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Nader und Simin – Eine Trennung

(IR 2011, Regie: Asghar Farhadi)

Unlösbare Dilemmata
von Wolfgang Nierlin

Der Kontrast zwischen Hell und Dunkel, hervorgerufen durch die Belichtungsphasen eines Kopiergerätes, ist der Titelsequenz des Films unterlegt. Die Ausweispapiere der Protagonisten werden kopiert. Dementsprechend stehen gegensätzliche Einzelinteressen, gespiegelt im …

Der Kontrast zwischen Hell und Dunkel, hervorgerufen durch die Belichtungsphasen eines Kopiergerätes, ist der Titelsequenz des Films unterlegt. Die Ausweispapiere der Protagonisten werden kopiert. Dementsprechend stehen gegensätzliche Einzelinteressen, gespiegelt im Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, im Mittelpunkt von Asghar Farhadis sehr komplexem Film „Nader und Simin – Eine Trennung“, der mit dem Goldenen Bären der Berlinale ausgezeichnet wurde. Zu Beginn befinden sich mit den beiden frontal aufgenommenen Titelfiguren zwei solch kontrastierender Meinungen zur Anhörung vor dem Scheidungsrichter, der jedoch nicht zu sehen ist und dessen subjektive Perspektive in einer langen Plansequenz derjenigen des Zuschauers entspricht. Die Situation vor richterlichen Instanzen wird sich noch mehrmals wiederholen. Sie ist Ausdruck eines zunehmend vielschichtiger werdenden Entscheidungsdilemmas, in das die Figuren und mit ihnen der Zuschauer fast unentwirrbar verstrickt werden.

„Ich glaube, dass die heutige Welt mehr Fragen als Antworten braucht“, sagt der iranische Regisseur Asghar Farhadi über sein „dramatisches Rätselspiel“. Es geht also nicht um Entscheidungen oder Urteile, sondern um den Austausch von Meinungen und Perspektiven in einem prinzipiell offenen Prozess, in dessen Verlauf die ethischen, moralischen und religiösen Konflikte immer weitere Kreise ziehen. Je deutlicher dabei die Probleme hervortreten, desto unlösbarer erscheinen sie paradoxerweise, was Farhadi durch einen dynamischen Perspektivwechsel und räumlich verschachtelte Bildkompositionen inszeniert.

Vor allem der Bankangestellte Nader (Peyman Moadi) steht diesbezüglich unter enormem Druck, der von allen Seiten kommt, stetig zunimmt und vielschichtige Wirkungen entfaltet: Seine Frau Simin (Leila Hatami) will sich von ihm scheiden lassen und zieht aus der gemeinsamen Wohnung aus. Nader muss sich nun allein um seine 11-jährige Tochter Termeh (Sarina Farhadi) und seinen gebrechlichen, an Alzheimer erkrankten Vater kümmern. Für dessen Pflege und den Haushalt engagiert er die schwangere, strenggläubige Razieh (Sareh Bayat), die den Job braucht, weil ihr arbeitsloser Mann verschuldet ist. Als Razieh unter Schwierigkeiten ihre Arbeit vernachlässigt und nach einer unglücklichen, von Missverständnissen geprägten Auseinandersetzung mit Nader ihr Kind verliert, kommt es zur Anklage und damit zur Aufdeckung immer neuer Zusammenhänge und schicksalhafter Koinzidenzen. Deren sozialer, gesellschaftlicher und religiöser Verortung im Spannungsfeld zwischen traditioneller und moderner Lebensweise, zwischen Schuld und Verantwortung, ist Asghar Farhadis Film mit beeindruckender Konsequenz auf der Spur.

Vampire Nation

(USA 2010, Regie: Jim Mickle)

Eckzahn statt Dollar
von Sven Jachmann

Erneut sind postapokalyptische Zeiten eingetreten und die Menschen vegetieren in unterschiedlichen Enklaven: manche gründen christofaschistische Sekten, andere ziehen sich in verkümmerte Suburbs zurück, wo, geschützt durch eine bürgerwehrähnliche Phalanx, eine …

Erneut sind postapokalyptische Zeiten eingetreten und die Menschen vegetieren in unterschiedlichen Enklaven: manche gründen christofaschistische Sekten, andere ziehen sich in verkümmerte Suburbs zurück, wo, geschützt durch eine bürgerwehrähnliche Phalanx, eine Miniaturökonomie rund um Kneipen, Supermärkte und Prostitution am Laufen gehalten wird – sogar Volksfeste sollen Normalität suggerieren. Ganz andere wiederum, wie die beiden Hauptfiguren „Mister“ (Nick Damici) und sein jugendlicher Zögling Martin (Connor Paolo), durchqueren, rastlos auf der Suche nach einem sicheren Unterschlupf, die gesellschaftlichen Überbleibsel Amerikas. Aneinander gebunden, weil „Mister“ gleich zu Beginn Martin unter höchst martialischem Einsatz das Leben rettete, während für Martins Eltern jede Hilfe zu spät kam, verdichtet sich in den beiden das Gesetz der Bewegung nach der humanitären Katastrophe: Die innere Suche nach dem Sinn des Überlebens korrespondiert mit der Reise durch den äußeren überlebten Raum – irgendwie will und muss man ins Irgendwo gelangen.

Ungefährlich ist das keineswegs: Aus unbekannten Gründen ist der Großteil der Menschheit zu recht animalischen Vampiren degeneriert, deren Verhalten und Aussehen sich allerdings nicht sonderlich von ihren sonst zombiefizierten Mitstreitern des Genres unterscheiden. Statt eines Kopfschusses will zwar nun wesentlich schwieriger ein Pflock mitten ins Herz platziert werden, das anschließend gerupfte Zahnpaar hat sich dafür aber in den meisten Regionen als weitaus beliebteres Substitut zur einstigen Geldwährung durchgesetzt. Abgesehen von diesen geringfügigen Modifikationen bleibt viel Patchwork, eine Motivengführung jüngerer wie älterer Doomsday-Erprobungen bis hin zum Klischee: der Mensch, der sich selbst in seinen der Gegenwart angepassten Re-Formationsversuchen die größte Gefahr ist (von „Malevil“ bis zu „The Road“), ein Clash der Generationen, in dem das gute Überleben verhandelt und gesucht wird (ebenfalls „The Road“), zunächst zielloser Überlebenskult, der womöglich eine spirituelle Mission bedeutet („The Book of Eli“, 'I am Legend') oder ein Coming of Age unter veränderten Lebensbedingungen (feuchtfröhlich in „Zombieland“, nihilistisch in „The Road“). Dazu bilden sich um „Mister“ und Martin Grüppchen, die nach kurzer Zeit aufgrund meist menschlicher Attacken wieder brutal auseinander gerissen werden; hinzu eilt außerdem die Liebe Martins zur schwangeren Countrysängerin Belle (Danielle Harris), die hingegen nicht lange währt. Nicht bloß, weil in dieser Welt das Überleben prinzipiell unter einem schlechten Stern steht, sondern weil sich das Drehbuch nicht scheut, die fahlen Trümmer der Postapokalypse und ihre vom traurigen Klavier- und Geigenspiel unterstrichene Elegie mit den ausnehmend eloquenten, rachsüchtigen und strategisch agierenden Vampir Jebedia (Michael Cerveris) anzureichern, der die Diskurse munter übereinander purzeln lässt und der Gruppe so lange zusetzt, bis das mittlerweile relativ eng geratene narrative Korsett den finalen Endkampf fordert. Eine notwendige Initiation letztlich, denn über sie wird der Weg, zumindest für Martin und eine schon bald neu gefundene Frau, ins New Eden geebnet, jenen verheißungsvollen Ort, der mutmaßlich ein Leben ohne Vampire verspricht. Ein Weg, den Martin allerdings ohne „Mister“ beschreiten wird. Mit dessen finaler Reife zum Mann erlischt auch „Misters“ Aufgabe – er verschwindet unangekündigt, und allein dieses pathetische Selbstopferung des bis zum Schluss geschichtslosen Lehrmeisters, der im Gegensatz zu Martin weder in einer Gesellschaft ankommen noch eine gründen kann, wiegt umso ärger, führt man sich vor Augen, wie noch jüngst das Siechtum in „The Road“ fern jeder Katharsis unweigerlich Vater und Sohn entzweite, wie grundständig rational darin zudem ein geplanter Selbstmord kommuniziert und sodann umgesetzt wurde. Der Erlöser- und Genre-Eklektizismus der „Vampire Nation“ verhält sich dazu wie eine ungewollte, todernste Parodie aller am Durchhaltewillen eher (ver)zweifelnden Beiträge des postapokalyptischen Strangs.

Waltz with Bashir

(IL / D / F 2008, Regie: Ari Folman)

Vergangenheitsbewältigung
von Dietrich Kuhlbrodt

Ja, so sieht Vergangenheitsbewältigung aus, wie sie bei uns nie passiert ist. Ari Folman, renommierter Regisseur im israelischen Fernsehen, geht in diesem animierten Dokumentarfilm der Frage nach, warum sein Gedächtnis …

Ja, so sieht Vergangenheitsbewältigung aus, wie sie bei uns nie passiert ist. Ari Folman, renommierter Regisseur im israelischen Fernsehen, geht in diesem animierten Dokumentarfilm der Frage nach, warum sein Gedächtnis einen Einsatz im Libanonkrieg ausgeblendet hat. 1982 in den Flüchtlingslagern von Sabra und Shatila. Er befragt ehemalige Kameraden. Zeitzeugen. Und er kommt dem Trauma auf die Spur – und seinen Albträumen. Die jungen Soldaten von damals nennen heute die Massaker beim Namen. Das ist hart. „Verbrechen“. „Völkermord“. Die autobiografische Reise in tiefe Bewusstseinsschichten produziert das bekannte Bild des kleinen Jungen, der mit erhobenen Händen im Warschauer Ghetto steht.

Zu den Erinnerungen gehören die Bilder von unbedarften jungen Leuten – „Ich war mir meiner Männlichkeit nicht sicher“ -, die auf dem Schnellboot Richtung Libanon eine Love-Boat-Party feiern mit klasse Rockmusik. Euphorisch ziehen sie in den Krieg. Mit einem Lied auf den Lippen. „Jeden Tag hab ich Beirut bombardiert. Unschuldige töten wir sicher auch. Aber ich lebe.“ Im Kasino zieht sich ein Offizier Pornofilme rein. Auf der Straße geht ein TV-Team unbeirrt durch den Kugelhagel. Kamerad Bashir steht „wie auf LSD-Trip“ allein auf einer Beiruter Straßenkreuzung. Er tanzt im Walzertakt. Blindlings in die Häuser ringsum schießend. Er wird ein Popheld. Im Hippodrom quälen sich halbtote Araberpferde; die anderen sind schon enthauptet; die Köpfe gepfählt.

Die Gräuelbilder sind dokumentarisch beglaubigt. Sie erinnern an Hieronymus Bosch, aber auch an die Jugendkultur der achtziger Jahre. Und sie sind durchsetzt mit Albtraumsequenzen, die im Laufe des Films real werden. Die letzten Bilder verlassen die Animation. Die Totenklagen der Mütter. Das Ende des Traumas.

Wie nebenbei klärt der Film die Rolle der Armee bei den Massakern in den Flüchtlingslagern, begangen von christlichen Phalangisten in israelischen Uniformen. Die Soldaten erhellten den Himmel mit Leuchtraketen und sahen zu, untätig. Ein Zeitzeuge berichtet, dass er nach einer halben Flasche Whisky Sharon angerufen und aus dem Bett geholt habe. „Arik, hör mal …“ – Antwort: „Vielen Dank für die Information und ein frohes Neues Jahr.“

Nochmal: deutsche Soldaten waren mit dem „Denn wir fahren, denn wir fahren, denn wir fahren gegen Engelland“ in den Krieg gezogen. Aber offenbar hatte kein Wehrmachtssoldat ein Trauma erlitten, das aufzuarbeiten gewesen war. „Waltz with Bashir“ ist ein mutiger, starker Film. Exemplarisch. Respekt!

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2008

Wild at Heart

(USA 1990, Regie: David Lynch)

Mythen on Fire
von Andreas Thomas

In Dreams Beides ist ein Traum: „Der Zauberer von Oz“ von 1939 und David Lynchs „Wild at Heart“ von 1999. Beides ein amerikanischer Traum vom Weggehen, in „Der Zauberer von …

In Dreams

Beides ist ein Traum: „Der Zauberer von Oz“ von 1939 und David Lynchs „Wild at Heart“ von 1999. Beides ein amerikanischer Traum vom Weggehen, in „Der Zauberer von Oz“ eine Flucht vor einem grauen (schwarzweißen) Zuhause in eine technicolor-bunte Welt der Wunder. In „Wild at Heart“ ist es die Flucht in einen Traum von eben diesem Oz-Traum in Technicolor. Wenn im „Zauberer“ Dorothy sich in ihren Traum vom Wunderland flüchtet, dann flüchten sich Sailor (Nicholas Cage) und Lula (Laura Dern) in ihren Traum davon, jemand anderer zu sein, dem Wunderbares geschieht oder der wunderbar ist: Dorothy, Elvis Presley, Marilyn Monroe, Marlon Brando. Alles Märchenfiguren, egal ob sie einmal reale Menschen waren, oder Stars oder Mythen.

Pop-Mythen

Doch Sailor und Lula – und darin geht „Wild at Heart“ so weit wie kein Film vor ihm – fliehen ja in Wahrheit gar nicht in diese Klischees von Ikonen der Popkultur, denn sie verkörpern sie. Sie bestehen aus nichts anderem als Pop-Mythen und „Wild at Heart“ handelt nicht etwa von einer „wahren“ Geschichte zweier junger Leute, sondern davon, wie sich die Pop-Moderne, besonders die der fünfziger Jahre, zur Gegenwart des auslaufenden 20. Jahrhunderts verhält, wie sich der Mythos „Zauberer von Oz“, mit dem ganze Generationen in den USA heranwuchsen, der Mythos Elvis Presley etc. in einer Nachmoderne des Pop zu behaupten versucht, in der sich herumgesprochen hat, dass Pop-Ikonen nichts weiter repräsentieren als ihre eigene Zeichenhaftigkeit, dass eine Schlangenlederjacke nicht mehr für „Individualität und den Glauben an persönliche Freiheit“ steht, wie Sailor das noch ganz Marlon-Brando-mäßig empfindet. Eine Schlangenlederjacke ist ein Konsumprodukt, ein „Outfit“, keine Überzeugung, denn die Zeit der Überzeugungen, aber auch der Individualität, ist vorbei, seit aus Individuen Konsumenten geworden sind. Anders gesagt: Sailor und Lula existieren nicht. Können gar nicht existieren, nicht hier und heute. Weder als vorstellbare Figuren und auch nur noch sehr sonderbar und fremdartig in ihrer Eigenschaft als Mythen, wie sich zeigen wird. Ihr Erscheinen in einer „falschen“ Epoche ist ein gedankliches Experiment. „Wild at Heart“ ist ein Film darüber, wie Paradigmen verschiedener Zeiten zueinander passen oder eben auch nicht mehr passen, darin also eine Untersuchung von Kulturgeschichte. In dieser Eigenschaft ist der Film übrigens verwandt mit dem vergleichsweise harmlosen Film „Zurück in die Zukunft“, in dem die (Pop-)Kultur der achtziger Jahre sich mit dem Leben in den Fünfzigern auseinandersetzen muss – um wieder zurück in die Gegenwart zu gelangen …

Culture-Clash

In „Wild at Heart“ trifft die amerikanische Kultur der fünfziger Jahre auf eine ausgemacht bösartige amerikanische Kultur des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Sailor und Lula, die Inkarnationen amerikanischer Träume der Vergangenheit, sind wie Fremdkörper hineingeboren worden in eine verrohte Gesellschaft ohne Werte, Überzeugungen, Hoffnungen, in eine „Welt am Abgrund“, wie man häufig ziemlich abgedroschen und manchmal dennoch treffend zu sagen pflegt. Der Erde drohen fahrlässig herbeigeführte ökologische Katastrophen, wie die Folgen des „Ozonlochs“ (Lula: „Eines Morgens geht die Sonne auf und brennt wie ein Röntgenstrahl ein Loch in die Erde.“) und die dominierende Spezies auf dem Planeten scheint inzwischen das Raubtier Auto zu sein: Zweimal sehen wir den Schauplatz schlimmer, todbringender Verkehrsunfälle, einmal, wie in Godards „Weekend“, die in ihren Autos gefangenen, festsitzenden Menschen, ein alltägliches Bild, ein Stau. Dass das Auto auch die Freiheit der Ferne bringen kann, davon träumt nur noch der Mythos des Roadmovie und mit ihm Sailor und Lula, die sich in einem Fünfziger-Jahre-Cabriolet auf die Reise ins Glück machen – in der Ära multinationaler Konzerne ein reichlich blauäugiges Unterfangen, aber blauäugig sind unsere Helden eben auch.

Road-Movie

Die Flucht aus unschönen Verhältnissen führt im amerikanischen Film nicht selten in das Roadmovie – auch die „Yellow Brick Road“ im „Zauberer von Oz“ schließlich ist eine Straße, auf der Dorothy ihr Glück sucht, dem Unglück entflieht. So ist vielleicht der „Zauberer von Oz“ eines der ersten Roadmovies, und darin schon genau so ein amerikanischer Lösungs-/Fluchtversuch wie 1970 „Easy Rider“. In „Wild at Heart“ gelingt weder die (Ab-)Lösung, noch wirklich die Flucht. Nicht einmal der Weg ist das Ziel. Denn die (naiven) Idealisten Sailor und Lula sind inkompatibel mit der (erst in den Neunzigern so richtig anbrechenden – deshalb ist „Wild at Heart“ auch so visionär) Zeit des Turbokapitalismus, des Werteverfalls, des Endes der Utopien. Sailor und Lula sind „rasende Leichenbeschauer“, die Leiche ist ein Amerika der Perversion, der Gewalt und der Lust daran. Und wohin sie auch reisen, die „böse Hexe des Ostens“ begleitet sie und mit ihr der Tod und die Gewalt. Ein Märchen von der Hölle. Am Horizont steht die untergehende Sonne, aber das Auto ist zu langsam. Die Sonne holen sie nicht mehr ein, und ob ein neuer Tag kommen wird, das ist unwahrscheinlich. Rot, blutrot, feuerrot wie die Hölle ist der Himmel und so ist die Vergangenheit, der sie entkommen wollten.

Kein Ort – Nirgends

Beiden Film-Träumen voraus geht die Katastrophe. Im „Zauberer…“ wirbelt ein Sturm Dorothy aus ihrer gemeinen kleinen Mädchenexistenz in Kansas. Statt der Natur hat dagegen Menschengewalt dafür gesorgt, dass es in „Wild at Heart“ eigentlich gar kein Zuhause mehr gibt. Von bösen Menschen gelegtes Feuer hat das Haus von Lulas Vater – und den Vater mit – verbrannt. Lulas Freund Sailor ist verstrickt und mitschuldig an der Tat, ihre Mutter dafür verantwortlich. Weil seine Liebe zu Lula ihn zu einem moralischen Gewissen, zur Reue befähigt und zu einer Abkehr von seiner kriminellen Vergangenheit motiviert, will ihn Lulas Mutter umbringen lassen. Wegen seiner brachial-expressiven Notwehr wird er zum Totschläger – der Versuch der Sünde zu entkommen, führt zwangsläufig wieder zur Sünde. Das Böse in Sailors und Lulas Zuhause ist total, die einzige Verheißung einer Zukunft ist am Ende einer langen Straße, jenseits des Regenbogens, im Traum, im Mythos, schließlich in einem Klischee von „Freiheit und Individualität“. Das ist der einzige Ort, an dem sie leben können. Nur dort existieren sie, und wenn sie nicht mehr sich selbst erträumen, sind sie verloren in dieser (Lynchschen) Hölle von einer realen Welt.

Rock and Roll

Allein der Geist des in den fünfziger Jahren geborenen Rock and Roll scheint die Jahre überdauert zu haben und immer noch passende Antworten für sie bereit zu halten. Gleichberechtigt neben den für sie bedeutungsaufgeladenen Songs von Elvis („Warum singst du nicht für mich: Love me Tender, Sailor?' – „Love me Tender werde ich nur für meine Frau singen!“) steht die Speed-Metal-Band Powermad, Lulas und Sailors Lieblingsband. Und wo Elvis das Herz (und den Schmerz) intoniert, da bietet Powermad den zeitgemäßen Soundtrack zum Ausbruch in die Wildheit. Aber Elvis/Sailor ist im Gegensatz zum Anarcho-Headbanger, der auf dem Powermad-Konzert Lula belästigt, noch ein Mann mit Anstand und Prinzipien („Entschuldige dich bei der Dame!“) Dass er sich als Gentleman versteht (und Lula eigentlich Marilyn Monroe ist), verrät Sailor an anderer Stelle, als er ihr lächelnd sagt: „Gentlemen prefer blondes!“

Marlboro Country

Der Rock and Roll und die Wildheit sind es, die Sailor und (Be-Bop-A-)Lula mit dieser brennenden, apokalyptischen Welt verbindet: Alles steht in Flammen, das Vaterhaus, der Abendhimmel, aber auch die Marlboros, die Sailor raucht, seit er „vier war. Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt schon an Lungenkrebs gestorben“. Sailor und Lula zelebrieren das Rauchen, als wäre der Rauch ihre Hauptnahrung und als wären sie einem Marlboro-Werbespot entsprungen. Das sich entzündende Streichholz in der Makroaufnahme ist gleichzeitig Zerstörung, aber auch eine energetische Explosion, reine Wildheit. Die Szene an der Tankstelle, mit der unablässig posierenden Lula, gelehnt an den Wagen, ist einer dieser Jeanswerbungen zum Verwechseln ähnlich. Auch hier funktioniert ihre Verortung in dieser Welt nur, wenn sie mediale Vorbilder, lässige und glückliche Idealtypen darstellen, besser: wirklich sind – und natürlich gerade, weil in Werbeflächen eben nicht viel wahres Sein drinsteckt, wirken sie auch so wie Parodien! Genau so, wie das Fernsehen eben nicht durch seine Nachrichten sondern nur mittels seiner Werbeblöcke Glück verheißt, ist Sailors und Lulas Glück nur in einer Welt der medialen Illusion denkbar.

No more Bethlehem

Je weiter sich die beiden von ihrem Zuhause entfernen, desto ähnlicher werden sie „normalen“ Menschen, und desto gefährdeter sind sie konsequenterweise auch. Lula wird schwanger, außer dem Mythos Maria geschieht so etwas keiner Idealgestalt, und wir wissen aus Anschauung, dass nicht der Heilige Geist da sein Ding im Spiel hatte. Beide sind nun ganz von ihren irdischen, materiellen Bedingungen abhängig und auf andere „normale“ Menschen angewiesen, und die sind entweder „normal“ verrückt oder „normal“ böse, also sehr böse – darin auch verzerrte, übertriebene, aber umso bedrohlichere Klischees dessen, was wir so über Psychopathen gehört haben. Dass ganz am Ende alles nicht so schlimm endet, wie es zwangsläufig müsste, dafür ist natürlich wieder ein Wunder verantwortlich. Das endgültig die beiden ins kleinbürgerliche Eheglück erlösende Wunder ist die Fee Laura Palmer, bzw. deren Darstellerin Sheryl Lee, die sozusagen in einem Gastauftritt direkt aus dem Himmel daran erinnert, dass Lynch kurz zuvor die erste Staffel von „Twin Peaks“ abgedreht hatte.

Psychotic Actors

An „Twin Peaks“ erinnert übrigens auch manchmal die Filmmusik von Lynchs Hofkomponist Angelo Badalamenti, besonders dann, wenn dieser morbide Nightclub-Swing ertönt.

Der Gangster Bobby Peru (Willem Dafoe), einer dieser allerliebst hochperfiden Lynch-Arschlöcher und die böse, hochneurotische Mutter-Hexe Mariella, von Diane Ladd (der echten Mutter von Laura Dern) hinreißend verkörpert, sind übrigens die beiden zweiten Stars des Films. Es muss ihnen einen diabolischen Spaß gemacht haben, so uferlos psychopathisch und krankhaft agieren zu dürfen – und zu können!, dass der Zuschauer am Ende nicht mehr weiß, ob er Angst haben oder sich totlachen soll, denn irgendwie ist alles ja auch so unwahrscheinlich wahrscheinlich. Eine ganz ähnliche Verwirrung der Gefühle machte übrigens später auch „Pulp Fiction“ zu einem Hit.

Postmodern

Diese Grenze zwischen dem Entsetzen (Gleich die erste Szene, in der Sailor zum Inbegriff eines Totschlägers wird, hat 1990 etliche Besucher der Erstaufführung in Cannes zum Verlassen des Saales veranlasst. Trotzdem erhielt der Film die ‚Goldene Palme’) und absurder, surrealer Komik, nie ist sie in „Wild at Heart“ wirklich aufzufinden, weil beides immer gleichzeitig auf uns lauert. Das war allerdings schon bei Lynchs erstem Film „Eraserhead“ nicht anders. Zugegeben: Der Schluss von „Wild at Heart“ tendiert schon ein wenig ins Lächerliche, aber der wahrhaft große Schritt, den Lynch mit seinem Film geschafft hat, ist der, dass er sich in ihm erstmals völlig von „authentischen“, das heißt hier, noch irgendwie vorstellbaren Figuren befreien und dennoch, auf einer Metaebene, eine faszinierende Geschichte erzählen konnte. Nicht mehr eine Geschichte über Menschen mit Macken und Problemen sondern eine Geschichte über Gesellschaft, über Kultur und Unkultur, über den Rock and Roll, über die fünfziger Jahre und was von ihnen blieb, über Amerika und über seinen Traum und seine Träume, über das Fernsehen und das Kino, und über das Ende der achtziger Jahre, das Ende des Träumens. Dass er dabei zufällig den „postmodernen Film“ schlechthin gedreht hat – ich glaube, David Lynch war und ist viel zu sehr mit seiner Arbeit, d.h. mit seinen Visionen und seinen Inventionen beschäftigt, als dass ihn das besonders irritieren würde.

Fazit

„Wild at Heart“ ist wie Elvis Presley und Marilyn Monroe, die durch ein Zeitloch von den Fünfzigern in die Achtziger lugen und sagen: „Wow! The whole world has been getting wild at heart and weird on top!” Hatte dieser Film noch parodistische Einschläge, produzierte der nächste Kinofilm von Lynch „Twin Peaks – Fire Walk With Me“ (1992) das endgültige Erschlaffen der Lachmuskulatur. In „Fire Walk With Me“ gibt es kein Aufbäumen der letzten teenage rebels mehr. Die Welt von „Fire Walk With Me“ hat weder eine Vergangenheit, deren Verlust noch zu beklagen oder überhaupt zu bemerken wäre, noch eine Zukunft, die einen Ausweg versprechen könnte. Sie ist nur noch eine reine kalte Gegenwart der Verlorenen.

Die Anonymen Romantiker

(F / B 2010, Regie: Jean-Pierre Améris)

Hochsensible Versteckspieler
von Wolfgang Nierlin

Zwar wird in Jean-Pierre Améris‘ charmanter Liebeskomödie „Die Anonymen Romantiker“ nur wenig gesungen, der Zauber und die Wärme des Films evozieren aber unverkennbar den Geist französischer Musicals in der Nachfolge …

Zwar wird in Jean-Pierre Améris‘ charmanter Liebeskomödie „Die Anonymen Romantiker“ nur wenig gesungen, der Zauber und die Wärme des Films evozieren aber unverkennbar den Geist französischer Musicals in der Nachfolge Jacques Demys. Schon das geschmackvolle Setting mit seinen malerischen Farben und der detailverliebten Ausstattung, deren Look eine heile Welt der 1950er Jahre beschwört, huldigt diesem unzeitgemäßen Genre. Noch mehr ist es aber die beschwingt kommentierende Musik, die den Film strukturiert und die durch prägnante Akzentuierungen zur Mitspielerin wird, die das Geschehen vorbereitet, begleitet oder dramatisch zuspitzt. Eine höchst dynamische, die parallelen Handlungen verbindende Montage fungiert als Pendant dieser Dramaturgie.

Das Nebeneinander- und Entgegensetzende einer solchen Ordnung ist auch nötig, denn die beiden liebenswerten Protagonisten Angélique und Jean-René, hervorragend verkörpert von Isabelle Carré und Benoît Poelvoorde, bewegen sich fortwährend aufeinander zu und voneinander weg. Die Anziehungs- und Fliehkräfte bilden in ihrem prekären Verhältnis quasi ein instabiles Gleichgewicht; was vor allem in beider hochsensiblem, äußerst empfindsamem Naturell begründet liegt, worauf der französische Originaltitel „Les émotifs anonymes“ anspielt. So ist Angélique in einer Schüchternheit gefangen, über die sie sich in einer Selbsterfahrungsgruppe austauscht, während Jean-René seine Panikattacken vor dem weiblichen Gegenüber bei einem Psychoanalytiker zu therapieren sucht.

Die Selbstsuggestion ist ein anderes Mittel der Wahl: „Ich öffne mich dem Leben“, heißt einer der gegen Schweiß und Angst gerichteten Sätze, die aus der Befangenheit führen und dem wechselseitigen Versteckspiel ein Ende setzen sollen. Schließlich könnte Angélique, wäre sie innerlich nicht gezwungen, ihre überragende Könnerschaft als Chocolatière zu verheimlichen, der angeschlagenen Schokoladenmanufaktur Jean-Renés wieder auf die Beine helfen. Und die Erotik des schokoladenen Genusses könnte wiederum vielleicht auch der Unbeholfenheit des Chefs Flügel verleihen. Doch erst im trauten Zusammensein wirkt ihre übliche Fluchtreaktion auf ambivalente Weise auch befreiend.

Beautiful Thing – Die erste Liebe

(GB 1996, Regie: Hettie MacDonald)

Everything's pukka!
von Carsten Moll

Voll schwul? Nein, Hettie MacDonalds Filmdebüt „Beautiful Thing“ gehört ganz den Schlampen, den slags und slappers und old bags. Das fängt mit der ersten Szene an, in der uns eigentlich …

Voll schwul? Nein, Hettie MacDonalds Filmdebüt „Beautiful Thing“ gehört ganz den Schlampen, den slags und slappers und old bags. Das fängt mit der ersten Szene an, in der uns eigentlich der Protagonist und Außenseiter Jamie beim Sportunterricht vorgestellt werden soll. Was hängen bleibt, ist aber vor allem die herrlich taktlose Sportlehrerin, tatsächlich leider nur eine kleine Nebenrolle. Aber gut, es dauert nicht lange und wir treffen auf Leah, Jamies schwarze Nachbarin. Sie ist vulgär, kriegt ihr Leben selbstbewusst nicht auf die Reihe und hört 'The Mamas and the Papas', so dass es die ganze Nachbarschaft mitkriegt. Zur Nachbarschaft gehört natürlich auch Jamies resolute Mutter Sandra, Alleinerziehende und Kellnerin mit jüngerem Hippiefreund an der Backe. Die anderen Damen aus der Nachbarschaft scheinen auch nicht ohne zu sein, der Umgangston ist rau, aber nicht herzlos. Der filmische Mikrokosmos ist in der tristen Londoner Vorortsiedlung Thamesmead angesiedelt und sein Herz sind eindeutig Leah und Sandra, die immer wieder aneinander geraten – auch wegen 'The Mamas and the Papas', deren Lieder fast den gesamten Soundtrack ausmachen. Aber was ist eigentlich mit den beiden Schwulen, um deren wunderschöne Sache es hier doch wohl gehen sollte?

Jamie und Nachbarsjunge Ste entdecken gemeinsam ihre Homosexualität, hadern ein wenig mit ihrem Schicksal, nähern sich vorsichtig an und werden schließlich zum Paar. Hier schwächelt der Film, weil er nicht überzeugend vermitteln kann, was ein Coming-Out bedeutet. Das zaghafte Annähern in Jamies Bett ist niedlich anzuschauen, aber alles in allem zu zahm und unproblematisch in Szene gesetzt. Passenderweise verzichtet der ansonsten starke Soundtrack nun auf Mama Cass und widmet den beiden Jungs ein etwas beliebiges und leicht kitschiges Thema von Komponist John Altman.

In einer Szene stellt Sandra ihren Sohn zur Rede, weil sie mitbekommen hat, dass er in einem schwulen Pub war. Er versucht, sich herauszureden, und fragt, wie sie überhaupt darauf komme, dass es ein Ort für Schwule sei. Sandra entgegnet ihm trocken: „Because it’s got a bloody great pink neon arse outside of it.” Und genau dieser leuchtende Neon-Hintern fehlt dem Film bezüglich der Inszenierung der Homosexualität. Klar, da leuchtet zu Beginn des Films ein Regenbogen über dem grauen Thamesmead, Jamie trägt ein T-Shirt mit Keith Harings Hunden, sogar eine Drag Queen hat einen kurzen Auftritt. Und dennoch bleibt das alles viel zu vage und austauschbar. Wo die anderen Charaktere sich mit Lust beschimpfen und aneinander reiben, bleiben Ste und Jamie immer eine Spur zu nett und naiv für zwei Teenager, frot kennen sie nicht einmal vom Hörensagen. Die Schwulen sind Jungs von nebenan, zufällig gay und größtenteils happy. Natürlich ist es löblich, die homosexuelle Liebe auf humorvolle Weise als beautiful thing darzustellen und nicht noch einen weiteren Problemfilm inklusive Suizidversuch zu machen. Doch wirkt das alles eindimensional und kraftlos im direkten Vergleich zu den komplexen Charakteren Sandra und Leah und ihrer Beziehung zueinander. Ihre Auseinandersetzungen bedeuten immer auch, sich mit der anderen auseinanderzusetzen, hinter den Kraftausdrücken verbirgt sich immer auch Zuneigung, die um die Uneigentlichkeiten der Sprache weiß. Der Reiz dieser Vieldeutigkeiten bleibt den schwulen Protagonisten verwehrt, Jamie versucht einmal verzweifelt teilzuhaben und beschimpft sich: „Coz I’m a queer! A bender! A poufter! A nobshiner! Brown hatter! Shirtflaplifter!“ So richtig hören will das aber niemand und es bleibt auch bloße Behauptung. Die nötige Portion Queerness, die der Film zu bieten hat, verdankt er Leah und ihrem Spiel mit Identitäten zwischen Mama Cass, Whiteface und vermeintlicher Lesbe. Jamie hingegen ist ein langweiliger Rücken-mit-Fußlotion-Einreiber, sein Charakter weitgehend uninteressant und nicht immer glaubwürdig. Der Film ist zu verständnisvoll und unterschlägt dabei die Problematik des Schwulseins, wo er es doch sonst immer wieder schafft, Abgründe wie Teenagerschwangerschaft, Drogenprobleme und Gewalt anzusprechen.

Vor diesem Hintergrund wirkt das umstrittene Finale auch ein wenig unmotiviert. Einige Kritiker bemängelten, dass der abschließende Tanz von Jamie und Ste auf einem Platz inmitten der Sozialbauten und vor gaffendem Publikum zu dick aufgetragen sei. In der Tat fürchtet man fast schon, es folgt ein gay pride samt Sponsorenbannern und – Gott bewahre! – anschließender Eheschließung. Man kann es diesen Kritikern nicht verübeln, dass sie die Szene nicht als Utopie erkannt haben. Wozu bedarf es noch eines Zukunftstraums, wenn doch eigentlich alles in Ordnung ist, immerhin gibt es im Kiosk sogar die Gay Times. Everything’s pukka!

Erkennt man die Utopie, wirkt die Szene eher einfach. Ein simples Tänzchen in der Öffentlichkeit kann so viel Subversion enthalten, wenn man weiß, wie schwer es ist, als Schwuler in der Öffentlichkeit auch nur Händchen zu halten und Pöbeleien ausgesetzt zu sein. Richtig ergreifend wird die Szene aber erst, als Sandra und Leah einsteigen und anfangen zu tanzen. „Dream A Little Dream Of Me“ von 'The Mamas and the Papas' verrät es schon, das ist ihre Szene und ihnen gehören auch die letzten Dialogzeilen, ein letzter liebevoller Schlagabtausch. Ohne die Schlampen wäre es halt langweilig.

Barney’s Version

(CAN / I 2010, Regie: Richard J. Lewis)

Genussmensch mit großem Herzen
von Wolfgang Nierlin

Ein guter Whisky und eine stets qualmende Zigarre sind die Insignien, die Barney Panofsky (Paul Giamatti) Würde verleihen und sein Leben verschönern. Zweifellos ist der leicht übergewichtige Titelheld in Richard …

Ein guter Whisky und eine stets qualmende Zigarre sind die Insignien, die Barney Panofsky (Paul Giamatti) Würde verleihen und sein Leben verschönern. Zweifellos ist der leicht übergewichtige Titelheld in Richard J. Lewis‘ geistreich-witziger, von einem brillanten Schauspielerensemble getragenen Romanverfilmung „Barney’s Version“ ein Genussmensch, der das Leichte und das Schwere, Schicksalsschläge und Freuden in einer melancholischen Balance hält und dabei stark genug ist, nicht allzu viel Rücksicht auf den Ernst des Lebens zu nehmen. Sein unverhohlenes Desinteresse an seiner lukrativen Arbeit als Chef der kanadischen Filmproduktionsgesellschaft „Totally Unnecessary Productions“, die mit schlüpfrigen Soaps ihr Geld macht – weshalb sich Barney auch als „TV-Nutte“ bezeichnet – , ist direkter Ausdruck seiner leicht mürrischen, schnoddrigen Art. Tatsächlich ist Barney ein robuster Trinker mit großem Herzen und romantischer Seele, der sich mit konservativem Eigensinn und lockerem Lebenswandel den Konventionen widersetzt.

Seine Rückschau auf ein bewegtes Leben setzt die vom Titel implizierte subjektive Sicht gegen das öffentliche Bild seiner Person, das ein antisemitischer Polizist, der Barney eines Mordes verdächtigt, in seinen Memoiren zeichnet. Verstärkt wird die Subjektivität der Erinnerung noch durch die ersten Anzeichen einer Alzheimer-Erkrankung, die dem 66-jährigen Barney in der Rahmenhandlung zunehmend tragische Züge verleiht.

Von hier aus blendet der Film zurück nach Rom, wo Barney im Jahre 1974 mit dem Schriftsteller „Boogie“ (Scott Speedman) und dem Maler Leo (Thomas Trabacchi) ein wildes und freizügiges Bohème-Leben führt, das schließlich in der Verheiratung mit seiner schwangeren, psychisch labilen Freundin Clara (Rachelle Lefevre) kulminiert. Doch nach einer Totgeburt bringt sich die junge Frau um; und Barney kehrt nach Montreal zurück, wo er in das Filmgeschäft einsteigt und bald darauf eine reiche, gebildete Jüdin als „The Second Mrs. Panofsky“ (Minnie Driver) ehelicht. Noch während der Hochzeitsfeier begegnet er aber der Journalistin Miriam (Rosamund Pike), der Liebe seines Lebens, die er fortan umwirbt und nach seiner vom leichtlebigen Vater Izzy (Dustin Hoffman) abgesegneten Scheidung schließlich heiratet. Was als Liebe auf den ersten Blick mit vielen Versprechungen und Blumen beginnt, wird schließlich zu einer tiefen Lebensverbindung, die Barney mit romantischen Ausschließlichkeitsgefühlen nährt und damit gefährdet; und die noch in ihren Auflösungserscheinungen nicht wirklich scheitert.

Belgrad Radio Taxi

(RS / D 2010, Regie: Srdjan Koljevic)

Wie es der Zufall will
von Louis Vazquez

Das Problem von vielen Ensemblefilmen: Ständig müssen sich irgendwelche Wege kreuzen. Alles muss irgendwie zusammenhängen und im besten Fall überraschend sein. Trotzdem soll man als Zuschauer die Tüftelei nicht bemerken, …

Das Problem von vielen Ensemblefilmen: Ständig müssen sich irgendwelche Wege kreuzen. Alles muss irgendwie zusammenhängen und im besten Fall überraschend sein. Trotzdem soll man als Zuschauer die Tüftelei nicht bemerken, die erst eins zum anderen kommen lässt.

Auch das Drehbuch von „Belgrad Radio Taxi“ präsentiert ziemlich ironiefrei Kaskaden von Zufällen und setzt dabei auf Melodramatik statt auf Märchenhaftigkeit, so dass die nach Aussage von Autor und Regisseur Srdjan Koljevic realistisch gemeinte Geschichte so konstruiert wirkt, wie sie naturgemäß ist. Dazu kommen Figuren, die nicht immer nachvollziehbar agieren und bisweilen mysteriöse Entscheidungen treffen. Dies soll gewiss kein Plädoyer für eindeutig determinierte Charaktere vom Reißbrett sein, aber hier fehlt es dem Film schlichtweg an Konsequenz. Denn obwohl Koljevic versucht, sich nicht entlang ausgetretener Pfade zu bewegen und viele Ideen in seinen Film packt, bemüht er doch mehr als nur ein Klischee.

Das Leitmotiv des Films ist eine Brücke, die das alte Stadtzentrum Belgrads mit der Neustadt verbindet. Ein andauernder Stau erschwert den Übergang auf die andere Seite. Die Figuren, die Stellvertreter der serbischen Gesellschaft sein sollen, stecken nicht nur im Stau fest, sondern obendrein in verfahrenen persönlichen Situationen.

Aus einem Radiosender dudeln fröhliche serbische Schlager, während die Autos wie immer auf der Brücke warten müssen. Mit blutig geschlagener Nase, ein Baby im Arm, sitzt eine Frau im Taxi. Da macht der missgelaunte Fahrer eine verhängnisvolle Bemerkung: Sie solle bloß nicht die Polster ruinieren. Die Frau steigt aus, springt in den Fluss und lässt das Baby zurück. Dieses schockierende Ereignis verändert die Leben dreier Menschen, deren Wege sich – da haben wir es – schicksalhaft immer wieder kreuzen werden. Der Taxifahrer Gavrilo (Nebojsa Glogovac), ein Flüchtling aus Bosnien, will keinen Ärger mit der Polizei. Er meldet den Vorfall nur anonym und nimmt das Baby widerwillig mit zu seiner einzigen Vertrauten, einer Hure mit Herz. Die Lehrerin Anica (Anica Dobra) fühlt sich durch die Szene auf der Brücke an den Unfalltod ihres Sohnes erinnert und lässt kurzerhand an diesem Tag den Unterricht ausfallen. So kann sie auch den Avancen entgehen, die ihr einer ihrer jungen Schüler macht. Spontan schließt sich ihr die Apothekerin Biljana (Branca Katic) an, die beim Anblick der springenden Frau ihren aggressiven Verlobten sitzen ließ. Auch sie hat vor vielen Jahren jemanden verloren, den sie liebte.

Die drei Hauptfiguren, alle auf gewisse Weise in ihrer Vergangenheit gefangen, werden nun plötzlich gezwungen, den Blick in die Zukunft zu richten. Für sie ergeben sich neue, ungewöhnliche Beziehungen, die einerseits Probleme mit sich bringen, andererseits aber auch Entscheidungen erzwingen, vielleicht sogar alte Verwicklungen lösen können. Die letzten Tage des Schlagersenders, der abgeschaltet werden soll, bilden eine Art musikalischen Countdown und strukturieren den Film.

Die „Mischung aus ernsten, dramatischen Themen und leichtem Ton mit warmem Humor“, die Srdjan Koljevic anstrebt, gerät ihm leider nicht ganz ausgewogen. Ab und an gibt es zwar schön lakonisch inszenierte Details, aber meistens ist der Humor wenig subtil, hin und wieder chauvinistisch, und oft steht er im Widerspruch zur angestrebten Dramatik. Eine seltsame Pointe im Finale lässt den Film sogar fast zur Farce werden und fällt als krasser Tonbruch auf. Die politische Dimension des Films dagegen bleibt äußerst vage.

Das alles dürfte Freunde tragikomischer bzw. melodramatischer Liebesreigen aber nicht unbedingt abschrecken, von denen es einige zu geben scheint: „Belgrad Radio Taxi“ ist als „The Woman with a Broken Nose” überaus erfolgreich auf Festivals gezeigt worden. Der Film erhielt einige Auszeichnungen und teils begeisterte Reaktionen vor allem in Serbien. Möglich, dass einiges an Subtilität wie so häufig im Synchronstudio verloren gegangen ist.

Liberty Heights

(USA 1999, Regie: Barry Levinson)

Heute: Freude!
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein antirassistisches Gute-Laune-Märchen auf der Mainstreamschiene. 300 Oldtimer gegen Rassenhass. Im Nostalgie-Baltimore der 50er Jahre sitzt die Fun Generation in Pappas Auto (der Cadillac zu 1/2 Million Dollar das Stück) …

Ein antirassistisches Gute-Laune-Märchen auf der Mainstreamschiene. 300 Oldtimer gegen Rassenhass. Im Nostalgie-Baltimore der 50er Jahre sitzt die Fun Generation in Pappas Auto (der Cadillac zu 1/2 Million Dollar das Stück) und durchbricht die Rassenschranken, denn die grade einsetzende zeitgenössische Mobilität ist es, die nach dem Willen von Autor und Regisseur Barry Levinson („American Diner', „Tin Men') die unsichtbaren Mauern zwischen den Vierteln – den Juden, Christen, Schwarzen – zusammenbrechen lässt. Wir hören zwar noch im Dialog, dass Neger im hinteren Teil des öffentlichen Verkehrsmittels Platz zu nehmen haben, aber auch dass soeben eine Gerichtsentscheidung der schwarzen Chefarzttochter Platz im Weißengymnasium verschafft. Was wir jedoch sehen, ist, dass die gegenseitige ethnische und religiöse Abschottung in Baltimore nicht nur eine Frage des Straßenverkehrs, sondern auch eine solche der Generationen ist. Denn die Kids der 50er sind es, egal ob Jude, Neger oder Christ, die sich zusammenraufen, und was die Eltern von ihren Kindern lernen, ist siegen. Unser Held ist also ein Junge, er heißt Ben, und für ihn ist Adolf Hitler eine Witzfigur, grade richtig für den Halloween-Horror-Spaß. Die jüdischen Eltern finden die Hakenkreuzbinde am Sohnesarm gar nicht komisch; sie verstehen noch nicht, was es heißt, Ritter ohne Furcht zu sein. Die Balgereien zwischen Juden und Christen sind Jungssache; Ben lernt boxen und geht ganz allein Christenrüpel klatschen, sieben auf einen Streich. Ja, das Amerika von 2000 träumt nach wie vor seinen Traum. Auf der Freiheitshöhe triumphiert der Held der westlichen Welt. Ein Junge trägt jetzt die symbolische Fackel, und die 4000 Statisten, die der Film engagiert hat, jubeln ihm zu.

„Liberty Heights' ist nicht Historie; die Helden sind von heute; das erkennt man am Glamour der jungen Christen. Sie sind Super-Models von Calvin Klein (Mode und Parfum 2000). Das reicht, der Film braucht gar nicht mehr zu sagen: mitmachen!, und alle machen mit. Drum: Teilt man die Rassismusanalyse des Films, kann man an ihm nur seine Freude haben. Die Älteren sind schon sehr komisch, wenn sie die Kinder als „Kommunisten' verdächtigen oder mit ihnen den atomaren Ernstfall üben (Schulbuch übern Kopf halten). Auch gibt es viel zu lachen, wenn nach der verfrühten Ejakulation der Hosenschlitz feucht wird. Das Baltimore-Tableau der Ben’s-Time ist in allerlei Brauntönen detailreich und liebevoll ausgemalt; zwei weiße Jungs allein unter Negern im nachgestellten James-Brown-Konzert: Es geht nicht anders, man muss sie alle lieben – vorausgesetzt, man unterlässt das oben erwähnte elterliche Genörgel. Drum hat Produzentin Paula Weinstein das Schlusswort: 'Wenn all unsere Religions-, Rassen- und Klassenunterschiede wie in diesem Film im besten Sinne zusammenkommen, bieten sie Anlass zu großer Freude.'

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 10/2000

Louise Hires a Contract Killer

(F 2008, Regie: Gustave de Kervern, Benoît Delépine)

Amoklauf mit Herz
von Dietrich Kuhlbrodt

Was tun, wenn die Krise des Kapitalismus einen persönlich erreicht? Die Belegschaft findet die Fabrik leergeräumt, die Manager verschwunden, sie selbst abgefunden mit einem lächerlichen Betrag. Also was jetzt. Sich …

Was tun, wenn die Krise des Kapitalismus einen persönlich erreicht? Die Belegschaft findet die Fabrik leergeräumt, die Manager verschwunden, sie selbst abgefunden mit einem lächerlichen Betrag. Also was jetzt. Sich empören? Zu wenig. Das Geld zusammenlegen und, ja was, einen Killer besorgen und mit denen von International Invest Schluss machen? Vorschlag ohne Diskussion angenommen. Michel, der Killer, erweist sich als Weichei. Die dicke Louise muss selber ran. In der Luxusvilla auf New Jersey läuft sie Amok, stoisch, voll konzentriert, erfolgreich. Ein sympathischer Amoklauf nach dem Herzen aller Zuschauer, mich eingeschlossen. Nicht nur weil der Überboss ein fetter Arsch ist, sondern weil das eine Tat ist. Die fällig ist.

Der französische Film spiegelt vorbildlich wider, wie dort zurzeit die Nicht-mehr-Arbeiter aktiv sind, Fabrikbesetzungen, Geiselnahmen, Bombendrohungen, der Reihe nach. Scherz dabei ist, dass nix propagiert wird, kein Pamphlet, keine Resolution, keine Emotionalisierung, kein Kommentar. Das schon deswegen, weil Louise nicht lesen kann, auch den Räumungsbefehl nicht. Kaum geht sie aus dem Hochhaus, wird es hinter ihr schon gesprengt. Sie verzieht keine Miene. Ein Sketch, diese Szene. Der Film besteht aus diesen Sketchen. Bitterbösen und immer hochgradig komischen. Vorm Trailer sind die Twin Towers nachgebaut. An einem Draht werden zwei Flugzeuge reingeschickt. Rumms. Der eine Turm explodiert. Der andere auch. Wieder kein Kommentar. Ein Spiel, ej. Ein Modell.

Louise (Yolande Moreau) also zieht im Gefolge von Michel (Bouli Lanners) ihr Ding durch, allein gelassen von Organisationen wie zum Beispiel Gewerkschaften. Sie kommen im Film realistischerweise nicht vor. Sie ist, ohne es zu wissen, eine Heldin wie die historische Louise-Michel (Originaltitel des Films!), die Rote Jungfrau, Attentäterin gegen Napoleon III. Der deutsche Verleihtitel spielt angemessen auf Aki Kaurismäki an („I Hired a Contract Killer'), den die Regisseure während des Drehs trafen. Der Witz ist jedoch, dass das perfekt ausdruckslose Gesicht nicht zum Mitleid einlädt, sondern zur anarchistischen Tat. Sich nicht klein kriegen lassen. Aber rumms machen. Da steckt in Frankreich ein Potential, das wir in unserm Einerlei des korrekten Films entbehren. Ich sach ja, „Louise Hires a Contract Killer“ törnt an. Auf die absurd-komische Tour.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 09/2009

Der Mann ohne Vergangenheit

(FIN / D / F 2002, Regie: Aki Kaurismäki)

Im B-System
von Dietrich Kuhlbrodt

Sollte sich einer unserer Defätisten, die dem Sozialismus hinterherweinen, diesen finnischen Sozialhilfeempfängerfilm ansehen, bekäme er einen roten Kopf. Aki Kaurismäki, Kommunist und Regisseur („Das Mädchen aus der Streichholzfabrik'), entzieht ihm …

Sollte sich einer unserer Defätisten, die dem Sozialismus hinterherweinen, diesen finnischen Sozialhilfeempfängerfilm ansehen, bekäme er einen roten Kopf. Aki Kaurismäki, Kommunist und Regisseur („Das Mädchen aus der Streichholzfabrik'), entzieht ihm die Zuständigkeit, die Arbeiterklasse zu organisieren. Stattdessen organisieren sich diejenigen, die Ernst Bloch die Erniedrigten und Entrechteten genannt hätte, die aber in Finnland von Amts wegen als B-Bürger verwaltet werden, ihr bisschen Glück selbst. Wobei es sich um den richtigen Freiraum in der falschen Misere handelt. Das fordert selbstverständlich die übliche Diskussion heraus. Das geht aber nicht, weil Kaurismäki durchs Wort nichts vermittelt. Es sehen sich zwei an, sie schweigen, sie wissen, dass das Glück naht. Unvermittelt. Und auf märchenhafte Weise weiß das der auch, der sich den Film anguckt. Das entzückt und befremdet den, der sich, eventuell probeweise, auf ein poetisches Sozialabenteuer einlässt, das all das Schlaue, das zum Lumpenproletariat geschrieben ist, zur Makulatur werden lässt, – wenigstens während der 97 Minuten im Kino. Wir sind auf einem ungefähren Null-Level, den wir auf unbestimmte Weise schon deswegen wiedererkennen, weil wir Filmbilder mit Vergangenheit sehen, die fünfziger Jahre möglicherweise. Kein Sex, keine Gewalt, keine Beziehungskrise. Der Mann ohne Vergangenheit (Markku Peltola) hat keine Erinnerung an die Gegenwart, und Aki Kaurismäki erinnert mitnichten an den gegenwärtigen Film. „Der Mann ohne Vergangenheit' ist ein B-Bürgerfilm.

Null. Ganz unten. Tabula rasa. Nichts wissen, nicht einmal den eigenen Namen. Auf der Intensivstation aufwachen. Weggehen. Die Verbände abwickeln. Was ist? Was kommt? Blank. Wir erfahren im Lauf des Films, aber das kommt spät, dass der Held, und ein Held ist er, aus ferner Provinz in die Metropole gereist war, hier sein Glück zu versuchen. Noch am Hauptbahnhof war er von Jungnazis zusammengeschlagen worden. – Ich erzähle das nicht gern, denn ich sehe Oliver Tolmein vor mir mit Aha-Landflucht und Gewalt-gegen-Minderheiten. Doch der Film macht das nicht zum Thema. Was wir wahrnehmen, ist, wie der Namenlose B-Solidarität erfährt, – von Jungs der Containersiedlung, vom Nachtwächter-Paar, von Mann und Hund der Schrottplatzsicherheit (jawohl, vom Wachhund) und vor allem natürlich von Kati Outinen, der Heilsarmistin. Liebe, ungesagt, herzlich, gemütvoll, bedroht und niemals weg. „Der Mann ohne Vergangenheit' ist der B-Liebesfilm.

Kaurismäki liebt die Menschen, die er zeigt. Und weil das so ist, gehören die Ungereimtheiten dazu. Sie sind liebenswert. Deshalb pflanzt unser Null-Level-Held, kaum quartiert er sich in einem leerstehenden Container ein, Kartoffeln vor der Haustür. Sein erstes Möbelstück ist eine Juke-Box. The Renegades, Blind Lemon Jefferson, Masao Onose. Auftritt die unsägliche Heilsarmeekapelle. Kati und die Essensempfänger starren trostlos vor sich hin. Noch wissen sie nicht, dass erfolgversprechende Latenzen lauern. Dass eine Kult-Bluesrock-Combo in der Gruppe (Marko Haavisto & Poutahaukat) steckt. Ein Manager muss her. Unser Namenloser managt sie. Die Kartoffeln wachsen, und der B-Held entdeckt, dass er schweißen kann. Er findet Arbeit. Sofort. So geht es zu im realistischen Sozialmärchen. Wer es sich ansieht, glaubt es sofort. Weil einer, der Mensch ist, nicht unrealistisch ist. Es geht glaubwürdig noch einen Schritt weiter. Zur Solidargemeinschaft des Subproletariats gehört ein gewiefter Rechtsanwalt, der uneigennützig ist. Ohne sich der Rechtsanwaltsgebührenordung zu bedienen, befreit er unseren Helden aus der Mühle der Strafjustiz. Das tut gut. Das ist schwer in Ordnung. Kaurismäki setzt seine B-Ordnung gegen das, was alle anderen als Verwaltungs- und Gerichts-Normalität ansehen.

„Der Mann ohne Vergangenheit', der Film vom Rand Europas, der Film über den Rand der Gesellschaft, der Film außer Rand und Band im Vergleich zu dem, was auf den Markt kommt, – er bekam dieses Jahr in Cannes den Großen Preis der Jury, und Kati Outinen wurde als beste Darstellerin ausgezeichnet. Hollywood wurde wach und versucht, Kaurismäkis Wunderkraft zu instrumentalisieren. Die Tageszeitung „Die Welt' preist den Film als „Ermutigung zur Existenzgründung'.

Bei so viel Einvernahme müssen wir tapfer sein und uns den Glauben nicht nehmen lassen, dass die Würde des/der Kaurismäki-Menschen unangetastet bleibt. Im B-System. Wo Tragödie und Farce, Mittellosigkeit und Lebensmut in eins aufgehen. – Wer so was Pathetisches schreibt, müsste sich schämen. Weil: Das tut man nicht. Wohl an, ich tu es doch. Aber nur, weil es Kaurismäki ist. Und „Der Mann ohne Vergangenheit'. Um es nicht bei der Lobeshymne zu belassen, schiebe ich Gründe nach.

Erstens: die Musik. Was Kaurismäkis ohnmächtige Menschen bewegt, das ist die Macht der Musik. Eine Macht, die nicht korrumpiert. Ein Walzer. Annikki Tähti, die immer noch Große der finnischen U-Musik, tritt solidarisch in der Heilsarmee-Combo auf. Sie singt ihr Muistatko Monrepos’n: Erinnerst Du Dich an Monrepos? Das war die erste goldene Schallplatte Finnlands gewesen. 1955. Die Basis, sich auf eigene Kraft zu besinnen.

Zweitens: 1955. Die Bilder. Ein halbes Jahrhundert Filmgeschichte vergessen. Mit der die B-Bürger nichts zu tun haben. Einfache, klare Szenarien, die nicht überwältigen, sondern Freiraum lassen. Auch dem, der zuschaut. Das Mainstreamkino und die Unterhaltungsindustrie hat abgedankt. Die globale Bildversorgung ist in diesem finnischen Film gekappt. Auf wundersame Weise verblassen Herablassungen wie Nostalgie, Provinzialismus, Regionalismus, lakonische Grenzästhetik. Nein, der neue Kaurismäkifilm ist eine einzige Einladung. Ein Programm. Die Bilder lassen Platz für unterschwellige, auch manifeste Komik. Für autonome Moral, nicht behauptet, aber gelebt. Wir können nicht anders, als die Menschen, die in einer fünfzig Jahre alten Ästhetik leben, für gegenwärtig zu nehmen. Wir zollen ihnen Respekt.

„Wir'. Das ist ein Schutzwort, es will den Leser vereinnahmen. Ich scheue mich sonst davor. Aber ich kann bei diesem ebenso schlichten wie ergreifenden Film nicht anders, als mich mit Leuten im Kino einszufühlen. Dreist, wahrscheinlich. Egal. Sowas kommt davon, wenn man von einem Film berührt wird. Ich versuche es noch einmal mit der Objektivität. Der Film „Der Mann ohne Vergangenheit' beschreibt wie kein anderer den ausgegrenzten Arbeitslosen, den Sozialhilfeempfänger. Er erspart sich Betroffenenleid. Er entwickelte stattdessen Empathie. Er heißt uns willkommen im Club, der längst die neue Normalität ist. „Ich könnte morgens nicht mehr in den Spiegel schauen, wenn ich jetzt keinen Film über Arbeitslosigkeit machen würde', hatte Kaurismäki vor einem halben Dutzend Jahren erklärt. Und: „Der Sinn des Lebens besteht darin, einen persönlichen Moralkodex zu entwickeln, der die Natur und den Menschen respektiert, und schließlich – ihn zu leben'.
– ihn zu filmen: „Der Mann ohne Vergangenheit'.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2002

Super 8

(USA 2011, Regie: J.J. Abrams)

Nostalgic Encounters
von Louis Vazquez

Regisseur und Produzent J.J. Abrams weiß, wie er Nostalgiker zu bedienen hat. Schon seine Neuinterpretation von „Star Trek“ (2009) versöhnte die anspruchsvollen alten Fans mit dem unbefangenen jungen Zielpublikum. Abrams …

Regisseur und Produzent J.J. Abrams weiß, wie er Nostalgiker zu bedienen hat. Schon seine Neuinterpretation von „Star Trek“ (2009) versöhnte die anspruchsvollen alten Fans mit dem unbefangenen jungen Zielpublikum. Abrams nahm die bekannten Charaktere ernst und verknüpfte darüber hinaus Insider-Referenzen, Stakkato-Action und Pathos so geschickt miteinander, dass am Ende fast alle zufrieden waren. Der Star-Trek-Mythos blieb allen Anpassungen an den Massengeschmack zum Trotz intakt.

Mit seinem neuen Film „Super 8“ hat sich Abrams erneut einem Phänomen gewidmet, das besonders die Generation der über 30jährigen noch gut kennen dürfte: Es handelt sich dabei um das von Steven Spielberg geprägte amerikanische Blockbusterkino der 1980er Jahre. Orientiert am Rekorderfolg von „E.T.“ (1982) richteten sich auch Filme wie „Back to the Future“ (Robert Zemeckis, 1985), „The Goonies“ (Richard Donner, 1985) oder „Gremlins“ (Joe Dante, 1984) in erster Linie an Kinder und Jugendliche, boten gleichzeitig aber gekonnt kalkulierte Familienunterhaltung. In der Regel führte nicht der damalige Hit-Garant selbst Regie, sondern seine Freunde Joe Dante, Robert Zemeckis oder Ron Howard, oft unter dem Dach von Spielbergs Produktionsfirma Amblin Entertainment. All diese Filme präsentierten quer durch verschiedene Genres die Abenteuer junger bzw. jugendlicher Protagonisten, wobei beschädigte Familienverhältnisse oft den Hintergrund der Geschichten bildeten. Es ging also im Wesentlichen um die Rettung der Familie – wie in Spielbergs eigenen Filmen.

Nun hat J.J. Abrams unter dem Dach von Amblin Entertainment und mit Spielberg als Produzenten einen Film geschrieben und inszeniert, der ganz bewusst diese Tradition wieder aufleben lässt. Konsequenterweise spielt „Super 8“ im Jahr 1979, natürlich in einer amerikanischen Kleinstadt. Im Zentrum steht eine Gruppe von Kindern, die wie die meisten der damaligen Amblin-Protagonisten perfekt den Vorstellungswelten einer jungen, filmbegeisterten Zielgruppe angepasst wurden: Sie sind Kinofans, interessieren sich vor allem fürs Horrorgenre und begeben sich als Amateurfilmer in die Fußstapfen von George A. Romero. Für einen Wettbewerb wollen sie einen Zombiefilm drehen, wie damals üblich auf Super 8. Und sie geben sich alle Mühe, Schauwerte aufzubieten, die sich ohne Budget realisieren lassen. Dabei geraten sie in ein ungeahntes Abenteuer, als sie bei einem nächtlichen Dreh zu Zeugen eines Zugunglücks werden und eine offenbar gefährliche, lebendige Fracht aus den Trümmern entkommt.

Man begegnet in „Super 8“ vielen Protagonisten, die man ziemlich genau so schon mal gesehen hat. Da ist der junge Held, der einen schrecklichen Verlust zu beklagen hat, denn natürlich ist auch „Super 8“ in erster Linie ein Film über Familienverhältnisse. Dann gibt es noch den sich cool gebenden dicken Jungen, der Regie beim Zombiefilm führt. Und den Verrückten mit der Zahnspange, der für die Film-Explosionen zuständig ist und seine Aufgabe mit großer Leidenschaft erledigt – vor 25 Jahren hätte wohl Corey Feldman diese Rolle gespielt. Die anderen Jungs aus dem Freundeskreis sind schon nicht mehr ganz so relevant. Einer kriegt irgendwann die Sympathien des tollen Mädchens ab, und es ist ziemlich klar, welcher das sein wird.

Man kann nicht unbedingt behaupten, dass die Figuren über die Typologie hinaus wirkliche Tiefe entwickeln, doch „Super 8“ stellt diesen durchaus klischeehaften Freundeskreis mit einer außerordentlichen Freude am Detail vor und profitiert dabei von seiner großartigen Besetzung. Newcomer Joel Courtney kann in der Hauptrolle neben einer erfahrenen Jungschauspielerin wie Elle Fanning durchaus bestehen, weil die Chemie stimmt.

Abrams gewährt den Zuschauern nach einer – wie schon bei „Star Trek“ – nahezu perfekten Exposition ein langsames, im heutigen Genrekino längst anachronistisch wirkendes Erzähltempo. Umso wirkungsvoller ist die erste (und letztlich schon größte) Actionsequenz des Films, gerade weil die Inszenierung des Zugunfalls für kurze Zeit mit dem sonst so konsequenten Retro-Stil bricht und ein lautes, überwältigendes Effektspektakel bietet. Ansonsten stützt sich der Film vornehmlich auf die Dynamik zwischen seinen Figuren und die langsame Entblätterung des Geheimnisses. Die Genreerzählung bietet somit zwar nichts Neues, wird aber so geschickt vorangetrieben, dass sie äußerst gut unterhält – wenn man sich nicht von Trailern oder geschwätzigen Vorabbesprechungen die Überraschung verderben lässt.

Ab und an gibt es Szenen gemäß der Inszenierkonventionen des Horrorfilms, wenn beispielsweise Nebenfiguren der geheimnisvollen Bedrohung zum Opfer fallen. Auch hier folgt „Super 8“ einer Tradition, waren doch schon die Regisseure der oben genannten Filme, insbesondere Joe Dante, stark vom Horror- und Science-Fiction-Film der 1950er Jahre geprägt und ließen sich einige (oft ironisch gebrochene) Gewaltspitzen nicht nehmen. „Gremlins“ etwa bot Anlass für Zensurdebatten. Noch grausiger war der eigentlich grundalberne Film „Indiana Jones and the Temple of Doom“ (Steven Spielberg, 1984), der zur Einführung der PG-13-Altersfreigabe in den USA führte. Doch wie schon in „E.T.“ ist das unbekannte Wesen in „Super 8“ nicht unbedingt die größte Gefahr für Leib und Leben, denn da ist auch noch das Militär, das kurz nach dem Zugunglück in die verschlafene Ortschaft einfällt. Verglichen mit dem Militarismus vieler zeitgenössischer Science-Fiction-Blockbuster ist diese skeptische Haltung ein wieder sehr modern wirkender Aspekt.

Leider hat das Drehbuch im letzten Akt einige Schwächen: Da stimmt das Timing nicht mehr, da wird über einige Unklarheiten mal eben mit Tempo hinweginszeniert, und die Auflösung schließlich strotzt vor Pathos. Doch selbst die Macken des Films sind nicht uncharmant. Die extra Schöpfkelle Schmalz etwa scheint doch seit „E.T.“ (zumindest gelegentlich) zur Signatur Spielbergs geworden zu sein. Und wer die Originale lieb gewonnen, mit ihnen vielleicht sogar seine ersten Kinoerfahrungen gemacht hat, dürfte gnädiger über „Super 8“ urteilen, der doch als Film für Nostalgiker so vieles richtig macht.

Abrams beendet seinen anspielungsreichen Film mit einer Liebeserklärung an den Amateurfilm, einer humorvollen Verneigung vor den jungen Filmnerds dieser Welt. Doch die scheinen wie das Super-8-Filmmaterial aus einer unwiederbringlichen Epoche zu stammen und bieten dem heutigen Publikum nicht genügend Projektionsfläche: An den amerikanischen Kinokassen hatte „Super 8“ längst nicht den erhofften Erfolg. Aber die Alten freuen sich: Ausnahmsweise mal keine Marvel-Comicvorlage, keine Überlänge, keine 3D-Brillen. Mehr retro geht doch gar nicht!

Angèle und Tony

(F 2010, Regie: Alix Delaporte)

Weder Fisch noch Fleisch
von Wolfgang Nierlin

Wer ist Angèle? Lange Zeit weiß man nur wenig über die schöne, von Clotilde Hesme gespielte Titelheldin in Alix Delaportes preisgekröntem Debütfilm „Angèle und Tony“. Dass sie 27 Jahre alt …

Wer ist Angèle? Lange Zeit weiß man nur wenig über die schöne, von Clotilde Hesme gespielte Titelheldin in Alix Delaportes preisgekröntem Debütfilm „Angèle und Tony“. Dass sie 27 Jahre alt ist, ohne Arbeit und feste Bleibe erfährt man zwischen den Zeilen; dass sie den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen hat und ihr kleiner Sohn Yohan (Antoine Couleau) bei den Schwiegereltern lebt, wirft Schatten auf ihre Vergangenheit. Offensichtlich war Angèle im Gefängnis, auch wenn man das ihrem schüchternen, zarten Wesen, ihrer zögerlichen, abwartenden Haltung und ihrem stets frischen Gesicht nicht recht abnimmt. Doch trotz aller Unbestimmtheit hat ihre Sehnsucht ein handfestes Ziel.

Gleich die erste Szene des Films, der klischeebeladen und etwas zäh eine verstockte Liebesgeschichte erzählt, zeigt Angèle beim schnellen Sex mit einem Fremden. Es ist diese offensive, pragmatisch eingesetzte Körperlichkeit, die den schweigsamen Fischer Tony (Grégory Gadebois) zunächst zurückstößt. Doch Angèle, die einen Mann und geregelte Familienverhältnisse braucht, um ihren Sohn zurückzubekommen, läuft ihm nach und drängt sich auf. Dabei wirkt sie in dem von Männern dominierten Milieu der Fischer im normannischen Küstenort Port-en-Bessin regelrecht deplatziert. Wie ein Fremdkörper bewegt sie sich durch die Szenen, seltsam ungelenk bleiben ihre Annäherungs- und Integrationsversuche als Fischverkäuferin, die ihre Gefühle entdeckt.

Immer wieder sieht man Angèle auf einem geklauten Fahrrad, wie sie angestrengt in die Pedale tritt. Was die Regisseurin Alix Delaporte hier metaphorisch redundant verdichtet, davon erzählt sie vorhersehbar und wenig überraschend in ihrem Film: Vom beschwerlichen Unterwegssein einer Frau zu sich selbst und zu den anderen. Doch den Figuren fehlt das Fleisch, ihre Gefühle hängen in der Luft, der Blick auf das soziale Milieu ist oberflächlich und die Lücken in der Erzählung sind leider leer. Bleibt die Botschaft, man müsse die Taschenkrebse von hinten packen, damit sie nicht zwicken.

Midnight in Paris

(USA / ESP 2011, Regie: Woody Allen)

The Bright Side Of Life
von Louis Vazquez

Wenn Woody Allen nach Lieblingsfilmen aus seinem Oeuvre gefragt wird, nach solchen, mit denen er besonders zufrieden ist, nennt er zuerst „The Purple Rose of Cairo“. Der Film aus dem …

Wenn Woody Allen nach Lieblingsfilmen aus seinem Oeuvre gefragt wird, nach solchen, mit denen er besonders zufrieden ist, nennt er zuerst „The Purple Rose of Cairo“. Der Film aus dem Jahr 1985 spielt in der Zeit der Depression und ist ein Märchen ohne Happy End, eine Tragödie, in der der Eskapismus keinen Ausweg bietet und selbst ein Wunder nicht aus den bitteren Lebensumständen befreit. Cecilia, gespielt von Mia Farrow, flüchtet sich vor ihrem trostlosen Alltag samt prügelndem Ehemann immer wieder ins Kino, in den gleichen Film, bis die Hauptfigur, der Abenteurer Tom (Jeff Daniels) sie von der Leinwand herab anspricht. Kurz darauf steigt er für sie sogar aus dem Film. Weil die anderen Filmfiguren erbost auf einer Fortführung der Handlung bestehen, die zahlenden Zuschauer sich schlecht unterhalten fühlen und das Hollywood-Studio einen Imageschaden befürchtet, kann die aufkeimende Liebe zwischen Tom und Cecilia nicht glücklich ausgehen. Auch weil Cecilia die falsche Entscheidung trifft und sich für die vermeintlich verlässliche Realität entscheidet: Der Schauspieler Gil, der Tom verkörperte und der sich Cecilia als „reale“ Alternative anbietet, gaukelt ihr Liebe nur vor, um das absurde Spiel zu beenden und seinen Ruf zu schützen.

Warum die Erinnerung an diesen Film? Weil Allens neues Werk wieder die für ihn so typischen Rückbezüge aufweist. In „Midnight in Paris“ flüchtet sich ebenfalls eine Figur aus ihrem zwar nicht bedrohlichen, aber unbefriedigenden Alltag in eine vermeintliche Idylle. Dort läuft längst nicht alles so perfekt, wie es anfangs scheint, und theoretisch hätte auch dieser Stoff eine gute Tragödie abgeben können. Doch Allen hat keine daraus gemacht, und das ist die eigentliche Sensation.

Wie in „The Purple Rose of Cairo“ zahlten sich zuletzt in vielen seiner Filme die Fluchten der Protagonisten in verrückte Ideen selten aus. Allens schon immer stark ausgeprägte Lust am Tragikomischen hatte eine ziemliche Schlagseite bekommen. Seine Figuren mussten meist damit rechnen, aller Hoffnungen beraubt zu werden. Der noch am ehesten lustig gemeinte Film der letzten Zeit, „Whatever Works“ (2009), basierte bezeichnenderweise auf einem 30 Jahre alten Drehbuch. Mit einem Film wie „Midnight in Paris“, einem leichten, witzigen und optimistischen Gegenentwurf zu „Purple Rose of Cairo“, war eigentlich gar nicht mehr zu rechnen. Doch Woody Allen wollte offenbar noch einmal mit guter Laune überraschen. Und das ist ihm so vortrefflich gelungen, dass „Midnight in Paris“ nicht nur dabei ist, Allens kommerziell erfolgreichster Film in den USA zu werden, sondern auch gute Chancen hat, ein unerwarteter, später Kandidat für die Woody-Allen-Lieblingsfilmliste zu werden. Musste der Filmemacher aber wirklich nach Paris, um zu diesem Optimismus zu finden? Brauchte er dieses kitschige Sinnbild europäischer Kultur, den Mythos dieser Stadt? Allen lässt es jedenfalls so aussehen.

Die Exposition seines Films zeigt das Postkarten-Idyll von Paris und lässt es in einer musikalischen Montage langsam Nacht werden – Mitternacht in Paris. Diese kleine Miniatur zum Einstieg wirkt als Reminiszenz an den Auftakt des Klassikers „Manhattan“ (1979) durchaus ironisch, zumal später im Film die Unmöglichkeit thematisiert wird, einer Stadt mit einem Kunstwerk gerecht zu werden. Allen weiß, dass er einen Mythos inszeniert, und er verweist darauf, dass er es schon immer so gehandhabt hat. Die Ästhetik des Films korrespondiert mit dem verklärten Blick seiner Hauptfigur, die die Stadt als Tourist erlebt: leuchtend braune, fast goldene Bilder eines Traums von Ort, pure Nostalgie. So weich sind die Konturen, dass sie aller von Blu-rays verwöhnten Blicke spotten. „Midnight in Paris“ wirkt wie aus der Zeit gefallen. Und passenderweise geht es in diesem Märchen genau darum.

Der Autor Gil (Owen Wilson) verdient gutes Geld mit bescheuerten Hollywood-Drehbüchern und ist trotzdem bzw. deswegen frustriert: Er träumt von einer Karriere als ernstzunehmender Literat und laboriert verzweifelt an seinem ersten Roman. Mit seiner Verlobten Inez, die aus reichem Hause kommt, verbringt er den Urlaub in Paris, denn Inez’ konservative Eltern sind dort geschäftlich unterwegs. Gil liebt die Stadt und träumt davon, in Paris zu wohnen – ganz im Gegensatz zu Inez, die ihn nur unterstützt, solange nicht seine etablierte Karriere den Bach runter geht. Plötzlich entdeckt Gil, dass ihn um Mitternacht ein Wagen in die 1920er Jahre bringen kann, wo er die Bekanntschaft mit vielen von ihm bewunderten Künstlern macht: F. Scott und Zelda Fitzgerald, Hemingway, Gertrude Stein, und viele mehr. Nicht zuletzt ist da auch noch Ariana (Marion Cotillard), eine von Picassos Musen. Wäre es nicht schön, einfach zu bleiben?

Die phantastische Reise zu einem idealisierten Ort, die ein wenig an die Kurzgeschichte „Die Tür in der Mauer“ von H.G. Wells erinnert, ist bei Allen kein Traumkonzept, sondern wird als faktischer, märchenhafter Zeitsprung präsentiert. Allen nutzt die Auftritte historischer Figuren für einige großartige Gags, die über Lacher beim bloßen Namedropping hinausgehen. So zeigen ausgerechnet die Surrealisten, denen sich der Zeitreisende eines Abends anvertraut, Verständnis für seine Probleme. Den Surrealismus selbst dagegen haben sie nicht unbedingt verstanden – Buñuel erweist sich in einer wunderbaren Szene als ziemlich schwer von Begriff.

Ausgerechnet am Ort seiner Sehnsüchte muss sich Gil von Gertrude Stein belehren lassen, dass eine defätistische Haltung ihn nicht weiter bringt und er seine Gegenwart nutzen muss. Der Optimismus, den Gil aus seinen Erfahrungen in der Vergangenheit für sein Leben gewinnt, wird aber nicht verabsolutiert – andere Figuren mögen es durchaus bevorzugen, ihrer Nostalgie nachzugeben, ihren Zwängen zu entfliehen und so ihr Glück zu finden. So hält Allen letztlich ein Happy End bereit, das fast alle Figuren mit einschließt – aber nur fast, denn eine böse kleine Pointe lässt er sich nicht nehmen.

Die Schauspieler in „Midnight in Paris“ werden wie oft in Woody Allens Filmen zu guten Leistungen angeregt, selbst in kleineren Rollen. Wie gehabt spielen sie viele längere, ungeschnittene Szenen – schon lange die bevorzugte Herangehensweise des Regisseurs. Herausragend ist freilich Owen Wilson, der allen Versuchungen zum Trotz seine Figur fast völlig ohne Woody-Allen-Manierismen auskommen lässt, die manch anderer Schauspieler gerne nachahmte, wenn Allen selbst nicht mitspielte. Keine Hektik, kein Dauerstottern, keine schlechte Kopie des Originals. Es wäre zu begrüßen, wenn Woody Allen in den 25 Jahren und 25 Filmen bis zu seinem 101. Geburtstag noch 25 Rollen für Owen Wilson parat hätte.

Als jemand, der Woody Allens Werk zugeneigt ist, möchte man dem Altmeister herzlich zu seinem Film gratulieren. Möge er tatsächlich weniger an der Welt leiden, als er bisweilen vorgibt. Sein Film jedenfalls macht diesbezüglich ein bisschen Mut. Es bleibt nur noch ein Wunsch: Falls es der Finanzierung eines zukünftigen Films behilflich ist und Allen tatsächlich mal in Berlin drehen sollte – diesbezügliches Interesse hat er ja bereits geäußert –, sollte der Kanzlerinnengatte eine kleine Nebenrolle bekommen. Die Bruni hat es schließlich auch nicht schlecht gemacht.

Trouble Every Day

(F / D / J 2001, Regie: Claire Denis)

Dying in your arms tonight
von Carsten Moll

“and then the weak were caught by the strong, and with a grinning aspect, first coupled with & then devour’d, by plucking off first one limb and then another till …

“and then the weak were caught by the strong, and with a grinning aspect, first coupled with & then devour’d, by plucking off first one limb and then another till the body was left a helpless trunk; this after grinning & kissing it with seeming fondness they devour’d too” aus: The Marriage of Heaven & Hell von William Blake

Aktuell sind Dominique Strauss-Kahn und das New Yorker Zimmermädchen in aller Munde, so scheint es. Da haben wir den neuesten Skandal, vorgetragen vom Chor der Empörung, den Medien, mal serviert als Gossiphäppchen, als Prominentenumfrage oder gar als moralinsaure Grundsatzdebatte einer ganzen Kultur. Viel Zwischenmenschliches wird dabei vors Blitzlichtgewitter gezerrt und zur öffentlichen Meinungs- und Urteilsbildung freigegeben, bevor der Prozess überhaupt begonnen hat.

Für einen etwas kleineren aber deutlich subtiler inszenierten Skandal sorgte vor rund 10 Jahren die französische Filmemacherin Claire Denis, als sie ihren Spielfilm „Trouble Every Day' in Cannes vorstellte. Der Film, der zeigt, dass Sex zu mehr als nur einem kleinen Tod führen kann, wurde von einem Großteil der Kritiker verrissen. Den einen galt er als zu intellektuell und langatmig, andere wiederum empfanden ihn als geschmacklos und unmenschlich. (Die Frage muss erlaubt sein: Was wäre ein menschlicher Film? „Forrest Gump'?)

Rekonstruiert man einen Plot für „Trouble Every Day', ähnelt er irreführenderweise frappierend einem Horrorfilm mit Anleihen an den Science-Fiction-Film. Der Film beginnt mit der Ankunft des jungen amerikanischen Paares Shane und June Brown (Vincent Gallo und Tricia Vessey) in Paris. Schnell wird deutlich, dass Shane von blutgetränkten Sexfantasien heimgesucht wird und seine krankhaften Gelüste nur mit Hilfe von Tabletten unterdrücken kann. Um seine Frau nicht zu gefährden, bleibt er sexuell abstinent. Parallel hierzu zeigt der Film die verzweifelten Versuche eines Wissenschaftlers (Alex Descas), seine Frau Coré (Béatrice Dalle), die an der gleichen mysteriösen Krankheit wie Shane leidet, zu Hause einzusperren. Coré verweigert die Einnahme ihrer Medizin und bricht immer wieder aus, um Männer beim Koitus durch Bisse zu töten. Bald wird klar, dass Shane und Coré eine gemeinsame Vergangenheit haben.

Es fällt schwer, „Trouble Every Day' zu beschreiben, da der Inhalt bruchstückhaft bleibt, Dialoge spärlich gesät sind und keine wirkliche Charakterzeichnung stattfindet. Vielmehr präsentiert Denis uns Motive und Situationen aus dem Horrorgenre, ohne dessen Gesetzmäßigkeiten und Konventionen zu folgen. Zusammen mit dem kongenialen Soundtrack der Tindersticks schaffen die Horrorelemente vor allem eine Atmosphäre der Melancholie, „Trouble Every Day' ist weniger Horror- als Liebesfilm, sich dabei aber bewusst, dass man auf den Schrecken nicht verzichten kann. Der Zugang zum Horrorfilm ist trotz dieser Metabetrachtung kein intellektualisierender, nie wird anhand von Subtexten ein Diskurs gesponnen und der Film zum moralisierenden Messagefilm. Der Film ist das, was er zeigt und mehr als am Intellekt ist ihm an der Bebilderung der Sinn- und Empfindlichkeit des menschlichen Körpers gelegen.

Dies wird auch in den zwei berüchtigtsten Szenen des Films deutlich: Die erste der beiden ist etwas länger und trifft den Zuschauer in ihrer Gnadenlosigkeit unvorbereitet. Ein junger Mann aus der Nachbarschaft dringt mit einem Freund in das Haus ein, in dem Coré eingesperrt ist. Beim Durchstöbern des Hauses stößt er auf die animalisch wirkende Frau und lässt sich von ihr verführen. Was als normaler Sex beginnt, wird rasch zum Todeskampf, als Coré beginnt, ihn durch Bisse immer mehr zu verletzen. Der Geschlechtsverkehr wird nie unterbrochen, harmloses Liebespiel und grausame Tötung gehen nahtlos ineinander über. Die zweite Szene zeigt schließlich Shane, wie er ein Zimmermädchen des Hotels, in dem er mit June wohnt, auf ähnliche Weise tötet. Es muss wohl Spekulation bleiben, welche Reaktionen vor allem diese zweite Szene in einem nach der Strauss-Kahn-Affäre entstandenen Film hervorrufen würde.

Fakt ist aber, dass beide Szenen sich nicht an der Grausamkeit ergötzen und den Schrecken ausstellen. Sie sind recht kurz gehalten, die Darstellung des Geschlechtsverkehrs gleitet nie ins Pornographische und auch Freunde von Splatter und Gore werden wohl nicht auf ihre Kosten kommen. Die Gewalt ist gleichermaßen faszinierend wie abstoßend, das Sterben hat sowohl etwas Erbärmliches als auch etwas Anrührendes. Zwischen den Polen Kannibalismus und Vampirismus wird die körperliche Liebe hier zu einer ganz eigenen Monstrosität, wo jeder Kuss zum Biss werden kann und mit dem Orgasmus der Tod kommt.

Trotz der hohen Intensität und des provozierenden Inhalts dieser Szenen ist der Rest des Films keinesfalls Leerlauf oder bloße Rechtfertigung für die „Schockszenen“. Immer wieder bietet „Trouble Every Day' Momentaufnahmen, die geradezu zärtliche Einblicke in den Alltag und die Beziehungen der Protagonisten erlauben. Da wäre das Zimmermädchen, das sich nach einem anstrengenden Tag die wunden Füße wäscht, Coré, die von ihrem Mann liebevoll vom Blut eines ihrer Opfer gereinigt wird oder die Bissspur an Junes Schulter, die von der unterdrückten Aggressivität ihres Ehemanns zeugt, die sie beide aushalten müssen.

Kamerafrau Agnès Godard leistet hierbei hervorragende Arbeit, speziell die Aufnahmen der Körperlandschaften stechen hervor. In einer Kultur, in der die pornografische Pose längst im Alltag angekommen ist und wo jede Brust an die optimale Stelle gephotoshoppt wird, darf es als Leistung gelten, den menschlichen Körper so zu filmen, als sähe man ihn zum ersten Mal. Hier herrscht eine angenehme Verwirrung, die sich jeder platten Eindeutigkeit entzieht. Überhaupt ist es eine große Leistung von „Trouble Every Day', sich durch seine offene Struktur von Stereotypen und Klischees loszusagen. Mann wie Frau werden hier zum Tier – falls es überhaupt einen nennenswerten Unterschied geben sollte zwischen Mann und Frau, zwischen Mensch und Tier.

„Trouble Every Day' erzählt davon, wie schwierig es ist, Intimität herzustellen und zu bewahren und gegen welche Unmöglichkeiten Zweisamkeit bestehen kann. Der Skandal ist ein anderer.

Kleine wahre Lügen

(F 2010, Regie: Guillaume Canet)

Großer Liebeskummer, kleine Lebenslügen
von Wolfgang Nierlin

Das Stärkste an diesem Film ist sein Anfang: In einer langen Plansequenz folgt die Kamera einem Mann namens Ludo (Jean Dujardin) durch die stickige Enge einer lauten, von ausgelassener Stimmung …

Das Stärkste an diesem Film ist sein Anfang: In einer langen Plansequenz folgt die Kamera einem Mann namens Ludo (Jean Dujardin) durch die stickige Enge einer lauten, von ausgelassener Stimmung und drogenseligen Partypeople erfüllten Diskothek hinaus in die frische, kühle Nachtluft eines dämmernden Morgens, an dem Ludo, ein überschwänglicher, leidenschaftlicher Typ, kurz darauf auf seinem Motorroller lebensgefährlich verunglückt. Es ist dieser jähe Kontrast zwischen Euphorie und Trauer, der in den schockstarren Augen seiner Freunde nachwirkt, die sich am nächsten Tag an Ludos Krankenbett versammeln. Die Zerbrechlichkeit des Lebens sowie der Umgang damit unter Freunden steht also am Beginn von Guillaume Canets Tragikomödie „Kleine wahre Lügen“ (Les petits mouchoirs), seinem nach eigener Auskunft bislang persönlichsten Film, der in seinem Herkunftsland Frankreich zum Publikumserfolg avancierte.

Die bunt zusammengewürfelte Clique entscheidet sich mit halb schlechtem Gewissen zunächst für die gemäßigte Verdrängung und beschließt, die gemeinsamen, schon zur Tradition gewordenen Ferien in einem Strandhaus am Cap Ferret auf zwei Wochen zu verkürzen. Doch schon diese Prämisse, die aus einer Freundesclique eine Art Ersatzfamilie konstruiert, wirkt leicht aufgesetzt. Am traumhaft schönen Ferienort an der südwestfranzösischen Atlantikküste angekommen, den Canet in ekstatischen Bildern filmt, setzt die raum-zeitliche Verdichtung der Gruppenbeziehung erwartungsgemäß dynamische Prozesse in Gang. Flankiert vom Sound der sechziger Jahre, wird in ihnen das Unausgesprochene virulent, führen Geständnisse und Streitereien zu Verletzungen, verlieren Gesten ihre Unmittelbarkeit und Unschuld.

Vor allem in der Beziehung zwischen dem ebenso reichen Restaurantbesitzer wie pedantischen Gastgeber Max Cantara (François Cluzet) und dem unglücklich verheirateten Chiropraktiker Vincent Ribaud (Benoît Magimel) wird das offensichtlich, als nach fünfzehn Jahren Freundschaft der eine dem anderen seine Liebe gesteht. Das Tabu wirkt so stark, dass es den ob dieser Eröffnung aufgewühlten, gar geschockten Max in Dauerstress und erhöhte Reizbarkeit versetzt. Das Gefühlsdilemma wird im Weiteren jedoch kaum entwickelt, sondern in einer Reihe teils komischer, teils dramatischer Begebenheiten perpetuiert.

Auch die vom Titel evozierten Lebenslügen der Generation Mitte Dreißig erschöpfen sich weitgehend in kleinen und großen Liebesdramen und unbewältigtem Liebeskummer. Vor allem die sensible Ethnologin Marie (Marion Cotillard) und der schauspielernde Frauenheld Éric (Gilles Lellouche) schaffen es diesbezüglich nicht, eine feste Bindung einzugehen. Sie haben, wie es einmal heißt, „kein Vertrauen in die Liebe“. Dass schließlich erst im gemeinsam erfahrenen Unglück Selbsterkenntnis reift und Versöhnung möglich wird, ist vor allem dem übersteigerten Pathos dieses mit freundlich-plakativem Witz und triefender Sentimentalität unterhaltenden Ensemblefilms geschuldet, weniger seinem Anspruch auf Wahrhaftigkeit.

Willkommen in Cedar Rapids

(USA 2011, Regie: Miguel Arteta)

Zwangs-Sozialisierung eines Provinzspießers
von Michael Schleeh

Die schrägen Typen, die Nerds und Geeks und Freaks haben sich mittlerweile bestens in die Tradition der zeitgenössischen, amerikanischen Jungskomödie eingeschrieben. Die mal, wie hier, etwas zahmer ausfällt oder dann …

Die schrägen Typen, die Nerds und Geeks und Freaks haben sich mittlerweile bestens in die Tradition der zeitgenössischen, amerikanischen Jungskomödie eingeschrieben. Die mal, wie hier, etwas zahmer ausfällt oder dann deutlich infantiler, mit mehr Pimmelwitzcontent, wie bei Judd Apatow-Produktionen oder in den „Hangover“-Filmen. Der Held verlässt seine Heimat und macht allerlei turbulente Erfahrungen in der Fremde. Hinterher hat man dann, wie im Entwicklungsroman, etwas dazugelernt oder kommt zumindest mit einem blauen Auge wieder aus der Chose heraus. „Willkommen in Cedar Rapids“ ist einer der gelungeneren Vertreter seiner Gattung.

Tim Lippe (gespielt von Ed Helms, dem unterdrückten Zahnarzt aus „The Hangover“) muss auf Geheiß seines Chefs nach Cedar Rapids: zum großen alljährlichen Treffen der Versicherungsmakler. Und dort soll er mit einem Vortrag, ganz so wie es seinem Vorgänger bereits zweimal gelang, die höchste Auszeichnung der Branche für das eigene Unternehmen nach Hause bringen. Blöd nur, dass es sich bei Tim um ein echtes Muttersöhnchen handelt, das noch nie sein piefiges Kaff in Wisconsin verlassen hat und dessen größtes Abenteuer eine mutterkomplexbeladene Affäre mit seiner ehemaligen Lehrerin (Sigourney Weaver) ist. Bereits das Einchecken am Flughafen entlarvt ihn als Businessfrischling, wie auch die Ankunft im Hotel. Da auch noch dummerweise alle Zimmer überbucht sind, darf er mit zwei Kollegen das seinige teilen. Einer der beiden ist ausgerechet das bad animal der Makler-Szene, „Deanzie“ (John C. Reilly), ein Partymonster vor dem Herrn, einer, der kein Blatt vor den Mund nimmt, und vor dem ihn der Chef ausdrücklich gewarnt hatte. Keine Frage: auf den braven Tim Lippe kommt an diesem Wochenende nicht nur der Kampf um die Trophäe zu – nein, hier muss er auf allen Gebieten über sich hinauswachsen und seinen Mann stehen. Ganz wörtlich zu verstehen, natürlich, im Humor des Films gedacht.

Und es ist dem Film schon anzurechnen, dass er nicht zu einer schenkelklopfenden Achterbahnfahrt für Spätpubertierende mit Machoallüren geworden ist. Arteta inszeniert mit viel Gefühl für die Details, die kleinen Gesten, das Stocken mitten im Wort, und natürlich auch für die gut gesetzten, kuriosen Wendungen. Klar, dann geht es auch mal mit Vollgas auf die White-Trash-Punkrockparty (oder auf das, was sich die Produzenten darunter vorstellen), wo bei lauter Gitarrenmusik bis zur Schlägerei gefeiert wird, oder mit der Kollegin (Anne Heche), ordentlich Alkohol im Blut, in den hoteleigenen Pool hinein, was den verstockten Tropf aus seiner Schüchternheit lockt. Der Plot, so schematisch und vorhersehbar er ist, zerfällt jedoch nicht in einzelne, willkürliche Klamauk-Episoden, sondern jede Szene ist in den größeren Kontext eingebunden und dient dem Film. „Willkommen in Cedar Rapids“ weiß also durchaus zu unterhalten, vor allem, da auch das Schauspielerensemble auf hohem Niveau agiert.

Und dann, am Ende, hat Tim Lippe schließlich noch seinen großen Auftritt, bei dem er ans Mikrophon tritt und aus einem kalauernden Wortspiel heraus die dubiosen Machenschaften seiner Branche aufdeckt, sie in nur wenigen Sätzen demontiert. In dieser Rede findet der Held nicht nur zu seiner Größe und damit zur Erfüllung seiner Aventiure, sondern er findet vor allem auch zu sich selbst. Ob man dem Film damit gerecht wird, wenn man ihn nun als politischen Kommentar zur wirtschaftlichen Lage seines Landes liest, soll dahingestellt sein. Der Held hat sich am System gerieben, er hat sich als moralisch stärker erwiesen und reitet (diesmal im Flugzeug) zurück auf seine Ranch in den Sonnenuntergang hinein. Es liegt eine güldene Zeit vor uns. Wir müssen nur an uns selber glauben. Also auf nach Cedar Rapids, Osnabrück, Erfurt, Ulm oder Rostock. Der Abspann verspricht ein Happy End!

The Limits of Control

(USA 2009, Regie: Jim Jarmusch)

High Resolution Revolution
von Kai Ehlers

„How did you get in here?' – „I used my imagination.' Dann wird Bill Murray, der hier auf wunderbar ironische Weise das sich selbst verschlingende Kontrollstreben inkarniert, von seinem Widersacher, …

„How did you get in here?' – „I used my imagination.' Dann wird Bill Murray, der hier auf wunderbar ironische Weise das sich selbst verschlingende Kontrollstreben inkarniert, von seinem Widersacher, dem „lone man', der Hauptfigur des Films (Isaach De Bankolé), klanglos erdrosselt.

Der Epilog zeigt, wie der Auftragskiller mit dem ebenmäßigen Gesicht seine Arbeitskleidung, einen Anzug, gegen legere Freizeitkleidung tauscht, die ihm – endlich – menschliche Züge verleiht. So geht er ein letztes Mal ins Madrider Museum Reina del Sofia, um sich ein Bild anzuschauen. Diesmal ist es „Gran Sabana' („das große Laken'/„die große Ebene') von Antoni Tàpies. Zu sehen ist ein weißes Laken, das mitsamt Knittern auf einer Leinwand klebt. Die sich unwillkürlich aufdrängende Frage ist, was verbirgt sich dahinter? Das Bild verweigert die Antwort. Der Film gibt wenigstens einen kurzen, dafür umso wichtigeren Hinweis: Als der „lone man' in der Schlusseinstellung den Flughafen verlässt und das hereinfallende Licht das Bild zu überstrahlen beginnt, verliert die Kamera ihren Halt. Die strenge Kadrage, die dem ganzen Film seine bisher fast starre Form verliehen hat, beginnt zu zu wanken: Die unkontrollierbare Wirklichkeit bricht herein und reißt die Form mit sich.

Dieser Moment bewahrt den Film davor, nur ein formentheoretisches Experiment zu sein. Und ein Cineast wird sein Vergnügen haben an der Frage, ob diese Aufnahme beabsichtigt war oder einfach nur das übliche Stück unkontrolliert belichteten Films bis der Kameramann nach dem „Cut' den Stoppknopf gefunden hat. Aber selbst wenn es so wäre, ist es genau das, was Jim Jarmusch, wenn man ihm glaubt, am Drehen so fasziniert: der Moment des Kontrollverlusts. Die Magie, die entsteht, wenn gute Vorbereitung gleichzeitig Raum für Improvisation oder auch den Zufall lässt.

Die Dialektik von Kontingenz und Form kann man als Jarmuschs Thema bezeichnen. Die Radikalität, mit der er es in „The Limits of Control' behandelt, ist neu. Er versucht nicht mehr, uns in eine Geschichte einzubetten, um nebenbei philosophische Fragestellungen auf seine lakonisch-ironische Weise aufzuwerfen. Nein, die rudimentäre Erzählung ist nur noch Tribut an seine künstlerische Herkunft. Er verweigert uns die risikofreie Konsumentenhaltung. Stattdessen präsentiert er uns einen Helden, an dessen maskenhaften Zügen wir abprallen. Dieser coole Typ, der genau weiß, was er will, und seinen Grundsätzen nie untreu wird (bei der Arbeit kein Sex, keine Waffen, keine Handys), durchläuft keine Entwicklung, mit der man sich als Zuschauer identifizieren könnte. Er fungiert eher als ein großes Fenster, durch das wir auf die Welt und vor allem auch auf uns selbst schauen. Somit sind wir, sobald wir dieses fast epische Angebot annehmen, die Helden des Films.

Als solche lässt uns Jarmusch an der Reise teilhaben, die der Killer auf dem Weg zu seinem Opfer zurücklegt. „Lone man' trifft verschiedene Boten, eigenwillige Typen (Tilda Swinton, John Hurt, Gael García Bernal, Luis Tosar), die ihm jeweils ein Teil des später benötigten Codes aushändigen. Diese Treffen laufen immer gleich ab: Es gibt ein festes Erkennungsritual, die Übergabe des Codes und das Philosophieren des Boten über seine jeweilige Lebenssicht. Darin lässt sich das unermüdliche menschliche Ringen um das Begreifen der Welt erkennen. Hier leidet der Film etwas am Parabelhaften. Die mantraartige Variation ihrer gemeinsamen Einsichten wie „die Realität ist beliebig', „wer glaubt, etwas besonderes zu sein, soll auf den Friedhof gehen', ermüdet, funktioniert aber doch als Gegenentwurf zum Antipoden, der sich im Kontrollwahn in einem Hochsicherheitsgebäude verschanzt hat.

Touchiert Jarmusch hier die Grenze zum politisch-didaktischen Kitsch, rettet er sich und uns mit der Reaktion seines Helden: Mit „I am among no one', der klaren Abgrenzung des Killers vom Versuch einer Botin, ihn für ihre Philosophie zu vereinnahmen, bleibt die Integrität des Einzelnen unangetastet. Das ist es, womit es Jarmusch ernst ist, und er macht es für uns erfahrbar, wenn er uns mitnimmt ins Museum:

Dreimal betrachten wir vor dem Mord zusammen mit dem „lone man' einzelne Bilder. Das sind ein kubistisches Gemälde von Juan Gris, ein Akt von Roberto Fernández Balbuena und eine Vedute von Lopez Garcia. Und wie selten im Kino schafft Jarmusch es, die Kunst neben dem Film existieren zu lassen und sie nicht ihrer Dimensionen zu berauben, indem er sie instrumentalisiert. Er entwickelt einen Dialog zwischen Bild und Film, der sich kaum beschreiben lässt. Zwar tauchen einzelne, übersetzte Elemente der Bilder in der Handlung auf, so eine mysteriöse Nackte (Paz de la Huerta), die Bedeutung aber ist nie eindeutig, sondern behält stets die der bildenden Kunst eigene Offenheit. Doch der bemerkenswerteste Effekt ist die Erhöhung der optischen Auflösung beim Zuschauer. Auf einmal kommuniziert nicht nur das Drehbuch, also der „bebilderte Text' mit uns. Die Bilder beginnen ihre eigene Erzählung, die nicht sklavisch an die Filmhandlung gekoppelt ist. Sie erinnern uns an das, was es zu verhüllen oder in eine Form einzufangen gilt, um es anschauen zu können: das Leben mit seinen unendlichen Möglichkeiten.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Der Geist des Bienenstocks

(ESP 1973, Regie: Victor Erice)

Sie sind nicht gestorben, sie leben noch heute!
von Carsten Moll

Dass Victor Erices Spielfilmdebüt „Der Geist des Bienenstocks“ das Werk eines ehemaligen Filmkritikers ist, verwundert kaum. Ist sein Film doch zugleich beseelt von der Liebe zum Kino, reich an Assoziationen …

Dass Victor Erices Spielfilmdebüt „Der Geist des Bienenstocks“ das Werk eines ehemaligen Filmkritikers ist, verwundert kaum. Ist sein Film doch zugleich beseelt von der Liebe zum Kino, reich an Assoziationen und hinterfragt dabei die Bedeutung des Sehens zwischen Wahrnehmung und Imagination, Fakt und Deutung. Immer wird eine kritische Distanz zum Geschehen gewahrt, die Struktur bleibt episodisch, die Kamera statisch, als fürchte sie sich in Anbetracht der Schönheit der Bildkompositionen im Fokus zu verlieren. Der Blick ist trotzdem kein unterkühlter, manchmal fast schon ein liebevoller. Beispielhaft sind die Großaufnahmen vom Gesicht der jungen Hauptdarstellerin Ana Torrent beim erstmaligen Betrachten der leuchtenden Kinobilder aus James Whales „Frankenstein“. Treffender und authentischer kann man die Faszination für das Kino nicht bebildern.

Nicht selten wird im Zusammenhang mit „Der Geist des Bienenstocks“ auf einen der Erfolgsfilme der letzten Jahre verwiesen, Guillermo del Toros überschätzten Märchenfilm „Pans Labyrinth“. Und tatsächlich sind Parallelen nicht zu leugnen, beide Filme erzählen von fantasiebegabten Mädchen im faschistischen Spanien und dem Eskapismus als subversive Kraft. Sogar die väterliche Taschenuhr als zentrales Motiv wird in beiden Filmen aufgegriffen. Dennoch: Die Überschneidungen sind rein inhaltlicher Natur und da ein Film nicht gleich sein Inhalt ist, muss man festhalten, dass „Pans Labyrinth“ und „Der Geist des Bienenstocks“ kaum gegensätzlicher sein könnten.

Del Toros „Pans Labyrinth“ ist seinem Titel zum Trotz eher straight und konventionell, mit der Zielstrebigkeit einer Geisterbahn rollt er vorbei an Pulp-Faschisten und am Körperhorror geschulten Ekeleffekten. Am Ende der Fahrt wartet verlogenes Erlöserpathos inszeniert als Elbenkitsch à la Peter Jackson, um den Zuschauer mit dem Tod der Heldin zu versöhnen.

Das alles ist professionell und nicht ohne Liebe zum Detail umgesetzt, nimmt sich aber leider viel zu ernst und unterschätzt sowohl seine Zuschauer als auch die Möglichkeiten des Kinos. Ja, das Kino ist auch Traumfabrik, aber „Pans Labyrinth“ ist wie ein erzählter Traum. Alles wird ausformuliert und bis zum Erbrechen gezeigt, aus dem Off tönt ein Märchenonkel, jeder Schrecken bekommt seinen Spezialeffekt verpasst. Mit jeder ausgestellten Brutalität gerät der Film mehr zum Grand Guignol, während der reale Schrecken des Franco-Regimes zur bloßen Kulisse verkommt. Das Märchen hat gewonnen. (Als Preis einen Oscar für das Make-up und einen für das Szenenbild!)

Erices „Der Geist des Bienenstocks“ spielt ebenfalls in den Anfangsjahren der franquistischen Diktatur und erzählt von dem Mädchen Ana, das mit seiner Familie in einem kleinen kastilischen Dorf lebt. Der Alltag ist geprägt von Monotonie und Schweigen, doch als eines Tages ein Wanderkino ins Dorf kommt und Whales „Frankenstein“ aufführt, beginnt Ana unter dem Einfluss der Kinobilder ihre Welt mit neuen Augen zu sehen.

Der Film entstand zu Beginn der siebziger Jahre in Spanien, als alle Filme einer strengen Zensur unterlagen. Wohl auch deshalb ist „Der Geist des Bienenstocks“ eine Allegorie von geradezu enigmatischer Subtilität geworden und stellt den Zuschauer vor eine intellektuelle Herausforderung beim Entschlüsseln der zahlreichen Symbole und Anspielungen. Ein großer Reiz des Filmes liegt in der Vieldeutigkeit seiner Bilder, wie sie „Pans Labyrinth“ mit seinen Doppelungen und Dichotomien fremd ist. Diese Ambiguität wirkt dabei niemals beliebig, sondern erhöht die Komplexität und Dichte der filmischen Diegese.

Beispielhaft hierfür ist die Inszenierung des Anwesens der Familie. Mal sieht es mit seinen gelben Wabenfenstern aus wie ein Bienenstock, in dessen Innern das automatisierte Familienleben abläuft. Dann erscheint es als verlassenes Geisterhaus, das den Schwestern Freiheit zum Toben bietet, aber gleichzeitig ihre Einsamkeit verbildlicht. Vor allem durch die Außenansichten wirkt das Gebäude mit seinen Zinnen wie eine Festung, bei der man nicht recht weiß, ob sie denn nun Schutz vor der Außenwelt bietet oder ob die Familie ihre Gefangenen sind. Das Private wird zum zwiespältigen Refugium vor dem Politischen, hier entstehen Zufluchten vor der gesellschaftlichen Realität.

Wo bei del Toro der Eskapismus in Form der Heldin Ofelia idealisiert und dem opportunistischen Verhalten der Erwachsenen gegenübergestellt wird, kennt „Der Geist des Bienenstocks“ zahlreiche Schattierungen der Realitätsflucht: Die Mutter schreibt Liebesbriefe, die ins Nichts führen, der Vater versinkt in der meditativen Betrachtung seiner Bienenstöcke und Anas ältere Schwester Isabel brütet dunkle Fantasien aus. Das eskapistische Verhalten ist hier einerseits eine Überlebensstrategie, insofern es Sehnsüchte erfüllt, die in der Realität des Faschismus nicht zu befriedigen wären, andererseits verstärkt es auch die Entfremdung von den anderen Familienmitgliedern und die eigene Isolation.

Ana, deren Vorstellungen stark vom Vater und vor allem von Isabel geprägt werden, verkörpert hingegen die Realitätsflucht als Keimzelle der Utopie. Die Fantasiewelten des Kinos ermöglichen ihr eine Distanzierung von der „wirklichen“ Welt und erlauben so erst deren Veränderung. Das kleine Mädchen – da ähnelt es den Protagonisten aus Produktionen des Studios Ghibli wie „Die letzten Glühwürmchen“ oder „Mein Nachbar Totoro“ – verliert sich nicht in der Imagination, sondern macht sie zum Teil seiner Realität und deutet diese neu. Der Eskapismus wird zum emanzipatorischen Akt erhoben.

„Der Geist des Bienenstocks“ ist ein Film der Möglichkeiten, ein demokratischer Film, in dem Sinne, dass er offen und zugänglich ist. Sein intellektueller Anspruch schließt sinnliches Erleben nicht aus. Er kennt die Welt der Märchen, wie uns sein Soundtrack und das einleitende „Es war einmal …“ verraten, er weiß um die Bildgewaltigkeit sakraler Kunst ohne gleich katholisch zu sein und nutzt die suggestive Kraft der Horrorfilme Whales und Brownings. Er kennt viele Fantasien, aber er verfällt ihnen nicht, er folgt ihren Konventionen und Klischees nicht bis zum bitteren Ende.

Es ist ein demokratischer Film, weil er dem Zuschauer Raum gibt, weil er erlaubt, den Blick schweifen zu lassen und selber den Fokus auszumachen. Er zwingt den Zuschauer nicht mit anzusehen, wie einem Mann eine zersplitterte Glasflasche ins Gesicht gerammt wird und verkauft das als Geschichtststunde.

In einer Szene hört man Anas Vater davon reden, dass er einen gläsernen Bienenstock konstruiert hat, um seine Bienen besser beobachten zu können. Dann blickt er unvermittelt in die Kamera, sein Blick ist schwer zu deuten. Sieht er auf uns, die Zuschauer hinter der vierten Wand, wie auf seine Bienen, die gut organisiert, aber frei von Vorstellungskraft sind? Oder sehen wir aus wie Ana, als sie zum ersten Mal Frankenstein auf der Leinwand erblickt, das Gesicht ein geisterhaftes Leuchten im Dunkel des Kinosaals?

Ein Sommersandtraum

(CH 2011, Regie: Peter Luisi)

Die Antwort liegt im Traum
von Wolfgang Nierlin

Zwischen Traum und Realität changiert Peter Luisis ebenso phantastische wie skurrile Komödie „Ein Sommersandtraum“. Gleich zu Beginn des doppeldeutigen, anspielungsreichen Films, wenn in Großaufnahme und Zeitlupe der Inhalt von einer …

Zwischen Traum und Realität changiert Peter Luisis ebenso phantastische wie skurrile Komödie „Ein Sommersandtraum“. Gleich zu Beginn des doppeldeutigen, anspielungsreichen Films, wenn in Großaufnahme und Zeitlupe der Inhalt von einer Tasse Kaffee in das gequälte Gesicht des Protagonisten Benno (Fabian Krüger) klatscht, findet diesbezüglich eine Art Übertragung statt. Denn im Gegenschnitt zu diesem Traumbild, das an einer späteren Stelle des Films als reale Handlung wiederkehrt, erreicht Benno mit seiner Freundin Patrizia (Florine Elena Deplazes) gerade lustvoll „seinen“ sexuellen Höhepunkt. „Ich liebe dich“, heuchelt daraufhin der Egoist, dessen innerer Konflikt bereits in dieser kurzen Montage konzentriert vorweggenommen ist.

Benno ist nämlich durchaus kein angenehmer Zeitgenosse. Einerseits pflegt er als Ästhet und penibler Philatelist ein geregeltes, von wiederkehrenden Ritualen und schönen Dingen bestimmtes Leben; andererseits gibt er sich misanthropisch, indem er Kunden übervorteilt, Freunde kritisiert und selbst vor flegelhaftem Benehmen und üblen Beleidigungen nicht zurückschreckt. Der kultivierte Menschenfeind mit dem geschmackvollen Äußeren befindet sich nämlich in einem Dauerclinch mit Sandra (Frölein Da Capo), die die unter Bennos Wohnung gelegene „ARTige BAR“ betreibt und dort zu nächtlicher Stunde mit diversen Instrumenten und einem Loopgerät als „Einfrauorchester“ probt. Benno fühlt sich in seiner Nachtruhe gestört („Ohren müssen nachts atmen.“) und beschimpft die passionierte Musikerin in rüpelhaftem Ton als „talentfrei bis zum Arsch runter“.

Dabei ist die Musik ein Traum, den beide träumen und der den Beethoven-Fan und die Tangospielerin verbindet. Doch während Bennos erträumten Auftritte als Dirigent in Dissonanzen untergehen, verliert er im wirklichen Leben auf zunächst unerklärliche Weise Sand und damit auch Gewicht. Bald ist das merkwürdige Phänomen, das weder ein Arzt noch ein Therapeut („eine interessante Metapher“) erklären können, nicht mehr zu verheimlichen. Benno nimmt immer mehr ab und scheint proportional zu den wachsenden Sandmassen regelrecht zu verschwinden. Dabei wird immer deutlicher, dass der Sand nicht nur seine verdrängen Gefühle zu Sandra verschlüsselt, sondern auch Ausdruck seiner notorischen Unehrlichkeit ist. Zudem entdeckt Benno, dass der Sand sich als wirksame Waffe und Träume produzierende Droge einsetzen lässt: „Wenn man an ihm riecht, schläft man ein.“

Nicht umsonst lautet der Schweizer Originaltitel von Peter Luisis Film „Der Sandmann“. Doch geht es dem Regisseur in seinem „modernen Märchen“ nach eigener Aussage mehr um das Spiel mit Erwartungen als um gezielte Referenzen und im Weiteren vor allem „um die Diskrepanz zwischen dem, was jeder Mensch sein könnte und dem, was er tatsächlich ist.“ „Die Antwort liegt im Traum“, sagt der von Benno konsultierte TV-Wahrsager Dimitri (Michel Gammenthaler). Tatsächlich ist der Sand als Symptom einer Störung, die immer wieder in absurde Situationen führt, zugleich das therapeutische Mittel, das im Traum eine Selbstkonfrontation ermöglicht und darüber hinaus eine (auch physische) Rückkehr ins wahre Leben und zur wahren Liebe.

Mr. Nice

(GB 2010, Regie: Bernard Rose)

Begnadeter Kiffer
von Wolfgang Nierlin

Bernard Roses Film „Mr. Nice“ über den legendären Drogenschmuggler Howard Marks Er sehe aus wie ein Drogenschmuggler, sagt Judy (Chloë Sevigny) bei ihrem ersten Date zu ihrem späteren Ehemann Howard …

Bernard Roses Film „Mr. Nice“ über den legendären Drogenschmuggler Howard Marks
Er sehe aus wie ein Drogenschmuggler, sagt Judy (Chloë Sevigny) bei ihrem ersten Date zu ihrem späteren Ehemann Howard Marks (Rhys Ifans). Tatsächlich ist der aus Wales stammende, in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsene Absolvent der Universität von Oxford nach ersten Drogenexperimenten mit Kommilitonen nicht nur clean, sondern auch gerade dabei, als angehender Lehrer ins bürgerliche Leben einzusteigen. Seine Aufsehen erregende Karriere als Drogendealer beginnt eher unfreiwillig, als er einem verhafteten Freund dabei behilflich ist, eine in Deutschland versteckte Haschisch-Lieferung nach England zu schmuggeln und zu verkaufen.

Bereits bei diesem ersten Deal zeigt sich der sympathische, einnehmende Typ als unbekümmerter Traumtänzer, der später unter dem Decknamen „Mr. Nice“ internationale Drogengeschäfte leitet und darüber hinaus komplizierte Kontakte zur IRA und dem englischen Geheimdienst MI6 pflegt. Zur Aufhellung dieser undurchsichtigen Verwicklungen trägt Bernard Roses Biopic über den ebenso legendären wie brillanten Lebenskünstler jedoch wenig bei. Auf der umfangreichen, unter dem Titel „Mr. Nice“ erschienenen Autobiographie von Howard Marks basierend, huldigt der Film vielmehr einem begnadeten Kiffer, trickreichen Lügner und unschuldigen Spieler, dem nicht nur „der Erfolg zu Kopf gestiegen“ ist, wie es einmal heißt, sondern dem die Droge buchstäblich das Bewusstsein erweitert.

Den „Nebelbomben“, die er vor Gericht mit Worten zündet, entsprechen gewissermaßen die permanenten Gras-Rauchschwaden, die seinen Kopf umwölken. Mit Humor und lustvollem Eskapismus huldigt Rose hier durchaus dem Drogenrausch und einem liberalen Haschischkonsum. Der Wechsel von Schwarzweiß zu Farbe initiiert dieses Leben auf der Überholspur, von dessen Süße Marks immer wieder nicht lassen kann und das schließlich in einer fast schon tragischen Ernüchterung des freiheitsliebenden Familienvaters mündet. Daneben ironisiert Bernard Rose das dilettantische Schmugglerwesen der 1970er Jahre, als illegale Geschäfte noch via öffentlichem Fernsprecher und codierter Sprache abgewickelt wurden. Von den „43 Decknamen, 89 Telefonanschlüssen und 25 Firmen“, die im Werbeflyer angekündigt werden, kommt im Film jedenfalls nichts vor.

Vier Leben

(I / D / CH 2010, Regie: Michelangelo Frammartino)

Stufen der Verwandlung
von Wolfgang Nierlin

Als schwebte es in den Wolken, liegt hoch oben auf schroffem Fels ein abgelegenes Dorf im Hinterland Kalabriens. In ihm sind die Gassen eng und steil, die Wege beschwerlich und …

Als schwebte es in den Wolken, liegt hoch oben auf schroffem Fels ein abgelegenes Dorf im Hinterland Kalabriens. In ihm sind die Gassen eng und steil, die Wege beschwerlich und das Leben ärmlich. Noch immer folgt es jahrhundertealten Traditionen und archaischen Ritualen und ist dabei sowohl von tiefer Frömmigkeit als auch von heidnischem Aberglauben durchdrungen. Wenn der alte, kranke Ziegenhirte, der in der ersten Episode von Michelangelo Frammartinos beeindruckendem Film 'Vier Leben“ ('Le quattro volte') im Mittelpunkt steht, abends ins Bett geht, löst er in einem Glas Wasser Staub vom Kirchenboden auf und trinkt diese Mischung als Medizin. Morgens, bevor er seine Ziegenherde auf die Bergweide treibt, erwirbt er seine Tagesdosis im Tausch gegen eine Flasche Milch von der Kirchendienerin.

Sichtbare und unsichtbare Rhythmen durchziehen dieses Leben und seine Natur als Wechselspiel zwischen Form und Materie. Dabei korrespondieren die wiederkehrenden Strukturen des Alltags mit der stetigen Verwandlung und Erneuerung des Lebens. Mit ethnographischem Interesse und dokumentarischem Blick, der seine Fiktionen aus der konzentriert-beschaulichen Beobachtung gewinnt, folgt Frammartino diesen natürlichen Kreisläufen und Transformationen, die ihm Ausdruck einer Seelenwanderung sind. Als der alte Hirte eines Nachts stirbt, verjüngt sich sein Atem in der Geburt eines kleinen Zickleins und dessen ersten, tapsigen Gehversuchen. Später wird dieses hilflose Geschöpf seine Herde verlieren und blökend unter einer alten Tanne Zuflucht suchen, wo es stirbt und so in den stofflichen Kreislauf des Baumes übergeht. Dieser wird schließlich gefällt und in einem alten Brauch auf dem Dorfplatz aufgestellt, bevor sein Holz in einer traditionellen Köhlerei in Kohle verwandelt wird.

Michelangelo Frammartino bezieht seine Seelenwanderung, die als wiederkehrender Kreislauf vom Bild des rauchenden Kohlenmeilers gerahmt wird, auf den frühen Kalabresen Pythagoras. Dessen philosophische Anschauung schreibt jedem Menschen vier Leben zu, die gleichzeitig ineinander verschränkt sind: neben dem vernunftbegabten noch ein tierisches, ein pflanzliches sowie ein mineralisches. Frammartino wiederum übersetzt diese Anschauung nicht nur in die lineare zeitliche Struktur seines Films, sondern auch in eine anti-hierarchische, dezentrale Erzählweise, die ihre Perspektive ständig ändert.

So werden Mensch und Tier, Pflanzliches und Unbelebtes gleichermaßen zu Handlungsträgern. Die Objekte führen gewissermaßen ein Eigenleben und besitzen insofern eine eigene Geschichte, was Frammartino beispielsweise anhand der Verwendungsweise eines Steins sichtbar macht. Alles erscheint beseelt und in einem Prozess sich ablösender Wirkungen, Verschiebungen oder auch funktionaler Übergänge begriffen: Etwa wenn auf berührende Weise aus dem einst sorgenden Hirtenhund und bald darauf herrenlosen Bewacher der Herde gegen Ende des Films ein einsamer Streuner geworden ist. Frammartinos Verzicht auf Dialoge ist dabei dieser multiperspektivischen Vielstimmigkeit geschuldet, in der das Blöken der Ziegen, der helle Klang ihrer Glöckchen, das dumpfe, einem Herzschlag verwandte Klopfen der Köhler, der blechern hohle Klang der Holzkohle und der röchelnd ausströmende Atem des sterbenden Hirten ihre eigene und doch so ähnliche Sprache sprechen.

Naokos Lächeln

(J 2010, Regie: Tran Anh Hung)

Revolte der Körper
von Michael Schleeh

Die Studentenunruhen in den sechziger Jahren in Japan, vor allem in Tokyo, bildeten den historischen Kontext, vor dem Haruki Murakami seinen Roman „Naokos Lächeln“ (1987) ansiedelte. Dass der Roman zu …

Die Studentenunruhen in den sechziger Jahren in Japan, vor allem in Tokyo, bildeten den historischen Kontext, vor dem Haruki Murakami seinen Roman „Naokos Lächeln“ (1987) ansiedelte. Dass der Roman zu einem Weltererfolg wurde, lag allerdings nicht an dessen politischen Implikationen, sondern an der für viele Leser griffigen Darstellung einer fragilen adoleszenten Liebesgeschichte zweier, oder eigentlich dreier einsamer Seelen, die in diesen turbulenten Zeiten aufeinander zu-, und voneinander wegdriften. Tran Anh Hungs Adaption des Romans bleibt ganz bei seinen Figuren, die mit einem schweren Trauma fertig werden müssen: Urplötzlich und scheinbar grundlos hat sich der beste Freund das Leben genommen.

Yasuzo Masumura, einer der großen Regisseure der japanischen Nouvelle Vague, hatte schon in seinem großartigen und hier leider viel zu unbekannten Film „A False Student“ (1960) schon eine ganz ähnliche Geschichte vor demselben Hintergrund erzählt; allerdings deutlich weniger gefühlig, politischer, gesellschaftskritischer und mit einer lakonischen Ruppigkeit, bei der man spüren konnte: hier geht es um was.

In Tran Anh Hungs elegantem und ausufernd üppigem, zweistündigem Film geht es vor allem um Bilder. Um schöne Bilder. Hier reiht sich eine sehenswerte Komposition an die andere, und nur selten gerät ihm ein prätentiöser Ausrutscher dazwischen (etwa, wenn Watanabe im Schwimmbad einsam vor einer Mauer steht, bedeutungsschwanger links außen an den Bildrand gelehnt; oder auch, wenn man die wogenden, saftig-grünen Wiesen um das Sanatorium bewundern darf, in das sich die Protagonistin zurückgezogen hat, und man plötzlich rechts oben im Bildwinkel auf einem Pfad Watanabe und Naoko entdeckt, passend mit weißen T-Shirts, en miniature, sich durch ihr Wiedersehen jagend). Die Revolte der Studenten, die stets in Massen (-Körpern) auftreten, interessiert den Regisseur allerdings wenig – sie dienen lediglich dazu, um Watanabes Außenseiterstatus zu illustrieren. Denn Watanabe ist Literat, der sich mit seinem Buch zurückzieht. Ganz anders jedoch die Revolte von Naokos Körper – diese interessiert ihn sehr. Und so darf man bis zur Unaushaltbarkeit immer wieder den sexuellen Problemen junger Liebender lauschen, die trotz aller verhuschter Zurückhaltung scheinbar offen darüber sprechen, wieder einmal „nicht feucht“ zu werden.

Gebetsmühlenartig werden Naokos Feuchtigkeitsdefizite durchgesprochen, bis man sich als Zuschauer vor Fremdscham kaum mehr im Sessel halten kann. Die deutsche Synchronisation tut dazu ihr Übriges: Auch in „Naokos Lächeln“ werden asiatische Frauen bevorzugt von Piepsstimmen synchronisiert, was für den, der sich in den O-Tönen des Ostens auskennt, eine grobe Verzerrung darstellt. Und dann offenbart sich ein weiteres Problem des Films: die häufig sehr öden und platten Dialoge Murakamis. So gut es ihm gelingt, die Gefühle der Einsamkeit, der Isolation in der Großstadt und der generellen Verunsicherung seiner jugendlichen Helden darzustellen, so deutlich wird vielerorts, dass seine Figuren einfach nichts zu sagen haben. Hier herrscht der totale communication breakdown. Immer wieder bleiben sie in den allerunpersönlichsten Plattitüden stecken, sodass man sich durchaus fragen darf, woher die Anziehung zwischen den Geschlechtern überhaupt rührt. Viele Entwicklungen des Plots wirken lediglich behauptet, da kann die Kamera den Figuren noch so dicht auf den Leib rücken.

Dieser enorm ruhige und langsam erzählte Film gerät zu einer Aneinanderreihung wunderschön und genüßlich anzuschauender Szenen, deren emotionaler Zusammenhalt sich nicht nachfühlen lässt, und deswegen schlicht fremd bleibt. Eine Nähe zu den Figuren aufzubauen, ist kaum möglich, und wenn man also zwangsmetapoetisiert als Außenseiter vor dem Film sitzt wie der Protagonist vor seinem Leben, dann wünscht man sich, der Film nähme alsbald sein stilles Ende. Eine Folterbank bleibt eben eine Folterbank. Auch wenn sie schön anzuschauen ist und exotisch daherkommt.

Mein Essen mit André

(USA 1981, Regie: Louis Malle)

Ein Unikat auf DVD
von Andreas Thomas

Es ist schon fantastisch, wie dieser Film einen immer wieder neu zu fesseln vermag. Der Franzose und Mitbegründer der Nouvelle Vague Louis Malle, Regisseur von so unterschiedlichen Filmen wie „Fahrstuhl …

Es ist schon fantastisch, wie dieser Film einen immer wieder neu zu fesseln vermag. Der Franzose und Mitbegründer der Nouvelle Vague Louis Malle, Regisseur von so unterschiedlichen Filmen wie „Fahrstuhl zum Schaffott' (1957), „Zazie' (1960), „Das Irrlicht' (1963), „Herzflimmern' (1970), „Gottes eigenes Land' (1979) oder „Auf Wiedersehen, Kinder' (1987), hat merkwürdigerweise mit einem ganz unfilmischen Film demonstriert, welche Möglichkeiten stecken in der Methode Film und welche Gedankenwelten in ihm selbst.

Wobei schon da die Fragerei anfängt, die „Mein Essen mit Andrè' (1981) schier unermüdlich produziert, denn der Film wurde von Malle ja 'nur' gedreht, und von André Gregory, einem New Yorker Theaterregisseur und Wallace Shawn, einem New Yorker Bühnenautor und Schauspieler, gemeinsam geschrieben.
Laut Aussagen von Gregory (im Bonusmaterial der DVD) gab es tatsächlich zuerst ein Script von buchstäblich an die 5000 Seiten, welches aus langen, auf Tonband aufgezeichneten Gesprächen zwischen den beiden befreundeten Männern entstanden war, lange bevor es einen Regisseur zum Film gab. Für die endgültigen Aufnahmen im Film wurde dann schließlich ein auf zwei Stunden gekürzter Text „sehr intensiv“ geprobt, so dass alles, was hier wie ein frei improvisiertes Gespräch zwischen zwei real existierenden Personen über ihre real existierenden Biografien erscheint, in Wahrheit das Ergebnis wochenlanger Vorarbeit ist.

Über ihr Leben reden Wallace und André, und weil sie ihre Existenz – und unmittelbar damit verknüpft ihre Arbeit – nicht als etwas von der Gesellschaft Losgelöstes verstehen, ist ein Gespräch über ihre persönlichen Konflikte, Erfahrungen, Ziele und Hoffnungen für sie auch ein Gespräch über das Sein in der Gegenwart (von 1980).

Eingerahmt ist der Dialog durch die Anfahrt und den Nachhauseweg von Wallace Shawn, der im Off kommentiert, warum er mit gemischten Gefühlen und angespannt zu der Verabredung mit dem, wie er gehört hat, in letzter Zeit sehr labilen André unterwegs ist. Aus Wallaces Perspektive also wird das Treffen in einem edlen New Yorker Restaurant gezeigt, der zunächst dem Zuschauer schildert, mit welchen Mühen sein – eher erfolgloses – Dasein als Autor und Kleindarsteller verbunden ist. Als ein Mensch mit geregeltem Tagesablauf und mit seinem unauffälligen Äußeren – er ist klein, etwas untersetzt und hat mit 35 Jahren bereits eine Halbglatze – entspricht er so gar nicht dem Klischees des Künstlers, welches der ältere André dagegen mehr als ausfüllt: André ist ein buchstäblicher Lebemann; in dem Sinne, dass er das Leben in allen seinen Ausprägungen schon lange über seine Arbeit als Regisseur gestellt hat, aber was für ein Leben…

Für mehr als zwei Drittel des Films nimmt sich André die Zeit, spannend, unterhaltsam, aber auch verwirrt über seine Versuche zu berichten, Konventionen zu überwinden, zunächst Konventionen des Theaters. Lebendiges Theater kann für ihn kaum mehr auf einer Bühne stattfinden, selbst Sprache ist ihm zu viel Begrenzung, so dass er in Polen mit 40 nicht englisch sprechenden Frauen, die eigentlich nicht Theater spielen wollen, eine 20-stündige Improvisation in einem Wald „inszeniert“ hat, eine Inszenierung ohne Regie. Seine Maxime, Dinge nur aus der Situation selbst heraus entstehen zu lassen, sein rigoroser Freiheitsdrang, spiegelt sich auch in seinem Privatleben. Obwohl er verheiratet ist und Kinder hat, verlässt er häufig seine Familie, etwa um ein halbes Jahr in der Wüste oder in Indien zu meditieren, oder die Welt vom Gipfel des Mount Everest aus zu betrachten. Sein Leben ist ein unaufhörliches Selbsterfahrungsprojekt bzw. eine nie endende Suche nach einem existenziellen Sinn. Diese Suche, die durch seine radikale Ablehnung bestehender Normen konsequenterweise immer dominanter geworden ist, hat André immer mehr zur Mystik, zur Esoterik und zu einem Glauben an Übersinnliches, in eine verklausulierte Welt jenseits einer vernünftigen Realität geführt, schließlich an den Rand des Wahnsinns. Denn André hat Halluzinationen, ihm sprechen Fabeltiere Mut zu, die außer ihm kein anderer sieht.

Um es noch einmal klarzustellen: Der Film zeigt tatsächlich fast nur den (erschrockenen, deshalb nach vorn ins Interesse flüchtenden) Wallace und meistens sein Gegenüber am Tisch, den ziemlich mitgenommenen André der mit fiebrigen Augen über sein Leben erzählt, es gibt keine visualisierenden Rückblenden, keine szenische Aufbereitung von Andrés Erinnerung. Und trotzdem ist der Film spannend. Trotzdem, vielleicht gerade deshalb, entsteht vorm geistigen Auge des Betrachters eine Welt, ein Leben, ein Mensch.

Wie oft nehmen wir uns schon die Zeit, Menschen, mit denen wir zu tun haben, genau zu betrachten, sie erzählen zu lassen, sie auf uns wirken zu lassen. „Mein Essen mit André“ nötigt uns dazu, einem Fremden zuzuhören, ist, so gesehen, auch eine Art Wahrnehmungsschule – aber auch der Beweis dafür, dass charismatische, exaltierte, manische Leute, weil sie ein Publikum brauchen, eines bekommen können.

André interessiert sich kaum für Wallace, er hört ihm höflich zu, wenn der, eher stammelnd, seinen einfachen Lebenssinn zu beschreiben versucht: Die Vorfreude auf eine Tasse kalten Kaffees, die ihn am Morgen erwartet, die ganze Nacht über bedeckt mit einer Untertasse, damit keine Fliegen herein geraten. Und eine neue elektrische Heizdecke, die in der kalten New Yorker Wohnung ein wahrer Segen für ihn und seine Frau ist, und ihm so merkwürdig schöne Träume beschert. Und die Autobiographie von Charlton Heston (Wir schreiben 1980 und Heston ist noch nicht Präsident der US-Waffenlobby). Außer seiner Arbeit gibt es nicht viel mehr in Wallaces Leben, aber er scheint damit glücklich sein zu können. Ja, er betont, wie zufrieden ihn die kleinen Dinge des Lebens machen.

Die Verschiedenheit beider Protagonisten ist es, die den Film zu einem Abenteuer macht. Auf der einen Seite der nonkonformistische Sucher, der Aktionist, der Ruhelose. Auf der anderen der bürgerliche, bescheidene Familienmensch. Beide treffen sich in ihrer Eigenschaft als Künstler, Theaterleute, und als Intellektuelle. Und beide stimmen darin überein, dass etwas mit den Menschen nicht mehr stimmt. André zitiert Foucault: „New York ist ein Überwachungslager.“ Und er erläutert – ganz im Foucaultschen Sinn – : „Die Individuen wollen sich überwachen lassen.“ Eine Zombiewelt. Für André ist es höchste Zeit zur Flucht in abgeschiedene esoterische Klöster, in denen man plant, den UFOs, wenn sie kommen, zu signalisieren: Hier, in dieser Enklave, gibt es noch richtige Menschen. André ist ein manischer Apokalyptiker; eigentlich trägt er seinen individuellen Untergang immer bei sich. Wenn es langweilig wird, holt er ihn heraus und legt ihn auf den Tisch. Deshalb wird es nicht langweilig mit ihm. Der Mann ist reines Theater. Und dazu ist er eine Fusion aus dem, was von der Hippiebewegung und einer linken, antiautoritären Kultur am Ende der Siebziger übrig war. Die radikale Ablehnung aller gesellschaftlicher Normen hat ihn orientierungslos werden lassen, die Werte seiner Gegenwelt: radikale Selbsterfahrungstrips, Mystizismen, esoterische Ersatzreligionen haben ihn einer funktionierenden Kritikfähigkeit beraubt und seine Wahrnehmung getrübt. Er ist unfähig zu einer emotionalen Distanz gegenüber der Außenwelt geworden. Dennoch hat seine radikale Naivität, seine verwirrte Depressivität etwas Charmantes, Bezwingendes, Wahrhaftiges. Seine verzweifelte Suche nach Antworten hebt ihn positiv ab vom Durchschnittsmenschen, der alles mitmacht, ohne zu wissen oder zu fragen warum. Vielleicht ist ja Andrés Problem nur, dass er immer das Kind mit dem Bade ausgeschüttet hat.

Wallace wendet höflich ein: „Wenn du mitbekommen würdest, was dort drüben geschieht, in dem Zigarrenladen gegenüber vom Restaurant – es würde dich förmlich umhauen – da ist genau so viel Realität wie auf dem Mount Everest.“

Gehen wir mal davon aus, dass Paul Auster „Mein Essen mit André“ kennt. Wenn nicht, scheint das mit den New Yorker Zigarrenläden zu stimmen, denn der Film „Smoke' (1995) von Wayne Wang nach dem Buch von Auster setzt genau Wallaces Idee um, das Universum in einen Zigarrenladen zu verlegen. Nicht nur deshalb ist „Mein Essen mit André“ auch einer dieser magischen Filme über die Stadt New York, von der man im Film nicht viel sieht, aber spürt; ein Film über das New York, also auch über eine US-Wirklichkeit, zu Beginn der achtziger Jahre, ein Film über die Rolle der Kunst, ein Film über zwei Individuen, über deren Standortbestimmungen in ihrer Zeit, einer Zeit, die über ein Vierteljahrhundert vergangen ist, aber deren Hauptfrage – fast tröstlicherweise – scheinbar immer noch dieselbe geblieben ist: Ist das, was wir unsere Zivilisation nennen, nur noch eine entfremdete Produktionsmaschine auf dem Weg in ein Nichts?

Tiefer gehend aber, hinter dem ganzen Theater, stehen die Fragen: Was sind wir, was können wir tun, was bleibt von uns? Dass die uralte menschliche Ratlosigkeit bei André und Wallace immer mit am Tisch sitzt, dass der Film uns immer in seine Fragen einbezieht, dabei aber keine Antworten diktiert, macht ihn lebendig und zeitlos und deshalb zu einem Juwel.

Zur DVD:
Auf einer schön gestalteten DVD, die nun von www.pierrotlefou.de auf den Markt gebracht wird, befinden sich zusätzlich zum Film zwei offenbar später geführte erhellende Interviews mit den beiden Protagonisten in englischer Sprache, die leider nicht mit deutschen Untertiteln versehen sind, aber durch das vorbildlich gesprochene Englisch auch für den Normalverbraucher verstehbar sind. Wer diese Interviews zu welchem Zeitpunkt gemacht hat, ist leider nicht auf der DVD vermerkt.

Gottes eigenes Land

(USA 1986, Regie: Louis Malle)

Der Mann mit der Kamera ... Teil 1
von Michael Schleeh

Louis Malle ist einer der großen Eklektiker des europäischen Kinos. Sein Oeuvre ist bekanntermaßen äußerst vielgestaltig und reicht von den Anfängen der Nouvelle Vague, über den klassisch anmutenden Spielfilm bis …

Louis Malle ist einer der großen Eklektiker des europäischen Kinos. Sein Oeuvre ist bekanntermaßen äußerst vielgestaltig und reicht von den Anfängen der Nouvelle Vague, über den klassisch anmutenden Spielfilm bis hin zu den anthropologischen Studien des Dokumentaristen. Nachdem neben den filmischen Hauptwerken bereits vor kurzem Malles Indien-Filme erschienen sind, legt das Label Pierrot le Fou nun auch eine Auswahl seiner amerikanischen Arbeiten vor: eine 3 DVD-Edition, die neben „Mein Essen mit André“, die beiden dokumentarischen Arbeiten „Gottes eigenes Land“ und „… und das Streben nach Glück“ enthält.

In „Gottes eigenes Land“ wird man ohne Vorspann oder Eröffnung mitten hineingeworfen: eine Frau Ende Achtzig jätet den üppigen Garten vor ihrem Haus und hat eine lustige Haube auf. Der Regisseur spricht recht laut zu ihr, macht Smalltalk, und sie gibt bereitwillig Auskunft. Zunächst vermutet man, da will etwas entlarvt werden. Provinzielle Kleingeistigkeit etwa, doch da sich der Fragende zurückhält, bliebe nur noch die Selbstentlarvung – die sich aber nicht einstellen will. Nein, nach diesem kurzen Gespräch über ein Blumenbeet steigt der Filmemacher wieder in seinen Wagen und fährt einfach davon.

Dann erst kommt der eigentliche, gesprochene Prolog dieses wie aus dem Bauch heraus gedrehten Films. Von Louis Malle in flüssigem, leicht französisch akzentuiertem, aber ansonsten tadellosem Englisch gesprochen: er sei eigentlich auf der Durchreise, aber diese Kleinstadt Glencoe habe ihn sofort eingenommen. Da sei er kurzfristig geblieben um ein Portrait dieses Orts in Minnesota zu erstellen; Glencoe, ein scheinbar typisches amerikanisches Nest mit etlichen Farmen, Kirchen, beflaggten Grundstücken und sauber gepflegten Rasenflächen. Im Folgenden interviewt Malle scheinbar wahllos alle Bürger, die ihm vor die Kamera kommen und die gewillt sind, mit ihm zu sprechen. Und das sind viele, denn die Menschen in Glencoe sind freundlich und offen. Zumindest auf den ersten Blick. Farmer, Polizisten, Rentner, Politiker, städtische Angestellte, ein gutgelaunter Rindviehbesamer („Ich habe schon 40.000 Kühe besamt!“), die Mitglieder einer Laientheatergruppe, Kellnerinnen und Supermarktbesitzer. Er wird zum Abendessen eingeladen oder darf den Alltag einer jungen Farmersfamilie begleiten, die sich vor der Kamera ganz natürlich gibt und mit großer Offenheit auf seine Fragen eingeht. Er erkundigt sich zu ihrer Herkunft, ihren Wünschen und Träumen, zum Alltag und den Arbeitsabläufen, wie man die Freizeit gestaltet und warum es keine Schwarzen in Glencoe gibt. Worauf die Antworten dann spärlicher ausfallen und sie durchaus zuzugeben bereit sind, dass in der Kleinstadt ein latenter Rassismus vorzuherrschen scheint. Jedoch ist hier kein Investigator am Werk: Malle hat es nicht darauf abgesehen, den Finger auf Wunden zu legen, Verdrängtes hervorzuzerren oder seine Gesprächspartner mit Tabuthemen zu konfrontieren. Denn diese Auslassungen und Ungemütlichkeiten thematisieren sich auch von selbst. Etwa im Gespräch mit einer jungen Frau, die mit 27 Jahren nach vorherrschender Meinung beinahe schon zu alt zum Heiraten sei, die dann, durch geschicktes Stichwortsetzen Malles angeregt, nicht allzuviel Positives über das Geschlechterverhältnis auf dem Lande berichten kann – und so, über Umwege, zum heiklen Thema Homosexualität und Rassismus gelangt. Doch Malle bleibt zurückhaltend, fordert sanft heraus und bricht bald ab, da es der Frau sichtlich unangenehm ist, weiter über diese Themen zu sprechen. Der Filmemacher verrät seinen Betrachtungsgegenstand nie, was ihm hoch anzurechnen ist; allenfalls nimmt man einen feinen Hauch von unausgesprochener Ironie wahr, der sich zwischen den Zeilen und in den Bildern, also in den Gesichtern, lesen lässt. Und so reiht er ein Gespräch ans nächste, bis sich ein eigener Kosmos zu vervollständigen scheint, und der Betrachter in den Zeitsprung entlassen wird.

Denn in den letzten 10 Minuten des Filmes findet Malle zu einer Art Résumée, wenn er sechs Jahre später in die Ortschaft zurückkehrt. Wieder trifft er die ergraute Dame, nun 91 Jahre alt, in ihrem Vorgarten, und sie erinnert sich lebhaft an ihn. Das Wiedersehen ist herzlich. Die Besuche bei den anderen Interviewten allerdings fallen weniger euphorisch aus. Man freut sich, den Franzosen mit der Kamera wieder zu sehen, doch die Stimmung ist gedrückt. Die Wirtschaftskrise unter Reagan hat sich verstärkt, die Einkommen der Farmer sinken kontinuierlich. Der wirtschaftliche Abschwung hat vielen den Job gekostet, die hart arbeitenden Menschen kämpfen um ihre Existenz. Und so wird ganz am Ende „Gottes eigenes Land“ zu einem politischen Statement zur Lage des Landes, das seine Bürger ernüchtert und erbost zeigt: ein Film der zerstörten Träume und verflogenen Hoffnungen. Vom großen Optimismus der Jahre zuvor ist nichts geblieben. „Gottes eigenes Land“ schließt mit der verbitterten Ernüchterung dieser durchweg sympathischen Menschen.

… und das Streben nach Glück

(USA 1986, Regie: Louis Malle)

Der Mann mit der Kamera ... Teil 2
von Michael Schleeh

Die Vereinigten Staaten als Land der Einwanderer: In dieser, vom Fernsehsender HBO in Auftrag gegebenen Dokumentation, portraitiert Louis Malle die Lebensumstände der Menschen, die den Verheißungen des American Dream gefolgt …

Die Vereinigten Staaten als Land der Einwanderer: In dieser, vom Fernsehsender HBO in Auftrag gegebenen Dokumentation, portraitiert Louis Malle die Lebensumstände der Menschen, die den Verheißungen des American Dream gefolgt sind und sich in der Hoffnung auf ein materiell besser gestelltes Leben in den USA niederließen. Louis Malle, der selbst 1974 in das Land emigrierte, reist kreuz und quer durch die Staaten und führt unzählige Kurzinterviews mit Arbeitslosen, Lehrern, Ärzten, Computerprogrammierern und sogar einem Astronauten, dessen Griff nach den Sternen sich am Sinnbildlichsten erfüllt haben dürfte.

Aber auch die negativen Seiten werden nicht ausgespart: etwa die langen Reihen der mexikanischen Tagelöhner am Straßenrand, die unter haarsträubenden Bedingungen jeden Tag aufs Neue illegal den Grenzübertritt riskieren, Familien zurücklassen und dennoch kaum Arbeit finden. An einem anderen Beispiel werden die Rivalitäten zwischen ghettoisiert lebenden Schwarzen mit den neu hinzukommenden Vietnamesen dargestellt. Eine junge Dame klagt über die eskalierende Gewalt und unterstellt der Stadt, Schikane zu betreiben. Die Blocks befänden sich nahe dem Stadtzentrum und seien somit wertvoller Baugrund. Da die schwarze Community aber ihre Rechte kenne und sich nicht so leicht vertreiben lasse, versuche man immer mehr Vietnamesen ins Viertel zu drängen, die in ihrer hilflosen Autoritätsgläubigkeit weit weniger schwierige, das heißt: informierte Bewohner seien und somit schneller vertrieben wären, wenn das Viertel für die Baumaßnahmen zu räumen sei. Auch ein Interview mit dem karibischen Literaturnobelpreisträger Derek Walcott schlägt kritische Töne an. Dieser sieht im amerikanischen Freiheitsmodell eine lediglich suggerierte, und rein materielle Befreiung: die des Geldes. Freiheit des Menschen bedeute vor allem eine individuelle, wirtschaftliche Freiheit, die wiederum mit Unfreiheit erkauft werden müsse: der passgenauen Eingliederung in ein streng reglementiertes gesellschaftliche System, das Verhaltensnormen vorschreibe, Kleidung, Lebensziele usw. diktiere.

In überwiegendem Maße aber werden die positiven Aspekte des „Melting Pot“ dargestellt. Menschen, die euphorisch und voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft einen Neuanfang wagen, die sich, im Bewusstsein, dass jeder Amerikaner ein Immigrant sei, beweisen wollen, wozu sie fähig sind. Und einige von ihnen legen beeindruckende Karrieren hin. Leute, die Schulabschlüsse nachholen, sehr schnell studieren und anschließend großen Erfolg im Beruf haben, in Häusern mit mehr als zehn Zimmern leben. Das Mosaik, das Malle hier genauer beleuchtet, gibt einen guten Eindruck der verschiedenen Volksgruppen und komplexen, leidgeprüften Biographien, der dem Phänomen einen allgemeingültigen, universellen Charakter verleiht.

Einen narrativen Rahmen wie in „Gottes eigenes Land“ lässt sich in „… und das Streben nach Glück“ allerdings nicht finden, weshalb gegen Ende manches Interview willkürlich und parataktisch hinzuaddiert wirkt. Durch Malles unangestrengte Art des Fragenstellens dringt er zwar nicht in die Tiefe, jedoch vermittelt sich mit seinen dokumentarischen Arbeiten genau das, was das Land auszumachen scheint: Es stellt sich der Eindruck einer endlosen, flächigen Ausdehnung ein, einer großen Weite mit einer heterogenen Bevölkerung, von einer Erkundung also, die in die Breite geht und sich gerade deshalb sinnbildlich zu ihrem Gegenstand verhält. Lediglich das vollständige Fehlen von Bonusmaterial dämpft den positiven Eindruck dieser hervorragenden Veröffentlichung etwas.

Salami Aleikum

(D 2008, Regie: Ali Samadi Ahadi )

Heimatkunde
von Dietrich Kuhlbrodt

Der Titel des Films: schon nicht mehr peinlich, sondern schlicht doof. Hat man erst mal diese Schwelle hinter sich, passiert Ungeheures. Ich hab im Kino seit sehr langer Zeit wieder …

Der Titel des Films: schon nicht mehr peinlich, sondern schlicht doof. Hat man erst mal diese Schwelle hinter sich, passiert Ungeheures. Ich hab im Kino seit sehr langer Zeit wieder Tränen gelacht, und das in einem deutschen Film. Außerdem hab ich den Film in mein Herz geschlossen. Ich küsse hiermit öffentlich Regisseur Ali Samadi Ahadi und seine Crew. Denn sie habens hingekriegt, dass das, was Sozialdrama, Tragödie und deutscher Problemfilm sein könnte, überwältigende Komödie geworden ist, in der die Situationen zugespitzt und wahr werden. Weil man nicht über Komiker lachen muss, die irgendwen vorführen.

Ja, ich drück mich davor, die Story zu erzählen. Obwohl es korrekt wäre. „Salami Aleikum“ lebt jedoch vom Inkorrekten. Aber seis drum. Also was für Situationen? Trifft der schüchterne kleine Iraner aus der Metzgerei in Köln auf die große, Anabolika gestärkte ex-DDR-Kugelstoßerin in den Ruinen des VEB Oberniederwalde. So könnte ein Witz anfangen. Tatsächlich auferstehen die beiden wie auch sämtliche Loser in der neudeutschen Provinz aus den Ruinen. Im culture clash konnten alle ihre dämlichen Sprüche loswerden. „Wir haben ja nichts gegen Ausländer, aber..“. Nur wer im rechtsextremen Hintergrund verharrt und außerdem Nebenbuhler ist, bekommt sein Fett weg (Kiefernbruch durch Anabolikerinnenfaust). Die Wessibullen („Ah, da haben wir den Orient“) müssen draußen bleiben im finstren Wald. Alle anderen werden Helden im Bollywoodstil mit großen Tanznummern und noch ungelenken, aber hingebungsvollen Ossischritten im Orienttakt (Musik: Ali N. Askin). Klar, dass Metzgerschüchterling Navid Akhavan jetzt als der Popstar rauskommt, der er im wirklichen Leben ist (rechtzeitig Karten kaufen!).

Aber wieso soll das „Salami Aleikum“-Märchen wahr sein? Nur, weil ich es behaupte? Grund dürfte vielmehr sein, dass Regisseur Ali Samadi Ahadi die vielen aberwitzigen Situationen erlebt hat. Die Idee zum Film hatte er schon, als noch die Abschiebung drohte. Nach den schwierigen „Lost Children“ ließ er dann zu, was in ihm steckte. Den Fan der Bollywood-Filme. Die Lust am Fabulieren. Animationen im Spielfilm. Das sprechende Lamm Wojtyla, das den Film kommentiert. Irrwitzige Einfälle, wie man sie in einem deutschen Film nicht gesehen hat. Ali Samadi Ahadi ist ganz bei sich. Man könnte sagen, in einer neuen Heimat. Und die teilt er im Film mit den Ossis, die dem VEB Textile Freuden nachtrauerten und jetzt Geschmack an der Ausländerküche finden. An Gesang und Tanz. In der altneuen Heimat Oberniederwalde.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 7/2009

Die Schlacht an der Somme

(UK 1916, Regie: Geoffrey H. Malins, J.B. McDowell)

Eben noch im Schützengraben, jetzt schon auf der Leinwand
von Harald Mühlbeyer

Dem Beginn der Schlacht an der Somme am 1. Juli 1916 ging ein mehrtägiges Artillerie-Trommelfeuer auf deutsche Stellungen voraus. Doch die waren keineswegs geschlagen – und der Sturmangriff der Engländer …

Dem Beginn der Schlacht an der Somme am 1. Juli 1916 ging ein mehrtägiges Artillerie-Trommelfeuer auf deutsche Stellungen voraus. Doch die waren keineswegs geschlagen – und der Sturmangriff der Engländer wurde zum verlustreichsten Tag in der britischen Militärhistorie. Die Zeit vom 25. Juni bis 8. Juli an den britischen Frontlinien begleiteten zwei Kameramänner, die als offizielle Filmberichterstatter – embedded journalists sozusagen – Bildberichte aus Frankreich an die Heimatfront senden sollten. „The Battle of the Somme“ wurde schon am 10. August uraufgeführt – aktuellste Nachrichten von dieser Schlacht, von der noch keiner wissen konnte, dass sie bis November andauern, völlig ohne Ergebnis bleiben und über eine Million getötete, vermisste oder verwundete Soldaten hinterlassen würde.

Was für uns heute vor allem ein historisches Dokument ist, war damals aktueller Frontbericht: Unmittelbar konnte das Geschehen im Krieg, an der Front, in der Schlacht miterlebt werden. Über 20 Millionen verkaufte Eintrittskarten bei einer britischen Gesamtbevölkerung von 43 Millionen zeugen von dem ungeheuren Eindruck, den die Bilder machten: die Vorbereitungen der Schlacht, das Abfeuern riesiger Geschütze, Explosionen und Rauchwolken in der Ferne, das Voranstürmen – und die vielen Toten, die Verletzten, die gefangenen Deutschen. Natürlich ist dies ein Propagandafilm, der vor allem die Verbundenheit der Heimatfront mit den kämpfenden Soldaten stärken sollte; aber es ist der erste seiner Art, und anders als in späteren filmischen Frontberichten sieht man hier britische Leichen in Großaufnahme, und man kann die fröhlichen, zuversichtlichen Gesichter der Soldaten vor der Schlacht mit den erschöpften, schockierten, müden Mienen danach vergleichen … Eindrückliche ikonographische Bilder enthält der Film, wie Verletzte durch Schützengräben getragen werden etwa, oder, ganz eindrücklich, wie pferdegezogene Kanonen um im Gras liegende Tote dirigiert werden müssen, oder der Beginn des Sturmangriffs.

Doch hier stößt der Film an seine Grenze, und die Diskussion über Authentizität und über Ethik im Dokumentarfilm fängt an: Denn diese Szene, in der die Soldaten hinausstürmen und einer, offensichtlich tödlich getroffen, zurückbleibt, ist nachgestellt. Bildmaterial vom originalen Angriff konnte offenbar nicht verwendet werden, oder es war für den Kameramann zu gefährlich – hier wurde jedenfalls das Bild gefälscht, um die richtige Wirkung zu erzielen. Tatsächlich geben zeitgenössische Berichte wieder, wie betroffen gerade diese für echt gehaltene Szene die damaligen Zuschauer machte – doch dem heutigen Betrachter entgeht nicht, dass eine der „Leichen“ in der Abblende sich die Füße bequem übereinanderlegt …

Dem ganzen Film aber Unwahrheit zu attestieren, wie es in seiner 95jährigen Geschichte immer wieder geschehen ist: Auch das ist unlauter. Denn offensichtlich ist fast der gesamte Rest des Films tatsächlich authentisch entstanden, und andererseits muss natürlich aus dramaturgischen Gründen der Beginn der Schlacht im Film enthalten sein.

Im Audiokommentar geht Roger Smither, Leiter des Archivs für Film und Fotografie des Londoner Imperial War Museum, auch auf die Frage der Wahrhaftigkeit des Gesehenen ein – welche Szenen nachgestellt sind, auf welchen die Soldaten offenbar auf Anweisungen des Kameramanns hin handeln; und natürlich, wie sich die Soldaten der anwesenden Kamera bewusst sind und mit Grinsen, Winken und Posieren via Zelluloid einen Gruß an die Heimat senden. Doch vor allem gelingt es Smither, den Film historisch und geographisch einzuordnen, auf Details im Bild hinzuweisen und dabei stets die Absicht und die Wirkungsweise der Szenen mit einfließen zu lassen.

Dass der Film mit zwei alternativen Musikfassungen ausgestattet ist, ist eine Besonderheit: Um heutige Zuschauer emotional mitzunehmen auf die Zeitreise in die Schützengräben des Jahres 1916, hat Laura Rossi eine neue Filmmusik komponiert. Zusätzlich konnte die damalige Musikempfehlung rekonstruiert werden, ein Medley damals populärer Melodien – Klassik, Märsche etc. –, mit denen die Filmvorführungen begleitet werden sollten. Sodass dem Zuschauer musikalisch sowohl das Eintauchen in den Film, in die Wirkung seiner Bilder, als auch das Eintauchen in eine vergangene Epoche ermöglicht ist – in eine Zeit, in der die Filmzuschauer durchaus auf der Leinwand Bekannte, Verwandte, geliebte Menschen wiedererkennen konnten, mitten in der unmenschlichen Umschlingung des Krieges, Soldaten auf der Leinwand, die zum Zeitpunkt der Filmvorführung vielleicht schon tot waren.

The Bang Bang Club

(CAN / ZA 2010, Regie: Steven Silver)

Vier glorreiche Halunken
von Louis Vazquez

„The Bang Bang Club“ erzählt die auf wahren Ereignissen basierende Geschichte von vier Kriegsfotografen, die im Südafrika der frühen 1990er Jahre ihr Glück suchen: Greg Marinovich, Kevin Carter, Ken Oosterbroek …

„The Bang Bang Club“ erzählt die auf wahren Ereignissen basierende Geschichte von vier Kriegsfotografen, die im Südafrika der frühen 1990er Jahre ihr Glück suchen: Greg Marinovich, Kevin Carter, Ken Oosterbroek und João Silva. Aus Sicherheitsgründen schließen sie sich zum Titel gebenden „Club“ zusammen. Schon bald sind sie erfolgreich und ihre Aufnahmen weltbekannt. Doch die Geschichte hat kein Happy End: Ken Oosterbroek wird 1994 bei Kämpfen erschossen. Kevin Carter begeht nur wenige Monate später Selbstmord.

Dem Regisseur Steven Silver, der selbst aus Südafrika kommt, geht es nicht darum, die politischen Bedingungen und Entwicklungen im Detail nachvollziehbar zu machen. Stattdessen rückt er Marinovich (Ryan Phillippe) in den Mittelpunkt des Films und erzählt eine Initiationsgeschichte samt Love Story, wobei wie im echten Leben die Bildredakteurin Robin (Malin Ackerman) den Gegenpart übernimmt. Auch die tragische Geschichte von Kevin Carter (Taylor Kitsch) bekommt etwas Zeit, sich zu entfalten. Doch im Großen und Ganzen funktionieren die Filmfiguren lediglich als Typen eines Genres: „The Bang Bang Club“ ist ein Actionfilm mit coolen Jungs und ein paar melodramatischen Elementen.

Einmal mehr soll eine dokumentarisch anmutende Ästhetik bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen für den Schein von „Authentizität“ sorgen. In subjektiven Kameraeinstellungen mit kurzen freeze frames werden dabei auch einige der bekannten Fotografien zitiert. Schon Christian Frei versuchte in seinem Dokumentarfilm „War Photographer“ aus dem Jahr 2001, den Akt des Fotografierens mit filmischen Mitteln zu reflektieren. Er ergänzte die Ausrüstung des Kriegsfotografen James Nachtwey – der auch 1994 beim Tod Oosterbroeks anwesend war – um eine Minikamera, die auf der Fotokamera befestigt wurde. Sie lieferte verwackelte Filmbilder, die stets den Auslöser im Anschnitt zeigten und Nachweys Motivfindung nachvollziehbar machen sollten. Dies lösten die Bilder zwar nicht ein, betonten aber immerhin ständig die Distanz zwischen Dokumentation und Kriegsfotografie. Silvers Nachinszenierungen im Spielfilmkontext dagegen wirken fragwürdig, zumal „The Bang Bang Club“ alle diskussionswürdigen Aspekte der Kriegsfotografie fast gänzlich ausblendet bzw. in allzu melodramatische Bahnen lenkt. Am Ende zeigt sich, dass „The Bang Bang Club“, der in enger Zusammenarbeit mit Greg Marinovich und João Silva realisiert wurde, vor allem als Hommage an die verstorbenen Freunde zu verstehen ist.

Wer sich aber dafür interessiert, was das für Menschen sind, die in Krisenregionen arbeiten, hinsehen, wo alle wegsehen wollen, welche Motivationen, Ansprüche oder Botschaften sie haben, ob oder wie sie sich gegen Instrumentalisierung wehren und was diese Arbeit psychisch mit ihnen macht, der muss sich anderswo umsehen und z.B. den ebenfalls streitbaren, aber in dieser Hinsicht viel ergiebigeren Dokumentarfilm „Shooting Robert King“ (Richard Parry, 2008) zu Rate ziehen.

Das Mädchen aus der Streichholzfabrik

(FIN 1989, Regie: Aki Kaurismäki)

Im Norden des Kapitalismus
von Andreas Thomas

Nein, Sie werden diesen Film nicht so schnell wieder zu sehen bekommen. Er ist als Spielfilm zu kurz fürs Fernsehen oder für eine DVD (70 Minuten). Er ist zu pessimistisch, …

Nein, Sie werden diesen Film nicht so schnell wieder zu sehen bekommen. Er ist als Spielfilm zu kurz fürs Fernsehen oder für eine DVD (70 Minuten). Er ist zu pessimistisch, zu reduziert, aber er ist ein perfektes Anschauungsobjekt für junge Filmemacher. Vielleicht sollten Sie Filmwissenschaften studieren, und dann haben Sie HOFFENTLICH gute Chancen ihn zu sehen, denn dieser Film ist vorbildlich in seinem Aufbau, klar in seiner Struktur, meisterlich in seiner Durchführung. Überhaupt, wer lernen will, wie das filmische Umsetzen von Geschichten – so man sie noch erzählen will – eigentlich funktioniert, im „Mädchen aus der Streichholzfabrik“ wird er ein Musterbeispiel finden und in Aki Kaurismäki einen Meister.

Am Anfang ist das Band, das der industriellen Produktion. Der Urknall die Maschine selbst, die rattert und tickt und tackt und einen Rythmus vorgibt, den Arbeitsrythmus. Das geht so eine ganze Weile. Und dann: Ein einziger Mensch ist zur Kontrolle da. Die junge Frau produziert nichts. Aber sie kontrolliert, ob die Maschine richtig funktioniert. Sie steht am Band und prüft den korrekten Sitz der Ettiketten. Sie ist das Mädchen aus der Streichholzfabrik. Ob sie einen Namen hat ist nebensächlich. Die Streichholzschachteln dagegen haben einen, der gut lesbar sein muss. Dafür ist sie zuständig.

Iris lebt in einer kleinen Wohnung bei ihrer Mutter und deren Freund. Wenn sie von ihrer Arbeit in der Fabrik kommt, dann kocht, putzt und bügelt sie für die beiden, die die ganze Zeit schweigend vor dem Fernseher sitzen und sich von ihr bedienen lassen, und sie gibt ihnen den großen Teil ihres Arbeitslohns. Nicht einmal ein eigenes Zimmer hat sie. Sie schläft auf der Couch im Wohnzimmer. Gedankt wird ihr nicht. Als sie sich dann ein schönes Kleid kauft, wird ihr befohlen, es zurückzubringen und wieder einzulösen, damit die Monatskasse stimmt. Iris geht stattdessen in ihrem neuen Kleid tanzen.

In der Diskothek lernt sie Arne kennen, der sie mit in seine luxuriöse Wohnung nimmt. Frühmorgens legt er ihr einen Geldschein auf den Nachttisch und verlässt leise die Wohnung. Sie lässt das Geld liegen und schreibt ihre Telefonnummer auf einen Zettel. Sie schreibt mit einem billigen Kuli, der die Farben eines Regenbogens hat.

Lakonik: besonders kurze, aber treffende Art des Ausdrucks (Fremdwörter-Duden).

Man wird kaum einen Text zu einem Film von Aki Kaurismäki finden, in dem dieses Wort nicht in irgendeiner Form verwendet wird. Die Figuren in seinen Filmen reden meist in kurzen Sätzen, wenn nicht Halbsätzen. Kaurismäkis Misstrauen dem verbalen Ausdruck und dem Dialog gegenüber ist mitunter so stark, dass er die Sprache gar zeitweise völlig aus seinen Filmen eliminiert. Mit „Juha“ (1999) hat er sogar einen reinen Stummfilm gedreht. Die Wahrheit liegt für ihn in dem Gezeigten, nicht in dem Gesagten. Sprache ist für ihn im „Mädchen aus der Streichholzfabrik“ kein vollwertiges Kommunikationsinstrument, sie reduziert sich auf letzte Stichworte, die das Gesehene bestätigen. Das allererste gesprochene Wort im Film fällt nach etwa zehn Minuten und es kommt bezeichnenderweise aus dem Fernseher, in welchem von den Studentenaufständen in China berichtet wird, die 1987, zwei Jahre vor den Dreharbeiten, brutal auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ niedergeschlagen wurden.

Ihre Sprache haben die Figuren im „Mädchen aus der Streichholzfabrik“ verloren, Sprache ist von den Medien vereinnahmt, der Fernseher hat schon lange das Gespräch ersetzt, und das gemeinsame Schweigen vor dem Fernseher ist der treffendste Beleg für die die Allgegenwärtigkeit dessen, worunter Iris am meisten leidet: Einsamkeit.

Nicht Menschen erzählen in Aki Kaurismäkis Film, sondern die strengen, genau kalkulierten Bilder der Standkamera, sie sprechen zwar von Fremdheit, Gleichgültigkeit, Einsamkeit, aber auf distanzierteste Weise. Und zur Sprache kommt Musik, die des klassischen Rock’n Roll, und die des traditionellen finnischen Tangos, der die Sehnsucht nach einem „Land jenseits des Meeres“ besingt, in dem es „keine Angst vor Morgen“ gibt.

„Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ ist eine Urenkelin des „Mädchen mit den Schwefelhölzchen“, aus dem gleichnamigen Märchen von H.C. Andersen, die nicht nach Hause gehen mag, weil sie keine Streichhölzer verkauft hat, und von ihrem Vater geschlagen werden wird. Lieber erfriert sie in der Kälte der Silvesternacht. Beide sind gutmütig, einsam und ausgenutzt, beide preisgegeben einer kalten, dunklen Welt, dem langen skandinavischen Winter auffallend ähnlich. Auch Iris’ zweite Verwandte ist die Kreatur eines Skandinaviers: Die Geschichte von Grace aus Lars von Triers Film „Dogville“ ist in ihren Grundzügen identisch mit der von Iris. Beide Frauen ordnen sich ihrer Umgebung demütig und selbstlos unter und lassen sich so lange demütigen, bis es ihnen reicht. Beide Filme haben die gleiche, so nachvollziehbare, bitterböse Konsequenz.

Und beide Filme sind stilisiert, minimalistisch in ihren Bildern und Mitteln, Triers Film ist beeinflusst durch das Theater von Bert Brecht, Kaurismäkis dokumentarisch wirkender, aber kunstvoll aufgebauter Film durch den Stil eines Robert Bresson oder eines frühen Fassbinder. Und beide Filme sind Teile von Trilogien: „Dogville“ ist der erste Teil von von Triers „Amerika“-Trilogie, und „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ nach „Schatten im Paradies“(1986) und „Ariel“ (1988) der letzte Teil aus Kaurismäkis „Proletarischer Trilogie“. Beide Filme, auf ihre ungleiche Art, sind Meisterwerke. Das symphatischere Meisterwerk ist mir das von Kaurismäki. Ein bisschen sehr kokett intellektualistisch, ironisierend, gebüldet selbstreflektiv und ambitioniert drückt einem „Dogville“ auf den Nerv. Sehr klar und auf einem entscheidenden, durch keine zu vielen Worte aufgeblähten, Punkt dagegen: „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“.

Was diese beiden Filme insgesamt mehr sind, skandinavische Elegien oder elegische Kapitalismuskritiken, es ist schwer zu entscheiden. Aber stammt nicht der dunkle, kalte Geist des Kapitals eher aus dem dunklen, kalten europäischen Norden?

Die Meute

(B / F 2010, Regie: Franck Richard)

Urlaub im Schweinestall
von Michael Schleeh

Als eine Horde notgeiler Biker einer jungen Punkerin auflauert, die mit ihrem Wagen urlaubend durch ein französisches Niemandsland der nebligen Nebenstraßen fährt („Süße, ich muss pissen! Hältst du ihn mal? …

Als eine Horde notgeiler Biker einer jungen Punkerin auflauert, die mit ihrem Wagen urlaubend durch ein französisches Niemandsland der nebligen Nebenstraßen fährt („Süße, ich muss pissen! Hältst du ihn mal? Ich darf keine schweren Sachen heben …“), nimmt sie aus Sicherheitsgründen spontan einen Anhalter mit, der jedoch bei einer Rast in einem dubiosen Gasthof mysteriöserweise direkt wieder verschwindet. Irgendwie muss sie ihn sympathisch gefunden haben – denn nachts kehrt sie zurück, um ihn zu suchen. Doch da wird sie hinterrücks niedergeschlagen. Als sie erwacht, findet sie sich in einem Schweinestall, in einen Metallkäfig eingesperrt, wieder.

Der harte französische Horrorfilm erreichte mit den schockierenden und formal interessanten „À L’Intérieur“ (2007) und „Martyrs“ (2008) einen kurzen, ekstatischen Zenit (wobei der etwas ältere, franko-belgische „Calvaire“ (2004) von Fabrice du Welz mit Sicherheit der Schönste seiner Art ist), während er seitdem in einem Abschwung begriffen und beinah zeitgleich in seinen jüngeren Exponaten qualitativ massivst eingebrochen ist. Sowohl „Frontière(s)“ (2007), als auch „La Horde“ (2009) oder „Mutants“ (2009) konnten die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Das hier vorliegende Debut des Franzosen Franck Richard markiert dabei den aktuellen, traurigen Tiefpunkt.

Und obwohl der Film mit durchweg respektablen Schauspielern punkten kann (Philippe Nahon, Émilie Dequenne, Yolande Moreau), mit einem interessanten Score von Chris Spencer (vom New Yorker Noise-Rock-Aushängeschild „Unsane“) und Ari Benjamin Meyers (von den „Einstürzenden Neubauten“) aufwartet, und ebenso mit einigen atmosphärischen Bildern in der Eröffnungsszene überzeugen kann, so sind doch die großen Schwächen des Films unübersehbar.

Allem voran steht der geradezu lächerlich konstruierte Plot, dessen Verschlingungen hier nicht verraten werden sollen – nur so viel: er schlägt mit zunehmender Spielzeit dermaßen viele Haken ins Reich der Absurditäten und potenzierten Superlative, das soll jeder selbst entdecken dürfen. Auch kann sich der Film nicht zwischen beinhartem Torture-Pornism und Satiredarstellung entscheiden – wobei der Humor durchaus ungut immer wieder unfreiwillig mitten ins Geschehen hinein grätscht. Der bisweilen recht dämlich artikulierte Schenkelklopferhumor jedenfalls hebt den Film zudem unnötig weit aus der Balance. So kann man „La Meute“ kaum mehr ernst nehmen irgendwann, selbst wenn man noch so sehr auf Besserung hofft. Hier sabotiert sich der Film selbst.

Ist man dem Filmemacher positiv gesonnen, so mag man anführen, der Film unterlaufe die Erwartungshaltung des Publikums. Nun, das tut er gewiss. Allerdings in einer Form, die eben eine jene nicht erkennen lässt. Der Eindruck der Beliebigkeit ist also die Folge, denn hier könnte noch so alles Mögliche passieren. Oder auch nicht. Es stellt sich Langeweile ein – trotz der Untoten, die plötzlich aus dem Erdreich gekrochen kommen und eine weitere Geschichte hinter der Geschichte aufblättern. Auf diesem Gebiet allerdings gelingt dem Regisseur Verblüffendes: Man kann sich kaum vorstellen, wie unsagbar langweilig und spannungsfrei „Die Meute“ bei einer Gesamtspielzeit von in toto gerade mal 81 Minuten gehalten wurde. Und dabei ist der Film sogar noch geschnitten. Ein Faktum, das jedem Filmkunstliebhaber sowieso schon das Aus für den Film bedeutet. Andererseits: So ist das Martyrium des Zuschauers wenigstens schneller vorbei. Es hat alles sein Gutes – oft nur weiß man das anfangs noch nicht.

Kaboom

(USA / F 2010, Regie: Gregg Araki)

Explosionen im Himmel
von Michael Schleeh

Der Biss in den Keks ist der Scheideweg im Leben Smiths, eines 19-jährigen metrosexuellen, zugleich introvertierten wie exzentrischen College-Studenten. War sein Leben schon vorher recht turbulent, so kommen nun die …

Der Biss in den Keks ist der Scheideweg im Leben Smiths, eines 19-jährigen metrosexuellen, zugleich introvertierten wie exzentrischen College-Studenten. War sein Leben schon vorher recht turbulent, so kommen nun die halluzinogenen Drogen noch hinzu, die nicht nur erweiterte Bewusstseinszustände hervorrufen, sondern auch ganz generell die letzten festen Realitätsanker seines emotischen Hirns herausreißen. Plötzlich dreht sich das Leben Smiths nicht mehr nur um die Frage, ob die Frisur sitzt, das T-Shirt sexy ist, und ob man heute Nacht mit einer Frau oder einem Typen im Bett landet – nein, plötzlich werden seine schlimmsten Alpträume wahr: Die drei Verfolger mit den Tiermasken werden Wirklichkeit und jagen ihn über den Campus. Als dann plötzlich auch noch eine Weltuntergangssekte auftaucht, ist das Chaos komplett.

Mit „Kaboom“ scheint Gregg Araki einen Nachklapp zu seiner in den 90ern vorgelegten Teenage Apocalypse-Trilogie („Totally Fucked Up“ (1993), „The Doom Generation“ (1995) und „Nowhere“ (1997)) nachzuschieben, der wie eine Parodie dieser exzessiven Pop- und Jugendkulturfilme erscheint. In „Kaboom“ ist alles knallbunt, trendy, orgasmuszentriert. Jede Figur ist Schablone und Seelenklempner zugleich, es sind Charaktere, die sich wie Satelliten im Smith’schen Orbit um den Protagonisten drehen. Es ist also die Überzeichnung, die diesen Film regiert, und die ihn auch zugleich so wunderbar leicht macht. Da stört es überhaupt nicht, dass jede Figur sexy ist, und schlagfertig, und promisk, und dass man am Nacktbadestrand nach spätestens einer Minute einen muskulösen Beau neben sich auf dem Handtuch liegen hat, der mit dem charmantesten Lächeln sich dazu anbietet, einem den Nachmittag zu versüßen.

Man mag einwenden, dass der Film mit seinem Sujet etwas veraltet wirkt. Auch die Musikauswahl, die sich auf mainstreamig-poppige Independentbands kapriziert, wirkt bemüht. Und seit Gaspar Noé mit „Enter the Void“ die Messlatte enorm hoch gehängt hat, sind auch trippige Drogen-Sequenzen nicht mehr so unproblematisch abzubilden – da wirkt Arakis Film durchaus etwas einfach und simpel gestrickt. Gutmeinende würden das als Stärke werten: da schlage der Trash-Appeal durch. Am Ende jedoch von „Kaboom“ lauert ein Finale, wie man es sonst nur von Takashi Miike kennt (ein Regisseur, der auf ebensolchen Grenzen wandelt). Ob das Zitat ist oder Hommage oder einfach ein fröhliches Hinüberwinken von jemandem, der macht, was er will, soll dahingestellt sein. Es unterstreicht die im positiven Sinne souveräne Leichtfertigkeit eines Filmemachers, der zwar keine besonders originelle Geschichte erzählt, diese aber mit dem richtigen Gespür für Overdrive auf nicht alltägliche Weise zu verpacken weiß und damit sein Publikum zu fesseln versteht.

„Kaboom“ atmet den leicht anarchischen Geist queerer Softsexfilme, die sich an ein jugendliches oder sich jugendlich fühlendes Publikum richten, und die sich nicht groß um Filmgeschichte scheren. Das ist in ihrer Eigenständigkeit, in ihrer frechen und direkten Art immer wieder sehenswert, und wenn ein Film wie „Kaboom“ dann tatsächlich wie im Flug vorübergeht, dann hat er schon auch Einiges richtig gemacht.

Schlafkrankheit

(D / F / NL 2010, Regie: Ulrich Köhler)

Widerstand ist zwecklos
von Andreas Thomas

Weniger an die Berliner Schule, der dessen Regisseur ja einstmals zugerechnet wurde, erinnert mich Ulrich Köhlers „Schlafkrankheit“ als an, einmal mehr, die Filme von Michelangelo Antonioni, speziell dessen „Beruf Reporter“, …

Weniger an die Berliner Schule, der dessen Regisseur ja einstmals zugerechnet wurde, erinnert mich Ulrich Köhlers „Schlafkrankheit“ als an, einmal mehr, die Filme von Michelangelo Antonioni, speziell dessen „Beruf Reporter“, einem Film, in dem der Protagonist nichts weniger als seine eigene Identität wegwirft.

In einigen Kritiken liest man von der Langsamkeit und Ereignislosigkeit dieses Films, aber ich denke, die Langweiligkeit eines Films hängt oft zusammen mit der Aufmerksamkeit, dem Interesse und der Offenheit des Zuschauers; je stärker diese Eigenschaften ausgeprägt sind, desto mehr passiert für den Betrachter – jedenfalls in diesem Film, der voller kenntnisreich erstellter und präziser Details, Settings, Figuren und Figurenkonstellationen steckt.

Zugegeben, „Schlafkrankheit“ ist tatsächlich einer dieser lästigen Filme, die sich mit Dingen beschäftigen, von denen man im Allgemeinen noch kein besonders ausgefeiltes Klischee verinnerlicht hat. Anstatt zu bestätigen, befragt er, anstatt Afrika zu überwältigen oder überwältigend zu finden, wird er selbst aufgesogen von seinen vielen afrikanischen Gegenständen, Milieus, er lebt drinnen und darf nicht drin leben – aber nun rede ich schon von der Hauptfigur.

Ebbo ist Arzt, der seit einigen Jahren in Kamerun ein erfolgreiches Projekt zur Bekämpfung der „Schlafkrankheit“ geleitet hat. Weil die Krankheit vor Ort eingedämmt und die Kranken selten geworden sind, ist auch seine Tätigkeit obsolet geworden. Trotz dort ansässiger Frau und Tochter, vermag es Ebbo nicht so recht in die Heimat Deutschland zurückziehen; das sagt er nicht so direkt, wir müssen es seinem Verhalten entnehmen, und als seine Familie fliegt, hat er noch irgendeinen Grund, später nachzukommen.

Später, das sind dann im Film drei Jahre, wird Ebbo, immer noch in Kamerun, gesucht von einem jungen Franzosen mit afrikanischen Wurzeln, der damit beauftragt ist, die Förderungswürdigkeit von Ebbos immer noch laufendem Schlafkrankheits-Projekt zu überprüfen. Aber es ist, als wäre Ebbo schon beinahe spurlos verschluckt von Land und Urwald. Außer seinem guten Ruf ist zunächst von Ebbo nichts zu hören oder sehen und Nzilo, der junge europäische Arzt, muss lange Stunden des Befremdens, des Wartens und des Unbehagens über sich ergehen lassen, bevor er Ebbo auch nur kurz erblickt.

Man ist geneigt zu sagen, Ebbo, der Weiße, ist zu Afrika geworden, hat sich metamorphisiert, und Nzilo, der Schwarze, ist von Kopf bis Fuß und von Geburt an Europäer: Rationalist, Kosten-Nutzen-Abwäger, Evaluator – zwei Kontrahenten als zwei unzuvereinbarende Philosophien, wie sie kein Film Köhlers bisher deutlicher präsentierte, wenngleich die Totalverweigerer immer auch der rote Faden seiner zwei bisherigen Langfilme waren: Paul in „Bungalow“, Nina in „Montag kommen die Fenster“ und nun Ebbo in „Schlafkrankheit“.

Hier steht Ebbo für all das, was die postindustriellen Gesellschaften erfolgreich bekämpfen: Autonomie, Ursprünglichkeit, Lebendigkeit, die sich z.B. auch aus der Natur nährt, die sich aber vor allem nicht normieren oder überwachen, also fremdsteuern lassen will. Man könnte sagen, der Widerstand der Köhlerschen Protagonisten besteht in ihrer Weigerung, zielorientiert, zweckbestimmt zu leben, also in ihrer Verweigerung, irgendwie instrumentalisierbar zu sein.

Man kann darüber nachdenken, ob diese scheinbar passive Einstellung nicht gar das effektivste Kampfmittel gegen einen nivellierenden abstumpfenden Zeitgeist sein könnte – wenn man dem Hungertod ins Auge zu sehen bereit ist, versteht sich. Man könnte darüber nachdenken, ob „Schlafkrankheit“ seine Dichotomisierung nicht ein wenig zu plakativ betreibt. Man kann in jedem Fall aber auch sagen, dass der Film „Schlafkrankheit“ ein Manifest darstellt für, ja sagen wir ruhig, ein „besseres Leben“. Und das auf eine irgendwie buddhistische Weise. Selbst wenn Ebbo dafür dann schon zum Tier werden muss …

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The Tree of Life

(USA 2011, Regie: Terrence Malick)

Chefetagen
von Andreas Thomas

Also, zunächst mal eines. Gott existiert nicht. Das ist inzwischen leider einigermaßen verbürgt. Auch wenn es noch Leute gibt, die immer noch das Gegenteil glauben, und das sind Leute aller …

Also, zunächst mal eines. Gott existiert nicht. Das ist inzwischen leider einigermaßen verbürgt. Auch wenn es noch Leute gibt, die immer noch das Gegenteil glauben, und das sind Leute aller Couleur, die u.a. dafür Kriege anzetteln, sich in die Luft sprengen oder Kinder ficken, weil ihr Glaubegott ihnen verbietet, mit Erwachsenen Sex zu haben, aber Kinder, irgendwie aus Versehen, bei seinen Obstruktionen nicht erwähnte.

Bedaure, ich musste diese Prämisse vorausschicken, weil der diesjährige Sieger der Filmfestspiele von Cannes im Kern genau und dauernd und ausdauernd von der gegenteiligen Prämisse ausgeht. Der Film „The Tree of Life“ von Terrence Malick wird über zwei Stunden lang nicht des Zwiegespräches müde, mit … „Gott“. Mit anderen Worten, er propagiert und praktiziert politisch benutzbaren und gesellschaftlich integrierten wenn nicht Wahn-, dann doch wenigstens Schwachsinn. Cannes-Sieger, das. Aha. 2011, das Jahr, in dem die Deppen wiederkehrten, oder wie?

Jedoch wir wollen nicht vorschnell schimpfen, bevor wir erwähnten, worüber: Eine ätherische, junge Mutter von zwei oder drei permanent sich durch den amerikanischen Vorgarten rollenden und tollenden guten amerikanischen Jungens (zwei oder drei, man wird es nie erfahren, und im Angesicht Gottes ist eine Zahl auch eben nur eine Zahl), von denen einer oder zwei (auch hier bleiben wir uninformiert, aber was solls, solange der Herr seine Schäfchen im Blick und gezählt hat) an irgendetwas (ob es ein ferner Krieg oder das Bedürfnis nach motherfucking war, weiß allein der Herr) gestorben sind, ist leider mit Brad Pitt verheiratet, was bekanntlich wenigstens zum chronischen Leiden unter Gesichtsausdrucksverarmung führen muss, denn Brett spielt auch so wie eins, und keine aufsteigende Darstellerin, so wie Jessica Chastein, ist für ihren weiblichen Pitt-Counterpart zu beneiden.

Hinzu kommt, dass Pitt in diesem Film lustigerweise gleichzeitig versucht a) seine Kinder zu Schlägern (also zu leistungsfähigen Geschäftsleuten) zu erziehen, b) ihnen die Welt der schönen Künste (der Musik, especially Bachs Toccata) aufzuoktroyieren, und c) ihnen diesen ganzen amerikanischen Stuss von „Grundstücksgrenzen“ beizubiegen. Kein Wunder, dass naturorientierte Kinder irgendwann beim Mittagessen auf den Tisch hauen und sagen: „Papa, halt jetzt mal die Klappe, – BITTE!“

Dass das Wörtchen „bitte“ in diesem Kontext zwar schon einen gewissen Erziehungserfolg beweist, würde Pitt nicht abstreiten wollen, aber dem Vater den Mund verbieten, das geht nicht. Soviel Empathie für den 40er, 50er oder 60er-Jahre-Papa (die Zeit ist definitiv auch nicht definiert) möchte der differenzierte Spielfilm bei aller Kritik doch schon für sich reklamieren dürfen.

Fest aber gleichwohl steht, dass Pitt nicht abendfüllend und eine Hackfresse noch keine Bank ist. Daher bedarf es mehr Kosmos, und wie man an Cannes sieht, macht der mit Erfolg und im großen Stil die Brett-Kleinbürgerkinderstube wett, die übrigens auch von der entweder ätherischen oder sonst eher kleinlauten aber umso mitfühlenderen Mutter nicht über Gebühr mit Interesse aufgeladen wird.

Und Kosmos ist bei Malick Sternennebel, Lava, Qualle, Welle, Zelle oder Ei, oder alternierend auch mal der eine oder andere Dino, weil die alle ja auch mit der kleinbürgerlichen Familie in der Mitte der USA in der Mitte des 20. Jahrhundert sowas von kompatibilieren.

Nein, Entschuldigung. Wenn man anstatt Kosmos oder Natur oder All das Wörtchen Schöpfung verwendet, wendet sich automatisch der Gedanke und der Blick, so wie die Kamera am Ende jedes Gedankens und damit jeder Einstellung nach oben, also dahin, wohin die Mama dieser nervigen Mittelschichtsfamilie ihren Finger streckt und behauptet, es wohne dort Gott (selbiger, vom Himmel aus, nicht nur nicht tot, sondern auch nicht müde, antwortet mit einer Surround-Version von Smetanas „Moldau“ – nicht das einzige klassische musikalische Motiv, mit dem wir den heutigen Abend von Gott zugedröhnt werden. [eine dahinter liegende Malick-Theorie vermutlich: alle genialen Musikstücke sind von Gott inspiriert, deshalb kann ich sie alle für meinen Gottesfilm als kausale Momente einsetzen, denn: Malick hat ja mit „The Tree of Life“ nichts Geringeres unternommen, als uns „Gott ist Sinn des Lebens“ zu veranschaulichen, unter Ausbeutung aller vorhandenen Überwältigungsmittel: Bild (vom „2001“-Special Effects-Mann Trumbull beraten, Ton: von Klassikern u.a. der Sakral-Tonkunst).

Nun. Also. Zurück. Die Fünfziger, einigen wir uns auf die Fünfziger, sind ja ganz nett als Problemhintergrund, als Lebenssuppenfond, aber so richtig existenziell kann für uns ein Film über den „Baum des Lebens“ doch nur sein mit Bezug zu uns selbst, also zum Hier und Heute und zu unserem aktuellen Leben: Welches wir mit einem einigermaßen in Würde vergreisenden Sean Penn als chronischen Aufsteiger zu den höheren Etagen von Wolkenkratzern problemlos identifizieren können. Dieser also ist aus uns geworden, erschreckt begreifen wir: verstockt, verschrumpelt und verstummt, bewegen wir uns, bewegt sich der arme reiche Sean von Etage drei zu Etage dreißig, hoch und höher im gläsernen Fahrstuhl, in gläsernen Gebäuden, die dem Himmel anmaßend nahe sein wollen, obgleich sie doch Menschengeschmeiß sind.

Aber mit seiner Brett-Pitt-Vater-Vorgeschichte braucht unser Sean plötzlich überhaupt nicht mehr lange, um (nach langen Jahren der Anpassung) seine materielle Vergeblichkeit zu realisieren und dann doch lieber, so wie Jesus oder die Band America (seinerzeit on a horse with no name), schließlich die Wüste und endlich den Strand der einsamen Seelen zu besichtigen, wo man schließlich mit allen Ex-Verwandten bis zum Sonnenuntergang Liebkosungen austauschen, herumlatschen und darauf hoffen kann, dass das Jenseits aber nun wirklich netter als das Diesseits sein wird.

Dergleichen Widerlegtes also gewinnt in Cannes – und verliert, in diesem Fall, in der filmgazette.

Zur Erinnerung: Es gibt keinen Gott. So leid es mir tut. Der beste Gegenbeweis ist: Würde es einen Gott geben, dann würde er keinen Schmarrn wie „The Tree of Life' zulassen.

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Die Vaterlosen

(A 2011, Regie: Marie Kreutzer)

Kein Idyll, nicht mal am Waldesrand
von Michael Schleeh

Rückblicke auf Zeitalter, in denen Kommunenleben noch denkbar war, wirken heute zumeist merkwürdig idealisiert oder werden, von konservativer Seite her, belächelt und verteufelt zugleich. Selbst in studentischen Wohngemeinschaften lassen sich …

Rückblicke auf Zeitalter, in denen Kommunenleben noch denkbar war, wirken heute zumeist merkwürdig idealisiert oder werden, von konservativer Seite her, belächelt und verteufelt zugleich. Selbst in studentischen Wohngemeinschaften lassen sich die letzten Spuren alternativer Gemeinsamkeitsutopien kaum mehr finden, denn die politischen Botenstoffe haben sich längst verflüchtigt – und im Zeitalter des Bachelor-Studiums und im alles umarmenden Okay-ismus haben sich diese als reine Zweckgemeinschaften etabliert. Dass aber gelebte Kommune-Utopien tatsächlich alles andere als friedlich und idyllisch ausfallen konnten, zeigt Marie Kreutzers ambitionierter Debut-Spielfilm, der, angelegt als Familiendrama auf einem Hof am Waldrand, weitreichende Beschädigungen von Biographien offenbart – und sich dabei leider in seinen Plotwirren, die ein „dunkles Geheimnis“ ans Tageslicht zerren, verirrt.

Um Abschied zu nehmen, ruft der Vater und ehemalige Kommunarde auf dem Sterbebett seine Kinder zu sich in das alte Bauernhaus in der Steiermark. Doch beinah alle kommen zu spät. Hans, der Oberhäuptling der Kommune, hat sich davongemacht. Nun treffen also die Geschwister aufeinander, die, die über das ganze Land verstreut leben und wenig miteinander zu tun haben. Für die Figuren ist das Wiedersehen am Totenbett des gar nicht so sanften Patriarchen eine emotionale Herausforderung, und diese wird dadurch noch verstärkt, dass sie mit den verdrängten Kapiteln der eigenen Biographie konfrontiert werden. Da ist etwa die Schwester, deren neurologische Störung zwar für alle deutlich sichtbar ist, die aber mysteriöserweise totgeschwiegen wird. Da ist der Arzt mit dem Sportwagen, der eigentlich nur aus Pflichterfüllung gekommen und gedanklich eigentlich schon wieder weg ist. Oder der orientierungslose Bruder, der das Herz etwas zu sehr auf der Zunge trägt, und für den der Tod des Vaters erstmals eine Befreiung aus der Rolle des Sohnes bedeutet. Auch die eine Halbschwester, die man ganz aus dem Familienkosmos hinausgedacht hatte, kehrt zurück. Und da ist natürlich die Mutter, die Hüterin des Gemüsebeetes und der Erinnerungen. Erinnerungen an die Zeit mit Vater und an die Kommune, ihren euphorischen Beginn und die zunehmende Desillusionierung im Laufe der Jahre. Das kollektive Gedächtnis, das sich bedeckt hält und sich nach entsprechenden Verwundungen, die sexuelle Freizügigkeiten mit sich bringen können, einen emotionalen Panzer zugelegt hat.

So ist „Die Vaterlosen“ auch ein Film über Nähe und Distanz, Bindung und Beziehung, über Trennung und das Abschied nehmen. Der Film beginnt ausgesprochen stark: in herausfordernder Montage werden in den ersten Szenen Handlungsfragmente kombiniert, die ein Verständnis von Kino transportieren und die dem Zuschauer eine intensive Mitarbeit bei der filmischen Narration versprechen. Und es sind die kleinen Gesten, die Blicke, ein kurzes Wegschauen oder körperliche Nähe, die gestattet wird, die auf subtile Weise überzeugend von den emotionalen Dispositionen der Charaktere zeugen, ohne dass diese ausgesprochen werden müssten. Doch nicht jede Rolle dieses Ensemblefilms ist gleich stark besetzt, und so manche Dialogzeile klingt ein wenig hölzern. Die Bilder der Rückblicke sind allzu plakativ geraten: sie gleichen vergilbten Erinnerungsfetzen, ganz so, als wären die Polaroids zu lange in der Sonne gelegen und dann auf dem Dachboden verstaubt. Hier geht die Kamera nah ran, um die Nähe zum Menschen zu suchen und arbeitet mit Unschärfen und Farbfiltern, die Ausdruck einer konventionellen Bildästhetik sind. Derart lösen sich die positiven Ansätze des Films leider recht bald auf, zudem erklärende Passagen verstärkt nachgeschoben und Geheimnisse zunehmend enthüllt werden.

Der Film entwirft ein Mosaik aus fragmentierten Biographien, die sich am Ende zu einem Gesamtbild zusammenfügen sollen, zu einem plastischen Familienkosmos. Doch in den zunehmend sich überschlagenden Plotvolten, in den Krimistrukturen der detektivischen Enthüllungsarbeit und im sich permanent verschiebenden emotionalen Gefüge der Gruppe, das auch noch die Lebenspartner und deren Beziehungsprobleme einbezieht, verfranst sich der Film in seiner tendenziell sensationalistischen Ausrichtung auf den großen Knall hin. Bedauernswert ist es, dass die Regisseurin der Kraft ihres stillen Dramas nicht vertraut und den Film mit zunehmender Laufzeit seiner Magie beraubt, indem alles Unausgesprochene angesprochen und jedes Geheimnis gelüftet wird.

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Ghettokids – Brüder ohne Heimat

(D 2002, Regie: Christian Wagner)

Distanz und Anbiederung
von Andreas Thomas

„Ghettokids“. Ein Name ist Programm, ist Verwahrlosung, Verharmlosung, Distanz und Anbiederung in einem. Kinder in sozialer Randlage würden sich selbst nicht „Ghettokids“ nennen. Nur deren „Zuständige“, Pädagogen und Filmemacher mit …

„Ghettokids“. Ein Name ist Programm, ist Verwahrlosung, Verharmlosung, Distanz und Anbiederung in einem. Kinder in sozialer Randlage würden sich selbst nicht „Ghettokids“ nennen. Nur deren „Zuständige“, Pädagogen und Filmemacher mit sozialem Anspruch machen sowas.

„Ghettokids“ sind reduziert auf einen romantisch-randständigen und hilfsbedürftigen Typus, auf einen sozialpädagogischen Kanon, Jargon und Angang. So benannt sind sie ausgewiesen als Problemfeld unserer spätaltruistischen Weltsicht, und es ist anscheinend besonders cool, sie zu „Ghettokids“ zu machen, denn „Ghettokids“ sind heimliche Stars, wie alle aus den Charts und MTV wissen. Umso wichtiger und selbstloser als die so Bezeichneten dabei: das soziale Engagement. Wichtig als Gewissenspolster – eines inzwischen deklariert unsozialen Staats.

Aus vielleicht ähnlich gelagerten Gründen freute sich die BRD zunächst auch sehr über Projekte, wie die des „Förderzentrums München Nord“, das sich den Problemen der jugendlichen Bewohner der münchener Trabantensiedlung 'Hasenbergl', in der „auf engstem Raum Menschen unterschiedlichster – teils verfeindeter – Nationen wie Griechen, Türken, Kosovo-Albaner, Sinti und Deutsche das Zusammenleben üben müssen“, zuwandte, um ihnen gemeinsames Singen und Tanzen beizubringen, statt des üblichen „auf einander Einschlagen“.

Erfolge dieses „Hasenbergl-Projekts“ wurden mithilfe des Dokumentarfilms „Planet Hasenbergl – Lichtblicke in der Münchner Bronx“ von Claus Strigel, dieser Film ist auf der „Ghettokids“-DVD, quasi als Authentizitätsbeleg dabei (und wie zu erwarten war, bringt er das Doppelte an Aufschluss über die „Kids“, das Milieu und das Hilfspersonal) und die schön und emotional wiedergegeben werden, mehrfach preisgekrönt. Hervorstechend darin, da auch interpretatorisch (ein paar Jahre Schauspiel) bewandert, die mit „titanischen Kräften“ und „Engelsgeduld“ ausgestattete Lehrerin Susanne Korbmacher-Schulz, die vor allem durch ihre Leidenschaft begeistert, in jedem ihrer Schützlinge einen Popstar, einen Tänzer, einen Filmstar zu erkennen.

Denn schließlich sind wir es alle, ob arm, ob reich, ob schwarz, ob weiß. Weil es nichts gibt, was so ist, wie wir. Und unsere Gefühle sind wichtig und groß, und wenn wir sie ausleben, beim Tanz oder im Schauspiel, erkennen wir uns nicht nur, treten wir gar über uns hinaus. Soviel aus Irritationsgründen, denn Irritation muss sein.

Der TV-Film „Ghettokids“ nun handelt von diesen selben, oder so ähnlich gedachten, also irgendwie „problematischen“ Kindern im münchener Norden, ist angelehnt an ihre spezifischen Verhältnisse, subsumiert ihre notorischen Konflikte, aber geht an ihren persönlichen Lebenslagen wohl doch ein wenig vorbei. Denn „Ghettokids“ ist ein Problemfilm, der sich eher einem Genre, nämlich dem des „Problemfilms“, annähern will als der konkreten Situation, den konkreten Personen. Pflichtbewusst hakt er die Sozialarbeiter-Standards der Problematik ab: jugendliche Armut, jugendliche Frustration, jugendliche Prostitution, ethnische Konflikte, Kommunikationsdefizite, Gewalt als Hauptkommunikationsmittel innerhalb der „Peergroup“ und deren kultureller Background, alles kommt vor und wird in einen Film mit „Handlung“ gesteckt.

Konkret im Film: Die gewaltgeprägte Verwahrlosung der drei griechischen Jungen in der mütterlichen Wohnküche (Erinnerungen an „Rocco und seine Brüder“ tauchen auf und verdeutlichen den Qualitätsunterschied) und schließlich die Kinder in der Schule (die klassische schwererziehbare Schulklasse, an der sich schon der „Pauker“ Heinz Rühmann – bei ihm hießen die „Ghettokids“ noch „Halbstarke“ – pädagogisch und menschlich beweisen musste, indem er ihrem Leben wieder Ordnung schenkte). Und „Ghettokids“ möchte auch die andere Seite beleuchten, die der neuen Lehrerin (Barbara Rudnik), die am liebsten gleich wieder abhauen will, wenn sie von ihren Schülerinnen angeblafft wird, die des hartgesottenen Sozialarbeiters (Günther M. Halmer), der sich inzwischen so gut in seinem Metier auskennt, dass er zum Parade-Stoiker geworden ist.

„Far Away“. Bei beiden neben den Jugendlichen wichtigen Figuren: zu sensibel die eine, zu relaxed und straight der andere, dazwischen wäre der Raum der Erfahrung. Irgendwo in diesem Zwischenraum offenbart sich die Fremdheit des TV-Schauspiels und der beiden TV-Schauspieler. Denn die „Kids“ von „Ghettokids“ spielen natürlich nur deshalb so „beklemmend authentisch“, (wie es in der Presse öfter zu lesen war), weil sie – und das ist das Gute am Film – eben ab und an so reden und agieren, wie sie es können, wollen und gewöhnt sind, und ausnahmsweise dann dürfen, wenn das Drehbuch nicht wieder sein Pathos durch etwa den griechisch-stämmigen und daher gebeutelten Knaben Kristos rezitieren lässt. Sprich: Zwei unvereinbare Welten sind das, das gepflegte und gepäppelte, leidende und hoch sensible TV-Star-Establishment steht künstlich neben echten, teilweise frustrierten und aggressiven, aber auch avancierten Jugendlichen, die leider zu oft in eine unnatürliche, zu melodramatische Fernsehfilm-Dramaturgie gezwungen sind (und sich eine Karriere als Schauspieler oder Rapper [einen „normalen“ Job wie Tischler zu erlernen ist ja heute schon so unrealistisch geworden, dass er nicht mal mehr von Pädagogen für ihre „Kids“ in Betracht gezogen wird] erträumen, weil sie in einem durch öffentliche Gelder geförderten Fernsehfilm sind) – obwohl ein größeres Vertrauen in sie selbst und ihre wirklichen Geschichten für uns interessanter und spannender gewesen wäre.

Es gibt erfreulicherweise immer wieder und immer mehr deutsche Regisseure, die in ihr Sujet vertrauen. Deren Wahrheiten nicht abgeschlossene von Therapeuten, sondern unfertige von Empatikern sind. Regisseure, die sich nicht in Sozialpädagogen verwandeln müssen, um sich Menschen „anzunähern“. Nur drei kleine Beispiele von anderen Filmen über Jugendliche: „Klassenfahrt“ von Henner Winckler, „Bungalow“ von Ulrich Köhler und „Mein Stern“ von Valeska Grisebach können deshalb überzeugen, weil deren Portraits von Jugendlichen nicht durch wohlmeinende Vorurteile von Erwachsenen miterzeugt sind und weil ihre Milieuskizzen nicht durch eine reißerische und rührselige Umsetzung TV-gerecht gemacht wurden. Wer aber wirklich alles haben will, das „echte“ jugendliche Elend in der Vorstadtsiedlung und aufrüttelnde „Action“, dem seien die französischen Filme „Tee im Harem des Archimedes“ und „Hass“ nahegelegt. „Ghettokids“ aber erreicht in seinen allerbesten Momenten nur „Tatort“-Niveau. Was bleibt und herausragt, ist das Spiel der „Ghettokids“ – die sich selber nie so nennen würden …

Beginners

(USA 2011, Regie: Mike Mills)

Eine Geschichte der Traurigkeit
von Wolfgang Nierlin

Die Zeit ist im Fluss. Das Ineinander von Gegenwart und Vergangenheit, von Erinnerungen und augenblickshaften Flashs bildet die Erzählstruktur von Mike Mills‘ neuem Film „Beginners“. In Rückblenden und zeitgeschichtlichen Montagen …

Die Zeit ist im Fluss. Das Ineinander von Gegenwart und Vergangenheit, von Erinnerungen und augenblickshaften Flashs bildet die Erzählstruktur von Mike Mills‘ neuem Film „Beginners“. In Rückblenden und zeitgeschichtlichen Montagen wechseln in schneller Folge die Zeitebenen, überlagern sich Bilder und Begebenheiten, um von Veränderungen und der Vergänglichkeit des Lebens zu erzählen. Die Bilder werden gleichsam zu Zeugen eines unaufhörlichen Wandels. Ihre Verdopplung durch die einfache sprachliche Benennung bewirkt eine poetische Überhöhung und kündet zugleich von der Relativität des Daseins, seinen Erfahrungen, seiner Identität. Und doch geht es bei allem Wandel auch um einen festen Kern, „die eingepflanzte Persönlichkeit“, wie es einmal heißt. Den unsicheren Wechsel zwischen diesen beiden Polen inszeniert Mike Mills als eine ebenso verspielte wie stimmungsmalerische Geschichte der Traurigkeit, die ihre formale Entsprechung in den Brüchen der Montage findet und damit in einer diskontinuierlichen Erzählweise.

Eine schwankende Identität charakterisiert insofern auch den attraktiven 38-jährigen Junggesellen Oliver (Ewan McGregor), einen romantischen Melancholiker, der als Zeichner arbeitet und der sich nach mehreren gescheiterten Beziehungen in seiner Einsamkeit eingerichtet hat. „Du sehnst dich nach einer Beziehung, hältst es aber in keiner aus“, attestiert ihm sein alter Vater Hal (Christopher Plummer). Als dieser infolge einer Krebserkrankung im Jahre 2003 78-jährig stirbt, verstärkt sich Olivers Krise auf mehrfache Weise: Neben dem Schmerz über den Verlust des Vaters erinnert er sich an seine Kindheit Mitte der 1970er Jahre, sein merkwürdiges Verhältnis zur unglücklichen Mutter und die schwierige Ehe der Eltern. Die Gründe dafür findet er nach dem Tod der Mutter im Jahre 1999, als sich sein Vater nach 44 Ehejahren mit seiner versteckt gehaltenen Homosexualität outet und nach diesem Bekenntnis beginnt, mit Lust und Freude ein schwules Leben zu führen.

Gerade dieser Mut zur Neuerfindung, der sich schließlich auch gegen die Krankheit stemmt, kontrastiert Olivers eigenen Stillstand, der nach Hals Tod zusätzlich von Trauer eingehüllt wird. Gespiegelt und verstärkt wird Olivers Einsiedelei von dem kleinen Hund Arthur, den er vom Vater erbt. Erst als er die französische Schauspielerin Anna (Mélanie Laurent) kennenlernt und sich zögerlich in sie verliebt, bricht etwas auf, gewinnt Oliver eine neue Perspektive. Doch Anna hat selbst einige gescheiterte Beziehungen hinter sich und leidet unter einem übermächtigen Vater. Das Auf und Ab dieser labilen Beziehung umgibt Mills‘ schwelgerische Inszenierung mit schwärmerischen Romantizismen und verliebten Verrücktheiten, die bei aller Originalität einer Vertiefung entgegenarbeiten. Auf der narrativen Ebene korreliert das gewissermaßen mit den virtuosen Oberflächenreizen einer Clip-Ästhetik, die die Kontinuität einer dramatischen Erzählung negiert. Vielleicht muss nicht zuletzt deshalb am Ende des Films die Frage nach dem richtigen Zusammenleben offen bleiben.

The Tree of Life

(USA 2011, Regie: Terrence Malick)

Dein Lieben ist Sehen
von Janis El-Bira

Man könnte mit dem Buch Genesis beginnen. Oder wenigstens mit Paulus, der im Kolosserbrief ein Leben in „überreicher“ Danksagung fordert. Beides wäre den Ambitionen und Überambitionen des fünften, lang erwarteten …

Man könnte mit dem Buch Genesis beginnen. Oder wenigstens mit Paulus, der im Kolosserbrief ein Leben in „überreicher“ Danksagung fordert. Beides wäre den Ambitionen und Überambitionen des fünften, lang erwarteten und x-fach verschobenen Spielfilms von Terrence Malick nur angemessen: Die allgegenwärtige Behauptung von Bedeutsamkeit, die dreiste Zumutung eines Filmwurfs, in dem der Urknall und die Entstehung des Kosmos‘ neben dem Leben der texanischen Familie der O’Briens in den 1950er-Jahren stehen – der Einstieg in das Schreiben über „The Tree of Life“ vermittels des Gigantomanen läge nahe. Wenigstens seit Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“, das liest und hört man allenthalben, habe niemand mehr die Kühnheit besessen, unter Aufbietung aller filmischen Möglichkeiten der Zeit, die ganze Geschichte erzählen zu wollen. Doch verglichen mit Malick wirkt Kubricks Einstieg bei den Menschenaffen schon fast übereilt: Der erstere beginnt immerhin direkt am Firmament, lässt Sterne explodieren und Sonnen sich bilden. Die ganze Geschichte eben. Selbst noch jenen Teil, dem eigentlich keine Geschichte gegeben ist – weil er noch im wörtlichen Sinne zeitlos war.

Aber vielleicht sollte man zunächst um etwas mehr Bodenhaftung bemüht sein und anderswo beginnen, zum Beispiel mit Walter Benjamin. Der schreibt in „Über den Begriff der Geschichte“ einen oft zitierten Satz: „Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten.“ Bilder also. Fangen wir mit Bildern an. Etwa jenem von den drei kindlichen Brüdern, die im dichten Nebel eines die Botanik mit DDT besprühenden Fahrzeuges herumtollen. Mit einem anderen vielleicht, das die wundersam-schockierte Begegnung eines Kleinkindes mit seinem neugeborenen Bruder zeigt. Oder mit dem Bild vom Gesicht eines Jungen just in dem Moment, da er sich entscheidet, Unrechtes zu tun – und weiß, dass es unrecht ist. Und man könnte auch die Hände, Gesichter und Körper beschreiben, die sich hier immer wieder gegen das gleißende Sonnenlicht recken und so von einem uns oft blendenden Kranz umstrahlt werden. Darauf könnte man sich beschränken und diese Bilder zu den „auf Nimmerwiedersehen aufblitzenden“ Atomen einer in Wahrheit tief demütigen Vision erklären, die mit aller Macht die Leuchtkraft von Bildern gegen die Vergänglichkeit behauptet.

Doch man würde Malick so nicht auf die Spur kommen. Sein Film lässt sich weder auf eine größenwahnsinnige Sternfahrt reduzieren, der eine mitunter arg pathetische Familiengeschichte um drei Jungen und ihre so unterschiedlichen wie gleichermaßen liebenden Eltern beigemischt ist. Noch könnte man behaupten, es ginge hier um Erbauung: Um die Einordnung aller menschlichen Liebe, Leiden und Gleichgültigkeiten in einen metaphysisch-sinnstiftenden Überbau. Sicherlich würde all das den Film zum Teil treffend beschreiben, doch es würde übersehen, wie gleichzeitig, gehäuft und dicht diese Elemente neben- und ineinander ablaufen. Denn so schnell bewegt sich hier alles, so entfesselt fliegt die Kamera ihren wenigen Figuren nach, so beiläufig wird die Sonne zu einem „roten Riesen“, dass man bisweilen nicht mehr weiß, ob es die Erdenschicksale sind, die hier klein erscheinen sollen, oder vielleicht doch die von alledem unbekümmerten Sternensysteme und Dinosaurier, die in einer Szene die Erde bewandern.

So muss man vielleicht nicht gleich biblisch werden, aber doch zumindest an einem anderen Berührungspunkt zwischen Himmel und Erde ansetzen, wenn man der seltsamen Wirkung von „The Tree of Life“ schreibend nachfühlen möchte. Eventuell kann ausgerechnet ein mittelalterlicher Denker hier zum Ortskundigen werden. Nikolaus von Kues jedenfalls schreibt in seiner berühmten Abhandlung „De visione dei“ („Vom Sehen Gottes“) geradezu glühend von der liebenden Zuwendung Gottes im Blick: „Mein Herz, o Herr, findet keine Ruhe, weil Deine Liebe es mit solcher Sehnsucht entflammt, dass es nirgends als in Dir allein zu ruhen vermag. (…) Dein Lieben ist Sehen. Dein Vater-Sein ist Dein Blick, der uns alle väterlich umfasst. (…) Nähre mich mit Deinem Blick, o Herr, und lehre mich, wie Dein Blick jeden sehenden Blick und alles Sichtbare und jedes Wirken des Sehens und jede sehende Kraft und alles aus ihnen entstehende Sehen sieht, denn Dein Sehen ist Begründen. (…) Du siehst, o Herr, und hast Augen. Du bist also diese Augen, denn Dein Haben ist Sein. Darum betrachtest du alles in Dir selbst. Wäre in mir das Sehen das Auge, wie es bei Dir ist, mein Gott, dann würde ich in mir alles sehen.“

Was bei Nikolaus von Kues in seiner Emphase auch dem traditionellen philosophischen Primat des Sehens vor den anderen Sinnen geschuldet sein mag, wird bei Malick, so scheint es, mit nicht minderer Rauschhaftigkeit in Filmsprache transponiert. Malick macht – und das nicht erst mit „The Tree of Life“ – in wohlmöglich noch nie dagewesener Qualität Ernst mit der „göttlichen“ Perspektive des Kameraauges. Gemeint ist damit nicht bloß der vermeintlich allumfassende „scope“ seiner gewaltigen Bilder. Von ungleich größerer Bedeutung ist der zutiefst berührende Grund aus Sanftheit und Frieden, der sich hier in einem entschieden liebenden Blick mitteilt. Selbst dort, wo sich, wie in „Der schmale Grat“ (1998), das Menschenantlitz im Töten des Anderen zur Fratze verzerrt, ist bei Malick die Zartheit und Zerbrechlichkeit dieser Gesichter nachgerade schockierend. Eine ungeheure Erschrockenheit liegt dann in diesen übergehenden Augen. Eine Erschrockenheit aber, die sich paart mit Verwunderung, mit Staunen: Entsetzen ob der Möglichkeit, überhaupt töten zu können – und Staunen über die Schönheit des Sterbens. Kaum einem anderen Filmemacher ist es so ernsthaft bestellt um das fast vergessene Wort von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. In „The Tree of Life“ wird diese Gottesebenbildlichkeit in der Personenzeichnung zu einer Feier der Schönheit. Vielleicht muss man – es sei gewagt – gar ein Vorbild vom Format Botticellis heranziehen, um auf eine verwandte cherubische Anmut im Gesicht des Menschen zu stoßen.

Doch gänzlich entrückt ist hier selten etwas: Malicks Film beginnt fast unmittelbar in der Katastrophe, im Überbringen der Nachricht vom Tod eines ihrer Söhne an die von Jessica Chastain mit beinahe unendlichem Duldungsvermögen verkörperte Mrs. O’Brien. Schreie sind zu hören, die Bilder und der Blick tragen Trauer und nach einer langen Zeit, während der die mannigfaltigen Evolutionsprozesse auf diesem Planeten die Leinwand füllen, werden wir auch sehen, wie das Böse in die idyllische Kinderwelt der drei Söhne der O’Briens gerät. Auf leisesten Sohlen kommt es und findet niemanden, dem es die Schuld an seinem Sein geben könnte. Es passiert halt, dass der zwar strenge, aber liebende Vater (Brad Pitt) plötzlich brutal wird, genauso wie es passiert, dass der älteste der Söhne, Jack, zunächst ein Tier und dann einen seiner Brüder quält. Die Grundlosigkeit dieses Bösen verblüfft: Es passiert auf die Art, wie am Malick’schen Himmel Sterne verglühen. Und immer wieder ist da jenes schaudernd-schöne Erschrecken, das Zittern im Nachgang der bösen Tat.

Der Weg der „Natur“ und der Weg der „Gnade“ sind die beiden konkurrierenden Lebensrouten, die Mrs. O’Brien in den ersten Sekunden des Films in einem der zahlreichen Off-Monologe vorstellt. Ihr Sohn Jack (als sich erinnernder Erwachsener später von Sean Penn fast stumm dargestellt) trägt diesen Konflikt in Gestalt seiner Eltern ein Leben lang in sich und droht, fast daran zu zerbrechen. Deshalb nehmen seine Monologe oft die Form eines Gebetes, einer Zwiesprache mit Gott an. Doch es ist meist ein Namenloser, der hier mit „You“ angeredet wird. Ein moderner Gott, der nicht länger durch Wunder antwortet, wenn er gerufen wird. Nikolaus von Kues aber war sich sicher: „Solange wir, Deine Kinder, Dich als Kinder betrachten, hörst Du nicht auf, uns väterlich anzusehen.“ Von dieser Gotteskinderschaft seiner Figuren rückt Malicks Film keinen Augenblick lang ab. Die Gebete, die sie sprechen, sind daher auch Gebete an und für sie selbst als fortwährende Erinnerung an den unerfüllbaren Anspruch, den der mittelalterliche Philosoph von seinem Gott erhält: „Sei du dein, und ich werde dein sein.“ Auch bei Terrence Malick folgt daraufhin ein Lobgesang: Auf die Schöpfung, das Licht, das Sehen, das Kino.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Just a Kiss

(GB / B / D / I / ESP 2003, Regie: Ken Loach)

Was zum Wundern
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Problem- und Lehrfilm erster Güte. Zwei Kulturen, die muslimisch-pakistanische und die schottisch-europäische geraten aneinander, wo doch das Liebespaar zueinander kommen möchte. Ken Loach hat nach „My Name is Joe“ …

Ein Problem- und Lehrfilm erster Güte. Zwei Kulturen, die muslimisch-pakistanische und die schottisch-europäische geraten aneinander, wo doch das Liebespaar zueinander kommen möchte. Ken Loach hat nach „My Name is Joe“ (1998) und „Sweet Sixteen“ (2002) seinen dritten Glasgow-Film überraschend in die bürgerliche Mittelklasse gehievt. Es geht jetzt um einen Flügeltransport in den ersten Stock, einen Hausanbau, einen Wochenendtrip an Spaniens Küsten und um die Umwandlung einer Halbzeit- in eine Vollzeitstelle. Und nun das Problem: Dem Glück der Liebenden steht entgegen, dass er, der als DJ jobbt, Pakistani ist, und sie, die an einer katholischen Schule unterrichtet, Irin.

Aber der Reihe nach, und genauso geht der Film vor: eine Lektion folgt der anderen. Gleich am Anfang wohnen wir, wiewohl erwachsen, einer Unterrichtsstunde bei. Ein Pakistanimädchen hält in der Schulklasse eine Rede. Sie ist stolz auf ihre multikulturelle Identität: auf ihre Herkunft und auf ihr Hiersein, und Fan des Fußballklubs ist sie auch, gar des protestantischen. Die Lehrerin, bei der es sich um die Liebende handelt (Eva Birthistle als Roisin), nickt wohlwollend; das Unterrichtsziel ist erreicht. Draußen, vor der Schule, wird die Musterschülerin von den katholischen Jungs als Pakistanivotze geschmäht.

Wie gehts weiter? Uns wird das intensive Familien- und Sippenleben der Pakistani vorgeführt. Wir drücken dabei die Schulbank. Denn immer wieder kontrolliert einer der Darsteller aus dem Augenwinkel, ob wir aufpassen. Dabei handelt es sich vor allem um den schon genannten DJ, der von der schönen Lehrerin verführt werden wird. Atta Yaqub (als Casim) hatte zuvor noch nie in einem Film gespielt, wohl aber als Model gearbeitet. Er versteckt sich hinter einem Lächeln. Scheu oder unsicher, egal, er ist grad der Richtige fürs Schwanken zwischen den Kulturen. Ja, Papa, da hast du ja auch wieder recht. Ja, Roisin, du aber eigentlich auch. Und klar, wir sollen das als Zuschauer erwägen. Und klar ist auch, dass wir in einem Kulturenkurs sitzen. „Just a Kiss' macht uns da gar nichts vor. Eventuell ist es altmodisch und mindestens 70er-look, einen Wie-würden-Sie-entscheiden?-Film zu machen. Wie wär es aber, wenn das was hat – eine nostalgische Attraktion etwa? Loach handelt auf die gute alte Art was ab, sauber, engagiert, erfüllt von Sinnvermittlung und pädagogischem Eros. Wer will sich dem entziehen?

Die Wochenendfreizeit in Spanien nutzt das Paar zum Religionenabgleich. Jesus im Islam? Immerhin Nebenprophet. Aha, hätten Sies gewusst? Damit wir nicht abgelenkt werden, führt die Cadrage – Felsen, Wasser, Licht plus zwei Köpfe – weg vom Spielfilm und hin zum home movie. Sowas kann man getrost nach Hause tragen. Oder anders gesagt: Uns wird Unterrichtsmaterial vorgesetzt. Entsprechend wohnen wir einer Sexszene bei, indem wir auf einen Spiegel kucken. Der prächtige Goldrahmen kommt sauber ins Bild. Uns wird etwas zur Anschauung vorgeführt, und wir werden am Schluss der Lektion Fragen zu beantworten haben.

Um es gleich zu sagen: Es ist schon faszinierend, wie der Film sein Anliegen – das Wort hab ich vor dreißig Jahren zuletzt geschrieben, echt! – vermittelt und gleich zur Sache kommt, das heißt zum Rassismus im allgemeinen und im besonderen des Jahres 2004. Eine eigene Lektion vermittelt geschichtliches Wissen über die von den Engländern böswillig verschuldete Teilung Indiens und Pakistans im Jahre 1947. 15 Millionen Vertriebene! Mord und Vergewaltigung! Für Überlebende heute noch ein Trauma! Als Anschauungsmaterial dient eine Fotostrecke.

Betroffen sitzt die Schulklasse vor den Dias, die einerseits gelynchte Neger in den USA zeigen, andererseits White Waiting Rooms. Dazu gehört der Blues auf der Tonspur. Ergänzend erfahren wir, dass der Rassenhass nach 9/11 wieder anschwillt. Und uns wird bang, wie es mit dem rassisch ungleichen Paar ausgehen wird. Wir meinen es doch gut mit Casim und Roisin, aber immer wieder geht das Handy, und wir haben neues zu lernen, etwa dass der junge Mann von seinen Eltern längst einer Cousine versprochen ist, die er noch gar nicht gesehen hat, die aber soeben anreist. Da kann er gar nichts gegen machen, versichert der in absentia Verlobte seiner Lehrerin. Es sei denn, sie würde den muslimischen Glauben annehmen, dann sei ein kultureller Kompromiss denkbar.

Wem diese Fragestellung plakativ vorkommt, dem sei gesagt, dass sie plakativ ist. Sie dient zur Beweisführung, daß die katholische Kirche daheim in Glasgow auch nicht anders denkt. Der Pfarrer erregt sich über das sündhafte Lehrerinnenleben „mit Hinz, Kunz und Ali im Bett', es sei denn, der Ali „würde katholisch werden'. Ali-Casim will das nicht. Haltlos pendelt er zwischen der Halt gebenden Großfamilie und der ungehaltenen Lehrerin-Single hin und her. Das gibt melodramatische Ansätze, aber kein Melodram, weil wir, wie gesagt, in einem Pseudo-Spielfilm sind. Wenn also Tante/Onkel mit der Cousinenbraut plötzlich auftauchen, dann gibt es zwar ein großes Drama, – aber nur mit erhobenem Zeigefinger. Sonst könnte man ja auch seinen Spaß dran haben. Nein, es bleibt ernst, wie sonst auch den ganzen Film hindurch. Es geht um Vermittlung des Unterrichtstoffes. Also sehen wir diese Szene nicht mit unseren Augen, sondern mit denen der Lehrerin, die im Verborgenen sitzt und das Geschehen durch die Windschutzscheibe des Autos beobachtet. Wir sitzen im Autokino in pädagogischer Begleitung. Uns wird Gerahmtes vorgeführt.

Die garantiert humorfreie, lehrhafte Ästhetik des Films mag befremden. Plausibel ist sie. Es ist gut zu verstehen, was der Autor mit dem Film will. Die aktuelle Kulturenwidersprüche, ihre Aufhebung im Einzelfall (die Kulturenvielheitsidentität in der Anfangssequenz) und das Gegenteil: den Kulturenwechsel in der Schlussszene. Von dem war in diesem Text noch nicht die Rede. Weil im 103-Minuten-Film bis zur hundertsten Minute davon nicht die Rede war. Emanzipiert sich der Pakistaniboy von der gut meinenden, aber übermächtigen Familie? Auf diese Frage hat Loach nicht hingearbeitet, er war mit der Gegenüberstellung beschäftigt. Dass in „Just a Kiss' eine Entwicklung verborgen ist, überrascht. Vielleicht liegt es am mimischen und schauspielerischen Unvermögen des Protagonisten, dass man das happy end des Films als bloße Behauptung empfindet. Es klingelt, Tür auf und Schlusskuss. So einfach können wir den Regisseur mit seiner Multikultiarbeit nicht entlassen. Das Und-jetzt-ist-alles-wieder-gut kommt so plötzlich wie das Klingelzeichen für die Pause, und, zur Besinnung gekommen, wird bewusst, dass Loach seine Kulturendiskussion emotional nicht verankert hat. Die Darsteller sind individueller Psyche bar. Autobiografisch sind sie nicht kenntlich. Also lassen wir das mit dem happy end und der unversehenen Emanzipation beiseite. Dann haben wir ein starkes offenes Ende; was zum Wundern über das Werd-doch-muslimischkatholisch im Jahr 2004 und ordentlich was zum Nachdenken.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2004

Der große Ausverkauf

(D 2006, Regie: Florian Opitz)

Hitzköpfiges Aufbauprogramm
von Dietrich Kuhlbrodt

Der Dokumentarfilm kommt grade recht zum Gipfel in Heiligendamm. Die neoliberale Globalisierung feiert sich, während immer mehr gesellschaftliche Bereiche von der privaten Gewinnmaximierung erfasst werden. – Solch einen Satz zu …

Der Dokumentarfilm kommt grade recht zum Gipfel in Heiligendamm. Die neoliberale Globalisierung feiert sich, während immer mehr gesellschaftliche Bereiche von der privaten Gewinnmaximierung erfasst werden. – Solch einen Satz zu formulieren, ist jedoch Sache des Films nicht. Das ist seine Stärke. Er kommentiert nicht, er inszeniert nicht, er stellt nicht nach. Wir sind fern von TV-Dokumentation und Pic-Picture, aber wir sind sehr nah bei vier Privatisierungsopfern aus vier Kontinenten. Sie kommen zu Wort und erzählen von ihrem Kampf und sogar von einem kleinen oder großen Sieg. Wieder etwas Besonderes: Was im Betroffenenleid verbleiben könnte, wird zum Aufbegehren und zum Widerstand. Und zur Frage an uns: Hallo, was tun wir eigentlich? Fackeln wir wieder ein Politikerauto ab? – Florian Opitz, Jahrgang 1973, versierter Dokumentarfilmer („Goliaths Albtraum – Globalisierungskritiker seit Genua“, 2002), hat den „Großen Ausverkauf“ genial konstruiert.

Vier pauperisierte Menschen aus vier Kontinenten erzählen, als ob sie untereinander sprächen. Ein Vertreter vom Internationalen Währungsfonds (oder wars die Weltbank?) schwärmt vom Ziel, Armut auszurotten, aber erstmal müssten die armen Länder Darlehen aufnehmen und Zinsen zahlen. Widerspruch wird von Joseph E. Stiglitz eingelegt, dem Wirtschafts-Prof, der sich vom Saulus zum Paulus wandelte (Buch „Die Schatten der Globalisierung“) und der dem IWF wie der Weltbank vorwirft, ihrem Auftrag entgegen nicht den armen Ländern, sondern dem reichen US-amerikanischen Finanzsektor zu helfen.

Nehmen wir einen von den vier Privatisierungsgeschädigten. Von unten gesehen: Oscar Olivera, Gewerkschafter, kämpfte in Cochabamba, Bolivien, gegen den Käufer der Wasserversorgung der Großstadt, den milliardenschweren US-Konzern Bechtel. Die Weltbank hatte auf die Privatisierung gedrängt. Der Konzern strich 16 % Rendite ein. Der Bevölkerung wurde ein Drittel des Monatseinkommens abgepresst – für Wasser. Die Entnahme aus öffentlichen Gewässern wurde verboten. Der Gebrauch von Regenwasser untersagt. Militär besetzte die Stadt. Kriegsrecht wurde verhängt, und – der Widerstand hatte Erfolg. Die Privatisierung wurde rückgängig gemacht.

Der Film macht einen heißen Kopf, und er baut auf. Zum Beispiel, um den Mehdorn was aufs Maul zu geben, wenn er wieder wahnhaft von der Effizienz der Privatisierung schwafelt. In England zahlt der Staat inzwischen doppelt so viel für seine Bahn wie zuvor. Den Profit hatten die Marktfundis, den Schaden haben die Ausgegrenzten, die Entsolidarisierten.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 05/2007

Arrietty – Die wundersame Welt der Borger

(J 2010, Regie: Hiromasa Yonebayashi)

Zwischen wogenden Blumenblüten
von Lukas Foerster

Fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit ist der neue Film des legendären japanischen Animationsfilmstudios Ghibli in den deutschen Kinos gestartet. Nachdem „Ponyo“, die letzte Regiearbeit des Studiogründers Hayao Miyazaki, die kommerziellen …

Fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit ist der neue Film des legendären japanischen Animationsfilmstudios Ghibli in den deutschen Kinos gestartet. Nachdem „Ponyo“, die letzte Regiearbeit des Studiogründers Hayao Miyazaki, die kommerziellen Erwartungen nicht erfüllen konnte, zirkuliert „Arrietty“, für den der Altmeister nur das Drehbuch verfasst hat – Regie führt der Newcomer Hiromasa Yonebayashi -, nur mit gut zwanzig Kopien. Zwischen den omnipräsenten Sommerblockbustern ist da von Anfang an nicht viel zu holen; dass der Film von der Presse fast komplett ignoriert wurde, verwundert aber doch. Schließlich versteckt sich hinter dem unglücklich gewählten deutschen Verleihtitel „Die wundersame Welt der Borger“ ein Stück populäres Kino im allerbesten Sinne.

Die Werke Miyazakis haben spätestens seit den Neunzigern einen Hang zum Expansiven, Ausgreifenden, Barocken, unternehmen Entdeckungsfahrten in komplex ausgestaltete mythische Welten. „Arrietty“ aber findet zur Linearität und scheinbaren Einfachheit von „Mein Nachbar Totoro“, dem möglicherweise Schönsten aller Anime, zurück. Auch „Arrietty“ – basierend auf einer Kinderbuchserie Mary Nortons – nimmt seinen Anfang bei Kindheit und Einsamkeit, die fantastische Welt, die auf dieser Basis entsteht, gewinnt dann aber ein Eigenleben, das nicht mehr auf den psychologischen Maßstab zum Beispiel einer Projektion gebracht werden kann.

Ein Haus im Grünen, ein wenig abseits der Welt, ein Sommer, ein wenig aus der Zeit gefallen, ein junger Protagonist, ein wenig abseits von Gesellschaft und funktionierendem Familienleben; all das schließt direkt an „Totoro“ an. Doch schnell wechselt der Film die Perspektive: Die eigentliche Hauptfigur ist Arrietty selbst; Arrietty ist ein Mädchen, das zu den 'Borrowers' gehört. Die Borrowers sind 'kleine Menschen', ungefähr daumengroß, die sich in den Häusern der Großen eingerichtet haben und diesen einige Kleinigkeiten für die eigene Existenz entwenden: einzelne Zuckerwürfel, Stecknadeln, Papiertaschentücher, stets nur solche Dinge, deren Verlust nicht bemerkt, die im Maßstab der Großen nicht einzigartig, sondern ohne Probleme ersetzbar sind, die für die Kleinen jedoch zu singulären, existentiell notwendigen Dingen werden. Arrietty wohnt gemeinsam mit ihren Eltern in einem Haus im Haus, einem versteckten Karton, den die drei zum heimeligen Zuhause ausgestaltet haben; direkt vor der Tür lauern Gefahren aller Art.

Der Größenunterschied zwischen kleinen und großen Menschen führt nicht nur zu einer Umwertung der Dingwelt, er prägt den gesamten Film. Aber, das ist das Schöne, nie als bloße Cuteness oder als Pointe, sondern vor allem anderen als Simulation realen Erlebens. Eine lange, ausführliche Szene am Anfang des Films beschreibt einen Streifzug Arriettys mit ihrem Vater durch das Haus der großen 'Wirtsfamilie'. Der Film nimmt sein Szenario ganz und gar ernst und lädt konsequent die Details der alltäglichen Welt, die im gewöhnlichen Erleben kaum noch wahrgenommen werden, mit einem 'sense of adventure' auf: Nägel, die ein wenig aus der Wand ragen, Stromkabel, Klebestreifen und so weiter. Die weiterhin größtenteils klassisch „zweidimensional“ und mit der gewohnten Liebe zum Detail und zu organischen, vielseitigen Texturen animierten Bilder öffnen und schließen sich während dieser Passage so spektakulär, dass die dreidimensionale Konkurrenz von Pixar und Dreamworks im Vergleich reichlich alt aussieht.

Später, wenn auch die 'großen Menschen' eine wichtige Rolle im Film zu spielen beginnen, gibt es dann immer wieder ein Spiel mit der Perspektive, am schönsten während der ersten gelungenen Begegnung Arriettys mit dem jungen Sho, dem träumerischen, kränklichen Kind des Hauses: Vorher konnte er stets nur ihren Schattenwurf sehen, jetzt zeigt sie sich ihm vollständig. Sie tritt an das für sie riesenhaft anmutende Kind heran, er dreht seinen Kopf, es folgt ein Schnitt auf seinen point of view, auf eine Nahaufnahme Arriettys zwischen wogenden Blumenblüten, die teilweise größer sind als ihr gesamter Kopf. In dieser wunderschönen Einstellung – unterlegt von der dezent eingesetzten, hypnotischen Filmmusik – scheint der Film Arrietty, das Wunder ihrer bloßen Existenz, aber auch ihre gesamte Persönlichkeit, noch einmal neu zu entdecken.
Die Geschichte ist nicht einmal auf den ersten Blick so einfach und oppositionell strukturiert, wie die Gegenüberstellung von klein und groß glauben machen könnte. „Arrietty“ entwirft, wie so viele andere Ghibli-Filme, eine Welt, die gleichzeitig und oft ununterscheidbar Sozial- und Ökosystem ist, in deren Inneren eher Dialektik als eine transzendente Moral waltet. Das gilt schon für die Struktur der Bilder, für ihre Textur selbst. Von weitem, in der Totalen, ist die Wiese ein impressionistischer Aquarelltraum, aber wenn sich Arrietty und ihre Familie durch sie hindurch schlagen müssen, ist die Lieblichkeit verschwunden, wird jeder Kieselstein zum Hindernis.

Ein Detail macht die alles andere als eindimensionale Beziehung zwischen den beiden Sphären des Films besonders deutlich: Die 'großen Menschen' haben für die kleinen, mit den besten paternalistischen Absichten, ein Puppenhaus gebaut, aber das wird nicht als Friedensangebot interpretiert, sondern als Falle. Und vielleicht nicht ganz zu Unrecht, wenn auch aus Gründen, die den Borrowers selbst nicht bewusst sind; schließlich lauert im Puppenhaus die Domestizierung. Die Borrowers setzen statt dessen auf Abschottung von der bei gleichzeitiger Mimikry an die Lebenswelt der Großen, was natürlich in erster Linie auf Selbstdomestizierung hinausläuft. Die Kommunikation zwischen den beiden Parteien scheitert an einem doppelten Missverständnis, das sich bis zum Schluss nicht auflöst. Die sanfte Freundschaft zwischen Arrietty und Sho (ein ausgestreckter Finger, der mit beiden Armen liebevoll-neugierig umfasst wird; das Versteckspiel; der Versuch, einander auf Augenhöhe zu begegnen) bleibt eine Träumerei, die weniger utopisch als melancholisch anmutet.

Mittlerfiguren zwischen den beiden Sphären sind eher die Tiere. Innerhalb der Handlung spielt vor allem eine Katze eine Rolle, daneben haben aber auch jede Menge Vögel, Hunde, Mäuse und vor allem Insekten Kurzauftritte. Die Tiere stehen außerhalb der Differenz, die den Film strukturiert, zumindest insofern, wie diese eine begriffliche ist und gerade deshalb eignen sie sich zu ihrer Überwindung. Für die Tiere ist Arrietty kein kleines Gegenstück zu Sho, sondern beide Elemente einer ungeteilten Erfahrungswelt. Der Angriff eines Raben bringt Sho und Arrietty zum ersten Mal einander näher, Käfer, Schaben und Ameisen bekommen in liebevollen Großaufnahmen eine Materialität, die ihnen Realfilme noch fast immer verweigern (für die Borrowers sind Insekten nicht das Abjekte an der Natur, sondern selbstverständlicher Teil der Umwelt). Aber selbst die intelligente, in manchen Hinsichten lernfähige Katze bleibt eine rätselhafte Kreatur, die an einer anderen Art von Freiheit Teil hat als die sozial determinierte Arrietty und der auch dann kein mit menschlichem analoges Bewusstsein zugeschrieben wird, wenn sie scheinbar altruistisch handelt. In einer der schönsten Szenen des Films läuft eine Kellerschabe über einen Stein, eine andere taucht auf, die beiden reiben sanft ihre Fühler aneinander und verschwinden gemeinsam.

Kung Fu Panda 2

(USA 2011, Regie: Jennifer Yuh)

Spielverderbär
von Louis Vazquez

Wieder einmal müssen der Pandabär Po und seine fünf Kung-Fu-Freunde das Tal des Friedens verteidigen, und Schuld hat diesmal ein fieser Pfau. Einst erfreute das Volk der Pfauen das ganze …

Wieder einmal müssen der Pandabär Po und seine fünf Kung-Fu-Freunde das Tal des Friedens verteidigen, und Schuld hat diesmal ein fieser Pfau. Einst erfreute das Volk der Pfauen das ganze Chinesische Reich mit wunderbaren Feuerwerken. Doch jetzt lässt der böse Lord Shen statt Knallkörper mächtige Kanonen bauen, mit deren Hilfe er das Land unterjochen will. Aufgrund einer Prophezeiung hat Shen vor vielen Jahren die Pandabären nahezu ausgerottet. Er ahnt nicht, dass ein gewisses Findelkind überlebt hat und doch noch für seinen Untergang sorgen könnte. Pandabär Po wiederum muss zu seiner Überraschung erfahren, dass sein Gänserich-Vater ihn bloß adoptiert hat, und sein Weltbild gerät darüber ins Wanken. Kann er sich seiner verdrängten Vergangenheit stellen, um das Böse zu besiegen? Die Antwort liegt auf der Handkante.

Wichtiger für den Film ist deshalb eine ganz andere Frage: die nach der eigenen Identität. Pos Verunsicherung bildet den Kern der Geschichte, und in Kinderfilmen genauso wie bei Existenzialisten führt die Frage, wer man denn nun eigentlich sei, letztlich zur gleichen Antwort: Man ist der, für den man sich frei entscheidet. Eine nicht seltene, aber grundsympathische Moral. Und doch liegt einiges im Argen in „Kung Fu Panda 2“. Und das hängt mit der Zahl im Titel zusammen.

Der Film versteht es wie sein Vorgänger, auf durchaus kluge Weise verschiedene Stile zu präsentieren, die die unterschiedlichen Erzählebenen Gegenwart, Mythos und Erinnerung kennzeichnen. Schon die Eröffnungssequenz allerdings, die an Scherenschnitt bzw. Legetricktechnik erinnert, stellt ein Problem dar. Sie erzählt nämlich die Vorgeschichte inklusive Lord Shens Versuch, die Pandabären auszurotten. Damit nimmt sie ausgerechnet das vorweg, was Held Po den kompletten Film hindurch noch nicht weiß. Der Wissensvorsprung der Zuschauer lässt ungeduldige Naturen bisweilen an der Naivität des Helden verzweifeln.

Eigentlich gibt sich der Film alle Mühe, keine Langeweile aufkommen zu lassen. Seine Strategie ist Tempo. Was am ersten Teil gut war, wird nochmal gemacht. Aber schneller. Und größer. Und lauter. Bezeichnend sind da die Herr-der-Ringe-Zitate: Während die Herstellung der bedrohlichen Kanonen in der einleitenden Rückblende noch an Ralph Bakshis Animationsfilm aus dem Jahr 1978 erinnert, zitieren die rasanten, simulierten Kameraflüge durch computergenerierte Welten später stilistisch deutlich die Version Peter Jacksons und die Filme von James Cameron. Drehbuchautor Jonathan Aibel wollte die „Grenzen des Machbaren“ in dieser Fortsetzung vorantreiben, durch „aufwändigere Actionszenen, noch mehr Tiefe bei den Figuren und gewaltigere Schauplätze und Animationen“. Leider aber bleibt es gerade in Sachen Figurentiefe bei der Absichtsbekundung. Pos Backstory leidet unter der vorweggenommenen Pointe, und die Nebenfiguren sind fast allesamt statische Comic-Reliefs oder Stichwortgeber.

Natürlich ist es noch immer amüsant, wie Po und seine Freunde Heldentum karikieren. Beim Versuch, alles zu toppen, geht dem Film aber die Balance verloren. Die grausame Backstory um die Ausrottung der Pandas, die von den Pfauen mit einer Wolfsmeute gejagt werden, rückt Po in die Nähe von Conan, dem Barbaren und relativiert so manche berüchtigte, traumatisierende Disney-Szene. Nicht, dass Kinderfilme keine Gewalt zeigen sollen, doch wirkt die Sequenz seltsam ungebunden an den vergleichsweise albernen Rest des Films.

Man könnte wie bei vielen Martial-Arts-Klassikern versuchen, die spektakulären Kampfszenen losgelöst von der unausgegorenen Handlung zu betrachten. Allerdings bleibt ohne menschliches Zutun und Akrobatik bloß technische Spielerei, und die steht nun wirklich bei allzu vielen schlechten Blockbuster-Anwärtern im Vordergrund. Auch die im Original durchaus beeindruckende Sprecherliste (mit Auftritten von Michelle Yeoh und Jean-Claude van Damme in kleinen Rollen) trügt, denn das Ergebnis ist leider nicht halb so parodistisch, wie man erwarten könnte und nimmt seinen epischen Fantasy-Schwulst viel zu ernst – inklusive angedrohter Ausweitung zur Trilogie mittels Cliffhanger.

Es stellt sich also das hartnäckige Gefühl ein, dass hier viel verschenkt wurde. Trotzdem: Die anwesenden und hinterher aus Marktforschungsgründen befragten Kinder („Bringen Sie gerne Ihre Kinder zur Pressevorführung mit“) fanden es offenbar ganz gut. Immerhin scheppert und rummst es ordentlich und ist weitgehend frei von pädagogischen Absichten.

Geständnisse – Confessions

(J 2010, Regie: Tetsuya Nakashima)

Rache im Klassenzimmer
von Marit Hofmann

Liebe Schüler, heute lernen wir, wie man einen Menschen kaputt macht. Nur alle herein ins Klassenzimmer, aber Achtung, so bald lässt euch Regisseur Tetsuya Nakashima nicht wieder raus. Bei all …

Liebe Schüler, heute lernen wir, wie man einen Menschen kaputt macht. Nur alle herein ins Klassenzimmer, aber Achtung, so bald lässt euch Regisseur Tetsuya Nakashima nicht wieder raus. Bei all der Unruhe, die eure lärmenden Mitschüler (unterstützt von Kamera und Tonspur) verbreiten, möchtet ihr den selbstsüchtigen Rotznasen wie ein Streber aus der ersten Reihe zurufen: Haltet die Klappe! Wo doch die Lehrerin am letzten Schultag, bevor sie den Dienst quittiert, etwas mitzuteilen hat. Zwei Schüler aus dieser Klasse, verkündet sie erschreckend ruhig, hätten ihre kleine Tochter ermordet. Ein Unfall, habe es offiziell geheißen, und sie, die Mutter, habe es dabei belassen, um die vom Gesetz geschützten Minderjährigen auf ihre ganz eigene Weise zu bestrafen: Damit sie den Wert des Lebens schätzen lernten, habe sie den beiden HIV-infiziertes Blut in ihre Milch gemischt. Kreischendes Klassenzimmer! Eben noch nuckelten die Gören genüßlich an ihren Milchtüten, Teenager brauchen schließlich ihre Extraportion Kalzium.

Seht nur, wie nun das Chaos ausbricht: Mobben der Mordverdächtigen, Aidshysterie, Amokphantasien! Dabei agieren die Schüler in Uniform, die einzig ihre Einsamkeit eint, immer wieder wie Schlafwandler in Zeitlupe – unfähig, ihrem Schicksal und der in tristen Farben gezeichneten Hölle, die da Schule heißt, zu entrinnen. So wie ihr unfähig seid, euch dem imposanten Bildersog und dem überbordenden Soundtrack von Bach bis Radiohead zu entziehen. Selbst die modernen Kommunikationsmittel haben die Strippenzieher in ihre pompöse audiovisuelle Choreographie einbezogen.

Wenn ihr gut aufgepasst habt, wisst ihr, dass Rache kein seltenes Motiv im (japanischen) Kino ist, aber selten wird es so subtil verfolgt wie von der pädagogisch geschulten Protagonistin, die auch ihren lächerlichen Nachfolger, der Kumpel aller Kinder sein will, als Marionette für ihre grausamen Spielchen benutzt. Da wird eben selbst Milch zum Horrorelement – für reichlich Blut sorgen dann die Psychokriegsopfer schon selbst. Bekommt ihr nun Mitleid mit euren wohlstandsverwahrlosten Klassenkameraden? 'Niemand sagte mir, dass es falsch ist, zu töten', rechtfertigt sich der Jugend-forscht-Gewinner mit Mutterkomplex. Doch wenn hier tatsächlich jemand einen Anflug von Gewissensbissen erkennen lässt, heißt es hinterher: Just kidding!

Dieser Film ist so herrlich unmoralisch, dass er unbedingt auch Zuschauern unter 18 zu empfehlen ist. Lektion 1: Traut keinem Lehrer. Lektion 2: Traut keinem Schüler. Lektion 3: Vertraut aufs japanische Kino.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/2011

Link zu einer weiteren Filmkritik

Supermarkt

(BRD 1973, Regie: Roland Klick)

Willi gegen den Rest der Welt
von Andreas Thomas

Willi ist unter 21, was in der BRD des Jahres 1973 bedeutet: Willi ist minderjährig. Und weil Willi offenbar von Zuhause (wo ist das? Familie? Heim? Wir wissen es nicht) …

Willi ist unter 21, was in der BRD des Jahres 1973 bedeutet: Willi ist minderjährig. Und weil Willi offenbar von Zuhause (wo ist das? Familie? Heim? Wir wissen es nicht) ausgebüxt ist, ist er ein Fall fürs Jugendamt. Willi hat nach Hamburg gemacht, und will irgendwas anfangen, aber wie minderjährige, sozial unterprivilegierte Jugendliche eben so sind: Willi drückt sich ziemlich orientierungslos in dunklen Ecken eines schmuddeligen St. Pauli herum.

Lange muss Willi aber nicht auf seine Abenteuer warten, denn dafür sorgen schon die Polizei, das Jugendamt, ein sozial engagierter Journalist, ein Kleinkrimineller, ein Schwuler und eine Prostituierte. Roland Klicks Film „Supermarkt“ nämlich kennt sich aus mit den Problemen, die einen jugendlichen Outlaw so bedrängen. Zunächst ist „Supermarkt“ ein Paradebeispiel für das, was man in den Siebzigern einen „Problemfilm“ nannte. Dieses Genre kurz zusammengefasst: Ein wehrloser Mensch scheitert an einer kalten Gesellschaft. Fassbinder war ein Virtuose des Problemfilms, weil er am konkreten, melodramatischen Fall das Exemplarische und auch – aber nicht nur – für die Gesellschaft Allgemeingültige herausstellte. Ein Problemfilm bei Fassbinder kritisierte nicht nur eine westdeutsche Wohlstandsgesellschaft, er drang zu den Grundfragen nach Mensch, Menschheit und Menschlichkeit vor.

Letzteres schafft Klick mit „Supermarkt“ leider gar nicht. Aber auch schon bei der plausiblen Milieustudie, beim schlichten Versuch, uns eine individuelle Notlage stringent näherzubringen, tut sich der Film auffallend schwer. Denn Willi (Charly Wierzejewski) ist in keiner Hinsicht ein Symphatieträger, und jede Hilfe, die ihm angeboten wird, schlägt er schnell wieder aus. Willi bieten sich mehrere Seinsformen: Er könnte es als Kleinkrimineller versuchen, denn aus irgend einem Grund hat Theo (Walter Kohut) an Willi einen Narren gefressen; als gutbezahlter Edelstricher, denn ein reicher Homosexueller (Michael Rehberg) verliebt sich in ihn. Er wird sogar vom sozial engagierten arrivierten Journalisten Frank (Michael Degen) bei sich zuhause aufgenommen, aber Willi ist – bis auf eine Ausnahme – überhaupt nicht in der Lage, über seinen eigenen Tellerrand zu sehen. Willi versucht überhaupt nicht, sich irgendwie anzupassen. Ihn nervt, wenn er auch mal den Müll runterbringen muss, und dass er seine Käsesocken nicht in der Spüle einweichen soll, kann er nicht nachvollziehen. Dass Willi unangepasst sein will, ist da verständlich, wo Anpassung für ihn Heimverwahrung bedeutet, aber wenn ihm jemand eine Unterkunft, Essen und gar eine Lehrstelle verschafft, macht ihn das genauso aufmüpfig. Dieser Sozial-Schuss des Films geht nach hinten los. Nicht die Gesellschaft hat hier schuld, sondern der nicht integrierbare Jugendliche. Da nützt auch nicht der sentimentale Lonesome-Hero-Song „Celebration“, der (etwa im Stil der Rolling Stones der „Wild Horses“-Phase von dem damals völlig unbekannten Marius Müller-Westernhagen gesungen wurde, der übrigens auch Wierzejewskis Texte synchronisierte) immer dann erklingt (und das ist häufig), wenn Willi wieder mal ganz selbstmitleidig guckt, weil er es sich wieder mal mit wem vergeigt hat. Genug zum sozialkritischen Aspekt, denn die Milieustudie in „Supermarkt“ klatscht immer da, wo es um eine konsistente Psychologisierung der Figuren geht, ein Klischee ans andere und hofft darauf, dass der sozialkritische Zuschauer schon vorausgesetzt hat: Ja, ja, das sind die Problemzonen unserer kalten Welt.

Her mit dem Trash- und Exploitationfaktor von „Supermarkt“, und hier stoßen wir auf einen kleinen Schatz. Klick ist nicht umsonst der gewesen, der drei Jahre zuvor „Deadlock“ gedreht hat, einen kruden deutschen „Italowestern“ mit einem so hohen fatalistischen Stilwillen und gleichzeitig unwahrscheinlichem Regie-Ungeschicklichkeitsgrad, dass man ihn, wie T. Groh, fast als Meisterwerk bezeichnen kann. Derselbe Hang zum Extrem, zur Drastik und zum grellen Moment blitzt immer dann in „Supermarkt“ auf, wenn er seine besten Momente hat. Dann erklärt sich auch, dass das sozialkritische Korsett nur Ornament war für den wahren Stoff, um den es Klick hier geht, und der liegt in der Form, genauer: der Ästhetik: Derbe Gewalt, dramatische Waffengänge, Betrunkene, Kotzende, sich in Pfützen prügelnde Kleingangster und schmutziger Asphalt. Apropos: Inhaltlich am deutlichsten inspiriert wurde der Film sicherlich durch John Schlesingers „Asphalt Cowboy“, und mit dem Handlungsstrang, in dem es darum geht, die Hure (Eva Mattes) zu befreien, nimmt „Supermarkt“ zumindest inhaltlich schon „Taxi Driver“ vorweg (wenn dergleichen nicht schon ein typischer Film noir-Stoff wäre).

Und: Wenn ein Film nicht im Studio, sondern on location gedreht wurde, hat er automatisch den Bonus der Zeitzeugenschaft. Für mich liegt darin der größte Wert von „Supermarkt“: Aus unzähligen Perspektiven sehen wir ein Hamburg der ersten Hälfte der Siebziger, speziell ein St. Pauli, das noch richtig roh, schmutzig, dunkel ist, und wir sehen die spießigen, verkniffenen Bürger jener Tage oder die schmierigen Kunden auf der Reeperbahn, die fettigen langen Haare und die breiten Koteletten der männlichen Protagonisten. Nackt gehen speziell die weiblichen Figuren durchs Bild, die in der Boutique oder im Puff arbeiten. Muffig sind die Polizeidienststellen und Ämter, fies und verknöchert die Beamten. Authentisch ist „Supermarkt“ viel weniger in seiner Handlung als in seinem dokumentarischen Gehalt, weil er mindestens zur Hälfte nicht imitiert, inszeniert, sondern stets das Original – zumindest als Set und Kulisse – verwendet.

Am Ende können wir auch noch das schöne Vergnügen erleben, wenn Witta Pohl und Michael Degen, die Stars der schlechthinnigen CDU-Familienserie der Achtziger „Diese Drombuschs“, sich in einem B- oder Underground-Movie (tja, was ist es denn nun?) die erzhysterische Seele aus dem Leib grölen oder mit besoffenem Charme eine Kneipe aufmischen. Sonstige Stars: der manisch-kriminelle Walter Kohut, und der in seinem Enthusiasmus weit über seine Minutenrolle ausufernde Alfred Edel, als schwadronierender, wild fabulierender Chefredakteur. Manchmal, nämlich wenn er sein „Problembewusstsein“ verliert, hat „Supermarkt“ schon einen Hauch von Schlingensiefs Anarchopubertätsfilmen, immerhin manchmal …

Sabah

(CAN 2005, Regie: Ruba Nadda)

Unfreiheit in Permanenz
von Andreas Thomas

Was mag Arsinée Khanjian („Felicia, mein Engel“, „Exotica“), diese intelligente kanadische Schauspielerin, wohl dazu gebracht haben, die Sabah im gleichnamigen Film zu spielen? Konsumentenfreundlich wird darin geschildert, wie Sabah, eine …

Was mag Arsinée Khanjian („Felicia, mein Engel“, „Exotica“), diese intelligente kanadische Schauspielerin, wohl dazu gebracht haben, die Sabah im gleichnamigen Film zu spielen? Konsumentenfreundlich wird darin geschildert, wie Sabah, eine unverheiratete vierzigjährige Kanadierin mit syrischen Wurzeln, die ihrer Familie und deren rigider Tradition verpflichtet ist, sich in einen Nichtmoslem verliebt. Weil das ihrem Bruder, der nach dem Tod des Vaters argusäugig das patriarchische Zepter über den Vierfrauenhaushalt schwingt, kaum gefallen würde, trifft sie Stephen heimlich im Schwimmbad, im Fast Food-Restaurant, nascht sie heimlich ihren ersten Schluck Rotwein und ihren ersten Kuss.

Der Katalog muslimischer Gebote – soviel zeigt der Film, und Khanjian so differenziert, wie es ihre frugale Rolle zulässt – ist für die Muslimin im freizügigen Westen Unfreiheit in Permanenz. Nur die Freuden des Bauchtanzes dürfen die Damen des Hauses in selbigem ungetrübt und feminin bekleidet auskosten. Draußen aber bleiben Haare, Busen und Gelüste verborgen.

Die Frau, der Mann und der Koran. Wie von der Stange erteilt „Sabah“ Lektionen, wie das (nicht) funktioniert und vergisst dabei fast, dass er auch von Menschen handelt. Mit der ins allzu Heitere gezwungenen Flachheit seiner Figuren (welche der Glätte der Bilder entspricht, die mit der Ästhetik nachmittäglicher TV-Formate wetteifert) konterkariert der Film das eigene aufklärerische Ansinnen, und seine finale Konfliktlösung ist unglaubwürdig einfach und seltsam konziliant. Davon, dass Frauen in ähnlichen Situationen mit ihrem Leben bezahlen, will der Film nichts wissen. Der anfangs bedrohlich autoritäre Bruder entpuppt sich plötzlich als ein netter, aber „Sabah“ soll auch nur nette Unterhaltung sein – oder starrsinnigen Familienoberhäuptern Wege einer liberaleren „Familienpolitik“ aufzeigen?

Die Geschichte der „Sabah“ bleibt irgendwo zwischen Tradition, Problem, Komik und Bauchgewackel stecken. Vielleicht hat der syrisch-kanadischen Regisseurin Ruba Nadda deren wirkungsmächtige melodramatisch-popige Fusion, wie sie Bollywood-Produktionen immer wieder gelingt, vorgeschwebt. Vielleicht fehlten die Mittel, oder es fehlte der Mut: Nach dezenten Emanzipationsansätzen jedenfalls landet die Frau Sabah erneut in einem neuen Frauchenschema – und der Film „Sabah“ im verharmlosenden Konsens. Bunte, lackierte Bilder – und doch ist Arsinée Khanjian das Einzige, was glänzt. Warum nur hat sie dieses Klischeevehikel mit ihrer Vielschichtigkeit beehrt? Etwa weil ihr Gatte Atom Egoyan der Produzent war? Und was hat dann Atom Egoyan, diesen intelligenten kanadischen Regisseur, dazu gebracht, diesen Film zu produzieren?

Barton Fink

(USA 1991, Regie: Joel Coen)

Glauben Sie, David Lynch ist der einzige Regisseur, der uns das David-Lynch-Gefühl geben kann?
von Andreas Thomas

Selten haben die Brüder Joel und Ethan Coen, die Meister der cineastischen Verweise und Stile, ihr Interesse so konzentriert einem Thema gewidmet wie in „Barton Fink“. Vielleicht naheliegend, wenn der …

Selten haben die Brüder Joel und Ethan Coen, die Meister der cineastischen Verweise und Stile, ihr Interesse so konzentriert einem Thema gewidmet wie in „Barton Fink“. Vielleicht naheliegend, wenn der Film doch vom kleinen Autor in der großen Filmfabrik handelt. Dabei herausgekommen ist so etwas wie ein travestierter Lynch in Gestalt einer Satire auf das Genre „Kulturkritik“, einer der wenigen Coens, deren Kerngehalt durch die manischen Verspieltheiten der Coens nicht spürbar überspielt wird und die trotzdem ein Kabinettstückchen hintersinniger Vieldeutigkeit bleiben.

Als zu Beginn der Vierziger Jahre der naiv-idealistische Barton Fink (John Turturro in seiner besten Rolle) mit einem Theaterstück über „den kleinen Mann“ seinen Durchbruch am Broadway erlebt hat, folgt er zögerlich einem Ruf nach Hollywood, wo er vom Filmtycoon Jack Lipnick (Michael Lerner) als Drehbuchautor engagiert wird. Sprach- und ratlos entnimmt der Bühnenautor (der offenbar noch kein Kino von innen gesehen hat) dem Redeschwall des Produzenten, dass er das Buch zu einem profanem Ringerfilm zu schreiben habe.

Getreu seinem Vorhaben, sich nie von dem „Mann auf der Strasse“ zu entfernen, mietet er sich ein im „Earle Hotel“, dessen ominöser Wahlspruch „A day or a lifetime“ lautet. In der billigen Absteige, auf deren düsteren und zugigen Fluren nur die Schuhe der Gäste, aber nie deren Besitzer zu sehen sind, macht er Bekanntschaft mit dem dicken Versicherungsvertreter („Ich verkaufe Seelenfrieden“) Charlie Meadows (John Goodman in seiner besten Rolle), weil ihn dessen verzweifeltes Lachen im Nebenraum vom ohnehin stockendem Arbeiten abhält.

Turturro und Goodman tragen den kammerspielartigen Film über weite Strecken mühelos alleine. Neben ihnen agieren schwitzende Wände, die unschöne und obszöne Resonanzen transportieren und deren Tapeten sich in der permanenten Hitze abschälen, eine Mücke, die sich nachts von Finks Blut ernährt, die Schreibmaschine, die nicht schreiben will, und das alles aufsaugende Weiß des Papiers, das so leer ist wie Bartons Kopf. Dahinter: Bartons ewiger Blickfang: das gerahmte Foto einer Strandschönheit, den Blick aufs Meer gerichtet.

Auf der Studiotoilette trifft Barton einen (nachdem der sich ausgiebig übergeben hat) vollendet höflichen Alkoholiker, der sich als William P. Mayhew (John Mahoney), der „beste lebende Schriftsteller“ den Barton kennt, entpuppt. Auch er ist inzwischen einer jener zahlreichen Filmautoren, die man in Hollywood trifft, wenn man nur einen Stein wirft, wie Produktionsmanager Ben Geisler es ausdrückt,- mit dem Zusatz: „Aber tun sie mir einen Gefallen: Werfen sie hart!“ Und auch Mayhew leidet unter Schreibhemmung.

Das Personal in „Barton Fink“ weist Ähnlichkeiten mit Figuren der früheren Hollywoodgeschichte auf. So scheint der Studioboss Lipnick ein Mix aus den Produzenten David Seltznick und Louis B. Mayer, Chef der MGM-Studios, zu sein, und William Mayhew erinnert an William Faulkner, dem Buchautor u.a. zu einem der bekanntesten Humphrey-Bogart-Filme: „The Big Sleep“ („Tote schlafen fest“).

Isoliert in Bungalows mit Namensschildchen und der Gattungsbezeichnung „Autor“ an den Türen fristet die literarische Elite der USA in Hollywood ihr Dasein als Galeerensträflinge. Haben sie einmal sich und ihr Talent den Studios verkauft, bleiben sie „ for a lifetime“ unter Vertrag. Audrey Tayler (Judy Davis), die aufopferungsvolle („Ich habe ihm immer seine Drehbücher geschrieben.“) Sekretärin und Lebensgefährtin des derangierten Mayhew versucht, Barton in seiner Not zu helfen,- am nächsten Morgen soll er Lipnick ein Treatment präsentieren. Es bleibt aber nur bei der ersten (sexuellen) Hilfe, denn Barton erwacht neben ihrer Leiche – und kann sich an nichts erinnern.

Fink, inzwischen ein personifizierter Nervenzusammenbruch, hat jetzt nur noch einen Freund, den „kleinen Mann“ von Nebenan, den kräftigen Charlie, der (nachdem auch er sich ausgekotzt hat) weiß, was zu tun ist. Charlie verschwindet mit der Leiche – Barton ist unfähig, zu fragen, wohin – und kehrt zurück, um Barton um einen einzigen Gefallen zu bitten: Er müsse wieder auf Dienstreise, und er wolle Barton etwas anvertrauen: „Schon merkwürdig, wenn alles, was das Leben eines Menschen ausmacht, in einen kleinen Karton passt, was?“ Fink stellt das geschnürte Päckchen neben die Schreibmaschine. In einem einzigen Marathon hämmert Barton nun das Drehbuch in die Maschine. Er ist der Meinung, etwas Besseres habe er noch nie geschrieben. Da aber Lipnick ganz anderer Meinung ist, erklärt er Fink kurzerhand, dass er nie wieder ein Drehbuch abliefern dürfe, aber alles, was er fortan schreibt „für immer Eigentum von Capitol Pictures“ und unter Verschluss bleiben werde.

Nichts ist, wie erhofft. Das „künstlerisch Wertvolle“ gilt natürlich in Hollywood nichts, der eingebildete („Auch ich bin ein Arbeiter, mein Werkzeug ist mein Verstand“) Barton wird von einem Matrosen umgehauen, weil er seine Tanzdame nicht freigeben will, aber nun die „Navy“ dran ist, und der nette Mann von Nebenan, Charlie Meadows („Manchmal vergesse ich mich wirklich!“), ist der gesuchte Serienmörder Karl Mundt, auch „Mörder-Mundt“ genannt. Mit den Worten „Ich zeig’ euch den wahren kreativen Geist!“ und „Heilhitler“ entflammt Charlie das Hotel. Ein Streichholz braucht er nicht. Symbolträchtige Überzeichnungen kippen ins reine Symbol. Zeitgleich findet der Eintritt der USA in den 2. Weltkrieg statt, und Lipnick, der sich sofort als Freiwilliger gemeldet hat, hat sich von der Kostümabteilung (wie Göring) eine Phantasieuniform schneidern lassen, bis die offizielle Uniform eintrifft. Für Lipnick ist alles, auch der Krieg, ein Film, und jede Handlung eine Pose: Hollywood.

Nur Charlie, der Verkäufer von Seelenfrieden, kennt die „kleinen Leute“, und zwar so gut, dass er sie von ihrem traurigen Dasein erlöst, indem er sie buchstäblich von ihren Köpfen befreit. Barton Fink, der selbsternannte Erfinder des „Theaters der Wahrheit“ kann die Wahrheit nicht kennen, weil er nie zugehört hat, wenn Charlie, mit dem Flachmann winkend, ihm anbot: „Ich könnte dir Geschichten erzählen …“ Hollywood verkennt den Künstler, aber der Künstler selbst ist sich zu schade für die Realität. All das ist eigentlich Stoff eines gesellschaftskritischen Stücks, aber die Coens kennen das tragische Genre im Kino, sodass sie Spass daran haben, dessen kalkulierte Methoden mit skurillen und ironischen Überzeichnungen zu unterlaufen und zu demaskieren.

So sehr den Coens – zum Teil sicher berechtigt – immer wieder postmoderne Beliebigkeit nachgesagt worden ist, in „Barton Fink“ dient die Beherrschung der Methode, über die gelungene Kopie hinaus, der Wahrheitsfindung, denn, wenn sie hier Maskierungen hervorheben, heben sie sie auch ab von dem Rest, der Substanz. In ihrer Geschichte über die ausbeuterischen Praktiken des wahren Hollywood steckt zugleich auch die Enttarnung des klischeehaften Hollywoodpathos. Das macht die Satire „Barton Fink“ auf doppelte Weise aufklärerisch. Neben Robert Altmans „The Player“ und dem (natürlich rätselhaften) „Mulholland Drive“ von David Lynch ist „Barton Fink” eine der beißendsten Abrechnungen mit Hollywood und dessen Ausdrucksmitteln. Er ist ein kritisch-vernarrter Blick auf das Produkt und ein böser Blick in das Getriebe der Maschine.

Wenn Lipnick den Satz: „Glauben Sie, Sie sind der einzige Autor, der uns das Barton-Fink-Gefühl geben kann?“, ausspricht, dann bringt er (im Film vierzig Jahre verfrüht) eine Kernthese der Postmoderne auf den Punkt. Der „Tod des Autors“, Dauerthema der postmodernen Literaturwissenschaft, in „Barton Fink“ wird er uns plastisch vorexerziert. Jeder Stil ist schon einmal dagewesen, und alle Kunst bedient sich aus dem Fundus des Vorhandenen. Autonome Originalität und Individualität sind im Jargon der postmodernen Theorie illusionär. Hat Lipnicks Satz im Film noch einen zynischen, da vom Raubtierkapitalismus diktierten, Beiklang, wird er von den Coens selbst mit entwaffnender Beiläufigkeit filmisch bewiesen. Sie kopieren und persiflieren nicht nur das „sozialkritische Drama“, genüsslich weiden sie auch die Bildersprache eines David Lynch aus. Wenn die Kamera in „Blue Velvet“ in ein abgeschnittenes Ohr taucht und es als Pforte zur Unterwelt enthüllt, folgt sie in „Barton Fink“ dem Weg des Erbrochenen ins alles verschlingende Abflussrohr. Offen bleibende Fragen, surreale Elemente, aberwitzige Anspielungen, regen, wie bei Lynch, die Hirntätigkeit an. Der Verdacht eines verborgenen Codes nagt am Zuschauer, und wenn er nicht ganz zu knacken ist,- umso besser. Das Geheimnis, das Ungesagte, gibt einem Film oft dessen größte Kraft, solange sich diese Methode nicht zum Selbstzweck macht. Und „Barton Fink“ ist so reich an treffenden Reflexionen, dass der Verdacht auf fehlende Substanz kaum Nahrung findet. Und doch bleibt der Zuschauer irritiert, ahnend, dass vielleicht selbst die geheimnisvolle Symbolsprache nicht von der beissenden Coenschen Ironie verschont geblieben ist. Aber ist der Nachweis einer Finte kein Nachweis?

Barton, nun auf ewig Eigentum der Filmgesellschaft, trägt seine letzte Habe an den Strand: das Paket. Vor ihm eine Strandschönheit. Sie fragt: „Was ist in dem Karton?' Er antwortet: „Ich weiß es nicht.' Die Frau wendet sich zum Meer, die Szene wird zu der auf dem Foto hinter der Schreibmaschine. Der Karton ist genau kopfgroß. „Barton Fink“ birgt eine schaurig-amüsante, doppelbödige Verrätselung mit exakt wünschenswerten Proportionen …

Der Mann, der über Autos sprang

(D 2010, Regie: Nick Baker-Monteys)

Von der heilenden Kraft des Geistes
von Wolfgang Nierlin

„Es gibt kein Nichts. Nichts gab es nie“, sagt eine Stimme aus dem Off, während hinter wallenden Nebeln die Sonne im Zeitraffer aufgeht. Die Evolution des Geistes findet ihren visuellen …

„Es gibt kein Nichts. Nichts gab es nie“, sagt eine Stimme aus dem Off, während hinter wallenden Nebeln die Sonne im Zeitraffer aufgeht. Die Evolution des Geistes findet ihren visuellen Resonanzraum in einer mystischen, leicht sentimentalen Naturbetrachtung und einer etwas einlullenden Musik, die das Unergründliche in anschwellenden Wiederholungsschleifen beschwört. Dabei beansprucht Regisseur Nick Baker Monteys in den Anmerkungen zu seinem Spielfilmdebüt „Der Mann, der über Autos sprang“, die Diesseitigkeit des Übersinnlichen im „Glauben an die Wunder, denen wir jeden Tag in unserem Leben begegnen“. „Der Geist kann alles“, heißt es deshalb gleich zu Beginn seines Roadmovies über jene Kraft, die imstande sein soll, die Gesetze der Natur zu überwinden.

Verkörpert wird diese spirituelle Energie von Julian (Robert Stadlober), einem jungen, in sich ruhenden Mann mit festem Blick und hellseherischen Fähigkeiten. In Berlin bricht er aus einer psychiatrischen Klinik aus, um sich in schwarzem Anzug und weißem Hemd, ohne Proviant und Geld auf einen Fußmarsch nach Tuttlingen zu begeben. Überzeugt von der heilenden Kraft des Gehens, will er durch seinen Pilgergang eine Energie erzeugen, die den herzkranken Vater seines besten Freundes gesund machen soll. Weil dieser knapp 20-jährig tödlich verunglückte und Julian daran eine Mitschuld trägt, ist seine asketische Wanderung zugleich Buße und der Versuch einer Wiedergutmachung.

Inspiriert von Werner Herzogs Gewaltmarsch von München nach Paris im Winter 1974, mit dem der bekannte Filmemacher die Krankheit der Filmhistorikerin Lotte Eisner zu bannen suchte, und verglichen mit den Strapazen, die seine außerordentliche Reise bedeutete (nachzulesen in seinem Tagebuchbericht „Vom Gehen im Eis“), ähnelt Julians Trip eher einem entspannten Spaziergang durch eine friedliche Landschaft. Der sanfte, innerlich starke Mann wirkt wie ein moderner Heiliger mit einer Mission, der unterwegs und entgegen der Absicht nach und nach eine Art Jüngerschaft auf sich zieht, die sich von seiner geistigen Energie anstecken lässt. Ob die unter ihrem Beruf leidende Assistenzärztin Juliane (Jessica Schwarz), die von ihrer Familie gebeutelte Ruth (Anna Schudt) oder auch der abgehalfterte Bulle Jan (Martin Feifel), der Julian zurückbringen soll: Sie alle hadern mit sich selbst und fliehen ihren Alltag auf der Suche nach einer Veränderung ihres festgefahrenen Lebens. Im Gleichschritt nehmen sie sich eine märchenhafte Auszeit, die eine neue Perspektive ermöglicht und schließlich mit skurrilem Witz, gutgemeinter Lebenshilfe und einer Prise Kitsch in einem versöhnlichen Ende mündet.

Agnes und seine Brüder

(D 2004, Regie: Oskar Roehler)

Ridicule is nothing to be scared of
von Andreas Thomas

„Guten Tag. Ich hätte gerne die Nummer von Familie Hampel auf Rügen. Hampel, wie „Hampelmann“. —— .H – A – M – P – E – L., ——, – Ja, …

„Guten Tag. Ich hätte gerne die Nummer von Familie Hampel auf Rügen. Hampel, wie „Hampelmann“. —— .H – A – M – P – E – L., ——, – Ja, Hampel, wie „Hampelmann“. Hab’ ich doch gerade gesagt …“ Dieses ist ein kleiner, nebensächlicher Dialog des Films „Agnes und seine Brüder“, ein Mini-Detail, das schon mehr bundesrepublikanische Wirklichkeit enthält als manch anderer kompletter deutscher Film der letzten Zeit. Wie oft haben wir es mit schicken und arroganten Hightech-„Dienstleistern“ zu tun, die uns mit schon etwas sadistisch anmutender Unaufmerksamkeit und programmatischen Bearbeitungsfehlern bedienen? Wie sehr steht so ein Alltagsgespräch nicht schon für die Stimmungslage einer ganzen Nation? Für das unterschwellige niederträchtige Grummeln einer so depressiven wie destruktiven Kollektivpsyche?

Pars pro Toto. Der hoch gelobte („Die Unberührbare“) und heftig kritisierte („Der alte Affe Angst“) Regisseur Oskar Roehler hat es erkannt und eingebaut. Und „Agnes und seine Brüder“ ist voll mit solch richtigen kleinen Details. Atome, aus denen die Charaktere und die Welt vom transsexuellen Agnes und seinen Brüdern Hans-Jörg und Werner gemacht sind. Von drei sehr unterschiedlichen männlichen Strategien des Überlebens in den 00-er Jahren des 21. Jahrhunderts handelt Roehlers Film.

Für Agnes (überirdische Präsenz: Martin Weiß), vormals Martin, besteht die Lösung der Probleme der soziotypischen maskulinen Identität schlicht im Abstreifen derselben. Ein klassischer misfit ist er, er hat zwar einen Freund, doch wenn er sich als schillernde Disco-Tänzerin auslebt und damit Geld verdient – und dabei ans Cabaret der Zwanziger Jahre und an die Travestien des 70er-Jahre-Glamrock erinnert – vereint er damit zu viele unbürgerliche Eigenschaften, ist er zu sehr Nonkonformist, Träumer und Künstler, als dass das für seinen malochenden Partner tolerabel sein könnte.

Hans-Jörg (Moritz Bleibtreu) ist Bibliothekar an einer Universität. Sein bester Freund ist seine Sexsucht, die in dem Maße anwächst, wie sein Erfolg bei Frauen ausbleibt. So wie er in seinem zerknitterten, hausmeister-bläulichen Sakko durch die vor langbeinigen und vollbusigen Studentinnen nur so strotzenden Bibliothek schnürt, merkt man ihm an, wieviel Folter ihm in seiner Begierde stecken muss.

Werner (Herbert Knaup) ist der einzige der drei, der sich eine vorbildliche Existenz geschaffen hat. Neben dem Eigenheim und der Karriere als „Grünen“-Politiker (Schwerpunkt „Europaweites Dosenpfand“) verfügt der spießige koprophile Hektiker über eine ihn innigst verachtende Gemahlin (Katja Riemann) und zwei Söhne, deren älterer (Tom Schilling) ihm die Position als Liebhaber der Mutter abspenstig zu machen droht.

Das einzige, was die Brüder wirklich gemeinsam haben, ist eine skurrile Vaterfigur. Günther (Vadim Glowna), mit seinem wallenden schlohweißen Haar, seinen Goldkettchen und seiner Tarnhose eine Mischung aus schmierigem Zuhälter und Guerillero. Er ist böser deutscher Patriarch, zugleich ein 68er, der mit seinem Vornamen angeredet wird, er kolportiert die Legende, die Mutter sei in Stammheim mit einem Feuerlöscher erschlagen worden („Irreversibel“ lässt grüßen) und als würde das noch nicht reichen, war er „Schänder“ der eigenen Söhne – oder nicht? Er steht für eine neuere deutsche Vergangenheit, die genauso wenig bewältigt werden kann, wie die davor – es sei denn mit Gewalt …

Es gibt eine Menge Vorbilder aus Literatur und Film, bei denen sich Roehler unbefangen und freudig bedient hat: Von Woody Allens Filmtitel und filmischem Konzept „Hannah und ihre Schwestern“ bis zu dem sexsüchtigen Bruno aus Michel Houellebeqcs „Elementarteilchen“, von den Selbsthilfegruppen aus „Fight Club“ bis zu einer frech nachgestellten Szene (eine Fellatio, die nur wie eine aussieht) aus „American Beauty“, Anklänge an Altmans „Short Cuts“, vor allem aber mit seinem traurig-zynischen Humor ist „Agnes und seine Brüder“ manchmal sehr nahe an Todd Solondz’ „Happiness“ oder „Storytelling“. Viel neueres amerikanisches Kino wird zitiert oder imitiert, aber auch Affinitäten zum Spanier Almodóvar oder zum Franzosen Ozon sind spürbar, speziell zu dem anarchischen Experimentierer und Provokateur Ozon aus seinen Filmen „Sitcom“ und „Tropfen auf heiße Steine“. Bezeichnenderweise entstand das Buch zu letzterem Film aus dem Nachlass R.W. Fassbinders, Roehlers (und Ozons) geistigem Vater. Denn inspiriert wurde Roehlers Figur Agnes laut eigenem Bekunden durch Fassbinders „In einem Jahr mit 13 Monden“,- auch ein Film über das Schicksal eines Transsexuellen.

Hauptmerkmal all dieser bei Roehler versammelten Versatzstücke, Quellen und Methoden ist, dass sie in erster Linie „undeutsch“ (auch Fassbinder war ein untypischer Deutscher, obwohl er deutsche Filmgeschichte geschrieben hat) sind, denn mit der Fähigkeit, über Bitterstes mit treffsicherem schwarzen Humor zu spotten, sind die Deutschen seltenst ausgestattet. Dafür praktizierten sie in den 90ern Belangloses wie die Beziehungskomödie, und gerade aus diesem Fundus hat sich Roehler seine Schauspieler entliehen – mit, wie weiland bei Hannelore Elsner in „Die Unberührbare“, verblüfffendem Ergebnis: Er geht gemeinsam mit Herbert Knaup, Katja Riemann, Moritz Bleibtreu, Til Schweiger, ja sogar noch Martin Semmelrogge, den er wohl zwischen zwei Knastaufenthalten engagiert hat, hinein in ihre Standardrollen, durch sie und ihre Parodien hindurch, um vermittelst einer Verabsurdierung zu etwas Neuem zu gelangen. Indem er sie bewusst als mutierte Zitate ihrer Klischees einsetzt, indem sie ihre Rollen zu Tode spielen, können sie sich davon befreien, was ihrer dankbar entfesselten Könnerschaft (wann hat man jemals einen so nuancenreichen Bleibtreu, wann eine so bösartig-witzige Riemann gesehen?) und Spielfreude anzumerken ist.

Allein dafür muss man diesem Film danken. Man muss ihm danken für den Mut zum Klischee und zum Brechen desselben, für den Mut, aktuelle deutsche Verzweiflung als totale Nullperspektive und dennoch als etwas Komisches zu zeigen, in seinem Mut, da, wo alle anderen einen Schritt zu kurz gegangen sind, einen Schritt zu weit zu gehen, auch wenn das vielleicht peinlich werden kann. „Agnes und seine Brüder“, und das ist das Schönste an ihm, handelt, bei allem, was er auch zugleich ist, Satire, schwarze Komödie oder Melodram, Plagiat, Kopie oder kräftig fremdinspirierte Innovation, der Film handelt wirklich von der Bundesrepublik Deutschland. Deutschland als filmische Allegorie, wer nach Fassbinder hätte sich so etwas zugetraut? Vor allem deshalb hat Roehler mit Fassbinder zu tun, und nicht nur, weil Fassbinders Margit Carstensen in ihrer Nebenrolle den kaputtesten und hellsichtigsten David Bowie aller Zeiten, den seiner Berliner Jahre, wieder zum Leben erweckt hat …

Drei Affen – Nichts hören – nichts sehen – nichts sagen

(TR / I / F 2008, Regie: Nuri Bilge Ceylan)

Dilemma Menschsein
von Andreas Thomas

Eine schmale Wohnung mit Blick aufs Meer. Aber die dreiköpfige Familie ist nicht im Urlaub, sie lebt hier und das in mehrfach beengten Verhältnissen. Der Vater ist Chauffeur eines bekannten …

Eine schmale Wohnung mit Blick aufs Meer. Aber die dreiköpfige Familie ist nicht im Urlaub, sie lebt hier und das in mehrfach beengten Verhältnissen. Der Vater ist Chauffeur eines bekannten Politikers, welcher nachts am Steuer einschläft und dabei einen Menschen tötet. Um seine Karriere nicht zu gefährden, verspricht er dem Chauffeur eine gute Summe Geldes, wenn er sich für den Unfall schuldig bekennt und statt seiner ins Gefängnis geht. Die Einwilligung des Vaters und der Druck des auferlegten Schweigens aber lösen Kräfte der Zersetzung frei, denen sich auch die Ehefrau und der erwachsene Sohn nicht entziehen können. Sie beginnt mit dem feigen Politiker ein Verhältnis und ihr Sohn, als er das bemerkt, verliert seine ohnehin labile Fassung. Drei Leben sind durch einen Akt der Korrumpierbarkeit aus ihren Bahnen geworfen.

Wie erwartet, vernachlässigt der türkische Regisseur Nuri Bilge Ceylan, der mit Filmen wie „Uzak – Weit“ (2003) oder „Iklimler – Jahreszeiten“ (2006) internationale Aufmerksamkeit weckte, in seinem neuen Film, für den er in Cannes die Palme für die beste Regie erhielt, die kriminologischen Aspekte der Erzählung gegenüber einer intensiven Studie des Geflechts fataler Leidenschaften und Abhängigkeiten, die durch eine Lüge freigesetzt werden können. Seelische Untiefen und innere Widersprüche scheinen die Protagonisten zu beherrschen, aus jeder Handlung folgt eine neue Verwicklung und Einschränkung, ein weiterer Schritt in das Desaster.

Dem Regisseur geht es nicht um Motivationsforschung. „Drei Affen“ erörtert dieses auf beinahe nur seine drei Hauptpersonen beschränkte, aber Allgemeingültigkeit beanspruchende, Dilemma Menschsein auf geradezu antipsychologische Weise, indem er lediglich die Kamera in Gesichter schauen lässt, wenn es sein muss, minutenlang, um ihnen und ihren Unberechenbarkeiten ohne Antizipation Zeit, Raum und Wirkung zu lassen. Latente Zerstörung, gefasst in fast entfärbte, streng und klar durchkomponierte Bilder. Ein so pessimistisches, sich Deutungen entziehendes Gemälde, kann zur Folter werden, vielleicht aber auch zum Test, wieviel vorsprachliche Menschen-Wirklichkeit man ertragen kann, bevor man sich in die Weltbilder-Kuschelecke trollt. Wenn auch „Drei Affen“ so manche Nachvollziehbarkeiten versagt, so schenkt er doch die Freiheit der undirigierten eigenen Wahrnehmung. Und ganz so, als wäre er ein großer Film, hinterlässt er ein Bild, das sich einbrennt: Hier steckt die Familie in ihren schmalen drei Zimmern, in ihrem selbstgebauten Gefängnis, und nur kurz dahinter liegt – unerreichbar – der große Horizont mit dem Meer.

Epidemic

(DK 1987, Regie: Lars von Trier)

Mentaler Flux
von Andreas Thomas

Zum Anlass der deutschen Erstaufführung eines Frühwerks von Lars von Trier am 12.05.2005 1987, als Lars von Trier noch nicht berühmt, aber schon berüchtigt war, drehte er einen Film, welcher …

Zum Anlass der deutschen Erstaufführung eines Frühwerks von Lars von Trier am 12.05.2005

1987, als Lars von Trier noch nicht berühmt, aber schon berüchtigt war, drehte er einen Film, welcher das Publikum ratlos und die Kritik verärgert zurückließ. „Epidemic“ (nach dem Aufsehen erregenden „Element of Crime“ [1984] und vor dem größeren Durchbruch „Europa“ [1991]), der zweite Teil von Triers „Europa“-Trilogie, ist bis heute eines der sperrigsten Trier-Werke, aber auch eines, das schon viel über seinen Autor erzählt, über sein stets ironisch gebrochenes, düsteres Weltbild und über sein Selbstverständnis als Regisseur und Künstler.

Beinah schon im Dogma-Stil beginnt dieser mit sparsamen Mitteln produzierte zweite Triersche Europa-Exkurs mit dem computergemäßen Scheitern zweier junger und ziemlich cooler 80er-Jahre-Intellektueller an ihrem Drehbuch. Niels (Niels Vørsel) und Lars (Lars von Trier) haben all ihr Vertrauen in eine Floppy-Disk gesteckt. Die Auftragsarbeit „Die Hure und der Kommissar“ sollte ein 120-seitiges, gewinnbringendes Drehbuch werden, doch beim Ausdruck ist auf der Diskette nichts mehr, außer der verstümmelten Überschrift. Zu cool gewesen vielleicht, egal, Schwamm drüber. Man lacht, man trinkt ein Bierchen, man raucht noch eine mehr, aber eigentlich, so Kollege Lars, habe das Drehbuch auch keine wirklich gute Szene gehabt. Bohemiéns in ihrer Küche. Gelassen, kaum getrübt ob ihres voraussichtlichen Scheiterns.

Plan B kommt aus der hohlen Hand: „Epidemic“, eine ganz lose Idee, so aus dem Nichts, über „Pest“ und dergleichen. Aber plötzlich sind wir in der Ideenküche der Macher Trier und Vørsel, die uns später „Europa“und die TV-Serie „Geister“ präsentieren werden, Filme, die nur aus dem freien mentalen Flux heraus das werden konnten, was sie wurden. Und plötzlich sind wir nah dran am Hirn eines von Trier, der im Film sich selbst und seine eigene Hauptfigur Dr. Mesmer spielt, den Arzt mit der bescheidenen Absicht, Europa vor der Pest zu retten.

Auf zwei parallelen Ebenen handelt ab nun der Film, in grobkörnigem Schwarzweiß zeigt er uns die Autoren bei der Arbeit, bei Recherchen für das Script „Epidemic“, zu denen auch eine Kurzreise durchs deutsche Ruhrgebiet und ein Besuch bei Udo (Udo Kier) in Köln gehören. Und er zeigt uns in hochaufgelösten Schwarzweiß-Einschüben das Endprodukt, Szenen aus dem geplanten Film, eine finstere Stil-Melange aus Filmen von Carl Theodor Dreyer und Andrej Tarkowskij, unterlegt mit der Tannhäuser-Musik von Richard Wagner.

„Wag Tann“, erklärt Lars beim Entwickeln des Storyboards, sei die „Bakterie, die immer näher kommt“. Nur seltsam, dass Wagner auch manchmal dann erklingt, wenn wir bei den Autoren verweilen. Ein raunender, allwissender Kommentator hat es dem Zuschauer früh zugeraunt: Durch einen merkwürdigen Zufall breitet sich auch im Dänemark von Lars und Niels ein rätselhafter Virus aus, aber „Leute, die an Ideen arbeiten, leiden sowieso oft an Kopfschmerzen.“

Der Film-im-Film beginnt, den Film zu infizieren. Ähnlichkeiten zwischen Arzt/Wissenschaftler und Autor/Regisseur bieten sich an. Beide, der Pest-Experte Dr. Mesmer und die „Epidemic“-Autoren Lars und Niels, beschwören das Unglück dadurch herauf, dass sie sich überhaupt damit beschäftigen. „Natürlich ist es der Arzt, der die Krankheit verbreitet. Ohne ihn und seinen Idealismus gäbe es gar kein Problem“, sagt Lars im Film und wird nicht müde, sich weiter in die grausige Materie zu vertiefen.

„Epidemic“ trägt, trotz seiner manchmal improvisiert wirkenden Beiläufigkeit, schon Vieles in sich, was die späteren Filme von Lars von Trier ausmachen wird. Im Keller des kopenhagener „Königlichen Reichskrankenhauses“, das Trier und Vørsel mit der Fernsehserie „Geister“ weithin bekannt gemacht haben, wohnt Lars (und der Zuschauer) tapfer einer Sektion an einem jungen Mann bei, als Niels oben, stationär, sich „ein paar Wucherungen“ hat entfernen lassen. Ganz ähnlich wie in „Geister“ auch der schwarze Humor. Die alte medizinische Beschreibung zweier völlig getrennt aus Pest-Beulen austretender, verschiedenfarbiger Eiterflüssigkeiten erinnert Niels sofort an die Zahncreme „Signal“, welche er als Kind kannte. In Deutschland (natürlich) finden sie eine Tube, die sie freudig aufschneiden, um den Farben auf die Spur zu kommen.

Neben Verspieltheiten, neben Genre-Anleihen (Doku, Splatter, wie auch in „Geister“) gibt es den großen Bogen, die große moralische Frage, und natürlich – die, ziemlich anmaßende, Frage nach „Europa“, nach der europäischen Historie, nach seinem „Geist“, vor allem aber nach dem „Europa-Gefühl“, welches für den Regisseur offenbar zuerst dessen „Deutschland-Gefühl“ ist. Deutschland, das für von Trier gleichermaßen faszinierende und bedrohliche Zentrum Europas, das Aufklärung, Idealismus, Wagner und die Shoah hervorbrachte, nimmt auch im zweiten Teil der „Europa-Trilogie“ einen zentralen Platz ein, und mit und in ihm der „Idealist“, der – wie die Missionare in den Kolonien – den tödlichen Virus selbst verbreitet. Wissenschaft und Fortschritt bringen Unglück und Verderben, aber „Erkenntnis führt zu einem religiösen Ende“, sagt der Lars im Film.

Ein paar Jahre später konvertierte von Trier zum Katholizismus, stellte die 10 Keuschheitsgebote vom „Dogma 95“ auf und drehte seither fast durchweg Filme über Märtyrerinnen. Filme, die auch dem großen Publikum gefallen …

Die Kinder des Monsieur Mathieu

(F / CH 2004, Regie: Christophe Barratier)

Träne Marsch!
von Andreas Thomas

1949. Der Krieg ist vorbei, Frankreich von seinen Unterdrückern befreit, also kann die interne Unterdrückung wieder einsetzen. Schön wärs, wenn „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ auf historische Daten solcher Art …

1949. Der Krieg ist vorbei, Frankreich von seinen Unterdrückern befreit, also kann die interne Unterdrückung wieder einsetzen. Schön wärs, wenn „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ auf historische Daten solcher Art nur einen kleinen Gedanken verschwenden würde, aber seine Protagonisten kommen aus Schubladen gehüpft, von denen wir hofften, dass sie spätestens seit „Der Club der toten Dichter“ aufgrund Klischeeverdachtes endgültig zu bleiben würden. Doch wer sind schon wir?

Eben. Also macht das französische Quotenkino, auf mehr oder weniger französische Weise, das, was das amerikanische Kino macht und kümmert sich einen Dreck um den gebeutelten Filmkritiker: Es produziert Rührung – und das noch nichtmal nach allen Regeln der Rührkunst. Denn ungenau wird die Dramaturgie der kindlichen Bekehrungen realisiert; manche Kritik beging die Sünde, diesen Film in einem Atemzug mit einem Monument des pädagogischen Auftrags wie „Das fliegende Klassenzimmer“ (BRD 1954, Regie: Hoffmann, Drehbuch: Kästner) zu nennen. Was da nämlich zündete und Tränen der jugendlichen Erkenntnis selbst in erwachsene Zuschaueraugen trieb, weil es noch richtig humanistisches Gedankengut war, wird hier doch nur noch müde gestreift, angedeutet und irgendwie vorausgesetzt.

Natürlich gibt es schon lange die Klischees des Schwererziehbaren-, Heim-, und Internatfilms, und weil (angeblich) die Hauptarbeit von Leuten wie Kästner oder meinetwegen Weir schon geleistet wurde, beschränkt man sich heute darauf, dass schon bekannt ist, worum es geht. Die Postmoderne im Kino setzt bekannte Zeichen voraus, die Codes sind interniert, so ist in unseren Köpfen die Vorgeschichte ewiger Internatsleidenschaft, und auf die Ohren des unvorbereiteten Beschauers prallt sowas wie die Wiener Sängerknaben – in Form reichlich harmoniebeflissener Kompositionen eines bescheidenen Pedells, Lehrers, Komponisten, der nur an das Gute im Kind – was hier heißen müsste: Jungen – glaubt. Dass singende Jungenkehlchen sozusagen rückwärts das Gute aktivieren können, das ist ein modernes Märchen, das übrigens auch Filme wie etwa der deutsche „Ghettokids“ (da wird ersatzweise gerapt) auf ganz ähnliche Art zu erzählen versuchen.

Nein! Nicht jeder picklige Teenager ist ein Sänger. Sehr, sehr wenige sind das. Und um deutlicher zu werden: So gut wie keiner ist das – geschweige denn ein „Superstar“ (welch unglückselige Berufung das auch immer sein mag). Ich werde aber den Verdacht nicht los, dass wenn der Film auch laut „Kultur“ und „Herzensbildung“ sagt, er leise sowas wie „Stardom“ und „Casting“ mitdenkt. Wieso singen die sonst so toll? Wieso entwächst aus ihrer Mitte ein berühmter Dirigent? Irgendwie kommt das in Mode. Viele neuere, angeblich sozialpädagogische, Filme meinen – ganz im doofen Sinn von Sendungen wie „Popstars“ oder „Deutschland sucht den Superstar“ -, dass nur, wer über seinen ihm gegebenen Horizont in den Künstlerhimmel (der dem Medienrummelhimmel immer verdächtiger ähnelt) hinauszuwachsen imstande ist, auch so etwas wie eine Lebensberechtigung habe. Wie ungerecht und intolerant! Die Jungs in „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ werden nur deshalb lebendig und liebenswert, weil sie (plötzlich und völlig unvorhersehbar) alle wie die Thomaner singen können. Mit Verlaub, das ist mir einfach zu tischler-, klempner-, metallfacharbeiterfeindlich. Zu viele außergewöhnliche Sänger und zu wenige gewöhnliche Adoleszenten. Zuviel Singsang und zu wenig Keilerei. In dieser platten Logik folgerichtig: Die Erziehung zum Gesang ersetzt die Erziehung zum Menschen, und es wird so getan, als wäre beides dasselbe. Im „fliegenden Klasssenzimmer“ durften die Kinder noch so sein und bleiben wie sie waren, in der individuellen Verschiedenheit lag der Wert jedes Einzelnen. Aber seit Filmen wie „Fame“ und „Der Club der toten Dichter“ schneiden Kinder, die gerne Flugzeuge basteln oder Fussball spielen, im Kino ganz schön schlecht ab.

Muss ich erwähnen, warum der Film auch sonst nicht gut ist? Weil der Internatsdirektor zu stumpf und böse ist, weil ihm die Aufgabe zukommt, für alles Schlechte dieser Gemeinschaft = Gesellschaft zugleich zu stehen – womit jeder ein wenig überfordert wäre. Filme, die die Probleme, an denen alle leiden, immer nur fragwürdigen Personen unterjubeln wollen, sind Märchen im schlechtesten Sinn, weil sie Erkenntnis behindern. Der Direktor des Internats ist zu schlicht zu böse, Monsieur Mathieu ist zu schlicht zu gut. Da ist es gar nicht mehr nötig, den Direktor auch noch mit dem Teufel zu vergleichen, wie Mathieu es tut. Einen Engel gibt es auch. Der Knabe mit dem Engelsgesicht, auch ihn läutert die Schule der Stimmbildung. Das Schwarzweiß ist auf Hundert Meter zu erkennen und es ermüdet. Mit Teufeln und Engeln sind sämtliche Konflikte entpolitisiert und sämtliche inneren Widersprüche bereinigt. Habe ich gesagt: Märchen? Echte Märchen sind ja deshalb okay, weil sie Unbewusstes transportieren, gesellschaftliches, freudianisches, archaisches. Märchen in der Art von „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ sind, so altmodisch und französisch sie auch scheinen, schon reine postmoderne Kapitalismusmärchen, nur noch entliehene Form, die sich kaum mehr an Inhalte erinnert. Mechanische Abfolge von Signalen. Und wer die Signale nicht hört, wer nicht merkt, dass er gerührt ist, den erinnert spätestens das Signal der draufgedonnerten Geigen daran: It’s Rührungstime!

Der Dieb des Lichts

(F / D / NL / KG 2010, Regie: Aktan Arym Kubat)

Bedrohte Identität
von Wolfgang Nierlin

Weil es in dem kirgisischen Landstrich wenig Arbeit und Wohlstand gibt, gehen die jungen Männer nach Kasachstan und Russland. Die Alten bleiben derweil daheim und nerven mit ihrer beharrlichen Schwerhörigkeit …

Weil es in dem kirgisischen Landstrich wenig Arbeit und Wohlstand gibt, gehen die jungen Männer nach Kasachstan und Russland. Die Alten bleiben derweil daheim und nerven mit ihrer beharrlichen Schwerhörigkeit und stolzen Heimatliebe jene windigen Geschäftemacher und berechnenden Investoren, die es auf Ländereien und Immobilien abgesehen haben und dafür mit Dollars und kostspieligen Geschäftsessen die lokale Politik instrumentalisieren. Die Preise für den privatisierten Strom steigen in dieser strukturschwachen Region kontinuierlich und wider alle Vernunft an. Nur der Wind über den weiten Ebenen scheint sich treu zu bleiben.

Natürlich regt sich in diesem unaufgeregt hingetupften, mit feiner Ironie ziselierten Setting auch ein leiser Widerstand, dessen Träger sich jedoch weniger subversiv versteht und stattdessen mit naiver Aufrichtigkeit tätige Nächstenliebe praktiziert. Verkörpert wird er mit sanftem Mut und sozialem Gewissen vom örtlichen Elektriker Svet-Ake, der von Aktan Arym Kubat, dem Regisseur des Films „Der Dieb des Lichts“, selbst gespielt wird. Der „gute Mensch“ mit dem großen Herzen dreht nämlich die Stromzähler derjenigen Dorfbewohner zurück, „die nicht bezahlen können“, was nicht ohne Konsequenzen bleibt. Insgeheim hegt der liebevolle Familienvater aber eine energiepolitische Vision und träumt von einer autonomen, windgetriebenen Energiegewinnung. Dafür lässt er sich zunächst arglos mit den neuen, falschen Wortführern ein.

Kubats Film wirft jedoch nicht nur einen kritischen Blick auf die Ankunft der Globalisierung in einem kleinen kirgisischen Dorf, sondern zeichnet vor allem das stimmungsvolle Portrait eines stets aufmerksamen, solidarischen und liebevollen Menschen, dessen Handeln Anteilnahme ausdrückt und der doch nicht frei ist von Widersprüchen und Versuchungen. So wünscht sich der Vater von vier Töchtern sehnlichst einen Sohn; und eine geheimnisvolle Schöne aus der Nachbarschaft weckt sein erotisches Begehren. Verwoben sind diese teils burlesken Episoden wiederum mit Impressionen des traditionellen Lebens, seinen Bräuchen und Ritualen, hinter denen eine bedrohte Identität aufscheint.

Wir sind, was wir sind

(MX 2010, Regie: Jorge Michel Grau )

Subtiler Schrecken, offener Text
von Ulrich Kriest

Im Programm des Fantasy Filmfest 2010 hatte „Somos lo que hay“ schnell den Status eines Geheimtipps. Ein etwas anderer Kannibalenfilm, gar ein Meilenstein des Kannibalenfilms, vielleicht sogar das für den …

Im Programm des Fantasy Filmfest 2010 hatte „Somos lo que hay“ schnell den Status eines Geheimtipps. Ein etwas anderer Kannibalenfilm, gar ein Meilenstein des Kannibalenfilms, vielleicht sogar das für den Kannibalenfilm, was „So finster die Nacht“ für den Vampirfilm war. Wahrscheinlich haben solch aufgeregte Schwärmereien dem Film jetzt einen regulären Kinostart verschafft.

Beim Wiedersehen fällt auf, dass der Film derart »offen« gestaltet ist, dass das Schreiben über den Film wahrscheinlich sogar spannender ist als das Ansehen des Films: Er lässt viele Lesarten zu. „Wir sind, was wir sind“ erfüllt nur sehr am Rande und geradezu offen desinteressiert die Ansprüche des Genres: Der Horror hält sich fast schon altmodisch in Grenzen, Gewalt findet zumeist außerhalb der Kadrage statt. Auch der Kannibalismus funktioniert eher als MacGuffin, setzt die Handlung in Bewegung. Aber gerade das, was dem Kannibalenfilm einst nachgerühmt wurde, der neugierige Blick unter die Haut und ins Gedärm, unterbleibt hier geradezu herausfordernd. Stattdessen werfen wir einen Blick ins Gefüge einer Familie und einer Gesellschaft – beides ist aus den Fugen.

„Wir sind, was wir sind“ ist eine Studie über soziale Anomie und über eine dysfunktionale Familie, getarnt als Kannibalenfilm. Suggestiv die Exposition, die den Film in nuce vorwegnimmt: Ein älterer, etwas zotteliger Mann schleppt sich unter Schmerzen durch eine gut aufgeräumte Shopping Mall, starrt auf nur halb bekleidete Schaufensterpuppen, erbricht plötzlich Blut, stirbt – und wird vom Reinigungspersonal rasch und routiniert entfernt. Bei der Autopsie wird in seinem Magen ein Finger gefunden, unverdaut. Mehr zu uns Zuschauern als zu seinen Kollegen raunt der Arzt: „Sie glauben gar nicht, wie viele Menschen in Mexico City sich von Menschen ernähren!“ Das kann man als Kannibalismus verstehen, aber auch als Kapitalismus.

Zu Hause wartet die Familie des Toten: Mutter, Tochter und zwei ungleiche Brüder. Die Familie sind Kannibalen und der Vater sollte eigentlich Fleisch beschaffen, ging aber dann doch lieber zu Prostituierten. Jetzt muss der Vater ersetzt werden, was die binnenfamiliale Gruppendynamik ordentlich in Schwung bringt. Jetzt kommt erneut der MacGuffin ins Spiel, denn die Zeit für „das Ritual“ rückt näher – und der älteste Sohn Alfredo scheint von seiner Aufgabe als Ernährer überfordert. Der aufbrausende, gewalttätige und homophobe Bruder Julian ist nur bedingt eine Hilfe, die Schwester Sabina neigt zur undurchsichtigen Intrige.

Der Regisseur Jorge Michel Grau lässt Ritual Ritual sein und zeigt lieber eindrücklich, wie Gewalt aus der sozialen Isolation und Armut entsteht. Für die Identität dieser Familie gilt: Hier wird gemeinsam gegessen! Der Film zeigt den Schrecken zunächst in Form einer Choreografie der Blicke, bevor es dann doch ein paar achtlos hingeworfene Splattermomente gibt, die gerade deshalb recht wirkungsvoll sind. Damit hatte man gar nicht mehr gerechnet. Als die überforderten Brüder auf Menschenjagd gehen, wählen sie zunächst Straßenkinder, dann Prostituierte als Opfer. Doch das Handwerk des Tötens will erlernt sein. Und die Mutter ist nachtragend. Ihr kommt nach Vaters Tod keine Prostituierte mehr in den Topf.

Der Film zeigt Mexico City suggestiv in abgedunkelten Braun- und Dunkelgrüntönen und in Nachtaufnahmen als einen an den Rändern bereits unbewohnbaren Ort; der Zerfall des Sozialen ist mit Händen zu greifen. Es herrscht Sozialdarwinismus, die unterschiedlichen Milieus – man erinnere sich an die Eingangssequenz in der Mall – kommen nur noch in Ausnahmefällen miteinander in Kontakt. Schließlich setzen sich zwei Polizisten eher zufällig auf die Fährte der Kannibalen-Familie. Sie sind nicht sehr helle, werden von ihren korrupten Kollegen verspottet und ihren Entschluss, auf eigene Faust zu ermitteln, später nicht einmal mehr bedauern können. Auf die Polizei sollte man ohnehin nicht mehr zählen: Man löse keine alten Fälle mehr, heißt es einmal ganz lässig, was allerdings nicht bedeute, dass man neue Fälle löse.

Short Cuts

(USA 1993, Regie: Robert Altman)

This is The End
von Andreas Thomas

Zerstörung bringende Hubschrauberstaffeln eröffneten „Apocalypse Now“, den legendären (Anti-) Kriegsfilm von Francis Coppola – Tösende Hubschraubertrupps ziehen ihre Bahn über das abendliche Los Angeles. So beginnt Robert Altmans berühmtes „Short …

Zerstörung bringende Hubschrauberstaffeln eröffneten „Apocalypse Now“, den legendären (Anti-) Kriegsfilm von Francis Coppola – Tösende Hubschraubertrupps ziehen ihre Bahn über das abendliche Los Angeles. So beginnt Robert Altmans berühmtes „Short Cuts“.

„Die Zeit ist gekommen, wieder einmal in den Krieg zu ziehen. Nicht gegen den Irak, internationale Terroristen oder das ehemalige Jugoslawien, sondern gegen die Fruchtfliege…“ Mit diesen Worten lässt Altman einen Fernsehkommentator „Short Cuts“ einleiten, den raffiniert verschachtelten, großzügig komponierten Episodenfilm über das L.A. zu Beginn der 1990er Jahre.

Nicht weniger als 8 Ehepaare aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten stehen im Mittelpunkt dieses analytischen Reigens, kleine Familien, die scheinbar willkürlich aus der weitläufigen Nachbarschaft des San Fernando Valley herausgegriffen sind, denen, jede für sich, eine gleichermaßen alltägliche wie dramatische Entwicklung widerfährt, Kleinsteinheiten, die sich gegenseitig immer wieder touchieren. Berührungen, vom zufälligen Besuch desselben Geschäfts bis zum Unfall mit Todesfolge. Die soziale Interdependenz eben, ein Film als ein Mikrokosmos, der exemplarisch den Zustand einer Gesellschaft vorführt.

Ein großspuriger Polizist (Tim Robbins), der versucht seiner ewig krakeelenden Kinderschar, dem ihn ankläffenden Hund, in die Arme geschiedener Frauen zu entfliehen (wo er sich in ähnlichen Situationen wiederfindet), eine Frau (Jennifer Jason Leigh), die, während sie die Windeln ihrer Tochter wechselt und ihr Mann, der Pool-Cleaner (Chris Penn) verstört zuhört, die knappe Haushaltskasse mit Telefonsexdiensten aufstockt, ein Paar (Andie McDowell und Bruce Davison), das hilflos mitansieht, wie der kleine Sohn stirbt, die Bedienung in einem Drive In (Lily Tomlin), die sich von geilen alten Anglern unter den Rock schielen lassen muss, ein von Kopfschmerzen gepeinigter Arzt (Mathew Modine), der seine malende Ehefrau (Julianne Moore) verdächtigt, fremdgegangen zu sein, eine egozentrische Jazzsängerin (Annie Ross), die die Hilferufe ihrer Tochter (Lori Singer) nicht wahrnimmt. Alle leben in einem dauerhaften Spannungszustand, in Unruhe, Aggressivität, die sich selten oder nie entladen kann. Jedes dieser Familiengefüge ist gestört, wenn nicht schon zerbrochen. Falls dazu Gelegenheit besteht, sich bewusst zu machen, was falsch läuft, so gelingt es nicht, sich damit auseinander zu setzen oder nach Ursachen zu forschen. Der kalte Krieg ist zuende, der „Krieg gegen die Fruchtfliege“ hat begonnen: Materielle Zwänge und eine schweigende Übereinkunft mit dem alles dominierenden monetären und hedonistischen Zeitgeist bestimmen die Lebensweise. Voller Sarkasmus und gereizt, selbst bei ihren Freizeitbeschäftigungen, leben sie, wie sie es gerade können, selten sind sie zufrieden, meistens überdreht.

Die Destruktivität, der Zynismus, der dieser Normalität innewohnt, fordert kleine und große Tribute. Da ist es noch freundlich, wenn der eifersüchtige Hubschrauberpilot in Abwesenheit seiner Ex-Frau deren gesamtes Mobiliar zersägt (nur – und hier blitzt die Altmansche Satire hell auf – der Fernseher überlebt), oder wenn der Konditor die Mutter des schwer kranken Jungen mit anonymen Anrufen terrorisiert, nur weil sie derzeit keine Angaben zur Dekoration der Geburtstagstorte machen kann. Vier Leichen bringt dieses kalifornische Paradies hervor, keine von ihnen ist eines natürlichen Todes gestorben. Die überarbeitete Drive-In-Bedienung reagiert zu spät, als der Sohn des Fernsehmoderators vor ihrem Auto über die Straße läuft. Die Tochter der Jazzsängerin kommt nicht über den Tod des Jungen hinweg – vor allem aber nicht über die Unmöglichkeit mit ihrer Mutter darüber zu reden zu können – und nimmt sich das Leben. Ein Angler (Fred Ward) stellt fest, dass da, wo er gerade in den Fluss pinkelt, eine weibliche Leiche – ein Mordopfer, wie sich später zeigt – angeschwemmt wurde. Kein Grund für das Anglerquartett den Ausflug vorzeitig zu beenden. Man befestigt die Tote und angelt neben ihr weiter bis zum nächsten Tag. Die Normalität des Telefonsex als Job schließlich macht den ehelichen Verkehr zu etwas Unnormalen oder Unmöglichem, weil das Intime zu einer Ware geworden ist. Der Gefühlsstau des derangierten Gatten entlädt sich im Augenblick, als die Erde bebt…

Ein Erdbeben und ein „Krieg gegen die Fruchtfliege“. Zwei Ereignisse werden von allen geteilt. In zwei Momenten, am Anfang und am Schluss, erinnert der Film an die Einheit von Zeit und Raum diese Großversuchs. Einleuchtend macht er den großen Aufriss und führt all die gesehenen kleinen Schicksale – nicht nur für diese beiden Augenblicke – zu einem umfassenden, gemeinsamen Schicksal zusammen. Beides, der angestrengte Kampf des Menschen gegen Widrigkeiten der Natur (mit Mitteln, über deren Gefährlichkeit Unklarheit herrscht) und der „göttliche“, allwissende Fingerzeig des Bebens, weckt auf wunderbare Weise Verständnis für das Wesen von Gemeinschaft an sich, weil wir die einzelnen Partikel am Ende zu kennen scheinen, und weil wir ahnen können, wie sie zusammengehören – und wie sie übergreifenden Gesetzmäßigkeiten untergeordnet sind.

Irgendwann trifft der berühmte Fernsehkommentator den Reiniger seines Pools und fragt: „Hey Jerry, wie läuft denn der Krieg?“ „Die Bösen sind am Gewinnen, Sir“, antwortet der beiläufig. In eben dieser Beiläufigkeit erzählt auch „Short Cuts“ von einer „Gesellschaft ohne Verantwortlichkeit, Scham und Intimität“ (Lexikon des internationalen Films), von einem als Frieden getarnten Kriegszustand. Der Film bedient sich häufig überzeichnender Mittel, die insofern Satire „at it’s best“ sind, weil sie genau da die Realität treffen, wo sie am besten zu erkennen ist: ein kleines bisschen außerhalb ihrer selbst. Und „Short Cuts“ wimmelt nur so von mitreißenden Schauspielern, die die Palette von der albernsten Komik bis zur ernstesten Tragik spielfreudig und konzentriert beherrschen. „Short Cuts“ ist lang, etwa 180 Minuten, doch „Short Cuts“ ist nie langweilig. Im Gegenteil, je länger „Short Cuts“ dauert, desto süchtiger macht er nach diesem ungeheuerlichen, deprimierenden, aberwitzigen, nach Menschen riechenden, nach Wahrheit schmeckenden Film.

Gastmahl der Liebe

(I 1963, Regie: Pier Paolo Pasolini)

Scheitern als Erkenntnis
von Andreas Thomas

Italien, 1964. Pier Paolo Pasolini produziert, laut Alberto Moravia in diesem Film, etwas, „was die Franzosen cinema verité nennen würden“. 2007 könnte das „Gastmahl der Liebe“ als Doku durchgehen, genauer: …

Italien, 1964. Pier Paolo Pasolini produziert, laut Alberto Moravia in diesem Film, etwas, „was die Franzosen cinema verité nennen würden“. 2007 könnte das „Gastmahl der Liebe“ als Doku durchgehen, genauer: als ein lockerer Interview-Film zum Thema Sexualität, heute in jeder zweiten Infotainment-Fernsehsendung üblich; im erzkatholischen Land Italien von 1964 ein revolutionäres Wagnis.

Nicht so sehr die sexuellen Gepflogenheiten, sondern die Korrelationen zwischen Alltagsnormen und Sexualität waren es, die Pasolini interessierten, also die zwischen rigider Moral, die die Freiheiten der Frauen einschränkt und die der Männer erweitert, und normierter Sexualität. Pasolini kommt auf den bigotten politischen Umgang mit der Prostitution zu sprechen und kitzelt (ohne sich als Schwuler zu outen) die Homosexuellenfeindlichkeit (die ja eigentlich eine Homophobie ist) seiner männlichen Gesprächspartner heraus. Dabei unterscheidet der Witterer eines neuen, nicht mehr wie in Mussolini-Zeiten oktroyierten, sondern nun internalisierten Faschismus in der Art seiner Fragestellungen zwischen den Adressaten aus Nord- oder Süditalien, zwischen Männern, Frauen, oder auch Kindern („Jesus hat das Baby in das Tuch gelegt, und der Storch hat es gebracht“), sowie zwischen Reich und Arm.

Während unter den Jugendlichen der Oberschicht Turins schon so etwas wie sexuelle Aufgeschlossenheit und sexuelle weibliche Emanzipation zu herrschen scheinen, die sich mit der der siebziger Jahren messen lassen könnten, gibt des im armen Süden, in Siziliens Hauptstadt Palermo nur zwei junge Frauen, die überhaupt vor der Kamera über die Themen Sexualität und Ehe-Scheidung zu sprechen wagen.

Männer, die jovial lächelnd erklären, dass sie ihre Frau im Fall der Untreue erdolchen würden, Frauen, die laut aussprechen, dass sie ein Anrecht auf wechselnde Sexualpartner besitzen. Mittelalter und Moderne zur gleichen Zeit im gleichen Staat findet Pasolini vor; und doch ist das „Gastmahl der Liebe“ zunächst nicht mehr als ein unprofessioneller Versuch einer Gesellschaftsstudie, wenn es denn überhaupt eine sein soll. Der unwissenschaftlichen Methoden gibt es zu viele, um einerseits eine annähernde Unverstelltheit der Befragten, andererseits eine annähernd empirische Repräsentativität der Befragung zeitigen zu können: Stets werden einzelne, offenbar willkürlich auf der Straße vorgefundene oder sich erst während des Interviews bildende Gruppen befragt und es ist ein offenes Geheimnis, dass zu einem Thema, über welches selbst heute noch viele nur anonym halbwegs ehrlich Auskunft zu geben bereit wären, im Italien der sechziger Jahre die meisten in der Öffentlichkeit wohl nur das äußern, was vermeintlich von ihnen erwartet wird. Zu diesem Zwischenergebnis (und dieser selbst formulierten Erkenntnis) aber kommt auch Pasolini, und smart fährt er mit seinen Interviews fort, scherzend, improvisierend, eingedenk der Tatsache, dass, wenn er nicht die Wahrheit über die Sexualität und Ehe in Italien, so doch Wahrheiten über gesellschaftliche Rituale des Verschweigens sexueller Tabuthemen erfahren könnte.

So bleibt das „Gastmahl der Liebe“ schließlich ein Spiel der Widersprüche, ein mutiges Unterfangen, naiv begonnen, bewusst naiv fortgesetzt, ein Scheitern und darin zugleich eine Erkenntnis, ein trial mit error und ein Schritt weiter, ein Film über den Italiener im Redefluss, über das Theater des parlare und eine Ahnung von dem, was hinter dem Auftritt liegen mag. Vor allem ist das „Gastmahl“ ein Film über den Humanisten Pasolini selbst, dessen Bedürfnis spürbar ist, direkt mit den Leuten auf der Straße zu sprechen, sie kennen zu lernen, der sein Italien liebt und es doch kulturell verfallen sieht, über den schwulen Kommunisten und Lehrer Pasolini, der, sobald sein Schwulsein öffentlich wurde, nicht nur ein Berufsverbot kassierte sondern auch aus der KPI verbannt wurde, über den Dichter und Regisseur, der beizeiten für sich erkannte, dass er sein Schicksal nicht unabhängig vom Schicksal seiner Mitmenschen begreifen konnte.

Das „Gastmahl der Liebe“ ergänzt die bei Filmgalerie 451 erschienene deutsche DVD-Edition mit den Pasolini-Werken „Accatone“, „Edipo Re“ und „Große Vögel, kleine Vögel“ um eine weitere Chance, das selten bei uns gespielte, fassettenreiche Werk des für den Film „Saló oder Die 120 Tage von Sodom“ zum Skandal-Regisseur avancierten, 1975 ermordeten, Pier Paolo Pasolini wieder neu – oder überhaupt – zu entdecken.

Italienisch für Anfänger

(DK 2000, Regie: Lone Scherfig)

Dogma für Aufhörer
von Andreas Thomas

Aufblende: Das sagenumwobene Zertifikat erscheint: „Dogma No. 5' steht darauf, Schnitt: Das Zertifikat ist gerahmtes Filmutensil an der Wand der Pfarrei und damit der augenzwinkernde Verstoß gegen eines der berüchtigten …

Aufblende: Das sagenumwobene Zertifikat erscheint: „Dogma No. 5' steht darauf, Schnitt: Das Zertifikat ist gerahmtes Filmutensil an der Wand der Pfarrei und damit der augenzwinkernde Verstoß gegen eines der berüchtigten zehn „Dogma-Gebote'. Sollte „Dogma 95' selbst ganz unironisch ein Regelwerk zur Befreiung von Unauthentischem sein, verstößt „Italienisch für Anfänger' aber vor allem gegen das heiligste „Dogma'-Ziel: gegen die Plausibilität seiner eigenen Geschichte.

So aufregend und neu die ersten „Dogma 95'-Produkte seit 1998 in den Kinos anbrandeten, so schnell brachte jene dänische neue 'Nouvelle Vague' nach der Gischt Brackwasser mit sich. War „Das Fest' von Thomas Vinterberg ein vitaler Paukenschlag, „Idioten' von Lars von Trier eine Tragödie getarnt als Alltagsdoku, verflachte die Reihe mit „Mifune' (Soren-Kragh-Jacobsen), um nach der angestrengten aber gut gemeinten Nachwelle „Lovers' des Franzosen Jean-Marc Barr vorerst bei Lone Scherfigs „Italienisch für Anfänger' zu enden, einem Film, der nur noch seicht vor sich hin plätschert.

Eines haben alle Hauptakteure von „Italienisch für Anfänger' gemeinsam, sie sind nicht ganz passgerecht für die Gesellschaft, sie sind kleine „Misfits'.

Olympia, die von ihrem Vater tyrannisierte Bäckereiverkäuferin, ist zu ungeschickt, sie wirft ständig Gebäck und Backbleche herunter. Karen, die Friseurin, verliert ihre Kundschaft, weil dauernd ihre schwer alkoholkranke Mutter (Lene Tiemroth mit der besten darstellerischen Leistung des Films) in den Laden kommt. Hal-Finn, der Kellner, ist einfach zu unfreundlich für seinen Job. Jorgen, der Hotelangestellte, ist nett aber impotent. Ausgerechnet in ihn ist die ein bisschen zu hübsche italienische Küchenhilfe Giulia verliebt. Andreas, der junge Pastor, ist ein wenig zu unsicher und unorganisiert für seinen Job.

Allen gemeinsam ist auch die Sehnsucht nach Italien, zumindest nach einem Italien im Kopf, das, fern vom tristen und so unitalienischen Zuhause, einem Vorort Kopenhagens, für Leichtigkeit, Gewandtheit und Lebensfreude steht, und so trifft man sich in der Volkshochschule, um dort Italienisch zu lernen. Tatsächlich leistet der Kurs „Italienisch für Anfänger' was seine Assoziation verheißt: Er führt die an der eigenen Unzulänglichkeit Verzagten zu einander, er ist ein Klub der einsamen Herzen, den am Ende gar die waschecht italienische Giulia besucht, nur um ihren Romeo zu kriegen.

Aber ganz so einfach ist das Leben nicht. Unsere Helden befinden sich ja schließlich in einem 'Dogma'-Film. Nur gut, dass Lone Scherfig noch daran gedacht und nicht weniger als fünf Todesfälle zwischengeschaltet hat. Nicht, dass diese stattliche Anzahl Verstorbener wirklich nachhaltig die Handlung beeinflussen würde, die lieben und bösen Toten liefern aber immerhin bittere Würze für den Moment, wenn aus Leid Freud und aus Einsamkeit Gemeinsamkeit im Allzumenschlichen werden darf.

Dass „Italienisch für Anfänger' schließlich kein Trauerspiel sein kann, sagt ja schon der Titel, der Programm ist und Klischee, wie man will. Beileibe nicht das einzige Klischee des Films. Dafür ist Karen eine zu aufopferungsvolle Tochter, Olympia ein zu verzagtes, schüchternes Kitz, ihr Vater ein zu tyrannischer Unmensch (usw.), um glaubhaft zu sein, vor allem, weil sich bei kaum einer Figur Tiefe ausmachen lässt, die wiederum über ein Klischee von Tiefe hinaus ginge. Wenn z.B. Pfarrer Andreas vom Tod seiner (auch noch) schizophrenen Frau berichtet, dann bleibt nur, ihm zu glauben, er habe darunter gelitten: Sichtbar oder nachvollziehbar ist seine Trauer nicht, während sein Amtsbruder zu überzeichnet erscheint, wenn er aus Melancholie über den Verlust seiner Frau den Organisten von der Empore geworfen haben soll.

Figuren ohne Tiefenschärfe haben sich auf lange Sicht nicht viel zu sagen, deshalb ist es praktisch, wenn Hormone walten, wo der Gesprächsstoff fehlt. Das führt einmal zum Spontankoitus, ein andermal zum spontanen „Si' des Eheversprechens, wo noch keine zehn Sätze gewechselt sind. Wenn man den Richtigen gefunden hat, dann fühlt man das eben. Nach langem langweiligen Hin und Her feiert Scherfigs Eskapismus für schlichte Gemüter schließlich seine Krönung, sodass es wirklich schmerzt, in Venedig, wo – man traut seinen Ohren dann doch nicht – ein Gondoliere „O sole mio' singt. Vielleicht soll das ja einer jener augenzwinkernden Scherze sein, aber ernst nehmen kann man den Film sowieso nicht – auch nicht als Komödie. „Italienisch für Anfänger' ist wie ein Heimatfilm, dem seine Berge und sein Patriarchat abhanden gekommen sind, und so bilden ersatzweise Krankheit und Tod die Problemkulisse. Sonst ist alles vertreten, die Nettigkeit, die unpolitische Weltfremdheit, das kleine Glück im Privaten, auch die flache Komik hat 50er Jahre-Niveau, etwa wenn z.B. ein gestelltes Gruppenfoto völlig verwackelt.

Nach „Mifune' ist dieses der zweite „Dogma'-Film der zeigt, dass eine Methode kein Garant für Qualität ist. Schon „Dogma Nr.2', von Triers „Idioten', hat sich mit der ‚Volkhochschule‘ beschäftigt. In einer fünfminütigen Szene ist dort das Thema aufs Beklemmendste – da riechbar authentisch in seiner Spießigkeit – und erschöpfend abgehandelt worden. Die 108 Minuten der „Anfänger' dagegen mühen sich um Reputation einer Volkshochschul-Seligkeit, die es so nie gegeben hat, und sie bekommen dafür auch noch den „Silbernen Bären'. Ein Symptom für die Spießigkeit unserer Zeit?

Manderlay

(DK / D / F / NL / SW 2005, Regie: Lars von Trier)

Großkopfert
von Andreas Thomas

Man bekommt fast den Eindruck, von Trier habe mit seinem neuen Film endlich ganz zu sich gefunden. Der Wiedererkennungswert von „Manderlay“ ist so hoch, höher geht’s kaum. Die „Dogville“-Parameter ironisch-allwissender …

Man bekommt fast den Eindruck, von Trier habe mit seinem neuen Film endlich ganz zu sich gefunden. Der Wiedererkennungswert von „Manderlay“ ist so hoch, höher geht’s kaum. Die „Dogville“-Parameter ironisch-allwissender Erzähler, rudimentäre Kulissen eines Planspiels, Kopftuchracheengel Grace und die aus der Dogma- und Vor-Dogma-Phase übernommene Technik der „falschen“ szenischen Anschlüsse (es gibt kaum eine Einstellung, die nicht durch einen Schnitt unterbrochen ist, nach dem die Schauspieler ihren eben angefangenen Satz plötzlich an einer anderen Stelle der Bühne in einer anderen Pose weitersprechen) sind alle wieder da. Nur eine stilistische Kontinuität, so wie diese, hat es in keinem der von Trier-Filme zuvor gegeben. Selbstfindung oder Stagnation eines Regisseurs, der vorher mit jedem Film sein (das) Kino neu erfinden musste?

Trier versetzt auch in „Manderlay“die Methodik des modernen Theaters (der fast leeren Bühne, die uns angeblich nicht vom Geschehen ablenken soll, aber uns ständig daran erinnert, dass hier nicht versucht wird, so etwas wie Authentizität (oder Illusion) abzubilden (oder herzustellen)) mit einem rein filmischen Verfremdungseffekt, dem Jump Cut. Diese zwei antillusionistischen Strategien gekoppelt deklarieren lauthals: Schaut her: Ich wirke wie Theater, aber ich bin nicht Theater, weil ich Film bin, und als solcher schneide ich alles so, wie es mir passt. Der Erzähler aus dem Off aber, wie so oft in seinen Filmen – und in „Manderlay“ ist er so geschwätzig wie nie vorher –, ist identisch mit Autor und Auteur und Regisseur Trier. Wir sollen wissen, dass dieser Film seine literarische Großhirngeburt ist. Und mehr noch als Theater oder Film ist „Manderlay“ eine Erzählung. Das Wort, das naturgemäß das Theater dominiert, bei von Trier dominiert es nun auch den Film, es ist, zwei Jahrzehnte nach von Triers fatalistisch-opulenten Bilderbögen von „The Element of Crime“ oder „Europa“ zur eifersüchtigen Kontrollinstanz geworden über jede cineastische Phantasie, Irritation, Irrationalität, die eventuell unbenennbar sein könnte.

Daraus, dass von Trier ein Kontrollfreak ist, hat er nie einen Hehl gemacht. Um sich und seine privaten Phobien zu bändigen, verordnete er sich Hypnosetherapien und den Katholizismus; um das bedrohlich ausschweifende postmoderne Kino (das er selbst mit einem Film wie „Europa“ perfektioniert hatte) zu bändigen, stieg er auf den Berg, um als Chefideologe und Religionsstifter die zehn Dogma 95-Gebote zu verkündigen. Die Antwort der Filmemacher – die Dogma-Website listet zur Zeit (18.11.05) den 53. Film mit Dogma-Zertifikat auf – mag seine drei Grundhypothesen bestätigt haben: 1. Die Menschheit wünscht und braucht ein festes Regelwerk. 2. Nur durch die kreative Einschränkung gelangt man zur kreativen Freiheit. 3. Lars von Trier ist Gott.

„Manderlay“ nun funktioniert kaum anders als Dogma 95 funktionierte. Die Figuren darin, überwiegend soeben von der Sklaverei befreite „Nigger“, benötigen jemanden, der ihnen sagt, wann sie essen sollen, wann arbeiten, wann schlafen – fehlt nur noch, wie Filme zu drehen. Da trifft es sich gut, dass ihr allwissender Drehbuchautor, Regisseur nicht nur ein ausgeprägtes Mitleid mit der einfachen schwarzen Kreatur besitzt, sondern auch einen ausgeprägten Hang zum sadistischen Besserwissen. Er quält Grace und uns, die Zuschauer, mit plumpen Belehrungen, dass der Mensch sowieso, aber der Neger erst recht unfähig ist, in die Puschen zu kommen, mit der Freiheit überfordert ist und sein begnadeter Körper am besten als Wixvorlage dienen möge, ein Projekt, an welchem Leni Riefenstahl in ihrer Spätphase hart arbeitete.

Natürlich ist man schon wieder auf von Trier reingefallen, wenn man sich von kruder Handlung zu kruden Äußerungen hinreißen lässt, wie ich es gerade tat. Denn natürlich wollte er wieder einmal testen, wie politisch und moralisch löchrig doch unser aller Weltsicht ist. Natürlich will er unsere bequeme und vertraute Logik durchbrechen und uns provozieren, nur wozu oder wogegen, wenn nicht doch am Ende gegen ihn selbst, den Großkopferten, den Oberlehrer und Dichterfürsten? Denn was nach dem zähen, zwanghaft ironische Haken schlagenden, „Manderlay“ im Mittelpunkt des Interesses steht, ist weder die Frage nach „Amerika“, darum ging es Trier sowieso nie (alles Ablenkungsmanöver), aber auch kaum mehr die Frage nach der so genannten „Menschheit“, die ihn ja durchaus eine Zeitlang beschäftigt hat, sondern die Frage: „Was will uns der Dichter damit sagen?“ Die Betonung dabei – und das ist intendiert – liegt auf dem „Dichter“, und das, mir fällt wirklich kein anderes Wort ein, das nervt nur noch.

Montag kommen die Fenster

(D 2005, Regie: Ulrich Köhler)

Vom Ausbleiben der Regel
von Andreas Thomas

Vielleicht hätten sie doch in Berlin bleiben sollen. Aber jetzt haben sie sich für Kassel-Wilhelmshöhe entschieden, ein Häuschen gekauft, in der Nähe seiner Eltern, die sich gelegentlich um die Tochter …

Vielleicht hätten sie doch in Berlin bleiben sollen. Aber jetzt haben sie sich für Kassel-Wilhelmshöhe entschieden, ein Häuschen gekauft, in der Nähe seiner Eltern, die sich gelegentlich um die Tochter kümmern können. Frieder, Arzt, widmet sich Haus und Kind, Nina, Ärztin, ist im Job geblieben, sie arbeitet im Krankenhaus. Sie stehen an der Schwelle zur bürgerlichen Kleinfamilie, eingerichtet haben sie es sich darin noch nicht, so wenig wie in ihrem Haus. Frieder sucht unschlüssig nach einer Lösung für das Fliesenmosaik (zu dunkel?) und der Tapetenwechsel beschränkt sich bisher auf das gemeinsame Freilegen des Verputzes.

Ninas Verschwinden gehört nicht zum Procedere. Sie verschwindet einfach, aus ihrer Ehe, aus ihrer Rolle, vielleicht um zu sehen, was dann noch übrigbleibt, von ihr, von der Welt. Es gibt viele „Vielleichts“ in dieser Skizze eines Alltags und eines Ausbruchsversuchs, vieles, was etwas bedeuten könnte, zwischen den Bildern und in den Dialogen, oder vielleicht gerade nicht. Vielleicht war es allein die Möglichkeit einer Schwangerschaft, eines zweiten Kindes, die Nina zur Revision veranlasst hat, vielleicht auch erst Frieders Pragmatismus („Dann machst du eben einen Test!“), als sie ihm von ihrer ausgebliebenen Periode erzählte. Irgendwie fehlt die Haftung, die Gewichtung, für das in feste Bahnen geratende Leben. Und irgendwie fehlt ein Grund.

Sie nimmt die Autobahn für ihre Flucht. Eine Harzreise per Auto. Von der privatimen Wirklichkeit in die Flüchtigkeit der alle zusammenführenden und auseinander bringenden (im Kino oft unterschätzten) Wirklichkeit des Autobahnnetzes. (Regisseur Ulrich Köhler hatte auch in seinem Langfilmdebüt „Bungalow“ lange Minuten damit verbracht, ein Autobahnkreuz zu studieren, und er hat gut daran getan. Vielleicht gibt es nichts, was unsere Nation heimlich stärker charakterisiert, da dominiert und kontrolliert, als unsere Beziehung zum Auto und zum Autofahren). In den Schlaglichtern der Scheinwerfer Surreales: Auf dem Rasen am Rastplatz inszenieren als Ritter verkleidete Mittelalter-Freaks einen Schwert-Kampf. Die Fliehende passiert Fliehende.

Im Harz. Im Schuppen der abgelegenen elterlichen Ferienhütte erschreckt Nina die Freundin ihres Bruders, denn sie steht da mitten in der Nacht mit der Kettensäge in der Hand, legt sie weg und sagt Hallo. Wieder ein „Vielleicht“, diesmal als dramatische Option. Hatte Nina ihrem Leben eine schmerzhaftere Expressivität verleihen wollen, der Film sein Genre wechseln – oder nur zeigen, dass „Berliner Schule“ kein Genre ist?

Gleich darauf der Anachronismus von Lebensstil und -inhalt: Schwester, Bruder und dessen mehrfach betrogene Freundin hocken zusammen bei einem Joint, wie ihre Eltern bei einem Kaffee, während Rio Reiser noch einmal singen darf: „ … und der lange Weg der vor uns liegt, führt Schritt für Schritt ins Paradies“. Gleichzeitig reden sie über die mehr als 200 Gesetzesnovellen der Bundesregierung. Es tut sich also was, nur man bemerkt es nicht. Zeitgleich und in einem Raum naiv-revolutionäre Utopien, SPD-Politik als Job – und zwei Beziehungsfiaskos. Kurz darauf: Die Freundin kippt um, mal ganz schnell. Eine vorübergehende tiefe Ohnmacht, nichts weiter.

Die Flucht zu geschwisterlicher Freundschaft funktioniert auch nicht, denn am Morgen ist der Bruder ein Verräter (er hat den fassungslosen Frieder in den Harz eingeladen) geworden, und Ton Steine Scherben sind sowieso ein Relikt aus einem anderen, fremden Jahrhundert. (Auch hier drängt der Film nicht zur Erkenntnis; er produziert sie ganz einfach, indem er einen kurzen kulturhistorischen Exkurs und Vergleich anstellt, den man nicht weiter beachten muss, aber kann.)

Nina leiht sich den Norwegerpullover ihres Bruders und radelt davon in den winterlichen Harz. Ein Hotelkomplex, „wie ein Ufo“ steht er da mitten im Forst. Das Presseheft hat Recht. Mit einem roten Geschenkbändchen drum und aus einem vergangenen Jahrhundert (als vor der (architektonischen) „Moderne“ noch nicht mal ein „Post“ klebte und auch Häuser, die für Geld und Wohlstand standen, noch absichtlich hässlich gebaut wurden). Wer’s nicht glaubt, muss den Film sehen. Es wird noch surrealer – obwohl es immer noch real sein könnte. Nina taucht im Hotel unter, vorübergehend, und gerät in ein Event: Ilie Nastase, der Tennisprofi der siebziger Jahre, tritt als Tennisprofi der siebziger Jahre in Anzug und Krawatte zu Spaßmatches an, in einer Halle mit Event-Publikum, Schampus, Kaviar und Technopop. Das Zentrum der Wälder birgt die denkbar größte Künstlichkeit. Soviel zum 21. Jahrhundert und seiner Definition von Romantik. Und soviel über ein paar schön beiläufige Details, derer „Montag kommen die Fenster“ ganz verblüffend viele aufweist.

An Antonioni musste ich denken, an seine Parabeln über die Fremdheit des Menschen mit sich selbst und seine Fremdheit in der Welt, und einen Film habe ich gesehen, von dem ich mich fair behandelt fühlte, weil er nicht mit dramatischen Forcierungen oder Belehrungen vorgeht. Einen Film, der es schafft, mit großer Sorgfalt und Geduld eine Geschichte aus der Gegenwart zu erzählen, deren einzige Zumutung darin liegt, dass sie einem vielleicht bekannt vorkommt.

Zur DVD:
Versehen mit zwei frühen Kurzfilmen des Regisseurs (die noch kaum auf die Spielfilme hindeuten), ein paar Kinotrailern und einer „Presseshow“ mit Kritiken zum Film (u.a. für Französisch-Könner auch, in unübersetztem Französisch, ein gescannter Artikel aus den Cahiers du Cinéma), verfügt die DVD nicht gerade über ein enorm umfangreiches Bonusmaterial. Das Interessanteste – neben dem Film selbst – ist ein im Booklet abgedrucktes Interview mit Köhler und Kameramann Orth aus der Vierteljahrszeitschrift Revolver Heft 16. Aber über das Hirn des Regisseurs kann man auch hier was erfahren.

Taxi Driver

(USA 1975, Regie: Martin Scorsese)

Der verschluckte Mensch
von Andreas Thomas

Awake again I can’t pretend and I know I’m alone And close to the end of the feeling we’ve known How long have I been sleeping How long have I …

Awake again I can’t pretend and I know I’m alone
And close to the end of the feeling we’ve known

How long have I been sleeping
How long have I been drifting alone through the night
How long have I been dreaming I could make it right
If I closed my eyes and tried with all my might
To be the one you need
(Jackson Browne: “Late for the Sky”)

Wie ein U-Boot gleitet das Taxi durch ein Wolkenmeer. Risse im Dampf. Am Grund des Meeres. Die Schluchten des nächtlichen New York. Aus den Kanaldeckeln wachsen Ungeheuer von Nebel. Wassergüsse, Farbschlieren ziehen über die Scheiben. Auf dem Gesicht des Taxifahrers die wechselnden Lichter der Neonreklamen. Die unbeständige, die bunte Haut der Leere. Die Welt zerfließt, bis in ihre psychedelische Auflösung. Ein böser Trip dieses New York, ein giftiger Rausch. Eine Taxi-Fahrt, die nie ans Ziel kommt. Travis Bickle im Labyrinth des Molochs. Der Schlaflose, solange er nicht verrückt wird, träumt bei der Arbeit. Travis träumt von Tieren, die abends erwachen, aus ihren Löchern kommen. Abschaum, der für ihn weggespült gehört.

Ein böser Traum: Dieses New York, das sich prostituiert. Auch Betsy, die Wahlkampfhelferin, tut das, und sie weiß es. Ihre politische Arbeit ist Waschmittelwerbung. Inhalte, Ziele, Ideale spielen keine Rolle. Travis spürt, dass sie unglücklich ist, dass ihrem Leben etwas fehlt. Der Verlorene erkennt Seinesgleichen, doch ist er „Gottes einsamster Mann“, weil er als einziger das Verhängnis zu sehen scheint, das auf der Stadt, dem Land lastet. Travis ist der traurige Rest einer Selbstreflexion. Er ist New York, er ist die USA. Er erlebt den Schmerz in seinem Kopf. Und er kann nicht wegsehen, nicht schlafen.

Was die Politik offenbar aufgegeben hat, treibt ihn noch an: Veränderung. Irgendwie. Er will sich wehren gegen das Siechtum draußen – das Siechtum in ihm selbst. Er wehrt sich auf die einzige Art, die ihm beigebracht wurde. Professionell. Mit Waffengewalt. Travis kommt aus Vietnam und er bringt Vietnam nach New York. Wie sehr sich „Apocalypse Now“ und „Taxi Driver“ doch ähneln! Martin Sheen und Robert De Niro sind unheilbar krank von Anfang an, beide kriegen einen Job, der sie auf einem Boot/Taxi durch eine menschengemachte Hölle führt. Alles da draußen ist gefährlich und unberechenbar. In Vietnam löst ein normaler Gemüsekahn Paranoia aus, in New York ist jeder ein potentieller Verbrecher oder Killer. Worauf Travis auch zielt, überall ist der Feind. Und nirgends.

Der Fernseher, der die Zeit bannt, der die Wirklichkeit in sich hinein saugt und sie löscht. Tanzende Pärchen und das Lied von Jackson Browne: “Awake again I can’t pretend and I know I’m alone / And close to the end of the feeling we’ve known”. Die große Resignation. Liebe ist nicht möglich mit Menschen, die aus Plastik sind. Die vom Fernseher verschluckte Liebe: Sie implodiert, wenn du sie ein bisschen umkippen lässt.

Travis in New York City, der Geburtsstätte des Punk, zeitgleich in der Mitte der Siebziger. Im New Yorker Club CBGB’s spielten die Ramones, als „Taxi Driver“ gedreht wurde. Travis als erster Punk des Kinos? Erster Irokesenschnitt jedenfalls, und Durchdrehen, Rebellieren, ohne noch wirklich zu wissen, wogegen. Die lähmenden Siebziger, die KOMA und AMOK hervorbringen.

Wenn er Iris „rettet“, indem er ihre(n) Zuhälter tötet, dann ist das sein Versuch, sich von sich selbst zu befreien. Der amoklaufende Serienmörder als der verhinderte Selbstmörder. Seine Wahl ist so beliebig, wie sie falsch ist, aber jede Wahl wäre das. Das Problem ist substanziell. Innen ist Außen ist Innen. Die Wirlichkeit hat vor sich selbst kapituliert, die Gesellschaft spielt sich selbst, ein hohles Ritual, keine Bedeutungen, keine Ziele mehr. Und wenn Bernard Herrmann seine letzte musikalische Elegie hören lässt, gerinnen die vierziger, fünfziger, sechziger Filmjahre zu einem Furioso aus film noir und New York und Jazz, eine lange Geschichte des Kinos ist enthalten in dieser, einer der besten Filmmusiken überhaupt. Alles ist tot und still und für diese lange Kamerafahrt von oben (von da, wo Gott nicht mehr sehen mag, was er sieht) ließ Scorsese extra die Decken aus einem Haus brechen. Das Blut war so blutrot, dass den Zensoren nur eine Verdunkelung der kompletten Schlüsselszenen statthaft war – die Originale gibt’s nicht mehr, und so auch keinen Director’s Cut. Nur in der Verdunkelung (und da sind wir wieder auch beim Krieg) blieb „Taxi Driver“ gesellschaftsfähig. Aber diese Einfärbung des Materials nimmt nichts von der überirdischen und traurigen Magie der Szene, wenn der waidwunde Robert De Niro auf dem Puff-Sofa sitzt, mit dem blutstropfenden Zeigefinger an seine Schläfe zeigt und mehrmals „pfchhhh“ macht.

Überhaupt ist das Gute an De Niro, dass er noch nicht De Niro ist. Es ist alles noch offen und möglich für diesen jungen Schauspieler, der später – so sehr er noch beteuerte, er könne auch ein Schnitzel spielen – sich immer nur als De Niro besetzen ließ. Vielleicht waren es Leute wie Coppola („Der Pate 2“), aber vor allem Leone („Es war einmal in Amerika“), die ihn nachhaltig zu dem konservativen Macho-Patriarchen formten, zu dieser De Niro-Rolle, auf der er sich jahrzehntelang ausruhen konnte, und wohl auch wollte – ob als Gangster oder Cop oder schließlich auch als Schwiegervater. Wie eintönig er in den Achtzigern wurde, und wie doch ziemlich unsymphatisch! Wir erkennen diesen De Niro-Standard immer wieder, aber es scheint beinahe vergessen, welch wirkliche Klasse dieser Mann mal hatte. In „Taxi Driver“, in „Wie ein wilder Stier“, in „King of Comedy“ aber auch – ein seltener, später Glücksfall – in Tarantinos „Jackie Brown“ traut er sich noch, unerprobte Gesichter aufzusetzen. Die Klasse (Lebensnähe, Klischeeferne) des jungen De Niro lag in seiner Unberechenbarkeit, in seiner Neurotik, Psychotik und seiner Paranoia. Niemand hatte für dieses Talent ein besseres Gespür als Martin Scorsese. Gemeinsam schafften Scorsese und De Niro vibrierende, widersprüchliche, rauhe Meisterwerke. Die besten De Niro-Filme waren immer auch die besten Scorsese-Filme – und umgekehrt. Welch trauriger Irrtum von Scorsese, Leonardo Di Caprio auch nur für annähernd ebenbürtig zu halten und ihm nun schon in zwei Filmen („Gangs of New York“, „Aviator“) die Hauptrolle zu geben. Mediokres Hollywoodkino ist das Ergebnis (leider nicht nur wegen Di Caprio), ohne den früheren Mut zu den großen Ambivalenzen, zu den verdichteten Visionen einer amerikanischen Phänomenologie und ohne Scorseses alten künstlerischen Instinkt.

Am Schluss ist der Amokläufer ein Held. Sein letztes bizarres Umsichschlagen deutet sich der komatöse Organismus um zum Indiz seiner Gesundheit. Unwirklich die letzten Szenen. Endgültig unwirklich und unheimlich ist diese Welt geworden. Der Furchtbare weist den Weg, doch keiner fragt, wieso. Die Rechtfertigung der neuen Ordnung liegt allein darin, dass es sie gibt. Nichts ist normal an dieser Normalität, aber niemand mehr nimmt davon Notiz – und der letzte, fatal irrende, Rebell ist vollintegriert. Eine merkwürdig irreale Stadt, mit Menschen, die ihr Leben spielen, ohne zu wissen, wozu. Eine Oberfläche, die keine Richtung mehr kennt, austauschbare Figuren, keine Individuen mehr. Das Ende der Rebellion, das Ende der Aufklärung, das Ende der Moral. Die Beliebigkeit hat den Menschen verschluckt. „Taxi Driver“ endet so, wie David-Lynch-Filme beginnen: eine böse, eine von Gott verlassene Welt, die nur noch von sich selbst träumen kann. Es bleibt keine Wahl mehr. Das Grauen ist immer da, wo es keine Alternative mehr gibt.

Nicht böse sein!

(D 2006, Regie: Wolfgang Reinke)

„Kein Mensch lebt doch gerne alleine!“
von Michael Schleeh

In ruhigen Einstellungen gleitet die Kamera durch menschenleere Räume: Es ist die Wohnung Wolfgangs, der mit seinen beiden Mitbewohnern Dieter und Andi in einer Altherren-WG zusammen lebt. Die Kamera schwenkt …

In ruhigen Einstellungen gleitet die Kamera durch menschenleere Räume: Es ist die Wohnung Wolfgangs, der mit seinen beiden Mitbewohnern Dieter und Andi in einer Altherren-WG zusammen lebt. Die Kamera schwenkt in ruhigem Gleichmaß die Wände ab, fokussiert den Schmutz, die Schränke, den dreckigen Boden und findet Details: einen verbeulten Topf, einen Stromzähler, eine improvisierte Schlafstatt im Badezimmer, eine Spritze, dann Bücher eines Autors namens J. W. Siegner. Fixpunkte, um die sich der Film drehen wird, ohne dass man das bereits wüsste. Die Männer jedoch sind draußen, machen einen Ausflug vor der Stadt, sitzen am Fluss, spielen Gitarre, spielen Schach, trinken Bier in der wärmenden Sonne. Die WG, ja, die sei wie eine Ehe: Man kenne sich seit Ewigkeiten, liebe sich vielleicht irgendwie und streite verbittert, habe sich manchmal auch nichts mehr zu sagen, die Themen wären durch. Da setzt Andi zum siegreichen Zug an … Andi: „Schach matt!“, Wolfgang: „Jepp.“

Das Besondere an Reinkes Dokumentarfilm wird also sofort und nach wenigen Minuten klar: es ist die ungewöhnlich einfühlsame, respektvolle und klug gewählte Annäherung an sein Sujet, eine Abbildungsstrategie, die gekonnt die Klippen einer sensationsheischenden Boulevardskandalisierung umschifft. Denn Reinke wählt eine diametral entgegengesetzte Taktik: Annäherung durch Ernstnehmen des Gegenstandes, durch ein unaufgeregtes, ruhiges Herantasten an die fragilen Existenzen. Und dabei wäre es ein leichtes gewesen, schockierende Bilder mit Magengruben-Impact zu montieren, unterlegt mit unheilvoller Musik vor dem Hintergrund der grauen Metropolentristesse Marke Berlin: denn schließlich sehen wir drei suchtkranken Männern beim Überleben zu. Einem schweren Alkoholiker, der ohne Schnaps schon lange nicht mehr sein kann (Wolfgang), einem Heroinabhängigen, der seit dreißig Jahren an der Nadel hängt (Dieter), und einem etwas jüngeren Ex-Knacki, der nicht nur ausgiebig trinkt, sondern ebenfalls dem Venengifte frönt (Andi). Nicht auszudenken, wie dieser Film aussähe, wäre er als Fernsehproduktion eines Privatsenders realisiert worden.

Doch diese Angemessenheit ist erst der Ausgangspunkt, von dem aus sich der Film in die Biographien hinein tastet. In die Kindheiten und Adoleszenzen, die Beziehungen zu den Eltern, den Wünschen und Sehnsüchten. Ein Blick zurück in Zeiten, als das Leben noch Optionen bereit zu halten schien. Genauso aber tastet sich der Film an das komplexe Miteinander der Freunde heran, die beinah auch immer Feinde zu sein scheinen. Es wird gezofft und konsumiert, philosophiert und gepöbelt, geweint und getröstet. Man kümmert sich, kocht zusammen und duldet die Schwächen des Andern – und findet ihn zugleich ätzend, bisweilen unerträglich, zum Ausrasten blöde. Manchesmal scheint es, als wären die einzigen Gemeinsamkeiten der drei Männer die Einsamkeit, das Ausgestoßensein und der enorme Zigarettenkonsum.

Reinke hält sich auch mit anderen Standards des Dokumentarfilms zurück: in „Nicht böse sein!“ findet sich etwa kein Kommentator aus dem Off, es gibt keine Einführung in die Koordinaten Schauplatz, Zeit, oder Figuren. Es gibt keine Einblendungen am Bildrand. Ab und an hört man die Fragen des Interviewers, einmal, zu Beginn, werden die Namen der Personen wie in Buchkapiteln dazwischen geschnitten. Der Film bleibt so stets im Fluss, die Kamera innerhalb der Diegese, nie findet sich ein Kommentar von außen. Selbst auf Nachbarn, die sich über die Zustände in der Wohngemeinschaft empören, wartet man vergebens. Der Film nimmt den Zuschauer mit hinein in diesen inneren und sehr privaten Zirkel, und entlässt ihn erst wieder am Ende des Films. Auch eine Technik, die Reinke bis zum Exzess durchexerziert: die Nah-, bzw. Detailaufnahme. Gesichter zunächst, später dann das Saufen, das Drücken, das Weinen, die Verzweiflung. Die schmutzigen Fingernägel, die alten Klamotten und das offene Bein von Andi. Die schwarzen Zahnstümpfe Wolfgangs. Die harten Venen Dieters, der die Nadel nicht mehr hinein bekommt.

Es ist eine progressiv im Film zunehmende Annäherung, die durch die gewählte strukturelle Form beglaubigt wird, und die diese moralisch erst zulässt. Denn durch die zuvor geleistete Einführung der Charaktere, die Annäherung an den Menschen und das Menschliche selbst, verlieren diese Szenen ihr Skandalpotential, wenngleich sie natürlich immer noch enorm aufwühlend sind. Eine klug gewählte Strategie, die jeden Sensationstouristen in Sachen Film abschrecken dürfte. Emotional wird man hier in die Verantwortung geholt und eine grobe Distanzierungshaltung einzunehmen ist kaum möglich. Auch auf das ruhige Tempo dieses Films muss man sich einlassen. Dann allerdings wird man mehr als belohnt. „Nicht böse sein!“ ist auf seine eigene Weise ein ziemlich sensationeller Film.

Stadt Land Fluss

(D 2011, Regie: Benjamin Cantu)

Landluft macht frei (wenn etwas Stadtluft hinzu kommt)
von Ulrich Kriest

Man bemängelt ja häufig und häufig auch nicht ganz zu Unrecht, dass die Milieuschilderung in Spielfilmen zumeist nur während der Exposition wichtig genommen wird und später im Verlauf der Handlung …

Man bemängelt ja häufig und häufig auch nicht ganz zu Unrecht, dass die Milieuschilderung in Spielfilmen zumeist nur während der Exposition wichtig genommen wird und später im Verlauf der Handlung bestenfalls noch zeichenhaft verdichtet eine Rolle spielt. Haben sich die Protagonisten erstmal als solche etabliert, spielen sie ihre Geschichte vor einem »Hintergrund« herunter. Bei seinem ausgesprochen schönen Spielfilmdebüt wählt Benjamin Cantu einen radikal anderen Weg, indem er den »Hintergrund« nicht mehr zum »Hintergrund« degradiert, sondern diesen mit dokumentarischen Mitteln in großem Maßstab ausmalt.

„Stadt Land Fluss“ spielt zur hochsommerlichen Erntezeit auf einem größeren Landwirtschaftsbetrieb im Brandenburgischen. Hier werden junge Menschen zum Landwirt ausgebildet oder absolvieren ein orientierendes Praktikum. Wir sehen Menschen arbeiten, an der Möhrenwaschanlage, am Traktor oder im noch nicht sehr souveränen Umgang mit dem Vieh. Wir werden von Kühen angeglotzt und sehen, wie Menschen über den Hof gehen, sich etwas Zeit nehmen. Wir sitzen mit im Frühstücksraum und werden Zeuge, wie ein Vanillepudding verschenkt wird. Es nicht so viel geredet – und wenn geredet wird, reden gerne die Ausbilder.

Ein Neuer ist angekommen: Jacob hat eine Banklehre abgebrochen, weil sie ihm nicht das Richtige erschien. Als er erzählt, was er im ersten Lehrjahr verdient hätte, staunen die anderen Anwesenden nicht schlecht. Tja, in der Produktion verdient man nicht so viel, erklärt Frau Thymian. Die wohl wirklich so heißt, denn das Team von „Stadt Land Fluss“ tauchte nicht nur im Erntebetrieb gewissermaßen unter, sondern ließ auch nur zwei Schauspieler vor die Kamera. Alle anderen sind Laien, die sich selbst spielen – und auch mal grinsen müssen, wenn die Kamera läuft. Oder lieber bockig vor sich hinstarren, um nicht grinsen zu müssen.

Eine ganze Zeit lang könnte „Stadt Land Fluss“ auch eine Dokumentation über den Alltag in der Landwirtschaft sein, dann entwickelt sich eine spröde, tastende Liebesgeschichte zwischen Jacob und dem sehr zurückhaltenden Marko, dessen problematischer familiärer Hintergrund gerade einmal hingetuscht wird. Marko ist sehr ruhig, mit sich beschäftigt und absolviert gerade eine Ausbildung zum Landwirt, weiß aber nicht mit Bestimmtheit zu sagen, ob er das auch wirklich will. Das ist nun aber wirklich ein Problem, wird ihm geantwortet.

Okay, aber wenn man den Blick in Jänickendorf so schweifen lässt (und dazu lädt der Film nachdrücklich ein!), dann drängen sich nicht allzu viele Alternativen auf. Aus dem ruhigen Fluss von Impressionen schält sich nun ganz allmählich die Geschichte von Jacob und Marco heraus: erst ist es noch ein neugieriges Taxieren, ein Wahrnehmen von Körpern, ein Kräftemessen, ein Sich-Annähern, das zur Jahreszeit passt, aber irgendwie nicht zum Kuhscheiße-Schippen im Stall. Es braucht dann aber doch noch einen gemeinsamen Ausflug nach Berlin, bis sich die beiden Jungen aufeinander einlassen können. Noch nicht bedenkenlos, aber schon etwas euphorisch (und etwas betrunken). Liegt es am Zauber der sommerlichen Nacht in der bunten Metropole?

Es geht dann wieder zurück nach Jänickendorf, wo sie zurück in den Alltag müssen. Was Marko kurz zu irritieren scheint. Doch ganz so prosaisch will es der Film dann doch nicht ausklingen lassen: am Ende hat Marko seine Prüfung bestanden. Zu seiner ungewissen Zukunft gratuliert ihm Jacob mit einer langen und eigentlich unmissverständlichen Umarmung. Mal sehen, was die anderen dazu sagen.

Unter Kontrolle

(D 2011, Regie: Volker Sattel)

Zwischen Faszination und Schrecken
von Wolfgang Nierlin

Als wären es leuchtende Spinnweben, die kurz aufglimmen und wieder verlöschen, illuminieren sichtbar gemachte Strahlen den Vorspann des Films. Dazu dringt ein seltsames, fast unmerkliches Knistern in die tiefe Ruhe, …

Als wären es leuchtende Spinnweben, die kurz aufglimmen und wieder verlöschen, illuminieren sichtbar gemachte Strahlen den Vorspann des Films. Dazu dringt ein seltsames, fast unmerkliches Knistern in die tiefe Ruhe, die das Bild umhüllt; bevor sich schließlich, begleitet von schwereren Geräuschen, ein Raketen ähnlicher Brennstab ins Bild schiebt. Zwischen Geheimnis und Enthüllung, Faszination und Schrecken bewegt sich Volker Sattels visuell eindrucksvoller Dokumentarfilm „Unter Kontrolle“, der eine Innensicht deutscher Kernkraftwerke vermittelt und noch vor der atomaren Katastrophe in Fukushima entstand. Die normalerweise unsichtbaren Vorgänge im Innern der Reaktoren sichtbar zu machen, ist insofern ein wesentliches Anliegen des Films.

„Unter Kontrolle“ ist deshalb auch „kein Lehrfilm über Atomkraft“, so Volker Sattel, sondern ein in Cinemascope gedrehter Kinofilm, „der seine Erzählkraft aus den Bildern entwickelt“. Nicht politisches Engagement habe seine Arbeit motiviert, sondern das Interesse, mit der Filmkamera in das hermetische System eines Atomkraftwerkes hineinzugehen, um die „nebulösen Bilder“, die wir davon haben, von ihrem „Schleier“ zu befreien. Dabei hat Sattel auf erklärende Kommentare und klassische Interviews verzichtet. Stattdessen sollen die Bilder zu Projektionsflächen für den Zuschauer und seine jeweilige Perspektive werden; und damit auch einen neuen Blick auf das schwierige Thema eröffnen.

Die ambivalente Faszination, die der Film ausstrahlt, ist eng verknüpft mit den Utopien einer Technologiegläubigkeit, die sich in den Architekturen der Kraftwerke widerspiegelt. Regisseur und Kameramann Volker Sattel, 1970 in Speyer geboren und mit Blick auf die gewaltigen Kühltürme von Philippsburg aufgewachsen, spürt diesen Dimensionen und ihren symmetrischen Strukturen in statischen Totalen und ruhigen Schwenks nach. Mit insistierendem Blick auf die unzähligen Knöpfe und Kontrollleuchten von Schaltzentralen, auf Kabelgewirr und riesige Betonkuppeln entstehen so immer wieder irritierende Kontraste und gespenstische Szenerien.

In den komplexen, überdimensionalen Ausmaßen der Kraftwerke, die vom Geist der Kontrolle beseelt sind, wird der arbeitende, sich in unverständlicher Terminologie artikulierende Mensch auf ein Funktionsteilchen im sich selbst regulierenden System der Maschine reduziert. Als handelte es sich um ein – im Übrigen ausschließlich von Männern verwaltetes – militärisches Sperrgebiet, sind die Anlagen folgerichtig von einem engmaschigen Sicherheitsnetz durchzogen. Es ist dies ein pervertierter Ausdruck jener utopischen, auf friedliche Nutzung zielenden Atomtechnologie, deren „archäologischen Spuren“ Sattel mit seinem Film folgt. Dabei schimmert zugleich auf beunruhigende Weise immer wieder jene gefährliche Schattenseite durch, deren Unkontrollierbarkeit die Welt zurzeit in Atem hält.

Arschkalt

(D 2011, Regie: André Erkau)

Die Geschichte vom brennenden Iglu
von Michael Schleeh

Ein emotional eingefrorener Tiefkühlkostlieferant wird aus seiner zynischen Starre gerissen, als ihm die neue Chefin einen Beifahrer in den Lieferwagen setzt, den er innerhalb zweier Wochen zum Verkäufer schulen soll …

Ein emotional eingefrorener Tiefkühlkostlieferant wird aus seiner zynischen Starre gerissen, als ihm die neue Chefin einen Beifahrer in den Lieferwagen setzt, den er innerhalb zweier Wochen zum Verkäufer schulen soll – ansonsten sei er seinen Job los. Nun ist Teamgeist gefragt – doch der Misanthrop ist naturgemäß wenig begeistert von seinem geradezu aufdringlich lebenslustigen Kollegen. Nach und nach jedoch taut er auf, freundet sich an, interessiert sich sogar für das Lächeln seiner Chefin. Doch damit fangen die Probleme erst an …

Sommerzeit: Komödienzeit. Die idealen Voraussetzungen für einen Film, der so sehr auf offensichtlichen Gegensätzen aufbaut, wie „Arschkalt“. Denn schließlich geht es in ihm um das große Auftauen, die Resozialisierung des zwischenmenschlich vergletscherten Rainer Berg (ein souveräner Herbert Knaup), der den Betrieb des Vaters in den Ruin geführt hat, dessen Frau schon lange davongelaufen ist, und der sein Dasein zwischen Mietwohnung im unpersönlichen Hochhausklotz und Industriegebiet fristet. Dieser Mann hat sich in die innere Isolation zurückgezogen, und seine kuriose Berufswahl ist freilich völlig plausibel: zwischen Tiefkühlkost, Kühlhäusern und Stunden allein im Lastwagen auf Überlandstraßen hat er für sich eine Nische gefunden, in der er ungehemmt seinem Grantlertum frönen darf. Berg hat sich aus der Solidaritätsgemeinschaft verabschiedet. Doch dann die Erschütterung: Da ist die neue Chefin Lieke (Elke Winkens), die Paroli bietet und gar nicht mal so unsympathisch ist, der Beifahrer Moerer (Johannes Allmeyer aus „vincent will meer“), der mit entwaffnender Fröhlichkeit und nerviger Penetranz zugleich die Kommunikation erzwingt, und schließlich Bergs Vater (Peter Franke), der zum runden Geburtstag die Bewohner seines Altenheimes samt Belegschaft in den alten Familienbetrieb einlädt, und dessen Konkurs Berg Junior schon seit Jahren verheimlicht. Der Protagonist gerät also mächtig unter Druck – und je mehr sich die Horizonte auf dem Weg zurück in die Gesellschaft öffnen, desto größer werden die Konflikte.

„Arschkalt“ ist ein Film, der in beinah allen Aspekten völlig unsubtil ist – und gerade deswegen so ärgerlich. Er traut seinem Zuschauer überhaupt nichts zu. Alles wird ausdiskutiert oder in Worte gepackt – nichts wird mit Bildern erzählt. Zudem werden die Metaphern überstrapaziert, die Darsteller sind unterfordert, der Plot ist meilenweit vorhersehbar. Sein norddeutscher Humor ist, um im Horizont des Films zu formulieren: so flach wie das Land selbst. Erkaus Anliegen mag ehrenwert sein: die Darstellung einer inhuman gewordenen Dienstleistungsgesellschaft, vor der das Individuum frustriert in die Isolation hinein und dem Burnout entgegen fährt. Schon in seinem Film „Selbstgespräche“ (2007) hatte der Regisseur sich des Sujets angenommen. Mit „Arschkalt“ allerdings glückt ihm dies nicht: Anstatt eine bittere Komödie vor einem ernsten Hintergrund zu inszenieren, missbraucht der Film sein Thema. Ihm fehlt jene bissige Abgründigkeit, die den Blick hinter die Oberfläche freigibt, um so das eigentliche Drama ins Zentrum zu rücken. In dieser also letztlich flachen Komödie versandet jede Gesellschaftskritik in stereotypen Unterhaltungs(fernseh)filmkonventionen, die – und das darf man ihm dann doch zugute halten – in einigen wenigen, seltenen Momenten funktioniert; Momente, in denen Herbert Knaups Zynismusdarstellung durchschlägt.

Danach ist wieder zwanghafte Konfliktgenerierung angesagt, was sich beispielhaft an der Figur Moerers, des ungewünschten Beifahres, verdeutlichen lässt. Über ihn gibt es kaum ein Geschichte zu erzählen: Für sich alleine genommen wäre die Banalität der Filmfigur untragbar (Zitat: „Die Welt ist voll geilo! Alles ist möglich!“). Doch in „Arschkalt“ ist diese eine der Hauptfiguren, und es wird in beinah jedem Moment deutlich, dass sie lediglich eine rein konfliktauslösende Triggerfunktion erfüllt, und somit vollständig im Dienste Bergs steht. Ohne Berg kein Moerer. Soviel zur Oppositionsschusterei.

Zu allem Überfluss ist der Film durch kapitelartige Einschübe gegliedert, in denen Berg, morgens im Bett liegend und neben ihm der volle Ascher, in Selbstgesprächen seinen Leidenszustand reflektiert. Hier werden allerlei Tiefkühlprodukte zur Allegoriegestaltung bemüht um seelische Zustände zu beschreiben, die natürlich selbstironisch psychologische Tiefe vorgaukeln sollen – und sich jedoch auf einem Katja-Riemann-auf-Prosecco-Niveau einpendeln: Er sei wie ein Fischstäbchen … ein Leben lang in eine eisige Hülle eingepackt, die nur direkt vor dem Tod mal kurz auftaut. Solche Einführung in Tiefkühlkostphilosophie passt wunderbar zum einzig emblematischen Bild des Films, in dem nach einer Nacht der Trunkenheit die Figuren ihre fragile Existenz akzeptieren und bereit sind, auf ein neues Leben zuzugehen: Im Hof des Lieferbetriebs fängt das Kunststoff-Iglu Feuer. Flammen schlagen hoch, es ist mit Gas gefüllt. Nun wird aufgetaut, und das düstere Ende ist plötzlich ferner, als Berg sich das vorzustellen bereit war. Es bleibt also noch etwas Zeit – auch für weitere Sommerkomödien. Bitte warm anziehen.

Hangover 2

(USA 2011, Regie: Todd Phillips)

Abgehangen
von Harald Mühlbeyer

Eine gute Filmkomödie kann man sich mehrmals ansehen, und man muss jedes Mal lachen. An den richtigen Stellen, aus den richtigen Gründen. Obwohl man alle Gags, alle Sprüche, alle Volten …

Eine gute Filmkomödie kann man sich mehrmals ansehen, und man muss jedes Mal lachen. An den richtigen Stellen, aus den richtigen Gründen. Obwohl man alle Gags, alle Sprüche, alle Volten und Wendungen schon kennt, wirken sie dennoch. Ja, man kann umgekehrt sogar sagen: Eine gute Filmkomödie definiert sich dadurch, dass sie auch noch beim zweiten, dritten oder noch öfteren Ansehen so witzig ist wie beim ersten Mal. Das liegt vermutlich daran, dass sie von vornherein mit dem genau richtigen Rhythmus erzählt ist, dass die Pointen stets genau im richtigen Moment kommen: Dazu gehört ein gehöriges Können auf Seiten der Macher, aber auch ein gewisses Maß an glücklichem Zufall (der natürlich durch gewisse Kniffs des Komik-Könners provoziert werden kann, der zum Beispiel wissen muss, an welchen Stellen er ihm in welchem Maße freien Lauf lassen darf). So erklärt sich die Frische des Witzes, die erhalten bleibt, indem dem Film eine gewisse Unbefangenheit eigen ist – ob scheinbar oder echt, ist zweitrangig: Das Moment der Überraschung spielt da mit, die nicht nur den Zuschauer betrifft, sondern auch die Komödienmacher selbst, die sich von der Dynamik ihrer hart erarbeiteten Gags mitreißen lassen müssen. Letztendlich läuft es bei einer guten Komödie auf eine gewisse Freiheit hinaus, eine Freiheit des Denkens, der Ideen, des ausgelassenen Tuns. Eine Freiheit, die Todd Phillips, seine Produzenten und seine Darsteller im zweiten „Hangover“-Teil nicht mehr hatten.

Ein zweites Phänomen der Filmkomödie ist nämlich: Zwar kann man einen filmgewordenen, damit technisch reproduzierbaren Witz immer und immer wieder genießen – wird dieser Witz aber nochmal erzählt, im Grunde gleich, nur etwas anders, dann wirkt er nicht mehr. Deshalb funktionieren Remakes oder Sequels so oft nicht: Weil der Zwang der Wiederholung des ersten Erfolges zu groß, die Freiheit dadurch eingeschränkt ist. „Hangover 2“ ist so ein Fall: Da er sowohl Sequel als auch Remake ist, fehlt die Ungebundenheit, die Ungezwungenheit, die das Überraschende und Absurde erste ermöglicht.

Denn der erste „Hangover“-Film wird komplett noch einmal nachgespielt, in Bangkok diesmal, aber mit demselben Personal und demselben Problem eines kompletten Filmrisses während einer Junggesellenfeier. Was der Film gegenüber dem Original variiert, ist nur oberflächlich, diesmal spielt ein Äffchen und ein schweigender alter Mönch im Rollstuhl mit, statt eines Babys und eines Tigers: alle Elemente, die einem im ersten Teil so überraschend um die Ohren geflogen sind, haben im zweiten ihre Entsprechung. Nur das Feeling fehlt, diese Aura des Überrascht Werdens, die den ersten „Hangover“-Film auszeichnete. Wo vor zwei Jahren die absurdesten Situationen in perfektem Timing ganz ungebändigt die drei Freunde des Wolfsrudels wie auch die Zuschauer heftig durchrüttelten, herrscht jetzt das Schema vor. Der Witz wird noch einmal erzählt, aber nicht wiederholt; da hilft nur, den ersten Teil noch einmal anzuschauen und den zweiten zu vergessen.

Un homme qui crie – Ein Mann, der schreit

(F / B / TD 2010, Regie: Mahamat-Saleh Haroun)

Schwindende Hoffnung, lastendes Schweigen
von Wolfgang Nierlin

Ein spielerischer Wettstreit zwischen Vater und Sohn eröffnet den Film: Wer kann die Luft unter Wasser länger anhalten, der 55-jährige Adam (Youssouf Djaoro), ehemaliger zentralafrikanischer Schwimmmeister, oder der 20-jährige Abdel …

Ein spielerischer Wettstreit zwischen Vater und Sohn eröffnet den Film: Wer kann die Luft unter Wasser länger anhalten, der 55-jährige Adam (Youssouf Djaoro), ehemaliger zentralafrikanischer Schwimmmeister, oder der 20-jährige Abdel (Diouc Koma)? Übermütig und gleichberechtigt, als gäbe es keinen Altersunterschied, ringen die beiden miteinander im Swimmingpool eines Luxushotels der tschadischen Hauptstadt N’Djamena, wo Adam seit dreißig Jahren als Bademeister arbeitet. Noch kann es sich Abdel leisten, den Vater gewinnen zu lassen, doch bald wird aus dem Spiel Ernst, und Vater und Sohn verwandeln sich in erbitterte Rivalen. Als im Zuge der Hotel-Privatisierung Stellen gestrichen und langjährige Mitarbeiter entlassen werden, gerät auch der von allen „Champion“ genannte Adam unter Druck: Er muss seinen Arbeitsplatz seinem bisherigen Gehilfen Abdel überlassen und sich fortan als Schrankenwärter verdingen.

„Der Pool ist mein Leben“, kommentiert Adam fassungslos diese demütigende Degradierung. Regisseur Mahamat-Saleh Haroun reflektiert in seinem preisgekrönten Film „Un homme qui crie“ (Ein Mann, der schreit) diese einschneidende Veränderung als Symptom einer neuen Zeit und als Folge der Globalisierung, die auch vor den Ländern Afrikas nicht Halt macht. Und er übersetzt sie in teils deutlich gezeichnete Kontraste: So muss der „Champion“ seine weiße Kleidung gegen eine graue, zu kurz geratene Uniform eintauschen; sein Stresspegel erhöht sich merklich; und das firmeneigene Motorrad mit Beiwagen wird jetzt von seinem Sohn gelenkt. Resigniert versinkt Adam in einer tiefen Depression, die sich zu einer Identitätskrise auswächst. Aber fast noch schwerer wiegt das lastende Schweigen zwischen Vater und Sohn, das sich wie ein dunkler Schatten über die Familienbeziehungen legt.

Mahamat-Saleh Haroun inszeniert dieses innere Drama in langen, statischen Einstellungen und gewinnt gerade dadurch emotionale Tiefe. Verschärft und zugespitzt werden die psychischen Konflikte, als Abdel von der Armee, die sich im Bürgerkrieg gegen Rebellen befindet, zwangsrekrutiert wird. Adam nimmt wieder seinen alten Platz ein, doch eine Ahnung seiner schuldhaften Verstrickung legt sich immer deutlicher über die Szenen. Die Dynamik einer zunehmend chaotischer werdenden Außenwelt dringt in die Bilder. Opfert der Vater seinen Sohn? Geschickt verschränkt Haroun private und politische Tragödie und spart dabei auch religiöse Fragen nicht aus. Während Adam gegenüber seiner Frau einmal resigniert feststellt: „Vom Himmel ist nichts zu erwarten“, sagt sein weniger skeptischer, doch immer mutloser werdende Freund David, der entlassene Hotelkoch mit dem großen, aber kranken Herzen: „Ich bin gläubig, aber ich verliere langsam die Hoffnung.“

Source Code

(USA / F 2011, Regie: Duncan Jones)

Paranoische Weltflucht
von Lukas Foerster

Ein Blick in den Spiegel, auf den ein anderer antwortet, bringt die Irritation in den Film und den Film in Schwung. Genauer gesagt: In den Spiegel hinein blickt das Filmstargesicht …

Ein Blick in den Spiegel, auf den ein anderer antwortet, bringt die Irritation in den Film und den Film in Schwung. Genauer gesagt: In den Spiegel hinein blickt das Filmstargesicht Jake Gyllenhaals, ihm entgegen kommt das Antlitz des frankokanadischen bit players Frédérick De Grandpré. Worum es dem Film und seiner komplizierten Zeitmanipulationskonstruktion geht, scheint lange Zeit vor allem: Jake Gyllenhaal und damit das Starsystem wieder mit sich selbst identisch zu machen. Tatsächlich endet Duncan Jones’ „Source Code“ allerdings wieder mit demselben Bild: Einer weiteren Reflektion, die dem Blick des Stars wieder den falschen Körper zurück wirft. Nur ist diese Nichtidentität am Ende kein Problem mehr, sondern die Lösung.

Zunächst aber durchläuft der Starkörper Jake Gyllenhaal eine ausführliche Fremderfahrung. Er wird in sie hineingeworfen, hinein in einen ihm (aber nicht der Kamera, die erkennt den Star in ihm) fremden Körper, der sich noch dazu in einem Schnellzug befindet, in einer rasanten, mechanischen, also nicht selbstbestimmten Bewegung. Ihm gegenüber sitzt eine Frau (Michelle Monaghan), die vorsichtige Annäherungsversuche unternimmt und ihn mit dem ihm fremden Namen Sean anspricht, schräg hinten sitzt ein landesweit bekannter Comedystar, eine vorbeieilende Frau verschüttet Kaffee. Acht Minuten später – der Protagonist hat die Verhältnisse noch nicht einmal annähernd ordnen können – zerreißt eine Explosion den Zug und tötet alle Passagiere.

Nach der Explosion kommt Jake Gyllenhaal zu sich selbst zurück, zumindest scheinbar. Er heißt jetzt Colter Stevens, ist ein Veteran des Afghanistankriegs und befindet sich in einem düsteren Stahlgehäuse, das so einfach als “Realität” zu nehmen ihm bald auch nicht mehr möglich sein wird. Auch dort ist sein Gegenüber eine Frau (Vera Farmiga; so blond und eiskalt wie Michelle Monaghan brünett und naiv ist), allerdings trägt sie Uniform, erscheint lediglich auf einem Bildschirm und flirtet nicht. Statt dessen erklärt sie die Spielregeln: Die acht Minuten im Zug sind der “Source Code” des Titels, die Explosion Ergebnis eines realen, aber bereits vollendeten Terroranschlags, der Täter in der Jetztzeit auf freiem Fuß, unterwegs mit einer noch verheerenderen Bombe im Gepäck in Richtung Chicago. Im “Source Code”, einer wahrnehm-, begeh-, aber nur scheinbar veränderbaren Parallelwelt, die der ersten, tatsächlichen Welt vom amerikanischen Militär als interindividuelles mentales Bild abgerungen wurde, soll Colter Stevens nach dem Terroristen fahnden, um Schlimmeres zu verhindern.

Diese Konzeption erinnert an Tony Scotts furiosen Techno-Thriller „Deja-vu“; wie dieser darf der zweite Film des talentierten britischen Regisseurs Duncan Jones („Moon“) zu den interessantesten filmischen Bearbeitungen des Terrordiskurses nach dem 11. September 2001 gelten. Beide Filme entwerfen komplexe Modelle der Simulation und der technisch vermittelten Ersatzhandlung, das Hier und Jetzt der Bedrohung – aber auch des politischen Handelns – tritt in den Hintergrund. Diese paranoische Weltflucht treibt „Source Code“ noch ein ganzes Stück weiter als „Deja-vu“, wo man sich in einer porös gewordenen Realität immerhin noch auf den Körper Denzel Washingtons als ontologischen Anker verlassen konnte. „Source Code“ stellt gerade diese Konstante ganz vehement in Frage. Wenn da kurz vor Schluss doch noch der „echte” Körper der Hauptfigur auftaucht – als ein verstümmelter Leichnam, dessen Gehirnfunktionen lediglich durch Elektroimpulse aufrecht erhalten werden und der gefangen ist zwischen mehreren Ebenen der Simulation – findet Jones ein beeindruckendes Bild für den Ort, von dem aus das Subjekt der Weltgeschichte heutzutage spricht.

Sechsmal durchläuft der Film die acht Minuten des „Source Codes” (und damit sich selbst). Jake Gyllenhaal fungiert im Zug als Doppelagent: Einerseits durchsucht er den Code, um den Terroristen in der ersten Welt dingfest machen zu können (verdächtig sind Menschen, die mit technischen Medien kommunizieren, also im Grunde: alle), andererseits sucht er nach Hinweisen auf seine aktuelle Situation in eben dieser ersten Welt, denn so recht will er der uniformierten Blondine und ihren knappen Anweisungen nicht trauen. Und da ihm sein weibliches Gegenüber im Zug mit jeden acht Minuten mehr ans Herz wächst, taucht schließlich ein drittes, noch ambitionierteres Ziel auf: Der erste, eigentlich bereits geschehene Anschlag soll verhindert und also die ontologische Schranke zwischen den beiden Welten niedergerissen werden.

Dass es wieder einmal die romantische Liebe ist, die dieser letzten und größten Aufgabe als Katalysator dient, mag manch einer dem Film zum Vorwurf machen: Die innovative Erzähloberfläche wäre dann wieder einmal nur Fassade für einen altbekannten, strukturell betrachtet wertkonservativen Plotkern, der auf die heterosexuelle Paarbildung hinaus will. Man kann das allerdings auch anders herum aufziehen: Die handlungs- und individuumzentrierte Grundform des Hollywoodkinos ist eben nicht von vorn herein ein beengendes Korsett, das wieder und wieder künstlerische Kreativität erstickt und die dominanten kulturellen Normen reproduziert, sondern sie erscheint – und zwar selbst in einer Produktion, die sich stilistisch zumindest in der Nähe der Blockbusterästhetik bewegt – als eine erstaunlich elastische Hülle, die mit einem modernistischen, in letzter Konsequenz posthumanistischen Erzählexperiment wie „Source Code“ problemlos kompatibel ist.

Auf Teufel komm raus

(D 2010, Regie: Mareille Klein, Julie Kreuzer)

Risikominimierung in Volkes Hand
von Louis Vazquez

Dass jede Medaille zwei Seiten hat, ist eine Binsenweisheit. Und dass Dokumentarfilme sich bemühen, gegensätzliche Standpunkte nachvollziehbar zu machen, indem sie unterschiedliche Perspektiven auf Konflikte einnehmen, ist auch nichts Neues. …

Dass jede Medaille zwei Seiten hat, ist eine Binsenweisheit. Und dass Dokumentarfilme sich bemühen, gegensätzliche Standpunkte nachvollziehbar zu machen, indem sie unterschiedliche Perspektiven auf Konflikte einnehmen, ist auch nichts Neues. Aber was „Auf Teufel komm raus“ aus konkurrierenden Blickwinkeln über ein Dilemma erzählt, sollte beachtet werden, denn die aufgeworfenen (und leider nicht beantworteten) Fragen zum Umgang mit Sexualstraftätern, die ihre Strafe bereits verbüßt haben und wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden sollen, werden gewiss nicht an Brisanz verlieren, bedenkt man das kürzlich gefällte Urteil über die Verfassungswidrigkeit der Sicherungsverwahrung. Auswege kann der Film unter den gegebenen Bedingungen nicht zeigen. Aber er macht sehr deutlich, wie viel schief läuft. Er erzählt von einer Resozialisierung, die überhaupt nicht stattfindet.

Vor dem Haus von Helmut D. stehen seit fast einem Jahr täglich die Demonstranten. „Schick uns deinen Bruder raus, Feigling!“ rufen sie. Der Bruder, Klaus D., hat zwei langjährige Haftstrafen wegen Vergewaltigung verbüßt und wurde nach seiner Entlassung von Helmut und dessen Familie aufgenommen, denn irgendwo musste er ja hin. Die Einwohner der Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen sind aber alles andere als gewillt, einen möglichen Rückfalltäter in ihrer Mitte zu dulden und fordern, so sagen sie, eine nachträgliche Sicherungsverwahrung. „Raus, raus, raus aus dem Haus!“ rufen sie. Aber was soll dann eigentlich passieren? „Wenn keine Polizei da wäre, wären wir schon längst drinnen.“

Hinter den Jalousien des rund um die Uhr von der Polizei be- und überwachten Hauses steht Helmut D. und fotografiert die Protestierer, um eventuelle Rechtsbrüche zu dokumentieren. Von den grausamen Taten, für die sein Bruder verurteilt wurde, von Vergewaltigungen und Genitalverstümmelungen, die nicht zu fassen sind, redet er voller Abscheu. In so einen Täter könne man sich gar nicht rein versetzen, so einer gehöre, das findet selbst er, „weggesperrt“. Aber sein Bruder könne es auf keinen Fall gewesen sein, zumal er stets seine Unschuld hinsichtlich der zweiten Anklage beteuerte. Helmuts Parteinahme bringt nicht nur die Demonstranten gegen ihn auf, sondern hat weitere schwerwiegende Folgen: Das Jugendamt lässt untersuchen, ob Helmuts Sohn Kevin unter diesen Umständen weiter mit der Familie leben kann. Die Polizei habe einmal bereits versucht, den Jungen mitzunehmen, ohne rechtliche Handhabe, erzählt Helmut D.

Karl D. selbst äußert sich verharmlosend zu seinen Straftaten und macht Äußerungen, die kaum zu ertragen sind, etwa wenn er betont, eine von ihm vergewaltigte Frau habe keinen Psychologen gebraucht. Nicht minder erschreckend ist allerdings, was sich in den Köpfen einiger der ordentlich angemeldeten Demonstranten abzuspielen scheint: „Wenn ich den einfach wegsperre, dann kostet der 11 € am Tag, wenn wir uns irren als Staat. Und jetzt kostet der ’ne Menge mehr.“ Wenn Unrechtsprechung billiger ist als Rechtsprechung, scheint die Versuchung groß.

Doch die Demonstranten lassen sich – ein bisschen Hoffnung tut durchaus gut – nicht alle über einen Kamm scheren. Eine Gruppe von Frauen will das Gespräch mit Helmut D. suchen, zunächst zwar nur, um zu ergründen, wie er den Bruder bei sich aufnehmen konnte, doch immerhin gibt es den Versuch einer Kontaktaufnahme als Alternative zu den vorherrschenden Gerüchten und Spekulationen. Die Initiative spaltet die Demonstranten und sorgt für Anfeindungen. Erneut zeigt sich, wie die Linie gezogen wird: Wer den Straftäter nicht eindeutig „weg“ haben will – wohin nochmal? –, wird zum Feind und bekommt nächtliche Drohanrufe oder ebenfalls das Sozialamt auf den Hals gehetzt wegen der Kinder. Da wirkt es durchaus ein wenig inkonsequent, wenn die Demonstranten mit windelweichen Worten den Schulterschluss mit Neonazis verweigern, die sich als Unterstützer anbieten.

„Auf Teufel komm raus“ hat einige Mängel, mit denen man sich aber arrangieren sollte. Insbesondere leiden die Gespräche der kleinen Gruppe von Demonstrantinnen mit Klaus und Helmut D. unter der Anwesenheit der Kamera. So manches tollkühne Wort wäre in wirklich privatem Rahmen vielleicht nicht gefallen, denn bei allen Beteiligten ist ein gerüttelt Maß an Selbstdarstellung im Spiel. Zwischen den Frauen entwickelt sich einmal eine regelrechte Mutprobe, sich den Demonstranten vorm Haus zu zeigen, im Wissen, dass ihr Gespräch mit dem Gegner als Verrat angesehen wird. Immerhin aber schließt der Film kritische Äußerungen über die Art und Weise dieser Zusammentreffen mit ein.

In manchen Szenen wäre mehr Beharrlichkeit der sich sehr zurücknehmenden Filmemacherinnen wünschenswert gewesen, damit verschiedene Vorwürfen und Spekulationen nicht unbelegt stehen bleiben. Trotzdem ist „Auf Teufel komm raus“ unbedingt sehenswert. Weil der Film zeigt, wie schwierig und weit der Weg zu einem angemessenen Umgang mit entlassenen Sexualstraftätern noch ist. Und es stellt sich die Frage, ob es überhaupt vorangeht, wenn auch 80 Jahre nach Fritz Langs „M“ nach Mord und Totschlag gerufen wird, verklausuliert oder ganz offen.

Auf brennender Erde

(USA / AR 2008, Regie: Guillermo Arriaga)

Geduldspiel
von Louis Vazquez

Puzzlefreunden geht es in der Regel ums Puzzeln selbst, nicht um das fertige Bild. Man mag sich als Außenstehender manchmal fragen, warum so ein gelöstes Puzzle dann unbedingt gerahmt an …

Puzzlefreunden geht es in der Regel ums Puzzeln selbst, nicht um das fertige Bild. Man mag sich als Außenstehender manchmal fragen, warum so ein gelöstes Puzzle dann unbedingt gerahmt an der Wand hängen muss, wenn doch das Motiv nur mäßig beeindruckt. Aber dieses Unverständnis verkennt die Freude am Rätseln und ihre Auswirkungen.

Ein vergleichbares Problem kann man mit Guillermo Arriagas Film „Auf brennender Erde“ haben, der jetzt mit einiger Verspätung in die deutschen Kinos kommt. Bereits seine Drehbücher für Alejandro Gonzáles Iñárritu („Amores Perros“, „21 Grams“ und „Babel“) wiesen den Autoren als großen Freund der Verrätselung aus. Doch während die verschachtelten Erzählebenen jenen Filmen gut zu Gesicht standen, finden viele Rezensenten Arriagas Regiedebüt zu konstruiert, denn eigentlich erzähle es doch eine schlichte, nicht sonderlich originelle und gar nicht mal so schlüssige Geschichte. Das ist nicht falsch. Aber wenn eine Geschichte anders erzählt wird, ist sie immer auch eine andere Geschichte. Und obwohl das Wechseln zwischen den verschiedenen Erzählsträngen und die Verschleierung ihres Verhältnisses zueinander Geheimnisvolleres suggerieren als die Auflösung letztlich bietet, so entwickelt sich doch ein nicht geringer Reiz aus der Anstrengung, die Puzzleteile zu sortieren. Außerdem passt die komplexe Konstruktion gar nicht schlecht zum Erzählten, denn auch die eine oder andere Figur hat ihre Probleme mit dem großen Ganzen – wenngleich „Auf brennender Erde“ nicht als „Mind Movie“ inszeniert ist.

In einem Wohnwagen sind zwei Menschen verbrannt, die eine heimliche Affäre miteinander hatten. Zurück bleiben ihre geschockten Familien in gegenseitiger Abneigung – hier amerikanische Arbeiterklasse, da mexikanische Einwanderer –, bis sich die Kinder plötzlich gegen den Willen des jeweils betrogenen Elternteils füreinander interessieren. Im Rückblick erzählt der Film auch, wie Tochter Mariana (Jennifer Lawrence) der Affäre ihrer Mutter (Kim Basinger) langsam auf die Schliche kommt und zeigt Schlaglichter eines unerfüllten Ehelebens. Dann ist da noch Sylvia (Charlize Theron), deren Rolle in der Geschichte anfangs unklar ist, und die zunächst einen äußerst toughen Eindruck macht: Scheinbar stressresistent leitet sie ein anspruchsvolles Restaurant, und der Koch, mit dem sie eben noch im Bett lag, wird bei der Arbeit kaum mehr eines Blickes gewürdigt. Als Sylvia dann aber auf einer Klippe sitzt, aufs Meer blickt und sich plötzlich mit einem Stein die Innenseite der Oberschenkel aufschlitzt, ist das ein sehr schockierender Moment. Jetzt traut man ihr auch zu, im nächsten Augenblick zu springen, und ahnt, dass unter der Oberfläche sehr viel kaputt ist. Aber warum? Und wer ist der Mann, der sie und ihre sexuellen Eskapaden heimlich beobachtet?

„Auf brennender Erde“ ist ein in seiner abschließenden Versöhnlichkeit fast märchenhafter Film über Schuld, über (natürlich) Liebe und die Narben, die das Leben aus verschiedenen Gründen hinterlässt. Und es ist sein großes Glück, dass seine Schauspielerinnen Charlize Theron, Kim Basinger und Jennifer Lawrence auch recht oberflächliche oder unstimmige Figuren glaubwürdig mit Leben füllen können und jeweils ein paar herausragende Szenen zu spielen haben. Manchmal lassen sie sogar über wirklich eklatante Schwächen des Drehbuchs hinweg sehen, wenn etwa eine Figur, mit ihren Lebenslügen konfrontiert, allen ernstes die Dialogzeile „I can’t run away anymore“ hingeschrieben bekommt. „Auf brennender Erde“ bietet reichlich Gelegenheit, sich über nur halb Gelungenes oder nicht zu Ende Gedachtes zu ärgern. Wenn es aber gelingt, hier und da ein Auge bzw. beide Ohren zuzudrücken, dann gibt es nichts zu bereuen.

Pippi Langstrumpf TV-Serie Teil 4 und 5, Folgen 14-17 und 18-21

(SE / D 1969, Regie: Olle Hellbom)

Mach' mal Pippi!
von Andreas Thomas

Eltern sind bei Astrid Lindgren eher schmückendes Beiwerk und bei Pippi Langstrumpf, ihrem berühmtesten literarischen Kind, sind sie gar störend, nervtötend oder lächerlich. Aber gerade hierin liegt natürlich Pippis Mission …

Eltern sind bei Astrid Lindgren eher schmückendes Beiwerk und bei Pippi Langstrumpf, ihrem berühmtesten literarischen Kind, sind sie gar störend, nervtötend oder lächerlich. Aber gerade hierin liegt natürlich Pippis Mission und pädagogischer Auftrag. Sie ist das kathartische Element, das dem grauen Kinderalltag fehlt, das ohne die Lindgren fehlen würde; mit Pippi erleben die durchregulierten und gelangweilten kleinen Geschöpfe, was sie eigentlich immer mal erleben wollten, jedoch nie zu machen gewagt hätten. Pippi trägt mal einen Bart aus Nudeln, mal geht sie mit ihren überdimensionierten Schuhen ins Bett, mal benutzt sie dasselbe so lange als Trampolin, bis es zusammenkracht; und ständig fliegt sie vermittelst möglicher und unmöglicher Hilfsmittel, wie z.B. einem Fahrrad ohne Räder durch die Lüfte. Pippi verweigert sich allen möglichen Normen und Regeln, und sie macht nicht mal vor den Naturgesetzen halt. Pippi gilt heute als Urfeministin und Autonome, und wenn es wahr sein sollte, dass Lindgren mit Pippi Langstrumpf die erste Punkerin in der Geschichte geschaffen hat, dann gab es Punk schon während des Zweiten Weltkrieges, nämlich 1941, als Lindgren ihrer kranken Tochter die ersten Pippi-Geschichten erzählte, deren gedruckte Erstveröffentlichung im Jahr 1945 erfolgte. Heute ist Pippi Langstrumpf eine Kinder-Institution und ein Traumberuf: beim Kindergartenfasching tauchen ungefähr so viele Pippi Langstrumpfs auf wie Cowboys oder Hexen.

Sich des grauen Kinderalltags entheben können Kinder jedoch nicht nur mithilfe der weltberühmten drei gedruckten Pippi-Hauptwerke, sondern auch durch deren filmisches Äquivalent, der schwedisch-deutsch koproduzierten Fernsehserie mit Inger Nilsson in der Titelrolle. Wer, wenn er den Namen Pippi Langstrumpf hört, sieht nicht automatisch die rotbezopfte Inger Nilsson vor sich, dieses mitunter geradezu aufsässig unorthodoxe und rotzig grinsende Mädchen?

Und selbiges hält nicht inne, seinesgleichen zu unterhalten und zu entspannen. Auch vierzig Jahre nach dem Entstehen der Pippi-Langstrumpf-TV-Serie (deren Master of Ceremonies seines Zeichens ein gewisser Olle Hellbom war, ein dezidierter Lindgren-Freund und -Regisseur, leider viel zu früh an Magenkrebs verstorben) erkannte die DVD-Firma „Universum Kids“ (nicht zu verwechseln mit „Universal Kids“) die kommerziellen Gewinnchancen einer kompletten DVD-Verewigung des TV-Langstrumpf-Vermächtnisses, welches – trotz seiner nur zwei Jahre Entstehungszeitraums von 1968 bis 1970 – schon lange Mythos war und weit über seine Zeit hinaus wies.

Kurioserweise gab und gibt es in Schweden von dieser Fernsehserie nur 13, in Deutschland aber 21 Teile, und der Grund dafür liegt in den jetzt auf DVD aufgelegten zwei mal 4 Folgen „Mit Pippi Langstrumpf auf der Walze“ und „Pippi und die Seeräuber“, die kleinkindgerecht portionierten Fernsehfassungen der vorab schon in den Kinos gelaufenen Spielfilme „Pippi außer Rand und Band“ und „Pippi in Taka-Tuka-Land“.

Was hier also rezensiert wird, ist das gleiche Grundmaterial wie in den genannten Spielfilmen, nur neu synchronisiert und irreführenderweise mit abweichendem Titel unterlegt und mehr oder weniger sinnvoll nachträglich in künstliche Episoden zerlegt. Falls man die beiden Kinofilme schon besitzt, ist die Anschaffung der TV-Version sicherlich eher überflüssig und falls man sie nicht besitzt, ließe sich darüber nachdenken, ob die episodale Verabreichung für kleine Kinder (Empfehlung: ab 5 Jahren) nicht die bekömmlichere ist als die komplett anderthalb Stunden Spielfilmlänge; runder und sehtauglicher aber sind beide Filme natürlich en bloc, davon abgesehen, dass der weitaus gelungenere „Urfilm“ davon „Pippi außer Rand und Band“ (in der TV-Version also die Folgen 14-17 „Mit Pippi Langstrumpf auf der Walze“)ist.

Die Handlung des Films/der Serienfolgen soll, so kann man nachlesen, sich stärker an Motive des Kinderbuchs halten als das bei „Pippi in Taka-Tuka“ der Fall ist, und das meint man auch zu spüren: Die Texte sind durchweg witzig und die Erlebnisse von Tommy und Annika, die zusammen mit Pippi von Zuhause ausreißen DÜRFEN, sind durchweg spannend, ohne dabei übermäßige Angst zu erzeugen, was bei den Piratenfolgen eher programmiert ist. Highlights der Ausreißer-Geschichte sind Pippis Wasserfall-Fahrt in einem Fass und „Konrads Alleskleber“, mit dem man auch an der Decke spazieren gehen kann. „Pippi und die Seeräuber“ (TV-Folgen 18-21) fällt dagegen ab ins Mediokre, der exotische Background kann nicht über eine schleppende, z.T. chaotische, z.T. ungereimte Dramaturgie hinwegtäuschen. Kurz zur Handlung: Wieder einmal muss Pippi das Kindermädchen von Thomas und Annika spielen, weil deren Eltern ein paar Wochen verreist (!) sind. Da bekommt Pippi einen Hilferuf in Form einer Flaschenpost ihres Vaters Ephraim Langstrumpf, der sich in den Händen von Piraten befindet. Auf ihrer Reise begegnen sie übrigens dem im Film einigermaßen unbedeutenden Piraten Wolfgang Völz, der der See treu blieb und bekanntermaßen später zur Stimme Käptn Blaubärs avancierte, dem echten großen Weltumsegler Thor Heyerdahl und einer tonkonservierten Fernsehamsel, deren unverkennbarer Gesang in einer Endlosschleife während der kompletten siebziger Jahre sommerliche Außenszenen deutscher Fernsehunterhaltung untermalte: Besondere Vorliebe: „Der Kommissar“ oder „Derrick“. Dass sie es, wie hier mit „Pippi in Taka-Tuka-Land“ auch ins Kino schaffte, war mir bisher neu.

Pippis deutsche Stimme in allen 21 Folgen wurde von Eva Mattes geliefert, sie wiederum spielte später unter anderem in Klassikern des Neuen Deutschen Films, so bei Werner Herzog („Stroszek“), Rainer Werner Fassbinder („Die bitteren Tränen der Petra von Kant“) und 2002 ist sie zur Tatort-Kommissarin Klara Blum geworden. Rise and Fall kann man dazu nur sagen, aber das – wie so vieles andere mehr – gehört nicht unbedingt an diesen Ort …

Utopia Ltd.

(D 2011, Regie: Sandra Trostel)

„But what can a poor boy do?“
von Ulrich Kriest

Schön, dass es sie gibt, diese Band! Klar, man kann Anton Spielmanns Attitüden etwas enervierend finden, dieses selbstbewusste Drauflosrabulieren ohne Punkt und Komma. Diesen Rock’n’Roll-Habitus, wenn er seine Bandkollegen an …

Schön, dass es sie gibt, diese Band! Klar, man kann Anton Spielmanns Attitüden etwas enervierend finden, dieses selbstbewusste Drauflosrabulieren ohne Punkt und Komma. Diesen Rock’n’Roll-Habitus, wenn er seine Bandkollegen an der S-Bahn abholt – und auftritt wie der junge Stiv Bators. Okay, man kann auch sagen, dass die Musik von 1000 Robota ziemlich retro klingt, nach Palais Schaumburg und Fehlfarben, nach Holger Hiller. Aber immerhin klingt sie nicht nach Tomte oder Madsen und auch nicht befindlichkeitsfixiert wie Kettcar – und das ist doch schon mal ein Anfang, auf den man bauen kann.

Überhaupt: Man erführe auch gerne etwas mehr über die drei Jungs, die da an der Hamburger Peripherie offenbar noch mal das old school-Ding durchziehen. Als wäre es wieder 1964 oder 1975 oder 1980. Man geht gemeinsam zur Schule, gründet eine Band, wagt die Ochsentour, hat Glück und wird berühmt. Wie sie wurden, was und wie sie sind, erzählt diese filmische Langzeitbeobachtung von Sandra Trostel leider nicht. Okay, man sieht die Eigenheime im Hamburger Speckgürtel, in denen Anton, Jonas und Sebastian von 1000 Robota wahrscheinlich aufgewachsen sind. Man sieht ihre Schule, ein Gymnasium. Abitur steht an. Die Eltern bleiben im Hintergrund, verlangen teilweise wohl eine aufgeklärte Gratwanderung zwischen Vernunft und Abitur, legen ihren Kindern (die übrigens auch nur Teilzeit-Rebellen sind!) aber keine größeren Steine in den Weg. Aber woher ihre Wut in ihrer Musik kommt, erfährt man nicht. Die Haltung ist einfach da. Und diese Haltung ist erfrischend widerspenstig. Mal wird lustig gegen Thees Uhlmann gelästert, mal wird ein Generationsbruch mit Tocotronic exekutiert.

Bei 1000 Robota fängt alles sehr früh und fast naturwüchsig an: man hat einen klitzekleinen Indie-Hit mit dem Titel „Hamburg brennt“, will den aber eigentlich nicht mehr live spielen und auch nicht auf dem Debütalbum drauf haben. Weil man sich schließlich lyrisch weiter entwickelt habe. Mittlerweile gelten 1000 Robota als Underground-Hit, die Pop-Magazine stehen Schlange, die renommierte Indie-Plattenfirma „Tapete Records“ klopft an. Ein Hype beginnt! Aber früh schon fangen die Probleme an: Spielen 1000 Robota Punk? Und falls ja, was mag dies um 2010 noch bedeuten? Ist Punk nicht längst ein Genre und keine Haltung mehr? Klingen 1000 Robota nicht wie Post-Punk anno 1980/81? Spielen sie den Soundtrack ihrer Eltern? Anton Spielmann, Gitarrist, Sänger und Wortführer des Trios 1000 Robota, ist sich jedenfalls sicher, dass er nicht nur Andere erinnern will, sondern selbst etwas entstehen lassen will.

Sandra Trostel hat die drei Jungs ausgesprochen lange begleitet, zeigt die Band beim Proben und im Studio, bei Konzerten, Festivalauftritten und auf dem Weg zum Abitur. 1000 Robota legen einen ganz erstaunlichen Enthusiasmus an den Tag, werden allerdings auch mit der Tatsache konfrontiert, dass alles, was man an bösen Geschichten vom Musikbusiness zu kennen glaubt, tatsächlich zu stimmen scheint. Die Probleme im Aufnahmestudio lassen sich noch bewältigen, aber die Plattenfirma „Tapete Records“ übt sich auf das Wohlmeinendste in repressiver Toleranz. Man muss dazu wissen, dass „Tapete“ ein durchaus gut beleumdetes Indie-Mainstream-Label mit Musikern in der Geschäftsführung ist. Anton Spielmann nutzt den Kontakt, um hier nach der Schule gleich eine Lehre als Kaufmann für audiovisuelle Medien zu beginnen. „Tapete“ bildet aus, aber natürlich total lässig, augenzwinkernd und ironisch. Die Bilder, die „Utopia Ltd.“ im „Tapete“-Büro einfängt, sind bestechend klar. Alle sitzen im selben Boot, nur, wenn jemand mal ausschert, wird die Keule des Selbstmitleids rausgeholt: »Hey, was fällt dir ein, wir beuten uns hier alle selbst aus!«

Was folgt, ist ein Glücksfall von Musikdokumentation, die ideologisch-strukturelle Krise wird geradezu mit dem Skalpell konturiert: Einerseits werden 1000 Robota seitens der Musikpresse so gehypt, dass die Band sogar Auftritte in England bekommt, andererseits ist die ausgedehnte Tour so schlecht geplant, dass man sogar auf Dorffesten oder als Vorgruppe von Fettes Brot »verheizt« wird. Und zwischen dem Hype der Musikpresse und dem Interesse des Publikums klafft eine schmerzhafte Wunde. Einmal sieht man Spielmann verzweifelt vor der Tür um Zuschauer werben, nachdem er aus eigener Tasche Plätze auf der Gästeliste gekauft hat. Gleichzeitig erkennt er bei der Arbeit in der Plattenfirma, dass die Knüppel, die seiner Band zwischen die Beine geworfen werden, durchaus üblich sind und von einer prinzipiellen Missachtung des Künstlers und seiner Autonomie zeugen. Als die Band sich schließlich entscheidet, die Einladung zu Stefan Raabs Bundesvision Song Contest auszuschlagen, ist ein Grad an Eigensinn erreicht, der der Plattenfirma zu weit geht. Man trennt sich. Wahrscheinlich in gegenseitigem Einvernehmen. Eigentlich ist es erstaunlich, dass „Tapete“ nicht gegen „Utopia Ltd.“ vorgegangen ist, denn der Ruf der Firma ist nach diesem Eklat ziemlich angekratzt. Am Ende haben 1000 Robota ihre Unabhängigkeit auf ganz erstaunliche Weise bewahrt, dabei allerdings ihre jugendlich-aufmüpfige Unbeschwertheit verloren, sind von „Tapete“ zu „Buback“ gewechselt, wo es sich der erfolgreiche Bildende Künstler und Labelchef Daniel Richter offenbar leisten mag, diese ungestüme Band in ihrem Anders-Sein weiterhin zu fördern. Anton Spielmann hat seine Lehrstelle bei „Tapete“ hingeschmissen: sein letzter Besuch am alten Arbeitsplatz dokumentiert Verhaltenslehren der Kälte.

All dies registriert „Utopia Ltd.“ recht nüchtern und ohne daraus einen Heldengesang der Resistenz zu stricken. Für ein paar Momente des Glücks laufen Anton, Jonas und Sebastian mit Wucht gegen die Wand, gerne auch ein paar Mal hintereinander. So unglamourös (und ganz ohne Mädchen!) stellt sich der Alltag im Pop-Biz 2011 dar, dass man sich wundert, warum sich jugendlicher Eigensinn mit revolutionärer Ungeduld noch immer mit Verve auf die Pop-Musik stürzt. Schließlich liegt ein Abgrund zwischen Mythos und Realität. „Utopia Ltd.“ gibt auf solche Fragen keine Antwort, wendet sich aber auch nicht erwachsen-desillusioniert oder gar zynisch ab. Wie gesagt: schön, dass es 1000 Robota gibt. Und diesen Film über die Anfänge einer Pop-Karriere, die fast schon wieder beendet war.

Benda Bilili!

(CG / F 2010, Regie: Renaud Barret, Florent de La Tullaye)

Musik als Überlebensmittel
von Wolfgang Nierlin

„Ich erfinde nichts, ich singe über das Leben“, sagt ein Musiker der kongolesischen Band Staff Benda Bilili. Übersetzt bedeutet dieser Name „Jenseits des Scheins“; und dahinter steht ein Kollektiv von …

„Ich erfinde nichts, ich singe über das Leben“, sagt ein Musiker der kongolesischen Band Staff Benda Bilili. Übersetzt bedeutet dieser Name „Jenseits des Scheins“; und dahinter steht ein Kollektiv von behinderten und nicht behinderten Musikern, die auf den Straßen der afrikanischen Megacity Kinshasa zu Hause sind, wo sie zwischen Dreck und Armut geduldig ein kümmerliches Dasein fristen. Doch mit überschäumender Musikalität, kreativer Energie und einem unerschütterlichen Lebenswillen trotzen sie dem Wahnsinn der Lebensverhältnisse, die den Schwachen ausstoßen und den Stärkeren begünstigen. „Einen Tag habe ich zu essen, den anderen nicht“, heißt es lapidar und nüchtern in ihren Liedtexten; oder auch: „Auf Karton kann man träumen.“ Die Musik als Spiegel einer rauen Lebenswirklichkeit erweist sich jedoch für sie zugleich als Überlebensmittel.

Als die beiden französischen Filmemacher Renaud Barret und Florent de La Tullaye im Sommer 2005 auf die seltsame Band mit ihren ungewöhnlichen Rollstühlen und selbstgebauten Instrumenten aufmerksam werden, fassen sie bald darauf den Entschluss, ihnen zur Produktion eines Tonträgers und größerer Bekanntheit zu verhelfen. Hinter ihrem Dokumentarfilm „Benda Bilili!“, der ein Porträt „über marginalisierte Ausgestoßene“ zeichnen will, „die sich dem System widersetzen“, steht also eine Art Tauschhandel. Diese Nähe liefert zwar eine große Unmittelbarkeit und teils faszinierend authentische Bilder, der mangelnde Abstand in der Verschränkung der beiden Produktionsgeschichten produziert aber auch eine Vielzahl täuschender Inszenierungen. Man merkt, dass die Anwesenheit der Kamera für die Porträtierten die Hoffnung und Chance auf ein anderes Leben verkörpert.

Außerdem geht es Barret und de La Tullaye weder um eine Darstellung politischer Hintergründe noch um eine vertiefende Analyse der sozialen Verhältnisse. In Streiflichtern und Impressionen schreibt ihr Film vielmehr den Mythos eines heldenhaften Überlebenskampfes fort. Dabei ist der Erfolg, der sich nach der Produktion des Albums „Très très fort“ und einer Europatournee im Jahr 2009 einstellt, den sympathischen, auf den unerwarteten Rummel selbstironisch reagierenden Musikern durchaus zu gönnen. So geht zumindest ein Traum in Erfüllung, den viele andere leider hoffnungslos weiterträumen müssen.

Gigantisch

(USA 2010, Regie: Matt Aselton)

Von Laborratten und Menschen ...
von Michael Schleeh

Der in seiner Adoleszenz versumpfende Einzelgänger und Bettenverkäufer Brian (Paul Dano) hat einen großen Plan, den er schon seit seiner Kindheit hegt: er möchte ein chinesisches Kind adoptieren. Nun ist …

Der in seiner Adoleszenz versumpfende Einzelgänger und Bettenverkäufer Brian (Paul Dano) hat einen großen Plan, den er schon seit seiner Kindheit hegt: er möchte ein chinesisches Kind adoptieren. Nun ist es endlich so weit! Doch da lernt er die charmant-flippige Happy (Zooey Deschanel) kennen, die sich nicht nur mit Schwung in eines seiner Ausstellungsstücke wirft, sondern die sich auch mit ihrer ungehemmt frechen Art seines Herzens zu bemächtigen weiß. Und als sich sogar so etwas wie eine schüchterne Liebe abzuzeichnen beginnt, da scheint sich auch die Sehnsucht nach einem neuen, spannenden Lebensabschnitt zu erfüllen! Doch als er ihr die Sache mit dem Kind erzählt, ergreift sie die Flucht und meldet sich – vor den Kopf gestoßen – kurzerhand bei einer Elitekochschule im fernen Frankreich an …

So manche arthousige Independentkomödie macht sich ihre Sache etwas zu einfach, wenn sie sich allzu unverfroren aus dem Baukasten des Genrekonsenses bedient: so auch „Gigantisch“, in dem alles so ganz und gar nicht gigantisch sein will. Einmal mehr bekommt man die Story vom Nerd, bzw. vom Loner oder vom zumindest komischen Typen geboten, der von einer Schönheit (die auch eine ziemlich komische Type ist) gleich einem fish-out-of-water an der Angel der Zuneigung aus dem sozialen Abseits in die eine menschliche Existenzform bugsiert wird, die es lohnt (als love story selbstredend) verfilmt zu werden: die Zweierbeziehung. Hinter der natürlich im Dunst der Irrungen und Wirrungen die gesellschaftlich einzig selig machende, vertraglich vollabgesicherte Existenzform hervorlugt: die Ehe. Um dorthin zu gelangen, gilt es natürlich etliche, in diesen Film leider künstlich in den Plot hinein konstruierte Hürden zu überwinden, die mindestens ebenso kurios sein müssen wie dessen Charaktere.

Das befreiend Zwanglose (also eigentlich Erratische) an „Gigantisch“ ist, dass diese Hürden vollkommen willkürlich anmuten und in keinerlei Zusammenhang stehen. Einen plausibel sich entfaltenden Plot sucht man vergebens. So muss man schon ein gehöriges Maß an interpretatorischer Kaltschnäuzigkeit aufbieten, um etwa dem nächtlich prügelnden Unbekannten einen Sinn jenseits seiner offensichtlichen „Schrägheit“ zukommen zu lassen; etwa als Alter Ego des Protagonisten, der sich metaphorisch selbst im Wege steht und über die eigenen Beine stolpert. Oder auch: der furchtbar „schräge“ Chemikerfreund, der seine Verhaltensforschung an Laborratten testet (die natürlich stets in Allegorie zum Protagonisten zu sehen sind). Und wem diese Anspielung nicht ins Auge springen sollte, dem wird die Parallele überflüssigerweise noch in einem kurzen klärenden Dialog, den Zuschauer bevormundend, klar gemacht. Auch der Vater der Braut, gespielt von John Goodman in all seiner massigen Rumpeligkeit, ist neben seiner großen Klappe und in seiner polternden feldmarschallartigen Rücksichtslosigkeit (ein Status, der ihm sein Vermögen ermöglicht) vor allem und zuerst einmal eine „schräge Type“. Dass der Patriarch zugleich, jenseits seiner harten Hülle, ein liebender Vater ist, versteht sich. Von all dem abgesehen ist natürlich schon die Prämisse des Films, ein Kind einfach so aus China zu adoptieren, furchtbar „schräg“ (auch wenn es dafür gar keinen filminhärenten Grund gibt und sich auch aus der Figurenzeichnung keine Notwendigkeit ergibt. Zudem könnte es auch eines aus Afrika sein oder aus Südamerika – warum nicht aus Haiti? Oder warum sich nicht einfach einen Hund zulegen und ein kleines Nilpferd?). Der Bruder, als Gegenentwurf zum Protagonisten ein verdorbener Karrierist, der sich mit seinen Geschäftskollegen im Massagesalon kollektiv unter großen roten Hauben von langbeinigen Schönheiten masturbieren lässt (eine total „schräge“ Idee), kommt auf den Gedanken, man könne ja auch die Dienste illegaler Menschenhändler bemühen, um an so ein Kind zu kommen. Er kenne da so Leute …

So also schleicht sich eine total subtile Gesellschaftskritik hinein in diesen Film, der von so ziemlich allem befreit ist, was interessant wäre. Hinzu kommt leider noch eine allenfalls mittelprächtige schauspielerische Leistung aller Beteiligten, die merkwürdig unengagiert ihre Stereotypen herunterspielen: Dano wieder mal betreten schüchtern und zurückhaltend, Deschanel augenaufreißend, Goodman spielt sowieso eine Karikatur. Dazu ein wenig Großstadtmelancholie und fertig ist ein Film, der schon irgendwem gefallen wird. Allerdings nicht in der deutschen Synchronisation, die merkwürdig hölzern und künstlich geraten ist. Herzlos wirkt das alles, geflickschustert und wenig zwingend. Der Schluss allerdings, der ist ein offener. Was generell ein Pluspunkt ist, wirkt in „Gigantisch“ jedoch so, als wäre dem Drehbuch einfach nichts „Schräges“ mehr eingefallen, das man parataktisch hätte dranhängen können. Nun, dann machen wir hier eben Schluss.

Dogtooth

(GR 2009, Regie: Giorgos Lanthimos)

Diktatur zum Selbermachen
von Oliver Nöding

Man stelle sich vor, Lampen hießen „Muschis“ und weibliche Geschlechtsteile „Tastatur“, harmlose Katzen stellten eine tödliche Bedrohung für den Menschen dar, der seine Volljährigkeit erst mit dem Ausfallen eines Eckzahns …

Man stelle sich vor, Lampen hießen „Muschis“ und weibliche Geschlechtsteile „Tastatur“, harmlose Katzen stellten eine tödliche Bedrohung für den Menschen dar, der seine Volljährigkeit erst mit dem Ausfallen eines Eckzahns (dem titelgebenden „Dogtooth“) erreicht, sexuelle Gefälligkeiten könnte man im Tausch gegen nutzlose Pfennigartikel erwerben und eine Frau ganz allein kraft ihres Willens schwanger werden, der auch darüber entscheidet, ob sie einen Jungen, ein Mädchen oder gar einen Hund gebiert. Willkommen in der absurden und im Wortsinne verlogenen Welt von Giorgos Lanthimos‘ „Dogtooth“, deren Stabilität durch die Sichtung von Filmklassikern wie „Der weiße Hai“ oder „Rocky“ ganz folgerichtig ernsthaft gefährdet wird.

In einem luxuriösen Haus mit großem Garten und Swimming Pool lebt eine nicht näher benannte fünfköpfige Familie, bestehend aus Vater, Mutter und drei erwachsenen Kindern, einem Sohn und zwei Töchtern. Ein hoher Bretterwall umgibt das Grundstück, das die Kinder noch nie verlassen haben, weil die Eltern ein strenges Regiment über sie führen: Nicht nur wird jede Information über die Außenwelt von ihnen ferngehalten, sie werden außerdem mit gezielten Fehlinformationen gefüttert, die keinen anderen Zweck haben, als sie für immer an das Elternhaus zu binden. Mit zunehmendem Alter wird die Aufgabe für die Eltern schwieriger: Für den Sohn besorgt der Vater – der einzige, der auch ein Leben außerhalb des Eigenheims führt – eine Sexualpartnerin, die bald auch das Interesse der Schwestern weckt. Die Neugier für die Welt hinter dem Zaun wächst und so sind die Eltern gezwungen, immer neue Bedrohungen herbeizufabulieren, um die Kinder davon abzuhalten, sie zu verlassen …

Giorgos Lanthimos‘ Oscar-nominierte Faschismus-Allegorie besticht durch ihre blendende Klarheit und Schärfe, die sich zuerst in seinen von Licht durchfluteten Bildern und dann in seiner Narration niederschlägt. In buchstäblich porentief reinen Weiß- und Pastelltönen zeichnet Lanthimos eine kleine abgeschottete Welt, aus der jeder schädliche Einfluss, jeder Hauch von Gefahr, jeder auch nur „unreine“ Gedanke, ja sogar die Möglichkeit des Zufalls per Dekret getilgt wurden und die sich folglich als überspitztes Abbild einer auf Sauberkeit und Sicherheit bedachten Gegenwart verstehen lässt. Diese Welt erweist sich jedoch kaum überraschend nicht als das Paradies auf Erden, als das Shangri-La aller Kulturpessimisten und Kostverächter, sondern als lebensfeindlicher, aseptischer Raum, der zudem zum Zusammenbruch verdammt ist, weil er den Menschen und seine Bedürfnisse konsequent unterschätzt. Dass die Abkopplung von der Außenwelt mitnichten eine Befreiung mit sich bringt, zeigt sich schon in der kongenialen Kameraführung von Thimios Bakatakis, der „Dogtooth“ bis auf zwei, drei kurze Ausnahmen komplett in statischen Einstellungen auflöst, in denen auch schon einmal Köpfe ab- und Gesichter angeschnitten werden oder sprechende Personen gar nicht im Bild zu sehen sind, die die Anwesenheit einer versteckten oder gar einer Überwachungskamera suggerieren und so keinen Zweifel daran lassen, dass das Regime der Eltern nichts anderes als ein totalitärer Überwachungsstaat ist.

Dass Lanthimos jeglichen Kontext ausblendet, niemals die Frage nach den Beweggründen der Eltern stellt oder deren System in einem näher definierten, konkreten gesellschaftlichen Raum verortet, markiert den Unterschied zu etwa M. Night Shyamalans thematisch ganz ähnlich gelagertem, letztlich aber in den erzählerischen Konventionen des Genrekinos verharrendem „The Village“. Diese Befreiung von erzählerischem Ballast trägt jedoch nicht bloß vordergründig zur Rätselhaftigkeit von „Dogtooth“ bei, der seine Gesellschaftskritik wie aus dem Nichts entwirft und sich dem Zuschauer darbietet wie eine Ameisenfarm, sie verstärkt seinen emotionalen Impact, der auch durch die leisen humoristischen Untertöne nicht verstellt wird: Wir brauchen keine zusätzlichen Informationen über seine Charaktere oder die Welt, in der er spielt, weil es darauf nicht ankommt. Die Welt, die die Eltern für ihre Kinder entworfen haben, ist die Hölle und nichts kann diese Erkenntnis mildern oder relativieren. Dass Lanthimos seinen Zuschauern zu dieser Erkenntnis verhilft, ohne sie mit langen erklärenden Monologen oder eindimensionaler Schwarzweiß-Malerei auf den richtigen Weg zu schubsen, sie mittels eines wogenden Scores oder durch abgedroschene Plot-Devices zu bevormunden, ist nur konsequent. Sein Verzicht auf solche Mittel gründet in einem unerschütterlichen Glauben an die Macht der Bilder, der auch auf der Inhaltsebene von „Dogtooth“ zum Ausdruck kommt. Es handelt sich nämlich um eine Macht, die Diktatoren und Despoten suspekt sein muss, wie man an der Reaktion des Vaters sieht, der seine Tochter für das unerlaubte Anschauen eines 40 Jahre alten Hollywood-Blockbusters mit einer Videokassette verprügelt. Es mag naiv sein, zu glauben, die Existenz eines Filmes wie „Dogtooth“ verändere die Welt zum Positiven. Vielleicht ist es aber auch dieser Pessimismus, der die methodische Antiaufklärung, die in den Diktaturen dieser Welt stattfindet, erst ermöglicht.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Godard trifft Truffaut – Deux de la Vague

(F 2010, Regie: Emmanuel Laurent)

Fünf Freunde und der Qualitätsfilm
von Ulrich Kriest

1993 veröffentlichte Bernd Begemann auf seinem Album „Rezession, Baby!“ den Song „Rambo III mit Jochen Distelmeyer im Autokino“, der von gemeinsamen Kino-Besuchen mit dem Blumfeld-Sänger und Vorzeige-Diskurspopper Distelmeyer erzählte. Darin …

1993 veröffentlichte Bernd Begemann auf seinem Album „Rezession, Baby!“ den Song „Rambo III mit Jochen Distelmeyer im Autokino“, der von gemeinsamen Kino-Besuchen mit dem Blumfeld-Sänger und Vorzeige-Diskurspopper Distelmeyer erzählte. Darin heißt es: „Vor seiner Haustür hatten wir dann noch einen Streit / Ich weiß nicht, wegen irgendeiner Kleinigkeit / Jochen sagte: »Bernd, du betreibst Betrug / Du bist einfach nicht radikal genug!« / Ich sagte: »Jochen, sieh es mal so: / »Du bist Godard und ich bin Truffaut.« / (Und auch für folgende Einsicht ist es nicht zu früh: / Du bist Sartre und ich bin Camus).“ Tertium non datur! Doch der weit verbreitete Gegensatz hier Truffaut, der Regisseur, der die Frauen liebte und da Godard, der Regisseur, der die Politik liebte und im Kollektiv verschwand, war immer nur die halbe Wahrheit. Daran will dieser Crashkurs in Sachen Filmgeschichte von Emmanuel Laurent ein Kinopublikum erinnern, dem hierzulande seit 1990 keine Gelegenheit mehr gegeben wurde, sich zu veranschaulichen, dass Godard, der Überlebende, noch immer Filme dreht.

In „Deux de la Vague“ wird die Geschichte noch einmal erzählt, vielleicht etwas zu sehr aus der Position Truffauts, aber immerhin. Zwei junge Männer aus höchst unterschiedlichen sozialen Verhältnissen begegnen sich 1949 in einem von Eric Rohmer geleiteten Filmclub und merken schnell, dass sie dieselben Filme lieben, dass sie dieselben Kritiken zu diesen Filmen mögen, dass sie vielleicht selbst Filmkritiken schreiben sollten, weil sie auch dieselben Filme verachten. Später werden sie beginnen, ihrerseits Filme zu drehen, die wahrhaftiger, mutiger sein sollen als die verachteten Qualitätsfilme der Altbranche. Truffaut versetzte dieser Altbranche dann einen Schock, als „Sie küssten und sie schlugen ihn“ 1959 in Cannes mit dem Regiepreis ausgezeichnet wurde. Generös überließ Truffaut Godard den Stoff für „Außer Atem“, der der zweite große Erfolg der Nouvelle Vague werden sollte. Freunde in der Cinephilie.

So richtig traut der Film, der fast nur aus Archivmaterial und Filmausschnitten montiert ist, seinem Nukleus aber selbst nicht über den Weg. Er setzt zwar mit den ersten großen Erfolgen ein, führt dann aber zurück in die späten 1940er und frühen 1950er Jahre, erzählt von Andre Bazin und Eric Rohmer, zeigt auch, dass man das Duo Truffaut/Godard wohl zumindest um Chabrol und Rivette erweitern müsste, bringt frühe Kurzfilme wie „Les Mistons“ (1957) oder „Une histoire d´eau“ (1958) ins Spiel. Die Geschichte ist also größer und komplexer. Und die Cinephilie, von der der Film berichtet, scheint heute nur noch als Nostalgie denkbar.

In einer Reihe von Sequenzen wird in intensiver Auseinandersetzung mit den großen Vorbildern Hitchcock, Hawks, Rossellini, Renoir, Bergman eine neue Ästhetik erkennbar: „Das macht Godard, Truffaut und die Nouvelle Vague wahrhaft revolutionär: Sie befreien sich vom normalen Kino, dem guten wie dem schlechten, um andere Filme anders zu drehen, auf der Straße, mitten in Paris, mit leichtem Equipment ohne aufwändige Ton- und Lichtausrüstung, mit unbekannten Schauspielern, nicht älter als sie selbst. Die Geschichten sind ihnen nahe, manchmal intim, der Ton ist persönlich, lebendig und fängt das Lebensgefühl junger Leute ein. Ihr Kino ist authentischer, trotz eines ausgeprägten Stils: der Stilisierung in Schwarzweiß eines Moments der Geschichte“, beschreibt es der Drehbuchautor, Filmhistoriker und ehemalige Chefredakteur der „Cahiers' Antoine de Baecque in seinem Off-Kommentar. Dazu sieht man dann Jean-Paul Belmondo im Finale von „Außer Atem“ tödlich verwundet auf eine Kreuzung zulaufen, die er lebend nicht mehr erreichen wird. „Näher am Leben, aber gespeist aus Kinoerfahrungen“, könnte eine Parole der Nouvelle Vague sein. Wobei die Novelle Vague als Gruppenbegriff ja umstritten und nur auf lange Sicht eine Erfolgsgeschichte geworden ist. Zwar beschränkt sich „Deux de la Vague“ auf die Freundschaft zwischen Truffaut und Godard, aber selbst diese Freundschaft bleibt in ihren freundschaftlichsten Momenten eher unterkühlt. Man erinnere sich daran, dass Chabrol, Rivette und auch Rohmer den Mythos von der verschworenen Gemeinschaft der „Cahiers“-Kritiker immer wieder entschieden in Frage gestellt haben. Aber nicht nur auf die Freundschaft war kein Verlass, auch auf das Publikum nicht! Laurent zeigt nicht nur, auf welche Ablehnung ein Film wie „Außer Atem“ beim zeitgenössischen Publikum stieß, sondern er verschweigt auch nicht, dass eine Reihe von Misserfolgen aus der Neuen Welle fast ein Strohfeuer gemacht hätte. Godards „Der kleine Soldat“ wurde von der Zensur verboten; „Die Karabinieri“ wollten in Paris nur noch 20.000 Zuschauer sehen. Dennoch konnten Godard und Truffaut während der folgenden Jahre bis „1968“ kontinuierlich arbeiten und sich bei Projekten auch gegenseitig unterstützen.

Ein interessanter Aspekt dieser „Gemeinsamkeiten“ ist das Zirkulieren des Schauspielers Jean-Pierre Leaud zwischen den mittlerweile schon distinkten Film-Welten von Godard und Truffaut. Während Leaud bei Truffaut stets (oder zumindest noch lange) das Alter Ego Antoine Doinel bleibt, hat er bei Godard die Möglichkeit seine eigene Persona zu entwerfen und entwickeln. Auch nach dem Zerwürfnis der beiden Filmemacher bleibt das Scheidungskind Leaud beiden Vätern treu. Ist dieser Aspekt der Karriere Leauds eigentlich schon einmal intensiver untersucht worden? Wenn Leaud als Alter Ego Truffauts bestens eingeführt ist, was bedeutet oder impliziert es dann, wenn Godard sich diesen Darsteller schnappt und immerhin das Alter Ego auf Linie bringt, indem er die Rollen Leauds radikalisiert? Kann man das auch als eine auf Truffaut bezogene Ersatzhandlung werten? „Deux de la Vague“ interessiert sich dafür nicht, will er doch französische Filmgeschichte gerne als Familiengeschichte erzählen.

In der Affäre um Henri Langlois und die Cinémathèque française agieren Godard und Truffaut jedenfalls noch Seite an Seite, aber bereits beim Abbruch des Filmfestivals zu Cannes 1968 werden Differenzen in der Bedeutung des Politischen für beider Leben deutlich. Godards Militanz wird Truffaut nicht folgen; für Godard ist Truffaut nun als ein Bourgeois entlarvt. Oder, noch einmal auf Anfang, formuliert Godard: „Wenn man nicht mehr die gleiche Ansicht vom Kino hat, wenn man nicht mehr dieselben Filme liebt, kommt Streit, kommt Trennung. Die Freundschaft erlischt.“ Allerdings mit unerwartet heftigen Invektiven. Als Godard Ende der 1970er Jahre seine Spielfilmproduktion wieder aufnimmt, hat Truffaut nur noch drei Spielfilme zu leben. Die Schärfe der öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen Godard und Truffaut, ansatzweise dokumentiert in der Truffaut-Biografie von De Baecque und Toubiana, umschifft Laurent vielleicht aus Höflichkeit, allerdings auch die freundlichen Worte Godards im Vorwort zur Ausgabe der Briefe Truffauts. Trotzdem: „Deux de la vague“ bleibt – zumal für jüngere Kinogänger, denen die Legenden und Anekdoten wahrscheinlich nicht mehr so präsent sind/sein können – ein höchst anregender Ausflug in eine heroische Phase der Filmgeschichte, die insbesondere viel Lust macht, sich die alten Filme mal wieder anzuschauen – und aus heutiger Sicht zu überprüfen, wie es aktuell steht mit Godard und/oder Truffaut. Am Ende blickt uns noch einmal Jean-Pierre Leaud direkt ins Gesicht. Mit jenem Blick aus dem Jahre 1959, der ihn unsterblich gemacht hat. Überhaupt hat der jugendliche, sehr aufgeweckte und enorm selbstbewusste Laiendarsteller Leaud in diesem Film ein paar ganz große Momente.

A real life – Au voleur

(F 2009, Regie: Sarah Leonor)

Ein wahres Leben
von Wolfgang Nierlin

Die Vertretungslehrerin Isabelle (Florence-Loiret Caille), die Deutsch als Fremdsprache unterrichtet, zitiert Rilkes „Der Panther“: „und hinter tausend Stäben keine Welt“. Die Kamera erfasst sie dabei im Detail, rastert ihre Schritte, …

Die Vertretungslehrerin Isabelle (Florence-Loiret Caille), die Deutsch als Fremdsprache unterrichtet, zitiert Rilkes „Der Panther“: „und hinter tausend Stäben keine Welt“. Die Kamera erfasst sie dabei im Detail, rastert ihre Schritte, fixiert sie von hinten im Nacken. Wie eine Nichtsesshafte wechselt sie Orte und Beziehungen und wähnt sich dabei in einem Gefängnis, das Schule heißt und das seine Gitter über die Bilder und Architekturen legt. Ähnlich dem zitierten Panther in seinem Käfig ist auch ihre Stärke gehemmt, ihr Wille betäubt. Das wahre Leben ist anderswo. Ihre Existenz wird von nicht gelebten Möglichkeiten verzehrt. Und doch hält sie in ihrem Beruf an einer Utopie fest: Gegenüber einer Nachhilfeschülerin verteidigt sie die Fremdsprache als Möglichkeit, in ein anderes Leben einzutauchen.

„Au voleur“, der Debütfilm der jungen Straßburger Regisseurin Sarah Leonor, bewegt sich langsam, aber zielstrebig auf diese Freiheit zu. Verkörpert zunächst in der Gegenfigur des Diebs Bruno (Guillaume Depardieu), einem coolen, routinierten Kleinkriminellen mit wachem Geist und unfehlbarem Instinkt, der eine große Selbstsicherheit und Unabhängigkeit ausstrahlt. Sein kriminelles Handwerk ist Spiel und Ritual; still und unaufgeregt folgt es einer geheimen Ordnung, die Bruno mit seinem älteren, eben aus der Haft entlassenen Freund und Kollegen Manu (Jacques Nolot) verbindet und ihn andererseits von dem jugendlich unbedachten Nacheiferer Ali (Rabah Nait Oufella) abrückt.

Ein Unfall initiiert das Liebesbegehren zwischen Isabelle und Bruno, eine gemeinsame, rasant inszenierte Flucht in die Natur lässt es wachsen. Als verschworene Gesetzlose werden sie zu Waldindianern, zu Wilden, die in das überwältigende Grün einer mythologisch aufgeladenen Flusslandschaft eintauchen. In einem alten Fischerkahn lassen sie sich auf dem Wasser treiben, umringt von einer wildwuchernden Vegetation und den besänftigenden Geräuschen der Natur. In den oberrheinischen Rheinauen gedreht und mit den verhaltenen Klängen des Delta-Blues unterlegt, erweisen Sarah Leonors Bilder hier ihre Referenz Jim Jarmusch und seinen Filmen „Down by Law“ und „Dead Man“. Bruno und Isabelle bewegen sich frei und ziellos in einem temporären Fluchtraum jenseits der Zivilisation. Und doch müssen sie auf einer langen schmerzlichen Reise, die auch eine Überfahrt ins Reich der Schatten ist, dieses Leben zurücklassen.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Der Golem, wie er in die Welt kam

(D 1920, Regie: Paul Wegener)

Der moderne Mann
von Andreas Thomas

Roboter, Homunkuli, Androiden. Nicht erst seit dem 20. Jahrhundert fasziniert und gruselt den Menschen das nach seinem Ebenbild hergestellte fremde Wesen. Die Figur des Golem, ein der Legende nach schon …

Roboter, Homunkuli, Androiden. Nicht erst seit dem 20. Jahrhundert fasziniert und gruselt den Menschen das nach seinem Ebenbild hergestellte fremde Wesen. Die Figur des Golem, ein der Legende nach schon im 16. Jahrhundert vom Prager Rabbi Löw aus Lehm geformter künstlicher Mensch, geht sogar zurück auf noch weit ältere Bücher der jüdischen Kaballa.

Paul Wegeners Film „Der Golem, wie er in die Welt kam“ aus dem Jahr 1920 vermischt den jüdischen Mythos mit dem christlichen Faust-Mythos, so ist der Rabbi Kabbalist, aber auch Astrologe und Geisterbeschwörer. Er liest in den Sternen, dass seiner Gemeinde im alten Prager jüdischen Ghetto Unheil durch den Kaiser droht; und deshalb modelliert er zum Schutz vor einem Pogrom den mit übermenschlichen Kräften ausgestatteten riesenhaften Golem (hebr.: unförmige Masse, Klumpen), den er durch die „Implantation“ eines Amuletts (in Form eines Davidsterns), in welchem sich ein magisches Zauberwort verbirgt, zum Leben erweckt.

Dieser Golem, gespielt von Regisseur Wegener selbst, zunächst ein ungelenker, aber unterwürfiger Diener (robota heisst auf tschechisch: „körperliche Fronarbeit leisten“. Der Begriff „Roboter“ ist aus dem Tschechischen herleitbar, der „Golem“ hat sicherlich einen maßgeblichen Anteil daran), entwickelt jedoch immer mehr eigensinnige – also menschliche – Züge. Durch den Duft einer Rose erwacht seine Sinnlichkeit. Er verliebt sich eifersüchtig in die Tochter des Rabbis, sträubt sich dagegen, dass ihm das Amulett abgenommen (also, dass er „abgeschaltet“) wird und wird nach und nach aufgrund seiner „eigensinnigen“ Impulse vom Helfer zur Bedrohung.

Parallelen, Vorbilder und Nachfolger des Golem und seiner Geschichte finden sich überall: angefangen bei der biblischen Schöpfungsgeschichte, nach der Gott den Menschen aus „Erde vom Acker“ machte, über die romantische Literatur des frühen 19. Jahrhunderts, etwa bei E.T.A. Hoffmann oder explizit in Mary Shelleys Gothic-Roman „Frankenstein“, bis hin in die für den Menschen unserer Zeit greifbare Realisierbarkeit von menschenähnlichen Wesen, seien es Roboter, Computer oder schliesslich Klone, Cyborgs, Androiden und was die Zukunft noch so alles für uns bereit hält.

Signifikante Motive der „Romantik der Moderne“, des Expressionismus – und „Der Golem, wie er in die Welt kam“ gilt als der expressionistische Film schlechthin – scheinen zu sein: der hypnotisierte, somnambule, verrückte Mensch („Das Cabinet des Dr. Caligari“), der Maschinenmensch („Metropolis“) oder generell der künstliche Mensch, ein Produkt des Menschen also, das Kind menschlicher Wissenschaften und Technologien, welches nicht beherrschbar ist. Nicht zufällig besitzen das Monster von „Frankenstein“ und „Der Golem, wie er in die Welt kam“ einige Ähnlichkeiten. Wenn der Film „Der Golem, wie er in die Welt kam“ vielleicht u.a. noch durch Mary Shelleys Roman inspiriert war, so hat sich James Whales „Frankenstein“ von 1931 klar, mitunter bis ins Detail, wiederum „Golem,…“ zum Vorbild genommen. Der Golem und Frankensteins Kreatur sind tatsächlich Brüder im Geiste, der eine aus Lehm, der andere aus Leichenteilen zusammengesetzt.

Zwei Haupttendenzen liegen in diesen Stoffen vom Schöpfer und seinem Geschöpf verborgen: einerseits das Verhältnis Mensch zu Gott, andererseits das Verhältnis Mensch als gottgleicher Schöpfer zu dessen Kreation – in meinen Augen auch ausdehnbar auf das Verhältnis Mensch und moderne Technik allgemein.

Es scheint kein Zufall, dass mit der Ausbreitung der Industrialisierung die Romantik in ihrer Reaktion auf eine beginnende diesseitige, rationalistische, maschinisierte Welt sich einerseits eskapistische Gegenwelten erschuf, andererseits durch die Maschinen hervorgerufene unterschwellige Ängste in Figuren wie dem Frankensteinschen Monster manifestierte und zu verarbeiten suchte: Industrialisierung als unberechenbares Kind des Menschen.

Gleichzeitig, wie in einer Art Ablösung – und mit der beginnenden Übertragung der Schöpferrolle -, kam es zu einem Rückzug des Religiösen als schützende, sinnstiftende Kraft. Boris Karloff, die filmische Inkarnation der Romanfigur des Frankensteinschen Monsters, erklärte sich seine Rolle später so: Das Monster habe, wie alle Menschen, keinen Einfluss darauf gehabt, dass und wie es erschaffen wurde, und der eigentliche tragische Aspekt seiner Existenz sei, dass sein Schöpfer sich von ihm distanziert. „Er war für uns ein Bild des Menschen, der bei seinen unvollkommenen Versuchen, sich selbst zu entwickeln, herausfinden muss, dass er von Gott verlassen wurde.“

Gleichwohl findet der Mensch auch in des Monsters Gegenüber einen Spiegel: im Schöpfer, im Wissenschaftler Frankenstein, der Gott ähnlich sein und Leben erschaffen will – oder vielleicht eine zweite Welt neben, statt der Natur, seine eigene Welt der Maschinen? –, was zum einen undurchschaubare, gefährliche Folgen hat, weil es zum anderen Verantwortung und Weitblick voraussetzt.

Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Moderne mit ihren technischen Errungenschaften in den reicheren Ländern der Welt explodierte, reagierten deren Künstler darauf mit dem Expressionismus: panisch, verzückt, verwirrt. Das „The End of the World as We know it“ von R.E.M. galt ja eigentlich schon immer, immer etwas anders und in immer kürzeren Intervallen. Verfremdung und Verzerrung der Perspektiven, ja, sogar die Filmsets – das krumme, düstere, schwindelerregende Kulissenghetto im „Golem..“ ist die einzige im expressionistischen Stil für einen Film erbaute kleine Stadt – stehen für eine emotionale Entladung zwischen Angst und Aggression, zwischen dem bewussten, rebellischen Abbrechen alter, altmodischer Brücken, Traditionen, Zeichen und einem fanatischen, fast zwanghaften Drang, eine ganz andere, völlig neue Zeit einzuläuten.

Der Expressionismus im Film zeigt beides, die neugewonnene Freiheit zur Abbildung innerer, psychischer Zustände und eben diese Zustände selbst, bedrängende Phantasmagorien, Alpträume von einer Welt, deren menschliche Gesichter Fratzen, deren Straßen steile Gebirgspfade, deren Behausungen windschief und einsturzgefährdet sind. Im „Golem…“ bröckeln Paläste, brennen Häuser ab. Der Mensch hat seine Welt, und sich selbst, neu geschaffen: Auch darin ist der Golem ein Prototyp. Ein Wesen ohne Werte, Religion oder Normen, ein moderner Mensch. Ein Mann ohne Eigenschaften, ohne repressive oder stabilisierende Sozialisation und daher frei, aber auch unheimlich und einsam, wie ein Kind, das sich – eher durch Unachtsamkeit als durch die große Liebe – selbst in die Welt gesetzt hat.

Gewiss handelt der „Golem…“ von einer lange vergangenen Vergangenheit, eher noch von jüdischen – und deutschen – Legenden. Aber ihn interessieren weniger die Quellen als deren künstlerische Verwertbarkeit in einer Zeit des fremdartigen Aufbruchs, ihrer Wunder und ihrer Schrecknisse. Deshalb sind seine bevorzugten Ausdrucksmittel Subjektivität, Dunkelheit und das Grelle: Auch die 1920 verwendeten Filmeinfärbungen sind rekonstruiert worden. Der Stummfilm „Der Golem..“ war (wie viele andere Filme auch), entgegen landläufiger Meinung, nicht schwarzweiss, er war bunt, und dadurch noch einmal so expressionistisch.

Die Transit Film GmbH hat in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung im März 2004 eine schöne, sorgfältig rekonstruierte – und bunte – Neubearbeitung des Films auf DVD herausgebracht.

Hitlerkantate

(D 2005, Regie: Jutta Brückner)

Blut und Hoden
von Andreas Thomas

Gottseidank sind die Zeiten vorbei, in denen der Gebrauch eines Wortes wie „Faszinosum“ im Zusammenhang mit Hitler hierzulande für Irritationen sorgen und Karrieren zu einem jähen Ende verhelfen konnte. Dass …

Gottseidank sind die Zeiten vorbei, in denen der Gebrauch eines Wortes wie „Faszinosum“ im Zusammenhang mit Hitler hierzulande für Irritationen sorgen und Karrieren zu einem jähen Ende verhelfen konnte. Dass deutsche Vergangenheitsbewältigung nicht nur freudlos sein muss sondern auch liebe Erinnerungen wachrufen kann, haben uns Filme wie „Der Untergang“ vorgeführt, mit einem Führer, der nicht nur bös’ sondern auch endlich menschlich und sogar ein wenig bemitleidenswert gezeigt wurde, mit einer Führer-Sekretärin, die (wie wir wohl alle ?) doch auch eine große Bewunderung und heimliche Liebe für diesen männlichen Mann in ihrem Busen trug, eine Liebe, die doch so bitter enttäuscht wurde. Hätte Traudl Junge nur schon vor dem April 1945 gewusst, dass Hitler keine Juden mag, der Mann hätte wahrlich einen schweren Stand gehabt!

Als eine Mischung aus Traudl Junge und Leni Riefenstahl erscheint endlich mit dem Film „Hitlerkantate“ jetzt auch ein deutsches Mädel namens Ursula im Kanon der kollektiven Vergangenheitsbewältigung, welches dem Führer eine Kantate (aber eigentlich ihren jungen, burschikosen Leib) schenken will. Sie trägt einen Stahlhelm aus ultrablondem Haar, sieht auch sonst in ihren strengen weißen Klamotten ultrauncool aus und hat zunächst nichts Besseres im Sinn, als in Gegenwart des mit phallischen Handgrüßen inflationär herumfuchtelnden Quadratschnurrbarts in eine tiefe Ohnmacht zu stürzen. Dabei ist ihr eigentliches Problem der unvorhandene Vater und wahrscheinlich eine schmutzige Abtreibung, die sie wiederum der Fähigkeit beraubt hat, eine vorhandene deutsche Mutter werden zu dürfen. Verlobt ist sie mit einem ach zu harmlosen jungen Mann namens Gottlieb, der zwar erst frisch (Presseheft:) „bei der SS arbeitet“, aber dem hurtig nichts Geringeres als die Planung der (Film:) „stilvollen“ Erledigung des „Judenproblems“ anvertraut wird und der sich (Abgründe tun sich auf) doch heimlich auf ein Softerotikfilmchen mit der „Jüdin“ Gisela als Hauptdarstellerin einen von der Palme wedelt. Dabei war das schlüpfrige Filmchen eigentlich nur für einen guten, also militärischen, Zweck gedreht worden, nämlich für die Demoralisierung des kompletten Polenlandes. Heimlich soll der Streifen ins Land geschmuggelt werden, und dann wird der Pole schon sehen. Wer wixen muss, kann nicht schießen. Raffinierter Plan! Ausgerechnet SS-Gottlieb muss uns demonstrieren, wie todsicher das funktioniert. Wenn das nur Ursula wüsste.

Doch während Gottlieb in der ins trostlos Eisengraue zurechtdigitalisierten Reichshauptstadt hoffnungslos vor sich hin menschelt, beruft sie ihr Schicksal ins nordische, graugrüne Finnland zu Höherem. Die musisch Begabte soll Hanns Broch (Hilmar Thate), dem umstrittenen aber großen Komponisten, bei der Erstellung jener titelgebenden „Hitlerkantate“, einem Geschenk zum 50. Führergeburtstag („Sie wissen schon: mit allen verfügbaren Chören und illuminiert mit einem Lichtdom von Albert Speer“), assistieren. Ihr Lebenstraum Nummer Zwo, die sublimierte, die tonale Hitler-Hingabe, steht kurz vor der Verwirklichung, doch was ist das? Broch heißt nicht nur so ähnlich und sieht nicht nur so aus wie ein verkappter Bertolt Brecht, er ist auch einer. Undeutsche, schwarzgraue Borsten trägt er auf dem Schädel, dünne Zigarren im Mundwinkel, krause Gedanken im Kopf. Eine jüdische Freundin hat er auch. Kein Wunder, dass so einer früher mal Kommunist war. Nicht der Führer, nur die ihm für die Kantate versprochene Reputation im nazideutschen Kulturbetrieb bewegt ihn zum Komponieren.

Da muss Ursula aber ganz schnell eine arische Schnute ziehn und ihre sehnige Windhundstatur verkrampft zum Grammophon-Schubert auf dem Rentierfell zerdehnen, sodass es beim bolschewikischen Vaterlandsverräter schnackelt. Natürlich mit Erfolg, denn so schnell vergisst auch der verjudetste Deutsche die Schöße nicht, aus denen er einst kroch: das deutsche Lied, das deutsche Loch, das deutsche Glied, das deutsche Joch. Und Verdun war schmählich, schmutzig und schlammig. Schlamm, in dem er einst den besten Freund (rein zufällig auch Vater unserer Ursel) liegen lassen musste. Schlamm, der ja so viel schmutziger war, wundert er sich laut, als die schönen Reichsparteitage. Auch die deutschen Soldaten in Berlin sehen unter Hitler irgendwie straffer, ordentlicher, gepflegter aus als die halbtoten damals vor Verdun. Aber merkwürdig dieser kollektive Hang zum Untergang, darüber möchte Broch eine komplette Oper komponieren. Und er will, sagt er ihr deutlich, der Ursula den Hitler aus dem BDM-Leib vögeln. „Das kannst du gar nicht, er ist ganz tief in mir drin.“ So ihre Replik.

Ein Film mit Figuren, die an lauter Ambivalenzen leiden, bis sie stagnieren, bis der Film stagniert. Irgendwie hat dieser böse Hitler allen wohlmeinenden Deutschen die Fähigkeit zur Liebe geraubt und gegen einen ganz verrückten Sexus eingetauscht. So kann Broch Ursulas NS-Erotik nicht widerstehen, und gleichzeitig muss er leider das „hysterische Nazi-Flittchen“ verachten (was seine Geilheit natürlich nur steigert). So muss sie dem faltenreichen Charme des Maestro und Vaterersatzes erliegen, aber seine ewige Krittelei am Reich ist ihr unerträglich. Sie kann so nicht leben. Kann sie so sterben? Sie radelt mittenmang in den finnischen Weiher hinein. Ein dilletantischer Selbstmordversuch? Oder ist sie nur zu deutsch zum Radfahren? Wahrscheinlich hat sie es nur auf Unterkühlung, Fieber und Doktorspiele abgesehen, Nazischlampe, die! – und doch verwirrtes, armes Kind zugleich!

Ein Film über Demagogie, Sex und Hysterie im „3. Reich“. Und ein Versuch, die Gefühle von Nazis zu verstehen. Nazis, die eben doch keine richtigen Nazis waren, weil sie hin- und hergerissen, sprich: weil sie Opfer waren einer sexuell aufgeladenen Propagandamaschinerie. Alles nicht so schlimm, könnte man sagen, der Film tut ja selbst schon sein Bestes, um nicht ernst genommen zu werden. Der Skandal ist nur, dass er es ernst meint. Er zeigt Nazi-Aufmärsche und er zeigt den bellenden Hitler und er glaubt anscheinend wirklich, das alles sei sexy. Er zeigt ein naives BDM-Mädchen, bis zur Lächerlichkeit authentisch, und will uns davon überzeugen, dass ihrem stumpfen Ariergehabe etwas subtil Geheimnisvolles, eine magische Erotik innewohne.

Zunächst mal zur Erinnerung: Die Ästhetik des „3. Reichs“ ist eine Ästhetik für Arschlöcher. Punkt. Das war damals so und das ist heute so. Das haben auch damals schon einige gemerkt, aber komischerweise haben diese Hellseher Nazi-Deutschland entweder frühzeitig verlassen oder sie wurden von Nazi-Deutschland ermordet. Nur ein klein wenig Aufmerksamkeit und ein klein wenig Empathie der RestdeutschInnen hätte genügt, um Hitler zumindest unerotisch zu finden. Aber unsere Eltern und Großeltern fanden es in Ordnung, wenn die jüdischen Nachbarn abgeholt wurden, und sie machten, jeder auf seine Weise, dabei irgendwie mit, denn irgend jemand hat’s ja schließlich doch getan. Das mag schon tiefe seelische Schäden hervorrufen, speziell hinterher, wenn der Krieg verloren ist, hinterher, nach dem „Untergang“. Natürlich, die deutsche Nation kann einem schon ganz schön leid tun: All die unbeabsichtigten Orgasmen bei den Reichsparteitagen und beim Aufgeilen daran, zur Herrenrasse zu gehören, und hinterher die ekligen Leichenberge, die man nicht mehr schaffte, durch die Schornsteine zu entsorgen. Was für ein Gefühlsgefälle!

Daran wird auch nichts ändern eine von Regisseurin Brückner insinuierte (und für sie von Filmen wie „Der Untergang“ inspirierte) „education sentimentale“, wie sie sie in einem Artikel im „Freitag“ (vom 15.10.2004) beschreibt. Ihre Phantasie, die „Erstarrung im Trauma“ und die damit entstandenen Mythen über das 3. Reich mittels eines „erneuten Durchlebens“ zu durchbrechen. „Eine nationale, mit einem Trauma beladene Geschichte wirkt ähnlich wie eine individuelle traumatische Biografie“, schreibt Brückner. Das „gefühlte“ „3. Reich“ sei die mögliche neue Form einer Überwindung von „Trauma, Tabu, und Faszination“. Das Kino sei für diese Aufgabe „der privilegierte Ort“.

Die durch Brückner vom Kino eingeforderte Herstellung eines „distanzlosen Dabeiseins“ ist ja schon aufgrund der dem Spielfilm impliziten (und übrigens auch in der „Hitlerkantate“ deutlich durch Überstilisierungen vorangetriebenen) unvermeidbaren Fiktionalisierung von Geschichte und Handlung ein Ding der Unmöglichkeit (und eine Illusion, der z.B. auch oft die Rezeption des „Untergangs“ erlegen ist: „Endlich konnten wir Hitler erleben, wie er wirklich war“). Zum anderen erforderte diese Art der Rekonstruktion von „Geschichte zum Nacherleben“ (wäre sie überhaupt praktikabel) eine Eliminierung von über sechzig Jahren Rezeption und Bewusstsein der NS-Zeit. Verlangt also wäre Verblödung, um Verblendung zu verstehen. Gefühlt wurde auch unter den Verblendeten allerdings reichlich, aber nur in eine Richtung. Gedacht wurde weniger. Heute auch? Eine neuerliche Eins-zu-Eins-Empathie fürs Sentiment von Nazideutschland jedenfalls würde nicht über dieselbe Nazi-Blödheit hinaus gehen (und wenn die Seifenoperndiva Nazi-Ulla im Film tausendmal unerwartet schnell begreift, wie böse doch leider das Faszinierende am Faschistoiden ist).

Dass für Brückner nun auch ausgerechnet die hollywoodeske Serie „Holocaust“ und der im TV-Format gedrehte Film „Der Untergang“ Hilfen zu einer „tieferen Erkenntnis des Dritten Reiches“ darstellten, dass sie bei ihrer Aufzählung Filme wie der über achtstündige Dokumentarfilm „Shoah“ von Claude Lanzmann (ein Film, der bewusst versucht, jede Fiktionalisierung zu vermeiden, indem er nichts „nachstellt“, sondern lediglich Zeitzeugen über den Holocaust berichten lässt) und „100 Jahre Adolf Hitler – Die letzten Tage im Führerbunker“ von Christoph Schlingensief (ein Film, der bewusst und gezielt und höchst „emotional“ seine eigene Fiktionalität einsetzt, um Mythen und Tabus des „3. Reichs“ zu überzeichnen und durchbrechen) schlicht vergisst, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass es Brückner womöglich weniger um eine künstlerische, der cineastischen Selbstbeschränkungen bewusste, Reflexion der Phänomenologie des „3. Reichs“ gegangen sein muss, sondern um etwas anderes. Nur um was denn eigentlich, wenn nicht um eine fragwürdige Reputation derer, die an sich schon unübersehbar fragwürdig waren?

Erkenntnis setzt Distanz voraus, sei es die Distanz durch künstlerische Überhöhung oder die Distanz durch Berichtetes, also etwa durch die Subjektivität der Überlebenden (und damit sind keine mit Musik aufemotionalisierte Interviews a lá Knopp gemeint). Nazi-Deutschland – und die „Hitlerkantate“ ist dafür nur ein weiterer Beweis – ist filmisch so wenig reproduzierbar wie die „Passion Christi“. Also erübrigt sich auch hier die naive Frage nach dem „Wie hat es sich angefühlt?“. Was uns vom „3. Reich“ bleibt, sind historische Daten, überlieferte Erfahrungen und z.B. seine Spiegelungen im Kino, das sich seiner Eigenschaft als Kunstform (also auch als „künstlicher“ Form) bewusst ist. Schlimm genug, wenn das Kino seine eigenen Mittel verkennt, aber in mir ruft es Übelkeit hervor, wenn es nicht nur behauptet, Authentizität herzustellen, sondern mittels derselben auch noch angetreten ist, die „deutsche Neurose“ zu kurieren.

Abgesehen davon, dass nun dieser Gefühls-Therapie-Film von Brückner den „Deutschen“ das Gleiche antut wie der Zahnarzt dem Patienten nach seiner Blendax-Prophylaxe („Mutti, Mutti, er hat überhaupt nicht gebohrt“), schlage ich vor, jenen unheilbar arischen Deutschen, um die es dem Film ja vornehmlich zu gehen scheint, unbedingt ihre „Traumata“ zu erhalten – wenigstens etwas, woran sie zu knabbern haben – und dass wir (ja wir!) uns ganz gefühlsmäßig und empathisch und final bitte ab sofort nur noch dem Schicksal der Deutschen und der Europäer zuwenden, die während des „3. Reichs“ aufgrund ihrer „Rasse“, ihrer Religion oder ihrer Nationalität verfolgt oder ermordet wurden. Würden wir nämlich genau das tun, was unsere verbrecherischen Vorfahren im Faschismus tunlichst vermieden haben, müssten „wir Deutschen“ dieses ekelhaft selbstmitleidige „Trauma“, das doch immer nur nach einer Relativierung von Verantwortung riecht, wohl am schnellsten überwinden können, weil wir dann andeutungsweise ahnen würden, was ein echtes Problem ist und wer das echte Problem hatte. Um die (deutsche) Welt in Zukunft vor faschistoiden Tendenzen zu bewahren, ist es unbedingt angezeigt, nicht den Nazis nachzufühlen, sondern ihren Opfern. Wir waren darin schon einmal weiter als heute.

Der Kick

(D 2006, Regie: Andres Veiel)

Destillat der Stagnation
von Andreas Thomas

In der Nacht zum 13. Juli 2002 wird im brandenburgischen Potzlow ein 16jähriger ermordet, nachdem er stundenlang mit Faustschlägen traktiert wurde. Die drei jugendlichen Täter sind seine Bekannten, ein konkretes …

In der Nacht zum 13. Juli 2002 wird im brandenburgischen Potzlow ein 16jähriger ermordet, nachdem er stundenlang mit Faustschlägen traktiert wurde. Die drei jugendlichen Täter sind seine Bekannten, ein konkretes Tatmotiv ist nicht auffindbar.

In einfühlsamer, langwieriger Kleinarbeit machten sich der Regisseur Andres Veiel („Black Box BRD“) und die Dramaturgin Gesine Schmidt in Potzlow auf die Suche nach möglichen Hintergründen. Gespräche mit den Tätern, ihren Eltern und Bekannten, mit der Mutter des Opfers, Verhörprotokolle und Prozessakten komprimierten sie zum Theaterstück „Der Kick“, eine Inszenierung für zwei Personen, die allein bis zu 20 verschiedene Sprecher verkörperten. Veiels nun nachgelieferte Filmadaption des eigenen, erfolgreichen Stücks bewahrt beinahe vollständig den spröden Bühnencharakter und ist doch zugleich echtes Kino geworden.

Das Setting: Eine matt beleuchtete, alte Lagerhalle, darin ein manövrierfähiger Blechcontainer. Auf dieser kargen Bühne ein Lehrstück in Sachen Schauspiel und Empathie. Mit feinsten Nuancen der Tonlage, des Dialekts, der Körperhaltung, des Blickes eignen sich die Schauspieler Susanne Marie Wrage und Markus Lerch die Rollen der Befragten an, fühlen sie sich in sie ein, scheinen sich geradezu in sie zu verwandeln. So nehmen sie dem Zuschauer einen Teil seiner Arbeit ab. Der minimalistische Inszenierungsstil distanziert ihn zwar von der Profanität des Authentischen – der Einblick auf den realen Ort und die realen Personen bleibt ihm völlig vorenthalten – die textualen Destillate des Wesentlichen (Veiel nennt das „Fiktionalisierung“) aber fördern die Konzentration auf divergierende Blickwinkel, Erklärungsansätze, besonders aber auf das Dahinter, auf die Psyche der Dorfbewohner, auf Menschen, die versuchen, sich an Stagnation, an einen ökonomischen Dauernotstand, an eine Entwertung ihrer selbst zu gewöhnen.

Die verschiedenen Stimmen summieren sich zu einem deprimierenden Stimmungsbild, zur Bestandsaufnahme eines schrumpfenden Dorfes, das mit seinem hohen Arbeitslosenanteil, mit seiner Perspektivlosigkeit, mit Alkoholismus, Fremdenfeindlichkeit und seiner Neigung zum Rechtsextremismus vielen Orten nicht mehr nur in Ostdeutschland ähnelt. Aber „Der Kick“ geht Pauschalisierungen aus dem Weg und er arbeitet an gegen die Dämonisierung der Täter. „Wir holen sie aus dem Monsterkäfig heraus und geben ihnen eine Biografie. Das ist die eigentliche Provokation“, sagt Veiel.

Es ist tatsächlich selten ein Film der Befindlichkeit unserer Zeit, unseres Landes so nahe gekommen wie „Der Kick“ auf seiner Suche nach weiterführenden Antworten. Er stellt die Frage nach dem Wert des Menschen neu, indem er jenen eine Stimme gibt, die buchstäblich, d.h. im wirtschaftlichen Sinne, „nicht gefragt“ sind. „Es hätte genauso einen von ihnen treffen können“, sagt irgendwann die Mutter zweier der Täter. Ein beinahe beiläufiger Satz, aus dem die unheimliche, beklemmende Wahrheit klingt, die der Film sukzessive freilegt. Der schockierende „Kick“ aus dem Film „American History X“, den Marcel nachahmte, als er ins Genick des Marinus sprang, um ihn „hinzurichten“, ist am Ende dieser konzentrierten, intensiven und fesselnden Anamnese nur ein auffälligeres Symptom eines expandierenden sozialen, ökonomischen und politischen Versagens.

Die Kinder sind tot

(D 2003, Regie: Aelrun Goette)

Das Sein bestimmt das Bewusstsein
von Andreas Thomas

Natürlich bringt man seine Kinder nicht um, aber sie können schon sterben, wenn man mal eben Zigaretten holen geht. 14 Tage dauerte das Zigarettenholen von Daniela Jesse (Name, Vorname und …

Natürlich bringt man seine Kinder nicht um, aber sie können schon sterben, wenn man mal eben Zigaretten holen geht.

14 Tage dauerte das Zigarettenholen von Daniela Jesse (Name, Vorname und Gesicht der Kindsmörderin sind im Film bewusst unverfremdet belassen), ihre beiden Jungens verdursten, weil ihre Mutter von irgendeinem Glatzkopf Liebe erhoffte. Gibt da ja auch fast nur solche, im Plattenviertel in Frankfurt/Oder. Von wem soll man schon Liebe erwarten? Und es gibt die innovativen Verhältnisse von Kapital und Arbeit, die seit dem Fall der Mauer in den östlichen Bundesländern eine fundamentale Arbeits- und Perspektivenlosigkeit provozieren. Fundamentalismus mitten im lieben Kapitalismus, wer hätte dergleichen vermutet?

Für die ganz unbürokratisch schnelle Wiedereinführung der Todesstrafe sind Nachbarn, die taub waren für Klagelaute aus Kinderkehlen hinter verschlossenen Wohnungstüren, und ganz folgerichtig fragt Regisseurin Aelrun Goette implizit, ob es denn damit getan sei, wenn Kinder lediglich überleben im Herzen des elterlichen Destruktionswillens? Und insgesamt: ob das weniger strafwürdig sei, ob nicht überhaupt die Frage der Schuldfähigkeit hier und da und manchmal allgemein eingeschränkt gehöre?

Zumindest hinterfraglich, auch ohne signifikante psychologische Störung (dem anschließen müsste sich eine Frage nach dem Standard von psychologischer Normalität, dem östlichen, westlichen, insgesamt aktuellen) bleibt: Dürfen wir unsere Kinder denn verdursten lassen, weil wir im Kapitalismus leben (obwohl Kommunismus – gegenseitige soziale und geheimdienstlerische Aufmerksamkeiten, Kinderkrippen, Vollbeschäftigung, Nachbarschaftshilfe und dergl. ursprünglich gelernt wurde)?

Des weiteren: Sind wir Ossis verantwortlich zu machen für die Leere in unseren Portemonnaies, Hirnen, Beziehungen, für unsere Hoffnungslosigkeit nach der hoffnungsschwangeren Wiedervereinigung? Sind wir dennn verantwortlich für die biologischen Uhren, die ein paar Jahre lang für uns Kinder hinticken, und uns ein paar Jahre lang an diese binden, ohne zu gucken, wer oder was wir sind und was wir wollen, für die wirtschaftlichen Uhren, die uns ein paar Jahre lang unsere absolute Überflüssigkeit eintrichtern?

„Die Kinder sind tot“ ist ein Dokumentarfilm über einen Zustand, in welchem aus einer mangelhaften elterlichen Perspektive heraus kaum eine positive Perspektive für die nächste Generation erwachsen kann. Der Film versucht nicht, Entschuldigungen heranzuziehen, er attestiert nur, dass selbst „Kindsmord“ eine zu beschönigende Bezeichnung ist für das viel Beunruhigendere, das einen viel zu großen Raum in unserer bundesdeutschen Realität einnimmt: Individuelle Verzweiflung und eine gleichzeitige allgemeine Gleichgültigkeit.

Unser neuer Präsident findet sowas natürlich. Sollen potentielle Kindsmörder doch möglichst schnell wegziehen aus Frankfurt/Oder nach Süddeutschland, überhaupt no problem. Dann kommt schon wieder Freude auf – und Familiensinn. Und vielleicht menschenleere Landschaften, vielleicht gut für Naturschutz, denn seit wann kann Politik „Menschen“ schützen? Absurder Gedanke!

Barfuß auf Nacktschnecken

(F 2010, Regie: Fabienne Berthaud)

Schöne Ziellosigkeit
von Wolfgang Nierlin

Lily (Ludivine Sagnier) ist eine junge Frau mit ziemlich vielen Eigenschaften, Macken und Spleens. Sie lebt in einem abgelegenen Haus inmitten der Natur im direkten Kontakt mit den Elementen: erdverbunden, …

Lily (Ludivine Sagnier) ist eine junge Frau mit ziemlich vielen Eigenschaften, Macken und Spleens. Sie lebt in einem abgelegenen Haus inmitten der Natur im direkten Kontakt mit den Elementen: erdverbunden, erfahrungsbezogen, verwurzelt. Sie ist spontan und ungezwungen, wild und hemmungslos, aber auch unberechenbar und chaotisch. Mit ihrer provozierend natürlichen Direktheit verstößt sie gegen Konventionen und spricht dabei überraschend hellsichtig unbequeme Wahrheiten aus; mit ihrer kindlichen Spiellust und naiven Versponnenheit gestaltet sie phantasievolle Welten und magische Objekt aus toten Tieren, Puppen und Gebrauchsgegenständen: ein bizarres Reich zwischen Leben und Tod, Kunst und Kitsch (entstanden unter Mitarbeit der französischen Künstlerin Valérie Delis). Genauso seltsam und verstörend ist Lilys ungreifbares, widersprüchliches Wesen. Mal gibt sie sich liebeshungrig, dann wieder abweisend. Lily ist eine psychische Grenzgängerin auf der Suche nach Freiheit. Im Geiste Pippi Langstrumpfs bewegt sie sich auf der Borderline zwischen Normalität und Wahnsinn.

Dagegen ist ihre Schwester Clara (Diane Kruger) geradezu „eigenschaftslos“ und ein bisschen gewöhnlich. Als Mitarbeiterin in der Anwaltskanzlei ihres Mannes Pierre (Denis Ménochet) lebt sie gutsituiert und sorglos ein relativ normales Leben in der Großstadt. Das ändert sich, als plötzlich die Mutter der beiden Schwestern stirbt und sich die verantwortungsbewusste Clara um die psychisch labile Lily kümmern muss, was einen Prozess beiderseitiger Annäherung in Gang setzt und damit auch eine Auseinandersetzung mit der verdrängten Familiengeschichte: der unglücklichen Ehe der Eltern und den Erwartungen des Vaters, der Selbstmord verübte.

Trotz dieser angedeuteten biographischen Problematisierung besitzt Fabienne Berthauds Film „Barfuß auf Nacktschnecken“ („Pieds nus sur les limaces“) zunächst und über weite Strecken eine schöne Ziellosigkeit, die noch unterstützt wird durch einen weitschweifig mäandernden Erzählstil. Inspiriert von den improvisierten Filmen John Cassavetes‘, arbeitet Fabienne Berthaud spontan und intuitiv, wobei ihre oft unruhigen, angeschnittenen und sehr körperlichen Bilder immer wieder den Informationsfluss verzögern und ins Unbestimmte führen; womit sie auch auf das Ungreifbare der Protagonistin reagieren.

Auch wenn die Regisseurin den Umgang mit Lilys Abweichung zunächst erfreulich offen lässt und den thematisch üblichen Therapie- und Hospitalisierungsmaßnahmen entzieht, läuft ihre Geschichte schließlich doch darauf zu, in der Umkehrung dieses Klischees von einer Heilung beziehungsweise Befreiung zu erzählen. Mit emanzipatorischem Furor löst die vermeintlich Kranke also die „in eine Form gepresste“ Gesunde aus ihren Zwängen. Zwar überzeugt die utopische Perspektive dieser Verwandlung nicht ganz; dennoch leuchtet Berthauds Film als Feier des Lebens im Hier und Jetzt.

Liverpool

(AR / F / NL / D/ ESP 2008, Regie: Lisandro Alonso )

Fremd am Ende der Welt
von Wolfgang Nierlin

Das geduldige, fast absichtslose Beobachten und Aufzeichnen physischen Handelns charakterisiert die Filme Lisandro Alonsos. Die Sprache des Körpers, die sich ausdrückt in Bewegungen und Gesten, in alltäglichen Verrichtungen und handwerklicher …

Das geduldige, fast absichtslose Beobachten und Aufzeichnen physischen Handelns charakterisiert die Filme Lisandro Alonsos. Die Sprache des Körpers, die sich ausdrückt in Bewegungen und Gesten, in alltäglichen Verrichtungen und handwerklicher Arbeit gibt dem Schweigen der verschlossenen Figuren eine Stimme. Dieser Umgang mit den Elementen erfüllt Raum und Bild und überträgt sich als physische Erfahrung förmlich auf den Zuschauer. Essen und Trinken, Arbeiten und Nichtstun, als Meditation über die berührende Tiefe des Gewöhnlichen in langen Einstellungen und mit dokumentarischem Blick inszeniert, verdichten die physische Existenz zum schieren Seinsgrund. Ausgesetzt in der Zeit und durch Orte determiniert, sind die Figuren jenseits dramatischer und psychologischer Vorgänge einfach nur sie selbst. In Alonsos Filmen gibt es nichts, was dem schönen Schein gängiger Kino-Ware zuarbeitet. Selbst ein mögliches Zentrum scheint sich immer wieder zu verflüchtigen.

Das ist auch in „Liverpool“, dem aktuellen Film des argentinischen Regisseurs, nicht anders. In Wiederaufnahme verschiedener Motive seines 2004 entstandenen Werkes „Los muertos“ (Die Toten) begleitet der Film den Matrosen Farrel (Juan Fernández) auf seiner Reise zur südlichsten Stadt Argentiniens in der Provinz Feuerland. Von Ushuaia aus, wo sein Containerschiff anlegt, bewegt er sich durch eine unwirtliche, schneebedeckte Landschaft am Ende der Welt, durch Eis und Kälte, um seine Mutter zu besuchen, von der er nicht weiß, ob sie noch lebt. Doch in seiner Heimat ist Farrel zum Fremden geworden. „Warum bist du zurückgekehrt?“ und „Was hoffst du zu finden?“, wird er argwöhnisch gefragt. Seine mittlerweile alte, bettlägerige Mutter erkennt ihn nicht wieder, während er vergeblich versucht, Nähe herzustellen und sich mit diversen Erinnerungsstücken seiner Kindheit vergewissert.

Farrel ist ein einsamer Held ohne feste Bleibe, der in ärmlichen, heruntergekommenen Provisorien sein Lager nimmt. Überhaupt interessiert sich Lisandro Alonso für ein Kino der Armut und des einfachen Lebens, darin ähnlich seinem portugiesischen Kollegen Pedro Costa oder auch Buñuel und Pasolini. Wenn sein verlorener, trostloser Protagonist seinen Geburtsort schließlich wieder verlässt, verschwindet er förmlich in der Landschaft, die – auch in den Bildern vom Meer – alles Enge kontrastiert. Entgegen der Erzählkonvention ist der Film allerdings dann noch nicht zu Ende. Vielmehr bleibt der Zuschauer nach diesem Abschied noch eine Weile im Dorf unter den Fremden zurück.

Das Hausmädchen

(KR 2010, Regie: Im Sang-soo )

Die Dialektik von Herr und Magd
von Harald Steinwender

Eine junge Frau nimmt eine Stelle als Hausmädchen bei einer reichen Familie an. Eun-yi (Do-youn Jeon) ist schön, aber auch naiv, und, wie die Exposition zeigt, wohl auch etwas zu …

Eine junge Frau nimmt eine Stelle als Hausmädchen bei einer reichen Familie an. Eun-yi (Do-youn Jeon) ist schön, aber auch naiv, und, wie die Exposition zeigt, wohl auch etwas zu neugierig. Ihre wohlhabenden Arbeitgeber dagegen, die Gohs, sind blasiert, gelangweilt, distinguiert. Der Hausherr Hoon (Jung-jae Lee) trägt teure Hemden und trinkt noch teureren Wein, seine schöne, aber launische Frau Hae-ra (Woo Seo) ist schwanger mit Zwillingsmädchen. Eine Tochter haben beide schon, die junge Nami (Seo-hyun Ahn), um die sich Eun-yi kümmern soll. Manche haben eben alles, andere fast nichts. Eine alte Hausdame Byung-sik (Yuh-jung Youn) kümmert sich zudem seit Jahrzehnten um die Familie. Vielleicht trägt sie ein dunkles Geheimnis mit sich, eine Geschichte, die sich in ihrer Jugend ähnlich ereignet haben mag, wie sie das neue Hausmädchen erleben wird – wir werden es nie erfahren. Verbittert und etwas wunderlich ist die Alte über die Jahre geworden. Heimlich nascht sie von den Resten der Goh’schen Mahlzeiten und bedient sich am Wein des Hausherrn, als ob ihr das zusteht – dafür, dass sie all die Jahre diese hohlen, boshaften Menschen ertragen hat. Vielleicht hält sie sich auch mittlerweile für die eigentliche Hausherrin, wer weiß? Eines wird schnell offensichtlich: Das Verhältnis Herr und Knecht, bzw. Herr und Magd ist komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint.

Ein Selbstmord in der Exposition, den Eun-yi beobachtet, bevor sie zu den Gohs kommt, wirft bereits einen dunklen Schatten der Vorahnung über die Geschichte vom Hausmädchen, das aufs Land zieht, zu den egoistischen Bourgeois, die in eleganten, kalten, von gedämpften Weiß- und Schwarztönen bestimmten Villen leben. Das düstere Omen wird bald bestätigt, denn die Gohs werden die junge Frau ausnutzen und quälen. Doch so eindeutig sind die Machtverhältnisse nicht. Wenn der Ehemann plötzlich betrunken im Zimmer der jungen Frau steht, dann unterwirft sich das junge Hausmädchen dem stumpfsinnigen Macho, als hätte sie schon seit Wochen auf ihn gewartet. Überhaupt übernehmen die Frauen hier die zentrale Rolle als eigentlich starkes Geschlecht: Die Hausherrin und ihre Mutter scheinen zu allem fähig und im Hintergrund zieht die alte Hausdame die Fäden. Mehr als einmal wirken Hae-ra und ihre Mutter, wenn sie beim Mordpläneschmieden vor den lodernden Flammen eines offenen Kamins fotografiert werden, wie zwei Hexen. Der Mann im Haus dagegen ist nur ein eitler Geck, der selbst beim Vögeln das Spiel seiner Muskeln im Spiegel bewundert. Und doch zieht Eun-yi etwas magisch zu dieser Familie, die wie aus einem schwarzen Märchen entsprungen wirkt. Selbst als Eun-yi schwanger wird und die Frauen des Hauses einen ersten Mordanschlag auf sie verüben, kehrt das Hausmädchen zurück in das Landhaus. Die Konsequenzen sind, was sonst, mörderisch.

Sang-soo Ims 'Das Hausmädchen' ist ein freies Remake des gleichnamigen, 1960 erschienenen Thrillers von Ki-young Kim, einem Meister des psychologischen, melodramatisch grundierten Horrorfilms. Kims Film ist der wohl bekannteste koreanische Film der Nachkriegszeit, und mit Regisseuren wie Martin Scorsese hat er auch im Westen viele Bewunderer. In der ersten Version des 'Hausmädchens' war die Titelheldin noch eine mörderische Femme fatale. In Ims Neufassung bleiben die Beweggründe der jungen Frau rätselhaft.

Bestenfalls Fragmente einer Biografie erfahren wir von Eun-yi, fast nichts über ihr Leben vor der Begegnung mit den Gohs. Aber realistische, psychologisch motivierte Charaktere sind in der Neufassung dieser klassischen Geschichte sowieso nebenrangig. Stattdessen inszeniert Im einen postmodernen Thriller, der mit seinen boshaften Spitzen gegen die südkoreanische Bourgeoisie zu Beginn wie ein Versuch wirkt, Chabrol nach Asien zu transponieren. Über weite Strecken erinnert 'Das Hausmädchen“ in seiner Stilisierung auch an die Gialli, diese eleganten, wilden psychosexuellen Thriller aus dem Jet-Set-Italien der 70er Jahre. Mit der eleganten Kameraarbeit, der assoziativen Montage, den sorgfältig kadrierten CinemaScope-Bildern und der exzellenten Ausstattung des Hauses mit kubistischen Gemälden, rauschhaft-ornamentalem Jugendstil-Design und nach innen gewundenen Treppen ist 'Das Hausmädchen' über weite Strecken vor allem ein visuelles Erlebnis; ein erlesener Bilderreigen, dessen effektive Wechsel von Tonalität und Stimmung umso verstörender wirken. Zum Schluss lässt Im dann den Plot Purzelbäume schlagen, gibt eine realistische Dramaturgie endgültig auf und wagt sich auf das Terrain von David Cronenberg und David Lynch.

Retrospektiv fragt man sich, ob das alles nicht die Phantasie einer der Figuren war. Aber welcher? Die der alten Hausdame, die sich eine Rachephantasie zurechtspinnt mit einer jungen Stellvertreterin ihrer selbst in der Hauptrolle? Die der schwangeren Mutter, die sich als omnipotente schwarze Märchenkönigin an ihrem treulosen Mann rächt? Oder die des jungen Hausmädchens, das sich in einer sadomasochistischen Phantasie als den heimlich aktiven Part imaginiert? In jedem Fall bestätigt „Das Hausmädchen“ zusammen mit den Werken anderer südkoreanischer Filmemacher wie Joon-ho Bong (“Madeo” / „Mother“; 2009), Hong-jin Na (“Chugyeogja” / “The Chaser”; 2008), Jee-woon Kim (“Akmareul boatda” / “I Saw the Devil”; 2010) und Jeong-beom Lee (“Ajeossi” / “The Man From Nowhere”; 2010), dass die besten Thriller derzeit aus Südkorea kommen – sei es als psychologischer Kriminalfilm, klassische detective story, harter Polizeifilm, wilde Action-Fantasie oder eben als surreales Kammerspiel.

Thor

(USA 2011, Regie: Kenneth Branagh)

Wo die wilden Kerle wohnen ...
von Harald Steinwender

Augenzucker aus Hollywood, kandiert und glasiert, glitzernd und strahlend: Kenneth Branagh, bekannt als Theatermime und für seine Kinoadaptionen von Shakespeare-Stücken wie „Henry V“ (1989), „Much Ado About Nothing“ („Viel Lärm …

Augenzucker aus Hollywood, kandiert und glasiert, glitzernd und strahlend: Kenneth Branagh, bekannt als Theatermime und für seine Kinoadaptionen von Shakespeare-Stücken wie „Henry V“ (1989), „Much Ado About Nothing“ („Viel Lärm um nichts“; 1993) und „Hamlet“ (1996), hat sich an einen Superheldenfilm gewagt. Und, wider Erwarten ist ihm das ziemlich gut gelungen.

Dabei hat sich der 51-jährige Brite den wohl abstrusesten Helden aus dem weitverzweigten Marvel-Comicuniversum ausgesucht: den hammerbewehrten, nordischen Donnergott Thor. Verkörpert wird dieser von dem australischen Schauspieler Chris Hemsworth („Star Trek“; 2009), der blond, blauäugig und muskelgepanzert wie ein Bilderbucharier wirkt. Nach einer visuell überdeutlich an Leni Riefenstahls Paraden aus „Triumph des Willens“ (1935) angelehnten, aber gescheiterten Inauguration zum König wird Thor wegen seines aufbrausenden Temperaments von seinem Vater Odin verstoßen (Anthony Hopkins – noch ein Brite, der, wenn er nicht gerade als kannibalischer Serienmörder reüssiert, vor allem als Bühnenschauspieler und mit Literaturverfilmungen bekannt ist). Aus Asgard verbannt, verschlägt es unseren Helden dann nach Amerika. Und obwohl der Film im New Mexico der Gegenwart angesiedelt ist, zitiert er natürlich in fast jeder Einstellung 50er-Jahre-Americana wie die Kleinstadt mit Diner, Bar, Dorfschönheit und Wüste drum herum. Der Runninggag, den Branagh daraus entwickelt, dass der tumbe Heros im modernen Amerika wie ein debiler Wrestler oder ein stumpfsinniger Redneck wirkt, ist allerdings auch bei der x-ten Wiederholung nicht sonderlich innovativ. So weit, so vorhersehbar.

Was Branagh aber umso besser gelingt, das ist die Parallelhandlung in Asgard und die Geschichte von Thors Vertreibung aus dem Götterreich, die uns zu Beginn in einer langen Rückblende erzählt wird. Ist hier erst einmal die ärgerliche Riefenstahl-Reminiszenz abgehandelt und die abstruse Prämisse des Films vergessen, dann kann man „Thor“ durchaus als das genießen, was er in erster Linie sein will: visuell opulentes Überwältigungskino, das selbst das mittlerweile totgerittene und für Produktionen dieser Größenordnung obligatorische 3D effektiv einsetzt. Der eigentliche Star des Films aber ist weder das stereoskopische Format, der Superheld oder seine Gegner, sondern die in der Krone der Weltenesche Yggdrasil gelegene, in komplementärfarbigen Tableaus von Goldgelb und Blau getaucht Götterwelt Asgard, wo die aufbrausenden Göttersöhne hausen. Diese Fantasiewelt ist eine wahre Augenweide: mit Ansammlungen goldener Türme, die wie futuristische Orgelpfeifen wirken, allenthalben glänzenden Oberflächen und einem glitzernden Sternenhimmel; zusätzlich eine gigantische Brücke, die dunkel funkelt und aus einem Material gefertigt ist, das wie eine Art elektrisierter schwarzer Marmor aussieht. Über diese Brücke gelangen die Helden in die Gegenwelten; zu den Menschen oder in die Welt der Frostriesen von Jotunheim, die, so will es der Plot, Thors Erzfeinde sind. Eye candy nennen die Amerikaner so etwas: Nichts für den Kopf, sondern was fürs Auge.

Für solch einen irrwitzigen Bombast scheint paradoxerweise gerade ein kühler Brite wie Branagh der ideale Regisseur zu sein. Immerhin war es einer seiner Landsleute, der den bis heute besten Fantasyfilm überhaupt gedreht hat: John Boorman, der mit seinem rauschhaften „Excalibur“ 1981 versuchte, die Artus-Legende noch einmal ganz ironiefrei zum Leben zu erwecken. Doch während der Mythopoet Boorman die Artus-Sage von späteren christlichen Anverwandlungen befreit und zum Schwanengesang auf das Heidentum und die alten Naturgötter umdeutete, da beschreitet Branagh den diametral entgegengesetzten Weg: Er christianisiert Thor und die nordische Mythologie. So wirkt der Donnergott eher wie der blond-blauäugige Jesus unzähliger Bibelverfilmungen, sein gütig-weiser Vater Odin mit dem weißen Rauschebart wie eine Mischung aus den kitschigsten Gottesbildern des Christentums und dem Weihnachtsmann. Auch Loki (Tom Hiddleston), hier Thors (Stief-)Bruder, ist nicht mehr der Trickster der Mythologie, sondern wird zum gefallenen Engel Luzifer inklusive der nach hinten gebogenen Hörner, die seinen Helm zieren. Hinzu kommen Anklänge an die durch das Kino wieder und wieder geplünderte griechische Mythologie, etwa wenn Thor auf der Erde wie einst Steve Reeves’ Herkules in Pietro Franciscis „Le fatiche di Ercole“ („Die unglaublichen Abenteuer des Herkules“; 1958) gute Taten vollbringt und mit einer Menschenfrau (Natalie Portman) anbandelt. Das Ergebnis ist Camp in höchster Vollendung, und gerade die prinzipielle Lächerlichkeit dieses Sammelsuriums an Absurditäten bereitet dem befreienden Lachen seinen Weg. Selbst eine Referenz an „Richard III.“ findet hier ihren Platz, wenn der stoische Held in ein Zoogeschäft stürmt und „A horse, I need a horse!“ deklamiert. Warum Thor überhaupt (akzentfrei) Englisch spricht, ist wie die anderen Logiklöcher des Plots darüber schnell vergessen. Und da Branagh nicht den Fehler macht, den Bogen zu überspannen und eine Actionszene an die andere zu reihen, sondern stattdessen auf jeden Krawall eher kontemplativen Unsinn folgen lässt, kommt man auch nicht völlig erschlagen, sondern im Großen und Ganzen ziemlich gut gelaunt aus dem Kino.

I Killed My Mother

(CAN 2009, Regie: Xavier Dolan)

Hassliebe
von Wolfgang Nierlin

Mitten hinein in das Lebensgefühl eines 17-jährigen, künstlerisch veranlagten Jugendlichen taucht Xavier Dolans Spielfilm „J’ai tué ma mère“ (I killed my mother). Der 1989 in Montréal geborene Frankokanadier hat sein …

Mitten hinein in das Lebensgefühl eines 17-jährigen, künstlerisch veranlagten Jugendlichen taucht Xavier Dolans Spielfilm „J’ai tué ma mère“ (I killed my mother). Der 1989 in Montréal geborene Frankokanadier hat sein Debüt in Personalunion als Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler realisiert und gilt unter Kritikern seither als cineastisches Wunderkind. Diese autobiographische Nähe zum eigenen Lebensstoff, verbunden mit einem erfrischend unverbrauchten, experimentierfreudigen Inszenierungsstil, sorgt für die besondere Authentizität und lebendige Unmittelbarkeit des Films.

Dabei arbeitet Dolan jedoch kaum mit verwackelten Handkamerabildern. Sein intimes Selbstportrait über die schier ausweglos erscheinende Hassliebe zwischen dem von ihm selbst gespielten 16-jährigen Hubert Minuel und seiner Mutter Chantale Lemming (Anne Dorval), die sich in ständigen Streitereien und hitzigen Wortgefechten ausdrückt, verdichtet die Stagnation dieser Beziehung vielmehr in statischen Tableaus. Insofern gleicht der Film mit seinen frontal aufgenommenen Dialogszenen, den angeschnittenen oder an den Bildrand gedrängten Figuren, den akzentuierten Räumen und Interieurs eher einem Gemälde als einem Roman, eher der Beschreibung eines Zustands denn der Entwicklung einer Geschichte.

Formal aufgelockert und in eine spielerisch leichte Schwingung versetzt wird dieses relativ starre Bildkonzept durch eingeschnittene, augenblickshafte Flashs, durch phantastische Tagträumereien, Visionen und assoziative Bildfolgen, in denen sich das subjektive Bewusstsein des Protagonisten ausdrückt. Daneben aber auch durch ein in Schwarzweiß gehaltenes persönliches Videotagebuch, in dem Hubert sein wütendes Verhältnis zur Mutter, seine Homosexualität und sein Aufbegehren reflektiert. Zitate von Guy de Maupassant, Jean Cocteau und Alfred de Musset verlängern diese Intimität, schaffen auf poetische Weise einen nachdenklichen Ausgleich zu den emotionalen Ausbrüchen und geben darüber hinaus Auskunft über den künstlerischen Kosmos des jungen Xavier Dolan. Der hat unter dem Titel „Les amours imaginaires“ (Heartbeats) bereits seinen zweiten Film abgedreht und veröffentlicht.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Nostalgia de la luz

(CL / F / D 2010, Regie: Patricio Guzmán)

Pforten zur Vergangenheit
von Wolfgang Nierlin

Die Gegenwart existiert nicht, sie ist nur eine Illusion. Diese Feststellung des Astronomen Gaspar Galez kontrastiert gewissermaßen die Kindheitserinnerungen des Filmemachers Patricio Guzmán (Jahrgang 1941), ohne diese zu entzaubern. In …

Die Gegenwart existiert nicht, sie ist nur eine Illusion. Diese Feststellung des Astronomen Gaspar Galez kontrastiert gewissermaßen die Kindheitserinnerungen des Filmemachers Patricio Guzmán (Jahrgang 1941), ohne diese zu entzaubern. In poetischen Bildern, in Stillleben von Räumen und Gegenständen beschwört der chilenische Dokumentarist zu Beginn seines neuen Films „Nostalgia de la luz“ (Heimweh nach den Sternen) jene „friedliche Zeit“ eines fernen Kindheitsparadieses, in dem es immer nur die Gegenwart gab. Doch dann mischt sich funkelnder Sternenstaub in das Spiel von Licht und Schatten. Leicht und schwebend fällt er in die Bilder und illuminiert sie mit einem sanften Hauch von Ewigkeit.

Woher kommen wir und wohin gehen wir? Immer wieder formen sich aus den Sternbildern faszinierende farbige Ornamente. Die Kraterlandschaft der Mondoberfläche mit ihren Abdrücken und Spuren vermittelt eine Ahnung von Geschichte und ihren undurchdringlichen Geheimnissen. Doch dann kehrt sich die Blickrichtung der Teleskope um; und der blaue Planet schrumpft zu einem braunen Fleck, dessen Trockenheit derjenigen des Mars ähnlich ist. „Verdammte Erde“ sagt der Volksmund zur chilenischen Atacamawüste, dieser toten Landschaft, die zugleich voller Geschichte steckt. Als „offenes Buch der Erinnerung“ birgt sie spätkolumbianische Felszeichnungen und oberirdische Nomadengräber. In der jüngeren chilenischen Geschichte war sie aber auch Schauplatz grausamer Verbrechen: Hier installierte Diktator Pinochet in den Ruinen eines alten Bergwerks ein Konzentrationslager, in dem Regimegegner gefoltert und ermordet wurden.

Dieser gesellschaftlich verdrängten Geschichte und der Suche nach den „desaparecidos“, den Verschwundenen, ist Patricio Guzmán, der selbst viele Jahre im Exil lebte, in seinem essayistischen, visuell eindringlichen Dokumentarfilm auf der Spur. Denn die Toten dürfen nicht vergessen werden: „Diejenigen, die eine Erinnerung haben, sind fähig, in der zerbrechlichen Gegenwart zu leben. Diejenigen, die keine haben, leben im Nirgendwo.“ Während Angehörige seit Jahren mit fast übermenschlicher Beharrlichkeit die Wüste nach Opfern absuchen, ist diese aufgrund ihrer extremen Trockenheit und der damit verbundenen optimalen Beobachtungsbedingungen bevorzugtes Terrain astronomischer Observatorien und ihrer Forschungen. Die „Pforten der Vergangenheit“ öffnen sich an diesem ungewöhnlichen Ort quasi in zwei Richtungen, die sich letztlich miteinander verbinden. Denn das Licht, das die Fernrohre aus einer unglaublich fernen Vergangenheit einfangen, teilt seine Energie mit den Zyklen des irdischen Lebens, seinem Werden und Vergehen.

Kinder der Steine – Kinder der Mauer

(D 2010, Regie: Robert Krieg, Monika Nolte)

Verlorene Hoffnungen, unzerstörbare Träume
von Wolfgang Nierlin

Die Fotografie zeigt sechs 10-jährige palästinensische Jungen (und einen siebten, der in die entgegengesetzte Richtung schaut und über den man leider nichts erfährt), die mit strahlenden Gesichtern und leuchtenden Augen …

Die Fotografie zeigt sechs 10-jährige palästinensische Jungen (und einen siebten, der in die entgegengesetzte Richtung schaut und über den man leider nichts erfährt), die mit strahlenden Gesichtern und leuchtenden Augen in die Kamera blicken und dem Betrachter dabei übermütig das Victory-Zeichen entgegenstrecken. Eine schelmische Komplizenschaft und eine unbändige Bewegungslust, von kindlichem Enthusiasmus und Neugier angespornt, sind darauf festgehalten. Aufgenommen wurde das Bild von dem Fotografen Ralf Emmerich 1989 in Bethlehem, wo während der ersten Intifada ein „Krieg der Steine“ tobte. Für den Dokumentarfilmer Robert Krieg, der damals seinen Film „Intifada – Auf dem Weg nach Palästina“ drehte, ist dieses Foto „zu einem Symbol des Widerstands gegen die Besatzermacht“ geworden. Zwanzig Jahre später dient es ihm und seiner Ko-Autorin Monika Nolte als Ausgangspunkt für ihren neuen Film „Kinder der Steine – Kinder der Mauer“ und damit für eine Spurensuche über verlorene Hoffnungen und unzerstörbare Träume.

Die Nachstellung des Bildes mit den heute 30-jährigen Männern in einer engen Gasse der Bethlehemer Altstadt steht am Beginn von Kriegs und Noltes Dokumentarfilm über den Werdegang und die persönlichen Lebensverhältnisse der Portraitierten. Die räumliche Nähe zueinander, eine langjährige Freundschaft und eine tiefe Solidarität zwischen den Familien sind ihnen über die Jahre hinweg erhalten geblieben. Trotz eingeschränkter Arbeitsmöglichkeiten haben sie ihr bescheidenes Auskommen als Souvenirverkäufer, Geldwechsler, Küchenhilfe, Reinigungskraft oder auch als Hühnermetzger gefunden und sich dabei eine grundlegende Lebensfreude bewahrt: „Wir lachen immer noch, aber unser Lachen damals war viel herzlicher.“

Denn im sichtbaren, etwas redundant ins Bild gesetzten Zentrum des Films stehen die einschneidenden Veränderungen durch den israelischen Siedlungsbau und die Errichtung einer gigantischen Grenzmauer nach dem Einmarsch von Truppen in die Autonomiegebiete im Zuge der zweiten Intifada. Zwar witzeln die Freunde desillusioniert, die Häuser seien mit den Steinen von damals gebaut worden; doch tatsächlich haben diese zerstörerischen Eingriffe ihre Perspektive regelrecht verbaut und sie zu Eingeschlossenen gemacht. Dass der Film bei den teils inszenierten Schilderungen dieser beschwerlichen Lebensverhältnisse und ihrer geschichtlichen Rekonstruktion thematisch einerseits auf der Stelle tritt, spiegelt andererseits in sich die reale Stagnation im Alltag von Menschen, die vielleicht gerade deshalb eine starke Solidarität eint.

9 Leben

(D 2010, Regie: Maria Speth)

Vom Porträt zur Apotheose
von Sven Jachmann

Es sind überaus drastische Schicksale, von denen Regisseurin Maria Speth („In den Tag hinein“ (2001), „Madonnen“ (2007)) in ihrem ersten Dokumentarfilm erzählen lässt. Geschichten von seelischen und körperlichen Misshandlungen, Vergewaltigung, …

Es sind überaus drastische Schicksale, von denen Regisseurin Maria Speth („In den Tag hinein“ (2001), „Madonnen“ (2007)) in ihrem ersten Dokumentarfilm erzählen lässt. Geschichten von seelischen und körperlichen Misshandlungen, Vergewaltigung, Drogensucht, familialer Gewalt und sozialer Isolation. Erzählt wird ebenso von Befreiungsschlägen, von dem Nullpunkt, der Sunny, Toni, Krümel, JJ, Stöpsel, Soja und Za, die sieben Protagonisten des Films, dazu verleitete, das Leben auf der Straße jeder Illusion von familiärer Sicherheit vorzuziehen. Das ist der grobe Rahmen, über den Speth ihre Charaktere arrangiert: die Portraits verschiedener Menschen zu entwerfen, die in Berlin auf der Straße lebten oder es immer noch tun. Zu Zeiten, in denen die Dominanz des Infotainments seinen Figuren keinerlei Wahrheit mehr zugesteht, sie stattdessen etwa vor stimmungsfördernde Kulissen platziert oder lieber gleich durch Schauspieler ersetzt, zeugt der stilistische Purismus Speths von großer Anteilnahme gegenüber den Sprechenden.

Der gesamte Bildapparat gehorcht der Prämisse, jede Suggestivmethode, jede Ablenkung von den Worten zu unterbinden. In schwarzweißen, perfekt ausgeleuchteten Bildern (Kameramann Reinhold Vorschneider wirkte bereits bei den Filmen von Rudolf Thome („Die Sonnengöttin“, „Paradiso – Sieben Tage mit sieben Frauen“), Angela Schanelec („Marseille“, „<<TEXT:UNTERSTRICHEN>Orly“), Benjamin Heisenberg („Schläfer“, „Der Räuber“) oder Thomas Arslan („<<TEXT:UNTERSTRICHEN>Im Schatten“) mit, ebenso bei Speths ersten beiden Spielfilmen) sprechen die Interviewten in einem weißen Studio auf einem Stuhl sitzend von sich: keine Musik (es sei denn, sie wird von ihnen selbst erzeugt), keine Außen- oder Archivaufnahmen, kein Dekor, keine weiteren Gegenstände (es sei denn, sie wurden von ihnen selbst mitgebracht) und dadurch auch kein Kontext, der als Mischung aus Vorurteilen und Stigmatisierungsprozessen die Aussagen unweigerlich zu Symptomen verklärt. Was den Dokumentarismus des Fernsehbeitrags mit seiner kruden Absicht einer Milieubeschreibung in der Regel so widerwärtig macht – dass er nämlich Repräsentanten und keine Individuen benötigt, auf die er dann mit den abgefeimtesten Mitteln der Dramaturgie einschlägt, bis das Schreckbild einer fremden Parallelwelt endlich grundiert ist und sich den Gesetzen der Dramaturgie unterordnet -, gerät hier durch den Rückgriff aufs Artifizielle zum Dokumentarismus einer Authentizität. Und die erzeugen einzig die Interviewten: durch Gesten, durch Kleidung, durch Sprache, durch musische Talente, die sie unter Beweis stellen, vor allem aber durch die Wahl, wovon sie überhaupt sprechen wollen. Ihre Namen erfahren wir erst recht spät und ihre Biographien entfalten sich nicht chronologisch. Dramaturgisch korrekt ist das nicht. Dadurch sprechen sie zugleich aber auch nicht einzig für und über das Umfeld, dem sie erwachsen sind, und in der Tat will beispielsweise das Klischee der jugendlichen Punkerin, die im bürgerlichen Elternhaus das Gymnasium besucht, Musikunterricht nimmt, gleichzeitig aber ein Doppelleben als Heroinsüchtige führt, bis sie sich endgültig für ein qualvolles Straßenleben entscheidet, noch geboren werden.

Ohne den filmischen Apparat, der Gesellschaft nicht beschreiben, sondern erzeugen will, bleibt einzig die Konzentration auf die posthumen Beschreibungen der meist noch jugendlichen Sprecher/innen. Man kann davon abstrahieren und die statistisch längst verifizierte These, dass der Mikrokosmos Familie der weitaus gefährlichste Ort für Kinder und Jugendliche ist, um physischen und psychischen Misshandlungen ausgeliefert zu sein, durch die Aussagen ein weiteres Mal in bedingungsloser Klarheit gestützt sehen. Man kann aber auch gleichfalls mit tiefstem Respekt zuhören, wie sich ein damals 14-jähriges Mädchen dazu entschloss, sich keinesfalls mehr vom neuen Partner der Mutter schlagen zu lassen und dafür die existenziellste Konsequenz der Armut in Kauf nahm. Über das Gespräch und einem sich nur ihnen verpflichtenden Raum wachsen die Figuren von der Variable zur omnipräsenten Biographie. Zweifel darüber, was mit aller Härte, Offenheit und Verletzlichkeit gesagt wird, wollen die Bilder, die ausschließlich Gesichter kennen, jedenfalls mit sämtlichen zur Verfügung stehenden Mitteln des Films verhindern und aus den Portraits wird eine regelrechte Apotheose.

Solino

(D 2002, Regie: Fatih Akin)

Pizza versus Bratwurst
von Andreas Thomas

Wie der 2004 prämierte und gefeierte „Gegen die Wand“ thematisierte auch Fatih Akins dritter Spielfilm „Solino“ die Fragen nach Leben und kultureller Identität von ehemaligen „Gastarbeitern“ und/oder deren Kindern in …

Wie der 2004 prämierte und gefeierte „Gegen die Wand“ thematisierte auch Fatih Akins dritter Spielfilm „Solino“ die Fragen nach Leben und kultureller Identität von ehemaligen „Gastarbeitern“ und/oder deren Kindern in Deutschland. Der Versuch, diese Seite der bundesrepublikanischen Geschichte wahrzunehmen, erhielt (verdientermaßen) das Prädikat „Besonders wertvoll“. Denn allzu wenig erfahren wir Deutschen, auch die Deutschen südeuropäischer Herkunft selbst über ihre eigene Vergangenheit. Es scheint oft, als wäre Integration gleichbedeutend mit dem Vergessen der eigenen Wurzeln, und als erschöpfe sich interkulturelle Differenz und Kommunikation in Fastfood-Symbolik: Bratwurst, Döner, Pizza. Wo zu wenig memoriert, reflektiert, kommuniziert wird, entstehen Stereotypen. Obwohl sicherlich in bester Absicht gelangt auch „Solino“ – und das unterscheidet ihn auffallend von „Gegen die Wand“ – nur selten darüber hinaus.

In den sechziger Jahren verlässt die glückliche italienische Familie Amato ihr freundliches Heimatdorf Solino, um ihr Glück im grauen und tristen Deutschland, sprich in Duisburg, zu suchen. Schon der Beginn ist rätselhaft, denn zwingende wirtschaftliche Not ist bei den Amatos nicht auszumachen, eher folgt man dem Trend der Zeit: Gastarbeiter in der BRD werden. Über die Stationen siebziger und achtziger Jahre behandelt der Film den familiären Werdegang (sie eröffnen die erste Pizzeria im Ruhrgebiet), aber speziell den der beiden ungleichen Brüder Gigi (Barnaby Metschurat) und Giancarlo (Moritz Bleibtreu). Deren Aufwachsen im Spannungsfeld von (mäßig überzeugendem) italienischem Patriarchat (Gigi Savoya), antiautoritärem Rebellentum (Sex, Drogen, Ton Steine Scherben, The Can) und Kunst (Gigi will Filmemacher werden) steht im Mittelpunkt, ist so in den besten Momenten Aufbereitung von Zeitgeschichte, in den schlechtesten aber leider eine Karikatur dessen, was wir immer schon über unseren Pizzabäcker an der Ecke gedacht, jedoch nie hinterfragt haben.

Bitte auf keinen Fall die auf der DVD (neben Italienisch/Deutsch mit UT) enthaltene völlig überflüssige deutsche Version ohne Untertitel anschauen. Der gravierendste Schwachpunkt dieser Synchron-Fassung besteht darin, dass man in diesem Film-Italien genauso deutsch spricht wie in Deutschland. Da wirkt es dann sehr seltsam, wenn Mama (Antonella Attili) das Deutsch der Deutschen plötzlich nicht versteht und es sich vom Sohn ins (bis dahin nicht gesprochene) Italienische übersetzen lassen muss. Das Angebot eines Verzichtes auf die Originalsprache war wohl ein Zugeständnis an den Mainstream-Zuschauer. Irgendwie aber scheint ein solcher unnötiger Kompromiss symptomatisch für das Ganze: Der Film krankt an der Vereinfachung seiner Bestandteile. So ist beinahe jede Figur deutlich überdeterminiert: Ein dutzendmal muss Gigi wiederholen, dass er Filme machen will (der Film erklärt: er ist ein sensibler, geborener Künstler), ein dutzendmal stellt Bruder Giancarlo seine kriminellen Tendenzen unter Beweis (der Film erklärt: er ist ein schwacher, grober Mensch), latent blass und müde leidet die Mutter an der deutschen Kälte im Doppelsinn (der Film erklärt: sie sehnt sich nach Italien zurück), und so weiter und so fort. Weil der Film zu wenig an seine Figuren (und an das Reflexionsvermögen der Zuschauer) glaubt, überzeichnet er sie so lange, bis sie zu Klischees werden. Ein weiterer Schwachpunkt dabei mag aber auch die Wahl der Darsteller gewesen sein, von denen als einziger Moritz Bleibtreu ein bisschen Leben in die Bude bringt, auch wenn seine forcierte Italo-Gestik doch hin und wieder zu bemüht erscheint. Überhaupt ist ziemlich unverständlich, warum nicht echte Söhne von Italienern Söhne von Italienern spielen sollten?

„Solino“ endet – auch da eine Parallele zu „Gegen die Wand“ – mit einer Rückkehr in die Heimat. Selbst ein Land kann zum Abziehbild werden: Italien ist hell, Deutschland ist dunkel, Italien ist warm, Deutschland ist kalt, und wenn Gigi nicht Filmemacher geworden ist, so hat er doch sich selbst finden können – da wo er geboren ist, da wo die Menschen einfach und freundlich sind, da wo seine Jugendliebe auf ihn immer gewartet hat, da wo er hingehört? Löst „Solino“ das Problem Multikulti, indem er das Projekt Multikulti einfach rückgängig macht?

„Solino“, und deshalb wäre der Film Teil eines interessanten Lehrbeispiels, ist trotz des sehr verwandten Themas in seiner Realisation beinahe das genaue Gegenteil von „Gegen die Wand“, obwohl der Regisseur beider Filme derselbe ist. Was „Solino“ falsch macht, macht „Gegen die Wand“ richtig. Seine Kraft bezieht „Gegen die Wand“ vor allem aus dem Vertrauen in seine Geschichte und in seine Figuren – die wiederum von starken Darstellern gespielt werden. Die Protagonisten in „Gegen die Wand“ sind faszinierend, weil sie widersprüchlich und geheimnisvoll bleiben dürfen, die Handlung bleibt spannend, weil sie unvorhersehbar ist. Die Protagonisten in „Solino“ – und die Länder „Italien“ und „BRD“ zählen dazu – sind ermüdend, weil ihre Geheimnisse allzuschnell gelüftet sind. „Solino“, leider überwiegend, ist die Verfilmung von „Pizza“ und „Bratwurst“.

Das Traumschiff

(D 0, Regie: Hans-Jürgen Tögel, Karola Zeisberg-Meeder, Gero Ehrhardt, Christine Kabitsch-Knittel )

„Die Reise ist wie ein Urlaub von der Wirklichkeit“
von Nina Koebernick

Viel zu viel ist passiert in den letzten Jahren. Das Schiff Deutschland hat nur allzu viel ertragen müssen an ekelhafter Veränderung und Modernisierung. Das brauchen wir nicht. Wir, die Menschen, …

Viel zu viel ist passiert in den letzten Jahren. Das Schiff Deutschland hat nur allzu viel ertragen müssen an ekelhafter Veränderung und Modernisierung. Das brauchen wir nicht. Wir, die Menschen, die sich entkräftet nach dem ausbeuterischen Arbeitstag in der menschenfeindlichen Karrierewelt einfach nur auf die heimische Sitzgruppe schmeißen und fernsehformatisch FLIEHEN wollen. Wir wollen keine Symbiose mit dieser komischen Hochzeitssendung, zu der das Traumschiff heruntergekommen ist, wir wollen keine dilettantischen Schauspielversuche Helmut … äh…Harald Schmidts und zynische Anfeindungen Christoph (immerhin) MARIA Herbsts. WIR WOLLEN Dr. Horst Schröder wieder ZURÜCK!!! Deshalb kaufen wir die kürzlich erschienene DVD-BOX VII: „Die schönsten Reiseziele des Traumschiffs“ – Indien/Malediven, Hongkong, Mauritius, Tasmanien, Singapur, Hawaii.
Heide Keller samt Brut, Anja Kling, Bernd Herzsprung, Sigmar Solbach, Nadja Tiller, Elmar Wepper, Heinz Weiss, Georg Thomalla, Klausjürgen Wussow (gotthabsieselig), samt Brut, Gila von Weitershausen, Marion Kracht und HORST NAUMANN als Dr. Schröder. Eigentlich reicht das, um Freunde des gepflegten Eskapismus zu begeistern.

Uns treibt die Einfachheit der Dinge, hier ist ein 'Mädel noch ein Mädel' (Nadja Tiller), hier sind Einzelkinder noch bedauernswerte Geschöpfe, die ob des Verlustes ihrer Eltern („Mami und Papi sind jetzt im Himmel als Engel.“) bei einem Autounfall (eigentlich unerklärlich für alle Beteiligten: „Sogar auf dem Rücksitz musste ich mich anschnallen.“) mit einer anderen Einzelkindfamilie zusammengeführt werden („In meinem Zimmer wär‘ noch Platz für ein zweites Bett.“). Hier kommt zusammen, was zusammen gehört: BDM-Tiller und der Käpten (Beatrix: „Der Käpten sieht zum VERLIEBEN aus!!!“) finden nach dem Mauerfall endlich wieder zusammen. Der BAU DES ANTIFASCHISTISCHEN SCHUTZWALLES trennte die Liebenden („Schicksal: Hat es oft gegeben, DAMALS.“).

Ganz so einfach ist das aber alles nicht. Wir sind doch nicht senil und siebzig und schnallen nix mehr! Geflüster an Deck führt zu Turbulenzen: „Nichts weißt du. Gar nichts!“. Heinzens Prinzgemahlsorgen betrüben uns kurzfristig. Der ekelhafte Seitensprung widert uns an: „Heinz liebt mich – es ist nicht so, wie Sie denken. Wir wollen heiraten.“ – „Sie sind nicht die richtige Frau für ihn.“ Der betrügerische Diebstahl des scheinbaren Gigolos („Ich kann warten.“) regt uns auf. Abenteuerliche Räuberpistolen entreißen uns der Leichenstarre (HUCH: Der Dieb wurde bestohlen!). Unförmige Nebenbuhlerin gefährdet den amourösen Erfolg beim Käpten: „Eigentlich reise ich nicht gern allein, aber was soll man machen. Ich bin der Meinung, die meisten allein reisenden Frauen auf einer Kreuzfahrt suchen einen Mann.“ Aber „MUTTER“ weiß: „Es hat alles seinen tieferen Sinn“.

Auf zum Sightseeing. Landgang auf dem Höhepunkt der Komplikationen. Wir brauchen eine Pause. Spektakuläre Bilder landestypischer Sitten („Schöne Sitte, sollte man bei uns auch einführen!“), Gebräuche und Bauwerke lassen uns träumen. Diese stets fröhlichen anderen Kulturen – alles so bunt und mystisch. Hüpfende Einheimische. Rauschende Feste mit Tanz und Drachenkostümen. „Singapur hat die niedrigste Verbrechensrate der Welt.“ Wir holen uns ein Bier, um uns besser in die Stimmung reinzuversetzen. „Ach, Roland, ich finde hier alles so leicht und schön.“ Entspannung setzt wieder ein, wir und die erhitzten Paare, Damen und Herren des ewigen Achtzigerjahre-ZDF-Repertoires („Schwarzwaldklinik“) beruhigen uns. Nicht zuletzt lösen sich alle Probleme, weil das souveräne, immer sympathische Leitungstrio der MS Deutschland alles im Griff hat: Beatrix als vertrauliche Kupplerin (Käpten: „Beatrix, könnte es sein, dass sie gerne Amor spielen?' – Beatrix: nick, augenroll, grins), der strenge und moralisch stets integere „Doc“ (der gestählt aus der Krise um seinen wegen väterlicher Vernachlässigung klischeedrogenabhängig gewordenen Sohn tritt) und natürlich der kernige, durchsetzungsfähige Käpten („Na, dann sehen wir uns die Sache mal genauer an.“).

Das Traumschiff (DVD-Box VII), eine Mischung aus der DDR-Serie „Zur See“ und der amerikanischen Serie „The Love Boat“, ist geliebte westdeutsche Erinnerung. Der moderne Schmonzes der aktuellen Variante hat wenig damit zu tun, was das Traumschiff können muss.

Noise and Resistance

(D 2011, Regie: Julia Ostertag, Francesca Araiza Andrade )

DIY Till Death
von Sven Jachmann

Man könnte diesen Dokumentarfilm als Reaktion auf ein 25jähriges Jubiläum verstehen: Nachdem sich die englische Politpunk-Band Crass im Orwell-Jahr auflöste, begeben sich die Regisseurinnen Julia Ostertag („Gender X“ (2005), „Saila“ …

Man könnte diesen Dokumentarfilm als Reaktion auf ein 25jähriges Jubiläum verstehen: Nachdem sich die englische Politpunk-Band Crass im Orwell-Jahr auflöste, begeben sich die Regisseurinnen Julia Ostertag („Gender X“ (2005), „Saila“ (2008)) und Francessca Araiza Andrade auf die Suche nach dem, was gegenwärtig übriggeblieben ist von Punk und vor allem DIY. DIY ist das programmatische Signum für die antikommerzielle Geste der Vernetzung und Eigeninitiative Do it Yourself, die in den 80ern mit Hardcore die wohl letzte politisch relevante Jugendsubkultur erzeugen und Legionen an Bands, Labels, Konzertgruppen, autonomen Zentren, Mailorder, Fanzines usw. beflügeln sollte – Soundtrack für eine autonome Szene, die sich mit den Jahren immer weiter diversifizierte und so viele Subszenen bildete, dass Außenstehende nicht zu Unrecht die Verbindung solch inhaltlich unterschiedlicher Positionierungen wie der Selbstentblößung des Emocores, dem anarchistischen Crustpunk oder dem puritanischen Revolutionspathos von Straight Edge (das Mitte der 90er Jahre derart pervertieren sollte, bis selbst konservative Mittelstandskids wie Earth Crisis relativ unbeschadet gegen Abtreibung und Homosexualität agitieren konnten) allenfalls in der höchst aggressiven Musik erkennen konnten.

Zwei ehemalige Crass-Aktive kommen mit Gee Vaucher und Penny Rimbaud denn auch regelmäßig zu Wort und bilden als Vertreter der ganz alten Garde, neben Protagonisten der „zweiten Generation“ wie John Active vom ehrwürdigen Londoner Anarcho-Mailorder Active Distribution oder der niederländischen Hardcoreband Seein Red, das historische Bindeglied dieser Reise durch die europäischen Metropolen. Und wie es bei Reisen meist so ist: für tragfähige, dauerhafte Eindrücke sind sie in der Regel zu kurz. Das kann man dem Film wahlweise als Vor- oder Nachteil ankreiden.

Eine Lehrstunde in Geschichte will er nicht geben. Von einem kurzen Rückblick auf die Bandhistorie von Crass abgesehen, fällt kein Wort über europäische oder gar amerikanische Entwicklungen. Alles, was interessiert, ist der Ist-Zustand, den die Regisseurinnen in Russland, Spanien, Schweden, England und Deutschland aufspüren (dem Gegenstand angemessen übrigens in ebenbürtiger DIY-Manier, die jedes Produktionsdetail in den eigenen Händen behält, weswegen sich denken lässt, welch organisatorischer Kraftakt hinter dem Projekt stand). So sammeln sich zahlreiche Szene-Stimmen, die unkommentiert von sich und ihren Motivationen erzählen. Worum es dabei keinesfalls geht: das Leid zu klagen von der Unmöglichkeit als Musiker heutzutage, im Angesicht von digitalem Datenklau und beständiger Selbstvermarktung, ohne Zugeständnisse überlebensfähig zu bleiben. Hier ist bereits das Prozessuale Politikum, die Verweigerung zugleich auch utopischer Entwurf, Selbstermächtigung ein Statement wider die Ohnmacht. Der Aktivismus ist gleichbedeutend mit einem Gegenmodell – der Suche nach Möglichkeiten, dem gesellschaftlichen Zugriff zu entkommen. Und so allgemein dies nun auch klingt, konkreter wird das Ansinnen der Beteiligten nicht greifbar. Regionale Unterschiede erschließen sich höchstens indirekt, so sie denn als kurze Schlaglichter überhaupt annähernd repräsentativ sein können. Was sich hingegen erschließt, ist ein Geflecht weltweiter Vernetzung, das stets Öffentlichkeit und Teilhabe beansprucht. Wird in Barcelona eine Hausruine samt leer stehendem Hof besetzt, um darauf ein Festival zu organisieren, spielen dort selbstverständlich auch Antimaster aus Mexiko. In Russland, wo sich eine DIY-Kultur gerade erst vergleichsweise zaghaft zu etablieren beginnt, bedeuten die Netzwerke gar ein lebensnotwendiges Refugium. Im Wissen um den dort grassierenden, europaweit vielleicht massivsten Rechtsruck ist der zunächst übertrieben scheinende martialische Eindruck schnell verschwunden, wenn die Bandmitglieder von What We Feel (deren Fortbestehen nach einer ursprünglich einmaligen Konzertreihe beschlossen war, nachdem ein Freund auf einem ihrer Konzerte ermordet wurde) kollektiv die Messer präsentieren, ohne die sie das Haus niemals verlassen.

Selbstkritik bleibt, abzüglich einiger kurzer Statements von Sookee aus Berlin, im Prinzip außen vor. Umgekehrt jedoch erweist sich Kritik als (bildsprachlich niemals forcierte) Folge der dargebotenen Praxis: Natürlich kann man nach der Geschichtsblindheit von Seein Red fragen, wenn sie seit 20 Jahren vom Proletariat als grundgute Lohnsklaven auf der Bühne brüllen, nach dem anscheinend selbstverständlich vorausgesetzten emanzipatorischen Kern von DIY, wenn er doch „auch eine Form von Kommunismus oder Anarchismus ist. Denn er steht für Leute, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen.“ Gilt das nicht ebenfalls für organisierte Nazis? Man kann sich ärgern, wie Naturbeherrschung erschreckend technophob mit Naturunterwerfung in der Nestwärme des Kommunedasein kontrastiert wird, wenn die norwegischen Ökopunks La Casa Fantom resümieren: „Mir scheint, die Menschheit hat sich eine eigene Welt geschaffen und die ist beispielsweise nicht mit den Gesetzen der Natur im Einklang. Es ist nicht natürlich. Ich brauche nichts, was die Gesellschaft mir zu bieten hat. Ich will vielleicht ein paar Bäume pflanzen.“ Man kann sich wundern über Hybris und religiösen Furor, pädagogischen Eifer und Missionierungsdrang der Sängerin von Sju Svåra år, wenn das Bekenntnis „Mir ist es wichtig, etwas zu sagen, wenn ich auf der Bühne bin; ich muss die Chance nutzen, um das zu vermitteln“ zu Textzeilen wie „Ich hasse diese Gesellschaft, und ich werde alles tun, um aus ihr eine bessere Gesellschaft zu machen“ führt. Man kann fragen nach Sexismus beim Anblick der pogenden Männergrüppchen oder nach Strukturen der freiwilligen Selbstausbeutung, nach den Grenzen des in dem Zusammenhang ständig beschworenen, aber nie konturierten Freiheitsbegriffs, also: nach der Kohärenz von Parole und Lebenswirklichkeit. Der Film wirbt für vieles, ganz sicher aber nicht für den Anachronismus und die Selbstreferentialität so mancher Aktion und Haltungen, die seit über 25 Jahren, trotz szeneinterner Spaltungen, unverändert blieben. Das erledigen einige der Mitwirkenden selbst, ohne in irgendeiner Weise desavouiert zu werden. Letztlich lässt sich vielleicht am besten von Widersprüchen erzählen, indem man ihnen distanzlos gegenüber tritt.

Der Name der Leute

(F 2010, Regie: Michel Leclerc)

Hybride Vitalität
von Wolfgang Nierlin

Nicht wenige Komödien beziehen ihren Witz aus der Darstellung gegensätzlicher Charaktere. Das ist auch in Michel Leclercs französischem Erfolgsfilm „Der Name der Leute“ ('Le nom des gens') nicht anders, der …

Nicht wenige Komödien beziehen ihren Witz aus der Darstellung gegensätzlicher Charaktere. Das ist auch in Michel Leclercs französischem Erfolgsfilm „Der Name der Leute“ ('Le nom des gens') nicht anders, der vordergründig eine Liebesgeschichte behauptet, ohne diese Liebe erzählerisch plausibel zu machen. Sein Film über den vehementen Zusammenprall zwischen einem verklemmten Ornithologen und einer offenherzigen Politaktivistin gleicht eher einer tempogeladenen szenischen Nummernrevue, deren bemühte Späße ebenso schnell abgenutzt sind. Zwar transportiert diese ungleiche Begegnung relevante und hochaktuelle Gesellschaftskonflikte, doch deren Potential bleibt auf politische Schlagworte reduziert und erschöpft sich in Vordergründigem. Überhaupt zeigt sich hier einmal mehr die Crux oberflächlicher Komödien: Um die Typen und Klischees in ihrem vorgestanzten Koordinatensystem wirksam in Szene zu setzen, wird das wahre Leben einfach ausgeblendet.

Dabei geht es Michel Leclerc und seiner Ko-Autorin Baya Kasmi um nichts weniger als um die schwierige Vermittlung zwischen ethnischer Herkunft und sozialer Identität. Die Bedeutung der titelgebenden Namen, ihre identifizierende Funktion und ihr Potential für Missverständnisse spielen diesbezüglich eine besondere Rolle. In ausführlichen Rückblenden, die dokumentarische und phantastische Elemente verbinden, erzählen die Protagonisten aus dem Off erst einmal ihre Familiengeschichten. Demnach verdrängt Arthur Martin (Jacques Gamblin), dessen Name ständig mit einem Hersteller von Küchengeräten assoziiert wird, die Traumata seiner jüdischen Herkunft aus einer Familie mit Namen Cohen, die von der Ermordung seiner Großeltern in Auschwitz herrühren. Dagegen pflegt Bahia Benmahmoud (Sara Forestier), Tochter eines algerischen Flüchtlings und einer Hippie-Mutter, einen offensiven Umgang mit ihrem politischen Erbe.

„Make love not war“, lautet das abgenutzte Motto, mit dem sie als „politische Hure“ den „Faschos“ sexuell zu Leibe rückt, um politische Überzeugungsarbeit zu leisten. So naiv und eindimensional wie die ungezwungen und chaotisch agierende Figur, so vordergründig und fadenscheinig ist der inhaltliche Aufhänger für sie. Denn natürlich geht es vor allem darum, dass die hübsche Sara Forestier als quirlige Bahia ihren unbestrittenen Sex-Appeal ausspielen kann, wobei ihr in fast jeder Szene irgendwo ein Stück Nacktheit herausrutscht. Mit übertriebener Geste, die gleichwohl prüde inszeniert ist, erschöpft sie sich leider weitgehend in dieser Rolle. Dass ihre sexuelle Freizügigkeit fast schon augenzwinkernd mit einem frühen Missbrauch durch den Klavierlehrer erklärt wird, ist zumindest nicht unproblematisch.

Dass andererseits ihre schematische Weltsicht schließlich beim zurückhaltenden, dem „Vorsichtsprinzip“ verpflichteten „Jospinisten“ Arthur andockt, liegt in der Logik einer Komödie, die die „hybride Vitalität“ von „Mischlingen“ als „Zukunft der Menschheit' propagiert. Doch die wenig zwingende Behandlung des Widerspruchs zwischen einer prägenden Herkunft und einer selbstbestimmten Identität, in dem die Figuren gefangen sind, bleibt gerade in seiner Unlösbarkeit und Brisanz viel zu harmlos. Die Tragik der Vergangenheit und die etwas aufgesetzte Toleranz der Gegenwart passen eben in diesem Genre doch nicht recht zusammen.

Das Schmuckstück

(F 2010, Regie: François Ozon)

Wenn sich der Nippes wehrt und aufbegehrt ...
von Michael Schleeh

Ein Vögelchen zwitschert, ein Reh huscht durch den Wald, ein Eichhörnchen putzt sich das Schnäuzelchen. Fabrikantengattin Suzanne Pujol, für kurze Momente der provinzstädtischen Haute-Volée entkommen, befindet sich auf dem idyllischen …

Ein Vögelchen zwitschert, ein Reh huscht durch den Wald, ein Eichhörnchen putzt sich das Schnäuzelchen. Fabrikantengattin Suzanne Pujol, für kurze Momente der provinzstädtischen Haute-Volée entkommen, befindet sich auf dem idyllischen Trimm-Dich-Pfad rund um das eigene Anwesen. Da setzt schnulzige Musik ein, Weichzeichner umflort die Konturen, die Credits springen im allerschönstem Siebziger-Jahre-Font von Bild zu Bild im segmentierten Split-Screen-Arrangement. Wo wir sind, das sind die Siebziger – und deren Probleme.

Der patriarchalische Gatte Robert regiert mit eiserner Hand seit Jahren schon die Regenschirmmanufaktur. Auch zu Hause ist er ein Despot, der die Gattin zum Schmuckstück degradiert, zur Porzellanvase auf dem Beistelltisch – zu einer „Potiche“ (so der französische Originaltitel). Doch plötzlich streiken die Arbeiter in der Fabrik: die Revolte ist da. Robert hat es übertrieben, die Geduld der Arbeiter überreizt. So kommt der Herzinfarkt zum Choleriker, der ihn für kurze Zeit zum Pflegefall macht. Robert hat freilich immer noch genug Energie zum Granteln. Nun muss, schon um Frieden zwischen den Parteien zu stiften, die Gattin ran. Und die, zwar unsicher zunächst, doch ausreichend frustriert von ihrem sinnentleerten Tagesablauf auf dem Abstellgleis, begehrt nun ebenso auf gegen die strikten Reglements ihrer Ehe – und nimmt den Posten der Direktorin an. Wie sich zeigt, gewinnt sie die Herzen der Angestellten mit Sympathie und Diplomatie im Handumdrehen. Es gelingt Suzanne sogar, den unwilligen Sohn und die verwöhnte Tochter in die Betriebsführung mit einzubinden. Das Geschäft also floriert, man macht Gewinn. So beginnt die Geschichte der Emanzipation der Suzanne Pujol und ihres Erfolgs.

Boulevardkomödie, Familiendrama und Emanzipationsburleske: François Ozon gelingt es souverän ein Potpourri der Genres in Szene zu setzen, die dank ihrer überzeugenden Hauptdarsteller (Catherine Deneuve als Suzanne Pujol, Gérard Depardieu als sozialistischer Bürgermeister Babin, Fabrice Luchini als Robert Pujol) enorm zu unterhalten weiß. Hier jagt ein Plotpoint den nächsten, ein Lacher, durchaus auch subtil gesetzt, den voran gegangenen. Dass die Figuren, ganz wie es sich für eine klassische Komödie gehört, keine Individuen („Hamlet“) sondern Typen („Der Menschenfeind“) sind, die eine Rolle ausfüllen, nimmt ihnen kaum etwas von ihrem Charme.

Jedoch, die Beschränkung der eindimensionalen Figuren macht aus Sohn und Tochter Pujol bemitleidenswerte Karikaturen, die ganz in ihren beengten Charaktereigenschaften gefangen sind. Und wenn sich dann doch ein Umschwung im Charakterhaushalt andeutet, dann ist er nur einen Tanzschritt weit entfernt: so ist es kein Wunder, dass der hübsche Sohn ein begnadeter Designer ist und nur noch seine Homosexualität zu entdecken hat. Die Tragödie, die sich etwa in der grausamen Hierarchie der Ehe der Tochter manifestiert, scheint nur in kurzen Momenten durch. Die Trauer über das familiäre Schicksal gleicht einem Tränchen, das mit einem exklusiven Taschentüchlein weggewischt werden kann. Die Akzeptanz der zugewiesenen familiären Rolle verspricht der Tochter eben auch eine Sicherheit, die selbst im Unglück noch verführerisch lockt, da sie Ordnung und Stabilität verspricht.

Es ist nicht wirklich einsichtig, weshalb Ozon dieses wunderbare Stück in den 70ern verortet hat und es nicht auf heutige Verhältnisse hin aktualisiert. Die Konflikte, nun, die könnten mit etwas Gesellschaftspessimismus ohne weiteres auch auf zeitgenössische Zustände hin adaptiert werden. Aber so ist der Lacher eine sichere Sache: die Diskrepanzen zwischen den Geschlechtern erscheinen im Rückblick gravierend. Über die Rückdatierung des Filmes in historische Ferne, die ja nichts anderes als eine Distanzierung auch von den thematisierten Problemen bedeutet, macht sich Ozon unangreifbar und flirtet zudem mit dem Zuschauer, der gewillt ist, mit (alters-)mildem Blick und aus seiner heutigen, abgesicherten Position heraus in die Vergangenheit zurück zu schauen und schmunzelnd über diese Zustände den Kopf zu schütteln.

Im performativen Finale, in dem sich die Verbindlichkeiten schließlich vollends auflösen, steigert sich der Film in die Groteske, die in der Ansprache der Protagonistin auf dem Podium ihren Höhepunkt findet. Suzanne regrediert zu einer skandalös konservativen Mutterphantasie, dass einem angst und bange werden kann. Sie breitet die Arme aus und beginnt gestisch ihre „Kinder“, also die Anwesenden, zu umarmen und, wie sie sagt, zu „beschützen“. Suzanne, das Muttertier. Wie der cholerische Robert mit seinem patriarchalen Führungsstil die Grenzen verletzte, so übertritt nun auch Suzanne mit ihrer Mutterliebe die Schwelle des Erträglichen. Der Chanson „Das Leben ist schön!“ wird anschließend von ihr mit einer solch strahlenden Euphorie vorgetragen, dass nirgends auch nur ein Hauch von Zynismus zu erkennen wäre. So ist es François Ozon tatsächlich gelungen, seinen harmlosen Charmeur von Unterhaltungsfilm in den allerletzten Minuten nicht gerade „Unter den Sand“, aber doch in denselben zu setzen.

Sommer der Liebe

(BRD 1992, Regie: Wenzel Storch)

Sex, Drugs ’n’ totaler Quatsch
von Harald Mühlbeyer

Wenzel Storch ist einer der wenigen Filmemacher in Deutschland mit wirklich eigenem Touch. Keine Kompromisse, keine Schema-F-Dramaturgien, keine handelsüblichen Figurencharakterisierungen, keine feine Ausstattung, keine wirkliche Handlung, keine schöne Kameraführung, keine …

Wenzel Storch ist einer der wenigen Filmemacher in Deutschland mit wirklich eigenem Touch. Keine Kompromisse, keine Schema-F-Dramaturgien, keine handelsüblichen Figurencharakterisierungen, keine feine Ausstattung, keine wirkliche Handlung, keine schöne Kameraführung, keine Kunsthandwerklichkeit, wie sie die Filmhochschulen und TV-Redaktionen lehren: kein gar nichts bietet er in seinen bisher drei Langfilmen, deren mittlerer, „Sommer der Liebe“ von 1992, jetzt als großartig edierte DVD herauskam. Storch bietet reinen assoziativen Spaß, in dem sich liebevoll Selbstgebasteltes mit wildem Storygestrüpp vereint, dargebracht von Laiendarstellern vor Billigkulissen. Wenn man die Erzählungen der Großelterngeneration von selbstgemachtem Spielzeug und selbsterfundenen Abenteuerspielen im Wald in Beziehung setzt zu heutigen digitalen Spielwelten, dann hat man ungefähr das Verhältnis eines Storch-Films zur sonstigen Kinogegenwart: reine Fantasie, reiner Spaß, reines Austoben, reiner Pubertärklamauk, reine Anarchie: Do it yourself-Kino – „der Drehort ist für mich wie ein Spielplatz. Nur ohne Eltern und Verbotsschilder“, sagt Storch selbst auf seiner Homepage.

Man sollte dabei nicht den Fehler machen, „Sommer der Liebe“ allein vor dem kleinen Fernsehbildschirm zu gucken. Denn das dämpft den Spaß. Der wird sich eher ergeben, wenn das Filmerlebnis sich in der Gemeinschaft der Zuschauer potenziert und man optimalerweise noch irgendwelche Substanzen zur Verstandesbenebelung und Bewusstseinsanregung eingenommen hat – falls überhaupt was helfen sollte, dann das. Denn: „Sommer der Liebe“ ist abgrundtief blöd. Ein schlecht gemachter, billiger, lahmer, langweiliger Streifen mit Darstellern, die besser zuhause geblieben wären, mit Dialogen, Sprüchen und Labereien, die nicht mal auf einer Retro-Trash-Ironieebene witzig sind, ohne filmischen Rhythmus, ohne Gespür für den Effekt. Die Pappkulissen passen zu den groben 8mm-Bildern und dazu, dass der Film stumm gedreht und danach einfach und desaströs schlecht nachsynchronisiert wurde, so dass kein Wort zur Mundbewegung passt. Und die Handlung, die Handlung! Oleander, der Klosterschreck, nistet sich bei zwei Nonnen ein, guckt mit ihnen Sexfilme, in der Ecke steht ein Wim Thoelke-Kumpel-Ofen, zu Weihnachten wird er mit Selbstgebackenem überschüttet. Dann gibt es eine Rock- und Popparty in einem Poster-Kloster, aufgebaut aus einer Menge Starschnitte diverser Sangeskünstler aus den 70ern. Irgendwann trifft Oleander eine glatzköpfige Eremitin, die ihm verfällt, wie es auch alle anderen jungen Frauen reihenweise tun. In einem Zaubersee lassen sich Oleander und seine Eremitin Haare wachsen und leben mit den anderen ihre Liebe – der Film spielt schließlich 1972, mitten im Hippie-Zeitgeist, mit Drogen, Lässigkeit, Lockerheit, duften Bienen und heißen Typen. Einmal hören sie einem als 'Neger' titulierten, schwarz angemalten Mitteleuropäer zu, wie er versucht, deutsche Volkslieder auf einer selbstgebauten Geige zu spielen. Einmal wird eine junge Anhalterin von einem Triebtäter gejagt, vergewaltigt, zerstückelt und verwurstet. Oleander übrigens ist dick, hat keine Haare, und er sächselt. Am Ende stirbt er und wird in einem Römertopf beerdigt, dazu müssen ihm die langhaarigen Hippie-Totengräber die Füße absägen. Schließlich gibt es noch Kaffeekranz bei älteren Damen.

Aber das Interessante ist: Gerade weil es in diesem Film alle Gründe gibt, ihn nicht gut zu finden, kann man ihn gut finden. Denn natürlich ist das alles Absicht, dieser gesamte Dilettantismus, das Inkaufnehmen von Mängeln aller Art. Qualität ist hier nicht verloren gegangen, sondern wurde bewusst weggeschleudert, um unbelastet vom Diktat des Guten, Wahren, Schönen einfach mal was zu machen. Richtig kokett ist dieser Film, der seine abgrundtiefe Schlechtigkeit offen vor sich her trägt, der in jedem seiner irrwitzigen Bilder eine Anklage ist gegen das handwerklich gut Gemachte, das aber oft genug steril und künstlich scheint. Kokett ist auch Wenzel Storch, wenn er im Bonusmaterial der DVD und auf seiner Homepage genüsslich diverse Verrisse zitiert. Verrisse, die natürlich alle recht haben: „Schwachsinn“, „ein jämmerlicher Film […], der einem den Feierabend vergällt“, „selbst in benebeltem Zustand verdammt schwer zu ertragen“, etc.

Und auch die Frauen/Lesbengruppe „Die wilden Spulen II“ haben recht: „ein schlechter, pubertärer, sexistischer, brutaler, rassistischer und dummer Film“, nannten sie den „Sommer der Liebe“. Und entführten aus einem Göttinger Kino eine der 16mm-Filmrollen mit der Forderung, den Film nie wieder aufzuführen. Eine überzogene, absurde Aktion gegen einen absurden, überzogenen Film, der sich weigert, verstanden zu werden. Diesen Film zu hassen bedeutet freilich im Umkehrschluss, das Handelsübliche, das Konventionelle zu lieben…

Wesentlich vereinfacht wird die Goutierung des miesen Hippietrips – der gerade dadurch zur unbedingt empfehlenswerten Filmerfahrung wird – durch das Bonusmaterial der DVD, speziell durch die zweiteilige Making-of-Dokumentation von insgesamt 100 Minuten. Dadurch erst erhellt sich der Film, das, was er ursprünglich sein sollte im Gegensatz zu dem, was er nun ist, die Quellen, aus denen er sich speist, die Ideen, die dahinterstecken und sich oft genug eher weniger als mehr im fertigen „Sommer der Liebe“ zeigen.

Ausgangspunkt ist ein alter Bauernhof in einem Kaff bei Hildesheim, wo Storch und seine Gefährtin Alexandra Schwarzt (die natürlich auch im Film mitspielt), bei einem (gelinde gesagt) exzentrischen Vermieter leben. Dort wurden die Innenaufnahmen von „Sommer der Liebe“ gedreht, und in diesem Dörfchen haben die Storchs im Sperrmüll gestochert, um alles, was irgendwie nach Seventies aussieht, zu sammeln. Ja: „Sommer der Liebe“ ist aus Müll gemacht, das sieht man ihm an, und das ist auch inhaltlich so. Denn aus den beiden Dokus „Rickeracke Hippiekacke“ und „Sitzfußball und Gruppensex“ erschließen sich die Ursprünge, die in Teenie-Pop-Heftchen liegen, in billigen Sexmagazinen wie „Praline“ und „Wochenend“, in Werbeanzeigen, Interviews, Texten in vorgeblicher Jugendsprache; daraus konstruiert Storch diesen Sound des Gestelzten, des Pseudocoolen, des erzwungen Lockeren, der doofen Sprüche und billigen Kalauer: der erbärmlichste ist wohl, wenn Oleander Frühstückseier vorgesetzt werden: „Eichen sollst du weichen, Kuchen sollst du suchen.“ Oh Mann!

Ganze Episoden, vollständige Backstories seiner Figuren hat Storch aus diversen Berichten aus diversen mehr oder minder schlecht beleumundeten Magazinen entnommen, um sie dann in Trickfilmform umzusetzen: als Zeichentrick in Schiebetechnik oder als Puppentrick. Die Story mit der Anhalterin und dem Triebtäter wollte er in der Form von „Aktenzeichen XY ungelöst“ bringen, wo immer vor den Gefahren, die in fremden Autos lauern, gewarnt wird. Dass das Opfer dann zu Popwurst verarbeitet wird, einem grünen Gebilde, das aus einer Bude verkauft wird, ist die konsequente Steigerung.

Im Übrigen wird in den Making ofs die Geschichte des Films noch einmal nacherzählt, viel verständlicher als in „Sommer der Liebe“ selbst; angereichert mit geschnittenen Szenen, die nie fertig wurden, mit Ideenfragmenten, die keinen Eingang in den endgültigen Film erhielten, mit Interviews mit damals Beteiligten, die in einer Mischung aus nostalgischer Wehmut und schmerzhaften Erinnerungen auf die Strapazen des Drehs zurückschauen, auf eine Zeit, als sie jung und für jeden Spaß zu haben waren. Im Wissen, dass sie jetzt nur noch für jeden Spaß zu haben sind… Denn natürlich sind die Dokus selbst wieder kleine Wenzel-Storch-Stücke, in denen nichts ernst genommen wird, schon gar nicht ihr Gegenstand, der „Sommer der Liebe“, selbst.

Die Rückschau in den Making ofs 20 Jahre zurück auf den Dreh eines Films, der wiederum 20 Jahre früher spielt, ist eine Art doppelte Nostalgie, die doppelt ironisch gebrochen wird. Wo „Sommer der Liebe“ all den Pop-Müll aus den 70ern recyclet und sich affirmativ daran delektiert, da wird dieser Film in seinen Sekundärdokus plötzlich auch auf spielerische Weise in den Stand von Qualitätsware erhoben. Und vielleicht ist „Sommer der Liebe“ tatsächlich ein richtig guter Film, abgesehen davon, dass er schlecht ist. Vielleicht ist er irgendwo eine Reflexion über das Phänomen kultischer Verehrung des Vergangenen, das nur funktioniert im Bewusstsein, dass das Vergangene in all seinem Schwachsinn, in seinem Quatsch und in seiner Albernheit nie mehr wiederkehrt. Nur in einem Film, der diese Vergangenheit der 70er ganz neu schwachsinnig, quatschig und albern aufbereitet.
Vielleicht ist „Sommer der Liebe“ aber auch ganz einfach und straight doof. Aber das mit Charme.

Die Doppel-DVD im Digipack ist ausschließlich auf der Homepage des Verleihs Cinema Surreal Link erhältlich.

The Loved Ones – Pretty in Blond

(AUS 2009, Regie: Sean Byrne)

Blutiger Abschlussball
von Harald Mühlbeyer

Brent ist innerlich ausgebrannt. Er hatte das Auto gefahren bei dem Unfall, an dem sein Vater starb. Jetzt hängt an einer Kette um seinen Hals ein Rasiermesser, und an seiner …

Brent ist innerlich ausgebrannt. Er hatte das Auto gefahren bei dem Unfall, an dem sein Vater starb. Jetzt hängt an einer Kette um seinen Hals ein Rasiermesser, und an seiner Hüfte sieht man die Ritzwunden, die er sich zugefügt hat. Einmal klettert er eine Felswand hoch, der Fuß rutscht ab, an seinen Fingerspitzen hängt er über dem gähnenden Abgrund, und in Zeitlupe, vor dem weit entrückten Boden, auf dem er aufschlagen würde, genießt er dieses Spiel mit dem Tod, den Kitzel des Vielleicht-Fallens. Um sich dann aufzuraffen, sich hochzureißen und oben anzukommen.

Die Szene spielt im Kleinen den ganzen Film durch. Denn als Brent sich oben ausruht, wird er von einem Mann geschnappt, betäubt und weggeschleppt. In einem abgelegenen Farmhaus wartet Lola, die zusammen mit Daddy Brent fesseln, bis aus Blut quälen, ihm schreckliche Gewalt antun wird – sadistisches Foltern dafür, dass er sie als Partnerin für den Abschlussball abgelehnt hat. Aus dieser Hölle muss Brent wieder herauskommen.

Wo Sean Byrnes Debütfilm auf der einen Seite ein Torture-Horrorfilm ist, ist er mit demselben Recht auch ein Highschool-Drama. Am Anfang sehen wir die obligatorische Spindszene, in der sich die zwei Kumpel Brent und Jamie zotig über den Abschlussball und ihre Chancen bei den Weibern unterhalten, und Jamie wird plötzlich ganz klein, als er die stolze Mia fragt – und ja, sie stimmt zu! Danach eine Pettingszene im Auto, Brent und seine Freundin Holly, und nein: er kann ihr „I love you“ nicht erwidern. Byrnes gibt John Hughes und Linklaters „Dazed and Confused“ als Vorbilder an, und tatsächlich kann er mit Einfühlsamkeit die Melancholie, die Leere, die Hoffnung, das Vorwärtsdrängen der Jugend und die brodelnden Hormone in wenige Szenen fassen.

Lola ist das schüchterne, zurückgewiesene Mädchen, das sich rächt. Weil Lola von ihrem Schwarm nicht zur prom night eingeladen wurde, feiert sie zuhause, im Privaten, wo niemand die Schreie hört. Discokugel an der Decke, Papierkronen für Ballkönigin und -könig, ein stolzer Papa, eine aufgeregte Tochter in pinkem Kleidchen, Glitzer, Luftschlangen und Brent als prinzenhafter Partner – der ist der Hauptspaß für Lola, denn an ihm fließt das Blut. Lola und Daddy pervertieren die Insignien der Schulabschlussweihe, sie veranstalten ein Gore-Fest in immer neuen Steigerungen.
Lola hat einen Riesenspaß am Quälen, das sind Sadismen, die ihr seit der Kindheit als ganz normal eingeimpft wurden vom Vater, der ein ruhiger, kleinbürgerlicher Irrer ist. Und den die Tochter im Einfallsreichtum der Sticheleien noch übertrifft; sie zwingt Brent zu pissen und lässt Daddy ihn dabei mit Hammer und Nagel kastrationsmäßig bedrohen. Spritzt ihm Abflussreiniger, damit er nicht mehr sprechen kann – schreien kann er immer noch. Zwingt ihm einen Hähnchenschlegel rein, „fingerlickin’ good“; tanzt mit ihm, als die Füße in die Holzbohlen des Bodens genagelt sind; und darf heute erstmals selbst den Bohrer auf die Stirn eines ihrer Opfer richten.

Den Gang in immer schlimmeren Horrorwahnsinn kontrastiert Byrne in geschicktem Rhythmus mit dem Abschlussball, wo Brents Kumpel Jamie seine Angebete ausführt, Mia, ein Goth-Mädel, schwarz in Kleidung und Seele, die lieber im Auto kifft und säuft und dann ihren Verstand wegficken will als den institutionalisierten Initiationsball mitzumachen. Eine Nebengeschichte, die an sich gar nichts mit Brents blutiger Passion zu tun hat, die aber die Themen jugendlicher Verwirrung, innerer Verletzung, Einsamkeit aufnimmt und weiterspinnt: das Bewusstsein, dass das Leben, so wie es ist, nicht gut ist, dass aber eine Menge Zukunft noch kommen wird; die Zweifel, ob es diese Zukunft wert ist, ob die Vergangenheit nicht die Oberhand gewinnen soll, eine Vergangenheit der Traumata, des Verlustes, der Trauer …

Brent muss sich auflehnen gegen die Anfechtungen von Lola, dem zarten Mädchen mit eingebauter Grausamkeit. Denn sie kennt kein Halten: Sie hat das Habenwollen des Kleinkindes nie abgelegt, verbindet es mit dem Sadismus brutalstmöglicher Serienkiller, ist ein soziopathischer Psycho-Killer und zugleich Daddys kleines Mädchen mit dem Tagebuch, in dem sie ihre Schwärmereien in rosa Sternchen und roten Herzen festhält. Und auch all diejenigen dokumentiert, die sie wieder hat fallen lassen … Heftige Sexualneurose, überkochende Pubertätshormone, vollkommen verdrehtes Denken, eisige Gefühlskälte, tiefsitzende Inzesttriebe deutet Byrne an, das sind die subtilen Unterströmungen, die er den Teenager-Verwirrungen auf dem Highschool-Ball entgegensetzt: kleine Momente, die aufscheinen, aber nie so richtig manifest werden.

Wobei natürlich alles noch viel viel schlimmer ist, als es den Anschein hat, denn unterm Teppich gibt es eine Falltür, darunter ein dunkler Betonraum mit schrecklichen Kreaturen… Mit viel Gefühl für den richtigen Rhythmus, für seine Charaktere, für die passenden Schritte der Steigerung des Grauens, für die effektvollen Splattermomente geht Byrne vor. Gerade in einem Low-Budget-Film mit seinen beschränkten Möglichkeiten muss man aus dramatischen Szenen effektiv die Essenz rausholen, sagt Byrne im Audiokommentar. Und was wäre dramatischer als dieser Moment auf der Kippe zwischen Leben und Tod, wenn eine durchgeknallte Teenagerin mit dem Bohrer auf einen zukommt? Das kostet er aus, unerträglich lange. Und den eigentlichen Horror erklärt er in seinem Kommentar und in den Interviews auf der Bonus-DVD: dass er sich nämlich stark an der Wirklichkeit orientiert hat, an den perversen Mördern im wirklichen Leben: Jeffrey Dahmer, der seine Opfer betäubte und ihnen dann mit dem Bohrer ein Loch in den Schädel bohrte, dann Salzsäure oder heißes Wasser hineingoss, um lebende Zombies zu kreieren – einer soll mit zerkochtem Hirn tatsächlich eine Woche lang gelebt haben. Sylvia Likens wurde von einer Nachbarin und deren Kindern zu Tode gefoltert. Und natürlich der Österreicher Fritzl, mit seiner im Keller jahrelang gefangengehaltenen dauervergewaltigten Tochter …

Wie diese grauenvolle Wirklichkeit sich in Film übersetzen lässt, davon zeugt das Bonusmaterial, Byrne, der im (zuweilen etwas dröge wirkenden) Audiokommentar und in Interviews Hinweise auf die Suche nach dem richtigen filmischen Rhythmus gibt, oder die 35-Minuten-Doku über Maske, Makeup, Splatter-Spezialeffekte. Und der Setrunner darf seine ganz eigene Hinter den Kulissen-Sicht auf die Dreharbeiten werfen, ein lustiges Porträt des filmischen Prozesses von unten, das Lolas Hölle witzige Albernheiten entgegensetzt.

Unter Dir die Stadt

(D / F 2009, Regie: Christoph Hochhäusler)

Vor der Revolution
von Ulrich Kriest

Ist das nicht schade? Mit „Unter Dir die Stadt“ kommt ein veritables Meisterwerk ins Kino – und viel zu wenige Menschen gehen hin. Um das hinzuschreiben, muss man kein Prophet …

Ist das nicht schade? Mit „Unter Dir die Stadt“ kommt ein veritables Meisterwerk ins Kino – und viel zu wenige Menschen gehen hin. Um das hinzuschreiben, muss man kein Prophet sein! Denn: „Unter Dir die Stadt“ ist meisterhaft fotografiert, besetzt mit großartigen Schauspielern wie Robert Hunger-Bühler, Nicolette Krebitz und Corinna Kirchhoff. Ein Meisterwerk, so reich an stimmigen Details und Beobachtungen, dass die Intelligenz des Zuschauers sich im Kino nicht beleidigt fühlen muss, vielleicht, weil am Drehbuch auch noch der Schriftsteller Ulrich Peltzer („Teil der Lösung“) mitgearbeitet hat. Der neue Film von Christoph Hochhäusler („Milchwald“, „Falscher Bekenner“) lief bereits im vergangenen Jahr auf dem Filmfestival in Cannes in der Sektion „Un certain regard“ und wurde von der französischen Filmkritik umjubelt, von der deutschen Filmkritik allerdings eher mit spitzen Fingern angefasst. Jetzt läuft der Film endlich hierzulande an – mit gerade einmal 30 Kopien. Hochhäusler ist nicht nur Mitherausgeber des Filmmagazins „Revolver“, sondern auch noch einer Gruppe von Filmemachern zuzurechnen, die man unter dem Markenzeichen „Berliner Schule“ rubriziert. So, jetzt ist alles gesagt: alle diese Signale zusammen und jedes für sich werden dafür sorgen, dass dieses Meisterwerk kein Erfolg wird. Weil längst Filmkritiken erschienen sind, in denen ein vom „Tatort“ zugerichtetes Publikum gewarnt wird, dass der Film es wage, bestimmte Handlungsmotivationen der Figuren nicht lückenlos aufzuhellen. Kurzum: hier müsse man sich als Zuschauer doch tatsächlich eigene Gedanken machen. Sich davon schrecken zu lassen, könnte indes ein Fehler sein! Denn ob das Kinojahr 2011 noch etwas Präziseres, Schöneres, Reicheres und Zeitgenössischeres zu bieten haben wird, scheint doch sehr fraglich.

Was gibt es zu sehen? Einen Film über Macht, Langeweile und die Langeweile der Macht? Eine Amour fou? Einen Vampirfilm? Einen Tanz mit dem Teufel? Ein Spiel mit dem Feuer? Einen filmisch klar strukturierten Systemvergleich über die Gesetze der Leidenschaft und des Business? Von allem etwas bietet dieser sehr präzise und ziemlich reichhaltige, weil realitätsgesättigte Film – und ist doch auch noch eine Mentalitäts- und Habitusstudie vor dem Hintergrund der Welt der Hochfinanz. Es ist dabei sicherlich kein Film über die Finanzkrise, hält aber durchaus Momente bereit, die zeigen, wie die Arroganz der Macht in Hybris, in Selbstzerstörungsphantasien umschlagen kann. Es ist aber auch kein Liebesfilm, aber er hält Momente bereit, die von der anarchischen Qualität der Liebe erzählen. Aber in Liebe gefallen wird hier nicht. „Unter Dir die Stadt“ erzählt nicht von einer verhängnisvollen Affäre bei der Deutschen Bank, sondern ist – man könnte sagen: milieubedingt – die Inversion eines Melodrams ohne Melos. Svenja und Robert spielen ein Macht-Spiel auf dem Feld der Emotionen. Fast könnte man sich an „Zur Sache, Schätzchen!“ erinnert fühlen, wenn Werner Enke Uschi Glas zu einem kleinen Match einlädt.

Wenn Svenja (Nicolette Krebitz) auf der Straße eine Frau sieht, die exakt dieselbe Bluse trägt, ihr in eine Konditorei folgt und dort dasselbe Stück Gebäck verlangt, dann probiert sie etwas aus: Gehen die Gemeinsamkeiten über den Geschmack für Blusen hinaus? Später wird Roland Cordes (Robert Hunger-Bühler) auf der Basis einer Fotografie eine alternative Biografie entwerfen. Findet er seine eigene Biografie zu langweilig, zu stromlinienförmig? Ist es die unterdrückte Gier nach etwas Lebendigem, die Roland erst zu den Junkies, dann zu Svenja treibt? „Unter Dir die Stadt“ erlaubt viele solcher Fragen. Bei manchen dieser Fragen bleibt der Film eine verbindliche Antwort schuldig. Gerade darin besteht seine Qualität.

Die grundlegende Struktur des Films wird vorgegeben durch die biblische Geschichte von König David und Batseba: ein Mann begehrt eine Frau und schafft deren Mann als mögliches Hindernis aus dem Weg, indem er ihn in den Krieg schickt. Eine einfache Geschichte, die aber ziemlich interessant wird, wenn man sie in die Gegenwart verlegt, soziologisch verdichtet und um die Perspektive der Frau ergänzt, die nicht notwendig nur Objekt der Begierde ist. Was geschieht mit dem Begehren, wenn Macht und Abenteuerlust hinzukommen und sich in einer Sphäre begegnen, in der bestimmte Verhaltensmaßregeln und Konventionen gelten? Es geht hier auf mehreren Ebenen des Films um Maskenspiele, um die hohe Kunst des Performens. Darum einerseits, strategisch zwei Züge des Gegners zu antizipieren und darauf eigene Geschäfts- und Handlungsentscheidungen zu gründen. Darum andererseits, sich ständig neu zu entwerfen, gewissermaßen auch biografisch flexibel zu bleiben wie Svenja, die sich permanent neu entwirft und dies durchaus auch provokant, also im Wissen um das Wissen des Gegenübers über die Fiktion. Im Presseheft zum Film erklärt Hochhäusler dazu: „Es geht (…) nicht mehr so stark um die Wirklichkeit einer Person, sondern um ihre Wirkung und um ihre Wirkungsmöglichkeit.“ Klingt anspruchsvoll? Mag sein, aber gleichzeitig ist „Unter dir die Stadt“ sehr konkret.

Svenja und Oliver (Mark Waschke) sind frisch in Frankfurt, wo Oliver einen guten Job bei einer Top-Bank angenommen hat. Svenja hat sich eine kokette Distanz zu Olivers Welt bewahrt, was ihr eine Stärke verleiht, die sie, gepaart mit mädchenhafter Unberechenbarkeit, ungeheuer attraktiv macht. Auch für Roland Cordes, Olivers Chef und aktuell der „Banker des Jahres“. Svenja agiert in der fast schon satirisch gezeichneten und durchkonfektionierten Banker-Welt wie ein Fremd-Körper. Das macht sie interessant und weckt Rolands Jagdinstinkt (in mancher Einstellung erinnert das Spiel von Hunger-Bühler an dasjenige von Klaus Kinski in Herzogs „Nosferatu – Phantom der Nacht“), der Oliver nach Indonesien versetzen lässt – ein Karrieresprung voller Tücke, denn Olivers Vorgänger wurde entführt und in Einzelteilen zurückgesendet.

Hier gelingt die aufregend präzise und detaillierte Beschreibung einer Welt, in der Macht, Biografien und auch Liebe performt werden. Manchmal bietet die Möglichkeit, Schicksal spielen zu können, den ultimativen Kick, angetrieben immer auch von der Lust an der Selbst-Zerstörung. So gibt es hier glänzend choreografierte, fast schon dokumentarische Szenen, die man eher in den Filmen von Harun Farocki und Christian Petzold erwarten würde: wenn beispielsweise Stellenbesetzungen einerseits dem Kalkül der Intrige folgen, andererseits aber streng nach Kompetenz rationalisiert und diskursiviert werden müssen – und selbst eine forcierte Kritik am Gegenüber einem gegensätzlichen, abstrakteren Plan folgt, was der Kritisierte übrigens durchaus durchschaut. Meta-Diskurse. Die diversen Sitzungen in den Führungsgremien zählen zu den Höhepunkten von „Unter dir die Stadt“, sind rhetorisch brillant, perfide und amüsant zugleich, zumal wenn es heißt: „Das muss jetzt nicht mehr ins Protokoll!“ Während es auf einer Ebene des Films also recht archaisch zugeht, wird auf einer anderen Ebene das Leben mit Hochkultur aufgehübscht: Man sammelt zeitgenössische Kunst, auf Hauskonzerten hört man Neue Musik und für die Ehefrauen in dieser Männerwelt gibt es Selbstverwirklichungsräume im Charity-Wesen.

Wie bereits gesagt: „Unter dir die Stadt“ ist reich an Details, verweigert aber glücklicherweise eine thesenhafte Zuspitzung. Einige der Details fügen sich nicht ins Bild, bleiben rätselhaft, wenn etwa der Banker Roland sich beklagt, dass sein Londoner Büro genauso aussieht wie sein Büro in Frankfurt und Svenja dazu die schräge Anekdote einfällt, dass eine Popband einmal das Hamburger Publikum mit einem herzlichen „Hello Munich!“ begrüßt habe. In einer der nächsten Szenen sieht man Roland dann, wie er sich eine CD eben dieser Underground-Band anhört. In immer neuen Variationen zeigt der Film Menschen, die mittels unterschiedlichster Strategien versuchen, Kontakt zu so etwas wie Realität herzustellen oder den Kontakt zur Wirklichkeit nicht abreißen zu lassen. Manche dieser Strategien wirken lächerlich hilflos, andere bodenlos. Rolands kühnes, herausforderndes Spiel mit dem Feuer ist durchaus auch lesbar als ein antizipierter Kommentar zum »Fall« zu Guttenbergs. Dass die Figur Roland Cordes in diesem Sinne vielleicht für mehr steht, wird ganz am Schluss angedeutet, wenn der Sturm losbricht. Wohlgemerkt: angedeutet.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Dream Home

(HK 2010, Regie: Pang Ho-Cheung)

Resident Evil Hongkong
von Michael Schleeh

Da sich die Bankangestellte und Telefonverkäuferin Cheng Lai-Sheung (Josie Ho) das seit ihrer Kindheit ersehnte Apartment mit Meerblick an der Victoria Bay in Hongkong nicht leisten kann – und das …

Da sich die Bankangestellte und Telefonverkäuferin Cheng Lai-Sheung (Josie Ho) das seit ihrer Kindheit ersehnte Apartment mit Meerblick an der Victoria Bay in Hongkong nicht leisten kann – und das obwohl sie sich mit zwei Jobs zu Tode schuftet – greift sie schließlich zu drastischen Mitteln, um den Wert der Immobilie zu senken. Denn plötzlich werden mehrere Mieter des Wohnturms auf grausam ermordete Weise aufgefunden.

Pang hat diesen Film aber nun keineswegs als Whodunit angelegt, sondern als (immer wieder auch satirischen) Gewaltschocker. Man weiß vom ersten, grausam ersonnenen Mord an einem Wachmann an bereits, wer der Täter ist – lediglich das Motiv ist noch unklar. „Dream Home' geht es also nicht um die Aufklärung der Verbrechen, sondern um das verquere Schicksal seiner Protagonistin, gebildet, hübsch, ausgenutzt von ihrem verheirateten Freund (wie alle Frauen des Films), die auf grausame Weise ihr Schicksal, bzw. ihre Zukunft, die sich in der Erfüllung ihres Traumes darstellt, selbst in die Hand nimmt.

Aber auch die psychische Disposition der (Anti-)Heldin wird lediglich marginal thematisiert; die möglichst kreative und zugleich explizite Inszenierung von grausamen Tötungsszenarien scheint Pangs Augenmerk zu sein. Die Flashbacks in die Kindheit, die der Figur biographische Tiefe verleihen könnten, sind auf eine naive Art primitiv und rührselig. Die Tragik um das Schicksal der Einwohner der alten Viertel Hongkongs durch das rücksichtslose Vorgehen einer korrupten Stadtverwaltung, die mit den Triaden gemeinsame Sache macht, um die Menschen für gewinnbringende Großbauprojekte aus den Häusern zu treiben, wird ebenfalls nur in kurzen Momenten angeschnitten. Der Entschluss der Heldin, für ihre Familie, besonders dem geliebten Großvater, eine solche Wohnung in einem Wohnturm als Zeichen ihres Erfolgs zu erwerben (die Prämisse, aus der sich der gesamte Film speist), ist völlig unglaubwürdig und überdeutlich ein hanebüchenes Konstrukt, um dem Film eine Begründung für dessen Schauwerte unterschieben zu können.

„Dream Home' ist ein Film der Vertikalen. Denn er zeichnet sich vor allem durch seine imposante Photographie aus, die eindrücklich die Hochhausschluchten der Wohn- und Geschäftstürme einzufangen weiß. Manches Mal aber wirken die Bilder allzu gesucht und manieriert. Kameramann (Nelson) Yu Lik-Wai (der alle Filme Jia Zhangkes photographiert) und Regisseur (Edmond) Pang Ho-Cheung finden in beinah allen Außenaufnahmen Bezüge zu an der Senkrechten orientierten Bildkompositionen. Häufig aus extremer Untersicht. Einmal wird das ganz besonders offensichtlich, als die Protagonistin mit Geschäftskollegen auf eine Zigarettenpause vor dem Gebäude steht. Die Kamera befindet sich innerhalb des Gesprächskreises und schießt beinah senkrecht nach oben, die Körper entlang zu den zusammengesteckten Köpfen und den sich darüber türmenden Spitzen der Hochhäuser, bis hinein in einen kleinen Rest des blauen Himmels. In anderen Szenen wählt Pang häufig den Kniff eines „indirekten Blicks“, indem er die Bauarbeiten, das „Hochziehen“ solcher Wohnblocks, einerseits im Zeitraffer darstellt (was einen künstlichen Effekt hervorruft), andererseits dies aber nicht direkt zeigt, sondern gespiegelt: in Fensterscheiben oft, noch häufiger als aufsteigende Schatten, die diese entstehenden Türme mit ihrer Monumentalität auf andere Gebäude werfen. Es entsteht der Eindruck, dass die kleineren Häuser von den Neubauten nicht nur verdrängt, sondern regelrecht gefressen werden. Außerdem war das sicherlich einfach der kostengünstigste Weg, diese Szenen zu realisieren.

Die Gesellschaftskritik des Filmes äußert sich darin, dass nicht nur, wie fast überall in China, historische Stätten durch den sogenannten „enthemmten Turbokapitalismus“ vernichtet werden (am Eindrücklichsten sicherlich in der Zerstörung der traditionellen Hutongs in Peking, um auf dem frei gewordenen Gelände das von Herzog und DeMeuron entworfene „Bird’s Nest“, das imposante Olympiastadion, bauen zu können), sondern auch die altbekannte Schere zwischen arm und reich öffnet sich immer weiter, der Druck auf das Individuum steigt enorm. Da die Forderung nach privatem Wohneigentum zumeist die Grundbedingung vieler junger Paare auf ein Eheversprechen darstellt, und diese Absicherung für die Zukunft noch vor der Hochzeit gewährleistet werden muss, ist für viele der Erfolg im Beruf nun verstärkt an das private Glück gekoppelt, wodurch eine enorme Belastung finanzieller wie psychischer Natur entsteht. Eine Belastung, die sich die Protagonistin im Film dank ihres Versprechens an den Großvater selbst auferlegt hat.

Zwangsläufig befremdlich also wirkt die Reduktion des Filmes auf das grausame Gorefest, das hier abgefeuert wird. Und dass die Grausamkeiten von der enorm souverän agierenden Josie Ho (die hier auch als Produzentin auftritt), und die diesen Film im Alleingang trägt, ausgeübt werden, macht das Spektakel nicht gerade kleiner. Der Film ist eine One-Woman-Show, die alle anderen Figuren zu Nebendarstellern degradiert. Weitere Schwächen sind aber ebenso eklatant: Das Drehbuch geht hongkongtypisch verschlungene Pfade. Das ist zunächst spannend, aber mit zunehmender Spielzeit wirkt die Struktur mit ihren permanenten Zeitsprüngen (und aus der Not heraus eingeblendeten Datumsanzeigen) sehr bemüht. Die Kindheitserinnerungen sind, wie bereits erwähnt, viel zu klischiert und schmachtfetzig ausgefallen. Die in Szene gesetzte Stadtarchitektur wird nicht befriedigend in die filmische Narration eingebunden. Auch auf der interpretatorischen Ebene bleibt „Dream Home' unbefriedigend. Und das Hauptproblem ist die wahrlich unglaubliche Brutalität, die hier zwar auf kreative Weise, aber auf graphisch direkte (und überspitzte) Art ausgestellt wird. Dafür lässt sich filminhärent keine Notwendigkeit finden – der Zynismusvorwurf dürfte „Dream Home' gegenüber sehr angebracht sein. Die Sozialkritik verkümmert hier zum Alibi.

Zurück bleibt die Erinnerung an einen Regisseur, den man als Auteur liebevoller Genreproduktionen kennengelernt hatte (etwa „Beyond our Ken', „Exodus'). „Dream Home' ist zwar immer noch Genre, aber doch ein großer Schritt Richtung Mainstream, Blockbuster und Spektakel. Er hat nichts mehr von der spartanischen Reduktion, für die man Pang lieben lernte. Die deutsche DVD von I-On New Media hat eine FSK 18/KJ – Einstufung erhalten und ist dennoch ganze 3:50 Minuten geschnitten. Der Hongkong-Fassung von Edko, auf die man momentan bestenfalls zurückgreifen kann, fehlen etwa 30 Sekunden (CAT III). Hier ist man also recht nah am Original. Entsprechend katastrophal und zielgruppenorientiert ist das Cover der deutschen DVD ausgefallen: da räkelt sich eine blutverschmierte Nackte, nur mit einem Höschen bekleidet, vor einem angedeuteten Leichenberg. Scharfes Messer in der Hand. Aua.

Gnomeo und Julia

(USA 2011, Regie: Kelly Asbury)

Shakespeare-Zwerge
von Harald Mühlbeyer

Dies ist einer dieser Animationsfilme, die man getrost auch zweidimensional sehen kann. Die 3D-Version wurde ganz offensichtlich nur deshalb in Verkehr gebracht, weil sie bei Computeranimationen leicht herzustellen ist. Den …

Dies ist einer dieser Animationsfilme, die man getrost auch zweidimensional sehen kann. Die 3D-Version wurde ganz offensichtlich nur deshalb in Verkehr gebracht, weil sie bei Computeranimationen leicht herzustellen ist. Den Filmbildern kann die dritte Dimension nichts hinzufügen. Allerdings kann man sich nach Sichtung des englischen Originals kaum eine adäquate deutsche Synchronisation vorstellen: das originale Shakespeare-Englisch wird mit einer Menge Wortspiele durchmischt.

Was im Kleinen die ganze Konzeption des Films widerspiegelt: Die große Tragödie um Romeo und Julia wird nämlich als Gartenzwerg-Fehde wiedergegeben. Wo Baz Luhrman das Stück als Teenie-Pop-Version inszenierte, dreht Kelly Asbury hier nun alles auf Witz. Asbury hatte zuvor „Shrek 2“ inszeniert, und dieselbe Strategie wendet er auch hier an: Gags in größtmöglicher Dichte. Wo Pixar in den „Toy Story“-Filmen Wert auf Charaktere und Geschichte legt, da sucht Asbury den Gag. Obwohl der Hintergrund nicht unähnlich ist: Wo im einen Film Spielzeuge ein geheimes Leben führen, da bekriegen sich im anderen die Zwerge im blauen und im roten Garten, wenn die Menschen grad nicht gucken.

Aus der Liebe zwischen dem roten Gnomeo und der blauen Julia ergibt sich der Shakespeare-Plot: Und das ist dann doch ein schöner Kniff, die allgemein bekannte Geschichte auf anderer Ebene auf andere Weise zu erzählen. Zumal es die Gartenzwerge faustdick hinter den Ohren haben: von wegen kleinbürgerliche Knuffeligkeit und liebenswerte Gartengemütlichkeit! Da geht es zur Sache, wenn die Rivalitäten in Rasenmäherwettfahrten ausgelebt werden. Am Ende wird gar der riesige Terrafirminator, „weapon of grass destruction“, eingesetzt – aber das ist dann doch etwas zu forciert, wenn diese Großkampfmaschine mit lasergestützter und computergesteuerter Zielerfassung auftritt, mit Gadgets also, die bei keinem noch so teuren Rasenmäher, sondern nur im Repertoire der Gagschreiber vorkommen. Zu viel sind auch die gleich vier Sidekicks des Films, ein dämlicher Wasserspeierfrosch, ein schnüffelndes Pilzchen, ein Flamingo und ein Kampfreh.

Aber witzig ist es doch, was die sieben Drehbuchautoren nach dem Originaldrehbuch zweier weiterer Autoren konstruiert haben – zumal William Shakespeare vom hohen Denkmalsockel persönlich seinen Segen für ein Happy End gibt. Im Übrigen dürfen sich alle freuen, die Elton John lieben – seine größten Hits sind die Begleitmusik der zwergischen Turbulenzen. Und denen, die Elton John hassen, macht es der Film nicht allzu schwer, denn seine Songs werden in verzwerglichten Versionen dargebracht, und in ein paar Kurzauftritten tritt John sogar selbst auf, als selbstironisch animierte Karikatur.

Irreversibel

(F 2002, Regie: Gaspar Noé)

Das Leben stinkt
von Sven Jachmann

Gaspar Noés zweiter Spielfilm hat seinerzeit die Kritik enorm gespalten, was bereits seinen Anfang bei der Uraufführung in Cannes 2002 nahm, als zahlreiche entrüstete Besucher vorzeitig den Kinosaal verließen. Eine …

Gaspar Noés zweiter Spielfilm hat seinerzeit die Kritik enorm gespalten, was bereits seinen Anfang bei der Uraufführung in Cannes 2002 nahm, als zahlreiche entrüstete Besucher vorzeitig den Kinosaal verließen. Eine flächendeckende Berichterstattung beim hiesigen Kinostart war aufgrund dieses Furors vorprogrammiert, und seither geht es ums Ganze: Meisterwerk oder Niedertracht? Bei aller formalen Finesse, die der Bildapparat zweifellos auffährt, besteht der entscheidende Clou in der rückwärtschronologischen Narration, die durch die daraus entstehende Verkehrung der Kausalitätsketten Diskurse um Zeit, Gewalt, Rache, Schuld, Unterdrückung, Glück, Schicksal, Freiheit, Liebe, Sexualität, Unschuld usw. usf. erzeugt. Mittelpunkt des Films, der Erzählung und teilweise auch der Aufregung bildet die berüchtigte fast zehnminütige Vergewaltigung einer Frau, die zudem auch noch ohne Schnitte in einer einzigen Einstellung zu sehen ist. Sie ist die Zäsur, die allem, was sich im Plot vollzog und vollziehen wird, eine neue Bedeutung verleiht.

Schon der Abspann wird zum Vorspann mit spiegelverkehrter Schrift. Danach raunt in der ersten Sequenz der misanthropische Metzger aus Noés Debütfilm „Menschenfeind“ (1998), nachdem er vom Missbrauch seiner Tochter erzählte, mit stoischer Miene in einem versifften Hotelzimmer zu seinem Gast: „Die Zeit zerstört alles.“ Um den Beweis anzutreten, bewegt, nein, überschlägt sich die nie stillstehende Kamera nach draußen und dringt in den angrenzenden Schwulenclub Rectum, aus dem gerade zwei Männer, Marcus (Vincent Cassel) und Pierre (Albert Dupontel), von der Polizei abgeführt werden. Die Kamera taumelt direkt in den Unterwelt zur nächsten Sequenz. Pierre und Marcus suchen in der Dunkelheit des Clubs in einem regelrechten Inferno aus kopulierenden Ledermännern und hysterischen Klagen der Geilheit nach einem Unbekannten mit dem Spitznamen La Tenia, der „Bandwurm“. Als sie ihn finden, greift Marcus an, wird jedoch überwältigt und sofort von ihm vergewaltigt. Der während der Suche noch beschwichtigende, wenn nicht gar ängstliche Pierre greift zum Feuerlöscher und schlägt so lange auf den Schädel von „Bandwurm“ ein, bis dessen Gesicht vollends zertrümmert ist, dabei umringt von einem Pulk schwuler Männer, die das Spektakel sichtlich ergötzt. So arbeitet sich der Plot rückwärts vom scheinbar motivlosen Mord zum Anfang allen Lebens zurück. Es ging um Rache. Die Mörder waren der Freund und der Ex-Freund von Alex (Monica Bellucci), die wenige Stunden zuvor in einer Unterführung von (was sich zudem als Fehler herausstellen soll) eben jenen Ermordeten anal vergewaltigt und ins Koma geprügelt wurde – die einzige Szene, in der die Kamera in Permanenz erstarrt.

Von hier an geht es aus dem Milieu anomischer Perversion heim in die Idylle der Zweisamkeit: von der Party, die Alex im Streit mit Marcus verlässt, um anschließend in die Hände des Vergewaltigers zu geraten (Wie schuldig ist also Marcus?), über die S-Bahn-Fahrt zu dritt, während der man ausgiebig über Sex plaudert, bis ins Bett der Liebenden, wo Marcus Alex irgendwann in verspielter Ausgelassenheit zuflüstert: „Weißt du was? Ich glaube, ich hab Lust dich gleich in den Arsch zu ficken.“ In der letzten Szene erfahren wir, dass Alex schwanger ist, bevor sich die Kamera von ihrem Antlitz inmitten einer sonnendurchfluteten Parkwiese, auf der Kinder mit einem Wasserstrahl herumtoben, in spiralförmigen Bewegungen entfernt – dann ist das anfängliche repetitive Synthiedröhnen des Rectum-Szenarios Beethovens 7. Sinfonie gewichen.

Formal wird hier das fortschrittliche Zeitverständnis der Aufklärung außer Kraft gesetzt. Das Gute wird zum Schlechten und Utopien zerbrechen am Trieb des Menschen, sobald er die Kontrolle über sich verlieren will. Solcherlei Negativ-Anthropologien kennt man als nihilistischen Schmand von Michel Houellebecq, der stets das Menschsein selbst als den blinden Fleck aller emanzipatorischen Bemühungen konstatiert. „Irreversibel“ will in diesem Sinne fatalistisch herumwühlen, indem er in beide Richtungen kontrastiert: aus dem Club der Kaputten wird die zärtliche Liebe, aus einem trunkenen Gespräch über sexuelle Dominanz die Vorahnung einer Vergewaltigung, aus Verzweiflung unschuldiges Glück, aus einem blutrünstigen Mord eine grauenvolle Katharsis, aus einem Experimentalfilm über die Allgegenwart der Triebe und der Gewalt der Tagesverlauf einer Romanze, der grenzenlose Tragik bevorsteht. So etwas passiert, und darin besteht der dumpf-pessimistische Tonfall des Films, zufällig (die zunächst eruptiv wirkende Gewalt), ist aber zugleich unausweichlich (die Zeitachse, die allem letztlich eine Bestimmung angedeiht). Irritierend hieran ist neben der negativ gewendeten Kalenderweisheit, dass kein Glück der Welt vor dem bösen Schicksal gefeit ist, vor allem die Abgebrühtheit, mit der sich der Film als klügeres Rape and Revenge-Kino geriert. Letztlich ist die Auflösung der Geschichte in zwölf Szenen recht kokette Trickserei: Ohne die Liebe und weibliche Unschuld, die als Utopien am Anfang bzw. Ende stehen, kann auch er weder reaktionäre Racheimpulse noch Furcht vor der plötzlichen Endlichkeit des Glücks mobilisieren. Er kann allenfalls durch den Bruch mit – quasi im linear erzählten Fall – sonst geltenden Genrekonventionen und Motiven aus rassistischen und homophoben Tätern verzweifelte Liebende und dann zärtliche Partner konstruieren, um darüber die banale Diagnose der Omnipräsenz der Gewalt, zu der jeder unter außergewöhnlichen Bedingungen fähig ist, zu behaupten (noch dazu, wenn nicht der hitzköpfige Marcus, sondern der intellektuelle Pierre zum Mörder wird). Um von der reinen Universalität der Verkommenheit der menschlichen Natur zu erzählen, hätte „Irreversibel“ gleichwohl noch rückblickend die Perspektiven des Getöteten und des Vergewaltigers berücksichtigen können, wäre ihm grundsätzlich an der Genese von Gewalt und nicht an weltüberdrüssiger Provokation gelegen, die das so oft besungene Filmcredo „Alles wird gut“ in ein nicht minder blöd nivellierendes „Alles wird schlecht“ übersetzt. Aber vor diesem Schlechten gibt es dennoch einen hermetischen Zustand der Reinheit, der unwiederholbar sein soll, weil er irgendwann zwangsläufig auf das Schlechte stößt. Dass für die Demonstration solcherlei vulgären Daseins-Pessimismus‘ ausgerechnet eine Vergewaltigung in Echtzeit herhalten muss, entspricht zumindest der eigens etablierten zynischen Logik.

Das Schmuckstück

(F 2010, Regie: François Ozon)

Rückkehr zum Matriarchat
von Wolfgang Nierlin

Einer lange versunkenen Zeit entstammen die ersten Bilder von François Ozons neuem Film „Das Schmuckstück“ (Potiche). Sie beschreiben eine ebenso märchenhafte wie kitschige Naturidylle, ein künstliches Paradies, durch das die …

Einer lange versunkenen Zeit entstammen die ersten Bilder von François Ozons neuem Film „Das Schmuckstück“ (Potiche). Sie beschreiben eine ebenso märchenhafte wie kitschige Naturidylle, ein künstliches Paradies, durch das die Unternehmergattin Suzanne Pujol (Catherine Deneuve) frühmorgens im poppig roten Trainingsanzug joggt. Ruhe und Friede, Entspannung und Einklang liegen über der Szene, wenn Suzanne verträumt mit den Tieren des Waldes spricht und als Hobby-Dichterin sentimentale Verse über das „vergängliche Schicksal“ schmiedet. Aber natürlich ist dieser überzuckerte Fluchtraum in Ozons ironischer Perspektive nicht ernst gemeint; allenfalls bildet er den imaginären Ort, wo sich die noch schlummernden Gegenkräfte zum verordneten Status quo sammeln. Damit korrespondiert, dass der überaus produktive französische Regisseur die in milchige Farben getauchte Eingangssequenz als Hommage an Filmkomödien der siebziger Jahre in einer Splitscreen auflöst.

Die diskriminierende Verlängerung dieser scheinbar heilen Welt erfährt Suzanne später im schmucken Eigenheim, und zwar in der Konfrontation mit ihrem cholerischen Ehemann Robert Pujol (Fabrice Luchini), einem herrischen Unternehmer alter Schule. Die traditionsreiche Regenschirmfabrik mit ihren 300 Mitarbeitern führt er mit unnachgiebig harter Hand; und als geiler Schürzenjäger überträgt er sein standesbewusstes Besitzdenken mit größter Selbstverständlichkeit auf sein Verhältnis zum anderen Geschlecht. Mit provozierender Direktheit und satirischer Überzeichnung seziert Ozon das machistische Verständnis der Geschlechterrollen Mitte der 1970er Jahre. Demnach fällt Suzanne die „dekorative“ Aufgabe zu, fraulich, häuslich und vor allem repräsentativ zu sein. Ob hinter dem schönen Schein duldsamer Genügsamkeit unterdrückte Bedürfnisse schlummern, lässt Ozon allerdings zunächst offen.

Das ändert sich, als der despotische Chef im Verlauf eines unerbittlich geführten Streiks einen Schwächeanfall erleidet und die Unternehmensleitung an seine Frau abgeben muss. Diese hat – für manche überraschend – nicht nur eine eigene Meinung, sondern pflegt auch einen weniger hierarchischen Führungsstil, der auf Kommunikation und Mitbestimmung setzt. Unterstützt wird sie dabei zunächst vom kommunistischen Bürgermeister Maurice Babin (Gérard Depardieu), der als Suzannes ehemaliger Liebhaber eine alte Sehnsucht wiederbeleben möchte, und ihren beiden erwachsenen Kindern Laurent (Jérémie Renier) und Joëlle (Judith Godrèche). Doch die Untiefen eines instabilen Familiengefüges, basierend auf Lügen und Verrat, bleiben bei Ozon auch im Genre der heiteren Komödie präsent, wenngleich er sich diesmal mehr auf die Phänotypen konzentriert. Erfrischend undogmatisch jedenfalls erzählt Ozon von Geschlechterkampf, Rollentausch und der Macht der Frauen. So wird Suzanne zur bewunderten Vorkämpferin einer Emanzipation, die im fulminanten, politsatirischen Finale als neues Matriarchat gefeiert wird.