Blog Archives: 2017

Was der Himmel erlaubt

(USA 1955, Regie: Douglas Sirk)

Liebe vs. Gesellschaft
von Oliver Nöding

Jahre nach dem Tod ihres Gatten verliebt sich die Witwe Cary Scott (Jane Wyman) in den stillen, verschwiegenen Naturburschen Ron Kirby (Rock Hudson), ihren Gärtner. Doch niemand scheint ihr das …

Jahre nach dem Tod ihres Gatten verliebt sich die Witwe Cary Scott (Jane Wyman) in den stillen, verschwiegenen Naturburschen Ron Kirby (Rock Hudson), ihren Gärtner. Doch niemand scheint ihr das neue Liebesglück zu gönnen: Ihre Kinder sind entsetzt darüber, dass sie einen einfachen, noch dazu mehrere Jahre jüngeren Arbeiter zu heiraten und gar das Familienheim zu verkaufen gedenkt, und Freunde und Nachbarn distanzieren sich ebenfalls schnell von der vormals so beliebten Frau. Und die hat einfach nicht die Kraft, sich den Vorurteilen zu widersetzen und sich zu ihrer Liebe zu bekennen …

Trotz solcher Fürsprecher wie Rainer Werner Fassbinder ist es immer noch leicht, Douglas Sirk als Kitsch- und Schnulzenfilmer abzuschreiben und zu verkennen, weil es offensichtlich schwer fällt, an der aufreizenden Fassade seiner Filme vorbeizusehen bzw. sie einer wertneutralen Sicht zu unterziehen; und wohl auch, weil man einem 1900 geborenen Filmemacher die Befähigung zur Ironie abspricht, die oftmals für ein Vorrecht der Sechziger- und Siebzigerjahre gehalten wird. Tatsächlich haben Sirks Melodramen nicht die besten Nachahmer auf den Plan gerufen: Die von ihm erdachten Strukturen findet man heute vor allem in Soap Operas, Liebesschmonzetten und Fernsehfilmen wieder, wo sie allerdings zum bloßen Klischee geronnen sind und ohne die psychologische Genauigkeit, kritische Schärfe und eben ohne den Humor Sirks auskommen müssen. Wer 'Was der Himmel erlaubt' sieht, ohne Sirk einordnen zu können, dem werden die feinen Unterschiede möglicherweise entgehen, der wird ihn wahrscheinlich tatsächlich als typisches Werk der Fünfzigerjahre begreifen und als das Hausfrauenkino abschreiben, dessen Oberflächenmerkmale er trägt. Der auf glatte Beaus abonnierte Hudson wird dann ebenso zur Bestätigung des Vorurteils in Feld geführt werden wie der theatralische Score, das grelle Technicolor und die die Grenze zum Kitsch mehrmals überschreitenden Bilder.

Tatsächlich lassen sich diese Merkmale allesamt auch anders deuten: Hudsons Kirby ist keinesfalls der kantenlose Schönling, sondern ein von der bürgerlichen Gesellschaft in die Isolation getriebener Eigenbrötler, der sich hinter einer Mauer der Verschwiegenhiet versteckt und im ersten Drittel des Films nicht uneingeschränkt sympathisch erscheint. Die teilweise ins Surreale gleitenden Bilder sind als Karikatur der verlogenen Mittelklassenbehaglichkeit zu sehen, um deren Bloßstellung es Sirk in 'Was der Himmel erlaubt' geht. In der zweiten Hälfte des Films werden seine Bilder zunehmend dunkler, betonen sie die innere Zerrissenheit seiner beiden Hauptfiguren, über die das gesellschaftliche vernichtende Urteil bereits gesprochen wurde (man beachte etwa die Verwendung von Blau- und Rottönen, die das Liebespaar oft räumlich voneinander trennen). Anders als das affirmative Melodram, das seine Protagonisten in den Schoß der Gesellschaft zurückführt, geht es in 'Was der Himmel erlaubt' um den Ausstieg aus der Konformität. Die Frage, die sich Cary beantworten muss, lautet nicht: „Wie kann ich meinen gesellschaftlichen Status bewahren und trotzdem glücklich sein?“, sondern „Will ich meine Identität bewahren oder gesellschaftlich anerkannt werden?“ Wenn die Gesellschaft dem Individuum zum Feind wird, es reglementiert und konditioniert, ist sie es nicht wert, ihr gerecht werden zu wollen. Das Wohl des Einzelnen steht nicht über allem, aber nur wenn der Einzelne sich – unter Rücksichtnahme auf die Rechte des anderen – als Mensch entfalten kann, ist ein Zusammenleben möglich und überhaupt wünschenswert. Diese Haltung dem Menschen gegenüber war nicht nur in den spießigen Fünfzigerjahren bemerkenswert, sie ist es immer noch.

Ein fantastischer Film eines großen Humanisten.

Dieser Text erschien zuerst in: Remember it for later

Pauline am Strand

(F 1983, Regie: Eric Rohmer)

Mein schönster Sommerurlaub
von Oliver Nöding

Die attraktive Marion (Arielle Dombasle) steht kurz vor der Scheidung und verbringt den Sommerurlaub gemeinsam mit ihrer 14-jährigen Cousine Pauline (Amanda Langlet) in einem Haus am Strand. Dort begegnet sie …

Die attraktive Marion (Arielle Dombasle) steht kurz vor der Scheidung und verbringt den Sommerurlaub gemeinsam mit ihrer 14-jährigen Cousine Pauline (Amanda Langlet) in einem Haus am Strand. Dort begegnet sie sowohl einem alten Freund, dem unsterblich in sie verliebten Romantiker Pierre (Pascale Greggory), als auch dem Ethnologen Henri (Féodor Atkine), einem rücksichtslosen Hedonisten, in den sie sich sogleich verguckt. Pauline findet indes einen gleichaltrigen Partner in dem sympathischen Sylvain (Simon de La Brosse). Während Pierre verzweifelt versucht, Marion zu erobern, steigt Henri mit einer Süßigkeitenverkäuferin ins Bett. Als Pierre diese in Henris Haus sieht, versucht er die Nummer Sylvain in die Schuhe zu schieben …

Nach dem kühlen 'Die Frau des Fliegers' und dem herbstlichen Die schöne Hochzeit' ist Rohmer mit 'Pauline am Strand' im Sommer angekommen. Sein Film strahlt in hellen Farben, ist durch und durch lichtdurchflutet und von einer sehr entspannten Stimmung geprägt. Thematisch ist der Schritt von 'Hochzeit' zu 'Pauline' nicht allzu groß: In beiden werden verschiedene Liebes- und Partnerschaftskonzepte diskutiert. Vier konkurrierende Ansichten treffen aufeinander: Henri will keine Partnerschaft, weil er sie als Hindernis versteht – die Liebe kommt und geht, warum sich also festlegen? Marion hingegen sucht eine Liebe, die so stark ist, dass sie fast verbrennt; sie glaubt an die in der Hitze des Gefechts getroffene Entscheidung aus Leidenschaft – und riskiert gern, dass diese sich später als Fehlentscheidung entpuppen kann. Für den romantisch veranlagten Pierre hingegen ist Liebe nur in der Zeit zu denken: Lieben kann er nur eine Person, mit der er sich auch ein gemeinsames Leben vorstellen kann – und droht über dieses Anspruchsdenken zum Solipsist zu werden. Paulines Ansichten sind hingegen noch nicht durch gute oder schlechte Erfahrungen vorgeprägt, sie geht unvorbelastet durchs Leben und will sich überraschen lassen, ohne dabei jedoch alle Prinzipien aufzugeben.

Während die Erwachsenen um sie herum bereits irgendwie verletzt und dadurch „verdorben“ wurden, repräsentiert Pauline ein Konzept der Reinheit. Das macht sie nicht nur zur Hauptfigur, sondern auch zur „weisesten“ Figur des Films; gleichzeitig ist sie der deutlichste Hinweis auf den Dichtungscharakter von Rohmers Film, den man sonst leichtfertig und fälschlicherweise als Spiegelung des „echten Lebens“ begreifen könnte. Das ist er nicht: So authentisch Pauline und ihre Freunde auch sind, sie sind reine Kunstfiguren, Vertreter von Konzepten. Wer die beiden Vorgänger von Comédies et Proverbes gesehen hat, erkennt einige von ihnen wieder: Henri gleicht dem Anwalt Edmond aus 'Hochzeit', Pauline und Pierre erinnern an Lucie bzw. François aus 'Die Frau des Fliegers'. Nicht viel Neues also, aber das ist gar nicht so schlimm. Auch 'Pauline am Strand' ist wieder ein sehr schöner Film, etwas leichter als seine beiden Vorgänger, und mit einem sehr prägnanten Ende: Selbstbetrug kann eben auch ein Weg zum Glück sein.

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Vollmondnächte

(F 1984, Regie: Eric Rohmer)

Louise wohnt hier nicht mehr
von Oliver Nöding

Die Innenausstatterin Louise (Pascale Ogier) lebt mit ihrem Partner Remi (Tchéky Karyo) in der Pariser Vorstadt. Dem Leben in der abgeschiedenen Zweisamkeit entflieht sie gern in die Metropole, um dort …

Die Innenausstatterin Louise (Pascale Ogier) lebt mit ihrem Partner Remi (Tchéky Karyo) in der Pariser Vorstadt. Dem Leben in der abgeschiedenen Zweisamkeit entflieht sie gern in die Metropole, um dort mit Freunden auszugehen und zu tanzen. Remi ist von diesem Freiheitsdrang eh schon wenig angetan, doch als Louise sich auch noch eine Zweitwohnung in Paris einrichtet, kühlt das Verhältnis zwischen beiden merklich ab. Louise glaubt aber immer noch, dass die Distanz gut für ihre Beziehung sei …

'Vollmondnächte', der vierte Teil von Rohmers Filmzyklus Comediés et proverbes ist nach dem Vorgänger, dem sonnigen Pauline am Strand', nun ein echter Nachtfilm. Er wird von künstlicher Beleuchtung sowie von Schwarz und Grautönen in Verbindung mit einigen sparsamen Farbtupfern dominiert und weist eine interessante Struktur auf: 'Vollmondnächte' spielt an vier Abenden bzw. Nächten, die jeweils einen Monat auseinanderliegen und dem Zuschauer so ermöglichen, den Verlauf von Louises selbst gewähltem Strohwitwendasein zu verfolgen. Die Handlung springt dabei immer zwischen der gemeinsamen Wohnung in der Vorstadt und Louises Stadtappartement hin und her, frei nach dem dem Film vorangestellten Sprichwort: „Jemand mit zwei Frauen verliert seine Seele, jemand mit zwei Häusern seinen Verstand“.

Mit ihrer Flucht, mit der Louise ihre Beziehung zum besitzergreifenden Remi eigentlich retten will, erreicht sie nur das Gegenteil: Das, was für sie richtig ist, ist für Remi leider genau das Falsche. Am Ende muss sie ihre Taschen packen, das Experiment, ihre Liebe auf die Probe zu stellen, ist schiefgegangen. Die interessanteste Szene des Films ereignet sich ungefähr nach der Hälfte der Laufzeit und stellt den Wendepunkt des Films dar: Als Louise zusammen mit ihrem Freund Octave (Fabrice Luchini) in einem Café sitzt, glaubt sie Remi gesehen zu haben, während Octave wiederum steif und fest behauptet, Camille, eine Freundin Louises, erkannt zu haben. Sofort spekulieren beide über ein Verhältnis der beiden. Rohmer filmt diese Szene jedoch, ohne dass Remi oder Camille zu sehen wären, ja, man sieht überhaupt niemanden außer eben Louise und Octave, die von ihrer Sichtung berichten. Dies mag sowohl als Beispiel für die kleinen Rätsel und Geheimnisse fungieren, die in Rohmers Filmen immer wieder auftauchen, für die radikale Subjektivität, der seine Protagonisten unterworfen sind, ohne es zu bemerken, als auch für seine eigenwillige Kameraarbeit: In Rohmers Filmen – zumindest in der Reihe Comediés et proverbes – gibt es weder Close-ups von Gesichtern noch so etwas wie Subjektiven. Die Kamera verlässt nie die Rolle des unbeteiligten, distanzierten Beobachters der Protagonisten.

Nach den herausragenden ersten drei Teilen des Filmzyklus fällt 'Vollmondnächte' etwas ab: Der Film ist äußerlich stark in seiner Zeit verhaftet und am synthetischen Frankopop, der mehrfach zum Einsatz kommt, dürften sich die Geister heute scheiden. Das ändert aber nichts daran, dass auch dieser Film ausgesprochen sehenswert und zudem gut dazu geeignet ist, die eigene Beobachtungsgabe zu schulen. Wie viel inszenatorischer und gestalterischer Wille hier am Werk ist, droht einem nämlich zunächst zu entgehen, wenn man gewohnt ist, alles auf dem Silbertablett serviert zu bekommen.

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Das grüne Leuchten

(F 1986, Regie: Eric Rohmer)

Hinter dem Horizont
von Oliver Nöding

Kurz vor dem gemeinsamen Sommerurlaub wird Delphine (Marie Rivière) von ihrem Freund verlassen. Sie ist geschockt, aber trotz allem entschlossen, ihren wohl verdienten Urlaub anzutreten, den sie nun versucht, allein …

Kurz vor dem gemeinsamen Sommerurlaub wird Delphine (Marie Rivière) von ihrem Freund verlassen. Sie ist geschockt, aber trotz allem entschlossen, ihren wohl verdienten Urlaub anzutreten, den sie nun versucht, allein zu organisieren. Doch egal, wohin sie auch geht, überall wird sie an ihre neue Einsamkeit erinnert …

'Das grüne Leuchten' ist vor allem Marie Rivières Film, die für Rohmer zuvor schon in 'Perceval le gallois' und 'Die Frau des Fliegers' vor der Kamera gestanden hatte: Kaum eine Szene kommt ohne die Schauspielerin aus, Rohmer folgt ihr von Paris nach Cherbourg, in die Alpen und schließlich an die Atlantikküste nach Biarritz, bevor es zu einem Happy End in St. Jean de Luz kommt. Nach den doch eher realistisch-ernüchternden Geschichten der vier Filme zuvor ist 'Das grüne Leuchten' ein Film über die Hoffnung – auch wenn es lange nicht den Anschein hat. Delphine droht in ihrer Trauer und ihren Selbstzweifeln zu ersticken, obwohl ihr der Weg zum Glück in Form der Farbe Grün gewiesen wird, wie ihr das eine Wahrsagerin prophezeit hatte. Am Ziel angekommen, sieht Delphine dann auch den titelgebenden „grünen Strahl“ bzw. das „grüne Leuchten“. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, das sich angeblich im letzten Moment des Sonnenuntergangs ereignet und das den, der es sieht, in die Lage versetzt, das eigene Wesen und das anderer in völliger Klarheit vor sich zu erkennen.

'Das grüne Leuchten' ist aber nicht nur hoffnungsvoll, es ist auch ein Film über die Einsamkeit unter Menschen: Egal, wo sich Delphine auch aufhält, sie ist immer am falschen Ort. Der Versuch, Kontakte zu knüpfen, bringt ihre Isolation nur noch stärker ans Licht. Es gibt eine famose Szene, in der man förmlich sehen kann, wie Delphine graduell immer mehr in sich versinkt, während sich die Menschen um sie herum amüsieren. Dass Delphine ausgerechnet am Bahnhof, von wo aus sie eigentlich abreisen möchte, jemanden trifft, bei dem sie sich wohl fühlt, bestätigt zum einen die Phrase, dass das Glück immer unerwartet zuschlägt, zum anderen korrespondiert dies mit einigen anderen Rohmer-Filmen: Züge und Busse sind gute Orte, um Menschen zu begegnen. Wer reist, der öffnet sich für andere. Ein schöner, sehr entspannter und meditativer Film mit einem wunderbaren Ende.

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Der Freund meiner Freundin

(F 1987, Regie: Eric Rohmer)

Zu neuen Ufern
von Oliver Nöding

In einer modernen Trabantenstadt vor den Toren von Paris begegnen sich die junge Beamtin Blanche (Emmanuelle Chaulet) und die Studentin Lea (Sophie Renoir) und freunden sich an. Die selbstsichere Lea, …

In einer modernen Trabantenstadt vor den Toren von Paris begegnen sich die junge Beamtin Blanche (Emmanuelle Chaulet) und die Studentin Lea (Sophie Renoir) und freunden sich an. Die selbstsichere Lea, mit dem gutaussehenden Fabien (Eric Viellard) liiert, kümmert sich sofort um das Liebesglück der schüchternen Blanche: Der erfolgreiche Alexandre (François-Eric Gendron) ist ihrer Meinung nach genau der Richtige. Doch dann nähern sich Blanche und Fabien in Abwesenheit Leas einander an …

Mit 'Der Freund meiner Freundin' findet Rohmers sechsteilige Reihe Comédies et proverbes ihren mehr als versöhnlichen Abschluss. Nach all den fehlgeschlagenen Beziehungskonzepten und unglücklich verlaufenden Liebschaften der vorangegangenen Beiträge entlässt Rohmer am Ende dieses Films gleich zwei Liebespaare in eine hoffentlich glückliche Zukunft. Und passend dazu ist 'Der Freund meiner Freundin' leicht, verspielt und frei von den quälenden Selbsterkenntnisprozessen, denen etwa die Protagonistinnen von Vollmondnächte' oder Das grüne Leuchten' ausgesetzt waren. Deutete Rohmer zuvor immer wieder an, dass das Konzept der monogamen Liebesbeziehung in der Postmoderne kaum noch lebbar ist, zeichnet sich hier der Silberstreif am Horizont ab. Das schlägt sich nicht zuletzt in der Acrhitektur des Films nieder, die das hervorstechendste Merkmal von Rohmers Inszenierung ist. 'Der Freund meiner Freundin' spielt in einer luxuriösen Wohnsiedlung, in der Moderne und Renaissance einander die Hand reichen und die von weitläufigen Freizeitanlagen gesäumt ist, die den Protagonisten Gelegenheit für die Rohmer-typischen kontemplativen Ausflüge in die Natur geben. Es stellt sich die Frage, ob diese Kunststadt abseits der Stadt tatsächlich eine mögliche, dauerhafte Utopie darstellt.

'Der Freund meiner Freundin' ist vielleicht der zugänglichste und leichteste Film der Reihe und gut für einen Einstieg ins Werk Rohmers geeignet, dessen Inszenierungsstil zunächst eine echte Herausforderung für den Zuschauer darstellt: Die breiten Dialoge lenken oft vom Bild ab und suggerieren, hier fände eben nur Theater auf der Leinwand statt. Erst nach einiger Eingewöhnungszeit fallen einem dann die vielen Feinheiten der Regie auf, etwa die wichtige Rolle von Set-Designs und Dekor: Man achte etwa auf die Platzierung der Accessoires in Blanches Büro oder die letzte Szene, in der die vier Protagonisten entweder Grün oder Blau tragen und so noch einmal das Bäumchen-Wechsel-Dich-Spielchen des vorangegangenen Films pointieren. Der erste Seheindruck ist sicherlich der eines besonders „nackten“ Stils – und das ist in gewisser Hinsicht auch richtig, etwa was die Verwendung von Musik oder des „Fernsehformats“ von 1,33:1 angeht (aus dem Zyklus Comédies et proverbes ist nur Pauline am Strand' nicht in diesem Format). Dennoch passiert in Rohmers Filmen sehr viel mehr, als es zunächst den Anschein hat, was ihren nicht unerheblichen Reiz ausmacht. Wahre Schönheit drängt sich nur selten auf. Das gilt für das Leben genauso wie für Rohmers Filme.

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Der letzte Akkord

(USA 1957, Regie: Douglas Sirk)

Die Schönheit der Chance
von Oliver Nöding

Die Amerikanerin Helen Banning (June Allyson) reist nach auf der Suche nach neuen Erfahrungen nach München und tritt dort eine Stelle im Amerika-Haus an. In dieser Tätigkeit trifft sie auf …

Die Amerikanerin Helen Banning (June Allyson) reist nach auf der Suche nach neuen Erfahrungen nach München und tritt dort eine Stelle im Amerika-Haus an. In dieser Tätigkeit trifft sie auf den berühmten deutsch-italienischen Dirigenten Tonio Fischer (Rossano Brazzi), mit dem sich nach anfänglichen Schwierigkeiten eine Romanze anbahnt. Doch dann erfährt Helen, dass Tonio mit der schwer kranken Reni (Marianne Koch) verheiratet ist …

Man möchte meinen, Douglas Sirk habe sich mit 'Der letzte Akkord', seinem viertletzten amerikanischen Film, schon mit seiner Rückkehr nach Europa beschäftigt. In wunderschönstem Technicolor schwelgt er in barock anmutenden Aufnahmen Münchener und Salzburger Sehenswürdigkeiten und errichtet den majestätischen Alpen geradezu ein filmisches Denkmal. Mit diesem visuellen Pomp appelliert Sirk nicht nur an den Exotismus amerikanischer Kinogänger, er stellt seinen Film damit auch in krassen Kontrast zu den zwar nicht minder erlesen fotografierten, aber deutlich aufgeräumter und klarer anmutenden 'All meine Sehnsucht' und Es gibt immer ein Morgen'. Dies lässt sich auch auf die Inhaltsebene übertragen: Ließ Sirk das melodramatische Element in den beiden genannten Filmen mit einer nüchtern artikulierten und deshalb umso schärferen Gesellschaftskritik kollidieren, und lieferte er so eine äußerst realistische Bestandsaufnahme des Phänomens „Liebe und Partnerschaft im 20. Jahrhundert“ ab, tritt die soziale Komponente in 'Der letzte Akkord' zugunsten des zwar ungehemmten aber auch unschuldigen Herzschmerzes zurück. Hatte Sirk zuvor geradezu subversive Melodramen gemacht, ist die Tragik dieses Films nun eine rein affirmative.

Das bedeutet aber nicht, dass ihm der Blick für gesellschaftliche Missstände gänzlich abhanden gekommen wäre: Für den weltgewandten Tonio Fischer ist es etwa völlig selbstverständlich, Helen rabiat zum Essenmachen in die Küche abzuschieben. Sein großzügiges Versprechen, sich gleichzeitig um die Befeuerung des Kamins zu kümmern, entpuppt sich indes als leer: Es reicht, ein brennendes Streichholz hineinzuwerfen. Und auch die Ehe von Tonio und Reni, die für den Dirigenten beinahe einer Gefangenschaft gleicht, aber mit Rücksicht auf den Status quo nicht aufgelöst werden kann, ist ein Hinweis darauf, dass gesellschaftliche Konventionen und Institutionen nicht immer im Dienste des Menschen stehen. Insgesamt werden diese Themen in 'Der letzte Akkord' aber weitaus weniger stringent und überzeugend entwickelt. So bleibt am Ende ein zwar nur durchschnittlicher Sirk-Film, doch auch ein solcher legt sich noch wie Balsam auf geschundene Sinnesorgane. 'Der letzte Akkord' ist eine absolute Augen- und Ohrenweide und ein Film, bei dem man hemmungslos dahinschmachten kann.

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Der Babysitter

(USA 1958, Regie: Frank Tashlin)

… Vater sein dagegen sehr
von Oliver Nöding

Die Filmschauspielerin Carla Naples (Marilyn Maxwell) hat ein Problem: Eine Schwangerschaft kommt ihren Karriereplänen in die Quere. Ihr Agent rät ihr, sich zurückzuziehen, ihr Kind unter Geheimhaltung zur Welt zu …

Die Filmschauspielerin Carla Naples (Marilyn Maxwell) hat ein Problem: Eine Schwangerschaft kommt ihren Karriereplänen in die Quere. Ihr Agent rät ihr, sich zurückzuziehen, ihr Kind unter Geheimhaltung zur Welt zu bringen und dann an jemanden abzugeben, um so von lästigen Mutterpflichten befreit ihren nächsten Film drehen zu können. Aber wer nimmt schon freiwillig ein Baby an? Carla fällt ihr alter Schulfreund Clayton Poole (Jerry Lewis) ein, der damals schwer verknallt in sie war und immer noch in der Kleinstadt Midvale lebt. Tatsächlich würde Clayton alles für seine große Liebe tun und so hat er plötzlich Drillinge am Hals, was für etliche Verwirrungen und Schwierigkeiten sorgt: Nicht zuletzt bei Carlas Schwester Sandra (Connie Stevens), die ebenfalls ein Auge auf Clayton geworfen hat …

'Der Babysitter' markiert Tashlins dritte Zusammenarbeit mit Jerry Lewis (nach den beiden Jerry-Lewis&Dean-Martin-Filmen 'Der Agentenschreck' und dem brillanten 'Alles um Anita') und den Auftakt einer überaus produktiven Partnerschaft mit dem Komiker, die fünf weitere Filme hervorbrachte. Lewis dritter Film als Solostar präsentiert ihn als Vater wider Willen, eine Rolle, die er im nachfolgenden 'Der Geisha Boy' erneut einnehmen sollte und die ihren Witz nicht zuletzt aus dem asexuellen Charakter der Lewis-Persona bezieht. Clayton wird als liebenswerter, aber etwas naiver Junggeselle eingeführt, der seine Jugendliebe längst noch nicht überwunden hat und sich in tiefer Melancholie suhlt. Tashlin siedelt die entsprechenden Szenen in einem wunderbar künstlichen Studiosetting an, das die Überlebensgröße von Claytons Empfindungen trefflich verbildlicht, und kontrastiert sie mit den gewohnt absurden Slapstickeinlagen und Lewis‘schen Grimassierereien. Gleich der erste Auftritt Claytons mündet in eine cartoonhafte Sequenz, die auf dem Dach eines Hauses beginnt und in einem wunderbar choreografierten Kampf mit einem Feuerwehrschlauch kulminiert. Ganz auf das komische Talent Lewis’ zugeschnitten sind auch die Szenen, die sich um die mehr oder minder erfolgreichen, aber immer rührenden Versuche Claytons, seine Schützlinge zu versorgen, drehen.

Selbst wenn man sich bereits daran gewöhnt hat, dass Lewis Solofilme Struktur zugunsten eines organisierten Chaos verwerfen, in dem sich der Hauptdarsteller erst voll entfalten kann, ist 'Der Babysitter' (immerhin von Preston Sturges mitverfasst) als „zerfahren“ zu bezeichnen. Es dauert ca. 40 Minuten, bis Clayton zum Vater wird, und in die verbleibende Stunde wird eine solche Unmenge an Handlung gezwängt, dass die Auflösung am Ende sehr forciert erscheint. Das liegt auch daran, dass 'Der Babysitter' mehr als die folgenden Filme Lewis‘ darum bemüht ist, eine echte Geschichte zu erzählen: Verhältnismäßig großes Gewicht wird auf den melodramatischen Aspekt gelegt, die ganz realen Probleme, die sich einem alleinerziehenden Vater stellen, anstatt Lewis lediglich Szenen zu bieten, in denen er sich austoben kann. Das ist schon deshalb nicht der ideale Ansatz, weil die Lewis-Persona sich schlicht nicht dazu eignet, an ihr geschlechterspezifische soziale Schieflagen zu verhandeln. Eigentlich ist das aber nicht weiter schlimm: 'Der Babysitter' ist anachronistische und immer auch etwas spießige Unterhaltung, der man aber einfach nicht böse sein kann. Tashlin – ein ehemaliger Cartoonist – inszeniert in knalligstem Technicolor, der Film ist eine Augenweide, Jerry Lewis legt eine unglaubliche physische Präsenz an den Tag und die Gags sitzen wie ein maßgeschneiderter Anzug. Verglichen mit aktuellen Vater-wider-Willen-Szenarios ist Tashlins Film nichts weniger als eine Meisterleistung.

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Hallo, Page!

(USA 1960, Regie: Jerry Lewis)

Menschen im Hotel
von Oliver Nöding

Ein Blick in das luxuriöse Fontainebleu Hotel in Miami Beach und den Arbeitsalltag des trotteligen Pagen Stanley (Jerry Lewis), der sich mit strengen Vorgesetzten, hinterlistigen Kollegen, anspruchsvollen Gästen, eingebildeten Prominenten …

Ein Blick in das luxuriöse Fontainebleu Hotel in Miami Beach und den Arbeitsalltag des trotteligen Pagen Stanley (Jerry Lewis), der sich mit strengen Vorgesetzten, hinterlistigen Kollegen, anspruchsvollen Gästen, eingebildeten Prominenten und jeder Menge Gepäck herumschlagen muss …

Dass 'Hallo, Page!', Lewis’ Spielfilm-Regiedebüt (er hatte zuvor bereits fürs Fernsehen gearbeitet und einen Kurzfilm inszeniert), kein ganz gewöhnlicher Film ist, wird gleich zu Beginn explizit gemacht: Der Chef von Paramount (Jack Kruschen) warnt den Zuschauer, dass der eher eine Sammlung von „silly sequences“ zu erwarten habe. Und so ist es dann auch: 'Hallo, Page!' ist eine Sketchshow, in der es zwar durchaus wiederkehrende Motive, einen Schauplatz und einen Hauptcharakter, aber eben keine Handlung im eigentlichen Sinne gibt. Im Zentrum dieser Sketche (aber nicht aller) steht der Page Stanley, der von einem Auftrag zum nächsten gescheucht und dabei bis zum Schluss niemals zu Wort kommen wird. Dabei begegnet er nicht nur dem massiv gestressten Superstar Jerry Lewis, der von einer ganzen Entourage übereifrig serviler Bediensteter begleitet wird, sondern auch einem Stan-Laurel-Double sowie diversen anderen, meist nicht in den Credits angeführten Gaststars.

Wie man sich vorstellen kann, schwankt das Niveau der einzelnen Sketche deutlich: Ganz groß ist 'Hallo, Page!' immer dann, wenn Lewis sein eigenes Mienenspiel und sein physisches Geschick in den Mittelpunkt rückt, während „verbalere“ Gags heute nicht mehr ganz zünden wollen. Dennoch wird in jeder Sekunde deutlich, dass Lewis längst nicht nur ein Kasper ist, sondern seinen Erfolg vor allem einer bestimmten Weltanschauung verdankt. Diese tritt in 'Hallo, Page!' logischerweise stärker hervor als in den Filmen, die der Komiker zusammen mit seinem Stammregisseur Frank Tashlin gedreht hatte. Lewis’ Regiedebüt bezieht seinen Witz aus dem Zusammenprall des mondänen Settings, der banalen Aufgabe Stanleys, seinen Versuchen, diese würdevoll zu meistern, und der Ignoranz seiner Umwelt. Wenn er zur Schadenfreude seiner Kollegen mit größtem Eifer und pedantischer Akribie einen riesigen Zuschauerraum bestuhlen muss oder eine stille Minute nutzt, um auf einer leeren Bühne den Dirigenten zu spielen, reiht sich Lewis nahtlos in die lange Ahnengalerie großer Komiker ein, bei denen lustige wie auch tragische Elemente einträchtig nebeneinander existierten. Mit 'Hallo, Page!' gelang Lewis zwar kein Meisterwerk, aber dennoch ein Film, der andeutet, warum er später von der französischen Filmkritik – und sehr zum Unverständnis seiner amerikanischen Landsleute – als auteur gefeiert werden sollte.

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La Orca

(I 1976, Regie: Eriprando Visconti)

Im Bauch des Wals
von Oliver Nöding

Zum Ende hin macht sich eine große Leere breit: Protagonisten verschwinden, ohne dass sie eine Spur hinterließen. Anonyme und teilweise gar gesichtslose Kräfte mischen sich ohne Vorankündigung in die Handlung …

Zum Ende hin macht sich eine große Leere breit: Protagonisten verschwinden, ohne dass sie eine Spur hinterließen. Anonyme und teilweise gar gesichtslose Kräfte mischen sich ohne Vorankündigung in die Handlung ein, sabotieren dessen Erzählung durch ihre überfallartigen Eingriffe. Oft bleibt nicht mehr als eine aus dem Kontext gerissene Dialogzeile, die den Zuschauer über den Verbleib bis dahin noch wichtiger handelnder Figuren aufklärt. Was als lückenlose Chronik einer Entführung begann, endet als elliptische Reflexion über soziale Isolation und die Mechanismen der Macht und – damit verbunden – der Ökonomie, die so unausweichlich wie die Naturgesetze sind. Die Schärfe von Eriprando Viscontis Sozialkritik zeigt sich vor allem darin, dass er die Gesellschaft aus seinem Film subtrahiert.

Zu Beginn ist noch alles klar: Drei namenlose Ganoven entführen die junge Alice (Rena Niehaus), Tochter eines wohlhabenden Unternehmers und verschleppen sie in ein außerhalb von Mailand gelegenes, leerstehendes Bauernhaus. Dort wartet bereits der Vierte im Bunde, der unerfahrene Michele (Michele Placido). Während Michele gemeinsam mit einem Komplizen (Flavio Bucci) dafür zuständig ist, das Mädchen zu bewachen, kümmern sich die beiden anderen um die Abwicklung der Lösegeldforderung. Doch Alice‘ Vater ist anscheinend nicht bereit, zu zahlen. Die Isolation treibt den Naivling Michele – der meist allein gelassen wird – in die Langeweile und so schließlich in eine zunächst sexuelle, dann auch eine Liebesbeziehung mit seiner Geisel, die ihn davon überzeugen möchte, mit ihr zu fliehen und ihm eine gemeinsame Zukunft verspricht. Doch als die Polizei plötzlich anklopft, erweisen sich ihre Liebesbekundungen als eiskalte Strategie …

„La Orca – Gefangen, geschändet, erniedrigt“ erweist sich ganz entgegen seines reißerischen deutschen Verleihtitels, der einen sexistischen Exploiter verspricht, als vielschichtiger und raffinierter Genrehybrid aus Erotikthriller, Kriminalfilm und Drama, dessen expliziten Sexszenen weitaus weniger als Beleg eines abgefeimten geschäftlichen Kalküls als vielmehr krasse bildliche Konkretisierung seiner gesellschaftlichen Diagnose erscheinen. Die Geschichte einer Entführung mündet zunächst in das sattsam bekannte Szenario der sexuellen Erniedrigung/Verführung der Gefangenen/des Entführers, das sich schließlich in eine sadomasochistisch angehauchte Liebesgeschichte verwandelt, die das bis dahin vorherrschende Kräfteverhältnis auf den Kopf stellt, allerdings ohne, dass dies dem eigentlich die Position der Dominanz innehabenden Michele bewusst würde: Die verführerische Alice lässt ihn weniger passiv gewähren, als dass sie ihn aktiv herausfordert, sich ihr zu nähern, so sein Vertrauen gewinnt und die Grundlage für ihre Befreiung und seinen Untergang legt. Dass es sich bei ihm um ein unbedarftes und mittelloses Landei handelt und bei ihr um die gebildete Tochter aus gutem Hause, ist dabei kein Zufall.

Es sind vor allem die sich kontinuierlich auflösenden Nebenstränge dieser Geschichte, die nach und nach verdeutlichen, dass sich „La Orca“ nahtlos in das polemische klassenkämpferische italienische Kino jener Tage eingliedert, in dem die armen Schlucker am Ende immer den Kürzeren gegenüber den gewissen- und skrupellosen Reichen ziehen. Michele und seine Komplizen sind keine bösen Menschen, vielmehr werden sie von wirtschaftlichen Umständen in die Kriminalität gezwungen: So schmuggelt Micheles Kumpan Zigaretten, weil das Geld, das er mit dem Reparieren von Flipperautomaten verdient, nicht ausreicht, um sich, seine Geliebte und deren Kind über Wasser zu halten. Aber auch der Zigarettenschmuggel bringt kaum mehr als ein kleines Zubrot, das das Risiko, geschnappt zu werden, eigentlich nicht lohnt. Das System kann den Ausbruch dennoch nicht dulden und so werden die Kriminellen heimlich, still und leise, aber ungemein effektiv aus dem Verkehr gezogen: Der Kopf der Bande (Bruno Corazzari) wird von seinen Auftraggebern abberufen, weil die Polizei auf ihn aufmerksam geworden ist – er verschwindet ohne Abschied aus dem Film –, Micheles Partner wird plötzlich von mehreren Männern gestellt, ohne dass man erführe, wie sie ihm eigentlich auf die Schliche gekommen sind. „La Orca“ zieht sich im Verlauf seiner Spielzeit immer mehr zusammen, blendet die Außenwelt immer mehr aus, bis nur noch Michele da ist. Aber auch er wird nicht bleiben.

Seine Isolation in dem verrammelten Bauernhaus lässt sich durchaus als Bild lesen: Seine Welt ist klein, dunkel, schäbig, geprägt von den Bedürfnissen, die unmittelbare Stillung verlangen, und den Träumen, die ihn dazu antreiben, über die engen Grenzen hinauszugehen. Was er nicht sieht, ist der Kontext, in den er eingebunden ist. Draußen geht das Leben weiter und es spielt gegen ihn. Während er am Schluss in seinen ausgelatschten Sandalen verblutet, einen Tod stirbt, dessen genaue Umstände niemals ans Licht kommen werden, um seine Mörderin nicht zu belasten, die eiskalte Alice in ihr behütetes Haus zurückkehren kann, spielt der Drahtzieher hinter der Entführung, ein blinder alter Mann, Klavier in einem Ballsaal, den nie ein Gast zu betreten scheint, der dafür aber von einer ganzen Armee von Putzfrauen sauber gehalten wird. Wer solche Auftraggeber hat, dessen Leben ist tatsächlich keinen müden Pfifferling mehr wert. Und vielleicht war es das nie.

Hunger

(GB / IR 2008, Regie: Steve McQueen)

Schonungslose Passion
von Wolfgang Nierlin

Von den Rändern aus bewegen sich die Figuren in das Zentrum dieses außergewöhnlichen Films. Wie bei einer Stab-Übergabe lösen die Protagonisten einander ab, wobei sich die Gewichte verändern und die …

Von den Rändern aus bewegen sich die Figuren in das Zentrum dieses außergewöhnlichen Films. Wie bei einer Stab-Übergabe lösen die Protagonisten einander ab, wobei sich die Gewichte verändern und die Perspektiven verschieben. Genauso gut ließe sich aber auch sagen, dass das Zentrum von Anfang an in jeder Figur und in jeder Handlung anwesend ist, was eine enorme Spannung erzeugt. Das parataktische Konstruktionsprinzip der strengen äußeren Form lenkt also die Konzentration des Zuschauers unter weitgehendem Verzicht auf eine herkömmliche Dramaturgie und erhöht mit seinen radikal reduzierenden Verfahren zugleich den Druck im Innern des Dargestellten. „Hunger“, der Debütfilm des britischen Videokünstlers Steve McQueen, kultiviert eine Ästhetik des Verzichts und eine Poesie der Stille. In langen Einstellungen und intimen Detail-Aufnahmen auf Körper und Dinge gewinnt die elliptische Struktur an Dichte und Intensität.

Das äußerlich lokalisierbare Zentrum des Films und sein hauptsächlicher Schauplatz ist das berüchtigte Maze Prison, ein Hochsicherheitsgefängnis nahe der nordirischen Stadt Lisburn. Im Frühjahr 1981 tobt hier ein erbitterter Kampf zwischen IRA-Gefangenen und Wächtern als Erfüllungsgehilfen der zynischen britischen Politik. Weil die Regierung unter Premierministerin Margaret Thatcher den Häftlingen ihren Status als politische Gefangene aberkennt, beginnen diese mit dem sogenannten „schmutzigen Protest“: Sie weigern sich, Anstaltskleidung anzuziehen, sich zu waschen und ihre Haare schneiden zu lassen; und sie beginnen, mit ihren Exkrementen, die sie an Zellenwände schmieren und in die Gänge ableiten, einen Krieg zu führen. Die Anstaltsleitung reagiert mit erzwungenen Säuberungsaktionen, die von drakonischen Strafen und brutaler Folter begleitet werden. Politisch betrachtet, ist das ein „historischer Schock“. Doch mehr noch interessiert sich Steve McQueen dafür, was Menschen sich und anderen antun in einem permanenten Klima aus Repression, Gewalt und Angst.

Dessen grausame Verdichtung schildert der Film schließlich in dem vom charismatischen Bobby Sands (Michael Fassbender) angeführten Hungerstreik, in dessen Verlauf zehn Gefangene sterben werden. Vorangestellt ist diesem das etwa 20-minütige, in nur wenigen Einstellungen aufgenommene Gespräch zwischen Pater Moran (Liam Cunningham) und Sands, in dem es darum geht, ob der Kampf für die Freiheit und das Leben die Selbsttötung erlaube. Was dann folgt, ist die schonungslose Darstellung eines nackten Sterbens, einer Passion, die in einem qualvollen Hungertod endet. Während in der ersten Hälfte von „Hunger“ das existentielle Geschehen in den Schmutz und die Dunkelheit der Gefängniszellen getaucht ist, dominiert nun eine klinisch-reinliche Helligkeit, angefüllt mit sorgsamen Gesten, unter denen das Leben allmählich unter extremen Schmerzen verlöscht. Auf einem Krankenbett wird ein ursprünglich gesunder Mensch im Verlauf von 66 Tagen durch Staatsbedienstete „zu Tode gepflegt“. Ein extremer Tabubruch und nicht verjährender Skandal!

Shame

(GB 2011, Regie: Steve McQueen)

In der Falle
von Wolfgang Nierlin

Die Kreisstruktur, die Steve McQueens neuen Film „Shame“ charakterisiert, ist auch den Bewegungen seines Helden Brandon (Michael Fassbender) implementiert. Die Routinen seines Alltags, in der Exposition als Zeitschleife sich wiederholender …

Die Kreisstruktur, die Steve McQueens neuen Film „Shame“ charakterisiert, ist auch den Bewegungen seines Helden Brandon (Michael Fassbender) implementiert. Die Routinen seines Alltags, in der Exposition als Zeitschleife sich wiederholender Handlungen und Abläufe inszeniert, kreisen wie sein Denken permanent um Sex. Dessen Realisierung ist immer schon die Vorstufe für die nächste Phantasie und für ein Begehren, das sich selbst verzehrt. Andererseits erzeugen die Gedanken einen fortgesetzten, triebgesteuerten Handlungsdruck. Brandon ist ein Sexsüchtiger, der fast schon krankhaft masturbiert, die Dienste von Prostituierten in Anspruch nimmt, exzessiv Pornos konsumiert und wie ein Besessener Frauen jagt. Emotional unfähig, eine normale Beziehung mit einem anderen Menschen einzugehen, entwickelt er einen unstillbaren Hunger. Dabei ist es gerade die schamvoll empfundene Leere nach dem Koitus, die den Teufelskreis seiner Begierde in Gang hält und ihn so zu einem Gefangenen seiner selbst macht.

Steve McQueen beschreibt Brandons Sexualität als Gefängnis. Demnach führt gerade ihre permanente Verfüg- und Konsumierbarkeit in die Unfreiheit. War es in seinem vorhergehenden Film „Hunger“ über den inhaftierten IRA-Terroristen Bobby Sands noch die Folter des Eingesperrt-Seins, die den Körper zu ebenso ungewöhnlichen wie schockierenden Widerstandshandlungen provozierte, so ist es in „Shame“ umgekehrt eine grenzenlose, egoistisch verstandene Freiheit, die den leistungs- und erfolgsgesteuerten Konsumenten zum Gefangenen macht. Steve McQueen thematisiert hier also die fragwürdige Freiheit der modernen Gesellschaft, die Züge einer fortschreitenden Entmenschlichung trägt. „Wir sind keine schlechten Menschen, wir kommen nur von schlechten Orten“, sagt einmal Brandons labile Schwester Sissy (Carey Mulligan), die an der Kälte dieser Gesellschaft zu zerbrechen droht.

Ihr Auftauchen in der aufgeräumten, sauberen New Yorker Wohnung ihres gutsituierten Bruders markiert einen entscheidenden Bruch und bewirkt eine empfindliche Störung von Brandons sexueller Ordnung. Die ungewohnte Nähe und Sissys Anspruch auf teilbare Gefühle erzeugen bei dem funktionsgesteuerten Junkie Entzugserscheinungen und klaustrophobischen Stress. Brandon wähnt sich „in der Falle“, wird förmlich krank und kann seine existentielle Krise auch nicht mit einer „normalen Beziehung“ zu einer Arbeitskollegin kompensieren. Im Gegenteil führt ihn sein diesbezügliches Scheitern auf einen exzessiven Selbstzerstörungstrip. Steve McQueen übersetzt diese Erschütterungen in einen Wechsel aus spannungsgeladener Ruhe und manischer Bewegung. Die distanzierte Sprache der Blicke löst sich dabei immer wieder auf in der abstrakten Nähe eines Geflechts von Körpern, die sich verlieren. Auch wenn das neue Werk des Turner-Preisträgers im Vergleich mit seinem Debütfilm ästhetisch weniger radikal erscheint, bleibt sein Kino doch außergewöhnlich kraftvoll.

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Die Eiserne Lady

(GB 2011, Regie: Phyllida Lloyd)

Vorbiss und nicht vergessen!
von Drehli Robnik

Ideen und Ironien der Geschichte rund um Meryl Streep als „Die Eiserne Lady“ Nun hat also Meryl Streep ihren dritten Oscar, und tatsächlich macht es ja einigen Genuss, ihrem Spiel …

Ideen und Ironien der Geschichte rund um Meryl Streep als „Die Eiserne Lady“

Nun hat also Meryl Streep ihren dritten Oscar, und tatsächlich macht es ja einigen Genuss, ihrem Spiel in der Titelrolle von „The Iron Lady – Die Eiserne Lady“ zuzusehen. Unterstützt von ebenfalls Oscar-prämierter Maskenbildnerkunst, forciert Streep gegenüber der historischen Figur der Margaret Thatcher eine Ästhetik ultimativer Verkörperung:

Die 1979 bis 1990 als britische Premierministerin vehement privatisierende, heute dement halluzinierende Thatcher schwelgt in Erinnerungen (in Form von ausufernden Rückblendensequenzen oder etwa auch einem Home Movie auf DVD) und in Visionen (im Sinn von psychotischen Erscheinungen wie auch von Machtphantasien, an denen die greise Witwe so lange nach ihrer Amtszeit stur festhält). Dies zeigt „The Iron Lady“ ausgehend von der Vorführung eines Leibes, der barock ist – wuchtig bis wulstig in seinem Anblick, hinfällig in seiner Gebrechlichkeit und vanitas. Streep spielt sich durch Register und Nuancen, stellt dickbeiniges Schlurfen und verwirrtes Starren, vollentfaltetes Doppelkinn und bleiche Hängewangen unter taftdurchwölkter Haar-Corona ebenso aus wie das an Geräuschmusik mit leitmotivischen Samples gemahnende Soundspektrum von Thatchers Stimme: von den zum Ende hin atemlos gepresst herausgeknurrten Tiraden und mit Nachdruck an der Grenze zum Kreischen geflöteten Belehrungssermonen der Prime Minister-Jahre bis zum Hauchen, Seufzen und Räuspern in Thatchers einsam-seniler Gegenwart.

Als unverkennbar Oscar-Clip- oder Werkschau-Sequenz-tauglich stechen aus dem Film zwei thematisch und rhetorisch ähnliche Monologe der heutigen, greisen Thatcher hervor. In beiden erhebt sie sich – wenn auch jeweils erschöpft bzw. mit baumelnden Haxen sitzend – zu Größe und Wahn ihrer politischen Zeit: Einer viel jüngeren Bewunderin erklärt sie, dass es ja früher mal und insbesondere ihr selbst viel mehr ums 'doing' als ums 'being' gegangen sei. Später hält sie einem Arzt, der sie besorgt untersucht und sie auf ihre Gefühle als schon zu lange nicht so richtig um ihren Mann Trauernde anspricht, eine Standpauke: 'What am I bound to be feeling? People don‘t think anymore; they feel', sie hingegen interessiere sich für 'thoughts and ideas', und sie fügt eine sprichwortartige Kette von Transformationen an: 'Watch your ideas, for they become words. Watch your words, for they become actions. Watch your actions, for they become habits. Watch your habits, for they become your character. And watch your character, for it becomes your destiny. What we think we become.'

Wir werden, was wir denken: Damit ist bereits eine Analogie herausgestellt, auf die der Film insgesamt abzielt – zwischen einem idealistischen Ethos der ebenso zuchtstrengen wie solipsistischen Selbsthervorbringung durch Selbstführung und einem Zustand des Sich-Einrichtens in Illusionen, zumal im fortgesetzten häuslichen Zusammenleben und Plaudern mit den Erscheinungen des seit Jahren verstorbenen Ehemanns Denis. (Den 'alten Denis', stets zu Scherzen und Neckereien aufgelegt, spielt Jim Broadbent.)

Die seit jeher redselige rechte Regentin wahrt verbissen und mit Vorbiss die Form – und das tut gewissermaßen auch der Film, indem er Gestaltung und biografisches Sujet (quasi Idee und Werden) zu wasserdichter Einheit verschmilzt. Die One-Woman-Show einer hart arbeitenden, alles bis ins Detail kontrollierend bedenkenden, unbeirrten Virtuosin: Als das erscheint Streeps überragendes (dominierendes) Spiel ebenso wie der Lebensweg ihrer Figur – wobei Lady Thatcher aber eben doch von ihrer Abhängigkeit von der Außenwelt eingeholt wird. Darauf laufen einzelne Szenen hinaus – wenn etwa die alte Frau aus der Erinnerung an das geliebte Musical „The King and I“ heraus in einem Wohnzimmer-Walzer mit dem halluzinierten Denis schwelgt und beim Tanzen an eine Falklandkriegs-Memorial-Statuette auf einer Kommode stößt: schmerzvoller Sturz in die Realität, aus dem programmgemäß die Rückblendensequenz über das britisch-argentinische Neokolonialscharmützel von 1982 einsetzt –, aber auch der gesamte wehmütige Plot: Am Ende packt die Witwe die so lange bei sich behaltenen Klamotten ihres Mannes in Plastiksäcke und weist den Verstorbenen aus dem Haus, nicht ohne ihm dann aber doch noch ein verzweifeltes, vergebliches 'Not yet, Denis! I don’t want you to go!' auf den Flur nachzurufen.

In dieser Form führt – vielmehr: verweigert – der Film seine Auseinandersetzung mit der Politik und historischen Statur der Premierministerin, von der die Losung 'There is no such thing as society!' als einer ihrer notorischsten Aussprüche überliefert ist. (Der Satz stammt offenbar aus einem Interview mit dem Magazin Women’s Own von 1987, in dem Thatcher gegen die Idee sozialstaatlicher Verantwortung vom Leder zieht: Es gebe nur Individuen und Familien und eben nicht dieses Etwas namens Gesellschaft, an das man sich im Bedarfsfall mit Versorgungsansprüchen wenden könne.) Thatchers antikonsensuale Konfrontations- und Zerschlagungspolitik gegenüber von der Arbeiter_innenbewegung durchgesetzten Institutionen und Organisationen (Lohn- und Steuergerechtigkeit, verstaatlichte Unternehmen, Gewerkschaften, Streikrecht) ist in diesem Satz verdichtet zum Programm einer Leugnung von Sozietät (Sozietät als Notwendigkeit zum konfliktuösen Ausverhandeln von Positionen). Der Satz könnte es locker mit Sentenzen vom Kaliber 'Watch your thoughts, for they become – your destiny' aufnehmen, kommt aber im Film nicht vor. Und doch ist er ein impliziter Ausgangspunkt für die Inszenierung, die hier eine politische Praxis in ein rein ethisches, stark ästhetisch zugeschnittenes Verhältnis zur Welt umdeutet: in den Versuch, die Außenwelt und deren 'Ansprüche' (auch deren 'Anrede') insgesamt zu leugnen und zu übertönen – durch Drohreden, unbeirrtes Flöten oder einmal auch durch lauten Musikeinsatz gegen die Zurufe des halluzinierten Ehemanns.

Diese Art von Ästhetisierung von Politik, die Solidarität und Anerkennung von In-Gesellschaft-Sein pauschal mit Empfindsamkeit gleichsetzt, zeigt uns Thatcher als Politikerin, die jegliche aisthesis, jegliche empfindende Wahrnehmung, verweigert. Sie ist halt eisern, und vor der Folie dieser Fühllosigkeit wird alles unterschiedslos eins: die unerschüttert durchlebten Bombennächte 1940, die offenbar die Jugendjahre der energischen grocer’s daughter prägen (Alexandra Roach spielt die junge Thatcher bis zu ihrem Eintritt ins britische Unterhaus); später die abweisende Männerwelt der kommunalen und parlamentarischen Politik; geifernde Labour-Abgeordnete im House of Commons; linke Demonstranten, deren Toben an ihrer Autofensterscheibe abprallt – schließlich noch die sorgenvollen Worte diverser Berater_innen, seien es Parteifreunde, ihrer Tochter oder der gemaßregelte Arzt.

Welt und Geschichte sind als musikunterlegte Montagesequenzen samt körnigem Video-Archivmaterial regelmäßig zwischen den intimen Dialogschlüsselszenen (bei denen Figuren frontal auf Thatchers Blickperspektive zu agieren) aufgefädelt. Vor dem Hintergrund solcher Nivellierung und Paketierung fällt umso mehr auf, dass der Kalte Krieg, in dessen Kontext Thatcher von sowjetischer Seite ihren filmtitelgebenden Beinamen erhielt, in „The Iron Lady“ kaum eine Rolle spielt. Die sowohl in der neoliberalen Wirtschaftswende als auch im globalen Systemkonflikt so wirkmächtige britisch-amerikanische Allianz der 1980er ist hier auf Episoden im Verhandlungsvorfeld und im propagandistischen Nachspiel des Falklandkrieges reduziert: Thatcher maßregelt den zur Diplomatie ratenden US-Außenminister Haig mit dem Allzweckvergleich zwischen den Falklands und Pearl Harbor (Es gilt der argentinischen Junta energisch zu antworten, wie schon 1941), lässt dann eine feindliche Fregatte angreifen ('Sink it!') und den Krieg eskalieren, heimst dafür an der patriotisch bespielten home front tolle Beliebtheitswerte ein – und findet sich in einer weiteren traumartigen Walzerszene, die auf jene mit dem imaginären Denis antwortet, im Arm von Ronald Reagan. Dazu läuft nun die zeitgenössische Gröl-Proll-Punk-Nummer 'I‘m in Love with Margaret Thatcher' von den Nonsensibles – nicht das 'Shall We Dance' aus „The King and I“.

Der King ist dennoch nicht weit: Es liegt nahe, den Academy Awards-Erfolg dieser mehrheitlich britischen Produktion in eine Reihe mit dem ebenfalls britischen Vorzeige-Wohlfühlkultur-Vehikel „The King‘s Speech“ zu sehen, das 2011 u. A. für die beste männliche Hauptrolle (Colin Firth) und als bester Spielfilm mit Oscars prämiert wurde. Beide Filme zielen auf ein konsensuales Geschichtsbild ab, indem sie das Sensuale, Sinnliche, fokusieren: Sie zelebrieren jeweils eine 'rechte' (für Traditionalismus und konservative Institutionen stehende) Geschichtsikone als Subjekt, das sich der am eigenen Leib gemachten Erfahrung von Ohnmacht stellen muss: Der König reift an der Konfrontation mit seinem Mangel, den er unter der Führung seines Sprach- und mehr noch Seelentherapeuten anzuerkennen lernt. Die Premierministerin hingegen verweigert – selbst noch in allerdirektester, sich in Hautwülsten und Verwirrungen an ihr abzeichnender Konfrontation – die Anerkennung ihrer Endlichkeit als menschlicher Art, 'zur Welt' zu sein: Sie bleibt auf Linie, hört nicht auf guten Rat und geht lieber in ihrem Symptom auf; ihr Pendant zum Stottern ist das Festhängen in wiederkehrenden Visionen ('You can rewind it, but you can‘t change it,' scherzt der Traumgatte zu ihr, während sie sich mit der Fernbedienung des DVD-Players vor dem Home Movie eines Familienausflugs in den 1950ern abmüht). In beiden Fällen, in „The King‘s Speech“ und in „The Iron Lady“ (auch dies ein Film, der stark von der Synästhetik einer schrägen, großen Stimme zehrt), spielt sich die heute omnipräsente Führungskultur der Coaches, Berater und Gefühlstherapeuten zum ultimativen Gradmesser für demokratiefähige Politik auf – sowie nicht zuletzt als Instanz, die das sprichwörtliche Urteil der Geschichte fällt. An Thatcher werden wir, dem Film zufolge, offenbar in Erinnerung behalten (und möglicherweise noch als heroisch zugute halten) müssen, dass sie erklärter- und gelebtermaßen quer stand zum heutigen Imperativ des Feeling.

Vielleicht aber fügt sich die alte Thatcher zu guter Letzt doch in die gefühlte Heteronomie gegenüber der Wirklichkeit. In der Frage, ob sie nach dem schmerzlichen Abgang des halluzinierten Denis aus dem gemeinsamen Haus 'geheilt' ist, bleibt der Film uneindeutig; ein Bild der Eindeutigkeit allerdings erzeugt er mittels einer Wendung, durch die die Iron Lady schlussendlich einer Ironie ihrer Lebensgeschichte zum Opfer fällt: Zu von fern hereinklingenden Kinderstimmen (auch sie Halluzinationen: wer weiß?) zeigt die Schlussszene sie im close-up beim einsamen Abwaschen ihrer Teetasse – so viele Jahre nachdem sie als junge Frau auf Denis‘ Heiratsantrag mit der Erklärung geantwortet hat, sie werde niemals eine Hausfrau sein und sich mit dem Abwasch von Teetassen begnügen. Diese Wendung im Sinn eines 'Am Ende werden doch alle ganz klein' vollzieht sich in jenem quasipolitischen Register, in dem es notorischer Weise stets möglich war, Thatcher als bürgerlich-feministische Protagonistin weiblicher Selbstermächtigung qua Individualkarriere zu verstehen – oder misszuverstehen. Ironisch ist dieses Ende in Form einer Demutsgeste vor dem Schicksal der Hausfrau-und-Mutter-Rolle (auf die im Verlauf des Films mehrfach angespielt wird) auch unter einem anderen Aspekt: Meryl Streep brillierte in den letzten Jahren in mindestens zwei Hollywood-Rollen als redegewandte, Fäden ziehende rechte Politikerin, die aus einer (Groß-)Mutterrolle heraus agiert: als die so inzestuöse wie unbeirrt konspirative, die eigene Partei radikalisierende Mutter des jungen Neocon-Präsidentschaftskandidaten in „The Manchurian Candidate“ (2004), sowie als US-Politikerin, die in „Rendition – Machtlos“ (2007) ihre Tirade zur Befürwortung der Folterung von Terrorverdächtigen mit der Sorge um ihre Enkelkinder begründet und beschließt.

Mehr noch als an diese Rollen jedoch knüpft die erinnerungsselige mütterliche Margaret an „Mamma Mia!“ an, an das von Streeps Vokal- und Körperkünsten dominierte britische Erfolgsmusical von 2008. Die blumige Inszenierung stammte damals wie nun auch bei „The Iron Lady“ von Phyllida Lloyd, die nach ihrem Triumph in Sachen ABBA-Nostalgie offenbar dem Retro-Regiefach der Verkultung neokonservativer Ikonen treu bleibt. Ja, so waren die Seventies und Eighties: ABBA, Thatcher, bunte Klamotten, schrille Stimmen … 'Mamma Mia! Here I go again! My, my, how can I resist you?'

Es gibt immer ein Morgen

(USA 1956, Regie: Douglas Sirk)

Do the Robot
von Oliver Nöding

Der Spielzeugfabrikant Clifford Groves (Fred MacMurray) lebt in Los Angeles mit seiner Frau und seinen drei Kindern ein Leben voller Routine. Alle Versuche, aus dem Einerlei auszubrechen und die Flamme …

Der Spielzeugfabrikant Clifford Groves (Fred MacMurray) lebt in Los Angeles mit seiner Frau und seinen drei Kindern ein Leben voller Routine. Alle Versuche, aus dem Einerlei auszubrechen und die Flamme der Leidenschaft neu zu entzünden, werden von seiner Frau unterbunden und auch die Kinder nehmen ihren Vater längst als selbstverständlich hin. Eines Tages begegnet Clifford die erfolgreiche New Yorker Modedesignerin Norma Vale (Barbara Stanwyck), mit der er vor 20 Jahren nicht nur eine erfolgreiche Geschäftsbeziehung unterhielt. Zunächst ist es nur ein freudiges Wiedersehen alter Freunde, doch bald erkennen beide, dass ihnen mehr am anderen liegt …

Konnte man das Ende von Sirks drei Jahre zuvor entstandenen 'All meine Sehnsucht' – die Frau kehrt für ihre Liebe in das Umfeld zurück, das sie einst als Ehebrecherin stigmatisiert hatte – trotz aller bitterer Untertöne noch als Happy End verstehen, bleibt am Schluss von 'Es gibt immer ein Morgen' nur die traurige Erkenntnis, dass das Konzept vom Glück sich leider nicht immer mit dem Leben in unserer Zeit vereinbaren lässt. Soziale Zwänge lasten auf Clifford und Norma, aus denen sie nicht ausbrechen können: Familie und Karriere. Der Titel des Films hat eine ungemein bittere Note: Er suggeriert, dass man sein Leben jederzeit ändern könne, doch tatsächlich ist das nur eine Ausrede, die man sich vorhält, weil man die Wahrheit nicht ertragen kann. Clifford und Norma ergehen sich eine Weile in dem Traum, aus ihrem Leben auszubrechen, ihrem Herzen zu folgen und endlich das zu tun, wozu sie vor 20 Jahren nicht in der Lage waren. Doch es muss bei diesem Traum bleiben: Man ist eben nicht nur seines eigenen Glückes Schmied.

Diese bittere Erkenntnis fasst Sirk in wunderbare Bilder voller Tristesse und leiser Tragik. Sein beliebtestes Mittel ist es wohl, seine Protagonisten durch Fenster zu beobachten, als wolle er sie in einer Bestandsaufnahme festhalten: Das ist dein Leben, schau es dir gut an. Bei Sirk führt diese Betrachtung tragischerweise zu einer Selbsterkenntnis, die keine Konsequenzen mehr nach sich ziehen kann, weil alle Wege bereits verbaut sind. Clifford und Norma bleibt am Ende nur, sich gegenseitig ihrer Liebe zu versichern, Lebewohl zu sagen, umzukehren und nicht mehr zurückzuschauen. Beide müssen sich in ihr Schicksal fügen, wie Cliffords neuer Spielzeugroboter immer weitergehen, bis die Batterie leer ist. Viel trauriger und resignativer kann ein Liebesfilm kaum enden.

Dieser Text erschien zuerst in: Remember it for later

Die schöne Hochzeit

(F 1982, Regie: Eric Rohmer)

Mädchenträume
von Oliver Nöding

Die aus einfachen Verhältnissen stammende Kunstgeschichtsstudentin Sabine (Béatrice Romand) steckt noch mitten in einer Affäre mit dem verheirateten Künstler Simon (Féodor Atkine) als sie einen Entschluss fasst: Schluss mit dem …

Die aus einfachen Verhältnissen stammende Kunstgeschichtsstudentin Sabine (Béatrice Romand) steckt noch mitten in einer Affäre mit dem verheirateten Künstler Simon (Féodor Atkine) als sie einen Entschluss fasst: Schluss mit dem Lotterleben, es wird geheiratet! Fest entschlossen sesshaft zu werden, braucht sie nur noch den richtigen Mann. Diesen glaubt sie wenig später auf einer Party im Haus der Eltern ihrer Freundin Clarisse (Arielle Dombasle) gefunden zu haben: Es ist der zehn Jahre ältere Anwalt Edmond (André Dussolier) …

Mit dem zweiten Film aus seinem Filmzyklus Comédies et proverbes widmet sich Rohmer einer Geschichte, die man sich gut als romantische Komödie vorstellen könnte: das naive Mädchen, das sich eine fixe Idee in den Kopf setzt und sich in den falschen Mann verliebt. In Hollywood käme natürlich irgendwann der unvermeidliche Mr. Right ins Spiel, den die Protagonistin erst nach etlichen Turbulenzen und emotionalen Verwirrungen als solchen erkennt und statt des ursprünglich Auserwählten in ihr Herz schließt. Bei Rohmer sieht das anders aus: Er konfrontiert den Zuschauer mit den abstrusen, aber umso vehementer vorgetragenen Vorstellungen Sabines und lässt den Zuschauer lange vor ihr erkennen, dass ihre Bemühungen zum Scheitern verurteilt sind; nicht nur, weil sie sich den Falschen ausgeguckt hat, sondern vor allem, weil ihre Liebes- und Lebenskonzepte schlicht nicht lebbar sind. Und den Mr. Right gibt es in Rohmers Film natürlich auch nicht.

In warmen Herbsttönen gefilmt, folgt 'Die schöne Hochzeit' viel stärker als noch der Vorgänger 'Die Frau des Fliegers' einer konventionellen Storyline, die eine starke soziale Komponente enthält. Das sichtbare Unwohlsein, das der erfolgreiche Anwalt Edmond im kleinen Reihenhäuschen von Sabines Mutter und in Sabines Mädchenzimmer empfindet, liegt nicht zuletzt in der sozialen Diskrepanz zwischen beiden begründet. Das „kleine“ Mädchen passt einfach nicht zu dem Anwalt der gehobenen Mittelschicht. Die vermeintliche Komödie verschont den Zuschauer also nicht mit unangenehmen Einsichten, zumal Rohmers Eigenart, seine Protagonisten lang und breit über ihr Seelenleben Auskunft geben zu lassen, die Naivität Sabines für den Zuschauer oft schmerzhaft offenlegt. Eine Parallele zu dem ungleich leichteren 'Die Frau des Fliegers' gibt es aber doch: Den Mann, der Sabine am Ende im Zug ein freudig-interessiertes Lächeln zuwirft, hat sie in der Eröffnungsszene im gleichen Zug ebenso übersehen wie er sie. Das Leben hält eben immer neue Überraschungen parat. Manchmal ist man nur zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sie zu bemerken.

Dieser Text erschien zuerst in: Remember it for later

The Artist

(F / B 2011, Regie: Michel Hazanavicius)

Eine wahre Geschichte der Illusion
von Wolfgang Nierlin

Die Reflexion über das Medium Film und seine Geschichtlichkeit bildet den Subtext von Michel Hazanavicius’ Neo-Stummfilm “The Artist”. Indem er mit einer Fiktion zweiten Grades beginnt und seinen Protagonisten George …

Die Reflexion über das Medium Film und seine Geschichtlichkeit bildet den Subtext von Michel Hazanavicius’ Neo-Stummfilm “The Artist”. Indem er mit einer Fiktion zweiten Grades beginnt und seinen Protagonisten George Valentin (Jean Dujardin) von einem Ort hinter der Leinwand auf sein seitenverkehrtes Abbild blicken lässt, reiht der französische Regisseur sein Werk ein in jene lange Traditionslinie von Filmen, in denen die Arbeit an der filmischen Illusion im Mittelpunkt steht. Als Film-im-Film markiert „The Artist“ immer wieder die Schnittstelle zwischen Realität und Abbild, Traum und Wirklichkeit. Die Rekonstruktion der Stummfilmära mit den Mitteln fiktionaler Brechung findet als Spiel mit dem Abbild gleich zu Beginn einen originellen Weg, um eine dramatische Liebesgeschichte zu etablieren: Während sich der ebenso gefeierte wie gefallsüchtige Stummfilmstar George Valentin im Blitzlichtgewitter sonnt, gerät sein weiblicher Fan Peppy Miller (Bérénice Bejo) mit aufs Bild und damit aufs Titelblatt der „Variety“.

„Who’s that girl?“, lautet die verfängliche Schlagzeile dazu. Und so kreuzen sich die Wege der beiden in sich abstufenden Fiktionalitätsgraden bald im Filmstudio, auf dem Set und in den erzwungenen Unterbrechungen der Dreharbeiten. Denn es ist gerade der bezaubernde Charme dieser Zäsuren, der die Illusion sowohl durchbricht als auch steigert. Nichts ist wirklich in „The Artist“; alles folgt einer spielerischen Logik der Kunst. Und doch erzählt der Film auch eine wahre Geschichte: Wie einerseits ein Stern sinkt und andererseits ein Star geboren wird und dabei am Ende einer Ära der Stummfilm vom Tonfilm abgelöst wird. In einer der diesbezüglich schönsten Szenen wird das offene Treppenhaus im Studio des Produktionschefs zur Metapher: Während George Valentin melancholisch und ernüchtert aus dem Olymp der Stummfilmstars herabsteigt, bewegt sich die Statistin Peppy Miller auf ihrem Weg zum Tonfilmstar treppauf.

Insofern handelt „The Artist“ vor allem vom Abrutschen eines Schauspielers ins Vergessen und den Suff; und umgekehrt proportional dazu vom gefeierten Aufstieg einer Schauspielerin. Von gesellschaftlichem und psychologischem Interesse erscheint dabei, dass diese negative Spiegelung nicht nur mit einer Umkehrung der Geschlechterverhältnisse, sondern auch mit einer regelrechten (materiellen) Einverleibung des Mannes durch die Frau einhergeht. Doch auch wenn sich daraus gewisse Parallelen zur derzeitigen digitalen Revolution im Kino ableiten lassen, plädiert Hazanavicius auf sehr unterhaltende und versöhnliche Weise für eine ästhetische Vermählung der Systeme und für die Integration des Alten ins Neue. Mit einem filmgeschichtlichen Augenzwinkern wird dabei der Stepptanz zum Vehikel für die Wahrung der Identität.

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Gandu – Wichser

(IN 2010, Regie: Kaushik Mukherjee)

Vom Wichser, der auszog, ein Ficker zu werden
von Oliver Nöding

Gandu (Anubrata) ist mächtig angepisst. Er ist arbeitslos, er hat nichts gelernt und keine Freunde. Mit seiner Mutter lebt er im Haus von Dasbabu, einem Café-Besitzer, der sich seine Hilfsbereitschaft …

Gandu (Anubrata) ist mächtig angepisst. Er ist arbeitslos, er hat nichts gelernt und keine Freunde. Mit seiner Mutter lebt er im Haus von Dasbabu, einem Café-Besitzer, der sich seine Hilfsbereitschaft mit Sex bezahlen lässt und dem Gandu dabei heimlich Geld aus der Tasche zieht. Die Lotterielose, die er sich davon regelmäßig kauft, sind zwar immer Nieten, aber solange es mit der Rapkarriere nicht vorwärts geht, sind sie der einzige Weg zum Reichtum. Auf seinen Streifzügen durch Kalkutta lernt er Rikscha (Joyraj) kennen, einen Rikscha-Fahrer und Bruce-Lee-Fan, der Gandu mit der Sinnlosigkeit dessen Lebens konfrontiert. Ein Ausweg aus der Leere sind Drogen und Sex: Denn Gandu ist ein Wichser, wortwörtlich, und immer noch Jungfrau …

„Gandu“ – Bengalisch für „Wichser“, „Versager“, Arschloch“ – ist ein Film des indischen Regisseurs Kaushik Muherjee (der sich hier nur „Q“ nennt), aber wahrscheinlich sogar mehr als das. Wenn das Bollywood-Kino das glitzernde Gewand des indischen Kinos ist, dann ist „Gandu“ der verschwitzt müffelnde Unterleib, der sich unter dem bunten Fummel verbirgt. Mit einer handlichen Digitalkamera und einem kleinen Haufen Unerschütterlicher im Guerilla-Verfahren gedreht, ist „Gandu“ fast schon als politisches Manifest zu bezeichnen: In Indien ist er aufgrund rigider Zensurvorgaben nach wie vor verboten, obwohl er über das Internet bereits eine große Schar von Fans gewinnen konnte und auf zahlreichen internationalen Filmfestivals mit Lob bedacht wurde. Vordergründig liegt dieses Verbot in den deftigen Hardcore-Einsprengseln begründet, die auch einem westlichen Kinopublikum vor den Kopf stoßen dürften, noch mehr aber wahrscheinlich an seiner unheimlichen Energie, der Zelebrierung des Rausches und der Wut, seiner beinahe bedrohlichen Körperlichkeit, die dem bunten, flüchtigen Eskapismus des Bollywood-Kinos unausweichliche Realität gegenüberstellt. Das kontrastreiche Schwarzweiß des Films erstickt jeden Anflug von Exotismus, zeichnet die Armenviertel Kalkuttas als von Dreck und Tristesse geprägte Orte und die eine Farbexplosion, nach der man sich sehnt, gibt es in einer der erwähnten Hardcore-Szenen. Musik lädt hier nicht zum Tanzen und Mitsingen ein, sondern wird sehr offensiv und aggressiv eingesetzt: Wütend bellt Gandu seine Raps über rohen Punkrock direkt in die Kamera, die Lyrics flackern in dicken Lettern dazu über das Bild wie Propagandaslogans. „Gandu“ ist dann auch kein Film, in den man sich gemütlich hineinsinken, von dem man sich wohlig umfangen lässt, sondern dem man sich unterwirft, von dem man sich wegspülen lässt wie von einer riesigen Flutwelle. Zuerst ist er eine sinnliche Erfahrung: Ohne auf ein Drehbuch zurückzugreifen, reiht Q Bilder und Ideen in frenetischer Abfolge aneinander, lässt sie klingen, bis daraus etwas entsteht oder verwirft sie und geht zur nächsten Szene über. Da tritt er in der Mitte des Films etwa selbst auf, als Filmemacher, der einen Film über den verdutzten Gandu machen will. Und während der noch staunt, laufen bereits die Credits zu „seinem“ Film – zum zweiten Mal in „Gandu“. „Gandu“ hat dann auch kein richtiges Ende, vielmehr franst er aus, verliert sich in seinen Einfällen, die sich auch für den Protagonisten als wirklicher als die ernüchternde Realität erweisen. Für Gandu sind seine Fantasien und Tagträume allemal lebenswerter als der Alltag ohne Perspektiven.

So beschrieben ist „Gandu“ tatsächlich ein Triumph des unabhängigen Filmemachens, der erhobene Mittelfinger gegen Dienstleistungs- und Konsenskino, gegen ein Kino, das seine Zuschauer einlullt, anstatt sie wachzurütteln, das ihnen nach dem Mund redet, anstatt sie zur Reflexion zu zwingen. In dieser Hinsicht kann man ihn kaum überschätzen, muss man den Mut, aber auch die ungezügelte Kreativität des Regisseurs und seiner Mitstreiter bewundern. Auf der anderen Seite ist „Gandu“ selbst ein flüchtiges Erlebnis. Nicht, weil er sofort wieder vergessen wäre, sondern weil er eigentlich nur in der direkten sinnlichen Erfahrung Präsenz zeigt. Es gibt keine Ideen, Gedanken oder tieferen Erkenntnisse, die man aus ihm mitnehmen könnte, die sich von seinen Bildern und seinem Rhythmus ablösen, aus ihnen filtern ließen. „Gandu“ ist tatsächlich ein bisschen wie der harte, ekstatische, Körpergrenzen überschreitende, in einem befreienden Orgasmus endenden Fick: Solange er andauert, gibt es nichts Besseres, aber seine Wirkung hält nicht lang vor. Und die Realität, sie sieht danach sogar noch ein bisschen trister aus als zuvor. Vielleicht muss man „Gandu“ am besten in einer nicht endenden Dauerschleife sehen. Oder ihn in das eigene Leben hineinbluten lassen. Wir sind letztlich alle nur kleine Wichser.

Barbara

(D 2012, Regie: Christian Petzold)

Hoss is the Boss
von Andreas Thomas

Wo Nina Hoss draufsteht, da ist auch Nina Hoss drin. Und das gilt auch für beinahe jeden Film von Christian Petzold, auch da ist Nina Hoss drin. Und jetzt ist …

Wo Nina Hoss draufsteht, da ist auch Nina Hoss drin. Und das gilt auch für beinahe jeden Film von Christian Petzold, auch da ist Nina Hoss drin. Und jetzt ist Nina Hoss Barbara und Barbara ist Nina Hoss. Ein Film, in dem Nina Hoss nicht verstockt auf dem Beifahrersitz eines Autos sitzt, ist quasi kein Film von Christian Petzold. Ob der Mann am Steuer dann Benno Fürmann ist oder wie in „Barbara“ Ronald Zehrfeld, ist quasi zweitrangig. In jedem Fall ist er in Nina Hoss verknallt und Nina Hoss ist die Spröde mit der verbiesterten Unterlippe bis ins Fratzenhafte hinein. Es vergeht auch kaum ein Film, in dem Nina Hoss nicht als „schöne“ Frau bezeichnet wird, jedenfalls wird sie immer so eingesetzt, als wäre sie eine, und daher verlieben sich stets ihre Co-Darsteller in sie.

Auch in „Barbara“ ist das so. Diesmal ist die latent beleidigte Nina Hoss in die Vergangenheit einer gelblich-ranzigen DDR versetzt – ein Platz, an dem sie mit Recht mucksch sein kann – , genauer gesagt strafversetzt, im Film und als Ärztin von der Charité Berlin in ein randständiges Kaff-Krankenhaus, das mit gefühlten 4 Ärzten gefühlte 9 Patienten zu versorgen hat, aufgrund ihres Ausreiseantrages. Diese Ranzigkeit der DDR-Verhältnisse (verkokelte Steckdosen, bröckelnde Hausfassaden) ist es wohl, meint man zunächst, die Nina Hoss zu ihrem Ausreiseantrag veranlasst haben, ein Begehr, das von behördlicher Seite in der DDR häufig nicht nur abschlägig beantwortet wurde, sondern das auch im Fall von Nina Hoss zusätzlich empfindliche Repressalien zur Folge hat, wie eine unverhohlene Dauerüberwachung und regelmäßige Wohnungs- und Leibesvisitationen. Damit nicht genug, scheint auch noch der leider grundsymphatische und gutaussehende und kräftige Oberarzt des Kleinstkrankenhauses auf sie angesetzt zu sein, oder wie soll sie sich erklären, dass er sie schon nach dem ersten Arbeitstag in seinem Auto (die Nina-Hoss-Kernszene) nachhause fahren will? Gibt es denn auch in der DDR noch so etwas wie Liebe? Muss ja wohl, wenn dieses ein Christian-Petzold-und-Nina-Hoss-Film ist, in welchem sich immer mindestens ein Mann in selbige verknallt. Und wie es ein Petzold-Hoss-Film will: einen anderen Verknallten gibt es nämlich auch schon. Noch bevor wir Zuschauer dazu kamen, hat sie mit jenem anderen, einem gutaussehenden und etwas halbseidenen Wessie (so eine Art sektschlürfender RTL-Bachelor) schon ein Liebesverhältnis gehabt, und sie hat es immer noch; so scharf ist man aufeinander, dass er extra aus dem Westen mit Mercedes und Chauffeur zum Waldrand angeritten kommt, um ihr, der nun wilden Nina Hoss, die Klamotten vom Leib zu reißen und sie auf dem weichen Moos der Waldleidenschaft zu nehmen. Observationsgefahr und übrigens auch gefährdete konkrete Fluchtpläne („Wenn du bei mir bist, kannst du immer ausschlafen, ich habe genug Geld“) müssen da mal zugunsten der Leidenschaft ignoriert werden.

Dass „Barbara“ ein klassisch gebautes Drama ist, zeichnet sich also schon hier ab, und, so viel sei versprochen, es bleibt klassisch und es wird immer klassischer: Eine (wie wir nun wissen) leidenschaftliche Frau zwischen zwei gutaussehenden Männern, und auch zwischen den beiden Gesellschaftssystemen, für die sie stehen. Arm, idealistisch und ein wenig gebeugt von den Verhältnissen der eine, gutaussehend, potent nach Augenschein und Brieftasche und etwas schnöselig der andere. Für wen oder was wird sich Barbara entscheiden? Problem und Herz oder Geld und Oberfläche? Ich nenne Nina Hoss hier bewusst bei ihrem Filmvornamen, weil diesem Wort, diesem Klang „Barbara“ im Film explizite Bedeutung zukommt; so spricht es der eine Mann eher mit Begierde, der andere eher mit Liebe aus und die Dritte, ein ihr anvertrauter schwangerer Teenager, welche gerade Gefahr läuft, von DDR-Erziehungsmaßnahmen kaputtgemacht zu werden, ruft ihren Namen laut und in Verzweiflung.

Für wen oder was wird sich Nina „Barbara“ Hoss also entscheiden? Das herauszufinden überlässt der Kritiker gerne dem Publikum, nicht ohne dieses spannende, wohl eines der spannendsten Nina-Hoss-Vehikel, zu empfehlen und nicht ohne darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass eventuelle Ähnlichkeiten mit Christine-Neubauer-Vehikeln oder mit Schwarzwaldklinik-Plots, ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt, hier nicht ganz zufällig sind. Sagen wir es mal so: Christian Petzold bringt ein wenig mehr Übersicht in die komplizierten Verhältnisse unserer Gegenwart und er verhilft auch dem Intellektuellen einmal dazu, etwa den Foucault zur Seite legen zu können und seinen ruhelos fragenden Gedanken einmal eine Pause zu gönnen, ohne dabei sein doch hohes Niveau verlassen zu müssen.

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Take Shelter – Ein Sturm zieht auf

(USA 2011, Regie: Jeff Nichols)

Schlechte Laune, schlechte Lage, schlechtes Wetter
von Carsten Happe

Ein Sturm zieht auf in Amerika, allegorisch ebenso wie im Wortsinn. Allein Curtis LaForche kann ihn erkennen, in seinen apokalyptischen Träumen, und nur er ist in der Lage angemessen darauf …

Ein Sturm zieht auf in Amerika, allegorisch ebenso wie im Wortsinn. Allein Curtis LaForche kann ihn erkennen, in seinen apokalyptischen Träumen, und nur er ist in der Lage angemessen darauf zu reagieren, zumindest sieht er sich schlicht dazu gezwungen. Curtis folgt der Aufforderung des Filmtitels und baut mit immer manisch werdender Besessenheit in seinem Garten einen Schutzbunker für sich und seine Familie.

Was zunächst wie ein stilles Psychogramm eines zunehmend verdrehten Geistes anmutet, entpuppt sich bald als in viele Richtungen und Lesarten interpretierbarer Thriller, der nicht zuletzt den Finger in die Wunde des amerikanischen Sozialsystems legt: Als Curtis aufgrund seiner Halluzinationen seinen Job vernachlässigt und schließlich verliert, kann seine Krankenversicherung nicht mehr die längst überfällige Operation seiner sechsjährigen, tauben Tochter übernehmen. Die Entfremdung von Familie und Freunden, das Eingestehen der eigenen Unzurechnungsfähigkeit und trotzige Festhalten an der fixen Idee des bevorstehenden Weltuntergangs, zumindest auf Curtis‘ eingeschränkten Horizont bezogen – Regisseur und Autor Jeff Nichols erweitert mit seinem zweiten Langfilm zwar sein Themenspektrum, bleibt jedoch dem schleichend eindringlichen, bisweilen obsessiven Charakter seines aufsehenerregenden Debüts „Shotgun Stories“ sowohl inhaltlich wie auch formal treu.

Mit zunächst bedächtigem Tempo arbeitet sich „Take Shelter“ der Unausweichlichkeit eines großen Dramas entgegen. Ganz bewusst ist der Film in einer Kleinstadt in Ohio angesiedelt, die Weite der Landschaft macht die Kräfte der Natur geradewegs spürbar. Aus der Ferne, nicht zuletzt in der mitunter poetischen Kameraarbeit von Adam Stone, klingt ein wenig von Terrence Malicks Inszenierungsstil an – und dass die ungemein talentierte Jessica Chastain ebenso wie in „The Tree of Life“ um die Balance kämpft und die Stimme der Vernunft repräsentiert, ist mehr als nur ein hübscher Zufall.

Michael Shannon hingegen gibt dem Wahnsinn ein Gesicht, auch er fraglos ein exzellenter Darsteller, wenngleich er hier vielleicht schon zu früh und eben auch wegen seiner auffälligen Physiognomie zum Psychopathischen tendiert, als dass er sich im finalen Drittel des Films noch glaubhaft steigern könnte, ohne an den Rand einer Karikatur zu geraten, ähnlich eines Jack Nicholson in „Shining'.
Der aufziehende Sturm allerdings entfaltet sich mit voller Wucht – und mit ihm ein Film voller eindrücklicher Momente, die lange nachwirken.

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Flying Swords of Dragon Gate

(CN / HK 2011, Regie: Tsui Hark)

Bewegungsskulpturen
von Lukas Foerster

Gleich am Anfang ein spektakulärer tracking shot, der Kamerablick fliegt von oben, aus dem Himmel, in einen Hafen hinein, hinein in die Takelagen einer ganzen Reihe großer, weit ausladender Schiffe, …

Gleich am Anfang ein spektakulärer tracking shot, der Kamerablick fliegt von oben, aus dem Himmel, in einen Hafen hinein, hinein in die Takelagen einer ganzen Reihe großer, weit ausladender Schiffe, rechts und links zischen da die Masten an einem vorbei, weit unten, in plastischer Schärfe, formiert sich langsam eine Welt. Ohne viel Vorlauf geht es dann hinein in die erste Kampfszene, es gibt, lernt man, die Ost-Verwaltung und die West-Verwaltung und außerdem Rebellen, die mit beiden nichts am Hut haben. Jedenfalls fliegen einem bald Schwerter und Balken um die Ohren, dass es eine Art hat. Nur Männer im ersten Kampf, aber es tauchen dann schnell die ersten Frauen auf, eine intrigante Konkubine und ihre flüchtige, schwangere Konkurrentin zunächst, es werden bald immer mehr, eine ist als Mann verkleidet und wagt besonders dreiste “wire fu”-Sprünge, eine andere, eine mongolische Rebellin, hat ein aufregendes Gesichtstattoo.

Gegen 'Flying Swords of Dragon Gate' sehen all die großen 3D-Produktionen, auf die Hollywood derzeit mit aller Macht setzt, all die 'Avatars' und 'Hugos', aus wie altmodische, museale Dioramen (von den “nachbearbeiteten” Flachheiten, von all den 'Thors' und 'Ghost Rider: Spirit of Vengeances', die nicht das Geringste anzufangen wissen mit der neuen Technik, gar nicht erst zu sprechen). Einzig einige fettarme B-Filme, allen voran Paul W.S. Andersons technisch imposanter 'Resident Evil: Afterlife', könnten als Vorstudien durchgehen, aber auch die verblassen schnell neben dem Meisterwerk aus Hongkong: Glasklar gebaut sind Tsui Harks Bewegungsskulpturen, sein Film beweist, dass sich die 3D-Technik auch mit schneller, hyperkinetischer Montage verträgt, wenn man sich auf die neue Sorte Bild wirklich einlässt und nicht bloß versucht, das ewiggleiche Schuss-Gegenschuss-Dauerfeuer samt großzügigem Unschärfebereich reliefartig aufzubrezeln.

Man könnte außerdem fast meinen, der Film sei auch in narrativer Hinsicht dreidimensional organisiert. Tatsächlich entfaltet sich 'Flying Swords of Dragon Gate' in erster Linie skulptural im Raum – und erst danach dramaturgisch in der Zeit: Im Zentrum steht das Dragon Gate Inn, von allen Seiten belagert, darunter befinden sich ein Labyrinth, eine verschüttete Mongolenstadt und ein Goldschatz, darüber, am Himmel, auf dessen wilde Farben die Kamera immer wieder schwenkt, braut sich ein farbenfroher Sandsturm zusammen, der es, wenn er denn schließlich loslegt, mit jedem Spezialeffektfeuerwerk Hollywoods locker aufnehmen kann.

Doch genug der Technik, so großartig sie auch ausschaut, ist sie doch nicht das, was den Film wirklich heraushebt aus dem Bewegungskino der Gegenwart. Vor allem gibt es da die Lust an der Intrige, die expandierenden, alles verschlingenden Lügengeschichten (Geschichten, die immer schon lügen, die gar nicht anders können). Um die Frauen entspinnen sich Melodramen, bei denen man nie so ganz sicher sein kann, ob sie nicht bloße Fabrikationen zwecks Vorteilsnahme sind, die Männer verkleiden sich gerne, imitieren einander, erfinden Passwörter, auf die sie irgendwann selbst hereinfallen werden, interpretieren Inschriften, die ein wenig tiefer in Geheimnisse hineinführen, auf deren Grund man doch nie gelangt und vermutlich sehr grundsätzlich nicht gelangen kann. Einfach nur er oder sie selbst, mit sich selbst identisch, ist niemand, einfach nur heroisch gleich gar niemand, die Gesamtwucht des Abenteuers ist größer als jedes Individuum und zersplittert die Identitäten. Am Ende brechen die Überlebenden in Lachen aus, man könnte denken, sie machten sich da über die heißgelaufenen Drehbuchautoren lustig, aber nein, im Gegenteil: Ein herablassendes, sich überlegen gebendes Lachen ist das gerade nicht. Eher ist es das Lachen derer, die erkannt haben, dass sie nicht immer Herr über das eigene Schicksal sein können; ein bescheidenes Lachen – aber kein ergebenes, resigniertes: wenn der nächste Goldschatz, die nächste Romanze lockt, sind mit Sicherheit wieder alle mit von der Partie.

Die Wurzeln des Films reichen weit zurück, bis zu King Hus 'Dragon Gate Inn' aus dem Jahr 1967, einem der Gründungstexte des modernen wuxia-Genres. 1992 hatte Tsui Hark sich schon einmal – als Produzent, Regie führte Raymond Lee – an einer Aktualisierung des Klassikers versucht ('New Dragon Gate Inn'). Der neue Film ist technisch betrachtet kein weiteres Remake, sondern ein Sequel, angesiedelt einige Jahre nach den Ereignissen in Raymond Lees Film. Immer wieder erinnern sich die Figuren, insbesondere Jet Lis Chow Wai On, der fast durchweg im melancholischen Modus verbleibt, an die Vergangenheit, vielleicht auch an verschiedene Vergangenheiten, es gibt so viele Handlungsstränge, dass man oft das Gefühl hat, im Film hätten sich verschiedene Paralleluniversen eher zufällig übereinander gelegt. Von hier, das merkt man doch recht schnell – und das ordentliche, aber leider nicht allzu glorreiche Einspielergebnis in Hongkong, wo man sich letztes Jahr lieber 'Sex and Zen 3D' angesehen hat, bestätigt das – wird eher kein Franchise ausgehen.

Tsui Hark ist als auteur schwer dingfest zu machen. Am ehesten erinnert er an die Autorenfilmer des klassischen Hollywoodkinos: wie diese arbeitet er durchweg in den tradierten Genres, mit den bewährten Motiven des populären Kinos und ringt ihnen immer wieder aufs neue überraschende, idiosynkratische Facetten ab. Wobei seine Filme inzwischen auch außerhalb ihrer Inszenierung ein widerständiges Moment besitzen: Tsuis längst nicht mehr ganz zeitgemäße Bemühungen um den federleichten Formenreichtum des inzwischen ebenfalls klassisch gewordenen Hongkongkinos der Siebziger und Achtziger Jahre setzen ihn in unbedingte Opposition zur staatstragenden, pompösen, mainlandchinesischen Geschichtsfilmerei eines Zhang Yimou und dessen Spießgesellen. Die Insignien des Imperiums sind für Tsui nichts als Verfügungsmasse, die alte Prunkstadt wird nur freigelegt, um ausgeraubt und dann gleich wieder im Sand begraben zu werden. Und der Kaiser ist eine Fälschung.

München 72 – Das Attentat

(D 2012, Regie: Dror Zahavi)

Ein Fernsehereignis
von Dietrich Kuhlbrodt

Eine saubere ZDF-Produktion, die die Geiselnahme auf der Olympiade 1972 in München nachspielt – bis zum Tod der Geiseln und Geiselnehmer im Kugelhagel der Polizei. Die Szenen sind entsprechend der …

Eine saubere ZDF-Produktion, die die Geiselnahme auf der Olympiade 1972 in München nachspielt – bis zum Tod der Geiseln und Geiselnehmer im Kugelhagel der Polizei. Die Szenen sind entsprechend der TV-Kriterien bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet. Die – bekannten – Schauspieler sprechen klar und nuancenlos; aber vielleicht ist auch der Ton im Studio nachsynchronisiert. Gezeigt werden für die ZDF-Zuschauer vorzugsweise Zuschauer, die vor 40 Jahren ZDF geguckt haben, live. „Das Fernsehereignis“, sagte damals ein ZDF-Moderator ergriffen, und heute befand Reinhold Elschot, stellvertretender ZDF-Programmdirektor, dass der „München 72“-Film „in bester Tradition der historischen Events des ZDF“ stehe.

Entsprechend fürsorglich wird des heutigen ZDF-Zuschauers gedacht. Bei einem Ortswechsel wird er durch einen Untertitel informiert, dass die Stadt Amsterdam in „Holland“ liege. Für Spannung sorgt ein ZDF-Reporter, der mit dem schon klassischen „gleich wird etwas geschehen“ die Aufmerksamkeit weckt. Den human touch vertreten die telefonischen Liebeschwüre eines Ehepaares („Ich liebe dich unendlich“). Vor allem aber sehen wir sauber sprechende Köpfe von Polizeibeamten und Vorgesetzten einschließlich – ausführlich – den bayerischen Innenminister, der leider wegen des Kompetenzwirrwarrs im Grundgesetz am Eingreifen gehindert ist.

Um den Beamtenlook des Films nicht zu beschädigen, verzichtet der ZDF-Film, abgesehen von den Liebeschwurszenen, fast gänzlich darauf, sich mit dem zeitgeschichtlichen Kontext des Attentats (Reaktionen in Israel und im Libanon) zu beschäftigen. Sehr klar wird aber herausgearbeitet, wofür das Attentat gut war. In der BRD wird von den sprechenden Beamtenköpfen die Spezialeinheit GSG9 gegründet, und diese wird in Mogadischu Geiselleben retten. Die Scharte von München ist ausgewetzt. – Wie gesagt, ein sauberer ZDF-Film.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 03/12

The Artist

(F / B 2011, Regie: Michel Hazanavicius)

Tonlos, aber laut und sichtlich stolz
von Drehli Robnik

Tonlos, aber laut und sichtlich stolz: der Retro-Stummfilm 'The Artist' Wir schreiben Hollywood 1927. Ein alternder Stummfilmabenteuerheld erlebt einen jähen Abstieg; ein junges Starlet, offenherzig gegenüber dem aufkommenden Tonfilm und …

Tonlos, aber laut und sichtlich stolz: der Retro-Stummfilm 'The Artist'

Wir schreiben Hollywood 1927. Ein alternder Stummfilmabenteuerheld erlebt einen jähen Abstieg; ein junges Starlet, offenherzig gegenüber dem aufkommenden Tonfilm und Leuten im Allgemeinen, steigt allmählich auf. Beide grinsen: sie vor Elan, er zunächst in draufgängerischem Stolz. Und der wird sein Verhängnis: Er verweigert Sprechrollen, fällt in Suff, Armut, Depression bis hin zu Selbstmordabsichten. Kann das Herz der jungen Kollegin ihn retten?

Die rise and fall-Parallelstory fällt weit hinter den Grad an Komplexität, Reflexivität, Witz und Rührung jener Hollywood-Filme zurück, von denen sie abkupfert (die 1937er und 1954er Version von 'A Star Is Born', die Tonfilmeinführungsmusicalsatire 'Singin‘ in the Rain' von 1952; die wenig einträgliche Auktion des einstigen Stars stammt aus Vincente Minnellis 'The Band Wagon', 1953), und sie wäre nicht der Rede wert, käme sie nicht ohne Rede aus. 'The Artist' spielt nicht nur im Übergang zum Tonfilm, sondern ist selbst ein – nein, kein Tonfilm, sondern ein Stummfilm. Mit Zwischentiteln, in Schwarzweiß.

Abbildung des Inhalts in der Form: Das gilt hier auch für die Selbstüberschätzung des Helden, der artist sein will. Inszeniert vom Franzosen Michel Hazanavicius (mit dem Cast seiner auf ihre Art ebenfalls im Retro-Styling schwelgenden, regional erfolgreichen 'OSS'-Agentenparodien: Jean Dujardin, Bérénice Bejo), versprüht 'The Artist' Gesten des back to the roots, die treffsicher ankommen: Cannes und die Golden Globes vergaben Awards, Kritiken künden von wiedergefundener Liebe zur Essenz des Kinos, und wer mitreden will, muss diesen Film ohne Worte offenbar gesehen haben. Ist 'The Artist' also vorwiegend kultursoziologisch interessant, als Geschmacksdistinktionsvehikel für den Feinspitz in uns oder den inneren Bildungsbürger, der ins Kino slummen geht und nun stolz sein kann, einen Stummfilm ausgesessen zu haben, der ohnehin als crowd-pleaser angelegt ist? Jedenfalls muss man einiges darüber lesen und sich anhören, was dieser Film uns nicht alles gibt, das so lang an den Ton verloren war, und strukturell ist dieser Diskurs analog zu jenem Gerede, das glauben machen will, erst mit dem Einsatz von 3-D-Technik könne das Kino Tiefenwirkung erzeugen. (Als gebe es nicht haufenweise – zweifellos sprödere – Tonfilme, die wie 'The Artist' fast ohne Sprechen, mit wenig Geräusch und flächendeckendem Musikeinsatz daherkommen. Und wer auf Zwischentitel gar nicht mehr verzichten mag, kann sich ja an Mel Brooks´ 'Silent Movie' von 1976 ergötzen.)

Allein, eine solche ganz auf seinen Sinn als Konsum-Event und gemeinschaftserzwingende Diskursplattform abzielende Einschätzung wird diesem Film nicht gerecht; dafür ist manches an 'The Artist' dann doch zu drollig – und manches zu ärgerlich (weil drollig). Der Film bietet einige Beglückungen, die an Belästigung grenzen: Gags mit Hunderl (die sich in ach so witzigen Juryentscheidungen zur Vergabe von Spezial-Awards für tierische Darsteller fortsetzen), grinsender Chame bis zum Abwinken, plärrende Musik, die sich im Ton vergreift, indem sie sich in 'Vertigo' vertieft, in den Score zu Hitchcocks Ichspaltungsklassiker von 1958. So als ginge es in 'Vertigo', aus dem 'The Artist' vor allem das Musikthema der Rundum-Kamerafahrt-Kussszene zwischen James Stewart und Kim Novak zitiert, darum, in der Hingabe an fetischistisch-illusionäre Wiederbelebung vergangener Vor-Bilder sein Heil zu finden – wie es der neoliberale Selbstkorrektur- und Selbstneuerfindungsplot und das 'Lass dich verzaubern'-Diktat von 'The Artist' propagieren. (Wobei gilt: Nichts gegen Fetisch und Illusion, aber alles gegen das Heil.)

Anderseits sind da gediegene klassizistische Bildregie und Dekors; eine hübsche Frackpantomime; lustige Variationen von Ton-Bild-Beziehungen in alptraumhaften Szenen, die sich auf die drohende tönende Welt beziehen; weiters John Goodman (der in einer früheren Phase der Retrokultur, 1991 in Barton Fink' und 1993 in 'Matinee', in Satiren über Irrsinn und Marotten des alten Hollywood mitwirkte) in einer kleinen Rolle als Studioboss; ein netter Namensgag, dem zufolge die weibliche Hauptfigur Peppy Miller akronymisch so heißt wie die Darstellerin ihrer Rivalin, Penelope Ann Miller; schließlich ein streberhaftes, aber starkes Step-Finale. Ganz am Ende gibt es den ersten Ton aus menschlichem Mund – ein angespanntes Keuchen nach absolvierter Glanztanznummer – und dann den einzigen Sprechton: ,,Can you do one more?' wird das neue Traumpaar vom Regisseur des Films-im-Film gefragt, und der rundumerneuerte Star erwidert strahlend: 'With pleasure!' Nachdem hier alles Selbstabbildung eines gewitzten Kalküls ist, muss man das fast als Ankündigung verstehen, dass da noch mehr kommt. What will they think of next? Stummfilm – der neue Hype: Angeblich wird ,,Avatar 2' nun ohne Ton und in Blauweiß gedreht.

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Und wenn wir alle zusammenziehen?

(F / D 2011, Regie: Stéphane Robelin)

Pointenreiche Abkürzungen
von Wolfgang Nierlin

Einmal bedauert einer der Protagonisten, dass sich die Menschen im Allgemeinen leider zu wenig „um ihre letzten Jahre kümmern“. Das ist auch bei den fünf langjährigen Freunden in Stéphane Robelins …

Einmal bedauert einer der Protagonisten, dass sich die Menschen im Allgemeinen leider zu wenig „um ihre letzten Jahre kümmern“. Das ist auch bei den fünf langjährigen Freunden in Stéphane Robelins tragikomischem Ensemblefilm „Und wenn wir alle zusammenziehen?“ zunächst nicht anders. Bis krankheitsbedingte Einschnitte in die persönlichen Lebensverhältnisse die Gruppe veranlasst, nach neuen Lösungen für ein wachsendes gesellschaftliches Problem zu suchen, das vor allem sie selbst betrifft. Und so gründen die zwei Frauen und drei Männer, die bereits alle über siebzig sind, kurzerhand eine Wohngemeinschaft, um möglichst frei und selbstbestimmt leben zu können.

Der ewige Liebhaber und fotografierende Erotomane Claude (Claude Rich), der nach einem Herzinfarkt in einem Seniorenheim landet, wird zum Auslöser für die Realisierung des unkonventionellen Projekts. Doch auch der zunehmend vergesslicher werdende Albert (Pierre Richard) und seine schwerkranke Frau Jeanne (Jane Fonda), eine emeritierte Philosophiedozentin mit großem Herz, können bald nicht mehr allein leben. Und so ziehen alle zusammen bei Jean (Guy Bedos), einem noch immer kämpferischen politischen Aktivisten, und seiner Frau Annie (Géraldine Chaplin) ein, die ein geräumiges Haus im Grünen besitzen; und einen Garten, der gerade für einen Swimmingpool umgegraben wird. Komplettiert wird die illustre Senioren-WG durch den deutschen Ethnologie-Studenten Dirk (Daniel Brühl), der den Alten in ihrem Alltag hilft und dabei Feldforschungen betreibt für seine Doktorarbeit über die „überalterte Gesellschaft“.

In Stéphane Robelins warmherzigem Film ist das Leben eine Baustelle, auf der die Protagonisten Konflikte austragen, Rückschläge parieren und dem Genuss frönen. In sanftes Licht und milde Farben getaucht, von einem altmodischen Charme und subtilem Humor getragen, etabliert der französische Regisseur ganz unspektakulär ein Setting für das routinierte Spiel seines prominenten Darstellerensembles. Dabei idealisiert er die Freundschaft, ohne ihre Verletzungen zu verschweigen. Trotzdem insistiert Robelin nicht aufs Schwere und seine Realität, sondern präferiert mit seiner Komödie den Tonfall leichter Unterhaltung und die an Pointen reichen Abkürzungen, die dafür nötig sind.

William S. Burroughs: A Man within

(USA 2010, Regie: Yony Leyser)

Einsamer Mensch
von Wolfgang Nierlin

Yony Leysers Dokumentarfilm über William S. Burroughs beginnt mit einem Zitat über den „Geruch des Todes“ und endet mit einer Tagebucheintragung über die „Liebe als Schmerzmittel“. Das ist gewissermaßen die …

Yony Leysers Dokumentarfilm über William S. Burroughs beginnt mit einem Zitat über den „Geruch des Todes“ und endet mit einer Tagebucheintragung über die „Liebe als Schmerzmittel“. Das ist gewissermaßen die emotionale Bewegung, die der materialreiche Film beschreibt. Doch zunächst ist der legendäre Beat-Poet bei einer Rezitation seines „Thanksgiving“ zu sehen und zu hören: Die Demontage des american dream, die „parasitäre“ Natur des Menschen und der eigene Außenseiterstatus erscheinen darin als Themen eines bitteren Abgesangs, der zugleich Schlaglichter wirft auf die künstlerischen Abweichungen dieses gegenkulturellen Avantgardisten. Doch nicht die Literatur mit ihren rauschhaften Sprachbewegungen und assoziativen Cut-ups steht im Mittelpunkt von Leysers Portrait-Film „William S. Burroughs: A man within“, sondern der Charakter und die wesentlichen Motive eines außergewöhnlichen Menschen.

„Ich aber wollte nicht die Kunst, sondern sein Leben auf Film erfassen: seine Persönlichkeit, seine Freunde und wen er beeinflusste“, schreibt Yony Leyser im Regiekommentar zu seinem Film. Und so lässt er viele Wegbegleiter, Freunde und Verehrer zu Wort kommen, deren Zeugnisse und Einschätzungen zugleich ihren eigenen künstlerischen Werdegang beleuchten. In diesem gedanklichen Austausch, der zwischen Bericht und Bekenntnis changiert, wird Burroughs‘ vielfältige Bedeutung als generationsübergreifende Integrationsfigur zwischen Beat, Pop und Punk deutlich. Mit der Beat Generation artikulierte der 1914 in St. Louis geborene Schriftsteller in den 1950er Jahren ein Gefühl der „geistigen Befreiung“, wie sein Mitstreiter Allen Ginsberg meint. Als Junkie und Waffenfetischist suchte er eine Verbindung zwischen Freiheit und Kontrolle, Exzess und Abhängigkeit. Und als (damals noch gesellschaftlich geächteter) Homosexueller führte er ein queeres Leben im Verborgenen.

John Waters, Patti Smith, Iggy Pop, Laurie Anderson und Gus Van Sant sind einige der Befragten, die kenntnisreich und mitunter sehr persönlich ein Bild von Burroughs zeichnen und seine Bedeutung für ihre eigene Entwicklung betonen. Dabei wird auch deutlich, dass der aus der Oberschicht stammende Portraitierte zeitlebens ein distanzierter Einzelgänger war, der sich weder Regeln unterwarf noch von irgendwelchen Gruppen vereinnahmen ließ und dem es schwer fiel, Gefühle zu zeigen. Insofern lässt sich Burroughs‘ eingangs erwähnte letzte Tagebucheintragung auch als spätes emotionales Bekenntnis eines einsamen Menschen verstehen.

Der Junge mit dem Fahrrad

(B / F / I 2011, Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne)

Suche nach Liebe und Vertrauen
von Wolfgang Nierlin

Wie Rosetta, die jugendliche Titelheldin aus einem früheren Film der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne, so ist auch der 12-jährige Cyril (Thomas Doret) aus ihrem neuen Werk „Der Junge mit …

Wie Rosetta, die jugendliche Titelheldin aus einem früheren Film der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne, so ist auch der 12-jährige Cyril (Thomas Doret) aus ihrem neuen Werk „Der Junge mit dem Fahrrad“ in ständiger Bewegung. Anfangs versucht er mit wütender, aber sehr zielgerichteter Energie aus einem Heim zu fliehen, um seinen Vater zu suchen, der ihn verlassen hat. Dabei wirkt er wie ein Getriebener, der seine innere, kaum zähmbare Unruhe in körperliche Aktivität übersetzt. „Ich träume nicht“, sagt Cyril, der sich nur schwer kontrollieren lässt und kooperatives Verhalten verweigert oder hintergeht. Wie ein Tier in freier Wildbahn, schutzlos und zugleich unbändig, ist der Junge seinen unverstandenen Gefühlen ausgesetzt. Sein rotes T-Shirt wirkt dabei wie ein Signal seines Protests.

Sehr nah und körperlich direkt inszenieren die belgischen Autorenfilmer die atemlose Suche ihres Helden nach Liebe und Vertrauen; und situieren diese in einem genau dargestellten sozialen Kontext. Erst als Cyril auf die Friseurin Samantha (Cécile de France) trifft, die ihn vorbehaltlos annimmt und ihm hilft, sein verloren geglaubtes Fahrrad wiederzubeschaffen, gewinnt er ein Mindestmaß an Stabilität. An den Wochenenden werden Samantha und ihr Freund Gilles (Fabrizio Rongione) für ihn zu einer Art Ersatzfamilie, die allerdings der Zerreißprobe nicht standhält. Als Cyril endlich seinen Vater Guy (Jérémie Renier) wiedersieht, heftig um ihn wirbt, aber damit konfrontiert wird, dass dieser nichts mehr von ihm wissen will, überträgt er diese Zurückweisung auf seinen „Ersatzvater“.

Mit einem elliptischen Erzählstil verdichten die Brüder Dardenne ihr intensives Drama über ein ausgesetztes Kind zu einer episodisch strukturierten Entwicklungsgeschichte mit vielen Rückschlägen. Deren Episoden werden von einem wiederkehrenden Streicher-Thema aus Beethovens 5. Klavierkonzert befriedet. Die von den beiden Regisseuren formulierte Ablehnung psychologischer Erklärungen verhindert jedoch nicht, dass ihr Film reich ist an emotionalen Verwicklungen und Widersprüchen. Als Cyril schließlich von dem Kleinkriminellen Wes (Egon di Mateo), der ihm Anerkennung und Respekt zollt, zu einem Verbrechen verführt wird, eröffnet der Film einen Kreislauf aus Schuld und Sühne, Rache und Vergebung; dieser wird schließlich auf geradezu märchenhafte Weise durchbrochen. Erst auf einer langen nächtlichen Fahrradfahrt kann sich Cyril von seinem Vater lösen, stirbt eine Hoffnung, um einem neu gewonnenen Vertrauen Platz zu machen.

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In Darkness – Eine wahre Geschichte

(D / P / CAN 2011, Regie: Agnieszka Holland)

In den Katakomben des Marienhof
von Ulrich Kriest

1943. Deutsche Sondereinsatzkommandos treiben nackte Jüdinnen in die Wälder um Lvov, um sie dort zu töten. Als das Ghetto von Lvov geräumt wird, flüchtet sich eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von …

1943. Deutsche Sondereinsatzkommandos treiben nackte Jüdinnen in die Wälder um Lvov, um sie dort zu töten. Als das Ghetto von Lvov geräumt wird, flüchtet sich eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Juden in die Kanalisation der Stadt, um sich dort zu verstecken. Der polnische Kanalarbeiter Leopold Socha, der sich wie kein Zweiter in der Kanalisation auskennt, wittert eine lukrative Chance zur Einkommenssicherung und bietet den Flüchtlingen an, ihnen gegen eine stattliche Entlohnung zu helfen. Socha tut dies aus rein materiellem Kalkül, antisemitisches Gedankengut ist ihm nicht fremd und gefährlich ist die Sache obendrein, denn demjenigen, der Juden hilft, droht die Exekution.

Die polnische Filmemacherin Agnieszka Holland („Hitlerjunge Salomon“, „Klang der Stille“) hält sich einiges darauf zu gute, dass sie ihr Personal als gemischte Charaktere angelegt hat. Damit meint sie, dass ihre Figuren Menschen sind, nicht nur böse Täter und edle Opfer. Im Presseheft wird sie geradezu »philosophisch«: „Wie war dieses unglaubliche Verbrechen überhaupt möglich? Wo war der Mensch in dieser Krise? Und wo war Gott? Sind diese Ereignisse und Handlungen Ausnahmen in der Geschichte der Menschheit oder zeigen sie unsere dunkle, innere Wahrheit? Betrachtet man die vielen Geschichten aus dieser Zeit, so zeigt sich eine unglaubliche Vielfalt von menschlichen Schicksalen: Mit Charakteren, die vor schweren moralischen und menschlichen Entscheidungen stehen und dabei sowohl die beste als auch die schlechteste Seite der menschlichen Natur offenbaren.“

Allerdings unterschlägt Holland, dass ihre Figuren exemplarisch für bestimmte Haltungen stehen: da gibt es den reichen assimilierten West-Juden und den orthodoxen Ost-Juden, es gibt den Juden, der bereit ist, sich zu wehren und denjenigen, der sich seinem Schicksal ergibt. Wie ein Theaterstück der fünfziger Jahre erzählt „In Darkness“ vom Holocaust anhand einer Schicksalsgemeinschaft, die in einer extremen Krisensituation Erfahrungen von Liebe, Freundschaft, Zweifel, Verrat und Ressentiments sammelt. Hier wird im Dunkeln also schwer gemenschelt. In einer Mischung aus Schulfernsehen und Daily Soap steht jede Figur und jede Szene für etwas: wenn Leopold antisemitische Vorurteile hegt, dann klärt ihn seine Ehefrau auf, dass auch Jesus Jude war, weshalb sich der Pole vom Saulus zum Paulus wandelt.

Richtig böse sind hier eigentlich nur die ukrainischen Milizen, die Jagd auf Juden machen. Holland scheut drastischen Naturalismus so wenig wie dreiste Kolportage, wenn sie erzählt, dass ein Neugeborenes getötet werden muss, weil sein Schreien die Gruppe verraten hätte. Natürlich befindet sich das Versteck direkt unter einer Kirche, was für den pathetischen Soundtrack zum fürchterlichen Geschehen sorgt. Holland taucht tief ein in die dunklen Regionen des Holocaust, will aber zugleich ein Zeichen der Hoffnung setzen, die in der menschlichen Solidarität wider alle Klassengrenzen und Konfessionen gründet. So steht ihr Film in der Tradition der Holocaust-Kolportage á la „Schindlers Liste“ und „Der Pianist“, die entschuldende Märchen vom Überleben des Genozids wider alle Wahrscheinlichkeit erzählen.

Und im Umfeld von „In Darkness“ kann man lesen, unter welch schwierigen Bedingungen gedreht wurde, um Bilder zu bekommen, die »realistisch« davon erzählen, wie es sich anfühlt, länger als ein Jahr unter ständiger Todesgefahr in einer Kanalisation, in Dunkelheit, Gestank und Feuchtigkeit zu überleben. Den Realismus des Re-Enactments von Unbeschreiblichem zu behaupten, ist allerdings mehr als nur geschmacklos, sondern führt zum Punkt, wo gerade die Behauptung der Darstellbarkeit das Verbrechen des Holocaust verharmlost. Und deshalb wollen wir wirklich nicht hören, welchen Schwierigkeiten die Kostümbildnerin („Kalter Wind, Luftfeuchtigkeit und Lichtmangel für Stunden sind unvergessen.“) und der Produktionsdesigner („Die Hauptanforderung an das Setdesign war seine Wasserfestigkeit.“) bei ihrer Arbeit am Realismus begegneten. Und wir wollen auch nicht die Schauspieler in Talkshows darüber schwadronieren hören, dass das Geschehen ja eigentlich unvorstellbar sei und mit welchen Strapazen die Dreharbeiten verbunden waren.

Dass „In Darkness“ nun auch noch als polnischer Kandidat ins Rennen um die „Oscars“ geschickt wird, ist zudem ein Affront gegenüber dem polnischen Regie-Altmeister Andrzej Wajda (bei dem Holland einst als Regisassistentin ihre Karriere begann), der bereits in den fünfziger Jahren mit „Der Kanal“ eine durchaus vergleichbare Geschichte künstlerisch und moralisch integer verfilmt hat.

Gefährten

(USA 2011, Regie: Steven Spielberg)

Vom Reiten zum Leiden zum Retten
von Drehli Robnik

Zu Fragen der Tradition, Ethik und Sichtbarkeit in Steven Spielbergs 'War Horse – Gefährten' Angesichts von ,,War Horse – Gefährten', Steven Spielbergs Zweieinhalbstundenepos über die Liebe eines britischen Bauernbuben zu …

Zu Fragen der Tradition, Ethik und Sichtbarkeit in Steven Spielbergs 'War Horse – Gefährten'

Angesichts von ,,War Horse – Gefährten', Steven Spielbergs Zweieinhalbstundenepos über die Liebe eines britischen Bauernbuben zu seinem Pferd in den Wirren des Ersten Weltkriegs, besteht einerseits die Möglichkeit, sich über all den Kitsch zu ärgern oder auch lustig zu machen; anderseits gibt es die Option, darüber zu jubeln, dass hier das Herz ungeniert regiert. Von beiden Möglichkeiten wird im journalistischen Diskurs ausgiebig Gebrauch gemacht. Was aber, fragt es sich aus Skepsis gegenüber dieser Entgegensetzung, ist so schlimm an der Rührung oder so schlecht am Denken? Eine dritte Alternative – die beherzigt, dass Rührung, so sie nicht dumpf sein will, immer auch Hirnsache ist –, ein vielleicht sinn- und reizvollerer Zugang zeichnet sich ab, wenn man versucht, dem zu folgen, was 'War Horse' an Auseinandersetzung bietet; davon ist vielleicht mehr da als von jenen triefenden Erfüllungen, gar Übererfüllungen, die den Film ganz zu dominieren scheinen. Die schlicht (oder schlichtweg reaktionär) anmutende Adaption eines Kinderbuchs von Michael Morpurgo entfaltet insbesondere ein breites Spektrum an Wendungen des Konzepts Tradition; das geschieht mal auf komplexe, mal auf prätentiöse Art, reich an inneren Spannungen.

Tradition ist zunächst die ländliche Welt des versoffenen, verbitterten Kleinbauern-Vaters (Peter Mullan) wie auch des fiesen Grundbesitzers (David Thewlis), der ihn auspresst. Setzt sich schon der Vater einen verhängnisvollen, später bereuten Moment lang über gute Sitte und ökonomische Vernunft hinweg, indem er seinem Grundherren und Gläubiger bei einer Versteigerung ein für die Landwirtschaft viel zu heißblütiges Prachtpferd vor der Nase wegbietet, so bricht sein Sohn Albert (Jeremy Irvine) vollends mit den Gepflogenheiten, und zwar indem er pflügt: Er beharrt darauf, den nunmehr Joey getauften Hengst, zu dem ihn eine innige Liebe verbindet, zu behalten, obwohl dessen Verkauf zwecks Erhalt der Pachtfarm dringend geboten wäre, und um das Pferd zu behalten, muss er beweisen, dass es sich – entgegen aller Programmatik der Biologie (des 'Blutes') und des bäuerlichen Brauchs – zum Pflügen des harten Bodens eignet.

Um die ineinandergeschachtelten hürdenförmigen Bedingungszusammenhänge und Deadline-Strukturen dieser zugespitzten Situation – Kann Albert mit Joey den steinigen Hang pflügen oder nicht? – auf die Spitze zu treiben, lässt der Film diese Prüfung unter den Augen von Alberts Eltern, sowie des Grundbesitzers und der halben Landkreisbevölkerung stattfinden – noch dazu bei Einbruch eines starken Unwetters . Die ebenso penetrante wie facettenreiche neoklassische Manier, in der Spielbergs Inszenierung generell in 'War Horse' Wetterstimmungen, Himmels- und Lichttönungen in die Bedeutungsregister des Geschehens einspeist, wäre ein Thema für sich. Noch prägnanter ist jedoch der Status der Pflugszene, bei der Joey vorne zieht und Albert im Pfluggeschirr hinten nach schiebt, beide verbunden im Gang an die Grenze zur Erschöpfung, als Eröffnung einer Reihe: Mit ihr beginnt – nach einigen Auftakten zuvor – eine Serie von verdichteten Schlüsselmomenten der Bewährung angesichts vorgegebener Hindernisse, Aufgaben, Fristen (so folgt etwa alsbald ein als Pferderennen gestaltetes Kavalleriemanöver). So etwas ist nun erstens eine wohlvertraute, erzklassische, traditionelle Erzählbauweise im insbesondere US-amerikanischen Mainstream-Kino. Zweitens ist der ,,Du schaffst es!'-Spirit, den die betreffenden Szenen in 'War Horse' versprühen (in Verbund zumal mit John Williams‘ flächendeckendem Score), hier mit dem Motiv des Traditionsbruchs kurzgeschlossen – ein liberales Modernisierungsmotiv, das wir als ebenfalls Hollywood-klassisch oder auch als neoliberal-flexibilistisch verbuchen können: etwa wenn später im Film, in Frankreich, ein Mädchen, das zum Reiten zu jung aber zum Bravsein zu forsch ist, sich das Pferd durch Sprungübungen und kühnes Ausreiten zu eigen macht, unter den halb skeptischen, halb stolzen Blicken ihres Großvaters. Spielbergs Szenen pferdig-erdiger Selbstbehauptung vollziehen sich meist unter den Augen von in close-ups einmontierten, fassungslos bis begeistert kopfschüttelnden Zusehenden.

Von der Kavallerie zum Kalvarienberg

Ausgehend und weggehend von solcher Ideologie und Jubelästhetik einer Feier von 'Hochleistungsbereitschaft' zeichnet sich drittens ein Übergang ab: Von eben diesen Szenen, ins Filmspektakel integrierten Spektakeln, geht immer mehr ein appellatives Moment aus, das das Zuschauen ethisch fordert, auffordert – zum Mitleid seitens des Filmpublikums, zum engagierten Eingreifen seitens der Filmfiguren. Dies nun insbesondere insofern, als viertens die (neo)liberalen 'Leistungstest'-Szenen in die Bildlichkeit einer anderen Tradition übergehen bzw. sie als deren virtuelles Moment hervorkehren, nämlich in die des Kreuzwegs: Ein Hauch von Golgatha tritt schon am leidvollen Pflügen auf dem Hügel hervor; vollends akut wird die christliche Ikonografie, wenn Joey und andere Gäule, mit drückendem Geschirr behängt, riesige Kanonen eine Anhöhe hoch ziehen, immer wieder unter der Last zusammenbrechend; oder wenn dieses eine Pferd unter vielen an der Front verwerteten sich am Ende als auserwähltes, nachgerade gesalbtes Tier erweist, dessen Stirnmal inmitten aller Wunden freigelegt wird, in einem Offenbarungsmoment, der von ritueller Waschung ebensoviel an sich hat wie vom neutestamentarischen Sujet des ungläubigen Thomas, der im emphatischen Sinn glaubt, als er 'sieht'.

Die genannte Szene steht am Ende einer Serie von Momenten, in denen unverblümt bekräftigt wird, dass es sich bei diesem Pferd um ein 'ganz besonderes' handelt (was insofern redundant anmutet, als der Film ja nach seinem tierischen Held betitelt ist und dieser, mehr als sein menschlicher 'Gefährte' schon das Plakatmotiv prägt), und vor allem am Ende des Ersten Weltkriegs. In diesen muss Joey ziehen, und er geht im Krieg – nahe oder direkt an der Front in Frankreich, eine Zeit lang in Begleitung eines zweiten Pferdes, mit dem er sich angefreundet hat – von Hand zu Hand. Ein britischer Kavallerie-Captain (Tom Hiddleston), der Joey dem Vater abkauft, bevor Albert das verhindern kann, zwei junge deutsche Deserteure, das bereits genannte französische Mädchen (Celine Buckens), ein gutherziger deutscher Heeres-Pferdepfleger, sie alle verbringen jeweils einige Zeit mit Joey. Die Erzählung, an der diese Begegnungen aufgefädelt sind, macht nach zwei Dritteln einen Zeitsprung von einem noch naiven Zustand zu Kriegsbeginn 1914 zur illusionslosen, infernalischen Endphase des Grabenkrieges im Herbst 1918 und ist gerahmt von zwei dramatischen Auktionsszenen, in denen Joey jeweils in die Hand eines Vaters bzw. Großvaters und aus dieser Hand erstmalig bzw. endgültig wieder in Alberts Arme gelangt.

Entlang dieses Plots fungiert das Konzept Tradition im Sinn einer steten Weitergabe, die mehr von Ausstreuung und Entortung denn von Stabilisierung an sich hat und anhand derer Spielberg eine Utopie verfolgt, die er am nachdrücklichsten in 'Schindler’s List' (1994) formuliert hat: die Utopie, dass an der Verdinglichung, an der Logik der Abstraktion und Austauschbarkeit, die (transhistorisch) der Bann der Repräsentation und (universalhistorisch) die kapitalistische Waren- und Tauschökonomie dem Leben auferlegen, ein rettendes ethisches Moment hervortreten könnte; dass das Austauschen-gegen in ein Preisgeben-für umschlagen könnte – etwa in Szenen der Selbstaufopferung. So tritt Joey etwa freiwillig an die Stelle eines völlig erschöpften Pferdes in die Reihe der zum Kanonentransport vernutzten Zugtiere. Ein Pferd, das sich opfert, das ist hier als (Ausnahme-)Fall von Erwachen eines ethischen Bewusstseins dort, wo keines vorgesehen ist, gesetzt, mitten im blinden Vollzug des physischen Überlebens nämlich, und dieses Erwachen hat ein vielleicht kaum weniger wundersames Gegenstück unter den Menschen, wenn gegen Ende ein britischer und ein deutscher Soldat im Niemandsland zwischen den Schützengräben jeweils ihr Leben riskieren, um Joey aus dem Stacheldraht zu befreien. Dass in 'War Horse' die meisten Weitergaben des Pferdes durch im besten Sinn haarsträubende Wendungen der Erzählung erfolgen und so die Regeln der Wahrscheinlichkeit immer schon einem höheren Walten unterworfen scheinen, das steckt den Horizont ab, in dem sich solche Akte vollziehen können; sie erscheinen dann gleichermaßen als messianische Interventionen der 'einen gerechten Tat' in einen unheilvollen Lauf der Geschichte wie auch als Formen einer Solidarität, die insofern Schwundformen und am Rand des Sozialen, vielleicht sogar 'asozial' bleiben, als sie sich auf gesellschaftlich unqualifiziertes tierisches Leben beziehen.

Wimpy Wimpel

Im Zeichen der Wendung zu Joey als zoé, zum Pferd als Inkarnation einer universalistischen Ethik des 'bloßen Lebens', gibt Spielberg den Ersten Weltkrieg als Initialmoment der Stiftung einer neuen Tradition zu verstehen: Der Krieg, der das Brauchtum und den Habitus der Reiter als Ritter im Maschinengewehrfeuer schlagartig hinfällig macht – in einer Kriegsszene reihenweisen Hinfallens, die in sich selbst noch eine überraschende Wendung nimmt –, dieser Krieg wird zur Chance, dass Albert nicht nur das geliebte Pferd zurückzugewinnt, sondern auch jenen Stolz, der seinem verbitterten Vater abhanden gekommen ist. Zur Chance wird der Krieg allerdings nicht direkt, sondern über zwei Umwege.

Zum Einen muss hier Alberts Mutter (Emily Watson) als Mittlerin einer Weitergabe fungieren, die zwischen Vater und Sohn nicht mehr gelingt: Sie gibt Albert einen Armeewimpel, den der Vater – nebst einem Hinkebein – aus dem Burenkrieg in Südafrika mitgebracht und in einer Kiste versteckt hat. Mutters Appell an Albert, er möge seine Träume nicht aufgeben und sich so jenes Vermächtnisses würdig erweisen, zu dem der seines Stolzes verlustige Vater selbst nicht mehr steht, dieser Auftrag trägt Züge jenes 'Earn this!', das der von Tom Hanks gespielte, ein mütterliches Fürsorge-Ethos umsetzender Ersatz-Vater am Ende von Spielbergs 'Saving Private Ryan' der Titelfigur mit auf den Lebensweg gegeben hat. (Wie sich Alberts Mutter, die an Vaters Vermächtnis appelliert, zur ebenfalls bäuerlichen Mutter Ryan verhält, die in Spielbergs Film von 1998 nur eine Szene lang von hinten und im Zusammenbruch über die Nachricht vom Tod dreier Söhne zu sehen war, wäre an anderer Stelle auszuführen.)

Vaters alter Armeewimpel, ein bedruckter, mit Tradition imprägnierter Fetzen bunten Stoffs, geht zusammen mit Joey durch den Krieg und die Prozession der Weitergabe und übernimmt ein Stück weit die Rolle der schon recht zerfetzten amerikanischen Fahne in der Friedhofsrahmenhandlung am Beginn und Ende von 'Saving Private Ryan'. Dass allerdings die nationale Fahne in der Schlusseinstellung dieses (ebenso de- wie rekonstruktiv angelegten) World War II combat movie wieder Objekt einer pathetischen Gruß- und Ehrerbietungsgeste sein konnte, verdankte sich einem Dreh, einer Wendung analog jener, die sich auch in 'War Horse' während des gesamten Erzählverlaufs vollzieht. Das ist der zweite Umweg, durch den Krieg zur Chance einer Neugründung wird, fast ein Selbstwiderspruch des Krieges: Die traditionelle nationalheldische Tugend des Mutes wird postheroisch umdefiniert, in Richtung der genannten Bekundungen von Empathie und Stellvertretungs-Selbstopfer – verbunden mit einer empfindsamen Zartheit im männlichen Auftreten (wie sie Jeremy Irvine als Albert oder Tom Hiddleston als Kavallerie-Captain anrührend spielen); und der Krieg als nationalstaatlich definiertes, industriell routiniertes obsessives Massentöten wird hier im Bild umgewendet zur Initialerfahrung eines Projekts der Rettung, das sich ebenfalls obsessiv, vielköpfig und -förmig vollzieht, allerdings in Akten gerade des Routinebruchs und des Absehens von lokal und national tradierten Identitätsmustern, und das sich auf das Kreatürliche schlechthin richtet, ultimativ verkörpert in Joey.

Hier werden zwei Probleme virulent. Der Vorwurf, dass Spielberg ein Ethos und ein säkular-messianisches Geschichtsbild der Rettung allzu pauschal einer Ideologie 'humanitärer Kriegsführung' und US-amerikanischer Interventions- oder Rechtsdurchsetzungspolitik mit militärischen Gewaltmitteln anheimzustellen bereit ist, dieser Vorwurf geht an 'War Horse' nicht vorbei; mit noch mehr Dringlichkeit ließ er sich gegenüber 'Saving Private Ryan' formulieren. Das ist das eine Problem. Das andere betrifft die Beschränkungen, die Spielberg hier wie auch schon in 'Saving Private Ryan' seinem Konzept der Rettung durch Weitergabe auferlegt. Er unterstellt nämlich, dass die Rettung doch durch eine Eigenschaft des zu rettenden Lebens verdient sein will, dass sie also nicht in messianischer, ethisch radikaler 'Beliebigkeit' erfolgt (um eine weitere Chiffre aus dem Inventar der Geschichtsapokalyptik und Rettungsethik von Giorgio Agamben zu strapazieren), sondern: In dem Tier, das sich wiehernd und zuckend im Geschirr aus Holz und Gestrüpp aus Stacheldraht verfängt (so wie die menschlichen Massen im kriegerischen Gestell aus Uniformen und Ledergurten bis hin zu Gasmasken und Brustpanzern aus Metall – Erscheinungsbilder, die in der Ausstattung und Ikonografie des Films stark betont sind), in diesem leidenden bloßen Leben lässt Spielberg uns eine Christus-artige Figur sehen, was möglich wird, weil dieses Tier nicht eine anzuerkennende, unhintergehbare Gewöhnlichkeit und Alltäglichkeit verkörpert, sondern eben etwas Besonderes ist – nicht im Sinn einer Singularität, die (wie die Liebe) keiner Begründung ihrer Besonderung bedürfte, sondern eben 'tatsächlich', weil Joey so stark, schnell, schön etc. ist und überdies mit allerlei Erbaulichkeiten assoziiert, die der Film uns kredenzt.

Dieses Zurückscheuen (um ein Pferdesinnbild zu gebrauchen) vor einer radikalen Beliebigkeit – einer, der Spielberg in anderen seiner filmischen Rettungsprojekte näher und treuer gewesen ist –, es geht in 'War Horse' einher mit Momenten der offenbar ungeprüften, unkritischen Übernahme von Bild-Traditionen, die sich zu Klischees verfestigen. Das gilt für die christlich überlieferten Bilder in diesem Film und mehr noch für andere: Die Begegnung der Kriegsgegner zwischen den Gräben, hier nicht um Weihnachten 1914 zu feiern, sondern um 1918 ein Pferd zu retten, diese sich als Wunder aufspielende Anekdote ist als Teil einer stumpf gewordenen Menschlichkeit-im-Krieg-Folklore wenig mehr als ein Klischee. Und da ist die Art, in der die Einführung des französischen Mädchens und seines Großvaters das (in den Südengland-Sequenzen bereits angeklungene) Beschwören bukolischer Idyllik auf die Spitze treibt: Mit dem silberhaarigen grand-père, ausgerechnet Marmeladenmacher von Beruf, und der entzückend gemeinten Göre, die gleich einmal mit einem Topf frischer Erdbeeren in ihrer gemütlichen, charmant vollgeräumten Bauernstube ins Bild kommen, fühlt man sich fast in eine Episode zwischen der kecken Heidi und dem gutmütigen Almöhi versetzt, wäre nicht die Anmutung eines Werbespots für französischen Landkäse aus den 1980er Jahren noch stärker. Ja, schön ist die Welt, in die ein so schönes Pferd mit so kräftiger Mähne gehört. (Das Mädchen und der am Ende allein übriggebliebene Großvater zeichnet der Film ja als die moralisch am meisten legitimen Anwärter_innen auf den Besitztitel an dem – ureigentlich zu Albert gehörenden – Pferd, umso mehr als grand-père aus dem salomonischen Dialog mit Albert nach der finalen Auktionsszene mit einer Geste großmütigen Verzichts auf das Tier hervorgeht; gerade der Verzicht jedoch, so wird deutlich, kann ihm die ersehnte Erinnerung an seine Enkelin wiedergeben.) Dass 'War Horse' eine Sensibilität mit bedient, die auf die Präsenz von Ponypuppen und Pferdepostern in Kinderzimmern hinausläuft, ist zunächst unter Chiffren wie 'Familienfilm', 'Kernzielgruppenmarketing' und 'Dauerauswertung qua Merchandising' subsumierbar (und sieht immer wieder auch genauso aus).

Wer ein einziges Pferdeleben rettet, rettet die ganze Welt.

Spielbergs Inszenierung, seine ästhetische Ausformung des rettungsethischen Programms, gibt also vor, uns jene hohen Werte der Güte und Schönheit und jene nahezu paradiesischen, jedenfalls aber idyllischen und unberührten Welten, die der Rettung wert sind, wirklich zeigen zu können. Das unterscheidet seinen Zugang zur Rettung des Tiers wesentlich von einem Klassiker des Kreatur-Kinos, der im Zusammenhang mit 'War Horse' oft genannt wird, nämlich Robert Bressons 'Au hasard Balthazar' (1965). In diesem Film war es ein Esel, der von Hand zu Hand geht und leidet, ebenso unverdient wie unsere Anteilnahme an ihm, soll heißen: Weit entfernt von der Idee, Balthazars Anblick könnte ein Faible für das Aufhängen von Eselspostern inspirieren, spannte Bressons Film eine unvermittelte Konstellation auf zwischen dem bewusstlosen Tierkörper (Bressons erklärtermaßen bestes 'Modell') und unserem empathetischen Blick auf ihn; und dieser Blick kann immer nur eine Projektion sein, der nichts Gegebenes, Begründendes entspricht und die darin – in den 'traurig' erscheinenden Eselsaugen – ihr Gegenüber findet; in etwa dies wurde oft als Bressons Idee christlicher 'Gnade' bezeichnet (und mit einer Salbung des neugeborenen Eseleins beginnt ja der Balthazar-Film).

Zu solcher Wendung zu einem beliebigen Leben schwingt sich 'War Horse', wie gesagt, nicht auf. Der Film erzählt, vielmehr: prozessiert, die Weitergabe eines Dings, eines verdinglichten Lebens, dessen Seele in unserer anteilnehmenden Wahrnehmung ruhen könnte, sofern dieses Zusehen nicht mit 'zuvorkommenden' Versprechungen eines Sehens-Werts überhäuft und dadurch blockiert wird – was aber eben in 'War Horse' geschieht (ein so schönes Pferd hat es eben verdient, dass wir ihm mitfühlend zusehen). Und daher fällt dieser Film etwa auch ab gemessen am Maßstab von Spielbergs 'A.I. – Artificial Intelligence' (2001) – jenem Stationenlaufmärchen rund um einen seelenlosen mechanischen Buben, das seiner dekonstruktivistischen tagline 'His love is real, but he is not' treu blieb (während 'War Horse' eher ein Programm 'Their love is real, because they are real[ly beautiful]' vorführt). Und man könnte da auch den im japanisch besetzten Shanghai spielenden Stationenlauf eines verwirrten Buben durch Krieg, Lager und Überleben im Medium von buying and selling in 'Empire of the Sun' (1987) nennen, um einen weiteren wenig geschätzten Spielberg-Film zum sozusagen werk- und projektimmanenten Vergleich heranzuziehen. Letztere Art von Vergleich scheint jedenfalls ergiebiger als wenn man, angestoßen durch die Ähnlichkeit von Bildern 'War Horse' als 'Anti-Kriegsfilm' an Kubricks 'Paths of Glory' (1957) messen wollte oder Spielbergs englische Landschaft, samt 'Kultivierung' eines 'Heims', an der irischen von Fords 'The Quiet Man' (1952). Dieser Ford-Vergleich liegt ja auch deshalb einen Moment lang nahe, weil die telepathische Kraft der Zuneigung, die das nichtmenschliche Wesen und den Menschenknaben so eng verbindet wie die Liebe zwischen Joey und Albert, in Spielbergs 'E.T. – The Extraterrestrial' (1982) just anhand eines Ausschnitts aus 'The Quiet Man' (und dessen re-enactment in der Filmhandlung) hervortritt. Aber 'War Horse' ist kein Film, der mit John Wayne denkbar wäre, auch dann nicht, wenn seine deutsche Synchronfassung 'Schlachtross' hieße, und die Ford’schen Wolkenhimmel münden ja bei Spielberg schlussendlich in das – seine Unechtheit breit ausstellende – Klischeebild der wiedervereinigten Familie vor dem roten Studiohimmel, der in Richtung 'Gone With the Wind' (1939) weist.

Neben dem musealen, restaurativen Gestus, mit dem 'War Horse' sich zur filmhistorischen Tradition Hollywoods stellt, reiht der Film sich eben auch in die Spielberg’sche Überlieferung ein, und die gilt insbesondere dem Versprechen einer Rettung durch Bild-Werdung – durch eine Verbildlichung, die filmisch ist, indem sie eben gerade nicht 'alles' zeigt, sondern auswählt, aus- und abblendet, das zu Zeigende herauslöst aus einem Unsichtbaren, das als Impliziertes mit zum Bild gehört. Spielberg, in dessen Film- und Fernseharbeiten der Zweite Weltkrieg in verschiedensten Formen und Registern dauerpräsent ist, hat mit 'War Horse' zum ersten Mal einen im Ersten Weltkrieg spielenden Film gedreht; dies im Vorfeld des neuen geschichtsschlüsselhaften Status, den dieser Krieg durch den 2014 anstehenden hundertsten Jahrestag seines Beginns mit geschichtsmedienkultureller Unweigerlichkeit wiedergewinnen wird (und übrigens zeitgleich mit zwei Arbeiten von Martin Scorsese, in denen der Ersten Weltkrieg als Einbruch traumatisierender Geschichte gegen die Glücks- und Lichtversprechen des Entertainment im Allgemeinen und des Kinos im Besonderen gesetzt ist: die Referenzen auf nachlastende, unaussprechliche Schrecken des Grabenkrieges als Fremdkörper in der Glamourstadt zu Beginn der Serie 'Boardwalk Empire'; die Rivalität zwischen dem Wunderwerk des fühen Kinos und der toten Mechanik des Krieges und der rationalisierten Wirtschaft, verdichtet im quasiprothetischen Doppelmotiv Damenschuhabsatz und Beinschiene in “Hugo”).

Spielbergs Erster Weltkrieg ist – bei aller Aufmerksamkeit auf Handlungs- und Ausstattungsdetails des Grabenkampfes – ein versetzter Zweiter, der wiederum über den Ereigniskern der nationalsozialistischen Massenmorde definiert ist. Der moderne industrialisierte Krieg erscheint hier vor allem als eine totalisierende Gewalt, die die Welt in Totaleinstellungen fasst, als ein Panoptismus, der es mit der Immensität der Landschaft selbst aufnimmt und deren majestätischen Anblick (in den endlosen Hügelweiten Südenglands) durch Panoramen zerfurchter oder mit Leichen übersäter Erde ersetzt. Die Vogelschau auf die vom britischen Kavallerieangriff zurückbleibenden Toten (Menschen und Pferde) könnte aus 'Saving Private Ryan' stammen, ebenso die beiden Szenen, die deutsches Maschinengewehrfeuer vorführen (close-up des Laufs bzw. Totale einer MG-Stellung von unten). Gegenüber der am Vorbild des MGs ausgerichteten Optik, die alles 'erfasst', ist das rettende Bild intim mit dem Nicht-Sehen und Abschatten. Das beginnt beim Thema des Versteckens: Wenn das französische Mädchen die beiden Pferde vor den die Farm durchsuchenden deutschen Besatzungstruppen in einer Dachkammer versteckt, um sie vor jener 'Vernichtung durch Arbeit' zu bewahren, der das eine Tier später doch zum Opfer fällt, dann steht dies in einer Reihe mit Spielbergs Holocaust-Inszenierungen (übrigens aber ohne an der in manchen Animal Liberation-Diskursen bemühten 'Tier-KZ'-Metaphorik anzustreifen).

In diesem Zusammenhang kommt etwas ins Spiel, was dem Käsewerbungsbauernidyll vielleicht doch eine Rechtfertigung erteilen könnte: Im Bild des silberhaarigen Großvaters, der den seinen Hof durchsuchen lassenden, genüsslich rauchenden deutschen Offizier im Gespräch von dem, was seine Enkelin versteckt, abzulenken versucht, hallt zum einen die prominente Bauernhof-Eröffnungsszene von Tarantinos 'Inglourious Basterds' (2009) nach, zum anderen das Bild des französischen Bauern in Gilles Paquet-Brenners Holocaust-Erinnerungsdrama 'Elle s’appelait Sarah – Sarahs Schlüssel' (2010), der 1942 ein jüdisches Mädchen vor der Gestapo versteckt und später adoptiert. Diesem Retter ebenso wie Spielbergs grand-père leiht Niels Arestrup sein markantes Antlitz. Seine uniformierten Gegenüber im Hof-Durchsuchungsdialog von 'War Horse', zwei deutsche Offiziere, einer plaudernd, der andere plündernd, werden von Darstellern verkörpert (Rainer Bock und Sebastian Hülk), die beide in 'Inglourious Basterds' kleine Parts als Wehrmachtsangehörige, sowie zeitgleich unterschiedlich große Rollen in Hanekes 'Das weiße Band' (2009) gespielt hatten – einem Film, der auf seine Art ein hochfragiles agrarisches Lebensgefüge in einen Ersten Weltkrieg münden ließ, der als Vorgriff auf den Holocaust verstanden sein wollte. Die betreffende, quasi 1914 wie auch 1942 spielende Dialogszene in 'War Horse', auf die die Offenbarung des Dachgeschoss-Verstecks der Pferde folgt, ist als halbtotale Plansequenz inszeniert, die in ihrer Kadrage das Motiv des tödlichen Alles-Sehens und der rettenden Verborgenheit noch einmal abbildet: Ein Gutteil des Bildvordergrundes ist verdeckt von Marmeladegläsern, die während des Gesprächs von den deutschen Plünderern sukzessive abgeräumt werden.

So wie dieser Sichtschutz aus Marmeladegläsern – ein Archiv konservierter Süßlichkeit – sich auflöst, wird auch das eingangs im Bild der frischen Erdbeeren verdichtete, picksüße agrarische Klischee-Idyll gehüteter Unberührtheit hinfällig: Der Großvater kann die Enkelin, so erfahren wir allmählich und etwas indirekt, weder vor der Wahrheit über den kriegsbedingten Tod ihrer Eltern bewahren noch vor dem Verlust ihrer geliebten Pferde an die Besatzer – und auch nicht vor ihrem eigenen Tod. Sein Monolog über französische Brieftauben, deren Mut darin besteht, dass sie, um eine Botschaft zu überliefern, das Grauen der Front überfliegen, ohne hinunterzuschauen, diese herbeigeschriebene Rede steht hier als eine der vielen, oft breitspurigen Spielberg’schen Variationen auf das jüdische Thema des Bildverbots (von 'Duel' bis 'War of the Worlds' …), auf die Tradition eines Gesetzes, das Unterbrechung fordert, Unterbrechung des Sehens und des Lichts. Dem gegenüber kulminiert das Vernichtungswerk des Krieges im Einsatz von Giftgas, das sich als weißer Nebel in einem Graben ausbreitet, bis es das Bild auslöscht im leinwandfüllenden Weiß eines totalen Lichts, das gleichbedeutend mit totaler Blendung ist (und Albert zum Opfer einer vorübergehenden Erblindung macht).

'Like God taking a photograph,' hatte der junge Survivor in 'Empire of the Sun' das Negativ-Wunder des Atombombenabwurfs auf Nagasaki kommentiert. Der Licht-Blitz rührt bei Spielberg von der Totalgewalt einer mythischen, über- oder unmenschlichen Macht; das Rettende und Menschliche hingegen ist dort, wo Licht gerahmt und gefiltert wird: So fallen seine markenzeichenhaften Lichtkegel hier etwa durch die Fenster des englischen Farmhauses; und die Wunderszene von der deutsch-britischen Pferderettung im Niemandsland wird vielleicht dadurch vor dem gänzlichen Absinken ins Klischee gerettet, dass sie zu einem Gutteil zwischen Silhouetten im Gegenlicht abläuft. Das Spielberg’sche Bild hält fest am Blockieren der Sichtbarkeit als Keim der Rettung mitten im Vollzug des massenweisen Mordens, das seinen Lauf nimmt und keineswegs beschönigt wird: Die beiden jungen deutschen Pferdenarren und Armeedeserteure (einen von ihnen spielt David Kross, der 2009 der 'Vorleser' einer einstigen KZ-Aufseherin war) gelangen nie in jenes Italien, von dem sie als Ziel ihrer Flucht schwärmen. (Vielleicht hätten sie nicht von den Reizen italienischer Mädchen reden sollen, denn das ist eine illegitime, unlebbare Position im Kino von Spielberg, das Sex nur in biopolitischer oder 'lebenstechnischer' Vermittlung zulässt.) Stattdessen werden sie am Fuß der Windmühle, in der sie und die beiden Pferde versteckt waren, exekutiert. Die Szene ist in einer schrägen Vogelschau inszeniert, bei der die sich im Vordergrund drehenden Flügel der Windmühle die Gewehrsalve und den Zusammenbruch der beiden jungen Männer abschatten wie die Umlaufblende eines Analogfilmprojektors im Kino.

Drive

(USA 2011, Regie: Nicolas Winding Refn)

Der Skorpion
von Wolfgang Nierlin

“Ich bin ein Fahrer”, sagt der Protagonist des Films einmal, um sich vorzustellen. In diesem lapidaren Statement verdichtet sich eine Existenz, die um das Auto kreist und zwischen äußerer Bewegung …

“Ich bin ein Fahrer”, sagt der Protagonist des Films einmal, um sich vorzustellen. In diesem lapidaren Statement verdichtet sich eine Existenz, die um das Auto kreist und zwischen äußerer Bewegung und innerer Ruhe changiert. Zugleich beschwört diese knappe Auskunft eine Kunstfigur im Kosmos mythologischer Kino-Geschichten, in die sich Nicolas Winding Refn mit seinem preisgekrönten Film „Drive“ bewusst einreiht. Der von Ryan Gosling gespielte Driver, in einem Song des Soundtracks als „Real Hero“ besungen, ist ein „Light Sleeper“ und „Taxi Driver“, der sich in seinem Wagen, der wie ein zweiter Körper erscheint, mit coolem Flow durch die labyrinthische Stadtlandschaft von Los Angeles bewegt. Tagsüber fährt er Autostunts bei Filmproduktionen oder er arbeitet in einer Autowerkstatt; nachts verdingt er sich als Fluchtfahrer für Einbrecher. Der Driver ist ein Held der Geschwindigkeit: schweigsam und konzentriert, präzise und einsam.

Gleich die großartige Exposition von „Drive“, eine meisterlich inszenierte Flucht zwischen forcierter Bewegung und abruptem Stillstand, bringt dies zum Ausdruck. Dabei erfüllt der dänische Regisseur nur teilweise die Genre-Konventionen. Indem er gegen die Materialität des Autowettstreits immer wieder die Zeit anhält, setzt er Zäsuren, in denen die Spannung wächst. Damit evoziert er zugleich eine traumwandlerische Atmosphäre, die zum Element des Außenseiters wird und ihn wie eine Schutzhülle umgibt. Diese Unabhängigkeit wird emotional aufgebrochen, als der Driver seine Wohnungsnachbarin Irene (Carey Mulligan) und ihren kleinen Sohn Benicio kennenlernt. Da Irenes Mann Standard (Oscar Isaac) im Knast sitzt, übernimmt der Driver zunehmend die Rolle des Ersatzvaters, Freundes und Beschützers. Aber Refn spielt das nicht aus, stilisiert auch die aufkeimende Liebe über Andeutungen und Blicke. Einmal legt Irene ihre Hand auf diejenige des Drivers über der Gangschaltung.

Die Abhängigkeiten und Verwicklungen nehmen noch zu, als Standard entlassen und von früheren Auftraggebern brutal erpresst wird. Plötzlich findet sich der Driver, der sich selbstlos für die Familie einsetzt, inmitten von Schuld und zunehmender Gewalt. Deren brutale Exzesse folgen einer abstrusen Logik des Tötens, die etwa in den blutigen Codes des Mafiafilms gespeichert ist. „Woran erkennt man die Bösen?“, fragt einmal sinngemäß der kleine Benicio. Und der Driver zeigt ebenso plötzlich wie direkt seine dunkle, aggressive Seite. Allein gegen alle wird er zum Einzelkämpfer und wütenden Rächer, der mit hehren Idealen und dem Auto als Waffe in den Krieg gegen einen übermächtigen Feind zieht, um die Ordnung der Familie und der Gefühle und damit auch seinen Außenseiterstatus wiederherzustellen. Dabei wird seine Jacke mit dem Skorpion-Aufdruck immer blutiger. Denn in der Welt jenseits des Gesetzes, wo der Kreislauf der Rache immer neue Verbrechen zeugt, verspricht nur der Tod eine Erlösung. Nikolas Windung Refn inszeniert diese als eine Art Wiedergeburt zur Herstellung der alten Ordnung.

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The Big Eden

(D 2011, Regie: Peter Dörfler)

Jede Sekunde schön leben
von Wolfgang Nierlin

Der für seine Anschauungen aufschlussreichste Satz des berühmten Playboys und Lebemanns Rolf Eden fällt gleich zu Beginn von Peter Dörflers Dokumentarfilm „The Big Eden“ und lautet: „An den Tod denke …

Der für seine Anschauungen aufschlussreichste Satz des berühmten Playboys und Lebemanns Rolf Eden fällt gleich zu Beginn von Peter Dörflers Dokumentarfilm „The Big Eden“ und lautet: „An den Tod denke ich nie.“ Und weil nach dem Leben nichts mehr komme, gelte es, „jede Sekunde schön zu leben“. Die Kunst der Verdrängung ist also ebenso Programm wie der gesteigerte Weltbezug; an die Stelle der Transzendenz tritt beim Partykönig Eden ein ekstatisches Lebensgefühl. Und dies drückt sich für ihn vor allem in seiner Liebe zu Frauen und Geld aus. Der materialistische Zusammenhang zwischen beidem ist für Eden ebenso offensichtlich wie einfach: „Wenn man Geld hat, hat man Frauen.“ Und diese Überzeugung des vom Glück begünstigten Gegenwartsfanatikers scheint das bewegte Leben des 80-Jährigen reichlich zu bestätigen.

Den biographischen Spuren und persönlichen Ausprägungen dieses Lebens folgt Peter Dörfler durch einen intimen Perspektivwechsel, indem er Edens verzweigte Familie zu Wort kommen lässt. Sieben Kinder von sieben Frauen zählt der Porträtierte zu seinen Nachkommen und von ihnen äußeren sich einige überraschend wohlwollend und hellsichtig vor der Kamera. Edens enthusiastischer Narzissmus, dokumentiert in zahlreichen Privatfilmen, seine kindliche Sehnsucht nach ewiger Jugend und Schönheit (wofür er sich mehrmals Liften ließ), seine Unterhaltungssucht sowie seine Lust an der Selbstinszenierung verdichten sich dabei zu den hervorstechendsten Merkmalen dieses „Spielers“ und „Manipulators“. „Die anderen größer machen als sie sind“, lautet Edens Maxime. Dem entspricht wiederum, dass viele Geliebte und Freunde noch Jahr später von seiner Großzügigkeit bewegt sind.

Doch trotz dieser Einblicke und Einsichten bleibt ein blinder Fleck, den Peter Dörflers filmische Strategie bewusst offen hält. Indem der Film die Jugend des 1930 in Berlin geborenen Juden Shimon Eden während seiner Zeit in Palästina und seine Erfahrungen im Unabhängigkeitskrieg von 1948 nachzeichnet, liefert Dörfler zwar mögliche Erklärungen für dessen forcierte Verdrängung der Vergangenheit und ihrer Schrecken, trotzdem geht es in seinem Film nicht um die Suche nach dem „wahren Kern“ des Porträtierten. Einer seiner klugen Söhne spekuliert gar, dass es einen solchen möglicherweise gar nicht gebe. Gefühle wie Eifersucht, Trauer und Schmerz bleiben jedenfalls ausgespart. Auch wenn sich darin Edens Arbeit an der eigenen Legende ausdrücken mag, bleibt dies doch auch Quelle einer Beunruhigung: Dass die Hülle vielleicht alles ist und der schöne Schein des Lebens dessen Essenz.

Ziemlich beste Freunde

(F 2011, Regie: Olivier Nakache, Eric Toledano)

Streichelzoo für Unberührbare
von Carsten Moll

Im Zuge des anhaltenden Authentizitätswahns will auch dieser Film nicht darauf verzichten auf die „wahren Begebenheiten“ zu verweisen, auf denen er basiert. Dabei ist natürlich nichts an der Grundidee von …

Im Zuge des anhaltenden Authentizitätswahns will auch dieser Film nicht darauf verzichten auf die „wahren Begebenheiten“ zu verweisen, auf denen er basiert. Dabei ist natürlich nichts an der Grundidee von „Intouchables“, so der Originaltitel, von solcher Außergewöhnlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit, dass es einer Authentifizierung durch reale Ereignisse bedürfte. Der Film des Regie- und Autorenduos Olivier Nakache und Éric Toledano erzählt die bereits als Autobiografie verwertete Geschichte von Philippe Pozzo di Borgo und seinem Pfleger Abdel Yasmin Sellou nach: Philippe ist ein reicher und kultivierter Franzose, der nach einem Paragliding-Unfall querschnittsgelähmt ist und in Depressionen versinkt. Erst durch die Freundschaft zu seinem lebenslustigen Pfleger Abdel, einem Algerier, gelingt es ihm, neuen Lebensmut zu schöpfen.

Wer noch nicht wusste, dass es möglich ist, sich mit Menschen anderen ethnischen und sozialen Hintergrunds anzufreunden, der kann das hier lernen und außerdem, dass das Leben nicht unbedingt die besten Geschichten schreibt. Das mögen sich auch die Macher von „Intouchables“ gedacht haben und so legen sie ihr Werk trotz Rückgriffs auf die „wahre Geschichte“ voll und ganz als Filmmärchen in der Tradition von Hollywood-Produktionen wie „Pretty Woman“ und „Sister Act“ an. Um das bekannte Schema reibungslos abklappern zu können, nimmt sich der Film einige Freiheiten: So lassen Nakache und Toledano etwa einen weiteren Algerier aus der französischen Öffentlichkeit verschwinden und ersetzen den Abdel aus der Wirklichkeit kurzerhand durch die Figur des Senegalesen Driss, während Philippe Philippe bleibt. Abweichungen und Übereinstimmungen zwischen Film und der Wirklichkeit, auf die so vehement hingewiesen wird, werfen Fragen auf, zum Beispiel warum aus Abdel überhaupt Driss wurde? Oder ob ein Charakter wie Philippe in einem französischen Spielfilm als Senegalese oder Algerier denkbar wäre und inwiefern das Weißsein als notwendiger Bestandteil der Figur angesehen wird? Oder anders: Würde das Publikum einen bürgerlichen, intellektuellen Schwarzen für glaubhaft halten?

Solche Fragen scheinen sich Nakache und Toledano nicht gestellt zu haben, denn sie erzählen völlig unreflektiert die alte Geschichte von der Erziehung des schwarzen durch den weißen Mann. Das Personal von „Intouchables“ mit seinen stummen asiatischen Masseusen, dem impotenten, intellektuellen Krüppel und nicht zuletzt dem zugleich kindlich-naiven und sexuell-aggressiven Schwarzen mag anmuten wie aus einer Satire à la „Adams Äpfel“. Tatsächlich bleiben die Stereotypen und Klischees aber unangetastet und werden nie ernsthaft herausgefordert. Stattdessen wird anhand fragwürdiger Karikaturen, die trotz aller Übertreibungen ja ihre Wurzeln in der außerfilmischen Realität haben sollen, eine kitschige Geschichte vom sozialen Aufstieg und der heteronormativen Liebe als Allheilmittel erzählt; Philippe ist am Ende von seiner Depression erlöst, was er Driss‘ Lektionen in Sachen Liebe, Authentizität und Coolness zu verdanken hat. Und Driss ist dank einem Anzug und Ausflügen in die bürgerliche Kultur zu einem neuen, besseren Menschen geworden, der die heile Welt von Philippes Villa verlassen kann. Das Publikum wird mit dem guten Gefühl entlassen, dass Driss mit seinem Wissen um Malerei und Versmaße bestens für die Welt da draußen gerüstet sei.

Die Prämisse der Geschichte und vieler ihrer Gags ist, dass man sich auf völlig überholte Vorstellungen von Gesellschaft und Kultur einlässt, um dann zuzusehen, wie deren Spießigkeit durch kaum weniger altbackene Ansichten entlarvt wird. „Intouchables“ scheint mit dem 21. Jahrhundert zu hadern, einzig Philippes Maserati ist auf dem neuesten Stand und wirkt dadurch wie ein Artefakt aus der Zukunft. Der Rest des Films ist Material aus vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten. In diesem Kontext gilt das Bild von einem kiffenden Bürgerlichen schon als gelungene Pointe und Driss‘ Tanzeinlage vor Philippes verklemmter Verwandtschaft als subversiv und befreiend (obwohl man die Szene eigentlich schon 1996 besser im Musikvideo zu „Wannabe“ von den Spice Girls gesehen hat). Passenderweise hört der Kleinkriminelle aus den Banlieues hier keinen harten Hip-Hop, sondern tanzt am liebsten zu Discomusik aus den 70ern. Das sieht nicht nur lustiger aus, es lässt sich als Soundtrack auch sicherlich besser vermarkten.

Das Kinopublikum darf sich aber nicht bloß an harmlosen Witzen über piefige Vorstellungen von Oper und moderner Kunst ergötzen, sondern sich gleichzeitig auch den Banlieues, vermittelt durch graue Wackelbilder und Moll-Töne vom Klavier, ganz nah fühlen. Ernsthaft etwas zu sagen hat der Film zu beiden Welten nicht, die Vorstadt im tristen Sozialdrama-Look wirkt zudem seltsam isoliert vom Rest der Geschichte, die sich größtenteils in Philippes Villa abspielt. Auch viele der Nebencharaktere bleiben auffallend unbeteiligt und wirken deplatziert; Philippes pubertierende Adoptivtochter etwa ist nur ein einziges Mal mit ihrem Vater auch nur im selben Raum, ohne dass diese räumliche Trennung gleich als Reflektion einer inhaltlichen Parallele interpretiert werden könnte. Vielmehr verstärken solche Patzer den Eindruck von einem unausgereiften und oberflächlichen Drehbuch, das nicht nur frei von Überraschungen und Spannung ist, sondern Behinderung und soziale Not zu plot devices degradiert. Selbst für eine Wohlfühl-Komödie sind die Hindernisse und Widrigkeiten allzu schnell überwunden und Philippe-Darsteller François Cluzet betont die Behinderung seiner Figur zur Freude mancher KritikerInnen nicht zu sehr. Der vermögende Querschnittsgelähmte kann es sich leisten – wie es sich für Behinderte auf und vor der Leinwand gehört – normaler als normal zu sein. Die Schlüsselszenen seiner Wiedergeburt als glücklicher Mensch zeigen ihn nicht umsonst im Sportwagen und beim Paragliding.

Dass „Intouchables“ trotz seiner Formelhaftigkeit ein äußerst ungelenker Film ist, der unreflektiert fragwürdige Klischees en masse reproduziert, scheint den Großteil des Publikums und der Kritik nicht zu stören. Dazu ist alles zu sehr auf Gefälligkeit getrimmt, die Ironie angenehm sanft und die Witze schön vorhersehbar und harmlos; das Vorhandensein von Unmengen an Klischees und Stereotypen wird geradezu zu einer Notwendigkeit, wenn nicht zur Essenz des Unterhaltungskinos erklärt. Gleichzeitig darf man sich ein bisschen betroffen und interessiert an vermeintlich schwierigen Themen geben. Viel gefühlt wird da, aber auch von Solidarität und Utopie ist die Rede und fast schon meint man im Schlange-stehen-vor-dem-Kino einen politischen Akt zu erkennen, „Intouchables“ wird zum Film der Krise. Ob der Technokratie tatsächlich mit Alexandrinern und Disco beizukommen ist, wie der Film zeigt, darf weiterhin bezweifelt werden.

Die Summe meiner einzelnen Teile

(D 2011, Regie: Hans Weingartner)

Der Wald vor lauter Bäumen
von Harald Mühlbeyer

Ich weigere mich, dem Film zu glauben. Ich glaube nicht, dass der Absturz ins Elend nach Klischee abläuft, nach der Abhakliste, gemäß der der Film vorgeht. Burnout, Nervenzusammenbruch, Psychiatrie: OK. …

Ich weigere mich, dem Film zu glauben. Ich glaube nicht, dass der Absturz ins Elend nach Klischee abläuft, nach der Abhakliste, gemäß der der Film vorgeht. Burnout, Nervenzusammenbruch, Psychiatrie: OK. Doch dann geht alles seinen allzu schnellen, allzu glatten Niedergang. Eine Menge Medikamente, deren Einnahmereihenfolge sich kein Mensch merken kann, keinerlei Fürsorge nach der Entlassung aus der Klinik, Verlust von Beruf, Freundin und Wohnung – Obdachlosigkeit und Alkoholismus bleiben. Dazu wird Martin, der brillante Mathematiker mit labiler Psyche, vom Aufsichtsratsvorsitzenden einer Bank(!) angefahren. Als ihn seine Klinikärztin in einer Unterführung (neben Nacht und Abrisshaus der bevorzugte Schauplatz dieses ersten Filmteils) erkennt, ermahnt sie ihn überflüssigerweise: „Kommen Sie zurück in die Klinik! So macht das doch keinen Sinn!“ Dann geht sie weiter. Und Martin bleibt zurück mit seinem einzigen Freund, der Flasche, in die er den wohlfeilen Ratschlag nicht hineinfüllen kann. Dann lernt er Viktor kennen, einen ukrainischen Jungen.

Was einem hier vorgesetzt wird, vor dem Hintergrund einer extrem kalten, unmenschlichen Welt, ist äußerst tragisch – und leider äußerst lieblos inszeniert. Station für Station geht es abwärts, einfach und allzu offensichtlich auf die dramatische Wirkung hin erzählt: Viktor sammelt Pfandflaschen, kauft der Mutter Wodka, die er aber dann zuhause tot auf dem Sofa vorfindet … Das grenzt an Tränendrüsen-Elendsvoyeurismus, ebenso wie die Traum-Rückblende Martins auf den prügelnden Vater.

Und erst, wenn Martin und Viktor in den Wald gehen, findet der Film zu sich, wie auch Martin sich hier sammeln kann. Die beiden bauen eine Hütte, leben von dem, was sie sich erarbeiten, was sie vorfinden, Weltflucht in Naturidylle ist das mit romantischem Einschlag Rousseau’scher und Thoreau’scher Prägung. Das ist die Stärke des Films, wie Ausgeschlossene aus der Gesellschaft sich ihren Ausstieg bewusst machen, ihn bewusst leben. Äste, Plastikplanen, Wellblech, später kommen Ofen und Spiegel dazu: Hier in der Natur kann man sich etwas Eigenes aufbauen, hier kann der Mensch Mensch sein, auf ganz archetypische Weise. In magischer Vollmondnacht trifft Martin tatsächlich auf einen Wolf, den wilden, mythischen Einsamen, der er im Grunde selber ist.

Was Hans Weingartner will, ist eine Anklage gegen die Leistungsgesellschaft und tatsächlich klagt er an, plädiert er aus voller Kehle wider den Zwang zu beruflicher und menschlicher Dauerbelastbarkeit, wider die Anpassung an ein System, in dem das Ökonomische das Soziale verdrängt hat. Und er will erzählen davon, wie dieses System krank macht, wie es letztlich selbst krank ist, weil es die, die anders sind, nicht integrieren, sondern „heilen“ möchte. Doch muss Weingartner so plakativ vorgehen, muss er so reißbrettartig inszenieren? Muss der Film immer wieder in Szenen münden, die vorhersehbar sich im Offensichtlichen auflösen?

Weingartner kann feinfühliger inszenieren – das Schizophrenie-Drama „Das weiße Rauschen“ (sein Debütfilm) oder der Zweitling „Die fetten Jahre sind vorbei“ beweisen es, ebenso wie einige Szenen in „Die Summe meiner einzelnen Teile“. Im Ganzen aber bleibt dieser Film leider stets unter seinen Möglichkeiten; er ist nicht, wie er gedacht wurde.

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Shame

(GB 2011, Regie: Steve McQueen)

Triebe ohne Liebe
von Harald Mühlbeyer

Michael Fassbender spielt fantastisch. Wie er in der U-Bahn sitzt, eine junge Frau anblickt – nicht starrt, nur blickt –, wie er irgendwas Subtiles mit seinen Lippen macht, sie leicht …

Michael Fassbender spielt fantastisch. Wie er in der U-Bahn sitzt, eine junge Frau anblickt – nicht starrt, nur blickt –, wie er irgendwas Subtiles mit seinen Lippen macht, sie leicht öffnet, leicht schließt, wie er damit die Frau in seinen Bann schlägt, bis sie zurückblickt zwischen Verlegenheit und Flirt: Fassbender ist ganz der Profi im Frauenaufreißen, das muss er sein, sie sind sein Lebenselixier – er ist sexsüchtig.

Sexsucht. Davon handelt Steve McQueens Film, und von wenig anderem. Fassbender als Brandon fickt, wichst, fickt und wichst, in One-Night-Stands, vor dem Laptop, mit Nutten, auf dem Klo. Emotionen: gleich Null. Abschussquote: Einhundert Prozent. Steve McQueen will das Phänomen erforschen. Dazu stellt er Brandon seiner Schwester Sissy gegenüber, die eines Tages bei ihm einzieht, und die hochemotional ist. Was beziehungstechnisch ein ähnliches Manko ist wie Brandons Gefühllosigkeit, seine Oberflächlichkeit, seine Körperbezogenheit. Ein unausgesprochener Konflikt liegt zwischen ihnen, es gibt Andeutungen über die Herkunft ihrer emotionalen Schäden in der Familiengeschichte: Wir sind nicht schlecht, wir kommen nur von einem schlechten Ort … Der Konflikt bricht aus, als Sissy singt, „New York New York“ in einer langsamen, traurigen Weise, als Brandons Boss David eine Träne auf dessen Wange bemerkt und dann Sissy abschleppt und bumst. Der Boss, der seine Schwester verführt: Brandon steht vor dem, was er selbst ist – naja: vor einer unscharfen Kopie.

Großartige Darsteller – auch Carey Mulligan als Sissy – und einige treffende Szenen, die pointiert die Erbärmlichkeit von Brandons einsamem triebhaftem Leben offen legen, schützen nicht davor, dass der Film quasi in Ehrfurcht vor seinem Thema erstarrt. Lange geschieht nichts, außer dass wir Brandon bei seinem Treiben, bei seinen Trieben beobachten. Wir sehen, wie er sich durch Frauen und Pornofantasien vögelt, wie er sich selbst anwidert, wie er mit einer Kollegin eine Beziehung wagen will, ein Rendezvous im Restaurant – und wie er dann, weil Emotionen im Spiel sind, im Bett versagt: ein Todesurteil. Wir sehen, wie er sich vor sich selbst schämt. Eine Handlung sehen wir nicht. Bis am Ende alles auf Brandon, auf den Zuschauer einstürzt. Bruch mit der Schwester, verzweifelte Versuche, zum Schuss zu kommen, selbstzerstörerische Provokation von Prügeln, zur Not ab in den Schwulentreff, man muss ja nicht hinsehen, wer da bläst. Und dann ein ultimatives Schockerlebnis, die völlige Erkenntnis des eigenen Versagens, das Ausbrechen von Emotionen – ja: er weint im Regen.

„Shame“ ist schonungslos, mit sich, mit dem Zuschauer, doch es fehlen Entwicklung in Charakteren und Konflikt. In der andauernden Selbstverachtung Brandons liegt der stete implizite Ausdruck einer Film-Moral: Alles ist darauf angelegt, den Zuschauer zu verstören, ihm ein (negatives) Urteil zu suggerieren. Als könnte er bei der ständigen mechanisch vollführten Triebabfuhr einer einsamen Existenz nicht selbst entscheiden, wie erstrebenswert ein solches Leben ist. Nur selten öffnet der Film den moralischen Raum, und das liegt an Fassbenders Spiel: wie er einmal die Annäherungsversuche seines Chefs in einer Bar verfolgt, wie sein breiter, schmallippiger Mund den linken Mundwinkel leicht nach oben geworfen hat zu einem ironischen Touch, wie in seinen leicht amüsierten, leicht abschätzigen Augen zu lesen ist: So ein Dilettant. Plapper nicht so! Hampel beim Tanzen nicht so rum! Es ist der Blick des Profis auf den Amateur.

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Once upon a Time in Anatolia

(TUR 2010, Regie: Nuri Bilge Ceylan)

Viel Dunkel, wenig Licht
von Wolfgang Nierlin

Durchs Dunkel der Nacht geht die Fahrt der kleinen Autokolonne, was die Identifizierbarkeit auf allen Seiten erschwert. Lange weiß man nicht so genau, wer spricht und was das Motiv dieser …

Durchs Dunkel der Nacht geht die Fahrt der kleinen Autokolonne, was die Identifizierbarkeit auf allen Seiten erschwert. Lange weiß man nicht so genau, wer spricht und was das Motiv dieser merkwürdigen Suchbewegung ist, die sich in den Lichtkegeln der Autoscheinwerfer vollzieht und von einem milden Vollmond beschienen wird. Weit über die Hälfte von Nuri Bilge Ceylans bemerkenswertem Film „Once upon a time in Anatolia“ spielt in der Nacht, in einem Zwischenreich aus Licht und Schatten, und ist allein deshalb schon außerordentlich. Eine polizeiliche Ermittlung wird durchgeführt. Unter Mithilfe der beiden Täter sucht die Gruppe nach dem Bestattungsort eines Mordopfers. Doch die Erinnerung trügt, die Orientierung fällt schwer und Alkohol und Müdigkeit vernebeln die Sinne. Als handle es sich beim Gesuchten um ein Phantom, landet die Gruppe immer wieder am falschen Ort.

Tatsächlich beschreibt Ceylan mit existentialistischem Unterton eine absurde Situation: den Leerlauf der schieren Bewegung, das ungewisse Warten und das Herumtappen im Dunkeln. Hunger und zunehmender Stress, Frust und Aggressionen zehren an der fragwürdigen Unternehmung. Und so vertreiben sich die Protagonisten, unter anderen ein Gerichtsmediziner, ein Staatsanwalt und ein Polizeichef, die Zeit mit Geschichtenerzählen. Doch in die harmlos und witzig erscheinenden Gespräche über alltägliche Begebenheiten und Sorgen mischt sich immer wieder das unglückliche Bewusstsein der Figuren, das von Schuldgefühlen, gescheiterten Beziehungen und einer allgemeinen Sinnkrise genährt wird. Die groteske Suche nach der Leiche, flankiert von schwarzem Humor, spiegelt gewissermaßen ein Unbehagen an der Welt und das vergebliche Streben nach einem Sinn.

Die Blätter der Bäume rascheln im Nachtwind, der ewige Atem der Natur legt sich über die Szenen der Vergänglichkeit und erzeugt immer wieder Kontraste zwischen Leben und Tod. Einmal fällt ein Apfel von einem Baum, kullert in ein schmales Flüsschen, treibt eine Zeitlang in der schwachen Strömung und strandet schließlich auf einer kleinen Sanddüne neben anderen Äpfeln. Es ist dies eine jener poetischen Sequenzen in Ceylans Film, in denen sich metaphorisch ein melancholisches Lebensgefühl verdichtet.

In einer anderen, der vielleicht schönsten Szene des Films, sitzen die Ermittler beim Nachtmahl in der Unterkunft eines Bürgermeisters, als plötzlich das Licht ausfällt. Eben noch hatte der Vorsteher des kleinen Ortes über die Probleme bei der Finanzierung einer neuen Leichenhalle geklagt; jetzt bekommt er von seinen Gästen zur Antwort, dass es wohl dringlicher sei, ins Stromnetz zu investieren. Als auf Geheiß des Gastgebers die junge Tochter des Hauses jedem einzelnen der Männer Tee bringt, erleuchtet das schwache Licht einer Petroleumlampe immer wieder für Augenblicke ihr Gesicht. Dabei wird dessen Staunen auslösende, fast überirdische Schönheit für die Anwesenden zu einer Epiphanie aus Trost und Hoffnung. In diesen wenigen Momenten vertreibt das Licht die Finsternis und mit ihr die Schatten aller Zweifel. Etwas verändert sich, bevor alles weitergeht.

Drive

(USA 2011, Regie: Nicolas Winding Refn)

Transzendierte Genre-Formen
von Andreas Busche

Der Däne Nicolas Winding Refn ist so etwas wie der Transzendentalist unter den Action-Regisseuren. Bei Refn ist Aktion kein Resultat von Kinetik sondern von reiner Konzentration; er beschleunigt nicht Objekte, …

Der Däne Nicolas Winding Refn ist so etwas wie der Transzendentalist unter den Action-Regisseuren. Bei Refn ist Aktion kein Resultat von Kinetik sondern von reiner Konzentration; er beschleunigt nicht Objekte, seine Filme durchdringen vielmehr durch Beschleunigung Bewusstseinszustände. Schon sein Wikinger-Film „Valhalla Rising“ hätte Terrence Malick gut zu Gesicht gestanden. „Drive“, seine erste Arbeit in Hollywood, überführt diesen Manierismus nun auf nahezu perfekte Weise in schönste Genre-Formen. Refn weiß den Pulp-Gehalt seines Films richtig einzuschätzen. Die Roman-Vorlage von James Sallis war eine schnörkellose Crimestory, die Introspektion eines einsames Großstadtwolfes, der sich neben seinem Job als Stuntfahrer ein Zubrot als Fluchtfahrer für Überfälle verdient. In den fünf Minuten, die er mit traumwandlerischer Sicherheit durch die Nacht rast, sind die Kriminellen dem Driver und seinen Fähigkeiten hilflos ausgeliefert. Dieses Ausgeliefertsein ist der Modus Operandi von Refns Film. Als Zuschauer ist man dem Regisseur ebenso augeliefert, seinen schamlosen 80er-Jahre-Referenzen (angefangen bei den pinken Miami Vice-Titeln bis hin zum SynthiePop/Electro-Soundtrack), aber mehr noch der kühlen Romantik des Drivers (Ryan Gosling, schon wieder in einer Paraderolle), in dessen schüchternem Blick die Umwelt langsam zu verschwimmen scheint, je mehr er in der Realität ankommt.

Auslöser ist seine hübsche Nachbarin (Carey Mulligan) und ihr kleiner Sohn, zu dem der schweigsame Driver vorsichtig Kontakt aufnimmt. Gosling spielt im Grunde einen Archetypen des Männerkinos, ein unverhohlenes Zitat von Walter Hills „The Driver“, der eine ähnliche Geschichte erzählte. Aber auf die Geschichte kommt es Refn gar nicht so sehr an (das einzig Enttäuschende vielleicht), es geht immer nur um Fortbewegung und Durchdringung. Das Verschmelzen von Raum und Zeit: wenn Irene bei einer gemeinsamen Nachtfahrt kurz die Hand des Drivers berührt, während draußen das neonerleuchtete Los Angeles vorbeizieht. Oder der unendliche Kuss im halbdunklen Fahrstuhl, der in einem beispiellosem Gewaltexzess kulminiert. Gewalt erdet alle Figuren Refns, aber mit „Drive“ hat man erstmals das Gefühl, dass sie darüber hinaus noch etwas motiviert. In Goslings meist unergründlichem Gesicht deutet sich das einmal an, als er das Ausmaß seines Handelns begreift. Er sieht, was Irene sieht: namenloses Entsetzen. Und in seinem hilflosen Gesicht zeichnet sich für den Bruchteil einer Sekunde die schmerzvolle Erkenntnis ab, dass er niemals ein anderer sein kann. Bevor sich die Tür zwischen den beiden schließt.

Dieser Text erschien zuerst in: Pony #70

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Drive

(USA 2011, Regie: Nicolas Winding Refn)

Vom Gleiten
von Oliver Nöding

Ein Appartementhaus. Ein Flur. Ein Aufzug. Zwei Menschen: der Driver (Ryan Gosling) und seine Nachbarin Irene (Carey Mulligan). Sie lieben sich, aber sie haben es sich noch nicht gestanden. Das …

Ein Appartementhaus. Ein Flur. Ein Aufzug. Zwei Menschen: der Driver (Ryan Gosling) und seine Nachbarin Irene (Carey Mulligan). Sie lieben sich, aber sie haben es sich noch nicht gestanden. Das Schweigen zwischen ihnen, es spricht Bände. Die Aufzugtüren öffnen sich, sie treten ein. Ein fremder Mann nickt zur Begrüßung. Er ist ein Killer, soll den Driver umbringen. Doch der weiß bereits Bescheid, hat die Waffe unter der Jacke des Mannes gesehen. Zeitlupe: Der Driver dreht sich zu Irene um, er nimmt sie in den Arm und endlich, endlich begegnen sich ihre Lippen, endlich fasst er den Mut, ihr den Kuss zu geben, den er ihr von Anfang an geben wollte. Und sie empfängt ihn, erleichtert, sehnsuchtsvoll. Alles verändert sich: Das Licht nimmt plötzlich, unmerklich eine andere Qualität an. Es scheint nicht mehr länger von der Lampe an der Wand der Fahrstuhlkabine zu kommen, sondern geradewegs aus dem Himmel auf die beiden Liebenden herabzuscheinen. Es ist ein Moment, der für immer dauern soll. Ewigkeit. Stillstand. Auflösung. Doch da ist noch der Killer, er steht dem Glück noch im Weg. Der Driver lässt von Irene ab und stürzt sich zurück in die Realität und auf den Mann, überwältigt ihn, wirft ihn zu Boden und tritt immer und immer wieder auf dessen Kopf ein, wie in Raserei. Dann lässt er von ihm ab. Er dreht sich um, blickt in das Gesicht Irenes. Ihre Augen sind erschrocken, ihr Gesicht versteinert zwischen Enttäuschung und Schrecken. Ernüchterung. Sie liebt den Driver, aber sie wird nicht mit ihm zusammen sein können. Die Fahrstuhltüren schließen sich. Er ist wieder allein.

„Drive“ heißt Nicolas Winding Refns neuester Film, der erste, den der Däne in Hollywood drehen durfte, ja, den er in Hollywood drehen musste, weil er nur in Los Angeles spielen konnte. „Drive“, das bedeutet „fahren“, aber auch „Antrieb“. Beides wird verkörpert durch den Protagonisten des Films, den namenlosen Driver, der tagsüber in der Werkstatt des sympathischen Versagers Shannon (Bryan Cranston) arbeitet, seine Künste als Stuntfahrer sporadisch für Filmproduktionen zur Verfügung stellt und sich seine Kasse außerdem als Fluchtwagenfahrer for hire auffüllt. Aber das Fahren ist für ihn mehr als eine Tätigkeit, es ist der Ausdruck seiner ganzen Persönlichkeit, einer Sehnsucht, die sich mit sich selbst zufrieden gegeben zu haben scheint. Äußerlich ungerührt sitzt er in seinem Fahrzeug, die Hände in altmodischen Fahrhandschuhen, ein Skorpion auf dem Rücken seiner Jacke, ein Zahnstocher im Mundwinkel, Relikt einer von der Zeit vergessenen Coolness. So gleitet er durch die Straßen, auf der Windschutzscheibe der Film der Wirklichkeit, den er sich wie ein Unbeteiligter anschaut. Wie ein Schlafwandler geht er durchs Leben, hellwach immer nur, wenn er am Steuer seines Wagens sitzt. In diesem Mikrokosmos, diesem von der Außenwelt abgeschotteten Ort hat er die Kontrolle, die Übersicht, hier ist er der unangefochtene Herr. Seine Souveränität versucht er auch nach draußen mitzunehmen. Doch das ist nicht sein Film, der da läuft, er ist nicht länger der alleinige Hauptdarsteller. Und die anderen Menschen kann er nicht steuern. Weil er sie meistens nicht versteht. Sie sind nur Schatten.

Nicolas Winding Refn hat einen Film gedreht, der allein von diesem Gefühl des Dahingleitens handelt. Einen Film, der diesen Zustand der entspannten Konzentration, des in sich und der Tätigkeit Versunkenseins, das man vom Autofahren kennt, in Bilder von urbaner Melancholie übersetzt. Der diese Ruhe ausstrahlt, die man erst bemerkt, wenn man erstaunt feststellt, dass man die letzten zurückgelegten Kilometer gar nicht wahrgenommen hat, einfach nur gefahren ist, allein mit sich, dem Lenkrad und dem Gaspedal. Man hätte so bis ans Ende der Welt fahren können, ohne es zu bemerken. Und so ist auch „Drive“ ein Film, der für immer dauern möchte, wie ein entspannter Tagtraum, der – wie die Szene im Fahrstuhl – von der Realität da draußen sanft beleuchtet wird. Ein Film, bei dem man befürchtet, er könne enden, wenn man zu heftig blinzelt. Der sich anfühlt wie Elektrizität: Die Haut kribbelt, die Haare richten sich auf. Urinstinkte, die Ratio summt im Stand-by-Modus. Es gibt keine Brüche in „Drive“, alles ist eins. Selbst die Gewaltexplosionen sind Teil des Flusses, schlagen nicht mehr aus, sondern fügen sich als Unausweichliches in diesen ein. Liebe, Schmerz, Tod, Einsamkeit, Verlangen, Trauer, Freude: Es sind alles nur Fassetten Desselben, wie die Abschnitte einer Straße, auf der man träumend dahingleitet, in den Augenwinkeln das rhythmische Flackern von Licht und Schatten. Und Ryan Gosling ist das Gesicht dieses Traums. „You look like a Zombie!“, sagt sein Mentor Shannon einmal. Aber dann zeichnet sich auf diesem Gesicht plötzlich ein entwaffnendes Lächeln ab, ein Lächeln, das alles sagt und keine Fragen offenlässt. Und dann verschwindet es wieder. Wie der Driver am Ende. Er kann nur fahren. Alles andere ist Sterben.

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Amer

(B / F 2009, Regie: Hélène Cattet, Bruno Forzani )

Schnitte ins Fleisch der Lust
von Wolfgang Nierlin

Diesen Film kann man nicht nacherzählen. Seine alptraumhafte Struktur aus schmerzlich schönen Bildern und Tönen, sein rätselhaftes, mysteriöses Geschehen und seine surrealistische Formensprache machen ihn zu einer visuellen Sinfonie des …

Diesen Film kann man nicht nacherzählen. Seine alptraumhafte Struktur aus schmerzlich schönen Bildern und Tönen, sein rätselhaftes, mysteriöses Geschehen und seine surrealistische Formensprache machen ihn zu einer visuellen Sinfonie des Grauens und der Lust. „Amer“ von Hélène Cattet und Bruno Forzani setzt die Regeln des konventionellen Erzählkinos außer Kraft, verzichtet dabei weitgehend auf Dialoge und eine chronologische Handlung und ähnelt darin eher einem Experimentalfilm. Dazu kommt noch, dass die beiden Filmemacher leidenschaftliche Verehrer des italienischen Giallo-Films der siebziger Jahre sind, also jenes von Mario Bava, Dario Argento, Sergio Martino und Lucio Fulci kreierten Genres, das Eros und Thanatos mit den Mitteln eines hyperbolischen Kinos vereint. So sorgen auch in „Amer“ Großaufnahmen, ungewöhnliche Perspektiven, Zooms, eine eigenwillige Farbdramaturgie, ein ausgefeiltes Sounddesign und eine hohe Schnittfrequenz für extreme Stilisierung; und damit leider auch für einen Formalismus, der mitunter allzu abstrakt wirkt.

Inhaltlich arrangieren Cattet und Forzani ein düsteres Triptychon aus sexuellem Begehren, unerfüllter Lust und Tod. Dafür tauchen sie mit ihrem symbolgeladenen Film ein in die unheimliche Welt einer alten Villa auf einer Klippe über dem Meer, wo die kleine Ana (Cassandra Forêt) mit dem Tod ihres Großvaters konfrontiert wird. Neugierig schleicht sich das Mädchen durch dunkle Gänge und verschattete Zimmer, blickt durch Schlüssellöcher und erhascht immer wieder eine schwarz gekleidete Gestalt, die sie verfolgt und bedroht. Die Störung der Totenruhe geht hier einher mit der Entdeckung der elterlichen Sexualität, die für Ana zum Trauma wird.

Vom dichten, schwer erträglichen Horror dieses ersten Teils wechselt der Film zur gedehnten Zeit des Italo-Western: Ana (Charlotte Eugéne-Guibbaud), jetzt eine attraktive Teenagerin mit allen Zeichen sinnlicher Lust, wird zum sexuellen Objekt des Begehrens. Motorräder heulen auf, zwischen Leder und Schweiß wächst die Gier, bis sie förmlich aus den Hautporen dringt. Doch auf die Verführung folgt die mütterliche Strafe und das Begehren bleibt unerfüllt. Erst im letzten Teil, in dem die erwachsene Ana (Marie Bos) in das verlassene Haus ihrer Kindheit zurückkehrt, bricht etwas auf, um sich auf beunruhigende Weise wieder zu verschließen. Zwischen ekstatisch-orgastischem Geschwindigkeitsrausch und pathologischer Autoerotik, zwischen wilden Träumen und bedrohlichen Traumata vollzieht sich ein faszinierend montierter Exzess der Gewalt aus Schnitten ins Fleisch und aufbrechenden Wunden, mit dem die beiden Filmemacher Hitchcock und Buñuel ihre Referenz erweisen. „Amer“ ist ein verstörender Horrorfilm über unerfüllte Sexualität und die dunkle Seite der Lust.

I’m not a f**king Princess

(F 2010, Regie: Eva Ionesco)

Glamourös und traurig
von Wolfgang Nierlin

Es ist ein dunkles Reich, das die Künstlerin Hanna (Isabelle Huppert) bewohnt: Umgeben von schwarzem Satin und Symbolen des Todes, dazu noch mit Blick auf einen Friedhof, pflegt die angehende …

Es ist ein dunkles Reich, das die Künstlerin Hanna (Isabelle Huppert) bewohnt: Umgeben von schwarzem Satin und Symbolen des Todes, dazu noch mit Blick auf einen Friedhof, pflegt die angehende Fotografin einen antibürgerlichen, nonkonformistischen Lebensstil. Gewandet in extravagante, schrille Kleidung, wettert sie gegen das Mittelmaß der Spießer und predigt das Hohelied einer Kunst, die heilig sei. Ihr schillerndes Wesen vereint Wahn und Geltungssucht, Reizbarkeit und das Bedürfnis, anders zu sein. Das alles verträgt sich wenig mit ihrer Mutterrolle, die sie an die Oma abgegeben hat und erst wieder „entdeckt“, als ihre 12-jährige Tochter Violetta (Anamaria Vartolomei) zu ihrem Modell wird. Fortan beginnt sie, das Kind in einem Ambiente aus morbider Erotik als laszive Verführerin zu inszenieren. Auf den Spuren von Bataille, Balthus und Bellmer avanciert sie als „Päpstin der Erotik“ bald zum Star der Pariser Kunstszene.

Gegenüber dem exzessiven und in schillernden Dekors gezeichneten Künstlerportrait fällt die Geschichte eines Missbrauchs, um den es in Eva Ionescos Debütfilm „I’m not a f**king Princess“ eigentlich geht, etwas zurück. Die als Schauspielerin bekannt gewordene Regisseurin verarbeitet darin ihre eigenen (traumatischen) Erfahrungen als Modell ihrer Mutter Irina Ionesco, die in den 1970er Jahren mit kunstvoll stilisierten, in barocker Dekadenz schwelgenden Fotos ihrer damals minderjährigen Tochter Eva Erfolge feierte. Als „giftige Blume“, ebenso glamourös wie traurig, inszeniert auch Hanna, von Ehrgeiz und Besessenheit getrieben, ihre Tochter Violetta, indem sie ihr mondäne Kleider anzieht und sie mit düsteren Accessoires schmückt. Doch hinter der behaupteten abgöttischen Liebe und Verehrung verbergen sich eine ausbeuterische Selbstsucht und die Unfähigkeit, ihrer Mutterrolle gerecht zu werden. Hanna überschreitet Grenzen und ist selbst, so wird immer deutlicher, Opfer einer Grenzverletzung.

Bei Violetta wiederum führen die Übergriffe und Tabuverletzungen immer deutlicher zu einer gestörten Selbstwahrnehmung. Indem sie mehr unbewusst die fotografischen Inszenierungen in ihr normales Leben integriert und auf fast selbstverständliche Weise ausdrückt, gerät sie zunehmend in Konflikt mit ihrer (schulischen) Umwelt. Die Differenz zwischen Realität und Abbild, die ihre Mutter für die Freiheit der Kunst in Anspruch nimmt, ist ihrem Gefühl noch nicht eingeschrieben. Und gerade an dieser Nahtstelle verliert sich – in der Darstellung nicht ganz unproblematisch – auch Eva Ionescos Anliegen, von einer gestohlenen Kindheit, den Wirkungen körperlicher Ausbeutung und einer problematischen Mutter-Tochter-Beziehung zu erzählen. Denn ihr Film folgt keinem realistischen Konzept, das auch eine psychologische Entwicklung der Figuren integrieren würde, sondern eher der von Märchenmotiven inspirierten Darstellung einer Befreiung. Und dafür verlängert Eva Ionesco den Exzess fotografischer Inszenierung in die perfekten Bilder ihres Films.

Hugo Cabret

(USA 2011, Regie: Martin Scorsese)

Träume werden aus Filmen gemacht
von Siegfried König

Das Thema scheint in der Luft zu liegen. Ähnlich wie Michel Hazanavicius in seinem „The Artist“ sucht auch Martin Scorsese in seinem neuen Film eine Auseinandersetzung mit der Frühzeit des …

Das Thema scheint in der Luft zu liegen. Ähnlich wie Michel Hazanavicius in seinem „The Artist“ sucht auch Martin Scorsese in seinem neuen Film eine Auseinandersetzung mit der Frühzeit des Kinos. Doch anders als sein französischer Kollege verwendet er nicht die Form des Stummfilms, sondern nutzt ganz im Gegenteil mit 3D die neuesten technischen Möglichkeiten.

Der Film beginnt mit einer grandiosen Kamerafahrt über die Dächer des verschneiten Paris, fährt auf einen Bahnhof zu und steuert den Zuschauer durch die Menschenmenge in der Bahnhofshalle. Fast möchte man glauben, die entfesselte Kamera sei neu erfunden worden. Dieser Beginn zeigt, dass hier ein Filmemacher am Werk ist, der begriffen hat, wozu die 3D-Technik genutzt werden kann. Aber ist dieser Film wirklich von Martin Scorsese? Die letzten Zweifel verschwinden erst, wenn die lange Kamerafahrt ihr Ziel erreicht: Zwei Augen, die aus einem Versteck im Inneren der riesigen Bahnhofsuhr das bunte Treiben unter ihr beobachten. Diese Augen ziehen sich wie ein Leitmotiv durch den ganzen Film. Die Assoziation zu einer ähnlichen Szene am Beginn von „Goodfellas“ stellt sich fast zwangsläufig ein. In beiden Fällen gehören die Augen einem halbwüchsigen Knaben, der das Leben, von dem er ausgeschlossen ist, beobachtet, als sähe er auf eine Bühne oder eben auf eine Leinwand. Und wie man von Martin Scorsese weiß, haben diese Szenen einen biografischen Kern, denn ebenso stand der junge Martin, dessen Krankheit ihn zum Stubenhocker verurteilte, einst am Fenster der elterlichen Wohnung in Little Italy und verfolgte das Treiben auf der Straße.

Die Perspektive des heimlichen Beobachters, eine Rolle, die auch der Kinobesucher einnimmt, weckt Assoziationen an einen anderen Klassiker der Filmgeschichte, an Alfred Hitchcocks „Fenster zum Hof“. Und wie dort gibt es auch in „Hugo Cabret“ eine Reihe von wiederkehrenden Szenen, die Geschichten in der Geschichte erzählen: Ein alter Mann, dessen Avancen für eine alleinstehende Dame regelmäßig an der Bissigkeit ihres Hündchens scheitern, oder die scheue Liebe des kriegsversehrten Bahnhofinspektors für die hübsche Blumenverkäuferin.

Die eigentliche Geschichte ist jedoch die des Waisenjungen Hugo Cabret, der die Uhren des Bahnhofs in Gang hält. Lange Zeit weiß niemand davon, dass der Junge allein ist, und sein Versteckspiel vor dem Bahnhofsinspektor, eine sehr untypische aber gelungene Rolle für Sacha Baron Cohen, dominiert die Handlung in der ersten Hälfte des Films, bevor sich später sein Fokus verschieben wird.

Hugo lebt in einer Welt hinter der Welt, er lebt in den Räumen und Gängen hinter und über der Bahnhofshalle. Er bewegt sich zwischen den Rohren und gigantischen Zahnrädern, die diese Welt am Funktionieren halten. Damit nicht genug, ist sein eigentlicher Lebensinhalt ein Schreibroboter, ein mechanischer Mensch, den er von seinem verunglückten Vater erbte und den er reparieren will. Die nötigen Teile stiehlt er im Vorbeigehen bei einem alten Spielzeughändler (Ben Kingsley), bis er eines Tages ertappt wird und der Händler ihm das Notizbuch seines Vaters wegnimmt. Bei seinen Versuchen, das Buch zurückzuerhalten, findet Hugo die Unterstützung von Isabelle, der Pflegetochter des Alten, einer Waisen und Außenseiterin wie er selbst. Die beiden Kinder, denen das Leben eine unbeschwerte Kindheit verweigerte, lieben das Abenteuer und ziehen die Welt der Fantasie der öden Wirklichkeit vor.

Eines Nachmittags schleichen sich Hugo und seine Freundin in ein Kino, wo gerade Harold Lloyds „Ausgerechnet Wolkenkratzer“ läuft, mit der berühmten Szene, in der Lloyd an einem Uhrzeiger über den Straßenschluchten baumelt. Es ist wahrscheinlich unnötig zu erwähnen, dass wenig später Hugo ebenso an einem riesigen Zeiger der Bahnhofsuhr über den Straßen von Paris hängen wird.

Sein eigentliches Thema findet der Film, wenn der Zuschauer erfährt, dass der alte Spielzeughändler niemand anderes ist als Georges Meliés, der Pionier des Kinos. Doch Meliés ist zur Zeit der Handlung, Anfang der dreißiger Jahre, weitgehend vergessen, und schlimmer noch, er verdrängt seine Vergangenheit so erfolgreich, dass er selbst sie vergessen zu haben scheint. Die Verbindung zwischen Hugo Cabret und Meliés ist vielschichtiger als es zunächst den Anschein hat, wobei dem Maschinenmenschen im wahrsten Sinn des Wortes eine Schlüsselrolle zukommt. Diese Zusammenhänge aufzudecken und Meliés die ihm gebührende Stellung zu verschaffen, ist das Thema der zweiten Hälfte des Films.

Ganz nebenbei präsentiert Scorsese einen regelrechten Kurs über die Anfänge des Kinos. Der Zuschauer bekommt Ausschnitte aus den klassischen Werken der Frühzeit des Mediums geboten: Szenen von den Brüdern Lumiere bis Charles Chaplin, Ausschnitte aus „Intolerance“, „The General“, „Doktor Caligari“, und anderes mehr. Der Schwerpunkt liegt natürlich bei den Werken von Georges Meliés. Der Film hat die Macht, Träume zu fangen und zu erzeugen, erfahren Hugo und Isabelle.

Bei den Stichworten Traum und Magie fallen die Motive des Films zusammen und verschränken sich: Das Innenleben bewegter Maschinen und die Herstellung künstlichen, mechanischen Lebens auf der einen, das Kino als realisierter Traum und die Herstellung dieser Träume mit Illusionsmaschinen auf der anderen Seite. Der Zuschauer lernt in Rückblenden Meliés als Zauberer und Regisseur kennen, der mit seinen Maschinen Illusionen erzeugt. „Hugo Cabret“ ist ein sehr persönlicher Film, vielleicht sogar der persönlichste seit „Hexenkessel“. Denn Scorsese erzählt hier über seine Leidenschaft für das Kino, die größte Maschine zur Herstellung von Illusionen und Träumen, die es jemals gab. Und er tut es, ohne auf irgendwelche Erwartungshaltungen Rücksicht zu nehmen. Denn das hat er schon lange nicht mehr nötig.

„Hugo Cabret“ basiert auf dem gleichnamigen Kinderbuch von Brian Selznick und auch im Trailer wird er als Kinderfilm präsentiert. Doch dies halte ich für ein Missverständnis, das die falschen Leute ins Kino locken oder zumindest falsche Erwartungen wecken könnte. Wer einen typischen Familienfilm erwartet, wird zu wenig Action und zu wenige Lacher finden, vielleicht gar die die filmhistorischen Einschübe als Bremse empfinden. Manchen Cineasten dagegen könnte der Film zu verspielt sein.

Martin Scorsese wendet sich mit seinem „Hugo Cabret“ an ein Publikum, das den Film als kunstvolles Medium mit ganz eigenen Gesetzen begreift und sich nicht einfach von seinen Illusionen vereinnahmen lässt, das aber bei allem Wissen über die Technik die Freude des kindlichen Staunens noch nicht verloren hat, oder sich zumindest manchmal nach dieser Unbefangenheit zurück sehnt.

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Die Thomaner

(D 2011, Regie: Paul-Ludwig Smaczny, Günter Atteln)

Verunglückte Adidas-Streifen
von Andreas Thomas

„Herz und Mund und Tat und Leben“: Ganz Programm ist der Kantatentitel und Untertitel des Dokumentarfilms über das Leben und Arbeiten im Leipziger Thomanerchor. Und ganz Bach ist er. Johann …

„Herz und Mund und Tat und Leben“: Ganz Programm ist der Kantatentitel und Untertitel des Dokumentarfilms über das Leben und Arbeiten im Leipziger Thomanerchor. Und ganz Bach ist er. Johann Sebastian Bach besitzt wohl kaum an einem anderen Ort der Welt heute noch eine größere Präsenz als an seiner Wirkungsstätte als Kantor der Thomaskirche von Leipzig von 1723 bis 1750.

Und doch feiert der Thomanerchor in diesem Jahr seinen 800. Geburtstag, und die angegliederte „Thomas“-Schule gilt als älteste Schule Deutschlands. 800 Jahre ungebrochene Tradition ist das Thema und zum Gutteil auch Methode dieser Dokumentation der auf Musikfilme und Musikerportraits spezialisierten Autoren und Regisseure Günter Atteln und Paul-Ludwig Smaczny. Methode, weil kaum etwas an den „Thomanern“ die Pfade herkömmlicher Dokumentationen zu verlassen wagt. Alles, von der Chronologie der Ereignisse während eines Jahres im Thomaner-„Alumnat“ angefangen, bis zur augen- und hirnschonenden Bildkadrierung, ist ästhetischen und ordnenden Kriterien unterstellt, die, positiv ausgedrückt, vertraut wirken. Aus Bewährtem muss nun nicht zwangsläufig Langweiliges erwachsen, und „Die Thomaner“ ist tatsächlich ein runder Film geworden, der beides weniger hinterfragt als bestätigt: Die Tradition der guten alten Thomaner und die Tradition des guten alten Dokumentarfilms.

Ein Film, beginnend mit Abschied und Ankunft. Das tränenreiche Ausscheiden der jungen Abiturienten nach acht oder neun Jahren und die aufregende Aufnahmeprüfung der 10-jährigen Jungen stehen am Anfang und am Schluss dieser ein Jahr dauernden Observation. U.a. steht die Frage im Raum: „Wie cool kann ein Thomaner sein?“ und dass die Leipziger Externen sie als „Thomaner-Schwulies“ bezeichnen, scheint schwer vermeidlich, obgleich, wer sie besser kennt, wie die Freundin eines Thomaners, weiß, dass sie hetero und nett sind und lustig und es nie langweilig mit ihnen wird. Sie tragen zwar fast durchweg uncoole Frisuren und das Muster an den Krägen ihrer Trikots sieht so aus wie verunglückte Adidas-Streifen, dennoch muss ihrer Gemeinschaft etwas Besonderes zu eigen sein, was die Schüler und Chorknaben dazu bringt, z.B. sogar den Weihnachtsabend lieber im Internat als bei ihren Eltern zuhause zu verbringen. Überhaupt können sich die Thomaner nicht entscheiden, was für sie eher ihr Zuhause ist, der „Kasten“, wie das Alumnat genannt wird, oder das Elternhaus.

Ein bisschen rätselhaft bleiben uns die Thomaner, denn so ganz schafft der Film es nicht, die wichtige Frage zu beantworten, was denn am Thomanerdasein so aufregend ist, sodass einige derer, die das Internat verlassen, meinen, eine so schöne Zeit im Leben nie mehr erleben zu werden. Aber der Film zeigt einen straff durchorganisierten und mit Arbeit durchsetzten Stundenplan und „Thomasser“, wie sie intern genannt werden, die sich fragen, wie denn die Externen die ganze Zeit nach Schulschluss ab 15:30 Uhr verbringen mögen, wenn diese doch nicht vollgestopft ist mit Chorproben (jede Woche muss eine neue Kantate erlernt sein), Klavierstunden, Hausaufgaben und dem Fach Stimmbildung. Natürlich kreist der Internatsbetrieb um die Musik, den Chor, der Bach-Kantaten, -Motetten und -Passionen übt oder aufführt. Wir sehen Kinder als Kinder, so etwa beim Fußballspielen gegen den Kreuz-Chor, Dresden, und Kinder als Künstler: Der Film begleitet eine Gruppe Auserwählter auf ihre Auslandstournee, São Paulo, Montevideo, Buenos Aires mit der ausnahmsweisen Lizenz zur „Divenhaftigkeit“. So nennt es der Kantor Georg Christoph Biller, der mit seinen langen geföhnten Haaren ein wenig aussieht wie eine Kreuzung aus Rudolph Mooshammer und Johann Sebastian Bach. Eine Lizenz, weil sie sie sich als Teil von etwas Besonderem fühlen dürfen, ein Gefühl, das mitunter „ein Leben lang vorhält“, ein „geiler Moment“ sagt einer von den Älteren, sei es, wenn sich der Chor erhebt und das Publikum frenetisch applaudiert. „Geil“, eben, die Thomaner sind trotzdem ganz normale Jungs, auch wenn sie Goldkehlen besitzen.

Da wo die Bachfrage dominiert, da liegt die Glaubensfrage nicht weit. Der Thomanerchor steht zwar unter der Trägerschaft der Stadt Leipzig, seine Hauptaufgabe allerdings ist eine kirchliche, nämlich das gesangliche Begleiten der Gottesdienste. Gern gesehen ist, wenn die Thomanerjungen christlich orientiert sind, aber etwa ein Drittel kommt zunächst konfessionslos oder fremdkonfessionell, jedenfalls nicht protestantisch in die „Familie“. Sichtlich bewegt berichtet jedoch Thomaskantor Biller, wie die Musik von Bach und das Leben im Alumnat immer wieder bekehrende Wirkungen erzielen.

Nur ein junger Mann erzählt, dass das mit dem Glauben bei ihm nicht so recht funktioniere, auch hadert er ein wenig mit seiner Internatsvergangenheit, weil er so nicht mehr die Entwicklung seiner eigenen Familie verfolgen konnte und bei manchen tritt zum Ende ihrer Internatszeit und zum Anfang ihres Erwachsenenlebens so etwas wie Ratlosigkeit auf: vielleicht kein Wunder, wenn das Leben vorher so schön geordnet und gefüllt war. Aber, als wolle er uns beruhigen, zeigt der Film vor dem Abspann noch auf Texttafeln, was aus drei Jungs geworden ist, alle streben sie ordentliche Berufe an, und überhaupt haben die Thomaner traditionell immer die besten Abiture gemacht.

Da sind Thomaner-Pannen wie die „Prinzen“ wohl doch und hoffentlich eher die Ausnahme und nicht Konsequenz. Jedenfalls interessant, dass diese Ex-Thomaner sich offenbar nicht aus ihrer Gemeinschaft lösen wollten und sozusagen als kleine „Thomanergruppe“ zusammenblieben – um dann eine einigermaßen geschmacklose Popmusik zu machen. Tja, sehr cool sind sie wahrscheinlich wirklich nicht, die Thomasser, und Stilbildung scheint nicht wirklich zum Hauptpensum ihrer langen Tage zu gehören, aber sowas wie Style ist sowieso Teufelszeug, nicht wahr, Herr Bach?

Faust

(RU 2011, Regie: Alexander Sokurow )

Flanierender Hungersmann
von Wolfgang Nierlin

Als „Flaneur des Lebens“ und als „Hungersmann“ charakterisiert Alexander Sokurov den Titelhelden seines frei nach Goethe verfilmten „Faust“. Eingangs seines anspielungsreichen, Allgemeingültigkeit beanspruchenden Films, der nach „Moloch“, „Taurus“ und „Die …

Als „Flaneur des Lebens“ und als „Hungersmann“ charakterisiert Alexander Sokurov den Titelhelden seines frei nach Goethe verfilmten „Faust“. Eingangs seines anspielungsreichen, Allgemeingültigkeit beanspruchenden Films, der nach „Moloch“, „Taurus“ und „Die Sonne“ den Abschluss der sogenannten „Tetralogie über die Macht und das Böse“ bildet, seziert der Professor (Johannes Zeiler) unter Mithilfe seines Famulus Wagner (Georg Friedrich) und mit ausladenden Gesten eine Leiche, um in den blutigen Eingeweiden nach dem Sitz der Seele zu suchen. Hemdsärmelig, rustikal und schnoddrig geht es dabei zu; und auch ein bisschen geschwätzig, denn Faust hüllt seine Sinn- und Erkenntnissuche in ein permanentes philosophisches Gemurmel. Diese Redundanz hat allerdings Methode: Sie beschreibt einen Forscherdrang, der immer weiter macht, ohne etwas zu begreifen oder gar irgendwo anzukommen. Faust wird einfach nie satt. Also konstatiert er: „Alles wie immer.“

„Am Anfang war das Wort“, wiederholt Faust immer wieder den ersten Vers des Johannes-Evangeliums, ohne seinen Sinn zu verstehen; bis ein gewisser Mauricius alias Mephisto (Anton Adassinsky), ein undurchsichtiger Wucherer von unförmiger Gestalt, etwas linkisch auf der Szene erscheint und seine Theorie des Ursprungs formuliert: „Am Anfang war die Tat.“ Also schleppt der dunkle Nihilist und selbsterklärte Übermensch den verwirrten Gelehrten durch die engen Gassen einer verwinkelten, sepia getönten Stadt, in der es burlesk und wüst zugeht. Sie landen unter lauter Frauen im Badehaus, wo Faust mit geilen Blicken die junge schöne Margarete (Isolda Dychauk) und Mauricius seinen entstellten Körper enthüllt; im Auerbachschen Keller geraten sie in ein wildes Trinkgelage und in einen bizarren Streit, an dessen Ende Faust schuldig wird am Tod von Margaretes Bruder. Und so wird eine Beerdigung zum blasphemischen Ausgangspunkt einer (sexuellen) Verführung, die männliches Machtstreben widerspiegelt.

Ziemlich innerweltlich ernüchtert sich für selige Augenblicke Fausts Suche nach Transzendenz auf dem Boden körperlicher Tatsachen. Dass er dafür seine Seele verkauft und den teuflischen Kontrakt mit seinem Blut zeichnet, ist nur ein weiteres ironisches Detail dieser schweifenden Suchbewegung, die an kein Ziel findet. Sokurov filmt die Atemzüge dieses merkwürdigen Schwankens mit der Steadicam, lässt die fast farblosen Bilder ins Halluzinatorische verschwimmen und erzeugt eine eigenwillig fremde Atmosphäre voll grotesker Verzerrungen und Symbole. Die Wissenschaft sei nur ein Mittel, die Leere auszufüllen und alles Vergängliche nur Gestank, sagt einmal der große Verneiner Mauricius. Am Ende entledigt sich ein entfesselter Heinrich Faust seines allzu menschlichen Förderers (beziehungsweise das Geschöpf seines Schöpfers), um sich einer zweifelhaften Freiheit gegenüber zu sehen, die als weites, kaltes Geröllfeld vor ihm liegt und sinnlose Wanderschaft verheißt.

The Artist

(F / B 2011, Regie: Michel Hazanavicius)

Bildgeklingel
von Andreas Thomas

„The Artist“ ist, das muss man sagen, ein Wohlfühlfilm. Ein Film, gegen den man nichts haben kann, weil er niemandem wehtun, sondern allen wohltun will. Das Leben jenseits des Kinosessels …

„The Artist“ ist, das muss man sagen, ein Wohlfühlfilm. Ein Film, gegen den man nichts haben kann, weil er niemandem wehtun, sondern allen wohltun will. Das Leben jenseits des Kinosessels ist hart genug. „The Artist“ ist ein großer, unterhaltsamer Spaß, ein fantasievoller, einfallsreicher, ein augenzwinkernder Film über die Zeit, in der der Stummfilm endete und der Tonfilm begann. Der Film ist eine gelungene Demonstration dessen, wie gut man heute Filme drehen kann, die so aussehen wie von „damals“ – ein für die Kundschaft von heute übrigens quasi nicht vorhandenes Damals, weil die aktuelle Kundschaft jemals weder einen Stummfilm noch einen frühen Tonfilm gesehen hat.

„The Artist“ ist für die meisten seiner Kunden sozusagen eine Zusammenfassung dessen, was man so glaubt, was so ein Stummfilm eben so war. Ich schreibe „Kunden“, weil der Film sich in erster Linie zu verkaufen anschickt und das auch ganz gut versteht. Der Film wendet sich nicht an eine Blockbusterkundschaft, eher an jene, die von einem Kinoerlebnis auch ein wenig „Tiefgang“ und „Poesie“, in diesem Fall die Poesie der Stummfilmära, oder eben das, was man so dafür hält (gleichwohl es nicht schlecht kopiert ist), erwartet, und eben auch bekommt, jedenfalls das, was sie so glaubt, was das sein muss. Eine ziemlich strunzige Rahmengeschichte und eine Lovestory, wie sie eigentlich heutiger nicht sein könnte, weil es fast nur um Karriere(n) geht und eine ganze Menge ziemlich verspielter Gags, die keinen weiterbringen, aber das müssen sie ja auch nicht. Der Film spielt geradezu mit der Erwartungshaltung, dass Stummfilme eher unaufregend daher kommen, um aber immer wieder zu zeigen, wie sehr das nicht stimmt, weil „The Artist“ natürlich kein Stummfilm ist, sondern ein Tonfilm, der z.B. extra so tut, als wäre er ein Stummfilm, um uns mit seinem Ton zu erschrecken, und um dann mit diesem Schrecken ganz schrecklich anzugeben.

Angeben, das ist wohl das zentrale Wort: „The Artist“ ruft die ganze Zeit: „Guckt mal, wie echt unser Hauptdarsteller den Errol Flynn nachmachen kann, guckt mal, wie original unsere Hauptdarstellerin Kusshändchen werfen kann, guckt mal, wie gut wir diese angeockerte Schwarzweiß-Filmpatina hinbekommen haben. Diese permanente Hui-Angeberei, dieses dauernde Zurschaustellen seiner nostalgischen Kopierkunst und seiner ach so hinreißenden kleinen Ideen ist das, was „The Artist“ exakt mit Filmen wie „Die fabelhafte Welt der Amelíe“ gemein hat. Der Film ist ein Konglomerat aus publikumsimmanenten Klischees, Kinomythen, Nostalgiebegrifflichkeiten, aufgepowert mit aktuellen technischen Effekten, Gags, Spielereien, welche das dazu aufgelegte Publikum (und es ist sehr dazu bereit, dazu aufgelegt zu sein!) meinen lässt, verzaubert worden zu sein, in eine andere Welt entrückt worden zu sein – und das noch auf kunstvollem, stilvollem, fantasievollem Niveau. Kulturelle Glückseligkeit! Abspannapplaus! Dabei waren wir Zeugen billiger Jahrmarktstricks und die Kernhandlung von „The Artist“ ist dünn, gedehnt und auch widersprüchlich; die Figuren, und das ist vielleicht das Beste, was man über den Film sagen kann, gehen in ihrer Flachheit kaum über ihre melodramatischeren Stummfilmvorbilder hinaus, immerhin ist diese Kopie-Mission erfüllt.

„The Artist“, das muss ich sagen, ist ein Angeberfilm, und ich fühl‘ mich wohl, wenn ich das wenigstens schreiben kann, und ich rate der Kundschaft: Wenn Sie wirklich eine schöne stumme Liebesgeschichte sehen wollen: Gucken Sie sich bitte mal lieber Murnaus „Sunrise“ an.

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Meek’s Cutoff

(USA 2010, Regie: Kelly Reichardt)

Ausweglos im Fremden
von Wolfgang Nierlin

“LOST”. Ein junger Mann ritzt das Wort in Großbuchstaben mit seinem Messer in einen abgestorbenen Baum am Wegesrand. Seit mittlerweile fünf Wochen sind die drei Siedlerfamilien mit ihren Planwagen und …

“LOST”. Ein junger Mann ritzt das Wort in Großbuchstaben mit seinem Messer in einen abgestorbenen Baum am Wegesrand. Seit mittlerweile fünf Wochen sind die drei Siedlerfamilien mit ihren Planwagen und Ochsen unterwegs auf unbekanntem Terrain und haben zunehmend das Gefühl, verloren zu sein. Das Vertrauen in ihren Führer Stephen Meek (Bruce Greenwood), einen Trapper und großspurigen Aufschneider, ist verbraucht. Zweifel und Ungewissheit, Ratlosigkeit und Angst machen sich unausgesprochen unter den ausgezehrten Reisenden breit. Aus Furcht vor Indianern haben sie die Hauptroute nach Westen, den sogenannten Oregon-Trail, verlassen. Doch „die Karten geben nicht viel her“, wie es einmal heißt, und die Hoffnung schwindet. Nur ein unerschütterliches Gottvertrauen und die Solidarität untereinander halten die Siedler aufrecht.

Das alles weiß man als Zuschauer von Kelly Reichardts außergewöhnlichem Western „Meek’s Cutoff“, der von historischen Figuren und Ereignissen inspiriert wurde (und durchaus auch politische Aktualität besitzt), zunächst nicht. Was uns die US-amerikanische Filmemacherin im langsamen, geduldigen Voranschreiten der unspektakulären Handlung, die die Bewegung des Erzählens mit derjenigen des Trecks (manchmal fast wie in Trance) synchronisiert, vor allem zeigt, sind die Mühen und Strapazen des Alltags. Mit genauem Blick verortet Reichardt ihre Protagonisten in der Weite einer nahezu unberührten Landschaft, registriert sie natürliche Grenzen, die mitunter unüberwindlich sind, und folgt dem Gleichmaß der Tage, deren Zeitfluss auch den Rhythmus des Films bestimmt. Der Konzentration aufs Gehen und auf das Dasein in der körperlichen Arbeit, die zwischen den Geschlechtern genau aufgeteilt ist, gilt dabei ihr besonderes Interesse. Und es ist schließlich ein spezifisch weiblicher Blick, der diesen Western so anders macht und damit das Bild der von diesem Genre erzählten Geschichten nachhaltig verändert.

Neben der ebenso kenntnisreichen wie realistischen Alltagsbeschreibung (verdichtet im nahezu quadratischen Academy-Bildformat, das seine Konzentration aufs Jetzt gegen die genreüblichen Cinemascope-Romantisierungen richtet), der Demaskierung von Meeks abenteuerlichen Heldengeschichten und Kelly Reichardts Weigerung, die nackte Existenz ihrer Figuren irgendwie zu idealisieren oder dem Mythos eines erreichbaren Ziels zu unterwerfen, gilt dies vor allem für die Erfahrung der Differenz in der Begegnung mit dem Fremden. Als die Siedler einen Indianer gefangen nehmen, weicht die Dämonisierung des Wilden immerhin zögerlich der Hoffnung, dass der Eingeborene den rettenden Weg zur nächsten Wasserquelle wissen könnte; doch die sprachliche und kulturelle Distanz, genährt von Vorurteilen, Hass und Angst, bleibt nahezu unüberwindlich. Zwar gelingt es der starken, selbstbewussten Emily Tetherow (Michelle Williams), sich dem Indianer zu nähern, doch kann auch sie den Abstand zu ihm kaum verringern. Der Fremde mit seinen Bedürfnissen und Interessen, seinen Absichten und Hoffnungen ist undurchschaubar. Gerade darin liegt die Radikalität von Reichardts Film: Dass er keine Geschichte der Annäherung, der Integration oder gar gelingender Freundschaft erzählt, sondern das die ungewisse Suchbewegung seiner Figuren in eine beunruhigende Ausweglosigkeit mündet.

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Hugo Cabret

(USA 2011, Regie: Martin Scorsese)

Kinozauber
von Harald Mühlbeyer

Martin Scorsese hat einen Kinderfilm gedreht, der sich dem ganz Alten widmet, einen Film in neuester Technik in 3D und mit Digitaltouch, der das Zauberbudenkino der 1900er und 1910er Jahre …

Martin Scorsese hat einen Kinderfilm gedreht, der sich dem ganz Alten widmet, einen Film in neuester Technik in 3D und mit Digitaltouch, der das Zauberbudenkino der 1900er und 1910er Jahre feiert. Scorsese hat eine Hommage an die Magie des Kinos geschaffen, indem er den ersten Magier des Kinos vorstellt und sich aus dem Arsenal des heutigen Inszenierungs-Illusionszauberkastens bedient.

In der Eingangssequenz fliegt die Kamera über das nächtliche, winterliche Paris der 20er Jahre in einen Bahnhof ein, über die Gleise, durch die belebte Halle, hinauf zur Uhr und in eine Großaufnahme des Gesichts von Hugo Cabret, der Hauptfigur. Industrial Light and Magic hat für diesen atemberaubenden Anfang einen eigenen Abspanncredit bekommen, mit diesem rasanten Flug holt der Film Schwung, einen Schwung, der ihm bis zum Ende nicht ausgehen wird.

Hugo, 10 Jahre, ist das Phantom des Bahnhofs, der nicht in unterirdischen Katakomben, sondern in den Gängen hinter den Wänden haust. Er ist der, der die vielen Bahnhofsuhren aufzieht, stellt, wartet. Er hat einen künstlichen Menschen, einen mechanischen Automaten in seiner Kammer stehen, und er beobachtet die Menschen in der Bahnhofshalle, all die Pendler und Reisenden, auch alle, die immer da sind, die Wirtin des Cafés, den Maler, die Blumenverkäuferin und den alten Mann mit den mechanischen Spielzeugen. Der Bahnhof: das ist das Konzentrat der typischen französischen Stadt, wie sie im Kino immer wieder aufersteht: vor dem Café spielen Musiker (ist einer davon Django Reinhardt?), zu denen die Gäste tanzen, zwischen der Wirtin und dem Maler bahnt sich eine Liebesgeschichte an, die nur vom kläffendem Kleinköter verhindert wird, und die Patentochter des Spielwarenhändlers sieht man mit Baskenmütze und Baguette. Nie macht der Film einen Hehl aus seiner Künstlichkeit und Konstruiertheit – es geht ihm ja auch nie um Realität, sondern um den Traum, der das Kino sein kann. Dante Ferretti, der Altmeister der Ausstatter, hat diese Welt designt, und sie ist die Hauptattraktion im ganzen ersten Teil des Films. Ein reiches, lebendiges Panoptikum voller kleiner, lustiger, liebevoller Details.

Die Handlung zu diesem Zeitpunkt: Hugo muss vor dem Bahnhofsvorsteher fliehen – der in einer Mischung aus Keystone Cop und Inspektor Clouseau von Sacha Baron Cohen gespielt wird –, und er will sein Notizbuch zurück, das ihm der Spielwarenhändler (Ben Kingsley als mürrischer alter Mann mit sicherlich goldenem Herzen) weggenommen hat. Dabei lernt Hugo Isabelle kennen, dessen Patenkind, ein Bücherwurm, die auf Abenteuer aus ist – womit das Stichwort ausgesprochen ist, das Abenteuer, der Wunschtraum, in den man versinken kann im Kino. Isabelle liebt Dickens „David Copperfield“, Hugo bekommt vom Buchhändler (Christopher Lee in einer Veteranenrolle) den „Robin Hood“ geschenkt; und sie liefern sich weitere Verfolgungsjagden mit dem Bahnhofsvorsteher, der alle Kinder ins Waisenhaus stecken will, jagen weiter dem Notizbuch nach und versuchen, das Automaton wieder in Gang zu setzen – ein turbulentes Sammelsurium an Haupt- und Nebenhandlungen, von denen auch gerne mal ein paar untern Tisch fallen können. So ist das Notizbuch irgendwann gar nicht mehr wichtig, der mechanische Schreibautomat auch nicht, nachdem er seine Funktion erfüllt hat, und Hugos Erinnerung an den verstorbenen Vater quält ihn auch nicht mehr, denn plötzlich verfolgt der Film eine ganz neue Spur: die von George Méliès.

Méliès, der Traumfabrikant des frühen Kinos, dem die beiden nachspüren, der längst vergessen ist zur Zeit der Handlung, der selbst nicht mehr von sich, von seiner Vergangenheit als Filmemacher wissen will. Vom Kinderabenteuer kommt Scorsese zu einer spielerischen Erforschung der Filmgeschichte, er skizziert kursorisch das Werden und das Wirken von Film, feiert das frühe Kino und damit die Kraft, die in der Filmkunst steckt. Wo die Bahnhofs-Abenteuergeschichte manchmal allzu flott von Action zu Action sprang und mitunter die Emotion vernachlässigte, da ist der Film hier ganz im Einklang mit sich selbst, jetzt, da er sich dezidiert mit dem eigenen Medium befasst.

Präzise und gleichzeitig wie aus einem Traum stellt Scorsese Méliès’ Dreharbeiten nach, im Glasatelier mit Schiebekulissen, Feuerwerk, Bühnenzauber und Kameratricks. Dass diese in 3D geschieht, hat eine eigentümliche innere Notwendigkeit; das frühe Kino und die heutige Technikrevolution werden kurzgeschlossen: denn die Mittel sind austauschbar. Es geht beim Film stets darum, was er auslöst. Wenn ein Zug in den Bahnhof einfährt, dann löst das eine Reaktion aus, ob sich bei einer Vorführung der Lumiere-Brüder in den 1890ern das Publikum vor Schreck wegduckt oder ob nun bei Scorsese der Zug den Prellbock durchstößt, durch den ganzen Bahnhof rast, bis er auf der anderen Seite auf die Straße stürzt.

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Die Frau in Schwarz

(GB / CAN 2012, Regie: James Watkins)

Schwarzer Tod
von Harald Mühlbeyer

Man sollte mal über „Ghost Rider: Spirit of Vengeance“ sprechen, auch wenn der Film nicht der Rede wert ist. Die Comicverfilmung – eine mystisch-verquaste Actionstory – sieht aus wie die …

Man sollte mal über „Ghost Rider: Spirit of Vengeance“ sprechen, auch wenn der Film nicht der Rede wert ist. Die Comicverfilmung – eine mystisch-verquaste Actionstory – sieht aus wie die bewegte Bebilderung von Heavy-Metal-Albumcovern aus den 80ern: Titelfigur ist ein feuerumtoster Totenkopfmann auf einem feurigen Motorrad, der kettenschwingend die Bösewichter bekämpft. Fürs vollends Stilechte fehlen nur noch nackte Frauen an seiner Seite. In diesem Film jedenfalls wird – unsinnig-eklektizistischerweise – unvermutet auch das Cover des Pink Floyd-Albums „Wish You Were Here“ zitiert, der Handschlag mit einem Brennenden – sinnfreie Referenz in einem sinnfreien Film.

Dieser zweite Ghost Rider-Film jedenfalls scheint eine Ära der Schallplattencoververfilmungen einzuläuten. Denn nicht so konkret, aber offenkundig genug wirkt „Die Frau in Schwarz“ wie das filmgewordene erste Black Sabbath-Album. Die schwarzgekleidete Frau vor einer halbverfallenen viktorianischen Villa inmitten eines verwilderten Gartens mit diversem Gestrüpp: das ist die Atmosphäre im Örtchen Crythin Gifford, wo das Anwesen Eel Marsh House, fast unerreichbar auf einer Watt-Insel gelegen, nach dem Tod der Besitzerin verkauft werden soll, und wo sich die Geister umtreiben, angeführt von der Frau in Schwarz: „What is this that stands before me? Figure in black which points at me!”

Dies ist der erste Film mit Daniel Radcliffe in der Hauptrolle nach den Harry Potter-Zeiten. Und wieder kriegt er es mit dem Übernatürlichen zu tun, ist mit dem Zug unterwegs an einen verzauberten Ort – aber nicht von Gleis 9 ¾ aus, sondern eher, wie Jonathan Harker in die Karpaten kutschiert. Er, der Anwalt Arthur Kipps, soll die Formalitäten von Erbschaft und Verkauf regeln. Der Film spielt in den 20ern, Autos und Telefon sind selten, der Aberglaube ist stark und die Traumata, die das Böse in Eel Marsh House heraufbeschworen, liegen erst ein paar Jahrzehnte zurück, in einer Zeit, als auf dem englischen Thron die in Trauerkleidung gewandete Königin saß … Doch es geht weniger um die viktorianische Gesellschaft zwischen Repression und Großmachtsempire als um die ganz persönlichen Trauermomente von verlorenen Ehefrauen und verlorenen Kindern. Der bösen schwarzen Frau ist die weiße Frau der Liebe gegenübergestellt, die Braut von Mr. Kipps, die im Kindbett starb, und dem rachsüchtigen Zorn der Toten die Trauer all derer, die ihre Kinder verloren haben an den Tod, zum Sterben verführt vom schwarzen Geist.

Es gibt die Hammer-Studios wieder, die in den 60er Jahren ihre eigenen stilbildenden Horrorfilme schufen und nun diesen Film produzierten, der den Geist des Unheimlichen hervorruft: höchst atmosphärisch die Ausstattung des Films, sowohl der paar ärmlichen Hütten des Dorfes wie auch des Herrenhauses, vollgestopft mit allerlei Nippes, Figuren, Puppen und Spieldosen. Kaltes, verregnetes, nebliges Wetter in einer kargen Küstenlandschaft, eine Villa auf einer Insel, die nur über einen Fahrweg erreichbar ist, der bei Flut verschwindet – der Hintergrund ist so klischeehaft wie perfekt, wie auch die Schauer- und Schockmomente des Films sich am traditionellen filmischen Repertoire bedienen, aber dennoch funktionieren.

Schatten und unheimliche Geräusche, Gesichter an Fenstern und Figuren in verregneter Nacht, kleine Suggestionen und große Effekte – man weiß, was kommen wird, und erschrickt doch. Das ist die Kunst der Gruselinszenierung. Gut, manchmal wird ein Schatten zu deutlich von unheimlicher Musik begleitet, und zwischendrin wird das allzu ähnliche Auftauchen der Erscheinungen fast eintönig – wie der Song „Black Sabbath“ allzu lange am Tritonus-Riff hängt. Doch der nächste Schock im Film – wie der nächste musikalische Einfall von Black Sabbath – folgt sogleich. Bis „Die Frau in Schwarz“ dann in einem perfekten Ende – soll man es happy nennen? – mündet.

J. Edgar

(USA 2011, Regie: Clint Eastwood)

Das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit
von Harald Mühlbeyer

Leonardo Di Caprio nähert sich mehr und mehr Orson Welles an; nicht nur wegen des scheinbar harmlosen Babyface, hinter dem sich die Subtexte aufstauen, nicht nur, weil er einige wellessche …

Leonardo Di Caprio nähert sich mehr und mehr Orson Welles an; nicht nur wegen des scheinbar harmlosen Babyface, hinter dem sich die Subtexte aufstauen, nicht nur, weil er einige wellessche Manierismen in sein Spiel aufgenommen hat. Die Ähnlichkeit, die Analogie zeigt sich auch und gerade in der Maske des alten Mannes – zwischen dem gealterten J. Edgar Hoover und dem gealterten Kane ist nicht viel Unterschied, maskentechnisch, äußerlich wie auch inhaltlich. Wie Citizen Kane erhebt sich Hoover zum selbsternannten ersten Bürger der Staaten und muss trotz seiner Errungenschaften, trotz allem, was er aufgebaut hat, worauf er stolz ist, unerfüllt sterben, menschlich, sozial, an sich selbst gescheitert.

Die glänzende Karriere und die Macht, die dämonische Mutter und die unerfüllte Liebe, die vollkommene Hingabe an die Berufung und die damit einhergehende Einsamkeit: Clint Eastwood hat alle Elemente versammelt, die für die Dramaturgie eines Biopics wichtig sind, ordnet die Schlüsselelemente eines Lebens geschickt, gibt die großen Linien wieder und spiegelt sie in symbolischen Details, inszeniert die einzelnen Stationen pointiert und mit stetem Widerhall im großen Ganzen – was den Filme auf den ersten Blick den Anschein solider, professioneller, aber auch etwas biederer Konventionalität verleiht. Doch tatsächlich geht Eastwood geschickter vor – anderes wäre auch kaum von ihm zu erwarten gewesen. Dass als Rahmen des Films John Edgar Hoover diversen PR-Kräften des FBI seine Memoiren diktiert, ist mehr als ein Aufhänger für die filmische Aufarbeitung der Biographie eines der mächtigsten Männer der US-Geschichte. Raffiniert nutzt Eastwood die doppelte Erzählebene, um eine Erzählung über das Erzählen selbst einzuflechten.

Die wichtigen Punkte aus Hoovers Leben werden von ihm selbst erzählt, aus seiner Perspektive, im steten Bemühen, den eigenen Mythos auf Papier festzuhalten, für die Ewigkeit festzuschreiben. Und Eastwood erzählt so nicht nur die Biographie, nicht nur den Mythos, sondern auch das Making of. Die Dramaturgie des Films wird zu einem guten Teil von Hoovers Dramaturgie seiner Memoiren bestimmt, die auf Wirkung, auf Selbstüberhöhung setzt. Die deshalb am Anfang auf die Kraft des Geheimnisses um einen aufstrebenden jungen Mann setzen, und die Hoover im Augenblick seines größten Triumphes für vollendet erklärt. Subtil-ironisch lässt sich Eastwood auf dieses hooversche Konzept ein, um damit dessen Selbsterklärung zu brechen; was in einer Szene gegen Ende kulminiert, als einiges von dem, was zuvor gezeigt wurde, als Übertreibung, als Lüge entlarvt wird.

Der selbstgeschaffene Mythos, die Selbststilisierung, die Neuerfindung des eigenen Ich, die Hoover betreibt, sind direkt verknüpft mit seiner Persönlichkeit, damit mit seinen Taten, damit mit seinem Ruf. Hoover ist der, der Law and Order in den USA durchgesetzt hat, durch die Professionalisierung des FBI, durch Durchsetzung kriminaltechnischer Methoden wie Beweissicherung am Tatort, Fingerabdruckkartei, Laboruntersuchungen. Und er ist ein paranoider Kontrollfreak, der ohne Schranken an der Spitze eines selbstgeschaffenen Überwachungsstaates im Staate steht. 48 Jahre war er der Chef des FBI, der Bundespolizeibehörde, die mehr und mehr zum spionierenden Inlandsgeheimdienst wurde; acht Präsidenten hat er erlebt, und er hat ihre Politik kontrolliert. Information ist Macht, katalogisierte Karteien über die Verbrechers des Landes – zu denen potentiell jeder gehören konnte – sind Teil dieses Systems ebenso wie die Geheimakten, die er über allerlei prominente und politische Akteure anlegte. Und die er gezielt einsetzte für die Sache, die er für die richtige hielt.

In Schlaglichtern beleuchtet Eastwood die Karriere, ausgehend von Hoovers Memoirendiktat und ergänzt durch die Szenen, die hinter Hoovers Fassade blicken. Und die ihm doch das notwendige Geheimnis lassen, das ihn als Filmfigur interessant hält: Eastwood erzählt die Figur und ihre Geschichte nie aus, belässt es in einigen Dingen in Andeutungen – Stichwort Transvestizismus.

Dabei hat jede Szenen eine bestimmte Funktion, oder auch zwei oder drei. Wo Eastwood die Selbsterzählung Hoovers schildert, da inszeniert er stets auch eine zweite Sicht, eine eigene Facette mit: eine subtile Vielschichtigkeit, die jeder Szene ihre Pointe gibt, auch ihre ganz eigene Ironie. Wie Hoover nonchalant gegenüber Robert F. Kennedy, damals im Amt des Generalstaatsanwaltes, zu verstehen gibt, belastendes Material gegen dessen Bruder, den Präsidenten, in der Hand zu haben; und wie er nebenbei mehr und bessere Befugnisse gegen die Bedrohungen für das Land, für die Repräsentanten des Staates fordert: ein übler Erpressungsversuch, gerichtet gegen bestimmte liberale Kräfte in USA – bei dem er dann doch recht behalten wird, auf eine ganz andere Weise. Von den Schüssen in Dallas erfährt er dann beim Abhören eines einschlägigen, geheimen Tonbandes – eine Verdichtung von Gegensätzlichem, wie sie typisch ist für diesen Film über einen Protagonisten der gelebten Gegensätzlichkeit. Hoover ist ein Meister der manipulativen Freundlichkeit, der charmanten Nötigung im Dienste der guten Sache – im Dienste dessen, was er als einzig gute Sache erkannt hat: für die Anständigkeit in Amerika, gegen jeden Radikalismus, ob Bolschewisten, Gangster oder Bürgerrechtler; wobei die Definition der Kriterien, was anständig und was radikal ist, selbstverständlich bei ihm liegt.

Eastwood weiß, was er wie erzählen muss: wie sich die Geschichte wiederholt, wenn wieder ein Autokorso mit dem neuen Präsidenten vor Hoovers Fenster vorbeizieht, wenn er wieder in dessen Vorzimmer warten muss. Das Treffen selbst zeigt Eastwood nicht, aber zugespitzt dessen Auswirkungen – entweder mehr Macht für das FBI (und damit für Hoover), oder die Bedrohung des Untergangs. Denn mit Nixon, das weiß Hoover genau, ist ihm ein Konkurrent in Sachen Kontrollparanoia gewachsen, einer, der aus ähnlichem Holz geschnitzt ist …

Drehbuchautor Dustin Lance Black hat mit „Milk“ (Regie: Gus Van Sant) schon bewiesen, dass er sich auf die Biographie schwuler Politiker versteht – und liefert jetzt das Gegenstück zum von Sean Penn gespielten Vorreiter der Gleichgeschlechtlichkeit. Triebunterdrückung, Selbstverleugnung, vollkommene Disziplin, komplette Hingabe an das Amt und Aufgabe des eigenen Ichs sind die Triebfedern für Hoovers Leben. Dass er an seiner Mutter hängt, dass er nicht tanzen mag, schon gar nicht mit Frauen, dass er nur zwei Personen vertraut und sich keinerlei Privatleben, keinerlei Geselligkeit leistet: die Impulse für sein Leben und Denken kommen aus dem Verzicht, Kraft erwacht ihm aus dem Fehlen. Eastwood erzählt nicht wie andere Biopics, die sich um Hoffnung, Zuversicht und Feelgood des Zuschauers kümmern, vom Aufbau der eigenen Kraft und von der Selbstfindung; Eastwood erzählt von Abbau und Selbstverlust.

Die Sekretärin Helen Gandi ist seine Vertraute, ihr hat er mal einen unbeholfenen Heiratsantrag gemacht, stilecht in seinem bibliothekarischen Archiv; und als sie ablehnte, gab er ihr als Liebesersatz eine Arbeitsstelle. Clyde Tolson: mit ihm ist es Liebe auf den ersten Blick, eine Liebe, die sich nie entfaltet, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Naomi Watts spielt glänzend, ebenso wie DiCaprio – was sich besonders heraushebt im Vergleich zu Armie Hammer, der es manchmal etwas übertreibt – und dem als einzigem die Altersmaske nicht richtig stehen mag.

Doch wie schön herausgespielt ist die Szene zwischen Tolson und Hoover im Hotel, beim gemeinsamen Urlaub, im gemeinsamen Zimmer: wie sie sich über Stil und Mode unterhalten, wie dem eine Liebeserklärung folgt und ein heftiger Beziehungsstreit, wie sich dann zwei Männer, die auf Gedeih und Verderb fürs Leben zusammengehören, sich auf dem Boden wälzen, im Kampf innig umschlungen … wie das Platonische ihrer Liebe sich beinahe auflöst …

Sturm

(D / DK 2009, Regie: Hans-Christian Schmid)

Vom Justizproblemfilm zum Frauendrama
von Dietrich Kuhlbrodt

Absprachen im Strafprozess – ein eher dröges Thema. Gericht, Staatsanwalt und Verteidiger handeln ein bisschen Geständnis aus, lassen alles andere unter den Tisch fallen, in Windeseile ist das Urteil da, …

Absprachen im Strafprozess – ein eher dröges Thema. Gericht, Staatsanwalt und Verteidiger handeln ein bisschen Geständnis aus, lassen alles andere unter den Tisch fallen, in Windeseile ist das Urteil da, sechsstellige Beträge sind gespart, der Steuerzahler soll sich freuen. Wer kann daraus um Gottes Willen einen spannenden Film machen? Hans-Christian Schmid („Die wundersame Welt der Waschkraft“) macht daraus sogar einen Aufreger. Die (Hand-)Kamera geht auf die dokumentarische Tour dicht an die beiden Hauptpersonen heran. Die Staatsanwältin und die Belastungszeugin nehmen es persönlich, wie Gerechtigkeit und Sühne der Prozessökonomie Platz machen. Völlig real und mitnichten fiktiv muss das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag – jawohl, darum geht’s hier – mit seinen Prozessen bis 2010 zu Potte kommen. Das besagt die UN-Direktive 1503. Also wird abgesprochen, dass der neue Anklagepunkt gegen den General der jugoslawischen Volksarmee fallen gelassen wird. Und das grade ist der Betrieb eines Vergewaltigungscamps in der heutigen Republika Srpka. Ein Opfer, die bosnische Zeugin Mira, war von Anklägerin Hannah zu einer Aussage überredet worden („Es hört nicht auf, solange Sie wegrennen“). Jetzt setzt Mira in Den Haag ihr Familienglück aufs Spiel, das sie in Berlin gefunden hatte. Und was passiert im Gerichtssaal? Ihr wird das Wort entzogen. Auch Staatsanwältin Hannah verliert den Glauben an die Justiz.

Was wir als Zuschauer dabei gewinnen, behaupte ich mal, ist der Glaube an die Schauspielerinnen Anamaria Marinca und Kerry Fox. In ihrem Spiel wird alles, was Klischee sein könnte, die reinste Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Die Kadrierung ein TV-Format? Nicht wenn die beiden drin sind. Die Dialoge („Ich weiß eigentlich gar nicht, wer du bist“) – blitzgescheit! In Den Haag trecken Nordseewellen an den Strand, okay. Emotionen wollen wallen? – Ihre Körpersprache nimmt sie zurück. Gut, schön, jaja, es mag an der Inszenierungskunst von Hans-Christian Schmid liegen. Chapeau!

Aus einem Justizproblemfilm ein Frauendrama machen und das in einer deutschen Filmproduktion (23/5) – ein starkes Stück. Aber ganz nebenbei ist „Sturm“ auch ein Promofilm für das International Criminal Tribunal for the Former Yougoslavia, das um seine Existenz bangt und jedes Jahr vor der UNO sein Budget erkämpfen muss. Justizpolitisch soll dem Gerichtshof von Bosnien-Herzegowina nach 2010 die volle Kompetenz eingeräumt werden. Das soll, und jetzt wieder zurück zur Filmdramaturgie, sowohl Vergewaltigungsopfer als auch den Zuschauer trösten. Vage die Aussicht. Wird bosnische Sonne das Verbrechen an den Tag bringen?

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 09/2009

Whistleblower – In gefährlicher Mission

(CAN / D 2010, Regie: Larysa Kondracki)

Sisyphos vs. wahre Begebenheiten
von Carsten Happe

„Inspiriert von wahren Begebenheiten“ prangt groß auf dem Cover von „Whistleblower“ und es ist eine ziemliche Bürde für einen Thriller, zumal noch wenn der deutsche Verleih den Allerwelts-Untertitel „In gefährlicher …

„Inspiriert von wahren Begebenheiten“ prangt groß auf dem Cover von „Whistleblower“ und es ist eine ziemliche Bürde für einen Thriller, zumal noch wenn der deutsche Verleih den Allerwelts-Untertitel „In gefährlicher Mission“ addiert und damit die Stoßrichtung bzw. das Excitement vorgibt, das irgendwo zwischen James Bond und Ethan Hunt angesiedelt zu sein scheint und eben nicht im Spannungsfeld von Menschenrechtsverletzungen und UN-Konventionen.

Aber von Anfang an: Die US-amerikanische Polizistin Kathryn Bolkovac verpflichtet sich für einen gutdotierten Halbjahresjob als „Peacekeeper“ beim Beobachtungseinsatz der Vereinten Nationen im Nachkriegsbosnien. Ihre Motive sind zunächst rein privater Natur – auf lange Sicht möchte die Karrierefrau endlich das Sorgerecht für ihre Tochter zurückgewinnen. Das Geld und die bewiesene Flexibilität sollen als Argumente helfen. Im kriegswunden Sarajevo sind jedoch alle taktischen Erwägungen vergessen, schnell eckt sie bei ihren pragmatischen bis desillusionierten Kollegen mit ihrem Engagement insbesondere für die misshandelten und unterdrückten Frauen an. Andererseits weckt ihr Einsatz auch das Interesse der UN-Menschenrechtsorganisation, die Kathryn rasch befördert. Je tiefer sie in die Materie eindringt, umso schmutzigere Wahrheiten kommen zu Tage – schließlich stößt Kathryn auf einen Mädchenhändlerring, der gar von hochrangigen Mitarbeitern der Vereinten Nationen gedeckt wird. Sie ist einem Skandal auf der Spur und wird somit zum titelgebenden „Whistleblower“, indem sie ihre internen Kenntnisse nutzt, um die unfassbaren Geschehnisse öffentlich anzuprangern.

Die kanadische Regisseurin Larysa Kondracki hat sich für ihr Langfilmdebüt eine ganze Menge vorgenommen und ihr aufrichtiges Engagement scheint in jeder Szene durch. Allerdings verlässt sie sich schließlich doch auf eine recht konventionelle Spannungsdramaturgie, die zwar dem Genre, nicht aber dem Sujet eingehender gerecht wird. So bleiben viele Aspekte an der Oberfläche haften, wie etwa ein Subplot, in dem die von Monica Bellucci dargestellte Leiterin einer NGO Kathryn Bolkovac schnöde auflaufen lässt. Wesentlich gelungener geraten dagegen die emotionalen Momente, die sensibel entwickelt sind und einige Male wirklich unter die Haut gehen. Dabei wird Kondracki von einem beeindruckenden Ensemble unterstützt, allen voran den Oscar-Preisträgerinnen Rachel Weisz und Vanessa Redgrave, einem manchmal etwas verloren wirkenden David Straithairn sowie – dank deutscher Co-Produktion – Jeanette Hain und Paula Schramm als Ukrainerinnen (!).

Am Ende jedoch, wenn die letzte Texttafel, die die weiteren Entwicklungen von Kathryn Bolkovac und des vorliegenden Falls darlegt, in den Abspann hinübergleitet, stellt sich das unbestimmte Gefühl ein, ob der Thematik nicht besser ein Dokumentarfilm gedient hätte – die „wahren Begebenheiten“ scheinen immer wieder als akribisch aufzudröselnde Sisyphosarbeit durch, der ein Spielfilm im Allgemeinen und „The Whistleblower“ im Speziellen einfach nicht gerecht wird.

Der Junge mit dem Fahrrad

(B / F / I 2011, Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne)

In Gefahr und größter Not ...
von Carsten Happe

Ein wenig altersmilde sind sie schon geworden, die großen Regisseure des Weltkinos im Jahr 2011. Sei es Martin Scorsese, der mit „Hugo Cabret“ seinen ersten Kinderfilm dreht, Woody Allen mit …

Ein wenig altersmilde sind sie schon geworden, die großen Regisseure des Weltkinos im Jahr 2011. Sei es Martin Scorsese, der mit „Hugo Cabret“ seinen ersten Kinderfilm dreht, Woody Allen mit seinem touristisch-gefälligen „Midnight in Paris“, Aki Kaurismäki mit seiner wundersamen Warmherzigkeit in „Le Havre“ oder Steven Spielberg mit seinem hemmungslosen Pathos in „War Horse“. Auch die Dardennes, belgische Wahlverwandte des britischen Sozialrealismuskinos à la Ken Loach und Mike Leigh, haben die unbarmherzige Härte ihrer Meisterstücke „Der Sohn“ (2002) und „Das Kind“ (2005) ein wenig zurückgefahren und bieten in ihrem neuesten Werk „Der Junge mit dem Fahrrad“ Raum für Hoffnungsschimmer, für Solidarität, gar für Liebe.

Dabei beginnt alles ganz bitter für den 12-jährigen Cyril, einem fast prototypischen Dardenne-Charakter – die Mutter ist verschwunden, der Vater hat ihn in einem Heim zurückgelassen und jeglichen Kontakt abgebrochen. Aber Cyril ist ein Kämpfer, zunächst um sein geliebtes Fahrrad, dann um die Gunst seines Vaters, den er mit seiner ganzen Hartnäckigkeit doch ausfindig macht, aber seine Zuneigung erzwingen kann er dann doch nicht.

Wie Cyril und die Friseuse Samantha, die sich aus zunächst nicht nachvollziehbaren Motiven fortan um den Jungen kümmert, sich schließlich annähern, sich gegenseitig akzeptieren und Vertrauen aufbauen, ist so entwaffnend selbstverständlich erzählt, dass die beeindruckende Präzision der Dramaturgie fast mühelos erscheint. Das Glück währt jedoch nur kurz, Cyril gerät auf die schiefe Bahn und setzt dabei auch die einzige funktionierende Beziehung in seinem Leben aufs Spiel – und auch Samantha offenbart die Abgründe hinter ihrer Maske der guten Fee. Und dennoch, die Chance, dass alles gut ausgehen könnte, dass es wirkliche Perspektiven für die Zukunft gibt, das ist neu im Oeuvre der Dardennes.

Mit genauem Blick rücken sie zwar einmal mehr die Menschen am Rande der Gesellschaft in den Fokus, bewegen sich aber – anders als zuletzt in ihrer bitteren Asylgeschichte „Lornas Schweigen“ – ein wenig auf die Mitte zu. Und mit der populären Cécile de France erlauben sie sich erstmals einen Star in ihren Filmen. Eine Sympathieträgerin, die ihren düsteren Kosmos aufhellt und möglicherweise nachhaltig verändert – so wie Samantha Cyrils vernarbten Panzer aufzubrechen versteht, mit ihrer Beharrlichkeit und Geduld und einer gehörigen Portion Charme.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Martha Marcy May Marlene

(USA 2011, Regie: Sean Durkin)

Natural Born Hippies
von Carsten Happe

„Well she, she’s just a picture / Who lives on my wall / With a smile so inviting and a body so tall / She, she’s just a picture / …

„Well she, she’s just a picture / Who lives on my wall / With a smile so inviting and a body so tall / She, she’s just a picture / Just a picture, that’s all.“ – Mit diesen Zeilen beginnt „Marcy’s Song“, den John Hawkes eines Tages als charismatischer Sektenführer Patrick anstimmt, um das scheue Reh Martha zu becircen. Er nennt sie Marcy May und umschmeichelt sie, bietet ihr Geborgenheit und vermittelt ihr das Zusammengehörigkeitsgefühl mit einer Gruppe Gleichgesinnter, er gibt ihr Halt. Erst spät im Film ist diese vermeintliche Idylle zu sehen, eine auf den flüchtigen Blick unschuldig anmutende Kommune im Wald, friedlebende Hippies womöglich. Dass diese falsche Fährte schon von Beginn an zerstört wird, ist der cleveren Montage von „Martha Marcy May Marlene“ zu verdanken, die die Flucht der jungen Frau aus dem Camp direkt an den Anfang setzt und die extensiven Erinnerungen an die Hinterwäldler-Hölle im weiteren Verlauf einstreut.

Zwei Jahre lang ist Martha ohne Nachricht und Lebenszeichen verschwunden, als sie mit panisch zitternder Stimme bei ihrer Schwester anruft. Sie will nichts davon erzählen, was ihr widerfahren ist, bevor Lucy und ihr Mann sie bei sich aufnehmen, nur die tiefsitzende Verstörung ist ihr anzumerken und eine permanente Angst, die Vergangenheit könnte sich materialisieren und erneut zur fatalen Gegenwart werden. Eine unheilvolle Atmosphäre liegt auch über den Bildern von Lucy und Teds Haus an einem einsamen, nebelverhangenen See, die weitestgehende Stille auf der Tonspur wirkt umso bedrückender. Misstrauen und ehemals unausgesprochene Schuldzuweisungen vergiften die ungeplante Familienzusammenführung und es ist eine perfide Strategie von Regisseur und Autor Sean Durkin, die Momente der vermeintlichen Rettung und Rückkehr zur Normalität so beschwerlich und klaustrophobisch zu zeichnen und sie gleichzeitig mit sonnendurchfluteten Erinnerungen an hoffnungsvolle Anfangstage in der Sekte zu konterkarieren.

Elizabeth Olsen, die weitaus Talentierteste des Clans, füllt ihre erste Hauptrolle aufopferungsvoll und mit beeindruckender Präsenz aus. Ähnlich ihrer Kollegin Jennifer Lawrence aus „Winter’s Bone“ kann man hier ihrer Starwerdung beiwohnen. Und einmal mehr zeigt John Hawkes als Gegenpart sein lange Zeit allzu unterschätztes Talent zum darstellerischen Understatement.

Schleichend nimmt Patrick Besitz von Marthas beziehungsweise Marcy Mays Verstand, ebenso von ihrem Körper, so wie er es bereits bei den anderen Sektenmitgliedern vollzogen hat. In die pazifistisch anmutende Gemeinschaft mischen sich auch zusehends militaristische Züge und unter dem schönen Schein verbirgt sich eine kaum verschlüsselte Manson-Family-Allegorie, die ebenso psychotische Anwandlungen offenbart. Vieles in „Martha Marcy May Marlene“ bleibt unausgesprochen und es ist ein Verdienst der klugen Inszenierung und eines eindrucksvollen Ensembles, dass die Ambivalenzen des Stoffes nicht glattgebügelt werden, sondern eine eigentümlich traumverhangene Faszination in sich tragen.

The Future

(D / USA 2011, Regie: Miranda July)

Absurde Existenz
von Wolfgang Nierlin

Eine große melancholische Vergeblichkeit spricht aus Miranda Julys neuem Film “The Future”, der die Beziehungs- und Lebenskrise eines Paars Mitte Dreißig zur Sinnkrise steigert und diese wiederum in einen unausweichlichen …

Eine große melancholische Vergeblichkeit spricht aus Miranda Julys neuem Film “The Future”, der die Beziehungs- und Lebenskrise eines Paars Mitte Dreißig zur Sinnkrise steigert und diese wiederum in einen unausweichlichen Nihilismus taucht. Die gleich eingangs mit Julys verstellter Stimme aus dem Off in die Dunkelheit sprechende Katze Paw Paw, die an der Pfote verletzt ist und deren Tage gezählt sind, etabliert diese desillusionierte Perspektive. Gefangenschaft, Schmerz und ein resigniertes Warten auf eine unbestimmte Veränderung verdichten ihr freudloses Dasein zur absurden Existenz. Selbst das Jenseits, aus dem sie später mit weiser Stimme spricht, hat sie nicht aus ihrem Käfig befreit, der für Paw Paw („Pfötchen“) fast schon zu einer zweiten Haut geworden ist: „Das Leben ist nur ein Anfang“, sagt die kluge Katze und ergänzt zur Beunruhigung der Adressaten: „Und der Anfang ist vorbei.“

In diesem Anfang stecken die Tanzlehrerin Sophie (Miranda July) und der eine telefonische Computerberatung betreibende Jason (Hamish Linklater), die seit vier Jahren ein Paar bilden, regelrecht fest. Besser gesagt, fläzen sie gelangweilt, ja fast schon lethargisch auf dem gemütlichen Sofa ihrer mit Secondhand-Möbeln ausstaffierten kleinen Wohnung in Los Angeles und überlegen sich mit undeutlich ironischem Unterton, ob sie ihren Zustand durch Bewegung verändern sollten. Doch was wie ein zeitloses Schweben in reiner Gegenwart aussieht und nach müßiggängerischer Freiheit klingt, zeugt in Wahrheit von einer allgemeinen Perspektivlosigkeit und Entscheidungsschwäche. Und dahinter wiederum verbirgt sich die Angst vor dem Erwachsenwerden und der Vergänglichkeit. Sophie und Jason müssten also handeln, tun dies aber nur zögerlich. Immer wieder inszeniert Miranda July, unterstützt von einem kongenialen Soundtrack, die Statik dieser Pausen vor dem nächsten möglichen Schritt, in denen sich das Leben wie in Zeitlupe fast schon ins Apathische dehnt.

Dreißig Tage dauert dieser Moment vom Einschlag der Abrissbirne bis zum Einsturz des Gebäudes, wie dies Jason einmal in einem anderen Zusammenhang mit Blick auf die drohende Klimakatastrophe formuliert; dreißig Tage, in denen Sophie und Jason auf ihr „Pflegekind“ Paw Paw warten, Verantwortung übernehmen wollen und deshalb ihre ungeliebten Jobs kündigen und die Internetverbindung kappen. Um Prioritäten zu setzen, beginnt Jason, sich ehrenamtlich in einer Umweltschutzorganisation zu engagieren. Weil der Rest des Lebens scheinbar immer spürbarer wird und der Horror des immer Gleichen droht, was July in einer Montage wechselnder Lebensalter imaginiert, flüchtet sich ihr Alter Ego Sophie in eine Beziehung zu dem älteren Marshall (David Warshofsky). Selbst ein sprechender Mond kann das nicht verhindern. Julys eigenwilliger Humor überschreitet dabei immer wieder die Grenzen zur skurrilen Phantastik und zur Metaphorik des Tagtraums, entwickelt sich daneben aber auch aus wiederkehrenden Situationen und Figuren. So wird Sophie schließlich von einem geheimnisvoll krabbelnden T-Shirt verfolgt, das sie zum Tanz mit sich selbst auffordert. Denn natürlich ist ihre Vergangenheit längst nicht zu Ende und ihre Zukunft steht erst am Anfang.

Spur der Steine

(DDR 1966, Regie: Frank Beyer)

Wie verspielt die Partei die Macht?
von Dietrich Kuhlbrodt

1965 gedreht, diskutiert, abgesetzt, 1990, als alles vorbei ist, gezeigt: Frank Beyers DEFA-Film 'Spur der Steine' DDR, Mai 1965, Außenaufnahmen im Kombinat Schwedt und in Leuna. Manfred Krug, damals 28 …

1965 gedreht, diskutiert, abgesetzt, 1990, als alles vorbei ist, gezeigt: Frank Beyers DEFA-Film 'Spur der Steine'

DDR, Mai 1965, Außenaufnahmen im Kombinat Schwedt und in Leuna. Manfred Krug, damals 28 Jahre alt, spielt den Brigadier Balla. Die aufrechten Sieben von der Zimmermannsbrigade brauchen die volle Breite der Straße. Ein demonstrativer Einmarsch. Das Bildformat – Totalvision, schwarzweiß – ist voll genutzt. So treten die glorreichen Sieben im Cinemascopebild des Western auf; die Zimmermannskluft erscheint als Variante des Westernkostüms, und die Großbaustelle des Industriekombinats ist nicht minder wüst wie die Steppen des fernen Westens. Auch erkennen wir das Männerpathos des Westernfilms wieder; Balla und seine Brigade tun, was Männer tun müssen. Zum Beispiel nackt, aber mit genug Bier im Bauch, in einen See springen, vor einem voll besetzten Cafe, und den uniformierten Offizier der Volkspolizei ins Wasser kippen, eine grobe Disziplinlosigkeit. Oder ist bereits der Film selbst, der, jedenfalls in seinem ersten Teil, sich einer der DEFA bis dahin fremden Ästhetik bedient, eine grobe Disziplinlosigkeit? Nachdem nach Schluss der Dreharbeiten, im Dezember 1965, das 11. Plenum des ZK der SED getagt hatte, war die Antwort ein dogmatisch begründetes Ja, und 'Spur der Steine' verschwand – nach wenigen Aufführungen im Sommer 1966 – zusammen mit fast der ganzen Jahresfilmproduktion der DDR im Keller.

Ein Vierteljahrhundert später läuft 'Spur der Steine' im Kino, ungealtert, unversehrt und hochwillkommen, weil er eine Diskussion anstößt, die gesellschaftlich längst hätte geführt werden müssen, die aber in der DDR, in der es diesen exemplarischen Film gibt, nicht öffentlich war und in der Bundesrepublik nicht vorkam, weil es einen solch exemplarischen Film hier eben nicht gegeben hat. – Am Anfang provoziert Balla, der Sympathieträger, Fragen. Die Brigade kapert Kieslaster, die auf dem Weg zu einer anderen Großbaustelle sind, und dirigiert sie zur eigenen Arbeitsstelle um, dem Rückkühlwerk. Ist das nun eine vernünftige Initiative, weil die eigene Bauleitung unfähig und der Plan fehlerhaft ist? Nach der Aktion kommt die Reflektion, und der Film ändert sein Gesicht. Brigadier Balla, der nicht in der Partei ist, setzt sich mit Horrath, dem Parteisekretär, der nicht orthodox ist, auseinander – auch mit der Bauingenieurin Kati, die Liebe braucht und die Partei schädigt, weil das Dreiecksverhältnis gegen die sozialistische Moral verstößt. Kati ist die einzige, die schließlich die Baustelle verlässt: 'Ich will neu anfangen! Ich habe es satt, mir selbst leid zu tun!'. Balla schwört der Brachialgewalt ('Mit dem Stuhlbein diskutiert es sich leichter!') ab und läutert sich zum bewusst sozialistischen Arbeiter, und über Parteisekretär Horrath, vorschriftswidrig dem außerparteilichen Dreieck verbunden, sitzt die Parteileitung unter dem Vorsitz des gütigen und verständnisvollen Bezirksparteisekretärs Jansen zu Gericht: Ausschluss oder nicht?

Auf der großen Leinwand stellt sich schon bald nichts mehr zur Schau, keine Brigade quer über die Straße, keine Totale auf die Großbaustelle. Wir sitzen stattdessen in engen, niedrigen Räumen an Tischen, Tischen, Tischen. Stets aber am äußersten Ende, das längs in den Vordergrund geschoben ist, subjektiv über die Leinwand hinaus an den Zuschauerplatz. Selbstredend kann es auch ein Tresen sein – mit einem Glas Salzstangen ganz im Vordergrund. Meist liegen jedoch Akten auf dem Tisch, und der Zuschauer wird Augen- und Ohrenzeuge von Parteileitungs- und anderen Sitzungen, von denen eine auf die andere folgt und die zum erstenmal durchsichtig und öffentlich werden. Die Kamera verzichtet auf Finessen, Dunkelzonen und Ausleuchtungen, sie dokumentiert ohne jede Aufregung eine Sitzung, in der offen die offenen Fragen der Republik zur Sprache kommen. Regisseur Frank Beyer, damals 33, hat Schluss gemacht 'mit einer verlogenen Kamera- und Beleuchtungsschule, die die Ufa der DDR hinterlassen hat' (Beyer, 1960). Vielleicht ist es diese Klarheit und Durchlässigkeit, die den Film heute aufregend, der Vernunft zugänglich macht. Wie würden Sie entscheiden? Die Ausschlusssitzung ist in 'Spur der Steine' Rahmenhandlung, aus der Rückblenden in die Geschichte des Dreiecks Balla – Horrath Kati zurückführen: Inaugenscheinnahme, Beweisstücke auf dem Verhandlungstisch. Zum Schluss des Films zerreißt Bezirksparteisekretär Jansen zur großen Erleichterung des Zuschauers die Ausschließungsurkunde gegen den Parteisekretär Horrath, auch wenn dieser nachgewiesenermaßen gefehlt und gesündigt hat. Und da Parteifunktionär Jansen ja keine fiktive Figur war, sondern in dem Bezirksparteisekretär Bernhard Koenen aus Halle sein reales Vorbild hatte, war zum guten Ende die Welt wieder in Ordnung, und die Partei hatte recht.

Aber es war zu viel auf den Tisch gekommen, und die subjektiv plazierte Kamera suggerierte, dass der Zuschauer damit befasst werden sollte, gesellschaftliche Probleme zur Kenntnis zu nehmen, gar darüber zu entscheiden. Dem steuerte nach einigem Hin und Her das offizielle Verständnis des Films als verordnete ('kommandierte') Lebenshilfe-Frage: Jemand wie Balla, ausgezeichneter Aktivist, der aber streikt, wenn die lasche Bauleitung das Schalholz nicht rechtzeitig beschafft, – grenzt man den aus ('Daraus haben Faschisten ihre Helden gemacht') oder macht man ihn zum Verbündeten ('Wir brauchen Leute wie Balla')? Und stellt man diese Frage, weil man Planfetischist ist oder sonst ein Ideal hat ('haben auch die Nazis gehabt')? Worum gehts bei der Frage, ob man so etwas wie den Brigadier Balla isoliert oder nicht? Darum, ob man dabei 'die Macht verspielt oder nicht', sagt der Parteisekretär von 1965. Soll man das, was Mitte der sechziger Jahre zur Entfremdung führt, zu Gunsten eines reinen Bildes des sozialistischen Fortschrittes ausblenden? Oder nicht? Der Film spricht sich dagegen aus. Er registriert, was stört. Das Fernsehprogramm? 'Schalt um!' – Ein Ritterkreuzträger von damals? Ein Arschkriecher von heute! – Warum gehst Du nicht rüber? Um hier das Vernünftige durchzusetzen (und das ist schwer rückgängig zu machen)! – Sozialistische Moral ('Anfälliger Lebenswandel indiziert anfällige Prinzipientreue')? Heilsarmee-Moral! – Den Werkschutz rufen, wenn einer die Initiative ergreift? 'Lass uns doch alle abführen!'

Der Mief, der sich in den sechziger Jahren in der DDR zu bilden beginnt, weil es an Lüftung fehlt, hier bläst ihn ein Film weg, ein Balla, der Flegel, mitten in Berlin, in Gegenwart des Ministers. Balla versucht, sich an Sprachrituale zu halten. Er schafft es nicht. Dafür setzt er gegenüber seiner Brigade und den Kumpels das Dreischichtensystem durch. Aber wenn er seine Rede einübt, 'Hochgeschätzter Herr Minister, Hochwohlgeboren', endet er bei 'Hochwürden', und wenn er so etwas Naheliegendes, aber Unvorhergesehenes erwähnt wie das, was im Plan nicht bedacht ist, dass nämlich das Dreischichtensystem dem Arbeiter weniger Geld einbringt, dann hat das nicht im Manuskript gestanden, sondern ist der freien Rede geschuldet.

Die freie Rede der 'Spur der Steine' führte schließlich dazu, dass der Film der Abgrenzungskampagne gegen 'Abweichungen', die das 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 beschlossen hatte, zum Opfer fiel. Freilich zog sich der Streit ein halbes Jahr hin, bis das Verdikt endgültig war. Denn der Roman von Erich Neutsch, den Frank Beyer mit 'Spur der Steine' verfilmt hatte, war in zwei Jahren zum Bestseller geworden (9 Auflagen) und hatte dem Autor einen Nationalpreis eingebracht. Das Drehbuch hatte Beyer, schon damals mit dem Buchenwald-Film 'Nackt unter Wölfen' und der gesellschaftlichen Komödie 'Karbid und Sauerampfer' einer der talentiertesten und gesellschaftlich höchst geachteten jüngeren DEFA-Regisseure, zusammen mit Karl-Georg Egel, gleichfalls Nationalpreisträger, geschrieben. Dabei war durch die Rahmenhandlung (die Sitzung über den Parteiausschluss) die Rolle des menschlich integren, verständnisvollen und gerechten Parteifunktionärs Jansen weiter aufgewertet worden. – Die Jugendausschreitungen vom Herbst 1965 hatten die Partei jedoch ängstlich gemacht. Offenbar fürchtete sie, dass sich die aufmüpfigen Bürger mit der Figur des damals schon populären, aber sich anarchistisch gebärdenden Manfred Krug identifizieren könnten. Bereits Ende November 1965 ergingen in der Sorge, der Film der DDR vernachlässige seine Aufgabe als 'Lebenshilfe', Anweisungen, denen zufolge die 'freizügige' Darstellung sexueller Themen 'nicht mehr zulässig' war; auch wurde die Darstellung von 'Entfremdung' beanstandet, weil sie der sozialistischen Gesellschaft in der damaligen Periode ihres Aufbaus unbekannt sei. Zwischen Beyer und der neu eingesetzten Studioleitung in Babelsberg entbrannte daraufhin ein monatelanger Kampf um Schnitte sogenannter freizügiger Stellen, der zur Kürzung des Films um dreißig Minuten führte. (Die ostentative Keuschheit, die daher im Dreiecksverhältnis obwaltet, ist heute der einzige Schwachpunkt des Films). Lediglich die Nacktbadeszene, an der keine Frau beteiligt ist, wohl aber ein uniformierter Polizist, blieb jedenfalls in der Schlussfassung erhalten.

Die Tabuisierung der Freizügigkeit war jedoch nur vorgeschoben. Letztlich ging es um das Thema, das 'Spur der Steine' selbst angeschlagen und diskutiert hatte: Wie behält die Partei die Macht? Wie verspielt sie sie? Die Parteiführung meldete sich im Dezember 1965 selbst zu Wort. Erich Honecker griff in dem von ihm auf der Eröffnungssitzung des 11. ZK-Plenums gegebenen Bericht des Politbüros die Position der in diesen Filmen angeblich über der sozialistischen Gesellschaft stehenden 'Beobachter' an, die, indem sie Fehler und Schwächen der DDR-Gesellschaft registrierten, die Position der Feinde des Sozialismus vertreten würden. Kurt Hager brandmarkte die Darstellung der 'Entfremdung' zwischen Individuum und Gesellschaft als Kafka-Imitation, die gegen den Sozialismus und seine Lebenswirklichkeit gerichtet sei. Und Walter Ulbricht wandte sich auf dem Plenum (veröffentlicht am 19. Dezember 1965 im 'Neuen Deutschland') gegen die Meinung, dass man solche Filme zeigen müsse, um sie zur allgemeinen Diskussion zu stellen und damit freie Meinungsäußerung zu ermöglichen. Erziehung der Jugend durch diese Filme? Das Politbüro sage dazu Nein. – Denn diese Diskussion zuzulassen, so formulierte es Hermann Axen, bedeute 'erst das Volk vergiften und dann das Gift wieder rausziehen'.

Die Diskussionen, die in 'Spur der Steine' geführt werden, gingen wie selbstverständlich in die Diskussionen der sozialistischen Wirklichkeit des Jahres 1966 über – mit dem Unterschied, dass diese eben nicht öffentlich werden sollten. Es spricht für die SED, dass sie zur Meinungsbildung ein halbes Jahr intensiver Diskussion brauchte. Noch im Mai 1966 empfahl der neu gegründete künstlerische Beirat der Hauptverwaltung Film des Ministeriums für Kultur 'die baldige Aufführung dieses Werks', wobei über die künstlerische Darstellung der Rolle der Partei der Arbeiterklasse künftig aber 'Beratung' erforderlich sei. Auch das 'Neue Deutschland' registrierte die Uraufführung des Films, die am 15. Juni 1966 als Auftakt der 8. Arbeiterfestspiele in Babelsberg stattfand, positiv. Am 28. Juni, vor der Berliner Premiere, beschloss das ZK des Sekretariats der SED jedoch, den Film zurückzuziehen. Die Begründung war am 6. Juli im 'Neuen Deutschland' nachzulesen. Unter dem Pseudonym Hans Konrad – es sind die Initialen des 'ND'-Kritikers Horst Knietzsch – wurde kritisiert, dass der Film 'Spur der Steine' 'ein verzerrtes Bild von unserer sozialistischen Wirklichkeit, dem Kampf der Arbeiterklasse, ihrer ruhmreichen Partei und dem aufopferungsvollen Wirken ihrer Mitglieder gebe' . – Das war eine Beurteilung, für die ein real existierender Kritiker seinen Namen nicht hergeben mochte.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 07/1990

The Artist

(F / B 2011, Regie: Michel Hazanavicius)

Weniger ist mehr
von Siegfried König

Vielleicht ist es an der Zeit, dass das Kino sich auf seine Ursprünge zurückbesinnt. Ein besserer Anstoß als „The Artist“ von Michel Hazanavicius, ein Film der gleichermaßen unterhaltsam wie intelligent …

Vielleicht ist es an der Zeit, dass das Kino sich auf seine Ursprünge zurückbesinnt. Ein besserer Anstoß als „The Artist“ von Michel Hazanavicius, ein Film der gleichermaßen unterhaltsam wie intelligent gemacht ist, wird sich kaum finden lassen.
Die erste Einstellung setzt das Thema. Sie zeigt einen gefesselten Mann, der mit Elektrostrahlen traktiert wird. Er soll sprechen, verlangt man von ihm, und der Befehl wird als Zwischentitel eingeblendet, denn die übertrieben stilisierte Szene entstammt einem Stummfilm. Die Assoziationen an „Modern Times“ und „Metropolis“ stellen sich fast zwangsläufig ein. Doch er wird nicht sprechen, nicht bevor der Film sein Ende erreicht. Das Bild erweitert sich rasch zu einem Kinosaal mit rauchenden Zuschauern und einem Orchestergraben vor der Leinwand. Es wird deutlich, dass es sich um einen Film im Film handelt.

Was „The Artist“ so bemerkenswert macht, ist seine Konsequenz. Zu einem Zeitpunkt, da CGI und 3D-Technik das Kino unumkehrbar in die Richtung immer spektakulärerer Effekte zu treiben scheinen, setzt Hazanavicius einen Kontrast, der radikaler nicht sein könnte. Dieser Film über die Zeit des Stummfilms ist nicht nur in Schwarz-Weiß, er ist selbst ein Stummfilm, und zwar von Anfang bis Ende. Und dies ist keine Spielerei, sondern Thema und filmische Umsetzung verschmelzen zu einer Einheit. Die einzigen zwei Stellen, an denen der Film Toneffekte einsetzt, reflektieren eben diese Form. „The Artist“ ist damit nicht einfach eine Hommage oder Parodie, es handelt sich um einen wirklichen und wahrhaftigen Stummfilm, der alle filmischen Mittel des Stummfilms souverän nutzt. Das Spiel von Licht und Schatten, die leicht übertriebenen, aber niemals kitschig wirkenden Gesten und Mienen, es stimmt alles.

Die Hauptfigur ist George Valentine, der Held schlechthin, eine Mischung aus Douglas Fairbanks, Errol Flynn und Sean Connery. Der Film spart nicht mit Anspielungen und Zitaten, weder in Bildern noch bei musikalischen Themen. Von „Panzerkreuzer Potemkin“ über „Citizen Kane“, „Singin‘ in the Rain“, „Sunset Boulevard“ bis „Vertigo“ reicht die Spannweite, und es braucht wahrscheinlich ein mehrmaliges Anschauen, um alle Verweise zu finden.

George Valentine befindet sich zu Beginn des Films auf dem Gipfel seiner Karriere. Er ist der bewunderte Star und er genießt seinen Erfolg als etwas Selbstverständliches. Er ist der Größte, der seinen Mitspielern gönnerhaft ein bisschen was vom Ruhm abgibt, aber nur ein bisschen. In kritischen Situationen setzt er sein unwiderstehliches, lausbubenhaftes Lächeln auf. George Valentine ist auf eine ganz unschuldige Weise selbstverliebt, er ist überheblich und liebenswert in einem. Diese Mischung verkörpert der Hauptdarsteller Jean Dujardin, als wäre er für die Rolle geboren.

Inmitten der Fans, die sich vor dem Kino drängen, steht auch die kleine Statistin Peppy Miller, ähnlich gut besetzt mit Bérénice Bejo. Unabsichtlich schubst sie Valentine, und dieses kleine Missgeschick endet mit einem Küsschen auf die Wange, das von einem Fotografen festgehalten wird und am nächsten Tag die Titelseite der Zeitschrift Variety ziert: „Who’s that Girl?“ Mit dieser Schlagzeile als Eintrittskarte gelingt es Peppy eine Rolle in George Valentines neuem Film zu erhalten und einen Moment lang sieht es so aus, als würden die beiden ein Paar. Doch in dem Augenblick, als sie kurz davor sind, sich zu küssen, werden sie unterbrochen, und die Beziehung wird um Jahre verzögert. Begehren, Bewunderung, Wehmut, Verzicht und vorgeblich vernünftige Einsicht fallen in dieser kleinen Szene zusammen. Es sind Momente wie dieser, in denen „The Artist“ seinen ganzen Charme entfaltet. Alle Emotionen und Informationen werden einzig über Blicke, Mimik und Gestik vermittelt und zeigen, dass der Stummfilm eine ganz eigene Kunstform mit einer ganz eigenen Filmsprache war.

In einer herrlich selbstbezüglichen Szene wird das Eindringen des Tons in diese Welt dargestellt. George Valentine sitzt vor seinem Spiegel, als er plötzlich Geräusche und Töne wahrnimmt. Ein Glas klingt beim Hinstellen, das Telefon läutet, sein Hund bellt und draußen hört er Menschen lachen. Dieser Einbruch des Tons als etwas völlig Fremdes und Bedrohliches bringt die ganze Welt ins Wanken und die Kamera gerät in Schräglage. Als eine langsam zu Boden fallende Feder dröhnend aufschlägt, erwacht George. Es war nur ein Alptraum.

Doch seine Welt ist wirklich zu Ende. Er erfährt aus der Zeitung, dass sein Studio alle Stummfilmprojekte eingestellt hat. Die Menschen wollen neue Gesichter, sprechende Gesichter, wie sein Produzent Al Zimmer ihm erklärt. Diese Rolle des gutmütigen Brummbären verkörpert John Goodman, der nie besser war.

Auch Georges Valentines Ehe ist gescheitert, und zwar schon lange. In einer Reminiszenz an die berühmte Frühstücksszene aus „Citizen Kane“ wird die Entwicklung wie in einem Zeitraffer zusammengefasst. Seine wichtigste Bezugsperson ist sein Hund, ein Jack Russel Terrier, der aus dem gleichen Wurf wie Tims Struppi zu stammen scheint. Warum weigerst du dich zu sprechen? fragt seine Frau. Und dies ist der entscheidende Punkt. George hält den Stummfilm für das künstlerisch überlegene Medium, er scheitert nicht aus Unvermögen, sondern aus Stolz. Die Menschen kommen, um mich zu sehen, niemand hat es nötig, mich zu hören, verkündet er trotzig an einer Stelle.

Er dreht einen eigenen Stummfilm, der natürlich ein Flop wird. Und während George Valentine in Vergessenheit gerät, beginnt Peppy Millers steile Karriere zum gefeierten Tonfilm-Star. Während Georges Film vor fast leerem Kino läuft, stehen die Menschen vor Peppys Film Schlange. Die Premiere beider Werke findet am 25.Oktober 1929 statt, dem Schwarzen Freitag.

George wird von seiner Frau verlassen und er muss seinen gesamten Besitz versteigern. Als er vor einer leeren Leinwand sein Schicksal beklagt, verlässt ihn sogar sein Schatten. Einzig sein Hund bleibt ihm treu. Doch auch im Abstieg bewahrt George Valentine Stil. Selbst als er seine Anzüge zum Pfandleiher trägt, gibt er ein großzügiges Trinkgeld. Ganz unmerklich nimmt Jean Dujardin im Verlauf der Handlung seine Darstellung zurück. So wie an die Stelle überschwänglichen Selbstbewusstseins feinsinnige Resignation tritt, so wandelt sich die Figur vom stilisierten Helden zu einer verletzlichen und vielschichtigen Person. Die Mittel des Stummfilms reichen auch dafür vollständig aus.

Auf dem Tiefpunkt angelangt, zerfetzt George in einem Akt der Verzweiflung seine Filmrollen und zündet sie an. Sein Hund rettet ihn im letzten Moment aus den Flammen. Als George entdeckt, dass Peppy Miller schon seit langem heimlich versucht, ihm zu helfen, kann sein Stolz es nicht ertragen, ihre Hilfe anzunehmen.

Der Film spielt kurz mit der Möglichkeit eines tragischen Endes, um dann doch mit einer neuen Perspektive für George Valentine zu schließen, und zwar einer neuen Perspektive in jeder Hinsicht. „The Artist“ endet auf dem Set. Und eigentlich war er nie anderswo.
Hazanavicius‘ Film ist ein tragikomisches Melodram, inszeniert mit ironischer Leichtigkeit und melancholischem Witz. Er ist eine Liebeserklärung an das frühe und stumme Kino, wo ein Lächeln oder ein Winken mehr ausdrücken kann als ein langer Dialog. Dabei wirkt der Film kein bisschen angestaubt, er ist nicht einfach Nachahmung einer vergangenen Epoche, sondern in jedem Moment ironisch gebrochenes Gegenwartskino.

Verblendung

(USA 2011, Regie: David Fincher)

Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
von Harald Steinwender

Gerade einmal zwei Jahre ist es her, dass Stieg Larssons 'Millennium'-Trilogie verfilmt wurde. Damals in den Hauptrollen: Noomi Rapace als geniale Hackerin Lisbeth Salander und Michael Nyqvist als Enthüllungsjournalist Mikael …

Gerade einmal zwei Jahre ist es her, dass Stieg Larssons 'Millennium'-Trilogie verfilmt wurde. Damals in den Hauptrollen: Noomi Rapace als geniale Hackerin Lisbeth Salander und Michael Nyqvist als Enthüllungsjournalist Mikael Blomkvist. Die schwedisch-europäischen Kino/Fernseh-Koproduktionen, als 'amphibische Filme' zugleich im Kino und in erweiterten Fassungen im Fernsehen ausgewertet, waren kommerziell erfolgreich. Auch viele Fans der Romanvorlage waren mit Rapaces tough-herber Salander-Interpretation zufrieden. Leider kamen die Filme von Niels Arden Oplev ('Män som hatar kvinnor' / 'Verblendung') und Daniel Alfredson ('Flickan som lekte med elden' / 'Verdammnis' und 'Luftslottet som sprängdes' / 'Vergebung'; alle 2009) kaum über das Niveau herkömmlicher Fernsehkrimis hinaus. Wirkliche Überraschungen gab es wenige, einzig vielleicht die Härte, mit der die Vergewaltigung der Protagonistin durch einen schmierigen Sozialarbeiter – eben einer der 'Männer, die Frauen hassen' des Originaltitel – im ersten Teil inszeniert wurde. Für mehr – visuell, dramaturgisch, ästhetisch – hätte es der Chuzpe eines Dominik Graf bedurft, der zuletzt in seinem 'Polizeiruf 110' 'Cassandras Warnung' (2011) genrekundig Anspielungen auf italienische Gialli wie Aldo Lados 'Chi l’ha vista morire?' ('The Child – Die Stadt wird zum Alptraum'; 1972) und Lucio Fulcis 'Non si sevizia un paperino' ('Don’t Torture a Duckling'; 1972) unterbrachte und stilistisch hemmungslos über die Stränge schlug. Oder es hätte die abgründige Neugierde und die Professionalität gebraucht, die Jimmy McGoverns britische Krimiserie 'Cracker' ('Für alle Fälle Fitz'; 1993-96) in den 1990er Jahren ausgezeichnet hatten. Davon war in den Salander-Filmen jedoch nur wenig zu spüren. Bezugspunkt war nicht das europäische Populärkino, sondern das risikofreie Einerlei der fürs Fernsehen zusammengezimmerten 'Schwedenkrimis' à la Wallander & Co. Die Leinwand- und Mattscheibengeschichten vom 'Mädchen mit dem Drachen-Tattoo' klebten zu nahe an den Vorlagen, zeichneten sich durch allgemeine Mutlosigkeit und ästhetische Beliebigkeit aus. Und, auch wenn ich mir jetzt alle Sympathien der Larsson-Fans endgültig verscherze: Noomi Rapaces Lisbeth Salander hat mich nie so recht überzeugt – nicht bevor ich die Bücher gelesen hatte, und noch weniger danach.

In diesem Sinn ist der zurzeit in Internetforen ausgelebte antiamerikanisch gefärbte Furor darüber, dass Hollywood nun auch diesen Stoff vereinnahmt hat und ihn David Fincher zu einer neuen Trilogie verarbeitet, völlig überzogen. Gewiss, ohne kommerzielles Kalkül, das im Übrigen schon die ersten Adaptionen motiviert hat, hätte Fincher seine zehn Mal höher budgetierte Neuverfilmung 'The Girl With the Dragon Tattoo' ('Verblendung'; 2011) nie gedreht. Andererseits gibt es aktuell keinen US-Regisseur, der so dafür prädestiniert wäre wie der Regisseur von 'Seven' ('Sieben'; 1995), 'Fight Club' (1999) und 'Zodiac' (2007).

Tatsächlich ist Fincher eine sehr gute Adaption gelungen: angemessen düster, elegant, wo nötig auch brachial, und vor allem: filmischer als der europäische Vorgänger. Fincher überhöht und stilisiert das Material durch elegant gleitende Kamerafahrten, richtet mit Stammkameramann Jeff Cronenweth sorgfältig kadrierte Bilder ein und findet einige krasse Kontrapunkte wie etwa den zynischen Einsatz von Enyas Popsong 'Orinoco Flow (Sail Away)', der während der entscheidenden Konfrontation mit dem Serienmörder im weiß gekachelten Folterkeller hämisch im Hintergrund säuselt. Wie schon für The Social Network' liefern Trent Reznor und Atticus Ross einen zwischen Industrial, Rock und Klangcollage pendelnden Score, der die düstere Bildsprache ideal ergänzt. Überzogen wirkt lediglich Onur Senturks pompöse Vorspannsequenz, die an einen überproduzierten Videoclip erinnert und deren Anspielungen von Karl Blossfeldt über Saul Bass bis zu Maurice Binders 'James Bond'-Titelsequenzen reichen.

Die beiden einzigen wirklichen Probleme des neuen 'Girl With the Dragon Tattoo' entziehen sich Finchers Einfluss. Zum einen ist die Vorlage, und damit die Handlung, mittlerweile hinlänglich bekannt und bietet vor allem innerhalb der ersten 30 Minuten viele Déjà-vus. Die Romane, ihre Hörbuchfassungen und die ersten Adaptionen haben Larssons Plot, seine Figuren, ihre mitunter merkwürdigen Idiosynkrasien und forcierten Wendungen so sehr im kollektiven Gedächtnis verankert, dass der Film auf der Plot-Ebene zumindest europäischen Zuschauern nur wenig zu bieten hat. Das andere Problem ist grundlegender, denn Larsson war zwar ein begabter Geschichtenerfinder, aber zugleich ein eher mittelmäßiger Schriftsteller. Seine 'Millennium'-Trilogie leidet unter unzähligen überflüssigen Plot-Twists, Ausschmückungen, Überzeichnungen und Logiklöchern. Und diese Mängel kann auch das beste Drehbuch, soll es denn der Vorlage halbwegs treu bleiben, nur notdürftig kaschieren. Ein ähnliches Problem konnte auch Ridley Scott bei seiner barocken Thomas-Harris-Adaption 'Hannibal' vor zehn Jahren nicht ganz überwinden.

Zugegebenermaßen sind Larssons Romane mitreißend, letztlich aber Pulp. Wie überkonstruiert die Vorlagen sind, zeigt schon der Charakter Lisbeth Salander: ein gesellschaftlicher Outcast, in der Kindheit traumatisiert, bisexuell, mit fotografischem Gedächtnis und brillantem mathematischen Verstand ausgestattet, angetrieben von einer gehörigen Wut auf das ganze Sexistenpack, das halb Schweden zu bevölkern scheint. Larssons Lisbeth Salander ist sexuell aggressiv und Opfer zugleich, Vergewaltigte und Vergewaltigerin, fragil und kindlich im Körperbau, zugleich eine martialische Kampfmaschine, die sich ihre Wehrhaftigkeit mit einem Drachen- und einem Wespen-Tattoo auf ihren Körper eingeschrieben hat. Doch frei nach Umberto Eco gilt auch hier: Zwei Klischees sind lächerlich, hundert Klischees sind ergreifend. Und so ist die Figur Lisbeth Salander gar nicht so weit von Thomas Harris’ Kannibalenpsychiater Hannibal Lecter entfernt: eine grotesk mit Allmachtsfantasien überladenen Figur, die sich wie aus dem Nichts trotz (und gerade wegen) ihrer Widersprüchlichkeit in der populären Kultur festsetzt. Beide Figuren, Lecter wie Salander, vereinen die denkbar extremsten Gegensätze in sich: Intellekt und Barbarei, Licht und Schatten, Männlichkeit und Weiblichkeit. Als Grenzgänger zwischen dem Erhabenem und dem Banalen sind sie gleichermaßen Figuren der populären Mythologie geworden. Dabei ist die Figur, die der ehemalige Polizeireporter Harris mit Lecter entwarf, freilich ein dunkler Souverän, der sich mit nietzscheanischem Gestus zum Bösen ermächtigt, während Salander gewissermaßen den 'linken' Gegenentwurf dazu bildet, von einem der Gegenöffentlichkeit verpflichteten Journalisten erschaffen als Figur, die sich aus dem sozialen Abseits aufschwingt, das Leid der Frauen in einer misogynen Gesellschaft zu rächen.

Und wie bei den Hannibal-Lecter-Verfilmungen steht und fällt alles mit der Besetzung der zum mythischen Racheengel erhobenen Hauptfigur. Mögen auch Daniel Craig als zwischen Idealismus und Weltschmerz pendelnder Enthüllungsjournalist, Christopher Plummer und Stellan Skarsgård als Mitglieder der dysfunktionalen Industriellenfamilie Vanger und all die anderen Schauspieler ideal besetzt sein – der Coup des neuen Films ist Rooney Mara als Lisbeth Salander: eine rotzige Punkrockgöre, ein furioses Riot Grrrl, eine schwarze Pippi Langstrumpf. Mara ist ein mörderisches Mädchen mit den Schwefelhölzern und einem Benzinkanister. Natürlich wird es diejenigen geben, die Noomi Rapace als Lisbeth Salander weiter die Treue halten werden. Aber ganz im Ernst: Mara ist die bislang glaubwürdigste Inkarnation von Larssons androgyner Kriegerin mit all ihren Widersprüchen. Die 26-jährige Darstellerin, die bereits in 'The Social Network' eine bravouröse Leistung ablieferte, wird als 'The Girl With the Dragon Tattoo' ihren Durchbruch feiern. Sie legt Feuer im kontrollierten Chaos der Hochglanzbilder.

Der atmende Gott – Reise zum Ursprung des modernen Yoga

(D 2011, Regie: Jan Schmidt-Garre)

Spiritueller Kern
von Wolfgang Nierlin

Auf den ersten Blick sehen die Asanas genannten Yoga-Übungen, die ein alter Demonstrationsfilm vom Meister Krishnamacharya und seinen Schülern zeigt, eher anstrengend und „ungesund“ aus. Und doch zeugen die perfekt …

Auf den ersten Blick sehen die Asanas genannten Yoga-Übungen, die ein alter Demonstrationsfilm vom Meister Krishnamacharya und seinen Schülern zeigt, eher anstrengend und „ungesund“ aus. Und doch zeugen die perfekt ausgeführten, harmonisch wirkenden Körperhaltungen von einem hohen Maß an geistiger Konzentration und Energie. Geradezu artistisch biegen sich die Körper in komplizierte Stellungen. Es wundert deshalb kaum, dass Yoga in seinen Anfängen von vielen als eine Art spektakuläre Zirkusdarbietung
angesehen wurde, die von „Scharlatanen und Halbdebilen“ praktiziert wurde. Das jedenfalls behauptet der berühmte Yoga-Lehrer B. K. S. Iyengar, der zum Yoga kam, um diese Vorurteile zu widerlegen. Und der zugleich von der Zurückweisung durch seinen Lehrer und Schwager T. Krishnamacharya angestachelt wurde, seine Befähigung unter Beweis zu stellen. Dieser ebenso legendäre wie unerbittlich strenge „Lehrer der Lehrer“ steht im Zentrum von Jan Schmidt-Garres „Reise zum Ursprung des modernen Yoga“, wie seine filmische Spurensuche „Der atmende Gott“ im Untertitel heißt.

Doch die historischen Fakten und überlieferten Dokumente, für die der eingangs erwähnte Film ein beeindruckendes Beispiel ist, sind ansonsten spärlich. Krishnamacharyas südindischer Geburtsort Muchukunte, wo er um 1890 zur Welt kam, wurde umgesiedelt; und die heutigen Dorfbewohner wissen nur Widersprüchliches zu berichten. Also befragt Schmidt-Garre, der selbst Yoga praktiziert und sich in einigen Szenen dem anstrengenden Unterricht aussetzt, die Kinder und ehemaligen Schüler Krishnamacharyas an den Orten seines Wirkens. Neben Iyengar trifft er unter anderen auf den 1915 geborenen Pattabhi Jois, der während der Dreharbeiten starb. In seiner Schule in Mysore erzählt Jois von der harten Schule des Meisters, der seine Schüler oft mit Schlägen traktierte und in schmerzhafte Asanas zwang.

Jan Schmidt-Garres sehr persönlicher Versuch, mit noch lebenden Zeitzeugen, wenigen Fakten und körperlich-geistiger Selbsterfahrung die Geschichte des Yoga und seiner verzweigten Praxis zu rekonstruieren, erweist sich für den Laien teils als speziell und uneinheitlich. Der religiöse Ursprung des Yoga und die genaue Bedeutung seiner Techniken entziehen sich immer wieder. Doch gerade im Ungreifbaren und den Verschiebungen zeigt sich andererseits der gemeinsame spirituelle Kern dieser ganzheitlichen Lehre, die dazu verhelfen soll, durch konzentrierte Koordination von Atem und Bewegung den Geist zu kontrollieren und die körperliche Vitalität zu steigern. Idealerweise kommt dabei die Seele des Yogis mit Gott in Kontakt.

Abendland

(A 2011, Regie: Nikolaus Geyrhalter)

Komplexe Situationen
von Wolfgang Nierlin

Es sei „ein Film über Europa in der Nacht“, sagt der österreichische Regisseur Nikolaus Geyrhalter über den doppeldeutigen Titel seiner neuen dokumentarischen Arbeit „Abendland“. Sein höchst konzentrierter Blick auf ausgewählte …

Es sei „ein Film über Europa in der Nacht“, sagt der österreichische Regisseur Nikolaus Geyrhalter über den doppeldeutigen Titel seiner neuen dokumentarischen Arbeit „Abendland“. Sein höchst konzentrierter Blick auf ausgewählte Lebens- und Arbeitswelten der „Festung Europa“ verfolgt dabei zwei Fragestellungen, die eng miteinander zusammenhängen und die das „Prinzip der Exklusivität, des Nicht-Teilens“ untersuchen: „Wie leben wir?“ Und: „Was beschützen wir?“ Sein Nachdenken über die Privilegien des Mitteleuropäers und seine politischen wie sozialen Verfahren kultureller Ausschließung führen Geyrhalter an Orte, die als Teile des Ganzen die Totalität gesellschaftlicher Funktionsweisen zum Vorschein bringen. So beobachtet er in einer langen Abfolge wechselnder Schauplätze und unkommentierter Szenen jene Arbeitsprozesse, die das System zwar am Laufen halten und seine Sicherheit weitgehend gewähren, deren materialistischer Kern aber zugleich vielfältige Formen der Entfremdung sichtbar macht.

Die Briefsortierung in einem Postzentrum, die in jeder Hinsicht zugespitzte, geradezu absurde Massenabfertigung in der drangvollen Enge des Münchner Oktoberfests kurz vor dem Kollaps oder auch die erschreckend unterkühlte Routine der Arbeitsabläufe in einem Krematorium sind dafür die offensichtlichsten Beispiele. Wobei diese Einblicke immer wieder dadurch verblüffen, dass sie Alltäglichstes überhaupt erst bekannt machen, es in Bilder setzen, die teilweise futuristisch anmuten; so etwa die intensivmedizinische Betreuung auf einer Säuglingsstation oder auch die hochspezialisierte Arbeit beim Flugzeugbau. Dabei vermittelt der Film immer wieder Kontraste zwischen dem Vertrauten und dem Fremden, zwischen Nähe und Distanz, die auf jene Grenzen im Innern eines komplizierten Apparates verweisen, der sich zugleich nach außen abschottet. Die Sicherung dieser inneren und äußeren Grenzen dokumentiert Geyrhalter an den Außenposten europäischer Grenzzäune (z. B. in der spanischen Exklave Melilla) sowie in den mit Videoüberwachung arbeitenden Kontrollzentren der Großstädte am Beispiel Londons.

„It’s a complex situation“ lautet eine Textzeile, die durch das (be)dröhnende Techno-Gewitter des Qlimax-Rave im niederländischen Arnheim dringt, wo sich tausende Party-Jünger der kollektiven Ekstase hingeben. Geyrhalter, der den existentiellen Gehalt seiner minutiösen Beobachtungen oft in Totalen verdichtet, gibt in wenigen Szenen diese objektivierende Distanz auf und mischt sich regelrecht unter die taumelnden, nach Entgrenzung suchenden Menschen. Hedonistischer Eskapismus und politische Flucht, Ausgrenzung und Kontrolle bilden die widersprüchliche Textur dieser filmischen Aufzeichnungen, einer Art ethnographischer Vermessung des Abendlandes. Im Sprachengewirr des Europäischen Parlaments wird diese Differenz sogar hörbar. Nikolaus Geyrhalter und sein Ko-Autor und Cutter Wolfgang Widerhofer finden beim Aufspüren des verborgenen Lebens aber auch Verbindendes zwischen den Menschen, das sich in der Sorge, der Pflege und Beratung ausdrückt.

Angesichts einer immer komplexer werdenden Gesellschaft und den Anfechtungen des geistlichen Berufs fragt ein lateinamerikanischer Priester den Papst bei einer Audienz vor dem Petersdom: „Welchen Weg sollen wir gehen, Heiliger Vater, in welche Richtung?“ Und Papst Benedikt antwortet, dass nur in der Liebe zu Gott Sicherheit und Trost liege.

Das traurige Leben der Gloria S.

(D 2011, Regie: Ute Schall, Christine Groß)

Das ganze Leben ist ein Spiel
von Ulrich Kriest

Mit ihrem Spielfilm über Ulrike Meinhof ist die linke Filmemacherin Charlotte selbst nicht ganz glücklich: ihr radikaler Ansatz verläpperte sich, die Hauptdarstellerin zickte herum, ein alter Genosse bemängelt, dass der …

Mit ihrem Spielfilm über Ulrike Meinhof ist die linke Filmemacherin Charlotte selbst nicht ganz glücklich: ihr radikaler Ansatz verläpperte sich, die Hauptdarstellerin zickte herum, ein alter Genosse bemängelt, dass der Film „total im Melodram hängengeblieben“ sei. Um künstlerisch wieder Boden unter die Füße zu bekommen, entschließt sich Charlotte spontan, einen Dokumentarfilm über die Armut alleinerziehender Mütter zu drehen. Ein billiger Film soll es werden, gedreht mit ganz kleinem Team. Leider hat Charlotte keine Ahnung, wo man diese Mütter findet und wie man sie anspricht. Also entschließt sie sich zum gewohnten Vorgehen und lädt zum Casting ein.

Hier kommt die unter prekären Bedingungen lebende Schauspielerin Gloria ins Spiel, die seit Jahr und Tag mit ihrer nicht sonderlich begnadeten Off-Off-Theatertruppe eine Handvoll Zuschauer beglückt. Leider weiß Gloria von der sozialen Realität alleinerziehender Mütter so wenig wie Charlotte und ihr Team, weshalb sich Gloria eine Legende zulegt, die es in sich hat: Alkohol, Gefängnis, Vergewaltigung hinter Gittern, schwangere, minderjährige Tochter, häusliche Gewalt, Hartz-4. Klar, dass Gloria »die Rolle« bekommt. Die Dreharbeiten gestalten sich schwierig. Um ihre Rolle auszufüllen, muss Gloria etwas tun, was sie auch sonst gerne tut, obwohl sie es nicht kann: sie improvisiert und inszeniert Realität mit den Mitteln des Off-Theaters radikal ins Absurde. Das Filmteam ist begeistert: so etwas Authentisches könne man ja wohl gar nicht inszenieren! So treffen hier zwei Vorstellungen – von Theater und Film – Authentizität suchend aufeinander, grotesk, Funken schlagend.

Aufgrund der Fallhöhe von Glorias fiktiver Biografie bekommen nach und nach sämtliche Mitglieder der Theatertruppe ihren Platz vor der Kamera, mal als gewalttätiger Ex-Ehemann, mal als krimineller Freund der Tochter, mal als Junkie. Während die Theaterschauspieler beginnen, über die möglichen Wünsche der Filmzuschauer nach etwas Positivem nachzudenken und diesen Wünschen vor der Kamera entgegenkommen, entdeckt das Filmteam die ästhetischen Möglichkeiten der dokumentarischen Form und experimentiert mit kunstgewerblichen Filmzitaten. Der Humor, der aus dem Zusammenprall der Kulturen erwächst, ist nicht immer subtil, aber dafür ungeheuer treffsicher. Wenn sich beispielsweise ein Schauspieler bei seiner Rolle von „Taxi Driver“ inspirieren lässt, findet die Ton-Assistentin soviel Verruchtheit echt sexy. Schließlich fliegt der Schwindel auf – und dann rächt sich das brüskierte Filmteam, indem es Glorias Fiktion in die Pflicht nimmt. Wann im „Reality Format“ die Dreharbeiten beendet sind, bestimmt das Filmteam, nicht der Darsteller.

So verdeutlicht der Film nicht nur die abgründige Macht-Konstellation, die dem Reality-Format innewohnt, sondern auch, wie der Gier nach Authentizität die Wirklichkeit abhanden kommt, weil sie nur noch imaginiert wird. Übrigens: man sollte am Schluss im Kino sitzen bleiben, denn der Film hält noch eine letzte Volte bereit. Wenn im deutschen Film gar nichts mehr geht, dann gibt es immer noch die Option der Literaturverfilmung. Großartig!

Branded to Kill

(J 1967, Regie: Seijun Suzuki)

Loch im Kopf
von Carsten Moll

Mit dem Beginn des Kinozeitalters waren auch die bewegten Bilder von Waffen aller Art da, bereits im Proto-Western „Der große Eisenbahnraub“ von 1903 hatte ein Revolver einen prominenten Auftritt und …

Mit dem Beginn des Kinozeitalters waren auch die bewegten Bilder von Waffen aller Art da, bereits im Proto-Western „Der große Eisenbahnraub“ von 1903 hatte ein Revolver einen prominenten Auftritt und verhalf dem Film zu seiner berühmtesten Szene: Ein Bandit steht frontal zur Kamera, zielt mit seinem Revolver direkt in ihr Zentrum und feuert ab (und nimmt dabei gleich die gun barrel sequence aus den James-Bond-Filmen vorweg). Schüsse ins Publikum sind seitdem fester Bestandteil des Kinos und mittlerweile auch in 3D oder Zeitlupe gang und gäbe. Spätestens seit „Robin Hood – König der Diebe“ von 1991 ist aber auch die arrow cam als filmisches Gegenstück äußerst populär. Hierbei fliegt die Kamera mit Geschossen wie Pfeilen und Pistolenkugeln mit oder nimmt gleich vollständig deren Perspektive ein, bis der Flug beispielsweise im Kopf eines Orks oder Kindersoldaten endet. Die Beispiele sind zahllos („Der Herr der Ringe“, „Lord of War“, „Der Soldat James Ryan“…), unübertroffen bleibt aber der Sturzflug mit einem tonnenschweren Sprengkörper aus Michael Bays Materialschlacht „Pearl Harbor“; wie Münchhausen reitet die Kamera auf der japanischen Bombe, die auf ein US-amerikanisches Schlachtschiff zurast. Die Sequenz ist so sinnfrei wie der ganze Film, der nur Spektakel und Pathos stammelt, aber hier offenbart sich die ganze Blödheit auf so unübersehbare Weise, dass sie all die subtileren, aber ähnlich verkorksten Filme gleich mitverrät: Georg Seeßlen hat „Pearl Harbor“ treffend als „eine als Weltkrieg verkleidete Sexualneurose“ bezeichnet, problematisch wird ein Film wie „Pearl Harbor“ jedoch erst dadurch, dass er Männlichkeitswahn und Allmachtsfantasien nicht reflektiert und Gewalt ohne jede Irritation als cumshot zelebriert.

1967 kam Seijun Suzukis Yakuza-Film „Branded to Kill“ in die japanischen Kinos, eine B-Movie-Produktion, die bei Kritikern und Publikum gnadenlos durchfiel und Suzukis Karriere als Regisseur für 10 Jahre lahm legen sollte. Eigentlich als gewöhnlicher Genrefilm mit Anleihen an den Film noir und die James-Bond-Reihe (Bond rettete im selben Jahr mit Hilfe der Japaner die Welt vor den Chinesen) konzipiert, geriet der Film unter Suzukis spontaner Arbeitsweise und dank seiner Vorliebe für skurrile Ideen zu einem schwer klassifizierbaren Werk. „Branded to Kill“ übertreibt und pervertiert lustvoll Genrekonventionen und vermischt gängige Filmklischees mit abwegigen Einfällen. Ähnlich wie im ebenfalls 1967 uraufgeführten „Bonnie und Clyde“ oder den Filmen Hitchcocks dient der Krimi-Plot dabei als Vehikel für psychosexuelle Erzählungen; die Pistole ist offensichtlich ein Phallus und wird auch so in Szene gesetzt, sie ist Hauptdarstellerin in einer komplexen Geschichte über die Verknüpfung von Sexualität, Gewalt und Macht. Wo James Bonds – letztendlich kalter – Machismo mit leicht ironischer Brechung lediglich als cool und stylisch inszeniert wird, da entwirft Suzuki mit seiner Profikillerballade ein düsteres und ungemein vielschichtigeres Gegenbild. Selten wirkte eine Pistole so lächerlich winzig wie in den zitternden und schwitzigen Händen des Killers Hanada, die Schusswechsel sind hier kein anmutiges Ballett sondern Slapstick, der mit einem Loch im Kopf endet.

In „Branded to Kill“ treten all die Widersprüche und Obsessionen offen zutage, die in den typischen Genreproduktionen meist nur latent sind oder vollkommen ausgeblendet werden. Als ein Kommentar hierzu lässt sich die Sexszene sehen, in der der vom Duft von frisch gekochtem Reis aufgegeilte Hanada sich mit seiner Frau quer durch das Haus koitiert. Dabei wird nur das Bett ausgelassen, Bilder vom unberührten weißen Laken und vom Geschlechtsakt an anderen Orten des Hauses werden ineinander montiert und verweisen so auf Suzukis Abweichen von der Konvention und die Leerstelle, auf die es sich bezieht. Der Film folgt seinem perversen Protagonisten dabei so konsequent, ja zwanghaft auf seinen Abwegen, dass „Branded to Kill“ wie ein bizarrer Fiebertraum anmutet, der gar nicht anders kann, als in einer Tragödie zu enden. Wo Hitchcock Traum und Wirklichkeit recht sauber trennt und seinen (Anti-)Helden eine Auflösung gönnt, da verwischen bei Suzuki alle Grenzen und hinterlassen einen oft ratlos. Alles Heroische verschwindet, das Loch im Kopf bleibt.

Unmoralische Geschichten

(F 1974, Regie: Walerian Borowczyk)

Der unsichtbare Liebhaber
von Oliver Nöding

Ein zwanzigjähriger Junge führt seine vier Jahre jüngere Cousine an einen abgelegenen Teil der Küste, wartet, bis die Flut sie abgeschnitten hat und überredet sie dann zum Oralverkehr. Er kommt …

Ein zwanzigjähriger Junge führt seine vier Jahre jüngere Cousine an einen abgelegenen Teil der Küste, wartet, bis die Flut sie abgeschnitten hat und überredet sie dann zum Oralverkehr. Er kommt zum Orgasmus, während er ihr die Entstehung der Gezeiten erklärt.

Ein junges Mädchen wird in ein Zimmer gesperrt, weil sie zu lang in der Kirche war. Sie findet ein Buch mit erotischen Zeichnungen und masturbiert mit einer Gurke. Als sie danach das Haus wieder verlässt, wird sie von einem Vagabunden überfallen und vergewaltigt.

Die Gräfin Elisabeth Bathory wählt in einem Dorf jungfräuliche Mädchen aus, die sie zu sich ins Schloss bringen lässt. Dort lässt sie sich von diesen erst die Kleider vom Leib reißen, bevor sie sie umbringen lässt, um in ihrem Blut zu baden. Ihr Diener, wie sich herausstellt selbst ein junges Mädchen und die Geliebte der Gräfin, verrät sie schließlich an die Polizei.

Gemeinsam mit ihrem blutarmen Gatten Giovanni Sforza besucht die Fürstin Lucrezia Borgia ihren Vater, Papst Alexander VI. Während er sich im Beisein Sforzas an seiner Tochter vergeht, klagt Hieronymus Savonarola von der Kanzel den unmoralischen Lebenswandel von Adel und Klerus an, bis er abgeführt wird.

Der polnische Regisseur Walerian Borowczyk schlug mit seinen poetischen Erotikfilmen in den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren die Brücke zwischen Autorenkino, Pornografie und Exploitation, platzierte sich letztlich aber so zielsicher zwischen diesen beiden Polen, dass er von keiner Seite wirklich aufgenommen wurde und heute als einer der großen vergessenen Autoren des anspruchsvollen Films der Siebzigerjahre gilt. Der Episodenfilm „Unmoralische Geschichten“, sein dritter Spielfilm, der als Vorbereitung auf den ein Jahr später erschienenen meisterlichen „La Bête“ betrachtet werden darf, wird meist als Thematisierung verschiedener sexueller Tabubrüche – Oralverkehr, Masturbation und religiöse Obsession, lesbische Liebe und Blutlust, Inzest –beschrieben. Eine Sichtweise, die mit etwas Distanz zwar durchaus nachvollziehbar ist, dem unmittelbaren Eindruck, den der Film beim Zuschauer hinterlässt, aber kaum gerecht wird. Denn während der Betrachtung tritt die Frage nach einem „Inhalt“ des Films weit in den Hintergrund. Mehr als durch eine Handlung oder ein Thema zeichnet „Unmoralische Geschichten“ ein bestimmter Kamerablick aus, der nicht so sehr von voyeuristischer Lust und Gier geprägt ist als vielmehr von wissenschaftlicher Neugier und Zärtlichkeit. Mehr als daran, einen erotischen (und erotisierenden) Film zu drehen, schien Borowczyk daran interessiert, überhaupt die Möglichkeiten filmischer Abbildung von Körpern und Liebe zu erproben, zu verstehen, wie das Körperliche sich adäquat mit der Technik einfangen lässt. Der Film ist eine ständige Annäherung, ein Schleichen, Suchen und Ausprobieren.

„Unmoralische Geschichten“ hat einen unverkennbar essayistischen Charakter, seine einzelnen Episoden sind wie kleine Aufgaben, die sich Borowczyk gestellt hat, eher Bilder, Eindrücke, Ideen als echte Geschichten. Das beginnt mit ihrer Verortung in vier verschiedenen historischen Epochen und setzt sich fort mit den an den Stummfilm erinnernden schwarzen Texttafeln, die jede Episode einleiten und ihren Inhalt vorwegnehmen. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers kann sich danach ganz auf die Bilder konzentrieren: auf das Tosen der Flut, die sich mit der Lust des Jungen emporzuschaukeln scheint; die Raserei, in die sich das masturbierende Mädchen hineinsteigert und damit der Enge ihres vorübergehenden Gefängnisses entkommt; die weiße Haut der Jungfrauen im Kontrast zu ihrem tiefroten Blut; der gerechte Zorn des in Lumpen gehüllten Ketzers Savonarola auf der einen, der selbstvergessene Exzess des dekadenten Adels und Klerus auf der anderen Seite. So intellektuell „Unmoralische Geschichten“ in seinem Entwurf auch sein mag, es sind keine Thesen und Gedanken, die sich aufdrängen, sondern eher Stimmungen und Gefühle: die greifbare, aber nicht wirklich begründbare Spannung zwischen Cousin und Cousine auf dem Weg zum Strand, das Nebeneinander von Angst und Lust, die Ekstase der beiden vor dem Hintergrund der ungerührten Natur; der sich machtvolle und unaufhaltsam Bahn brechende Orgasmus der Masturbierenden, der wieder an die Flut aus der Auftaktepisode denken lässt und dessen Ursprung längst nicht nur in den anzüglichen Bildchen liegen kann, die sie als Vorlage benutzt, sondern tiefer liegen muss; das neugierig-ungeduldige Hin und Her der Jungfrauen, die schließlich nicht wie eine Gruppe von Individuen, sondern wie ein einziger hungriger Organismus über die sich ihnen bereitwillig darbietende Blutgräfin Bathory herfallen, bevor sie schließlich selbst vertilgt werden, nach einem harten Schnitt, der das Unfassbare dieser Bluttat strukturell spiegelt; schließlich die stille Verzückung der streng frisierten Lucrezia Borgia, wenn sich der Papst – ihr Vater – an ihr vergeht. Die Kamera fängt das alles ganz ungerührt ein, bleibt selbst dann noch auf Distanz, wenn sie auf Tuchfühlung geht. Sie dringt nie in die Privatsphäre der Figuren ein, die ganz im Moment aufgelöst sind, keinerlei Außen wahrnehmen, ganz nach innen gewandt sind. Borowczyk schaut zwar ganz genau hin, wie die Lust sich in den Körpern abzeichnet, doch scheint sein Blick ja gleichzeitig auch an ihnen abzuprallen: Da ist noch etwas, das er nicht einfangen kann, etwas, das wesentlicher scheint als das erregte Stöhnen, das Aufbäumen der Leiber, die erigierten Brustwarzen. Etwas, für das diese bloß Zeichen sind, die zwar keiner Interpretation mehr bedürfen, aber dennoch nicht mit dem Bezeichneten identisch werden können.

Nach „La Bête“ veröffentlicht Bildstörung mit „Unmoralische Geschichten“ bereits den zweiten Film Borowczyks. Zwar reicht dieser nicht ganz an die Klasse des erstgenannten heran (der ursprünglich als eine Episode von „Unmoralische Geschichten“ geplant war, bevor er dann zu einem eigenständigen Film heranwuchs), doch da auch diese DVD wieder erstklassig ausgestattet ist, tut das dem Genuss keinen Abbruch. Neben dem Booklet mit einem ausführlichen Essay von Daniel Bird finden sich der Kurzfilm „Une Collection Particulere“ über Sexspielzeuge, der „Unmoralische Geschichten“ eigentlich eröffnen sollte, bevor diese Idee wieder verworfen wurde, Interviews mit Kameramann Noël Véry und Regieassistentin Dominique Duvergé und Audiokommentare zu beiden Filmen im Bonusmaterial. Wer sich auch nur ein bisschen für erotisches Kino interessiert, kommt an „Unmoralische Geschichten“ nicht vorbei und hat hoffentlich längst zugeschlagen. Allen anderen aufgeschlossenen Filmliebhabern sei die DVD hiermit wärmstens ans Herz gelegt, zumal man mit dem Kauf das derzeit vielleicht beste DVD-Label Deutschlands unterstützt.

Der Leichenverbrenner

(CSSR 1968, Regie: Juraj Herz)

Der schnellste Weg ins Paradies
von Oliver Nöding

Die Kälte steigt einem in den Nacken, wenn der „Leichenverbrenner“ Karl Kopfrkingl (Rudolf Krusínský) – Bestatter und stolzer Betreiber eines staatlichen Krematoriums –, dessen glitschige Konturlosigkeit die Verwandlung vom braven …

Die Kälte steigt einem in den Nacken, wenn der „Leichenverbrenner“ Karl Kopfrkingl (Rudolf Krusínský) – Bestatter und stolzer Betreiber eines staatlichen Krematoriums –, dessen glitschige Konturlosigkeit die Verwandlung vom braven Tschechen zum aufrechten Nazi mit deutschem Blut erheblich begünstigt hat, sich seiner jüdischen Gattin nähert, sie quer durch die Zimmer der gemeinsamen Wohnung verfolgt wie ein hungriges Raubtier. „Ist heute nicht unser Hochzeitstag? Oder wenigstens der Jahrestag unseres Kennenlernens?“, fragt er die sichtlich verängstigte Frau, der er mithilfe der subjektiven Kameraperspektive so dicht auf den Leib rückt, dass man sich als Zuschauer schämt ob dieser unangemessenen Nähe. Der angekündigte romantische Abend endet schließlich wenig später im klinisch anmutenden Badezimmer, wo Kopfrkingl seiner Frau mit dem schlangenhaften Charme des Hypnotiseurs auf einen Hocker hilft und ihr eine Schlinge um den Hals legt …

„Der Leichenverbrenner“ erzählt die Geschichte eines Mannes, der in den Tod verliebt ist. Das Leben ist für Karl Kopfrkingl nicht viel mehr als der beschwerliche Weg zur Erlösung und das Krematorium die größte Errungenschaft der Menschen. In nur 75 Minuten ermöglicht es, so berichtet er begeistert, wofür eine gewöhnliche Bestattung 20 Jahre braucht: den menschlichen Körper in Asche zu verwandeln und der Seele so den Eintritt ins Paradies zu gewähren. Während sich andere im makabren Wachsfigurenkabinett ob der ausgestellten Gräueltaten abwenden, mustert Kopfrkingl sie mit distanzierter Sachlichkeit, doch gleichzeitig ist er ein hoffnungsloser Romantiker: Wenn er über den Tod spricht, die große Befreiung nach einem Leben, das doch nur lästiges Vorspiel ist, spricht da auch ein Mann, der dem Irdischen merkwürdig enthoben scheint. Dem schwärmerischen Ton, mit dem er über seinen Beruf spricht, fehlt der Körper: Kopfrkingl scheint nie ganz da, er entfleucht, sobald man meint, ihn in den Griff bekommen zu haben. Statt einer Identität ist da nur ein Mosaik aus Meinungen, Empfindungen, Ansichten und Motivationen, das sich immer wieder neu formiert, je nachdem, mit wem er spricht, in welcher Situation er sich befindet. So ist er besessen vom Leben nach dem Tod, doch gleichzeitig hat er panische Angst vor Krankheiten (gebetsmühlenartig erwähnt er, dass er weder raucht noch trinkt, als mache ihn das zu einem besseren Menschen). Er ist mit einer Jüdin verheiratet, doch macht mit den Nazis gemeinsame Sache. Er gesteht seinen Kindern seine Liebe, während er ihren Mord plant. Kopfrkingl ist der ideale Opportunist: Er scheint Vor- und Nachteile einer Entscheidung gar nicht mehr gegeneinander abwägen zu müssen; wie ein Chamäleon passt er sich ganz instinktiv seiner Umgebung an. Er bleibt sich immer treu, weil er gar keine feste Persönlichkeit hat, die er verbiegen müsste.

„Der Leichenverbrenner“ entstand unter der Regie von Juraj Herz 1968 während des Prager Frühlings, einer Zeit, in der in dem kommunistischen Staat plötzlich Vieles möglich schien und in der der Regisseur nach eigenem Bekunden glaubte, „dass das gesamte tschechische Volk den Russen die Stirn bot“. Herz‘ düsterromantische Schauerkomödie richtet sich also nicht bloß gegen das damals schon vergangene Regime der Nationalsozialisten (unter dem der Regisseur als Zehnjähriger selbst im Konzentrationslager landete), vielmehr nutzt er diese Fassade, um gegen die totalitäre Herrschaft der Kommunisten vorzugehen. Kopfrkingl ist einer der nützlichen Idioten, die jede Diktatur braucht, um bestehen zu können: Er verkörpert die Banalität des Bösen, die Eichmann’sche Biederkeit, die sich kritiklos jedem Befehl unterwirft, die so willen- und rückgratlos ist, das sie gar nicht erst geformt werden muss – sie passt sich beim leichtesten Druck von außen automatisch an. Aber auch beim Kommunismus bleibt Herz mit seiner Kritik nicht stehen: Alle diese Ideologien scheinen nur Ableger einer übergeordneten zu sein – der Religion, die mit ihren Versprechungen von einem paradiesischen Leben nach dem Tod den Grundstein für Niedertracht und Egoismus gelegt hat. Hinter Kopfrkingls Wahn steht eine Lebensfeindlichkeit, die zur Gefahr für seine Mitmenschen wird.

„Der Leichenverbrenner“ gilt heute als einer der wichtigsten Vertreter der tschechischen „Neuen Welle“, auch wenn Juraj Herz von den meisten anderen Protagonisten dieser Bewegung aufgrund seiner Wurzeln im Puppenspiel nie wirklich akzeptiert wurde. Wie der ebenfalls bei Bildstörung erschienene „Valerie – Eine Woche voller Wunder“ zeichnet sich auch „Der Leichenverbrenner“ durch eine absolut einzigartige Stimmung aus. Diese ergibt sich aus der Stellung des Films zwischen sehr konkreter, scharfer und präziser Gesellschaftskritik und träumerisch-poetischer Schauerromantik, die sich vor allem in seinen Bildern widerspiegelt. Die kontrastreiche Schwarzweiß-Fotografie malt sehr klare Bilder, die durch die expressive Kameraarbeit und raffinierte Schnitttechnik jedoch immer wieder verwischt werden. Es ist nie ganz klar, ob man sich als Zuschauer in einer sicheren Beobachterposition befindet oder doch im Kopf des Protagonisten gefangen ist. Und so verliert der Film bei aller Schärfe seiner Kritik nie die Ambivalenz, die zeitlose Kunst von bloßer Propaganda unterschiedet: Wenn die Montage Gesichtszüge und Körpermerkmale Kopfrkingls zu Beginn immer wieder mit solchen von Raubtieren gleichsetzt, ist es nur die naheliegendste Deutung, dahinter einen Hinweis auf seine Gefährlichkeit zu sehen. Die viel beunruhigendere sagt einem, dass dieser Mensch nicht etwa böse ist, sondern auch nur seiner Natur folgt.

Bildstörung setzt seine beeindruckende Veröffentlichungsreihe mit diesem Juwel fort, das Lust auf weitere Perlen eines oft übersehenen Filmlandes macht. Die DVD kommt im schön gestalteten Pappschuber und enthält als Bonusmaterial einen Audiokommentar von Juraj Herz, ein knapp halbstündiges Featurette, ein alternatives Ende des Films und ein umfangreiches Booklet mit einem Essay von Adam Schofield sowie einem ausführlichen Interview.

Tetsuo – The Bullet Man

(J 2009, Regie: Shinya Tsukamoto)

Der Eisenmann domestiziert
von Michael Schleeh

„Tetsuo: The Bullet Man“ ist bereits der dritte Teil in Shinya Tsukamotos zu einigem Ruhm gekommener Cyberpunk-Reihe, die er 1989 mit dem furios ungestümen ersten Beitrag „Tetsuo: The Iron Man“ …

„Tetsuo: The Bullet Man“ ist bereits der dritte Teil in Shinya Tsukamotos zu einigem Ruhm gekommener Cyberpunk-Reihe, die er 1989 mit dem furios ungestümen ersten Beitrag „Tetsuo: The Iron Man“ eröffnet hatte. Schon damals war es das Zusammenspiel aus dem Topos der Mensch-Maschinen-Metamorphose, dem industriellen Soundtrack, dem Schnittgewitter und der rasenden, anarchischen Erzählweise gewesen, die den Film sofort zum Kultobjekt gemacht hatte – also beinah eine ganze Dekade bevor Hideo Nakata mit seinem „Ringu“ (1998) das japanische J-Horror-Kino in jeden europäischen DVD-Player bugsierte und eine weitere, immer noch anhaltende Asienbegeisterung auslöste. So erschloss sich das Werk Tsukamotos vielen erst im Rückblick – was sicherlich auch ein Stück weit an der damals noch problematischen Veröffentlichungslage gelegen haben dürfte.

In „Tetsuo: The Iron Man“ war es die Verwandlung eines emotional verkrüppelten Mannes in einen riesigen, biomechanoiden, rotierenden Bohrer-Penis gewesen, der das Publikum schockierte und der außer Kontrolle geraten als transformiertes Subjekt-Objekt in der anonymen Megalopolis auf die Frau losging (ein Film, der sich als wunderbares Double-Feature zu Cronenbergs „Crash“ schauen lässt) – im „Bullet Man“ ist es nun ein Familienvater, der den Mörder seines Sohnes jagt. Neben dieser thematischen Nähe zu seinen Vorgängern ist es vor allem wieder die tsukamotosche ureigene Ästhethik, die den Film scheinbar unverkennbar macht. Ausgebleicht monochrome und metallene Bilder glatter Oberflächen einer in kalten Hochhäusern lebenden Karriereoberschicht (die sehr an die blaue Kälte in „A Snake in June“ erinnern) treffen auf pumpenden Industrie-Sound, während sich der Protagonist aus seiner menschlichen Hülle schält und zunehmend verwandelt, gepresst zwischen die Betonplatten modernen urbanen Lebens (Bilder, direkt wie aus „Haze“ übernommen), und mit einem teuflischen Gegenspieler konfrontiert wird (Tsukamoto selbst als Killer), der sich blitzschnell und komisch zugleich bewegt (siehe „Nightmare Detective“). Das ist immer noch Adrenalin pur und ein Anschlag aufs Nervenzentrum des Zuschauers, weil niemand sonst im westlich-europäischen Kulturkreis auch nur annähernd solchen Terror auf der Leinwand zu verbreiten versteht. Allerdings wirkt das alles mittlerweile zu bekannt, zu glatt, in seinem Chaos zu kalkuliert. Das ungestüme Rohe der frühen Filme Tsukamotos weicht einer perfekt ausgeleuchteten, antiseptischen Videoclipästhetik, die nur so tut, als ob. Tetsuo 2009 ist in Zellophan verpackt, kondomisiert.

So erlebt man, wenn man Tsukamotots Oeuvre in toto kennt, im „Bullet Man“ eigentlich nichts Neues: alles ist schon mal dagewesen (die paar oben genannten, offensichtlichen Verweise sollten als Eindruck reichen). Tsukamoto recycelt sich selbst. Keine neuen Ideen, keine neuen Bilder, keine neuen Sounds. Man liest, Nine Inch Nails hätten hier etwas Musik beigesteuert. Nun ja, soviel zum Undergroundstatus. Am Ende flüchtet sich der Film in die Erlösung des Familienfilms und ist damit maximal weit davon angelangt, wo der einst radikale Filmemacher begann: bei schwierigem, bisweilen arg stressigem, schnellem und körperlich angriffigem, immer herausforderndem Genrekino. „Tetsuo: The Bullet Man“ ist Mainstream in der Camouflage des Independentkinos, erschienen unter dem Deckmantel des großen Namens eines einst verlässlichen Genreregisseurs. Man soll ja nicht unken, aber der nächste Film Tsukamotos wird einiges entscheiden.

Let Me In

(GB / USA 2010, Regie: Matt Reeves)

Eissturm im Vampirnest
von Sven Jachmann

„Do you know where your children are?“, fragt vielleicht etwas zu aufdringlich die TV-Texttafel die schlafende Mutter auf der Couch. Wo sollte ihr 12jähriger Sohn Owen schon sein? In diesem …

„Do you know where your children are?“, fragt vielleicht etwas zu aufdringlich die TV-Texttafel die schlafende Mutter auf der Couch. Wo sollte ihr 12jähriger Sohn Owen schon sein? In diesem farblosen Ort Los Alamos in New Mexico, dessen Tristesse der andauernde Schneematsch allenfalls akzentuieren, jedenfalls nicht weiter verschlimmern kann, sitzt er regelmäßig allein in einem schäbigen Hinterhof auf einem nicht minder schäbigen Klettergerüst und lernt, dass die Welt zum Fürchten ist.

Es ist 1983 und mit Furcht kennt man sich aus. Im Fernsehen agitiert Ronald Reagan in seiner berüchtigten Rede gegen das Reich des Bösen und meint den Russen. Auf dem Hinterhof sticht Owen (Kodi Smit-McPhee) mit seinem Taschenmesser drohend auf einen Baumstamm ein und meint seine Mitschüler. Die Drangsal, der der schüchterne Junge jeden Tag aufs Neue ausgesetzt ist, ist so allgegenwärtig, dass er abends mit einer Hockeymaske bekleidet vor dem Spiegel in seinem Zimmer den Serienkiller mimt oder mit einem Fernrohr vielleicht sogar eher ängstlich als neugierig die Nachbarn beobachtet. Das Reich des Bösen zumindest befindet sich direkt vor seiner Nase: Die geschiedenen Eltern sind entweder Stimmen aus dem Telefon oder Gestalten, deren Gesicht nie zu sehen ist, fast so, wie alle Erwachsenen bei den Peanuts. Der Lehrer übersieht die Qualen des Jungen geradezu stoisch, die Klassenkameraden sind Sadisten und im Radio stimmen orthodoxe Prediger auf das Fegefeuer ein. Hier braucht man das Andere nicht mehr zu fürchten, das das grundgute Leben ins Wanken bringen könnte – hier ist man sich längst selbst zum Anderen geworden.

Abby (Chloë Grace Moretz) jedenfalls, ein junges, manchmal unangenehm riechendes Mädchen, das eines Tages ebenfalls auf dem Klettergerüst sitzt, ist nicht bedrohlicher als der Rest dieser Welt, sondern für Owen schnell eine Verbündete, die sich mit ihrem eigenen Außenseiterstatus quälen muss. Barfuß sitzt sie da, weil ihr „eigentlich nie kalt ist“ und obwohl sie nicht befreundet sein können, wie Abby zu Beginn harsch klarstellt, verbringen sie immer mehr Zeit miteinander. Als er sie nach langem Zögern endlich fragt, ob sie seine Freundin sein möchte, verneint sie zuerst, weil sie kein Mädchen, sondern „nichts“ sei, was meint, dass bei ihr sowohl die Identitätskategorien als auch ihr Ich versagen, denn tatsächlich ist sie ein Vampir im Körper einer Zwölfjährigen.
Das alles könnte deshalb bekannt klingen, weil Regisseur Matt Reeves mit seinem zweiten Film nach der Found Footage-Monsterattacke „Cloverfield“ ein Remake des schwedischen Coming of Age-Vampirdramas „So finster die Nacht“ gedreht hat, seinerseits eine Literaturverfilmung des gleichnamigen Bestsellers von John Ajvide Lindqvist, die sich 2008 zu einem recht preisverwöhnten Geheimtipp entwickelte. Bis hin zu den Einstellungen folgt Reeves dem spröden Sozialrealismus des Originals. Es bleibt die zaghafte Liebesgeschichte zweier Outcasts, die sich finden müssen, um nicht unterzugehen, der das Drehbuch allerdings einen geringfügigen politischen Subtext andichtet.

Nachdem Owen leibhaftig Abbys Verwandlung in einen Vampir miterlebt hat – dabei wollte er nur einen harmlosen Blutspakt mit ihr schließen -, fragt er verstört den Vater am Telefon: „Gibt es das Böse?“ Der bejaht zumindest indirekt, weil er voller Wut aus der vermeintlich unschuldigen Frage nach den großen Pfeilern, die die Welt im Schlechten verbinden, die religiöse Indoktrination der Mutter herauszuhören glaubt. Was um die Kinder errichtet wird, ist die Hölle einer pervertierten Moral, die im Innern eine geistige Verelendung tradiert, derer sie sich gegenüber dem Außen erwehren will und wenn die Tonspur recht dauerhaft eine latente Paranoia erzeugt, dann kündet sie fast mehr von dieser gesellschaftlichen Qual der Isolation als von den genregültigen Spannungsformeln. Mit denen hält sich der Film ohnehin vornehm zurück, wenn er unter die monochromen Bilder der Schneelandschaften, der Wälder, Hinterhöfe und Schulen, in die die Figuren eher wie geduldete Fremdkörper platziert sind, ein paar Spezialeffekte mischt – dies jedoch dann blitzschnell, im Off, im Hintergrund oder aus weiter Ferne in ruhenden Einstellungen. Selbst ein Autounfall wird auf der Rückbank mit einer stehenden Kamera inszeniert, um die herum sich das Wageninnere überschlägt – treibende, visuell aber unspektakuläre Inserts, die die Lebensfeindlichkeit des Ortes nicht vergessen lassen.

Verursacher des Unfalls ist Abbys Freund und, so muss man wohl sagen, Ernährer (Richard Jenkins), mittlerweile ein alter Mann, der auf nächtlichen Streifzügen seine Opfer in einen Kanister ausbluten lässt. Um Abby zu schützen, verätzt er noch am Unfallort sein Gesicht mit Säure und entgeht im Krankenhaus den Fragen des misstrauischen Ermittlers, indem er sich von ihr töten lässt. Fortan ist auch zentrales Movens der jungen Beziehung, ob Owen sich als sein Nachfolger eignet. Dadurch stirbt allerdings auch die Ambivalenz der Vorlage. Wenn Abby Owen darin bestärkt, sich gegen seine Schulpeiniger mit aggressiven Mitteln zur Wehr zu setzen, dann testet sie damit sein Gewaltpotenzial. Aus der Annäherung zweier Außenseiter, die ihr Leid zusammenführt, wird eine unausgesprochene Bewährungsprobe. Dass die fortschreitenden Ermittlungen nun eine klassische Spannungskurve pitchen, befeuert nur den Eindruck, dass das zweckrationale Motiv dieses ungleichen Verhältnisses endgültig geklärt zu sein scheint. Abbys Massaker an Owens Schultyrannen besiegelt schließlich weitaus blutiger doch noch einen Pakt, dessen Tragweite indessen sie allein begreift. Mit gutem Willen offenbart sie sich da geradewegs als Kind ihrer Zeit. Ebenso aber auch als recht eindimensionaler Todesengel, dem bloß das Klischee der Femme fatale im Lolita-Look den melancholischen Blick ins Gesicht zaubert.

Brand – Eine Totengeschichte

(A / D 2010, Regie: Thomas Roth)

Morbide Lust
von Wolfgang Nierlin

Warum der Titelheld aus Thomas Roths Film „Brand“ geradezu obsessiv Kranke, Verletzte und Tote fotografiert, ist zunächst unklar und bleibt auch im weiteren Verlauf der ungelenken Handlung spekulativ. Einmal erklärt …

Warum der Titelheld aus Thomas Roths Film „Brand“ geradezu obsessiv Kranke, Verletzte und Tote fotografiert, ist zunächst unklar und bleibt auch im weiteren Verlauf der ungelenken Handlung spekulativ. Einmal erklärt der von Josef Bierbichler gespielte Schriftsteller seiner krebskranken Frau Martha (Erika Deutinger), dies sei die einzige Arbeit, die er zurzeit tun könne. Der finanziell angeschlagene Brand, der seine Gefühle mittels Fotoapparat auf Abstand hält, arbeitet nämlich an einem Buch übers Sterben. In seiner kruden Leidenschaft trifft also die Verarbeitung eines persönlichen Schmerzes auf die grenzverletzende Lust am Morbiden. Zugleich mischt sich in seine Bilder immer stärker der Kontrast zum Leben, denn Brand verliebt sich in Angela (Angela Gregovic), die junge Krankenschwester seiner Frau. So wird auch die sexuelle Lust zum Sujet seiner Fotos.

Weil beide verheiratet sind, antwortet Brand auf Angelas Gewissensbisse nach dem Liebesspiel mit der rhetorischen Frage: „Was ist falsch, was ist richtig?“ Bevor sich das Netz aus Lügen und Geheimnissen, Misstrauen und Eifersucht über die Beziehungen legt, sind die beiden Protagonisten längst in eine Geschichte verstrickt, die ihre markanten Eckdaten zu schnell setzt und darüber die plausible Entwicklung der Erzählung vernachlässigt. Die Unglaubwürdigkeit dringt gewissermaßen aus den Ellipsen, die Thomas Roth konstruiert, ohne sie dramaturgisch und inhaltlich vorzubereiten. Weil in den Zäsuren nichts nachhallt, verflüchtigt sich das kunstvoll Gemeinte ins Ungefähre, gar Leere. Dieser stoffliche Mangel setzt sich mitunter fort in den teils hölzernen Dialogen eines Drehbuchs, das leider nicht frei ist von Fehlern.

Spannender ist Roths Film in den ersten Szenen, mit denen er die auf Rache zielende Eifersucht von Angelas Ehemann, einem türkischstämmigen Polizisten, etabliert. Wie Celik Caymaz (Denis Moschitto) seinen Gegenspieler Brand in die Konfrontation zwingt und psychisch unter Druck setzt, vermittelt über Blicke und Unausgesprochenes, sorgt für untergründige, irritierende Momente. Nur ist auch hier zu schnell zu viel gesagt, bleiben Stoff und Figuren zu wenige Entwicklungsmöglichkeiten. Immerhin steigert Roth die Eifersuchtsgeschichte im letzten Drittel seines Films mithilfe skurriler Wendungen zu einem gewalttätigen Thriller mit symbolträchtigem Ende.

The Ides of March – Tage des Verrats

(USA 2011, Regie: George Clooney)

Politische Archetypen
von Andreas Busche

Der kurze Zeitraum von der Präsidentschaftswahl 2008 bis zum erbitterten Tauziehen im Kongress um Obamas Gesundheitsreform wird wohl für längere Zeit die letzte Phase amerikanischer Politik gewesen sein, die von …

Der kurze Zeitraum von der Präsidentschaftswahl 2008 bis zum erbitterten Tauziehen im Kongress um Obamas Gesundheitsreform wird wohl für längere Zeit die letzte Phase amerikanischer Politik gewesen sein, die von so etwas wie Aufbruchsstimmung und Optimismus geprägt war. Den Normalzustand beschreibt George Clooneys Politdrama „Tage des Verrats“, dessen Originaltitel „Ides of March“ gleich noch eine historische Referenzgröße ins Spiel bringt. An den Iden des März im Jahr 44 AD wurde Julius Caesar von einer Gruppe Verschwörer im römischen Senat ermordet. Um politische Ränkespiele und machthungrige Ziehkinder geht es auch in „Tage des Verrats“. Clooney selbst spielt den demokratischen Präsidentschaftskanididaten Mike Morris, der mit einem Sieg in den entscheidenen Ohio-Vorwahlen die Weichen für seine zukünftige Präsidentschaft stellen will.

Zwar ist Politprofi Morrris die zentrale Figur, um die sich alle Interessenkonflikte anlagern, doch im Mittelpunkt des Films steht sein aufstrebender Pressesprecher Stephen (Ryan Gosling in einer Paraderolle). Gosling verkörpert Morris’ jüngeres Alter Ego: strahlend, charmant, einnehmend und mit einem grenzenlosen Idealismus ausgestattet. Stephen steht eine glänzende Zukunft in Aussicht. „Tage des Verrats“ zeichnet seinen rasanten Aufstieg über einen Verlauf von nur wenigen Tagen nach, doch unbeschädigt wird am Ende niemand aus der Geschichte hervorgehen.

Man merkt dem Film seine Theaterherkunft deutlich an. Wie schon im Kammerspiel „Good Night and Good Luck“ dominieren auch in „Tage des Verrats“ Close-Ups und Dialoge. Clooney hat ein grandioses Ensemble an Charaktergesichter um sich versammelt: Philip Seymour Hoffman spielt Morris’ Berater, ein Politschlachtross der alten Schule, Paul Giamatti den zwielichtigen Berater von Morris’ Widersacher, Marisa Tomei die knallharte Journalistin und Jeffrey Wright einen Senator, von dessen Zuspruch die Wahlentscheidung maßgeblich abhängt. Es ist eine brisante Konstellation, eine heruntergekochte Version von „West Wing“ – die jedoch kaum Platz für Politik lässt. Clooney kritisiert in erster Linie ihre Performanz. Das ist mitunter scharf beobachtet, und verfehlt doch den Kern der Problematik. Denn das Festhalten an der Macht beziehungsweise das Streben nach mehr ist nicht der eigentliche Skandal. Sondern dass die politischen Inhalte darüber zur bloßen Verhandlungsmasse verkommen. Insofern ist es bezeichnend, dass Clooney kaum auf die konkrete Politik seiner Figur eingeht; vornehmlich, um das System Politik in den Blick zu nehmen. Am Ende aber liefert „Tage des Verrats“ vor allem politische Archetypen. Als hätte sich die Politik seit den historischen Iden des März nicht selbst verändert.

The Look

(F / D 2011, Regie: Angelina Maccarone)

Brechungen des Blicks
von Wolfgang Nierlin

„Ein Selbstportrait durch andere“ heißt Angelina Maccarones Film über die britische Schauspielerin Charlotte Rampling im Untertitel. Tatsächlich ist „The Look“, der die Doppeldeutigkeit bereits im Namen trägt, keine gewöhnliche, mehr …

„Ein Selbstportrait durch andere“ heißt Angelina Maccarones Film über die britische Schauspielerin Charlotte Rampling im Untertitel. Tatsächlich ist „The Look“, der die Doppeldeutigkeit bereits im Namen trägt, keine gewöhnliche, mehr oder weniger chronologisch gegliederte filmische Biographie über Leben und Werk einer außergewöhnlichen Schauspielerin. Im Wechsel von der objektiven zur subjektiven Seite der Betrachtung, die intime Selbstzeugnisse und Statements von Freunden beziehungsweise künstlerischen Weggefährten vereint, inszeniert Maccarone vielmehr ein sehr konzentriertes, klar strukturiertes Portrait entlang zentraler Themen und existentieller Fragen. Diese gliedern den Dokumentarfilm in neun Kapitel, denen wiederum Ausschnitte je eines Films aus dem umfangreichen Œuvre Ramplings kunstvoll zugeordnet sind.

Den Begegnungen und Gesprächen mit ausgesuchten Freunden an ausgewählten Orten kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. In Charlotte Ramplings Nachdenken über Alter und Schönheit, Liebe und Tod sind diese vertrauten Gegenüber Stichwortgeber und Resonanzkörper, die Erinnerungen und Reflexionen in Schwingungen versetzen. Im fotografischen, die Rollen tauschenden Flirt mit dem Starfotografen Peter Lindbergh etwa geht es um das komplizierte Wechselspiel von individuellem Ausdruck und seiner Widerspiegelung durch das Kamera-Auge; also darum, wie beispielsweise Ramplings legendärer, hier titelgebender „Blick“ den Blick des Fotografen lenkt und quasi mit Identität auflädt. Dabei bekennt sich die charismatische Schauspielerin ebenso zum instinktiven Spiel wie zum bewussten Tabubruch, der im Gespräch mit Juergen Teller über seine Fotos zum Buch „Louis XV“ sowie über Liliana Cavanis Skandalfilm „Der Nachtportier“ eine zentrale Rolle spielt.

So entstehen fast nebenbei auch kleine, skizzenhafte Portraits der Gesprächspartner, zu denen neben den beiden erwähnten Fotografen unter anderen auch die Schriftsteller Paul Auster und Frederick Seidel gehören. Den französischen Filmemacher François Ozon, der mit seinen in Ausschnitten zitierten Filmen „Unter dem Sand“ und „Swimming Pool“ der Schauspielerin ab dem Jahr 2000 zu einem künstlerischen Comeback verhalf, konnte Maccarone leider nicht gewinnen. Dafür findet sie in Ramplings ältestem Sohn Barnaby Southcombe, der als Regisseur und Schauspieler arbeitet, einen Sparringspartner, der bei einer nach der Meisner-Technik improvisierten Reaktionsübung im Boxring auf spielerische und sehr persönliche Weise die „Resonanzen“ verstärkt und zugleich fiktionale Brechungen erzeugt. Diese korrespondieren wiederum mit Maccarones dokumentarischem Stil, der die Anwesenheit des kleinen Filmteams über Spiegeleffekte integriert. „The Look“ verdichtet sich so zum facettenreichen Bild einer selbstbewussten, nachdenklichen Schauspielerin und starken Frau, die sich mit ihrem Faible für kontroverse und komplexe Rollen immer wieder gezielt jenseits des reinen Unterhaltungskinos positioniert.

Empire Me – Der Staat bin ich!

(A / LU / D 2011, Regie: Paul Poet)

Wegfall der Geschäftsgrundlage
von Dietrich Kuhlbrodt

Paul Poet ging für ZDF / Arte auf Weltreise von Brandenburg bis Australien und stellt jetzt flott und munter seine Beobachtungen vor. Eine musikunterfütterte, unterhaltsame TV-Doku über Leute, die aussteigen, …

Paul Poet ging für ZDF / Arte auf Weltreise von Brandenburg bis Australien und stellt jetzt flott und munter seine Beobachtungen vor. Eine musikunterfütterte, unterhaltsame TV-Doku über Leute, die aussteigen, in die Esoterik flüchten, sich Dealer ins Nest holen, mit Flößen auf Abenteuerfahrt gehen, sich touristisch verkaufen oder eine Sexsekte gründen. Sechsmal hat Poet Station gemacht, mal teilnehmend (Sex in Belzig), mal distanziert (Christiania, laut Film das Dealer- und Drogenparadies).

Das ist was zum Hinkucken. Trotzdem enttäuscht 'Empire Me'. In einem Einführungsvortrag werden wir gecoached. Erwin Strauss empfiehlt sein Buch How to Start Your Own Country, adressiert an Freigeister und Piraten. Leistet Widerstand! Jeder an seinem Platz! Aber nichts davon oder allenfalls nur ein bisschen von dem, was die Einleitung verspricht, löst der Reisebericht ein. Ein Gemeinsames der sechs Aussteigerstationen ist nicht erkennbar, schon gar nicht der Wille, Staat zu machen.

Die ausführlich begründete Eingangsthese meint es ernst. Was wir davon in Poets Bildern wiederfinden, ist Spaß, den sich die vielen mehr oder minder sympathischen Spinner machen. Jedenfalls ist die Familie auf der Nordsee-Schrottplattform schlau. Vater und Sohn kommen durchs Internet-Hacken und dubiose Geschäfte zu Geld. Mutter hat eine Pistole unterm Kopfkissen, um der aggressiven Hackerkonkurrenz zu widerstehen. Legal das alles, wegen der Kontakte zur Uno. Weiter nach Australien: Die Monarchenmaskerade wird zur Touristenattraktion. Geld fließt. Wieder weiter zur esoterischen Sekte im Piemont. Und dann nach Belzig: 80 Kilometer von Berlin wird 'Menschengestaltung' durch Sex geübt. Die Kamera kann sich nicht sattsehen an nackten Gestalten, in Öl gebadet. Brav hat ein Mädchen die Lektion gelernt: 'Ich schätze an euch Männern, dass ihr so gut in mir reinpasst.' Super das, macht doch Spaß, teilnehmenden. Überdies lernen wir, dass schon die DDR in Belzig den Frauen, die sie im Westen einsetzen wollte, beibrachte, wie man Liebe macht. – Schon gut, schon gut. Klar ist das putzig. Aber wird dadurch der brandenburgische Erotikrausch zur Widerstandsleistung?

Der Film driftet ab. Was bleibt, sind Schauwerte. Was zum Selbermachen? Nä, so kommen wir nicht ins Geschäft.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 01/2012

In Their Room

(USA 2009, Regie: Travis Mathews)

Wie die Lemminge
von Carsten Moll

In seinem Blog auf den Seiten der BBC erzählt der Dokumentarfilmer Adam Curtis die Geschichte der Umarmung im britischen Fernsehen und wie das medial vermittelte Sich-um-den-Hals-fallen vom authentischen Ausdruck zur …

In seinem Blog auf den Seiten der BBC erzählt der Dokumentarfilmer Adam Curtis die Geschichte der Umarmung im britischen Fernsehen und wie das medial vermittelte Sich-um-den-Hals-fallen vom authentischen Ausdruck zur zwanghaften Konvention geworden ist. Als ein Beispiel zieht er ein bemerkenswertes Interview der BBC mit dem Schriftsteller Jean Genet heran. Genet, dem das Image des subversiven Außenseiters anhaftet, merkt man schnell an, dass er mit der Interviewsituation nicht einverstanden ist. Zuerst gibt er sich einsilbig, zu gut kennt er das Prozedere aus Emotionalisierung und Psychologisierung, um ein vermeintlich authentisches Portrait zu zeichnen, als dass er sich darauf einließe. Dass er ein Leben in Einsamkeit gelebt habe, gibt er bereitwillig zu, aber die Annahme seines Interviewpartners, dass ihn dies doch betrübt haben müsse, bleibt für Genet unverständlich. Die Gesprächssituation nimmt eine dramatische Wendung, als Genet versucht, sie aufzubrechen, indem er die Techniker hinter der Kamera ins Geschehen involviert und sie auffordert ins Interview einzugreifen und sich authentisch zu äußern. Nur: Genets Traum von der Revolte des Filmteams kollidiert mit dessen Unlust; der Tonmann äußert, dass er sich gar nicht äußern will und ist somit auf eine Art authentisch, die den Vorstellungen Genets zuwiderläuft. Ob die Authentizität des Tonmannes nun „really real“ ist, wie Curtis behauptet, und die Genets nicht, darüber kann man streiten. Auf jeden Fall sorgt die Kollision der beiden Ansichten für einen faszinierenden Moment.

Travis Mathews ist der Mann hinter „In Their Room“, einer Serie von dokumentarischen Filmen über homosexuelle Männer und ihre Schlafzimmer, die nicht ganz zu Unrecht als „Indie-Porno“ vermarktet wird. Wenn Mathews über sein Werk redet, spricht er viel von Authentizität und Natürlichkeit. Was er darunter versteht, erschließt sich am besten, wenn man einen Blick auf seine Filme wirft, die nun als eine Art Werkschau auf DVD erhältlich sind. Neben einem 20-minütigen Teil mit Männern aus San Francisco und dem einstündigen Berliner Part findet sich noch der Ursprung der Serie in Form von so genannten „Singles“ auf der DVD. Das sind sechs Filme von wenigen Minuten Länge, die sich jeweils nur einem einzigen Mann widmen und in Zusammenarbeit mit dem schwulen Magazin „Butt“ als Web-Serie entstanden sind. Als Bonus gibt es dann noch einen Kurzfilm namens „I Want Your Love“, der Mathews’ dokumentarische Arbeiten in einen Spielfilm übersetzt. Was allen Filmen gemein ist, ist ein Look, der seit dem Direct Cinema einer der Standards für dokumentarisches Filmen ist. Mathews filmt anscheinend im Alleingang mit Handkamera und ohne zusätzliche Beleuchtung, die Produktionsbedingungen schreiben sich so in das Material ein und versprechen authentische Aufnahmen vom wirklichen Leben. Dass dieser Anspruch als illusorisch zu bewerten ist, ist nicht neu, aber es überrascht, wie konsequent Mathews sich als Fliege an der Wand versucht und dabei unreflektiert ästhetische Klischees reproduziert. Als authentisch dürften das wohl vor allem die wahrnehmen, auf die es affirmativ wirkt und die schon immer genau wussten, wie das Echte und Wahrhafte auszusehen hat.

Vor der Kamera, deren Blick eher ein ethno- als pornografischer ist, performen die Protagonisten halbnackt bis nackt einen Alltag aus Rumliegen, Duschen und Vor-der-Webcam-masturbieren. Während die Kamera Körper und Räume erfasst und abfährt, erzählen die Männer von schwulen Befindlichkeiten, ihren sexuellen Vorlieben und Ängsten. Das wird angenehm unaufgeregt inszeniert, auch gibt hier niemand Geschichten von tränenreichen Coming-Outs und schwierigen Familienverhältnissen zum Besten. Stattdessen kriegt man Bekenntnisse zu hören, die zumindest innerhalb heteronormativer Kontexte selten artikuliert werden; da ist von Schmerzen beim Analverkehr ebenso die Rede wie vom Faible für verheiratete Familienväter und seinen Folgen. Auch Genets Aussage, dass Einsamkeit nicht gleich Unglücklichsein bedeute, wird hier geäußert und gibt Zweifeln am Mythos vom Pärchenglück Raum. Durch die Beschränkung auf das eigene Zimmer und das Ausblenden größerer Zusammenhänge wirken die Situationen oft im positiven Sinne banal. Texteinblendungen verraten uns lediglich die Vornamen der Protagonisten und auch ihr Erzählen gibt wenige Anhaltspunkte zum Rekonstruieren einer Biografie. Im Gegensatz dazu sind die Körper und besonders die Räume mit ihrer identitätsstiftenden Funktion geradezu verräterisch; Tätowierungen, Narben, Körperbehaarung und American Apparel-Unterhosen berichten genau wie die Einrichtungen aus Plattenspielern, MacBooks und Radiohead-Postern mehr von der Sozialisation der Männer als ihre Worte.

Man kann sie wohl alle als Hipster bezeichnen und auch wenn sie sich in Körperform, Alter und Herkunft unterscheiden mögen, es ist erstaunlich festzustellen, wie sehr sie und auch ihre Zimmer einander ähneln. Mathews Filme sind keine „Tales of the City“, sondern zeigen anhand vieler Männer und Räume einen einzigen Typen von Mann und Raum. Sie schaffen so eine Ikonografie des nackten Hipsters, wie man sie eben aus „Butt“ oder auch dem für heterosexuelle Frauen konzipierten „Jungsheft“ kennt. So unverkrampft und beiläufig das alles in Szene gesetzt ist, in ihrer Häufung wirken die Indie-Bilder vom Indie-Schwulen bald klischeehaft und unfreiwillig komisch. Mathews’ Konzept funktioniert bei den „Singles“; die kurzen, konzentrierten Blicke auf interessante Charaktere ergeben zusammen mit Mathews’ Montage reizvolle Vignetten. Sie bestechen, wie auch die besseren Sequenzen aus den Nachfolgewerken, immer wieder durch irritierende Momente, in denen über die Möglichkeiten von Intimität reflektiert wird oder die Protagonisten über die Anwesenheit der Kamera stolpern und sich zumindest kurzzeitig befangen geben. Da wird verschämt die Unterhose zurechtgerückt oder einem schwulen Pärchen wird beim vertrauten Geplapper bewusst, dass sie für ein Publikum sprechen. Vor allem im Berliner „In Their Room“ überwiegt dann aber eine in der Dramaturgie recht konventionelle Achsel- und Nabelschau, die mit einem Kaffee am Morgen beginnt und mit dem Fick zweier Fremder in der Nacht endet. Hier hat man das Gefühl, beiwohnen zu müssen, wie Leute kameratauglich ihr Selbst verwerten und dabei keinen Unterschied zwischen der eigenen Webcam und einem willigen Dokumentarfilmer im Schlafzimmer machen. Spätestens beim Spielfilm „I Want Your Love“, der versucht, die Stimmung der „In-Their-Room“-Reihe in einen melancholischen Porno mit rehäugigen Bartträgern zu übertragen, nimmt Mathews’ Arbeit dann ungewollt parodistische Züge an.

„Die Schilderung einer völlig einseitigen Welt von Homosexualität im Film könnte zu einer Desorientierung in der sexuellen Selbstfindung führen“, heißt es aktuell in der Begründung der Freiwilligen Selbstkontrolle zur Altersfreigabe von Sabine Bernardis an sich harmlosen Coming-Of-Age-Film „Romeos“ ab 16 Jahren. Angesichts solcher Statements ist man fast versucht, Filme wie „In Their Room“ aus Prinzip gut zu finden (oder auch Andrew Haighs „Weekend“, der mit ähnlichen Mitteln wie Mathews eine sentimentale Liebesgeschichte erzählt, und bei den meisten Kritikern für Verzückung sorgt. Dabei wird wie in Daniel Sanders Rezension im „Spiegel“ gerne betont, dass der Film nicht nur was für Schwule sei, denn es wirke ja alles so echt und die Protagonisten seien so menschlich). Beinahe möchte man sich schon auf ein Feindbild vom Mainstream einschwören, das besagt, der Mainstream zeige entweder gar keinen oder nur den falschen Sex. Aber ist der Mainstream wirklich so homogen und gesteht man ihm nicht allzu viel Macht und Relevanz zu, wenn man sich im Angesicht seiner angenommenen Übergröße zum Underdog stilisiert und gleich den „Indie-Porno“ als neues Filmgenre ausruft? Weiterhin ist fraglich, inwiefern gerade „In Their Room“ dem Anspruch auf Außergewöhnlichkeit gerecht wird und nicht lediglich einen pseudo-alternativen Mainstream repräsentiert, dem nichts Originelleres einfällt, als Amateurporno als Subversion und Indie als Heilsversprechen für das richtige Leben zu verkaufen. Die Nachfrage nach Filmen, die mit anderen Geschichten und anderen Bildern herausfordern, ist da. Ich glaube nicht, dass „In Their Room“ einer von ihnen ist.

Zur DVD: Die DVD enthält mitsamt dem Bonusmaterial Travis Mathews’ bisheriges Gesamtwerk. Die Sprache ist teilweise Englisch, teilweise Deutsch, deutsche Untertitel sind zuschaltbar. Neben den „Singles“ und dem Kurzfilm „I Want Your Love“ finden sich noch einige gut ausgewählte Trailer unter den Extras.

Contagion

(USA 2011, Regie: Steven Soderbergh)

Händewaschen nicht vergessen!
von Sven Jachmann

Es ist schon eine schwer desolate Welt, die Regisseur Steven Soderbergh (in diesem Fall eigenhändig) mit der Kamera zeichnet: Bricht in Hongkong ein Mensch in der Straßenbahn zusammen, zücken die …

Es ist schon eine schwer desolate Welt, die Regisseur Steven Soderbergh (in diesem Fall eigenhändig) mit der Kamera zeichnet: Bricht in Hongkong ein Mensch in der Straßenbahn zusammen, zücken die Beifahrer ihr Handy für Fotoaufnahmen; erfährt ein Ehemann (Matt Damon) im Krankenhaus von Minneapolis vom unerklärlichen Tod seiner Frau (Gwyneth Paltrow), mit der er kurz zuvor noch sprechen konnte, legt ihm der Arzt die Seelsorge nahe und ist nach einer Minute bereits wieder verschwunden. Die Laborforscher plappern ohne Anteilnahme über Thanksgiving, derweil sie die Untersuchung der Gewebeproben der Frau vor ein Rätsel stellt. Und das ist nur der Zustand leidlicher Sozietät, bevor eine Pandemie die Kontinente heimsucht – 26 Millionen Tote, und einen nach über 130 Tagen entwickelten Impfstoff später hat Soderberghs Krisenexperiment bewiesen, dass zusammen mit dem Abwehrsystem der Menschen auch jede soziale Ordnung erodiert.

Einerseits geht das sehr sachlich vonstatten. Texteinblendungen kumulieren in Tagesschritten den Verlauf der Ausbreitung. Die große Starriege verteilt sich, wie man es von Soderbergh kennt, länderübergreifend, von der Angestellten der WHO, die bei der ungerechten globalen Distribution des rettenden Serums in Gewissenskonflikte gerät, über den Vorsitzenden des amerikanischen Seuchenzentrums, der für die Öffentlichkeit den sündigen Boten spielt, bis zum krankheitsimmunen Vater, der seine Tochter vor Plünderern beschützen muss – aber ihre Popularität feit doch vorm Virus nicht. Der Film spannt, und dies ernüchternd realistisch, ein Netz aus globalen Bekämpfungsstrategien und lokalen Schicksalen. Überhaupt ist es schaurig anzusehen, wie jede Türklinke, jede Busfahrt und Umarmung schlagartig über Leben und Tod entscheidet. Intimität ist ein Seuchenherd und die sichere Kommunikation via SMS gerät – Kulturpessimisten werden es nicht gerne hören – da schon mal zum letztmöglichen Seelentröster.

Weitaus schauriger andererseits jedoch ist, mit welcher Verve der Film ein Plädoyer für die Vernunft der Institutionen im Krisenzustand entwirft. Gewöhnlich wartet die Genretradition jener Provenienz ja mit sehr pessimistischen Lesarten auf: Wenn die Politik in George A. Romeros „The Crazies“, in Juan Carlos Fresnadillos „28 Weeks Later“, ja selbst in Wolfgang Petersens „Outbreak“ eine Evakuierung beschließt und ans Militär delegiert, sollte man sich als Überlebender jedenfalls besser nicht in den betroffenen Gebieten aufhalten.

In „Contagion“ bemühen sich die Amtsträger nach Leibeskräften und sind dabei natürlich auch zu unpopulären Entscheidungen gezwungen, die sich ohne viel Aufhebens durchsetzen ließen, grassierte in der Bevölkerung nicht diese unkontrollierbare Angst vor Infektion und Unterversorgung. Exemplifiziert wird dies an der Figur Alan Krumwiede, einem von den Printmedien natürlich verschmähten Blogger (Jude Law, an dem wirklich alles schief ist: Gang, Zähne, Funktion …), dessen regierungsfeindliche Verschwörungstheorien unter seinen 12 Millionen täglichen Lesern ein riskantes Echo erzeugen. Tatsächlich besitzt er keinerlei Informationen von über geheime Massenpanikprophylaxe hinausreichender Relevanz, aber er weiß seine Aufmerksamkeitssucht publikumswirksam am Lebensabend der Menschheit zu verkaufen. Panikmacher wie er sind es, die den aufopferungsvollen Wissenschaftlern, die gar im letztlich erfolgreichen Selbstversuch ihr Leben aufs Spiel setzen, vor die Füße spucken und mit ihrer öffentlichen Skepsis gegen eine Politik taktieren, die doch keinen Anlass zum Verdruss bietet. Wenn sich dieser konservative Durchhaltewille schließlich mit einem buchstäblich weltenrettenden Puritanismus verbindet – denn womöglich wäre die ganze Virenmisere anders verlaufen, wenn Ehefrau Gwyneth Paltrow brav das Gebot der außerehelichen Enthaltsamkeit geachtet hätte -, mag man sich schon fragen, gegen welches Katastrophenszenario Soderbergh eigentlich opponieren möchte.

Mama Africa – Miriam Makeba

(D / ZA / FIN 2011, Regie: Mika Kaurismäki)

Die Wahrheit singen
von Wolfgang Nierlin

Mika Kaurismäkis Dokumentarfilm „Mama Africa“ über die südafrikanische Sängerin Miriam Makeba Zum Lied „Soweto Blues“, gesungen von Miriam Makeba, sehen wir Bilder von Straßenkämpfen im Zeichen der Apartheid. Kurz darauf …

Mika Kaurismäkis Dokumentarfilm „Mama Africa“ über die südafrikanische Sängerin Miriam Makeba

Zum Lied „Soweto Blues“, gesungen von Miriam Makeba, sehen wir Bilder von Straßenkämpfen im Zeichen der Apartheid. Kurz darauf erzählt die junge südafrikanische Sängerin von ihrer Geburt in einem Gefängnis, in dem ihre Mutter wegen illegalen Bierbrauens im März 1932 für kurze Zeit inhaftiert war. Das bewegte und bewegende Leben Miriam Makebas ist von Anfang an geprägt von Gefangenschaft und Trennung. Als Tochter einer Heilerin in Prospect Township nahe Johannesburg aufgewachsen, wird sie früh mit den Paradoxien der Rassentrennung, mit Diskriminierung und Unterdrückung konfrontiert. Mika Kaurismäkis sehenswerter Dokumentarfilm „Mama Africa“, der die Lebensstationen der ebenso engagierten wie charismatischen Künstlerin nachzeichnet und dafür Archivmaterial und Zeitzeugen-Interviews verwendet, akzentuiert diese Verschränkung von Leben, Musik und Politik.

„Ich singe nicht über Politik, ich singe bloß die Wahrheit“, wird Miriam Makeba gleich zweimal zitiert. Aus dem Understatement dieser Aussage leuchtet nicht nur die Kraft ihrer Musik, sondern auch ihr Selbstverständnis als politische Künstlerin, die sich vor allem der Menschlichkeit verpflichtet fühlte. Als „Königin der Musik Südafrikas“ apostrophiert, lässt sich an ihrem künstlerischen Ausdruck unmittelbar das Glück des Singens beobachten und damit auch die integrative Funktion ihrer Performance, die sich aus einem „schwarzen Bewusstsein“ (H. Belafonte) speiste, also die Traditionen und Lebenswirklichkeiten der „black commuity“ reflektierte. Dabei war sie ein musikalisches Naturtalent voller Gefühl, von klein auf vom Singen beseelt und von seiner heilenden Wirkung erfasst. 1952 tritt sie in ihrem Heimatland zusammen mit den Manhattan Brothers auf, bald danach ist sie Mitglied des bewunderten Frauentrios „The Skylarks“. Als sie 1959 in Lionel Rogosins Anti-Apartheid-Film „Come back, Africa“ mitwirkt und daraufhin zu den Filmfestspielen in Venedig eingeladen wird, verweigert ihr das südafrikanische Regime die Rückreise in die Heimat.

Es folgen viele Jahre des Exils in den USA, wo sie von ihrem Kollegen Harry Belafonte unterstützt wird, im berühmten Jazzclub Village Vanguard auftritt, mit „Pata Pata“ (zu Makebas Bedauern ein „Lied ohne tieferen Sinn“) ihren ersten großen Erfolg feiert und vor den Vereinten Nationen über die Lage in Südafrika spricht. Doch nach ihrer Heirat mit dem ebenso kämpferischen wie redegewandten Black Panther-Aktivisten Stokely Carmichael, der vom FBI überwacht wird, kehren die Mechanismen der Diskriminierung zurück. Ihre Auswanderung nach Guinea wird zu einer weiteren Station ihres Exils, das erst mit der Freilassung Nelson Mandelas im Jahre 1990 endet. Immer wieder sucht Mika Kaurismäki zusammen mit ehemaligen Bandmitgliedern, mit Freunden und Familienangehörigen private Refugien und Orte ihres Wirkens auf und lässt so Miriam Makebas (musikalischen) Spirit lebendig werden. Das Leid des Getrenntseins, verbunden mit mehreren persönlichen Schicksalsschlägen, überschattet dabei immer schwerwiegender ihr Leben. Doch so wie die Botschaft ihrer Lieder einem ganzen Kontinent Hoffnung geben, erfährt auch die „Mama Africa“ in ihrem Gesang persönlichen Trost und neue Kraft.

Und dann der Regen

(MEX / SP / F 2010, Regie: Icíar Bollaín)

Kein Leben ohne Wasser
von Wolfgang Nierlin

Die spanische Filmcrew unter der Leitung ihres pragmatischen Produzenten Costa (Luis Tosar) benimmt sich auf ihre Weise zunächst fast so skrupellos wie die goldgierigen Konquistadoren des 15. und 16. Jahrhunderts …

Die spanische Filmcrew unter der Leitung ihres pragmatischen Produzenten Costa (Luis Tosar) benimmt sich auf ihre Weise zunächst fast so skrupellos wie die goldgierigen Konquistadoren des 15. und 16. Jahrhunderts unter Christoph Kolumbus: Um den historischen Film über die brutale Eroberung Amerikas möglichst günstig zu finanzieren, verlagert man das Geschehen von der Karibik in die östlichen Anden Boliviens, wo sich überdies die zahlreichen indigenen Statisten für einen Hungerlohn gewinnen lassen. „Mir geht’s nur um den Film“, antwortet Costa auf die Gewissensbisse seines visionären Regisseurs Sebastián (Gael García Bernal). Die spanische Filmemacherin Icíar Bollaín wiederum nutzt diese doppelte Ausbeutung in ihrem neuen Film „Und dann der Regen“ (También la lluvia) für eine leicht schematische Spiegelung der Vergangenheit in der Gegenwart und damit für die Darstellung der Widersprüche zwischen Kunst und Leben. Die Arbeit des Filmemachens wird also einmal mehr zum Thema.

Einfallsreich und immer wieder überraschend inszeniert Bollaín die Übergänge zwischen Film und Film mit ihren jeweiligen Graden der Fiktion. So erzählt sie den historischen Stoff in wechselnden medialen Brechungen: Zum Beispiel im Making of, mit dem die Assistentin Maria (Cassandra Cíangherotti) die Spannungen und Widersprüche im Team während der Dreharbeiten festhält und das zugleich die Schnittstelle zur Gegenwart markiert; vor allem aber anhand von Drehbuch-Lesungen, szenischen Proben, den Imaginationen des Regisseurs Sebastián, Mustervorführungen und nicht zuletzt den konkreten Dreharbeiten. Geschickt und effektiv integriert Bollaín auf diese Weise die Geschichte in der Geschichte und reflektiert überdies die Arbeit mit dem Medium Film.

Um die inneren Konflikte der Filmcrew im Spannungsfeld zwischen Kunst und Leben zuzuspitzen, spiegelt Icíar Bollaín die Themen Unterdrückung und Ausbeutung zusätzlich im sogenannten „Wasserkrieg“ des Jahres 2000, als in Cochabamba die Wasserversorgung privatisiert wurde und sich das Wasser um 300 Prozent verteuerte. Dagegen formierte sich ein massiver Volksaufstand, dessen – in der Fiktion des Films – indigener Anführer Daniel (Juan Carlos Aduviri) wiederum mit dem aufständischen Taino-Häuptling Hatuey des Jahres 1511 identifiziert wird. Aus den Parallelen dieser doppelten historischen Rolle entwickelt der Film einen Großteil seines dramatischen Konfliktpotenzials, verbunden mit emotionalen Zuspitzungen, die den anvisierten Realismus unterwandern. Dabei geht es vor allem um die „menschliche Bekehrung“ eines unpolitischen Filmproduzenten, der erkennen muss, dass seine Arbeit ganz konkret mit der umgebenden Wirklichkeit verknüpft ist und dass das Leben und die Freundschaft manchmal wichtiger sind als die Kunst. Denn, so Daniel: „Ohne Wasser gibt es kein Leben.“

Jane Eyre

(GB 2011, Regie: Cary Fukunaga)

Gruben voller Fallen
von Wolfgang Nierlin

Eine junge Frau, von Panik ergriffen, befindet sich auf der Flucht. Sie rennt, als ginge es um ihr Leben. Nebelpfade kreuzen sich, im Hintergrund droht dunkel und mächtig ein geheimnisvolles …

Eine junge Frau, von Panik ergriffen, befindet sich auf der Flucht. Sie rennt, als ginge es um ihr Leben. Nebelpfade kreuzen sich, im Hintergrund droht dunkel und mächtig ein geheimnisvolles Schloss; über der weiten, dämmrigen Landschaft zucken Blitze, bis schließlich heftiger Regen einsetzt, der nichts reinigt, sondern alles beschwert. Äußere Erschöpfung und seelischer Schmerz durchdringen sich. Als die 19-jährige Jane (Mia Wasikowska) in der Familie des jungen Vikars John Rivers schließlich Schutz findet, ist sie, verfolgt von inneren Stimmen, dem Wahnsinn nahe: Sie sei der Hölle, einer „Grube voller Fallen“, entronnen. Und: „Man darf mich nie wiederfinden.“

Ein solch dramatischer Auftakt verlangt nach einer Erklärung. Cary Joji Fukunagas Literaturverfilmung „Jane Eyre“ verschachtelt diese geschickt in einer Montage der Erinnerung und identifiziert dabei den berühmten Romanstoff von Charlotte Brontë als eine Leidensgeschichte aus dem viktorianischen England: Die Vollwaise Jane, im Haus der bigotten Tante schikaniert und gequält, landet im puritanischen Internat Lowood, wo es noch schlimmer zugeht und die weiblichen Zöglinge im Namen der Religion brutal gezüchtigt werden. „Sie hat ein boshaftes Herz“, heißt es von Jane. Ihre Figur spiegelt das Motiv der verfolgten Unschuld. Aus erlittener Ungerechtigkeit gewinnt sie Selbstbewusstsein und innere Stärke.

Ihre Anstellung als Gouvernante der kleinen Adèle auf dem abgelegenen Landgut Thornfield Hall, das ebenso als (geistiges) Refugium wie düsteres Gefängnis erscheint, bringt das besonders gut zum Ausdruck. Jane blüht auf, übersetzt ihre überwältigende Vorstellungskraft in die Entfaltung ihres zeichnerischen Talents, mit dem sie die „Schatten der Gedanken“ festhält, und pflegt mutig ebenso scharfsinnige wie ironische Dispute mit dem Hausherrn Edward Rochester (Michael Fassbender). Die offene Direktheit der empfindsamen Frau sowie ihr unabhängiger Sinn treffen auf einen Mann, der in einer dunklen Vergangenheit gefangen ist. Bald sin die seelenverwandten Außenseiter in Liebe miteinander verbunden.

Fukunagas Inszenierung erforscht die von Unsicherheit und Zweifeln begleitete Bewegung dieses Gefühls, seine Verfestigung zur Gewissheit, seine Tragik und sein Schmerz. Doch der Ort dieser Liebe ist ein Gefängnis mit einem dunklen Verlies, dessen Mauern erst noch fallen müssen.

Michael

(A 2011, Regie: Markus Schleinzer)

Täterprofil Österreich
von Carsten Happe

Fast könnte man auf den Gedanken kommen, für ein ganzes Land, nämlich Österreich, ein psychopathologisches Profil erstellen zu wollen, und „Michael“, das Regiedebüt des ehemaligen Casting Directors von Michael Haneke …

Fast könnte man auf den Gedanken kommen, für ein ganzes Land, nämlich Österreich, ein psychopathologisches Profil erstellen zu wollen, und „Michael“, das Regiedebüt des ehemaligen Casting Directors von Michael Haneke wäre ein weiteres, bestätigendes Puzzleteil in diesem wenig charmanten Profil. Nach Natascha Kampusch und Josef Fritzl, nach den Ulrich Seidl-Filmen, von denen „Hundstage“ und „Import Export“ lapidar gesagt noch zu den harmlosesten gehören – und der Tatsache, dass Seidl seit einigen Jahren an einer Dokumentation mit dem bezeichnenden Titel „Im Keller“ arbeitet, in der er das Eigentümliche an österreichischen Kellern herausstellen möchte, falls es das denn gibt – fügt sich „Michael“ in eine gewisse Traditionslinie, die das so verträumt wirkende Alpenland seit geraumer Zeit sehr beunruhigend erscheinen lässt.

Kurzum: Es geht einmal mehr um Missbrauch und um Keller, verpackt in eine distanzierte, fast klinisch kalte Inszenierung, durch die sich die Geschehnisse mitunter noch furchterregender darstellen. Die äußerst verknappte Ankündigung für den Debütfilm, der überraschenderweise in den letztjährigen Wettbewerb in Cannes eingeladen wurde, deutete lediglich an, das Zusammenleben des 10jährigen Wolfgang und des 35jährigen Michael zu beschreiben. Der Titel verweist bereits darauf, dass der Täter hier in den Mittelpunkt gestellt wird, und die Normalität, mit der Michael gezeichnet wird, ist bestechend und bestürzend zugleich: er ist ein durchschnittlich erfolgreicher Versicherungsangestellter, er wird befördert, seine Kollegen laden ihn wie selbstverständlich zu ihrem Skiausflug ein. Natürlich ahnt niemand, dass dieser scheinbar so nette und zuvorkommende Junggeselle einen kleinen Jungen in seinem Keller gefangen hält und regelmäßig missbraucht. Michael Fuith spielt den Pädophilen mit, so seltsam das klingt, beeindruckender Präzision und Selbstbeherrschung. Nie gleitet seine Darstellung in eine Freakshow ab und ist durch die leisen Momente der Repression umso nachhaltiger erschreckend. Die wahre Entdeckung ist jedoch der junge David Rauchenberger in der Opferrolle, der sowohl die Abgestumpftheit des monatelangen Gefangenendaseins wie auch die nur kurz aufblitzende kindliche Hoffnung auf einen positiven Ausgang seiner verzweifelten Lage mit einer Abgeklärtheit spielt, die schier den Atem raubt.

Markus Schleinzer hat sich augenscheinlich eine Menge abgeschaut bei seinen vormaligen Arbeitgebern wie Michael Haneke, Jessica Hausner oder Ulrich Seidl. Er vermag es, die emblematischen Inszenierungen der ausgewiesenen Meisterregisseure perfekt zu reproduzieren und verdichtet sie zu einem rasiermesserscharfen Portrait eines Monsters mit menschlichem Antlitz. Das ist durchgehend unbequem anzuschauen, aber in seiner Konsequenz auch ebenso faszinierend wie verstörend, denn seine wirkungsmächtigste Strategie ist die der Auslassung, die den wahren Schrecken erst im Kopf des Betrachters entstehen lässt. Nur äußerst selten entgleitet Michael die Kontrolle über die Situation, ebenso selten weicht Schleinzer von seiner distanzierten Beobachtung ab, erzwingt dann aber durch eine kluge Kadrierung oder Montage, dass sich das komplette Grauen außerhalb des Gezeigten abspielt und so je nach Disposition des Zuschauers eine eigene Monstrosität entfaltet.

Gerade dadurch, dass „Michael“ weder moralisiert noch psychologisiert, dass er keine offensichtliche Erklärung anbietet, keine Rückblenden einer mitleiderregenden Kindheit instrumentalisiert, also letztlich keine Anzeichen für eine Unzurechnungsfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit bietet, bleibt der Film bis zuletzt so unbehaglich. Auch wenn das finale Bild zum denkbar klügsten Moment abblendet, lassen sich die folgende Fassungslosigkeit und das sprachlose Entsetzen problemlos weiterdenken, zu oft hat man die üblichen Reaktionen schon gehört: Er war so nett, so unscheinbar und normal. Aber eben auch fremd, und wer kann schon – außer im Kino – hinter die Fassade blicken. Frei nach Titus Maccius Plautus: Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, nicht ein Mensch, wenn man sich nicht kennt.

Dieser Text erschien zuerst in: Pony #69

In guten Händen

(GB / F / D 2010, Regie: Tanya Wexler)

Harte Arbeit
von Wolfgang Nierlin

Die Frauen der bürgerlichen Gesellschaft, die im London des Jahres 1880 die Praxis des Frauenheilkundlers Dr. Dalrymple (Jonathan Pryce) aufsuchen, klagen über Mordphantasien, sexuellen Hunger, eine unbestimmte Traurigkeit oder auch …

Die Frauen der bürgerlichen Gesellschaft, die im London des Jahres 1880 die Praxis des Frauenheilkundlers Dr. Dalrymple (Jonathan Pryce) aufsuchen, klagen über Mordphantasien, sexuellen Hunger, eine unbestimmte Traurigkeit oder auch über den Verlust der Gesangsstimme. Die Eingangsmontage aus Tanya Wexlers Film „In guten Händen“, einer sorgfältig ausgestatteten Komödie „nach wahren Begebenheiten“, fasst diesen Beschwerdekatalog der Patientinnen unter dem Originaltitel „Hysteria“ zusammen. Der erfahrene Mediziner macht für die „Plage unserer Zeit“ einen „überreizten Uterus“ verantwortlich und „kuriert“ die Damen mit einer Intimmassage.

Als „harte Arbeit“ beschreibt Dr. Dalrymple diese Therapie dem jungen, gutaussehenden Arzt Mortimer Granville (Hugh Dancy), den er kurz darauf als Assistenten einstellt und der sich in dem zeitintensiven Job bald sagenhaft bewährt. Dabei macht er nicht nur die immer zahlreicher werdenden Patientinnen glücklich, sondern weckt auch die Gefühle der schönen Emily (Felicity Jones), der ebenso pflichtbewussten wie tugendhaften Tochter des Hauses. Uneingestanden faszinierender ist für Mortimer jedoch deren Schwester Charlotte (Maggie Gyllenhaal), eine kompromisslose Suffragette, die selbstlos, kämpferisch und gegen den Willen ihres konservativen Vaters in einer Unterkunft für Bedürftige arbeitet.

In diesem gesellschaftlichen Kontrast treffen sich die beiden Hauptfiguren des Films, um „an einem Strang zu ziehen“. Denn auch Mortimer ist ein unverstandener Pionier der Moderne, der mit seinen revolutionären medizinischen Ansichten schon einige Entlassungen provoziert hat. Aber von ihrem körperlichen Zusammenstoß auf offener Straße bis zu ihrer glücklichen Vereinigung im Finale dieser relativ harmlosen Komödie, braucht es noch einige dramatische Winkelzüge. Schließlich erzählt Tanya Wexler lust- und humorvoll nicht nur von realen und eingebildeten Frauenleiden, sozialen Gegensätzen und der skurrilen Erfindung des Vibrators, sondern vor allem von gleich zwei Erfolgsgeschichten im Zeichen individueller Selbstverwirklichung.

Sherlock Holmes – Spiel im Schatten

(USA 2011, Regie: Guy Ritchie)

Two Mules for Madame Simza
von Harald Steinwender

Kurz vor Weihnachten kommen traditionell nur wenige Großproduktionen in die deutschen Kinos. Kaum ein Verleih will sein Pulver verschießen, während das Publikum die letzten Weihnachtseinkäufe erledigt und sich auf die …

Kurz vor Weihnachten kommen traditionell nur wenige Großproduktionen in die deutschen Kinos. Kaum ein Verleih will sein Pulver verschießen, während das Publikum die letzten Weihnachtseinkäufe erledigt und sich auf die Völlerei und Quengelei unterm Tannenbaum und den alljährlichen Kirchbesuch vorbereitet. Die Fernsehsender bieten zudem alles an Spielfilmen auf, um Alt und Jung zuhause zu halten. Und so starten am 22. Dezember dieses Jahres wieder vor allem romantische Komödien und Kinderfilme, auch ein Dokumentarfilm namens 'Abendland' von Nikolaus Geyrhalter ist dabei, den der Verleih als 'ein Filmpoem über einen Kontinent bei Nacht' anpreist; also ein eher verkopfter Stoff, der von vorneherein keine Chance hat, ein größeres Publikum zu finden und der hier verheizt wird. George Clooneys Politthriller 'The Ides of March' dürfte ebenfalls wegen seines für deutsche Zuschauer eher unattraktiven Themas, den 'Primaries' des US-amerikanischen Vorwahlkampfs, hier positioniert worden sein. Der einzige dicke Fisch ist 'Sherlock Holmes: A Game of Shadows' ('Sherlock Holmes – Spiel im Schatten'), ein sehr teurer Blockbuster, den der Brite Guy Ritchie inszeniert hat. Und hier hält sich das Risiko im Rahmen: Als Sequel zum ersten Holmes-Abenteuer von 2009 dürfte der Film wohl problemlos sein Massenpublikum finden, immerhin hat schon der erste Teil weltweit 500 Millionen Dollar eingespielt.

Guy Ritchie hält sich bei dem neuen Holmes-Abenteuer so eng an die etablierte Formel, dass Original und Fortsetzung sich über weite Strecken bis zur Ermüdung gleichen. Das beginnt schon beim erprobten Gothic-Look. 'A Game of Shadows' ist wie der 2009er-'Sherlock Holmes' eine ziemlich düstere Angelegenheit. Das 'Spiel im Schatten' vollzieht sich in von Farben entsättigten Bildern, die von Blau, Grau, Braun in allen ihren Abstufungen hin zu Schwarz bestimmt werden. Hinzu kommt die barock überladene Ausstattung, die kaum kein atmosphärisches Klischee auslässt: Nebel wabert in den Straßen des Fin-de-siècle-Londons, der Boden ist von schwarzem Kies bedeckt, in den Ecken drücken sich Bettler, sinistre Gestalten und Opiumraucher herum. Durch die Gassen donnern schwarze Kutschen, Flaneure schwingen Gehstöcke mit silberverzierten Knäufen. Die gotischen Villen und die düsteren Herrenhäuser, in die es die Helden verschlägt, sind ausgestattet mit marmornen Säulen, dunklem Tropenholz und Steinböden mit Schachbrettmuster, selbstverständlich auch von Geheimgängen durchzogen. Hinzu kommen Doppelgänger und abstruse Verkleidungen, abgründige Ränke und undurchschaubare Mysterien, eine falsche Wahrsagerin, ein Universitätsprofessor, der einen Weltkrieg entfesseln will (also der mad scientist par excellence) und eine gigantische Munitionsfabrik in Deutschland mit Wächtern, deren Uniformen verdächtig an diejenigen erinnern, in denen deutsche Soldaten ein halbes Jahrhundert nach der Filmhandlung die Welt terrorisieren sollten. Ebenfalls dabei: eine Gruppe französischer Anarchisten, die allerdings der totalen Zerstörung der herrschenden Ordnung längst abgeschworen hat. Der einzig wahre Anarchist ist Professor Moriarty, gespielt von Jared Harris, dem Vorzeigebriten aus 'Mad Men'. Moriarty riecht den Weltenbrand, der bereits 1891 in der Luft hängt und er will die Zersetzung der bestehenden Ordnung beschleunigen. Dass er sich davon einzig Reichtum erhofft, wirkt wie eine lahme Ausrede. Was kann er schon von seinem Geld haben, wenn alles in Trümmern liegt?

Ihm entgegen treten natürlich Holmes (Robert Downey Jr.) und Dr. Watson (Jude Law). Nun aber hat Watson gerade gegen alle Widerstände des transvestitisch veranlagten Partners seine versnobte Verlobte Mary (Kelly Reilly) geheiratet. Das treibt einen Keil in den Miniaturmännerbund Holmes/Watson, der bei Ritchie stärker als in frühen Parodien, wie Billy Wilders 'The Private Life of Sherlock Holmes' ('Das Privatleben des Sherlock Holmes'; 1970), homoerotisch konnotiert ist. Da ein solches Männerpaar partout keine Frauen verträgt, es sei denn, sie benehmen sich wie Männer oder ihre sexuelle Identität lässt sich erfolgreich ignorieren, findet sich schnell ein Vorwand, Watsons Braut aus einem fahrenden Zug zu stoßen. In die Flitterwochen fahren dann Holmes und sein treuer Doktor gemeinsam. Als Dritte im Bunde, sozusagen als minimalidentifikatorisches Angebot ans weibliche Publikum, kommt Noomi Rapace hinzu, die in ihrem Hollywooddebüt die undankbare Rolle der Zigeuner-Wahrsagerin Madame Simza gibt, die wie ein überflüssiges Anhängsel wirkt. Immerhin können die beiden Jungs mit Simza gemeinsam all das unternehmen, was zu einem zünftigen Abenteuerfilm gehört: Rennen und reiten, schießen und prügeln, hauen und stechen. Quer durch Europa, von London nach Frankreich über Deutschland bis in die Schweizer Alpen, wo es in Anlehnung an Arthur Conan Doyles 1893 veröffentlichte Kurzgeschichte 'The Final Problem' zum Showdown mit Moriarty am Reichenbachfall kommt.

Fast eine Stunde dauert es, bis 'A Game of Shadows' endlich Fahrt aufnimmt. Ennio Morricones beschwingt-skurriles Thema von Don Siegels 'Two Mules for Sister Sara' ('Ein Fressen für die Geier'; 1970) kündigt den Wechsel im Erzählton an und erinnert zugleich daran, wie sehr der Meister doch seinem Epigonen Hans Zimmer überlegen ist, der den restlichen Score beigesteuert hat. In den folgenden 60 Minuten liefert Guy Ritchie endlich das, was man zuvor sehnsüchtig vermisst hat: Tempo, Irrwitz, das Comichaft-Überdrehte des Figurenarsenals und der Ausstattung treten in den Dienst des herzlich albernen Plots. Eine furios inszenierte Hetzjagd durch einen Wald, während der die Helden unter Artilleriebeschuss geraten und bei der Ritchie in der Montage offensichtlich Sam Peckinpahs delirierenden 'Steiner – Das eiserne Kreuz' ('Cross of Iron'; 1977) zitiert, zählt zu den Höhepunkten der Materialschlacht. Im Finale wird sogar die längst abgenutzte Routine des in Zeitlupe von Holmes antizipierend vorweggenommen Kampfs selbstironisch gebrochen: Nun betreibt sein ihm ebenbürtiger Gegner parallel dazu die gleichen Überlegungen, und die Opponenten müssen sich quasi telepathisch darauf einigen, dass der Kampf bereits entschieden ist, bevor er überhaupt geführt wird. Einen Ausweg findet Holmes trotzdem.

'A Game of Shadows' ist alles in allem ziemlicher Blödsinn. Aber im Vergleich zu herkömmlichem Mainstream vom Reißbrett, etwa der 3D-Neuauflage von 'Die drei Musketiere' (2011; R: Paul W. S. Anderson), merkt man dem Film immerhin den Spaß an, mit dem Ritchie seinen filmischen Comic-Strip inszeniert, und vom Italowestern und Richard Lester inspiriert, die Travestie des Holmes-Mythos betreibt. Vom viktorianischen Meisterdenker ist hier nicht mehr viel übrig: Holmes ist weniger ein Intellektueller denn eine Mischung aus Dandy und Prolet. Nur allzu gerne experimentiert dieser rüpelhafte Dreitagebart-Hedonist mit Drogen, probiert immer neue Verkleidungen aus und stellt geheimnisvollen Männern nach. Der Holmes des neuen Jahrtausends will einfach nur sein Jungs-Ding ausleben und ungestört von Frauen, sozialer Etikette oder gesellschaftlichen Verpflichtungen seinen Kindereien nachgehen. Da geht es ihm wie Guy Ritchie. Nur bekommt der viel mehr Geld dafür.

Geständnisse – Confessions of a Dangerous Mind

(USA 2002, Regie: George Clooney)

Tausche Würde gegen Kühlschrank
von Andreas Busche

In den amerikanischen Medien ist der Kalte Krieg heute schon nicht mehr als ein Treppenwitz der Geschichte. Für Chuck Barris war er das auch Anfang der Achtziger schon – genauso …

In den amerikanischen Medien ist der Kalte Krieg heute schon nicht mehr als ein Treppenwitz der Geschichte. Für Chuck Barris war er das auch Anfang der Achtziger schon – genauso wie die ganze US-Unterhaltungsindustrie. Reagan war gerade an die Macht gekommen, als Barris bereits seine Memoiren schrieb: 'Confessions of a Dangerous Mind'. Außerhalb Amerikas wurde Barris kaum bekannt, aber die Folgen seiner Pionierarbeit, die er in den Sechzigern im US-Fernsehen geleistet hatte, sind bis heute spürbar. Zu seiner Hochphase galt er wahlweise als grandioser Prankster, Riesenarschloch oder Nemesis abendländischer Restkultur. Hätte man ihn damals gefragt, hätte er sich zwischen diesen drei Möglichkeiten wohl nur ungern entscheiden wollen – zu einfach wäre es gewesen, sich auf eine der Rollen festlegen zu lassen.

Seine Game-Shows 'The Dating Game', 'The Newlywed Game', 'The Gong Show' oder 'The $1,98 Beauty Show' waren eine Art radikale Demokratisierungsattacke auf die Old Boy’s Club-Hierarchien des Fernsehens: Das Fernsehvolk drängte unerbittlich auf den Bildschirm. Letztlich war es ein Akt der Selbstentlarvung. Mit Barris lieferte das Massenmedium Fernsehen erstmals ein authentisches Bild seiner Gesellschaft: Dumm, hässlich und ohne Selbstachtung standen ihre Vertreter da auf der Bühne und nahmen kein Blatt vor den Mund. Und als sie erkannten, was sie da angerichtet hatten, begannen sie Barris kollektiv zu hassen.

Mit 'Confessions of a Dangerous Mind' schlug Barris 1984 dann zurück. Aus dem Kellerloch, in das er sich fast drei Jahre zuvor zurückgezogen hatte, stieg der Mann, den die Fernsehnation zuletzt öffentlich ausgebuht hatte, als hochdekorierter US-Bürger. 33 Staatsfeinde hatte er laut seiner 'unautorisierten Autobiografie' im Laufe der Siebziger umgelegt, alle im Auftrag der CIA. Die Agency kommentierte Barris Geständnis damals mit den Worten, dass er wohl etwas zu nah am Gong gestanden hatte. Barris erzählt bis heute in Interviews, dass er schon immer ein mittelmäßiger Arbeiter gewesen sei – als Showmaster wie als Spion.

Das wilde Leben Barris’ liefert reichlich Material für das Regie-Debüt von George Clooney. Seit der zusammen mit Steven Soderbergh in subversiver Mission in Hollywood unterwegs ist (gerade erst kam ihr 'Solaris'-Remake in die Kinos), zieht es ihn zu den unkonventionellen Stoffen. Auch Drehbuch-Wunderkind Charlie Kaufman musste nur noch etwas an den Dialogen feilen, besser als Barris hätte es der Begründer des Gehirnkäfig-Kinos à la 'Being John Malkovich' sich selbst nicht ausdenken können. Und beide, Clooney wie Kaufman, wollen sich auch – wie der Autor der Romanvorlage – keine Sekunde darauf festlegen lassen, ob Barris nun Prankster, Riesenarschloch oder Nemesis gewesen ist. In 'Geständnisse' kommt jeder Charakterzug zu seinem Recht. Manchmal zeigt Clooney Barris auch als skrupellosen Manipulator, der die Mechanismen der Unterhaltungsindustrie meisterlich bedient. Und trotzdem bleibt der Visionär bis zum Ende ein armes Würstchen, den es vor allem ins Showbusiness verschlagen hat, damit er seinen kleinen Schwanz überall reinstecken kann. Ficken und gefickt werden ist das Motto der Showbranche und – so will es zumindest die Legende – von Barris’ Leben.

'Geständnisse' ist so delirant, wie es Barris’ Vorlage möglich macht. Und Clooney ist schlau genug, sich mit seinem Film tief in die Niederungen der Spekulation zu begeben. Zwischen den nicht einmal um eine äußere Kohärenz bemühten Eindrücken aus Barris’ Fernsehkarriere tauchen immer wieder die 'Talking Heads' ehemaliger Kollegen wie 'American Bandstand'-Erfinder Dick Clarke und Gene Gene The Dancing Machine aus der 'Gong Show' auf. Clooneys kleines 'Rashomon' der Fernsehkultur sucht nicht den Schuldigen, sondern lediglich den Deppen der Nation. Aber dann besitzt der Film nicht einmal den Anstand, das arme Schwein am Ende – nach dem Vorbild seiner eigenen Show – auszugongen. Die Schlussworte muss da erst ein altersweiser Barris sprechen: 'Ich habe eine Idee für eine neue Gameshow, sie heißt 'The Old Game'. Du hast drei alte Typen auf der Bühne mit geladener Knarre. Sie blicken auf ihr Leben zurück. Gewinner ist, wer sich nicht sein Gehirn wegbläst. Er gewinnt einen Kühlschrank.'

Sam Rockwell bringt genug Ausdruckslosigkeit in seine Rolle als Chuck Barris ein, dass sich der Film nur langsam aus seinem stoischen Erzählfluss löst. Dafür arbeiten Clooney und sein Kameramann Newton Thomas Sigel visuell im roten Bereich. Der Einsatz verschiedener Linsen, Farbfilter, exzessiver Schnitte und qualitativ schwankendem Filmmaterial rückt Barris’ Lebensgeschichte in die surrealen Dimensionen einer größenwahnsinnigen Erweckungsphantasie. Irgendwann lässt er sich in einem mittelmäßigen Restaurant einfach für den CIA-Außendienst anheuern. 'Das Profil stimmt', heißt es. 'Betrachte es einfach als Hobby. Etwas zum Entspannen. Du bist ein Mordsenthusiast.' Jesus ist in seinem Alter bereits tot gewesen und wiederauferstanden.

Für den Zynismus der Gameshow-Kultur schien der Kalte Krieg eine angemessene Metapher zu sein. In seinem Buch erzählt Barris, wie die CIA die Flugreisen der Gewinnerpaare seiner 'Dating Game'-Show dazu benutzte, ihn als Begleiter an seine Einsatzorte zu befördern. So kippt auch der Film schließlich von den ausgelassenen Gameshow-Sauereien der Sechziger in eine Spionage-Farce. Das Agenten-Personal zwischen Helsinki und Ostberlin (u. a. Julia Roberts, Rutger Hauer) besitzt ebenfalls Treppenwitz-Charakter, fügt sich aber bruchlos in den katatonische Aktionismus der Geschichte.

So einen Film hat es aus Hollywood noch nie gegeben. Barris hatte das Fernsehen mit seinen eigenen Mitteln geschlagen und mit seinen populistischen Gameshows kalkuliertes Anti-Fernsehen geschaffen: ohne Stil, ohne Inhalt, ohne Würde. Clooney geht jetzt den umgekehrten Weg, um zu einem ähnlichen Ergebnis zu kommen. 'Geständnisse' spielt mit populären Versatzstücken, um einen überbudgetierten Experimentalfilm mit A-Besetzung zu realisieren. Über den Stil lässt sich vielleicht noch streiten, über den Inhalt, seine Polemik, nicht. Vor 40 Jahren war es immerhin noch die Aussicht auf einen Kühlschrank gewesen, die das Publikum dazu trieb, sich vor der ganzen Fernsehnation zum Affen zu machen. Heutzutage ist es nur noch die pervertierte Sehnsucht, selbst aktiver Teil dieser TV-Öffentlichkeit zu sein, die die Menschen ihre Würde vergessen lässt. Barris mag ein Zyniker sein. Aber dass es einmal so schlimm kommen würde, hätte er sich wahrscheinlich auch nicht träumen lassen.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 05/2003

Kill Bill – Volume 1

(USA 2003, Regie: Quentin Tarantino)

Videotheken-Hengst-Wissen und Hyperkitsch-Kunstwelten
von Andreas Busche

Rache, heißt es in Quentin Tarantinos 'Kill Bill Vol. 1', ist niemals eine gerade Linie – sondern ein Wald. Der sonderbare Satz soll wohl auch für das Filmemachen gelten, ganz …

Rache, heißt es in Quentin Tarantinos 'Kill Bill Vol. 1', ist niemals eine gerade Linie – sondern ein Wald. Der sonderbare Satz soll wohl auch für das Filmemachen gelten, ganz sicher aber für das Kino des Quentin Tarantino. Die gerade Linie ist seine Sache nie gewesen. Mit 'Reservoir Dogs' hatte er die achronologische Narration – fortan 'postmodern' genannt – im Kino etabliert. Pulp Fiction' war dann der Beweis, dass der Job in der Videothek um die Ecke doch noch zu was gut sein kann. Tarantinos Kino ist ein Meta-Happening von Filmgeschichte; die Bäume in seinem Märchenwald sind wildwuchernde Zitate, die einem manchmal auch die Sicht auf den Film verstellen. Mit seinem vierten Film 'Kill Bill', der aufgrund seiner Länge und Informationsdichte zweigeteilt ins Kino kommt, ist Hollywoods ehemaliger Wunderjunge nach innerlicher Reifung mit 'Jackie Brown', der schönsten Form von Huldigung, die für eine B-Film-Queen vorstellbar ist, zum Kind regrediert. Man könnte auch sagen, er sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Tarantino ist mit 'Kill Bill' zum reinen Genrekino, der Pulp Fiction, zurückgekehrt. Hätte er die Form von Kino, die er mit 'Jackie Brown' erreicht hatte, weiter verfolgt, wäre er in 15 Jahren beim geriatrischen Film angekommen, hat er in einem Interview gesagt. Also ist 'Kill Bill' zwangsläufig das Gegenteil von 'Jackie Brown' geworden, denn Tarantino ist ein Regisseur, der mehr auf das Kino hält als auf sich – auch wenn das im ersten Moment nicht so scheint. 'Der vierte Film von Quentin Tarantino' titelt überheblich der Vorspann. Zuvor allerdings hat er eine Hommage eingeschoben wie noch kein anderer in Hollywood. Vor den ersten Produktionscredits erscheint der legendäre Schriftzug 'Shaw Scope' der Shaw Brothers – und 'Kill Bill' braucht keine fünf Minuten, die Würdigung der Pioniere des chinesischen Martial-Arts-Genres ('Die 36 Kammern der Shaolin', 'Das Schwert des Gelben Tigers') zu rechtfertigen. In den Suburbia von Passadena liquidiert Uma Thurman nach allen Regeln der Kampfkunst eine ehemalige Kombattantin.

Was Tarantino mit 'Kill Bill' veranstaltet hat, ist obsessiv, um das Mindeste zu sagen. Bisher war es in die Jahre gekommenen Regisseuren wie Scorsese oder Godard vorbehalten, wehmütige Erinnerungen an ihre ganz persönliche Kinogeschichte mit dem Publikum zu teilen. Insofern ist 'Kill Bill' vielleicht schon Tarantinos frühes Alterswerk, sein 'Histoire(s) du cinÈma'. Der Film komprimiert 30 Jahre asiatisches Kino auf etwas mehr als drei Stunden, eine hemmungslose Nabelschau von angestautem Videotheken-Hengst-Wissen. Seinen Kameramann und seine Schauspieler hat er zur Nachhilfe ins Kino geschickt, damit sie mit den Einstellungen und Posen vertraut werden, die er in 'Kill Bill' penibel rekonstruiert.

Wenn Uma Thurman und Lucy Liu im Haus Der Blauen Blätter zum Duell antreten, dann schwingt in der martialischen Poesie, den Farbspielereien und der Schwerelosigkeit seiner Kämpferinnen der Geist der alten Shaw-Brüder mit. Die Blutfontänen, die abgetrennten Glieder und Köpfe sind eine ehrfurchtsvolle Verneigung in Richtung Kenji Misumis 'Okami / Shogun Assassin'-Filmen sowie des japanischen Animes. Takeshi Kitanos stoischer Gewalt wird ebenso Referenz erwiesen wie der Martial Arts / Drahtseil-Technik Yuen Wo-Pings ('Matrix', 'Tiger & Dragon'). 'Kill Bill' ist mit staubigen Erinnerungen vollgestellt wie ein Museum, und so verwundert es kaum, dass er trotz seines erhöhten Tempos etwas leblos wirkt. Denn was am Ende bleibt, wenn man die drei furiosen Kampfsequenzen, die im Zentrum des Films stehen, die hölzern-comichaften Dialogszenen und die wenig erhellenden Rückblenden beiseite lässt, ist eine Handlung, die locker auf das Zettelchen eines Glückskekses passen würde.

Wert legt Tarantino paradoxerweise vor allem auf die Authentizität seiner Hyperkitschkunstwelt, in der geschlagene Kämpfer noch in doppelten Pirouetten zusammenbrechen. Diese Authentizität bezieht sich direkt auf die Gewalt, die sowohl in Tarantinos wie auch in seinem asiatischen Lieblingskino eine zentrale Rolle spielt. Das Filmblut, das im Film literweise in die Kamera spritzt, hat er sich aus Asien importieren lassen. Und bei den Kampfszenen mit dem Drahtseil-Experten Yuen Wo-Ping verzichtete er auf digitale Tricks. Gewalt, die mit Tarantinos Filmen immer noch zuallererst in Verbindung gebracht wird, hat in 'Kill Bill' nur noch den Stellenwert eines bloßen Zitats. Ein Effekt, der sich im Film sehr schnell abnutzt. Als schließlich die Schlacht im Haus Der Blauen Blätter, eine Hommage an das Rasenmäher-Finale von Peter Jacksons 'Braindead' und Kinji Fukasakus High School-Massaker 'Battle Royal', ihren Anfang nimmt, ist das blutrünstige Gemetzel weit weniger artistisch als die Schlusstotale auf das Schlachtfeld, auf dem sich die Körper der Kämpfer wie zu grotesken Schriftzeichen angeordnet haben.

Die Tatsache, dass 'Kill Bill' von seinem Verleih Miramax in zwei Teilen in die Kinos gebracht wird, lässt sich erst nach Besichtigung des recht schleppenden ersten Teils richtig bewerten. Am Ende eines langen Kinosommers voller Sequels mutet diese Entscheidung nicht unbedingt geschäftstüchtig an. Denn das Geschäftsjahr 2003 könnte als das Jahr in die Kinogeschichte eingehen, in dem die Idee des Sequels zu Grabe getragen wurde. Dass Fortsetzungen in der Regel nicht erfolgreicher als ihre Vorgänger sind (sie kosten mehr, spielen aber weniger ein), war schon in den siebziger Jahren bekannt. In diesem Jahr aber sind die wichtigsten Blockbuster – und damit Sequels ('Tomb Raider II', 'Terminator III', Matrix Reloaded', 'Bad Boys II' etc.) – bereits nach der ersten Startwoche kläglich abgesoffen. Die Umsätze fielen um etwa 50 Prozent. Schuld daran trägt die Mundpropaganda, die nach der ersten Woche die Runde macht – denn was dieser Sommer bot, war meist wirklich unter aller Sau. Genau auf diese Mundpropaganda aber baut Miramax-Chef Harvey Weinstein, wenn er im nächsten Frühjahr den zweiten Teil von 'Kill Bill' in die Kinos bringt. Er hofft auf den Hunger der Tarantino-Fans, die sechs Jahre auf den neuen Film warten mussten. Ein billiger Trick, der ihm viel Geld bringen könnte. Der Fan muss nun doppelt zahlen.

Dem ersten Teil nach zu urteilen, wäre es allerdings besser gewesen, 'Kill Bill' einfach auf 2 1/2 Stunden herunterzukürzen. Weinstein, der in Hollywood den Spitznamen 'Harvey Scissorhand' hat, ist berüchtigt dafür, seinen Regisseuren das Leben zur Hölle zu machen und blindwütig in ihre Filme zu pfuschen. 'Kill Bill Vol. 1' transportiert – wohlgemerkt bei einer Länge von nur 95 Minuten – bereits genügend Füllmaterial, auf das man gut und gerne hätte verzichten können. Man könnte die Entscheidung, den Film zu teilen, natürlich auch als Sieg der künstlerischen Freiheit über das unternehmerische Kalkül werten – Weinstein hat eine Schwäche für den Arthouse-Film, auch wenn es kein 'Tiger & Dragon' geworden ist. Aber mit 'Kill Bills' Cliffhanger-Ende geht Weinstein kaum ein Risiko ein, dass der zweite Teil floppen könnte. 'Kill Bill Vol. 2' könnte sogar zu einer seltenen Ausnahme werden: das Sequel erfolgreicher als das Original.

Wenn Sie einen Tipp haben wollen: Pfeifen Sie auf 'Vol. 1', leihen Sie sich ein halbes Jahr später die DVD und gucken Sie danach im Kino die Fortsetzung. Man muss sich von den Hollywood-Leuten ja nicht für vollkommen blöd verkaufen lassen.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2003

Brokeback Mountain

(USA 2005, Regie: Ang Lee)

Konstante Homophobie
von Andreas Busche

Es musste also wirklich erst ein taiwanesischer Regisseur kommen, Amerika zu zeigen, was eigentlich längst jeder geahnt hatte. Dass der Western, das uramerikanische Genre schlechthin, eigentlich eine klandestine Zusammenkunft von …

Es musste also wirklich erst ein taiwanesischer Regisseur kommen, Amerika zu zeigen, was eigentlich längst jeder geahnt hatte. Dass der Western, das uramerikanische Genre schlechthin, eigentlich eine klandestine Zusammenkunft von closet cowboys und reardoor jockeys ist – ein willkommener Vorwand für frohlockende Reiterspiele unter freiem Himmel. Nicht umsonst gilt der Western als das – neben dem Gladiatorenfilm – männlicheste Filmgenre. Wir erinnern uns nur zu gerne an den unvergesslichen Dialog aus „Red River“, wenn Montgomery Clift, Hollywoods bekannteste Klemmschwester, und John Ireland ehrfürchtig ihre besten Stücke (ihre Colts, natürlich) vergleichen. „Das ist ein besonders schönes Stück, das Du da hast. Darf ich es mal halten?“ Jaja, der Wilde Wilde Westen …

Ang Lees Cowboy-Schnulze „Brokeback Mountain“ ist aber nicht nur deswegen schon jetzt einer der besten Filme des Jahres, weil er einmal unverblümt zeigt, was die Pistoleros und Viehtreiber tatsächlich so trieben in den einsamen, bitterkalten Prärienächten, wenn billiger Whiskey und Peyote den einzigen Trost spendeten – sondern weil Lee solche doch recht schalen Treppenwitze (die nach den Oscarnominierungen natürlich wieder durch alle amerikanischen Talkshows – von Lettermann bis Conan O’Brien – geisterten) in eine der ergreifendsten und traurigsten Liebesgeschichten seit Douglas Sirks Rock Hudson-Filmen (noch so ein Klemmi!) verwandelt hat, ohne seine schwule Thematik für ein Hetero-Mainstream-Publikum zu kompromittieren.

„Brokeback Mountain“ ist „großes Kino“ im allerbesten Sinne. Ein in seiner räumlichen wie zeitlichen Ausdehnung episches Melodrama, das den Genre-Konventionen so eng wie nötig verbunden bleibt, damit es gerade noch als universelle Love Story funktionieren kann. Lee und sein Produzent James Schamus haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie sich für ihren Film weniger am klassischen Western als an „Titanic“ orientiert haben (die amerikanischen Filmplakate sind nahezu identisch). Es ist nicht zuletzt den Drehbuchautoren Larry McMurtry und Diana Ossana, ersterer ein gestandener Western-Veteran, zu verdanken, dass der amerikanische Westen in „Brokeback Mountain“ nie zur bloßen Hintergrund-Kulisse verkommt. Lees Film beschreibt gleichermaßen das „Far Country“ Anthony Manns wie auch die gesellschaftlichen Zwänge, wie sie in den Suburbia-Dramen Sirks allgegenwärtig sind.

Alles beginnt in den titelgebenen Bergen von Wyoming im Sommer 1963. Ennis del Mar (Heath Ledger) und Jack Twist (Jake Gyllenhaal), zwei mittellose Farmarbeiter, heuern für einen Sommer bei einem Viehhändler an. In den Monaten der Isolation kommen die beiden sich langsam näher; viel gibt es auch sonst nicht zu tun. Die Tage verbringen sie mit Patrouillenritten zwischen ihrem Camp am Fuß der Berge und ihrer Schafherde, dem Aufkochen von Dosenfraß (zur Abwechslung erledigen sie auch mal einen Hirsch) und dem Austausch von Familiengeschichten. Das alles wirkt zunächst wie eine Pfadfinderidylle, und sie gipfelt schließlich in einer betrunkenen Nacht am Lagerfeuer.

Früh wird offensichtlich, dass Lee die imposante Bergwelt Wyomings als einen utopischen Naturzustand außerhalb der Grenzen der Zivilisation versteht. Seine Landschaftstotalen etablieren einen besseren, freien Ort. Die Zurückhaltung, mit der er Ledger und Gyllenhaal bei ihren alltäglichen Verrichtungen (dem Waschen am Fluss, ihrem Raufen, den Ausritten) in dieser Landschaft beobachtet, bewahrt seine Liebesgeschichte auch vor dem Gefühlskitsch. Lee entwicklet in diesen Szenen eine ganz natürliche Atmosphäre von Vertrauteit, die aus der Verbundenheit zur Landschaft erwächst – und somit ein Topos des klassischen (Hetero-)Westerns komplett auf den Kopf stellt. So muss in „Brokeback Mountain“ nie mehr geredet werden als nötig. Das ist so angenehm wie für den Verlauf der Geschichte auch symptomatisch.

Wenn man Lee etwas vorwerfen wollte, dann allenfalls, dass „Brokeback Mountauin“ sehr bald wieder in die traditionellen Rollenmodelle des Melodrams zurückfällt. Das beginnt schon mit Ledgers ungleich maskulinerer Statur. Sein Ennis Del Mar, der verstocktere der beiden Männer, ist ein wortkarger Hüne und nahezu unfähig, Gefühle zu artikulieren. Ledgers beeindruckend mahlender Unterkiefer scheint pausenlos die angestauten Emotionen seiner Figur verarbeiten zu müssen. Seine Neigung zu Unbeherrschtheit und Gewaltausbrüchen unterscheidet ihn von Gyllenhaals sensiblem Jack Twist mit seinen strahlend blauen Augen. Jack ist eindeutig die bodenständigere Figur. Aus seiner Sehnsucht nach einer gesicherten Existenz (eine kleine Ranch, ein paar Pferde) sprechen wieder die hunderte von domestizierten Frauenrollen aus Howard Hawks- / John Ford- / William Wellman etc.-Western. Und sein tränenersticktes „I wish I knew how to quit you“ ist in Queer-Kreisen schnell zum geflügelten Wort avanciert.

Wie flüssig Lee „Brokeback Mountain“ inszeniert hat, zeigt sich schon darin, dass der Film zwanzig Jahre verstreichen lässt (von 1963 bis in die frühen Achtziger), ohne dass diese äußere Zeit je spürbar wird. Jacks wie Ennis (heterosexuellen) Beziehungen festigen sich und zerfallen wieder, ihre Kinder wachsen heran. Gleiches gilt für Ennis’ und Jacks regelmäßige Camping-Ausflüge, die ihre einzigen ungestörten Zusammenkünfte bleiben. Sie kommen und gehen, Jahr für Jahr. Nur Gyllenhaals schnuckeliger Schnauzer (in den Siebziger Jahren war das noch weniger verfänglich als spätestens mit der Ankunft der Village People) lässt erahnen, wie schnell die Jahre in „Brokeback Mountain“ ins Land ziehen. Moden und gesellschaftliche Erscheinungen gehen am Film spurlos vorüber.

McMurtry und Ossana haben aus Annie Proulx’ 14seitiger Kurzgeschichte, die 1997 zum ersten Mal im New Yorker veröffentlicht wurde, eine geschlossene Welt entworfen, die von äußeren Einflüssen fast unberührt bleibt. Einzige Konstante ist in „Brokeback Mountain“ die grassierende Homophobie der amerikanischen Provinz: zunächst anhand einer Kindheitserfahrung, wenn Ennis am Lagerfeuer Jack erzählt, wie sein Vater ihm eines Tages das Opfer eines hate crimes vorführte („Mein Vater sorgte dafür, dass mein Bruder und ich das zu sehen kriegen. Und, verdammt, es hat gewirkt. Zur falsche Zeit, am falschen Ort … und wir sind tot!“), schließlich in der Gewalt, die Jack widerfahren wird. Und dann klingt in „Brokeback Mountain“ auch die Geschichte von Matthew Sharp nach, der 1998, gerade ein Jahr nach der Veröffentlichung von Proulx’ Kurzgeschichte, in Wyoming von einer Gruppe Rednecks gelyncht wurde. Was Ennis und Jack über all die Jahre verbindet, ist die Erinnering an ihren gemeinsamen Sommer auf Brokeback Mountain. Es wird auch das Einzige sein, das ihnen am Ende bleibt.

Es liegt nahe, in „Brokeback Mountain“ einen politischen Kommentar hineinzulesen, nicht nur weil Texas und Wyoming, die Staaten, in denen Ennis’ und Jacks Familien leben, zufällig auch die Staaten von Bush und Cheney sind. Doch das Drehbuch von McMurtry und Ossana kursierte bereits jahrelang in Hollywood, bevor es Lee schließlich in die Hände fiel. Und der hat die Zeitlosigkeit des Stoffes richtig erkannt. Die Stärke des Films liegt gerade in seiner formalen Konventionalität. Wenn man denn in „Brokeback Mountain“ nach einem politischen Kommentar sucht, dann steckt er in dem tragischen Widerspruch, der sich aus der Weite dieses Landes und dem Mangel an Freiheit des Einzelnen ergibt.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 03/2006

Yumurta – Ei

(TUR / GR 2007, Regie: Semih Kaplanoglu)

Aufgeschobener Aufbruch
von Wolfgang Nierlin

In den bedeutendsten Filmen des modernen türkischen Kinos bricht sich ein Lebensgefühl Bahn, das zwischen melancholischem Existentialismus, Entfremdung und Perspektivlosigkeit changiert. So wirken die Arbeiten von Autorenfilmern wie Nuri Bilge …

In den bedeutendsten Filmen des modernen türkischen Kinos bricht sich ein Lebensgefühl Bahn, das zwischen melancholischem Existentialismus, Entfremdung und Perspektivlosigkeit changiert. So wirken die Arbeiten von Autorenfilmern wie Nuri Bilge Cylan und Zeki Demirkubuz mitunter geradezu als zeitgenössische Fortsetzungen der Filme Antonionis. Doch hinter selbstbezogener Einsamkeit und der Unfähigkeit, Beziehungen einzugehen, steht hier nicht allein ein allgemeiner Sinnverlust im Zeichen der Moderne, sondern vor allem ein kultureller Bruch nach dem Wegfall traditioneller Gewissheiten. Zwar bleibt die aktuelle Politik des Landes weitgehend unsichtbar, doch der durch sie verursachte gesellschaftliche Wandel hat sich in den Biographien der dargestellten Figuren festgesetzt und ihre Identitäten mit Ungewissheiten infiziert. Unterdrückte Sehnsüchte und innere Unruhe bei gleichzeitig äußerem Stillstand, scheint ein Wesensmerkmal von ihnen zu sein. Anderseits sind sie oft in Indifferenz und Unentschiedenheit gefangen, was sich zum Beispiel in Cylans Filmen „Uzak“ (Weit weg) und Iklimler (Jahreszeiten) besichtigen lässt.

Auch der schweigsame Dichter Yusuf (Nejat Isler) aus Semih Kaplanoglus Film „Yumurta – Ei“, dem ersten Teil der „Yusuf-Trilogie“, gehört in diese Reihe melancholischer, scheinbar verlorener Gestalten. Zu Beginn des tief beeindruckenden Films sieht man ihn in seinem Istanbuler Buchladen: Umgeben von vollgestopften Regalen, sitzt er in sich gekauert, rauchend und leise Musik hörend, während er dem aufreizenden Auftreten einer späten Kundin kaum Beachtung schenkt. Seine Distanz zur oberflächlichen Beliebigkeit des städtischen Lebensgefühls ist genauso ausgeprägt wie diejenige zu seiner ländlichen Herkunft. Yusuf lebt in einem ungewissen Zwischenreich: Er hat seine traditionelle Erdung gegen eine trügerische Hoffnung eingetauscht, weil ihm seine künstlerische Berufung im klassischen Konflikt mit dem Leben keine Wahl zu lassen scheint; er sucht, ohne sich darüber bewusst zu sein, nach einer Identität, die er zugleich flieht.

Als Yusuf zur Beerdigung seiner Mutter Zahra nach Tire unweit der ägäischen Küste gerufen wird, konfrontiert ihn das nicht nur mit dem ungeliebten Ort seiner Kindheit und Jugend, sondern in der jungen, schönen Ayla (Saadet Aksoy) auch mit seinem uneingestandenen, unterdrückten Liebesbegehren. Während er noch mit der formalen Abwicklung des Trauerfalls beschäftigt ist und dabei kaum innere Regung zeigt, trifft er auf frühere Bekannte und seine einstige Jugendfreundin Gül (Gülcin Santyrcyoelu). Doch Yusuf ist ein Fremder in der Heimat; seine Erinnerungen sind wie ein ferner Schatten verlorener Möglichkeiten. Müde und melancholisch, scheinbar ohne Interesse und immer den anvisierten baldigen Aufbruch im Blick durchquert Yusuf die Szenerien vertrauter Orte, an denen alte Bräuche, überlieferte Werte und das Wissen um handwerkliche Techniken lebendig sind. Gerade seine Begegnung mit Ayla, die trotz selbstbewusster Emanzipiertheit ein ungebrochenes Verhältnis zu den heimatlichen Traditionen besitzt und die ihm in gewisser Weise die Mutter ersetzt, zwingt ihn in die Auseinandersetzung mit seiner Herkunft. Widerstrebend einem Gelübde seiner verstorbenen Mutter folgend, soll Yusuf einen Widder opfern.

Semih Kaplanoglu, der seinen Film in langen Einstellungen komponiert hat und seine mitunter betörend schönen Bilder mit einer unaufdringlichen Symbolik metaphysisch auflädt, schickt Ayla und Yusuf, als wären sie verheiratet, auf eine Fahrt über den Berg Bozdag bis zum Gölcük-See. Dabei wird die göttliche Natur zum Spiegel der Erinnerung und zum Seelenraum. Im Schweigen verdichtet sich für Yusuf schließlich ein Gefühl der Heimkunft und eines verdrängten Liebesverlangens. In einer atmosphärisch höchst eindringlichen, völlig ungewöhnlichen Szene mit einem großen Hirtenhund, der in einer Mischung aus Bedrohung und schützender Geborgenheit Yusuf eine Nacht lang auf freiem Feld festhält beziehungsweise bewacht, verdichtet Kaplanoglu in einem außerordentlichen, irritierenden Bild das Motiv des aufgeschobenen Aufbruchs. Für einen langen kathartischen Augenblick wird aus dem verlorenen Schaf, das seinen Weg nicht mehr kennt, ein weinendes Kind. In „Yumurta“ mündet die verhinderte Flucht in eine Rückkehr.

Süt – Milk

(TUR / F / D 2008, Regie: Semih Kaplanoglu)

Wege in die Selbstständigkeit
von Wolfgang Nierlin

In Semih Kaplanoglus Filmen ist die zeitliche Dauer der Einstellungen das Leben selbst. Man kann, wenn man möchte, in ihnen wohnen. Im meditativen Fluss der Bilder sind existentielle Fragen gespeichert: …

In Semih Kaplanoglus Filmen ist die zeitliche Dauer der Einstellungen das Leben selbst. Man kann, wenn man möchte, in ihnen wohnen. Im meditativen Fluss der Bilder sind existentielle Fragen gespeichert: Die Dinge gewinnen eine Aura, aus dem Schweigen der Figuren dringt das Sein. Damit verbunden ist die Erfahrung des Raums, seine sinnliche Ausdehnung. In der Totale erzeugen die Beziehungen zwischen Vorder- und Hintergrund immer wieder eine dialektische Spannung: Natur und Zivilisation, Tradition und Moderne, Stadt und Land treten in einen Dialog.

Kaplanoglus filmische Ästhetik und visuelle Poesie ähneln darin derjenigen seiner Generationskollegen Nuri Bilge Ceylan und Zeki Demirkubuz, zwei weiteren herausragenden Vertretern des zeitgenössischen türkischen Autorenfilms. Während jedoch bei aller Verwandtschaft Ceylans Arbeiten zunehmend artifizieller wirken und Demirkubuz‘ „Geschichten der Finsternis“ den Neorealismus erneuern, begeben sich Kaplanoglus Filme auf den schmalen Grat zwischen der Wirklichkeit und ihrer symbolischen Überhöhung. „Wir sehen die Welt nicht nur mit unseren Augen, sondern auch mit unseren Träumen“, hat der 1963 in Izmir geborene Regisseur dazu gesagt.

Sein Film „Süt – Milch“, nach „Yumurta – Ei“ der zweite Teil der sogenannten „Yusuf-Trilogie“, beginnt mit einem Ritual. Ein alter Schlangenbeschwörer kritzelt Beschwörungsformeln auf einen kleinen Zettel, den er dann in einem Kessel mit dampfender Milch versenkt. Darüber hängt kopfüber eine junge Frau, die den Dampf einatmet und unter Husten allmählich eine kleine Schlange hervor würgt. Kaplanoglu hat sein Symbol aus der Lebenswirklichkeit gewonnen. Eine andere, größere und dunklere Schlange dringt in das Haus des etwa 20-jährigen Yusuf (Melih Selcuk) und seiner Mutter Zehra (Basak Köklükaya) und symbolisiert insofern die sich zuspitzende Krise einer Mutter-Sohn-Beziehung. Die Reinheit und Unschuld dieser in der türkischen Gesellschaft symbiotischen Beziehung erfährt in „Süt“ eine entscheidende Störung und kulminiert in einem doppelten Ablösungsprozess.

Yusufs Weg in die Selbständigkeit schwankt zwischen Neigung und Pflicht, Freiheit und Notwendigkeit. In einem Vorort der Provinzstadt Tire im Hinterland der ägäischen Küste hilft er auf dem kleinen Hof der Mutter, indem er sich um die Kühe kümmert, Milch und Käse verkauft. Aber eigentlich fühlt sich der verschlossene Außenseiter mit dem intensiven Blick zum Dichter berufen. An der Wand seines Zimmers hängen Portraits von Rimbaud und Dostojewski; gerade hat eine Literaturzeitschrift eines seiner Gedichte veröffentlicht, was Yusuf mit heimlichem Stolz erfüllt und seine künstlerische Berufung zu bestätigen scheint. Doch dem jungen Dichter fehlt der soziale Rückhalt: Für seine Mutter ist er ein Träumer und ein trunksüchtiger Professor fällt als Vaterersatz und literarischer Mentor aus. Allein die Studentin Semra, die Yusuf nach seiner Musterung in Izmir kennenlernt, und ein Dichterfreund, der im Bergbau arbeiten muss, können als gleichgesinnte Seelenverwandte gelten. Doch diese bleiben seinem Alltag zu entfernt.

Als schließlich seine attraktive Mutter Zehra eine Beziehung zum örtlichen Stationsvorsteher eingeht, erfährt Yusufs labiles Gleichgewicht eine entscheidende Störung, seine Perspektive verengt sich und wird allmählich von Dunkelheit und Resignation eingehüllt. Semih Kaplanoglu spiegelt die Krise dieses Erwachsenwerdens am Eindringen der Moderne in die traditionelle Gesellschaft, ablesbar an der Vorort-Architektur, der Landnahme durch die Großindustrie, dem Zurückdrängen der bäuerlichen Kultur und einer damit einhergehenden veränderten Arbeitswelt, die das Individuum verschluckt, was die Kamera im sehr intimen Blick auf Yusufs Dichterfreund zeigt. Einmal bringt der Sohn wie zur Versöhnung einen großen Fisch mit nach Hause. Doch die Realität verwandelt sich in einen Traum, in dem die Mutter mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen einen Truthahn rupft.

Bal – Honig

(TÜR / D 2010, Regie: Semih Kaplanoglu)

Der Mond im Wassereimer
von Wolfgang Nierlin

Ein intensives, saftiges Grün und eine Stille, in der die Naturgeräusche lebendig sind, wohnen von Anfang an in den Bildern von Semih Kaplanoglus poetischem Film „Bal – Honig“. Die akustische …

Ein intensives, saftiges Grün und eine Stille, in der die Naturgeräusche lebendig sind, wohnen von Anfang an in den Bildern von Semih Kaplanoglus poetischem Film „Bal – Honig“. Die akustische Erzählung begleitet und erweitert so den visuellen Rahmen über seine Ränder hinaus. Aus der Tiefe des Bildes bewegen sich ein Mann und ein Esel langsam in den Vordergrund, was die Kamera in einer langen statischen Einstellung erfasst. Licht fällt durch das dichte Blätterdach des Waldes und erzeugt ein Schattenspiel. Es ist ein alter, magischer Wald aus einer anderen Welt, die der Regisseur für den dritten Teil seiner Yusuf-Trilogie in der Provinz Rize an der Schwarzmeerküste im Nordosten der Türkei gefunden hat. Der Mann, ein Imker namens Yakup (Erdal Besikcioglu), der sein Handwerk noch nach alten Traditionen ausübt, schwingt ein langes Seil über einen Ast. Als er sich daran, mit den Beinen gegen den hohen Stamm gestützt, hochzieht, bricht das Holz; und für einen ewigen Augenblick schwebt Yakup hilflos und in Todesgefahr zwischen Himmel und Erde.

Es ist dieser ungewisse Schwebezustand der Exposition, den Kaplanoglu auf den Film ausdehnt: Einerseits als andauerndes Warten von Yakups kleinem Sohn Yusuf (Bora Altas), der die Heimkehr seines geliebten, herzensguten Vaters ersehnt; andererseits als ein existentielles Verharren auf der Schwelle zu etwas Neuem, was der türkische Regisseur schon in den Filmen „Yumurta – Ei“ und „Süt – Milch“ auf unnachahmliche Weise thematisiert hat. Dabei geht es jeweils um einen bedeutsamen Wendepunkt im Leben der Protagonisten, um Ereignisse und Veränderungen, die einen Entwicklungsschritt bedingen. Im Falle des kleinen Yusuf ist es ein Schritt, der den Spuren des Vaters folgt, hin zu einem überlieferten, sinnlichen Weltbezug, und der die Isolation seiner kindlichen Traumwelt aufbricht.

Yusufs träumerisches Wesen, seine Empfänglichkeit für Poesie, vor allem aber sein stotterndes Lesen in der Schule machen ihn zum Einzelgänger. Mit dem fürsorglichen, geduldigen Vater verständigt er sich flüsternd, mit Tricks und Täuschungen vermeidet er unangenehme Situationen. Einmal lauscht er bei einer älteren Schülerin, die Rimbauds „Sensation“ (auf Deutsch in der Nachdichtung von Paul Zech) rezitiert: „Erlöst bin ich aus Raum und Zeit / die Sonnenwolke kann nicht freier sein.“ Die schmerzliche Abwesenheit des Vaters beschleunigt die Dringlichkeit, das Eigene zu finden. Semih Kaplanoglu verbindet diese doppelte Suche, die Yusuf in den nächtlichen Wald führt, mit der Darstellung einer vom Verschwinden bedrohten Lebensweise und Kultur. Sein kontemplativer „spiritueller Realismus“ übersetzt die Natur für den Zuschauer in einen sinnlichen Erfahrungsraum, in dem sich Mikro- und Makrokosmos durchdringen und sich dafür symbolisch die Mondscheibe auf der Oberfläche eines gefüllten Wassereimers spiegelt.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

I’m Still Here

(USA 2010, Regie: Casey Affleck)

Selbstgebaute Gefängnisse
von Wolfgang Nierlin

Der amerikanische Mythos vom selbstgemachten Erfolg lastet schwer auf Casey Afflecks Fake-Dokumentation “Im Still Here”, die man genauso gut als pseudo-dokumentarischen Spielfilm bezeichnen könnte. Noch in seiner Negation geht es …

Der amerikanische Mythos vom selbstgemachten Erfolg lastet schwer auf Casey Afflecks Fake-Dokumentation “Im Still Here”, die man genauso gut als pseudo-dokumentarischen Spielfilm bezeichnen könnte. Noch in seiner Negation geht es ums Gewinnen, noch im Scheitern um den heroischen Auftritt. Um sich als „Siegertyp“ einzuführen, genügt dem Schauspieler Joaquín Phoenix ein Ausschnitt aus einem Familienfilm, der ihn als Kind beim mutigen Sprung von einem Wasserfall zeigt. Doch einige Szenen weiter, auf dem Höhepunkt seines Erfolgs als Schauspieler, empfindet er diesen bereits als „selbstgebautes Gefängnis“. Im dunklen Kapuzen-Shirt und mit dem Rücken zur Kamera nuschelt und lallt er sich seinen Frust von der Seele: Er wolle keine „Marionette“ mehr sein, sondern nach seinem persönlichen Ausdruck suchen und dabei sein „Innerstes zeigen“. Doch Phoenix‘ angekündigter Ausstieg aus dem falschen Traum ähnelt eher einem letztendlich folgenlosen Experiment in der Möglichkeitsform.

Ausgerechnet als Hip Hop-Musiker will sich der populäre Schauspieler nach seiner Abkehr vom Filmgeschäft neu erfinden. Der Film seines Kollegen und Schwagers Casey Affleck soll diesen Prozess wiederum dokumentieren. Aber schon die Voraussetzungen dafür sind von jenen Krankheitserregern infiziert, die hier angeblich bekämpft werden sollen. Denn zum einen handelt es sich hier natürlich um ein luxuriöses Projekt mit doppeltem Boden; zum anderen wählt Phoenix nur andere Mittel der Selbstinszenierung: Er lässt sich Haare und Bart wachsen, gibt sich schwerfällig und unberechenbar, fühlt sich unverstanden und spricht kaum einen Satz ohne das F-Wort. In wüsten Szenen, in denen Drogen und Sex, Provokationen und Streitereien den Klischees vom Showgeschäft zuarbeiten, zelebrieren Affleck und Phoenix das absehbare, wenn nicht gar gewollte Scheitern ihrer Kunstfigur „JP“ als langsames Untergehen.

Weil Joaquín Phoenix‘ Traum von einem Neubeginn als Suche nach der wahren Identität mehr oder weniger von Fiktionen ummantelt ist, bleibt auch das (dokumentarische) Bild der Wirklichkeit von Manipulationen infiltriert. „I’m Still Here“ vereint deshalb vor allem eine wenig inspirierte Selbstparodie mit einer etwas zähen Satire auf das Showbusiness. So wirkt der Film über weite Strecken wie ein schludrig montiertes Amateurvideo, vollgestopft mit hohlen Aktionen, die den darunterliegenden Leerlauf nur unzureichend kaschieren können. Nur wenige Szenen erzeugen jene flirrende Intensität, in denen die sicheren Zuordnungen versagen und die Verwischung der Grenze zwischen Fiktion und Realität irritierend wird.

matrix reloaded

Matrix Reloaded

(USA 2003, Regie: Andy Wachowski, Lana Wachowski)

Was heißt Kontrolle?
von Andreas Busche

Die Matrix hat den Blick auf die Apparatur des Spektakels geschärft. Unter der Oberfläche sieht es finster und unwirtlich aus, wie eine Erweiterung des Kinoapparats auf der Leinwand: Vorne versorgt …

Die Matrix hat den Blick auf die Apparatur des Spektakels geschärft. Unter der Oberfläche sieht es finster und unwirtlich aus, wie eine Erweiterung des Kinoapparats auf der Leinwand: Vorne versorgt er uns mit bunten Bildern und Illusionen, während im Inneren des Gebäudes die Projektionsgeräte geräuschvoll die Bilder produzieren. Es war auch das überzeugendste Bild, das “The Matrix” vor vier Jahren im Bewusstsein des Kinogängers plazierte: in schwarze Schluchten abfallende Lagertürme menschlicher “Batterien”, in einer desolaten Nachkriegslandschaft. Ein gigantischer Parkplatz für “Human Resources”. Der Mensch existiert in diesem System nur noch, um in seiner Versklavung die Simulation einer materiellen (und materialistischen) Realität aufrechtzuerhalten. Die Wahl zwischen Simulation und Desolation reduziert sich auf die Wahl der richtigen Farbe: blaue Pille oder rote Pille? Willkommen in der Wüste des Realen!

Das Erfrischende an “The Matrix” war – trotz seiner messianischen Erweckungsbotschaft – der unumstößliche Nihilismus, der sich in einem schweren Paradoxon auflöste. Nicht mehr die idealtypische Wirklichkeit, den utopischen Ort, an dem das menschliche Begehren sich manifestiert, galt es zu bewahren (dieser “Ort” ist längst zum “Großen Anderen” mutiert); es galt, sich mit der realen Verheerung bestmöglich zu arrangieren – ein Topos, das im gegenwärtigen Science Fiction-Film (zuletzt “Die Herrschaft des Feuers”) häufiger anzutreffen ist. Utopia und Dystopia sind ununterscheidbar geworden, aufgelöst in einer fantastischen Möglichkeitspalette von Schein- und Hyperwirklichkeiten.

Dieser kategorische Konjunktiv verschaffte den Wachowski-Brüdern, die vor vier Jahren die “Matrix”-Trilogie aus jenem kruden Gemisch aus Superhelden-Mythologie, Videospiel-Ästhetik, Hongkongs Bloodshed-Filmen, Techno-Gnosis und Vulgär-Philosophie geschaffen hatten, eine Fülle von inhaltlichen Anschlüssen, die gleich für eine ganze Trilogie gereicht haben. Der Ende Mai gestartete “The Matrix Reloaded” (der Abschluss folgt im November 2003 mit “The Matrix Revolutions”) muss mit dieser Materialübersättigung, narrativ wie intellektuell, erst einmal zurechtkommen. Die Zweifel an dieser gewaltigen Aufgabe sind seinem Superhelden bereits eingeschrieben, wenn Neo (Keanu Reeves) sich gleich in den ersten Minuten des Films fragt, was das ganze Theater um Erlösung und Heilsbringertum eigentlich soll. Die Frage hat hier natürlich voll und ganz ihre Berechtigung, aber natürlich ist kein Zuschauer mehr fähig, sie nach dem intensiven medialen Bombardement noch laut auszusprechen. Wie eine Matrix hat sich der Marketing-Apparat (dessen effizienteste ‘Drone’ ein High End-Videospiel ist, das so manchen Hollywood-Blockbuster in puncto Technik deklassiert) über unsere Wahrnehmungssynapsen gelegt. That`s Entertainment!

Was aber ein echter Fan ist, der lässt sich von solchen Nebensächlichkeiten nicht abschrecken. Das Sequel schafft es erneut spielerisch, zwischen Popcorn- und geisteswissenschaftlicher Fraktion zu vermitteln. Und Larry und Andy Wachowski haben sich noch genug Hintertüren offen gelassen, um nicht allzu früh in ihrem eigenen mythologischen Käfig zugrunde zu gehen. Mit platinblonden Dreadlock-Zwillingen, einer saftigen (sic!) Liebesgeschichte zwischen Neo und Trinity (Carrie-Ann Moss) und jeder Menge attraktiver afro-amerikanischer Freiheitskämpfer beiderlei Geschlechts (im Kontrast zum ausgesprochen ‚weißen‘ Brother-against-Brother/Nu Metal-Soundtrack) haben die Brüder genug Nebenfährten für ein angemessenes Finale gelegt. Obwohl in Sachen Action mit der spektakulären, 15-minütigen Highway-Verfolgungsjagd wahrscheinlich alles erreicht worden ist, was Storyboard und Digitaltechnik heutzutage möglich machen. Das Thema ‚Technologie‘ ist dann wohl auch der einzige Punkt, an dem ein Film wie “The Matrix Reloaded” überhaupt noch angreifbar wird.

‚Kontrolle,‘ sagt Haman, so etwas wie der Stadtrat von Zion, der Unterwasserzuflucht der letzten Menschen vor den feindlichen Maschinen, und lässt den Blick über die eigenen Maschinen, die Zion vor der Außenwelt schützen, streifen, ‚Kontrolle ist das Schlüsselwort. Was heißt Kontrolle?‘ Um den tieferen Sinn dieser Frage zu verstehen, muss man sich nochmal in Erinnerung rufen, dass zwischen ‚The Matrix‘ und seinem Sequel das Selbstwertgefühl Amerikas gehörig in Mitleidenschaft gezogen wurde (9/11 und Folgen). Kontrolle ist der Schlüsselbegriff, der den Subtext von ‚The Matrix Reloaded‘ heller noch als seinen Vorgänger illuminiert. Denn von Beginn an ist die ‚Matrix‘-Trilogie der Brüder Wachowski vor allem ein epischer Paranoia-Text gewesen, vielleicht sogar der beste seit Pakulas ‚Parallax View‘.

Wenn Blow Up‚ (1966) und ‚The Conversation‘ (1975), wie Frederic Jameson in “The Geopolitical Aesthetic” schreibt, die beiden markantesten Momente im historischen Prozess der Postmodernisierung (des Kinos) festhalten, weil mit diesen beiden Filmen die Authentizität sowohl des visuellen Image als auch des Tondokuments unterminiert wird, dann ist die ‚Matrix‘-Trilogie zweifelsohne das ultimativ-postmoderne Verschwörungskino. Bilder und Sounds sind keine Instanzen mehr; die Auflösung dieses Dilemmas kann nur noch rein esoterisch erfolgen. Auf die Frage Neos, woran er erkennen solle, dass das Orakel (Gloria Foster), mit dem er sich im zweiten Teil in einem New Yorker Hinterhof zum Taubenfüttern trifft, nicht auch ein feindliches Computerprogramm sei, entgegnet sie, dass er schon das Richtige tun werde – wenn er wirklich der Auserwählte ist.

Die Paranoia wird in ‚The Matrix Reloaded‘ in einer Szene ganz unmittelbar, wenn Agent Smith (Hugo Weaving), der nach seinem ‚Tod‘ im ersten Teil als ‚freischaffender‘ Superbösewicht zurückkehrt, sich im Zweikampf mit Neo wie ein Computervirus hundertfach in der Matrix verdoppelt, und Neo sich plötzlich gegen eine ganze Armee von Agenten zur Wehr setzen muss. Technisch ist ‚The Matrix Reloaded‘ wie auch der Vorgänger seiner Zeit wieder weit voraus, aber es sind eben genau solcherlei technische Voraussetzungen, die (im Film) auch die unterdrückerische Matrix erst ermöglichen. Bezeichnenderweise stammt die Technologie, die in den ‚Matrix‘-Sequels zur Anwendung kommt, zu einem nicht unbeträchtlichen Teil – abgesehen von den Kung Fu-Choreographien von Martial Arts-Veteran Yuen Wo-Ping – aus dem Wissenbestand des US-Militärs. Die Mitarbeiter des Special Effect-Wizzards John Gaeta ließen sich in den letzten anderthalb Jahren überall dort antreffen, wo sich auch die Vertreter des militärisch-industriellen Komplexes die Technologie für ihren ‚War against Terror‘ beschafften. ‚The Matrix Reloaded‘ ist damit schon jetzt das erfolgreichste Franchise des neuen ‚Military-Entertainment Complex‘.

Die Alternativen in dieser neuen Paranoia-Matrix versprechen kaum Erleuchtung. Fürchten Sie sich vor terroristischen Anschlägen, nehmen Sie bitte die blaue Pille. Fürchten Sie sich vor Ihrer eigenen Regierung, nehmen sie die rote.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 06/2003

Terminal

(USA 2004, Regie: Steven Spielberg)

Die Statisten unter der Terminal-Kuppel: pathetisch
von Andreas Busche

Steven Spielbergs neuer Film “The Terminal” sieht aus, als basiere er auf einem Treppenwitz, den sich gestresste Manager irgendwann in den Achtzigern, als die modernistische Obsession der Sechziger Jahre nach …

Steven Spielbergs neuer Film “The Terminal” sieht aus, als basiere er auf einem Treppenwitz, den sich gestresste Manager irgendwann in den Achtzigern, als die modernistische Obsession der Sechziger Jahre nach unbegrenzter Mobilität (die Spielberg mit “Catch me if you can” ja auch gerade erst verfilmt hat) längst zum Alptraum geraten war, gegenseitig auf Flughafen-Toiletten erzählt haben. Bei Spielberg bekommt der alte Kalauer auch nochmal einen Einsatz, aber er ist gar nicht mehr witzig. Ob er sich nicht manchmal vorkomme, als würde er auf einem Flughafen leben, fragt ein Geschäftsreisender Tom Hanks beim Rasieren auf der Männertoilette, und der kann sich als Antwort nur noch ein verständnisloses Jacques Tati-Gesicht abringen.

“The Terminal”, der neueste Streifen aus der Steven Spielberg-Mythenfabrik, basiert aber noch auf einem anderen “Witz”; der wahren Geschichte des Iraners Merhan Karimi Nassiris, der seit fünfzehn Jahren im Terminal 1 des Pariser Flughafens Charles de Gaulle lebt, weil Frankreich ihm die Einreise nicht gestattet, und er den Asyl-Status, den die belgische Regierung ihm vor Jahren gewährte, als inakzeptabel abgelehnt hat. Es ist eine komplizierte Geschichte aus einer Zeit, lange bevor Europa Festung sein wollte oder Politiker öffentlich über Auffanglager in Nordafrika nachdachten. Und ähnlich komplex sind auch die bürokratischen Schlupflöcher, die bis heute verhindern, dass die französische Regierung Nassiri einfach wieder aus dem Land schmeißt. Spielberg hat daraus einen Film gemacht, der seine Geschichte konsequent an jeglichen politischen Realitäten vorbei erzählt.

Spielbergs Ahnungslosigkeit im Umgang mit politischen Themen (“Die Farbe Lila”, “Minority Report”, “Saving Private Ryan”) ist hinreichend kritisiert worden, doch nie war sie so frappierend. Er muss seine Filme auf einem weit entfernten Planeten drehen, anders ist solch eine Weltfremdheit nicht zu erklären. Spielbergs Amerika ist im Jahr 2004 immer noch ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das Einwanderungstraumland der Gründerväter, in dem jeder es zu etwas bringen kann, wenn er nur eine Vision hat. Auch wenn der Beamte der Einwanderungsbehörde Hanks gleich am Anfang die Tür vor der Nase zuschlägt: “America is closed!”

Hanks spielt Viktor Navorski, Reisender aus einem fiktiven osteuropäischen Zwergstaat, der bei seiner Landung auf dem New Yorker John F. Kennedy Airport erfahren muss, dass in seinem Land gerade ein Militärputsch stattgefunden hat. Stanley Tucci als Sicherheitschef Frank Dixon erklärt einem radebrechenden Hanks, dass er nicht in sein Land zurück könne, und die amerikanische Regierung sein Visum nicht mehr akzeptiere, weil sie keine diplomatischen Beziehungen zum neuen Regime seines Landes unterhalte. Es stehe ihm aber frei, sich auf dem Flughafengelände aufzuhalten, solange er die Einreisevorschriften nicht verletze. Der Sadismus dieser verkorksten Immigrationspolitik spricht boshaft aus Tuccis Figur: “Welcome to the US – almost!”

Interessant an “The Terminal” ist, dass eine Ahnung von Post-9/11-Trauma noch in Nebensätzen und szenischen Details latent spürbar ist. Einmal wird eine Glastür durchschritten, und die Kamera bleibt kurz auf dem Logo des Departments of Homeland Security hängen. Später im Film sagt Dixon über den Heimatlosen Navorski, dass Amerika schon so viele Leute ins Gefängnis gesteckt habe, dass da einfach kein Platz mehr sei. Aber Spielberg beweist eine enorme Verdrängungsleistung. Vor diesem Hintergrund entwickelt der Film mit seinem grenzenlosen Gutmenschentum eine fast psychopathologische Qualität. Spielberg ist der Regierungstreue zweifellos unverdächtig, doch seine Ignoranz der politischen Zustände zeugen von einer geradezu sträflichen Naivität. Zudem ist Tom Hanks wieder in Forrest Gump-Modus. Bei Spielberg müssen die Menschen erst wieder zu Kleinkindern regredieren, um sich mit den Verhältnissen arrangieren zu können.

Dabei ist Hanks Figur gar nicht einmal so uninteressant. Im reibungslosen Getriebe der Abschiebungsmaschinerie ist er ein Fremdkörper, ein passiver Saboteur wie Melvilles Bartleby, der sich dem System durch seine Weigerung, den Flughafen nicht zu verlassen, widersetzt – und es damit zum Stocken bringt. Viktor Navorski ist ein bürokratischer Albtraum. So bleibt die Gastfreundlichkeit des Sicherheitspparats nur von kurzer Dauer. Der Sicherheits-Chef will seinen unliebsamen Gast möglichst schnell wieder aus seinem Zuständigkeitsbereich entfernen, verfügt jedoch über keine rechtliche Handhabe.

Die Starrsinnigkeit Navorskis ist allerdings nicht viel mehr als ein unvermeidliches Spielberg-Produkt humanistischen Pathos’, das nichts mit der ehrlichen Entrüstung des realen Vorbilds Nassiri zu tun hat. Dessen Ablehnung des Gnadenasyls, das Belgien ihm angeboten hatte, war noch ein passiver Protest gegen die europäische Immigrationspolitik, die immer mehr Bürger ohne Status hervorbringt. Spielberg dagegen spielt in “The Terminal” die Verwaltungs- und Abschiebepraktiken der Immigrationsbehörden launisch-slapstickhaft durch, ohne ihre Problematik zu erfassen. Am Ende ist es fast zum Verzweifeln: Das Material liegt offen da, der Jargon, die Methoden, das Szenario, und Spielberg zeigt sich nicht in der Lage, die Punkte zu einem kohärenten Bild zu verbinden.

So wird der Flughafenterminal für Viktor Narvorski zu einer Spielwiese des “American Dream”. Auf die Frage, was er denn nun machen solle, entgegnet ihm ein Sicherheitsbeamter: “Es gibt hier nur eine Sache, die sie tun können: Einkaufen”. Doch zum Einkaufen fehlt ihm das Geld. Und ein Mensch ohne Geld ist in einem Milieu, dessen einziger Sinn der Warenverkehr ist, ein Paradoxon. Navorski macht das Beste draus: Seine Mahlzeiten finanziert er sich mit dem Pfand für die Gepäckwagen, sein Lager errichtet er in einem abgelegten Flügel des Terminals (das erste, was er tut, ist die unerträgliche Muzak abzustellen, die pausenlos aus den Flughafenlautsprechern quillt) und verbündet sich mit den anderen Un-Personen, die täglich unsichtbar über den Flughafen geistern: das Servicepersonal. Eine indische Reinigungskraft, ein mexikanischer Catering-Boy und ein Frachtangestellter – eine klandestine Pokergemeinschaft – sollen in “The Terminal” den Solidaritätskontrakt des Melting Pots erfüllen, auf den Spielberg so verzweifelt vertraut.

Aber dann wird es ganz schnell banal. Kann man die erste Hälfte des Films noch mit viel gutem Willen als Variation von Jacques Tatis viel intelligenteren Modernismus-Satiren verstehen (Narvorskis Terminal ist eine einzige, unglaublich detailreiche Kulisse, die sehr clever ein Gefühl von Klaustrophobie und Konsumterror herstellt), verkommt der zweite Teil zu einer billigen Melange aus Seifenoper und Sitcom. Catherine Zeta-Jones erregt als herzgebrochene Stewardess (auch Stewardessen gehören zum Inventar eines Flughafens, aber sie sind im Gedränge viel auffälliger als Spielbergs Blue Collar-Servicekräfte) das Interesse Narvoskis. Ihre Rolle beansprucht kein allzu großes Talent, aber es geht in “The Terminal” sowieso hauptsächlich um Hanks idiotischen Volkshelden, der sich im Flughafen-Untergrund langsam den Ruf einer Legende á la Tom Joad verdient.

Womit Spielbergs intaktes Amerika-Bild auch wieder hergestellt ist. “The Terminal” funktioniert aber noch ganz anders als jüngere amerikanische Propagandafilme vom Schlage “Black Hawk Down”. Der Film verhält sich sozusagen komplementär – zum Amerika-Bild, wie es derzeit noch im reaktionären Hollywood-Umfeld generiert wird, und zur politischen Realität. Er ist eine Utopie, per se ja nichts Schlechtes. Ein zutiefst schlechtes Gewissen spricht aus Spielbergs Film, aber sein Versuch, von einem besseren, dem wahren Amerika zu erzählen, scheitert mit “The Terminal” grandios. Denn das Bild, das er präsentiert, ist grundlegend schief. Flughäfen sind heute längst nicht mehr das Tor zur Welt. Im Gegenteil endet für viele Ankommende die Reise bereits hier.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 10/2004

Anything Else

(USA 2003, Regie: Woody Allen)

Holocaust-Witze und Trauma-Prophylaxe
von Andreas Busche

Woody Allen hat in seiner Karriere schon bessere Zeiten erlebt. Im Kinotrailer zu seinem letzten Film “Anything Else” tauchte gerade mal sein Name in den Credits auf. Man hätte leicht …

Woody Allen hat in seiner Karriere schon bessere Zeiten erlebt. Im Kinotrailer zu seinem letzten Film “Anything Else” tauchte gerade mal sein Name in den Credits auf. Man hätte leicht den Eindruck gewinnen können, es mit der Vorankündigung für eine neue 'Neuromantic Comedy' mit Christina Ricci, inzwischen erschreckend abgemagert, und “American Pie”-Star Jason Biggs in den Hauptrollen zu tun zu haben. Allens Verleih Dreamworks hatte dem Kinopublikum seinen Regisseur, Drehbuchautor und Hauptdarsteller diskret unterschlagen, um das geringe kommerzielle Potential des Films nicht weiter zu gefährden. Der Stadtneurotiker, so scheint es, hat endgültig abgedankt; Zeit für die hippen Bulimikerinnen und nervösen Zwangsmastubierer der “Prozac Nation” (so der Titel eines anderen Films von Ricci / Biggs).

Im Vergleich zu Deutschland allerdings hat es Allen in Amerika noch relativ gut erwischt. Hierzulande kam sein vorletzter Film “Hollywood Ending”, als erster Woody Allen-Film überhaupt, gar nicht mehr in die Kinos, und ähnlich wird vorraussichtlich auch das Schicksal von “Anything Else” aussehen, der schon von der amerikanischen Kritik – wie alle jüngeren Allen-Filme seit “Sweet and Lowdown” – nicht allzu positiv aufgenommen wurde. Das mangelnde Interesse an Woody Allen in Deutschland, wo er bislang noch auf eine treue Fanbasis bauen konnte, ist symptomatisch für das künstlerische Dilemma, in dem Allen sich seit einigen Jahren befindet. In Amerika hat er sich nach Filmen wie “Celebrity”, “Im Bann des Jade-Skorpions” und “Hollywood Ending” seinen Sympathie-Bonus als kauziger Eigenbrötler im freudlosen Hollywood-Geschäft schon lange verspielt. Selbst das “Village Voice”, wie Allen eine durch und durch New Yorker Institution, hatte “Anything Else” in Grund und Boden verrissen.

Christina Ricci und Jason Biggs für die Hauptrollen in seinem neuen Film auszuwählen, mag da ein cleverer Schachzug gewesen sein. Er verdeutlicht aber auch Allens Problem. Dreamworks hatte das ganz richtig erkannt. Es dürfte heute selbst dem cleversten Marktstrategen schwer fallen, der “American Pie”-Generation zu erklären, wer Woody Allen eigentlich ist. Arriviert allein durch schiere Präsenz (für den Kinogänger um die Mitte Vierzig scheint Allen schon immer irgendwie dagewesen zu sein) und das Ostküsten-Selbstverständnis als intellektuelle Institution hat Allen sich mit seinen Filmen immer tiefer in eine beschauliche Isolation manövriert. Die Spielregeln innerhalb dieses hermetischen Soziotops sind seit den siebziger Jahren bekannt, nur hat Allen über die Jahre den Kontakt zur Außenwelt abgebrochen. Das ging so lange gut, wie sich dieses System selbst am Leben erhalten konnte. Mit Unterstützung darf Allen inzwischen aber nicht einmal mehr in den eigenen vier Wänden rechnen: In der Dokumentation “Wild Man Blues” erzählt Allens Adoptivtochter und Lebensgefährtin Soon-Yi, dass sie bis heute nicht “Der Stadtneurotiker” gesehen hat. The Kids are not alright.

In Deutschland ist jeder neue Woody Allen-Film zudem den Bedingungen eines völlig neu strukturierten Kinomarktes ausgesetzt. Ende der 90er Jahre hatte der Verleiher Kinowelt nach erfolgreichem Börsengang mit seinem Ableger Arthouse, über den eine Zeit lang auch Woody Allen-Filme in die deutschen Kinos kamen, einen beispiellosen Verdrängungswettbewerb im Programmkino-Sektor gestartet und kleineren Verleihern damit sehr schnell die Preise verdorben. Diese Preise gelten auch nach Bereinigung des Marktes durch den Einbruch der “New Economy” noch, nur fehlt seitdem zwischen zahlungskräftigen Multiplex-Majors und finanzschwachen Kleinstverleihern die solvente Mittelschicht, die sich den Luxus eines Woody Allen-Films noch leisten kann. Oder will. Woody Allen – demnächst ein Fall für Filmfestivals?

Es gibt aber noch einen anderen Grund, warum “Anything Else” besonders auf dem deutschen Kinomarkt einen schweren Stand haben könnte. Nach eher zahmen Ausflügen in selbstreferentielle Comedy-Gefilde wirkt Allens neuer Film wie das saure Aufstoßen eines überzeugten Apokalyptikers (“Ich konnte mich nicht entscheiden,” sagt Christina Ricci an einer Stelle im Film zu Allens jüngerem Alter Ego Biggs, “ob Nihilismus oder Pessimismus dich glücklicher machen würde”). Es mag an diesem Punkt in Allens Karriere vielleicht überraschen, aber unter der charmanten Twentysomethings-Beziehungskisten-Oberfläche ist “Anything Else” ein ausgesprochen böser und unversöhnlicher Film. Eine Komödie, der das Lachen permanent im Halse stecken bleibt. Sieht man einmal gnädig darüber hinweg, dass er hier erneut sein eigenes Oeuvre ausgeschlachtet hat (in diesem Fall vor allem “Der Stadtneurotiker”), hinterlässt “Anything Else” vor allem einen Eindruck: Lange nicht mehr hat Allen es so ernst gemeint.

Von allen Allen-Figuren ist David Dobel die bislang wohl frustierteste Gestalt. Ein Stand Up-Comedian mit einem pathologischen Verfolgungswahn, der hinter jeder Bemerkung eine antisemitische Beleidigung vermutet. Der sich im Militar-Gebrauchtwarenladen ein Holocaust Survival Kit zusammenkauft, um für den Ernstfall gewappnet zu sein. Seinem Protegé Jerry Falk, gespielt von Biggs, bringt er in einer denkwürdigen Szene ein Gewehr mit nach Hause (“nur zum Schutz”); und auch wenn die Szene in komödiantischer Hinsicht etwas orientierungslos scheint, sagt sie doch einiges über Allens mentale Verfassung aus. Holocaust-Witze geben den scharfen Ton in “Anything Else” vor, aber sie sind keineswegs witzig gemeint. Genau das hat die amerikanische Kritik an “Anything Else” so gründlich missverstanden: Allens Judenwitze sind nicht geschmacklos, sondern zutiefst traumatisch.

“Die Verbrechen der Nazis,” hackt Jerry die Worte Dobels in sein Laptop, “waren so enorm, dass, wenn die gesamte menschliche Rasse danach ausgelöscht worden wäre, man darüber hätte streiten können, ob diese Strafe nicht gerechtfertigt gewesen wäre.” Der Satz füllt für einige Sekunden das gesamte Bild aus. Ein Satz, den man zu gerne einmal auf deutschen Kinoleinwänden sehen möchte. David Dobel ist Allens Mann der Tat. Irgendwann schlägt die paranoische Grundstimmung des Films in unkontrollierte Gewalt um – ein Moment, auf den der Woody Allen-Fan Jahrzehnte lang warten musste: Dobel steigt aus seinem Cabrio und demoliert mit einem Vorschlaghammer den Wagen eines Verkehrsrowdies. “Überall,” sagt Dobel, “widersetzen sich Menschen gegen irgendwas. Und meistens hat es mit Faschismus zu tun.”

Dobel ist eine interessante pathologische Figur im aktuellen Hollywood-Kino. Ob paranoider Spinner oder nicht, ist völlig irrelevant. Die Bilder seines Traumas speisen sich nicht mehr aus einer erlebten Geschichte, sondern aus medialen Überlieferungen, einer Art jüdisch-apokalyptischer 'Oral History'. Ein Paradoxon. Das Trauma ist in “Anything Else” bereits schneller als die Verletzung. Im Umkehrschluss kann schon das Trauma eines allgegenwärtigen Antisemitismus als Beweis von dessen Existenz genügen. Für Allens Verhältnisse ist das ein politisches Statement von außerordentlicher Deutlichkeit. Der mental hochgerüstete Dobel ist die tickende Zeitbombe, die sich an den gesellschaftlichen Verhältnissen entzündet. Oder anders gesagt: Der strikt anti-psychoanalytisch argumentierende, jüdische Paranoiker ist Woody Allens Rekreation des alten Stadtneurotiker-Images, im dritten Jahr der christlich-fundamentalistischen Bush-Regierung.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 02/2004

Dem Himmel so fern

(USA 2002, Regie: Todd Haynes)

Niemand hat hier Vorurteile
von Andreas Busche

Die Frage, welche Gewalten die sozialen Verhältnisse in der gehobenen amerikanischen Mittelklasse verfassen und unter welchen Bedingungen diese wirksam werden, hatte Todd Haynes bereits 1987 in seinem Kurzfilm 'Superstar – …

Die Frage, welche Gewalten die sozialen Verhältnisse in der gehobenen amerikanischen Mittelklasse verfassen und unter welchen Bedingungen diese wirksam werden, hatte Todd Haynes bereits 1987 in seinem Kurzfilm 'Superstar – The Karen Carpenter Story' mit pragmatischem Zynismus beantwortet: Er sperrte Karen Carpenter, die traurige Sängerin des WASP-Familienpopbetriebs The Carpenters, in ein Puppenhaus. Das öffentliche Leben der Karen Carpenter, zeigte Haynes, ist ein (durch ihren Bruder) gesellschaftlich sanktioniertes gewesen, und darum musste sie in ihrem nicht-öffentlichen Leben auch so fatal zu Grunde gehen. Karen Carpenter starb depressiv, magersüchtig und viel zu jung. In Haynes Film hatten Barbiepuppen die Rollen von Unterdrücker und Unterdrückter übernommen.

In 'Safe' (1995) wirkten die Repressionen bereits struktureller. Julianne Moore verfiel als neurotische All American-Hausfrau Carol White unter dem Einfluss einer höllischen Ehe und permanenter Selbsthilfe-Fernsehspots einer schleichenden Keim-Phobie, bis sie sich von ihrer Umwelt und sich selbst komplett abgeschottet hatte. Haynes hatte damals in einem Interview über sein luftdichtes, antiseptisches Kammerdrama gesagt, dass er eindeutig auf der Seite der 'Krankheit' stehe, nicht auf der der so genannten 'Normalität'.

Die Dialektik von Krankheit und Normalität bestimmt auch Haynes neuen Film 'Dem Himmel so fern'. An der Position Haynes hat sich nichts geändert, nur am Ton. Die Beklemmungen haben sich etwas gelöst, in Bild und Sprache, und sind umgeschlagen in eine stumme Hysterie. Normalität ist in 'Dem Himmel so fern' so überhöht, dass sich das latent Kranke bereits in jeder Geste, jeder Bewegung der Menschen zueinander ausdrückt. Haynes fand Spuren einer solch schleichenden Soziopathie in den 50er Jahre Technicolor-Melodramen Douglas Sirks. Aber auch wenn der 50er-Jahre Retro-Charme von 'Dem Himmel so fern' eine sentimentale Verklärung impliziert, hat Haynes seinem Film die Nostalgie gründlich ausgetrieben. Dem Zitat, das er hier anführt, kommt eine ganz bestimmte Funktion zu: In den Filmen Sirks konnte Normalität nur noch über eine karthatische Symbolik (Flugzeugabstürze, Selbstmordversuche, Autounfälle) wiederhergestellt werden. Auch Sirk ist nie auf der Seite dieser Normalität gewesen, und wie bei Haynes verfügten auch seine Figuren nicht über die Mittel, die gesellschaftlichen Konventionen erfolgreich zu überwinden.

Kathartische Momente sind auch in 'Dem Himmel so fern' Symptome eines beunruhigenden Krankheitsbildes, aber die Gesellschaft hat selbst bereits eigene spezifische Krankheiten ausgebildet, um den Normalzustand zu wahren: Rassismus und Homophobie. Diese Normalität lässt sich in 'Dem Himmel so fern' zur Not auch medizinisch-wissenschaftlich wiederherstellen: mit Elektroschock- und Hormontherapien gegen die 'unnatürliche' Libido. Innerhalb dieses 'normalen' sozialen Gefüges dagegen ist alles so sauber, strahlend und klinisch, dass die Menschen unter der Anspannung der permanenten Selbstkontrolle fast zu ersticken drohen. In der Diskrepanz zwischen diesem Innen und Außen liegt die Tragik von Haynes Figuren.

Hieß es bei Sirk noch All that Heaven allows', sind die Menschen in Haynes Film bereits hoffnungslos 'Far from Heaven' (so der Originaltitel). Dennis Quaid und Julianne Moore sind Frank und Cathy Whitacker, Mr. And Mrs. Magnatech, ein Bilderbuch-Ehepaar im kleinstädtischen Hartfort, Connecticut der 50er Jahre: dem Amerika der Sirk-Melodramen. Und Sirk ist bei Haynes in jeder Sekunde präsent, ob in der Farb-Regie von Kameramann Ed Lachmann (lichtdurchflutete Bilder in knalligen Herbstfarben) oder der Musik von Elmer Bernstein zwischen orchestralem Pathos und Kammermusik. Das Melodram hat seine Bilder wiedergefunden und in dieser zugespitzten formalen Dramaturgie steht die panische Verzweiflung der Menschen verloren wie die bonbonfarbenen Wohlstandskarossen zwischen den sauber abgezirkelten Vorgärten.

Sirks 'All that Heaven allows' liefert die erzählerische Grundlage für 'Dem Himmel so fern'. Haynes hat die Geschichte um die unmögliche Liebe zwischen einer ältlichen Witwe und ihrem jungen Gärtner an zwei entscheidenden Punkten um weitere Sirk-Zitate ergänzt. Im Gegensatz zu Jane Wyman ist Julianne Moore mit einem Mann verheiratet, den es nachts in Schwulenbars treibt (Quaid spielt die einzelnen Stadien von Robert Stacks Männlichkeitsverlust aus 'Written in the Wind' perfekt nach), und der Gärtner Rock Hudson wird bei Haynes von dem Afro-Amerikaner Dennis Haysbert gespielt: eine Referenz an 'Imitation of Life'. Das Konfliktpotential staut sich wie in einer Seifenoper, aber es hat überhaupt nichts Lächerliches, weil die Menschen den sozialen Druck kaum noch kompensieren können.

Julianne Moores Gesicht ist unter der gesellschaftlichen Zwangs-Etikette wie zu einer Maske erstarrt; ihr zwanghaftes Dauerlächeln wirkt fast hysterisch. Hysterie ist mehr noch als in 'Safe' eine permanente Grundstimmung, und nur manchmal noch bricht es aus den Menschen heraus (meistens passiert es hier Dennis Quaid, der entweder heult oder seine Frau schlägt). Haynes liegt ganz richtig, wenn er mit 'Dem Himmel so fern' dem Pomp anstelle eines Realismus den Vorzug gibt: Rassismus und Homophobie als Zivilisationskrankheiten sind eigentlich nur noch als Groteske beizukommen, und selten hat ein Regisseur das Pathologische dieser sozialen Defekte grandioser konterkariert. Haynes lässt die Farben sprechen.

Raymond Deagon (Haysbert) hat die semiotische Determiniertheit der Verhältnisse schon sehr gut verstanden, wenn er Cathy Whitacker ihren weißen Schal mit den Worten 'Die Farbe passt' zurück gibt. Farben bestimmen in “Dem Himmel so fern” die gesellschaftliche Ordnung. Es ist nur die Farbkombination ihrer zaghaften Liaison, die im puritanischen Connecticut so überhaupt nicht 'passt'. Wie als sarkastischer Kommentar sind die übrigen Farben dafür umso genauer aufeinander abgestimmt: das Herbstlaub, die Kostüme, die Autos, die Einrichtungen – selbst das Urlaubsparadies Miami ('Everything’s so pink!').

Was es heißt, unter solchen Bedingungen wieder einen Normalzustand herzustellen, zeigt Haynes in letzter Konsequenz. Am Ende muss ein schwuler Ehebruch gegen eine vermeintliche Liebesaffäre aufgerechnet werden, damit wieder Ruhe herrscht. Die Gesellschaft hat sich ein Minimum an Toleranz abgerungen, denn die Grundprämisse lautet: Niemand hat hier Vorurteile. Haynes zeigt sehr genau, wie diese elitäre Gemeinschaft sich selbst am Leben erhält. So sehr sie sich nach Außen hin auch abgeschirmt hat, durchzieht eine fast totalitäre Überwachungsstruktur die Privatleben: von alten Damen mit zu großen Hüten herausgegebene Gesellschaftsmagazine, das Kaffeekränzchen, die Abendgesellschaft, die beste Freundin.

Das Scheitern dieser Menschen ist im Sirk-Zitat implizit. Genau wie die Kamera Moore oder Quaid immer wieder alleine im Bild stehen lässt, machen auch ihre verbotenen Leidenschaften einsam. Haynes bringt dabei ein Höchstmaß an Verständnis für seine Figuren auf. Letztendlich aber steht 'Dem Himmel so fern' einem anderen Sirk-Apologeten noch näher als Sirk selbst: Rainer Werner Fassbinder. Auch Haynes gönnt seinem Film keine Sentimentalitäten.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 04/2003

Der Weiße mit dem Schwarzbrot

(D 2006, Regie: Jonas Grosch)

Flucht aus Leidenschaft
von Andreas Busche

Jonas Groschs Dokumentation gebührt in der Aufarbeitung der RAF ein Sonderplatz. Sie beschreibt eine Geschichte des Widerstands mit feiner Ironie und einen Erkenntnisprozess ohne falsche Reue. Muss man erwähnen, dass …

Jonas Groschs Dokumentation gebührt in der Aufarbeitung der RAF ein Sonderplatz. Sie beschreibt eine Geschichte des Widerstands mit feiner Ironie und einen Erkenntnisprozess ohne falsche Reue. Muss man erwähnen, dass der Film ohne öffentliche Gelder entstanden ist? Der Weiße ist Christof Wackernagel, Exterrorist, Dramaturg, Schauspieler, hoffnungsloser Idealist, Entwicklungshelfer wider Willen. Das Schwarzbrot heißt Madou Coulibaly und ist ein Freund Wackernagels, der … nein, stop. Das Schwarzbrot kommt aus Bayern, weil Wackernagel in Mali, wo er seit einigen Jahren lebt, das Brot aus seiner Heimat vermisste. Sonst vermisst er Deutschland überhaupt nicht. Denn Wackernagel hat Zugang zum World Wide Web. Aus der Distanz bekommt er einen viel besseren Blick auf dieses bescheuerte Land mit seinen alten Grabenkämpfen und die Widersprüche, in die man zwangsläufig noch immer verstrickt ist. Er erzählt von einem ehemaligen Mitstreiter, der dreißig Jahre später lieber 'Friedenssoldaten' in den Sudan schickt, als ein paar Millionen für eine Friedenskarawane durch die Bürgerkriegsregion auszugeben (wenn jemand wisse, wie paradox die Vorstellung eines Friedenssoldaten sei, dann ja wohl er selbst, ereifert sich Wackernagel), und von dem 'Bullen', der sich für seine vorzeitige Entlassung einsetzte, weil ein Verbrechen aus Idealismus nicht mit einem aus Habgier zu vergleichen sei.

Wackernagel lebt in Mali, weil er in Deutschland sein Leben lang als der Exterrorist bekannt sein wird. Aber auch das Leben in Mali ist nicht einfach als privilegiertes Weißbrot. Wackernagel spürt, dass er erneut in Widersprüchen gefangen ist, einer kulturellen Differenz, die ihn manchmal in den Wahnsinn treibt. Wie die Sache mit seiner Nachbarin, die er einmal zum Essen eingeladen hat und die nun denkt, er würde sie heiraten. In Mali werde ein Weißer automatisch zum Missionar, weil jeder meint, den armen Negern helfen zu müssen. Am Ende sei es doch bloß blanker Egoismus. So redet Wackernagel – und muss dabei manchmal über seine eigene Naivität lachen. Die Lehren aus seiner kurzen Zeit als aktiver Widerstandskämpfer (nach nur zwei Monaten wurde er gefasst) sind inzwischen im sozialen Engagement aufgegangen. Für die Kinder veranstaltet er 'Plastikspiele', um den Müllbergen im Dorf beizukommen, eine Art Sozialkundeunterricht. Aber es wird wohl immer so sein, dass die Kinder den Scheiß ihrer Eltern wegräumen müssen. Volker Schlöndorff hat über 'Der Weiße mit dem Schwarzbrot' gesagt, es sei der einzige RAF-Film, aus dem ein Mensch spreche. Man könnte auch sagen: der gesunde Menschenverstand.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 06/2008

Tödliche Versprechen – Eastern Promises

(GB / CAN 2007, Regie: David Cronenberg)

Gewaltpotentiale des Körpers
von Andreas Busche

Zum Genrefilm hat Hollyood schon lange ein gestörtes Verhältnis. Das musste Ende der Fünfzigerjahre auch Orson Welles erfahren, dessen Noir-Klassiker “Touch of Evil” von Universal derart konfektioniert wurde, dass es …

Zum Genrefilm hat Hollyood schon lange ein gestörtes Verhältnis. Das musste Ende der Fünfzigerjahre auch Orson Welles erfahren, dessen Noir-Klassiker “Touch of Evil” von Universal derart konfektioniert wurde, dass es fast vierzig Jahre dauern sollte, bis der Film erstmals in einer Fassung zu sehen war, die zumindest annähernd Welles’ Vorstellung entsprochen haben muss. Dessen 58-seitiger Bittbrief an die Universal-Chefetage ist bis heute eines der leidenschaftlichsten Dokumente jener Verbundenheit, die selbst die größten Regisseure für ihre Filmgenres gehegt haben. In Hollywood aber hatte sich spätestens mit dem Ende des Studiosystems die Meinung durchgesetzt, dass Genrekino automatisch mindere Qualität bedeutete. Die Unterscheidung zwischen A- und B-Film war nicht länger budgetabhängig, sondern nur noch eine Frage von Form und Inhalten. Bestimmte Themen und Geschichten blieben danach in Hollywood auf Jahre unangetastet. In den Siebzigerjahren war Roger Corman einer der wenigen Produzenten, der weiter reine Genrefilme finanzierte, während die ‘jungen Wilden’ New Hollywoods die klassischen Genres gleich reihenweise demontierten. Inzwischen hat das multifunktionale Prinzip ‘Blockbuster’ die Idee des Genrefilms weitgehend aus dem Mainstreamkino verdrängt; markttechnisch erfüllt er lediglich noch die Anforderungen eines Nischenprodukts.

Man kann unter diesen Umständen David Cronenberg gar nicht genug würdigen. Kein anderer Regisseur arbeitet in den letzten zwanzig Jahren erfolgreicher daran, das kommerzielle Kino mit den Methoden des Genrekinos zu unterwandern. Mit “Die Fliege” (1986), dem Remake eines ausgesprochenen B-Films, gelang es Cronenberg erstmals, den psychotronischen Body-Horror seiner frühen Arbeiten (die explodierenden Köpfe aus “Scanners”, der New Media Splatter aus “Videodrome” oder die vulgofreudianischen Kreaturen in “Die Brut”) in den Konventionen des Mainstreamkinos aufgehen zu lassen, ohne seine unverkennbare Handschrift zu opfern. Im Gegenteil scheint es, als würden Cronenbergs filmische Motive erst unter den Bedingungen der Kulturindustrie ihre ganze subversive Kraft entfalten. Dabei haben Genres und Massengeschmack Cronenberg nie sonderlich interessiert. Stattdessen schuf er über die Jahre ein Gesamtwerk, das sich nicht in bloße Gegensätze auflösen ließ und trotzdem eine im Mainstreamkino einzigartige thematische Dichte und Geschlossenheit entwickelte. Wie ein Chirurg arbeitet Cronenberg mit den Gewalt- und Blutbildern aus der Populärkultur: Er legt die fragile Verfasstheit des menschlichen Körpers schonungslos offen, behält aber stets einen kühlen Kopf.

Auch Cronenbergs neuer Film “Tödliche Versprechen” strahlt wieder diese klinische Coolness aus, die viel eher zu einem Horrorfilm als zu einem Thriller passt, der im Londoner Milieu der russichen Mafia Vory v Zakon spielt. Der Trick geht wie schon in seinem letzten Film “A History of Violence” auf Kosten der Zuschauer, die lange in dem Glauben gelassen werden, in einem klassischen Gangsterfilm zu sitzen. Aber Krimis und die Strukturen des organisierten Verbrechens reizten ihn nicht so sehr wie Menschen, die sich in einem Zustand ständiger Grenzüberschreitung befinden, hat Cronenberg in einem Interview gesagt. Der Mafia-Handlanger Nikolai, gespielt von Viggo Mortensen, ist so ein Mensch. Während seiner Aufnahmezeremonie in den Kreis der Captains erklärt er den Clanchefs ohne eine Miene zu verziehen, dass er längst tot sei und nur noch in der ‚Zone’ lebe.

Die ‚Zone’ ist ein wiederkehrendes Konzept in den Filmen Cronenbergs. Sie markiert den Übergang der Physis ins Metaphysische; der Ort, an dem Cronenbergs Protagonisten während ihrer Drogentrips materialisieren („The Naked Lunch“) oder von Todesvisionen heimgesucht werden („The Dead Zone“). Für die Hebamme Anna (Naomi Watts) ist diese ‚Zone’ ein russisches Restaurant im Herzen von London, durch das sie auf ihrer Suche nach dem Vater eines Säuglings die Unterwelt der Vory v Zakon betritt. Hier herrscht der Familienpatriarch Semyon (Armin Müller-Stahl) über ein Clanwesen, in dem Mütterchen Russland und die Moderne eine bizarre Koexistenz führen. Peter Suschitzky, Cronenbergs Vertrauensmann hinter der Kamera, belässt diese Welt in bedrohlicher Dunkelheit, als sei sie kein realer Ort, sondern ein Geisteszustand. Tatsächlich hat Semyons Sohn Kirill (Vincent Cassel) nicht alle Tassen im Schrank; der mysteriöse Nikolai ist permanent damit beschäftigt, diese tickende Zeitbombe unter Kontrolle zu bringen.

Die wichtigste Lektion, die Cronenberg vom Genrekino gelernt hat, ist erzählerische Ökonomie. “Tödliche Versprechen” ist Muskeln ohne ein Gramm Fett zuviel – so wie der Körper von Mortensen, der sich in der besten Szene des Films nackt und unbewaffnet gegen zwei Killer zur Wehr setzen muss. Der spektakuläre Sauna-Kampf wird bald schon in Cronenbergs Bildergalerie eingehen, nicht nur weil er sich bislang weniger durch sorgfältige Action-Choreografien hervorgetan hat. In dieser Szene verschmelzen auch, losgelöst von der reinen Action, wiederkehrende Motive seiner Filme zu einem kaltblütigen Todesballett: der Körper als Fetisch, Schneidewerkzeuge (die des Schlachters diesmal, keine chirurgischen), Nikolais Mafia-Tattoos als physische Überformung, ein Tribut seiner mentalen Verhaftung in der ‘Zone’ (das ‘Neue Fleisch’), und der geschundene Körper als extremster Ausdruck seiner Vergänglichkeit – einem der beiden Killer rammt Nikolai abschließend ein Messer ins Auge.

Cronenberg, der Zeremonienmeister der Transgression, hat mit “A History of Violence” und “Tödliche Versprechen” klare, einleuchtende Formen für die multiple Körperpolitik seiner frühen Filme gefunden. Cronenberg-Fans mag das enttäuschen, aber in ihren Grundstrukturen unterscheiden sich Snuffporno-Piratenszene („Videodrome“), Car Crash-Subkultur („Crash“) und Mobster-Unterwelt nur marginal. Was sich gewandelt hat, ist Cronenbergs Gewalt-Begriff: weg vom Metaphorisch-Blumig-Schmadderigen hin zu einer nüchternen Schilderung der Gewaltpotentiale des Körpers und deren Folgen. Vom Exzesshaften (Amputationskult, Metamorphosen) seiner frühen Filme ist in “Tödliche Versprechen” nichts geblieben. In den beiläufigen Einstellungen auf Blutbäder hat der Chirurg Cronenberg auch formal die Oberhand gewonnen. Eine Szene zeigt Mortensen beim routinierten Zerlegen einer Leiche, und fast will man da Cronenberg selbst erkennen, der sich genüsslich die Zigarette auf der Zunge ausdrückt, bevor er sich an die Arbeit macht. Gewalt ist in “Tödliche Versprechen” kein abstraktes Konzept mehr. Sie ist die unmittelbarste Form von Kommunikation zwischen zwei Körpern.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 01/2008

Fahrenheit 9/11

(USA / CAN 2004, Regie: Michael Moore)

Fuck Facts
von Andreas Busche

Ein Mädchen hatte eine Streichelziege. Und es lief gerne mit seiner Ziege herum. Aber die Ziege tat etwas, was den Vater böse machte. Die Ziege aß Sachen. Die Ziege aß …

Ein Mädchen hatte eine Streichelziege. Und es lief gerne mit seiner Ziege herum. Aber die Ziege tat etwas, was den Vater böse machte. Die Ziege aß Sachen. Die Ziege aß Dosen und Kuchen und Katzen. Bis der Vater sagte, dass die Ziege gehen müsse, weil die Ziege zuviel aufesse. Da wurde das Mädchen traurig und versprach hoch und heilig, dass die Ziege nie wieder etwas aus dem Haus aufessen würde. – Einfach sind diese Worte und doch so geheimnisvoll, dass George W. Bush an jenem Morgen des 11. September 2001 über sieben Minuten lang in ihnen versank, als suche er dort nach einem tieferen Sinn. Dabei war es so einfach: Ein Mädchen hatte eine Streichelziege. Einige Minuten zuvor hatte Bushs Berater Andrew Card seinem Chef mitgeteilt, dass soeben zwei Flugzeuge ins World Trade Center geflogen seien. Also nochmal langsam: Die Ziege aß Sachen …

George Juniors beschwerliche Lektüre von Siegfried Engelmanns Kindergeschichte 'My Pet Goat' kursierte lange Zeit als Running Gag durch die einschlägigen Webforen. Der mächtigste Mensch der Welt, allein gelassen von seinem Beraterstab, von Condi und Rumsi und Daddy. Auch in Michael Moores neuem Film 'Fahrenheit 9/11' sind die Aufnahmen aus dem Grundschulklassenzimmer in Florida prominent plaziert; sie öffnen eine Gedankenklammer, die mit den geschäftlichen Beziehungen der Familien Bush und Bin Laden beginnt und sich zur gewagten These aufschwingt, dass saudiarabisches Geld das Schmieröl der amerikanischen Politik sei. Was mag in diesen sieben Minuten im Kopf George Juniors wohl vorgegangen sein, fragt Moore – und weiß die Antwort natürlich längst: 'Scheiße, ich häng’ mit den falschen Leuten rum.'

Den Begriff 'politische Dokumentation' auf 'Fahrenheit 9/11' anzuwenden, ist ungefähr so ergiebig, wie den Film auf genuin linke Positionen hin abzuklopfen. Moore hatte sein Ziel im Vorfeld bereits hinreichend publik gemacht: Bush muss weg, egal mit welchen Mitteln. Diese Meinung teilt er mit der amerikanischen Linken, aber auch mit konservativen Demokraten, Old-School-Konservativen und anderen 'guten Amerikanern'. Politisch ähnlich bunt sind die Argumente, die Moore in 'Fahrenheit 9/11' auffährt. Sie reichen von grundsätzlich konsensfähig bis haarsträubend. So wie Moore sich beliebig dokumentarischer und journalistisch-investigativer Mittel bedient, verwurstet er in seiner Anti-Bush-Polemik auch linke Argumente (die richtigen wie die falschen), wie sie ihm gerade ins Bild passen. Mit Differenzierungen hat er es nicht so.

Moore macht in 'Fahrenheit 9/11' was er immer schon am besten konnte: Er liefert eine Argumentation der blitzschnellen Effekte, deren Überzeugungskraft nicht auf Kohärenz, sondern auf schierer Opulenz beruht. Bereits nach der Hälfte des Films hat er alle Fakten, Hintergrundinformationen und Expertenmeinungen (u.a. kommt Craig Unger, Autor des Buches 'House of Bush, House of Saud' zu Wort) verpulvert, die als Grundlage eines sorgfältigen Argumentationsaufbaus dienlich gewesen wären. Nichts Neues hat bis dahin gehört (gesehen schon eher, denn eins muss man Moores Rechercheteam lassen: sein Bildmaterial ist unbezahlbar), wer sich in den letzten drei Jahren auch nur halbwegs ernsthaft mit den Folgen des 11. Septembers beschäftigt hat. Für die allerdings, und das ist der springende Punkt, hat Moore 'Fahrenheit 9/11' auch nicht gemacht.

Jean Luc Godard hat in Cannes, wo 'Fahrenheit 9/11' im Mai die Goldene Palme gewann, Moore vorgeworfen, dass er nicht zwischen Text und Bild unterscheiden könne. Dieser Vorwurf impliziert jedoch, dass Moore genau der Tölpel mit Kamera ist, als der er sich in seinen Filmen inszeniert. Tatsächlich weiß Moore sehr genau, wie er seine Bilder einzusetzen und zu kommentieren hat, um beim Zuschauer die gewünschten Reaktionen hervorzurufen. Da wird eine Kriegsrede Bushs mit spielenden Kindern in Afghanistan montiert; da werden die freundschaftlichen Zusammenkünfte der Häuser Bush und Saud mit dem REM-Song 'Shiny Happy People' untermalt. Das ist extrem platt – und verfehlt trotzdem seine Wirkung nicht. 'Fahrenheit 9/11' gucken ist wie den Filmapparat beim Arbeiten zu beobachten. Moore legt den Propagandacharakter seines Filmes mit jeder Montage, jedem Kommentar bereitwillig offen.

Eben deshalb perlt der Vorwurf des Populismus an Moore ab wie Wasser an einer Fettschicht. Zu behaupten, Moore neige zu groben Vereinfachungen, ist eine fahrlässige Verniedlichung. 'Fahrenheit 9/11' funktioniert noch viel rigoroser als frühere Moore-Filme: Um seine Thesen, Bush habe erstens den Demokraten die Wahl gestohlen, stehe zweitens unter dem finanziellen Einfluss der Saudis und sei drittens in Afghanistan und den Irak einmarschiert, um die Ölgeschäfte seiner Familie anzukurbeln, zu untermauern, hat sich Moore aus dem Fundus des Post-9/11-Recherchematerials seine eigenen kleinen Wahrheiten zusammengebastelt. Christopher Hitchens hat in einer von persönlichen Animositäten gefärbten Kritik im amerikanischen Online-Magazin 'slate.com' einige dieser falschen beziehungsweise halbwahren Behauptungen Moores zerpflückt.

Der wichtigste Kritikpunkt bezieht sich auf Moores Behauptung, die amerikanische Regierung habe während des nationalen Flugverbots nach den Anschlägen vom 11. September in sechs Privatjets und einem Dutzend Linienmaschinen 142 Personen arabischer Nationalität, darunter 24 Mitglieder der Bin-Laden-Familie, 'heimlich' außer Landes geschafft. In 'Fahrenheit 9/11' spinnt Moore eine große Verschwörungstheorie aus der bloßen Tatsache dieser Flüge. Hierbei nimmt er u.a. Bezug auf ein Interview, das Larry King mit Prinz Bandar, einem Vertrauten sowohl der Bin-Laden- als auch der Bush-Familie, im amerikanischen Fernsehen geführt hat. Die Flüge sind im vergangenen Herbst auch von der sogenannten '9/11'-Kommission untersucht worden.

Moores Verschwörungstheorie beruht jedoch auf reiner Spekulation. Wie inzwischen nachgewiesen wurde, gingen diese Flüge zwischen dem 14. und 24. September 2001, also nach der Wiederöffnung des Luftraums, außer Landes. Auch die '9/11'-Untersuchungskommission hat in ihrem Abschlussbericht das bürokratische Genehmigungsverfahren für diese Flüge nicht gerügt, sich jedoch besorgt über die Landung eines ominösen Privatjets auf dem Flughafen von Tampa, Florida, am 13. September 2001 geäußert – zu einem Zeitpunkt also, als weder private noch kommerzielle Maschinen den amerikanischen Luftraum benutzen durften. An Bord dieses Fliegers befanden sich laut einem Bericht der 'St. Petersburg Times' vom 9. Juli 2004 drei arabische Männer, einer von ihnen angeblich ein Mitglied des saudischen Königshauses, und ein ehemaliger FBI-Mitarbeiter. Die amerikanische Regierung hat die Existenz dieses Fluges bis vor wenigen Wochen vehement bestritten.

Ein Interview im amerikanischen Branchenblatt 'Entertainment Weekly' Anfang Juli 2004 gab einen kleinen Einblick in Moores Berufsethos als investigativer Journalist und Dokumentarfilmer. Er äußerte sich sehr gelassen zu den Ergebnissen der Kommission, die seine Behauptungen entkräftet hatten. Moores 'Der Zweck heiligt die Mittel'-Pragmatismus stört sich auch an größeren Schönheitsfehlern nicht. Allein die Tatsache, dass dieser eine Tampa-Flug so lange von der Regierung verschwiegen wurde, so Moore, rechtfertige die Vorwürfe, die er in 'Fahrenheit 9/11' erhebt. Ein Glück für ihn, dass die Amerikaner nach dem 9.11. so ausgiebig geschlampt haben. Die Chancen, da nicht fündig zu werden, sind gering, wenn man, wie Moore, mit Dynamit im Trüben fischt.

Bemerkenswert ist Moores Gabe der strikt selektiven Wahrnehmung vor allem in den Sequenzen, die Amerikas Gegner betreffen. In 'Fahrenheit 9/11' schafft er es innerhalb weniger Minuten, den Vorkriegs-Irak als souveränen Staat zu bezeichnen und obendrein zu behaupten, dass von Saddam Hussein niemals eine Gefahr ausgegangen sei. Was in Europa von vielen als beherzter Antiamerikanismus goutiert wird, erfüllt in 'Fahrenheit 9/11' jedoch eine ganz bestimmte Funktion: Moore instrumentalisiert Figuren wie Hussein oder auch Bin Laden, um die Niedertracht der eigenen Regierung zu verdeutlichen. Er interessiert sich nicht für eine Analyse der geopolitischen Zusammenhänge des 'War against Terror' (im Gegenteil geistert durch 'Fahrenheit 9/11' immer noch die fixe Idee einer Ölpipeline durch Afghanistan; die Informationen, auf die Moore sich hier beruft, sind inzwischen zwei Jahre alt). Jedes Bild, jeder Kommentar, jede Montage dient einzig dem Zweck, die Regierung Bush zu denunzieren. Sobald Moore die Fakten zu kompliziert werden, muss Sarkasmus den Film aus der Argumentationsnot retten.

Moores Unfähigkeit zur politischen Analyse zu kritisieren, heißt, nicht begriffen zu haben, was er eigentlich will. 'Fahrenheit 9/11' ist ein Non-Fiction-Film, der sich an ein Massenpublikum wendet. Moore hat damit aktiv in den laufenden US-Wahlkampf eingegriffen. Und er spielt das Spiel seiner Gegner bereitwillig mit. Er hat sich mit 'Fact-Checkern' und Anwälten (u.a. dem berüchtigten demokratischen Strategen Chris Lehane, den Moore seinen 'Chief Motherfucker' nennt) umgeben, die rechtlich gegen unliebsame Kritiker vorgehen, und lässt das Privatleben seiner zahlreichen Gegner (zu seinen erbittersten gehören Fox News-Moderator Bill O’Reilly und Jason Clarke, Autor des Buches 'Michael Moore is a Big Fat Stupid White Man') ausspionieren – so wie es in Amerika inzwischen in Fernsehsendungen, Büchern und auf Websites auch ihm geschieht. All das untermauert Moores Ruf als selbstgefälliges Arschloch. Aber Moore hat auch angekündigt, dass dieser Wahlkampf zu wichtig sei, um ihn den Demokraten zu überlassen.

Um diesen Aufwand zu verstehen, muss man wissen, dass 'Fahrenheit 9/11' in Amerika wie eine Wahlkampagne gelauncht wurde. Die überraschende Absage Disneys als Mutterkonzern des Verleihers Miramax hat ihren Werbeeffekt ebenso wenig verfehlt wie Moores Ansage, den Film vor allem in den Vor- und Kleinstädten spielen zu lassen, wo ein Großteil jener 'Swing Voter' lebt, die der Film erreichen soll. Mit seinen Promo-Aktivitäten hat sich der Verleih zudem auf jene US-Bundesstaaten konzentriert, in denen weder Bush noch Kerry sich auf eine eindeutige Mehrheit verlassen können – in denen die Wahl also entschieden wird. Unterstützt wird Moore dabei von Grassroots-Organisationen wie MoveOn.org, die ihre Mitglieder dazu auffordern, sich 'Fahrenheit 9/11' im Kino anzusehen. Das klingt verdächtig nach dem Getöse christlicher Gruppen um Mel Gibsons The Passion of Christ', ausgestattet mit der berufsjugendlichen Street-Credibility von 'MTV – Rock the Vote'. Doch Moore ist längst nicht mehr der Einzelkämpfer, als der er sich nach seiner Oscar-Schmährede 2003 gerne dargestellt hat. Die Enthüllungen um die Folterpraktiken in Abu Ghraib und die falschen CIA-Informationen über Massenvernichtungswaffen im Irak haben seinem Projekt in den letzten zwei Monaten zusätzlichen Rückenwind verschafft.

Dass Moores Strategie aufgegangen ist, zeigten schon die Einspielergebnisse vom ersten US-Startwochenende, das von Moore hochsymbolisch auf das Wochenende vor dem 4. Juli gesetzt wurde. Die knapp 25 Millionen Dollar Umsatz (trotz einer umstrittenen Altersfreigabe ab 17 Jahre) können zwar keinen Harry Potter beeindrucken, aber ein politisches Zeichen setzten sie allemal. Mit Rekordzuschauerzahlen in republikanerfreundlichen Bundesstaaten und selbst in Einzugsgebieten um Militärbasen findet der Aufstand der anständigen Amerikaner dieses Jahr in den Kinos statt.

An der Kinokasse wird über den wahren Erfolg Moores jedoch nicht entschieden. Auch ist irrelevant, ob deutsche oder französische Filmkritiker in Moore den neuen Eisenstein oder lediglich einen großmäuligen Blender mit ausgeprägtem Geschäftssinn sehen. Ob Michael Moore mittlerweile tatsächlich ein Penthouse an der Fifth Avenue besitzt oder abends seine schwieligen Füße auf seinem Balkon in einem Hot Tub kühlt, wie die 'Daily News' kürzlich berichtete, ändert nichts an der Tatsache, dass er mit 'Fahrenheit 9/11' etwas geschafft hat, was bisher weder der amerikanischen Linken noch Howard Dean gelungen ist: eine mediale Gegenöffentlichkeit herzustellen. Nach dem Wie fragt in sechs Monaten keiner mehr.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/2004

Road to Guantánamo

(GB 2006, Regie: Michael Winterbottom, Mat Whitecross)

Publikumsumarmung
von Andreas Busche

Es beginnt alles ganz harmlos. Anfang Oktober 2001, knapp drei Wochen nach den Anschlägen auf das World Trade Center, folgen Shafiq, Ruhel und Monir ihrem Freund Asif von Birmingham nach …

Es beginnt alles ganz harmlos. Anfang Oktober 2001, knapp drei Wochen nach den Anschlägen auf das World Trade Center, folgen Shafiq, Ruhel und Monir ihrem Freund Asif von Birmingham nach Pakistan, um an dessen Hochzeit teilzunehmen. Da es bei den Feierlichkeiten Verzögerungen gibt, kommen die vier jungen Männer auf die grandiose Idee, einen Abstecher nach Afghanistan zu machen. Die naive Erwartung, sie könnten der einheimischen Bevölkerung zu Hilfe kommen, wird schnell enttäuscht. 'Als wir die Grenze überquerten, schien alles ganz normal', erzählt Asif im Interview. 'Es schien nicht einmal, als würden wir ein anderes Land betreten. Doch mit unserer Ankunft ergab sich ein völlig neues Bild.' Die amerikanischen Bombardements auf die Taliban-Stellungen in der Region um Kandahar im Süden Afghanistans haben gerade ihren Höhepunkt erreicht; an humanitäre Hilfe ist nicht zu denken. Nach zwei Wochen in Kabul landen die vier im falschen Bus, der sie, statt zurück nach Pakistan, weiter in Richtung der Frontlinien transportiert, Monir geht in den Kriegswirren von Kunduz verloren. Die übrigen drei werden im November 2001 von den vorrückenden Truppen der Nordallianz zusammen mit fliehenden Talibankämpfern aufgegriffen und dem amerikanischen Militär übergeben.

Der Fall der sogenannten Tipton Three Asif, Shafiq und Ruhel machte 2004 international Schlagzeilen. Über zwei Jahre lang wurden die drei Briten im amerikanischen Internierungslager Guantánamo Bay festgehalten, bis man sie schließlich aus Mangel an Beweisen freilassen musste. Alles, was man gegen sie vorzubringen hatte, war eine englische Strafakte wegen einiger kleinkrimineller Delikte und das grobkörnige Video einer iranischen Demo aus dem Jahr 2000, auf der Osama Bin Laden zugegen war – und laut CIA auch einer der Briten (als könnte der amerikanische Geheimdienst einen Muslim vom anderen unterscheiden). Als der britische Regisseur Michael Winterbottom von den drei Männern aus Tipton bei Birmingham hörte, entschloss er sich spontan, einen Film über ihre Erfahrungen in Guantánamo Bay zu machen.

Der zusammen mit Ko-Regisseur Mat Whitecross realisierte Film, 'Road to Guantánamo', erlebte auf der diesjährigen Berlinale unter frenetischem Beifall seine Premiere. Die Berlinale ist immer wieder gut für solcherlei deklamatorische Bekenntnisse. Nicht erst seit dem Antritt von Dieter Kosslick steht sie in dem Ruf, von den drei großen A-Festivals (Cannes, Venedig, Berlin) das politischste zu sein. Diese Haltung hat auch etwas Penetrantes, und Winterbottoms Film, zweifellos mit hehren Absichten (und der finanziellen Hilfe des britischen Senders Channel Four) gestemmt, ist ein gutes Beispiel für diese Form der politischen Selbstverortung. Erwartungsgemäß gab es auf der Berlinale jede Menge Schulterklopfer und zur Krönung den Silbernen Bären (den Goldenen Bären hatte Winterbottom sich bereits zwei Jahre zuvor mit dem Flüchtlingsdrama 'In this World' geholt). Die Filmwelt war mit sich im Reinen.

Zusätzliche Brisanz erhielt 'Road to Guantánamo' wenige Tage darauf, als die Darsteller des Films sowie zwei der Tipton Three bei der Einreise nach England von den britischen Behörden in Gewahrsam genommen wurden und für einige Stunden Erniedrigungen und peinliche Fragen über sich ergehen lassen mussten. Die britische Regierung tat diesen Zwischenfall als Routineüberprüfung ab, aber das Vorgehen der Grenzer und ihre Verhörmethoden ließen auf einen Akt polizeilicher Willkür schließen. Unter anderen wollten die Beamten von den pakistanisch-stämmigen Schauspielern wissen, ob sie vorhätten, in Zukunft mehr politische Filme zu drehen.

Ein faires Urteil über 'Road to Guantánamo' fällt unter diesen Umständen schwer. Alles Filmische, Ästhetische, selbst das Formale wird von seinem Thema überschattet. Das allein macht Winterbottoms Film nicht per se problematisch, aber es verstellt bereits im Vorfeld alle von Winterbottom nicht intendierten Rezeptionsmöglichkeiten. Wenn der Regisseur in Interviews immer wieder betont, er habe einfach nur 'eine ganz konkrete Geschichte' erzählen wollen, ist Vorsicht geboten. Mit 'In this World' hatte das zum Teil noch funktioniert. Winterbottoms pseudodokumentarische Spielszenen halfen, eine abstrakte politische Bedrohung, die 'Festung Europa', unmittelbar erfahrbar zu machen und den toten Körpern in den Containern von Dover oder an den Grenzzäunen von Melilla sozusagen eine (wenn auch fiktive) Geschichte zuzuschreiben.

Die Geschichte der Tipton Three hingegen ist bekannt – 'konkret', in den Worten Winterbottoms. Sie ist ein Skandal, eine Menschenrechtsverletzung sondergleichen und eine Bankrotterklärung der Demokratie. Die Aussagen von Asif, Shafiq und Ruhel sind immens wichtige Zeugnisse, um Guantánamo Bay nicht nur als Politikum, sondern auch als menschliche Tragödie begreiflich zu machen. Eine Erfahrung, die Schmerz und Traumata nach sich zog. Das Politische ist hier vom Persönlichen nicht zu trennen, und dennoch erfordern beide differenzierte Betrachtungsweisen. Genau hierin versagt 'Road to Guantánamo'.

Winterbottom kann sich der Empörung des Zuschauers gewiss sein, doch über diese Empörung hinaus scheint ihn kaum etwas zu motivieren. Er begnügt sich in erster Linie damit, das spärliche Bildmaterial, das von Guantánamo Bay existiert, lebhaft auszuschmücken, als vermittele schon die bloße Abbildung von bereits ins Reich der Populärmythen eingegangenen Folteringredenzien (die orangefarbenen Sträflingsanzüge, die Hundezwinger, Heavy-Metal-Beschallung, Koranschändung) die letzte Erkenntnis über das Skandalon Guantánamo Bay. Für die politischen Zusammenhänge hingegen scheint sich Winterbottom nicht sonderlich zu interessieren. Statt dessen hat er außerhalb von Teheran einen originalgetreuen Nachbau von Camp X-Ray und Camp Delta errichtet.

'Road to Guantánamo' scheitert in doppelter Hinsicht: als Augenzeugenbericht dreier ehemaliger Guantánamo-Häftlinge – weil Winterbottom (im Gegensatz zu einem Humanisten wie zum Beispiel Claude Lanzmann) kein Vertrauen in die Überzeugungskraft ihrer Geschichte hat und der Versuchung nachgibt, die zweijährige Odyssee der Männer größtenteils von Darstellern nachspielen zu lassen. So sind die Vorzeichen in 'Road to Guantánamo' plötzlich verkehrt. Nicht mehr die Bilder verleihen den Aussagen von Asif, Shafiq und Ruhel Gewicht, sondern vereinzelt eingestreute Interviewpassagen müssen dafür herhalten, den fiktiven Spielszenen Authentizität zu verleihen. Das geht gründlich schief, weil Dokumentation, Fiktion, Rekonstruktion und Nachrichtenmaterial irgendwann kaum mehr auseinanderzuhalten sind – und Winterbottom darüber hinaus alles gleichermaßen mit einer hochdramatischen musikalischen Soße untermalt.

Ebenso wenig funktioniert 'Road to Guantánamo' als Kritik, weil der Film im dramatischen Korsett eines Fernsehspiels nie über seine 'konkrete Geschichte' hinausweist. Daran ändern auch die eingestreuten Nachrichtenschnipsel, die Wackelkamera und die hektischen 'Action'-Szenen wenig. Winterbottoms dubiose Methoden schaden nicht nur der Grundintention seines Films, Empathie für die Opfer des 'War against Terror' zu entwickeln. Ärgerlicher ist, dass auch die notwendige Reflexion der politischen und rechtlichen Umstände von Guantánamo Bay im Laufe des Films rapide an Fallhöhe verliert. So verpasst er nicht zuletzt die Gelegenheit, eine grundlegende Kritik an Folterpraktiken – egal ob an Dschihad-Kriegern oder Zivilisten erprobt – zu üben. Winterbottom argumentiert wie liberale Kritiker der Todesstrafe: Guantánamo Bay ist nicht gut, weil es auch Unschuldige treffen könnte.

Weil Winterbottom sich den unbequemen Fragen – allem, was über den politischen Konsens (oder schlicht: den gesunden Menschenverstand) hinausgeht – verweigert, bleibt 'Road to Guantánamo' als Kritik wirkungslos. Sein Film ist nicht mehr als ein Akt ziviler Selbstvergewisserung, der Aufstand eines Anständigen. Und darin in letzter Konsequenz auch ein typisches Produkt seiner Zeit: symptomatisch für eine Öffentlichkeit, die politische Diskussionen allzu bekenntnishaft um der eigenen Positionierung willen führt.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 10/2006

Yusuf-Trilogie

(TÜR / D / GR / F 0, Regie: Semih Kaplanoglu)

Atem der Zeit
von Wolfgang Nierlin

Semih Kaplanoglus „Yusuf-Trilogie“ in einer „3-DVD Special Edition“ Die Filme des türkischen Filmkünstlers Semih Kaplanoǧlu evozieren eine Sinnlichkeit, die den Zuschauer geradezu physisch erfasst. Eine poetologische Referenz dafür findet sich …

Semih Kaplanoglus „Yusuf-Trilogie“ in einer „3-DVD Special Edition“

Die Filme des türkischen Filmkünstlers Semih Kaplanoǧlu evozieren eine Sinnlichkeit, die den Zuschauer geradezu physisch erfasst. Eine poetologische Referenz dafür findet sich in „Yumurta – Ei“, wo einmal aus John Steinbecks Novelle „Die Perle“ zitiert wird: Man müsse ein Ereignis als Ausgangspunkt wählen und dieses dann raum-zeitlich verdichten. In langen konzentrierten Einstellungen, getragen vom Atem der Zeit und dem ruhigen Fluss alltäglicher Ereignisse verdichtet Kaplanoǧlu sein Erzählen in Bildern. Dieses öffnet und vermischt sich immer wieder mit dem Traum, beschwört eine magische Welt inmitten der Wirklichkeit und zieht so dem poetischen Realismus eine spirituelle Dimension ein. Rituelle Handlungen und religiöse Bräuche, wiederkehrende Symbole und eine beseelte Natur stehen für diese Transzendenz. Als „Hinterwelt“ ist diese stets gegenwärtig und bildet im Verbund mit kulturellen Traditionen zugleich das Gegengewicht zum modernen Leben.

In der soeben erschienenen „3 –DVD Special Edition“ der „Yusuf-Trilogie“, die in den Jahren 2005 bis 2010 entstand und die die Filme „Yumurta – Ei“, „Süt – Milch' und „Bal – Honig“ umfasst, ist dieser spannungsreiche Kontrast zwischen Natur und Kultur, Tradition und Moderne stets gegenwärtig. In ihrer Suche nach Heimat, nach einem Platz im Leben, nach Liebe und sprachlichem Ausdruck reflektieren die Yusuf-Figuren in verschiedenen Lebensaltern dieses Verhältnis. Bezogen sind sie dabei nicht nur auf bestimmte Familienkonstellationen, in denen die Beziehungen zu Vater und Mutter eine herausgehobene Rolle spielen, sondern vor allem auch auf Orte und Landschaften.

Im informativen, aber wenig strukturierten Making Of, das der Trilogie-Edition beigegeben ist und das Gespräche mit Mitarbeitern, „Impressionen von den Dreharbeiten“ und Filmausschnitte versammelt, wird die Bedeutung dieser Schauplätze, aber auch bestimmter, in allen drei Filmen auftauchender Objekte nochmals anschaulich. Das ungewöhnliche Nebeneinander von traditioneller und moderner Kultur in der Stadt Tire im Hinterland der Ägäis (Schauplatz der Filme „Yumurta“ und „Süt“) ist dafür ebenso ein Beispiel wie die urwüchsige Natur in der Provinz Rize an der Schwarzmeerküste im Nordosten der Türkei, wo „Bal“ gedreht wurde. Um ein möglichst „realistisches Gefühl entstehen zu lassen“, arbeitet Semih Kaplanoǧlu aber nicht nur an Originalschauplätzen, sondern auch mit möglichst wenig künstlichem Licht und einem reduzierten Ton, der „die Stille zum Klingen“ bringt.

Ebenso bedeutsam für Kaplanoǧlus Realismuskonzept ist seine Arbeit mit Laienspielern, die mitunter gleich in mehreren Filmen der Trilogie mitwirken. Diese sollen sich selber spielen und dabei ihre eigenen Erfahrungen, Einstellungen und Empfindungen einbringen. Immer wieder lässt sich anhand der dokumentierten Dreharbeiten beobachten wie Kaplanoǧlu, der unter seinen Mitarbeitern als sehr fordernd und bestimmt gilt, mit seinen Regieanweisungen die Schauspieler auch emotional führt. „Wegsein ist ein Gefühl, das wir immer in uns selber tragen“, lautet einer dieser suggestiven Sätze, der die Schauspieler zu einer möglichst undramatischen, glaubhaften Darstellung führen soll; oder auch: „Fühle die Armut in deinem Herzen.“

In Kaplanoǧlus „Yusuf-Trilogie“, die unheimlich reich an Details ist, lassen sich die Spuren dieser Arbeit sowie wiederkehrende Motive und Symbole durch alle drei Filme hindurch verfolgen oder wiederentdecken. Dazu gehören beispielsweise der symbolische Gehalt der Filmtitel, die wiederum archetypische Beziehungen zwischen den Figuren verschlüsseln, die Darstellung und Deutung der alten Berufe (z. B. Seiler, Brunnenbauer, Imker), Yusufs dichterische Berufung (in den Worten aus Arthur Rimbauds Gedicht „Empfindung“: „Einsame Wege will ich gehen.“) oder auch die wiederkehrenden (epileptischen) Anfälle, die eine empfindliche Grenze zwischen Realität und Traum, Leben und Tod berühren. Dass ein solch vergleichendes Sehen in kurzer zeitlicher Abfolge jetzt möglich wird, ist ein großes Verdienst dieser DVD-Edition. Deren werbetechnische Fokussierung auf den Berlinale-Gewinner „Bal“ führt in der Anordnung und Gestaltung der Box allerdings zu leichten Irritationen. Wie lautet doch einer der Kalendersprüche, die der kleine Yusuf in „Bal“ gleich zu Beginn mit zögerlicher Stimme seinem Vater vorliest: „Ihr sollt die Dinge erleichtern statt sie zu erschweren.“ Dieses prophetische Wort mag auch hier gelten.

Ausgestoßen

(GB 1947, Regie: Carol Reed)

Märtyrer der Organisation
von Michael Schleeh

Zwei Jahre vor „Der dritte Mann“ inszenierte Carol Reed 1947 diesen in Irland spielenden Thriller, in dem ein aus der Haftanstalt entflohener politischer Aktivist (James Mason) einen Überfall plant, um …

Zwei Jahre vor „Der dritte Mann“ inszenierte Carol Reed 1947 diesen in Irland spielenden Thriller, in dem ein aus der Haftanstalt entflohener politischer Aktivist (James Mason) einen Überfall plant, um für „die Organisation“ Geld zu beschaffen. Die Örtlichkeit wird nie explizit genannt, doch dürfte es klar sein, dass es sich hier um Belfast und die IRA handelt. Der Film beginnt zunächst wie ein Caper-Movie, in dem die „Bande“ in ihrem Hideout konspirativ zusammen sitzt und von den Frauen des Hauses mit heißem Tee versorgt wird. Der Anführer ist Johnny McQueen (James Mason), der mit seiner politischen Überzeugung und einem wie in Askese geschnitzten, scharfen Gesicht messianisch die ihm Folgenden mitreißen kann – allein mit seiner Präsenz und Ausdrucksstärke füllt er den ganzen Raum. Auch Kathleen Sullivan (Kathleen Ryan) ist bedingungslos auf seiner Seite, wenngleich voller Angst, die Sache könnte schief gehen. Für sie allerdings ist Johnny jetzt schon ein Märtyrer.

Dass der Überfall dann scheitert, entspricht den Gesetzen des Genres – beinahe schon slapstickhaft ist das, wie Johnny nach der Rauferei und dem Schusswechsel, der freilich völlig unnötig war, mit den Beinen zappelnd aus dem Auto hängt. Und in der scharfen Kurve dann auf die Straße geschleudert wird. Zu Fuß auf der Flucht und angeschossen in die Schulter, kämpft sich Johnny durch die Straßen und Straßenzüge – und hier kommt dann der nächste Protagonist ins Bild: die Stadt. Eine Stadt nach dem Krieg, zerbombte Häuser, Schutt, Luftschutzkeller, Kinder, die mit Straßenkötern spielen. Zu Fuß auf der Flucht ist Johnny allein, „auf eigene Faust“ – und doch zu schwach geworden mit der Verwundung, um sich an einen sicheren Platz zu retten. Robert Krasker packt die Geschichte in expressionistische Bilder, die mit denen aus „Der dritte Mann“ rivalisieren: hartkontrastiges Schwarzweiß, Verfolgungen im Gegenlicht durch die engen Gassen bei Nacht, Großaufnahmen auf die Gesichter der Verlorenen, Halunken und Gauner.

Dorthin nämlich verschlägt es den Helden (als der Film den Thrillerplot verlässt, sich einige Längen gönnt, und das Drama in den Mittelpunkt rückt), zu einem halbverfallenen Haus, das von einem Trunkenbold und einem irren Maler bewohnt wird, der vor allem im Suff sein Ingenium zu wecken hofft. Er ist besessen davon, den Ausdruck im Gesicht eines Mannes zu erfassen, der auf der Schwelle des Todes steht, was ihm das Kunstwerk beseelen soll. Der eigentliche Tod aber kommt später, nach dem Regen, als es bereits zu Schneien begonnen hatte. Es ist kalt. Es ist der kalte Nachkriegswinter von 1946/47 und die Lebensmittel sind rationiert. Kathleen hat ihren Johnny wiedergefunden und schleppt ihn zum Hafen. Doch sie sind zu spät, das Schiff legt ab. Im blendenden Licht der Autos der Verfolger stehen sie geschlagen, eng an den Zaun gepresst. Sie wird ihn niemals wieder loslassen wollen und zieht, völlig überzeugt, die Waffe aus dem Mantel. Im Kugelhagel dann sinken sie sterbend zusammen aufs Pflaster nieder.

Planet Terror

(USA 2007, Regie: Robert Rodriguez)

Kintopp mit Rotorblättern
von Andreas Busche

Die gute Nachricht gleich vorweg: Immerhin einer der vier Faketrailer aus dem Grindhouse-Doppelpack von Quentin Tarantino und Robert Rodriguez hat es in die deutschen Kinos geschafft, als 'Preview of coming …

Die gute Nachricht gleich vorweg: Immerhin einer der vier Faketrailer aus dem Grindhouse-Doppelpack von Quentin Tarantino und Robert Rodriguez hat es in die deutschen Kinos geschafft, als 'Preview of coming attractions' vor Rodriguez’ 'Planet Terror', wie das zerschlissene Videologo am Anfang großspurig verkündet. 'Coming attraction' ist gut – handelt es sich beim Mextex-Actionreißer 'Machete' doch um potentielle Direct-to-Video-Ware; darum geht es schließlich. Tarantinos und Rodriguez’ Grindhouse-Filme, die bei uns nur getrennt in die Kinos kommen, zelebrieren eine glorreiche Ära, in der solch ein C-Ramsch noch seinen Weg in die Kinos fand, als durchgenudelte Kopie, aus der verantwortungslose Vorführer bereits ihre Lieblingsszenen entfernt hatten (auch im Fall von 'Planet Terror' übrigens).

Nach so einem spektakulären Auftakt ist der Hauptfilm um so enttäuschender. Als Double-Feature lief 'Planet Terror' noch vor Tarantinos Beitrag – eine weise Entscheidung. Denn im direkten Vergleich mit Death Proof' kommt Rodriguez’ Zombiefilm schlecht weg, trotz seines hohen Guts ’n’ Gore-Faktors. Rodriguez fabriziert reinen Kintopp, wenn mitunter auch sehr unterhaltsamen (wie 'Sin City'). Ihm ist nicht gelungen, was Tarantino perfektioniert hat: Genres zu transformieren. Während 'Death Proof' aus einem macho movie einen female revenge flic machte, hat Rodriguez dem Zombiegenre nichts hinzuzufügen außer der Groteske und einer Variation alter Standards, bis hin zu den Rotorblättern, die durch eine Horde Untoter pflügen. Allenfalls Rose McGowan wird sich bei Horror- und Science-fiction-Fans unvergeßlich machen. Nach einem Zombieangriff verliert sie ein Bein, welches mit Hilfe plastischer Chirurgie durch ein Maschinengewehr ersetzt wird. Dazu allerdings ist jede Menge digitaler Tricktechnik nötig, was 'Planet Terror' die slicke Ästhetik eines Videospiels verleiht und nicht die eines Siebzigerjahre-B-Movies.

Auch vom subversiven Geist des Zombiefilms bleibt nichts. Kürzlich hat Horrorveteran Joe Dante für das amerikanische Fernsehen 'Homecoming' gedreht, in dem sich im Irakkrieg gefallene Soldaten aus ihren Gräbern erheben, um an der Wahlurne ihre Stimme gegen George W. Bush abzugeben. Solche Zombiefilme wollen wir sehen.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 10/2007

Death Proof

(USA 2007, Regie: Quentin Tarantino)

Male Trouble
von Andreas Busche

Quentin Tarantino gehört zur ersten Videogeneration. Von der Ära der Grindhouse-Kinos, in denen man für ein paar Dollar einen ganzen Tag mit Double- und Triplefeatures aus Zombie-, Karate-, Blaxploitation-, Revenge- …

Quentin Tarantino gehört zur ersten Videogeneration. Von der Ära der Grindhouse-Kinos, in denen man für ein paar Dollar einen ganzen Tag mit Double- und Triplefeatures aus Zombie-, Karate-, Blaxploitation-, Revenge- und Slasherfilmen verbringen konnte, hat er Anfang der Achtziger gerade noch die traurigen Ausläufer mitbekommen. Seitdem versucht er mit viel Hingabe, diese Zeit zu rekonstruieren. 'Death Proof' ist nach Kill Bill' Tarantinos zweite Hommage an das Kino seiner Jugend; das ist heute, im Gegensatz zu den Filmen von Roger Corman oder den Golan/Globus-Cousins, natürlich nur noch mit viel Geld zu realisieren. In Amerika lief 'Death Proof' Anfang des Jahres zusammen mit Planet Terror' von Tarantinos Checker-Kumpel Robert Rodriguez als dreieinhalbstündiges Doublefeature, drei Trailer von fiktiven B-Movies inklusive. Bei uns kommen beide Filme vorerst nur getrennt ins Kino, was die Idee des Projekts mehr oder weniger ad absurdum führt. Dafür ist 'Death Proof' solo ganze 27 Minuten länger, womit Tarantino auch gegen ein ehernes Exploitation-Gesetz verstößt: Ein guter Film ist niemals länger als 80 Minuten.

Wenigstens passt die Geschichte noch auf einen Bierdeckel: Ein ehemaliger Stuntman (Actionfossil Kurt Russell) lockt junge Mädchen in sein Muscle Car, um sie in tödliche Unfälle zu verwickeln – bis er an die falschen gerät. Vorbild sind die Car-Crash-Movies der Siebziger, einer unschuldigen, vordigitalen Ära, in der Stuntmen (oder Stuntfrauen; die Neuseeländerin Zoe Bell spielt in 'Death Proof' eine Hauptrolle) noch die Cowboys der Neuzeit waren. Tarantino zollt ihnen Respekt, macht aber auch Schluss mit den Machoallüren des Genres. Russell, reptilienartig gealtert, ist die Idealbesetzung als psychopathischer Schmierlappen mit MacGyver-Frisur. Selbstironie ist ihm nicht fremd. 'Hast du Angst vor mir?', fragt er einmal ein Mädchen. 'Nicht vor dir', entgegnet sie, 'vor deinem Auto.'

Noch mehr als qualmende Reifen und spektakuläre Auffahrunfälle liebt Tarantino aber harte Mädchen mit schönen Füßen, die sie ihren männlichen Kontrahenten wenn nötig auch tief in den Arsch stecken. Es sind nicht unbedingt die altmodischen Verfolgungsjagden, der mitreißende Soundtrack (Warner Music) oder selbstreferentielle Gimmicks wie zerkratzte Filmkopien und Filmsprünge, die 'Death Proof' so unterhaltsam machen, sondern der ureigene Tarantino-Touch: endloser Girls Talk über Sex, Drogen, Popkultur und das Leben in der amerikanischen Provinz. Man möchte diesen Mädchen stundenlang beim Quasseln zuhören – unterschätzen sollte man sie niemals. Tarantinos Vorstellung von Feminismus mag aus schlechten Siebziger-Jahre-Filmen geklaut sein; aber kann das gegen 'Death Proof' sprechen?

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/2007

Bowling for Columbine

(USA / CAN / D 2002, Regie: Michael Moore)

Zinsknechtschaft
von Andreas Busche

Um herauszufinden, wo Amerikas Problem liegt, begibt sich Michael Moore sogar auf die Bowlingbahn von Littleton. Hier haben Eric Harris und Dylan Klebold am Morgen des 20. April 1999 noch …

Um herauszufinden, wo Amerikas Problem liegt, begibt sich Michael Moore sogar auf die Bowlingbahn von Littleton. Hier haben Eric Harris und Dylan Klebold am Morgen des 20. April 1999 noch ein paar Kugeln geschoben, bevor sie an der Columbine High School ein Massaker anrichteten. 'Sind wir eine Nation von Waffenverrückten, oder sind wir einfach nur alle verrückt?' ist die tautologische Grundüberlegung seines neuen Films, und Moore hat seinem Amerika ordentlich auf den Zahn gefühlt: dem Hausmeister der 'Littleton Lanes', Charlton Heston, Marilyn Manson, 'South Park'-Autor Trey Parker, der Michigan Militia, 'American Bandstand'-Begründer Dick Clarke etc. pp. Man kann nicht behaupten, dass er sich keine Mühe gegeben hätte, Antworten zu finden, die er längst weiß. Moores Filme sind keine Dokumentationen im herkömmlichen Sinne, sondern verkappte Sozialreportagen. Seine Methoden sind dabei so induktiv wie bei jedem anderen Populisten. Daraus macht er auch keinen Hehl.

Moore ist natürlich nicht mehr, wie noch zu Zeiten von Roger and Me', der kleine Mann von der Straße, wenn er mit Fünftagebart, Baseballcap und Windjacke seinen 'Corporate Celebrities' vor ihren Prachtvillen und Bürotürmen auflauert. Er ist inzwischen selbst der Posterboy der amerikanischen Sozialkritik, das schlechte Gewissen des 'Corporate America'. In Cannes hat 'Bowling for Columbine' in diesem Jahr sogar als erster Dokumentarfilm überhaupt einen Spezialpreis gewonnen. Moore weiß um die Macht der Networks, in deren Auftrag er heute unterwegs ist, und manchmal würde man sich auch etwas mehr von dem alten Kamikaze-Spirit wünschen, vor allem dort, wo 'Bowling for Columbine' streckenweise auf das Niveau übelsten Betroffenheitsfernsehens zurückfällt. Der Film hätte aber auch leicht eine launige NRA-Nummernrevue werden können; nur ist dann dummerweise 9/11 dazwischengekommen.

Wenn Moore am Ende wieder in Littleton angekommen ist (bzw. am Swimmingpool von Charlton Heston), nach einem Abstecher in die Vorgärten der 'Gated Communities', nach South Central und in die Produktionsstudios der Fernsehshow 'Cops', hat er eine beispiellose Angstkultur ausgemacht, die ganze Wirtschaftszweige finanziert. Die Rechnung sieht folgendermaßen aus: Die von der Angst profitieren, produzieren sie, um sich von ihrem Gewinn Waffen kaufen zu können, mit denen sie dann andere Länder bombardieren, damit in der eigenen Bevölkerung noch mehr Angst geschürt werden kann. Die Toten von Littleton bleiben unterm Strich stehen als die Zinsen dieser ertragreichen Angstproduktion.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2002

Die Passion Christi

(USA 2004, Regie: Mel Gibson)

Karfreitagsporno
von Andreas Busche

Dass mit Mel Gibsons Jesus-Film die christliche Heilsgeschichte einige Flecken abbekommen würde, war schon nach den ersten Reaktionen aus den USA absehbar. Da hatte den Film noch kaum jemand gesehen. …

Dass mit Mel Gibsons Jesus-Film die christliche Heilsgeschichte einige Flecken abbekommen würde, war schon nach den ersten Reaktionen aus den USA absehbar. Da hatte den Film noch kaum jemand gesehen. Aber ein fundamentalistischer Religionsvertreter, und sei er aus Hollywood, der in einem Anfall von Wahn um Authentizität ringt, ist in den amerikanischen Küstenstädten, traditionell das Zentrum der liberalen Intelligenz, a priori suspekt. Nachträglich hat sich die Medienschlacht als Strohfeuer erwiesen; immerhin warf es hierzulande ein – wenn auch schwaches – Licht auf die Feuilletons. Nachdem man sich schnell von den gängigen Antisemitismusvorwürfen freigeschwommen hatte, fiel das Urteil in der deutschen Presse humorlos wie in einem Kirchenblatt aus: unchristlich und blasphemisch. Feuilletonisten als vermeintlich letzte Außenposten der abendländischen Kultur schwangen sich zu Verfechtern der reinen christlichen Lehre auf.

Natürlich ist 'Die Passion Christi' ein barbarischer Schmarrn – ein Bibelfilm für Extremchristen, die ihr Heil in der körperlichen Verstümmelung suchen. Davon bietet Gibsons Film mehr als genug. Die Kamera labt sich am geschundenen Leib Christi, als gelte der Karfreitag als höchster Feiertag. Fleischfetzen fliegen durch die Luft, Blut spritzt in die Kamera, Augen werden ausgehackt, Nägel bohren sich durch Hände. Dass während dieser Kreuzigungsszene eine Amerikanerin im Kino an einem Herzanfall starb, nützte der PR – in Amerika spielte der Film bereits am ersten Wochenende seine Kosten wieder ein. Unchristlich ist das – dabei soll doch sogar der Papst zugegeben haben, dass es in Gibsons Film so sei, wie es war.

Aber auch der Antisemitismusvorwurf gegen den Film steht auf wackligen Füßen. Wie prosemitisch kann eine Bibelverfilmung schon sein? 'Die Passion Christi' ist so antisemitisch wie der Text seiner Vorlage; der Gerechtigkeit halber kommen die Römer im Film aber auch nicht besser weg als der jüdische Mob. Was die römischen Folterknechte mit dem Menschensohn anstellen, fällt sowohl unter die Genfer Konventionen als auch unter den Tatbestand der Gewaltpornographie.

Letztlich eignet sich dieser Bibel-Trash nur für ein Double Feature mit 'Das Leben des Brian'. Der Marylin-Manson-ähnliche Teufel mit den entstellten Aphex-Twin-Babys ist eine Reminiszenz an MTV, der donnernde Soundtrack an 'Black Hawk Down'. Mit Glaube hat das so viel zu tun wie mit schlechtem Geschmack (schwer, das eine vom anderen zu trennen). Beunruhigender als der Film selbst war nach den ersten Zuschauerkommentaren allerdings der Verdacht, dass das Publikum genau den Film bekommen hat, den es verdient.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 04/2004

Flags of Our Fathers

(USA 2006, Regie: Clint Eastwood)

Spielbergs Wunschträume
von Andreas Busche

Nach nihilistischen Pulp- und Gothicfilmen (Mystic River', 'Million Dollar Baby') widmet sich Clint Eastwood nun wieder einem Thema, das mit der katastrophalen Gemütsstimmung seiner Landsleute deutlich korrespondiert. Wenn Amerika sich …

Nach nihilistischen Pulp- und Gothicfilmen (Mystic River', 'Million Dollar Baby') widmet sich Clint Eastwood nun wieder einem Thema, das mit der katastrophalen Gemütsstimmung seiner Landsleute deutlich korrespondiert. Wenn Amerika sich im Kriegszustand befindet, dreht man in Hollywood ja lieber Romantic Comedies oder einen neuen Jerry Bruckheimer. Dass Clint Eastwood mitten im 'war against terror' einen Film wie 'Flags of Our Fathers' durchboxen konnte, hat auch damit zu tun, dass man in Hollywood bei Kriegserinnerungsfilmen immer noch eher an 'Pearl Harbour' als an 'Big Red One', Sam Fullers definitives Statement zum Zweiten Weltkrieg, denkt.

Und was macht Eastwood? Er dreht nicht nur ein dumpf brütendes Antiheldenepos über die blutigste Schlacht der Amerikaner auf der japanischen Insel Iwo Jima; er wird denselben Film 2007 gleich noch mal in die Kinos bringen – dann aus japanischer Sicht. 'Flags of Our Fathers' verweigert sich konsequent jedem Kriegspathos, vor dem auch der sogenannte Antikriegsfilm nie ganz gefeit ist. Eastwood erzählt von den inneren Kämpfen der armen Teufel, die vom Schlachtfeld als Helden zurückkamen. Die Ikone der Kriegsfotografie schlechthin, Joe Rosenthals Schnappschuss vom Flaggenhissen auf dem Mount Suribachi, dient ihm bei seiner Demontage amerikanischen Heldentums als Vorlage. 'Helden sind etwas, das wir schaffen, etwas, das wir brauchen', heißt es am Ende. Das könnte auch die Quintessenz von Eastwoods pessimistischem Spätwerk sein, angefangen mit 'Erbarmungslos'.

Selbst das Hissen der US-Flagge ist Inszenierung. 'Okay, wer möchte heute ein Held sein?' spaßen die Soldaten, bevor sie sich für die Kamera in Pose schmeißen. Zurück in der Heimat werden die tapferen Soldaten, die die Hosen gestrichen voll haben, dann auf Promotiontour für Kriegsanleihen geschickt, damit der Kampf in ihrem Namen weitergehen kann. Diese Form der Kriegs- und Heldenvermarktung führt Eastwood sarkastisch vor, wenn die Soldaten bei einem Bankett Desserts serviert bekommen, die ihrer Pose nachempfunden sind – übergossen mir Erdbeersoße.

'Flags of Our Fathers' erinnert in seinen Flashbacksequenzen an einen düsteren Fiebertraum (einmal schneidet Eastwood die Eroberung von Suribachi parallel mit der nachgestellten Schlacht im Chicagoer Soldier Field Stadion); seine postheroischen Kämpfer agieren blind und orientierungslos.

Eastwood hat keinen großen Film gemacht, aber er zeigt Größe. Ein Affront ist seine Kritik am Krieg nicht mehr. Doch 'Flags of Our Fathers' ist der Film, den Spielberg, hier ausführender Produzent, mit 'Saving Private Ryan' gerne gemacht hätte.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 01/2007

Deep in the Woods – Verschleppt und geschändet

(F 2010, Regie: Benoît Jacquot)

Magnetismus der Verführung
von Wolfgang Nierlin

Obwohl Benôit Jacquots aktueller Film “Au fond des bois” im vergangenen Jahr das Filmfestival von Locarno eröffnete, war ihm hierzulande kein regulärer Kinostart vergönnt. Dabei stammt er nicht nur von …

Obwohl Benôit Jacquots aktueller Film “Au fond des bois” im vergangenen Jahr das Filmfestival von Locarno eröffnete, war ihm hierzulande kein regulärer Kinostart vergönnt. Dabei stammt er nicht nur von einem der renommiertesten und interessantesten französischen Regisseure unserer Tage, sondern ist mit Isild Le Besco ebenso prominent wie kongenial besetzt. Zu brisant, spekulativ und vieldeutig schillernd war potentiellen Verleihern offensichtlich die tiefenpsychologische Geschlechterpolitik des Films, der rückhaltlos um eine besonders verwegene Amour fou kreist; oder einfach nur zu wenig gewinnversprechend. So ist es zumindest ein Trost, dass der Alamode Filmverleih Jacquots Film nun unter dem englischen Titel „Deep in the Woods“ auf DVD herausbringt, wobei die damit suggerierte Internationalität beim Kaufpublikum ebenso falsche Erwartungen und Assoziationen weckt wie der reißerische Untertitel („verschleppt und geschändet“) und die fragwürdige Genrebezeichnung des Films als „Erotikthriller“.

Der auf Gerichtsprotokollen basierende historische Fall, der sich im Jahre 1865 in der südfranzösischen Provinz zutrug, ähnelt in seinen Bildern und Motiven vielmehr einem romantischen Gespinst, das von einem unheimlichen Begehren beseelt ist. Benôit Jacquot übersetzt die irritierenden Kraftströme zwischen der gutsituierten Bürgerstochter Joséphine Hughes (Isild Le Besco) und dem zerlumpten Streuner Timothée Castellan (Nahuel Pérez Biscayart mit dämonischer Wildheit) zunächst in eine Dialektik von innen und außen und in ein subtil mehrdeutiges Spiel zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Beobachtung. Die magisch durchdringenden, gar verhexenden Blicke des männlichen Begehrers überkreuzen sich gewissermaßen mit dem Erwachen der weiblichen Lust. Der Körper, der die Blicke des Voyeurs auf sich zieht, ist selbst von unbekannter Sehnsucht gespannt und bietet sich dar.

Jacquot inszeniert die Topoi dieser wechselnden Verführung, die das sexuelle Begehren und die Sehnsucht nach dem Verlust der Unschuld zusammenschließt, als romantisch düsteren Realismus. Wenn die Farben-Trikolore von Joséphines Kleidern in relativ schneller Abfolge von Weiß zu Rot und zu Blau wechselt, wenn die Kamera zärtlich den Nacken der schönen Nachtwandlerin ins Bild setzt, sie beim Flussbad beobachtet oder sie am Fenster stehend zeigt, wo der Blick in die unbestimmte Ferne eines wie gemalten Himmels geht, verklärt sich das Opfer in eine Phantasie und der Täter in ein Opfer. Doch zunächst dominiert die rohe Gewalt Timothées, der Taubstummheit vortäuscht, um sich die Nähe der ätherisch Schönen im Haus des Armenarztes Dr. Hughes (Bernard Rouquette) zu erschleichen und sie daraufhin in seine brutale Abhängigkeit zu zwingen. Der gespenstische Zauber der Hypnose illuminiert dabei die Vergewaltigungen mit magnetischer Kraft und verbindet die sexuelle Unterwerfung mit einer unterschwelligen Todessehnsucht.

Um ihre fast willenlose Hörigkeit zu erklären, sagt Joséphine später im Verhör: „Ich war nicht ich selbst.“ Sie habe sich lethargisch, wie in Trance gefühlt und dabei eine besondere Nähe zum Tod gespürt. Der mit übersinnlichen Kräften begabte Timothée wiederum gibt zu Protokoll: „Ihr Wille drang in mich ein. Sie hat alles gewollt.“ Es handelt sich also um die Darstellung einer doppelten Besessenheit, die Züge des Heiligen trägt und die als äußere Flucht in die titelgebenden Tiefen des Waldes – und im Weiteren mit dem Dickicht der Wildnis – auch die Tiefenschichten des Bewusstseins erkundet. Liebeswahn und Freiheitsdrang, Anziehung und Abstoßung durchdringen und vermischen sich wie das Blut und die Körpersäfte der Liebeskranken und machen aus „Deep in the Woods“ die dissonante Faszination einer betörenden Verstörung.

Die Höhle der vergessenen Träume

(F / CAN / USA / GB / D 2011, Regie: Werner Herzog)

Der Blick des Krokodils
von Andreas Busche

Werner Herzog hat ein Herz für Alligatoren. Seine 'Kroko-Cam' aus 'Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen' war schon für einen der seltsamsten psychedelischen Momente der jüngeren Kinogeschichte verantwortlich. Im Epilog …

Werner Herzog hat ein Herz für Alligatoren. Seine 'Kroko-Cam' aus 'Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen' war schon für einen der seltsamsten psychedelischen Momente der jüngeren Kinogeschichte verantwortlich. Im Epilog seiner Dokumentation 'Die Höhle der vergessenen Träume' greift Herzog seine neueste Lieblings-Obsession nun wieder auf, wenn er mit einem letzten Nachgedanken von der Chauvet-Höhle in Südfrankreich zu einem mit Reaktorkühlwasser beheizten Tropenpark abschweift, in dem Albino-Alligatoren geboren werden. Doch steckt eine inhärente Logik in der Reptilienperspektive: Auch Herzog betrachtet die Menschen als Außenstehender, der über die absonderlichsten Verbindungen einen Bezug zur Welt herzustellen versucht. Er ist gleichermaßen unermüdlicher Forscher und verstrahlter Weltdeuter. Extreme Orte und menschliche Grenzerfahrungen haben Herzog schon immer fasziniert.

Die Chauvet-Höhle mit ihren Jahrtausende alten Wandbildern liefert ihm schönes Anschauungsmaterial für das mythische Rauschen unter seinen Off-Kommentaren. Als erster Filmemacher überhaupt durfte Herzog diese Zeitkapsel aus einer anderen Epoche der Menschheitsgeschichte betreten. Und die Expedition beflügelt ihn zu hochtrabenden Gedanken. Im Gegensatz zu den Wissenschaftlern sucht er in der Höhle etwas, das sich nicht mit Geräten vermessen lässt: 'die Seele des modernen Menschen'. Wenn Herzog die Millionen von erfassten Daten mit dem Telefonbuch von Manhattan vergleicht, schließt er mit der Feststellung, dass diese Zahlen nichts über die Träume der Urmenschen verraten.

Herzog ist längst mehr Hobby-Anthropologe denn Filmemacher. Er lässt sich in Informationen treiben, um an überraschende Ufer zu gelangen. Diese Neugier verbindet ihn mit dem Archäologen Wulf Hein, der beruflich mit prähistorischen Werkzeugen experimentiert. In 'Die Höhle der vergessenen Träume' spielt Hein im Bärenfell auf einer Knochenflöte die amerikanische Nationalhymne nach, ein bizarrer Moment, der jedoch in Herzogs Reptilienblick wieder schlüssig wird. Der Bärenfellmann stellt unsere Verbindung in die Vergangenheit dar, während die Albino-Krokodile ein Bild aus der Zukunft transportieren. So, scheint Herzog zu sagen, sieht unser Vermächtnis an kommende Generationen aus.

Dieser Text erschien zuerst in: Pony #68

Link zu einer weiteren Filmkritik

Meek’s Cutoff

(USA 2010, Regie: Kelly Reichardt)

Die Eroberung des Nutzlosen
von Ulrich Kriest

Der Western wird wohl kein 'richtiges' Revival mehr erleben, aber sein langsames Sterben zieht sich weiter dahin. Immer, wenn man glaubt, jetzt ginge wirklich gar nichts mehr, nein, immer, wenn …

Der Western wird wohl kein 'richtiges' Revival mehr erleben, aber sein langsames Sterben zieht sich weiter dahin. Immer, wenn man glaubt, jetzt ginge wirklich gar nichts mehr, nein, immer, wenn man glaubt, dass niemand mehr das vollständige Verschwinden des Western überhaupt noch bemerken würde, kommt ein Meisterwerk oder zumindest ein beachtlicher neuer Beitrag zum Genre in die Kinos. 'Todeszug nach Yuma' oder True Grit' mögen handwerklich befriedigende Fingerübungen gewesen sein, doch 'Erbarmungslos' oder die HBO-Fernsehserie 'Deadwood' können es mit den Klassikern des Genres allemal aufnehmen. Trotzdem war es eine Überraschung, als es hieß, Indie-Ikone Kelly Reichardt werde als nächstes einen Western drehen. Schließlich hatte die Filmemacherin in den vergangenen Jahren mit einem idiosynkratischen Kino des Minimalismus international reüssiert. Ihre Filme 'Wendy and Lucy' und 'Old Joy' waren zwar keine Kassenschlager, aber Kritik und erklärte Fans reagierten durchaus enthusiastisch. Und jetzt ein Western?

Nun gibt es im Westernland ja nicht nur die Jungsfilme mit ihren Action-Sequenzen und Shoot-outs, sondern auch das Sub-Genre der Filme der Langsamkeit und Stille, die unter Cineasten weitaus höher gehandelt werden, wenngleich sie kaum bekannt sind. Zum Beispiel 'Wagon Master' (1950) von John Ford. Ende der 60er Jahre drehte Monte Hellman zwei Western: 'Ride in the Whirlwind' und The Shooting'. Zuvor hatte Hellman an seinem Studententheater erstmals in den USA 'Warten auf Godot' von Beckett inszeniert. Man könnte Hellmans Western als existentialistisch bezeichnen, auf jeden Fall aber als Meta-Western, die mit dem Wissen des Zuschauers um das Genre spielen.

Hier setzt auch Reichardt an, wenn sie eine Episode vom Oregon Trail aus dem Jahre 1845 schildert. Unzählige Western haben ihre Geschichten entlang eines Trecks angelegt; Reichardt aber erzählt den Treck – und zeigt damit einen ganz erstaunlichen Stilwillen. 'Meek’s Cutoff' ist ein minimalistischer Western, der – wenn man so will – Antonioni mit Malick und Hellman mit Herzog kombiniert. Es ist ein Film, der erfüllt ist vom Quietschen der Planwagen, mit denen sich drei Paare durch die Hochplateau-Wüste Oregons quälen. Als wir dem Treck erstmals begegnen, ist die Stimmung bereits gedrückt. Man hat den Trapper Stephen Meek als Führer engagiert, der seinerseits die titelgebende Abkürzung gewählt hat. Jetzt geht dem Treck allmählich das Wasser aus. Das Reisetempo ist schleppend, der Weg mühsam, die ausgedörrte Hochebene scheint endlos. Allmählich regt sich in der unbedarften Reisetruppe leises Misstrauen gegenüber dem Führer, was den völlig unberührt lässt.

Das Western-Genre und insbesondere die Spät-Western sind voll von merkwürdigen Trappern, denen das Leben zwischen Zivilisation und Wildnis nicht immer gut bekommen ist. Man erinnere sich nur an den Trapper in Michael Ciminos 'Heaven’s Gate', der buchstäblich in den Kinosaal hinein zu miefen schien. Oder an Jeremiah Johnson in Sydney Pollacks gleichnamigem Film. Das sind keine edlen Lederstrümpfe mehr. Ein interessanter Fall ist auch Stephen Meek, der glatt als Pfadfinder-Darsteller in einer Wild-West-Show durchginge und sich selbst als Kassandra der Steppe gefällt. Mal kalauert er, mal spricht er in Rätseln. Sogar in aussichtslosen Situationen bleibt sein in sich hinein kichernder Optimismus ungebrochen. Vielleicht ist Stephen Meek ein Aufschneider, ein Blender, vielleicht ist er auch einfach wahnsinnig. Auf jeden Fall ist er eine der tollsten Western-Figuren in der Geschichte des Genres, gerade weil die Figur ihr Geheimnis behält.

Weil sich die Kräfteverhältnisse innerhalb der Reisegruppe im Verlauf der Krise verschieben, rückt Meek vom Zentrum ins Abseits. Hier zeigt sich die große Kunst Reichardts, die die Frauen zunächst immer am Rande des Geschehens zeigt, wo sie auf ihre Rolle als Beobachter der Männer beschränkt bleiben. Man sieht die Männer zusammen stehen und sich beratschlagen, doch man hört (genau wie die Frauen) ein paar Gesprächsfetzen, die indessen rätselhaft bleiben. Als ein Indianer gefangen genommen wird, kippt der Film. Während Meek sofort vorschlägt, den Indianer zu töten, damit dieser nicht zur Gefahr werden kann, nähert sich Emily vorsichtig an, beginnt ihrerseits Zeichen zu lesen, um etwas zu 'verstehen'. Auch in diesen Szenen offenbart der Film einen subtilen Humor, der davon handelt, wie sich völlige Kommunikationslosigkeit zwischen den Kulturen anfühlt. Wird der Indianer sie zu einer Wasserquelle führen? Oder wird er sie direkt in die Arme der Krieger seines Stammes führen? Die armen Pioniere stecken in der Klemme: Wem sollen sie sich anvertrauen? Dem möglicherweise wahnsinnigen Meek oder dem Indianer? Gleichwohl wird der Film niemals dramatisch: Die Kamera beobachtet stets aus einiger Entfernung; und in den oft wunderschönen Bildern, die an zeitgenössische Malerei erinnern, dominieren Braun- und Ockertöne – nicht einmal der Himmel ist blau. Manchmal erklingt etwas Musik. Hier ist der Film ganz nah dran an Terrence Malicks 'Days of Heaven'. Zeitenthobene Schönheit.

Einmal müssen die Siedler ihre Wagen einen steilen Abhang hinunter abseilen. Während sie sich mit vereinten Kräften mühen, sitzt der Indianer leicht abseits und schaut dem Treiben zu. Hier wähnt man sich in einem Film von Werner Herzog – und das hat jetzt kaum etwas mit 'Fitzcarraldo' zu tun. Sondern vielmehr mit dem fremden Blick auf das seltsame Treiben der Menschen, die all diese Mühen auf sich nehmen, ohne zu wissen, was sie erwartet. Selten wurde die 'Eroberung des Nutzlosen' prägnanter gezeigt als in 'Meek’s Cutoff', einem makellosen Meisterwerk, das völlig aus der Zeit gefallen scheint.

Dieser Text erschien zuerst in: Pony #68

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Der Gott des Gemetzels

(F / D 2011, Regie: Roman Polanski)

Krisenkaffeekränzchen bei den Spießbürger-Barbaren
von Marit Hofmann

Mit dem sicheren Gespür hochkultivierter Feuilletonisten wagen wir uns an diese Filmkritik. Wir wägen Argumente ab, lassen auch andere Meinungen zu und erörtern das Für und Wider, bis wir zu …

Mit dem sicheren Gespür hochkultivierter Feuilletonisten wagen wir uns an diese Filmkritik. Wir wägen Argumente ab, lassen auch andere Meinungen zu und erörtern das Für und Wider, bis wir zu einem ausgewogenen Urteil gelangt sind. Ganz ähnlich wollen es die beiden Elternpaare halten, als ihre Söhne sich in die Haare kriegen. Nach dem Motto 'Wenn Kinder sich streiten, sollten Erwachsene sich raushalten, aber: Gewalt geht uns alle an!' trifft man sich im Appartement der 'Opfereltern' und hält fürs Protokoll fest, der eine Sohn habe, 'bewaffnet mit einem Stock', dem anderen die Zähne ausgeschlagen. Auf den Einwand des 'Tätervaters' einigt man sich auf die Formulierung 'ausgestattet mit einem Stock'.

Im Laufe des Krisenkaffeekränzchens dürfen wir miterleben, wie die hehren Vorsätze und distinguierten Höflichkeitsfloskeln der Erziehungsberechtigten der Spießbürger-Barbarei weichen. Gewiss könnte man einwenden, der Plot nach einem Theaterstück von Yasmina Reza wirke eigentlich recht abgeschmackt, aber wie kleinkariert ist das denn bitte? Die Brillanz liegt im bösen Detail: im gefrorenen Lächeln Kate Winslets, in der ausgestellten moralischen Verbissenheit Jodie Fosters, in der vorgeschützten Trotteligkeit John C. Reillys, vor allem aber in der blasierten Mimik des Christoph Waltz. Herrlich ist’s, dem Quartett zuzusehen, wenn im Folgenden rasant die Fronten wechseln: Mal kämpft Paar gegen Paar (was auch heißt: Businesstypen gegen die Aktivistin und den Klospülungsvertreter, Finanz gegen Kultur, neoliberal gegen liberal), mal hetzen Männer gegen Frauen, mal hyperengagierte Mütter gegen desinteressierte Väter, mal dreschen die Ehepartner gegenseitig aufeinander ein. Wie die Gäste will man raus aus diesem geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer und schafft es nicht – man könnte glatt auf den Coffeetable-Kunstband kotzen.

Dass manch Kritiker Roman Polanskis Beschränkung aufs Kammerspiel mit dessen Schweizer Hausarrest in Verbindung bringt oder seinem Film gar eine persönliche Beichte unterstellt, ist natürlich Bullshit. Nehmen wir uns lieber an den zusehends verwahrlosenden Sitten der Gastgeber und Gäste ein Beispiel und genehmigen uns einen Schluck aus der Scotchpulle, bis wir vor Lachen vom Stuhl rutschen. 'Ich wisch mir den Arsch ab mit euren Menschenrechten!' grölt Kate Winslet am Ende in die Runde. Und ich scheiß auf Differenzierungen: Super Film! Ich wisch mir den Arsch ab mit euren ausgewogenen Werturteilen!

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 12/2011

Habemus Papam – Ein Papst büxt aus

(I / F 2011, Regie: Nanni Moretti)

Pop-Pope-Plot
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein farbenprächtiger Film über das Leben am Hofe, speziell im Konklave während der geheimen Papstwahl. Jei, was kriegen wir zu sehen! Museale Gemächer und rauschende Ornate in den Palästen und …

Ein farbenprächtiger Film über das Leben am Hofe, speziell im Konklave während der geheimen Papstwahl. Jei, was kriegen wir zu sehen! Museale Gemächer und rauschende Ornate in den Palästen und eine Riesenmenge gläubiger Katholiken davor – in freudiger Erwartung, welchen Papst wir denn haben werden, und eigentlich ist es egal, wen denn nun genau. Der Film inszeniert die Papstwahl als Popevent, genauso wie Pop-Pope und die Medien es haben wollen. Eine Milliarde Gläubige! Was für Einschaltquoten! Aber müssen wir deshalb ins Kino gehen?

Nanni Morettis Film wendet sich an die Gemeinschaft von Gläubigen und Pop-Affinen in aller Welt. 'Habemus Papam' ist radikal unkritisch. Auch wir sollen glauben an die heile Welt im Vatikan. Und so widmet sich der Spielfilm den Kardinälen, wie sie im Konklave untertänigst bezeugen, wen von ihnen die göttliche Macht als Führer der katholischen Kirche erkoren hat. Wir dürfen sicher sein, es bleibt bei einer fiktiven Beschreibung. Eine Haltung des sogenannten linken Starregisseurs Italiens ('Wasserball und Kommunismus', 'Die Messe ist aus') suchen wir vergebens. Aber immerhin gibt es ein Plot.

Einer der Kardinäle, Michel Piccolo (85), sieht sich unvermutet gewählt. Wir erfahren nicht, warum. Gab es Machtkämpfe? Gibt es einen Kompromisskandidaten? Sollte die Dritte Welt nicht zum Zuge kommen? Stellte sich die Vatikanbank quer? Spielten die Kirchenkrisen wie Missbrauch, Zölibat, Verhinderung der Gleichberechtigung, Diffamierung der Schwulen und Lesben eine Rolle? Und, und, und. Nichts davon. Welchen Papst wir haben, entscheidet nicht ein Machtkampf, sondern der Wille des katholischen Gottes.

Weiter im Plot. Der Gewählte stößt einen grauenhaften Schrei aus und verfällt in eine psychotische Depression. Psychisch krank, kann er die Bürde des Amtes nicht tragen. 'Ich kann nicht führen, ich muss geführt werden.' Tja, was nun. Die erwartungsvolle Menge vor dem Konklavepalast kann nicht wochenlang warten. Das Amt nimmt er nicht an. Spannung! Es ist dieselbe Spannung wie im Stadium, wenn die Popgröße noch nach Stunden nicht auftritt, zuviel Stoff und Alk im Körper. Wir kennen diese Schiene. – Also, was wird? Der Gewählte will einen Führer. Da kommt er schon. Es ist Regisseur Moretti höchstselbst. Er spielt einen Psychiater, also jemanden, der er vorm Filmemachen war. Ein toller Einfall. Denn er erklärt mehrmals, dass er mitnichten gläubig sei. Und schon hat 'Habemus Papam' auch die Ungläubigen als Zuschauer gewonnen.

Wie geht’s weiter? Zunächst mal: Warum wird der Öffentlichkeit schamhaft verschwiegen, dass der gewählte Kandidat das Amt nicht angenommen habe? Wegen einer Krankheit? Oh Gott, nein, die Auswahl war doch Wille Gottes, und der ist nicht krank. Aha, dann nicht. Und wieso haben die wählenden Kardinalsbrüder nicht gewusst oder geahnt, dass der Piccoli psychisch labil ist? Was für eine Intrige steckt dahinter? – Unverschämt!! Fragen dürfen nicht gestellt werden! Schon gar nicht vom Zuschauer, der sich an der heilen Vatikan-Welt erbauen soll.

Ja, und was macht nun der Piccoli? Psychiater Moretti labert mit ihm rum, verschreibt aber keine Tabletten (dabei gibt’s welche gegen Depression und gegen Psychosen, ich weiß es genau, aber auf mich hört ja keiner, schon gar nicht im Konklave). Der Fast-Pop-Pope Piccoli wird notgedrungen aktiv, flüchtet aus dem Konklave und nimmt in der Stadt Rom eine Auszeit, ausgestiegen aus dem Hofzeremoniell, anonym eingetaucht ins normale Leben und in seine Erinnerungen. Er landet in einem Theater. 'Die Möwe' von Tschechow wird geprobt. Den Text hat der Auserwählte immer noch drauf, von damals, als er Schauspieler werden wollte und von der Akademie nicht genommen wurde. Aber immerhin ist er aktiv geworden und hat seine berufliche Zukunft als Mitspieler in der Kirche gesucht. Nur die Ehe musste er sich versagen. So war das. Jaja.

Genug davon. Jetzt zum anderen Schauspieler, dem Herrn Moretti. Sein Patient ist weg. Er bleibt im Konklave. Er inszeniert dort (als Darsteller!) ein Volleyballspiel, an dem alle Kardinäle teilnehmen, mehr oder minder widerwillig. Ist das ein Bild, wie die Kutten fliegen! So schafft man Sympathiewerte. Was für ein Spaß im Vatikan! Human touch für alle! Standing ovations! Bleibt da wirklich jemand im Kino sitzen?!

Ganz nebenbei erfahren wir auch, warum die von der Dritten Welt für die Papstwahl überhaupt nicht in Frage kommen. Die fröhlichen, aber ein wenig unbedarften Kardinäle aus Australien haben sich in Priester-Straßendress geworfen, um die Amtsbrüder im Konklave zu verlassen und mal schräg gegenüber in einem Café einen Cappuccino zu trinken! Na, da müssen sie aber von einem Italiener belehrt werden, wie man sich bibeltreu verhält. Und wie sieht das im Einzelnen aus? Im Konklave puzzelt der eine, der andere sitzt im Heimtrainer, man tanzt und ist guter Dinge – ej, das sind doch Kumpels wie du und ich, Aller.

Lassen wir es genug sein mit der Werbung für den Hl. Stuhl. Der Film startet Mariä Empfängnis. Er wird genug empfängliche Zuschauer haben, und die will man mit Fragen nach der ausstehenden Stellungnahme zum Holocaust und dergleichen Unaufgearbeitetem nicht vergraulen. Das wäre kein Fun, und mit Fun kriegt man Leute, Quote und alles.

Allerdings, und das ist der Gerechtigkeit wegen zu sagen, hat der Film mich doch gepackt, was Piccolis Spiel betrifft. Ich kann nicht anders. Ich stehe dazu. Mir liefen die kalten Gräsen den Rücken runter. Gegen dieses körperliche Indiz kann ich nicht argumentieren. Diese Mischung zwischen verzweifelter Erhabenheit und latenter bis manifester Komik ist grandios.

Insgesamt aber ist Moretti mit seinem schalen Komödchen bemüht, über alle Widersprüche wegzusehen, alle Ecken rund zu schleifen und dem Vatikan (mit allen seinen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Sünden) Absolution zu erteilen – und dabei einen gewissen deutschen Appeal auszustrahlen. Auf der Straße fokussiert die Kamera auf das Magazin 'Der Spiegel', auf dem Platz vor der Konklave wird die schwarz-rot-goldene Fahne geschwungen, aus der immer noch wartenden Menge ruft’s auf deutsch: 'Aber das ist doch nicht möglich!' – wir sind immer noch dabei, immer noch Papst. Sagt der Film. Sagt die 'Bildzeitung' zum Herrn Ratzinger. Aber aufgepasst: 'Habemus Papam' soll Fiktion sein. Sagt Nanni Moretti.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 12/2011