blüten zu knospen, wie auch die Freundschaft zwischen Alvin und Lance. Die sanfte Melancholie des Films steht dabei im harschen Kontrast zur Landschaft, durch die ihr Selbstfindungstrip sie führt.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Scherbenpark

(D 2013, Regie: Bettina Blümner)

Stumme Steine
von Andreas Thomas

„Es braucht eine große Klappe und ein dickes Fell, wenn harte Sprüche von der Seite kommen und die eigene Mutter ermordet wird.“ Das sagt das Presseheft über die Geschichte der …

„Es braucht eine große Klappe und ein dickes Fell, wenn harte Sprüche von der Seite kommen und die eigene Mutter ermordet wird.“ Das sagt das Presseheft über die Geschichte der siebzehnjährigen Sascha (Jasna Fritzi Bauer), die im Hartz-4-Milieu als Tochter einer russischen Spätaussiedlerin aufgewachsen ist. Sie und ihre kleinen Halbgeschwister, deren Vater die gemeinsame Mutter getötet hat, leben nun bei ihrer Tante, eher schlecht als recht betreut. Aber allein schon hier ist man genötigt, das mitzudenken und emotional auszuführen, was der Spielfilm von Bettina Blümner doch oftmals eher nur behauptet und hofft, vermittelt zu haben.

Der Film „Scherbenpark“ ist der Versuch, einen sprachlich vielschichtigen und ziemlich elaborierten Roman (von Alina Bronsky) aus dem „Milieu“ dem Filmischen anzuverwandeln, das heißt, die Innenwelt der Ich-Erzählerin Sascha auf Bilder zu übertragen. Weil Bettina Blümner, die Regisseurin, sich da auskennt, wo „Scherbenpark“ spielt – sie hatte sich bereits mit dem Dokumentarfilm „Prinzessinnenbad“ intensiv und überzeugend jungen Spätaussiedlerinnen gewidmet -, konnte man hoffen, dass diese Erfahrungen im Hintergrund sich auch positiv auf die Inszenierung eines fiktiven Stoffes auswirken. Herausgekommen ist aber nur Schulfernsehen. „Scherbenpark“ ist leider nicht einmal die Hälfte der Summe zweier Teile geworden: Da das Literarische im Film nicht mehr seine tragende Rolle spielen kann, wirkt es, wenn Sascha plötzlich wohlfeil monologisiert anstatt rumzumotzen, was sie die Hälfte der Zeit ja machen muss, um zu beweisen, dass sie taff ist, deplatziert und aufgesetzt, und den genauen Beobachtungen im Buch („Zwei Meter Muskeln und Pickel, Adrenalin, Testosteron und Klebstoffdämpfe …“) können im Film einfach nicht die Kandidaten von der Schauspielschule entsprechen, die dann doch zu hochdeutsch reden, deren Ghettomütze dann doch zu modisch auf die Stirn gerutscht ist. Überhaupt hat man diese Typen, die sich in diesen Betonbuchten in der Nähe des Spielplatzes herumdrücken, schon in mindestens zwanzig vorherigen Milieustudien (von denen 18 Fernsehformat waren) kennengelernt.

Klischee hin oder her, das Hauptproblem von „Scherbenpark“ aber ist, dass kein Problem wirklich erkennbar ist. Sascha kommt 99%ig ungeschoren an den Betonbuchten vorbei, weil die Jungs dann ja doch eher aus dem Otto-Katalog stammen als aus prekären Verhältnissen, und dass ihre kleinen Geschwister nun besonders unter ihrer Tante leiden müssten, bleibt unsichtbar, weil selbige dann doch zu nett und eine etwaige materielle Notlage nicht erkennbar ist. Trotzdem geriert sich Sascha unentwegt hochbetroffen und tut so, als sei alles überhaupt nicht mehr auszuhalten. Das Einzige, was hier noch ans „Ghetto“ und seine Problemgemengelage erinnert, sind die stummen Steine der Hochhäuser und der Beton der Betonbuchten. Man sehnt sich regelrecht nach den authentisch bevölkerten schmutzigen Plattenbauten von „Prinzessinnenbad“.

Dass es dem Fortgang der Geschichte dann auch noch an Wahrscheinlichkeit gebricht, macht die Sache nicht leichter und den Film nicht besser. In einem Zeitungsinterview bereut der einsitzende Stiefvater und Muttermörder Vadim seine Tat zutiefst, was die Film-Sascha, (als kausale Deskription scheint hier wieder einmal die literarische Sascha zu fehlen), die sich geschworen hat, selbigen später umzubringen, so auf die Palme treibt, dass sie spontan die verantwortliche Journalistin zur Rede stellt (stellen kann: Wer bitte darf denn mal eben so in eine Zeitungsredaktion hineinschneien, um auf den Putz zu hauen?). Die ist nicht nur sofort vor Ort, sondern traut sich vor lauter Schuldgefühlen überhaupt nichts zu ihrer Rechtfertigung zu sagen und der zuständige Redakteur (Ulrich Noethen) bereut zutiefst, nicht ohne Sascha jedwede Hilfe anzubieten.

Sascha, nicht faul, aber plötzlich eigentlich nicht mehr am Schicksal ihrer kleinen Halbgeschwister interessiert, mietet sich erst mal beim Redakteur und seinem (ihr ungefähr gleichaltrigen) Sohn Felix (Max Hegewald) ein. Beide, so wirkt es, haben nur auf sie gewartet. Sie haben viel Zeit (Noethen), freundliche Umgangsformen und ein (ziemlich unverhohlenes sexuelles) Interesse (Hegewald) an Sascha, vor allem aber ein bildungsbürgerliches Gegenmilieu für sie parat und für die Entschleunigung von „Scherbenpark“,- die es gebraucht hätte, wenn der Film vorher zu viel Unterschichten-Drive gehabt hätte. So aber fällt die Spannung gänzlich auf den Nullpunkt, und man fragt sich, wieso der Film sich minutenlang mit der Frage beschäftigt, ob Sascha nun zu Felix unter die Decke krabbelt oder nicht und wenn ja, ob mit oder ohne T-Shirt? Weil er nun noch Dr. Sommer-Niveau erreicht hat?

„Scherbenpark“ schafft es leider nicht, hier eher disparat wirkende Stückchen und Szenen aus dem Roman zu einem Ganzen zu verwandeln und vor allem scheitert der Film daran, einen erzählerischen Bogen zu vermitteln, der wiederum sich hätte in einem Spannungsbogen zeigen können. Doch Sascha bleibt zu fremd, ihr Milieu bleibt zu harmlos, ihre Probleme entweder zu übergroß oder zu klein, um spürbar zu werden.

Empire of War – Der letzte Widerstand

(CN 2012, Regie: Feng Xiaogang)

Auf der Flucht
von Michael Schleeh

Feng Xiaogang ist der Mann fürs große Kino in China. Schon Aftershock' konnte und wollte mit seinen opulent angelegten epischen Bildern der Zerstörung überwältigen und zugleich mit Hilfe einer parallelen …

Feng Xiaogang ist der Mann fürs große Kino in China. Schon Aftershock' konnte und wollte mit seinen opulent angelegten epischen Bildern der Zerstörung überwältigen und zugleich mit Hilfe einer parallelen Liebegeschichte das Herz des Zuschauers rühren. Die menschlichen Bedürfnisse treten indes in 'Back to 1942', so der internationale Titel, unter dem dieser Historienfilm gemeinhin geläufig ist, in den Hintergrund. Zwangsläufig, freilich, denn hier haben wir es mit einem recht eindringlichen Flüchtlingsdrama zu tun, in dem sich Millionen Menschen zu Zeiten des zweiten Sino-Japanischen Krieges in der Provinz Henan aufgrund einer sich rapide ausweitenden Hungersnot in Bewegung setzen und gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Doch der Hunger holt sie ein, bald sind Nahrungsmittel die einzige Währung, die zählt. Für Gefühle ist in einem solchen Leben kein Platz.

Genauer: kaum mehr. Erzählt wird die Geschichte zweier chinesischer Familien im Winter ’42, die eines Großgrundbesitzers (Zhang Guoli) und die seines Angestellten, die, all ihres Hab und Guts entledigt und in Lumpen gehüllt, nur noch um das Überleben kämpfen. Ihre Gemeinschaft hält sie eine gewisse Zeit noch zusammen, doch bald beginnen die Alten und Schwachen zu sterben. Völlig entkräftet macht man sich zu der Provinz Shaanxi auf und hofft auf Besserung – vor allem da Chiang Kai-Shek Henan aufgegeben hatte und bereit war, den Japanern zu überlassen. Feng Xiaogang findet eindrückliche Bilder für das menschliche Schicksal, und so stellt sich immer mehr die Frage, ob ein Überleben überhaupt sinnvoll ist. Wofür durchhalten, wenn alle anderen tot sind? Ohne Tränendrüsendruck, ja beinahe schon nüchtern werden die Ereignisse gezeigt, ebenso die wenigen Momente, in denen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft wieder neue Kraft gewinnt. Nicht, dass Feng Xiaogang hier irgendetwas neu erfände, das gewiss nicht, aber 'Empire of War' ist ein solider Blockbuster ohne allzuviel Schmalz, dem die Sensationslust nur dann durchgeht, wenn er Action ins Bild rückt.

Da ist es schon bedenklich, wenn Koch Media durch die krass reißerische Titeländerung aus einem Flüchtlingsdrama einen Kriegsfilm macht. Vor allem, da dieser Krieg lange Zeit nicht mehr als Folie im Hintergrund ist. Abgesehen davon, dass kein Mensch, der sich für den Film interessieren könnte (vorgeschlagen für den Golden Rooster Award in mehreren Kategorien), ihn auf diese Weise wiedererkennen wird. Sicherlich gibt es die eine oder andere Kampfhandlung, Actionhöhepunkte des Films, in denen japanische Fliegerstaffeln den Flüchtlingszug bombardieren – doch für die Flüchtlinge, die im Zentrum des Films stehen, an denen auch die Kamera immer ganz nah dran ist (einmal ein POV eines um sich selbst rotierenden, weggebombten Pferdes), ist der Krieg nur eine weitere Prüfung des Schicksals. Gleichermaßen bedenklich ist es dann, den aus dem Westen eingekauften Schauspieler Adrien Brody, der hier eine Nebenrolle als Reporter des Time-Magazines spielt (wie Tim Roth eine Rolle als Missionar), auf das Cover zu packen. Aus Verkaufsgründen ist das in gewisser Weise verständlich, wird aber dem Film in keiner Weise gerecht.

Hervorzuheben ist die wirklich hervorragende Bildqualität der Blu-ray. Neben der Synchronfassung kann der Originalton mit zuschaltbaren Untertiteln gewählt werden. Ansonsten gibt es außer dem Originaltrailer und weiterem Werbezubehör in eigener Sache keinerlei Extras.

Hasta la vista, Sister!

(CUB / GB 2012, Regie: John Roberts)

Zauber und Entzauberung
von Wolfgang Nierlin

Rosa (Eva Birthistle) und Ailie (Charity Wakefield) sind zwei ungleiche Schwestern aus dem Schablonenbuch der sogenannten Feelgoodkomödie: Während die eine als politische Aktivistin gegen die Konsumgesellschaft demonstriert, gefällt sich die …

Rosa (Eva Birthistle) und Ailie (Charity Wakefield) sind zwei ungleiche Schwestern aus dem Schablonenbuch der sogenannten Feelgoodkomödie: Während die eine als politische Aktivistin gegen die Konsumgesellschaft demonstriert, gefällt sich die andere in der Rolle des durchgestylten Modepüppchens. Aber natürlich benutzt John Roberts in seinem Film „Hasta la vista, sister!“ die Klischees vor allem dazu, sie gegen den ersten Anschein umzudrehen. Dass damit auch eine Denunziation der jeweils zugeschriebenen Rolle einhergeht, gehört zum perfiden Prinzip einer solchen Dramaturgie. In Roberts Film trifft das in erster Linie Rosa, die erkennen muss, dass sie arrogant, selbstgerecht und politisch naiv ist und überdies mit einem unzeitgemäßen Welt– und falschen Familienbild herumläuft: Ein Schelm, wer dahinter eine ideologische Erziehungsmaßnahem vermutet.

Die Entzauberung, die dieser moralinsaure Lernprozess vorschreibt, bezieht sich in „Hasta la vista, sister!“ vor allem auf die kubanische Revolution und ihre Errungenschaften. Denn natürlich ist das postrevolutionäre, realsozialistische Leben auf der Karibikinsel nicht so, wie sich das die Besucher aus Schottland vorstellen. Was den Regisseur allerdings nicht davon abhält, die beliebten exotischen Schauwerte, flankiert von stimmungsvoller Musik, zu strapazieren. Doch auch die Schattenseiten, also beispielsweise Armut, Betrug und politische Gleichgültigkeit, finden ins Bild. Jedenfalls bekommen das die beiden Schwestern, die mit der Asche ihres verstorbenen Vaters, eines früheren Aufbauhelfers der Revolution, und ihr Kumpel Conway (Bryan Dick) auf Kuba bald zu spüren.

Bevor sie die Asche am symbolträchtigen Ort im Gedenken an die Revolution und die Eltern verstreuen können, müssen sie deshalb erst einmal einige verwickelte und nicht ganz ungefährliche Abenteuer bestehen. Dabei geht es dem Regisseur nicht nur um die Entlarvung von Revolutionsmythen, sondern er lüftet auch ein Familiengeheimnis. Doch da nach den Regeln des Wohlfühlkinos die Entzauberung den Zauber nicht überwiegen soll, darf sich die verhuschte Rosa in den schönen Reiseführer und Balletttänzer Tomas (Carlos Acosta) verlieben. Auch diese Episode ist letztlich als Lektion zu verstehen, die John Roberts mit den genretypischen, leicht nervenden Retardationen erzählt. „Rosa muss lernen!“, lautet die Botschaft, die hier etwas vordergründig gegen Vorurteile und allzu einfach gestrickte Weltbilder in Anschlag gebracht wird. Doch auch für alle anderen Zuschauer hat der Film eine Lehre parat: „Wenn ich zu viel über die Vergangenheit nachdenke, verpasse ich, was jetzt ist.“ Aussprechen darf sie Tomas, und wer will, kann darin einen nur dürftig verkleideten Geschichtsrelativismus erkennen.

Das Mädchen Wadjda

(SA 2012, Regie: Haifaa Al-Mansour)

Hinter dem Schleier der Anpassung
von Wolfgang Nierlin

Wadjda (Waad Mohammed) ist anders als die anderen. Das 10-jährige saudi-arabische Mädchen trägt nämlich Turnschuhe, hört Popmusik und verkauft selbstgebastelte Armbänder. Während sie im Schulunterricht eher durch Schweigen auffällt, gibt …

Wadjda (Waad Mohammed) ist anders als die anderen. Das 10-jährige saudi-arabische Mädchen trägt nämlich Turnschuhe, hört Popmusik und verkauft selbstgebastelte Armbänder. Während sie im Schulunterricht eher durch Schweigen auffällt, gibt sie sich zu Hause bei der Mutter (Reem Abdullah) umso eloquenter und selbstbewusster. Tatsächlich ist die Titelheldin aus Haifaa Al Mansours Film „das Mädchen Wadjda“, dem ersten Kinofilm einer Regisseurin aus Saudi-Arabien, auch ganz anders, als wir uns das von einem jungen Mädchen dieses sehr religiös geprägten Landes vorstellen. Denn sie zeigt sich nicht nur aufgeweckt und vorwitzig, sondern auch aufmüpfig und kämpferisch. Wadjda lässt sich nicht alles gefallen und widerspricht, wenn es sein muss. Weil das in der restriktiven, autoritär geführten Gesellschaft, in der sie lebt, aber nicht geduldet wird, muss ihr aufsässiger Geist unter dem Schleier der Anpassung immer wieder Tricks und Kniffe anwenden, um seine Ziele zu erreichen.

Der Erwerb eines Fahrrads, das sie sich bei einem Spielwarenhändler ausgeguckt hat, besitzt diesbezüglich höchste Priorität. Ihrem Kameraden Abdullah, der sie eingangs ärgert und mit seinem Drahtesel abhängt, will sie damit Konkurrenz machen. Doch es fehlt ihr zum Kauf nicht nur das Geld, sondern in dem islamischen Land untersagt ein ungeschriebenes Gesetz den Mädchen, überhaupt Fahrrad zu fahren. Diese Einschränkung des kindlichen Bewegungsdranges spiegelt sich auch im Fahrverbot für Frauen, die für ihre Wege zur Arbeit oder zum Einkaufen auf Fahrer angewiesen sind. In einer der vielen Episoden und Hintergrundgeschichten, die unaufdringlich und genau solche wichtigen Details des Alltagslebens erläutern, müssen sich Mutter und Tochter mit dem Machogehabe und den Machtspielen ihres ausländischen, offensichtlich illegal arbeitenden Chauffeurs auseinandersetzen.

Die komplexe, wohltuend unaufgeregte und weitgehend ideologiefreie Darstellung gesellschaftlicher Verhältnisse gehört zu den Stärken des Films. Die Spannungen zwischen individuellem und öffentlichem Leben, die in einer reglementierten Gesellschaft besonders brisant sind, betreffen hier zwar Menschen beiderlei Geschlechts; Haifa Al Mansour akzentuiert aber ganz klar die weibliche Perspektive. Vor allem die parallele Welt der Frauen, die sich zu Hause hinter verschlossenen Türen völlig ungezwungen und unerwartet frei entfaltet, erlaubt dem westlichen Zuschauer ungewohnte Einblicke in einen weitgehend verborgenen Alltag. Darin spielen Kinderlosigkeit, die Verpflichtung auf einen männlichen Stammhalter und die damit verbundene, durchaus unfreiwillige Suche des Vaters nach einer Zweitfrau eine wichtige Rolle. Geschickt und mit einfachen Mitteln erzählt, verknüpft die Regisseurin die von Autoritäten, strengen Vorschriften und gesellschaftlichen Hindernissen umstellten Geschichten von Mutter und Tochter. Und sie entdeckt auf humorvolle Weise in ihnen nicht nur eine findige Kraft des Wollens, sondern auch eine tiefe zwischenmenschliche Verbundenheit, die sich mit einem Gefühl fast utopischer Leichtigkeit über die Schwere des Alltags erhebt.

Ummah – Unter Freunden

(D 2013, Regie: Cüneyt Kaya)

Einmal mit alles, bitte!
von Ulrich Kriest

Nach einem blutig verlaufenen Undercover-Einsatz in der Neo-Nazi-Szene muss Daniel Klemm erst einmal eine Weile von der Bildfläche verschwinden, weil sein Verbindungsmann beim Verfassungsschutz dabei wohl nicht ganz einwandfrei vorgegangen …

Nach einem blutig verlaufenen Undercover-Einsatz in der Neo-Nazi-Szene muss Daniel Klemm erst einmal eine Weile von der Bildfläche verschwinden, weil sein Verbindungsmann beim Verfassungsschutz dabei wohl nicht ganz einwandfrei vorgegangen ist. Kennt man ja! Daniel wird erst einmal in einer heruntergekommenen Wohnung im Berliner Problemkiez Neukölln »geparkt« und damit zugleich – Daniel ist ja schließlich nicht nolens volens fünf Jahre unter Neo-Nazis als verdeckter Ermittler tätig gewesen – isoliert. Daniel hadert mit seinem Schicksal, nimmt Drogen, lässt sich gehen bis zu dem Punkt, wo es tiefer nicht mehr geht. Warum?

Der Film hält die Figur auf Distanz, psychologisiert nicht. Und dann begibt sich Daniel doch irgendwann blinzelnd vor die Haustür, misstrauisch und widerstrebend, wo die „Ummah“, die islamische Gemeinschaft, ihn erwartet. Oder auch nicht erwartet! Jedenfalls nicht abweist, trotz der eindeutigen Tattoos. Jeder, heißt es, habe seine Geschichte, trotzdem gehe es weiter.

Der Filmemacher Cüneyt Kaya hat davon gesprochen, dass er mit seinem Spielfilmdebüt einen realistischen, kritischen und dabei vor allem auch humorvollen Blick auf das Milieu habe werfen wollen. Mal etwas anderes zeigen, als die üblichen Klischees von der Parallelgesellschaft und der Kleinkriminalität. Das ist ein anspruchsvolles Vorhaben, zumal, wenn man die Räuberpistole noch hinzudenkt, die „Ummah – Unter Freunden“ den Handlungsrahmen liefert. Es geht hier also um education, um interkulturelle Aufklärung, die im besten Sinne unterhaltsam vermittelt werden soll.

Etwas hölzern, aber sehenswert und getragen von drei wirklich hoch sympathischen Schauspielern hangelt sich der Film in der Folge von Szene zu Szene, von These zu These, von Illustration zu Illustration. Man hört das Drehbuch, aber nicht nur. Sehr gelungen ist etwa die Sequenz, in der Daniel im kleinen Elektroladen vom sehr entspannt-schlitzohrigen Abbas einen billigen Gebrauchtfernseher aufgeschwatzt bekommt. Mit extra Bonus-Garantie, weil Abbas Daniel sympathisch findet. Gemeinsam mit dem etwas weniger entspannten, aber gleichfalls sehr zugänglichen Jamal bildet man nun ein Trio, das sich zügig in Richtung Freundschaft entwickelt.

Viele Szenen geraten nun exemplarisch und erzählen von freundlicher Neugier. Dass Daniel zur islamischen Hochzeit Alkohol als Geschenk mitbringt, ist ein Affront aus Unwissenheit und sollte toleriert werden. Dass Abbas und Jamal nach der Feier von deutschen Polizisten schikaniert werden, ist ein rassistischer Übergriff. Man diskutiert divergierende Lebenseinstellungen und Haltungen zur Verschleierung der Frau. Pro und contra – Daniel staunt, er muss wirklich sehr lange undercover gewesen sein.

Man hockt herum, chillt. Dann kehrt unvermittelt die Realität zurück ins Verständigungsmärchen: Aufgrund einer Korruptionsaffäre braucht der Verfassungsschutz einen schnellen Fahndungserfolg; Daniel soll seine neuen Freunde ans Messer liefern. Stattdessen sucht er mutig mit seiner Geschichte die Öffentlichkeit. Wozu kennt man schon die Moderatorin vom Lokalfernsehen?

Wie gesagt: eine echte Räuberpistole mit billigen „Tatort“-Tendenzen. Hätte man vor dem NSU-Terror, dem NSA-Skandal und dem Fall Snowden diesem Film sicher angekreidet. Am Schluss hatte sich Kaya für ein spektakuläres Genre-Finale entschieden, das der schönen, dominanten Lakonie seines Films entgegenläuft. Hat man gemerkt. Der Schluss wurde in der Post-Produktion noch einmal geändert. Nun haben die drei außerordentlich einnehmenden Protagonisten mit ihrem feinen Gespür für Timing in den Dialogen das letzte Wort. Beim Boule im Park. Und die Genickschuss-Profis vom Verfassungsschutz gucken in die Röhre. Kein guter, aber ein sympathischer Film. Und Frederick Lau, Kida Khodr und Burak Yigit sind das Eintrittsgeld allemal wert.

Zum Geburtstag

(D / F 2013, Regie: Denis Dercourt)

Schatten der Vergangenheit
von Wolfgang Nierlin

Auch wenn die eingeblendeten Zeit- und Ortsangaben etwas anderes suggerieren, ist Denis Dercourts kurzweiliger Psychothriller „Zum Geburtstag“ kein realistischer Film. Eher ähnelt er einer abgezirkelten Versuchsanordnung über die wiederkehrenden Schatten …

Auch wenn die eingeblendeten Zeit- und Ortsangaben etwas anderes suggerieren, ist Denis Dercourts kurzweiliger Psychothriller „Zum Geburtstag“ kein realistischer Film. Eher ähnelt er einer abgezirkelten Versuchsanordnung über die wiederkehrenden Schatten der Vergangenheit oder einer Parabel über Schuld und Sühne. So legt der französische Regisseur in seiner mysteriös verzweigten Rachegeschichte immer wieder falsche Fährten aus und belässt vieles im Undeutlichen. Daneben erzeugt er mit Andeutungen und Symbolen, starren Blicken und somnambul agierenden Figuren ein Klima dunkler, vermeintlich vom Bösen durchdrungener Ahnungen.

„Ostdeutschland, Mitte der achtziger Jahre“: Der 16-jährige Paul spannt seinem Schulfreund Georg mit einem gefälschten Brief die Freundin Anna aus. Das merkwürdige, überkonstruierte Arrangement gipfelt in einem ominösen Pakt und einer politischen Denunziation. Beides holt die beiden Protagonisten dreißig Jahre später im Westen der Republik wieder ein. Im gutsituierten Leben Pauls (Mark Waschke) als erfolgreichem Investmentbanker, der mittlerweile mit Anna (Marie Bäumer) verheiratet ist und mit zwei erwachsenen Kindern eine fast heile Familie bildet, erstrahlt alles in komfortabler Helligkeit. Bis Georg (Sylvester Groth) als sein neuer Chef mit finsterem Blick, nahezu dämonischer Aura und seiner irritierend unheilvoll wirkenden Freundin Yvonne (Sophie Rois) auf der Szene erscheint, die zu großen Teilen bald in ein düsteres Jagdschloss verlegt wird.

So dringt die Geschichte in die Gegenwart, der Osten in den Westen, das Dunkle ins Helle ein, um jenen Pakt einzulösen, dessen Tragweite sich erst nach und nach entfaltet. Handlungsmuster und Motive wiederholen sich im ebenso kühlen wie künstlich-steifen Kosmos von Denis Dercourts irgendwie blutleerem, von unterdrückter Spannung zehrendem Film. „Alles wird irgendwann wieder gut“, heißt es einmal. Doch das darf bezweifelt werden, denn Dercourt favorisiert die Beunruhigung, entlässt seinen Film aber leider ins Nebulöse.

Prakti.com

(USA 2013, Regie: Shawn Levy)

Total vergoogelt
von Louis Vazquez

Jetzt ist es offenbar so weit: Hollywood ist nach den vielen Sommerflops so klamm, dass es wie so viele kleine, ambitionierte Produktionsstätten, auch Imagefilme ins Portfolio nehmen muss – „Prakti.com“ …

Jetzt ist es offenbar so weit: Hollywood ist nach den vielen Sommerflops so klamm, dass es wie so viele kleine, ambitionierte Produktionsstätten, auch Imagefilme ins Portfolio nehmen muss – „Prakti.com“ zum Beispiel, der im Original „The Internship“ heißt.

Billy (Vince Vaughn) und Nick (Owen Wilson), Vertriebsmitarbeiter eines Unternehmens für Edel-Armbanduhren, werden gefeuert, weil das Geschäft beschissen läuft und die Firma pleite geht. Eine Uhr zum Abschied und Good-Bye. Beide sind um die 40 und haben nun natürlich nicht mehr viel zu lachen. Weil man sich aber zumindest in diesem von Shawn Levy inszenierten Film (nach einer Idee von Hauptdarsteller und Co-Produzent Vince Vaughn) noch auf den American Dream verlassen kann, ergattern Billy und Nick bald Praktikumsplätze bei Google und wollen nun ihre Chance ergreifen, denn schließlich ist dieses Internetdings die Zukunft. Das Praktikum gleicht indes einem verlängerten Assessment Center: In Teams treten die hoch motivierten Job-Aspiranten gegeneinander an und müssen zum Beispiel eine erfolgreiche App entwickeln oder in einem Harry-Potter-inspirierten Real-Life-Quidditch sportlich gegeneinander antreten. Nur die Mitglieder der erfolgreichsten Gruppe werden nach Ablauf des Praktikums fest angestellt.

Die beiden angeschossenen alten Hasen müssen sich mit jungen Elitestudenten messen und machen ihre mangelnde technische Kompetenz natürlich mit ihrer Erfahrung, ihren Softskills und ihrer Fähigkeit, um die Ecke zu denken, wett. Alle lernen etwas voneinander: die Alten die Technik, die Jungen, sich auch mal im Stripclub locker zu machen. Einer jungen Kollegin erklärt Billy später noch, dass es völlig in Ordnung ist, Jungfrau zu sein. Am Ende wird alles gut. Nick erweicht sogar das Herz der eiskalten Google-Managerin Dana – Obacht, Wortwitz! – Sims (Rose Byrne), obwohl Beziehungen zwischen Mitarbeitern eigentlich streng verboten sind – der Gipfel der Subversion.

Arbeitslos, über 40 und auf den Jobmarkt gezwungen – keine unspannende Grundidee, aus der man einiges hätte machen können, eine Komödie zum Beispiel. Schließlich hätte die nicht ganz freiwillige, aber hoch motivierte Selbsterniedrigung für ein obskures Karriereversprechen (Call Center, anyone?) ja auch das Potenzial zu schwarzem Humor, wenn man nur die zugrunde liegende Perversion hätte entlarven wollen. Doch Pointen sehen hier ungefähr so aus: Weil Google-Mitarbeiter sich in der Kantine kostenlos verpflegen dürfen, bestellt Billy ganz viel Süßkram – fertig.

„Prakti.com“ gerät zum zweistündigen Google-Werbeclip und strickt ungebrochen am längst fadenscheinigen Mythos des Unternehmens. Durch harte Arbeit und viel „Googliness“ wird man eben auch im Alter noch vom „Noogler“ zum „Googler“, da wird sogar die Marketing-Sprache einfach übernommen. Dass die Vorgesetzten hart durchgreifen, dient doch nur dem Ziel, das Beste aus allen herauszukitzeln, weil man bei Google nicht weniger will als – jetzt festhalten – den Menschen dienen. Wortwörtlich. Im Herzen nämlich ist die schrullige Google-Familie gut. Steht ja auch noch mal im Presseheft: „Billy und Nick wählen weise. Im Januar 2013 war im Fortune Magazine zu lesen, dass Google der beste Arbeitsplatz der Welt sei – und das zum dritten Mal seit 2007. Google hat sich einen nun seit Jahren bestehenden Ruf als cooler und witziger Arbeitsplatz erarbeitet. Die Angestellten lieben die Unternehmenskultur, die Führungsgrundsätze sowie die Zusatzleistungen.“

Damit das nun auch all die verzweifelten Arbeitssuchenden über 40 wissen und daraus neue Kraft schöpfen, haben Vaughn und Kollegen uns „Prakti.com“ beschert, einen Film, der laut IMDB 58 Millionen Dollar gekostet haben soll. In diesem Zusammenhang noch ein schöner Gag aus dem Forum der Datenbank: Wahrscheinlich waren die Markenrechte so teuer.

Da geht noch was

(D 2013, Regie: Holger Haase)

Verpacktes Familienglück
von Wolfgang Nierlin

Das Idealbild seiner Traumfamilie kommt aus der Waschmittelwerbung und ist mit der Liedzeile „Siehst du die Blumen blühen?“ unterlegt. So naiv und kitschig stellt sich der Off-Erzähler Conrad Schuster (Florian …

Das Idealbild seiner Traumfamilie kommt aus der Waschmittelwerbung und ist mit der Liedzeile „Siehst du die Blumen blühen?“ unterlegt. So naiv und kitschig stellt sich der Off-Erzähler Conrad Schuster (Florian David Fitz) noch in der Rückschau eine bessere Kindheit vor, dass er als Erwachsener tatkräftig an einer heilen Welt bastelt. Das geplante Eigenheim in einem Naturschutzgebiet am See hat schon ein Fundament, seine attraktive Frau Tamara (Thekla Reuten) verdient mindestens genauso gut wie er und der 13-jährige Sohn Jonas (Marius Haas) ist im Elite-Internat Salem untergebracht. Konsumfreude, körperliche Fitness und gesunde Ernährung komplettieren das kapitalistische Wohlstandsglück des Flüsterschubladenherstellers. Und man ahnt bereits hier, dass der Verpackung dieses Lebens möglicherweise der Inhalt fehlt und hinter vorgespiegeltem Glück gähnende Leere herrscht.

Die Frage nach dem richtigen Leben hinter der falschen Hülle ist in Holger Haases Komödie „Da geht noch was“ untrennbar an Familienbeziehungen geknüpft. Weil also Conrad in seiner Kindheit unter seinen politisch korrekten Eltern gelitten hat, ist sein forcierter Lebensstil als plakative Abgrenzung zu verstehen. Die neuerliche Konfrontation mit seinem Vater Carl (Henry Hübchen), einem alten, grummelnden Gewerkschafter, der sich von Dosenbier und Baumkuchen ernährt, sucht den Witz vornehmlich in der zugespitzten Gegensätzlichkeit ihrer Charaktere. In der Logik des Films und seiner verzögerungstaktischen Dramaturgie der Stolperfallen müssen sich diese durch Streitigkeiten, verbale Gehässigkeiten und emotionale Rückschläge läutern und irgendwann einander annähern. Weil Mutter Helene (Leslie Malton) ihren Gatten nach vierzig Ehejahren verlassen hat, sind die drei „Männer“ aus drei Generationen mit ihren Reibereien, Kämpfen und Ausrastern also zunächst einmal unter sich.

Da will Conrad bei seinem Vater „Hilfe zur Selbsthilfe“ leisten, während dieser wiederum bei der Erziehung seines Enkelkindes von „Pionierarbeit“ spricht. Zwischen „Carl bleibt Carl!“ und „Sei dein neues Du!“ liegen Dialogwitz, Figurenzeichnung und inhaltliche Entwicklung dieses Films, der seinen (schauspielerisch mitunter überzeichneten) Humor mal originell und deftig, dann wieder müde und mau verströmt und am Ende überflüssigerweise leider noch in den Klamauk abrutscht. Dabei schlägt er, vor allem bezogen auf das Schicksal der Mutter, durchaus auch nachdenklichere Töne an. Eine Tragikomödie ist „Da geht noch was“ deshalb noch nicht. Seine Prämissen sind zu plakativ und klischeebeladen, seine Ironie („Und immer immer wieder geht die Sonne auf“) zu grob und seine gleich dreifache Familienzusammenführung zu sentimental. Diese wird übrigens durch die filmische Beschwörung vergangenen Liebes- und Familienglücks bewerkstelligt, das auf Fotos und einem Super 8-Film für die Erinnerung gespeichert ist – eine schöne, wenngleich nicht ganz neue Idee. Da geht also noch was.

Alphabet

(AT / D 2013, Regie: Erwin Wagenhofer)

Wissende Lehrmeister wollen’s beweglich
von Drehli Robnik

In 'Alphabet' ist alles eine Frage der Belehrung: Sie ist Thema und zugleich Praxis dieses Dokumentarfilms, der sich in seiner Kritik an Leistungsdruck im Schul(ungs)wesen um prägnante Bilder zur Bildung …

In 'Alphabet' ist alles eine Frage der Belehrung: Sie ist Thema und zugleich Praxis dieses Dokumentarfilms, der sich in seiner Kritik an Leistungsdruck im Schul(ungs)wesen um prägnante Bilder zur Bildung ebenso bemüht wie – siehe Titel – ums Ausbuchstabieren einer Lehre.

Gut ist 'Alphabet' dann, wenn der Film Leute, die sich als Betroffene mit Bildungsselektionsmechanismen herumschlagen, über sich erzählen lässt: Ein Dortmunder, der ohne Lehrstelle in einem Aufstockerjob als Security dahinwurstelt, ein Spanier, der erzählt, wie aufregend sein Bildungsleben als erster Universitätsabsolvent mit Down-Syndrom war (und auch, wie aufregend sein Leben als Fan des Fußballclubs von Malaga ist) – sie ermächtigen sich in manch Beharrungsposen und sarkastischen Selbstauskünften. Gut auch, wenn der österreichische Regisseur Erwin Wagenhofer, wie in seinen wirtschaftsentfesselungskritischen Dokus We Feed the World' (2006) und Let´s Make Money' (2008), Profitideologen und Leistungsroutinen so ins Bild setzt, dass Widersprüche hervortreten, dass ihre Rede und das Bild ihres Ablaufs sich gegen sie kehren: Der deutsche PISA-Test-Delegierte bewundert den Effizienzterror im Schulsystem Chinas, ein chinesischer Bub wird zum Gewinn von Mathematikturnier-Medaillen gedrillt, trägt dabei just eine an Rennfahrer erinnernde rote Jacke voller Logos und macht ein Gesicht zwischen Depressionsschub und Sekundenschlaf. Die Besten einer Jung-CEO-Auslese reden – etwa über Babypausen oder feindliche Übernahmen – so zynisch und menschenverachtend daher, wie das Kapital halt ist; die Art, wie die Inszenierung ihre Soundbites ausstellt, trägt allerdings ihrerseits Züge von Prägnanzprofitmaximierung.

Beim engkrawattigen Bildungsexperten mit Armeefrisur, der das Maskulinistisch-Kriegerische des Konkurrenzsystems anprangert und später 'wuchtig handelndes Zertrümmern' von Bildungstraditionen fordert, oder beim alten Kreativguru im 'Mal-Ort', dem heutige Kindermalereien nicht mehr freudvoll genug sind ('Das hat doch nichts Freudvolles! … Das Kind spielt einfach nicht!'), da fragt sich hingegen, ob Wagenhofer sie – mit ihren sich als emanzipatorisch gebenden Äußerungen, die aber doch einiges an Machtanmaßung verraten – aufs Glatteis führt, oder ob er nicht selbst mit ihnen ebendort tanzt. Wenn ein im Film als Positivbeispiel ins Treffen geführter junger Mann, von Beruf Gitarrenbauer, auf der Tonspur erzählt, seine Eltern wollten ihn nie in eine Schule schicken und seien dankenswerter Weise ihrer Entscheidung treu geblieben, während er im Bild dabei zu sehen ist, wie er als Sportbogenschütze einen Pfeil ins Ziel schnellen lässt, dann ist allerdings zu vermuten, dass solche audiovisuellen Formfindungen – Treue zur Entscheidung plus unbeirrbares Im-Auge-Behalten eines Ziels – als Bekräftigungen zu lesen sein sollen.

Wagenhofers Kino-Didaktik versprüht jedenfalls einiges an zutiefst intaktem Glauben an die Autorität wissender Lehrmeister: Der zumeist als auf Vortragsbühnen beim Predigen gezeigte Neurobiologe, der in einer Sequenz just an der einstigen DDR-Grenze sitzend über die uns Menschen ja schon vorgeburtlich aufgegebene Verbundenheit sinniert, ist ein Echo von Fritz Karls paternalistischer Belehrungspose in Dialogen von Wagenhofers vorigem Film, dem migrationsregime- und spekulationskritischen Roadmovie Black Brown White' (2011). Zugleich steht er, mit seiner Berufung aufs Schlechthin-Menschliche – seinen Bildungsdisziplin- und Auschwitz-Vergleich vergessen wir lieber – in einer den Film durchziehenden Motivkette zur (Gattungs- und Individual-)Evolution; das Filmintro etabliert diese Kette mit Montagen von Embryo, Wüste, dazu die Off-Stimme eines Kreativitätsexperten, der weit ausholt. Da weht ein Hauch von Kubricks 2001' durchs Bild und ein Nachhall des verhaltens- und gedächtnistheoretischen Intro zu Resnais‘ 'Mein Onkel aus Amerika' durch den Ton. Der da bei Wagenhofer spricht und uns ganz am Filmende zu mehr Beweglichkeit auffordert (als wäre er ein flexibilisierungswütiger Sprecher der Industriellenvereinigung), ist allerdings kein selbstironischer Resnais‘scher Bergsonianer, sondern Sir Ken Robinson, der, so lehrt uns der Abspann, für seine innovationswissenschaftlichen Verdienste von der Queen geadelt wurde. Na, dann! Dann muss seine Kritik ja wohl stichhaltig sein.

Männer wissen ziemlich viel in 'Alphabet' – allerdings nur sie. Die programmatisch zweimal, beide Male in der Nähe von Embryo- und Babybildern, eingesetzte markante Totale mit den in der Luft tanzenden chinesischen Papierdrachen, von denen es heißt, sie seien ein Sinnbild für kindliche Begabungen – vielleicht erinnert sie deshalb so sehr an das Gewurl von Spermien. Frauen kommen in dem Film jedenfalls kaum vor – es sei denn als beipflichtende Gattin des 'Mal-Ort'-Meisters, als Mathe-Medaillen-geile Omi des schläfrigen Rennfahrerbuben oder als Anschnitt von Mädchenstrumpfbeinen in pinken Rollerblades mit einem Müllhaufen im Hintergrund; letzteres Bild untermalt die Expertenrede vom schädlichen 'Strudel der Konkurrenz'.

'Alphabet' zeigt lieber Anlagen im Sinn von Begabungen als Anlagen im Sinn von Dispositiven und Maschinerien; bildungsinstitutionelle Raum- und Zeitregimes zu erkunden, das erspart der Film sich weitgehend zugunsten pathetischer Appelle an Autorität und Phantasie; als wären beides nicht Kräfte, mit denen das zwangsflexible Kreativkapital heute bestens auskommt und wirtschaftet.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Michael Kohlhaas

(F / D 2013, Regie: Arnaud des Pallières)

Dunkles Glas
von Wolfgang Nierlin

Draußen, unterwegs und fern der Heimat, fegt immer wieder ein lauter, schneidend kalter Wind über die karge, raue Gebirgslandschaft. Rasende Wolken werfen dramatische Schatten, die von jähen, kurzen Lichtfluten aufgebrochen …

Draußen, unterwegs und fern der Heimat, fegt immer wieder ein lauter, schneidend kalter Wind über die karge, raue Gebirgslandschaft. Rasende Wolken werfen dramatische Schatten, die von jähen, kurzen Lichtfluten aufgebrochen werden. Tiefer unter dann, im Wald, liegen kühle Nebel über einem still murmelnden Bach. Man hört förmlich die Feuchtigkeit auf dem Geäst und in den Blättern. Noch intensiver ist das Summen des Sommers zu Hause, wo ein helles, warmes Licht die Schatten der Dunkelheit zu einem spannungsgeladenen, doppeldeutigen Chiaroscuro rastert. Die Kräfte der Natur und das Spiel der Elemente, aufgenommen in den Cevennen und dem Vercors-Massiv der westlichen Alpen, sind gewichtige, ja gewaltige, aber deshalb keineswegs spektakulär inszenierte Protagonisten in Arnaud des Pallières‘ Verfilmung von Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“. Im Verbund mit einer reduzierten Ausstattung und einer unauffälligen, geradezu alltäglichen Kostümierung führen sie den Zuschauer in ein Mittelalter des 16. Jahrhunderts, dessen Materialität und Körperlichkeit fast greifbar wird und eine starke, atmosphärisch dichte Gegenwart erzeugt.

Dunkle, unheilvolle Trommeln künden vom Unrecht, das dem Titelhelden (Mads Mikkelsen) widerfährt. Ein Schlagbaum an einer unerwarteten Grenze und ein nicht vorhandener Passierschein zwingen den Pferdehändler zwei seiner Rappen nebst Knecht einem windigen, dekadent und zwielichtig erscheinenden Baron zu überlassen. Als er einige erzählerische Ellipsen später Mensch und Tier in geschundenem, verwahrlostem Zustand wiederfindet, fordert er zunächst Wiedergutmachung. Doch als diese ausbleibt und auch auf rechtlichem Weg nichts auszurichten ist, weil der Baron über Beziehungen zum Hof verfügt, wird der Betrogene zum gewalttätigen Rächer, der bald eine kleine Armee von getreuen Mitkämpfern anführt. Als heldenhaftes Vorbild taugt er dabei allerdings nicht; eher schon zum Fanatiker, der blindwütig seinen Prinzipen folgt, deren Sinn, vom Ende her betrachtet, immer fragwürdiger und undeutlicher wird.

Trotzdem ist Kohlhaas für den französischen Filmemacher Arnaud des Pallièrs eine „legendäre Figur“. Weil er auf dem Höhepunkt seiner (militärischen Macht), die Waffen niederlegt und sich dem Gesetz überantwortet, gilt er ihm als „moralische Instanz“. „Der Krieg schafft kein Recht“, sagt Kohlhaas einmal und wird kurz darauf selbst zum Richter und Henker. Von Luther (Denis Lavant) muss er sich danach in einem fulminanten Gewissensdiskurs eine zweifelhafte Moral und ein hochmütiges, eigengesetzliches Verhalten vorwerfen lassen. Dabei wird Michael Kohlhaas eingangs als liebender Ehemann, zärtlicher Familienvater und gottesfürchtiger Christ, der die Luther-Bibel liest und erklärt, eingeführt. „Als sehe man durch ein dunkles Glas“, zitiert er einem Knecht gegenüber eine ebenso berühmte wie schwer verständliche Stelle aus dem Korintherbrief; und er erläutert, dass dies bedeute, eine Sache zwar sehen, aber nicht erkennen zu können. „Zum Beispiel einen Feind?“, fragt sein Schüler. „Oder auch einen Freund“, ergänzt Kohlhaas und nimmt damit ein Motiv seines tragischen Schicksals (und Scheiterns) vorweg. Dass sein Handeln dabei gleichermaßen Liebe und Furcht erweckt, wie die Prinzessin von Angoulême (Roxane Duran) mit begehrlichen Blicken auf den schönen, fast nackten Körper des Kontrahenten feststellt, gehört zu den Widersprüchen dieser Figur.

Alphabet

(AT / D 2013, Regie: Erwin Wagenhofer)

Opa voran!
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein überzeugender und ausgesprochen sehenswerter Dokumentarfilm, der sich mit den Defiziten des wirtschaftsorientierten, weltweit geltenden Bildungssystems befasst. In einem Wort: es geht um die Kreativvernichtung durch PISA. Erwin Wagenhofer hat …

Ein überzeugender und ausgesprochen sehenswerter Dokumentarfilm, der sich mit den Defiziten des wirtschaftsorientierten, weltweit geltenden Bildungssystems befasst. In einem Wort: es geht um die Kreativvernichtung durch PISA. Erwin Wagenhofer hat damit seine mit „We Feed The World“ und „Let’s Make Money“ begonnene Trilogie vollendet. „Alphabet“ ist der Paukenschlag, jetzt was gegen die ausschließliche Elitebildung und den Leistungsdruck zu tun, angefangen am ersten Schultag der Kinder und davor. Eltern sind gefordert, zu einer Haltung zu kommen, die das riesige Kreativpotential, mit der jedes Kind zur Welt komme, zur Geltung kommen lässt. Da ich Opa bin, bin ich hiermit auch gefordert, die Eltern davon abzubringen, nur die Anforderungen der Schule im Auge zu haben, und die Enkel nicht machen zu lassen, was sie (die Enkel) in sich haben; allerdings kommt diese mein, vom Film beförderte Einsicht, im Film nicht vor.

Wohl aber wendet sich der Film manifestartig gegen die Beflissenheit, mit der junge Menschen gedrillt werden, Mitglied der Leistungsgesellschaft zu werden – am liebsten ohne eigene Haltung. Wagenhofer bedient sich dabei nicht einer indoktrinierenden Argumentationskette, sondern stellt in aller Ruhe eine Reihe von Personen, vor allem von prominenten, wenn auch stets eine eigene, durch aus vom Mainstream abweichenden Wissenschaftlern vor, denen das Wort nicht abgeschnitten wird. Respekt! Ich meine damit, dass der Film selbst von der stressigen, wenn auch vorherrschenden Dokumentarfilm-Montage abweicht, die hinter jedem Satz einen Schnitt macht, um das, was Interviewpartner zu sagen haben, zur Illustration für das Allwissen des Regisseurs zu degradieren, der halt nur der Beste sein will. Nur der Beste zu sein, oben auf den Charts, gegen alle anderen, – das ist bekanntlich das Ziel der neoliberalen Leistungskultur. „Alphabet“ stellt das heraus. David Foster Wallace hat das beispielhaft für das Unwesen der US-Tennisakademie beschrieben (Infinite Jest/Unendlicher Spaß). Wär schön, dieses Buch (das erste Drittel) mit dem Film zusammenzudenken.

Der Film beginnt damit, einen deutschen PISA-Koordinator auf einer Chinareise zu begleiten. Wir sehen einen Schüler, PISA-Bester, aber so, wie er aussieht, emotional verkümmert und einer der Schüler-Selbstmordkandidaten, für die China ebenfalls Spitze ist.
Gegenbeispiel ist ein Spanier mit sowohl Down-Syndrom als auch Universitätsabschluss, der mit den anderen zusammen bestehen will. Vom Hirnforscher bis zum Personalvorstand rufen alle dazu auf, von unten her, das etablierte Bildungssystem zu ändern. Haltung zeigen! Sich bewegen! Aktiv werden! Los, in die Puschen! – Das ist es! Opa fängt damit an. Er kennt das.

Dieser Text ist zuerst gekürzt erschienen in: Konkret 11/13

Hans Dampf

(D 2013, Regie: Jukka Schmidt, Christian Mrasek)

Drogen nehmen und rumfahren
von Ulrich Kriest

Die Utopie vom bedingungslosen Grundeinkommen und ein altes Foto von der Amalfi-Küste – mehr braucht es nicht, um dieses „Roadmoviemärchen“ (Selbstauskunft) aus der Kölner Independent-Szene in Bewegung zu setzen! „Man …

Die Utopie vom bedingungslosen Grundeinkommen und ein altes Foto von der Amalfi-Küste – mehr braucht es nicht, um dieses „Roadmoviemärchen“ (Selbstauskunft) aus der Kölner Independent-Szene in Bewegung zu setzen! „Man hat mir Geld gegeben, damit ich nicht mehr arbeite. Das Geld habe ich dann genommen und versprochen, dass ich nicht mehr arbeite.“ Das erzählt Hans Dampf, der in seinem früheren Leben vielleicht einmal Koch bei der Handelsmarine gewesen sein mag und den es jetzt mit einem Jute-Beutel voller Kies, also: Moos gen Süden zieht. Dorthin, wo die Zitronen blühen.

Grobe Richtung, denn Hans reist improvisierend, gibt sich Eindrücken hin: der Weg ist das Ziel. Dazu passt, dass er den Tauschhandel bevorzugt – und damit in der Regel gut fährt, auch wenn es zunächst anders aussieht. Seine erste Bekanntschaft tauscht er gleich mit seinem besten Freund, sein erstes Fahrzeug – einen alten viereckigen VW-Bus – gegen ein landesübliches Motordreirad, später folgen dann Schlauchboot und Klappfahrrad, bevor man, jetzt ein Paar, sich zu Fuß auf die Socken macht. Am Rande dieser Bildungsreise, die natürlich auf dem anti-kapitalistischen Märchen vom „Hans im Glück“ fußt, gibt es die üblichen Begegnungen mit Menschen, von denen Hans etwas lernt oder die – weitaus eher – von Hans etwas lernen.

Da ist zum Beispiel der windige Django, dessen Wahlspruch lautet: „Wenn jeder nur an sich denkt, ist schon an alle gedacht!“ Kein Wunder, dass ihn der Gedanke an das viele Geld, das Hans mit sich trägt, umtreibt. Man rangelt mitunter. „So etwas habe ich noch nicht erlebt – und das ist jetzt als Kompliment gemeint!“ Der Film lässt sich zu den Klängen eines exquisit kuratierten Soundtracks – von The Kings of Dubrock bis Adriano Celentano, von Keil Stouncil bis David T. Walker, von Nino Ferrer bis Monsieur Leroc, von Sophie Loup bis Die Zukunft – im schweizerisch-italienischen Grenzgebiet treiben und schwärmt von der bukolischen Landschaft, den verlassenen Bergdörfern und den Gumpen des Valle Versasca.

Schließlich begegnen Hans und Django der geheimnisvollen Fee, die erst so tut, als sei sie Italienerin und dann so tut, als sei sie Hausbesitzerin. Hans kocht für sie. Er kennt sich mit Kräutern wie dem Buschbasilikum aus. Indes: Hausbesitz taugt nicht für ein Roadmovie. Und während sich Django – kaum überraschend, er ist noch nicht so weit wie Hans, noch nicht bereit für das Glück – für das Geld entscheidet, fällt Hans in Liebe und findet sogar noch zu seinem Sehnsuchtsort, wenngleich man dafür das Foto vielleicht auf den Kopf stellen oder zur Seite kippen muss.

„Hans Dampf“, der neue Film von Christian Mrasek („Die Quereinsteigerinnen“) und Jukka Schmidt, ist ein echter Glücksfall von philosophischem Sommerfilm, der zudem auch noch an den Traum vom selbstbestimmten Leben rührt. Der Zufall wendet hier stets alles zum Guten, wenn man – wie Hans – lernt, mal nicht so zielstrebig zu sein. Der Film jedenfalls tut es ihm rückhaltlos gleich. Wie heißt es im Presseheft so schön? „Beschränkte Mittel sind der Kreativität eben immer zuträglich und so wurde mal wieder vieles besser als geplant.“ Stimmt genau! Einen so sanften Parzival wie Fabian Backhans hat das Kino lange nicht mehr gesehen, hinzu gesellen sich zuverlässige Kräfte wie Mario Mentrup und Nina Schwabe, nicht zu vergessen die Cameos der Original Kings of Dub Rock an den Gestaden des Lago Mergozzo. Man sollte „Hans Dampf“ nicht verpassen, wenn er in der Stadt ist. Und wenn er in der Stadt ist, sollte man möglichst tauschen: zum Beispiel eine Handvoll Euros gegen eine Eintrittskarte. Der nächste Urlaub im Tessin ist längst gebucht.

Singapore Sling

(GR 1990, Regie: Nikos Nikolaidis)

Die Liebe zu einer Leiche
von Michael Schleeh

Auf der Suche nach seiner Geliebten mit dem Namen Laura gerät ein Detektiv eines Nachts zu einer mysteriösen Villa und dort in die Fänge zweier Frauen, die halbnackt bei strömendem …

Auf der Suche nach seiner Geliebten mit dem Namen Laura gerät ein Detektiv eines Nachts zu einer mysteriösen Villa und dort in die Fänge zweier Frauen, die halbnackt bei strömendem Regen im Garten eine Leiche begraben. Sie überwältigen ihn, und in einer Eruption der sexuellen Obsession und barocken Dekadenz steigert sich das Trio in rücksichtslosen Rollenspielen derart in Zustände des Irrsinns und der Ekstase hinein, dass das Morden des Anderen als höchste Form der Lustgewinns wie eine plausible Notwendigkeit erscheint.

Dabei ist 'Singapore Sling', auch angesichts des Rufes, der ihm vorauseilt, alles andere als ein trashiges B-Movie, das in einem Drive-In-Kino oder einer Mitternachtsschiene eines Bahnhofkinos unter Ausschluss einer breiteren Öffentlichkeit verheizt werden sollte. Vielmehr ist er trotz seines äußerst geringen Budgets der beeindruckende Kunst-Film einer kreativen Potenz, eines originären und radikalen Filmemachers. Eines Mannes, der besessen war vom Kino, und der diese Besessenheit auch in seine Filme einfließen ließ. Der sein Publikum immer wieder herausgefordert und vor den Kopf gestoßen hatte. Der seinen Schauspielern so viel abverlangte, dass er seine Rollen nicht besetzt bekam. Einer, der die erotischste Szene neben die ekligste stellt, der stilistisch durch die Genres springt, der mit einem Film Noir-Zitat beginnt und in erotisch explosives Arthousekino abdriftet, das an der Grenze zum Porno schrammt. Der keine Angst hat, Körper zu inszenieren, wenn einmal tatsächlich alle Hemmungen fallen. Am eindrücklichsten und bekanntesten dürfte die Selbstbefriedigungsszene mit einer Kiwi (!) sein, die sich die Protagonistin in den Schoß einmassiert und zerdrückt.

Und so ist 'Singapore Sling' – übrigens eigentlich der Name eines Longdrinks, der dann dem Detektiven von Mutter und Tochter verliehen wird – ein visuell herausragender Film, der auch vor allem formal, und dies nicht nur auf einer verquasten Metaebene, völlig überzeugen kann. Der seine Geschichte über Bilder erzählt und nicht über Handlung, mit Ellipsen Finten und Spuren legt, der seine Figuren in drei verschiedenen Sprachen sprechen lässt wie einen griechischen Chor und in Monologen das Publikum direkt anspricht. Der die vierte Wand einreißt ohne künstlich zu wirken und schönerweise nie an Zugkraft verliert. Der die Zügel nicht aus der Hand lässt und sich so nie in einer experimentellen Beliebigkeit verliert. Vielmehr vermittelt Nikolaidis‘ Film den Eindruck des vollkommenen Durchgeformtseins. 'Singapore Sling' ist schlicht großartiges Kino: herausfordernd, kraftvoll, verführerisch, humorvoll, bizarr, atemberaubend.

Die Veröffentlichung beim Independentlabel Bildstörung ist von gewohnt hochwertiger Qualität: Die Doppel-DVD kommt in der Pappschuberverpackung mit der üblichen Rahmung der Drop Out-Serie (der FSK-Flatschen ist wieder auf einem zusätzlichen Umschlag aufgedruckt, der entsorgt werden kann). Der Einleger der Amaray ist eine Bildfolge aus verschiedenen Film-Stills und unterscheidet sich vom etwas reißerisch-grobschlächtigen Cover des Schubers (was bei anderen Labels keine Selbstverständlichkeit ist). DVD 1: Das Bild des Featurefilms ist sehr gut: scharf, kontraststark, mit guten Schwarzwerten. Untertitel können auf deutsch oder englisch hinzugewählt werden. DVD 2: Bonusmaterial: neben einem Interview mit Nikolaidis selbst befindet sich eine etwa 75 minütige Dokumentation über den Regisseur auf der DVD, in der verschiedene Lebensgefährten und Schauspieler zu Wort kommen und das Leben und Werk des Meisters erörtert wird. Filmausschnitte werden zur Veranschaulichung herangezogen. Die Doku mit dem etwas reißerischen Titel „Directing Hell“ macht enorme Lust auf das Gesamtwerk Nikolaidis‘, sie arbeitet sehr überzeugend die Besonderheiten seiner Filme heraus und beleuchtet auch Nikolaidis als Exzentriker. Abgerundet wird die DVD von mehreren Werbespots, die den Regisseur auch als kommerziellen Filmemacher vorstellen. Filme, mit denen er seinen Lebensunterhalt finanzierte und die dennoch seinen Stil erkennen lassen. Neben der Doku ist aber das mehrseitige, ausführliche Essay von Splatting Image-Autor Gerd Reda das Herzstück des Bonusmaterials. Sehr kundig und flüssig geschrieben, ordnet er 'Singapore Sling' in Nikolaidis‘ Gesamtwerk ein, spürt der Faszination dieses bizarren, eklektischen Filmes nach und deckt zahlreiche filmhistorische Verweise auf. So werden Kontexte aus dem Film Noir, der Slapstick-Komödie und dem Genre des Horrorfilms in den Fokus gerückt, bevor einige Anekdoten aus dem Leben des Regisseurs das Essay abrunden. Kurzum: eine hervorragende Veröffentlichung, deren Anschaffung hiermit ausdrücklich empfohlen sei.

Room 237

(USA 2012, Regie: Rodney Ascher)

Unmögliche Fenster
von Carsten Happe

Nicht wenige Filme sind beim Verlassen des Kinos längst vergessen, doch es gibt ein paar Exemplare, die wachsen nicht nur mit jedem Sehen, sondern man kann sich in ihnen voll …

Nicht wenige Filme sind beim Verlassen des Kinos längst vergessen, doch es gibt ein paar Exemplare, die wachsen nicht nur mit jedem Sehen, sondern man kann sich in ihnen voll und ganz verlieren – und darüber zu einem komischen Kauz werden, wie die fünf Protagonisten des Dokumentarfilms „Room 237“, die zwar nie im Bild zu sehen sind, deren Theorien sich aber in den Untiefen der Kubrick-Analyse festkrallen und ganz Erstaunliches zu Tage fördern.

Das Zimmer 237 ist die berühmt-berüchtigte No-Go-Area in Stanley Kubricks Stephen-King-Veredelung „The Shining“, nicht nur einer der gewaltigsten Horrorstreifen der Kinogeschichte, sondern bekanntermaßen auch ein Film voller Anspielungen, versteckter Metaebenen und Basis unzähliger Verschwörungstheorien. Also ein wahrer Quell der Freude für postmoderne Popkultur-Nerds mit zu viel Tagesfreizeit, die jedes Standbild einer Einzelanalyse unterziehen und nicht nur schlüssige Bezüge zum Genozid an Amerikas Ureinwohnern, zum Holocaust oder zur gefaketen Mondlandung herstellen, sondern auch aus Logiksprüngen und banalsten Anschlussfehlern die grandiosesten Theorien hervorzaubern. Meister Kubrick macht schließlich keine Fehler, bei diesem Perfektionisten ist alles Bedeutung, Verweis und Sinn.

Und gerade weil die Filmbuffs in „Room 237“ oftmals über das Ziel hinausschießen, macht diese Doku solch einen Spaß, zumal es irgendwann gar nicht mehr um Kubrick und seinen Welttheaterentwurf geht, sondern um eben diese bewundernswerten, aber auch irgendwie traurigen Nerds, die zumindest mit einer gehörigen Portion Selbstironie erkennen, worin sie sich mitunter verrennen. „The Shining“ parallel vorwärts und rückwärts abzuspielen, mag zwar eine hübsche Remix-Idee sein, doch der Erkenntnisgewinn bleibt minimal beziehungsweise wahrscheinlich genau so groß, wie bei jedem anderen Film auch. Aber die Akribie, mit der Karten vom Overlook-Hotel angefertigt werden, die unmögliche Fenster offenbaren – die natürlich auch wieder ihre eigene, besondere Bedeutung haben – zeugt von einer wahren Liebe zum Objekt. Und wer einmal die große Stanley-Kubrick-Ausstellung besucht hat, die vor einigen Jahren durch diverse Museen in Deutschland wanderte, und dort die abertausend Notizzettel gesehen hat, die Kubrick für sein gescheitertes „Napoleon“-Projekt anfertigte, kann sich vorstellen, dass der enigmatische Filmemacher unbändig stolz auf „Room 237“ und die Leidenschaft seiner Protagonisten gewesen wäre.

The East

(USA / GB 2013, Regie: Zal Batmanglij)

Amerika erwacht
von Wolfgang Nierlin

Sie sind Ökoterroristen und nennen sich “The East”. Sie bekämpfen Ölkonzerne und Pharma-Unternehmen mit jenen Giften, die Mensch und Umwelt zerstören und machen ihre Anschläge übers Internet öffentlich. Die Verursacher …

Sie sind Ökoterroristen und nennen sich “The East”. Sie bekämpfen Ölkonzerne und Pharma-Unternehmen mit jenen Giften, die Mensch und Umwelt zerstören und machen ihre Anschläge übers Internet öffentlich. Die Verursacher von Leid sollen dieses am eigenen Leib erfahren. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, lautet ihre alttestamentarische Kampfansage. Selbst der Terror, so könnte man sagen, folgt in Amerika den archaischen Mustern von Rache und Vergeltung. Es ist das Gesetz des Wilden Westens, das sich hier medial und filmgeschichtlich fortspinnt; und das missionarischen Eifer propagiert: „Wir sind euer Weckruf!“ Dementsprechend situieren Regisseur Zal Batmanglij und seine Ko-Autorin Brit Marling die anarchistische Gruppe zwischen politischem Geheimbund und obskurer Sekte, die sich in merkwürdigen Ritualen der gegenseitigen Loyalität ihrer Mitglieder versichert. Doch das alles ist weniger neu und radikal als es sich gibt: Der Film „The East“ ist gewissermaßen die militante Version von Hans Weingartners „Die fetten Jahre sind vorbei“ und wirkt trotzdem irgendwie „light“ und naiv, weil das thematisch Brisante plakativ und die Durchführung halbgar bleiben.

Das beginnt schon mit der leicht holprigen Einschleusung der Agentin Jane (Brit Marling), die unter dem Decknamen Sarah für eine private Sicherheitsfirma die Anschlagspläne der Terroristen ausspionieren soll. Auch diese Figur hat eine religiöse Erdung: Zu Beginn ihrer Mission erbittet die attraktive Spionin Gottes Beistand. Ansonsten ist sie eine dieser überdimensionierten Kinoheldinnen, die fast alles können, weil sie schlau und schön, stark und mutig und fast immer einen Schritt voraus sind. Die gefangen nehmende, um nicht zu sagen einlullende Spannungsdramaturgie des Films weiß das für ihre Zwecke zu nutzen. Das Erzähllogische macht dann schon einmal Sprünge und ist in etwas so wahr wie die stets frische Frisur und das perfekte Make-up der Protagonistin. „Typisch Mainstreamkino!“, ist man versucht zu sagen, wenn das, was sich entwickeln soll, nicht erzählt wird, sondern ohne weitere Erklärung einfach da ist.

„Amerika erwacht!“, könnte wiederum eine andere Losung sein, die der Film eher unbeabsichtigt und in gezähmter Form ausgibt. Natürlich geht das im funktionalen Kintopp-Kino nicht ohne Gefühle. Und so verliebt sich Jane in die nachvollziehbaren Ideen der Gruppe, noch mehr aber in den ebenso charismatischen wie gutaussehenden Bandenchef Benji (Alexander Skarsgård), während Jane bei ihrer Chefin (Patricia Clarkson) innerlich immer halbherziger Bericht erstattet. Zwischen Freundschaft und Liebe, Loyalität und Verrat gerät ihr Gewissen in die Krise. Fremd wird ihr dabei das jeweils andere Leben. Batmanglijs forcierte Spannungsdramaturgie spitzt diesen Konflikt konsequent zu. Doch der radikale Schnitt bleibt aus. Der Regisseur und seine Protagonistin können oder wollen sich nicht ganz auf die Seite ihrer Sympathieträger schlagen. Oder aber positiv ausgedrückt: Sie halten dezidiert Abstand zur Losung: „Die Revolution gegen ein Menschenleben.“

Kid-Thing

(USA 2012, Regie: David Zellner)

Zerstörung, lakonisch
von Wolfgang Nierlin

Auf schwerem Grund stoßen schrottreife Autos gegeneinander, verhaken sich, bleiben stecken, schieben sich an und ineinander. Bis nur noch kaputtes Blech, eingedrückte Karosserien, verbeulte Kotflügel und demolierte Stoßstangen übrigbleiben und …

Auf schwerem Grund stoßen schrottreife Autos gegeneinander, verhaken sich, bleiben stecken, schieben sich an und ineinander. Bis nur noch kaputtes Blech, eingedrückte Karosserien, verbeulte Kotflügel und demolierte Stoßstangen übrigbleiben und die Räder im allgemeinen Motorengedröhn hohldrehen. Doch trotz dieses Zerstörungsszenarios strahlt die Einleitung von David und Nathan Zellners Indie-Film „Kid-Thing“ auf eine beiläufige Art fast etwas Sanftes aus, was durch den kindlich-unschuldigen Ausdruck der kontrastierend eingesetzten Begleitmusik noch verstärkt wird. Tatsächlich bildet dieser Prolog den programmatischen Auftakt für eine episodisch gegliederte Abfolge kindlicher Zerstörungsphantasien, in deren Mittelpunkt die etwa 10-jährige Annie (Sydney Aguirre) steht, die zusammen mit ihrem Vater (?) Marvin (Nathan Zellner) auf einer Farm in der texanischen Provinz lebt.

Doch wirklich väterlich oder gar verantwortungsbewusst wirkt dieser skurrile Mann, der Ziegen melkt, Hühner hypnotisiert, Lose rubbelt und einen Selbsthilferatgeber mit dem Titel „How to become a better person“ liest, ganz und gar nicht. Auf Annies Frage nach dem richtigen Handeln, weiß er keine rechte Antwort; und so bleibt das verstockte Mädchen mit seiner Einsamkeit und Langeweile, mit seiner Wut und einem aggressiven Überdruss sich selbst überlassen. Schon die Kinderzeichnungen in Annies Malbuch strotzen vor Gewalt, die sie in der Folge gegen Dinge, (tote) Tiere und Menschen richtet. Mit verstellter Stimme fingiert sie einen Drohanruf bei einem Autohändler, sie wirft Teiglinge auf vorbeifahrende Autos, zerschlägt Gegenstände, klaut Lebensmittel und schießt mit einem Paintballgewehr auf Tierkadaver. Die Zellner Brothers zeigen das betont lakonisch, ohne große Erklärungen oder gar Worte mit einem unverhohlenen Interesse am Abwegigen, Schrägen und Regellosen. So mischen sich in die gewalttätigen Bilder einer dunklen, schweren Kindheit immer wieder absurder Humor, andererseits aber auch ruhige, fast bedächtige Landschaftsstimmungen.

Hinter Annies Zerstörungswut stehen eigentlich die Fluchtphantasien eines vernachlässigten Kindes; und ihre Destruktivität schreit nach Liebe. Annie, die von sich sagt, sie habe vor nichts Angst, folgt ihrem Bauchgefühl. „Woher weiß man, was das Beste ist?“ Ihre kindliche Orientierungslosigkeit, Zeichen ihrer noch ungeformten Seele, lässt sie im Wald ein tiefes, dunkles Erdloch entdecken, in dem eine Frau namens Esther (Susan Tyrrell) gefangen ist. Doch nur deren zunehmend verzweifelteren Hilferufe zeugen von ihrer Existenz. Als diese verstummen, stirbt auch für Annie ein Gefühl der Macht und der Hoffnung. Das schwarze Loch als ambivalenter Ausdruck einer unbewussten Sehnsucht nach Freiheit und zugleich ein Symbol der Gefangenschaft zieht das Kind magisch an, um es schließlich zu verschlucken.

Elysium

(USA 2013, Regie: Neill Blomkamp)

Politik aus Treue, Revolte aus Not, Gestell aus Stahl
von Drehli Robnik

Manch ein Science Fiction-Film verschafft sich heutzutage seinen Nimbus politischer Radikalität dadurch, dass er ein verbreitetes Unbehagen an entfesselter Kapitalmacht oder an neuen Formen des Wohnens, die sich ab- und …

Manch ein Science Fiction-Film verschafft sich heutzutage seinen Nimbus politischer Radikalität dadurch, dass er ein verbreitetes Unbehagen an entfesselter Kapitalmacht oder an neuen Formen des Wohnens, die sich ab- und andere ausschließen (ob in Wohlstandsweltregionen, Gated Communities oder Dachausbauten), überhöht: bis hinauf in Sphären des Hochgestochenen, von wo aus die Filme – namentlich etwa Wall-E', 'In Time', Oblivion' – dystopische Blicke in Jammertäler der Heillosigkeit werfen. Das lässt sich wohlwollend als 'biopolitische Kritik' verstehen – und skeptisch als authentizitätsbesorgte Ökopanik-Moral.

Eine spannende Alternative dazu inszenierte 2009 der Südafrikaner Neill Blomkamp mit District 9': Darin waren Motive von Alien-Invasion und interplanetarischem diversity management zur Groteske eines migrationspolizeilichen Lagerregimes umgedeutet; Cyborg-Splatter-Stil verband sich da treffend mit Satire in Sachen Routineprozeduren und Normalisierungsideologien rassistischer Einsperrung.

Im Hollywoodactionblockbustermaßstab produziert, bewegt sich Blomkamps neuer Polit-SciFi-Film zwischen diesen Polen. 'Elysium' heißt er, nach der riesigen, Mercedesstern-artig geformten Luxusraumstation, in der sich die Superreichen abschotten; das restliche Humankapital darbt und rackert in irdischen Favelas (die vor Ort in Mexiko gedreht wurden). (Auffällig am Rande: Kerngeschäft der lokalen Großindustrie scheint das relativ personalintensive Zusammenbauen von Polizeirobotern zu sein, wobei also die Ausgebeuteten sich wesentliche Mittel und Büttel ihrer Unterdrückung ganz handgreiflich selber schaffen – genau wie in den Fabriksequenzen in dem läppischen Total Recall'-Remake vom Vorjahr.)

Ein infolge fehlender Arbeitssicherheitsstandards strahlenverseuchter Cyborgproletarier mit Glatze, Herz und Exoskelett aus Stahl (Matt Damon) kooperiert allmählich zwecks Umsturz mit Latino-Fluchthilfedienstleistern, darunter Wagner Moura als am Stock hinkender lokaler Gangboss, dem trotz aller harten Worte letztlich nichts weniger als die Universalisierung des Bürgerrechts in/auf Elysium vorschwebt.

Projekt und Praxis des Aufstands werden in dem Film jedoch allzu oft zur Sache von Kindheitstraum und Kinderfürsorge-Ethos stilisiert: Das politische Pathos, das in 'Elysium' den Sinn der Aktionen (und der immer wieder mitreißenden, ökonomisch gesetzten, in Zeitlupen schön phrasierten Actionszenen) markiert, es ist hier verdichtet in Bildern der 'Treue zum Kind' – der Treue von Müttern, die doch nur ganz kurz die auf der Erde unverfügbaren Heilungstechniken der elysischen Gesundheitsdienste für ihre todkranken Sprösslinge in Anspruch nehmen wollen (von politischem Anspruch dann also doch keine Spur), und der Treue zu einem märchenhaften Gelöbnis, das der Held als Kind seiner geliebten Spielgefährtin gegeben hat. Irgendwie kommt da auch eine Art Erlöserprophetie, von karitativen Nonnen ersonnen, ins Spiel; die wird zum Glück nicht 'Matrix'-artig weiter auserzählt, schwelgt aber doch mit durch die allzu üppig ausgestreuten Kinderglücks-Rückblenden. Tiefsinnig jaulen immer wieder Ethnochöre, wenn Armut als Form höherer Moral geheiligt und Gerechtigkeit zum Synonym von Gesundheit veredelt wird: Wenn die Reichen so herzlos sind – verkörpert in den kalten Mienen von William Fichtner als Industrieboss und Jodie Foster als erzpragmatische Polizeiministerin mit Putschplänen in der Raumstation –, dann müssen, so legt dieser Film (und natürlich bei weitem nicht nur dieser) nahe, die Armen doch automatisch gut sein, und das Glück des erfolgreichen Umsturzes liegt, so scheint’s, am gnadenlos optimistischen Ende, in Lebenserhaltung für alle: Wer würde da widersprechen? (Also: abgesehen von den Republikanern im Sturm gegen staatliche Krankenversicherung oder von den Schengen-Asylgesetzen zur Aufenthaltspflicht am Arsch der Welt.)

Fast droht 'Elysium' schon ein Ganz-Abgleiten in Gesundheitsphantasmen (bei denen die Subjekte politischen Übels schnell einmal als 'krank', sprich: frigid, queer, zu dick, zu bleich, zu dunkel… identifiziert werden). Davor rettet den Film nun allerdings weniger sein breitspuriger Erzählentwurf als vielmehr ein Gespür für Ausstattung, zumal fürs Ruinöse, das schon in 'District 9' ausgiebig ins Bild kam. Im Anblick (auch im Sound) von Materien – der sich in Blomkamps Debüt in die Auslotung der Materialität von Medien- und Verwaltungstechniken fortgesetzt hatte – wird hier ganz plastisch, oft auf lustige, manchmal auch eklige Weise, etwas sinnfällig: dass nämlich alles 'Heilen' auch immer nur 'Reparatur' ist, und genau so sehen die Bauten, Vehikel und Körper denn auch aus; Blomkamps beschriftete Stahlplatten und Drahtfransen im Sonnenlicht sind fast schon markenzeichenhaft. (Man könnte das, in Gegensatz zur 'Treue zum Kindlich-Unschuldig-Reinen', als eine Art 'Treue zu den Problemen' bezeichnen.)

Menschen in der Revolte, und die Revolte ist zugleich in ihnen, um’s mal mit Tocotronic zu sagen. Unter all den Prothesenwesen und Gestellhelden im Klassenkampf brilliert Sharlto Copley (der Karriere-Fremdenpolizeibürokrat aus 'District 9') als psychopathischer Söldner mit ersatzteilgespicktem Panzerkörper, dem dann irgendwann auch das ärgerlicherweise durch hautnahen Handgranatendetonationskontakt unschön ramponierte Antlitz per 3D-Fleisch-Drucker rekonstruiert wird. Eine irre Szene als embodiment prägnanter politischer Anmutung: Die Sache der 'Reform' kann in ihrem Ablauf und Effekt einschneidender und krasser sein als eine zum Heils(armeeein)satz verkitschte Idee der Revolution.

Finsterworld

(D 2013, Regie: Frauke Finsterwalder)

Überraschung! Überraschung!
von Dietrich Kuhlbrodt

Der erste Spielfilm der Dokumentarfilmerin Frauke Finsterwalder, und er ist genial, einfach ge-ni-al. Ja, ich muss gleich am Anfang meine halbwegs gesittete Position als Filmkritiker aufbrechen und es jetzt und …

Der erste Spielfilm der Dokumentarfilmerin Frauke Finsterwalder, und er ist genial, einfach ge-ni-al. Ja, ich muss gleich am Anfang meine halbwegs gesittete Position als Filmkritiker aufbrechen und es jetzt und auf der Stelle rauslassen, was ich im Kino erlebt hab. Gelacht, gerührt, empört, außer mir, raus aus der Schale. Damit bin ich auch schon beim Thema, der emotionalen Verschalung, den anderen nicht berühren können, – ich meine richtig anfassen. Die andere, hätte ich sagen sollen. Was sowieso ein Problem ist, wenn man, sagen wir: 16 ist und SchülerIn. Oder ganz alt und sich von einem Jüngeren die Füße pflegen lässt. Oder sich für den humanistisch gesonnenen Lehrer auf Klassenfahrt zum KZ fürs Fahrtziel wenig, für ganz was anderes sehr interessiert.

Mehr als diese Vorgaben kann ich nicht liefern, vor allem nicht die Handlung. Damit hätte ich jedem das Abenteuer der Filmrezeption vermiest. – Quatsch. Ich hätte schreiben sollen: es gibt keine Handlung. Oder besser: alles, was man sieht und hört, verkehrt sich – Überraschung! Überraschung! – in sein Gegenteil, – oder – Überraschung! – eben nicht. Schön ist die Welt in diesem Film. Stets eitel Sonnenschein. Grüne Landschaften. Gepflegt gekleidete Menschen, junge und alte. Nichts stört. Eine Außenwelt wie im Studio nachgebaut. Nichts passiert im Hintergrund. Auf den Straßen verkehrt nichts. Keine Passanten unterwegs. Nur die Protagonisten. Und dann, dann zieht es dir den Boden unter den Füßen weg.

„Finsterworld“ lässt sich in keins der üblichen Filmgenres einordnen. Komödie? Nä, irgendwie nicht. Tragödie? Irgendwie punktuell schon. – Botschaft? Die Dialoge erklären nichts, liefern aber Subtext. Ganz schön aufregend, sich berühren zu lassen, wenn sich ein Spalt in den Kulissen der schönen heilen Welt öffnet. Geschrieben hat das Buch Regisseurin Frauke Finsterwalder zusammen mit ihrem Mann, dem Autor Christian Kracht. Beide haben den Blick von außen (Tansania) auf ein Deutschland drauf, das sich in feine Schale geworfen hat und seltsam emotionslos geworden ist. Opfer werden zu Tätern. Einsiedler schießen von der Autobahnbrücke. Liebende flüchten sich in Ersatzhandlungen. Der Fußpfleger backt Kekse. Die Guten werden bestraft. Die Bösen belohnt. Was bringt Heilung in die monströse Welt der Gutdeutschen?

Der Film macht keinen Vorschlag. Der Film ist der Vorschlag. Jedenfalls hat es bei mir geklappt. „Finsterworld“ hat mich berührt. Ich glaube, einen großen Anteil am therapeutischen Ergebnis haben die vielen Schauspieler, die die Alltagssprache draufhaben und einem nahe, sehr nahe kommen. Die jungen, wie die alten. Margit Carstensen als Fußpflegefall: meine Empathie! Leonard Scheicher als gedemütigter Schüler, dann als Held: ja, er hat die Zukunft für sich (im Film allerdings weniger). Das Paar Corinna Harfouch und Bernhard Schütz im schützenden Auto im gleichfalls schützenden Wortwechsel, der verdeckt, was ungeschützt zu sagen wäre (keine Angst, der aggressive Darsteller wird sich noch schutzlos am Boden winden). Der Schüler-Macker Jakub Gierszal („Na, ihr Spasten, ready for the KZ-Besuch?“), – den vergisst man nicht. Aufregend, er, der ganze Film.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 10/2013

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Wir sind die Millers

(USA 2013, Regie: Rawson Marshall Thurber)

Nicht mehr normal
von Drehli Robnik

Wir wussten es immer schon: Durchschnittlichkeit lässt sich lernen. Zumindest vortäuschen. So will es die Prämisse dieser Urlaubskomödie: Um eine Tonne Marihuana aus Mexiko einzuschmuggeln, rekrutiert ein kleiner Dealer aus …

Wir wussten es immer schon: Durchschnittlichkeit lässt sich lernen. Zumindest vortäuschen. So will es die Prämisse dieser Urlaubskomödie: Um eine Tonne Marihuana aus Mexiko einzuschmuggeln, rekrutiert ein kleiner Dealer aus Denver eine nicht mehr junge Stripperin, ein obdachloses Gör und einen spätpubertären Dillo; getarnt als weiße Vorzeigefamilie reist man in Dreiviertelhosen und im Wohnmobil, frönt kleinbürgerlichen Kuschelritualen, grinst, winkt und ruft ungefragt: 'Wir sind die Millers!'

Das hat seine Eigendynamik: Die vier Solo-Survivors verfallen allmählich ihrer eigenen Tarnidentität und den Reizen zwanghafter Gutgelauntheit unter Bürstenhaarschnitt und Souvenirsombrero, bis sich denn auch genuine Fürsorgegefühle einstellen. Allerdings lässt der Film ihren Habitus wechselseitiger Angezipftheit so weit intakt, dass allfällige Werte nicht allzu aufdringlich ins Spiel kommen; abgesehen von Unterhaltungswerten, und die resultieren hier aus der Fusion apatowscher Familienaufstellung mit farrellyschem Schweinigeln und hangoverscher Spießerwolfpackpose.

Um ungewollte Schwangerschaft zu vermeiden, heißt es im Geplauder mit Zufallsbekanntschaften auf dem Campingplatz, 'There’s nothing like sticking to the Big A.' – 'Anal?' – 'I meant abstinence.' Ausstattung und Dialoge sitzen, Selbsttechniken des kleinen Glücks (samt ängstlichem Swingerversuch 'from mother to mother') sind mitunter schön beobachtet; die Regie von Rawson Marshall Thurber – den seltsamen Namen hätte man sich nach seiner um einiges deftigeren Völkerballfreakteamkomödie 'Dodgeball' von 2004 merken können sollen – hält das Tempo. Zwischendurch wird im Chor 'Waterfalls' von TLC gesungen, muss wohl auch sein.

Inmitten netter Nebendarsteller (etwa Ed Helms, die Zahnlücke aus den Hangover'-Filmen, als Drogengangboss, der sich im Aquarium hinter seinem Schreibtisch einen Orca hält) machen ihr Ding versiert: Jason Sudeikis, Emma Roberts, Will Poulter und Jennifer Aniston – deren strip- und lapdanceadäquate Figur allerdings ein bisschen sehr anbiedernd ausgestellt wird (alt und schön sind wir selber). Nicht ganz koscher: die Sozioklischees in Sachen kriminelles Mexiko (oder geht es doch mehr um weißsockentragende Amis, die solche Klischees im Kopf haben?). Zum Ausgleich sympathisch jedenfalls: stichelnde Gags mit brutaler Grenzpolizeischikane gegen Jointbesitzer und illegalisierte Einreisende. Auch nicht schlecht, weil lehrreich: der Terminus getting earfucked.

Alphabet

(AT / D 2013, Regie: Erwin Wagenhofer)

Wir Tiefbegabten
von Andreas Thomas

Wer sich die Schule ansieht, sieht sich auch die Gesellschaft an, und wer die Schule kritisiert, kritisiert gleich die Gesellschaft mit. In Erwin Wagenhofers („We Feed the World“, „Let’s make …

Wer sich die Schule ansieht, sieht sich auch die Gesellschaft an, und wer die Schule kritisiert, kritisiert gleich die Gesellschaft mit. In Erwin Wagenhofers („We Feed the World“, „Let’s make Money“) neuem Dokumentarfilm „Alphabet” aber wird nicht nur kritisiert, wie den Menschen eine auf Konkurrenz und Leistung hin getrimmte Pädagogik krank und unglücklich machen kann, es wird auch ein pädagogisches Gegenmodell entworfen, welches A.S. Neill, der Begründer der Summerhill-Schule und der 'Antiautoritären Erziehung', sicherlich gerne mitunterschrieben hätte. Das Interessante dabei: manche der Befürworter einer neuen und freien, nennen wir sie: „Nicht-Schule“, die in diesem Film zu Wort kommen, stammen aus eher pädagogikfernen Bereichen, wie z.B. der Top-Manager Thomas Sattelberger, welcher nach einer erfolgreichen Karriere bei Lufthansa oder Telekom sich gegen eine systematische pädagogische „Verklonung“ des Menschen ausspricht.

Besonders signifikant für diese hier kritisierten „Zurichtungen“ sind Entwicklungen ausgerechnet in der Volksrepublik China, in der sich das Bildungssystem nach der Zuwendung zur Marktwirtschaft wohl radikaler in ein Leistungs- und Konkurrenzprinzip gewandelt hat als irgendwo sonst in der Welt. Bei den weltweiten PISA-Studien rangieren die Bildungsstandards der Kinder von China ganz oben, was de facto bedeutet, dass chinesische Kinder von klein auf mit Wissen vollgestopft werden, dass Prüfungen zum Kinderalltag gehören, dass Kinder sich nicht mehr ausruhen dürfen, dass Kinder auf ihre Eltern neidisch sind, weil die wenigstens noch ein Wochenende haben.

Seit Jahren ist Suizid die häufigste Todesursache bei Chinas Jugendlichen, merkt Professor Yang Dongping besorgt an, Leiter der staatlichen Organisation „Bildung des 21. Jahrhunderts“, und er beschreibt eine radikale Veränderung von einer Schule, in der das gemeinsame Lernen im Mittelpunkt stand, hin zu einer Schule, in der es nur noch darum geht, besser als die anderen zu sein und schneller vorgefertigte Inhalte unhinterfragt zu übernehmen, um schnell Karriere machen zu können.

Man muss bereit sein, Freizeit, Familie, Privatleben für den Beruf, die Karriere, sprich: den Markt, zu opfern. Diese Terminologie von Managerschulen, so Wagenhofer, erinnert nicht zufällig an frühindustrielle bzw. preußisch militaristische Zeiten, wenn propagiert (und praktiziert) wird, dass „für den Unternehmenserfolg alle Mittel erlaubt“ sind und von „Angriff und feindlichen Übernahmen“ gesprochen und gedacht wird. Es geht um Angsteinflößung zum Zweck der Anpassung.

Wenn man dem Film „Alphabet“ Glauben schenken mag, dann steht der Welt ein Paradigmenwechsel bevor. 'Angst', darin sind sich die Befürworter der hier propagierten alternativen Pädagogik einig, ist ein schlechter Pädagoge, und statt Angst müsse 'Liebe' die Basis des Lernens bilden. Liebe und Vertrauen in das Kind, das ja von Natur aus neugierig sei, das alles lernen könne, wenn es nur von sich aus wolle. Einen Menschen zu „bilden“ sei unmöglich, und schon das „Alphabet“-Filmplakat, das (ein Baby unter Wasser greift nach der Weltkugel) offenbar vom Nirvana-„Nevermind“-Cover inspiriert ist, verkündet: „98 % aller Kinder kommen hochbegabt zur Welt, nach der Schule sind es nur noch 2 %.“ (Dasselbe höre ich ständig von meiner Yoga-Therapeutin über mich). Tanzen, Musizieren und Malen, darin scheinen sich alle das Worthabenden einig zu sein, ist das Essentielle, was zu praktizieren sei, der Rest käme von selbst (auch hierin stimmen alle meine versammelten Therapeutinnen überein).

Aber, so ließe sich ein Einwand formulieren, was wäre, wenn alle nur das tun würden, was sie glücklich macht? Dann wäre doch kein Mensch mehr form-oder manipulierbar? Wie stellen sich Filmemacher Wagenhofer und seine Gesinnungsgenossen Gerald Hüther, Thomas Sattelberger, Sir Ken Robinson, Yang Dongping oder Arno Stern denn dann die Zukunft des Kapitalismus vor? Gar nicht? Aber wäre das nicht traurig: eine Welt ganz ohne Angst und Armut und Unterdrückung und Ausbeutung? Ich meine, ein bisschen Thrill muss doch schon bleiben?

Sicherlich merkt der Leser, dass hier Humor obwaltet, aber mal im Ernst, welches Wolkenkuckucksheim schwebt euch eigentlich vor? Man kann ja schon froh sein, wenn irgendwann nach der Bundestagswahl ein Mindestlohn von 10 Euro durchgesetzt würde. – Nichtsdestotrotz, Genossen und Andersdenkende, spricht „Alphabet“ die Wahrheit und er verdient das Angesehenwerden, ebenso wie die Schule und die Gesellschaft, und wie die dann wiederum Kritik verdienen! Aber volle Ölle. Danke für Aufmerksamkeit.

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The Bling Ring

(USA 2013, Regie: Sofia Coppola)

So gut wie kein Sex
von Wolfgang Nierlin

Sie sind jung und schön und konsumgeil. Sie kommen aus wohlhabenden Elternhäusern, besuchen angesagte Promi-Partys und träumen davon, berühmt zu werden. „Ich möchte Teil vom Lifestyle sein“, lautet ein Satz, …

Sie sind jung und schön und konsumgeil. Sie kommen aus wohlhabenden Elternhäusern, besuchen angesagte Promi-Partys und träumen davon, berühmt zu werden. „Ich möchte Teil vom Lifestyle sein“, lautet ein Satz, der diese popkulturelle Sehnsucht beschreibt. Andy Warhol könnte sein Pate sein. Wenn es allerdings um den Narzissmus der überwiegend weiblichen Figuren, ihren ausufernden Markenfetischismus und ihre von Drogen benebelte Vergnügungssucht geht, fühlt man sich eher an das Personal aus den Romanen von Bret Easton Ellis erinnert; oder auch an die in totaler Erschöpfung mündenden Exzesse einer auf Spaß fixierten Jungend in Harmony Korines Film „Spring Breakers“. Nur gibt es in Sofia Coppolas neuem Film „The Bling Ring“ so gut wie keinen Sex. Ihre Heldinnen und Helden zelebrieren das Äußerliche und huldigen den Oberflächenreizen als wären sie schon unberührbare Stars aus einer irgendwie jenseitigen, aseptischen Sphäre. Sein und Schein sind in ihrem Leben identisch und definieren sich über das Haben.

Das Streben nach höheren Weihen und einem exquisiten Lebensstil führt die hedonistische Clique um Marc (Israel Broussard) und Rebecca (Katie Chang) fast unweigerlich zu Beutezügen in den Häusern und Luxusappartements der von ihnen angehimmelten Idole. So gehören etwa Paris Hilton, Lindsay Lohan, Orlando Bloom und Megan Fox zu den Beklauten, die sich bezeichnenderweise offensichtlich nicht einmal die Mühe machen, die Türen ihrer Anwesen angemessen zu verschließen. Der schrille (je nach Lesart auch kulturkritische) Alarm zu diesen nach wahren Ereignissen inszenierten Einbrüchen wird dementsprechend nicht von einer Sicherheitsanlage ausgelöst, sondern gleich zu Beginn über die Noise-Musik der Band Sleigh Bells vermittelt. Darauf folgt die doppeldeutige Aufforderung „Lasst uns shoppen!“ Geradezu ekstatisch greifen die kalifornischen Kids nach Schmuck und Uhren, Handtaschen, Kleidern und Bargeld, wobei ihre Euphorie nur noch Worthülsen eines ungläubigen Staunens produziert: „Cool“, „geil“, „krass“, „Hammer“ oder auch „Oh, mein Gott!“ Die von Luxusartikeln und Konsumrausch geweckte Erotik hat den realen Sex abgelöst.

Noch bei ihrer Festnahme zeigen die Jugendlichen, die zuvor mit ihren Taten auf Partys und im Internet prahlen, wenig Unrechtsbewusstsein. Vielmehr wähnen sie sich vor den TV-Kameras als Stars mit Sendungsbewusstsein, die die „kranke Faszination Amerikas“ verkörpern. Sofia Coppola blickt darauf fast neutral und verdichtet dabei die redundante Handlung in einem permanenten Wechsel aus Beutezug und Party, Entzückung und Rausch. Ihr Film erzählt keine Entwicklung, sondern bildet (mitunter leicht ironisiert) Zustände und Äußerungen eines oberflächlichen Lebensstils ab, die immer wieder von Interviews einer „Vanity Fair“-Journalistin unterbrochen werden. Während diese die Anbindung an den realen Fall dokumentieren, vermittelt Sofia Coppola in schwebenden Zeitlupen, delirierenden Montagen und exzessiven Musikeinsätzen das Lebensgefühl einer anderen, fremden Jugend, die vom modernen Medienkonsum geprägt, ja infiziert ist. Ihr Film „The Bling Ring“ reiht sich so nahtlos ein in ein Werk, das um Einsamkeit, existentielle Leere und Oberflächlichkeit kreist und gerade durch seine Modernität sowie seine inhaltliche und ästhetische Geschlossenheit Coppola als eine der interessantesten und wichtigsten zeitgenössischen Filmemacherinnen ausweist.

Der Kongress

(USA 2013, Regie: Ari Folman)

Glückszeug
von Dietrich Kuhlbrodt

In der ersten Stunde des Zweistundenfilms geht es live um Vertragsverhandlungen zwischen Filmproduktion (Miramount) und Serienstar Robin Wright (Robin Wright). Die Gewinne der Firma drohen einzubrechen. Der Star gerät auf …

In der ersten Stunde des Zweistundenfilms geht es live um Vertragsverhandlungen zwischen Filmproduktion (Miramount) und Serienstar Robin Wright (Robin Wright). Die Gewinne der Firma drohen einzubrechen. Der Star gerät auf die falsche Seite der 40. Was tun? Sie zu Tode liften? Nä. Besser sie, wo es grade noch geht, scannen und dann für die nächsten zwanzig Jahre mit ihrem digitalen Ebenbild den Serienmarkt beherrschen. 'Forever Young' auf der Tonspur. Das ist es! Harvey Keitel tritt auf und hält voll empathisch einen sehr langen Monolog. Dann verschwindet er, ungescannt, für immer aus dem Film.

Harvey ist weg. Aber Robins kleiner Sohn bleibt. Und damit ein Problem. Am Flughafen lässt er direkt vor den landenden Passagiermaschinen einen roten Drachen steigen. Erst wenn der Flieger zerschellt, wird er von Blind- und Taubheit gerettet – meint er. Er braucht die Mutter, und dank Miramount hat sie jetzt Zeit. Wird sie den angehenden Terroristen von seinem Vorhaben abbringen? Wie lebt es sich überhaupt privat mit der öffentlichen Digitalversion?
Wird es spannend? Nein. Schnitt. Zwanzig Jahre später: Robin Wright, 60, wird zum digitalen Kongress geladen. Warum fährt sie hin? Vertragsverlängerung? Egal. Grenzkontrolle zum immerjungen Reich, und damit beginnt die zweite, die Animationsstunde des Films. 60 Minuten Schick im Stil des Yellow Submarine' der Beatles. Jetzt oberirdisch. Pinkfarbener Himmel, hundertstöckige Hochhäuser, botanisch wuchernd und treibend. Ey, Mann, ist das bunt. Psychedelisch. Jedenfalls so, dass dir die Augen zufallen und du gern mal abschaltest. Was du beim Nickerchen verpasst hast, kannst du ja in der nächsten Vorstellung nachholen. Ganz im Sinn von Miramount. Oder aber, du bleibst in der zweiten Stunde hellwach, weil dich interessiert, wie das geht, wenn in dieser Koproduktion acht Animationsstudios zweieinhalb Jahre lang parallel gearbeitet haben. Israel, Deutschland, Polen, Luxemburg, Frankreich, Belgien. Unsere ARD-Degeto ist dabei. Erfolg: Immerhin ist das Design einheitlich.

Viele werden sich jedoch was anderes fragen, nämlich wie weit 'The Congress' auf Stanislaw Lems Roman Der futurologische Kongress. Aus Ijon Tichys Erinnerungen basiert – was der Film behauptet. Die Frage ist leicht zu beantworten, und zwar mit: Na ja, arg reduziert. Gereinigt ist der Film von Lems Erzählfreude, seinem Witz und seiner Bissigkeit.

Futurologisch bleiben die Angst und Sorge vor einer Zukunft, in der eine diktatorische Oligarchie die Mentalität von Menschen beherrscht und manipuliert. Geschrieben vor bald 50 Jahren in Polen, waren Lems Erzählungen – Seemannsgarn im besten Sinne – zu einem Roman gewachsen und zu einer frechen Dystopie der realen kommunistischen Herrschaft geworden. Kein schlechter Gedanke, dass Regisseur und Autor Ari Folman mit seinem Film jetzt – Kurswechsel! – auf die Diktatur der Fun- und Eventindustrie abzielt und auf die Verquickung mit dem Drogenmarkt und -wahn (beginnend mit erlaubten Antidepressiva und endend im Glück der verbotenen Substanzen). Folman macht sich Sorgen um den Berufsstand der Filmschauspieler. Zunächst werden sie ins digitale Bild überführt und sind ab diesem Zeitpunkt entbehrlich. Sodann übernimmt die Pharmaindustrie den Markt und versorgt die Abnehmer mit Glückszeug, das jedem die ureigenste Produktion von Bildern – je nachdem auch von Schreckensbildern – ermöglicht. Ganz die individuelle Rezeption von Stoff.
Was wird dann aber aus Robin Wright? Sorgen über Sorgen. Passiv und ratlos streicht sie durch die psychedelische Welt und erblickt die Phantasiegestalten, die sich ein jeder von und für sich macht. Für immer, hallo, Marlene Dietrich sein, da ist sie schon, oder John Wayne, Che Guevara, Pablo Picasso, Elizabeth Taylor, Michael Jackson, Clint Eastwood, Tom Cruise – Wunschidentitäten im Angebot. Zugreifen! Jedenfalls stellen sich Hollywoods Filmindustrielle das offenbar so vor. Sorry, ich meine natürlich die vielen Köche dieses Produktionsbreis.

Aber das, was ich schreibe, ist Interpretation. Und die überlasse ich gern den Usern des Films. Warnen möchte ich aber aus eigener Erfahrung jene, die von Folmans Waltz with Bashir' (2008) auf die Animation von 'The Congress' schließen. Diese Erwartungen werden enttäuscht. In der Bildumsetzung von 'Waltz with Bashir' ist noch die präzise Handschrift des Autors zu spüren. In 'The Congress' ist allenfalls produktionstechnische Studiokooperation zu bestaunen, leicht angestaubt allerdings. Nicht, dass Animation unbedingt das jeweils neueste Design sein müsste. Sie könnte auch richtig schön retro sein. Jahrzehntealtes Anime beispielsweise. Ja, ein Märchen, ein gaaanz altes, das die Futurologie durch entlegenste Historie ersetzt. Ach, wie war es doch vordem, mit dem, ja, Jungbrunnen so bequem … Wir hätten dann den großen Mythos statt die Sorgen der Schauspielergewerkschaft.

Neinneinnein, Folmans freudloser Film ist nicht das letzte Wort zum Futurologischen Kongress. Ich bin jedenfalls neugierig geworden, die deutsche Verfilmung von Ijon Tichys 'Erinnerungen' zu gucken. Phantastisch und trashaffin dazu.

Erstes Jahrzehnt dieses Jahrhunderts: Die Lem-begeisterten Studenten der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin Randa Chahoud, Dennis Jacobsen und Oliver Jahn entwickeln einen frechen und sofort preisgekrönten Kurzfilm, 'Aus den Sterntagebüchern des Ijon Tichy', gefolgt von einer 14teiligen Serie im ZDF. Gedreht wurde in Jahns damaligem Berliner Altbauwohnzimmer unter futurologischem Einsatz von skurrilen Haushaltsgeräten aus den achtziger und neunziger Jahren. Heute möchte Jahn den Futurologischen Kongress neu verfilmen, auf Spielfilmlänge. Im ZDF könnte das Augenzwinkern eines leibhaftigen Autors die Antwort auf Folmans 'Congress'-Produkt geben. Obschon ARD-Degeto aus eigenem Interesse für quotenträchtige Primetime sorgen wird. Folman läuft in seinem Lem-Film Gefahr, auf die Schiene zu geraten, die er als Negativutopie anzuprangern gedenkt.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 9/2013

White House Down

(USA 2013, Regie: Roland Emmerich)

Roland der Barbar
von Marit Hofmann

Prism? Die Amerikaner spähen uns aus? Dass ich nicht lache. Die deutsche Geheimwaffe arbeitet in den USA unermüdlich an der Zermürbung unseres liebsten Feindes. Ab 5. September ist auch an …

Prism? Die Amerikaner spähen uns aus? Dass ich nicht lache. Die deutsche Geheimwaffe arbeitet in den USA unermüdlich an der Zermürbung unseres liebsten Feindes. Ab 5. September ist auch an der Heimatfront zu sehen, wie Roland Emmerich genüsslich die kühnsten Terrorfantasien auf der Kinoleinwand umsetzt. Nach 9/11 ist er in sich gegangen, nur da war ja nichts, weshalb der nach eigenen Angaben 'subversive' Regisseur beschloss, dass er sich die Bilder von einstürzenden Gebäuden 'von den Terroristen nicht wegnehmen lassen' darf. Nachdem 'unser Mann in Hollywood' bereits in Independence Day' das Weiße Haus in die Luft sprengen lassen hat, explodiert in 'White House Down' – nein, Überraschung, nicht das Weiße Haus, das wird nur bis zum Erbrechen demoliert – das Kapitol. Ein Ablenkungsmanöver der rechtsradikalen Terroristen und ihrer rüstungsindustriellen Verbündeten in der Regierung, die sich derweil im Amtssitz des Präsidenten ins Computersystem einloggen, um mal eben den Atomkrieg auszulösen – oder nur eine Ablenkung von Emmerichs einschlägiger Einfallsarmut?

Ein weißer Muskelprotz (Wäscheständer Channing Tatum) rettet den schwarzen Weicheipräsidenten (Jamie Foxx muss hier für seine Titelrolle in Django Unchained' bitter büßen), der auf weltweite Friedensverträge setzt, weil er glaubt, dass man einen Menschen nur füttern muss, um ihm seine Neigung zur Gewalt auszutreiben (Herrgott, kann dann endlich mal jemand dem Emmerich etwas zu essen geben?), respektive, dass 'die Feder mächtiger' ist 'als das Schwert' – was der Regieveteran zwei Stunden lang aufs unbeeindruckendste widerlegt.

Obama persönlich habe ihm, brüstet sich Emmerich im Filmstarts-Interview, bei einem Wohltätigkeitsdinner gesagt: 'Du hast meine Tochter zu Tode erschreckt.' In Wirklichkeit verfolgt der Kleine-Mädchen-Schreck, der die Figur des ängstlichen Girlies auch gern in seine Lärmbelästigungen ohne Knalleffekt einbaut, eine ganz andere Strategie. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Roland der Barbar sein Ziel erreicht und die Amis zu Tode gelangweilt hat.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 9/2013

Free the Mind

(SW / NL / AUS / FIN / DK 2012, Regie: Phie Ambo)

Gewissensfreiheit
von Andreas Thomas

„Free the Mind“? Gute Idee! Nur überlegt “the Mind”, dieser ewige Zweifler, unwillkürlich: Wovon sollte ich denn eigentlich befreit werden? Der Dokumentarfilm der dänischen Regisseurin Phie Ambo präsentiert zwei psychische …

„Free the Mind“? Gute Idee! Nur überlegt “the Mind”, dieser ewige Zweifler, unwillkürlich: Wovon sollte ich denn eigentlich befreit werden? Der Dokumentarfilm der dänischen Regisseurin Phie Ambo präsentiert zwei psychische Erkrankungen, die man niemandem wünschen möchte, an denen dennoch viele Menschen leiden, zum einen ADHS, das Aufmerksamkeitdefizitsyndrom, was durchaus nicht nur bei Kindern auftritt, dort aber bevorzugt wahrgenommen und gerne medikamentös behandelt wird.

Als Fallbeispiel dient Will, ein fünfjähriger Junge, der in seinem ersten Lebensjahr allein bei fünf verschiedenen Pflegeelternpaaren untergebracht war und zudem das Erlebnis, alleine in einem Fahrstuhl festzustecken, niemals verwunden hat und seitdem Panikattacken bekommt, sobald er nur einen Fahrstuhl sieht.

Das zweite quälende Syndrom ist die Posttraumatische Belastungsstörung, genannt PTBS, eine psychische Erkrankung, die besonders häufig bei Kriegsveteranen beobachtet wird. Der Film zieht zur Syndrom-Beleuchtung heran „Steve“ und „Rich“, beide noch junge Männer, aber schon Kriegsveteranen, die für die USA in Afghanistan „dienten“, beide, so scheint es, unheilbar verstört angesichts ihrer Erlebnisse und Taten als Soldaten. Rich kommt nicht über das Miterleben des qualvollen Todes zweier Freunde bei einem Bombenangriff hinweg und Steve kann nicht vergessen, wie er als Verhörsoffizier dazu gezwungen war, „schlechte Dinge zu tun“ und „wie gut“ er darin war, diese „schlechten Dinge zu tun“. Beide leiden unter Schlafstörungen und unter übergroßer Reizbarkeit, beide haben das Interesse an Dingen verloren, die sie früher gerne mochten. Richs Ehe ist schon kaputt gegangen, und Steves Ehe ist sichtbar gefährdet, weil er seine Aggressionen nicht mehr richtig unter Kontrolle hat.

Für alle Beteiligten scheint zu gelten – „Free the Mind“ jedenfalls stellt es in seiner etwas vereinfachenden Art zunächst so dar -, dass sie als Langzeitindizierte auf eine langfristige Milderung der Symptomatik angewiesen sind und zwar üblicherweise in Form einer pharmazeutischen Therapie, wie z.B. Ritalin (bei ADHS) oder Ambien (bei PTBS). Sonst, so suggerierts der Film, scheint es nichts zu geben. Von der klassischen Psychotherapie, von einer Traumatherapie, von Kinder- und Jugendpsychologie scheint Regisseurin Ambo nichts zu wissen bzw. nichts wissen zu wollen, ebenso wenig wie die Pflegeeltern von Will, denn, wie es das DVD-Booklet verrät: „Anstelle von traditionellen Behandlungsmethoden möchten seine Eltern alternative Methoden ausprobieren.“ Wer nicht will, der hat vielleicht schon.

Dass diese „alternativen Methoden“ sich dann aber nur auf eine von unzähligen Alternativen fokussieren, erscheint dann doch ein bisschen tendenziös. Denn die „Alternative“ hat einen Namen und heißt Professor Richard Davidson. Seines Zeichens Neurowissenschaftler, Psychologe und Psychiater, schon seit Jahren praktizierender Meditierender, erforscht er seit Jahrzehnten die heilende Kraft der Atemmeditation, des Yoga auf unsere Hirnströme (welche im Film immer wieder sehr stimmungsvoll und musikalisch unterlegt visuell als eine Art blitzende Kabel simuliert werden). Besonders neu ist sein Ansatz, nicht nur den lokalen Sitz von Depressionen oder Ängsten im Gehirn zu erforschen, sondern auch die Hirnorte, wo sich Empathie und Mitgefühl manifestieren.

Die „Therapieform Meditation“ nun vergrößerte nachweislich die Erscheinungsbilder in den Arealen von Güte, Liebe etc. im Hirn und damit verbunden, so heißt es, auch im Charakter der betreffenden Personen. Auch bei den Patienten mit den oben beschriebenen Leiden – und das dokumentiert der Film – veränderten sich bereits nach einer Woche regelmäßiger bis zu täglich dreistündiger Atemmeditation die betreffenden Areale zum Positiven und: Die drei Patienten scheinen wirklich vom Druck befreit, der auf ihrem Leben lastete.

Der kleine Will traut sich wieder, mit einem Fahrstuhl zu fahren und die Afghanistan-Veteranen verspüren wieder Lebensfreude.

Einmal ganz von der Binsenweisheit abgesehen, dass fernöstliche Entspannungstechniken wie Yoga oder Meditation seit jeher einen positiven Einfluss auf menschliche Psyche und Körper bewirkt haben, könnte der Film den Eindruck erwecken, (und er distanziert sich dabei überhaupt nicht von Davidson selbst) als käme die Wirksamkeit von Atemübungen aus der Lehre des Yoga letztlich doch nur dadurch zustande, dass man (Davidson) diese Wirkung bildlich veranschaulichen kann, was natürlich Unsinn ist.

Viel fragwürdiger jedoch ist das Paradigma, das offenbar hinter dieser Art von Funktionalisierung und Mechanisierung des menschlichen Gehirns existiert, und das speziell in der modernen Hirnforschung verbreitet zu sein scheint, wonach die gewonnene Fähigkeit, emotionale Prozesse und Denkprozesse nicht nur abzubilden sondern auch mechanisch bzw. physisch zu beeinflussen, dazu zu verführen scheint, herkömmliche Faktoren menschlicher Fühl- und Denkweisen, wie Erfahrungen oder Denkmuster, sprich Lebensgeschichten und daraus resultierende Lebensstrategien und –einstellungen als sekundär zu bewerten.

Im Fall von „Free the Mind“ (und deshalb ist auch der Titel schon so unangenehm zweideutig) könnte das gar zum Schluss verleiten, dass es ja nichts ausmacht, wenn Soldaten dazu angehalten werden, „schlechte Dinge“ zu tun, solange man sie aus den daraus resultierenden Traumata befreien kann. Man könnte sie vielleicht sogar mehrfach „wieder verwenden“, wenn das zum Betreiben eines „notwendigen Krieges“ (selbigen hinterfragt dieser Film nicht ein einziges Mal) angezeigt wäre.

Dass ausgerechnet ein Trauma, das ein offenbar bis an die Grenze des Folterns agiert habender Soldat davon zurückbehält, nur als pathologische Einschränkung betrachtet und behandelt wird, ist symptomatisch für eine Zeit, der das Gewissen, wenn nicht gar überhaupt das reflektierende Denken, wenigstens aber die Empathie verloren zu gehen drohen, in der es keine Diskussionen mehr zu geben scheint über Richtig und Falsch, über Humanität oder Inhumanität.

Es gibt ja nichts Gesünderes bzw. Menschlicheres als Menschen, die mit dem Unmenschlichsten, was die Menschheit kennt, dem Krieg, nicht fertig werden können. Fraglos gut ist es für traumatisierte Soldaten, wenn sie wieder ein lebenswertes Leben führen können; noch besser für die Menschheit im Allgemeinen aber wäre es, wenn solche Traumatisierten auch ihre Erfahrungen verarbeiten dürften/könnten, indem sie sie benennen und vielleicht gar öffentlich machen würden, denn vielleicht hat ja ein Trauma, ähnlich wie ein gerechtfertigter Gewissenskonflikt, auch seinen Sinn als Signal für Missverhältnisse und für einen Weg zur Veränderung.

Die Davidson-Methode allerdings, so hilfreich sie für den Emotionshaushalt der Betroffenen zunächst auch sein mag, erinnert ein wenig an orwellsche Lösungen, an Gehirnwäsche, an Amnesie, da wo eigentlich Aufarbeitung, Bewusstmachung und z.B. ein anderes, grundsätzlich pazifistisches Weltbild nötig wären.

Samsara

(USA 2011, Regie: Ron Fricke)

Existentieller Schauder
von Wolfgang Nierlin

Für Godfrey Reggios zivilisationskritischen Kultfilm „Koyaanisquatsi“ war Ron Fricke einst als Bildgestalter verantwortlich. Sein eigener, aktueller Dokumentarfilm „Samsara“, ein assoziativ komponiertes Werk aus Bildern und Tönen, knüpft thematisch und ästhetisch …

Für Godfrey Reggios zivilisationskritischen Kultfilm „Koyaanisquatsi“ war Ron Fricke einst als Bildgestalter verantwortlich. Sein eigener, aktueller Dokumentarfilm „Samsara“, ein assoziativ komponiertes Werk aus Bildern und Tönen, knüpft thematisch und ästhetisch gewissermaßen daran an. Dabei handelt es sich – wie schon beim Vorgänger „Baraka“ – um eine Produktion der Superlative: Über vier Jahre lang wurde in 25 Ländern an fast hundert Schauplätzen gedreht, und zwar mit hochauflösenden 70-mm-Kameras, deren analoges Material für die Kinoauswertung mit einer 4K-Auflösung digitalisiert wurde. Das Ergebnis sind gestochen scharfe Breitwand-Bilder in brillanten Farben, die durch ihre Dichte und Tiefe ein eindringliches visuelles Erlebnis vermitteln. Doch „Samsara“ ist kein Wohlfühlkino über die Wunder dieser Erde, vielmehr bleibt trotz aller überwältigenden Schönheit immer auch ein Schrecken, ein existentieller Schauder spürbar.

Ron Frickes Film „Samsara“, dessen Titel im Sanskrit auf den beständigen Wandel im Kreislauf des Lebens verweist, bewegt sich inhaltlich zwischen den Polen Geburt und Tod, Werden und Vergehen. In atemberaubenden Zeitraffer-Aufnahmen wandern Licht und Schatten über Wüstenlandschaften und brodelnde Vulkane sowie über die schrecklich faszinierenden Formationen von Verkehrsströmen und Menschenmassen. Dabei entstehen fast irreale Bilder zwischen Natur und Kultur, hypermoderner Architektur und archaischem Leben, etwa im Kontrast zwischen einem afrikanischen Dorf und einer Megacity oder auch in der Gegenüberstellung des vom Hurrikan Katrina zerstörten New Orleans und der zerbrechlichen Schönheit des Schlosses von Versailles als Zeichen von Größe und Macht. Immer wieder spricht der Film in Gegensätzen, kontrastiert das Monumentale mit dem Alltäglichen und findet dabei auch zu dramatischen Momenten.

Wie das unglaublich große Heer von Pilgern, die dichtgedrängt um die Kaaba von Mekka wirbeln, als handle es sich um das Auge eines Sturms, strukturieren oft Kreisbewegungen die Bilder. Die zyklische Wiederholung und die rotierende Vervielfachung als Prinzipien des Lebens bestimmen Produktions- und Verwertungsprozesse, in denen ganze Armeen von Arbeitern wie emsige Ameisen kleinteilige Handgriffe an der Schnittstelle von Mensch und Maschine vollführen. Dabei entstehen mechanische Ballette, die auf erschreckende Weise den Weg des Fleisches und der Maschinen als permanenten Kreislauf von Schöpfung und Zerstörung beschreiben. Noch in dem beschwerlichen Tun der Müllsammler, die die Abfallberge eins rücksichtlosen zivilisatorischen Raubbaus durchforsten, ist dieser transformatorische Funke präsent. Wenn die buddhistischen Mönche, die zu Beginn in minutiöser Kleinarbeit ein großartiges Lebensrad-Sandbild gestalten, dieses am Ende wieder auslöschen, ist das nicht nur eine Geste, die alles Menschenwerk als vergänglich ausweist, sondern die zugleich auf einen möglichen Neubeginn zeigt.

The Call – Leg nicht auf!

(USA 2013, Regie: Brad Anderson)

Hört die Signale – und speichert sie alle!
von Drehli Robnik

Von den vier Regisseuren im heutigen Mainstreamspielfilmbetrieb, die mit Nachnamen Anderson heißen (und nicht verwandt sind: Paul Thomas, Paul W.S., Wes und Brad), ist Brad Anderson der durchgängig dem düsteren …

Von den vier Regisseuren im heutigen Mainstreamspielfilmbetrieb, die mit Nachnamen Anderson heißen (und nicht verwandt sind: Paul Thomas, Paul W.S., Wes und Brad), ist Brad Anderson der durchgängig dem düsteren Spannungskino zugeneigte. In seltsamen Thrillern wie 'The Machinist', 'Transsiberian' oder 'Herrschaft der Schatten' hatte er immer wieder Situationen der Beengung und des Lichtmangels ausgekostet; 'The Call – Leg nicht auf' handelt nun von einer Entführten, die über zwei Drittel des Films in Autokofferräume gesperrt ist. Von dort aus sendet das Mädchen Hilfssignale, vor allem aber hält sie Handykontakt mit einer engagierten Telefonistin der Polizeinotrufzentrale (Halle Berry). Die im Zusprechen von Trost und Hoffnung versierte Ordnungshüterin ist von ihrer Ohnmachtserfahrung in einem früheren, ähnlichen Fall traumatisiert, hat nun quasi etwas gutzumachen.

Auch der Kidnapper ist ein seelisch Leidender, der etwas gutmachen will: Er bastelt am Rekonstruieren eines Idealbilds seiner verlorenen kleinen Schwester (mithin an einem morbiden Idyll von Whiteness samt Girliekitschaltar); in seinem Autoradio läuft 1980er-Synthiepop (Tacos Version von 'Puttin´ on the Ritz', im doppelten Sinn eine Erinnerung an glamouröse Zeiten, die dahin sind); später im Verlies, wenn er der Entführten als fetischistischer Friseur zu Leibe rückt, legt er eine eiernde Cassette mit Culture Clubs 'Karma Chameleon' ein. Aha, da ist wohl jemand ein kränkelndes Chamäleon, das sich anverwandeln will, und offenbar auch nicht ganz straight als Mann, was der Film unguter Weise als ungut zu verstehen gibt.

Sowohl täter- als auch polizistinnenseitig erinnert da einiges ans 'Schweigen der Lämmer', ohne je dessen Level an Spannung und Sozialdiagnostik zu erreichen. Und der feministische Aspekt dieses neuzeitlichen Thrillerklassikers, die gendermäßig prekäre Verortung der Ermittlerin in ihrem Milieu, ist hier ersetzt durch einerseits die Problematik des unzureichenden Distanzhandelns am Telefon, das nach Eingriff vor Ort ruft, und anderseits eine merkliche Aufgehobenheit der Heldin in ihrem Arbeitsalltag, die ethnisch konturiert ist (woraus wir hier gleich eine Deutungskonsequenz ziehen werden). Aber immerhin: Andersons nicht allzu langer Film bietet einiges an Suspense mit ahnungslosen Zeugen, die dem Entführer auf seiner Fahrt begegnen, und recht originelle Ideen in Sachen Dramatik und Pragmatik im Kofferraum (an sich kein typischer 'Handlungs- und Kommunikationsort' für einen Genrespielfilm). Insofern verdient der Regisseur eine Chance, allerdings vielleicht eher eine Art zweite Chance, einzulösen erst – und hoffentlich – mit seinem nächsten Film.

Einlösen einer zweiten Chance: Das schwingt als Sinnbild prominent mit in diesem Hollywoodfilm zum Thema des 'Rufs', der reich ist an vom Drehbuch als mehrdeutig definierten Objekten. Mehr noch als unlängst Spielbergs Lincoln' ist ,'The Call' ein Film zum Beginn von Obamas zweiter Amtszeit. Wie beim US-Präsidenten geht es hier auch für Halle Berry – eine Art First Lady im Sinn einer Black American Firstness und Leadership, als erste Schwarze Gewinnerin eines Oscar als Leading Actress (2002), notorisch für das Pathos ihrer Dankesrede – in ihrem War Room-artigen Kontrollzentrum und im Kreise anderer Uniformträger, von denen auffallend viele African Americans sind, darum, dass eine starke Ansage nicht bloße Rede bleiben soll. Auch bei der Ordnungshüterin mit den großen Worten und den (berufsgemäß) 'großen Ohren' unter der landläufig als Afro bezeichneten Schneckerlfrisur bedeutet die zweite Chance, dass ein mit rhetorischem Geschick (oder bloßer rhetorischer Routine?) formuliertes Schutz- und Hilfsversprechen diesmal nicht wieder gebrochen werden soll.

Die Ohnmachtserfahrung im moralischen Ausgangspunkt und ein Fahnenmast mit den Stars and Stripes, der im investigativen Plot wie auch in der Inszenierung eines rächenden Endlich-tätig-Werdens eine Doppelrolle spielt, als Signalgeber auf der Aufzeichnung eines Telefonats mit dem Täter wie auch als unverhohlene Ikone der Ermächtigung und unbedingten Rechtschaffenheit: Dies lässt die Entfesselung von hochgerüsteter Rasterfahndung und multimedialer Dauerüberwachung als ersehnte Rettung und unhinterfragbares Allheilmittel erscheinen. Und es legitimiert noch die finale rape-revenge movie-hafte Selbstjustizgeste, kraft derer der Entführer in seinem eigenen Verlies eingeschlossen und offenbar dem Verhungern preisgegeben wird. Naja. Als US-Staatsmacht ohne rechtliche Grundlage Telefonate überwachen oder Leute ohne Gerichtsurteil bis zum Sanktnimmerleinstag einsperren – das ist natürlich nicht OK, aber auch eher etwas weit hergeholt.

Only God Forgives

(F / DK / TH 2013, Regie: Nicolas Winding Refn)

Wen Gott kastriert
von Drehli Robnik

Posing und Droning mit Gosling in Nicolas Winding Refns Familien-Rachedrama 'Only God Forgives' In einigen Filmen des dänischen Hipsterschnöselkonzeptualisten Nicolas Winding Refn geht es in bester Melodramtradition darum, dass Leute …

Posing und Droning mit Gosling in Nicolas Winding Refns Familien-Rachedrama 'Only God Forgives'

In einigen Filmen des dänischen Hipsterschnöselkonzeptualisten Nicolas Winding Refn geht es in bester Melodramtradition darum, dass Leute bis zur Lächerlichkeit tragisch scheitern beim Versuch, eine Rolle zu erfüllen, um zu gefallen: und zwar etwa ihrem christlichen Gott zu gefallen in 'Valhalla Rising', dem Gangsterübervater zu gefallen in 'Pusher II', dem eigenen Selbstbild in 'Bronson', zuletzt einer alleinstehenden Mutter in Drive'.

In letzterem Retrokonsensfilm war Herzbub Ryan Gosling allerdings äußerst erfolgreich darin, diversen Feinspitzzielgruppen zu gefallen. In Winding Refns 'Only God Forgives' spielt er nun eine eigentümlich demontierte Star-Rolle als US-Drogendealer und Kickboxmanager in Bangkok. Diffus sind Milieu und Motivation, forciert hingegen ist sein Bemühen, abermals einer Singlemutter zu gefallen – diesmal der eigenen. (Das für Winding Refn typische Thema einer Quasi-Vaterschaft, durch die der Adoptivvater eine Übertretung begeht und sich ins Abseits manövriert, klingt am Ende an, als ein kleiner Bub einem Rachemassaker zum Opfer zu fallen droht.)

Only God Forgives: Wo nur Gott vergibt, da wollen alle anderen Revanche und Strafe: Mutter (Kristin Scott Thomas als frivole Diva in Blond) kommt nach Thailand, weil ihr Lieblingssohn zur Strafe für die Ermordung einer Prostituierten seinerseits zerfleischt wurde. Ihren Zweitsprössling, eben Gosling, treibt sie mit Penislängenvergleichen und verschlingendem Sohnespflichtappell dazu an, ihren Rachedurst zu stillen. Dritter im ungesunden Bunde ist ein lokaler Polizeioffizier als strafender Gottvater, der stets – man weiß nicht, wie und wo – einen riesigen Säbel bei sich führt, um Gangster zu foltern oder auch um Hände abzuhacken, die sich immer wieder zu sehr nach Mutters Schoß gesehnt und gestreckt haben.

Das ist viel bizarrer als es sich liest, stellenweise extrem brutal und so inszeniert, dass Unvermögen und Übererfüllung fiebertraumhaft ineinanderfließen. Im grellen Schwarzrot erstickender Bordellkorridore werden Haltungen der Hingabe ausritualisiert. Wer (wie ich) gefrorene Posen mit schmachtendem Gosling goutiert, kriegt hier, in Übererfüllung solch schnöden Begehrens, voll den Ryan reingedrückt, allerdings in Anblicken eines Selbstopferdandys auf dem Trip ins Sichstrafen- und -schlagenlassen.

Dabei zeichnet sich eine seltsame Verbindung zwischen Winding Refns Retro-Styling und dem postkolonialen Setting seines Films ab. In 'Valhalla Rising' hatten sich desorientierte nordische Erst-'Entdecker' Amerikas in eine Neue Welt verirrt, die sie für das Heilige Land hielten, um dort, schlussendlich unter den Schlägen indifferenter Indigener, das ironische Ziel ihrer Reise und Hybris zu finden; hier steuern nun Amerikaner_innen, die ihre Triebe und Präferenzen über Tabus und Gesetze stellen, auf das kastrierende Strafgericht eines orientalischen Ordnungshüters zu, dessen Erscheinung sich in der Gelassenheit von immer wieder insertierten Götterstatuen verdoppelt. Diesem im Film ausgelebten Masochismus, zumal der Unterwerfung unter Mutters Leib und unter Vaters resultierende Kastrationsdrohung, korrespondiert Winding Refns alles andere als fröhliches Regredieren in filmische Herkünfte, sein Wühlen in Motiv-, Bild- und Tongestaltungsrepertoires von Lynch, Cronenberg und Kubrick (er selbst nennt Undergroundfilmer Richard Kern als Inspiration), das sich als zutiefst schuldig zu verstehen gibt und rückhaltlos schwülstig daherkommt. Zurück in den Bauch der Herkunft und Antreten zur Selbstdemontage des westlichen Tat-Menschen an einem Ort aufgebauschter Fernost-Exotik: Da weht auch ein Hauch der Eröffnungssequenzen von Apocalypse Now' herüber – die räumliche und schicksalhafte Unentrinnbarkeit im Angesicht einer Buddhastatue und Gosling als (auch physiognomischer) Wiedergänger des sich auslöschen wollenden Martin Sheen.

Aller Drive steuert hier Gerinnung und Erstarrung an – in ominösem Fernostkitsch, in Blutbädern ohne jede Action (alle warten auf den nächsten Schmerz), in Nicht-Gesprächen, bei denen zwischen Sätzen, selbst zwischen Schreien, Minuten vorgehen (von denen der Film nur neunzig lang ist). Die Musik stammt wie schon bei 'Drive' von Cliff Martinez, aber es ist nicht ein Bobo-Partyhit dabei, stattdessen Synthiedrones, katatonisches Karaoke vor der andächtig versammelten Polizeibrüderhorde, Götterbilder und real human beings ohne Erlösungsvision. Das ist schon auch höherer Blödsinn, aber – anders als der zur Zeit noch im Kino laufende ödipale Determinismus mit Gosling am Place Beyond the Pines' – ins offenkundig Irrwitzige und Ausgehöhlt-Mysteriöse ausgespielt. Um den Filmtheoretiker und CARGO-Kritiker Daniel Eschkoetter zu paraphrasieren: Ein echter Fuck you!-Film. No, schlecht?

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Paulette

(F 2012, Regie: Jérôme Enrico)

Drogen-Oma und Space-Kekse
von Wolfgang Nierlin

Das Leben der betagten Titelheldin fasst der französische Regisseur Jérôme Enrico im Vorspann zu seiner Filmkomödie „Paulette“ folgendermaßen zusammen: Die Hochzeit mit Francis, die Geburt der Tochter Agnés, die gemeinsame …

Das Leben der betagten Titelheldin fasst der französische Regisseur Jérôme Enrico im Vorspann zu seiner Filmkomödie „Paulette“ folgendermaßen zusammen: Die Hochzeit mit Francis, die Geburt der Tochter Agnés, die gemeinsame Arbeit im eigenen Restaurant und der Tod ihres geliebten Ehemannes am 11.9.2001. Jetzt ist Paulette (gespielt von der kürzlich verstorbenen Bernadette Lafont) bereits seit zehn Jahren Witwe und im Fernsehen wird an die Anschläge auf das World Trade Center in New York erinnert. Weil ihr Restaurant mittlerweile von Chinesen betrieben wird und sie mit einer kleinen Rente von 600 Euro an der Armutsgrenze lebt, ist sie verbittert. Doch das alles erklärt kaum ihren offenen Rassismus und ihre verbalen Ausfälle gegen „Schlitzaugen“ und „Neger“, die beim Kinopublikum für wohliges Lachen sorgen. Ihr rabiater Hass auf Ausländer, genährt auch vom Gegeneinander in der heruntergekommenen Sozialbausiedlung, in der sie lebt, trumpft mit einer gewissen Selbstverständlichkeit auf. Ihrem schwarzen Beichtvater attestiert Paulette: „Sie hätten es verdient, weiß zu sein.“

Die kratzbürstige, nassforsche Rentnerin mit grantiger Art ist also im schlechten Sinn politisch unkorrekt und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. Vor allem besitzt sie eine unbeugsame Kämpfernatur, die auch vor Abwegen nicht zurückschreckt und die gefordert ist, als wegen Zahlungsunfähigkeit ihre Wohnungseinrichtung gepfändet wird. Durch Gelegenheit und mit mutiger Unerschrockenheit steigt sie ins Drogengeschäft ihres Viertels ein, dealt mit Haschisch, erweist sich darin als geschäftstüchtig und überflügelt bald die jugendliche Konkurrenz. Daraus resultiert natürlich Ärger, der sich noch zuspitzt, als die „Drogen-Oma“ die „Speisekarte erweitert“, mit sogenannten „Space-Keksen“ expandiert und damit nicht zuletzt die Aufmerksamkeit eines mächtigen russischen Drogenbosses erregt.

Jérôme Enricos Parodien auf das Milieu der Kriminellen lassen dieses ziemlich lächerlich aussehen, indem er die bekannten Klischees ins Abwegige zuspitzt. Das komödiantische Potenzial seines Films wiederum resultiert aus dem Kontrast zwischen einer kämpferischen Alten inmitten von Drogenkriminalität und sozialen Verwerfungen, deren Beschreibung allerdings harmlos bleibt. Der märchenhafte gesellschaftliche Aufstieg der Protagonistin, die von Bernadette Lafont bravourös verkörpert wird, und die Versöhnung von – sowohl menschlich wie backtechnisch – scheinbar Unvereinbarem, erschöpfen sich insofern restlos in vergnüglicher Wohlfühlunterhaltung.

Halbschatten

(D / F 2013, Regie: Nicolas Wackerbarth)

Bestellt und nicht abgeholt
von Ulrich Kriest

Es ist ein Warten. Als Merle in der Cóte d’Azur-Villa des Verlegers Romuald eintrifft, wird sie von niemandem erwartet. Und die Gegend sieht auch nicht gerade spektakulär aus, grau und …

Es ist ein Warten. Als Merle in der Cóte d’Azur-Villa des Verlegers Romuald eintrifft, wird sie von niemandem erwartet. Und die Gegend sieht auch nicht gerade spektakulär aus, grau und diesig, irgendwo werden Gartenabfälle verbrannt. Schließlich kommt, mit Verspätung, der Hausmeister vorbei, öffnet das Tor und führt durch das Architektenhaus. Erst jetzt, direkt hinterm Pool, fällt der Blick aufs Meer. Beeindruckend. Merle bekommt vom Hausmeister das Gästezimmer angewiesen, was irgendwie brüsk erscheint, und erkundet dann das Haus. Romuald lässt weiter auf sich warten. Dafür kommen die beiden pubertierenden Kinder des Verlegers, die offenbar Ferien haben und Merle wie einen unerwünschten Eindringling behandeln.

Man sieht Merle interessiert dabei zu, wie sie versucht, sich souverän zu positionieren: zum offensichtlichen Reichtum des Hauses mit seiner explizit geschmackvollen Einrichtung („This room is very aware of itself“, hatte die Freundin von Francis Halladay einmal abschätzig angemerkt. Das hätte auch hier gut gepasst.), zu den beiden Kindern, zu der ganzen prekären Situation des Sich-einrichten-Wollens im Fehl-am-Platz-sein. Selbst die Hunde hinter den Zäunen verbellen sie beim Spazierengehen, selbst der Bäcker unten am Hafen kanzelt sie rüde ab. Wenn Gäste kommen, darf sie kurz dabei sitzen, kommen die Kinder hinzu, die die Nachbarn sehr gut kennen, kann Merle unbemerkt verschwinden. Merle richtet sich trotzdem im Warten ein, geht einkaufen und schwimmen, ist den Kindern mal Kumpel, mal Ersatzmutter. Es sind Versuche, Rollenspiele. Rollenspiele auf der Basis, dass sie sich einschreiben müsste/könnte in das Leben des abwesenden Romuald, in dem sie offenbar (bis jetzt) doch keine Rolle spielt. Wie singt Bernd Begemann: „Ich bin ein Fremder in deiner Wohnung und werde es bleiben.“

Der Filmemacher Nicolas Wackerbarth, zugleich einer der Herausgeber des ambitionierten Filmmagazins „Revolver“, hat im Zusammenhang mit seinem Langfilmdebüt etwas provozierend davon gesprochen, sein Film sei ein „Thriller über einige ereignislose Tage“. Ganz in der Manier von einigen Filmen der sogenannten „Berliner Schule“, zu der, gäbe es sie denn, Wackerbarth wohl zu zählen wäre, hält er sich in Sachen Information und Plot-Konstruktion sehr zurück und setzt stattdessen auf detailgenaue Beobachtung, die nicht sofort für etwas Anderes steht, sondern erst einmal nur für sich selbst. Zum Glück kann er sich dabei auf seine Hauptdarstellerin, die Theatergröße Anne Ratte-Polle, die viel zu selten im deutschen Film („Die Nacht singt ihre Lieder“ von Romuald Karmakar) zu sehen ist, verlassen. Es ist bemerkenswert, mit welcher Präsenz die Schauspielerin ihre Rolle im Halbschatten der Geschichtsstille auszufüllen versteht. Man weiß bis zum Schluss dieser unerhört spannenden Studie des Wartens nicht, ob die Cóte d’Azur für Merle nun Endstation oder Aufbruch ist. Schließlich verschwindet sie wie ein Phantom aus einer Geschichte, die wir nur als fernes Echo wahrgenommen haben. Es ist natürlich ein Zufall, dass „Halbschatten“ am gleichen Tag startet wie „Frances Ha“, aber es ist ein sehr glücklicher. Merle könnte die ältere Schwester von Frances sein.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Frances Ha

(USA / BR 2012, Regie: Noah Baumbach)

„Ich bin noch gar keine richtige Person!“
von Ulrich Kriest

„Every 1’s A Winner“. Der alte Hit von Hot Chocolate erklingt wie ein boshafter Kommentar, wenn Frances, die Protagonistin des neuen Films von Noah Baumbach, erkennen muss, dass sie das, …

„Every 1’s A Winner“. Der alte Hit von Hot Chocolate erklingt wie ein boshafter Kommentar, wenn Frances, die Protagonistin des neuen Films von Noah Baumbach, erkennen muss, dass sie das, was sie vom Leben erwartet, vielleicht niemals bekommen wird. Es ist ein arger Weg der Erkenntnis, den sie bis zu diesem Zeitpunkt des Films gehen musste: Als Tänzerin nicht sonderlich erfolgreich, ist sie stets darum bemüht, sich ihre Existenz nicht zu offensichtlich von ihren prekären Lebensbedingungen diktieren zu lassen, um weiterhin mit bohemistischen Lebensformen und Stylewars experimentieren zu können. Als sie ihren Hipster-Freunden, die als Künstler-Assistenten oder Möchtegern-Drehbuchautoren für Filme wie „Gremlins 3“ arbeiten, einmal erschöpft »gesteht«, dass sie »arm« sei, wird ihr das sofort als prätentiös vorgehalten: eine Beleidigung aller »wirklich Armen«.

Als später überraschend ein Scheck vom Finanzamt kommt, spricht Frances spontan eine Einladung zum Abendessen in einem Restaurant aus, an dessen turbulentem Ende ihre Einsicht steht: „Ich bin noch gar keine richtige Person!“ Ihre Unsicherheit, die charmant herüberkommt, kaschiert Frances gerne, indem sie sich mittels eines forcierten Freundschaftsbegriffs der solidarischen Geistesverwandtschaft versichert, die sich in einem »intimen« Blickwechsel inmitten einer größeren Gesellschaft substantialisiert. Diese kleine Utopie der intimen Geistesverwandtschaft macht die Figur liebenswert, aber auch verletzlich. Im Sinne jenes ganz alten Songs von Lou Reed sagt sie über ihre beste Freundin Sophie, sie seien ein und dieselbe Person, nur eben mit unterschiedlichen Haaren.

Dass man eine solche Beziehung vielleicht etwas flexibler gestalten sollte, davon erzählt „Frances Ha“. Auch. Denn der Film ist eine bittersüße, leicht melancholische Studie in Sache herausgezögerte Postadoleszenz, die Frances zu einem klassischen Drifter macht, während und weil die Verhältnisse um sie herum allmählich ihr Fluidum verlieren. Dass Frances in den Tag hineinlebt, wird früh klar, als ihre Freundin und Mitbewohnerin Sophie ihr mitteilt, dass sie nach Tribeca umziehen werde, um dort mit einer Frau zusammenzuleben, von der man weiß, dass sie nicht „dazu“ gehört. Aber Sophie, die schon eine feste Anstellung bei „Random House“ hat, ist ohnehin eine etwas unsichere Partie, deren kalkuliertes Erwachsenwerden sie im Laufe des Films in wachsende Distanz zu Frances bringt. Sophie zieht in die bessere Gegend, hat einen merkwürdigen Freund und gibt schließlich ihren Job auf, um mit ihrem Verlobten nach Japan zu gehen. Einmal sagt jemand, dass Frances ihr Leben nicht auf die Reihe bekomme, aber die Art und Weise, wie andere in „Frances Ha“ ihr Leben auf die Reihe bekommen, schmeckt nach faulem Kompromiss und Anpassung an etwas sehr Uninteressantes, ja, Lähmendes.

Obwohl sich der Film um die vielen und teilweise schon sehr schmerzhaften Rückschläge in Frances‘ Leben nicht drückt, haben Baumbach und Hauptdarstellerin Greta Gerwig, die auch Drehbuch-Co-Autorin ist, beschlossen, dass sie ihre Protagonistin schützen wollen. Frances lässt sich nicht unterkriegen. Nicht, als sie erfährt, dass sie die Rolle, die ihr die Miete des Winters sichern sollte, nicht bekommt. Nicht, als ihr die Leiterin der Ballettschule den Bürojob in der Tanzschule – als Schwangerschaftsvertretung – anbietet, damit sie Zeit hat, sich »neu zu orientieren«. Und auch nicht – und damit wären wir wieder bei „Every 1’s A Winner“ -, als Frances sich vielleicht etwas zu spontan zu einem „Zwei Tage in Paris“-Trip entschließt, extrem kostspielig und so vergeblich und sinnlos, dass es schmerzt, dabei zuzuschauen – obschon es auch ganz schön komisch ist.

Paris mit seinen verpassten Verabredungen und schon geschlossenen Buchhandlungen ist zwar längst noch nicht der Tiefpunkt in Frances‘ Leben, doch der Film schließt mit einer Choreografie, bei deren Premiere alle Freunde im Publikum sitzen. Endlich hat Frances tatsächlich mal etwas auf die Reihe bekommen, doch auf Komplimente reagiert sie zurückhaltend: „Ich liebe es, wenn etwas wie ein Fehler aussieht!“ Am Ende präsentiert sie uns mit Blick in die Kamera ein bisschen stolz ihre erste eigene Wohnung. Als sie das Namensschild – Frances Halladay – am neuen Briefkasten anbringt, reicht der Platz nicht hin. So kommt der Film zu seinem seltsamen Titel. The rest is yet to come!

Das Schöne an „Frances Ha“, einmal abgesehen von der überwältigen Präsenz und dem Charme der Hauptdarstellerin Greta Gerwig, ist die Unbekümmertheit, mit der Regisseur Noah Baumberg seine Coming-of-Age-Geschichte in die richtigen Zusammenhänge rückt, daraus intertextuell Kapital schlägt und zudem Sympathiepunkte einheimst. Die Musik stammt zu weiten Teilen von Georges Delerue und öffnet ein Tor zur Nouvelle Vague, zumal manchmal Szenen oder Atmosphären aus „Jules und Jim“ oder „Die Außenseiterbande“ angespielt werden und Baumbach Gerwig ungefähr so verliebt inszeniert, wie Godard es mit Anna Karina tat. Den Pop-Kontrapunkt dazu setzt David Bowies 1983er-Hit „Modern Love“, zu dessen Klängen Greta Gerwig einmal auf dem Weg zu einer neuen Untermiete durch New York tanzt. Doch um „Modern Love“ geht es in „Frances Ha“ eher nicht, zumal Frances leitmotivisch als „undateable“ gilt. Aber in „Modern Love“ finden sich auch die schönen Zeilen „I’m standing in the wind / But I never wave bye-bye“.

Ein New York-Film in Schwarz-weiß? Da landet man schnell bei Woody Allens Spät-70er-Meisterwerken „Manhattan“ und „Stardust Memories“, wenngleich Gerwigs Performance eher an Diane Keaton in „Annie Hall“ denken lässt. So fügt sich doch eins zum anderen. Greta Gerwig spielte mit ihrer eigenwilligen Körperlichkeit, die manch einen Kritiker schon zum Gebrauch des unschönen, aber nicht untreffenden Wort „Trampel“ greifen ließ, vor ein paar Monaten die Hauptrolle in der Campus-Komödie „Damsels in Distress“ (2011), dem sehr überraschenden Comeback von Whit Stillman, der vor Jahrzehnten mit „Metropolitan“ und „The Last Days of Disco“ Filme gedreht hat, die gar nicht so weit von „Frances Ha“ entfernt sind.

Schließlich bedeutet der neue Film, nach „Greenberg“ bereits die zweite Zusammenarbeit von Baumbach und Gerwig, wohl den endgültigen Durchbruch der einstigen „Meryl Streep of Mumblecore“, die es seit „Hannah Takes the Stairs“ (2007) zu einer ganz erstaunlichen Filmografie zwischen Indie-Underground („Nights And Weekends“), angetäuschtem Indie-Mittelbau („Lola Versus“) und Arthaus-Mainstream wie Woody Allens „To Rome With love“ gebracht hat. Man sieht: Mit „Frances Ha“ schließen sich Kreise, zumindest einige davon lohnen die Entdeckung – andere die Erinnerung.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 8/2013

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World War Z

(USA 2013, Regie: Marc Forster)

Seuchenblockbuster
von Louis Vazquez

Wieder einmal überrennen Infizierte die Welt, und diesmal scheut man sich nicht, sie Zombies zu nennen. So ganz bricht die Zivilisation aber noch nicht zusammen: Ein paar US-Regierungsmitglieder und Militärs …

Wieder einmal überrennen Infizierte die Welt, und diesmal scheut man sich nicht, sie Zombies zu nennen. So ganz bricht die Zivilisation aber noch nicht zusammen: Ein paar US-Regierungsmitglieder und Militärs versuchen, von einem Flugzeugträger aus die Weltrettung zu organisieren. Der Ex-UN-Beamte Gerry Lane (Brad Pitt) wird dazu mit einem Angebot konfrontiert, das er nicht ablehnen kann. Er soll sich zusammen mit einem Wissenschaftler und einer militärischen Eskorte in Korea auf die Suche nach dem Ursprung des Virus machen, damit ein Gegenmittel entwickelt werden kann. Im Gegenzug dürfen Lanes Frau Karen (Mireille Enos) und die Kinder weiter auf dem Flugzeugträger bleiben, obwohl der Platz dort begrenzt und eigentlich für Funktionsträger vorgesehen ist. Allen Anderen bleibt nur der gefährliche Gang in die noch gefährlicheren Flüchtlingslager. Beim Einsatz in Korea aber läuft leider nichts nach Plan: Es beginnt eine atemlose Odyssee um den Globus.

„World War Z“ ist die offenbar sehr freie Adaption eines Romans von Max Brooks. Während im Roman verschiedene Erzähler eine globale Perspektive erzeugen, verwerfen Marc Forster und Co-Produzent Brad Pitt dieses Konzept zugunsten einer geradlinigen Geschichte und einer attraktiven Hauptfigur, die im Wettlauf mit der Zeit um die Welt jetten muss. Von den genrebildenden Qualitäten des klassischen Zombiefilms entfernt man sich mit diesem Outbreak-Thriller denkbar weit, schließlich hat man einen Blockbuster im Sinn.

Während die Ensemblestrategie vieler Zombiefilme stets damit rechnen lässt, dass lieb gewonnene Figuren das Zeitliche segnen und Heldsein kaum mehr bedeutet als seine Menschlichkeit zu wahren, soll der Held in „World War Z“ im Auftrag einer eben doch noch vorhandenen Ordnungsmacht für die Wiederherstellung der Zivilisation sorgen. Unter Zeitdruck, wo doch sonst die Uhren längst nicht mehr ticken, wenn es um die trostlose Verwaltung der letzten Tage geht. Auch wenn der ehemalige UN-Angestellte Lane als „Ermittlungsbeamter“ bezeichnet wird, scheint sein Job eher in die Kategorie Superagent oder gar Superheld zu fallen – da überlebt man locker auch mal einen Flugzeugabsturz. So gehört der Ausbruch der Seuche in einem Verkehrsstau in Philadelphia zu den gelungensten Szenen des Films, denn da ist die Perspektive noch relativ alltagsnah.

Natürlich bietet „World War Z“ neben effektreichen Totalen mit Zombiehorden auch klaustrophobische Standardlocations wie ein Hochhaus oder ein Forschungslabor. Die Schnitzeljagd-Dramaturgie lässt aber nie die Befürchtung aufkommen, es könnte sich um einen letzten Zufluchtsort handeln, sondern jagt gleich weiter zum nächsten Schauplatz. Es soll sich ja bloß niemand langweilen. Man tut es auch nicht, zumal Lane bald eine Begleiterin bekommt, mit der man nicht unbedingt gerechnet hat.

Dass die globale Bedrohung für eine Annäherung im Nahen Osten sorgt und dann ausgerechnet ein gemeinsam angestimmtes Friedenslied der Auslöser dafür ist, dass die Mauern Jerusalems überrannt werden, gehört nicht zu den geschmackssichersten Ideen des Drehbuchs. Immerhin entpuppt sich der Verdacht, das Virus könne seinen Ursprung in Israel haben, als falsche Fährte.

Weil „World War Z“ jugendfrei und für alle gemacht ist, muss man sich um Lanes Familie letztlich keine großen Sorgen machen. Dass eine Voiceover des Helden zum Happy End martialisch auf eine Fortsetzung des Kriegs mit allen Kräften einschwört, hat nichts mit den ambivalenten, offenen Enden des Zombiegenres zu tun: Die Androhung einer neuen Franchise ist womöglich das Gruseligste an diesem bis dahin gar nicht schlecht erzählten Actionreißer.

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World War Z

(USA 2013, Regie: Marc Forster)

Ein Quantum Mensch
von Drehli Robnik

Der Weg in den 'World War Z', den Weltkrieg der schrumpfenden Menschheit gegen wachsende Unmengen an Zombies, führt nicht zuletzt vom chopper zum chopping (und inkludiert im Vorbeigehen bzw. -laufen …

Der Weg in den 'World War Z', den Weltkrieg der schrumpfenden Menschheit gegen wachsende Unmengen an Zombies, führt nicht zuletzt vom chopper zum chopping (und inkludiert im Vorbeigehen bzw. -laufen auch das Shopping von Nahrung und Medikamenten im schon halb leergeplünderten Supermarkt im katastrophenfilmhaften ersten Handlungsdrittel): Der Weg führt von Helikoptern und anderen Militärflugzeugen, die alle nur zeitweise Schutz bieten, zu antiquiertem Gerät wie etwa einer Axt im Einsatz gegen bissige Ex-Menschen oder gegen die infizierte Hand einer Heldin.

Zombies breiten sich überallhin aus: im Fernsehen, in der Kinderliteratur, in Onlinebildern kollektiver Späße, nun (recht spät) auch im Kino auf Blockbusterniveau. Da steckt viel Geld, Produktionszeit und -streit drin; das Ende des Films wurde, wie ausführlich in diversen Medien kolportiert, zum Teil neu gedreht ('But this is not the end… Our war is just beginning!'), Anblicke fleischlicher Gewalt sind hier nur angedeutet bzw. per Schnitt ins Off abgedrängt, um in den USA das Rating 'PG-13 – Ab 13 in Begleitung' zu bekommen. Allerdings: Der Häckselschnitt frenetischer Actionszenen und das Entfalten der Symptomatologie, eben: der Andeutungen, der Epidemie in Alltagssituationen zumal des Massenverkehrs, das gelingt dem Hollywood-Schweizer Marc Forster recht gut, nachdem er mit dem schnellen Schneiden von James Bond-Action in 'Ein Quantum Trost' (2008) eher Verwirrung hinterlassen hat. Das Sound Design ist effektiv, sowohl in ominösen Hall-Tönen als auch trockenem Aufprallkrachen oder den kreischenden Stimmen der Zombies, und das 3D-Bild fällt nicht weiter unangenehm auf.

Ein Actionfilm also, mit einem Bond-artigen globalen Stationenlauf (plus ein wenig Rätselrallye samt einer Belehrungsinformatik in Dialogen und Rückblenden, die von einem erhöhten Gehirntotenanteil auch in den Kernzielgruppen dieser Großproduktion auszugehen scheint): Es geht von New York und Newark, über eine US-Flugzeugträgerflotte auf offenem Meer als Nothauptquartier und Evakuierungszwischenlager und eine US-Basis in Südkorea bis schlussendlich Wales – alles auf gehetzter Suche nach Antworten hinsichtlich Auslöser und Abhilfen zu dieser Epidemie, die von Anfang an (Independence Day' lässt grüßen) als Krieg behandelt wird.

Der Trumpf, der im Weltkrieg die Lage wenden könnte, besteht allerdings in Verhaltensweisen zunehmender Bremsung und Erstarrung zwischen den Glasscheiben und Monitoren eines Labors der WHO bis hin zum – mehr sei hier nicht angedeutet – rettenden Quasi-Suizid. Ein bisweilen furioser Zombie-Actionfilm kehrt somit ein ins ostentativ Inaktive, in ein 'Death protects you' (ein Merksatz im Dialog, quasi in Erwiderung auf den eingangs einmal formulierten 'Movement is life'): Darin liegt eine gewisse Ironie, ein möglicherweise ethisches Moment – aber auch die Erfüllung eines Vermächtnisses, bedenkt man, dass (ungeachtet der leidigen Frage 'Rennen oder nicht?') die wirklich krassen Zombiefilme, etwa die von Lucio Fulci aus den späten 1970ern, stets in höhepunktartige Szenen einer nachgerade obszönen Totalerstarrung aller, auch der menschlichen, Körper mündeten. Außerdem gehört das Spiel mit einer Nach-Lebendigkeit und kultivierten Passivität von Protagonisten mittlerweile zu den Standards des konzeptueller angelegten Actionkinos (eine Art kategorische Immer-schon-Zombifiziertheit im Sinn des Befallen- oder Programmiert-Seins, für die Filmtheoretiker Thomas Elsaesser das Label post-mortem-Kino geprägt hat).

Schließlich ließe sich die nach und nach 'bejahte' und ins Autotherapeutische gewendete Demontiertheit des Helden hier als eine Art Kompensation verstehen: Wenn denn schon das breit gefächerte, auf diverse UNO-Standorte verteilte Figurenensemble der Romanvorlage von Max Brooks in der Verfilmung auf einen Helden verdichtet wurde, dann soll dieser eine wenigstens nur ein halber sein. Brad Bitt spielt ihn, dem einige Missgeschicke mit dem Uralt-Mobiltelefon oder einem Eisentrumm, das ihn gänzlich durchbohrt, unterlaufen, umgeben von zweitrangigen Eben-doch-nicht-Aktionsträgern und scheinsouveränen Figuren, die alle ihre kleinen, oft lustigen Momente der Demontage erfahren. Über das durchwegs nicht-weiße 'racializing' dieser Figuren, kulminierend im hexenhaft horriblen, per close-up gemolkenen Anblick einer zombifizierten afrikanischen WHO-Mitarbeiterin, sollten wir uns vielleicht noch mal unterhalten.

Jedenfalls gehört das Bild der Vielen in 'World War Z' ganz den Zombies, die sich in Spasmen winden und vor allem in Körperkaskaden ergießen oder auftürmen. Ein prägnanter und zutiefst phobischer Blick auf das Phänomen und Existenzial 'Masse', inszeniert von einem Regisseur, dessen James Bond sich bisher am meisten unter den von Daniel Craig verkörperten als Subjekt des Ressentiments präsentiert hat (als Rächer der vom Kapital biopolitisch Ausgedörrten, als Versteher einer Rächerin, als Zombie, den nur der Automatismus seines Revanchetriebs am Leben hält). Hm. Das hat einen Nachgeschmack, ebenso wie die lange Sequenz in Jerusalem in der Mitte von 'World War Z'.

Warum, wird gefragt, hält der jüdische Staat dem weltweiten Zombiesturm zunächst Stand? Weil er im Bau von Schutzwällen und Checkpoints versiert ist, sagt ein CIA-Mann und die Szenerie in der israelischen Hauptstadt. Ein dortiger UNO-Beamter führt weiter aus, dass Israel als einziger Staat die ersten verstreuten und wirren Nachrichten über Zombie-ähnliche Krankheitsfälle beherzigt und mit dem Mauerbau begonnen habe – nachdem 'wir' schon mehrmals Gerüchten von der drohenden Vernichtung nicht geglaubt haben: in den 1930ern, vor der Olympiade 1972, vor dem Yom Kippur-Krieg 1973. Aus Prägungen der Vergangenheit, so sei kurz vermerkt, resultiert ein Wissen davon, was zu tun ist, wenn‘s in Grenznähe blutig wird: so etwa auch bei den an der syrisch-israelischen Grenze am Golan stationierten und jüngst fluchtartig abgezischten UNO-Truppen aus Österreich, das sich einst nicht nur an den Massenmorden während des 'World War Y', denen der Staat Israel einen Teil seiner Ratio verdankt, engagiert beteiligt, sondern sich eben auch danach erfolgreich als unzuständig aus potenziell brenzliger Verantwortung vertschüsst hat.

'World War Z' zeigt uns allerdings defintiv keine Blauhelme, sondern IDF-Truppen mit 'robustem Mandat' bei der Verteidigung des eingemauerten und eingegitterten Jerusalem. Wer gerührt ist vom Anblick des Heroismus israelischer Soldat/innen im Überlebenskampf (da lassen Szenen mit Marines Sergeant Vasquez – wer sie kennt … – aus Camerons 'Aliens' grüßen), wird hier ebenso bedient wie jene, die in den monumentalen Mauerpanoramen (halb Griffith-Kino, halb Gameästhetik) ihre Sicht Israels als rassistischer Besatzungsmacht wiederfinden wollen. Keine Zielgruppe wird brüskiert. Alle kriegen was zu sehen, das ihnen zuspricht, und zwar im selben Rahmen. Ein Vexierbild nennt das die Wahrnehmungspsychologie. In der Politik und im Kino sprechen wir eher von einem sog. Blockbuster.

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Fliegende Liebende

(SP 2013, Regie: Pedro Almodóvar)

Grenzwertige Flugreisende
von Wolfgang Nierlin

Alles Folgende ist reine Fiktion, lautet verkürzt der erste Satz in Pedro Almodóvars neuem Film „Fliegende Liebende“ („Los amantes pasajeros“), bevor der fantasievoll gezeichnete Vorspann eine ironisch-verspielte Bekräftigung dazu liefert. …

Alles Folgende ist reine Fiktion, lautet verkürzt der erste Satz in Pedro Almodóvars neuem Film „Fliegende Liebende“ („Los amantes pasajeros“), bevor der fantasievoll gezeichnete Vorspann eine ironisch-verspielte Bekräftigung dazu liefert. Schrill und bunt, schräg und ein wenig verdreht, vor allem aber erotisch und queer ist der Mikrokosmos, den der spanische Meisterregisseur in seiner Komödie entfaltet. Ein Flugzeug der Fluggesellschaft „Península“ dient ihm dabei als Theaterbühne, auf der ein illustres Figurenensemble lustvoll und provozierend tabulos agiert. Schließlich geht es in „Fliegende Liebende“ vor allem darum, unter den vertrauenserweckenden Wirkungen von Alkohol und Drogen unbequeme Wahrheiten auszusprechen.

Deren gravierende erste lautet, kaum ist der Airbus 340 in der Luft und die Funktion der Schwimmwesten erklärt: Ein Fahrwerk funktioniert nicht. Also kreist die Maschine, die eigentlich nach Mexiko fliegen soll, über Toledo, während ihre ratlosen Piloten auf eine Genehmigung zur Notlandung warten. Um Panik unter den Passagieren zu vermeiden, wird die Touristenklasse kurzerhand mit Beruhigungsmitteln in Schlaf versetzt. Nur in der Business-Class regen sich Sorgen, die bald von Bekenntnissen und Exzessen abgelöst werden: Eine Hellseherin, die die tödliche Gefahr förmlich riecht, will ihre Jungfräulichkeit verlieren; ein betrügerischer Geschäftsmann und ein untreuer Frauenheld sind auf der Flucht, während ein junges Ehepaar in die Flitterwochen fliegt; und schließlich verheddern sich ein Bolaño lesender Auftragskiller und sein charmantes Opfer auch noch im gemeinsamen Liebesspiel.

Befeuert werden diese nicht zuletzt sexuellen Eskapaden von einem stimulierenden Cocktail, der wiederum von einem schwulen Flugbegleiter-Trio gemixt und verabreicht wird. Mit reichlich Alkohol und köstlichen Travestien, aus denen eine Tanzeinlage zum Song „I’m so excited“ von den Pointer Sisters herausragt, beflügeln die drei förmlich diese grenzwertige Flugreise, der das Ziel abhanden gekommen ist. Bei Almodóvar sind sie die ins Tuntige überzeichneten Zeremonienmeister, die mit ihrer Kunst den Flug in der Schwebe halten, die gebeutelten Passagiere mit ihren Lebensdramen versöhnen und schließlich für eine sanfte Bruchlandung sorgen.

Frances Ha

(USA / BR 2012, Regie: Noah Baumbach)

Dinge, die wie Fehler aussehen
von Andreas Busche

„Ich bin noch keine richtige Person', sagt Frances in Noah Baumbachs neuem Film „Frances Ha'. Und wie könnte sie auch? Frances hat keinen Job, keine Ambitionen, kein Geld, keine eigene …

„Ich bin noch keine richtige Person', sagt Frances in Noah Baumbachs neuem Film „Frances Ha'. Und wie könnte sie auch? Frances hat keinen Job, keine Ambitionen, kein Geld, keine eigene Wohnung, und wie zum Beweis ihrer Unfertigkeit für das „erwachsene' Leben passt ihr Namensschild nicht mal vollständig an ihren Briefkasten. Frances Ha steht dann da. Für ihre Freunde – selbstverliebte, in irgendwas mit Medien und Kunst rummachende New Yorker Hipster – ist sie einfach „undateable': ein hoffnungsloser Fall nach dem klassischen Regelwerk der Paarbildung, auf das in Hollywoods Jugendwahnkino noch immer alles hinausläuft. „Frances Ha' verweist mit seiner musikalischen Schwarz-Weiß-Lakonie jedoch auf einen etwas avancierteren Erzählstrang des romantischen Selbstfindungstopos – von Truffaut und der Nouvelle Vague über Woody Allen bis zu Lena Dunham und ihrer Lumpen-Boheme aus „Girls'.

Irisierender Fixpunkt in Baumbachs Generationenporträt ist Greta Gerwig, die einen Großteil der Dialoge selbst geschrieben hat. Gerwig ist so ziemlich die unmöglichste „Star'-Erscheinung im aktuellen US-Kino, was auf der flirrenden Dissonanz ihrer Physis beruht: eine Ansammlung schiefer, nicht getroffener Noten und krummer Akkordfolgen, die die seltsam-schönsten Melodien ergeben. Zum Beispiel, wenn Gerwig zu David Bowies „Modern Love' durch die Straßen von New York tanzt und hüpft oder während eines Dates vom Tisch aufspringt, um auf der Suche nach einem Geldautomaten durch die Straßen zu rennen – und sich fürchterlich auf die Nase legt. „Ich mag die Dinge, die wie Fehler aussehen', sagt Frances einmal, als wäre sie ihr eigenes Gesamtunstwerk.

Baumbach vollzieht die Unwägbarkeiten in Frances‘ Leben anhand ihrer ständig wechselnden Adressen nach, die sie bis zurück ins Haus der Eltern und die Studentenunterkünfte ihres alten Colleges führen. So entwickelt „Frances Ha' unterschwellig auch eine Topographie der Gentrifikation von Brooklyn. Das Wohnen ist neben Arbeit und Sex ständiges Thema in den Gesprächen, etwa in denen zwischen Frances und ihrer besten Freundin Sophie, die sogar einen richtigen Job in einem Verlag hat. Frances ist trotz dieser prekären Verhältnisse unkaputtbar, ihre soziale Retardierung macht sie für die Fährnisse ihrer Generation scheinbar unanfällig. Und Greta Gerwig ist der hinreißendste Trampel der jüngeren Kinogeschichte.

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Only God Forgives

(F / DK / TH 2013, Regie: Nicolas Winding Refn)

Abziehbilder der Gewalt
von Carsten Happe

Bevor der eigentliche Abspann beginnt, wenn das Metzeln beendet ist und das Blut fast getrocknet, nimmt eine Widmung die gesamte Leinwand ein: „Dedicated to Alejandro Jodorowsky'. Dies kommt nicht von …

Bevor der eigentliche Abspann beginnt, wenn das Metzeln beendet ist und das Blut fast getrocknet, nimmt eine Widmung die gesamte Leinwand ein: „Dedicated to Alejandro Jodorowsky'. Dies kommt nicht von ungefähr: Nicolas Winding Refn, der für „Drive“ in Cannes den Regiepreis gewann und mit dem stylishen Gangsterfilm bewies, dass er das Regelwerk Hollywoods mit dem europäischen Arthousefilm zu verknüpfen versteht, verehrt den chilenischen Kultregisseur über alle Maßen. Das zeigte sich auch beim diesjährigen Festival in Cannes, als dem 84-jährigen Jodorowsky nicht nur für dessen ersten Film seit 22 Jahren eine Bühne bereitet, sondern auch mit der Doku „Jodorowskys Dune“ Tribut gezollt wurde. In der Rekonstruktion eines der am spektakulärsten gescheiterten Projekte der Filmgeschichte, für das Jodorowsky unter anderem Salvador Dalí, Orson Welles und Pink Floyd engagierte, tritt Refn als Fanboy auf, der dem Regisseur von „El Topo“ seine filmische Sozialisation verdanke. Als Fan saß Refn auch nach der Vorführung minutenlang im Saal vor Jodorowsky und huldigte dem Pionier des Mitternachtskinos.

Wenn nun Refns neues, mit immenser Spannung erwartetes Racheepos „Only God Forgives“ diesen Referenzraum eröffnet, scheitert er in mehrfacher Hinsicht. In seiner ausgestellten Oberflächlichkeit und nur als selbstzweckhaft zu bezeichnenden Brutalität hat die Gewaltorgie im thailändischen Unterweltmilieu rein gar nichts mit Jodorowskys surrealer Spiritualität zu tun. Selbst die Schockmomente, die beide Filmemacher einen, sind von höchst unterschiedlicher Qualität. Insbesondere die Dramaturgie von „Only God Forgives“ wirkt eigentümlich unterentwickelt und unfertig, die Charaktere sind reine Abziehfiguren, die in Zeitlupe durch die neongetränkten Bilder schlafwandeln. Lediglich Kristin Scott Thomas als prollige Gangstermama bringt etwas Leben in den blutleeren Plot und wird dann allzu früh schnöde abgeschlachtet. Ryan Gosling dagegen schweigt sich noch einmal durch seine „Drive“-Rolle, die diesmal, ohne den 73er Chevrolet Chevelle, lediglich auf Autopilot vor sich hin tuckert.

Die entrückten Bilder von „Only God Forgives“ ergeben einen hübschen, vielversprechenden Trailer, aber statt der gesamten, immer quälenderen 90 Minuten sollte man vielmehr einen Blick in „El Topo“ oder „Montana Sacra“, Jodorowskys Meisterwerke aus den Siebzigern, werfen und den eigentlich immens talentierten Nicolas Winding Refn diesmal in der Fankurve stehen lassen.

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The Dark Knight Rises

(USA 2012, Regie: Christopher Nolan)

Kraftmeierei
von Harald Steinwender

Seit acht Jahren hat sich der Millionär Bruce Wayne (Christian Bale) in seinem Herrenhaus verkrochen, wo er den Tod seiner großen Liebe Rachel betrauert. Doch dann stürzt der Terrorist Bane …

Seit acht Jahren hat sich der Millionär Bruce Wayne (Christian Bale) in seinem Herrenhaus verkrochen, wo er den Tod seiner großen Liebe Rachel betrauert. Doch dann stürzt der Terrorist Bane (Tom Hardy) Gotham City mit einer Serie von Anschlägen ins Chaos und droht, die Metropole mit einer Atombombe zu vernichten. Wayne schlüpft ein letztes Mal in die Rolle seines Alter Ego Batman und nimmt den Kampf gegen Bane auf. Unerwartete Unterstützung erhält er von der Meisterdiebin Selina Kyle (Anne Hathaway).

Seit 'Batman Begins' (2005) zählt Christopher Nolan zu den innovativsten Blockbuster-Regisseuren Hollywoods. Mit Filmen wie 'The Prestige' ('Prestige – Die Meister der Magie'; 2006), 'The Dark Knight' (2008) und Inception' (2010) gelang es dem Briten, verschachtelte, hochkomplexe Geschichten zu erzählen und zugleich ein Millionenpublikum zu erreichen. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an 'The Dark Knight Rises', den 250 Millionen US-Dollar teuren Abschlussfilm der Trilogie, die Nolan sieben Jahre zuvor mit 'Batman Begins' so furios eröffnet hatte.

Wie schon in den ersten beiden 'Batman'-Filmen greift Nolan auf ein hochkarätiges Schauspielerensemble zurück, das ein Wiedersehen mit Morgan Freeman, Michael Caine und Gary Oldman in ihren bekannten Nebenrollen bietet. Christian Bale in der Titelrolle legt Bruce Wayne diesmal als psychisch und physisch gebrochenen Schmerzensmann an, der erst Erlösung findet, als er in der Rolle Batmans seinen inneren Dämonen gegenübertritt. Neu zum Ensemble stoßen Anne Hathaway als 'Catwoman', Marion Cotillard in der Rolle der undurchsichtigen Philanthropin Miranda und Tom Hardy als Bane.

Die großen Actionsequenzen, darunter die Zerstörung eines ganzen Stadions während eines Footballspiels, sind, wie kaum anders zu erwarten, atemberaubend inszeniert. Wally Pfister, seit 'Memento' Nolans Stammkameramann, erschafft eine von blau-grauen Farbtönen bestimmte Schattenwelt, die gleichermaßen klaustrophobisch wie bombastisch wirkt. Nur selten wird die düstere Atmosphäre des Films durch Humor gebrochen, ein Aspekt, der 'The Dark Knight Rises' trotz Konzessionen an das Familienpublikum von herkömmlichen Großproduktionen abgrenzt.

Doch die Schauwerte täuschen kaum über die Schwächen des Drehbuchs hinweg. Vieles wird in 164 Minuten Laufzeit auserzählt, was Andeutung hätte bleiben können; die Motivation der Figuren bleibt oft schwer nachvollziehbar. Die größte Enttäuschung ist Hardys Bane, ein aller Kraftmeierei und der futuristischen Atemmaske zum Trotz erstaunlich blasser Antagonist. Nie kommt die Figur an das abgründige Charisma von Heath Ledgers anarchischem Joker oder Liam Neesons aristokratischen Ra’s al Gul aus den Vorgängerfilmen heran. Letztlich wirkt Bane wie ein Drehbuch-Kniff, einzig dazu ersonnen, Batman aus seinem inneren Exil zurückzurufen und die Handlung in Gang zu setzen.

'The Dark Knight Rises' ist gewiss kein schlechter Film. Als ausgezeichnet fotografiertes Überwältigungskino wird er die Fans der Serie vermutlich zufrieden stellen. Gemessen an seinen beiden Vorgängerfilmen ist er allerdings eine Enttäuschung. Christopher Nolan scheitert vor allem an den von ihm selbst gesetzten hohen Maßstäben.

Dass es während einer Vorpremiere in den USA zu einem Amoklauf in einem Kino kam, bei dem der 24-jährige mutmaßliche Täter zwölf Menschen tötete und 58 weitere zum Teil schwer verletzte, ist tragisch und wirft einen Schatten über den jüngsten 'Batman'-Film. Die vereinzelt in den Feuilletons großer Tageszeitungen herbeigeschriebenen Parallelen zur Handlung von 'The Dark Knight Rises' darf man jedoch bezweifeln: Der Täter konnte den Film noch gar nicht gesehen haben, als er mit seiner Mordserie begann. Wahrscheinlicher ist es, dass er die Premiere des lange erwarteten und aufwendig beworbenen Sommerblockbusters auswählte, um ein Maximum an medialer Aufmerksamkeit zu erhalten. Sein widerwärtiges Ziel hat er leider erreicht. Die Kinogänger in den USA haben sich jedoch entschlossen, sich von dem ganz realen Terror eines Einzelnen nicht vom Kinobesuch abhalten zu lassen – am Startwochenende hat 'The Dark Knight Rises' in den USA 160 Millionen Dollar eingespielt.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Die drei Musketiere

(D / F / GB / USA 2011, Regie: Paul W. S. Anderson)

Dumas for Dummies
von Harald Steinwender

Der junge D’Artagnan (Logan Lerman) verlässt sein Elternhaus in der Gascogne, um als Musketier in den Dienst des Königs zu treten. Doch bereits auf dem Weg nach Paris gerät der …

Der junge D’Artagnan (Logan Lerman) verlässt sein Elternhaus in der Gascogne, um als Musketier in den Dienst des Königs zu treten. Doch bereits auf dem Weg nach Paris gerät der Hitzkopf in Todesgefahr, als er den überheblichen Rochefort (Mads Mikkelsen) zum Duell fordert. Nur die mysteriöse M’lady De Winter (Milla Jovovich) bewahrt ihn vor dem sicheren Tod. In Paris legt sich D’Artagnan dann mit den drei Musketieren Athos, Porthos und Aramis (Matthew Macfadyen, Ray Stevenson und Luke Evans) an. Nach einem gemeinsamen Kampf gegen 40 Männer der Kardinalsgarde ist der Streit jedoch vergessen. Zudem wartet auf die Vier eine gefährliche Aufgabe, denn der durchtriebene Kardinal Richelieu (Christoph Waltz) will durch eine Intrige einen Krieg mit England entfesseln.

Alexandre Dumas‘ 1843/44 erstmals publizierter Roman 'Die drei Musketiere' zählt nicht nur zum französischen Klassikerkanon, sondern auch zu den beliebtesten Inspirationen der Filmindustrie. Geschätzte 50 Adaptionen sind seit der Frühzeit des Kinos entstanden, darunter George Sidneys schwelgerische Technicolor-Verfilmung mit Gene Kelly und Lana Turner (1948) und Richard Lesters kongenial zwischen Satire und ernsthaftem Abenteuerfilm changierendes Diptychon 'The Three Musketeers' / The Four Musketeers' ('Die drei Musketiere' / 'Die vier Musketiere'; 1973/74). Paul W. S. Anderson, eher ein Garant für anspruchlose, aber erfolgreiche Actionware, hat sich nun für die deutsche Produktionsfirma Constantin an einer Neuauflage des Stoffs in 3D versucht – und ein eher überflüssiges und seelenloses Spektakel abgeliefert.

Gewiss ist die jüngste Version von D’Artagnans Abenteuern aufwändig produziert und wartet mit barocker Ausstattung und eindrucksvollen Drehorten auf, die in den Altstädten und auf den Schlössern Bayerns gefunden wurden, u.a. in Würzburg, Bamberg, München und auf der Insel Herrenchiemsee. Doch abseits solcher Schauwerte enttäuscht der Film umso nachhaltiger.

Insbesondere die Versuche, den zeitlosen Stoff für ein junges Publikum zu modernisieren, wirken bemüht, so etwa der an die 'Indiana Jones'-Filme angelegte Prolog in Venedig oder die Zeitlupensequenzen und Martial-Arts-Einlagen, die von dem Science-Fiction-Film 'The Matrix' (1999) inspiriert sind. Drehbuch, Figuren und Dialogen gehen Tragik und emotionale Tiefe vollständig ab. Von der abgründigen Erotik der Femme fatale M’lady De Winter aus Dumas‘ Roman lässt das somnambule Spiel Milla Jovovichs kaum etwas erahnen, die drei Musketiere sind stereotype Comic-Figuren und Orlando Bloom als Herzog von Buckingham ist grotesk fehlbesetzt. Selbst der sonst so wandelungsfähige Mads Mikkelsen spielt lustlos und absolviert seinen Part mit exakt einem Gesichtsausdruck, so dass dagegen selbst Til Schweigers Kürzestauftritt einprägsam erscheint. Lediglich Christoph Walz amüsiert mit gewohnt süffisantem Sarkasmus.

So wirkt diese lärmige Neuadaption wie das, was sie vermutlich in erster Linie ist: ein am Reißbrett entworfenes und ausschließlich von Zielgruppenerwägungen geleitetes Kommerzprodukt, dem jeglicher Charme abgeht. Entsprechend stellt sich im Kino gepflegte Langeweile ein.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Hugo Cabret

(USA 2011, Regie: Martin Scorsese)

Die Reise zu Méliès
von Harald Steinwender

Nach dem Tod seines Vaters (Jude Law) wird der zwölfjährige Hugo Cabret (Asa Butterfield) in den 1930er Jahren von seinem Onkel Claude (Ray Winstone) aufgenommen. Für diesen wartet er die …

Nach dem Tod seines Vaters (Jude Law) wird der zwölfjährige Hugo Cabret (Asa Butterfield) in den 1930er Jahren von seinem Onkel Claude (Ray Winstone) aufgenommen. Für diesen wartet er die Uhren des Pariser Bahnhofs Montparnasse und lebt in dem von Gängen durchzogenen Gewölbe des alten Gebäudes. Als sein Onkel spurlos verschwindet, führt Hugo dessen Arbeit heimlich weiter. Eines Tages begegnet er einem alten Spielwarenhändler (Ben Kingsley), der Hugo das Notizbuch seines Vaters abnimmt. Um das Erinnerungsstück zurückzubekommen, muss der Junge sein Versteck im Bahnhof verlassen. Dabei kommt er einem großen Geheimnis auf die Spur.

Marin Scorsese zählt nicht nur seit 40 Jahren zu den bedeutendsten Filmregisseuren unserer Zeit, er besitzt auch ein nahezu enzyklopädisches Filmwissen. Seine Leidenschaft für das Kino hat der 69-jährige Filmemacher schon oft bewiesen: mit Dokumentarfilmen über italienische und US-amerikanische Filmgeschichte, auch durch unzählige Anspielungen an von ihm verehrte Regisseure, die seine Filme durchziehen. Mit 'Hugo Cabret', seinem 22. Spielfilm, hat Scorsese nun eine Liebeserklärung an das Kino als Illusionsmedium inszeniert. Denn die Entdeckungsreise führt den jungen Hugo zu Georges Méliès, einem bedeutenden Protagonisten des frühen Films, der nach dem Scheitern seiner Karriere in den 30er Jahren tatsächlich in einem Spielzeugladen der Metrostation Montparnasse arbeitete.

'Hugo Cabret' ist in zweifacher Hinsicht ein Novum in Scorseses Karriere: Er ist Scorseses erster 3D-Film. Und er ist der erste Film dieses Regisseurs, der als Chronist des rauen Straßenlebens und der urbanen Gewalt berühmt wurde, den man sich vorbehaltslos mit der ganzen Familie ansehen kann. Gegenüber Brian Selznicks Vorlage 'Die Erfindung des Hugo Cabret', einer Mischung aus Comic, Bilderbuch und Roman, hat Scorsese Figuren wie den verbitterten Stationspolizisten abgemildert, den Sacha Baron Cohen nun als liebenswerten Tölpel spielt. Die brillant choreografierten Slapstick-Szenen, die ausgezeichneten Kinderdarsteller sowie Gastauftritte von Schauspielern wie Jude Law und Christopher Lee sind gleichermaßen auf ein junges Publikum wie Erwachsene ausgerichtet.

In erster Linie ist 'Hugo Cabret' aber ein rauschhaft schöner Film, der sich ganz auf die visuelle Kraft des Kinos verlässt. Scorsese und seinem Kameramann Robert Richardson gelingt es, das 3D-Format tatsächlich als erzählerisches Element einzusetzen. Wie zuvor nur James Camerons 'Avatar – Aufbruch nach Pandora' ('Avatar'; 2009) erweitert 'Hugo Cabret' den filmischen Raum in eine bislang nicht gesehene Tiefe, die sich der Perspektive des kindlichen Helden annähert. Tanzende Schneeflocken, Rauch, Dampf und Nebel verleihen den in Komplementärfarben gehaltenen Bildern Plastizität. Die Räume, darunter ein labyrinthisch verästeltes System von Gängen im Gewölbe des Bahnhofs und eine wie in die Unendlichkeit erweiterte Bibliothek, sind schlicht atemberaubend. Bereits die Exposition, in der die entfesselte Kamera durch das wuselige Treiben des Bahnhofs schwebt, rechtfertigt den Kinobesuch. Und wenn Scorsese die Filme Méliès‘, darunter den handkolorierten Science-Fiction-Film 'Le voyage dans la lune' ('Die Reise zum Mond') von 1902, zu neuem Leben erweckt, dann gelingt es ihm tatsächlich, Filmgeschichte einem großen Publikum zu vermitteln und zugleich bestens zu unterhalten.

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Noise & Resistance

(D 2011, Regie: Julia Ostertag, Francesca Araiza Andrade )

Selbst ist der Punk
von Harald Steinwender

Punk war von Anfang an eine Jugendkultur zwischen Rebellion und Pose, Authentizität und Selbstdarstellung, Subkultur und kulturindustrieller Vereinnahmung. Drei Akkorde auf der E-Gitarre, ein Bass, ein Schlagzeug und ein Sänger …

Punk war von Anfang an eine Jugendkultur zwischen Rebellion und Pose, Authentizität und Selbstdarstellung, Subkultur und kulturindustrieller Vereinnahmung. Drei Akkorde auf der E-Gitarre, ein Bass, ein Schlagzeug und ein Sänger – mehr war nicht notwendig, um mitzumachen, und im Prinzip war jede und jeder dazu eingeladen. Aus dem egalitären Gestus des frühen 70er-Jahre-Punk entwickelte sich, inspiriert von politisch links stehenden und betont unkommerziellen Bands wie 'Crass' aus Großbritannien eine Subkultur in der Subkultur, die gerade den Aspekt des 'DIY', des 'Do It Yourself', für sich reklamierte. Selbstorganisation und Selbstermächtigung, Misstrauen gegen jegliche Autorität und Kommerzialisierung sind bis heute die zentralen Konzepte dieser Gegenkultur.

In ihrem Dokumentarfilm 'Noise and Resistance' porträtieren die beiden Filmemacherinnen Francesca Araiza Andrade und Julia Ostertag die europäische DIY-Punkszene von ihren Anfängen im England der 70er Jahre bis zu ihren Ausprägungen im heutigen Europa. Sie haben dafür Bands, Künstler und Aktivisten aus Spanien und England, Deutschland und Russland, Norwegen und Schweden interviewt, waren mit der Kamera bei Konzerten und im Backstage-Bereich dabei, haben Hausbesetzer in Katalonien und alternative Sozialprojekte in Deutschland besucht. Zusammen mit den für Musikfans höchst sehenswerten historischen Konzertaufnahmen entstand ein buntes Potpourri, das manchmal etwas redundant wirkt, oft aber, etwa in den Passagen, in denen Punk-Aktivisten aus Russland zu Wort kommen, die sich täglich mit dem Terror einheimischer Neonazibanden auseinandersetzen müssen, höchst erhellend ist.

Dabei wenden Andrade und Ostertag das 'Do It Yourself'-Konzept selbst konsequent an: Neben der gemeinsamen Regie waren die beiden Filmemacherinnen verantwortlich für Kameraarbeit und Drehbuch, Produktion und Schnitt. Sie sind der Szene, die sie porträtieren, mehr als wohlwollend eingestellt. Kritische Fragen werden nicht gestellt, es gibt keine erklärende Voice-over. Die durchaus existierenden Widersprüche innerhalb der Subkultur anzusprechen, bleibt einigen, oft feministisch orientierten Künstlerinnen vorbehalten.

Dennoch entsteht gerade durch die unterschiedlichen Aussagen der Interviewten, die von hoffnungslos naiven Plattitüden bis zu reflektierten Analysen reichen, ein Überblick, der gerade in seiner Widersprüchlichkeit die Vielfältigkeit der Szene verdeutlicht. Von der technischen Gestaltung und der Montage des Materials her ist der Dokumentarfilm allerdings arg konventionell, fast schon konservativ ausgefallen. Das Rohe und Ungeschliffene der Musik, ihre Wut und Unmittelbarkeit überträgt sich kaum in die Bildsprache. Das ist schade, dürfte Fans und musikalische Sympathisanten, an die sich der Film explizit richtet, jedoch kaum stören. Alles in allem ist Francesca Araiza Andrade und Julia Ostertag ein engagierter Film gelungen, der zeigt, dass Punk als Subkultur auch heute noch ein identifikatorisches Potential für junge Menschen bietet.

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poliezei

(F 2011, Regie: Maïwenn)

Am Abgrund
von Harald Steinwender

Tagtäglich werden die Polizisten der Pariser Jugendschutzabteilung mit unfassbarem Elend konfrontiert: Verwahrlosung und familiäre Gewalt, bandenmäßig organisierte Jugendkriminalität, sexueller Missbrauch, Inzest und Kinderpornografie. Während Abteilungsleiter Balloo (Frédéric Pierrot) sich mit …

Tagtäglich werden die Polizisten der Pariser Jugendschutzabteilung mit unfassbarem Elend konfrontiert: Verwahrlosung und familiäre Gewalt, bandenmäßig organisierte Jugendkriminalität, sexueller Missbrauch, Inzest und Kinderpornografie. Während Abteilungsleiter Balloo (Frédéric Pierrot) sich mit bürokratischen Vorgesetzen einen Kleinkrieg um Finanzmittel liefert, wird der Abteilung die junge Fotografin Melissa (Maïwenn) zugeteilt, die deren Arbeit dokumentieren soll. Nach anfänglichen Spannungen von der Gruppe akzeptiert, begleitet Melissa die Sondereinheit in den nächsten Wochen und lernt die Abgründe der französischen Gesellschaft kennen.

Regisseurin Maïwenn, zugleich Koautorin und eine der Hauptdarstellerinnen, versucht in ihrer dritten Regiearbeit, die Komplexität des bedrückenden Sujets mit all seinen Widersprüchen darzustellen. Die Milieus, in denen die Polizisten ermitteln, reichen vom Prekariat bis in die abgeschotteten Luxusappartements der Oberschicht. Nicht in jedem Fall können die Ermittler sicher sein, ob wirklich ein Missbrauch vorliegt. Und manche ihrer Entscheidungen, etwa Familien für immer auseinanderzureißen, mag den Kindern, denen sie helfen wollen, eher schaden.

'poliezei', dessen in krakeliger Kinderschrift falsch geschriebener Titel auf die jungen Opfer verweist, mit denen die Polizisten konfrontiert werden, ist alles andere als ein herkömmliches Genrestück. Vielmehr inszeniert die ehemalige Kinderdarstellerin Maïwenn einen Ensemblefilm, in dessen Mittelpunkt der Umgang der Protagonisten mit ihrer schwierigen Arbeit steht. Die sprunghafte Montage, oft improvisiert wirkende Bildgestaltung und eine episodische Struktur erinnern dabei an dokumentarische Erzählformate. Das naturalistische Spiel der ausgezeichneten Schauspielerriege – allen voran Karin Viard und Marina Foïs – trägt ein Übriges dazu bei, dass 'Poliezei' trotz seiner Länge von mehr als zwei Stunden eine selten erlebte Unmittelbarkeit und emotionale Wucht entwickelt.

Dass 'poliezei' kein gänzlich zermürbender und hoffnungsloser Film ist, liegt daran, dass die Regisseurin ihren Protagonisten trotz des düsteren Arbeitsalltags flüchtige Glücksmomente zugesteht, etwa in einem Nebenhandlungsstrang die vorsichtige Annäherung der jungen Fotografin und des Polizisten Fred (JoeyStarr). Einen gemeinsamen Disco-Besuch der Abteilung inszeniert Maïwenn gar als Musical-Sequenz – ein Stilbruch in der sonst dem Verismus verpflichteten Inszenierung, als ästhetische Zäsur zugleich ein utopisches Moment.

Aufgrund seines schwierigen Sujets wird 'poliezei', der auf den Filmfestspielen in Cannes mit dem Jurypreis ausgezeichnet wurde, kaum ein großes Publikum finden. Das ist schade, denn er zählt zu den eindringlichsten und interessantesten Filmen des Jahres.

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Ponyo – Das große Abenteuer am Meer

(JAP 2008, Regie: Hayao Miyazaki)

Epigonal
von Harald Steinwender

Das Goldfischmädchen Ponyo lebt zusammen mit Vater und Geschwistern im Meer. Als sich die abenteuerlustige Kleine beim Spielen in einem Einmachglas verfängt und an Land gespült wird, rettet sie der …

Das Goldfischmädchen Ponyo lebt zusammen mit Vater und Geschwistern im Meer. Als sich die abenteuerlustige Kleine beim Spielen in einem Einmachglas verfängt und an Land gespült wird, rettet sie der 5-jährige Sosuke. Während Ponyos Vater, der Zauberer Fujimoto, verzweifelt seine Tochter sucht, kümmert sich Sosuke liebevoll um seinen 'Fang'. Als sich die mit magischen Kräften ausgestattete Ponyo in den aufgeweckten Fischerjungen verliebt, verwandelt sie sich in einen Menschen. Nun ein quirliges Mädchen, wird Ponyo sogleich in Sosukes Familie aufgenommen. Doch ihre Gestaltwandlung hat die Kräfte des Ozeans entfesselt und Sosukes Vater, der sich auf See befindet, gerät in Gefahr. Ponyo muss sich entscheiden: entweder ins Meer zurückkehren oder für immer als Mensch leben.

Hayao Miyazaki ist der Altmeister des Anime, des japanischen Zeichentrickfilms. Der heute 69-jährige hat bereits in den 60er Jahren als Zeichner in der japanischen Filmindustrie zu arbeiten begonnen, wirkte in den 70ern an auch bei uns populären Kinderserien wie 'Heidi' ('Arupusu no shôjo Haiji'; 1974) mit und machte mit dem von ihm gegründeten Studio Ghibli und Werken wie 'Mononoke-hime' ('Prinzessin Mononoke'; 1997) das Genre auch im Westen für Erwachsene salonfähig. Sein jüngster Film, bereits 2008 fertig gestellt und auf verschiedenen Festivals ausgezeichnet, ist im Vergleich zu den Vorgängerwerken wieder stärker auf ein rein kindliches Publikum zugeschnitten.

In 'Gake no ue no Ponyo' ('Ponyo – Abenteuer am Meer') gibt es viel zu sehen: allerlei niedliches und sorgfältig animiertes Meeresgetier, futuristische anmutende Hochseefortbewegungsmittel und eine parodistisch an Wagners 'Ritt der Walküren' angelegte Sequenz, in der Ponyo, die eigentlich Brünnhilde (!) heißt, zu Joe Hisaishis Filmmusik auf belebten Wellen reitet. Insbesondere in den ersten Sequenzen im Meer finden sich oft in einer Einstellung mehr Ideen als manch anderer Animationsfilm in der halben Laufzeit aufbringt. Wie gewohnt, verzichtet Miyazaki dabei auf Computeranimationen und vertraut auf traditionelle Handarbeit.

So phantasievoll und atmosphärisch die Abenteuer der kleinen Ponyo gestaltet sind – im Vergleich zu Miyazakis bisherigem Alterswerk fällt die Variation von Hans Christian Andersens Märchen von der kleinen Meerjungfrau deutlich ab. Zu langatmig wird die dünne Handlung erzählt, obendrein ist 'Ponyo – Abenteuer am Meer' mit offensichtlichen Selbstzitaten aus 'Kaze no tani no Naushika' ('Nausicaä aus dem Tal der Winde'; 1984) und 'Tonari no Totoro' ('Mein Nachbar Totoro'; 1988) fast epigonal auf das eigene Werk bezogen. Miyazakis bislang größte Erfolge im Westen, 'Prinzessin Mononoke' und 'Sen to Chihiro no kamikakushi' ('Chihiros Reise ins Zauberland'; 2001), waren bedeutende Animationsfilme, die es leicht mit der Konkurrenz aus dem Hause Disney-Pixar und DreamWorks aufnehmen konnten. 'Ponyo – Abenteuer am Meer' dagegen ist vor allem ein großer Spaß für die Kleinsten. Für deren Eltern ist er allerdings etwas ermüdend.

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Shanghai

(USA / CN 2010, Regie: Mikael Håfström)

Noir in Aspik
von Harald Steinwender

Im Oktober 1941 kommt der US-Amerikaner Paul Soames (John Cusack) in die chinesische Hafenstadt Shanghai, die seit vier Jahren von japanischen Streitkräften besetzt ist. In der internationalen Metropole, in die …

Im Oktober 1941 kommt der US-Amerikaner Paul Soames (John Cusack) in die chinesische Hafenstadt Shanghai, die seit vier Jahren von japanischen Streitkräften besetzt ist. In der internationalen Metropole, in die viele europäische Juden geflüchtet sind, soll Soames als Journalist getarnt für sein Land spionieren. Doch bei seiner Ankunft muss er feststellen, dass ein ebenfalls als Agent tätiger Freund ermordet wurde. Entschlossen, den Mord aufzuklären, stürzt sich Soames in das Nachtleben Shanghais. Seine Ermittlungen führen ihn zu der mysteriösen Anna (Gong Li), dem Triaden-Boss Anthony (Chow Yun-Fat) und dem japanischen Geheimdienstoffizier Tanaka (Ken Watanabe). Auch eine alte Bekannte, die Deutsche Leni (Franka Potente), hält sich in der Stadt auf, die zunehmend von Konflikten zwischen den japanischen Besatzern, einheimischen Widerstandsgruppen und lokalen Gangstern erschüttert wird. Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor und dem Kriegseintritt der USA gerät die Situation völlig außer Kontrolle.

Die Vorbilder von Mikael Håfströms zwischen Thriller und Kriegsfilm, Romanze und Spionagefilm angesiedelter Großproduktion sind offensichtlich: von den Films Noirs der 1940er und 50er Jahre die expressiven Schattenspiele; von Michael Curtiz‘ Klassiker 'Casablanca' (1942) die trianguläre Figurenkonstellation, die einen amerikanischen Abenteurer, eine exotische Femme fatale und einen undurchschaubaren Gangsterboss zusammenbringt; von den Spionagefilmen der Kalten-Kriegs-Ära die Paranoia. Insbesondere die Stilmittel von Hollywoods Schwarzer Serie werden dabei fast pflichtschuldig abgehandelt. So wird der Großteil der Handlung in einer langen Rückblende erzählt, und der Held kommentiert über eine Voice-over die Handlung aus dem Off. Farbgebung und Lichtsetzung lassen 'Shanghai' wie einen Schwarzweißfilm in Farbe wirken – mit ausgesucht dunklem Timbre der Bilder und harten Schlagschatten; Gesichtern, die von der Dunkelheit verschluckt werden; alles zudem angesiedelt in einer Stadt, die als unübersichtlicher Moloch unter eitergelb-stahlgrauem Himmel inszeniert wird. Und natürlich ist nichts, wie es scheint, jeder hat eine zweite Identität und eine heimliche Agenda, alle verstricken sich heillos in Politik und privaten Obsessionen.

Die elegante Kameraarbeit von Benoît Delhomme ('1408' / 'Zimmer 1408'; 2007) und das Produktionsdesign von Jim Clay ('Children of Men'; 2006) erwecken das Shanghai der Weltkriegsära im Londoner Studio glaubwürdig zum Leben. Doch auch die schönsten Bilder und die detailreichste Ausstattung retten Håfströms Retro-Thriller nicht vor einem verworrenen Drehbuch, dem es nie gelingt, die zentralen Konflikte herauszuarbeiten und Cusacks Protagonisten zu einem überzeugenden Antihelden zu machen. Als Film scheitert 'Shanghai' daran, dass er sein Publikum nie emotional einbindet oder über filmhistorische Anspielungen heraus etwas Eigenständiges kreiert. So erstickt 'Shanghai' im Reichtum seiner Bilder und erreicht nie die Klasse seiner Vorbilder, deren Überlegenheit durch die vielen Anspielungen nur umso schmerzhafter herausgestrichen wird.

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To The Wonder

(USA 2012, Regie: Terrence Malick)

Dem Himmel so fern
von Janis El-Bira

Der Film beginnt wie noch keiner von Terrence Malick zuvor: Mit verwackelten Videobildern. Ein Paar filmt sich und Andere(s) während einer Zugfahrt, in einem Museum, im nächtlichen Paris. Die Aufnahmen …

Der Film beginnt wie noch keiner von Terrence Malick zuvor: Mit verwackelten Videobildern. Ein Paar filmt sich und Andere(s) während einer Zugfahrt, in einem Museum, im nächtlichen Paris. Die Aufnahmen sind das Souvenir einer jungen Liebe am schon beinahe überreizten Höhepunkt ihres Bestehens. Die Frau, Marina (Olga Kurylenko), spricht französisch aus dem Off; der Mann, Neil (Ben Affleck), ist ein stiller Amerikaner. Sie sagt Dinge, die Texten mittelalterlicher Mystikerinnen entnommen sein könnten: Vom Neugeborensein, vom schmelzenden Vergehen, vom Sturz in die Flamme, von der ewigen Nacht. Das Material wechselt auf lichtgleißende Malick-Filmbilder und das Paar verlässt Paris im Auto. Am Mont-Saint-Michel vor der normannischen Küste steigt es – wir hören das „Parsifal“-Vorspiel – die Stufen zum Kloster hinauf: „à la merveille“, „to the wonder“.

Spätestens seit „The Tree of Life“ im vorvergangenen Jahr hat der wohl noch immer geheimnisvollste und zurückgezogenste „Starregisseur“ des amerikanischen Kinos die Gemüter relativ trennscharf in zwei Lager gespalten: Das ländliche Leben einer amerikanischen Kleinfamilie wurde zur Folie, vor der – im wahrsten Sinne – die Himmel sich teilten, Sterne geboren wurden und starben, Galaxien aufleuchteten und für immer vergingen. Dazwischen rangen die Irdischen in flehentlichen Gebeten mit dem oft so wenig „lieben Vater überm Sternenzelt“, der, wie schon beim unseligen Hiob, nicht anders antworten wollte, als in Licht und Donner seine Herrlichkeit zu erweisen: „Wo warst du, als ich den Himmel und die Sterne machte?“ Als manche bei all dem gottesdienstlichen Himmelsstreben vor lauter Weihrauch die Leinwand nicht mehr sehen konnten, feierten andere frenetisch einen im besten Sinne hoffnungslos überambitionierten Filmemacher: Als habe hier einer filmisch versucht, über den „Umweg“ der amerikanischen Romantik die „reale“ Natur wieder in die Tradition des deutschen Idealismus (aus der Heidegger-Übersetzer Malick noch am ehesten stammt) zurückzuholen. Die einen sahen ein Meisterwerk, die anderen kreationistischen Kitsch.

Mit „To the Wonder“ scheint die Situation im Moment zugunsten der Kritiker gekippt zu sein. Allzu abgestanden erscheinen die Bilder aus dem Pariser Idyll, allzu ausgelassen tanzt Marina über die Weideflächen Oklahomas nach der Übersiedlung des Paares in die USA und allzu wenig scheinen die wenigen Figuren „tief“ und die Konflikte, die sie um (spirituelles) Heimweh und gegenseitige Entfremdung austragen, „entwickelt“ zu sein. Zum Teil ist das richtig. Andererseits jedoch scheint dahinter auch die Irritation über einen unter der perlmuttglänzenden Oberfläche austernhaft verschlossenen Film zu stehen, der passagenweise fast besser in die „black boxes“ einer Ausstellung als ein reguläres Kino passen würde. Nicht zuletzt ist da womöglich auch die nicht allein angenehme Einsicht, dass es sich hierbei wahrscheinlich um Malicks pessimistischsten (und durchaus: „unfeierlichsten“) Film seit „Badlands“ handelt.

Dabei knöpft „To the Wonder“ zunächst in vielfacher Hinsicht an „The Tree of Life“ an: Der Vorgängerfilm hatte seine stärksten, frappierend rührenden Momente in den regelrecht mikroskopisch aufgezeichneten, physischen Fundamenten des familiären Mitseins: Im Spiel des Vaters mit den Füßen des Kindes, im Erheben der Hand gegen den Sohn oder dem wundersamen Blick eines Zweijährigen auf ein Neugeborenes. Auch „To the Wonder“ ist in diesem Sinne ein Berührungs- und Körperfilm von immenser Sanftheit, fast mehr jedoch noch eine Bewegungsstudie über Leiber im und gegen den Raum. Marinas Figur erscheint dabei auf seltsame Art als ständig schwindend, stets im Vorauseilen begriffen, ist aber in der physischen Konfrontation intensiver, fordernder als der ungleich mühevoller seine Schritte setzende Neil. Sie erhofft zu Beginn, „wenigstens einen Stück des Weges gemeinsam zu gehen“ – die mystische Verschwendung ihres Wesens vom Anfang indes findet keine Resonanz im so amerikanisch-warmen „My sweet love“, das Neil ihr (oder uns) bei der gemeinsamen Ankunft in seiner Heimat entgegenspricht. Die Ornamentik der Pariser Häuserfassaden erzählt eine andere Geschichte als die strenge Funktionalität der Farmen Oklahomas. Hier imitieren Springbrunnen eine Natur, die es nie gab, dort macht der stete Gleichtakt der großen Bohranlagen das Land zu Geld. Malicks neuer Film ereignet sich nahezu ausschließlich auf dieser Ebene beinahe unspürbarer Nuancen und lässt doch allerorten, man möchte sagen: subkutan, einen traurigen Wahrheitskern der Liebe erahnen: Wo Horizontverschmelzung ausgeschlossen bleiben muss, wird Verstehen zu einer Frage der Übersetzbarkeit. Das ist nicht allein eine Angelegenheit der gesprochenen Sprache: Einmal sehen wir, wie Marina und Neil sich spielend gegenseitig die Gesichter mit einem Tuch verdecken. Das Motiv der Verfremdung und Wieder-Entdeckung des anderen Körpers kehrt symbolisch für die ungezählten Anläufe der gegenseitigen Bezugnahme mehrfach wieder.

Mit deren zunehmendem Scheitern zerbricht die Beziehung des Paars. Marina geht zurück nach Frankreich, wird jedoch von Heimweh und Sehnsucht überwältigt und kehrt nach kurzer Zeit um. Die Tochter, die sie in die Beziehung zu Neil mitgebracht hatte, lässt sie beim Vater in Paris. Neil hat in der Zwischenzeit eine Affäre mit einer Jugendliebe (Rachel McAdams) neu aufleben lassen, kann sich aber nicht dauerhaft für sie entscheiden. Als Marina zurückkehrt und die mittlerweile mit Neil geschlossene Ehe erneut in krisenhafte Bahnen gerät, schläft sie mit einem Fremden in einem Motelzimmer. Sie ertastet ihn, fühlt die Fremdheit und was sie bedeutet. Neil wankt, als er davon erfährt, doch er vergibt ihr. Wie ein Exeget des Alltags schleppt sich leichenblass der Ortspfarrer (Javier Bardem) durch die Szenen und erklärt, fast wie zum Spott, es seien vor allem die Zauderer gewesen, für die Jesus das kleinste Verständnis habe aufbringen können: Wer entscheidet, mag sündigen, doch wer zögert und zurückweicht, hat es schon. Entsprechend hämmert er seinen selbst längst verlorenen Glauben mit einigem Trotz in die Köpfe der Gläubigen und salbt hingebungsvoll die Armen und Kranken, die fast wie Interviewpartner aus einem ganz anderen Film vor Malicks Kamera treten. „Man muss lieben“, sagt er. Was könnte er auch sonst noch sagen? Einmal drückt er seine Hand gegen die bemalten Fenster der Kirche. Das Licht, das hindurch fällt, scheint ihm unendlich weit weg. Dem Himmel so fern, bleiben noch die Rituale, die Gebete, die immer neue Beschwörung, das Ausharren. Neil und Marina harren nicht länger aus, sie trennen sich. Wie eine Klammer schließt sich das Bild des Klosters auf dem Mont-Saint-Michel am Ende um den Film: Auf schroffen Stein und täglich überfluteten Sand gebaut, mag es, unsigniert und überzeitlich, vielleicht ein Trost, gar eine Hoffnung sein. „La merveille“, das Wunder aber, es bleibt den Liebenden versagt.

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Das rote Zimmer

(D 2010, Regie: Rudolf Thome)

Sanft, eher passiv ...
von Wolfgang Nierlin

Das Ungewöhnliche und Wunderliche erscheint selbstverständlich und alltäglich in den Filmen von Rudolf Thome. Es sind filmisch realisierte Träume, die der feinsinnige Künstler seit über vierzig Jahren mit romantisch-märchenhafter Verve …

Das Ungewöhnliche und Wunderliche erscheint selbstverständlich und alltäglich in den Filmen von Rudolf Thome. Es sind filmisch realisierte Träume, die der feinsinnige Künstler seit über vierzig Jahren mit romantisch-märchenhafter Verve seinem kleinen, aber treuen Publikum offeriert. Mit großer Offenheit, unkonventionellem Taktgefühl und freiem Geist feiert Thome die Schönheit des Lebens und die Utopie der Liebe als Ausdruck künstlerischer Imagination. „Wir müssen die Liebe neu erfinden“, heißt es diesbezüglich in seinem neuen Film „Das rote Zimmer“. Dabei gehen in Thomes Liebesuniversum die Wünsche durchaus in Erfüllung; und die Sehnsüchte finden einen Ort.

Er fühle sich zeitweise wie eine „Fliege im Spinnennetz“ sagt Fred Hintermeier (Peter Knaack) einmal. Eben ist der Wissenschaftler mit dem merkwürdigen Beruf des „Kussforschers“ (Philematologe) vierzig Jahre alt geworden. Seine Frau lässt sich von ihm scheiden, doch Fred fühlt ewige Treue. Kurz darauf lernt dieser sanfte, eher passive Mann mit seiner ebenso unschuldigen wie übergroßen Liebessehnsucht die beiden jüngeren Frauen Luzie (Katharina Lorenz) und Sibil (Seyneb Saleh) kennen. Die beiden leben als Liebespaar abgelegen in einem schönen Haus im Grünen, umgeben von Wald und Wiesen, einem See und viel Ruhe. Während Luzie an einem Buch über „Die Seele der Männer“ arbeitet, frönt die junge Ausreißerin Sibil dem Müßiggang.

Kurzentschlossen zieht Fred in dieses Paradies, also von Berlin nach Ostvorpommern, um sich dem sogenannten „Ewigkeitstest“ zu unterziehen. Dabei übt er sich ein in einen neuen, naturverbundeneren Rhythmus und unterwirft sich bereitwillig den launischen Bestimmungen einer weiblichen Dominanz, die Genuss schenkt, dabei aber nie den Sinn für eine solide Geschäftstüchtigkeit verliert. Der „Liebesvertrag“ für diese utopische ménage à trois, der die Vermittlung ästhetischer und pragmatischer Gründe beinhaltet, wird deshalb auch von den Frauen formuliert. In Rudolf Thomes phantasievoll, sprunghaft und zurückhaltend inszenierter Glücksvision, in der die Frauen den Kurs bestimmen und die Seele des Mannes sehr weiblich erscheint, hat die Schönheit eben ihren pekuniären Preis.

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To the Wonder

(USA 2012, Regie: Terrence Malick)

Große Musik
von Wolfgang Nierlin

Eine Französin und ein Amerikaner, deren Namen man erst aus dem Abspann erfährt, verlieben sich ineinander. Das wird allerdings nicht als Geschichte erzählt, sondern in Sätzen aus dem Off des …

Eine Französin und ein Amerikaner, deren Namen man erst aus dem Abspann erfährt, verlieben sich ineinander. Das wird allerdings nicht als Geschichte erzählt, sondern in Sätzen aus dem Off des Films behauptet. Denn Terrence Malick ersetzt in seinem neuen, mit einer offenen Form experimentierenden Film „To the Wonder“ die Narration durch schwelgerische Stimmungsmalerei und eine möglich Handlung durch poetisches Geflüster, das auf Dialoge weitgehend verzichtet. Dabei spricht Marina (Olga Kurylenko) französisch und Neil (Ben Affleck) englisch. Die alleinerziehende Mutter einer 10-jährigen Tochter, die sich nach einer gescheiterten Beziehung wie „neugeboren“ fühlt, sagt: „Du hast mich aus dem Schatten geführt“. Solche Sätze sind immer auch Gebete, in denen Gott und seine Präsenz im Menschen als Quelle der Liebe angesprochen wird. „Wir steigen die Stufen hinauf, hinauf zu dem Wunder“, heißt es etwa, wenn das herumtollende Paar die Abteikirche des Mont-Saint-Michel besucht und kurz danach auf dem schwabbeligen Watt wie über Wasser geht. Oder auch: „Was ist das für eine Liebe, die uns liebt?“, während wortloses Glück die Bilder füllt.

„To the Wonder“ ist insofern zuerst filmischer Gottesdienst und heilige Handlung. Terrence Malick beschwört darin das Wunder der Liebe und die Göttlichkeit der Natur. Von großer Musik begleitet, feiert er deren Schönheit. In charakteristischer Untersicht und fließenden Bewegungen folgt die Kamera den tänzelnden Bewegungen Marinas und den nachdenklicheren Neils durch wogende Getreidefelder, in die goldenes Licht fällt. Der Film spielt jetzt in den USA und die konservative Rede ist von einem „ruhigen, ehrlichen und reichen Land“, über das Marina immer wieder mit wunderlichem Blick und ausgestreckt empfangenden Armen wandelt. In den Innenräumen mit ihren erlesenen Interieurs wiederum flutet warmes Licht auf Körper und Gegenstände und ein milder Wind bauscht die Vorhänge wie in einem schönen Traum. Im Bildaufbau genau komponiert, wirkt vieles assoziativ und irgendwie beliebig montiert und folgt allenfalls einer Logik des Herzens. Mit seinem dekorativen, manierierten Stil, der die Schauspieler zur Staffage degradiert und aufs Erzählen weitgehend verzichtet, ersetzt Malick das Abbild konkreten Lebens durch abstrakte Ideen. Deren visuelle Beschwörung gerät oft kitschig, pseudo-tiefsinnig, affektiert und leider auch zunehmend ermüdend.

Es gibt in „To the Wonder“ weder Charaktere mit (nachvollziehbaren) Emotionen noch eine dramatische Spannung; stattdessen kreist die Kamera immer wieder um mehr oder weniger unmotivierte Bewegungen und bedeutungsschwangere Blicke. In denen geht es um Treue und Verrat, Strafe und Vergebung. Denn als Marina zurück nach Paris fährt, hat Neil eine Affäre mit einer Jugendfreundin (Rachel McAdams). Zwar werden er und Marina später doch noch heiraten, aber ihr Eheglück bleibt fragil, nicht zuletzt weil die Französin, von einer italienisch sprechenden Freundin zum Ehebruch „verführt“, der Versuchung des Fremdgehens in der Begegnung mit einem Unbekannten nachgibt. Verschränkt werden diese Plot-Einsprengsel mit den Glaubenszweifeln eines – diesmal spanisch sprechenden – Priesters (Javier Bardem), der sich um sozial Ausgegrenzte kümmert, sowie mit Neils obskurer Tätigkeit im Kampf gegen die Umweltzerstörung. Davon wird wie von vielem anderen zwar wenig sichtbar; Malicks Ode an die göttliche Liebe feiert stattdessen umso ausgiebiger die Natur und umarmt die Welt.

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Blue Valentine

(USA 2010, Regie: Derek Cianfrance)

You Always Hurt The One You Love
von Harald Steinwender

Die Ehe von Dean (Ryan Gosling) und Cindy (Michelle Williams) ist gescheitert. Ihre Beziehung ist geprägt von Misstrauen und Vorwürfen, Verbitterung und Wut; ein einziger zermürbender Kleinkrieg, der nur Verlierer …

Die Ehe von Dean (Ryan Gosling) und Cindy (Michelle Williams) ist gescheitert. Ihre Beziehung ist geprägt von Misstrauen und Vorwürfen, Verbitterung und Wut; ein einziger zermürbender Kleinkrieg, der nur Verlierer kennt. Um ihrer Partnerschaft eine letzte Chance zu geben, entscheidet sich das Paar, eine gemeinsame Nacht in einem Motel zu verbringen. Während sie sich streiten, betrinken und einen verzweifelten Versuch unternehmen, miteinander zu schlafen, erinnert sich jeder der beiden an ihre gemeinsamen sechs Jahre.

In seinem zweiten Spielfilm 'Blue Valentine' inszeniert Dokumentarfilmer Derek Cianfrance ein ebenso berührendes wie tieftrauriges Melodram über das langsame Sterben einer Liebe. In einer a-chronologischen Erzählung, strukturiert durch Rückblenden und gegeneinander geschnittenen Sequenzen aus Vergangenheit und Gegenwart, erzählt Cianfrance von den kleinen und großen Momenten im Leben des Paars: ihre erste, flüchtige Begegnung; die schief zur Ukulele gesungene Liebeserklärung, mit der Dean später Cindys Herz gewinnt; der gemeinsame Besuch beim Frauenarzt, als die schwangere Cindy das Kind ihres Exfreundes Bobby (Mike Vogel) abtreiben lassen will, sich aber im letzten Moment dagegen entscheidet, um ihre Tochter zusammen mit Dean aufzuziehen; dann ihre Hochzeit und der gemeinsame Alltag als Kleinfamilie mit Tochter Frankie (Faith Wladyka).

Dabei bleibt 'Blue Valentine' nahe an seinen Protagonisten, die von Michelle Williams ('Shutter Island'; 2010) und Ryan Gosling ('Crazy, Stupid, Love'; 2011) schmerzhaft intensiv und immer glaubhaft verkörpert werden. Einseitige Schuldzuweisungen spart Regisseur und Kodrehbuchautor Cianfrance aus. Keiner der jungen Ehepartner ist perfekt, jeder hat seine Fehler und trägt zum Zerbrechen der Beziehung bei. Auch weichen ihre Lebensentwürfe über die Jahre immer stärker voneinander ab, kleine Verletzungen summieren sich auf, irgendwann leben beide nur noch der gemeinsamen Tochter wegen zusammen.

Mit seiner ebenso nüchternen wie poetischen Erzählweise und dem harten Realismus des ärmlichen Sujets wirkt 'Blue Valentine' wie ein (sub-)urbanes Gegenstück zu Debra Graniks im US-amerikanischen Hinterland angesiedelten Thriller Winter’s Bone' (2010). Der Blick beider Independent-Filmemacher richtet sich auf ein gegenwärtiges Amerika, dessen Bewohner sich mit prekären Arbeitsverhältnissen mühsam durchschlagen, die Entbehrungen und Ungerechtigkeit ausgesetzt sind und doch nie zu Helden stilisiert, sondern stets als Menschen ernst genommen werden. Ähnlich wie 'Winter’s Bone' verklärt 'Blue Valentine' seine Protagonisten nicht und verfällt nie in falsches Pathos. Zusammen mit dem offenen Ende und der komplexen Zeitstruktur dürfte das Melodram für ein großes Publikum vermutlich zu sperrig sein. Aber gerade diese Eigenschaften machen 'Blue Valentine' auch zu einem bewegenden und intensiven Film. Völlig zu Recht wurden die beiden Hauptdarsteller für eine Vielzahl von Preisen nominiert, darunter Williams für den Oscar und Gosling für einen Golden Globe.

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Berberian Sound Studio

(GB 2012, Regie: Peter Strickland)

Giallo lebt
von Carsten Happe

Eines der Lieblingsgenres von Filmnerds und Cineasten mit etwas abseitigem Geschmack ist der sogenannte Giallo, eine italienische Variante des Horrorfilms, die zumeist in den Erotik- und Psychothriller changierte und in …

Eines der Lieblingsgenres von Filmnerds und Cineasten mit etwas abseitigem Geschmack ist der sogenannte Giallo, eine italienische Variante des Horrorfilms, die zumeist in den Erotik- und Psychothriller changierte und in ihrer Hochphase in den 60er und 70er Jahren so spekulative wie spektakuläre Meisterwerke wie Dario Argentos „Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe“ hervorbrachte. Der Spuk fand schnell ein Ende, als die kommerzielle Ausbeutung vollends einsetzte, doch der Respekt einer neuen Filmemachergeneration für die alten Eurotrash-Schinken ist weit verbreitet, wie etwa die belgische Arthouse-Hommage „Amer“ aus dem Jahr 2009 zeigte. Über Dario Argentos eigenen Genrenachklapp „Giallo“ aus dem selben Jahr und mit dem unglücklichen Adrien Brody in der Hauptrolle hüllen wir hier besser den gnädigen Mantel des Schweigens.

Ein Brite hält nun die Fahne weiterhin eindrucksvoll hoch. Der junge Regisseur Peter Strickland hat sich nach seinem Debüt, dem in Transsylvanien gedrehten Festivalliebling „Katalin Varga“, mit „Berberian Sound Studio“ getraut, nicht nur dem Genre eine liebevolle Reverenz zu erweisen, sondern auch die nicht selten abstrusen Mechanismen seines Herstellungsprozesses zu erhellen – wie sehr der Film sich auch im Halbdunkel gefällt. Darüber hinaus klingen in der zunächst als Culture Clash angelegten Story vom distinguierten britischen Toningenieur, der von windigen italienischen Produzenten für das Sound Design des mutmaßlich ultimativen Schockers angeheuert wird, im Laufe des Films immer mehr Anspielungen an die surreale Welt eines David Lynch an, so dass man irgendwann vor Zitaten, Verweisen und Meta-Ebenen kaum noch weiß, wo man eigentlich hinschaut. Und doch beweist „Berberian Sound Studio“ bei aller Retro-Schwelgerei und demütigen Verneigung genügend Eigenständigkeit und Originalität, dass er auch kaum Eingeweihte zu faszinieren vermag.

Nicht zuletzt durch die phänomenale Performance seines Hauptdarstellers Toby Jones, der nach der Titelrolle in einem untergegangenen „Capote“-Konkurrenzwerk und unzähligen Nebenrollen endlich wieder sein enormes Talent zeigen darf, gelingt Peter Strickland die beeindruckende Neubelebung eines zu Recht unvergessenen Paralleluniversums der europäischen Filmgeschichte.

The Place Beyond the Pines

(USA 2012, Regie: Derek Cianfrance)

Angeberkino und Autorenkino
von Ulrich Kriest

Tja, das waren noch Zeiten, als Männer auf Motorrädern in kugelförmigen Metallkäfigen jahrmarktstaugliche Hochgeschwindigkeitsakrobatik zeigten, durchtrainierte, ganzkörpertätowierte, blondierte Nomaden. Ride like the wind. Heute hier, morgen dort. Luke, gespielt von …

Tja, das waren noch Zeiten, als Männer auf Motorrädern in kugelförmigen Metallkäfigen jahrmarktstaugliche Hochgeschwindigkeitsakrobatik zeigten, durchtrainierte, ganzkörpertätowierte, blondierte Nomaden. Ride like the wind. Heute hier, morgen dort.

Luke, gespielt von Ryan Gosling, dem allmählich ein zweiter Gesichtsausdruck zu wünschen wäre, damit ihm nicht wie bei „Only God Forgives“ das Gesicht zerschlagen werden muss, um dieses Resultat zu erhalten, ist so ein Typ, der einer Trailer-Park-Beauty wie Romina (Eva Mendes) schon mal bei einem One-Night-Stand ein Kind macht, um am nächsten Morgen weiterzuziehen.

Als ihn der Jahrmarkt das nächste Mal nach Schenectady im Bundesstaat New York führt, ist sein Sohn bereits auf der Welt – und Mutter Romina hat sich einen anderen, zuverlässigeren, langweiligeren Mann gesucht, der als Vater für ihr Kind sorgen soll. Aber Luke liebäugelt mit dem Gedanken, jetzt eben auch eine Familie zu haben (zuvor hatte er wohl selbst keine) und drängt sich freundlich, aber etwas unbeholfen in Rominas Leben. Er weiß nicht genau, was er will, aber er weiß auch nicht, wie er es bekommen soll. Punkrock hoch zwei. „Faustrecht der Freiheit“, wenn man so will.

Weil Luke keinen rechten Plan hat, lässt er sich von einer Zufallsbekanntschaft inspirieren, kümmert er sich erst einmal um Finanzielle und nutzt dazu seine Talente als Todesfahrer von der Kirmes: Banküberfall. Da ist Ryan Gosling plötzlich wieder auf der Flucht – und ganz nah bei seiner Rolle aus „Drive“. Nur, dass aus professioneller Coolness des Fahrers jetzt etwas Forciertes geworden ist.

Zwar kann Luke jetzt Geschenke machen, aber nicht immer sind diese Geschenke wohl gelitten. Dieses etwas schräge, über Bande gespielte Familienmodell kann nicht lange gut gehen – und es geht auch nicht lange gut. Als Luke die Sache überreizt, kommt eine neue Figur ins Spiel: der Polizist Avery, gewohnt blauäugig gegeben von Bradley Cooper.

Regisseur und Mit-Drehbuchautor Derek Cianfrance („Blue Valentine“) verweist in Interviews diesbezüglich nur zu gerne auf sein großes Vorbild Hitchcock, der in „Psycho“ schließlich auch gewagt habe, nach einer Dreiviertelstunde den Blick von Janet Leigh zu wenden. Aber „The Place Beyond the Pines“ ist nur bedingt ein Thriller, eher schon ein Epos in Sachen Determinismus und verstörter Männlichkeit. Auch Avery sucht nämlich seinen Platz im Leben, allerdings unter ganz anderen Voraussetzungen als Luke. Avery ist der Sohn eines sehr erfolgreichen Vaters, der eine einschlägige Karriere ausschlug, um aus dessen Schatten zu treten. Was nicht bedeutet, dass er keinen Ehrgeiz hat, aber erst einmal macht er einen Fehler, aus dem er dann, als Held gefeiert und trotz seiner Schuldgefühle, Kapital zu schlagen versucht. Ist Avery ein etwas naiver Idealist, der sich gerne zum falschen Zeitpunkt bemüßigt fühlt, sich seiner Ideale zu erinnern? So blickt er bei seinen gut gelaunten Polizisten-Kollegen (wie stets wunderbar abgründig: Ray Liotta) zunächst in einen Abgrund von Korruption, bevor er beschließt, sein Wissen gegen den herrschenden Korpsgeist Kapital in Anschlag zu bringen, um auf dieser zweiten Heldentat eine politische Karriere zu gründen – und seine Pflichten als Vater zu vernachlässigen.

Väter und Söhne. An- und abwesende Väter, die Schuld auf sich laden. Schuld, die vielleicht erst sehr viel später Konsequenzen zeitigt, aber gewissermaßen in der Familie bleibt. Je mehr der Film will, desto schlechter wird er. Je intensiver der Film daran arbeitet, komplexe Konstellationen und Zusammenhänge zu entwickeln, desto mehr spürt der Zuschauer, dass hier bestenfalls ein prätentiöses Drehbuch waltet, unterfüttert vielleicht von einem Mangel an Selbstkritik, gepaart mit dem Willen zur Kunst. Im dritten Teil dieses viel zu langen Films, wenn der Zufall die beiden Söhne von Luke und Avery aufeinander treffen lässt und die Geschichte sich wiederholen scheint, wird der Film, der durchaus ansprechend begann, zu seiner eigenen Parodie. Er zeigt spekulativ und in naturalistischer Manier »das Leben« als sozial und/oder biologisch determiniert, möchte aber trotzdem einen pädagogisch wertvollen, offenen Schluss, damit zwar angedeutet wird, aber nicht als ausgemacht gelten kann, dass die Söhne die Fehler ihrer Väter wiederholen.

Achtet man auf die Nebenfiguren des Films, auf Romina oder den Kfz-Mechaniker Robin, scheint die Zeit in Schenectady jedoch still zu stehen. Keine Frage, hier spielt jemand die Hits von 1885. Naturalism is on the charts again. Aber mit großer Geste des Autorenfilmers, der sich in Interviews nicht entblödet, Sätze zu sagen wie: „Mein Ziel als Regisseur ist es, Klassiker zu schaffen. Deswegen träume ich natürlich davon, mal die Gelegenheit zu bekommen, einen Film wie „Vom Winde verweht“ zu inszenieren.“ Träum weiter, Derek!

Ins Blaue

(D 2012, Regie: Rudolf Thome)

Die verschworenen Blicke der Frauen
von Wolfgang Nierlin

„Träume können Wirklichkeit werden. Alle meine Filme sind realisierte Träume“, sagt der Produzent Abraham Rabenthal (Vadim Glowna in einer seiner letzten Rollen) einmal. Diese Sätze aus Rudolf Thomes aktuellem Film …

„Träume können Wirklichkeit werden. Alle meine Filme sind realisierte Träume“, sagt der Produzent Abraham Rabenthal (Vadim Glowna in einer seiner letzten Rollen) einmal. Diese Sätze aus Rudolf Thomes aktuellem Film „Ins Blaue“ passen ganz gut zum umfangreichen Œuvre des 73-jährigen Regisseurs, der in der Figur seines Alter Ego Rabenthal auch von sich selbst und seinem Metier spricht. Gewohnt sinnlich und leicht, verspielt und schönheitsverliebt entwickelt Thome seine Poesie des Einfachen, in der sich die Phantasien fast beiläufig symbolisch aufladen und in der aus den verschworenen Blicken der Frauen eine besondere Atmosphäre entsteht. Als Film-im-Film, der am Golf von Neapel spielt und in dem die Liebe vor und jenseits der Kamera komplizierte Wechselwirkungen eingeht, huldigt „Ins Blaue“ aber auch Jean-Luc Godards „Die Verachtung“ und François Truffauts „Die amerikanische Nacht“. Dabei blickt Rudolf Thome ebenso selbstironisch auf die Filmarbeit wie kritisch auf das teils unwürdig empfundene Geschäft dahinter.

„Ins Blaue“ und der gleichnamige Film-im-Film beginnen in Reminiszenz an Roberto Rossellinis „Reise in Italien“ als eine Art doppeltes Roadmovie: Eine Filmcrew um die junge Regisseurin Nike (Alice Dwyer) und ihren Vater Abraham von der Produktionsgesellschaft „Neue Mythos Film Berlin“ fahren zu Dreharbeiten nach Italien. Der alte Mann schläft mit einer der jungen Schauspielerinnen, wird von Finanzierungsschwierigkeiten geplagt und gerät überdies in einen schmerzlichen Vater-Tochter Konflikt. Im Film zweiten Grades wiederum unternehmen Laura (Elisabeth Leistikow), Eva (Esther Zimmering) und Josephine (Janina Rudenska) eine Bildungsreise durch Italien, die auch eine Suche nach dem Lebenssinn ist und auf der sie in wechselnden Gestalten der Liebe begegnen. Nacheinander machen sie Bekanntschaft mit einem Mönch namens Franziskus, mit dem Philosophen Herbert Wittgenstein (dem fiktiven „Sohn des großen Philosophen“) und einem stummen Fischer.

„Gott ist alles“ und „das Paradies ist überall“, sagt der eine, „alles fließt“ (Heraklit) der andere, während der dritte einfach nur Liebe macht. Das Ewige und das Unendliche, angstbesetzt und beunruhigend zugleich, bilden dabei stets den Horizont dieser Suche. Im Blick aufs Meer wird das titelgebende Blau zur Farbe der Sehnsucht, der Ferne und des Abschieds. In einem ständigen Wechsel der Perspektiven und der verschiedenen Ebenen der Inszenierung reflektiert Rudolf Thome letzte und doch stets sehr gegenwärtige Fragen. Dabei entstehen auf ebenso raffinierte wie verschlungene Weise berührende Verbindungen, Widerspiegelungen und Brüche zwischen dem Film ersten und demjenigen zweiten Grades, vor allem aber auch zwischen Kunst und Leben.

Zum Film gibt es hier auch ein Interview mit Rudolf Thome!

Auf brennender Erde

(USA / ARG 2008, Regie: Guillermo Arriaga)

The Beds Are Burning
von Harald Steinwender

Inmitten der mexikanischen Steppe steht ein Wohnwagen in Flammen. Mit ihm verbrennen Gina (Kim Basinger) und Nick (Joaquim de Almeida), die ihre außereheliche Affäre in diesem abgelegenen Liebesnest geheim gehalten …

Inmitten der mexikanischen Steppe steht ein Wohnwagen in Flammen. Mit ihm verbrennen Gina (Kim Basinger) und Nick (Joaquim de Almeida), die ihre außereheliche Affäre in diesem abgelegenen Liebesnest geheim gehalten hatten. Zum Entsetzen ihrer Familien beginnen ihre Kinder Mariana (Jennifer Lawrence) und Santiago (J. D. Pardo) bald nach der Katastrophe ebenfalls eine Beziehung. Viele Jahre später arbeitet die erwachsene Mariana (Charlize Theron) in Oregon unter einem anderen Namen als Restaurantmanagerin. Als Santiago mit einem Flugzeug verunglückt, holt sie ihre Vergangenheit ein.

'The Burning Plain' ('Auf brennender Erde') ist bezüglich seiner Handlung ein Melodram, wie es Douglas Sirk, der Meister des Genres, wohl auch vor 60 Jahren inszeniert hätte. Doch im Gegensatz zu den klassischen Melodramen Sirks, die meist chronologisch erzählt waren und in delirierend buntem Technicolor gedreht wurden, wählt der Mexikaner Guillermo Arriaga für sein Regiedebüt eine achronologische, zeitlich zersplitterte Dramaturgie. 'Auf brennender Erde' wechselt beständig zwischen Vergangenheit und Gegenwart und verknüpft die farblich voneinander abgesetzten, mäandernden Zeitebenen durch im Schnitt erzeugte Analogien. Diese Struktur überrascht kaum, zumal Arriaga ähnlich komplexe Erzählweisen bereits in seinen vielgelobten Drehbüchern für Alejandro González Iñárritu ('Amores Perros'; 2000; 'Babel'; 2006) und Tommy Lee Jones ('The Three Burials of Melquiades Estrada' / 'Die drei Begräbnisse des Melquiades Estrada'; 2005) erprobt hat.
Auch sonst ähnelt sein Film den Werken Iñárritus: die Nähe zum magischen Realismus in der Bildsprache, die seelischen Entblößungen der Schauspieler, die Schicksalhaftigkeit der Handlung. Arriaga arbeitet mit starken Polaritäten und offensichtlicher Symbolik, stellt immer wieder in den Bildern Feuer und Wasser, Männer und Frauen, Mexiko und die USA, die in gleißend helles Licht getauchte Vergangenheit und die blaugraue Tristesse der Gegenwart gegenüber. Und doch findet dieses Regiedebüt gerade in den leisen Szenen, den Zwischentönen, den impressionistischen Momenten zu sich und seine stärksten Momente.

Die in sich verschachtelte Erzählstruktur von 'Auf brennender Erde' überzeugt allerdings nicht vollständig. Letztlich erzählt Arriaga eine einfache Geschichte, die durch die Montage der verschiedenen Zeitebenen und Handlungsorte mitunter unnötig verkompliziert wird. Das von Charlize Theron, Kim Basinger und der seit Winter’s Bone' (2010) zum Jungstar avancierten Jennifer Lawrence angeführte Ensemble beeindruckt dagegen uneingeschränkt. Insbesondere Theron legt einen glaubwürdigen Seelenstriptease hin, der diesen in den USA bereits zwei Jahre vor seinem deutschen Kinostart veröffentlichten Independentfilm allemal sehenswert macht.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Die wilde Zeit

(F 2012, Regie: Olivier Assayas)

An der Revolution vorbeigeschrammt
von Andreas Busche

„Die neue Zeit ist zutiefst revolutionär und sich dessen bewusst. Auf keiner Gesellschaftsebene will man weitermachen wie bisher.“ Als die Situationisten 1972 ihre Kampfschrift Die wirkliche Spaltung in der Internationalen …

„Die neue Zeit ist zutiefst revolutionär und sich dessen bewusst. Auf keiner Gesellschaftsebene will man weitermachen wie bisher.“ Als die Situationisten 1972 ihre Kampfschrift Die wirkliche Spaltung in der Internationalen veröffentlichten, hatte sich die französische Linke weitgehend selbst kannibalisiert. Die Kämpfe von ‘68, als sich die Studenten und die Linke einen Sommer lang auf Augenhöhe mit der Arbeiterschaft wähnten, waren längst auf Nebenschauplätze verlagert. Der Protest diente nur noch Partikularinteressen. Wie sich die revolutionäre Zeit ohne wirklich revolutionäre Subjekte gestaltet, erzählt der französische Regisseur Olivier Assayas in seinem autobiographisch gefärbten Film “Die wilde Zeit”.

Der deutsche Titel ist so dämlich, dass er hier nur aus Chronistenpflicht Erwähnung findet. Im Originaltitel “Après Mai” (Nach-Mai) schwingt dagegen die Enttäuschung der spätgeborenen Jugend (zu der sich auch Assayas zählt) mit, an den revolutionären Prozessen knapp vorbeigeschrammt zu sein. Statt dessen durchlief diese Generation ihre politische Initiation in den Trümmern einer bürokratischen Widerstandsrhetorik.

“Après Mai” spielt am Übergang zur “neuen Zeit”: dem Coming-of-Age einer Jugend, die gerade noch die verlorene Freiheit erahnt und dafür gleich am Anfang von der Polizei brutal niedergeknüppelt wird, und dem Coming-of-Age eines revolutionären Gedankenguts, das sich nicht erst in Gremien und Räteabstimmungen legitimieren musste. “Après Mai” handelt also von Reifeprozessen. In den Moment, die Situation sozusagen, müssen sich Assayas’ jugendliche Protagonisten zwar noch einfühlen, aber die fiebrige Antizipation, an etwas Großem teilzuhaben, ist schon überwältigend – und gleichzeitig verdammt einschüchternd. Was tun, wenn einem theoretisch alle Möglichkeiten offenstehen?

Gilles, Assayas’ Alter ego, kriegt das situationistische Pamphlet erst ganz am Schluss in die Hände. Da öffnet “Après Mai” noch einmal die Synapsen, um frische Impulse in die bleierne Zeit der frühen Siebziger zu lassen. Aber Assayas stutzt auch diese aufkeimende Utopie mit einer letzten lakonischen (und gänzlich unhämischen) Volte. Gilles, der eine revolutionäre Syntax für ein revolutionäres Kino einfordert, fährt zur Arbeit am Set eines Nazi-/Monsterfilms. Das Kino des Feindes. Die anderen cinephilen Referenzen in “Après Mai” sind politisch über jeden Zweifel erhaben: Bo Widerbergs “Joe Hill” und “El Coraje del Pueblo” des bolivianischen Filmemachers Jorge Sanjinés, ein Klassiker des antiimperialen Kinos. Abends geht Gilles in einen experimentellen Filmclub, wo ihm seine verflossene Liebe, die immer in ihrer eigenen Zeit gelebt hat, von der Leinwand die Hand entgegenstreckt.

Assayas’ Beschäftigung mit dem politischen Radikalismus der Siebziger nimmt hier eine persönliche Wendung. Während “Carlos” die Auswüchse linker Politik auf einer globalen Skala rekapitulierte, kehrt Assayas nun an die Peripherie zurück, wo die politischen Deklamationen einige Nummern kleiner ausfallen. In der Pariser Vorstadt spielte schon sein anderer Siebziger-Jahre-Jugendfilm “L’eau froide” (1994), mit dem “Après Mai” mehr als nur die Namen seiner beiden Hauptfiguren Gilles und Christine gemein hat. Gilles, Christine, Alain und Jean-Pierre sind, ganz grundsätzlich, überhaupt nicht einverstanden und versuchen sich in verschiedenen Praktiken des (mehr oder weniger) zivilen Ungehorsams. Auf der Straße beziehen sie Prügel, im Schülerrat wird nur schlau gequatscht. Darum verzieren sie nachts die Fassade ihrer Schule mit Parolen.

Die nächtliche Aktion filmt Assayas wie aus einem Guss: eine begeisternde, agile Performance, die Bewegungsabläufe greifen nahtlos ineinander. Diese Inszenierung kommt der Idee von politischer Kunst in einem embryonalen Stadium schon recht nah. Das Kollektiv verleiht der politischen Position eine ästhetische Form. Assayas löst mit “Après Mai” gesellschaftliche Zusammenhänge und die Widersprüche von jugendlicher Identitätsfindung und staatlicher Zurichtung immer wieder auf so einleuchtende Weise erzählerisch auf. Und er spielt verschiedene Möglichkeiten alternativer Lebensentwürfe durch, auf die man sich als Teenager noch nicht festlegen will. Dazu gehören natürlich Sex, am besten auf Drogen, und wie immer bei Assayas: Musik. In “Après Mai” laufen der Hippie-Dippie-Folkrock der Incredible String Band, die dunkle Rorschach-Psychedelik eines Syd Barrett, der progressive Acid-Pop von Soft Machine und Kevin Ayers und der knarzige Kryptoblues Captain Beefhearts.

Es ist deutlich zu spüren, dass “Après Mai” auch Assayas’ persönliche Geschichte erzählt. Dennoch ist sein Film frei von jener Verklärung, mit der sich etwa Bertolucci in seiner weich gezeichneten Altmännerphantasie “Die Träumer” an die Pariser Unruhen an 1968 erinnerte. Die Aufregung, Wut und Verwirrung, die die Kamera aus unmittelbarer Nähe in den Gesichtern registriert, lässt erahnen, dass etwas mehr auf dem Spiel steht als die eigene Unschuld. Assayas nimmt die Träume seiner Protagonisten, genauso wie ihr vorläufiges Scheitern, sehr ernst. Gilles wendet sich dem Kino zu, Alain der Malerei, Christine geht mit einem Filmemacherkollektiv nach Italien, Jean-Pierre wird in der Gewerkschaft aktiv. Die Biographien driften – wie die politischen Bewegungen nach 1968 – langsam auseinander.

Politik begreift Assayas als Konzept, das man sehr unterschiedlich und auch sehr falsch ausgelegen kann. Dass der Begriff eine (richtige) Haltung gegenüber den Verhältnissen voraussetzt, hat er vor zehn Jahren der Witwe Guy Debords in einem langen Brief erklärt. “Selbst wenn du als Jugendlicher in den Siebzigern nicht für deine Überzeugung eintratst, bestand eine Verpflichtung, die dich als Subjekt in Relation zur Gesellschaft definiert: deine Verantwortung für die Welt. Aber dieses Verhältnis war nicht das Problem: Die eigentliche Herausforderung bestand darin, sich auf die richtige Methode und die richtigen Werte zu einigen, mit denen man den gesellschaftlichen Zuständen entgegentritt.”

Der Brief erschien kürzlich, erstmals in englischer Sprache, in der Textsammlung A Post-May Adolescence und liefert gewissermaßen den Schlüssel zu den psychedelischen Unschärfen und identifikatorischen Trial-and-Error-Prozessen in “Après Mai”. Assayas beschreibt das Scheitern von ’68 als eine Befreiung von politischen Dogmen – wofür ihm erst Debords Texte die Augen öffneten. Will man Assayas etwas vorwerfen, dann, dass sein Film endet, als es gerade interessant wird. Als Debords Versprechen einer “neuen Zeit” tatsächlich eine gesellschaftliche Brisanz besaß.

Olivier Assayas: A Post-May Adolescence. Synema, Wien 2012, 104 Seiten, 14 Euro
Kent Jones (Hg.): Olivier Assayas. Synema, Wien 2012, 256 Seiten, 22 Euro

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 6/2013

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Der große Gatsby

(USA / AUS 2012, Regie: Baz Luhrmann)

Der Kater ist berührend
von Andreas Busche

Gatsby also. Hätte F. Scott Fitzgerald ihn sich nicht schon vor neunzig Jahren ausgedacht, man müsste ihn erfinden. So gut passt er in unsere Zeit – erst recht in dem …

Gatsby also. Hätte F. Scott Fitzgerald ihn sich nicht schon vor neunzig Jahren ausgedacht, man müsste ihn erfinden. So gut passt er in unsere Zeit – erst recht in dem Format, in dem Baz Luhrmann ihn jetzt imaginiert: als dekadentes Blockbusterkino, das sich hartnäckig zu behaupten versucht zwischen effektstrotzenden Superhelden-Franchises und aufwendigem, leblosem Arthouse-Kitsch wie „Life of Pi“. Wer schon immer die Zeitlosigkeit von Fitzgeralds Gesellschaftsatire bewundert hat, darf sich wundern, warum sich Luhrmann mit dem Stoff so schwer tut. Die Themen liefern ja bereits die perfekte Vorlage, einen Steilpass geradezu: die Aufbruchsstimmung, der Exzess, der Größenwahn, die Melancholie – das böse Erwachen. Der große Gatsby, der amerikanische Traum: Nie klang er so zynisch wie heute.

Luhrmann, der Spezialist für den schönen Schein und täuschend echt emulierte Gefühle, hat natürlich keine originalgetreue Adaption im Sinn gehabt, als er „Der große Gatsby“ für die Leinwand adaptierte. Luhrmann ist Stilist, aber kein Feingeist wie Fitzgerald. Er schafft Synthesen. Synergieeffekte sagt man dazu in der Wirtschaft. Filmproduktionen im 100 Millionen plus-Bereich haben mit Kino im herkömmlichen Sinn ohnehin nur noch wenig gemein. Luhrmann arbeitet also konsequent. „The Great Gatsby“ ist ein Einrichtungsgegenstand in höchster Vollendung, mit voll integrierter Verwertungskette: der Soundtrack von Jay-Z, mit Kanye West, Lana del Ray und The XX (funktioniert leider überhaupt nicht, obwohl Sampling eigentlich eine Stärke des Hip Hop ist), die Ausstattung (Kostüme von Prada und Miu Miu), die visuellen Wunderwelten (die teuer gerenderten Digitalbilder haben einen kalten Glanz, Leo und Carey Mulligan bewegen sich wie Silhouetten vor Computerhintergründen). So ein Spektakel nach ästhetischen Krieterien zu bewerten, ist natürlich lächerlich.

Aber dann trifft der Exzess von „The Great Gatsby“ auch durchaus den Nerv der Zeit: irgendwann im letzten Drittel, als Di Caprio mutterseelenallein am Pool zwischen leeren Champagnerflaschen steht. Da macht sich erstmals Ernüchterung breit. Keine moralische Entrüstung, eher das nachvollziehbare Gefühl, dass der Rausch große Leere produziert. Wie Drogen. Oder das Spiel an den Märkten des Casinokapitalismus. Vielleicht will man auch um jeden Preis noch etwas Gutes in dieses Machwerk hineinlesen. Aber der Kater im letzten Drittel von Luhrmanns Film – die Leere, die kein Ausstatter, kein Champagner-Pop, kein Hollywoodstar nach dem wahnsinnigen Exzess der ersten halben Stunde mehr füllen kann, ist auf eine perverse Weise berührend. So etwa muss es sich anfühlen, wenn die fette Party endgültig vorbei ist.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 6/2013

Promised Land

(USA 2012, Regie: Gus Van Sant)

Fuck you, Strukturwandel
von Andreas Busche

Zwei Stunden außerhalb der amerikanischen Großstädte sieht es überall wie in Kentucky aus. Felder, so weit das Auge reicht, Pick-Up-Trucks mit kernigen Typen in Flanellhemden hinter dem Steuer zieren die …

Zwei Stunden außerhalb der amerikanischen Großstädte sieht es überall wie in Kentucky aus. Felder, so weit das Auge reicht, Pick-Up-Trucks mit kernigen Typen in Flanellhemden hinter dem Steuer zieren die Straßenzüge der Provinznester und der einzige Hardwarestore im Ort wirbt mit „Guns, Groceries, Guitars, Gas“. Hier wird über Lokalpolitik noch in der Sporthalle abgestimmt. Oder in der einzigen Bar des Ortes, wo man als Auswärtiger die Leute schon für sich gewinnt, indem man zur Open Mic-Nacht Bruce Springsteen singt.

Gus Van Sant streift mit „Promised Land“ unzählige Klischee über das „wahre“ Amerika, doch selbst wenn bei ihm jede zweite Einstellung auf den unauflöslichen Widerspruch von Stadt und (Hinter-)Land hinausläuft, sind seine Beobachtungen sympathisch. Mit seiner Ballade vom kleinen Mann liefert Van Sant eine klassische Americana-Erzählung ab. Steve (Matt Damon) und Sue (Frances McDermond) sind von einem globalen Energiekonzern nach Pennsylvania geschickt worden, um die Bewohner vom Verkauf ihrer Länder zu überzeugen. In den Gesteinsschichten unter dem Farmland lagern riesige Erdgasvorkommen, die die Unabhängigkeit der USA vom Öl aus dem Nahen Osten gewährleisten könnten. Und die Abgesandten von „Big Business“ wissen, dass sie leichtes Spiel haben, auch wenn die Fördermethode des „Fracking“ unabsehbare Umweltrisiken birgt. „Ihr seid hier, weil wir arm sind“, hält ihnen ein Farmer vor.

Gus Van Sant weiß um das Dilemma, das der idyllischen Vorstellung dieses Amerika innewohnt. Die Natur strahlt wie von innen heraus illuminiert, aber der wirtschaftliche Niedergang ist allgegenwärtig. Damons Steve dient in „Promised Land“ als moralische Kippfigur. Steve ist ebenfalls ein Junge vom Land. Er musste mitansehen, wie die Familie ihre Lebensgrundlage verlor, als die Fabrik des Vaters dicht machte. Jetzt wähnt er sich auf der Seite des Fortschritts, wenn er den Farmern und Fertighausbewohnern viel Geld für ihr Land bietet. Fuck you, Strukturwandel! Fuck you-Geld, sagt Steve, mach‘ dich frei. Die Frage ist, welchen Preis man zu zahlen gewillt ist.

Van Sants Botschaft ist unmissverständlich, aber an „Promised Land“ erweist sich mal wieder, dass das amerikanische Erzählkino seine moralische Deutungshoheit glänzend zu verkaufen versteht. Die Konflikte erschöpfen sich nie in bloßen Behauptungen, sie verweisen in vielen unscheinbaren Facetten immer wieder auf reale Lebensverhältnisse. Van Sant gelingt es leichthändig, ein hochaktuelles Umwelt-Statement sogar noch mit einer zarten Romanze zu verbinden, er macht sich über die Städter (und ein wenig auch über die Landeier) lustig – und am Ende hängt, rechtzeitig zum Schlussplädoyer, eine amerikanische Flagge im Hintergrund. „Promised Land“ ist hochwertiges Hollywood-Kino. Frank Capra hätte es nicht besser gemacht.

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Ihr werdet euch noch wundern

(F 2012, Regie: Alain Resnais)

Eine hybride Feier des Kinos
von Ulrich Kriest

Schon nach wenigen Minuten ist man von der Magie dieses Films gefangen genommen. Ebenso schnell ist klar: dies ist kein deutscher Film, keine kaputt subventionierte, redaktionell intensiv betreute Mittelmäßigkeit mit …

Schon nach wenigen Minuten ist man von der Magie dieses Films gefangen genommen. Ebenso schnell ist klar: dies ist kein deutscher Film, keine kaputt subventionierte, redaktionell intensiv betreute Mittelmäßigkeit mit den immer gleichen TV-Stars. „Ihr werdet euch noch wundern“, der neue Film des fast 91jährigen Alain Resnais, der schon Meisterwerke wie „Letztes Jahr in Marienbad“ drehte, als Alexander Kluge noch am „Oberhausener Manifest“ feilte, ist »richtiges« Kino mit Schauspielern der Klasse Michel Piccoli, Pierre Arditti, Lambert Wilson, Sabine Azéma oder Mathieu Almaric. Warum kann/will man sich eine äquivalente Besetzung mit deutschen Schauspielern nicht vorstellen?

In einer unerhört auratischen Exposition werden alle Schauspieler als sie selbst angesprochen und mit der schlimmen Nachricht überrascht, dass der Theaterregisseur Antoine d’Anthac plötzlich verstorben sei. In der Morgendämmerung, beim Reinigen seiner Jagdflinte. Man gehe trotzdem von einem Unfall aus. Die Schauspieler, die mit dem Regisseur Triumphe feierten, werden auf dessen Landhaus eingeladen. Totenwache? So was Ähnliches, es geht ums Theater. Sämtlichen Anwesenden ist gemeinsam, dass sie einst an fabulösen Inszenierungen der „Eurydike“ von Jean Anouilh beteiligt waren. Und eine neuere, etwas experimentelle Inszenierung dieser Modernisierung des „Orpheus“-Stoffes in existentialistischem Geist wird ihnen jetzt als Video vorgeführt, gedreht übrigens von Denis Podalydès, der im Film den verstorbenen Regisseur spielt.

Binnen kürzester Zeit gelingt es Resnais auf das Eleganteste ein sehr komplexes, intellektuell prickelndes Setting zu etablieren: Theater auf Video, Schauspieler als Kritiker, die natürlich sofort ihre Distanz verlieren und auf das Stück einsteigen, wenn »ihre« Textstellen kommen. Erst bewegen sich nur die Lippen, später auch die Körper. Hatte nicht beim Eintritt der Schauspieler in das Landhaus eine Schrifttafel warnend an Murnaus „Nosferatu“ erinnert? „Als sie die Brücke überschritten hatten, kamen die Phantome auf sie zu.“ Wo befinden wir eigentlich gerade? Schon im Reich der Toten? Oder im Reich des Kinos, wo Menschen im Gegensatz zum Theater nicht altern, sondern ewig jung bleiben – wie James Dean? Und wo alte Menschen plötzlich wieder in Texte schlüpfen, die sie vor Jahren sprachen. Anachronismen. Dazu kommen Doppelbesetzungen einzelner Rollen, so dass wir nicht umhin können, uns „Eurydike“ als vielfach verspiegelte Polyphonie aus Wiederholungen und Echos vorzustellen, zumal die Filmhandlung in deutlich erkennbarer Kulisse abläuft.

Film und Theater durchdringen einander buchstäblich, scheinen durch Orte und Sound verzahnt und erzeugen einen traumartigen Schwindel, wobei die Videoaufzeichnung der experimentellen Theaterinszenierung weitaus weniger artifiziell erscheint als das Set des Films. Und dann übernimmt die Literatur das Kommando, denn der „Eurydike“-Stoff bemächtigt sich der Schauspieler, die in ihre alten Rollen fallen. So sehen sich die um ihren Regisseur Trauernden plötzlich bemüßigt, von der Schönheit des Todes angesichts der Mühsal des Lebens zu schwärmen. Es schadet nicht, sich den alten Text des einst modischen und heute längst vergessenen Autors Anouilh präsent zu machen, um die Verve, mit der Resnais hier sämtliche Kunstformen für eine Feier der Macht des Kinos instrumentalisiert, zu erfassen.

Resnais ist der Marionettenspieler im Hintergrund, der, wie der verstorbene Regisseur Antoine d’Anthac, ein großer Freund des »coup de theatré« ist. Weshalb er sich auch einige Überraschungen bis ganz zum Schluss aufhebt, um die alte Geschichte von Orpheus und Eurydike noch zwei oder drei Mal zu wenden. Bis kein Stein mehr auf dem anderen steht und der Originaltitel des Films eingelöst ist, der davon spricht, dass das Beste erst noch kommt. Beziehungsweise, um es mit Bachman Turner Overdrive zu stottern oder Al Jolson zu sagen: „You ain’t seen/heard nothing yet!“ Word, Baby!

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Before Midnight

(USA 2013, Regie: Richard Linklater)

Tickende Zeitbombe
von Wolfgang Nierlin

Man spürt, dass der 41-jährige Jesse (Ethan Hawke) ein Defizit gegenüber seinem 13-jährigen Sohn Hank empfindet. Weil der Sohn aus erster Ehe bei seiner Mutter in Chicago lebt, sein Vater …

Man spürt, dass der 41-jährige Jesse (Ethan Hawke) ein Defizit gegenüber seinem 13-jährigen Sohn Hank empfindet. Weil der Sohn aus erster Ehe bei seiner Mutter in Chicago lebt, sein Vater mit der neuen Familie aber in Paris, sehen sie sich nur selten. Diese quälend verinnerlichte Distanz spricht förmlich aus Jesses etwas unbeholfenen Worten und Gesten. Wenn sich der jugendlich gebende Schriftsteller eingangs von Richard Linklaters Film „Before Midnight“ an einem Flughafen in Griechenland von seinem schweigsamen Sohn verabschiedet, gibt er sich betont kumpelhaft. Irgendwie läuft sein Imponiergehabe aber ins Leere; und in den Blicken, mit denen er die Abreise seines Sohnes begleitet, liegt eine verlorene Sehnsucht, in die sich Wehmut und Trauer mischen.

Es ist der letzte Tag der Sommerferien, die Jesse zusammen mit seiner Lebensgefährtin Celine (Julie Delpy), einer französischen Umweltaktivistin, und ihren gemeinsamen Zwillingstöchtern in Messinien, dem südwestlichen Zipfel der Peloponnes, verbringt. Auf der langen Rückfahrt ins Feriendomizil ihres Gastgebers, die Linklater in einer einzigen, minutenlangen Einstellung aufnimmt, lernen wir ein Paar kennen, dessen Partner so ironisch und neckisch miteinander flirten, als wären sie frisch verliebt. Tatsächlich handelt es sich um den abgeklärten, leicht illusionslosen Diskurs zweier Liebender, die seit Längerem miteinander vertraut sind und deren Kinder im Fond des Wagens schlafen. Der informierte Kinogänger kennt Jesse und Celine aus Linklaters Filmen „Before Sunrise“ (1995) und „Before Sunset“ (2004), in denen von ihrer ersten Begegnung und dem Beginn ihrer Beziehung erzählt wird.

Jetzt, auf der gemeinsamen Fahrt, gibt es einen Moment, in dem Celine ihre Liebesgeschichte halb unernst als „tickende Zeitbombe“ bezeichnet. Auslöser ist Jesses Verlangen, die schmerzlich empfundene Distanz zu seinem Sohn durch einen Umzug in die USA zu überbrücken. Celine sieht sich einmal mehr in der typisch weiblichen Opferrolle, zumal sie gerade ein attraktives Jobangebot bekommen hat. Vor allem im Schlussteil des Films, einer Nacht ungewohnter Zweisamkeit im Hotelzimmer, bricht dieser Konflikt mit Vehemenz aus und kulminiert schließlich in den kleinteiligen Wortklaubereien und gegenseitigem Unverständnis eines Beziehungskrieges.

Ansichten über biologische und emotionale Geschlechterdifferenz, über den Beginn und das Ende der Liebe, über die Liebe zum Leben und die Erfahrung von Vergänglichkeit grundieren die vielen, ausführlichen Gespräche und Unterhaltungen in „Before Midnight“. Ungewöhnlich offen und schlagfertig sind die Dialoge, die hier bewusst das Konzept einer minimalistischen Handlung bei gleichzeitiger Verdichtung von Raum und Zeit sowohl transportieren als auch dominieren. Obwohl das filmisch mitunter etwas einsilbig, unspektakulär und schematisch wirkt, gelingen dem Regisseur doch auch viele heitere und nachdenkliche Momente. Die Spannung kommt gewissermaßen aus den Worten und Blicken der Protagonisten und steckt zugleich in den vielen kleinen Details, die Richard Linklater für Referenzen, Reminiszenzen und Widerspiegelungen nutzt.