Archiv der Kategorie: Filmkritik

L.A. Zombie

(USA / F 2010, Regie: Bruce La Bruce)

Re-make / Re-model
von Ulrich Kriest

Eine kleine Skandalisierung weht dem neuen Film von Bruce LaBruce voraus, durch die man sich allerdings nicht in Aufregung versetzen lassen sollte. Nachdem selbst Altmeister George A. Romero mit „Survival …

Eine kleine Skandalisierung weht dem neuen Film von Bruce LaBruce voraus, durch die man sich allerdings nicht in Aufregung versetzen lassen sollte. Nachdem selbst Altmeister George A. Romero mit „Survival of the Dead“ nur mehr ein müder Ausflug in Western-Archetypen gelungen und aktuelle, reaktionäre Post-Apokalypse-Filme wie „The Road“ wieder auf fragwürdige Familien-Tableaus setzen, braucht es wohl einen Trash-Afficionado wie Bruce LaBruce, um das Zombie-Subgenre, nun ja, am Leben zu halten. Nachdem der Filmemacher mit „Otto; or, Up with Dead People“ einen erstaunlich komplexen und referenzreichen Pop-Kosmos entworfen hat, folgt nun mit „L.A. Zombie“ gar die Genre-Kontrafaktur, die das Objekt zum Subjekt macht und damit eine Studie in Melancholie abliefert. Aber mit den Mitteln einer minimalistischen, latent surrealistischen arte povera.

Waren die Untoten bislang zumeist nur ein dramaturgisches Mittel, um bestimmte soziologische Thesen über soziales Verhalten zu formulieren und zu überprüfen, so macht LaBruce hier den Zombie gewissermaßen zum tapsigen Beobachter einer gewalttätigen Gesellschaft, deren Parias an den Rändern der Städte und in zubetonierten Abwasserkanälen lebt. „L.A. Zombie“ beginnt am Meer und endet auf dem Friedhof (ein hübscher Einfall nicht nur in Bezug auf das Genre, sondern auch ein trefflicher Reflex auf post-apokalyptische Utopien; vgl. „The Road“), wo sich der Zombie-Protagonist schließlich an einem frischen Grab müht. Auf dem Grabstein steht „Law“. Was dem Film seinen schlechten Ruf eingebracht hat und ihn zum Festival-Skandal in Melbourne und auch in Locarno werden ließ, ist nicht seine Nähe zum Musikclip, auch nicht seine zeitweise famose Optik und auch nicht der interessante, ganz nicht zum Genre, aber zur Melancholie dieses Films passende Score von Mikael Karlsson und Philippe Breson, sondern in der Tat die kruden Akte der Nekrophilie. Denn der Zombie von Bruce LaBruce giert nicht kannibalistisch nach Fleisch, sondern nach Sex. Und zwar mit Toten. Und insofern hat er ziemliches Glück gehabt, dass er nahe Los Angeles den Fluten des Pazifik entstieg, denn in der Westküsten-Metropole ist der Mensch noch des Menschen Wolf und die Toten liegen auf der Straße herum.

Nun bekümmert sich der Zombie auf eigentümliche Weise um die Toten, die nach der Penetration als Untote weiterleben – und für die Lebenden eigentlich keine Gefahr darstellen. Wobei wir darüber allerdings nur Vermutungen anstellen können, denn »das Soziale« bleibt bei LaBruce konsequent ausgespart, weil der Film aus der Perspektive des Zombie-Protagonisten erzählt ist. So muss man versuchen, die sparsamen Informationen dieses No-budget-Films hochzurechnen: Die Gewalt geht hier vom Menschen aus, während der Zombie als Erlöser erscheint. Weil der Erlöser aber das Leben genau dort mittels eines Penis‘ von durchaus beachtlichem Format einhaucht, wo es den Körper verlassen hat, gerät die ganze Geschichte etwas unappetitlich. Hier wird sozusagen nicht der Finger in die offene Wunde gesteckt. Was aber bei einem Splatterfilm durchaus noch zum guten Ton gehört.

Zusammengefasst produziert expliziter, schwuler, nekrophiler Sex aber vielleicht für den Mainstream-Zuschauer tatsächlich ein paar visuelle Tabubrüche zu viel, was aber in dem sehr überschaubaren Segment, das Bruce LaBruce mit seinen Filmen bedient, keine Probleme bereiten sollte. Ein anderes Problem könnte die sich rasch einstellende Langeweile sein, denn letztlich wiederholt der Film sich schnell in einer ironischen Abfolge des Immergleichen. Mal sorgt ein grausiger Autounfall für ein Opfer, mal eine Auseinandersetzung unter Geschäftsleuten, mal wird eine Leiche aus einen Auto geworfen, mal findet ein Massaker in einer schicken Galerie statt, mal kam ein Obdachloser ums Leben – stets fließt sehr viel Blut. In der Galerieszene sogar so viel, dass man versucht ist, an Action Painting mit Kunstblut zu denken.

Wenn der Zombie schließlich am Grab des Gesetzes in der Erde wühlt, erinnert er sich kurz an die Stationen seiner Reise, an die Toten, die er ins untote Dasein überführt hat – und dann geschieht etwas sehr Menschliches, dessen Sentimentalität wohl auch George A. Romero sehr gut gefallen würde: der Zombie vergießt ein paar Tränen. Bleibt zu fragen, inwieweit diese Tränen im Angesicht dessen, was einmal das Gesetz war, eher als politischer oder psychoanalytischer Kommentar zu lesen sind. Bruce LaBruce lässt in seiner variations- und dialogarmen, mal extrem kruden, mal lustvollen, mal sanft ironischen, dann wieder hochästhetischen Drift durch das Elend viele Fragen offen. Pornografisch mag der Film nur einer Minderheit mit nekrophilen Neigungen erscheinen, Trash aber sieht entschieden anders aus. Und so anrührend still wie „L.A. Zombie“ (trotz allem!) ist, war auch schon lange kein Film dieses Genres mehr.

The Social Network

(USA 2010, Regie: David Fincher)

Citizen Nerd
von Harald Steinwender

David Fincher ist erwachsen geworden. Bislang war der Filmemacher, der in den 1980er Jahren bezeichnenderweise als Videoclipregisseur und Trickfilmzeichner für Blockbuster wie „Rückkehr der Jedi-Ritter“ und „Die unendliche Geschichte“ angefangen …

David Fincher ist erwachsen geworden. Bislang war der Filmemacher, der in den 1980er Jahren bezeichnenderweise als Videoclipregisseur und Trickfilmzeichner für Blockbuster wie „Rückkehr der Jedi-Ritter“ und „Die unendliche Geschichte“ angefangen hatte, vornehmlich als höchst begabter Ästhet aufgefallen; als jemand, der einen guten Effekt, sei es dramaturgischer oder visueller Art, so sehr zu schätzen wusste, dass seine Filme zwar äußerlich perfekt, doch inhaltlich mitunter etwas gehaltlos wirkten. „Seven“ (1995) und „Fight Club“ (1999), beide auf ihre Weise hervorragende Filme, ergingen sich in Schock- und Zerfallsbildern – wir erinnern uns: in dem einen Film regnet es 6/7 der Laufzeit, der andere ist vornehmlich in grün-gelben Verwesungsfarben gehalten und beginnt mit einer langen Kamerafahrt durch das Gehirn des Protagonisten, rasant an Neuronen und Synapsen entlang, bis die entfesselte Kamera aus einer Schweißpore herausschießt und wir mitten im Film angekommen sind (genauer: am Endpunkt der Handlung, von der aus der Film in Rückblenden erzählt wird). „The Game“ (1997) und „Panic Room“ (2002) waren Konzeptfilme, exzellent inszenierte Fingerübungen, die jeweils auf einer konsequent durchgespielten Idee basierten. Einige der technischen Kabinettstücke, die Fincher in diesen Filmen unterbrachte, etwa die Plansequenz in „Panic Room“, die eine ‚unmögliche’ Kamerafahrt durch den Henkel einer Kaffeekanne beinhaltete, sind auch heute noch eindrucksvolle set pieces. Und „The Curious Case of Benjamin Button“ (2008), der Film über ein als Greis geborenes Kind, das über den Lauf des Films in seinem sich stetig verjüngenden Körper zum alten Mann regrediert, war schließlich ein einziger Spezialeffekt, in dem Brad Pitt in der Titelrolle lediglich für ein paar Sequenzen ohne seinen digital nachbearbeiteten Körper zu sehen war. In dem Retro-Thriller „Zodiac“ (2007) standen dann erstmals die Figuren im Zentrum. Aber erst in „The Social Network“ verkneift sich der Regisseur all die technischen Sperenzchen, die seine bisherigen Filme auszeichneten, stellt sein virtuoses technisches Talent in den Hintergrund, ganz in den Dienst des Plots und der Figuren. Da wirkt es fast wie ein Hohn, dass der hier von Jesse Eisenberg verkörperte Facebook-Erfinder Mark Zuckerberg ähnlich wie Charles Foster Kane in Orson Welles’ „Citizen Kane“ eine Art leeres Zentrum ist.

Eisenbergs Mark Zuckerberg ist ein Nerd; ein sozial inkompetenter, völlig egozentrierter Computerfreak, der ein massives Problem mit Frauen und Autoritäten hat. Ganz zu Beginn des Films macht seine Freundin Erica (Rooney Mara) mit dem schlaksigen Harvardstudenten Schluss, sie kann Eisenbergs Ignoranz nicht mehr ertragen. Und da Mark ein begnadeter Hacker ist, rächt er sich gleich an der ganzen weiblichen Studentenschaft und konstruiert eine Website, auf der er wild die aus dem Netz gestohlenen Bilder von Kommilitoninnen einstellt und sie von der Webgemeinde auf Attraktivität hin bewerten lässt. Während er dafür in Sekundenschnelle die Computernetze verschiedener Universitäten kapert, füttert er parallel sein Blog und unterhält sich mit seinen Mitbewohnern. Bald darauf hat das Wunderkind wegen des enormen Erfolgs seiner sexistischen Spaßguerillaaktion nicht nur Ärger mit der Universitätsverwaltung, sondern auch einen neuen Job: für zwei reiche Schnösel ein Online-Studentennetzwerk zu konstruieren. Daraus wird bald „The Facebook“, später einfach nur „Facebook“ getauft, und Zuckerberg zum heute jüngsten lebenden Milliardär (geschätztes Privatvermögen derzeit: 6,9 Mrd. US-Dollar).

Doch was diesen widersprüchlichen Charakter, den die US-Filmplakate mit dem illustren Dreiklang „Punk – Genius – Billionaire“ vorstellten, im Innersten antreibt, das bleibt offen. Dass er seine ersten Finanziers, die Winklevoss-Brüder (2 x Arnie Hammer), mit dem Facebook-Projekt über den Tisch zieht, um stellvertretend zwei privilegierte Oberschichtschnösel zu demütigen (wie deren Anwälte suggerieren), ist gewissermaßen die Klassenkampf-Lesart von Zuckerbergs Aufstieg. Vielleicht handelt er aber auch aus reiner Ignoranz, ist ganz das seiner Idee verfallene Genie, das seine Umwelt nicht mehr wahrnimmt, in Badeschlappen durch den Schnee stapft und im Wesentlichen von Pizza und Cola lebt und seine Studentenbude kaum mehr verlässt. Oder vielleicht ist er einfach nur geldgierig, erkennt das Potential der Idee, bootet schließlich sogar seinen besten Freund Eduardo Saverin (Andrew Garfield) aus, den er fallen lässt, um statt Millionen Milliarden zu verdienen. Oder aber das alles, die ganze Handlung des Films, ist Resultat einer Ersatzhandlung, mit der der junge Mann auf die Zurückweisung durch seine Freundin reagiert – die „Citizen Kane“-Variante, wenn man so will, mit Erica als Zuckerbergs Rosebud. Eine eindeutige Antwort bietet Fincher nicht. Letztlich bleibt es den Zuschauern überlassen, sich einen Reim auf die Motivation des Protagonisten zu machen. Nur sonderlich sympathisch ist er nicht. Schon über den Trailer hat Fincher einen Frauenchor legen lassen, der eine Version von Radioheads „Creep“ singt. Der echte Zuckerberg jedenfalls nahm Finchers Film sehr ernst und hat eine 100-Millionen-Spende für Bildungsinstitutionen angekündigt. Auch eine Möglichkeit, der negativen Publicity zu begegnen, die ihm „The Social Network“ verschafft hat, ähnlich wie „Citizen Kane“ 70 Jahre zuvor dem Pressezaren William Randolph Hearst.

Wie „Citizen Kane“, der verdeckt eine reale Biografie thematisierte und eine Ära mit ihren Umbrüchen in der Medienlandschaft porträtierte, changiert der in Rückblenden erzählte „The Social Network“ zwischen den Genres, mischt Courtroom-Drama und Biopic, bringt ein wenig Melo und Thriller ein, hat manchmal etwas von einer Teenagerkomödie, dann wieder von einer Gesellschaftsparabel. Obendrein ist er wie alle Fincherfilme bislang natürlich wunderschön fotografiert (Kamera: Jeff Cronenweth), eröffnet mit einer stilvollen Titelsequenz (mit Anklängen an diejenige aus „Panic Room“) und kommt in seinen gedämpften braun-orange Farbtönen so edel wie ein Tropenholztisch in einer mehrere hundert Jahre alten Universitätsbücherei daher. Der Schnitt ist meisterlich, die Filmmusik von Trent Reznor (Nine Inch Nails) und Atticus Ross gleichsam brillant. Kurz: technisch ist der Film ausgezeichnet, so gut wie nur wenige dieses Jahr. Aber diesmal drängt sich diese Brillanz nicht so sehr in den Vordergrund wie in den früheren Filmen Finchers, ein durchschnittlicher Kinogänger mag sie vielleicht einfach übersehen. Es ist ein wenig, also ob der Regisseur verstanden hat, dass er nicht mehr protzen muss, sich nicht mehr durch Kraftmeierei einen Ruf schaffen muss. Und das ist gut so: „The Social Network“ ist einer von Finchers besten Filmen geworden. Es ist allerdings fast ein wenig paradox, dass er dazu den Film mit seinem bislang unreifsten Protagonisten inszenieren musste.

The Road

(USA 2009, Regie: John Hillcoat)

Die Moral des Ausnahmezustands
von Sven Jachmann

Im Kino kommen die Bilder der Postapokalypse (und es gab sie in den letzten Jahren in mannigfaltigen Formen zu sehen) fast nie ohne einen Restfunken humanistischer oder reaktionärer Hoffnung aus: …

Im Kino kommen die Bilder der Postapokalypse (und es gab sie in den letzten Jahren in mannigfaltigen Formen zu sehen) fast nie ohne einen Restfunken humanistischer oder reaktionärer Hoffnung aus: auf Zivilisationen, die sich irgendwo neu formieren, auf lebenswerte Orte, die sich hinter dem Schutt verbergen, auf die Heilkraft der Wissenschaften, die vom gegenwärtigen Elend Erlösung versprechen oder auf neu justierte Kultur, die wenigstens mit Anstand durch die Trümmer leitet (und in jüngeren Produktionen, nicht nur bei Roland Emmerich, so unverfroren religiös daherkommt, dass man meint, sie benötigten den ganzen Zerstörungsapparat nur deshalb, um dem Christentum einen zweiten, hoffentlich erfolgreicheren Run zu wünschen).

Kurz gesagt: Ohne die Aussicht auf irgendeinen Sinn, der das Überleben legitimiert, scheint jeder Schritt durch die zivilisatorische Wüste hinfällig. Das ist in John Hillcoats kongenialer Verfilmung des gleichnamigen, Pulitzerpreis-geadelten Romans von Cormac McCarthy (dessen Prosa zuletzt dank der Coen Brüder in „No Country for Old Men‘ eine bemerkenswerte Filmumsetzung erhielt) ein wenig anders. Hier ist das Überleben bereits das verlängerte Sterben, wenn der Vater (Viggo Mortensen) mit seinem Sohn Nordamerika Richtung Süden durchquert und ihm angesichts der weltweiten, farblosen Ödnis, die weder Pflanzen noch Tiere beherbergt, auch nicht so recht erklären kann, weswegen das Dasein noch lohnt. Vor zehn Jahren ereignete sich eine globale Katastrophe, der Sohn (Kodi Smit-McPhee) kam erst nach ihr zur Welt. Die Mutter (Charlize Theron) entschied sich nach der Geburt für den Suizid, zeigt eine Rückblende. Es gab keinen überraschenden Fund, regungslos wurde von ihr die Selbstmordabsicht kommuniziert, bevor sie sich in den Wald zum Sterben begab. Auch das Flehen des Mannes wenigstens noch einen Tag zu warten, hielt sie nicht ab.

Die Frage nach der Sozietät, dem moralisch integren Verhalten in einer Welt, in der die wenigen marodierenden Menschen aus Verzweiflung zu Kannibalen werden, wird schnell zum jede Sequenz implizit mitbestimmenden Leitmotiv. Bereits nach zehn Minuten muss der Vater seinem Sohn lakonisch erklären, dass die aufgeknüpften Toten in einer Scheune ganz sicher nicht ermordet wurden. Die anschließenden Gespräche über den Sinn und Unsinn des Überlebens gleichen einem paradoxen Generationenkonflikt: Der Vater verzweifelt ob seiner Erinnerungen an die präapokalyptische Zeit und gleicht sein Handeln den Bedingungen des Elends an; der Sohn besitzt keine Erinnerungen, kann aber das mordende Treiben der „bösen Menschen“ nicht verstehen, zumal die good guys nur wenige Schritte von den bad guys trennen. Survival of the fittest bedeutet hier nicht, heroisch und moralisch zugleich mit der edleren Grobschlächtigkeit den zivilisatorischen Kollaps zu überstehen, sondern beständig die Frage zu verhandeln, wie ein Leben ohne Humanität überhaupt funktionieren soll. Wenn der Vater vor- und fürsorglich seinem Sohn erklärt, wie ihre Pistole, die nur noch zwei Patronen fasst, benutzt wird, dann dient diese Instruktion nicht der Selbstverteidigung. Was die postapokalyptische Welt bereit hält, ist ein buchstäbliches Vegetieren unter dem Diktat der toten Erde. Der Boden spuckt Feuer, immer wieder entwurzeln sich abgestorbene Bäume, der graue Himmel lässt nur ein dumpfes Licht auf die von Ascheflocken und verrosteten Autowracks übersäten Straßen. Dazwischen vollzieht sich auf unspektakuläre und verstörend tumbe Weise die Reise durch ein ergrautes Land. Die Dramaturgie ist geknüpft an das Fortbewegen: Was die Zwei in den Süden zieht, wissen sie selber nicht, und die Konfrontationen mit feindlichen Menschen sind bedrückend, aber aus erzählerischer und quantitativer Sicht eher Randerscheinungen. Im Nichts geschieht nicht viel. Die Bilder erzählen nichts von der Kontemplation des Untergangs, jedoch alles von der Errettung der Moral in einer auch sozial ausgelöschten Welt. Selten zuvor kam Nihilismus in einem Film pietätvoller daher.

Diese Kritik erschien gekürzt zuerst in: Konkret 10/2010

Miral

(F / ISR / IT / IND 2010, Regie: Julian Schnabel)

… bis die Zionisten kamen
von Janis El-Bira

Am Anfang von Julian Schnabels „Miral“ steht das Idyll: In einem Palästina, von dem der Zuschauer glauben soll, dass es noch nicht identisch ist mit der Topographie des „Nahostkonflikts“, feiern …

Am Anfang von Julian Schnabels „Miral“ steht das Idyll: In einem Palästina, von dem der Zuschauer glauben soll, dass es noch nicht identisch ist mit der Topographie des „Nahostkonflikts“, feiern Christen, Juden und Muslime ein Weihnachtsfest, das alles kulturell-religiös Trennende verwischen möchte. Um den Weihnachtsbaum tanzt man ausgelassen zu arabischer Musik und die Hausherrin, dargestellt von Vanessa Redgrave als Repräsentantin eines kosmopolitisch-postideologischen Großbürgertums am Rande seines Verschwindens, begrüßt ihre Freunde aller Herkunft und Religion.

Doch dann lässt Schnabel die Zionisten über die vermeintlich paradiesischen Zustände herfallen: Archivbilder von der Gründungserklärung Israels werden gezeigt, Schiffe legen in Palästina an, Menschen strömen von Bord, die Stimme David Ben Gurions schallt im Hintergrund. Das Schwarzweiß des Einspielers will Authentizität suggerieren und stellt sich gleichzeitig in den schärfstmöglichen Kontrast zur rosig-sonnendurchfluteten Ästhetik der heiteren Einleitung. Es sagt: Hier kommen die Zionisten aus dem Grau-in-Grau der Realgeschichte und vor ihnen flieht alles Licht der Utopie. Oder: Der Spielfilm flieht die Archivbilder und schuld an allem sind die Zionisten.

Mag die gedankliche Schlichtheit dieser Einleitung auch noch so peinlich, ihre Form auch noch so billig sein, Schnabels anschließender Versuch, seinen Spielfilm quasi „zurückschlagen“ zu lassen, übertrifft sie regelrecht: Basierend auf einem Roman Rula Jebreals, der Lebensgefährtin des Regisseurs, nimmt „Miral“ die Perspektiven vierer palästinensischer Frauen ein, die sich auf unterschiedliche (und unterschiedlich aggressive) Art gegen die Unterdrückung stemmen, mit der wie eine Heilige porträtierten Kinderheimleiterin Hind Husseini und der Terroristin Fatima als vielleicht extremste Pole. Irgendwo dazwischen stehen Nadia, die als junges Mädchen vor der häuslichen Gewalt flieht, und schließlich die Titelheldin, Miral, Nadias Tochter: Nach dem Tod ihrer Mutter gibt ihr tiefreligiöser Vater sie in das Kinderheim Husseinis, wo sie eine umfassende Schulbildung erhält, welche sie anschließend als Lehrerin auf dem Höhepunkt der Ersten Intifada in die Krisengebiete bringen wird. Hier erlebt sie das brutale Durchgreifen der israelischen Streitkräfte und verliebt sich – natürlich – auf verhängnisvolle Weise in einen jungen militanten Freiheitskämpfer.

Über all dem weht für Julian Schnabel auf ostentativste Art das große Banner eines Friedensappells: Jenen will er den Film widmen, heißt es im Abspann, die unerschütterlich an eine friedliche Lösung des Konflikts glauben. Wer „Miral“ mit offenen Augen anschaut, wird sich die nämlichen ob des zuvor Gezeigten spätestens hier verwundert reiben. Denn die größte Rache, die der Spielfilm an den Archivbildern des Anfangs letztlich nimmt, ist, dass er Israel offenkundig in diesem tristen Geschichtsgrau vergessen möchte: Israel findet in „Miral“ schlichtweg nicht statt. Hier zeigt sich nur das Leiden des palästinensischen Volkes, dem irgendwo außerhalb der Ränder des Filmbildes ein übermächtiger Feind gegenübersteht, der zwar ab und an mit Panzern wirkmächtig durchs Bild rollt und von bornierten Holzköpfen in Uniform repräsentiert wird, dem darüber hinaus jedoch beinahe jedes Menschenantlitz verwehrt bleibt.

Auf unangenehme Weise zeigt sich Schnabels utopistischer Feldzug gegen die Wirklichkeit auch in dem puren Kitsch, der seinen Film durchzieht. Der palästinensische Widerstand ist hier ein Fest der leuchtendsten Farben, in dem bildschöne junge Menschen untereinander fast ausschließlich in makellosem Englisch kommunizieren und ein weiblicher Bollywood-Star der Intifada ein Gesicht mit gezupften Augenbrauen schenkt. So geschmacklos und von Herzen schlecht ist das, dass man beinahe an der Ernsthaftigkeit des ganzen Unterfangens zweifeln möchte – aber natürlich ist das alles sehr aufrichtig gemeint. Ein Film wie dieser mag sowohl das reale Israel, das kein Schwarzweißfilm ist, ignorieren, als auch die Beschaffenheit des Konflikts im Nahen Osten auf Freiheitskämpferromantik im Taschenbuchformat eindämpfen können. Die Geschichte kann es zum Glück nicht.

Berlin: Hasenheide

(D 2010, Regie: Nana A.T. Rebhan)

Beißende Papageien und Sperma im Planschbecken
von Sven Jachmann

Er ist ein kurzes, bewegtes und bewegendes Pamphlet gegen die mediale Alarmstimmung. „Berlin: Hasenheide“ heißt der komplett eigenfinanzierte Dokumentarfilm von Nana A.T. Rebhan. Die Kamera flaniert durch den titelgebenden Ort …

Er ist ein kurzes, bewegtes und bewegendes Pamphlet gegen die mediale Alarmstimmung. „Berlin: Hasenheide“ heißt der komplett eigenfinanzierte Dokumentarfilm von Nana A.T. Rebhan. Die Kamera flaniert durch den titelgebenden Ort in Neukölln, der breitenwirksam als Drogenumschlagsplatz in bitterbösen Verruf geraten ist. Kein Wunder also, dass der rund 45 Hektar fassende Landschaftspark von Boulevardblättern bereits sogar zur No-Go-Area deklariert wurde. Die Stigmatisierung unliebsamer Regionen als soziale Brennpunkte dient ja nicht bloß als Kennzeichen einer vermeintlichen Gefahr. Sie will zugleich semantisch vergessen lassen, dass dort das Antlitz des Kapitalismus seinen humanistischen Schleier verliert und sein Wahn nicht einzig abstrakte Statistiken produziert. Besser also, man hält sich schon zur Bewahrung der eigenen Mythologie der mentalen Gemütlichkeit von solchen Orten fern. Für die eigene körperliche Unversehrtheit scheint es ohnehin ratsamer.

In fast schon investigativ-journalistischer Manier begab sich Rebhan dennoch fast zwei Jahre in die Gefahrenzone quasi direkt vor ihrer Haustür, ausgestattet mit der kleinsten filmischen Einheit, einer Handkamera und einem Ton-Mann. Was sie findet, ist die unaufgeregte Koexistenz mannigfaltiger und konträrer Lebensentwürfe: eine Gruppe afrikanischer Fußballspieler, die in Ermangelung eines Schiedsrichters seit Jahren ihre Matches in permanenten Streitgesprächen klären; zotige Nudisten, die sich fragen, was gegen Sperma im eigens mitgebrachten Planschbecken zu tun sei, einen Mann, der seine fünf Papageien im gleichfarbigen T-Shirt auf dem Lenker seines Fahrrads ausfährt, exzentrische Hundebesitzerinnen, die sich typologisch zwischen schnodderig-hippiesk und verarmten Adel bewegen, einen Pulk gestandener türkischer Männer, die unter einer Baumkrone den Platz tagtäglich zum gemeinschaftlichen Wohnzimmer umfunktionieren, sich Konzerte geben und einen fast handzahmen Falken mit Fleisch füttern.

Die Bilder variieren zwischen stiller Beobachtung und dezentem Nachfragen, oftmals begleitet von einem skurrilen, nie bösartigen Humor. Wenn sich ein schüchterner Nudist rührig mit einer Sprühflasche benetzt, während die Clique zehn Meter weiter im Planschbecken tobt. Wenn sich die alte Hundehalterfrage „Beißt der?“ hier an einen Papageienbesitzer richtet. Wenn die Knigge-geschulte Hundebesitzerin den mondänen Charakter ihres Windhundes rühmt, während der einen Rivalen nach kurzem Beschnuppern anblafft oder sich zu ihrer schamerfüllten Irritation für dessen Genitalien interessiert. Die Programmatik liegt auf der Hand: ein Tableau zu zeichnen, das die vielgestaltigen Lebensentwürfe vereint. Das mag in seiner unbekümmerten Präsentation montierter Zufriedenheit auf den ersten Blick arglos wirken.

Aber die Bilder sind gleichzeitig beflügelt von einer impliziten Politik. Immer wieder ist die Rede von Armut, von Hartz IV, von den Konstanten des Alltags. An diesen Stellen wird manifest, dass da Spielformen der Eroberung des urbanen Raumes existieren und zwar nicht zum Zwecke, sondern trotz der Reproduktionsarbeiten, die täglich abgetrotzt werden. Dann wird der kollektive Müßiggang auf der Hasenheide zum Politikum und schmiegt sich heimlich an die diskursiven Vorgaben postindustrieller Ideologien, die den Mensch zum eigenverantwortlichen Träger seiner Arbeitskraft erklären. „Berlin: Hasenheide“ kehrt diese Mythologie eher um. Wie soll sich auch rational erklären lassen, warum ein Mann seine Papageien auf dem Fahrrad ausführt? Dass dies alles unter den Maßgaben einer Bildproduktion von unten zu sehen ist, liegt aber nicht bloß an der Schieflage der medial unterschlagenen anderen Hasenheide, die der Film korrigieren möchte. Die Harmonie besitzt auch einen melancholischen Unterton. Die Aufnahmen endeten 2008. Dank der rasanten Gentrifizierung rund um Neukölln könnten die Bilder schneller historisiert sein, als ein Planschbecken mit Wasser gefüllt ist.

Banksy – Exit Through the Gift Shop

(USA / GB 2010, Regie: Banksy)

'The words of the prophets are written on the subway walls'
von Harald Mühlbeyer

Auf jeden Fall ist dies ein Film über Street Art. Über öffentliche Kunst in verschiedenen Formen, als Graffiti, Plakatierung, Schablonendruck, Installation, Skulptur, hineingestellt in den öffentlichen Raum, subversiv, illegal, vandalisierend. …

Auf jeden Fall ist dies ein Film über Street Art. Über öffentliche Kunst in verschiedenen Formen, als Graffiti, Plakatierung, Schablonendruck, Installation, Skulptur, hineingestellt in den öffentlichen Raum, subversiv, illegal, vandalisierend. Ein Film über die größte Counterculture-Bewegung seit Punk, wie es im Film heißt, über ihre Künstler mit merkwürdigen Pseudonymen wie Swoof, Borf, Buffmonster, Space Invader oder Banksy.

Wahrscheinlich ist dies ein Film von Banksy, dem mysteriösen Engländer, dem berüchtigten Künstler, dem Guru der Street-Art-Subkultur – dessen Identität keiner kennt, der im Film nur aus dem Schatten heraus und mit verzerrter Stimme auftritt; der sich selbst ein Denkmal setzt mit diesem Film, mit dieser Selbststilisierung.

Möglicherweise ist die Story, die der Film in Form einer Dokumentation erzählt, wahr: Dass ein Franzose in L.A. namens Thierry Guetta mit ausgeprägter Kameraobsession ca. 1999 in den Genuss kam, beobachtender Teilnehmer der Street-Art-Szene zu werden, dass er die ganzen Aktionen auf Video aufnahm, sich mit den Großen der Szene anfreundete und schließlich auf den geheimnisvollen Banksy traf, der ihn in seinen Freundeskreis aufnahm. Den er filmen durfte, trotz der ostentativen Geheimniskrämerei, wobei er das Videomaterial mehr als dilettantisch bearbeitete, woraufhin er 2008 in L.A. selbst zum Street-Artist wurde, mit betont kommerziellem Anspruch freilich, wodurch er die Kunst denunzierte und bedeutungslos machte.

Vielleicht aber ist dieser Plot-Aufhänger nur ein Fake, alles gestellt, um damit eine verdrehte, aber authentische Sicht in die Bewegung zu geben, die sich dabei mit der Aura des Geheimnisvollen umgibt, des Wahrhaftigen, des Unkommerziellen, des reinen Kunstwillens gegen jede Hindernisse – immerhin ist ja alles illegal, was da geschaffen wird. Vielleicht will Banksy mit seinem Film auf hintergründige Weise einen Diskurs führen über Kunst und Kommerz, über Kopie und Original, über Wahrhaftigkeit der Kreativität und Verrat durch Banalisierung.

Eventuell ist der Film aber auch Teil eines Zickenkrieges innerhalb der Szene, mit dem Banksy, der Londoner, den LA-Street-Art-Newcomer Mr. Brainwash a.k.a. Thierry Guetta als dilettantischen Leerkörper denunziert, als reinen Geschäftemacher, der nichts in der Birne hat, völlig inkompetent ist, mit freilich glücklichem Händchen für den richtigen Zeitpunkt, um mit seinem rein epigonischem Werk, das ans Plagiatorische grenzt, Millionen zu scheffeln.

Laut Presseheft ist der Film eine „hintergründige Satire über die Mechanismen von Kunst und Kommerz. Was zunächst ein lustiger Pannenfilm mit Szenepotential zu sein scheint, offenbart sich formal und inhaltlich als intelligentes Spiel um Inszenierung und Realität […], das die letztlich unlösbare Frage nach der Kunst im Zeitalter von Copy & Paste auf völlig neue Art stellt.“ Wobei die vorletzte Seite des Pressematerials herausgerissen wurde – ein Marketinggag um die eventuellen Geheimnisse, die auf dieser Seite standen und nicht offenbart werden sollen?

Man kann nicht recht schlau werden aus dem Film: um deutliche Satire zu sein, sind die Gags – ein tollpatschiger Thierry – zu subtil, zu plausibel eingebaut. Um eine echte Geschichte zu erzählen, ist es auf die Dauer von 87 Minuten etwas langweilig. Immerhin: die unaufgelöste Multivalenz, die Unauflöslichkeit der wahren Intentionen des Films, verhindert genau dies. Und: den Einblick in die Street-Art-Subkultur und die Dokumentation vieler Kunstwerke – deren Lebenszeit ja nur wenige Stunden bis zu ihrer amtlichen Entfernung dauert –, diesen primären Anspruch des Films erfüllt „Exit Through the Gift Shop“ ganz eindeutig.

Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben

(THAI / GB / D / F / ESP 2010, Regie: Apichatpong Weerasethakul)

Sehen Hören
von Ulrich Kriest

Sagt ein Kollege beim Verlassen des Kinossaals: „Na ja, dafür bin ich wohl nicht Buddhist genug!“ Sagt die Begleiterin: „Wenn ich gewusst hätte, in was für einen Film du mich …

Sagt ein Kollege beim Verlassen des Kinossaals: „Na ja, dafür bin ich wohl nicht Buddhist genug!“ Sagt die Begleiterin: „Wenn ich gewusst hätte, in was für einen Film du mich schleppst, wäre ich lieber shoppen gegangen!“ Sagt die Redakteurin der Tageszeitung: „Beschränken sie sich auf ein, zwei Schauspielernamen, die kennt hier doch eh kein Mensch!“ Der Filmkritiker-Kollege der Tageszeitung, der aus Cannes berichtete, hatte sich im Laufe der Woche seine Favoriten zusammengeschrieben. Als die Goldene Palme schließlich überraschend an „Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben“ ging, war er beleidigt. So beleidigt, dass sein retrospektiver Kommentar zum Festival 2010 ganz ohne den Namen des Gewinners auskam: Apichatpong Weerasethakul. Cristina Nord hat in einem Text zur Filmkritik in „Revolver“ #14 ähnliche Dinge berichtet. Vor Jahren! Von Kollegen, die nicht mehr bereit sind, sich auf nicht-narrative Filmlogiken einzulassen. Von Redakteuren, die keine Lust mehr haben, Filme jenseits des Mainstreams zu vermitteln. Apichatpong Weerasethakul. Immer wieder der running gag, wie man lernte, diesen Namen unfallfrei auszusprechen. Wer will, darf auch „Joe“ zu ihm sagen. Ist das lustig?

Der Vorteil des Schreibens für ein Filmmagazin gegenüber dem Schreiben für eine Tageszeitung ist, dass hier jetzt der klinkenputzende Staubsaugervertreter ausfällt. Ich muss hier nicht umständlich erklären, wer Apichatpong Weerasethakul ist, muss nicht seine Filmografie rekapitulieren, muss nicht schreiben, dass der Thailänder nicht nur ein Architekturstudium, sondern zudem einen Abschluss am Art Institute von Chicago im Fachbereich Film gemacht hat. Hallo? In Chicago! Ich muss nicht die Preise aufzählen, die er mit seinen Filmen in den vergangenen Jahren auf renommierten Festivals errungen hat. Cannes! Nicht schreiben, dass wir es hier nicht mit einem wunderlichen Exoten zu tun haben, sondern sehr wahrscheinlich mit dem wichtigsten Filmemacher des vergangenen Jahrzehnts. Jedenfalls, wenn wir von Festivalöffentlichkeiten und der Schnittstelle zwischen Kunstbetrieb und Film sprechen.

Kunstbetrieb und Film. „Uncle Boonmee“ ist ein nachgetragenes Modul der Installation „Primitive“, die 2009 auch im Münchener Haus der Kunst zu sehen war. Dort waren andere Aspekte eines Arbeitszusammenhangs zu sehen, darunter der vorausweisende Film „A letter to Uncle Boonmee“. Das Haus der Kunst zählt nun auch zu den Geldgebern des Kinofilms „Uncle Boonmee“; die Liste der Co-Produzenten ist lang. Der Film und sein Arbeitszusammenhang wurden inspiriert von einem Buch, das von Uncle Boonmee erzählt, dem es gelang, durch Meditation Bilder seiner früheren Leben zurückzurufen. Die dann wie ein Kinofilm abliefen, betont der Filmemacher. Es geht in „Uncle Boonmee“ ums Sterben, um Seelenwanderungen zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen, um Geister, die aus dem Dschungel treten und sich an den Tisch setzen. In Szene gesetzt allerdings an einem konkreten Ort, dem Grenzgebiet zu Laos, wo zwei Jahrzehnte ein Klima politischer Unterdrückung und Gewalt herrschte. Im Film erzählt Uncle Boonmee einmal, dass sein Leiden die Strafe dafür sei, dass er so viele Kommunisten umgebracht habe. Zugleich betont Apichatpong im Presseheft zum Film, dass der Film durchaus zahlreiche autobiografische Momente enthalte und zudem durch bestimmte Motive und die Auswahl der Darsteller auch mit seinen anderen Filmen intertextuell vernetzt sei. Muss man das wissen, um „Uncle Boonmee“ zu verstehen? Muss man „Uncle Boonmee“ »verstehen«? Ist nicht das Kino immer schon ein privilegierter Ort gewesen, um einen Blick auf fremde Lebenswelten zu werfen? Oder sich von einem fremden Blick auf Dinge lenken zu lassen, die man so vielleicht noch nicht wahrgenommen hat. Hat der türkische Film „Bal – Honig“ nicht gerade zu einer Reise in die Wälder der türkischen Schwarzmeerküste eingeladen? Ging nicht die Reise mit „Birdwatchers“ vor gar nicht allzu langer Zeit den Amazonas hinauf? Wann kommt man schon einmal in ein entlegenes Andendorf wie in „Madeinusa“ von Claudia Llosa? Geht es im Kino nicht immer auch um Seh-Erfahrungen?

Und jetzt also Thailand, an der Grenze zu Laos. Uncle Boonmee, schwer nierenkrank, ist zum Sterben nach Hause gekommen. Seine letzten Tage will er im Kreise von Verwandten und Freunden verbringen, betreut wird er von Tong, einem Laoten von der anderen Seite des Mekong. Der Film sammelt eher Impressionen als dass er erzählt. Mal folgt die Kamera einem Büffel, der in den Dschungel hineinläuft und wieder eingefangen werden muss; mal sehen wir komische Szenen über Verständigungsprobleme. Eines Abends, im Zwielicht, sitzt plötzlich der Geist von Boonmees verstorbener Frau am Tisch und erzählt vom Jenseits. Nein, es gebe keine Gegen-Gemeinschaft der Geister, erzählt sie. Die Geister hängen eher an den Lebenden denn an ihresgleichen. Was für die Liebenden bedeutet, dass es kein Wiedersehen nach dem Tode gibt. „Der Himmel wird überschätzt“, sagt der Geist der Toten. Sie muss es wissen. Plötzlich sitzt der verschollene Sohn am Tisch. Der fotografierte einst einen Affengeist, folgte diesem in den Dschungel, paarte sich mit dem Affengeist und wurde selbst einer. Affengeister haben empfindliche Augen, man löscht besser das Licht, wenn man mit ihnen am Tisch sitzt. All dies findet verblüffend selbstverständlich statt, unspektakulär. „Uncle Boonmee“ handelt von Grenzen und ihren Übergängen, von Schwellen, die man überschreitet. Hell, dunkel, Dämmerung, dazu der Sound des Dschungels, das satte, undurchdringliche Grün. Wer hier auf logische Anschlüsse vertraut, verliert schnell die Orientierung – aber nicht die bannende Faszination, was es hier alles zu sehen und hören gibt. Und zu schmecken, denn auch der Honig, den Boonmees Schwägerin aus Tamarinde produziert, ist süßsauer. Wird gesagt. Und schließlich öffnen sich die Transiträume auch noch zwischen Gegenwart und Geschichte, wenn eine ältliche Prinzessin an einen Wasserfall kommt, im Wasser ihr junges, schönes Gesicht (wieder-)sieht, ins Wasser steigt, sich ihrer Kleider und ihres Schmucks entledigt und Sex mit einem Wels hat, der vielleicht die Reinkarnation eines früheren Geliebten ist. Vielleicht. Möglicherweise. Und dann ist da noch die Reihe von Standfotos junger Soldaten, denen sich ein Affengeist beigesellt hat. Gruppenfoto mit Affengeist.

Wo solcherart alles im Fluss ist, trifft dies auch auf den Tonfall des Films selbst zu, der mal geheimnisvoll, mal still beobachtend, nie wertend und kommentierend und ab und an durchaus komisch ist. Und der sich für den Schluss eine abenteuerliche Volte aufgespart hat, die ganz leichthin und naiv gemacht ist, aber staunen macht über die Möglichkeiten, die das Kino noch hat. Jenseits des konventionellen Erzählens. Man wünschte sich diesen Film zwei, drei Stunden länger.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Die Entbehrlichen

(D 2009, Regie: Andreas Arnstedt)

Entbehrlich
von Harald Mühlbeyer

Es gibt durchaus Positives an diesem Film, wenn man etwas großzügig sucht und dabei wohlwollend ist. Schöne assoziative Montageeinfälle etwa, die zwischen verschiedenen, achronologisch erzählten Zeitebenen vermitteln und dem Film …

Es gibt durchaus Positives an diesem Film, wenn man etwas großzügig sucht und dabei wohlwollend ist. Schöne assoziative Montageeinfälle etwa, die zwischen verschiedenen, achronologisch erzählten Zeitebenen vermitteln und dem Film einen gewissen verbindenden Flow verleihen. Oder die Tatsache, dass heute offenbar tatsächlich noch einer Zeitung liest und von einer Reportage ganz betroffen ist, so dass er darüber dringend einen Film nach dieser wahren Begebenheit machen möchte, um sich mitzuteilen.

Damit hat es sich aber dann auch schon. Weil man einen Film inszenieren ja auch können muss, weil man von dem, was man mitteilen möchte, auch etwas verstehen muss; mehr zumindest, als man sich bei Wikipedia anlesen kann. Andreas Arnstedt hat aber, das muss man leider sagen, anscheinend wenig Ahnung von dem, was er beschreibt. Es ist die Geschichte der sozial prekären Familie Weiss: Die Mutter ist Alkoholikerin und in der Klinik, der Vater arbeitslos, aufbrausend und irgendwann tot, was Sohn Jacob nach außen hin verschweigt; er lebt fortan mit dem Vater, der tot hinterm Sofa liegt, allein in der Wohnung. Das harte Hartz IV-Milieu in Berlin, wo die Eltern die Klassenfahrt nicht zahlen können (oder wollen), wo cholerische Anfälle und Alkoholismus Alltag sind, wo einen Toten keiner vermisst: Daraus hätte man durchaus eine Art filmische Bestandsaufnahme der neuen Armut in Deutschland gestalten können, doch Arnstedt geht voll rein in den Betroffenheitskitsch, ins Klischee, lässt nichts aus – Neonazis und Gammelfleisch, Traum vom Superstar-Dasein und fehlende Kompetenz im Umgang mit Geld. Auch die andere Seite wird gänzlich karikaturesk gezeichnet, die Welt der Reichen, wo die schnöseligen Snobs die aufgebaute Fassade von der Familienidylle nur mühsam aufrechterhalten können.

Diese eindimensionale, völlig banalisierte Sicht auf die Zustände wäre an sich schon genug, um das Milieu zu denunzieren, mehr als es ein Sarrazin mit 1000 Büchern über die dumme Unterschicht je könnte. Dazu kommt aber noch Dilettantismus in Schauspielerführung, Dialogen, Inszenierung und Dramaturgie. Gut: es ist dies Arnstedts Debütfilm; doch leider kann man von nichts, was in dem Film vorkommt, sicher sein, dass es konzeptionell so geplant war, ob das jetzt so sein sollte oder ob der reine Zufall auf dem Regiestuhl Platz genommen hat. Nicht mal aus an sich guten Schauspielern wie André Hennike kann Arnstedt etwas rausholen, und Jacob-Darsteller Oskar Bökelmann kann sich unglücklich schätzen, für sein Darstellerdebüt in einem solchen Film untergekommen zu sein, der ihm den Karrierestart verstolpert.

Einen Trost gibt es: Spätestens, wenn Mathieu Carrière als irrer Alter mit Weltkriegs-Wahn auftaucht, der seine Gartenzwerge als Hitlerarmee ausstaffiert hat und in NS-Propagandafloskeln spricht, kann man sich getrost in die Metaebene des Lachens begeben. Und wenn dann am Ende des Films des Vaters Selbstmord durch den Strang gezeigt wird und der Sohn dies verhindern will, indem er sich unten dran hängt, ist der Höhepunkt der unfreiwilligen Komik erreicht.

Bin ich zu ungerecht? Irren sich tatsächlich all die internationalen Festivals von Hof und Saarbrücken, Brasilien und USA, Irland, China und Mexiko, die auch mitunter Preise für „Die Entbehrlichen“ vergaben? Sie können es ja selbst herausfinden; Sie sind gewarnt.

Das Sandmännchen – Abenteuer im Traumland

(D / F 2010, Regie: Sinem Sakaoglu, Jesper Moeller)

Sandmann, lieber Sandmann
von Harald Mühlbeyer

Ein kleiner Junge, Miko, wird ins Traumland geschleust, um dort dem Schurken Habumar etwas wegzunehmen: den Traumsand des Sandmännchens nämlich, den der Bösewicht dem Sandmännchen gestohlen hat, um ihn in …

Ein kleiner Junge, Miko, wird ins Traumland geschleust, um dort dem Schurken Habumar etwas wegzunehmen: den Traumsand des Sandmännchens nämlich, den der Bösewicht dem Sandmännchen gestohlen hat, um ihn in Alptraumsand zu verwandeln. Miko muss durch verschiedene Traumebenen reisen, durch verschiedene Traumlandschaften, in denen alles versammelt ist, was Kinder je einmal geträumt haben, und er erlebt unter ständiger Gefahr ein fantastisches Abenteuer – eigentlich ist der Sandmännchenfilm so etwas wie eine Kinderversion von „Inception“.

Die Regisseure Sinem Sakaoglu und Jesper Moeller erschaffen fantastische Traumlandschaften in diesem Puppenanimationsfilm, eine Schokohasenlandschaft, eine Stadt mit Spielzeug- und Musikinstrumentbewohnern, auf dem Marktplatz ein Huhnbrunnen, der Seifenblasen produziert; die Bandenmitglieder des bösen Habumar sind bissige Mensch-ärgere-dich-nicht-Figuren, auf der Landstraße stehen zwei große Teddybären, die seilspringen, im Kirschblütenwald tauchen Fische auf, die das Kaperfahrt-Lied singen, und der Sandmann hat ein Zauberauto, das auf Sprungbeinen hüpfen kann, das zu Hubschrauber, Eisenbahn oder Schiff werden kann. Habumar ist ein böser Wirbelsturm, der es auf die süßen Träume der Kinder abgesehen hat: er ist ein wirklich interessanter Bösewicht, kindgerecht genug, um keine bösen Nächte zu erzeugen, aber auch unheimlich und spannungsheischend genug, um den Film nicht in allzu glatte und seichte Schönewelt-Unterhaltung gleiten zu lassen. Die Zielgruppe ist schließlich das Sandmännchen-Publikum des Fernsehens; und sie wird ihre Freude haben an diesem ersten nachmittagfüllenden Kinofilm.

Außer der Hauptfigur hat der Film wenig mit den allabendlichen kurzen Sandmann-Gutenachtgeschichten zu tun: Das Sandmännchen selbst steht im Mittelpunkt der Handlung, ist nicht nur ritueller Teil der Rahmenhandlung. Wichtigste Neuerung dabei: die Sandmännchenfigur spricht. Volker Lechtenbrink leiht ihr seine tiefe Stimme – das soll Alter und Weisheit des Sandmannes ausdrücken, widerspricht aber etwas dessen trotz weißem Haar und langem Bart jugendlich-frischem Aussehen. Aber das ist ein nebensächliches Detail – ebenso, wie dass die Realfilm-Sequenzen recht dilettantisch aussehen (gemessen am Standard „normaler“ Kinoproduktionen, die nicht zuallererst einmal Puppentrickfilme sind), oder dass der Fortgang der Geschichte mitunter etwas zu willkürlich erscheint, was nicht mehr mit einer intendierten sprunghaften Traumlogik erklärt werden kann. Oder dass das Schlafschaf Nepomuk, das Miko und den Sandmann begleitet, auf die Dauer die erwachsene Aufsichtsperson doch etwas nervt: Seine Konzeption scheint an Jar Jar Bings orientiert zu sein, nun ja: das erzeugt billige Lacher bei den Kleinen. Die Großen werden dafür mit der Freud-Parodie einer Wiener Schnecke entschädigt, die sich in tiefsinnig-sinnlosen Traumdeutungen ergeht.

„Das Sandmännchen – Abenteuer im Traumland“ ist lustig, spannend, zielgruppengerecht, ohne dass es den Erwachsenen langweilen würde: und von daher genau richtig als Kinderfilm. Und ein gutes Aushängeschild für die deutsche Animationsfilmindustrie.

Im Schatten

(D 2010, Regie: Thomas Arslan)

Die kalte Mechanik des Verbrechens
von Wolfgang Nierlin

Ins diffuse Dämmerlicht der Großstadt prasselt Regen, dessen Geräuschkulisse fast alles zum Verstummen bringt. Unwirtlich und kalt ist die Atmosphäre, von grauer Transparenz die Szenerie. Wie hinter Schleiern bewegt sich …

Ins diffuse Dämmerlicht der Großstadt prasselt Regen, dessen Geräuschkulisse fast alles zum Verstummen bringt. Unwirtlich und kalt ist die Atmosphäre, von grauer Transparenz die Szenerie. Wie hinter Schleiern bewegt sich ein Mann, immer lauernd und ein Versteck suchend, durch das Halbdunkel fahler, anonymer Räume, die sich nur vorübergehend dem Privaten öffnen: Straßen, Garagen, wechselnde Hotels und Parkplätze kennzeichnen diese Passagen durchs Nirgendwo. Trojan (Mišel Matičević), ein Berliner Berufsverbrecher und schweigsamer Einzelgänger, ist „wieder draußen“ und bald darauf steckt er wieder im alten Gefüge, von allen Seiten gesucht und gejagt. Weil er bei einem früheren Auftraggeber und Bandenchef Schulden eintreibt, muss er sich den Nachstellungen zweier Killer erwehren. Daneben gerät er ins Visier eines alten Bekannten namens Renee Meyer (Uwe Bohm), der als korrupter Polizist und bad cop „auf eigene Rechnung“ arbeitet. Und schließlich ist er dabei, mit seiner früheren Pflichtverteidigerin Dora Hillmann (Karoline Eichhorn) einen neuen Coup, den Überfall auf einen Geldtransporter, vorzubereiten.

Thomas Arslan beschreibt in seinem neuen Film „Im Schatten“ eine dunkle, hermetische Welt des Verbrechens, die wie abgetrennt von der Alltagswirklichkeit erscheint und deren kühle Mechanik keine Emotionen zulässt. Diese folgt eigenen Regeln und Gesetzen, wobei Trojans Professionalität, sein rationales Abwägen der Risiken bei schwierigen Entscheidungen geradezu geschäftsmäßige Züge trägt. Wie in den Filmen des französischen Krimispezialisten Jean-Pierre Melville ist dieses „Berufsethos“ Teil einer Welt, in der die Grenze zwischen Gut und Böse, Gesetz und Verbrechen verwischt ist. Minutiös und genau, sachlich und schnörkellos inszeniert Arslan die kriminelle Arbeit seines Helden, die damit verbundenen zeitlichen Abläufe, die Geduld der Verfolger und die kalte, erschreckend präzise Gewalt, die sich in einer Mischung aus Reflex und Kalkül entlädt.

„Im Schatten“ zeichnet die zielgerichteten Bewegungen durch eine Stadtlandschaft auf; dabei erfüllt er als Film die Genre-Codes und findet zugleich einen eigenen, spannungsreichen Ton. Sein verlorener, nicht unsympathischer Held, der zwischen allen Fronten agiert, ist zum Scheitern verurteilt. Trojan verkörpert einen modernen, existentialistischen Sisyphos, dessen Arbeit vergeblich ist und dessen ephemerer Profit wie in einer Art Nullsummenspiel sinnlos zerrinnt. Als einsamer Verfolgter bleibt er auf seiner Reise durch die Nacht mit vager Hoffnung in einem negativen Kreislauf unerlöst gefangen.

Link zum Interview mit Regisseur Thomas Arslan

Rückkehr ans Meer

(F 2009, Regie: François Ozon)

Mutter werden ist nicht schwer, Mutter sein ...
von Ulrich Kriest

Manchmal scheint es ratsam, sich ohne allzu viele Vorinformationen ins Kino zu setzen und sich vom Film auf eine Reise mitnehmen zu lassen. So zum Beispiel vom neuen Film von …

Manchmal scheint es ratsam, sich ohne allzu viele Vorinformationen ins Kino zu setzen und sich vom Film auf eine Reise mitnehmen zu lassen. So zum Beispiel vom neuen Film von Francois Ozon, der im Original so schlicht wie präzise „Le refuge“ heißt. Er erzählt eine Novelle in Kleistscher Manier, berichtet von einer unerhörten Begebenheit. Es beginnt im Elend, das von Reichtum kündet. Der Dealer bringt neuen Stoff zum nicht mehr ganz jungen Paar, das sich in einer Pariser Wohnung von ungeheurer Größe »eingerichtet« hat. Louis ist ein Sohn aus bestem Hause, während die Herkunft seiner Geliebten Mousse ungeklärt bleibt, aber von Louis‘ Familie offenbar als Mesalliance gewertet wird. Nun, ein paar Minuten später hat sich Louis den goldenen Schuss gesetzt – und Mousse überlebt, obgleich sie den gleichen Stoff geschossen hat.

Im Krankenhaus erfährt sie, die Trauernde und Süchtige, dass sie schwanger ist. Louis‘ Mutter macht Mousse bei der Trauerfeier, auf der sie sich ohnehin wie eine Fremde bewegt, unmissverständlich klar, dass Nachwuchs von Louis nicht erwünscht ist. Es wirkt fast als Bockigkeit, dass Mousse sich entschließt, das Kind zur Welt zu bringen. Sie zieht sich in ein kleines Haus an der Atlantikküste zurück; der Gärtner Serge unterstützt sie im Alltag mit Besorgungen. Hatte Francois Ozon bislang alle Segel in Richtung Melodram gesetzt, so wechselt er jetzt radikal den Kurs und liefert eine sehr lässige Sommergeschichte á la Rohmer. Louis‘ jüngerer Bruder Paul, der bereits während der Trauerfeier sensibles Verständnis für die Trauernde gezeigt hatte, kommt zu Besuch. Mousse begrüßt ihn reserviert bis abweisend. Doch Paul ist charmant – und schwul. So wie Serge. Gemeinsam verbringt das Trio viel Zeit zusammen und Mousse, von der wir eigentlich nur sehr wenig wissen, schärft ihren Blick auf die Dinge, der ihr in der Drogenhöhle, die sie mit Louis teilte, abhanden gekommen war.

Ozon erzählt diese Geschichte von der Wiedergewinnung der Welt mit der gebotenen Distanz. Dabei geht es ihm jedoch gerade nicht um eine Ode an das Glück der Mutterschaft, wie sie in trivialeren Filmen angestimmt würde. Eher als beim Ungeborenen ist Mousse mit den Gedanken noch bei Louis, trinkt Methadon wie Hustensaft. So schwer es ihr fällt, eine Beziehung zum Kind zu entwickeln, so leicht scheint dies anderen zu fallen. Als Paul einmal eine Kirche besucht, entgeht ihm nicht, dass es dort nicht nur einen Marienaltar, sondern auch einen Josefsaltar gibt. Gerade einmal 90 Minuten dauert „Rückkehr ans Meer“ und es ist schon erstaunlich, welchen Weg Ozon hier zwischen Tod, Trauer, Geburt und Glück, zwischen Hoffnungslosigkeit und Zukunftsperspektive zurücklegt – ohne auf eine Botschaft zuzusteuern.

Es mag sein, dass man das in seiner Lakonie dann doch überraschende Ende als Anklang einer sexualpolitischen Utopie interpretieren kann. Doch mindestens so sehr handelt der Film vom neugierig-faszinierten Blick der Kamera auf den Körper, den Bauch einer Schwangeren. So legt man gemeinsam mit Mousse und Paul eine erstaunliche Reise zurück, wiewohl der Film das Flair einer sommerlich-entspannten Zeitverschwendung atmet. „Rückkehr ans Meer“ ist im Oeuvre Ozons wohl eher ein schnell hingeworfenes Nebenwerk, das Resultat einer günstigen Gelegenheit; dass es in seiner Gediegenheit und Profiliertheit dennoch überzeugt, belegt den Rang dieses mutig aufs Existentielle zielenden Filmemachers.

Ponyo – Das große Abenteuer am Meer

(JAP 2008, Regie: Hayao Miyazaki)

Fisch-Freundschaft
von Harald Mühlbeyer

Ponyo: so nennt der fünfjährige Sosuke den kleinen Goldfisch, den er am Strand findet. Ponyo, das Fischchen, wird seine Freundin, er kümmert sich um sie, nimmt sie im Eimer mit …

Ponyo: so nennt der fünfjährige Sosuke den kleinen Goldfisch, den er am Strand findet. Ponyo, das Fischchen, wird seine Freundin, er kümmert sich um sie, nimmt sie im Eimer mit in den Kindergarten – und sie liebt ihn zurück, so sehr, dass sie sich in ein Mädchen verwandelt, um bei Sosuke sein zu können.
Sosuke lebt bei seiner Mutter in einem Haus auf einer Klippe über dem Dorf – der Vater ist oft unterwegs, er ist Kapitän eines Dampfers. Abends blinkt Sosuke per Scheinwerfer einen Morse-Gruß an den Vater; und die Mutter, genervt wegen dessen Abwesenheit, schickt ihm auch eine Botschaft: I-D-I-O-T.
Das Goldfischmädchen Ponyo lebt unter Wasser, behütet von Fujimoto, einem Mann im Meer, der sich von den Menschen abgewandt hat, die die Bedeutung von Natur und Mythen nicht mehr kennen. Er lebt in einem Unterwasserboot, umgeben von einer Luftblase, wo er sich um die Meeresbewohner kümmert. Er gebietet über die Mächte des Wassers, und er holt Ponyo wieder zurück nach ihrem ersten Ausflug an Land, zu Sosuke.
Ponyos Mutter ist eine Göttin, Kannon, die für Sanftheit und Mitgefühl steht – von ihr hat Ponyo ihre Zaubermacht und ihre Fähigkeit zur freundschaftlichen Liebe zu einem Menschenkind.

„Ponyo“ ist wohl Hayao Miyazakis bisher größte Annäherung an einen reinen Kinderfilm (wir lassen seine Mitarbeit an „Heidi“ mal außen vor). Die menschliche Hauptfigur, der fünfjährige Sosuke, entspricht ziemlich genau der Basis-Zielgruppe, die Geschichte, die Konflikte sind kindgerecht aufbereitet, alles spielt sich ganz in der Erlebniswelt eines Kindes statt. Und andererseits ist dies ein höchst komplexer Film, der damit auch dem erwachsenen Publikum nicht nur gute Unterhaltung, sondern ein großes und wertvolles Erlebnis beschert. Allein schon dadurch, dass er die Welt eines Kindes nicht kindlich zeichnet, sondern als komplizierten und vielschichtigen Erfahrungskosmos, in dem buchstäblich alles möglich ist.

Dramaturgisch beginnt „Ponyo“ durchaus anspruchsvoll – und überaus faszinierend: Ein Mensch mit wilden Haaren in einer Luftglocke um ein Unterwasserboot kümmert sich um allerhand Meeresbewohner: so bezaubernd wie rätselhaft ist das, und Miyazaki sieht gar kein Bedürfnis, irgendetwas zu erklären. Vielmehr verfolgt er einen kleinen Goldfisch mit Menschengesicht, der ans Ufer schwimmt und dort dem Jungen Sosuke begegnet, und das scheint nun wieder eine ganz andere Handlung zu sein. Nur nebenbei, erst lange in den Film hinein, offenbart sich das Geheimnis um den seltsamen Menschen namens Fujimoto, der da im Meer lebt, der über Wellen und Fische gebietet und der, wenn er an Land geht, sich stets mit einer Pumpvorrichtung feucht halten muss. Er ist Ponyos Vater, ein Mensch, der sich fürs Meer und für die Tiere entschieden hat, gegen die Menschheit mit ihrem Dreck, mit Gift und Chemie – die Ökologie war Miyazaki schon immer ein Anliegen, am deutlichsten Wohl in „Prinzessin Mononoke“ von 1997.

Das Miteinander, die Umschlingungen von Mensch und Natur, Mensch und Göttern, Mensch und Mythen, Mensch und Fantasie sind Miyazakis Themen in „Ponyo“, und Teil dieser Agenda ist auch das Handgemachte, das sein Film niemals verleugnet. Auf traditionelle Art ist dies ein Zeichentrickfilm – und das tut wirklich gut bei all der Technisierung, die Computeranimation und 3D-Produktion in den letzten Jahren durchgemacht hat. Und welch grandiose Bilder er findet für diesen Film, von ungewöhnlichen, staunenswerten Unterwasserwelten, von urzeitlichen Fischen, die in einer Explosion des Lebens neu entstehen, von einem langanhaltenden, wellentosenden Sturm, der das Land überschwemmt, bei dem sich die Sphären von Wind und Wellen, von Wasser und Fischen auflösen; so wie sich auch nie ganz entscheiden lässt, was Luftblase unter Wasser und was Wasserblase an Land ist.

Die Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit von dem, was uns gegensätzlich erscheint, darauf will Miyazaki hinaus. Aber vor allem ist „Ponyo“ ein fantastisches Abenteuer, eine witzig erzählte Geschichte von Freundschaft, die sich ganz auf ihr kindliches Publikum einlässt, die auch familiäre Probleme nie außen vor lässt – die hektische Mutter von Sosuke mit ihrem höchst rasanten Fahrstil, der Zorn von Ponyos Vater, der nur ihr Bestes will. Ein Film, den wirklicher Zauber umhüllt.

Der Karski-Bericht

(F 2010, Regie: Claude Lanzmann)

Jenseits des Vorstellbaren
von Janis El-Bira

Zwei Tage lang hatte Claude Lanzmann den „Kurier“ des Warschauer Ghettos und Augenzeugen der Massenermordung der polnischen Juden, Jan Karski, 1978 in seinem Haus in Washington interviewt. Karski wurde zu …

Zwei Tage lang hatte Claude Lanzmann den „Kurier“ des Warschauer Ghettos und Augenzeugen der Massenermordung der polnischen Juden, Jan Karski, 1978 in seinem Haus in Washington interviewt. Karski wurde zu einer der wichtigsten und ausführlichsten Stimmen in Lanzmanns einzigartiger „oral history“, die als „Shoah“ 1986 zu einem über neunstündigen Film wurde. Beinahe fünfzig Minuten lang erzählte Karski damals noch einmal seine Geschichte, die er seit seinem schon 1944 erschienenen Buch, „Story of a Secret State“, der „Nachwelt“, den Überlebenden und den Tätern immer wieder erzählt hatte: Von seiner Zeit in der polnischen Heimatarmee, seiner Funktion als Kurier zwischen dem polnischen Widerstand und der Exilregierung in London und davon, wie er ins Warschauer Ghetto und ins Konzentrationslager Izbica (das er wahrscheinlich irrtümlicherweise für Belzec hielt) eingeschleust wurde. Er berichtet von dem Grauen, das er sah, von der Bestialität jenseits des Denkbaren. Und Karski sah, um zu berichten. Er ist womöglich, ja wahrscheinlich sogar der einzige Mensch, der freiwillig in einem Konzentrationslager untertauchte, mit dem Vorsatz, der Welt Bericht zu erstatten, Zeugnis abzulegen. Jenes Zeugnis – an sich schon die Ausnahme, denn wer von der Shoah Zeugnis ablegen konnte und kann, der war und ist eine Ausnahme gegenüber der „Regel“ des Mordens und Sterbens – ist bei Karski nicht nur ein überaus ungewöhnliches, sondern zugleich ein tragisches.

Denn wo „Shoah“ seinen Bericht wiedergab, ist „Der Karski-Bericht“, ein Film über das Berichten selbst: Lanzmann hatte sich, das führt er in einem off-Kommentar zu Beginn des „Karski-Reports“ aus, beim Schnitt von „Shoah“ aus künstlerischen Gründen gegen die Verwendung der Materialien des zweiten Interviewtages entschieden, die Karskis Zusammentreffen mit den Führern der westlichen Welt, insbesondere mit Theodore Roosevelt, zum Gegenstand hatten. Insofern ist „Der Karski-Bericht“ eine Art ausführliche, nachträgliche Fußnote zu „Shoah“, bestehend aus den damals nicht verwendeten Passagen des Gesprächs. Karski erzählt hier, selten von Lanzmann durch Nachfragen unterbrochen, wie er darum rang, Roosevelt und dem Supreme Court-Richter Felix Frankfurter das Schicksal der polnischen Juden darlegen zu können. Wo Roosevelt Karski ausweichend antwortete und offenkundig lieber über Militärisches und Fragen der Reparationsleistungen an Polen sprechen wollte, gibt Frankfurter ihm eine deutliche Entgegnung: Er glaubt ihm nicht, ohne gleichzeitig behaupten zu wollen, Karski lüge. Er könne es sich nur nicht vorstellen; weder „Herz, noch Verstand“ würden es ihm erlauben, diesen Ausführungen Glauben zu schenken.

Es ist hier, dass dem „Der Karski-Bericht“ eine Bedeutung noch jenseits der Frage „Hätten die Juden gerettet werden können?“ zuwächst: Im Nicht-Glauben an den geschilderten Horror, gegen den sich alles in Felix Frankfurter gesträubt haben muss, findet die These vom Zivilisationsbruch bezeichnend Gestalt. Niemals zuvor war in diesem Maße die Vorstellung von dem einen Menschengeschlecht derart verstümmelt, ja vielleicht vernichtet worden. Als Film über ein im wahrsten Sinne „unglaubliches“ Zeugnis, das vielleicht angehört, aber nie ganz verstanden werden kann, ist „Der Karski-Bericht“ zugleich ein Spätwerk Claude Lanzmanns, das emblematisch und erschreckend zugleich auch für die Lebensleistung dieses Filmemachers stehen mag.

Zur DVD: Nach einer TV-Ausstrahlung auf Arte im Jahr 2010 erschien „Der Karski-Bericht“ ausschließlich als Teil der Claude Lanzmann-Gesamtausgabe erstmals auf DVD. absolut Medien präsentiert den Film nun auch separat als Einzel-Disc.

12 Monate Deutschland

(D 2010, Regie: Eva Wolf)

Nesthocker und Spiegelleser
von Sven Jachmann

Ein Film als ethnographische Reise: In ihrem Dokumentarfilm portraitiert Eva Wolf vier AustauschschülerInnen, die zwölf Monate bei Gastfamilien in Deutschland verbringen. Was sie zunächst eint, sind die teilweise verheerenden Sprachbarrieren, …

Ein Film als ethnographische Reise: In ihrem Dokumentarfilm portraitiert Eva Wolf vier AustauschschülerInnen, die zwölf Monate bei Gastfamilien in Deutschland verbringen. Was sie zunächst eint, sind die teilweise verheerenden Sprachbarrieren, welche auch zuvörderst dafür verantwortlich sind, die sich schnell abzeichnenden Konflikte und Missverständnisse als Ausdruck kultureller Differenzen zu deuten. Als vorher nicht abzusehender dramaturgischer Kniff tritt später hinzu, dass alle Vier ihre Gastfamilien wechseln werden, die einen mehr, die anderen weniger freiwillig.

Die individuellen Charaktere sind schnell skizziert: Kwasi kommt aus einer Millionenstadt Ghanas und landet im 2000-Seelen-Kaff Rastenberg in Thüringen. Schon aus überbordender Langeweile scheint es ihm ein geheimes Vergnügen zu bereiten, das strenge Regelwerk des neunköpfigen, streng gläubigen Familienkreises konfrontativ auf Flexibilität zu prüfen. Constanza aus Chile trifft es noch ärger: In ihrer Familie eines 200-Einwohner-Dorfes in Sachsen-Anhalt spricht niemand Englisch und Constanzas Vorstellung vom geselligen familiären Zusammenleben weicht schnell einem tristen Alltag, der von PC und TV diktiert wird. Bei Eduardo aus Venezuela hingegen hält sich die Enttäuschung in Grenzen: Schüchtern und recht phlegmatisch gewöhnt er sich schnell ans Hamburger Stadtleben, verbleibt im kleinen Kreis weiterer Austauschschüler, nutzt den neuen Wohnraum als Rebellionsakt gegen seinen konservativen Vater und lässt sich die Haare wachsen – zum Leidwesen seiner sicher grünsympathisierenden Gastfamilie. Dort liest man den Spiegel, grinst stets aufgeschlossen, erwartet hohe Integrationsmotivationen und hält große Stücke auf Literatur. Eduardos Lustlosigkeit, seine Zeit mit der Lektüre eines deutschsprachigen Buches zu verbringen, gleicht da schon einem doppelten Affront. Die Amerikanerin Nairika zu guter Letzt verschlägt es nach Berlin Neukölln zu einer alleinerziehenden, in ihrem Alltagsverhalten dezent pathologisch anmutenden Mutter, die sich mit den Abnabelungsprozessen ihres 18jährigen Sohnes gut stellt. Auch hier wird die mangelnde Geselligkeit später zu Problemen führen.

Genau besehen portraitiert Wolf die vier ProtagonistInnen eher beiläufig. Der Film setzt an mit ihrer Ankunft in Deutschland und arrangiert sie eher als roten Faden, der durch die familiären Lebenswelten geleitet. Wenigen Interviewsequenzen stehen Bilder einer teilnehmenden Beobachtung gegenüber. Wolf tritt nicht als Akteurin, sondern höchstens als Fragestellende hinter der Kamera auf. Im Zentrum steht deutlich die Konfrontation mit dem Fremden, die die innere Dynamik der Mikroeinheit Familie auf den Prüfstand stellt. Selten jedenfalls sieht man in einem Film so viel hektisches Gesichtsgefummel und Kommunikationen, in denen sich die Gesprächspartner nicht in die Augen schauen. Um besagte Dynamiken scheint es jedenfalls tendenziell schlecht bestellt. Da werden starre Regeln aufgestellt, die gelten, „weil es eben so ist“, Brotscheiben sollten nicht zu dick vom Laib abgeschnitten werden oder zur situationsgebundenen Sprachbarriere gesellt sich direkt die habitualisierte Ratlosigkeit wie bei Constanza, die frustriert beobachtet – einer der tragikomischen Höhepunkte und ein wirklich glänzender Glücksfall einer Szene zudem -, wie sich der kollektive Stoizismus im Familienleben kultiviert: Wenn der Vater den Computerspiel zockenden Sohn zu Tisch bittet, sich schweigend gemächlich zum PC-Tisch bewegt, dem Sohn das Spielpad abnimmt und sodann selber weiterspielt, während die junge Tochter am Wohnzimmertisch zum Handheld greift, dann hätte kein Interview dieses Sinnbild kommunikativen Leerlaufs besser einfangen können.

So entspinnt sich im weiteren Verlauf ein Panorama lebensweltlicher Gemeinschaften. Ein Bruch zeichnet sich stets an jenen Stellen ab, wo sich die unterschiedlichen Vorstellungen von Familie entfernen und sich anhand der frustrierenden Erlebnisse aller vier AustauschschülerInnen zeigt, wie unverrückbar diese Modelle auf Neues reagieren. Es ist schon ein recht trister, wenn auch vergnüglicher Blick in bundesrepublikanische Realitäten, dessen Verlauf zumindest noch eine beruhigende Wendung findet: In Gestalt der getauschten Gastfamilien wartet tatsächlich auf alle Vier noch ein happy end. Woher sollten sie auch wissen, dass bereits 12 Monate Deutschland zu viel sein können, um die Bestrafung als Erfahrung schönzureden?

Fish Tank

(GB 2009, Regie: Andrea Arnold)

Ein hakenschlagender Film
von Ulrich Kriest

Hui, solch pittoreske Milieus kennt man hierzulande ja nur von RTL2 oder, wenn es zu spät ist, von der „Vermischtes“-Seite der Tageszeitung – und natürlich aus dem Kino, wenn das …

Hui, solch pittoreske Milieus kennt man hierzulande ja nur von RTL2 oder, wenn es zu spät ist, von der „Vermischtes“-Seite der Tageszeitung – und natürlich aus dem Kino, wenn das nächsten Kitchen-Sink-Drama durchgereicht wurde. Made in Britain. Mia (Katie Jarvis), 15 Jahre alt, läuft durch ihre trostlose Siedlung wie ein offenes Rasiermesser. Sie pöbelt, schlägt zu, trägt Tonnen von Wut in sich. Die Schule hat sie bereits hinter sich. Manchmal bricht sie in eine leerstehende Wohnung ein, um durch ein paar Tanz-Moves einzustudieren. Wir hören jetzt Nas mit „Life’s a bitch“ – und sieht man diese Lebensverhältnisse mit ihrer aufdringlich das Elend wegschminkenden Farbenpracht, dann glaubt man Nas jedes herausgepresste Wort.

Zunächst wundert man sich noch, woher diese Göre ihre Energie hat, doch dann lernt man ihre Familie (oder das, was davon übrig ist) kennen. Bei Mias noch recht junger Mutter (Kierston Wareing) ist die Wut auf die Verhältnisse bereits in Alkoholismus und einem Interesse an schmierigen Fummelparties umgeschlagen. Mias kleine Schwester ist auch so ein Herzchen, das immerhin zu Protokoll gibt, dass Mia die letzte sein werde, die sie beim Amoklauf erschieße. Weil sie sie so gern habe. Es ist ein herzerfrischender Rap, den die Filmemacherin Andrea Arnold („Red Road“) hier fast schon dokumentarisch festgehalten hat – als sei’s ein Film von Mike Leigh mit etwas Poesie als Dreigabe. In der Nachbarschaft steht ein angekettetes Pferd, das Mia wiederholt zu befreien versucht, was den jugendlichen Besitzern gar nicht passt. Das Pferd wird diesen Film nicht überleben. Gerade als man meint, man könne irgendwie absehen, was hier gleich geschieht, öffnet sich plötzlich eine Tür und Licht und Wärme strömen in den „Fishtank“.

Mias Mutter hat einen neuen Lover, der ein Alien zu sein scheint: Connor (Michael Fassbender) hört zu, weil er offenbar ein ehrliches Interesse an seinem Gegenüber hat. Er verfügt sogar über Ironie und Humor. Im Gegensatz zum bislang dominanten HipHop kommt jetzt klassischer Soul in den Film. Und etwas Reggae. Angesichts von so viel offenbar ehrlich gemeinter Empathie ist Mia erst sprachlos, doch dann öffnet sich das Mädchen und fasst Vertrauen. Die Annäherung zwischen der Tochter und dem Freund der Mutter mündet um ein Haar in Sozialkitsch nebst erwartbaren Eifersuchtsszenen, doch dann trinkt Connor eines Abends ein paar Bier zuviel und schläft mit Mia. Am nächsten Tag ist er verschwunden, doch Mia spürt ihn auf und entdeckt, dass sie bislang nur einen Teil der Persönlichkeit Connors kennenlernen durfte und reagiert fassungslos.

In diesen perspektivlosen Verhältnissen lauert hinter einem dünnen Firnis aus Selbstbezogenheit und Gleichgültigkeit immer die Option der Gewalt. Auf der Zielgeraden spielt der Film so überzeugend mit dieser Option, dass der Fortgang der Handlung ein ums andere Mal überrascht. Es läuft alles auf eine spektakuläre Explosion der Gewalt hinaus – was die bestehenden Verhältnisse untermauern würde. Weil man solche Geschichten ja zu kennen glaubt. In diesen letzten Minuten entwickelt der Film eine ganz erstaunliche rhythmische Wucht, wechselt permanent zwischen Macht- und Ohnmachtserfahrungen, blickt in dunkle Abgründe und verweigert dann doch das Spektakuläre, aber auch das Versöhnliche. Am Ende führt Mias Weg nach Wales – und für die Verhältnisse, die „Fishtank“ vorführt, ist Wales schon fast das Ende des Regenbogens. Großes, sozialkritisches Kino mit Wut, Wucht und etwas Herz am rechten Fleck. Ob es von der Hauptdarstellerin Katie Jarvis, die Andrea Arnold von der Straße wegcastete, als sie sich mit ihrem Freund stritt, eine weitere Performance geben wird, ist ungewiss. Sie wurde mit 16 Mutter. Wie im Film.

Piranha 3D

(USA 2010, Regie: Alexandre Aja)

When history bytes back …
von Stefan Höltgen

Dass sich der französische Regisseur Alexandre Aja nach seinem gleichsam fulminanten wie verstörenden Erstlingswerk „Haute Tension“ (2003) gleich in zweierlei Hinsicht hin zum amerikanischen Mainstream bewegt hat, ist gleichermaßen produktiv …

Dass sich der französische Regisseur Alexandre Aja nach seinem gleichsam fulminanten wie verstörenden Erstlingswerk „Haute Tension“ (2003) gleich in zweierlei Hinsicht hin zum amerikanischen Mainstream bewegt hat, ist gleichermaßen produktiv wie erfreulich. Zum einen sind seine nach „Haute Tension“ entstandenen Werke oftmals Remakes gewesen, zum anderen sind sie durch (nicht nur aber durchaus auch finanziell) solide Produktion ausgezeichnet. Im Fall des Remakes vom Joe-Dante-Fisch-Horrorfilm „Piranha“, den dieser 1978 zugleich als Kopie wie als Persiflage auf Spielbergs „Jaws“ (1974) angelegt hatte, zeigt sich der ganze intellektuelle Trickreichtum Ajas.

Denn anders als bei Dante sind Ajas Killerfische nicht das Ergebnis genetischer Tierversuche zum Zwecke der biologischen Kriegsführung – die neuen Piranhas sind eine ausgestorben geglaubte Gattung, die durch ein Erdbeben aus einem unterirdischen See an einen „oberflächlichen“ See gelangt, der alljährlich zum Ziel partyhungriger Studenten wird, die dort ihr „Spring Break“ bei reichlich Alkohol, Drogen und Sex feiern. Als der halb aufgefressene Kadaver eines Fischers (gespielt von „Jaws“-Darsteller Richard Dreyfuss) an den Seestrand gespült wird, sind die ortsansässige Polizistin (Elisabeth Shue) und ihr Deputy (Ving Rhames) vorgewarnt und versuchen die Badegäste vom Baden abzuhalten. Gleichzeitig erleiden die drei Kinder der Polizistin auf dem Piranha-verseuchten See Schiffbruch, weswegen sie sich noch besonders mit der Rettung beeilen muss.

Was als allzu chauvinistischer, Brüste und Hintern in Großaufnahme und Zeitlupe vorführender „Sexklamauk goes Horrorflic“ beginnt – und man fragt sich zwischenzeitlich wirklich, ob sich Aja ideologisch verritten haben könnte –, gerät, nachdem der Piranhaschwarm die Menschenmeute erreicht hat, zu einem der blutigsten Exzesse der Splatterfilmgeschichte. Angesichts der detaillierten Zerstörung junger menschlicher Körper und der schon mehr als sarkastischen Inszenierung von Gewalt und Schmerz wird man als Zuschauer recht brutal daran erinnert, wer diesen Film gedreht hat und dass es sich hier offenbar um eine als Destruktion getarnte Dekonstruktion handelt. Dekonstruiert wird von Ajas „Piranha“(s) zugleich die Genre-Geschichte des 70er/80er-Jahre Tierhorrorfilms, wie die Körperinszenierung neuerer Horrorfilme. Die Piranhas zerfasern die aufpolierte Schönheit ihrer Opfer, die zuvor doch bloß Oberfläche sein wollten und zeigen im Wortsinne, was in ihnen steckt. Das sind neben Knochen, Muskeln, Sehen und viel Blut auch Implantate aus Silikon, die Aja zynisch an der Kamera vorbei in Zeitlupe durch Wasser schweben lässt.

Der 3D-Effekt, der in den Film nachträglich eingebracht wurde, leistet für dieses Projekt ganze Arbeit: Das Bild geht vielschichtig in die Raumtiefe als dass Ereignisse aus ihm heraus in den Kinoraum ragen würden. Das Wasser, das von Beginn des Films an als bedrohlicher und mysteriöser Raum inszeniert wird, erhält durch diese räumliche Schichtung schnell den Charakter eines intermediären Raums, eines Mediums, durch das sich die Killerfische als Dingsymbole der Vergangenheit auf die Gegenwart zubewegen. Diese Gegenwart ist nicht nur die des Party-Strandes, sondern auch die der Filmgeschichte. Die Piranhas verkörpern ein Sinnbild von „Remake“ und zeigen, dass die Filmstoffe der Vergangenheit über durchaus so scharfe Zähne verfügen, dass sie die Images heutiger Genreproduktion aufs Leichteste zu sezieren im Stande sind.

Jud Süß – Film ohne Gewissen

(D 2010, Regie: Oskar Roehler)

Willkommen in der Wohlfühldiktatur!
von Ulrich Kriest

Einerseits ist die Geschichte ja ganz einfach. Man kann sich durchaus selbst einen Eindruck der Produktionsumstände zum inkriminierte NS-Propagandafilm „Jud Süß“ von 1940 machen, wenn man sich dafür interessiert. Es …

Einerseits ist die Geschichte ja ganz einfach. Man kann sich durchaus selbst einen Eindruck der Produktionsumstände zum inkriminierte NS-Propagandafilm „Jud Süß“ von 1940 machen, wenn man sich dafür interessiert. Es gibt Literatur zum Thema, die im Übrigen auch hoch differenziert all jene Positionen spiegelt, die jetzt auch bei der Gespensterdebatte um Oskar Roehlers Film „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ durch die Feuilletons wandert. Es gibt Verurteilungen Harlans (nicht zuletzt durch dessen Sohn Thomas, der einmal gesagt hat, wenn man als Künstler merkt, dass die eigene Kunst zum Mordwerkzeug taugt, gebe es keine Alternative zum Aufhören) und Versuche, ihn zu exkulpieren, indem man seine Melodramen gegen seine Propagandafilme ausspielte oder auch – im Stile der Totalitarismustheorie – Harlans Filme gegen die von Eisenstein ausspielte. Interessanter schienen jedoch diejenigen Ansätze, die versuchten, die Gemeinsamkeiten zwischen den Melodramen und den Propagandafilmen im Melodramatischen zu suchen. Und hier kommt Oskar Roehler ins Spiel, dem es ja gelungen ist, auf den Spuren Fassbinders oder auch Schlingensiefs („Mutters Maske“) die Form des Melodrams durch Trivialisierung und Theatralisierung aufzuheizen, was Filme wie „Suck my Dick“ oder „Agnes und seine Brüder“ ziemlich einzig in der deutschen Filmlandschaft dastehen lässt.

Laut Presseheft wurde Roehler als Regisseur für „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ gerade deshalb ausgewählt. Sagt der Co-Produzent: „Der Hauch von Wahnsinn, der seine Filme durchweht, ist für dieses Thema genau richtig. Sonst würde man in der Angst ersticken, bloß nichts falsch zu machen.“ Womit wir beim Thema wären. Scheiden sich doch nicht nur in der Kritik die Geister darüber, womit wir es bei „Jud Süß-Film ohne Gewissen“ zu tun haben. Sondern auch die Macher haben durchaus unterschiedliche Perspektiven auf ihr Projekt. Wo der eine Produzent „Wahnsinn“ sieht, rühmt der andere Roehlers „kristallklare und beinharte Analyse deutschen Lebens“. Und weiter geht‘s mit dem Vorbehaltsfilm „Jud Süß“ von 1940, der ja eigentlich seit Jahrzehnten nur in geschlossenen Vorstellungen mit Einführung zu sehen sein sollte, aber problemlos im Netz zu sehen ist. Ist der Film ein Mythos? Unsichtbar? Manche Kritiker schreiben jetzt, Harlans Film sei ein primitives, triviales Machwerk. Roehler sieht die Sache anders: „Ich war sehr überrascht. Ich hatte etwas anderes erwartet. Ich hatte mir den Film wesentlich plumper vorgestellt und erlebte plötzlich, wie gekonnt er mit Emotionen spielt, wie genau er besetzt ist, wie wirkungsvoll die Musik eingesetzt wurde. Veit Harlan schuf eine perfekte Illusion, man könnte seinen Film völlig durchgehen lassen als eine Geschichte, die in den reichen Salons spielt und wo der Bösewicht zufällig ein Jude ist. Wie beispielsweise in ‚Oliver Twist‘ von Charles Dickens oder in Gustav Freytags ‚Soll und Haben‘. Das alles ist aber nicht entscheidend. Das zentrale Problem des Films ist, dass er von Anfang an Bestandteil einer perfiden Strategie war. Ein Rad im Getriebe des Holocaust.“

Man könnte in dieser Äußerung ein ambivalentes Verhältnis Roehlers zum historischen Film erkennen: die Anerkennung eines ziemlich durchtriebenen und funktionierenden Melodrams, das durch die Zeitläufte politisiert und mörderisch wurde. Fassen wir jetzt mal kurz zusammen: „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ ist ein SPIELfilm, ein fiktives Making of des Harlanschen „Jud Süß“ nebst einen biografischen Weiterungen, zentriert um die Figur des Hauptdarstellers Ferdinand Marian, für den diese Hauptrolle die „Rolle seines Lebens“ werden sollte. Aber Marian wollte diese Rolle nicht – und auch von Harlan selbst ist überliefert, dass er lieber einen anderen Stoff verfilmt hätte. Aber Goebbels hatte die Vorstellung von einem antisemitischen Film, der auch als künstlerisch wertvoll durchgeht. Eine Antwort des Nationalsozialismus auf die bewunderten Filme der Amerikaner und der Russen. Und deshalb arbeitete mit, wer damals Rang und Namen hatte: Heinrich George, Eugen Klöpfer, Kristina Söderbaum, Hilde von Stolz, Albert Florath, Otto Hunte etc. Und eben auch Ferdinand Marian, der von Goebbels zwar „mit einigem Nachhelfen“ (Goebbels-Tagebuch) überredet werden musste, der aber als Frauenschwarm galt und sich als Verführer in Filmen wie „La Habanera“ und – nach „Jud Süß“ – in „Romanze in Moll“ profiliert hatte.

Sieht man Marian in Harlans „Jud Süß“, so hat auch hier seine Rolle als Verführer-Rolle angelegt, wodurch sein Spiel etwas Mephistophelisches bekommt. Genau diese Dimension entzieht Roehler in seinem Film Marian und zeigt ihn als politisch desinteressierten, hilflosen, nicht sonderlich intelligenten, eitlen und jederzeit promisken Hallodri, der nicht aus moralischen Gründen das Rollenangebot zurückweisen möchte, sondern eher, weil er einen Image-Schaden befürchtet. In Interviews hat Roehler betont, ihm sei es darum gegangen, die Tragik der Figur zu zeigen. Einer Figur, die sich auf ein Spiel einlässt, das ein paar Nummern zu groß für sie sei. Dieser Ansatz hat es allerdings nicht in den Film geschafft, der keiner seiner Figuren die Größe für Tragik zugesteht. Hier gibt es lauter eitle, mitunter unbedarfte Menschen, die es sich im Schatten der Macht gutgehen lassen! Menschen, die sich irgendwie durchlavieren wollen nach dem Motto „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!“ Und vor allem gibt es Künstler, die sich eingerichtet haben in den Verhältnissen, die mitspielen, aus Eitelkeit, Karrieregeilheit, Dummheit, Zynismus, aber gerne mit Hang zur pathetischen Geste. Wobei zwischen all diesen Dingen nicht sonderlich geschieden wird, weil die Grenzen fließend sind. Roehler zeigt all dies holzschnittartig, als knallige Kolportage aus tausendmal gesehenen Bildern, Szenen und Konstellationen.

Und das Resultat ist dann doch erstaunlich doppelbödig und bemerkenswert riskant. Denn es kann ja nicht einfach als ausgemacht gelten, dass sich der Untertitel „Film ohne Gewissen“ nur auf den Harlan-Film von 1940 bezieht. Was bedeutet es aber, wenn man einen Film über einen Film dreht, bei dem einst die Nazis die Creme de la creme der in Deutschland gebliebenen Schauspieler einsetzten – und man selbst tut es dem Film nach – und besetzt all die Schauspieler, die Bernd Eichinger auch immer auswählt, wenn er den „Untergang“ oder den „Baader Meinhof Komplex“ drehen will. Man kann nur staunen, wie gnadenlos Roehler mit dem Typus des „Schauspielers“ ins Gericht geht, wie auch Goebbels kurzerhand in einer der schönsten Szenen des Films zum (verhinderten?) Schauspieler und Bonvivant erklärt wird, wie mühelos der Film Geschichte und Gegenwart in Beziehung setzt. Hier kocht jeder sein eigenes Süppchen, pocht auf Privilegien – und als es einmal darum geht, dass jemand einen befreundeten Juden retten will (nicht etwa alle Juden), fällt Goebbels dem Bittsteller ins Wort: Jeder kenne schließlich einen netten Juden und – ratzfatz – plötzlich hätte man 80 Millionen netter Juden am Hals. 80 Millionen?! Darf man sich jetzt daran erinnert fühlen, dass die Goldenen Zitronen nach dem Mauerfall mal mit dem Song „80 Millionen Hooligans“ einen kleinen Underground-Hit hatten? Nimmt man solche Spreng-Sätze und addiert den dumpf-mörderischen Ausdruck in den Gesichtern der jungen deutschen Soldaten im Frontkino hinzu, dann muss man schon sagen: Roehlers Film ist schon sehr angewidert von den Menschen, die er hier porträtiert, und explizit deutschenfeindlich. Was der Original – „Jud Süß“ von 1940 – zumindest aus heutiger Perspektive in seinen Pogrom-Szenen übrigens auch schon war. (Nur zur Erinnerung: Der Jude als Verführer der Frauen und Kinder spukt schon sehr früh in den Köpfen der braven Stuttgarter Bürger herum. Von der fast schon komischen Keuschheit der Ehe zwischen dem Schreiber und der Tochter Sturms nicht zu reden. Es scheint, als benötige der temperamentvolle Jüngling all seine Energie für seine antisemitischen Ressentiments.) Der Tanz auf dem Vulkan speist sich aus eklatantem Menschenhass, Minderwertigkeitskomplexen und Impotenz. Ungleich stärker als um Moral kreist „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ um sexuelles Begehren – und zwar auf allen Ebenen. So wie Harlans „Jud Süß“ um die Verführung der Söderbaum zentriert ist (und der Aufstand gegen den Juden Oppenheimer aus der Erfahrung der Impotenz der Stuttgarter Bürger erwächst), so ist Roehlers Film geradezu eine Choreografie der Geilheit. Weshalb die häufig als geschmacklos kritisierte Szene vom Fick beim Luftangriff, bei der die arische Ehefrau des SS-Mannes, der im Osten den Holocaust abwickelt, den Schauspieler Marian dazu anhält, noch einmal die Rolle des Jud Süß Oppenheimer zu spielen, auch der Moment, an dem die sexuellen Energien des Films zusammenkommen. Hier ist Roehler ganz nah bei Pasolini und Schlingensief – und bei unserer Gegenwart.

Man hat Roehlers Film ein paar (durchaus vermeidbare) historische Fehler und Zuspitzungen vorgehalten, aber worauf gründet denn die Annahme, hier werde ein historischer Stoff »authentisch« rekonstruiert. (Man denke nur an die pointiert melodramatische Zuspitzung von Marians Tochter, die aus der Schule die „neuen“ Werte und das Horst Wessel-Lied mit nach Hause bringt und ihre »liberalen« Eltern sprachlos macht!) „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ erzählt von der psychischen Disposition des Mitmachens, erzählt von Sexualität und Entfremdung, von Masken und Fehl-Haltungen, von Karrieregeilheit und Selbstekel beim Blick in den Spiegel. Im Presseheft zum Film findet sich ein Statement des Produzenten Franz Novotny, das sich liest, als ginge es um Berlin Mitte, obwohl es um das „Leben in der Wohlfühldiktatur“ gehen soll: „Denn das Leben in der Spaßgesellschaft der 30er sah ganz anders aus, als wir es wahrhaben wollen: Smarte urbane Menschen suchen Vergnügen, Mercedesfahren ist auf den breiten Chausseen ein Heidenspaß, die Restaurants sind ein Genuss, die Mädels werfen sich einem an den Hals, es ist einfach berauschend als erfolgreicher, junger Aufsteiger in dieser deutschen Stadt Berlin zu leben. Wir sind beim Film! Wir können Karriere machen, Hitler und Goebbels geben uns die Chance! Dafür nimmt man einiges in Kauf, Kleinigkeiten wohl, bei denen man wegsehen kann. Das bisschen Uniform, das mit den Juden, das gibt sich wieder. (…) Wir nehmen die Korrektur vor: Es war pfiffig und angenehm, sich zu den passiven und den aktiven Befürwortern des Systems zählen zu können. Man hat sich‘s bis weit zum Untergang sehr gut gehen lassen.“ Man wüsste allzu gerne, ob die Schauspieler, die hier ihre opportunistischen Vorgänger mit Verve bei ihrer Arbeit und in ihrer Freizeit zu porträtieren wussten, zumindest ahnten, auf welches böse Spiel sie sich eingelassen haben.

Wie man es dreht und wendet: man kommt bei diesem Film aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Man staunt über die Boshaftigkeit und die Verachtung, die der Film über Bande seinen eigenen Darstellern entgegenbringt. Man staunt über Kritiken, die nichts Besseres zu tun haben, als dem Film seine historischen Fehler vorzuhalten und darüber seine Qualitäten übersehen, so als müsste das Schmuddelkind Roehler in die Schranken gewiesen werden, wenn es ums Seriöse geht. Deutsche Geschichte ist hierzulande eben Chefsache – und der Chef zeigt uns, wie es wirklich zuging in deutschen Landen, die Menschen hinter den Monstern. Und dann liest man die etwas verzagten, mal defensiven, mal offensiven, mal hadernden Statements und Interviews der Filmemacher, vom Regisseur, vom Drehbuchautor, von den Produzenten, von den Schauspielern und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier jeder an seinem eigenen Film gearbeitet hat, dass jeder Beteiligte eine andere Sicht der Dinge hat. Und das ist ja nun fast wieder wie bei „Jud Süß“, dem Original von 1940, der, wie Veit Harlan in „Im Schatten meiner Filme“ behauptet hat, den erbitterten Kampf eines Juden wider den grassierenden Antisemitismus zeige.

Der letzte Exorzismus

(USA / F 2010, Regie: Daniel Stamm)

Southern Gothic for the Digital Age
von Harald Steinwender

Jesus selbst sei ein Exorzist gewesen, erklärt der charismatische Prediger Cotton Marcus (Patrick Fabian) dem Filmteam, das sich aufgemacht hat, einen modernen Dämonenaustreiber zu porträtieren. Doch Marcus, einst ein eifernder …

Jesus selbst sei ein Exorzist gewesen, erklärt der charismatische Prediger Cotton Marcus (Patrick Fabian) dem Filmteam, das sich aufgemacht hat, einen modernen Dämonenaustreiber zu porträtieren. Doch Marcus, einst ein eifernder evangelikaler Priester und noch immer praktizierender Exorzist, glaubt schon lange nicht mehr an den Teufel. Exorzismen betrachtet er eher als einen Gemeindedienst, das letztmögliche Mittel, wenn Schulmedizin und Psychiatrie nicht mehr helfen. Nebenbei sind sie eine gute Einkommensquelle für den Prediger. Und so sind seine Exorzismen allesamt Scharlatanerie, bei der geschickt platzierte Drähte, Soundeffekte und theatralische Mimik zum Einsatz kommen. Meist reicht das aus, den oder die „Besessene“ zur Räson zu bringen, gewissermaßen als spirituelles Placebo. Nun aber will der Priester aus dem Geschäft aussteigen. Ein fehlgeschlagener Exorzismus an einem autistischen Jungen hat ihn endgültig vom Glauben an sein Tun abgebracht. Nur einen allerletzten Exorzismus will er noch durchführen, dem Dokumentarteam zuliebe, und dabei alle seine Tricks aufdecken. Dass es dieser letzte Exorzismus in sich haben wird, daran zweifelt niemand, der mehr als einen Horrorfilm gesehen hat.

Also fahren Marcus und das Filmteam nach Louisiana, Mississippi, in den tiefsten Süden; dahin, wo die Menschen noch etwas anders ticken, in vernuscheltem Singsang sprechen und schon vor Katrina die Armut groß und der Glaube noch stärker war. Ein weißer Farmer (Louis Herthum) hat um Hilfe gebeten: seine bislang lammfromme Teenagertochter (Ashley Bell) schlachtet im Schlaf sein Vieh und bekommt von ihrem Kruzifix Ausschlag. So etwas muss ja mit dem Teufel zugehen. Der Weg zu der abgelegenen Farm – und abgelegen sind Farmen in dieser Sorte Film immer – ist gepflastert mit bösen Omen: fast verwittert wirkt die Landschaft, die an den Autoscheiben vorbeizieht, die Menschen, die die Besucher nach dem Weg fragen, bestenfalls seltsam, ein rothaariger Teenager wirft gleich fauliges Obst gegen die Heckscheibe, dem Soundeffekt sei Dank der erste Schock des Films. Auf der Farm wird das Team schnell mit einer Situation konfrontiert, von der bis zuletzt unklar bleibt, ob sie Resultat religiösen Wahns, familiärer Gewalt oder ganz reales Teufelswerk ist (oder gar etwas von allem).

Bis zum bitteren Ende wird das alles konsequent durch die Kameras des Filmteams gezeigt – verwackelt, mit Aussetzern und Sprüngen, irritierenden Schwenks, kurz: allem, was Unmittelbarkeit suggeriert. Wenn innerhalb der Handlung die Aufnahmen abgebrochen werden, bleibt auch im Kino die Leinwand schwarz bzw. die Handlung setzt eine Ellipse später wieder ein. Wer das Material allerdings geschnitten haben und für den großartigen Sound verantwortlich sein soll, bleibt unbeantwortet. So könnte man „Der letzte Exorzismus“ als „Mockumentary“ oder Fakedoku aus „found footage“ beschreiben.

Das ist natürlich eine alles andere als neue Idee. Spätestens nachdem „The Blair Witch Project“ (1999) dank geschicktem viralen Marketing unverschämt viel Geld in die Kassen des kleinen Artisan-Studios gespielt hatte, war klar, dass die Mischung aus verwackelt-unscharfen Kamerabildern, digitalen Dropouts und allerlei esoterisch-mystischem Brimborium nicht der einzige Vertreter seiner Art bleiben würde. Neben dem unvermeidlichen Sequel „Book of Shadows: Blair Witch 2“ (2000) folgten, mehr oder weniger deutlich an der Vorgabe orientiert, der spanische Beitrag „[REC]“ (2007), aus den USA „Paranormal Activity“ (2007) und „Cloverfield“ (2008), zuletzt die Fortsetzungen „[REC] 2“ (2009) und – fertig gestellt, aber noch nicht gestartet – „Paranormal Activity 2“ (2010). Selbst solide Genreware wie Zack Snyders „Dawn of the Dead“-Remake (2004), Neil Marshalls origineller „The Decent“ (2005) und George A. Romeros „Diary of the Dead“ (2007) kam nicht mehr ohne Sequenzen aus, in denen die Protagonisten nicht wenigstens sporadisch das Geschehen selbst filmten und in deren Folge uns dann das meist grünstichige Gekrissel als Realismus verkauft wurde. Im Rückblick gelang es eigentlich nur Neill Blomkamp im fulminanten Auftakt seiner Anti-Rassismus-Satire „District 9“ (2009), der Idee der Fake-Dokumentation noch einmal neuen Reiz abzugewinnen.

Jenseits des pseudorealistischen Mehrwerts bietet die subjektive, vermeintlich von den Protagonisten selbst geführte Kamera im Kino das Versprechen einer neuen Unmittelbarkeit. Die Mockumentary, also der gänzlich gefälschte Dokumentarfilm, ist der zumindest potentiell subversive Endpunkt dieser Tendenz. Dass viele dieser Filme sich jedoch mit Aberglaube, Satanismus und Geistern beschäftigen, kurz: mit allem, was Paranoiker und Esoteriker begeistert, verwundert nicht. Die paranoide Vorstellung, dass nichts ist, was es scheint, lebt gerade von den gefälschten oder unscharfen „Beweisen“ angeblicher übernatürlicher Aktivitäten – sei es nun die Teufelsfratze, die in Fotografien der Rauchschwaden über den Twin Towers am 11. September zu sehen ist, die Schnappschüsse des toten Michael Jackson, der in seiner Neverland-Villa wandelt oder überbelichtete Bilder von Geistern. Der an Phantasie schwache Geist benötigt „Beweise“ gleich einem Talisman, egal wie offensichtlich falsch sie sind. Was für den Spiritismus der Jahrhundertwende die Fotografie war, erfüllt heute für das mit dem Okkulten beschäftigte Kino die Digitalkamera – als unmittelbarer Signifikant von Realismus und Authentizität.

Warum also sollte man sich einen weiteren Film ansehen, der sich dieser Stilmittel bedient und obendrein offenbar an William Friedkins reaktionärem Über-Horrorfilm „The Exorcist“ angelehnt ist? Ganz einfach, weil „Der letzte Exorzismus“ ein überraschend effektiver, mit reichlich schwarzem Humor versehener kleiner Genrebastard ist, der eher an die Traditionen des sleazig-trashigen 70er-Jahre-Kinos anschließt als an allzu prätentiöses Bekehrungskino à la Friedkin. In seiner Konsequenz erinnert Daniel Stamms Film dabei an Ti Wests ausgezeichnetem Retro-Horror „The House of the Devil“ (2009). Und im Gegensatz zu seinen ebenfalls nach Hollywood ausgewanderten Kollegen Marcus Nispel und Christian Alvart gelingt es dem in Hamburg geborenen Stamm, trotz – nicht aufgrund – des falschen dokumentarischen Gestus so etwas wie eine höhere Glaubwürdigkeit zu erzeugen. Das liegt vor allem an den ausgezeichneten Schauspielern, dem authentischen Südstaatensetting und daran, dass der Film sehr geschickt schon im ersten Akt innerdiegetisch seinen eigenen „Fake“-Charakter thematisiert, wenn der vermeintliche Exorzist sich mit entwaffnender Offenheit als begabter Scharlatan outet. Auch das geringe Budget – „Der letzte Exorzismus“ hat gerade einmal 1,8 Millionen Dollar gekostet, aber allein in den USA bereits über 40 Millionen eingespielt – trug zu einer dramaturgischen Begrenzung aufs Nötigste bei, was dem Film sehr zu Gute kommt.

Wer also nach dem eher lauen Horrorsommer und vor dem Start von Alexandre Ajas grotesk-großartiger 3D-Schlachtplatte „Piranha 3D“ Lust auf ein gelungenes Genrestück hat, der sollte Daniel Stamms veritablem Terrorfilm eine Chance geben. Im Idealfall allerdings in der englischen Originalfassung. Der eingedeutschte Trailer lässt in Bezug auf die Synchronisation leider Schlimmstes vermuten. Und wie erklärt schon der falsche Exorzist dem Filmteam in „Der letzte Exorzismus“: Der Sound ist immens wichtig für das Gelingen einer guten Show.

Humpday

(USA 2009, Regie: Lynn Shelton)

Männerfreundschaft ist keine Männerliebe. Oder doch?
von Harald Mühlbeyer

Ben, gehobener Mittelstand, der den Weg der familiären Sicherheit gegangen ist; und Andrew, der als weltenbummelnder Möchtegernkünstler stets seiner Freiheit gefrönt hat: diese beiden Freunde, die das Leben kennen, die …

Ben, gehobener Mittelstand, der den Weg der familiären Sicherheit gegangen ist; und Andrew, der als weltenbummelnder Möchtegernkünstler stets seiner Freiheit gefrönt hat: diese beiden Freunde, die das Leben kennen, die einander kennen und sich selbst, entwickeln einen wagemutigen Plan, so kühn, dass sie all ihre Courage zusammennehmen müssen, um überhaupt zu verstehen, wie sie damit umgehen sollen.

Zuvor war Andrew in Bens trautes Heim geplatzt. Ben ist häuslich, ein liebender Ehemann, der mit seiner Frau kräftig am Projekt Nachwuchs arbeitet – der erwünschten Krönung ihrer Kleinstadtidylle. Andrew ist ein Globetrotter, ein Freigeist, der immer und überall dabei ist, sich in der Underground-Kunstszene rumtreibt, durch Marokko und Südamerika als Backpacker unterwegs war: einer, der sein freakiges Bohemien-Dasein offensiv zelebriert. Ein Zusammenprall der Gegensätze ist es, als Andrew eines Nachts bei Ben vor der Haustür steht. Aber selbstverständlich darf er dort unterkommen, schließlich waren sie im College die besten Freunde; auch wenn sich ihre Lebenswege weit voneinander entfernt haben.

Mit Andrew kommt ein Element der Freiheit in Bens Spießerleben; und nicht nur, dass Ben am Abend darauf ein lange geplantes romantisches Abendessen verpasst, ärgert seine Frau. An diesem Abend gleitet Ben in eine Welt hinab, die er nicht kannte: Andrew hat schnell die örtliche Künstlerszene ausgemacht, jetzt feiern sie Party: „It’s a place called Dionysos, and they’re not kidding.“ Hier, in alkohol- und drogenumschwängerter Nacht, in libertinärer Atmosphäre, reift ihr verrücktes Vorhaben: für das Humpfest, ein regionales Porn-Art-Festival, wollen Ben und Andrew ein eigenes Projekt entwickeln: einen Amateur-Schwulenporno mit dem Clou, dass sie beide als Darsteller hetero sind. Ein Porno als Manifest ihrer nicht-sexuellen Freundschaft – das muss ja wohl wirkliche Kunst sein!

Regisseurin Lynn Shelton ist ganz genau in der Charakterisierung ihrer Figuren, die nie ins Karikatureske abgleiten. Vielmehr setzt genau in dieser absoluten Gegensätzlichkeit einer Freundschaft die Dynamik ein: Ben, der Spießer, sehnt sich heimlich nach dem Geruch von Freiheit und Abenteuer, und Andrew, der free bird, sucht eigentlich ein Nest, etwas Festes, an das er sich halten kann. Auf der Schiene dieser Männerfreundschaft funktioniert Sheltons Film wunderbar – und nein, natürlich sind die beiden strikte Heteros, ganz klar. Aber wie soll man das anderen erklären, wenn man vorhat, einen Männerfick zu filmen? Wie soll sich Ben vor seiner Frau rechtfertigen? Wird ihre Freundschaft bestehen bleiben, wenn zuviel Körperlichkeit aufkommt? Mehr zumindest, als bei einem männlichen Sport wie Basketball erlaubt ist, auch wenn der ebenfalls dazu führen kann, dass sich zwei Freunde ineinandergeklammert über den Rasen wälzen, zur Verwunderung der Nachbarskinder…

Das ist eine Beziehungskiste mit viel Komikpotential, das mit gutem Timing und guten Darstellern gut ausgeschöpft wird – es geht natürlich um die Männlichkeit, um die Frage, wie schwul man eigentlich ist, wenn man sich für hetero hält; und ob eine Abweichung von der Norm eigentlich so schlimm ist.
Und vielleicht ist es das, was dem Film selbst fehlt: ein wenig mehr Unkonventionalität, ein wenig mehr Wagemut hätte man sich gewünscht. Natürlich ist dies ein Independent-Film, und eine Komödie, die sich einigermaßen ernsthaft mit Fragen der Grenzen des eigenen, festgefügten Heterokosmos auseinandersetzt, ist im Mainstream eigentlich nicht so recht zu finden. Aber „Humpday“ besteht eben trotz allem aus den Feelgood-Elementen der Hollywood-Studiokomödie: Freundschaft versus Liebe, Lügen und Missverständnisse, das Aufeinanderprallen verschiedener Lebensgefühle, warmherzige Figurenzeichnungen, das sich Öffnen für den Lebenspartner und den Freund, an denen man neue Seiten entdeckt, eine stetige Gewissheit von so etwas wie einem Happy End. Zwar wirkt die Prämisse unkonventionell: ein Schwulenporno von Heteromännern fürs Porno-Kunst-Festival. Aber das ist nur der Katalysator für eine Buddy-Geschichte, bei der am Ende, beim Höhepunkt, die Freunde dann doch den Schwanz einziehen. Was irgendwie auch Shelton in ihrer zu gefälligen, zuwenig eigentümlichen Inszenierung tut.

Black Death

(GB / D 2010, Regie: Christopher Smith)

Mittelalter, dystopisch gelesen
von Sven Jachmann

Seit jeher werden die kinematographischen Bilder der (Post-)Apokalypse von einer bestenfalls ambivalenten Erlösermystik begleitet. Das war bereits bei „The Omega Man“ oder vielen Katastrophenfilmen der 70er der Fall und ist …

Seit jeher werden die kinematographischen Bilder der (Post-)Apokalypse von einer bestenfalls ambivalenten Erlösermystik begleitet. Das war bereits bei „The Omega Man“ oder vielen Katastrophenfilmen der 70er der Fall und ist motivisch auch in zeitgenössischen Produktionen wie „I am Legend“, „The Book of Eli“ oder „2012“ mehr oder weniger augenscheinlich erhalten geblieben. Die kargen, aschfahlen Aufnahmen in „Black Death“ hingegen binden die Apokalypse unmittelbar an den Historismus – sie staffieren die Pest im England des Jahres 1348. Eine reale Katastrophe lässt natürlich nur begrenzt Spielraum für Ideenexperimente zu. Aber obwohl Christopher Smith in seiner vierten Regiearbeit alle Weichen zunächst in Richtung mysteriöser Mittelalterhorror lenkt, erzählt er letztlich von einer Welt im Angesicht ihres Niedergangs, der umso bedrohlicher wirkt, desto mehr unser gegenwärtiger Blick um die Ursachen der Pest weiß.

Denn was der junge Mönch Osmund (Eddie Redmayne) und der Ritter Ulric (Sean Bean) samt seiner Gefolgschaft auf ihrer Reise präsentiert wird, ist der Ausnahmezustand. Vom Bischof ausgesandt, um das mutmaßlich teuflische Treiben eines Dorfes inmitten der Wälder, das vom schwarzen Tod verschont blieb, aufzuklären, streifen sie marodierende Banden, Scheiterhaufen errichtende Bauern und sich selbst kasteiende Büßertrupps. Von der Seuche und den Kämpfen immer stärker dezimiert, erreichen sie schließlich das geheimnisvolle Dorf, das auf den ersten Blick als trügerisches Idyll einem sonderbaren Utopia ähnelt. Unter der Schirmherrschaft der Heilerin Langiva (Carice van Houten), deren Mann einst von Kreuzrittern getötet wurde, hat man sich hier tatsächlich einem obskuren heidnischen Brauchtum verschrieben. Die Konfrontation der Glaubenssysteme indes folgt den Prämissen der Sinnstiftung: die alte Ordnung droht zu zerbrechen und für den Ausbruch der Pest lässt sich kein Verantwortlicher finden. Die Erosion aller Gewissheiten und der letztlich folgenlose Kampf um die richtige Erklärung dieser Erosion gleichen strukturell den apokalyptischen Erzählungen.

Dies gilt auch für den zunächst metaphysisch anmutenden Teil des Plots. Denn Langiva besitzt keinerlei heilende Kräfte, sondern sinnt in Gestalt eines völlig weltlich grundierten Antichristianismus auf Rache. Ihr gegenüber verhält sich die christlich beauftragte Söldnergruppe wie Vertreter des gleichen und ebenso ratlosen Machtprinzips (das ausgerechnet im friedliebenden, auf die Unantastbarkeit der menschlichen Unschuld setzenden Osmund eine grausige Pointe erhält). Zentrum aber bildet die Deutungshoheit über eine Welt, die ihrem Verfall preisgegeben ist. Drum ist es auch völlig zweitrangig, ob Smith die Hexenverbrennung im Sinne der historical correctness rund hundert Jahre zu früh datiert: Was als mystery story beginnt, wird durch Rückgriff auf eine vordergründige Religionskritik zu einer handfesten, universalen Dystopie formuliert, an der wohl am meisten verstört, dass sie für die Anatomie der menschlichen Destruktivität kein Zukunftsszenario mehr benötigt, sondern bloß aus ihrer realen Geschichte zu schöpfen braucht.

Die Gezeichneten

(D 1922, Regie: Carl Theodor Dreyer)

Der russische Bauer, grau wie die Erde, schrecklich, wenn er sich erhebt
von Klaus Kreimeier

Zwischen 1918 und 1964 hat Carl Theodor Dreyer, außer Dokumentarfilmen im Auftrag der dänischen Regierung, 14 Filme gedreht, davon nur sechs in seiner dänischen Heimat, jeweils drei in Schweden und …

Zwischen 1918 und 1964 hat Carl Theodor Dreyer, außer Dokumentarfilmen im Auftrag der dänischen Regierung, 14 Filme gedreht, davon nur sechs in seiner dänischen Heimat, jeweils drei in Schweden und Deutschland, einen in Norwegen, sein „chef-d’œvre“ ‚La Passion de Jeanne d’Arc‘ in Frankreich. Geschäftlich gesehen, produzierte er, alles in allem, eine Kette allenfalls mäßiger Erfolge; das erklärt, warum dieses Werk so schmal ist und die Zeit zwischen den Filmen oft so lang. Stets muss er sich um die Finanzierung Sorgen machen, nach kleinen Firmen oder Mäzenen Ausschau halten, die ihr Interesse verlieren, wenn ein Film nicht sein Geld eingespielt hat. Die Produzenten, mit denen er es zu tun bekommt, sagen ihm nach, er sei ein extravaganter, halsstarriger Typ. So wenig wie Georg Wilhelm Pabst hat Dreyer ein in sich geschlossenes „Gesamtwerk“ hinterlassen, vielmehr mit sehr unterschiedlichen Genres experimentiert: mit dem historischen Drama und dem psychologischen Kammerspiel, dem aktuellen „Zeitbild“ und dem Vampirfilm. Frieda Grafe schrieb über Dreyers in Berlin gedrehten Kammerspielfilm ‚Michael‘ (1924), dies sei „ein deutscher Film, weil es ein Studiofilm ist, in dem die Enteignung des klassischen Raums sich ankündigt.“

In der Tat ist zwischen 1920 und 1930 der Studiofilm, Marke Ufa, ein deutsches Medienprodukt, das teilweise sogar auf den ausländischen Märkten reüssiert. Auch Dreyers Film ‚Die Gezeichneten‘ von 1921/22, produziert von der kleinen Firma Primus, ist ein Studiofilm, sieht aber nicht wie ein deutscher Film aus. Studios repräsentieren nationale Kinematografien, aber sie verfügen auch über je eigene technische, räumliche, nicht zuletzt ökonomische Bedingungen, die wiederum das Produktdesign mit bestimmen.

Über die Primus-Film GmbH in Berlin ist wenig in Erfahrung zu bringen. Filmtitel aus ihrem Studio sind aus der Zeit zwischen 1920 und 1929 überliefert, so dass anzunehmen ist, dass sie zu den vielen kleinen und mittelgroßen Firmen gehörte, die in Deutschland aus der Film- und Kino-Hochkonjunktur des 1. Weltkriegs hervorgegangen waren. Nach 1918 arbeiteten neben Asta Nielsen zahlreiche dänische Filmkünstler und Kameraleute in Deutschland. Die medienhistorisch so produktive dänisch-deutsche Film-connection aus der Zeit vor 1914 war noch lebendig, es gab entsprechende Seilschaften, und Dreyer war nach seinen ersten drei in Dänemark und Schweden entstandenen Filmen kein Unbekannter mehr.

Als Vorlage für „Die Gezeichneten‘ benutzt er einen dänischen Roman, „Elsker hverandre“ von Aage Madelung, der antisemitische Pogrome im vorrevolutionären Russland in den Jahren zwischen 1900 und 1905 behandelt. Für Dreyer sind die politische Lage in Russland und die russische Kultur ein fremder Stoff, auch mit dem Thema des Antisemitismus hatte er sich bisher noch nicht befasst. Aber er ist neugierig und wendet Zeit, Geduld und intensive Arbeit auf, um sich mit beidem vertraut zu machen.

Berlin ist Anfang der 20er Jahre eine internationale Medienstadt. Hier leben russische Schriftsteller, Künstler, Schauspieler und Intellektuelle jeglicher Couleur; es gibt russische Theater, Zeitungen und Verlage – und ungezählte Emigranten, darunter Juden, die vor den Pogromen, Demokraten, die vor der Zarenherrschaft und Zaristen, die vor den Bolschewiki geflüchtet waren. Dreyer sucht ihre Nähe; er sitzt mit ihnen, so berichten seine Biographen Jean und Dale D. Drum, in ihren Cafés, lauscht ihren Erzählungen und Liedern, will so viel wie möglich über Kultur und Lebensweise im vorrevolutionären Russland erfahren. Er sammelt Bücher und Fotografien, um sich ein Bild von russischer Architektur, dem Alltag auf dem russischen Dorf und russischen Landschaften zu machen.

Madelungs Roman ist die Basis für das Handlungsgerüst des geplanten Films; darüber hinaus betreibt Dreyer oral history und nutzt eine Vielzahl von Medien, um das Gerüst mit Anschauung zu füllen. Sein Ziel ist ein Höchstmaß an filmischem Realismus. Aus der äußerst komplexen, mehrschichtigen, vielfach verzweigten Handlungsstruktur des Romans soll ein eingängiger, die Menschen anrührender und ergreifender Film entstehen. Dreyer baut ein kleines Heer aus russischen und jüdischen Komparsen und Laiendarstellern auf; dabei geht es ihm ausdrücklich um die Vermeidung von Professionalität. Für die Hauptrollen engagiert er Schauspieler aus fünf Ländern, darunter frühere Stars des Moskauer Künstler-Theaters, Repräsentanten eines spezifischen Realismus, des Bühnenrealismus Stanislawskijscher Prägung.
Die Filmhandlung verdeutlicht die Schwierigkeiten, vor denen Dreyer stand, als er aus dem komplexen Roman ein schlankes Drehbuch machen wollte. Eine kleine Stadt am Dnjepr nach der Jahrhundertwende; revolutionäre Umtriebe erschüttern das Land; ihre Urheber bleiben im Film unklar, nur ein Zwischentitel vermittelt die politische Stimmung des Jahres 1905: „unter dem strahlenden Banner der Freiheit“ versammelt sich die Jugend des Landes, Bauern und Arbeiter sollen im Kampf für ihre Rechte zusammenstehen. Eine junge Jüdin, Hanne-Liebe, besucht ein christlich-orthoxes Gymnasium, wird jedoch von der Schule gewiesen, als ein früherer Jugendfreund, Fedja, Sohn eines reichen Kaufmanns, sie wegen ihrer Liebesaffäre mit dem Studenten Sascha denunziert. Vergeblich versucht ihre Familie, Hanne schnell unter die Haube zu bringen – sie flüchtet nach Sankt Petersburg zu ihrem Bruder Jakow, einem Anwalt, der mit einer Aristokratin verheiratet und zum christlichen Glauben übergetreten ist, um in seinem Beruf arbeiten zu können. Jakow bringt seine Schwester im Haus eines Freundes unter, da seine Frau sich weigert, Hanne-Liebe aufzunehmen.
Im zweiten Teil des Films rücken die politischen Konflikte im Vorfeld der Revolution von 1905 in den Vordergrund. Hanne trifft in Sankt Petersburg ihren Studenten Sascha wieder; er wurde inzwischen von einem zwielichtigen Agitator, Rylowitsch, in einen revolutionären Zirkel eingeführt. Jakow, der Anwalt, entlarvt Rylowitsch als Agenten der zaristischen Geheimpolizei. Bei einem oppositionellen Treffen wird Sascha verhaftet, Hanne wird in ihren Heimatort ausgewiesen. Rylowitsch rät der Regierung, von der revolutionären Gefahr durch Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung abzulenken – eine Intrige, die nicht zwingend erscheint und im Film nicht schlüssig erklärt wird. Rylowitsch zieht nun als Mönch durch das Land und wiegelt, sehr erfolgreich, die Bauern gegen die jüdische Minderheit auf.
Im dritten Teil spitzt sich die revolutionäre Situation zu, gleichzeitig schlägt die Pogromstimmung in Gewalt um. In Sankt Petersburg werden die politischen Gefangenen entlassen, auch Sascha kommt frei. Als Jakow in seine Heimatstadt fährt, um seine todkranke Mutter und seine Schwester Hanne zu besuchen, gerät er in eine gefährliche, antisemitisch aufgeheizte Situation. Die Proklamation des Zaren zu den bürgerlichen Freiheiten begeistert die Bauern; gleichzeitig schüren Fedjas Vater, der Kaufmann Suchowerski, und Fedja selbst den Hass gegen die Juden, stacheln die Menschen zu gewaltsamen Aktionen und zum Sturm auf das jüdische Viertel an. Im Tumult wird Jakow von Rylowitsch erschossen. Fedja versucht, Hanne-Liebe zu vergewaltigen. Sascha, der etwas unvermittelt wieder auf der Bildfläche erscheint, rettet Hanne und erschießt Fedja. Hanne und Sascha fliehen aus der Stadt und brechen gemeinsam in eine ungewisse Zukunft auf.
Der Wucht des Stoffes sucht Dreyer durch Authentizität, durch einen nachgerade fotografischen Realismus Herr zu werden. Auf einem Freigelände in Berlin-Lankwitz lässt er eine russische Ghetto-Landschaft aus dem Boden stampfen, ein Ambiente, das den legendären, teilweise gleichzeitig entstehenden Monumentalfilmen Joe Mays und ihren Außen-Sets in Berlin-Weißensee etwas Entscheidendes voraus hat: Dreyer kann sich auf die Berichte, Erinnerungen, Dokumente, Fotografien zahlloser Augenzeugen stützen, eben jener Emigranten, die er um sich geschart hat – sie sind ja nicht nur aus einem Land, sondern, aus sehr unterschiedlichen Gründen, auch aus ihrer Epoche emigriert: sie haben einer Zeit, die politisch und kulturell noch dem 19. Jahrhundert angehört, den Rücken gekehrt und sind in der westlichen Moderne, der Medien-Moderne des 20. Jahrhunderts angekommen. Sie sind es, die Dreyer in Fragen der Bauten, des Dekors, der Kostüme und Requisiten bis in die Details beraten.
Unter ihnen sind viele Juden, die Dreyer in Nebenrollen und als Komparsen einsetzt; die Oktoberrevolution hat sie aus Russland vertrieben und heimatlos gemacht. Andere kommen aus Polen und Galizien und bewohnen jetzt, wie Jean und Dale Drum schreiben, „die wachsenden jüdischen Quartiere im Berliner Norden, wo sie sich gegen das moderne Deutschland abschirmen und die ihnen vertrauten Lebensweisen aus den alten Zeiten pflegen.“ Einige von ihnen haben nie zuvor eine Filmkamera gesehen oder von der Existenz des neuen Mediums gehört.
Auch die weibliche Hauptfigur, Hanne-Liebe, will Dreyer ursprünglich mit einer Laiendarstellerin besetzen, entscheidet sich aber für eine russische Gräfin, Polina Piekowskaja vom Moskauer Korsha-Theater. Angeblich entkam sie der Hinrichtung durch die Bolschewiki, weil dem Erschießungskommando die Munition ausgegangen war. Aus der Stanislawskij-Schule am Künstlertheater kommt der Pole Ryszard Boleslawski, der den Bösewicht Fedja spielt, ebenso Wladimir Gaidarow, Darsteller des Jakow. ‚Die Gezeichneten‘ ist sein erster in Deutschland produzierter Film, sehr bald wird Gaidarow in Murnaus ‚Brennendem Acker‘, in ‚Tragödie der Liebe‘, ‚Manon Lescaut‘ und etlichen anderen deutschen Stummfilmen Karriere machen. Ein klassisches Emigrantenschicksal wiederum bringt der Darsteller des reichen Kaufmanns Suchowerski mit: Duwan-Torzow – er war in der Zarenzeit ein millionenschwerer Hotel- und Theaterbesitzer und ist nun heilfroh, dass er beim deutschen Film ein paar Reichsmark pro Tag verdienen kann.
Die Filmstory weist einige Bruchlinien und Ungereimtheiten auf, die schon manchen zeitgenössischen Rezensenten Schwierigkeiten bereiten. Sie sind nicht zuletzt auf die Stoffmasse des Romans zurückzuführen, die Dreyer teils reduzieren, teils neu organisieren muss. Dabei gelingt es ihm, die Geschichte Hanne-Liebes und ihrer Familie einerseits, die politische Entwicklung im Jahre 1905 andererseits in einer Parallelführung stringent zu verbinden: die revolutionäre Situation in Russland ist nicht nur „Hintergrund“ eines Melodramas, vielmehr entwickelt sich das melodramatische Geschehen um Einzelschicksale aus der sozialen und politischen Dynamik heraus. Die Parallelführung als Bauprinzip im Makrobereich des Films verdichtet sich zu Parallelmontagen in der Mikrostruktur einzelner Szenen, in denen die Einflüsse von Griffith ebenso wie des dänischen Sozialdramas vor 1914 wiederzufinden sind.
Innerhalb dieser insgesamt klaren Struktur ‚verheddert’ sich Dreyer jedoch gelegentlich in Details; es gibt zahlreiche, sehr umständlich erzählte Nebenhandlungen, in denen Randfiguren unvermittelt zu Hauptgestalten werden, um alsbald wieder zu verschwinden. Episoden ‚ufern aus’ und gewinnen unnötig ein eigenes Gewicht – etwa wenn Fedja Hanne und Sascha denunziert oder Hanne innerhalb der jüdischen Gemeinde verheiratet werden soll. Zwischen den vielen Charakteren unter den Kleindarstellern und Komparsen einerseits und den Stars andererseits waltet eine eigentümliche Diskrepanz; ebenso zwischen den Massenszenen und den kammerspielartigen Auftritten der Hauptfiguren. Allerdings gelten hier ästhetische Urteile nur mit einem grundsätzlichen Vorbehalt: Dreyers Film war ursprünglich um einiges länger als die mit Hilfe der Moskauer Gosfilm, des Dänischen Filminstituts und der Cinémathèque Toulouse wieder entdeckte und restaurierte Fassung von 95 Minuten, die 2008 auf der Berlinale aufgeführt wurde.
Dreyer selbst sagt 1920: „Die besten amerikanischen Filme haben drei wesentliche Elemente gebracht: die Naheinstellung, die Ausarbeitung der Typen und den Realismus.“ In der Tat sind es Nah- und Großaufnahmen, mit denen Dreyer die Verdichtungen des Films herstellt, sein inneres Zentrum konstruiert. Wenn im Stummfilm Nahaufnahmen oder close-ups auftauchen, wird gern an Griffith erinnert, mit dem die Filmkunst angeblich ihren Anfang nahm. Dabei hat Griffith die close-up-Aufnahme nicht „erfunden“ – er hat jedoch schon vor 1914 die Vielfalt ihrer Verwendungsmöglichkeiten entdeckt. Dreyer zeigt, dass die Entwicklung weitergegangen ist. Er benutzt zwar noch die altmodisch wirkende kreisförmige Kaschierung, aber die Groß- und Naheinstellungen sind bei ihm Träger der Handlung, Instanzen dessen, was in einer Szene geschieht.
In diesem Film gibt es eine Episode, die wie ein kleines, in sich abgeschlossenes road movie funktioniert. Jakow, der Anwalt, ein Mann aus der Stadt, der sich vom Glauben seiner jüdischen Ahnen losgesagt hat, um in seinem Beruf arbeiten zu können und gesellschaftliche Anerkennung zu erringen (sein Vater hat ihn darum auf dem Sterbebett verflucht) – dieser Jakow fährt auf seiner Reise in die kleine Stadt am Dnjepr in einem bäuerlichen Pferdegespann über Land. Auf einem Dorf kommt er mit der Landbevölkerung in Berührung. In einer Kneipe wird er Zeuge eines Krakowiak-Tanzes, an dessen Ende der junge Tänzer tot zusammenbricht.
Man kann diese Episode in unterschiedlicher Weise lesen. Zunächst enthält sie einen direkten Bezug zur Geschichte und zum Schicksal Jakows, der sich auf einer Reise in seine Heimat befindet, zu seinem Elternhaus, wo seine Schwester Hanne und seine todkranke Mutter auf ihn warten. Das Erschrecken in seinem Gesicht ist so zu deuten, dass er im Tod des Krakowiaktänzers sein eigenes Schicksal vorgezeichnet sieht. Sein Leben ist in Unordnung geraten, seitdem ihn die Ankunft Hannes in St. Petersburg an seine Ursprünge erinnert hat. Der Fluch seines Vaters verfolgt ihn bis in seine Träume, seine Ehe mit einer Christin aus dem Adelsstand ist im Begriff zu zerbrechen.
Eine andere Lesart ist diese: Die Begegnung mit „Mütterchen Russland“ ereilt Jakow als Schock. Die uralte bäuerliche Kultur Russlands, auf die sich Zaren, Popen und Revolutionäre berufen, ist elend und zu Tode erkrankt. Im Land herrscht Progromstimmung. Was als Folklore erscheint, wird sich bald in Gewalt entladen. Jakow steht als Fremder der Kultur seines eigenen Landes gegenüber.
Dreyer hat viel getan, um diese Kultur anschaulich zu machen – aber er will kein harmonieseliges Vertrauen zu ihr stiften, auch ihm bleibt sie fremd. Er will uns ihre Sinnlichkeit näher bringen, dabei aber die Ferne bestehen lassen, aus der wir sie anschauen.

‚Die Gezeichneten‘ ist, nicht zuletzt, ein Klassendrama mit unerwarteten Konstellationen. Wir haben auf der einen Seite die bedrohte jüdische Intelligenz, repräsentiert durch Jakow und seine Schwester, und die bürgerlich-liberale Opposition, die sich in den Petersburger Salons trifft. Auf der anderen Seite: das Volk, sinnlich, kraftvoll – und unberechenbar, verführbar und zur Gewalt bereit. Am Anfang des Films erzählt ein Schriftinsert von einem Bojaren, der mit seinem Pferd über einen schweren Stein setzen will, obwohl ihm davon abgeraten wurde. Natürlich stürzt er mit seinem Pferd, und wir lesen den Satz: „Denn dieser Stein war der russische Bauer, grau wie die Erde, langsam und schwer zu lenken, aber schrecklich, wenn er sich erhebt.“

In Dreyers Film sind auch die Erzählungen jener russischen Emigranten eingegangen, die vor dem revolutionären Terror nach 1917 geflüchtet sind. Antisemitische Pogrome gab es in Russland sowohl 1905 als auch nach der Oktoberrevolution. Und in dem Maße, wie sich die zaristische Ochrana, was ihre Methoden betrifft, relativ bruchlos in die Tscheka, dann in die GPU und den NKWD verwandelte, spiegeln sich in einer Gestalt wie Rylowitsch, der als Agent der zaristischen Geheimpolizei die Bauern gegen die Juden aufhetzt, auch die Erfahrungen der bürgerlichen und jüdischen Emigranten mit den bolschewistischen Agitatoren wider.

Dreyers Film steht auch hier – was die Vorstellungswelt betrifft, die sich um die Oktoberrevolution herum gebildet hat – in einem aktuellen Medienkontext, der zu Beginn der 20er Jahre von Augenzeugenberichten, Zeitungsreportagen, Fotografien, Karikaturen, aber auch von Romanen und allen erdenklichen Formen der Kolportage gebildet wird. In diesem Medienensemble ist Dreyers „stilistische Flexibilität“, die seine Biographen etwas erstaunt notieren, vielleicht weniger überraschend. ‚Die Gezeichneten‘, schreiben sie, seien der einzige Film in Dreyers Werk, dessen Stil als „sozialer Realismus“ zu bezeichnen sei. Und, etwas waghalsig: er sei nahezu dokumentarisch, ja von einer „camera vérité“-Qualität, ein Vorgriff auf die Montagefilme der Russen und die Theorien Eisensteins. Das sind stilkundliche Zuordnungen, die sich nachvollziehen lassen, wenn man die lange, mit Gewalt aufgeladene Progromszene am Ende des Films berücksichtigt. Mit besonderer Intensität hat Dreyer daran gearbeitet, das Schicksal seiner Protagonisten aus dem politischen und sozialen Geschehen zu entwickeln, den Kampf und das Sterben Einzelner mit den Bewegungen der Masse zu verschränken. Daraus entstand ein Montage-Konzept – 1921 ! –, das in der Tat jede Bewunderung verdient.

Dreyer kommt gar nicht daran vorbei, die Aktualität seines Themas zu sehen – „the ‚now’ aspects of the film“, wie seine Biographen schreiben, die bedrängende Gegenwärtigkeit des Rassismus: gerade auch in Deutschland, wo er seinen Film produziert. Die Weimarer Republik ist 1921 noch jung, noch hat die Demokratie zahlreiche Verfechter, die Republik ist noch nicht verloren. Aber es irritiert, wie auch die Medien des aufgeklärten, liberalen und demokratischen Lagers die Gefahr des Antisemitismus behandeln – zum Beispiel die anspruchsvolle Filmkritik, bezogen auf Dreyers Film: „Das Problem dieses Films ist ein uraltes, doch ewig neues: der Kampf zweier Rassen, hier der jüdischen und der russischen. (…) Bei diesem durch Fanatismus mancherlei Art scharf gemachten Daseins- und Vernichtungskampf entfalten sich alle niedrigen sowohl wie alle höheren Triebe der Menschen, die letzten Vorhänge vor den Urinstinkten, den grauenhaften und erhabenen, werden aufgegriffen.“

So der anonyme Autor im „Film-Kurier“ am 24. Februar 1922. Es bedarf gar nicht der Kenntnis der weiteren Entwicklung, um mit aller Vorsicht anzumerken, dass diese seltsame Rhetorik im Februar 1922 bestürzend unangemessen war. Genau vier Monate später wird, auf dem Höhepunkt antisemitischer Kampagnen im ganzen Reich, Außenminister Walther Rathenau von der rechtsextremen Organisation Consul ermordet. Die Redeweise des Kritikers im „Film-Kurier“ ist die sprachliche Form des Rückzugs in jene erhabenen Werte, mit deren Hilfe große Teile des deutschen Bürgertums vor 1933 ihre Wahrnehmungsverweigerung kultivierten. Noch war die Republik ein offenes Terrain – der Kampf für und gegen Demokratie, Toleranz und Menschenrechte wurde vehement in den Medien ausgetragen. Aber das Erstarken eines nationalistischen Rassismus‘ und Antisemitismus‘ war schwerlich zu übersehen. Dreyers Film bezog wie kein anderer deutscher Film in dieser Frage eine deutliche Position. Es mag ein Zufall gewesen sein, fehlendes Marketing oder vielleicht das Genre-Problem, angesiedelt zwischen ‚high melodrama’ und ‚great film’ – jedenfalls ist festzuhalten, dass sich nach der Berliner Premiere im Februar 1922 seine Spur in den Kinos, dann auch in den Annalen allmählich verliert.

Zarte Parasiten

(D 2009, Regie: Christian Becker, Oliver Schwabe)

Manieristische Exerzitien
von Ulrich Kriest

Aus zahllosen Filmen haben wir gelernt, dass man besser nicht mit den Dingen dealt, von denen man selbst abhängig ist. Diese Erfahrung müssen auch Jakob und Manu machen, die sich …

Aus zahllosen Filmen haben wir gelernt, dass man besser nicht mit den Dingen dealt, von denen man selbst abhängig ist. Diese Erfahrung müssen auch Jakob und Manu machen, die sich mit alternativen Dienstleistungen über Wasser halten. Sie bieten Aufmerksamkeit und Nähe gegen eine gewisse Entlohnung. Wobei in diesem Film leider nie ganz klar wird, wie die Geschäfte abgewickelt werden, weil die gleichfalls für das Drehbuch zeichnenden Filmemacher Christian Becker und Oliver Schwabe („Egoshooter“) genau diesen Punkt ausgespart haben.

Wir erleben das Ruppig-Unschöne einer Geschäftsbeziehung, wenn Jakob und Manu nach einem gemeinsam in der Disco verbrachten Abend einem jungen Mann unmissverständlich klar machen, dass aus einer erbrachten Dienstleistung keine weiteren Ansprüche erwachsen. Später sieht man, wie Manu einer älteren Dame ihre Aufmerksamkeit schenkt, deren Hand hält, vor ihren Augen tanzt, sich Geschichten erzählen lässt, Arbeiten im fremden Haushalt erledigt. Dieser Arbeitsplatz, von dem wir nicht erfahren, wie er etabliert wurde, wird später im Film sehr plötzlich verloren gehen – und dann haben Manu und Jakob ein Problem mit der Polizei. Doch dafür interessiert sich der Film nicht. Ins Zentrum rückt er stattdessen den Versuch Jacobs, sich einem älteren Ehepaar als Ersatzsohn anzudienen.

Auch hier spart der Film entscheidende Dinge aus, weshalb es zur ersten Begegnung zwischen Jakob und Martin ausgerechnet auf einem Segelflugplatz kommt. Mühelos stellt Jakob den Kontakt her, manipuliert Martin von Beginn an und scheint das doch nicht mit kriminellen Hintergedanken zu tun. Martin und Claudia haben ihren Sohn verloren; das Paar ist in Trauer erstarrt. Hier wählt Jakob seinen Einstieg, hat es bei Martin aber ungleich einfacher als bei Claudia. Was als „Job“ beginnt, wird für Jakob bald zur verführerischen Chance: er beginnt sich wohlzufühlen als Teil einer Kleinfamilie. Manu beobachtet Jakobs Entfremdung vom gemeinsamen Lebensmodell mit Unbehagen und beginnt um ihre Beziehung zu kämpfen. Manu und Jakob sind aus dem System herausgefallen, wenn sie nicht ihrer Arbeit nachgehen, campieren sie unter freiem Himmel im Wald, duschen in öffentlichen Bädern. Man wüsste nun allzu gerne, ob die beiden ihr Lebensmodell in Reaktion oder als Konsequenz ihres Ausstiegs entworfen haben. Immerhin scheint Jakob selbst eine erstaunliche Sehnsucht nach emotionaler Geborgenheit mit sich herumzutragen, während Manu länger tough bleibt.

Man möchte es fast ironisch nennen: da hat man jahrelang für eine Emanzipation deutscher Filme von der Fernsehspiel-Ästhetik plädiert, wo jeder Konflikt, jede psychologische Tiefe in Dialog überführt wird, hat sich stark gemacht für Filme von Petzold, Schanelec, Köhler & Co. – und wird jetzt mit einer jüngeren Generation von Filmemachern konfrontiert, die alles, was man an der sogenannten „Berliner Schule“ zu schätzen gelernt hat, kurzerhand zum Manierismus umbiegt. Becker und Schwabe hatten eine gute Idee, deren Tragfähigkeit sie aber offenbar nicht vertrauten, weshalb sie alles in der Schwebe und im Dunkeln halten. Die Kamera ist nah bei den Gesichtern der Darsteller, findet dort aber nichts, weil man nicht gewusst hat, wonach man sucht. Die Dialoge sind hölzern und denkbar weit entfernt von einer Alltagssprache. Der Film gibt sich realistisch, will aber eine gewisse surreale Gespensterhaftigkeit nicht aufgeben, die hierzulande etwas zu sehr in Mode gekommen ist. Was als Inkonsequenz wiederum die gute Ausgangsidee beschädigt, die etwas mehr soziologisches Unterfutter und Präzision gebräucht hätte. Diese Anstrengung haben die Filmemacher gescheut, so dass ihr Film nicht recht vom Fleck kommt und in seiner Lustlosigkeit rasch ermüdet. Bei einem Film, der sich der Kommunikation mit dem Zuschauer cool verweigert, können auch 87 Minuten eine Ewigkeit sein.

Männertrip

(USA 2010, Regie: Nicholas Stoller)

72 Stunden mit dem Rockstar-Es
von Joachim Schätz

Aldous Snow ist eine amerikanische Phantasie vom britischen Rockstar: ein Knäuel aus Dandy, Partytier und Drama-Queen, gesegnet mit einem nasalen Zungenschlag, der in gleichem Maß Souveränität und Weggetretenheit markiert. Der …

Aldous Snow ist eine amerikanische Phantasie vom britischen Rockstar: ein Knäuel aus Dandy, Partytier und Drama-Queen, gesegnet mit einem nasalen Zungenschlag, der in gleichem Maß Souveränität und Weggetretenheit markiert. Der gockelhafte Stadionrockgott in hautengen Lederhosen ist drogensüchtig und einsam, aber trotz aller Neigung zu Selbstzerstörung und -mitleid eben kein tragisch verglühender Hendrix-, Morrison- oder Joplin-Komet, sondern: good, clean dirty fun. („British motherfuckers never die“, wie ein sehr lebhafter P. Diddy hier einmal poetisch, wenn auch pophistorisch verkürzt anmerkt.)

Seinen ersten Auftritt absolvierte der spindeldürre Lead-Sänger der fiktionalen Band „Infant Sorrow“ 2008 in der von Comedy-Mogul Judd Apatow produzierten Beziehungskomödie „Forgetting Sarah Marshall“: Dort war Snow – dem der britische Komiker Russell Brand Manierismen und Garderobe leiht – Nebenbuhler des Helden: Als solcher durfte er sich, wie das im Planetensystem Apatow üblich ist, von der Karikatur zum Charakter entfalten, ohne seine Lächerlichkeit preiszugeben. Nicholas Stoller, Apatow-Schüler und Regisseur von „Forgetting Sarah Marshall“, hat Aldous Snow nun mit „Get Him to the Greek“ (zu deutsch: „Männertrip“) in das Zentrum einer eigenen Komödie gestellt – und dabei seine Signifikanz für den Apatow-Erzählkosmos entscheidend verschoben.

Statt den schrulligen Exoten am Bildrand zu geben, personifiziert Brand hier quasi in Reinform jenes hedonistische Es, mit dem Apatows Bubenkomödien stets kokettieren, um dann doch verantwortungsbewusst im Schoß mittelständischer Familienwerte zu landen. Für Aldous Snow gibt es, im Gegensatz zur „40-Year-Old Virgin“ Andy oder den Teenagern in „Superbad“, keinen Ausweg in monogame Zweisamkeit. Die Frage von „Männertrip“ lautet: Was passiert, wenn das Rockstar-Es eine Apatow-Komödie hijackt, und wo schlägt das biedere Über-Ich zurück? Die Versuchsanordung ist als Buddy-Reisedrama angelegt: Der Musiklabel-Mitarbeiter Aaron Green (Jonah Hill) soll Snow binnen 72 Stunden von London zu einem Comeback-Konzert nach Los Angeles bringen. Der Auftrag von Aarons Vorgesetztem Sergio (P. Diddy) ist widersprüchlich: Snow soll möglichst nüchtern durch seine PR-Boxenstops getrieben werden, wenn nötig gilt es ihn aber durch gemeinsame Ausschweifungen bei Laune halten. Und da das Drehbuch in einer tollpatschigen Geste vor Aarons Abreise schnell noch seine Freundin abserviert (aber sicherheitshalber nur so halb), darf er auch ohne moralische Krise Groupie-Sex haben.

Das Experiment verläuft, komödiantisch wie ideologisch, eher ernüchternd: Ohne die Spannung mit Moralcodes und Romantikformeln eines US-amerikanischen Mittelstands-Mainstreams verflacht der Bubenspaß aus Drogenkonsum und Bimbo-Sex zu übersteuerten Sketches. Aldous Snows Exzesse werden dabei zwar als gelebter Alltag anerkannt. Aber wenn gegen Ende deviantes Begehren in eine Paarbeziehung jenseits des Rockgötterhimmels einzusickern droht, dann zieht der Film die Notbremse. Und zwar so unvermittelt, dass man den Ruck spürt.

Die seltsame Unwucht von „Männertrip“ hat freilich noch andere Ursachen: Das Showbiz-Milieu bietet reichlich Gelegenheit für Gastauftritte (endlich Metallica-Drummer Lars Ulrich und Wirtschafts-Nobelpreisträger Paul Krugman im selben Film!), entzieht den zahlreichen Popkultur-Scherzchen aber jeden alltagsnahen Resonanzraum. Und das gelassene Ensembleblödeln, das andere Apatow-Filme auszeichnete, kann sich in der gehetzten Countdown-Struktur kaum mehr entfalten. Nur wenn der Film nach Las Vegas reist, nicht erst seit „Knocked Up“ die US-Hauptstadt männlicher Sehnsucht wie Hysterie, findet der schrille Tonfall seine eigene Integrität: In einer Slapstick-Sequenz, an der Schauspieler-Altspatz Colm Meaney, ein Drogencocktail und eine mit Fell tapezierte Wand wesentlichen Anteil haben, macht der Film endlich ernst mit seiner Vulgarität. Für diese fünf Minuten schaut dann sogar Stollers klobige Mise-en-scène aus, als wäre sie Teil der Komik.

Der siebente Kontinent

(AT 1989, Regie: Michael Haneke)

Der Terror des geregelten Lebens
von Wolfgang Nierlin

Das Leben ist unter Verschluss in Michael Hanekes verstörend konsequentem Film „Der siebente Kontinent“, dem ersten Teil seiner Trilogie über „emotionale Vergletscherung“. Bereits die Eröffnungssequenz in der Autowaschanlage, ein wiederkehrendes …

Das Leben ist unter Verschluss in Michael Hanekes verstörend konsequentem Film „Der siebente Kontinent“, dem ersten Teil seiner Trilogie über „emotionale Vergletscherung“. Bereits die Eröffnungssequenz in der Autowaschanlage, ein wiederkehrendes Motiv in dem repetitiv gebauten Werk, liefert diesbezüglich Bilder eines klaustrophobischen Eingeschlossenseins. Die Dialektik zwischen Innen- und Außenraum markiert die im Folgenden thematisierte Differenz zwischen gesellschaftlicher Funktionstüchtigkeit und innerer Leere, in der die Figuren gefangen sind. Die Windschutzscheibe mit ihrer verwischten Transparenz fungiert dabei als eine Art zweite Leinwand und Projektionsfläche für die subjektiven Blicke der Autoinsassen: Einem in Sprachlosigkeit erstarrten Paar, dessen Schweigen von der bedrohlichen Geräuschkulisse der Autowaschanlage kontrastiert wird. „Welcome to Australia“ verkündet schließlich ein Werbeplakat am Ende des Waschvorgangs und schenkt dem Filmtitel zugleich das zentrale Sehnsuchtsbild.

Dann, mit Beginn des nach Jahreszahlen in drei Teile gegliederten Films, wird die dreiköpfige Familie vorgestellt, wobei die Gesichter der Protagonisten lange ausgespart bleiben. Genauer gesagt, ist es also eher die Symptomstruktur mechanischer, täglich wiederkehrender Handlungen und Verrichtungen, die in Detailaufnahmen vorgeführt und seziert werden. Diese ebenso rigorose Abstraktion wie brutal verdichtende Reduktion gibt dem Ausschnitt eine emblematische Bedeutung. Vom pünktlichen Signal des Radioweckers, der – es ist das Jahr 1987 – Kriegsnachrichten aus dem Irak bringt, über die Ordnung der Zahnbürsten im Bad bis zum elektrisch gesteuerten Garagentor, das sich wie ein Sargdeckel oder eine Bunkertür öffnet, entsteht so ein Terror des geregelten Lebens. Die bewusst kalt und steril ins Bild gesetzte Mechanik der Lebenszusammenhänge lässt kein Außerhalb zu, kaum ein Atmen. Und auch die anvisierte Freiheit des Zuschauers ist in diesen gelenkten Blicken eingeschlossen.

Haneke sagt, er zeige, ohne zu erklären. Tatsächlich betreibt sein Film, der den auf einem wahren Fall basierenden kollektiven Selbstmord einer Familie protokolliert, keine Ursachenforschung. Und doch erzeugt die Struktur des Films mit seinen abrupten Zäsuren, die in wenig entlastendem Schwarzfilm münden, selbst jenen Alptraum, von dem hier die Rede ist. Zwischen der Wahrnehmung einer unerträglich gewordenen Existenz und einer akribisch geplanten Tat, die sich von der Abschottung über eine gründlich durchgeführte Zerstörungsorgie bis zur kalkulierten Selbsttötung erstreckt, liegt jedoch die Reflexion. Deren Aussparung in Hanekes Film, also der fehlende innere Blick der Figuren auf sich selbst, macht diese zu Marionetten eines künstlerischen Konstrukts, das seine emotionalen Wirkungen zwar nicht verfehlt, aber mit der Unfreiheit der Figuren auch noch die mögliche Freiheit des Zuschauers opfert.

Pianomania

(D / AT 2009, Regie: Lilian Franck, Robert Cibis)

0,4 mm Highbrow
von Andreas Thomas

„Wollen Sie wissen, wie schwer Musik ist? Dann heben Sie doch mal ein Klavier hoch!“ Nein, solch schlechte Scherze macht Stefan Knüpfer, der Meisterstimmer und Cheftechniker der Pianofirma Steinway & …

„Wollen Sie wissen, wie schwer Musik ist? Dann heben Sie doch mal ein Klavier hoch!“ Nein, solch schlechte Scherze macht Stefan Knüpfer, der Meisterstimmer und Cheftechniker der Pianofirma Steinway & Sons nicht, er klemmt stattdessen eine Violine als Ersatzbein unter den Flügel und alles wundert sich, dass die nicht kurzerhand einknickt. Knüpfer ist ein klein bisschen verrückt und deshalb auch der Held des Dokumentarfilms „Pianomania‘. „Piano“, weil es hier um Klaviere, Klavierstimmer und Klavierspieler geht, und „Mania‘, weil ja Wahnsinn und Genie bekanntlich dicht bei einander liegen und weil vereinzelte Symptome für beides bei dem begnadeten Handwerker sowie den von ihm betreuten Stars (ein freundlicher Alfred Brendel , ein lebhafter Lang Lang, ein klangsensibler Pierre-Laurent Aimard) nicht immer und nicht ganz von der Hand zu weisen sind.

Am „speziellsten“, wie Knüpfer es bezeichnet, fallen die Wünsche von Aimard aus: Für die Aufnahmen seiner Intonationen der Bach’schen „Kunst der Fuge“ wünscht er für jede einzelne Fuge einen anders präparierten Klang, einmal Klavichord, einmal Cembalo, einmal Orgel – aber alles auf dem gleichen Flügel! Knüpfer verbringt also die Spielpausen mit Klopfen, Schrauben, Zupfen, Oberton verstärken, Oberton dämpfen, die Hämmereinstellungen, die Dämpfer, verstellen, die Stimmung verändern, so lange, bis Aimard nicht mehr sagt: „Sehr schön. Aber eine Frage noch …“, ein Satz, dem mindestens 12 Überstunden folgen könnten. „Für mich ist das keine Qual, für mich ist das eine wissenschaftliche Erfahrung“ sagt Knüpfer, und sein Blick zuckt dabei ein klein wenig angespannt.

Ausschließlich von Abenteuern dieser Art berichtet „Pianomania“, von der Arbeit des wohl bestbezahlten Klavierstimmers des Planeten, von der Manie, den perfekten Klang zu finden, vom bedingungslosen Dienst am Künstler, also dem Dienst an der Kunst selbst. Von dieser Prämisse gehen alle gleichermaßen unhinterfragt aus: Musiker, technischer Ausstatter und Kamerateam. Im Film „Pianomania“ versammelt sich eine etablierte Elite der Hochkultur E-Musik und die etablierteste Company des Klavierbaus, um dezent ihre Wichtigkeit für den Kulturbetrieb zu demonstrieren, sprich: das Quäntchen High-Brow, das es braucht, um sich von dem Rest der Menschheit zu unterscheiden, muss bei so viel gesellschaftlicher Akzeptanz nicht höher sein als die fehlende Breite der falsch gelieferten Flügel-Hämmerchen, also etwa 0,3 bis 0,4 Millimeter.

Sicherlich muss man Respekt haben vor der Leistung dieser Musiker und auch besagter Aimard im Film glänzt durch seine virtuose Bachinterpretation – so wie auch Knüpfer durch sein überaus feines Gehör und seine Kunst der Feinabstimmung. Vom kleinsten Saitenzupfen bei der Stimmung bis zum Konzertmitschnitt, jeder Ton im Film wurde mittels eines aufwändigen Aufnahmeverfahrens in Dolby Surround-Qualität und auf bis zu 90 Tonspuren aufgezeichnet, und gerade hier verbirgt sich vielleicht, worin die besagte Pianomania auch besteht: Nicht nur in der Pflege der Kunst des Musizierens, sondern im Dienst des perfekten Klangs, als wäre Kunst zur Hälfte schon eine Frage der High Tech. Aber so viel gibt Stefan Knüpfer selbst zu: „Ein bisschen neurotisch bin ich auch. Wenn mir der Klang eines Klaviers im Radio oder auf CD nicht gefällt, dann muss ich abschalten.“

„Pianomania“ ist ein interessanter Film über die zeitgenössische Auffassung des ‚Klassischen‘ Klaviertraktaments, aber auch generell über die so genannte Ernste Musik, die als ein wichtiger Bestandteil bildungsbürgerlicher Kultur seit Jahrhunderten ein in ihren Bestandteilen und Ritualen, unberührt von jeglichen anderen, neueren Musiken, welche nicht das Prädikat „E“ besitzen, nahezu unverändertes Eigenleben führen kann. Die klassische Musikkultur hat sich viel weniger als alle anderen Kunstformen durch die Moderne beeinflussen lassen. Dadurch fehlen ihr, im Gegensatz zu etwa neuer künstlerischer Popmusik, Berührungspunkte mit der Gegenwart. Trotzdem gilt sie und gelten ihre Protagonisten immer noch weithin als die ultimativen Bewahrer und Pfleger dessen, was landläufig Musik genannt wird. Der Film „Pianomania“ wäre vielleicht nicht entstanden, wenn er diese Prämisse hinterfragen wollte, und dennoch zeigt er die merkwürdig isolierte Welt, die den Rahmen für die Entstehung dieser Kulturform bildet, und ihre „speziellen“ Bewohner. Auch die pittoresken, rhythmisch und stimmungsvoll der Musik unterlegten, stilistisch ein wenig an Musikmessenwerbung erinnernden Bilder von Wien belegen das Einvernehmen mit dem Gezeigten und zeugen von Dankbarkeit gegenüber den Partnern, u.a. dem Verband Deutscher Musikschulen, der Stadt Wien und der Firma Steinway & Sons.

Bal – Honig

(TÜR / D 2010, Regie: Semih Kaplanoglu)

Unvergessene Zukunft
von Ekkehard Knörer

Rückwärts gehend und der Zukunft dabei in Erinnerung zugewandt erzählt Semih Kaplanoglu in drei Filmen von einem Mann namens Yusuf. Wir lernen ihn kennen (“Yumurta”) als unglücklichen Mann um die …

Rückwärts gehend und der Zukunft dabei in Erinnerung zugewandt erzählt Semih Kaplanoglu in drei Filmen von einem Mann namens Yusuf. Wir lernen ihn kennen (“Yumurta”) als unglücklichen Mann um die vierzig. Er ist Lyriker, hat einen Band mit dem Titel “Bal” veröffentlicht, scheint eher erfolglos und betreibt einen Buchladen in Istanbul. Dann stirbt seine Mutter und er kehrt zurück in das Dorf seiner Kindheit. In “Süt” ist er zwanzig und schreibt Gedichte und wir sehen, wie eine Frau kopfüber am Baum hängend eine Schlange ausspuckt und erfahren, warum Yusuf die Milch, die dem Film seinen Titel gibt, hasst. “Bal”, der Film, der nun anläuft, der Film, der in diesem Jahr nicht völlig zu unrecht den Goldenen Bären gewann, ist das Porträt des späteren Dichters als Kind.

Nicht weniger als ein beinahe vorsprachliches Weltverhältnis stellt der Film dar, und zeigt dann, wie das Kind fast gegen seinen Willen zur Sprache kommt als symbolischer Ordnung. Er zeigt aber auch, und darin, wie er es zeigt, liegt seine Größe, wie ein sinnlicher Weltbezug aussieht und darstellbar sein kann und wie man um seine (notwendige) Verlierbarkeit und seinen Verlust trauern kann, ohne sich dabei auf eine regressives Verhältnis zum Verlorenen und zur nur in der Erinnerung (die “Bal” ist) wiederzugewinnenden Zeit einzulassen. So also staunt man darüber, wie der Film Yusuf in ein flüsternd symbiotisches Verhältnis zum Vater und zur Natur setzt; dem Vater, der in den Wipfeln der Bäume in der nordöstlichen Türkei Honig gewinnt; der Natur, die waldreich ein Leben voller Entbehrungen umfängt. Nun aber sterben die Bienen und es gerät, gleich zu Beginn schon, der Vater in mehr als prekäre Lage hoch im Baum.

Der Sohn träumt von der Natur und sitzt in der Schule und kann lange nur stottern, wenn er vorlesen soll. Der Sohn fängt in der schönsten Szene des Films den Mond, oder versucht es, der auf der Wasseroberfläche in einem Eimer als Spiegelung schimmert. Viel Zeit nimmt sich, viel Zeit schenkt uns und seinem Helden der Film für Momente wie diese. Man kann die einzelnen, oft dunklen, oft lang dauernden Einstellungen ohne jede Musik (die nur ganz falsch in diesen Kosmos eindringen könnte) eigentlich nur als Kompositionen bezeichnen: Zeitbilder, die sich entfalten, ohne dass viel geschieht. Im Interview erklärt der Regisseur Semih Kaplanoglu seine Arbeitsweise, die viel mit Geduld, Sorgfalt und Genauigkeit zu tun hat, eine Arbeitsweise, die dazu führt, dass die Dreharbeiten seiner Filme in der Regel gut doppelt so lang dauern, wie es heute nicht nur in der Türkei üblich ist:

“Wenn ich einen Drehbuchentwurf fertig habe, wähle ich Location und Cast. Dann aber überarbeite ich das Drehbuch noch einmal gründlich. Darauf zeichne ich ein Storyboard, wo ich für jede einzelne Szene die Bilder im Detail zeichne. Vor Ort spreche ich mit dem Kameramann über die Auflösung. Ich glaube, es kommt letztlich darauf an, mein Zeitempfinden mit dem Rhythmus der Schauspieler und dem Tempo der Natur zu verbinden. Wenn das gelingt, gibt es eigentlich keinen großen Unterschied mehr zwischen dem Aussagewert eines Astes und einer Schauspielerin. Es geht mir nicht um einen Bildvordergrund oder einen Bildhintergrund, sondern um ein komplexes kompositorisches Ganzes, eine Harmonie der einzelnen Elemente.“ (Aus einem Interview, das ich im Juni in Berlin mit dem Regisseur geführt habe.)

Der Gefahr, auf diese Weise eine Art Manufactum-Version des Arthouse-Kinos zu produzieren, entging Kaplanoglu in früheren Filmen nicht immer. Und ein Teil seines Erfolges mag damit zu tun haben, dass manch einer nichts anderes als den Zug konservativer Zivilisationskritik in seinen Filmen erkennt. Das ist jedoch nur die eine Seite einer Beschreibung unserer Gegenwart, die um das Ambivalenzverhältnis des Fortschritts zu den Traditionen weiß, denen dieser entstammt. In “Bal” (dem eindeutig stärksten Film der Trilogie) gelingt es Kaplanoglu, den Zwischenzustand eines Kindes still zu beschwören und den Verlust seiner fast sprach- und jedenfalls schriftlosen Welt in bezwingende Bilder zu bannen. Zum Abschluss dieses merkwürdig invertierten Bildungsromans geht der Blick in der Erinnerung rückwärts und doch bleibt in der Vergegenwärtigung einer Kindheit die zukünftige Entwicklung des Helden als unvergessenes dialektisches Gegenbild stets präsent.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

The Expendables

(USA 2010, Regie: Sylvester Stallone )

Guys on a Mission
von Harald Steinwender

Mit dem Kino verhält es sich ähnlich wie mit der Mode: früher oder später kommt alles zurück. Jede alte Masche wird ausgegraben, jeder Stil neu aufgelegt, dabei freilich den Koordinaten …

Mit dem Kino verhält es sich ähnlich wie mit der Mode: früher oder später kommt alles zurück. Jede alte Masche wird ausgegraben, jeder Stil neu aufgelegt, dabei freilich den Koordinaten zeitgenössischer Befindlichkeit angepasst. Die Sechziger und Siebziger erlebten ihr Revival mit mehr oder weniger gelungenen Remakes von ehemaligen Blockbustern wie „Ocean’s Eleven“ (1960/2001), „The Italian Job“ (1969/2003), „The Longest Yard“ (1974/2005). Jetzt sind offenbar die Achtziger dran. Ganz oben auf der Retro-Welle schwimmt Sylvester Stallone, der mit „Rocky Balboa“ (2006) und „John Rambo“ (2009) Filmkritik kürzlich seine erfolgreichsten Filmserien recycelt hat. Mit beiden Filmen gelang dem heute 64-jährigen nach den glücklosen Neunzigern und dem Abstieg ins Direct-to-DVD-Segment der Videotheken ein unerwartetes Comeback.

„The Expendables“ ist Stallones Versuch, mit einem High Concept-Film das stumpfe Guys-on-a-Mission-Subgenre der Achtziger als Sommerblockbuster neu zu beleben, also die Ära, der wir solche ‚Meisterwerke’ wie Joseph Zitos „Missing in Action“ (1984), Mark L. Lesters „Phantom-Kommando“ („Commando“; 1985) und Menahem Golans „Delta Force“ (1986) zu verdanken haben. Stallone hat dazu eine Ensemble-Cast aus ehemaligen und gegenwärtigen A- und B-Stars des Actionfilms zusammengetrommelt, die sich durchaus sehen lässt: den aus den „Transporter“- und „Crank“-Filmen bekannten Briten Jason Statham, den chinesischen Martial-Arts-Star Jet Li, der u.a. mit Tsui Harks „Once Upon a Time in China“-Serie (1991ff.) reüssierte sowie Terry Crews („Gamer“) und den Wrestler Randy Couture. In Nebenrollen treten der Hüne Dolph Lundgren („Red Scorpion“ und „Punisher“; 1989) und der notorische Overactor Eric Roberts auf, beide zuletzt vornehmlich in Videotheken-B-Ware zu sehen. Auch Mickey Rourke, Walter Hills ehemaliger „Johnny Handsome“ (1989), der als „The Wrestler“ Filmkritik vor zwei Jahren eine fulminante Rückkehr auf die große Leinwand erleben durfte, spielt eine kleine Rolle. Und in einem amüsanten Cameo frozzeln sich Arnold Schwarzenegger und Bruce Willis an. Die Hauptrolle hat sich Stallone, der auch als Kodrehbuchautor und Regisseur fungiert, freilich selbst auf den Leib geschrieben.

Der Plot, der problemlos auf einen Bierdeckel passt, nutzt die vertrauten Versatzstücke des Achtziger-Jahre-Actionkinos: muskelgestählte Protagonisten, körperbetonte Action, großkalibrige Waffen, lärmende Maschinen – Motorräder, Autos, Flugzeuge –, schöne Frauen in Not, Prä-CGI- Benzin-Explosionen, eindimensionale Charaktere, die sich in grimmig dreinblickende Schurken und ebenso grimmige Helden teilen, ein fiktiver südamerikanischer Folterstaat, den die Protagonisten zu Klump schießen und sprengen dürfen, dumme Machosprüche, Männerbündelei, Schwulenwitze und die obligatorischen One-liner – kurz: alles, was ein Zuschauer mit dem emotionalen Reifegrad eines 14-Jährigen von einem Film erwartet. Die eigentliche Frage ist, ob so etwas heute noch ansatzweise im Kino funktioniert? Die Einspielergebnisse in den USA sprechen dafür, 35 Millionen US-Dollar am Startwochenende. Aber als Film lahmt das schlampig inszenierte Flickwerk deutlich.

Das Hauptproblem von „The Expendables“ liegt in Stallones Unfähigkeit, den filmischen Raum in der Montage zu konstruieren. Wie viele Autos sind eigentlich an einer Verfolgungsjagd beteiligt? Wie viele Gegner treten in einem Shoot-out gegen die Helden an, wie viele von ihnen sterben? Wer befindet sich überhaupt in einer Actionsequenz an welcher Stelle im Raum? Wer sich Stallones Testosteronorgie ansieht, kann man solche Fragen nur mit viel Phantasie beantworten. Die Montage geht mit dem Filmmaterial um, wie die Helden mit ihren Gegnern; sie verarbeitet alles zu Kleinholz, ohne Sinn und Verstand. Guten Actionregisseuren, sagen wir einmal Sam Peckinpah oder Robert Aldrich, gelang es immer, den Zuschauer selbst im Schnittstakkato eines Showdowns mit höchster Konzentration durchs Chaos zu leiten, selbst wenn das Ziel der Inszenierung die Evozierung vom Chaos einer unüberschaubaren Schlacht war. In den Actionsequenzen von „The Expendables“ dagegen verliert sich jede Ordnung des Materials, was umso augenfälliger ist, da der halbe Film aus solchen Ballereinen besteht, in denen die Schnittfrequenz oft unter die Ein-Sekunden-Grenze gleitet und ein Teil der Einstellungen obendrein mit verwackelter Handkamera gefilmt ist.

Zudem geht den Film fast jegliche Ironie ab, was die durch den Plot nicht einmal alibihaft legitimierte Gewalt gänzlich selbstzweckhaft wirken lässt. Stallones halbes dreckiges Dutzend bringt das ,kreative Töten’ zu einem neuen Höhepunkt: Die Gegner werden zerstückelt, erstochen, zu blutigem Brei geschossen, erwürgt, erschlagen etc., ganz in der mit „John Rambo“ erprobten Manier. Schon in der Exposition, für sich selbst eine Art Miniatur des ganzen Films, zerplatzt ein somalischer Pirat buchstäblich. Später werden dann 40 Mann von Stathams und Stallones Figuren aus einem Flugzeug heraus mit Kerosin übergossen und eingeäschert. „Good Job“, brummelt Stallone danach.

An dieser Sequenz lässt sich gut der Unterschied zu einem anderen, zu seiner Zeit heftig umstrittenen Kommando-Film festmachen, den Stallone durchaus zitiert: Robert Aldrichs „Das Dreckige Dutzend“ von 1967. Den ambivalenten Höhepunkt von Aldrichs Weltkriegsfilm bildete eine Sequenz, in der die unwilligen Soldaten eine Gruppe von deutschen Offizieren massakriert, die in einem Luftschutzbunker mit Zivilisten zusammengepfercht sind. Der Keller wird von den lachenden US-Soldaten mit Benzin getränkt. Danach läuft Jim Brown, all-American-hero und nationaler Football-Star, einen homerun über den Vorplatz des Chateaus, Handgranaten in die Lüftungsschlitze werfend, um so die Eingeschlossenen, Frauen und Kinder inklusive, in Flammen zu setzen. Auschwitz und Vietnam, Krematorium und Napalm, Baseball und Krieg, alles in einer Einstellung, das war 1967, zur Zeit der Eskalation des Vietnamkriegs, eine heftige Provokation, mit der Aldrich den Mythos vom ehrbaren Krieg vollständig unterminierte und die Identifikation mit seinen Protagonisten nachhaltig erschütterte. Bei Stallone dagegen ist eine ähnliche Sequenz nur eine große Gaudi und Ausweis der Männlichkeit der Protagonisten, ganz unreflektiert und naiv. Man mag einwenden, dass mit Eric Roberts’ hinterhältigem Ex-CIA-Mann eine Figur auftritt, die das von der Bush-Administration verteidigte Waterboarding anwenden lässt. Andererseits gewinnen die von der CIA angeheuerten Expendables zumindest metaphorisch diesmal die Invasion der Schweinebucht. Auch ideologisch steckt der Film noch tief in den Achtzigern.

Erstaunlich ist allenfalls, wie düster Stallones Film ausgefallen ist – nicht nur in Bezug auf seine Ironiefreiheit und die hyperreale Gewaltdarstellung, sondern ganz unmittelbar das Visuelle betreffend. Schon die Eingangssequenz ist so düster und mit so starkem Seitenlicht inszeniert, sie könnte aus einem Film Noir stammen. Stallones Kameramann Jeffrey Kimballs kontrastreiche Bilder, in denen die Protagonisten von Schatten verschluckt werden, wirken mitunter, als ob wir in einem Film von Clint Eastwood wären. Und wenn es mal nicht knallt und scheppert, dann dominieren übernahe Großaufnahmen von Gesichtern die Leinwand. Man kann sich das Ergebnis in etwa wie einen Leone-Film ohne Epik und Pathos und Stil vorstellen. Mitunter wird die Glorifizierung penetrant. So zieht einer der Helden (Statham) aus, um einen Frauenschläger zu vermöbeln – noch so eine Achtziger-Jahre-Standardszene – und bevor er den ersten Schlag landet, erfasst ihn die Kamera, von hinten ausgeleuchtet, in ein geradezu himmlisches Licht getaucht, um seinen Kopf eine Aureole. Im Zentrum aber steht der zeitlose Stallone-Körper: tätowiert und absurd muskulös ist der Anabolika-gestählte Hardbody, mit Adern auf Armen und Torso, dick wie Blindschleichen, grollender Stimme und mit Schmuck behängt wie ein Weihnachtsbaum. Einzig Statham lässt Stallone neben sich Konturen entwickeln, wohlweislich als Sidekick. Jet Li dagegen ist völlig verschwendet in dem Film. Die einzige Schauspielerszene darf Mickey Rourke absolvieren, der das Unfassbare in diesem Mackerfilm macht: Er weint. So sind in diesem Film tatsächlich fast alle ,expendable’, bis auf den Actor-Director-Writer Stallone. Die eigentliche Ironie des Films aber ist, dass er in Deutschland nur für Erwachsene freigegeben wurde, obwohl doch nur 16-jährige hier ihren Spaß haben dürften.

Orly

(D / F 2010, Regie: Angela Schanelec)

Selbstbegegnung im öffentlichen Raum
von Wolfgang Nierlin

Die Spannung zwischen öffentlichem Raum und privatem Leben, zwischen Anonymität und individuellem Schicksal kennzeichnet Angela Schanelecs neuen Film „Orly“. Der titelgebende Pariser Flughafen, zentraler Schauplatz und Nicht-Ort zugleich, fungiert dabei …

Die Spannung zwischen öffentlichem Raum und privatem Leben, zwischen Anonymität und individuellem Schicksal kennzeichnet Angela Schanelecs neuen Film „Orly“. Der titelgebende Pariser Flughafen, zentraler Schauplatz und Nicht-Ort zugleich, fungiert dabei als Passage: Eine raum-zeitlich verdichtete Durchgangsstation flüchtiger Blicke und Begegnungen, wo im unablässigen Kommen und Gehen die Vergänglichkeit selbst zum Thema wird. Zwischen Abschied und Ankunft kreuzen sich Wege, gibt es kurze Annäherungen zwischen Fremden und unmögliche Sehnsüchte. Das Ganze und seine Teile befinden sich hier in permanenter Bewegung und Veränderung. Aus diesem Geflecht löst Angela Schanelec scheinbar absichtslos einzelne Figuren und setzt sie zueinander in Beziehung. So zufällig wie dies geschieht, so fragmentarisch bleibt die Beschreibung ihrer Existenzen. Die Enden der Geschichten verlieren sich jeweils von beiden Seiten im Unbekannten, Vergangenheit und Zukunft sind ungewiss.

„Wenn man jemandem begegnet, begegnet man sich selbst“, sagt Juliette (Natacha Régnier). Für sie, die auf ihren Rückflug nach Montréal wartet, wird der Musikproduzent Vincent (Bruno Todeschini) zum Katalysator einer solchen Selbstbegegnung, die den Anderen braucht. Mit ungewöhnlicher Offenheit sprechen die beiden Fremden über die Zufälle ihres Lebens, über ihre Familien und die Sehnsucht nach einem Zuhause. Dabei entsteht eine starke intime Nähe, die einen Kontrast bildet zur anonymen Situation inmitten des öffentlichen, nicht identifizierbaren Stimmengewirrs. Oder auch zu den Kommunikationsdefiziten der anderen, paarweise auftretenden Figuren, deren Vertrautheit kein Verstehen garantiert, ja geradezu von einem Gefühl der Entfremdung umfangen ist. So scheinen die intimen Geständnisse einer von Mireille Perrier gespielten Mutter und ihrem Sohn, beide unterwegs zur Beerdigung des Familienvaters, die Distanz zwischen ihnen eher noch zu verstärken.

Dagegen schleicht sich bei dem jugendlichen deutschen Paar dieser mögliche Entfremdungsprozess eher als unmerkliche Störung in die vermeintlich harmonische Geborgenheit des gemeinsamen Reisens. Eine Vorübergehende (Maren Eggert) erregt die Aufmerksamkeit des jungen Mannes und lenkt ihn gedanklich von seiner Freundin ab. Man kann in seiner versteckten Unruhe und der von ihr angetriebenen Suche nach der Entschwundenen die Untreue des Augenblicks förmlich spüren. Wenn er sie später mehr unbewusst denn absichtlich auf einem seiner Fotos wiederfindet, wirkt das wie eine Ironie des Abbilds gegenüber der Wirklichkeit. Als würde das Bild die wahren Momente der Erinnerung nicht nur beglaubigen und speichern, sondern selbst finden.

Bedingt wird dieses Finden durch Absichtslosigkeit und Abstand, was – ergänzt durch den Faktor Zeit – auch Angela Schanelecs filmästhetische Prinzipien sind. Ihre Bilder wahren eine diskrete Distanz, die zum Einen dem Sujet innewohnt, zum Anderen dem Film seinen Atem, dem Spiel seinen Raum schenkt. Nicht zuletzt darin erweist sich „Orly“ als ein Film, der die Aufmerksamkeit auf das Detail lenkt und seine Schönheit in der bewussten Konzentration auf das scheinbar Beiläufige findet.

Mademoiselle Chambon

(F 2009, Regie: Stéphane Brizé)

Eine Sprache der Blicke
von Wolfgang Nierlin

Das Gewicht der sozialen Herkunft wiegt schwer in Stéphane Brizés berührendem Liebesfilm „Mademoiselle Chambon“; und es zwingt die Figuren in eine lange, stabile Familientradition. Wenn sich der wortkarge Maurer Jean …

Das Gewicht der sozialen Herkunft wiegt schwer in Stéphane Brizés berührendem Liebesfilm „Mademoiselle Chambon“; und es zwingt die Figuren in eine lange, stabile Familientradition. Wenn sich der wortkarge Maurer Jean (Vincent Lindon) in die titelgebende Aushilfslehrerin Véronique (Sandrine Kiberlain) verliebt, so liegt darin eine Vorbedeutung des späteren Gefühlsdilemmas. Doch zunächst spricht ein bescheidenes, harmonisches Familienglück aus den Bildern eines ausgewogenen, vertrauten Alltags. Jean arbeitet mit gewohnter Routine auf dem Bau, seine Frau Anne Marie (Aure Atika) bedient den Sammelhefter in einer Buchbinderei. Und beim gemeinsamen Familienpicknick brüten die Eltern mit angestrengtem Ernst und gutem Willen über den Hausaufgaben ihres kleinen Sohnes Jérémy (Arthur Le Houérou). In ruhigen, konzentrierten CinemaScope-Bildern und mit verhaltenem Tonfall erzählt Brizé vom einfachen Leben und Arbeiten in einer südfranzösischen Kleinstadt.

Die Metapher vom Hausbau, über den Jean auf Einladung der Lehrerin vor der Klasse seines Sohnes spricht, bildet das dramaturgische Scharnier für eine Liebesgeschichte, die den scheinbaren Gewissheiten der Protagonisten die Macht verwirrend ungeahnter Gefühle entgegensetzt. Der ganz innerliche Resonanzraum aus zärtlichen Blicken, unausgesprochenen Empfindungen und stiller Sehnsucht ist dabei ebenso reich wie intensiv. Stéphane Brizé akzentuiert diese ungewisse Spannung einer unmöglichen, leiderfüllten Liebe, indem er die in Sprachlosigkeit gefangenen Gefühle und Körper in eine vieldeutige Sprache der Blicke übersetzt. „Ich versuche, etwas sehr Unsichtbares einzufangen, etwas, das sich zwischen den Wörtern versteckt, in der Stille und im Zögern“, sagt der französische Regisseur. Die unbestimmte Bewegung der Liebe hat dabei die Musik als ihre Verbündete. Immer wieder sitzen die Figuren versunken in Gedanken an den jeweils Anderen. Die unmöglichen Entscheidungen, die in diesem Schweigen wachsen, gewähren nur kleine Fluchten.

Ruhr

(D 2009, Regie: James Benning)

Heiter bis wolkig
von Ekkehard Knörer

Einen Film wie “Ruhr” hat James Benning, wenngleich man die Signatur des Regisseurs von der ersten Sekunde an nicht verkennen kann, noch nicht gedreht. Zum einen hat er für diese …

Einen Film wie “Ruhr” hat James Benning, wenngleich man die Signatur des Regisseurs von der ersten Sekunde an nicht verkennen kann, noch nicht gedreht. Zum einen hat er für diese Einladungs- und Auftragsarbeit den amerikanischen Kontinent erstmals verlassen, auf dem er bislang seine Kamera in die kreuz und in die quer, in den Städten und auf dem Land, vor Himmeln, Zügen, Vorbeifahrenden und Vorbeispazierenden, vor Seen und Menschen in immer neuen Variationen platziert hat. Mal rein dokumentarisch, mal mit Anflügen von Inszenierung, mal streng, mal verspielt in der Form, mal im-, mal explizit aus dem Off kommentiert: immer aber interessiert an dem, was die Kamera, wenn man sie erst da und dann dort, immer gezielt, hinstellt, zeigen kann von der Gegenwart der USA und dem, was sich in dieser Gegenwart von der Vergangenheit zeigt.

Nun aber stellt er die Kamera im Ruhrgebiet auf. Die filmische Wahrnehmungsform namens “Benning” nimmt Aufenthalt in einer anderen Sphäre. Zunächst wie gehabt. Der Aufenthalt in einem Benning-Bild ist immer zugleich Bewegtform von Fotografie, Festhalten voranschreitender Wirklichkeit und vergehender Zeit. Und der Aufenthalt ist auch, weil das Bild minutenlang dauert, Aufhalt von Weitergang. So lang währt jedes Bild im Benningfilm, dass man sich einrichten muss, mit Auge und Ohr und auch dem Zeitsinn. Das Auge spaziert, ob es will oder nicht, durch das Bild, so wie Augen für gewöhnlich nur durch stehende Bilder spazieren, solche, die man in Museen findet, seien es Gemälde oder Fotografien. Also Bild eins, “Ruhr”, ein Tunnel. Die Kamera steht links zwischen einem Bürgersteig und der Fahrbahn, am Rand. Man sieht nicht weit, bald geht der Tunnel, der von einem sehr uneinheitlich gescheckten Grau ist, um die Ecke. Auf der Fahrbahn als dessen Begrenzung ein weißer Streifen. Der findet sich, spektakulär geradezu, gespiegelt durch eine leuchtende Neonlichtspur an der Ecke. Die ist gezackt, wie etwas von Liebeskind.

Dies Licht ist gewiss der zentrale Attraktor des Bilds. Man blickt nur dann, wenn ein Auto kommt, oder auf dem Gehsteig ein Radler, oder wenn der Wind mit halblautem Geräusch etwas Metallisches über die Fahrbahn weht, mit Sicherheit nicht dorthin. Nach einer Weile, nach der Zeiteinheit von, sagen wir, zwei oder drei Benning, fallen einem vielleicht die Staubfetzen auf, die neben der Lichtspur sich leise bewegen. Sie sind etwas im Bild, das erst die Dauer des Aufenthalts und des Aufhalts sichtbar macht. Dass man derlei Dinge, die nichts weiter bedeuten, mit durch die Dauer notgedrungen aktivierten Sinnen wahrnimmt, ist die Sorte Detailgewinn, die einem ein Benningfilm immer auch schenkt.

Aus der Arbeitswelt, die fast menschenlos ist (zwei Figuren gehen einmal hinten durchs Bild), berichtet Einstellung Nummer zwei. Wieder natürlich bleibt die Kamera unbewegt. Wieder natürlich dauert das Bild. Beobachtet wird hier aber nicht die Beliebigkeit eines Verkehrs, sondern die Wiederkehr eines geregelten Ablaufs: glühendes Metall schiebt sich in mittlerer Raumebene ins Bild und wird von einer massiven Hebe- und Transportapparatur in Richtung Kamera gehievt. In der vorderen Bildebene werden die abgekühlten Metallstangen mittels gezackter Hochrunterapparatur von links nach rechts bewegt. In diesem Bild halten sich die Abstraktion, in deren Richtung Bennings Filme immer auch zielen, und die Konkretion einer historisch gesättigten Situation (Schwerindustrie, Produktion), die Waage.

Danach ein Naturbild, wie es scheint. Vor Himmel Geäst und Waldesruhe – bis ein Flugzeug, gerade gestartet, mit großem Krach durchs Bild zieht. Das wiederholt sich. Es folgt eine Einstellung voller Menschen: eine Moschee (in Duisburg-Marxloh, wie der Abspann verrät). Arabisch betet der Imam, die Menge kniet, dann steht sie auf und man sieht vor allem, weil die Kamera halbhoch steht, die Mittelpartien von Männern im Bild. Dann ein Mann, der ein seltsam auf einer Kiesfläche in der Landschaft frei hingestelltes Graffitibild von einer Wand fräst. (“Bramme für das Ruhrgebiet”, erklärt der Abspann – wie genau sich die Fräsarbeit zur seit 1998 stehenden Bramme von Richard Serra verhält, ist mir leider unklar. Man muss aber auch nicht jedes von Bennings Bildern bis in die historisch-geografische Letztauflösung hinein verfolgen.) Darauf noch eine Einstellung in einer Wohngegend, Klaviermusik perlt, Hund wird Gassi geführt, im Hintergrund sieht man gelegentlich einen Zug auf Hochbahngleisen. Weiter nichts und Teil eins ist vorbei.

Teil zwei macht dann eine weitere Konsequenz von James Bennings Neuanfang klar. Selbstverständlich hat man zuvor schon deutlich gesehen, dass er erstmals die 16mm-Kamera, das Fetisch-Aufzeichnungsobjekt mehr als einer Avantgardefilmergeneration, gegen die Digitalkamera ausgetauscht hat. Ganz andere Schärfen sind das im Detail – und im Ganzen kornlose, glattere, ein gutes Stück in Richtung Videoinstallation gerückte Bilder. Benning hat einen Schritt vom Kino auf die Kunst zu getan, ob er will oder nicht: der Kontext, aus dem man solche Videobilder zu kennen glaubt, lässt kaum eine andere Assoziation zu. Die andere technische Verfasstheit hat außerdem eine nicht nur den Bildern in ihrer visuellen Anmutung ablesbare, sondern eine weitere, stark ins Ästhetische durchschlagende Folge: Die Einstellung ist aus ihrer Begrenzug auf die einzelne Filmrolle befreit. Jedes einzelne statische Bewegtbild kann nun potenziell, nun, nicht ewig, aber doch stundenlang dauern. Ein Aufenthalt und ein Aufhalt von ganz anderer Qualität.

Für Teil zwei von “Ruhr” nutzt Benning das weidlich. Eine ganze Stunde lang sieht man hier nämlich ein einziges Bild. Ein turmartiger Schornstein vor Himmel, heiter bis wolkig, erkennbar ist nicht, zu welchem Gebäude der Turm gehört; er ist mithin stark abstrahiert, am ehesten schließt das an an “Ten Skies”, Bennings Wolkenfilm in zehn Einstellungen. Hier aber eben nur eine. Es ist schon etwas los, denn der Schornstein ist aktiv, stößt Rauch aus, der sich zu Wolken formt, auch seitwärts sind Klappen angebracht und das ganze qualmt manchmal, als stünde das Innere flammenlos in Feuer. Dazu ertönt periodisch ein Sirenengeräusch und es wird dämmrig und Nacht. So schleicht sich durchaus eine Art Narration auch in dieses Bild – wie eben überhaupt jede Form von Relationierung noch jeden Benning-Film und jedes Benning-Bild affiziert hat: Etwas gerät in Bewegung, in andere Kontexte, Einstellungen antworten aufeinander (selbst, wenn es der Regisseur so gar nicht vorsah), im Bild selbst entwickelt sich etwas, nimmt einen Fortgang trotz oder wegen des Aufhalts. Kein Benning-Film ist nur eine Serie von bewegtfotografischen Einstellungen, jeder ist doch auch, weil er montiert ist, ein von den Konsequenzen von Montage nie ganz lösbarer Film. Die Stunde mit dem Kokerei-Turm, die die zweite Hälfte von “Ruhr” ausmacht, ist dennoch ein Härtetest und die Stelle, an der mancher dem Regisseur noch so gewogene Betrachter dann vielleicht doch die Geduld verliert. Ich jedenfalls hatte vom Turm, da mochte er noch so schön wolken vor sich verdüsterndem Hintergrund, nach recht kurzer, lang werdender Weile, ja, ich geb’s zu, wirklich genug.

Mary & Max – oder: Schrumpfen Schafe, wenn es regnet?

(AUS 2009, Regie: Adam Elliot)

Interkontinentales Bündnis
von Sven Jachmann

Es könnte sich auch um gestandene Charaktere eines Mike Leigh-Films handeln: Mary und Max – zwei Außenseiter, verbunden durch eine skurrile Brieffreundschaft, die ihrem tristen Alltag ein Minimum an Glanz …

Es könnte sich auch um gestandene Charaktere eines Mike Leigh-Films handeln: Mary und Max – zwei Außenseiter, verbunden durch eine skurrile Brieffreundschaft, die ihrem tristen Alltag ein Minimum an Glanz verschafft. Mary Daisy Dinkle, eine achtjährige Schülerin aus einem Melbourner Vorort, hat die Adresse von Max Jerry Horowitz, einem übergewichtigen, atheistischen Juden aus New York, zufällig im Telefonbuch entdeckt und möchte eigentlich nur von ihm wissen, ob in Amerika die Babys in Biergläsern geboren werden, so wie sie es von ihrer Mutter gehört hat. Ansonsten ist Marys Leben die diesseitige Hölle: ihre Mutter ist kettenrauchende Alkoholikerin, der Vater widmet sich in seiner Freizeit der Präparation von Vögeln, sie besitzt keine Freunde, wird in der Schule sowohl von Mitschülern als auch Lehrern verhöhnt, ist unglücklich in den Nachbarsjungen verliebt und im Großen und Ganzen so hilflos sonderbar wie Heather Matarazzo in Todd Solondz‘ „Welcome to the Dollhouse“.

Ihre gesamte Umgebung scheint dem mentalen Verfall preisgegeben, und da hat sie in Max ein gleichwertiges, erwachsenes Pendant gefunden: Der 44jährige leidet am Asperger Syndrom, welches dem Autismusspektrum zugerechnet wird, und laboriert zudem an zahlreichen Zwangsneurosen, d.h. alles, was die gewohnte Struktur verlässt, bedeutet ihm enormen Stress, und das kann der ablebende Goldfisch, der Tod seiner fast blinden Nachbarin oder eine problematische Frage aus Marys Briefen sein. Doch was die Zwei eint, ist die eingeschränkte Sicht auf die grausige Realität um sie herum und wie sie es durch ihren letztlich Jahrzehnte währenden Kontakt schaffen, ihr kurze, wenn auch meist recht aberwitzige Momente des Glücks abzutrotzen. Das leistet bereits die kontrastierende Bildebene: Das monotone, vorstädtische Braun Melbournes und das deprimierende Grau des urbanen Raums werden vornehmlich durch die Accessoires, die die beiden sich per Post zukommen lassen, akzentuiert. Trotzdem hat die Gegenwart noch ein paar grausige Trümpfe in der Hand, zu denen nicht nur der Tod von Marys Eltern und Max‘ fast einjähriger Psychatrieaufenthalt zählen …

Nun handelt es sich indes nicht um eine Arbeit Mike Leighs, sondern um Adam Elliots Langfilmdebüt, der bereits mit seinem Frühwerk „Harvey Krumpet“, das einer Blaupause zu „Mary & Max“ gleicht, einen Oscar als bester animierter Kurzfilm gewann. Wären die Figuren nicht aus Plastilin, würde sich die Kamera nicht mit solcher Eleganz durch die Knetmassewelten bewegen, der Film und sein abgründiges Sujet ließen sich kaum goutieren. So aber entfaltet sich, trotz aller Tristesse, das immer warmherzige, teils groteske, teils schwarzhumorige Portrait zweier vereinsamter Charaktere, dessen Witz wie Anteilnahme sich aus den gleichen Bedingungen speisen, nämlich ihrem fragmentierten Blick auf die Welt um sie herum. Das Sammelsurium aus Süchtigen, Depressiven, Agoraphobikern und Egozentrikern wird vor allem in einen physischen Humor übersetzt, nicht in bösartige Pointen. Bei handfesten Interaktionen hingegen bleibt das Lachen oft im Halse stecken, weil den Figuren nur ambivalent begegnet werden kann – sie bemerken einfach zu selten, wie viel Tragik sie ausgesetzt sind. Die Arglosigkeit in ihrem Handeln ist also Segen und Fluch, für die Figuren und für den Zuschauer ebenso. Dieser Eindruck erhöht sich noch dank des voice over-Erzählers, dessen allwissender, nonchalanter und gleichfalls beruhigender Tonfall selbst den düstersten Situationen eine durchaus heitere Note zuführt. Und so verbinden sich in der Erzählung konsequent zwei disparate Elemente: der harte Realismus eines Mike Leigh mit seiner Vorliebe für zwangsgestrandete Outsider, die notgedrungen an einer asozialen Welt scheitern müssen und die plastilingeronnene Stop Motion-Anarchie der Aardman Company – eine wirklich betörende Symbiose.

Defamation

(ISR / DK / USA / AT 2009, Regie: Yoav Shamir )

Wehret den Anfängen
von Janis El-Bira

„Defamation“, preisgekrönt auf diversen Festivals und mit vielen positiven Kritiken bedacht, ist ein Film mit besten Absichten: Sein israelischer Regisseur, Yoav Shamir, macht sich zu Beginn als Personifikation der reinen …

„Defamation“, preisgekrönt auf diversen Festivals und mit vielen positiven Kritiken bedacht, ist ein Film mit besten Absichten: Sein israelischer Regisseur, Yoav Shamir, macht sich zu Beginn als Personifikation der reinen Naivität mit seiner Handkamera und begleitet von putziger Musik auf den Weg, um wortwörtlich den Antisemitismus zu suchen. Er sei ihm selbst schließlich nie begegnet und wundere sich, dass er dennoch so allgegenwärtig sei. Gut neunzig Minuten später, am Ende der Reise, werden wir sehen, wie eine Schulklasse aus Israel die ehemaligen Konzentrationslager von Auschwitz und Majdanek besucht und einige der Schüler beim Anblick der dort ausgestellten Schuhe tausender Häftlinge und Ermordeter in Tränen ausbrechen. Ein Mädchen wird dort, überwältigt von seinen Gefühlen, sagen, dass es den Feinden des jüdischen Volkes und Israels bis auf den heutigen Tag den Tod wünsche und Regisseur Shamir wird seine Hoffnung ausdrücken, dass diese vergangenheitszugewandte Kultur des Todes und der Schrecken eines Tages einem offenen und problemorientierten Blick für die Zukunft (gemeint ist freilich der Nahostkonflikt) weichen werde. Mit einem klugen, einem großartigen Bild schließt der Film: ein sich ankündigender Sonnenaufgang, in den schwarz-drohend, aber dennoch klein die Stacheldrahtzäune des ehemaligen Konzentrationslagers hineinragen.

Einen weiten Weg ist der Wanderer mit der Kamera also bis hierhin gegangen. Nicht nur räumlich, sondern auch thematisch: Von der Suche nach Zeichen des Antisemitismus im Alltag ist er unvermeidlich beim Nahostkonflikt angelangt und gibt uns schließlich noch eine Lektion in Erinnerungskultur und Vergangenheitsbewältigung obendrein. So weit, so gut, möchte man denken und wenn man gar nicht erst anfangen will mit der in Deutschland spätestens seit dem Historikerstreit der 1980er-Jahre auf breiter Front geführten „Schlussstrichdebatte“, dann könnte man in der Tat von einer nicht unsinnigen Meinung des Regisseurs sprechen. Etwas zu kurz gedacht vielleicht, alles etwas knapp, aber sicherlich nicht verwerflich. Es liegen jedoch zwischen Anfang und Ende der Reise rund neunzig Minuten Film, während derer beim Betrachter die Augen und Ohren immer größer werden – ein Zustand, der sich schließlich in ungläubiges Staunen steigern wird.

Denn mit dem Moment, da der Film vermittels der Kommentare des Regisseurs und seiner zahlreichen, gegen- und ineinander geschnittenen Interviews zu „sprechen“ anfängt, beginnt man sich stark zu wundern, ob die hier ostentativ zur Schau gestellte Naivität des Unterfangens eine authentische ist. Gleich zu Beginn der Reise trifft Shamir im New Yorker Büro der Anti-Defamation League (ADL) ein, wo der oft streitbare Präsident der Organisation, Abraham Foxman, zu einer zentralen und den Film durchziehenden Figur wird. Foxman und seine Kollegen weisen Shamir auf eine Reihe von antisemitischen Vorfällen der vergangenen Wochen hin, die sich – in der Darstellung des Films – als wenig handfest herausstellen. Ein Polizist bezeichnet eine jüdische Beerdigung als „jewish shit“: eine Bagatelle. Ein Schulbus mit jüdischen Kindern soll mit Steinen beworfen worden sein: in Wahrheit wohl alles weniger drastisch, als gedacht. Ein New Yorker Rabbi wird sagen, dass er Leuten misstraue, die ihr Geld mit dem Vorwurf des Antisemitismus verdienten und dass die ADL in vielen Gegenden mindestens so viel Schaden angerichtet habe, wie sie hilfreich gewesen sei. In einer dieser Gegenden wird dann ein Mann auf der Straße ausführlich und nur unter moderatem Widerspruch des Regisseurs über die „Protokolle der Weisen von Zion“ sprechen dürfen und auch erklären, dass er sich als Schwarzer bisweilen gerade von den Juden im Viertel bedroht fühle. Und schließlich wird dort auch Uri Avnery im Rahmen einer Konferenz in Israel vor dem Regisseur sitzen und das aussprechen, was – und dessen war man sich bis zu diesem Zeitpunkt mit immer größerem Unbehagen gewahr geworden – der Film uns doch eigentlich schon eine ganze Weile lang suggerieren wollte: Der Antisemitismus ist eine Erfindung der Juden. Avnery sagt das so. Wörtlich (zumindest, wenn die englischen Untertitel sein Hebräisch korrekt wiedergeben) und vor laufender Kamera. Joseph Goebbels‘ berüchtigtem „Mimikry“-Aufsatz von 1941, in dem auch beschrieben wird, wie Moskauer Juden Meldungen über Gräueltaten erfänden und Londoner Juden diese bereitwillig fortspännen, wird hier, fast siebzig Jahre nach seinem Erscheinen, Genüge getan.

Man möchte diese Äußerung in Avnerys Fall als Gedankenlosigkeit eines verdienten, sehr alten Mannes abtun. Allein, man schafft es nicht ganz, und Shamirs Film könnte diese Nachsicht auch deshalb schon nicht entlasten, weil rund um jenes Zitat die Ernährer des „Neuen Antisemitismus“ permanent wortreich durchs Bild laufen: Da sind die amerikanischen Professoren John Mearsheimer und Stephen Walt, deren Buch, „The Israel Lobby and U.S. Foreign Policy“, die alte Geschichte vom übergroßen Einfluss der Juden auf die Schaltzentralen der Macht für das US-Außenministerium stark machen will, und da ist auch Norman Finkelstein, der inzwischen wie ein armer Irrer durch die Korridore seines Appartementhauses rennt, aus Provokationslust den Hitlergruß in die Kamera zeigt, in einer einzigen schrillen Schreierei Abraham Foxman als „schlimmer als Hitler“ bezeichnet und auch ansonsten allerhand wirres Zeug redet. Man muss es dem Film da schon fast zugute halten, dass er Finkelstein am Ende nicht vollständig auf den Leim geht – eine reichlich große Plattform gibt er ihm dennoch.

Dass Yoah Shamir bei seiner Suche nach dem Antisemitismus gar nicht in die Welt hätte hinausziehen, sondern lediglich einmal in der virtuellen Realität von YouTube die Kommentare zu nahezu jedem x-beliebigen Video hätte lesen müssen, das sich auch nur entfernt mit Juden, dem Staat Israel oder dem Nahost-Konflikt beschäftigt, würde man ihm im Verlaufe des Films gerne manches Mal sagen. Dort, wo noch immer alle alles sagen und fast alles zeigen dürfen, hätte er auch die Videos von den Anti-Israel-Demonstrationen in Deutschland aus dem vergangenen Jahr gefunden, auf denen von „Tod Israel“, über die Schlachtrufe der Hamas, bis hin zu expliziten Morddrohungen gegenüber Juden und tätlichen Angriffen auf Menschen mit israelischen Flaggen alles dabei gewesen ist, was Shamir gerne auf den New Yorker Straßen gefunden hätte. Diesem Film aber ist in seiner manipulativen Montage, seiner verlogenen Naivität und seinen Interviews, denen man ihr Zurechtgestutztsein an allen Enden ansieht, eine Ästhetik der Relativierung, vielleicht gar der Leugnung inhärent, die ihn in jeder Hinsicht disqualifiziert.

Die Liebe der Kinder

(D 2009, Regie: Franz Müller)

Liebe, überkreuz
von Harald Mühlbeyer

Er ist Baumschneider, sie Bibliothekarin. Er hackt Äste ab und spielt einmal die Woche Fußball, sie schreibt an einem Werk über einen längst vergessenen Biologen des 19. Jahrhunderts. Sie lernen …

Er ist Baumschneider, sie Bibliothekarin. Er hackt Äste ab und spielt einmal die Woche Fußball, sie schreibt an einem Werk über einen längst vergessenen Biologen des 19. Jahrhunderts. Sie lernen sich im Chat kennen und treffen sich zum ersten Mal an einer Autobahnraststätte. An einem Ort, an dem man nicht bleiben möchte.
Bald zieht Maren bei Robert ein; und mit ihr ihr Sohn Daniel, der sich nach den Vorstellungen der Eltern mit Roberts Tochter Mira anfreunden soll. Vier müssen sich zusammenraufen, das ist nicht ganz einfach: „Du schneidest Bäume ab?“, fragt Maren Robert, „ich dachte, du bist Biologe.“ Man ist halt nicht immer das, was man sein will, aber vielleicht kann ja doch Liebe entstehen, auch bei Menschen, die erstmal weit voneinander weg stehen.

Marens Leben ist voll von Literatur, und bei Robert stecken in den Buchhüllen Videokassetten. Aber dafür ist er schon wieder rührend in seiner schüchternen Unsicherheit, aus der heraus er aber doch hartnäckige Zielstrebigkeit entwickelt: Er will Maren bei sich haben. Und sie bleibt. Und sie lieben sich.

Franz Müller, der vor Jahren den wunderbaren, hingetupften, improvisierten und witzig-starken „Science Fiction“ gedreht hat, beschäftigt sich hier mit der Liebe, in eigentlich ganz einfacher Form: Mann und Frau begegnen sich, und irgendetwas entsteht daraus. Mit selbstverständlicher Leichtigkeit inszeniert er diesen Film, der sich auf seine vier Hauptpersonen konzentriert und sie in ihrem Alltag abfängt – und der zugleich mit großem Stilwillen erzählt ist, mit genauer Psychologie und souveränem Timing. Sprich: mit der Kunst, wegzulassen, elliptisch zu erzählen.

Denn dann macht Maren eines Tages die Kinderzimmertür auf, und Mira und Daniel, die Teenager, liegen nackt unter einer Decke. Während die Eltern sich in ihre innigen Beziehung eingelebt haben, hat sich unbemerkt etwas Neues entwickelt, bei den Kindern: und damit wird es plötzlich kompliziert, mit dieser Doppelung der Liebe. Und auf reizvolle, unaufdringliche Art überkreuzen sich die Liebesgeschichten. Während Maren sich von Robert entfernt, streben die Kinder mehr und mehr zueinander; und irgendwann stellt sich auch die Frage, wer denn nun reif genug ist für die Liebe. Während Robert in emotionaler Unbeholfenheit seine Gefühle nicht auszudrücken vermag, wirken die Jungmädchenträume und -poesien seiner Tochter Mira plötzlich wie aufrichtige Apotheosen wahrer Liebe. Während Maren sich von ihrem Lektor hofieren lässt und damit Robert verletzt, hängt sich Daniel selbstvergessen, glückgebadet an seine Mira, und beide träumen den romantischen Traum von der Ferne, von der Autarkie des Liebesglücks, der wahr werden könnte. Aber vielleicht ist das auch nur jugendlicher Trotz, der auf das Beziehungsaufundab der Eltern reagiert? Jeder pflanzt im anderen Vorstellungen, die er dann nicht erfüllen kann: mit Lebenserfahrung hat Liebe jedenfalls nichts zu tun.

Müller gelingt es, Subtilität und Dynamik zu verschränken, aus seinen Porträts von Liebenden ergibt sich ein Spannungsfeld des Beziehungsgeflechtes. Liebe ist wie eine Wasserstoffbombe, heißt es einmal. Wenn sich zwei Teilchen verschmelzen und dabei unheimliche Energie freisetzen, dann strahlen sie, und dann ist es vorbei.

The Happiest Girl in the World

(RUM / NED 2009, Regie: Radu Jude)

Teilwissend
von Andreas Thomas

Von einem „neuen“, einem „jungen“ rumänischen Kino“ ist in den letzten Jahren die Rede, die „New York Times“ ersann gar den blumigen Begriff einer „neuen Welle am Schwarzen Meer“. Was …

Von einem „neuen“, einem „jungen“ rumänischen Kino“ ist in den letzten Jahren die Rede, die „New York Times“ ersann gar den blumigen Begriff einer „neuen Welle am Schwarzen Meer“. Was allemal spätestens seit dem Cannes-Sieger-Film „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“ von Cristian Mungiu auffällt, ist, dass in Rumänien in den letzten Jahren interessante Filme von verschiedenen Regisseuren gemacht wurden.

Ob dem Kind gleich wieder einer dieser sich immer so ähnelnden Namen gegeben werden muss, ist fraglich. Unbestritten ist, dass das derzeitige rumänische Kino ein modernes Kino ist, verwandt etwa mit dem modernen iranischen Kino, dem amerikanischen (Kelly Reichardt) oder den Filmen der „Berliner Schule“, in denen sie nicht zu programmatisch aufs Erstarrte, Erfrorene, aufs stille (Welt-)Bild der Stagnation hinaus wollte, aber dennoch nah an Wirklichkeiten bleiben, wie vielleicht in den Filmen von Henner Winckler oder Ulrich Köhler.

Als Versuche, mit Mitteln des Realismus die Wirklichkeit zu erfassen oder abzubilden, so könnte man die neuen rumänischen Filme beschreiben. Mittels eines narrativen Realismus, der eingedenk ist, und skeptisch angesichts seiner selektiven Eigenschaft. Es beschreibt (filmt) in diesen Filmen sozusagen ein allwissender Erzähler, der seiner Allwissenheit misstraut und sich selbst hinterfragt, weil er eben doch nicht weiß, ob die wichtigeren Bilder, Daten, Geschichten hinter der nächsten Ecke lauern.

Im Film „The Happiest Girl in the World“ von Radu Jude gibt es dafür ein schönes Beispiel: Delia, ein Teenager, sitzt, zurechtgemacht und geschminkt und gelangweilt in der Bildmitte, wartend am Rand eines Brunnens. Da geht ein gebückter alter Mann am Stock von links ins Bild hinein, vor ihr entlang und in dem Augenblick, als er das Bildzentrum nach rechts hin verlässt, überlegt es sich die Kamera und stellt plötzlich einen Passanten ins Zentrum des Bildes und damit ins narrative Zentrum des Films: Die Kamera lässt kurz das Mädchen Mädchen sein und folgt dem Mann einen Augenblick lang nach rechts, das Mädchen verschwindet aus dem Bildkader am linken Bildrand und dann schwenkt die Kamera, als wäre nichts gewesen, wieder zurück auf sie. Delia selbst hat den Mann nicht beachtet und er wird für ihre private Geschichte keinerlei Bedeutung haben und doch ist er für ein paar Momente von einer Randfigur zu einer Hauptfigur des Films geworden.

Solche kleinen, eher unauffälligen Momente machen „The Happiest Girl in the World“ zu einem ungewöhnlichen Film leiser Irritationen, wenn er auch vordergründig eine überschaubare und klar strukturierte Handlung präsentiert. Mit großer Sorgfalt und großartigen Darstellern wird darin von einem besonderen Tag im Leben Delias erzählt. Sie hat bei einem Preisausschreiben einer Saftfirma den ersten Preis, einen flotten Kleinwagen, gewonnen. Um den Preis entgegen zu nehmen, reist sie an einem heißen Sommertag mit ihren Eltern vom Land nach Bukarest. Doch bevor sie den Wagen ihr eigen nennen darf, muss sie für einen Werbespot jener Saftfirma posieren, vor der Kamera im Wagen sitzen, einen langen Schluck trinken und verkünden, dass sie das „glücklichste Mädchen der Welt“ sei, weil ihr die Saftfirma diesen schönen Gewinn ermöglicht habe. Delia aber muss sich sehr anstrengen, glücklich auszusehen, denn ihre Eltern erheben Anspruch auf den Geldwert des Wagens, als temporäre Rückforderung der elterlichen Investition in Delias junges Dasein, als Startkredit, genauer gesagt, für die Gründung eines kleinen ländlichen Hotelbetriebs. Mit einer traurigen Delia zieht sich der Dreh hin, und ich werde hier nichts Weiteres verraten, denn die Spannung im Film gebietet es, gesteigert zu werden.

Anhand dieser privaten Gemengelage erstellt Regisseur Radu Jude ein unangestrengtes und unpathetisches Bild von einem aktuellen Rumänien, dessen Erblast der Ceaușescu-Arä noch spürbar ist, für das aber auch die Wohltaten der freien Marktwirtschaft zunächst kaum mehr als schöne und durchschaubare Versprechungen bleiben. Eigentlich keine der daran beteiligten Personen nimmt die Dreharbeiten und den Inhalt des doch sehr naiven und altmodischen Werbe-Filmchens in irgendeiner Weise ernst – und so kontrastiert der Film die Illusion der schönen neuen Warenwelt mit denen, die das Spiel, zum Schein und aus taktischen Gründen, mitspielen, soweit es geht.

„The Happiest Girl in the World“ ist ein schöner Film, der es schafft, anhand einer kleinen Geschichte komisch und ernst und ironisch und zugleich – und das ist seine größte Qualität – ein bisschen irritierend über die Situation eines ganzen Landes zu berichten.

Distanz

(D 2009, Regie: Thomas Sieben)

Warum läuft Herr B. Amok?
von Janis El-Bira

Viele Male teilt der Zuschauer in „Distanz“ den Weg der Hauptfigur Daniel Bauer durch Berlin. Der Blick ist dabei der eines Verfolgens, nicht des Begleitens: Auf Schulterhöhe klebt die Perspektive …

Viele Male teilt der Zuschauer in „Distanz“ den Weg der Hauptfigur Daniel Bauer durch Berlin. Der Blick ist dabei der eines Verfolgens, nicht des Begleitens: Auf Schulterhöhe klebt die Perspektive an Daniels Rücken und Nacken, links wie rechts fluten Passanten, Autos und Straßenzüge vorbei. In dieser beunruhigenden Komposition scheint die Figur sich selbst zu beobachten, treibt sich gleichsam vor sich selber her und gleitet gesichtslos durch die Stadt, die an einem Ich vorbeifliegt, das nicht mehr identisch mit sich selber scheint.

Diese oft unbestritten eindrucksvollen Ergebnisse einer sehr ernsthaften Formsuche sind das eine Gesicht von Thomas Siebens Langfilmdebüt, das vergangenes Jahr die „Perspektive Deutsches Kino“ auf der Berlinale eröffnet hatte. Das andere ist gleichwohl das eines hoch- und auch überambitionierten Abschlussfilms (was „Distanz“ nicht ist). Schon der Plot kann nurmehr als eine Art Versuchsanordnung beschrieben werden:

Daniel ist ein stiller, introvertierter Arbeiter im Botanischen Garten Berlins, wo er mit seiner Schubkarre umherfährt, ab und an etwas aus- oder eingräbt, vorrangig aber das Herbstlaub zusammenkehrt. Seine Kollegen dort sind Idioten wie aus dem Bilderbuch: Solche, die ihn ausschließlich beim Nachnamen, Bauer, rufen und ihr grobes Männlichkeitsgebahren untereinander noch potenzieren, sobald eine Frau auch nur aus der Ferne sichtbar wird. Eine solche ist Jana: Mit dem (rein akustisch) wunderbar doppeldeutigen Satz „Sind sie kaputt?“ kommt sie erstmals auf Daniel zu, als dieser gerade einige verkümmerte Pflanzen betrachtet. Jana, die in der Verwaltung des Botanischen Gartens arbeitet, wird sich natürlich verlieben und ihre Liebe wird nichts weniger als die einer Heiligen (oder wahlweise: einer Blinden) sein: Bedingungslos, schützend und opfernd. Daniel, der durch diese Liebe gerettet werden soll, steht unterdessen auf der Autobahnbrücke und wirft stetig immer größere Steine auf die vorbeifahrenden Autos. Schnell wird er durch ein Zufallsgeschehen, das man wohl schlicht absurd nennen muss, auch an eine Schusswaffe gelangen und im Görlitzer Park zeigt sich so alsbald, dass der Tod ein Meister aus dem Gewächshaus sein kann.

Man wolle nicht psychologisieren, nichts erklären, heißt es von Seiten des Regisseurs – obgleich der Pressemappe zum Film paradoxerweise ein kurzer Informationstext über „schizoide Persönlichkeitsstörungen“ mitsamt einer Symptomatik in sieben Punkten beigefügt ist. Lässt man alle Pathologie und Ätiologie beiseite, bleibt für einen Film die Frage, wie ein (zeitlich gedehnter) Amoklauf gezeigt werden kann, ohne in erklärende, deutende Muster zu verfallen. Gus Van Sants „Elephant“ hat vor Jahren diese Frage mit einer radikalen Stilisierung gleichermaßen erschreckend wie erhellend beantwortet: Wo das Töten zum Ballett wird, zur hochartifiziellen „Aufführung“ am Ende einer Vorbereitung, in der brutale Videospiele, Waffengeprotze und Zärtlichkeit unter jungen Männern kommentarlos nebeneinander stehen, da tut sich hinter allen Deutungsansätzen nur noch das weiße Rauschen einer nicht beantwortbaren Frage auf.

„Distanz“ hat diesen Mut letztlich nicht: Daniel ist von Anfang an ein isolierter Sonderling in einer weitgehend erkalteten Umwelt und der Film traut ihm in den ihm zugeschriebenen Bildern das „Ausrasten“ in jedem Moment zu. Er umgibt ihn mit einer bis zur Sterilität aufgeräumten Wohnung, in der er abends kerzengerade auf dem Sofa sitzt und bewegungslos auf einen Fernseher starrt. Ein Film über die Toskana läuft hier, die für ihn zum Sehnsuchtsort wird. Dass diese Figur hierbei dann doch mehr als einmal ein wenig wie der Irre vom Boulevardtheater wirkt, liegt auch an Hauptdarsteller Ken Duken, der den Beginn des „Durchdrehens“ und Tötens stets durch einen besonders starren und ins Nichts gehenden Blick so markiert, als sei es die mitternächtliche Verwandlung eines Werwolfs. Es ist den Szenen des Näherkommens mit jener liebesblinden Jana zu verdanken, dass Daniel nicht gänzlich zum Klischee wird: Franziska Weisz‘ Jana ist – allem in diese Frauenrolle eingeschriebenen Bürgerlichen, Reaktionären, Mütterlichen und Opfernden zum Trotz – eine lebendige und authentische Provokation für Dukens Manieriertheiten.

Dabei wäre es ausgerechnet das Manierierte selbst gewesen, das den Film beinahe zu seinen Gunsten hätte wanken lassen: Denn inmitten der Tristesse der blaugrauen Farbgebung sind es gerade die Blutfontänen von Daniels rasiermesserscharf die Schädel seiner Opfer durchschlagenden Kopfschüsse, die derart unvermittelt und dabei so filigran und kunstvoll in der Luft zerstäuben, dass „Distanz“ in einigen wenigen Momenten ein beunruhigend instabiles Zentrum bekommt: eine schwarze, bizarre Komik. Mit ihr weiß der Film nicht so recht etwas anzufangen, obwohl sie – alle Psychologisierungen zynisch erstickend – der Figur Daniel und ihrer „Krankheit“ so ganz und gar angemessen wäre. Stattdessen rettet man sich einmal mehr ins Tragische und mag das eigene, irre flackernde Lachen lieber nicht hören.

Das A-Team – Der Film

(USA 2010, Regie: Joe Carnahan)

Kommt ein Panzer geflogen
von Thomas Groh

Stürzt ein Panzer vom Himmel runter, hängen ein paar Fallschirme dran, sind ein paar Irakveteranen drin. Kaum eine Besprechung von “Das A-Team” kommt ohne Hinweis auf diese sehr bizarre Sequenz …

Stürzt ein Panzer vom Himmel runter, hängen ein paar Fallschirme dran, sind ein paar Irakveteranen drin. Kaum eine Besprechung von “Das A-Team” kommt ohne Hinweis auf diese sehr bizarre Sequenz aus, so auch diese nicht. Es ist ja auch zu schön: Da zerlegt’s einen Jumbojet in luftigster Höhe unter viel Getöse und unseren vier, aus der gleichnamigen 80er-Serie bestens bekannten Helden gelingt die Flucht in kaum dafür geeignetem Gerät. Montage, Irrsinn, Freudenquell: Die “Panzerszene”, wie man sie vermutlich fürderhin nennen wird, dürfte als fröhlicher Bullshit jüngeren Produktionsdatums zumindest mittelfristig in die Filmgeschichte eingehen.

Vom Rest zwischen den Attraktionsinseln (sehr schön geraten ist auch der Showdown, in dem eine Frachtcontainer-Avalanche ein ganzes Hafendock unter sich begräbt) kann man das freilich kaum behaupten: Von den fast zwei Stunden Spielzeit wird wenig Zeit auf ehrlich kindischen Überwältigungskäse verwendet, sehr viel aber auf die “A-Team-Textur”. Wie jede andere “Kultserie” auch, zeichnet sich “Das A-Team” (die Serie jetzt) durch eine Vielzahl von Codes und Insiderwitzen aus: B.A. Baracus hat panische Flugangst, Hannibal raucht Zigarren, die Liebe zu funktionierenden Plänen wird ostentativ deklamiert, unwahrscheinliches Kampfgerät gebastelt und das Wichtigste: Beim “A-Team” wird nicht gestorben, sondern allenfalls auch nach viel Geballer unter einigem Husten Staub von den Klamotten geklopft (offensichtlich eine Strategie, um in den familienkompatiblen, also ökonomisch viel versprechenden Sendeslots zu landen, was eine sehr eigene Form der “Gewaltverherrlichung” schafft, nach der freilich keine der dafür zuständigen Instanzen kräht). Bei Wikipedia kann man das alles nachlesen und der große Haufen Drehbuchautoren, die der Film in “development hell” verschlissen hat, war offensichtlich damit bemüht, viel bei Wikipedia nachzuschauen, um sich im Anschluss Gedanken darüber zu machen, wie man nun welches ‚A-Team-Detail‘ wo unterbringen könnte.

Und das bedingt eine kaum erquickliche Zwischenposition: Einerseits ist da – Stichwort Panzer – der Wille zum Kinoirrsinn ohne weiteres zu spüren, andererseits soll das aber auch nicht überhand nehmen. McG, nun wahrlich kein großer Cineast, hat vor einigen Jahren mit seinen “Drei Engel für Charlie”-Filmen vorgemacht, wie es anders geht: Mit den Vorgaben der Vorlage ging man dort eher lax um, dafür wurde der Kino- und Bildrahmen in einer wilden Aneinanderreihung höchst unwahrscheinlicher Wendungen minutenweise gesprengt – Blockbuster-Kino trifft auf Avantgarde-Ästhetik und verflucht viel gute Laune. “Das A-Team” hingegen ist versessen aufs Richtigmachen und schlägt gerade deshalb fehl: Ist es wirklich interessant, wie sich die vier Jungs getroffen haben (in der mexikanischen Wüste bei der Konfrontation mit recht mafiösen Mexikanern)? Ist es wirklich interessant, dass das A-Team – in der Serie ein Haufen von der Militärpolizei gesuchter Vietnamveteranen – im Irakkrieg als Eliteeinheit zusammengeschweißt wurde? Dass es bei einem Einsatz – irgendwas mit US-Falschgeld in der Irakwüste – ordentlich gelinkt und ins Gefängnis gebracht wurde? Und dass es nach einem Ausbruch nun versucht, a) die eigene Unschuld unter Beweis zu stellen, und b) Schaden von den USA abzuwenden? Ich finde: Nein. Ich hätte mir mehr Panzer, die vom Himmel fallen, gewünscht.

Männer im Wasser

(D / S 2008, Regie: Måns Herngren )

Schwebende Schwäne
von Wolfgang Nierlin

Die Diskrepanz zwischen sportlichem Sein und sportlichem Bewusstsein sowie die fast schon heilige Allianz zwischen Leibesübungen und Patriotismus sind ausgeprägt in Måns Herngrens Filmkomödie „Männer im Wasser“. Bereits der dynamisch …

Die Diskrepanz zwischen sportlichem Sein und sportlichem Bewusstsein sowie die fast schon heilige Allianz zwischen Leibesübungen und Patriotismus sind ausgeprägt in Måns Herngrens Filmkomödie „Männer im Wasser“. Bereits der dynamisch montierte Vorspann, der als geraffte Exposition funktioniert, gibt diesbezüglich umfassend Auskunft: Fredriks traditionsbewusstes Hockey-Team, eine in Nostalgie an bessere Zeiten schwelgende Hobby-Mannschaft von Mittvierzigern, wird gegenüber den Hockey-Damen zurückgestuft und verliert das Trainingslokal. Doch der gekündigte Redakteur, der mit Sport sowohl seine Arbeitslosigkeit als auch seine gescheiterte Ehe kompensiert, entwickelt bald schon eine ungewöhnliche Alternative. Nach einem feuchtfröhlichen Junggesellenabschied mit spaßigem Wasserballett will der engagierte Fredrik aus seinen Kumpels Synchronschwimmer formen. Aus Gaudi wird Ernst mit einem ehrgeizigen Ziel: die Weltmeisterschaft in Berlin.

Auf dem Weg zum Erfolg sind natürlich einige Hindernisse zu überwinden und Rückschläge zu verkraften, was dem Drama seine retardierenden Momente und dem Lustspiel seine Pointen beschert. Denn: „Nur durch Niederlagen kann man sich weiter entwickeln.“ Was Fredrik einmal tröstend zu seiner 17-jährigen Tochter Sara sagt, gilt natürlich auch für ihn selbst. Und so erzählt Herngren in der Folge auch von der zögerlichen Annäherung zwischen Vater und Tochter und davon, wie sich die beiden ergänzen. Sara, selbst Synchronschwimmerin seit ihrer Kindheit, avanciert zum Coach der Männertruppe, die sich fortan „Die Schwäne“ nennt und auf dem Wasser das Schweben übt. Weil die Kunst und Ästhetik dieser Sportart dabei sehr körperlich ist, erzählt der schwedische Regisseur mit Humor und visuellem Witz gleich noch von „umgekehrter Geschlechterdiskriminierung“, falschem Männerstolz und unterdrückter, bald überwundener Homophobie; vor allem aber von Männerfreundschaft und Solidarität.

Die Hummel

(D 2010, Regie: Sebastian Stern)

In den Mühlen des Kapitalismus
von Andreas Thomas

Dass der Kapitalismus ein dem Menschsein und -bleiben einigermaßen unwirtliches Environment abgibt, das fällt immer wieder gerne auch Filmregisseuren auf. Es scheint gar, der Kapitalismus als filmisch vorgeformter Topos sei …

Dass der Kapitalismus ein dem Menschsein und -bleiben einigermaßen unwirtliches Environment abgibt, das fällt immer wieder gerne auch Filmregisseuren auf. Es scheint gar, der Kapitalismus als filmisch vorgeformter Topos sei inzwischen ein willkommenes Hintergrundböses für das eine oder andere Stück Arthouse-Kino, wie etwa das Genre: Lakonischer Film, welches wiederum oftmals verhilft: zum Schmunzeln, zum Nachdenken, und hinterher zum Weitermachen – im Kapitalismus.

Im lakonischen Film „Die Hummel“ wird aufgehört mit dem Weitermachen, und das gleich doppelt. Ein Geschäftsreisender in Sachen Naturkosmetikprodukte namens Pit Handlos, den Jürgen Tonkel als mimisch reduziertes Unglück in Menschengestalt spielt, und die in ihrem Job fehlbesetzte Dame an der Reklamationstheke im Elektrokaufhaus, Christiane, die Inka Friedrich mit feinsensiblen Blicken ausstattet, treffen sich nach Jahren wieder und erkennen, dass sie sich selbst belügen – nicht zuletzt, weil der Kapitalismus das so braucht. Pit, so die an eine Sekte erinnernde Firmentaktik, muss seinen „warmen Markt“ aktivieren, sprich, seine Jugendfreundinnen zu einem Glas Wein einladen, mit ihnen über „den Festplatz, damals “ sprechen, ihnen zuhören, ihnen das Gefühl geben, ein Freund zu sein und dann seinen Produktkoffer öffnen. Im Normalfall führt Pit Kundinnengespräche dieser Art mit mehr oder weniger Eleganz und Erfolg, im Idealfall rekrutiert er die Kundin gleich selbst zur Mitarbeiterin – nur bei Christiane will ihm das nicht so leicht von der Hand gehen. Wie das bloß kommen mag? Eben: Weil Liebe und Kapitalismus nicht zusammen passen. Wir wissen das, weil der lakonische Film das weiß, und weil es den schon seit bald 30 Jahren gibt.

Das Genre, das sich Regisseur Sebastian Stern für seine Abschlussarbeit an der Filmhochschule ausgesucht hat, ist natürlich nicht das neueste, aber auch das schlimmste nicht, und, wenn man es einigermaßen einfallsreich bedient, einen Kinoabend wert. Stern ist die Umsetzung seiner Ideen gelungen, weil er welche hat: Sein schön und detailgenau ausgestatteter Film verfügt über gute Typisierungen mit passenden Darstellern (jede Figur besitzt eine ihr angemessene Glaubwürdigkeit), einen weitgehend unaufdringlichen, häufig trockenen, Humor und eine leicht angeschrägte Geschichte aus der Welt des kleinen Bürgers in der niederbayerischen Kleinstadt. Perlen, wie der Mini-Dialog zwischen Vater und Sohn, dem „Gruftie“: „Was ist eigentlich so toll an diesem Gruftzeugs?“ – „Das ist halt unsere Art von Lebensfreude“ – schmücken einen Film, dessen erste Hälfte schön und straff und auf den Punkt geschnitten ist, dessen Auflösung im letzten Viertel aber auch ein wenig vorhersehbar ist. Die Freiheit, die sich die beiden Protagonisten schließlich schleppend erarbeitet haben, wirkt fast zu total, so dass man danken möchte, für die Katharsis, die einem das Kinostück schenkte und morgen lieber weitermachen – in den Mühlen des Kapitalismus.

Liebe Mauer

(D 2009, Regie: Peter Timm)

Fantastische Subversivität
von Dietrich Kuhlbrodt

„Meier“, eine Mauerkomödie der anderen Art (1986), und „Liebe Mauer“, eine Mauer-Love-Story der bekannten Art (2009), beides gedreht von Peter Timm („Go Trabi go“) mit 23 Jahren Abstand. „Liebe Mauer“ …

„Meier“, eine Mauerkomödie der anderen Art (1986), und „Liebe Mauer“, eine Mauer-Love-Story der bekannten Art (2009), beides gedreht von Peter Timm („Go Trabi go“) mit 23 Jahren Abstand. „Liebe Mauer“ wird am 27.08.2010 auf DVD und Blu-ray erscheinen und das hamburger Kino 3001 zeigt demnächst beide Filme im täglichen Wechsel. Machen wir uns den Spaß, vergleichen wir sie.

„Meier“, produziert drei Jahre vor der Wende in der BRD. Demgemäß ist keine Aufarbeitung zu befürchten. Regisseur Peter Timm, geboren in der DDR, ausgewiesen 1970, hält sich an das, was er beschreiben und verarschen und lieben kann. Ja, er hat was übrig für die DDR, genauer für die Menschen, die dort arbeiten und leben und fantastische Subversivität entwickeln, um was zu produzieren. „Meier“ ist auch ein Arbeiterfilm. Und es gibt ihn, den Meier. Er führt eine Tapezierbrigade an. Mit seinen Kumpeln kommt er bestens klar. Spaß haben! Westberlin verlassen und zur Hauptstadt der DDR rübermachen! Das haut alle Klischees von den Fluchtfilmen um. „Meier“ räumt mit den festgezurrten Zonibildern in unserem Kopf auf.

Brigadier Meier also verschafft sich einen Westpass und damit den täglichen Zutritt durch die Mauer und zurück. Wie das mit dem Pass geht, braucht keine Worte, die entsprechende Szene überzeugt dialogfrei im Flughafen-WC Berlin-Schönefeld. Weiter stellt sich nicht die Frage, warum Meier den Pass nicht zur Flucht nutzt. Denn wir sehen, wiederum total überzeugend, wie er die tägliche Einreise zur Einfuhr westberliner Rauhfasertapeten nutzt, professionell und zum Lob des Sozialismus. Rauhfaser ist der Knüller in Ostberlin. Parteifunktionäre scharwenzeln um ihn herum. Der Staatsratvorsitzende Honecker persönlich dekoriert ihn als Held der Arbeit. Eine absurd konsequente, hoch komische Szene.

Der Film lebt von irrwitzigen Gags, zu denen der Auftritt von Dieter Hildebrand als Kellner im HO-Fischrestaurant zählt, und von detailreichen Beobachtungen und grotesken Wendungen. Es wird gelacht und getrunken, allerdings durchaus auf Kosten der Funktionäre, die wie gesagt liebevoll verarscht werden. Ja, es lebe die DDR oder genauer: so lebt es sich in der DDR. 1986. Damals war „Meier“ ein Film gegen den Strich gebürstet und damit zum Wiedererkennen, authentisch, ganz Gegenwart, einzigartig, bejubelt. Jetzt also 23 Jahre danach „Meier“ neu austesten!

„Liebe Mauer“ von 2009. Peter Timm fordert den Vergleich heraus. Die Mauer, jetzt historisch, nostalgisch, ein repräsentativer Film unter vielen, die sich Mauerfall und Wende widmen.
Im wohlbekannten Jahr 1989 steht sie noch, die Mauer. Franzi, frisch in Westberlin, geht im Osten einkaufen, weil das billiger ist. Die übervollen Tüten knallen ihr beim Grenzübergang hin. Grenzpolizist Sascha missachtet die Dienstvorschriften. Er hilft ihr beim Einsammeln und Auffegen. Es folgt eine Liebesgeschichte, in die sich bald Stasi, CIA und West-Staatsschutz einmischen. Werden die Liebenden trotzdem zu einander kommen? Der 9. November 1989 wird es richten.

Ja, das Plot ist vorhersehbar. Zwischen dem ersten Timm-Film von 1986 und dem neuen von 2009 sind in den Medien fleißig Klischees produziert worden, und Timm ist jetzt dabei. Geschenkt auch die Geheimdienstklamotte. Spaß macht sie trotzdem. Buhmänner sind zum Ausbuhen da. Liebende zum Lieben. Okay? Warum darf ein Film nicht auch mal naiv daherkommen? Denn das ist doch das Thema, die arglose, schüchterne Begegnung von Ost und West, sympathisch, schön beobachtet, endend in den großen Emotionen am Tag des Mauerfalls.

Ja, so war es damals, erzählt uns Märchenonkel Peter Timm. Und Märchen will man immer wieder hören. Sie sind was fürs Gemüt.

Ausgequetscht

(USA 2009, Regie: Mike Judge)

In der Fabrik mit Waylon Jennings
von Joachim Schätz

Unter den Blödheitsforschern der jüngeren US-Komödie ist Mike Judge der Sozialrealist: Schon die von Judge in den 90er Jahren kreierten und gesprochenen Fernsehkinder „Beavis and Butt-Head“ waren nicht bloß überlebensgroße …

Unter den Blödheitsforschern der jüngeren US-Komödie ist Mike Judge der Sozialrealist: Schon die von Judge in den 90er Jahren kreierten und gesprochenen Fernsehkinder „Beavis and Butt-Head“ waren nicht bloß überlebensgroße Embleme einer ganzen Dumpfbackenkultur (wie Ben Stillers „Zoolander“ oder Will Ferrells „Anchorman“ Ron Burgundy), sondern zugleich sehr konkrete Repräsentanten einer suburbanen Proll-Jugend angehender Modernisierungsverlierer. Judges Nachfolgeprojekt, die langlebige Animationssitcom „King of the Hill“, baute in ihren Schilderungen aus dem Leben eines Einfaltspinsel-Patriarchen im Gegensatz zum Sendeplatz-Nachbarn „The Simpsons“ mehr auf texanisches Lokalkolorit und milieufundierte Charakterkomik als auf all-american Universalität und Themenhumor. Und mit „Alles Routine“ („Office Space“, 1999) schuf der studierte Physiker einen ätzend detailgenauen Lagebericht aus den Niederungen des Bürolebens, noch bevor „The Office“ oder gar „Mad Men“ Schreibtische und Besprechungszimmer zurück in die Popkultur holten.

Auch „Ausgequetscht“ (im Original: „Extract“), der in den USA am Labor Day des vergangenen Jahres in die Kinos kam, zeigt sich durchlässiger für Mittelstandswirklichkeiten als das derzeit etwa im Sonnensystem Judd Apatow möglich scheint: Hauptschauplatz des Films ist nicht die WG-Couch, sondern die Fabrik, und Vergesellschaftung wie Habitusbildung vollziehen sich hier gleichermaßen entlang sozialer und ökonomischer Hierarchien wie popkultureller Präferenzen. Ein Detail, das Bände spricht: Wenn Self-Made-Aromafabrikant Joel (Jason Bateman) die attraktive neue Aushilfskraft im Gespräch unter Männern als „working-class looking“ beschreibt, dann weiß sein Gegenüber gleich, was der hormongestaute Kleinunternehmer meint: sie sehe wie eine Schlampe aus.

Mit Joel ist diesmal nicht, wie in „Office Space“, eine Bürodrohne, sondern ein Boss die geplagte Hauptfigur. Wer die Galerie zänkischer, selbstsüchtiger und ignoranter Arbeitskräfte, mit denen Joel sich herumschlagen muss, für filmgewordenes „Unterschicht“-Ressentiment halten will, muss aber ausblenden, dass in „Ausgequetscht“ zumindest Idiotie alle Klassen transzendiert. Da kommt auch der Chef nicht aus: Weil Joel mit besagter neuer Fließbandarbeiterin, Cindy (Mila Kunis), eine Affäre beginnen will, aber ein schlechtes Gewissen hat, heuert er für seine gelangweilte Gattin Suzie (Kristen Wiig) heimlich einen Gigolo (toll: Dustin Milligan) an. Unterdessen heckt die betrügerische Cindy eine existenzbedrohende Klage gegen Joels Fabrik aus.

Ein wenig gemahnt die mäandernde Dramaturgie von „Ausgequetscht“ an eine geführte Bustour durch die Demütigungen kleinstädtischer Upper-Middle-Class-Existenz (Zu Ihrer Linken sehen Sie jetzt den aufdringlichen Rotary-Arsch-Nachbarn!). Nach der furiosen High Concept-Komik von Judges Verblödungsdystopie „Idiocracy“ (2006) wirkt dieses sauber gefilmte Purgatorium zuerst einmal erstaunlich zurückgenommen und zerfleddert: wie ein Serienpilot, der übereifrig Spuren für ein, zwei Staffeln auslegt.

Gerade im Verknüpfen mehrerer disparater Handlungsfäden zu einem kompakten Eineinhalbstünder beweist „Ausgequetscht“ aber rare Souveränität. Manche Gags und Karikaturen werden breit und repetitiv ausgequetscht – etwa der fulminante Auftritt von „Kiss“-Monster Gene Simmons als vulgärer Staranwalt –, doch der Film ruht sich nie im Auffädeln von Sketches aus, sondern peilt zielstrebig einen melancholischen Tonfall an. Dazu gehört, dass er sich mitunter an überraschenden Stellen entschließt, seinen Figuren Eigeninitiative zuzugestehen. Schon wie Ben Affleck als Joels tumber Barkeeper-Kumpel Pointen sammelt, ohne dass er sich mehr als in seinen Heldenrollen zum Affen machen müsste, ist in dieser Hinsicht signifikant. (Man vergleiche das einmal mit den eh lustigen, aber seltsam anbiedernden Karnevalsauftritten von Brad Pitt in „Burn After Reading“ oder Tom Cruise in „Tropic Thunder“.)

„Who were you thinking of / when we were making love last night?“, fragt gegen Ende – nach einer weiteren Verschiebung im Beziehungsgeflecht – einer der Country-Songs, die den Soundtrack dominieren. Und etwa zu dem Zeitpunkt ist mir aufgegangen, wie stark die abwegigen, besoffenen, aber durchwegs ernst gemeinten shaggy dog stories dieses Films übers Lieben, Arbeiten und Betrügen einem bestimmten Countrysong-Duktus nachempfunden sind (ähnlich wie die HipHop-Tracks in „Office Space“ schon mehrdeutiges Programm waren). „Ausgequetscht“ hat von Waylon Jennings mehr begriffen als „Crazy Heart“. Und dank Kristen Wiigs famoser Darstellung der Gattin Suzie – wie diese Frau Gesichtsausdrücke zerkauen kann! – wird man eine ergreifendere Eheballade im aktuelleren Amikino lange suchen müssen. Dass der Film den deutschen Sprachraum erst auf DVD erreicht, ist schade, überrascht bei einer Arbeit von derart diskreter Qualität aber nicht weiter.

Zur DVD: Englischsprachige Untertitel wären angenehm gewesen. Die Extras – eine (kurze) geschnittene Szenen, ein paar (minimal) erweiterte Szenen, ein nettes 11-minütiges Making Of-Featurette – gehen nicht über Pflichtübungen hinaus und tragen wenig Erkenntnisförderndes zur Methode Judge bei. Was sollte auch einem Film hinzuzufügen sein, der das Extrakt schon im (Original-)Titel trägt?

Giravolte – Freewheeling in Roma

(I 2001, Regie: Carola Spadoni)

Frottierendes Movere
von Andreas Thomas

Ein anarchierendes, frei flottierendes Parlare, ein frottierendes Movere durch ein schmutziges Rom der Straße ist der Film „Giravolte“, und darin eine Liebeserklärung an die Stadt, ein Cinemascope-Film bewusst eingebunden in …

Ein anarchierendes, frei flottierendes Parlare, ein frottierendes Movere durch ein schmutziges Rom der Straße ist der Film „Giravolte“, und darin eine Liebeserklärung an die Stadt, ein Cinemascope-Film bewusst eingebunden in die Geschichte des italienischen Kinos und dazu eine Verortung in der Berlusconi-Ära, der mittleren, muss dazu gesagt werden, denn obwohl der Film erst jetzt, 2010, in die deutschen Kinos kommt, gibt es ihn schon seit 2001. Gedreht Ende der Neunziger, ist er also sogar noch ein Vor-11. September-Film, was in Bezug auf das anhaltende Berlusconi-Italien womöglich keinen großen Unterschied bedeutet.

Wenn die meisten Geschichten im Leben nur nachträgliche Interpretationen sind und in Wahrheit unabgeschlossene Bruchstücke komplexerer Zusammenhänge, dann folgt „Giravolte“ eben dieser Prämisse, indem er einen Tag im Leben des Mittfünfzigers Victor Cavallo als Koinzidenz zufälliger Begegnungen erzählt. Drei Akte, mit jeweils verschiedenen filmischen Mitteln inszeniert.

Im ersten, dem freiesten Akt, erlaubt sich die Regisseurin das Aufbrechen der zeitlichen Abfolge: Das hitzige und wortreiche Mittagsmahl Victors mit vier Männern unter einer Brücke am Tiber wird immer wieder gestört durch Sequenzen eines versuchten Selbstmordes und einer Rettung. Unaufhörlich kreist die Kamera um die Männer, die dubiose Theorien um magische Steine entwickeln, in springenden Schnitten dazwischen ein weinendes Mädchen, das dem Selbstmörder befiehlt, sich nicht aus dem Leben davon zu machen.

Der zweite, weitgehend improvisierte, Akt begleitet Victor zum Flohmarkt, auf dem er Flyer verteilt, mit denen er sich als Kandidat für die Bürgermeisterwahl vorstellt, sein Wahlkampfmotto: „Löse die Zeit auf in Gelächter“. Flohmarktsgeplänkel im dokumentarischen Stil, im wörtlichen Sinn auf Augenhöhe mit den Besuchern, den Käufern und Verkäufern, deren Gespräche über ihre Videos und Bücher nebenbei zu kulturkritischen Statements geraten.

Den Ausklang bildet der ganz andere dritte Akt, ein klar inszeniertes, witzig-skurriles Kammerspiel in einer Kneipe, in welcher Victor auf ausgesuchte Typen trifft: darunter eine ältere Prostituierte, die aussieht wie ein Relikt des klassischen italienischen Films, ein Polizist, ein junger Musiker, ein gestrandetes amerikanisches Pärchen. Eine kurzzeitige Ordnung, die die Nacht und der Alkohol bereit hält – und eine Regie, die an Filmen von Fellini, des Neorealismus und, so scheints, auch an Filmen des frühen Jim Jarmusch geschult ist.

Wir haben vieles zugleich im Film „Giravolte“: Ein stilistisches Patchwork, auch was die musikalischen Elemente vom Jazz zu Trance betrifft, unterlegt wird der Ton oft von einem fiktiven Radiosender, der unentwegt merkwürdige Nachrichten sendet („Beschlagnahmung schadhafter DNA zwischen Albanien und dem Kosovo“), und viele parallele, sich streifende, abgebrochene Geschichten des individuellen Überlebenskampfes, von denen die des Victor sicherlich nicht die dramatischste ist, der aber, ganz nach dem von Marcel Duchamp übernommenen Motto des Films: „Die Energie der Seitenblicke nutzen“, als Zentrum dieses angenehm unkonventionellen, im besten Sinne italienischen Werkes und als unbeugsam vitaler Zeuge eines gebeutelten Italiens beste Dienste leistet.

8. Wonderland

(F 2008, Regie: Nicolas Alberny, Jean Mach)

Nicht mehr anrufen! Dies ist eine Wiederholung!
von Ulrich Kriest

„Unsere ganze Weisheit besteht aus Vorurteilen. All unsere Bräuche sind nur Knechtung, Bedrängnis und Zwang. Der bürgerliche Mensch wird geboren und stirbt in der Sklaverei. Den Neugeborenen näht man in …

„Unsere ganze Weisheit besteht aus Vorurteilen. All unsere Bräuche sind nur Knechtung, Bedrängnis und Zwang. Der bürgerliche Mensch wird geboren und stirbt in der Sklaverei. Den Neugeborenen näht man in ein Wickelband, den Toten nagelt man in einen Sarg. Sein Leben lang liegt der Mensch in den Ketten unserer Institutionen.“ Bis zu Jean-Jacques Rousseau zurück führt mindestens das babylonische Sprachgewirr von „8. Wonderland“, einem Film, der mit bescheidenen ökonomischen wie auch intellektuellen Mitteln eine soziale Utopie entwirft, die sich vorzüglich aus recyceltem Material speist.

Ein global vernetztes Kollektiv hat im Internet einen virtuellen Staat gegründet, um mit kleinen, subversiven Aktionen Sand ins Getriebe der Mächtigen zu streuen. Anfangs bewegen sich diese Aktionen noch auf dem politischen Niveau von Schülerstreichen, wenn etwa Kondomautomaten im Vatikan installiert werden oder ein gewitzter Dolmetscher einen Atomdeal zwischen Russland und dem Iran vereitelt. Lustig auch die Idee, millionenschwere Fussballstars zu entführen und sie in Sweatshops zu sperren, wo sie ihre Vertragspartner billig arbeiten lassen.

In einer Art Schnelldurchlauf bietet der Film von Nicolas Alberny und Jean Mach häppchenweise Illustrationen von bestimmten Theoremen der politischen Philosophie, der Demokratietheorie und der Aporien des herrschaftsfreien Diskurses, in die sich recht zügig Omnipotenz-Phantasien und die alte Idee der revolutionären Aufhebung der Gewaltenteilung mischen. Am Ende steht dann Selbstermächtigung von allen Seiten, aber überrascht das irgendwen? All dies gerät äußerst holzschnittartig in einer Montage aus inszenierten Diskussionen von Talking Heads der Bewohner von 8. Wonderland und nachgestellter Medienrealität. Der Film ist derart wortlastig, dass man wohl eher von einem bebilderten Hörspiel sprechen sollte. Lustig auch, dass man den Ureinwohnern von 8. Wonderland – bevor der Hype beginnt! – ihre zutiefst humanistische Empathie buchstäblich an den Stimmen abhört: so viel Freundlichkeit und Nettigkeit und Toleranz! Je erfolgreicher die Bewohner von 8. Wonderland aus der Virtualität heraus agieren, desto labiler erweist sich das Konstrukt des virtuellen Staatswesens für Anfechtungen und Instrumentalisierungen. Ein Mann namens John McClane gibt sich als Führer von 8. Wonderland aus und kocht später mit erstaunlicher Chuzpe doch nur sein eigenes Süppchen. Doch die Geste, nun selbst einen Repräsentanten des virtuellen Staates als Gegen-Stimme in die Öffentlichkeit zu schicken, bleibt hilflos und wirft die Frage nach der notwendigen Prpfessionalisierung der politischen Klasse auf.

Rousseau, Kant, Marx, Max Stirner, Bakunin, Lenin, Bloch, Max Weber, Jürgen Habermas – da müssen die Bewohner von 8. Wonderland im Schweinsgalopp noch einmal durch – säuberlich werden ideologische Positionen aus der Abstellkammer der Geschichte noch einmal durchmustert. Weil die Lernprozesse hier ihren Ausgang in einer eher naturwüchsigen Protesthaltung, einem gewissen Unbehagen am status quo nehmen, mag der Erkenntnisprozess der Bewohner von 8. Wonderland immens sein, für den Zuschauer im Kinosaal ist er eher quälend, sprunghaft und kontingent. So erleben wir eine polyphone Bewegung von der Graswurzelrevolte über eine Gegenkultur bis hin zur Institutionalisierung der Bewegung und der abschließenden Selbstdestruktion. Dass die Bewegung selbst einen Lernprozess in Bewegung gesetzt hat, der das Scheitern als Erfahrung überlebt und nachwirkt, bleibt der etwas naive Ausblick eines sicher sehr gut gemeinten Films, dessen karger Mehrwert im Kinosaal allerdings bitter abgerungen sein will.

Sobibor – 14. Oktober 1943, 16 Uhr

(F 2001, Regie: Claude Lanzmann)

Auschwitz ist jetzt
von Andreas Thomas

‚Es gibt zwar eine große Anzahl von Museen, Denk- und Mahnmalen. Die aber dienen dem Vergessen ebenso wie der Erinnerung. Sie verwalten die Erinnerung, die zur toten Materie wird. Meine …

‚Es gibt zwar eine große Anzahl von Museen, Denk- und Mahnmalen. Die aber dienen dem Vergessen ebenso wie der Erinnerung. Sie verwalten die Erinnerung, die zur toten Materie wird. Meine Filme sind Gegenmittel dazu.‘ – Claude Lanzmann

Selten wohl hat ein Regisseur seine eigene Arbeit so treffend in Worte gefasst, selten aber auch lagen Intention, Werk und dessen Wirkung so dicht beieinander, wie im Fall der Dokumentarfilme Claude Lanzmanns. Sein monumentales Hauptwerk ‚Shoah‘, ausschließlich aus Interviews von Überlebenden und Zeugen der Vernichtungslager, KZ’s oder Ghettos während der NS-Zeit bestehend, zeigte 1985, worum es Lanzmann ging: Um die Erinnerung durch Sprache, durch Erzählung, entgegen aller weithin bekannter Daten, Fakten, Bildern und entgegen einer ‚Ikonographie des Grauens‘ (Seeßlen), die den Umgang mit dem Grauen dadurch zu erleichtern tendieren, indem sie es in einer Sammlung von Begrifflichkeiten, also als etwas medial und faktisch (Fotografiertes, Aktenkundiges, Registriertes) aber dadurch auch vermeintlich tatsächlich Begriffenes darstellen. Die Filme Lanzmanns suchen das Grauen und das Überleben des Grauens nicht in den Archiven und Museen, sondern in der Gegenwart von Orten und Personen. In den Kamerafahrten durch die grasüberwucherte Lade-Rampe von Auschwitz-Birkenau und in den Worten und Gesichtern der Menschen, für die das Grauen nach 1945 nicht nur noch ein Teil ihrer Vergangenheit war, sondern das sie bis zu ihrem Tode nicht loslassen wird.

Auf der anderen Seite gibt es die Gesichter und Berichte der Täter, Zuarbeiter und Dulder, derer, die auch nach 1945 nicht aufgehört haben, wegzusehen, zu verharmlosen, sich ihrer Mitverantwortung zu entziehen, das Grauen zu verdrängen. Dazwischen immer Claude Lanzmann, mit seinen bohrenden Fragen: ‚Wie war es genau? Was haben Sie gesehen? Was ist geschehen? Was haben Sie gefühlt, gedacht? Was haben Sie getan? ‚

In den intensivsten Momenten von ‚Shoah‘ meint man, Lanzmann wünschte sich aus ganzer Kraft, dass alles ungeschehen gemacht würde, als sei eine Rettung der Opfer, eine Umkehrung der Ereignisse noch immer möglich, ganz so, als würde Auschwitz heute noch passieren. Und tatsächlich ist ja Auschwitz – und dessen Möglichkeit – nie abgeschlossen, solange seine Realität (das heißt auch seine Enstehungsbedingungen) nicht im Bewusstsein der folgenden Generationen angekommen ist. Lanzmann ist also nicht nur ein Erinnerer – aber vor allem ist er kein Förderer einer therapeutischen, einer zur Heilung führenden Trauerarbeit. Im Gegenteil: Er zeigt die Wunden und zeigt uns die Werkzeuge, mit denen sie jederzeit erneut gerissen werden können, die Ignoranz und die Flucht vor der persönlichen Verantwortung, nicht zu reden vom kranken, rassistischen Wahn.

Weil nun der Film „Shoah“ mit konsequentester Bereitschaft in den fürchterlichen Kern der Botschaft der Vernichtungslager hineinführen sollte, „die Radikalität des Todes, die Radikalität der Vernichtung, die Unentrinnbarkeit von alledem“, wie Lanzmann es nennt, hätten die Geschichten eines Aufstands, einer Flucht, oder des Entkommens einiger Weniger von dieser Wahrheit abgelenkt.

Aber es gab unter den 350 Stunden Film-Material, das sich bei den Dreharbeiten zu „Shoah“ angesammelt hatte, auch den Bericht des Yehuda Lerner von dem einzigen gelungenen jüdischen Aufstand, im Vernichtungslager Sobibor, und das Interview mit einem Delegierten des Internationalen Roten Kreuzes Maurice Rossel, dem einzigen Außenstehenden, der offiziell das Konzentrationslager in Auschwitz-Birkenau besuchen konnte und das „Vorzeige-Ghetto“ Theresienstadt besichtigen durfte.

Aus diesen Interviews hat Lanzmann zwei eigenständige Filme gemacht: „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ und „Ein Lebender geht vorbei“. Eigenständige Filme, weil sie sich nicht problemlos in „Shoah“ integrieren ließen, aber gleichwohl als wichtige Ergänzungen zu verstehen waren („Nebenfluss“ von ‚Shoah’“ nennt Lanzmann seinen „Sobibor“-Film), als exemplarische Momente der von Lanzmann unermüdlich wiederholten Frage, was der Einzelne hätte tun können, hier also ob und wie Widerstand in den Lagern hätte möglich sein können oder ob die Weltöffentlichkeit schon früher von der deutschen Praxis der Vernichtungslager und Ghettos hätte wissen können.

„Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ liegt ein 1979 geführtes Interview mit Yehuda Lerner zugrunde, dem es schon vor seiner Internierung in Sobibor gelungen war, als damals sechzehnjähriger Junge aus acht verschiedenen Konzentrationslagern zu auszubrechen. Lerners Schilderungen werden mit in der Gegenwart gedrehten Bildern der Stationen auf der Odyssee seiner Deportationen erweitert, wieder ein Beispiel für die Kunst Lanzmanns, das Vergangene und doch nicht Abgeschlossene in der Gegenwart aufzusuchen. Die Erzählung dann vom Aufstand selbst ist von einer derartigen Präsenz, dass man meint, dessen unmittelbarer Zeuge zu sein. Mehr über „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ können Sie hier lesen.

„Ein Lebender geht vorbei“ (fertig gestellt: 1997) zeigt ein Gespräch zwischen Lanzmann und dem Schweizer Maurice Rossel, welcher als einziger Delegierter des Internationalen Roten Kreuzes die Gelegenheit hatte, vom Lagerleiter in Auschwitz empfangen zu werden und Teile des KZs Auschwitz besichtigen zu können sowie Theresienstadt zu besuchen. Rossel, der Lanzmann ursprünglich nicht empfangen wollte, wurde mit der für Lanzmann charakteristischen und dem Sujet überaus angemessenen Art am Ende der Dreharbeiten zu „Shoah“ 1979 überraschend in seinem Haus aufgesucht und zu diesem Interview überredet, welches, wie man sieht, er unvorbereitet und widerwillig gibt. Rossel beschreibt, wie er ohne große Probleme und mit jugendlicher Unbefangenheit allein mit dem Auto nach Auschwitz gelangte und dort vom freundlichen Lagerkommandanten (dessen Name ihm entfallen ist) empfangen wurde, sogar eine kurze Besichtigung von Teilen des Konzentrationslagers unternehmen durfte („für den Krieg normale Verhältnisse“), und wie er Theresienstadt, „eine normale mittlere Kleinstadt“ (Rossel), besuchte. Dieser Besichtigung gingen tatsächlich wochenlange Vorbereitungen voraus, sie war eine groß angelegte Inszenierung (von einem „Potemkinschen Ghetto“ war später die Rede), von der sich Rossel in jeder Hinsicht täuschen ließ. Erschreckend an beiden Berichten ist, obwohl schlimm genug, weniger der Fakt der Täuschung, als Rossels bis 1979 ungeminderte Überzeugung, er hätte wirklich nichts bemerken können; vor allem aber seine offenbar fehlende nachträgliche Erschütterung darüber. Kein Anflug des Selbstzweifels scheint Rossel zu berühren, statt dessen spricht er in einer penetrant distanzierten Art stets von „Israeliten“, während Lanzmann, der Jude, stets von den „Juden“ spricht. Erst als Lanzmann ihn emphatisch und umfassend vor der laufenden Kamera mit den schrecklichen Daten und Zahlen dessen konfrontiert, was er hätte zumindest erahnen können, sehen wir einen anderen, nicht mehr selbstgefälligen Rossel, jemanden, der mit seiner eigenen Verantwortung konfrontiert wird.

Während „Shoah“ von der fürchterlichen Totalität der Todesmaschinerie der Nazis handelt, sind die Filme „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ und „Ein Lebender geht vorbei“ leidenschaftliche Dokumente der Möglichkeiten des Einschreitens, hier eines geglückten Widerstands und dort eines verantwortungslosen Wegsehens – da, wo eine internationale Öffentlichkeit hätte hergestellt werden können und müssen -, hier eine deklarierte Feier der Aufstands und dort eine vehemente Anklage, beides nachhaltige Appelle an die individuelle Verantwortlichkeit – am Ende auch die des Zuschauers.

Ich selber habe erst vor kurzem „Shoah“ komplett gesehen und sah – noch ganz in dessen Hoffnungslosigkeit und ohnmächtiger Wut befangen – den Film „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ mit einem Gefühl veritabler Erleichterung und Genugtuung, mit einem Gefühl vollzogener Gerechtigkeit. Yehuda Lerner, der vorher nicht einer Fliege etwas zu Leide getan hatte, „empfand es als Ehre, den Schädel des Deutschen mit einer Axt in zwei Hälften zu spalten“. Den Filmen Claude Lanzmanns ist es zu verdanken, dass wir dieses Ehrgefühl gründlich verstehen können.

Mammuth

( 2010, Regie: Gustave de Kervern, Benoît Delépine)

Tour de Farce
von Harald Mühlbeyer

Im Schlachthof arbeitet er, teilt Schweinehälften. Dick ist er, lange, blondierte Haare hat er, alt ist er, mit 60 wird er jetzt ins Rentenalter entlassen: es ist Gérard Depardieu, bei …

Im Schlachthof arbeitet er, teilt Schweinehälften. Dick ist er, lange, blondierte Haare hat er, alt ist er, mit 60 wird er jetzt ins Rentenalter entlassen: es ist Gérard Depardieu, bei dem nicht nur die Haartracht ungewöhnlich erscheint in diesem Film. Er spielt einen Dummling, einen ungehobelten Klotz, einen sanften Riesen. Dies sei die Rolle, die ihm am meisten entspreche, hat Depardieu auf der Berlinale gesagt, so sei er in Wirklichkeit, so sehe er sich selbst: auf dem Motorrad unterwegs, angetan mit einem langen Männerrock, irgendwo zwischen Kaftan, Talar und Schamanenkleid. Benoît Delépine und Gustave Kervern inszenieren ihn ein bisschen wie den „Wrestler“ von Aronofsky, er ist ebenso verloren mit seinem Leben; nur dass er nicht aus Anabolika-Muskeln besteht, sondern aus schwabbeligem Fett.

Depardieus Figur Serge, genannt Mammuth, ist unterwegs durch Frankreich auf seinem alten Münch-Mammut-Motorrad von 1973, auf der Reise in eine Vergangenheit, in der er auch schon nie wirklich zur Gesellschaft dazugehörte. Gelegenheitsjob hier, Gelegenheitsjob da, meist schwarz: da ist es schwierig, all die erforderlichen Belege für die Rentenansprüche aufzubringen. Und eigentlich interessiert es Mammuth auch nicht sonderlich, mehr und mehr gibt er sich dem Fahren, dem Draußen-Sein hin: das Daheimsitzen mit dem 2000er-Puzzle, das er zum Renteneintritt geschenkt bekommen hat, das Einkaufen, das Nichts-zu-tun-haben hat ihm eh gestunken. Ja: er entwickelt jetzt so was wie Persönlichkeit, einen eigenen Willen. Wenn man so will. Wenn man bei diesem Film überhaupt von Entwicklung sprechen kann.

Vielmehr reihen Delépine und Kervern Szenen aneinander, Szenen, die weniger von der Handlung als vom großen Ganzen des Films her aufeinander aufbauen. Anders als in ihrem vorherigen Film „Louise Hires a Contract Killer“ geht es hier nicht um eine – wenn auch verdreht vorgebrachte und grotesk dargestellte – wirkliche, handgreifliche politische Aussage wie das Killen von Bonzen, denen die Arbeiter egal sind; hier geht es um ein Lebensgefühl, um ein Leben, das nie wirklich, von sich aus, geführt wurde. Da trifft Mammuth einen Metallsucher mit Metalldetektor am Strand, der ganz offenbar nichts mit sich anzufangen weiß und sich dennoch eine genaue Philosophie, eine Methode des Schatzsuchens, der nie erreichbaren Utopie zusammengebastelt hat. Und plötzlich wird klar, was für ein Ding Mammuth selbst da eigentlich die ganze Zeit im Rucksack rumgetragen hat. Er trifft alte Bekannte, die ihn mehr oder weniger direkt abblitzen lassen; er übernachtet auf einer Bushaltestelle und muss kleine Kinder ertragen: Mama, da liegt ein stinkender Mann! Sollen wir die Polizei rufen?

Durch den Film spukt zudem Isabelle Adjani, sie war Serges Geliebte und ist auf dem Motorrad umgekommen – ein weiteres Trauma, das sein verkümmertes Leben bestimmt hat, das ihn stets begleitet: immer wieder steht sie da, blutüberströmt und wunderschön…

Am Ende findet Serge so etwas wie Erlösung, indem sich der ohnehin rudimentäre Handlungsfortgang vollends verzettelt. Er will seinen Bruder besuchen, findet aber nur seine Nichte vor, die sich Miss Ming nennt und von der Künstlerin Miss Ming gespielt wird. Naive, faszinierende Kunstwerke stellt sie zusammen und in ihrem Garten aus, Statuen, zusammengekloppt aus Fundstücken, Gebilde, die direkt ihrem Denken entstammen; wobei sie stets als einfach gestrickt, ja: etwas debil dargestellt ist, außer wenn es um ihre eigenwillige künstlerische Ausdruckskraft geht. Bei ihr findet Mammuth so etwas wie Ruhe; und sein ungefähr gleichaltriger Cousin ist auch da, mit ihm legt er sich ins Bett, und wie damals, vor 45 Jahren, wichsen sie sich gegenseitig.

Das ist eines dieser vielen unvergesslichen Szenen des Films, die in ihrer skurrilen Absurdität das Leben von Serge präzise beschreiben, sein Lebensgefühl in wenigen Kameraeinstellungen genau ausdrücken. Lange vorher haben wir ihn einmal beobachtet, mit zwei ausgestreckten Fingern am Fenster, und wir wissen nicht, was er tut, bis ein Auto vorbeifährt… Am Ende, da entfaltet er sich, da geht er tatsächlich ein bisschen aus sich heraus, aus dem unterdrückten Leben, das er bisher geführt hat; hat er vielleicht tatsächlich was gelernt auf dieser Reise durch sein Leben, durch den Film?

Ernst Jandl: Vom Öffnen und Schließen des Mundes. Frankfurter Poetikvorlesungen 1984/1985

( 1984, Regie: Rolf Quenzel, Wilfried F. Schoeller)

'Ein Lyriker ohne eigene Sprache'
von Andreas Thomas

Er sei das „traurige Beispiel eines Lyrikers ohne eigene Sprache“ begründete Verleger Siegfried Unseld im Jahr 1966 seine Ablehnung einer Publikation von Ernst Jandls Gedichten im Suhrkamp Verlag. Am 6. …

Er sei das „traurige Beispiel eines Lyrikers ohne eigene Sprache“ begründete Verleger Siegfried Unseld im Jahr 1966 seine Ablehnung einer Publikation von Ernst Jandls Gedichten im Suhrkamp Verlag. Am 6. 11. 1984 sitzt derselbe Siegfried Unseld begeistert in der ersten Reihe bei den Frankfurter Poetikvorlesungen, als Jandl ihm, vom Podium aus referierend, immerhin beinahe zwanzig Jahre später, erregt zurückgibt: „Ja, ich bin ein Lyriker ohne eigene Sprache, denn diese Sprache, die deutsche, wie jede andere übrigens […], gehört nicht dem Lyriker, nicht dem Dichter, nicht dem Schriftsteller, sondern allen, die in dieser und jener, jeglicher, Sprache, leben.“

„Das Röcheln der Mona Lisa“ ist jener zweite Teil der fünf Jandl-Vorlesungen betitelt, und der Untertitel (Die heruntergekommene Sprache) deutet an, worum es bei Jandl unter Anderem geht, darum, sich Sprache vom Leib zu halten, sie zu zerkleinern, um der (aller Menschen dieser) Sprache auf den Grund gehen zu können, ohne durch sie zu Grunde zu gehen, und um das Aufzeigen von etwas in der Sprache enthaltenen, von dem man vorher nicht wusste, dass es es überhaupt gibt.

Als Ernst Jandl, sechzigjährig, in Frankfurt seine fünfteilige Vorlesung „Vom Öffnen und Schließen des Mundes“ hielt, hatte er schon ein Leben voller, sich mitunter anscheinend widersprechender, revolutionärer, skurriler, sprachwitziger Schaffensphasen hinter sich, und er war an einem Punkt angelangt, an dem er – schon lange waren seine Gedichte in den Kanon der Deutschbücher aufgenommen – so bekannt war, dass er weder Freunde gewinnen musste noch Feinde provozieren konnte; so sehr ihm das vielleicht gefallen hätte .

Jandl wusste also genau, dass das Publikum wusste, wovon er sprach, wenn er über sich sprach, aber wenn er seine Bezugspunkte aufzählte, Hugo Ball, Kurt Schwitters, Dadaisten also, neben Bert Brecht, neben Christian Morgenstern, August Stramm, dem Expressionisten, dann wusste das Publikum noch mehr als vorher, dass nämlich Jandl kein komisches Unikum war, sondern ein bewusst selbstreflektierendes Glied einer Literaturtradition, die er in Bezug etwa auf die Konkrete Poesie bedroht sah. Anrührend und aufrührerisch ist der Moment, wenn er das Publikum dazu auffordert, ja geradezu darum bittet, selbst Gedichte zu schreiben, „weil das letzte Lautgedicht noch nicht geschrieben ist!“

Jandl wusste, wovon er sprach, und er wusste, wie Sprache und besonders wie Sprechen funktioniert. So ist seine Vorlesung ein Wechselbad von sprachlicher Analyse und abrupt hereinbrechender, lebhafter praktischer Umsetzung. Eine Analyse Jandlscher Art, die es mit jeder „seriösen“ Sprachwissenschaft aufnehmen kann. Jandl, promovierter Anglist und Germanist, Gymnasiallehrer zum Einen, und Dichter und begnadeter „Performer“, wie Dieter Bohlen es nennen würde, seiner Gedichte zum Anderen, bei den Frankfurter Vorlesungen konnte er zwei Vermächtnisse abliefern, eines der Literaturgeschichte und sein eigenes, als jemand, der durch, mit und in Literatur lebte.

Und natürlich besaß Jandl eine unverwechselbare, eigene Sprache, aber vor allem einen eigenen Ton: Niemand konnte und kann Jandl so vortragen, wie Jandl selbst.

Bei absolut Medien, als Teil der Edition filmedition suhrkamp, ist die fünfteilige Vorlesungsreihe „Das Öffnen und Schließen des Mundes“ von Ernst Jandl am 17.7.2010, also zehn Jahre nach Jandls Tod und 25 Jahre nach ihrer Aufzeichnung durch den Hessischen Rundfunk, auf zwei DVDs für 29,90 €, versehen mit einem umfangreichen Booklet, erschienen.

Rocksteady – The Roots of Reggae

(CH / CAN 2009, Regie: Stascha Bader)

Long Time No See
von Andreas Thomas

Der Reggae ist weithin bekannt, Ska ist ein stehender Begriff, aber was, zum Rastafari, ist denn nun Rocksteady? Der Schweizer Dokumentarfilmer Stascha Bader bringt uns den leider ausgestorbenen jamaicanischen Musikstil …

Der Reggae ist weithin bekannt, Ska ist ein stehender Begriff, aber was, zum Rastafari, ist denn nun Rocksteady?
Der Schweizer Dokumentarfilmer Stascha Bader bringt uns den leider ausgestorbenen jamaicanischen Musikstil der sechziger Jahre mit seinem dokumentarischen Film „Rocksteady – The Roots of Reggae“ näher, indem er seine überall in der Welt verstreuten Protagonisten nach über vierzig Jahren zurück nach Jamaica einlädt und sie zu Recording Sessions versammelt: ein herzliches Wiedersehen alter Freunde und Pioniere des jamaicanischen Stils. „How you‘re doin? Long time no see!“ Darunter Musiker, die zusammen noch, inspiriert vom Rhythm and Blues, vom Mento, der ursprünglicheren jamaicanischen Popmusik, und den Anfängen der Soul-Musik der Endfünfziger, den Ska erfanden, diese Identität stiftende, vitale Tanzmusik im Off-Beat und Up tempo-Stil, den Kingstoner Soundtrack der 1962 erlangten Unabhängigkeit von Großbritannien.

Gemeinsam erinnern sich die freundlichen älteren Damen und Herren an die „romantische“ Zeit, in der Jamaica daraufhin erblühte, in der es wenig materielle Nöte und viele Gründe zum Feiern gab – und einen Anlass, nämlich die Hitzewelle von 1966, die treibende Unruhe des Ska zu drosseln, um jener neuen kollektiv empfundenen Gelassenheit Ausdruck verleihen und verlangsamt tanzen zu können.

Rocksteady also hieß das kaum bekannte Bindeglied zwischen Ska und Reggae, dazu gehörten Namen wie z.B. The Tamlins, Stranger Cole, Marcia Griffith und schon auch Reggae-Ikonen wie Sly Dunbar oder Rita und Bob Marley. Evergreens wie „The Tide is High“, „No No No (You Don’t Love Me)“ oder das Original des bei uns in den siebziger Jahren von den entsetzlichen Boney M. zur Idiotenhymne zersungene „The Rivers of Babylon“ stammen aus dieser Zeit.

Naturgemäß gestaltete es sich schwierig, im Jahr 2009 noch die wichtigsten maßgeblichen Musiker zusammen zu bekommen, ein Wettlauf gegen die Zeit, so der Regisseur im Presseheft. Im Film aber schweigt und überlässt er dem gelegentlich lückenhaften Erinnerungsvermögen der noch lebenden Legenden allein das Wort – und ihren „spontanen“ Begegnungen das Bild, Reunionen vor schöner Landschaft und pittoreskem Verfall, die in ihrer gutgelaunten Exaltiertheit auf die Dauer doch ein wenig inszeniert wirken. Dabei erfährt man über die Geschichte dieser Musik und dieses Landes kaum mehr als dieses: Auf Jamaica gab es eben jene harmonische kurze Phase, Mitte der Sechziger, dann zogen immer mehr junge Leute vom Land in die Stadt, um Arbeit zu suchen, ohne sie zu finden, es entstand eine neue Armut, etwa im Ghetto Trenchtown, die Kriminalität und Gewalt auf den Straßen Jamaicas wuchsen an, der neue Begriff „Rude Boy“ für „Gangster“ wurde geprägt und fand Einlass in die Texte des Rocksteady. Den positiven Vibrationen mischten sich kritische Untertöne bei und die Politisierung des Rocksteady läutete nach bereits 2 Jahren sein Ende ein.

Die erweiterten politischen und sozialen Kontexte bleiben rudimentär und sind sogar, je nach Erzähler, widersprüchlich. Dafür aber zeigt uns Rita Marley die Küche, in der sie ihren ersten Sex mit Bob hatte und ein netter Mann mit Mütze, namens Stranger Cole, berichtet von dem mystischen Tag, als der äthiopische Kaiser Haile Selassie 1966 Jamaica besuchte, für die Anhänger der Rastafari-Religion also der Messias aus der „Offenbarung“; was es nun mit den Rastas auf sich hat, warum ihr Glaube ein maßgeblicher Bestandteil jamaikanischer Musik ist, verrät der Film nicht.

Lose Enden also um die gern wiederholte Kernaussage herum, dass Rocksteady doch die herzlichste Musik war, die Jamaica hervorgebracht hat. Dabei kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Rocksteady-Helden ein bisschen müde geworden sind, entweder weil ihre Stimmen nach all den Jahren in New York, Kanada, London, brüchig geworden sind, oder weil der Musikrichtung Rocksteady, eventuell nicht ganz grundlos, nur eine knapp begrenzte Dauer beschieden war. Dieser Eindruck aber könnte auch von den im Film völlig fehlenden Originalaufnahmen aus den Sechzigern herrühren, von deren „Frische und Direktheit“ (Rita Marley) bei den vorwiegend im Sitzen praktizierten Live-Sessions leider nicht immer übermäßig viel übrig geblieben ist. Ausnahmen sind der energiegeladene Derrick Morgan oder der großartige U-Roy, einer der ersten „Toaster“ (nennen Sie es ruhig: Rapper) der Weltgeschichte, von den Anfängen des Ska bis heute musikalisch aktiv.

Dann aber ertappt man sich heimlich dabei, doch lieber ein bisschen Bob Marley hören (und sehen) zu wollen oder die Skatalites oder gar die Specials, also ein bisschen weniger Frieden und ein bisschen mehr „Soul Rebel“, doch von Ska oder Reggae handelt der durchaus gemütliche und freundliche und absolut marihuanafreie Film über die durchaus gemütliche und freundliche Musik des Rocksteady leider eben nicht.

Renn, wenn du kannst

(D 2010, Regie: Dietrich Brüggemann)

Porno ist das neue Geil
von Ulrich Kriest

Gleich zu Beginn dieser Tragikomödie wird das sehr umfangreiche Manuskript einer Magisterarbeit, der man offenbar keine Träne nachweinen muss, aus dem Fenster einer Duisburger Hochhauswohnung geradezu ejakuliert und fasst ein …

Gleich zu Beginn dieser Tragikomödie wird das sehr umfangreiche Manuskript einer Magisterarbeit, der man offenbar keine Träne nachweinen muss, aus dem Fenster einer Duisburger Hochhauswohnung geradezu ejakuliert und fasst ein paar Themen von „Renn, wenn du kannst“ in ein kräftiges Bild: Erwachsenwerden, Selbstentfremdung, Behinderung und Sexualität. Und so großzügig, wie sich die Blätter des Manuskripts über das Stadtgebiet von Duisburg verteilen, so großzügig geht der nun folgende Film mit seinen zumeist gelungenen Einfällen und seinem forcierten Sprachwitz um.

Benjamin, dem hier die Magisterarbeit abhanden kommt, ist kein besonders einnehmender Zeitgenosse. Seit einem Autounfall, der ihn vor sieben Jahren querschnittsgelähmt zum Rolli-Fahrer machte und seiner Freundin das Leben kostete, lebt er seine Misanthropie mit Wonne und auf das Unterhaltsamste aus, piesackt seine Zivildienstleistenden, seine Mutter und ist auch sonst nicht auf den Mund gefallen. Robert Gwisdek liefert hier nach „13 Semester“ bereits die zweite brillante Performance binnen weniger Monate ab und ist nur manchmal etwas zu grob in der Wahl seiner Mittel. Seit einiger Zeit beobachtet Benjamin Annika (Anna Brüggemann, die auch am Drehbuch mitgeschrieben hat), die Cellistin, die zuverlässig pünktlich an seinem Hochhaus vorbeifährt. Christian (Jacob Matschenz), mit dem sie kollidiert, ist Benjamins neuer Zivi, den so schnell nichts aus der Ruhe bringt. Die menage a trios, die aus diesen unverhofften Begegnungen resultiert, bewegt sich in der Folge auf halber Strecke zwischen „Jules und Jim“ und „Absolute Giganten“. Sprich: Annika, hochbegabt, aber als Musikerin von Versagensängsten geplagt, ist eher der Buddy als der Lover. Christian, für den der Zivildienst eine Zwischenstation auf dem Weg zum Medizinstudium ist, ist zu sorglos und selbstbewusst, um sich von Benjamin auf dessen übliche Art „ankacken“ zu lassen.

Nachdem sich der Film eine kurze Zeit an Benjamins rabenschwarzem Blick aufs Leben und die Menschen gelabt hat, schwungvoll Szene auf Szene mit funkelnden und teilweise überraschenden Dialogpointen hat folgen lassen, wird es Zeit für ein wenig Tiefgang. Während Benjamin früh konstatiert, dass das Leben die kleine Gruppe in alle Himmelsrichtungen zerstreuen wird, träumt man sich dennoch etwas Stillstand herbei, um in dieser Konstellation seine Sehnsüchte ausleben zu können – und sei es nur für eine kurze Zeit. Dass in Gemeinschaft mit Benjamin keine Normalität zu haben ist, dass man sich keinen Illusionen hingeben sollte, dass seine Behinderung nicht reversibel ist, dass jeder im Umgang mit Behinderungen lernen muss, wo Tabus gebrochen werden müssen oder können und dass es dafür keine allgemein verbindlichen Regeln gibt – all diese individuellen Lernprozesse zeigt „Renn, wenn du kannst“ mit viel Humor, aber auch mit Gespür für die Realität und die Verzweiflung, die sich hinter Benjamins Zynismus verbirgt.

Nach „Neun Szenen“ hat der junge Filmemacher Dietrich Brüggemann mit „Renn, wenn du kannst“ bereits zum zweiten Mal den Publikumspreis beim Festival des deutschen Films in Ludwigshafen gewonnen – und „Renn, wenn du kannst“ ist erst sein zweiter Spielfilm. Im Gespräch hat er entschieden verneint, dass es sich bei „Renn, wenn du kannst“ um einen »Behindertenfilm« handele, vielmehr beschreibe der Film „eine Konstellation, die auch für Menschen ohne sichtbare Behinderung interessant“ sei. Benjamin sei eben kein typischer Behinderter, kein Stellvertreter einer besonderen Gattung Mensch, sondern „Renn, wenn du kannst“ erzähle eine Geschichte, in der ein Beteiligter eben im Rollstuhl sitze. Es geht hier vielmehr um das mitunter schmerzhafte Synchronisieren des eigenen Selbstverständnisses mit den Möglichkeiten der Realität und den pragmatischen Umgang mit eigenen Defiziten. Das mag in Benjamins Fall besonders schmerzhaft sein, ist aber durchaus verallgemeinerbar, wie Brüggemann ausführt: „Wir leben in einer Zeit, in der wir umgeben sind von gerne auch digital hergestellten Bildern des Ideals vom perfekten Körper, dem wir alle nicht genügen. Ein Mensch mit einer Behinderung spürt diese Diskrepanz vielleicht nur in der verschärften Form.“

Wie dem auch sei: Am Schluss, als alle ihre Pläne geschmiedet haben, sitzt das Trio noch einmal auf Benjamins Balkon und träumt davon, dass die Klimakatastrophe ihnen weitere Entscheidungen abnimmt. Darauf, der Film hat es gezeigt, sollte man nicht bauen.

Link zum Interview mit Regisseur Dietrich Brüggemann

Moon

(GB 2009, Regie: Duncan Jones)

Bilder von der Erde vom Mond
von Stefan Höltgen

Die Reise zum Mond ist eines der am häufigsten aufgegriffenen Motive der Science-Fiction-Filmgeschichte. Man könnte sagen, dass das Genre mit Georges Méliès‘ „Le voyage dans la lune“ (1902) sogar seinen …

Die Reise zum Mond ist eines der am häufigsten aufgegriffenen Motive der Science-Fiction-Filmgeschichte. Man könnte sagen, dass das Genre mit Georges Méliès‘ „Le voyage dans la lune“ (1902) sogar seinen Beginn genommen hat. Dass unser Trabant so häufig zum Gegenstand kultureller (nicht nur filmischer) Fiktionalisierungen geworden ist, hat sicherlich auch mit der Sehnsucht zu tun, die die Menschen ergreift, wenn sie den Mond sehen, der so nah und doch so unerreichbar fern ist. Insofern erscheint es nicht unplausibel, dass die realen Mondfahrten zu einem gewissen Teil auf fiktional „getriggert“ gewesen sein mögen. Aber auch jetzt, wo der Mond längst von Menschen erreicht ist, hat er als Projektionsfläche für utopische Wunschträume nicht ausgedient. Das zeigt Duncan Jones in seinem Regiedebüt „Moon“ – und er zeigt auch, dass jede Utopie, wie der Mond selbst, eine dunkle Rückseite besitzt.

In Jones‘ Film ist die Menschheit dank eines ausschließlich auf dem Mond vorkommenden Erzes von allen Energieproblemen befreit. Dieses Erz wird automatisch abgebaut und regelmäßig zur Erde transportiert. Lediglich ein Mann muss in der lunaren Station Dienst schieben und kontrollieren, ob alles seinen richtigen Ablauf hat. Sam Bell (Sam Rockwell) hat diese Aufgabe übernommen und seine einige Monate dauernde „Schicht“ ist nun fast vorüber. Er freut sich bereits auf die Rückreise zur Erde und zu seiner Familie. Bei einem Ausflug zu einem der Abbau-Einheiten passiert jedoch ein Unfall, bei dem Sam scheinbar stirbt. Als er kurze Zeit darauf überrascht in der Station aufwacht, sieht er sich einem anderen Mann gegenübergestellt, der genauso aussieht wie Sam und von sich behauptet, Sam Bell zu sein. Was genau geschehen ist, woher der seltsame „Fremde“ (bzw. Gleiche) kommt: Das ist der dystopische Gegenstand des Films.

Duncan Jones‘ Debütfilm erzählt seine Geschichte in ruhigen Bildern und noch ruhigeren Tönen (die kongeniale Musik von Clint Mansell leistet mit ihren repetitiven Motiven einiges zum Gelingen des Films) – zeitweise fühlt man sich an Kubricks „2001“ erinnert. Und es ist möglich, dass solche Assoziationen nicht ungewollt sind, denn hier wie dort soll sich hinter der Fassade der schönen neuen Technikwelt ein Abgrund auftun, der sich erst aus den nicht-antizipierten Folgen technischer Entwicklung ergibt. In „Moon“ sind es gleich mehrere solcher Technologien, die gleichermaßen Segen und Fluch der Menschheit darstellen. Dass diese Technologien im Modus des Science Fiction sozusagen auf den Mond verfrachtet werden, also in das utopische Szenario schlechthin, offenbart den warnenden Aspekt im Film: So wie der Mond gleichzeitig erreichbar und unerreichbar ist, sind es auch die in „Moon“ beschriebenen Technologien. Sie zu besitzen eröffnet Möglichkeitsräume, die bislang uneinsehbar sind – außer durch die Science Fiction, im Wortsinne verstanden. Der Blick zum Mond, zumal medial vermittelt, offenbart sich also wieder einmal vor allem als ein Blick auf die Erde.

Eine Karte der Klänge von Tokio

(ESP 2009, Regie: Isabel Coixet)

Schnüffelgeräusche auf dem iPod
von Janis El-Bira

Georges Bataille hat einmal formuliert, dass wohl kein Kunstliebhaber eine Leinwand so sehr verehren könne wie der Fetischist einen Schuh. In diesem „harten“, materialistischen Fetischismus bleibt das begehrte Objekt bezugslos, …

Georges Bataille hat einmal formuliert, dass wohl kein Kunstliebhaber eine Leinwand so sehr verehren könne wie der Fetischist einen Schuh. In diesem „harten“, materialistischen Fetischismus bleibt das begehrte Objekt bezugslos, verselbständigt sich als „Gebrauchsgegenstand“. Wer es als Kunst „einrahmen“ will, stellt diesen Bezug wieder her, entzieht es dem Besessenen und verschiebt so den Fetisch bis zur Auflösung.

Isabel Coixets neuer Film, „Eine Karte der Klänge von Tokio“, zeigt Figuren, die auf die eine oder andere Art von unterschiedlichen Fetischen durchwirkt werden. Gleich in der Eröffnungssequenz wird der Zuschauer Zeuge eines „falschen“, gerahmten Fetischs: Im Zuge eines Geschäftsessens sitzt der japanische Unternehmer Nagara in Tokio mit westlichen Partnern beisammen, die begeistert Sushi von nackten Frauenkörpern verzehren. Die als „Nyotaimori“ bekannte – und entgegen der reichlich exotisierend gaffenden Filmbilder wohl nur höchst selten in Japan öffentlich anzutreffende – sitophile Spielart erscheint hier transponiert als kulturelle Eigenart, als „Spezialität“, der kaum noch eine sexuelle Komponente anhaftet.

Durchaus anders verhält sich dies beim Personenkarussell, das nach dem abrupten Ende des Dinners eingeführt wird. Die Katastrophe: Nagara erfährt, dass seine Tochter Midori sich das Leben genommen hat. Ihrem von ihm verhassten Freund, dem Spanier David, wünscht er daraufhin im ganz wörtlichen Sinne den Tod. David, ein Weinhändler, ist ein eher schmieriger Typ, der nicht viele Worte braucht, um klarzumachen, dass er jetzt gerne ein Stundenhotel aufsuchen möchte. Sergi López gibt diesen klotzig-grobschlächtigen Mann, der im Kauderwelsch zwischen gebrochenem Englisch und ein wenig Japanisch seinen breiten Körper durch den Film schiebt, mit bemerkenswert anrührender Glaubwürdigkeit. Ihm begegnet Ryu, eine wie aus Porzellan geschaffene, schweigsame Schönheit, die nachts auf Tokios gigantischem Tsukiji-Fischmarkt das Blut von den Tischen spült und tagsüber – man ahnt es ja fast – als Auftragskillerin arbeitet. In letzterer Profession wird sie von Nagaras jungem Begleiter Ishida – selbst die tote Midori unglücklich liebend – auf Davids Leben angesetzt.

Und dann ist da noch der namenlose ältere Freund Ryus, der den Film erzählt und dessen eigener leiser Fetisch ihn zwar nicht glücklich, doch zumindest lebendig durch die Tokioter Nächte trägt: Er sammelt die Geräusche der Metropole in Gestalt von Tonaufnahmen. Für das Radio und Fernsehsendungen sei das, behauptet er, aber in Wahrheit schläft er abends natürlich ein mit seinem iPod in den Ohren und Ryus geräuschvollem Schnüffeln an einer Suppe auf Endlosschleife. Aus der Ferne ist er auch dabei, wenn David mit Ryu in einem Stundenhotel genau jene Sexpraktiken vollziehen wird, wie einst mit Midori am selben Ort. Während bei David und Ryu der Fetisch in emotionale Verbundenheit und die Geschichte folgerichtig ins Tragische, Blutige kippt, bleibt dem Erzähler dagegen seine rettende Objektbesessenheit: Atemgeräusche, Schritte, Schlürfen.

An der Selbstzerstörungskraft der „falschen“ Fetische verliert Coixet aber abseits vom opernhaft Tragischen nahezu jedes Interesse: Ihre Figuren werden uns mit der Dauer des Films immer mehr als kauzige Schicksalsgenossen in der zufallsgefügten Geschichte einer skurril-melancholischen amour fou verkauft und nicht als jene trauernden Besessenen, die sie sind. Wo Hitchcocks größter und von Coixet mehr als einmal referierter Wiedergänger- und Fetischfilm, „Vertigo“, noch in der völligen Agonie der Glockenturmszene schloss, rutscht man hier in die bürgerliche Sofabequemlichkeit eines plötzlichen Kleinfamilienidylls ab. Überaus zynisch ist das vielleicht, wenn es Ironie sein will; schlicht verlogen, wenn nicht.

Europa

(DK / S / D / F 1990, Regie: Lars von Trier)

Die Rückkehr des Verschollenen
von Andreas Thomas

Lars von Trier hat’s mit den Klassikern. In „Dogville“ (2004), dem Teil 1 seiner „Amerika-Trilogie“, bediente er sich des brechtschen Verfremdungseffektes, in „Europa“ (1990), dem 3. Teil der „Europa-Trilogie“, kreierte …

Lars von Trier hat’s mit den Klassikern. In „Dogville“ (2004), dem Teil 1 seiner „Amerika-Trilogie“, bediente er sich des brechtschen Verfremdungseffektes, in „Europa“ (1990), dem 3. Teil der „Europa-Trilogie“, kreierte er ein kafkaeskes Nachkriegsdeutschland. Nicht zufällig erinnert der Titel an Kafkas Romanfragment „Amerika“ („Der Verschollene“), denn wo sich Kafkas ‚Verschollener‘ Karl Roßmann in den merkwürdigen modernen Ordnungssystemen „Amerikas‘ verirrte, da ergeht es Leopold Kessler in Lars von Triers absurd-düsterem „Europa‘ kaum anders. Triers cineastisches Kabinettstück, gedreht 1990, kommt am 21. Juli 2005 erneut in die Kinos.

Am Anfang ist die Stimme des Erzählers, der uns zum monoton-rythmischen Fluss unterwärts weggleitender Eisenbahnschwellen hypnotisiert und einstimmt: „Wenn ich bis zehn gezählt habe, wirst du in Europa sein.“ Bei „Zehn“ tritt der Protagonist ins Bild. Leopold Kessler ist statt unserer im Film „Europa“ angekommen. Oder wir mit ihm. Eine unverhohlenere Nötigung zur Identifikation ist kaum vorstellbar. Aber sie ist effektiv. Der Erzähler hat uns schon ganz hinein gezogen in seine Geschichte.

„Aus New York mit dem Schiff‘ sei Leopold angereist, wird ihm – und uns – eingesprochen; er hat also den umgekehrten Weg des „Verschollenen‘ hinter sich, „um ein Zeichen zu setzen“. Er will als Amerikaner den Deutschen im Herbst 1945 „etwas Freundlichkeit zeigen“ und „die Welt ein wenig menschlicher machen‘. Zu diesem Zweck möchte er (ausgerechnet) Schlafwagenschaffner bei „Zentropa‘ werden. „Zentropa“ ist die deutsche Bahngesellschaft, die vor und im 2. Weltkrieg Transporte von Passagieren, Waffen, Vieh und Sondertransporte, wie die von Juden ermöglichte, und sich danach auf Schlafwagen verlegt hat. Katharina Hartmann, die Tochter des Firmeneigners, verführt Leo zur Heirat mit ihr und versucht ihn auf ihre Seite zu bringen, die Seite des Revanchismus, die der letzten aufrechten Deutschen, die sich „Die Werwölfe“ nennen.

In Frankfurt/Main, Deutschland, Europa, herrscht andauernde Nacht. Die Deutschen leben in einem Zustand zwischen Apathie und Geschäftigkeit. Was sie wach macht, ist das Befolgen und Einhalten akribisch-absurder Regeln. Heilig im Deutschland der Ruinen ist die Wiederherstellung des Betriebs, der Eisenbahn, die Wiederaufnahme blinder Betriebsamkeit, Gehorsamkeit: Das Wichtigste ist, dass die Räder (wieder) rollen: Hunderte ausgemergelter Menschen, Sklaven der Maschine, schleppen eine Lokomotive mit Seilen aus einer Halle. Eine Schlüsselszene und Metapher für die Moderne, angelehnt an Langs „Metropolis‘ und Chaplins „Moderne Zeiten‘. „Amerika‘ trifft auf „Europa‘. Karl kehrt zurück als Leo. Auch das Kino nahm seinen Anfang in Europa, führte in die USA und kehrte mit der Siegermacht zurück – und „Europa‘ ist auch ein Film über das Kino.

Das Ensemble „Europas‘ wirkt mitunter wie ein Who-is-Who des deutschen Autorenkinos der siebziger Jahre: Urgestein Eddie Constantine, bekannt als FBI-Agent Lemmy Caution, als alter Mann in seinem vorletzten Film und Fassbinder-Schauspieler, wie auch Udo Kier oder Barbara Sukowa („Lola‘). Der amerikanische Idealist Kessler (deutscher Abstammung) wird gespielt vom Taucherass Jean-Marc Barr, bekannt aus Bessons „Im Rausch der Tiefe‘. Als Leos Onkel sehen wir Ernst Hugo Järegård, der vor seinem Tod noch zu verdienter Berühmtheit gelangte als göttlich misanthropischer Dr. Helmer in von Triers „Geister‘. In einer Nebenrolle erscheint Lars von Trier himself: ein Jude, dem die Haare nach dem KZ kaum wieder auf Streichholzlänge wachsen konnten. Ein armes Schwein, kein Befreiter. Nicht zuletzt mimt Dietrich Kuhlbrodt, Schauspieler, Filmkritiker (und Co-Herausgeber der filmzentrale!), im echten Nachkriegsdeutschland als Oberstaatsanwalt Verfolger von Naziverbrechern, den Zuginspektor, der Leopold Kessler in dessen Aufgaben bei „Zentropa‘ einweist.

Bezüge, wohin das Auge reicht: Darsteller als Verweise an die deutsche Kinogeschichte, alles pars pro toto: Wenn von Trier eine liebevoll aufgebaute, wie ein Uhrwerk laufende Modelleisenbahnanlage ins Spiel bringt, veranschaulicht er das allzudeutsche Märklin-Ideal. Wichtiger als ihr Sinn ist das Funktionieren der Ordnung. Kafka meets Germany, oder umgekehrt.

Irgendwann platzt Leopold angesichts des absurden, deutschen, europäischen, modernen Vorschriftendschungels der Kragen, und das ist lustig und für einen Augenblick befreiend: „Ich hab das Gefühl, seit ich hier bin, haben mich alle nur fürchterlich angeschissen – jetzt bin ich an der Reihe, jetzt sag‘ ich mal was …‘ Dann fehlen ihm die Worte.

Der Deutsche als Ordnungswesen wird im Film zur Karikatur, und die Karikatur zum Paradigma europäischen Seins erhoben. Das ist vermessen und deshalb irritierend, weil der Film vor Stilzitaten wimmelt und als Patchwork der Genres Nachkriegsfilm (maßgeblich: die Krupp-Familie aus Viscontis „Die Verdammten‘), Melodram, Thriller, mit demonstrativen Anleihen beim Expressionismus, bei Eisenstein, bei Hitchcock seine auktoriale Autonomie dauernd unterminiert. Dezidiert postmodern, darin vergleichbar höchstens mit Lynchs „Wild at Heart“, ist „Europa“.

Weitgehend in einem ranzigen Schwarzweiß gedreht, bedient sich der Film partiell der Farbe, wenn es sentimental oder blutig wird, der Verfremdung durch übergroße Hintergrundprojektionen – und des Schockeffekts, wenn in „Waggons, von deren Existenz du keine Ahnung hattest‘ (die landläufige Antwort der Deutschen 1945 auf die Frage nach Konzentrationslagern) bis auf die Knochen ausgehungerte Sträflinge auftauchen. In diesem Zug namens „Nachkriegsdeutschland“ fährt das KZ noch mit, als habe es nie eine „Befreiung“ gegeben.

Triers Deutschland mit seinen gleichgeschalteten Vollstreckern und Sklaven – ob vor oder nach dem Krieg – mit seinen Vernichtungsmaschinen und dem Holocaust, als dessen logistischer Höchstleistung, verdichtet sich so zur finsteren Vollendung der modernen Welt. Auch nicht nach der Katastrophe, nach dem ultimativen Verbrechen ist in diesem Deutschland irgend jemand lernfähig. Gerade ein naiver Leopold, der es mit allen nur gut meint, kann sich den normativen Zwängen von Zentropa-Europa nicht entziehen. Jede seiner Handlungen ist zwangsläufig parteiisch und wird sofort ausgenutzt. Er wird schuldlos schuldig, er hat keine Wahl – so wenig wie sein Vorgänger Karl in Kafkas „Amerika‘. Das Sein in „Europa‘ ist schiere Determination, und der Erzähler entpuppt sich als „Determinator‘, als ein böser Gott. Nur ein Weg führt aus diesem verlorenen Europa heraus, der durch den Tod. Aus dem Schlafwagenschaffner wird ein „Schläfer‘: „Am Morgen hat der Schläfer endlich Ruhe gefunden – am Grunde des Meeres …‘ Für die Schlusssequenz musste Barr sehr lange die Luft anhalten.

„Europa‘ war von Triers letzter hochartifizieller, streng durchkonzipierter Film, bevor er sich mit „Breaking the Waves‘ oder „Idioten“ den Schauspielern, der Improvisation und der Handkamera zuwandte. „Europa“, das opulente Werk eines Cineasten für Cineasten, sollte man im Kino sehen, solange sich die Gelegenheit bietet.

A Serious Man

( 2009, Regie: Ethan Coen, Joel Coen)

Im Trüben fischen
von Daniel Szczotkowski

Eine jüdische Gemeinde im mittleren Westen der Vereinigten Staaten. Dass gerade Summer of Love ist, lässt sich lediglich in Larry Gopniks erotischen Träumen von der heißen Nachbarin erahnen, und mithilfe …

Eine jüdische Gemeinde im mittleren Westen der Vereinigten Staaten. Dass gerade Summer of Love ist, lässt sich lediglich in Larry Gopniks erotischen Träumen von der heißen Nachbarin erahnen, und mithilfe von Jefferson Airplane, die gerade „Somebody to love“ aus ihrer legendären „Surrealistic Pillow“-LP auskoppeln. Larry ist Physikprofessor und Jude. Ein bisschen Lieben und Geliebtwerden könnte wahrlich nicht schaden, denn alles, was über ihn hereinbrechen kann, bricht plötzlich über ihn herein: Zunächst nur ein dreister Bestechungsversuch eines durchfallenden Schülers; dann eine Denunziation, welche die bevorstehende Festanstellung gefährdet; später ein Anwalt, der einen Herzinfarkt in seiner Gegenwart erleidet. Sowieso immer Sohn und Tochter, die dem Vater nach Feierabend sofort pubertierend entgegenbranden. Und bald auch ein Get. Ein Was? Eine rituelle Scheidung.

Was betreiben die Coens hier? Labsal an der Marterung eines unschuldigen Mannes („Ich habe nichts getan!“)? Es wäre nicht der erste bitterböse, coensche Schabernack dieser Art. Doch so geballt hat es kaum eine ihrer Figuren je getroffen, nicht einmal den jüdischen Autoren Barton Fink, obschon die Coen-Brüder diesen immerhin durch nichts weniger als die (Hollywood-)Hölle schickten. Was hat Larry Gopnik den Coens getan, er hat doch gar nichts gemacht? Gewiss, es herrschte bei den Coens schon immer ein dezentes Playing-God-Syndrom. Sie verwickeln einen Münzen werfenden Bolzenschussgerätepsychopathen in einen Autounfall und lassen ihn davonkommen. Sie töten einfach sinnlos einen strunzknuffeligen Brad Pitt (Wer traut sich das schon?) oder einen nicht weniger drolligen Steve Buscemi (den in „The Big Lebowski“ wohlgemerkt). Und sie lassen es gerne wie einen dummen Zufall aussehen. Seit ihrem Debüt schon werden Coen-Figuren Opfer von wendigen, unverwechselbaren Drehbüchern, deren Windschnittigkeit sich von unglücklichen Verwechselungen, Verknotungen und Verkettungen nährt. Larry Gopnik, dem hier nun alles widerfährt, ist der erste, der sich seiner Schöpfer zu erwehren versucht: Warum ich?, sprach’s und hinterfragte das Coen-Prinzip, die Relativität des Zufalls.

Es sind dabei natürlich immer noch die Coens selbst, die Larry Gopnik sein Aufbegehren auf den Leib geschrieben haben. Jene Selbstreferentialität speist sich aber alleine schon aus dem Umstand, dass „A Serious Man“ in einem derart kauzigen und mikroskopisch kleinen Milieu spielt, in dem die Filmemacher selbst aufwuchsen. Im Vorgänger war die Selbstironie noch weitaus unpersönlicher. „Burn After Reading“ umklammerte eine Geschichte, die sich am Ende genüsslich an der Zelebrierung ihrer eigenen Sinnlosigkeit ergötzt. Der Fokus verließ das CIA-Gebäude per Vogelperspektive so, wie er gekommen war, Richtung All, von dem aus selbst das größte Chaos auf Erden längst seine Bedeutung verlor. Die Heisenberg’sche Unschärferelation, Larry Gopnik lehrt sie auch, erwies den Coens nach „The Man Who Wasn’t There“ abermals ihren Dienst zur Abstraktion. Je genauer wir hinsehen, desto unschärfer wird das betrachtete Bild oder mit Larrys Worten: Was wirklich geschieht, können wir nie wirklich wissen.

Neben dem Selbstbezug impliziert dies nun auch vor allem einen theologisch-philosophischen Überbau. Ich habe doch gar nichts getan, stellt nur ein Leidender demjenigen gegenüber klar, der ihn leiden lässt. Wie Hiob sich an Gott wandte, wendet Larry sich an Haschem, an „ihn“, dessen Namen im orthodoxen Judentum nicht ausgesprochen wird. Doch Gott antwortet nicht. „Der Boss hat nicht immer Recht, aber er bleibt doch der Boss“, weiß Larrys Frömmigkeit über Haschem zu sagen. Selbst der Hilferuf, gerichtet an die Rabbiner und der skurrile Durchlauf durch ihre Hierarchie scheint den Zutritt zu einer Erkenntnis zu verwehren, angesichts der schier aberwitzigen Allgemeinplätze, die ihre Ratschläge darstellen. Der erste, Jungrabbi Scott: Erweitere die Perspektive! Und zeigt auf den wundersamen Parkplatz vor dem Fenster. Der zweite, Rabbi Nachtner: Tischt jedem die Geschichte eines Zahnarztes auf, der eines Tages auf der hinteren Seite der unteren Vorderzähne eines Patienten eine mysteriöse hebräische Gravur entdeckt: „Hilf mir!“ steht im Gebiss des Gois geschrieben. Was bedeutet das bloß? Wie kommen die Zeichen dorthin? Wer hat sie eingraviert? Lakonische rabbinische Pointe: „Wir wissen es nicht, ist doch egal“. Beim dritten und vermeintlich weisesten Rabbiner, Rabbi Marshak, findet Larry nicht einmal mehr Gehör. Der ist mit Jefferson Airplane beschäftigt. Der Türhüter, der den Eingang zur Erleuchtung endgültig schließt.

Um trotzdem weiterzukommen, eine Essenz aus dem Ganzen zu ziehen, helfen vielleicht doch die Ratschläge der Weisen. Eventuell ein bisschen an der Fernsehantenne auf dem Dach drehen, damit das Bild endlich schärfer wird. Kehren wir Heisenberg also einfach mal um und erweitern die Perspektive. Je weiter wir uns entfernen, desto besser können wir vielleicht verstehen: Ganz am Anfang war das Bewusstsein, die Ursuppe der Selbsterkenntnis. Die Beschäftigung mit seiner Existenz brachte den Menschen mitunter zu Urknall und Evolutionstheorie und, lange vor diesen Erklärungsgebäuden der Wissenschaft, auf den Schöpfungsgedanken – und die Religion. Sie „schöpft“ Kultur- und Wertvorstellungen, Bräuche und Riten, Weltbild und Lebensanschauung, bestimmt von einer Hinneigung zum Überweltlichen. Der jüdische Mikrokosmos bleibt darum in „A Serious Man“ immer auch eine Metapher für die makrokosmische Sinnsuche. Auseinandersetzen müssen sich die Religionen alle mit der Theodizee und dem Umstand, dass auch den Rechtschaffenen, die „gar nichts getan haben“, die Last des Leidens per se nicht abgenommen werden kann. Die Akzeptanz dessen, eine Bürde, die selbst gottesfürchtige Männer wie Larry (ver)zweifeln lässt. Ein Ringen mit Gott, ohne ihn aber aufzugeben.

So detailreich die Coens jedoch ins jüdische Brauchtum eindringen, sie wahren paradoxerweise stets eine gewisse Distanz und Unbefangenheit. Vieles und nichts lässt sich in dem Film sehen. Die Unbegreiflichkeit Gottes. Ein Gottesbeweis, ein Gegenbeweis. Sinnbilder wie die Zahnmetapher allerdings tendieren zu einer geradezu nihilistischen Deutung. Die Gravur im Gebiss? Verdinglichung des Sinnlosen. Allenthalben uns umgebende mutmaßliche Zeichen und seien sie noch so sonderbar? Bedeutende Bedeutungslosigkeit. Die Coens scheinen nicht an Vorsehung und das Überweltliche zu glauben. Das Coen-Prinzip macht diesen Gedanken eigentlich unmöglich. Dies erinnert übrigens sehr an Woody Allens „Match Point“ und das Weltbild vom Tennisnetzroller: Eine Unwägbarkeit entscheidet, auf welche Seite der Ball fällt und ob sich das Blatt zum Guten wendet. Die einen haben diesmal Glück, die anderen Pech gehabt, ohne dass es eine kosmische Gerechtigkeit interessieren würde.

Daraus ließe sich natürlich eine Religionskritik entwickeln. Ungerechtigkeit auf der Welt und ausbleibende göttliche Kommunikation wie Wunder – das sind urtypische Argumente der Agnostiker und Atheisten, der Nährboden des rationalen Zweiflers. Mitnichten verschweigt der Film deshalb die Lesart, Synagoge, Jom Kippur oder Bar Mitzwa im Speziellen sowie Tempel, Feste und Rituale im Allgemeinen als Bestandteile zu betrachten, die eine Religion zu einem einzigen großen Artefakt abbilden. Eine Ideologie, ein Gewand, um Aberglauben ein Dach über dem Kopf zu geben und unter ihrer Dogmatik eine Gemeinschaft aufzubauen. Die Neutralität der Coens beschwichtigt jedoch auch wieder und man hört sie noch im gleichen Atemzuge daher regelrecht hinzufügen: „Aber wenn Ihr trotzdem glaubt, ist das auch okay.“

Schließlich weiß auch die Naturwissenschaft als diametrale Weltanschauung die Antworten auf die Fragen nach unserer Existenz, nach der Welt und was sie im Innersten zusammenhält, nicht gänzlich zu beantworten. Larry als frommer Physikprofessor steht genau zwischen den Stühlen. Ausgerechnet die Physik, jene Disziplin, die sich eine Weltformel zu finden erkühnt. Dass jedoch auch sie nicht für alles eine absolute Erklärung finden kann, allegorisiert neben Heisenbergs Unschärfe auch Schrödingers Katze. Die lehrt Larry ebenfalls. Ist die Katze tot oder ist sie nicht tot? Sein oder Nichtsein? Riesige Teleskope richten wir beispielsweise ins All auf viele Lichtjahre von uns entfernte Objekte, in der Hoffnung, schärfer zu sehen und den Ursprung des Universums und damit auch die menschliche Existenz zu erklären. Doch wir wissen im Grunde gar nichts, wir haben nur Theorien. Manchmal wissen wir noch nicht einmal, wie morgen das Wetter wird.

In diesem Konflikt der Weltbilder spielt vor allem die Frage nach einer Bedeutung des Seins letztlich eine Rolle. Fügung und Zufall lassen sich nur schwerlich vereinbaren, wenn das Göttliche nicht gerade selbst eine Münze wirft. Lenkt unser Tun eine höhere Kraft, dann kann ihm nicht der Sinn abgesprochen werden. Geschähe aber alles nur infolge beliebiger Kollisionen naturwissenschaftlicher Atome in Raum und Zeit und die Religion stellte nur einen Kult dar, welchen Sinn bei aller Vergänglichkeit der menschlichen Existenz hätte dieselbige dann eigentlich?

Schicksal oder bloßer Zufall, der zeitgleiche Autounfall von Larry und dem hinterlistigen Sy Ableman? Wissen wir nicht. Ist doch vielleicht auch egal. Hauptsache, wir sind uns des doppelten Bodens gewiss, der den Film pflastert. Die Bedeutung der Bilder befindet sich stets in einer Schrödingerischen Schwebe. Etwa wird Larry kurz nach dem Unfall von einem Plattenclub angerufen, der ihm im Rahmen eines Abonnements Santanas „Abraxas“-Album andreht. „Die Scheibe geht Ihnen automatisch zu.“ – „Aber ich habe doch gar nichts getan.“ – „Ja. Sie müssen nichts tun.“ Dabei birgt Abraxas zugleich als „höchstes Urwesen“ einen geradezu blasphemischen Angriff auf Larrys jüdischen Glauben. Vielleicht kann nur der Schwebezustand erklären, dass eine LP mit solchem Titel, eigentlich nämlich erst drei Jahre später im Jahr 1970 erschienen, sich über die Zeit hinwegzusetzen vermag.

Und was es jetzt mit dem Dibbuk im Prolog auf sich hat? Was weiß ich. Wenn es denn überhaupt einer ist! Gar die Credits sind sich uneinig hinsichtlich dieses vermeintlichen jüdischen Dämons und setzen ein Fragezeichen hinter Fyvush Finkels Rolle. Hier wird wohl bereits die Unbestimmtheit der Dinge in jüdisch-mythologischer Tracht verhandelt. Dibbuk ja oder nein. Verfluchung ja oder nein. Vielleicht ist der Dibbuk auch Schrödingers Katze. Und ist Sy Ableman, das Gespenst, das Larry in seinen Träumen heimsucht, auch ein Dibbuk? Wir können nur spekulieren. Auch wissen wir nicht mit Bestimmtheit, ob am Ende nicht doch alles gut wird; unter den Gesetzen der Natur ein Tornado entstand oder Gott sich „aus seinem Gewittersturm“ (Hiob 38) an Larry wenden und vom duldsamen Ertragen seines Leidens erlösen wird. Wir wissen nur, dass wir nichts wissen.

Hier findet sich eine weitere Kritik zu ‚A Serious Man‘.

Eraserhead

( 1977, Regie: David Lynch)

Die Geburt des Monsters aus dem Geist der Industrialisierung
von Andreas Thomas

Henrys Frau hat schlechte Eigenschaften. Sie hat Tics, belegt zwei Drittel des schmalen Bettes und das Schlimmste: Sie hat mit Henry ein Baby. David Lynchs Erstling ist bald ein Vierteljahrhundert …

Henrys Frau hat schlechte Eigenschaften. Sie hat Tics, belegt zwei Drittel des schmalen Bettes und das Schlimmste: Sie hat mit Henry ein Baby. David Lynchs Erstling ist bald ein Vierteljahrhundert alt, aber bis heute lässt allein das Wort „Eraserhead' das Herz des wahren Cineasten höher schlagen.„Eraserhead' war 1977 noch kenntnisreiche Neugestaltung (z.B. surrealistischer) filmischer Vorgaben und schon die Zukunft künstlerischen Kinos, aber es ist doch erstaunlich, wie einzigartig der Film immer noch geblieben ist. Falls Atmosphäre zu schaffen eine der höchsten Künste des Kinos ist, dann ist „Eraserhead' eines der größten filmischen Kunstwerke. Lynch, der Beschwörer des Unbewussten, hat mit nur 20 000 Dollar eine wirklich ganz eigene Welt kreiert und 'nur' fünf Jahre dafür gebraucht.

Henry Spencer, ein Drucker mit Dauerurlaub, wohnt in einem abbruchreifen, dunklen Arbeiterwohnsilo, in einer permanenten Nacht und in einer Gegend, in der Maschinengrollen und Dauerunwetter Anheimelnderes, wie etwa Vogelgezwitscher oder selbst Autolärm ersetzt haben. Vielleicht könnte er gleichmütig weiterleben in seinem Zimmer mit Sicht auf eine Backsteinmauer, würde nicht das Schicksal in Form einer Einladung zu Mary und ihren Eltern anklopfen. Henry hat ihr Foto noch, aber er hat es zerrissen, weil sie ihn verließ. Was er erfahren wird? Er weiß es eigentlich schon, denn Henry hat Zugang zu einer Hyperrealität. Wir waren gleich zu Beginn Zeugen seines Traums von einer überdimensionalen Spermatozoe, die Henrys geöffnetem Mund entspringt, ihren Auftrag erfüllt und in die Eizelle fällt, wie in einen Brunnen. Wir konnten verfolgen, wie im Inneren eines kahlen, mit Kratern bedeckten Himmelskörpers ein aussätziger, degenerierter Gott den Hebel kippt und sein unabänderliches Gesetz vollzieht: Die Initiierung des ewig wiederkehrenden Wunders neuen Lebens. Wir waren Zeugen einer Zeugung.

Bei Marys Eltern verrät auch gleich eine Hundemutter mit schmatzend saugenden Welpen, worauf die Veranstaltung hinaus läuft. Nach einem makabren Abendessen mit (laut Marys Vater) 'synthetischen Hühnchen', die, als Henry sie tranchiert, beginnen mit den Schenkeln zu wackeln und aus ihrer Mitte stark zu bluten (die Assoziation zu Monatsblutungen ist unvermeidlich), bekommt die Mutter einen hysterischen Anfall und entfernt sich, während das Gesicht des Vaters zu einem Dauergrinsen erstarrrt ist. Als die Mutter halbwegs gefasst wiederkehrt (und kurz nachdem sie sich Henry sexuell genähert hat), wird Henry aufgeklärt: Mary hat ein Baby bekommen – nur weiß man noch nicht genau, ob es wirklich ein Baby ist … Da auf jeden Fall Handlungsbedarf besteht, muss Henry Mary ehelichen (die Hochzeit wird nicht gezeigt) und Mutter und 'Kind' ziehen bei ihm ein.

Very Special Effects

Ein bis heute gut behütetes Geheimnis ist, was für die Verkörperung des unheimlichen kleinen Geschöpfs benutzt wurde. Es sieht sehr nach einem tierischen Fötuskopf aus, dessen dürrer Hals aus einer Art Dauerwindel, einem in Mullbinden gewickelten arm- und beinlosen Leib ragt. Mit seiner glitschigen Haut, den rollenden Augen, und dem schmatzendem, spuckendem Maul (incl. Zunge) wirkt es so überzeugend lebendig und organisch, dass etwa Spielbergs wesentlich kostspieligere „E.T.'-Kreatur (1982) sich dagegen harmlos und als nur 'gut gemacht' ausnimmt.

Zunächst versucht Henry die Vaterrolle zu akzeptieren. Er kümmert sich um seine Post (einen merkwürdigen kleinen Wurm, den er, vor Mary versteckt, in einer Art heiligem Schrein aufbewahrt), und beobachtet Mary gerührt, während sie das Baby füttert. Es wird (wie während des ganzen Films) kaum gesprochen. Neben ihm im Bett liegend, weist Mary einen (einzigen) Annäherungsversuch Henrys zurück. Als schließlich das Baby beginnt, immer ausdauernder zu weinen, flieht sie zu ihren Eltern und lässt Henry mit dem Kind allein.

Das Kind bekommt Fieber und Ausschlag; Henry stellt einen Luftbefeuchter auf die Kommode, wo es auf einem Kissen liegt und röchelt. Immer wenn Henry versucht, den Raum zu verlassen (um nach Post zu sehen – anscheinend haben jene postalischen Würmer für ihn zentrale Bedeutung), beginnt das Baby zu schreien, so dass er sich stattdessen resigniert aufs Bett legt.

Zwischen drei Frauen

Da entdeckt er die 'Frau hinter der Heizung'. Henry sieht, wenn er lange hinter den Heizkörper schaut, eine kleine Bühne, auf der jetzt eine gleichzeitig naiv und starr lächelnde blonde Tänzerin in weißem Kleid mit erkennbar aus Knetmasse modellierten Halbkugelwangen staksig mit kleinen Tanzschritten umherspaziert. Neben ihr auf den Boden fallen mehrere (Henry und uns vom Anfang her bekannte) aalgrosse Spermien, deren dabei spritzend berstende Köpfe sie lustvoll zertritt. Als Henry wieder erwacht, ist Mary zurückgekehrt. Sie liegt zähneknirschend in unruhigem Schlaf neben ihm. Zu seinem Entsetzen findet er unter ihrer Decke wiederum Spermatozoen. Panisch zerrt er sie wie leblose Schlangen offenbar direkt aus ihrer Vagina und wirft sie gegen die Wand, an der sie zerplatzen. In diesem Moment erwacht der kleine Wurm im sich von selber öffnenden Schrein zum Leben. Er ringelt sich, tänzelt und pfeift dabei eigentümlich. Im Dunkel seines aufgerissenen Mauls sehen wir wieder Henry in seinem Raum sitzen; Mary ist verschwunden.

Es klopft, Henry öffnet und aus dem Dunkel tritt seine laszive Nachbarin, deren begehrliche Blicke ihn schon vorher irritiert haben. Unter dem Vorwand sich ausgesperrt zu haben, verführt sie den ängstlichen, aber willigen Henry, der dem Baby den Mund zuhält, um sie nicht abzuschrecken. Das Bett wird buchstäblich zu einem Sündenpfuhl, in dem beide versinken. Der Akt führt zu einer Auflösung, die Auflösung zu einem schwarzen 'Nichts', in dem die Nachbarin allein bleibt und sie statt Henry nur noch seinen 'Kraterplaneten' taumeln sieht.

Manufaktur der Amnesie

Henry ist zur gleichen Zeit dem Ziel seiner Träume nahe gerückt. In Großaufnahme sehen wir jetzt die 'Heizungsfrau' ein Lied vom Himmel singen: 'In heaven everything is fine – you‘ve got your good things and I‘ve got mine.' Auf einmal ist Henry bei ihr, steigt zu ihr auf die Bühne, sie erwartet ihn, aber gerade als er sie berühren will, verschwindet sie und der pockennarbige Gott erscheint kurz an ihrer Stelle. Als auch er nicht mehr da ist, kommt eine Art Erdklumpen mit einem dürren blattlosen Strauch auf Rädern auf die Bühne gerollt, Henry ist sichtlich beängstigt, sein Kopf wird von einem phallischen Etwas aus seinem Inneren vom Rumpf gestossen und auf den Boden der Bühne geschleudert, der Erdklumpen beginnt zu bluten, aus Henrys Hemdkragen lugt nun der Kopf des Monsterbabys, das zu schreien beginnt. Henrys Kopf wird plötzlich von der Blutlache verschluckt, knallt auf eine Strasse, wo er von einem Jungen gefunden wird. Der Junge trägt ihn in eine dubiose Werkstatt, in der 'eraserheads', also Radiergummiköpfe für Beistifte hergestellt werden. Mit einem Hohlbohrer wird Henrys Gehirn stabförmig ausgebohrt, der Stab wird mit einer Maschine zerteilt und auf Bleistifte gepflanzt. Nach einem Radiertest wird der Junge bezahlt. Die Radierspäne fliegen, und – Henry erwacht in seinem Bett.

Das Baby ist immer noch auf der Kommode und lacht schadenfroh. Als Henry ein Geräusch auf dem Flur hört, sieht er nach und sieht die Nachbarin mit einem schmierig grinsenden Mann nachhause kommen, ihr selbst wiederum erscheint anstelle von Henrys Kopf der Kopf des Babys. Wieder allein in seinem Appartement nimmt Henry eine Schere und beginnt die Binde um den Babykörper aufzuschneiden. Das Baby windet sich. Aus dem aufgeschnittenen Verband dringen Innereien und Henry sticht ins Herz. Das Baby spuckt Blut, verendet, aus seinem Inneren quillt eine schaumige Masse, die Steckdose sprüht Funken, die Lampe brummt, flackert und erlischt. Das Monster ist tot. Der Planet erscheint wieder und die Kruste bricht auf, er ist innen hohl. Hinter Henrys Kopf wirbeln Radierspäne. Im Inneren des Planeten: Der Mann im Planeten (Gott), der vergeblich versucht den Hebel umzulegen. Der Hebel klemmt und wieder sprühen Funken. Alles wird hell, und Henry ist bei der Frau hinter der Heizung, sie umarmen sich, und der Film ist zu Ende.

Eine Bewusstseinsgeschichte?

„Eraserhead' ist ein Mosaik, das ohne die Intuition des Zuschauers nicht zusammengesetzt werden kann, und die Vielfalt der dabei individuell entstehenden Gesamtbilder ist bei „Eraserhead' wahrscheinlich größer als bei den meisten späteren Lynch-Filmen. „Eraserhead' ist auch in seinen 'normalsten' Szenen immer schon ein reines Traumszenario. Und es gibt mindestens noch drei Parallelrealitäten, die sich auf die 'normale' Ebene beziehen. Alles zusammen lässt sich wie verschiedene Bewusstseinsebenen eines Menschen zu einer komplexen 'Bewusstseins-Geschichte' desselben zusammenfügen. Aber zu welcher?

Der, was die Inhalte seiner Filme betrifft, verschwiegene Lynch ('Ich liebe die Vorstellung, dass etwas für unterschiedliche Leute unterschiedliche Bedeutung haben kann.') hat selbst folgenden Hinweis gegeben (und damit angedeutet, dass die Geschichte für ihn gleichwohl ein Rätsel mit einer bestimmten Lösung ist): 'Es passieren gewisse Dinge in der (Prolog-) Sequenz, die der Schlüssel zum Rest sind.'

Gehen wir jetzt einmal davon aus, dass obige Deutung der Anfangssequenz mehr oder weniger zutrifft, handelt es sich dabei also um einen Zeugungsvorgang, erschließt sich Stück für Stück folgende (vorsichtige) Lesart:

Henrys Leben befindet sich zwischen zwei Polen: Dem, was er sich erhofft, und dem, was er als Welt vorfindet. Sein Hauptproblem ist sein eigenes Kind, weil es ihn in jeder Hinsicht einschränkt und weil es mönströs und zumindest befremdlich für ihn ist. Das Kind steht auch für die Verbindung zu Mary, die (ohne Liebe von ihrer Seite) eine Zwangsehe ist, ein Sicheinrichtenmüssen in einer freudlosen Welt. Die freudlose Welt findet sich generell als düstere Außen-und Innenkulisse wieder. Und die Ehe und Familie, als Institutionen freudloser Zweckmäßigkeit, werden in den absurden Typisierungen von Marys Eltern (und der Großmutter, die reglos auf einem Stuhl sitzt) gespiegelt: Hier hat schon bis zur neurotisch verzerrten Erstarrung seine Rolle gespielt, und Henry ahnt, dass ihm das Gleiche bevorsteht.

Die 'Pille' und 'Eraserhead'

Henrys Wunschtraum (ein geheimnisvolles Hilfsmittel zu dessen Verwirklichung ist der Wurm) ist die Vereinigung mit der Traumfrau hinter der Heizung. Sie verheißt ihm eine freie Welt, in der alles schön ist,- und in der es keine Befruchtungen (also weder bedrohliche (Miss-)Geburten noch deren bedrohliche Schwester: die Zwangsehe) mehr gibt, denn sie weiß, wie sie gezielt Spermien töten kann (Wenige Jahre nach Einführung der Antibabypille ist diese erste relativ zuverlässige Verhütungsmethode für Lynchs Film vielleicht von nicht geringer Bedeutung gewesen). Im Gegensatz zur frustrierten, spröden und hausbackenen Mary lächelt sie freundlich – und gleichwohl hausbacken. Henry muss jedoch, bevor er sie gewinnen kann, Prüfungen bestehen, die ihm eher zustoßen, als dass er sie aktiv meistert, bis auf die letzte, wichtigste. Henry ist eher ein Abenteurer des Unbewussten, sein Abenteuer ist sein Träumen.

Henrys anderer, verdrängter und feuchter Wunschtraum ist die Verführung durch die Nachbarin, aber sie hat mit Mary gemeinsam, dass sie ihn nicht liebt. Nach dem Geschlechtsakt mit ihr versucht er zur Heizungsfrau zu gelangen. Doch nun stellt sich sein Hauptgegner, sein privater Dämon, der Schöpfer seiner widrigen Umstände, der 'Mann vom Planeten' in den Weg und entweder ist er es, der Henry köpft, oder das Baby. Das Baby ist jedenfalls nun das, was für ihn denkt und aus seinem Anzug guckt, während seine eigene Gehirnmasse nur noch der Auslöschung dient. Das Gehirn als Instrument zum Ausradieren des Wortes und der Erinnerung – eine exakte Umkehrung seiner herkömmlichen Funktion. Das Radieren einerseits als Tod und Verlöschen der Identität, andererseits als Befreiung von einer Identität, die Henry in Ketten gehalten hat.

Erst nach diesem Traum (und nach Henrys Enttäuschung, die Nachbarin mit einem anderen zu finden) ist es ihm möglich, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Er zerschneidet die Windeln und entdeckt die endgültige Monstrosität des Babys, und nachdem er es als Lüge entlarvt hat -es ist ja nun wirklich alles andere als ein menschliches Wesen-, kann er sich von ihm befreien, indem er es tötet. Aber mit diesem Schritt entlarvt er auch den Hebelsteller, den Gott, der im Planeten sitzt, dessen Weltenplan der obszönen Sinnlosigkeit überführt ist. Durch den Kindsmord hat Henry gleichzeitig die Schöpfungsmaschinerie zerstört. Gottes Gesetze, seine Hebel, funktionieren nicht mehr, und Henry ist frei. Der Vereinigung mit der geliebten Heizungsfrau steht nichts mehr im Wege.

Das Unbewusste als Filmplot

„Eraserhead' ist ein Film über eine Emanzipation und ich glaube, er ist einer der persönlichsten Filme Lynchs. Lynch selbst hat zugegeben, dass er vieles mit Henry gemeinsam hat, und wenn wir Henry bei seinem Tagtraum beobachten, in dem ihm die Heizungsfrau erscheint, vollziehen wir genau das nach, was Lynch selber (der während der langen Dreharbeiten wegen Geldmangels selbst in Henrys Filmzimmer gewohnt hatte) angesichts der Heizung phantasierte. An diesem Beispiel können wir uns ein Bild darüber machen, wie Lynch seine phantastischen und absurden Filmideen zu gewinnen pflegt. Er bezieht seine (filmischen) Ideen und Vorstellungen aus Tagträumereien, aus freiem Assoziiieren, und Henrys Vorgehensweise ist exakt dieselbe. Um sein Problem zu lösen braucht Henry jene parallelen Bilder und Symbole, ohne sie würde er in seiner grauen, bedrohlichen und frustrierenden Realität gefangen bleiben. Er schafft Beziehungen zwischen den Ereignissen und seiner Imagination, und allein mit ihrer Hilfe kann er die Dinge in ihrer für ihn wirklichen und gänzlichen Bedeutung erkennen, und verändern, bzw. sich von ihnen befreien.

Die Umstände, dass der junge Lynch zur Entstehungszeit von „Eraserhead' gerade geheiratet hatte, Vater eines gehandicapten Kindes geworden war und sich während der Dreharbeiten von seiner Frau getrennt hatte, waren für die Entstehung des Films sicher nicht ohne Einfluss. Das Schöne an „Eraserhead' ist aber, dass dieser Film nicht nur eine persönliche, private Problematik abdeckt, sondern dass er quasi unbegrenzt und universell einsetzbar ist. „Eraserhead' skizziert, in einer erweiterten Perspektive, z.B. auch generell den Konflikt eines kreativen Menschen, der die für seine Kreativität notwendige Unabhängigkeit durch Ehe und Familie bedroht sieht und er malt ein düsteres Bild von den (subjektiven) Schrecknissen einer zu frühen Vater- oder Mutterschaft (Statt des eigenen Kopfes regiert das Baby über einen).

Maschine, Atom und Mutation

Aber wenn wir es ganz groß haben wollen, dann ist „Eraserhead' auch ein (von Frederick Elmes in magischem Schwarzweiß gedrehter) Film über eine unheimliche und menschenfeindliche Welt, deren Ästhetik sich aus der Epoche bedient, welche unseren Planeten während der letzten zwei Jahrhunderte am nachhaltigsten geprägt hat, der Industrialisierung. 'Eraserhead' wirkt, als wäre seine Zeit im düster-kapitalistischen England des 19. Jahrhunderts steckengeblieben (der Mensch wird restlos ausgebeutet, selbst Henrys Gehirn wird maschinell zu einem materiellen (!) Produkt verarbeitet), aber die Stürme und Unwetter (die nur akustisch wahrnehmbar sind und dennoch den Film dominieren) und die ewige Nacht erwecken den Eindruck einer vorher gegangenen atomaren Katastrophe (an Henrys Wand hängt ein Foto von einem Atompilz). Henry lebt offenbar in einer Postapokalypse, die selbst den zum Maschinisten degradierten Gott einer mechanistisch-industriellen Welt nicht verschont hat: Armselig und strahlenverseucht hockt er in einer Fabrikruine und herrscht über einen kahlen, toten Planeten. (Im ganzen Film übrigens gibt es kein Blatt und die Hähnchen sind synthetisch.) Natürlich ist Henrys Baby eine radioaktive Mutation. Das 'Baby' ist das End(zeit)produkt einer langen Kette der Technologisierung (wenn man es weiterspinnen will, bis zur Gentechnologisierung), und „Eraserhead' ist nicht weniger als eine kurze, präzise komprimierte Geschichte der monströsen Moderne,- unter anderem …

„Eraserhead' ist komisch, tragisch, kulturkritisch, surrealistisch, ein Stummfilm mit Ton, und/oder ein Horrorfilm. Es hängt vom Betrachter und seiner Tagesform ab. Interpretieren Sie mit, und bitte FÜHLEN Sie diesen Film! Schon lange ist „Eraserhead' Kult, aber vor allem ist „Eraserhead' ein Meisterwerk,- ganz egal, was ich Ihnen einreden will …

Kiss & Kill

( 2010, Regie: Robert Luketic )

Der Spion, der mich liebte
von Harald Mühlbeyer

So ist das: oft merkt man erst nach der Hochzeit, wen man da eigentlich geheiratet hat, und dann wird einem der Boden unter den Füßen weggezogen, sprich: nichts ist mehr …

So ist das: oft merkt man erst nach der Hochzeit, wen man da eigentlich geheiratet hat, und dann wird einem der Boden unter den Füßen weggezogen, sprich: nichts ist mehr sicher. Dabei war Jen immer ganz bürgerlich, hat sich immer ans Normale gehalten, an das Übliche. Weil sie nicht Bungeespringen wollte, ist ihre vorherige Beziehung den Bach runter gegangen. Sie schlägt halt nach ihrem Vater, der fanatisch auf Sicherheit bedacht ist – Tom Selleck in einer „Meet the Parents“-De Niro-Rolle.

Und dann trifft sie auf Spencer, jung, muskulös und halbnackt mit ihr im Fahrstuhl. Er baggert sie an, sie verabreden sich – und Spencer schwimmt rüber zu einer Jacht, darauf ein Hubschrauber, an dem befestigt er eine Bombe, erledigt noch schnell ein, zwei Bösewichter und ist schon wieder der ganz normale Riviera-Urlauber… Spencer ist Top-Spion mit Killerlizenz, eine junge Bond-Variante, und er lebt auch das Bond-Luxusleben, Sportwagen, schöne Frauen, exotische Einsatzorte. Auch Jen ist wahrscheinlich erstmal nur eine seiner Eskapaden, doch beim Date stottert er ganz schön rum, seine smarte Selbstsicherheit geht flöten: er ist verliebt. Er steigt aus. Er wählt das bürgerliche Leben mit Jen.

Jen weiß nichts von seiner Vergangenheit. Nein: Wie in jeder romantic comedy à la Hollywood erforscht sie zwar ständig ihre Gefühle, holt sich Ratschläge bevorzugt von einer sexbesessenen Freundin (die in Spencers pornosüchtigem Kollegen ihr männliches Pendant hat), doch an ihrer Liebe zweifelt sie nicht. Bis sie heimkommt und ihren Mann in einen tödlichen Messerfight verstrickt sieht. Gerade noch Furzwitze auf der Couch, und schon ist das Haus verwüstet – ab diesem Zeitpunkt hat der Film zu sich gefunden, ergeht sich in Verfolgungsjagden, Schießereien, tödlichen Prügelszenen und lässt zugleich ein Ehedrama ablaufen, das sich fast mit „Mr. & Mrs. Smith“ messen kann – nur dass hier nicht beide Ehepartner Killer sind, sondern dass die Unschuld auf die Tötungsmaschine trifft.

Plötzlich fehlt es an Sicherheit, wie sie einem normalen Paar zuteil wird, wenn es sich niederlässt. Jens normales, bürgerliches Leben würde es ohne Killeragenten wie uns nicht geben, sagt Spencers Boss einmal; und drei Jahre später sind es Freunde, Kollegen, Nachbarn, die es auf Spencer und Jen abgesehen haben. Jeder könnte ein Killer sein, überall lauern sie: auf der Couch, hinter einer Ecke mit MG, im Lieferwagen, im Büro oder im Supermarkt. Überall und jederzeit kann Unvorhergesehenes passieren, es gibt eine Menge Tote, oft genug einfallsreich abgemurkst von Spencer, dem Profi. Dazu kommt die Vertrauenskrise bei Jen, die nicht mehr weiß, woran sie ist, die erkennen muss, dass sie drei Jahre lang mit einer Lüge zusammengelebt hat. Und dabei hat’s auch noch woanders an Sicherheit gefehlt: Jen ist schwanger, und die tödlichen Angriffe sind die große Prüfung für Ehe und Elternschaft. Immer wieder setzt der Film die Ehe und das Töten parallel: Wie viele waren es eigentlich, fragt Jen einmal, mitten auf dem Schlachtfeld nach wilder Verfolgung über eine Baustelle, und seine Antwort, 15, könnte in etwas anderem Zusammenhang auch die Anzahl seiner Affären bedeuten.

Es ist eben nicht nur das verflixte 7. Jahr, auch zum dritten Ehejubiläum kann Vertrauen erodieren, kann sich Routine eingeschlichen haben. Gut, wenn dann ein paar Schläfer aktiviert werden, wenn die Kugeln fliegen und die Gegend in Trümmer gelegt wird: einen besseren Anlass für einen Trust Circle, bei dem jeder ehrlich seine Karten auf den Tisch legt, kann es nicht geben: der Grundstein für einen liebevollen Neuanfang.