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„Der deutsche Film taugt hervorragend als Grundlage für Memes“

( , Regie: )

Interview mit Ulu Braun
von Ricardo Brunn

Ulu Brauns Kurzfilm „Das Glitzern im Barbieblut“ lief 2021 auf der Berlinale. Darin geht es um das Erwachsenwerden in einer von konsumistischen Zeichen und Illusionen durchsetzen Welt. Im Interview spricht …

Ulu Brauns Kurzfilm „Das Glitzern im Barbieblut“ lief 2021 auf der Berlinale. Darin geht es um das Erwachsenwerden in einer von konsumistischen Zeichen und Illusionen durchsetzen Welt. Im Interview spricht der Regisseur über seinen Schaffensprozess, die Arbeit an der Schnittstelle von Bildender Kunst und Film, die deutschen Filmhochschulen und die Filmförderung.

* * *

Ricardo Brunn: Ihr Schaffen speist sich aus verschiedenen Richtungen, verbindet unterschiedliche Techniken und Stile miteinander. Arbeiten Sie konzeptuell oder ist die Arbeit an einem Werk eher ein Prozess?
Ulu Braun: Das ist immer ein Prozess, der zwar manchmal mit einem Konzept beginnt, ich bin aber ein schlechter Konzeptkünstler. (lacht) Ich halte meine eigenen Konzepte nicht durch. Das heißt, ein Drehbuch wie beschrieben umzusetzen fühlt sich für mich viel zu sehr nach einem Abarbeiten an. Ich würde dann bloß versuchen dem Drehbuch gerecht zu werden und das macht mir einfach keinen Spaß. Ich habe den Drang zu forschen und etwas zu tun, was ich selbst noch nicht kann. Ich will nach etwas suchen, was ich noch nicht kenne, was vielleicht auch noch gar nicht da ist.

Was war das Konzept – insofern es eines gab – bei „Das Glitzern im Barbieblut“ und was ist im Verlauf der Arbeit noch hinzugekommen oder vielleicht weggefallen?
Der Ausgangspunkt war, dass ich bei Dreharbeiten festgestellt habe, dass ich mich häufig nur dem Sujet – zum Beispiel Vögeln oder Architektur – gewidmet habe, aber nicht mehr offen war für das, was mir in dieser Umgebung sonst noch widerfahren ist. Da konnte sich direkt neben mir eine wunderbare Szene ereignen, aber ich konnte das nicht drehen, weil ich ans Drehbuch oder mein Konzept gebunden war. Und jetzt war das Konzept einmal nur für solche Momente offen zu sein. Ein Beobachter im Alltag zu sein und wie ein Jäger nach Magie im Alltag zu suchen und auch die Bedeutungsebene dahinter offenzulegen. Also, sich die Frage zu stellen, was eine Situation denn so interessant macht? Manchmal beinhalten diese Momente ja schon eine Collage und somit Spannung. Da steht in den Beobachtungen selbst schon Armut neben Reichtum, Schönes neben Hässlichem. Das Versprechen einer Werbung im Hintergrund trifft auf die ernüchternde Realität im Vordergrund. All das habe ich versucht einzufangen, um dann aus diesen Aufnahmen noch einmal etwas zu flechten, das noch stärker auf die Vorgänge in unserer Welt verweist.

War die Familie das Grundgerüst, in die Sie Ihre Beobachtungen einbetten konnten oder kam sie später dazu?
Das kam später hinzu, mit der Frage, wer das Ganze eigentlich beobachtet. Da war ja zunächst einmal ich mit meiner Kamera, der sich für all diese kleinen Momente interessiert hat. In der Montage wurde es dann offensichtlich, dass ich den oder die Beobachter thematisieren muss. Ich wollte selbst diese Position nicht einnehmen und habe dann über mögliche Charaktere nachgedacht. Daraus entstand das Voice Over, weil das Erlebte, so meine Überlegung, auch noch einmal besprochen werden könnte, um auch hier noch eine weitere Erzählebene, eine weitere Verflechtung herzustellen. Und dann bin ich auf die Schauspielerin Gina Lisa Maiwald mit ihrer Tochter gestoßen, aus denen sich diese junge Familie im Film entwickelt hat. Auch hier ist ja interessant, dass sich Realität und Fiktion vermischen, denn die beiden sind ja wirklich Mutter und Tochter. Das ist diese Gratwanderung zwischen Dokumentarischem und Fiktion oder vielmehr eine Fiktionalisierung der Realität.

Deshalb ergibt sich manchmal eine Form von Erzählung, weil die Kamera der Familie zwar folgt oder zu ihr gehören scheint, es sich dann aber wieder darstellt, als führe sie ein Eigenleben. Ohne jede physikalische Grenze bewegt sie sich durch die Welt, gleitet mal sanft über den Boden, fliegt und schwebt und schaut von außen auf alles herab, wodurch sich das Gefühl von Wirklichkeit ein wenig auflöst.
Genau, deswegen haben wir das auch eingebaut, wie die Tochter die Kamerasituation zu Beginn selbst anspricht mit dieser Fähigkeit der magischen Kamera alles aufzunehmen, was interessant ist. Und es wird da ja nicht klar, ob das jetzt eine Fantasie oder ein Wunsch von ihr ist, ob die Kamera alles selbst aufnimmt oder die Tochter. So bleibt die Kamera ein schwebendes Bindeglied zwischen Familie der Welt drumherum.

Sie sammeln sehr viele Momente und auch in Ihren anderen Arbeiten nutzen Sie die Collagetechnik. Wie geht es Ihnen mit der Bilderflut und den Möglichkeiten alles immer aufzunehmen? Ist das sein Segen, weil Sie daraus schöpfen können?
Einerseits schon. In der Frühphase habe ich sehr viel aus dem Fernsehen aufgenommen, aber in der Überdosis führt es zu Überforderung und Wahllosigkeit und dann ist es gut sich wieder zu reduzieren. Mir hilft es vor allem, intuitiv zu sein. Ich habe ein großes Archiv und kann im Prozess wie ein Maler von der Palette und aus unterschiedlichen Materialien wählen. Deswegen wollte ich den ganzen technischen Apparat auch unbedingt selbst beherrschen, um alles selbst machen zu können, um das einerseits so intuitiv wie möglich zu gestalten und andererseits auch argumentieren zu können, es mit einer bestimmten Technik eben nicht zu machen. Einen Film auf eine bestimmte Art zu machen wird dann zu einer ganz bewussten Entscheidung, weil ich zum Beispiel mit Compositing nicht arbeite weil ich es nicht kann, sondern weil ich es kann, der Film aber eine andere Form erzwingt. Und das sehe ich als große Chance für mich in meiner künstlerischen Arbeit. Dann kann ich mich auch auf eine Entdeckungsreise begeben, auf der dann eben Dinge passieren, die mit dem Irrationalen zu tun haben. Man muss aber auch fähig sein, die Entdeckungen festzuhalten und damit wiederum etwas zu machen, es kontextualisieren und so weiter. Das ist dann natürlich auch immer mit Scheitern verbunden. (lacht)

In „Das Glitzern im Barbieblut“ erforschen Sie auf einer Ebene die Welt der Konsumzeichen. Was fasziniert Sie an diesen?
Die Alltäglichkeit. Sie umgeben uns permanent, aber was steckt dahinter? Was steckt hinter dem schönen, golden glänzendem Plastikgefäß, in dem sich Kakaobohnen befinden. Diese Sachen sind Trägermaterialien von sehr ernsten Zusammenhängen, in denen wir alle uns bewegen. Sie erzählen von Chance und Zufall im Leben: Wo werde ich geboren? Bin ich arm, bin ich reich?

All diese Symbole haben mich an meine eigene Kindheit erinnert. Als 1989 die Mauer fiel und genau diese Symbole und Logos – Mercedesstern, der Nike-Schweif – in den Osten schwappten, habe ich diese auf A3-Papier in akribischster Kleinarbeit gezeichnet und koloriert. Und in der Schule haben mich Freunde dann gebeten das auch für sie zu machen, bis wir alle über unseren Betten diese handgemalten Bilder konsumistischer Symbole hängen hatten. Und erst in deinem Film wurde mir wieder bewusst, wie sehr diese Zeichen unsere Welt strukturieren, wie sehr sie eine Erzählung schaffen, hinter die ich gar nicht schauen kann, weil ich sie ja lebe.
Sie erzählen von wirtschaftlichen und politischen Systemen. Ich bin eigentlich apolitisch als Filmemacher. Also, ich will das nicht offensiv einbringen, aber alles kreist sich im Alltag ja um diese Kräfte, also bin ich doch wieder politisch. (lacht) Ich will die Dinge die Objekte einfach zeigen und verhandeln. Diese ganze Hässlichkeit der Dinge. Ich spüre da einen großen Hass in mir und diesen versuche ich filmisch zu bearbeiten. Deswegen tauchen im Film diese Symbole auf, die dort magisch verdichtet werden. Der Alltag wird ja auch aufgrund der Digitalisierung und den Sozialen Medien immer gefüllter, dichter an Werbung und all diesen Einflüssen. Ich werde nicht gefragt, ob ich das alles sehen will oder nicht. Für mich ist das leider ein fester Bestandteil der Realität. Ich kann das deshalb als Künstler auch nicht ausblenden.

Dieses „Fantasyland“, das dadurch entsteht, verhandeln Sie auch, indem Sie in den Gärten der Welt gedreht haben. Wie haben Sie diesen Ort wahrgenommen?
Ich muss dazusagen, dass das schon auch mit Corona zu tun hatte. Es gab einfach nicht so viele Möglichkeiten, irgendwo hin zu reisen. Aber ich mag solche Orte, die faszinieren mich, weil es designte Orte sind, die ein Freiheitsversprechen in sich bergen. In Parks darfst du grillen und halbnackt herumlaufen. All diese Dinge, bei denen man sonst so gezügelt wird in der Stadt, die kann man – zumindest im Ansatz – im Park ausleben. Im Park zu singen ist was anderes als in der U-Bahn oder mitten auf der Straße zu singen. Das Versprechen durchatmen zu können. Das ist schön und zugleich auch traurig, weil das alles natürlich auch begrenzt ist. Ich kann damit im Film sehr gut spielen. Ich habe es eingesetzt um bewusst einen anderen Ort vorzugeben, weil es einfach funktioniert. Und weil es um einen artifiziellen Lebensraum geht, in dem die Figuren sich bewegen. In den Gärten der Welt ist natürlich noch einmal zusätzlich spannend, wie andere Kulturen aus der Perspektive der eigenen Kultur präsentiert werden, was manchmal auch tragikomische Züge annimmt.

Ich war dort vor einer Weile mit meinen Kindern und das war sehr lustig, weil wir auch diese von Ihnen beschriebene Situation vorgefunden haben. Da wird die schöne Hülle einer Welt und vermeintlich Kultur präsentiert, aber 5 Meter weiter bricht das alles in sich zusammen, weil man den Rahmen wieder verlässt. Wir haben dort natürlich auch „Urlaubsfotos“ gemacht, so nach dem Motto: „Schaut mal, wir sind in Marokko.“ Und daheim sehe ich dann am Computer, dass alle, die jemals in den Gärten der Welt waren, genau das gleiche gedacht und getan haben.
Ja, ist ja auch irgendwie verständlich. Ihr macht da für den Moment so eine mentale Reise. Das ist ja auch ein filmisches Grundprinzip, dieses Vorgaukeln. Und dort sieht es eben aus wie ein Hollywood-Filmset. Und ihr hattet ja trotzdem ein Erlebnis. (lacht)

Das stimmt. Und an dieser Grenze bewegt sich Ihr Film ja auch sehr stark. Man fragt sich die ganze Zeit, wo die Fiktion endet und das Dokument beginnt. Und gleichzeitig ist das Werk auch in der Auswertungsform an der Grenze, weil es als Film im Kino, aber auch im Ausstellungskontext funktionieren kann. Denken Sie diese Auswertungssituation im Schaffensprozess mit?
Es gab Zeiten, da habe ich das tatsächlich versucht. Da dachte ich, ich hätte ein Projekt, das eignet sich für den Kinoraum und nach der Fertigstellung war das Gegenteil der Fall. Was als Kunstprojekt gedacht war, lief plötzlich doch auf Filmfestivals und umgekehrt. Ich habe das dann aufgegeben, habe aber gemerkt, wie viel mir an dieser Vorführsituation des Kinos liegt, denn sie ist so unverzeihlich. Du kannst dir da einfach keine Fehler erlauben, während das in der Bildenden Kunst ziemlich egal ist. Da schauen die Leute ein paar Minuten des Werkes und gehen dann weiter. Im Kino hingehen ist eine andere Konzentration und es entsteht eine Spannung während der Vorführung. Dem standzuhalten, das habe ich sehr zu schätzen gelernt. Und irgendwann hat sich für mich dann ergeben, dass ich gern hätte, das meine Arbeiten in beiden Kontexten stattfinden und sich in beiden Umfeldern bewähren.

Beeinflussen sich die Sphären, wenn man sie einmal gegenüberstellt, in ökonomischer Hinsicht? Also, wird ein Filmfestival vielleicht auf eine Arbeit von Ihnen aufmerksam, weil es in einer Ausstellung lief und dort Erfolg hatte?
Nein, das ist eher hinderlich. Ein Erfolg in der Bildenden Kunst ist in der Filmwelt eher kontraproduktiv und umgekehrt gilt das auch. Und das müsste man wirklich einmal untersuchen, denn das erzählt sehr viel über die Strukturen, Sichtweisen und die unterschiedlichen Ansätze. Ich hatte irgendwann einfach Glück, dass meine Arbeiten plötzlich in der Filmwelt wertgeschätzt wurden.

Was hat das für Sie verändert?
Es gab kleine Förderungen, mit denen ich weitere Filme drehen konnte. 20.000 Euro Budget ist für einen Kurzfilm ja schon recht gut. Aus der Perspektive der Bildenden Kunst ist dieses Budget geradezu Wahnsinn. (lacht) Auch allgemein gesehen: 50.000 Euro für die Schaffung eines Werkes zu bekommen wäre als bildender Künstler unvorstellbar. Beim Film sind das Peanuts. Die lachen sich alle schlapp, wenn du da mit 50.000 Euro einen Langfilm machen willst. Obwohl ich darin ja gerade eine große Chance sehe und das versteht in der Filmwelt auch noch keiner so richtig. Stattdessen dieses Geheule, dass man mit 600.000 Euro nicht drehen könne, weil man 800.000 Euro braucht. Diese „Jämmerlichkeit“ des Apparates wird einem erst aus einer anderen Perspektive bewusst. Das ist ein veraltetes Konstrukt, das in der Zukunft keinen Bestand haben wird.

Wenn wir bei dieser Beschreibung der Spähren und der Unterschiede mal kurz bleiben: Wie haben Sie als jemand, der Malerei und später Film studiert hat die Kunststudierenden und die Filmstudierenden wahrgenommen.
An der Kunsthochschule waren meinem Empfinden nach eher Leute, die einfach Kunst machen wollten und mussten, die dann damit oft auch scheiterten, weil es einfach schwierig ist, sich da durchzusetzen, die aber primär einfach etwas machen wollten. An der Filmhochschule wiederum war mein Eindruck eher der, dass dort viele einfach bei etwas dabei sein wollten. Bei einem Hype, den Medien, den roten Teppichen. Aber sie verkörperten gar nicht das, was eigentlich dazugehört. Da fehlte es an Inhalten, brüchigen oder irgendwie interessanten Lebensläufen und Besonderheiten, eigenständigem Denken. Es war ein Mitschwimmen bei etwas, das alle als „cool“ empfunden haben. In der Bildenden Kunst wurde das alles viel ernster genommen. Da standen Fragen nach dem künstlerischen Ausdruck und der Existenz im Mittelpunkt. Was und wie will ich erzählen. Und an der Filmuniversität war das aus meiner Perspektive doch sehr dünn gesät.

Ich frage das auch deshalb, weil ich an Filmhochschulen selbst gesehen habe, dass es da Studierende gab und gibt, deren Bewerbungsfilme ganz wunderbar gewesen sind, weil sie von Leichtigkeit und Experimentierfreude geradezu durchtränkt waren und deren Abschlussfilme dann standardisierte deutsche Problemfilme waren. Da scheint auch während der Ausbildung etwas mit den Studierenden zu passieren?
Absolut meine Beobachtung. Viele der Bewerbungsfilme die ich an der HFF „Konrad Wolf“ (heute Filmuniversität) gesehen habe, waren frisch, ideenreich, mutig. Von denen haben es ganz wenige geschafft das bis zum Diplom zu erweitern oder sogar zu verbessern. Der ganze Rest… (zuckt mit den Schultern) Das ist ein absolutes Versagen in der Ausbildung und dem System dahinter.

Inwiefern?
Da ist eine ganze Ausstattungsindustrie – so will ich das einmal nennen – am Werk. Es geht doch immer viel zu viel darum, dass etwas einen gewissen Look haben soll. Ich meine damit den deutschen Mainstream: Planbar und sauber wie die Hecke eines Kleingartens. Man spürt den großen Anpassungsdruck z.B. bei Produzenten und Kameraleuten, mit welchem Equipment man nun arbeitet. Dahinter die pudernde, verheissungsvolle Industrie. Da scheiße ich komplett drauf in meiner Arbeit. Klar, im Idealfall gehen Technik und Inhalt zusammen. Aber viel wichtiger als die technische Ausstattung des Filmes ist letztlich deine Haltung als Filmemacher*in. Und das fehlt.

Fehlt es auch an einer Auseinandersetzung mit der Form, der Ästhetik des Films?
Das würde ich so nicht sagen. Jedenfalls nicht zu Beginn. Das entsteht eher zum Ende des Studiums hin, wenn man vor die Realität gestellt wird, welche Filme gefördert werden und welche nicht. Das nimmt dir als Filmstudent*in auch noch einmal ganz viel Wind aus den Segeln.

Cannes oder Kasse!
Wenn ich etwas zu sagen hätte in der Filmförderung (lacht), dann würde ich die Hälfte des zur Verfügung stehenden Budgets auf die klassischen „Oldschool“-Großprojekte verteilen, die andere Hälfte würde ich streuen. Da bekommen dann nicht mehr fünf Leute jeweils eine Million Euro, sondern diese fünf Millionen werden unbürokratisch auf 50 oder 100 Filmemacher*innen aufgeteilt. Und die sollen dann mal machen. Das Geld ist so wesentlich besser angelegt, denn die mit den größten Budgets fabrizieren ja auch nur Käse. Da kommt dann mal ein Glücksfilm wie „Toni Erdmann“ raus und alle jubeln und vergessen darüber, wie viel Schrott nebenbei pro Jahr fabriziert wird. Wir brauchen diese Streuung, die ja dann zugleich auch eine Risikostreuung ist. Da muss man mal zulassen, dass jemand mit 50.000 Euro auch Bullshit macht, aber das ist der einzige Weg. Ich bin mir sicher, dass sich allein schon durch diese Maßnahme der Erfolg auf internationaler Ebene zum Positiven verändern würde. Und wer das nicht mitmachen will und die notwendige Veränderung verhindert… Ja, wir sehen ja, wie das dann aussieht, wenn man nicht mutig genug ist. Der „deutsche Film“ hat doch bei Menschen außerhalb der Branche mittlerweile den Status einer Lachnummer und taugt eigentlich hervorragend als Grundlage für Memes.

I want to return return return

(D 2021, Regie: Elsa Rosengren)

Pausierte Gegenwart
von Ricardo Brunn

Nach etwa einer Minute Schwarzfilm öffnet Protagonistin Elpi (Elpiniki Saranti), auf der Couch liegend, die Augen. Der Film beginnt und bleibt selbst sogleich auf dem Sofa liegen, richtet sich ein …

Nach etwa einer Minute Schwarzfilm öffnet Protagonistin Elpi (Elpiniki Saranti), auf der Couch liegend, die Augen. Der Film beginnt und bleibt selbst sogleich auf dem Sofa liegen, richtet sich ein in einer Postmittagsschlafgemütlichkeit. Von irgendwoher dringt Straßenmusik nach drinnen. Elpi lauscht ihr mit einem zaghaften Lächeln im Gesicht. Die Zeit scheint stillzustehen. Von Balkonen und auf Fensterbänken gelehnt starren Menschen aus anderen Wohnungen starr ins Nichts oder auf das unsichtbare Treiben auf der Straße.

Episodisch fügen sich in „I want to return return return“ Erinnerung, Traum und Wirklichkeit zu einem Sommernachmittag im Berliner Wrangelkiez. Und so springt der Film nach Elpis Erwachen und den Menschen an ihren Fenstern zu einer älteren Frau, die wie eine 30 Jahre ältere Version Elpis aussieht. Wie von der Erzählung pausiert schaut sie aus dem Bild hinaus, denkt vielleicht an ihr jüngeres Ich auf dem Sofa, bis sie den Kopf plötzlich wendet, einen Freund im Off neben sich begrüßt und beide in einen Redeschwall verfallen, der seinerseits nur von Pausen und Unfertigem handelt: Das Leben? Ja, geht so. Der Flughafen? Wird wohl niemals fertig werden. Die Jugend von heute? Unternimmt nichts. Die Alten? Haben ausgedient.

Irgendwann setzt dann so etwas wie eine Erzählung ein. Elpi erhält einen Anruf von einer Freundin. Beide haben sich lange nicht gesehen. Sie verabreden sich für den Abend. Bis dahin verwebt sich Elpis Warten mit weiteren Geschichten aus dem Leben im Kiez: Da ist die Rede von einer Kindheit auf einer Tabakfarm in Kentucky und von der beängstigenden Entwicklung des Wohnungsmarktes. Ein Mann erzählt von der Gleichmäßigkeit, die er für sich entdeckt hat und von der er doch nicht sagen kann, ob sie ihm Zufriedenheit bringt. Ein anderer übersetzt das Gesagte für eine junge Zuhörerin. Ob sie versteht, was gemeint ist? Es wird geraucht und Bier und Kaffee an Bierbänken, von denen die Lasur abblättert, getrunken. Die Ellbogen auf die Tische gestützt.

Auf die ein oder andere Art sprechen die Menschen in „I want to return return return“ von lang zurückliegenden Tagen, der Pausierung der Gegenwart und einer sich daraus ergebenden Vertagung der Zukunft. Der Leichtigkeit sonniger Bilder auf gelbstichigem 16mm-Material ist zugleich eine beängstigende und entzeitlichte Ruhe eingeschrieben. Lange Einstellungen und feste, bewegungslose Kamerapositionen verhärten selbst die flüchtigen Momente. Einmal steht ein kleiner Junge auf dem Fensterbrett einer Wohnung im dritten Stock und wartet. Und nie wird klar, ob Elpi die Zuhörerin all dieser Gespräche und Ereignisse ist, ob sie manches nur im Vorübergehen hört und sieht, oder ob alles nur stattfindet, weil der Film anwesend ist an diesem erlahmten, für Berlin so typischen Hochsommertag.

Ein sicherlich sehr verkürzter, doch in der direkten Gegenüberstellung durchaus ergiebiger Vergleich der Darstellung Berlins im Film etwa der 1920er Jahre mit den Filmen der Berliner Schule (ab Ende der 1990er Jahre) und aktuellen Produktionen legt einen veränderten Blick auf die Stadt offen: Berlin ist in den Filmen um die Jahrtausendwende oftmals jedes Leben entzogen, die Figuren verlieren sich in der sinnentleerten Architektur der Nachwendezeit, der Lärm der Stadt hat keine Entsprechung in der Dynamik, bleibt Getöse ohne Fortkommen. In “Victoria” (R: Sebastian Schipper; D 2015) werden das Rastlose, das Suchende und die Unmöglichkeit des Entkommens aus der Stadt (und der Unterwelt) gar in eine einzige zwei Stunden dauernde Einstellung gegossen. Der Reiz Berlins, so erzählt es diese Plansequenz, liegt in der Möglichkeit, sich in der Stadt zu verlieren. Die Kehrseite dieses Sich-Verlierens ist das Empfinden in ihr zum Gefangenen zu werden.

In einem Interview zu ihrem Film „Das Glück meiner Schwester“ (D 1995) beschrieb Angela Schanelec rückblickend das Gefühl nach Berlin zu kommen einmal mit den Worten: „Ich glaubte, es wäre einfach wieder zu gehen.“ Und dann ging es nicht, bis der Gedanke verblasste und es selbstverständlich wurde da zu sein, weil auch andere blieben. Es gab und gibt ja einfach auch keine Antwort auf die Frage, wohin zu gehen sich von hier aus lohnt, weil die Angst etwas zu verpassen einem die Stadt ans Bein bindet und die Fallhöhe plötzlich zu groß ist, denn nichts ist ja größer als Berlin. Nichts holt einen so ab und lässt einen so stehen, dass man es gleich nochmal versuchen will.

Mit „I want to return return return“ gelingt Elsa Rosengren nun eine sehr genaue Zustandsbeschreibung einer Großstadt, die sich treiben lässt und zugleich sehr viel Energie in die Aufrechterhaltung einer Illusion steckt. Wir werden Zeugen einer unbestimmten Sehnsucht in den Suchbewegungen der Menschen, die gefangen sind in Wiederholungs- und Warteschleifen des Lebens und auf die Auflösung der – einer Schockstarre gleichenden – Verfassung hoffen. Etwas soll wiederkehren. Was es ist, bleibt verborgen. Nur, dass es nicht wiederkehren wird, scheint allen mehr oder weniger bewusst zu sein. Und so ist das Warten zum Berlingefühl schlechthin geworden. Man harrt in der Wohnung oder WG aus, weil man sich einen Umzug nicht leisten kann. Man harrt in schlecht bezahlten Jobs oder in Praktika aus, weil man hofft, dass das Beste noch kommt. Man harrt aus, weil es bequem geworden ist und das Ausharren sich als Lifestyle verkaufen lässt. Man harrt aus, weil es anderswo noch beschissener ist. Man harrt aus, weil das Versprechen, das einen hergelockt hat, noch nicht eingelöst wurde. Man harrt aus, weil es die anderen auch tun.

Nach einigen Umständen und Missverständnissen, der Tag ist längst müde von sich selbst geworden, treffen sich die Freundinnen dann doch noch. Nur zu sagen gibt es nichts. Und so harren sie in einer Bar aus bis zum Ende. Gott sei Dank wird noch getanzt.

Daniel Möhle: Überlegungen zur Dramaturgie des Kurzspielfilms

( , Regie: )

Vage Beschreibungen
von Sven Pötting

Der Kurzfilm ist ein schwieriges Produkt: Er ist filmästhetischer Impulsgeber sowie Experimentierfeld für neue Sicht- und Erzählweisen und formale Experimente auch im Langfilm. Wahrgenommen wird er aber verkürzt als bevorzugtes …

Der Kurzfilm ist ein schwieriges Produkt: Er ist filmästhetischer Impulsgeber sowie Experimentierfeld für neue Sicht- und Erzählweisen und formale Experimente auch im Langfilm. Wahrgenommen wird er aber verkürzt als bevorzugtes Übungsformat für Filmstudierende, als Fingerübung für künftige Langfilmregisseur_innen. Auch wenn sich in den letzten zwei Jahrzehnten das Produktionsvolumen allein in Deutschland mehr als verdoppelt hat, sind Vertrieb und Vorführung von Kurzfilmen wirtschaftlich kaum profitabel. Das wiederum trägt dazu bei, dass der Kurzfilm auch keine relevante Öffentlichkeit hat. Kuratierte Kurzfilmprogramme reflektieren kulturelle, gesellschaftliche und politische Tendenzen häufig pointierter als Langfilme, von der Filmkritik wird die Gattung allerdings geringgeschätzt und weitgehend ignoriert. Der Kurzfilm ist, kurz gesagt, „der unsichtbare Teil des Kinos, sein Unbewusstes“ (Behnken, Klaus/Gass, Lars Hendrik: „Ort der Rede und der Konfrontation.“ In: Behnken, Klaus [Hg.] kurz und klein. 50 Jahre Internationale Kurzfilmtage Oberhausen. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2004, S.7-9, hier S.7).

Auch die Filmwissenschaft hat den Kurzfilm bislang weitgehend ignoriert, umso erfreulicher schien es daher, dass der Autor und (Kurz-)Filmregisseur Daniel Möhle sich in seiner nun publizierten Dissertation mit dieser Gattung beschäftigt. In seiner Arbeit lässt er sowohl den Animationsfilm als auch dokumentarische oder hybride Formen weitgehend außen vor und nähert sich zunächst definitorisch an den Kurzspielfilm an (vgl. S.39-62). Für ihn bezeichnet der Kurzspielfilm fiktionale Filme mit überwiegend Live-Action-Darstellungen, in denen eine nacherzählbare Geschichte im Zentrum steht (vgl. S.66). Ein gattungsspezifisches Merkmal des Kurzspielfilms sei seine Länge, wobei es „keine allgemeingültige Definition darüber [gebe], wie lang ein Kurzspielfilm ist“ (S.65). Genauso vage wie diese definitorische Beschreibung, bleibt auch die von Möhle skizzierte Geschichte des Kurzfilms, die das zweite Kapitel der Arbeit darstellt (S.67-83). Jede Dekade wird unter Berücksichtigung der technischen Entwicklungen des Mediums auf knapp einer Seite abgehandelt. Auf länderspezifische Besonderheiten oder auf die Bedeutung von Filmfestivals für die Entwicklung des Kurzfilms wird dementsprechend auch höchstens in Stichworten eingegangen. Im Hauptkapitel des Buches werden anhand der Kategorien „Zeiten“ (S.93-122), „Räume“ (S.125-134), „Genres“ (S.136-145), „Themen“ (S.147-154), „Titel“ (S.154-161), „Figuren“ (S. 162-192), „Sprache“ (S.193-198), „Wendepunkte“ (S.198-211), „Anfänge“ (S.212-220), „Enden“ (S.221-231), „Sound Design“ (S.231-242) und „Musik“ (S.243-256) „narratologische Eigenschaften des Kurzspielfilms“ (S.24) herausgearbeitet.

Für seine Analyse hat der Autor nach eigenen Angaben (vgl. S.299-306) 200 Filme aus 100 Jahren gesichtet, was völlig unzureichend ist, um verlässliche Gattungsmerkmale des Kurzspielfilms herauszukristallisieren – sofern es diese überhaupt gibt. Einige hinzugezogene, durchaus experimentelle Filmbeispiele – etwa der Fotofilm La Jetée (1962) von Chris Marker – zeigen, dass sich über seine eingangs festgelegte Definition des Kurzspielfilms – so banal sie auch scheinen mag – durchaus streiten lässt. Die vom Autor zusammengestellten Merkmale des „prototypischen Kurzspielfilms“ (S.257-265) lassen sich, wenn man etwa die Filme zum Vergleich hinzuzieht, die aktuell die Wettbewerbe der großen Kurzfilmfestivals in Europa dominieren (etwa in Winterthur, Clermont-Ferrand, Vila do Conde, Oberhausen etc.), kaum verifizieren: In den letzten Jahren hat sich beispielsweise die Tendenz gezeigt, dass sich die Grenzen zwischen narrativen, experimentellen und dokumentarischen Formen im Kurzfilm auflösen und viele Produktionen nicht mehr mit Blick auf eine Vorführung im Kino erstellt werden, sondern für eine Auswertung im Installations- und Museumskontext sowie für Videoportale im Internet.

Stärken hat die Arbeit, wenn der Autor seinen Filmanalysen mehr Raum gibt, wie etwa in seinem Kapitel über in Spielfilmlänge adaptierter Kurzfilme (S.267-275). Nichtsdestotrotz bleibt der Erkenntniswert von Daniel Möhles Überlegungen zur Dramaturgie des Kurzspielfilms gering und nennenswerte Forschungslücken werden nicht geschlossen. Möchte man sich im deutschsprachigen Raum näher über den Kurzfilm informieren, muss weiterhin auf die von der Interessenvertretung AG Kurzfilm sowie von einem Zusammenschluss verschiedener Festivals initiierte Online-Publikation shortfilm.de sowie die englischsprachige Plattform Ubiquarian zurückgegriffen werden, die Filmrezensionen, Interviews, Festivalberichte oder Podcasts zu neusten Entwicklungen im Kurzfilm bieten.

Daniel Möhle: Überlegungen zur Dramaturgie des Kurzspielfilms
Marburg: Büchner 2019, 329 S., ISBN 978363171543, EUR 29,-
(Zugl. Dissertation an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, 2018)

Journey through a body

(FR 2019, Regie: Camille Degeye)

Brüche und Bewegungen
von Ricardo Brunn

Thomas sitzt mit gebrochenem Bein zu Hause fest. Minutenlang schauen wir dem Musiker dabei zu, wie er versucht das Beste aus der Situation zu machen, sich die Haare schneidet, isst, …

Thomas sitzt mit gebrochenem Bein zu Hause fest. Minutenlang schauen wir dem Musiker dabei zu, wie er versucht das Beste aus der Situation zu machen, sich die Haare schneidet, isst, auf dem Bett herum lungert, Youtube-Videos schaut, telefoniert, Elektronikteile verlötet, raucht und Musik hört. Dass die Narration in diesen Szenen jede Entwicklung verweigert, ist durchaus langweilig anzuschauen, doch ist diese Langeweile nicht Ausdruck mangelnden filmischer Gestaltungswillens, sondern ihr ganzes Gegenteil. Der Film braucht diese Zeit, um Thomas’ Gefühlshaushalt auf die Zuschauer*innen zu übertragen, so schmerzlich sich sein Versuch, mit der Langeweile umzugehen, auch anfühlen mag.

Zugleich bietet die Dehnung der Zeit einen intimen Zugang zu Thomas’ Welt, denn im Grunde genommen sehen wir in dieser ersten Hälfte von “Journey through a body” der Kreativität beim Entstehen zu. Nach und nach verlässt der Film seinen festen Pfad und führt uns aus der anfänglichen Langeweile eines Tagesablaufs in einen beinahe hypnotischen Rausch. In einer etwa siebenminütigen Sequenz bewegt sich der Film von einem Telefongespräch in die Heimat über sich langsam in das Gespräch schleichende Vogelgeräusche und Bilder von Insekten im Urwald, über die sich wiederum erste Ansätze eines Ambient-Tracks legen, zu Aufnahmen von Werner Herzog im Dschungel weiter zu Thomas, der an Reglern spielt und den Song kreiert, der bereits seit Minuten zu hören ist und in den sich wiederum Herzogs Respektbekundungen zum grünen Dickicht hinter ihm mischen. Selbst die Beleuchtung in der Wohnung beginnt ein Eigenleben, wenn sie plötzlich auf den Wänden wabert und diese flüssig zu werden scheinen.

Die im Filmtitel formulierte Reise durch den Körper ist hier die Reise durch Thomas‘ Gedanken, zeigt den Weg von der Inspiration zum Ausdruck als fluide Bewegung. Thomas’ Soundcollagen verschmelzen langsam mit der bildlichen Gestaltung, die sich von den zunächst starren und sehr nahen, beinahe aufdringlichen Bildern löst und im geschlossenen Raum den geistigen öffnet und zu einer Weite gelangt, in der sich der Blick und die eigenen Gedanken nach und nach verlieren.

Daneben findet die Überlagerung, die wie selbstverständlich ins Mehrdeutige neigt auch in Thomas’ äußerer Erscheinung ihre Entsprechung. Durch das Abrasieren seiner Haare zu Beginn des Filmes und seiner Nacktheit entzieht er sich hinsichtlich seiner Identität einer eindeutigen Kategorisierung. Mit Thomas Kuratli wird der Protagonist des Filmes zudem von einem Musiker gespielt, der mit seinem Projekt „Pyrit“ nicht nur die Musik zum Film beisteuerte, sondern auch als Filmkomponist (u.a. für „Blue My Mind“ von Lisa Brühlmann) tätig ist. „Journey through a body“ versieht also auch die Schnittstelle von Fiktion und Wirklichkeit mit Frakturen. Der Filmtitel wiederum ist einem Albumtitel der Industrial-Pioniere Throbbing Gristle entlehnt, deren Musik Grenzbereiche auslotet und einen Bruch mit gewohnten Songstrukturen darstellt.

Und als wäre das eingegipste Bein nicht genug, vollzieht sich in der Mitte des Filmes ein weiterer Bruch. Eine Mitarbeiterin des Sozialamtes möchte mit Thomas einen von ihm gestellten Antrag auf staatliche Unterstützung durchgehen und auf Rechtmäßigkeit prüfen. Was folgt, ist eine 15-minütige Demütigung, in der es plötzlich um die Suche nach Eindeutigkeiten und Kategorisierungen geht. Sogleich werden Kontoauszüge verlangt, Daten und Angaben nüchtern abgeglichen, das Mietverhältnis hinterfragt, Rechnungen gesucht, blank gezogen. Das beinahe quadratische Bildformat (1,33:1), die kleinen Räume der Wohnung, die Kamera, die an Thomas klebt und die vielen Detailaufnahmen, die zu Beginn des Filmes eine unmittelbare Intimität schufen, zwingen einem mit einem Mal eine Enge auf, die sich im weiteren Verlauf in Ausweglosigkeit verwandelt. Nichts kann sich der Kraft des Raumes noch entziehen, alles steht zur Inspektion. Die Räumlichkeiten werden nun auch wortwörtlich in einem anderen Licht gesehen, da die Wohnung von Thomas plötzlich heller wirkt. Kühles Tageslicht ersetzt die schummrigen Kerzen und die orangestichigen Nachttisch- und Deckenlampen.

Mit jeder freundlich gestellten Frage der unnachgiebigen Beamtin verengt sich das Herz und türmt sich die Anspannung, die von Minute zu Minute nach einer Entladung schreit. Ihr Eindringen in Thomas’ Wohnung ist einerseits Ausdruck der immer diffuser werdende Grenze von privat und öffentlich zugunsten des Letzteren. Beide Brüche – Thomas Bein und die dramaturgische Wende in der Mitte des Filmes – verweisen andererseits auf die immer deutlicher zu Tage tretenden gesellschaftlichen Brüche und die zunehmende Kluft zwischen arm und reich. „Nur wer arbeitet, soll auch essen.“ So brachte es in Deutschland in der Phase der Umstrukturierung des Sozialstaates und des Arbeitsmarktes am Ende des vergangenen Jahrtausends einmal ein Arbeitsminister auf den Punkt. Zynischer kann Politik nicht sein. Doch 15 Jahre später ist etwa ein Viertel der Menschen in diesem Land im Notfall nicht in der Lage 1000 Euro für anfallende Kosten zu bezahlen – von Altersvorsorge oder anderen Rücklagen ganz zu schweigen. Die Entsolidarisierung mit den sozial Schwächeren und jenen, die nicht vom Arbeitsmarkt und seinen begrenzt lohnstarken Berufen, profitieren, ist auf dem Tiefpunkt.

Viel wurde in den beiden großen Krisen der vergangenen zwanzig Jahre von “Systemrelevanz” gesprochen, doch gemeint war damit immer nur ein bestimmter Teil der Ökonomie. In diesem werden Banken und Konzerne lautlos gerettet, Pflegekräfte hingegen vor allem beklatscht. Zuletzt wird die Kultur mit dem Label versehen. Doch glaubhaft klingt das nie, wirkt im Gegenteil nachgeschoben. Auch, weil jede*r weiß, dass Kultur unter den gegebenen Marktlogiken nicht „systemrelevant“ ist. Der Begriff schafft Hierarchien, erzeugt Abwertung und Ausgrenzung. Doch das System, um dessen Relevanz es geht, ist die Gesellschaft, nicht die Wirtschaftsform. „Journey through a body“ setzt da ein unmissverständliches Zeichen und zeigt in seiner letzten Einstellung, wie mit dem Problem umzugehen ist.

Die versteckte Stimme

(FR/IR 2020, Regie: Jafar Panahi)

Die Realität der leeren Leinwand
von Wolfgang Nierlin

Aus politischen Gründen wurden im Jahr 2010 die iranischen Filmemacher Jafar Panahi und Mohammad Rasulof verhaftet und zeitweise inhaftiert oder unter Hausarrest gestellt. Während Panahi mit einem 20-jährigen Berufsverbot belegt …

Aus politischen Gründen wurden im Jahr 2010 die iranischen Filmemacher Jafar Panahi und Mohammad Rasulof verhaftet und zeitweise inhaftiert oder unter Hausarrest gestellt. Während Panahi mit einem 20-jährigen Berufsverbot belegt wurde, kann Rasulof zumindest unter den Bedingungen der Zensur arbeiten. Auch Auslandsreisen sind den beiden prominenten Regisseuren nicht (oder nur zeitweise) erlaubt, weshalb beispielsweise Rasulof unlängst als Mitglied der Berlinale-Jury nicht in die deutsche Hauptstadt reisen konnte. Dort wurde im Jahr zuvor sein Film „Doch das Böse gibt es nicht“, der, bedingt durch die Pandemie, immer noch auf eine Kinoauswertung wartet, mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Denn sowohl Rasulof als auch sein befreundeter Kollege Panahi haben seit nunmehr zehn Jahren immer wieder kreative Wege gefunden, um heimlich oder offiziell Filme zu drehen. Dem 1960 in der iranischen Provinz Ost-Aserbaidschan geborenen Jafar Panahi gelang dies zuletzt etwa mit seinem preisgekrönten Film „Drei Gesichter“ (Drehbuchpreis in Cannes), der wie zuvor schon „Taxi Teheran“ (ebenfalls mit dem Goldenen Bären der Berlinale ausgezeichnet) in einem Auto spielt. Damit verweist der Regisseur zugleich auf ein beliebtes Motiv seines berühmten Lehrers Abbas Kiarostami.

Auch in seinem neuen Kurzfilm „Die versteckte Stimme“, der thematisch an „Drei Gesichter“ (IR 2018) angelehnt ist, ist das der Fall. Das Auto fungiert dabei als mobiler Schutzraum, der trotz seiner Begrenzung räumliche Bewegung ermöglicht. Zwei einfache Handykameras zeichnen direkt und fast in Realzeit das Geschehen auf. Während die eine an der Windschutzscheibe befestigt und auf den Innenraum des Wagens gerichtet ist, wird die andere Kamera von Panahis Tochter Solmaz bedient. Der Regisseur wiederum sitzt am Steuer und ist meist nur aus dem Off zu hören. Dieses Setting verleiht dem Film einen spontanen, improvisierten Charakter zwischen Dokumentation und Inszenierung.

In der kurdisch geprägten Stadt Mahabad, die im Nordwesten Irans liegt, steigt die junge Theaterproduzentin Shabnam Yousefi zu den beiden in den schwarzen Geländewagen. Sie ist mit Solmaz befreundet und erklärt zunächst einmal ihr Projekt: Während eines Castings für eine Theaterinszenierung hatte sie zuvor in einem kurdischen Dorf eine junge Frau mit einer wunderschönen Gesangsstimme entdeckt. Weil deren Eltern dem Mädchen die Teilnahme an dem Projekt versagten, kehrt Yousefi nun mit Panahi an den Ort in West-Aserbaidschan zurück. Dieser hatte in seinem Film „Drei Gesichter“ einen ähnlichen Fall behandelt und scheint deshalb als „Unterstützer“ prädestiniert. Doch Panahi verweist trotz des dokumentarischen Ansatzes zunächst auf eine wesentliche Differenz zu seinem eigenen, auf einem Drehbuch basierenden Film: „Die Realität ist etwas anderes.“

In den Gesprächen während der Fahrt, in denen es um kulturelle und sprachliche Unterschiede innerhalb des großen Landes sowie um absurde Vorschriften und überholt erscheinende Bräuche geht, lässt Yousefi durchblicken, dass sie mit ihrer Arbeit vor allem die Öffentlichkeit informieren und aufklären möchte. Im Dorf angekommen, muss das kleine Filmteam allerdings feststellen, dass sich traditionelle Verbote nicht einfach aufheben lassen. Weder darf die junge Frau das Theaterstück mit ihrer Stimme bereichern, noch darf sie sich überhaupt zeigen. Das visuelle Medium Film stößt hier an eine empfindliche Grenze. Allerdings ist es Trife Karimian erlaubt, hinter einem großen weißen Leintuch versteckt, ihre Stimme zum Klingen zu bringen; was eine irritierende Dialektik zwischen An- und Abwesenheit, Sichtbarem und Unsichtbarem erzeugt. Zugleich wird das Laken als leere Leinwand nicht nur zum Abbild des Zeigeverbots, sondern auch zur Projektionsfläche für die Imaginationen der Zuschauer.

90%

(DE 2020, Regie: Jerry Hoffmann)

Sexy Anorexia
von Ricardo Brunn

Jean (Simon Frühwirth) denkt permanent ans Essen – etwa 90% der Zeit. Nur geht es ihm nicht darum möglichst viele leckere Speisen zu verdrücken, sondern genau darum dies zu vermeiden. …

Jean (Simon Frühwirth) denkt permanent ans Essen – etwa 90% der Zeit. Nur geht es ihm nicht darum möglichst viele leckere Speisen zu verdrücken, sondern genau darum dies zu vermeiden. Jean möchte dünn sein. Vor dem Abendessen trainiert er deshalb wie besessen in seinem Zimmer. Anschließend formt er am Esstisch mit der Gabel lustlos ein Gesicht aus Möhren, Erbsen und Kartoffelbrei. Und während Mutter voller Kummer auf ihren Sohn blickt, platzt dem Vater aus Ratlosigkeit der Kragen. Auch die Ärztin in der Klinik macht sich große Sorgen: Jean solle umkehren solange es noch ginge, denn sein Body Mass Index läge mittlerweile bei 17. Für den Jungen klingt das allerdings eher wie eine Ermunterung, den eingeschlagenen Weg weiter zu gehen. Da tritt die selbstbewusste Lili (Lili Epply) auf dem Krankenhausflur in Jeans Leben und fragt frei heraus, ob Jean mit ihr abhängen wolle. Der willigt ein und wenige Minuten später sitzt das Pärchen mit Susi-und-Strolch-Spaghetti am Essenstisch in Lilys Haus. Jean sträubt sich, bis Lili ihm ein Angebot macht: Wenn er aufisst, gibt‘s Sex. Und siehe da, der Junge kann reinhauen wie Terrence Hill in seinen besten Filmen.

Jerry Hoffmann unternimmt in „90%“ den Versuch eine Geschichte zu erzählen, die in der öffentlichen Wahrnehmung kaum vorkommt: Weil sie als „typische Frauenkrankheit“ gilt, wird Anorexie bei Männern und Jungen oft zu spät oder gar nicht als solche entdeckt. Marginalisierung oder Bagatellisierung sind auch in Ratgebern zum Thema Gang und Gäbe, wenn zum Beispiel das Bildmaterial nur Frauen oder Mädchen zeigt. Doch etwa jeder zehnte Betroffene von Magersucht ist deutschlandweit ein Mann. Die Gründe für die Krankheit sind vielfältig und können mit dem Stellenwert des Körpers in der Gesellschaft, Geschlechtererwartungen und gängigen Schönheitsidealen zusammenhängen, die jeweils für sich oder in Verbindung Druck auf junge Erwachsene ausüben. Der Weg aus einer Essstörung ist folglich oft alles andere als einfach. Hier setzt Hoffmann mit seinem Film an: Er möchte zeigen, wie wichtig es ist, geliebt und als das angenommen zu werden, was man ist. Nur entgleitet ihm sein Film mit jeder Minute und die schöne Absicht gebiert ihre ganz eigenen Monster.

Bereits auf der Ebene der Erzählung drängt sich nämlich eine sehr unangenehme Lesart des Filmes auf, die in der hanebüchenen Verkürzung der Behandlung einer Krankheit liegt. Nicht nur, dass zu keinem Zeitpunkt das Gefühl aufkommt, dass Jean überhaupt ein ernstzunehmendes Problem hat, weil außer ein paar Sit-Ups, bedrückt ins Leere starren und Mit-der-Gabel-im-Essen-Herumstochern abgegriffene Bilder zur Illustration eines Zustands verwendet werden, die eine dreidimensionalen Vorstellung der Figur, ihrer Lebensumstände und damit Glaubwürdigkeit sowie Ernsthaftigkeit kaum zulassen. Es stellt sich darüber hinaus sehr schnell die Frage, warum der Filmemacher seinen Figuren keine andere Möglichkeit gibt zueinander zu finden und die Einstellung Jeans zu seinem Körper zu verändern, als mit der Aussicht auf den Geschlechtsakt. „90%“ versäumt es nahezu gänzlich sich des Erforschens des Gegenübers mit Berührungen, der Angst vor dem Sich-Zeigen und in all seiner Verletzlichkeit Offenbarens oder des Stellenwerts der Sexualität, die gern verweigert wird oder aufgrund veränderter Hormonhaushalte bei anorektischen Menschen eine untergeordnete Rolle spielt, anzunehmen. Lieber reduziert der Film Jean auf ein billiges Reiz-Reaktions-Schema, weshalb es schwer fällt, die vom Regisseur in Interviews proklamierte Interpretation, dass es in „90%“ um den Wunsch ginge der Scham zu begegnen und von einem Gegenüber angenommen zu werden, im Film zu finden.

Ganz im Gegenteil fußt die Prämisse dieses Filmes auf einem hoffnungslos überholten Verständnis der Genderrollen: Der Mann ist in „90%“ schüchtern und hat ein Problem, die Frau löst es und zwar mit ihrem Körper. Es ist ein altbekanntes Muster, in dem männliche, heterosexuelle Teenager von Frauen träumen, die es faustdick hinter den Ohren haben und freimütig, ohne weiteres Kennenlernen, ihren Körper zum Sex anbieten. Und wie viele Filme, in denen selbstbewusste Frauen schüchterne oder jugendlich übermütige Helden mit ihren Körpern zähmen, gibt es in der Filmgeschichte? Nach wie vor eindeutig zu viele. Als Gegenthese ließe sich in den Raum stellen, dass es in „90%“ nicht um eine Essstörung, sondern um die Angst des Mannes vor der (weiblichen) Sexualität geht. Er will sich dieser nicht stellen, er will sie bekommen; gratis und ohne fragen zu müssen. Willkommen im Gestern.

Flankiert wird diese Lesart durch die Inszenierung Lilis. Sie ist nichts weiter als die abgedroschene Schablone einer kurvigen, vitalen und selbstbewussten „Powerfrau“ mit vollen Lippen und laszivem Blick, die sich Jean geradezu aufdrängt. Dass Lili selbst ein Problem zu haben scheint – wie es an einer Stelle mit Verweis auf eine Psychotherapie angedeutet und nicht weiterverfolgt wird – ist irgendwie egal, denn es geht in „90%“ eben nicht um eine Krankheit oder den Aufbau einer liebevollen Beziehung zwischen Menschen. Noch ein wenig unangenehmer wird es, wenn man in Betracht zieht, dass in schöner Regelmäßigkeit Studien für Schlagzeilen herhalten müssen, nach denen kräftige Frauen für hungrige oder gestresste Männer besonders interessant seien, und dieses Klischee in „90%“ einhundertprozentig breitgetreten wird.

Zur Reduktion der Figuren auf ihre (Körper)Funktionen passt, dass sich „90%“ in ästhetischer Hinsicht den oberflächlichen Eindeutigkeiten aussagekräftiger Werbebilder verschreibt: visuelle Effekte im Stile der 90er Jahre, knallige Beleuchtung, weil Neon gerade wieder in ist, erwartbare Zeitlupe beim Tanzen und Herumtollen, eine Betonung des Schnitts und Stangenelektropop, den die Chefetage einer Versicherung oder einer Brauerei sicherlich mit dem Attribut fresh beschreiben würde. Subtil ist da kaum etwas. Auch Platz für Widersprüche, Ängste und Unsicherheiten, die Essstörungen begleiten können, gibt es kaum. An einer Stelle redet Jean von Selbstbeherrschung, aber Bilder findet der Film dafür keine. Einzig Jeans Tanz in Frauenkleidern, der die Abgrenzungstendenzen von allem Weiblichen auf der Suche nach männlicher Identität als Element anorektischen Verhaltens aufgreift, bezeugt Auseinandersetzung mit dem gewählten Thema.

Der Film ist ein Paradebeispiel dafür, wie gut gemeint und gut gemacht auseinanderdriften und wie schnell notwendige Reduktion in Reduktionismus umschlagen können. Leider ist er auch ein Beispiel dafür, das Filmfestivals gern einmal auf das Gutgemeinte hereinfallen und solche Filme in ihren Wettbewerben platzieren. „90%“ ist an der Hamburg Media School (HMS) entstanden und es ist auffällig, wie viele Filme dort thematisch wie künstlerisch in dieselbe Kerbe schlagen. Mit „Stand Up“ (R: Shahab Habibi), „Herbst“ (R: Greta C. Benkelmann), „Aus den Fugen“ (R: Wiebke Becker), „Unter Menschen“ (R: Caren Wuhrer) und auch Jerry Hoffmanns zweitem Kurzfilm „Mall“ widmen sich mehrere Werke aus den letzten etwa eineinhalb Jahren gesellschaftlich relevanten Themen wie Demenz, Anorexie, Rassismus und Pädophilie auf die gleiche Art und Weise: Die Filme zeichnet ein reduktionistischer Hang zur Eindeutigkeit in den Dialogen und der Bildsprache aus, was wiederum die auf kurzfristige Wirksamkeit hin angelegten Absichten offenbart. Einer ernsthaften Auseinandersetzung in der verdichteten Form des Kurzfilmes verweigern sich diese Filme gänzlich. Hier werden Schlagworte checklistenartig bearbeitet wie für die, noch schnell am Vorabend zusammengeschusterte, Ethik-Powerpoint-Präsentation einer 8. Klasse. Das passt zu einer Filmhochschule, deren Geschäftsführerin Katharina Schäfer bei der Verleihung des Deutschen Kurzfilmpreises 2019 selbstbewusst verkündete: „Die Generation Z guckt fast 60 Videos am Tag, da ist der Kurzfilm genau das richtige Medium“ und mit solch einer Aussage verkennt, dass Kurzfilme Geschichten eben anders erzählen als die Formate der Sozialen Medien. In Kurzfilmkreisen hat sich die HMS deshalb schon einen gewissen Ruf erarbeitet. Will man diesen auch in Zukunft erhalten, lohnt es sich in jedem Fall, weiterhin übermotiviert ehrgeizige Relevanzfilme voller 08/15-Weisheiten unter dem Oberbegriff Diversität auf den Filmfestivalmarkt zu werfen.

36. Internationales Kurzfilmfestival Berlin – Interfilm

( , Regie: )

Im Selbstzerstörungsmodus
von Ricardo Brunn

Im Selbstzerstörungsmodus Das Internationale Kurzfilmfestival Berlin wurde 1981 von Heinz Hermanns in den besetzten Häusern Berlin-Kreuzbergs als internationales Super-8-Filmfestival “interfilm 1” gegründet. Es griff aktuelle politische Umbrüche auf und zeigte …

Im Selbstzerstörungsmodus

Das Internationale Kurzfilmfestival Berlin wurde 1981 von Heinz Hermanns in den besetzten Häusern Berlin-Kreuzbergs als internationales Super-8-Filmfestival “interfilm 1” gegründet. Es griff aktuelle politische Umbrüche auf und zeigte unter anderem Filme, die von Hausbesetzern im Häuserkampf und bei Demonstrationen gedreht worden waren. Auf diesen Gründungsmythos beruft sich das Festival nach mehr als 30 Jahren noch immer. Doch – das verrät ein Blick auf die mittlerweile 36. Edition, die 2020 vom 10. November bis zum 13. Dezember online stattfindet – mit der Rauheit, Spontanität, Improvisationslust und Kreativität besetzter Häuser hat das Festival heute nichts mehr am Hut.

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Wie es sich für ein Festival gehört, wird bei Interfilm immer eine Menge gefeiert. Vor allem feiert man in den letzten Jahren zunehmend sich selbst. Da gerät die Eröffnungszeremonie schon mal zu einem mehr als zweieinhalbstündigen Marathon der Selbstbeweihräucherung, sodass dem Publikum am Ende nichts anderes übrig bleibt, als jeden Satz und jeden Film in der Hoffnung auf ein baldiges Ende müde wegzuklatschen, wie es 2017 der Fall war. Passend dazu rennt der Moderator überdreht von einem Bühnenende zum anderen und stammelt irgendwelches Zeug von der Verletzlichkeit des Menschen in Berlin und den ganzen Möglichkeiten dieser verrückten aber irgendwie auch geilen Stadt. Der hohle Arm-aber-sexy-Hedonismus trifft hier auf oberflächliche Gesellschaftsanalyse, die irgendwann sauer aufstoßen.

Ein Jahr später beschreibt ein anderer Moderator der Eröffnung die ganze Kraft des Kurzfilms einleitend mithilfe einer Playstation-Werbung, die er mal gesehen und die ihn umgehauen hat. Kirsten Niehuus, Geschäftsführerin von Gottes Gnaden des Medienboard Berlin-Brandenburg, welches das Festival fördert, spricht nicht minder ergreifende Worte in ihrer Ansprache: Sie sei im Taxi gekommen und das ging so schnell, dass sie keine Zeit hatte, sich eine Rede einfallen zu lassen, aber Interfilm sei ganz toll. Später wird ein schwarzer Filmemacher auf die Bühne gezerrt und gefragt, wie er Berlin fände. Zwei Sätze werden ihm gegönnt, für die Einladung darf er sich auch brav bedanken und ohne den Hauch einer Kontextualisierung zu liefern, wird er wieder entlassen. Hauptsache, man hat demonstriert, wie divers und engagiert man bei Interfilm ist – bis sich irgendwann nur noch weiße, alte Männer auf der Bühne bestätigend zunicken und alles super finden. Wozu in Fettnäpfchen treten, wenn es Fritteusen gibt.

Es passt somit ganz gut ins Bild, dass man auch 2020 in der coronabedingten Onlineeröffnung nichts Essenzielles zu sagen hat – außer, dass viele Filme in vielen Programme laufen – und der Berliner Senator für Kultur, Klaus Lederer, bei der aufgezeichneten Ansprache in seinem grauen Flipchart-Büro wie ein Fallmanager im Jobcenter um die Ecke ausschaut.

Aber Schwamm drüber, Eröffnungen sind Eröffnungen. Da kann schon mal was schiefgehen – jedes Jahr aufs Neue. Was zählt sind die ausgewählten Filme. Über diese kommuniziert ein Festival mit den Zuschauer*innen und demonstriert, welches Weltbild und welches Bild vom Publikum es hat. Im Jahr 2020 musste sich Interfilm aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie verkleinern, doch die verbleibenden etwa 350 Filme geben einen guten Überblick über den aktuellen Zustand von Berlins größtem Kurzfilmfestival. Schnell fällt dabei ins Auge, dass Experimentalfilme und Essayfilme im Grunde keinen Platz haben. Ist in der Selbstbeschreibung von „Vielseitigkeit und Aktualität“ die Rede, schaut in Wirklichkeit alles nach der Niedrigschwelligkeit eines Kessel Buntes aus. Die Gelegenheit mit dem Zwang zur Verkleinerung auch die Spreu vom Weizen zu trennen, haben die Verantwortlichen offenbar nicht genutzt. Im Gegenteil wurden scheinbar beliebig Programme aus dem viel zu großen Festivalkorpus (in einem durchschnittlichen Jahr zeigt Interfilm allein um die 13 bis 16 Spezialprogramme!) geschnitten. Auch die Tradition allen Wettbewerbs- und Focusprogrammen einen Titel zu verpassen führt nicht zu einem besseren Verständnis der Selektion: „Curiosities“ heißt ein Programm, „Encounters of another kind“ ein anderes und je mehr Filme man aus diesen Programmen sieht, umso deutlicher wird, dass jeder Film problemlos auch unter einem der anderen auf maximale Unverfänglichkeit getrimmten Titel hätte laufen können.

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So stehen im Internationalen Wettbewerb die interessanten Filme („My Galactic Twin Galaction“, R: Sasha Svirsky; „Freeze Frame“, R: Soetkin Verstegen) zwischen peinlichstem Bilderdurchfall. Altherrenfilmchen über das unterdrückte Sexualverhalten lüsterner Männer („Zwart“, R: Tom Geraedts) wechseln sich mit handwerklich soliden Animationen („Marie Boudin“, R: Margot Barbé) ab. Die Auswahl ist, inhaltlich wie künstlerisch, geprägt von Routine und der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Die Programme zu dominieren scheinen Filme mit einer klaren Dramaturgie und Botschaft, eindimensionalen Figuren und nicht selten einer am Fernsehen, der Werbung oder dem Imagefilm geschulten Ästhetik, wenngleich der Kurzfilm eigentlich eher dafür steht, die Muster der Filmökonomie zu torpedieren.

In „I‘m a pedophile“ (R: Johanna Ställberg) will sich ein Mann seiner Schwester gegenüber als pädophil outen. Dramaturgisch krankt der Film aber schon an seinem Titel. Von Beginn an ist klar, worauf es hinausläuft, doch das Warten darauf ist in etwa so dämlich wie das Warten, ob in „Schindlers Liste“ (USA 1995; R: Steven Spielberg) aus den Duschköpfen nun Wasser oder Gas strömt. Mit einem fragilen Thema wird dramaturgischer Unsinn betrieben. Die Figuren reagieren erwartbar: Die Schwester brüllt, der Sohn der Schwester prügelt. Alle sind überfordert. Die Kamera bildet all das so einfallslos und altbacken ab, dass ein zweifelhafter Voyeurismus mit der Zeit die Bilder hässlich färbt.

Dämlicher noch ist „Vigile“ (R: Xavier Beauchesne-Rondeau), der sich auf dumpfbackige Art die rassistischen Auswüchse einer Nachbarschaftswache vornimmt: Nach der angeblich traumatischen Begegnung seiner Tochter mit einem arabischstämmigen Mann beschließt Papa in der Nachbarschaft aufzuräumen und organisiert eine Patrouille. Zur selben Zeit zieht der Schwarze Blaise in eine neue Wohnung direkt gegenüber. Allerdämlichste Vorurteile rumpeln da durch den Kiez, trennen gut und böse jalapenoscharf voneinander und liefern eine niedliche Pointe, in der Papa und seine Hobbyfaschogang bekommen, was – die Parallelmontage kündigt es an – von vornherein zu erwarten war.

Und auch in „Hate“ (R: Humza Arshad) geht es um Gewalt gegen Andersdenkende und -aussehende. Diesmal aber mit manipulativen Gänsehautstreichern und bedeutungsschwangerem Off-Kommentar. Beides trichtert einem auf plumpe Weise von der ersten bis zur letzten Minute die richtigen Gefühle ein, und weil das noch nicht intensiv genug ist, gibt es im besten Kampagnenstil Zeitlupe obendrauf, damit auch der letzte noch kapiert, wie schlimm Gewalt und Rassismus sind.

Exemplarisch stehen diese Filme für die sich nach und nach abzeichnende Maxime in der Filmauswahl: Vermeintlich „wichtig“ muss das Thema sein, also aktuelle gesellschaftspolitische Themen wie Migration, Frauenfeindlichkeit oder Klima berühren. Das an sich stellt kein Problem dar, doch ist es wie so häufig eine Frage des Verhältnisses, denn die Ethik wird zum leitenden Prinzip vieler Filme bei Interfilm. Die Ästhetik spielt eine untergeordnete Rolle. Doch „wichtig“ wird ein Film nicht allein durch sein gewähltes Thema, sondern gerade durch seine Umsetzung. Filme, die ihre Moral plump vor sich hertragen wie ein Namensschild um den Hals, tendieren dazu, nicht den Gegenstand der Betrachtung, sondern seine Macher*innen und die Gefühle des Publikums in den Vordergrund zu rücken. Kino wird so zu einer moralische Instanz, die einer Ohnmacht im Angesicht politischer und ökologischer Krisen nicht Ausdruck verleihen, sondern ein Gefühl der Sicherheit geben will, dass man zumindest auf der richtigen Seite steht. Dies wiederum erklärt das radikale Fehlen offener Formen des Kurzfilmes, wie beispielsweise des Experimentalfilms, bei Interfilm.

Wie schief dieses verkürzte Verständnis von Film gehen kann, zeigt der im Wettbewerb laufende Oscargewinner „Skin“ (R: Guy Nattiv). Ein blöder, weißer Hillbilly, der seinem Sohn Schießen und ordentlich Hass beibringt, verprügelt hier einen Schwarzen auf dem Parkplatz vor einem Supermarkt, weil Letzterer den Sohn des Alt-Right-Heinis an der Kasse angesprochen hat. Das alles geschieht vor den Augen der Kinder des Schwarzen. Am Ende wird Nazipapi dafür dann hart bestraft. Die Botschaft ist – nicht zuletzt aufgrund der Eindimensionalität der Figuren und ihrer Verortung – klar: Rassismus ist ein Problem, aber er kommt eben nur in Randgruppen vor und ist keinesfalls im Kern der amerikanischen Gesellschaft zu verorten. Vor allem aber ist Hass erlernt und das – dafür stehen die Kinder im Film symbolisch – auf beiden Seiten. „Skin“ marginalisiert Rassismus also nicht nur, Schwarz und Weiß werden zudem (auch das Poster zum Film zeigt dies überdeutlich) gleichgesetzt, obwohl diese Gleichsetzung aufgrund der Historie unmöglich ist. Der Film thematisiert Hautfarbe auf erschreckend naive Art und Weise und löscht mit seiner Nivellierung jeglichen Diskurs darüber im selben Atemzug aus. Dass der Film obendrein bei Interfilm in einem Programm läuft, welches den sehr tanzbaren Titel „Staying Alive“ trägt, setzt dem ganzen Mist dann noch die Fettnapf-Krone auf.


© Fox Search Light / Guy Nattiv

Die maximale Gedankenlosigkeit bei der Programmierung von Filmen mit vermeintlich wichtigen Themen setzt sich auch in den Programmen für Human Rights fort. Als ob es in den anderen Wettbewerbsprogrammen nicht schon genug Werke gäbe, die mit viel Tamm Tamm, Hundeblick und Kitsch mit Soße zeigen wollen, wie politisch sie doch sind, schwingen zwei Confrontations-Programme am Ende des Internationalen Wettbewerbs die Moralkeule noch einmal denjenigen entgegen, die von den ersten sieben Wettbewerbsblöcken noch nicht niedergeschlagen wurden: Frauen scheinen irgendwie im Zentrum eines Programmes zu stehen, wenngleich sich auch ein Film über Rassismus darin tummelt. „Changing Perspectives“ verspricht der Titel, das Programm folgt aber eher den Logiken der „Selbstvergewisserungsindustrie“ (Cornelia Koppetsch) eines ethisch ambitionierten Kinos, als Perspektiven wirklich einmal umzukehren und die Zuschauer*innen in unangenehme Situationen zu versetzen und sie damit allein zu lassen. Film wird hier nicht als kritisches Gegenüber verstanden, sondern soll ein Publikum ansprechen, das sich bei einem Gläschen Wein noch einmal versichern kann, wie schrecklich alles ist. Doch das Prinzip der Gefälligkeit führt bei Interfilm zu einer Verengung der Möglichkeiten. Und die Menschenrechte lassen sich auch weder von der Couch noch aus dem Kinosessel heraus verteidigen, schon gar nicht mit Kitsch, dessen Funktion per se nicht die Aktivierung, sondern die Beschwichtigung ist, denn in seiner Zugänglichkeit liegen allzu oft Zudringlichkeit und emotionale Übergriffigkeit verborgen. Eine zum Handeln befähigende „Resonanz“ (Hartmut Rosa) jedoch kann erst dann entstehen, wenn das Gesehene zu einem gewissen Grad überfordert und unverfügbar bleibt, sich den Zuschauer*innen also immer wieder – das heißt auch im Erkenntnisprozess – entzieht. Erst auf diese Weise kann sich der Film über den Kinosaal hinaus verlängern und zu einem Nachdenken anregen.

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Als endgültig grotesk und oberflächlich entlarvt sich der Wunsch nach der hehren Verteidigung der Menschenrechte mit dem (schon grammatikalisch widersinnigen) Spezialprogramm China New Talents. Es versammelt Filme staatlicher Hochschulen, die häufig über allererste filmische Gehversuche nicht hinauskommen. Und weil der chinesische Staat natürlich ein Auge auf die eigene Kunst hat, verlieren sich diese Filme thematisch im Ungefähren und offenbaren die Kehrseite universellen Erzählens: Im Grunde genommen kommt China in diesem Programm kaum vor. Es ist beinahe so, als hätte das Land in den vergangenen 20 Jahren keinerlei Umbrüche und damit zusammenhängende Verwerfungen erlebt, als müssten derzeit nicht etwa ein bis zwei Millionen Menschen aufgrund ihres Glaubens und zum Zwecke der Umerziehung ihr Dasein in Lagern fristen oder als würde das Land der aufgehenden Sonne nicht mit dem Social Credit System seine Bürger*innen einem Kontrollsystem unterwerfen wollen, gegen das sich die orwellschen Fantasien wie kalter Kaffee ausnehmen. Selbst die aktuelle Situation Hong Kongs wird nicht reflektiert. Wie man sich für Menschenrechte einsetzten und zugleich solchen linientreuen Käse zustande bringen kann, bleibt eines der ungelösten Rätsel bei diesem – seine kognitiven Dissonanzen offen auslebenden – Festival.

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Selbst im Dokumentarfilmwettbewerb – lange Zeit eine der stärkeren Reihen bei Interfilm – machen sich 2020 Filme breit, die dem beschriebenen Muster folgen und zum Teil nicht einmal mehr als Dokumentarfilme bezeichnet werden können. Zwei Werke stechen besonders unangenehm hervor:

„Waves“ von Jessie Ayles über drei Mädchen, die ihre Angst vor sexueller Gewalt in Kapstadt nur beim Surfen für einen Moment besiegen können, nimmt sich ein wichtiges Thema vor und macht daraus einen Imagefilm voller sonnendurchfluteter Zeitlupenbilder, die aussehen wie überteuertes Stock Footage und eher davon erzählen, dass die Macherin jegliches Gefühl dafür, welche Bilder eigentlich angebracht sind, vollkommen verloren hat. Mit jedem Schnitt verhärtet sich die Frage, wann das Produkt, für das hier Werbung gemacht werden soll, eingeblendet wird. Aber was soll man von einer Werbefilmerin erwarten, die auf ihrer Webseite ihr besonderes Interesse für Geschichten mit sozialem Bewusstsein, in denen marginalisierte Stimmen und Themen aus der ganzen Welt hervorgehoben werden, betont und unter diesem Marketingsprech dann so sozial engagierte Firmen wie Nike, Google, Nissan und Louis Vuitton auflistet, für die sie schon gearbeitet hat.


© Jessie Ayles

Daneben steht „Diana – The Only Female Professional Boxer in Uganda“ von Adam Anthony, der die einzige weibliche Boxerin Ugandas portraitiert, die kurz vor den Olympischen Spielen aufgrund ihres Geschlechts disqualifiziert wurde und trotz aller negativen Erfahrungen heute voller Hoffnung andere Frauen trainiert. Spannendes Thema, doch wie so oft hat man nach den knapp fünf Minuten Laufzeit im Grunde genommen nichts erfahren, was der Filmtitel nicht schon verrät. Inhaltsleer, desinteressiert an der Person oder Hintergründen bleibt das Gefühl, dass man einen an Bildern armen Trailer zum eigentlichen Film geschaut hat. Der Inhaltismus eines nur oberflächlich feministischen Kinos siegt über Fragen angemessener Darstellung und notwendiger Tiefgründigkeit.

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Um es noch einmal deutlich zu formulieren: Das Problem sind nicht einzelne, fragwürdige Filme, die zwischen durchaus bemerkenswerten anderen laufen, sondern die prinzipielle Rückwärtsgewandtheit und Widersprüchlichkeit in der Gesamtauswahl von Interfilm: Man gibt sich politisch und vielseitig, doch die Programme durchweht ästhetisch ein Duft von Opas ungelüfteter Wohnung, in der die Möbel von vor 30 Jahren langsam von den Holzwürmern zerfressen werden. Man gibt sich feministisch und queer, zugleich verpasst man einem Programm den an Peinlichkeit kaum zu überbietenden Titel „Sex and Confusion“ und zeigt darin (übrigens jedes Jahr aufs Neue) oberflächliche, sexistische und einfach dümmliche Filmchen zu den Themen Liebe, Sex und Leidenschaft. Das alles hat mit der behaupteten Haltung und vor allem bewusster Kuration, die man sich bei Interfilm gern auf die Fahnen schreibt, einfach nichts zu tun, denn Kuratieren ist das ganze Gegenteil eines bloßen Aggregierens von Content. Ein ausgesprochen sorgsam kuratiertes Programm wie das zum Schwerpunkt Poskolonialismus – in dem die Nachdenklichkeit des Kinos auch einmal zugelassen wird; wo nicht die Antwort, wohliges Schauern, der flache Witz oder naive Hoffnungen breitgetreten werden – wirkt da wie von einem anderen Stern, kann das jämmerliche Absaufen des Kahns aber auch nicht mehr verhindern, weil eine prinzipielle Fehlentwicklung nun einmal nicht durch eine Handvoll Filme ausgeglichen werden kann.

Bei allem Respekt vor der harten Arbeit, die das Team von Interfilm in eine Festivaledition stecken musste, die aufgrund der Corona-Pandemie sicherlich nicht leicht zu stemmen gewesen ist, Interfilm ist ein Kurzfilmfestival, das einer kunstoffenen Hauptstadt nicht gerecht wird. Seit Jahren zerlegt sich das Festival künstlerisch ohne große Not selbst. 2020 treten die Probleme in der „komprimierteren“ Form besonders eklatant zu Tage. Die künstlerische Leitung muss sich die Frage gefallen lassen, wie sie der grundsätzlich sentimentalen, antiprogressiven und streckenweise infantilen Ausstrahlung des Programms mit Hang zur Belanglosigkeit in Zukunft begegnen will, denn Berlin wäre ärmer ohne ein gutes (und nicht nur viel zu großes) Kurzfilmfestival.

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Interfilm – 36. Internationales Kurzfilmfestival Berlin findet in diesem Jahr ausschließlich online zwischen dem 10.11. und 13.12.2020 auf sooner.de statt. Mit einem Abo zum Preis von 7,95 Euro haben Zuschauer*innen nicht nur Zugang zum Programm von Interfilm, sondern bekommen obendrein noch einen Monat für die Inhalte auf sooner.de spendiert.

All Inclusive

(CH 2018, Regie: Corina Schwingruber Ilić)

Die schönsten Wochen des Jahres
von Ricardo Brunn

Am Ende der Saison 2016 hatten nach Darstellung der Stadtverwaltung circa 790.000 Touristen von 530 Kreuzfahrten Dubrovnik besucht. 2017 spülten die Luxusliner zu Hochzeiten bis zu 10.000 Menschen pro Tag …

Am Ende der Saison 2016 hatten nach Darstellung der Stadtverwaltung circa 790.000 Touristen von 530 Kreuzfahrten Dubrovnik besucht. 2017 spülten die Luxusliner zu Hochzeiten bis zu 10.000 Menschen pro Tag in die Kleinstadt an der Adria, die selbst nur etwa 43.000 Einwohner zählt. Und allein bis Mitte Juli 2019 sind es nach Angaben des kroatischen Ministeriums für Tourismus bereits knapp 700.000 Besucher gewesen – 20 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum 2018. Die Zahlen sind so irreal wie die haushohen Kreuzfahrtschiffe, die sich losgelösten Eisschollen gleich den Städten nähern, sie lautlos platt zu walzen drohen und schließlich doch Halt machen, um wie Raumschiffe im Orbit vor ihren Zielen zu schweben. Und vielleicht sind die etwa 300 Kreuzfahrtschiffe, die bis Anfang 2020 im Akkord die Weltmeere bereisten, genau deshalb so beliebt: fernab der Realität kann man nur mitten auf dem Ozean noch wirklich sein. Wie das Urlaubsbild auf Instagram die Realität der Sehenswürdigkeiten als Orte des Massentourismus supprimiert, schafft die Kreuzschifffahrt selbst bei Landgängen keine Berührungspunkte mit der Wirklichkeit mehr. An Bord wird die Landessprache gesprochen und gegessen, was man von zu Hause kennt. Sicher vor den Problemen und Bösartigkeiten der Welt ist alles in diesem Kokon-Urlaub einer „traumhaften“ Künstlichkeit untergeordnet, in der man von einem Museum zum nächsten schippert.

All inclusive ist in den vergangenen Jahren aus diesem Grund zum geflügelten Wort der Tourismusbranche geworden: Es beinhaltet das Versprechen sich um nichts kümmern zu müssen, weil vorab bereits alle monetären Unannehmlichkeiten aus der Welt geschafft und die permanente Aufforderung zum Konsum in den Urlaub geschickt wurden. Doch alles zu erwarten und alles zu bekommen bedeutet nicht nur Teil einer unbeschränkten Steigerungslogik zu sein, sondern zuvorderst einer lieblosen Dienstleistung auf den Leim zu gehen. Versprochen wird das singuläre Erlebnis, geliefert wird Uniformität in einer Minimalerfahrung dessen, was reisen sein kann. Die Kunst der Massenabfertigung liegt nun genau darin, sie als solche nicht in Erscheinung treten zu lassen. Entlang dieses schmalen Grats operiert Corina Schwingruber Ilić mit ihrem Dokumentarkurzfilm „All inclusive“.

In eisblauen, aseptischen Bildern fängt die Schweizer Filmemacherin ein, was an Bord eines Kreuzfahrschiffes den lieben langen Tag geschieht: Cocktails im Pool schlürfen, in der Wasserrutsche steckenbleiben, auf der Sonnenliege einschlafen, romantische Fotos bei Sonnenuntergang vom Bordfotografen schießen lassen, eine Polonaise durch das knackevolle Bordrestaurant, die Nachtschicht auf dem Laufband im Fitnessstudio, Party mit Konfetti, Fressen ohne Ende. Mit jeder neuen Einstellung offenbart sich eine weitere Facette dieses stählernen Urlaubsmikrokosmos auf hoher See, dessen grundlegendes Anliegen zu sein scheint, in einer blitzblanken Umgebung durch vielfältigste Angebote keine Gelegenheit für den Gedanken zu bieten, dass die Erlebnisse aller Anwesenden identisch sind und auf einem System perfekten ineinander greifender, unsichtbarer und unterbezahlter Zahnräder fußt. Dementsprechend bietet die Montage des Filmes in ihrem steten Rhythmus neue Szenerien immer genau dann an, wenn die Mischung aus ungläubigem Staunen und Faszination abzuebben droht. Wie die Attraktionen auf den Schiffen selbst stehen die Einstellungen, die jeweils auch eine Szene abbilden nebeneinander und provozieren in den immer gleichen Einstellungsgrößen und ähnlichen -längen über die Zeit hinweg das unangenehme Gefühl unterschwelliger Monotonie.

Das vielleicht präziseste Bild in diesem Zusammenhang zeigt das obligatorische Get Together mit dem Kapitän beim Captain‘s Dinner: jeder*m Passagier*in wird wie an einem Fließband die Hand geschüttelt – aber erst, nachdem diese auch desinfiziert wurde. Und wie es sich gehört wird das Desinfektionsmittel diskret von einem der unzähligen Arbeiter*innen aus einem Niedriglohnland gereicht, die aus dem Hintergrund heraus für die reibungslose Dauerbespaßung der Gäste sorgen und in den Bilder des Filmes ein ums andere Mal leise am Rand in Erscheinung treten. Auf engstem Raum und in kürzester Zeit erfasst „All Inclusive“ so die Probleme des Massentourismus prägnant, ohne dass dafür auch nur ein einziges Wort fallen müsste. Im Sounddesign wird die Künstlichkeit des Gezeigten manchmal zu sehr auf die Spitze getrieben, wenn die Musik besonders dämlich vor sich hin dudelt und Gesprächsfetzen wie versehentlich in den Vordergrund gemischtes Gebrabbel einer Statistenmenge klingt. Darin liegt ein nicht mehr ganz so zarter Sarkasmus, der unnötig überhöht, was der Überhöhung gar nicht bedarf.

Dass es in „All inclusive“ an keiner Stelle Individuen zu sehen gibt, sondern der Mensch anonyme Masse bleibt, ist nicht nur Teil der Strategie, niemanden bloßzustellen und zugleich den Zuschauer*innen zu ermöglichen, für einen Moment ebenfalls Teil dieser Kreuzfahrer*innengemeinschaft zu werden. Aus der Distanz gibt sich vielmehr eine Infantilisierung durch Übertragung von Verantwortung nach und nach zu erkennen: Wie in der Altersresidenz werden die Gäste den Tag über umsorgt ohne sich je um etwas kümmern zu müssen. Dass von den Schiffen bereits einige Routen nicht mehr befahren werden, weil die Gefahr besteht auf Flüchtlingsboote zu treffen, verdeutlicht einmal mehr, wie eng befreundet der Wunsch nach Entdeckung der Welt durch Reisen und das gleichzeitige Ausblenden der Realität und der Verantwortung für diese im Massentourismus sind. Bereits 2004 hat der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace in „Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich“ sehr vortrefflich eine Kreuzfahrt beschrieben, auf der genau solche Passagiere dann fragen, ob die Crew mit an Bord schläft, man beim Schnorcheln nass werden oder wann das Mitternachtsbuffet eröffnet wird. Und der nächste Trend dreht bereits richtig auf: Individualreisen im luxuriösen Wohnmobil. Nach all der Hochseedekadenz will der Mensch in den schönsten Wochen des Jahres jetzt in den eigenen vier Wänden wieder zurück zur Natur. Genug ist eben genug. Die europäische Caravaningindustrie zeichnet 2019 mit über 210.000 Neuzulassungen als das zweiterfolgreichste ihrer Geschichte aus. Auf nach Dubrovnik!

T

(USA 2020, Regie: Keisha Rae Witherspoon)

Innere Realität schafft äußere Form
von Hannes Wesselkämper

Um einen geliebten Menschen zu trauern, mag zunächst als innerlicher Prozess erscheinen, eine Aushandlung des Verlustes mit sich selbst. Den Verlust nach außen zu kehren und in Gemeinschaft zu trauern, …

Um einen geliebten Menschen zu trauern, mag zunächst als innerlicher Prozess erscheinen, eine Aushandlung des Verlustes mit sich selbst. Den Verlust nach außen zu kehren und in Gemeinschaft zu trauern, ist ebenso wichtig, um dem Tod einer*s Nahestehenden Sichtbarkeit zu verleihen. Diese öffentliche Wertschätzung eines verlorenen Lebens ist nicht nur dann politisch, wenn um staatstragende oder ikonische Persönlichkeiten getrauert wird, sondern gerade in marginalisierten Gemeinschaften, deren Leben im öffentlichen Diskurs ungleich weniger wert sind.

„T“ porträtiert drei Trauernde einer afroamerikanischen Community in Miami, die ihrem Verlust mit extravaganten Kostümen und großflächig bedruckten T-Shirts Ausdruck verleihen. Jungsgesichter, oft nicht älter als zwanzig Jahre, prangen darauf neben verschnörkelten R.I.P.-Schriftzügen. Auf dem jährlichen T-Ball wird ihnen mit Tanzperformances und Kostümen in einer Form gedacht, die aus der Ballroomszene stammt und ihrerseits seit den 1920er Jahren für eine Sichtbarkeit der schwarzen LGBTQI*-Community einsteht.

Jedoch versteht sich Keisha Rae Witherspoons Film nicht als Porträtfilm. Die einzelnen Schicksale bleiben im Unklaren, wie auch der Ball selbst nur bruchstückhaft Eingang in den Film findet. In teils assoziativen Bildern ergründet „T“ die komplizierten Verstrickungen von individueller und gemeinschaftlicher Trauer, von gewollter Sichtbarkeit und privaten Rückzugsräumen.

Dimples, eine ältere Dame, die für ihren verstorbenen Sohn einen silbernen Hosenanzug mit Flügeln aus zerschnittenen Chipstüten näht, zeigt diesen Widerspruch am deutlichsten. Voller Stolz präsentiert sie seine Kunst, lässt sich beim Nähen über die Schulter schauen. Doch in einen Raum darf das Filmteam – von Witherspoon als solches herausgestellt – nicht. Zumindest nicht über die Schwelle. Dimples sitzt dort in verhangenem Licht, neben ihr ein junger Mann, der bereits wie eingefroren dort sitzt als sie den Raum betritt. „I know you can’t see him, but for me he is there“, sagt sie quer durch den Raum zur Kamera gerichtet.

Durch solche Momente der Inszenierung und der assoziativen Bilder – etwa von Blutkreisläufen und Galaxien – gerät „T“ zur Reflexion über die Möglichkeiten der Sichtbarmachung. Die zweite Porträtierte, Tahir, verlor ihre Zwillingsschwester und ist lediglich als Voice-Over einer computergenerierten Stimme zu hören, während Stills ihrer Schwester durchmischt mit monochromen Farbtafeln das Bild füllen. Ash, der als leidenschaftlicher Gärtner eingeführt wird, wechselt ebenfalls seine Position, so scheint es. Nachdem es keine Pflanzen mehr zu präsentieren gibt, fragt er schließlich mit versteinerter Miene in die Kamera: „What y’all wanna see?“, und ermahnt seinen Kollegen, nichts über die Verstorbenen preiszugeben.

Aus den Widersprüchen von gemeinschaftlicher und individueller Trauer ergibt sich die Frage, was denn nun zu zeigen sei. Witherspoons Film stellt diese Problematik aus, versucht sich in Lösungen, greift nach Assoziationen und findet letztlich darin zu seiner Stärke. Mehr als Homestories von Betroffenen oder der beobachtende Blick auf die schrille Gala des T-Balls, wirkt jene freie Collage. Nicht zuletzt ist der ‚klassische‘ dokumentarische Blick auf marginalisierte Communities meist von einem weißen, mindestens aber institutionalisierten Blick geprägt.

„T“ ersetzt diesen Blick nicht, markiert sich auch nicht einer Seite absolut zugehörig. Der Film eröffnet einen Diskurs über die Komplexität der Trauer und darin die Sichtbarkeit der zu früh verstorbenen afroamerikanischen Jugendlichen, ohne dabei Statistiken über Drogennutzung oder Waffen- und Polizeigewalt zitieren zu müssen. In der Verweigerungshaltung bleibt einiges ungesagt, aber trotzdem spürbar. Die Form sei hingegen nachgeordnet zu behandeln, wie Witherspoon einen Jungen als Witz in die Kamera sagen lässt: „The inner reality creates the outside form…there’s no punchline, bitch.“

Enough

(SE 2018, Regie: Anna Mantzaris)

Gegen die Mühseligkeit des Alltags
von Hannes Wesselkämper

„Wir alle spielen Theater“, sobald wir aus der Tür in die Öffentlichkeit treten. Im Büro, an der Bushaltestelle, im Restaurant – alles Beispiele für soziale Situationen, in denen wir eine …

„Wir alle spielen Theater“, sobald wir aus der Tür in die Öffentlichkeit treten. Im Büro, an der Bushaltestelle, im Restaurant – alles Beispiele für soziale Situationen, in denen wir eine bestimmte Rolle erfüllen und Regeln beachten müssen. Falls nicht, könnten diese Situationen schnell ins Chaos kippen. Der kanadische Soziologe Erving Goffman, von dem das Bild des Theaterspielens stammt, nennt unsere Auseinandersetzung mit solchen Regeln des Alltags Rahmenanalyse.

In zwölf szenischen Miniaturen durchbrechen die Figuren in Anna Mantzaris‘ Kurzfilm „Enough“ genau diese sozialen Rahmungen: Sie schmeißen den Computerbildschirm aus dem Fenster, werfen sich aus dem fahrenden Auto, drücken ihren Gästen den Spaghettiteller ins Gesicht. Die liebevoll gestalteten Filzmenschen geben ihren Gefühlen und Impulsen nach, ohne sich den Konsequenzen zu stellen. Sie sprengen aber nicht nur Rahmen, sondern gehen auch sinnlichen Verlockungen nach. In kindlicher Naivität liefern ihre Handlungen Antworten auf die Fragen: Ist der dichte Vollbart meines Gegenübers eigentlich brennbar? Oder: Wie fühlt sich die tiefrot leuchtende Herdplatte an, wenn ich meine Hand darauf lege?

Die gefilzte Wolle, aus der die Figuren bestehen, erweist sich ebenfalls als widerspenstiges Element. Zwischen jedem Einzelbild bewegen sich kleine Härchen auf den Körpern oder den Köpfen der Puppen. Sie wabern in den Einstellungen, die Falten ihrer Kleidung verselbstständigen sich, statt sich einer glatten Animation zu fügen. Damit untermauert schon das Material den absurden Witz, der aus jeder Episode des zweiminütigen Films hervorscheint. Die Handlungen der einförmigen Hemd- und Blusenträger/-innen wirken in ihrer Welt maximal deplatziert – und trotzdem nachvollziehbar. Ihr Übriges tut dabei das Setting einer namenlosen grauen Stadt. Jene minimalistisch gestalteten Innenräume sowie die Häuserfassaden in verblassten Pastelltönen sind von der filmischen Welt des schwedischen Regisseurs Roy Andersson inspiriert, wie Mantzaris in Interviews betont.

Ähnlich den Figuren in „Enough“ verzweifeln Anderssons Protagonistinnen und Protagonisten auf ebenso humorvolle Weise an der profanen Alltäglichkeit ihrer Welt. Zwischen der ultima ratio des Selbstmordes und einem Einkauf im Supermarkt liegt bei ihm eine kaum merkliche Grenze. Doch der Drastik in Anderssons Filmen wie „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ stellt seine Landsfrau Mantzaris einen Moment der Kontemplation entgegen. Die rundliche Frau im Bus hält noch einmal inne, die Filzhand zum Schlag erhoben, bevor sie dem Störer das Handy umso energischer vom Ohr haut.

Dieses Innehalten kann aber auch in Zärtlichkeit und Solidarität umschlagen. So kuschelt sich ein Mann in der Schlange vor dem Bankautomaten – alle Goffman’schen Rahmen sprengend – an das lange Haar seines tätowierten Vordermanns. Und wenn am Ende eine Frau aus Ärger über den verpassten Bus ihre Einkäufe fallen lässt und sich auf den blanken Asphalt legt, scheint das Phänomen um sich zu greifen: In solidarischer Geste gegen die Mühseligkeit des Alltags legt sich ein Fremder in Hemd und Krawatte wie selbstverständlich daneben.

Diese Kritik ist zuerst erschienen auf: Kinofenster.de.

65. Kurzfilmtage Oberhausen

( , Regie: )


von Redaktion

Vom 1.-6. Mai 2019 fanden in Oberhausen die 65. Internationalen Kurzfilmtage statt. Valentina Smirnova und Ricardo Brunn waren vor Ort und berichten an dieser Stelle über ihre Eindrücke sowie einzelne …

Vom 1.-6. Mai 2019 fanden in Oberhausen die 65. Internationalen Kurzfilmtage statt. Valentina Smirnova und Ricardo Brunn waren vor Ort und berichten an dieser Stelle über ihre Eindrücke sowie einzelne Filme, die ihnen in besonderer Erinnerung geblieben sind.

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Elvis: Strung Out

(R: Mark Oliver; CAN 2018)

Kampf der Titanen
1973 war kein gutes Jahr für den King. 1974 konnte da nur besser werden und seine ersten Konzerte schienen vielversprechend. Im Juli dann ein seltsamer Karateauftritt, der Jahrzehnte später nur noch von der Vorstellung eines übergewichtigen Steven Seagal in den Schatten gestellt werden konnte. Am 2. September dann das legendäre „Desert Storm“ Konzert – das letzte und deshalb größte seiner Las-Vegas-Auftritte im Hilton Hotel des Jahres 1974. In einer Pause zwischen den Liedern greift Elvis Gerüchte auf, die in den Tabloids über ihn verbreitet werden. Er sei ausgebrannt und heroinabhängig, weshalb einige Konzerte abgesagt werden mussten. Dabei, so stellt er richtig, habe er nur Grippe gehabt. Alles sei erfunden. Er sei niemals auf Drogen gewesen. Musik sei die einzige Droge in seinem Leben. Das Problem: Elvis war voll drauf, als er seine schweißtriefende Rede hielt.

In „Elvis: Strung Out“ hat sich der Kanadier Mark Oliver die ikonische Pausenansprache des „King“ genommen und mit den Aufnahmen einer Show aus dem Jahre 1970, Elvis war damals noch in bester Form, kombiniert. Getarnt als Musikvideo, gelingt Oliver in gerade einmal 4 Minuten, unterlegt von einem ansteckenden Funk-Loop, eine hypnotische Meditation über den Starkult, in der Totalabsturz und Ekstase sich besoffen die Hand reichen. Die Montage jongliert mit den visuellen und akustischen Versatzstücken. Das auf der Bühne tobende Geschehen macht die akustischen Darbietungen eines paranoiden und neurotischen Elvis vergessen, obwohl der Beinahezusammenbruch in der Stimme deutlich zu hören ist. Stattdessen wird ein selbstzerstörerischer Elvis umso mythischer. Konstruktion, Dekonstruktion und Wiederauferstehung, „Elvis: Stung Out“ entwickelt aus einem Moment schroffer Trostlosigkeit der Popkultur einen atemberaubender Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Ein akustischer Elvis zerlegt den visuellen und überhöht ihn damit nur noch.

Letztlich, und auch davon erzählt Mark Oliver mithilfe der morbide Performance eines Abends im September, haben Wahrheit und Wirklichkeit im Zirkus der popkulturellen Eitelkeiten keinen Platz. Beständig kehren sich die Kräfte in ihr Gegenteil. Alles ist Inszenierung und alle spielen mit. Und so kann auch ich nicht genug von Elvis kriegen, schaue mir ihn wieder und wieder an. Scheißegal, ob er nun strung out ist oder nicht. Geschichte wird gemacht, es geht voran!

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Facade Colour: Blue

(R: Oleksiy Radynski; UKR 2019)

von Valentina Smirnova

Im Rhythmus des Kapitals
Eine Baustelle. Pfähle, Gerüste, Arbeiter und Maschinen. Monotone Geräusche der Arbeit. Ein alter Mann, der Architekt Florian Jurjew, schaut in Regenmantel und Baskenmütze durch ein großes Fenster auf die Szenerie, beobachtet, was passiert. Er betrachtet die Baustelle von einem seiner eigenen Gebäude, erbaut im Jahre 1971, aus. Die Bewohner der Stadt nennen dieses Gebäude liebevoll „Fliegende Untertasse“, da das Herzstück des Bauwerkes den bekannten Bildern von Ufos ähnelt. Während des Baus wurde Jurjew von den Bauarbeitern gesagt, dass es unmöglich sei ein solches Gebäude zu bauen, dass es in sich zusammenfallen würde. Er hat es trotzdem geschafft. Jetzt ist er nur als Beobachter da. Aus der Grube nebenan soll ein Einkaufszentrum erwachsen. Das Ufo soll ohne Jurjews Zustimmung ein Teil der Mall werden: sie wird in seine Schöpfung beißen, sie zerstören.

Oleksiy Radynski erzählt in seinem Film vom Leben eines Gebäudes und seines Schöpfers und macht zugleich einen Rundgang durch die Welt der modernen sozialen und wirtschaftlichen Situation in der Ukraine. Die Geschichte entfaltet sich vor dem Hintergrund der ständig laufenden Bauarbeiten, die zum Leitmotiv des gesamten Films werden. In der Tat sehen wir als Zuschauer*innen jedoch keinen Akt einer neuen architektonischen Schöpfung. Die Kamera zeigt uns stattdessen – neben besagter Baustelle – nur, wie Jurjews Werk für den Kommerz Stück für Stück auseinandergenommen wird. Dazu geben Diskussionen mit Politikern einen Einblick in die Art und Weise, wie das Neue mit dem Alten umzugehen gedenkt: am besten gar nicht. Unerschrocken ergreift Jurjew das Wort in holzvertäfelten Meetingrooms und kann sich am Ende nur wundern, welche kruden Ideen die Bürokraten haben und wie das Architekturverständnis der Investoren von mit der Festlegung der Fassadenfarbe endet.

In den Gegensatz dazu stellt der Regisseur die Werkstatt von Florian Yuriev, das ein Portal zu einer sorgfältig durchdachten, fast magischen Welt aus Farben und Tönen ist. In seinem Atelier gibt Florian Jurjew Einblicke in sein synästhetisches Konzept, in der er Architektur mit Musik vergleicht, die ohne Rhythmus nicht existieren kann. Seiner Theorie nach sollte jedes Gebäude wie jede Musikkomposition einen Rhythmus haben. Gleichzeitig wird sein Opus Magnum durch das Zerlegen und Zertrümmern des angedachten Rhythmus beraubt.

“Gehen wir vorwärts oder rückwärts?” – fragt Florian Jurjew sein Publikum und meint die Frage im Angesicht der Umstände ironiefrei rhetorisch. Er ist ein trauriges Symbol für blinden Fortschritt, der sich nicht für das Verlangen interessiert, das Unmögliche möglich und das Schöne sinnlich erfahrbar zu machen. Was bleibt, ist Unverständnis und Empörung über den überwältigenden, uneingeschränkt wütenden Kapitalismus, in dem die Fassade des „Ufos“ am Ende blau sein wird, einfach weil blau die Lieblingsfarbe des Geldgebers ist.

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China Not China

(R: Dianna Barrie, Richard Tuohy; AU 2018)

von Ricardo Brunn

Instabiler chinesischer Futurismus
1997 wurde Hongkong an China zurückgegeben und mit der Erklärung „Ein Land, zwei Systeme“ zur Sonderverwaltungszone. Jegliche wirtschaftliche und politische Einmischung durch Festlandchina wurde für 50 Jahre unterbunden. Doch bereits seit 2003 blendet Festlandchina eines der Systeme langsam aus: So wurden Medienunternehmen von festlandchinesischen Firmen gekauft und die für 2017 in Aussicht gestellten freien Wahlen mit einer Änderung der Politik behindert. 2014 kam es deshalb zu Protesten der pro-demokratischen Regenschirm-Bewegung. Noch komplexer ist die Situation in Taiwan, das offiziell Republik China heißt, tatsächlich ein eigener (demokratischer) Staat ist, aber von der Volksrepublik China als solcher nicht anerkannt wird. Während Xi Jinping von einem „historisch gewollten“ Anschluss spricht und seit Jahren mehr als 1000 Raketen auf das Land richtet, rief Taiwans Präsidentin Tsai Ing-Wen Festlandchina zuletzt in ihrer Neujahrsansprache 2019 auf, die „Existenz als Taiwan“ anzuerkennen.

Diesen Zustand des Konkurrierens mehrerer Narrative, des Überlappens unterschiedlicher Wirklichkeiten übersetzt „China Not China“ von Dianna Barrie und Richard Tuohy in sich überlagernde Bilder. Flächen und Linien der gezeigten Straßenansichten fließen in ihrem Kurzfilm mithilfe von Mehrfachbelichtungen ineinander und lassen futuristische Aufnahmen voller verdoppelter, verdreifachter, verzehnfachter Bewegungen entstehen, die sich in der eingesetzten Zeitlupe der Wirklichkeit zusätzlich entziehen. Es sind dreizehn Minuten, in denen in den Schichtungen der Bilder gar nicht viel geschieht und doch eben alles. Fast immer sind es Kreuzungen, aufgenommen in Hongkong und Taipeh, über die die Kamera von links nach rechts hinweg schwenkt und die zu einem undurchdringlichen Wirrwarr verschmolzene Verkehrs- und Menschenströme zeigen. In der übereinandergelegten Wiederholung des Immergleichen lösen sich die Individuen in der Masse und die Dreidimensionalität in der Fläche auf. Die Stadt wird zu einem Netz, das gerade noch Bewegungen von A nach B erkennen lässt. Die Kreuzung als Weggabelung kann hier genauso als Symbol für den Scheideweg, den Moment des Übergangs gesehen werden, wie die unbeständigen, wabernden Strukturen in den Bildern auf den radikalen Wandel der chinesischen Gesellschaft verweist, der einen Halt bietet, der kein Entkommen zulässt.

Alle Effekte in „China Not China“ sind in der Kamera entstanden. Nichts wurde in der Postproduktion hinzugefügt oder verändert. An den Rändern einzelner Einstellungen wird der Mehrfachbelichtungsprozess für Bruchteile von Sekunden sichtbar, wenn einige der geschichteten Bilder plötzlich verschwinden. Das Netz bricht auf und rückt einen Blick hinter die dichte Fassade in den Bereich des Denkbaren. Diese brüchigen Momente bilden wichtige Ankerpunkte beim Schauen. Sie machen ein wenig Hoffnung auf das Andere in einem Film, der zusätzlich zu seiner visuellen Dichte von einem beinahe bedrohlichem und in einem Loop gefangenen Ambient eine hypnotische Kraft ausübt, die einen alles vergessen lässt. Und nicht zuletzt ist es das Filmmaterial selbst, das in seiner Fragilität, seiner Instabilität diese Hoffnung unterstützt.

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FragMANts

(R: Art Collective Neozoon; GER 2019)

von Valentina Smirnova

This is so amazing! My hands are shaking!
Lächelnde Gesichter und rhythmische Bewegungen. Berühren, streicheln, klopfen. Alles mit den Fingerspitzen. Dutzende von Videos: eine Frau, die gerne eine Kosmetikflasche streichelt. Ein Mann, der seinen behaarten Bauch schlägt. Ein anderer Mann, der in Militärstiefeln Videokassetten zerstampft. Unboxing. ASMR und alle sind excited. Wie im Klipp-Klapp-Buch öffnen sich dem Publikum immer neue Ausschnitte aus YouTube-Videos, übereinandergestapelt, bis aus den Fragmenten ganze Körper moderner Konsumenten entstehen. Ekstatische Ausrufe, die darauf abzielen, ein „unaussprechliches“ Vergnügen zu vermitteln vermischen sich mit den rhytmischen Geräuschen, die die Protagonist*innen machen zu einem immer weiter anschwellenden Beat.

“FragMANts” ist ein direkter und aggressiver Film über eine direkte und aggressive Konsumkultur der modernen Gesellschaft westlichen Typs. Die Mitglieder*innen des Art Collective Neozoon forschen in ihrem Film zu Konsumismus als Religion. Die aus den Wortfetzen, Lachern und Geräuschen entstehende gleichförmige Musik zeigt die Ritualisierung des Konsums: wie die Menschen Tag für Tag einer bestimmten Trajektorie der Konsumerfahrung folgen, von Video zu Video, wiederholen sie sich selbst und reproduzieren so den Konsumwahnsinn bis er zur verstörenden Endlosschleife wird.

Die Filmmacherinnen zeigen eine virtuelle Welt, deren Realität zugleich auf der Realität des Geschehens basiert: Vlogger müssen reale Objekte ihres Konsums zeigen, verschiedene Dinge wirklich anbeten oder zerstören, um sie zu fetischisieren und ihren eigenen Körper als Teil dieser Erfahrung darstellen. Einerseits erweist sich die Erstellung von Content dieser Art in vielen Fällen als eine rein individuelle Erfahrung in einer Situation, in der der Vlogger theoretisch keine technische Hilfe von jemand anderem benötigt. Zugleich gelingt es dem Film damit auch eine Art „Fragmentierung“ der Gesellschaft zu zeigen: es gibt einen Bildschirm, einen YouTube-Kanal, eine (immer nur im Ausschnitt zu sehende) Vloggerin und das Publikum auf andere Seite des Monitors.

Der Konsum, der allmählich den ganzen Körper in diesen Prozess einbezieht, wird in „FragMANts“ zu einem „körperlichen“ Konsum. Er erfasst das ganze Sein und macht die Zuschauer*innen zu Komplizen. Die Musik wird schneller, die Bewegungen beschleunigen sich und schließlich wird der Film zu einer surrealistische Trance-Erfahrung bis nur noch teuflisches Lachen bleibt, das so ansteckend wie der Konsum selbst ist.

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Provence

(R: Kato De Boeck; BE 2018)

von Ricardo Brunn

Das Geheimnis eines Sommers
Die Blumen blühen und die Bienen summen. In den Sommerferien stromern Camille und ihr großer Bruder Tuur über einen Campingplatz in der Provence. Morgens waten sie durch ein Flussbett unter sanft im Wind sich wiegenden Bäumen, nachmittags albern sie im Swimmingpool herum und nachts spielen sie unter dem schwachen Licht einer Taschenlampe „Wahrheit oder Pflicht“, bei dem sich herausstellt, dass Tuur nicht nur keine Geheimnisse verheimlicht, sondern angeblich gar keine hat. Dass das nicht stimmen kann, vermutet Camille sofort. Komplizierter wird es, als sie in den kommenden Tagen um die Aufmerksamkeit ihres Bruders kämpfen muss, weil zwei niederländischen Mädchen in hübschen Bikinis seine Aufmerksamkeit absorbieren.

Konsequent erzählt Regisseurin Kato De Boeck in ihrem Film das Erwachsenwerden des Bruders aus der Sicht der 11-jährigen Camille. Hilflos muss sie mit ansehen, wie sich Tuur mehr für die neuen Mädchen interessiert und beginnt sich seltsam zu verhalten. In einem anfangs unbeschwerten Urlaub wird Camille zum fünften Rad am Wagen, das plötzlich nichts mehr versteht, Teenager in der Dusche belauscht und den Bruder frustriert mit Schlägen eindeckt. Erwachsene tauchen zu keinem Zeitpunkt auf, fallen als ordnende und erklärende Instanzen für Camille also aus. Und so vergrößert sich die Distanz zum geliebten Bruder immer mehr. Kann man denn gar nichts gegen dieses Erwachsenwerden tun?

Zugleich wachsen Camille und Tuur aber enger denn je zusammen. Denn natürlich hat Tuur ein Geheimnis. Es ist eben nur ein vollkommen anderes als Camille dachte. Und Kato De Boeck hat mit ihrer Inszenierung die Zuschauer*innen ebenfalls auf die falsche Fährte gelockt. Sie selbst war einst Camille und erzählt in „Provence“ von einem Sommer, der ihr Leben verändert hat. Dabei gelingt es ihr in den luftigen und sonnendurchfluteten Bildern feinsinnige Gesten einzufangen, die Kindheit und Erwachsensein nicht als Opposition oder das Erwachen der Jugend als Bruch begreifen und selbst ein so grausam peinliches Spiel wie „Wahrheit oder Pflicht“ zu einem unvergesslich schönen Erlebnis machen.

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The American Bull

(R: Fatemeh Tousi; UKR 2019)

von Ricardo Brunn

Zum Beispiel Lord
Teenager Saheb lebt in einem iranischen Dorf nahe der Grenze zum Irak. Sein ganzer Stolz ist ein amerikanischer Bulle – der einzige weit und breit. Das potente Tier mit dem bescheidenen Namen Lord wird von Saheb liebevoll umsorgt und von den Kindern im Dorf gefeiert, denn regelmäßig kommen die Menschen aus den umliegenden Ortschaften, um den Bullen für ein paar Stunden mit ihren Kühen zusammen zu bringen. Sie alle bezahlen gutes Geld, das Saheb und seine Mutter ein Auskommen in der ärmlichen Region sichert. Doch das einträgliche Geschäft nimmt eine jähes Ende, als Lord nicht mehr so tut, wie er soll. Plötzlich steht nicht nur das Einkommen der Familie auf dem Spiel.

Genau in der Mitte von „The American Bull“ vollzieht sich eine dramatische Wendung, wird Lord vom „Hengst“, über den alle reden, zum gebrochenen Charakter. Fiel die Identifikation mit dem jungen Saheb bis dahin schwer, auch weil das Schauspiel nahezu aller Figuren sehr zu wünschen übrig lässt, findet der Wunsch nach Bindung auf einmal festen emotionalen Boden in den Augen dieses Bullen und verändert den Blick der Zuschauer*innen auf die Situation dramatisch. Aus dem anonymen Nutztier wird mit einem Mal ein Lebewesen, das widerstandslos alles erträgt, alles hinnimmt. Ein Arzt wird gerufen. Schnell wird klar, Lord ist älter als Saheb dachte oder sich eingestehen wollte. Was nun? Müde schaut Lord seinem Schicksal entgegen, das der ratlose Saheb nun widerstandslos ertragen und hinnehmen muss. An diesem Punkt werden Besitz und Besitzer, Mensch und Tier unterschiedslos.

Die Diagnose des Tierarztes lässt zudem alle Illusionen wie Sand durch die Finger rinnen. Plötzlich muss der vaterlose Saheb dem Ende der Kindheit ins Auge schauen. War Lord bisher noch eine Art Ersatz (zumindest in physischer Hinsicht), ist der Junge nun endgültig „der Mann im Hause“. Zugleich war der amerikanische Bulle für die Menschen im Dorf auch Projektionsfläche für den amerikanischen Traum. Einmal bekommen Saheb und seine Freunde Coca Cola von einem Nachbarn geschenkt, ein anderer wünscht sich Amerikaner zu sein, um dann ebenfalls die meiste Zeit des Tages in der „Hochzeitssuite“ verbringen zu können. So wird Fatemeh Tousis Film auf unterschiedliche Weise zu einem Film über das Erwachen.

Auf den ersten Blick unscheinbar ist „The Amercian Bull“ in seiner nüchternen Attraktionslosigkeit ein unverschämt berührender Film, an dessen Ende Saheb mit Lord in der Abendsonne am Flussufer steht. Niemand ist mehr da, um den Bullen anzujubeln. Allein wäscht der Junge sein Tier, nimmt ihm die improvisierte Krone für immer ab. Wozu einen Bullen lieben, der zu nichts mehr zu gebrauchen ist. Es ist ein Moment bedingungsloser Liebe und ein Abschied.

65. Kurzfilmtage Oberhausen

( , Regie: )

Emulsionsemotionen
von Ricardo Brunn

Vom 1.-6. Mai 2019 fanden in Oberhausen die 65. Internationalen Kurzfilmtage statt. Valentina Smirnova und Ricardo Brunn waren vor Ort und berichten über ihre Eindrücke sowie einzelne Filme, die ihnen …

Vom 1.-6. Mai 2019 fanden in Oberhausen die 65. Internationalen Kurzfilmtage statt. Valentina Smirnova und Ricardo Brunn waren vor Ort und berichten über ihre Eindrücke sowie einzelne Filme, die ihnen in besonderer Erinnerung geblieben sind.

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Emulsionsemotionen
von Ricardo Brunn

Am 4. April 1986 explodierte die Reaktoreinheit 4 des Kernkraftwerkes Tschernobyl. Drei Tage später flog der Regisseur Wladimir Schewtschenko mit einem Hubschrauber über die Unfallstelle und begleitete die ersten Dekontaminationsbemühungen vor Ort. Als Shevchenko das 35-mm-Filmmaterial später entwickelte, bemerkte er, dass Teile weiße Flecken aufwiesen, die beim Projizieren wie kurze Lichtblitze aussahen und die Tonspur störende statische Geräusche enthielt. Er und sein Team gingen zunächst von fehlerhaftem Rohfilmmaterial aus, bis klar wurde, dass der Film auf die Radioaktivität reagiert hatte. In „Chernobyl – Chronicle of Difficult Weeks“ (SU 1987) kann man die tödliche Strahlung sehen und hören. Ein Vierteljahr drehte Schewtschenko in direkter Umgebung des beschädigten Kernkraftwerkes. Die Premiere seines Filmes in Kiew 1987 erlebte er noch. Wenig später verstarb der Regisseur in einem Hospital für Strahlenkranke.

Auf den Umstand, dass nicht nur die Fotografie oder der Film, sondern auch das Filmmaterial selbst wie eine Haut sei, also etwas Lebendiges, beinahe Menschliches besitze, wurde in der Film- und Fotografietheorie schon mehrfach hingewiesen. „Chernobyl – Chronicle of Difficult Weeks“ verdeutlicht diese Analogie auf grausame Art, wenn das kontaminierte Filmmaterial, welches im Grunde genommen Symptome der Strahlenkrankheit aufweist, den Tod des Regisseurs antizipiert. Und vielleicht ist es diese Brüchigkeit – die Lebendigkeit und damit auch Vergänglichkeit zu belegen scheint – die uns nach wie vor fasziniert und das Interesse am Zelluloidfilm nicht nur wach hält, sondern seit einigen Jahren wieder anwachsen lässt. So haben sich in jüngster Zeit weltweit etwa 40 selbstgeleitete Künstlerlabore, die für eine neue Praxis der kollektiven Organisation von Produktionsmitteln für mit Film arbeitenden Künstlern und Filmemachern eintreten und das photochemische Wissen, die Vermittlung und die Technik am Leben halten, gegründet und auf filmlabs.org miteinander vernetzt. Bereits zum zweiten Mal zeigten einige dieser Labs eine Auswahl ihrer filmischen Arbeiten bei den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen, in deren Zentrum dieses Jahr der analoge Film stand.


„The Sound Drifts“ (FR 2019) von Stefano Canapa

Dass eine junge Generation von Regisseur*innen, die größtenteils im digitalen Zeitalter zum Filmemachen gekommen ist und sich nach der Erforschung dieser glatten und hochauflösenden Welt nun dem Zelluloid zuwendet, lässt sich seit einiger Zeit schon beobachten und wurde in Oberhausen entsprechend des übergeordneten Themas auch in den Moderationen immer wieder herausgestellt. In den Wettbewerben tummelten sich mit „China not China“ (R: Dianna Barrie, Richard Tuohy; AU 2018), „The Sound Drifts“(R: Stefano Canapa; FR 2019), „Scenes from a Transient Home“ (R: Roger Horn; ZA/ZW 2019), „Caída“ (R: Melisa Aller; ARG 2019) oder auch „A Return“ (R: James Edmonds; D 2018) und „TV“ (R: Richard Reeves; CAN 2018) Werke, in denen Filmmaterial direkt bearbeitet wurde oder die auf Film gedreht und zum Teil auch auf 16mm oder 35mm vorgeführt wurden und die spezifischen Eigenheiten des Zelluloids oder der technischen Apparatur aufscheinen ließen.

Nahezu in Gänze auf Film wurden die kurzen Werke des leider etwas verunglückten Themas „Die Sprache der Verlockung: Trailer zwischen Werbung und Avantgarde“ präsentiert. Die acht Programme boten Klassiker und Befremdliches, zeigten ansatzweise Entwicklungen und Besonderheiten auf: die Einbindung von Aufnahmen der Dreharbeiten, minutenlange Ansprachen durch Produzenten, witzelnde Regisseure oder absichtliche Provokationen. Der Einbezug von Trailern jüngeren Datums, die einen Vergleich oder die Weiterentwicklung belegen hätten können, fehlten jedoch ebenso wie ein umfassender, globaler Blick auf das Phänomen. Die beschränkte Sicht auf das amerikanische Kino konnte auch von den beiden Kurator*innen Cassie Blake und Mark Toscano auf Nachfrage des Publikums nicht ausreichend begründet werden. Damon Packards Persiflagen auf das Trashkino der 80er-Jahre waren ermüdend in ihrer Redundanz. Stellenwert der Sektion, Umfang und Inhalt liefen mit jedem neuen Programm dann zunehmend auseinander. In Erinnerung bleiben wird „The Best of May“ (USA 1972), eine Kompilation aus Bombenabwürfen während des Vietnamkrieges, die ein Schock für das Publikum des Ann Arbor Film Festivals gewesen sein muss, auf dem der „Trailer“ damals als aktivistische Geste erstmals gezeigt wurde. Außerdem sind es die Spuren der Abnutzung der Trailer, die sich ins Gedächtnis brennen, weil es diese sichtbaren Zeugnisse der Vergänglichkeit heute im Kino so gut wie gar nicht mehr gibt und sie einmal mehr auf die Kurzlebigkeit des Trailers als reinem Werbemittel verweisen und die wichtige Arbeit der Archivierung und Restaurierung ins Gedächtnis rufen.

Was die Arbeit mit Filmmaterial so einzigartig machen kann, vermittelte sich in Oberhausen über eine Auswahl des erstmals in Europa gezeigten Werkes der japanischen Künstlerin und Filmemacherin Kayako Oki. Die studierte Textildesignerin spürt in ihren filmischen Werken der Stofflichkeit des Schmalfilmmaterials nach, färbt schneidet und klebt als wären ihre Filme für das Tragen auf der Haut gemacht. Es sind zarte experimentelle Farbräusche und Meditationen, die liebevoll den Prozess der Filmentstehung abbilden und die eigene Vergänglichkeit selbstbewusst in sich tragen. Insbesondere in ihrem Werk wird greifbar, was der Verlust des analogen Filmmaterials tatsächlich bedeuten würde: Ohne den Zelluloidfilm gäbe es bestimmte Filme einfach nicht. Und ohne den Zelluloidfilm wird es sie in Zukunft auch nicht mehr geben.


„Shades of Safflower-dyed Celluloid“ (JP 2015) von Kayako Oki

Abseits aller nostalgischen Gefühle, die Filmemacher wie Christopher Nolan oder Quentin Tarantino mit Zelluloid verbinden und abseits der haptischen Erfahrung am Filmset und im Schnittraum, die eine direkte Auswirkung auf den Umgang mit Film und dessen Entstehung (also auch das Denken in konkreten Bildern) haben, bedeutet der Verlust des Trägermaterials Film den Verlust der Möglichkeiten mit dem Material zu arbeiten und zu experimentieren. Der Einsatz von Chemikalien, das Ausbleichen in der Sonne, Zerkratzen, Zerstören, Überkleben, die Herstellung eigener Emulsionen, Mehrfachbelichtungen, Fotogramme und all die zufälligen Effekte, die das Unplanbare mit sich und einzigartige Filme hervorbringen – nichts von all dem könnte dann noch gemacht werden.

Das digitale Kino kennt keine Experimente dieser Art und keinen Prozess, es kennt nur das komplexitätsarme Duo 0 und 1 als anwesend und abwesend, als an und aus, das durch Strg+Z immer kontrollier- und also berechenbar ist. Das kann durchaus seinen künstlerischen Reiz haben. Aber das Werden, das Erleben, das Erfahren oder die Gewissheit, dass auch das Zelluloid an der Welt und in der Zeit erblühen und vergehen kann sind hier ausgelöscht. Dabei besteht die Poetik des Bildes in seiner Unsicherheit, seiner anderen Zeitlichkeit und dem konstanten Spiel mit dem Nichtwissen – und dem Hoffen. Wer schon einmal einen Rollfilm im Labor seines Vertrauens abgegeben hat und zwei Tage auf die entwickelten Bilder warten musste, kennt dieses Gefühl.

Doch gerade im Moment seines Verschwindens, wenden sich Filmemacher*innen dem Zelluloid wieder zu und suchen nach den Potentialen dieses einzigartigen Trägermaterials. Und es bleibt zu hoffen, dass die Filme Kayako Okis und anderer, die Arbeit der Künstlerlabore und das sorgfältige Kuratieren solcher Themen längerfristig dazu führen, dass das Verschwinden des Zelluloids da aufgehalten wird, wo es beginnt: in der Herstellung des Rohfilmmaterials. Denn mal ehrlich: Wer kann schon ohne Haut leben?

Hier geht es zu einzelnen Filmkritiken von Valentina Smirnova und Ricardo Brunn.

64. Kurzfilmtage Oberhausen

( , Regie: )


von Redaktion

Vom 3.-8. Mai 2018 fanden in Oberhausen die 64. Kurzfilmtage statt. Ricardo Brunn war als Mitglied der FIPRESCI-Jury vor Ort und berichtet hier über einzelne Filme und seine Eindrücke. Daneben …

Vom 3.-8. Mai 2018 fanden in Oberhausen die 64. Kurzfilmtage statt. Ricardo Brunn war als Mitglied der FIPRESCI-Jury vor Ort und berichtet hier über einzelne Filme und seine Eindrücke.

Daneben finden sich in diesem Bericht Rezensionen von StudentInnen der Humboldt Universität zu Berlin, die im Rahmen des Filmkritik-Seminars „Der andere Text“ eine Exkursion zu den Kurzfilmtagen unternommen haben und in Zusammenarbeit mit der Filmgazette die Möglichkeit hatten, die Theorie in die Praxis zu überführen.

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Kampf der Welten

von Ricardo Brunn

„Did you see it come down?“
Einmal im Jahr schlägt in Oberhausen ein Meteorit ein, der sich als Raumschiff entpuppt und ein paar Tage Verwirrung stiftet. Staunend, ratlos, manchmal wütend und nicht selten schulterzuckend schaut man auf dieses Etwas. Es ist eine Invasion, die hier stattfindet. Ein Einbruch des Films als Kunst in die Realität einer Arbeiterstadt mit mehr als 200.000 Einwohnern, von denen man selbst im allerschlimmsten Berufsverkehr kaum etwas mitbekommt und die im Festivalbetrieb überhaupt nicht anzutreffen sind. Nirgendwo ist ein Filmfestival so sehr Fremdkörper wie in Oberhausen, einer Stadt ohne Kunsthochschule und Universität. Nirgendwo wird deutlicher wie sehr das Kino seinen Stellwert in der Gesellschaft verloren hat. Gleich nebenan in Bottrop wird noch in diesem Jahr die letzte Zeche geschlossen, was Fragen nach der Zukunft des Ruhrgebiets akut macht. Wen interessiert da schon das Kino?

„Was könnte der Beitrag des Kinos für die Gesellschaft sein, wenn die Nachfrage nach Kino in der Gesellschaft erkennbar abnimmt, also nach dessen sozialisierender Rolle?“, fragt auch Lars Henrik Gass in seiner Eröffnungsrede. „Gute Filme zu zeigen ist also nicht mehr gut genug. Die Versuchung ist daher groß, alles auf Nachfrage abzustellen. […] Der Weg, den wir gehen, führt ins Kino als Erfahrungsraum. Wir denken darüber nach, was Kino der Effizienzmaschine Internet noch entgegensetzen kann“, lautet seine Antwort.
Dem Kino in Oberhausen liefert man sich aus. Sich Zeit nehmen bedeutet hier nicht, 90 Minuten in einem dunklen Raum zu sitzen und dann wieder heim zu gehen. Es bedeutet, sich den ökonomischen Dimensionen der Zeit zu entziehen, Zeit vielleicht auch zu verschwenden, weil die Gegenleistung, der kurzfristige benefit, einfach ausbleibt. Manchmal ist es ein Kampf, das auszuhalten.

Die Radikalität, die das Festival und seine Filme (vielleicht genau aus diesem Grund) auszeichnet, hat dabei etwas Ritualisiertes. Wenn Rituale nun aber die Unberechenbarkeiten menschlichen Handelns vermindern sollen, dann entsteht an dieser Stelle ein Widerspruch. Denn Radikalität und Tradition schließen einander aus. Erstere ist nicht an Wiederholung und Dauer gebunden und kann deshalb auch kein Dauerzustand sein. Sie lebt von der Spontanität, vom Eruptiven und anschließenden Abklingen und neu ordnen. Und so weiß man nie so recht, was dieses Festivalraumschiff von einem will, hängt man immer auch ein wenig in der Zeit, zwischen den Filmen und Bildern, fragt sich manchmal auch, ob für einige Filme die große Leinwand nicht einfach der falsche der Kontext ist. Aber so ist das mit Invasionen; sie operieren an Grenzen und verschieben diese.

2018 jährt sich die Invasion nun zum 64. Mal, ein Jahr vor dem Übertritt ins Rentenalter stehen die Kurzfilmtage jetzt. Aber bekanntermaßen fängt das Leben ja erst mit 66 Jahren an. Abschied und Anfang liegen dieser Tage in Oberhausen also sehr nah beieinander, wird mit der Reihe „Abschied vom Kino“ zurück geblickt und vielleicht ist der Abschiedsmodus ein Dauerzustand spätestens seit der Postmoderne. Vielleicht ist jeder Text seither ein Quasi-Abschied vom Kino. Aber Abschied ist immer zugleich auch Aufbruch.

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Profile: Vatamanu & Tudor: Rite of Spring (R: Mona Vatamanu, Florin Tudor; ROM 2010)

von Ricardo Brunn

Zündelnde Jugend in zerfallener Stadt
Pappelflaum treibt durch die Straßen, wird vom Wind aufgewirbelt, sammelt sich schließlich am Bordstein in dichten Wolken. Plötzlich fängt er Feuer, jagen Flammen über das buschige Weiß, löschen es aus noch bevor es gänzlich zur Ruhe kommen konnte. Es sind, das wird in den folgenden Einstellungen klar, Kinder und Jugendliche, die die Pappelwolle in Brand stecken, immer wieder aufs Neue.

Gedreht auf Super8-Material beschwören die amateurhaften Bilder die Erinnerungen an die eigene Kindheit, das zeitverlorene Herumstromern und Sichverlieren in immergleichen Dingen, das Leben in einem Zwischenstadium hinter dem sanften Schleier kindlicher Unwissenheit. Und wie die Erinnerung häufig nur aus Bildern besteht, ist auch dieser etwa achtminütige Film stumm, wodurch den Bildern ein höheres Gewicht zukommt, man darin aufgehen, sich selbst und alles vergessen kann.

„Rite of Spring“ verleiht einem flüchtigen Moment durch Wiederholung Dauer, doch so schön die Szenen auf den ersten Blick anzuschauen sind, es liegt doch eine gewisse Gewalt in ihnen, die im Nichtzeigen besteht. So bleiben die zündelnden Kinder isoliert, werden aus erhöhter Perspektive betrachtet, wodurch ein soziales Umfeld, ein Horizont (auch im beinahe quadratischen Bildformat) nicht in den Blick und damit ins Bewußtsein rücken können. Einmal zeigt die Kamera ein Gebäude, verfallen, unfertig oder zerstört. Schnell wendet sich das Auge aber wieder ab, verdrängt, blendet aus.

Hoffnung und Zerstörung liegen in „Rite of Spring“ dicht beieinander. Wir schauen einer scheinbar heimatlosen Jugend zu, wie sie etwas Keimendes, Flüchtiges verbrennt. Der destruktive Charakter des Gezeigten und die im Material durchscheinenden Gespenster der Vergangenheit sowie angedeutete postkommunistische Transformationsprozesse treffen auf den Wunsch in der Wiederholung, sprich dem Ritual, Stabilität und Zuverlässigkeit zu finden. Dass die 64. Kurzfilmtage Oberhausen ausgerechnet mit diesem Film eröffnet haben, der den Frühling beschwört und ein Ritual zeigt, das Beständigkeit, Stagnation und Hoffnung zusammendenkt und hinterfragt, ist ein klares Statement der FestivalmacherInnen. Oberhausen hat sich im Alten, in der Tradition der eigenen Radikalität eingerichtet, aber darum geht es: weitermachen und immer wieder kleine Flammen entzünden. Hoffen, dass aus dem Frühling ein richtiger Sommer werden möge.

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Internationaler Wettbewerb: Saladdin Castique (R: Anssi Kasitonni; FIN 2018)

von Ilona Yafimava

Fabelhaft finnisch
Etwas Märchenhaftes, etwas Selbstgebasteltes und eine wilde Rallye – „Saladdin Castique“ hat alles, was eine gute Geschichte braucht. Der Finne Anssi Kasitonni, besser bekannt als Anssi 8000 oder Anssi der Brillenträger, überrascht bei den 64. Internationalen Kurzfilmtagen in Oberhausen mit seiner neusten Schöpfung.

Ohne aufdringlichen Anspruch auf Extravaganz fällt der Film in der Masse experimenteller Teilnehmer sofort durch seine Individualität auf. „Saladdin Castique“ überzeugt durch kindische Fröhlichkeit und wirkt, trotz übertriebener Dramatik, sehr authentisch.

Einfacher geht es gar nicht: Ein alter Mann stößt im Wald auf eine Plastikwunderflasche, lässt sich von dem Dschinn, der in ebenjener haust, drei Wünsche erfüllen, ist sehr glücklich damit und am Ende läuft alles schief – finita la comedia. Anssi 8000 würzt die klassische Handlung mit Humor und etwas Chaos, als ob er durch seine filmische Ausdrucksweise vermitteln würde: „Das ist doch alles nicht ernst gemeint!“ Diese ironische Herangehensweise schafft bei den ZuschauerInnen ein angenehmes Gefühl von Vertrautheit. Die geistige Anspannung, die wir grundsätzlich bei „ernsten“ Filmen verspüren, lässt nach und an ihre Stelle tritt die Ruhe des Betrachtens.

Was einen guten Film ausmacht ist sein Nachgeschmack. „Saladdin Castique“ ist vielleicht kein ästhetisches Wunder, er operiert auch jenseits eines gesellschaftspolitischen Anspruchs oder hochgetriebener und aufgeschäumter Moral, er stellt keine Fragen und gibt keine Antworten. Er ist einfach ein Film, der ein Lächeln hinterlässt.

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Deutscher Wettbewerb: Fest (R: Nikita Diakur; D 2018)

von Ricardo Brunn

Nach fest kommt lose
Straßenfest in Marzahn-Hellersdorf: Die übergewichtige Marionetten-Jugend ravt auf dem Parkplatz bis die Polygone fliegen. Eine Taube eiert von der Dachkante. Ein Bungeejumper knallt gegen den Eiswagen, während eine fallende Laterne den Hot-Dog-Stand zerlegt. Das Übliche eben.

Hätte Nikita Diakur seinen letzten Kurzfilm nicht bereits „Ugly“ (D 2017) genannt, wäre dies der perfekte Titel für seinen neuen Film „Fest“. Aus unterschiedlichen Perspektiven zeigt er eine Szene eines recht armseligen Straßenfestes. Die Hässlichkeit, mit der Diakur dabei den Zuschauer in seinem gerade einmal knapp dreiminütigen Animationsfilm konfrontiert, ist eine Beleidigung für das an perfekte Fassaden gewöhnte Auge. Überall scheinen die Polygonengitter durch, fehlen Texturen, sind schlecht aufgelöst oder schief auf die Objekte gepappt. Die groben, unfertigen Figuren vollführen spastische Behelfsbewegungen, tragen Frisuren, die es mit wuchernder Achselbehaarung aufnehmen können. Und all das, was nach dem Prozess des Renderns nicht mehr zu sehen ist, wird in „Fest“ zu selbstbewusster Auszeichnung: Hilfslinien, Kameras und deren Blickwinkel, Koordinaten-Pfeile.

Lieblos könnte man das nennen oder hingerotzt. Doch treibt einem „Fest“ nicht die Tränen in die Augen, sondern ein breites Grinsen ins Gesicht. Was wie eine Prävisualisierung, Stückwerk oder Work-in-Progress daherkommt, bringt das Verständnis dessen, was eine Computeranimation sein soll in angenehmes Wanken. Die Freiheiten und unendlichen Möglichkeiten der 3D-Animation führen viel zu oft in die fotorealistische Nachahmung der Welt. Nikita Diakur geht mit seinen Filmen in die entgegengesetzte Richtung, findet im Hässlichen das Schöne und stellt inmitten einer ehemaligen Fassaden-Utopie die Frage nach der Bedeutung des Äußeren im digitalen Zeitalter. „Fest“ ist ein Fest.

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Internationaler Wettbewerb: Fen Bridges: Fourty Foot of Vermuden’s Drain to the Great Ouse (R: Ellen Sampson; GB 2017)

von Ricardo Brunn

Die Adern der Moderne
Im Osten Englands erstecken sich die Fenlands, ein Sumpfgebiet, das bereits seit dem späten 18. Jahrhundert drainiert und mit Kanälen durchzogen wurde, um es für die Landwirtschaft nutzbar zu machen. Dämme umgeben das etwa 4.000 km² große Gebiet, um es vor Überschwemmungen zu schützen. Brücken verbinden es im Inneren.

Getrennt durch Bildtafeln, die chronologisch nummeriert sind, zeigt „Fen Bridges: Fourty Foot of Vermuden’s Drain to the Great Ouse“ in 29 festen Einstellungen exemplarisch 29 dieser Brücken für jeweils etwa sechs bis sieben Sekunden. Die rein funktionale Dimension der Brücke wird dabei nach und nach transzendiert, wenn im repetitiven Charakter des Filmes das Trennende und das Verbindende der Brücken gewahr wird. Die Brücke verbindet und tut dem Auge zugleich Gewalt an, weil sie (schöne) Landschaft zerteilt. In „Fen Bridges“ wird sie zum Symbol einer Urbarmachung. Ein strukturloses Land wird in der Drainage und der Kultivierung in ein Raster überführt. Die Kanäle teilen das Land in einzelne landwirtschaftliche Flächen, die Brücken verbinden dieses zuvor ungetrennte Land miteinander.

In der klaren Trennung der landverbindenden Brücken übernehmen die Bildtafeln im Film eine ähnliche Funktion wie die Brücken selbst. Sie unterteilen zum einen in Kapitel, verbinden zugleich jedoch, indem durch die Chronologie ein Zusammenhang, eine Verbindung, erst hergestellt wird. Die durch diesen Aufbau entstehende Monotonie spiegelt dann wiederum die heutige Monotonie einer einstmals wilden Landschaft. So dröge und flach „Fen Bridges“ auf den ersten Blick also scheinen mag, wie das Bauwerk Brücke als Hort vielfältiger Metaphern selbst, bietet der Film eine ungeheure interpretatorische Tiefe. Daneben kann man sich in die wunderbaren Bilder (gedreht auf körnigem Filmmaterial) auch einfach fallen lassen wie in sommerliches Gras.

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Kampf der Welten II

von Ricardo Brunn

Deutscher Wettbewerb
Noch so ein Schlachtfeld: der deutsche Film. In Oberhausen gehe ich zum ersten Mal durch und durch fröhlich aus einem deutschen Wettbewerb. Der Grund wird mir nach dem zweiten Programm langsam klar. Von den 23 Wettbewerbsbeiträgen kommt kaum ein Film von einer der großen deutschen Filmhochschulen. Die meisten stammen aus anderen Kontexten, zumeist Kunsthochschulen. Das ist erfrischend, macht Hoffnung. Man wünscht plötzlich sich einen Abschied, weil man einen Anfang gesehen hat.

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Deutscher Wettbewerb: Routines (R: Eren Aksu, D 2018)

von Lisa-Marie Eigenbrod

Atmen, Springen, Stille
Zwei langsam umeinander rotierende Hände eröffnen den 17-minütigen Dokumentarfilm von Eren Aksu. Wie der Titel schon andeutet, beschäftigt sich der Kurzfilm mit Routinen. Aber was schnell als monoton, als stinknormalen Alltag abgestempelt werden könnte, von dem fehlt hier jede Spur.

„Routines“ konzentriert sich auf die Hochspringerin Jossie. Ob in einem Sportstudio, zu Hause oder im Freien, als Leistungssportlerin steht ihr Alltag, das heißt das Training, im Mittelpunkt. Momentausschnitte fokussieren die sich immer wiederholenden Bewegungen der Athletin. Der Betrachter erhascht manchmal ein Durchatmen und Innehalten oder den Augenblick, indem sie in ihrem Kopf den perfekten Sprung wiederholt durchgeht. Konzentriert und mit festem Blick führt sie ihr Training Übung für Übung aus, stets unter Beobachtung und Kontrolle ihres Trainers.

Trotz der den Film durchlaufenden aktiven Bewegungen und dem intensiven sportlichen Programm strahlt der Film eine harmonische und ruhige Atmosphäre aus., ausgezeichnet durch den hervorgehobenen, leidenschaftlichen Bezug der Athletin zum Sport. Leichtigkeit und Eleganz dominieren den dokumentierten Alltag von Jossie – Worte die normalerweise keinen Platz in einem harten, verschwitzten Training finden. Mit wachsamen Blick dokumentiert die Kamera die einzelnen ruckartigen, aber auch grazilen Bewegungen der Sportlerin. Ästhetische Aufnahmen stellen den starken und muskulösen Körper der Protagonistin dar. Zwanglos wird der Zuschauer mit in das Spektakel des sich nie endenden Trainings hineingezogen. Die ProtagonistInnen scheinen ungestört ihrem Alltag nachzugehen, wo Unterhaltung, Lachen und Freudensprünge – nach einem fehlerfreien Set eines Hochsprungs – die Lockerheit im Umgang mit einer stets auf Aufnahme gedrückten Kamera beweisen. Eine eingehaltene Distanz impliziert gleichzeitig eine Nähe zu den beobachtenden Personen. Was für Jossie stinknormaler Alltag sein mag, wird für den Zuschauer zur abwechslungsreichen Routine.

Atmen. Springen. Stille. Worte die einem im Kopf herumschwirren, nach einer Überflutung an ungewöhlichen Kurzfilmen, mit denen auf den 64. Kurzfilmtagen Oberhausen ein unmittelbares Reizchaos kaum vermeidbar ist. Doch Eren Aksu schafft Halt in diesem Wirrwarr. „Routines“ ist ein Ruhepol der Konzentration auf das Wesentliche. Im Abspann wird Thomas Arslan in den Danksagungen als erstes genannt und die ruhige Beobachtung seiner (frühen) Filme scheint Aksus Film angenehm durch.

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Internationaler Wettbewerb: The Hymns of Muscovy (R: Dimitri Venkov; RUS 2018)

von Ricardo Brunn

Außerirdische Inversion
Das (Kino)Bild hat immer schon die Schwierigkeit, das abgebildete Objekt angemessen zu repräsentieren, weil das Abbild beispielsweise eines Gebäudes seiner beeindruckenden Größe selten gerecht wird. In „The Hymns of Muscovy“ wird der monumentale Charakter der gezeigten Gebäude durch einen einfachen Trick überaus greifbar. Dimitri Venkov zeigt in seinem Kurzfilm nicht mehr und nicht weniger als auf den Kopf gestellte Gebäude.

In erhabener Langsamkeit fährt die Kamera durch Moskau und zeigt in drei Kapiteln Monumentalgebäude des Sozialistischen Klassizismus, der Sowjetmoderne und zeitgenössischer Architektur, nur dass der Himmel an der unteren und die Gebäude an der oberen Bildkante zu sehen sind. Was zunächst als effektvolle Inversion auffällt, um die Ausmaße der Architektur zu veranschaulichen, verkompliziert sich mit jeder neuen Einstellung. Denn ohne Unterlass versuchen Auge und Gehirn eine Einigung zu erzielen, wie das Gesehene zu interpretieren sei. In einer Einstellung schwenkt die Kamera beispielsweise lange nach unten, dem vermeintlich Boden entgegen, aber alles bleibt Himmel und die Erwartung, einem Gebäude entgegenzuschwenken, wird enttäuscht, wenn am Ende des Schwenks erneut Bauwerke nur an der oberen Bildkante erscheinen. Das Gehirn, die Erfahrung, die Erinnerung sagen, wie es sein müsste, das Auge hält dagegen mit einem „aber“. Wahrnehmung und Wissen kollidieren im Bild, bis das Auge aufgibt als Instrument der Erkenntnis zu fungieren und die Stadt als das akzeptiert, was sie in „The Hymns of Muscovy“ nun einmal ist: eine Raumstation, ein intergalaktisches Schiff, ein fliegendes Metropolis, aus der Zeit und aus dem Raum gefallen.

Die Stadt Moskau wird in Dimitri Venkovs Kurzfilm durch Überhöhung nicht nur vollkommen irrealisiert, sie wird zugleich in ihrer Funktion als Raum sozialen Lebens verkleinert, wenn Straßen und Menschen im Film nahezu ausgeblendet werden. Die Stadt wird allem voran zergliedert in Einzelgebäude, abweisende Fassaden, die in den Fensterscheiben nichts als Himmel reflektieren. Leben findet hier nicht statt. Der Nukleus der Stadt Moskau, das wird in diesen Bildern deutlich, ist in der dauerhaften Überformung seit den 1930er Jahren die reine Repräsentation. Während aus den Bauten des Zuckerbäckerstils und der Sowjetmoderne noch die Idee spricht, dass dem Umbau der Städte ein Umbau der Gesellschaft, also die Schaffung eines neuen Menschentypus, folgen soll, unterstreicht der Film zum Ende hin, wenn die Hochhäuser des Stadtteils Moskau City mit ihren kalten Fassaden aus Glas und Stahl wie eine Fata Morgana über den endlosen Himmel geblendet werden, dass der Mensch hier gar keine Rolle mehr spielt. Architektur dient dem Menschen nicht, sie täuscht ihn und Dimitri Venkov weiß mit Täuschungen hervorragend umzugehen. „The Hymns of Muscovy“ ist ein invertiertes Denkmal für eine größenwahnsinnige Stadt, die ihren Kompass verloren hat.