Archiv der Kategorie: Filmkritik

Chained

(USA 2012, Regie: Jennifer Lynch)

Kaninchen im Bau
von Harald Steinwender

Alles beginnt mit einem Kinobesuch, den eine Mutter (Julia Ormond) mit ihrem 9-jährigen Sohn unternimmt. Auf dem Programm steht ein Horrorfilm – „Shifter“, in dem, so legt es der Dialog …

Alles beginnt mit einem Kinobesuch, den eine Mutter (Julia Ormond) mit ihrem 9-jährigen Sohn unternimmt. Auf dem Programm steht ein Horrorfilm – „Shifter“, in dem, so legt es der Dialog nahe, Menschen die Gesichter abgezogen werden. Die anschließende Taxifahrt zeigt bald, dass die Welt außerhalb des Multiplexkinos eine weitaus schlimmere und obendrein ganz reale Gewalt bereithält. Denn der schweigsame Fahrer (Vincent D’Onofrio), der Tim (Evan Bird) und seine Mutter nach Hause bringen soll, erweist sich als Serienmörder, der mit seinem Taxi auf Frauenjagd ist und seine beiden Opfer in ein abgelegenes Haus inmitten der US-amerikanischen Einöde verschleppt, wo er die Mutter vergewaltigt, umbringt und anschließend im Keller verscharrt – sein offenbar seit Jahren praktizierter Modus Operandi. Nur hat er es diesmal nach der blutigen Routine mit einem kleinen Jungen zu tun, den er nicht töten mag, aber auch nicht freilassen kann. Er entscheidet sich, Tim bei sich aufzunehmen, zunächst als eine Art Haussklaven, später als Ersatzsohn und Nachfolger in spe.

Der zu einer Zeit und Raum überbrückenden Montagesequenz vorgetragene Begrüßungsmonolog, in dem der Menschenschinder sich zum gottgleichen Herrscher erhebt und dem Neuankömmling seine Regeln diktiert, die Aufgaben und den Arbeitsbereich des Jungen absteckt und die Hierarchie unmissverständlich vorgibt, etabliert das Thema und eine düstere Welt, aus der es kein Entkommen gibt: „I didn’t ask for you. But since you’re here, I’m going to make the most of it. You will have one job: You do what I say. You clean up my house. Garbage bags, mops, bucket, broom – they are your tools. Breakfast! You will serve me breakfast every morning for the rest of your life. You will not eat or drink anything without my permission. You only eat after I have eaten, and only what I have left on my plate. (…) There is no phone in this house. The TV is off limits unless I offer it. If someone knocks at the – well, no one’s gonna knock. If you steal from me, you get a beating. If you try and escape or you don’t keep the house clean, you get a beating. If you make me nervous or get in my way at all, a beating. From now on, this is your world. It is only you, me, and them. I will call you Rabbit.“ So verliert der nach einem Fluchtversuch an eine Eisenkette gelegte Junge nicht nur seine Freiheit, sondern auch seine Identität. Von nun an lebt er als Kaninchen im Bau des Serienmörders, bis er seine Ketten verinnerlicht hat, und es ihm selbst als jungem Mann (Eamon Farren) nicht mehr möglich ist, zu fliehen, auch wenn sich eine Möglichkeit bietet. Die Frage bleibt nur, ob auch Rabbit / Tim in die Fußstapfen seines aufgezwungenen Ersatzvaters treten wird.

Jennifer Lynchs „Chained“ ist ein düsteres, mitunter an ein Theaterstück erinnerndes Terrorkammerspiel, das nicht zuletzt durch reale Fälle wie die kürzlich bekanntgewordene Entführung dreier Frauen, die ein Mann in Cleveland zehn Jahre lang in seinem Haus gefangen gehalten hatte, eine unangenehme Nähe zur Realität aufweist. Ein Genrefilm kann ein solches Martyrium kaum realistisch wiedergeben – wer sollte so etwas ernstlich in aller Drastik im Kino sehen wollen? Aber in dem gegebenen Rahmen gelingt es der Regisseurin durchaus, zu einer dem Sujet angemessenen und zermürbenden Darstellungsweise zu finden. Getragen wird „Chained“ dabei vor allem von der brillanten Leistung Vincent D’Onofrios, der seinen Serienmörder als dumpf-brutalen, zugleich aber auch tapsig-unsicheren Kind-Mann gibt, der in einem klobigen Körper gefangen ist und dessen ungelenke, stockende Aussprache einen Mann verrät, der es nicht gewohnt ist, mit anderen Menschen außer durch Gewalt zu kommunizieren. Das expressive Sounddesign erinnert wie schon in „Surveillance“ („Unter Kontrolle“; 2008), dem Vorgängerfilm der Regisseurin, bisweilen an die Filme ihres Vaters David Lynch und das „kosmische Rauschen“, das in dessen Filmen immer wieder erklingt. Nach einem Fausthieb dröhnt dann schon einmal ein Tinnitus-Störgeräusch auf der Tonspur, und in einzelnen Szenen wird ähnlich wie in „Lost Highway“ (1997) ein unnatürlicher Klangraum geschaffen, indem auf herkömmliche Atmo verzichtet wird. Lange gehaltene statische Einstellungen – zu Beginn insbesondere in den Gewaltszenen – betonen die Ausweglosigkeit der Situation und das Ausgeliefertsein des jungen Protagonisten. Die gut kadrierten Breitwandbilder setzen immer wieder auf leere Flächen am Bildrand als Gestaltungsmittel; Weitwinkel und Filter deformieren Perspektive und Farbspektrum.

Auch wenn „Chained“ im letzten Akt einen ungewöhnlichen und dezidiert unrealistischen Plot-Twist vollzieht, so variiert dies konsequent und ins Irreale gewendet das Thema des Films. Denn die unsichtbaren Ketten, die jeder der Protagonisten mit sich trägt, sind hier fraglos eine Folge dysfunktionaler familiärer Strukturen und der schrecklichen patriarchalischen Gewalt, die in deren Zentrum wütet. Weitergegeben wird die Gewalt von Generation zu Generation, von Vater zu Sohn zu Ersatzsohn. So erweist sich „Chained“ letztlich als allegorisch aufgeladene und durchaus feministisch angehauchte Variante des Serienmörderfilms.

Die von Capelight in Deutschland veröffentlichte Blu-ray überzeugt bild- und tontechnisch gleichermaßen und gibt den Film, der in Deutschland nur im Rahmen des Fantasy Filmfests 2012 im Kino zu sehen war, adäquat wieder. Die englische Tonspur ist – nicht zuletzt wegen D’Onofrios unnachahmlicher Stimme und seiner eindrucksvollen Performance – der deutschen Synchronfassung vorzuziehen. Als Bonusmaterial findet sich ein deutscher Trailer und ein (optional deutsch untertitelter) Audiokommentar, den Lynch zusammen mit ihrem Hauptdarsteller bestreitet. Der Kommentar ist weniger analytisch, sondern überwiegend an den konkreten Dreharbeiten orientiert, aber durchaus hörenswert. Zur Sprache kommt auch ein möglicher „Director’s Cut“, da laut Regisseurin die vorliegende Fassung unter Zeitdruck entstand und nicht gänzlich ihren Intentionen entspricht. Die auf der deutschen Blu-ray enthaltene und mit einer FSK 18 freigegebene Fassung ist mit der in den USA veröffentlichten ungekürzten NC-17-Fassung identisch, die gegenüber der R-Rated-Fassung in einer Gewaltszene verlängert ist. Wer den Film noch nicht gesehen hat und nicht auf einen möglichen „Director’s Cut“ warten möchte, kann also bedenkenlos zugreifen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in „Splatting Image“, Heft 94 (Juni 2013)

Bronson

(GB 2009, Regie: Nicolas Winding Refn)

Silence Under the Fist
von Harald Steinwender

Die Pet Shop Boys und New Order, Verdi („Nabucco“, „La forza del destino“ und „Attila“), Puccini („Madama Butterfly“), Richard Strauss („Eine Alpensinfonie“) und, natürlich, Wagner („Siegfrieds Trauerzug“ und „Das Rheingold“). …

Die Pet Shop Boys und New Order, Verdi („Nabucco“, „La forza del destino“ und „Attila“), Puccini („Madama Butterfly“), Richard Strauss („Eine Alpensinfonie“) und, natürlich, Wagner („Siegfrieds Trauerzug“ und „Das Rheingold“). Die Filmgeschichte betreffend: „A Clockwork Orange“ („Uhrwerk Orange“, 1971; Stanley Kubrick) und „Chopper“ (2000; Andrew Dominik), „Shock Corridor“ (1963; Samuel Fuller), „Scum“ („Abschaum“; 1979; Alan Clarke) und „Ghosts… of the Civil Dead“ („Willkommen in der Hölle“; 1988; John Hillcoat), britische Gangsterfilme wie „Villain“ (1971; Michael Tuchner) und „The Long Good Friday“ („Rififi am Karfreitag“; 1980; John Mackenzie) und, natürlich: Charles Bronsons stoisch-verschlossene Männlichkeit, etwa aus Michael Winners „Chatos’s Land“ (1972) oder Walter Hills „Hard Times“ („Ein stahlharter Mann“; 1975). Dazu: Vaudeville, Episodenstruktur, Schockstrategien. Eigentlich sagt das schon alles über diesen Film: disparate Einzelstücke der populären und der legitimen Kultur, vermischt zu einem antiorganischen Gebräu. Ein Ganzes ergibt sich daraus nicht, soll es auch nicht, warum auch?

Der 39-jährige Däne Nicolas Winding Refn hat sich in seinen frühen Filmen, in der „Pusher“-Trilogie (1996-2005) und in „Bleeder“ (1999) an Regisseuren wie Martin Scorsese orientiert, an der Unmittelbarkeit von Mean Streets“ („Hexenkessel“; 1973), an der selbstzerstörerischen, dislozierten Männlichkeit von Figuren wie Jake La Motta in „Raging Bull“ („Wie ein wilder Stier“; 1980). Die Protagonisten Refns leben und sterben in einer grauen, kalten Welt, in der ihr Wissen um die Popkultur ihnen keine Orientierung bietet. In „Bleeder“ stehen diese Thirtysomethings in einer abgeranzten Videothek herum und zitieren sich durch die abseitigen Regionen der Filmgeschichte, aber in ihren Beziehungen, als Ehemänner, Partner oder Väter oder auch nur halbwegs kompetente zwischenmenschliche Kommunikationspartner, versagen sie völlig. Sie treffen konsequent die falschen Entscheidungen und versauen sich damit ihr Leben, das sowieso einer Sisyphusaufgabe gleichkommt.

„Bronson“ ist Refns sechster Spielfilm und auch er erzählt von einem gewalttätigen Loser. Der Brite Michael Peterson (Tom Hardy) überfällt 1974 mit einer abgesägten Schrotflinte einen Laden und raubt gerade einmal 26 Pfund. Er kommt in den Knast und attackiert so oft die Wärter, dass er noch heute dort sitzt. Auf der englischsprachigen Homepage des Films begrüßt uns ein Counter, der berichtet, wie lange Peterson nun schon für die paar Pfund, die er gestohlen hat, einsitzt. In Jahren, Monaten, Tagen, Stunden, Minuten und Sekunden. Es sind 2009 bereits 35 Jahre. Neben seinem Ruf als „Britain’s most violent criminal“ ist der prominente Häftling vor allem unter seinem Künstlernamen „Charles Bronson“ bekannt, den er in einer kurzen Phase der Freiheit für einige illegale Faustkämpfe annahm und dann im Knast beibehielt.

Was treibt einen Mann dazu, sich selbst im Knast zu begraben – und das ist es, worauf dieser „Bronson“ mit jeder neuen Gewaltaktionen abzuzielen scheint? Einen Grund dafür erfahren wir nicht wirklich. Stattdessen: Körperkino. Bronson/Peterson zieht sich aus, rennt gegen die Aufseher und die Wände an, besudelt sich mit Blut, quält einen schwulen Kunstpädagogen, terrorisiert einen verängstigten Wärter. Refn bietet keine Antworten an, nicht einmal einfache. Der Mann Bronson bleibt uns fremd und der Appell auf der Homepage, ihn endlich freizulassen, steht in einem seltsamen Gegensatz zum Film, nach dem man eher das Gefühl hat, der Mann solle uns, bitteschön, doch so lange wie möglich in der Welt draußen erspart bleiben. Wer will schon gerne morgen auf der Straße grundlos von einem glatzköpfigen Muskelpaket mit Retro-Schnauzbart zusammengeprügelt werden, nur damit der wieder zurück in den Knast kommt?

Refn nutzt mehr als in seinen Filmen zuvor distanzierende und verfremdende Effekte: Einige Szenen sind gänzlich in Rot oder Blau getaucht, manche werden in extremem Weitwinkel gezeigt oder nutzen lange Parallelfahrten. Auch die voice-over Bronsons ist keine objektive, ordnende Instanz, sondern oft selbstgefällig und rhetorisch. Immer wieder sehen wir den Protagonisten bleich geschminkt auf einer Bühne vor Publikum in Abendkleidung. Da steht er dann im Anzug, isoliert vor schwarzem Hintergrund, und hält ungelenk Zwiesprache mit sich selbst. Einmal projiziert Refn dazu dokumentarisches Filmmaterial einer von ihm angezettelten Gefängnisrebellion direkt auf den Schauspieler und den Hintergrund. Auch Hardys zwischen Unbewegtheit und Expressivität changierendes Spiel verweigert Nähe: immer wieder schaltet er sein Lächeln mechanisch an und aus, lässt seine Bewegungen einfrieren oder legt den Kopf ruckartig schief. Häufig zeigt Refn Bronson, wie er entweder im vollen Profil gefilmt aus dem Bildkader starrt oder bedrohlich frontal vor die Kamera tritt, um dann das Publikum direkt anzusprechen.

Ganz zu Anfang des Films verkündet „Bronson“ in die Kamera: „All my life I wanted to be famous.“ Identifiziert er sich deshalb so sehr mit dem Filmstar Charles Bronson? Über den „echten“ Bronson, den, der als Charles Buchinsky 1921 als Sohn litauischer Emigranten in Ehrenfeld, Pennsylvania geboren wurde, schrieb James Dickey, der Autor von „Deliverance“ („Flußfahrt“), trotz seiner gewalttätigen Rollen und seines muskulösen Körperpanzers sei da „always about him a silent and reflective personality hidden somewhere within or beneath a body redolent of the workingman – the coal miner, the factory worker, or the truck driver […] [;] a solid-hewn, aging, tough, essentially moral masculinity is Bronson’s trademark.” Der ikonische Schauspieler Bronson sei „a strong, no-nonsense man whose appeal […] does […] lie […] in his integrity and his great animal vitality.” Er ist aber auch in Filmen wie „Death Wish“ („Ein Mann sieht rot“; 1974; Michael Winner) „a kind of universal avenger – a one-man force against what he considers universal evil”, so Dickey. Wir erfahren nicht, gegen was Michael Petersons / Tom Hardys Interpretation dieses Racheengels auszieht, aber dass der Mann eine allumfassende Wut in sich trägt, steht außer Frage. „Bronson“ ist vor allem eine filmische Metapher für Wut geworden – unbändige, rasende Wut. Und damit trotz aller Distanz ein sehr intensiver Film.

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: Splatting Image, Nr. 79, September 2009

Mandela – Der lange Weg zur Freiheit

(GB / ZA 2013, Regie: Justin Chadwick)

Nichts Politisches!
von Nicolai Bühnemann

„Nichts Politisches!“ So lautet die strikte Anweisung der Gefängnisaufseher. Bei den seltenen, kurzen und streng überwachten Besuchen des inhaftierten Nelson Mandela (Idris Elba) von seiner Frau Winnie (Naomie Harris), später …

„Nichts Politisches!“ So lautet die strikte Anweisung der Gefängnisaufseher. Bei den seltenen, kurzen und streng überwachten Besuchen des inhaftierten Nelson Mandela (Idris Elba) von seiner Frau Winnie (Naomie Harris), später auch seiner Töchter, soll über Persönliches, Familiäres geredet werden, nicht über Politik. Dass die Schergen eines rassistischen Unrechtsstaats kein Interesse daran haben, dass sich ein eingekerkerter Freiheitskämpfer mit seinen ebenfalls politisch aktiven Angehörigen über gesellschaftliche Entwicklungen unterhält, leuchtet wohl ohne Weiteres ein. Warum aber scheint sich auch der britisch-südafrikanische Blockbuster, der jetzt die Lebensgeschichte des im vergangenen Jahr verstorbenen Nelson Rolihlahla Mandelas in epischen zweieinhalb Stunden erzählt, über weite Strecken an diesen Maulkorb zu halten? Warum erzählt er über einen Mann, der die berühmt gewordenen Sätze sagte: „Der Kampf ist mein Leben. Ich werde bis zum Ende meiner Tage für die Freiheit kämpfen“, mit geradezu bemerkenswertem Desinteresse für die politischen Hintergründe und Zusammenhänge dessen, wofür und wogegen er kämpfte?

„Mandela – Long Walk to Freedom“ beginnt mit einem Traum, den das Voice-Over in seiner Kindheit verortet. Geradezu paradiesische Bilder von Feldern, von einem lichtdurchfluteten Haus voller glücklicher Menschen. Danach kommt das Initiationsritual, das aus dem Jungen einen Mann machen soll, wobei ihm übrigens auch von der Verantwortung gesprochen wird, die ein Mann gegenüber seinem Volk hat. (Warum eigentlich – das ist keine rhetorische Frage, ich versteh’s wirklich nicht – traut sich der Film nicht mal anzudeuten, dass dieses Ritual in einer, traditionell mit einem Speer durchgeführten, Beschneidung besteht? Macht sich das südafrikanische Tourismus-Ministerium, das den Film mitfinanzierte, was man diesem übrigens deutlich ansieht, Sorge um sein Afrika-Bild?) Interessanter als das, was der Film zeigt, ist schon hier das, was er auslässt. Von der Uni an der ländlichen Transkei flüchtete Mandela mit einem gleichaltrigen Mitstreiter in die boomende Metropole Johannesburg, weil die beiden ohne ihre Einwilligung aber gemäß der herrschenden Tradition verheiratet werden sollten. Mandela wird später über diese Episode schreiben: „Während ich nicht daran dachte, das politische System des weißen Mannes zu bekämpfen, war ich durchaus bereit, gegen das soziale System meines eigenen Volkes zu rebellieren.“ Natürlich muss ein Film, der weit über fünfzig Jahre erzählte Zeit in 150 Minuten Erzählzeit packt, sein Material sorgsam auswählen. Es wird jedoch schon hier deutlich, dass diese Sorgsamkeit für die Filmemacher bedeutet, die Geschichte gründlich von Ambivalenzen zu befreien. Nur wird man der komplexen historischen Situation eines Landes wie Südafrika mit Schwarz-Weiß-Malerei (die vielleicht politisch korrekter, aber kaum klüger wird, weil sie sich nicht mehr auf Hautfarben bezieht) auf diese Art nicht annähernd gerecht. Von der Perfidie des Apartheid-Regimes, das etwa in seiner Homeland-Politik gerade die scheinbare Stärkung und Autonomie afrikanischer Stammesstrukturen und -hierarchien zur Spaltung und Unterwerfung der schwarzen Bevölkerung nutzte, ganz zu schweigen.

Zurück zum Film: Der springt mit einem Schnitt direkt von der Initiation ins Johannesburg des Jahres 1942. Mandela ist nun ein ambitionierter junger Anwalt, der jede Menge Erfolg bei den Frauen hat, aber auch im Beruf so viel, wie ein Schwarzer im Südafrika der vierziger Jahre nur haben konnte. Wenn er einmal wohlhabender und besser gekleidet sei als sie, dann werden ihn die Weißen schon respektieren, sagt er. Im Gerichtssaal stellt er die rassistische Bigotterie älterer weißer Damen bloß. Im Privatleben hat er für die herrschaftliche Politik zur „Reinhaltung der Rassen“ auch schon mal einen Scherz übrig. Wenn der Bleistift sowohl in seinem Haar als auch in dem seiner etwas hellhäutigeren Disko-Bekanntschaft stecken bleibt, gehören sie wohl derselben „Rasse“ an – womit nichts dagegen spricht, dass sie gemeinsam nach Hause gehen. Das Lachen vergeht ihm aber, als Polizisten einen Freund von ihm totprügeln, weil er keinen Ausweis dabei hat. Mandela schließt sich dem afrikanischen Nationalkongress (ANC) an. Doch während ihres friedlichen legalen Widerstands wird alles nur noch schlimmer, die Gesetze zur Trennung der Rassen immer strikter, die staatliche Repression immer brutaler. Als schließlich 1960 in Sophiatown die Polizei das Feuer auf unbewaffnete Demonstranten eröffnet, hunderte Menschen verletzt und 69 tötet, die meisten von ihnen durch Schüsse in den Rücken, entschließt Mandela sich zum militanten Kampf. Er geht in den Untergrund, wird verhaftet und mit seinen Mitstreitern zu lebenslanger Haft verurteilt.

Regisseur Justin Chadwick bekundete seine Absicht, sich auf den „Menschen Mandela“ zu konzentrieren. Was damit gemeint ist, aber auch wie grundfalsch dieses Konzept ist, wie sehr der Fisch vom Kopf her stinkt, wird wohl am deutlichsten in der Darstellung von Mandelas beiden Ehen. Seine erste Frau verlässt ihn relativ schnell, weil er die Familie zugunsten seines politischen Engagements vernachlässigt. Weil er, so sagt sie einmal, sich um alle Kinder Südafrikas kümmert, außer um seine eigenen. Das Verhältnis zu Winnie gestaltet sich komplizierter. Während in ihm während seines knapp 30-jährigen Gefängnisaufenthaltes mehr und mehr die Erkenntnis reift, dass man aus der Spirale der Gewalt einen Ausweg finden, dass die Freiheit mit demokratischen, nicht mit militärischen Mitteln erkämpft werden muss, wird sie immer militanter. In der ersten Ehe wird also der Konflikt zwischen Privatleben und Politik auf eine gängige Genre-Erzählung heruntergebrochen (denken wir an die Phalanx von Polizisten-Gattinnen, die im Kino am Job ihres Mannes verzweifeln). In der zweiten hingegen werden die ideologischen Grabenkämpfe, die die südafrikanische – wiewohl fast jede andere – Widerstandsbewegung spalteten, in einer Dichotomie von friedlichem versus bewaffnetem Widerstand aufgelöst. Hinter der sich dann natürlich hollywoodgerecht nichts weiter verbirgt, als der ewige Kampf zwischen Gut und Böse, Liebe und Hass, die ja – oh, göttliche Psychologie! – in jedem Menschen wohnen.

Wenn es den Filmemachern tatsächlich darum ging, Mandela als „ganz normalen Mann“ darzustellen, ihn aus den Geschichtsbüchern von den Denkmalsockeln zu holen, wie es das Presseheft ein ums andere Mal verkündet, dann ist ihr Scheitern so kolossal, dass man es tatsächlich nur bewundern kann. Die Art, wie historische Ereignisse (die offizielle Einführung der Apartheid 1948, das Massaker von Sophiatown, die zunehmende Instabilität und Gewalt in den Achtzigern) in kurzen Schlaglichtern dramatisiert werden, auf die Mandela dann reagieren muss, suggeriert geradezu den Eindruck eines Mannes, der Schach mit der Geschichte spielt. So sieht er also aus, der ganz normale Mandela.

Damit soll nicht gesagt sein, dass dieses Scheitern nur eine Sache des Inhalts wäre. Es findet in der Form seine perfekte Entsprechung. Wie „persönlich“ kann sich ein Film einer Figur nähern, dem zu den Vierzigern nichts weiter einfällt, als der Chic zeitgenössischer Anzüge und der glänzende Lack zeitgenössischer Limousinen? Zu einem beginnenden Gefängnisaufenthalt nicht mehr, als einen Mann durch Gitterstäbe zu filmen, der in einer finsteren feuchten Zelle Liegestütze macht? Der, kurz gesagt, an keiner Stelle auch nur den Versuch erkennen lässt, über den gängigen period picture-und Biopic-Hochglanz-Bilder-Brei irgendwie hinauszugehen?

Am deutlichsten wird das ästhetische Scheitern des Films, wenn er die explodierende Gewalt in den Achtzigern zeigt. Demonstrationen, Straßenschlachten, blutige und verstümmelte Leichen. Dazwischen: Nachrichtenbilder, Bilder des vollen Wembley-Stadions, das „Free Nelson Mandela“ singt. Dazu: Bob Marley, Public Enemy. Willkommen in der Bild- und Klang-Welt der internationalen medialen „Revolutions“-Folklore. Ganz schön aufregend hier, nervenaufreibend, aber zum Glück für uns westliche Zuschauer, die das alles wohl hauptsächlich aus Film und Fernsehen kennen, auch irgendwie wieder beruhigend weit weg. „The Revolution Will Not Be Televised“? Von wegen! Ach, würde der Film doch auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwenden, in welche Widersprüche er sich verstrickt, wie aalglatt er letztlich vom Chaos erzählt. Wie schrecklich vertraut gerade „uns“, hier, in der immer rigoroser abgeriegelten „Festung Europa“, diese (Fernseh-)Bilder sind. Stattdessen packt er die Pathoskeule aus, lässt sie über uns hinweg rollen wie den Wasserwerfer über die Barrikaden.

Die zunehmende Brutalität einiger schwarzer Gruppierungen thematisiert der Film auch, etwa in den schwarzen Lynchmobs, die ab Mitte der Achtziger „Kollaborateure“ des Regimes ermordeten, etwa durch das „necklacing“, bei dem einem Menschen ein mit Benzin gefüllter Autoreifen um den Hals gelegt und anschließend angezündet wird. Gerade da aber, wo der Film Ambivalenzen aufzubauen versucht, offenbart sich die ganze Dummheit seines gut gemeinten Liberalismus. Unmenschlichkeit mit Unmenschlichkeit zu bekämpfen, ist also falsch. Wer das schon vorher ahnte, der darf sich jetzt bestätigt fühlen und sich beruhigt selbst auf die Schulter klopfen. Bei der Verhandlung mit der Regierung über seine Freilassung sagt Mandela, man müsse aus der Spirale des Hasses aussteigen, weil der Hass zu Angst führe, die die Menschen zu Gefangenen mache. Für die psychologische Seite des Rassismus mag das zutreffen. Der echte Mandela kannte aber auch eine andere – mindestens – genauso wichtige Seite: Die ökonomische. Rassismus mag zum einen in der Angst vor dem Fremden, dem „Anderen“ begründet liegen. Darüber hinaus ist er jedoch vor allem ein Herrschaftsinstrument, das Hierarchien schafft und aufrechterhält. In kolonialistischen Projekten bietet er den ideologischen Unterbau, weil es der Annahme von der grundsätzlichen Verschiedenheit der Menschen bedarf, um zu rechtfertigen, dass die einen die anderen versklaven, unterwerfen, ausbeuten oder ermorden, um sich ihrer Länder und Bodenschätze zu bemächtigen. Die Apartheid war nicht einfach nur ein zum Himmel schreiendes Unrecht, sie war auch ein verdammt lukratives Geschäft – für die weißen südafrikanischen Eliten genauso wie für skrupellose, internationale Großkonzerne. (Und dass sie auch, aber eben nicht nur auf Grund des wachsenden Protests im In – und Ausland irgendwann aufhörte lukrativ zu sein, um sich in das genaue Gegenteil zu verwandeln, war auch der Anfang ihres Endes.) Dafür interessiert sich der Film allerdings nicht die Bohne.

Idris Elba (Freunden des neueren US-amerikanischen Qualitätsfernsehens wohl vor allem als Drogendealer Stringer Bell aus der Serie „The Wire“ bekannt) ist ein ebenso charismatischer wie begnadeter Schauspieler, der auch hier zeigt, was er kann. Durchaus eine Idealbesetzung, was einen grundfalschen Film aber leider auch nicht richtiger macht. Lobend seien auch die Maskenbildner erwähnt, die dafür sorgen, dass wir ihm den Anfang Zwanzigjährigen ebenso abnehmen, wie den Anfang Siebzigjährigen am Schluss.

Regisseur Chadwick sagt: „ ‚Mandela – The Long Walk to Freedom‘ ist ein Film über den Kampf und der dauert bis heute an. Er beeinflusst bis heute jeden einzelnen Menschen dort.“ Dass das Unrecht und der Kampf in Südafrika nicht durch das Ende der Apartheid und die Wahl Mandelas zum ersten schwarzen Präsidenten abgeschafft waren, mit denen der Film endet, ist ja – wenn auch etwas trivial – sicherlich richtig. Nur, was tut der Film, um diese Wahrheit zu bebildern? Er lässt den befreiten Befreier gemeinsam mit glücklichen Kindern im Freudentaumel durch die wunderschönen Weiten der afrikanischen Savanne rennen. Er lässt die Kamera in der letzten Einstellung gen Himmel fliegen. Das verstehe nun, wer wolle. Ich bin raus. Mir ist das einfach zu hoch.

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Bethlehem

(IL / D / B 2013, Regie: Yuval Adler)

Viele Fragen, wenige Antworten
von Michael Schleeh

Ein Film mit einem Anfang, aber ohne ein Ende. Urplötzlich erstirbt das Licht, die Leinwand wird schwarz, der Abspann rollt an zu den zurückhaltenden ambienten Technobeats, die schon mehrfach unheilvoll …

Ein Film mit einem Anfang, aber ohne ein Ende. Urplötzlich erstirbt das Licht, die Leinwand wird schwarz, der Abspann rollt an zu den zurückhaltenden ambienten Technobeats, die schon mehrfach unheilvoll dräuend auf die Stimmung des Zuschauers schlugen – und das, obwohl hier die Sonne scheint und der Himmel stets blau ist. So wie es aufgehört hat, wird es weitergehen. Da es kein Ende geben kann in diesem unauflösbar gewaltsamen Konflikt, in dem der politische immer auch ein persönlicher ist. Das Motiv der Rache führt zur Endlosspirale der Gewalt, die schon gar nicht dadurch zunichte gemacht werden kann, dass man ein Haus abreißt oder den lange gejagten Anführer einer palästinensischen Widerstandsbrigade eliminiert. Draußen, auf der Straße, wo die Soldaten den Menschenjägern den Rücken decken sollen, da rücken schon die Vermummten an, die Steine schleudern – und es ist nur eine Frage der Zeit, bis geschossen wird. Auch kugelsichere Westen bringen da nichts, wie sich zeigen wird.

Viel Streit hat sich daran entzündet, ob der Film politisch korrekt sei, und ob nicht eine Seite vielleicht in einem besseren Licht dastünde als die andere. Mir scheint, keine der beiden kommt hier irgendwie auch nur ansatzweise gut weg. Auch solche spekulativen Einwürfe wie sie neulich der Stammkritiker des WDR 5 aufbrachte, kann man kaum gelten lassen: der sich ernsthaft gefragt hat, ob die Geschichte, die hier erzählt wird, glaubhaft sei. Der Mossad als bester Geheimdienst der Welt, das sei bekannt, käme zu stümperhaft weg. Aha, so ist das also. Hier sollte doch noch mal einer seine Beurteilungskriterien überprüfen.

Der sogenannte Nahost-Konflikt wird in 'Bethlehem' als ein Loyalitätskonflikt zwischen einem jüdischen Geheimdienstmann und einem sehr jungen muslimisch-palästinensischen Spitzel, dessen Bruder ein gesuchter Untergrundkämpfer ist, aufgeblättert. Ein Vater-Sohn-Konflikt ist das also auch, der auf einem prinzipiell ausbeuterischen Lügengebäude errichtet ist. Der Film nimmt sich viel Zeit für seine Kommunikationssituationen (auch immer extensiv per Mobiltelefon) und rückt den Figuren dicht auf den Körper, blickt in die Augen, ins Gesicht. Da wird ganz schön viel Handlung transportiert und eine dicht gepackte Atmosphäre erzeugt, so wie auch jeden Moment eine Bombe hochgehen kann und niemand nirgends sicher ist. Manchmal wünscht man sich etwas mehr cineastische Raffinesse, ein Erzählen mehr durch die Kamera und über Bilder als immer durch Worte. Am Ende, das ist jedenfalls deutlich, stellt der Film mehr Fragen, als dass er Antworten gibt. Und eine Liebesgeschichte muss man übrigens auch nicht durchleiden. Das ist prinzipiell begrüßenswert.

Jenseits der Hügel

(RO 2012, Regie: Cristian Mungiu)

Eine tiefe Verstörung
von Wolfgang Nierlin

Von Einstellung zu Einstellung bewegt sich die schnörkellose, auf einen Soundtrack und dramaturgische Manipulationsstrategien verzichtende Erzählung von Cristian Mungius preisgekröntem Film „Jenseits der Hügel“. Die Bilder sind reich und genau, …

Von Einstellung zu Einstellung bewegt sich die schnörkellose, auf einen Soundtrack und dramaturgische Manipulationsstrategien verzichtende Erzählung von Cristian Mungius preisgekröntem Film „Jenseits der Hügel“. Die Bilder sind reich und genau, ohne ausgestellt kunstvoll zu wirken, die Lücken wie das Schweigen beredt, und das Einzelne ist so wichtig wie das Ganze. In Cinemascope gedreht, ermöglichen die tiefenscharfen Bilder des Kameramanns Oleg Mutu immer wieder eine innere Montage, wobei die Inszenierung des Raums und die Dauer der Einstellung eine künstlerisch fruchtbare Einheit bilden. Die enorm starke Intensität, die teils schier unerträgliche Spannung und die sinnliche Dichte von Mungius Film resultieren gerade aus diesem scheinbar paradoxen Verhältnis von Abstand und Nähe. Die real erlebte Zeit zieht den Zuschauer ins Geschehen.

Eine tiefe emotionale Abhängigkeit verbindet die beiden Freundinnen Voichita (Cosmina Stratan) und Alina (Cristina Flutur), die zusammen in einem rumänischen Waisenhaus aufgewachsen sind. Jetzt kehrt die 24-jährige Alina aus Deutschland zurück, wo sie eine Arbeit gefunden hat, um ihre Freundin zu sich zu holen. Doch Voichita hat mittlerweile einen anderen „Weg gewählt“: Sie lebt und arbeitet in einem kleinen orthodoxen Kloster in den Bergen. „Kein Zutritt für Andersgläubige“ und „Glaube, frage nicht“, heißt es auf einem Schild am Eingang der umzäunten Anlage. Die Liebe und herzliche Zuneigung der beiden jungen Frauen werden in der Folge durch ihre jeweils anderen Weltanschauungen und Lebenskonzepte in ein unlösbares Dilemma versetzt, das auch für die Klostergemeinschaft zur inneren Zerreißprobe wird.

Alina reagiert verstört und steigert sich in ihrem Verlorenheitsgefühl zunehmend aggressiver in Zustände der Hysterie und des Wahnsinns. Sie wird angebunden und geknebelt; über ihr gesprochene Gebete sollen die dunklen, (selbst)zerstörerischen Kräfte in ihr bannen. Dabei vermeidet Cristian Mungiu in der Darstellung des Klosterlebens jegliche Klischees und Wertungen. Zwar zeigt er den Priester (Valeriu Andriuta) und die Oberin (Dana Tapalaga) glaubensstark und prinzipientreu, aber nie verbissen oder gar fanatisch. Vielmehr ist ihr ebenso geistliches wie rationales Ringen um eine Lösung zunächst nach allen Seiten offen. Mungiu nutzt diese Offenheit immer wieder, um den schier ausweglosen Konflikt eindrucksvoll an der gesellschaftlichen Realität zu spiegeln. Dabei vermittelt er beunruhigende Einblicke in eine postkommunistische Gesellschaft zwischen Armut, Bürokratie und Gleichgültigkeit.

Oslo, 31. August

(NO 2011, Regie: Joachim Trier)

Etwas ratlos
von Nicolai Bühnemann

1963 sagte Maurice Ronet in Louis Malles Film „Le feu follet“: „Die Sache ist, ich kann meine Hände nicht ausstrecken und zupacken. Ich kann die Dinge nicht berühren. Und wenn …

1963 sagte Maurice Ronet in Louis Malles Film „Le feu follet“: „Die Sache ist, ich kann meine Hände nicht ausstrecken und zupacken. Ich kann die Dinge nicht berühren. Und wenn ich sie doch berühre, fühle ich nichts.“ Ronet spielte Alain, einen Mann, der wegen seiner Alkoholabhängigkeit in einer Klinik behandelt worden war. Der Film folgte ihm einen Tag lang durch Paris. Um die Versuchungen des alten Lebens und der großen Stadt – der Barkeeper, der ihm ganz selbstverständlich hinstellt, was er immer getrunken hat, die beiden Männer, denen er etwas zu trinken ausgibt, weil sie ihm einen Gefallen tun, und die ihn auffordern, mitzutrinken – ging es dabei gerade nicht. Sondern um einen Mann, der verzweifelt nach Halt sucht, der versucht dem Leben und der Liebe und der Stadt etwas abzufühlen, die Dinge und Menschen zu berühren und sich von ihnen berühren zu lassen. Am Ende setzte er sich eine Pistole auf die Brust und drückte ab.

2011 hat der norwegische Regisseur Joachim Trier den Roman von Pierre Drieu la Rochelle, der schon Malle als Vorlage diente, neu verfilmt. Alain heißt jetzt Anders (Anders Danielsen Lie) und er konsumierte in seinem früheren Leben nicht nur Alkohol, sondern alle erdenklichen Drogen. Aus der eher dubiosen Klinik bei Malle ist bei Trier eine spezielle Entwöhnungsklinik für Suchtkranke geworden, aus einem 22. Juli der frühen 1960er ein 30. August der frühen 2010er und aus Paris Oslo.

Am Anfang unternimmt Anders einen halbherzigen Suizidversuch im Fluss. In der morgendlichen Gruppentherapiesitzung erfahren wir, dass er zwei Wochen vor dem Abschluss seiner einjährigen Therapie steht, und einen Tag Ausgang bekommt, weil er ein Vorstellungsgespräch in der Redaktion eines Kulturmagazins hat. Zunächst fährt Anders zu einem alten Freund, der inzwischen mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Kindern zusammenlebt. Der ist, unter der heilen Oberfläche, ziemlich frustriert von seinem neuen Leben. Dass Anders, der sich selbst dem Freund gegenüber als 33-jährigen Loser bezeichnet, sich verbaute, was der Freund hat, scheint jedoch gar nicht das Schlimmste zu sein. Sondern eher, dass es ihm so wenig erstrebenswert erscheint. Nicht um das Nichts-Haben, sondern um das Nichts-Haben-Wollen geht es.

Dass das Bewerbungsgespräch zu einem Fiasko wird, liegt hauptsächlich an Anders selbst. Abends geht er auf den dreißigsten Geburtstag von Monica, einer alten Freundin, mit der er vor Ewigkeiten eine Affäre hatte. Er beginnt zu trinken. Auf dem Weg in einen einschlägigen Club fährt er bei seinem Dealer vorbei und kauft sich ein Gramm Heroin. Er feiert die Nacht durch. Das Mädchen, das er dabei kennenlernt, lässt er morgens irgendwo zurück. Am Ende setzt er sich eine Nadel an die Vene und drückt ab. Die letzten Einstellungen des Films zeigen, eine Anspielung auf das berühmte Ende von Michelangelo Antonionis „L’eclisse“, die Orte in Oslo, an denen sich Anders vorher aufgehalten hat. Jetzt leer, ohne ihn.

„Oslo, 31. August“ ist Triers zweiter Film, nach seinem vielgelobten Debüt „Reprise“ von 2006, in dem es um die Höhen und Tiefen, die Irrungen und Wirrungen im Leben zweier junger Schriftsteller in Oslo ging. Thematisch scheint der zweite Film relativ nahtlos an den ersten anzuknüpfen. Wieder geht es um das (Nicht-)Erwachsenwerden, um Entfremdung, Sinnsuche und (psychische) Krankheit. Anders Danielsen Lie spielte schon dort eine Hauptrolle. War aber „Reprise“ ein Film, der mit Formen, Erzählsträngen und Zeitebenen spielte und experimentierte, ist „Oslo, 31. August“ wesentlich zurückgenommener, konzentrierter, geradliniger. Einerseits natürlich in der inhaltlichen Beschränkung auf eine Figur, eine Stadt, einen Tag. Andererseits aber auch formal. Eine relativ ruhige Handkamera folgt Anders auf seinem Weg durch Oslo. Zwischendurch gibt es Ansichten der Stadt in klar komponierten Totalen. Trier ist ein kluger Ästhet, der weiß, dass die Form dem Inhalt dieses Films umso besser entsprechen kann, je mehr sie sich zurück hält, je weniger sie auf sich selbst aufmerksam macht, und sich ganz aufs leicht distanzierte Beobachten konzentriert. An die Stelle des ewigen Konjunktivs in der Erzählung von „Reprise“, der vieles nur als Möglichkeit anbot, wie es gewesen sein könnte, ist, auch wenn der Film paradoxerweise über weite Strecken sonderbar sanft erscheint, ein recht grimmiger Determinismus getreten.

Filmhistorischer Referenzpunkt ist für Trier in beiden Filmen der klassische europäische Autorenfilm. Erinnerte aber „Reprise“ mitunter – vor allem am Schluss – an Godard in seinen verspieltesten Momenten (also „Une femme est une femme“), kommt in „Oslo“ zu Malles melancholischem klavierbegleitetem Weltschmerz der kalte Existenzialismus eines Antonioni.„Oslo, 31. August“ verzichtet radikal auf gängige psychologische oder soziologische Erklärungsmuster für die Sucht seines Protagonisten. In einer Szene schildert Anders aus dem Off in kleinen Details und großen ideologischen Bögen seine Familie. Intakt, links-liberal, bürgerlich. Dazu gibt es Bilder von aufgeräumten, sauberen, sonnenbeschienen Osloer Straßen und Parks. Mitnichten behauptet der Film, Anders wäre nicht zu helfen. Von Anfang an ist relativ klar, dass er sich nicht helfen lassen wird, dass er nicht imstande ist, Hilfe anzunehmen. Bei dem Vorstellungsgespräch erzählt er auf die Frage nach seinem beruflichen Werdegang nach einigem Rumdrucksen von seiner Drogenabhängigkeit. Sein Gegenüber reagiert eigentlich denkbar cool. Weder abwertend oder herablassend noch übertrieben mitleidig, sondern mit so viel echter Empathie, wie die Situation eben zulässt. Trotzdem bricht Anders das Gespräch abrupt ab, rennt raus und feuert seine Bewerbung wutentbrannt in den nächsten Mülleimer. Die Hand anzunehmen, nach der er zuvor geschrien hat, scheint für ihn letztlich keine Option zu sein. Besonders deutlich wird das auch in seiner Beziehung zu Frauen. Den ganzen Film über versucht er, seine Ex-Freundin zu erreichen, hinterlässt eine Nachricht nach der anderen auf ihrer Mailbox. Mit Monica, die inzwischen seit Jahren in einer festen Beziehung lebt, versucht er mit einem flüchtigen Kuss dort anzuknüpfen, wo sie vor Ewigkeiten aufgehört hatten. Auch hier wird er abgewiesen. Die diversen, ihm zugeneigten Disko-Bekanntschaften am Ende sind ihm hingegen völlig gleichgültig. Er klopft lieber an verschlossene Türen, statt durch offene zu gehen. Allein ihre Verfügbarkeit reicht, um die Dinge und Menschen für ihn langweilig zu machen. Wenn die erste Einstellung von Oslo, aus dem Taxi heraus, das Anders in die Stadt bringt, eine Stadt im Umbruch zeigen, eine Stadt der Baukräne und in den Himmel wachsender Hochhäuser, dann setzt der Film schon hier seine Hauptfigur, die nicht wirklich zur Veränderung fähig scheint, gegen einen sich ständig verändernden Schauplatz der Erzählung.

Diese Verweigerungshaltung macht sich auch der Film – zumindest teilweise – zu eigen. Auf eine klare Haltung zu seiner Figur verzichtet er konsequent. Wir haben sicherlich keinen Grund, Anders zu hassen, wie es einige Menschen aus seiner Vergangenheit offenbar tun, denen er im Laufe des letzten Tages seines Lebens begegnet. Es gibt aber auch nichts, wofür man ihn sonderlich lieb gewinnen könnte. Der Film erzählt seine Geschichte mit viel Empathie, allerdings bleibt relativ unklar – vielleicht ist das gerade das Schöne daran –, warum der Protagonist sie nun verdient haben sollte.

Kurz: „Oslo, 31. August“ lässt einen etwas ratlos zurück. Jedoch ist gerade diese Ratlosigkeit dem beharrlichen Erklären und eindeutigen Standpunktbeziehen vieler anderer Drogen-Dramen haushoch überlegen.

2013, also zwei Jahre nachdem er in Cannes in der Nebenreihe Un Certain Regard lief, bekam der Film in Deutschland eine – winzige – Kinoauswertung. Seit 10. Januar liegt er von absolut MEDIEN auf einer – leider etwas schlicht geratenen – DVD vor. Sie bietet den Film in norwegischem Originalton (wahlweise in 2.0 oder – sehr empfehlenswertem – 5.1 ) mit deutschen und französischen Untertiteln, sonst nichts. Und, ach ja, seitdem seit einigen Jahren die Front-Cover deutscher DVDs mit den neuen riesigen FSK-Flatschen verunstaltet werden, freuen sich die Ästheten unter den DVD-Sammlern über Wende-Cover. Auch ein solches sucht man hier leider vergeblich. Dafür sind Bild und Ton hervorragend.

Blutgletscher

(AT 2013, Regie: Marvin Kren)

Das Ding aus einem anderen Genre
von Harald Steinwender

Genrekino made in Austria: Nach Andreas Prochaskas Slasherfilm-Duo „In 3 Tagen bist du tot 1 & 2“ (2006 / 2008) und eine Woche vor Prochaskas Ganghofer-meets-Corbucci-Alpenwestern „Das finstere Tal“ kommt …

Genrekino made in Austria: Nach Andreas Prochaskas Slasherfilm-Duo „In 3 Tagen bist du tot 1 & 2“ (2006 / 2008) und eine Woche vor Prochaskas Ganghofer-meets-Corbucci-Alpenwestern „Das finstere Tal“ kommt mit Marvin Krens „Blutgletscher“ ein weiterer Versuch in die Kinos, Genretraditionen und Formeln wiederzubeleben, die einst im wilden europäischen Koproduktionskino der 1960er und 70er Jahre florierten, aber heute weitgehend ausgestorben sind. Das unmittelbare Vorbild für den mit „Blutgletscher“ angemessen trashig betitelten Horrorfilm von „Rammbock“-Regisseur Marvin Kren ist jedoch unverkennbar amerikanischen Ursprungs: John Carpenters „The Thing“ („Das Ding aus einer anderen Welt“; 1982), der als Remake des Christian Nyby/Howard Hawks-Klassikers von 1951 Kammerspiel und Paranoiathriller, Horrorfilm und Western zu einem der effektivsten Genrestücke der frühen 1980er Jahre fusionierte.

Der Plot von „Blutgletscher“ klingt entsprechend vertraut: Auf einer abgelegenen Klimaforschungsstation in den Alpen schlagen drei Wissenschaftler sowie der alkoholkranke Techniker Janek (Gerhard Liebmann) sich die Zeit tot. Bevor die zusammengewürfelte Truppe einen Hüttenkoller erleidet, wird ein blutroter Gletscher entdeckt, dessen Tauwasser Spontanmutationen bei Mensch und Tier bewirkt. Bald muss sich die Gruppe gegen tödliche Bremsen und allerlei Mischwesen wie Fuchsasseln oder Käfersteinböcke erwehren, die den legendären Wolpertinger alt aussehen lassen. Weiteres Kanonenfutter stößt zu ihnen, als die grantige Ministerin Bodicek (Brigitte Kren – die Mutter des Regisseurs) und Janeks Exfreundin Tanja (Edita Malovcic) nebst Begleitung an der Station ankommen.

Wie kaum anders zu erwarten, bedient sich „Blutgletscher“ nonchalant der Bausteine verschiedener Genres, speziell des Bergfilms und des Body Horror und ist folglich selbst eine veritable Mutation. Die damit verbundenen Referenzsysteme, die der Film kombinieren will, sind jedoch nur schwer vereinbar. Carpenters Sci-Fi-Horror-Western griff seinerzeit immerhin auf Genres zurück, die zur gleichen Zeit im US-Kino der 1950er Jahre reüssierten und mit der Paranoia des Kalten Krieges eine gemeinsame ideologische Basis besaßen. Den deutschen Bergfilm, der seine Blüte in den 1920er Jahren erlebte, verbindet jedoch nichts mit dem Körperhorror, der seine Hochphase im nordamerikanischen Kino Mitte der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre hatte: mit dem Frühwerk von David Cronenberg von „Shivers“ („Parasitenmörder“; 1975) bis zum Mainstream-Erfolg „The Fly“ („Die Fliege“; 1986), Ridley Scotts „Alien“ (1979) sowie Stuart Gordons „Re-Animator“ (1985) und „From Beyond“ (1986). Der Bergfilm war wie sein später Erbe, der deutsch-österreichische Heimatfilm, die Apotheose des Statuarischen, die Feier angeblich ewiger Naturgesetze und der Unterwerfung des Individuums unter ein höheres Ziel. Den Körperhorrorfilmen der 70er/80er Jahre dagegen ging es gerade darum, verlässliche Fixpunkte wie Körper-, Genre-, und Gendergrenzen aufzulösen – und das meist buchstäblich in Schleim, Verwachsungen und Mutationen. Als Kombination von Bergfilm und Körperhorror kann „Blutgletscher“ die willkürliche Fusion völlig disparater Konzepte nie völlig transzendieren, und so wechselt der Horrorfilm, der mit einer vorangestellten ökologisch korrekten Botschaft beginnt (der Klimawandel, Sie wissen schon …) spätestens mit der Ankunft der zweiten Besuchergruppe auf der Todesalp zur Parodie.

Das ist schade, da doch in den letzten Jahren einige europäische Länder – allen voran Frankreich und Spanien – mit ernst gemeinten, meist auch ziemlich blutigen Horrorfilmen und Genrestücken reüssieren konnten. Die parodistische Ausrichtung und die absichtsvollen Anleihen am Trash-Kino, die viele deutschsprachige Genrefilme so oft auszeichnen, wirken demgegenüber, als ob man sich von seinem eigentlichen Gegenstand distanzieren will: Bitte entschuldigen Sie, war nicht ernst gemeint, ist alles Ironie, wir sind schließlich noch jung! Ausnahmen, etwa die ruppige „Texas Chainsaw Massacre“-Variante „Urban Explorer“ (2011; Andy Fetscher), Krens eigener „Rammbock“ (2011) oder der grimmige Alpenwestern „Das finstere Tal“ (den ich an dieser Stelle noch nicht in den höchsten Tönen loben darf, da der Verleih vor der Berlinale-Premiere eine Sperrfrist für Kritiken verhängt hat) blieben bisher eben genau das: Ausnahmen.

Das ist doppelt schade, da „Blutgletscher“, trotz kleinerer Mankos wie eher drolligen Spezialeffekten und einigen arg sperrigen Dialogen, ein durchaus unterhaltsamer und professionell realisierter Film geworden ist. Allein das imposante Alpensetting, die hervorragend kadrierten CinemaScope-Bilder von Kameramann Moritz Schultheiß und die überraschend guten Schauspieler heben Marvin Krens mit österreichischer Filmförderung entstandenen „Blutgletscher“ weit über den Durchschnitt des B-Films. Auch wenn „Blutgletscher“ näher an der Parodie als am ernstgemeinten Horrorfilm angesiedelt ist: ein Schritt in die richtige Richtung ist das allemal.

Zero Killed

(D / AT 2012, Regie: Michal Kosakowski)

„Are you talking to me?“
von Ulrich Kriest

„Das Grauen. Das Grauen.“ Wir erinnern uns, oder? „Apocalypse Now!“ Colonel Kurtz. Oder vielleicht doch lieber Georg Büchner? „Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?“ Schlummert da was …

„Das Grauen. Das Grauen.“ Wir erinnern uns, oder? „Apocalypse Now!“ Colonel Kurtz. Oder vielleicht doch lieber Georg Büchner? „Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?“ Schlummert da was in uns? Ein Abgrund gar? Fragen sie dazu doch Michal Kosakowski! Der hat solche Fragen gleich weitergereicht an ein paar Handvoll Leute, die nicht nur Tötungsphantasien haben und einmal offen drüber reden wollen, sondern diese vielleicht auch sehen wollen. Sagen sie jedenfalls. Deshalb das Angebot und die Bedingung Kosakowskis: wir setzen deine Phantasie in Szene, aber nur, wenn du mitspielst. Als Täter oder als Opfer.

Die gedrehten Kurzfilme wurden als Videoinstallation erstmals 2007 in München der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. In den folgenden Jahren holte der Filmemacher seine »Mittäter« erneut für Interviews vor die Kamera, wo sie nun nicht nur über die Filme und die ihnen zugrundeliegenden Phantasien Rede und Antwort standen, sondern sich auch zu abstrakteren Fragen zu Gewalt, Folter, Rache, Todesstrafe, Krieg, Religion oder dem Wesen des Menschen äußerten.

Der Film „Zero Killed“ ist nun eine Montage aus beiden Werkgruppen, unterlegt mal mit ironischer, dann wieder reißerischer Musik. Es ist eine verstörende Montage. Zunächst, weil Kosakowski ganz selbstverständlich davon auszugehen scheint, dass sein Sample von Gesprächspartnern irgendwie repräsentativ ist. So sehen wir uns Menschen – Frauen wie Männern – gegenüber, die mal verschwörerisch, mal lächelnd, mal lässig, mal angestrengt, mal selbstgefällig vor laufender Kamera ihre Tötungsphantasien ausbreiten oder über die angesprochenen Themen räsonieren.

Dieses Räsonnement ist nun eingebettet in teilweise drastische und mit viel Liebe zum Detail und zum Genre inszenierte Gewaltphantasien, wobei unklar bleibt, welcher Teil des Films sich wozu oder ob überhaupt illustrativ verhält. „Wenn du in der richtigen Situation bist, wirst du wahrscheinlich auch zum Folterknecht!“. Solche platten (Selbst-)Aussagen bleiben unkommentiert im Raum stehen und werden durch die Vielzahl der Stimmen zum Eindruck eines seriellen Blicks in einen destruktiven Abgrund verstärkt. Shocking, Dear!

Rar sind dagegen reflektierende Einschübe mit ethisch-reflexiven Gedanken, ebenso rar auch ironische Distanzierungen, wie etwa im Vorschlag, diejenigen, die Spaß am Foltern haben, einfach aufeinander loszulassen. Als zusätzlicher Verfremdungseffekt wird die Zeit eingesetzt, denn zwischen den Filmszenen und den Interviews liegen mitunter zehn Jahre. Man sucht nach Gesichtern, wird immer wieder auf die Gesichter der Interviewten zurückgeworfen, die das gerade Gesehene – so der unausgesprochene Vertrag mit dem Zuschauer – authentifizieren, aber lange Zeit des Films als anonyme Talking Heads agieren.

Wer sagt hier aus welcher Position warum was? Erst ganz zum Schluss werden die Mitwirkenden per Insert mit einem (ziemlich unpassenden und wenig aussagekräftigen) sozialen Index als Tänzerin, Landschaftsarchitekt, Schauspielerin, Minenarbeiter oder Bauer versehen. Diese Schlusspointe lädt nicht nur dazu ein, sich zumindest die Interviews noch einmal daraufhin ansehen zu wollen (so, als verriete der erlernte Beruf etwas über die Phantasie, was nur im Fall des Bauern tatsächlich so zu sein scheint!), sondern es fällt auch auf, dass sich ungewöhnlich viele sogenannte Kreative unter den Befragten befinden.

Was aber bedeutet es für den Interpreten, wenn in diesem Rahmen ein Akteur explizit als Schauspieler ausgewiesen wird? Ist die Tötungsphantasie dann offen »gespielt«? Oder gar die authentische Phantasie eines Schauspielers? Was ja schon kompliziert genug wäre: Man denke nur an die Tötungsphantasien eines Filmkritikers, der den Berg der Bilder in sich abzuarbeiten hat. So wird diese eigenwillige Mischung als Inszeniertem und Dokumentarischem in mehrfacher Hinsicht zu einem fruchtbaren wie riskanten Experiment, wie man als Zuschauer diesen Grenzbereich des Erzählerischen mit seinen widersprüchlichen Informationsangeboten interpretatorisch zu gewichten gewillt ist. Einfacher gesprochen: Wie man sich dazu verhält, was man hier sieht und hört.

Letztlich bleibt vieles spekulativ: Haben wir es hier mit »authentischen« Tötungsphantasien zu tun oder mit der Inszenierung von Authentizität, die sich ihren Thrill aus dem scheinbaren Tabubruch besorgt, der jedoch nur dann ein Tabubruch wäre, wenn »Authentizität« zu verifizieren wäre? Insofern dürfte der Reiz von „Zero Killed“ weniger beim Raunen über den schmalen Grat zwischen Zivilisation und Barbarei zu suchen sein, als vielmehr bei der prinzipiellen Bodenlosigkeit, die das Spiel mit dem Semi-Dokumentarischen notwendig evoziert. Thematisch ist „Zero Killed“ auf pubertäre Weise sensationsheischend, formal jedoch eine ziemlich clever arrangierte Nuss für Fans hermeneutischer Zirkel.

Charlie Mariano – Last Visits

(D 2013, Regie: Axel Engstfeld)

Europäische Jazzgeschichte(n)
von Ulrich Kriest

Inspiriert vom Bebop Charlie Parkers spielt Charlie Mariano, Sohn italienischer Einwanderer, ab 1941 live in den Bands von Johnny Hodges, Nat Pierce oder Quincy Jones. Mitte der 1950er Jahre wird …

Inspiriert vom Bebop Charlie Parkers spielt Charlie Mariano, Sohn italienischer Einwanderer, ab 1941 live in den Bands von Johnny Hodges, Nat Pierce oder Quincy Jones. Mitte der 1950er Jahre wird Mariano Mitglied in der Big Band von Stan Kenton und gehört fest zum Kreis um Shelley Manne. Mariano lehrt nun selbst an der Berkeley School of Music, wo er einst selbst von Joe Viola unterrichtet worden war. 1962/63 kommt es zur Zusammenarbeit mit Charles Mingus für das Album „The Black Saint And The Sinner Lady“. Mingus ist es auch, der den Begriff prägt, der den eigentümlichen, stets lyrisch-melancholischen Sound Marianos prägnant beschreibt: „Tears of Sound“. Im Booklet zum legendären Album macht Mingus Mariano ein großes Kompliment, wenn er schreibt: „No words or example were needed to convey this idea to Charlie Mariano. Only his love of living and knowing life and his understanding of the composer’s desire to have one clear idea at least musically recorded here for record.“ Als „station ID“ für Mariano nennt er später im Text dann noch „SOUL and LOVE“. Große Worte, die allerdings im Zusammenhang mit der Kunst Marianos nicht sonderlich überraschen. Doch welches Kapital ist mit derlei Lob verbunden? Wohl eher symbolisches.

Anfang der 1970er Jahre übersiedelt Mariano nach Europa, weil es ihm hier, anders als in den USA, möglich ist, von seiner Kunst zu leben. Als Weltmusiker avant le lettre lebt er zuvor einige Jahre in Japan und Malaysia und arbeitet am südindischen Karnataka College of Percussion. Mariano bringt neben seinem souveränen und eleganten Auftreten also als Kapital authentisch erlebte Jazz-Geschichte und eine neugierige Weltläufigkeit mit nach Europa, wo er mit Projekten wie Osmosis oder Pork Pie schnell sehr bekannt wird und mit dem United Jazz & Rock Ensemble oder an der Seite Eberhard Webers die Karriere macht, die ihm in den USA wohl verwehrt geblieben wäre.

Soweit der fällige Lexikon-Eintrag. Die betont kunstlose Dokumentation von Axel Engstfeld braucht solche musikalisch-biografischen Stationen nur zu skizzieren, weil einerseits wichtiges Material in den Archive wohl fehlt, andererseits die Ausstrahlung der Persönlichkeit vor der Kamera hinreichend davon erzählt. Seit Mitte der 1990er Jahre war Mariano an Prostatakrebs erkrankt, musste immer mal wieder Konzerte absagen und mit seinem Spiel der Krankheit Tribut zollen.

Der Film hat Mariano 2008/2009 durch seinen Alltag begleitet, zeigt ihn bei Arztbesuchen, aber auch bei Konzerten in kleinen Klubs. Befreundete Musiker wie Mike Herting oder Matthias Schriefl, viele Jahre jünger als Mariano, erzählen, was ihnen die Begegnung mit Mariano bedeutet hat und inwieweit sie von dessen Persönlichkeit künstlerisch und menschlich profitierten. Das geht über das bloß Musikalische weit hinaus, wenn beispielsweise die Musiker bei gemeinsamen Konzerten in einem Akt der Solidarität fraglos auf ihre Gage verzichteten, um Mariano die finanziellen Mittel zu verschaffen, die seine Erkrankung fordert. Dass aber Konzertveranstalter reserviert reagierten, weil die Krankheit unzuverlässig machte. Viele Fäden der künstlerischen Biografie Marianos liefen noch einmal im ausverkauften Stuttgarter Theaterhaus zusammen, wo im November 2008 Marianos 85. Geburtstag mit einem rauschenden Konzertabend voller Höhepunkte gefeiert wurde. Der Film hat Impressionen dieses Abends gesammelt, weshalb viele alte Bekannte wie Ack van Rooyen, Paul Shigihara, Jasper van´t Hof, Philip Catherine, Wolfgang Dauner oder Dieter Ilg zu sehen sind. Der frenetisch gefeierte Abend endete im kleinen Kreis mit einem berührend klaren Blues.

Man kann „Charlie Mariano – Last Visits“ auf zweierlei Weise sehen. Für seine Fans ist der Film ein bittersüßes Fest, das einen unvergessenen Musiker noch einmal zum Leben erweckt und feiert. Mariano selbst sorgt dafür, dass das Ganze keine hohle Nostalgieveranstaltung wird. Der Film dokumentiert aber auch, wie es sich anfühlen mag, wenn man als schwerkranker Künstler ohne Krankenversicherung bis ins hohe Alter auftreten muss, um sich seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Aufgrund seiner einnehmenden Persönlichkeit war es Charlie Mariano geglückt, sich gewissermaßen jenseits des Gesundheitssystem privat zu versichern, weil ihm seine Kunst verlässliche Freundschaften ermöglichte. Ganz zum Schluss, als das Filmteam ihn ein letztes Mal besucht, hat dann der Krebs gesiegt. Vor der Kamera sitzt ein gebrochener Mann, der binnen weniger Monate um Jahre gealtert erscheint: die Auftritte, so Mariano, fehlten ihm schon, aber es gehe einfach nicht mehr. Er werde seine Instrumente wohl verkaufen, um seiner Frau etwas Geld zu beschaffen. Es nötigt großen Respekt ab, dass sowohl Mariano als auch Engstfeld sich und uns dieses Finale nicht ersparen, denn das Elend war in der Jazz-Geschichte, die Charlie Mariano (auch) repräsentierte, leider stets ein zuverlässiger Weggefährte. Solidarität unter Musikern ist eine schöne Geste, aber natürlich kein Ersatz für ein Altern ohne Existenznöte. Nach langer Krankheit ist Charlie Mariano im Alter von 85 Jahren im Juni 2009 verstorben. Seine „Tears of Sound“ sind auf annähernd 500 Tonträgern dokumentiert.

Das finstere Tal

(D / AT 2014, Regie: Andreas Prochaska)

Der Winter naht
von Harald Steinwender

Es war einmal ein abgeschiedenes Tal in den Tiroler Alpen. Die Menschen, die sich hier vor vielen Jahren niedergelassen hatten, lebten nach einfachen Regeln. Den Lebensrhythmus gaben die Jahreszeiten vor. …

Es war einmal ein abgeschiedenes Tal in den Tiroler Alpen. Die Menschen, die sich hier vor vielen Jahren niedergelassen hatten, lebten nach einfachen Regeln. Den Lebensrhythmus gaben die Jahreszeiten vor. Die Leute aßen, was der Boden, die Wälder und ihrer Hände Arbeit hergab. Sie achteten die Gebote der Kirche. Mehr aber noch gehorchten sie den Regeln des alten Brennerbauern (Hans-Michael Rehberg), der mit seinen sechs Söhnen im Tal wie ein König herrschte. Bis eines Tages ein Fremder (Sam Riley) in das Tal kam. Der Fremde, der sich Greider nannte, war weit gereist und zuvor in einem fremden Land gewesen, das Amerika heißt. Von dort hatte er ein Zauberding mitgebracht, das auf Silberplatten Bilder machen konnte, von Menschen ebenso wie von den Bergen, die das Tal umgaben – 'Spiegel mit Gedächtnis' nannten dies die Dorfbewohner. Auch wenn Hans (Tobias Moretti), dem ältesten Sohn des alten Brenner, der Fremde nicht gefiel, gestattete er ihm doch gegen ein Entgelt, den Winter im Haus der jungen Luzi (Paula Beer) zu verbringen und seine Bilder von den Bergen zu machen. Doch als der Winter kam, da begannen die Söhne des Brennerbauern einer nach dem anderen zu sterben. Und Hans, der dem Greider von Anfang an nicht getraut hatte, nahm sein Gewehr und beschloss, den Fremden zu töten.

Mit 'Das finstere Tal' hatte der Münchner Filmkritiker Thomas Willmann 2010 einen von Ludwig Ganghofer und Sergio Leone inspirierten Debütroman vorgelegt, der sich bald zum Bestseller entwickelte. Schon auf der ersten Seite, einem der Geschichte vorangestellten Kurzprolog, demonstriert Willmann, wie sehr seine Erzählhaltung vom Denken in filmischen Koordinaten infiziert ist. 'Die knorrige Hand fuhr hinein in das wurlende Knäuel neugeborenen Lebens. Sie scherte sich nicht um das Maunzen der Kätzchen und die Wischer ihrer bekrallten Tatzen', lauten die ersten beiden Sätze, und bereits hier denkt Willmann im Schreiben den das Filmbild begrenzenden Rahmen mit: Da greift nicht einfach ein Mann mit seiner Hand in einen Wurf kleiner Kätzchen, hier bricht eine knorrige Hand (Detail!) in das Bild der Kätzchen (Totale!) ein. Was dann mit den Tieren geschieht, fasst als Miniatur das düstere Geheimnis, das im Zentrum von Willmanns Roman und Andreas Prochaskas Verfilmung steht, ebenso zusammen wie es als Menetekel der Ereignisse des letzten Akts steht.

Dass dieser Erfolgsroman tatsächlich verfilmt wurde, überrascht nicht, insbesondere da Western mit Italo-Einschlag seit 'Django Unchained' wieder en vogue sind. Dass Andreas Prochaska mit seiner Adaption von 'Das finstere Tal' einen ebenso kompromisslosen wie großartigen Alpenwestern geschaffen hat, war jedoch keine Selbstverständlichkeit. Wie leicht hätte die Kinoversion eine fade Bebilderung von Willmanns Vorgabe werden können: als gediegene Literaturverfilmung, den Dialekt in den Dialogen durch Hochdeutsch ersetzt, das Blutbad am Ende abgemildert. Stattdessen inszeniert Prochaska, der unter anderem als Cutter für Michael Haneke tätig war und sich als Regisseur von Horrorfilmen wie 'In 3 Tagen bist du tot' (2006) auch im Unterhaltungskino bewiesen hat, einen lupenreinen Genrefilm, der zwischen Western und Heimatfilm angesiedelt ist, dessen wuchtige, bisweilen drastische Bildsprache nach der großen Leinwand verlangt und der auch sonst – in Besetzung, Ausstattung, Lichtsetzung und Sounddesign – alles richtig macht.

Und nicht nur das. Der Regisseur kennt die filmischen Vorbilder des Romans und evoziert sie, ohne die Inspiration allzu exzessiv auszustellen – einen 'Zitate-Western' habe er schließlich nicht drehen wollen, so Prochaska in einem Interview. Eher hat er seine Vorbilder so sehr verinnerlicht, dass er in ihrem Geist eine alte Geschichte ganz neu erzählt. Die Breitwandbilder von Kameramann Thomas Kienast schwelgen dementsprechend in majestätischen Alpenpanoramen, die jedem Nachkriegsheimatfilm oder Harald Reinls Scope-Adaptionen von Ganghofer-Romanen wie 'Schloss Hubertus' (1973) und 'Der Jäger von Fall' (1974) zur Ehre gereicht hätten. Die Auswahl der Besetzung erweckt den Eindruck, als wäre wie 50 Jahre zuvor bei Sergio Leones 'Per un pugno di dollari' ('Für eine Handvoll Dollar'; 1964) und seinen Epigonen vor allem auf expressive Gesichter und Augen geachtet worden: Tobias Moretti, der den Schurken des Stücks mit fiebriger Intensität spielt, hat strahlend blaue Augen wie einst Franco Nero und Terence Hill. Sam Riley, der frappierend an Lou Castels introvertierte Italowestern-Antihelden bei Damiano Damiani ('Quién sabe?' / 'Töte Amigo'; 1966) und Cesare Canevari ('¡Mátalo!' / 'Willkommen in der Hölle'; 1970) erinnert und sich schauspielerisch eher am reduzierten 'Unterspielen' der amerikanischen Schule orientiert, hat intensive braune Augen ('Nur schauen tut er', heißt es einmal über seine Figur). Und Paula Beers grüne Augen brennen sich in Großaufnahme geradezu in die Leinwand ein.

Einige explizite Verweise auf die Genregeschichte gibt es freilich auch. Wenn Greider etwa zu Beginn im finsteren Tal ankommt, dann auf einer Straße, die wie in Corbuccis 'Django' (1966) ein einziger Fluss aus Schlamm ist. Bei der folgenden Konfrontation mit Hans Brenner greift Prochaska inszenatorisch auf den ersten Shootout aus 'Für eine Handvoll Dollar' zurück, springt von der Totalen in die Großaufnahme, staffelt Gesichter im Breitwandformat in die Tiefe des Raums und schneidet Serien von extremen Großaufnahmen hintereinander. Die Einstellungen von Reitern im hüfthohen Schnee scheinen direkt aus Sergio Corbuccis nihilistischem Schneewestern 'Il grande silenzio' ('Leichen pflastern seinen Weg'; 1968) zu stammen und das Finale wiederum zitiert ausführlich Sam Peckinpahs Zeitlupenästhetik inklusive Schockbildern und exzessivem Einsatz von blood squibs.
Letztlich mag die Daguerreotypie, die der Fremde in das entlegene Hochtal bringt, auch symbolisch für das selbstreflexive Verhältnis des Films zum Heimat- und Westerngenre und seinen verschiedenen Ausprägungen seit den 1960er Jahren stehen. Wenn man Prochaskas Fingerzeig deuten will – im Roman war der Fremde noch Maler – dann ist 'Das finstere Tal' in seinem Verhältnis zum europäischen Genrekino und dem (Italo-)Western selbst eine Art 'Gedächtnisspiegel'.

Obendrein wirkt Prochaskas Film mitunter wie eine Wiederbelebung der heute weitgehend vergessenen Tradition der bayerischen Wilderer-Western, die Anfang der 1970er Jahre entstanden und zu deren bekanntesten Vertretern Reinhard Hauffs 'Mathias Kneißl' (1970) sowie Volker Vogelers 'Jaider, der einsame Jäger' (1971) und dessen melancholische Quasi-Fortsetzung 'Verflucht dies Amerika' (1973) zählen: authentisch ausgestattete Quasiwestern, die oft etwas spröder erzählt und strenger gespielt waren als die barock-überzeichneten Italowestern, die sie inspiriert hatten. Wie bei diesen Filmen sind es neben der Stilisierung und den auffälligen Tempoverschleifungen die dokumentarisch anmutenden Elemente wie die Entscheidung, die Bewohner des abgelegenen Alpendorfs Mundart sprechen zu lassen, die in besonderem Maß zur Glaubwürdigkeit der düster-poetischen Geschichte beitragen und der 'Das finstere Tal' einige seiner besten Szenen verdankt. Unvergesslich etwa die Sequenz des ersten Mordes, der sich ereignet, wenn die Männer des Dorfes mitten im Schneetreiben im Wald Holz schlagen und ihre Ausbeute mittels einer ebenso primitiven wie effektiven Konstruktion durch den Wald leiten – Stamm für Stamm, bis schließlich statt dem toten Holz auch ein menschlicher Körper im Tal ankommt.

'Das finstere Tal' erweist sich letztlich als Geschichte von Blut und Gewalt, von traumatischer Vergangenheit und vergifteter Familienbande, von patriarchalischem Terror und später Rache, Schuld und Sühne. Mit diesem Film über 'Sachen, die man nicht mehr vergessen kann', stellt Andreas Prochaska das sonst idyllische Heimatgenre konsequent auf den Kopf. Wenn am Ende dann ein geradezu apokalyptisches Blutgericht über das Dorf niedergeht, sich Vater- und Brudermorde ereignen und eine Melange von Inzest, Wahn und Rachsucht aufgedeckt wird, dann hat dies zugleich die Wucht einer griechischen Tragödie wie die morbide Faszination eines Horrorfilms. Dass der Erlöser mit dem Fotoapparat und der Schusswaffe aus Amerika kommt, dem Sehnsuchtsort der europäischen Träumer und dem Geburtsort des Western-Genres, das wiederum in der Form von Romanen und Filmen etwa zu der Zeit, in der 'Das finstere Tal' spielt, nach Europa kam, ist natürlich auch kein Zufall.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

In Sarmatien

(D 2013, Regie: Volker Koepp)

Was zu hoffen bleibt
von Ulrich Kriest

Es ist natürlich ein Zufall und auch nur sehr bedingt ein schöner, aber „In Sarmatien“, der neue Film von Volker Koepp, sollte in der kommenden Woche, wenn alles mit rechten …

Es ist natürlich ein Zufall und auch nur sehr bedingt ein schöner, aber „In Sarmatien“, der neue Film von Volker Koepp, sollte in der kommenden Woche, wenn alles mit rechten Dingen zugeht, an der Spitze der europäischen Kino-Charts stehen. Volker Koepp selbst wird das nicht freuen, denn eigentlich sendet er ja seit Jahrzehnten „Grüße aus Sarmatien“. Seit er 1963 Johannes Bobrowskis schmalen Lyrikband „Sarmatische Zeit“ für sich entdeckte. „Sarmatien“ – so nannten die Griechen einst ihr Ende der Welt: die Gegend östlich der Weichsel und westlich der Wolga, sich erstreckend von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Heute sagt man dazu Litauen, Ukraine, Weißrussland, Moldawien – und geografisch könnte man von der Mitte Europas sprechen.

Koepp hat in diesem geografischen Raum schon einige Filme wie „Kalte Heimat“ (1995), „Herr Zwilling und Frau Zuckermann' (1998), „Kurische Nehrung“ (2001) oder „Dieses Jahr in Czernowitz“ (2003) gedreht und so kann er alte Fäden aufnehmen und sie weiterspinnend ergänzen, zeigend, wie die alte Zeit in die neue wirkt. Für Johannes Bobrowski, der Koepp gewissermaßen vorausgereist ist, war Sarmatien ein Traumland, „wo alle Völker und Religionen der Welt ihren Platz fänden, hätte nicht die Geschichte alles eins ums andere Mal umgepflügt.“ Was sich ja aktuell wieder einmal zu bestätigen scheint.

Koepps Film führt von Nord nach Süd, beginnt an der Ostsee, führt ins einst multikulturelle Czernowitz, nach Moldawien, nach Galizien, nach Uman, nach Weißrussland und wieder zurück in den Norden, zur Kurischen Nehrung und nach Kaliningrad. Koepp trifft auf alte Bekannte, mit denen er bereits einmal auf die eine oder andere Weise gearbeitet oder gesprochen hat und lässt flüchtige Begegnungen zu. Menschen erzählen: von ihrem Alltag, davon, was seit dem Untergang der Sowjetunion in der Region geschehen ist, von Hoffnungen auf Veränderungen, die sich nicht erfüllt haben, von der Suche nach einer Identität, die der geografischen Tatsache, das hier die Mitte Europas zu suchen sei, Rechnung trage.

Koepps Film handelt jedoch nicht vom möglichen Aufbruch nach Europa, sondern eher von Erschöpfung auch jener, deren Stärke seinen Film von innen leuchten lässt. So liegt über allem ein Schatten von tiefer Melancholie: nach Holocaust und Sowjetherrschaft sorgt jetzt die Armut für eine Zerstörung verlässlicher Strukturen. Die Kinder werden von Großeltern erzogen, weil die jungen Leute zum Arbeiten ins Ausland zu gehen gezwungen sind. Die daraus erwachsenen Dynamiken sind noch nicht abzusehen. Viele der Befragten strahlen, wenn sie sich ihre trostlose Zukunft ausmalen. In Czernowitz sagt einmal der Vater zu seiner Tochter, die zum Studieren nach Jena gegangen ist, sie sähe die Ukraine jetzt mit den Augen einer Europäerin. Er aber sei noch als Sowjetmensch erzogen worden. In Moldawien erzählt Dragos, dessen ältere Schwester Ana schon mit Koepp gearbeitet hat und die mittlerweile selbst Filme dreht, dass man sich hier erst einmal auf Russisch unterhält, bis die Sprechenden bemerken, dass man Rumänisch sprechen könne. Dann werde Rumänisch gesprochen. In dieser Gegend Sarmatiens habe jede Volksgruppe ihr eigenes Geschichtsbuch.

In Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg, lebt man sogar zwischen zwei EU-Staaten, doch auch Elena spricht davon, das Land zu verlassen, wenn es sich nicht zum Besseren wende. Doch Dragos hatte bereits zuvor gesagt, dass er keine Hoffnung habe, dass sich in den kommenden 35 Jahren irgendetwas entwickle. Kaum anders die Situation in Weißrussland, wo Zhenja Holzhäuser baut und exportiert. Er sorgt sich um die politische Stabilität in seinem Land, wo seit 1994 Präsident Likaschenko quasi diktatorisch regiert. Man bekommt den Eindruck, dass sich der Blick der EU auf diese Region nicht wesentlich von demjenigen der alten Griechen unterscheidet.

Wie gesagt: ein Dokumentarfilm auf der Höhe des Tagesgeschehens. Wer sich nicht so sehr für militärisches Säbelrasseln und diplomatische Etikette interessiert, sondern mehr für die Träume, Hoffnungen und Enttäuschungen von Menschen, sollte die Chance „In Sarmatien“ nicht ungenutzt lassen. Nebenher: es wird auch viel gelacht in diesem Film.

Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand

(SW 2013, Regie: Felix Herngren)

Achselzuckend Atombomben zünden
von Carsten Moll

Mehr als ein Füttern und Streicheln ist diese Liebe eigentlich nicht, doch wie tief die Bindung des hundertjährigen Protagonisten zu seinem Kater ist, soll bald ein Fuchs am eigenen Leib …

Mehr als ein Füttern und Streicheln ist diese Liebe eigentlich nicht, doch wie tief die Bindung des hundertjährigen Protagonisten zu seinem Kater ist, soll bald ein Fuchs am eigenen Leib erfahren. Denn der reißt den Stubentiger auf einem nächtlichen Streifzug zum Hühnerstall und zieht so den Zorn des alten Mannes auf sich. Der Greis, sichtlich erschüttert vom Tod des Gefährten, rappelt sich nach einem Zusammenbruch wieder auf und rächt seinen Liebling mit angemessener Unverhältnismäßigkeit: Einige mit reichlich Dynamit bestückte Würstchen locken den Fuchs schließlich in sein Verderben.

Nach diesem Auftakt, bei dem Allan Karlsson neben seinem tierischen Widersacher auch noch sein halbes Grundstück in die Luft jagt – und sich damit selbst ins Altenheim befördert –, hat Felix Herngrens Bestsellerverfilmung seine Emotionen auch schon verpulvert. Weder Zorn noch Zärtlichkeit darf die Hauptfigur in den kommenden zwei Stunden Laufzeit noch aufbringen. Stattdessen schickt Herngren seinen Hundertjährigen betont apathisch durch die Krisen des 20. Jahrhunderts und eine im Jetzt angesiedelte Krimiklamotte.

Dabei nimmt der Kriminalplot deutlich mehr Raum ein als die eingestreuten Rückblicke auf Allans langes Leben. Mit der titelgebenden Flucht aus dem Altenheim wird eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt, in deren Verlauf der rüstige Rentner nicht nur an einen mit 50 Millionen Kronen gefüllten Koffer gerät, sondern auch eine Schar von skurrilen Figuren um sich sammelt. Zusammen mit dem Gelegenheitsdieb Julius, dem zaudernden Langzeitstudenten Benny und der patenten Gunilla samt Elefantendame Sonja bildet Allan bald eine Art Ersatzfamilie, die stoisch dem absurden und bisweilen ganz schön gewalttätigen Treiben um sie herum trotzt. „Es ist, wie es ist, und wie’s kommt, so kommt’s“ ist das wenig handlungsorientierte Motto der Truppe, die von der harmlos verplanten Polizei dicht auf ihren Fersen ebenso unberührt bleibt wie von der hysterischen Gangsterbande, die verzweifelt versucht, an den Geldkoffer zu gelangen.

Dazwischen schieben sich immer wieder kurze Episoden, die zeigen, wie Allan im Laufe seines Lebens unaufhörlich in die wichtigen politischen Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts verwickelt wurde. Allans Zwangssterilisierung durch den Rassenbiologen Herman Lundborg, seine Partizipation am Spanischen Bürgerkrieg oder sein entscheidender Beitrag zur Entwicklung der Atombombe werden im Modus einer schwarzen Komödie abgeklappert. Teilnahmslos und durch nichts anderes motiviert als durch die Lust, Dinge in die Luft zu sprengen, treibt es den Schweden durch das Weltgeschehen. Mal rettet er durch einen Zufall Franco vor einem Bombenanschlag, dann landet er im Gulag, nur um wenig später als nichtsnutziger Doppelagent für Russen und Amerikaner zu spionieren – der Film ist hier sichtlich und auf geradezu ideologische Weise bemüht, seinen politikverdrossenen Helden als unideologische Figur zu verkaufen.

Die durch die Romanvorlage von Jonas Jonasson begründeten Flashbacks wirken dabei in der Filmversion eher wie Fremdkörper, die die Krimikomödie im Kern unnötig strecken. Zumindest aber erklären die unterschiedlichen Lebensstadien des Protagonisten, warum sich der 1964 geborene Komiker Robert Gustafsson hier unter einem Make-up, das doch mehr nach stundenlanger Arbeit der Maskenbildnerinnen als hundert Jahren Menschenleben aussieht, als Greis versuchen darf.

Letztlich leiden aber sowohl Allans Reise durch die Vergangenheit als auch der in der Gegenwart spielende Handlungsstrang an derselben Monotonie. Die immer gleichen Skurrilitäten ermüden auf Dauer und geraten zur kalkulierten Konvention. Besonders im Kontext eines skandinavischen Kinos, das an lakonisch erzählten Bos- und Verschrobenheiten nicht arm ist (man denke nur an die Filme des Dänen Anders Thomas Jensen), erweisen sich Herngrens Späße mit zu entsorgenden Leichen und freundlichen Faschisten bestenfalls als mittelmäßig.

Cerro Torre – Nicht den Hauch einer Chance

(AR / GB / AT / USA 2014, Regie: Thomas Dirnhofer)

Neue Leut’ auf alten Felsen
von Lukas Schmutzer

Wird aufgrund von Facebook-, Wikileaks-, Bin Laden-, Irak-, und vieler anderer Bearbeitungen noch mit Besorgnis die Geschwindigkeit reflektiert, mit der die Traumfabrik die Realgeschichte tapeziert, so demonstriert im Falle von …

Wird aufgrund von Facebook-, Wikileaks-, Bin Laden-, Irak-, und vieler anderer Bearbeitungen noch mit Besorgnis die Geschwindigkeit reflektiert, mit der die Traumfabrik die Realgeschichte tapeziert, so demonstriert im Falle von „Cerro Torre“ ein Blick auf die Filmgeschichte, dass die Realgeschichte den Ideen doch eigentlich hinterherhinkt, und dass es die Ideengerüste sind, die wir beklebt sehen wollen: „Nach einer Idee von Reinhold Messner“ erzählte Werner Herzog 1991 von einem Alpinisten und einem Sportkletterer, die um den Schneepilz des Cerro Torre in Patagonien rivalisieren – eine Parabel auf die Frage, ob sich das Wettkampfklettern an Plastikgriffen auf die ganz großen Felsen übertragen lässt (anstatt sich an denen mit geschlagenen und gebohrten Haken hochzuziehen). Unter dem gleichen Titel mit anderem Zusatz hat sich Red Bull (what else?) dieser Frage jetzt im Dokumentarfilm angenommen. Hieß Cerro Torre 1 noch „Schrei aus Stein“, lautet der Untertitel zu Cerro Torre 2 „A Snowball’s Chance in Hell“ nach einer nicht so wohlwollenden, dafür sehr rätselhaften Aussage der Koryphäe Jim Bridwell – man möchte meinen, wenn in der weißen Hölle Patagoniens etwas eine Chance hat, dann sind es Schneebälle. Wahrscheinlich aus Angst vor den Ansprüchen dieses ambivalenten Sinns hat man sich dann auch für den deutschen Untertitel „Nicht den Hauch einer Chance“ entschieden. Vom Schrei zum Hauch sind es also zwei Jahrzehnte und ein Umweg über eine Sprache, während eigentlich dieselbe Crux artikuliert wird. Ist das noch Dokumentarfilm, oder nicht schon Doku zum Film, das was „Die Last der Träume“ für „Fitzcarraldo“ ist? Gar Remake in einem Genre, das eigentlich nicht (mehr) verdächtigt wird, Massen zu mobilisieren, vielleicht, weil es so sehr verdeckende Wände zeigt? Wiederholt Film, überschreibt er zuweilen die Erinnerung und baut eine Mauer dort, wo nur die Arkade den Blick zurück ermöglicht?

Der neue „Cerro Torre“ gibt sich durchsichtig dort, wo er neue und alte Medien auf der Leinwand abbildet. Das beginnt mit dem eröffnenden Lexikoneintrag zum „Freiklettern“ (samt der in diesem Kontext irgendwie schon klischeehaften Lexikon-Interpunktion) und findet seine Fortsetzung in Zeitungscollagen, in Blogeinträgen und verpixelten Computergrafiken. In Verbindung mit gestellten Szenen und Archivaufnahmen werden so verschiedene Etappen der Cerro Torre-Erschließung nachgezeichnet, welche zuweilen schon selbst Parabelcharakter hat: Da Cesare Maestris behauptete Erstbegehung von 1959 angezweifelt wird, kehrt dieser 1970 nach Patagonien zurück – mit Kompressor und Bohrmaschine, um sich die technisch anspruchsvolle Südwest-Flanke des Torre hinaufzunageln und „Mord am Unmöglichen“ zu begehen. Der Kompressor, mehr Symbol als Beweis, prangt noch heute eine Seillänge unter dem Gipfel. David Lama erregte Aufsehen und Unglauben, als er ankündigte, diese Route frei klettern zu wollen, was ihm Anfang 2012 gelang, wenige Tage nachdem eine amerikanische Seilschaft die meisten von Maestris Haken aus der Wand entfernt hatte. Mediale Übertragungen wählt der Film also zum Formprinzip, um den langen Weg der Übertragung des Sportkletterns auf den großen Berg darzustellen, die Lama in der ersten Szene als wortwörtlichen Traum erzählt: Darin macht er die Tür der Kletterhalle auf und findet sich im Schneegestöber.

Sport- und Bergbegeisterte kommen in dem Film auf ihre Kosten. Spektakuläre Hubschrauberaufnahmen, waghalsige Shots direkt aus der Wand ins Geschehen, aber auch die Point-of-View-Aufnahmen der Helmkameras, all das wird in den entsprechenden Szenen zu einem perfekten Bilderreigen der Unmittelbarkeit montiert. Die Rhetorik des „Über-sich-hinausgehens“, die im Extremsport jeder Art angewendet wird, kann in Verbindung damit im geneigten Zuseher ein Pathos erzeugen, das ohne die Bilder lächerlich wäre. Genauso wie die Landschaftsaufnahmen oszillieren damit die Kletterszenen je nach Betrachter zwischen potentiellen Erfahrungen des Erhabenen und der einförmigen und in der Länge langweiligen Vorstellung, dass es da oben halt so gewesen ist.

Interessanterweise darf Reinhold Messner – der geistige Vater der Herzog-Bearbeitung – ausgerechnet als Kritiker des aktuellen Filmprojekts kurz zu Wort kommen: Ob Lama von der Filmcrew nicht missbraucht werden würde, denn im Film würde man all das nicht sehen, was sich nicht vermarkten ließe. Es ist dem Film vielleicht hoch anzurechnen, dass er die viele Kritik an seiner eigenen Entstehung zu Wort kommen lässt; andernfalls, muss allerdings ergänzt werden, wäre er untragbar geworden: Während Lamas erster Expedition 2010 bohrte das Team für die Dreharbeiten zusätzlich zu den bereits zahlreich vorhandenen Haken viele neue in den Fels des Torres und ließ darauf Müll am Fuße desselben zurück, was nicht nur in der örtlichen Kletter-Community auf sehr viel Kritik stieß: Es folgte ein „Shitstorm“ in Online-Foren, den der Film (für eine Art versöhnliche Vergeltung?) als Pixel-Rachefantasie inszeniert und der von Lama als „berechtigte Kritik an seiner Person als Kletterer“ bezeichnet wird. Das Red Bull-Filmteam setzt sich darüber hinaus in eine Analogie zur fragwürdigen Leistung Maestris, wenn zu den Bildern der Felspräparierung mit demonstrativ leidvoller Intonation aus dem Off lamentiert wird, man sei nur daran interessiert, einen Film zu drehen, als gelte es, ein Kreuz zu Berge zu tragen. An dieser Stelle tun sich die eigentlichen Abgründe auf, die noch ihrer Erstbegehung harren. Stattdessen wird in einem Nebenstrang die Erfolgsgeschichte einer Läuterung erzählt, die da formal das Finale der Herzog-Version repetiert und umdeutet, wenn der Torre von zwei Seiten bestiegen wird.

Nach welchen Kriterien soll ein solches Machwerk benotet werden? David Lamas Leistung in Patagonien steht außer Frage. Nach allen Regeln der Kunst wird sie ab 13. März im Kino wiederholt.

12 Years a Slave

(USA 2013, Regie: Steve McQueen)

Wie Vieh
von Wolfgang Nierlin

Die Kamera bewegt sich durch das grüne Dickicht einer Zuckerrohrplantage, um schließlich vor einer Gruppe afroamerikanischer Sklaven innezuhalten. Zur harten Arbeit unter der sengenden Sonne Louisianas singen die Ausgebeuteten Gospels. …

Die Kamera bewegt sich durch das grüne Dickicht einer Zuckerrohrplantage, um schließlich vor einer Gruppe afroamerikanischer Sklaven innezuhalten. Zur harten Arbeit unter der sengenden Sonne Louisianas singen die Ausgebeuteten Gospels. Nachts, in der schwülen Hitze eines Matratzenlagers, erinnert sich Solomon Northup (Chiwetel Ejiofor) an sein Leben als freier Mann in Saratoga/New York, an seine Frau und die beiden Kinder sowie an sein Auskommen als Geigenspieler. In kurz aufflackernden Erinnerungsbildern und dem Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit akzentuiert der britische Filmkünstler Steve McQueen immer wieder den Kontrast zwischen Freiheit und Gefangenschaft und fügt so – nach den Filmen „Hunger“ und „Shame“ – mit „12 Years a Slave“ seinem Werk einen weiteren Gefängnisfilm hinzu. Als Solomon Northup, auf dessen 1853 veröffentlichtem Erfahrungsbericht der Film basiert, nach seiner Entführung, geschunden und in Ketten, in einem dunklen Verlies der Hauptstadt Washington erwacht, schwenkt die Kamera einmal zu einem Blick über die düstere Stadtlandschaft, in deren Hintergrund sich das Weiße Haus abzeichnet.

Die bürgerlichen Freiheitsrechte gelten noch längst nicht für alle. Bildung und gesellschaftliche Integration werden dem „außergewöhnlichen Nigger“ Northtup von seinen „Besitzern“ gar als offener Widerstand ausgelegt und infolgedessen unnachgiebig hart bestraft. Wie Vieh werden die Versklavten im Hinblick auf ihre Arbeitsfähigkeit begutachtet und verkauft. Willkür und Gewalt bestimmen das Verhältnis der Herren zu ihren Knechten. Sieht man die Baumwollpflücker in den blühenden Landschaften bei der Arbeit, wie sie für ihren Ernteertrag unter Strafandrohung zur Rechenschaft gezogen werden oder auch wie ärmlich sich ihre Wohnbaracken gegenüber den herrschaftlichen Anwesen ihrer „Master“ ausnehmen, erfährt man nebenbei auch, wie Wohlstand entsteht und ein Land „gebaut“ wird. In einer der eindringlichsten Szenen hängt Northup mit dem Hals in einer Schlinge und ringt für endlose Stunden ums Überleben. Während die Zeit vergeht und die Perspektiven auf den Gefolterten mehrmals wechseln, sieht man im Hintergrund dieses ikonographischen Leidensbildes, wie das normale alltägliche Leben weitergeht.

„Ich will nicht überleben, ich will leben“, sagt Northup einmal. Aber dann ist er doch immer wieder zu schrecklichen Anpassungsleistungen gezwungen, die zeigen, wie perfide und inhuman Unrechtssysteme funktionieren und dabei Rechtlose in ausweglose Loyalitätskonflikte gedrängt werden. So muss Northup in einer anderen herausragenden Szene, die McQueen in einer langen Plansequenz gestaltet, seine Leidensgenossin Patsey (Lupita Nyong’o) auspeitschen. In der Figur des Master Edwin Epps (Michael Fassbender), der diese Strafe befiehlt und dessen unheilvoller Charakter zwischen Wahnsinn, Eifersucht und Unberechenbarkeit oszilliert, zeigt sich aber auch die Brüchigkeit des Systems, in dem es immer wieder auch zu Konflikten unter den Sklavenhaltern kommt. Bevor der kanadische Zimmermann Samuel Bass (Brad Pitt) als Vorbote eines zukünftigen Wandels auf der Szene erscheint, verliert sich – mit einem Bild des Films gesprochen – als vorletzte Hoffnung ein Funkenflug in der Nacht. Später dann, mit neu erwachtem Mut, folgt ein ängstliches Innehalten, ein Atemholen für die ersehnte Freiheit.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Le passé – Das Vergangene

(F 2013, Regie: Asghar Farhadi)

Dialektik der Sprachlosigkeit
von Nicolai Bühnemann

Die erste Szene. Am Flughafen. Zunächst vergeblich versucht eine Frau einen Mann, der an der Gepäckausgabe steht, auf sich aufmerksam zu machen. Sie sind getrennt durch eine dicke Glasscheibe. Dass …

Die erste Szene. Am Flughafen. Zunächst vergeblich versucht eine Frau einen Mann, der an der Gepäckausgabe steht, auf sich aufmerksam zu machen. Sie sind getrennt durch eine dicke Glasscheibe. Dass die in Schuss und Gegenschuss gefilmte Szene gerade keinen Dialog zeigt, sondern wie er verhindert wird, ist bezeichnend. Mit dem Außenvorsein der Frau ist der Zuschauer mitten drin in diesem Film, in dem es um die Unfähigkeit miteinander zu kommunizieren und ihre Folgen gehen wird. Dabei wird viel durch – oft regenverhangene – Scheiben gefilmt. Auch die Titeleinblendung: „Le passé“ erscheint wie auf einer Scheibe und wird dann nach und nach von einem Scheibenwischer von der Leinwand gekratzt, bis sie vollständig verschwunden ist. Würde das Vergangene aber, einmal „weggewischt“, verdrängt und vor allem totgeschwiegen, fortbleiben, könnte direkt nach dem Titel der Abspann beginnen.

Ahmad (Ali Mosaffa) kommt nach vier Jahren aus Teheran zu seiner Frau Marie (Bérénice Bejou) nach Paris zurück, um sich scheiden zu lassen. Jedoch hat Marie nicht, wie er sie gebeten hatte, ein Hotelzimmer für ihn bestellt, sondern er soll bei ihr in ihrem baufälligen Häuschen in einem Vorort leben. Erst dort angekommen erfährt Ahmad, dass sie einen neuen Freund hat, dass sie sich scheiden lassen will, um wieder heiraten zu können. Damit nicht genug: Der neue Freund, Samir (Tahar Rahim), lebt teilweise bei ihr, mit seinem fünfjährigen Sohn Fouad (Eleys Aguis), mit dem sich Ahmad nun ein Doppelstockbett teilen soll. Außerdem begegnet Ahmad hier Léa (Jeanne Jestin) und Lucie (Pauline Burlet) wieder, Maries Töchtern aus erster Ehe. Während ihn die kleine Léa begeistert empfängt, macht sich die jugendliche Lucie erst mal rar. Was nicht an ihm liegt, sondern am angespannten Verhältnis zu ihrer Mutter. Ahmad findet bald heraus, dass Lucie mit der neuen Beziehung Maries nicht einverstanden ist. Jedoch erschließt sich ihm in dem komplexen familiären Gefüge, wo niemand wirklich offen und ehrlich mit dem anderen spricht, erst sehr allmählich, warum: Samirs Frau Céline liegt im Koma, nach einem Suizid-Versuch, den sie beging, weil sie von der Affäre ihres Mannes mit Marie erfuhr.

„Le passé“ ist der siebte Film Asghar Farhadis, und der erste, der nicht im Iran, sondern in Frankreich und komplett auf Französisch gedreht wurde. Der Film knüpft zunächst deutlich an die Vorgänger an. Und zwar sowohl was die Themen von dysfunktionalen Familien, Trennungen und Schuld anbelangt, als auch in der Struktur. Ins Zentrum seiner Filme stellt der Regisseur oft ein Rätsel mit dezidiert kriminologischen Zügen. Nach dem Verschwinden einer jungen Frau („Alles über Elly“) etwa oder der Klärung der Umstände, unter denen eine andere junge Frau ihr ungeborenes Kind verlor („Nader und Simin“), geht es nun darum, warum wiederum eine junge Frau versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Viel wichtiger als die Tatsache, dass dieses Rätsel in allen Filmen schließlich mehr oder weniger vollständig aufgelöst wird, ist, dass durch sie Konflikte zwischen den Figuren aufbrechen und zu Tage treten, die vorher nur unter der Oberfläche gärten und brodelten.

Durch den Wechsel des Schauplatzes merkt man jedoch auch deutliche Akzentverschiebungen. In allen vorangegangenen Filmen seit „Fireworks Wednesday“ (2006) spielte soziale Segregation eine entscheidende Rolle. Die zentralen Konflikte entstanden oft zwischen einer gehobenen Teheraner Mittelschicht und ihren Bediensteten. Außerdem ging es häufig um die Rolle der Frau in einer Gesellschaft, die sich in einem Spannungsfeld zwischen religiöser Tradition und moderner Lebenswelt befindet. In „Nader und Simin“, dem mit dem Oscar und dem goldenen Bären prämierten Vorgänger zu „Le passé“, findet sich hierfür eine wunderbare Szene. Eine Frau, die einen senilen alten Mann pflegen soll, muss ihn sauber machen, nachdem er sich eingemacht hat. Sie ruft bei einer Hotline für religiöse Fragen an, um sich zu erkundigen, ob das mit den Moralvorstellungen des Koran vereinbar ist.

In „Le passé“ nun spielen weder soziale noch Geschlechterfragen eine bedeutende Rolle. Vielmehr geht es um die vielfältigen psychologischen Verwicklungen eines modernen westlichen Familiengefüges, in dem der Regisseur, das ist definitiv eine Leistung, so souverän den Überblick behält, dass es aussieht, als ob es eine Leichtigkeit wäre. Wurden in den iranischen Vorgängern in die jeweiligen Fälle auch die Behörden (Richter, Polizei) mit einbezogen; spielten auch äußere Zwänge immer eine Rolle (vom „was sollen denn die Nachbarn denken“ bis zur Migration auf der Suche nach einem besseren Leben), werden die vielfachen Konflikte und moralischen Dilemmata in „Le passé“ ganz ins Innere der Figuren und ihrer Beziehungen verlagert.

Paradoxerweise treibt aber gerade dieser Film Farhadis Tendenz, seine Sozialdramen wie Krimis zu erzählen, auf die Spitze. Die – teilweise beträchtliche – Spannung ergibt sich ganz aus der zunehmenden Anspannung in und zwischen den Figuren. Den zahlreichen plot twists liegt immer ein psychologisches Moment zu Grunde; sie ergeben sich aus Verschiebungen, Übertragungen, Ersatzhandlungen.

Farhadi beweist einmal mehr, dass er ein Regisseur ist, der sich darauf versteht, hervorragendes Handwerk ganz in den Dienst seiner Erzählung zu stellen. Wurde in „Nader und Simin“ noch viel mit der Handkamera gedreht, bleibt die Kamera in „Le passé“ überwiegend statisch und ruhig. Wenn jedoch gestritten wird, was häufig vorkommt und selten zu irgendwelchen Lösungen führt, fängt er die destruktive Dynamik des Geschehens in hektischen Schwenks und Bewegungen ein.

Ein weiterer Punkt, der maßgeblich zum Gelingen des Films beiträgt, sind die grandiosen Schauspieler. Vor allem Bérénice Bejou brilliert als Frau, die das Geschehen gerne lenken würde, der es jedoch immer weiter entgleitet. Wenn Farhadis Filme oft voller latenter Aggressionen sind, die sich dann mehr oder weniger plötzlich in verbalen und/oder körperlichen Gewaltausbrüchen entladen, dann findet er in Ali Mosaffa und Tahar Rahim zwei ideale Schauspieler dafür. Sie machen die Feindseligkeit zwischen den beiden Männern deutlich spürbar, ohne dass sie ausgesprochen werden müsste. Den Gegenpol dazu bildet das expressive Spiel der mindestens ebenso beeindruckend agierenden Kinder. Allen voran Elyes Aguis als Fouhad.

Farhadi sagte in einem Interview: „In meinen Filmen drücken die Personen sich indirekt aus. Das ist Teil meiner Kultur, aber ich setze das auch als dramaturgisches Mittel ein. In Frankreich ist das nicht üblich (…) im Allgemeinen sind die Franzosen direkter.“ Umso interessanter, dass es gerade in Farhadis erstem französischen Film um das Problem von Menschen geht, miteinander zu reden – in einer vermeintlich offenen und aufgeklärten Gesellschaft. Dialektik der Sprachlosigkeit.

Mandela – Der lange Weg zur Freiheit

(GB / ZA 2013, Regie: Justin Chadwick)

Savannengandalf und ein Rest von Faust
von Drehli Robnik

Spätestens wenn gegen Ende der eben freigelassene ANC-Führer Nelson Mandela im Fernsehen zu friedlichem Wahlkampf um die Macht aufruft und der Parallelschnitt seine Quasi-Kontrahenden, Südafrikas letzten Apartheid-Präsidenten de Klerk und …

Spätestens wenn gegen Ende der eben freigelassene ANC-Führer Nelson Mandela im Fernsehen zu friedlichem Wahlkampf um die Macht aufruft und der Parallelschnitt seine Quasi-Kontrahenden, Südafrikas letzten Apartheid-Präsidenten de Klerk und Mandelas ihm entfremdete Frau Winnie beim Fernsehen zeigt, ersteren angespannt rauchend, letztere im Hass entnervt saufend, dann ist klar, was eh fast immer schon (jedenfalls lange vor diesem Film) verordneter Konsens war: Der Mann ist ein Heiliger, jenseits des Hickhack der Politik und so ohne alle Arg und Laster (wie Nikotin und Nerven, Alkohol und Aggression), dass er das Schnöde am Menschlichen überhaupt transzendiert.

Das Wochen vor seinem Tod fertiggestellte südafrikanisch-britische Biopic mit dem schlichten Haupttitel 'Mandela' führt in braven Bilderbögen (flott und öd) von Mandelas Anwalts-, Kampagnen-, Untergrund- und Gefangenenzeit bis zu seinem Präsidentschaftsantritt, wobei 'Der lange Weg zur Freiheit' (so die Titelbyline) einer Linie folgt, auf der ein zeitweiser Protokommunist immer weiser und sein Haar immer weißer wird. Mandelas Gandalfisierung ist ein Glanzprodukt einer Medien- und Geschichtskultur, der Politik schlechthin als anrüchig gilt.

Rezente Mandela-Spielfilme setzten punktuell andere Akzente im kanonischen Image (Erziehungsroman weißer Rassisten im Direktkontakt mit dem unerschütterlichen Häftling: 'Goodbye Bafana', 2007; Verhandlungspolitik in der Spätphase des Apartheidregimes, mit Chiwetel Eijofor als Mandelas Mitstreiter und späterer Nachfolger Thabo Mbeki: 'Endgame', 2009; ein medienpopulistischer Sport-als-nation building-Coup in Clint Eastwoods 'Invictus', 2010). Inszeniert von Justin Chadwick, mit dem Briten Idris Elba (unvergessen seine skurrile Szene mit der Ziehharmonika als Raumschiffcaptain in 'Prometheus') in der Titelrolle, tritt 'Mandela' nun zur Kompletteinzementierung des Mandela-Mythos in Leinwand an. Komplementär zum Leitmotiv des übermenschlichen Edelmuts (wobei immer wieder Winnie als ganz dem Gefühl und der Macht verfallene Kontrastfigur dient und alle anderen Leute um ihn Staffage sind) beschwört eine Savannensonnen-Rahmenkitschbildkonstruktion kindlich-ethnischen Einklang von Herz und Natur als niemals versiegenden Quell in einem niemals endenden Film.

Jedoch: Alles kann der auch nicht ruineren. Ein Dialog, in dem Mandela – trotz Leiden an den Gefängnisschikanen und Freilassungstauschhandel-Angebot – sich weigert, dem Kampf abzuschwören darlegt, auch eine strukturell ungerechte Gesellschaftsordnung, nicht nur Straßenkrawall und bewaffneter Kampf, sei Gewalt, sowie opulente Szenen mit Agitationsreden, Fäusteballen und Massenchören behalten einen Rest an Reiz.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Die Erschaffung der Welt

(CSSR / F 1957, Regie: Eduard Hofman)

Big Ball of Fire
von Nicolai Bühnemann

Am Anfang schlief Gott, ein sympathischer älterer Herr mit Rauschebart, auf eine Wolke gebettet. Weil ihm, als er erwachte, langweilig war, formte er einen großen Ball, den er als Sonne …

Am Anfang schlief Gott, ein sympathischer älterer Herr mit Rauschebart, auf eine Wolke gebettet. Weil ihm, als er erwachte, langweilig war, formte er einen großen Ball, den er als Sonne an den Himmel warf, ließ Licht werden mit einem Feuerzeug – die Dinger waren offenbar in der Prähistorie schon genauso zickig und unzuverlässig wie heute –, schoss gemeinsam mit seinen drei Engelchen die Sterne ans Firmament und machte sich sodann an sein erstes Meisterstück: die Erde. Da ein solch aufwändiges Schöpfungsprojekt gut organisiert sein will, muss ein Sechs-Tage-Plan her. Gott und seine kleinen Helfer formen das Land und die Berge, mahlen den Sand der Wüsten, als erster Barkeeper der Schöpfungsgeschichte mixt Gott aus Wasser- und Sauerstoff das kühle Nass der Meere. Dann zeichnen und entwerfen sie allerlei Pflanzen und Tiere, die sie anschließend zusammenbauen, werkeln und nähen und in hübschen bunten Farben anmalen, streichen und lackieren.

Was ihnen die Arbeit erschwert, ist der gefallene Engel, ein gehörnter Saboteur in rot. Ebenfalls mit Unterstützung dreier Gehilfen, kleine Teufelchen allesamt, treibt er allerlei Schabernack mit dem Nützlichen und Guten, das die himmlische Schar kreiert. Er schneidet den Bergen die wohlgeformten Gipfel ab, um sie in Vulkane zu verwandeln. Während die Engelchen gar nützlich gärtnern, ersinnen die Teufelchen Nikotin, Alkohol und Opium. Die göttlichen Schöpfungen Elefanten, Nashörner und Wildschweine versehen sie mit Stoßzähnen, Hörnern und Hauern. Gottes Werk und Teufels Beitrag.

Schließlich schafft Gott, als Gipfel seiner Schöpfung, den ersten Menschen. Ein Skelett wird entworfen, eine Schicht aus Muskeln und Sehnen darüber zusammengenäht, das Ganze ordentlich in Haut verpackt, viele Meter Darm von der Rolle verlegt – der nimmer ruhende Rote fügt eilig den Blinddarm hinzu. Da aber, wie jede andere, auch die Menschmaschine einen Motor und dieser Treibstoff braucht, wird noch das Herz eingesetzt und das fertige Wesen mit Blut betankt. Jetzt kann Adam der Lebensatem eingehaucht werden.
Damit er aber nicht einsam würde, entnahm der Schöpfer, ein fachmännischer chirurgischer Eingriff des Ganzgottes in Weiß, seiner Rippe eine Frau, Eva. Nun setzt sich Gott nach so viel Schöpfungsarbeit zur verdienten Sonntags-Ruhe. Adam und Eva aber gehen Hand in Hand in die Welt hinein, der Sonne entgegen.

So – recht frei nach Motiven der biblischen Genesis also – erzählt uns die Geschichte der Welterschaffung ein tschechisch-französischer Zeichentrickfilm von 1957. Der Film basiert auf den Bilderzyklen 'Die Erschaffung der Welt' und 'Die Erschaffung des Menschen' des französischen Autors und Zeichners Jean Effel, der auf einer Ausstellung seiner Werke in Tschechien den Regisseur Eduard Hofmann kennenlernte. In gemeinsamer Arbeit entstand in vier Jahren 'Die Erschaffung der Welt', der auf den Filmfestspielen von Venedig mit einem Sonderpreis geehrt wurde. Kaum amüsiert zeigte sich hingegen der Vatikan.

Der „Osservatore Romano“ sah in dem Film „eine groteske Verhöhnung der Heiligen Schrift… Als in besonderem Maße gotteslästerlich sind … die Szenen zu bezeichnen, die die Erschaffung des Menschen behandeln und allein die Verbreitung des Atheismus beabsichtigen.' In der Folge fand sich in Italien – wie auch in der Bundesrepublik – kein Verleiher, der sich des Werkes annahm. In „sozialistischen“ Ländern hingegen stießen Effel und Hofmann auf wesentlich mehr Verständnis, die sich übrigens keiner Schuld bewusst waren und sogar anboten, bestimmte Stellen auf Wunsch des Vatikans zu ändern, was man in Rom allerdings ausschlug. In der DDR kam der Film 1959 in einer von der DEFA angefertigten Synchronisation in die Kinos und erfreute sich großer Beliebtheit.

Das Label „Karussell“, Kindern der Achtziger wie mir wahrscheinlich vor allem wegen seiner Hörspiel-Kassetten in Erinnerung, legte den Film nun am 13. Dezember 2013 gleich doppelt neu auf DVD auf: zum einen in einer Synchronisation des NDR von 1995, zum anderen erstmalig auch in der DEFA-Variante. Das ist erfreulich, gibt es doch die Möglichkeit, einen ziemlich charmanten Zeichentrickklassiker neu zu entdecken – und ein überaus interessantes Stück Ideologie-Geschichte. (Nur auf der DEFA-DVD gibt es auch eine tschechische Original-Tonspur, allerdings ohne Untertitel. Was schade ist, weil nur am Original-Text orientierte Untertitel Aufschluss darüber geben könnten, wie viel der „Ost-Block-Ideologie“ des Films wirklich von Hofmann und Effel stammt – und wie viel Produkt des DEFA-Synchron-Studios ist.) Die Unterschiede zwischen den beiden Synchros sind so groß wie erwartbar. So spricht nur die DEFA gleich im ersten Satz dem schlafenden Gott seine Existenz ab. Auch bestimmte Liedzeilen waren dem Publikum der damaligen DDR vorbehalten: „Liebet und vermehret Euch, Ihr müsst die Welt verwandeln/ Liebet und vermehret Euch heißt dialektisch Handeln“.

Auf den naiven biblischen Schöpfungsbericht reagiert der Film mit einem – kaum minder naiven – Glauben an den technologischen Fortschritt. Weltenerschaffung als Hohelied auf Technik und Arbeitskraft. Immer wieder sieht man den Bildern auch eine gewisse militaristische Tendenz an. Etwa wenn Gott die Bäume erschafft und vor den bis zum Horizont reichenden Alleen Leibesübungen macht: „Gen Himmel, stree-cken“. Während Gott die Gänse ihren sprichwörtlichen Marsch lehrt, ist auch der Teufel nicht untätig: Er bringt den Krebsen bei, in Reih und Glied rückwärts zu gehen. (Herrlich hier wieder die DEFA-Synchro: „Und diese Runde Gott verliert, der Rückschrittler marschiert. Zehn, neun, acht, sieben, sechs… Immer rechts.“) Das Schöne dabei ist allerdings, dass der Film diese Gegenerzählungen kaum ernster nimmt als seine biblischen Quellen. Jedenfalls heben sich nicht nur der Teufel und seine Gehilfen wohltuend vom unermüdlichen Schaffen des greisen Workaholic ab, sondern auch bei den Engelchen regiert das Lustprinzip. So ersann etwa einer von ihnen den Oktopus nach einem ordentlichen Zug aus der Weinflasche. Ihnen geht es mehr um die unbegrenzten Möglichkeiten des freudigen Spielens, Experimentierens und Improvisierens als um das Ergebnis.

In die Tradition des sowjetischen Kinos stellt sich der Film wohl am deutlichsten mit einem Traum Adams – übrigens eine der schönsten Szenen. Hintereinander imaginiert er sich als Pharao, König, kapitalistischer Fabrikbesitzer und muslimischer Prediger. Seine Untergebenen – in weißen Strichen vor komplett schwarzem Hintergrund gehalten und sich schon dadurch von den verschiedenen mehrfarbigen Adam-Inkarnationen abhebend – sind wahlweise Krokodile, Oktopusse oder Sonnenblumen. Wohl in Anspielung auf den göttlichen Auftrag, sich die Erde und alles was auf ihr kreucht und fleucht, untertan zu machen.
Die Zyklen Effels sind nicht als fortlaufende Bildergeschichten konzipiert. Eher stellt jedes Bild eine kleine Episode dar, bestehend aus einer Zeichnung und einem Satz, die sich dann lose zu einer Handlung zusammenfügen. Diese Struktur tritt auch im Film hervor, ebenso wie der unverkennbare, sowohl schlichte wie phantasievolle Stil des Zeichners.

Richtig zündend ist der Humor, jedenfalls für mich, nicht mehr. Mehr als ein Schmunzeln hier und da konnte mir der Film eigentlich nie abgewinnen. Grandios fand ich hingegen das eine oder andere surreale Bild, das er parat hält. Etwa wenn Gott dem Pfau die Augen aufs Gefieder malt, die sich prompt öffnen und uns ansehen. Oder auch Gottes Traum, in dem er sich vervielfacht, um Hilfe bei der Arbeit zu haben. Die Erfindung des Polytheismus. Am schönsten aber sind die Szenen, in denen getanzt wird: Der Teufel tanzt mit einer Schar Fledermäuse, Gott mit dem Teufel und – am tollsten – der Teufel tanzt mit dem Spiegelbild Evas auf dem Wasser, zu – so schrieb’s zumindest der „Osservatore Romano“ – „frenetischem Rock’n’Roll“. Hier kommt ins Drehen und Wirbeln, was sonst oft etwas schwerfällig ist, wirkt frisch und spritzig, was an manch anderer Stelle doch etwas schlecht gealtert erscheint.

Bild und Ton der DVDs sieht und hört man das Alter des Materials stellenweise stark an. Im Großen und Ganzen sind sie aber ordentlich restauriert, wobei man sicherlich keine HD-Qualität erwarten sollte – die man allerdings bei diesem Film auch nicht wirklich braucht. Unverständlich bleibt mir hingegen die Entscheidung, die beiden – vom Bildinhalt identischen – Versionen auf zwei getrennten Scheiben zu veröffentlichen. Schätzt das Label den Kult-Status des Films tatsächlich so hoch ein, dass ihn sich irgendwer nur wegen der verschiedenen Synchronisationen gleich doppelt zulegt?

The Act of Killing

(K / GB / NO 2013, Regie: Joshua Oppenheimer)

Mördermenschen reinszeniert
von Wolfgang Nierlin

Vor einer idyllisch schönen Strandkulisse liegt eine riesengroße, begehbare Fisch-Attrappe wie ein Fremdkörper aus einer anderen Welt. Leichtbekleidete Tänzerinnen, von der Unschuldsfarbe rosa umflort, zeigen sich von ihrer „besten Seite“. …

Vor einer idyllisch schönen Strandkulisse liegt eine riesengroße, begehbare Fisch-Attrappe wie ein Fremdkörper aus einer anderen Welt. Leichtbekleidete Tänzerinnen, von der Unschuldsfarbe rosa umflort, zeigen sich von ihrer „besten Seite“. „Natürlich Schönheit“ fordert die Regie dieses Film-im-Films von den Mädchen. Doch der inszenierte Frieden trügt, denn das knallbunte, surreale Musical ähnelt eher einer grotesk kitschigen Realsatire, die sich leitmotivisch durch Joshua Oppenheimers Film „The Act of Killing“ zieht. Darin thematisiert der amerikanische Regisseur mit teils fragwürdigen Mitteln ein dunkles Kapitel der jüngeren indonesischen Geschichte: Nach einem gescheiterten Putschversuch innerhalb des Militärs im Jahre 1965 werden die dafür verantwortlich gemachten Kommunisten und Chinesen von paramilitärischen Einheiten des rechtsgerichteten Generals Suharto verfolgt und brutal ermordet. Nach Schätzungen sterben etwa eine halbe Million Menschen. Weil die Täter von einst die geschichtliche Deutungshoheit beanspruchen und das politische Sagen haben, müssen die Angehörigen der Opfer schweigen.

Inmitten dieses gesellschaftlichen Klimas der Angst bietet Oppenheimer den Mördern, namentlich Anwar Congo und seinen Schergen von der sogenannten „Pancasila Jugend“ eine Bühne zur Selbstdarstellung ihrer ungesühnten Verbrechen. An früheren Tatorten rühmen sich diese „unmenschlichen Menschen“ ihrer schier unglaublich grausamen Taten, demonstrieren dabei bereitwillig die angewandten Tötungsarten und gewähren so einen schockierenden Einblick in die Banalität des Bösen. Diese gründet im vorliegenden Fall irgendwo zwischen Eitelkeit, Dummheit und primitiver Habgier. Man habe in einem „Gefühl der Freiheit“ „für Geld alles gemacht“ und dabei „gut gelaunt getötet“, bekennen, ja prahlen die Verbrecher, deren Gewissen keinerlei Schuldgefühl oder gar Unrechtsbewusstsein trübt. Als Gewinner der Geschichte definierten sie, so sagt einer von ihnen, was Kriegsverbrechen sind und damit auch die Antwort auf die Frage nach der Schuld. Vor allem die Gesten der Sieger sprechen hier eine deutliche Sprache.

Aber Joshua Oppenheimer geht in seinem Film über diese in schrecklichen Selbstzeugnissen dokumentierte Täter-Analyse und die mit ihr verbundene geschichtliche Aufklärung noch hinaus, indem er die Verbrecher ihre Taten mit filmischen Mitteln und nach eigenen Maßgaben reinszenieren lässt. In der indirekten Konfrontation mit den nachgestellten Bildern realer Ereignisse soll sich ein Prozess der Erkenntnis, möglicherweise sogar der Therapie einstellen. „Erst jetzt, wo ich es sehe, verstehe ich, wie schrecklich es war“, behauptet jedenfalls Anwar Congo, der nachts mitunter von Alpträumen geplagt wird, ansonsten aber äußerst vital und gutgelaunt wirkt. Zu fragen wäre, ob ein solch problematisches Verfahren nicht zu sehr die Täterperspektive akzentuiert und dadurch die Opfer beleidigt. Denn im absurden Ringen der Mörder um eine möglichst genaue und authentische Darstellung ihrer Grausamkeit und damit auch ihrer Sicht „geschichtlicher Wahrheit“ geht es vor allem um eine Form der Selbstmythologisierung und Heldenverehrung. In der ironischen Sprache des eingangs erwähnten Musicals bleibt den Opfern so nicht mehr, als sich für ihre Ermordung und das erlittene Unrecht zu bedanken, während die Täter sich angesichts solch inszenierter „Schönheit“ sentimental gerührt zeigen dürfen.

Nordstrand

(D 2013, Regie: Florian Eichinger)

Spröder werden
von Ulrich Kriest

Es mag eine etwas exzentrische Feststellung sein, aber das größte Vergnügen bei „Nordstrand“ stellt sich beim zweiten Sehen ein. Dann hat man die Geschichte, die der Film auch erzählt, die …

Es mag eine etwas exzentrische Feststellung sein, aber das größte Vergnügen bei „Nordstrand“ stellt sich beim zweiten Sehen ein. Dann hat man die Geschichte, die der Film auch erzählt, die er als Echo der Vergangenheit und als Puzzle präsentiert, verstanden und kann sich nun daran machen, all die kleinen und großen Verstöße gegen das konventionelle Erzählen, die sich der Film bewusst und lustvoll herausnimmt, als Qualität zu begreifen und zu genießen.

In Florian Eichingers zweitem Spielfilm (schon das Debüt „Bergfest“ konnte 2008 beeindrucken) treffen sich zwei Brüder nach Jahren, in denen sie sich nicht gesehen haben, in ihrem Elternhaus wieder. This house is not a home, wie man so sagt. Noch möbliert, aber schon mit toten Ratten unterm Schrank und Marderschaden in der Küche. Marten, der ältere Bruder, lüftet erst einmal durch, während er auf Volker wartet. Während Marten dem jüngeren Bruder mit herzlicher, geradezu aufdringlicher Empathie entgegentritt, reagiert Volker verschlossen, brüsk und zurückweisend. Volker ist gekommen, um das Haus zu verkaufen und sich so von den Erinnerungen zu befreien. Marten dagegen träumt davon, wieder eine Familie zu werden. Eine Familie? Seit der Beerdigung des Vaters haben sich die Brüder kaum noch gesehen, aber jetzt, wenn die Mutter bald aus dem Gefängnis entlassen wird, könnte man doch … Sagt Marten.

Bereits nach der Eröffnungssequenz, wenn der Vater seine Söhne beim Schnapssaufen erwischt – und nur Volker bestraft, ahnt man, worum es hier geht: die Familie als Terrorzusammenhang. Aber der Film hält diese Ahnung lange in der Schwebe, vertraut gerade darauf, dass die Brüder sehr lange erst einmal in der unmittelbaren Gegenwart agieren, bevor die Familiengeschichte einschießt. Erinnerungen kommen ins Spiel, die recht eindeutige Spuren legen, was sich in dem Haus einmal abgespielt hat. Verstohlene Blicke durch angelehnte Türen auf körperliche Auseinandersetzungen, die »harmlos« als Kraftprobe beginnen und dann in Gewalt umschlagen, vor der man die Augen verschließt, in andere Räume ausweicht, nicht zu Hilfe eilt, nicht zur Rede stellt. Der jüngere Sohn Volker, so wird schnell klar, war häufig das Opfer väterlicher Gewaltausbrüche, bevor die Mutter dem bösen Treiben ebenso gewaltsam ein Ende setzte.

Auf der Insel kursieren Gerüchte, was damals geschehen ist. Wenige Nebenfiguren etablieren einen überschaubaren Resonanzraum. Die Brüder kamen in eine Pflegefamilie, verloren sich dann aus den Augen. Jetzt müssten sie wieder miteinander sprechen, aber zunächst einmal wird über Bande gespielt: Volkers Ex-Freundin Enna taucht auf, die die Familie hat, die Volker nicht hat. Eine ehemalige Nachbarin schaut vorbei und fragt Volker, ob er sich als Opfer fühle. Tut er, weil er es war. Aber er jammert nicht, weil er in die Zukunft schaut. Sagt er zumindest.

Es ist hochinteressant zu verfolgen, wie Eichinger die Vergangenheit in die Gegenwart wirken lässt. Zwischen Alltagshandlungen schieben sich immer wieder recht unaufdringlich Sätze, die das Geschehen von damals virulent werden lassen. Aber es wird kaum erinnernd visualisiert. Welches Spiel Volker spielt, bleibt sehr lange im Ungefähren, während Marten weniger Geheimnisse zu haben scheint. Kurz vor Schluss schickt Volker der Mutter, von der er sagt, er würde nicht einmal deren Beerdigung besuchen, eine vergiftete Botschaft, die auch Marten empfängt. Klären sich die Fronten jetzt? Marten sucht die Konfrontation, die er, schwer krank, nur verlieren kann. Volker verhindert zwar das Schlimmste, um dann zum Abschied zu sagen: „Mach dir keinen Kopf! Ich war nie anders.“ Man glaubt ihm kein Wort, zweifelt sogar, dass es sich um Abschiedsworte handelt. Aber sicher kann man sich längst nicht mehr sein.

„Nordstrand“, der zweite Teil einer Trilogie über häusliche Gewalt, macht es dem Zuschauer nicht leicht, Position zu beziehen. Das ist eine große Kunst und Qualität, die Florian Eichinger und seine vorzüglich agierenden Darsteller so gut beherrschen, dass man auf seine beiden folgenden Filme – der Schlusspunkt der Trilogie und anschließend ein neues Thema – schon jetzt sehr gespannt sein darf.

Art War

(D / EG 2014, Regie: Marco Wilms)

Revolution als Langzeitprojekt
von Ulrich Kriest

„Jede Revolution ist ein Würfelwurf“ – an diesen Filmtitel von Huillet/Straub nach Mallarmé mag man sich erinnern, wenn man „Art War“ sieht. Geplant hatte der Berliner Filmemacher Marco Wilms ein …

„Jede Revolution ist ein Würfelwurf“ – an diesen Filmtitel von Huillet/Straub nach Mallarmé mag man sich erinnern, wenn man „Art War“ sieht. Geplant hatte der Berliner Filmemacher Marco Wilms ein Porträt des streitbaren Politologen Hamad Abdel-Sawad, hierzulande wohl am besten bekannt als Sidekick von Henryk M. Broder in dem Fernsehstück „Entweder Broder – Die Deutschland Safari“. Doch dann wurden Abdel-Sawad, Wilms und letztlich auch der Film „Art War“ von den Ereignissen in Ägypten im Frühjahr 2011 überrollt – und aus dem Filmporträt wurde eine Folge kürzerer Filmporträts, organisiert entlang der Chronik der laufenden Ereignisse.

So teilt sich Abdel-Sawad die Bühne mit dem Musiker Ramsy, den Künstlern Ganzeer und Ammar und der Sängerin Bosaina. Schnell wird klar, dass die jungen Künstler den Aufbruch gegen Mubarak als Befreiung erleben, als Chance, ihre Vorstellungen eines selbstbestimmten und selbstbewussten Lebens zu realisieren. Und diese Befreiung dokumentiert sich in mannigfaltiger Kunst: Musik, Graffiti-Wandmalereien, Performance-Kunst. Am interessantesten sind die Passagen des Films, die die Graffiti-Künstler bei der Arbeit zeigen.

Neben Facebook und Smart-Phones hatten die Wandmalereien im Verlauf der ägyptischen Revolution die Funktion der Aufklärung: Einmal wird gezeigt, wie das Foto eines Snipers in Polizeiuniform durch Steckbrief-Graffiti öffentlich gemacht wurde. Doch die äußerst selbstbewussten Protagonisten von „Art War“, allesamt bereits entschieden auf dem Weg nach Westen, unterschätzen in ihrer Euphorie die Trägheit des Aufbruchs und die Dynamik des Reaktionären. Der Film selbst tut es ihnen dabei gleich, wenn er glaubt, die Muslimbrüder etwas simpel »entlarven« zu können.

Es hagelt kleine und größere Niederlagen und Rückschläge, die zur Ernüchterung führen. Im Februar 2012 müssen überlebensgroße Märtyrer-Porträts an die Mauern der Mohammed-Mahmud-Straße gemalt werden, um der Toten von Port Said zu gedenken. Auf Mubarak folgt Mursi folgt der Militärputsch: Der Film zeigt eine Gesellschaft im Übergang, zerrissen von widersprüchlichen Ungleichzeitigkeiten. Die Protagonisten gehen durch ihre rückhaltlose Mitwirkung an diesem Film hohe Risiken ein. Abdel-Sawad hat früh darauf aufmerksam gemacht, dass dieses Theaterstück „Aufbruch in Ägypten“ sehr lang dauern dürfte, zumal noch nicht einmal der erste Akt zu Ende gespielt ist. Kann man sich auf die Position zurückziehen, dass – egal ob Sieg oder Niederlage – die Revolution der Motor der Geschichte ist? Ägypten ist in Bewegung: Man wünscht den Protagonisten dieser packenden Dokumentation, dass am Ende die Richtung in ihrem Sinne stimmt.

Der blinde Fleck

(D 2013, Regie: Daniel Harrich)

Auf dem rechten Auge blöd
von Ulrich Kriest

Hoppla, ein Polit-Thriller, made in Germany! Das heiße Eisen, das hier angepackt wird, ist zwar schon ziemlich abgekühlt, aber andererseits – brisant, brisant – vielleicht durchaus aktuell. Wir erinnern uns, …

Hoppla, ein Polit-Thriller, made in Germany! Das heiße Eisen, das hier angepackt wird, ist zwar schon ziemlich abgekühlt, aber andererseits – brisant, brisant – vielleicht durchaus aktuell. Wir erinnern uns, als sei es gestern gewesen: 26. September 1980, München, Oktoberfest, 13 Tote, 211 zum Teil Schwerverletzte – und kein RAF-Bekennerschreiben. Der Täter wurde seinerzeit schnell ermittelt: ein 21jähriger Student namens Gundolf Köhler, der als Einzeltäter gehandelt haben soll. Dass Köhler noch ein paar Monate zuvor als Mitglied der rechtsradikalen Wehrsportgruppe Hoffmann durch den deutschen Wald gepirscht war – drauf geschissen! Dass nur ein paar Tage später Bundestagswahl war, mit Franz-Josef Strauß als Kandidaten der Opposition, egal. Dass im August 1980 ein vermutlich von Neo-Faschisten ausgeführter Anschlag auf den Bahnhof von Bologna stattgefunden hatte – keine Spur wies die bayerischen Ermittler in den militanten rechten Untergrund.

Der CSU war an der Einzeltäter-Theorie gelegen, weil man die rechte Szene nicht ernst genommen, sie verlacht hatte. Ministerpräsident und Kanzlerkandidat Strauß, der in diesem Film, wie einst Hitler nur von hinten zu sehen ist, gibt seinem Staatsschutzchef Langemann die Order: „Lassen Sie sich gefälligst was einfallen!“ Was Langemann, der eingangs vor Studenten eine Vorlesung über den Einzeltäter als Bauernopfer gehalten hat, auch tut: mit der Präsentation eines Einzeltäters. Hier kommt Ulrich Chaussy, Redakteur beim Bayerischen Rundfunk, ins Spiel, der ein paar Jahre über ein paar Ungereimtheiten bei der Aufklärung des Anschlags stolpert. Er beginnt auf eigene Faust zu ermitteln, befragt Zeugen, stößt auf Polizeipannen und Vertuschungsaktionen seitens der Ermittlungsbehörden, wird von einem Unbekannten mit Aktenmaterial versorgt.

Man sieht schon: Der Filmemacher Daniel Harrich, der zusammen mit Ulrich Chaussy auch für das Drehbuch zeichnet, hat alle Zutaten eines echten Polit-Thriller versammelt: der investigativ ermittelnde Reporter, der auf merkwürdige Indizien und Widersprüche stößt, der mit seiner Beharrlichkeit den Mächtigen auf die Schliche kommt, der auf einmal an einer ganz großen Sache dran ist, der eines Abends sogar beinahe unter die Räder kommt, der seiner Umgebung allmählich auf die Nerven geht, weil er sein Thema gefunden hat und nicht mehr locker lässt. Das ist alles sicher gut gemeint, aber leider gar nicht gut gemacht: es fehlt dem Film schlicht der Flow.

Benno Fürmann spielt den Hörfunkmann Chaussy mehr als hölzern und entwickelt als Figur überhaupt keine politische Haltung zum Geschehen. Wenn er mal nicht ermittelt, kommt seine Ehefrau Lise als „das Privatleben“ aus der Kulisse und ins Spiel, die ihn erst unterstützt und es später mit der Angst bekommt. Einfach so. Bei aller Liebe zu Nicolette Krebitz: es gibt Rollen, die sind so einfältig, dass es nicht schadet, sie nicht zu übernehmen. Unklug auch der Einfall, gleich drei „Tatort“-Kommissare (Hartmann, Wachtveitl, Nemec) einzusetzen, was einem Kinofilm und einem Polit-Thriller, der zudem in München spielt, ganz schlecht bekommt. So begnügt sich der Film damit, die Einzeltäter-Theorie in Frage zu stellen und darauf hinzuweisen, dass die zuständigen Behörden kein Interesse hatten, die Hintergründe des Anschlags aufzuklären. Längst sind nicht nur die Ermittlungen eingestellt, sondern auch die Asservate vernichtet. Keine Aufklärung mehr möglich.

Am Schluss folgt dann noch der Hinweis auf die Ermittlungspannen im Fall der NSU-Morde, die einer vergleichbaren Logik des Nicht-Wissen-Wollens, des Weg-Sehens und vielleicht sogar der Instrumentalisierung von Rechtsradikalen durch Ermittlungsbehörden folgen. Interessanter wäre der Film indes geworden, hätte man sich vom Lokalkolorit, von der CSU weg und hin zu GLADIO bewegt. Dann wäre aus dem Stoff vielleicht sogar ein richtiger Polit-Thriller geworden und kein Westentaschen-„Tatort“ in Kino-Camouflage.

Le weekend

(GB 2013, Regie: Roger Michell)

Drogen Sex Scheidung Tod
von Ulrich Kriest

Lustige Sache, das. Wer Zeit hat, sollte mal etwas im Netz bummeln gehen! „Le weekend“ von Roger Mitchell, Drehbuch: Hanif Kureishi, ist ein absoluter Liebling der Kritik: 100% bei Rotten …

Lustige Sache, das. Wer Zeit hat, sollte mal etwas im Netz bummeln gehen! „Le weekend“ von Roger Mitchell, Drehbuch: Hanif Kureishi, ist ein absoluter Liebling der Kritik: 100% bei Rotten Tomatoes. Sieht man den Trailer, wird dort die Erwartung auf eine durchaus schwungvolle (sofern es die alten Knochen noch zulassen!) und wohl auch irgendwie romantische Komödie geweckt, die, hoppla, in Paris spielt. Paris mit großem „P“ – hoher Wiedererkennungswert für Paris-Liebhaber. „Zu touristisch!“, nennt Meg das Kind einmal ganz offen beim Namen. Weniger euphorisch stolpert dann der solcherart ins Dunkle gelockte Endverbraucher ins Freie, der auf der Leinwand ganz andere Dinge gesehen hat als die Kritiker: a grumpy old couple, das sich das Leben routiniert zur Hölle macht, „largely cliche-ridden, depressing and slightly distasteful“ (amazon.co.uk).

Also denn: „Le weekend“ ist der filmische Lackmustest für gealterte Paare, die vielleicht doch neugierig sind, was die Zukunft vielleicht noch bereit halten mag. Meg und Nick gönnen sich ein Wochenende in Paris, wohin sie einst ihre Hochzeitsreise führte. Sie eine Biologie-Lehrerin, er ein Hochschuldozent für Philosophie – die Kinder sind aus dem Haus, der Ruhestand ist nur noch eine Armlänge entfernt. Doch die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen, 30 Jahre Ehe haben ihre Spuren hinterlassen – und Meg und Nick sind natürlich viel zu klug, um davon wirklich überrascht zu sein. Mal ist Paris heruntergekommen, mal zu teuer, mal zu touristisch.

Die beiden funktionieren als Paar ganz wunderbar, wenn man bereit ist zu akzeptieren, dass mit romantischen Aufschwüngen kaum mehr zu rechnen ist. Selbst die Streitkultur des Paares zeugt von großer Vertrautheit. Doch zeigt die Routine mitunter Risse, die den Blick freigeben auf die Enttäuschungen und Defizite, die sich in die Beziehung eingekerbt haben. Nicht immer ist es lustig, das Gegenüber emotionale Kälte spüren zu lassen. Nicht immer ist es lustig, die bürgerliche Etikette am Essenstisch auch noch im 60. Lebensjahr pubertär hinter sich zu lassen. Meg wirkt etwas frischer als Nick, der unbeweglich erscheint und – nicht grundlos, wie man später erfährt – etwas zu sehr auf Sparsamkeit bedacht ist. Kurzum: die Darstellung dieses bestens eingespielten Teams ist so unsentimental, dass sie schon fast wieder sentimental ist, wie es Peter Bradshaw im „Guardian“ auf den Punkt gebracht hat.

Doch gerade, wenn man anfängt, sich zu langweilen, läuft Morgan, ein ehemaliger Studienkollege von Nick, in den Film. Morgan ist von aufdringlicher Freundlichkeit, ein Kosmopolit mit Geschmack, ein Bestseller-Autor und Star der akademischen Welt, ein Pop-Philosoph mit einer sehr attraktiven, viel jüngeren Ehefrau und einem exquisiten Hipster-Bekanntenkreis. In einem schlechten Film würde die Begegnung mit dem erfolgreichen Pendant Nick die Gelegenheit geben, sich selbstmitleidig über die eigene Mittelmäßigkeit klar zu werden. Aber wir sind schon weiter!

Und so wird es viel komplizierter, als sich Morgan öffentlich als Fan von Nick zu erkennen, der ihm viel, ja, fast alles zu verdanken habe. Nick sei es einst gewesen, der Morgan als intellektueller Mentor aufs richtige Gleis setzte. Nick, der manchmal noch die Songs von Nick Drake hört, reagiert auf derlei Avancen komplett unroutiniert – und wird dadurch wieder für Meg interessant, die zuvor heftig mit einem jüngeren Mann geflirtet hatte. Dass Nick darauf wiederum mit kaum unterdrückter Eifersucht reagiert, erstaunt ein wenig, zeigt aber, wie unsicher Nick im Innersten ist.

Man wird im Verlauf des Films das Gefühl nicht los, dass die Beziehung von Meg und Nick ihre Kraft aus der Dynamik zweier Menschen schöpft, die sich eigentlich nicht mögen, aber gelernt haben, trotzdem miteinander zu leben. Fraglich, wohin diese Kraft fließt, wenn Arbeitsleben und Kinderaufzucht erledigt sind. Dass Nick gerade Ärger an der Uni hat, weil er eine farbige Studentin mit den Worten „Wenn Sie so viel Zeit für Ihr Studium aufbringen wie für Ihre Haare, hätten Sie vielleicht eine Chance, Ihrem Milieu zu entkommen.“ provoziert hat, lässt die Zukunft nicht rosarot erscheinen.

The Counselor

(USA / GB 2013, Regie: Ridley Scott)

Die elektrische Garotte
von Harald Steinwender

Eine Drahtschlinge ist das Mittel der Wahl. Einmal um den Hals des Opfers geworfen, springt ein kleiner Elektromotor an und zieht die Schlinge zu. Unaufhaltsam läuft die Mechanik ab, bis …

Eine Drahtschlinge ist das Mittel der Wahl. Einmal um den Hals des Opfers geworfen, springt ein kleiner Elektromotor an und zieht die Schlinge zu. Unaufhaltsam läuft die Mechanik ab, bis innerhalb weniger Minuten – je nach physischer Konstitution des Opfers – die Schlinge zunächst die Halsschlagader durch- und zuletzt den Kopf von Rumpf abtrennt. Wer sich mit mexikanischen Drogenhändlern einlässt und seine neuen Freunde hintergeht, dem kann es passieren, dass ihm diese ebenso perfide wie effektive Mordkonstruktion eines Tages mitten im Trubel einer x-beliebigen westlichen Großstadt um den Hals geworfen wird. Dann ist alles vorbei.

Diese grausame Geschichte erzählt der neureiche Hedonist Reiner (Javier Bardem) seinem Freund, einem US-Anwalt (Michael Fassbender), den alle nur 'Counselor' nennen. Dieser Rechtsbeistand hat scheinbar alles: Geld; Statussymbole; eine schöne Verlobte, die ihn liebt; ein Leben, das lebenswert ist. Und doch lässt er sich auf den Deal mit den Gangstern ein, der zu einer Serie gewalttätiger Ereignisse führt, die, ganz ähnlich wie die Drahtschlinge in Rainers Horrorgeschichte, sich unbarmherzig immer weiter zuzieht und ihm die Luft zum Atmen abschneidet.

Ridley Scotts jüngster Film 'The Counselor' ist reich an solchen pittoresken Geschichten, die in elaboriert-feinziselierten Monologen dargeboten werden und deren grausame Metaphern früher oder später in hochsymbolischen Bildern und ganz konkreten Schreckenstableaus eingelöst werden. Die Frage ist nicht, ob die elektrische Garotte im Laufe des Films zum Einsatz kommt, sondern wann – und wer mit ihr getötet werden wird. In Scotts Film ist, analog zu Cormac McCarthys literarischen Höllenvisionen, die von pragmatischen Menschenfressern, religiösen Fanatikern und emotionslosen Serienmördern bevölkert sind, der Mensch des Menschen Wolf. Die hyperrealistischen Innenräume, von dezent eingesetztem Kunstnebel und sorgfältig gesetzten Lichtbahnen modelliert, stellen den nachgerade surrealen Kontrapunkt zur rohen Grausamkeit der Geschichte dar. Jedes Kleid, jeder Anzug scheint auf den Bildhintergrund abgestimmt, die innerlich leeren Menschen, die in diesen exquisiten Räume leben und sterben, gehen im Dekor auf, sind eher ein Teil der Ausstattung als echte Menschen.

Doch natürlich ist dies das Konzept dieses Films. Ridley Scott kommt wie sein kürzlich gestorbener Bruder Tony aus der Werbebranche und hat zahlreiche Werbeclips inszeniert, bevor er in den 1980er Jahren mit einer Reihe brillant ausgestatteter Spannungsfilme reüssierte. Wie in seinen frühen Filmen zeigt sich Scott mit 'The Counselor' als Ästhet und Formalist, als Arrangeur und Designer hermetisch abgeschlossener Welten. Die Lebensumstände des Counselor erscheinen uns dabei so fremd wie die streng ritualisierte Welt der Duellisten' in Scotts gleichnamigen Debüt von 1977 ('The Duellists'), von Sigourney Weavers Weltraumfahrerin Ripley in dem schwarzen Weltraummärchen Alien' ('Alien – Das unheimliche Wesen aus einer fremden Welt; 1979) oder das Leben des Replikantenjägers Deckard (Harrison Ford) in dem Future-Noir Blade Runner' (1982). Wenn man so will, dann könnte 'The Counselor', dieser von einer gänzlich deterministischen Logik bestimmte Sunshine Noir, auch auf dem Mars spielen, so fremd sind uns die Menschen hier.

Vor und hinter der Kamera versammelt Scott, der auch als Produzent fungiert, viele große Namen. So legt der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Cormac McCarthy, der sich seit den 1960er Jahren als Spezialist für Neo-Western etabliert hat und dessen grimmiger Humor und dezidiert düstere Weltsicht bereits die Adaptionen seiner Romane No Country for Old Men' (2007; R: Joel & Ethan Coen) und The Road' (2009; R: John Hillcoat) infiziert hatten, für 'The Counselor' sein erstes Originaldrehbuch vor. Die Kamera führte der exzellente 'Pirates of the Caribbean'-Kameramann Dariusz Wolski, den Schnitt besorgte der zweifachen Oscar-Gewinner Pietro Scalia ('JFK'; 1992). Die internationale Cast wird angeführt von dem Iren Michael Fassbender, den US-Amerikanern Cameron Diaz und Brad Pitt (hier im weißen Anzug mit Designer-Stetson), den Spaniern Penélope Cruz sowie Javier Bardem (mit sensationell zerzauster Frisur). In Gastauftritten sind unter anderem 'Carlos'-Darsteller Édgar Ramírez, 'Perdita Durango'-Naturgewalt Rosie Perez sowie Bruno 'Der Untergang' Ganz als Diamantenhändler zu sehen.

Und doch ist 'The Counselor' kein Film für das große Publikum, dem er zu langweilig, zu leer, zu nihilistisch und zu grausam erscheinen dürfte. Als starbesetzter Unterhaltungsfilm ist Scotts jüngster Film gescheitert, wenn auch auf eine reizvolle Weise: Die Handlung zerfällt in Einzelszenen, manche davon furios und mitreißend, andere schlicht prätentiös und geschwätzig. Insbesondere Fassbenders Protagonist bleibt ein leeres Zentrum; eine Figur die in die Hölle hinabsteigt und der man dabei fast teilnahmslos zusieht. Drive kommt so nicht auf – für einen Thriller eigentlich unverzeihlich. Obendrein treibt die deutsche Synchronfassung den Dialogen das Gewirr der Dialekte aus. Trotz aller offenkundigen Schwächen, ist 'The Counselor' nach einer Reihe mittelmäßiger Versuche im Mainstream jedoch einer der interessantesten Filme dieses Regisseurs seit langer Zeit. Hilfreich zum Verständnis ist dabei am ehesten eine Einstellung, wie sie François Truffaut im Rückblick auf seine Kritikertätigkeit formulierte, als er schrieb, dass sein 'Vergnügen oft da anfing, wo das meiner Kollegen aufhörte: bei Renoirs Stilbrüchen, bei Orson Welles‘ Exzessen, bei Pagnols oder Guitrys Schlampereien, bei Cocteaus Anachronismen, bei Bressons Nacktheit.' Voller Stilbrüche, Exzesse, Schlampereien und Anachronismen ist auch Scotts Film. Wer bereit ist, sich darauf einzulassen, kann unter der polierten Oberfläche dieses vermeintlichen Ausstattungsfilms in einen tiefen Abgrund blicken – und der starrt zurück.

Diese Kritik ist zuerst erschienen auf: themroc-filmblog

Blau ist eine warme Farbe

(F 2013, Regie: Abdellatif Kechiche)

Die Augen, der Mund
von Wolfgang Nierlin

Als „neugierig und minderjährig“ wird Adèle (Adèle Exarchopoulos) einmal beschrieben. Die 15-jährige Schülerin mit den traurigen Augen und einem lachenden Mund ist in umfassender Bewegung und noch lange nicht festgelegt. …

Als „neugierig und minderjährig“ wird Adèle (Adèle Exarchopoulos) einmal beschrieben. Die 15-jährige Schülerin mit den traurigen Augen und einem lachenden Mund ist in umfassender Bewegung und noch lange nicht festgelegt. Sie macht Erfahrungen, erkundet das weite Feld ihrer Gefühle und offenbart dabei eine ungewöhnliche Empfindsamkeit, aus der ebenso eine große Verletzlichkeit wie auch Stärke spricht. Weil Adèle noch so offen und unsicher ist, wovon ihre Blicke ein faszinierend beredtes Zeugnis geben, strömen die Begegnungen und Ereignisse ungefiltert auf sie ein. Schließlich ist viel los im Leben dieses leicht entflammbaren Mädchens, das aus einem Vorort von Lille stammt, gerne liest und Tagebuch schreibt und einmal Lehrerin werden möchte. Auch in der Liebe ist die schüchtern und zurückhaltend wirkende Adèle noch unerfahren: Die kurze Affäre mit einem Gleichaltrigen beendet sie enttäuscht, und von den nicht ganz ernst gemeinten frivolen Avancen einer Mitschülerin lässt sie sich täuschen. Adèles sexuelle Identität ist noch im Fluss.

Doch dann trifft sie auf offener Straße ein Blick, der vielleicht eine Ewigkeit dauert. Er gehört der etwas älteren, selbstbewussten Kunststudentin Emma (Léa Seydoux) mit den blauen Haaren. Den Auftakt zu dieser großen Liebesgeschichte gestaltet der französische Regisseur Abedellatif Kechiche in seinem preisgekrönten Film „Blau ist eine warme Farbe“ („La vie d’Adèle, chapitres 1 & 2“) als zärtliche, behutsame Annäherung in gedehnten Augenblicken. Im unglaublich ausdrucksstarken Spiel der Blicke spiegeln sich dabei auf sehr natürliche Weise Neugier und Erwartung, Leidenschaft und Begehren. In Naheinstellungen und dynamischen Kamerabewegungen intensiviert Kechiche die darauf folgende Liebesbeziehung der jungen Frauen, die sich bald in hungrigem, lustvollem Sex Bahn bricht, der wiederum eine starke Intimität und ekstatische Entgrenzung vermittelt.

Abdellatif Kechiche spiegelt diese Geschichte in zahlreichen Gesprächen über Literatur, was leicht aufgesetzt wirkt. Das beginnt mit der Treuherzigkeit der Liebenden in Marivaux‘ „La vie de Marianne“, streift das Unausweichliche der Tragödie in der „Antigone“, berührt Sartres Freiheitsbegriff und führt schließlich zum „natürlichen Laster“ bei Ponge. Einfacher und direkter, aber weniger kunstvoll formuliert ein älterer Homosexueller gegenüber Adèle: „Lebe dein Leben!“ Sie ist die emotional Abhängigere, sozial Schwächere in der Beziehung, aber Adèle – in manchem eine Verwandte der von der jungen Sandrine Bonnaire gespielten Suzanne in Maurice Pialats „À nos amour“ – ist auch stofflicher, konkreter und körperlicher als Emma. Ihre Herkunft aus einem sogenannten bildungsfernen Milieu macht sie in der Künstlerclique ihrer Freundin zu einer unausgesprochenen Außenseiterin. Ihre stille Aufopferungsbereitschaft und ihre zunehmend schmerzlichere Isolation erinnern dabei an die Hauptfigur von Claude Gorettas Film „Die Spitzenklöpplerin“ („La dentellière“). „Beide Protagonistinnen sind Gefangene ihrer sozialen Herkunft“, sagt Abdellatif Kechiche über seine Heldinnen. Trotzdem entlässt er vor allem Adèle nicht ohne Mut und Hoffnung aus den ersten beiden Kapiteln dieser Geschichte.

Das Mädchen und der Künstler

(ESP 2012, Regie: Fernando Trueba)

Skulptur der Trauer
von Wolfgang Nierlin

Die Farben der Natur sind schwarzweiß in Fernando Truebas Film „Das Mädchen und der Künstler“ („El artista y la modelo“). Trotzdem bringt ein konstant intensives Sonnenlicht die Bilder zum Leuchten, …

Die Farben der Natur sind schwarzweiß in Fernando Truebas Film „Das Mädchen und der Künstler“ („El artista y la modelo“). Trotzdem bringt ein konstant intensives Sonnenlicht die Bilder zum Leuchten, indem es durch zauberhafte Schatten die Körper und Gegenstände modelliert. Zwischen Helle und Dunkel, Jugend und Alter, Lebenslust und Vergänglichkeit changiert dieses ausnehmend schöne filmische Poem von Anfang an. Während der alte, lebensmüde Maler Marc Cros (Jean Rochefort) auf seinem Morgenspaziergang einen verwitterten Astknochen, ein leeres Nest und einen skelettierten Vogelschnabel als Zeichen der Vergänglichkeit betrachtet, pulsiert unweit auf dem Marktplatz eines kleinen südfranzösischen Städtchens das Leben. Menschen flanieren, erledigen Einkäufe oder sie entspannen sich auf der Terrasse des Café de la paix, von wo aus sie das Treiben beobachten, während der Glockenschlag der nahen Kirchturmuhr das Verrinnen der Zeit signalisiert. Doch die Idylle trügt, wie eine Naheinstellung auf die Beine der Vorübergehenden zeigt, unter die sich Soldatenstiefel von Uniformierten mischen.

Einerseits hält sich der Krieg in diesem Film und an diesem Ort am Rande der Pyrenäen im Hintergrund; andererseits sind im Sommer des Jahres 1943 seine Drohungen dezent gegenwärtig. Eine junge, verwahrloste Streunerin (Aida Folch) mit zerkratzten Beinen schläft auf einer Treppe im Freien, bevor sie sich an einem Brunnen wäscht. Später erfahren wir, dass sie aus Katalonien stammt, Mercè heißt und aus einem Lager abgehauen ist. Noch später gibt sie sich als Widerstandskämpferin zu erkennen, die als Bergführerin Flüchtlinge über die nahe Grenz schmuggelt. Doch das alles weiß die Marktgängerin Léa (Claudia Cardinale) noch nicht, als sie das schöne, anmutige Mädchen vom Fleck weg als Modell für ihren als Maler und Bildhauer arbeitenden Mann engagiert, der sich seit Jahren in einer Schaffenskrise befindet. Kurz darauf nimmt Mercè Logis in dem faszinierenden Atelier-Häuschen des Künstlers, das abgeschieden auf einer Anhöhe liegt.

Das titelgebende Verhältnis des Malers zu seinem Modell wurde als Sujet in den letzten Jahren im Kino vielfach aufgegriffen. Wechselnde Facetten finden sich etwa in Jacques Rivettes „Die schöne Querulantin“, Peter Webbers „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ oder jüngst in Gilles Bourdos‘ „Renoir“. Wie letztgenannter Film beschäftigt sich auch Truebas Hommage an den Triumph der Schönheit mit dem schmerzlichen Nachdenken über das Verhältnis von Alter und Jugend, Leben und Tod. Doch die Blicke und Gefühle, die, vermittelt durch die beiden Protagonisten, zwischen diesen Polen liegen, hüllt der Regisseur schamvoll zurückhaltend in ein spannungsvolles Schweigen, in dem wiederum auf ganz eigene Weise Liebe, Erotik und Sinnlichkeit miteinander verschmelzen.

Im Motiv des Künstlers als Lehrer reflektiert Fernando Trueba darüber hinaus eine Theorie der Kunst, die der realistischen Darstellung verpflichtet ist. Es gehe darum, sagt Marc Cros einmal, indem er Paul Cézanne zitiert, „den Rat der Natur“ einzuholen, um einen Moment aus dem vielgestaltigen Kontinuum der Natur und ihren wechselnden Formen herauszulösen. Dass dabei die Frau als unmittelbare Erscheinung der göttlichen Schöpfung im Mittelpunkt seiner Arbeit stehe, gehört zu den ebenso amüsanten wie erhellenden Spitzfindigkeiten des Portraitierten. Dass seine langwierige Suche nach dem notwendig wahren Moment in der Kunst schließlich in einer Skulptur der Trauer über die (eigene) Endlichkeit kulminiert, macht diesen subtilen Film am Ende ebenso tragisch wie tröstlich.

Machete Kills

(USA / RU 2013, Regie: Robert Rodriguez)

Faster, Machete! Kill! Kill!
von Harald Steinwender

Da ist sie also, Robert Rodriguez‘ Fortsetzung der Trash-Extravaganz Machete' von 2010. 'Trained to kill. Left for dead. Back for more', verspricht die tag line. Der Plot ist so abstrus, …

Da ist sie also, Robert Rodriguez‘ Fortsetzung der Trash-Extravaganz Machete' von 2010. 'Trained to kill. Left for dead. Back for more', verspricht die tag line. Der Plot ist so abstrus, wie es zu erwarten war: Nach einem missglückten Einsatz gegen mexikanische Waffenhändler, bei dem seine Partnerin (Jessica Alba) getötet wurde, wird der Ex-Federale 'Machete' Cortez (Danny Trejo) von US-Präsident Rathcock (Charlie Sheen) damit beauftragt, den Waffenhändler Mendez (Demián Bichir) auszuschalten. Im Gegenzug soll er die US-Staatsbürgerschaft erhalten. In Mexiko bekommt es Machete zusätzlich mit einem kapriziösen Auftragsmörder und dem wahnsinnigen Unternehmer Luther Voz (Mel Gibson) zu tun, der mit einer Atombombe Washington vernichten und im Anschluss im Weltraum mit einer Armee aus geklonten Supersoldaten eine neue Gesellschaft errichten will.

Die Hauptrolle des wortkargen Messerkämpfers übernimmt wie schon im ersten Teil der vor allem als Nebendarsteller bekannt gewordene, mittlerweile 69-jährige Schauspieler Danny Trejo – ein Mann wie eine Bulldogge, mit pockennarbigem Gesicht, das von einem Walrossschnurrbart verunstaltet ist und der ein natürliches Missverhältnis zu Mode zu besitzen scheint: An ihm sieht jedes Kleidungsstück unpassend aus; Hosen prinzipiell sackartig, Jacken unförmig. Wie in dem comichaften Vorgängerfilm zelebriert Rodriguez in 'Machete Kills' lustvoll die Klischees, die Mexikaner und US-Amerikaner über ihren jeweiligen Grenznachbarn hegen und attackiert polemisch die Anti-Einwanderungskampagnen US-amerikanischer Reaktionäre. Auch diesmal geht das Schauspiel nicht ohne ausgewalzte – und weitgehend computergenerierte – Gewaltszenen über die Bühne, bei denen ganze Armeen von gesichtslosen Gegnern niedergemacht und schon mal von einer Schiffsschraube oder den Rotorblättern eines Helikopters in blutigen Brei verwandelt werden. Die FSK hat dieses absurde Theater der Grausamkeiten erfreulicherweise ungekürzt ab 16 freigegeben, was wohl darin begründet ist, dass kaum ein Zuschauer 'Machete Kills' auch nur ansatzweise ernst nehmen dürfte.

Tatsächlich ist die Handlung für Rodriguez, der nicht nur als Regisseur, sondern auch als Kameramann und Produzent, Co-Cutter, Co-Ideengeber und Co-Komponist fungiert, bestenfalls zweitrangig. Der Plot von 'Machete Kills' bedient sich mit lässiger Nonchalance und Mut zum Irrwitz am Trash-Kino der letzten 50 Jahre, vereint Versatzstücke von billigen 'James Bond'-Kopien über italienische 'Krieg der Sterne'-Rip-offs bis hin zur B- und C-Action-Ware der Videothekenära. Im letzten Akt entwickelt sich 'Machete Kills' dann zu einer herzlich albernen Parodie auf 'Moonraker' ('James Bond 007: Moonraker – Streng geheim'; 1979), bei der sich Laserschwerter (und eine Laser-Machete) in das Arsenal der grotesken Waffen einreihen. Zuvor kommen unter anderem ein MG-BH und eine Art 'Schweizer' Machete zum Einsatz, in der zahlreiche zusätzliche Messer untergebracht sind.

Wie im Vorgängerfilm macht sich Rodriguez nicht die Mühe, aus der weitgehend logikfreien Abfolge burlesker Kabinettstücke einen kohärenten Film zusammenzuleimen. Es sind vor allem die zahlreichen Gastauftritte, die zum Unterhaltungswert der Nummernrevue beitragen, etwa Antonio Banderas, Lady Gaga und Cuba Gooding Jr., die gemeinsam den Auftragskiller 'El Cameleón' in seinen zahlreichen Verkleidungen verkörpern. Der mexikanische Charakterschauspieler Demián Bichir modelliert seinen schizophrenen Waffenhändler nach den Operettendiktatoren der Italowestern der 1960er Jahre und Charlie Sheen, der unter seinem bürgerlichen Namen Carlos Estévez auftritt, legt den US-Präsidenten als angemessen hemdsärmelig-versoffene Karikatur an. Der eigentliche Besetzungscoup des Films ist jedoch Mel Gibson, der als Superschurke mit religiösen Apokalypse-Visionen sein ramponiertes öffentliches Image erstaunlich selbstironisch parodiert und spätestens seit 'Get the Gringo' (2012) in den Postmoderne-Modus geschaltet hat.

Solche Einzelleistungen machen Rodriguez‘ grotesken Gewaltcomicstrip gewiss nicht zu großer Kunst. Wer aber beim ersten 'Machete'-Film seinen Spaß im Kino hatte, wird auch diesmal auf seine Kosten kommen. Alle anderen schütteln vermutlich nur den Kopf. Die zweite Fortsetzung hat Rodriguez auch gleich angekündigt: 'Machete Kills … in Space!'

Das Geheimnis der Bäume

(F 2013, Regie: Luc Jacquet)

Wurzeln der Weisheit
von Wolfgang Nierlin

Inmitten eines Waldes, umgeben von einer vielstimmigen Geräuschkulisse steht seelenruhig ein älterer Mann und malt Bäume, Äste, Zweige und Blätter in sein Skizzenbuch. „Mein Name ist Francis Hallé. Ich habe …

Inmitten eines Waldes, umgeben von einer vielstimmigen Geräuschkulisse steht seelenruhig ein älterer Mann und malt Bäume, Äste, Zweige und Blätter in sein Skizzenbuch. „Mein Name ist Francis Hallé. Ich habe mein Leben in Wäldern verbracht und die Bäume dabei beobachtet, wie sie entstehen, wachsen und sterben“, sagt der 1938 geborene französische Botaniker aus dem Off. Kurz darauf sitzt der Naturforscher in der gewaltigen Krone eines jener von ihm so bewunderten Baumriesen und räsoniert über deren durch Menschenhand verursachtes Verschwinden innerhalb der letzten fünfzig Jahre. Während sich die Kamera in einer geschmeidigen Plansequenz entlang des siebzig Meter hohen Stammes eines Moabi-Baums tastet, dabei die jahrhundertealten, von vielen Pflanzen und Tieren bevölkerten „Stockwerke“ durchmisst und schließlich aus der Vogelperspektive auf die grüne Lunge unseres Planeten blickt, mischt sich ein Gefühl der Ohnmacht und Trauer in Hallés betont subjektive, poetische Rede. Wie kann die fortschreitende, möglicherweise irreversible Zerstörung der tropischen Regenwälder gestoppt werden?

„Il était une forêt“ heißt Luc Jacquets Film „Das Geheimnis der Bäume“ in der französischen Originalversion. Und mit diesem den Anfang von Märchen zitierenden Titel „Es war einmal ein Wald“ verbindet Francis Hallé eine doppeldeutige Intention: Zum Einen erzählt er, dem Bewahren verpflichtet, eine faszinierende „Geschichte der Bäume“ und damit der Evolution des Lebens; zum Anderen erinnert er uns Menschen an unsere Herkunft aus dem Wald. Sein Plädoyer gegen „das Verschwinden dieser Welt“ und der in ihr waltenden „Kraft des Lebens“ bildet den Rahmen des Films. Weil die großen Bäume des Urwalds über viele Jahrhunderte wachsen und über tausend Jahre alt werden können, gegenwärtig aber in einem Bruchteil dieser Zeit zerstört werden, handelt der Film vor allem von einem eklatanten, lebensbedrohenden Missverhältnis. Gerade dafür möchte Luc Jacquets Film das Bewusstsein wecken und sensibilisieren. „Bäume verkörpern die Zeit“, sagt Francis Hallé. Als „Universum in sich“ beherberge ein Baum kleinste Welten und verkette diese ins Unendliche.

Dass diese außergewöhnliche Lebendigkeit der Bäume im Zustand der Bewegungslosigkeit vonstatten geht und dass sich dabei die Fortpflanzung und das Wachsen in einem ebenso regen wie passiven „kommunikativen“ Austausch mit anderen Lebewesen vollzieht, gehört zu den bis in letzte Detail undurchschaubaren Geheimnissen, von denen der deutsche Verleihtitel des Films spricht. Trotzdem kann Hallés immer wieder in Erstaunen versetzende Erzählung einer möglichen Wiedergeburt des Waldes, die vor allem Zeit braucht, einige davon lüften. Indem er uns anhand des Baumwachstums erzählt, wie sich das Leben in permanenten Austauschprozessen mit der Umwelt, in wechselseitigen Abhängigkeiten zu ihr und in vernetzten Kreisläufen selbst erneuert und dabei von den Pionierpflanzen bis zum Sekundärwald verschiedene Stadien durchläuft, entsteht ein Gefühl für die zeitliche Dimension im Werden des Urwalds. Daneben vermittelt der Film in vielen Großaufnahmen und Detailansichten, in Zeitlupe oder auch Zeitraffer die Vielfalt und Schönheit der Pflanzen, die als hängende Gärten in den Baumkronen gedeihen. In Betrachtung dieser Wunderwelt könnte der Mensch, so Francis Hallé, etwas über sich selbst lernen: „Sehen wir uns die Bäume an. In ihrer unbeweglichen Ruhe liegen die Wurzeln unserer Herkunft und unserer Weisheit.“

12 Years a Slave

(USA 2013, Regie: Steve McQueen)

Hunger, Shame, Despair
von Harald Steinwender

Das Angebot klingt verlockend: Zwei Schausteller laden den New Yorker Familienvater Solomon Northup (Chiwetel Ejiofor) ein, ihre Zirkustruppe für gutes Geld zu begleiten. Der frei geborene Zimmermann und Violinist afroamerikanischer …

Das Angebot klingt verlockend: Zwei Schausteller laden den New Yorker Familienvater Solomon Northup (Chiwetel Ejiofor) ein, ihre Zirkustruppe für gutes Geld zu begleiten. Der frei geborene Zimmermann und Violinist afroamerikanischer Abstammung nimmt an. Doch statt am Ende der Tour seinen Lohn zu erhalten, erwacht Northup in Ketten in einem dreckigen Kellerloch. Alle Versuche, gegen seine Entführung und den Verkauf in die Sklaverei aufzubegehren, werden mit brutaler Gewalt niedergeschlagen. Nach Louisiana verschleppt, wird er zunächst an den Plantagenbesitzer William Ford (Benedict Cumberbatch) verkauft. Als dieser ihn nach zwei Jahren an den neurotischen Baumwollfarmer Edwin Epps (Michael Fassbender) veräußert, beginnt für Northup ein grausames Martyrium.

Die 1853 veröffentlichte Autobiografie Solomon Northups, der 1841 in Washington D.C. entführt und in die Sklaverei verkauft wurde, war Mitte des 19. Jahrhunderts ein Bestseller in den USA. Bis heute gilt Northups Augenzeugenbericht als eine bedeutende historische Quelle über das Sklaverei-System, das (nicht nur) in Südstaaten wie Louisiana bis zum Ende des Sezessionskrieges 1865 in Kraft war. Der britische Videokünstler und Regisseur Steve McQueen, der mit dem Gefängnisfilm Hunger' (2008) und dem Melodram Shame' (2011) bereits zwei Studien über Menschen vorgelegt hat, die an sich oder ihrer Umwelt zugrunde gehen, hat sich nun dieses Stoffes angenommen und ihn fürs Kino adaptiert.

'12 Years a Slave' kommt fast exakt ein Jahr nach dem Start von Steven Spielbergs Lincoln' und Quentin Tarantinos Django Unchained' in die deutschen Kinos. In beiden Filmen hatten sich prominente Regisseure bereits dem Thema der historischen Sklaverei gewidmet: In Spielbergs Film als eher abstrakte Meditation über den Gegensatz von Pragmatismus und Idealismus in der Politik; bei Tarantino als comichaft überzeichnete und blutig-wilde Befreiungsfantasie. McQueen, der sich in seinen bisherigen Filmen stets für das ganz konkrete (Er-)Leiden seiner Protagonisten interessiert hat, wählt für seinen Film einen intimeren Ansatz: Zwar inszeniert auch er die großen Panoramen, in denen die historischen Ausbeutungsverhältnisse mitunter zu symbolisch aufgeladenen Bildergleichnissen verdichtet werden. Wenn der unglückselige Northup etwa, den Körper in Ketten gelegt, mit seinen Leidensgenossen in den Süden verschifft wird, dann zeigt McQueen dies als Sturz in eine unbarmherzige Unterdrückungsmaschinerie und lässt das Schaufelrad des Dampfers das Wasser geradezu zerhacken und zermalmen. Immer wieder erfasst die Kamera in extremen Aufsichten die zur Sklavenarbeit Verdammten und nimmt dabei doch nicht den Blick eines Gottes ein – der hätte diese Welt längst verlassen, wenn es ihn gäbe. Ähnlich wie die langen Plansequenzen, die McQueen bevorzugt, sind diese Einstellungen in einem Film, in dem vor allem Großaufnahmen und gedämpfte Farben dominieren, Versinnbildlichung eines absoluten Ausgeliefertseins. Lediglich einmal gesteht der Regisseur dem Publikum das utopische Bild einer alternativen Gemeinschaft der Freien in diesem sehr düsteren Film zu, wenn die Sklaven mitten in den Sümpfen auf Native Americans treffen und schweigend eine Mahlzeit teilen.

Im Wesentlichen folgt McQueen – kongenial unterstützt von Kameramann Sean Bobbitt und Cutter Joe Walker – dem von Chiwetel Ejiofor gespielten Protagonisten auf seinem Weg durch die Hölle. Abschweifungen erlaubt sich '12 Years a Slave' dabei nicht. Solomon Northup erlebt an Körper und Psyche ganz konkret, was das System der Sklaverei mit seinen Opfern anrichtet – und mit ihm das Kinopublikum. Ejiofors Protagonist verliert nicht nur seine Freiheit und seine Familie; ihm werden Name und Geschichte genommen; mit Peitsche und Strick schneiden die Herren ihrem 'Besitz' ihre Verfügungsgewalt in den Körper ein. Bei den Gewaltszenen hält McQueen voll drauf, vermeidet bis auf einige wirklich unangenehme Momente jedoch die Splatter-Effekte, die in Tarantinos 'Django Unchained' noch eine große Gaudi waren. Religion zeigt der Regisseur sehr deutlich – ebenso wie die kleinen Belohnungen der Herren – als Machtinstrument. Die Klarheit, mit der McQueens Film diese Machtverhältnisse herausarbeitet, wie er, trotz aller expliziten Gewalt, nie in eine exploitative Zurschaustellung verfällt, ist bemerkenswert. Und trotz kleinerer Details, die dem Film in den USA vereinzelt als wenig plausibel angekreidet wurden, liefert '12 Years a Slave' einen durchaus akkuraten Abriss der historischen Begebenheiten, wie zum Beispiel ein Blick in das Standardwerk 'Eine Geschichte des amerikanischen Volkes' des kürzlich verstorbenen Historiker Howard Zinn bestätigt (die empfehlenswerte deutsche Gesamtausgabe ist im Verlag Schwarzerfreitag erschienen).

Ein Missverständnis ist jedoch die vermeintlich pädagogische Ausrichtung von '12 Years a Slave', die etwa in der aktuellen Ausgabe der 'Konkret' McQueens Film vorgeworfen wird. Zum Einen bleibt sich der Regisseur auch mit diesem Film treu und inszeniert schmerzhaft intensives Schauspielerkino, in dem neben Chiwetel Ejiofor Michael Fassbender eine atemberaubende Leistung als bigott-bösartiger Rassist abliefert. Zum Anderen ist '12 Years a Slave' vor allem eine Threnodie, ein mitreißender Klagegesang über einen Mann, der sich weigert, wider besseren Wissens die Hoffnung aufzugeben ('I will not fall in despair'), und über ein Verbrechen, das bis heute seine Spuren in amerikanischen Biografien und Familiengeschichten hinterlassen hat.

In diesem Sinn hat McQueen kein Interesse daran, die Gründe für die historische Sklaverei oder ihre Abolition zu referieren; es geht ihm vielmehr darum, so unmittelbar wie im postklassischen Hollywoodkino möglich in diese Situation einzutauchen. Immer wieder überlagern sich in '12 Years a Slave' dazu Sequenzen. Geräusche werden von einer Szene in die nächste hinübergezogen, die Bilder durch den Einsatz von Teleobjektiven radikal in die Tiefe begrenzt (manchmal sieht man nicht einmal weiter als die Länge eines Grashalms). So gerät der Film – wie schon 'Hunger' und 'Shame' – zur filmischen Veräußerlichung eines psychischen und physischen Leidenszustands.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Nebraska

(USA 2013, Regie: Alexander Payne)

On The Road Again
von Harald Steinwender

Eine Million US-Dollar hat Woody Grant (Bruce Dern) im Lotto gewonnen. Auf die Idee, dass dies nur ein Marketing-Gag sein könnte – immerhin hat er nicht einmal einen Wettschein ausgefüllt …

Eine Million US-Dollar hat Woody Grant (Bruce Dern) im Lotto gewonnen. Auf die Idee, dass dies nur ein Marketing-Gag sein könnte – immerhin hat er nicht einmal einen Wettschein ausgefüllt –, kommt der alkoholkranke und zunehmend verwirrte Rentner nicht. Und so beschließt er mangels Führerschein, den 600-Meilen-Weg von Montana nach Nebraska zu Fuß zu absolvieren. Als ein Streifenpolizist ihn auf dem Standstreifen aufliest, hat einer seiner erwachsenen Söhne ein Einsehen. Zwar hat David (Will Forte) selbst genug Probleme, aber wie könnte er nicht mit seinem alternden Vater einen Wochenendausflug nach Nebraska unternehmen, wenn dies dessen größter – und vielleicht auch letzter – Wunsch ist?

Mit 'Nebraska' inszeniert der zweifache Oscar-Gewinner Alexander Payne (2011 für The Descendants' und 2004 für Sideways') ein melancholisches, oft auch sarkastisches Roadmovie, das Kameramann Phedon Papamichael in wunderbar kontrastreichem Schwarzweiß und überbreitem Scope-Format auf die Leinwand zaubert. So verschroben und liebenswürdig viele der Protagonisten von 'Nebraska' sind, breitet Payne, der übrigens selbst aus dem US-Bundesstaat im Mittelwesten stammt, jedoch keine klebrig-versöhnliche Idylle aus. Was zunächst an den lakonisch-verschrobenen Charme des jungen Jim Jarmusch und David Lynchs meditativ-poetisches Roadmovie The Straight Story' (1999) erinnert, verlässt bald allzu versöhnliche Bahnen und konzentriert sich darauf, in pointierten Einzelepisoden ein bitterböses Porträt der US-amerikanischen Provinz zu entwerfen, deren Bewohner nicht selten von Neid, Missgunst und Doppelmoral angetrieben werden.

So führt die Reise des ungleichen Vater-Sohn-Gespanns, zu dem sich bald auch Mutter Kate (ganz, ganz großartig: June Squibb) und Bruder Ross (Bob Odenkirk) gesellen, zurück in die eigene Familiengeschichte und zu immer neuen Prüfungen des von seinen Eltern entfremdeten, allerdings auch reichlich phlegmatischen Sohnes. Beim Besuch von Woodys tumber Verwandtschaft im Geburtsort der Eltern wird der duldsame David, der bereits auf der Hinfahrt auf Zuggleisen Woodys verlorengegangenes Gebiss suchen musste, zu seinem Leidwesen mit intimen sexuellen Details über seine Eltern konfrontiert. Bald muss er außerdem Verwandte wie Jugendfreunde gleichermaßen von seinem Vater fernhalten. Denn nachdem Woody beiläufig erklärt hat, Millionär zu sein, erinnert sich fast jeder im Ort an angebliche Schulden, für deren Begleichung nun der ideale Zeitpunkt gekommen scheint. Die bucklige Verwandtschaft und eine von Stacy Keach angeführte Rentnergang schrecken dabei nicht einmal vor Erpressung, Raub und physischer Gewaltanwendung zurück.

So unterhaltsam die episodische Handlung ist, ohne Hauptdarsteller Bruce Dern wäre Paynes Film undenkbar. Der mittlerweile 77-jährige Schauspieler hatte seine Karriere in den 1960er Jahren mit Nebenrollen in Fernsehserien, Horrorfilmen und Bikerfilmen wie Roger Cormans The Wild Angels' ('Die wilden Engel'; 1966) begonnen, bevor er in den 70er Jahren zu einem der Gesichter des rebellischen New-Hollywood-Kinos wurde. Zu Derns ikonischen Rollen dieser Jahre zählt der moderne Noah, der sich in Douglas Trumbulls Science-Fiction-Dystopie Silent Running' ('Lautlos im Weltraum'; 1972) der Bewahrung der ökologischen Überbleibsel der Erde verschreibt; der verbitterte Vietnamveteran, der in Hal Ashbys Kriegsdrama 'Coming Home' (1978) zu dem 68er-Soul-Hit 'Time Has Come Today' von den Chambers Brothers in den Freitod geht; und der langhaarige Outlaw, dem es in Mark Rydells melancholischem Spätwestern 'The Cowboys' ('Die Cowboys'; 1972) tatsächlich gelingt, John Wayne auf der Leinwand zu erschießen. Ein Star wurde Dern in seiner mehr als 50-jährigen Karriere jedoch nie, auch wenn er in fast 100 Kinofilmen auftrat. Nun, am Ende seiner Karriere, findet er in 'Nebraska' seine große Altersrolle. Als stoischer-bockiger Rentner spielt er noch einmal groß auf, modelliert seine Figur mit kleinen Gesten und zurückgenommener Mimik, die zugleich die ganze Widersprüchlichkeit dieses zwischen Starrsinn, Verweigerung und Verwirrung, Renitenz und Impertinenz, Ruppigkeit und Verletzlichkeit pendelnden Mannes ausdrückt. Allein schon seine Leistung, auf dem Filmfestival in Cannes 2013 mit dem Schauspielerpreis ausgezeichnet, lohnt den Kinobesuch und sorgt dafür, dass auch der härteste Zyniker an dem verhaltenen Happy End, welches das Drehbuch Derns Figur am Ende zugesteht, kaum herumnörgeln kann. Dass er für eine Hauptrolle in Tarantinos kürzlich angekündigtem Söldner-Western 'The Hateful Eight' im Gespräch ist, freut da umso mehr.

The Wolf of Wall Street

(USA 2013, Regie: Martin Scorsese)

White Punks on Dope
von Ulrich Kriest

Basierend, klar, auf einer wahren Geschichte, aber, na ja, erzählt aus der schillernden Ich-Perspektive eines egomanen Drug-Addict, der sich bei seinen etwas einseitig dargestellten Âventiuren beständig selbst auf die Schulter …

Basierend, klar, auf einer wahren Geschichte, aber, na ja, erzählt aus der schillernden Ich-Perspektive eines egomanen Drug-Addict, der sich bei seinen etwas einseitig dargestellten Âventiuren beständig selbst auf die Schulter klopft. „Bonfire of Vanities“ lautete dafür schon einmal, Mitte der 1980er Jahre, ein treffender, aber (noch) moralisierender Slogan. Eitelkeiten, okay, aber immerhin noch nicht ohne Fegefeuer. Mit großen Ohren sitzt der junge Broker Jordan Belfort eines Mittags seinem Mentor Mark Hanna gegenüber, unter ihm die Stadt, in der er es zu etwas bringen möchte.

Hanna weiht ihn in die Ethik der Börse ein, die darum kreist, das virtuell gewordene Geld der Kunden nach Möglichkeit ganz prosaisch in die eigenen Taschen umzuleiten und deren Schmiermittel eine gesunde Mischung aus Koks, Sex und Onanie seien. Belforts Karriere an der Wall Street ist dann allerdings so schnell vorbei, wie sie begonnen hat, aber der wichsende Charismatiker gibt nach dem schmerzhaften „Black Monday“ 1987 das Stehauf-Alpha-Männchen, indem er sich vor den Toren der Stadt mit seiner Professionalität auf den schäbigen Penny Stock-Markt begibt, wo die Dividenden hoch und die Regularien verschwindend sind.

Gemeinsam mit einer Handvoll verschworener Mit-Wichser gründet er „Stratton Oakmont“ und erlebt einen rasanten Aufstieg an der Börse, der ihn selbst wohl sprachlos machen würde, könnte er sich nur genau daran erinnern. Die frühe Begegnung zwischen Belfort und Hanna gibt den Tonfall vor, den Martin Scorsese für seinen neuen Film gewählt hat: er versieht den Share-Holder-Kapitalismus mit der Fratze des Grotesken und Furios-Absurden und verzichtet für den geilen Flow der Geschichte auf die wohlfeile Absicherung durch »die Moral von der Geschicht‘«. Gier und Geilheit schreiben sich in die Gesichter der Protagonisten ein, deren Rap unmissverständlich triebhaft und vulgär ist. Im Netz kursierte vor ein paar Tagen ein Mash-up von „The Wolf of Wall Street“, der die 552 „Fucks“ auf der Tonspur dieser Dirty-Screwball-Comedy dokumentierte, die Scorseses Film komplett ins neureiche Macho-Absurde katapultieren.

Wir erinnern uns sehr gut an das Finale von „Casino“, dem Scorsese-Film, der als Prequel zu „The Wolf of Wall Street“ fungieren könnte. Dort enden „the good old days“ damit, dass die alten Casinos gesprengt werden und die Konzerne auf den Trümmern ein „Disneyland Vegas“ errichten. Zu den Klängen der „Matthäus Passion“ sehen wir Menschen in billiger Freizeitkleidung die Eingänge stürmen: „Nachdem sie die Teamster ausgebootet hatten, rissen die Konzerne fast alle alten Casinos ab. Und woher kam das Geld für den Neubau der Pyramiden? Aus krummen Börsengeschäften!“, klagt Robert DeNiro traurig knurrend aus dem Off.

Derlei zu Kulturkritik neigende Nostalgie sucht man in „The Wolf of Wall Street“ nunmehr vergebens, denn der neue Film präsentiert wenig mehr als eine Folge von Exzessen – bis zu einem Punkt, an dem diese dann doch zu langweilen beginnen. Oder auf den Magen schlagen. Was damit zu tun haben könnte, dass die Figuren so unsympathisch, flach und eindimensional sind. Was damit zu tun haben könnte, dass Belfort ein vergleichbar charismatischer Gegenspieler fehlt.

Zwar setzt sich irgendwann einmal ein blasser, aber unbestechlicher FBI-Mann auf Belforts Fährte und beginnt mit großer Unnachgiebigkeit eine Schlinge zu knüpfen, aber selbst wenn dieser Film auf abstrakter Ebene noch immer von »Aufstieg und Fall« handelt, so ist der Aufstieg steil, während der Fall doch eher sehr sanft abgefedert erscheint. Wenn dieser FBI-Mann irgendwann nach getaner Arbeit völlig unglamourös mit der U-Bahn nach Hause fährt, erkennt man etwas überrascht, dass neben der Belfort-Welt noch eine andere Welt existiert: die »normale« Welt. „Aber wer will schon in der normalen Welt leben?“, hatte Belfort zuvor einmal gehöhnt, als es um verallgemeinerbare Wertmaßstäbe ging.

Erstaunlicherweise wurde Scorseses Film in den USA Indifferenz gegenüber dem, was er zeige, vorgeworfen, so, als müsse man dem Zuschauer, der dem Geschehen fassungslos zuschaut, der Zeuge wird, wie Belfort und sein bester Kumpel Donny von der Wirkung vermeintlich wirkungsloser Drogen zu grunzenden Comic-Figuren gemacht werden, deren Realitätsverlust mehr als nur schmerzhaft ist, auch noch erklären, was er durchlitten hat.

Nach drei Stunden audio-visuellen Dauerfeuers verlässt man erschöpft den Kinosaal, unsicher, ob man was von Bedeutung gesehen hat, aber gleichzeitig schwärmend von den wahrlich rückhaltlosen Darstellerleistungen von Leonardo DiCaprio, Jonah Hill, Matthew McConaughey oder Jean Dujardin, von der fließenden, stets sensationsgeilen Kamera Rodrigo Prietos, vom Drive der Montage, von der Sprache, vom Soundtrack. So viel große Kunst für nichts und Kunstgewerbe verbrennen – ist das zynisch? Abgefuckt? Oder subversiv? Ist das überhaupt noch von Interesse?

Die Frau, die sich traut

(D 2013, Regie: Marc Rensing)

Krankheit als Chance zur Selbstoptimierung
von Ulrich Kriest

„Du hast keine Chance, aber nutze sie!“, hat einst Herbert Achternbusch schlitzohrig seinen „Atlantikschwimmern“ mit auf den Weg gegeben. Solch einfache Wahrheiten sind längst aus der Mode, heutzutage muss sogar …

„Du hast keine Chance, aber nutze sie!“, hat einst Herbert Achternbusch schlitzohrig seinen „Atlantikschwimmern“ mit auf den Weg gegeben. Solch einfache Wahrheiten sind längst aus der Mode, heutzutage muss sogar das Schicksal Mehrwert hecken.

Wer zählte sie noch, die ganzen blaubeerblauen Feel-Good-Fernsehfilme der letzten Jahre, in denen die Begegnung mit Sterbenden den Überlebenden einen ultimativen Kick verpasste, um zu sagen: Du musst dein Leben ändern! Oder aber – Obacht, Variation des Gehabten! – den tödlich Erkrankten selbst Selbiges signalisiert. So wie hier der fünfzigjährigen Beate, die einst in der DDR eine höchst erfolgreiche Leistungsschwimmerin war, aber ihre von Doping befeuerte Karriere beendete, als sie schwanger wurde.

Schade, sie hätte 1980 in Moskau vielleicht eine Goldmedaille gewonnen! Damals und seither eigentlich immer agierte Beate im Zweifelfall altruistisch und deshalb reagiert man im „Hotel Mama“ auch schwer irritiert, als Mama plötzlich die Solidarität mit ihrer Familie aufkündigt. Während die Kinder noch hadern, weiß der Zuschauer: Hier will noch einmal jemand seinen Traum leben!

Wenn man schon mal Krebs hat, kann man auch mal den Ärmelkanal durchschwimmen, oder? Mal so als Idee reingereicht. Regisseur Marc Rensing („Parkour“) täuscht dank Hauptdarstellerin Steffi Kühnert mal kurz „Andreas Dresen“ an, bevor er dann doch lieber in Richtung „Bernd Böhlich“ segelt. Kleine Leute aus dem Osten, „warmherzig“ in Szene gesetzt. Wenn Kritiker das Wort „warmherzig“ in den Mund nehmen, ist stets Vorsicht geboten: hier wird – aus welchen Gründen auch immer – Scheiße für Gold verkauft! Mit Steffi Kühnert als Schutzschild, die man aufgrund ihrer Leistung nicht schmähen möchte. Aber zynisch ist das Ganze schon! Und billig!

Auf dem Weg zur Schule

(F 2013, Regie: Pascal Plisson)

Fremdländische Akzente
von Wolfgang Nierlin

„Wie leicht vergessen wir, was für ein Glück es ist, in die Schule zu gehen“, lautet die eingangs formulierte, ziemlich plakative Botschaft von Pascal Plissons Film „Auf dem Weg zur …

„Wie leicht vergessen wir, was für ein Glück es ist, in die Schule zu gehen“, lautet die eingangs formulierte, ziemlich plakative Botschaft von Pascal Plissons Film „Auf dem Weg zur Schule“ („Sur le chemin de l’école“). Dass der Zugang zu Wissen und Bildung nicht überall auf der Welt selbstverständlich ist, dürfte allgemein bekannt sein. Plissons teilweise einfältiges Plädoyer für den Schulbesuch unterstellt aber auch, dass sich durch Bildung Wohlstand und Lebensglück mehren oder sich zumindest das Leben besser verstehen lässt. Die portraitierten Kinder seines Films träumen jedenfalls davon, einmal Arzt, Lehrer oder Pilot zu werden und scheuen dafür nicht die beträchtlichen Mühen strapaziöser Schulwege. Auch wenn es dafür keine einfache oder direkte Vergleichsebene gibt, soll damit dem verwöhnten Wohlstandsschulkind signalisiert werden, sein konstantes Lamentieren einmal hintanzustellen. Zumal uns dabei Kindergesichter ansehen, die vor Glück nur so strahlen. Man kann sich also schon auch fragen, warum das kleine Glück eines einfachen, bescheidenen Lebens gegen das angeblich große Glück der Wohlstandhemisphäre eingetauscht werden sollte.

Zumal der mit Tier- und Naturdokumentationen bekannt gewordene Pascal Plisson seinerseits wiederum keine Mühen scheut, um die Schönheit der sich in Licht und Weite erstreckenden Landschaften in ebenso schönen Bildern einzufangen. Kurze Streiflichter auf die jeweils archaisch und religiös geprägte Alltagskultur beschwören überdies traditionelle Werte, die andererseits durch das schmale Hauptsujet des Films in Frage gestellt werden. Warum also sollen oder wollen diese Kinder ihre Heimat verlassen? Die Antwort liegt vermutlich in der jeweils umgekehrten kulturellen Blickrichtung mit der Plisson eine Lebenswelt romantisiert, die für ihre Bewohner weit weniger anheimelnd ist. Dazu passt, dass seine vorgebliche Dokumentation eher wie ein Spielfilm aussieht, der die stundenlangen Schulwege der Kinder sowie die damit verbundenen Strapazen und Gefahren dramatisiert und so zu kleinen Abenteurerreisen macht. Auch die ärgerliche Synchronisation, die mit fremdländischen Akzenten unecht und aufgesetzt wirkenden Dialoge artikuliert, verstärkt diesen Eindruck des Fiktionalen.

Am Anfang gräbt ein 11-jähriger kenianischer Junge namens Jackson im Steppensand nach Wasser, was sich ebenso als Metapher für die Botschaft des Films verstehen lässt wie der steile, steinige Bergpfad, den die 12-jährige marokkanische Schülerin Zahira aus einem Berberdorf im Atlas mit ihren Freundinnen bewältigt. Lernen sei so anstrengend wie Bergsteigen, sagt das Mädchen. Mindestens genauso schwierig scheint aber die Orientierung in einer afrikanischen Steppenlandschaft oder in der Weite Patagoniens, wo die Geschwister Carlito und Mica auf einem Pferd unterwegs sind. Der gehbehinderte Samuel vom Golf von Bengalen wiederum ist darauf angewiesen, dass er von seinen beiden Brüdern in einem klapprigen, selbstgebauten Rollstuhl auf beschwerlichen Wegen zur Schule gebracht wird. Mit beeindruckender Disziplin, unverfälschtem Optimismus und liebeswertem Heldenmut überwinden diese Kinder die Beschwernisse und Gefahren langer Schulwege, um ihren Hunger nach Bildung zu stillen und später einmal, wie eines von ihnen sagt, „etwas Sinnvolles zu tun“.

Inside Llewyn Davis

(USA 2013, Regie: Ethan Coen, Joel Coen)

Ideelle Fliehkräfte
von Wolfgang Nierlin

Der Schluss von Joel und Ethan Coens neuem Film „Inside Llewyn Davis“ steht am Anfang: Während der von Oscar Isaac gespielte Titelheld, ein mittelloser Folksänger, nach seinem melancholischen Auftritt im …

Der Schluss von Joel und Ethan Coens neuem Film „Inside Llewyn Davis“ steht am Anfang: Während der von Oscar Isaac gespielte Titelheld, ein mittelloser Folksänger, nach seinem melancholischen Auftritt im Gaslight Café von Greenwich Village auf dem Hinterhof des Lokals von einem mysteriösen Traditionalisten aus Rache brutal zusammengeschlagen wird, betritt der junge, noch unbekannte Bob Dylan die Bühne des kleinen Folkclubs. Die beiden Musiker sind Brüder im Geiste einer neuen, heraufziehenden Folk-Bewegung, aber noch scheinen sie in ihren singulären Bestrebungen nichts voneinander zu wissen. Von Dave Van Ronks Autobiographie „The Mayor of MacDougal Street“ („Der König von Greenwich Village“) inspiriert, der als Musikerkollege und zentrale Figur der Szene Dylan protegierte, blenden die Gebrüder Coen mit ihrem Protagonisten Llewyn Davis verschiedene historische Vorbilder und Motive ineinander, um den Spirit dieser Aufbruchsbewegung wiederzubeleben.

Der New Yorker Winter des Jahres 1961 ist grau, nass, windig und kalt und deshalb fast farblos fotografiert. Durch das schummrig beleuchtete Gaslight Café ziehen Nebelschwaden aus Zigarettenrauch, und die Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft ist ungewöhnlich gespannt. Sie ist echt und ungeteilt, gilt ebenso den Neuerern wie den Traditionalisten, deren Ironisierung allenfalls im Auge und Ohr des Betrachters bzw. Zuhörers liegt. Die Gunst des Publikums kennt jedenfalls noch keine Grabenkämpfe. Deshalb ist es auch auffällig störend und unfair, wenn Llewyn Davis den Auftritt einer älteren Kollegin beleidigend niederbrüllt. Außenseiter, die von ihrer Musik nicht leben können, sind sie mehr oder weniger alle. Doch Llewyn ist darüber hinaus ein einsamer Drifter, dessen Kreisbewegungen einen historischen Moment markieren und dessen ideelle Fliehkräfte ihn verloren zwischen Lower Manhattan und Upper West Side, New York und Chicago herumirren lassen.

So zeichnen Joel und Ethan Coen, unterstützt durch konzentriert und ausführlich dargebotene Liedbeiträge, das tragikomische Portrait eines Verlierers und Überlebenskünstlers, der ohne festen Wohnsitz lebt, auf Freunde und Gönner angewiesen ist, von einer Katze verfolgt wird und schon leicht resigniert für seine Kunst streitet. Seit er seinen Duo-Partner durch Selbstmord verloren hat, ist ihm auch der Glaube an sich selbst abhanden gekommen. Llewyns Ziellosigkeit, die wenig Rücksichten kennt und Kompromisse weitgehend ablehnt, findet ihren Widerhall bei den anderen Suchenden und Gestrandeten jener Tage: den Poeten der Beat Generation und den Junkies des Bebop. „On the road“, auf einer ebenso düsteren wie unwirklichen Autofahrt nach Chicago und zurück, inszenieren die Coens den „klimatisierten Alptraum“ und die verlorenen Illusionen dieser ausgesetzten, müden Vagabunden am Beginn einer neuen künstlerischen Ära.

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Der Butler

(USA 2013, Regie: Lee Daniels)

Black History mit Fassung und ohne Haltung
von Drehli Robnik

Alle African-Americans, so heißt es früh und programmatisch im Dialog von 'The Butler', haben zwei Gesichter; eines davon ist für die Weißen gedacht, deren Erwartungen immer und überall zu antizipieren …

Alle African-Americans, so heißt es früh und programmatisch im Dialog von 'The Butler', haben zwei Gesichter; eines davon ist für die Weißen gedacht, deren Erwartungen immer und überall zu antizipieren seien. Das ist als Rat und Mahnung an die Titelfigur ausgesprochen, gilt aber auch für den Film selbst: Auch das Biopic 'The Butler' folgt einer ostentativen Zwei-Gesichter-Logik, erzählt in Dopplungen und Innen-Außen-Kontrasten das Leben von Cecil Gaines, basierend auf der Biografie eines Mannes, der als schwarzer Diener im Weißen Haus unter acht US-Präsidenten, von Truman um 1950 bis Reagan Mitte der 1980er Jahre, stets die Form wahrt. Seine Haltung heißt Zurückhaltung.

Familie Gaines frönt zuhause in bescheidenem kleinbürgerlichen Wohlstand und Freundeskreis wechselnden Tanz- und Textilmoden und verfolgt besorgt Bürgerrechts- und Vietnamproteste im Fernsehen; ihr älterer Sohn begehrt gegen den rassistischen Status quo auf, erfährt weiße (Staats-)Gewalt am eigenen Leib und vor Ort, als Aktivist, später als demokratischer Mandatar. Cecils stoische Dienstpose ist so unerschütterlich wie seine Verhärtung gegenüber dem quasi missratenen Filius – oder wie die pazifistisch protestierenden Freedom Riders, die beim Sitzstreik im 'weißen Sektor' eines Südstaaten-Diners ihr Recht, bedient zu werden, im Licht der Medienöffentlichkeit und unter Prügeln und Schmähungen des Redneck-Mobs ertrotzen; im Parallelschnitt servieren Cecil und Kollegen beim Präsidentendinner, dazu läuft Vintage Motown Soul. (Den zeitweise militanten Sohn spielt übrigens der Brite David Oyelowo – zuletzt zu sehen in der kleinen, aber markanten Rolle des schwarzen Corporal, der Lincoln zu Beginn von Spielbergs Film ein paar deutliche mahnende Worte mit auf den Weg in sein Sklavereiabschaffungsprojekt gibt.)

Die Leitdifferenz 'weiße (Welt-)Herrschaft, schwarzes Personal' hätte sich zur Klassen- und Machtspiel-Satire nach Art von Jean Renoirs 'Die Spielregel' ausbauen lassen. Doch Regisseur Lee Daniels bedient (nach seinen Innenansichten schwarzen Familienlebens on welfare samt fürsorglicher weißer Sozialarbeit 2009 in 'Precious') das Register des Nationalgeschichtsbilderbogens und da auch gleich ein allzu prominentes Modell: Nicht nur dem Namen von Darsteller Forest Whitaker nach erinnert Cecils passive Zeugenschaft, zumal gegenüber den Konflikten der 1960er, an 'Forrest Gump' – jenen Wohlfühlfilm, der vor zwanzig Jahren die Geschichte sozialer und politischer, insbesondere schwarzer Kämpfe (und Stile) in weiß-liberaler, postpatriarchaler Perspektive appropriierte. Nun zeigt Daniels‘ black history-Konsensdrama alle an ihrem erwartungsgemäßen Platz: den als Rüpel notorischen (und schon 1994 mit Forrest Gumps Popo befassten) Präsident Johnson auf dem Klo, JFK tief bewegt vom Unrecht der racial segregation vor dem Fernseher, Nixon in Paranoia und Angstschweiß, dessen Nachfolger Ford und Carter gar nicht (zu unergiebig, weil unbekannt, also Zeitsprung von den Mittsiebzigern in die Mittachtziger), Reagan schließlich als Mann der Symbolpolitik (der seinem Butler die Peinlichkeit antut, ihn als Gast eines White House-Dinners einzuladen). Oprah Winfrey tritt als Mrs. Gaines auf und spielt dabei weniger sich selbst als vielmehr ihre eigene, dankbar Self-Improvement-Anweisungen aus dem Fernsehen entgegennehmende Kernzielgruppe.

Momente des Rekurses auf die Macht und Alltagspräsenz medialer Bilder – so auch, wenn der Streit der konformistischen Eltern mit ihrem radikalisierten Sohn und dessen Afro-Hairstyle tragender Freundin in Debatten darüber mündet, ob Sidney Poitier in seinen einschlägigen Hollywood-Erfolgsrollen Ende der 1960er als Protest-Ikone oder als rich Uncle Tom zu beurteilen sei – deuten stellenweise Bereitschaft zur Reflexion an, die 'The Butler' ansonsten vermissen lässt. Ärgerlich wird die aalglatte Kurz(um)schrift in Sachen Historiografie von black emancipation struggles dort, wo etwa die Black Panthers so schlecht wegkommen wie einst in 'Forrest Gump', weil da offenbar irgendwie Gewalt im Spiel ist (und mit dem Irrweg des Extremismus entsorgt der Film auch gleich, ganz auf Männerschicksalswege zur Würde fokussiert, die Figur der militanten Freundin des Sohnes). Und als gälte es später, solche Gesten der Antizipation weißer Mainstream-Erwartungen durch einen Tupfer Verbalradikalismus zu kompensieren – der eigentlich weniger radikal als bloß brüskierend, aufrechnend und keineswegs erhellend ist –, vergleicht der gealterte Cecil gegen Ende in einem tiefsinnig resümierend daherkommenden inneren Monolog die Konzentrationslager der Nazis mit zweihundert Jahren des aufgezwungenen Elends in Entrechtung für African Americans. (Wären Sklaverei oder auch die bis heute institutionalisierten Rassismen in den USA oder hierzulande ohne einen solchen Schockvergleich nicht schlimm genug?)

Am Ende regiert Eintracht: Zwar hat der Butler bei Reagans (Alan Rickman) gekündigt – vielleicht, weil er trotz alle fünfzehn Jahre wiederkehrender Anfrage beim Personalchef noch immer nicht gleich viel bezahlt kriegt wie die weiße Belegschaft im Weißen Haushalt, oder weil die US-Regierung das Apartheidregime in Südafrika hartnäckig unterstützt, oder weil ihm das hohle Rumgetue von First Lady Nancy (Jane Fonda) in Sachen Dinner-Einladung unsympathisch war. Irgendwie so; das Entwerfen von minoritärer Geschichte im Zeichen und Rahmen der majoritären Staatsmacht und auf deren Anerkennung hin wird dadurch nicht weiter infrage gestellt, und das 'serving the country' behält einen erbaulichen Charakter. Dafür kommen nun Vater und Sohn an einem (nicht erst seit dem Tod des Betreffenden) hochgradig konsensergiebigen Ort wieder zueinander, nämlich bei einer Demo für die Freilassung von Nelson Mandela, sowie dann – Zeitsprung, weil ja doch zwischen 1986 und 2008 sehr wenig passiert – schlussendlich noch im Stolz über die Präsidentschaftskandidatur von Barack Obama. Eine schwarze Erfolgsstory nach weißen Spielregeln: Ihr formvollendetes Kontinuum verrät mehr von gut eingeübter Erzähletikette als von konkreten Ermächtigungsprozessen.

Only Lovers Left Alive

(D / USA / GB / F / CY 2013, Regie: Jim Jarmusch)

Zeitgenossen der Menschheitsgeschichte
von Wolfgang Nierlin

Es gibt eine Verbindung zwischen Himmel und Erde, die musikalischer Natur ist und die damit alles Trennende aufhebt. Am Beginn von Jim Jarmuschs neuem Film „Only Lovers Left Alive“ steht …

Es gibt eine Verbindung zwischen Himmel und Erde, die musikalischer Natur ist und die damit alles Trennende aufhebt. Am Beginn von Jim Jarmuschs neuem Film „Only Lovers Left Alive“ steht deshalb der Blick zum nächtlichen Sternenhimmel. Während die Kamera diesen in ein langsames Kreisen versetzt, nimmt in einer Überblendung ein rotierender Plattenteller diese Drehbewegung auf. Musik erklingt und die beiden Bilder verschmelzen zu einer Einheit. Ihr Kreisen setzt sich zugleich fort in einer Parallelmontage, die aus der Vogelperspektive abwechselnd die beiden Protagonisten in ihren jeweiligen, weit entfernt voneinander liegenden Wohnungen zeigt. Adam (Tom Hiddleston) und Eve (Tilda Swinton) sind ein sehr altes, aber kaum gealtertes Liebespaar. Währen der kultivierte Undergroundmusiker und manische Gitarrensammler in einer alten, heruntergekommenen Villa der entvölkerten Industriestadt Detroit lebt, wohnt die Überlebenskünstlerin Eve, von zahlreichen Büchern umgeben, in der Altstadt von Tanger. Durch Zeit und Raum hindurch sind die beiden in Liebe vereint. Ihre Begleitmusik ist der kosmische Sound.

Nach dieser genialen Einleitung, die mit dem identitätsstiftenden Ende des Films eine Klammer bildet, steht dieser aber erst einmal still. Adam huldigt in seinem geheimen Domizil gegenüber seinem Assistenten Ian (Anton Yelchin) dem Fetischismus seiner obsessiven Sammelleidenschaft. Eve wiederum widmet sich den Wissensschätzen ihrer Bücher. Jim Jarmusch, offensichtlich selbst ein leidenschaftlicher Musik- und Literaturliebhaber, spickt seinen Film mit Zitaten und Verweisen und betreibt dabei ein überbordendes Namedropping, das oft zu kaum mehr als einer ironischen Fußnote oder aber zum leer laufenden Selbstzweck wird. Seine ungebrochene Lust, Musik zu inszenieren, schafft hingegen einen größeren sinnlichen Mehrwert in Jarmuschs teils abstrakt-rationalem, teils rätselhaftem Film. „Only Lovers Left Alive“ ist unterkühlt, statisch und distanziert erzählt und wirkt deshalb manchmal etwas blutleer, was im Kontext des Films zunächst paradox anmutet.

Andererseits passt das zu diesen kultivierten, stilvollen Helden der Nacht, die als kulturbeflissene Vampire des 21. Jahrhunderts ihre Blut-Nahrung aus Krankenhäusern beziehen und sich nach dem fast rituellen Verzehr wie in einem Drogenrausch gebärden, der in einen traumverlorenen Trip mündet. Adam und Eve sind zwei faszinierende Außenseiter, die durch die Jahrhunderte hindurch zu Zeitgenossen der Menschheitsgeschichte geworden sind und dabei ein umfangreiches Wissen erworben haben. Doch Adam ist darüber schwermütig und lebensmüde geworden; er leidet unter dem Zustand der Welt und hegt Selbstmordgedanken, von denen ihn Eve abbringen will, weshalb sie nach Detroit reist. Doch das Endzeitszenario spitzt sich noch zu, als bald nach ihrer Ankunft in der zerstörten Stadt unvermittelt ihr jüngere Schwester Ava (Mia Wasikowska) auftritt und das labile Ordnungsgefüge empfindlich stört. Als später auch noch Eves väterlicher Freund, der berühmte Schriftsteller Christopher Marlowe (John Hurt), nach Einnahme einer „kontaminierten“ Blutkonserve stirbt, geraten die Liebenden in eine Notlage, aus der sie nur durch eine „Verwandlung“ der Welt gerettet werden können.

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Tage am Strand

(F / AU 2013, Regie: Anne Fontaine)

Schreckliches Glück
von Wolfgang Nierlin

Ziemlich paradiesisch mutet der Küstenort Seal Rocks in New South Wales im Osten Australiens an: Weite Sandstrände, türkisblaues Wasser, großartige Wellen und eine freundlich scheinende Sonne sorgen für traumhafte Lebens- …

Ziemlich paradiesisch mutet der Küstenort Seal Rocks in New South Wales im Osten Australiens an: Weite Sandstrände, türkisblaues Wasser, großartige Wellen und eine freundlich scheinende Sonne sorgen für traumhafte Lebens- und Arbeitsbedingungen, vor allem aber für einen Zustand der Entrückung. Die französische Filmregisseurin Anne Fontaine hat für dessen schwelgerische Beschwörung in ihrem neuen Film „Tage am Strand“ (Adore) noch einmal auf 35 mm und in Cinemascope gedreht. Der Blick zum Horizont und auf diese märchenhafte, fast unwirklich erscheinende Kulisse richtet sich deshalb nicht selten von einem Haus hoch oben über dem Meer auf die Szenerie. Hier leben seit vielen Jahren Lil (Naomi Watts) und die Galeristin Roz (Robin Wright). Die beiden gutaussehenden Mitvierzigerinnen sind „beste Freundinnen“ und ihre erwachsenen Söhne Ian (Xavier Samuel) und Tom (James Frecheville) fast wie Geschwister.

Wenn die beiden Adonisse eingangs mit ihren Surfbrettern über gigantische Wellen gleiten, geschieht dies unter den bewundernden Blicken ihrer Mütter. Sie seien wie „junge Götter“ konstatieren die Frauen in einer Mischung aus nostalgischer Sehnsucht und inzestuösem Begehren. Bald darauf entsteht eine ungewöhnliche Vierecksgeschichte, in der Roz und Ian, Lil und Tom eine Liebebeziehung eingehen. Das wirkt arg konstruiert, wenig entwickelt und in der Gefühlsintensität der beiden Paare ungleich verteilt. Anne Fontaine inszeniert diese Grenzverletzung, die mehr gewollt als motiviert erscheint, als schwülstige Frauenphantasie über ein ebenso unverhofftes wie „schreckliches Glück“. Dieses kann natürlich nicht von Dauer sein, auch wenn das Setting Zeitlosigkeit suggeriert.

Anne Fontaine hat für ihren Film „Tage am Strand“ die Erzählung „Die Großmütter“ der kürzlich verstorbenen Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing adaptiert, die in ihrer Geschichte wiederum reale Begebenheiten verarbeitet hat. Fontaines Faszination für Entsprechungen und Symmetrie lässt in Aufbau und Dialog allerdings vieles hölzern erscheinen. Die Charaktere, in den Nebenrollen zur puren Staffage degradiert, bleiben flach und klischeehaft, vor allem aber geheimnislos, denn die beabsichtigte Offenheit verliert sich immer wieder im allzu Offensichtlichen. Doch das Sichtbare ist in „Tage am Strand“ nur eine schöne Kulisse für ein Leben, das unterbelichtet bleibt, und für Gefühle, die nur behauptet werden.

Lunchbox

(IND 2013, Regie: Ritesh Batra)

Von der Kraft des Erzählens
von Wolfgang Nierlin

Mit den ersten Bildern dieses Films tauchen wir ein in das pulsierende, chaotisch anmutende Leben der indischen Millionen-Metropole Mumbai. Überfüllte Vorortzüge, Rikscha-Fahrer im strömenden Regen, überfrachtete Kuriere und Lieferanten, dazwischen …

Mit den ersten Bildern dieses Films tauchen wir ein in das pulsierende, chaotisch anmutende Leben der indischen Millionen-Metropole Mumbai. Überfüllte Vorortzüge, Rikscha-Fahrer im strömenden Regen, überfrachtete Kuriere und Lieferanten, dazwischen Impressionen von Tauben, Schuhputzern und singenden Arbeitern vermitteln davon einen authentischen Eindruck. Der in Mumbai aufgewachsene Regisseur Ritesh Batra hat für sein höchst sehenswertes Spielfilmdebüt „Lunchbox“ mit dokumentarischen Mitteln an Originalschauplätzen gedreht. Die Vielfalt der Ethnien und sozialen Schichten sowie damit verbundene kulturelle, religiöse und nicht zuletzt kulinarische Unterschiede bilden den gewichtigen, für den westlichen Zuschauer eher unauffälligen Erzählrahmen seiner Geschichte. Auch mit den sogenannten Dabbawallas ist Batra aus einem früheren, unvollendeten Dokumentarfilmprojekt bestens vertraut: Diese transportieren täglich Tausende von Mittagessen, die von Frauen oder in Kantinen gekocht werden, in einer mehrteiligen Lunchbox zu den überwiegend männlichen Adressaten in den Betrieben, wobei ein ausgeklügeltes Kodiersystem dafür sorgt, dass es praktisch nie zu Fehllieferungen kommt.

Doch gerade ein solch unwahrscheinliches Versehen bildet die Handlungsgrundlage für Ritesh Batras lebensklugen Liebesfilm. Weil die junge Hausfrau und Mutter Ila (Nimrat Kaur) von ihrem ihr gegenüber gleichgültig gewordenen Ehemann vernachlässigt wird, versucht die leidenschaftliche Köchin mit einem besonders schmackhaften Essen seine Liebe oder zumindest seine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Jedoch landet gerade diese Mahlzeit irrtümlich bei dem feinsinnigen Buchhalter Saajan (Irrfan Khan), der in der Schadensabteilung eines Versicherungsunternehmens arbeitet und nach 35 Jahren Berufsleben kurz vor der Pensionierung steht. Als Ila das Versehen bemerkt, fügt sie der nächsten Lunchbox eine Nachricht an den fremden Mann bei, der seinerseits darauf antwortet. Bald darauf entspinnt sich ein reger Briefwechsel zwischen der unglücklichen Ehefrau und dem vereinsamten, sonst eher schweigsamen Witwer, der zurückgezogen lebt. Darin geht es um persönliche Sorgen, Nöte und Hoffnungen, aber auch um den modernen Wandel innerhalb der indischen Gesellschaft.

Gerade das altmodische Instrument des Briefeschreibens wird zum Gegenpol dieser schmerzlich empfundenen Veränderungen: „Ich glaube, wir vergessen Dinge, wenn wir niemandem davon erzählen können“, heißt es einmal über die bewahrende Funktion dieses schriftlichen Austauschs. Sinnlich, spannend und komplex inszeniert Ritesh Batra diesen Kreislauf der Briefe, in den die verschiedenen Leben der Protagonisten mit ihren jeweiligen Erinnerungen und Sehnsüchten assoziativ ineinanderfließen. Dabei bezieht der Regisseur mit dem Hilfsbuchhalter Shaikh (Nawazuddin Siddiqui), dessen offensiven Optimismus der in sich gekehrte, stets konzentriert agierende Saajan zunächst als allzu aufdringlich empfindet, noch eine dritte Figur mit ein, die unter einer schweren Familiengeschichte leidet. Sukzessive führen die zirkulären Bewegungen des Films die Handelnden aufeinander zu, ohne ihre inneren Verbindungen auch äußerlich miteinander zu verschmelzen. Eher geht es um die Kräfte und neugewonnenen Energien, die aus Missverständnissen und Fügungen resultieren. Der mehrfach zitierte Satz dazu lautet: „Manchmal fährt der falsche Zug zum richtigen Bahnhof.“

Ich fühl mich Disco

(D 2013, Regie: Axel Ranisch)

In der Schwebe
von Wolfgang Nierlin

Wenn Mutter Monika (Christina Große) und ihr pubertierender Sohn Florian (Frithjof Gawenda) im Siebziger-Jahre-Look und mit aufgemalten Schnurrbärten unter einer glitzernden Discokugel tanzen, fühlt sich das ziemlich unbeschwert und frei, …

Wenn Mutter Monika (Christina Große) und ihr pubertierender Sohn Florian (Frithjof Gawenda) im Siebziger-Jahre-Look und mit aufgemalten Schnurrbärten unter einer glitzernden Discokugel tanzen, fühlt sich das ziemlich unbeschwert und frei, cool und irgendwie symbiotisch an. Dann schwebt der Raum, die Sterne leuchten und zusammen mit ihrem Schlagersänger-Idol Christian Steiffen singen die beiden hingebungsvoll „Ich sehne mich so sehr nach Sexualverkehr“. Was natürlich auch eine Parodie aufs Genre ist. Der dickleibige Vater Hanno Herbst (Heiko Pinkowski) kann naturgemäß damit wenig anfangen und bleibt außen vor, zumal er sich seinen Sohn weniger musisch wünscht. Er ist aber auch wütend, weil „Flori“ in der ziemlich witzigen Eingangsszene von Axel Ranischs neuem Film „Ich fühl mich Disco“ bei einer aufgezwungenen Fahrstunde sein geliebtes, von Jugenderinnerungen umflortes Moped der Marke Simson schrottet.

Da sich der übergewichtige Teenager sowieso lieber ein Klavier wünscht und abends vor der Mattscheibe mehr Interesse an schwulen Soldaten als an nationalen Fußballhelden entwickelt, sind die Konfliktlinien der sympathischen Tragikomödie schnell gezeichnet. Der ebenso umtriebige wie produktive Film- und Opernregisseur Axel Ranisch, der vor einem Jahr mit seiner kultigen No-Budget-Produktion „Dicke Mädchen“ einen kleinen Überraschungserfolg erzielte, verbindet seine berührende Vater-Sohn-Geschichte mit einem Coming-of-Age-Drama. In dessen Verlauf erlebt der homosexuelle Florian nicht nur sein Coming-out, sondern er muss gemeinsam mit seinem Vater auch einen schweren menschlichen Verlust verwinden. Denn eines morgens erleidet die geliebte Ehefrau und Mutter einen schlimmen Schlaganfall und fällt in ein tiefes, lebensbedrohliches Koma.

Die Zeit, in der die medizinischen Apparate die bewusstlose Monika in der Schwebe zwischen Leben und Tod halten, wird für Vater und Sohn unter dieser außerordentlichen Belastung zu einer Phase der persönlichen Annäherung. Diese ist jedoch zunächst von Missverständnissen und Rückschlägen geprägt. Dabei erlebt vor allem Florian, der sich in den gleichaltrigen Turmspringer Radu (Robert Alexander Baer) verliebt, ein sexuelles Erwachen zwischen Hoffnung und Enttäuschung. Allerdings ist Ranischs origineller Film weit weniger schwer als dies sein Inhalt nahelegt: Immer wieder transzendiert er die Alltagsrealität mit Tagträumen ins Phantastische, verleiht der Imagination Flügel und dem Traurigen eine spielerische Leichtigkeit. In diesen schwerelosen Szenen, getragen vom komischen Ernst wundervoller Schauspieler, kehrt die Bewusstlose für Augenblicke zurück ins Leben oder träumen sich die Protagonisten unter den sanften Klavierklängen Rachmaninows an ferne Orte. Für Entlastung und eine gewisse Zuversicht sorgen aber auch die Gastauftritte von Rosa von Praunheim als Sexualtherapeut und von Christian Steiffen, der zum Schluss in Partylaune sein titelgebendes „Ich fühl mich Disco“ zur allgemeinen Aufmunterung und Erheiterung darbietet.

Dicke Mädchen

(D 2012, Regie: Axel Ranisch)

Gefühlsecht
von Wolfgang Nierlin

Schon die altmodisch-verschnörkelte Retro-Anmutung der Vorspanntitel, unterlegt mit musikalischem Sentiment, lässt erahnen, dass im Folgenden filmästhetisch einiges kompromisslos anders ist als üblicherweise. Am ehesten noch ähnelt Axel Ranischs mit Freunden …

Schon die altmodisch-verschnörkelte Retro-Anmutung der Vorspanntitel, unterlegt mit musikalischem Sentiment, lässt erahnen, dass im Folgenden filmästhetisch einiges kompromisslos anders ist als üblicherweise. Am ehesten noch ähnelt Axel Ranischs mit Freunden und der eigenen Oma gedrehter No budget-Film dem dänischen Dogma-Look oder auch dem Improvisationskino von John Cassavetes. Spontan, provozierend direkt und unverstellt echt agieren hier die Darsteller in einem realistischen Setting. Und die Mini-DV-Kamera verfolgt und begleitet ihre Aktionen ohne Ansehung der jeweiligen Lichtverhältnisse. Ranisch geht es nicht um eine künstliche Dramatisierung, sondern um eine möglichst authentische Darstellung, was sich im Szenischen und Theaterhaften seines Films wiederspiegelt. Immer wieder gibt es Rollenspiele innerhalb der Rollen, in denen sich skurrile Anlässe mit wahren Gefühlen, Komik und Tragik verbinden. Manchmal verlieren diese Performances aber auch Spannung und laufen leer.

Der Junggeselle Sven (Heiko Pinkowski) lebt mit seiner alten, unter Demenz leidenden Mutter Edeltraut (Ruth Bickelhaupt) zusammen. Die beiden haben ein herzliches Verhältnis und schlafen im gleichen Bett. Wenn Sven nach dem Frühstück zur Bank muss, wo er seit dreißig Jahren arbeitet, kommt Daniel (Peter Trabner), um die alte Dame zu betreuen. Das geschieht sehr liebevoll und unverkrampft, wobei vor allem durch Edeltrauts Aussetzer in der Kommunikation immer wieder berührende tragikomische Momente entstehen. Einmal, nach einem Tag der Sorge, veranstalten die drei einen feucht-fröhlichen bunten Abend mit Tanz und Clownerien und Musik. Das Leben wird zum Fest, die Gemeinschaft erlebt Geborgenheit. Doch in der Nacht, die darauf folgt, stirbt Edeltraut friedlich; und Sven wird von einer großen Trauer überwältigt. Weil er aber zugleich immer deutlicher zärtliche Gefühle für Daniel entwickelt, wird dieser nicht nur zum Tröster und Liebesersatz, sondern auch – und durch einige schmerzliche Kämpfe hindurch – zu einem Katalysator für einen neuen Aufbruch. Axel Ranisch schildert diese Befreiung nach einem doppelten Verlust völlig unverkrampft und gegen etwaige Vorurteile und Tabus.

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Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht

(D / F 2013, Regie: Edgar Reitz)

Stimme des Herzens
von Wolfgang Nierlin

Ein Pferd irrt verloren durch die engen, morastigen Gassen eines alten Dorfes, während eine Stimme wie von fern und fast schon murmelnd sich unter die aufsteigende Geräuschkulisse legt. Sie gehört …

Ein Pferd irrt verloren durch die engen, morastigen Gassen eines alten Dorfes, während eine Stimme wie von fern und fast schon murmelnd sich unter die aufsteigende Geräuschkulisse legt. Sie gehört Jakob Adam Simon (Jan Dieter Schneider), dem jüngsten Sohn des Dorfschmieds, der sich mit seiner Lektüre in ferne Länder träumt und darüber die Arbeit vergisst. Von seinem strengen Vater wird er dafür drangsaliert und verflucht, weil die Nöte des Lebens ein anderes Tun verlangen. Jakob gilt ihm deshalb als Faulpelz und Nichtsnutz, der dem Müßiggang frönt. Unverstanden von seiner Umgebung, zieht sich der Tagträumer immer wieder in die Waldeinsamkeit zurück, um zu lesen oder von hoch oben einem langen Treck von Auswanderern nachzublicken. Denn wir schreiben das Jahr 1842 und wie überall im Land herrschen auch in dem fiktiven Hunsrücker Dorf Schabbach Armut und Not, Unterdrückung und Ausbeutung.

In der Nacht zum 1. April beginnt Jakob im Schein einer Kerze heimlich mit der Niederschrift seines Tagebuchs, jener „Chronik einer Sehnsucht“, die im Verlauf von Edgar Reitz‘ fast vierstündigem Film „Die andere Heimat“ zu einem „Bericht verlorener Träume“ wird. Als Seelenverwandter der Romantiker, der mehrere Fremdsprachen beherrscht und sich besonders nach den Indianern in der neuen Welt sehnt, notiert der Außenseiter, nur der „Stimme des Herzens“ folgen zu wollen, denn allein das im Herzen gespeicherte Wissen könne nicht verlorengehen. Im heraufziehenden Vormärz sympathisiert Jakob aber auch mit den Idealen der Freiheit, diesem „heiligen Recht in uns“. Einmal sieht man ihn auf einer Floßfahrt mit aufrührerischen Studenten auf der Mosel, bei der er angeschossen wird; ein anderes Mal, am Ende einer feucht-fröhlich-revolutionären Kerwe, landet er mit einem Gesinnungsgenossen im Kerker.

Edgar Reitz verbindet diese romantisch-freiheitlichen Motive, in denen sich Fernweh und Aufbruch spiegeln, mit einem detaillierten Zeit- und Gesellschaftsbild, in das, vom Kometenschweif des Jahres 1843 unheilvoll illuminiert, nicht zuletzt kosmische Kräfte eindringen. „Alles ist aus dem Lot“ konstatiert ahnungsvoll der Arzt im „Unglückswinter“ desselben Jahres, als eine schwere Diphterie-Epidemie vielen Kindern das Leben raubt. „Besseres als den Tod findet man überall“, sagen diejenigen, die gewillt sind, die Heimat für immer zu verlassen. In Cinemascope und strahlendem Schwarzweiß, mit sehr plastischen Bildern und wenigen, herausgehobenen Farbtupfern zeigt Reitz ebenso sinnlich wie poetisch, was diese Heimat ist: Armut, Frömmigkeit und dörfliche Gemeinschaft durch alle Nöte hindurch, aber auch die Arbeit der Hände und die Ernte, Liebe und Enttäuschung, umfasst und gerahmt vom Werden und Vergehen sowohl im Großen wie im Kleinen. „Des Menschen Natur ist es, Abschied zu nehmen“, schreibt Jakob in sein Tagebuch über jene stetige Sehnsuchtsangst nach einer anderen Welt. Doch in seiner Geschichte eines verhinderten Aufbruchs werden schließlich das Dableiben und das Festhalten an der Wissenschaft zur (geistigen) Heimat.

Jung & Schön

(F 2013, Regie: François Ozon)

Die fremde Andere
von Wolfgang Nierlin

Durch ein Fernglas fällt der Blick auf die knapp 17-jährige Isabelle (Marine Vacth), die sich im Bikini auf einem Strandtuch am Meer niederlässt. Bereits die erste, betont subjektive und isolierende …

Durch ein Fernglas fällt der Blick auf die knapp 17-jährige Isabelle (Marine Vacth), die sich im Bikini auf einem Strandtuch am Meer niederlässt. Bereits die erste, betont subjektive und isolierende Einstellung in François Ozons neuem Film „Jung & schön“ (Jeune & jolie) setzt den Voyeur und Zuschauer in ein wechselvolles Verhältnis zum Objekt seiner Betrachtung. Diese schwankt zwischen Nähe und Distanz und spekuliert in der Folge über die geheimen Beweggründe und Handlungsmotive einer heranwachsenden Frau, die sich allen Erklärungsversuchen immer wieder zu entziehen scheint. Isabelle wirkt nachdenklich und melancholisch, faszinierend unnahbar, woraus auch die Freiheit der Schönheit spricht, und trotzdem irgendwie verloren. Ihr Schweigen bedeckt ein weites Feld neuer Gefühle und Erfahrungen und ist zugleich Projektionsfläche für die Phantasien derjenigen, die ihr begegnen. Wenn sie ihrer Mutter (Géraldine Pailhas) widerspricht oder sie belügt, dient das nicht nur dem Selbstschutz, sondern auch der Abgrenzung: Weder möchte sie ihre Geheimnisse mit jemandem teilen, noch will sie sich überhaupt in eine allgemeine adoleszente Ordnung integrieren oder gar einem Verständnis durch Erwachsene unterwerfen. Isabelle ist die fremde Andere, die gerade die Differenz als ihre Identität entdeckt.

Wenn sie sich von Felix (Lucas Prisor), ihrer deutschen Ferienbekanntschaft, nach banalem Vorgeplänkel inklusive Eisessen ganz pragmatisch und lustlos entjungfern lässt, hat sie eine Vision, in der sie neben sich steht und auf ihr Tun blickt. In dieser Beobachterdistanz liegt eine mitfühlende Verschworenheit und zugleich ein Abschied, in den sich ein neues Wissen mischt. Kurz darauf feiert Isabelle ihren 17. Geburtstag im Familienkreis, die Sommerferien enden und Françoise Hardy singt ein Lied über die Veränderung, die aus einem Mädchen eine Frau macht. Kurz darauf, zurück in Paris, wird aus der Schülerin des Lyceée Henri IV ohne Umschweife und Erläuterung eine Prostituierte, die sich unter dem Pseudonym Léa mit älteren, wohlhabenden Männern trifft und für ihre Dienste 300 Euro verlangt. Doch nicht das Geld treibt die schöne junge Frau aus gutsituiertem Elternhaus an; vielmehr sucht sie nach Orientierung und neuen Erfahrungen und erobert dabei für sich ein noch unbesetztes Terrain.

Konzentriert und offen betrachtet François Ozon die Heldin seiner unterkühlt inszenierten Coming-of-Age-Geschichte, die er nach den vier Jahreszeiten und – damit verbunden – nach Chansons von Françoise Hardy gegliedert hat. Während Isabelle neugierig ihre Wirkung auf Männer erprobt, ihre verhaltene Lust am Abenteuer entdeckt und ein Gefühl der Bestätigung erfährt, erlebt sie zugleich sexuelles Begehren, Zärtlichkeit und Vertrauen. Gerade das setzt ihr abweichendes Verhalten in Opposition zur teilweisen Verlogenheit ihrer familiären Umgebung. Als ihr Doppelleben durch einen tragischen Vorfall bekannt wird, reagiert diese in Gestalt der Mutter mit Unverständnis und Strafe. Ozon analysiert gerade diese Scheinheiligkeit der Erwachsenenwelt im Zentrum der Familie, der sich Isabelle verweigert. Hardys an den Schluss gesetztes Chanson „Je suis moi!“ („Ich bin ich!') markiert aber nur ein trotziges Aufbäumen gegenüber jenen zunehmenden Verlusten, denen der Prozess des Erwachsenwerdens unweigerlich folgt und deren erste Erschütterungen Isabelle in Ozons nachdenklichem Film erfährt.

Carrie

(USA 2013, Regie: Kimberly Peirce)

Mobbingmelodram in Blut
von Drehli Robnik

Ist es ein Entwicklungsgesetz oder nur ein kleinbürgerliches Bauchurteil, das besagt, mit der Welt im Allgemeinen und mit Horrorfilmremakes im Besonderen würde alles immer ärger? Egal, denn: Die Neuverfilmung von …

Ist es ein Entwicklungsgesetz oder nur ein kleinbürgerliches Bauchurteil, das besagt, mit der Welt im Allgemeinen und mit Horrorfilmremakes im Besonderen würde alles immer ärger? Egal, denn: Die Neuverfilmung von Stephen Kings Romandebüt 'Carrie' widerspricht dieser Tendenz, ist sie doch um einiges gesitteter als Brian De Palmas Erstadaption von 1976. Diese allerdings hatte die Latte schon recht hoch gelegt, so etwa (um einmal nicht eine der prominenten Blutvergießensszenen zu nennen) in einem Dialog zwischen Nancy Allen als zickiger High-School-Bully und dem jungen John Travolta: Als sie ihn per Blowjob im Auto überredet, bei ihrem perfiden Komplott gegen die Titelfigur mitzutun, stößt sie, bevor sie ans Werk geht, noch inbrünstig 'God, I hate Carrie White!' aus.

Solche Gefühlsverdrehung bietet der 2013er-Film über ein von ihrer christlich-paranoiden Mutter zu Buß- und Selbstabtötungsexerzitien gezwungenes, von Mitschüler_innen hämisch gemobbtes, allerdings telekinetisch begabtes Mädchen nicht. Auch zu dem im besten Sinn ungesunden Konzeptbarock von De Palmas Inszenierung, die vitale Mädchenkörper in ornamentalen Draufsichten, Buntlicht, Extremzeitlupen, Tonlöchern, Splitscreen und Schwulstmusik (Pino Donaggio auf den Spuren von Bernard Herrmann und Softsex-Scores) regelrecht suspendierte, zu solchem Suspense also hat das Remake kein Pendant. Und so bewegend die auf Freakrollen nahezu abonnierte, schon bald siebzehnjährige Chloe Grace Moretz als Carrie auch spielt – an Sissy Spaceks irre, dürre, fleckig-bleichhäutige Erscheinung anno ’76 kommt das nicht heran.

Dennoch macht der Psychoschocker von Kimberly Peirce (zuletzt 2008 das Iraktrauma-Roadmovie 'Stop-Loss') recht gute Figur. Er erhält und kultiviert die melodramatische Luzidität des Sujets, das Ineinander von Rührung und Einsicht: Der Empathiefokus auf Carrie, auf ihre Nöte, ihre Ängste beim späten Pubertieren, ihren keimenden Widerstand gegen den Terror ihrer Mutter, ihre auf der Prom-Night-Party keimenden, schwelgenden, dann mit einem Schlag bzw. Schwall enttäuschten Glückshoffnungen, das zeigt sich hier zugleich – in Spannung – mit einem satirischen Panorama von Schule als Machtraum einer schier unauflöslichen Verstricktheit in allseitige Demütigung (die nunmehr auch auf Handyvideos zurückgreifen kann). Wenn etwa die Sportlehrerin Carrie in Schutz nimmt, so geschieht das nicht ohne drakonische, fast sadistische Rituale der Strafe für ihre Peinigerinnen.

Und die Neuverfilmung fügt auch manches hinzu: ein Mehr an Action, (Ton-)Effekten und Blut – gar nicht so sehr in der notorischen Duschszene, sondern rund um Julianne Moore als Mutter, etwa auch bei Carries Geburt, die wir hier in einer neuen Eröffnungsszene und einem Hauch von Prequel zu sehen bekommen. (Wenn‘s denn sein muss…) Und da ist schließlich das Thema religiöser Fundamentalismus samt Zwangsaskese: 1976, noch kurz bevor mit Jimmy Carter die Religion Wiedereinzug in die große US-Politik hielt, da hatte diese Motivik etwas von Altbestandsgrusel, von verbissenem Nachwirken einer doch schon überwundenen Macht. Heute hat sie eine im schlechten Sinn ungesunde Aktualität.

Inside Llewyn Davis

(USA 2013, Regie: Ethan Coen, Joel Coen)

Es ist einfach Folkmusik
von Andreas Busche

Eine gut abgehangene Todeszellenballade – gibt es einen besseren Auftakt für einen Film der Coen-Brüder? „Hang me, oh, hang me / I’ll be dead and gone / wouldn’t mind the …

Eine gut abgehangene Todeszellenballade – gibt es einen besseren Auftakt für einen Film der Coen-Brüder? „Hang me, oh, hang me / I’ll be dead and gone / wouldn’t mind the hangen‘ / but the layin‘ in the grave so long …“ „Inside Llewyn Davis“ eröffnet mit drei Minuten reinstem Hinterwäldler-Existentialismus. Kein Genre hat mit so schönen, klaren Stimmen Mörderseelen und Outlaws besungen wie die amerikanische Volksmusik. Tod und Gott, Schuld und ewige Erlösung – hier mühten sich noch einfache Leute mit schwerem Gedankengut ab.

Das kultivierte Beatnik-Publikum im Gaslight Café im New Yorker Greenwich Village zeigt sich dann auch tief ergriffen von den morbide schillernden Konfessionen aus dem Herzen der Finsternis. Llewyn Davis spielt um sein Leben, ohne es zu ahnen. Als er nach seinem Auftritt eine Zigarettenpause am Hinterausgang einlegt, erwartet ihn im schummerigen Straßenlicht eine schemenhafte Gestalt. Ihre Unterhaltung ist kurz und kryptisch, ein echter Coen-Dialog, dann verpasst der Unbekannte Llewyn aus heiterem Himmel eine Abreibung. Ein Schlag in die Fresse: Damit beginnt der neue Film von Joel and Ethan Coen.

Man sollte von ihnen keinen Film über die Anfänge der New Yorker Folkszene erwarten, auch wenn Bruno Delbonnels Kamera das Village in ein nostalgisch gefärbtes, ockeriges Licht taucht – eine Farbpalette, die direkt vom Plattencover von 'The Freewheelin’ Bob Dylan' inspiriert ist. Eigentlich machen die Brüder keine Filme über etwas. Orte, historische Figuren oder Genres interessieren sie höchstens als Ressource zur Erforschung der menschlichen Existenz. Es gibt demnach zwei mögliche Lesarten von „Inside Llewyn Davis“. Dass die Coens ihren Film ganz bewusst in jenem historischen Moment ansiedeln, in dem Folkmusik zum Massenphänomen wurde – das heißt: als die Kräfte des Marktes die überschaubare Greenwich-Village-Szene übernahmen. Oder dass in der Drehbuchidee, ihren erfolglosen Antihelden just in dem Moment von der Bühne abtreten und in der Gosse liegen zu lassen, als ein gewisser Robert Zimmerman auf den Plan tritt, die alte Gehässigkeit der Coens zum Vorschein kommt.

Llewyn Davis ist eine fiktive Figur, sie beruht aber auf einer wahren Biographie, bei der sich die Regisseure bedient haben. Dave Van Ronk war ein Veteran der Greenwich-Szene und ein Folktraditionalist. Das Stück 'Hang me' stammt im Original von ihm, ebenso die Idee für den Filmtitel: 'Inside Van Ronk' heißt sein Album aus dem Jahr 1963. Als die Platte rauskam, kippte die Stimmung in den Greenwich-Village-Folkclubs gerade. 'The Freewheelin’ Bob Dylan' eroberte die Charts, Peter, Paul and Mary sangen auf dem Washingtoner Freiheitsmarsch vor einer Million Menschen 'Blowin‘ in the Wind', und plötzlich standen ein paar ehemalige Hobos an der Spitze einer nationalen Protestbewegung.

Van Ronk beschreibt in seinen Memoiren 'The Mayor of MacDougal Street', wie diese Entwicklung an ihm vorübergegangen ist. 'Inside Van Ronk' war 1963 nach Marktlage ein Anachronismus (das Album bestand größtenteils aus Traditionals); bereits zwei Jahre zuvor hatte der Produzent Albert Grossman Van Ronk beim Casting für ein neues Folktrio (den späteren Peter, Paul and Mary) als zu altmodisch und für die Jugend unverträglich ausgemustert. Bei den Coens wird diese vielleicht entscheidende Episode in Van Ronks Karriere kurzerhand umgedreht: Llewyn sagt Grossman ab, weil er die adretten “Preppies” mit ihren Strickpullovern und Harmoniegesängen verachtet.

Sein einziger Freund Jim (Justin Timberlake) gehört zu der Sorte Folk-Entrepreneur, die den Crossover zum Pop mitmacht. Als die beiden zusammen das launige Rock’n’Roll-Stück 'Please, Mr. Kennedy' aufnehmen, streicht Llewyn missmutig das Geld ein und verzichtet dafür auf Tantiemen an dem späteren Überraschungshit. Llewyn ist eine Coen-Figur par excellence. Immer an vorderster Front dabei, immer einen Schritt zu spät. Jims Frau, die Llewyn möglicherweise geschwängert hat, nennt ihn einmal 'König Midas idiotischen Bruder'. Was Llewyn anfasst, verwandelt sich in Scheiße.

In bewährter Coen-Tradition entwickelt sich „Inside Llewyn Davis“ zu einer Odyssee, die über Umwege einen Bogen zurück zum Anfang der Geschichte schlägt. Sogar einen Odysseus gibt es – so heißt die Katze eines befreundeten Ehepaares, auf dessen Couch Llewyn manchmal übernachtet. Ihre Flucht über die Feuerleiter wird zum Auslöser von Llewyns persönlicher Odyssee über die Sofas befreundeter Musiker und die Fußböden schlecht gelaunter Exaffären (Carrey Mulligans Missmut ist spektakulär) bis hin zu dem schicksalhaften Auftritt in Grossmans Büro in Chicago.

Das Déjà-vu ist der Modus operandi der Coens, aber sie erheben es auch zum Überlebensprinzip von Llewyn. Die Zirkelstruktur des Films nimmt klaustrophobische Züge an. Die Räume ziehen sich so eng zusammen, bis die dämmerigen Hausflure, durch die Llewyn sich zwängen muss, irgendwann alle gleich aussehen. Und eine nächtliche Autofahrt mit John Goodman endet als David-Lynch-Albtraum. Wie sein antikes Vorbild ist Llewyn ein Getriebener, der in den wenigen klaren Momenten, in denen er über einen freien Willen verfügt, konsequent die falschen Entscheidungen trifft. Damit kommt „Inside Llewyn Davis“ – für Coen-Verhältnisse – einer Charakterstudie schon ziemlich nah.

Die zeitlichen Bezüge zur Greenwich-Village-Szene sind aber immer etwas mehr als ein atmosphärisches Hintergrundrauschen. Obwohl es nur am Rande um ein Schlüsselmoment der US-Folkmusik geht, verhandelt der Film grundsätzliche Geschmacksfragen, weil Llewyn eben auch an seinen künstlerischen Idealen scheitert. Paradoxerweise überschüttet er am absoluten Tiefpunkt seines Niedergangs eine alte Frau mit Hohn und Spott, die auf der Bühne des Gaslight ein Volkslied aus dem ländlichen Amerika vorträgt. Llewyns Behauptung von Authentizität ist allerdings nur eine romantische Pose.

So wird wenigstens die Musik, wenn schon nicht die Geschichte des Folkrevivals, zur erzählerischen Kraft des Films. Die Lieder (produziert von T-Bone Burnett, gesungen von Hauptdarsteller Oscar Isaac, Timberlake und Mulligan) heben über weite Strecken den Plot auf, was die episodische Struktur verstärkt. Dafür tragen die Songs den kulturellen Konflikt in „Inside Llewyn Davis“ aus (Mulligans engelsgleiches “500 Miles” gegen Timberlakes halbstarke Rockybilly-Nummer “Please, Mr. Kennedy”). Die Coens wären sicher die letzten, die eine Lanze für die Unverfälschtheit und das Authentische brechen würden. Aber ihre ehrliche Freude an der Musik, ohne doppelten Boden oder süffisantes Grinsen, nimmt man „Inside Llewyn Davis“ ab.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 12/12

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Ich und du

(I 2012, Regie: Bernardo Bertolucci)

Im Versteck
von Wolfgang Nierlin

Lorenzo (Jacopo Olmo Antinori) lässt den Kopf hängen und verweigert jegliche Auskunft und Kooperation, wenn er seinem Psychotherapeuten gegenübersitzt. Das 14-jährige Problemkind, dessen Eltern getrennt leben, habe ein ausgeprägt „starkes …

Lorenzo (Jacopo Olmo Antinori) lässt den Kopf hängen und verweigert jegliche Auskunft und Kooperation, wenn er seinem Psychotherapeuten gegenübersitzt. Das 14-jährige Problemkind, dessen Eltern getrennt leben, habe ein ausgeprägt „starkes Selbst“ und leide infolgedessen an einer narzisstischen Störung, lautet die Diagnose. Wenn Lorenzo die Arztpraxis verlässt, betritt er eine Wendeltreppe, deren Spirale geradewegs sein kompliziertes Seelenleben einschließt. „Boys Don’t Cry“ singen The Cure, was wir als Zuschauer ebenso laut und die Leinwand erfüllend hören wie der in sich gekehrte Jugendliche, der sich mit seinem Kopfhörer und öfters auch mit einer übergestülpten Kapuze von der Außenwelt abschottet. Gegenüber seiner alleinerziehenden Mutter Arianna (Sonia Bergamasco) pflegt er einen provozierenden Widerstandsgeist; in der Schule schwimmt der schweigsame Einzelgänger gegen den Strom und weiß es trickreich zu arrangieren, dass er die einwöchigen Skiferien schwänzen kann.

„Allein geht es mir super“, sagt Lorenzo einmal. Also bezieht der experimentierfreudige Außenseiter heimlich ein Versteck, das für ihn zu einem ambivalenten Refugium wird, weil es im Kellerraum ein paar Stockwerke unter der elterlichen Wohnung situiert ist. Ausgestattet mit Proviant für sieben Tage, mit Büchern und Musik, richtet sich Lorenzo zwischen Staub und Gerümpel im einsamen, dunklen Untergrund ein. Dabei verkörpert das verdreckte Verlies für Lorenzo ebenso die Freiheit eines selbstgewählten Exils. Der italienische Meisterregisseur Bernardo Bertolucci setzt in seinem neuen, nach fast zehnjähriger Pause entstandenem Film „Ich und du“ („Io e te“) diese Dialektik zwischen oben und unten, Licht und Dunkelheit, Ausbruch und Einschluss faszinierend anspielungsreich und vieldeutig ins Bild. So entfaltet sich Lorenzos äußerliche Regression ins Klaustrophobische zugleich im „Bauch des Hauses“, wo das geräuschvolle Ader-System der Wasserleitungen zusammenläuft und Heizungsrohre für wohlige Wärme sorgen.

Als plötzlich und unerwartet Lorenzos ältere Halbschwester Olivia (Tea Falco) das Versteck entdeckt und vehement Einlass begehrt, scheint es mit der Abgeschiedenheit zunächst vorbei zu sein. Die zornige junge Frau ist eine heimatlose Drogenabhängige auf Entzug, die ihre künstlerischen Ambitionen als Fotografin an die Heroinsucht verloren hat. Olivia sucht nach Erlösung aus dem Gefängnis aus Drogen und Ich-Bezogenheit und erlebt weitgehend hilflos die Hölle der Entzugserscheinungen, die Bertolucci ungeschminkt zeigt, wobei sich Schönheit und Schmerz vermischen. Zeitweise wirken die beiden Geschwister wie Tiere im Käfig, dann wieder wie Schicksalsgenossen, die sich langsam einander annähern und an einem verborgenen Ort nach Erneuerung streben. Mit deutlichen Reminiszenzen an seinen Film „Die Träumer“ inszeniert Bertolucci einen Eskapismus, der sich immer mehr von den raum-zeitlichen Koordinaten löst, stattdessen zu einer Logik des Gefühls findet und damit auch zu einer inneren Verbundenheit der Protagonisten.

Auf dem Höhepunkt dieser sehr sinnlichen Reise zu sich selbst und zum Anderen, deren einzelne Etappen durch das weite Feld der Imagination und des Schlafs führen, singt David Bowie zur Melodie seines Songs „Space Oddity“ einen höchst poetischen italienischen Text, den der Lyriker Mogol „Ragazzo solo, ragazza sola“ betitelt hat und in dem es ebenso traurig wie schön heißt: „In meinen Augen wohnt ein Engel, der nicht mehr fliegen kann.“ Dabei umarmen sich die Geschwister zum Tanz, der wiederum zum gegenseitigen Versprechen wird. Später, am siebten Tag der Woche, tauchen sie frühmorgens gemeinsam wieder aus ihrem Kellerversteck auf. Die Kamera beschreibt bei ihrem Abschied voneinander eine Plansequenz, folgt dann Lorenzo, während Bowies Songs – jetzt auf Englisch – nach dem Countdown der ersten Strophe zur Zeile „This is ground control to Major Tom“ anschwillt und das Bild die Bewegung seines Helden einfriert. In dieser ebenso schönen wie ergreifenden Hommage an den Schluss von François Truffauts „Sie küssten und sie schlugen ihn“ („Les quatre cents coups“) richtet Lorenzo seinen vieldeutig offenen Blick, der einen neu gewonnenen Standpunkt mit einer ungewissen Zukunft vereint, gegen die Gesetze des Kinos auf den Zuschauer.

Alphabet

(AT / D 2013, Regie: Erwin Wagenhofer)

Für eine Kultur der Liebe
von Wolfgang Nierlin

Während wir ausgetrocknete Landschaften des Death Valley sehen, behauptet der englische Bildungsexperte Sir Ken Robinson in markigen Worten, die menschliche Kultur beruhe auf der „Kraft der Vorstellung“. Diese Fähigkeit werde …

Während wir ausgetrocknete Landschaften des Death Valley sehen, behauptet der englische Bildungsexperte Sir Ken Robinson in markigen Worten, die menschliche Kultur beruhe auf der „Kraft der Vorstellung“. Diese Fähigkeit werde aber, so seine radikale These, systematisch durch eine falsche Erziehung und unangemessene Bildungseinrichtungen zerstört. Um dies zu ändern und damit Wachstum zu generieren, brauche es veränderte Rahmenbedingungen. Dass er dafür das nicht ganz stimmige Bild vom Regen wählt, der auf ausgedörrten Boden fällt, ficht ihn nicht an. Denn dem Dokumentaristen Erwin Wagenhofer, der dieses Statement als Rahmen für seinen dezidiert einseitigen und parteiischen Film „Alphabet“ wählt, geht es um grundsätzliche, ebenso brisante wie diskussionswürdige Fragen: Wie erziehen wir unsere Kinder? Was ist Bildung? Sind unsere Schulen fürs Lernen geeignet? Und was hat das alles mit unserer Gesellschaft und unserer Lebensweise zu tun?

Beunruhigende Beobachtungen dazu macht der österreichische Regisseur zunächst in China, dem Land der Pisa-Sieger: Standardisierte Lerninhalte, extremes Konkurrenzdenken, die Nivellierung individueller Unterschiede und staatlich kontrollierte Wettbewerbe formten die Kinder zu „Prüfungsmaschinen“ statt zu Menschen, sagt der chinesische Bildungskritiker Yang Dongping. Die Parole über diesem rigiden, für die kindliche Entwicklung ungesunden System laute: „Kinder dürfen nicht an der Startlinie verlieren.“ Dabei verlören sie aber ihr Ziel als Menschen. Diese gewiss etwas zugespitzte Einschätzung, die durch leicht plakative Bilder öder Schulhöfe, trister Stadtansichten und diszipliniert arbeitender Schulkinder unterstützt wird, findet ihre Entsprechung in den Analysen und Meinungen weiterer Experten.

So erklärt etwa der prominente Göttinger Hirnforscher Gerald Hüther, wie die angeborene Genialität der Kinder durch schulische Leistungsfixierung sukzessive verloren gehe. Unsachlich, fast demagogisch wird es allerdings, wenn der Schulkritiker unreflektiert einen unzulässigen Zusammenhang herstellt zwischen durch eine verfehlte Bildung „abgerichteten Menschen“, Fabrikarbeitern und willigen Befehlsempfängern der Nazi-Diktatur. Wagenhofers kritische Bestandsaufnahme ist jedoch heterogener und widersprüchlicher, als dies zunächst den Anschein hat. So wendet sich etwa mit dem Telekom-Personalvorstand Thomas Sattelberger ein systemimmanenter Kritiker gegen die zunehmende Ökonomisierung unterschiedlichster Lebensbereiche, die Hamburger Schülerin Yakamoz Karakurt liest ihren bewegenden Aufsatz über eine durch unser Schulsystem bedingte verlorene Kindheit und der mit dem Down-Syndrom geborene Hochschulabsolvent Pablo Pineda Ferrer aus Spanien plädiert für ein „Konzept der Liebe“.

Auf tief beeindruckende Weise wiederum findet sich dieses verwirklicht in dem von Arno Stern entwickelten Malspiel, das das ganze Wesen des Kindes aktiviere und dabei bewirkt, dass es zu sich selber komme. Gerade weil Wagenhofer nicht beansprucht, repräsentative oder gar erschöpfende Antworten zu geben, ist sein Film „Alphabet“ geeignet, Diskussionen anzustoßen. Schließlich geht es ihm darum, eine Bewegung zu erzeugen, die es ermöglichen soll, einen dringend notwendigen Perspektivwechsel vorzunehmen, um überhaupt die beunruhigenden Dimensionen des Problems in den Blick zu bekommen.

Il Futuro – Eine Lumpengeschichte in Rom

(I / CL / D / ES 2013, Regie: Alicia Scherson)

Allein in der Welt
von Wolfgang Nierlin

Nüchtern und schnörkellos, lakonisch und desillusioniert ist der Ton, den Roberto Bolaño in seinem Buch „Lumpenroman“ anschlägt. In seinem letzten, noch vor seinem frühen Tod veröffentlichten Roman erzählt der gefeierte …

Nüchtern und schnörkellos, lakonisch und desillusioniert ist der Ton, den Roberto Bolaño in seinem Buch „Lumpenroman“ anschlägt. In seinem letzten, noch vor seinem frühen Tod veröffentlichten Roman erzählt der gefeierte chilenische Schriftsteller aus der Perspektive seiner jugendlichen Heldin Bianca eine Geschichte der Trauer, die in eine mysteriöse Atmosphäre absoluter Verlorenheit getaucht ist. Seit dem Unfalltod ihrer Eltern wähnt sich die junge, apathisch wirkende Frau „allein in der Welt“ und hat das „Gefühl, auf einem fremden Planeten zu leben“. „Es gab bloß die Illusion von Nähe“, sagt Bianca, die zusammen mit ihrem jüngeren Bruder in einem römischen Vorort wohnt. Mit exzessivem Fernsehkonsum versuchen die beiden Geschwister, ihre innere Leere zu vergessen und spiegeln dabei doch nur ihre Verzweiflung. Die Gedanken an eine bessere Zukunft verlieren sich für Bianca im Nirgendwo und die Nächte bleiben für sie merkwürdigerweise blendend hell: „Es war egal, ob ich die Augen schloss oder offen hielt.“

In ihrer „Il Futuro“ betitelten Verfilmung des Stoffes hält sich Alicia Scherson eng an die literarische Vorlage. Mit einer Off-Erzählerin, geheimnisvollen Sounds, dunklem Licht und Bildern einer parallelen Medienwelt evoziert die chilenische Filmemacherin eine gedrückte, von Antriebslosigkeit und Schwermut erfüllte Stimmung. Sie verzehre sich offenen Auges, sagt Bianca (Manuela Martelli), die gleichgültig gegenüber sich selbst ist, sich treiben lässt und auf ihre Tränen wartet. Doch nur einmal, als sie im Fernsehen Jean Vigos „L’Atalante“ sieht, stiehlt sich eine Träne aus ihrem Auge. Dabei versteht Scherson wie schon Bolaño diese Traurigkeit auch als Ausdruck einer europäischen Krise „am Rande des Zusammenbruchs“.

Als Biancas Bruder (Luigi Ciardo), der in einem Fitness-Studio arbeitet und im Film Tomás heißt, eines Tages zwei zwielichtige, fremde Männer mit nach Hause bringt, bekommt die Geschichte eine kriminalistische Wendung. Die beiden „Blutsbrüder“ nisten sich bei dem Geschwisterpaar ein, beginnen nacheinander mit Bianca zu schlafen, was Bolaño fast beiläufig schildert und Scherson nur andeutet, und eröffnen ihr irgendwann ihren listigen Plan: Bianca soll das Vertrauen eines alternden, erblindeten Filmstars gewinnen, der in einem abgedunkelten Palast lebt und in seinem Safe angeblich viel Geld hortet. Zwar interessiert sich Alicia Scherson auch für das „lächerliche Abenteuer“ aus dem Fundus trivialer Stories, akzentuiert aber vor allem die zärtliche Annäherung zwischen Bianca und Maciste (Rutger Hauer), dem Ex-Kampfsportler und Mister Universum, der vor etlichen Jahren als herkulischer Held zum gleichnamigen Star einer berühmten Sandalenfilmreihe avancierte. Jetzt trägt er die Schutz suchende Frau auf seinen starken Armen wie ein Kind und zugleich wie eine Geliebte. Doch auch Maciste ist ein Versehrter, der unter einer Schuld leidet und der das „Gesetz des Lebens“ als einen Prozess vom Guten hin zum Bösen begreift.

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Das große Heft

(UNG / D 2013, Regie: János Szász )

“And everybody putting everybody else down” (Lou Reed, 1942-2013)
von Andreas Thomas

Was man heute eine “Coming-Of-Age”-Geschichte nennt, nannte man früher noch eher Entwicklungs- oder Bildungsroman, und war dann auch eher kein Film, sondern Buch. Da in der Moderne sich die Auffassung …

Was man heute eine “Coming-Of-Age”-Geschichte nennt, nannte man früher noch eher Entwicklungs- oder Bildungsroman, und war dann auch eher kein Film, sondern Buch. Da in der Moderne sich die Auffassung breitmachte, dass die Umstände schon so definitorisch seien, dass an „Entwicklung“ oder „Entwicklungsspielraum“ kaum mehr zu denken sei, machte sich das literarische Modell des Entwicklungsromans eher rar, machte anderen, temporären, deskriptiveren Formen („Short Story“) Platz, und erschien selbst wenn, dann eher nur mehr in paradoxer Gestalt. In „Die Blechtrommel“ etwa ist das Subjekt ein Kind, das, angesichts einer vernunftlosen Welt, nicht wachsen – also nicht erwachsen werden – möchte. Für „Harry Potter“ muss direkt und gleich eine abenteuerliche Parallelwelt geschaffen werden, in der es noch so was wie eine „Schule des Lebens“ gibt, in der er überhaupt noch wachsen, also aufsteigen und reifen kann.

Parallel zu dieser verkümmerten „großen“ Form der Entwicklungsgeschichte koexistiert aber natürlich auch seit Jahrzehnten schon die kleine, unauffälligere und unprätentiösere Version des so genannten Coming-of-Age-Films, bei dem es, wie in der Literatur auch, ums Erwachsenwerden geht, mit dem Unterschied, dass dieser Prozess, da er bezeichnenderweise auf das Körperliche (wenn schon das Geistige nicht wirklich mehr entwicklungsfähig ist) i.e. das Sexuelle, reduziert ist, oftmals mit dem ersten Geschlechtsverkehr vollendet und der Film vorbei ist (Filme, wie z.B. die „American Pie“-Serie könnte man ja eher „Coming Of Sperm“- Filme nennen) und wenn er dabei gesellschaftliche Wirklichkeit touchiert hat, kann man ja schon von Glück sagen.

Erwachsenwerdenfilme beschäftigen sich also heute meistens nur mit der Frage, wie das mit dem Sex funktioniert und doch sehr selten damit, wie man eigentlich mit und in dieser komischen Welt leben oder überleben kann, ohne dabei sich oder seine Träume zu verraten. Oft geht diese populäre Sinnsuche-Spielart des Coming of Age ja dann bis ins Rentenalter weiter („Desperate Housewifes“, „Sex and the City“).

Der ungarische-deutsche Film „Das große Heft“ ist da noch aus anderem Holz geschnitzt. Als Verfilmung des mehrfach ausgezeichneten, gleichnamigen Romans von Ágota Kristóf ist sein Thema der große Weltentwurf ex negativo, aus der unbestechlichen Sicht eines unbenannten Zwillingsbrüderpaars, das, zunächst in bildungsbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, zum Schutz vor einem (ja, irgendwie dann doch dem 2. Welt-!) Krieg von der unbenannten Stadt aufs namenlose Land verbracht wird, zur ihm gänzlich unbekannten Großmutter, die, wie weiland Heidis Großvater, ein mürrisches Einsiedlerdasein fristet, vom Dorf als Hexe verschrien, und die ihre eigenen Enkel als „Hundesöhne“ bezeichnet und sie entsprechend behandelt.

Der dem vorherigen Wohlstand abgewonnene Firnis von Kultur und humanistischer Lebensart ist mit Beginn des Krieges weggespült; bei der Großmutter herrscht das ungeschminkte Prinzip von Überleben oder Sterben. Nur ein elterliches kulturelles Relikt und Vermächtnis ragt noch in diesen Rückfall in die Barbarei: ein großes leeres Schreibheft und der Auftrag, darin die „Dinge so festzuhalten, wie sie wirklich waren“ bzw. sind. So werden die Zwillinge selbst zu den Chronisten ihres Lebens, und damit der Härte des Lebens in ihrer Zeit und damit des Krieges und damit zur Kernthese des Films/Romans, die sich etwa wie folgt zusammenfassen lässt: Menschlichkeit und Nächstenliebe und alle teuer gehandelten moralischen Werte sind nur Lug und Trug in unserer anscheinend so hoch entwickelten Gesellschaft und überleben kann nur, wer sich illusionslos auf diese Tatsache einstellt. Der Clou der Geschichte aber ist nicht nur die Erkenntnis, dass die Welt eine grausame ist, sondern die Stilisierung dieser Erkenntnis zur neuen Maxime moralischen Handelns.

Was nun vermutlich im Roman (den der Autor dieser Zeilen nicht kennt), da wortreicher als der Film, ausbuchstabiert sein mag, versucht der Film mit drastischen Bildern (die Jungen, um sich gegen die täglichen Schläge der Großmutter zu immunisieren, schlagen und halten sich gegenseitig solange die Backe hin, bis die Schmerzen nicht mehr ihr Inneres erreichen; da das Töten ein notwendiges Mittel zum Überleben bedeutet, üben sie sich im Erlegen von Tieren und sie üben sich im Erdulden von Hunger und Kälte, damit ihre Würde nicht mehr durch diese physischen Widersacher gebrochen werden kann) auszugleichen und zu evozieren: Das Erwachsenwerden als Ab- bzw. Verhärten, aber – vielleicht ist es dem Schreiben des „Großen Hefts“ geschuldet – auch als Entwicklung zu einer Ehrlichkeit bzw. Wahrhaftigkeit, die die Eltern trotz aller guten Umgangsformen niemals praktizierten, schließlich ein Über-das-stumpfe-Agieren-und-Reagieren-Hinauswachsen zu einer echten Autonomie.

Und so hat sie die “Schule des (grausamen) Lebens“, als sie ihre Mutter endlich abholen will, näher zu ihrer grausamen, aber dabei ehrlichen und darin verlässlichen Großmutter gebracht, und auch der Vater entpuppt sich am Ende als lieb- und würdeloser Egoist. Quod erat demonstrandum!

Vermutlich kann die Lektüre des Romans mehr Licht in ein paar Entwicklungsschritte bringen, die der Film eher andeutet, aber der Film von Regisseur János Szász wurde mit spürbar viel Hingabe (Kamera: Christian Berger („Das weiße Band“)) zum Stoff erarbeitet. „Das große Heft“ ist ein überzeugender, atmosphärischer Film, der stilistisch ein wenig klassisch wirkt, was ihm zum Vorteil gereicht, denn gemeint ist hier, dass ihn das in die Nähe von Film-Klassikern versetzt, weniger, dass er altmodisch wirkt, wenn auch ein unabstreitbares Bisschen. Und wenn er auch Fragen offen lässt, dann kann man ihm das deshalb gut verzeihen, weil er einen seltenen, da großen (Ent-)Wurf wagt, das Porträt einer brutalen und verlogenen Welt, eine Universalanalyse, in der, wie in jeder echten Erkenntnis, der Keim zu einem Gegengift steckt.

Tanja – Life in Movement

(AUS 2011, Regie: Sophie Hyde, Bryan Mason)

Weiterleben im Werk
von Wolfgang Nierlin

Der Film „Tanja – Life in Movement“ widmet sich dem Erbe der Tänzerin Tanja Liedtke „Ich möchte eine Blume sein“, habe sie sich als Dreijährige gewünscht, sagt Tanja Liedtke, während …

Der Film „Tanja – Life in Movement“ widmet sich dem Erbe der Tänzerin Tanja Liedtke

„Ich möchte eine Blume sein“, habe sie sich als Dreijährige gewünscht, sagt Tanja Liedtke, während die flirrenden Bilder einer fast schwerelos wirkenden Tänzerin vorüberziehen. Dass dieser kindliche Wunsch doch nicht ganz unmöglich war, habe sie dann später in einer Aufführung des „Blumenwalzer“ gemerkt. Also wurde das 1977 in Stuttgart geborene, langgliedrige Mädchen in den Tanzunterricht geschickt: Zunächst in Madrid, wohin die Familie zog, später an Ballettschulen in London. „Ich fand das, was ich tief im Inneren wirklich tun wollte“, bekennt die junge Frau mit einer sympathisch offenen Ausstrahlung in der Rückschau. „Es wurde meine Liebe und Leidenschaft. Es ging mir in Fleisch und Blut über.“ Was man sofort glaubt, wenn man Szenen sieht, in denen ihre körperliche Beweglichkeit und ein pantomimisches Talent ganz unangestrengt zu ausdrucksstarken, dabei unkonventionellen Bildern zusammenfließen. Nach Engagements in Australien und London überträgt man der Tänzerin und aufstrebenden Choreographin überraschend die Leitung der renommierten Sydney Dance Company. Doch noch ehe sie die Stelle antreten kann, wird sie im August 2007 mit 29 Jahren durch einen tragischen Unfall aus dem Leben gerissen.

Bryan Masons und Sophie Hydes Dokumentarfilm „Tanja – Life in Movement“ ist insofern zunächst Hommage und filmischer Nachruf auf eine begabte junge Tänzerin und Choreographin. In Erinnerungen von Freunden, Kollegen und Familienmitgliedern, in Filmausschnitten umjubelter Aufführungen und privaten Videos wird die schmerzliche Trauer über diesen unglaublichen Verlust vermittelt und spürbar. Im Weiteren dokumentieren die Filmemacher Tanja Liedtkes Erbe, indem sie die Probearbeiten ihres früheren Ensembles, einer Gruppe ausgesprochener Individualisten, bei der Einstudierung ihrer Choreographien beobachten. Diese werden von ihrem ehemaligen Lebens- und Arbeitspartner Solon Ulbrich geleitet. Doch wie lässt sich diese Gruppe zusammenhalten, wenn ihre Hauptperson fehlt? Und wie lässt sich eine Kunst realisieren und vor allem weiterentwickeln, wenn die Inspirationen der maßgeblichen Ideengeberin nur noch Erinnerung sind?

Der Tanja Liedtke gewidmete Dokumentarfilm zeigt dieses schwierige Ringen als Prozess der Annäherung und Vergewisserung. Im Nachdenken über ihre Choreographien „Twelfth Floor“ („Zwölfter Stock') und „Construct“, in denen es zum einen um die Erforschung eines „erzwungenen Zusammenlebens“, zum anderen um die Erschaffung von Lebenswelten geht, zeigt sich, wie eng bei dieser außerordentlichen Tanzkünstlerin Leben und Kunst zusammenhängen. Vor allem die Bilder des Eingesperrt-Seins in einer verrückten Welt reflektieren die inneren Kämpfe und Selbstzweifel dieser ebenso stark wie zerbrechlich wirkenden Tänzerin. Auch wenn die Trauer über ihren Verlust als Schatten über dem Film liegt, so zeigt dieser anhand der Arbeit ihre Ensembles doch auch das Weiterleben Tanja Liedtkes in ihrem Werk.

Mein erster Berg

(CH 2012, Regie: Erich Langjahr)

Trink, oh Auge ...
von Wolfgang Nierlin

„Ich bin in der Innerschweiz aufgewachsen mit Blick auf die Rigi“, lautet der erste Satz in Erich Langjahrs neuem Film „Mein erster Berg“. Damit stellt der renommierte Schweizer Dokumentarist gleich …

„Ich bin in der Innerschweiz aufgewachsen mit Blick auf die Rigi“, lautet der erste Satz in Erich Langjahrs neuem Film „Mein erster Berg“. Damit stellt der renommierte Schweizer Dokumentarist gleich zu Beginn seines „Rigi-Films“ einen gewichtigen persönlichen Bezug zu seinem Beobachtungsgegenstand her. Ein weiteres schriftliches Insert, das den historischen Rahmen absteckt, weist darauf hin, dass auf der ersten Karte der Eidgenossenschaft aus dem Jahre 1480, einer sogenannten Mappa Mundi, das berühmte Bergmassiv als „Zentrum der Welt“ bezeichnet wird. Nimmt man zu diesen knappen Angaben die Daten und Zeugnisse bekannter Schriftsteller hinzu, die am Ende des Films aufgelistet sind, entsteht eine Klammer, die das spannungsreiche Sujet in nuce zusammenfasst: Es liegt irgendwo zwischen Gottfried Kellers zitiertem „Trink, oh Auge, was die Wimper hält“ und Hermann Hesses kritischem Tagebucheintrag von 1945: „Fühle mich fremd dort und abgestoßen von der Fremdenindustrie.“

Weitere Worte und Sätze sind nicht nötig im Film von Erich Langjahr, der vollständig auf einen Kommentar und auf Interviews verzichtet, um stattdessen die Bilder sprechen zu lassen. Diese sind unspektakulär, aber genau und zu einem ruhigen, fast meditativen Erzählfluss montiert. Erich Langjahr ist ein wohltuend zurückhaltender, ebenso geduldiger wie beharrlicher Beobachter, der in wechselnden Perspektiven und im Wechsel der Jahreszeiten die Arbeit und das touristische Treiben am Berg dokumentiert. Trotz der subtil registrierten Kontraste bleibt seine Tonlage mild und changiert dabei in Bild und Ton immer wieder zwischen Nähe und Distanz, wodurch kuriose, fast verfremdende Effekte entstehen: Etwa wenn die riesige Flagge der Schweiz, die gerade noch mühsam am Berg angebracht wird, später aus der Ferne wie ein kleiner Punkt aussieht; oder wenn die Freizeitvergnügungen der Touristen von Arbeitsgeräuschen aus dem Off begleitet werden. Daneben gibt es Bilder, die geradezu unwirklich oder futuristisch anmuten: eine Freiterrasse, die in den Lüften zu schweben scheint; oder auch der Sendemast auf der Rigi-Kulm, der im winterlichen Eis und Schnee wie eine Skulptur aussieht.

Im Zentrum des Films steht allerdings ein Portrait des Rigi-Älplers Märtel Schindler, eines vielseitig begabten und beschäftigten Handwerkers und Bergbauern, dem kein Gewerke fremd zu sein scheint. Schweigsam, in sich gekehrt und fast ohne Mienenspiel hinterm dichten Bart, fällt er Bäume für den Bau eines Blockhauses und überwacht die Arbeiten auf der Baustelle; daneben schlägt er Pfähle für einen Elektrozaun ein, hilft beim Gleisbau und treibt Kühe und Ziegen auf die Alm. Wie schon in seinen früheren Arbeiten dokumentiert Langjahr Arbeitsvorgänge und Handwerkstechniken und bewahrt sie damit vor dem Vergessen. Dabei entsteht eine eindringliche Konzentration auf das gezeigte Geschehen, auf die körperliche Kraftanstrengung der Handwerker und die Präzision ihrer Arbeit.

Facettenreich und unaufdringlich kontrastiert der Filmemacher diese Mühen des täglichen Lebens mit Landschaftspanoramen, idyllisch anmutenden Naturschönheiten, aber auch mit den sportlichen Freizeitaktivitäten der Touristen und den mit modernen technischen Gerätschaften vollzogenen Bausünden am Berg. In deren Lärmkulisse schieben sich immer wieder die sanften Klänge von Hans Kennels dunkel getöntem Alphorn-Jazz. Auch Erich Langjahrs ethnographisch geprägtes Interesse an Alltagskultur und Brauchtum, vor allem aber sein distanziert-einfühlsamer Blick darauf bleibt bei aller unterschwellig mitschwingender Kritik versöhnlich gestimmt: „Ich versuche in diesem Film die Mitte auszuloten, die Mitte einer Landschaft und die Mitte eines Lebensbildes. Dies auch im Sinne eines Zeitbildes aus der Mitte der Schweiz“, schreibt Erich Langjahr, der bei seinem Film auch für die Kamera und den Schnitt verantwortlich zeichnet.

Computer Chess

(USA 2013, Regie: Andrew Bujalski)

Komplizierte Verbindungen
von Andreas Busche

Das Problem der Paarbildung ist für Computernerds zunächst ein theoretisches. Irgendwann, sagt einer der Informatiker in Andrew Bujalskis retroverliebter Farce „Computer Chess“, würden Computer zur Partnervermittlung eingesetzt. An die einzige …

Das Problem der Paarbildung ist für Computernerds zunächst ein theoretisches. Irgendwann, sagt einer der Informatiker in Andrew Bujalskis retroverliebter Farce „Computer Chess“, würden Computer zur Partnervermittlung eingesetzt. An die einzige Frau in der Runde richtet er die Frage, wie ihre Strategie in dieser Hinsicht aussehe. Die zuckt nur verschüchtert mit den Schultern. Dazu habe sie leider keine Meinung. Bujalskis Film spielt im Jahr 1984. Die meisten Dinge, die man heute wie selbstverständlich mit dem Computer anstellt, waren damals noch reine Utopie. Zum Beispiel, sie mit sich herumzutragen. Im tiefsten Miozän des Computerzeitalters basierte der Fortschrittsglaube von Wissenschaftlern auf Kühlschrank-großen Rechenmaschinen. „Computer Chess” gewinnt aus diesem Umstand einen beträchtlichen Witz, auch wenn der historische Abstand nicht das primäre Ziel von Bujalskis Beobachtungen ist.

„Computer Chess” berichtet aus einer seltsamen Zeit, als die Idee, dass Computer einmal den Menschen ablösen würden, noch ein Schreckenspotential besaß, mit dem die Informationswissenschaften lustvoll spielten. Auf einer Konferenz von Schachcomputer-Programmierern etwa, wo im sportlichen Wettkampf (Computer gegen Computer) das beste Programm gekrönt wird. Eine andere Gefahr war allerdings schon damals greifbar, wenn auch nur in der Fantasie der Schachnerds: dass das Pentagon an ihren Forschungen Interesse haben könnte.

Genauso gut könnte die Vorstellung, dass die umständlichen Schach-Programme irgendeinen praktischen Wert für das Militär hätten, aber auch einem grassierenden Wahnsinn geschuldet sein, der in Bujalskis Film langsam um sich greift. Das Tagungshotel wird von einer unerklärlichen Katzenplage heimgesucht, zudem hat sich eine Selbsterfahrungsgruppe eingemietet. Der Kontakt dieser beiden gegensätzlichen Welten sorgt vor allem unter den steifen Mathematikern für Verstörung. Nach der freundlichen Annäherung eines älteren Swinger-Ehepaares ergreift einer der Konferenzteilnehmer überstürzt die Flucht.

Verbindungen, technische wie menschliche, erweisen sich in „Computer Chess“ als schwierigste Hürde. Das galt schon für die frühen Filme Bujalskis. Mit „Computer Chess” hat der „Mumblecore”-Pionier nun allerdings eine formal überzeugende Metapher für die Anschlussunfähigkeit seiner Figuren gefunden: Er hat seinen Film auf einer historischen U-Matic-Videokamera gedreht, in schwarz-weiß. Die Schwerfälligkeit der Übersetzungstechnologien unterstreicht die Hilflosigkeit der bizarren Eskapaden. Die Protagonisten von „Computer Chess“ sind nicht nur in der Welt verloren, sondern auch in ihren Aufzeichnungsmedien.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: pony #88

Captain Phillips

(USA 2013, Regie: Paul Greengrass)

Gebt unserem Leiden ein Ziel (oder drei): Saving Captain Phillips
von Drehli Robnik

'Apollo 13', Saving Private Ryan', Cast Away': Tom Hanks‘ Erfolgsfilme von vor rund 15 Jahren waren immer auch Entwürfe dessen, was es heißt, westlich-amerikanisch zu sein. Im Bild des mit …

'Apollo 13', Saving Private Ryan', Cast Away': Tom Hanks‘ Erfolgsfilme von vor rund 15 Jahren waren immer auch Entwürfe dessen, was es heißt, westlich-amerikanisch zu sein. Im Bild des mit Haut, Haar und allen Sinnen unter Sterne, Stranddünen und Sperrfeuer geworfenen Hanks hieß das: eine Identität zu haben, und zwar insbesonders deshalb, weil man eine schmerzliche Geschichte voller Erfahrungen des Scheiterns und Verlusts hat, aus denen gerade noch das nackte Leben gerettet werden konnte. Survivor zu sein, das schien sinnreicher als gleich völlig ich- und geschichtslos in die verheißungsvolle Zukunft der Globalisierung/Digitalisierung/Finanziarisierung (Weltmarktwerdung der Welt) einzutreten.

Das war die Stunde des Hollywood-Blockbusterkinos in seiner – oder zumindest einer – goldenen Ära: Zugleich mit dem Abschied von traditionellen, patriarchal-heroischen Modellen der Handlungsmächtigkeit vermittelte es einen Realismus des schier Gespürten und nobilitierte so im Zeichen des Traumas (mehr oder minder) nahe, vorzugsweise zeitgeschichtliche Vergangenheiten: das space race, der Zweite Weltkrieg oder auch, in diesem Fall ohne Tom Hanks, das Malheur mit diesem Transatlantikschiff. Und das Trauma, so schien es, barg in sich den Schlüssel zum Triumph.

Mit Hanks in alter Größe und einem Titel, dem nur das „Saving' im Auftakt fehlt, knüpft „Captain Phillips' an diese Tradition an, ohne in ihrer Fortführung aufzugehen. Basierend auf einem Pirateriefall von 2009 geht es um die bangen Stunden, die der US-Titelheld nach Kaperung seines Frachters vor Somalia als Geisel lokaler Kidnapper durchleidet, bevor Navy SEALS ihn retten. Auf Landungsboot, Floß und Raumkapsel aus den 1990er Hanks-Hits folgt hier das Rettungs(kapsel)boot, das im Zentrum des Showdown steht bzw. in Richtung Piratenstrand dahintreibt.

Nun ist aber die Welt von heute, im Unterschied zu jener der späten 1990er, so gründlich globalisiert wie die sogenannte 'Krise', in die das Kapital sie gestürzt hat. Also verlagert sich der Schwerpunkt des Hanks‘schen Identitätenbauens vom Trauma als intimem Schatz, der universalisierbar ist (man kannte das dann etwa auch aus Guido Knopps Geschichtsfernsehen: Traumatisiert sind wir doch, bitteschön, alle …), hin zu etwas, das ostentativ geteilt ist, und das scheint hier eine Art radikaler, existenzieller Verunsicherungs-, gar Prekaritätserfahrung zu sein. Also werden Analogien herausgestellt.

In dieser wild wechselnden Zeit müssen unsere Kids hart sein, damit sie nicht untergehen, parliert eingangs Herr zu Frau Philipps; seine Worte sollen hier umso lebenswahrer klingen, je mehr sie als kleinbürgerliches No-na-Statement im Zustand totaler Verstricktheit formuliert und phrasiert sind. (Herrlich, dieses hochtönige Knarren in Hanksens Stimme!) Und umso wahrer schließlich auch, weil ja alsbald junge Somalis antreten, den Captain ebendies spüren zu lassen, nämlich wie hart Kids, eben auch diese Kidnapperkids, sein können, wenn sie nicht untergehen wollen und unterm Druck allgemeinmenschlicher Konkurrenz ihr Geschäft ausüben wollen. 'We all got bosses', sagt der Captain im spannenden Psychoduell zum Entführer, der sich die Autorität eines Kapitäns anzumaßen versucht, etwa indem er seinerseits behauptet, er sei Businessmann. Die Inszenierung vergleicht die überlasteten Schiffsmotoren (Frachtertriebwerk versus Piratenbootaußenbordmotor) miteinander oder lässt die Alphamänner des Films einander per Fernglas Aug in Aug sehen.

Auf beiden Seiten, beim Captain und seiner Crew, bei den Piraten und ihrem Low-Level-Anführer vor Ort, herrschen Angst und Not, Ganzkörpereinsatz mit reichlich Schweiß(fleck), bis hin zum Pinkelnmüssen als Fluchtversuchsvorwand – da ist er wieder, Tom Hanks bei einer Routinetätigkeit in seinen klassischen Rollen – und Aufbietung von Improvisationsfähigkeit: Die einen kommen mit Kalaschnikows aber dafür zum Teil barfuß, die anderen wehren sich zunächst mit Feuerlöschschläuchen, Leuchtraketen und Glasscherben.

Paul Greengrass (prominent geworden als Regisseur des zweiten und dritten Bourne-Films) variiert die Faktendemut und das Ohnmachtspathos seines 9/11-Flugzeugentführungsreißers 'United 93': Bild und Stimmen zittern, alles erscheint in schmutzigblassen Farbtönen, auch in der Kommandozentrale der US Navy herrscht eine Zeit lang Überforderung und selten Heldenpose. Irgendwie sind offenbar auch in 'Captain Phillips' alle Opfer.

Wenn aber ein Film so sehr mit dem 'Absaufen' aller Heroik in einer eigendynamischen und zunehmend verfahrenen Situation kokettiert, dann zählt umso mehr, was an Unterschied bleibt. Das war schon in 'United 93' so, wo – bei allem Herumreiten auf allseitiger Geworfenheit und Verwirrtheit – zunehmend ein Kontrast zwischen dem Fatalismus der islamistischen Kidnapper/Attentäter und der Handlungsentschlossenheit und -kraft seitens westlich-amerikanischer Flugzeugpassagiere markiert wurde. Auch in 'Captain Phillips' fragt sich: Wer ist noch handlungsfähig? Und: Wer weiß? Nun, weiß ist der Captain, fast seine gesamte Crew und fast jeder seiner uniformierten Retter; alle Piraten hingegen sind 'Schwarzafrikaner', wie man in Schengistan so sagt. Ja, aber so war das halt, bitteschön, und wenn das so war und alle Bedrohlichkeit in diesem Drama dunklen Teint hatte, dann muss man es halt auch so zeigen. Ideologie? Wir nie!

Alles beruht auf Fakten. Und die gebieten Demut – sei es in Form des Anblicks von Hanks als Leidensikone (und wie der am Ende leidet! Schade, dass er für einen neuen Jesus-Kreuzigungsfilm schon ein bissl zu alt und speckig ist); sei es in der Schmucklosigkeit, die die Inszenierung hier fast schon wieder zum Kitsch erhebt; sei es schließlich (auf Kathryn Bigelows Spuren wandelnd) im trockenen Habitus des Präzisionshandwerks seitens jener, die im Nachtsichtfadenkreuz Ziele ausschalten. Harte Zeit braucht sichere Hand (und wackeln tun eh schon die Kamera und das Boot).

Jung & schön

(F 2013, Regie: François Ozon)

Das Geheimnis der Jugend
von Ulrich Kriest

Ihre Sommerferien verbringt Isabelle (Marine Vacth) gemeinsam mit ihren Eltern, ihrem jüngeren Bruder und einer befreundeten Familie am Meer. Sie wird in diesen Ferien nicht nur ihren 17. Geburtstag feiern, …

Ihre Sommerferien verbringt Isabelle (Marine Vacth) gemeinsam mit ihren Eltern, ihrem jüngeren Bruder und einer befreundeten Familie am Meer. Sie wird in diesen Ferien nicht nur ihren 17. Geburtstag feiern, sondern auch zum ersten Mal mit einem Jungen schlafen. Felix aus Deutschland ist nett und gibt sich Mühe, aber Isabelle schaut sich buchstäblich selbst beim Sex zu.

Als ihre Familie ihr kurz darauf mit Kuchen und Kerzen zum Geburtstag gratuliert, ist sie vor Rührung den Tränen nahe, aber für Felix ist der Zug da schon längst abgefahren. Ein paar Wochen später – der Film ist episodisch durch die vier Jahreszeiten strukturiert – begegnen wir Isabelle, wie sie sich in einem eleganten Hotelzimmer prostituiert. Sie arbeitet ohne Zuhälter, findet unter dem Pseudonym Lea ihre Kunden via Internet, verlangt 300 € pro Date und agiert zunehmend selbstsicherer. Ihre Ersparnisse sind schon ziemlich angewachsen, als die Sache durch einen tragischen Zufall auffliegt. Eines Tages steht die Polizei bei Isabelles Eltern vor der Tür, mit kompromittierenden Fotos und allerlei Fragen. Insbesondere Mutter Sylvie fällt aus allen Wolken, während Stiefvater Patrick die ganze Sache nicht überdramatisieren will. Bruder Victor würde sich, selbst gerade pubertierend, für ein paar pikante Details interessieren, aber er hat die ältere Schwester ja auch schon am Strand mit dem Fernglas beim Sonnenbad beobachtet. Doch der eigentliche Skandal: Isabelle scheint völlig indifferent, ohne jedes Schuldbewusstsein und auch ohne Peinlichkeit.

Francois Ozon, dem es immer schon ein Leichtes war, mit aufreizend einfachen Plot-Konstruktionen überraschend verbindlich, zugleich spielerisch und vor allem mit filmischen Mitteln sehr ernsthafte Fragen über Leben, Tod, Familie und Gefühle zu formulieren, interessiert sich nicht sonderlich für eine realistische Auseinandersetzung mit der Frage der Prostitution. Ihm, der seinen Film konsequent um seine faszinierende Hauptdarstellerin als Blickfang herum entwickelt hat, geht es auch nicht so sehr um Psychologie. Stattdessen stattet er Isabelle mit einer Art von Geheimwissen aus, das ihr einen völlig neuen Blick auf die Fassade bürgerlicher Wohlanständigkeit zwischen Hotelzimmer, Schule und eigener Familie zu werfen erlaubt. Mag ihr die Begegnung mit Felix gezeigt haben, dass Sex vielleicht völlig überschätzt wird, so haben ihr die professionellen Kontakte zu zumeist älteren und kultivierten Männern gezeigt, dass sie diesen etwas geben kann, was die Männer anderswo offenbar nicht oder nicht mehr oder nicht mehr so bekommen: das Erlebnis von »Jugend« als Inszenierung. Und zwar selbst, wenn sie glücklich verheiratet sind.

Einmal beobachtet Isabelle überraschend ihre Mutter beim unmissverständlichen Flirt mit einem Freund der Familie. Wie kann die Mutter es nun noch wagen, sie für ihr Handeln zu kritisieren? Befragt, warum sie sich prostituiert habe, bleibt sie eine Antwort schuldig. Nein, es war nicht das Geld. Nein, es war nicht der Sex. Die Mutter besteht empört auf einer Therapie. Doch wie kann Isabelle den Psychiater ernst nehmen, der so alt wie ihre Kunden ist und der überdies für seine Sitzungen nur 70 € pro Stunde bekommt. Trotzdem: als Isabelle sich einmal kurz öffnet, spricht sie davon, dass nicht der Sex sie interessiert habe, sondern die Spannung im Hinblick auf die Begegnung mit den Unbekannten. Und auch der Nachvollzug der Begegnungen sei so reizvoll gewesen, dass sie stets weitergemacht habe. Erst der Tod ihres Lieblingskunden beim Sex habe ihr schließlich den Spaß verdorben. Und ganz zum Schluss wird sie noch einmal zu einer Verabredung in ein Hotel gehen. Doch da erlebt sie eine Überraschung, eine Begegnung mit einer Person, die einen völlig anderen, aber nicht minder sehnsüchtigen Blick auf sie wirft.

„Jung & schön“ ist also ein leichter, experimenteller Essay über den Blick, der den Zuschauer ins Spiel einbezieht – und zugleich ein Film über das unbestimmte Schweben des Erwachsenwerdens. Mag sein, dass man einst seine Eltern durch die Länge der Haare, durch die »richtige« Musik oder durch politische Ansichten provozieren konnte. In unseren aufgeklärten und liberalen Zeiten, in denen die experimentierfreudigen Kinder der siebziger Jahre zu mit allen Wassern gewaschenen Eltern geworden sind, laufen derlei rebellische Strategien komplett ins Leere. Ozon zeigt dagegen, dass moralische Indifferenz, gepaart mit Wissen und Schweigen, durchaus noch Sprengkraft besitzt. Er tut dies allerdings, ohne zu werten – und lässt seiner Figur ihr Geheimnis. Isabelle verweigert sich radikal dem Zwang zum intimen Austausch mit der Mutter, die genau daran fast zerbricht. Amüsant ist dagegen Ozons Idee, dass die Erwachsenen, die um Isabelles Geschichte wissen, ihr, der femme fatale, plötzlich mit Misstrauen begegnen. Als der Mann, der vielleicht ein Verhältnis mit Isabelles Mutter hat, Isabelle nach einem sehr schlecht bezahlten Babysitter-Job nach Hause fahren will, übernimmt unvermittelt seine Frau diese Aufgabe. Darüber kann Isabelle nur lachen.

Als zusätzliche Kommentarschiene hat Ozon zudem noch vier wunderschön melancholische Chansons von Francoise Hardy aus den sechziger Jahren eingesetzt, die das, was der Film zeigt, noch einmal in einem anderen Medium spiegeln, variieren oder dementieren. Aber will man mit Anfang 20 seine spannende Gefühlswelt schon auf Retro-Chanson-Niveau verhandelt wissen? Andererseits: warum nicht, denn irgendwo sind die Dinge, von denen Francoise Hardy singt, ja noch sehr aktuell. Oder zumindest nicht so alt wie der Sound der Musik, zu der sie vorgetragen werden.

Venus im Pelz

(F 2013, Regie: Roman Polanski)

Gefangener der Kunst
von Wolfgang Nierlin

Anklänge an Ravels „Boléro“ mischen sich von fernher in Alexandre Desplats Soundtrack, während die Kamera im Gewitterregen und dämmrigen Licht durch eine menschenleere Allee gleitet, bevor ihre Bewegung in einem …

Anklänge an Ravels „Boléro“ mischen sich von fernher in Alexandre Desplats Soundtrack, während die Kamera im Gewitterregen und dämmrigen Licht durch eine menschenleere Allee gleitet, bevor ihre Bewegung in einem alten Pariser Theater zur Ruhe kommt. Ihr subjektiver Blick gehört der Schauspielerin Vanda (Emmanuelle Seigner), die durchnässt und verspätet zu einem Casting eintrifft, das der Theaterregisseur Thomas (Mathieu Amalric) leitet. Dieser sucht für seine selbst adaptierte Bühnenfassung von Leopold von Sacher-Masochs berühmter Novelle „Venus im Pelz“ eine geeignete Hauptdarstellerin, wurde bislang aber nur enttäuscht. Entnervt und im Gehen begriffen, hat er zunächst auch wenig Lust, die ziemlich ausgeflippte, forsch und bestimmend auftretende Vanda vorsprechen zu lassen. Doch dann gelingt es der ebenso schillernden wie mysteriösen Schauspielerin den Regie-Neuling zu erweichen. Denn bald lässt sich bei der in vielen Rollen versteckten Vanda nicht mehr ausmachen, wo ihr Spiel beginnt und endet.

Nach Yasmina Rezas „Der Gott des Gemetzels“ hat Meisterregisseur Roman Polanski mit David Ives‘ Broadwayerfolg „Venus im Pelz“ erneut ein Theaterstück verfilmt. Nur zwei Personen, ein minimalistisches Setting, bestehend aus Bühne und Saal, sowie ein anspielungsreicher, vieldeutiger Text sind nötig, um eine perfekte Theater-Illusion zu erzeugen. Diese wird freilich immer wieder durchbrochen oder in eine andere Richtung gelenkt. So finden sich die beiden Protagonisten bald verstrickt in die Rollen des Stückes, in dem die Herzen eines „Hypersensualisten“ und einer heidnischen „Göttin“ in Liebe aneinander gekettet sind und der Mann als „Asket der Wollust“ die „Lust an der Demütigung“ entdeckt: „Ich bin ihr Sklave, seit sie diesen Raum betraten.“

Das trifft auch immer deutlicher auf Thomas zu, der Vandas „Hunger nach Dominanz“ anstachelt und herausfordert und sich dabei immer mehr öffnet. Im permanenten Austausch zwischen Spiel und Realität findet schließlich ein Rollentausch statt. Nacheinander wird Vanda zur Regisseurin, die auch mal den Text ergänzt, zur freudschen Analytikerin und zur Mänade, die das Stück als frauenfeindlich und sexistisch brandmarkt und dabei ihre erotische Macht in einem wilden Freudentanz zelebriert. Thomas wiederum, hinter dem man auch Polanski selbst vermuten darf – neben der Besetzung mit seiner Ehefrau Emmanuelle Seigner lassen sich weitere Spuren in sein Leben und Werk ausmachen -, verwahrt sich gesellschafts- und theaterkritisch gegen solch simple Deutungen und wird dabei zum schutzlos ausgelieferten Gefangenen seiner obsessiven Liebe. „Gott hat ihn gestraft und hat ihn in eines Weibes Hände gegeben“, wird wiederholt das aus dem apokryphen Buch Judith stammende Motto von Sacher-Masochs Novelle zitiert. Wenn das Theater-Licht erlischt und das Spiel der Imagination endet, bleibt der Regisseur als Gefangener seiner Kunst zurück.

Die Nonne

(F / D / B 2012, Regie: Guillaume Nicloux )

Rebellisches Herz
von Wolfgang Nierlin

In einem blauen Kleid sitzt die 16-jährige Suzanne Simonin (Pauline Étienne) am Spinett und unterhält die feine Gesellschaft. Der Verehrer, den das schöne Mädchen mit ihrem Spiel bezaubert, ist allerdings …

In einem blauen Kleid sitzt die 16-jährige Suzanne Simonin (Pauline Étienne) am Spinett und unterhält die feine Gesellschaft. Der Verehrer, den das schöne Mädchen mit ihrem Spiel bezaubert, ist allerdings für eine ihrer Schwestern bestimmt. Weil sie keine nennenswerte Mitgift zu erwarten hat, schickt man Suzanne ins Kloster. Anders als in Denis Diderots Ende des 18. Jahrhunderts erschienenem Roman „La religieuse“ transportiert dieser schnell vollzogene Schritt in Guillaume Nicloux‘ neuer filmischer Adaption des berühmten Stoffes -eine andere, seinerzeit ein mehrjähriges Aufführungsverbot nach sich ziehende Interpretation, realisierte Jacques Rivette 1965 – noch keine dunklen Vorahnungen oder gar eine unausweichliche Perspektivlosigkeit. Die Farbe Blau setzt sich in ihrer Ordenstracht fort und in ihrem aus dem Off zitierten schriftlichen Bericht bekennt sie, Jesus Christus zu lieben und am Klosterleben Gefallen zu finden. Trotzdem strebt die selbstbewusste junge Frau kein gottgeweihtes, der Welt entsagendes Leben an. Zu dem fühlt sie sich nicht berufen. Als Suzanne nach ihrem Noviziat das Gelübde verweigert, kommt es zum Eklat.

„Deine Geburt ist meine einzige Sünde“, bekommt sie daraufhin von ihrer Mutter (Martina Gedeck) zu hören, die damit einen Fehltritt bekennt. Denn Suzanne ist die uneheliche Tochter eines reichen Barons (Lou Castel), für dessen väterliche Zuneigung Nicloux eine Rahmenhandlung erfindet. Doch bevor sich diese Perspektive auf eine mögliche hellere Zukunft öffnet, schickt der französische Regisseur und Romancier die Protagonistin in dunkelste Isolationshaft. „Jeder denkt nur an sich in dieser Welt“, bekommt sie von ihrem Beichtvater zu hören, bevor sie ins Kloster zurückkehrt und ein Gelübde ablegt, an das sie sich später nicht erinnern kann. Konzentriert und ohne Abschweifung inszeniert Guillaume Nicloux diese unschuldige Gefangenschaft und findet zusammen mit seinem Kameramann Yves Cape Bilder, denen die Ausweglosigkeit eingeschrieben ist. An Originalschauplätzen in Bronnbach und Maulbronn gedreht, besitzt der Film darüber hinaus einen historisch authentischen Resonanzraum.

Kalte Gänge in fahlem Licht, vergitterte Zellen und immer dunklere Verliese visualisieren Suzannes Leidensgeschichte, die Pauline Étienne auf beeindruckende Weise in eine facettenreiche Darstellung zwischen Resignation und Verzweiflung, Widerstand und Rebellion übersetzt. „In der Welt mag sich die Freude am Quälen, am Peinigen erschöpfen; in den Klöstern währt sie ewig“, heißt es bei Diderot an einer bezeichnenden Stelle. Dagegen und damit auch gegen die fortgesetzten Strafen, die von der ebenso schönen wie grausamen Schwester Christine (Louise Bourgoin) verhängt werden, lässt Nicloux seine moderne kämpferische Heldin aufbegehren: „Mein Leib ist hier, aber mein Herz keineswegs. Es ist draußen.“ Um schließlich mit lauter, sich überschlagender Stimme zu rufen: „Ich will hier raus!“. Suzannes langer Weg in die Freiheit, dem Nicloux eine vielleicht dann doch zu optimistische zeitgenössische Vorbildfunktion andichtet („Die Welt erwartet dich, Suzanne. Sie braucht Menschen wie dich.“), ist hier allerdings noch nicht zu Ende. Eine Versetzung ins Kloster Saint-Eutrope, wo sie dem lüsternen Begehren und den eifersüchtigen Nachstellungen der Oberin (Isabelle Huppert) ausgesetzt ist, fügt den körperlichen eine neue Dimension seelischer Qualen hinzu. Dabei wechselt die Farbe der Ordenskleidung von einem hellen Blau in ein dunkles Rot.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Das radikal Böse

(AT / D 2013, Regie: Stefan Ruzowitzky)

Falsche Glaubenseinheit
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Dokumentarfilm mit Spielfilmszenen. 1941 in Osteuropa. Ein ganzes „Volk“ von Juden, so der Film, wird dort von jungen deutschen Polizisten ermordet. Die historischen Aufnahmen von den Erschießungskommandos und den …

Ein Dokumentarfilm mit Spielfilmszenen. 1941 in Osteuropa. Ein ganzes „Volk“ von Juden, so der Film, wird dort von jungen deutschen Polizisten ermordet. Die historischen Aufnahmen von den Erschießungskommandos und den Massengräbern werden eingeblendet. Dann aber wendet sich der Film in den reenacted Sequenzen den uniformierten Jungs zu, die mit ihren vertrauten Stimmen (Devid Striesow, Sebastian Urzendowsky) einander ihr Leid klagen. Sinnierend sitzen sie nach getaner Arbeit im Wald. „Es war mir eigentlich einfach nicht mehr möglich. Ich musste mich übergeben. Was machen wir bloß? Ich bin seelisch gebrochen. Ich bin impotent geworden.“ Leidvoll hält einer nach dem anderen seinen Kopf in die Kamera, und ich verstehe, sie werben um Empathie. Auch sie sind Opfer. Opfer des Holocaust.

Moment mal. Um den Holocaust, um seine Einmaligkeit, geht’s dem Film gar nicht. Im Gegenteil. Die Wissenschaftler, die Regisseur Stefan Ruzowitzky jetzt zu Rate zieht, darunter ein US-amerikanischer Heerespsychologe, wenden sich in im letzten Drittel des Films in ausführlichen Statements der Frage zu, wie „man“ das psychologisch macht, Leute wie die vom Polizeibataillon oder gar ein komplettes (deutsches) Volk oder heutzutage die Soldaten von der US-Army dazu zu bringen, ihre Einsätze durchzuführen. Der Kampf gegen das Böse, den Satan, wir erinnern das. Also eine brennende Frage. Der Army-Psychologe an der Militärakademie Westpoint („Das Erlernen des Tötens im Krieg und der Gesellschaft“) hat dazu viel zu sagen, und er sagt es.

Das mit den Massenerschießungen durch das Polizeibataillon, – geschichtlich gesehen war das doch immer so, lernen wir. „Das war doch ihr Job!' 'Sie waren doch so jung!“ Tja, der Fehler sei, erkennt der Experte, dass sie nicht wie wir an die Individualität glaubten, sondern an die Gruppe. Schon die Spartaner hätten sich als Gruppe ausgewiesen – durch Rastalocken, die Römer dagegen durch Kurzhaarschnitt, und vor hundert Jahren trugen unsre Jungs Bärte und heute eben nicht! „Amerikaner würden sich in so einer Situation (wie der vom Erschießungskommando; D.K.) nicht anders verhalten. Wir müssen versuchen zu verstehen, um dann moralisch urteilen zu können.“

Gibt es im Film Widerspruch? Nein! Nix Einmaligkeit des Holocaust? Alles ganz normal, „Bei den Tutsi und Hutu in Ruanda war das doch auch so“, „Unschuldige werden überall in der Welt getötet“, und so geht’s auch weiter? „Jeder einzelne muss was tun“, d.h. das Individuum muss ran, sagt die liberale Ideologie.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 1/2014

Insidious: Chapter 2

(USA 2013, Regie: James Wan)

Möbelrücken, Geistervermöbeln, Spukmelken
von Drehli Robnik

Bei 'Insidious: Chapter 2' ist manch unwillkommene Ironie am Werk. Dieses Spukhaussequel scheint von jenen Horrorfilmen (bis hin zum diesjährigen Sommerhit The Conjuring') abzukupfern, die ihrerseits an den Erfolg von …

Bei 'Insidious: Chapter 2' ist manch unwillkommene Ironie am Werk. Dieses Spukhaussequel scheint von jenen Horrorfilmen (bis hin zum diesjährigen Sommerhit The Conjuring') abzukupfern, die ihrerseits an den Erfolg von Insidious' (2011) angeknüpft hatten. Dessen Macher, übrigens auch die Masterminds des vor fast zehn Jahren stilprägenden 'Saw' – Regisseur James Wan und Drehbuchautor Leigh Whannell (letzterer auch eine Hälfte des notorisch unlustigen comic relief-Geisternerd-Duos) – tun sich für Teil 2 nicht zuwenig an, sondern zuviel: Dieses haunted house ist zu prall gefüllt, dieser Familienfluch kommt zu vollmundig daher.

Teil 1 ging noch von einem Fluidum der Leere und Beiläufigkeit im white middle class-Alltag aus: Ein paar undeutliche Sounds, Huscher im Augenwinkel und massig kaltweiß strahlende Lampen vor viel schwarzgetöntem Mobilar in Weitwinkel machten alles sehr unheimlich – bis dann der Film in Familienparapsychologie, Kostüm- und Ausstattungspomp (in den Gruselkammern von 'Saw' bewährt') abschweifte und mit pathetischer Jenseitsaction endete.

Genau da setzt nun Teil 2 nahtlos an, will sofort viel, fährt reichlich Plot, Figuren und Dialog (zumal umständliche Erklärungen, immer ein schlechtes Omen) auf, setzt den queernessfeindlichen Unterton und die Unsitte, sich mit Geistern zu prügeln, als wären sie Kickboxer, fort. Es ist mehr wie in einer Sitcom als in einem bezwingenden Horrorfilm: Ständig kommt jemand zur Tür rein und will was; manche von denen kennt man von früher; alle – insbesondere der zuletzt auch in 'The Conjuring' als 'begeisterter' Familienvater eingesetzte Patrick Wilson und Barbara Hershey (1982 die Hauptdarstellerin in dem tollen Spukpsychothriller 'The Entity') – spielen unter ihrem Niveau, das dafür aber ungebremst. Eine Rückblende ins Jahr 1986 gibt es auch, weiters die Ruine eines Krankenhauses, und als obermorbides altes Lied erklingt nun 'Row, row, row the Boat' (2011 war es noch 'Tiptoe through the tulips').

Ein paar Mal geht er aber eh noch gut rein, der heutzutage gern vorgeführte Kleiderkasten-, Klopfzeichen- und Alte-Videos-Analysierschmäh, und die Kammer mit dem Wald aus unter Leintüchern versteckten erstarrten Groteskkörpern hat designerisch etwas vom alten Geisterfilm-, öh,-Spirit.

Ender`s Game – Das große Spiel

(USA 2013, Regie: Gavin Hood)

Leadership & Battleship im SciFi-Driller
von Drehli Robnik

Wie manch neuerer SciFi-Film beginnt 'Ender`s Game' recht abrupt, indem er uns in einen trailerhaft anmutenden Zusammenschnitt von Luftschlachtpanoramen und ins rasende Nacherzählen einer eh schon urlang laufenden Vorgeschichte vom …

Wie manch neuerer SciFi-Film beginnt 'Ender`s Game' recht abrupt, indem er uns in einen trailerhaft anmutenden Zusammenschnitt von Luftschlachtpanoramen und ins rasende Nacherzählen einer eh schon urlang laufenden Vorgeschichte vom Krieg gegen invasive Insekten-Aliens stürzt. Was früher ein Action-Finale gewesen wäre, fungiert nun als Auftakt (naja, warum nicht?) und etabliert das Setting; ab dann tritt die zweite aktuelle SciFi-Konvention in Kraft: Initiation eines Erlösers durch ritualisierte Schulung für bzw. durch Kampfspiele. 'Das große Spiel' (so der offenbar aus dem UfA-Fundus entlehnte Titelzusatz) ist hier nicht als 'Hunger Game' betitelt, sondern nach Teenageprotagonist Ender (Asa Butterfield, vor zwei Jahren als Scorseses Hugo Cabret im Einsatz) benannt; dessen Vorname will von Andrew abgeleitet sein, aber – glauben Sie jemandem, der mit Andreas-Ableitungen Erfahrung hat – da klingt doch mehr der nom de guerre eines Enders, Beenders, an, der, wie es im Dialog heißt, den 'war to end all wars' anführen soll. Mal sehen, was die deutsche Synchro daraus macht, es stehen ja charmant aufgeladene Vokabeln wie 'Endkampf' oder 'Endsieg' im semantischen Raum.

Lehrer und Spielleiter beim Endspiel ist nicht der Herr Papa (wie unlängst Will Smith in After Earth'), sondern Harrison Ford als strenger Colonel auf der Suche nach einem juvenilen Leader im totalen Krieg und dabei bereit, Kinder zu schinden und auf Dauer aus ihren Familien heraus in orbitale Schulungszentren zu verpflanzen. Ihn flankieren Ben Kingsley als gesichtstätowierter Flottencharismatiker mit Maori-Herkunft und andere als ethnic markierte Uniformierte.

Es wird trainiert, schikaniert und selektiert, steif in der Gamezone rumgeschwebt und gelehrig dem Zauber der Autorität gehuldigt. Teambildung, Willensbildung, Herzensbildung, Einbildung (vieles hier ist ja, siehe Titel, offenbar bloß ein Spiel, und die Raumschiffschlacht am Ende sieht – ohne allen Retrochic – aus wie Sequenzen, für die ich in den 1980ern viel Geld in den Münzeinwurf von Arcadegames gesteckt habe). Viel und Tiefes geredet wird hier sowieso (ist quasi Ehrensache!). Monitoring rules, als Tätigkeit wie auch als kommunikationstechnische Bildform.

Der Film von Gavin Hood (der schon besser inszeniert hat, etwa 2007 bei 'Rendition') basiert auf einem Post-Vietnam-Militäresoterikroman von Orson Scott Card, der, so heißt es, als Standardlektüre bei den US Marines dient. Früher einmal kam sowas auf obszön und satirisch-reflexiv ins Kino und hieß dann 'Starship Troopers' (oder auf deppert, dann hieß es 'Top Gun'); heute kommt das als normal daher, der Schnitt so indifferent wie die Raumstationsbauten. Der tongue in cheek-Drillfaschismus bietet kein provokantes – geschweige denn staunenmachendes oder zumindest infantiles – Bild mehr in Zeiten, in denen per Bootcamp als innovativer Bildungsproblemlösungsansatz und per Castingshow als konkurrenzförderndes Arbeitsmarktmodell regiert werden will. Spielen tun mittlerweile eh alle, wenn sie arbeiten, lernen oder sich zu Businessninjas weiterbilden.

Die Fünf-Minuten-vor-Schluss-Wendung hin zum plötzlichen Schuldgefühl vor der Alien-Spezies (die kaum je ins Bild kommt) ist immerhin hanebüchen. An der – gelinde gesagt – Vernichtungsentschlossenheitsmoral, die 'Ender´s Game' versprüht, ändert dieses Ende wenig; aber zumindest lässt es mit ungewohnter Offenherzigkeit an die Wand fahren, was sich zuvor 105 Minuten lang zu Marschtrommelrhythmen und Pathosstakkati dahingeschleppt hat, im Wechsel zwischen Flotten im All, Fallen im Spiel und Falten im Antlitz (zumal bei Führungspatriarch Ford). Ein Team Stronach von einem Film.

Das lüsterne Quartett

(USA / D / I 1970, Regie: Radley Metzger)

Sexual Healing
von Wolfgang Nierlin

„Die Realität von heute ist dazu bestimmt, Ihnen morgen als Illusion zu erscheinen“, lautet ein Zitat aus Luigi Pirandellos Drama „Sechs Personen suchen einen Autor“, das Radley Metzger seinem 1970 …

„Die Realität von heute ist dazu bestimmt, Ihnen morgen als Illusion zu erscheinen“, lautet ein Zitat aus Luigi Pirandellos Drama „Sechs Personen suchen einen Autor“, das Radley Metzger seinem 1970 entstandenen Film „The Lickerish Quartet“ („Das lüsterne Quartett“) als Motto vorangestellt hat. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich Metzgers künstlerisch ambitionierter Erotikfilm durch seine Film-im-Film-Struktur und den damit verbundenen Austausch unterschiedlicher Fiktionalisierungsgrade unentwegt und dabei theoretisch komplex. Auf der Realitäts- bzw. Erzählebene des Films „The Lickerish Quartet“ betrachtet eine aristokratische Kleinfamilie, bestehend aus Vater, Mutter und erwachsenem Sohn, im geräumigen Wohnzimmer eines alten, herrschaftlichen Schlosses einen Amateursexfilm. Während dieser in Schwarzweiß projiziert wird, wechselt die Montage fortwährend zwischen dem Gegenstand und seinen Betrachtern, die sich in Spekulationen und Streitereien über den Realitätsgehalt des Dargestellten ergehen.

Einmal wird der Sexfilm, in dem sich zwei Paare miteinander vergnügen, ironisch als „moderne Studie zum Realismus“ apostrophiert. Ein anderes Mal kontert der Vater (Frank Wolff) die moralischen Einwände seines Sohnes (Paolo Turco), indem er einerseits auf den Illusionscharakter des Gesehenen hinweist, andererseits dessen subjektive Konstruktion akzentuiert: „Weißt du, Geschmacklosigkeit liegt im Auge des Betrachters.“ Wird also die Filmwirklichkeit maßgeblich von den Wunschvorstellungen der Zuschauer moduliert? Die Echtheit des Gezeigten ist in „The Lickerish Quartet“ jedenfalls brüchig und wird in der Folge zudem vielfach gebrochen. Im ausführlichen Audiokommentar, in dem Radley Metzger für seinen kunstvoll komponierten, stilistisch brillanten Film die alternativen Titel „Gedankenspiel“ (sic!) und „Dreamplay“ anführt, sagt der Regisseur im Gespräch mit dem Filmhistoriker Michael Bowen, er reflektiere mit dieser Arbeit vor allem „die Impermanenz des Films“ bzw. die Unbeständigkeit des Zelluloids.

Was Metzger damit meint, zeigt der Film im Hauptteil, wenn die Familie bei der Motorradfahrer-Stuntshow auf einem Jahrmarkt die mutmaßliche Hauptdarstellerin (Silvana Venturelli) kennenlernt und sie zu sich ins Schloss einlädt, um sie mit dem Film zu konfrontieren. Aber dessen Bilder sind nicht mehr dieselben. Trügen lediglich die Erinnerungen der Betrachter (und des Publikums) oder handelt es sich bei dem Film um eine sich wandelnde Projektionsfläche für die Wünsche und das Begehren der Zuschauer? Auf der fiktionalen Handlungsebene von „The Lickerish Quartet“ haben die Familienmitglieder, einschließlich der Mutter (Erika Remberg), jedenfalls nacheinander Sex mit der schönen Fremden, die zwischen Phantasiefigur und Phantom changiert und durch ihre sexuelle Hingabe heilend, ja versöhnend wirkt.

In einem anderen Sinn ähnelt sie damit dem mysteriösen Gast in Pasolinis „Teorema“. Mit kurzen Flashs in die Vergangenheit bearbeitet Metzger jedoch primär die persönlichen Konflikte der Figuren im Spiegel des Begehrens. Die filmtheoretischen Implikationen dieses medialen Verwirrspiels spitzt er schließlich noch zu, indem er die Darsteller der beiden Filme die Rollen tauschen lässt und damit die Illusion mit der Wirklichkeit gleichsetzt.

Jung & schön

(F 2013, Regie: François Ozon)

Körpereinsatz, ironisch
von Carsten Happe

Es braucht nur ein einziges Bild, eine eigentlich simple Einstellung, und die Stimmung ist gesetzt, gleich vom ersten Moment an. Durch ein Fernglas sehen wir ein junges Mädchen, um die …

Es braucht nur ein einziges Bild, eine eigentlich simple Einstellung, und die Stimmung ist gesetzt, gleich vom ersten Moment an. Durch ein Fernglas sehen wir ein junges Mädchen, um die 16, an einem Strand liegen. Die Sonne strahlt herab, das Mädchen öffnet ihr Bikini-Oberteil, die Musik von Philippe Rombi schwillt leicht unheilvoll an – wir sind unmissverständlich in einem ikonografischen Film von François Ozon. Kaum ein anderer Regisseur versteht es, mit so wenigen Mitteln ein derart typisch „französisches“ Flair auf die Leinwand zu zaubern und dabei dem Klischee ein ironisches Augenzwinkern beizumengen.

Das Mädchen heißt Isabelle und wird in diesem Sommer erstmals die körperliche Liebe entdecken und im darauf folgenden Herbst auch die käufliche Liebe, und Ozon lädt diesen überraschenden Schritt nach dem verspielten ersten Kapitel nicht mit banalen Erklärungen auf, er zeigt lediglich und lässt seine Erzählung für sich sprechen. Aus dem unbedarften Mädchen wird innerhalb weniger Schnitte eine kühl berechnende junge Frau ohne Illusionen, die sich älter gibt und gut situierte Herren in schmucklosen Hotelzimmern trifft. Und gerade weil Ozon so wenig Psychologisierendes preisgibt, lädt sich das Verhalten Isabelles ins Ungeheuerliche auf: Was treibt sie an? Ist es lediglich das Geld? Die Lust an der Grenzerfahrung? Eine verquere Form jugendlicher Rebellion? Von allem etwas?

Wir kommen im ganzen Verlauf des Films nie näher an Isabelle heran, ebenso wenig wie ihre Mutter, auch wenn sie das Doppelleben ihrer Tochter eines Tages entdeckt und naturgemäß schockiert ist (aber vielleicht auch nicht allzu sehr). Denn Marine Vacth, die Darstellerin der Isabelle und französisches Supermodel für Yves Saint Laurent und Chloé, verleiht Isabelle trotz allen Körpereinsatzes eine Aura der Unnahbarkeit und des Geheimnisses. Selbst – oder gerade – wenn sie völlig nackt ist, gibt sie längst noch nichts von sich preis. Die allzu schnell herbeizitierten Vergleiche zu Buñuels „Belle de jour“ greifen allerdings jenseits einer gewissen Unterkühltheit ins Leere. François Ozon ist kein Regisseur des Surrealen, selbst das geflügelte Baby in „Ricky“ verwurzelte er in eine naturalistische Bildsprache – die das Groteske freilich noch überhöhte.

Ein junges Mädchen prostituiert sich, nicht aus Not oder Zwang, es wird weder moralisiert noch pathologisiert – „Jung & schön“ erzählt schnörkellos und doch raffiniert, insbesondere gegen Ende, und mit großer Souveränität von einem undurchschaubaren Charakter, subtil und unverwechselbar, nun ja: französisch. Ozon eben.

Ihr werdet euch noch wundern

(F 2012, Regie: Alain Resnais)

Theater und Film-im-Film
von Wolfgang Nierlin

In vielen Filmen des französischen Meisterregisseurs Alain Resnais ist nichts real, alles ist Kunst und führt doch zurück zum Leben. Zwar werden eingangs seines neuen Films „Ihr werdet euch noch …

In vielen Filmen des französischen Meisterregisseurs Alain Resnais ist nichts real, alles ist Kunst und führt doch zurück zum Leben. Zwar werden eingangs seines neuen Films „Ihr werdet euch noch wundern“ („Vous n’avez encore rien vu') diverse französische Filmschauspieler – und zwar insgesamt dreizehn! – unter ihren richtigen Namen angerufen und damit nebenbei auch vorgestellt, doch darin liegt zugleich Symbolkraft: Der Klang von Namen wie Pierre Arditi, Sabine Azéma, Mathieu Amalric, Lambert Wilson, Anne Consigny oder auch Michel Piccoli umgibt selbst eine mythische Aura. In ihnen ist Filmgeschichte, sind Erinnerungen an Filmfiguren und Kinoerlebnisse gespeichert. Wenn dann auch noch ein Toter die Leinwandhelden zu sich nach Hause einlädt, dieses architektonisch ungewöhnliche Domizil auf einer Bergkuppe in der südfranzösischen Provinz thront und bald nach der Ankunft der Gäste die üblichen Koordinaten von Raum und Zeit außer Kraft gesetzt sind, dann befindet sich der Zuschauer im filmischen Universum Resnais‘, für das gilt: Nichts ist unmöglich.

Sogleich richtet sich der verstorbene Theaterregisseur Antoine d’Anthac (Denis Podalydès), der nach der Trennung von einer sehr viel jüngeren Frau zuletzt sehr abgeschottet gelebt hat, in einer Videobotschaft an die versammelten Schauspielerfreunde. Über viele Jahre hinweg haben diese Freunde Rollen in seiner „Euridyce“ gespielt, weshalb er sie jetzt bittet, die Inszenierung des Stücks durch eine junge Theatergruppe namens „Compagnie de la Colombe“ zu begutachten und diese gegebenenfalls zur Aufführung freizugeben. Kurz darauf sehen sich die renommierten Mimen mit der filmischen Aufzeichnung dieser Arbeit konfrontiert und beginnen in Erinnerung an die früher selbst einmal gespielten Rollen, in diese hineinzuschlüpfen und in ihnen gewissermaßen zu leben. Bald verwischen die Grenzen zwischen Film, Theater und Film-im-Film und die verschiedenen Fiktionen fließen munter ineinander. Dabei bedient sich Alain Resnais erzählerisch der Reihung und Spiegelung, der Verdoppelung und der Variation. Währen die Imaginationen der Schauspieler auf Mimesis zielen, arbeitet seine Inszenierung gegen die Illusion.

Zwei Stücke von Jean Anouilh, „Cher Antoine oder Die verfehlte Liebe“ und „Eurydike“, dienen ihm dabei als Inspirationsquelle und Textgrundlage. Wobei vor allem die unsterbliche Liebesgeschichte zwischen Orphée und Eurydice, die hier gleich doppelt und dreifach besetzt ist, Spiel und Handlung bestimmt. Diese führt bekanntlich ins „Land der Phantome“, über das keine Auskünfte erlaubt sind. Und wie die Heldin Eurydice, so kehrt auch Antoine d’Anthac für kurze Zeit ins Leben zurück. Er habe sich eben ihrer Liebe versichern wollen, gesteht er seinen befreundeten Schauspielern. Sein „Sinn für Inszenierungen“ und „unerwartete Wendungen“ sowie seine „Schwäche für Effekte“ sei ihnen ja hinlänglich bekannt. Natürlich könnten diese Sätze auch von dem mittlerweile 91-jährigen Alain Resnais stammen. Tatsächlich aber sagt dieser: „Schließlich sind wir hier doch beim Film! Und da macht es eben Spaß, Dinge zu tun, die im Theater nicht möglich wären.“

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Exit Marrakech

(F / D 2013, Regie: Caroline Link)

Dringliche Realität
von Wolfgang Nierlin

“Sieh zu, dass du was erlebst!”, sagt Dr. Breuer (Josef Bierbichler) im saloppen Befehlston zu seinem zwar guten, aber auch gelangweilten Schüler Benjamin Hofmann (Samuel Schneider). Dessen in letzter Zeit …

“Sieh zu, dass du was erlebst!”, sagt Dr. Breuer (Josef Bierbichler) im saloppen Befehlston zu seinem zwar guten, aber auch gelangweilten Schüler Benjamin Hofmann (Samuel Schneider). Dessen in letzter Zeit auffälliges Desinteresse ist es auch, weshalb der Rektor eines Internats für Kinder reicher Eltern den knapp 17-Jährigen zum Schuljahresende zu sich einbestellt. Caroline Link konstruiert im Drehbuch zu ihrem neuen Film „Exit Marrakech“ diesen Vorwand, um die grundlegenden Antagonismen ihrer Coming-of-Age-Geschichte zu etablieren: Zum einen den Gegensatz zwischen theoretischer Freiheit und tatsächlich erfahrenem Leben, zum anderen den schwelenden Konflikt zwischen Ben und seinen geschiedenen und vielbeschäftigten Künstler-Eltern, die beide keine Zeit für ihren Sohn haben. Während die Mutter (Marie-Lou Sellem), eine Musikerin, für ein Engagement in Paris weilt, tourt Vater Heinrich (Ulrich Tukur) als Theaterregisseur mit Lessings „Emilia Galotti“ durch Marokko.

Also soll Ben seine Ferien mit seinem Vater in dem nordafrikanischen Land verbringen. Ein paar ökonomische, die Handlung raffende Schnitte später befindet sich der junge Mann mitten in dieser doppelten Fremde, namentlich in der titelgebenden Stadt Marrakesch, durch die er sich ziemlich ungezwungen und sorglos, ja fast schon aufreizend naiv bewegt. Das mag einerseits, nicht ganz glaubwürdig, einer jugendlichen Unbekümmertheit geschuldet sein; andererseits inszeniert Caroline Link damit den Widerstand des Heranwachsenden gegenüber dem einigermaßen klischeebeladenen Vater, der Paul Bowles liest und die Phantasie der Realität vorzieht. Für Links Marokko-Faszination bietet das wiederum den Anlass, ihren jugendlichen Helden mit einer fremden Lebenswelt zu konfrontieren, durch die sich dieser allerdings allzu selbstverständlich bewegt. Daraus gewinnt der Film zwar ebenso authentische wie malerisch-schöne Bilder, bleibt dem dokumentierten Leben allerdings letztlich äußerlich.

Genervt von seinem reservierten Vater, flüchtet Ben in diese exotische Welt, verliebt sich in die verführerische Prostituierte Karima (Hafsia Herzi), folgt ihr unumwunden in ihr entlegenes Heimatdorf in den Bergen, wo die Menschen arm sind und sehr traditionell leben, und wird ziemlich abrupt von ihr fallengelassen. Das allein ist schon viel Stoff, der von der Erzählung kaum mehr als behauptet wird und überdies erzähllogische Mängel aufweist. Jedenfalls landet Ben bald darauf zum „Dünensurfen“ in der Wüste, die der Seele gut tue, wie es bedeutsam heißt, wird überdies vom besorgten Vater hektisch gesucht und bald auch gefunden. Was dann folgt, ist eine teils dramatische Vater-Sohn-Geschichte im Gewand eines Roadmovies. Zögerlich und von Männlichkeitsritualen umstellt, nähern sich Ben und Heinrich schließlich einander an, wobei vor allem der Vater, der gesteht, die Kindheit seines Sohnes „komplett verpasst“ zu haben, lernen muss, Nähe zuzulassen. Die Realität, so die Botschaft, ist eben doch manchmal dringlicher und stärker als die Phantasie.

Wolfgang Nierlin führte für die Filmgazette mit der Regisseurin auch dieses Interview.

Vive la France – Gesprengt wird später

(F 2013, Regie: Michaël Youn)

Ziemlich schlechteste Staatsfeinde
von Drehli Robnik

Zwei lockenköpfig-täppische Möchtegernselbstmordattentäter aus dem fiktiven 'Taboulistan' (einen von ihnen spielt Regisseur Michael Youn) wollen nach Paris, um den Eiffelturm in die Luft zu sprengen. In jeder von ihnen auf …

Zwei lockenköpfig-täppische Möchtegernselbstmordattentäter aus dem fiktiven 'Taboulistan' (einen von ihnen spielt Regisseur Michael Youn) wollen nach Paris, um den Eiffelturm in die Luft zu sprengen. In jeder von ihnen auf dem Weg durchreisten Genussregion werden sie verkannt: Korsische Separatisten kidnappen sie als vermeintliche Sommervillenschnösel, Marseiller Fußballfans attackieren sie als Pariser, der metropolitane Sprengstoffnerd in Designerklamotten hält sie für stylishe Coolnesstadikalisten, eine humanitär engagierte Fernsehreporterin begleitet sie, weil sie in ihnen Opfer des EU-Grenzregimes sieht. (Bruhaha, als ob’s sowas gäbe!) Gut gegessen wird überall, lustig geredet sowieso (erst recht in deutscher Synchro, die bekanntlich jeder Komödie noch das gewisse Je-ne-sais-quoi hinzufügt), dazwischen eine ménage à trois mit der zunehmend zum Aufputz degradierten Polizistin.

Die Grundidee, dass Nationalidentität heute nur in Form wechselseitiger Projektion partikularer Marotten zu haben sei, ist gar nicht schlecht. Der Rest ist es. Hinter barbarischer Schale tritt weicher Kern hervor, hinterm Terrorismusulk die Tourismusklamotte (samt Dodeltanz, très culte). Anders als die hier ausgiebig und schamlos beklauten, thematisch einschlägigen Komödien Borat' und Four Lions' (oder selbst noch die in Form von Übererfüllung orientalistische Stereotypen verdrehenden 'OSS'-Krimiparodien mit Jean '<<TEXT:UNTERSTRICHEN>The Artist' Dujardin) hat 'Vive la France – Gesprengt wird später' keine Perspektive auf sein Panorama von Ethnien – außer der vom Fremdenverkehrsamt verordneten und mit alten Chansons zugeklebten Helikopterperspektive, aus der recht aufdringlich Frankreichs Reize zelebriert werden.

Only Lovers Left Alive

(D / USA / GB / F / CY 2013, Regie: Jim Jarmusch)

Alles dreht sich im Kreis
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Film über Sammler, die ihre Schätze zeigen. Beim einen (Tom Hiddlestone) gibt es ein sich drehendes Vinyl zu sehen und zu hören sowie die seltensten Gitarren aus den fünfziger, …

Ein Film über Sammler, die ihre Schätze zeigen. Beim einen (Tom Hiddlestone) gibt es ein sich drehendes Vinyl zu sehen und zu hören sowie die seltensten Gitarren aus den fünfziger, sechziger Jahren – in Detroit, Michigan. Bei der anderen, in Marrakesch, fährt in Großaufnahme Tilda Swintons Zeigefinger über die erlesensten Drucke der letzten fünf, sechs Jahrhunderte. Wer will, kann mitlesen, wenn er denn Chinesisch kann. – Nichts sagen! Sich ergreifen lassen! Wenn’s geht.

Die beiden Sammler sind ein Paar, das intensiv zusammenlebt, wenn auch geografisch getrennt. Die Quantentheorie sagt uns, warum. Teilchen nämlich, so wird es uns erklärt, die einmal zusammengehört haben, sorgen auch nach der Teilung dafür, dass sie allen Veränderungen zum Trotz einander verbunden, also angeglichen bleiben. – Hätten Sie’s gewusst?

Aber nun die Hauptsache: Unsere beiden Teilchen sind Vampire, voll zivilisiert, die sich den Stoff nicht selbst besorgen, sondern auf Dealer angewiesen sind. Sie brauchen den Stoff absolut rein. Wegen der Umweltschäden. Also kommen wir ins Krankenhaus, wo Spenderblut verzockt wird. Bezahlt wird mit Geldbündeln aus dem Geldautomaten. – Wie geht das? Mit einer feinen Sammlung gültiger Kreditkarten.

Und wie weiter? Ich mach’s kurz: Die Zivilisation, das sind heute Zombies. Alle, alles krank. Die beiden Sammlervampire behüten die Kultur. Sie sind die Guten. Die anderen, also wir, die Schlechten. Denn inzwischen kann auch das Blut aus der Klinik kontaminiert sein. Die Zivilisation ist scheiße, und es macht keinen Spaß mehr, Blut-am-Stiel zu schlecken.

Wieder eine Zwischenbemerkung: Ich verhalte mich mit meinem Text ungehörig, denn der Film ist garantiert ironiefrei und humorlos sowieso. Die Vampire meinen es mit der Eis-am-Stiel-Szene ernst. Bloß, ich meine es auch ernst damit, dass der Jarmusch-Film mich enttäuscht hat und ich leider auf Distanz gegangen bin. Jarmusch, der Regisseur von „Mystery Train“ und „Dead Man“! Und jetzt? Ja, traurig ist es und soll es wohl sein, tröpfelnde Sätze zu hören, die sich aus gespitzten Mündern lösen. Tilda Swinton, Merksätze absondernd, ganz auf die prätentiöse Art? Klappt doch niemals! Warum nicht? Jarmusch weiß es: wegen der Entzugserscheinungen! Die beiden Dealer von Denver und Marrakesch sind tot oder kontaminiert. Andere Dealer gibt es laut Drehbuch (Jarmusch) nicht. – Also zurück zur Natur? – Mein Rat, Finale abwarten.

Wer will, findet im Film Erbauliches darin, sich mit dem Plattenspieler im Kreis zu drehen. Eine hochästhetische Montage-, Überblendungs- und Tontechnik vom Feinsten. Und es drehen sich die Platte, der Sternenhimmel, die Verkehrsinsel, die Bänder am Mischpult, die beiden Vampire im Paartanz der Sechziger. Im Kreis. – Tja. Sag ich doch.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 12/2013

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Liberace – Zuviel des Guten ist wundervoll

(USA 2013, Regie: Steven Soderbergh)

Die große Erzählung
von Andreas Busche

Für dramatische schwule Rollen gilt etwa das gleiche, was Kate Winslet in der britischen Comedy-Serie „The Extras' mal über die Hauptrollen in Filmen über den Holocaust gesagt hat: Sie sind …

Für dramatische schwule Rollen gilt etwa das gleiche, was Kate Winslet in der britischen Comedy-Serie „The Extras' mal über die Hauptrollen in Filmen über den Holocaust gesagt hat: Sie sind reines Oscar-Material. Michael Douglas‘ letzte denkwürdige Rolle liegt inzwischen eine Weile zurück, einen Oscar wird er aber auch für seine Darstellung der amerikanischen Las Vegas/Camp-Ikone Liberace in Steven Soderberghs gleichnamigem Biopic nicht bekommen. Produziert hat der amerikanische Bezahlsender HBO, in den USA lief der Film nur im Fernsehen. In Europa dagegen kommt „Liberace' noch in die Kinos.

In anderen Händen als in Soderberghs hätte „Liberace' leicht zur Farce geraten können. Soderbergh interessiert sich freilich nur vordergründig für den flamboyanten Glamour, in dem die Chimäre Liberace abgetaucht war. Liberace war ein wandelndes Paradoxon. Er lebte der Öffentlichkeit eine blütenweiße Scheinexistenz vor, während seine Auftritte eindeutige Codes aussendeten, die 1977, das Jahr, in dem der Film beginnt (zu Silvesters „I Feel Love'), für Insider leicht dechiffrierbar waren. „Ich wusste gar nicht', meint Matt Damen als Liberaces späterer Liebhaber Scott Thorson beim Anblick der älteren Damen und Herren, „dass dieses Publikum etwas so Schwules gut finden würde.' „Sie wissen nicht, dass er schwul ist', erklärt ihm sein Begleiter.

Soderbergh erzählt diesen Widerspruch mnicht als persönliches Drama, sondern als Spiel, das Lberace eine nicht unbeträchtliche Macht uber seine Mitmenschen verlieh. Douglas spielt diese Figur, die auf den Memoiren von Scott Thurson beruht, als zerrissenen Charakter: einerseits getrieben von seiner Lust auf junge Männer, andererseits als zutiefst paranoiden Menschen, der hinter jeder Zuwendung Verrat witterte. Wenn Liberace (mit Hermelinmantel und goldenem Rolls-Royce) und Scott gemeinsam billige Sexclubs aufsuchen, kommt darin ein Überlegenheitsgestus: die Unantastbarkeit des Superstars zum Ausdruck. Gleichzeitig kündigt die Szene einen dramatischen Bruch an, der mit einer Schlagzeile über den Tod Rock Hudsons schließlich auch gesellschaftlich evident ist.

„Liberace' ist für Soderbergh-Verhältnisse ein interessantes Schlussplädoyer. Nachdem seine letzten Kinofilme etwas guerillamäßig heruntergedreht waren, beweist er nun ausgerechnet mit einem Fernsehfilm, dass er die große Kinoerzählung noch immer beherrscht.

Prisoners

(USA 2013, Regie: Denis Villeneuve)

Aufgeladen und unterhöhlt
von Drehli Robnik

'Prisoners' ist ein psychologischer Thriller, bei dem Zweimal-Anschauen Sinn ergibt. Nicht weil er so toll ist – obwohl er schon recht gut ist –, sondern weil er sich den Luxus …

'Prisoners' ist ein psychologischer Thriller, bei dem Zweimal-Anschauen Sinn ergibt. Nicht weil er so toll ist – obwohl er schon recht gut ist –, sondern weil er sich den Luxus eines komplexen Plots leistet und gegen Ende soviel an Neubewertungen von Figuren auffährt, dass es Spaß machen wird, Aha-Effekte beim nunmehr mehr-wissenden Zuschauen auszukosten.

Es beginnt mit der Entführung zweier Mädchen in einer spätherbstlichen Kleinstadt in Pennsylvania. Alles ist geladen: geladen mit zeitweiliger Hochspannung in mustergültigen Suspensekonstruktionen, aufgeladen mit ungeahnten moralischen Potenzialen und gestauten Aggressionen in den Akteuren; beladen mit Kälte, Schnee, heftigem Regen im Ambiente, gesättigt mit gemessen beobachtetem, müdem middle class-Leben in Milieu-Räumen, die der Kanadier Denis Villeneuve in seinem US-Regiedebüt in abgestuften Graustichen und schwermütigen Musikakzenten moduliert. Schließlich ist einiges auch stark symbolisch aufgeladen in materiellen Räumen, die das Motiv des Gefängnisses, Kehrseite des Typus 'Schutzraum', variieren.

Die Väter der entführten Mädchen verschleppen ihrerseits einen – von der Polizei allerdings schon aus der U-Haft entlassenen – Tatverdächtigen, einen geistig verwirrten, kaum des Sprechens fähigen jungen Mann, und foltern ihn. Der Akzent des Films liegt dabei auf dem moralischen Problem solchen Folterns im Zeichen einer ticking clock-Situation – nicht auf Vorstellungen einer Nobilität von Rache oder irgendwelchen magenumstülpenden Schauwerten wie im Folterhorrorkino des letzten Jahrzehnts und dessen Thriller-Derivaten. Das Verlies des übel Zugerichteten mutet unversehens wie ein Beichtstuhl an, eben einer der vielen Räume von vieldeutigem Ge- und Befangen-Sein in diesem Film. Zu Beginn erscheinen Baumreihen im Wald, überschrieben mit dem lapidaren Titel 'Prisoners', wie Gitter – ein Bild, das später im beiläufigen Anblick eines Hamsterkäfigs nachhallt. Das Symbol-Bild eines Labyrinths erweist sich als unlebbarer Wohnraum; immer wieder tun sich doppelte Böden und Keller auf. Es ist kaum ein Zufall, dass einer der Entführer-Väter, der weiße, mit Vornamen ausgerechnet Keller heißt.

Hugh Jackman spielt diesen Familienvater, einen Handwerker, der ganz befangen ist in seinem Selbstverständnis als stets bereiter Beschützer (mit Lebensmotti wie 'Be ready!') und in dem Versuch, die Kränkung dieses Selbstbildes abzuwehren, indem er irgendetwas tut, und sei es, dem Tatverdächtigen Schmerzen zuzufügen, während er als frommer Christ sich selbst in Schuldgefühlen zerreißt. Ihm gegenüber agiert der Polizeidetektiv (Jake Gyllenhaal), der die Ermittlungen im Fall der verschwundenen Mädchen leitet, seinerseits befangen in einem Selbstbild der Handlungsmächtigkeit, zunehmend frustriert, diesen Fall nun offenbar nicht lösen zu können. So wie der eine in Sprichworte und Gebet verfällt, ist der Cop ständig am Fluchen, und den Vornamen Keller kontrastiert der Nachname des Ermittlers – Loki, der entweder in den USA ganz normal ist oder in cross-referencing mit dieser Figur aus der Thor-(Kino-)Saga gelesen oder aber auf seinen Gleichklang mit low-key gehört werden sollte.

Am besten ist 'Prisoners', wenn er low-key bleibt, wenn er andeutet und nicht ausformt, ausformuliert: So bleibt etwa weitestgehend offen, auf welche Prägungen Detective Lokis markante Hals- und Fingerrücken-Tattoos und vor allem sein ständiges Zwinkern (kaum jemals eine Mainstreamfilm-Hauptfigur mit so einem Tic gesehen!) verweisen. Zugleich bleibt – in einem tollen Ensemble: Martin Lawrence, Paul Dano, Melissa Leo, die bereits in Kleinstadtfamilien-'History of Violence' erprobte Maria Bello u.a. – Raum offen für Überraschungen in Hinblick auf die jeweilige Handlungsfähigkeit bzw. -moralität von Figuren: dies zunächst insofern, als alle Figuren, etwa auch der andere Vater (der lokale Tierarzt) und seine Frau oder die in Depressionen und Beruhigungsmittelüberdosierung abdriftende Frau des Handwerkers, ihre 'Auftritte' bekommen, sich kurz in den Vordergrund des Geschehens spielen.

Vor allem aber entfaltet 'Prisoners' eine breite Palette an Momenten, in denen wir, am Leitfaden des Bildes und seiner/unserer Genre- und Sozial-Prägungen, Figuren verkennen und bald darauf neu einschätzen müssen. Das betrifft nicht nur das surprise ending, sondern – schalten wir für aus Geringfügigkeitsgründen den Spoiler Alert einmal aus – etwa auch die Art, wie Vater Keller und die Seinen als konservative, bigotte, abstiegsgefährdete weiße Kleinbürger eingeführt werden, die dann zum Thanksgiving-Festmahlsritual ihre besten Freunde besuchen: ganz unerwarteter Weise, als Abweichung im Klischeebild sozialer Borniertheit, eine African American-Familie; wobei dann der Gastgeber in amikaler Weise darüber witzelt, dass er als Nicht-Weißer sich ja viel zu sehr für 'The Boss' Springsteen begeistert.

Solches Spiel mit Verkennung und Reflexivität in bezug auf uneindeutige soziale Identitäten ist in 'Prisoners' Programm, von der Eröffnungsszene an, in der Vater Keller und sein Sohn als Hobbyjäger (bzw. Erntedank-Familienversorger) im Wald ein Reh schießen und dabei im Umschnitt in ihren markanten orangefarbenen Signalwesten ins Bild kommen. Ein schönes, dichtes Bild – körpernaher Schutzraum (als Schutzkleidung), der symbolisch wird: Wenn du sicher sein willst, musst du dich exponieren; wenn du Gewalt ausübst, bist du im selben Moment potenzielles Ziel der Gewalt anderer, auch unbeabsichtigter Gewalt. Immer wieder wendet die Inszenierung den Status von Figuren im Verhältnis zu agency: Sind sie Handelnde oder Handeln Erleidende? Entführer oder Entführter? Täter oder Opfer? Aktiv oder passiv? Das betrifft die Art, wie in 'Prisoners' oft der Akt des Sprechens vom Ausdruck eines weichen, erschöpften Seufzens kaum zu unterscheiden ist, ebenso wie die ethische Lektion, in deren Umsetzung zwei Männer der Tat (die Jackman- und Gyllenhaal-Figuren) sich schmerzlich in ihre Ohnmacht fügen lernen. Verletzung ist Vernetzung: die Universalität des Traumas ergibt hier ein Geflecht von Sozialisierung.

Eben letzteres ließe sich – auf den Spuren von Bemerkungen zur 'ethischen Wende', die der Politik-, Kunst- und Filmtheoretiker Jacques Rancière u.a. anhand von 'Mystic River', einem dankbaren Vergleichsfilm zu 'Prisoners', formuliert hat – auch als ästhetische Ausprägung einer Vorstellung von Gemeinschaft, von Recht und Politik, kritisieren, in der das Trauma, die Verwundung und ihr Nachwirken, die einzige Währung im Sich-Austauschen über Formen des Zusammenseins ist. 'Prisoners' ließe sich als ein in diesem postpolitischen, postkritischen Sinn 'ethischer' Film kritisieren: Wenn alle Opfer sind, hat niemand Macht, gibt es nichts und niemanden anzugreifen und keinen Spielraum für eine Idee von Befreiung. Zum anderen ließe sich dem Film aber auch ein starker Sinn für Leben im Zeichen von Prekarität zugutehalten (ein Sinn, der sich nicht gleich in den neoaristokratisch-faschistisch hohen Ton irgendwelcher notwendig schuldiger dunkler Ritter hinaufschraubt).

Etwas preiswerter angelegt, lässt sich an 'Prisoners' auch monieren, dass das Ineinandergreifen von Wendungen, das Keimen von Symbolik aus dem Leiblich-Gelebten und die Verwobenheit von Schicksalen, dass das hier am Filmende so dicht aufgeht, dass alles sich fügt, alles quasi seinen 'Sinn' bekommt und dass wenn schon nicht Folter, so doch die paranoide 'Be ready!'-Vorsorgegesinnung von Vater Keller als etwas gar zu legitim erscheint (in der Art von: Erst nachträglich zeigt sich, wozu das alles, auch das Verbrühen eines Verdächtigen mit kochend heißem Wasser, gut war).

Dem Film eilen Vergleiche mit 'Das Schweigen der Lämmer' voraus. Es spricht Bände (und es spricht von unserer heutigen, krisenkulturellen, prekaritätsgesellschaftlichen Sehnsucht nach sozialen Banden), wie weit dieser gedämpfte, an Lasten tragende Thriller entfernt ist vom Gestus des Ungeahntes-Ausstellens und des Auslotens postnormaler Identitäten in dem 1990er-Klassiker; nichtsdestotrotz spielt 'Prisoners' durchaus in dessen Liga mit.

Die Schlangenpriesterin

(USA 1944, Regie: Robert Siodmak)

Campy Eye-Candy
von Michael Schleeh

Robert Siodmaks zweiter Film für die Universal ist die leider etwas in Vergessenheit geratene Abenteuerromanze 'Cobra Woman' bzw. 'Die Schlangenpriesterin'. Siodmak selbst soll gesagt haben, der Film sei ein unterhaltsames …

Robert Siodmaks zweiter Film für die Universal ist die leider etwas in Vergessenheit geratene Abenteuerromanze 'Cobra Woman' bzw. 'Die Schlangenpriesterin'. Siodmak selbst soll gesagt haben, der Film sei ein unterhaltsames Späßchen, und, nun, das ist er auch. Er wartet mit einem wunderbar hanebüchenen Plot auf und nimmt sich dabei zugleich völlig ernst. Und dann schlappt immer wieder ein quäkender Schimpanse durch das Bild, der Sidekick von Lon Chaney übrigens. Sensation auf Sensation wird aufgefahren, Exotik en masse.

Tiefdekolletierte Damen mit langen Beinen in prunkvollen Gemächern, die mit hauchdünnen Gewändern kaum ihre Reize zu verhüllen imstande sind, treffen auf Männer in kurzen Röcken mit viel Muskeln und breiten Brustkörben. Ihre Lanzen sind schön und handbemalt, eine Mischung aus tödlicher Waffe und den Hirten-Wanderstäben der Heiligen Drei Könige.

Die Kulissen sind offenkundig aus Pappmaschee, doch das stört keineswegs bei den atemberaubenden Tiefblicken, die einem in Täler gegönnt werden oder in Burggräben, bei den breiten Panoramen auf Städte am Horizont. Die dichtbewaldete Urwaldinsel ist ein Dschungel, wie auch der eigentliche Plot selbst, der sich um zwei Zwillingsschwestern windet, die eine bösen, die andere guten Charakters. Doppelgängermotiv und Spiegelsequenz gleich am Anfang.

Sexbombe María Montez schwingt sich rotbelippt durch den Film, dass man das Atmen vergisst. Nun, kein Wunder, steht es dem Helden zu, die Entführte zu retten und wieder von der Barbareninsel heim ins zivilisiert englisch sprechende Reich zu holen, auch wenn sie eigentlich die Hohepriesterin eines ganzen Volkes ist, dem sie als Erstgeborene rechtmäßig vorstehen darf. Es ist ihr auch egal, dass die Queen, also ihre Mutter, gemeuchelt wird, wenn da so ein Korsar sie zu befreien gewillt ist und mit auf seine Segeljolle nimmt. Aber man soll nicht spotten, der Film ist ein wilder Ritt und macht Spaß und fühlt sich ein wenig wie ein irre gelaufener Shaw Brothers-Kostümfilm an. Und so oft gibt es das im Westen in dieser Form nun auch wieder nicht.

Für Robert Siodmaks Reputation hat der Film wenig gebracht, wie man sich denken kann – man erinnert sich lieber an seine stilbildenden Film noirs. Zu Unrecht. Im schönsten Technicolor erstrahlt er nun wieder, auf Blu-ray gemastert und veröffentlicht von der Firma Ostalgica. Ohne Beschädigungen lässt er sich genießen, mit zwar ordentlich Bildrauschen bisweilen in den hellen Flächen, aber sonst kann man wenig meckern. An der sonstigen Umsetzung allerdings hapert es. Die englische Originaltonspur etwa ist doppelt so laut gemischt wie die deutsche, jedoch weniger gelungene Synchronisation. Untertitel gibt es keine, wenn man sich für den Originalton entscheidet. Drückt man allerdings auf die UT-Taste der Fernbedienung, schwebt mysteriöserweise ein Kinovorhang auf das „Kino-Originalformat“ 4:3 herab und deckt die Balken links und rechts des Bildes ab. Es liegt noch eine 16:9-Fassung vor, allerdings muss man dann auf Bildinhalte verzichten. Das Bonusmaterial ist wenig erquicklich, vor allem findet man es im Menü erst mal nicht. Es ist unter „Einstellungen“ subsumiert, dort, wo man die Sprachfassung anwählen kann. Dieses Menü reagiert zudem nur mit großer Verzögerung, sodass die Bedienung erst etwas geübt werden muss. Da kann man nun neben dem Originaltrailer des Films noch eine ganze Reihe Trailer anschauen, die die sonstigen Veröffentlichungen von Ostalgica bewerben. Eine animierte Schrifttafelsequenz Marke Rob Roy (= brennendes Pergament in schlecht lesbarer, mittelalterlich abstrakt geschwungener sowie grob verpixelter Schrift) informiert anekdotisch über Leben und Werk Siodmaks und schaltet auf Blatt 2 um, bevor man die Chance hatte, richtig fertig zu lesen. Naja. Dann findet sich noch ein Kurzfilm mit dem Titel 'Nachrichten' auf der DVD, der mir von Siodmak gar nicht bekannt war. Kann er auch nicht, dieser ist von einem ganz anderen Regisseur und interessanterweise ein zeitgenössisches HIV-Drama. Was der da verloren hat, das weiß vermutlich nur das Orakel von der Cobrainsel. Die Blu-ray der Schlangenpriesterin ist eine schöne, aber durchaus merkwürdige Veröffentlichung, an der man vielleicht noch etwas hätte feilen können – und die eigentlich nur aufgrund des Bildes die Anschaffung rechtfertigt.

Der Fremde am See

(F 2013, Regie: Alain Guiraudie)

Merkwürdige Liebe, tödliches Begehren
von Wolfgang Nierlin

Die große Schönheit von Alain Guiraudies Film „Der Fremde am See“ („L’inconnu du lac“) ist geradezu klassisch und zeitlos. Wie ein Kammerspiel bezieht er einen Großteil seiner Spannung aus der …

Die große Schönheit von Alain Guiraudies Film „Der Fremde am See“ („L’inconnu du lac“) ist geradezu klassisch und zeitlos. Wie ein Kammerspiel bezieht er einen Großteil seiner Spannung aus der Einheit von Ort, Zeit und Handlung, die sich an einem See in Südfrankreich abspielt. Dabei rhythmisieren wiederkehrende Einstellungen auf emblematische Schauplätze sowie wechselnde Lichtstimmungen, die von der Bildgestalterin Claire Mathon unter natürlichen Bedingungen in höchst nuancierten Abstufungen eingefangen wurden, diese starke Struktur, verleihen ihr eine gewisse Geschmeidigkeit und hauchen ihr Leben ein. Daneben sorgen Naturgeräusche für ein sehr beredtsames Off, indem sie den eng gesetzten Rahmen mit Hilfe der Phantasie des Zuschauers auf das Nicht-Gezeigte hin erweitern. Überhaupt gibt es immer wieder Andeutungen und Verweise, die die Handlung in diese Lücken führt, ohne sie auszuformulieren.

An ungefähr zehn aufeinanderfolgenden Ferientagen besucht der junge, gutaussehende Franck (Pierre Deladonchamps) besagten wildromantischen See, der ein beliebter Treffpunkt für schwule Männer ist. Das Spiel der Blicke, das Cruisen im angrenzenden Wald, offener Geschlechtsverkehr und unverhohlener Voyeurismus charakterisieren diesen Ort als eine eigengesetzliche parallele Welt, die auf Außenstehende teils unverständlich wirkt. Vor allem die Anonymität sexueller Beziehungen, ihr unverbindliches, flüchtiges und scheinbar unkompliziertes Wesen, lassen den in einem mutmaßlichen Mordfall ermittelnden Kommissar (Jérôme Chappatte) von einer „merkwürdigen Art der Liebe“ sprechen. Dabei erzeugt das Begehren ebenso ein differenziertes Gefühlsspektrum aus Liebe, Eifersucht und Angst. Alain Guiraudie durchzieht das engmaschige Gewebe seines Films mit Diskursen über das Schwulsein, umlagert damit gewissermaßen sein Sujet des Begehrens und findet dafür ebenso freizügige wie ehrliche Bilder, die, so die Absicht des Regisseurs, „das Gefühl der Liebe mit der Obszönität der Triebe verschmelzen“ lassen.

Die Grenzen des Begehrens auszuloten, indem sich das Verlangen förmlich in einen dunklen Abgrund stürzt, markiert das zentrale Interesse Guiraudies. Georges Batailles Satz, wonach die Erotik „die Bejahung des Lebens bis in den Tod hinein“ ist, diente ihm dabei als Referenzpunkt, wie der französische Filmemacher in einem Interview sagt. In seinem Film „Der Fremde am See“ lässt er seinen liebes- und sexhungrigen Protagonisten deshalb auf den attraktiven, aber mysteriös und gefährlich wirkenden Michel (Christophe Paou) treffen, dem er wider alle Vernunft und besseres Wissen verfällt. Doch neben „der Angst vor dem Ende der Lust“ reflektiert Alain Guiraudie vor allem in der Figur des verlassenen und schwermütigen Henri (Patrick D’Assumçao) auch Formen der Einsamkeit. Mit dem resignierten Familienvater freundet sich Franck auf berührende Weise an, ohne ihm helfen zu können oder ihn, verstellt durch das eigene Begehren, überhaupt zu verstehen.

Finsterworld

(D 2013, Regie: Frauke Finsterwalder)

Soundgebilde
von Carsten Happe

Wo fängt man an bei einem Film wie „Finsterworld“, der von einem scheinbar aus der Zeit gefallenen Land erzählt und von dem Abgrund, der hinter der mühsam aufrechterhaltenen Fassade lauert? …

Wo fängt man an bei einem Film wie „Finsterworld“, der von einem scheinbar aus der Zeit gefallenen Land erzählt und von dem Abgrund, der hinter der mühsam aufrechterhaltenen Fassade lauert? Vielleicht bei der Regisseurin, die wirklich Frauke Finsterwalder heißt, und die ebenso wie ihre Filmfigur Franziska Feldenhoven, die von der einmal mehr brillant aufspielenden Sandra Hüller verkörpert wird, eigentlich Dokumentarfilme dreht und von daher den genauen Blick für Details erkennen lässt. Oder vielleicht bei Finsterwalders Ehemann Christian Kracht, den Bestsellerautor, der gemeinsam mit ihr das Drehbuch verfasst hat, und hier ebenso wie in seinen Romanen von „Faserland“ bis „Imperium“ eine so leicht erscheinende Sprachmächtigkeit in die Erzählung und die Dialoge eingebracht hat, die im deutschen Film selten zu finden sind.

Und dann, wenn das Drehbuch so funkelt und seine Doppelbödigkeit weit über die verschachtelten Episoden hinausstrahlt, dann kommen sie alle, die Granden des deutschen Films und des Theaters und veredeln die messerscharfen Sätze mit ihrer Lust am Spiel: Michael Maertens als psychotischer Fußpfleger, der alten Damen Kekse schenkt, Ronald Zehrfeld als Polizist und Furry Fan, der seine Freizeit am liebsten im Bärenkostüm verbringt, „Feuchtgebiete“-Star Carla Juri als uniformiertes Schulmädchen, die nach einem Streich ihrer Mitschüler im Ofen einer KZ-Gedenkstätte landet. „Finsterworld“ scheut nicht davor zurück, selbst bizarrste Grenzgegenden auszuloten; dahin zu gehen, wo es wirklich weh tut, und bleibt mit seinem Blick, seiner Erzählhaltung immer in einer sanft ironischen Distanz, die den Film so ungeheuer unterhaltsam macht.

So wie Kracht in „Faserland“ die Republik von Nord nach Süd durchquert hat, zieht „Finsterworld“ einen Querschnitt durch die deutsche Befindlichkeit, längs an allen Generationen entlang, weder repräsentativ noch exemplarisch, aber mit dem Gespür für den Sound des Landes, der zwischen Absurdität und Sarkasmus pendelt (Corinna Harfouch und Bernhard Schütz als grandios giftendes Ehepaar), zwischen peinlicher Betulichkeit und allzu politisch korrektem Vergangensbewältigungszwang, kurz: die Leinwand in einen Spiegel verwandelt, der absichtlich verzerrt, aber erst dadurch das wahre Gesicht offenbart. Schön grausam und grausam schön.

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Aus dem Leben eines Schrottsammlers

(F / SI 2013, Regie: Danis Tanovic)

Etwas zu nah
von Andreas Busche

Als 1999 auf den Filmfestspielen von Cannes die Filme Rosetta' von Jean-Pierre und Luc Dardenne und Bruno Dumonts Humanité' die Hauptpreise abräumten, warfen erboste Kritiker der Jury um David Cronenberg …

Als 1999 auf den Filmfestspielen von Cannes die Filme Rosetta' von Jean-Pierre und Luc Dardenne und Bruno Dumonts Humanité' die Hauptpreise abräumten, warfen erboste Kritiker der Jury um David Cronenberg angesichts der formalen und sozialen Tristesse beider Filme lautstark 'Publikumsfeindlichkeit' vor. Lange Plansequenzen, wortkarge Protagonisten, die beim verzweifelten Marschieren entlang der gesellschaftlichen Peripherie meist aus der Rückansicht gefilmt wurden, der Verzicht auf dramatischen Musikeinsatz und ein schmuckloser, fast dokumentarischer Gestus in den Alltagsbeobachtungen waren damals noch völlig ungewohnt für ein cinephiles Festivalpublikum, das sich mehr mit dem wohlfeilen, bürgerlichen Kunstkino eines Manoel de Oliveira oder eines Pedro Almodóvar, die im selben Jahr ebenfalls ausgezeichnet wurden, identifizieren konnte.

Knapp 15 Jahre später sind die filmischen Mittel, die an 'Rosetta' und 'Humanité' so vehement moniert wurden, selbst zu einem Klischee des internationalen Festivalkinobetriebs geworden. Diese Form von Cine-Miserabilismus hat inzwischen sogar ein eigenständiges Marktsegment geschaffen, das unter völlig verkehrten ökonomischen Voraussetzungen die Idee des 'Dritten Kinos' aus den sechziger Jahren wiederbelebt. Produziert werden die Filme aus den Philippinen, Saudi-Arabien oder dem Tschad heute kaum noch in den Heimatländern der Regisseure, sondern von Europa aus: für einen sich rasant ausdifferenzierenden Weltkinomarkt.

Auch 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' des bosnischen Regisseurs Danis Tanovic fällt in diese Kategorie. Tanovic reaktiviert alle Klischees des globalen Elendskinos. Auf der diesjährigen Berlinale wurden daher ganz folgerichtig seine beiden Hauptdarsteller Nazif Mujic und Senada Alimanovic für ihren selbstlosen Einsatz ausgezeichnet. Tanovic’ Film fährt allerdings eine Doppelstrategie, denn er bedient sich einerseits der dokumentarischen Manierismen des kritischen World Cinema, bricht diese Inszenierung aber mit einem Kunstgriff. Nazif und Senada, wie auch ihre Kinder Sandra und Semsa, spielen sich selbst. Vielmehr spielen die vier ihre eigene Geschichte nach, auf die Tanovic vor einigen Jahren in der Zeitung gestoßen ist. Nazif und Senada, die mit ihren Töchtern in dem Roma-Dorf Poljice leben, machten damals Schlagzeilen, weil das Ehepaar die nötige Geldsumme für eine lebensrettende Operation nicht aufbringen konnte. Senadas ungeborenes Baby ist gestorben, es musste schnellstmöglich aus ihrer Gebärmutter entfernt werden. 980 bosnische Marka sollte die Operation kosten. Kein Arzt ließ sich erweichen, sie umsonst durchzuführen. Die Medien berichteten über den Fall als Beispiel für den grassierenden Rassismus gegenüber ethnischen Minderheiten in den ehemals jugoslawischen Teilstaaten.

Tanovic, der 2001 mit seinem Debütfilm No Man’s Land' den Oscar gewonnen hat, inszeniert diese Human-Interest-Geschichte jetzt als sprödes Dokudrama mit dem Pathos eines kritischen Prekarismus, wie ihn etwa das Neue Rumänische Kino in den vergangenen Jahren bereits erfolgreich in der Formensprache des europäischen Arthaus-Kinos etabliert hat. Dass der Regisseur für 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' auf das populäre, aus dem Trash-TV bekannte Scripted-Reality-Format zurückgreift, entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie. Tanovic leitet aus diesem Besetzungscoup (bis auf die Ärzte spielen alle Protagonisten sich selbst) jedoch weder weiterführende Erkenntnisse ab, noch erkennt er in dem Vorfall eine politische Dimension. Die Unterordnung der Form unter die Geschichte stellt zunächst – ähnlich dem ungarischen Roma-Drama 'Just the Wind', das im Juli in den deutschen Kinos zu sehen war – lediglich eine Intensität her. Tanovic geht es in erster Linie um die (Nach-)Empfindung eines menschlichen Schicksals in einem Unrechtssystem. Eine Diagnose, wie in den klügeren Filmen des rumänischen Kinos, bleibt aus.

Dafür zeigt Tanovic die physischen Beschwerden dieses Lebens um so eindringlicher. Zeit wird hier mit fortschreitender Spieldauer eine immer kritischere Ressource – obwohl 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' mit einer Länge von 75 Minuten relativ kurz ausfällt. Nazifs einzige Einnahmequelle ist der Metallschrott, der im Nirgendwo des verschneiten bosnischen Hinterlandes an jeder Straßenkreuzung herumzuliegen scheint. Zwei nahezu identische Szenen verleihen der Odyssee von Nazif und Senada – mal mit, mal ohne Kinder im Schlepptau – einen erzählerischen Rahmen: Nazif und sein Nachbar Kasim ('Bruder' nennen sich hier die Menschen in einer fast altmodisch solidarischen Geste) nehmen mit Hämmern und Äxten ein Auto auseinander, bis die Einzelteile in den Lieferwagen des Freundes passen. Der Lohn der Arbeit, als sie die Teile später beim Schrotthändler abgeben, ist allerdings ernüchternd. Früh ist also klar, dass für Nazif und Senada die finanziellen Mittel für ein menschenwürdiges Leben in weiter Ferne liegen. 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' verfällt über diese Erkenntnis in eine Art Schockstarre.

Die Konsequenz, mit der Tanovic seine Geschichte umsetzt, legt die Beschränkungen dieser Ästhetik dann auch schonungslos offen. Das Bekenntnis zum 'Reenactment' als wirkungsvollem Abbildungsmodus beschreibt eher die Ohnmacht der Regie gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen. Als letzte Möglichkeit der Anteilnahme wird dem Zuschauer ein Identifikationsangebot gemacht, dem er sich nicht entziehen kann. 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' ist zu spröde, als dass es zum Elendskitsch oder gar zu der Form von magischem Realismus taugt, mit dem der US-Independentfilm seit einiger Zeit seine gesellschaftlichen Bilanzen aufzuhübschen versucht.

Tanovic ist immer dann am besten, wenn er Bewegungen inszeniert, in deren Verschleppungen sich bereits die ganze Vergeblichkeit dieses Überlebenskampfes abzeichnet. Das sind dann meist kurze, sehr filmische Vignetten innerhalb eines ästhetischen Gesamtzusammenhangs, in dem sonst Gesten dominieren. 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' ist etwas zu nah an seinen Figuren dran, um eine Wirkung über die bloße Empörung hinaus zu entfalten. Das System kommt nur selten hinter dem Einzelschicksal zum Vorschein. Zu sehen sind stattdessen Menschen, die anderen Menschen das Leben zur Hölle machen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 10/2013

Prince Avalanche

(USA 2013, Regie: David Gordon Green)

Pioniere der Landstraße, einsam
von Ulrich Kriest

Wir schreiben das Jahr 1988. Waldbrände haben die Landschaft im texanischen Nirgendwo verwüstet, viele Häuser zerstört, wenige Menschen getötet. Nichts, woran man sich erinnern müsste. Doch Alvin und Lance ziehen …

Wir schreiben das Jahr 1988. Waldbrände haben die Landschaft im texanischen Nirgendwo verwüstet, viele Häuser zerstört, wenige Menschen getötet. Nichts, woran man sich erinnern müsste. Doch Alvin und Lance ziehen los, um das Land urbar zu halten, denn die Natur schläft nicht. Mit ihrer kleinen Fahrbahnmarkierungsmaschine und nur dem Nötigsten an Ausrüstung retten die beiden mit gelben Mittelstreifen und Fahrbahnrand-Reflektorpfosten der Zivilisation Terrain. Ganz klar: Alvin und Lance sind Pioniere in der ehrwürdigen Tradition des Westerns, nur, dass ihnen Gefahr nicht länger von Indianern, sondern eher von sich selbst droht. Konflikte liegen erstaunlich früh in der Luft.

Zum Glück gibt es Hierarchien: Alvin ist der Boss, Lance wurde von ihm angestellt. Vielleicht aus Mitleid, vielleicht auch aus Eigennutz, denn Alvin ist mit Lances Schwester Madison liiert, wenngleich nicht gerade glücklich. Aber vielleicht trügt ihn, der seine romantischen Gefühle altmodisch in Briefe kleidet, auch hier die Erinnerung. Die Arbeit ist monoton – und die Straße wie ein Beatles-Song: lang und gewunden. Da bleibt hinreichend Zeit, um Regeln des Zusammenlebens auszuhandeln. Zum Beispiel das „Equal-Time-Agreement“ in Bezug auf den Kassettenrekorder, der mitgeführt wird, um die Zeit zu vertreiben. Alvin, stets etwas zugeknöpft, hört während der Arbeit eine Kassette mit einem Deutsch-Sprachkurs, um sein Deutsch zu verbessern, möglicherweise in Vorbereitung eines lange geplanten Urlaubs im alten Europa. Lance dagegen, ein leicht rebellischer Jungspund, würde lieber Indie-Rock hören, um bei der Arbeit nicht einzuschlafen. Er nutzt die Gunst des Augenblicks, um die Bänder auszutauschen. Alvin stellt ihn zur Rede. Argumente fliegen. Schließlich konstatiert Alvin, der Boss, dass das „Equal-Time-Agreement“ in Sachen „Bildung und Studium“ nicht greife, sondern nur nach Dienstschluss, wenn es um „Erholung“ gehe. Schließlich gibt sich Alvin aber versöhnlich. Mit Depeche Mode befindet er: „Enjoy the Silence!“ Was für Lance keine Lösung ist. „Prince Avalanche“ ist (auch) eine heitere Western-Komödie voller erstklassig getimter, lakonischer Dialoge.

Der Film ist aber (auch) als Zwei-Personen-Stück vor verheerter Landschaft eine melancholisch-existentialistische Parabel über Temperamente, Arbeit, Kreativität, Liebeskonzepte, Einsamkeit und Zivilisationsflucht. Als später Jünger von Albert Camus scheint der grüblerische, introvertierte und irgendwo auch sehr ängstliche Alvin sich Sisyphos sehr wohl als glücklichen Menschen vorstellen zu können, während der ganz und gar diesseitige Comic-Leser Lance es gar abwarten kann, am Wochenende in die Stadt zu fahren, um mit wechselndem Erfolg dort diversen Röcken nachzusteigen. Am besten stehen seine Chancen bei den regionalen Miss America-Vorausscheidungen, wo man als nicht mehr ganz junger Bursche gerade bei den Verliererinnen der Gewinner sein kann. Ist eine Sache der Hormone. Sagt Gentleman Lance, der seinem besten Freund auf einer Party die Freundin ausspannen wollte, es aber nur bis ins Vorzimmer der Lust schaffte, weil plötzlich der beste Freund dazukam, der jetzt nur noch Ex-Freund ist und wirklich nicht so viel trinken sollte. Die Frau mit den dicken, kurzen Beine, die Lance zuvor noch verschmäht hatte, knutschte da schon mit jemandem in der Ecke herum, den Lance noch nicht einmal kannte. Am nächsten Tag war Sonntag, da war Kirche und kein Sex. Was für ein skandalös verlorenes Wochenende!

So sitzt man während der Arbeitspausen zusammen und erzählt sich gegenseitig aus seinem Leben, mit gebotenem Ernst – und vielleicht heißt erwachsen werden ja, dass einem aufgeht, dass man es komplett verbockt hat. Am Ende wissen beide, dass Beleidigungen nur der hilflose Versuch sind, das Gegenüber auf die eigene Unsicherheit aufmerksam zu machen. Ein Paradoxon: die Beleidigung als Hilferuf.

Mit „Prince Avalanche“ kehrt der US-Filmemacher David Gordon Green nach seinen Ausflügen ins Reich der derben Komödien („Ananas Express“, „Bad Sitter“) zu seinen unabhängigen Anfängen zurück. Sein Debüt „George Washington“ (2000) gilt als einer der Schlüsselfilme des „neuen Realismus“ der US-Indie-Szene, womit Filme wie „Winter‘s Bone“, „Shotgun Stories“, „Mud“ oder „Wendy and Lucy“ gemeint sind, Filme von der Rückseite des amerikanischen Traums, die von Arbeit und Armut des „Real America“ erzählen. Green überformt den oftmals spröden Realismus dieser Filme mit surrealen Momenten und Schüben, was die forcierte Langsamkeit des Erzählens unter der Hand psychedelisch werden lässt. Dazu passt, dass ein erklärtes Vorbild von Green bei „Prince Avalanche“ der Naturmystiker Terrence Malick („To the Wonder“) war. Aus der konkreten Erfahrung im Verlauf der Dreharbeiten, dass die Natur sich den verwüsteten Raum sehr schnell zurück erobert, reagierte der Filmemacher mit ausführlichen Tier- und Naturbeobachtungen, die die Idylle in der Zerstörung feiern und dem Film einen eigenwilligen Rhythmus verleihen.

Wenige Begegnungen mit Passanten bleiben seltsam in der Schwebe, könnten auch »Gespenster« („Nosferatu“) sein. Alkohol kommt ins Spiel. Dieser Zug des Films unterstützt nicht nur die eigenbrötlerischen Anwandlungen Alvins, der mitunter als ein kauziger Wiedergänger des Einsiedlers Henry David Thoreau erscheint, sondern wird seinerseits durch den vorzüglichen Country-Folk-Psychedelia-Soundtrack von Explosions in the Sky und David Wingo unterstützt. So scheint bei mancher Begegnung am Wegesrand durchaus nicht ausgemacht, ob sich der Film nicht längst ins Reich der Phantasie verabschiedet hat. Auch das ist eine alte Western-Geschichte: wer zu lange der Stille der Natur lauscht, der wird irgendwann zur Kriegsbemalung greifen. Und zur Rohrzange als Tomahawk.

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Gold

(D 2013, Regie: Thomas Arslan)

Nackt und verrückt in Zeit und Raum
von Wolfgang Nierlin

„Das Gold zieht alle möglichen Menschen an“, sagt einmal Gustav Müller (Uwe Bohm), der als Journalist für eine New Yorker Zeitung arbeitet. Im Sommer des Jahres 1898 befindet er sich …

„Das Gold zieht alle möglichen Menschen an“, sagt einmal Gustav Müller (Uwe Bohm), der als Journalist für eine New Yorker Zeitung arbeitet. Im Sommer des Jahres 1898 befindet er sich zusammen mit einer kleinen Gruppe von Goldsuchern unter der Leitung des großspurigen „Unternehmers“ Wilhelm Laser (Peter Kurth) unterwegs nach Dawson im Norden Kanadas. Auf 1500 Kilometern führt der Weg in einer noch weitgehend unbekannten Inlandroute durch unerforschte Wildnis, weite Gebirgslandschaften und tiefe Wälder. Aber das sagt der windige Reiseleiter seinen Mitreisenden nicht. Doch die gedrückte, wenig hoffnungsfrohe Stimmung in der Gruppe, gegenseitiges Misstrauen und eine allgemeine Bangigkeit verheißen sowieso nichts Gutes. Man redet wenig; und zu den Reisestrapazen, Orientierungsproblemen und zum schlechtem Essen kommen bald noch Pannen und Unfälle dazu: Ein Planwagen geht zu Bruch, ein Mitreisender stürzt vom Pferd, ein anderes Pferd stirbt vor Erschöpfung.

Der Mythos vom schnellen Reichtum, in der Exposition von Thomas Arslans Spätwestern „Gold“ mit dem Fund eines fast Handteller großen Nuggets beschworen, lockt gegen Ende des 19. Jahrhunderts Tausende auf den beschwerlichen, oftmals tödlichen Weg zum Klondike River. Als Verheißung eines besseren Lebens erscheint das wertvolle Edelmetall auch den Suchenden, Verzweifelten und Verfolgen in Arslans Film. Unter ihnen befinden sich der Familienvater Joseph Rossmann (Lars Rudolph), der für die Reise engagierte Pferdepfleger Carl Boehmer (Marko Mandi&#263;), der zwar am meisten weiß, aber als Angestellter nichts zu sagen hat, und die junge, schon von ihrem Mann geschiedene Emily Meyer (Nina Hoss). Soziale Not, vielfältige Enttäuschung und eine deprimierende Perspektivlosigkeit nähren die Hoffnung der Goldsucher auf eine vielleicht bessere Zukunft. Doch je trügerischer diese wird, desto tragischer erscheint ihre Unternehmung; vor allem auch weil es für sie als Gefangene ihrer je persönlichen Geschichten kein Zurück in ein früheres Leben gibt.

Die Erfahrung von Raum und Zeit als wechselwirkenden Koordinaten, verstärkt noch durch die Landschaftspanoramen des Kameramanns Patrick Orth und die atmosphärischen, langgezogenen Gitarrensounds von Dylan Carlson, sind Arslans nüchtern-konzentriertem Film wesentlich. Die möglichen Unbilden des Wetters spielen darin merkwürdigerweise keine (dramatische) Rolle. Stattdessen dehnt der Regisseur das raum-zeitliche Erleben seiner Protagonisten bis zu dem Grad, an dem bange Hoffnung in pure Verzweiflung umschlägt: Ausgesetzt in einer überwältigenden Natur und verloren in der Zeit, erscheinen ihnen Vergangenheit und Zukunft gleich weit, um nicht zu sagen unerreichbar entfernt. Umstellt wird diese existentielle Verlorenheit zudem zunehmend von Zeichen des Todes, etwa von schwarzen Wolken am Abendhimmel, von morschen Ästen, die wie gefährliche Tierfratzen aussehen oder auch von einem einsamen Wanderer sowie einem verzweifelten Selbstmörder. Und auch die immer kleiner werdende Gruppe bleibt nicht verschont von Wahnsinn und Tod. Nackt und verrückt verschwindet einer der Goldsucher im Wald, ein anderer gerät in eine tödliche Bärenfalle. Dass es inmitten der Hoffnungslosigkeit auch ein kurz aufkeimendes, zärtliches Liebesglück gibt, gehört zu den ebenso schönen wie traurigen Momenten des Films.

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Sâdhu – Auf der Suche nach der Wahrheit

(CH 2012, Regie: Gaël Métroz)

Aus der Menschenferne
von Wolfgang Nierlin

Seit acht Jahren lebt Suraj Baba als Einsiedler in einer Höhle des Himalaya auf über 3000 Metern Höhe. Hier in Gangotri, wo der Ganges, Indiens heiliger Fluss, entspringt und die …

Seit acht Jahren lebt Suraj Baba als Einsiedler in einer Höhle des Himalaya auf über 3000 Metern Höhe. Hier in Gangotri, wo der Ganges, Indiens heiliger Fluss, entspringt und die Felsen ausgewaschen hat, übt sich der junge Hindu in Askese und Meditation, um sein Bewusstsein zu erweitern. Suraj Baba ist ein Sâdhu, ein „guter, heiliger Mann“ und „Wahrheitssucher“, der sich von seiner Familie getrennt hat und als Bettler ein einfaches, reines und keusches Leben führt. In seiner Grotte, beschränkt auf das Nötigste, backt und kocht er am offenen Feuer. Eine Ratte leistet ihm Gesellschaft. In anderen Szenen von Gaël Métroz‘ intimem Filmporträt „Sâdhu“ taucht der Mann mit den langen Haaren und dem üppigen Bart in das kalte Wasser des Flusses und bittet Gott um Wegweisung. Denn seine geistigen Kämpfe und inneren Zweifel sind längst nicht befriedet. Suraj Baba ist ein Fragender, der sich nach Frieden sehnt und dabei ein gewinnendes Lächeln besitzt.

„Was ist die Essenz des Lebens?“ „Wohin soll ich gehen?“ „Hat Gott überhaupt Antworten?“ Suraj Baba ist kein erleuchteter Weiser, der mit seinem Wissen in sich selbst ruht. Vielmehr stockt sein Reden immer wieder, bricht ab oder verliert sich im Vagen. „Worte sagen wenig über deine Gefühle“, erklärt er sein Schweigen, das vielleicht gerade aus der Menschenferne kommt. Stattdessen singt er in bestem Englisch, das ihn als einen Gebildeten ausweist, selbstkomponierte Folksongs und begleitet sich dazu auf der Gitarre. Métroz‘ Erzählstoff und die Möglichkeiten seiner inhaltlichen Entwicklung sind insofern mitunter etwas dürftig – ein Mangel, der auch durch die stimmungsvollen Bilder majestätischer Landschaften nur bedingt kompensiert werden kann.

In diese bricht der Sâdhu schließlich auf, um zum Ursprung von etwas Konkretem zu gehen und damit meint er die heiligen Seen Tibets. Seine Pilgerreise führt ihn allerdings zuerst zum hinduistischen Fest Kumbh Mela in Haridwar, wo Heerscharen von Pilgern sich im Ganges von ihren Sünden reinwaschen. Zwar begrüßt Suraj Baba die Abwechslung, doch er erlebt sich inmitten des außerordentlich beeindruckenden Treibens, das er als einen „großen Zirkus“ und als „Theater“ empfindet, auch als einen individualistischen Skeptiker, der nach Gott fragt und nach einem eigenen Lebensweg sucht. Dieser führt ihn schließlich auf eine lange Wanderung über Nepal bis in die hochgebirgige Grenzregion zu Tibet, was Gaël Métroz in (film)logistisch nicht immer stimmigen Reiseimpressionen verdichtet. Immer wieder heften sich dabei die Gefühle des Suchenden an die sinnlichen Erfahrungen des Lebens. Und man spürt, wenn Suraj Baba in einer der emotionalsten Szenen durch seine Zweifel hindurch vom Loslassen spricht, wie viel Selbstüberwindung ihn diese Aufgabe kostet.

Rush – Alles für den Sieg

(USA / GB / D 2013, Regie: Ron Howard)

Je lauda es wird, desto mehr niki ein
von Drehli Robnik

Das ungebremst neoliberale Rennfahrerretrodrama “Rush” Bedeutsamkeit auf Hochtouren: Autorennen als Authentiktest, die Formel 1 als Pathosformel, 1976 als (österreichisches oder warum nicht gleich globales?) Schlüsseljahr, das Spiel mit dem nahen …

Das ungebremst neoliberale Rennfahrerretrodrama “Rush”

Bedeutsamkeit auf Hochtouren: Autorennen als Authentiktest, die Formel 1 als Pathosformel, 1976 als (österreichisches oder warum nicht gleich globales?) Schlüsseljahr, das Spiel mit dem nahen Tod als Spiegel einer Lebendigeit, die uns Heutigen echt und fern anmuten soll (sagt zumindest die Retrokultur). Oder zielt das Rennfahrer-Biopic-Drama 'Rush' – zugespitzt aufs WM-Duell zwischen dem Briten James Hunt und dem Wiener Niki Lauda 1976 – gar ins Universelle? (Oder gilt solch ein auf nichts weniger als das Menschliche überhaupt bezogener Anspruch eh nur in Österreich, wo Lauda ein Nationalheiliger und allzu gern gehörter Wirtschaftsvernunftapologet ist und der Tag seines gesichtsverändernden Rennunfalls auf dem Nürburgring als geschichtsverändernder, gar dunkelster Tag der jüngeren Landesgeschichte gilt – die immerhin auch z.B. einiges an politischen Morden aufzuweisen hätte… Jedenfalls wird in Filmmagazinbesprechungen und Zeitschriftenfeuilletons hierzulande Großes dieser Art über 'Rush' behauptet, und dafür, dass meine Rezi dort ansetzt, seien alle Un-Ösis und Sonstigen um Verzeihung gebeten.)

'Rush' also als Bild, so heißt es, 'einer Konfrontation von universeller Gültigkeit'? Nun, je lauter ein solcher Allgemeingültigkeitsanspruch sich, auch filmisch, anmeldet – und mit den routiniert, als wär´s ein Red-Bull-TV-Feature, heruntergesäbelten close-ups dröhnender Motorendetails und den eingestreuten Glamrock-Hadern von 'Rush' ist das ziemlich laut (aber eh auch lauwarm) –, je mehr also der Zug ins Schlechthinige fährt und führt, desto mehr gilt es, dies ganz in seiner historischen Vermittlung zu verstehen. Sprich: Die Frage gilt dem Gegenwartsinteresse, das sich da in eine bunte Vergangenheit, sowie deren Haar- und Textilmoden zurückprojiziert. 'Why this film now?' So hat der Filmtheoretiker Thomas Elsaesser einmal diese kategorische Frage verdichtet formuliert.

Mensch kann 'immer' sagen, dass hier der Neoliberalismus, mit seinen Wert- und Stilpräferenzen, sich reflektiert im revuehaften Rückblick-Bild der Pop- und Technokulturabenteu(r)er seiner abenteuerlichen Frühphase, die von circa 1960 bis irgendwann in die späten 1980er reicht (mithin also jene Jahre und Jahrzehnte umfasst, die im heutigen Retro-Repertoire am stärksten als Referenzstile vertreten sind; schon klar, die Supercoolen zitieren heute 1940er Swing- oder Frühneunziger-Grunge-Kultur). Wie gesagt: Das lässt sich 'immer' sagen. Und was gäbe es Abgedroscheneres, als das rasende Autobusiness als Sinnbild der Businessautokratie im 'Turbokabitalismus' zu lesen. Deshalb gilt zunächst: But why 'Rush' now? Recht spezifisch bietet dieser Film anhand der Formel 1 der Mittsiebziger die triumphale Selbstabbildung eines sehr heutigen, sehr aktuellen Neoliberalismus, der das, was so allgemein 'die Krise' heißt, ziemlich intakt überstanden, Aufprallschäden veräußert (bzw. verstaatlicht), Einspruch minimiert hat – und ergo ganz einfach, schamlos dieselbe Tour weiterfahren kann. Insofern ist gerade die totale Abgedroschenheit aller dröhnenden Sinnbildlichkeit dieses Films der Schlüssel zum Spezifischen seiner Sinnbildung. Das atemberaubende Ausmaß, in dem er business as usual treibt und dies zugleich als völlig alternativlos anschreibt, ist das Besondere und besonders Unangenehme an 'Rush'.

Wenn eine öd inszenierte Runde – und es gibt auch viele nicht öd inszenierte Runden im Autorenn-Kino, angefangen beim Split Screen von John Frankenheimers 'Grand Prix' (1966) oder noch früher –, wenn also eine öd inszenierte Runde nicht weiter stört, warum nicht 74 davon? Wenn das Konfliktschema nach fünf Minuten ausgemalt ist, warum es nicht 118 weitere Minuten lang breittreten? Dieses Konfliktschema bezeichnet zum einen die Bedeutsamkeit, die dieser Film so hartnäckig, wortreich, ausführlich und bei allem Flottschnitt auch behäbig verdeutlicht, dass selbst diejenigen mitschreiben können sollen, die noch gar nicht schreiben können, zum anderen umreißt es das Ausmaß an Wahl, das der sich selbst feiernde Neoliberalismus uns läßt: Partylöwe/Betthase James Hunt versus Technokrat Niki Lauda, Leistung durch Spaß versus Leistung durch Selbstzucht, Berlusconi oder Wirtschaftskammerpräsident – kapitalmachtförmig motorisierte narzisstische Hormonstörung, nobilitiert als Ideologie tatkräftiger Durchsetzungskraft, Gewinnen also, auf beiden Seiten, mithin allseits, unausweichlich.

There is no alternative, so why not more of the same? (Parallelen zu aktuellen Wahlergebnissen verbieten sich von selbst.) Warum also nicht noch ein period-pic-Drama mit 1970er-Medienevent samt ungleichen Männlein-Rivalen und Schlussapplaus von Ron Howard, der uns ja schon etwa 'Apollo 13' und Frost/Nixon', aber auch Exemplare von Kino zum Nebenbei-Bügeln wie z.B. die DaVinci-Code'-Adaptionen beschert hat? Warum nicht Blondheit und Body von Chris Hemsworth melken, wenn er eh demnächst ein zweites Mal den Thor macht? Warum nicht abermals, nach Der Untergang' und Der Baader-Meinhof-Komplex', Alexandra Maria Lara in der Rolle des Rehauges an der Seite eines narzisstischen Power-Animals aus der jüngeren Geschichte, das allerdings diesmal – engagiert gespielt von Daniel Brühl – nicht Deutsch, sondern lupenreines Wiener(engl)isch spricht?

So wird, um über 'Rush' auch mal was Gutes zu sagen, dieses kuriose Idiom, die Kombi von Wienerisch und Englisch eben, wieder einmal in seiner ganzen filmischen Strahlkraft gewürdigt, und Daniel Brühl – der nicht von ungefähr bei Tarantino den Rennstall- und Trikotkollegen eines einschlägig prägnant parlierenden Na(r)zis(s)ten gespielt hat –, reiht sich in eine große Tradition ein, die von Lorre über Landa zu Lauda reicht.

Gravity

(USA / GB 2013, Regie: Alfonso Cuarón)

Immersionstherapie: Erdung im Airlock mit Bullock
von Drehli Robnik

Schweben, driften, schlingern, entlangschrammen, auf- und abprallen: Imposant ausgekostet wird hier ein ganzes Inventar von Kräften, die auf Masseteile (nicht zuletzt auf menschliche) wirken, wenn das außer Kraft ist, was …

Schweben, driften, schlingern, entlangschrammen, auf- und abprallen: Imposant ausgekostet wird hier ein ganzes Inventar von Kräften, die auf Masseteile (nicht zuletzt auf menschliche) wirken, wenn das außer Kraft ist, was diesem Raumfahrtdrama seinen Titel gibt: 'Gravity', die Schwerkraft.

Unter dem, was hier wirkt, ist die Fliehkraft kategorial, geht es doch in einer minimalistischen, aber im Detail äußerst wendungsreichen Echtzeiterzählung ums Fliehen, um eine hundertminütige Flucht: aus der Unlebbarkeit des Weltalls, über drei havarierte Orbitalstationen (wie sie heute in etwa so im Einsatz sind) hinweg zur Erde zurück: Hubble-Teleskop, Raumstation ISS, eine russische, zuletzt eine chinesische Station. Thematisch lässt 'Gravity' sich in eine Tradition von Filmen über realistische, in ihrer Katastrophik hautnah-existenzielle Raumfahrt-Pannen einordnen (so uns das Einordnen Spaß macht), also nix da Aliens, eher wie 'Marooned', 'Apollo 13', Teile von Mission to Mars'. Aber in seinem (syn-)ästhetischen Appeal doch sehr anders.

Nicht nur Physik, auch die Physis ist in 'Gravity' exponiert: der Leib, eingezwängt in Raumanzughaut und Technikhaus, verwundbar und intim – und zwar intim mit dem Publikum, dessen vielen Sensorien. Die IMAX-affine Inszenierung von Alfonso Cuarón, das Sounddesign zumal, betont Atmung und Selbstgespräche; sie hält sich an die Vorgabe von Stille im All (tolle Actionszenen bieten daher stummes Bersten rundum, zu dem der ansonsten leise dahinatmosphärende Trance-Score anschwillt) und hält die Erde lapidar im Hintergrund. Vielmehr: Eine Umhüllung ist er hier, der blaue, nachts schwarze, aber mit Lichtpunkten übersäte Planet – eine Bildform dessen, was der Globalismus der Story dann zunehmend breit ausspurt: Eine US-Wissenschafterin gibt sich in ihrer Not ganz dem Funkempfang eines chinesischen Wiegenliedes hin, das sie mehr einhüllt als dass sie versteht. Diverse Stationen des Wieder-Einswerdens mit dem Kreatürlichen, vom Wolfsgeheul zum Froschgehüpf, ergeben sich ebenfalls auf dem Weg.

Das Gravitätische von 'Gravity', das Forciert-Tiefe und -Reflexive, auch Reflektierte (etwa in Spiegelbildern in den Sichtfenstern der Raumhelme), es liegt in dem, was hier offenbar aufgerufen ist, zwischen kleinem Körper und großem Kosmos zu vermitteln. Was sich an Religiösem, Mystischem, Metaphysischem ergeben würde, wenn das Allzu-Zerbrechliche hier in Direktkontakt zum Umfassend-Unendlichen gesetzt wäre (ein Grenzwert, dem einmal ein Filmemacher beim psychedelischen Durchfliegen des Stargate ziemlich nah gekommen ist), das muss hier gar nicht bedacht, gefeiert oder kritisiert werden, weil ohnehin etwas Profanes, mitunter auch Abgeschmacktes dazwischentritt und reibungslose Übersetzung gewährleistet: eine – immerhin g´schmackig servierte – Fusion aus Demutsethik und Positiv-Denken-Therapie, Beten-Lernen und Nicht-Aufgeben, Zum-Trauma-Stehen und Über-sich-Hinauswachsen. Das Erlösungs- und Stilbemühen aus Cuaróns vorigem Film hallt in all der Stille nach: 'Gravity' beginnt so endlos ungeschnitten wie Children of Men' endete; zehn Minuten Plansequenz, das hat was von Tarkovskij ebenso wie von Muskelspiel.

Für letzteres ist in 'Gravity' George Clooney zuständig, ohne wirklich da zu sein. Beschränken wir uns auf die Andeutung, dass seine Erscheinung hier beschränkt ist – darauf etwa, dass sie ganz Gesicht ist, ganz schöne Stimme, darin Anflüge Clark Gable´scher Unerschütterlichkeit, Dranbleiben an der Suche nach dem russischen Vodka-Vorrat, wo doch schon Erstickungs- und Erfrierungstode nahe sind. Hat Clooney nicht vor gut zehn Jahren in einem Hollywood-Remake von Solaris' (aus der Cameron/Soderbergh-Ecke) die Hauptrolle gespielt? Ums Aktivieren von Wunschenergie geht es auch hier, sowie um deren Gendering: Clooneys Männlichkeit fungiert in 'Gravity' als eine Art Vermächtnis, motivierender Auftrag, und da kommt noch eine rufzeichenhaft markant platzierte, ostentativ unvollständige Anekdote über eine überraschende Begegnung mit einer Lesbe hinzu, aus der die Dekonstruktivist_innen und Online-Klatschonkeln unter uns wohl noch was machen werden können.

Das All ist hier ganz schweigender Raum, der Mensch vorwiegend körperlose Stimme. (Die von Ed Harris ist auch dabei, und wer sich an die romantische Kosmologie der atemluft- und folglich stimmlosen, dafür getippten Liebeskommunikation in Camerons 'The Abyss' erinnert, SMS-Melodram avant la lettre – naja, auch so ein Technikpannen-Quasi-Raumfahrt-Film, aber: 'Keep Pantyhose on!') Der Rest des extrem limitierten Humankapitals von 'Gravity' ist große Show von Sandra Bullock. Am Filmende ist sie demonstrativ wieder geerdet und aufrecht. (Naja… Darf sie das, weil sie doch immer noch mit vielen leichtgewichtigen Rollen als American Sweetheart-Girl Next Door assoziiert ist? Oder gerade deshalb umso weniger?) Bis dahin aber leitet, geleitet und gleitet, ihr langer Leib uns durch ein Inventar, durch das jeder Bild-Raum hier auch zur Motivschatzkammer des Science Fiction-Kinos gerät. Abgesehen von einem Hauch von 'Speed' (Bullock, unter fernmündlicher Anleitung überfordert und zu sarkastischen Sagern provoziert, beim Steuern eines schwer zu kontrollierenden Fortbewegungsmittels) und entfernten Anklängen an den romantischen Survivalismus von Titanic' (schon die dritte Cameron-Referenz hier), weht es hier Momente aus Barbarella' und Alien', aus 2001' und 'Dark Star' herüber – Bezüge, die der rührenden Wirkung mancher Szenen keinen Abbruch tun. Umso mehr ist 'Gravity' ein Akt filmischer Immersion in eine Anmutung von 'Für alle etwas', verrichtet aber ebendieses Geschäft ziemlich elegant.

Tore tanzt

(D 2013, Regie: Katrin Gebbe)

Tore tumbt
von Andreas Thomas

Wer kennt zufällig den Willi aus der Kindersendung „Willi will‘s wissen?“ und wer hat, wie ich, ernsthafte Probleme damit, sich das regressive, permanente Grinsen besagten Willis anzugucken? Warnung: Für Willi-Phobiker …

Wer kennt zufällig den Willi aus der Kindersendung „Willi will‘s wissen?“ und wer hat, wie ich, ernsthafte Probleme damit, sich das regressive, permanente Grinsen besagten Willis anzugucken? Warnung: Für Willi-Phobiker ist der Film „Tore tanzt“ schon mal nix, denn titelstiftender Tore hat sich offenbar dieses Grinsen bei Willi bis zur Perfektion abgeguckt, und, das passt schon: da wo Willi (wer nicht fragt, bleibt dumm) natürlich berufsmäßig immer dumm ausschauen muss, weil er auch kindgerecht dumm fragen muss (denn wer alles wissen will, muss immer dumm fragen), da will „es“ auch Tore wissen, man könnte nur sagen, mit einer ziemlich großen Einschränkung, denn er will nur eines wissen: „Welchen Plan hat Gott für mich ausgeheckt?“ Und sonst nichts.

In Sachen Dummheit schlägt Tore nun somit den guten alten Willi, denn er ist so ein mittelalterliches Relikt, das nicht mal selber denken oder fragen oder logisch ableiten kann wie Willi, sondern Zeichen, Wunder und „Böses“ braucht, damit er „Gutes tun“ kann. Tore, so in etwa 18 Jahre, ist ein sogenannter „Jesus-Freak“, Mitglied einer ziemlich ekstatischen und freakigen hamburger Jesus-Punk-Community, und der Film beginnt mit Tores Taufe in einem See, wonach Tore ganz schön ekstatisch guckt. Dann führt der Film ihn mit ein paar Jesus-Kumpels zu einem Rastplatz, wo ein Auto nicht anspringt und er mal so richtig regredierend grinsen darf, weil er nämlich in Ermangelung eines Starterkabels seinen direkten Draht nach oben demonstrieren kann („Bitte Gott, hilf mir diesen Motor zu starten. Wenn‘s nicht klappt, glaub ich trotzdem an dich!“), die Motorhaube küssen und – oh Wunder, oh Wunder: der Motor geht wieder – richtig entrückt und debil ekstatisch sein kann. Den zunächst eher nur grätzig wirkenden Autobesitzer und Familienvater lädt Tore („Ich bin der neue Messias!“, debiles Lächeln: „War ein Scherz.“) zu einer dieser Jesus-Punk-Erweckungsfeierlichkeiten ein, wo Tore dann leider weniger Pogo tanzt als zuckt, weil er nämlich einen epileptischen Anfall erleidet. Er selbst wird das Phänomen später als: „Der Heilige Geist kam über mich“ definieren, und mit dieser Art des „Über Tore Kommens“ wird der Heilige Geist im Lauf des Films nicht sparen – meist in Augenblicken, in denen Tore von der Weltlichkeit der Welt überfordert zu sein scheint.

Zunächst aber nimmt Benno, der Familienvater mit dem Auto, Tore mit zu seiner Datscha, wo Ersterer mit seiner kleinen Patchworkfamilie den Sommer in einer Kleingartenkolonie verbringt und zunächst auch nett und freundlich rüberkommt. Dass er Tore dann doch nicht erst ins Krankenhaus bringt, bloß weil der sagt, der Heilige Geist war beteiligt, dafür wollen wir noch dieses Mal die eher proletarisch-rustikale Denkweise von Benno verantwortlich machen, nicht ein typisch deutsches inkonsistentes Drehbuch.

Nicht inkonsistent, sondern immer schräger erscheint das Drehbuch aber sukzessive, wenn man die weitere Entwicklung Tores verfolgt. Hatte man zu Beginn noch darauf gehofft, dass sich der Film irgendwie und analytisch der Verwirrung des Geistes junger, fanatisierter Menschen widmet und die eine oder andere kluge Beobachtung dabei macht, bleibt einem schon langsam die Spucke weg, als Tore in seiner Christen-Punker-WG nicht damit klar kommt, dass sein Kumpel so etwas wie ein voreheliches Sexualleben praktiziert. Gerade so, als habe er statt eines nackten Girls einen Mord beobachtet, wendet er sich blass und angeekelt ab, um auszuziehen (aber nicht sich …). Auch jetzt kann man sich natürlich noch darüber freuen, wie deutlich der Film die Absurdität und die Inhumanität überkommener christlicher Dogmen und ihre psychologisch problematischen Folgen herausstellt.

Das sich einstellende Problem ist nur: Der Film hat das offenbar überhaupt nicht vor! Im Gegenteil. Tore, der wieder zu Benno und dessen Familie flüchtet, wird selbstloser und asketischer und selbstkasteiender von Filmminute zu Filmminute, und wo diese Entsagungen zu Gunsten des Heiligen Geistes noch nicht ausreichen, da hilft freundlich Benno nach, der sich parallel dazu mehr und mehr als das personifizierte Böse entpuppt, indem er dem doch auch mal nicht grinsenden, aber immer noch dumm guckenden Tore auf die Nase boxt, gegen seine Schienbeine tritt, oder dann irgendwann ihn einfach mal so in einen veritablen Brutalo-Männerpuff steckt (die sonderbarste Kreation dieses an sich schon die kleinbürgerlichen Verhältnisse fantasievoll gestaltenden Films), wo ihn plötzlich die Schrebergartenkumpels, die doch vorher wirklich noch ganz nett und normal wirkten, aber so was von gründlich in den Arsch ficken. Armer unter der Dusche von rückwärts blutender Tore, der aber nun weiß, dass Gott ihn hierher geschickt hat. Und das hat ja auch sein Gutes.

Spätestens als Tore gemerkt hat, dass Benno sich natürlich auch noch an seiner eigenen Stieftochter vergeht (und das wiederum Benno gemerkt hat), gehts Tore nun ans Eingemachte. Er wird Ziel diverser Sadismen, ein besonders subtiler ist das Zufügen einer Lebensmittelvergiftung durch Einfütterung von vergammeltem Fleisch. Und so fällt der leider kaum mehr zum Sympathieträger Taugende von einer Kotzerei in die andere, von einer Ohnmacht in die nächste, nur um sich umso lustvoller weiter peinigen zu lassen, denn Gott hat ja seinen Gefallen daran, wenn der Christenmensch dem Widersacher sämtliche Backen hinhält. Tore, nicht faul, hat derer zahlreiche.

Und Benno (irgendwie verständlich) lässt nun erst recht richtig die Sau raus, zeigt, wie richtig gemein er sein kann, indem er die Nachbarskatze in einer Regentonne ertränkt (folgerichtige Reaktion Tores: epileptischer Anfall, folgerichtige Reaktion eines deutschen Drehbuchs: Kein Hahn kräht nach, kein Nachbar fragt nach einer Katze, die nass und tot auf dem Rasen liegt), und seine Freundin und auch ihre Freundin, komischerweise, finden das auch alles ganz witzig, besonders, wenn Tore eher tot als lebendig, auf dem Boden liegt, denn dann können sie anfangen, ihn mit ihren Stöckelschuhen zu triezen und zu demütigen. Ja, auch über diese doch so harmlos wirkenden Damen, bisher eher nur des Lasters lustiger Umtrünke verdächtig, ist nun das abgrundtiefe Böse gekommen. Das gibt uns zu denken. Denn so sind sie, die Atheisten, und so waren sie schon, bevor sie Atheisten waren (also bevor Gott zu wirken anhub).

Leider sieht der Film in all dieser Figurengebung auch keinerlei Ambivalenzen, geschweige denn biografische Kausalitäten oder folgerichtige Entwicklungsschritte, er und seine unheilschwanger schwankende Kamera und seine zum Ertauben hypnotisch dräuend rumpelnde Musik schieben den Zuschauer stattdessen zu seinem altbekannten dichotomischen Endurteil: Die Menschheit ist von Natur her böse, und ihr zu helfen ist nur Gott imstande, oder Jesus, der daselbst sich opfert und zermatscht im Tümpel liegt. Es gibt nämlich noch ein dezent angedeutetes Happy End. Aber nicht für Tore, sondern für die Stiefkinder. War nämlich doch kein Scherz, dass Tore der neue Messias ist.

Ein Film mit einer Message und mit einem Messias. Wie lange haben wir darauf schon gewartet? Wie schön, dass die Problematik der Welt immer mal wieder so einfach herzuleiten ist, und überhaupt Danke für dein Opfer, Jesus/Tore! Jetzt schmeckt uns die Butter auf dem Brot wieder und die fiesen Prolls und Päderasten gehen sich alle schämen.
Schlussbemerkung: Was soll dieser Film? Das Thema Passionsgeschichte hat doch schon Lars von Trier mehrfach in seinen Filmen und besonders vielschichtig und doppelbödig und dreifach gebrochen in „Breaking the Waves“ verhandelt. Bis ins Detail kann man wiedererkennen, an welchen Stellen sich die Regisseurin von „Tore tanzt“ von diesem Film hat inspirieren lassen. Aber wo Trier die Reflexion über das Wesen der christlichen Religion(en) erfolgreich befördert hatte (da wo „Breaking the Waves“ als Film das Zeug hatte, gleichzeitig Atheisten zum Christentum zu bekehren und Christen zum Atheismus), betäubt Katrin Gebbe die letzten Zuckungen des Gehirns mit einer Totschlagargumentation, die ja doch selbst unreflektiert stumpf-christlichsten Wesens ist.

Mein Urteil: Tore, ja, gerne, aber bitte nur von Hannover 96.

Der Fall Wilhelm Reich

(AT 2012, Regie: Antonin Svoboda)

Ungepanzerte Empfindungen
von Wolfgang Nierlin

Im Wien des Jahres 1925 spricht der junge Wilhelm Reich vor Psychoanalytikern, unter denen sich auch sein Lehrer Sigmund Freud befindet, über die Funktion des Orgasmus und stößt dabei auf …

Im Wien des Jahres 1925 spricht der junge Wilhelm Reich vor Psychoanalytikern, unter denen sich auch sein Lehrer Sigmund Freud befindet, über die Funktion des Orgasmus und stößt dabei auf offene Ablehnung. Während die Kamera das Halbrund des Hörsaals nachzeichnet und damit die Reaktionen der Zuhörerschaft – alles Herren in weißen Kitteln – übermittelt, hören wir die Stimme des Reich-Darstellers Klaus Maria Brandauer aus dem Off. Diese klingt zurückhaltend, wenig bewegt, fast ausdruckslos. Im Prolog von Antonin Svobodas Film „Der Fall Wilhelm Reich“ tendiert das konkrete Setting zur Abstraktion und der genau datierte Anlass sucht das Beispielhafte. Das Biopic des österreichischen Regisseurs, der zuvor unter dem Titel „Wer hat Angst vor Wilhelm Reich?“ schon eine TV-Dokumentation über den umstrittenen Psychiater realisiert hat, besitzt unverkennbar einen Hang zur trockenen Sachlichkeit, die mitunter leider auch etwas blutleer wirkt. Dazu kommt noch, dass trotz des dokumentarischen Zugriffs vieles inhaltlich vage und nur angedeutet bleibt.

Dabei sucht Svoboda auf der wissenschaftlichen respektive ideologischen Ebene durchaus den harten Kontrast, um nicht zu sagen, die plakative Polemik. Über einen Zeitraum von dreißig Jahren, die in punktuellen Zeitsprüngen und Ortswechseln als verschachtelte Erzählung wiedergegeben werden, entfaltet der Film Reichs ganzheitliches Denken, die Prinzipien seiner Orgon-Therapie und seine Experimente mit dem sogenannten Cloudbuster. Dabei zeichnet er den als „Sexguru“, „Wunderheiler“ und „Scharlatan“ verschrieenen Forscher, der vor den Nazis fliehen musste und Mitte der fünfziger Jahre vor ein amerikanisches Gericht gezerrt wird, weniger als rebellischen Provokateur denn als liebenden Vater, klugen Wissenschaftler und zurückhaltenden Aufklärer. In seiner therapeutischen Arbeit will dieser das Fließen der als Orgon bezeichneten Lebensenergie verbessern, um Blockaden zu lösen, zu den „ungepanzerten Empfindungen“ durchzudringen und damit die Selbstheilungskräfte zu aktivieren.

Als selbstbewusster, unabhängiger Geist, dessen Wahlspruch „It can be done“ lautet, ist Reich allerdings vielfältigen Vorurteilen und Anfeindungen ausgesetzt, aber auch wissenschaftlichen Zurückweisungen, die er produktiv zu nutzen versucht. In einer Parallelhandlung zeigt Antonin Svoboda die menschenverachtenden Experimente seines Gegenspielers Dr. Cameron (Gary Lewis), der mit fragwürdigen Methoden an einem noch fragwürdigeren Konzept der Bewusstseinskotrolle arbeitet. Zur Folter ist es hier nicht mehr weit. Weitere politische Implikationen finden sich aber auch in Wilhelm Reichs kritischer Opposition zu den atomaren Tests der USA und den damit verbundenen Gefahren. So entsteht das Portrait eines visionären Humanisten, dessen mahnende Stimme und alternative Forschungen aus gesellschaftpolitischen Gründen systematisch unterdrückt wurden.

Der Schaum der Tage

(F 2013, Regie: Michel Gondry)

Gang unter Wasser auf und davon
von Wolfgang Nierlin

Die Wahrheit der Kunst hat nichts mit der Plausibilität ihrer Darstellungen oder dem Realitätsgehalt ihrer Geschichten zu tun, vielmehr erfindet die Kunst ihre eigene Logik und Sprache. So in etwa …

Die Wahrheit der Kunst hat nichts mit der Plausibilität ihrer Darstellungen oder dem Realitätsgehalt ihrer Geschichten zu tun, vielmehr erfindet die Kunst ihre eigene Logik und Sprache. So in etwa lässt sich das Zitat des französischen Schriftstellers und Jazzmusikers Boris Vian weiterspinnen, das Michel Gondry seiner ziemlich versponnenen Verfilmung von Vians zum Kultbuch avancierten Roman „Der Schaum der Tage“ („L’écume des jours“) voranstellt. Denn natürlich regiert hier wie dort die reine Phantasie, als könne man mit ihr der schnöden Welt- und Alltagsschwere entfliehen. Nichts scheint unmöglich, das Surreale ist auf ganz selbstverständliche Art und Weise Bestandteil der Realität. Entsprechend verspielt und bunt, verrückt und lustvoll überbordend sind die Einfälle in Gondrys filmischer Adaption. Seine Freude an Maschinen und den ebenso phantastischen wie tückischen Möglichkeiten ihrer Mechanik findet ihre Entsprechung in der Lust, Dingen ein Eigenleben zu schenken und Gegenstände zu verlebendigen. Besonders reizvoll und charmant ist dabei der symbiotische Austausch zwischen alten Gerätschaften und modernen Funktionsweisen.

In der vielgestaltigen Welt des wohlhabenden Junggesellen und Müßiggängers Colin (Romain Duris), der ein „Auskommen ohne Arbeit“ hat und von seinem sympathischen Koch Nicolas (Omar Sy) kulinarisch extravagant verwöhnt wird, ist es also durchaus nicht ungewöhnlich, wenn Cocktails am Piano per Tastendruck gemixt werden, sich die Türklingel wie ein Käfer in Bewegung setzt oder den Tanzenden lange Beine wachsen. Einmal spricht der große Philosoph Jean-Sol-Partre (Philippe Torreton), der von Colins Freund Chick (Gad Elmaleh) abgöttisch verehrt wird, aus einer zu einem Rednerpult umfunktionierten Pfeife heraus; ein anderes Mal schwebt Colin mit seiner Freundin Chloé (Audrey Tautou) in einer kitschigen Pappmaché-Wolke, die von einem Kran gezogen wird, über den Dächern von Paris. Kurz darauf heiraten die beiden und gleiten in einem fröhlich-schwebenden Gang unter Wasser auf und davon.

Bis hierher erzählt Michel Gondry vom puren Glück: Das Leben ist ein Fest, die Welt erstrahlt in mannigfachen Farben und die Einbildung ist dabei eine willfährige Helferin. Doch auf die Dauer wirkt das leider auch ermüdend, zumal die Figuren in Gondrys visualisiertem Ideenstrom unterzugehen drohen. Die Phantasie folgt gewissermaßen ihrer eigenen assoziativen Logik. Das ändert sich, als Chloé schwer erkrankt und der Arzt eine „merkwürdige Musik im linken Lungenflügel“ diagnostiziert, die später als Seerose identifiziert wird. Plötzlich verliert die Welt ihre Farben, die Menschen altern schneller und das Schöne verschwindet im Grau. Und ebenso plötzlich, als bedürfte es dieses Schreckens, ist man wieder wach und folgt mit einem schmerzlichen Gefühl der Tragik des Unausweichlichen.

Alphabet

(AT / D 2013, Regie: Erwin Wagenhofer)

Opa voran!
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein überzeugender und ausgesprochen sehenswerter Dokumentarfilm, der sich mit den Defiziten des wirtschaftsorientierten, weltweit geltenden Bildungssystems befasst. In einem Wort: es geht um die Kreativvernichtung durch PISA. Erwin Wagenhofer hat …

Ein überzeugender und ausgesprochen sehenswerter Dokumentarfilm, der sich mit den Defiziten des wirtschaftsorientierten, weltweit geltenden Bildungssystems befasst. In einem Wort: es geht um die Kreativvernichtung durch PISA. Erwin Wagenhofer hat damit seine mit „We Feed The World“ und „Let’s Make Money“ begonnene Trilogie vollendet. „Alphabet“ ist der Paukenschlag, jetzt was gegen die ausschließliche Elitebildung und den Leistungsdruck zu tun, angefangen am ersten Schultag der Kinder und davor. Eltern sind gefordert, zu einer Haltung zu kommen, die das riesige Kreativpotential, mit der jedes Kind zur Welt komme, zur Geltung kommen lässt. Da ich Opa bin, bin ich hiermit auch gefordert, die Eltern davon abzubringen, nur die Anforderungen der Schule im Auge zu haben, und die Enkel nicht machen zu lassen, was sie (die Enkel) in sich haben; allerdings kommt diese mein, vom Film beförderte Einsicht, im Film nicht vor.

Wohl aber wendet sich der Film manifestartig gegen die Beflissenheit, mit der junge Menschen gedrillt werden, Mitglied der Leistungsgesellschaft zu werden – am liebsten ohne eigene Haltung. Wagenhofer bedient sich dabei nicht einer indoktrinierenden Argumentationskette, sondern stellt in aller Ruhe eine Reihe von Personen, vor allem von prominenten, wenn auch stets eine eigene, durch aus vom Mainstream abweichenden Wissenschaftlern vor, denen das Wort nicht abgeschnitten wird. Respekt! Ich meine damit, dass der Film selbst von der stressigen, wenn auch vorherrschenden Dokumentarfilm-Montage abweicht, die hinter jedem Satz einen Schnitt macht, um das, was Interviewpartner zu sagen haben, zur Illustration für das Allwissen des Regisseurs zu degradieren, der halt nur der Beste sein will. Nur der Beste zu sein, oben auf den Charts, gegen alle anderen, – das ist bekanntlich das Ziel der neoliberalen Leistungskultur. „Alphabet“ stellt das heraus. David Foster Wallace hat das beispielhaft für das Unwesen der US-Tennisakademie beschrieben (Infinite Jest/Unendlicher Spaß). Wär schön, dieses Buch (das erste Drittel) mit dem Film zusammenzudenken.

Der Film beginnt damit, einen deutschen PISA-Koordinator auf einer Chinareise zu begleiten. Wir sehen einen Schüler, PISA-Bester, aber so, wie er aussieht, emotional verkümmert und einer der Schüler-Selbstmordkandidaten, für die China ebenfalls Spitze ist.
Gegenbeispiel ist ein Spanier mit sowohl Down-Syndrom als auch Universitätsabschluss, der mit den anderen zusammen bestehen will. Vom Hirnforscher bis zum Personalvorstand rufen alle dazu auf, von unten her, das etablierte Bildungssystem zu ändern. Haltung zeigen! Sich bewegen! Aktiv werden! Los, in die Puschen! – Das ist es! Opa fängt damit an. Er kennt das.

Dieser Text ist zuerst gekürzt erschienen in: Konkret 11/13

Prince Avalanche

(USA 2013, Regie: David Gordon Green)

Die Fahrbahn markieren
von Andreas Busche

Zwei Männer schieben ihre Wägelchen durch eine menschenleere, desolate Landschaft. Sie sind keine Freunde, sie haben nicht einmal sonderlich viele Gemeinsamkeiten – nur einen gemeinsamen Auftrag: die Landstraße mit gelben …

Zwei Männer schieben ihre Wägelchen durch eine menschenleere, desolate Landschaft. Sie sind keine Freunde, sie haben nicht einmal sonderlich viele Gemeinsamkeiten – nur einen gemeinsamen Auftrag: die Landstraße mit gelben Mittelstreifen zu versehen. Manchmal müssen sie auch eine Straßenmarkierung in die Erde rammen.

Die Prämisse von David Gordon Greens seltsam entrücktem Buddy-Movie „Prince Avalanche“ klingt nach gepflegter, stilisierter Indie-Langeweile, aber die gähnende Monotonie legt sukzessive eine leise Selbstfindungskomödie über zwei ungleiche Männer frei, die natürlich irgendwann ihre Freundschaft entdecken – auch weil sie nichts Besseres zu tun haben, als sich selbst hoffnungslos entfremdet über das Leben zu sinnieren oder sich mit Kriegsbemalung durch die verkrüppelten Wälder zu jagen.

Alvin gibt die freudlose Arbeit Gelegenheit, über die Beziehung zu seiner Freundin Madison nachzudenken und nebenbei für den gemeinsamen Urlaub Deutsch zu lernen. Lance (Emily Hirsch) ist von der Ödnis und dem pedantischen Alvin zu Tode genervt. Seine Schwester Madison hat ihm den Sommerjob mit ihrem Freund besorgt, aber eigentlich würde er lieber Parties feiern und herumvögeln. Davon kann an diesem gottverlassenen Flecken allerdings nicht die Rede sein.

Es ist der Sommer 1988. Das texanische Hinterland hat eine Reihe von heftigen Flächenbränden erlebt, die die Gegend in eine verkrüppelte Einöde verwandelt haben. Darüber hinaus besitzen der Ort und die Zeit keine weitere Spezifität. Alvin und Lance rollen ihre Farbwagen bloß durch eine Art postapokalyptische Landschaft und haben sich dabei in den Haaren. Viel passiert nicht. Zweimal begegnet ihnen ein alter Trucker, höchst amüsante Intermezzi wie aus einem Lynch-Film. Ein anderes Mal spricht Alvin mit einer alten Frau in ihrem ausgebrannten Haus, in dem er für einen kurzen Moment die Sehnsucht nach einem erfüllten Leben nachspielt. Alvin und Lance sind weitgehend auf sich allein gestellt – eine Gefühl, das der Film auch beim Zuschauer forciert.

David Gordon Greens Selbstfindungskomödie lakonisch zu nennen, wäre eine glatte Untertreibung. „Prince Avalanche“ erinnert an eine Miniatur, die in schöner Eintönigkeit von der Einsamkeit zweier Kind-Männer erzählt. Jeder von ihnen versucht auf seine Art, das Leben in den Griff zu kriegen und befindet sich dennoch ständig auf der Flucht. Judd Apatow-Stammkraft Paul Rudd (mit adrett gestutztem Schnauzer) und Emily Hirsch (schon wieder „into the wild“) haben sich das Drehbuch, das auf einer isländischen Komödie basiert, gemeinsam ausgedacht und mit David Gordon Green, einem Erneuerer des US-Indiekinos, spontan vor der imposanten Kulisse der texanischen Waldbrände gedreht. Für Green war es nach mehreren Studio-Produktionen eine Rückkehr zu seinen Wurzeln. Die Landschaft bekommt dann aber doch noch eine allegorische Qualität. Spät im Film beginnen die ersten Blüten zu knospen, wie auch die Freundschaft zwischen Alvin und Lance. Die sanfte Melancholie des Films steht dabei im harschen Kontrast zur Landschaft, durch die ihr Selbstfindungstrip sie führt.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Scherbenpark

(D 2013, Regie: Bettina Blümner)

Stumme Steine
von Andreas Thomas

„Es braucht eine große Klappe und ein dickes Fell, wenn harte Sprüche von der Seite kommen und die eigene Mutter ermordet wird.“ Das sagt das Presseheft über die Geschichte der …

„Es braucht eine große Klappe und ein dickes Fell, wenn harte Sprüche von der Seite kommen und die eigene Mutter ermordet wird.“ Das sagt das Presseheft über die Geschichte der siebzehnjährigen Sascha (Jasna Fritzi Bauer), die im Hartz-4-Milieu als Tochter einer russischen Spätaussiedlerin aufgewachsen ist. Sie und ihre kleinen Halbgeschwister, deren Vater die gemeinsame Mutter getötet hat, leben nun bei ihrer Tante, eher schlecht als recht betreut. Aber allein schon hier ist man genötigt, das mitzudenken und emotional auszuführen, was der Spielfilm von Bettina Blümner doch oftmals eher nur behauptet und hofft, vermittelt zu haben.

Der Film „Scherbenpark“ ist der Versuch, einen sprachlich vielschichtigen und ziemlich elaborierten Roman (von Alina Bronsky) aus dem „Milieu“ dem Filmischen anzuverwandeln, das heißt, die Innenwelt der Ich-Erzählerin Sascha auf Bilder zu übertragen. Weil Bettina Blümner, die Regisseurin, sich da auskennt, wo „Scherbenpark“ spielt – sie hatte sich bereits mit dem Dokumentarfilm „Prinzessinnenbad“ intensiv und überzeugend jungen Spätaussiedlerinnen gewidmet -, konnte man hoffen, dass diese Erfahrungen im Hintergrund sich auch positiv auf die Inszenierung eines fiktiven Stoffes auswirken. Herausgekommen ist aber nur Schulfernsehen. „Scherbenpark“ ist leider nicht einmal die Hälfte der Summe zweier Teile geworden: Da das Literarische im Film nicht mehr seine tragende Rolle spielen kann, wirkt es, wenn Sascha plötzlich wohlfeil monologisiert anstatt rumzumotzen, was sie die Hälfte der Zeit ja machen muss, um zu beweisen, dass sie taff ist, deplatziert und aufgesetzt, und den genauen Beobachtungen im Buch („Zwei Meter Muskeln und Pickel, Adrenalin, Testosteron und Klebstoffdämpfe …“) können im Film einfach nicht die Kandidaten von der Schauspielschule entsprechen, die dann doch zu hochdeutsch reden, deren Ghettomütze dann doch zu modisch auf die Stirn gerutscht ist. Überhaupt hat man diese Typen, die sich in diesen Betonbuchten in der Nähe des Spielplatzes herumdrücken, schon in mindestens zwanzig vorherigen Milieustudien (von denen 18 Fernsehformat waren) kennengelernt.

Klischee hin oder her, das Hauptproblem von „Scherbenpark“ aber ist, dass kein Problem wirklich erkennbar ist. Sascha kommt 99%ig ungeschoren an den Betonbuchten vorbei, weil die Jungs dann ja doch eher aus dem Otto-Katalog stammen als aus prekären Verhältnissen, und dass ihre kleinen Geschwister nun besonders unter ihrer Tante leiden müssten, bleibt unsichtbar, weil selbige dann doch zu nett und eine etwaige materielle Notlage nicht erkennbar ist. Trotzdem geriert sich Sascha unentwegt hochbetroffen und tut so, als sei alles überhaupt nicht mehr auszuhalten. Das Einzige, was hier noch ans „Ghetto“ und seine Problemgemengelage erinnert, sind die stummen Steine der Hochhäuser und der Beton der Betonbuchten. Man sehnt sich regelrecht nach den authentisch bevölkerten schmutzigen Plattenbauten von „Prinzessinnenbad“.

Dass es dem Fortgang der Geschichte dann auch noch an Wahrscheinlichkeit gebricht, macht die Sache nicht leichter und den Film nicht besser. In einem Zeitungsinterview bereut der einsitzende Stiefvater und Muttermörder Vadim seine Tat zutiefst, was die Film-Sascha, (als kausale Deskription scheint hier wieder einmal die literarische Sascha zu fehlen), die sich geschworen hat, selbigen später umzubringen, so auf die Palme treibt, dass sie spontan die verantwortliche Journalistin zur Rede stellt (stellen kann: Wer bitte darf denn mal eben so in eine Zeitungsredaktion hineinschneien, um auf den Putz zu hauen?). Die ist nicht nur sofort vor Ort, sondern traut sich vor lauter Schuldgefühlen überhaupt nichts zu ihrer Rechtfertigung zu sagen und der zuständige Redakteur (Ulrich Noethen) bereut zutiefst, nicht ohne Sascha jedwede Hilfe anzubieten.

Sascha, nicht faul, aber plötzlich eigentlich nicht mehr am Schicksal ihrer kleinen Halbgeschwister interessiert, mietet sich erst mal beim Redakteur und seinem (ihr ungefähr gleichaltrigen) Sohn Felix (Max Hegewald) ein. Beide, so wirkt es, haben nur auf sie gewartet. Sie haben viel Zeit (Noethen), freundliche Umgangsformen und ein (ziemlich unverhohlenes sexuelles) Interesse (Hegewald) an Sascha, vor allem aber ein bildungsbürgerliches Gegenmilieu für sie parat und für die Entschleunigung von „Scherbenpark“,- die es gebraucht hätte, wenn der Film vorher zu viel Unterschichten-Drive gehabt hätte. So aber fällt die Spannung gänzlich auf den Nullpunkt, und man fragt sich, wieso der Film sich minutenlang mit der Frage beschäftigt, ob Sascha nun zu Felix unter die Decke krabbelt oder nicht und wenn ja, ob mit oder ohne T-Shirt? Weil er nun noch Dr. Sommer-Niveau erreicht hat?

„Scherbenpark“ schafft es leider nicht, hier eher disparat wirkende Stückchen und Szenen aus dem Roman zu einem Ganzen zu verwandeln und vor allem scheitert der Film daran, einen erzählerischen Bogen zu vermitteln, der wiederum sich hätte in einem Spannungsbogen zeigen können. Doch Sascha bleibt zu fremd, ihr Milieu bleibt zu harmlos, ihre Probleme entweder zu übergroß oder zu klein, um spürbar zu werden.

Empire of War – Der letzte Widerstand

(CN 2012, Regie: Feng Xiaogang)

Auf der Flucht
von Michael Schleeh

Feng Xiaogang ist der Mann fürs große Kino in China. Schon Aftershock' konnte und wollte mit seinen opulent angelegten epischen Bildern der Zerstörung überwältigen und zugleich mit Hilfe einer parallelen …

Feng Xiaogang ist der Mann fürs große Kino in China. Schon Aftershock' konnte und wollte mit seinen opulent angelegten epischen Bildern der Zerstörung überwältigen und zugleich mit Hilfe einer parallelen Liebegeschichte das Herz des Zuschauers rühren. Die menschlichen Bedürfnisse treten indes in 'Back to 1942', so der internationale Titel, unter dem dieser Historienfilm gemeinhin geläufig ist, in den Hintergrund. Zwangsläufig, freilich, denn hier haben wir es mit einem recht eindringlichen Flüchtlingsdrama zu tun, in dem sich Millionen Menschen zu Zeiten des zweiten Sino-Japanischen Krieges in der Provinz Henan aufgrund einer sich rapide ausweitenden Hungersnot in Bewegung setzen und gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Doch der Hunger holt sie ein, bald sind Nahrungsmittel die einzige Währung, die zählt. Für Gefühle ist in einem solchen Leben kein Platz.

Genauer: kaum mehr. Erzählt wird die Geschichte zweier chinesischer Familien im Winter ’42, die eines Großgrundbesitzers (Zhang Guoli) und die seines Angestellten, die, all ihres Hab und Guts entledigt und in Lumpen gehüllt, nur noch um das Überleben kämpfen. Ihre Gemeinschaft hält sie eine gewisse Zeit noch zusammen, doch bald beginnen die Alten und Schwachen zu sterben. Völlig entkräftet macht man sich zu der Provinz Shaanxi auf und hofft auf Besserung – vor allem da Chiang Kai-Shek Henan aufgegeben hatte und bereit war, den Japanern zu überlassen. Feng Xiaogang findet eindrückliche Bilder für das menschliche Schicksal, und so stellt sich immer mehr die Frage, ob ein Überleben überhaupt sinnvoll ist. Wofür durchhalten, wenn alle anderen tot sind? Ohne Tränendrüsendruck, ja beinahe schon nüchtern werden die Ereignisse gezeigt, ebenso die wenigen Momente, in denen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft wieder neue Kraft gewinnt. Nicht, dass Feng Xiaogang hier irgendetwas neu erfände, das gewiss nicht, aber 'Empire of War' ist ein solider Blockbuster ohne allzuviel Schmalz, dem die Sensationslust nur dann durchgeht, wenn er Action ins Bild rückt.

Da ist es schon bedenklich, wenn Koch Media durch die krass reißerische Titeländerung aus einem Flüchtlingsdrama einen Kriegsfilm macht. Vor allem, da dieser Krieg lange Zeit nicht mehr als Folie im Hintergrund ist. Abgesehen davon, dass kein Mensch, der sich für den Film interessieren könnte (vorgeschlagen für den Golden Rooster Award in mehreren Kategorien), ihn auf diese Weise wiedererkennen wird. Sicherlich gibt es die eine oder andere Kampfhandlung, Actionhöhepunkte des Films, in denen japanische Fliegerstaffeln den Flüchtlingszug bombardieren – doch für die Flüchtlinge, die im Zentrum des Films stehen, an denen auch die Kamera immer ganz nah dran ist (einmal ein POV eines um sich selbst rotierenden, weggebombten Pferdes), ist der Krieg nur eine weitere Prüfung des Schicksals. Gleichermaßen bedenklich ist es dann, den aus dem Westen eingekauften Schauspieler Adrien Brody, der hier eine Nebenrolle als Reporter des Time-Magazines spielt (wie Tim Roth eine Rolle als Missionar), auf das Cover zu packen. Aus Verkaufsgründen ist das in gewisser Weise verständlich, wird aber dem Film in keiner Weise gerecht.

Hervorzuheben ist die wirklich hervorragende Bildqualität der Blu-ray. Neben der Synchronfassung kann der Originalton mit zuschaltbaren Untertiteln gewählt werden. Ansonsten gibt es außer dem Originaltrailer und weiterem Werbezubehör in eigener Sache keinerlei Extras.

Hasta la vista, Sister!

(CUB / GB 2012, Regie: John Roberts)

Zauber und Entzauberung
von Wolfgang Nierlin

Rosa (Eva Birthistle) und Ailie (Charity Wakefield) sind zwei ungleiche Schwestern aus dem Schablonenbuch der sogenannten Feelgoodkomödie: Während die eine als politische Aktivistin gegen die Konsumgesellschaft demonstriert, gefällt sich die …

Rosa (Eva Birthistle) und Ailie (Charity Wakefield) sind zwei ungleiche Schwestern aus dem Schablonenbuch der sogenannten Feelgoodkomödie: Während die eine als politische Aktivistin gegen die Konsumgesellschaft demonstriert, gefällt sich die andere in der Rolle des durchgestylten Modepüppchens. Aber natürlich benutzt John Roberts in seinem Film „Hasta la vista, sister!“ die Klischees vor allem dazu, sie gegen den ersten Anschein umzudrehen. Dass damit auch eine Denunziation der jeweils zugeschriebenen Rolle einhergeht, gehört zum perfiden Prinzip einer solchen Dramaturgie. In Roberts Film trifft das in erster Linie Rosa, die erkennen muss, dass sie arrogant, selbstgerecht und politisch naiv ist und überdies mit einem unzeitgemäßen Welt– und falschen Familienbild herumläuft: Ein Schelm, wer dahinter eine ideologische Erziehungsmaßnahem vermutet.

Die Entzauberung, die dieser moralinsaure Lernprozess vorschreibt, bezieht sich in „Hasta la vista, sister!“ vor allem auf die kubanische Revolution und ihre Errungenschaften. Denn natürlich ist das postrevolutionäre, realsozialistische Leben auf der Karibikinsel nicht so, wie sich das die Besucher aus Schottland vorstellen. Was den Regisseur allerdings nicht davon abhält, die beliebten exotischen Schauwerte, flankiert von stimmungsvoller Musik, zu strapazieren. Doch auch die Schattenseiten, also beispielsweise Armut, Betrug und politische Gleichgültigkeit, finden ins Bild. Jedenfalls bekommen das die beiden Schwestern, die mit der Asche ihres verstorbenen Vaters, eines früheren Aufbauhelfers der Revolution, und ihr Kumpel Conway (Bryan Dick) auf Kuba bald zu spüren.

Bevor sie die Asche am symbolträchtigen Ort im Gedenken an die Revolution und die Eltern verstreuen können, müssen sie deshalb erst einmal einige verwickelte und nicht ganz ungefährliche Abenteuer bestehen. Dabei geht es dem Regisseur nicht nur um die Entlarvung von Revolutionsmythen, sondern er lüftet auch ein Familiengeheimnis. Doch da nach den Regeln des Wohlfühlkinos die Entzauberung den Zauber nicht überwiegen soll, darf sich die verhuschte Rosa in den schönen Reiseführer und Balletttänzer Tomas (Carlos Acosta) verlieben. Auch diese Episode ist letztlich als Lektion zu verstehen, die John Roberts mit den genretypischen, leicht nervenden Retardationen erzählt. „Rosa muss lernen!“, lautet die Botschaft, die hier etwas vordergründig gegen Vorurteile und allzu einfach gestrickte Weltbilder in Anschlag gebracht wird. Doch auch für alle anderen Zuschauer hat der Film eine Lehre parat: „Wenn ich zu viel über die Vergangenheit nachdenke, verpasse ich, was jetzt ist.“ Aussprechen darf sie Tomas, und wer will, kann darin einen nur dürftig verkleideten Geschichtsrelativismus erkennen.

Das Mädchen Wadjda

(SA 2012, Regie: Haifaa Al-Mansour)

Hinter dem Schleier der Anpassung
von Wolfgang Nierlin

Wadjda (Waad Mohammed) ist anders als die anderen. Das 10-jährige saudi-arabische Mädchen trägt nämlich Turnschuhe, hört Popmusik und verkauft selbstgebastelte Armbänder. Während sie im Schulunterricht eher durch Schweigen auffällt, gibt …

Wadjda (Waad Mohammed) ist anders als die anderen. Das 10-jährige saudi-arabische Mädchen trägt nämlich Turnschuhe, hört Popmusik und verkauft selbstgebastelte Armbänder. Während sie im Schulunterricht eher durch Schweigen auffällt, gibt sie sich zu Hause bei der Mutter (Reem Abdullah) umso eloquenter und selbstbewusster. Tatsächlich ist die Titelheldin aus Haifaa Al Mansours Film „das Mädchen Wadjda“, dem ersten Kinofilm einer Regisseurin aus Saudi-Arabien, auch ganz anders, als wir uns das von einem jungen Mädchen dieses sehr religiös geprägten Landes vorstellen. Denn sie zeigt sich nicht nur aufgeweckt und vorwitzig, sondern auch aufmüpfig und kämpferisch. Wadjda lässt sich nicht alles gefallen und widerspricht, wenn es sein muss. Weil das in der restriktiven, autoritär geführten Gesellschaft, in der sie lebt, aber nicht geduldet wird, muss ihr aufsässiger Geist unter dem Schleier der Anpassung immer wieder Tricks und Kniffe anwenden, um seine Ziele zu erreichen.

Der Erwerb eines Fahrrads, das sie sich bei einem Spielwarenhändler ausgeguckt hat, besitzt diesbezüglich höchste Priorität. Ihrem Kameraden Abdullah, der sie eingangs ärgert und mit seinem Drahtesel abhängt, will sie damit Konkurrenz machen. Doch es fehlt ihr zum Kauf nicht nur das Geld, sondern in dem islamischen Land untersagt ein ungeschriebenes Gesetz den Mädchen, überhaupt Fahrrad zu fahren. Diese Einschränkung des kindlichen Bewegungsdranges spiegelt sich auch im Fahrverbot für Frauen, die für ihre Wege zur Arbeit oder zum Einkaufen auf Fahrer angewiesen sind. In einer der vielen Episoden und Hintergrundgeschichten, die unaufdringlich und genau solche wichtigen Details des Alltagslebens erläutern, müssen sich Mutter und Tochter mit dem Machogehabe und den Machtspielen ihres ausländischen, offensichtlich illegal arbeitenden Chauffeurs auseinandersetzen.

Die komplexe, wohltuend unaufgeregte und weitgehend ideologiefreie Darstellung gesellschaftlicher Verhältnisse gehört zu den Stärken des Films. Die Spannungen zwischen individuellem und öffentlichem Leben, die in einer reglementierten Gesellschaft besonders brisant sind, betreffen hier zwar Menschen beiderlei Geschlechts; Haifa Al Mansour akzentuiert aber ganz klar die weibliche Perspektive. Vor allem die parallele Welt der Frauen, die sich zu Hause hinter verschlossenen Türen völlig ungezwungen und unerwartet frei entfaltet, erlaubt dem westlichen Zuschauer ungewohnte Einblicke in einen weitgehend verborgenen Alltag. Darin spielen Kinderlosigkeit, die Verpflichtung auf einen männlichen Stammhalter und die damit verbundene, durchaus unfreiwillige Suche des Vaters nach einer Zweitfrau eine wichtige Rolle. Geschickt und mit einfachen Mitteln erzählt, verknüpft die Regisseurin die von Autoritäten, strengen Vorschriften und gesellschaftlichen Hindernissen umstellten Geschichten von Mutter und Tochter. Und sie entdeckt auf humorvolle Weise in ihnen nicht nur eine findige Kraft des Wollens, sondern auch eine tiefe zwischenmenschliche Verbundenheit, die sich mit einem Gefühl fast utopischer Leichtigkeit über die Schwere des Alltags erhebt.

Ummah – Unter Freunden

(D 2013, Regie: Cüneyt Kaya)

Einmal mit alles, bitte!
von Ulrich Kriest

Nach einem blutig verlaufenen Undercover-Einsatz in der Neo-Nazi-Szene muss Daniel Klemm erst einmal eine Weile von der Bildfläche verschwinden, weil sein Verbindungsmann beim Verfassungsschutz dabei wohl nicht ganz einwandfrei vorgegangen …

Nach einem blutig verlaufenen Undercover-Einsatz in der Neo-Nazi-Szene muss Daniel Klemm erst einmal eine Weile von der Bildfläche verschwinden, weil sein Verbindungsmann beim Verfassungsschutz dabei wohl nicht ganz einwandfrei vorgegangen ist. Kennt man ja! Daniel wird erst einmal in einer heruntergekommenen Wohnung im Berliner Problemkiez Neukölln »geparkt« und damit zugleich – Daniel ist ja schließlich nicht nolens volens fünf Jahre unter Neo-Nazis als verdeckter Ermittler tätig gewesen – isoliert. Daniel hadert mit seinem Schicksal, nimmt Drogen, lässt sich gehen bis zu dem Punkt, wo es tiefer nicht mehr geht. Warum?

Der Film hält die Figur auf Distanz, psychologisiert nicht. Und dann begibt sich Daniel doch irgendwann blinzelnd vor die Haustür, misstrauisch und widerstrebend, wo die „Ummah“, die islamische Gemeinschaft, ihn erwartet. Oder auch nicht erwartet! Jedenfalls nicht abweist, trotz der eindeutigen Tattoos. Jeder, heißt es, habe seine Geschichte, trotzdem gehe es weiter.

Der Filmemacher Cüneyt Kaya hat davon gesprochen, dass er mit seinem Spielfilmdebüt einen realistischen, kritischen und dabei vor allem auch humorvollen Blick auf das Milieu habe werfen wollen. Mal etwas anderes zeigen, als die üblichen Klischees von der Parallelgesellschaft und der Kleinkriminalität. Das ist ein anspruchsvolles Vorhaben, zumal, wenn man die Räuberpistole noch hinzudenkt, die „Ummah – Unter Freunden“ den Handlungsrahmen liefert. Es geht hier also um education, um interkulturelle Aufklärung, die im besten Sinne unterhaltsam vermittelt werden soll.

Etwas hölzern, aber sehenswert und getragen von drei wirklich hoch sympathischen Schauspielern hangelt sich der Film in der Folge von Szene zu Szene, von These zu These, von Illustration zu Illustration. Man hört das Drehbuch, aber nicht nur. Sehr gelungen ist etwa die Sequenz, in der Daniel im kleinen Elektroladen vom sehr entspannt-schlitzohrigen Abbas einen billigen Gebrauchtfernseher aufgeschwatzt bekommt. Mit extra Bonus-Garantie, weil Abbas Daniel sympathisch findet. Gemeinsam mit dem etwas weniger entspannten, aber gleichfalls sehr zugänglichen Jamal bildet man nun ein Trio, das sich zügig in Richtung Freundschaft entwickelt.

Viele Szenen geraten nun exemplarisch und erzählen von freundlicher Neugier. Dass Daniel zur islamischen Hochzeit Alkohol als Geschenk mitbringt, ist ein Affront aus Unwissenheit und sollte toleriert werden. Dass Abbas und Jamal nach der Feier von deutschen Polizisten schikaniert werden, ist ein rassistischer Übergriff. Man diskutiert divergierende Lebenseinstellungen und Haltungen zur Verschleierung der Frau. Pro und contra – Daniel staunt, er muss wirklich sehr lange undercover gewesen sein.

Man hockt herum, chillt. Dann kehrt unvermittelt die Realität zurück ins Verständigungsmärchen: Aufgrund einer Korruptionsaffäre braucht der Verfassungsschutz einen schnellen Fahndungserfolg; Daniel soll seine neuen Freunde ans Messer liefern. Stattdessen sucht er mutig mit seiner Geschichte die Öffentlichkeit. Wozu kennt man schon die Moderatorin vom Lokalfernsehen?

Wie gesagt: eine echte Räuberpistole mit billigen „Tatort“-Tendenzen. Hätte man vor dem NSU-Terror, dem NSA-Skandal und dem Fall Snowden diesem Film sicher angekreidet. Am Schluss hatte sich Kaya für ein spektakuläres Genre-Finale entschieden, das der schönen, dominanten Lakonie seines Films entgegenläuft. Hat man gemerkt. Der Schluss wurde in der Post-Produktion noch einmal geändert. Nun haben die drei außerordentlich einnehmenden Protagonisten mit ihrem feinen Gespür für Timing in den Dialogen das letzte Wort. Beim Boule im Park. Und die Genickschuss-Profis vom Verfassungsschutz gucken in die Röhre. Kein guter, aber ein sympathischer Film. Und Frederick Lau, Kida Khodr und Burak Yigit sind das Eintrittsgeld allemal wert.

Zum Geburtstag

(D / F 2013, Regie: Denis Dercourt)

Schatten der Vergangenheit
von Wolfgang Nierlin

Auch wenn die eingeblendeten Zeit- und Ortsangaben etwas anderes suggerieren, ist Denis Dercourts kurzweiliger Psychothriller „Zum Geburtstag“ kein realistischer Film. Eher ähnelt er einer abgezirkelten Versuchsanordnung über die wiederkehrenden Schatten …

Auch wenn die eingeblendeten Zeit- und Ortsangaben etwas anderes suggerieren, ist Denis Dercourts kurzweiliger Psychothriller „Zum Geburtstag“ kein realistischer Film. Eher ähnelt er einer abgezirkelten Versuchsanordnung über die wiederkehrenden Schatten der Vergangenheit oder einer Parabel über Schuld und Sühne. So legt der französische Regisseur in seiner mysteriös verzweigten Rachegeschichte immer wieder falsche Fährten aus und belässt vieles im Undeutlichen. Daneben erzeugt er mit Andeutungen und Symbolen, starren Blicken und somnambul agierenden Figuren ein Klima dunkler, vermeintlich vom Bösen durchdrungener Ahnungen.

„Ostdeutschland, Mitte der achtziger Jahre“: Der 16-jährige Paul spannt seinem Schulfreund Georg mit einem gefälschten Brief die Freundin Anna aus. Das merkwürdige, überkonstruierte Arrangement gipfelt in einem ominösen Pakt und einer politischen Denunziation. Beides holt die beiden Protagonisten dreißig Jahre später im Westen der Republik wieder ein. Im gutsituierten Leben Pauls (Mark Waschke) als erfolgreichem Investmentbanker, der mittlerweile mit Anna (Marie Bäumer) verheiratet ist und mit zwei erwachsenen Kindern eine fast heile Familie bildet, erstrahlt alles in komfortabler Helligkeit. Bis Georg (Sylvester Groth) als sein neuer Chef mit finsterem Blick, nahezu dämonischer Aura und seiner irritierend unheilvoll wirkenden Freundin Yvonne (Sophie Rois) auf der Szene erscheint, die zu großen Teilen bald in ein düsteres Jagdschloss verlegt wird.

So dringt die Geschichte in die Gegenwart, der Osten in den Westen, das Dunkle ins Helle ein, um jenen Pakt einzulösen, dessen Tragweite sich erst nach und nach entfaltet. Handlungsmuster und Motive wiederholen sich im ebenso kühlen wie künstlich-steifen Kosmos von Denis Dercourts irgendwie blutleerem, von unterdrückter Spannung zehrendem Film. „Alles wird irgendwann wieder gut“, heißt es einmal. Doch das darf bezweifelt werden, denn Dercourt favorisiert die Beunruhigung, entlässt seinen Film aber leider ins Nebulöse.

Prakti.com

(USA 2013, Regie: Shawn Levy)

Total vergoogelt
von Louis Vazquez

Jetzt ist es offenbar so weit: Hollywood ist nach den vielen Sommerflops so klamm, dass es wie so viele kleine, ambitionierte Produktionsstätten, auch Imagefilme ins Portfolio nehmen muss – „Prakti.com“ …

Jetzt ist es offenbar so weit: Hollywood ist nach den vielen Sommerflops so klamm, dass es wie so viele kleine, ambitionierte Produktionsstätten, auch Imagefilme ins Portfolio nehmen muss – „Prakti.com“ zum Beispiel, der im Original „The Internship“ heißt.

Billy (Vince Vaughn) und Nick (Owen Wilson), Vertriebsmitarbeiter eines Unternehmens für Edel-Armbanduhren, werden gefeuert, weil das Geschäft beschissen läuft und die Firma pleite geht. Eine Uhr zum Abschied und Good-Bye. Beide sind um die 40 und haben nun natürlich nicht mehr viel zu lachen. Weil man sich aber zumindest in diesem von Shawn Levy inszenierten Film (nach einer Idee von Hauptdarsteller und Co-Produzent Vince Vaughn) noch auf den American Dream verlassen kann, ergattern Billy und Nick bald Praktikumsplätze bei Google und wollen nun ihre Chance ergreifen, denn schließlich ist dieses Internetdings die Zukunft. Das Praktikum gleicht indes einem verlängerten Assessment Center: In Teams treten die hoch motivierten Job-Aspiranten gegeneinander an und müssen zum Beispiel eine erfolgreiche App entwickeln oder in einem Harry-Potter-inspirierten Real-Life-Quidditch sportlich gegeneinander antreten. Nur die Mitglieder der erfolgreichsten Gruppe werden nach Ablauf des Praktikums fest angestellt.

Die beiden angeschossenen alten Hasen müssen sich mit jungen Elitestudenten messen und machen ihre mangelnde technische Kompetenz natürlich mit ihrer Erfahrung, ihren Softskills und ihrer Fähigkeit, um die Ecke zu denken, wett. Alle lernen etwas voneinander: die Alten die Technik, die Jungen, sich auch mal im Stripclub locker zu machen. Einer jungen Kollegin erklärt Billy später noch, dass es völlig in Ordnung ist, Jungfrau zu sein. Am Ende wird alles gut. Nick erweicht sogar das Herz der eiskalten Google-Managerin Dana – Obacht, Wortwitz! – Sims (Rose Byrne), obwohl Beziehungen zwischen Mitarbeitern eigentlich streng verboten sind – der Gipfel der Subversion.

Arbeitslos, über 40 und auf den Jobmarkt gezwungen – keine unspannende Grundidee, aus der man einiges hätte machen können, eine Komödie zum Beispiel. Schließlich hätte die nicht ganz freiwillige, aber hoch motivierte Selbsterniedrigung für ein obskures Karriereversprechen (Call Center, anyone?) ja auch das Potenzial zu schwarzem Humor, wenn man nur die zugrunde liegende Perversion hätte entlarven wollen. Doch Pointen sehen hier ungefähr so aus: Weil Google-Mitarbeiter sich in der Kantine kostenlos verpflegen dürfen, bestellt Billy ganz viel Süßkram – fertig.

„Prakti.com“ gerät zum zweistündigen Google-Werbeclip und strickt ungebrochen am längst fadenscheinigen Mythos des Unternehmens. Durch harte Arbeit und viel „Googliness“ wird man eben auch im Alter noch vom „Noogler“ zum „Googler“, da wird sogar die Marketing-Sprache einfach übernommen. Dass die Vorgesetzten hart durchgreifen, dient doch nur dem Ziel, das Beste aus allen herauszukitzeln, weil man bei Google nicht weniger will als – jetzt festhalten – den Menschen dienen. Wortwörtlich. Im Herzen nämlich ist die schrullige Google-Familie gut. Steht ja auch noch mal im Presseheft: „Billy und Nick wählen weise. Im Januar 2013 war im Fortune Magazine zu lesen, dass Google der beste Arbeitsplatz der Welt sei – und das zum dritten Mal seit 2007. Google hat sich einen nun seit Jahren bestehenden Ruf als cooler und witziger Arbeitsplatz erarbeitet. Die Angestellten lieben die Unternehmenskultur, die Führungsgrundsätze sowie die Zusatzleistungen.“

Damit das nun auch all die verzweifelten Arbeitssuchenden über 40 wissen und daraus neue Kraft schöpfen, haben Vaughn und Kollegen uns „Prakti.com“ beschert, einen Film, der laut IMDB 58 Millionen Dollar gekostet haben soll. In diesem Zusammenhang noch ein schöner Gag aus dem Forum der Datenbank: Wahrscheinlich waren die Markenrechte so teuer.

Da geht noch was

(D 2013, Regie: Holger Haase)

Verpacktes Familienglück
von Wolfgang Nierlin

Das Idealbild seiner Traumfamilie kommt aus der Waschmittelwerbung und ist mit der Liedzeile „Siehst du die Blumen blühen?“ unterlegt. So naiv und kitschig stellt sich der Off-Erzähler Conrad Schuster (Florian …

Das Idealbild seiner Traumfamilie kommt aus der Waschmittelwerbung und ist mit der Liedzeile „Siehst du die Blumen blühen?“ unterlegt. So naiv und kitschig stellt sich der Off-Erzähler Conrad Schuster (Florian David Fitz) noch in der Rückschau eine bessere Kindheit vor, dass er als Erwachsener tatkräftig an einer heilen Welt bastelt. Das geplante Eigenheim in einem Naturschutzgebiet am See hat schon ein Fundament, seine attraktive Frau Tamara (Thekla Reuten) verdient mindestens genauso gut wie er und der 13-jährige Sohn Jonas (Marius Haas) ist im Elite-Internat Salem untergebracht. Konsumfreude, körperliche Fitness und gesunde Ernährung komplettieren das kapitalistische Wohlstandsglück des Flüsterschubladenherstellers. Und man ahnt bereits hier, dass der Verpackung dieses Lebens möglicherweise der Inhalt fehlt und hinter vorgespiegeltem Glück gähnende Leere herrscht.

Die Frage nach dem richtigen Leben hinter der falschen Hülle ist in Holger Haases Komödie „Da geht noch was“ untrennbar an Familienbeziehungen geknüpft. Weil also Conrad in seiner Kindheit unter seinen politisch korrekten Eltern gelitten hat, ist sein forcierter Lebensstil als plakative Abgrenzung zu verstehen. Die neuerliche Konfrontation mit seinem Vater Carl (Henry Hübchen), einem alten, grummelnden Gewerkschafter, der sich von Dosenbier und Baumkuchen ernährt, sucht den Witz vornehmlich in der zugespitzten Gegensätzlichkeit ihrer Charaktere. In der Logik des Films und seiner verzögerungstaktischen Dramaturgie der Stolperfallen müssen sich diese durch Streitigkeiten, verbale Gehässigkeiten und emotionale Rückschläge läutern und irgendwann einander annähern. Weil Mutter Helene (Leslie Malton) ihren Gatten nach vierzig Ehejahren verlassen hat, sind die drei „Männer“ aus drei Generationen mit ihren Reibereien, Kämpfen und Ausrastern also zunächst einmal unter sich.

Da will Conrad bei seinem Vater „Hilfe zur Selbsthilfe“ leisten, während dieser wiederum bei der Erziehung seines Enkelkindes von „Pionierarbeit“ spricht. Zwischen „Carl bleibt Carl!“ und „Sei dein neues Du!“ liegen Dialogwitz, Figurenzeichnung und inhaltliche Entwicklung dieses Films, der seinen (schauspielerisch mitunter überzeichneten) Humor mal originell und deftig, dann wieder müde und mau verströmt und am Ende überflüssigerweise leider noch in den Klamauk abrutscht. Dabei schlägt er, vor allem bezogen auf das Schicksal der Mutter, durchaus auch nachdenklichere Töne an. Eine Tragikomödie ist „Da geht noch was“ deshalb noch nicht. Seine Prämissen sind zu plakativ und klischeebeladen, seine Ironie („Und immer immer wieder geht die Sonne auf“) zu grob und seine gleich dreifache Familienzusammenführung zu sentimental. Diese wird übrigens durch die filmische Beschwörung vergangenen Liebes- und Familienglücks bewerkstelligt, das auf Fotos und einem Super 8-Film für die Erinnerung gespeichert ist – eine schöne, wenngleich nicht ganz neue Idee. Da geht also noch was.

Alphabet

(AT / D 2013, Regie: Erwin Wagenhofer)

Wissende Lehrmeister wollen’s beweglich
von Drehli Robnik

In 'Alphabet' ist alles eine Frage der Belehrung: Sie ist Thema und zugleich Praxis dieses Dokumentarfilms, der sich in seiner Kritik an Leistungsdruck im Schul(ungs)wesen um prägnante Bilder zur Bildung …

In 'Alphabet' ist alles eine Frage der Belehrung: Sie ist Thema und zugleich Praxis dieses Dokumentarfilms, der sich in seiner Kritik an Leistungsdruck im Schul(ungs)wesen um prägnante Bilder zur Bildung ebenso bemüht wie – siehe Titel – ums Ausbuchstabieren einer Lehre.

Gut ist 'Alphabet' dann, wenn der Film Leute, die sich als Betroffene mit Bildungsselektionsmechanismen herumschlagen, über sich erzählen lässt: Ein Dortmunder, der ohne Lehrstelle in einem Aufstockerjob als Security dahinwurstelt, ein Spanier, der erzählt, wie aufregend sein Bildungsleben als erster Universitätsabsolvent mit Down-Syndrom war (und auch, wie aufregend sein Leben als Fan des Fußballclubs von Malaga ist) – sie ermächtigen sich in manch Beharrungsposen und sarkastischen Selbstauskünften. Gut auch, wenn der österreichische Regisseur Erwin Wagenhofer, wie in seinen wirtschaftsentfesselungskritischen Dokus We Feed the World' (2006) und Let´s Make Money' (2008), Profitideologen und Leistungsroutinen so ins Bild setzt, dass Widersprüche hervortreten, dass ihre Rede und das Bild ihres Ablaufs sich gegen sie kehren: Der deutsche PISA-Test-Delegierte bewundert den Effizienzterror im Schulsystem Chinas, ein chinesischer Bub wird zum Gewinn von Mathematikturnier-Medaillen gedrillt, trägt dabei just eine an Rennfahrer erinnernde rote Jacke voller Logos und macht ein Gesicht zwischen Depressionsschub und Sekundenschlaf. Die Besten einer Jung-CEO-Auslese reden – etwa über Babypausen oder feindliche Übernahmen – so zynisch und menschenverachtend daher, wie das Kapital halt ist; die Art, wie die Inszenierung ihre Soundbites ausstellt, trägt allerdings ihrerseits Züge von Prägnanzprofitmaximierung.

Beim engkrawattigen Bildungsexperten mit Armeefrisur, der das Maskulinistisch-Kriegerische des Konkurrenzsystems anprangert und später 'wuchtig handelndes Zertrümmern' von Bildungstraditionen fordert, oder beim alten Kreativguru im 'Mal-Ort', dem heutige Kindermalereien nicht mehr freudvoll genug sind ('Das hat doch nichts Freudvolles! … Das Kind spielt einfach nicht!'), da fragt sich hingegen, ob Wagenhofer sie – mit ihren sich als emanzipatorisch gebenden Äußerungen, die aber doch einiges an Machtanmaßung verraten – aufs Glatteis führt, oder ob er nicht selbst mit ihnen ebendort tanzt. Wenn ein im Film als Positivbeispiel ins Treffen geführter junger Mann, von Beruf Gitarrenbauer, auf der Tonspur erzählt, seine Eltern wollten ihn nie in eine Schule schicken und seien dankenswerter Weise ihrer Entscheidung treu geblieben, während er im Bild dabei zu sehen ist, wie er als Sportbogenschütze einen Pfeil ins Ziel schnellen lässt, dann ist allerdings zu vermuten, dass solche audiovisuellen Formfindungen – Treue zur Entscheidung plus unbeirrbares Im-Auge-Behalten eines Ziels – als Bekräftigungen zu lesen sein sollen.

Wagenhofers Kino-Didaktik versprüht jedenfalls einiges an zutiefst intaktem Glauben an die Autorität wissender Lehrmeister: Der zumeist als auf Vortragsbühnen beim Predigen gezeigte Neurobiologe, der in einer Sequenz just an der einstigen DDR-Grenze sitzend über die uns Menschen ja schon vorgeburtlich aufgegebene Verbundenheit sinniert, ist ein Echo von Fritz Karls paternalistischer Belehrungspose in Dialogen von Wagenhofers vorigem Film, dem migrationsregime- und spekulationskritischen Roadmovie Black Brown White' (2011). Zugleich steht er, mit seiner Berufung aufs Schlechthin-Menschliche – seinen Bildungsdisziplin- und Auschwitz-Vergleich vergessen wir lieber – in einer den Film durchziehenden Motivkette zur (Gattungs- und Individual-)Evolution; das Filmintro etabliert diese Kette mit Montagen von Embryo, Wüste, dazu die Off-Stimme eines Kreativitätsexperten, der weit ausholt. Da weht ein Hauch von Kubricks 2001' durchs Bild und ein Nachhall des verhaltens- und gedächtnistheoretischen Intro zu Resnais‘ 'Mein Onkel aus Amerika' durch den Ton. Der da bei Wagenhofer spricht und uns ganz am Filmende zu mehr Beweglichkeit auffordert (als wäre er ein flexibilisierungswütiger Sprecher der Industriellenvereinigung), ist allerdings kein selbstironischer Resnais‘scher Bergsonianer, sondern Sir Ken Robinson, der, so lehrt uns der Abspann, für seine innovationswissenschaftlichen Verdienste von der Queen geadelt wurde. Na, dann! Dann muss seine Kritik ja wohl stichhaltig sein.

Männer wissen ziemlich viel in 'Alphabet' – allerdings nur sie. Die programmatisch zweimal, beide Male in der Nähe von Embryo- und Babybildern, eingesetzte markante Totale mit den in der Luft tanzenden chinesischen Papierdrachen, von denen es heißt, sie seien ein Sinnbild für kindliche Begabungen – vielleicht erinnert sie deshalb so sehr an das Gewurl von Spermien. Frauen kommen in dem Film jedenfalls kaum vor – es sei denn als beipflichtende Gattin des 'Mal-Ort'-Meisters, als Mathe-Medaillen-geile Omi des schläfrigen Rennfahrerbuben oder als Anschnitt von Mädchenstrumpfbeinen in pinken Rollerblades mit einem Müllhaufen im Hintergrund; letzteres Bild untermalt die Expertenrede vom schädlichen 'Strudel der Konkurrenz'.

'Alphabet' zeigt lieber Anlagen im Sinn von Begabungen als Anlagen im Sinn von Dispositiven und Maschinerien; bildungsinstitutionelle Raum- und Zeitregimes zu erkunden, das erspart der Film sich weitgehend zugunsten pathetischer Appelle an Autorität und Phantasie; als wären beides nicht Kräfte, mit denen das zwangsflexible Kreativkapital heute bestens auskommt und wirtschaftet.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Michael Kohlhaas

(F / D 2013, Regie: Arnaud des Pallières)

Dunkles Glas
von Wolfgang Nierlin

Draußen, unterwegs und fern der Heimat, fegt immer wieder ein lauter, schneidend kalter Wind über die karge, raue Gebirgslandschaft. Rasende Wolken werfen dramatische Schatten, die von jähen, kurzen Lichtfluten aufgebrochen …

Draußen, unterwegs und fern der Heimat, fegt immer wieder ein lauter, schneidend kalter Wind über die karge, raue Gebirgslandschaft. Rasende Wolken werfen dramatische Schatten, die von jähen, kurzen Lichtfluten aufgebrochen werden. Tiefer unter dann, im Wald, liegen kühle Nebel über einem still murmelnden Bach. Man hört förmlich die Feuchtigkeit auf dem Geäst und in den Blättern. Noch intensiver ist das Summen des Sommers zu Hause, wo ein helles, warmes Licht die Schatten der Dunkelheit zu einem spannungsgeladenen, doppeldeutigen Chiaroscuro rastert. Die Kräfte der Natur und das Spiel der Elemente, aufgenommen in den Cevennen und dem Vercors-Massiv der westlichen Alpen, sind gewichtige, ja gewaltige, aber deshalb keineswegs spektakulär inszenierte Protagonisten in Arnaud des Pallières‘ Verfilmung von Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“. Im Verbund mit einer reduzierten Ausstattung und einer unauffälligen, geradezu alltäglichen Kostümierung führen sie den Zuschauer in ein Mittelalter des 16. Jahrhunderts, dessen Materialität und Körperlichkeit fast greifbar wird und eine starke, atmosphärisch dichte Gegenwart erzeugt.

Dunkle, unheilvolle Trommeln künden vom Unrecht, das dem Titelhelden (Mads Mikkelsen) widerfährt. Ein Schlagbaum an einer unerwarteten Grenze und ein nicht vorhandener Passierschein zwingen den Pferdehändler zwei seiner Rappen nebst Knecht einem windigen, dekadent und zwielichtig erscheinenden Baron zu überlassen. Als er einige erzählerische Ellipsen später Mensch und Tier in geschundenem, verwahrlostem Zustand wiederfindet, fordert er zunächst Wiedergutmachung. Doch als diese ausbleibt und auch auf rechtlichem Weg nichts auszurichten ist, weil der Baron über Beziehungen zum Hof verfügt, wird der Betrogene zum gewalttätigen Rächer, der bald eine kleine Armee von getreuen Mitkämpfern anführt. Als heldenhaftes Vorbild taugt er dabei allerdings nicht; eher schon zum Fanatiker, der blindwütig seinen Prinzipen folgt, deren Sinn, vom Ende her betrachtet, immer fragwürdiger und undeutlicher wird.

Trotzdem ist Kohlhaas für den französischen Filmemacher Arnaud des Pallièrs eine „legendäre Figur“. Weil er auf dem Höhepunkt seiner (militärischen Macht), die Waffen niederlegt und sich dem Gesetz überantwortet, gilt er ihm als „moralische Instanz“. „Der Krieg schafft kein Recht“, sagt Kohlhaas einmal und wird kurz darauf selbst zum Richter und Henker. Von Luther (Denis Lavant) muss er sich danach in einem fulminanten Gewissensdiskurs eine zweifelhafte Moral und ein hochmütiges, eigengesetzliches Verhalten vorwerfen lassen. Dabei wird Michael Kohlhaas eingangs als liebender Ehemann, zärtlicher Familienvater und gottesfürchtiger Christ, der die Luther-Bibel liest und erklärt, eingeführt. „Als sehe man durch ein dunkles Glas“, zitiert er einem Knecht gegenüber eine ebenso berühmte wie schwer verständliche Stelle aus dem Korintherbrief; und er erläutert, dass dies bedeute, eine Sache zwar sehen, aber nicht erkennen zu können. „Zum Beispiel einen Feind?“, fragt sein Schüler. „Oder auch einen Freund“, ergänzt Kohlhaas und nimmt damit ein Motiv seines tragischen Schicksals (und Scheiterns) vorweg. Dass sein Handeln dabei gleichermaßen Liebe und Furcht erweckt, wie die Prinzessin von Angoulême (Roxane Duran) mit begehrlichen Blicken auf den schönen, fast nackten Körper des Kontrahenten feststellt, gehört zu den Widersprüchen dieser Figur.

Der Kongress

(USA 2013, Regie: Ari Folman)

Glückszeug
von Dietrich Kuhlbrodt

In der ersten Stunde des Zweistundenfilms geht es live um Vertragsverhandlungen zwischen Filmproduktion (Miramount) und Serienstar Robin Wright (Robin Wright). Die Gewinne der Firma drohen einzubrechen. Der Star gerät auf …

In der ersten Stunde des Zweistundenfilms geht es live um Vertragsverhandlungen zwischen Filmproduktion (Miramount) und Serienstar Robin Wright (Robin Wright). Die Gewinne der Firma drohen einzubrechen. Der Star gerät auf die falsche Seite der 40. Was tun? Sie zu Tode liften? Nä. Besser sie, wo es grade noch geht, scannen und dann für die nächsten zwanzig Jahre mit ihrem digitalen Ebenbild den Serienmarkt beherrschen. 'Forever Young' auf der Tonspur. Das ist es! Harvey Keitel tritt auf und hält voll empathisch einen sehr langen Monolog. Dann verschwindet er, ungescannt, für immer aus dem Film.

Harvey ist weg. Aber Robins kleiner Sohn bleibt. Und damit ein Problem. Am Flughafen lässt er direkt vor den landenden Passagiermaschinen einen roten Drachen steigen. Erst wenn der Flieger zerschellt, wird er von Blind- und Taubheit gerettet – meint er. Er braucht die Mutter, und dank Miramount hat sie jetzt Zeit. Wird sie den angehenden Terroristen von seinem Vorhaben abbringen? Wie lebt es sich überhaupt privat mit der öffentlichen Digitalversion?
Wird es spannend? Nein. Schnitt. Zwanzig Jahre später: Robin Wright, 60, wird zum digitalen Kongress geladen. Warum fährt sie hin? Vertragsverlängerung? Egal. Grenzkontrolle zum immerjungen Reich, und damit beginnt die zweite, die Animationsstunde des Films. 60 Minuten Schick im Stil des Yellow Submarine' der Beatles. Jetzt oberirdisch. Pinkfarbener Himmel, hundertstöckige Hochhäuser, botanisch wuchernd und treibend. Ey, Mann, ist das bunt. Psychedelisch. Jedenfalls so, dass dir die Augen zufallen und du gern mal abschaltest. Was du beim Nickerchen verpasst hast, kannst du ja in der nächsten Vorstellung nachholen. Ganz im Sinn von Miramount. Oder aber, du bleibst in der zweiten Stunde hellwach, weil dich interessiert, wie das geht, wenn in dieser Koproduktion acht Animationsstudios zweieinhalb Jahre lang parallel gearbeitet haben. Israel, Deutschland, Polen, Luxemburg, Frankreich, Belgien. Unsere ARD-Degeto ist dabei. Erfolg: Immerhin ist das Design einheitlich.

Viele werden sich jedoch was anderes fragen, nämlich wie weit 'The Congress' auf Stanislaw Lems Roman Der futurologische Kongress. Aus Ijon Tichys Erinnerungen basiert – was der Film behauptet. Die Frage ist leicht zu beantworten, und zwar mit: Na ja, arg reduziert. Gereinigt ist der Film von Lems Erzählfreude, seinem Witz und seiner Bissigkeit.

Futurologisch bleiben die Angst und Sorge vor einer Zukunft, in der eine diktatorische Oligarchie die Mentalität von Menschen beherrscht und manipuliert. Geschrieben vor bald 50 Jahren in Polen, waren Lems Erzählungen – Seemannsgarn im besten Sinne – zu einem Roman gewachsen und zu einer frechen Dystopie der realen kommunistischen Herrschaft geworden. Kein schlechter Gedanke, dass Regisseur und Autor Ari Folman mit seinem Film jetzt – Kurswechsel! – auf die Diktatur der Fun- und Eventindustrie abzielt und auf die Verquickung mit dem Drogenmarkt und -wahn (beginnend mit erlaubten Antidepressiva und endend im Glück der verbotenen Substanzen). Folman macht sich Sorgen um den Berufsstand der Filmschauspieler. Zunächst werden sie ins digitale Bild überführt und sind ab diesem Zeitpunkt entbehrlich. Sodann übernimmt die Pharmaindustrie den Markt und versorgt die Abnehmer mit Glückszeug, das jedem die ureigenste Produktion von Bildern – je nachdem auch von Schreckensbildern – ermöglicht. Ganz die individuelle Rezeption von Stoff.
Was wird dann aber aus Robin Wright? Sorgen über Sorgen. Passiv und ratlos streicht sie durch die psychedelische Welt und erblickt die Phantasiegestalten, die sich ein jeder von und für sich macht. Für immer, hallo, Marlene Dietrich sein, da ist sie schon, oder John Wayne, Che Guevara, Pablo Picasso, Elizabeth Taylor, Michael Jackson, Clint Eastwood, Tom Cruise – Wunschidentitäten im Angebot. Zugreifen! Jedenfalls stellen sich Hollywoods Filmindustrielle das offenbar so vor. Sorry, ich meine natürlich die vielen Köche dieses Produktionsbreis.

Aber das, was ich schreibe, ist Interpretation. Und die überlasse ich gern den Usern des Films. Warnen möchte ich aber aus eigener Erfahrung jene, die von Folmans Waltz with Bashir' (2008) auf die Animation von 'The Congress' schließen. Diese Erwartungen werden enttäuscht. In der Bildumsetzung von 'Waltz with Bashir' ist noch die präzise Handschrift des Autors zu spüren. In 'The Congress' ist allenfalls produktionstechnische Studiokooperation zu bestaunen, leicht angestaubt allerdings. Nicht, dass Animation unbedingt das jeweils neueste Design sein müsste. Sie könnte auch richtig schön retro sein. Jahrzehntealtes Anime beispielsweise. Ja, ein Märchen, ein gaaanz altes, das die Futurologie durch entlegenste Historie ersetzt. Ach, wie war es doch vordem, mit dem, ja, Jungbrunnen so bequem … Wir hätten dann den großen Mythos statt die Sorgen der Schauspielergewerkschaft.

Neinneinnein, Folmans freudloser Film ist nicht das letzte Wort zum Futurologischen Kongress. Ich bin jedenfalls neugierig geworden, die deutsche Verfilmung von Ijon Tichys 'Erinnerungen' zu gucken. Phantastisch und trashaffin dazu.

Erstes Jahrzehnt dieses Jahrhunderts: Die Lem-begeisterten Studenten der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin Randa Chahoud, Dennis Jacobsen und Oliver Jahn entwickeln einen frechen und sofort preisgekrönten Kurzfilm, 'Aus den Sterntagebüchern des Ijon Tichy', gefolgt von einer 14teiligen Serie im ZDF. Gedreht wurde in Jahns damaligem Berliner Altbauwohnzimmer unter futurologischem Einsatz von skurrilen Haushaltsgeräten aus den achtziger und neunziger Jahren. Heute möchte Jahn den Futurologischen Kongress neu verfilmen, auf Spielfilmlänge. Im ZDF könnte das Augenzwinkern eines leibhaftigen Autors die Antwort auf Folmans 'Congress'-Produkt geben. Obschon ARD-Degeto aus eigenem Interesse für quotenträchtige Primetime sorgen wird. Folman läuft in seinem Lem-Film Gefahr, auf die Schiene zu geraten, die er als Negativutopie anzuprangern gedenkt.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 9/2013

White House Down

(USA 2013, Regie: Roland Emmerich)

Roland der Barbar
von Marit Hofmann

Prism? Die Amerikaner spähen uns aus? Dass ich nicht lache. Die deutsche Geheimwaffe arbeitet in den USA unermüdlich an der Zermürbung unseres liebsten Feindes. Ab 5. September ist auch an …

Prism? Die Amerikaner spähen uns aus? Dass ich nicht lache. Die deutsche Geheimwaffe arbeitet in den USA unermüdlich an der Zermürbung unseres liebsten Feindes. Ab 5. September ist auch an der Heimatfront zu sehen, wie Roland Emmerich genüsslich die kühnsten Terrorfantasien auf der Kinoleinwand umsetzt. Nach 9/11 ist er in sich gegangen, nur da war ja nichts, weshalb der nach eigenen Angaben 'subversive' Regisseur beschloss, dass er sich die Bilder von einstürzenden Gebäuden 'von den Terroristen nicht wegnehmen lassen' darf. Nachdem 'unser Mann in Hollywood' bereits in Independence Day' das Weiße Haus in die Luft sprengen lassen hat, explodiert in 'White House Down' – nein, Überraschung, nicht das Weiße Haus, das wird nur bis zum Erbrechen demoliert – das Kapitol. Ein Ablenkungsmanöver der rechtsradikalen Terroristen und ihrer rüstungsindustriellen Verbündeten in der Regierung, die sich derweil im Amtssitz des Präsidenten ins Computersystem einloggen, um mal eben den Atomkrieg auszulösen – oder nur eine Ablenkung von Emmerichs einschlägiger Einfallsarmut?

Ein weißer Muskelprotz (Wäscheständer Channing Tatum) rettet den schwarzen Weicheipräsidenten (Jamie Foxx muss hier für seine Titelrolle in Django Unchained' bitter büßen), der auf weltweite Friedensverträge setzt, weil er glaubt, dass man einen Menschen nur füttern muss, um ihm seine Neigung zur Gewalt auszutreiben (Herrgott, kann dann endlich mal jemand dem Emmerich etwas zu essen geben?), respektive, dass 'die Feder mächtiger' ist 'als das Schwert' – was der Regieveteran zwei Stunden lang aufs unbeeindruckendste widerlegt.

Obama persönlich habe ihm, brüstet sich Emmerich im Filmstarts-Interview, bei einem Wohltätigkeitsdinner gesagt: 'Du hast meine Tochter zu Tode erschreckt.' In Wirklichkeit verfolgt der Kleine-Mädchen-Schreck, der die Figur des ängstlichen Girlies auch gern in seine Lärmbelästigungen ohne Knalleffekt einbaut, eine ganz andere Strategie. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Roland der Barbar sein Ziel erreicht und die Amis zu Tode gelangweilt hat.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 9/2013

Hans Dampf

(D 2013, Regie: Jukka Schmidt, Christian Mrasek)

Drogen nehmen und rumfahren
von Ulrich Kriest

Die Utopie vom bedingungslosen Grundeinkommen und ein altes Foto von der Amalfi-Küste – mehr braucht es nicht, um dieses „Roadmoviemärchen“ (Selbstauskunft) aus der Kölner Independent-Szene in Bewegung zu setzen! „Man …

Die Utopie vom bedingungslosen Grundeinkommen und ein altes Foto von der Amalfi-Küste – mehr braucht es nicht, um dieses „Roadmoviemärchen“ (Selbstauskunft) aus der Kölner Independent-Szene in Bewegung zu setzen! „Man hat mir Geld gegeben, damit ich nicht mehr arbeite. Das Geld habe ich dann genommen und versprochen, dass ich nicht mehr arbeite.“ Das erzählt Hans Dampf, der in seinem früheren Leben vielleicht einmal Koch bei der Handelsmarine gewesen sein mag und den es jetzt mit einem Jute-Beutel voller Kies, also: Moos gen Süden zieht. Dorthin, wo die Zitronen blühen.

Grobe Richtung, denn Hans reist improvisierend, gibt sich Eindrücken hin: der Weg ist das Ziel. Dazu passt, dass er den Tauschhandel bevorzugt – und damit in der Regel gut fährt, auch wenn es zunächst anders aussieht. Seine erste Bekanntschaft tauscht er gleich mit seinem besten Freund, sein erstes Fahrzeug – einen alten viereckigen VW-Bus – gegen ein landesübliches Motordreirad, später folgen dann Schlauchboot und Klappfahrrad, bevor man, jetzt ein Paar, sich zu Fuß auf die Socken macht. Am Rande dieser Bildungsreise, die natürlich auf dem anti-kapitalistischen Märchen vom „Hans im Glück“ fußt, gibt es die üblichen Begegnungen mit Menschen, von denen Hans etwas lernt oder die – weitaus eher – von Hans etwas lernen.

Da ist zum Beispiel der windige Django, dessen Wahlspruch lautet: „Wenn jeder nur an sich denkt, ist schon an alle gedacht!“ Kein Wunder, dass ihn der Gedanke an das viele Geld, das Hans mit sich trägt, umtreibt. Man rangelt mitunter. „So etwas habe ich noch nicht erlebt – und das ist jetzt als Kompliment gemeint!“ Der Film lässt sich zu den Klängen eines exquisit kuratierten Soundtracks – von The Kings of Dubrock bis Adriano Celentano, von Keil Stouncil bis David T. Walker, von Nino Ferrer bis Monsieur Leroc, von Sophie Loup bis Die Zukunft – im schweizerisch-italienischen Grenzgebiet treiben und schwärmt von der bukolischen Landschaft, den verlassenen Bergdörfern und den Gumpen des Valle Versasca.

Schließlich begegnen Hans und Django der geheimnisvollen Fee, die erst so tut, als sei sie Italienerin und dann so tut, als sei sie Hausbesitzerin. Hans kocht für sie. Er kennt sich mit Kräutern wie dem Buschbasilikum aus. Indes: Hausbesitz taugt nicht für ein Roadmovie. Und während sich Django – kaum überraschend, er ist noch nicht so weit wie Hans, noch nicht bereit für das Glück – für das Geld entscheidet, fällt Hans in Liebe und findet sogar noch zu seinem Sehnsuchtsort, wenngleich man dafür das Foto vielleicht auf den Kopf stellen oder zur Seite kippen muss.

„Hans Dampf“, der neue Film von Christian Mrasek („Die Quereinsteigerinnen“) und Jukka Schmidt, ist ein echter Glücksfall von philosophischem Sommerfilm, der zudem auch noch an den Traum vom selbstbestimmten Leben rührt. Der Zufall wendet hier stets alles zum Guten, wenn man – wie Hans – lernt, mal nicht so zielstrebig zu sein. Der Film jedenfalls tut es ihm rückhaltlos gleich. Wie heißt es im Presseheft so schön? „Beschränkte Mittel sind der Kreativität eben immer zuträglich und so wurde mal wieder vieles besser als geplant.“ Stimmt genau! Einen so sanften Parzival wie Fabian Backhans hat das Kino lange nicht mehr gesehen, hinzu gesellen sich zuverlässige Kräfte wie Mario Mentrup und Nina Schwabe, nicht zu vergessen die Cameos der Original Kings of Dub Rock an den Gestaden des Lago Mergozzo. Man sollte „Hans Dampf“ nicht verpassen, wenn er in der Stadt ist. Und wenn er in der Stadt ist, sollte man möglichst tauschen: zum Beispiel eine Handvoll Euros gegen eine Eintrittskarte. Der nächste Urlaub im Tessin ist längst gebucht.

Singapore Sling

(GR 1990, Regie: Nikos Nikolaidis)

Die Liebe zu einer Leiche
von Michael Schleeh

Auf der Suche nach seiner Geliebten mit dem Namen Laura gerät ein Detektiv eines Nachts zu einer mysteriösen Villa und dort in die Fänge zweier Frauen, die halbnackt bei strömendem …

Auf der Suche nach seiner Geliebten mit dem Namen Laura gerät ein Detektiv eines Nachts zu einer mysteriösen Villa und dort in die Fänge zweier Frauen, die halbnackt bei strömendem Regen im Garten eine Leiche begraben. Sie überwältigen ihn, und in einer Eruption der sexuellen Obsession und barocken Dekadenz steigert sich das Trio in rücksichtslosen Rollenspielen derart in Zustände des Irrsinns und der Ekstase hinein, dass das Morden des Anderen als höchste Form der Lustgewinns wie eine plausible Notwendigkeit erscheint.

Dabei ist 'Singapore Sling', auch angesichts des Rufes, der ihm vorauseilt, alles andere als ein trashiges B-Movie, das in einem Drive-In-Kino oder einer Mitternachtsschiene eines Bahnhofkinos unter Ausschluss einer breiteren Öffentlichkeit verheizt werden sollte. Vielmehr ist er trotz seines äußerst geringen Budgets der beeindruckende Kunst-Film einer kreativen Potenz, eines originären und radikalen Filmemachers. Eines Mannes, der besessen war vom Kino, und der diese Besessenheit auch in seine Filme einfließen ließ. Der sein Publikum immer wieder herausgefordert und vor den Kopf gestoßen hatte. Der seinen Schauspielern so viel abverlangte, dass er seine Rollen nicht besetzt bekam. Einer, der die erotischste Szene neben die ekligste stellt, der stilistisch durch die Genres springt, der mit einem Film Noir-Zitat beginnt und in erotisch explosives Arthousekino abdriftet, das an der Grenze zum Porno schrammt. Der keine Angst hat, Körper zu inszenieren, wenn einmal tatsächlich alle Hemmungen fallen. Am eindrücklichsten und bekanntesten dürfte die Selbstbefriedigungsszene mit einer Kiwi (!) sein, die sich die Protagonistin in den Schoß einmassiert und zerdrückt.

Und so ist 'Singapore Sling' – übrigens eigentlich der Name eines Longdrinks, der dann dem Detektiven von Mutter und Tochter verliehen wird – ein visuell herausragender Film, der auch vor allem formal, und dies nicht nur auf einer verquasten Metaebene, völlig überzeugen kann. Der seine Geschichte über Bilder erzählt und nicht über Handlung, mit Ellipsen Finten und Spuren legt, der seine Figuren in drei verschiedenen Sprachen sprechen lässt wie einen griechischen Chor und in Monologen das Publikum direkt anspricht. Der die vierte Wand einreißt ohne künstlich zu wirken und schönerweise nie an Zugkraft verliert. Der die Zügel nicht aus der Hand lässt und sich so nie in einer experimentellen Beliebigkeit verliert. Vielmehr vermittelt Nikolaidis‘ Film den Eindruck des vollkommenen Durchgeformtseins. 'Singapore Sling' ist schlicht großartiges Kino: herausfordernd, kraftvoll, verführerisch, humorvoll, bizarr, atemberaubend.

Die Veröffentlichung beim Independentlabel Bildstörung ist von gewohnt hochwertiger Qualität: Die Doppel-DVD kommt in der Pappschuberverpackung mit der üblichen Rahmung der Drop Out-Serie (der FSK-Flatschen ist wieder auf einem zusätzlichen Umschlag aufgedruckt, der entsorgt werden kann). Der Einleger der Amaray ist eine Bildfolge aus verschiedenen Film-Stills und unterscheidet sich vom etwas reißerisch-grobschlächtigen Cover des Schubers (was bei anderen Labels keine Selbstverständlichkeit ist). DVD 1: Das Bild des Featurefilms ist sehr gut: scharf, kontraststark, mit guten Schwarzwerten. Untertitel können auf deutsch oder englisch hinzugewählt werden. DVD 2: Bonusmaterial: neben einem Interview mit Nikolaidis selbst befindet sich eine etwa 75 minütige Dokumentation über den Regisseur auf der DVD, in der verschiedene Lebensgefährten und Schauspieler zu Wort kommen und das Leben und Werk des Meisters erörtert wird. Filmausschnitte werden zur Veranschaulichung herangezogen. Die Doku mit dem etwas reißerischen Titel „Directing Hell“ macht enorme Lust auf das Gesamtwerk Nikolaidis‘, sie arbeitet sehr überzeugend die Besonderheiten seiner Filme heraus und beleuchtet auch Nikolaidis als Exzentriker. Abgerundet wird die DVD von mehreren Werbespots, die den Regisseur auch als kommerziellen Filmemacher vorstellen. Filme, mit denen er seinen Lebensunterhalt finanzierte und die dennoch seinen Stil erkennen lassen. Neben der Doku ist aber das mehrseitige, ausführliche Essay von Splatting Image-Autor Gerd Reda das Herzstück des Bonusmaterials. Sehr kundig und flüssig geschrieben, ordnet er 'Singapore Sling' in Nikolaidis‘ Gesamtwerk ein, spürt der Faszination dieses bizarren, eklektischen Filmes nach und deckt zahlreiche filmhistorische Verweise auf. So werden Kontexte aus dem Film Noir, der Slapstick-Komödie und dem Genre des Horrorfilms in den Fokus gerückt, bevor einige Anekdoten aus dem Leben des Regisseurs das Essay abrunden. Kurzum: eine hervorragende Veröffentlichung, deren Anschaffung hiermit ausdrücklich empfohlen sei.

Room 237

(USA 2012, Regie: Rodney Ascher)

Unmögliche Fenster
von Carsten Happe

Nicht wenige Filme sind beim Verlassen des Kinos längst vergessen, doch es gibt ein paar Exemplare, die wachsen nicht nur mit jedem Sehen, sondern man kann sich in ihnen voll …

Nicht wenige Filme sind beim Verlassen des Kinos längst vergessen, doch es gibt ein paar Exemplare, die wachsen nicht nur mit jedem Sehen, sondern man kann sich in ihnen voll und ganz verlieren – und darüber zu einem komischen Kauz werden, wie die fünf Protagonisten des Dokumentarfilms „Room 237“, die zwar nie im Bild zu sehen sind, deren Theorien sich aber in den Untiefen der Kubrick-Analyse festkrallen und ganz Erstaunliches zu Tage fördern.

Das Zimmer 237 ist die berühmt-berüchtigte No-Go-Area in Stanley Kubricks Stephen-King-Veredelung „The Shining“, nicht nur einer der gewaltigsten Horrorstreifen der Kinogeschichte, sondern bekanntermaßen auch ein Film voller Anspielungen, versteckter Metaebenen und Basis unzähliger Verschwörungstheorien. Also ein wahrer Quell der Freude für postmoderne Popkultur-Nerds mit zu viel Tagesfreizeit, die jedes Standbild einer Einzelanalyse unterziehen und nicht nur schlüssige Bezüge zum Genozid an Amerikas Ureinwohnern, zum Holocaust oder zur gefaketen Mondlandung herstellen, sondern auch aus Logiksprüngen und banalsten Anschlussfehlern die grandiosesten Theorien hervorzaubern. Meister Kubrick macht schließlich keine Fehler, bei diesem Perfektionisten ist alles Bedeutung, Verweis und Sinn.

Und gerade weil die Filmbuffs in „Room 237“ oftmals über das Ziel hinausschießen, macht diese Doku solch einen Spaß, zumal es irgendwann gar nicht mehr um Kubrick und seinen Welttheaterentwurf geht, sondern um eben diese bewundernswerten, aber auch irgendwie traurigen Nerds, die zumindest mit einer gehörigen Portion Selbstironie erkennen, worin sie sich mitunter verrennen. „The Shining“ parallel vorwärts und rückwärts abzuspielen, mag zwar eine hübsche Remix-Idee sein, doch der Erkenntnisgewinn bleibt minimal beziehungsweise wahrscheinlich genau so groß, wie bei jedem anderen Film auch. Aber die Akribie, mit der Karten vom Overlook-Hotel angefertigt werden, die unmögliche Fenster offenbaren – die natürlich auch wieder ihre eigene, besondere Bedeutung haben – zeugt von einer wahren Liebe zum Objekt. Und wer einmal die große Stanley-Kubrick-Ausstellung besucht hat, die vor einigen Jahren durch diverse Museen in Deutschland wanderte, und dort die abertausend Notizzettel gesehen hat, die Kubrick für sein gescheitertes „Napoleon“-Projekt anfertigte, kann sich vorstellen, dass der enigmatische Filmemacher unbändig stolz auf „Room 237“ und die Leidenschaft seiner Protagonisten gewesen wäre.

The East

(USA / GB 2013, Regie: Zal Batmanglij)

Amerika erwacht
von Wolfgang Nierlin

Sie sind Ökoterroristen und nennen sich “The East”. Sie bekämpfen Ölkonzerne und Pharma-Unternehmen mit jenen Giften, die Mensch und Umwelt zerstören und machen ihre Anschläge übers Internet öffentlich. Die Verursacher …

Sie sind Ökoterroristen und nennen sich “The East”. Sie bekämpfen Ölkonzerne und Pharma-Unternehmen mit jenen Giften, die Mensch und Umwelt zerstören und machen ihre Anschläge übers Internet öffentlich. Die Verursacher von Leid sollen dieses am eigenen Leib erfahren. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, lautet ihre alttestamentarische Kampfansage. Selbst der Terror, so könnte man sagen, folgt in Amerika den archaischen Mustern von Rache und Vergeltung. Es ist das Gesetz des Wilden Westens, das sich hier medial und filmgeschichtlich fortspinnt; und das missionarischen Eifer propagiert: „Wir sind euer Weckruf!“ Dementsprechend situieren Regisseur Zal Batmanglij und seine Ko-Autorin Brit Marling die anarchistische Gruppe zwischen politischem Geheimbund und obskurer Sekte, die sich in merkwürdigen Ritualen der gegenseitigen Loyalität ihrer Mitglieder versichert. Doch das alles ist weniger neu und radikal als es sich gibt: Der Film „The East“ ist gewissermaßen die militante Version von Hans Weingartners „Die fetten Jahre sind vorbei“ und wirkt trotzdem irgendwie „light“ und naiv, weil das thematisch Brisante plakativ und die Durchführung halbgar bleiben.

Das beginnt schon mit der leicht holprigen Einschleusung der Agentin Jane (Brit Marling), die unter dem Decknamen Sarah für eine private Sicherheitsfirma die Anschlagspläne der Terroristen ausspionieren soll. Auch diese Figur hat eine religiöse Erdung: Zu Beginn ihrer Mission erbittet die attraktive Spionin Gottes Beistand. Ansonsten ist sie eine dieser überdimensionierten Kinoheldinnen, die fast alles können, weil sie schlau und schön, stark und mutig und fast immer einen Schritt voraus sind. Die gefangen nehmende, um nicht zu sagen einlullende Spannungsdramaturgie des Films weiß das für ihre Zwecke zu nutzen. Das Erzähllogische macht dann schon einmal Sprünge und ist in etwas so wahr wie die stets frische Frisur und das perfekte Make-up der Protagonistin. „Typisch Mainstreamkino!“, ist man versucht zu sagen, wenn das, was sich entwickeln soll, nicht erzählt wird, sondern ohne weitere Erklärung einfach da ist.

„Amerika erwacht!“, könnte wiederum eine andere Losung sein, die der Film eher unbeabsichtigt und in gezähmter Form ausgibt. Natürlich geht das im funktionalen Kintopp-Kino nicht ohne Gefühle. Und so verliebt sich Jane in die nachvollziehbaren Ideen der Gruppe, noch mehr aber in den ebenso charismatischen wie gutaussehenden Bandenchef Benji (Alexander Skarsgård), während Jane bei ihrer Chefin (Patricia Clarkson) innerlich immer halbherziger Bericht erstattet. Zwischen Freundschaft und Liebe, Loyalität und Verrat gerät ihr Gewissen in die Krise. Fremd wird ihr dabei das jeweils andere Leben. Batmanglijs forcierte Spannungsdramaturgie spitzt diesen Konflikt konsequent zu. Doch der radikale Schnitt bleibt aus. Der Regisseur und seine Protagonistin können oder wollen sich nicht ganz auf die Seite ihrer Sympathieträger schlagen. Oder aber positiv ausgedrückt: Sie halten dezidiert Abstand zur Losung: „Die Revolution gegen ein Menschenleben.“

Kid-Thing

(USA 2012, Regie: David Zellner)

Zerstörung, lakonisch
von Wolfgang Nierlin

Auf schwerem Grund stoßen schrottreife Autos gegeneinander, verhaken sich, bleiben stecken, schieben sich an und ineinander. Bis nur noch kaputtes Blech, eingedrückte Karosserien, verbeulte Kotflügel und demolierte Stoßstangen übrigbleiben und …

Auf schwerem Grund stoßen schrottreife Autos gegeneinander, verhaken sich, bleiben stecken, schieben sich an und ineinander. Bis nur noch kaputtes Blech, eingedrückte Karosserien, verbeulte Kotflügel und demolierte Stoßstangen übrigbleiben und die Räder im allgemeinen Motorengedröhn hohldrehen. Doch trotz dieses Zerstörungsszenarios strahlt die Einleitung von David und Nathan Zellners Indie-Film „Kid-Thing“ auf eine beiläufige Art fast etwas Sanftes aus, was durch den kindlich-unschuldigen Ausdruck der kontrastierend eingesetzten Begleitmusik noch verstärkt wird. Tatsächlich bildet dieser Prolog den programmatischen Auftakt für eine episodisch gegliederte Abfolge kindlicher Zerstörungsphantasien, in deren Mittelpunkt die etwa 10-jährige Annie (Sydney Aguirre) steht, die zusammen mit ihrem Vater (?) Marvin (Nathan Zellner) auf einer Farm in der texanischen Provinz lebt.

Doch wirklich väterlich oder gar verantwortungsbewusst wirkt dieser skurrile Mann, der Ziegen melkt, Hühner hypnotisiert, Lose rubbelt und einen Selbsthilferatgeber mit dem Titel „How to become a better person“ liest, ganz und gar nicht. Auf Annies Frage nach dem richtigen Handeln, weiß er keine rechte Antwort; und so bleibt das verstockte Mädchen mit seiner Einsamkeit und Langeweile, mit seiner Wut und einem aggressiven Überdruss sich selbst überlassen. Schon die Kinderzeichnungen in Annies Malbuch strotzen vor Gewalt, die sie in der Folge gegen Dinge, (tote) Tiere und Menschen richtet. Mit verstellter Stimme fingiert sie einen Drohanruf bei einem Autohändler, sie wirft Teiglinge auf vorbeifahrende Autos, zerschlägt Gegenstände, klaut Lebensmittel und schießt mit einem Paintballgewehr auf Tierkadaver. Die Zellner Brothers zeigen das betont lakonisch, ohne große Erklärungen oder gar Worte mit einem unverhohlenen Interesse am Abwegigen, Schrägen und Regellosen. So mischen sich in die gewalttätigen Bilder einer dunklen, schweren Kindheit immer wieder absurder Humor, andererseits aber auch ruhige, fast bedächtige Landschaftsstimmungen.

Hinter Annies Zerstörungswut stehen eigentlich die Fluchtphantasien eines vernachlässigten Kindes; und ihre Destruktivität schreit nach Liebe. Annie, die von sich sagt, sie habe vor nichts Angst, folgt ihrem Bauchgefühl. „Woher weiß man, was das Beste ist?“ Ihre kindliche Orientierungslosigkeit, Zeichen ihrer noch ungeformten Seele, lässt sie im Wald ein tiefes, dunkles Erdloch entdecken, in dem eine Frau namens Esther (Susan Tyrrell) gefangen ist. Doch nur deren zunehmend verzweifelteren Hilferufe zeugen von ihrer Existenz. Als diese verstummen, stirbt auch für Annie ein Gefühl der Macht und der Hoffnung. Das schwarze Loch als ambivalenter Ausdruck einer unbewussten Sehnsucht nach Freiheit und zugleich ein Symbol der Gefangenschaft zieht das Kind magisch an, um es schließlich zu verschlucken.

Elysium

(USA 2013, Regie: Neill Blomkamp)

Politik aus Treue, Revolte aus Not, Gestell aus Stahl
von Drehli Robnik

Manch ein Science Fiction-Film verschafft sich heutzutage seinen Nimbus politischer Radikalität dadurch, dass er ein verbreitetes Unbehagen an entfesselter Kapitalmacht oder an neuen Formen des Wohnens, die sich ab- und …

Manch ein Science Fiction-Film verschafft sich heutzutage seinen Nimbus politischer Radikalität dadurch, dass er ein verbreitetes Unbehagen an entfesselter Kapitalmacht oder an neuen Formen des Wohnens, die sich ab- und andere ausschließen (ob in Wohlstandsweltregionen, Gated Communities oder Dachausbauten), überhöht: bis hinauf in Sphären des Hochgestochenen, von wo aus die Filme – namentlich etwa Wall-E', 'In Time', Oblivion' – dystopische Blicke in Jammertäler der Heillosigkeit werfen. Das lässt sich wohlwollend als 'biopolitische Kritik' verstehen – und skeptisch als authentizitätsbesorgte Ökopanik-Moral.

Eine spannende Alternative dazu inszenierte 2009 der Südafrikaner Neill Blomkamp mit District 9': Darin waren Motive von Alien-Invasion und interplanetarischem diversity management zur Groteske eines migrationspolizeilichen Lagerregimes umgedeutet; Cyborg-Splatter-Stil verband sich da treffend mit Satire in Sachen Routineprozeduren und Normalisierungsideologien rassistischer Einsperrung.

Im Hollywoodactionblockbustermaßstab produziert, bewegt sich Blomkamps neuer Polit-SciFi-Film zwischen diesen Polen. 'Elysium' heißt er, nach der riesigen, Mercedesstern-artig geformten Luxusraumstation, in der sich die Superreichen abschotten; das restliche Humankapital darbt und rackert in irdischen Favelas (die vor Ort in Mexiko gedreht wurden). (Auffällig am Rande: Kerngeschäft der lokalen Großindustrie scheint das relativ personalintensive Zusammenbauen von Polizeirobotern zu sein, wobei also die Ausgebeuteten sich wesentliche Mittel und Büttel ihrer Unterdrückung ganz handgreiflich selber schaffen – genau wie in den Fabriksequenzen in dem läppischen Total Recall'-Remake vom Vorjahr.)

Ein infolge fehlender Arbeitssicherheitsstandards strahlenverseuchter Cyborgproletarier mit Glatze, Herz und Exoskelett aus Stahl (Matt Damon) kooperiert allmählich zwecks Umsturz mit Latino-Fluchthilfedienstleistern, darunter Wagner Moura als am Stock hinkender lokaler Gangboss, dem trotz aller harten Worte letztlich nichts weniger als die Universalisierung des Bürgerrechts in/auf Elysium vorschwebt.

Projekt und Praxis des Aufstands werden in dem Film jedoch allzu oft zur Sache von Kindheitstraum und Kinderfürsorge-Ethos stilisiert: Das politische Pathos, das in 'Elysium' den Sinn der Aktionen (und der immer wieder mitreißenden, ökonomisch gesetzten, in Zeitlupen schön phrasierten Actionszenen) markiert, es ist hier verdichtet in Bildern der 'Treue zum Kind' – der Treue von Müttern, die doch nur ganz kurz die auf der Erde unverfügbaren Heilungstechniken der elysischen Gesundheitsdienste für ihre todkranken Sprösslinge in Anspruch nehmen wollen (von politischem Anspruch dann also doch keine Spur), und der Treue zu einem märchenhaften Gelöbnis, das der Held als Kind seiner geliebten Spielgefährtin gegeben hat. Irgendwie kommt da auch eine Art Erlöserprophetie, von karitativen Nonnen ersonnen, ins Spiel; die wird zum Glück nicht 'Matrix'-artig weiter auserzählt, schwelgt aber doch mit durch die allzu üppig ausgestreuten Kinderglücks-Rückblenden. Tiefsinnig jaulen immer wieder Ethnochöre, wenn Armut als Form höherer Moral geheiligt und Gerechtigkeit zum Synonym von Gesundheit veredelt wird: Wenn die Reichen so herzlos sind – verkörpert in den kalten Mienen von William Fichtner als Industrieboss und Jodie Foster als erzpragmatische Polizeiministerin mit Putschplänen in der Raumstation –, dann müssen, so legt dieser Film (und natürlich bei weitem nicht nur dieser) nahe, die Armen doch automatisch gut sein, und das Glück des erfolgreichen Umsturzes liegt, so scheint’s, am gnadenlos optimistischen Ende, in Lebenserhaltung für alle: Wer würde da widersprechen? (Also: abgesehen von den Republikanern im Sturm gegen staatliche Krankenversicherung oder von den Schengen-Asylgesetzen zur Aufenthaltspflicht am Arsch der Welt.)

Fast droht 'Elysium' schon ein Ganz-Abgleiten in Gesundheitsphantasmen (bei denen die Subjekte politischen Übels schnell einmal als 'krank', sprich: frigid, queer, zu dick, zu bleich, zu dunkel… identifiziert werden). Davor rettet den Film nun allerdings weniger sein breitspuriger Erzählentwurf als vielmehr ein Gespür für Ausstattung, zumal fürs Ruinöse, das schon in 'District 9' ausgiebig ins Bild kam. Im Anblick (auch im Sound) von Materien – der sich in Blomkamps Debüt in die Auslotung der Materialität von Medien- und Verwaltungstechniken fortgesetzt hatte – wird hier ganz plastisch, oft auf lustige, manchmal auch eklige Weise, etwas sinnfällig: dass nämlich alles 'Heilen' auch immer nur 'Reparatur' ist, und genau so sehen die Bauten, Vehikel und Körper denn auch aus; Blomkamps beschriftete Stahlplatten und Drahtfransen im Sonnenlicht sind fast schon markenzeichenhaft. (Man könnte das, in Gegensatz zur 'Treue zum Kindlich-Unschuldig-Reinen', als eine Art 'Treue zu den Problemen' bezeichnen.)

Menschen in der Revolte, und die Revolte ist zugleich in ihnen, um’s mal mit Tocotronic zu sagen. Unter all den Prothesenwesen und Gestellhelden im Klassenkampf brilliert Sharlto Copley (der Karriere-Fremdenpolizeibürokrat aus 'District 9') als psychopathischer Söldner mit ersatzteilgespicktem Panzerkörper, dem dann irgendwann auch das ärgerlicherweise durch hautnahen Handgranatendetonationskontakt unschön ramponierte Antlitz per 3D-Fleisch-Drucker rekonstruiert wird. Eine irre Szene als embodiment prägnanter politischer Anmutung: Die Sache der 'Reform' kann in ihrem Ablauf und Effekt einschneidender und krasser sein als eine zum Heils(armeeein)satz verkitschte Idee der Revolution.

Finsterworld

(D 2013, Regie: Frauke Finsterwalder)

Überraschung! Überraschung!
von Dietrich Kuhlbrodt

Der erste Spielfilm der Dokumentarfilmerin Frauke Finsterwalder, und er ist genial, einfach ge-ni-al. Ja, ich muss gleich am Anfang meine halbwegs gesittete Position als Filmkritiker aufbrechen und es jetzt und …

Der erste Spielfilm der Dokumentarfilmerin Frauke Finsterwalder, und er ist genial, einfach ge-ni-al. Ja, ich muss gleich am Anfang meine halbwegs gesittete Position als Filmkritiker aufbrechen und es jetzt und auf der Stelle rauslassen, was ich im Kino erlebt hab. Gelacht, gerührt, empört, außer mir, raus aus der Schale. Damit bin ich auch schon beim Thema, der emotionalen Verschalung, den anderen nicht berühren können, – ich meine richtig anfassen. Die andere, hätte ich sagen sollen. Was sowieso ein Problem ist, wenn man, sagen wir: 16 ist und SchülerIn. Oder ganz alt und sich von einem Jüngeren die Füße pflegen lässt. Oder sich für den humanistisch gesonnenen Lehrer auf Klassenfahrt zum KZ fürs Fahrtziel wenig, für ganz was anderes sehr interessiert.

Mehr als diese Vorgaben kann ich nicht liefern, vor allem nicht die Handlung. Damit hätte ich jedem das Abenteuer der Filmrezeption vermiest. – Quatsch. Ich hätte schreiben sollen: es gibt keine Handlung. Oder besser: alles, was man sieht und hört, verkehrt sich – Überraschung! Überraschung! – in sein Gegenteil, – oder – Überraschung! – eben nicht. Schön ist die Welt in diesem Film. Stets eitel Sonnenschein. Grüne Landschaften. Gepflegt gekleidete Menschen, junge und alte. Nichts stört. Eine Außenwelt wie im Studio nachgebaut. Nichts passiert im Hintergrund. Auf den Straßen verkehrt nichts. Keine Passanten unterwegs. Nur die Protagonisten. Und dann, dann zieht es dir den Boden unter den Füßen weg.

„Finsterworld“ lässt sich in keins der üblichen Filmgenres einordnen. Komödie? Nä, irgendwie nicht. Tragödie? Irgendwie punktuell schon. – Botschaft? Die Dialoge erklären nichts, liefern aber Subtext. Ganz schön aufregend, sich berühren zu lassen, wenn sich ein Spalt in den Kulissen der schönen heilen Welt öffnet. Geschrieben hat das Buch Regisseurin Frauke Finsterwalder zusammen mit ihrem Mann, dem Autor Christian Kracht. Beide haben den Blick von außen (Tansania) auf ein Deutschland drauf, das sich in feine Schale geworfen hat und seltsam emotionslos geworden ist. Opfer werden zu Tätern. Einsiedler schießen von der Autobahnbrücke. Liebende flüchten sich in Ersatzhandlungen. Der Fußpfleger backt Kekse. Die Guten werden bestraft. Die Bösen belohnt. Was bringt Heilung in die monströse Welt der Gutdeutschen?

Der Film macht keinen Vorschlag. Der Film ist der Vorschlag. Jedenfalls hat es bei mir geklappt. „Finsterworld“ hat mich berührt. Ich glaube, einen großen Anteil am therapeutischen Ergebnis haben die vielen Schauspieler, die die Alltagssprache draufhaben und einem nahe, sehr nahe kommen. Die jungen, wie die alten. Margit Carstensen als Fußpflegefall: meine Empathie! Leonard Scheicher als gedemütigter Schüler, dann als Held: ja, er hat die Zukunft für sich (im Film allerdings weniger). Das Paar Corinna Harfouch und Bernhard Schütz im schützenden Auto im gleichfalls schützenden Wortwechsel, der verdeckt, was ungeschützt zu sagen wäre (keine Angst, der aggressive Darsteller wird sich noch schutzlos am Boden winden). Der Schüler-Macker Jakub Gierszal („Na, ihr Spasten, ready for the KZ-Besuch?“), – den vergisst man nicht. Aufregend, er, der ganze Film.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 10/2013

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Wir sind die Millers

(USA 2013, Regie: Rawson Marshall Thurber)

Nicht mehr normal
von Drehli Robnik

Wir wussten es immer schon: Durchschnittlichkeit lässt sich lernen. Zumindest vortäuschen. So will es die Prämisse dieser Urlaubskomödie: Um eine Tonne Marihuana aus Mexiko einzuschmuggeln, rekrutiert ein kleiner Dealer aus …

Wir wussten es immer schon: Durchschnittlichkeit lässt sich lernen. Zumindest vortäuschen. So will es die Prämisse dieser Urlaubskomödie: Um eine Tonne Marihuana aus Mexiko einzuschmuggeln, rekrutiert ein kleiner Dealer aus Denver eine nicht mehr junge Stripperin, ein obdachloses Gör und einen spätpubertären Dillo; getarnt als weiße Vorzeigefamilie reist man in Dreiviertelhosen und im Wohnmobil, frönt kleinbürgerlichen Kuschelritualen, grinst, winkt und ruft ungefragt: 'Wir sind die Millers!'

Das hat seine Eigendynamik: Die vier Solo-Survivors verfallen allmählich ihrer eigenen Tarnidentität und den Reizen zwanghafter Gutgelauntheit unter Bürstenhaarschnitt und Souvenirsombrero, bis sich denn auch genuine Fürsorgegefühle einstellen. Allerdings lässt der Film ihren Habitus wechselseitiger Angezipftheit so weit intakt, dass allfällige Werte nicht allzu aufdringlich ins Spiel kommen; abgesehen von Unterhaltungswerten, und die resultieren hier aus der Fusion apatowscher Familienaufstellung mit farrellyschem Schweinigeln und hangoverscher Spießerwolfpackpose.

Um ungewollte Schwangerschaft zu vermeiden, heißt es im Geplauder mit Zufallsbekanntschaften auf dem Campingplatz, 'There’s nothing like sticking to the Big A.' – 'Anal?' – 'I meant abstinence.' Ausstattung und Dialoge sitzen, Selbsttechniken des kleinen Glücks (samt ängstlichem Swingerversuch 'from mother to mother') sind mitunter schön beobachtet; die Regie von Rawson Marshall Thurber – den seltsamen Namen hätte man sich nach seiner um einiges deftigeren Völkerballfreakteamkomödie 'Dodgeball' von 2004 merken können sollen – hält das Tempo. Zwischendurch wird im Chor 'Waterfalls' von TLC gesungen, muss wohl auch sein.

Inmitten netter Nebendarsteller (etwa Ed Helms, die Zahnlücke aus den Hangover'-Filmen, als Drogengangboss, der sich im Aquarium hinter seinem Schreibtisch einen Orca hält) machen ihr Ding versiert: Jason Sudeikis, Emma Roberts, Will Poulter und Jennifer Aniston – deren strip- und lapdanceadäquate Figur allerdings ein bisschen sehr anbiedernd ausgestellt wird (alt und schön sind wir selber). Nicht ganz koscher: die Sozioklischees in Sachen kriminelles Mexiko (oder geht es doch mehr um weißsockentragende Amis, die solche Klischees im Kopf haben?). Zum Ausgleich sympathisch jedenfalls: stichelnde Gags mit brutaler Grenzpolizeischikane gegen Jointbesitzer und illegalisierte Einreisende. Auch nicht schlecht, weil lehrreich: der Terminus getting earfucked.