Archiv der Kategorie: Filmkritik

Tabu – Eine Geschichte von Liebe und Schuld

(PT / BR / D / F 2012, Regie: Miguel Gomes)

Mäander
von Wolfgang Nierlin

Eine merkwürdige Expedition, ja eine geradezu mythische Prozession im Herzen Afrikas vollzieht sich im Prolog von Miguel Gomes‘ neuem Film „Tabu“. Ein furchtloser Entdecker, von dem der Off-Erzähler sagt, er …

Eine merkwürdige Expedition, ja eine geradezu mythische Prozession im Herzen Afrikas vollzieht sich im Prolog von Miguel Gomes‘ neuem Film „Tabu“. Ein furchtloser Entdecker, von dem der Off-Erzähler sagt, er sei traurig, will nach dem Tod seiner geliebten Frau ans Ende der Welt fliehen, weil er ihren Verlust nicht verwinden kann. Die Bilder, die seinen Weg durch den Dschungel zeigen, sind schwarzweiß und werden von einem Jazz-Piano begleitet. Ein Hauch von Exotik und von fernen Abenteuern liegt über der Szenerie, die aus einem alten Stummfilm stammen könnte oder zumindest visuell dessen Geist beschwört; was im Verbund mit dem fabelhaften Erzähler wiederum dazu führt, dass sich in die tragische Geschichte auch ein leiser Humor mischt. „Deinem Herzen kannst du nicht entfliehen“, erkennt der Held und steigert dadurch noch seine Todessehnsucht. Bis er sich schließlich in einer Verzweiflungstat unter den Augen der Eingeborenen einem Krokodil zum Fraß vorwirft, von dem es heißt, dass es die Traurigkeit des Getöteten in sich aufnehme.

Wahrheit und Legende, Imagination und Wirklichkeit liegen in den Filmen des 1972 in Lissabon geborenen Regisseurs Miguel Gomes nahe beieinander. Mit unbändiger Fabulierlust erzählt er seine mäandernden, abschweifenden und sich immer weiter verzweigenden Geschichten, deren Zusammenhang oft unklar bleibt und deren lose Enden sich mitunter im Unbestimmten verlieren. In ihnen vermischen sich auf ebenso nachdenkliche wie humorvolle Weise Verrücktes und Absurdes, Alltägliches und Menschliches. Dabei arbeitet der Filmemacher immer wieder ganz ungezwungen und selbstverständlich mit ästhetischen Irritationen und narrativen Brüchen, mit Andeutungen und filmgeschichtlichen Referenzen. In „Tabu“ etwa zitiert er den gleichnamigen, thematisch verwandten Film von Friedrich Wilhelm Murnau aus dem Jahre 1931, indem er dessen Kapitelüberschriften in umgekehrter Reihenfolge für seinen eigenen Film übernimmt.

Der mit „Das verlorene Paradies“ betitelte erste Teil spielt im Lissabon der Gegenwart zwischen den Jahren 2010 und 2011 und verknüpft diesen Ort mit einer Erinnerung, die den Verlust der Unschuld auf eine noch unbekannte Vorgeschichte bezieht. Die katholische Friedensaktivistin Pilar (Teresa Madruga), rein, sanftmütig und hilfsbereit, figuriert darin als Heilige und gute Seele mit einem offenen Ohr und Herzen für die Sorgen und Nöte der anderen. Als Integrationsfigur wird sie zum Katalysator für deren Sehnsucht nach Vergebung und Erlösung. Vor allem die alte, resolute Nachbarin Aurora mit ihren scheinbar wahnhaften Geschichten beschäftigt ihr Nachdenken und Beten. Als Aurora (Laura Soveral) plötzlich stirbt, wechselt der Film den Erzählmodus und wird im zweiten, mit „Paradies“ betitelten Teil zu einer poetischen Bildergeschichte, über die sich die Stimme von Auroras früherem Geliebten Gian Luca Ventura (Henrique Espírito Santo) legt.

Dieser erzählt von jener unsterblichen und zugleich „verbrecherischen“ Liebe, die er als junger Mann (Carloto Cotta) Jahrzehnte zuvor „auf einer Farm in Afrika“ am Fuße des mythischen Monte Tabu mit der damals frisch verheirateten und schwangeren Aurora (Ana Moreira) erlebt hat: „Ich verinnerlichte Aurora als absolute, allumfassende Realität.“ Doch die Schatten der Gegenwart liegen von Anfang an über dieser verbotenen Liebe der Vergangenheit. Und auch der Kolonialismus, eher als atmosphärische Störung und visuelle Unterströmung präsent, liegt in den letzten Zügen. Was hier in wortlosen Blicken, unbestimmten Gefühlen von Verlust, Schuld und Trauer und fernen, verblichenen Erinnerungen erzählt wird, könnte auch der Imagination von Venturas Zuhörerin Pilar (oder auch der Phantasie des Kinopublikums) entstammen. Miguel Gomes sagt: „‘Tabu‘ ist ein Film über die Vergänglichkeit, darüber, dass Dinge verschwinden und nur noch als Erinnerung, als Phantasmagorie, als Bilder in unserem Kopf existieren – oder eben als Film.“

Lincoln

(USA / IN 2012, Regie: Steven Spielberg)

One Man Gang
von Carsten Happe

Möglicherweise sieht ein Themenabend auf arte zur Sklaverei in den Vereinigten Staaten in zwei oder drei Jahren wie folgt aus: 20:15 Uhr 'Lincoln', 22:45 Uhr Django Unchained', 1:30 Uhr Frankreichs …

Möglicherweise sieht ein Themenabend auf arte zur Sklaverei in den Vereinigten Staaten in zwei oder drei Jahren wie folgt aus: 20:15 Uhr 'Lincoln', 22:45 Uhr Django Unchained', 1:30 Uhr Frankreichs Kulturminister im Gespräch mit Steven Spielberg und Quentin Tarantino über diametral entgegengesetzte Ansätze zum Ende der Sklaverei.

Es ist ein frappanter Zufall, dass diese beiden Filme fast gleichzeitig veröffentlicht werden, bieten sie doch derart weit entfernte Herangehensweisen an ein Thema, derart unterschiedliche ästhetische Konzeptionen, dass sich ein Vergleich zwar vollkommen ausschließt – auch wenn beide mit aussichtsreichen Oscar-Chancen ins Rennen gehen, mitunter in den gleichen Kategorien – aber eine Verknüpfung durchaus reizvoll erscheint.
Während sich Tarantino frei flottierend durch die (Film-)Historie ballert und leider auch kalauert und sein Popkultur-Zitat-Kino mühelos im Westerngenre verankert, verspricht Spielbergs „Lincoln“ zunächst klassisches Biopic-Drama altmodischer Prägung, distinguiert, kontrolliert, erwartungsgemäß. Und doch tappt er weder in die befürchtete Filmbiographienfalle, ein komplettes Leben abbilden zu wollen, noch ein verklärendes Abziehbild eines verbrieften Helden nachzuschieben.

In seinen letzten Lebensjahren – nur die deckt Tony Kushners mit geschliffenen Dialogen gespicktes Drehbuch ab – tritt Abraham Lincoln als gewiefter, in sich ruhender Politiker auf, dessen Herzensangelegenheit es ist, den Verfassungszusatz zur Abschaffung der Sklaverei zu verabschieden, und dessen Herkulesaufgabe, die erforderliche Mehrheit dafür zu gewinnen. Mit einem Wort: „Lincoln“ dreht sich um politisches Kalkül und dem gemäße Taktiken, alte weiße Männer zur Stimmabgabe in die gewünschte Richtung zu lenken. Das ist bei aller Akkuratesse der historischen Rekonstruktion, bei aller Opulenz der ausgewaschenen Bilder und der angenehm zurückhaltenden Musik von Spielbergs altem Weggefährten John Williams leider auch entsprechend langatmig. So bleibt es vor allem der beeindruckenden Metamorphose Daniel Day-Lewis‘ in den 16. Präsidenten der Vereinigten Staaten vorbehalten, das Interesse an Spielbergs gediegener Geschichtsstunde über zweieinhalb Stunden wachzuhalten. Womit sich allerdings wieder der Kreis zu Tarantinos „Django“ schließt – auch hier retten die entfesselten Darsteller den ebenso überlangen Film über die Zeit.

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Gangster Squad

(USA 2012, Regie: Ruben Fleischer)

Best-Dressed Baller-Männer
von Ulrich Kriest

Los Angeles 1949. Eine Stadt am Abgrund und keine rettende Fledermaus in Sicht. Der skrupellose Aufsteiger und Mobster Mickey Cohen hat die Stadt mit Gewalt an sich gerissen und schickt …

Los Angeles 1949. Eine Stadt am Abgrund und keine rettende Fledermaus in Sicht. Der skrupellose Aufsteiger und Mobster Mickey Cohen hat die Stadt mit Gewalt an sich gerissen und schickt in den ersten Minuten des Films schon mal eine Botschaft gen Chicago – als Zweiteiler. Bei der LAPD hat man sich längst damit abgefunden, bestimmte Orte als Cohen-Territorium zu akzeptieren und besser nicht zu betreten. Lieber guckt man dabei zu, wie skrupellose Zuhälter sich an der Central Station an junge, naive Starlets ranmachen, um sie der Zirkulation zuzuführen.

Alle Polizisten? Nein, Sergeant John O’Mara hält sich nicht an die Regeln der Korruption, sondern dagegen. Mit eisernen Fäusten und sehr zum Leidwesen seiner schwangeren Frau. Die dann sehr aktiv wird, als O’Mara vom Polizeichef Parker den Auftrag bekommt, eine Gangster Squad zusammen zu stellen, um als Vigilantes dem Verbrechen Widerstand entgegen zu setzen. Nein, jetzt gelten keine Dienstvorschriften mehr. O’Mara hat schnell eine schlagkräftige, ethnisch bunt gemischte Truppe von Spezialisten beisammen: der eine ist Scharfschütze, der nächste ist ein genialer Bastler – und Ryan Gosling ist ja wohl sowas von cool, dass auch Cohen Gangsterbraut Grace hingerissen ist.

Natürlich ist diese Geschichte nicht neu. Selbst Mickey Cohen sind wir im Kino bereits begegnet. Erinnern wir uns an „L.A. Confidential“, an „Mulholland Falls“ oder an „The Black Dahlia“, dann ahnen wir woher der Wind weht. Auch „Chinatown“ könnte einem noch in den Sinn kommen. Genauso ist es auch Regisseur Ruben Fleischer gegangen, der eine Art von Mash-Up dieser Filme und vielleicht auch einiger anderer archetypischer James Ellroy-Geschichten zusammengestellt hat, um der Selbstjustiz ein Hohelied zu singen. Wichtiger als Story und Atmosphäre waren Fleischer und seinem Team allerdings der edle Look ihres Films, der zudem auch noch in der schmissigen Manier eines Hard-Boiled-Comics erzählt ist.

Interessant ist, dass der Film mit James Brolin, Ryan Gosling, Giovanni Ribisi, Michael Pena, Robert Patrick, Nick Nolte und Emma Stone erstklassig besetzt ist – und mit Sean Penn in der Rolle von Mickey Cohen noch einen Trumpf in der Hinterhand hat. Die Anzüge und Hüte der Herren sehen umwerfend aus, die Frisuren der Damen auch. Die Gewaltdarstellung ist apologetisch und der Kult des Mündungsfeuers nach den jüngsten Amokläufen vielleicht etwas geschmacklos. Aber es hätte dieser Amokläufe nicht bedurft, um zu erkennen, dass es sich bei „Gangster Squad“ um einen Rechtsausleger von Film handelt, der seine reaktionäre Botschaft von Auge um Auge, Zahn um Zahn in feinstem Zwirn camoufliert vorträgt.

Lincoln

(USA / IN 2012, Regie: Steven Spielberg)

Der harte Handel
von Ulrich Kriest

Es ist gewiss kein Zufall, wenn Steven Spielberg sich ausgerechnet jetzt mit „Lincoln“ an einem Biopic des mythischen US-Präsidenten versucht. Spielberg zeigt ein zerrissenes Land im Bürgerkrieg, dessen Präsident mit …

Es ist gewiss kein Zufall, wenn Steven Spielberg sich ausgerechnet jetzt mit „Lincoln“ an einem Biopic des mythischen US-Präsidenten versucht. Spielberg zeigt ein zerrissenes Land im Bürgerkrieg, dessen Präsident mit allerlei Kniffen versucht, das bestehende Kriegsrecht und die letzten Monate des Krieges dazu zu nutzen, die Nation zu einen, indem ein künftiger Konflikt – unterschiedliche Haltungen zur Sklaverei und zur angeborenen Gleichheit im home of the brave, land of the free – antizipatorisch gelöst wird.

Oberflächlich geht es hier »nur« um die Abschaffung der Sklaverei, aber eigentlich geht es um die Geburt der Nation aus dem Geist der Debatte. Wie in einem furiosen Theaterstück mit erstklassigen Schauspielern zeigt Spielberg die endlosen Debatten um die Sklaverei im Repräsentantenhaus, die Hinhalte-Manöver und Finten, geführt mit messerscharfen, leidenschaftlichen Dialogen. Die Sache mit der Sklaverei muss vom Tisch, bevor der Krieg vorbei ist, aber dafür muss der Krieg verlängert werden. Spielbergs Film ist grandioses Diskurs-Kino, das tief eintaucht in die Seltsamkeiten der Geschichte. Gezeigt wird ein tief gespaltenes Amerika mit vielfältigen multikulturellen Wurzeln, das stolz auf seine post-koloniale Geschichte ist, in dem aber sehr unterschiedliche Uhren sehr unterschiedlich schlagen. Da treffen Aufklärer auf Rassisten, religiöse Sektierer auf eloquente Demokraten und politische Köpfe auf politische Amateure – und disputieren engagiert.

Spielbergs Zeitreise ist voller Witz und Esprit, zeigt Lincoln als eigensinnigen Kauz, der seine Umgebung mit den immer gleichen Geschichten und Anekdoten nervt, aber letztlich doch so schlau und in sich ruhend geduldig ist, um sein Projekt gegen alle Widerstände durchzusetzen. Daniel Day Lewis verleiht dem Mythos »Lincoln« sehr menschliche Züge und spielt doch einen Mythos, der gerne einmal zur Silhouette in einem unterbelichteten Film stilisiert wird. Jedenfalls lohnt sich ein vergleichender Blick auf John Fords „Der junge Mr. Lincoln“ (1939), in dem Henry Fonda Lincoln verkörperte, um die aktuelle Fallhöhe von „Lincoln“, seine „Arbeit am Mythos“ einschätzen zu können.

Trotz allem ist die Sklaverei in „Lincoln“ nur ein randständiges Thema, mit dem Politik »gemacht« wird. Hier kommt punktgenau (ausgerechnet!) Quentin Tarantino ins Spiel, der mit „Django Unchained“ einen Sklaverei-Southern gedreht hat, der an Brutalität und Wildheit wenig zu wünschen übrig lässt. „Django Unchained“ ist gewissermaßen die Pop-Antwort auf die staatstragende Reminiszenz Spielbergs. Anachronismen weisen beide Filme auf. Tarantino mischt auf bekannt eigenwillige und filmhistorisch kompetente Weise Zitate aus der Filmgeschichte („Django“) mit Zitaten aus der Literaturgeschichte (hier, ausgerechnet, die Nibelungensaga) und exorziert gewissermaßen im und durch den Blutrausch den sentimentalen Kitsch von „Vom Winde verweht“. Dafür kann man Tarantino lieben. Wie bereits bei seinem Vorgänger „Inglourious Basterds“ nutzt er die Möglichkeiten des Kinos zu einer lustvollen Korrektur der Geschichte: Sklaven mischen die Sklavenhaltergesellschaft auf. Wobei gewiss nicht jeder Zuschauer im Kino die frivole Lust Tarantinos an der Rache teilen wird. So kommentieren und ergänzen sich beide Filme wechselseitig.

„Lincoln“ beginnt mit einer Szene nach der Schlacht, als der Präsident sich von zwei afro-amerikanischen Soldaten, die auf Seiten der Union gekämpft haben, gütig seine eigene Rede vortragen lässt und zufrieden ist: „Haben Sie nach den Krieg schon etwas vor?“ Vielleicht zum Teil einer Bürgerrechtsbewegung werden? Eine Option mit Zukunft, wenn man über ein anständiges Zeit-Budget verfügte. 150 Jahre später wird ein in Honolulu geborener Rechtsanwalt „Lincoln“ als Morgengabe seiner zweiten Amtszeit erhalten. Ob Obama auch „Django Unchained“ gesehen hat/sehen wird?

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Frankenweenie

(USA 2012, Regie: Tim Burton)

Back to the Roots
von Sven Jachmann

Hätte man eigentlich erwartet, dass derselbe Regisseur, der 1996 in „Mars Attacks!“ seinen damals von Hochkarätern überquellenden Cast bereits nach wenigen Minuten von dauergrinsenden Marsmännchen reihenweise dezimieren ließ, die deshalb …

Hätte man eigentlich erwartet, dass derselbe Regisseur, der 1996 in „Mars Attacks!“ seinen damals von Hochkarätern überquellenden Cast bereits nach wenigen Minuten von dauergrinsenden Marsmännchen reihenweise dezimieren ließ, die deshalb die Erde heimsuchten, weil ihn die Erinnerung an die ähnlich gestalteten Comicfiguren auf den Kaugummibildern seiner Jugend noch als Erwachsenen verfolgte, hätte man also geglaubt, dass so ein herzensguter Sadist des Kinos und Liebhaber der noch so ranzigsten Popkultur-Erscheinungen seiner späteren Lesart von „Alice im Wunderland“ einzig quietschbunte Texturen und schauwertsfixierte Technikbegeisterung abringen würde?

So bedauerlich es mit anzusehen war, wie in Tim Burtons letzten Filmen das eigenwillige Zusammenspiel aus bedingungsloser Verbrüderung mit den gesellschaftlichen Outcasts, Neigung zum Horrorklassizismus als Geste der biografischen Verbeugung, Begeisterung für den nicht nur melancholischen sondern auch destruktiven Geist der Schwarzen Romantik und Archivierung der randständigsten Erscheinungen und Protagonist/inn/en des Phantastischen Kinos zur linkischen Formel erstarrte, auf dem Gebiet des Stop Motion-Animationsfilms bleibt er ein Zepterträger.

„Nightmare before Christmas“ (1993, Regie: Henry Selick), an dem Burton als Produzent rege mitwirkte, „Corpse Bride“ (2005, zusammen mit Mike Johnson) und nun „Frankenweenie“: Burton verwaltet erneut einen gewaltigen Fundus an (Horror-)Filmgeschichte, diesmal ist jedoch seine eigene inbegriffen. 1984, damals noch Animationszeichner für Disney und trotz der hohen Position als Concept Artist von den Produktionszuständen des Studios eher enttäuscht, schuf Burton seinen ersten, gut halbstündigen Realkurzfilm „Frankenweenie“, eine kleine Geschichte über die große Liebe eines Jungen zu seinem Hund, die über den Tod hinausgeht. Im Hause Disney zeigte man sich von der bizarren Frankenstein-Fabel not amused und versenkte das Ergebnis in den Archiven, wo der Film ein Jahrzehnt, bis zur Veröffentlichung der „Nightmare before Christmas“-Laserdisc, die ihn als Bonusmaterial enthielt, unter Verschluss blieb.

Burton konserviert und restauriert nunmehr auch sein eigenes Werk, und dass er dieses abermals von Disney budgetierte Puppentrickfilm-Remake als 3D-Produktion in, wie schon den Vorgänger, schwarz-weiß präsentiert, darf man wohl als filmgeschichtliche Verbeugung (schließlich schwamm schon Jack Arnolds „Schrecken vom Amazonas“ 1954 in 3D-Optik durch die Lagune), im Hinblick auf kommerzielle Richtlinien mindestens aber auch als nachgeholte Selbstbehauptung verstehen. Am im Kern identisch gebliebenen Plot wurde natürlich etwas geschraubt, um ihn auf 80 Minuten zu dehnen.

Inhaltlich nach wie vor eher an der Literaturvorlage denn an James Whales „Frankenstein“-Verfilmung orientiert, in der die Unschuld des Monsters ein wenig abgeschwächt werden musste, geht die Gefahr nicht im Geringsten vom exhumierten und wiederbelebten Hund Sparky aus, sondern von den bigotten Einwohnern des Suburbia-Kosmos New Holland. Dem achtjährigen Victor Frankenstein wird nicht das mad scientist-Gesetz – die Strafe für die Hybris wahlweise Gott oder die Natur auf die Probe zu stellen – zum Verhängnis, sondern nun im Speziellen eine Handvoll hinterhältiger Mitschüler. Heimlich wiederholen sie mit ihren toten Haustieren Victors Experiment, nachdem sie spitzgekriegt haben, dass er seinen vom Auto überfahrenen Hund Sparky mithilfe der rudimentären Kenntnisse aus dem Physikunterricht ins Leben zurückholen konnte. Ihre einstige Niedlichkeit lassen die mutierten Wiederkehrer jedoch arg vermissen und so überträgt sich der Frankenstein-Stoff in die Motive der monster movies der 50er Jahre.

Durch das Burtonville in „Frankenweenie“ lustwandelt man vom Universal- und Hammer-Horror zu Godzilla und zurück, ist aber schon deshalb eine Spur näher an den Vorbildern dran, weil beiden dieselben tricktechnischen Bedingungen zugrunde liegen. Zitat und Demut vor der Herkunft aus der gemeinsamen Schule reichen sich stets die Hände. Das besitzt, wie zu Burtons besten Zeiten, mal einen utopischen, mal einen gehässig-subversiven Anstrich: Vincent suspendiert nicht die Vernunft, die sich rächt, weil er, traurig über seinen Verlust, etwaige Grenzen der Naturwissenschaft überschreiten würde. Vincent reinstalliert das Kino ganz unnostalgisch als Traummaschine, indem er dem Tod ganz einfach und ohne böses Nachspiel ein Schnippchen schlägt. Sparky jedenfalls ist, abzüglich ein paar neuer Nähte auf dem Fell, fidel und gutmütig wie zu Lebzeiten, der reaktionäre Regelkanon des Genres mitsamt seinem Bestrafungskatalog ist Burtons Sache nicht. Da ist die New Holland-Gesellschaft, die das Fremde sogleich kontrollieren oder vernichten will, ein ganz anderes Kaliber. Wenn durch ihre Reihen eine (da will man dem hiesigen YPS-Relaunch glatt noch etwas abgewinnen) Gruppe wildgewordener Urzeitkrebse tobt, ist Burtons Versöhnung mit den Außenseitern endlich auch mal wieder Rache der popkulturellen Auslegeware.

Red Dawn

(USA 2012, Regie: Dan Bradley)

Nichts Neues an der Heimatfront!
von Ulrich Kriest

Gespannt sein durfte man auf dieses Remake des trivial-reaktionären Klassikers „Die rote Flut“, ist doch der Film von 1984 felsenfest im Freund/Feind-Denken einer längst obsolet gewordenen bipolaren Weltordnung verankert. Regisseur …

Gespannt sein durfte man auf dieses Remake des trivial-reaktionären Klassikers „Die rote Flut“, ist doch der Film von 1984 felsenfest im Freund/Feind-Denken einer längst obsolet gewordenen bipolaren Weltordnung verankert. Regisseur John Milius und sein Co-Drehbuchautor Kevin Reynolds hatten seinerzeit eine Invasion der USA durch Truppen aus Kuba und Nicaragua unter sowjetischer Führung fantasiert, die es einer Gruppe von Teenagern in Colorado erlaubte, ihre aus dem Vietnam-Trauma gezogenen Guerilla-Lehren subversiv einmal in der Praxis am überlegenen Feind zu erproben.

Zumindest rückblickend kann „Die rote Flut“ mit einem erstaunlichen Darsteller-Ensemble punkten. Für die Freiheit stiegen 1984 Patrick Swayze, C. Thomas Howell, Charlie Sheen und Jennifer Grey in den Ring, auch Harry Dean Stanton war damals mit von der Partie. Zudem überrascht der in jeder Hinsicht recht grob gestrickte Film durch die Volte, dass ein kubanischer Führungsoffizier Skrupel bekommt, den vom sowjetischer Oberbefehlshaber befohlenen Terror gegen die Bevölkerung zu exekutieren, weil er bislang stets auf Seiten von Unabhängigkeitsbewegungen kämpfte. Dem skrupellosen Russen war solch idelogischer Ballast egal, schon damals.

Man durfte also durchaus gespannt sein, welches Szenario das Remake entwerfen würde, um die Erfahrungen von 9/11 und den Kriegen im Irak oder Afghanistan in den bekannten Stoff zu integrieren. Doch „Red Dawn“ wurde nur halbherzig in der Gegenwart verortet: unbekümmert von realistischen Ansprüchen und jeder intellektuellen Anstrengung abhold, hat der Second Unit-Regisseur Dan Bradley nun tatsächlich nur eine fade Kopie des Originals abgeliefert. Nur, dass die Invasoren diesmal aus Nordkorea kommen und sich folglich den US-amerikanischen Nordwesten statt des Mittleren Westens ausgesucht haben.

Dort in der Provinz scheint das Leben stehen geblieben zu sein und kreist noch immer um Football und Familie. Angeführt von einem Ex-Marine mit Irak-Erfahrungen verwandeln sich auch 2012 weiße Middleclass-Teenager auf rasante Weise in opferbereite Guerilleros, die zwischen dem Ballern und Bomben markige Reden schwingen über ererbte Freiheit, die man zu verteidigen lernen muss. Einmal heißt es sehr schön, dass dieses Stück Land für die Invasoren nur „some place“, während es für die patriotischen Kids immerhin die Heimat sei. Ihr Partisanenkampf folgt der einfachen Strategie, die Okkupation für die Besatzer so blutig zu gestalten, dass ein Abzug der Truppe alternativlos sei. Derlei prägnante Oneliner sind mit einem unmissverständlichen Score unterlegt, der keinen Zweifel aufkommen lässt, dass hier mit keiner Ironie zu rechnen ist. Derart unverfroren wird hier mit rassistischen Untertönen – Verräter und Kollaborateure sind Afro-Amerikaner oder Menschen mit einem Rest von demokratischem Selbstverständnis – einem autoritären, anti-demokratischen Führerprinzip nebst bewaffneter Selbstverteidigung das Wort geredet, dass man „Red Dawn“ als filmische Antwort der Waffenlobby auf die jüngsten Massaker in den USA interpretieren möchte.

Für die jugendliche Zielgruppe – in den USA erhielt der Film ein „PG-13“ – wurde diese Geschmacklosigkeit mit ein paar Liebeständeleien und etwas Bruderzwist angereichert, vielleicht auch, um von den unterirdischen Darstellerleistungen abzulenken. Ursprünglich, der Film wurde bereits 2009 gedreht, war übrigens eine Invasion der Chinesen geplant gewesen, aber nachdem sich in China Proteste gegen diese Option regten, wurde im Verlauf der Post-Production auf Nordkorea umgestellt. Was immerhin dem Geist dieses Films entspricht: allem Freiheitspathos zum Trotz folgt die Ideologie der Ökonomie.

The Impossible

(ESP / USA 2012, Regie: Juan Antonio Bayona)

Dabei sein ist alles!
von Louis Vazquez

Ob Porno, Horror- oder Katastrophenfilm: Film ist grundsätzlich auf die Schaulust der Zuschauer angewiesen. Umso interessanter, wenn ein Werk als „true story“ verkauft wird, denn wie die Ejakulation im Porno …

Ob Porno, Horror- oder Katastrophenfilm: Film ist grundsätzlich auf die Schaulust der Zuschauer angewiesen. Umso interessanter, wenn ein Werk als „true story“ verkauft wird, denn wie die Ejakulation im Porno sollen ja auch die inszenierten Gefühle wirklich so stattgefunden haben, was die Anteilnahme verstärken dürfte. Nachdem der Vorspanntext von „The Impossible“ ein paar Eckdaten zum verheerenden Tsunami vom 26.12.2004 in Erinnerung gerufen hat, der weit über 200 000 Menschen in Südostasien das Leben kostete, verschwinden nach und nach alle Worte von der Leinwand, bis nur noch die Beteuerung der Wahrhaftigkeit übrig bleibt. Eine seltsam energische Beschwörung von Echtheit, die zunächst nur kurz irritiert. In den folgenden zwei Stunden bestätigt sich allerdings die dumpfe Vorahnung, dass hier noch aufdringlicher als üblich mit großen, wahren Gefühlen hausiert wird.

„The Impossible“ erzählt vom Schicksal einer Touristenfamilie: Maria (Naomi Watts) und Henry (Ewan McGregor) verbringen mit ihren drei Söhnen Weihnachten in einem thailändischen Ferienresort. Der Tsunami reißt die Familie auseinander. Maria, Henry und die Kinder irren in zwei Gruppen durch die zerstörte Landschaft, verpassen sich einmal knapp und haben am Ende das Glück, sich wieder in die Arme schließen zu können.

Man könnte glauben, der Titel des Films sei im Bewusstsein gewählt worden, dass die Darstellung einer realen Katastrophe, die noch nicht allzu lange zurückliegt, gewisse Probleme bereitet und sich deshalb bei der Inszenierung womöglich die Frage gestellt hat, was denn wie darzustellen wäre. Vielleicht hat man darüber nachgedacht, an welchen Stellen man distanziert bleibt, welche Ereignisse man verfremdet, abstrahiert oder besser gar nicht zeigt. Doch der Film zeugt nicht eben davon, sondern setzt ganz und gar auf Affekterzeugung durch naturalistisches Re-enactment, mit erstklassigen Effekten und vielen nachgeweinten Tränen. Regisseur Juan Antonia Bayona, bekannt vor allem für seinen Schauerfilm „Das Waisenhaus“ (2007), versteht sein Handwerk vor allem wenn es um emotionale Thrills geht. Wie er das Beben und die herannahende Welle inszeniert, zeigt deutlich, dass er bei Spielberg (und vermutlich Emmerich) sehr genau hingeschaut hat. Wann es aber reicht mit dem Spektakel, das weiß er nicht, und deshalb fühlt man sich als Zuschauer bald nicht mehr überwältigt, sondern für dumm verkauft. Denn dass man auch ohne visuelle Steilvorlagen und aufdringliche Musik Mitgefühl entwickeln kann, scheint der Film nicht recht zu glauben und geht lieber auf Nummer sicher – doppelt und dreifach.

Mit subjektiven Bildern und dem entsprechenden Sounddesign rückt er dicht an die Opfer, die unter Wasser gedrückt werden. Er zeigt, wie das Geröll einem Kinderkörper blutige Wunden reißt, weil man sich das ja sonst offenbar nicht vorstellen kann. Das immerhin halbwegs schlüssige Konzept der Subjektivierung wird aber schnell wieder aufgeweicht, weil man unter Wasser leider nichts von der Welle sieht, die die Effektspezialisten doch so täuschend echt nachempfunden haben. Deshalb saust die Kamera immer wieder nach oben und fängt die Attraktion per Top Shot ein, sodass in Sachen Überwältigung keine Wünsche offen bleiben dürften. Hier wird das Unmögliche möglich gemacht.

Das Martyrium der Menschen – sprich: Touristen, denn Thais dürfen hier zwar als Helfer auftreten, stehen aber vor allem für ein Organisationschaos – zeigt der Film lieber etwas ausführlicher und gönnt immer noch einen zweiten, besser sogar dritten Blick auf die Details – etwa eine Wunde oder das Blut, das aus ihr ins schlammige Wasser spritzt. Gut gespielt werden die Angst und die Schmerzen noch dazu, sodass Naomi Watts sich womöglich einen Oscar erschrien und erwimmert hat. Sollte den drastischen Bildern indes die Hoffnung auf eine besondere dokumentarische Qualität zugrunde liegen, so scheitert dieser Anspruch an der Dramatisierung der Ereignisse. „The Impossible“ wirkt auf unerträgliche Weise melodramatisch, zugespitzt und so vereinfacht, dass die „wahre Geschichte“ zur Legitimation starbesetzter Exploitation verkommt. Dass der Film aus einer spanischen Familie Engländer macht um der besseren Vermarktung willen – geschenkt. Aber kam tatsächlich erst ein Touristenjunge auf die Idee, im Krankenhaus mit einer Namensliste durch die Zimmer zu gehen, um Vermisste wieder mit ihren Familien zusammen zu bringen, weil die Thailänder beim Krisenmanagement dermaßen überfordert waren? Möglicherweise ist diese Episode schon nicht mehr so true, aber schön gefühlig zu erzählen, und so wird die Geschichte zur Schmonzette, für die es kein Echtheitszertifikat gebraucht hätte, es sei denn, um ein wenig fester auf Tränendrüsen drücken zu können. Katastrophenfilmfans aber können aufatmen: Um sie zu versöhnen, wird der Alptraum einer Figur prompt als Gelegenheit genutzt, die Ankunft der Welle später im Film noch einmal in aller Pracht zu zeigen.

„The Impossible“ zeugt von Talent und Beflissenheit in den technischen Mitteln, ist aber ohne Maß und Bedacht inszeniert und wird deshalb zum perfekten Surrogat für Katastrophentouristen. Filmischer Realismus und Überwältigung können manchmal eben das grundfalsche Konzept sein.

Yossi

(ISR 2012, Regie: Eytan Fox )

Eine Liebe erblüht
von Dietrich Kuhlbrodt

Das Sequel zum Militärfilm „Yossi und Jagger – eine Liebe in Gefahr“ (damaliger Verleihtitel). Vor zehn Jahren hatte der Film Aufsehen erregt: eine schwule Liebe zwischen Oberleutnant Yossi und Leutnant …

Das Sequel zum Militärfilm „Yossi und Jagger – eine Liebe in Gefahr“ (damaliger Verleihtitel). Vor zehn Jahren hatte der Film Aufsehen erregt: eine schwule Liebe zwischen Oberleutnant Yossi und Leutnant Jagger, beide im Waffenrock und in Feindesland (Libanon). Der Darsteller des jungen Jagger war damals Teenieschwarm gewesen. Leider hatten die heißen-Küsse-im-kalten-Schnee ein jähes Ende gefunden, als im Libanon eine libanesische Mine explodierte.

Yossi (Ohad Knoller), um gefühlte Jahrzehnte gealtert, ist 2012 Oberkardiologe, aber von damals schwer traumatisiert. Mürrischer Single (Eigenbrötler). Abends macht er sich Nudeln und holt sich vor dem Monitor einen runter. Ein Fehler beim Sten-Einsetzen am offenen Herzen! Sauerstoff! „Patient, hören Sie mich??“ – Wir sind im Arztfilm der TV-Serien, aber das wird sich ändern.

Dem Yossi wird vom Chef eine Auszeit verordnet. Im Liegestuhl am Roten Meer liest er Thomas Mann, Tod in Venedig. Schon wird er von einem hübschen Boy angemacht, Tom (Oz Zehavi). Der junge Soldat urlaubt dort mit seinen Kameraden. Er, jünger als der leider tote Jagger, umgarnt und umgirrt den Älteren. Wenn dieser Mahler hört, weiß der Junge, dass es sich um Gustav handelt. Zwischen denen muss es was werden.

Es hilft ein nächtliches Nacktbad sowie eine Nacht im Hotelbett. „Wir bleiben hier für immer“, sagt der Kardiologe. Auf der unterhaltsamen Tonspur wird von Zwölfjährigen geschwärmt: „Twelve years old in your mamas clothes“. Auch ertönt der Song „Men of Israel“ sowie „Love Boy“ und „Will you love me tomorrow“, und aus ist der Film. „Yossi – eine Liebe erblüht“ müsste der Verleih ihn betiteln.

Aus dem Arztfilm vom Anfang ist eine schwule Schmonzette im Stil von Wie-angle-ich-mir-einen-Millionär geworden. Dazu gehört die Macho-Perspektive auf Jungs, die nichts anderes wollen, als an den Mann zu kommen. Schade eigentlich für den kleinen Soldaten, der als offen Schwuler in seiner Heteroclique super eingebunden ist. Die Cliquenszenen sind schauspielmäßig das Beste am Film. Sie geben immerhin dem Dialog die Gelegenheit, das Heimlichgetue von „Yossi und Jagger – eine Liebe in Gefahr“ zu revidieren. Die einladende Botschaft im Sequel heißt: „Die Armee akzeptiert jetzt Schwule'.

“Yossi“ ist Altmännerphantasie-vorm-Monitor – plus eingestreute deutsche Hochkultur. Die schlicht gestrickte TV-Dramaturgie und die platten Dialoge lassen das Filmende nicht nur voraussehen, sondern – sorry, Tom, natürlich bist Du schwer attraktiv! – geradezu ersehnen.

PS. Bin ich zu streng? Vermies ich Tom-Tadzios bezauberndes Spiel, einen verblockten alten Mann in Wallung zu bringen? Oder hab ich nicht wahrgenommen, dass der junge Soldat sich dienstleistend eines psychisch Geschädigten annimmt? – Antwort: all das und noch viel mehr könnte sein. „Yossi“ stellt jedoch keine Fragen. Yossi geht’s nur um Yossi.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret

Spring Breakers

(USA 2013, Regie: Harmony Korine)

Ficken, kotzen, Regeln brechen
von Dietrich Kuhlbrodt

Den Film zu gucken, ist ein krasses Rezeptionsabenteur. Er mutet zunächst als Collegefilm-ohne-College an. Einmal im Jahr schwärmen US-Amerikas Jungstudenten aus, um die Sau rauszulassen. In Florida. Ficken, ficken, fixen. …

Den Film zu gucken, ist ein krasses Rezeptionsabenteur. Er mutet zunächst als Collegefilm-ohne-College an. Einmal im Jahr schwärmen US-Amerikas Jungstudenten aus, um die Sau rauszulassen. In Florida. Ficken, ficken, fixen. Alk, Alk, Alk. Drogen, Drogen, Drogen. Kotzen, kotzen, kotzen. Regeln brechen (Das hatten wir auch mal. Aber die Regeln waren politische gewesen, und einen Bibelgürtel hatten wir nicht gehabt. Keinen richtigen jedenfalls). Was wir im Film sehen, ist eine brutale Funmaximierung. Bis zum Gehtnichtmehr.

Vier Mädchen machen sich auf nach Florida. Geld für die Reise? Ist nicht da. Was tun Fun-Süchtige? Pussy-Riot-Stoffmasken überziehen, Waffen in die Hand nehmen, einen Laden überfallen, randalieren, Geld abgreifen und den Fluchtwagen abfackeln.

Jubel! Ultimativer Spaß! Und dann der Sonnenuntergang in Florida. Mann! Ja, um Männer geht’s den Girls. Vielleicht mal ein feuchter Kuss zwischen Frauen, aber das kennt man ja. Was machts. Es geht zum Dreier. Beim Sonnenuntergang. Im Wasser. Der Fick ist züchtig, weil Regisseur Harmony Korine auf eine Unterwasserkamera verzichtet. Er hat irgendetwas vor mit seinem Film. Was? Die Dialoge fangen an zu nerven, so banal und dürftig wie sie sind. Sie wiederholen sich. Die Szenen wiederholen sich. Sie werden immer platter. Keine Außenaufnahme, ohne dass hinten die Sonne untergeht. Gefühlte Hundertmal (das muss eine Schweinearbeit gewesen sein, wie soll das gehen, wenn, wie üblich beim Filmedrehen, ein Take wiederholt werden soll?).

Hat Harmony eventuell Takes nicht wiederholt? Gut möglich. Denn viele Szenen muten dokumentarisch an. Und tatsächlich hat der Film bei Außenaufnahmen Zuschauer in turbulente Szenen einbezogen. Das fördert den authentischen Effekt der Fun-Explosion. Fun-Implosion wäre der bessere Ausdruck. Bloß dass der Film sich hütet, eine Botschaft zu verkünden. Er beschränkt sich strikt auf das Zeigen. Von Britney Spears ist die Rede. Aber das führt auch nicht weiter. Die Spears reduziert sich auf fun-mit-Sonnenuntergang.

Der Film endet mit dem Zerfall der 4-Mädchen-Gruppe. 2 fahren frustriert in Bussen-ohne-Sonnenuntergang nach Haus. 2 lassen sich von Macho-Gangsta James Franco (ex Spider Man; jetzt Silberzähne und Rastalocken) anheuern. Das sind die Zwei, die ihn zum Schluss abknallen – total cool. Tot liegt er auf der Fun-Brücke. Ende? Nö. Neue Version.

Er macht die Augen auf. Er guckt den Frauen nach. Die Kamera wird subjektiv. Sie sieht die Funmeisterinnen auf dem Kopf weggehen. – Da kommt filmästhetische Freude auf, gell? Momentmal, videoästhetische, wollte ich sagen. Und, ehrlich, macht es nicht Spaß, allmählich, beim Verfertigen der Filmwahrnehmung, eine spielfilmlange Hiphop-Ästhetik zu rezipieren? Bei Youtube sind die Dinger 6 oder 9 Minuten lang. Hier aber 90 Minuten. Und außerdem kann man mit gehörigem Rezeptions-Spaß das Entstehen dieser Ästhetik verfolgen.

Ich sah es jedenfalls mit Vergnügen, wie die Filmhandlung (das Narrative) ihre dominante Rolle verliert und Platz macht für allerlei Mutwillen, mit dem, was Kamera und Ton bieten können, zu spielen. Korine war, so sagt er, zum Initiationsritus nie nach Florida gefahren. Er war skater kid in New York gewesen, dort mit Skater-fun voll abgefüllt.

Mit „Spring Breakers“ hat er ein Rezeptionswunder geschaffen. Alle Voraussagen, auch meine, gehen dahin, dass der Film fiftyfifty als geile Fleischbeschau genossen werden wird (die Mädchen stehen nachts vor einer gelb beschienenen Mauer auf der Straße. In neongelben Bikinis. Links die Reklame von 'Cleaners': Free pick up and delivery). Oh Mann, ist das ein Ding. – Die andere Hälfte der Zuschauer wird in der Fun-Implosion eine Entlarvung des amerikanischen (natürlich des neoliberal gewollten) Konsumwahns sehen, der alles beseitigt, was nicht den Marktgesetzen dient. – Ich finde, es grenzt an ein Wunder, einen Film so doppelkompatibel hinzukriegen. In Venedig bekam er 2012 den Publikumspreis.

Ein Einzelfilm als Film, vielleicht. In der Musikvideoszene ist das kipplige Spiel nichts Außergewöhnliches. Meine Lieblingsgruppe HGich.T (heut geh ich tot) treibt ihr Spiel mit denen, die ich jetzt Grownup Breakers nennen müsste, – also mit denen, die die Regeln des Erwachsenwerdens genussvoll brechen. Macht das Spaß, in der Hauptschuhle (sic) Klopapierrollen ins Klo zu stopfen. Oh Mann, hätte ich auch machen können, damals. Ich könnte den Spaß jetzt nachholen. Aber der Spaß ist doch gänzlich sinnfrei! – Ja eben, er ist die pure Aufsässigkeit des Fünfzehnjährigen gegen gutes Benehmen.

Warum erzähl ich das jetzt? Weil es das kontinentaleuropäische Gegenbeispiel für die Exzesse des Florida-Funs in den USA ist. Die angebliche Aufsässigkeit der sogenannten Spring Breakers ist system- und konsumtechnisch gewollt. Die boys and girls bedienen sich der Angebote des Funmarkts und lassen sich ausnehmen.

Stimmt das aber, was ich behaupte? Jedenfalls dann, wenn man 'Infinite Jest' / 'Unendlicher Spaß' liest. Ich bin inzwischen auf Seite 904 angelangt und überzeugter Fun-Kritiker. Der Roman bringt die Marktgesetze des unendlichen Spaßes ins Spiel, ohne markige Worte und mitnichten explizit. An der Tennisakademie gucken die Jungs auch mal nach Kontinentaleuropa, Rat suchend. Oder gleich nach Kanada, wo es unendlich spaßig ist, vor einem heranfahrenden Zug die Beine auf die Gleise zu legen. Wer sie als letzter wegnimmt, hat gewonnen – und vielleicht die Beine ab. Dann gesellt er sich zur Terrorgruppe der Rollstuhlfahrer. Zu den Fun-Terroristen.

Aber das führt jetzt zu weit. In 'Spring Breakers' sind wir im Vorstadium. Hier ist es noch das Fun-System, das die Alleinherrschaft ergriffen hat. Und zwar indem es raffinierte, freilich auch übertriebene Verführungskunst entfaltet. Die vier Girls in aufreizenden Posen, in saugeilen Bikinis, dich frech fixierend, sie sind die Hingucker. Sie sind es für den Mann Harmony Korine! Hallo, Werbung! Hallo, Vorabendserie! Übrigens waren zwei der Girls vorher (bei Disney) Prototypen der Sittsamkeit, des korrekten American Girl – und nun das, der Bruch. Und ebendas gehört zum genialen Spiel des Films, über den Sprung hinaus, die Codes der Correctness zu brechen – nicht durch Behauptungen, sondern durch Hypercodierung.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 3/2013

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

The Sessions – Wenn Worte berühren

(USA 2012, Regie: Ben Lewin)

Die Eroberung der Sexualität
von Wolfgang Nierlin

Der amerikanische Journalist und Dichter Mark O’Brien (John Hawkes) lebt in seinem Kopf. Wegen einer Polio-Erkrankung ist der fast vollständig bewegungsunfähige Enddreißiger permanent auf fremde Hilfe angewiesen. Vor allem muss …

Der amerikanische Journalist und Dichter Mark O’Brien (John Hawkes) lebt in seinem Kopf. Wegen einer Polio-Erkrankung ist der fast vollständig bewegungsunfähige Enddreißiger permanent auf fremde Hilfe angewiesen. Vor allem muss der im kalifornischen Berkeley lebende Universitätsabsolvent, dessen Muskeln nicht arbeiten, viele Stunden des Tages in einer sogenannten Eisernen Lunge liegen, die ihm beim Atmen hilft. Doch trotz dieser schweren Behinderung besitzt Mark einen äußerst wachen Geist und eine feine Ironie, die ihm eine gewisse Reflexionsdistanz erlauben. Mit seiner „dynamischen Stimme“ in einem „schlaffen Körper“ klebe er „an der Unterseite der Existenz“. Als „zutiefst gläubiger Mensch“ und Katholik, der regelmäßig seinen Beichtvater Brendan (William H. Macy) aufsucht, glaube er „an einen Gott mit Sinn für Humor“. Wenn eingangs von Ben Lewins tragikomischem Film „The Sessions – Wenn Worte berühren“ eine an seinem Gesicht streifende Katze einen Juckreiz bei ihm auslöst, sagt, seine innere Stimme in beschwörenden Wiederholungen: „Kratz mit deinem Geist!“

Es ist diese aus dem Off erzählende Stimme, die von der Kraft der Phantasie angesichts des Ungleichgewichts zwischen Körper und Geist spricht; und die dem Film zugleich seine dichte Struktur gibt, indem sie in fließenden Übergängen ins On der Dialoge wechselt, unter denen die Beichte maßgeblich ist. Dieses leichtfüßige narrative Gleiten bewirkt immer wieder fast unmerkliche Sprünge in Zeit und Raum und implementiert so der authentischen Geschichte einen fiktionalen Flow. Denn der selbst im Alter von sechs Jahren an Kinderlähmung erkrankte Ben Lewin hat sich für sein Drehbuch zum Film neben Mark O’Briens ungewöhnlichem Leben vor allem von dessen Aufsatz „Treffen mit einer Ersatzpartnerin“ (On Seeing a Sex Surrogate) inspirieren lassen.

Diese Sitzungen mit einer Sexualtherapeutin (Helen Hunt), in denen Mark nach langen Jahren der Abstinenz endlich seinen Körper und seine Sexualität entdeckt, bilden den emotionalen Kern des Films. In Entsprechung zu Marks Direktheit, seiner Liebessehnsucht und seinen erwachenden sexuellen Wünschen inszeniert Lewin ungezwungen und mit natürlicher Offenheit Cheryls „Körperbewusstseinsübungen“. Behutsam und in kleinen Schritten hilft die zwischen beruflicher Reflexion, gespielter Lust und tatsächlichem Gefühl changierende Therapeutin ihrem Klienten Mark, seine kostbare Sexualität und damit auch körperliche „Vollständigkeit“ zu erfahren. Dafür muss der gelehrige Schüler, der zuvor die Erlaubnis des Priesters einholt, zunächst Angst- und Schuldgefühle überwinden. Dass die Eroberung der Sexualität auch für Nichtbehinderte nicht immer einfach und normal ist, zeigt der Film – quasi spiegelbildlich dazu – in kleinen, organisch eingefügten Streiflichtern. Die Verbindung von Sex, Imagination und Gefühl führt Mark O’Brien schließlich zu jener Liebe, die sein befreundeter Priester als eine Reise bezeichnet und die mit der „Vorahnung eines Seelenschmerzes“ verbunden ist.

Der Geschmack von Rost und Knochen

(F 2012, Regie: Jacques Audiard)

Visuelle Drastik
von Wolfgang Nierlin

Ali (Matthias Schoenaerts) ist ganz in der Gegenwart und im Körper verankert. Direkt und ohne Umschweife geht er aufs Leben los. Seine animalische Kraft und unbändige Energie verlangt nach einem …

Ali (Matthias Schoenaerts) ist ganz in der Gegenwart und im Körper verankert. Direkt und ohne Umschweife geht er aufs Leben los. Seine animalische Kraft und unbändige Energie verlangt nach einem spontanen Ausdruck. Dabei reagiert er völlig instinktiv, unkompliziert und auf seine Weise klar. Dass er in seinem Fühlen unsensibel, naiv und mitleidlos erscheint, gehört ebenso zu diesem Charakter wie sein furchtloses, gewalttätiges Handeln. Ali ist einer jener hartgesottenen Typen, die ihr Leben als permanenten Kampf führen, als bewegten sie sich durch die Gesellschaft wie durch eine rohe, wilde Natur. Sein Mangel an ziviler Anpassung führt zu einer permanenten Verletzung der sozialen Grenzen und Codes, in die er eingeschlossen ist, ohne sie zu reflektieren. Ali ist wahr, tabulos und ungezwungen, weil sein Körper die Regeln nicht kennt.

Eingangs von Jacques Audiards Film „Der Geschmack von Rost und Knochen“ („De rouille et d’os“), einem ziemlich forcierten Liebes- und Sozialdrama, sieht man ihn zusammen mit seinem 5-jährigen Sohn Sam von Belgien aus an die Côte d’Azur reisen. Die beiden trampen, fahren im Zug, ernähren sich von Abfällen und mittels kleiner Diebstähle. Audiard filmt Bewegungen, akzentuiert den Atem und lässt die Körper sprechen. Bei Alis Schwester Anna angekommen, entfaltet der Film einen sozialen Raum aus miesen Wohnverhältnissen, schlecht bezahlten Jobs, Beziehungslosigkeit und elterlicher Vernachlässigung. Physisch direkt und mit musikalischem Kleister, der die Suggestionen markant dosiert, inszeniert Audiard Alis Neuorientierung. Bald darauf lernt dieser als Türsteher einer Diskothek mit Namen „L’annexe“ die attraktive Stéphanie (Marion Cotillard) kennen, die in eine Schlägerei verwickelt ist.

Stéphanie trainiert im Marineland von Antibes Orca-Wale. Doch die erste Szene, die sie bei der Arbeit zeigt, kulminiert gleich in einer schrecklichen Katastrophe, bei der sie beide Unterschenkel verliert. Auch im weiteren Verlauf der Erzählung arbeitet der französische Filmemacher immer wieder mit dramatischen Zuspitzungen, denen man nicht immer folgen will und deren Deutlichkeit oft von visueller Drastik flankiert wird. Nach dem Schock legen sich bei Stéphanie nur langsam schmerzliche Trauer und Entsetzen. Depressiv und einsam meidet sie das Licht, bis ausgerechnet Ali sie wieder in Kontakt bringt mit dem Leben. Er ermuntert sie zum Baden im Meer, begleitet sie in die Disco und beginnt mit ihr ganz unkompliziert, aber zunächst auch unverbindlich eine sexuelle Beziehung.

Offen und ungefiltert kontrastiert Jacques Audiard immer wieder Stéphanies Behinderung mit der sie umgebenden Realität und thematisiert dabei Vertrauen, Lebensmut und Versöhnung, die selbst noch den Wal einschließt. Doch bevor Ali, der in brutalen Kampfspielen seine Natur auslebt und dabei „dazuverdient“, die Flucht vor seinen Gefühlen aufgeben kann, muss er in der Logik des Films erst selbst zu einem Versehrten werden. Audiard strapaziert auf ambivalente Weise die Metapher der menschlichen Bestie, die nur gezähmt Heilung erfahren kann und dadurch zur Integration fähig wird. Die Mittel des Überwältigungskinos sind dabei seine nützlichen Assistenten.

Das Wochenende

(D 2012, Regie: Nina Grosse)

Familienaufstellung
von Dietrich Kuhlbrodt

Aufarbeitung der RAF-Vergangenheit in der Familie. Eine politische Familienaufstellung mit der Prominenz von Film und Fernsehen (Koproduzent ZDF). RAF-Mann Sebastian Koch verlässt nach 18 Jahren den Knast und nimmt in …

Aufarbeitung der RAF-Vergangenheit in der Familie. Eine politische Familienaufstellung mit der Prominenz von Film und Fernsehen (Koproduzent ZDF). RAF-Mann Sebastian Koch verlässt nach 18 Jahren den Knast und nimmt in einem ehemaligen Gutshaus Platz, jetzt edles Ferien- und Landhaus von Barbara Auer, gelegen im brandenburgischen Zerlow (Filmförderung Berlin-Brandenburg). Dort findet sich seine Ex ein, Katja Riemann, mit ihrem Neuen, Tobias Moretti, sowie sein Sohn, der äußerst aggressive Robert Gwisdek. Begrüßen können wir dort auch den alten Genossen Sylvester Groth und den reizenden Teenager Elisa Schlott.

Im gepflegten Landhaus sitzt die Familie zu Tisch und zofft sich. Die Dialoge sind ausgefeilt und gewichtig. Zwischen den Sätzen herrscht Stille. Nein, vage Klaviertöne füllen die Pausen, auch ein wenig Cello. Es wird bedeutsam. Ein Kammerspiel. Draußen schwärmen ständig Vögel hinweg. Was soll uns das sagen? Auf Erden Zoff, im Himmel Harmonie?
Identifizieren können sich sicherlich Riemann-Fans mit Riemann und so weiter. Aber auch mit der Rolle, die sie verkörpert? Steht die Prominenz im Weg? Egal. Wir wären dann in einem Starfilm. Sind wir aber am „Wochenende“ nicht. Problem: die Riemann kann sich nicht entscheiden zwischen Moretti und Koch. Exknacki Koch gefällt ihr vielleicht als verbiesterter Macho, der nichts weiter will, als sich an dem Mitglied der RAF-Familie zu rächen, das ihn damals verpfiffen hat. Wird ihm das gelingen? Wird dem Film gelingen, diese Frage für spannend zu halten? Beide Fragen sind schlussendlich zu verneinen. Katja Riemann entscheidet sich in den letzten Filmminuten. Sie entscheidet sich für sich, verlässt die Familie und geht ihres Weges; und der Zuschauer, denke ich, tut es ihr nach. Hallo, es funktioniert! Abspann!

Nun ist es nicht so, dass der Film im Upperclass-Ambiente nicht Atmosphäre, gar politische Einsicht vermittelt. RAF-Mann Koch muss sich anhören: Du bist heute Pop! Oder die Gegenthese: Ihr wart alle Killer! – Das gibt doch zu denken! Und dann liefert Sohn Gwisdek sogar blutige Action. Autoaggressiv gibt er der Fahrstuhlwand Kopfnüsse. Ich denke, so denkt einer, der in Berlin „politisch aktiv in der linken Szene“ ist, an seinen Vater. Sowas kommt von so was. Ist doch so. Kein Wunder, dass der junge Gewalttäter während der Familienaufstellung die Hand des Alten ergreift und auf den heißen Grill drückt, dass es nur so zischt. So sind eben die Linken. Andererseits muss man bedenken, dass vom RAF-Kampf heute durchaus was zu gebrauchen ist, denn „der Kapitalismus kollabiert“. – Recht so! Aber Nina Grosse (Regie und Buch) baut zum Ausgleich dann doch lieber eine ausführliche und körpernahe Sexszene ein. Zwischen Riemann und Koch. Hinkucker? Wegkucker? Muss jeder Zuschauer selbst entscheiden.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 4/2013

Hannah Arendt

(D / F / LUX 2012, Regie: Margarethe von Trotta)

Gespenst mit Schnupfen
von Wolfgang Nierlin

Der Kontrast von Licht und Dunkelheit als Zeichen der Suche nach Aufklärung bestimmt den Prolog von Margarethe von Trottas neuem Film „Hannah Arendt“: Der Lichtkegel einer Taschenlampe, die nach der …

Der Kontrast von Licht und Dunkelheit als Zeichen der Suche nach Aufklärung bestimmt den Prolog von Margarethe von Trottas neuem Film „Hannah Arendt“: Der Lichtkegel einer Taschenlampe, die nach der Verhaftung des Kriegsverbrechers Adolf Eichmann durch den israelischen Geheimdienst Mossad auf einer Landstraße in der Nähe von Buenos Aires liegen bleibt; die aufleuchtende Flamme des Feuerzeugs, an dem sich die kettenrauchende Titelheldin ihre Zigarette anzündet; und die Lichter des nächtlichen New York, wo die jüdische Emigrantin eine neue Heimat gefunden hat und als Philosophie-Dozentin an der New School lehrt. Nach ihrer Flucht aus dem französischen Internierungslager Gurs sei ihr Amerika wie ein Paradies erschienen, sagt Hannah Arendt (Barbara Sukova) einmal zu ihren Studenten. Eine gewisse Unbeschwertheit und ein leichter Tonfall kennzeichnet dann auch die ersten Szenen des Films: Etwa die ironischen „Frauengespräche“ mit der Schriftstellerin Mary McCarthy (Janet Mc Teer), die immer wieder von der Sekretärin Lotte Köhler (Julia Jentsch) wegen eingehender Telefonate unterbrochen werden; das neckische Liebesgeflüster mit ihrem sinnlich-vitalen Ehemann Heinrich Blücher (Axel Milberg); oder auch die von angeregten Diskussionen bestimmten Hausgesellschaften des „Tribe“.

Stets steht die resolute Hannah Arendt unaufdringlich, aber nachdrücklich im Zentrum der Aufmerksamkeit dieses Portraitfilms, der titelgemäß die ganze Person meint und sich dafür auf einen Abschnitt ihres Lebens konzentriert. Dieses gewinnt dadurch eine schöne Plastizität. Als 1961 in Jerusalem der Prozess gegen Eichmann beginnt, reist Arendt als Berichterstatterin für den „New Yorker“ nach Israel. Was sie dort eindringlich beobachtet und später im gewissenhaften Studium ganzer Aktenberge von Gerichtsprotokollen analysiert, ist das eklatante Missverhältnis zwischen dem vorgeblichen Monster Eichmann im Glaskäfig, den traumatischen Zeugenaussagen der Opfer und der offensichtlichen Mittelmäßigkeit des Angeklagten. Dieser stellt sich dar als Bürokrat und gehorsamer Befehlsempfänger, als „Teilchen des Ganzen“ und als Gesetzestreuer ohne Schuld- und Verantwortungsgefühl. Nie habe er persönlich einen Juden verletzt. „Eichmann ist kein Mephisto“, sagt Arendt zu ihrem jüdischen Freund und Mentor, dem Zionisten Kurt Blumenfeld (Michael Degen), sondern „ein Gespenst mit Schnupfen“ und einer „grauenvollen Amtssprache“. Diese Unfähigkeit, sich durch Denken als kohärente, verantwortliche Person zu begreifen, kulminiert schließlich in jenem berühmt gewordenen Satz von der „Banalität des Bösen“.

Eine solche Vermenschlichung der ungeheuerlichen NS-Verbrechen, verbunden mit der tabuisierten Frage nach der Mitverantwortung der Judenräte, stößt nach der Veröffentlichung der Artikelserie „Eichmann in Jerusalem“ auf erbitterten Widerstand, offene Feindschaft und hasserfüllte Verleumdung. Margarethe von Trotta zeigt in diesen Passagen eine unbedingte Denkerin und kämpferische Frau, die sich der vorherrschenden Meinung nicht beugt, mit ihren Kontrahenten spannende Rededuelle führt und in einer ebenso mitreißenden wie bewegenden Rede vor Studenten und Professoren (von Kamerafrau Caroline Champetier und Cutterin Bettina Böhler hervorragend dynamisiert) ihre Sicht der Dinge verteidigt. Dieser unbeugsame Wille, durch leidenschaftliches Denken dem Verstehen näher zu kommen, bezieht die Regisseurin in wenigen, prägnanten Rückblenden auf Hannah Arendts Begegnung mit dem Philosophen Martin Heidegger (Klaus Pohl), der zu ihrem Lehrer und Liebhaber wird. „Denken ist ein einsames Geschäft“, doziert dieser. Es führe weder zu Wissen noch zu notwendigem Handeln. Dass Heidegger nach dem Krieg in einer Begegnung mit Arendt keine Erklärung für seine nationalsozialistische Verstrickung findet, macht diese Sätze so brisant. Denn der dunkle Schatten des Mitläufertums legt sich damit von der anderen Seite her eben auch auf den denkenden Menschen.

Marina Abramovic: The Artist Is Present

(USA 2012, Regie: Matthew Akers)

Performance-Kriegerin
von Wolfgang Nierlin

“Künstler müssen Krieger” sein, sagt die 1946 in Belgrad geborene Partisanen-Tochter und Performance-Künstlerin Marina Abramovic. Durch eine enorme Konzentrationsleistung, die dem schwachen Fleisch des Körpers geistige Stärke und Ausdauer entgegensetzt, …

“Künstler müssen Krieger” sein, sagt die 1946 in Belgrad geborene Partisanen-Tochter und Performance-Künstlerin Marina Abramovic. Durch eine enorme Konzentrationsleistung, die dem schwachen Fleisch des Körpers geistige Stärke und Ausdauer entgegensetzt, arbeitet sie mit „kommunistischer Disziplin“, so die serbische Performerin selbstironisch, an einer Veränderung des Bewusstseinszustandes. Indem sie sich innerlich „leer macht“ und „ganz auf die Gegenwart“ fokussiert, verschmelzen im öffentlichen Raum der Performance Kunst und Leben, wird die dabei erfahrene Zeit teilbar. Immer wieder rückt dabei der Körper, seine Nacktheit und Verletzlichkeit ins Zentrum. Dieser wird gewissermaßen zum Synonym für den dünnen Firnis der Zivilisation. Vor allem ihre „Relation Works“, die sie in den 1970er Jahren zusammen mit ihrem seelenverwandten Lebens- und Arbeitsgefährten Ulay realisierte, handeln auf verstörende Weise von dieser Grenzverletzung. Bewegungslos, stumm und fastend dokumentieren diese Performances nicht nur extreme Körperzustände, sondern auch spirituelle Kraft.

Als Konzentrat, Verdichtung und Zuspitzung dieser Erfahrungen lässt sich ihre Performance „The Artist Is Present“ verstehen, die sie vom 14. März bis zum 31. Mai 2010 im New Yorker Museum of Modern Art im Rahmen einer Werkschau und unter enormem Publikumsandrang aufführte. In dem fast mönchisch anmutenden Setting aus zwei Holzstühlen und einem Tisch (der später weggenommen wird) sitzt Marina Abramovic in einem wallenden, zwischen den Farben Rot, Blau und Weiß wechselnden Kleid täglich sieben Stunden, um mit ihrem intensiven Blick zum Spiegelbild für die jeweiligen Gegenüber zu werden; wobei sie diese mit jeweils gleicher, respektvoller Aufmerksamkeit betrachtet. Die Künstlerin fungiert auf diese Weise als Projektionsfläche für die Gefühle derjenigen, die ihren Blick suchen. Entsprechend emotional reagieren viele der Besucher, die in der Begegnung mit Abramovics Blick auf sich selbst zurückgeworfen werden.

Matthew Akers‘ Dokumentarfilm, der unter gleichlautendem Titel diese Performance sowie die monatelangen Vorbereitungen dazu dokumentiert, zeigt den merkwürdigen oder angesichts des Hypes auch bezeichnenden Kontrast zwischen theatralischem Spektakel und meditativer Versenkung, die beim faszinierten Publikum immer wieder aufmerksames Staunen und geradezu kathartische Reaktionen auslöst. Abramovic schaffe einen „charismatischen Raum“ und „visualisiere die Zeit“, erläutert Kurator Klaus Biesenbach dazu. Die Geschichte dieser oft schmerzlichen Body Art, verbunden mit Abramovics künstlerischem Werdegang, wird in zahlreichen historischen Filmschnipseln streiflichtartig beleuchtet, wobei die Zusammenarbeit mit Ulay einen gewissen Schwerpunkt bildet. Doch Akers geht es weder um Analyse noch Vertiefung oder gar kritische Distanz. Sein rasant montierter, teilnehmender und mit vielen Interview-Häppchen garnierter Film, der zudem von minimalistischer Musik in Endlosschleife unterlegt ist, zielt eher darauf, durch Nähe zum Gegenstand die künstlerische Suggestion zu verstärken. Der Mensch hinter der Kunst gewinnt dadurch nur wenig Kontur. Aber vielleicht muss man Abramovics Performance „The Artist Is Present“, wie Biesenbach meint, als Selbstportrait einer in die Welt verliebten Künstlerin betrachten.

Das schlafende Mädchen

(D 2011, Regie: Rainer Kirberg)

Potenziell lehrreich
von Louis Vazquez

Filme, die fingiertes „Found Footage“ präsentieren, findet man seit geraumer Zeit vor allem im Horrorgenre, auch wenn gelegentlich ein origineller Superheldenfilm („Chronicle“), ein Komödienversuch über eine eskalierende Facebook-Party („Project X“) …

Filme, die fingiertes „Found Footage“ präsentieren, findet man seit geraumer Zeit vor allem im Horrorgenre, auch wenn gelegentlich ein origineller Superheldenfilm („Chronicle“), ein Komödienversuch über eine eskalierende Facebook-Party („Project X“) oder ein inkonsequent umgesetztes Polizeidrama („End of Watch“) dazukommen. Schade, dass ein Großteil der aufs Genre eingeschworenen Filmegucker wohl eher nicht auf „Das schlafende Mädchen“ aufmerksam werden wird, zumal das Label „Künstlerporträt“ sich für manche Ohren womöglich sogar abschreckend anhört. Dabei ist der Film alles andere als sperrig, sondern vielmehr höchst unterhaltsam und dazu eine ziemlich eindringliche Erfahrung.

„Das schlafende Mädchen“ spielt Anfang der 1970er Jahre im Umfeld der Düsseldorfer Kunstakademie und gibt sich konsequent als Videoprojekt des Beuys-Schülers Hans (Jakob Diehl) aus. Hans erforscht mit Hilfe des neuen Mediums den Raum, rückt sich immer wieder selbst ins störungsanfällige Schwarzweißbild und inszeniert sich. Er reflektiert und hinterfragt in experimentellen Sequenzen das Wesen der Kunst und diskutiert bei laufender Kamera mit seinem besten Freund Philipp (Christoph Bach) darüber. Mal ist die Kamera im Raum platziert, mal wird sie von Hans geführt, sodass seine Stimme nur aus dem Off zu hören ist. Und plötzlich entwickelt sich sogar eine Geschichte: Bei einer Aufnahme im Stadtpark gerät Ruth (Natalie Krane) ins Bild. Sie scheint im Park zu leben und weckt sofort Hans’ Interesse. Bald wird sie ihm zur Muse und zur Geliebten, zum Motiv und zum Kunstprojekt. Sie blüht dabei zunächst auf und beginnt, an der Akademie als Aktmodell zu arbeiten – was Hans freilich für keine so gute Idee hält. Auch mit Philipp versteht Ruth sich gut und sie wird immer unabhängiger von Hans, der selbst abends in der Disco nicht von seiner Arbeit, d.h. der Kamera, lassen kann. Er deutet Ruths Entwicklung als Flucht und Selbstbetrug: Für ihn soll sie doch bitteschön das verirrte Mädchen aus dem Wald bleiben und nicht zum „Glamour-Girl“ werden. Um sie in seine nicht mehr angemessene Vorstellung zu zwingen, wird Hans so manipulativ und verzehrend wie der Blick seiner Kamera, deren Einsatz längst einen obsessiven Charakter hat.

Rainer Kirberg, ehemals selbst Kunststudent in Düsseldorf, dürfte Cineasten vor allem wegen seines Films „Die letzte Rache“ (1980) ein Begriff sein, der die Ästhetik expressionistischer Stummfilme evozierte, gleichzeitig aber NDW-Stücke musicalartig in seine phantastische Erzählung einbettete – eine wohl einzigartige Begegnung. Auf den ersten Blick scheint „Das schlafende Mädchen“ visuell weniger auffällig, doch dieser Eindruck trügt. Hans, der hier an die Stelle des Filmemachers tritt, erweist sich schnell als ziemlich begabter und einfallsreicher Selbst- und Welterforscher – mit dem entsprechenden Hang zum Wahnsinn. Das Material hat er, so suggerieren achronologische Montagen später, zumindest zum Teil bereits in seinem Sinn arrangiert. Die Kamera entpuppt sich dabei auch als Machtinstrument eines autoritären Charakters, sodass neben zärtlichen und komischen Momenten dann doch auch der Horror ins Spiel kommt, wenn die Beziehung zu Ruth sich zwischenzeitlich zum grausamen Zweikampf entwickelt. Mit scheinbarer Leichtigkeit balanciert der Film die verschiedenen Elemente seiner Erzählung. So wird das fiktive Video-Relikt und Zeitdokument zum Künstler- und Kunstporträt und gleichermaßen zur Geschichte einer Amour Fou.

„Das schlafende Mädchen“, der bereits auf der Berlinale 2011 zu sehen war, ist ein ungewöhnlicher, bereichernder Film, der trotz seiner radikalen Form nie aufdringlich konstruiert wirkt, und der – obwohl potenziell lehrreich – nie didaktisch daher kommt. Dass die Figuren eindringlich, aber stets mit dem nötigen Maß gespielt werden und hier nichts manieriert oder affektiert wirkt, ist auch keine Selbstverständlichkeit. Gewiss einer der interessantesten deutschen Filme, die dieses Jahr zu sehen sein werden – in viel zu wenigen Kinos.

Crazy Horse

(F / USA 2011, Regie: Frederick Wiseman)

Kurven-Ballett
von Wolfgang Nierlin

Das Spiel der Verführung, als Kunst der erotischen Inszenierung verstanden, hat auf der Varieté-Bühne des berühmten Pariser Nachtclubs Crazy Horse eine lange Tradition. Seit der Gründung des legendären Revue-Theaters im …

Das Spiel der Verführung, als Kunst der erotischen Inszenierung verstanden, hat auf der Varieté-Bühne des berühmten Pariser Nachtclubs Crazy Horse eine lange Tradition. Seit der Gründung des legendären Revue-Theaters im Jahre 1951 durch seinen langjährigen Leiter Alain Bernardin wird hier die Verfeinerung sexueller Lust zelebriert. „Paroxysme“, „Désir“ oder auch ganz gewöhnlich „Baby Buns“ lauten etwa die frivolen Titel der einzelnen Programmteile. Tanzende junge Frauen mit makellosen Körpern bedienen im Crazy Horse sehr freizügig typische Männerphantasien, indem sie Geschichten erzählen von Lust und Begierde, leidenschaftlicher Liebe, Unterwerfung und Befreiung. Sie sind rivalisierende Raubkatzen im Käfig, Astronautinnen des Begehrens, Fische in einem illuminierten Aquarium, von schweren Seilen umschlungene Gefangene oder aber Soldatinnen der Erotik, die in Reih und Glied und Gleichschritt ihr Publikum erobern.

Das Besondere dieser erotischen Kurzgeschichten liegt aber in der visuell eindrucksvollen Inszenierung, die den geheimnisvollen Wechsel zwischen Nacktheit und Verhüllung in ein Spiel aus Licht, Farben und Formen verwandelt. Die Körper und ihre synchronen oder auch symmetrischen Bewegungen werden auf diese Weise modelliert und überhöht. Andererseits sorgen komplizierte Spiegeleffekte und reizvolle Schattenspiele für eine regelrechte Zerstückelung des weiblichen Körpers in seine erotischen Bestandteile. Der zerlegende Blick des Voyeurs wird so vorweggenommen, durch Prismen und optischen Täuschungen multipliziert und zugleich wieder aufgehoben. Dann verwandeln sich die kreisenden Körper entweder in ein obszönes Kurven-Ballett oder aber in abstrakte Landschaften aus Erhebungen und Vertiefungen.

In sehr ausführlichen Filmausschnitten dokumentiert der amerikanische Filmemacher Frederick Wiseman in seinem neuen Film „Crazy Horse“ diese gewagten und zugleich künstlich unterkühlten Inszenierungen. Wie schon in „La danse – Das Ballett der Pariser Oper“ blickt er aber auch hier hinter die Kulissen und zeigt mit scheinbar neutralem Blick die Arbeit der Techniker und Bühnenarbeiter, der Kostümbildner und der künstlerischen Leitung. Wir werden zu Teilnehmern von Proben, einem rigoros körperzentrierten Bewerberinnen-Casting, das die Natur der Sache mit der Würde der Frauen kontrastiert, und den engagierten Diskussionen des Choreographen Philippe Decouflé, der für Neuerungen kämpft. Geradezu intim wird der Blick, wenn wir den Frauen beim Frisieren, Schminken und Ankleiden zusehen können. Wiseman zeigt das kommentarlos, verzichtet dabei auf Interviews oder herausgehobene Einzelportraits, als verschwände er als Autor hinter seinem Material. Keiner bestimmten Absicht scheint sein Wechsel zwischen Vorder- und Hintergrund, Bühne und Kulisse, drinnen und draußen zu folgen. Er zeigt und beobachtet, was ist und wählt doch aus. Und so lösen sich aus dem a-chronologischen Strom der Bilder und in Analogie zu den fragmentierten Frauenkörpern immer wieder Details, die sich an anderer, späterer Stelle in ein größeres, flächigeres Bild, einen lineareren Zusammenhang einfügen.

Un amour de jeunesse

(F / D 2011, Regie: Mia Hansen-Løve)

Sommer der Liebe
von Wolfgang Nierlin

„Für mich zählt nur die Liebe. Sie ist der einzige Grund zu leben“, sagt die 15-jährige Schülerin Camille (Lola Créton) zu ihrem um ein paar Jahre älteren Freund Sullivan (Sebastian …

„Für mich zählt nur die Liebe. Sie ist der einzige Grund zu leben“, sagt die 15-jährige Schülerin Camille (Lola Créton) zu ihrem um ein paar Jahre älteren Freund Sullivan (Sebastian Urzendowsky), der gerade sein Studium abgebrochen hat. Dieses Ausschließlichkeitsgefühl des ungewöhnlich ernsten Mädchens, das davon völlig absorbiert ist, steht in einer permanenten Spannung zu dem Freiheitsdrang des verspielten, noch suchenden Jungen und macht die leidenschaftliche Liebe der beiden fragil. Während Camille alle Gedanken auf ihre Sehnsucht nach Gleichklang und Symbiose richtet und jede Störung als Zeichen der Untreue interpretiert, besteht Sullivan auf ein eigenes Leben und auf eigene Erfahrungen. Für ihn ist noch alles Anfang und im Fluss, er flieht die Form und das Fertige. Als er im September des Jahres 1999, nach einem Sommer der Liebe und des getrübten Glücks, zu einer längeren Südamerika-Reise aufbricht, stürzt Camille in eine Krise. Ihr melancholisches Wesen verwandelt sich in Schwermut, ihr Kummer in Lebensüberdruss.

Man muss Mia Hansen-Løves Film „Un amour de jeunesse“ körperlich erfahren, sich seiner melancholischen Grundstimmung hingeben und sich von ihm mitnehmen lassen durch den Raum und die Zeit der Jugend, die er beschreibt. Offenheit und Bewegung sind dementsprechend die Merkmale von Hansen-Løves fast beiläufig und absichtslos wirkender Inszenierung. Ihr dynamischer Stil mit seinen schnellen Schnitten, Perspektivwechseln und Ellipsen versetzt alles in einen Fluss. Im Wechsel der Jahreszeiten vergehen so fast zehn Jahre, werden die dunklen Wintermonate in der Stadt von lichten, duftenden Sommern auf dem Land abgelöst. Alles ist Veränderung, nur wahrnehmbar in der Rückschau dieser Erzählung im Präteritum. In genau beobachteten oder hervorgehobenen Details verschieben sich die Gewichte, wechseln Stimmung und Atmosphäre und verwandelt sich Melancholie in Nostalgie.

Camilles Coming-of-age-Geschichte bleibt dabei das Zentrum: Wie sich nach einem Selbstmordversuch der Schmerz langsam von ihr ablöst, ohne ins Vergessen abzurutschen; wie sie sich während ihres Architekturstudiums vorsichtig in ihren Dozenten Lorenz (Magne-Håvard Brekke) verliebt und schließlich, behutsam und kontinuierlich, eine neue Perspektive auf ihr Leben gewinnt. Widersprüche und Zufälle sind dabei ihre stetigen Begleiter, ebenso eine grundsätzliche Einsamkeit, die sie nie ganz verlässt. Die „Form eines Schimmers“ entspringe der Dunkelheit, doziert Lorenz. Und: „Du musst dein Leben selbst gestalten, um du selbst zu werden.“ Als Camille nach Jahren Sullivan wiederbegegnet, der sich kaum verändert hat, ist die alte Liebe schnell neu entflammt: „Ich habe dich in mir wie eine Krankheit“, gesteht Camille. Doch am Ende dieses schönen Films treibt ihr Sommerhut, den sie einst von Sullivan geschenkt bekommen hat, verloren auf jenem Fluss (nämlich der Loire), der Camilles Vergangenheit mit ihrer Gegenwart verbindet. Dazu singen Johnny Flynn und Laura Marling den dunkel schimmernden Song „The water“: „All that I have is a river/The river is always my home.“

Das Venedig-Prinzip

(D 2012, Regie: Andreas Pichler)

Stadt als Beute
von Ricardo Brunn

Es ist ein Bild von monumentaler Größe: Ein überdimensionales Kreuzfahrtschiff schiebt sich langsam wie ein Raubtier auf Beutefang, in die Flucht einer beschaulichen Gasse Venedigs und überragt die zierlich schiefen …

Es ist ein Bild von monumentaler Größe: Ein überdimensionales Kreuzfahrtschiff schiebt sich langsam wie ein Raubtier auf Beutefang, in die Flucht einer beschaulichen Gasse Venedigs und überragt die zierlich schiefen Häuser der historischen Stadt; fast so, als würde es diese jeden Moment zermalmen. An Bord des Liners tummeln sich Urlauber, die in einem Stakkato die Welt bereisen, ohne genau zu wissen, in welchem Land sie gerade sind und die die Reise erst viel später und anhand der geschossenen Fotos rekonstruieren. Und es gibt immer mehr von diesen „Take-away-Touristen“, wie sie ein Venezianer an einer Stelle von Andreas Pichlers Dokumentarfilms „Das Venedig Prinzip“ nennt. So viele, dass die Reedereien in Zukunft noch größere Schiffe mit noch mehr Passagieren in die Lagunenstadt befördern wollen, in der schon jetzt täglich so viele Touristen durch die engen Gassen flanieren, wie es noch Einwohner gibt.

Dieses Bild des einlaufenden Schiffes beherrscht den gesamten Film. Umgekehrt würde man vom Schiff aus wahrscheinlich eine traumhafte Anfahrt auf die romantischste Stadt der Welt erleben. Und es sind gerade diese Blicke, mit denen der Film spielt, die er immer wieder verkehrt und vergleicht um Kontraste herauszuarbeiten, ohne dabei auf die Postkartenmotive zurückzugreifen, die jeder kennt. So treibt der Film ein zauberhaftes Spiel mit den Gegensätzen, die diese Stadt lähmen.

Zum Beispiel der Immobilienmakler, der uns durch eine Geisterstadt führt und Wohnungen zeigt, die er, aufgrund der maroden Bausubstanz, eigentlich nicht verkaufen könnte und für seine Kunden doch in schwärmerischen Worten beschreiben muss, während draußen romantisierte Pärchen in der Gondel vorüberfahren, von den schönen Häusern schwärmen und von „echten“ Italienern ein Ständchen gesungen bekommen, – die im Anschluss in tristen Räumen den durchschnittlichen Touristen beschreiben und das Spiel mit ihm entlarven.

Auf diese Weise nutzt der Film seine Protagonisten geschickt, um von den Träumen zu erzählen, von denen Venedig lebt und die deshalb um jeden Preis aufrecht erhalten werden müssen. Doch die Träume der Besucher sind alles, was der Stadt noch bleibt, denn die jungen Leute ziehen aufs Festland, weil die Mieten steigen und im Umkehrschluss die Läden und Märkte schließen, da ihnen die Kundschaft fehlt. Wer keine Gondel, keinen Souvenirshop oder kein Hotel besitzt, hat keine Überlebenschance in diesem historischen Vergnügungspark, wie ein Bewohner der Stadt, der den Touristen stattdessen ein Foto mit sich anbietet, ironisch vor Augen führt.

Mehr von dieser direkten Auseinandersetzung hätte dem Film sicher gut gestanden, allein schon um dem ewigen Untergangsmythos Venedigs, dem auch der Film allzu gern verfällt, entgegenzuwirken. Die Stadtverwaltung, der die Hände gebunden zu sein scheinen oder die bereitwillig wegschaut und die Perspektive der Tourismus-Konzerne, die in Venedig Millionen verdienen, bleiben außen vor. Vieles überlässt der Film dem Zuschauer, zum Beispiel auch an all die Kunstschätze zu denken, die langsam ins Meer erodieren. Auch erste Erfolge der Bürger im Kampf gegen den Ausverkauf der Stadt blendet der Film aus. Stattdessen gibt es romantisch-apokalyptische Bilder des alljährlichen Acqua alta, welche noch einmal die Bedrohungslage Venedigs verdeutlichen sollen, mit der die Stadt schon immer Geld verdient hat.

Durch diesen riskanten Verzicht gelingt es dem Film jedoch, das beschriebene Prinzip, der Titel deutet es an, universeller zu erzählen und auf andere Städte übertragbar zu halten, deren Innenstädte ebenfalls langsam ihrer Bewohner entledigt werden, um Platz zu machen für die 'Barbaren' (wie eine betagte Protagonistin die Touristen im Film nennt), die dann nur für einen Tag kommen oder ihre teuer gekauften Wohnungen nur an Weihnachten nutzen. In Venedig tritt dieses allgemeine und mittlerweile sich immer weiter verselbstständigende Prinzip des Ausverkaufs eines globalisierten Turbotourismus nur am deutlichsten zu Tage und bietet so, wie nebenbei, die eindrucksvollsten Gegensätze.

Beasts of the Southern Wild

(USA 2012, Regie: Benh Zeitlin)

Philosophie des Fleisches
von Wolfgang Nierlin

Für die kleine, kindlich-weise Erzählerin Hushpuppy (Quenzhané Wallis) ist es „der schönste Platz der Welt“. Dabei sind die Lebensbedingungen in „Bathtub“, einer Bayou-Siedlung im Süden Louisianas, alles andere als anheimelnd: …

Für die kleine, kindlich-weise Erzählerin Hushpuppy (Quenzhané Wallis) ist es „der schönste Platz der Welt“. Dabei sind die Lebensbedingungen in „Bathtub“, einer Bayou-Siedlung im Süden Louisianas, alles andere als anheimelnd: Hier leben die Menschen in primitiven, heruntergekommenen Bretterbuden im gesellschaftlichen Abseits; sie sind verarmt und schlecht ernährt, umgeben von Wasser, Schrott und Dreck; und schon der nächste Sturm, der drohend über dieser Existenz aufzieht, könnte das wenige zunichte machen. Doch die täglichen Härten scheinen die verwegenen Bewohner gegen alle Unbill imprägniert zu haben. Wirklich hässlich sind für das 6-jährige Mädchen aber die Industrieanlagen jenseits des großen Damms, der von Hushpuppy als „Mauer“ und „Grenze“ bezeichnet wird. Damit ist zugleich der Antagonismus zwischen trockener und feuchter Welt benannt, den Benh Zeitlin und das Künstlerkollektiv Court 13 in der Einleitung ihres wild wuchernden Films „Beasts oft he Southern Wild“ als Hommage und Loblied auf die ausgelassene Lebenslust, pure Vitalität und unbändige Fröhlichkeit der „Bathtubianer“ inszenieren.

Doch nach dem Freuden-Feuerwerk kommt der Sturm, den Zeitlin als Vorbote einer globalen Umweltkatastrophe und Ausdruck einer „kaputten Welt“ versteht. Im Universum hänge alles miteinander zusammen, sagt Hushpuppy. Schon die kleinste Störung des Gleichgewichts könne zu irreparablen Schäden führen. Allerdings thematisiert Benh Zeitlin weder eine verfehlte Umweltpolitik noch zeigt er sich angesichts der amerikanischen Klassengesellschaft und dem eklatanten sozialen Gefälle zwischen Reichen und Armen als Kapitalismuskritiker – was man durchaus bedauern kann. Stattdessen akzentuiert er in seiner magisch-surrealen Endzeitvision einen ebenso bildgewaltigen wie kruden Sozialdarwinismus, eine Art Philosophie des Fleisches, die vom Recht des Stärkeren, vom Fressen und Gefressen-Werden bestimmt ist. Sehr amerikanisch nimmt sich darin als eine Art Selbstermächtigungsphantasie die Zucht zur Härte für den permanenten Überlebenskampf aus.

Denn darum geht es vor allem im Verhältnis der kleinen Hushpuppy zu ihrem zähen, aber herzkranken Vater Wink (Dwight Henry), einer unerschütterlichen Kämpfernatur. Selbst nach den Verwüstungen des Sturms behauptet er gegen das Offensichtliche, „alles unter Kontrolle“ zu haben. Entsprechend impft der unnachgiebige Erzieher seiner Tochter den notwendigen Überlebenswillen und den Mut zur Selbständigkeit ein. Zeitlin positioniert in seiner Bewunderung für die „zähesten Menschen Amerikas“ seine ebenso eigensinnigen wie aufrechten Protagonisten am Rande der Gesellschaft, ja beschreibt diese als einen wilden Stamm, der sich der Zivilisierung und Eingliederung widersetzt.

Bei aller Sympathie für unbeugsame Außenseiter, die auf ihrer Selbstbestimmung beharren, erscheint Zeitlins biologistische „Du bist ein Tier“-Weltsicht mit ihren ganzheitlichen Implikationen, gemessen an den sozialen Realitäten und ihren Erfordernissen, als politischer Eskapismus. Und auch wenn sein überbordendes, von märchenhaften Übertreibungen und phantastischen Zuspitzungen wimmelndes Bilder-Kino, das mit Laiendarstellern an realen Schauplätzen entstand, eigenwillig und echt, unverfälscht und unabhängig erscheint, so besitzt es doch auch jene, nicht zuletzt emotionalen Produktionswerte des Mainstreamkinos, die für beruhigende Wiedererkennbarkeit und Identifikation sorgen.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Anna Karenina

(GB / F 2012, Regie: Joe Wright)

Ironische Operette
von Wolfgang Nierlin

Russisches Kaiserreich 1874. Ein Vorhang öffnet sich und gibt den Blick auf eine Bühne frei. Hier wird Theater gespielt. Doch eigentlich ist auch das Theater Fiktion, denn das Publikum ist …

Russisches Kaiserreich 1874. Ein Vorhang öffnet sich und gibt den Blick auf eine Bühne frei. Hier wird Theater gespielt. Doch eigentlich ist auch das Theater Fiktion, denn das Publikum ist aus Pappe, die Musik kommt aus dem Off und der Raum, von wechselnden Kulissen imaginiert, erstreckt sich über die Bühnenränder hinaus. Seine wechselnden Rahmen und Staffellungen verlagern das Geschehen zuweilen hinter die Bühne, unter das Volk auf dem Schnürboden oder auch ins Freie. Diese doppelte Distanzierung in Joe Wrights Literaturverfilmung „Anna Karenina“ macht aus Tolstois berühmtem Ehe- und Gesellschaftsroman zunächst eine ironische Operette im Walzertakt. En passant versetzt die gleitende Kamera das Schauspiel in Tanz, wechselt dabei wie im Flug Schauplätze und sorgt auf diese Weise für eine enorme Verdichtung von Raum und Zeit. Die Inszenierung arbeitet gewissermaßen gegen die Illusion, löst aus den Ehegeschichten den Rohstoff und blickt zugleich auf die Historie.

Die Theatralisierung, die sich darstellerisch in übersteigerten dramatischen Gesten und lustvoll stilisierten Choreographien Bahn bricht, schafft aber auch die Verwandlung. Bezaubernd, phantasievoll und nahe am Kitsch zitiert sie die Opulenz des Kostümfilms als einen verführerischen Rausch von Farben und Formen, kleidet Keira Knightley in herrliche Kostüme oder lässt ihr schönes Gesicht durch geheimnisvolle Schleier funkeln. Daraus resultiert ein intensives Kino der Blicke und Gesten, die das Begehren regelrecht zelebrieren und dabei dramatisch verdichten. In einer der diesbezüglich eindrucksvollsten Szenen, auf dem Höhepunkt des Ballabends, wenn sich die Gefühle und Körper entscheiden, lässt die Montage eines beschleunigten Reißschwenks zwischen den Protagonisten ihre Gesichter in Liebe und Enttäuschung, Hoffnung und Angst förmlich erstarren.

Einerseits darf der Schürzenjäger Oblonsky sagen: „Romantische Liebe ist die letzte Illusion der alten Ordnung.“ Der Gutsbesitzer Konstantin Levin widerlegt hingegen diesen Satz, indem er das alte Ideal unter Zweifeln und Anfechtungen noch einmal durchdekliniert. Für das ehebrecherische Paar Anna und den Grafen Vronsky gilt wiederum: „Für uns gibt es keinen Frieden, sondern nur Verzweiflung oder vollkommenes Glück.“ Unter den ächtenden Blicken der Gesellschaft, die jede moralische Verfehlung mit gnadenlosem Ausschluss straft, vollzieht sich das Drama einer zerstörerischen Liebe, die sich der gesellschaftlichen Konvention wiedersetzt, eher als schleichende Krankheit denn als Exzess. Sie habe nicht nur „das Gesetz gebrochen, sondern die Regel“, sagt einmal der betrogene Staatsbeamte Karenin (Jude Law) zu seiner untreuen Frau Anna. Seine Gottesfürchtigkeit, sein stilles Leiden und seine Fähigkeit zur Vergebung spielen eine wesentliche Rolle in Joe Wrights ästhetisch vielschichtiger Adaption des russischen Literaturklassikers.

Schlussmacher

(D 2013, Regie: Matthias Schweighöfer)

Der Rest ist Schweiger
von Ulrich Kriest

Ein Mann mit einer Mission. Paul Voigt begegnet wildfremden Menschen, um diesen zu erzählen, dass sie das große Los gezogen haben. Sie sind jetzt nämlich wieder solo und können sich …

Ein Mann mit einer Mission. Paul Voigt begegnet wildfremden Menschen, um diesen zu erzählen, dass sie das große Los gezogen haben. Sie sind jetzt nämlich wieder solo und können sich mal wieder so richtig austoben. In Zeiten, in denen die Geschäfte von Hochzeitsplanern gut gehen, ist es nur eine Frage der Zeit und der Phantasie, sich auch die wahrscheinlich etwas unangenehmere Dienstleistung vorzustellen. Paul ist ein Schlussmacher: im Auftrag seiner Agentur fährt er durch die Lande, beendet Beziehungen, verteilt ein kleines Trostpflästerchen und gibt schulterklopfend launig ein paar Tipps zur Krisenbewältigung. Aalglatt, professionell – und immer ein Lächeln auf den Lippen. Paul ist sehr erfolgreich in seinem Job, er steht kurz vor der tausendsten Trennung – und damit vor einem Karrieresprung.

Keine Frage: Matthias Schweighöfer hat sich bei seiner zweiten Regiearbeit erneut eine Rolle auf den Leib geschneidert. Spielte er in „What a Man“ noch den gebrochenen, beziehungsscheuen, nicht mehr ganz jungen Macho, der lernen muss, dass man sich als Mann nicht ändern muss, sondern lieber auf die richtige Frau wartet, so spielt er hier den traumatisierten, bindungsscheuen, nicht mehr ganz jungen Macho, der lernen muss, dass Liebe nichts für Feiglinge ist. Auch sonst gilt: Never change a winning team! Der Erfolg von „Schlussmacher“ an den Kinokassen scheint auch diesmal ausgemacht, denn Schweighöfer hält sich geradezu mimetisch an die sexistisch-sentimentalen Erfolgsformeln aus dem Hause Schweiger: hält man sich mit seinen Ansprüchen in Sachen Humor, Originalität und Handwerk etwas zurück, ist kommerziell erfolgreiches Unterhaltungskino hierzulande keine Zauberei.

„Schlussmacher“ erzählt von Pauls Lehrjahren des Gefühls, denn der ist seit der Trennung seiner Eltern traumatisiert, hält Abstand zu anderen Menschen und zahlt Gefühle nur in kleiner Münze aus. Sehr zum Bedauern seiner höchst attraktiven und ausgesprochen geduldigen Freundin Nathalie, die sich gar nicht zu wundern scheint, was für einen seltsamen Job Paul hat. Doch dieser Job ist natürlich eine Comedy-Steilvorlage: Wenn Paul die unfrohe Botschaft zumeist überraschend für sein Gegenüber vorbringt, ist Situationskomik die Regel. Da bestreitet die Cholerikerin schon mal cholerisch eine Cholerikerin zu sein und schlägt die Wohnung kaputt. Auch Thorsten, genannt Toto, reagiert auf die von Paul vorgetragene Botschaft seiner Freundin Katharina fassungslos, hält sich für ein Opfer der »Versteckten Kamera«. Doch dann will er sich, verzweifelt, umbringen – und nun hat Paul ein echtes Problem: einen Kindskopf mit großem Herzen an der Backe.

Wie es sich für ein Buddy Movie gehört, geht das ungleiche Paar auf eine Reise quer durch die Republik, deren pittoreske Locations zugleich Existenz- und Arbeitsbescheinigungen diverser Filmförderungsanstalten sind. Am Ende der Reise soll es Paul zum Teilhaber seiner Agentur gebracht haben. Reine Routine! Doch mit Toto im Gepäck ist an Routine nicht mehr zu denken; das Leben wird zu einem Abenteuerspielplatz voller »lustiger« Episoden. Wobei der Zuschauer schon ein ausgeprägtes Faible für abgedroschene Klischees, aufdringliches Product-Placement, abgestandenen oder pubertären Humor wie Furz-Witze oder Haarewaschen in der Toilettenschüssel, missglückte oder verschenkte Zitate aus transgressiven Hollywood-Komödien und Witze über Schwule, Lesben und fettleibige Frauen mitbringen sollte, um auf seine Kosten zu kommen.

Es gilt: Humor ist, wenn man trotzdem lacht, nicht mit, sondern über die Figuren, zumal das Team Schweighöfer und Milan Peschel (Toto) vor der Kamera durchaus funktioniert (allerdings scheinen die Sunny Boy-Manierismen Schweighöfers mittlerweile bloß noch routiniert und eindimensional: er spielt immer für die Galerie) und all die derben, teilweise strunzdoofen Scherze ja ohnehin nur die Zeit verkürzen, bis der Film die erwartbare sentimentale Keule auspackt. Wir erinnern uns: „Liebe ist nichts für Feiglinge!“ Toto, der nicht nur eine Nervensäge, sondern auch eine Seele von Mensch ist, bringt diese Formel ins Spiel und knackt damit die nur scheinbar harte Schale des alerten Geschäftsmanns Paul. Am Schluss heißt es dann mit John Paul Young besänftigend „Love is in the Air!“ und der miese Job in der Trennungsagentur ist Geschichte.

„Schlussmacher“ ist Dudelfunk auf der Leinwand, sein Publikum insgeheim oder auch mal geradeheraus verachtend und so ambitions-, lieb- und leidenschaftslos, als sei er im Autopilot-Modus gedreht worden, montiert aus Einfällen, die sich in den vergangenen vierzig Jahren auf dem Fußboden des Schneideraums angesammelt hatten. Dass er ein Erfolg mit Ansage werden wird, ist nur ein Symptom der Krise.

Blank City

(USA 2010, Regie: Céline Danhier)

Live fast, film fast!
von Andreas Thomas

„I belong to the blank generation and I can take or leave it each time …” sang 1977 Richard Hell mit den Voidoids, zur Zeit der Initialzündung des Punk. Und …

„I belong to the blank generation and I can take or leave it each time …” sang 1977 Richard Hell mit den Voidoids, zur Zeit der Initialzündung des Punk. Und diese “Blank Generation” lebte in jener “Blank City”, dem heruntergekommenen New York der mittsiebziger Jahre, in abbruchreifen Häusern, die man z.B. noch zum Teil in Filmen wie „Taxi Driver“ oder „Permanent Vacation“ bewundern kann, Jim Jarmuschs erstem Spielfilm, in dem ein junger Mann meditativ durch Abbruchhalden schlendert. Jarmusch ist neben Susan Seidelman („Susan … verzweifelt gesucht“) oder Vincent Gallo („The Brown Bunny“) einer der wenigen übriggebliebenen bekannten Filmemacher aus der sogenannten „No Wave“-Zeit, und neben Amos Poe, John Waters oder Lydia Lunch kommentiert er für den Dokumentarfilm „Blank City“ von Céline Danhier unzählige Filmschnipsel, Ausschnitte aus zumeist Super8-Filmen oder Konzertausschnitte von Bands wie den Voidoids oder James Chance and the Contortions, denn die Darsteller und Regisseure in den Filmen konnte man seinerzeit auch genauso in einer Band finden, frei nach dem Motto: „Gitarre spielen kann ich auch nicht, also gründe ich eine Band.“

No Wave war eine radikale und einflussreiche künstlerische Bewegung, die sich zwar auf New York beschränkte, deren Wirkungsgeschichte sich aber bis heute nachvollziehen lässt. Ihre Wurzeln gehen auf Dada und Surrealismus zurück, sind nicht denkbar ohne William Burroughs oder Bob Dylan, in Andy Warhol und den Aktivitäten seiner „Factory“ bündeln sich ihre künstlerische Vorbilder; auf musikalischem Terrain standen sicherlich u.A. The Velvet Underground für das Pate, was sich Mitte der Siebziger in New Yorker Clubs wie dem relativ kleinen CBGB’s ereignete, wo sich plötzlich eine Häufung unbekannter, genialer Musiker begegnete: Blondie spielte nach Patti Smith, oder die Talking Heads vor den Ramones. Auf filmischem Gebiet orientierte sich die No Wave-Clique, in der quasi jeder mit jedem zu tun und zu arbeiten hatte, an John Cassavetes, dem „Erfinder“ des „Independent-Films“, sowie an den improvisierten Schmalfilmen von Andy Warhol, in denen jeder ein Star sein konnte, und die darauf achteten, dass darin niemand irgendwem vormachen wollte, er sei ein Schauspieler …

Musikalisch, cineastisch, gesamttkünstlerisch aber war die No-Wave-Bewegung wild entschlossen, der breiten und etablierten (Pop- und Kunst-)Kultur ihrer Epoche den Rücken zu kehren, und, wie alle wichtigen Strömungen in der Kunst davor, befreite sie dieses Rezept zu kreativen Prozessen von innovativer Nachhaltigkeit. Musikalisch folgte aus ihr Punk, New Wave, Independent et al., cineastisch etablierte sich mit ihrer Hilfe schließlich ganz das sogenannte Independent–Kino.

„Blank City“ fokussiert sich nun hauptsächlich auf den einen, den filmischen, Ausschnitt des Gesamtbildes, und allein die Filmproduktion jener Tage zwischen 1975 bis Anfang der achtziger Jahre, so lässt die Fülle des verwendeten Materials erahnen, muss so überbordend gewesen sein, dass ihr die Doku nur rudimentär gerecht werden konnte. Sekundenschnipsel von O-Material werden mit Oneliner-Voice-Over oder Sekundenschnipsel-Interviews aus dem Heute montiert, dass es eine Art ist und leider keine Ruhepunkte entstehen können. Dabei führt gerade die Menge des Was, also der Information (die nichtsdestoweniger fundiert und wertvoll ist), zu mangelnden Einsichten in das Wie. Wenn man von keinem der Werke der No-Wave-Macher auch nur wenig mehr als kurze Einstellungen zu sehen bekommt, dann gestaltet sich der Prozess des Nachvollzugs von Atmosphäre und/oder Stilistik etwas schwierig. So ist „Blank City“ dann doch eher ein informativer Film für Kenner der Szene geworden als ein Appetitmacher für Novizen.

End of Watch

(USA 2012, Regie: David Ayer)

Labyrinth des Verbrechens
von Michael Schleeh

Dem heute in Los Angeles spielenden Polizeifilm müssen neue Aspekte abgewonnen werden, wenn man nicht völlig altmodisch und redundant daherkommen will. „End of Watch“ versucht dies durch die Verwendung von …

Dem heute in Los Angeles spielenden Polizeifilm müssen neue Aspekte abgewonnen werden, wenn man nicht völlig altmodisch und redundant daherkommen will. „End of Watch“ versucht dies durch die Verwendung von found footage-Material zu erreichen, das sowohl mit einer Handkamera als auch mit zwei Mini-Kameras, die an der Bruststasche der beiden Cops angebracht sind, erstellt wurde. Diese Kameras sind nicht viel größer als ein Bleistift, sie sind völlig unauffällig und begleiten die Cops bei jedem Einsatz. Dieses nicht gerade brandneue stilistische Mittel soll dem Zuschauer die Selbsttäuschung ermöglichen, live und authentisch überall dabei sein zu können: ob das nun der Besprechungsraum auf dem Polizeirevier ist, der Streifenwagen bei der alltäglichen Routinearbeit, oder die Hochzeit des Kollegen, bei der volltrunken herumgealbert wird.

In „End of Watch“ geht es um die beiden „ghetto street cops“ Brian Taylor (Jake Gyllenhaal, der auch produziert hat) und Mike Zavala (Michael Peña), die in South Central L.A. Dienst tun, also einem der heißesten Pflaster der USA. Genauer: es geht um eine von nicht ganz ernst gemeinten Machismen geprägte Männer-Freundschaft vor dem Hintergrund des Polizeialltags. Denn die Einsätze, zu denen die Funkstreife gerufen wird, sind zumeist kleinere, gleichwohl schockierende Vergehen vor dem Hintergrund der noch viel schwereren Verbrechen, die stets im Schatten der nächsten Gasse lauern. Da legt man sich schon mal mit einem hühnenhaften Kerl an und boxt es aus. Oder hält aus Jux und Dollerei einen Wagen an, weil dessen freie Sicht durch eine vorm Rückspiegel baumelnde CD beeinträchtigt sei. So schreitet der Film voran, von Ereignis zu Ereignis, recht zusammenhanglos, und da wird schnell klar, dass es eben nicht um den großen Fall, den Skandal, den Serienkiller geht, sondern um die Freundschaft zweier Männer, die im Angesicht des Todes etwas so Banales wie „einfach nur ihren Job machen“. Mit viel Zynismus, Mut, und Mut zum Risiko, als Versicherung nur die schusssichere Weste und den Partner. Dass dann die erzählerische Crux des Films in der Destruktion dieser Freundschaft liegen muss, ist vorhersehbar.

Der Auslöser für die Katastrophe ist das zufällige Hineingeraten in die Machenschaften eines mächtigen Drogenkartells. Wenn man der Schlange auf den Schwanz tritt, so der schwer bewaffnete Mann von der dazu eilenden Spezialeinheit, wendet sie den Kopf und schlägt zurück. Jedoch, die Warnung scheint nicht richtig anzukommen bei den beiden. Es geht also um sehr ernste Dinge: Menschenhandel, Drogen, Waffen. Hier findet der generell recht spannende, kurz getaktete Film zu einigen sehr intensiven, emotional aufwühlenden Szenen. Und als sie sich bei einem weiteren Einsatz noch einmal mit dem Kartell anlegen, landen sie auf der Abschussliste und werden in einen Hinterhalt gelockt, aus dem ein Entkommen unmöglich scheint.

Da ist der Film aber schon beinahe vorbei. Auch hier wird der lebensgefährliche Einsatz wieder zum Prüfstein der Freundschaft, diesmal allerdings mit gravierenden Folgen. Und so bedrohlich der Film auf seinen Wegen durch das feindlich anmutende Stadtgebiet die ganze Zeit über wirkte, so trist endet es nun hier in einer stinkenden, schlecht ausgeleuchteten Hinterhofgasse. Dass der Film dann ganz am Ende noch einmal einen versöhnlichen Erinnerungshaken schlägt, dürfte jedoch nicht so gut ankommen. Und verweist auch noch einmal in aller Deutlichkeit auf eines der Probleme vieler dieser aus „Original-Material“ montierten Filme. Da die subjektive Perspektive nicht konsequent durchgehalten, sondern immer wieder mit Bildern einer klassischen Kameraführung angereichert wird, verschwimmt die klare Kontur der Autorschaft. Am Ende bleibt das Gefühl zurück, manipuliert worden zu sein, und so bringt sich der Film aufgrund formaler Unschärfen selbst um einen großen Teil seiner Wirkmächtigkeit. Nichtsdestotrotz ist „End of Watch“ ein testosteron- und adrenalingesättigter Powertrip am Rande der amerikanischen Nacht und ein Blick in das taghell schmerzhaft gleißende Labyrinth des Verbrechens eines unentrinnbaren Molochs.

Winternomaden

(D / CH / A 2012, Regie: Manuel von Stürler)

Aus einer fernen Zeit
von Wolfgang Nierlin

In der Abenddämmerung wirkt die Schafherde wie ein schwarzes Band, das sich schier endlos durch die verschneite Winterlandschaft schlängelt. Es sind Bilder wie aus einer fernen Zeit, die Camille Cottagnoud …

In der Abenddämmerung wirkt die Schafherde wie ein schwarzes Band, das sich schier endlos durch die verschneite Winterlandschaft schlängelt. Es sind Bilder wie aus einer fernen Zeit, die Camille Cottagnoud für Manuel von Stürlers Dokumentarfilm „Winternomaden“ („Hiver Nomade') aufgenommen hat. Ihre Archaik kontrastiert immer wieder die Zivilisation, die nie ganz abrückt, doch wie ein fremdes Wesen die Wege der Hirten flankiert. Wenn etwa eingangs des Films das sanfte Getrappel der Schafe sich vom Verkehrslärm entlang einer Straße absetzt; oder wenn wiederum Autos von dem achthundert Leiber zählenden Herden-Körper umschlossen werden. Einmal hat eine moderne Wohnsiedlung, vom Hirten abschätzig „Disneyland“ bezeichnet, die Landschaft verändert; ein anderes Mal versperren Bauern, die sich um ihre Felder sorgen, feindselig den Weg. Doch das einfache Leben in der Natur, umgeben von Tieren, schafft immer wieder starke Gegenbilder als Quellen der Energie und Entspannung: ein einfaches Zeltlager am Waldrand; die Ruhe am wärmenden Lagerfeuer; ein Vollmond am bewölkten Nachthimmel; eine friedliche Morgenstimmung am Fluss.

Sein Beruf sei vom Aussterben bedroht, sagt der 54-jährige Hirte Pascal Eguisier, der sein Handwerk bei einem Bergamasker Schäfer gelernt hat und seit nunmehr 32 Jahren als passionierter Wanderhirte durch die Westschweiz zieht. Zusammen mit seiner jungen Kollegin Carole Noblanc, drei Eseln und vier Hunden bricht er auf zu einem Viehtrieb, der wie eine Reise anmutet, vier Monate dauert und der eine Wegstrecke von etwa 600 Kilometern umfasst. Unterwegs gibt es immer wieder Schwierigkeiten bei der Futtersuche, mit tiefem Gelände oder ausbrechenden Schafen. Auch lautstarke Konflikte zwischen dem forschen Pascal und der bretonischen Aussteigerin Carole bleiben nicht aus, die jedoch bald wieder versöhnlicheren Tönen weichen oder auch kleinen Neckereien. Mehrmals werden die beiden Schäfer auch zum Essen eingeladen, mal von Fremden, mal von Freunden. Doch bei aller kurzzeitigen Geselligkeit bleiben sie Abgeschiedene im Draußen, den Elementen der Natur ausgesetzt. „Ich bin überzeugt, irgendwo ist ein Beschützer, der uns leitet“, sagt Pascal.

Als teilnehmender Beobachter, ohne Kommentare oder Interviews begleitet Manuel von Stürler dieses Unterwegssein durch die Stimmungen der Natur, um das symbolische, religiös konnotierte Bild eines einfachen Hirtenlebens wiederzubeleben. Dabei geht es ihm sowohl um dessen „Schönheit und Reinheit“ als auch um „die ganze Komplexität“ und „harte Realität beim Führen der Herde“. Wie schon Erich Langjahrs thematisch verwandte „Hirtenreise ins dritte Jahrtausend“ beschreibt auch Manuel von Stürlers „Winternomaden“ alte Zyklen in neuer Zeit. Wenn im Verlauf des Viehtriebs die gemästeten Schafe sukzessive vom Patron fürs Schlachthaus abgeholt werden und so am Ende nur noch wenige Leittiere übrigbleiben, handelt der Film nicht nur vom Abschluss einer langen gemeinsamen Wanderung, sondern auch von einem wehmütigen Abschied zwischen Mensch und Tier.

Transpapa

(D 2011, Regie: Sarah Judith Mettke)

Bernd heißt jetzt Sophia
von Wolfgang Nierlin

Maren (Luisa Sappelt) steckt mitten in der Pubertät und leidet sichtlich darunter: Ihr gleichaltriger Freund Benny hat sich eben von ihr getrennt, weil er nicht den Sex bekommt, den er …

Maren (Luisa Sappelt) steckt mitten in der Pubertät und leidet sichtlich darunter: Ihr gleichaltriger Freund Benny hat sich eben von ihr getrennt, weil er nicht den Sex bekommt, den er gerne hätte; ihre ziemlich unsensible Mutter Ulrike (Sandra Borgmann) nervt und scheint die ältere Tochter nur als lästiges Anhängsel ihrer Patchworkfamilie, bestehend aus ihrem zweiten Mann und einer jüngeren Tochter, zu betrachten. Als wären Liebeskummer, häuslicher Zoff, familiäre Konfusion und eine „zugemüllte“ Küche nicht genug Stress für das eher zurückhaltende und verschlossene Mädchen, erhält Maren auch noch eine Postkarte von ihrem leiblichen Vater, der jahrelang nichts von sich hören ließ. Bernd heißt jetzt Sophia. „Dein Vater lebt jetzt als Frau“, erklärt die Mutter ihrer schockierten Tochter und ergänzt lapidar: „Er ist transsexuell.“ Diese Nachricht spitzt Marens Pubertätskrise in einem regelrechten Wirrwarr der Gefühle zu. Ohne ihre Mutter darüber zu informieren, fährt Maren nach Köln, um Sophia zu besuchen.

„Der Film ist zu mir gekommen“, sagt Sarah Judith Mettke und ergänzt: „Er musste gemacht werden, ich war das Werkzeug der Geschichte.“ Dabei wollte die 1981 geborene Absolventin der Filmakademie Ludwigsburg „eigentlich einen Liebesfilm“ machen. Dass es dann doch eine Coming-of-age-Geschichte geworden ist, liege an der empfundenen Nähe zum Thema. Denn eigentlich handelt ihr intimes, zurückhaltend erzähltes Jugenddrama, das bewusst gegen die Klischees transsexueller Darstellung arbeitet und sich einer konventionellen Dramaturgie weitgehend verweigert, von einer gleich doppelten weiblichen Identitätssuche. Wie der verunsicherte, ja verstörte Teenager befindet sich auch Sophia, von Devid Striesow mit großer Natürlichkeit und Zurückhaltung verkörpert, nach einer Geschlechtsumwandlung und unter dem Einfluss weiblicher Hormone in einer Art Pubertät. Beide sehnen sich nach einer Normalität, die unerreichbar scheint.

Dabei zeigt sich Sophia gegenüber dem reservierten, schweigsamen Mädchen, dessen verstohlene Blicke immer wieder den Körper des fremd gewordenen Vaters mustern, sehr offen und kommunikativ, vor allem aber rückhaltlos ehrlich: „Deinen Vater gibt es nicht mehr“, erklärt sie der verständnislosen Maren und fordert von ihr Akzeptanz für ihr „Schicksal“: „Das ist mein Leben!“, insistiert Sophia selbstbewusst. Zugleich entwickelt sie, die mittlerweile mit einem alten Mann zusammenlebt, mütterliche Gefühle, die Maren aber überfordern und in einen emotionalen Zwiespalt versetzen. Sarah Judith Mettkes nuancenreiche Inszenierung dieses „Vater“-Tochter-Konflikts hält die Spannung zwischen Nähe und Distanz, zwischen Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit und einer schier unüberwindlichen Fremde bis zum Schluss offen. Für die beiden Protagonisten ihres Films, mit dem die Regisseurin auch etwaige Tabus des Publikums befragt, hat die Suche nach einem Platz im Leben eben erst begonnen.

Paradies: Liebe

(AT / D / F 2012, Regie: Ulrich Seidl)

Handelsware Leidkultur
von Andreas Thomas

„Hakuna Matata“ – „Es gibt keine Probleme“. Mit diesem Slogan in der kenianischen Landessprache Suaheli werden unsere Kleinen dazu animiert, sich nach „Afrika“ ins Land des „Königs der Löwen“ zu …

„Hakuna Matata“ – „Es gibt keine Probleme“. Mit diesem Slogan in der kenianischen Landessprache Suaheli werden unsere Kleinen dazu animiert, sich nach „Afrika“ ins Land des „Königs der Löwen“ zu träumen (einem der gewalttätigsten und grausamsten Zeichentrickfilme, die ab 0 Jahren freigegeben sind, übrigens), und ihren Großmüttern, westeuropäischen Damen so ab Fünfzig, verheißt das im kenianischen Fremdenverkehr am meisten verwendete Motto: Hier muss wohl alles anders sein als Daheim: Es regnet nicht, es ist warm, die Menschen sind nett und unkompliziert und sie haben auch eine viel schönere Hautfarbe. So oder ähnlich scheint die frustrierte Wienerin Teresa, Mutter einer 15jährigen Tochter und von Beruf Behindertenbetreuerin, zu denken.

Eine Freundin hat sie dazu animiert, doch auch mal nach Kenia zu fahren, dahin, wo die „Beachboys“ so unkompliziert und gefügig sind, und sich so leicht verlieben. Und für Teresa, die, kaum angekommen, erst einmal den Toilettensitz in ihrem Badezimmer wienert, scheint ein Traum wahr zu werden: Am Strand, jenseits der (Ulrich Seidl ist ein Spezialist im Liegestuhlfilmen) Liegestühle, in denen die eingeölten, weißen Frauen braten, befindet sich eine Schnur und dahinter stehen und warten die hübschen, halb so alten Jungs, die Tand und Schmuck anbieten, und – darüber wird aber nicht geredet – anderes, das geeignet wäre, westeuropäische Probleme zu vertreiben. Zum Charakter dieser spezifischen, auf Frauen ausgerichteten Prostitution gehört, dass sie nicht als solche gehandelt wird, sondern als „Liebe“. Sie ist deshalb anspruchsvoller – und verlogener – als Prostitution von Frauen für Männer, weil sie der Kundin einen Anschein von Würde zu wahren versucht, indem sie ihre Illusion von richtiger Liebe zu erhalten trachtet.

Die alleinstehende und, nach Kräften, alleinerziehende Teresa, die schon ein wenig außer Form geraten ist und sich zuhause damit abgefunden hat, nicht mehr im Mittelpunkt männlichen Interesses zu stehen, freut sich über jede körperliche Berührung durch einen Mann, sie würde sie aber wohl nicht zulassen, wenn sie sie als Dienstleistung verstehen und dafür bezahlen müsste. Der ökonomischen Not der afrikanischen Bevölkerung aber hat die europäische Frau ein hohes Maß sensibler Professionalität zu verdanken, solange das gegebene Geld für „kranke Familienangehörige“ aufgebracht wird.

Auch abweichende Spielarten gibt es, etwa für die „Sugarmama“, die sich ein wenig verwöhnen lassen möchte von ihrem schwarzen Diener, die weniger auf Romantik als auf Gouvernantinnentum abzielen – auch diese immer noch eher (und zwar ein noch demütigenderes) ein Spiel mit Rollen als ein transparentes Sexgeschäft. Doch im Paradies muss man sich täuschen lassen wollen, damit es das Paradies bleibt. Denn mit dem Bröckeln der Fassaden – wie Teresa herausfindet, hat ihr Liebhaber Frau und Kind – verliert Teresa nach und nach ihre Illusionen, und sie (und wir Zuschauer auch) lernen etwas über das Wesen globalisierter Gefühle, die offenbar immer schlechter von Konsumobjekten zu unterscheiden sind.

Wie Regisseur Ulrich Seidl im Interview berichtet, geht es ihm, auch in einem Film, der in Afrika spielt, vor allem um die Befindlichkeiten des „westeuropäischen Menschen“, in diesem Fall also um den Export uneingelöster Hoffnungen und Bedürfnisse (bzw. deren neurotische Mutationen) reiferer europäischer Frauen, sozusagen um das Übertragen verkorkster europäischer Leidkultur auf ein Land und dessen Bewohner, deren Probleme eher wirtschaftlicher als psychopathologischer Art sind. Eine Art der psychologischen Kolonisierung also, und ein Lehrstück ist der Film darin, wie genau er das Verhältnis analysiert zwischen den ungleichen und doch auf jeder auf seine Art ähnlich mächtigen Geschäftspartnern.

Mit seiner Folgerichtigkeit, durch seinen Aufbau und seinem Thema nach wirkt „Paradies: Liebe“ vielleicht ein wenig vorhersehbar, nicht zuletzt weil es bereits vergleichbare Vorgängerfilme wie Laurent Cantets „In den Süden“ gibt. Außerdem fehlt es, trotz Laiendarstellern und authentischen Drehorten und vielen improvisierten Szenen, ähnlich wie schon dem letzten, inzwischen auch schon fünf Jahre alten Seidl-Film „Import-Export“, rein subjektiv gefühlt, ein wenig an jener verzweifelten, bedrückenden Realitätssättigung, die z.B. seinen Film „Hundstage“ so überragend machte und durch die vor allem Seidls vorhergehende Dokumentarfilme unerbittlicher und dadurch umso wahrhaftiger wirkten.

„Paradies: Liebe“ spart eher mit grellen Bildern, Menschen und Effekten als Seidls frühere Werke, aber guckt dafür subtiler in das verkorkste Geflecht von Gefühl, Geld und Macht; auf diese Weise wirkt der Film zwar einerseits weniger „betroffen“, zum Anderen lässt er sich aber nicht nur mehr hinunterreißen vom Gewicht der Einsamkeit und Grausamkeit seiner Figuren. Sprich: Werner Herzog wäre angesichts dieses Films vielleicht nicht mehr so schnell mit einem Diktum wie „der direkte Blick in die Hölle“ zur Stelle. Die Verhältnisse reichen im Übrigen auch so hin, um schlimm genug zu sein, da brauchts keinen Teufel und keinen Gott – aber bei Seidl wenigstens noch den, Herzog anscheinend ironisch widerlegenden, Gesamttitel „Paradies“!

Denn ursprünglich sollte das „Paradies“-Projekt ein einziger Episodenfilm werden, handelnd von drei verwandten Menschen weiblichen Geschlechts, bis der Regisseur plötzlich reichhaltiges Filmmaterial zusammen hatte, das mehr als abendfüllend geworden wäre. Und so können wir gespannt sein, was bald „Paradies: Glaube“ und dann „Paradies: Hoffnung“ weiter erzählen werden.

Im Gespräch mit Andreas Thomas erzählt Seidl aber schon mal vorab, wie er es mit dem Glauben hält …

Searching for Sugar Man

(S / GB 2012, Regie: Malik Bendjelloul)

Lebende Legende
von Andreas Busche

Man könnte Sixto Rodriguez für ein armes Schwein halten. Zwei Platten hat der Singer/Songwriter Anfang der Siebziger Jahre auf dem Label Sussex veröffentlicht, von denen sein damaliger Boss Clarence Avant …

Man könnte Sixto Rodriguez für ein armes Schwein halten. Zwei Platten hat der Singer/Songwriter Anfang der Siebziger Jahre auf dem Label Sussex veröffentlicht, von denen sein damaliger Boss Clarence Avant behauptet, sie haben sich ungefähr siebenmal verkauft. Rodriguez verzweifelte irgendwann an seiner Erfolglosigkeit. Eines Nachts, so wurde kolportiert, zog er vor seinem wieder mal nicht sehr zahlreichen Publikum eine Pistole und jagte sich eine Kugel in den Kopf. Die Welt vergaß ihn. Knapp fünfzehn Jahre später ist Rodriguez in Südafrika bekannter als Elvis und die Beatles zusammen. Noch heute kann jedes Kind den Text von „I Wonder“ mitsingen. „I wonder about the tears in children’s eyes / And I wonder about the soldier that dies / I wonder will this hatred ever end”. Das Stück wurde zur Hymne der Anti-Apartheid-Bewegung, sein Song “Sugar Man” erreichte am Kap sogar Platin-Status. Doch Rodriguez blieb ein Mysterium. Mitte der neunziger Jahre beschlossen ein paar südafrikanische Musikfans, dieses Rätsel zu lösen.

Das Klischee des zu Lebzeiten verkannten Genies ist eine beliebte Legende der Popmusik. Die Biografie von Sixto Rodriguez hat jedoch einen Twist, den sich kein Drehbuchautor besser ausdenken könnte. Die Dokumentation “Searching for Sugar Man” des schwedischen Filmemachers Malik Bendjelloul rekapituliert diese seltsame Lebensgeschichte als Spurensuche, die ihren Höhepunkt in einer symbolischen Wiederauferstehung findet. Denn Rodriguez lebt. Er tritt nach Jahrzehnten buchstäblich aus der Obskurität hervor und spielt schließlich sein erstes Konzert in Kapstadt vor 15 000 begeisterten Fans.

Bendjelloul muss gar nicht viel tun, um diese unglaubliche Geschichte zu erzählen, aber jede seiner Entscheidungen ist stimmig. Den Mangel an Archivmaterial macht er mit sehr sparsamen Animationen und opaken Impressionen aus dem Detroit der siebziger Jahre wett. Er interviewt Arbeitskollegen vom Bau und alte Weggefährten, die sich nach vierzig Jahren noch an jedes Detail ihrer Begegnung mit Rodriguez erinnern. Und vor allem: Bendjelloul lässt die Musik für sich sprechen. Rodriguez’ Texte – lakonische, leicht trostlose Beschreibungen von zwischenmenschlichen Beziehungen mit einem fast dylanesken Wortwitz – verfassen eine Parallelbiografie, die ebenso mysteriös und widersprüchlich ist wie der Mann selbst. In den Interviews gibt sich Rodriguez wortkarg und bescheiden. Aber dann tritt er auf die Bühne und tut mit großer Selbstverständlichkeit das, wozu er offenbar geboren ist. Er wird zum Star.

Dieser Text erschien zuerst in: pony #79

Genosse Münchhausen

(BRD 1962, Regie: Wolfgang Neuss)

Ein Paar Vasen
von Andreas Thomas

Die große alte Indianerin des deutschen Kabaretts, Wolfgang Neuss (»Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen«) wäre in diesem Jahr (2012) 89 Jahre alt geworden, wenn sie nicht, …

Die große alte Indianerin des deutschen Kabaretts, Wolfgang Neuss (»Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen«) wäre in diesem Jahr (2012) 89 Jahre alt geworden, wenn sie nicht, natürlich, und wie immer, viel zu früh, nämlich schon 1989 an Krebs und 66-jährig gestorben wäre. Wie es in Deutschland so üblich ist, werden, wenn überhaupt, Menschen von Format und Bedeutung nur für irgendetwas für ihr Lebenswerk total Nebensächliches berühmt. Bei Neuss war diese Nebensache, dass er per Berliner Zeitungsannonce den Mörder einer sechsteiligen Fernseh-Krimiserie („Das Halstuch“, Francis Durbridge) verriet, offenbar ohne dessen gewiss zu sein, aber mit Trefferinstinkt (natürlich war es Dieter Borsche). Neuss verbrach dies, indem er gleichzeitig die Zuschauer aufforderte, doch besser im Kino seinen eigenen Film „Genosse Münchhausen“ anzusehen.

Die intellekt-unterbestückte „Bild“-Zeitung beschimpfte ihn umgehend als „Vaterlandsverräter“ (wenn man die Preisgabe eines Mörders als den Verrat des Vaterlandes bezeichnet, dann erweckt das in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg doch schon interessante Assoziationen …), aber Zuspruchsschwankungen hätte der Film sicherlich auch ohne seine ziemlich blauäugig kumpelige Annäherung an das deutsche Volk von 1962 erfahren, wenn man sich nur ansieht, was er losließ, angesichts dessen, auf was er es losließ.

„Genosse Münchhausen“, 1962, ist seinem frei flottierenden geistigen Gehalt nach einem Helge-Schneider-Film, wie „Jazzclub“, ziemlich näher als etwa seinem zeitgenössischen Vorbild-Exemplar, Billy Wilders „Eins, zwei, drei“ aus dem Vorjahr, das nicht nur eine ähnliche Thematik, nämlich den Ost-West-Konflikt, sondern auch den leichten Anschauungstonfall besitzt, nämlich die deutschen Nachkriegskrüppel zu bespaßen versucht (vergleichbar wie man heutzutage das mit unterbetreuten Kindern macht), aber zugleich alles darunter, dahinter oder darüber Liegende ebenso zu verkleinern versucht, wie eben auch „Eins, zwei, drei“ es tat, indem er Ideologien und Gefühle auseinander zu halten trachtete. Nach dem GAU geht’s erst mal um Schadensbegrenzung, und die heißt im akuten Fall: Wir machen erstmal einen Witz.

Zum Einen ist „Genosse Münchhausen“ eine leidlich leichte und mäßig lustige Nachkriegsundvorkalterkriegsostwestfarceunddurchhalte-Komödie geworden, zum Anderen ein Brainstorm jemandes, der sein Gehirn immer lieber frei flattern lassen musste, ohne Rücksicht auf Verluste (Neuss). Und dieser, der akustisch schlecht verstehbare, dennoch und auch aus dem Off unablässig fließende und schwierig filmisch fixierbare Teil jenes leidlich filmischen und eher verbalen Teiles ist der des Erforschens würdigere dieses Filmes, und sicherlich bis heute der, der Wolfgang Neuss würdiger wäre.

Aber (sich selbst nicht ausgenommen) zusammengenommen, ergibt das Filmprojekt „Genosse Münchhausen“ eine spürbare Satire auf dieses merkwürdig unbeschwerte Deutschland (16 Jahre nach Ende dieses fatalen Vernichtungs-Kriegs und Massenmordes), also so, als wäre es irgendwie lustig, als wären nur ein paar Vasen zerdeppert worden, und man sich nun anderen, neuen und ebenso unbeschwerten Fehlern hinzugeben erlauben dürfe, wie einem lustigen Ost-West-Konflikt inkl. Atombombe.

Pervers also, eingedenk, und aber auch signifikant. Angesichts der Tatsache, dass Deutschland bis heute noch keinen kommensurablen Ansatz für den Umgang mit „seinen kleinen Sünden während des 2. Weltkriegs“ gefunden hat, ist es kein Wunder, wenn es in Form von Wolfgang Neuss frei rumsponn.

Ich liebe ihn und bedaure sein Verschwinden. Vergleichbar mit Tucholsky. Warum eigentlich hat der Deutschland verlassen? Jemand wie Volker Pispers beweist, dass echtes Kabarett immer noch lebt. Aber und: und ich habe vergessen, zu sagen, dass Wolfgang Neuss eigentlich besser als Kabarett und nicht als Film funktionierte …

Worum es geht in Genosse Münchhausen wird nicht verrraten. Na gut: Dieter Borsche!
Zusatz: Eine perverse Zeit mit perversen Geldgebern (CDU und SPD), die alle noch nicht wirklich wirkliche Polaritäten, und noch weniger das, was unsere heutige Politik, und überhaupt, unsere Welt heute ausmacht, gekannt haben, förderten gemeinsam den Film eines, als wäre das nicht damals schon auszumachen gewesen, zukünftigen Kiffers in spe vor dem Herrn.

Mit auf der DVD befinden sich zwei weitere deutsche Filme der frühen Sechziger, denn die DVD, auf der 'Genosse Münchhausen' erschienen ist, ist ein Nebenprodukt des Cinefest 2012, das sich dem deutschen Kino in der Phase des Kalten Krieges vor dem Oberhausener Manifest widmet. Die Kurzfilme 'Klammer auf, Klammer zu' von Hellmuth Costard und 'Erzählung über eine Liebe' von Roland Oehme sind zwei je anschauliche Beispiele für zaghafte neue Wege des Kinos West und Ost. Da wo Costard eindeutig seine Godard-Inspiration auslebt, und ein unkonventionelles junges Paar, ähnlich übrigens wie später May Spils in 'Zur Sache Schätzchen' (nur nicht so komisch), mittels Jump Cuts durch eine restriktive und emotional erstarrte BRD fahren lässt, da schildert Oehme beeinflusst vom jungen tschechischen Film und geschult in der Filmschule die Geschichte eines Arbeiter-Pärchens in der jungen Deutschen Demokratischen Republik, deren zum Teil ungeschminkte Frauenfeindlichkeit (Mehrfachvergewaltigung als männlicher common sense) doch ein ernüchterndes Bild des östlichen Nachkriegsdeutschlands liefert, eines Deutschland, dessen barbarische Sitten mit sozialistischen Idealen wenig zu tun haben.

Alle drei Filme sind einen Tipp wert, schon weil der Normalkonsument ja nicht einmal ahnt, dass es dergleichen im Kino überhaupt gab. Als aufgefüllte Bildungslücke im Kino-Geschichtsunterricht oder überhaupt als Beleg für das Vor-68er-Deutschland ist diese DVD sehr nützlich und interessant.

Pieta

(KR 2012, Regie: Kim Ki-duk)

Schwere Walzen
von Wolfgang Nierlin

Die engen, verwinkelten Gassen sind voller Öl und Dreck, Müll und Metallgerümpel. Hinter den blechernen Rolltüren dunkler, stickiger Baracken verbergen sich kleine, verwahrloste Werkstätten, in denen wenige verarmte Kleinunternehmer und …

Die engen, verwinkelten Gassen sind voller Öl und Dreck, Müll und Metallgerümpel. Hinter den blechernen Rolltüren dunkler, stickiger Baracken verbergen sich kleine, verwahrloste Werkstätten, in denen wenige verarmte Kleinunternehmer und Arbeiter an schweren Pressen und Walzen hantieren. Die Arbeitsbedingungen sind hier extrem, das Leben erscheint als eine einzige Plackerei. Nach dem Koreakrieg sorgten diese Manufakturen des Seouler Arbeiterbezirks Cheonggyecheon für den wirtschaftlichen Aufschwung im Land. Doch heute treiben Grundstücksspekulanten den Abriss dieses historischen Viertels voran. Die Hütten und kaputten Häuser ducken sich förmlich unter den mächtigen Türmen der modernen Hochhäuser, die allmählich das Terrain besetzen. In „Pieta“, Kim Ki-duks neuem, preisgekröntem (Venedig, Goldener Löwe) Film über die Unmenschlichkeit des Raubtierkapitalismus, ist dieser Kontrast durchaus sinnbildlich zu verstehen für eine Welt ohne Mitleid. „Was ist der Tod?“, fragt sich desillusioniert ein alter, verschuldeter, von der Modernisierung überrollter Arbeiter, bevor er sich mit einem Sprung in die Tiefe das Leben nimmt.

„Was ist die Natur des Menschen?“, fragt sich wiederum Kim Ki-duk in seinen Filmen. In „Pieta“ taucht er tief ein in diese faszinierend fremde, grausame Welt, die er aus eigener Erfahrung kennt, und findet zunächst nur eine schreckliche Antwort. Denn sein Film ist über weite Strecken eine schockierende Abfolge sadistischer Gewaltexzesse und destruktiver Lebensäußerungen. Deren negative Triebkräfte sind systembedingt und spiegeln die Hierarchie von Gewalt und Gegengewalt, die kein Verzeihen zu kennen scheint. Der Einzelgänger Lee Kang-do (Lee Jung-jin), ein ebenso skrupelloser wie brutaler Geldeintreiber, verkörpert dieses menschenverachtende Prinzip. Seine Schuldner aus den Betrieben von Cheonggyecheon verstümmelt er, wenn sie nicht zahlen können, mit ihren eigenen Maschinen, um ihre Versicherungssumme zu kassieren, und raubt ihnen damit auch noch die Arbeitskraft. In „Pieta“ ist das Verlangen nach Geld der Auslöser für eine Gewalt, die gleichermaßen Seele und Körper zerstört. Für Kim Ki-duk reflektiert sie „die Grausamkeit unseres Daseins in der Welt, in der wir leben.“

Ist der „Teufel, der die Menschen mit Geld verführt“, als der Lee Kang-do einmal bezeichnet wird, „böse geboren“ oder einfach nur „ohne Liebe aufgewachsen“? Zumindest Letzteres scheint der Fall zu sein. Denn eines Tages heftet sich eine schon ältere Frau aufopferungsvoll und scheinbar voller Selbstverachtung an seine Fersen, gibt vor, seine Mutter zu sein und hat für diese Behauptung schwere Demütigungen und Prüfungen zu ertragen. Doch nach einer Phase innerer Revolte beginnt sich bei Lee Kang-do irgendwann etwas zu regen, entwickelt sich allmählich ein Läuterungsprozess, der ihn in eine gefühlsmäßige Abhängigkeit zu dieser Frau setzt, ihn menschlicher werden lässt und damit, quasi als Zeichen davon, auch verwundbar macht. Geradezu roh und archaisch setzt Kim Ki-duk die Begriffe von Schuld und Sühne, Rache und Erlösungssehnsucht ins Bild, indem er die erzähllogischen Koordinaten von Raum und Zeit weitgehend negiert und damit seine Geschichte auf ihren allegorischen Kern verdichtet. Das im Filmtitel aufgerufene Bild der um ihren Sohn trauernden Mutter wird dabei sowohl ambivalent zugespitzt als auch umgekehrt und kulminiert schließlich in der Anrufung Gottes mit der Bitte um Frieden und Erbarmen: „Dona nobis pacem! Kyrie eleison!“, heißt es im ersten Lied des Abspanns. Zwischen religiöser Hoffnung und angedeuteter Menschwerdung bleibt am Ende vielleicht nur noch die Flucht aus den Lebensverhältnissen.

Ruby Sparks – Meine fabelhafte Freundin

(USA 2012, Regie: Jonathan Dayton, Valerie Faris)

Diskursiver Schwindel
von Wolfgang Nierlin

Im blendenden Gegenlicht greller Sonnenstrahlen erscheint eine junge, lächelnde Frau. Der irdische Traum von einem göttlichen Wesen signalisiert von Anfang an die enge Verbindung von Wirklichkeit und Illusion sowie einen …

Im blendenden Gegenlicht greller Sonnenstrahlen erscheint eine junge, lächelnde Frau. Der irdische Traum von einem göttlichen Wesen signalisiert von Anfang an die enge Verbindung von Wirklichkeit und Illusion sowie einen stetigen Wechsel zwischen beiden. In „Ruby Sparks – Meine fabelhafte Freundin“, dem neuen Film des amerikanischen Indie-Filmemacher-Paars Jonathan Dayton und Valerie Faris, ist der Träumer ein Schriftsteller mit einer Schreibkrise und einem Frauenproblem. Doch bevor sich seine Träume in Literatur verwandeln und die Literatur sich als Wirklichkeit materialisiert, entwickelt der Film eine wohltuend ausführliche Charakterisierung des Protagonisten und seines vielschichtigen Problems, das den Interpreten reichlich Deutungsstoff bietet, ja geradezu einen diskursiven Schwindel erzeugt.

Seit der 29-jährige notorische Einzelgänger und Kopfmensch Calvin Weir-Fields (Paul Dano) im Alter von 19 Jahren als literarisches Wunderkind entdeckt wurde, gilt er seinen Bewunderern als Genie. Vor allem seine weiblichen Fans haben es auf den smarten, zurückhaltenden Mann abgesehen. Doch seit einer gescheiterten Liebesbeziehung mit seiner früheren Freundin Lila (Deborah Ann Woll) hat der introvertierte Calvin weder Beziehungen zu Frauen noch überhaupt Sex, was von seinem Bruder Harry (Chris Messina) heftig hintertrieben wird. Auch Calvins infantile Regressionsphantasien in der Praxis seines Therapeuten Dr. Rosenthal (Elliott Gould) sowie die Projektion seiner psychischen Probleme auf sein Hündchen „Scotty“ (benannt nach dem Schriftsteller F. Scott Fitzgerald) zeichnen ein ziemlich komplexes Störungsbild: Zur Schreibblockade und Einsamkeit des ebenso romantisch wie rational veranlagten „Sublimierers“ kommen offensichtlich noch ein Mutterkomplex und eine Angstneurose.

„Kein Mann ist freiwillig allein“, wird einmal Humphrey Bogart in Billy Wilders „Sabrina“ zitiert. Also, inspiriert von seinen Träumen, erschreibt sich die Pygmalion-Figur Calvin wie im Rausch seine Traumfrau und erfüllt damit zugleich Dr. Rosenthals Therapievorgaben. Dabei ersetzt das Schreiben zunächst die Realität. Doch als plötzlich völlig unerwartet die Worte Wirklichkeit werden und die Titelheldin Ruby Sparks (Zoe Kazan, von der auch das beziehungsreiche Drehbuch stammt) in seiner Küche hantiert, ist das nicht nur ein phantastischer Schock, sondern auch ein Nachweis für die verändernde Kraft der Literatur. „Dass es dich wirklich gibt, ist völlig unglaublich“, sagt der Schöpfer zu seinem Geschöpf.

Ganz selbstverständlich und mit viel Humor integrieren die beiden Regisseure diese phantastische Prämisse in ihre ironische Beziehungskomödie, in die sich mit subtilem Nachdruck immer deutlicher der Horror schleicht. Denn natürlich bleibt die ideale Schöpfung unter den Einwirkungen des Lebens nicht einfach unverändert stehen. Und so wird der ebenso verunsicherte wie kontrollsüchtige Calvin, von Eifersucht, Verlustängsten und Erfinder-Hybris getrieben, immer stärker zum machtbesessenen Manipulator, der aus seiner Freundin – einem sehr menschlichen Wesen aus Fleisch und Blut – auf seiner Olympia-Schreibmaschine eine beliebig programmierbare Marionette macht. „Es tut mir leid, dass ich dich ändern wollte“, bedauert Calvin dann doch noch am Ende dieser „wahren, unmöglichen Geschichte“, die auch eine Reflexion über kreative Prozesse ist. Dass sich die Männerphantasie schließlich rückverwandeln darf in einen „normalen Menschen“ und die Literatur dabei zugleich ihrer therapeutischen Funktion gerecht wird, gehört zum besonderen Charme dieses geistreichen Films.

Alexandre Ajas Maniac

(F / USA 2012, Regie: Franck Khalfoun)

Subjektives Serienkillen
von Louis Vazquez

Der einsame und kontaktscheue Frank (Elijah Wood) hat eine Werkstatt, in der er Schaufensterpuppen restauriert. Doch manchmal überwältigt ihn eine ganz andere Leidenschaft: Dann tötet er schöne Frauen, um sie …

Der einsame und kontaktscheue Frank (Elijah Wood) hat eine Werkstatt, in der er Schaufensterpuppen restauriert. Doch manchmal überwältigt ihn eine ganz andere Leidenschaft: Dann tötet er schöne Frauen, um sie zu skalpieren und seine Puppen mit ihrem Haar zu schmücken. Eines Tages kommt die Fotografin Anna (Nora Arnezeder) zufällig an Franks Laden vorbei. Sie findet ein paar anregende Motive und hält Frank für einen Künstler. Der fühlt sich zum ersten Mal verstanden und verliebt sich in die ahnungslose Frau. Aber kann es ihm gelingen, dem Drang zum Töten zu widerstehen?

Franck Khalfouns Film mit dem blöden deutschen Verleihtitel – Alexandre Aja fungierte hier als Produzent und Co-Drehbuchautor – ist ein Remake von William Lustigs Splatter-Kultfilm aus dem Jahr 1980. Der Clou: Die Neuauflage wird fast komplett aus der Perspektive der Titelfigur erzählt. Viel wird deshalb derzeit geschrieben über die besondere Nähe, die der Film zu seinem mörderischen Protagonisten herstelle. Von einem einzigartigen Blick in dessen Seele ist bisweilen die Rede. Dabei ist das, was man wirklich über das Innenleben des schizophrenen Serienkillers erfährt – durch Halluzinationen etwa oder durch Rückblenden, die manchmal wie die Traumbühnen bei Ingmar Bergman inszeniert sind –, der übliche, psychologisch nicht haltbare Pulp. Aber Horrorfilme müssen ja letztlich nur erschrecken und verstören, obwohl man immer froh ist, wenn noch ein bisschen mehr passiert. Zumindest diese konstituierende Aufgabe des Genres löst der neue „Maniac“ gut, denn die subjektive Präsentation der Geschichte ist zuallererst eine Provokation.

Ob eine subjektive Kameraführung überhaupt das geeignete Mittel ist, um Mitgefühl zu erzeugen, ist durchaus umstritten. Auch wenn man sich in der Frühzeit des Mediums einen solchen Effekt erhofft haben mag und die Macher des „Maniac“-Remakes eine solche Erwartung ebenfalls formulieren, erwies sich eine radikal angewandte Subjektive bislang vor allem in anderer Hinsicht als nützlich. Die Einschränkung der Zuschauerperspektive prädestinierte sie zum Beispiel für detektivische Noirs, siehe „Dark Passage“ (Delmer Daves, 1947) oder „The Lady in the Lake“ (Robert Montgomery, 1947). Schon da allerdings wirkte die exzessive Verwendung der Point-of-view-Kamera wie ein Gimmick – selbst beim viel gelungeneren „Dark Passage“. Zweifellos aber stellt die Subjektive eine gewisse Intimität und Nähe her, die vor allem dann eine Reaktion beim Zuschauer hervorruft, wenn sie als hochgradig unangenehm empfunden wird, wenn etwa der Voyeurismus gleichsam erzwungen wie bedient wird und wir als Betrachter zu Zeugen und Komplizen grausamer Taten werden.

Michael Powell machte in „Peeping Tom“ (1960) die voyeuristischen Attribute des Mediums selbst zum Thema, indem er der Subjektiven eines Serienkillers (gespielt von Karlheinz Böhm) folgt und die Perspektive sogleich als Kamerablick entlarvt: Der Mörder filmt seine Taten und projiziert sie später immer wieder. Bereits 1932 legte Rouben Mamoulian in seiner Fassung von „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ den Grundstein für eine solche Auseinandersetzung mit der Schaulust im Kino und der gesellschaftlichen Lust (bzw. ihrer Unterdrückung) generell. Sein Film thematisierte die damals populären Ideen der Psychoanalyse und etablierte Dr. Jekyll (Fredric March) mit einer langen Point-of-view-Sequenz. Später zwingt er den Zuschauer in eine männliche Allmachtsphantasie und lässt die Triebentfesselung in Gewalt und sexuelle Erniedrigung gipfeln. Subjektive Bilder werden dann zwar nie wieder so lang ausgespielt wie anfangs, aber dennoch mit größtmöglicher Wirkung eingesetzt. Besonders provozierend ist die Gleichsetzung des Zuschauerblicks mit dem Blick Dr. Jekylls in jener Szene, in der die Prostituierte Ivy (Miriam Hopkins) sich zur Kamera hin lasziv auszieht und schließlich ihr nacktes Bein pendeln lässt – ein Bild, das durch eine Doppelbelichtung sogar noch die nächste Szene überlagert, den jungen Arzt also nicht loslässt. Weil so ein unterdrücktes Begehren, wie es sich später als dunkle Seite des Doktors manifestiert, in jedem heterosexuellen Mann schlummern dürfte, müssen sich viele Zuschauer während der Terrorexzesse Hydes wenn schon nicht als Komplizen, so doch zumindest als potenzielle Monster fühlen.

Mit subjektiven Bildern aus Hydes Perspektive indes geht der Film sparsam um und zeigt den Terror aus distanzierteren Positionen. Als das Monster Ivy erwürgt, stirbt sie außerhalb des Bildkaders. Weil aber in der langen Zeit bis zum „Maniac“-Remake nicht nur Hitchcocks „Psycho“ (1960) und Powells „Peeping Tom“, sondern auch Carpenters „Halloween“ (1978) und zahllose Slasher-Filme verstörende Bilder aus der Täterperspektive geliefert haben, bleibt Khalfoun für sein Remake von „Maniac“ nur der Weg der Radikalisierung. Den Prinzipien der Splatter-Ästhetik fühlt er sich offenbar verpflichtet, denn er startet programmatisch, indem er den Zuschauer quälend lange in die brechenden Augen des ersten Opfers blicken lässt. Weil die vorangehende Messerattacke für den Zuschauer völlig überraschend kommt, wird schon an dieser Stelle deutlich, dass die subjektive Kamera per se nichts über die Innenwelt der Titelfigur verrät oder eine besondere Nähe herstellt, die über den Blinkwinkel hinausginge. Sie zwingt nur dazu, die unangenehmen Details wahrzunehmen – obwohl es für eine genregemäß exploitative Blicklenkung eigentlich gar keine solche Legitimation gebraucht hätte.

Die Splatter-Ästhetik indes wird hier zu neuer Höchstform getrieben. Die Effekte sind so glaubwürdig wie das dargestellte Leiden, der Distanzverlust durch den ständigen Zwang zum Hinsehen vollkommen. Die Point-of-view-Erzählhaltung funktioniert außerdem als Authentizitätscode, auch wenn auf einen übertriebenen Naturalismus mit künstlichen Blinzel-Effekten à la „Enter the Void“ (Gaspar Noé, 2009) verzichtet wird. Im direkten Vergleich zu dessen entfesselter Geisterkamera wirkt Khalfouns Film fast schon ein bisschen gebremst, bietet aber gerade deshalb einen umso klareren Blick auf die Goreszenen. „Maniac“ ist ein Terrorfilm, der seine destruktive Kraft aus der Permanenz des erzwungenen Blickwinkels speist, aus der serienmäßigen Wiederkehr des Grauens und dem ständigen Blickzwang. Auf eine Opferperspektive, die dem Zuschauer zumindest das masochistische Gefühl geben könnte, mit den Guten und Unschuldigen unterzugehen, wird völlig verzichtet.

So zermürbend und frustrierend (und demzufolge wohl gelungen) der Film auch ist: Einen Ausweg aus den Fesseln des üblichen Genreplots liefert sein stilistischer Ansatz nicht. Die Liebe vermag zwar sonst immer und überall alle zu retten, aber eben nicht die schizophrenen Serienmörder dieser Welt. So stellt sich dann letztlich doch die Frage, ob man statt einem ultraharten Slasherfilm mit Gimmick nicht lieber einen Film gesehen hätte, der die Schaulust kritischer reflektiert, statt sie vor allem nach allen (bekannten) Regeln der Kunst zu bedienen.

The Man with the Iron Fists

(USA 2012, Regie: RZA)

Enter the RZA, Bushido-Style
von Louis Vazquez

Er war der Mastermind des Wu-Tang Clan. Er hat den Soundtrack für Jim Jarmuschs „Ghost Dog: The Way of the Samurai“ geschrieben. Und er hat für Quentin Tarantino den Score …

Er war der Mastermind des Wu-Tang Clan. Er hat den Soundtrack für Jim Jarmuschs „Ghost Dog: The Way of the Samurai“ geschrieben. Und er hat für Quentin Tarantino den Score zu „Kill Bill Vol. 1“ komponiert. Wenn er dann noch behauptet, seit frühester Kindheit Samuraifilme aufgesogen und sich für Shaolin und Kung Fu begeistert zu haben, dann nimmt man Robert „RZA“ Diggs schnell ab, dass er für die Regie eines Martial-Arts-Films prädestiniert sei, zumal Filmemachen schon immer sein Traum war, sagt er. Und weil Tarantino mittlerweile ein guter Kumpel ist und ihm hilfreich unter die Arme griff, kommt jetzt sein Debütfilm in die Kinos. Blöderweise werden dessen Schwächen umso deutlicher, wenn man sich „Ghost Dog“ und „Kill Bill“ als Vorbilder und Koordinaten ins Gedächtnis ruft.

Jarmuschs „Ghost Dog“ bietet nicht nur die seit Melvilles „Le samouraï“ schönsten ausgedachten Zitate zum vermeintlichen Verhaltenskodex des Samurai, sondern präsentiert und hinterfragt auch einen anachronistischen Ehrbegriff, der nur noch alten, weißen Männern etwas nützt. Der schwarze Samurai vom Rand der Gesellschaft muss in den Tod gehen. Ein komödiantischer, böser und trauriger Film, der sich denkbar weit von der genrespezifischen Action entfernt hat. Tarantinos Action-Spektakel „Kill Bill“ vereint dagegen alle denkbaren Vorbilder, macht noch einen Abstecher zum Italowestern und bietet nicht zuletzt eine starke Heldin, die er in einer schrecklichen und schrecklich guten Exposition mit brachialen Mitteln zur Sympathieträgerin macht. „The Man with the Iron Fists“ im Vergleich mit diesen beiden Werken als Jungsphantasie zu bezeichnen, würde bedeuten, die Phantasie männlicher Heranwachsender stark zu unterschätzen.

Die Story ist so simpel wie unübersichtlich: Einen befreiten Sklaven (RZA) verschlägt es im 19. Jahrhundert in ein abgelegenes chinesisches Dorf, wo er sich als Schmied verdingt und Waffen für die verschiedenen streitlustigen Clans fertigt. Als der Kaiser eine Ladung Gold durchs Land schickt, gerät der Blacksmith zwischen die Fronten. Da ist zum Beispiel der Clan des Bösewichts Silver Lion (Byron Mann), dem sich der heldenhafte Zen Yi (Rick Yune) entgegen stellt, um Rache für seinen getöteten Vater zu nehmen. Da sind aber auch der undurchsichtige Jack Knife (Russell Crowe) mit seinem Faible für Klingen und Madame Blossom (Lucy Liu), die das örtliche Hurenhaus leitet. Dort bietet die schöne Lady Silk (Jamie Chung) ihren Körper feil, die Geliebte des Blacksmith. Mit ihr will er irgendwann alles hinter sich lassen, wenn der Geldkoffer erst voll genug ist. Ein befreiter Sklave, der (mit schlechtem Gewissen) von Waffengeschäften profitiert, aber das Geld braucht, um eine Leibeigene freizukaufen – die Idee ist aberwitzig und deshalb höchst interessant. Nur leider entwickelt das Drehbuch von RZA und Eli Roth daraus letztendlich gar nichts, so wie auch der Gastauftritt von Blacksploitation-Ikone Pam Grier bestenfalls eine Randnotiz wert ist.

RZA inszeniert stattdessen einen Film aus Fanperspektive, der sich von den großen Vorbildern nicht lösen kann oder will und die Geschichte des Martial-Arts-Films zitiert, von den Shaw-Brothers-Produktionen bis zur japanischen „Okami“-Reihe. Auch eine kurze Verneigung vor John Woo über ein Musikzitat darf da natürlich nicht fehlen. Die Kampfszenen sind durchaus gelungen und werden gelegentlich beeindruckend dargeboten, sie sind allerdings nicht immer gut inszeniert. Wie Tarantino scheint RZA ein Fan von Brian De Palma zu sein und erweist dem Vorbild nicht nur mit einem Top Shot über die Räume des Bordells seine Referenz, sondern auch mit vielen Split Screens. Die sehen aber oft eher aus, als müssten sie problematisches Ausgangsmaterial kaschieren.

Mithin unerträglich indes sind die nicht nur holzschnittartigen Figuren des Films, deren Sexismus in keinem Moment kritisch hinterfragt wird. Insbesondere Russell Crowe hat einige lustig gemeinte Szenen als Puffkunde, bei denen man ungläubig ins Presseheft guckt und sich fragt, ob hier wirklich RZA sein Regiedebüt abgibt, weil man ihm solche Humorversuche bzw. so einen Scheißdreck gar nicht zugetraut hätte. Die Frauenfiguren schließlich dürfen nicht einmal mehr witzig sein, sondern erfüllen brav alle Hurenklischees. RZAs Film wirkt in besseren Momenten wie ein blutig-bunter, aber langatmiger Comicstrip, in schlechteren traut man seinen Augen und Ohren nicht. Rat- und unterhaltsamer wäre es also, sich stattdessen einen beliebigen Klassiker zum Beispiel des Hong-Kong-Kinos noch einmal vorzunehmen und den Abend mit ein paar Soulplatten ausklingen zu lassen.

The Walking Dead. Season 2

(USA 2011, Regie: Ernest R. Dickerson, Bill Gierhart u.a.)

I had to kill him! No, you had not.
von Michael Schleeh

Der schmutzige Look der Serie, der sich schon durch das verwendete 16mm-Format einstellt, und der im Netz viel Kritik vor allem unter den Hochglanzfetischisten hervorgerufen hat, führt die Serie auf …

Der schmutzige Look der Serie, der sich schon durch das verwendete 16mm-Format einstellt, und der im Netz viel Kritik vor allem unter den Hochglanzfetischisten hervorgerufen hat, führt die Serie auf einer ästhetischen Ebene zu ihrem inhaltlichen Zentrum zurück: zur zerstörten Welt. Die Eigenschaft des Ausgangsmaterials mit seinen Rauschwerten, den immer wieder deutlich sichtbaren Texturen und dem geliebten wie gefürchteten Filmkorn, lässt sich als Allegorie zur postapokalyptischen Welt und zum zerstörten Gesellschaftsgefüge lesen, in welcher der Überlebenskampf der Protagonisten permanent durch die Sinnhaftigkeit ihres Tuns hinterfragt wird.

Im Interview auf studiodaily berichtet Kameramann David Boyd davon, wie mit verschiedenen Filmformaten experimentiert worden sei, 35mm, 16mm, RedOne, usw., und dass man sich schließlich für die etwas härteren und kälteren Bilder des Super 16-Formats entschieden hätte. 'The Walking Dead' wurde mit drei gleichzeitig laufenden Arriflex 416 gedreht, ohne zugewiesene Hierarchien, und dann sei erst später entschieden worden, welche Sequenz aus welcher Einstellung und Position zu verwenden sei.

Und diese Welt, in der sich die Überlebenden aus Staffel 1 (2010) befinden, hat sich als ein worst case scenario bestätigt: die Zombifizierung ist überall. Die Gruppe um Rick Grimes (Andrew Lincoln) und seine Familie, Frau Lori (Sarah Callies) und Sohn Carl, um Cop-Kollege und Liebes-Affäre Shane (Jon Bernthal), um Glenn, Sohn koreanischer Einwanderer, Dale, den weißbärtigen älteren Herren, der das Gewissen der Gruppe symbolisiert, den Drifter Daryl, dessen Bruder in Atlanta auf dem Hausdach zurückgelassen wurde, sowie einiger anderer Figuren, nimmt in Staffel 2 zunächst die Form einer Odyssee an. Man hat den RV wieder in Stand gesetzt sowie einige PKWs fahrbar gemacht. Daryl heizt mit einem schwarzen Chopper, verziert mit SS-Runen auf dem Tank, durch den Film wie in einer Reminiszenz an „Easy Rider“; das Motiv des Fahrens als das eigentliche Freiheitsmoment der Serie. Doch schon nach kurzer Zeit – man ist auf dem Weg ins Fort Benning, einem Militärstützpunkt, wo es Hilfe und so etwas wie eine Zukunft für alle geben soll – bleibt man in einem riesigen Blechchaos inmitten liegen gebliebener Fahrzeuge und ausgebrannter Automobile auf der Interstate stecken. Offensichtlich sind hier schon mehrere Horden der Zombies, genannt „Walker“, durchgezogen. Diese entwickeln sich mittlerweile zu relativ rabiaten Bestien, da so langsam das Futter ausgeht – einige können sich kaum mehr bewegen, sind kurz vor dem Verenden. Da geschieht ein Unglück: die kleine Sophia wird bei einem Angriff im nahe gelegenen Wald von der Gruppe getrennt und geht verloren. Und es ist kurz vor der einbrechenden Dunkelheit nicht mehr möglich, sie wiederzufinden – was naturgemäß etliche Konflikte innerhalb der Gruppe auslöst. Im weiteren Plotverlauf, und da findet die Staffel ihren zentralen Handlungsort, gelangt man zu einem Farmhaus, in dem ein Arzt mit Familie überleben konnte, und wo sich der Gruppe eine unverhoffte Idylle offenbart. Natürlich ein Frieden auf Zeit, denn sowohl die Konflikte innerhalb der Gruppe nehmen zu, insbesondere zwischen Rick und Shane, und auch eine Entscheidung über die zukünftige Route steht an.

Die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Tuns wird in einzelnen Folgen mehrfach thematisiert und führt zum inhaltlichen Kern der Serie führt: Welche sind die Werte, die es zu erhalten gibt? Ist es in einem Szenario „nach jeder Zivilisation“ überhaupt möglich, sozial zu bleiben? Was macht die Menschlichkeit, die Mitmenschlichkeit aus? Die an grundlegende Probleme des menschlichen Miteinanders rührenden Fragen müssen jedoch unbeantwortet bleiben. Das dichotome Problem des Festhaltens an der moralischen Zivilgesellschaft versus deren Aufgabe zum Zwecke des Überlebens ist letztlich die inhaltliche Crux von „The Walking Dead“, und wird an verschiedenen Exempeln und Konfliktfällen durchgespielt. Da gerät Staffel 2 bisweilen zum Ensemble- oder Problemfilm, denn die Zombiebedrohung tritt für eine Zeitlang in den Hintergrund und das Miteinander der Menschen gerät in den Fokus.

Damit einher geht eine deutliche Verlangsamung der ansonsten rasant gehaltenen Ereignisse. Ganz wunderbar gelingt es den Machern, das Tempo variabel zu halten und Akzente zu setzen; letztlich, um so den Horizont der Serie zu erweitern und sie aus der rein additiven Kettenhaftigkeit der Ereignisse herauszulösen. Ihr tiefere Ebenen hinzuzufügen und Konflikte zu inszenieren, die allgemeingültige sind. Natürlich werden elementare serielle Strukturen beibehalten, erkennbar z.B. am stets verwendeten Cliffhanger, der am Ende einer jeden Folge die Daumenschrauben gehörig zuzudrehen weiß. Der sich einstellende Suchtfaktor der zweiten Staffel ist enorm. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis das Chaos erneut losbricht – und so viel sei verraten: Die Staffel endet mit einem unglaublich actionreichen Finale, das den grünen Rasen Georgias mit hektoliterweise Blut in ein saftiges Rot färben wird.

Silent Hill: Revelation 3D

(F / USA / CAN 2012, Regie: Michael J. Bassett)

Revelation, Retribution! Extinction, Apocalypse!
von Louis Vazquez

Heather (Adelaide Clemens), die Neue an der Highschool, heißt eigentlich Sharon und weiß schon am ersten Tag, dass sie nicht lange bleiben wird. Sie glaubt, das liege daran, dass ihr …

Heather (Adelaide Clemens), die Neue an der Highschool, heißt eigentlich Sharon und weiß schon am ersten Tag, dass sie nicht lange bleiben wird. Sie glaubt, das liege daran, dass ihr Vater Harry (Sean Bean) vor Jahren einen Mord begangen hat und seitdem mit ihr auf der Flucht ist. Sie ahnt nicht, dass die Gefahr noch viel größer ist – vor allem für sie selbst.

Denn schon als Kind – das könnte man noch aus dem ersten Teil der Reihe wissen – zog es sie schlafwandelnd immer wieder zum geheimnisvollen Geisterort Silent Hill hin, wo unterirdische Feuer brennen und Asche vom Himmel regnet. Gelegentlich kippt der Ort aus der ausreichend trostlosen Realität sogar in ein höllisches Zwischenreich voller tödlicher Bedrohungen. Sharons Mutter (Radha Mitchell) konnte ihre Tochter damals zwar retten, musste aber selbst in der Höllendimension zurückbleiben. Seitdem flieht der Vater mit der ahnungslosen Sharon vor den Anhängern eines gefährlichen Kults, der mysteriöse Ziele verfolgt und das Mädchen nach Silent Hill zurückbringen will. Dass das gelingt, versteht sich von selbst, denn schließlich soll die Franchise sechs Jahre nach dem Startschuss endlich in Gang kommen.

Die Fortsetzung der ersten Adaption der Computer- bzw. Konsolenspielreihe soll aber unbedingt auch für sich alleine stehen können, so die Filmemacher, und es trotzdem den Fans des Vorgängers Recht machen. Ebenso übrigens den Fans der Spiele und gewiss auch den Anhängern der genreverwandten Resident-Evil-Reihe. Denn immerhin teilen sich die Franchises nicht nur die albernen, verwechslungsanfälligen Baukasten-Titel, sondern auch die Produzenten. Während Paul W.S. Anderson sich mit seinen Resident-Evil-Filmen längst von der Vorlage gelöst hat, die Actionsequenzen fast kontextfrei, dafür abwechslungreich aufbaut und mit bekannten Handlungsfragmenten jongliert, hat „Silent Hill: Revelation 3D“ stets die Vorlage im Sinn, die sich vor allem durch die morbide, traurige Atmosphäre auszeichnet, einen charakteristischen Score und eine Langsamkeit der Spielentwicklung, die das Grauen umso heftiger hereinbrechen ließ.

Im Kino hat man gerade anfangs das Gefühl, in einen „Nightmare on Elm Street“-Film geraten zu sein, denn Regisseur und Autor Michael J. Bassett spielt mit Traum- und Wachzustand und lässt seine Heldin immer wieder aus der Realität gleiten. Sobald das Licht flackert, kann alles passieren. Besonders originell ist das nicht umgesetzt, so dass ein Traum im Traum bereits zu den raffiniertesten Kniffen gehören dürfte. Ansonsten setzt der Film, banal und effektiv, permanent auf akustische Jump Scares.

Mit zunehmendem Verlauf wird „Silent Hill: Revelation 3D“ die Ernsthaftigkeit zum Verhängnis, mit der er eine epische Story zu erzählen versucht. Wer hier gut und wer böse ist, lässt sich auf den ersten Blick nicht sagen, vor allem, wenn man die Vorgeschichte aus Teil 1 nicht kennt. Weil aber der Zuschauer sich nicht einfach nur gruseln darf, sondern alles verstehen soll, muss viel erklärt werden. Durch ein vorgelesenes Tagebuch zum Beispiel und durch Monologe, viele Monologe. Das wirkt manchmal wie die Handlungszusammenfassung einer Serie zu Beginn jeder neuen Episode. Mehr Tiefe gewinnt der Film durch seine breit getretene Vorgeschichte nicht, und der melancholischen Atmosphäre ist die hektische, umständliche Erzählweise nicht gerade zuträglich.

Auch beim zweiten Silent-Hill-Film erinnern zwar die Sets und die Monsterdesigns an das Nerven zerreißende Spiel gleichen Namens, aber Spannung will trotz einiger an „Hellraiser“ erinnernden Splattereinlagen so gut wie keine entstehen, weil die Figuren zu flach sind und die Handlung zu gleichförmig ist. Nahe liegende Möglichkeiten, die Geschichte mit ein paar Freiheiten von der Vorlage interessanter zu gestalten (und etwa aus dem Highschoolszenario mehr zu machen), werden übersehen oder ignoriert. Gerade einmal zwei Szenen, die beide streng genommen redundant sind und die Spielstruktur des Films umso deutlicher vor Augen führen, bleiben halbwegs im Gedächtnis: die Flucht vor einem spinnenartigen Monster, das aus Puppenteilen zusammengesetzt ist, die wiederum aus Menschen (!) hergestellt wurden, und der fast surreale Kampf gegen Zombie-Krankenschwestern, die sich nur bewegen, wenn sie etwas hören, und ansonsten sofort wieder reglos verharren. Beide Szenen allerdings würden mit Joystick bzw. Gamepad in der Hand mehr Spaß machen.

Immerhin: Viele interessante Schauspieler verstecken sich in kleinen Rollen, zum Beispiel Deborah Kara Unger, Carrie Ann Moss oder Martin Donovan. Hoffentlich haben sie genug Geld verdient, um sich nun wieder anspruchsvolleren Projekten widmen zu können.

Killing Them Softly

(USA 2012, Regie: Andrew Dominik)

Down and Out, Low and Dirty
von Harald Steinwender

Der Australier Andrew Dominik hat ein Faible für Outlaws – für Gangster, Diebe und Mörder; überhaupt für alle, die sich um Gesetze und Regeln einen Dreck scheren. Bereits in seinem …

Der Australier Andrew Dominik hat ein Faible für Outlaws – für Gangster, Diebe und Mörder; überhaupt für alle, die sich um Gesetze und Regeln einen Dreck scheren. Bereits in seinem Regiedebüt 'Chopper' (2000) erzählte Dominik die Lebensgeschichte des australischen Serienverbrechers Mark Brandon Read, der sein halbes Leben im Knast verbracht hatte, bevor er in seiner Heimat durch eine Reihe semi-autobiografischer Romane Kultstatus erlangte. Eric Bana gab Read als rassistischen Kotzbrocken, als echtes Scheusal. Auch Dominiks erste US-Produktion, der düster-lyrische Western 'The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford' ('Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford'; 2007), war eine ambitionierte und gegen die Mythen des Genres gebürstete Outlaw-Ballade, in der Brad Pitt den legendären Jesse James als Soziopathen anlegte, der mit seinen inneren Dämonen und einmal auch mit ganz realen Klapperschlangen ringt.

In seinem jüngsten Film, dem unabhängig produzierten Noir-Thriller 'Killing Them Softly', fährt der Regisseur nun eine ganze Batterie von psychotischen Unsympathen auf, die sich vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise und des US-Wahlkampfs 2008 gegenseitig ins Unglück reiten: dreckstarrende Junkies, endlos dumme Kleinkriminelle, alkoholkranke Killer, heruntergekommene Mafiosi, misogyne Schläger, engstirnige Hehler und inkompetente Diebe. Gespielt werden diese gescheiterten Existenzen und verlorenen Seelen mit viel Mut zur Hässlichkeit von Gangsterfilmveteranen wie James 'Tony Soprano' Gandolfini und dem ehemaligen 'GoodFella' Ray Liotta. Sekundiert werden sie von noch weitgehend unbekannten Schauspielern wie Scoot McNairy und – sensationell schmierig als Johnny-Rotten-Lookalike mit massivem Drogenproblem: Ben Mendelsohn. Einzig Brad Pitt als unterkühlter Auftragsmörder bringt so etwas wie Klasse in das Verliererpanoptikum: Mit getönter Sonnenbrille, schwarzer Lederjacke und Cowboystiefeln, Elvis-Haartolle und Koteletten tritt er, begleitet von Johnny Cashs 'The Man Comes Around', in diese schäbige Welt wie ein Relikt der Popkultur: ein mörderischer Rockabilly, der einem Jugenddrama der 50er Jahre entsprungen sein könnte. Seinen ersten Auftritt inszeniert Dominik überlebensgroß: Da gleitet die Kamera beinahe ehrfürchtig über den Asphalt und folgt den Stiefeln dieses mythischen Engels der Gewalt. Aber natürlich wird auch Pitts Killer, der bevorzugt 'sanft', also aus der Distanz tötet, bald als neurotischer Geck entzaubert.

'Killing Them Softly' ist eine Adaption von George V. Higgins‘ 1974 publiziertem Roman 'Cogan’s Trade', wobei das von Dominik geschriebene Drehbuch die Handlung der Vorlage zeitlich und räumlich disloziert, sie von Boston nach New Orleans verlegt und fast dreieinhalb Dekaden später, im Jahr 2008, ansiedelt. Der Plot allerdings ist zeitlos und funktioniert in den tristen nuller Jahren genauso gut wie in den 'wilden Siebzigern'. Nach einer furiosen Vorspannsequenz, bei der auf der Tonspur eine Rede Barak Obamas zerhackt wird, während die rabiate Montage das Publikum mit Schwarzblenden und Wackelkamera bestens auf die folgenden ruppigen eineinhalb Stunden einstimmt, lernen wir mit Frankie (McNairy) und Russell (Mendelsohn) zwei Gangster kennen, die bestenfalls kleine Fische sind. Als ein Hehler den beiden anbietet, eine illegale Pokerrunde zu überfallen, gelingt es ihnen immerhin, den Raubzug halbwegs professionell und ohne Blutbad über die Bühne zu bringen. Dumm nur, dass Markie (Liotta), der Organisator des Glücksspiels, vor Jahren schon einmal ausgeraubt wurde und seine Bosse, die örtliche Mafia, einen zweiten Überfall nicht ohne Gesichtsverlust hinnehmen können. Also wird Jackie Cogan (Brad Pitt) angeheuert, ein Profikiller, der die Diebe zur Strecke bringen soll. Für ihn ist es ein Leichtes, die Amateure ausfindig zu machen, und bald metzelt Cogan sich durch die Unterwelt. Dabei dreht der Film, der oft tote Zeit ausstellt, ausschließlich an dezidiert öden Orten spielt und von seinen Slang-Dialogen lebt, erst beim Tod von Liottas Figur wirklich auf: in einer furios inszenierten Actionsequenz, die ins Endlose zerdehnt wird und zur irrwitzig-delirierenden Hommage an die barocken Mordtableaus aus Dario Argentos Neo-Gialli 'Opera' ('Terror in der Oper'; 1987) und 'La sindrome di Stendhal' ('Das Stendhal-Syndrom'; 1996) gerät. Alleine diese Szene lohnt den Kinobesuch.

Insgesamt entwirft 'Killing Them Softly' ein düsteres und tristes Zerrbild der USA; eine reine Männerwelt, die von Gier, Frauenhass und Egoismus angetrieben wird, wobei das Gangstertum, wie so oft im Genre, als Metapher für den Raubtierkapitalismus und den Zustand der Nation fungiert. Das mag alles andere als subtil sein, insbesondere wenn Reden des scheidenden Präsidenten George Bush und der Wahlkämpfer Barack Obama und John McCain hochsymbolisch den Begleitsound zu Mord und Totschlag liefern. Aber manchmal muss eine Botschaft übereindeutig sein, um ihr Publikum zu erreichen. Damit ähnelt der Film seinen eigentlichen Vorbildern, den klassischen B-Filmen Hollywoods, denen er Ehrerbietung zollt, während er sie dekonstruiert. Und wenn die Politikerreden einer Kakophonie gleich im Hintergrund rauschen, so behält doch der Killer das letzte Wort: Amerika, das sei kein Land. Amerika, das ist vor allem Business. Und dann, an seinen Sitznachbarn in der Kneipe gewandt: 'Und nun, verdammt nochmal, gib mir mein Geld!' Wie der zweite große Film Noir dieses Jahres, William Friedkins 'Killer Joe' (2011), steht 'Killing Me Softly' für einen neuen Zynismus, geboren aus dem Abstieg Amerikas: dunkle, böse B-Pictures mit fiesem Humor und schmutziger Gewalt; Filme, die hart und bitter sind und ohne jede Sozialromantik auskommen. Die Ritterlichkeit, die bei den verkappten Romantikern Chandler und Hammett noch als Ahnung vorhanden war, ist endgültig verloren gegangen. Hier gibt es nur noch Söldner, Schmutz und Schund, Gewalt und Gefühlskälte. Nach seinem Gefängnisfilm und dem Outlaw-Western ist Dominik über den Gangsterfilm hinausgeschossen und direkt beim post-hardboiled Noir angelangt.

Haus der Sünde

(F 2011, Regie: Bertrand Bonello)

Hinter schweren Vorhängen
von Wolfgang Nierlin

„Erinnerungen an ein Freudenhaus“ lautet der Untertitel von Bertrand Bonellos Film „L’Apollonide (Souvenirs de la maison close)“, der in Deutschland nach seiner kurzen Kinoauswertung jetzt auch auf DVD unter dem …

„Erinnerungen an ein Freudenhaus“ lautet der Untertitel von Bertrand Bonellos Film „L’Apollonide (Souvenirs de la maison close)“, der in Deutschland nach seiner kurzen Kinoauswertung jetzt auch auf DVD unter dem spekulativen Titel „Haus der Sünde“ veröffentlicht wird. Damit ist bereits eine Spur gelegt in jene ferne Vergangenheit des Fin de siècle, das als Zeitenwende zugleich einen Epochenwechsel markiert und den kulturellen Verfall mit dem Beginn der Moderne gleichsetzt. „Ich bin so müde, ich könnte ewig schlafen“, lautet entsprechend der erste Satz von Bonellos ästhetisch erlesenem Abgesang auf das Ende einer Epoche und eines Gewerbes, das nicht zuletzt durch politische Veränderungen forciert wird. Später sind die frivolen Schwarzweißfotografien des Vorspanns, Ansichten von Prostituierten und des Bordellbetriebs, unterlegt mit Soulmusik von The Mighty Hannibal („The Right To Love You“). Doch in die Klage über den kulturellen Niedergang mischt sich auch die Trauer über das Schicksal jener Frauen, die zu einer hermetischen Existenz („verhurter Hurenberuf“) verurteilt waren. „Freiheit gibt’s draußen“, sagt diesbezüglich einmal die nachdenkliche Bordellbetreiberin Marie France Dallaire (Noémie Lvovsky).

Bereits der markante Prolog, zu dem der Film wie in einer Zeitschleife aus wechselnden Perspektiven immer wieder zurückkehrt, versammelt die Themen dieses brillanten, geheimnisvollen Werks. Die Prostituierte Madeleine (Alice Barnole), „die Jüdin“ genannt, wird von einem Freier misshandelt und entstellt. Aus dieser Tat spricht jedoch nicht nur die brutale Willkür der Macht, sondern ihre Erzählung evoziert in einer Mischung aus Traum und Realität auch eine quasi heilige Aura des Opfers, die im Bild der Sperma-Tränen kulminiert. Schwäche und Stärke, Verfügbarkeit und Geheimnis sind darin vereint. Die Prostituierte erscheint als Wesen, dessen Käuflichkeit nie total ist und dessen würdevolle Unnahbarkeit gerade zur Projektionsfläche für die männlichen Kunden – allesamt Industrielle und Aristokraten – wird. Während sich die Zeit dehnt oder im Kreis bewegt, inszeniert Bertrand Bonello das Bordell als phantasmagorischen und mythischen Ort. Prismen und optische Geräte, schwarze und blaue Zimmer gehören zu seinem Inventar; Masken, Verkleidungen und Rollenspiele zu seinen erotischen Inszenierungen von Lust und Begehren; und der schwere Rauch der Opiumpfeife verspricht künstliche Paradiese. „Nights in White Satin“ singen die Moody Blues dazu.

„Das hier ist kein billiges Hotel“, sagt die Madame einmal zu einer noch minderjährigen Bewerberin. Am Ende düsterer Gänge, hinter schweren Vorhängen und Zimmertüren, die in geschmackvoll ausgestattete Räume führen, sowie unter dem kristallinen Tönen der Champagner-Gläser, als „Gesang der Sirenen“ apostrophiert, erscheinen soziale Not und Krankheit zwar gedämpft; sie werden davon aber keineswegs verschluckt, sondern in oftmals neckischem Ton beim Ankleiden, Essen oder auch nur trägen Ruhen verhandelt. „Wir sind gestraft, weil wir es verdienen. Tripper wäre wie Urlaub“, sagt eines der Mädchen. Immer wieder legt sich ein dunkler Schatten auf die Anflüge von Heiterkeit und Spott. Aber Léa, Julie, Samira, Clotilde, Pauline und die anderen bilden auch eine verschworene Gemeinschaft und sind mit ihrer Schönheit, Frivolität und stolzer Eleganz wie „Feuerblumen“: „Wenn wir nicht brennen, wie soll die Nacht erhellt werden?“ Liebe und Trost und ein wenig Glück sind von ihnen zu haben, während Tod und Trauer immer vernehmlicher ihre Stimme erheben.

In ebenso kunstvollen wie erlesenen Bildern inhaliert Bonellos Ensemblefilm die Stimmung der Dekadenz, ohne ihr zu erliegen. Vielmehr konfrontiert er die visuelle Schönheit seiner Phantasien immer wieder mit historischen Realitäten, für die er zahlreiche Dokumente gefunden und teils auch eingearbeitet hat. Über verschiedene Drehbuchfassungen, wiederkehrende Motive in seinem Werk und die Arbeit im Schneideraum gibt ein der DVD beigegebenes Making-of Auskunft, das mit „Haus der Illusionen – Behind the Scenes“ betitelt ist und auch ein wenig von der genauen Planung und Regie des französischen Regisseurs (Jahrgang 1968) vermittelt, der hierzulande mit dem Film „Der Pornograph“ (2001) bekannt geworden ist. Allerdings wirkt der kurze Beitrag von David Ctiborsky und Éric Lorent, auch wenn er mit seinen großartigen Kapitelüberschriften anderes behauptet, nur mäßig geordnet und ziemlich überfrachtet. Und auch „Proben: Die Schauspielerinnen“, das zweite Filmhäppchen der Extras, ist wenig aussagekräftig. Es sieht aus wie der Mitschnitt eines Castings.

Der Pornograph

(F / CA 2001, Regie: Bertrand Bonello)

Refugien der Abgeschiedenheit
von Wolfgang Nierlin

Nicht versöhnt mit sich und ihren Daseinsgründen sind die Protagonisten in Bertrand Bonellos melancholischem Film „Der Pornograph“. Verschlossen, fast abweisend behaupten sie ihre schwankende Identität. Träge und verloren vollziehen sie …

Nicht versöhnt mit sich und ihren Daseinsgründen sind die Protagonisten in Bertrand Bonellos melancholischem Film „Der Pornograph“. Verschlossen, fast abweisend behaupten sie ihre schwankende Identität. Träge und verloren vollziehen sie Bewegungen, die aus der Gewissheit des Scheiterns zu resultieren scheinen und von einer existentialistischen Schwere grundiert sind. Eine wehmütige Abschiedsstimmung durchzieht die Bilder, deren Schönheit nüchtern und illusionslos ist. Im Aufbau von einer Mark Rothko-Ausstellung inspiriert, beschreibt der dreiteilige Film eine zeitliche und räumliche Bewegung, deren diskursive Schichtung in einer Reihe von Parallelmontagen und verschiedenen, übergangslos ineinandergreifenden fiktionalen Ebenen aufgelöst ist. Der als Musiker ausgebildete Bonello versetzt in seinem zweiten Langfilm sowohl die individuelle Lebensgeschichte seiner Figuren als auch ihren Lebensraum in eine dialektische Spannung, die trotz mancher Thesenhaftigkeit und einem leichten Hang zum – typisch französischen – Manierismus ein Gefühl der Vergeblichkeit zurücklässt. So sind die Anfänge von ihrem Ende überschattet, und im allmählichen Weggleiten werden die noch unbestimmten Energien eines neuerlichen Einschwingens spürbar.

Der unvergleichliche Jean-Pierre Léaud spielt den ehemals erfolgreichen Porno-Regisseur Jacques Laurent, der aus finanziellen Gründen gezwungen ist, wieder in sein altes Metier einzusteigen. Bald muss er jedoch erfahren, dass sich die Regeln verändert haben und sich von den alten Idealen unter den neuen Produktionsbedingungen kaum noch etwas retten lässt. Seine Suche nach Liebe und Schönheit, konzentriert in den wenigen, fast unmerklichen poetischen Augenblicken seiner Filme, wirkt wie der matte Glanz einer fernen Epoche. Naiv und wunderlich, theatralisch und würdevoll bewegt sich Laurent über das Set. Als Schlafwandler in einem verlorenen Traum ruht er gedankenschwer in sich selbst. Und doch ist sein Leben ein stetiger Prozess der Auflösung.

An diesem Punkt kommt es zu einer Wiederbegegnung mit seinem Sohn Joseph (Jérémie Rénier), der sich vor Jahren von ihm losgesagt hat. Joseph ist ein stiller junger Mann, der zärtlich und entschieden dabei ist, seinen politischen Aktivismus für ein ungewisses privates Glück zusammen mit seiner ebenso schweigsamen Freundin Monika (Alice Houri) aufzugeben. „Meine Zeit hat nichts zu feiern, und wir sind mitschuldig“, lautet sein Credo. Obwohl das Politische in Bonellos Film plakativ und parolenhaft gesetzt ist und mit dem Pathos einer verschworenen Jugend vorgetragen wird, ist doch auch in ihm die Trauer unwiederbringlicher Verluste und ein schmerzlicher Abgesang auf das Ende der Utopien gegenwärtig. In „Der Pornograph“ werden zögerlich Refugien des Privaten und der Abgeschiedenheit errichtet, um den Abschied von den Idealen und einen akuten Traditionsverlust in eine Form von innerer Stärke zu überführen. Immer wieder reflektiert Bonello auf der Bildebene deshalb das Verhältnis von Zivilisation und Natur, Stadt und Land. Noch in der Arbeit des Porno-Regisseurs, die Bonello mit derjenigen des Autorenfilmers identifiziert, wird diese latente Spannung übersetzt in den Konflikt zwischen Kunst und Kommerz, künstlerischer Identität und seelenlosem Profitdenken.

„Der Pornograph“ endet mit einem Zitat des italienischen Schriftstellers und Filmemachers Pier Paolo Pasolini: „Die Geschichte ist die Leidenschaft von Söhnen, die ihre Väter verstehen wollen.“ In der griechischen Tragödie, die für Pasolinis Geschichtsbegriff die Vorbilder lieferte, muss der Sohn die Schuld des Vaters auf sich nehmen. Bonellos Interpretation dieses Diktums zeigt in diesem nie endenden, elementaren Verhältnis einen Vater, der zum Sohn des eigenen Sohnes wird und wie dieser noch einmal neu anfängt.

In ihrem Haus

(F 2012, Regie: François Ozon)

Komplizierte Komplizenschaft
von Wolfgang Nierlin

Man spürt die Skepsis und ein unterdrücktes Unbehagen in Germains (Fabrice Luchini) Blick, als der Rektor des Lycée Gustave Flaubert zu Beginn des neuen Schuljahres dem versammelten Kollegium verkündet, dass …

Man spürt die Skepsis und ein unterdrücktes Unbehagen in Germains (Fabrice Luchini) Blick, als der Rektor des Lycée Gustave Flaubert zu Beginn des neuen Schuljahres dem versammelten Kollegium verkündet, dass an dem fortschrittlichen „Pilot-Gymnasium“ zukünftig Schuluniformen getragen werden sollen, um die „soziale Heterogenität“ der Schülerschaft nach außen abzumildern. Der stramm kulturkonservative Literatur-Lehrer mit der ernsten Miene hat nämlich etwas gegen „Gleichmacherei“ und moderne psychische Empfindlichkeiten. Der transparente, offene Charakter des Schulgebäudes und der darin propagierte antiautoritäre, von gegenseitigem Respekt getragene Geist scheinen dieser Abwehrhaltung diametral entgegengesetzt. „Barbaren bevölkern die Klassenzimmer“, schimpft Germain gegenüber seiner Frau Jeanne (Kristin Scott Thomas) nachdem er die Aufsätze seiner Zehntklässler gelesen hat. Und als Bettlektüre nimmt sich der kinderlose Pädagoge die französische Übersetzung („Malaise dans la civilisation“) von Sigmund Freuds „Das Unbehagen in der Kultur“ vor.

François Ozon unterlegt auf einem Splitscreen die Vorspanntitel seines neuen Films „In ihrem Haus“ („Dans la maison“), der nach einem Theaterstück des spanischen Autors Juan Mayorga entstand, mit den vielzähligen, sich einander schnell ablösenden Gesichtern der uniformierten Schülerinnen und Schüler. Der Zeitraffer macht aus ihnen eine Masse und spitzt das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft noch zu. Und just an dieser Stelle pickt sich Germain einen seiner Schüler heraus, um ihn in einer sich zunehmend komplizierenden Komplizenschaft zu fördern: Claude Garcia (Ernst Umhauer) ist ein begabter, aber sozial benachteiligter Schüler, der seinen Französischlehrer mit der Beschreibung eines Wochenendes überrascht, das der 16-Jährige im Haus seines Mitschülers Rapha (Bastien Ughetto) verbracht hat. Vor allem das regelrecht physische Eindringen in den „Familienleib“ der bürgerlichen Mittelschicht, das mit Claudes erotischem, auf Raphas attraktive Mutter Esther (Emmanuelle Seigner) gerichteten Begehren assoziiert ist, erregt Germains Aufmerksamkeit und literarische Lust.

Als Manipulator und Spiritus Rector befördert der Lehrer fortan die literarische Produktion seines Schützlings, begleitet kritisch und zugleich fasziniert die Fortsetzungen seines „Bildungsromans“ und treibt ihn dabei immer tiefer in die Intimität der Familie. Offensichtlich kompensiert Germain damit eigene literarische Defizite und private Frustrationen, die insgeheim auch sein Verhältnis zu seiner Frau widerspiegeln, die eine von ihm kritisch beäugte Galerie für moderne Kunst (Le Labyrinthe de Minotaure) betreibt. Germains Flucht vor dem eigenen Leben in die Phantasie seines Schülers, den er instrumentalisiert und literarisch ausbeutet, gewinnt dabei immer deutlicher selbstzerstörerische Züge. Und auch Claude dringt mit seinen Erlebnissen, Wünschen und Projektionen immer tiefer in den Körper der Ersatzfamilie ein.

François Ozon widmet sich auch in seinem aktuellen Werk der Erforschung familiärer Beziehungen, ihrer Störanfälligkeit und ihrem mythischen Gehalt. Überaus vielschichtig, ebenso künstlich wie kunstvoll vermischt der äußerst produktive französische Regisseur die unterschiedlichen Grade der Fiktion, wobei sich die erzählte Realität des Films und diejenige der literarischen Phantasie, von wechselnden Off-Erzählern zusammengeführt, einander immer mehr annähern, gewissermaßen ununterscheidbar werden. Die Bilder, ökonomisch organisiert und in einen Werkzusammenhang verweisend, folgen den Worten und transzendieren sie zugleich. Das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit, Erfindung und Realität wird dabei ebenso thematisiert wie die Funktion von Literatur und Kunst. Auch wenn man aus ihnen vielleicht nichts lernen könne, bildeten sie doch den Sinn für die Schönheit der Dinge aus, sagt Germain einmal: „Menschen brauchen gute Geschichten.“ Am Schluss, vor den erleuchteten Fenstern eines Wohnblocks, blicken Lehrer und Schüler gemeinsam auf die vielzähligen parallelen Leben und Dramen, die sich (in Anknüpfung an den Vorspann) vor ihnen zeigen und die die erzählerische Phantasie beflügeln.

Mondomanila

(PH / F 2012, Regie: Khavn de la Cruz)

I Wanna Know What Punk Is
von Andreas Thomas

„This is not a Film by …“ steht im Vorspann von „Mondomanila” und das hört sich ähnlich an wie “This is not a Love Song” von Public Image, die ja …

„This is not a Film by …“ steht im Vorspann von „Mondomanila” und das hört sich ähnlich an wie “This is not a Love Song” von Public Image, die ja auch keiner mehr so gut kennt wie die Sex Pistols, die aber meist trotzdem nicht Sid Vicious als Sänger hatten, sondern Johnny Rotten alias John Lydon, der selbdritt oder –zweit dann nun eben der verkappte Sänger beider Bands war und in einer gewissen stringenten Tradition des Punk stehend und tätig. Wobei wir, und das ist jetzt cool, eine Kurve gekriegt haben zu diesem Nichtfilm, um gleich dazu zu sagen, dass dieses auch eine Nichtfilm-Filmkritik ist, man könnte zusammenfassen, also eine Nicht-Film-Kritik, man könnte sagen, dass diese eine sein soll und sich eben auch bekennt zu Punk, jedenfalls zu dem, was er sein wollte, und zu dem, was er heute noch sein könnte, nämlich NICHTS, und deshalb eine NICHTFILMKRITIK sein.

Vor gefühlten 100 Jahren da sang mal die Melody-Rock-Band Foreigner „I Wanna Know What Punk is, I Want You To Show Me …“. Zu diesem Zeitpunkt war Punk tatsächlich schon tot und Jazz hat immer noch lustig gerochen und niemand hat‘s gemerkt, außer den Blitzmerkern von Foreigner, die nach Punk fragen; und Punk – wie gesagt, glänzt hauptsächlich dadurch, dass er, wie Dada, Kaka oder Pipi entweder Babykram oder eben gar nicht vorhanden ist, sobald jemand nach ihm greift,- oder dann eben komisch riecht.

Also bin auch ich konsequent und greife nicht nach einem Film, der kein Film ist, sondern eben höchstens Punk und das auf ziemlich überzeugende Weise. Das Beste, ich nehme es vorweg, ich kann nicht anders, an „Mondomalia“ ist tatsächlich die Musik, und die hat, soweit man das hier in Deutschland, denn die Philippinen sind weit weg (kennt jemand noch das umgedrehte Pendant zu philippinischem Punk, die berühmten Wallerts aus Göttingen?), überhaupt beurteilen kann, Punkformat, das heißt, sie setzt im besten Sinne fort, was so andernorts als Independent oder Underground oder so gehandelt wurde, bis etwa 2000 und dann irgendwie professionalisiert war. Mit anderen Worten, der Nicht-Regisseur hat einige veritable Popperlen geschrieben, die nicht nur schön leicht daneben im Keinfilm eingespielt, sondern auch genial komponiert sind, die an Bands wie Pavement erinnern und Laune machen, obwohl man darin überhaupt nicht englisch, sondern nur das verballhornte Spanisch der Philippinen hört: Trotzdem, nein, auch nicht deswegen geil!

Und der Nichtfilm? Naja, so ein verkappter und offenbar zurecht gestutzter Kindersoftporno, dessen mutmaßlich stärkste Szenen wahrscheinlich irgendwelchen kommerziellen Kriterien zuwiderliefen. Will sagen, dass kaum einer der Protagonisten älter als sechzehn ist, die meisten davon männlich, aber sie alle vor allem angeben, wie eine Tüte Mücken, wie schnell und wie oft sie wichsen und ficken und abspritzen könnten, so als wäre die Erotik ihr „Lebensmittelpunkt“ (auch eines meiner absoluten neuen Lieblingswörter), was sie auch sein muss, denn zu essen gibt’s nicht genug und das Wasser, der Rinnsal in den Slums (Upps, habe ich vergessen, zu sagen, dass der Nichtfilm in den verdammten Slums von Manila spielt?) besteht, wie die Wäscherin aus dem Nichtfilm genau aufführt, zum großen Teil eher aus Kacke, Kotze, Pisse und Kot als nur aus Wasser. Hier drin werden die Klamotten gewaschen der Kinder, die ihre Lektion gelernt haben und den Imperialismus und Rassismus der weißen Rasse erkannt. Die Jungs mit den Knoten in ihren Mägen, die sich, also ihre kleinen Ärsche, verkaufen müssen, damit sie und ihre Familien überleben können.

Ich gebe zu, ich werde emotional, aber auch der (Nicht-)Film wird es immer, wenn er der Wahrheit zu nahe kommt, gleichzeitig schafft er es aber, eine gerüttelte Distanz herzustellen zwischen Elend, Spaß und Ausbeutern. „Mondomanila“ ist kein Film, der um Entwicklungshilfe bettelt, sondern ein Film, der Gerechtigkeit einklagt, sein Tenor ist: Ihr weißen Ausbeuter mit Eurer wohltätigen Globalisierung, wir brauchen eure Hilfe nicht, denn wir kamen und kommen besser ohne euch zurecht. Und der Film, der ja dann doch genauso ein Film ist, wie diese Filmkritik eine Filmkritik, tut das, also das Einklagen, das Insistieren auf Gerechtigkeit, auf eine Art und Weise, wie sie mir noch nie begegnet ist bei einem Film aus einem Land mit solch hohen Lebensstandards. Und er tut das so wenig devot oder larmoyant oder melodramatisch, dass ich dem Staunen nicht entweiche.

Der Höhepunkt ist ein durchaus symbolhafter weißer alter Arsch, der sich ficken lassen will und hart ficken, nämlich den baby-tuntigen, armen und einzigen echten kleinen Philippino-Schwuli aus dem Ghetto. Er, und seine Inszenierung, erinnert an eine Mischung aus William Burroughs und jenen untergetauchten Altnazi aus dem berühmten Russ Meyer-Film „Im tiefen Tal der Superhexen“, er ist ein absolut menschenfeindlicher Rassist erster Güte. Nietzsche (oder nicht?) hätte seine Freude an ihm gehabt – oder wenigstens seine Syphilis.
Ich solidarisiere mich mit „Mondomanila“ total.

Am Himmel der Tag

(D 2012, Regie: Pola Schirin Beck)

Standard Operating Procedure
von Ricardo Brunn

Coming-of-Age-Filme bilden ein beliebtes Sujet bei Filmhochschulabsolventen und -absolventinnen. Oft genug selbst in einer Phase des Übergangs, verhandeln sie in ihren Filmen Themen wie die Entfremdung von den Eltern oder …

Coming-of-Age-Filme bilden ein beliebtes Sujet bei Filmhochschulabsolventen und
-absolventinnen. Oft genug selbst in einer Phase des Übergangs, verhandeln sie in ihren Filmen Themen wie die Entfremdung von den Eltern oder die Sehnsucht nach Freiheit, kombiniert mit Fragen nach der eigenen Identität. Damit verbunden geht es in diesen Filmen nicht selten auch um Grenzerfahrungen, weshalb die Selbstfindung der Adoleszenten hin und wieder ins Ausland (Afrika, wenn es besonders exotisch sein soll) verlegt wird. Meistens bleiben die Protagonisten allerdings daheim. Vornehmlich in Berlin, denn der hier ansässige RBB unterstützt seit geraumer Zeit die Arbeiten der HFF „Konrad Wolf“ sowie der DFFB. In der neuen Reihe „Leuchtstoff“ sollen nun noch einmal speziell Filme aus der Region Berlin-Brandenburg unterstützt werden, die nach Aussage des Senders „durch herausragende Qualität, großes Engagement und Leidenschaft beeindrucken“.

Den Anfang macht Pola Beck, die in „Am Himmel der Tag“ eine klassische Coming-of-Age-Geschichte erzählt: Lara ist unzufrieden mit ihrem Leben. Orientierungslos driftet sie durch ihr Architekturstudium, welches sie vor allem für ihre Eltern begonnen hat. Eine ungewollte Schwangerschaft, eingeleitet durch einen Barkeeper auf dem Disco-Klo, kommt da nicht ungelegen, bietet der langsam wachsende Embryo doch eine gute Gelegenheit, sich dem Leben zu stellen. Doch entgegen aller Hoffnung verläuft die Schwangerschaft nicht problemlos und entwickelt sich zu einer schweren Prüfung auf dem Weg zum Erwachsenwerden.

Die verspätete Adoleszenz Laras wird im Folgenden mit der dramaturgischen Akrobatik eines wohlerzogenen deutschen Abschlussfilmes geschildert. Das Verhältnis zu den Eltern (insbesondere zur Mutter), ist, wie könnte es anders sein, angespannt. Und selbstverständlich wird ausgestellt, wie sehr sich die Eltern in ihrem Upper-Middleclass-Architekten-Wohlstand bei traditionellem Filmabendessen mit gutem Wein voneinander und ihrer Tochter entfremdet haben. Und selbstverständlich darf auch ein Streit nicht fehlen, den Lara aus der Ferne beobachtet und anhand dessen für den Zuschauer klar wird, dass die Eltern als Bezugspersonen und Rettungsanker ausgedient haben. Um diese Strategie der Vereinsamung weiter voranzutreiben, ist dann auch die Mitarbeiterin des sozialmedizinischen Dienstes – denn Lara ist anfangs noch unsicher, ob sie das Kind behalten möchte – nichts weiter als eine emotionslose Schreibtischtäterin.

Ich wage zu behaupten, dass diese Situation mangelhaft bis gar nicht recherchiert ist, denn wer einmal in einer solchen Einrichtung vorbeischaut, wird feststellen, dass die MitarbeiterInnen eine Beratungsbescheinigung zum Schwangerschaftsabbruch nicht einfach ausfüllen und abstempeln, sondern zuvor sehr gezielt nach den familiären Hintergründen der Betroffenen sowie den Gründen für eine mögliche Abtreibung fragen. Schließlich geht es nicht um die rein bürokratische Genehmigung einer Abtreibung, sondern um den Erhalt von Leben und das Abwägen der Chancen, die diesem Leben geboten werden können oder verwehrt sind. Aber eine die Protagonistin isolierende Umgebung – da darf auch der aggressive Straßenverkehr der Metropole nicht fehlen – dient dem dramaturgischen Konzept eben mehr, welches die Kamera mit ihrem weitestgehenden Verzicht auf Totalen und mit gezielten Unschärfen um die Protagonistin ausstaffieren darf. Und beim Farbkonzept wird natürlich immer wieder auf das einsamste Kolorit des Farbkreises zurückgegriffen. Pullover, Taschen, Wandfarben, Bettbezüge – es bleibt subtil, aber dennoch das altbekannte Blau.

In diesem Zusammenhang genügt es beispielsweise auch, sich einmal vage vorzustellen, wie das Streichen eines Zimmers bei Mittzwanzigerinnen inszeniert sein könnte – und genau so sieht es dann auch aus. Oder da ist die gleich zu Beginn stattfindende Begegnung Laras mit dem kauzigen Nachbarn Elvar. In der Sekunde, in der er den Fahrstuhl betritt, ahnt man schon, in welchem Stockwerk die Reise am Schluss des Filmes enden wird. Zu aufdringlich skurril ist die Begegnung in Szene gesetzt, in der Lara auch noch einen symbolisch aufgeladenen, weil einsamen Guppy geschenkt bekommt. „Die sind super, die haben kein Gedächtnis“, flüstert der Nachbar Lara zu. Man wünschte sich, die Regisseurin hätte eines – ein Bildgedächtnis nämlich. Denn unter all den pittoresken Blaupausen wird selbst auf die obligatorischen Zugvögel als transitorisches Werkzeug nicht verzichtet.

Auch wenn nicht alles konsequent auserzählt und manchmal nur angedeutet wird, so werden doch nach und nach die handlungsbetonten Erzählkonventionen artig abgearbeitet und mit bekannten Mitteln professionell umgesetzt. Selbst die Wahl der Hauptdarstellerin offenbart den Hang der Regisseurin zu großzügig dosierter Konformität. Unabhängig von ihrer bravourösen Leistung, kommt man nicht umhin, Aylin Tezel unentwegt mit Everybodys-Darlings wie Lena Meyer-Landrut oder Nora Tschirner zu verwechseln. Es ist es schon verwunderlich, welch rehäugiges Frauenbild seit einiger Zeit im deutschen Kino und TV bedient und – auch in diesem Abschlussfilm – konsequent breitgetreten wird.

„Am Himmel der Tag“, dessen Hauptdarstellerin in manchen Szenen zu Tränen rührt und der über weite Strecken trotzdem erfreulich wenig rührselig daher kommt, ist bei aller Souveränität leider einer dieser Filme, auf den sich in seiner Gemachtheit irgendwie alle einigen können. Er ist handwerklich sicher inszeniert, zugleich aber unausstehlich brav und fernsehgerecht. Immerhin, so könnte gutes Fernsehen in näherer Zukunft aussehen und vielleicht verlange ich einfach zu viel von diesem Abschlussfilm. Vielleicht verteidige ich aber auch nur eine Form des Kinos, bei dem ich Dringlichkeit, eine unbändige Leidenschaft für das Medium und ein aufrichtiges Engagement für das gewählte Thema spüre, welches hier in seinem Spiel mit der Tabuisierung des Kindstodes gerade einmal die austauschbare Schablone für ein allzu bekanntes Coming-of-Age-Szenario liefert.

Mit „Am Himmel der Tag“ ist es wie mit den Strebern in der Schule: Das Einzige, worauf der Lehrer bei der Rückgabe der mit Note 1 beurteilten Klassenarbeit noch hinweisen kann, ist, dass das Auswendiglernen eben nicht alles ist.

Müll im Garten Eden

(D 2011, Regie: Fatih Akin)

Höllische Haufen
von Harald Mühlbeyer

2007 kam Fatih Akin nach Camburnu; das Bergdorf am Schwarzen Meer war Heimat seiner Großeltern, hier drehte Akin für „Auf der anderen Seite“. Und musste am Drehort feststellen, wie ein …

2007 kam Fatih Akin nach Camburnu; das Bergdorf am Schwarzen Meer war Heimat seiner Großeltern, hier drehte Akin für „Auf der anderen Seite“. Und musste am Drehort feststellen, wie ein Paradies zerstört wird. Seine Langzeitdokumentation „Müll im Garten Eden“ zeigt den vergeblichen Kampf der Einwohner gegen die autoritäre Obrigkeit, zeigt die verhallenden Aufschreie gegen eine umweltzerstörerische Mülldeponie.

Die Kamera fliegt über die Idylle, über sattgrüne Teeplantagen, heimelige Häuser, im Hintergrund das Meer – und schon gerät der überdimensionale Müllplatz in den Blick, ein höllischer Haufen Unrat. Der wurde von den Behörden dahingesetzt mit löblicher Absicht: Denn zuvor war es Brauch, Abfall ganz einfach im Meer zu entsorgen. Die Ausführung aber war und ist empörend, und mit filmischem Furor deckt Akin die Missstände Punkt für Punkt auf. Wie Gesetze und behördliche Bau- und Umweltverfügungen systematisch umgangen wurden (auch, weil sie vermutlich bewusst schwammig formuliert sind), wie jeder Protest der Bevölkerung schlicht übergangen wurde, wie der Bürgermeister, der sich über den Dienstweg beschwerte, mit Klagen überzogen wurde. Wie frühzeitige Warnungen ignoriert wurden und wie die vorhergesagten Probleme dann umso vehementer eintraten.

Schon in der Bauphase war die schwarze Plastikplane, die Boden und Grundwasser vor verseuchten Flüssigkeiten aus dem Müll schützen sollte, von den Baumaschinen zerstört worden. Problem? Nein, kein Problem. Kann man ausbessern. Was, wenn das Giftwasser über den Rand der Müllkippe schwappt? Auch kein Problem. Solange es nicht stark regnet. Wenn dann der örtliche Bach tot ist, wenn die Plantagen überschwemmt werden – es ist fast rührend naiv, wie der zuständige Ingenieur hilflos herumdruckst: Wer kann im Sommer schon mit einem so heftigen Gewitter rechnen? Es war ganz einfach Allahs Wille.

Hierzulande protestiert man gegen Bahnhöfe und Flughäfen. Im Osten der Türkei geht es um das Leben eines Dorfes, um das Überleben. Akin blickt auf den Müll, und darauf, was er mit dem Dorf macht, mit seinen Bewohnern, die protestieren, die resignieren, die wegziehen. Mit einer Landschaft, die mutwillig verseucht wird. Alles legitimiert durch eine Scheindemokratie, in der die Mitsprache der Bevölkerung reines Alibi ist, in der weggeschaut, weggehört und weitergemacht wird. Selbstherrlichkeit regiert.

Akin ist sozusagen der internationale Fürsprecher des Protestes, hat das Thema schon vor Jahren in die hiesigen Qualitätszeitungen gebracht, veröffentlicht nun diesen Film, in dem sich Wut gegen Willkür und Respekt vor der Zivilcourage begegnen. Was der Film vermissen lässt, ist eine packende Dramaturgie. Erratisch werden einzelne Phasen von Bau, Einwänden, Umweltkatastrophen abgehakt. Das ist szenisch, im Einzelnen spannend, in den Porträts einzelner Menschen, in der Kette der Rücksichtslosigkeiten und obrigkeitlichen Willkürlichkeiten. Im Ganzen aber hat der Film nicht die Kraft, die seinem Thema innewohnt.

Das Finale ist bezeichnend: Da bricht tatsächlich das Becken der ohnehin nur provisorischen und völlig unterdimensionierten Kläranlage: Außer geborstenem Beton, zwischen Teepflanzen rinnendem Müllwasser und einem toten Hund unter den Trümmern zeigt Akin davon nichts. Dabei wäre das das eine, große Bild für diese höllische Landschaftszerstörung, auf die der ganze Film hinauslaufen könnte.

Shut up and play the Hits

(GB 2012, Regie: Will Lovelace, Dylan Southern)

I Was A Mod Before You Was A Mod
von Ulrich Kriest

War offenbar ein ziemlich großer Abend, dieser Abschied mit Ansage, den LCD Soundsystem am 2. April 2010 im New Yorker Madison Square Garden hinlegten. Es gibt ein paar magische Momente …

War offenbar ein ziemlich großer Abend, dieser Abschied mit Ansage, den LCD Soundsystem am 2. April 2010 im New Yorker Madison Square Garden hinlegten. Es gibt ein paar magische Momente in diesem Film, die nahe legen zu bedauern, nicht dabei gewesen zu sein. Zum Beispiel, wenn der Indie-Rock provozierend auf der Stelle tritt, James Murphy eine Etage höher steigt, sich hinstellt, die Augen schließt, die Arme ausbreitet – und plötzlich verwandelt sich die Halle in eine Meta-Disco. Die Erlösung von Rock durch Disco – ein Traum! „Emotional Rescue“.

Murphy, ein Pop-Star, der schon mit seinem ersten Hit davon erzählte, dass seine auf dem symbolischem Kapital der Hipness gründende Existenz sich überlebt habe, tritt mit einem Paukenschlag ab und geht mit dem Gedanken hausieren, er sei jetzt ein Rentier, der sich endlich seinen anderen Hobbys widmen könne. Zum Beispiel? Im Bett bleiben und mit dem Hund schmusen oder – Lennon hat’s vorgemacht – seine Fertigkeiten in Sachen Kaffeekochen upgraden. Oder sich ums „DFA“-Label kümmern. Oder Schriftsteller werden? „Shut Up And Play The Hits“ erzählt von den letzten Tagen des Projekts LCD Soundsystem, hinter dem als Mastermind James Murphy steckt – und das erst zur »Band« wurde, als es als Live-Act nachgefragt wurde. So wie Murphy zum Pop-Star wurde, der a) über jede Menge durchreflektiertes cooles Wissen verfügt und b) kein Pop-Star sein wollte. Wir erinnern uns: Ausgestattet mit dem Popwissen eines Ü30-Hipster-DJs musste es Murphy erleben, dass das Internet sein symbolisches Kapital »vergesellschaftete«, insofern immer mehr Musik problemlos verfügbar wurde und Insider-Wissen (seinerzeit noch obskure No Wave-Bands Bands der frühen 80er Jahre wie Delta 5 oder Liquid Liquid) nicht länger Reflex einer Fan-Biografie, sondern »nur« Resultat einer längeren Internet-Recherche wurde. Genau davon handelte „Losing my Edge“, der Song, der Murphy 2002 bekannt machte.

„Hip“ ist, wenn man »dabei« ist und nicht, wenn man davon gehört hat. Und jetzt, also am 2. April 2010, steht Murphy auf der Bühne und dabei immer etwas neben sich – und feiert seinen Abschied. Und kann sich dabei die Tränen nicht verkneifen, obwohl er die ganze Zeit ungläubig zu staunen scheint, es müsse sich ohnehin um einen Traum handeln. Ein Traum, der auf der anderen Seite 20.000 Menschen hysterisch und tanzen, ausrasten und gleichfalls losheulen lässt. Es gibt ja durchaus kompetente Musik-Kritiker, die halten LCD Soundsystem für die wichtigste Band der Nullerjahre. Wer „Shut Up … „ gesehen hat, wird kaum noch widersprechen wollen, wäre da nicht die Ambition der Filmemacher, mehr sein zu wollen als »this generation’s THE LAST WALTZ«, weshalb Murphy auch noch den Journalisten und Schriftsteller Chuck Klosterman zum Gespräch trifft. Dieses Gespräch, recht kompetent und scharfsinnig, wird allerdings zum Soundtrack von prä- und postkonzertanten Impressionen missbraucht und verschnitten. Und hier liegt die Crux: wer Murphy und LCD Soundsystem kennt und schätzt, weiß auch um Murphys zahlreiche geistreiche und vor Esprit sprudelnde Interviews, deren Niveau die snippets aus dem Gespräch mit Klosterman nie erreichen.

Wer aber Murphy und LCD Soundsystem bislang nicht oder nur am Rande wahrgenommen hat, wird Murphy für einen etwas verstiegenen und schrulligen Melancholiker halten. Was wiederum nur bedingt zur mitreißenden Abschieds-Live-Performance passt, die Menschen zurück ließ, die glücklich Rotz und Wasser heulten, weil sie dabei sein durften. Und natürlich Hoffnung schöpfen, wenn Murphy im Interview erklärt, dass die Auflösung von LCD Soundsystem vielleicht sein größter Fehler war. Parallel zum Film ist eine Box erschienen, die das gesamte Konzert dokumentiert und nicht nur 11 von 29 Songs. Wir sollten James Murphy nicht vorschnell zum alten Eisen zählen.

Silver Linings – Wenn du mir, dann ich dir

(USA 2012, Regie: David O. Russell)

Stay cool is still the main rule!
von Ulrich Kriest

Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in der Psychiatrie kehrt der mittlerweile ehemalige Aushilfslehrer Pat Solitano in sein Elternhaus in Philadelphia zurück. Job weg, Haus weg und die Ehefrau Nikki ist auch …

Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in der Psychiatrie kehrt der mittlerweile ehemalige Aushilfslehrer Pat Solitano in sein Elternhaus in Philadelphia zurück. Job weg, Haus weg und die Ehefrau Nikki ist auch in weiter Ferne: Kontaktverbot. Doch Pat ist guter Dinge: zwar wurde in der Psychiatrie eine bipolare Störung diagnostiziert, aber Pat ist gut in Form, verweigert die verordneten Medikamente und will sein altes Leben zurück.

Die Sache damals, als er einen Kollegen mit Nikki unter der Dusche beim Sex erwischte und halbtot prügelte – vergessen! Der Aufenthalt in der Psychiatrie zeitigt Wirkung, wenngleich sich Pat immer noch sehr darüber echauffieren kann, wie Hemingway die Liebesgeschichte von „In einem anderen Land“ an die Wand fährt – ohne jede Rücksicht auf die positiven Erwartungen seiner Leser! Dabei hat Pat doch in der Klinik gelernt, dass alles, was passiert, einen Sinn hat und dass man in allem möglichst das Gute sehen solle. Every cloud, habe, wie man so sagt, a silver lining. Oder?

Eines Abends lernt er zufällig die viel jüngere Tiffany kennen, die nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes, auch ein paar psychische Probleme hat. Ihre Depressionen bekämpfte sie mit wahllosem Sex am Arbeitsplatz, bis sie gefeuert wurde. Pat findet, dass Tiffany nicht alle Tassen im Schrank hat, was die nicht davon abhält, sich weiterhin für ihn zu interessieren. Vielleicht, weil sie sich in ihm wiedererkennt?

Man ahnt, was David O. Russell („Three Kings“, „The Fighter“) an der Romanvorlage von Matthew Quick interessiert haben könnte: Eine unkonventionelle Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen mit erheblichen psychischen Problemen, gestaltet in der Manier einer klassischen Screwball Comedy vor dem mit realistischem Anspruch gezeichnetem Milieu des US-amerikanischen Kleinbürgertums? Das wäre anspruchsvoll genug, doch Russell weitet den Blick noch erheblich, bis ein komplexes Familienpanorama voller Spiegelungen und Verdoppelungen etabliert ist: Familienaufstellung als Aufstellung dysfunktionaler Familien.

Der von Robert De Niro gespielte Vater Pats, der gleichfalls Pat heißt, ist auch so ein Choleriker, der sein Leben nur dank einiger Ticks im Griff hat. Wehe, wenn die TV-Fernbedienungen mal nicht ordentlich aufgereiht am richtigen Ort liegen! Als glühender Fan der Philadelphia Eagles hat er zwar Stadionverbot, kompensiert diese Schmach aber durch irrwitzige Sportwetten. Im Hintergrund beider Männer wirkt die Ehefrau und Mutter, welche Dolores (= Schmerzen) heißt. Weil Tiffany offenbar an Nikki vorbei muss, um zu Pat zu gelangen, schlägt sie ihm einen Handel vor: sie wird ihm den (Brief-)Kontakt zur Ex ermöglichen, wenn er sie im Gegenzug zu einem Tanzwettbewerb begleitet. Ausgerechnet! Tanz als Paar- oder Gruppentanz fungiert ja in Zeiten von Casting-Shows als sozialintegrative Disziplinierungsstrategie schlechthin – und Pat genießt sein den Alltag strukturierendes Training auch sichtlich.

Doch dann kommen Pat Senior und seine Sportwetten der Therapie noch einmal in die Quere – und plötzlich erzählt „Silver Linings“ so viele Geschichten von Familie, Neubeginn, alten Rechnungen, Liebe, Tanz, Disziplin und Sportwetten gleichzeitig, dass es einer koketten, aber entschlossenen Kumpanei mit den Genre-Spielregeln der »romantic comedy« bedarf, um die Vielzahl von Fäden wider alle Milieutreue und alle Vernunft zu ordnen.

Die radikale Unbekümmertheit, mit der Russell und sein erstklassiges Darsteller-Ensemble diese »unglaubliche« Rettungsstation ansteuern, beweist Mut und Liebe zum Kino. Zum ganz altmodischen Kino, versteht sich! Einem Kino, das um die Risiken des Realismus weiß und trotzdem realitätshaltige Geschichten erzählen möchte. Für ein Publikum, das Soap-gestählt ganz anders tickt. Ob das funktioniert, wird man sehen. Spätestens bei den „Oscars“, wo „Silver Linings Playbook“ als stiller Geheimtipp in den Ring steigt.

Beasts of the Southern Wild

(USA 2012, Regie: Benh Zeitlin)

Magischer Realismus
von Carsten Happe

Wenn das Jahresende naht und mit ihm die Holiday Season, die der deutschen Weihnachtszeit nur ungefähr ähnelt, wird in Hollywood zusammengerechnet und auseinanderdividiert, was als Oscar-Kandidat Bestand hat und mit …

Wenn das Jahresende naht und mit ihm die Holiday Season, die der deutschen Weihnachtszeit nur ungefähr ähnelt, wird in Hollywood zusammengerechnet und auseinanderdividiert, was als Oscar-Kandidat Bestand hat und mit sanftem Druck „for your consideration“ ins millionenschwere Rennen geschickt wird. Neben den Last-Minute-Schwergewichten wie Steven Spielbergs „Lincoln“, Kathryn Bigelows Bin-Laden-Hatz „Zero Dark Thirty“ und der opulenten Musicaladaption „Les Miserables“ hält sich ein kleines Independentjuwel seit dem Sundance Festival im vergangenen Januar dauerhaft im Gespräch: „Beasts of the Southern Wild“ des Newcomers Benh Zeitlin. Und seit dem Preis fürs beste Debüt in Cannes steigen seine Chancen kontinuierlich.

Das Wunderwerk des magischen Realismus folgt keinen herkömmlichen narrativen Strukturen, vielmehr lässt es sich treiben wie seine sechsjährige Hauptfigur Hushpuppy und übernimmt fraglos ihre Perspektive einer wundersamen Welt. Einer Welt im Umbruch, wie es scheint, denn ein Unwetter zieht auf über dem mutmaßlichen Süden der USA – konkret verortet wird der Schauplatz nie, doch die Anklänge an den Hurrikan Katrina sind augenfällig. Hushpuppy und ihr kranker Vater erwarten nicht nur den Sturm, das kleine Energiebündel erahnt zudem die Ankunft der Aurochs, prähistorischer Monster, die die schmelzenden Polkappen nun wieder freigegeben haben.

Es empfiehlt sich, „Beasts of the Southern Wild“ im Zustand des Halbschlafs zu sehen oder
den Verstand möglichst freizuräumen für eine Erfahrung zwischen Imagination und harter Realität, zwischen Traum und einer ganz eigenen, keiner Logik oder Gesetzen folgenden Wirklichkeit. Wer sich darauf einlassen kann, erlebt einen sinnlichen Rausch exaltierter Bilder einer entfesselten Kamera, einer fast greifbaren Atmosphäre überbordender Lebenslust im Angesicht der drohenden Katastrophe sowie in Quvenzhané Wallis eine phänomenale Hauptdarstellerin – ebenso Laie wie alle anderen Akteure –, die man augenblicklich ins Herz schließt und nicht mehr loslassen möchte.

Nach dem formidablen „Winter’s Bone“, der vor zwei Jahren insbesondere seine Hauptdarstellerin Jennifer Lawrence in die Umlaufbahn schoss, und dem furiosen „Bellflower“, dem hierzulande ein Kinostart verwehrt blieb, zeugt auch „Beasts of the Southern Wild“ von einer neuen Vitalität und Leidenschaft im amerikanischen Independent-Kino, die weit mehr überwältigt und verzückt als alle Superhelden und Bösewichter Hollywoods zusammen.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Der Aufsteiger

(F / B 2011, Regie: Pierre Schoeller )

Die Gesamtheit der Dementis
von Andreas Busche

Man muss sich die aktuelle politische Praxis als eine Kette von Affekthandlungen vorstellen. Das Tempo der medialen Verwertungsmaschinerie gibt den Takt vor, der dem Personal gerade genug Zeit zum Reagieren …

Man muss sich die aktuelle politische Praxis als eine Kette von Affekthandlungen vorstellen. Das Tempo der medialen Verwertungsmaschinerie gibt den Takt vor, der dem Personal gerade genug Zeit zum Reagieren lässt. Die politische Inszenierung beschränkt sich meist auf Ablenkungsmanöver oder Schadensbegrenzung, es herrscht ständige Alarmbereitschaft. Wer versorgt die Öffentlichkeit schneller mit einer unqualifizierten Meinung, welches unbedachte Statement gilt es als nächstes zu dementieren? Das Dementi ist das exemplarische taktische Manöver in der modernen Polit-Kommunikation, es beschreibt anschaulich die Ohnmacht der Mächtigen im Angesicht der freien Kräfte, welche die politischen Entscheidungsprozesse in Gang setzen. Aus der Gesamtheit der Dementis ergibt sich ex negativo ein repräsentatives Stimmungsbild des politischen Diskurses.

Damit ist die Dramaturgie von Pierre Schoellers Satire „Der Aufsteiger“ eigentlich schon auf den Punkt gebracht. In der Krisen-Kommunikation zählt nur die Wahrnehmung, heißt es einmal im Film. Schoeller gewährt einen nüchternen Einblick in die Mechanismen der Demokratie-Arbeit: am Beispiel eines kleinen Rädchens im Getriebe, das eine Verkettung glücklicher Umstände (Talent gehört nicht dazu, nicht einmal ein gehöriges Maß an Abgebrühtheit) auf die große Bühne der Politik befördert.

Bezeichnenderweise markieren zwei Verkehrsunfälle die entscheidenden Wendepunkte im beruflichen Werdegang von Bertrand Saint-Jean. Saint-Jean ist Minister für das französische Transportwesen – jede Krise des Verkehrs ist gleichbedeutend mit einem Scheitern seiner Politik. Er selbst bildet eine träge Masse, die erst unter äußerer Einwirkung beschleunigt. Seine politischen Standpunkte entspringen eher politischem Pragmatismus als ehrlicher Überzeugung. Warum er so vehement gegen die Privatisierung der französischen Bahnhöfe opponiert, weiß er wohl selbst nicht – man könnte es politischen Instinkt nennen. (Vielleicht aber auch nur Ressentiment, weil er den Kollegen aus dem Wirtschaftsministerium für ein aufgeblasenes Arschloch hält) Dass es nicht unbedingt Instinktes bedarf, um es in die Politik zu schaffen, demonstriert „Der Aufsteiger“ ganz wertungsfrei. Der französische Originaltitel „L’Exercice de L’Etat“, Staatsgewalt, legt dann auch weniger Fokus auf die persönliche Geschichte eines Mannes als auf den Machtapparat, den er repräsentiert und der ihn (ver)formt.

Zweimal kracht es in „Der Aufsteiger“ also. Das erste Mal wird Saint-Jean vom Klingeln des Telefons aus seinem nächtlichen Träumen gerissen; es ist eine sexuelle Machtfantasie sondergleichen und sie verschafft ihm einen ordentlichen Ständer. Dann die schlechte Nachricht: Unfall in den Ardennen, ein Bus mit Jugendlichen ist von der Straße abgekommen und in eine Schlucht gestürzt. Vermutlich keine Überlebenden. Kaum ist der Minister aus dem Bett, kursieren die Gerüchte, bereitet der Stab das erste Dementi vor. Um ihn herum tote Kinder und verzweifelte Eltern. Die Routinen der Selbstinszenierung (Saint-Jeans PR-Beraterin Pauline befindet sich ständig an seiner Seite), in der selbst angesichts des menschlichen Leids der professionelle Blick für den richtigen Krawattenfarbton nicht getrübt ist, werden von Schoeller ganz beiläufig im Modus höchster Betriebsamkeit eingefangen. Die Politik schläft nie; auch wenn sie träumt, ist sie noch mit sich selbst beschäftigt. Es spricht für die Aufmerksamkeit Schoellers, dass kaum eine Geste oder ein Dialog in „Der Aufsteiger“ unbedacht gewählt ist.

Bertrand Saint-Jean verkörpert eine Figur der politischen Zeitenwende, doch er ist umgeben mit dem Personal der Vergangenheit. Sein Stabschef Gilles, ein Politprofi alter Schule, verfügt über die Insignien der Macht sozusagen qua Geburt. Gilles ist Angehöriger einer altehrwürdigen französischen Politikerkaste, die Saint-Jean immer verschlossen bleiben wird. Dass er im Politklüngel ein Außenseiter ist, sehen die Alten trotz ihres Misstrauens gegenüber dem Emporkömmling als seine Stärke. Der Karrierist bedeutet keine Gefahr, doch der Mentalitätswandel ist unaufhaltsam.

Saint-Jeans Auftreten mangelt es entschieden an Eleganz und Würde. („Du hast kein Image, weil Du keine Geschichte hast“, erklärt ihm Pauline, „du bist verschwommen.“) Er stammt aus einfachen, groben Verhältnissen. Auch die Zeitungen vermuten hinter seiner Durchsetzungsfähigkeit, die eigentlich nur eine fortgeschrittene Form von Stoizismus ist, eine Residualeigenschaft seiner familiären Herkunft: den Bauern im Politbetrieb haut so leicht nichts um. Aber wovon träumt dieser Bauerntrampel nachts? Von nackten Mädchen, die in prunkvollen, von Kapuzenmännern bereiteten Zeremonien bereitwillig in den Schlund eines gefräßigen Monsters kriechen. Das Unbewusste manifestiert sich als diffuse Sehnsucht nach perversen Machtritualen. Fressen und Gefressen Werden – eine Lektion, die Saint-Jean auf die harte Tour lernt.

Das alles könnte Schoeller leicht als Farce inszenieren, doch er verliert nie seinen kühlen, unterschwellig amüsierten Blick für Machtdispositive im alltäglichen politischen Geschacher. Keiner der Protagonisten wird der Lächerlichkeit preisgegeben oder seiner Korrumpierbarkeit überführt; alle sind gleichwertig wichtige beziehungsweise bedeutungslose Akteure in einem fortlaufenden Prozess der Optionsevaluierung. „Der Aufsteiger“ gibt sich dafür, dass die performativen Akte des Sprechens und Herrschens eigentlich sehr statische Ausdrucksweisen sind, allerdings hochgradig mobil. Ähnlich wie Aaron Sorkin, der mit der US-Serie „West Wing“ das Walk-and-Talk zur verdichteten Kunstform politischer Performanz erhoben hat, zeigt Schoeller den Mobilisierungsgrad der Politik als permanente rhetorische und raumgreifende Manöver. Es gibt keinen Stillstand, „Der Aufsteiger“ ist das Gegenteil von drögem Polittheater. Großes Kino.

So ist es folgerichtig eine zweite Todeserfahrung, die Saint-Jeans Initiation einleitet. Dem sehr ansehnlichen Autounfall, der jeden Actionfilm schmücken würde, entsteigt ein neuer Homo Politicus; die alten biografischen Makel und politischen Verbindungen sind endgültig abgestreift. Der Premierminister persönlich überträgt Saint-Jean die Verantwortung für die Privatisierung der Bahn, das Projekt soll Frankreich den Weg in die Zukunft weisen. Resignation lässt sich der politische Pragmatiker keine Sekunde anmerken; er hat die unbändigen Kräfte der neuen Märkte zu spüren bekommen und lässt sich bereitwillig mitreißen. Ideologische Bedenken gibt es nicht, allenfalls die persönlichen Opfer erzeugen noch einen Anflug pathetischer Regung. „Politik ist eine Wunde, die niemals verheilt“, gibt Saint-Jean seinem treuen Gefährten zum Abschied mit auf den Weg.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 12/12

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Keep the Lights On

(USA 2012, Regie: Ira Sachs)

Blinde Flecken
von Carsten Moll

Seit Ben Walters in einem Artikel für den „Guardian“ das „New-Wave Queer Cinema“ ausgerufen hat, gibt es kein Halten mehr: Eine Handvoll Filme und ihre Macher_innen wurden auserkoren, das alte …

Seit Ben Walters in einem Artikel für den „Guardian“ das „New-Wave Queer Cinema“ ausgerufen hat, gibt es kein Halten mehr: Eine Handvoll Filme und ihre Macher_innen wurden auserkoren, das alte Label „Queer Cinema“ wiederzubeleben und schaffen es dabei sogar in Mainstreammedien, wie dem Spiegel, für euphorische Rezensionen zu sorgen. Unter diesen Vorzeichen veröffentlicht nun die Edition Salzgeber im Rahmen einer neuen und naheliegend „New Wave Queer Cinema“ betitelten Reihe Ira Sachs‘ „Keep the Lights On“ auf DVD. Sachs gilt neben Andrew Haigh und Travis Mathew als Speerspitze dieser neuen Welle und ist wohl einer der Namen, auf den sich die meisten Kritiker_innen einigen können, wenn es um zeitgenössisches nicht-heterosexuelles Kino geht.

Das neue queere Kino soll eines sein, das Geschichten abseits von Coming-Out, AIDS und politischem Aktionismus erzählt, postemanzipatorisch und persönlich, dabei formal offen und unkonventionell. Und tatsächlich trifft das „Keep the Lights On“ ganz gut: Sachs zeigt uns Momentaufnahmen einer sich über ein Jahrzehnt erstreckenden Beziehung zwischen dem Künstler Erik und dem New Yorker Anwalt Paul. Dass diese Beziehung nicht in trauter Zweisamkeit (aber alles andere als in einer Katastrophe) endet, liegt nur bedingt an Pauls Cracksucht, die die Partnerschaft der beiden Männer immer wieder auf eine harte Probe stellt. Die Dramaturgie des Suchtdramas unterläuft Sachs in seinem Spielfilm. Wer einen geschmackvoll bebilderten Höllentrip erwartet, wird enttäuscht. Pauls Drogenproblem äußert sich vor allem durch seine Abwesenheit, wenn er etwa einen Entzug macht oder tagelang einfach verschwindet. Leerstellen, Sprünge und Abschweifungen prägen den Handlungsverlauf, an dessen Rand ganz eigene, unerzählte Geschichten abzulaufen scheinen. Dem Krisentreffen Eriks und seiner Freunde, die beraten, wie sie angesichts des verschollenen Paul handeln sollen, wird die für die Handlung irrelevante Verspätung einer Freundin zum besagten Treffen entgegengesetzt; dem Melodrama kommen so immer wieder Banalitäten in die Quere, die mit genauem Blick inszeniert sind und dafür sorgen, dass die Zuschauer_innen nicht in einen emotionalen Würgegriff geraten.

Der Fokus des Films aber liegt nicht auf Paul, sondern eindeutig auf dem von Thure Lindhardt gespielten Erik. Der stellt, wenn man so will, ein Alter Ego Ira Sachs‘ dar, der im Film auch auf eigene Erfahrungen im Kampf um einen suchtkranken Liebhaber zurückgreift. Dass es hierbei nicht zu einer Nabelschau kommt, liegt an der Distanz, die bei aller Intimität immer bestehen bleibt, und der besonderen Perspektive, der sich André Wendler in seinem Text zum Film in der Sissy detailreich gewidmet hat. „Keep the Lights On“ mag autobiografisch gefärbt sein, aber Sachs verlässt sich nicht auf das Label „Beruht auf einer wahren Geschichte“ oder zu kurz gedachten Vorstellungen von Authentizität, die so manchem Film schon als Qualitätsmerkmal dienen sollen. Stattdessen schafft Sachs eine komplexe Struktur aus Fiktion und Dokumentation, autobiografischen Details und ironischen Brüchen, die wie Spiegelscherben einander reflektieren. Der Ton des Films ist offen für Feinheiten und Schwingungen, sicherlich nicht humorlos, dabei aber stets von verhaltener Nostalgie, evoziert durch die ausgeblichenen Bilder und den grandiosen Soundtrack, der durchgängig aus Stücken und Songs von Arthur Russell besteht.

Trotz einiger Längen ein schlauer, schöner, guter Film also. Sicherlich auch ein queerer. Und man kann es einem einzelnen Film oder seinem Macher nicht zum Vorwurf machen, dass die noch vage Idee vom „New-Wave Queer Cinema“, wie Walters sie hat, bis dato wenig überzeugt und auf wackligen Beinen steht. Auffallend bleibt allerdings, dass die bisher zur Diskussion stehenden Vertreter des neuen queeren Kinos überwiegend weiße Schwule sind, die von Zweierbeziehungen und dem Sexualleben einer schwulen weißen Mittelschicht erzählen. Der bisweilen miterwähnte „Pariah“ von Dee Rees mit einer butchen Woman of Color als Protagonistin wirkt da fast schon etwas alibimäßig. Vor diesem Hintergrund entpuppt sich die viel beschworene Universalität, die Sachs‘ oder auch Haighs Werk auszeichnen soll und von der neben Walters beispielsweise auch Daniel Sander im Spiegel schreibt, eher als Egozentrik eines im Mainstream aufgegangenen Schwulseins. Diesen schwulen Geschichten soll keineswegs die Relevanz oder gar Queerness abgesprochen werden, aber damit das Label „New-Wave Queer Cinema“ in Zukunft Bestand hat, liegt es an Filmemacher_innen, Verleihen, Festivaljurys und Kritiker_innen, die Idee von Queerness mit Leben zu füllen und dabei auch nicht-heterosexuelles Leben abseits vom Schwulen zu berücksichtigen. Das heißt, nicht nur dafür zu sorgen, dass die Kinolichter weiter flimmern und homosexuelle Gesichten sichtbar zu machen, sondern sich auch der blinden Flecke bewusst zu werden, die dabei bleiben.

Puppe, Icke & der Dicke

(D 2011, Regie: Felix Stienz)

Mizaru, Kikazaru, Iwazaru
von Louis Vazquez

Ein kleinwüchsiger, aber großmäuliger Kurierfahrer aus Berlin, eine schwangere Blinde aus Paris und ein schweigender, dicker Trinker, ebenfalls von dort und zufällig mit der Blinden bekannt, geraten noch zufälliger gemeinsam …

Ein kleinwüchsiger, aber großmäuliger Kurierfahrer aus Berlin, eine schwangere Blinde aus Paris und ein schweigender, dicker Trinker, ebenfalls von dort und zufällig mit der Blinden bekannt, geraten noch zufälliger gemeinsam auf den Weg nach Berlin. Kurierfahrer Bomber (Tobi B) hat gerade seinen Job verloren. Mit einer Plastik-Armbanduhr als Zeichen der Dankbarkeit bzw. Gleichgültigkeit wurde er auf seine allerletzte Tour geschickt, die ihn eigentlich nach Warschau hätte führen sollen. Bomber indes fuhr lieber nach Paris, um dort mit zwielichtigen Partnern ein für sich günstigeres Geschäft abzuschließen – und scheiterte grandios. Der dicke Bruno (Matthias Scheuring) springt trotz Verständigungsschwierigkeiten als Retter in der Not ein, bietet Bomber einen Schlafplatz und schließt sich ihm auf der Heimreise an, denn er hätte in Berlin noch etwas zu erledigen. So auch die blinde Europe (Stephanie Capetanides): Sie ist schwanger nach einem One-Night-Stand mit einem Typen aus Berlin, der bei der Müllabfuhr arbeiten soll. Immerhin weiß sie den Vornamen und hat ein Foto …

„Puppe, Icke & der Dicke“, das Spielfilmdebüt von Felix Stienz, ist zum Glück längst nicht so plakativ wie der unglücklich gewählte Filmtitel, der an schlimmste deutsche Mainstream-Komikversuche denken lässt, sondern ein auf unkonventionelle Weise nostalgisches und offenbar ziemlich skandinavisch geprägtes Roadmovie. Oft wirkt der Film, als hätte ihn Aki Kaurismäki schon in den frühen 1990er Jahren gedreht – abgesehen vielleicht von den knalligen Farben. Stets werden die eigentümlichen, aber nicht allzu traurigen Gestalten so in der Umgebung angeordnet, dass man sich lästige Schuss-Gegenschuss-Aufnahmen erspart und in besonders gelungenen Momenten sogar an die Tableaus eines Roy Andersson erinnert. Dazu wird punkig musiziert, wobei ab und an der Einfluss von – natürlich – finnischer Polka zu erkennen ist. Dass die Musiker bisweilen ins Bild spazieren und die Ereignisse immer wieder ins Groteske bis Surreale kippen, etwa bei einer völlig irrsinnigen Verwechslungsepisode, macht den Spaß noch größer. Der Film beschwört allen Ernstes sogar noch einmal den Mythos von Berlin als Stadt der schrägen Kreativen und Sehnsuchtsort der Individualisten, was ganz fürchterlich hätte werden können. Doch durch den skurrilen Stil, die liebevoll gestalteten Figuren und die immer wieder die Grenze zum Absurden mindestens touchierenden Situationen wird selbst dieses Berlin-Bild äußerst bekömmlich, weil es dann doch zu abseitig ist, um in irgend einer Weise als hip gelten zu können.

Eindeutige Happy-Ends sind zum Glück nicht vorgesehen, und selbst eine Titelfigur kann mal eben ohne viel Aufheben komplett aus der Geschichte flutschen. „Puppe, Icke und der Dicke“ bleibt verhuscht und spröde, ist aber gerade deshalb liebenswert. Ein paar Szenenwechsel machen es nicht unbedingt leicht, die räumliche Übersicht zu wahren – aber das geht den Protagonisten ja nicht anders und mag sogar Absicht sein. Beim Max-Ophüls-Festival gab es jedenfalls den Publikumspreis für diese durch und durch gelungene Loser-Komödie mit glaubhaftem Indie-Flair und herrlich räudigem Soundtrack.

„Wir sind wie die drei Affen“, sagt der selbstbewusste Bomber einmal mit Blick auf sich und seine Begleiter, ein wenig fassungslos angesichts dieser Erkenntnis. „Mizaru, Kikazaru und Iwazaru“, entgegnet Europe. Sie kennt sich nämlich aus und weiß, dass die vielfach zu Unrecht geschmähten Affen eigentlich Helden sind.

Das Meer am Morgen

(D / F 2011, Regie: Volker Schlöndorff)

Auf das Gewissen hören
von Wolfgang Nierlin

Frankreich zur Zeit der deutschen Besatzung: Am 20. Oktober 1941 erschießen kommunistische Widerstandskämpfer in Nantes den deutschen Offizier Karl Hotz. Hitler fordert daraufhin als schnelle Vergeltung die Hinrichtung von 150 …

Frankreich zur Zeit der deutschen Besatzung: Am 20. Oktober 1941 erschießen kommunistische Widerstandskämpfer in Nantes den deutschen Offizier Karl Hotz. Hitler fordert daraufhin als schnelle Vergeltung die Hinrichtung von 150 Geiseln. Doch sein General Otto von Stülpnagel (André Jung) aus dem Hauptquartier im Pariser Hotel Majestic meldet Skrupel an: Er zweifelt gegenüber Hauptmann Ernst Jünger (Ulrich Matthes) nicht nur am Sinn einer solch willkürlichen Maßnahme, sondern rechnet als Folge auch mit einer unkalkulierbaren Eskalation der Gewaltspirale. In Berlin habe man „keinen Sinn für Geschichte.“ Zwar wird die Zahl der Todeskandidaten daraufhin reduziert; trotzdem sollen aus Internierungslagern in Nantes und Châteaubriant zunächst 50 politische Häftlinge zur unverzüglichen Exekution benannt werden. Unter ihnen befindet sich der erst 17-jährige Guy Môquet (Léo Paul Salmain), Sohn eines kommunistischen Pariser Abgeordneten, der wegen der Verteilung von antifaschistischen Flugblättern verhaftet wurde und heute in Frankreich (ähnlich den Geschwistern Scholl hierzulande) als Held des Widerstands verehrt wird.

In seinem neuen Film „Das Meer am Morgen“ („La mer à l’aube'), dem leider keine Kino-Auswertung beschieden ist (und der jetzt von Arte erstausgestrahlt wurde), verdichtet Volker Schlöndorff das tragische Geschehen zwischen Attentat und Hinrichtung auf drei Tage. Polizeiprotokolle, die Abschiedsbriefe der zum Tode Verurteilten, Pierre-Louis Basses Biographie über Guy Môquet („Une enfance fusillée“) sowie Ernst Jüngers wiederentdeckte Schrift „Zur Geiselfrage“, in der dieser die „Fälle und ihre Auswirkungen“ schildert, dienten Schlöndorff dabei als Quellen für seinen ebenso multiperspektivisch montierten wie analytisch erzählten Dokumentarspielfilm. Doch in Bezug zu den harten, unmenschlichen Tatsachen setzt er Geschichten von Individuen, von Menschen mit Gesichtern und Namen, die von der Zukunft träumen und sich verlieben. So entwickelt etwa Guy Môquet erste zarte Liebesbande zur Mitgefangenen Odette. „Unsere Zeit wird kommen“, sagt diese noch, kurz bevor ihr beider Glück unwiderruflich zerstört wird.

Schlöndorffs Film zeigt den schicksalhaften, von menschlicher Willkür und blindem Zufall unerbittlich zugespitzten Ablauf der Ereignisse als tragisches Geschehen. Egal wie man handle, man könne in dieser Situation nur das Falsche tun, sagt Otto von Stülpnagel einmal, während sich Jünger auf die Rolle des (literarischen) Beobachters und stolzen Soldaten zurückzieht. Trotzdem gibt der Film auch Einblick in eine Bürokratie von Befehlsempfängern, die der einbestellte Priester Moyon (Jean-Pierre Darrousin) gegenüber seinen Landsleuten kritisiert: Diese sollten nicht „Sklaven von Befehlen“ sein, sondern auf „ihr Gewissen hören“. Im psychischen Zusammenbruch des jungen deutschen Soldaten Heinrich (Jacob Matschenz), der gegen seinen Willen für das Hinrichtungskommando verpflichtet wird und den Schlöndorff einer Figur aus Heinrich Bölls Erzählung „Das Vermächtnis“ nachempfunden hat, ist ein Echo dieser menschlichen Forderung zu spüren. Doch sollte dies nicht als Entlastung von Schuld oder gar als Relativierung historischer Verantwortung gegenüber den Opfern missverstanden werden. Vielmehr ist Schlöndorffs Film neben der Darstellung eines für den antifaschistischen Widerstand in Frankreich bedeutsamen geschichtlichen Wendepunkts vor allem ein differenziertes Plädoyer für Humanität.

Dicke Mädchen

(D 2012, Regie: Axel Ranisch)

Plattenbau-Boléro
von Carsten Moll

Wer beim TV-Event a.k.a. Spielfilm-Imitat „Die Wanderhure“ etwas Durchhaltevermögen gezeigt hat, konnte auf halber Strecke zusammen mit einem Millionenpublikum vor den Fernsehapparaten einen kurzen, unspektakulären Auftritt von Heiko Pinkowski bewundern. …

Wer beim TV-Event a.k.a. Spielfilm-Imitat „Die Wanderhure“ etwas Durchhaltevermögen gezeigt hat, konnte auf halber Strecke zusammen mit einem Millionenpublikum vor den Fernsehapparaten einen kurzen, unspektakulären Auftritt von Heiko Pinkowski bewundern. Dass Pinkowskis Figur ein fieser Typ sein muss, ist dabei schon klar, bevor er sich an der mittelalterlichen Powerfrau Alexandra Neldel vergreifen darf. Denn in der Welt der Wanderhure sind die fiesen Typen wahlweise durch schlecht sitzende Frisuren oder – wie Pinkowski – durch einen erhöhten Körperfettanteil sichtbar als solche markiert, während sich die netten Kerle durch haarlose Sixpacks und multidimensional glänzendes Kopfhaar auszeichnen. Raum für Brüche, Mehrdeutigkeiten oder eigene Gedanken bleibt da kaum, die Kacke, die einem hier serviert wird (ästhetisch, ideologisch etc.), bekommt man auch noch vorgekaut.

Aktuell blickt Pinkowski zusammen mit seinem Kollegen Peter Trabner vom Filmplakat zu Axel Ranischs No-Budget-Film „Dicke Mädchen“, immer noch korpulent, aber im Gegensatz zum züchtigen Hurenfilm nicht mit nackter Haut geizend und auch nicht ganz hetero. Wo man über die Qualitäten des Filmtitels und das betont skurrile Plakat mit seinen zwei dicken Nackten und der von oben durchs Bild wirbelnden Oma noch streiten kann, da entpuppt sich der Film dazu zweifelsfrei als eine der unterhaltsamsten und interessantesten deutschen Produktionen der letzten Jahre.

Die Geschichte um Sven, der mit seiner dementen Mutter Edeltraut in einem Berliner Plattenbau wohnt und sich in deren Pfleger Daniel verliebt, fängt Regisseur, Ton- und Kameramann in Personalunion Axel Ranisch mit einer Mini-DV-Kamera ein. Dabei zeigt er sich an Situationen, die seinen Darstellern Raum zur Improvisation geben, interessierter als an einer konventionellen, vom Drehbuch diktierten Dramaturgie. So entsteht eine Reihe locker verknüpfter Episoden und Performances, die von überbordender Clownerei über einen betörenden Boléro im Wohnzimmer bis zur lakonischen Alltagsbeobachtung reichen. Auch ästhetisch ist „Dicke Mädchen“ eigenwillig: Von Anfang an stellt Ranisch dem unvermeidlichen Sozialdrama-Look seiner verwackelten Bilder von der farblosen Wohnung einen ironisierenden Soundtrack entgegen und auch der Vergleich mit einem Home-Video will nicht ganz aufgehen: Dafür sind viele Einstellungen bei allem Understatement und trotz der billigen Produktionsweise doch zu kunstvoll, der Schnitt zu gekonnt.

Spannend an „Dicke Mädchen“ ist aber vor allem, dass hier eine Menge Sachen, die man aus anderen Filmen oder auch Serien und der Werbung zur Genüge kennt, gar nicht oder anders gemacht werden. Das ist wohl am auffälligsten bei der Inszenierung des Dickseins: Ebenso weit entfernt von der vollkommenen Fiktionalität der Fatsuit-Fantasien wie vom anbiedernden Authentitzitätsversprechen einer Dove-Werbung, präsentiert Ranisch Körper von Gewicht, die immer mehr sind als ein visueller Gag oder bedeutungsschwanger herumgetragene Bäuche. Das Körperfett der Protagonisten (wie auch Krankheit und Tod) ist in „Dicke Mädchen“ nicht sonderlich sinnstiftend oder schales plot device, es ist einfach da, beim Tanz, beim Spiel, beim Kampf und erzählt ganz eigene Geschichten, die es zu entdecken gilt.

Überhaupt ist „Dicke Mädchen“ ein Film, der durch seine Offenheit zu Entdeckungen einlädt und das Aufbrechen von dem Runterbrechen auf Bedeutung vorzieht. Da weist Daniel beispielsweise einen Kuss von Sven in der Öffentlichkeit zurück, aber es bleibt offen, warum er das tut. Weil es ein schwuler Kuss ist? Weil Daniel Ehefrau und Sohn hat? Aus einem völlig anderen Grund? Der bisweilen etwas überstrapazierte Begriff des Queeren ist durchaus treffend, um das vieldeutige Spiel mit Identitäten, die sich in Ranischs Film immer wieder als flüchtig und provisorisch erweisen, zu beschreiben. Abseits vom manchmal monotonen radikalen Chic vieler als queer gelabelter Produktionen und deren Fixierung auf junge, schlanke Körper gelingt Ranisch mit „Dicke Mädchen“ nicht nur ein komplexer und eigensinniger Film, sondern auch ein Stück queeres Kino, das sich nicht in der Thematisierung von Homosexualität erschöpft und am Ende weit mehr zu bieten hat als dicke Mädchen.

[Interview mit Regisseur Axel Ranisch]
[Link zu einer weiteren Filmkritik]

More Than Honey

(CH / D / A 2011, Regie: Markus Imhoof)

Zivilisationstod
von Wolfgang Nierlin

Noch bevor die ersten Bilder zu sehen sind, hört man das Summen. Dann erfüllt emsiges Bienengewimmel, in aufwändigen Makroaufnahmen von der Kamera umkreist, die Leinwand. Die vielzähligen fleißigen Tierchen sind …

Noch bevor die ersten Bilder zu sehen sind, hört man das Summen. Dann erfüllt emsiges Bienengewimmel, in aufwändigen Makroaufnahmen von der Kamera umkreist, die Leinwand. Die vielzähligen fleißigen Tierchen sind gerade dabei, ihre neue Königin aus der Weiselzelle zu befreien, bevor diese zu ihrem Hochzeitsflug aufbricht. Bis zu 2000 Eier wird diese täglich legen, um den Nachwuchs zu sichern, erfahren wird dezent aus dem Off. Mit faszinierenden Bildern und sachlicher Informationsdichte führt Markus Imhoof die Zuschauer seines Dokumentarfilms „More than honey“ in das komplexe, für den Laien zunächst schwer zu überblickende Universum der Honigbiene. Viele beeindruckende Details über das Leben und die schier unglaubliche Arbeitsleistung dieser ebenso klugen wie komplizierten Insekten vermitteln dabei ungeahnte Einblicke: Etwa in Bezug auf ihr fein und sensibel justiertes Sozialsystem, die Bedeutung ihrer geheimnisvollen Schwänzeltänze, ihren extrem differenzierten Geruchssinn oder auch ihre gewichtige Rolle als Bestäuber bei der „natürlichen Herstellung“ von Nahrungsmitteln.

Gerade deshalb sind die zunehmenden Meldungen über ein mysteriöses Bienensterben, das in den letzten Jahren Schlagzeilen macht, so beunruhigend. Der renommierte Schweizer Filmemacher Markus Imhoof, der selbst aus einer traditionsreichen Imkerfamilie stammt und damit einen persönlichen Zugang hat, betreibt in seinem vielschichtigen Film eine globale Ursachenforschung. Dabei erzeugt er völlig unaufgeregt und unpolemisch nicht nur ein allgemeines Problembewusstsein, sondern er vermittelt durch die vielen Spuren, denen er rund um den Globus folgt, auch eine beängstigende Ahnung von der Größe und den Auswirkungen dieser Problematik. Seine Analyse beschreibt ein multifaktorielles Szenario. Das Sterben der Bienen hat nicht einen Grund, sondern viele, die eine todbringende Summe bilden: „Die Bienen sterben an der Zivilisation.“

„So klingt Geld“, kommentiert der Imker einer riesigen Mandelbaumplantage in Kalifornien das Summen der Bienen. 4000 Bienenstöcke sind hier aufgestellt, um die geschätzten 80 bis 90 Prozent der weltweiten Mandelproduktion zu sichern. Doch ohne den Einsatz von Pestiziden funktionieren solche überdimensionalen Monokulturen nicht. „Wir sind Kapitalisten, wir wollen Wachstum“, lauten die diesbezüglichen Herrschaftsphantasien des Farmers. Dann treten die in dieser Perspektive vermeintlich „toleranten“ Bienen, in riesige Sattelschlepper verfrachtet, ihre Reise quer durch die USA an, um im Wechsel der Jahreszeiten auf verschiedenen Obstplantagen ihren Dienst zu tun. Stress, Schädlingsbefall und oftmals auch der Tod ganzer Völker, vom Großimker als rätselhafter „Völkerkollaps“ bezeichnet, sind die schrecklichen Folgen, die wiederum den Einsatz von Antibiotika nach sich ziehen.

Seinen Großvater würde diese Form der Honigproduktion wohl erschüttern, sagt der amerikanische Imker. Im Kontrast dazu zeigt Imhoof immer wieder den Schweizer Bergimker Fred Jaggi, der sein Handwerk noch traditionell betreibt, in der Abgeschiedenheit der Schweizer Berge aber nicht verschont bleibt von den Folgen der Globalisierung. Es gehört zu den Stärken von Imhoofs Film, dass er immer wieder die Perspektive wechselt und so neue Facetten des Problems erschließt. Das fast schon apokalyptische Szenario in China, wo Arbeiter von Hand die Blüten bestäuben, gehört ebenso dazu wie der „Angriff der Killerbienen“, der paradoxerweise vom Überleben der Honigbiene zeugt und insofern vorsichtig hoffnungsvoll stimmt.

Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger

(USA 2012, Regie: Ang Lee)

Die Notwendigkeit des Eskapismus
von Louis Vazquez

Es ist eine Crux mit den Literaturverfilmungen. Die einen basieren auf Büchern, die viel zu viel Geschichte haben und rasen mut- und ideenlos durch die äußere Handlung. Die anderen basieren …

Es ist eine Crux mit den Literaturverfilmungen. Die einen basieren auf Büchern, die viel zu viel Geschichte haben und rasen mut- und ideenlos durch die äußere Handlung. Die anderen basieren auf Büchern, die gar keine Geschichte haben – Liebesratgebern etwa oder philosophischen Essays –, und müssen sich erst mühsam etwas zum Erzählen ausdenken. Aber was tut man nicht alles, um die vielen Bestsellerleser auch mal zu einem Kinobesuch zu bewegen und die Anhänger des einen bedrohten Mediums mit bewährten Titeln für das andere bedrohte Medium zu gewinnen. Und doch gibt es manchmal Literaturverfilmungen, die neugierig machen, weil die Vorlage sich einerseits für eine visuelle Interpretation geradezu aufdrängt, andererseits die Fallstricke mächtig sind.

Yann Martels Roman „Life of Pi“ erzählt eine ungewöhnliche, gar unglaubliche Abenteuergeschichte auf hoher See. Dass der deutsche Titel eine Pointe vorwegnimmt, die den unvorbereiteten Leser in etwa so schlagartig treffen dürfte wie die vergleichbar katastrophale Kehrtwende in John Irvings „The Hotel New Hampshire“, ist zwar schade, schmälert aber weder Buch- noch Filmgenuss, denn es geht eben um mehr als darum, sich auf hoher See in unerwarteter Gesellschaft gegen widrige Umstände zu bewähren …

„Life of Pi“ erzählt die Geschichte von Pi Patel (verkörpert von Laiendarsteller Suraj Sharma), die dieser in einer Rahmenhandlung als gealterter Mann (dann gespielt von Irrfan Khan) einem Autor (Rafe Spall) erzählt. Der Autor weiß noch nicht, was ihn erwartet, doch er verspricht sich von der angeblich ungewöhnlichen Lebensgeschichte des Fremden Inspiration. Im Roman gibt Yann Martell sich selbst als dieser Autor aus, mit einer deutlichen Verbeugung vor der Postmoderne und/oder Jorge Luis Borges. Die Ich-Erzählung Pis wird im Film wie üblich zur Voiceover, die zwar viel Information transportiert, aber zum Glück nie die visuelle Erzählung ersetzt oder entkräftet – wie sonst allzu oft bei „schwierigen“ Literaturverfilmungen.

„Life of Pi“ ist religiöse Parabel und phantastische Abenteuergeschichte gleichermaßen. Die Erzählung ist ornamental ausgeschmückt und über weite Strecken so unglaubwürdig, dass man sich an die mythendurchtränkte Autobiographie von Alejandro Jodorowsky oder die Lebensgeschichte eines Moersschen Blaubären erinnert fühlt. Pi(scine) Molitor Patel, nach einem Schwimmbad benannt und in seiner Kindheit aufgrund der phonetischen Ähnlichkeit zu „pissing“ permanent verhöhnt, wächst als Sohn eines Zoodirektors im indischen Pondicherry auf. Dafür, dass er allen Weltreligionen gleichermaßen zugehören will, erntet er Unverständnis. Seine Geschichte aber, so verspricht er, werde helfen, das Wesen Gottes zu verstehen.

Als die Familie mit ihrem Zoo nach Kanada auswandern will und sich samt der Tiere auf einen japanischen Frachter begeben hat, kommt es zum titelgebenden Unglück. Nur Pi, eine Hyäne, ein Orang-Utan und ein schwer verwundetes Zebra gelangen auf ein Rettungsboot. Und Richard Parker, der bengalische Tiger. Recht schnell sind nur noch Pi und der Tiger übrig und verbringen Monate alleine auf hoher See.

Die unglaubliche Geschichte wird von Ang Lee in ein Kino der Schauwerte überführt – spektakulär und wuchtig, voll mit beeindruckend realistischen CGI-Effekten und dennoch durch kräftige Farben überhöht und voller surrealer, pathetisch gesprochen: magischer Momente, in denen sich die Fabulierlust der Vorlage manifestiert. Zugegeben: Ungeduldige Zuschauer könnten so manches vorschnell für Kitsch halten. Doch um diesen Trugschluss aufzuklären, muss man sehr viel über den Film verraten, so dass sich halbwegs Interessierte das Weiterlesen an dieser Stelle schenken und lieber so bald wie möglich ins Kino eilen sollten. Denn wie das Buch hat der Film eine pointierte Struktur, die seiner Ästhetik erst im Rückblick einen Sinn verleiht.

„Life of Pi“ ist nicht einfach ein eskapistischer, womöglich sogar missionarischer Fantasy-Film, sondern ein Film über die Macht und die schiere Notwendigkeit eskapistischer Phantasien. Ganz zum Schluss konfrontiert er Pis bildgewaltige Geschichte mit einer trostlosen Realität – auf filmisch denkbar einfache und eben darum an dieser Stelle beeindruckende Weise. Da genügt ein erschütternder Monolog, der auf Rückblenden und somit Visualisierungen ganz verzichtet, um eine weitere Dimension des Erzählens zu offenbaren: Die wundersame Geschichte vom Jungen, der das Raubtier bändigte, verschleiert eine Wahrheit, deren Abbildung unerträglich wäre. Das mag man als banal abtun, doch wie vollumfänglich eine Erzählung scheitern kann, die echt und wahr und richtig tut, dabei aber mit fehlgeleitetem filmischen Realismus alles falsch macht, wird demnächst das Tsunami-Drama „The Impossible“ zeigen. Hier indes genügt es völlig, in einer statischen Einstellung mit Worten das bisher Gesehene zu revidieren, um zu erschüttern und fassungslos zu machen.

Auch die potentiell prätentiöse Religionsdebatte des Films findet unmittelbar im Anschluss ihre Auflösung in einer unspektakulären Pointe, die sich die Ringparabel zum Vorbild genommen hat und nach derart gewaltigem Anlauf so lapidar wirkt, dass auch Atheisten ihren Spaß haben können.

Ang Lee ist es mit einem Drehbuch von David Magee tatsächlich gelungen, einen schwer zu verfilmenden Roman zu großem Kino zu machen, das gleichsam überwältigend wie bescheiden wirkt und dabei einem klaren Konzept folgt, dem nicht nur am Spektakel gelegen ist. Dass der Film nebenbei das erstaunlichste 3D präsentiert, das bisher in einem Spielfilm zu sehen war – Goblins und Hobbits hin oder her –, ist nicht mehr als ein (äußerst angenehmer) Nebeneffekt.

Sinister

(USA 2012, Regie: Scott Derrickson)

Bis die Kraft erlahmt
von Michael Schleeh

„Sinister“ beginnt mit den grobpixeligen Bildern eines Super 8-Films. Vier Personen, Kapuzen über dem Kopf, stehen unter einem Baum, Schlingen um den Hals. Da bricht plötzlich ein schwerer Ast ab …

„Sinister“ beginnt mit den grobpixeligen Bildern eines Super 8-Films. Vier Personen, Kapuzen über dem Kopf, stehen unter einem Baum, Schlingen um den Hals. Da bricht plötzlich ein schwerer Ast ab und zieht sie mit der Kraft eines Flaschenzugs nach oben. Sie strampeln mit den Beinen, bis die Kraft erlahmt. Das Bild friert ein, unten rechts erscheint der Filmtitel im krakeliger Schrift.

Der eigentliche Plot beginnt allerdings ganz woanders: Ein Schriftsteller von true crime-Romanen, Ellison Oswalt (Ethan Hawke), versucht verzweifelt den einen, ersten großen Erfolg seines Buches Kentucky Blood zu wiederholen. Allein, es will ihm nicht gelingen. Doch nun scheint er einem Serienkiller auf der Spur zu sein. Mit seiner Frau (Juliet Rylance) und den beiden Kindern ziehen sie in ihr neues Heim, obwohl sie sich in ihrem letzten Zuhause gerade einzuleben begonnen hatten. Auch der neue Sheriff ist nicht begeistert – wegen seiner kritischen Darstellung der Polizeiarbeit gilt Oswalt als Nestbeschmutzer. Und etwas mehr Misstrauen wäre durchaus berechtigt, denn was Ellison seiner Familie verheimlicht, ist die Tatsache, dass sich im Garten des Anwesens eben jene Szene abspielte, die wir zu Beginn sahen. Die Ermordung der Familie des Vorbesitzers. Die jüngste Tochter zudem verschwunden. Dass Ellison, der ein Alkoholproblem zu haben scheint, in seinen Recherchen bis an die Grenzen der eigenen Belastbarkeit geht, ist eine Sorge der Ehefrau, die durchaus berechtigt ist. Und als er sich wieder verausgabt, wieder exzessiv zu trinken beginnt, nehmen die bösen Vorahnungen Gestalt an: Oswalt findet auf dem Dachboden eine mysteriöse Kiste mit alten Super8-Filmrollen, auf denen ausschließlich authentische Morde an Familien dokumentiert sind. Die Filme sieht er sich in nächtelangen Sitzungen wieder und wieder an, er beginnt zu recherchieren und verfällt in einen Wahn. Dann wird er beinahe von einem Skorpion gestochen und von einer Schlange gebissen, die urplötzlich auftauchen. Da beginnt Oswalt am Rad zu drehen und er stromert, wie Jack Nicholson in 'Shining', mit dem Baseballschläger bewaffnet durch das dunkle, nächtliche Haus, um sich auf die Jagd nach einem Phantom zu machen, das auf den Geisterbildern der Filme wie ein unheimlicher Kürbismann aussieht.

Der Gedanke, nun vielleicht doch nach einer neuen Bleibe zu suchen, kommt ihm nicht. Dass er die eigene Familie gefährdet, nimmt er für das Buch in Kauf. Was er nicht bedenkt, und was in der Verlängerung auch den Zuschauer irritiert, ist, dass sich zunehmend übernatürliche Elemente bemerkbar machen – in einem Film, der auf authentischen true crime-Thrill ausgerichtet ist. Und mit zunehmender Gefahr für die Protagonisten von allen Seiten wird „Sinister“ bald eine unvorhersehbare Melange aus unterschiedlichen Motiven des Horrorfilms, die alle zusammen und in ihrer Anhäufung nicht nur nerven, sondern auch für sich selbst mehr als abgeschmackt sind. Schreckmomente mit rumsender Tonspur tun ein Übriges, um den Zuschauer ob der billigen Tricks zu verärgern.

Es ist der Darstellung der Schauspieler anzurechnen, dass man dabei bleibt und am Ende einem unvermeidlichen, dabei gar nicht so doofen Twist beiwohnen darf. Obwohl (oder vielleicht eher weil) dieser völlig hanebüchen ist, gelingt es, die offenen Fäden zusammenzuführen und dabei auf ein allzu erwartbares, hollywoodkonformes Ende zu verzichten. Man hätte rechtzeitig die Filmspule mit dem alternativen Ende anschauen sollen, dann wäre das Desaster gar nicht erst passiert! Dass Derrickson, der schon den banalen Totalschaden „Der Exorzismus der Emily Rose“ (2006) und das völlig unnötige Klassiker-Remake „Der Tag, an dem die Erde still stand“ (2008) zu verantworten hat, eine Meta-Gag auf die bonusmaterialversessene DVD-Generation abliefern wollte, darf allerdings bezweifelt werden. So ist „Sinister“ nicht viel mehr als ein zwar überflüssiger, aber immerhin noch anschaubarer, dabei ziemlich durchschnittlicher Time-Waster für die Spätvorstellungsnerds.

Apparition – Dunkle Erscheinung

(USA 2011, Regie: Todd Lincoln)

Ghost in the Harddrive
von Michael Schleeh

Beim Einzug in das neue Heim hoffen Kelly (Ashley Greene) und ihr Freund Ben (Sebastian Stan) die Geister der Vergangenheit abschütteln zu können. Denn seit Ben in Collegetagen mit seinen …

Beim Einzug in das neue Heim hoffen Kelly (Ashley Greene) und ihr Freund Ben (Sebastian Stan) die Geister der Vergangenheit abschütteln zu können. Denn seit Ben in Collegetagen mit seinen Kommilitonen ein übersinnliches Experiment zur Erweckung eines Toten mit Hilfe modernster technischer Gerätschaften durchführte, kommen die ehemaligen Geisterbeschwörer nicht mehr zur Ruhe. Das neue Haus soll also einen unbelasteten Start ermöglichen – doch Kelly hat nicht daran gedacht, dass der Geist nicht der eines Gebäudes ist, sondern sich in den digitalen Weiten derjenigen Medienträger befindet, die damals beim Experiment Verwendung fanden. Und nach nur wenigen Tagen scheinen sich bereits wieder beunruhigende Ereignisse zu häufen. Um dem Übel auf die Spur zu kommen, schließt Kelly Bens alte Festplatte an, auf der sich eben dasjenige Videomaterial befindet, das die damalige Beschwörung dokumentiert …

Kellys Erwartungen auf einen Neuanfang werden also enttäuscht. „This house has no history“, sagt sie noch voller Zuversicht am Anfang des Films, ein markanter Satz, der auf die Spur des Missverständnisses führt. Denn das von ihr abgespielte Filmmaterial, ein sprichwörtliches found footage also, bereits schwerstbelegt mit Patina, aber immer noch ein virulentes Motiv im zeitgenössischen Horrorkino, dieses Material macht Kelly deutlich, worauf sie sich da eingelassen hat. Und was sie bis dahin nicht wusste; etwa dass damals sogar Bens Ex-Freundin Lydia verschwand, die von „der Erscheinung“ durch die Wand ins Jenseits gezogen wurde. Hier wird ihr das Ausmaß der Gefahr, in der sie schweben, zum ersten Mal klar. Es verdeutlicht aber auch, wie viel ihr der Freund eigentlich verheimlicht, und was von seinen beschwichtigenden Worten zu halten ist.

„It’s gonna be okay“ – diese Standardfloskel wird Kelly öfter hören in diesen Tagen, und sie tut gut daran, ihr nicht zu vertrauen. Leider ist die Floskel signifikant für den ganzen Film, der beinah ausschließlich aus uninspirierten Versatzstücken des Horrorfilmgenres zusammengesetzt scheint. Und so wird natürlich erst mal abgewartet, ob sich die Lage nicht vielleicht von selbst bessert. Tut sie freilich nicht. Warum sollte sie? Es wird unter dem Haus herumgekrochen, der Nachbarhund stirbt unter mysteriösen Umständen, das Licht fällt aus, der Security-Service kommt vorbei und findet nichts, die Überwachungskameras sind plötzlich beschädigt, alle Türen stehen offen, obwohl eben noch abgeschlossen wurde, und Kelly muss höchstbedrohliche Situationen in Unterwäsche überstehen. Nun, das alles macht den Film nicht gerade interessanter. Auch die Frau, die wie eine verschimmelte Sadako aus „Ringu“ (Hideo Nakata, 1998) anmutet und analog zu dieser, die aus dem Fernseher kommt, hier aus der Waschmaschine kriecht, tut das nicht; oder die üblichen Hände, die wie aus dem Nichts von hinten die Protagonistin umschlingen, die folglich um Atem ringen muss. Hände, die es dann sogar auf das Filmplakat geschafft haben.

Gleichwohl scheinen einige Momente durchaus positiv erwähnenswert: da wäre die Location. Das Haus des Paares steht in einem Vorort, einem Neubaugebiet weit vor der Stadt, das, auf einer Anhöhe gelegen, einen weiten, bildmächtigen Blick auf eine wüstenähnliche Landschaft bietet, und das von den gewaltigen Strommasten, die auf den Hügeln stehen, dominiert wird. Die Einflussnahme der Elektrizität findet hier eine schöne bildliche Entsprechung, die man auch formal hätte vertiefen können. Oder das menschenleer und still wirkende Neubaugebiet, in dem man, außer dem einen Nachbarn mit Tochter, deren Hund dran glauben muss, straßenzügeweit niemanden sieht. Keine Kinder spielen, keiner grillt, kein Auto steht auf den monströsen Garageneinfahrten. Dieser stille Horror wäre ein Möglichkeit gewesen, dem Film interessante Aspekte hinzuzufügen. Stattdessen: Offensichtlichkeiten nach Schablone.

Und fatalerweise gelingen nicht einmal die billigsten jump-scares. Da man beim Schnitt auf eine jugendfreie Fassung geschielt zu haben scheint, und dabei alles, was irgendwie an Grenzen stößt, bewusst vermieden hat, ist „Apparition“ ein furchtbar zahmer Film geworden, der sich trotz der kurzen Laufzeit von gerade mal 80 Minuten ellenlang anfühlt. Aber auch die psychologischen Aspekte des Horrors, die sich gegenständlich durch die Schimmelflecken im Haus manifestieren, werden lediglich angerissen, nie wirklich schlüssig ausformuliert oder gewinnbringend eingesetzt. So mäandert auch der Film – wie das Haus in ihm – in seinem unausgegorenen Plotverlauf durch verschiedene Stadien der Verwahrlosung. Die Synapsen des Zuschauers jedenfalls werden von „Apparition – Dunkle Erscheinung“ alles andere als elektrisiert.

Winterdieb

(CH / F 2012, Regie: Ursula Meier)

Zahlungsmittel Geld
von Wolfgang Nierlin

Der 12-jährige Simon (Kacey Mottet Klein) ist ständig in Bewegung. In einem westschweizer Wintersportort ist er der kleine Dieb. Als Ski-Tourist unauffällig getarnt, bestiehlt er die reichen Gäste aus dem …

Der 12-jährige Simon (Kacey Mottet Klein) ist ständig in Bewegung. In einem westschweizer Wintersportort ist er der kleine Dieb. Als Ski-Tourist unauffällig getarnt, bestiehlt er die reichen Gäste aus dem Ausland. Zielstrebig, selbstbewusst, ja fast unbekümmert klaut er, was ihm in die Hände kommt und beweist dabei doch auch Markenkenntnisse. Simon wirkt routiniert, effektiv und sehr rationell. Er sagt, er sei gut organisiert. Seine Diebstähle, die sein Tagewerk bilden, ähneln fast schon dem Einsammeln von Wertgegenständen, die Simon zunächst deponiert, später dann verkauft. Er ist darin geschickt und klug. Als Arbeiter und Geldbeschaffer, der mit seinen illegalen Geschäften seinen Lebensunterhalt verdient und dabei Verantwortung übernimmt, wirkt er wie ein Erwachsener. Und doch ist Simon, bewehrt mit dem Zahlungsmittel Geld, vor allem ein Kind, das sich nach Liebe sehnt. Manchmal, wenn er alle Vorsicht fallen lässt, wird er in die Enge getrieben. Dann hilft nur noch Schreien.

In Ursula Meiers neuem, beeindruckenden Film „Winterdieb“ („L’enfant d’en haut') ist Simon als ebenso trickreicher wie erfahrener „Umverteiler“ ein Mittler zwischen den Welten. Wenn er schwerbepackt und zugleich entspannt mit der Seilbahn vom sonnigen, schneebedeckten Berg ins unwirtliche, ziemlich trostlose Tal hinabgleitet, markiert das auch ein soziales Gefälle. Ursula Meier inszeniert diese parallelen Welten mit nüchternem, spannungsreichem Zeigegestus als ebenso natürliche wie verstörende Kontraste, deren Widersprüche sich in den verzerrten Gitarrenklängen von John Parish verdichten. Dabei schmuggelt sie in die festgefügte Welt und Filmordnung immer wieder Wendungen, die für eine Verschiebung der sozialen Koordinaten und ihrer Rezeption sorgen.

So ist Simon eigentlich ein unerwünschtes Kind, das zusammen mit Louise (Léa Seydoux) in einem Hochhaus lebt, das vereinzelt und wie verloren in der Landschaft steht. Louise ist eine wütende junge Frau, die sich mit „Dreckjobs“ durchschlägt, dann wieder arbeitslos ist und in wechselnden Männerbekanntschaften nach Halt und Sicherheit sucht. Simon sagt von ihr, die sich immer wieder fallen lässt, sie sei seine ältere Schwester. Manchmal gibt es zwischen ihnen einen vertrauten, geschwisterlichen Einklang und eine gegenseitige Sorge, dann wiederum bestimmen Simons Eifersucht, Verlustangst und das Bedürfnis nach (mütterlicher) Geborgenheit ihr Verhältnis; und dafür scheint vor allem das Mittel Geld recht. Einmal sagt Louise: „Ich will dir nichts schulden, Simon.“ Man sieht und spürt, dass dieser zunächst unverdächtige Satz für den Jungen einen geradezu brutalen Nachklang hat. In einer sehr speziellen Ordnungslosigkeit zwischen Weite und Enge, oben und unten bewegen sich die beiden in entgegengesetzter Richtung aufeinander zu.

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(CH / F / B 2009, Regie: Ursula Meier)

Im Familiengefängnis
von Wolfgang Nierlin

Die Stimmung ist ausgelassen, die Familie wirkt irgendwie anarchisch, ihr Haushalt konfus und chaotisch. Wenn die fünfköpfige Schicksalsgemeinschaft nachts auf dem stillgelegten Autobahnteilstück vor ihrem Haus Rollschuh-Hockey spielt, erscheint das, …

Die Stimmung ist ausgelassen, die Familie wirkt irgendwie anarchisch, ihr Haushalt konfus und chaotisch. Wenn die fünfköpfige Schicksalsgemeinschaft nachts auf dem stillgelegten Autobahnteilstück vor ihrem Haus Rollschuh-Hockey spielt, erscheint das, gemessen an den Umständen, zugleich natürlich und bizarr. Das fröhliche Gefühl der Freiheit, zugespitzt beim anschließenden ungezwungenen Toben im Badezimmer, das wegen seiner großen Intimität ein Hauptschauplatz des Films ist, grenzt an eine tiefe Verlorenheit. Diese liegt wie eine dunkle, beunruhigende Ahnung von Anfang an über Ursula Meiers hervorragendem Kinodebüt „Home“. Das abgelegene, unfertige und teils vermüllte Anwesen im Niemandsland, dem englischen Titel gemäß zugleich Wohnstatt und Heimat, hat den Zusammenhalt ganz selbstverständlich gestärkt und ist doch keine Insel der Seligen. Vielmehr geht der Druck trotz ausgeflippter Hemmungslosigkeit immer stärker nach innen, und zwar proportional zur Beschneidung des Außenraums.

Die 1971 in Besançon geborene westschweizer Regisseurin hat in diesem Zusammenhang von einer Art umgekehrtem Roadmovie gesprochen. Ihr zwischen Burleske und Drama angesiedelter Film sei eine „Expedition ohne Ortswechsel“ und eine „Reise ins mentale Innere“. Denn als nach jahrelanger Verzögerung die Autobahn schließlich doch noch eröffnet wird, verwandelt sich die ohnehin prekäre Familienidylle allmählich in einen Alptraum aus Lärm, Gestank und Dreck. Dabei interessiert sich Ursula Meier weniger für die soziale als vielmehr für die existentielle Dimension ihrer schwarzhumorigen Parabel. Immer beunruhigender wird die beklemmende Klaustrophobie, in der sich die Familie mit dem Beginn der Sommerferien ganz selbstverständlich einrichtet und die schließlich in einer totalen Isolation mündet. Das Zuhause verwandelt sich durch die absurde Anpassungsleistung seiner Bewohner in ein Gefängnis, in dem subjektiver Wahnsinn und häuslicher Terror allmählich die Oberhand gewinnen.

Love is all you need

(DK / S / I / F / D 2012, Regie: Susanne Bier)

Aufschäumende Familienwogen
von Wolfgang Nierlin

Sorrent und die Amalfi-Küste in Süditalien bilden die pittoreske Traumkulisse für den Hauptteil von Susanne Biers als Komödie ausgewiesenen Film “Love is all you need”. Und natürlich ist das Cinemascope-Format …

Sorrent und die Amalfi-Küste in Süditalien bilden die pittoreske Traumkulisse für den Hauptteil von Susanne Biers als Komödie ausgewiesenen Film “Love is all you need”. Und natürlich ist das Cinemascope-Format das Mittel der Wahl, um die wechselnden Stimmungen dieses schönen Schauplatzes ins effektvoll fotografierte Postkartenidyll zu setzen. Während die Vorspanntitel sich aus Sternenstaub zusammensetzen, die alten Fischer im Hafen ihre Netze inspizieren, das Meer wogt und fleißige Bienen Zitronenblüten bestäuben, singt Dean Martin „That’s Amore“. Und um das Klischee perfekt zu machen, dürfen Astrid (Molly Blixt Egelind) und Patrick (Sebastian Jessen), die jungen Verlobten des Films, hier in einem alten, sich in Familienbesitz befindlichen Palazzo heiraten. „Ich finde es wahnsinnig romantisch hier“, sagt sie angesichts seiner Skepsis. Das ist fast schon kitschig, deutet aber an, dass die Konflikte vorprogrammiert sind.

Eigentlich haben die dänische Regisseurin Susanne Bier und ihr Drehbuchautor Anders Thomas Jensen gar keine richtige oder nur eine halbe Komödie gedreht, was vielleicht die etwas fade, irgendwie unentschlossene und ziemlich altmodische Tonlage des Films erklärt, der weder verärgert noch begeistert. Sein Witz ist eher von der biederen, abgestandenen Art; die unbeholfenen Geständnisse und teils brutalen Bekenntnisse aber haben es durchaus in sich. Sie schreiben im Grunde Themen und Motive früherer Dogma-Filme fort und verleihen Biers Komödie eine gewisse Nachdenklichkeit. So bildet auch hier eine mehrtägige Familienfeier den Rahmen für schwelende Konflikte und unbequeme Wahrheiten, deren unmissverständliche Bekanntgabe ausgerechnet bei einer Hochzeit dazu führt, dass die labile und gewöhnlich verlogene Familienordnung kräftig durcheinandergewirbelt wird.

Im Zentrum dieser Erschütterungen stehen Braut-Mutter Ida (Trine Dyrholm) und Bräutigam-Vater Philip (Pierce Brosnan). Während die Friseurin aus Kopenhagen, wo die Welt grau und aus Beton ist, sich gerade von einer Krebserkrankung erholt (Der Originaltitel „Die kahle Friseurin“ spielt darauf an), hat sich der erfolgreiche Geschäftsmann und umworbene Witwer Philip in einer bequemen Distanz zur Welt eingerichtet. Als die beiden ungleichen Protagonisten regelrecht zusammenstoßen – nämlich in ihren Autos – und daraufhin mit steifer Höflichkeit alberne Missgeschicke und eine peinliche Begriffsstutzigkeit parieren, spricht zunächst wenig dafür, dass sich die beiden kriegen. Doch das liegt in der Natur der Komödiendramaturgie und ändert sich alsbald unter der südlichen Sonne. Zuvor müssen sich jedoch erst einmal die aufschäumenden Familienwogen glätten, denn der Bräutigam ist schwul, Idas Ehemann geht fremd und Philips Schwägerin Benedikte (Paprika Steen) nervt diesen mit penetranter Aufdringlichkeit. Das alles geht nicht ohne Enttäuschungen, Verletzungen und Demütigungen ab. Doch weil „Love is all you need“ eine Komödie sein soll, löst sich fast alles Schmerzhafte und Schwere in lieblichem Zitronenduft auf.

Die Vermessung der Welt

(D / AT 2012, Regie: Detlev Buck)

Guckkastenkintopp
von Andreas Thomas

Liebe Leser! Wenn mich derzeit etwas wurmt, dann ist das der absolut hirnlose wie inflationäre Gebrauch des Adjektivs „emotional“ in Funk, Fernsehen und Medienwelt. Ein Abend im Restaurant, ein „Event“, …

Liebe Leser! Wenn mich derzeit etwas wurmt, dann ist das der absolut hirnlose wie inflationäre Gebrauch des Adjektivs „emotional“ in Funk, Fernsehen und Medienwelt. Ein Abend im Restaurant, ein „Event“, eine Kinovorstellung ist nach Meinung der Leutchen immer dann ein gelungenes, wenn es auch „emotional“ war! Würde man der Logik dieser neumodischen und neunmalklugen Emotionsjunkies folgen, dann müsste man auch das Dritte Reich als eine überaus gelungene Großveranstaltung bezeichnen, denn für Emotionen – da kann man ihm vorwerfen, was man will – hatte Herr Hitler eine Menge übrig, und er war durchaus daran interessiert, dass es keinen gab, der das nicht ganz persönlich und ganz emotional zu spüren bekam. Dass diese von Herrn Hitler kreierten Emotionen dann vom Großteil der Menschheit eher als negativ bewertet wurden: Geschenkt! Denn es geht ja wohl bei der Emotionsfrage um die Quantität und nicht um die Qualität, oder habe ich da was falsch verstanden, weil sich da andauernd wer falsch ausdrückt?

So viel zum aktuellen Sprachgebrauch. Aber was ist denn nun wirklich gemeint, wenn von „emotional“ die Rede ist? Die „Emotionalität“ eines Menschen wird z.B. immer dann besonders gewürdigt, wenn jemand Gefühle zeigen oder erwecken kann, Gefühle im Sinn von Rührung und Bewegt werden oder Bewegt sein. Vielleicht ist sogar emotionale Anteilnahme gemeint, um nicht zu sagen Empathie? Das wäre ja der Keim eines solidarischen, vielleicht gar politischen Bewusstseins. Bliebe zu hoffen. Ich fürchte nur, die allgemein favorisierten „emotionalen“ Gefühle gehen kaum über die künstliche Herstellung einer gewissen Heimeligkeit hinaus. Sie sind die Würze, mit der das Produkt leichter konsumierbar ist. Das Produkt kann dann auch wahlweise ein Arbeitsplatz sein, an dem man sich wohler fühlt, weil der Chef so „emotional“ ist.

Zum anderen heißt „Emotionalität“ wahrscheinlich nur das, was früher „Eskapismus“ hieß: Wir wollen nicht dauernd denken müssen, wir wollen nicht rational sein müssen, wir wollen, ein bisschen so wie Kinder, einfach nur erleben und fühlen dürfen, ohne Komplikationen, Konsequenzen und ohne Verantwortung. Für Eskapismus fühlt sich natürlich auch das Kino zuständig, und was kann eskapistischer sein als z.B. ein Film in 3D?

Detlev Bucks neuer Film ist in 3D gedreht und darin kann man eintauchen, wie in eine andere Realität, die nicht nur plastische Tiefe vorweist, sondern die auch mit sichtbar großem finanziellen Aufwand eine ganz andere Epoche, nämlich die der Aufklärung (sagen wir mal, um beim Emo-Jargon zu bleiben:) nachempfindet.

Detlev Buck war mal einer dieser hoffnungsvollen jungen Filmemacher, dessen Frühwerk originell war, weil es sich mit Themen beschäftigte, die der Regisseur aus eigener Anschauung kannte. Der erste, halbdokumentarische Langfilm Bucks „Erst die Arbeit und dann“ etwa beobachtet einen Jungbauern (Buck) aus der schleswig-holsteinschen Provinz bei den alltäglichen Arbeiten im Stall und dabei, wie er sich ausgehfertig macht, und dann mit dem väterlichen Mercedes nach Hamburg fährt, um sich zu vergnügen. Landluft trifft auf Pöseldorf. Urwüchsigkeit auf Oberfläche. Damals spürte man noch, dass Buck wusste, worüber er sprach. Eine Zeitlang wähnte man ihn auf den Pfaden eines norddeutschen Kaurismäki, denn seine wortkargen Figuren hatten viel von der Lakonie (und der darin verborgenen Abgeklärtheit) kaurismäkischer Helden. Leider gibt es seitdem kaum einen deutschen Regisseur, der es so geschickt vermag, die Spuren einer eigenen Handschrift nach und nach bis zur Auflösung zu verwischen. Mit anderen Worten: Jeder neue Buckfilm sieht einem alten Buckfilm noch unähnlicher als der letzte. Bucks trockener Witz scheint sich mittlerweile in seinen Werbespots für Flensburger Pils erschöpft zu haben und Buck selbst scheint der Meinung zu sein, dass des Profis Können, Handwerk und Technik wichtiger sind als seine persönlichen Themen und als ein persönlicher Stil. Deshalb kann er inzwischen Filme über alles drehen, über eine Liebesgeschichte im Zeitalter von Sextourismus und AIDS, über Jugendgewalt, ohne dass man merken würde, dass es ein Buck ist, und nun gar einen Historienfilm über zwei Koryphäen der Wissenschaften in der Zeit der Aufklärung, nämlich Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt.

Dass ausgerechnet Daniel Kehlmanns Bestseller „Die Vermessung der Welt“ die Vorlage eines neuen Buck-Films werden sollte, hat vermutlich einen Grund in den Leserzahlen des Romans, die auf ähnlich starke Besucherzahlen im Kino hoffen lassen. Klar sagt Buck, dass die beiden Typen Gauß und Humboldt ihn faszinieren, aber sicherlich ist der Film „Die Vermessung der Welt“ auch Produkt eines wirtschaftlichen Kalküls, ganz ähnlich, wie seinerzeit Tom Tykwers Verfilmung des Romans „Das Parfüm“ eines war.

Natürlich ist wiederum die ökonomisch kalkulierte zeitgenössische Art der Verfilmung einer wiederum auch zeitgenössischen Art von Historienroman Anschauungsmaterial dazu, wie hierzulande Geschichte rezipiert wird, bzw. wann oder wodurch Geschichte für das Publikum überhaupt noch interessant, bzw. schmackhaft, ist – sowohl in Romanform als auch im Kino.

Was den Roman betrifft, ist der Autor dieser Zeilen aus dem Schneider, denn er hat ihn nicht gelesen, also kann er sich den literarischen Teil betreffend (Kehlmann schrieb am Drehbuch mit) in Mutmaßungen ergehen, zum anderen kann er sich aufs konkrete Filmergebnis konzentrieren – und endlich den Schlenker zum Anfang machen und seine Behauptung wiederholen: Filme (ob das auch für Historienromane gilt, sei dahin gestellt) müssen heute „emotional“ sein, das heißt: wichtiger als irgendeine tiefere Aussage oder Bedeutung ist deren „sinnlicher“ Gehalt: Das Publikum will was erleben und eintauchen, und es ist eigentlich zweitrangig, ob Til Schweiger im Kugelhagel rumballert oder Carl Friedrich Gauß vom unhygienischen Hufschmied auf blutigste Weise einen Zahn ausgerissen bekommt. Ja, so war das damals eben – und heute ist es eben so in 3D! Dabei sein ist alles, wobei ist nebensächlich. Diese „Gefühlsbetonung“ macht den Film „Die Vermessung der Welt“ übrigens nicht gleich zum schlechten Film, ein wichtiges Merkmal ist sie trotzdem.

Die zwei Wissenschafts-Genies in 'Die Vermessung der Welt' leben ihre Leben unabhängig voneinander, der eine, der große Mathematiker Gauß, sitzt zuhause, denkt sich seinen Teil und, grob gesagt, „induziert“ vor sich hin, während der andere, Humboldt, die Welt durchstreift und vermisst und zählt und fleißig deduziert (nämlich vom Allgemeinen auf Einzelne – dass schon David Hume prinzipiell das Theorem der reinen Induktion widerlegt hat, geschenkt!). Die Bebilderung Gaußscher Forschungstätigkeit ist erwartungsgemäß eher eine einfarbige, weil das ausgehende 18. Jahrhundert und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts in den deutschen Städten (Braunschweig!) vorwiegend schlamm- bzw. kotfarben war und das deutsche Wetter ja, wie bekannt, traditionell depri-grau gehalten ist. Demgegenüber kann der Film, sobald er sich dem Abenteurer Humboldt zuwendet, farb- und emotionstechnisch mit dem Pfund Amazonas wuchern: Nicht nur schön grün, auch schön weit können die Landschaften dann in Ecuador (zweiter Drehort) sein, außerdem halten die dort ansässigen Kannibalen jede Menge Emotionen parat. Seine im wahrsten Sinne Schlaglichter hat der Film immer dann, wenn es mal zur Sache geht. Was bei Humboldt die Wildheit von Natur und Indianern, ist bei Gauß die preußische Zucht und Ordnung: Zur Strafe für eine genial gelöste Rechenaufgabe gibt es erst einmal 10 Schläge mit dem Rohrstock auf den Po – natürlich in Großaufnahme. Während dessen senken sich die Staubflocken aus der Zwergschule des 18. Jahrhunderts langsam auf die Kinogäste.

Aber auch weiblicher Po und Busen heben die Stimmung und vertiefen das dreidimensionale Bild auf emotionale Weise: laut Selbstauskunft („Das Kino ist zu prüde geworden!“) legte der Regisseur gesteigerten Wert auf eine Instandsetzung und räumliche Auslotung sowie Auswertung primärer Geschlechtsorgane. Kurz: Es wird wirklich was geboten in diesem kurzweiligen Historienstück, solange man es mehr mit dem Gefühl als mit dem Verstand aufnimmt. Dann ist Einiges los und einige nicht unwitzige Ideen scheint die Romanvorlage geboten haben, die sich auf die Leinwand übertragen lassen. Der Bildungsbürger in uns mag dann sich vielleicht noch fragen: Aber welche Position gegenüber dem Geist der Aufklärung transportiert denn dieser Film, in welchem die Aufklärer zwar schrullig und z.T. skurril aber auch liebenswert dargestellt werden? Oder transportiert er eben nur Schauwerte und will nicht mehr als unterhalten, Entschuldigung: emotional sein?

Und vielleicht liegt eben in diesem Schauwert seine ganze Eigenart. Ich kam mir mit meiner merkwürdigen dicken 3D-Brille auf der Nase vor wie auf einem Jahrmarkt um das Jahr 1900, wie vor einem Guckloch, in das zu spähen mir empfohlen war, um in einem großen Holzkasten Szenen aus dem wahren Leben der großen Entdecker Humboldt und Gauß zu erblicken, und wirklich entdeckte ich darin, manchmal merkwürdig weit weg und manchmal reichlich nahe, zwei mal kleine, mal große Männer, immer ins Verhältnis gesetzt zu den Dingen, zur Welt, zum Raum, sozusagen mitvermessen und kurios. Wie Spielzeugfiguren, Spielzeug der Weltgeschichte oder nur Spielzeug des Kinos? Das Ganze entbehrte nicht eines gewissen gleichzeitig fremdartigen und altmodischen Charmes. Altmodisch, weil ich mich in die Rolle eines zu überwältigenden und naiven und unaufgeklärten Menschen vor der großen medialen Revolution zurückversetzt fühlte.

Das 3D-Kino auf seinem aktuellen Entwicklungsstand jedenfalls halte ich für eine revolutionäre Erneuerung des Kinos. Ich fände es sehr interessant, wenn auch 2-Personen-Kammerstücke in 3D gedreht würden. Dass „Die Vermessung der Welt“ in 3D gedreht wurde, macht ihn interessanter, als er vielleicht ist? Kann sein, na gut: Dann hat Herr Buck eben noch mal Glück gehabt.

96 Hours – Taken 2

(F 2012, Regie: Olivier Megaton)

Action-Verschnitt
von Louis Vazquez

Eigentlich könnte man meinen, dass eine Einer-gegen-Alle-Situation im Leben eines zufällig zum Action-Helden gewordenen Mannes ein ziemlich singuläres Ereignis sein müsste, selbst wenn es um einen Polizisten oder einen verrenteten …

Eigentlich könnte man meinen, dass eine Einer-gegen-Alle-Situation im Leben eines zufällig zum Action-Helden gewordenen Mannes ein ziemlich singuläres Ereignis sein müsste, selbst wenn es um einen Polizisten oder einen verrenteten Geheimagenten geht. Umso herrlicher die Nonchalance, mit der Fortsetzungen für gewöhnlich alle Plausibilitätsbedenken in den Wind schlagen, um einen Protagonisten noch einmal durch die Hölle zu schicken. Manchmal hilft angesichts des kosmischen Zufalls ein bisschen Selbstironie („Die Hard 2“). Noch einfacher ist es natürlich, Rache für die Heldenleistungen in Teil eins zum Antrieb der neuen Handlung zu machen – so geschehen in „96 Hours – Taken 2“.

Die Voraussetzungen sind nicht schlecht, war doch der erste Film unter der Regie von Pierre Morel ein schnörkelloser, überraschend harter und gar nicht mal so bescheuerter Rachethriller. Irgendwann schreckte Ex-Agent Bryan Mills (Liam Neeson) nicht einmal mehr davor zurück, Unschuldigen zu schaden, um seine Tochter aus den Händen einer albanischen Menschenschlepperbande zu befreien. Die ganze schöne Rache-Gewalt machte plötzlich gar keinen Spaß mehr, und die zuvor immer wieder auch auf humorvolle Weise präsentierte, latent paranoide Hauptfigur verlor endgültig die Bodenhaftung. In „Taken 2“ indes darf die Paranoia wieder ironisch daherkommen, und unter des Helden Hand leiden nur noch jene, die es sich redlich verdient haben. Auch wenn es womöglich selbst im fiktiven Zusammenhang nicht ganz schicklich ist, die körperliche Unversehrtheit Unschuldiger zu bedauern: Schade drum.

Es geht auch wieder gegen üble Gestalten: Der mächtige Vater eines Schleppers aus dem ersten Teil will sich mit seiner wilden Bande an Mills rächen. Diesmal wird aber nicht dessen Tochter Kim (Maggie Grace) entführt, sondern gleich er selbst, zusammen mit seiner Frau Lenore (Famke Janssen). Kim muss nun ihre Eltern befreien und erhält dazu telefonische Anleitung von ihrem in derlei Dingen erfahrenen Vater. Der ist zum Glück bald ebenfalls wieder entfesselt und kann wie gewohnt zur Tat schreiten.

Während Mabrouk El Mechri („JCVD“) kürzlich mit „The Cold Light of Day“ grandios scheitern musste, weil er ein unfassbar formelhaftes Drehbuch zu verfilmen hatte, dessen Figuren kaum interessierten und erst recht nicht dauerten, steht Regisseur Olivier Megaton ein bisschen besser da, weil seine Autoren Luc Besson – der freilich auch produzierte – und Robert Mark Kamen die Suche nach den Entführten halbwegs originell, wie eine Schnitzeljagd zu gestalten versuchen. Dass sie dabei oft übers Ziel hinaus schießen und eine ordentliche Portion unfreiwillige Komik beisteuern, kommt dem Vergnügen durchaus zupass, etwa wenn Kim so folgen- wie bedenkenlos Granaten durch Istanbul wirft, damit Papa anhand der Explosionsgeräusche ihre Position orten und ihr den Weg zu sich weisen kann.

Was Olivier Megaton leider überhaupt nicht gelingt, ist eine vernünftige Actioninszenierung. Die Montage macht selbst die stimmungsvollsten Schauplätze unkenntlich, was umso mehr auffällt, wenn man den neuen Bond-Film „Skyfall“ zum Vergleich heranzieht. Der nämlich teilt sich einige Drehorte mit „Taken 2“ und macht dabei nicht nur eine viel bessere, sondern überhaupt eine Figur, wo „Taken 2“ nur Wind macht. In rekordverdächtigem Stakkato prasseln die Einstellungen herein. Drei Schnitte pro Sekunde werden zum Standard. Besonders enttäuschend gerät ein Handgefecht zwischen Neeson und einem Bösewicht, in dem kein Bild zum anderen passt und kein einziger nachvollziehbarer Bewegungsablauf sich aus dem Geflacker schält. Action fand offenbar lediglich im Schneideraum statt, nicht am Set.

So handelt es sich bei „96 Hours – Taken 2“ um einen ziemlich unterdurchschnittlichen Vertreter jenes faden, zeitgenössischen Actionkinos, das Action eher durch schnelle Schnitte simuliert als mit kinetischen Mitteln inszeniert, und gegen den sich originelle, klassisch inszenierte Actionunterhaltung wie David Koepps „Premium Rush“ wie Balsam ausnimmt. Dass der Film aber ein ziemlicher Flop geworden ist, während „Taken 2“ ordentlich Kasse macht, ist eine andere, traurige Geschichte.

Skyfall

(USA / GB 2012, Regie: Sam Mendes)

The Bond Supremacy
von Louis Vazquez

„Skyfall“ sei doch auch ein Spitzentitel für einen neuen Asterixfilm, meint ein Kollege vor der Pressevorführung und hat natürlich völlig Recht. Fiele den nicht minder patriotischen und im Kino ebenfalls …

„Skyfall“ sei doch auch ein Spitzentitel für einen neuen Asterixfilm, meint ein Kollege vor der Pressevorführung und hat natürlich völlig Recht. Fiele den nicht minder patriotischen und im Kino ebenfalls ziemlich langlebigen Galliern endlich der Himmel auf den Kopf, könnte es im Asterix-Universum noch einmal richtig spannend werden. Doch auch im Bond-Kontext darf der Himmelssturz als nicht schlechte Überraschung gelten, denn Regisseur Sam Mendes gelingt zum 50. Jubiläum der Reihe nicht weniger als der beste Bondfilm seit langer, langer Zeit.

Diesmal richtet sich eine zunächst anonyme Bedrohung vordergründig gegen verdeckt arbeitende Undercover-Agenten, zielt aber eigentlich direkt ins Herz des britischen Geheimdiensts MI6. Auf der Seite der Guten mag man schon lange nicht mehr vorbehaltlos stehen. Wenn Bonds Vorgesetzte M (Judi Dench) in einem Ausschuss zur Verteidigung ihrer Abteilung diffuse Terrorismusängste schürt, dann versucht der Film womöglich sogar, sein Publikum abzuholen, wo auch immer es steht. Gleichzeitig aber lotet der Film konsequent die moralischen Untiefen des Agentenalltags aus, wo jeder Geheimdienstler für das große oder kleine Ganze aufgegeben werden kann und nicht einmal die Spitzenkräfte sich des Rückhalts ihres Arbeitgebers sicher sein können.

Eine erzählerische Glanzleistung ist in diesem Zusammenhang die Prä-Titelsequenz, die in der jüngeren Bond-Historie ihresgleichen suchen dürfte und den enttäuschenden, werbeclipartigen Auftakt von „Quantum of Solace“ schnell vergessen macht. Der Schauplatz ist Istanbul. Viele Locations waren auch schon in „96 Hours – Taken 2“ zu sehen bzw. nicht zu sehen, denn dort gingen sie im Schnittgewitter unter. Sam Mendes aber weiß, wie man Action inszeniert. Ein Duell auf einem fahrenden Zug weckt sogar Erinnerungen an Robert Aldrichs „Emperor of the North Pole“ (1973). Doch es geht eben nicht nur um Spektakel und Schauwerte, es wird sogar ein bisschen was erzählt. Gleich zu Beginn wird Bond per Funk beordert, einen schwer verletzten Agenten zurückzulassen, statt seine Blutung zu stoppen. Er gehorcht und überlässt den Kollegen dem sicheren Tod. Eine Szene, die Ton und Thema des Films vorgibt, denn am Ende des Vorspanns ist plötzlich 007 selbst entbehrlich.

Einmal mehr wird Bond als höchst fragwürdige Figur mit kaum zu ergründender Psyche gezeichnet, als nicht nur vielfach gebrochener, sondern gewiss auch ziemlich kaputter Held. Während er den zurückgelassenen Agenten so schnell nicht vergisst, scheint ihn später das viel traurigere Schicksal einer versklavten Femme Fatale kaum zu erschüttern. Als Macho soll Bond aber trotzdem nicht mehr gelten – sogar seine sexuelle Orientierung darf in diesem Film ironisch in Frage gestellt werden. Vorbei auch die Zeit, in der Bond permanent wie ein Superheld agierte und Schmerz höchstens in der finalen Konfrontation kannte: Als er sich in Shanghai an einen Fahrstuhl hängt und die Fahrt nach oben furchtbar lange dauert, da zeigt Mendes, dass selbst einem James Bond die Arme dabei verdammt weh tun.

Nein, kein kleiner Junge möchte noch Geheimagent werden, wenn er die Bondfilme der letzten Jahre gesehen hat. Obwohl immer wieder Ironie aufblitzt, dominiert hier doch die Ernsthaftigkeit, und die psychischen Schäden scheinen bei Guten wie Bösen vergleichbar groß. Kaum ein exotischer Schauplatz tröstet über diese Makel hinweg, denn selbst bei den Sets dominiert bald der Zerfall und spiegelt die kaputten Seelen der Figuren.

„Skyfall“ wirkt – ohne zu viel zu verraten – auf gewisse Weise wie der Höhepunkt und Abschluss einer Trilogie. Erneut liegt der Fokus auf zwischenmenschlichen Konflikten, bei reduzierter, aber stets beeindruckender Action. Man darf gespannt sein, in welchem Tonfall Bonds Geschichte weitererzählt wird. Der Film scheint sich mehrere Optionen offen zu halten – am Ende wähnt man sich für einen Moment sogar im Roger-Moore-Universum. Wie auch immer sich die Franchise entwickelt: Die neue Bodenständigkeit sollte besser bleiben. „Explodierende Kugelschreiber, so etwas machen wir nicht mehr“, sagt ja schließlich auch Bonds neuer Waffenmeister Q (Ben Wishaw). Und überreicht nur eine Pistole und einen Peilsender. Beim Teutates!

Oh Boy

(D 2012, Regie: Jan Ole Gerster)

Fluss unmerklicher Veränderungen
von Wolfgang Nierlin

„Das Einzige, was ich jetzt noch für dich tun kann, ist nichts mehr für dich tun”, sagt der Vater (Ulrich Noethen) zum Sohn. Niko Fischer (Tom Schilling) wirkt wie ein …

„Das Einzige, was ich jetzt noch für dich tun kann, ist nichts mehr für dich tun”, sagt der Vater (Ulrich Noethen) zum Sohn. Niko Fischer (Tom Schilling) wirkt wie ein Verlorener in einem provisorischen Leben. Mit Ende zwanzig, nach abgebrochenem Jura-Studium, ohne Job und ohne Geld hat er weder Plan noch Ziel. Seine Wohnung ist leer, die Umzugskartons sind noch immer nicht ausgepackt, die Briefpost bleibt weitgehend geschlossen. Überhaupt fungieren Räume nur als Zwischen- und Durchgangsstationen in einem ortlosen, transitorischen Dasein. Niko driftet durch die Stadt, er ist unterwegs, ohne getrieben zu sein. Als melancholischer Flaneur und „einsamer Wolf“ imitiert er die Gesten von Robert de Niros „Taxi Driver“ und von James Dean in „Giganten“. Aber der sympathische, introvertierte und leicht schüchterne Mann ist kein Rebell, auch wenn er unangepasst wirkt und in seinen Beziehungen mitunter unverbindlich bleibt. Vielmehr ist er sensibel und durchlässig für die Sorgen und Nöte der anderen.

Einen langen Tag und eine lange Nacht lang bewegt sich der traurige Held von Jan Ole Gersters bemerkenswertem, in Schwarzweiß gedrehtem Debütfilm „Oh Boy“ durch die Stadt Berlin. Aus den zahlreichen Begegnungen, die er dabei macht, resultiert die episodische Struktur des Films und die Verdichtung eines großstädtischen Lebensgefühls. Doch Niko absorbiert nicht einfach nur Erfahrungen, noch funktioniert er primär als Katalysator, sondern sein Charakter gewinnt Konturen durch seine Reaktionen auf andere. Auch wenn sich die Welt gegen ihn verschworen zu haben scheint, ablesbar an seinen mitunter komischen Konfrontationen mit behördlichen Autoritäten, bockigen Automaten und übergriffigem Machismo, ist Niko nicht einfach ein typischer Verlierer. Zwar hat sein Scheitern, das auch eine Distanz und ein Innehalten beschreibt, eine zumindest angedeutete Geschichte, doch es erschöpft sich nicht in der modischen Darstellung dessen, was man heute gern als Prekariat bezeichnet.

Stattdessen erzählt Jan Ole Gerster einfühlsam und glaubwürdig von einem jungen Mann, der entgegen dem Anschein offen und Anteil nehmend genug ist, um den Geschichten der Menschen, die ihm begegnen, einen Resonanzraum zu verschaffen. Persönliche Dramen, aber auch die große Geschichte werden so vernehmbar. Die Zeit erscheint gedehnt, die Schicksale überlagern sich und Nikos vermeintlicher Stillstand, den der Regisseur in stimmungsvollen, von einem jazzigen Soundtrack unterlegten Bildern der Stadt widerspiegelt, wird zu einer Zeit der Reflexion. Diese ist noch nicht abgeschlossen, befindet sich vielmehr im Fluss nahezu unmerklicher Veränderungen. Er habe die letzten zwei Jahre nachgedacht, erklärt Niko seinem verständnislosen Vater. Seine mutmaßliche Stagnation erzeugt fortgesetzt innere und äußere Bewegung. Einmal, in der Wohnung eines Dealers, wo Niko auf einen Freund wartet, begegnet er einer herzensguten alten Dame, die ihn einlädt, sich in ihrem bequemen Sessel auszuruhen. Kurz darauf, für einen langen, schläfrigen Moment in Liegeposition, in dem alle Verlorenheit von ihm abzufallen scheint, erlebt er plötzlich und unerwartet Nähe und Geborgenheit.

Vielleicht lieber morgen

(USA 2012, Regie: Stephen Chbosky)

Das Glück der Mauerblümchen
von Carsten Happe

Emma Watsons erste Hauptrolle nach dem Ende des „Harry Potter“-Franchise. Allein das reicht schon aus, die Fanboys in Verzückung zu versetzen. Und dann ist es auch noch keine gesichtslose Hollywood-Ware, …

Emma Watsons erste Hauptrolle nach dem Ende des „Harry Potter“-Franchise. Allein das reicht schon aus, die Fanboys in Verzückung zu versetzen. Und dann ist es auch noch keine gesichtslose Hollywood-Ware, sondern eine persönliche Indie-Dramödie, die allen verunsicherten Teenagern und schüchternen Nerds Hoffnung machen sollte. So deutet bereits der Originaltitel die Vorzüge des Mauerblümchen-Daseins an, die den unsicheren Charlie an der neuen High School vollends aus der Bahn werfen, denn die Geschwister Sam und Patrick nehmen ihn ohne Vorbehalte in ihre bohemische Außenseiter-Clique auf. Sie sind cool und anders und auch wenn Charlie zunächst einfach nur anders ist und weit entfernt von cool, färbt ein wenig von ihrem Glanz auch irgendwann auf ihn ab.

Es wäre einfach, „Vielleicht lieber morgen“ als lediglich eine weitere Variante der ewig gleichen Teenie-Komödie abzustempeln, die das Coming-of-Age seines jugendlichen Helden mit den hinlänglich bekannten Stereotypien durchexerziert, die seit den Zeiten der kanonischen John-Hughes-Filme wie „Breakfast Club“ oder „Ferris macht blau“ nur selten ein phantasievolles Update erfahren haben. Dafür ist die zweite Regiearbeit von Stephen Chbosky, der zugleich auch fürs Drehbuch und die semi-autobiographische Romanvorlage sorgte, zu treffsicher in der Analyse pubertärer Befindlichkeiten, ohne in peinliche Toiletten-Humor-Gefilde abzurutschen. Und vor allem: „Vielleicht lieber morgen“ entwickelt einen entwaffnenden Charme und eine Liebenswürdigkeit, die ihn vielmehr in die Nähe von Filmen wie „Garden State“ rückt.

Das ist in erster Linie nicht allein Emma Watson zu verdanken, die sich hier erfolgreich der Hermione Granger entledigt, sondern insbesondere dem Charlie-Darsteller Logan Lerman, der im vergangenen Jahr in dem höchst überflüssigen „Drei Musketiere“-Update als D’Artagnan leidlich fehlbesetzt durch die Kulissen stolzierte. Hier verleiht er einem eigentlich längst auserzählten Charakter-Typus die exakt richtige Balance aus Aufbegehren und Zurückhaltung, aus kindlicher Naivität und tiefgründiger Nachdenklichkeit. Und gerade diese reflektierte Haltung macht „Vielleicht lieber morgen“ so universell wie sehenswert: dass es letzten Endes vor allem darauf ankommt, seinen Platz im Leben zu finden. Und ihn zu behaupten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: pony 11/2012

Fraktus

(D 2012, Regie: Lars Jessen)

Guter Witz von alten Hasen
von Andreas Busche

Die „Retromania“ ist schon lange zu einem Witz verkommen. Während My Bloody Valentine wieder mit ihrem Klassiker „Loveless“ auf Tour gehen, Kevin Shield es in zwanzig Jahren aber nicht schafft, …

Die „Retromania“ ist schon lange zu einem Witz verkommen. Während My Bloody Valentine wieder mit ihrem Klassiker „Loveless“ auf Tour gehen, Kevin Shield es in zwanzig Jahren aber nicht schafft, mit seiner Band ein neues Album aufzunehmen, gaben kürzlich die Hannoveraner Kraut/Jazzrock-Veteranen Eloy ihre Reunion bekannt. Inzwischen scheint jeder noch mal an den Futternapf zu dürfen; Nostalgie ist eine hochgradig regressive Befindlichkeit. An einen schlechten Witz muss im Juli 2007 auch das Publikum auf dem Melt! Open Air gedacht haben, als in den frühen Morgenstunden drei trostlose Gestalten in albernen Outfits die Bühne betraten und sich zu uninspirierten Technobeats zum Affen machten. Der Auftritt dauerte nur wenige Minuten, dann hatten die Fans des Headliners Deichkind die drei Typen wieder von der Bühne verscheucht. Das Comeback der deutschen „Techno-Pioniere“ Fraktus schien gescheitert, bevor es richtig begonnen hatte. Manche Problem lösen sich wie von selbst.

Fünf Jahre später sind Fraktus doch noch einmal zurück. Im November spielen sie einige Konzerte in Originalbesetzung (Mastermind Dickie Schubert, Klangtüftler Bernd Wand und Produzent Torsten Bage), gleichzeitig kommt eine Dokumentation in die Kinos, die vom Aufstieg und Fall der Kultband erzählt. Untertitel: „Das letzte Kapitel der Musikgeschichte“. Und alle, die im Film zu Wort kommen (Westbam, Trio-Sänger Stefan Remmler, H.P. Baxxter, Jan Delay, Blixa Bargeld), sind sich einig: Fraktus haben Anfang der Achtziger mit ihrem Sound, ihren für die damalige Zeit bahnbrechenen Klangexperimenten und ihrer radikalen Ästhetik elektronische Musik aus Deutschland revolutioniert. Fraktus waren Techno, Punk und Avantgarde zugleich. Man höre nur die essentialistische Poesie ihrer düsteren Gesellschaftskritik „Affe sucht Liebe“ vom Debütalbum „7353=057“. (2012 auch im Remix von Alex „U-96“ Christensen)

Aber Fraktus lösten sich auf, bevor die Band die Früchte ihrer wegweisenden Arbeit ernten konnte. Interne Streitigkeiten über die künstlerische Richtung der Band führten zum Zerwürfnis. Ihr letztes gemeinsames Konzert im November 1983 endet in einer Katastrophe: Das selbstgebastelte Equipment fängt Feuer, der legendäre Hamburger Undergroundclub Turbine brennt bis auf die Grundmauern nieder. Schubert, Wand und Bage ziehen sich aus der Öffentlichkeit zurück und werden von der Geschichte vergessen.

Wer sich mit der Neuen Deutschen Welle ein bisschen auskennt, wird sich wundern, noch nie von Fraktus gehört zu haben. Du besitzt den kompletten Katalog des Hamburger Labels Zickzack, doch Dir ist noch nie die Fraktus-LP „7353=057“ untergekommen? Und fragt sich da jemand, warum einem der Sänger von Fraktus so verdammt bekannt vorkommt? Lars Jessens „Fraktus – Das letzte Kapitel der Musikgeschichte“ ist tatsächlich ein Witz, ein ziemlich guter allerdings. Dahinter steckt die Hamburger Komikertruppe Studio Braun, die sich einst mit Telefonstreichen einen Namen gemacht hat, deren Humor-Imperium sich in den vergangenen Jahren jedoch rasant diversifiziert hat: dazu gehören heute neben dem legendären Hamburger Absturzladen Golden Pudel Club diverse literarische Bestseller („Fleisch ist mein Gemüse“, „Dorfpunks“), Kinofilme („Immer nie am Meer“), Theaterproduktionen („Fahr zur Hölle, Ingo Sachs“) und Musik (Jacques Palminger and the Kings of Dubrock). Fraktus-Sänger Dickie Schubert wird übrigens vom Waterkant-und-Westentaschen-Chansonnier Rocko Schamoni gespielt. Schubert ist eine kleine Hommage an Schamonis Rolle im Hamburger Proll-Klassiker „Rollo Aller“, für den er Anfang der Neunziger auch das Titellied mit dem sehr plausiblen Refrain „Raus aus der Gesellschaft, rein in den Rock“ geschrieben hat. Der „Fraktus“-Film ist sozusagen Kult mit Ansage: ein schwieriges Unterfangen, das selten glückt.

Aber Studio Braun sind alte Hasen im Unterhaltungsgeschäft. Sie haben verstanden, dass man der Abgestumpftheit der deutschen Humorindustrie nur mit Sinnentzug begegnen kann. „Affe sucht Liebe“ ist das „Katzeklo“ der Post-Rave-Generation. Es muss doch mit dem Teufel zugehen, wenn man mit einer renitent pulsierenden Synthie-Line, einem eingängigen Drum-Pattern, das von New Order geklaut ist, und einem debilen Großraumdisco-Schlachtruf (alles unter Anleitung von Bill Drummonds Handbuch „Der schnelle Weg zum Nr. 1 Hit“) nicht die Charts knacken könnte. Studio Braun, beziehungsweise Fraktus, wären die Letzten, die sich darüber wundern würden.

Aber vielleicht ist die Mockumentary auch einfach nur die unverblümte Antwort auf eine kriselnde Musikindustrie. Ein Indiz für die panische Verzweiflung, in der Vergangenheit um jeden Preis noch etwas finden zu wollen, was sich in der Gegenwart weiter verwerten lässt. Style, Haltung, einen autobiografischen Sound. Sehnsucht ist die Geißel der Retromanie, sie kennt keine Würde und kein Schamgefühl. Das macht Fraktus zu den Spinal Tap des Teutonen-Techno. (Wie ihre heimlichen Vorbilder sind auch Fraktus so blöd, sich auf dem Weg zur Bühne zu verlaufen) Roger Dettner (Devid Striesow), der die zerstrittenen Musiker nach 25 Jahre wieder zusammengetrommelt hat, ist sozusagen das gute Gewissen der Musikindustrie: ein Idealist, der noch an das richtige Leben im falschen glaubt („Die Idee Fraktus ist doch viel größer als ihr drei“ versucht er der Widerspenstigen Zähmung zu moderieren) und sich konsequenterweise als der größte Trottel entpuppt. Am Ende läuft er mit einem Döner-Spieß Amok.

„Fraktus“ ist so grenzdebil, dass es wehtut, aber unübersehbar auch ein Liebesprodukt: die körnigen Konzertaufnahmen, die alten NDW-Plattencover, der nachgestellte Formel Eins-Auftritt, Heinz Strunk als bis in die Haarwurzeln blondierter, Arschgeweih-flashender Ibiza-König („Geil Geil Geil“ war Torsten Bages größter Hit), Jacques Palmingers asymetrischer Seitenscheitel. Und immer wieder blitzt das gut camouflierte Genie von Studio Braun auf, wenn Strunk etwa ein neues Techno-Stück von Fraktus auf der Querflöte begleitet. Die Idee dazu stammt aus einer alten Folge von „Durch die Nacht mit …“, in der Strunk im Studio von H.P. Baxxter ein Flötensolo über den Basistrack von Scooters „How Much is the Fish“ spielt. So befruchten sich bei Studio Braun die Kunst und das Leben, Realität und Dichtung. Vielleicht ist es um die deutsche Popmusik doch gar nicht so schlecht bestellt, wie immer behauptet wird. Der Film jedenfalls versammelt einige ihrer größten Vertreter. Fraktus, muss man ehrlicherweise einschränken, gehören nicht dazu.

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Der Aufsteiger

(F / B 2011, Regie: Pierre Schoeller )

Le crocodile, c‘est moi!
von Ulrich Kriest

Als Vorspiel eine bizarre Mischung von Heiliger Inquisition und Tierfilm: eine unbekleidete Frau nähert sich in aristokratischem Ambiente einem Krokodil, das nicht sonderlich aggressiv sondern eher träge das Spiel mitspielt …

Als Vorspiel eine bizarre Mischung von Heiliger Inquisition und Tierfilm: eine unbekleidete Frau nähert sich in aristokratischem Ambiente einem Krokodil, das nicht sonderlich aggressiv sondern eher träge das Spiel mitspielt und sein Maul öffnet. Sie kann schon, wenn sie unbedingt will, da rein. Muss aber auch nicht. Ein Traum? Wer träumt? Wer ist die Frau? Und wer das Krokodil? Schnitt. Mitten in der Nacht wird der französische Verkehrsminister Bertrand Saint-Jean geweckt. In den Ardennen ist auf vereister Straße ein Bus mit Schulkindern verunglückt und in eine Schlucht gestürzt. Der Minister fliegt mit dem Helikopter zum Unglücksort, um eine erste Stellungnahme für die Medien abzugeben. Unübersichtliche Situation am Unfallort, komplette Überforderung durch Bilder des Schreckens, doch die Worte kommen, gekotzt wird später. Business as usual.

Dumm nur eine Konsequenz des nächtlichen Einsatzes am Unglücksort: denn so fällt für Saint-Jean ein geplanter Auftritt beim Frühstücksfernsehen flach. Ein Kollege vom Koalitionspartner springt ein und sorgt sogleich für Unruhe. In den folgenden Tagen steht nicht der bedauerliche Busunfall, sondern die Privatisierung der Bahn auf der Tagesordnung, in Szene gesetzt als abstraktes Schachspiel, wo entscheidende Züge in den Medien oder zwischen drei gleichzeitigen Telefonaten im Dienstwagen passieren. Der Busunfall, unvorhergesehen, sorgt für etwas Luft im Getriebe der politischen Mechanismen. In diesem konkreten Fall geht es zunächst darum, das Heft des Agenda Setting wieder in die Hand zu bekommen. Saint-Jean gilt nämlich, im Gegensatz zu der ihn umgebenden Politiker-Aristokratie, als Hoffnungsträger, der aufgrund seiner Herkunft als „Aufsteiger“ noch eine andere, authentischere Sprache spricht. Was ihn allerdings zunächst lediglich als Kanonenfutter zu prädestinieren scheint. Der Hoffnungsträger wird im Verlauf des Films dabei beobachtet, wie er hakenschlagend und durch immer neue Manöver versucht, wieder in die Vorlage zu kommen. Was wenig mehr bedeutet, als das richtige Telefonat zum richtigen Zeitpunkt zu führen – und die Reaktion des Kontrahenten als die Effekte dieses Telefonats zu antizipieren. Als „Beobachtungsbeobachtung“ hat Luhmann das sehr schön beschrieben.

Sieben Jahre hat der Regisseur und Drehbuchautor Pierre Schoeller an diesem Film gearbeitet, um adäquate Bilder und Szenen für „Machtspiele“ in der politischen Sphäre zu entwerfen. Sein Film beschränkt sich nicht auf die (dürftige) These des politischen Zynismus, sondern weitet den Blick auf die umfassende De-Legitimierung des Politischen, die entschieden auch ins Private lappt. So bekommt Saint-Jean im Rahmen einer Imagekampagne zur Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen einen neuen Fahrer. Und erhält dadurch eines Tages die Gelegenheit zu einer ungeschützten Begegnung mit dem Volk, der er sich nur durch Vollrausch in haarsträubenden Pragmatismus entziehen kann. Gleiches zeigt sich auch im Verhältnis zu seiner Ehefrau, zu der Saint-Jean einmal sagt: „Du kennst mich nicht, deshalb liebst du mich.“ „Der Aufsteiger“ erzählt auf beklemmende und sehr kalkulierte Weise vom Verlust der Ideale und der prinzipiellen Einsamkeit in der Sphäre des Politischen, in der buchstäblich jedes Ereignis, jedes Unglück noch quasi systemisch »politische« Effekte produziert. Als Saint-Jean schon gescheitert scheint, passiert ein zweiter Unfall, der die Karten neu mischt.

Interessanterweise sehen die Bilder, die Schoeller für dieses Ereignis findet, so aus, als habe er sie im Schneideraum von „Walking Dead“ gefunden. (Okay, da wurde nicht mehr altmodisch »geschnitten«!) Um zu begreifen, wie gelungen dieser vergleichsweise kalte und analytische Film ist, sollte man an jene Szene denken, in der Kabinettsleiter Gilles – er keineswegs ein Parvenü, sondern ein intellektueller Politiker mit Geschichte – in einer ruhigen Stunde dabei gezeigt wird, wie er sich per Schallplatte die Hymne von André Malraux auf den zu Tode gefolterten Widerstandskämpfer Jean Moulin anhört. Das ist in etwa die Fallhöhe, um die es Schoeller geht, der allerdings kein Nostalgiker, sondern ein Analytiker ist. Der Lackmus-Test: Man schaue sich Andreas Dresens naive Polit-Soap „Herr Wichmann aus der dritten Reihe“ an – und frage sich, wie ein politischer Film 2012 idealerweise auszusehen habe. Wie „L‘exercice de l‘Etat“ (Originaltitel) nämlich.

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Gnade

(D / NR 2012, Regie: Matthias Glasner)

Geteiltes Seelenleid
von Wolfgang Nierlin

Schnee, Eis und Kälte bestimmen das Leben während der langen Polarnächte im norwegischen Hammerfest, einer der nördlichsten Städte der Welt. Zwischen Mitte November und Mitte Januar herrscht daneben vor allem …

Schnee, Eis und Kälte bestimmen das Leben während der langen Polarnächte im norwegischen Hammerfest, einer der nördlichsten Städte der Welt. Zwischen Mitte November und Mitte Januar herrscht daneben vor allem Dunkelheit. Nur noch wenige Strahlen der Sonne illuminieren den Horizont der weiten, stillen Landschaft mit rötlichem Dämmerlicht. Ansonsten sind es die vielen Lichter der Stadt, die als helle Punkte in der nächtlichen Landschaft stehen. Gleich zu Beginn von Matthias Glasners Film „Gnade“ und auch später immer wieder fliegt die Kamera über diese großartige Natur mit ihren gewaltigen Panoramen, nähert sie sich den Menschen aus der Vogelperspektive. Klein und vergänglich wirken sie inmitten dieser Eiswüste, die als weißes Nichts Ewigkeitswert besitzt. In Glasners Film ist die Welt zunächst ein kalter Ort und ihre Natur eine Seelenlandschaft, die die vergletscherten Gefühle der Protagonisten widerspiegelt.

„Wir gehen weit weg – zusammen. Wir brauchen eine zweite Chance.“ Auf einer Splitscreen, nebeneinander und nacheinander sortieren die Mitglieder der dreiköpfigen Familie gegenüber unsichtbaren Fragern ihre Motive für den einschneidenden Ortswechsel. Doch auch neun Monate in Hammerfest, äußerlich bestens eingerichtet und adaptiert, haben an den verkrusteten Beziehungsstrukturen nichts geändert. Familienvater Niels (Jürgen Vogel) gibt sich aggressiv, ist reizbar und rammelt auf selbstverständlichste Weise mit Linda (Ane Dahl Torp), einer Arbeitskollegin aus der Gasverflüssigungsanlage. Er sagt: „Die Dunkelheit hängt mir zum Hals raus.“ Derweil betreut seine Frau Maria (Birgit Minichmayr) in der Hospiz-Abteilung eines Krankenhauses sterbende Patienten und singt in ihrer spärlich bemessenen Freizeit in einem Kirchenchor. Der gemeinsame Sohn Markus (Henry Stange) wiederum, ein stiller, introvertierter Junge, ringt mit mäßigem Erfolg um Anschluss und beginnt, das gestörte Familienleben mit einer Handy-Kamera heimlich aufzuzeichnen.

Doch diese äußeren Daten erfahren keine echte Vertiefung, sie liefern allenfalls das Spielmaterial für eine spiegelbildliche Bearbeitung der Themen Schuld und Vergebung, um die der Film in seinem weiteren Verlauf kreist, indem er jeden Protagonisten mehr oder weniger damit konfrontiert. Als die überarbeitete Maria auf nächtlicher Fahrt mit ihrem Auto eine 16-jährige Schülerin erfasst und daraufhin, von Ungewissheit, Angst und dunklen Ahnungen getrieben, Fahrerflucht begeht, macht sie sich schuldlos schuldig. Eine Verkettung ebenso unglücklicher wie zufälliger Umstände verleiht dem schicksalhaften Ereignis tragische Züge. Maria erscheint das eigene Handeln als fremd und unverständlich: „Ich bin nicht dieser Mensch.“ Als der Tod des Unfallopfers bekannt wird, ringt das Ehepaar um das richtige Tun, entscheidet sich schließlich für Schweigen und Verdrängung und macht sich darüber doppelt schuldig.

Gerade aus diesem geteilten Seelenleid erwächst eine neue emotionale Nähe und Verbundenheit der Ehepartner, die zum zentralen Ausgangspunkt für einen Läuterungsprozess wird. Matthias Glasner projiziert die inneren Vorgänge dieser Verwandlung, atmosphärisch verdichtet und von einer intensiven Darstellung getragen, auf die Tabula rasa der umgebenden Landschaft, bis mit dem Eis auch das Schweigen aufbricht. Daraus resultieren immer wieder eine bemerkenswerte Offenheit (in den Dialogen), stimmungsvolle „Seelenbilder“ und poetische Zäsuren aus flockigen Spuren des Lichts, in denen das Unhintergehbare einer begangenen Tat als unlösbarer Konflikt und existentielles Drama aufscheint.

Fraktus

(D 2012, Regie: Lars Jessen)

Affe sucht Liebe
von Wolfgang Nierlin

Der Spaßfaktor von Lars Jessens Fake-Doku „Fraktus“ ist hoch. Gleich zu Beginn des ziemlich lustigen Films beschwören reale Musiker-Veteranen wie Blixa Bargeld, Stephan Remmler von Trio oder auch Yello-Sänger Dieter …

Der Spaßfaktor von Lars Jessens Fake-Doku „Fraktus“ ist hoch. Gleich zu Beginn des ziemlich lustigen Films beschwören reale Musiker-Veteranen wie Blixa Bargeld, Stephan Remmler von Trio oder auch Yello-Sänger Dieter Meier in fingierten Zeitzeugen-Interviews den Mythos der einstigen Elektropop-Band Fraktus. Im eher altmodischen Stil einer Musikdokumentation, mit Kommentarstimme, gefaktem Archivmaterial und sehr ernst dreinblickenden Interviewpartnern wird dabei Musikgeschichte geschrieben. Doch die schräge, ausgerechnet in Brunsbüttel gegründete Band, die angeblich zwischen 1979 und 1983 wirkte, und ihre legendäre Musik sind fiktiv; und ihr vielgelobter Avantgardismus ist ein zeittypisches Amalgam aus analogem Synthie-Sound, selbstgebauten Instrumenten und Nonsens-Texten.

„Affe sucht Liebe“ lautet etwa der Titel eines jener zwischen Dada, Anarchie und Persiflage changierenden Lieder, die von der Hamburger Künstlergruppe Studio Braun für den Film geschrieben wurden. Dahinter verbergen sich bekanntlich ganz real Heinz Strunk, Rocko Schamoni und Jacques Palminger, die unter den Rollennamen Torsten Bage, „Dickie“ Schubert und Bernd Wand die Band Fraktus bilden. 25 Jahre nach deren Aufsehen erregendem Ende begibt sich der ehrgeizige Musikmanager Roger Dettner (Devid Striesow) mit einem kleinen Kamerateam auf Spurensuche nach den Techno-Vorreitern, um sie für ein Comeback zu reanimieren. Trotz zahlreicher Schwierigkeiten, Rückschläge und glatten Scheiterns gelingt das auch irgendwie. Doch das Erzählen tritt dabei auf der Stelle. Dafür konfrontiert Lars Jessen die ausgeprägt verschrobenen Individualisten immer wieder mit den erfolgs- und kommerzsüchtigen Produzenten des Musikgeschäfts. Mit satirischem Witz, kalauerndem Humor und deftiger Ironie entlarvt er deren wortreich-hohles Gebaren ebenso wie die ausufernde Reunion-Manie altgedienter Popstars.

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Die Kinder vom Napf

(CH 2011, Regie: Alice Schmid)

Heidi-Surroundings
von Andreas Thomas

„Niiiiiina!“ – „Caaaaaarolyn!“- Kinderstimmen im Dunkel. Kleine Lichtkegel von Helmlämpchen beleuchten einen Schneehang; das ist der winterliche Schulweg einer Handvoll Kinder aus der „UNESCO Biosphäre Entlebuch“, auch genannt „Napf“. Zehn …

„Niiiiiina!“ – „Caaaaaarolyn!“- Kinderstimmen im Dunkel. Kleine Lichtkegel von Helmlämpchen beleuchten einen Schneehang; das ist der winterliche Schulweg einer Handvoll Kinder aus der „UNESCO Biosphäre Entlebuch“, auch genannt „Napf“. Zehn Kilometer zu Fuß und mit der Seilbahn, welches andere Kind hat schon einen so spannenden Schulweg?

Ein Jahr lang, von Winter zu Winter, hat die Filmemacherin und Autorin Alice Schmid „Die Kinder vom Napf“ begleitet, auf dem Schulweg, in der Schule, auf der Wiese, bei den Hühnern, Kühen, Ziegen. Beim Musizieren, beim Spielen und beim Arbeiten. Zwischendurch erzählen die Kinder (auf Schwyzerdütsch), was sie Spannendes erleben, berichten über den Habicht, der die Hühner frisst und den Wolf, der die Schafe reißt. Die Tonspur (Musik und Sounddesign: Daniel Almada) tut ein Übriges: Ein unheimliches Geheul irgendwo zwischen Note und Tierlaut ertönt, wenn die Sprache auf den Wolf kommt, ein finsteres Grollen lässt die Lautsprecher erbeben, sobald auch nur eine Wolke sich über die Almen schiebt.

Mikrofontechnisch ist hier das Leistungsstärkste aufgefahren: wir hören die Kühe schmatzen, den Schnee knirschen, den Wind (die Kinder sagen: das sind die Geister!) sausen, dass es eine Art ist. Ununterscheidbar, ob das Gehörte noch O-Ton oder schon künstlerische Überhöhung darstellt, wird klar: Hier geht‘s um Stimmungskreation und wo die Bilder manches Mal nur halb befriedigen, da säuselt, rauscht und muht das Horn vom Score besser als jede Kuh das könnte.

„Caaarolyn!“ – „Niiiiina“ – Auch im Hochsommer illustrieren noch einmal die schön klar und kindlich gerufenen Namen die Filmessay-Romanze im Hochalpenidyll auf grüner Alm. Ein Schelm, der sich da nicht an die rezeptierende Hand genommen fühlte. Aus welchen Gründen auch immer, bei aller pittoresker Malerei von Idyll und raunender Natur, ein wenig im Abseits, obschon im deklarierten Zentrum, bleiben die Kinder, bei denen wir auch nach 85 Minuten immer noch nicht genau wissen, wer denn nun Carolyn und Nina sind, und wer und was ihre Eltern sind und machen – oder gar nur, wie eigentlich ein ganz normaler Tag bei ihnen abläuft.

Momentaufnahmen, Stimmungsbilder haben mehr Gewicht als banale oder chronologische oder gar deskriptive Alltagsbilder bei den „Kindern vom Napf“, doch sie übermalen nicht, dass auch in entlegenen schweizer Bergdörfern nur mit Wasser gekocht und modernste Technik verwandt wird: Computer, Keyboard und Hightech-Mähmaschine sind Alltagsutensilien, und eine überpräsente Tonspur übertönt nicht, dass auch eine Kindheit im Napf eine ziemlich normale Kindheit sein muss. Nur eben mit ein wenig Heidi-Surrounding.

Frankreich privat – Die sexuellen Geheimnisse einer Familie

(F 2012, Regie: Pascal Arnold, Jean-Marc Barr)

Nummernrevue
von Wolfgang Nierlin

Der 18-jährige Romain (Mathias Melloul), der aus dem Off des Films über sich und seine Familie spricht, leidet ziemlich heftig unter seinem Mangel an sexueller Erfahrung. „Alle tun es, nur …

Der 18-jährige Romain (Mathias Melloul), der aus dem Off des Films über sich und seine Familie spricht, leidet ziemlich heftig unter seinem Mangel an sexueller Erfahrung. „Alle tun es, nur ich nicht“, konstatiert er frustriert mit Blick auf die anderen, sexuell aktiveren Familienmitglieder. Der verschlossene Junge fühlt sich unverstanden, ist genervt und „viel zu weit weg“ von ihnen. Im Grunde steckt er noch mitten in der Pubertät. Mehr schüchtern als heimlich ist Romain in seine Mitschülerin Coralie (Adeline Rebeillard) verliebt. Dass ausgerechnet er im Biologie-Unterricht beim Masturbieren erwischt wird und sich dabei auch noch selbst filmt, ist einer Mutprobe unter Klassenkameraden geschuldet, wirkt aber trotzdem einigermaßen abstrus. In Pascal Arnolds und Jean-Marc Barrs Film „Chroniques sexuelles d’une famille d’aujourd’hui“, der hierzulande unter dem vorbelasteten, weil irreführende Assoziationen (an die Amateurfilm-Sammlungen von Robert van Ackeren) weckenden DVD-Titel „Frankreich privat – Die sexuellen Geheimnisse einer Familie“ veröffentlicht wird, ist dies ein Vorwand, um das (vermeintlich) tabuisierte Gespräch über Sexualität in Gang zu setzen.

Aber noch mehr geht es den beiden französischen Filmemachern, die um die Jahrtausendwende im Zuge der Dogma-Bewegung ihre ersten gemeinsamen Projekte realisierten (mit der Trilogie über Liebe und Freiheit: „Lovers“, „Too Much Flesh“, „Being Light“) um das Zeigen einer möglichst natürlich dargestellten Sexualität. Was zunächst wie eine typische Coming-of-age-Geschichte beginnt, entpuppt sich sehr schnell als relativ unmotivierte und auch holprige Aneinanderreihung mehr (Uncut-Version) oder weniger expliziter Sexszenen. Das dünne Drehbuch behauptet eine Erzählung, die jenseits freundlich vorgetragener Klischees kaum der Rede wert ist. Vielmehr wird diese durchsetzt respektive „interruptiert“ von einer sexuellen Nummernrevue der einzelnen Familienmitglieder: So entdeckt etwa Romains Bruder Pierre (Nathan Duval) bei einer lustvollen ménage à trois seine Bisexualität, während sein verwitweter Großvater Michel (Yan Brian) in den Armen einer einfühlsam-zärtlichen Prostituierten stirbt. Aber auch das Generationen übergreifende sexuelle Treiben seiner Eltern und seiner Stiefschwester Marie (Leïla Denio) wird ausgiebig ins Bild gesetzt, bis schließlich und endlich er selbst – auf dem „Höhepunkt“ der fadenscheinigen Geschichte – sein erstes Mal erlebt.

„Wer das Leben liebt, liebt den Sex“, lautet die schlichte Botschaft des Films. Pascal Arnold und Jean-Marc Barr wollen mit ihren „Chroniques sexuelles“, wie sie im Bonusmaterial der DVD sagen, „die sonnige Seite der Sexualität“ zeigen und dabei mit einer „kinematographischen Note“ den „Freiraum zwischen Softsexfilmen und Pornographie“ ausloten. Die „Grammatik des Porno“ soll durch eine möglichst „naturalistische Darstellung“, die „vulgäre Schau“ durch ein sowohl heiteres als auch schamhaftes sexuelles Tun ersetzt werden. „Das Thema des Films ist die sexuelle Erfüllung und wie wir darüber reden“, formuliert Pascal Arnold die anvisierte Doppelgesichtigkeit ihres als „menschliche Komödie“ (Barr) gemeinten Films. Aber die ehrenwerten Absichten sympathischer Filmemacher ergeben noch keinen guten Film, sondern allenfalls akzeptable Pornographie. Ihre theoretischen Überlegungen wirken freilich etwas aufgesetzt und vordergründig, wenn man das manchmal langweilige, manchmal pseudopoetische und letztlich doch recht konventionelle Ergebnis sieht. Filmästhetisch betrachtet, verzichten die beiden Regisseure weitgehend auf detaillierte Großaufnahmen und musikalischen Kleister und wechseln die Perspektive immer wieder zwischen Nähe und Distanz, wodurch mitunter auch intime, sogar berührende Momente entstehen. Trotzdem folgen sie mit ihrer durchsichtigen Dramaturgie, der es vor allem an Entwicklung mangelt, einer pornographischen (Erzähl-)Logik und bleiben insofern mit ihren Intentionen auf halber Strecke stehen.

Premium Rush

(USA 2012, Regie: David Koepp)

Bremsen sind der Tod
von Andreas Busche

Ein Stahlrahmen, ein Gang, keine Bremsen. Das Credo des Fahrradkuriers gibt auch ein gutes Rezept für eine verbesserte, reduzierte Form des Actionfilms ab. Regisseur David Koepp fungiert als Autor großformatiger …

Ein Stahlrahmen, ein Gang, keine Bremsen. Das Credo des Fahrradkuriers gibt auch ein gutes Rezept für eine verbesserte, reduzierte Form des Actionfilms ab. Regisseur David Koepp fungiert als Autor großformatiger Blockbuster ('Jurassic Park', 'Mission Impossible', 'Spiderman') gewöhnlich im Hintergrund; sein “Premium Rush” verhält sich nun eher wie die Antithese zu den Filmen, mit denen man Koepps Namen ansonsten assoziiert. “Premium Rush” verzichtet bis auf ein paar gimmickhafte Googlemaps-Einblendungen und einige sehr unterhaltsame, 3D-animierte Unfallszenarien auf flashige Effekte. Sein Film ist gemessen an den High Tech-Vehikeln, die Hollywood saisonal bedingt in die Multiplexe spült, das Fixie unter den Actionfilmen. Mean and lean – und überdreht wie ein Chuck Jones-Cartoon. Nicht zufällig nennt sich der von Joseph Gordon-Levitt gespielte Fahrradkurier, angelehnt an Jones’ Cartoonfigur Wile E. Coyote, Wilee. Wilee ist der beste und waghalsigste unter den Kurieren, die jeden Tag die Straßen von New York unsicher machen. “Bremsen sind der Tod”, lautet sein Motto. Streng genommen spielt Wilee in “Premium Rush” allerdings den Roadrunner. Seine Nemesis, Wile E. Coyote, ist ein korrupter Cop namens Bobby Monday, der Michael Shannons Kuriositätenkabinett von derangierten Psychos ein weiteres unvergessliches Gesicht hinzufügt.

Der Cop jagt einem Briefumschlag hinterher, der sich in Wilees Kuriertasche befindet. Aber was in der Tasche landet, bleibt in der Tasche. Auch so ein Kurier-Credo. Der Inhalt des Umschlags ist ohnehin nicht mehr als ein klassischer MacGuffin: der Vorwand für einige halsbrecherische Verfolgungsjagden einmal quer durch den Rush Hour-Verkehr von Manhattan. Wilee auf dem Fahrrad, Detective Monday im Auto hinterher, unterstützt von einem Fahrradpolizisten, der ein ums andere Mal an den Gesetzen der Schwerkraft scheitert. Wilee auf seinem Fixie ist dagegen unkaputtbar. Die Fahrradstunts wurden real gedreht, was “Premium Rush” eine schöne Griffigkeit verleiht: Die Verfolgungdjagden sind rasant, aber nie over the top. Was man von Michael Shannon nicht behaupten kann, der seinen Bobby Monday als entgrenzten Borderliner spielt – augenrollend und irre vor sich hin brabbelnd. Damit wird er Nicolas Cage über kurz oder lang ernsthaft Konkurrenz machen. In gerade mal 90 Minuten liefert “Premium Rush” den schlagenden Beweis, dass das gute alte B-Movie noch lange kein Relikt der Vergangenheit ist.

Dieser Text erschien zuerst in: pony #77

3 Zimmer/Küche/Bad

(D 2012, Regie: Dietrich Brüggemann)

Zertrümmerte Botschaften
von Wolfgang Nierlin

„Heute ziehen alle ständig um“, sagt Dietrich Brüggemann. Für seine Beziehungskomödie „3 Zimmer/Küche/Bad“, die mit schlagfertigem Dialogwitz dem Zusammenhang von Wohnen und Lieben auf der Spur ist, konnte der 36-jährige …

„Heute ziehen alle ständig um“, sagt Dietrich Brüggemann. Für seine Beziehungskomödie „3 Zimmer/Küche/Bad“, die mit schlagfertigem Dialogwitz dem Zusammenhang von Wohnen und Lieben auf der Spur ist, konnte der 36-jährige Regisseur deshalb den eigenen Erfahrungsschatz als „Umzugshelfer“ plündern. Alles, was der Film zeigt, ist demzufolge mehr oder weniger dem Leben abgeschaut. Das kann man kaum glauben, wenn man auf das Umzugs- und Beziehungschaos und die sich in ihm spiegelnden Dauerkrisen blickt, die das quirlige Generationenportrait in rasantem Tempo ausbreitet oder vielmehr verdichtet. Denn bei dieser atemlosen Hetze zwischen Orten – namentlich den Städten Berlin, Hannover, Stuttgart und Freiburg – und zahlreichen Wohnungen verliert man als Zuschauer schon mal Überblick und Orientierung.

Das wiederum hat vor allem mit einem schier unübersichtlichen Ensemble von Figuren zu tun. Zieht man die Eltern ab, sind es acht junge Menschen, deren Wege sich ständig kreuzen und die unter wechselnden Perspektiven durch die kleineren und größeren Katastrophen des Alltags schlittern, wobei die komplizierte Chemie der Gefühle zum furiosen Taktgeber wird. Im Wechsel der vier Jahreszeiten folgen wir den Auf- und Umbrüchen der Geschwister Philipp (Jacob Matschenz), Wiebke (Katharina Spiering) und Swantje (Amelie Kiefer), die auf der Suche nach Liebe fortwährend ihre Wohnungen wechseln, weil die Gefühlsbindungen immer auch einen neuen Wohn- und Lebensraum beanspruchen.

Das mag zwar symptomatisch sein für die dargestellte Generation, doch die dahinter stehende allgemeinere These lautet: Keiner weiß, wie das Leben geht. Dietrich Brüggemann reflektiert das mit zynischem Blick auf die Elterngeneration und dem Hinweis auf die „Risse im Fundament“. Im Abspann-Song der Gruppe Indelicates heißt es entsprechend: „Every generation gets fooled again/And every generation is the same.“ Allerdings bleibt den typisierten Figuren seines Films auch keine große Entwicklungsmöglichkeit, um den wiederkehrenden Entscheidungsdilemmata zu begegnen.

Nicht etwa französische Beziehungsfilme haben ihn inspiriert, sagt Brüggemann, sondern Woody Allens komplexe romantische Komödie „Hannah und ihre Schwestern“ aus dem Jahre 1986 fungierte als „loses Vorbild“. An originellem Witz und fast schon abgeklärter Ironie mangelt es „3 Zimmer/Küche/Bad“ tatsächlich nicht. Aber zu oft sind die ebenso lustigen wie schmissigen Dialog-Schnipsel auf die Pointe hin geschrieben und inszeniert, was zur Folge hat, dass dem Film mitunter das erzählerische Fleisch und leider auch ein gewisses Maß an Realitätsgehalt fehlt.

Dieser Mangel an Wirklichkeit und echtem Leben ist natürlich schade, zumal Brüggemann in einem Statement fürs Presseheft beansprucht, eine Generation zu porträtieren, „deren Leben unter dem Stern der Unübersichtlichkeit steht.“ Dass das Leben wie eine „verrostete Waschmaschine“ ist, von der keiner wisse, wie sie funktioniere, ist einer der zahlreichen Gags des Films. Doch Brüggemann möchte diese Aussage nicht als Botschaft verstanden wissen. Vielmehr gehe es ihm darum, „Botschaften zu zertrümmern“. „3 Zimmer/Küche/Bad“ beschreibt also Symptome einer allgemeinen Unsicherheit und ist selbst Zeugnis dieser Desorientierung. Auch wenn ein wiederholt zitierter Sterne-Song das alles gar nicht so hoffnungslos sieht: „Wir müssen nichts so machen wie wir’s kennen/Nur weil wir’s kennen wie wir’s kennen.“

Die Wand

(AT / D 2011, Regie: Julian Roman Pölsler)

Von der Sorge leben
von Wolfgang Nierlin

Text und Bild, gesprochenes Wort und Schauspiel bilden in Julian Roman Pölslers werktreuer Adaption von Marlen Haushofers 1963 erschienenem Roman „Die Wand“ eine starke Einheit. Die sachliche Gedankenprosa der namenlosen …

Text und Bild, gesprochenes Wort und Schauspiel bilden in Julian Roman Pölslers werktreuer Adaption von Marlen Haushofers 1963 erschienenem Roman „Die Wand“ eine starke Einheit. Die sachliche Gedankenprosa der namenlosen Ich-Erzählerin, die sich schreibend eines Berichtszeitraums von zwei Jahren erinnert, und die reduzierte, wenig dramatische äußere Handlung, in deren Mittelpunkt die existentielle Einsamkeit einer Frau steht, legen eine solche gleichwertige Behandlung auch nahe. Haushofers gewichtiger innerer Monolog über einen katastrophalen Ausnahmezustand und das Geworfen-Sein des Menschen verlangt förmlich nach einer solchen Präsenz. Und Pölsler findet dazu Bilder, die nicht nur illustrieren, sondern teils visionäre Kraft besitzen. Immer wieder evozieren sie das Surreale und Unheimliche, das als Ungreifbares der Natur und ihrer verschlossenen Ordnung entwächst und über der apokalyptischen und zugleich sehr realen Sciencefiction-Szenerie schwebt.

Das Schreiben der Ich-Erzählerin (Martina Gedeck), vergegenwärtigt durch ihre nüchtern-melancholische Stimme aus dem Off, strukturiert den Film, indem es Rückblenden in die erzählte Vergangenheit auslöst. Zugleich ist es selbstvergewissernde Zwiesprache gegen die Angst, Existenzbeweis und der Versuch, das Menschliche des Menschen zu bewahren. „Ich schreibe nicht aus Freude am Schreiben; es hat sich eben so für mich ergeben, dass ich schreiben muss, wenn ich nicht den Verstand verlieren will“, heißt es gleich zu Beginn. Dann schließen die Buchstaben des Filmtitels „Die Wand“ die handschriftlichen Aufzeichnungen der Ich-Erzählerin ein. Kurz darauf wird die Gefangenschaft der Protagonistin zum alptraumhaften Thema. Während eines Ausflugs in die Berge, wo sie zusammen mit einem befreundeten Ehepaar das Wochenende in einer Jagdhütte verbringen möchte, findet sie sich plötzlich isoliert und abgeschnitten vom Rest der Welt. Eine unsichtbare Wand versperrt ihr den Weg und hindert sie am Weitergehen. Als nicht wahrnehmbare Grenze durch Raum und Zeit erzeugt diese Paradoxie mannigfache Konfrontationen. In Julian Roman Pölslers Film bildet sie zugleich (als Auge der Kamera) die Trennlinie zum Publikum.

Nach dem lange anhaltenden Schock und Selbstmordgedanken, nach Alpträumen und einer sich verlierenden Hoffnung entwickelt die Heldin wie in einer Robinsonade Überlebensstrategien und neuen Lebensmut. Gegen die vermeintliche Sinnlosigkeit und Absurdität des Daseins will sie „sich der Wirklichkeit stellen“. Und dabei helfen ihr Tiere: die tägliche Sorge um einen Hund namens „Luchs“, eine Katze, die Kuh „Bella“ und einen kleinen Stier sowie die mühevolle Arbeit, die mit dieser Verantwortung verbunden ist. Sie erkundet das Gebiet, erlernt landwirtschaftliche Techniken, aber auch – und trotz fortgesetzten Widerwillens – das überlebensnotwendige Jagen und Töten. Zwar ist ihr dieses notwendige Handeln eine Last, in die sie immer bewusster einwilligt, zugleich befreit es sie aber auch von der „Last der Entscheidung“. Schließlich erlebt sie eine allmählich sich vollziehende Verwandlung, ein langsames Hineinwachsen in eine neue, natürliche Ordnung, aus der die Liebe als „einzige Möglichkeit“ aufscheint. Eine Distanz zum „eingefrorenen Leben“ jenseits der Wand und eine Skepsis gegenüber der Rationalität sind damit verbunden. Pölslers nachdenklich stimmender Film konzentriert sich auf diese ebenso besänftigende wie schwerelose „helle Stille ohne Gedanken“ und spiegelt die inneren Aufbrüche und wechselnden Gemütszustände der Protagonistin – sowohl ihre Verschmelzungsphantasien als auch ihr Außenseitertum – in eindringlichen Bildern der Natur, die zur Seelenlandschaft wird.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Schönheit

(D 2011, Regie: Carolin Schmitz)

Die Macht der Vorurteile
von Ricardo Brunn

Ohne Zweifel ist „Schönheit“ von Carolin Schmitz in formal-ästhetischer Hinsicht einer der bemerkenswertesten deutschen Dokumentarfilme der letzten Zeit. Ähnlich ihrem Debütfilm „Portraits deutscher Alkoholiker“ kommt dem Raum dabei eine besondere …

Ohne Zweifel ist „Schönheit“ von Carolin Schmitz in formal-ästhetischer Hinsicht einer der bemerkenswertesten deutschen Dokumentarfilme der letzten Zeit. Ähnlich ihrem Debütfilm „Portraits deutscher Alkoholiker“ kommt dem Raum dabei eine besondere Rolle zu. In tableau-vivant-artigen, bis in jedes Accessoire durchgeformten Einstellungen, die ähnlich den Kulissen des Theaters kein Außerhalb zulassen und durch ihr Inventar oftmals eine klinische Atmosphäre der Ordnung und Sauberkeit ausstrahlen, zeigt die Regisseurin Personen, in deren Leben Schönheitsoperationen einen zentralen Stellenwert besitzen. Konsequent kommentieren die Umgebungen die Protagonisten und ihr Gesagtes, überhöhen oder revidieren mal ironisch, mal zynisch. Während sie über ihr Online-Forum zum Thema Schönheitsoperationen als Lebensinhalt spricht, formt eine Protagonistin silikonkissengroße Buletten in ihrer Traumküche. In der Montage, die über den gesamten Film hinweg fabelhafte Transitionen herstellt, erfährt diese Szene einen weiteren Bruch, indem ihr anschließend das Bild eines Vertreters in gediegenem Ambiente entgegengesetzt wird, der über die Verschiedenartigkeit von Brustimplantaten referiert.

Unablässig wird so der Versuch unternommen, die Figuren in ihrem Wunsch zu entlarven, Teil einer diffusen (in Habitus und Raum jedoch erspürbaren) Elite sein zu wollen, wenn sie sich mit Statussymbolen umgeben, die durch die Zuordnung bestimmter Räume jedoch wie Fremdkörper wirken: Der Mercedes mit Holzarmaturen will in seinem edlen Erscheinungsbild einfach nicht zu den Vorhängen, der Couch und der großformatigen Teddybärfotografie im Wohnzimmer einer Protagonistin passen. Es geht demnach auch um Schönheit als Ersatzhandlung und manchmal ganz banal um das Gefühl von (Selbst-)Sicherheit. Und nicht selten wird durch die Organisation der Menschen im Raum nach einem strengen visuellen Konzept das Subjekt zum Objekt einer fast schon pathologischen Betrachtungsweise.

In dieser riskanten Gratwanderung belastet sich der Film schnell mit dem Vorwurf der Denunziation. Zwar entlarven sich die Protagonisten hinter ihren äußerst sauber verputzten Fassaden ihres Spießbürgerdaseins durch Habitus und Sprache oft genug selbst. Der konzeptuelle Ansatz und die gewählten filmischen Mittel verstärken diesen Eindruck jedoch, der zu allererst im Ansatz des Filmes zu suchen ist und mit der Auswahl der Figuren beginnt. Egal ob alleinstehender Dandy in gehobenem Alter, der es sich schuldig ist, schön zu sein oder in Partnerschaft lebende Automobilkauffrau auf Karrierefeldzug, die erst einmal keine Kinder möchte und auch nicht bereit wäre, diese (zum Schutze ihrer Brüste) zu stillen – das Figureninventar ist geprägt von Menschen, die spielend als Karikaturen zu zeichnen sind. Natürliche Ambivalenzen in den Personen werden, insofern sie je gedreht wurden, durch den Schnitt zu Gunsten einer Meinung großflächig wegoperiert. Denn indem sie bestimmte Figuren suchen und in akribisch konstruierte Tableaus setzen, gehen die Filmemacher bereits mit einer Ansicht in die Dreharbeiten, welche sie nicht hinterfragt wissen wollen. Auf einen dramaturgischen Bogen (einige Figuren werden nicht konsequent begleitet und ihr soziales Umfeld bleibt teils drastisch ausgespart), wodurch Relativierungen erzeugt werden könnten, wird verzichtet. Die offene dramatische Struktur reiht lieber zusätzliche Figuren, wie die 92jährige Oma, die noch ein paar Jahre schön sein will, in das Jahrmarktkaleidoskop der Eitelkeiten ein, obwohl diese dem Gesamtbild kaum mehr etwas hinzufügen können und im Fall dieser Frau nur bestätigen, dass Schönheitsoperationen bis ins Greisenalter hoch im Kurs stehen.

Der Vergleich mit den Filmen Ulrich Seidls („Mit Verlust ist zu rechnen“, „Tierische Liebe“), die einem aufgrund der überzeugenden formalen Strenge in den Sinn kommen, will deshalb nicht recht greifen. Im vollkommenen Gegensatz zu Ulrich Seidl wirken alle Personen in „Schönheit“ wie medizinisches Anschauungsmaterial. Auf seiner Suche nach Extremen will uns Seidl hingegen einen Spiegel vorhalten und immer dann, wenn seine Filme in reine Bloßstellung abzudriften drohen, gleicht er diese mit der Würde seiner Figuren aus. Denn im Kern geht es immer um deren und damit letztlich um die Einsamkeit des Zuschauers beziehungsweise das ewige menschliche Drama des Geliebtwerdenwollens.

Am Ende verweist folglich selbst der Titel nur noch auf ein für die Protagonisten diffuses Schönheitsideal, welches für die Regisseurin offensichtlich nicht hinnehmbar ist. Deswegen macht es auch keinerlei Sinn einen Diskurs über den Begriff Schönheit anzustrengen, da der Film sich dafür nicht interessiert, so wie die Regisseurin den Fragen nach Schönheit in Interviews konsequent aus dem Weg geht und lapidar auf die Vielschichtigkeit des Themas verweist. Was sich hinter dem Wunsch nach einem schöneren Körper tatsächlich verbirgt (die Schönheitsoperation kann nur als Teil einer viel umfassenderen Strategie des Body-Enhancements verstanden werden), welche Probleme den Menschen in seinem Verhältnis zum eigenen Körper auch in Bezug auf moralische Qualitäten der Schönheit begleiten, das spart der Film weitestgehend aus.

Was tun wir nicht alle tagtäglich, um uns besser und, in einem weiter gefassten Sinne, schöner darzustellen als wir sind. Den Machern von „Schönheit“ scheint es nicht so zu gehen. Sie begreifen die Sucht nach (chirurgisch hergestellter) Schönheit nicht im Kontext des Körpers als Träger vielfältiger sozialer Botschaften, sondern begnügen sich mit der offensichtlichen Ablehnung einer Mittelschicht, die das Glücksversprechen der Schönheit mit ihren Mitteln zu erreichen sucht.

Léa – Die strippende Studentin

(F 2011, Regie: Bruno Rolland)

Sein und Schein
von Wolfgang Nierlin

Léa (Anne Azoulay) lebt mehrere Leben in verschiedenen Welten, die alle durch ein Band sozialer Abhängigkeiten miteinander verknüpft sind. In der nordfranzösischen Hafenstadt Le Havre versorgt sie ihre demenzkranke Großmutter …

Léa (Anne Azoulay) lebt mehrere Leben in verschiedenen Welten, die alle durch ein Band sozialer Abhängigkeiten miteinander verknüpft sind. In der nordfranzösischen Hafenstadt Le Havre versorgt sie ihre demenzkranke Großmutter (Ginette Garein), bei der sie auch wohnt, studiert tagsüber in der Bibliothek und arbeitet abends als Bedienung in einer Striptease-Bar. Dass sie die Tochter des örtlichen Bürgermeisters ist, der mittlerweile mit einer neuen Familie zusammenlebt, erfährt man eher nebenbei. Als sie einen Studienplatz für politische Wissenschaften in Paris erhält, verschärft sich die soziale Dialektik: Um ihren Unterhalt und die Pflegeheim-Unterbringung ihrer Oma zu finanzieren, beginnt sie als Striptease-Tänzerin zu arbeiten. Bruno Rollands starkes Langfilmdebüt „Léa“ ist für seine DVD-Veröffentlichung in Deutschland deshalb mit dem sowohl dümmlich klingenden wie irreführenden Untertitel „Die strippende Studentin“ versehen worden.

Tatsächlich ist sein differenzierter Film eine Auseinandersetzung mit dem marxistischen Diktum, wonach das soziale Sein das Bewusstsein bestimme. Zwar arbeitet Léa selbstdiszipliniert und streng, sozial isoliert und sich bis zur Erschöpfung selbst ausbeutend an der Widerlegung dieses Satzes, gerät dabei aber immer tiefer in eine sowohl psychische als auch existentielle Krise. „Ich bin ein unabhängiger Typ!“, sagt sie trotzig und gegen allen Stress und Ärger anfangs noch zu ihrem Spiegelbild, was durchaus auch als Suche nach einem eigenen Weg jenseits der traditionellen Rollenzuweisung zu verstehen ist. Leitmotivisch zieht sich dieses mit Zweifeln, Ungewissheiten und Ermutigungen verbundene Bild der Selbstprüfung durch den Film. Ergänzt und kontrastiert wird es von Léas einsamen Gängen durch leere nächtliche Straßen.

Doch dann lässt sich die kontrollierte Frau regelrecht fallen und gerät zunehmend in einen Sog der Selbstzerstörung. Léa schottet sich ab, verliert das Vertrauen zu Menschen, erträgt kaum noch Nähe – etwa die zärtliche Fürsorge des Barmanns Julien (Eric Elmosnino) – und zeigt Symptome körperlicher Erstarrung. Bruno Rollands elliptisch erzähltes Portrait einer jungen Frau auf der Suche nach einem Platz im Leben lässt dabei Praxis und Theorie, Uni-Vorlesung und Prostitution, vor allem aber Sein und Schein aufeinander prallen. Immer wieder inszeniert er Anne Azoulay, die übrigens am Drehbuch mitgearbeitet hat (und demnächst in Pierre Schoellers „L’Exercice de l’État“ zu sehen sein wird), wie auf einer Bühne in frontaler Sicht: ob beim Putzen in der großelterlichen Wohnung, bei der Aufnahmeprüfung im Hörsaal oder bei ihren aufreizenden Tänzen im Stripteaselokal. Stets ist Léa den Blicken ausgesetzt, weckt aber auch Phantasien und verkauft Träume; der Dealer existiere durch den Käufer wird in einer Vorlesung Bernard-Marie Koltès zitiert.

Doch Bruno Rolland will weder die Opfer-Rolle umkehren, noch geht es ihm um einfache Zuschreibungen oder die lineare Verkettung von Ursache und Wirkung. Sein komplexer Film beschreibt vielmehr die Wechselwirkungen von Licht und Schatten, Vorder- und Hintergrund. Und wenn am Ende seine unerlöste Heldin am Strand von Le Havre das Bild verlässt, während am Horizont ein Schiff in den Weiten des Meeres verschwindet, liegt in diesem Abschied trotz aller Offenheit auch die Hoffnung des Aufbruchs.

Die Ökonomie des Glücks

(GB / USA / D / F 2011, Regie: Helena Norberg-Hodge, Steven Gorelick, John Page )

Die Blaubluse der Weltrevolution
von Andreas Thomas

Wie man offene Türen einrennt, um gleich darauf mit der Hintertür aus dem Haus zu fallen, das demonstriert die Trägerin des alternativen Nobelpreises, Helena Norberg-Hodge anhand ihres couragierten – oder …

Wie man offene Türen einrennt, um gleich darauf mit der Hintertür aus dem Haus zu fallen, das demonstriert die Trägerin des alternativen Nobelpreises, Helena Norberg-Hodge anhand ihres couragierten – oder eher coregierten und soloproduzierten Films „Die Ökonomie des Glücks“.

Es gibt manchmal Momente, da will man einfach nicht rezensieren, was aber als Rezension obliegt. Dieser ist einer davon. Hier kommt die Begründungskette: a) Helena Norberg-Hodge, das kann der Zuschauer zur Genüge registrieren, weil diese blaugebluste Frau nicht müde wird, perfekt und permanent blaugeblust auszusehen, des Weiteren immer eine Stimmungskanone des Weltfriedens zu sein, indem sie permanent positiv gesundheitsgetestet kuckt, und wie eine Art abgespeckte (in Wahrheit wahrscheinlich krankheitgeschrumpfte) und langhaarige Maggie Thatcher aussieht, was b) aber auch nicht hilft, weil sie in ihrem blauen Mao-T-Shirt und mit ihrer permanenten Grinserei wie die Reinkarnation der kompletten Mun-Sekte wirkt, und man sich als Zuschauer sofort überlegt, ob man lieber eine Volldosis Heroin oder jene masseneinschläfernde Heroine zu sich nehmen sollte: Wenn aber jemand wie Frau Northam-Carter eben so gut Bescheid zu wissen scheint, das bringt ihr Film ja rüber, dass blaue Hemden den Weltfrieden beherbergen, dann muss man sich ihr wahrscheinlich anvertrauen.

Daher: Der Film ist dufte und handelt davon, dass du und ich (also WIR) die Weltrevolution insofern zu betreiben haben, dass a) eben keiner mehr einsam ist. Und b) es keine Ausbeutung von Ladaq und all diesen anderen ökonomischen Nischen mehr zu geben hat, weil sonst da alles, was da kreucht und fleucht, leidet, denn normal haben die da ihre Kultur, auch bis vor kurzem gehabt, nur kam da jemand anderes, auch nicht Helena Bonham-Carter, aber trotzdem Schlechtes, und hat gesagt: Jetzt wird KONSUMIERT und nicht mehr amüsiert, sondern ganz arg gelitten. Innerhalb von etwa drei Jahren hat dann die ladaqsche komplette Bevölkerung (die Filmbilder beweisen das eindringlich) alle alten und festgefügten traditionellen Werte des Lachens und der Freundschaft fahren lassen; überall gab es plötzlich nur Schmutz und weinende Leute. Grund dafür war die Globalisierung. Das bestätigen auch alle Freunde von Frau Blauham. Daher ist der Rat von Frau Blaumann-Carter, dass ab jetzt Schluss sein muss mit Coca Cola und Hamburger für alle, plausibel. Und das nicht nur im fernen Asien!

Es darf auch bei uns nicht mehr normalen Berufen nachgegangen werden, wie Einzelhandelsfachverkäuferin oder Animateur im Beach-Club. Es wird die komplette Bevölkerung dazu benötigt, überall wo noch ein Krumen Erde ist, Gemüse und Obst anzupflanzen, damit wir wieder lokal und nicht global verknüpft sind. Dann wird sich das Lachen der ab sofort ausschließlich landwirtschaftlich tätigen Weltbevölkerung ganz schnell wieder einstellen, die doofen Kapitalisten, Banker und Spekulanten werden nach Hause gehen und sich schämen und freundlich werden wir uns Gurke um Gurke zur Hand reichen, es wird getanzt und gesungen werden rund um den Maulbeerbaum (friedvolle Film-Welt-Musik: Florian Fricke, Popol Vuh), und es wird wieder die Frage erlaubt sein: Wozu sind Kriege da? Und die Antwort wird lauten: Wir haben den Grund tatsächlich vergessen, denn wir sehen keinen Grund, einen Krieg zu führen, weil wir alle Erdbewohner lieben und uns auch alle Erdbewohner lieben.

Dass diese ganze Zukunftsvision der Helena Norberg-Hodge und ihrer weitgehend esoterisch gefärbten Freunde (es gibt alle fünf Minuten eine behauptete, fettgedruckte These, und nicht ein einziges Mal eine Gegenmeinung) tatsächlich so wirkt, als wäre sie einem Faltblatt der Zeugen Jehovas entsprungen, könnte Freunde der Weltverbesserung davon abschrecken, die Welt zu verbessern, und es könnte Freunde der bestehenden „Freiheit“ darin bestärken, auf jeden Fall Arbeitslosigkeit, Klimaerwärmung, Umweltverschmutzung und persönliche Depressionen derartiger Gleichmacherei und sektenartiger Hirnwäsche vorzuziehen.
Fänden wir das gut? Nein! Finden wir deshalb den Film gut? Nein!

Angels‘ Share

(GB / F 2012, Regie: Ken Loach)

Dreamteam
von Wolfgang Nierlin

„Steckt man einmal in der Scheiße, kommt man nicht mehr raus“, sagt Robbie (Paul Brannigan) über sich und seine kriminelle Familiengeschichte im sozialen Abseits des Lebens. Genau diesen Satz und …

„Steckt man einmal in der Scheiße, kommt man nicht mehr raus“, sagt Robbie (Paul Brannigan) über sich und seine kriminelle Familiengeschichte im sozialen Abseits des Lebens. Genau diesen Satz und den darin enthaltenen Determinismus widerlegt Ken Loach auf märchenhafte Weise in seinem neuen Film „Angels‘ Share“. Durch Herkunft benachteiligt, vom tristen Milieu geschädigt, perspektivlos und ohne Job sind alle, die zu Beginn des humorvollen Sozialdramas vor dem Richter erscheinen, um ihr Strafmaß in Empfang zu nehmen, was der britische Meisterregisseur ziemlich nüchtern und ernüchternd inszeniert. Gewalt und Gegengewalt, Diebstähle und Drogen bestimmen den Alltag dieser kleinkriminellen Verlierertypen, deren Vergehen mal beknackt, mal erschreckend brutal ausfallen. So bescheinigt der Richter dem tumben Albert (Gary Maitland), dass seine „abgrundtiefe Dummheit“ nur noch von seinem Glück überwogen werde, während er Robbie attestiert, ebenso gefährlich wie talentiert zu sein.

Der verständnisvolle und gutmütige Sozialarbeiter Harry (John Henshaw), der die straffällig gewordenen Jugendlichen bei ihrer Ableistung gemeinnütziger Arbeit unter seine Fittiche nimmt, bezeichnet seine chaotischen Schützlinge gar als „Dreamteam“. Die witzige Verschrobenheit der Rumpeltruppe, die letztlich ihren Status quo bestätigt, fungiert dabei als Kontrastfolie zu Robbies tragikomischer Entwicklungsgeschichte, für die sich der routinierte Drehbuchautor Paul Laverty einen cleveren Coup ausgedacht hat. Dass das Verlassen der alten Bahnen und der Beginn eines neuen Lebens der Solidarität und Freundschaft guter Seelen bedarf, gehört gewissermaßen zu Ken Loachs Grundüberzeugungen. Teilhabe hat in seinem Film mit Teilen zu tun, was ein wenig auch im doppeldeutigen Titel steckt.

Neben Harry, der Robbie immer wieder auffängt, ist es vor allem Robbies Freundin Leonie (Siobhan Reilly), die an ihren Freund glaubt und an dessen Verantwortungsgefühl für das gemeinsame Baby appelliert. „Ich habe Angst vor mir selbst“, kommentiert dieser sein Erschrecken über seine zerstörerische Aggressivität. Doch dann macht er Bekanntschaft mit schottischem Malt Whisky, vertieft sich in dessen Studium und findet darin in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung und Aufgabe. Es braucht diesen Katalysator, um seine schrittweise Befreiung auch bildlich und räumlich in Gang zu setzen. Getarnt mit Kilts, begeben sich Robbie und seine schrägen Freunde auf einen Trip von Glasgow in die schottischen Highlands, wo in einer altehrwürdigen Destillerie ein besonders alter und teurer Whisky versteigert werden soll. Mit viel Sympathie für seine liebenswerten Helden, mit augenzwinkerndem Humor und einer Prise Spannung inszeniert Ken Loach ein märchenhaftes (Whisky-)Abenteuer über die verändernde Kraft der Solidarität und macht „Angels‘ Share“ so zu einem sehr unterhaltenden, rundum gelungenen feelgood movie.

The Ghostmaker

(USA 2011, Regie: Mauro Borrelli)

Tod ist eine Losung
von Sven Jachmann

Novize im Filmgeschäft war Mauro Borrelli höchstens nur noch dort, wo er für seinen Debütfilm 'The Ghostmaker' den Regiestuhl besetzte. Als Illustrator, Storyboardzeichner und concept artist hat er bereits bei …

Novize im Filmgeschäft war Mauro Borrelli höchstens nur noch dort, wo er für seinen Debütfilm 'The Ghostmaker' den Regiestuhl besetzte. Als Illustrator, Storyboardzeichner und concept artist hat er bereits bei dutzenden megalomanischen Blockbuster-Produktionen (u.a. 'Dark Shadows' (2012), 'Captain America' (2011), 'The Wolfman' (2010), 'Fluch der Karibik' (2006 / 2007)) ein wenig von den Regeln des Spiels der Großen lernen dürfen. Und aus der streng ökonomischen Perspektive eines beliebigen Global Players, der neben Radios, Zeitschriften, Spielzeug oder Waffen eben auch an Filmen verdient, macht Borrelli mit seiner B-Film-Visitenkarte möglicherweise sogar einiges richtig. Immerhin verkneifen sich Regie und Drehbuch auch wirklich jede eigenständige Idee und entscheiden sich im Bedarfsfall ausnahmslos für die simpelste Lösung, weil Regelbrüche mit steigendem Budget schließlich umso massiver das Risiko Kapitalvernichtung potenzieren. Das wäre zumindest ein Indiz für vermeintlich zielgruppenorientiertes Arbeiten. Nur, einem Streber dabei zuzusehen, wie er gefällig die frustrierten Weisheiten seines narzisstischen Lehrers nachplappert, ist ungefähr so ergiebig wie den Focus als Mittel zur Weltflucht zu nutzen.

Mit anderen Worten: Als Horrorfilm, der uns, aus welchen Gründen und wovor auch immer, das Fürchten lehren will, hat „The Ghostmaker“ vollends versagt. Und es braucht nicht viel Federlesens, um die ausnahmslos mittelmäßige Konzeption dafür zu verantworten: In schlechtestdenkbarer TV-Ästhetik aus Prä-HBO-Zeiten, umsäuselt von einem addiert weniger als zehn Minuten verstummenden, nicht mal diskussionswürdig akzentuierenden, sondern rabiat dauerhaft eingesetzten Hier-ist-der-Teufel-in-jeder-Szene-versteckt-Score geht es hinein in die schauspielerisch leidlich vermittelte kaputte Psyche eines Studenten-Dreiergespanns (mit Frauenanhang) – oder was man eben dafür halten soll. Der erste, Kyle (Aaron Dean Eisenberg), ist Schönling mit zu großer Crystal-Leidenschaft, wofür er sich auch mal heimlich an den Ersparnissen seiner Freundin Julie (Liz Fenning) bedient, sofern er sie nicht im WG-Whirlpool verführt. Das bringt wiederum Sutton (Jeff Walter Holland), seinen Mitbewohner und zweiten im Bunde, insgeheim in Rage, hegt der doch eine unausgesprochen obsessive wie einseitige Bindung zu Julie – mit später noch fatalen Folgen. Aber zunächst erstmal ist Sutton gelähmt und deswegen ein armer Tropf. Weil die zwei keine Erklärung finden, welches Geheimnis der antike Sarg mit der obskuren Mechanik im Kopfbereich birgt, den Kyle mehr oder weniger zufällig von seiner Arbeitstour zuhause anschleppt, wird alsbald zur Recherche Platt (Jared Grey) konsultiert. Der ist, der drollige Name spoilert‘s, forschungsaffiner Geistesmensch, sieht deswegen eher unschön aus, trägt Brille und garniert in der Unibibliothek die von Studenten erbetenen Literaturtipps mit den Sätzen: „Du denkst über postmoderne Philosophie nach? Super, find ich gut! Da, die ersten Kapitel sind etwas zäh, aber der Schluss verändert dein Leben!“ (Expertenfrage: Wie heißt der Klassiker zum Verdikt?)

Wenn Klischees buchstäblich transzendieren, wächst wohl der Raum für Einfalt: Der Sarg, der titelgebende Ghostmaker, ist Schöpfung des morbiden Anti-Da Vincis Wolfgang von Tristen, einem Konstrukteur von Folterwerkzeugen aus dem 15. Jahrhundert. Ist die Maschine aktiviert, versetzt sie den in ihr Liegenden in den Nahtod (Platt:' Das ist eine NDE, eine NAHTODERFAHRUNG!'), der sich dann für wenige Minuten als Geist frei bewegen kann. Das Trio versucht es also unisono (dem Goldfisch hat der vorherige Testlauf nicht geschadet), dies gleich mehrere Male und bekommt alsbald üble Konsequenzen zu spüren. Der kluge Platt wird vom fürchterlich animierten Tod heimgesucht, weil er sonst noch das Ende verraten hätte, der potentiell derangierte Kyle lernt pädagogisch wertvoll seine Crystal-Abhängigkeit ver- und Julie wieder achten (ein Geisterblick hinter die Kulissen des abgeranzten Wohnwagens, in dem sein Dealer, ein schmerbäuchiger Grunger – da sind die also heute! -, samt Lakai fürs schnelle Geld über Leichen gehen, hilft) und Sutton steigen die neu mobilisierten Omnipotenz-Fantasien direkt in die Beine, sodass er Julie, als Geist zuvor ausgiebig observiert und befummelt, schließlich ins Finale entführen kann.

Die Spuren von „Flatliners“, 'Final Destination', Paul Verhoevens „Der Unsichtbare“-Variante „Hollow Man“ und „Christiane F.“ im Plot fallen nicht weiter ins Gewicht, die penibelst hanebüchenen Konstruktionen von Konflikten sind kein Graus, weil sich die gesamte Apparatur in ihrem grundsätzlichen Desinteresse an jedem Aspekt der Filmarbeit bestens darauf versteht, nicht die geringste Sorge um all die Klappentext-Figuren mit ihren Broschüren-Nöten aufkommen zu lassen. Diese ausgestellte Lustlosigkeit ringt mit einem schaurig ernsten inszenatorischen Erklärzwang, der seinem Publikum auch nicht eine Verständnis-Eigenleistung zugestehen will. Kontrollsucht jedoch, die auf jedwede Mühe lieber gleich zugunsten eines höheren Regelkatalogs verzichtet, bewegt sich in Nähe der Manie und die droht spätestens dann misanthropisch zu werden, sobald man unter solchen Voraussetzungen fremde Menschen 90 Minuten in einen dunklen, geschlossenen Saal gesperrt wissen will. Man muss sich ja nun nicht auch noch im Kino als Depp vorführen lassen.

Uliisses

(BRD 1982, Regie: Werner Nekes)

Schwellenfilm
von Klaus Kreimeier

Als „Polyhistor“ bezeichneten die alten Griechen einen Universalgelehrten. Das Universum und das Wissen über das Universum waren damals noch überschaubar. Der Begriff wurde obsolet. Dennoch, ich wage es: Werner Nekes …

Als „Polyhistor“ bezeichneten die alten Griechen einen Universalgelehrten. Das Universum und das Wissen über das Universum waren damals noch überschaubar. Der Begriff wurde obsolet. Dennoch, ich wage es: Werner Nekes ist ein Polyhistor des kinematografischen Wissens aus dem Ruhrgebiet. Er wächst in den 50er Jahren in Duisburg-Hamborn, Oberhausen und Mülheim/Ruhr auf, studiert Sprachwissenschaft und Psychologie in Freiburg und Bonn, ist Leiter des studentischen Filmclubs und produziert ab 1965 eigene experimentelle Filme, zunächst auf 8mm, dann auf 16mm, sehr bald zusammen mit seiner Lebensgefährtin, der Malerin Dore O. 1968 ist er Mitbegründer der Filmmacher-Cooperative und der Hamburger Filmschau. Mit Dore O. dreht er den 10minütigen Experimentalfilm 'jüm-jüm', in dem er über Montage nachdenkt; man sieht Dore O. auf einer Schaukel sitzend, sie bewegt sich vor einem gemalten überdimensionalen Phallus hin und her, in einem mathematisch ausgeklügelten Rhythmus.

1968 sah ich erstmals einen Nekes-Film in Oberhausen und war fasziniert – das war 'Kelek', ein Stummfilm, der das Blicksubjekt hinter ein vergittertes Kellerfenster verbannt, durch das man auf eine Straße und Menschen sieht. Nekes erhält Filmpreise, wird Professor an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und an der Kunsthochschule Offenbach – vor allem aber wird er als Sammler berühmt, er sammelt alles zur Prähistorie der Kinematografie: optische Spielzeuge des 19. Jhs., Medien wie die Laterna Magica, panoptische Geräte und vieles mehr.

Das Ruhrgebiet, optische Spielzeuge, magische Medien – damit sind wir schon im Zentrum seines Films 'Uliisses', den er in den Jahren 1980 bis 1982 gedreht hat. 'Uliisses' ist einer der ganz wenigen deutschen Avantgardefilme, die nach 1945 bis heute entstanden sind. Man müsste sich den Film mindest dreimal hintereinander ansehen: Das erste Mal, um sich von seinen Sprüngen und Übersprüngen verwirren zu lassen und ratlos zurück zu bleiben. Ein zweites Mal, um seine ästhetische Raffinesse, die radikale Schönheit vieler seiner Bilder zu genießen. Ein drittes Mal schließlich, um dessen gewahr zu werden, dass uns dieser Film auch eine Geschichte erzählt, dass er Unterhaltungswert hat und nicht nur Witz, sondern auch viele unglaublich komische Momente.

'Uliisses' ist eine Collage, ein äußerst präzis angelegtes Netz aus Bildern, die unterschiedlichsten Filmtechniken entstammen – und er ist ein Amalgam, eine Verknüpfung von Homers 'Odyssee' und James Joyce’ 'Ulysses'. Eingelagert sind Theaterszenen aus dem 24-Stunden-Stück 'The Warp' des englischen Autors Neil Oram, mit dessen Schauspielern Nekes in England zusammen gearbeitet hat. Mit Homer begann alles Erzählen in der europäischen Kulturgeschichte, und mit Joyce beginnt das Erzählen in der Moderne. Der Ulisses der Odyssee – oder der Leopold Bloom von James Joyce – ist in diesem Fall Uli, ein Fotograf, der von Dublin in die Heimat reist; sein Ithaka ist ein halb marodes Ruhrgebiet düsterer Fördertürme, grauer Autobahnen und schrundiger Brandmauern. An seiner Seite: Telemach alias Phil, er entstammt Neil Orams Stück „The Warp“. Seine Penelope oder seine Molly Bloom ist das Model Tabea Bloomenschein, die vom ganz großen Film, von Hollywood träumt. Die von Homer bekannten Episoden – von Calypso über die Sirenen, Eumäos und Helios bis zur Heimkehr nach Ithaka – strukturieren den Film durch eingeblendete Zwischentitel und gönnen uns insoweit eine gewisse Orientierung, ebenso wie die Anspielungen auf den epochalen Roman von Joyce. Sie mobilisieren unser literarisches Gedächtnis – gleichzeitig setzen sie die Literarisierungen dem Bilderhagel aus Nekes‘ Filmmaschine und damit einer Um- und Neuinterpretation aus. „Lighterature“, „Lichteratur“ nennt Nekes selbst sein Amalgam aus ‚Lichtspiel’ und Literatur.

Doch damit nicht genug. Allein auf der Ebene der Filmgenres durcheilen wir das gesamte Repertoire des Kinos: von der Slapstick-Groteske über das Roadmovie bis zum Agentendrama, vom abstrakten Film der 20er Jahre über den Industriefilm bis zum Pornofilm. Die Genrevielfalt dient keinem Selbstzweck. Nekes verwebt die Genreanspielungen und Genregrenzen sowohl mit dem Stoff der erzählten Geschichte als auch mit seiner subtilen Filmgrammatik, seiner Philosophie des Sehens. Dieses Verweben und Verknüpfen, das wechselseitige Durchdringen von Motiven, literarischen und filmischen Techniken gilt auch für die zahlreichen Zitate aus der Filmgeschichte mit ihren großen Figuren, Mythen und Klischees: Blitzartig, oft durch doppelte und dreifache Überblendung verrätselt, begegnen wir einem Zitat aus 'Casablanca', der Cathérine Deneuve aus 'Belle de Jour', dem gespreizten Gang von Groucho Marx und der Einfahrt des Zuges von Lumière – jenem Urknall, mit dem angeblich die Geschichte des Kinos begann.

Als ich den Film nach vielen Jahren wieder sah, ging mir ein Dreiklang aus Wörtern nicht aus dem Kopf, sie belegen auch die Schönheit und Genauigkeit der französischen Sprache: Voyer – voyeur – voyage. In Nekes’ Film geht es, in erster und letzter Instanz, um das Sehen und Sehen-Können; um das Sehen-Wollen und die Seh-Lust; um Wahrnehmen und Reisen, auch um eine Reise in das Innere des Sehvorgangs als einer Leistung unseres Gehirns. Dietrich Kuhlbrodt hat mit Recht festgestellt, Gegenstand dieser Odyssee sei „die Bildsprache selbst: das Sehenlernen und das Sehenwollen.“ Werner Nekes ist Zauberer und Erfinder, ein Archäologe, der in seiner Werkstatt von den präkinematografischen Attraktionsmaschinen bis zur Computersimulation alle Werkzeuge nutzt, um „die Welt als kinematographisches Vexierbild“ nachzubauen. Es sieht so aus, als teste er die gesamte Geschichte der künstlichen Seh-Maschinen noch einmal durch, um dem Geheimnis der bewegten Bilder auf die Spur zu kommen: die Spiegelbilder des Barock, rotierende Spiegel, die Stereo-Effekte der frühen Fotografie und die Cinemascope-Künste des Kinos, die Holografie, die Bildzeilen des Fernsehens, schließlich die computergesteuerte Bildschaltung, das Polaroidfoto und den Laserstrahl.

Bazon Brock beschreibt in seinem langen Essay über diesen Film, wie Nekes die Funktionsweise des Thaumatrops, eines Spielzeugs aus dem 19. Jahrhundert, rekonstruiert, einer wahren „Wundermaschine der Bilderzeugung“: „Die Abbildung zeigt einen Mann und eine Frau in einer allseits bekannten Berührungsform. Die Berührung wird auf dem Spielzeug selbst gar nicht dargestellt, sondern entsteht erst in der Wahrnehmung des Betrachters, sobald das Metallplättchen um seine Achse mit hinreichender Geschwindigkeit rotiert. Dann verschmilzt die auf der Vorderseite dargestellte männliche Figur mit der auf der Rückseite dargestellten weiblichen Figur zum Paar. Auf diesem Verschmelzungseffekt von bewegten Bildern, die durch ein Nichtbild, einen Grenzstreifen, eine Schwarzphase oder ähnliches vonei-nander getrennt sind, beruht die gesamte Wunderwelt des Films.“

Beeindruckend ist der Schluss des Films. Uliisses tötet die Freier Penelopes bzw. Tabeas mit Hilfe der Fotografie, er schießt auf sie mit seiner Kamera, bannt sie im Bild. Das Bild aber zerfällt zu Staub, zu Nachbildern aus phosphoreszierendem Pulver. Das letzte Bild ist eine alte Lithographie von Odysseus’ Heimkehr nach Ithaka, die in wechselnder Beleuchtung als fotografisches Negativ oder Positiv erscheint.

'Uliisses' ist ein Schwellenfilm, genauer: ein Film, der um 1980 an einer Umbruchstelle entstanden ist. Das elektronische Bild hatte die technische Grundlage der Bildproduktion radikal verändert. 'Uliisses' ist noch ein Kinofilm, aber er stellt sich dem Fernsehen und bezieht, in einer sehr markanten Szene, die Fernsehtechnik in seine Bilderwelt ein. Heute, mehr als 30 Jahre später, können wir hinzufügen: 'Uliisses' steht auch an einer Schnittstelle zwischen den analogen und digitalen Medien. Nekes bedient sich bereits des Computers als eines technischen Hilfsmittels – die neuen imaginären Welten, die heute die digitalen Techniken ermöglichen, sind hier schon zu erahnen, aber sie werden noch mit analogen Techniken evoziert.

Bombay Beach

(USA 2011, Regie: Alma Har‘el)

Monument des Scheiterns
von Andreas Busche

Es gab eine Zeit, da suchte man den „American Dream“ allen Ernstes in der Wüste. Die Wüste war die letzte Front der Pioniere, die es noch zu erobern galt. Kalifornien, …

Es gab eine Zeit, da suchte man den „American Dream“ allen Ernstes in der Wüste. Die Wüste war die letzte Front der Pioniere, die es noch zu erobern galt. Kalifornien, der gelobte Westen, war längst aufgeteilt. Über diese Landnahme in den dreißiger Jahren gibt es auch einen sehr guten Kinofilm: Roman Polanskis „Chinatown“, der Jack Nicholson zum Star machte. „Chinatown“ handelte von der Verteilung der südkalifornischen Wasservorräte, die zur Besiedlung des Umlands von Los Angeles von entscheidender Bedeutung waren. Wer das Wasser besaß, hatte die Macht. In der Wüste dagegen standen sich die Bodenspekulanten noch nicht gegenseitig auf den Füßen. Die Mafia machte den Anfang. Mitten in der Wüste von Nevada entstand Las Vegas, das in den Fünfzigern zur Boomtown wurde: nah genug am Sehnsuchtsort Kalifornien mit seinen Palmen und Sandstränden, aber mit einem ganz speziellen, artifiziellen Glamour aus Plastikpyramiden, Casinotempeln und dem Ruch des organisierten Verbrechens.

Der Saltonsee, knapp 400 Kilometer südlich von Los Angeles, hat eine ähnlich bewegte Vergangenheit, nur dass der amerikanische Traum hier keine Erfolgsgeschichte schrieb. 1905 brachten schwere Regenfälle den Colorado River zum Überlaufen, so dass ein riesiges Binnengewässer mitten in der Wüste entstand. In den Fünfzigern entdeckten clevere Investoren den Saltonsee als Ausflugs- und Urlaubsziel gestresster Großstädter. Hotelanlagen und Casinos schossen an der „neuen Riviera“, so die damalige Werbung, aus dem Boden. Bald drückten sich auch die Berühmtheiten aus Las Vegas und Los Angeles die Klinke in die Hand.

Über diese Landnahme gibt es jetzt auch einen Film – es ist jedoch kein Krimi geworden, sondern eine Art Dokumentation, ein Sozialdrama oder auch ein filmischer Wachtraum. Die Farben und Texturen von „Bombay Beach“ sind so ausgewaschen und blass, daß sie geradezu unwirklich erscheinen – als wären Landschaft und Figuren allein vom Sonnenlicht konturiert.

Einen ähnlich zerbrechlichen Eindruck hinterläßt auch Bombay Beach, ein ehemaliges resort an den Ufern des Saltonsees. Vom Glanz der Fünfziger und Sechziger ist nichts geblieben. Heute ist der Salzgehalt des Sees so hoch, daß an seinen Ufern täglich große Mengen toter Fische angespült werden. Die Feriensiedlungen sind verfallene Geisterstädte, ein Monument des Scheiterns. Die israelische Filmemacherin Alma Har’el, die unter anderem für ihre ätherischen und hypnotisch verrätselten Musikvideos für Sigur Rós, Beirut und Jack Penate bekannt ist, verschlug es vor drei Jahren durch Zufall an diesen unwirtlichen Ort. Ursprünglich hatte sie einen Drehort für ein Musikvideo gesucht. Die Menschen, die dort am Rande der Gesellschaft leben, hinterließen auf die Filmemacherin jedoch einen so starken Eindruck, daß Har’el gleich mehrere Monate blieb.

Drei Menschen haben es ihr besonders angetan. Der achtjährige Benny Parrish, der unter einer bipolaren Störung leidet, ist das emotionale Zentrum des Films. Die Eltern wissen mit seiner Krankheit nicht anders umzugehen, als den Jungen mit Medikamenten vollzupumpen. Seine Arztbesuche gehören zu den Routinen im Film. Benny weiß, daß er anders ist als die Kinder, mit denen er in den Ruinen von Bombay Beach spielt, obwohl er den Unterschied nicht versteht. “Bin ich verrückt?” fragt er seine Mutter einmal.

Die Parrishs sind ohnehin ein Fall für sich. Der Vater hatte Ende der Neunziger eine kleine Wehrsportgruppe, die sich in der Wüste ausgefeilte Scheingefechte lieferte. Als das Jugendamt eines Tages vor der Tür stand, entdeckten die Behörden im Garten Sprengsätze und Waffen. Es war ein Jahr nach 9/11, die Eltern wanderten wegen der Gründung einer terroristischen Vereinigung für zwei Jahre ins Gefängnis, der damals drei Wochen alte Benny landete im Waisenheim. Heute sitzt der Vater stumpf in seinem Fertighaus; außer Biertrinken und Rumballern weiß er mit seiner Zeit nichts anzufangen. Viel mehr hat Bombay Beach allerdings auch nicht zu bieten.

Eine andere Geschichte handelt von CeeJay. Er ist zu seinem Vater nach Bombay Beach geflüchtet, nachdem sein Cousin bei einer Gangschießerei in Los Angeles ums Leben gekommen war. Dass ein Jugendlicher ausgerechnet an diesem gottverlassenen Ort seinen Traum (von einem College-Stipendium) verwirklichen will, sagt einiges über die gesellschaftlichen Zustände in Amerika aus. Und dann ist da noch der fast 80jährige Red. Er hat die Große Depression und einen Weltkrieg überlebt, um seine letzten Jahre in einer kleinen Siedlung von Aussteigern und Freaks zu fristen. Um sich finanziell über Wasser zu halten, kauft er im nahe gelegenen Reservat steuerfrei Zigaretten an, die er an die Bewohner von Bombay Beach weiterverscherbelt. “Die Wüste hat mit niemandem Mitleid”, erzählt er mit Granitstimme aus dem Off. ”Du mußt improvisieren, um zu überleben.”

Reds Worte sind auch eine treffende Beschreibung seines Landes. Der US-Independentfilm hat sich in den vergangenen Jahren immer weiter von den Metropolen entfernt, um ein Amerika zu zeigen, das mit der Realität in den Abendnachrichten nur noch wenig gemein hat. Har’el schneidet mit ihrem Film in ein Segment der US-Demographie, das weitestgehend vergessen wurde. Doch belässt sie es nicht bei einem trockenen Sozialrealismus, wie er im Independentkino gerade verstärkt zu beobachten ist, sondern entwickelt einen traumhaften Collagenstil, der die Bewohner von Bombay Beach nicht zu Objekten einer Sozialstudie degradiert, sondern sie als Subjekte einer selbst geschaffenen Realität ernstnimmt. Zusammen mit den Kindern hat Har’el einfache, berührende Tanz-Choreografien entworfen, die den harten Realismus ihrer Bilder immer wieder mit surrealen Spielsequenzen aufbrechen. So scheint es in manchen Momenten, als wäre Terrence Malick den Menschen von Bombay Beach in der Wüste erschienen. Der unscharfe, verschleierte Akustik-Folk von Beirut tut sein Übriges.

Im amerikanischen Kino lassen sich nur wenige Vorläufer von Har’els Stil finden: etwa Charles Burnetts „Killer of Sheep“ (1975) oder David Gordon Greens „George Washington“ (2000). Filme über Kinder, die die Wohlstandsruinen der Elterngeneration gezwungenermaßen in einen Abenteuerspielplatz verwandeln. “Bombay Beach” besteht aus nicht viel mehr als Licht, Tanz und Spiel (die Kinder vergnügen sich mit angespültem Schrott, die Eltern mit Waffen). Dahinter verbirgt sich kein gesellschaftlicher Kommentar, auch wenn der Film genügend Facetten des Lebens unterhalb der Armutsgrenze abbildet. Har’el geht es vor allem um ehrliche Anteilnahme und liebevolle Wertschätzung. Dass das Kino der Politik diese Aufgaben inzwischen abgenommen zu haben scheint, ist das eigentlich Deprimierende an der Geschichte von Benny, CeeJay und Red.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 10/12

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Schutzengel

(D 2012, Regie: Til Schweiger)

Ein Herz für Kinder
von Ulrich Kriest

Ironie der Geschichte! Wenn sich ein Filmkritiker am Donnerstagnachmittag als einziger Gast in einem riesigen Multiplex-Kinosaal einfindet, sollte man die Filmvorführung dann nicht vielleicht doch als „Pressevorführung“ bezeichnen? Til Schweiger …

Ironie der Geschichte! Wenn sich ein Filmkritiker am Donnerstagnachmittag als einziger Gast in einem riesigen Multiplex-Kinosaal einfindet, sollte man die Filmvorführung dann nicht vielleicht doch als „Pressevorführung“ bezeichnen? Til Schweiger hat es bekanntlich nicht so sehr mit Journalisten, die sich mit Film auskennen. Lieber kollaboriert er mit der „Bild“-Zeitung oder zeigt seinen neuen Film „Schutzengel“ gleich vor Ort in Afghanistan begeisterten Bundeswehrsoldaten, die seinen Film über stahlharte Ex-Bundeswehrsoldaten mit großem Herzen und coolen Sprüchen selbstredend „Bombe!“ finden. Oder er setzt sich in Fernseh-Talkshows dem knallhart menschelnden Fragenkatalog einer Rakers oder eines Lanz aus, um sich in der Pose dessen zu gefallen, der unangenehme Wahrheiten ausspricht, die die „Gutmenschengesellschaft“ (Schweiger) sonst gerne unter den Teppich der political correctness kehrt. Da fährt der Mann dann „als Vater“ gerne eine harte Linie gegen Sexualstraftäter und vermisst greinend den Respekt vor den Soldaten, die unsere Freiheit und Demokratie gegen Islamismus und FDP am Hindukusch verteidigen. Ein anerkannter und auch als solcher bereits ausgezeichneter „Querdenker“, der von seinen links-liberalen Eltern einst gezwungen wurde, beim Cowboy-und-Indianer-Spielen immer Indianer zu sein, weil Cowboys per se ja böse seien. So was kommt von so was.

„Schutzengel“ ist neben den noch lebenden und schon gefallenen Bundeswehrsoldaten übrigens ebenso programmatisch dem jüngst verstorbenen Action-Regisseur Tony Scott gewidmet. Es handelt sich dabei um pures Genre-Kino, eine wenig originelle Mischung aus allerlei Versatzstücken von „Leon, der Profi“ und dem aktuellen Jason Statham-Vehikel „Safe – Todsicher“. Also: das junge Mädchen Nina, Marke: Straßenkind mit Diabetes, wird zufällig Zeugin eines kaltblütigen Mordes an einem jungen Mann durch einen fiesen Waffenhändler – und wird folglich in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Doch des Waffenhändlers Macht reicht nicht nur in die korrupte Führungsetage der Staatsanwaltschaft, sondern verfügt auch noch über Dutzende schwerbewaffnete Killer, die hier in für deutsche Verhältnisse spektakulär inszenierten Shoot-outs ins Gras beißen müssen. Dafür sorgt nicht zuletzt der desillusionierte Ex-Elitesoldat Max Fischer, der sich des Mädchens annimmt und sich dabei gegen die Polizei und die Schergen des Waffenhändlers stellen muss. Allein gegen alle.

Fischer, ein von Til Schweiger gespielter Schweiger, freundet sich mit der von Schweigers Tochter Luna gespielten Zeugin an, die ihm ganz viele Fragen stellt. „Schutzengel“ ist also ein Ballerfilm mit Herz, dessen Dialoge auf dem Niveau von Udo Lindenbergs Klassiker „Wozu sind Kriege da?“ gründeln. Bevor der Film zu viel Tiefgang entfaltet, kommt mit Moritz Bleibtreu ein weiterer Afghanistan-Veteran zum Einsatz, der im Kampfeinsatz zwar seine Beine, nicht aber seinen Humor verlor. So gesellen sich die kessen Sprüche zu den großen Gefühlen und der wuchtigen Action. Man ahnt, was Schweiger, der hier als Produzent, Regisseur, Hauptdarsteller, Mit-Drehbuch-Autor und Mit-Cutter präsentiert, wohl im Sinn hatte: einen richtig harten Actionfilm, aber mit Herz und Witz. So amerikanisch, dass hier die Berliner Polizeisirenen glauben, sie seien bereits auf den Straßen von San Francisco unterwegs. Aber es hakt mit der Ökonomie der Mittel: die Action verwechselt den Thriller mit dem Kriegsfilm, das Herz wird mit Pathos zugeschmalzt, wenn der traumatisierte Schweiger-Fischer anhebt, vom Krieg in Afghanistan und von der dort erlebten Kameradschaft zu nöhlen.

Bleibt der Witz, der die zwei, drei Szenen trägt, die in Erinnerung bleiben werden. Weil die Handlung absolut vorhersehbar ist und auch gar kein Hehl daraus gemacht wird, dass hier alles den Genreregeln folgt (nur eben etwas unpräzise und ohne Timing), bleibt dem Zuschauer viel Zeit, um zu staunen, welch eine illustre Truppe von Schauspiel-Prominenz hier mit von der Partie ist. Von Herbert Knaup über Heiner Lauterbach und Kostja Ullmann bis Karoline Herfurth und Axel Stein – bis in die kleinsten Nebenrollen ist „Schutzengel“ »erstklassig« besetzt und kann es sich leisten, die Stars gleich reihenweise aus dem Film zu kegeln, äh, zu schießen. Spätestens wenn Axel Stein zu Beginn des Films bei seiner Frau anruft, um sie zu fragen, ob sie wirklich schwanger ist und sich trotz hörbarer Laktoseunverträglichkeit wie ein Schneekönig freut, weiß man, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Erstaunlicherweise dauert es dann noch gefühlte zehn Minuten, bis er endlich erschossen wird. Unökonomisch wie in diesem Fall werden Szenen immer wieder derart aufgeblasen und ausbuchstabiert, bis auch der dümmste Zuschauer es kapiert hat.

Andererseits schafft es der Film schließlich sogar noch, irgendwo im Brandenburgischen ein echtes Western-Szenario in Gang zu setzen, mit einsam gelegenem Farmgebäude, einer Herde Lamas und ein paar Bösewichten, die vorbeigeritten kommen. Beim blutigen Finale zitiert Schweiger durchaus ernsthaft Michael Ciminos „Heaven’s Gate“, genauer: die Szene, in der Christopher Walken stirbt. Nur, dass Christopher Walken hier nicht stirbt, weil Schweiger lieber noch ein paar Tears jerkt. Überhaupt zeigt Til Schweiger hier mit überraschend lässiger Geste, in welchem Universum von Jungs-Filmen zwischen Michael Mann, Luc Besson und Ben Affleck er sich selbst wohl einordnet. Wenn er nur nicht so ein sentimentaler Hund wäre! Mit fast 50! Oder gerade deshalb?

Messner

(D 2012, Regie: Andreas Nickel)

Eroberer des Nutzlosen
von Wolfgang Nierlin

Zitate aus Albert Camus‘ philosophischem Essay „Der Mythos von Sisyphos“ rahmen den Dokumentarfilm „Messner“ von Andreas Nickel. Tatsächlich ähneln die abenteuerlichen Unternehmungen des Südtiroler Extrembergsteigers und Grenzgängers Reinhold Messner, der …

Zitate aus Albert Camus‘ philosophischem Essay „Der Mythos von Sisyphos“ rahmen den Dokumentarfilm „Messner“ von Andreas Nickel. Tatsächlich ähneln die abenteuerlichen Unternehmungen des Südtiroler Extrembergsteigers und Grenzgängers Reinhold Messner, der sich selbst einmal als „Eroberer des Nutzlosen“ bezeichnet hat, einem absurden Tun. Zugleich ist dieser immer wieder neue „Kampf gegen Gipfel“, wie es bei Camus heißt, seine ebenso extremen wie nutzlosen Anstrengungen und Strapazen, Ausdruck existentieller Freiheit, die im Falle des Portraitierten schicksalhafte Züge trägt. Nicht umsonst zeigt das Plakatmotiv zum Film die Verschmelzung von Berg und Mensch. „I am obsessed by my vision“, heißt es im Song, der Messners „Leidenschaft bis zur Krankheit“ unterlegt ist. Jedoch geht es dem Bergsteiger dabei nicht um die Anhäufung von Rekorden, sondern um Erkenntnis und Überblick. Denn gerade die Grenzerfahrung lasse ihn, so Messner, „die Zerbrechlichkeit des Lebens“ spüren.

Als „Metapher für das universelle Thema des Wachsens an Widerständen, dem Überwinden von Rückschlägen“ und also für das Leben selbst versteht Andreas Nickel das Bergsteigen. Sein Film folgt insofern den Lebensstationen Reinhold Messners, indem er diese und die mit ihnen verbundenen Expeditionen unter gliedernde Begriffe wie zum Beispiel „Rebellion“, „Moral“, „Verantwortung“, „Selbstprüfung“ und „Erkenntnis“ stellt. Dazu äußern sich der Portraitierte selbst, drei seiner Brüder, Weggefährten und Zeitzeugen, während Nickel mit Zeitdokumenten und nachgestellten Bergtouren den berührenden Wahnsinn dieses ungewöhnlichen, sich dem Verstehen letztlich entziehenden Lebens nachzeichnet. Die Bergsteiger Florian und Martin Riegler sind neben andern für diese teils waghalsig erscheinenden Nachinszenierungen, die an faszinierend fotografierten Originalschauplätzen entstanden, in den Rollen von Reinhold und seines tödlich verunglückten Bruders Günther zu sehen.

Als Leitmotiv für Andreas Nickels biographischen Dokumentarfilm dient Messners Rebellion und unbedingter Freiheitswillen in der Konfrontation mit den Grenzen des Möglichen. Sein Klettern bedeutet Ausbruch aus der Enge von Tal, Elternhaus und Internat und ist zugleich Widerstand gegen Autoritäten sowie pure „Lust an der Auflehnung“ im Geiste der Achtundsechziger. „The Times They Are a Changin‘“, singt Bob Dylan auf der Tonspur des Films. Messner klettert gegen innere und äußere Widerstände und revolutioniert das Bergsteigen gegen die Helden-Mythen der Altvorderen. Doch der alpine Paradigmenwechsel fordert seine Opfer. Als sein Bruder Günther im Jahre 1970 auf tragische Weise am Nanga Parbat stirbt, vermischt sich Messners Trauma mit Schuldgefühlen, Zweifeln und äußeren Anfechtungen. Zugleich radikalisiert sich in der Folge sein Abenteurertum als gelte es, die Energie des Verstorbenen der eigenen hinzuzufügen und weiterzutragen.

Bombay Beach

(USA 2011, Regie: Alma Har‘el)

Traumkulissen
von Carsten Happe

Bombay Beach ist ein Ort, an dem die Träume enden. Das Kaff an den Gestaden des Salton Sea, rund 150 Meilen südöstlich von Los Angeles entfernt, liegt im ärmsten County …

Bombay Beach ist ein Ort, an dem die Träume enden. Das Kaff an den Gestaden des Salton Sea, rund 150 Meilen südöstlich von Los Angeles entfernt, liegt im ärmsten County des Bundesstaats, nur noch etwa 100 Einwohner halten sich hier auf – Gestrandete im wahrsten Wortsinn. Es stinkt zum Himmel an diesem größten See Kaliforniens, das Ökosystem kollabiert in absehbarer Zukunft komplett, das einstige Naturparadies ist ein trauriger Schauplatz massiven Vogel- und Fischsterbens geworden.

Die wenigen Menschen, die sich hier, nahe der mexikanischen Grenze, unter anderem mit Zigarettenschmuggel über Wasser halten, ließen sich nach den gängigen Kategorien am ehesten unter White Trash subsumieren, ein paar Hippies sind auch dabei, Penner, Junkies, Ausgestoßene. Die israelische Videokünstlerin Alma Har’el hat sich dennoch die Mühe gemacht genauer hinzuschauen und hinzuhören. Und sie entdeckt Faszinierendes in den Biografien ihrer Protagonisten, wie dem schwarzen Teenager CeeJay, der der alltäglichen Gewalt in South Central Los Angeles entflohen ist und den Glauben an seine Football-Karriere noch nicht aufgeben mag. Oder dem kleinen Benny Parrish, einem manisch-depressiven Jungen mit blühender Phantasie, dem Alma Har’el in einer berührenden Sequenz die kurzzeitige Erfüllung seiner Wünsche schenkt.

„Bombay Beach“ schert sich nicht um die Konventionen des Dokumentarfilms, lässt Inszeniertes furchtlos in die Dramaturgie einfließen und bricht sie an vielen Stellen regelrecht auf – mit choreographierten Tanzszenen und videoclipartigen Montagen, die dem Film eine ganz eigentümliche Poesie verleihen, dem entrückten Ort seltsam angemessen. Wo die Dokumentation in der Regel einer Wahrheit oder Realität nachspürt, stellt „Bombay Beach“ vielmehr in Frage, ob seine Protagonisten ihre Realität nicht selbst imaginieren – anstelle ein Produkt ihrer Umwelt zu sein – und somit dem Leben in all seiner Unwirtlichkeit letztlich nicht einen tieferen Sinn und auch Wert abtrotzen.

Zur Filmmusik von Zach Condon und ausgesuchten Songs von Bob Dylan feiert Alma Har’el ein einsames Fest der winzig kleinen, großen Momente, die diese Menschen so besonders machen und ihren Film zu einem sperrig-schönen Kleinod. Und schließlich, wenn alle Fragen gestellt und keine beantwortet sind, endet „Bombay Beach“ wie selbstverständlich mit einem Traum.

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Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

(D 2012, Regie: Florian Opitz)

Verdammte Raserei
von Wolfgang Nierlin

„Eigentlich ist alles super.“ Aber: „Ich hab‘ keine Zeit!“ Flankiert von Familienbildern und privaten Geschichten, wählt Florian Opitz für seinen Dokumentarfilm „Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ …

„Eigentlich ist alles super.“ Aber: „Ich hab‘ keine Zeit!“ Flankiert von Familienbildern und privaten Geschichten, wählt Florian Opitz für seinen Dokumentarfilm „Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ die persönliche Perspektive, um die „verdammte Raserei“ als gesellschaftliches Phänomen zu untersuchen. Dabei hat er für seinen individuellen Ansatz, dem er in lockerem Plauderton folgt, gute Gründe: Persönliche Schicksalsschläge, die Geburt seines ersten Sohnes und ein drohendes Burnout lassen ihn innehalten, um die Frage nach dem guten Leben zu stellen und sich auf die Suche nach der schmerzlich vermissten Muße und Gelassenheit zu machen. In zahlreichen Gesprächen mit Experten und Aussteigern umkreist er das Thema der Beschleunigung, dem er trotz einiger Redundanzen und einem zeitgerafften, etwas überfrachteten Mix mitunter wenig aussagekräftiger Illustrationen immer wieder neue Facetten abgewinnt. Das liegt zweifellos an den interessanten Gesprächspartnern, denen man gerne zusammenhängender, also ohne Unterbrechung des zeitlichen Redeflusses zugehört hätte.

„Gehe langsam, wenn du es eilig hast“, lautet die scheinbar paradoxe Formel des Zeitmanager-Gurus Lothar Seiwert, der mit faulem Zauber und griffigen Slogans gestressten Führungskräften die „Prioritätensetzung“ predigt. Aber gerade dieses angeblich einfache Trennen des Wichtigen vom Unwichtigen und also das Wählen im unüberschaubaren Feld zunehmender Möglichkeiten ist ja das Problem von Florian Opitz und vielen seiner Zeitgenossen. Alex Rühle von der Süddeutschen Zeitung, der sich selbst – nicht ohne Koketterie – mediales Suchtverhalten attestiert, hat sich deshalb ein zeitlich begrenztes, sicherlich auch privilegiertes „digitales Fasten“ verordnet und dabei das Verschwinden der analogen Welt bemerkt. Ein ehemaliger Banker von Lehman Brothers wiederum ist unter zunehmendem Leistungsdruck ausgestiegen, um als Berghüttenwart endlich „im Jetzt zu leben“ und damit die „Gegenwart aufzuwerten“.

Florian Opitz, der seinen Film als politischen, gar gesellschaftskritischen versteht, bleibt im Rahmen seiner weltweiten Recherchen jedoch nicht bei den Einzelfällen stehen, sondern dehnt seine Suche nach den Ursachen der allgemeinen Zeitnot aus auf das Feld der modernen Arbeitswelt. Unterstützt von den profunden Analysen des Soziologen Hartmut Rosa trifft er sich in London mit den „Beschleunigern“ der entfesselten Wirtschafts- und Finanzmärkte, die Zeit in Geld verwandeln und dabei die Kontrolle zunehmend an Automaten abgeben. Als „Drang zur Weltverbesserung“ bezeichnet dies tatsächlich Antonella Mei-Pochtler, eine der führenden Unternehmensberaterinnen.

Opitz findet aber auch Alternativen zum gesellschaftlichen Mainstream: Er besucht eine Bergbauernfamilie, die noch einem natürlichen Lebens- und Arbeitsrhythmus folgt; er erkundigt sich in Bhutan nach der Politik des „Bruttonationalglücks“ und trifft sich in Chile mit dem ehemaligen Unternehmer Douglas Tompkins, der in großem Stil Land und Wälder kauft, um in geschützten Nationalparks der Natur die nötige Zeit zu ihrer Entfaltung zurückzugeben und damit den „Raum zu entschleunigen“. „Ich beschleunige die Entschleunigung“, sagt der Gründer der Modefirma Esprit dabei lachend, um die Dringlichkeit seines Projekts zu erklären. Auch wenn in der paradox anmutenden Logik der Analyse dafür Geld und also Zeit notwendig sind, muss sich unsere Gesellschaft also beeilen, um die Raserei irgendwie aufzuhalten.

Kriegerin

(D 2011, Regie: David Wnendt)

Nazis gießen keine Blumen
von Ricardo Brunn

Voll auf Krieg gestriegelt zieht Marisa (Alina Levshin) als Teil einer rechtsextremen Clique durch die ostdeutsche Provinz. Mit geflügeltem Hakenkreuz auf der Brust werden Schlitzaugen im Regionalexpress ruckzuck auf DIN-A-4 …

Voll auf Krieg gestriegelt zieht Marisa (Alina Levshin) als Teil einer rechtsextremen Clique durch die ostdeutsche Provinz. Mit geflügeltem Hakenkreuz auf der Brust werden Schlitzaugen im Regionalexpress ruckzuck auf DIN-A-4 gefaltet und Kanaken an der Kasse einfach nicht bedient. Der Freund (Gerdy Zint) wird, da Deutsch-Nationale hart wie Krupp-Stahl sind, entsprechend hart gevögelt. Und weil der Hass so tief sitzt, wird das Feindbild auch schon mal mit dem Auto umgefahren. Zu Hause dann wird mit Mutti heftig gestritten und die Zimmerpflanze liebevoll gegossen. Weil Neonazis aber keine Blumen gießen, sondern saufen, pöbeln, Juden hassen und in Nostalgie schwelgend überteuerte Waffen aus alten Reichsbeständen kaufen, wird bald klar, dass Marisa die Sache mit dem Überfahren und Pöbeln noch leid tun wird. Das ist dann auch die Quintessenz der Geschichte: Die Ablösung von der ehemals identitätsstiftenden Neonazi-Szene als Abschluss eines Prozesses jugendlicher Selbstfindung. Oder vereinfacht ausgedrückt: Wenn es nicht länger als 90 Minuten anhält, darf man ruhig mal Nazi sein. Und als Marisa es tatsächlich nicht mehr aushält, schminkt sie sich die Ideologie wortwörtlich ab und zieht ein hübsches Kleidchen an. Am Ende ist das Mädel ein Sinnbild für den Widerstand und befreit somit auch den Zuschauer von seiner symbolischen Schuld. Nur die Schwingen des Reichsadlers werden auf ewig Marisas (und unsere) Brust schmücken.

Bei aller Polemik in der Beschreibung, David Wnendts Debütfilm „Kriegerin“ ist an und für sich ordentlich recherchiert: Die Hinwendung Jugendlicher zum Rechtsradikalismus als „Gelegenheitsstruktur“ (Christine Wiezorek), in der, aufgrund fehlender familialer Integration und geeigneter Bezugspersonen, nach Halt und Orientierung gesucht wird, ist in der Biografieforschung zum Thema nachhaltig belegt. Mit Teenager Svenja (Jella Haase), deren Weg in die rechte Szene, quasi als jüngere Version Marisas, aufgezeigt wird, erzählt der Film ein mögliches Szenario in der Bewältigung der eigenen, brüchigen Biografie. Dass Marisa sich mit ihrem beschädigten Leben der Großelterngeneration zuwendet, ist für weibliche Neonazis in ihrem Versuch der Selbstverortung ebenfalls von nicht zu unterschätzender Bedeutung und von Wnendt gut beobachtet.

Im Gegensatz zur soziologischen Feldforschung sieht der Film sich nun jedoch dazu gezwungen das Nebeneinander der unterschiedlichsten Handlungs- und Orientierungsmuster zum Exemplarischen zu verdichten und zu psychologisieren. Und David Wnendt leistet in diesem Punkt ganze Arbeit. Hier wird reduziert, zugespitzt und auf den kleinsten brutalen Nenner gebracht, bis kein Platz mehr für Reibungspunkte oder Widersprüche ist. Jeder ostdeutsche Neonazi ist in „Kriegerin“ durch und durch das, was der Zuschauer spätestens seit den Rostocker Pogromen immer wieder medial vermittelt bekommt. In einem Interview zum Film betont der Regisseur, dass er ein „aktualisiertes Bild der Rechten“ zeigen wolle, das mit unseren Vorstellungen vielleicht nicht übereinstimmt. Das ist ihm gründlich misslungen. Ein anderes Bild wäre gerade eines gewesen, in dem der Neonazi, wie beispielsweise in Winfried Bonengels Dokumentarfilm „Beruf Neonazi“ (1993) eloquent und freundlich den Holocaust leugnet und den Nachwuchs mit der Sprache eines Versicherungsvertreters und einigen Dias aus Auschwitz davon zu überzeugen sucht. Ein Neonazi, der auch zu den Eltern ein gesundes Verhältnis pflegt. Einer aus der Mitte der Gesellschaft.

Wnendt begnügt sich hingegen mit groben Figuren (Gerdy Zint scheint als festes HFF-Inventar mittlerweile ausschließlich auf Rollen dieser Art festgelegt zu sein), um diese in seine schablonenhafte Dramaturgie einer Läuterung hinein zu zwängen. Die Erzählung läuft nicht nur darauf hinaus, dass es, trotz vorliegender lebenslanger Sozialisation Marisas, scheinbar ganz einfach ist, den Neonazi in sich loszuwerden, sondern dass Opa seiner „Kriegerin“ den Virus des Bösen regelrecht eingepflanzt hat: „Der Jude war’s“, sagt Opa, „Hitler ist schuld“, wissen wir. Indem der Großelterngeneration die Schuld zugeschrieben wird, die Rahmung des Filmes durch Rückblenden lässt genau diesen Schluss zu, da darin die ganze Spannung des Filmes verborgen liegt, projiziert der Film das Problem Marisas in die Vergangenheit.

In dieser klaren historischen Abgrenzung und der Ausgrenzung der Rechten in ihrer zugespitzten Darstellung als ewig Gestrige mit niedrigem IQ werden die Verbindungen zum Alltag des Zuschauers vollständig gekappt. Er kann eine beruhigende Außenposition einnehmen, in der Rechtsradikalismus (oder der Ausschnitt den Wnendt uns in seinem Film präsentiert) zwar als Gefahr durchaus begriffen und geächtet, aber nicht als soziale Bewegung mit netzwerkartigen Strukturen verstanden werden muss. In „Kriegerin“ geht es nach wie vor um eine gesellschaftliche Randerscheinung, die nicht auf eine Neugestaltung der Gesellschaft, sondern ausschließlich auf einen möglichst hohen Bodycount zielt. Nur so bleibt es dem Zuschauer zum Einen weiterhin möglich, einen 70%igen „Ausländeranteil“ an Schulen für problematisch zu halten, ohne nach den pädagogischen Strukturen zu schauen, und gleichzeitig nach einem NPD-Verbot zu schreien. Zum Anderen kann er sich, und das ist schlichtweg eine falsche Absicht des Regisseurs in Bezug auf sein Thema, unterhalten fühlen.

Der Unwille, sich des tatsächlichen Diskurses, abseits aller gut gemeinter Ressentiments und Unterhaltungswerte, anzunehmen, offenbart, dass das ganze Gefilme gegen Nazis und Neo-Nazis nichts weiter als eine Geste der Ohnmacht ist – eine Lichterkette des Kinos. Man könnte folglich für den deutschen Spielfilm nach 1945 konstatieren, dass aus der mangelhaften filmischen Vergangenheitsbewältigung – von „Große Haie, kleine Fische“ (1957) bis „Der Untergang“ (2004) – eine dürftige Auseinandersetzung mit aktuellen Phänomenen des Rechtsradikalismus resultiert. „Schlimm ist unser Klischee von dummen Skins und hasserfüllten Visagen, denn die Realität ist schlimmer“, schreibt Dietrich Kuhlbrodt in „Deutsches Filmwunder. Nazis immer besser“. Die Terrorzelle von Zwickau samt ihren Verstrickungen in deutsche Geheimdienstkreise und die Rocker-Szene gibt ihm Recht und „Kriegerin“ ist ambitioniertes Gutmenschenkino. Ich gehe jetzt Blumen gießen!

Looper

(USA / CHIN 2012, Regie: Rian Johnson)

Reise zum Ich
von Harald Mühlbeyer

„Bleib mir weg mit dem Zeitreisekram“, sagt Filmbösewicht Abe (Jeff Daniels), „das röstet dir das Hirn.“ Und auch Bruce Willis stellt klar: „Über Zeitreise fangen wir gar nicht erst an …

„Bleib mir weg mit dem Zeitreisekram“, sagt Filmbösewicht Abe (Jeff Daniels), „das röstet dir das Hirn.“ Und auch Bruce Willis stellt klar: „Über Zeitreise fangen wir gar nicht erst an zu reden.“ Mit Ironie legt „Looper“ seine Grundprämisse fest, die Zeitschleifen, die das Denken verdrehen und bei denen die Logik irgendwo an der durchlässigen Grenze zwischen Zukunft und ihrer Vergangenheit versickert.

Willis spielt Joe – dessen älteres Ich –, der von Joseph Gordon-Levitt – dem jungen Joe – gejagt wird. Joe ist ein Looper im Jahr 2044. Er tötet die, die die Mafia des Jahres 2074 durch die Zeit zu ihm zurückschickt: So entledigen sich die Gangster der Zukunft ihrer Leichen, in der Vergangenheit kann keiner suchen. Der Delinquent wird gefesselt und geknebelt in die Zeitmaschine gesteckt, Joe lauert mit seiner Schrotflinte am Ort der Ankunft, peng, Job erledigt; währenddessen übt er französische Vokabeln. Als Lohn gibt es Silberbarren …

Doch die Looper werden einer nach dem anderen ausgeschaltet, ihr Zukunfts-Ich wird zurückgeschickt und vom jüngeren Ich unwissentlich getötet: So ist der Vertrag gelöst, und man hat noch genau 30 Lebensjahre vor sich. Willis aber als alter Joe entkommt, Gordon-Levitt verfolgt ihn, hinter ihm wiederum sind Abes Gangster her. Und auf einer Farm wächst der künftige Tyrann der Menschheit heran, den der alte Joe – eines seiner Opfer im Jahr 2974 – noch im Kindesalter töten will.

Dem Plot, der die Hirnwindungen verknotet, gelingt es, irgendwie logisch zu erscheinen. Die Zeitebenen sind dynamisch miteinander verknüpft, und auf der Basis von Tun und Erinnern baut Regisseur Rian Johnson einen intelligenten, komplexen Film, der die richtige Mischung aus Spannung und Verstörung bietet. Und er schafft es, seinem Debüt, einer Independent-Produktion, die von China mitfinanziert wurde, das richtige Feeling zwischen harter Action und persönlichem Drama zu verleihen. Auf Verfolgung und Schießereien folgen charakterbezogene Passagen, in denen Johnson das Tempo herausnimmt, bevor der nächste Ausbruch von metzelnder Gewalt folgt.

Clever geht der Film mit Erwartungen und Zuschauerwissen um, spielt damit, nutzt das Genre-Vorwissen, um in Andeutungen und Ellipsen zu erzählen. Anleihen von Film noir und Western verstärken den Drive des Films, und einige Szenen bleiben unvergesslich. Wie Johnson zwischendrin den Zuschauer in einem Zustand heftiger Verwirrung hängen lässt – um dann das Leben von Joe dreißig Jahre vorzuspulen, ein nahezu wahnwitziger dramaturgischer Kunstgriff, der funktioniert. Wie er gleich zwei Tabus berührt, das Töten eines Kindes und ein tödliches Kind. Und wie er seine Gewaltausbrüche intensiviert, indem er über Bande spielt: An einem Flüchtigen aus der Zukunft werden die schrecklichen Folgen von Folterungen an seinem jüngeren Ich demonstriert, indem den Alten immer mehr Narben entstellen, immer mehr Gliedmaßen fallen ihm ab, drastisch und grausam ist das, wie sich an seinem verunstalteten Körper der Zustand seines jungen Ichs spiegelt …

Der lange heiße Sommer

(USA 1958, Regie: Martin Ritt)

Bigmouth strikes again
von Carsten Happe

Nicht William Faulkner, von dem die literarische Vorlage stammt und der die zeitgenössischen Filmplakate dominiert, nicht Regisseur Martin Ritt, der hiermit seinen ersten großen Hit verbuchen konnte, nicht einmal Hauptdarsteller …

Nicht William Faulkner, von dem die literarische Vorlage stammt und der die zeitgenössischen Filmplakate dominiert, nicht Regisseur Martin Ritt, der hiermit seinen ersten großen Hit verbuchen konnte, nicht einmal Hauptdarsteller Paul Newman, der für seine Rolle des Ben Quick in Cannes ausgezeichnet wurde, ist die größte Attraktion dieses flirrenden Südstaatendramas, sondern ein aufgedunsenes, streitsüchtiges Großmaul, das kurz zuvor eine erneute Demütigung von Hollywood hinnehmen musste und bald wieder enttäuscht gen Europa davonziehen sollte: Orson Welles, Genie und Wichtigtuer, Urgewalt und auch fast zwanzig Jahre nach „Citizen Kane“ eine der erratischsten Figuren des amerikanischen Films.
Seine letzte Regiearbeit „Touch of Evil“ war gerade wie so vieles zuvor von den Studiobossen verstümmelt worden, sein Auftreten am Set von „Der lange heiße Sommer“ brachte offenbar jeden der restlichen Crew und Darsteller auf die Palme. Welles ist verschwitzt, speckig und manchmal grotesk geschminkt, und doch dominiert er jede Szene, selbst wenn er nicht einmal körperlich präsent ist. Als Familienpatriarch Will Varner spielt er einen Charakter, der rund zwanzig Jahre älter sein sollte als Welles selbst zu dem Zeitpunkt, und man kann dies als erneute Spitze des Systems gegen den verlorenen oder ausgestoßenen Sohn lesen, der mit allem zu früh dran war: der Radiostar mit „The War of the Worlds“ im Alter von 23 Jahren, das monolithische Hauptwerk „Citizen Kane“ mit 25, der Fall vom Olymp nur zwei Jahre später. Mit 43 Jahren nun also der alte Südstaatengrantler, der vom blauäugigen Emporkömmling Newman herausgefordert wird und sein Imperium schwinden sieht. Ein fast prophetischer Abgesang, bevor Welles im Jahr darauf wieder in Spanien, Italien, Hong Kong vor der Kamera steht. Hauptsache, weit weg von Hollywood.

Nebenbei war „Der lange heiße Sommer“ das perfekte Vehikel für eine von Hollywoods schönsten Romanzen. Paul Newman und Joanne Woodward kannten sich zwar bereits fünf Jahre, aber erst im Zuge dieses Films wurde publicityträchtig geheiratet und die beiden blieben für fünfzig (!) Jahre eines der Traumpaare der Traumfabrik. Dass die Chemie zwischen Newman und Woodward stimmte, merkt man auch diesem ersten von sieben gemeinsamen Filmen an – ihre unterkühlte, erwachsene Romanze unter den gestrengen Augen ihres Papas und seines Chefs fasziniert jenseits der üblichen, süßlichen Klischees.
Und doch liegt über allem der leise Schmerz des Abschieds und das unbestimmte Gefühl, dass hier eine Ära langsam aber stetig ausklingt. Der alte Süden, der klassische Hollywoodfilm, die Karriere des Orson Welles, alle kapitulieren schon bald vor den nahenden Sixties. Hier tanzen sie noch einmal, in De Luxe Farben und schönstem Cinemascope, einen langen heißen Sommer.

Berg Fidel – Eine Schule für alle

(D 2012, Regie: Hella Wenders)

Münsteraner Bildungsutopie
von Ricardo Brunn

Wie kaum ein anderes Genre hat der utopische Film hypothetischen Charakter. In sich geschlossene, phantastische Welten dienen als Resonanzraum gesellschaftlicher Entwicklungen und Stimmungen. Hier kann sich die Wirklichkeit ihrer Grenzen …

Wie kaum ein anderes Genre hat der utopische Film hypothetischen Charakter. In sich geschlossene, phantastische Welten dienen als Resonanzraum gesellschaftlicher Entwicklungen und Stimmungen. Hier kann sich die Wirklichkeit ihrer Grenzen entledigen und etwas nicht Geschehenes so beschreiben, als wäre es bereits geschehen.

Der Dokumentarfilm „Berg Fidel – Eine Schule für alle“ ist quasi ein utopischer Film. Und als solcher beginnt er auch: Drei Astronauten müssen mit ihrem Raumschiff innerhalb weniger Sekunden die Erde erreichen, sonst droht ihnen der Tod. Mit gekonnter Parallelführung von unerbittlichem Countdown auf der einen und den Anstrengungen der Space-Shuttle-Besatzung auf der anderen Seite trägt David voller Hingabe seine selbst verfasste Geschichte vor. Am Ende atmet er erleichtert auf – die Astronauten haben es geschafft.

Zwei knappe Texttafeln im Anschluss an diesen Prolog zeigen die Koordinaten des Münsteraner Grundschuluniversums an: Unabhängig von ihrer sozialen Herkunft lernen hier Kinder mit und ohne Behinderung, Lernschwäche oder Migrationshintergrund zusammen und werden entsprechend ihren Fähigkeiten gefördert. Damit ist Berg Fidel (benannt nach dem Stadtteil in Münster) eine der wenigen Inklusivschulen in einem Land, das mehr Sonderschulkategorien kennt als alle anderen Staaten der Erde.

In ihrem Debütfilm beschreibt Regisseurin Hella Wenders das Konzept der Inklusion anhand ihrer Protagonisten David, Anita, Lukas und Jakob, denen sie mit zurückhaltender und einfühlsamer Kamera auf Augenhöhe in den Schulalltag folgt. Erst nach und nach treten die unterschiedlichen Voraussetzungen, mit denen die kleinen Hauptdarsteller die Schule begonnen haben, zu Tage, wenn vor Allem der scheinbar hochbegabte David in einer der vielen Interviewsequenzen von seiner Behinderung erzählt. So entsteht, auch weil die Erwachsenen nicht zu Wort kommen und die musikalische Untermalung es unterstützt, ein äußerst harmonisches Bild einer idealen, utopischen Schule.

Utopisch auch deshalb, weil die Regisseurin es vermeidet, die filmische Welt mit ihrer allzu genauen Erklärung zu relativieren: Zwar erzeugen der Verzicht auf einen begleitenden Kommentar sowie die Wahl der Kamerapositionen und Einstellungsgrößen das Gefühl konzentrierter Nähe zu den Kindern. Im Gegensatz zum großen Vorbild „Sein und Haben“ (F 2002, R: Nicolas Philibert) ist dieser Standpunkt für „Berg Fidel“ allerdings problematisch. Ein umfassenderer Blick auf das Zusammenspiel mit Erwachsenen (Eltern wie Lehrern) und der daraus resultierende, übergreifende Einblick in das Thema Inklusion und deren politische wie gesellschaftliche Voraussetzungen (Lehrermangel, Finanzierung, Barrierefreiheit, Engagement, spezielle Ausbildung der Pädagogen, elterliche Unvoreingenommenheit) wird somit leider vollkommen verwehrt. Wo sich „Sein und Haben“ auf schlichtes Abbilden eines (eigentlich selbstverständlichen!) humanistischen Miteinanders beschränkt, plädiert „Berg Fidel“ gerade für einen anderen pädagogischen Ansatz durch die Auswahl der porträtierten Kinder sowie die Texttafeln an Anfang und Ende des Filmes. Diesen Ansatz reduziert die Regisseurin allerdings mit dem kategorischen Imperativ des „Es geht doch!“ aus sicherer Entfernung. Aber halt! Sie wollte ja auch keinen pädagogischen Film machen, wie es im Pressetext heißt. Weshalb es eben ein utopischer geworden ist, in dem Hypothesen keiner Begründung bedürfen und vom (angeblichen) sozialen Brennpunkt Berg Fidel auch nichts zu spüren ist.

Der zwiespältige Eindruck, den „Berg Fidel“ so provoziert, spiegelt sich auch in der hilflosen Montage wider, die nur lose Strukturen schafft und Handlungsstränge stellenweise hektisch aneinander fügt. Einzig die Episode von Anita erhält eine gewisse Stringenz durch die drohende Ausweisung ihrer gesamten Familie. Und selbst dieser Hintergrund wird nervös erzählt, vielleicht aus Angst vor einem Ungleichgewicht unter den Figuren. Zu viele Szenen besitzen dann doch eine gewisse Beliebigkeit und scheinen allzu sehr ein verklärtes Bild gemeinsam lernender Kinder bedienen zu wollen. In diesen Momenten tritt die mangelnde Unvoreingenommenheit der Regisseurin deutlich zutage: Berg Fidel ist eben nicht nur eine beliebige Schule, es ist die Schule an der Hella Wenders‘ Mutter unterrichtet.

Kurzum: „Berg Fidel“ ist ein unausgewogener Film, der nicht zwischen dem Porträt der einzelnen Kinder und einem dahinter liegendem, bildungspolitischen Topos vermitteln kann und stattdessen lieber auf seinem utopischen Charakter beharrt. Hella Wenders‘ Debütfilm kann zwar durchaus als gefühlvolles Plädoyer für ein humanistisches Zusammenleben und -lernen gesehen werden, aber als Teil einer politischen Debatte – in der sich die Volksvertreter in der anmaßenden Rhetorik des lifelong learning und der „Wissensgesellschaft“ üben, ohne überhaupt noch eine normative Idee von Bildung zu haben und lieber deren Industrialisierung sinnentleert forcieren – ist er nicht zu gebrauchen. Dafür lässt er sich jedoch umso leichter instrumentalisieren: Es geht doch!

Die Wohnung

(D / IS 2011, Regie: Arnon Goldfinger)

Das Schweigen vor der Geschichte
von Wolfgang Nierlin

Als seine hochbetagte Großmutter Gerda Tuchler im Alter von 98 Jahren in Tel Aviv stirbt, hinterlässt sie ein ganz besonderes, weitgehend unbekanntes Kapitel deutsch-jüdischer Geschichte. Ihr Enkel, der israelische Filmemacher …

Als seine hochbetagte Großmutter Gerda Tuchler im Alter von 98 Jahren in Tel Aviv stirbt, hinterlässt sie ein ganz besonderes, weitgehend unbekanntes Kapitel deutsch-jüdischer Geschichte. Ihr Enkel, der israelische Filmemacher Arnon Goldfinger, spürt dieses auf im umfangreichen Nachlass der Verstorbenen, der neben einer Identität auch einen aus der Zeit gefallenen Lebensstil konserviert hat. „Alles ist so wie es war“, konstatiert Goldfinger, nachdem er die Jalousien hochgezogen hat und Licht in die titelgebende Wohnung und damit auch auf eine verborgene Geschichte fällt. Gerda Tuchler, die zusammen mit ihrem Mann, dem Verkehrsrichter Kurt Tuchler, 1937 von Berlin nach Palästina emigriert war, hatte offensichtlich zeitlebens in der deutschen Kultur gelebt, die ihr zweifellos ein Sehnsuchtsort der Erinnerung und zugleich geistige Heimat war. Ihre umfangreiche Bibliothek zeugt ebenso davon wie ihre Arsenale gesammelter Gebrauchsgegenstände, mit denen ihre verwunderten Nachkommen, die nach handfesten Werten suchen, wenig anfangen können.

Überhaupt weiß man in der Familie erschreckend wenig über die Verstorbene; die Erinnerungen sind rar. Und vor allem ihre Tochter Hannah, die Mutter des Filmemachers, zieht entschieden die konkrete Gegenwart der Vergangenheit vor, flieht diese geradezu. „Über wirklich Wichtiges wurde immer geschwiegen“, heißt es einmal. Erzählt wurde wenig und Fragen stellte man nicht. So beginnt Arnon Goldfinger, von zufälligen Entdeckungen in Briefen und alten Zeitungen angestoßen, im bislang ausgeblendeten Teil seiner Familiengeschichte zu recherchieren. Wie in einem Detektivfilm habe er diese in einem Zeitraum von fünf Jahren Schritt für Schritt erforscht. Dabei habe das Projekt, in dem sich auf sehr persönliche Weise Privates und Politisches, Gegenwart und Vergangenheit verbinden, eine eigene Dynamik entwickelt und sei stetig gewachsen. Insofern zieht sein Film „Die Wohnung“ als Dokument dieser konservatorischen Recherche immer weitere Kreise. Und er ist zugleich eine Art Enthüllungsbrief, der das Gespräch zwischen den Generationen befördern möchte.

Eine enge, jahrzehntelange Freundschaft steht im Mittelpunkt von Goldfingers spannenden Ermittlungen. Viele Briefe geben darüber Auskunft, dass seine jüdischen Großeltern vor und noch lange nach dem Krieg mit dem Adligen Baron Leopold von Mildenstein und seiner Frau befreundet waren. Dass dieser auch ein Nazi-Funktionär war, der Eichmann in sein furchtbares Amt brachte und der später im Propaganda-Ministerium von Goebbels arbeitete, macht diese Beziehung für Goldfinger zunehmend unverständlicher. Zumal Gerda Tuchlers Mutter Susanne Lehmann in einem Konzentrationslager starb. Gingen Nazi-Propaganda und Zionismus eine Zeitlang Hand in Hand? Was wussten die deutsch-patriotischen Tuchlers von den Aktivitäten des Barons von Mildenstein? Und was weiß dessen in Wuppertal lebende Tochter Edda Milz von der Vergangenheit ihres Vaters, der später im Getränkekonzern von Coca Cola Karriere machte?

Arnon Goldfinger besucht sie zusammen mit seiner Mutter in Deutschland. Offensichtlich waren seine Großeltern „in der Seele deutsch“, wie es einmal heißt. Jenseits von Spekulationen und Unverständnis über diese ungewöhnliche, gar ungehörige Freundschaft vermittelt Goldfingers Film vor allem etwas von der Tragweite des unausgesprochenen Schweigegebots. Dahinter wiederum stehen die angstvolle Abwehr des Ungeheuerlichen, die Scham angesichts schuldhafter Verstrickung, die schmerzliche Revision von Beziehungen und vertrauten Menschenbildern und nicht zuletzt die Skrupel vor dem Fragen selbst.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Work Hard – Play Hard

(D 2011, Regie: Carmen Losmann)

Propheten der Veränderung
von Wolfgang Nierlin

Beim Arbeiten solle man möglichst nicht an die Arbeit erinnert werden, meint einer der Architekten, die für Unilever die neue Firmenzentrale am Hamburger Hafen planen. Deshalb gelte es, eine Atmosphäre …

Beim Arbeiten solle man möglichst nicht an die Arbeit erinnert werden, meint einer der Architekten, die für Unilever die neue Firmenzentrale am Hamburger Hafen planen. Deshalb gelte es, eine Atmosphäre zu kreieren, die die Arbeitskultur des Auftraggebers widerspiegele. Mit den modischen Schlagworten „Team-Spirit“, Innovationskraft, Kreativität und Kommunikationsstärke ist diese benannt. Und so wird das Büro kurzerhand umdefiniert in einen Ort, der vor allem Begegnung und Kommunikation ermöglichen soll, weil diese, so sind die Planer überzeugt, eine Quelle für Innovationen bilden. Das fertige Gebäude zeichnet sich insofern dann aus durch offene, lichte Räume, durch Treppen und Galerien, die verbinden und großzügig Bewegung ermöglichen sowie durch Transparenz. Hier können die Mitarbeiter flanieren, an langen Theken bei einem Getränk ihren Gedanken nachhängen oder in einer der vielen gemütlichen Sitzecken Gespräche führen. Aber das leise Klicken der Tastaturen, der sanfte Telefonterror und die leeren, aseptischen Räume weisen schon noch darauf hin, dass es bei aller wohnlichen Behaglichkeit dieser „Net und Nest-Etagen“ vor allem um knallharte „Mega-Wachstumsziele“ geht.

„Open door-policy“ und „non-territoriale“ Arbeitsplätze lauten andere Zauberworte dieser neuen Arbeitskultur, die vorgeblich den persönlichen Bedürfnissen der Mitarbeiter Rechnung trägt und so etwas wie Zeiterfassung zu „Schnee von gestern“ macht, tatsächlich aber die „Lösungsgeschwindigkeit“ erhöhen soll. Denn natürlich geht es hier neben Wachstum und Gewinnmaximierung vor allem um die Selbstoptimierung der Ressource Mensch, die dafür nötig ist. Carmen Losmann ist in ihrem beeindruckenden Dokumentarfilm „Work Hard – Play Hard“ den unterschiedlichen Facetten dieser gruseligen Zurichtung auf der Spur. Ohne Kommentar und in luziden Bildern, deren tiefenscharfe und oft symmetrische Komposition den totalen Anspruch dieser gar nicht so schönen neuen Arbeitswelt vermittelt, beobachtet sie mit distanziertem Blick jene seelenlosen Orte und Trainingscamps, an denen die Gehirnwäsche am „Humankapital“ stattfindet. Kongenial unterstützt wird sie dabei von dem Bildgestalter Dirk Lütter, der als Regisseur in seinem eigenen, starken Spielfilmdebüt „Die Ausbildung“ ein verwandtes Thema behandelt hat.

„Change“ lautet eine der vielstrapazierten Vokabeln, von denen „Human Resource Manager“ faseln, um die Veränderung des Menschen und seiner angeblich überholten (Arbeits-)Kultur zu beschwören. Eine in diesem Sinne gepolte weibliche Führungskraft der Deutschen Post ist gar so vermessen zu fordern, diesen anvisierten „Wandel“ in die DNA der zu „entwickelnden Mitarbeiter“ „verpflanzen“ zu wollen. Die „Kultur der ständigen Verbesserung“ im Blick, in der sich die Arbeitskraft am besten „selbst wegrationalisiert“ führen uns die Ideologen des paradoxen „Change“ zum „Flow“-Training in dunkle Erdlöcher, in Büro-Räume, die „World“ heißen und an deren Wänden ebenso kryptische wie kindische Graphiken zur Motivationssteigerung hängen. Am verräterischsten ist aber die inhaltsleere Sprache dieser selbsternannten Propheten der Veränderung, eine mit anglizistischen Worthülsen durchsetzte Pseudo-Terminologie, die viel heiße Luft verbläst und den sprachhandelnden Menschen in eine Marionette des üblen Systems verwandelt.

The Substance – Albert Hofmann’s LSD

(CH 2011, Regie: Martin Witz)

Jenseits von Raum und Zeit
von Wolfgang Nierlin

Als einen „Trip ins Ungewisse“ beschreibt Albert Hofmann seinen ersten Selbstversuch mit LSD. Im Frühjahr 1943 war der Schweizer Chemiker, der für den Baseler Pharmakonzern Sandoz nach einem den Blutkreislauf …

Als einen „Trip ins Ungewisse“ beschreibt Albert Hofmann seinen ersten Selbstversuch mit LSD. Im Frühjahr 1943 war der Schweizer Chemiker, der für den Baseler Pharmakonzern Sandoz nach einem den Blutkreislauf regulierenden Medikament suchte und dafür den Getreidepilz Mutterkorn erforschte, auf die unbekannte Substanz gestoßen. Was er dann erlebte, so der fast Hundertjährige im Interview aus dem Jahre 2006, war „furchtbar“: Neben absoluter Ungewissheit und starker Angst, wähnt sich Hofmann bereits im Jenseits, fern seiner jungen Familie. Als er nach stundenlangen Halluzinationen schließlich doch wieder zurückkehrt von seiner phantasmagorischen Reise, empfindet er das wie eine Wiedergeburt, ein Erwachen zu einem neuen Leben.

In Martin Witz‘ informativem Dokumentarfilm „The Substance – Albert Hofmann’s LSD“, der die verzweigte Geschichte des Lysergsäurediethylamids nachzeichnet, gibt es immer wieder Versuche, die geheimnisvolle Wirkung dieser psychoaktiven Droge zu beschreiben. Doch die Sprache scheint kein geeignetes Instrument zu sein, den Zustand des „High“ und des „Außer-sich-Seins“ adäquat zu erfassen. Dabei ist die bereits in geringen Dosen hochwirksame Substanz strukturell verwandt mit Botenstoffen des Gehirns. „Alles, was ich dachte, war bildlich da“, sagt Albert Hofmann, der in späteren Versuchen vor allem „beglückende Gefühle“ erlebt hat und als „mystischer Chemiker“ der spirituellen Dimension des LSD auf der Spur war. Andere Wissenschaftler und Konsumenten betonen wiederum die öffnende, die sinnliche Erfahrung und das innere Erleben verstärkende Kraft der Droge. Raum und Zeit, vor allem aber das Ich scheinen sich aufzulösen zugunsten eines harmonischen, nahezu kosmischen Erfüllt-Seins.

Diese transpersonale Erfahrung nutzte in den 1950er Jahren der tschechische Psychiater Stanislav Grof, um in klinischen Studien mit Hilfe von LSD Psychosen im Sinne veränderter Bewusstseinszustände zu untersuchen. Aber auch der US-amerikanische Geheimdienst CIA und das Militär experimentierten auf teils kuriose Weise mit der Substanz, um sie als „Wahrheitsserum“, vor allem aber als „psychosomatische Waffe“ in einem etwaigen „LSD-Krieg“ einsetzen zu können. Als schließlich in den sechziger Jahren der Harvard-Professor und Drogen-Guru Timothy Leary die psychedelische Lebensweise ausruft („Turn on, tune in, drop out!“), einen damit verbunden Wertewandel propagiert, dafür die Wissenschaft der Ekstase lehrt („Wir sind hier, um zu fliegen!“) und im Zuge dessen immer mehr Anhänger findet, wird im Oktober 1966 das wundersame Rauschmittel verboten. Damit stagniert auch die Forschung, die später jedoch im Zusammenhang mit der Therapie von Krebspatienten neue Relevanz gewinnt. In Interviews, zahlreichen Archivaufnahmen und assoziativen Collagen folgt Martin Witz den Spuren des LSD, das dem verantwortungsvollen Konsumenten offensichtlich eine Transzendenz-Erfahrung ermöglicht, die geeignet ist, der göttlichen Schöpfung bewusst zu werden und mit der Endlichkeit des Lebens zu versöhnen.

Resident Evil: Retribution

(D / CAN 2012, Regie: Paul W.S. Anderson)

Der letzte Kampf beginnt schon wieder
von Louis Vazquez

Der Werbeslogan ist natürlich ein Brüller: „Der letzte Kampf beginnt.“ Seit dem Start der Resident-Evil-Franchise beginnt der letzte Kampf mit jedem Film aufs Neue. Nur fortgeführt wird er nie. Zwar …

Der Werbeslogan ist natürlich ein Brüller: „Der letzte Kampf beginnt.“ Seit dem Start der Resident-Evil-Franchise beginnt der letzte Kampf mit jedem Film aufs Neue. Nur fortgeführt wird er nie. Zwar bietet jedes Schlussbild bereits den Ausblick auf ein neues Spektakel, jede Fortsetzung aber setzt noch einmal anders an, verlagert die Perspektive ein wenig, erfindet neue Hindernisse – und vertröstet am Ende gleichfalls auf kommende Attraktionen. Auch wenn schon so ziemlich alle zeitgenössischen Filmserien von „Harry Potter“ bis zu den „Transformers“ mit vermeintlich letzten bzw. „finalen“ Schlachten und Kämpfen warben: Selten schien eine Serienmaschine so gut geschmiert zu sein wie im Fall von 'Resident Evil', weil die Franchise unter der Federführung von Paul W.S. Anderson mit Gattin Milla Jovovich als Zombie-killendem Star längst in der völligen inhaltlichen Beliebigkeit angekommen ist, dies aber auf eine Weise, die durchaus beeindruckt.

Von der zugrunde liegenden Computerspielreihe – Teil sechs erscheint passenderweise im Oktober – haben sich die Filme früh gelöst. Figuren aus den Spielen tauchen zwar immer wieder mal auf, allerdings beschränken sich die Gemeinsamkeiten meist auf Namen und Outfits. So entsteht ein äußerst seltsames Universum voller Querverweise, die nicht so recht funktionieren. Andauernd werden Figuren, die im Film kaum mehr als Staffage sind, aus für den unbedarften Zuschauer unerklärlichen Gründen inszenatorisch mit höchster Bedeutung aufgeladen. Weil aber jeder neue Resident-Evil-Film – obwohl er vorgibt, eine komplexe Story voranzutreiben – immer wieder neu ansetzt, Figuren ganz verschwinden und neue aus heiterem Himmel auftauchen lässt, ist es letztlich völlig egal, wer das austauschbare Kanonen- bzw. Zombiefutter gibt, solange nur Hauptfigur Alice (Jovovich) weiter mit dabei ist. Seit die Franchise das Thema Klonen für sich entdeckt hat, wird es sogar möglich, längst verstorbene Figuren wieder auftauchen zu lassen. Und weil böse Wissenschaftler über die Technik verfügen, den Charakter eines Klons zu manipulieren, kann Michelle Rodriguez – im ersten Teil verstorben – diesmal als gute und als böse Figur mitmischen.

Wie in vielen Actionspieldramaturgien wird handlungsmäßig möglichst viel Lärm um Nichts gemacht: Alles bleibt Fragment, tut aber bedeutungsschwer. Ob da irgendwas zusammenpasst, ist völlig egal, solange sich die Möglichkeit bietet, eine Art Genre-Best-of zusammenzuklatschen, das sich, natürlich, noch immer bei Vorbildern wie Carpenter, Cameron oder Romero bedient. Diesmal geraten die Helden sogar in eine Art virtuelles Trainingscamp, so dass die einzelnen Szenarien umso beliebiger und levelartiger nebeneinander stehen. Hier eine Sequenz aus Zack Snyders Remake von „Dawn of the Dead”, da mal wieder das unvermeidliche „Herr-der-Ringe'-Schlachtengetümmel, und Nazi-Zombies waren doch zuletzt in „Dead Snow“ recht populär. Dass die Exposition rückwärts erzählt wird, dürfte eine kleine Reminiszenz an den Werbetrailer des Zombie-Computerspiels „Dead Island“ sein – Spielefans wird es freuen, auch wenn die Idee spektakulärer ist als die Umsetzung.

So richtig begeisternd sind Andersons Filme seit dem gelungenen und singulär atmosphärischen „Event Horizon“ (1997) leider nicht mehr. Doch angesichts der deplazierten Ernsthaftigkeit von Len Wisemans „Total Recall“ und der überraschungsarmen Schnörkellosigkeit von Simon Wests „Expendables 2“ ist der halsbrecherisch wilde Edeltrash von „Resident Evil 5“ geradezu erfrischend, wie eine völlig entglittene frühe Arbeit von Sam Raimi. Aber ach, der Wahnsinn ist schon gebremst: Im Vorgängerfilm hinterließen getötete Gegner noch ein Häuflein Goldmünzen. Damit ist jetzt Schluss. Diese Reminiszenz an das Belohnungssystem der Computerspiele erschien im Rückblick wohl selbst Paul W.S. Anderson zu albern.

Small Town Murder Songs

(CAN 2010, Regie: Ed Gass-Donnelly)

Dunkle Vergangenheit
von Wolfgang Nierlin

Jeder kennt jeden in der kleinen Mennoniten-Gemeinde nahe Listowel in der kanadischen Provinz Ontario. Rechtschaffen und strenggläubig leben die Menschen hier ihren gewohnten Alltag. Manche von ihnen sprechen noch den …

Jeder kennt jeden in der kleinen Mennoniten-Gemeinde nahe Listowel in der kanadischen Provinz Ontario. Rechtschaffen und strenggläubig leben die Menschen hier ihren gewohnten Alltag. Manche von ihnen sprechen noch den fremd klingenden Dialekt aus der alten Welt, der den Zusammenhalt stärkt und in dem sich Gerüchte und Neuigkeiten verbreiten. Als am Ufer eines nahen Sees die nackte Leiche einer jungen Frau gefunden wird, wirkt das wie ein Schock. Und weil zunächst weder die Identität der Getöteten noch eine stichhaltige Spur des Täters auszumachen sind, entwachsen der allgemeinen Unsicherheit und Angst bald auch noch die schwelenden Spannungen ungelöster Konflikte.

Der örtliche Polizist Walter Ruden (Peter Stormare) steht in deren Zentrum. Schweigsam und in sich gekehrt versieht er seinen Dienst nach Vorschrift. Doch in ihm gärt eine dunkle Vergangenheit, eine Geschichte der Gewalt und unterdrückter Aggressionen, die sich immer schwerer niederhalten lassen. Walter ist traumatisiert von einer belastenden Tat, deren verstörenden Bilder in kurzen Rückblenden immer widerkehren. Er leidet unter Schuldgefühlen und ersehnt Vergebung, zumal sich seine Familie offensichtlich von ihm abgewandt hat. „Bereue und bekenne deinen Glauben“, lautet eines der Bibelzitate, mit denen Ed Gass-Donnelly seinen konzentriert erzählten, von einem nahezu alttestamentarischen Drama bewegten Film „Small town murder songs“ gegliedert hat.

Ein anderes, dem 2. Buch Mose entnommenes Wort, steht über der Exposition des Films: „Der Herr wird für euch streiten, und ihr werdet still sein.“ Vorbedeutungen und Unabänderliches, Handlungsmaximen und Lebensweisheiten liegen jeweils in diesen Sätzen, die Gass-Donnelly als kraftvolle Zäsuren inszeniert. Das Geschehen verlangsamt sich, dehnt sich aus in der Ruhe statischer Bilder und wird zugleich dramatisch aufgeschreckt durch die schmerzliche Wucht der sie begleitenden Songs, die die kanadische Indie-Band Bruce Peninsula als intensive Mischung aus Blues, Soul und religiöser Folklore komponiert hat. „Gott trifft uns, wo wir gerade sind“: Walter kann bald nicht mehr anders, als unter dem Druck implodierender Gefühle „seiner Vergangenheit nachzugeben“. Der Mordfall wirkt dabei wie ein Vorwand und zugleich als Katalysator für eine andere, verborgene und vielleicht ausweglose Geschichte.

Wandlungen – Richard Wilhelm und das I Ging

(CH 2011, Regie: Bettina Wilhelm)

Auf der Suche nach dem Großvater
von Michael Schleeh

Im Jahr 1899 gelangt Richard Wilhelm als Missionar nach China. Zu einer turbulenten Zeit als China von den Kolonialmächten ausgebeutet wird, sich der Boxeraufstand gegen die ausländischen Imperialisten ereignet, schließlich …

Im Jahr 1899 gelangt Richard Wilhelm als Missionar nach China. Zu einer turbulenten Zeit als China von den Kolonialmächten ausgebeutet wird, sich der Boxeraufstand gegen die ausländischen Imperialisten ereignet, schließlich die Xinhai-Revolution die kaiserliche Dynastienfolge unter Pu Yi, dem letzten Kaiser, beendet, und Sun Yat-sen zum Übergangspräsidenten der Volksrepublik gewählt wird. Richard Wilhelm ist zu dieser Zeit in der deutschen Kolonie in Qingdao tätig, baut eine Schule auf und übernimmt später im Ersten Weltkrieg die Leitung eines Hospitals – er flüchtet also nicht in die sichere Heimat. Die Fremde ist ihm zur neuen Heimat geworden. Seine Ehefrau folgt ihm, und Wilhelm nähert sich der chinesischen Kultur mit einer eigentlich für jede Zeit ungewöhnliche Offenheit im Geiste. Anstatt sich um die Bekehrung der Chinesen zu kümmern, beginnt er chinesische Schriften zu lesen und schließlich zu übersetzen. In jahrelanger Arbeit übersetzt er Texte von Konfuzius, Laotse sowie Texte des Daoismus und auch das „Buch der Wandlungen“, das „I Ging“, den ältesten Text der klassischen chinesischen Lehren. Ein Text, den C. G. Jung, später ein enger Freund Richard Wilhelms, wiederum ins Englische übersetzt und der dadurch einem großen westlichen Publikum zugänglich gemacht werden konnte.

Bettina Wilhelm, die Enkelin des großen kulturellen Vermittlers, begibt sich in ihrem Dokumentarfilm nun auf die Spuren ihres Vorfahren, reist ins chinesische Qingdao, besucht ihr Geburtshaus (heute eine hochmoderne Augenklinik), spricht mit dem Enkel des Schulleiters, der ein enger Verbündeter des Deutschen wurde, und mit vielen anderen Zeitzeugen oder deren Nachfahren. In liebevoll persönlicher Weise skizziert sie ihre Reisen durch das moderne China und verdeutlicht den großen Einfluss des philosophisch-religiösen Denkens auf den chinesischen Alltag. Zugleich werden immer wieder kurze Exkurse mit westlichen Experten diverser Fachgebiete dazwischen montiert, die verschiedene Aspekte der chinesischen Lehren erläutern. Der Film bringt dem Zuschauer auf diese Weise die Prinzipien des I Gings und des Konfuzianismus näher und erläutert die Faszination auf westliche Denker und Schriftstelle; eines der prominentesten Beispiele ist Hermann Hesse.

Es zählt zu den großen Leistungen dieses narrativ recht herkömmlich gestalteten Filmes, dass die Regisseurin ihren Weg durch das Land mit einer ähnlichen Offenheit für das Fremde beschreiten wie der Großvater; so ist er nicht nur das Portrait und der späte Versuch einer Rehabilitation eines Mannes, der außerhalb eingefleischter Sinologenkreise wenig bekannt wurde (auch aufgrund des Zweiten Weltkrieges), sondern auch Zeugnis eines Verständnisses von Weltoffenheit, in dem ein kleingeistiger Kulturpatriotismus keinen Platz hat. Wer allerdings denkt, dieser Film würde allzu esoterische Themen anschneiden, täuscht sich. Er ist Hommage und persönliche Biographie eines großen Kulturwissenschaftlers zugleich – mit sensationellen Filmdokumenten aus den Archiven, mit wunderbaren Bildern aus dem modernen chinesischen Alltag zwischen Tradition und Moderne, dem Leben der Landbevölkerung und dem der hektischen Metropolen.

On the Road – Unterwegs

(F / BR 2012, Regie: Walter Salles)

Mehr Cronenberg wagen
von Carsten Happe

Es dauert nur wenige Minuten, da beschleicht einen das unbestimmte Gefühl, im falschen Film zu sitzen: die Szenerie ist gediegen ausgeleuchtet, das Production Design wirkt akkurat und edel – selbst …

Es dauert nur wenige Minuten, da beschleicht einen das unbestimmte Gefühl, im falschen Film zu sitzen: die Szenerie ist gediegen ausgeleuchtet, das Production Design wirkt akkurat und edel – selbst in den vermeintlich schäbigeren Momenten – der Off-Kommentar hat die unmissverständliche Einordnung geliefert, Texteinblendungen geben zusätzliche Orientierung. Vielleicht nicht direkt im falschen Film, so aber doch in der Ahnung, welche Adaptionen von Jack Kerouacs „On the Road“ statt der letztlich realisierten Version von Walter Salles möglich gewesen wären – Kerouacs eigener Wunsch, gemeinsam mit Marlon Brando die Hauptrollen zu spielen, Francis Ford Coppolas jahrelanges Interesse an dem Stoff, die Ankündigungen, Jean-Luc Godard und Gus Van Sant seien als Regisseur im Gespräch.

Stattdessen nun dies: ein braves Ausstattungsstück – dem die Akzentuierung der Sexszenen allerdings ein wenig entgegentritt – das der Vorlage gerade einmal den Plot entreißt, ihn in leicht verdauliche Episoden wegsperrt und auf ein biographisch motiviertes Ziel zuspitzt. Und dabei fast alles außer Acht lässt, was „On the Road“ (das Buch) ausmacht: den Rhythmus der Sprache, das Lebensgefühl von Freiheit und Ziellosigkeit, der Jazz der Bilder.

Mit einer ähnlichen Strategie hatte Bernd Eichinger in den 90ern Bestsellern wie dem „Geisterhaus“ oder „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ jeglichen Charme ausgetrieben. Dort wie hier steht die perfekt-leblose Rekonstruktion einer Umgebung oder Epoche im Vordergrund, bis in die Nebenrollen gespickt mit einer Starbesetzung, die sich völlig unterfordert den Authentizitätsanstrengungen unterordnen muss. Im Zentrum hingegen mit Garrett Hedlund und Sam Riley zwei Darsteller bar jeder Ausstrahlung, die eine ungefähre Ahnung ihrer jeweiligen Rolle transportieren und darüber hinaus nur aufgewärmte Klischeebilder anfertigen.

Das Triumvirat der Beat-Generation – Allen Ginsbergs „Howl“, William S. Burroughs‘ „Naked Lunch“ und Jack Kerouacs „On the Road“ – lässt sich nun vollständig auf der Leinwand betrachten. Wäre es nur bei David Cronenbergs wahnwitziger Burroughs-Adaption geblieben!

Die Wand

(AT / D 2011, Regie: Julian Roman Pölsler)

Freiheitsberaubung
von Carsten Happe

Eines Tages, in der Idylle einer alpinen Bergwelt, die fast greifbar scheint, wird die namenlose Erzählerin von einer unsichtbaren Wand umschlossen und vom Rest der Welt getrennt. Ein Hund bleibt …

Eines Tages, in der Idylle einer alpinen Bergwelt, die fast greifbar scheint, wird die namenlose Erzählerin von einer unsichtbaren Wand umschlossen und vom Rest der Welt getrennt. Ein Hund bleibt ihr als Ansprechpartner, ein fest abgesteckter Radius als Lebensumfeld – und ein Zurückgeworfensein auf die eigene, nackte Existenz. Marlen Haushofers Roman, der in einer feministischen Lesart zum Klassiker avancierte, bildet auf den ersten Blick eine einzige Negation des Kinos: ein Stillstand, der den bewegten Bildern entgegentritt, eine Introspektion, die kaum dialogisch aufzubereiten ist. Eine Off-Stimme als Umweg, der oftmals nur als hilflose Krücke genutzt wird, erweist sich hier allerdings als richtige Entscheidung, des Textes Herr zu werden. Martina Gedecks emotionslose Intonation ermöglicht mehr noch als die sorgfältig komponierten Bilder einen Zugang zu einer hermetischen Welt, die in all ihrer Schönheit schroff und abweisend daliegt. Die Frau verfällt nicht dem Wahnsinn, sondern erträgt ihr Schicksal mit einem staunenswerten Gleichmut, der ihre Entrücktheit nur unterstreicht und vor allem kaum zu beantwortende Fragen impliziert: Was bedeutet Freiheit, innere wie äußere? Müssen beide kongruent sein, um sogenannte Erfüllung zu erlangen?

Doch auch jenseits – oder besser diesseits – dieser metaphysischen Ebene ist Julian Roman Pölsler mit seiner durchdachten Adaption der „Wand“ die Quadratur des Kreises geglückt – einen schleichend unbehaglichen Film voller Spannungsbögen zu kreieren, die zu keiner Zeit als Blendwerk durch die Geschichte irrlichtern, sondern das mysteriöse Faszinosum der Ausgangssituation konsequent steigern. Martina Gedeck, zuletzt oftmals und durchaus zu Recht für ihre Rollenwahl gescholten, kann in dieser One-Woman-Show die ganze Bandbreite ihres facettenreichen Spiels aufbieten, das sie zu einer der interessantesten Darstellerinnen ihrer Generation machte. Mit ihrer Stimme, ihrem ganzen Auftreten verkörpert sie eine Frau, die hinter der Wand nicht gramgebeugt langsam verblasst, sondern möglicherweise gar ihre Bestimmung findet.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Heiter bis wolkig

(D 2011, Regie: Marco Petry)

Danke Tod, danke!
von Andreas Thomas

Dass der Tod ein Scherzkeks aus Deutschland ist, will uns das deutsche Kino der letzten Jahre, mindestens seit „Knockin‘ on Heavens Door“ glauben machen, sprich: Die deutsche Filmkunst glaubt, sie …

Dass der Tod ein Scherzkeks aus Deutschland ist, will uns das deutsche Kino der letzten Jahre, mindestens seit „Knockin‘ on Heavens Door“ glauben machen, sprich: Die deutsche Filmkunst glaubt, sie bedienen zu können, die Klaviatur von 'vergnügt' bis 'verzweifelt'; doch allein schon beim Titel dieses Werkes von Marco Petry „Heiter bis wolkig“ fragt man sich, was denn der mit seinem Thema zu tun haben soll. Oder haben Sie schon mal bei der Gemütsverfassung einer Krebskranken an Attribute wie „Heiter bis wolkig“ gedacht?

Aber weil dem deutschen Tod eben sein Stachel gezogen ist, ist er auch in diesem Film eben nur eine ziemlich unangenehme Begleiterscheinung in einem ansonsten heiteren Unterfangen, welches „Leben“ genannt wird. Heiter schreitet durch die Welt, wer kopflos ist, und „Marie“ (deren Darstellerin aussieht wie eine junge Veronica Ferres mit schwarzer Perücke) ist schon mal so eine Kopflose, denn als Schwester einer an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankten Jessica Schwarz mit dem Filmnamen „Edda“ hat sie natürlich nichts Besseres zu tun, als dem an Hirntumor erkrankten „Tim“ seinen letzten Wunsch zu gewähren, nämlich eine schöne Nacht, die dann kurz vor Vollzug abgebrochen werden muss, weil ihre Schwester und Wohnungsgenossin mal wieder einen ihrer Kotzanfälle hat. Als hätte Marie nichts Besseres zu tun, als wäre ein Krebspatient nicht schon Belastung genug, nimmt sie also sich gleich einen zweiten als Onenightstand mit nach Hause, also dahin, wo es eh schon einen schwerstkranken Pflegefall gibt, so etwa wie: 'Upps, an meine todkranke Schwester, die von mir gepflegt wird, hatte ich zurzeit und im Schwange meiner amourösen Ausschweifungen gar nicht gedacht.' Aha! Ich widme diesem Detail des Films diese besondere Aufmerksamkeit, weil es nicht nur eine für diesen Film typische Unplausibilität darstellt, sondern weil Unplausibilitäten dieser Art in Filmen der Gegenwart gang und gäbe sind, und weil sie geradezu daraus zusammengebaut sind.

Dass dieser Tim übrigens gar nicht krank ist, dass das Ganze eine in der Kneipe von seinem Kumpel und ihm eingefädelte Mitleidstour ist, die „immer, auch bei den schönsten Frauen, zieht“, ist eine weitere dieser dummen Behauptungen, auf denen eine Handlung dieser Art basiert, mit anderen Worten sagt der Film: Die schönsten Frauen fallen auf die plumpesten Annäherungsversuche herein. Na sicher, das ist wirklich gut getroffen, total lebensnah und daher auch so heiter! Nebenbei weiß der Film folgerichtig auch gar nicht, was schöne Frauen sind, denn die meisten, die die beiden Jungspunde als solche bezeichnen, sind hässliche, aufgetakelte Eulen. Auch weiß der Film überhaupt nicht, was gute Musik ist, denn unablässig läuft so ein billiger, nachgespielter Neunziger-Jahre-Verschnitt, alles andere als aktuell und die Einrichtung der Wohnungen ist so etwa GZSZ. Interessant und mehrfach bemerkbar in den Wohnungen ist, dass deren Fenster zwar immer Vorhänge besitzen, diese jedoch, auch bei der Todgeweihten, nachts niemals zugezogen werden, auch wenn von draußen grelle Laternen den Schlafenden in die Gesichter scheinen.

Nicht nur interessant sondern geradezu absolut entsetzlich ist, dass sich der Pseudohirnkrebskranke bei der Echtbauchspeicheldrüsenkrebskranken, kaum dass sie ihn kennt, einfach so mal auf die Bettkante setzt, um mit ihr zu reden, und er dort stur verharrt, obwohl sie ihn dreimal deutlich dazu auffordert, zu gehen. Entsetzlich ist das nicht, weil es vielleicht solche Idioten im richtigen Leben geben mag, entsetzlich ist, dass der Film dieses rücksichtslose Verhalten würdigt, indem er es mit Erfolg, in diesem Fall mit dem Beginn einer (aus lethalen Gründen: kurzen) Freundschaft belohnt.

Quälend an diesem Film und Filmen dieser Art, ist, dass sie sich erstens nicht mehr im Geringsten um psychologisch plausible Verhaltensweisen scheren und zweitens, dass sie Rücksichtslosigkeiten bis hin zur körperlichen Gewaltanwendung als thrill und fun-haltige Alternativen zum langweiligen Leben (in diesem Fall langweiligen Sterben) propagieren. Hier ist es der (übrigens stark abgemagerten) Schwarz erlaubt, eine Schlägerei anzuzetteln, der, was haben wir gelacht, am Ende natürlich Max Riemelt alias „Tim“ zum Opfer fällt.

Also: Prügeln, Zeche Prellen, aus Rache so tun, als wäre man Selbstmordattentäter, aus Rache Ziegen das florale Innere eines Blumenladens verspeisen lassen, das sind so die Sachen, die dem Leben seine Würze geben, denn auf die wahre Lebenskunst verfällt man natürlich erst, wenn der Tod freundlicherweise vor der Tür steht. Danke Tod, danke. Und dann ist es natürlich auch total nett vom Tod, dass er erst so etwa eine gefühlte Viertelstunde vor seinem Eintritt auch Tribut fordert: Ein bisschen Blut beim Husten, dann wird nochmal ein Kranz fürs eigene Grab geflochten,und dann wird geschwächelt und man legt sich besser mal hin, bis die „Atempausen immer länger werden“ .

Muss ich noch mehr verraten? Vielleicht muss ich, aber ich habe keine Lust dazu, nur eines: Nach diesem Film hatte ich das Gefühl, irgendjemand Ekliges hätte mich anderthalb Stunden geduzt.

Das grüne Wunder – Unser Wald

(D 2012, Regie: Jan Haft)

Maus und Behausung
von Wolfgang Nierlin

Die Werbung zu Jan Hafts Natur-Dokumentarfilm „Das grüne Wunder – Unser Wald“ verkündet produktionstechnische Superlative: „Sechs Jahre Drehzeit, 70 Drehorte, 100 Nächte im Tarnzelt, 250 Stunden Rohmaterial, Pirschgänge mit der …

Die Werbung zu Jan Hafts Natur-Dokumentarfilm „Das grüne Wunder – Unser Wald“ verkündet produktionstechnische Superlative: „Sechs Jahre Drehzeit, 70 Drehorte, 100 Nächte im Tarnzelt, 250 Stunden Rohmaterial, Pirschgänge mit der Kamera, neueste Filmtechnik.“ Tatsächlich sieht man das dem eindrucksvoll fotografierten Film in jedem Augenblick an. Mit Makroaufnahmen, extremer Zeitlupe und Zeitraffer setzen der erfahrene Naturfilmer Haft und sein Ko-Kameramann Kay Ziesenhenne die verborgene Tier- und Pflanzenwelt des mitteleuropäischen Waldes ins Bild und machen sie so auf bislang nie gesehene Weise sichtbar. Knospen und Blüten brechen in Sekundenbruchteilen hervor, Ameisen verspritzen ihre Säure zur Abwehr von Feinden, eine Erdhummel vertreibt eine Maus aus ihrer Behausung und Hirschkäfermännchen streiten sich um ein Weibchen. Daneben nehmen wir Teil an der berührenden Aufzucht von Fuchs-Welpen und Frischlingen oder wohnen jenen großen Erschütterungen bei, die zum Beispiel von kleinen Regentropfen ausgelöst werden können.

Bei all dem ist ein Hang zur Überästhetisierung und zur Steigerung des stimmungsvoll fotografierten Bildes ins faszinierend Wundersame unverkennbar. Unterstützt wird das noch durch ein Sounddesign, das die natürlichen Geräusche akustisch verstärkt und durch seine musikalische Untermalung das Gezeigte theatralisiert. Da tanzen dann Blümchen, öffnen sich Blüten im Walzertakt oder trollen sich die Frischlinge zu einem luftigen Flöten-Thema. Solche Anthropomorphisierung, die noch durch den metaphernreichen, von Schauspieler Benno Fürmann mit warmer Stimme gesprochenen Text akzentuiert wird, hat natürlich weniger mit Naturalismus oder Wissenschaftlichkeit als vielmehr mit poetischer Überhöhung zu tun. Suggestiv lenkt der Film die Gefühle der Zuschauer, keine Brüche oder Irritationen stören sein ästhetisches Gleichgewicht. Jan Haft produziert hier Überwältigungskino, dessen emotionalen Einflüsterungen man sich, selbst wenn man wollte, kaum entziehen kann.

Inhaltlich beschreibt sein Film „Das grüne Wunder“ den Wald einmal nicht als mythischen Ort, sondern „als Universum für sich“ und als verborgene Welt, deren vielfältiges Leben es zu entdecken und zu bewahren gilt. Im Wechsel der Jahreszeiten spürt Haft ihren Geheimnissen nach und zeigt dabei den Wald als planvoll eingerichteten, funktionierenden Organismus, dessen geordnete Schichten ineinandergreifen und in einem permanenten Austausch stehen. Nachdenklich folgt er den natürlichen Kreisläufen des Wachsens und Vergehens, des Fressens und Gefressen-Werdens als „fließende Übergänge zwischen Leben und Tod“. Und er plädiert mit Nachdruck für den offenen, lichten Wald, den es früher einmal gab und der, so Jan Haft, die Artenvielfalt dieses einmaligen Lebensraums erst ermögliche und garantiere.

Der deutsche Freund

(D / AR 2012, Regie: Jeanine Meerapfel)

Politisch Lied, garstig Lied
von Dietrich Kuhlbrodt

In Buenos Aires leben deutsche Emigranten Tür an Tür, Juden (aus den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg) und Nazis (nach 1945), und sie wahren Distanz. Der Film konzentriert sich auf …

In Buenos Aires leben deutsche Emigranten Tür an Tür, Juden (aus den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg) und Nazis (nach 1945), und sie wahren Distanz. Der Film konzentriert sich auf die in Chile geborenen Kinder: auf die Jüdin Sulamit (Celeste Cid) und den SS-Obersturmbannführersohn Friedrich (Max Riemelt). Wir sehen die beiden zum Missfallen der jeweiligen Eltern zusammen spielen, unschuldige Küsschen tauschen, pubertieren, ein Paar werden, sich trennen, zwischen Argentinien und Frankfurt dank des DAAD hinundherfliegen und schließlich zusammenfinden.

„Der deutsche Freund“ ist ein Romeo-und-Julia-Plot mit Happyend – und im allseits bekannten TV-Format, bunt, gewaltfrei und kitschig. Das ist umso auffälliger, weil es im Film um eine Geschichte von Gewalt und politischem Kampf geht. Jeanine Meerapfel (Regie und Buch) versichert, sie habe viel Autobiographisches in den Film eingebracht. Ich respektiere die Autorin („Malou“, 1980). Und ich finde es schade, dass die guten Absichten jetzt im Fernsehformat versackt sind. In den Filmbildern finden sich allenfalls Spuren wieder von dem, was die Dialoge beabsichtigen, nämlich in die Liebesgeschichte sowohl die Geschichte Südamerikas (Militärjunta, Allende) als auch die der BRD (68er Jahre, Dutschke) einzuhängen. Schön, das Ho, Ho, Ho Chi Minh wird sekundenlang als Dokument eingeblendet und unmittelbar danach noch mal als Reenactment.

Was transportiert wird, ist nur eine Peinlichkeit mehr. Politisch Lied, garstig Lied. Zur Beruhigung des Zuschauers und selbstredend um den Quoten Genüge zu tun, schwelgt die Kamera in der Landschaft Patagoniens, und kammermusikalische Harmonien versichern uns, dass alles gut ausgeht. Und es geht gut aus. Das gelingt nur, so die explizite Botschaft, wenn der deutsche Freund sein politisches Engagement aufgibt (Studentenbewegung, aktiver Kampf für die dritte Welt) und sich voll auf die geliebte Sulamit konzentriert. In der herrlichen Landschaft Patagoniens (sagte ich das schon?) ist er dann so weit. Er schwört in wohl gesetzten Worten allem Politischem ab und zieht mit Sulamit mitten in der Einöde in ein verfallenes, aber hochgradig romantisches Haus, die zwei nur für sich.

Die Welt drumherum gibt es nicht mehr. Hach, ist das schön. Schön kitschig. Schöne heile Welt. In der jüngsten Generation ist das Unheil von Auschwitz vergessen (und vergeben?), das politische Engagement sowieso. Die unheilvolle Nachkriegsgeschichte ist abgeschafft und das Biedermeier etabliert. – Ich wünsche den beiden eine satte Beziehungskrise.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2012

Liebe

(F / A / D 2012, Regie: Michael Haneke)

Komm mit!
von Dietrich Kuhlbrodt

Michael Haneke („Das weiße Band“) fragt, was das ist, Liebe zwischen Menschen, die alt geworden sind. Realität ist, dass sich immer mehr Gewissheit aufdrängt: es geht aufs Ende zu. Normalerweise …

Michael Haneke („Das weiße Band“) fragt, was das ist, Liebe zwischen Menschen, die alt geworden sind. Realität ist, dass sich immer mehr Gewissheit aufdrängt: es geht aufs Ende zu. Normalerweise fassen wir den Tod ungern ins Auge. Auch gibt es eine Schwelle, deswegen ins Kino zu gehen. Hanekes „Liebe“ aber ist ein großartiger Kinofilm, und er garantiert ein neuartiges, grandioses, nachwirkendes Kinoerlebnis. Auf den Festspielen in Cannes bekam „Liebe“ die goldene Palme.

Was passiert im Film? Zunächstmal: es wird dem Zuschauer nichts erzählt. Es gibt kein Plot. Aber es wird beobachtet. Im großen Ganzen bleiben wir die volle Kinolänge in einem Zimmer und beobachten zwei Alte. Jean-Louis Trintignant ist mittlerweile achtzig Jahre alt, Emanuelle Riva 85. Protokolliert wird der sich verändernde Zustand vom Leben zum Tod. – Das klingt jetzt so, als ob wir alle ganz traurig werden müssen. Vielleicht ist das sogar der Fall. Das Besondere aber ist, dass der Film von Zärtlichkeit erfüllt ist. Zärtlich gehen die beiden Alten miteinander um, und zärtlich geht der Regisseur mit seinen Protagonisten um. Der Film „Liebe“ ist auch ein Film über die Liebe des Regisseurs zum Film.

Eine Rolle spielt, dass die Alten altbekannt sind. Seit den fünfziger Jahren treten sie in Filmen auf. „Verliebt in scharfe Kurven“ (Trintignant, 1962), „Hiroshima, Mon Amour“ (Riva, 1962). Gebrechlich und dem Tode nahe, werden sie uns jetzt in „Liebe“ vorgeführt – mit allem Respekt und ihrer Würde belassen. In der ersten Filmeinstellung, noch vor dem Filmtitel, sehen wir Riva im Bett liegen, entspannt, unbeweglich. Tot? Auf dem Kopfkissen sind die Blüten abgeschnittener Blumen wie Sterne drapiert. Polizei kommt. Es ist etwas geschehen. Aber was? Nächstes Bild. Die beiden Alten sind frisch und munter in einem Konzertsaal zu sehen. Franz Schubert. Eins der Impromptus aus dem Opus 90. Aha, die beiden sind oder waren Musikprofessoren. Ihr Schüler ist berühmt geworden.

Riva sitzt am Frühstückstisch, starren Blicks, abgeschaltet. Eine Absence? Ein Schlaganfall. Trintignant übernimmt die Pflege in der Wohnung. Er verspricht, sie niemals in ein Heim oder in die Klinik zu überweisen. Es gibt was zu tun. Viel. Das Bettlaken ist nass. Urin? Er zieht ihr eine Unterhose hoch. Hat er sie gewaschen? Er wäscht ihr die Haare. Sie fährt im Rollstuhl im Kreis herum. Beide lachen. Dann der zweite Schlaganfall. Die Tochter reist an (Isabelle Huppert). Sie denkt praktisch. Der Vater ist doch völlig überfordert. Die Mutter müsste klinisch versorgt werden. Der töchterliche Blick wandert in der Wohnung herum. Dann erzählt sie der Mutter eine lange Geschichte, wie schwierig es ist, eine Wohnung zu finden, aber es wird schon werden. Von Empathie kaum eine Spur, von Zärtlichkeit auch nicht. Ganz der gesunde Menschenverstand. Denken alle Töchter so? Ja?

Haneke antwortet nicht. Er stellt Fragen. Stellung nehmen, bewerten, ablehnen, sich entrüsten, mitfühlen, sich erinnern, – all das muss der Zuschauer selbst tun, und das Ergebnis wird unterschiedlich sein. „Liebe“ ist ein sich intensivierendes Wahrnehmungs- und Rezeptionserlebnis an Hand präziser Fakten und detailreicher Beobachtung. Ich sags laut: Der Film hat mich aufgewühlt – im guten Sinne. Oder sensibilisiert, – aber das klingt zu abgegriffen. Oder: er implodiert in mir, – aber das klingt zu pathetisch. Hanekes Geheimnis ist, dass mit der der Protokollierung der Details des Sterbenmüssens so etwas wie Wahrheit entsteht. Und Normalität. Genial sind die Einschübe von Bildgeschichten, die sich erst im Laufe des Films entschlüsseln lassen. Wieder ist es am Zuschauer, die Codes zu knacken. Wieder wird zur aktiven Rezeption eingeladen.

Als zehnjähriger Junge, so erzählt er der Dahingehenden, war ich in einem Schullandheim. Mit der Mutter war ein Code ausgemacht. Schickt der Junge Postkarten mit Blumen drauf, ist alles okay. Mit Sternen: hol mich hier raus. Hört Riva, die nichts mehr artikulieren kann, überhaupt zu? Versteht sie, von was er erzählt? Ihr Gesichtsausdruck entkrampft sich. Sie wirkt jetzt entspannt. Lächelt sie nicht sogar? Und waren in der Eingangssequenz des Films nicht Blumen, Blumenköpfe, um ihr so wunderschön entspanntes Gesicht drapiert? Oder waren sie wie Sterne angeordnet? Hatte sie nicht vorher im Film gesagt, als sie noch was sagen konnte, dass sie weg will, weg aus dem unerträglich gewordenen Leben? Immerhin hatte er aus ihrem Lallen erraten, was sie mit ihm singen wollte. Und dann singen die Musikprofessoren „Sur le pont d’Avignon“. Und lächeln sich an.

Jetzt aber, schlussendlich, ist Zeit zu gehen. Wenn Liebe heißt, für einander zu sein, muss das nicht auch für das Fortgehen miteinander gelten? Wohlgemerkt, der Film formuliert die Fragen nicht. Die Bilder, die Codes, provozieren aber Antworten des Zuschauers. In einer eingefügten Szene wird für dieses Gehen ein nüchternes, alltägliches, normales Bild gefunden. Die Wohnungstür öffnen. „Ja, willst Du denn nicht den Mantel anziehen?“ Der Mantel wird angezogen. Die Tür klappt zu. – Lieber Leser, ob Du das glaubst oder nicht. Ich versichere, dass diese Szene eine der größten und unvergesslichsten der Filmgeschichte ist.

Okay, jetzt glaubt mir sowieso keiner mehr diesen Überschwang. Cool ist das ja nicht grade. Aber es ist mir egal. Es ist mein Ding, vom Film mitgenommen zu werden und, ja, wirklich zu werden. Denn „Liebe“ ist ein Film, der sich der angesagten Entwirklichung in den Medien entgegensetzt, sozusagen ein erratischer und individueller Fels inmitten der digitalen Brandung um uns herum. Dank Haneke hab ich Wirklichkeit unter den Füßen und Emotionen im Kopf, und die hab ich hier rausgelassen, hier, eine volle Seite in „Konkret“. Bestimmt gibt es andere Wahrnehmungen.

„Ein Horrorfilm“, sagte in der Pressevorstellung einer von der jüngsten Generation. Schnief, machten andere und zückten ein Tempotaschentuch. Glänzende Augen hatten viele und verließen das Kino in sich gekehrt. Ich machte mir Sorgen. Wie schreib ich über „Liebe“? Gewohnt ironisch/spöttisch? Nö. Autobiografisch? Allemal. Immerhin werde ich dieses Jahr ja auch achtzig. Und mit Brigitte bin ich mir einig.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 09/2012

The Expendables 2

(USA 2012, Regie: Simon West)

Ein bisschen (Folter)Spaß muss sein
von Louis Vazquez

Selten dürfte eine Inhaltsangabe so unnötig gewesen sein wie im Fall von „The Expendables 2“. Was mehr als ein Schaulaufen der Actionfilmveteranen durch das handlungsminimierte Gerippe eines Söldnerfilms sollte man …

Selten dürfte eine Inhaltsangabe so unnötig gewesen sein wie im Fall von „The Expendables 2“. Was mehr als ein Schaulaufen der Actionfilmveteranen durch das handlungsminimierte Gerippe eines Söldnerfilms sollte man auch erwarten? Alles, was geschieht, ist vorhersehbar – abgesehen von den völlig abwegigen Details.

Beispiel: Nachdem der Bösewicht (Jean-Claude Van Damme) das von allen gesuchte Plutonium schneller aus einer Mine hat bergen lassen, als den Helden lieb ist, gelingt es ihm, seine Ladung trotz des (strategisch eher simplen) gegnerischen Dauerfeuers persönlich per LKW-Konvoi zu einem Flughafen zu transportieren. Dieser befindet sich, so suggeriert die Montage, etwa dreihundert Meter von der Mine entfernt mitten im osteuropäischen Nirgendwo. Wie er dahin kommt und warum plötzlich ganz viele Zivilisten und Flughafenmitarbeiter aus dem Weg springen müssen, ist völlig egal, solange bildstark die Scheiben bersten. Mit einem realistischen Weltkonzept hat man es hier also eher nicht zu tun. Alles ist Mittel zum Zweck, die Patronenhülsen möglichst spektakulär fliegen zu lassen. Macht ja auch erstmal gar nichts.

An anderer Stelle finden die Helden sich in einer klar als Kulisse erkennbaren New Yorker Straßenszenerie wieder – ein Fertigset der bulgarischen „Nu Boyana Film Studios“, in denen „The Expendables 2“ gedreht wurde. Diese Fassaden, so die Erklärung im Film, stünden irgendwo in Osteuropa herum, damit Bösewichte dort Anschläge auf Amerika üben können. So phantasievoll wie bei dieser Rechtfertigung ist das Drehbuch bedauerlicherweise sonst nirgends. Ein ums andere Mal wünscht man sich, dass ein Meta-Trash-Spezialist wie Robert Rodriguez mit Rat und Tat zur Seite gestanden hätte.

Lässt man Gekrittel an Vorhersehbarkeit oder Logik außen vor, dürfte das größte Problem dieses erweiterten Treffens der Action-Ikonen sein, dass keiner der Teilnehmer – außer Fiesling Van Damme – irgendetwas darstellen darf, was von der Erwartung abweichen würde. Stattdessen werden Image und Rollengeschichte so lange im Zitatenreigen potenziert, bis rein gar nichts mehr ernst zu nehmen ist. Emotionale Bindung, die stellenweise durchaus erwünscht scheint, und Spannung bleiben deshalb völlig auf der Strecke, denn diesen Ikonen wird niemand etwas anhaben können. Die einzigen Ausnahmen bilden das einzige absehbare Opfer aus der Gruppe, das den Rachefeldzug erst auslöst, und natürlich Van Damme.

Die kalkulierte Unantastbarkeit der Helden ist ziemlich mutlos und langweilig. Immerhin blieben selbst von glorreichen Sieben nur drei, ebenso wenige von sieben Samurai. Lee Marvin brachte sogar nur einen aus seinem dreckigen Dutzend wieder nachhause. In „Expendables 2“ dagegen machen die Helden eine Art Abenteuerurlaub, in dem nichts auf dem Spiel steht. Weil die Franchise weiter gehen muss, wird weitgehend gefahrlos geballert. Die Action beschränkt sich dabei erstaunlich oft auf den typischen Low-Budget-Starschnitt: Helden halbnah von vorne mit wummernder Knarre zeigen, dann im Gegenschuss die Gegner durch die Luft fliegen und Sachen kaputt gehen lassen. Auf interessante kinetische Inszenierungen wartet man vergeblich.

Weil das alles relativ langweilig ist, soll zumindest herzhaft gelacht werden, zum Beispiel über das kleine bisschen Folter ausgerechnet durch Maggie (Nan Yu), die einzige Frau der Söldnertruppe. Das schafft Fallhöhe, denn so hart sein dürfen eigentlich nur Männer. Genervt von der nur geringen Auskunftsfreude eines Feinds, der nach einem Kampf in einer Bar festgesetzt wurde, packt Maggie eine kleine Schachtel aus und gewährt einen Blick auf viele kleine, spitze und scharfe Folterinstrumente. Ein schneller Schnitt nach draußen, und die Helden verlassen bereits die Bar, weil die Auskunft schon eingeholt ist. Das lässt Raum fürs Kopftheater und akzentuiert den Gagversuch wie der Fastnachtstusch die Büttenrede. Interessanterweise bereitet der schnelle, cartoonhafte Tod kein Darstellungsproblem: Die gegnerischen Heerscharen dürfen im Kugelhagel zu Dutzenden zerplatzen. Dass eine Frau foltert, wird zwar als Witz verpackt, aber lieber doch nicht explizit gezeigt – es ist doch nur ein Späßchen.

Wenn man mit dem Lachen fertig ist, freut man sich womöglich auch über die diesmal ausführlichere Rückkehr von Arnold Schwarzenegger, der inzwischen sogar auf praktische Erfahrungen in Sachen Gnadenlosigkeit und Sterbenlassen verweisen kann, und auf Chuck Norris, der maximal einen Tag am Set gewesen sein dürfte und gleich zweimal den Deus ex machina gibt. Wenn er einen Chuck-Norris-Witz erzählt, ist bereits der Gipfel des Metahumors erreicht. Ansonsten sind unkritisch aufbereitete chauvinistische Klischees – Frauen können nämlich zwar foltern, aber, haha, gar nicht gut schießen – immer für ein behagliches Lachen gut, denn da kennt man sich aus. Hauptsache keine Überraschungen.

Der Fluss war einst ein Mensch

(D 2011, Regie: Jan Zabeil)

Der Ort ist das Ziel
von Andreas Thomas

Ein junger Mann aus Deutschland (Alexander Fehling), namenlos, auf einer Reise durch ein afrikanisches Land, ebenfalls namenlos. Er benutzt eine Fähre und einen Mietwagen. Bei einem Unwetter in der Nacht …

Ein junger Mann aus Deutschland (Alexander Fehling), namenlos, auf einer Reise durch ein afrikanisches Land, ebenfalls namenlos. Er benutzt eine Fähre und einen Mietwagen. Bei einem Unwetter in der Nacht ist durch die Windschutzscheibe fast nichts mehr zu erkennen, dann plötzlich ganz nah Kühe, eine scharfe Bremsung und ein scharfer Schnitt, so wie wenn man sich die Augen zuhält.

Ein neuer Tag: Der Deutsche liegt ziemlich relaxed auf der Kühlerhaube und raucht. Keine toten Kühe und kein toter Deutscher. Nicht mal eine Beule im Rover. Situation folgt auf Situation. War da eine Zäsur oder nicht? Der Deutsche, ohne Auto jetzt, wird von einem alten Afrikaner, namenlos, auf einem Einbaum durch ein ausgedehntes namenloses Flussdelta, Ziel unbekannt, gesteuert. Der Deutsche wirkt müde und ziellos, er verschläft die halbe Fahrt, der Fährmann sagt am Lagerfeuer: Der Elefant kommt zu dir, um dich zu töten.

Am nächsten Morgen ist der Alte tot und der Junge ratlos. Wie soll er den Weg zurück finden, wenn er auf dem Boot noch nicht einmal das Gleichgewicht halten kann?
Was nun überwiegt, sind die Geräusche der Gefahr und die Geräusche des ausgedehnten Flussdeltas. Der Deutsche kann an seiner Angst zugrunde gehen, er kann sich aber auch dem langsamen Strom überantworten, so wie man sich seinem Schicksal ergibt.

Für einen Film wie „Der Fluss war einst ein Mensch“ stehen derzeit zwei Genretypisierungen zur Verfügung. Zum einen passt der Film zu Filmen wie „The Sixth Sense“ von Night S. Shyalaman, „Alice“ von Claude Chabrol oder „Jacob’s Ladder“ von Adrian Lyne, er ist also als eine Art metaphysischer Psychothriller les- bzw. erlebbar. Zum anderen, je nach Auslegung, passt das Langfilmdebüt von Jan Zabeil auch in die Reihe jener neueren zivilisationskritischen Filme, die von der Entfremdung des westlichen Menschen berichten, indem sie ihn in einer urwüchsigen und gleichgültigen Natur aussetzen. Hier könnte man an Filme wie Gus Van Sants „Gerry“ denken, gar an „The Blair Witch Project“ aber auch an jene die Natur mystifizierenden Filme eines Weerasethakul, in denen die Natur zwar als mächtig und allgegenwärtig erscheint, aber wo aus ihrer Allmacht (und ihrer Geisterwelt) auch Heilung und Sinnzusammenhang erwachsen kann.

Ein junges Beispiel für einen deutschen Film, der eher für die (afrikanische) Natur als für die (westliche) Kultur votiert, war „Schlafkrankheit“ von Ulrich Köhler. Nah daran und sichtlich geprägt von „Dead Man“ von Jim Jarmusch entwickelt Zabeil eine Metapher von der (Über-)Lebensunfähigkeit eines europäischen Zeitgenossen angesichts einer allumfassenden Natur, mit und in der er nichts anfangen kann. Die Natur in „Der Fluss war einst ein Mensch“ ist nahezu identisch mit dem darin Untergehen, mit dem Tod. Solch Metaphorik lässt nicht viel zu rätseln übrig.

Bereits das mutige Konzept der weitgehend improvisierten Dreharbeiten, sich mit einem aus nur vier Leuten bestehenden Team in (ein auch im Abspann des Filmes nicht näher bezeichnetes) afrikanisches Land und mehr oder weniger ungeschützt in dessen Gefahren (Skorpione im Zelt, Flusspferde im Fluss) zu begeben, um sowohl handlungstechnisch als auch realiter alles auf sich zukommen zu lassen, ist programmatisch. Natürlich wird so der Weg, nämlich der Ort und seine Charakteristika, zum Ziel und deshalb verbringt der Film die Hälfte seiner Zeit schweigend bei seinem teils skeptischen, teils „leidenden“, teils panischen und teils dreingegebenen Protagonisten (wofür dem Hauptdarsteller weniger Mimik als nötig zur Verfügung steht) und guckt und lauscht und fühlt die geheimnisvolle afrikanische Natur, er meditiert quasi das weg, was der Junge wegleidet.

Was der junge Mann nun eigentlich vorhatte auf dem fremden Kontinent, ist dabei so wenig wichtig wie Land und z.B. Leute, die, wie auch er und alles andere hier, zum Exemplarischen erhoben und im Abspann nur als „People of the Village' bezeichnet werden. Der Film, seine Figuren, die Handlung und der Ort Afrika, offenbar alles im Dienst einer Mystifikation. Es bleibt das zwiespältige Gefühl, zwar spürbar mitten drin gewesen zu sein und weitab von jeder Zivilisation, zugleich aber, dass hier ein Kontinent zusammenschnurrt zum Zweck einer ziemlich eskapistischen Romantisierung von Wildnis: sei sie nun positiv oder negativ besetzt – Hauptsache, sie ist wilder als das degenerierte Europa.

In Köhlers Afrikafilm „Schlafkrankheit“ war Afrika gehaltvoller, widersprüchlicher, und daher plausibler. Aber „Der Fluss war einst ein Mensch“ ist ja, wie gesagt und offenbar, auch nur ein Film über diese jungen Deutschen, die vor lauter Coolness nicht mal Autofahren können.