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Daniel Möhle: Überlegungen zur Dramaturgie des Kurzspielfilms

( , Regie: )

Vage Beschreibungen
von Sven Pötting

Der Kurzfilm ist ein schwieriges Produkt: Er ist filmästhetischer Impulsgeber sowie Experimentierfeld für neue Sicht- und Erzählweisen und formale Experimente auch im Langfilm. Wahrgenommen wird er aber verkürzt als bevorzugtes …

Der Kurzfilm ist ein schwieriges Produkt: Er ist filmästhetischer Impulsgeber sowie Experimentierfeld für neue Sicht- und Erzählweisen und formale Experimente auch im Langfilm. Wahrgenommen wird er aber verkürzt als bevorzugtes Übungsformat für Filmstudierende, als Fingerübung für künftige Langfilmregisseur_innen. Auch wenn sich in den letzten zwei Jahrzehnten das Produktionsvolumen allein in Deutschland mehr als verdoppelt hat, sind Vertrieb und Vorführung von Kurzfilmen wirtschaftlich kaum profitabel. Das wiederum trägt dazu bei, dass der Kurzfilm auch keine relevante Öffentlichkeit hat. Kuratierte Kurzfilmprogramme reflektieren kulturelle, gesellschaftliche und politische Tendenzen häufig pointierter als Langfilme, von der Filmkritik wird die Gattung allerdings geringgeschätzt und weitgehend ignoriert. Der Kurzfilm ist, kurz gesagt, „der unsichtbare Teil des Kinos, sein Unbewusstes“ (Behnken, Klaus/Gass, Lars Hendrik: „Ort der Rede und der Konfrontation.“ In: Behnken, Klaus [Hg.] kurz und klein. 50 Jahre Internationale Kurzfilmtage Oberhausen. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2004, S.7-9, hier S.7).

Auch die Filmwissenschaft hat den Kurzfilm bislang weitgehend ignoriert, umso erfreulicher schien es daher, dass der Autor und (Kurz-)Filmregisseur Daniel Möhle sich in seiner nun publizierten Dissertation mit dieser Gattung beschäftigt. In seiner Arbeit lässt er sowohl den Animationsfilm als auch dokumentarische oder hybride Formen weitgehend außen vor und nähert sich zunächst definitorisch an den Kurzspielfilm an (vgl. S.39-62). Für ihn bezeichnet der Kurzspielfilm fiktionale Filme mit überwiegend Live-Action-Darstellungen, in denen eine nacherzählbare Geschichte im Zentrum steht (vgl. S.66). Ein gattungsspezifisches Merkmal des Kurzspielfilms sei seine Länge, wobei es „keine allgemeingültige Definition darüber [gebe], wie lang ein Kurzspielfilm ist“ (S.65). Genauso vage wie diese definitorische Beschreibung, bleibt auch die von Möhle skizzierte Geschichte des Kurzfilms, die das zweite Kapitel der Arbeit darstellt (S.67-83). Jede Dekade wird unter Berücksichtigung der technischen Entwicklungen des Mediums auf knapp einer Seite abgehandelt. Auf länderspezifische Besonderheiten oder auf die Bedeutung von Filmfestivals für die Entwicklung des Kurzfilms wird dementsprechend auch höchstens in Stichworten eingegangen. Im Hauptkapitel des Buches werden anhand der Kategorien „Zeiten“ (S.93-122), „Räume“ (S.125-134), „Genres“ (S.136-145), „Themen“ (S.147-154), „Titel“ (S.154-161), „Figuren“ (S. 162-192), „Sprache“ (S.193-198), „Wendepunkte“ (S.198-211), „Anfänge“ (S.212-220), „Enden“ (S.221-231), „Sound Design“ (S.231-242) und „Musik“ (S.243-256) „narratologische Eigenschaften des Kurzspielfilms“ (S.24) herausgearbeitet.

Für seine Analyse hat der Autor nach eigenen Angaben (vgl. S.299-306) 200 Filme aus 100 Jahren gesichtet, was völlig unzureichend ist, um verlässliche Gattungsmerkmale des Kurzspielfilms herauszukristallisieren – sofern es diese überhaupt gibt. Einige hinzugezogene, durchaus experimentelle Filmbeispiele – etwa der Fotofilm La Jetée (1962) von Chris Marker – zeigen, dass sich über seine eingangs festgelegte Definition des Kurzspielfilms – so banal sie auch scheinen mag – durchaus streiten lässt. Die vom Autor zusammengestellten Merkmale des „prototypischen Kurzspielfilms“ (S.257-265) lassen sich, wenn man etwa die Filme zum Vergleich hinzuzieht, die aktuell die Wettbewerbe der großen Kurzfilmfestivals in Europa dominieren (etwa in Winterthur, Clermont-Ferrand, Vila do Conde, Oberhausen etc.), kaum verifizieren: In den letzten Jahren hat sich beispielsweise die Tendenz gezeigt, dass sich die Grenzen zwischen narrativen, experimentellen und dokumentarischen Formen im Kurzfilm auflösen und viele Produktionen nicht mehr mit Blick auf eine Vorführung im Kino erstellt werden, sondern für eine Auswertung im Installations- und Museumskontext sowie für Videoportale im Internet.

Stärken hat die Arbeit, wenn der Autor seinen Filmanalysen mehr Raum gibt, wie etwa in seinem Kapitel über in Spielfilmlänge adaptierter Kurzfilme (S.267-275). Nichtsdestotrotz bleibt der Erkenntniswert von Daniel Möhles Überlegungen zur Dramaturgie des Kurzspielfilms gering und nennenswerte Forschungslücken werden nicht geschlossen. Möchte man sich im deutschsprachigen Raum näher über den Kurzfilm informieren, muss weiterhin auf die von der Interessenvertretung AG Kurzfilm sowie von einem Zusammenschluss verschiedener Festivals initiierte Online-Publikation shortfilm.de sowie die englischsprachige Plattform Ubiquarian zurückgegriffen werden, die Filmrezensionen, Interviews, Festivalberichte oder Podcasts zu neusten Entwicklungen im Kurzfilm bieten.

Daniel Möhle: Überlegungen zur Dramaturgie des Kurzspielfilms
Marburg: Büchner 2019, 329 S., ISBN 978363171543, EUR 29,-
(Zugl. Dissertation an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, 2018)