Archiv der Kategorie: Filmkritik

Just a Kiss

(GB / B / D / I / ESP 2003, Regie: Ken Loach)

Was zum Wundern
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Problem- und Lehrfilm erster Güte. Zwei Kulturen, die muslimisch-pakistanische und die schottisch-europäische geraten aneinander, wo doch das Liebespaar zueinander kommen möchte. Ken Loach hat nach „My Name is Joe“ …

Ein Problem- und Lehrfilm erster Güte. Zwei Kulturen, die muslimisch-pakistanische und die schottisch-europäische geraten aneinander, wo doch das Liebespaar zueinander kommen möchte. Ken Loach hat nach „My Name is Joe“ (1998) und „Sweet Sixteen“ (2002) seinen dritten Glasgow-Film überraschend in die bürgerliche Mittelklasse gehievt. Es geht jetzt um einen Flügeltransport in den ersten Stock, einen Hausanbau, einen Wochenendtrip an Spaniens Küsten und um die Umwandlung einer Halbzeit- in eine Vollzeitstelle. Und nun das Problem: Dem Glück der Liebenden steht entgegen, dass er, der als DJ jobbt, Pakistani ist, und sie, die an einer katholischen Schule unterrichtet, Irin.

Aber der Reihe nach, und genauso geht der Film vor: eine Lektion folgt der anderen. Gleich am Anfang wohnen wir, wiewohl erwachsen, einer Unterrichtsstunde bei. Ein Pakistanimädchen hält in der Schulklasse eine Rede. Sie ist stolz auf ihre multikulturelle Identität: auf ihre Herkunft und auf ihr Hiersein, und Fan des Fußballklubs ist sie auch, gar des protestantischen. Die Lehrerin, bei der es sich um die Liebende handelt (Eva Birthistle als Roisin), nickt wohlwollend; das Unterrichtsziel ist erreicht. Draußen, vor der Schule, wird die Musterschülerin von den katholischen Jungs als Pakistanivotze geschmäht.

Wie gehts weiter? Uns wird das intensive Familien- und Sippenleben der Pakistani vorgeführt. Wir drücken dabei die Schulbank. Denn immer wieder kontrolliert einer der Darsteller aus dem Augenwinkel, ob wir aufpassen. Dabei handelt es sich vor allem um den schon genannten DJ, der von der schönen Lehrerin verführt werden wird. Atta Yaqub (als Casim) hatte zuvor noch nie in einem Film gespielt, wohl aber als Model gearbeitet. Er versteckt sich hinter einem Lächeln. Scheu oder unsicher, egal, er ist grad der Richtige fürs Schwanken zwischen den Kulturen. Ja, Papa, da hast du ja auch wieder recht. Ja, Roisin, du aber eigentlich auch. Und klar, wir sollen das als Zuschauer erwägen. Und klar ist auch, dass wir in einem Kulturenkurs sitzen. „Just a Kiss' macht uns da gar nichts vor. Eventuell ist es altmodisch und mindestens 70er-look, einen Wie-würden-Sie-entscheiden?-Film zu machen. Wie wär es aber, wenn das was hat – eine nostalgische Attraktion etwa? Loach handelt auf die gute alte Art was ab, sauber, engagiert, erfüllt von Sinnvermittlung und pädagogischem Eros. Wer will sich dem entziehen?

Die Wochenendfreizeit in Spanien nutzt das Paar zum Religionenabgleich. Jesus im Islam? Immerhin Nebenprophet. Aha, hätten Sies gewusst? Damit wir nicht abgelenkt werden, führt die Cadrage – Felsen, Wasser, Licht plus zwei Köpfe – weg vom Spielfilm und hin zum home movie. Sowas kann man getrost nach Hause tragen. Oder anders gesagt: Uns wird Unterrichtsmaterial vorgesetzt. Entsprechend wohnen wir einer Sexszene bei, indem wir auf einen Spiegel kucken. Der prächtige Goldrahmen kommt sauber ins Bild. Uns wird etwas zur Anschauung vorgeführt, und wir werden am Schluss der Lektion Fragen zu beantworten haben.

Um es gleich zu sagen: Es ist schon faszinierend, wie der Film sein Anliegen – das Wort hab ich vor dreißig Jahren zuletzt geschrieben, echt! – vermittelt und gleich zur Sache kommt, das heißt zum Rassismus im allgemeinen und im besonderen des Jahres 2004. Eine eigene Lektion vermittelt geschichtliches Wissen über die von den Engländern böswillig verschuldete Teilung Indiens und Pakistans im Jahre 1947. 15 Millionen Vertriebene! Mord und Vergewaltigung! Für Überlebende heute noch ein Trauma! Als Anschauungsmaterial dient eine Fotostrecke.

Betroffen sitzt die Schulklasse vor den Dias, die einerseits gelynchte Neger in den USA zeigen, andererseits White Waiting Rooms. Dazu gehört der Blues auf der Tonspur. Ergänzend erfahren wir, dass der Rassenhass nach 9/11 wieder anschwillt. Und uns wird bang, wie es mit dem rassisch ungleichen Paar ausgehen wird. Wir meinen es doch gut mit Casim und Roisin, aber immer wieder geht das Handy, und wir haben neues zu lernen, etwa dass der junge Mann von seinen Eltern längst einer Cousine versprochen ist, die er noch gar nicht gesehen hat, die aber soeben anreist. Da kann er gar nichts gegen machen, versichert der in absentia Verlobte seiner Lehrerin. Es sei denn, sie würde den muslimischen Glauben annehmen, dann sei ein kultureller Kompromiss denkbar.

Wem diese Fragestellung plakativ vorkommt, dem sei gesagt, dass sie plakativ ist. Sie dient zur Beweisführung, daß die katholische Kirche daheim in Glasgow auch nicht anders denkt. Der Pfarrer erregt sich über das sündhafte Lehrerinnenleben „mit Hinz, Kunz und Ali im Bett', es sei denn, der Ali „würde katholisch werden'. Ali-Casim will das nicht. Haltlos pendelt er zwischen der Halt gebenden Großfamilie und der ungehaltenen Lehrerin-Single hin und her. Das gibt melodramatische Ansätze, aber kein Melodram, weil wir, wie gesagt, in einem Pseudo-Spielfilm sind. Wenn also Tante/Onkel mit der Cousinenbraut plötzlich auftauchen, dann gibt es zwar ein großes Drama, – aber nur mit erhobenem Zeigefinger. Sonst könnte man ja auch seinen Spaß dran haben. Nein, es bleibt ernst, wie sonst auch den ganzen Film hindurch. Es geht um Vermittlung des Unterrichtstoffes. Also sehen wir diese Szene nicht mit unseren Augen, sondern mit denen der Lehrerin, die im Verborgenen sitzt und das Geschehen durch die Windschutzscheibe des Autos beobachtet. Wir sitzen im Autokino in pädagogischer Begleitung. Uns wird Gerahmtes vorgeführt.

Die garantiert humorfreie, lehrhafte Ästhetik des Films mag befremden. Plausibel ist sie. Es ist gut zu verstehen, was der Autor mit dem Film will. Die aktuelle Kulturenwidersprüche, ihre Aufhebung im Einzelfall (die Kulturenvielheitsidentität in der Anfangssequenz) und das Gegenteil: den Kulturenwechsel in der Schlussszene. Von dem war in diesem Text noch nicht die Rede. Weil im 103-Minuten-Film bis zur hundertsten Minute davon nicht die Rede war. Emanzipiert sich der Pakistaniboy von der gut meinenden, aber übermächtigen Familie? Auf diese Frage hat Loach nicht hingearbeitet, er war mit der Gegenüberstellung beschäftigt. Dass in „Just a Kiss' eine Entwicklung verborgen ist, überrascht. Vielleicht liegt es am mimischen und schauspielerischen Unvermögen des Protagonisten, dass man das happy end des Films als bloße Behauptung empfindet. Es klingelt, Tür auf und Schlusskuss. So einfach können wir den Regisseur mit seiner Multikultiarbeit nicht entlassen. Das Und-jetzt-ist-alles-wieder-gut kommt so plötzlich wie das Klingelzeichen für die Pause, und, zur Besinnung gekommen, wird bewusst, dass Loach seine Kulturendiskussion emotional nicht verankert hat. Die Darsteller sind individueller Psyche bar. Autobiografisch sind sie nicht kenntlich. Also lassen wir das mit dem happy end und der unversehenen Emanzipation beiseite. Dann haben wir ein starkes offenes Ende; was zum Wundern über das Werd-doch-muslimischkatholisch im Jahr 2004 und ordentlich was zum Nachdenken.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2004

Der große Ausverkauf

(D 2006, Regie: Florian Opitz)

Hitzköpfiges Aufbauprogramm
von Dietrich Kuhlbrodt

Der Dokumentarfilm kommt grade recht zum Gipfel in Heiligendamm. Die neoliberale Globalisierung feiert sich, während immer mehr gesellschaftliche Bereiche von der privaten Gewinnmaximierung erfasst werden. – Solch einen Satz zu …

Der Dokumentarfilm kommt grade recht zum Gipfel in Heiligendamm. Die neoliberale Globalisierung feiert sich, während immer mehr gesellschaftliche Bereiche von der privaten Gewinnmaximierung erfasst werden. – Solch einen Satz zu formulieren, ist jedoch Sache des Films nicht. Das ist seine Stärke. Er kommentiert nicht, er inszeniert nicht, er stellt nicht nach. Wir sind fern von TV-Dokumentation und Pic-Picture, aber wir sind sehr nah bei vier Privatisierungsopfern aus vier Kontinenten. Sie kommen zu Wort und erzählen von ihrem Kampf und sogar von einem kleinen oder großen Sieg. Wieder etwas Besonderes: Was im Betroffenenleid verbleiben könnte, wird zum Aufbegehren und zum Widerstand. Und zur Frage an uns: Hallo, was tun wir eigentlich? Fackeln wir wieder ein Politikerauto ab? – Florian Opitz, Jahrgang 1973, versierter Dokumentarfilmer („Goliaths Albtraum – Globalisierungskritiker seit Genua“, 2002), hat den „Großen Ausverkauf“ genial konstruiert.

Vier pauperisierte Menschen aus vier Kontinenten erzählen, als ob sie untereinander sprächen. Ein Vertreter vom Internationalen Währungsfonds (oder wars die Weltbank?) schwärmt vom Ziel, Armut auszurotten, aber erstmal müssten die armen Länder Darlehen aufnehmen und Zinsen zahlen. Widerspruch wird von Joseph E. Stiglitz eingelegt, dem Wirtschafts-Prof, der sich vom Saulus zum Paulus wandelte (Buch „Die Schatten der Globalisierung“) und der dem IWF wie der Weltbank vorwirft, ihrem Auftrag entgegen nicht den armen Ländern, sondern dem reichen US-amerikanischen Finanzsektor zu helfen.

Nehmen wir einen von den vier Privatisierungsgeschädigten. Von unten gesehen: Oscar Olivera, Gewerkschafter, kämpfte in Cochabamba, Bolivien, gegen den Käufer der Wasserversorgung der Großstadt, den milliardenschweren US-Konzern Bechtel. Die Weltbank hatte auf die Privatisierung gedrängt. Der Konzern strich 16 % Rendite ein. Der Bevölkerung wurde ein Drittel des Monatseinkommens abgepresst – für Wasser. Die Entnahme aus öffentlichen Gewässern wurde verboten. Der Gebrauch von Regenwasser untersagt. Militär besetzte die Stadt. Kriegsrecht wurde verhängt, und – der Widerstand hatte Erfolg. Die Privatisierung wurde rückgängig gemacht.

Der Film macht einen heißen Kopf, und er baut auf. Zum Beispiel, um den Mehdorn was aufs Maul zu geben, wenn er wieder wahnhaft von der Effizienz der Privatisierung schwafelt. In England zahlt der Staat inzwischen doppelt so viel für seine Bahn wie zuvor. Den Profit hatten die Marktfundis, den Schaden haben die Ausgegrenzten, die Entsolidarisierten.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 05/2007

Arrietty – Die wundersame Welt der Borger

(J 2010, Regie: Hiromasa Yonebayashi)

Zwischen wogenden Blumenblüten
von Lukas Foerster

Fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit ist der neue Film des legendären japanischen Animationsfilmstudios Ghibli in den deutschen Kinos gestartet. Nachdem „Ponyo“, die letzte Regiearbeit des Studiogründers Hayao Miyazaki, die kommerziellen …

Fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit ist der neue Film des legendären japanischen Animationsfilmstudios Ghibli in den deutschen Kinos gestartet. Nachdem „Ponyo“, die letzte Regiearbeit des Studiogründers Hayao Miyazaki, die kommerziellen Erwartungen nicht erfüllen konnte, zirkuliert „Arrietty“, für den der Altmeister nur das Drehbuch verfasst hat – Regie führt der Newcomer Hiromasa Yonebayashi -, nur mit gut zwanzig Kopien. Zwischen den omnipräsenten Sommerblockbustern ist da von Anfang an nicht viel zu holen; dass der Film von der Presse fast komplett ignoriert wurde, verwundert aber doch. Schließlich versteckt sich hinter dem unglücklich gewählten deutschen Verleihtitel „Die wundersame Welt der Borger“ ein Stück populäres Kino im allerbesten Sinne.

Die Werke Miyazakis haben spätestens seit den Neunzigern einen Hang zum Expansiven, Ausgreifenden, Barocken, unternehmen Entdeckungsfahrten in komplex ausgestaltete mythische Welten. „Arrietty“ aber findet zur Linearität und scheinbaren Einfachheit von „Mein Nachbar Totoro“, dem möglicherweise Schönsten aller Anime, zurück. Auch „Arrietty“ – basierend auf einer Kinderbuchserie Mary Nortons – nimmt seinen Anfang bei Kindheit und Einsamkeit, die fantastische Welt, die auf dieser Basis entsteht, gewinnt dann aber ein Eigenleben, das nicht mehr auf den psychologischen Maßstab zum Beispiel einer Projektion gebracht werden kann.

Ein Haus im Grünen, ein wenig abseits der Welt, ein Sommer, ein wenig aus der Zeit gefallen, ein junger Protagonist, ein wenig abseits von Gesellschaft und funktionierendem Familienleben; all das schließt direkt an „Totoro“ an. Doch schnell wechselt der Film die Perspektive: Die eigentliche Hauptfigur ist Arrietty selbst; Arrietty ist ein Mädchen, das zu den 'Borrowers' gehört. Die Borrowers sind 'kleine Menschen', ungefähr daumengroß, die sich in den Häusern der Großen eingerichtet haben und diesen einige Kleinigkeiten für die eigene Existenz entwenden: einzelne Zuckerwürfel, Stecknadeln, Papiertaschentücher, stets nur solche Dinge, deren Verlust nicht bemerkt, die im Maßstab der Großen nicht einzigartig, sondern ohne Probleme ersetzbar sind, die für die Kleinen jedoch zu singulären, existentiell notwendigen Dingen werden. Arrietty wohnt gemeinsam mit ihren Eltern in einem Haus im Haus, einem versteckten Karton, den die drei zum heimeligen Zuhause ausgestaltet haben; direkt vor der Tür lauern Gefahren aller Art.

Der Größenunterschied zwischen kleinen und großen Menschen führt nicht nur zu einer Umwertung der Dingwelt, er prägt den gesamten Film. Aber, das ist das Schöne, nie als bloße Cuteness oder als Pointe, sondern vor allem anderen als Simulation realen Erlebens. Eine lange, ausführliche Szene am Anfang des Films beschreibt einen Streifzug Arriettys mit ihrem Vater durch das Haus der großen 'Wirtsfamilie'. Der Film nimmt sein Szenario ganz und gar ernst und lädt konsequent die Details der alltäglichen Welt, die im gewöhnlichen Erleben kaum noch wahrgenommen werden, mit einem 'sense of adventure' auf: Nägel, die ein wenig aus der Wand ragen, Stromkabel, Klebestreifen und so weiter. Die weiterhin größtenteils klassisch „zweidimensional“ und mit der gewohnten Liebe zum Detail und zu organischen, vielseitigen Texturen animierten Bilder öffnen und schließen sich während dieser Passage so spektakulär, dass die dreidimensionale Konkurrenz von Pixar und Dreamworks im Vergleich reichlich alt aussieht.

Später, wenn auch die 'großen Menschen' eine wichtige Rolle im Film zu spielen beginnen, gibt es dann immer wieder ein Spiel mit der Perspektive, am schönsten während der ersten gelungenen Begegnung Arriettys mit dem jungen Sho, dem träumerischen, kränklichen Kind des Hauses: Vorher konnte er stets nur ihren Schattenwurf sehen, jetzt zeigt sie sich ihm vollständig. Sie tritt an das für sie riesenhaft anmutende Kind heran, er dreht seinen Kopf, es folgt ein Schnitt auf seinen point of view, auf eine Nahaufnahme Arriettys zwischen wogenden Blumenblüten, die teilweise größer sind als ihr gesamter Kopf. In dieser wunderschönen Einstellung – unterlegt von der dezent eingesetzten, hypnotischen Filmmusik – scheint der Film Arrietty, das Wunder ihrer bloßen Existenz, aber auch ihre gesamte Persönlichkeit, noch einmal neu zu entdecken.
Die Geschichte ist nicht einmal auf den ersten Blick so einfach und oppositionell strukturiert, wie die Gegenüberstellung von klein und groß glauben machen könnte. „Arrietty“ entwirft, wie so viele andere Ghibli-Filme, eine Welt, die gleichzeitig und oft ununterscheidbar Sozial- und Ökosystem ist, in deren Inneren eher Dialektik als eine transzendente Moral waltet. Das gilt schon für die Struktur der Bilder, für ihre Textur selbst. Von weitem, in der Totalen, ist die Wiese ein impressionistischer Aquarelltraum, aber wenn sich Arrietty und ihre Familie durch sie hindurch schlagen müssen, ist die Lieblichkeit verschwunden, wird jeder Kieselstein zum Hindernis.

Ein Detail macht die alles andere als eindimensionale Beziehung zwischen den beiden Sphären des Films besonders deutlich: Die 'großen Menschen' haben für die kleinen, mit den besten paternalistischen Absichten, ein Puppenhaus gebaut, aber das wird nicht als Friedensangebot interpretiert, sondern als Falle. Und vielleicht nicht ganz zu Unrecht, wenn auch aus Gründen, die den Borrowers selbst nicht bewusst sind; schließlich lauert im Puppenhaus die Domestizierung. Die Borrowers setzen statt dessen auf Abschottung von der bei gleichzeitiger Mimikry an die Lebenswelt der Großen, was natürlich in erster Linie auf Selbstdomestizierung hinausläuft. Die Kommunikation zwischen den beiden Parteien scheitert an einem doppelten Missverständnis, das sich bis zum Schluss nicht auflöst. Die sanfte Freundschaft zwischen Arrietty und Sho (ein ausgestreckter Finger, der mit beiden Armen liebevoll-neugierig umfasst wird; das Versteckspiel; der Versuch, einander auf Augenhöhe zu begegnen) bleibt eine Träumerei, die weniger utopisch als melancholisch anmutet.

Mittlerfiguren zwischen den beiden Sphären sind eher die Tiere. Innerhalb der Handlung spielt vor allem eine Katze eine Rolle, daneben haben aber auch jede Menge Vögel, Hunde, Mäuse und vor allem Insekten Kurzauftritte. Die Tiere stehen außerhalb der Differenz, die den Film strukturiert, zumindest insofern, wie diese eine begriffliche ist und gerade deshalb eignen sie sich zu ihrer Überwindung. Für die Tiere ist Arrietty kein kleines Gegenstück zu Sho, sondern beide Elemente einer ungeteilten Erfahrungswelt. Der Angriff eines Raben bringt Sho und Arrietty zum ersten Mal einander näher, Käfer, Schaben und Ameisen bekommen in liebevollen Großaufnahmen eine Materialität, die ihnen Realfilme noch fast immer verweigern (für die Borrowers sind Insekten nicht das Abjekte an der Natur, sondern selbstverständlicher Teil der Umwelt). Aber selbst die intelligente, in manchen Hinsichten lernfähige Katze bleibt eine rätselhafte Kreatur, die an einer anderen Art von Freiheit Teil hat als die sozial determinierte Arrietty und der auch dann kein mit menschlichem analoges Bewusstsein zugeschrieben wird, wenn sie scheinbar altruistisch handelt. In einer der schönsten Szenen des Films läuft eine Kellerschabe über einen Stein, eine andere taucht auf, die beiden reiben sanft ihre Fühler aneinander und verschwinden gemeinsam.

Kung Fu Panda 2

(USA 2011, Regie: Jennifer Yuh)

Spielverderbär
von Louis Vazquez

Wieder einmal müssen der Pandabär Po und seine fünf Kung-Fu-Freunde das Tal des Friedens verteidigen, und Schuld hat diesmal ein fieser Pfau. Einst erfreute das Volk der Pfauen das ganze …

Wieder einmal müssen der Pandabär Po und seine fünf Kung-Fu-Freunde das Tal des Friedens verteidigen, und Schuld hat diesmal ein fieser Pfau. Einst erfreute das Volk der Pfauen das ganze Chinesische Reich mit wunderbaren Feuerwerken. Doch jetzt lässt der böse Lord Shen statt Knallkörper mächtige Kanonen bauen, mit deren Hilfe er das Land unterjochen will. Aufgrund einer Prophezeiung hat Shen vor vielen Jahren die Pandabären nahezu ausgerottet. Er ahnt nicht, dass ein gewisses Findelkind überlebt hat und doch noch für seinen Untergang sorgen könnte. Pandabär Po wiederum muss zu seiner Überraschung erfahren, dass sein Gänserich-Vater ihn bloß adoptiert hat, und sein Weltbild gerät darüber ins Wanken. Kann er sich seiner verdrängten Vergangenheit stellen, um das Böse zu besiegen? Die Antwort liegt auf der Handkante.

Wichtiger für den Film ist deshalb eine ganz andere Frage: die nach der eigenen Identität. Pos Verunsicherung bildet den Kern der Geschichte, und in Kinderfilmen genauso wie bei Existenzialisten führt die Frage, wer man denn nun eigentlich sei, letztlich zur gleichen Antwort: Man ist der, für den man sich frei entscheidet. Eine nicht seltene, aber grundsympathische Moral. Und doch liegt einiges im Argen in „Kung Fu Panda 2“. Und das hängt mit der Zahl im Titel zusammen.

Der Film versteht es wie sein Vorgänger, auf durchaus kluge Weise verschiedene Stile zu präsentieren, die die unterschiedlichen Erzählebenen Gegenwart, Mythos und Erinnerung kennzeichnen. Schon die Eröffnungssequenz allerdings, die an Scherenschnitt bzw. Legetricktechnik erinnert, stellt ein Problem dar. Sie erzählt nämlich die Vorgeschichte inklusive Lord Shens Versuch, die Pandabären auszurotten. Damit nimmt sie ausgerechnet das vorweg, was Held Po den kompletten Film hindurch noch nicht weiß. Der Wissensvorsprung der Zuschauer lässt ungeduldige Naturen bisweilen an der Naivität des Helden verzweifeln.

Eigentlich gibt sich der Film alle Mühe, keine Langeweile aufkommen zu lassen. Seine Strategie ist Tempo. Was am ersten Teil gut war, wird nochmal gemacht. Aber schneller. Und größer. Und lauter. Bezeichnend sind da die Herr-der-Ringe-Zitate: Während die Herstellung der bedrohlichen Kanonen in der einleitenden Rückblende noch an Ralph Bakshis Animationsfilm aus dem Jahr 1978 erinnert, zitieren die rasanten, simulierten Kameraflüge durch computergenerierte Welten später stilistisch deutlich die Version Peter Jacksons und die Filme von James Cameron. Drehbuchautor Jonathan Aibel wollte die „Grenzen des Machbaren“ in dieser Fortsetzung vorantreiben, durch „aufwändigere Actionszenen, noch mehr Tiefe bei den Figuren und gewaltigere Schauplätze und Animationen“. Leider aber bleibt es gerade in Sachen Figurentiefe bei der Absichtsbekundung. Pos Backstory leidet unter der vorweggenommenen Pointe, und die Nebenfiguren sind fast allesamt statische Comic-Reliefs oder Stichwortgeber.

Natürlich ist es noch immer amüsant, wie Po und seine Freunde Heldentum karikieren. Beim Versuch, alles zu toppen, geht dem Film aber die Balance verloren. Die grausame Backstory um die Ausrottung der Pandas, die von den Pfauen mit einer Wolfsmeute gejagt werden, rückt Po in die Nähe von Conan, dem Barbaren und relativiert so manche berüchtigte, traumatisierende Disney-Szene. Nicht, dass Kinderfilme keine Gewalt zeigen sollen, doch wirkt die Sequenz seltsam ungebunden an den vergleichsweise albernen Rest des Films.

Man könnte wie bei vielen Martial-Arts-Klassikern versuchen, die spektakulären Kampfszenen losgelöst von der unausgegorenen Handlung zu betrachten. Allerdings bleibt ohne menschliches Zutun und Akrobatik bloß technische Spielerei, und die steht nun wirklich bei allzu vielen schlechten Blockbuster-Anwärtern im Vordergrund. Auch die im Original durchaus beeindruckende Sprecherliste (mit Auftritten von Michelle Yeoh und Jean-Claude van Damme in kleinen Rollen) trügt, denn das Ergebnis ist leider nicht halb so parodistisch, wie man erwarten könnte und nimmt seinen epischen Fantasy-Schwulst viel zu ernst – inklusive angedrohter Ausweitung zur Trilogie mittels Cliffhanger.

Es stellt sich also das hartnäckige Gefühl ein, dass hier viel verschenkt wurde. Trotzdem: Die anwesenden und hinterher aus Marktforschungsgründen befragten Kinder („Bringen Sie gerne Ihre Kinder zur Pressevorführung mit“) fanden es offenbar ganz gut. Immerhin scheppert und rummst es ordentlich und ist weitgehend frei von pädagogischen Absichten.

Geständnisse – Confessions

(J 2010, Regie: Tetsuya Nakashima)

Rache im Klassenzimmer
von Marit Hofmann

Liebe Schüler, heute lernen wir, wie man einen Menschen kaputt macht. Nur alle herein ins Klassenzimmer, aber Achtung, so bald lässt euch Regisseur Tetsuya Nakashima nicht wieder raus. Bei all …

Liebe Schüler, heute lernen wir, wie man einen Menschen kaputt macht. Nur alle herein ins Klassenzimmer, aber Achtung, so bald lässt euch Regisseur Tetsuya Nakashima nicht wieder raus. Bei all der Unruhe, die eure lärmenden Mitschüler (unterstützt von Kamera und Tonspur) verbreiten, möchtet ihr den selbstsüchtigen Rotznasen wie ein Streber aus der ersten Reihe zurufen: Haltet die Klappe! Wo doch die Lehrerin am letzten Schultag, bevor sie den Dienst quittiert, etwas mitzuteilen hat. Zwei Schüler aus dieser Klasse, verkündet sie erschreckend ruhig, hätten ihre kleine Tochter ermordet. Ein Unfall, habe es offiziell geheißen, und sie, die Mutter, habe es dabei belassen, um die vom Gesetz geschützten Minderjährigen auf ihre ganz eigene Weise zu bestrafen: Damit sie den Wert des Lebens schätzen lernten, habe sie den beiden HIV-infiziertes Blut in ihre Milch gemischt. Kreischendes Klassenzimmer! Eben noch nuckelten die Gören genüßlich an ihren Milchtüten, Teenager brauchen schließlich ihre Extraportion Kalzium.

Seht nur, wie nun das Chaos ausbricht: Mobben der Mordverdächtigen, Aidshysterie, Amokphantasien! Dabei agieren die Schüler in Uniform, die einzig ihre Einsamkeit eint, immer wieder wie Schlafwandler in Zeitlupe – unfähig, ihrem Schicksal und der in tristen Farben gezeichneten Hölle, die da Schule heißt, zu entrinnen. So wie ihr unfähig seid, euch dem imposanten Bildersog und dem überbordenden Soundtrack von Bach bis Radiohead zu entziehen. Selbst die modernen Kommunikationsmittel haben die Strippenzieher in ihre pompöse audiovisuelle Choreographie einbezogen.

Wenn ihr gut aufgepasst habt, wisst ihr, dass Rache kein seltenes Motiv im (japanischen) Kino ist, aber selten wird es so subtil verfolgt wie von der pädagogisch geschulten Protagonistin, die auch ihren lächerlichen Nachfolger, der Kumpel aller Kinder sein will, als Marionette für ihre grausamen Spielchen benutzt. Da wird eben selbst Milch zum Horrorelement – für reichlich Blut sorgen dann die Psychokriegsopfer schon selbst. Bekommt ihr nun Mitleid mit euren wohlstandsverwahrlosten Klassenkameraden? 'Niemand sagte mir, dass es falsch ist, zu töten', rechtfertigt sich der Jugend-forscht-Gewinner mit Mutterkomplex. Doch wenn hier tatsächlich jemand einen Anflug von Gewissensbissen erkennen lässt, heißt es hinterher: Just kidding!

Dieser Film ist so herrlich unmoralisch, dass er unbedingt auch Zuschauern unter 18 zu empfehlen ist. Lektion 1: Traut keinem Lehrer. Lektion 2: Traut keinem Schüler. Lektion 3: Vertraut aufs japanische Kino.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/2011

Link zu einer weiteren Filmkritik

Ghettokids – Brüder ohne Heimat

(D 2002, Regie: Christian Wagner)

Distanz und Anbiederung
von Andreas Thomas

„Ghettokids“. Ein Name ist Programm, ist Verwahrlosung, Verharmlosung, Distanz und Anbiederung in einem. Kinder in sozialer Randlage würden sich selbst nicht „Ghettokids“ nennen. Nur deren „Zuständige“, Pädagogen und Filmemacher mit …

„Ghettokids“. Ein Name ist Programm, ist Verwahrlosung, Verharmlosung, Distanz und Anbiederung in einem. Kinder in sozialer Randlage würden sich selbst nicht „Ghettokids“ nennen. Nur deren „Zuständige“, Pädagogen und Filmemacher mit sozialem Anspruch machen sowas.

„Ghettokids“ sind reduziert auf einen romantisch-randständigen und hilfsbedürftigen Typus, auf einen sozialpädagogischen Kanon, Jargon und Angang. So benannt sind sie ausgewiesen als Problemfeld unserer spätaltruistischen Weltsicht, und es ist anscheinend besonders cool, sie zu „Ghettokids“ zu machen, denn „Ghettokids“ sind heimliche Stars, wie alle aus den Charts und MTV wissen. Umso wichtiger und selbstloser als die so Bezeichneten dabei: das soziale Engagement. Wichtig als Gewissenspolster – eines inzwischen deklariert unsozialen Staats.

Aus vielleicht ähnlich gelagerten Gründen freute sich die BRD zunächst auch sehr über Projekte, wie die des „Förderzentrums München Nord“, das sich den Problemen der jugendlichen Bewohner der münchener Trabantensiedlung 'Hasenbergl', in der „auf engstem Raum Menschen unterschiedlichster – teils verfeindeter – Nationen wie Griechen, Türken, Kosovo-Albaner, Sinti und Deutsche das Zusammenleben üben müssen“, zuwandte, um ihnen gemeinsames Singen und Tanzen beizubringen, statt des üblichen „auf einander Einschlagen“.

Erfolge dieses „Hasenbergl-Projekts“ wurden mithilfe des Dokumentarfilms „Planet Hasenbergl – Lichtblicke in der Münchner Bronx“ von Claus Strigel, dieser Film ist auf der „Ghettokids“-DVD, quasi als Authentizitätsbeleg dabei (und wie zu erwarten war, bringt er das Doppelte an Aufschluss über die „Kids“, das Milieu und das Hilfspersonal) und die schön und emotional wiedergegeben werden, mehrfach preisgekrönt. Hervorstechend darin, da auch interpretatorisch (ein paar Jahre Schauspiel) bewandert, die mit „titanischen Kräften“ und „Engelsgeduld“ ausgestattete Lehrerin Susanne Korbmacher-Schulz, die vor allem durch ihre Leidenschaft begeistert, in jedem ihrer Schützlinge einen Popstar, einen Tänzer, einen Filmstar zu erkennen.

Denn schließlich sind wir es alle, ob arm, ob reich, ob schwarz, ob weiß. Weil es nichts gibt, was so ist, wie wir. Und unsere Gefühle sind wichtig und groß, und wenn wir sie ausleben, beim Tanz oder im Schauspiel, erkennen wir uns nicht nur, treten wir gar über uns hinaus. Soviel aus Irritationsgründen, denn Irritation muss sein.

Der TV-Film „Ghettokids“ nun handelt von diesen selben, oder so ähnlich gedachten, also irgendwie „problematischen“ Kindern im münchener Norden, ist angelehnt an ihre spezifischen Verhältnisse, subsumiert ihre notorischen Konflikte, aber geht an ihren persönlichen Lebenslagen wohl doch ein wenig vorbei. Denn „Ghettokids“ ist ein Problemfilm, der sich eher einem Genre, nämlich dem des „Problemfilms“, annähern will als der konkreten Situation, den konkreten Personen. Pflichtbewusst hakt er die Sozialarbeiter-Standards der Problematik ab: jugendliche Armut, jugendliche Frustration, jugendliche Prostitution, ethnische Konflikte, Kommunikationsdefizite, Gewalt als Hauptkommunikationsmittel innerhalb der „Peergroup“ und deren kultureller Background, alles kommt vor und wird in einen Film mit „Handlung“ gesteckt.

Konkret im Film: Die gewaltgeprägte Verwahrlosung der drei griechischen Jungen in der mütterlichen Wohnküche (Erinnerungen an „Rocco und seine Brüder“ tauchen auf und verdeutlichen den Qualitätsunterschied) und schließlich die Kinder in der Schule (die klassische schwererziehbare Schulklasse, an der sich schon der „Pauker“ Heinz Rühmann – bei ihm hießen die „Ghettokids“ noch „Halbstarke“ – pädagogisch und menschlich beweisen musste, indem er ihrem Leben wieder Ordnung schenkte). Und „Ghettokids“ möchte auch die andere Seite beleuchten, die der neuen Lehrerin (Barbara Rudnik), die am liebsten gleich wieder abhauen will, wenn sie von ihren Schülerinnen angeblafft wird, die des hartgesottenen Sozialarbeiters (Günther M. Halmer), der sich inzwischen so gut in seinem Metier auskennt, dass er zum Parade-Stoiker geworden ist.

„Far Away“. Bei beiden neben den Jugendlichen wichtigen Figuren: zu sensibel die eine, zu relaxed und straight der andere, dazwischen wäre der Raum der Erfahrung. Irgendwo in diesem Zwischenraum offenbart sich die Fremdheit des TV-Schauspiels und der beiden TV-Schauspieler. Denn die „Kids“ von „Ghettokids“ spielen natürlich nur deshalb so „beklemmend authentisch“, (wie es in der Presse öfter zu lesen war), weil sie – und das ist das Gute am Film – eben ab und an so reden und agieren, wie sie es können, wollen und gewöhnt sind, und ausnahmsweise dann dürfen, wenn das Drehbuch nicht wieder sein Pathos durch etwa den griechisch-stämmigen und daher gebeutelten Knaben Kristos rezitieren lässt. Sprich: Zwei unvereinbare Welten sind das, das gepflegte und gepäppelte, leidende und hoch sensible TV-Star-Establishment steht künstlich neben echten, teilweise frustrierten und aggressiven, aber auch avancierten Jugendlichen, die leider zu oft in eine unnatürliche, zu melodramatische Fernsehfilm-Dramaturgie gezwungen sind (und sich eine Karriere als Schauspieler oder Rapper [einen „normalen“ Job wie Tischler zu erlernen ist ja heute schon so unrealistisch geworden, dass er nicht mal mehr von Pädagogen für ihre „Kids“ in Betracht gezogen wird] erträumen, weil sie in einem durch öffentliche Gelder geförderten Fernsehfilm sind) – obwohl ein größeres Vertrauen in sie selbst und ihre wirklichen Geschichten für uns interessanter und spannender gewesen wäre.

Es gibt erfreulicherweise immer wieder und immer mehr deutsche Regisseure, die in ihr Sujet vertrauen. Deren Wahrheiten nicht abgeschlossene von Therapeuten, sondern unfertige von Empatikern sind. Regisseure, die sich nicht in Sozialpädagogen verwandeln müssen, um sich Menschen „anzunähern“. Nur drei kleine Beispiele von anderen Filmen über Jugendliche: „Klassenfahrt“ von Henner Winckler, „Bungalow“ von Ulrich Köhler und „Mein Stern“ von Valeska Grisebach können deshalb überzeugen, weil deren Portraits von Jugendlichen nicht durch wohlmeinende Vorurteile von Erwachsenen miterzeugt sind und weil ihre Milieuskizzen nicht durch eine reißerische und rührselige Umsetzung TV-gerecht gemacht wurden. Wer aber wirklich alles haben will, das „echte“ jugendliche Elend in der Vorstadtsiedlung und aufrüttelnde „Action“, dem seien die französischen Filme „Tee im Harem des Archimedes“ und „Hass“ nahegelegt. „Ghettokids“ aber erreicht in seinen allerbesten Momenten nur „Tatort“-Niveau. Was bleibt und herausragt, ist das Spiel der „Ghettokids“ – die sich selber nie so nennen würden …

Beginners

(USA 2011, Regie: Mike Mills)

Eine Geschichte der Traurigkeit
von Wolfgang Nierlin

Die Zeit ist im Fluss. Das Ineinander von Gegenwart und Vergangenheit, von Erinnerungen und augenblickshaften Flashs bildet die Erzählstruktur von Mike Mills‘ neuem Film „Beginners“. In Rückblenden und zeitgeschichtlichen Montagen …

Die Zeit ist im Fluss. Das Ineinander von Gegenwart und Vergangenheit, von Erinnerungen und augenblickshaften Flashs bildet die Erzählstruktur von Mike Mills‘ neuem Film „Beginners“. In Rückblenden und zeitgeschichtlichen Montagen wechseln in schneller Folge die Zeitebenen, überlagern sich Bilder und Begebenheiten, um von Veränderungen und der Vergänglichkeit des Lebens zu erzählen. Die Bilder werden gleichsam zu Zeugen eines unaufhörlichen Wandels. Ihre Verdopplung durch die einfache sprachliche Benennung bewirkt eine poetische Überhöhung und kündet zugleich von der Relativität des Daseins, seinen Erfahrungen, seiner Identität. Und doch geht es bei allem Wandel auch um einen festen Kern, „die eingepflanzte Persönlichkeit“, wie es einmal heißt. Den unsicheren Wechsel zwischen diesen beiden Polen inszeniert Mike Mills als eine ebenso verspielte wie stimmungsmalerische Geschichte der Traurigkeit, die ihre formale Entsprechung in den Brüchen der Montage findet und damit in einer diskontinuierlichen Erzählweise.

Eine schwankende Identität charakterisiert insofern auch den attraktiven 38-jährigen Junggesellen Oliver (Ewan McGregor), einen romantischen Melancholiker, der als Zeichner arbeitet und der sich nach mehreren gescheiterten Beziehungen in seiner Einsamkeit eingerichtet hat. „Du sehnst dich nach einer Beziehung, hältst es aber in keiner aus“, attestiert ihm sein alter Vater Hal (Christopher Plummer). Als dieser infolge einer Krebserkrankung im Jahre 2003 78-jährig stirbt, verstärkt sich Olivers Krise auf mehrfache Weise: Neben dem Schmerz über den Verlust des Vaters erinnert er sich an seine Kindheit Mitte der 1970er Jahre, sein merkwürdiges Verhältnis zur unglücklichen Mutter und die schwierige Ehe der Eltern. Die Gründe dafür findet er nach dem Tod der Mutter im Jahre 1999, als sich sein Vater nach 44 Ehejahren mit seiner versteckt gehaltenen Homosexualität outet und nach diesem Bekenntnis beginnt, mit Lust und Freude ein schwules Leben zu führen.

Gerade dieser Mut zur Neuerfindung, der sich schließlich auch gegen die Krankheit stemmt, kontrastiert Olivers eigenen Stillstand, der nach Hals Tod zusätzlich von Trauer eingehüllt wird. Gespiegelt und verstärkt wird Olivers Einsiedelei von dem kleinen Hund Arthur, den er vom Vater erbt. Erst als er die französische Schauspielerin Anna (Mélanie Laurent) kennenlernt und sich zögerlich in sie verliebt, bricht etwas auf, gewinnt Oliver eine neue Perspektive. Doch Anna hat selbst einige gescheiterte Beziehungen hinter sich und leidet unter einem übermächtigen Vater. Das Auf und Ab dieser labilen Beziehung umgibt Mills‘ schwelgerische Inszenierung mit schwärmerischen Romantizismen und verliebten Verrücktheiten, die bei aller Originalität einer Vertiefung entgegenarbeiten. Auf der narrativen Ebene korreliert das gewissermaßen mit den virtuosen Oberflächenreizen einer Clip-Ästhetik, die die Kontinuität einer dramatischen Erzählung negiert. Vielleicht muss nicht zuletzt deshalb am Ende des Films die Frage nach dem richtigen Zusammenleben offen bleiben.

The Tree of Life

(USA 2011, Regie: Terrence Malick)

Dein Lieben ist Sehen
von Janis El-Bira

Man könnte mit dem Buch Genesis beginnen. Oder wenigstens mit Paulus, der im Kolosserbrief ein Leben in „überreicher“ Danksagung fordert. Beides wäre den Ambitionen und Überambitionen des fünften, lang erwarteten …

Man könnte mit dem Buch Genesis beginnen. Oder wenigstens mit Paulus, der im Kolosserbrief ein Leben in „überreicher“ Danksagung fordert. Beides wäre den Ambitionen und Überambitionen des fünften, lang erwarteten und x-fach verschobenen Spielfilms von Terrence Malick nur angemessen: Die allgegenwärtige Behauptung von Bedeutsamkeit, die dreiste Zumutung eines Filmwurfs, in dem der Urknall und die Entstehung des Kosmos‘ neben dem Leben der texanischen Familie der O’Briens in den 1950er-Jahren stehen – der Einstieg in das Schreiben über „The Tree of Life“ vermittels des Gigantomanen läge nahe. Wenigstens seit Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“, das liest und hört man allenthalben, habe niemand mehr die Kühnheit besessen, unter Aufbietung aller filmischen Möglichkeiten der Zeit, die ganze Geschichte erzählen zu wollen. Doch verglichen mit Malick wirkt Kubricks Einstieg bei den Menschenaffen schon fast übereilt: Der erstere beginnt immerhin direkt am Firmament, lässt Sterne explodieren und Sonnen sich bilden. Die ganze Geschichte eben. Selbst noch jenen Teil, dem eigentlich keine Geschichte gegeben ist – weil er noch im wörtlichen Sinne zeitlos war.

Aber vielleicht sollte man zunächst um etwas mehr Bodenhaftung bemüht sein und anderswo beginnen, zum Beispiel mit Walter Benjamin. Der schreibt in „Über den Begriff der Geschichte“ einen oft zitierten Satz: „Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten.“ Bilder also. Fangen wir mit Bildern an. Etwa jenem von den drei kindlichen Brüdern, die im dichten Nebel eines die Botanik mit DDT besprühenden Fahrzeuges herumtollen. Mit einem anderen vielleicht, das die wundersam-schockierte Begegnung eines Kleinkindes mit seinem neugeborenen Bruder zeigt. Oder mit dem Bild vom Gesicht eines Jungen just in dem Moment, da er sich entscheidet, Unrechtes zu tun – und weiß, dass es unrecht ist. Und man könnte auch die Hände, Gesichter und Körper beschreiben, die sich hier immer wieder gegen das gleißende Sonnenlicht recken und so von einem uns oft blendenden Kranz umstrahlt werden. Darauf könnte man sich beschränken und diese Bilder zu den „auf Nimmerwiedersehen aufblitzenden“ Atomen einer in Wahrheit tief demütigen Vision erklären, die mit aller Macht die Leuchtkraft von Bildern gegen die Vergänglichkeit behauptet.

Doch man würde Malick so nicht auf die Spur kommen. Sein Film lässt sich weder auf eine größenwahnsinnige Sternfahrt reduzieren, der eine mitunter arg pathetische Familiengeschichte um drei Jungen und ihre so unterschiedlichen wie gleichermaßen liebenden Eltern beigemischt ist. Noch könnte man behaupten, es ginge hier um Erbauung: Um die Einordnung aller menschlichen Liebe, Leiden und Gleichgültigkeiten in einen metaphysisch-sinnstiftenden Überbau. Sicherlich würde all das den Film zum Teil treffend beschreiben, doch es würde übersehen, wie gleichzeitig, gehäuft und dicht diese Elemente neben- und ineinander ablaufen. Denn so schnell bewegt sich hier alles, so entfesselt fliegt die Kamera ihren wenigen Figuren nach, so beiläufig wird die Sonne zu einem „roten Riesen“, dass man bisweilen nicht mehr weiß, ob es die Erdenschicksale sind, die hier klein erscheinen sollen, oder vielleicht doch die von alledem unbekümmerten Sternensysteme und Dinosaurier, die in einer Szene die Erde bewandern.

So muss man vielleicht nicht gleich biblisch werden, aber doch zumindest an einem anderen Berührungspunkt zwischen Himmel und Erde ansetzen, wenn man der seltsamen Wirkung von „The Tree of Life“ schreibend nachfühlen möchte. Eventuell kann ausgerechnet ein mittelalterlicher Denker hier zum Ortskundigen werden. Nikolaus von Kues jedenfalls schreibt in seiner berühmten Abhandlung „De visione dei“ („Vom Sehen Gottes“) geradezu glühend von der liebenden Zuwendung Gottes im Blick: „Mein Herz, o Herr, findet keine Ruhe, weil Deine Liebe es mit solcher Sehnsucht entflammt, dass es nirgends als in Dir allein zu ruhen vermag. (…) Dein Lieben ist Sehen. Dein Vater-Sein ist Dein Blick, der uns alle väterlich umfasst. (…) Nähre mich mit Deinem Blick, o Herr, und lehre mich, wie Dein Blick jeden sehenden Blick und alles Sichtbare und jedes Wirken des Sehens und jede sehende Kraft und alles aus ihnen entstehende Sehen sieht, denn Dein Sehen ist Begründen. (…) Du siehst, o Herr, und hast Augen. Du bist also diese Augen, denn Dein Haben ist Sein. Darum betrachtest du alles in Dir selbst. Wäre in mir das Sehen das Auge, wie es bei Dir ist, mein Gott, dann würde ich in mir alles sehen.“

Was bei Nikolaus von Kues in seiner Emphase auch dem traditionellen philosophischen Primat des Sehens vor den anderen Sinnen geschuldet sein mag, wird bei Malick, so scheint es, mit nicht minderer Rauschhaftigkeit in Filmsprache transponiert. Malick macht – und das nicht erst mit „The Tree of Life“ – in wohlmöglich noch nie dagewesener Qualität Ernst mit der „göttlichen“ Perspektive des Kameraauges. Gemeint ist damit nicht bloß der vermeintlich allumfassende „scope“ seiner gewaltigen Bilder. Von ungleich größerer Bedeutung ist der zutiefst berührende Grund aus Sanftheit und Frieden, der sich hier in einem entschieden liebenden Blick mitteilt. Selbst dort, wo sich, wie in „Der schmale Grat“ (1998), das Menschenantlitz im Töten des Anderen zur Fratze verzerrt, ist bei Malick die Zartheit und Zerbrechlichkeit dieser Gesichter nachgerade schockierend. Eine ungeheure Erschrockenheit liegt dann in diesen übergehenden Augen. Eine Erschrockenheit aber, die sich paart mit Verwunderung, mit Staunen: Entsetzen ob der Möglichkeit, überhaupt töten zu können – und Staunen über die Schönheit des Sterbens. Kaum einem anderen Filmemacher ist es so ernsthaft bestellt um das fast vergessene Wort von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. In „The Tree of Life“ wird diese Gottesebenbildlichkeit in der Personenzeichnung zu einer Feier der Schönheit. Vielleicht muss man – es sei gewagt – gar ein Vorbild vom Format Botticellis heranziehen, um auf eine verwandte cherubische Anmut im Gesicht des Menschen zu stoßen.

Doch gänzlich entrückt ist hier selten etwas: Malicks Film beginnt fast unmittelbar in der Katastrophe, im Überbringen der Nachricht vom Tod eines ihrer Söhne an die von Jessica Chastain mit beinahe unendlichem Duldungsvermögen verkörperte Mrs. O’Brien. Schreie sind zu hören, die Bilder und der Blick tragen Trauer und nach einer langen Zeit, während der die mannigfaltigen Evolutionsprozesse auf diesem Planeten die Leinwand füllen, werden wir auch sehen, wie das Böse in die idyllische Kinderwelt der drei Söhne der O’Briens gerät. Auf leisesten Sohlen kommt es und findet niemanden, dem es die Schuld an seinem Sein geben könnte. Es passiert halt, dass der zwar strenge, aber liebende Vater (Brad Pitt) plötzlich brutal wird, genauso wie es passiert, dass der älteste der Söhne, Jack, zunächst ein Tier und dann einen seiner Brüder quält. Die Grundlosigkeit dieses Bösen verblüfft: Es passiert auf die Art, wie am Malick’schen Himmel Sterne verglühen. Und immer wieder ist da jenes schaudernd-schöne Erschrecken, das Zittern im Nachgang der bösen Tat.

Der Weg der „Natur“ und der Weg der „Gnade“ sind die beiden konkurrierenden Lebensrouten, die Mrs. O’Brien in den ersten Sekunden des Films in einem der zahlreichen Off-Monologe vorstellt. Ihr Sohn Jack (als sich erinnernder Erwachsener später von Sean Penn fast stumm dargestellt) trägt diesen Konflikt in Gestalt seiner Eltern ein Leben lang in sich und droht, fast daran zu zerbrechen. Deshalb nehmen seine Monologe oft die Form eines Gebetes, einer Zwiesprache mit Gott an. Doch es ist meist ein Namenloser, der hier mit „You“ angeredet wird. Ein moderner Gott, der nicht länger durch Wunder antwortet, wenn er gerufen wird. Nikolaus von Kues aber war sich sicher: „Solange wir, Deine Kinder, Dich als Kinder betrachten, hörst Du nicht auf, uns väterlich anzusehen.“ Von dieser Gotteskinderschaft seiner Figuren rückt Malicks Film keinen Augenblick lang ab. Die Gebete, die sie sprechen, sind daher auch Gebete an und für sie selbst als fortwährende Erinnerung an den unerfüllbaren Anspruch, den der mittelalterliche Philosoph von seinem Gott erhält: „Sei du dein, und ich werde dein sein.“ Auch bei Terrence Malick folgt daraufhin ein Lobgesang: Auf die Schöpfung, das Licht, das Sehen, das Kino.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Supermarkt

(BRD 1973, Regie: Roland Klick)

Willi gegen den Rest der Welt
von Andreas Thomas

Willi ist unter 21, was in der BRD des Jahres 1973 bedeutet: Willi ist minderjährig. Und weil Willi offenbar von Zuhause (wo ist das? Familie? Heim? Wir wissen es nicht) …

Willi ist unter 21, was in der BRD des Jahres 1973 bedeutet: Willi ist minderjährig. Und weil Willi offenbar von Zuhause (wo ist das? Familie? Heim? Wir wissen es nicht) ausgebüxt ist, ist er ein Fall fürs Jugendamt. Willi hat nach Hamburg gemacht, und will irgendwas anfangen, aber wie minderjährige, sozial unterprivilegierte Jugendliche eben so sind: Willi drückt sich ziemlich orientierungslos in dunklen Ecken eines schmuddeligen St. Pauli herum.

Lange muss Willi aber nicht auf seine Abenteuer warten, denn dafür sorgen schon die Polizei, das Jugendamt, ein sozial engagierter Journalist, ein Kleinkrimineller, ein Schwuler und eine Prostituierte. Roland Klicks Film „Supermarkt“ nämlich kennt sich aus mit den Problemen, die einen jugendlichen Outlaw so bedrängen. Zunächst ist „Supermarkt“ ein Paradebeispiel für das, was man in den Siebzigern einen „Problemfilm“ nannte. Dieses Genre kurz zusammengefasst: Ein wehrloser Mensch scheitert an einer kalten Gesellschaft. Fassbinder war ein Virtuose des Problemfilms, weil er am konkreten, melodramatischen Fall das Exemplarische und auch – aber nicht nur – für die Gesellschaft Allgemeingültige herausstellte. Ein Problemfilm bei Fassbinder kritisierte nicht nur eine westdeutsche Wohlstandsgesellschaft, er drang zu den Grundfragen nach Mensch, Menschheit und Menschlichkeit vor.

Letzteres schafft Klick mit „Supermarkt“ leider gar nicht. Aber auch schon bei der plausiblen Milieustudie, beim schlichten Versuch, uns eine individuelle Notlage stringent näherzubringen, tut sich der Film auffallend schwer. Denn Willi (Charly Wierzejewski) ist in keiner Hinsicht ein Symphatieträger, und jede Hilfe, die ihm angeboten wird, schlägt er schnell wieder aus. Willi bieten sich mehrere Seinsformen: Er könnte es als Kleinkrimineller versuchen, denn aus irgend einem Grund hat Theo (Walter Kohut) an Willi einen Narren gefressen; als gutbezahlter Edelstricher, denn ein reicher Homosexueller (Michael Rehberg) verliebt sich in ihn. Er wird sogar vom sozial engagierten arrivierten Journalisten Frank (Michael Degen) bei sich zuhause aufgenommen, aber Willi ist – bis auf eine Ausnahme – überhaupt nicht in der Lage, über seinen eigenen Tellerrand zu sehen. Willi versucht überhaupt nicht, sich irgendwie anzupassen. Ihn nervt, wenn er auch mal den Müll runterbringen muss, und dass er seine Käsesocken nicht in der Spüle einweichen soll, kann er nicht nachvollziehen. Dass Willi unangepasst sein will, ist da verständlich, wo Anpassung für ihn Heimverwahrung bedeutet, aber wenn ihm jemand eine Unterkunft, Essen und gar eine Lehrstelle verschafft, macht ihn das genauso aufmüpfig. Dieser Sozial-Schuss des Films geht nach hinten los. Nicht die Gesellschaft hat hier schuld, sondern der nicht integrierbare Jugendliche. Da nützt auch nicht der sentimentale Lonesome-Hero-Song „Celebration“, der (etwa im Stil der Rolling Stones der „Wild Horses“-Phase von dem damals völlig unbekannten Marius Müller-Westernhagen gesungen wurde, der übrigens auch Wierzejewskis Texte synchronisierte) immer dann erklingt (und das ist häufig), wenn Willi wieder mal ganz selbstmitleidig guckt, weil er es sich wieder mal mit wem vergeigt hat. Genug zum sozialkritischen Aspekt, denn die Milieustudie in „Supermarkt“ klatscht immer da, wo es um eine konsistente Psychologisierung der Figuren geht, ein Klischee ans andere und hofft darauf, dass der sozialkritische Zuschauer schon vorausgesetzt hat: Ja, ja, das sind die Problemzonen unserer kalten Welt.

Her mit dem Trash- und Exploitationfaktor von „Supermarkt“, und hier stoßen wir auf einen kleinen Schatz. Klick ist nicht umsonst der gewesen, der drei Jahre zuvor „Deadlock“ gedreht hat, einen kruden deutschen „Italowestern“ mit einem so hohen fatalistischen Stilwillen und gleichzeitig unwahrscheinlichem Regie-Ungeschicklichkeitsgrad, dass man ihn, wie T. Groh, fast als Meisterwerk bezeichnen kann. Derselbe Hang zum Extrem, zur Drastik und zum grellen Moment blitzt immer dann in „Supermarkt“ auf, wenn er seine besten Momente hat. Dann erklärt sich auch, dass das sozialkritische Korsett nur Ornament war für den wahren Stoff, um den es Klick hier geht, und der liegt in der Form, genauer: der Ästhetik: Derbe Gewalt, dramatische Waffengänge, Betrunkene, Kotzende, sich in Pfützen prügelnde Kleingangster und schmutziger Asphalt. Apropos: Inhaltlich am deutlichsten inspiriert wurde der Film sicherlich durch John Schlesingers „Asphalt Cowboy“, und mit dem Handlungsstrang, in dem es darum geht, die Hure (Eva Mattes) zu befreien, nimmt „Supermarkt“ zumindest inhaltlich schon „Taxi Driver“ vorweg (wenn dergleichen nicht schon ein typischer Film noir-Stoff wäre).

Und: Wenn ein Film nicht im Studio, sondern on location gedreht wurde, hat er automatisch den Bonus der Zeitzeugenschaft. Für mich liegt darin der größte Wert von „Supermarkt“: Aus unzähligen Perspektiven sehen wir ein Hamburg der ersten Hälfte der Siebziger, speziell ein St. Pauli, das noch richtig roh, schmutzig, dunkel ist, und wir sehen die spießigen, verkniffenen Bürger jener Tage oder die schmierigen Kunden auf der Reeperbahn, die fettigen langen Haare und die breiten Koteletten der männlichen Protagonisten. Nackt gehen speziell die weiblichen Figuren durchs Bild, die in der Boutique oder im Puff arbeiten. Muffig sind die Polizeidienststellen und Ämter, fies und verknöchert die Beamten. Authentisch ist „Supermarkt“ viel weniger in seiner Handlung als in seinem dokumentarischen Gehalt, weil er mindestens zur Hälfte nicht imitiert, inszeniert, sondern stets das Original – zumindest als Set und Kulisse – verwendet.

Am Ende können wir auch noch das schöne Vergnügen erleben, wenn Witta Pohl und Michael Degen, die Stars der schlechthinnigen CDU-Familienserie der Achtziger „Diese Drombuschs“, sich in einem B- oder Underground-Movie (tja, was ist es denn nun?) die erzhysterische Seele aus dem Leib grölen oder mit besoffenem Charme eine Kneipe aufmischen. Sonstige Stars: der manisch-kriminelle Walter Kohut, und der in seinem Enthusiasmus weit über seine Minutenrolle ausufernde Alfred Edel, als schwadronierender, wild fabulierender Chefredakteur. Manchmal, nämlich wenn er sein „Problembewusstsein“ verliert, hat „Supermarkt“ schon einen Hauch von Schlingensiefs Anarchopubertätsfilmen, immerhin manchmal …

Sabah

(CAN 2005, Regie: Ruba Nadda)

Unfreiheit in Permanenz
von Andreas Thomas

Was mag Arsinée Khanjian („Felicia, mein Engel“, „Exotica“), diese intelligente kanadische Schauspielerin, wohl dazu gebracht haben, die Sabah im gleichnamigen Film zu spielen? Konsumentenfreundlich wird darin geschildert, wie Sabah, eine …

Was mag Arsinée Khanjian („Felicia, mein Engel“, „Exotica“), diese intelligente kanadische Schauspielerin, wohl dazu gebracht haben, die Sabah im gleichnamigen Film zu spielen? Konsumentenfreundlich wird darin geschildert, wie Sabah, eine unverheiratete vierzigjährige Kanadierin mit syrischen Wurzeln, die ihrer Familie und deren rigider Tradition verpflichtet ist, sich in einen Nichtmoslem verliebt. Weil das ihrem Bruder, der nach dem Tod des Vaters argusäugig das patriarchische Zepter über den Vierfrauenhaushalt schwingt, kaum gefallen würde, trifft sie Stephen heimlich im Schwimmbad, im Fast Food-Restaurant, nascht sie heimlich ihren ersten Schluck Rotwein und ihren ersten Kuss.

Der Katalog muslimischer Gebote – soviel zeigt der Film, und Khanjian so differenziert, wie es ihre frugale Rolle zulässt – ist für die Muslimin im freizügigen Westen Unfreiheit in Permanenz. Nur die Freuden des Bauchtanzes dürfen die Damen des Hauses in selbigem ungetrübt und feminin bekleidet auskosten. Draußen aber bleiben Haare, Busen und Gelüste verborgen.

Die Frau, der Mann und der Koran. Wie von der Stange erteilt „Sabah“ Lektionen, wie das (nicht) funktioniert und vergisst dabei fast, dass er auch von Menschen handelt. Mit der ins allzu Heitere gezwungenen Flachheit seiner Figuren (welche der Glätte der Bilder entspricht, die mit der Ästhetik nachmittäglicher TV-Formate wetteifert) konterkariert der Film das eigene aufklärerische Ansinnen, und seine finale Konfliktlösung ist unglaubwürdig einfach und seltsam konziliant. Davon, dass Frauen in ähnlichen Situationen mit ihrem Leben bezahlen, will der Film nichts wissen. Der anfangs bedrohlich autoritäre Bruder entpuppt sich plötzlich als ein netter, aber „Sabah“ soll auch nur nette Unterhaltung sein – oder starrsinnigen Familienoberhäuptern Wege einer liberaleren „Familienpolitik“ aufzeigen?

Die Geschichte der „Sabah“ bleibt irgendwo zwischen Tradition, Problem, Komik und Bauchgewackel stecken. Vielleicht hat der syrisch-kanadischen Regisseurin Ruba Nadda deren wirkungsmächtige melodramatisch-popige Fusion, wie sie Bollywood-Produktionen immer wieder gelingt, vorgeschwebt. Vielleicht fehlten die Mittel, oder es fehlte der Mut: Nach dezenten Emanzipationsansätzen jedenfalls landet die Frau Sabah erneut in einem neuen Frauchenschema – und der Film „Sabah“ im verharmlosenden Konsens. Bunte, lackierte Bilder – und doch ist Arsinée Khanjian das Einzige, was glänzt. Warum nur hat sie dieses Klischeevehikel mit ihrer Vielschichtigkeit beehrt? Etwa weil ihr Gatte Atom Egoyan der Produzent war? Und was hat dann Atom Egoyan, diesen intelligenten kanadischen Regisseur, dazu gebracht, diesen Film zu produzieren?

Barton Fink

(USA 1991, Regie: Joel Coen)

Glauben Sie, David Lynch ist der einzige Regisseur, der uns das David-Lynch-Gefühl geben kann?
von Andreas Thomas

Selten haben die Brüder Joel und Ethan Coen, die Meister der cineastischen Verweise und Stile, ihr Interesse so konzentriert einem Thema gewidmet wie in „Barton Fink“. Vielleicht naheliegend, wenn der …

Selten haben die Brüder Joel und Ethan Coen, die Meister der cineastischen Verweise und Stile, ihr Interesse so konzentriert einem Thema gewidmet wie in „Barton Fink“. Vielleicht naheliegend, wenn der Film doch vom kleinen Autor in der großen Filmfabrik handelt. Dabei herausgekommen ist so etwas wie ein travestierter Lynch in Gestalt einer Satire auf das Genre „Kulturkritik“, einer der wenigen Coens, deren Kerngehalt durch die manischen Verspieltheiten der Coens nicht spürbar überspielt wird und die trotzdem ein Kabinettstückchen hintersinniger Vieldeutigkeit bleiben.

Als zu Beginn der Vierziger Jahre der naiv-idealistische Barton Fink (John Turturro in seiner besten Rolle) mit einem Theaterstück über „den kleinen Mann“ seinen Durchbruch am Broadway erlebt hat, folgt er zögerlich einem Ruf nach Hollywood, wo er vom Filmtycoon Jack Lipnick (Michael Lerner) als Drehbuchautor engagiert wird. Sprach- und ratlos entnimmt der Bühnenautor (der offenbar noch kein Kino von innen gesehen hat) dem Redeschwall des Produzenten, dass er das Buch zu einem profanem Ringerfilm zu schreiben habe.

Getreu seinem Vorhaben, sich nie von dem „Mann auf der Strasse“ zu entfernen, mietet er sich ein im „Earle Hotel“, dessen ominöser Wahlspruch „A day or a lifetime“ lautet. In der billigen Absteige, auf deren düsteren und zugigen Fluren nur die Schuhe der Gäste, aber nie deren Besitzer zu sehen sind, macht er Bekanntschaft mit dem dicken Versicherungsvertreter („Ich verkaufe Seelenfrieden“) Charlie Meadows (John Goodman in seiner besten Rolle), weil ihn dessen verzweifeltes Lachen im Nebenraum vom ohnehin stockendem Arbeiten abhält.

Turturro und Goodman tragen den kammerspielartigen Film über weite Strecken mühelos alleine. Neben ihnen agieren schwitzende Wände, die unschöne und obszöne Resonanzen transportieren und deren Tapeten sich in der permanenten Hitze abschälen, eine Mücke, die sich nachts von Finks Blut ernährt, die Schreibmaschine, die nicht schreiben will, und das alles aufsaugende Weiß des Papiers, das so leer ist wie Bartons Kopf. Dahinter: Bartons ewiger Blickfang: das gerahmte Foto einer Strandschönheit, den Blick aufs Meer gerichtet.

Auf der Studiotoilette trifft Barton einen (nachdem der sich ausgiebig übergeben hat) vollendet höflichen Alkoholiker, der sich als William P. Mayhew (John Mahoney), der „beste lebende Schriftsteller“ den Barton kennt, entpuppt. Auch er ist inzwischen einer jener zahlreichen Filmautoren, die man in Hollywood trifft, wenn man nur einen Stein wirft, wie Produktionsmanager Ben Geisler es ausdrückt,- mit dem Zusatz: „Aber tun sie mir einen Gefallen: Werfen sie hart!“ Und auch Mayhew leidet unter Schreibhemmung.

Das Personal in „Barton Fink“ weist Ähnlichkeiten mit Figuren der früheren Hollywoodgeschichte auf. So scheint der Studioboss Lipnick ein Mix aus den Produzenten David Seltznick und Louis B. Mayer, Chef der MGM-Studios, zu sein, und William Mayhew erinnert an William Faulkner, dem Buchautor u.a. zu einem der bekanntesten Humphrey-Bogart-Filme: „The Big Sleep“ („Tote schlafen fest“).

Isoliert in Bungalows mit Namensschildchen und der Gattungsbezeichnung „Autor“ an den Türen fristet die literarische Elite der USA in Hollywood ihr Dasein als Galeerensträflinge. Haben sie einmal sich und ihr Talent den Studios verkauft, bleiben sie „ for a lifetime“ unter Vertrag. Audrey Tayler (Judy Davis), die aufopferungsvolle („Ich habe ihm immer seine Drehbücher geschrieben.“) Sekretärin und Lebensgefährtin des derangierten Mayhew versucht, Barton in seiner Not zu helfen,- am nächsten Morgen soll er Lipnick ein Treatment präsentieren. Es bleibt aber nur bei der ersten (sexuellen) Hilfe, denn Barton erwacht neben ihrer Leiche – und kann sich an nichts erinnern.

Fink, inzwischen ein personifizierter Nervenzusammenbruch, hat jetzt nur noch einen Freund, den „kleinen Mann“ von Nebenan, den kräftigen Charlie, der (nachdem auch er sich ausgekotzt hat) weiß, was zu tun ist. Charlie verschwindet mit der Leiche – Barton ist unfähig, zu fragen, wohin – und kehrt zurück, um Barton um einen einzigen Gefallen zu bitten: Er müsse wieder auf Dienstreise, und er wolle Barton etwas anvertrauen: „Schon merkwürdig, wenn alles, was das Leben eines Menschen ausmacht, in einen kleinen Karton passt, was?“ Fink stellt das geschnürte Päckchen neben die Schreibmaschine. In einem einzigen Marathon hämmert Barton nun das Drehbuch in die Maschine. Er ist der Meinung, etwas Besseres habe er noch nie geschrieben. Da aber Lipnick ganz anderer Meinung ist, erklärt er Fink kurzerhand, dass er nie wieder ein Drehbuch abliefern dürfe, aber alles, was er fortan schreibt „für immer Eigentum von Capitol Pictures“ und unter Verschluss bleiben werde.

Nichts ist, wie erhofft. Das „künstlerisch Wertvolle“ gilt natürlich in Hollywood nichts, der eingebildete („Auch ich bin ein Arbeiter, mein Werkzeug ist mein Verstand“) Barton wird von einem Matrosen umgehauen, weil er seine Tanzdame nicht freigeben will, aber nun die „Navy“ dran ist, und der nette Mann von Nebenan, Charlie Meadows („Manchmal vergesse ich mich wirklich!“), ist der gesuchte Serienmörder Karl Mundt, auch „Mörder-Mundt“ genannt. Mit den Worten „Ich zeig’ euch den wahren kreativen Geist!“ und „Heilhitler“ entflammt Charlie das Hotel. Ein Streichholz braucht er nicht. Symbolträchtige Überzeichnungen kippen ins reine Symbol. Zeitgleich findet der Eintritt der USA in den 2. Weltkrieg statt, und Lipnick, der sich sofort als Freiwilliger gemeldet hat, hat sich von der Kostümabteilung (wie Göring) eine Phantasieuniform schneidern lassen, bis die offizielle Uniform eintrifft. Für Lipnick ist alles, auch der Krieg, ein Film, und jede Handlung eine Pose: Hollywood.

Nur Charlie, der Verkäufer von Seelenfrieden, kennt die „kleinen Leute“, und zwar so gut, dass er sie von ihrem traurigen Dasein erlöst, indem er sie buchstäblich von ihren Köpfen befreit. Barton Fink, der selbsternannte Erfinder des „Theaters der Wahrheit“ kann die Wahrheit nicht kennen, weil er nie zugehört hat, wenn Charlie, mit dem Flachmann winkend, ihm anbot: „Ich könnte dir Geschichten erzählen …“ Hollywood verkennt den Künstler, aber der Künstler selbst ist sich zu schade für die Realität. All das ist eigentlich Stoff eines gesellschaftskritischen Stücks, aber die Coens kennen das tragische Genre im Kino, sodass sie Spass daran haben, dessen kalkulierte Methoden mit skurillen und ironischen Überzeichnungen zu unterlaufen und zu demaskieren.

So sehr den Coens – zum Teil sicher berechtigt – immer wieder postmoderne Beliebigkeit nachgesagt worden ist, in „Barton Fink“ dient die Beherrschung der Methode, über die gelungene Kopie hinaus, der Wahrheitsfindung, denn, wenn sie hier Maskierungen hervorheben, heben sie sie auch ab von dem Rest, der Substanz. In ihrer Geschichte über die ausbeuterischen Praktiken des wahren Hollywood steckt zugleich auch die Enttarnung des klischeehaften Hollywoodpathos. Das macht die Satire „Barton Fink“ auf doppelte Weise aufklärerisch. Neben Robert Altmans „The Player“ und dem (natürlich rätselhaften) „Mulholland Drive“ von David Lynch ist „Barton Fink” eine der beißendsten Abrechnungen mit Hollywood und dessen Ausdrucksmitteln. Er ist ein kritisch-vernarrter Blick auf das Produkt und ein böser Blick in das Getriebe der Maschine.

Wenn Lipnick den Satz: „Glauben Sie, Sie sind der einzige Autor, der uns das Barton-Fink-Gefühl geben kann?“, ausspricht, dann bringt er (im Film vierzig Jahre verfrüht) eine Kernthese der Postmoderne auf den Punkt. Der „Tod des Autors“, Dauerthema der postmodernen Literaturwissenschaft, in „Barton Fink“ wird er uns plastisch vorexerziert. Jeder Stil ist schon einmal dagewesen, und alle Kunst bedient sich aus dem Fundus des Vorhandenen. Autonome Originalität und Individualität sind im Jargon der postmodernen Theorie illusionär. Hat Lipnicks Satz im Film noch einen zynischen, da vom Raubtierkapitalismus diktierten, Beiklang, wird er von den Coens selbst mit entwaffnender Beiläufigkeit filmisch bewiesen. Sie kopieren und persiflieren nicht nur das „sozialkritische Drama“, genüsslich weiden sie auch die Bildersprache eines David Lynch aus. Wenn die Kamera in „Blue Velvet“ in ein abgeschnittenes Ohr taucht und es als Pforte zur Unterwelt enthüllt, folgt sie in „Barton Fink“ dem Weg des Erbrochenen ins alles verschlingende Abflussrohr. Offen bleibende Fragen, surreale Elemente, aberwitzige Anspielungen, regen, wie bei Lynch, die Hirntätigkeit an. Der Verdacht eines verborgenen Codes nagt am Zuschauer, und wenn er nicht ganz zu knacken ist,- umso besser. Das Geheimnis, das Ungesagte, gibt einem Film oft dessen größte Kraft, solange sich diese Methode nicht zum Selbstzweck macht. Und „Barton Fink“ ist so reich an treffenden Reflexionen, dass der Verdacht auf fehlende Substanz kaum Nahrung findet. Und doch bleibt der Zuschauer irritiert, ahnend, dass vielleicht selbst die geheimnisvolle Symbolsprache nicht von der beissenden Coenschen Ironie verschont geblieben ist. Aber ist der Nachweis einer Finte kein Nachweis?

Barton, nun auf ewig Eigentum der Filmgesellschaft, trägt seine letzte Habe an den Strand: das Paket. Vor ihm eine Strandschönheit. Sie fragt: „Was ist in dem Karton?' Er antwortet: „Ich weiß es nicht.' Die Frau wendet sich zum Meer, die Szene wird zu der auf dem Foto hinter der Schreibmaschine. Der Karton ist genau kopfgroß. „Barton Fink“ birgt eine schaurig-amüsante, doppelbödige Verrätselung mit exakt wünschenswerten Proportionen …

Der Mann, der über Autos sprang

(D 2010, Regie: Nick Baker-Monteys)

Von der heilenden Kraft des Geistes
von Wolfgang Nierlin

„Es gibt kein Nichts. Nichts gab es nie“, sagt eine Stimme aus dem Off, während hinter wallenden Nebeln die Sonne im Zeitraffer aufgeht. Die Evolution des Geistes findet ihren visuellen …

„Es gibt kein Nichts. Nichts gab es nie“, sagt eine Stimme aus dem Off, während hinter wallenden Nebeln die Sonne im Zeitraffer aufgeht. Die Evolution des Geistes findet ihren visuellen Resonanzraum in einer mystischen, leicht sentimentalen Naturbetrachtung und einer etwas einlullenden Musik, die das Unergründliche in anschwellenden Wiederholungsschleifen beschwört. Dabei beansprucht Regisseur Nick Baker Monteys in den Anmerkungen zu seinem Spielfilmdebüt „Der Mann, der über Autos sprang“, die Diesseitigkeit des Übersinnlichen im „Glauben an die Wunder, denen wir jeden Tag in unserem Leben begegnen“. „Der Geist kann alles“, heißt es deshalb gleich zu Beginn seines Roadmovies über jene Kraft, die imstande sein soll, die Gesetze der Natur zu überwinden.

Verkörpert wird diese spirituelle Energie von Julian (Robert Stadlober), einem jungen, in sich ruhenden Mann mit festem Blick und hellseherischen Fähigkeiten. In Berlin bricht er aus einer psychiatrischen Klinik aus, um sich in schwarzem Anzug und weißem Hemd, ohne Proviant und Geld auf einen Fußmarsch nach Tuttlingen zu begeben. Überzeugt von der heilenden Kraft des Gehens, will er durch seinen Pilgergang eine Energie erzeugen, die den herzkranken Vater seines besten Freundes gesund machen soll. Weil dieser knapp 20-jährig tödlich verunglückte und Julian daran eine Mitschuld trägt, ist seine asketische Wanderung zugleich Buße und der Versuch einer Wiedergutmachung.

Inspiriert von Werner Herzogs Gewaltmarsch von München nach Paris im Winter 1974, mit dem der bekannte Filmemacher die Krankheit der Filmhistorikerin Lotte Eisner zu bannen suchte, und verglichen mit den Strapazen, die seine außerordentliche Reise bedeutete (nachzulesen in seinem Tagebuchbericht „Vom Gehen im Eis“), ähnelt Julians Trip eher einem entspannten Spaziergang durch eine friedliche Landschaft. Der sanfte, innerlich starke Mann wirkt wie ein moderner Heiliger mit einer Mission, der unterwegs und entgegen der Absicht nach und nach eine Art Jüngerschaft auf sich zieht, die sich von seiner geistigen Energie anstecken lässt. Ob die unter ihrem Beruf leidende Assistenzärztin Juliane (Jessica Schwarz), die von ihrer Familie gebeutelte Ruth (Anna Schudt) oder auch der abgehalfterte Bulle Jan (Martin Feifel), der Julian zurückbringen soll: Sie alle hadern mit sich selbst und fliehen ihren Alltag auf der Suche nach einer Veränderung ihres festgefahrenen Lebens. Im Gleichschritt nehmen sie sich eine märchenhafte Auszeit, die eine neue Perspektive ermöglicht und schließlich mit skurrilem Witz, gutgemeinter Lebenshilfe und einer Prise Kitsch in einem versöhnlichen Ende mündet.

Agnes und seine Brüder

(D 2004, Regie: Oskar Roehler)

Ridicule is nothing to be scared of
von Andreas Thomas

„Guten Tag. Ich hätte gerne die Nummer von Familie Hampel auf Rügen. Hampel, wie „Hampelmann“. —— .H – A – M – P – E – L., ——, – Ja, …

„Guten Tag. Ich hätte gerne die Nummer von Familie Hampel auf Rügen. Hampel, wie „Hampelmann“. —— .H – A – M – P – E – L., ——, – Ja, Hampel, wie „Hampelmann“. Hab’ ich doch gerade gesagt …“ Dieses ist ein kleiner, nebensächlicher Dialog des Films „Agnes und seine Brüder“, ein Mini-Detail, das schon mehr bundesrepublikanische Wirklichkeit enthält als manch anderer kompletter deutscher Film der letzten Zeit. Wie oft haben wir es mit schicken und arroganten Hightech-„Dienstleistern“ zu tun, die uns mit schon etwas sadistisch anmutender Unaufmerksamkeit und programmatischen Bearbeitungsfehlern bedienen? Wie sehr steht so ein Alltagsgespräch nicht schon für die Stimmungslage einer ganzen Nation? Für das unterschwellige niederträchtige Grummeln einer so depressiven wie destruktiven Kollektivpsyche?

Pars pro Toto. Der hoch gelobte („Die Unberührbare“) und heftig kritisierte („Der alte Affe Angst“) Regisseur Oskar Roehler hat es erkannt und eingebaut. Und „Agnes und seine Brüder“ ist voll mit solch richtigen kleinen Details. Atome, aus denen die Charaktere und die Welt vom transsexuellen Agnes und seinen Brüdern Hans-Jörg und Werner gemacht sind. Von drei sehr unterschiedlichen männlichen Strategien des Überlebens in den 00-er Jahren des 21. Jahrhunderts handelt Roehlers Film.

Für Agnes (überirdische Präsenz: Martin Weiß), vormals Martin, besteht die Lösung der Probleme der soziotypischen maskulinen Identität schlicht im Abstreifen derselben. Ein klassischer misfit ist er, er hat zwar einen Freund, doch wenn er sich als schillernde Disco-Tänzerin auslebt und damit Geld verdient – und dabei ans Cabaret der Zwanziger Jahre und an die Travestien des 70er-Jahre-Glamrock erinnert – vereint er damit zu viele unbürgerliche Eigenschaften, ist er zu sehr Nonkonformist, Träumer und Künstler, als dass das für seinen malochenden Partner tolerabel sein könnte.

Hans-Jörg (Moritz Bleibtreu) ist Bibliothekar an einer Universität. Sein bester Freund ist seine Sexsucht, die in dem Maße anwächst, wie sein Erfolg bei Frauen ausbleibt. So wie er in seinem zerknitterten, hausmeister-bläulichen Sakko durch die vor langbeinigen und vollbusigen Studentinnen nur so strotzenden Bibliothek schnürt, merkt man ihm an, wieviel Folter ihm in seiner Begierde stecken muss.

Werner (Herbert Knaup) ist der einzige der drei, der sich eine vorbildliche Existenz geschaffen hat. Neben dem Eigenheim und der Karriere als „Grünen“-Politiker (Schwerpunkt „Europaweites Dosenpfand“) verfügt der spießige koprophile Hektiker über eine ihn innigst verachtende Gemahlin (Katja Riemann) und zwei Söhne, deren älterer (Tom Schilling) ihm die Position als Liebhaber der Mutter abspenstig zu machen droht.

Das einzige, was die Brüder wirklich gemeinsam haben, ist eine skurrile Vaterfigur. Günther (Vadim Glowna), mit seinem wallenden schlohweißen Haar, seinen Goldkettchen und seiner Tarnhose eine Mischung aus schmierigem Zuhälter und Guerillero. Er ist böser deutscher Patriarch, zugleich ein 68er, der mit seinem Vornamen angeredet wird, er kolportiert die Legende, die Mutter sei in Stammheim mit einem Feuerlöscher erschlagen worden („Irreversibel“ lässt grüßen) und als würde das noch nicht reichen, war er „Schänder“ der eigenen Söhne – oder nicht? Er steht für eine neuere deutsche Vergangenheit, die genauso wenig bewältigt werden kann, wie die davor – es sei denn mit Gewalt …

Es gibt eine Menge Vorbilder aus Literatur und Film, bei denen sich Roehler unbefangen und freudig bedient hat: Von Woody Allens Filmtitel und filmischem Konzept „Hannah und ihre Schwestern“ bis zu dem sexsüchtigen Bruno aus Michel Houellebeqcs „Elementarteilchen“, von den Selbsthilfegruppen aus „Fight Club“ bis zu einer frech nachgestellten Szene (eine Fellatio, die nur wie eine aussieht) aus „American Beauty“, Anklänge an Altmans „Short Cuts“, vor allem aber mit seinem traurig-zynischen Humor ist „Agnes und seine Brüder“ manchmal sehr nahe an Todd Solondz’ „Happiness“ oder „Storytelling“. Viel neueres amerikanisches Kino wird zitiert oder imitiert, aber auch Affinitäten zum Spanier Almodóvar oder zum Franzosen Ozon sind spürbar, speziell zu dem anarchischen Experimentierer und Provokateur Ozon aus seinen Filmen „Sitcom“ und „Tropfen auf heiße Steine“. Bezeichnenderweise entstand das Buch zu letzterem Film aus dem Nachlass R.W. Fassbinders, Roehlers (und Ozons) geistigem Vater. Denn inspiriert wurde Roehlers Figur Agnes laut eigenem Bekunden durch Fassbinders „In einem Jahr mit 13 Monden“,- auch ein Film über das Schicksal eines Transsexuellen.

Hauptmerkmal all dieser bei Roehler versammelten Versatzstücke, Quellen und Methoden ist, dass sie in erster Linie „undeutsch“ (auch Fassbinder war ein untypischer Deutscher, obwohl er deutsche Filmgeschichte geschrieben hat) sind, denn mit der Fähigkeit, über Bitterstes mit treffsicherem schwarzen Humor zu spotten, sind die Deutschen seltenst ausgestattet. Dafür praktizierten sie in den 90ern Belangloses wie die Beziehungskomödie, und gerade aus diesem Fundus hat sich Roehler seine Schauspieler entliehen – mit, wie weiland bei Hannelore Elsner in „Die Unberührbare“, verblüfffendem Ergebnis: Er geht gemeinsam mit Herbert Knaup, Katja Riemann, Moritz Bleibtreu, Til Schweiger, ja sogar noch Martin Semmelrogge, den er wohl zwischen zwei Knastaufenthalten engagiert hat, hinein in ihre Standardrollen, durch sie und ihre Parodien hindurch, um vermittelst einer Verabsurdierung zu etwas Neuem zu gelangen. Indem er sie bewusst als mutierte Zitate ihrer Klischees einsetzt, indem sie ihre Rollen zu Tode spielen, können sie sich davon befreien, was ihrer dankbar entfesselten Könnerschaft (wann hat man jemals einen so nuancenreichen Bleibtreu, wann eine so bösartig-witzige Riemann gesehen?) und Spielfreude anzumerken ist.

Allein dafür muss man diesem Film danken. Man muss ihm danken für den Mut zum Klischee und zum Brechen desselben, für den Mut, aktuelle deutsche Verzweiflung als totale Nullperspektive und dennoch als etwas Komisches zu zeigen, in seinem Mut, da, wo alle anderen einen Schritt zu kurz gegangen sind, einen Schritt zu weit zu gehen, auch wenn das vielleicht peinlich werden kann. „Agnes und seine Brüder“, und das ist das Schönste an ihm, handelt, bei allem, was er auch zugleich ist, Satire, schwarze Komödie oder Melodram, Plagiat, Kopie oder kräftig fremdinspirierte Innovation, der Film handelt wirklich von der Bundesrepublik Deutschland. Deutschland als filmische Allegorie, wer nach Fassbinder hätte sich so etwas zugetraut? Vor allem deshalb hat Roehler mit Fassbinder zu tun, und nicht nur, weil Fassbinders Margit Carstensen in ihrer Nebenrolle den kaputtesten und hellsichtigsten David Bowie aller Zeiten, den seiner Berliner Jahre, wieder zum Leben erweckt hat …

Drei Affen – Nichts hören – nichts sehen – nichts sagen

(TR / I / F 2008, Regie: Nuri Bilge Ceylan)

Dilemma Menschsein
von Andreas Thomas

Eine schmale Wohnung mit Blick aufs Meer. Aber die dreiköpfige Familie ist nicht im Urlaub, sie lebt hier und das in mehrfach beengten Verhältnissen. Der Vater ist Chauffeur eines bekannten …

Eine schmale Wohnung mit Blick aufs Meer. Aber die dreiköpfige Familie ist nicht im Urlaub, sie lebt hier und das in mehrfach beengten Verhältnissen. Der Vater ist Chauffeur eines bekannten Politikers, welcher nachts am Steuer einschläft und dabei einen Menschen tötet. Um seine Karriere nicht zu gefährden, verspricht er dem Chauffeur eine gute Summe Geldes, wenn er sich für den Unfall schuldig bekennt und statt seiner ins Gefängnis geht. Die Einwilligung des Vaters und der Druck des auferlegten Schweigens aber lösen Kräfte der Zersetzung frei, denen sich auch die Ehefrau und der erwachsene Sohn nicht entziehen können. Sie beginnt mit dem feigen Politiker ein Verhältnis und ihr Sohn, als er das bemerkt, verliert seine ohnehin labile Fassung. Drei Leben sind durch einen Akt der Korrumpierbarkeit aus ihren Bahnen geworfen.

Wie erwartet, vernachlässigt der türkische Regisseur Nuri Bilge Ceylan, der mit Filmen wie „Uzak – Weit“ (2003) oder „Iklimler – Jahreszeiten“ (2006) internationale Aufmerksamkeit weckte, in seinem neuen Film, für den er in Cannes die Palme für die beste Regie erhielt, die kriminologischen Aspekte der Erzählung gegenüber einer intensiven Studie des Geflechts fataler Leidenschaften und Abhängigkeiten, die durch eine Lüge freigesetzt werden können. Seelische Untiefen und innere Widersprüche scheinen die Protagonisten zu beherrschen, aus jeder Handlung folgt eine neue Verwicklung und Einschränkung, ein weiterer Schritt in das Desaster.

Dem Regisseur geht es nicht um Motivationsforschung. „Drei Affen“ erörtert dieses auf beinahe nur seine drei Hauptpersonen beschränkte, aber Allgemeingültigkeit beanspruchende, Dilemma Menschsein auf geradezu antipsychologische Weise, indem er lediglich die Kamera in Gesichter schauen lässt, wenn es sein muss, minutenlang, um ihnen und ihren Unberechenbarkeiten ohne Antizipation Zeit, Raum und Wirkung zu lassen. Latente Zerstörung, gefasst in fast entfärbte, streng und klar durchkomponierte Bilder. Ein so pessimistisches, sich Deutungen entziehendes Gemälde, kann zur Folter werden, vielleicht aber auch zum Test, wieviel vorsprachliche Menschen-Wirklichkeit man ertragen kann, bevor man sich in die Weltbilder-Kuschelecke trollt. Wenn auch „Drei Affen“ so manche Nachvollziehbarkeiten versagt, so schenkt er doch die Freiheit der undirigierten eigenen Wahrnehmung. Und ganz so, als wäre er ein großer Film, hinterlässt er ein Bild, das sich einbrennt: Hier steckt die Familie in ihren schmalen drei Zimmern, in ihrem selbstgebauten Gefängnis, und nur kurz dahinter liegt – unerreichbar – der große Horizont mit dem Meer.

Epidemic

(DK 1987, Regie: Lars von Trier)

Mentaler Flux
von Andreas Thomas

Zum Anlass der deutschen Erstaufführung eines Frühwerks von Lars von Trier am 12.05.2005 1987, als Lars von Trier noch nicht berühmt, aber schon berüchtigt war, drehte er einen Film, welcher …

Zum Anlass der deutschen Erstaufführung eines Frühwerks von Lars von Trier am 12.05.2005

1987, als Lars von Trier noch nicht berühmt, aber schon berüchtigt war, drehte er einen Film, welcher das Publikum ratlos und die Kritik verärgert zurückließ. „Epidemic“ (nach dem Aufsehen erregenden „Element of Crime“ [1984] und vor dem größeren Durchbruch „Europa“ [1991]), der zweite Teil von Triers „Europa“-Trilogie, ist bis heute eines der sperrigsten Trier-Werke, aber auch eines, das schon viel über seinen Autor erzählt, über sein stets ironisch gebrochenes, düsteres Weltbild und über sein Selbstverständnis als Regisseur und Künstler.

Beinah schon im Dogma-Stil beginnt dieser mit sparsamen Mitteln produzierte zweite Triersche Europa-Exkurs mit dem computergemäßen Scheitern zweier junger und ziemlich cooler 80er-Jahre-Intellektueller an ihrem Drehbuch. Niels (Niels Vørsel) und Lars (Lars von Trier) haben all ihr Vertrauen in eine Floppy-Disk gesteckt. Die Auftragsarbeit „Die Hure und der Kommissar“ sollte ein 120-seitiges, gewinnbringendes Drehbuch werden, doch beim Ausdruck ist auf der Diskette nichts mehr, außer der verstümmelten Überschrift. Zu cool gewesen vielleicht, egal, Schwamm drüber. Man lacht, man trinkt ein Bierchen, man raucht noch eine mehr, aber eigentlich, so Kollege Lars, habe das Drehbuch auch keine wirklich gute Szene gehabt. Bohemiéns in ihrer Küche. Gelassen, kaum getrübt ob ihres voraussichtlichen Scheiterns.

Plan B kommt aus der hohlen Hand: „Epidemic“, eine ganz lose Idee, so aus dem Nichts, über „Pest“ und dergleichen. Aber plötzlich sind wir in der Ideenküche der Macher Trier und Vørsel, die uns später „Europa“und die TV-Serie „Geister“ präsentieren werden, Filme, die nur aus dem freien mentalen Flux heraus das werden konnten, was sie wurden. Und plötzlich sind wir nah dran am Hirn eines von Trier, der im Film sich selbst und seine eigene Hauptfigur Dr. Mesmer spielt, den Arzt mit der bescheidenen Absicht, Europa vor der Pest zu retten.

Auf zwei parallelen Ebenen handelt ab nun der Film, in grobkörnigem Schwarzweiß zeigt er uns die Autoren bei der Arbeit, bei Recherchen für das Script „Epidemic“, zu denen auch eine Kurzreise durchs deutsche Ruhrgebiet und ein Besuch bei Udo (Udo Kier) in Köln gehören. Und er zeigt uns in hochaufgelösten Schwarzweiß-Einschüben das Endprodukt, Szenen aus dem geplanten Film, eine finstere Stil-Melange aus Filmen von Carl Theodor Dreyer und Andrej Tarkowskij, unterlegt mit der Tannhäuser-Musik von Richard Wagner.

„Wag Tann“, erklärt Lars beim Entwickeln des Storyboards, sei die „Bakterie, die immer näher kommt“. Nur seltsam, dass Wagner auch manchmal dann erklingt, wenn wir bei den Autoren verweilen. Ein raunender, allwissender Kommentator hat es dem Zuschauer früh zugeraunt: Durch einen merkwürdigen Zufall breitet sich auch im Dänemark von Lars und Niels ein rätselhafter Virus aus, aber „Leute, die an Ideen arbeiten, leiden sowieso oft an Kopfschmerzen.“

Der Film-im-Film beginnt, den Film zu infizieren. Ähnlichkeiten zwischen Arzt/Wissenschaftler und Autor/Regisseur bieten sich an. Beide, der Pest-Experte Dr. Mesmer und die „Epidemic“-Autoren Lars und Niels, beschwören das Unglück dadurch herauf, dass sie sich überhaupt damit beschäftigen. „Natürlich ist es der Arzt, der die Krankheit verbreitet. Ohne ihn und seinen Idealismus gäbe es gar kein Problem“, sagt Lars im Film und wird nicht müde, sich weiter in die grausige Materie zu vertiefen.

„Epidemic“ trägt, trotz seiner manchmal improvisiert wirkenden Beiläufigkeit, schon Vieles in sich, was die späteren Filme von Lars von Trier ausmachen wird. Im Keller des kopenhagener „Königlichen Reichskrankenhauses“, das Trier und Vørsel mit der Fernsehserie „Geister“ weithin bekannt gemacht haben, wohnt Lars (und der Zuschauer) tapfer einer Sektion an einem jungen Mann bei, als Niels oben, stationär, sich „ein paar Wucherungen“ hat entfernen lassen. Ganz ähnlich wie in „Geister“ auch der schwarze Humor. Die alte medizinische Beschreibung zweier völlig getrennt aus Pest-Beulen austretender, verschiedenfarbiger Eiterflüssigkeiten erinnert Niels sofort an die Zahncreme „Signal“, welche er als Kind kannte. In Deutschland (natürlich) finden sie eine Tube, die sie freudig aufschneiden, um den Farben auf die Spur zu kommen.

Neben Verspieltheiten, neben Genre-Anleihen (Doku, Splatter, wie auch in „Geister“) gibt es den großen Bogen, die große moralische Frage, und natürlich – die, ziemlich anmaßende, Frage nach „Europa“, nach der europäischen Historie, nach seinem „Geist“, vor allem aber nach dem „Europa-Gefühl“, welches für den Regisseur offenbar zuerst dessen „Deutschland-Gefühl“ ist. Deutschland, das für von Trier gleichermaßen faszinierende und bedrohliche Zentrum Europas, das Aufklärung, Idealismus, Wagner und die Shoah hervorbrachte, nimmt auch im zweiten Teil der „Europa-Trilogie“ einen zentralen Platz ein, und mit und in ihm der „Idealist“, der – wie die Missionare in den Kolonien – den tödlichen Virus selbst verbreitet. Wissenschaft und Fortschritt bringen Unglück und Verderben, aber „Erkenntnis führt zu einem religiösen Ende“, sagt der Lars im Film.

Ein paar Jahre später konvertierte von Trier zum Katholizismus, stellte die 10 Keuschheitsgebote vom „Dogma 95“ auf und drehte seither fast durchweg Filme über Märtyrerinnen. Filme, die auch dem großen Publikum gefallen …

Die Kinder des Monsieur Mathieu

(F / CH 2004, Regie: Christophe Barratier)

Träne Marsch!
von Andreas Thomas

1949. Der Krieg ist vorbei, Frankreich von seinen Unterdrückern befreit, also kann die interne Unterdrückung wieder einsetzen. Schön wärs, wenn „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ auf historische Daten solcher Art …

1949. Der Krieg ist vorbei, Frankreich von seinen Unterdrückern befreit, also kann die interne Unterdrückung wieder einsetzen. Schön wärs, wenn „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ auf historische Daten solcher Art nur einen kleinen Gedanken verschwenden würde, aber seine Protagonisten kommen aus Schubladen gehüpft, von denen wir hofften, dass sie spätestens seit „Der Club der toten Dichter“ aufgrund Klischeeverdachtes endgültig zu bleiben würden. Doch wer sind schon wir?

Eben. Also macht das französische Quotenkino, auf mehr oder weniger französische Weise, das, was das amerikanische Kino macht und kümmert sich einen Dreck um den gebeutelten Filmkritiker: Es produziert Rührung – und das noch nichtmal nach allen Regeln der Rührkunst. Denn ungenau wird die Dramaturgie der kindlichen Bekehrungen realisiert; manche Kritik beging die Sünde, diesen Film in einem Atemzug mit einem Monument des pädagogischen Auftrags wie „Das fliegende Klassenzimmer“ (BRD 1954, Regie: Hoffmann, Drehbuch: Kästner) zu nennen. Was da nämlich zündete und Tränen der jugendlichen Erkenntnis selbst in erwachsene Zuschaueraugen trieb, weil es noch richtig humanistisches Gedankengut war, wird hier doch nur noch müde gestreift, angedeutet und irgendwie vorausgesetzt.

Natürlich gibt es schon lange die Klischees des Schwererziehbaren-, Heim-, und Internatfilms, und weil (angeblich) die Hauptarbeit von Leuten wie Kästner oder meinetwegen Weir schon geleistet wurde, beschränkt man sich heute darauf, dass schon bekannt ist, worum es geht. Die Postmoderne im Kino setzt bekannte Zeichen voraus, die Codes sind interniert, so ist in unseren Köpfen die Vorgeschichte ewiger Internatsleidenschaft, und auf die Ohren des unvorbereiteten Beschauers prallt sowas wie die Wiener Sängerknaben – in Form reichlich harmoniebeflissener Kompositionen eines bescheidenen Pedells, Lehrers, Komponisten, der nur an das Gute im Kind – was hier heißen müsste: Jungen – glaubt. Dass singende Jungenkehlchen sozusagen rückwärts das Gute aktivieren können, das ist ein modernes Märchen, das übrigens auch Filme wie etwa der deutsche „Ghettokids“ (da wird ersatzweise gerapt) auf ganz ähnliche Art zu erzählen versuchen.

Nein! Nicht jeder picklige Teenager ist ein Sänger. Sehr, sehr wenige sind das. Und um deutlicher zu werden: So gut wie keiner ist das – geschweige denn ein „Superstar“ (welch unglückselige Berufung das auch immer sein mag). Ich werde aber den Verdacht nicht los, dass wenn der Film auch laut „Kultur“ und „Herzensbildung“ sagt, er leise sowas wie „Stardom“ und „Casting“ mitdenkt. Wieso singen die sonst so toll? Wieso entwächst aus ihrer Mitte ein berühmter Dirigent? Irgendwie kommt das in Mode. Viele neuere, angeblich sozialpädagogische, Filme meinen – ganz im doofen Sinn von Sendungen wie „Popstars“ oder „Deutschland sucht den Superstar“ -, dass nur, wer über seinen ihm gegebenen Horizont in den Künstlerhimmel (der dem Medienrummelhimmel immer verdächtiger ähnelt) hinauszuwachsen imstande ist, auch so etwas wie eine Lebensberechtigung habe. Wie ungerecht und intolerant! Die Jungs in „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ werden nur deshalb lebendig und liebenswert, weil sie (plötzlich und völlig unvorhersehbar) alle wie die Thomaner singen können. Mit Verlaub, das ist mir einfach zu tischler-, klempner-, metallfacharbeiterfeindlich. Zu viele außergewöhnliche Sänger und zu wenige gewöhnliche Adoleszenten. Zuviel Singsang und zu wenig Keilerei. In dieser platten Logik folgerichtig: Die Erziehung zum Gesang ersetzt die Erziehung zum Menschen, und es wird so getan, als wäre beides dasselbe. Im „fliegenden Klasssenzimmer“ durften die Kinder noch so sein und bleiben wie sie waren, in der individuellen Verschiedenheit lag der Wert jedes Einzelnen. Aber seit Filmen wie „Fame“ und „Der Club der toten Dichter“ schneiden Kinder, die gerne Flugzeuge basteln oder Fussball spielen, im Kino ganz schön schlecht ab.

Muss ich erwähnen, warum der Film auch sonst nicht gut ist? Weil der Internatsdirektor zu stumpf und böse ist, weil ihm die Aufgabe zukommt, für alles Schlechte dieser Gemeinschaft = Gesellschaft zugleich zu stehen – womit jeder ein wenig überfordert wäre. Filme, die die Probleme, an denen alle leiden, immer nur fragwürdigen Personen unterjubeln wollen, sind Märchen im schlechtesten Sinn, weil sie Erkenntnis behindern. Der Direktor des Internats ist zu schlicht zu böse, Monsieur Mathieu ist zu schlicht zu gut. Da ist es gar nicht mehr nötig, den Direktor auch noch mit dem Teufel zu vergleichen, wie Mathieu es tut. Einen Engel gibt es auch. Der Knabe mit dem Engelsgesicht, auch ihn läutert die Schule der Stimmbildung. Das Schwarzweiß ist auf Hundert Meter zu erkennen und es ermüdet. Mit Teufeln und Engeln sind sämtliche Konflikte entpolitisiert und sämtliche inneren Widersprüche bereinigt. Habe ich gesagt: Märchen? Echte Märchen sind ja deshalb okay, weil sie Unbewusstes transportieren, gesellschaftliches, freudianisches, archaisches. Märchen in der Art von „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ sind, so altmodisch und französisch sie auch scheinen, schon reine postmoderne Kapitalismusmärchen, nur noch entliehene Form, die sich kaum mehr an Inhalte erinnert. Mechanische Abfolge von Signalen. Und wer die Signale nicht hört, wer nicht merkt, dass er gerührt ist, den erinnert spätestens das Signal der draufgedonnerten Geigen daran: It’s Rührungstime!

Gastmahl der Liebe

(I 1963, Regie: Pier Paolo Pasolini)

Scheitern als Erkenntnis
von Andreas Thomas

Italien, 1964. Pier Paolo Pasolini produziert, laut Alberto Moravia in diesem Film, etwas, „was die Franzosen cinema verité nennen würden“. 2007 könnte das „Gastmahl der Liebe“ als Doku durchgehen, genauer: …

Italien, 1964. Pier Paolo Pasolini produziert, laut Alberto Moravia in diesem Film, etwas, „was die Franzosen cinema verité nennen würden“. 2007 könnte das „Gastmahl der Liebe“ als Doku durchgehen, genauer: als ein lockerer Interview-Film zum Thema Sexualität, heute in jeder zweiten Infotainment-Fernsehsendung üblich; im erzkatholischen Land Italien von 1964 ein revolutionäres Wagnis.

Nicht so sehr die sexuellen Gepflogenheiten, sondern die Korrelationen zwischen Alltagsnormen und Sexualität waren es, die Pasolini interessierten, also die zwischen rigider Moral, die die Freiheiten der Frauen einschränkt und die der Männer erweitert, und normierter Sexualität. Pasolini kommt auf den bigotten politischen Umgang mit der Prostitution zu sprechen und kitzelt (ohne sich als Schwuler zu outen) die Homosexuellenfeindlichkeit (die ja eigentlich eine Homophobie ist) seiner männlichen Gesprächspartner heraus. Dabei unterscheidet der Witterer eines neuen, nicht mehr wie in Mussolini-Zeiten oktroyierten, sondern nun internalisierten Faschismus in der Art seiner Fragestellungen zwischen den Adressaten aus Nord- oder Süditalien, zwischen Männern, Frauen, oder auch Kindern („Jesus hat das Baby in das Tuch gelegt, und der Storch hat es gebracht“), sowie zwischen Reich und Arm.

Während unter den Jugendlichen der Oberschicht Turins schon so etwas wie sexuelle Aufgeschlossenheit und sexuelle weibliche Emanzipation zu herrschen scheinen, die sich mit der der siebziger Jahren messen lassen könnten, gibt des im armen Süden, in Siziliens Hauptstadt Palermo nur zwei junge Frauen, die überhaupt vor der Kamera über die Themen Sexualität und Ehe-Scheidung zu sprechen wagen.

Männer, die jovial lächelnd erklären, dass sie ihre Frau im Fall der Untreue erdolchen würden, Frauen, die laut aussprechen, dass sie ein Anrecht auf wechselnde Sexualpartner besitzen. Mittelalter und Moderne zur gleichen Zeit im gleichen Staat findet Pasolini vor; und doch ist das „Gastmahl der Liebe“ zunächst nicht mehr als ein unprofessioneller Versuch einer Gesellschaftsstudie, wenn es denn überhaupt eine sein soll. Der unwissenschaftlichen Methoden gibt es zu viele, um einerseits eine annähernde Unverstelltheit der Befragten, andererseits eine annähernd empirische Repräsentativität der Befragung zeitigen zu können: Stets werden einzelne, offenbar willkürlich auf der Straße vorgefundene oder sich erst während des Interviews bildende Gruppen befragt und es ist ein offenes Geheimnis, dass zu einem Thema, über welches selbst heute noch viele nur anonym halbwegs ehrlich Auskunft zu geben bereit wären, im Italien der sechziger Jahre die meisten in der Öffentlichkeit wohl nur das äußern, was vermeintlich von ihnen erwartet wird. Zu diesem Zwischenergebnis (und dieser selbst formulierten Erkenntnis) aber kommt auch Pasolini, und smart fährt er mit seinen Interviews fort, scherzend, improvisierend, eingedenk der Tatsache, dass, wenn er nicht die Wahrheit über die Sexualität und Ehe in Italien, so doch Wahrheiten über gesellschaftliche Rituale des Verschweigens sexueller Tabuthemen erfahren könnte.

So bleibt das „Gastmahl der Liebe“ schließlich ein Spiel der Widersprüche, ein mutiges Unterfangen, naiv begonnen, bewusst naiv fortgesetzt, ein Scheitern und darin zugleich eine Erkenntnis, ein trial mit error und ein Schritt weiter, ein Film über den Italiener im Redefluss, über das Theater des parlare und eine Ahnung von dem, was hinter dem Auftritt liegen mag. Vor allem ist das „Gastmahl“ ein Film über den Humanisten Pasolini selbst, dessen Bedürfnis spürbar ist, direkt mit den Leuten auf der Straße zu sprechen, sie kennen zu lernen, der sein Italien liebt und es doch kulturell verfallen sieht, über den schwulen Kommunisten und Lehrer Pasolini, der, sobald sein Schwulsein öffentlich wurde, nicht nur ein Berufsverbot kassierte sondern auch aus der KPI verbannt wurde, über den Dichter und Regisseur, der beizeiten für sich erkannte, dass er sein Schicksal nicht unabhängig vom Schicksal seiner Mitmenschen begreifen konnte.

Das „Gastmahl der Liebe“ ergänzt die bei Filmgalerie 451 erschienene deutsche DVD-Edition mit den Pasolini-Werken „Accatone“, „Edipo Re“ und „Große Vögel, kleine Vögel“ um eine weitere Chance, das selten bei uns gespielte, fassettenreiche Werk des für den Film „Saló oder Die 120 Tage von Sodom“ zum Skandal-Regisseur avancierten, 1975 ermordeten, Pier Paolo Pasolini wieder neu – oder überhaupt – zu entdecken.

Italienisch für Anfänger

(DK 2000, Regie: Lone Scherfig)

Dogma für Aufhörer
von Andreas Thomas

Aufblende: Das sagenumwobene Zertifikat erscheint: „Dogma No. 5' steht darauf, Schnitt: Das Zertifikat ist gerahmtes Filmutensil an der Wand der Pfarrei und damit der augenzwinkernde Verstoß gegen eines der berüchtigten …

Aufblende: Das sagenumwobene Zertifikat erscheint: „Dogma No. 5' steht darauf, Schnitt: Das Zertifikat ist gerahmtes Filmutensil an der Wand der Pfarrei und damit der augenzwinkernde Verstoß gegen eines der berüchtigten zehn „Dogma-Gebote'. Sollte „Dogma 95' selbst ganz unironisch ein Regelwerk zur Befreiung von Unauthentischem sein, verstößt „Italienisch für Anfänger' aber vor allem gegen das heiligste „Dogma'-Ziel: gegen die Plausibilität seiner eigenen Geschichte.

So aufregend und neu die ersten „Dogma 95'-Produkte seit 1998 in den Kinos anbrandeten, so schnell brachte jene dänische neue 'Nouvelle Vague' nach der Gischt Brackwasser mit sich. War „Das Fest' von Thomas Vinterberg ein vitaler Paukenschlag, „Idioten' von Lars von Trier eine Tragödie getarnt als Alltagsdoku, verflachte die Reihe mit „Mifune' (Soren-Kragh-Jacobsen), um nach der angestrengten aber gut gemeinten Nachwelle „Lovers' des Franzosen Jean-Marc Barr vorerst bei Lone Scherfigs „Italienisch für Anfänger' zu enden, einem Film, der nur noch seicht vor sich hin plätschert.

Eines haben alle Hauptakteure von „Italienisch für Anfänger' gemeinsam, sie sind nicht ganz passgerecht für die Gesellschaft, sie sind kleine „Misfits'.

Olympia, die von ihrem Vater tyrannisierte Bäckereiverkäuferin, ist zu ungeschickt, sie wirft ständig Gebäck und Backbleche herunter. Karen, die Friseurin, verliert ihre Kundschaft, weil dauernd ihre schwer alkoholkranke Mutter (Lene Tiemroth mit der besten darstellerischen Leistung des Films) in den Laden kommt. Hal-Finn, der Kellner, ist einfach zu unfreundlich für seinen Job. Jorgen, der Hotelangestellte, ist nett aber impotent. Ausgerechnet in ihn ist die ein bisschen zu hübsche italienische Küchenhilfe Giulia verliebt. Andreas, der junge Pastor, ist ein wenig zu unsicher und unorganisiert für seinen Job.

Allen gemeinsam ist auch die Sehnsucht nach Italien, zumindest nach einem Italien im Kopf, das, fern vom tristen und so unitalienischen Zuhause, einem Vorort Kopenhagens, für Leichtigkeit, Gewandtheit und Lebensfreude steht, und so trifft man sich in der Volkshochschule, um dort Italienisch zu lernen. Tatsächlich leistet der Kurs „Italienisch für Anfänger' was seine Assoziation verheißt: Er führt die an der eigenen Unzulänglichkeit Verzagten zu einander, er ist ein Klub der einsamen Herzen, den am Ende gar die waschecht italienische Giulia besucht, nur um ihren Romeo zu kriegen.

Aber ganz so einfach ist das Leben nicht. Unsere Helden befinden sich ja schließlich in einem 'Dogma'-Film. Nur gut, dass Lone Scherfig noch daran gedacht und nicht weniger als fünf Todesfälle zwischengeschaltet hat. Nicht, dass diese stattliche Anzahl Verstorbener wirklich nachhaltig die Handlung beeinflussen würde, die lieben und bösen Toten liefern aber immerhin bittere Würze für den Moment, wenn aus Leid Freud und aus Einsamkeit Gemeinsamkeit im Allzumenschlichen werden darf.

Dass „Italienisch für Anfänger' schließlich kein Trauerspiel sein kann, sagt ja schon der Titel, der Programm ist und Klischee, wie man will. Beileibe nicht das einzige Klischee des Films. Dafür ist Karen eine zu aufopferungsvolle Tochter, Olympia ein zu verzagtes, schüchternes Kitz, ihr Vater ein zu tyrannischer Unmensch (usw.), um glaubhaft zu sein, vor allem, weil sich bei kaum einer Figur Tiefe ausmachen lässt, die wiederum über ein Klischee von Tiefe hinaus ginge. Wenn z.B. Pfarrer Andreas vom Tod seiner (auch noch) schizophrenen Frau berichtet, dann bleibt nur, ihm zu glauben, er habe darunter gelitten: Sichtbar oder nachvollziehbar ist seine Trauer nicht, während sein Amtsbruder zu überzeichnet erscheint, wenn er aus Melancholie über den Verlust seiner Frau den Organisten von der Empore geworfen haben soll.

Figuren ohne Tiefenschärfe haben sich auf lange Sicht nicht viel zu sagen, deshalb ist es praktisch, wenn Hormone walten, wo der Gesprächsstoff fehlt. Das führt einmal zum Spontankoitus, ein andermal zum spontanen „Si' des Eheversprechens, wo noch keine zehn Sätze gewechselt sind. Wenn man den Richtigen gefunden hat, dann fühlt man das eben. Nach langem langweiligen Hin und Her feiert Scherfigs Eskapismus für schlichte Gemüter schließlich seine Krönung, sodass es wirklich schmerzt, in Venedig, wo – man traut seinen Ohren dann doch nicht – ein Gondoliere „O sole mio' singt. Vielleicht soll das ja einer jener augenzwinkernden Scherze sein, aber ernst nehmen kann man den Film sowieso nicht – auch nicht als Komödie. „Italienisch für Anfänger' ist wie ein Heimatfilm, dem seine Berge und sein Patriarchat abhanden gekommen sind, und so bilden ersatzweise Krankheit und Tod die Problemkulisse. Sonst ist alles vertreten, die Nettigkeit, die unpolitische Weltfremdheit, das kleine Glück im Privaten, auch die flache Komik hat 50er Jahre-Niveau, etwa wenn z.B. ein gestelltes Gruppenfoto völlig verwackelt.

Nach „Mifune' ist dieses der zweite „Dogma'-Film der zeigt, dass eine Methode kein Garant für Qualität ist. Schon „Dogma Nr.2', von Triers „Idioten', hat sich mit der ‚Volkhochschule‘ beschäftigt. In einer fünfminütigen Szene ist dort das Thema aufs Beklemmendste – da riechbar authentisch in seiner Spießigkeit – und erschöpfend abgehandelt worden. Die 108 Minuten der „Anfänger' dagegen mühen sich um Reputation einer Volkshochschul-Seligkeit, die es so nie gegeben hat, und sie bekommen dafür auch noch den „Silbernen Bären'. Ein Symptom für die Spießigkeit unserer Zeit?

Manderlay

(DK / D / F / NL / SW 2005, Regie: Lars von Trier)

Großkopfert
von Andreas Thomas

Man bekommt fast den Eindruck, von Trier habe mit seinem neuen Film endlich ganz zu sich gefunden. Der Wiedererkennungswert von „Manderlay“ ist so hoch, höher geht’s kaum. Die „Dogville“-Parameter ironisch-allwissender …

Man bekommt fast den Eindruck, von Trier habe mit seinem neuen Film endlich ganz zu sich gefunden. Der Wiedererkennungswert von „Manderlay“ ist so hoch, höher geht’s kaum. Die „Dogville“-Parameter ironisch-allwissender Erzähler, rudimentäre Kulissen eines Planspiels, Kopftuchracheengel Grace und die aus der Dogma- und Vor-Dogma-Phase übernommene Technik der „falschen“ szenischen Anschlüsse (es gibt kaum eine Einstellung, die nicht durch einen Schnitt unterbrochen ist, nach dem die Schauspieler ihren eben angefangenen Satz plötzlich an einer anderen Stelle der Bühne in einer anderen Pose weitersprechen) sind alle wieder da. Nur eine stilistische Kontinuität, so wie diese, hat es in keinem der von Trier-Filme zuvor gegeben. Selbstfindung oder Stagnation eines Regisseurs, der vorher mit jedem Film sein (das) Kino neu erfinden musste?

Trier versetzt auch in „Manderlay“die Methodik des modernen Theaters (der fast leeren Bühne, die uns angeblich nicht vom Geschehen ablenken soll, aber uns ständig daran erinnert, dass hier nicht versucht wird, so etwas wie Authentizität (oder Illusion) abzubilden (oder herzustellen)) mit einem rein filmischen Verfremdungseffekt, dem Jump Cut. Diese zwei antillusionistischen Strategien gekoppelt deklarieren lauthals: Schaut her: Ich wirke wie Theater, aber ich bin nicht Theater, weil ich Film bin, und als solcher schneide ich alles so, wie es mir passt. Der Erzähler aus dem Off aber, wie so oft in seinen Filmen – und in „Manderlay“ ist er so geschwätzig wie nie vorher –, ist identisch mit Autor und Auteur und Regisseur Trier. Wir sollen wissen, dass dieser Film seine literarische Großhirngeburt ist. Und mehr noch als Theater oder Film ist „Manderlay“ eine Erzählung. Das Wort, das naturgemäß das Theater dominiert, bei von Trier dominiert es nun auch den Film, es ist, zwei Jahrzehnte nach von Triers fatalistisch-opulenten Bilderbögen von „The Element of Crime“ oder „Europa“ zur eifersüchtigen Kontrollinstanz geworden über jede cineastische Phantasie, Irritation, Irrationalität, die eventuell unbenennbar sein könnte.

Daraus, dass von Trier ein Kontrollfreak ist, hat er nie einen Hehl gemacht. Um sich und seine privaten Phobien zu bändigen, verordnete er sich Hypnosetherapien und den Katholizismus; um das bedrohlich ausschweifende postmoderne Kino (das er selbst mit einem Film wie „Europa“ perfektioniert hatte) zu bändigen, stieg er auf den Berg, um als Chefideologe und Religionsstifter die zehn Dogma 95-Gebote zu verkündigen. Die Antwort der Filmemacher – die Dogma-Website listet zur Zeit (18.11.05) den 53. Film mit Dogma-Zertifikat auf – mag seine drei Grundhypothesen bestätigt haben: 1. Die Menschheit wünscht und braucht ein festes Regelwerk. 2. Nur durch die kreative Einschränkung gelangt man zur kreativen Freiheit. 3. Lars von Trier ist Gott.

„Manderlay“ nun funktioniert kaum anders als Dogma 95 funktionierte. Die Figuren darin, überwiegend soeben von der Sklaverei befreite „Nigger“, benötigen jemanden, der ihnen sagt, wann sie essen sollen, wann arbeiten, wann schlafen – fehlt nur noch, wie Filme zu drehen. Da trifft es sich gut, dass ihr allwissender Drehbuchautor, Regisseur nicht nur ein ausgeprägtes Mitleid mit der einfachen schwarzen Kreatur besitzt, sondern auch einen ausgeprägten Hang zum sadistischen Besserwissen. Er quält Grace und uns, die Zuschauer, mit plumpen Belehrungen, dass der Mensch sowieso, aber der Neger erst recht unfähig ist, in die Puschen zu kommen, mit der Freiheit überfordert ist und sein begnadeter Körper am besten als Wixvorlage dienen möge, ein Projekt, an welchem Leni Riefenstahl in ihrer Spätphase hart arbeitete.

Natürlich ist man schon wieder auf von Trier reingefallen, wenn man sich von kruder Handlung zu kruden Äußerungen hinreißen lässt, wie ich es gerade tat. Denn natürlich wollte er wieder einmal testen, wie politisch und moralisch löchrig doch unser aller Weltsicht ist. Natürlich will er unsere bequeme und vertraute Logik durchbrechen und uns provozieren, nur wozu oder wogegen, wenn nicht doch am Ende gegen ihn selbst, den Großkopferten, den Oberlehrer und Dichterfürsten? Denn was nach dem zähen, zwanghaft ironische Haken schlagenden, „Manderlay“ im Mittelpunkt des Interesses steht, ist weder die Frage nach „Amerika“, darum ging es Trier sowieso nie (alles Ablenkungsmanöver), aber auch kaum mehr die Frage nach der so genannten „Menschheit“, die ihn ja durchaus eine Zeitlang beschäftigt hat, sondern die Frage: „Was will uns der Dichter damit sagen?“ Die Betonung dabei – und das ist intendiert – liegt auf dem „Dichter“, und das, mir fällt wirklich kein anderes Wort ein, das nervt nur noch.

Montag kommen die Fenster

(D 2005, Regie: Ulrich Köhler)

Vom Ausbleiben der Regel
von Andreas Thomas

Vielleicht hätten sie doch in Berlin bleiben sollen. Aber jetzt haben sie sich für Kassel-Wilhelmshöhe entschieden, ein Häuschen gekauft, in der Nähe seiner Eltern, die sich gelegentlich um die Tochter …

Vielleicht hätten sie doch in Berlin bleiben sollen. Aber jetzt haben sie sich für Kassel-Wilhelmshöhe entschieden, ein Häuschen gekauft, in der Nähe seiner Eltern, die sich gelegentlich um die Tochter kümmern können. Frieder, Arzt, widmet sich Haus und Kind, Nina, Ärztin, ist im Job geblieben, sie arbeitet im Krankenhaus. Sie stehen an der Schwelle zur bürgerlichen Kleinfamilie, eingerichtet haben sie es sich darin noch nicht, so wenig wie in ihrem Haus. Frieder sucht unschlüssig nach einer Lösung für das Fliesenmosaik (zu dunkel?) und der Tapetenwechsel beschränkt sich bisher auf das gemeinsame Freilegen des Verputzes.

Ninas Verschwinden gehört nicht zum Procedere. Sie verschwindet einfach, aus ihrer Ehe, aus ihrer Rolle, vielleicht um zu sehen, was dann noch übrigbleibt, von ihr, von der Welt. Es gibt viele „Vielleichts“ in dieser Skizze eines Alltags und eines Ausbruchsversuchs, vieles, was etwas bedeuten könnte, zwischen den Bildern und in den Dialogen, oder vielleicht gerade nicht. Vielleicht war es allein die Möglichkeit einer Schwangerschaft, eines zweiten Kindes, die Nina zur Revision veranlasst hat, vielleicht auch erst Frieders Pragmatismus („Dann machst du eben einen Test!“), als sie ihm von ihrer ausgebliebenen Periode erzählte. Irgendwie fehlt die Haftung, die Gewichtung, für das in feste Bahnen geratende Leben. Und irgendwie fehlt ein Grund.

Sie nimmt die Autobahn für ihre Flucht. Eine Harzreise per Auto. Von der privatimen Wirklichkeit in die Flüchtigkeit der alle zusammenführenden und auseinander bringenden (im Kino oft unterschätzten) Wirklichkeit des Autobahnnetzes. (Regisseur Ulrich Köhler hatte auch in seinem Langfilmdebüt „Bungalow“ lange Minuten damit verbracht, ein Autobahnkreuz zu studieren, und er hat gut daran getan. Vielleicht gibt es nichts, was unsere Nation heimlich stärker charakterisiert, da dominiert und kontrolliert, als unsere Beziehung zum Auto und zum Autofahren). In den Schlaglichtern der Scheinwerfer Surreales: Auf dem Rasen am Rastplatz inszenieren als Ritter verkleidete Mittelalter-Freaks einen Schwert-Kampf. Die Fliehende passiert Fliehende.

Im Harz. Im Schuppen der abgelegenen elterlichen Ferienhütte erschreckt Nina die Freundin ihres Bruders, denn sie steht da mitten in der Nacht mit der Kettensäge in der Hand, legt sie weg und sagt Hallo. Wieder ein „Vielleicht“, diesmal als dramatische Option. Hatte Nina ihrem Leben eine schmerzhaftere Expressivität verleihen wollen, der Film sein Genre wechseln – oder nur zeigen, dass „Berliner Schule“ kein Genre ist?

Gleich darauf der Anachronismus von Lebensstil und -inhalt: Schwester, Bruder und dessen mehrfach betrogene Freundin hocken zusammen bei einem Joint, wie ihre Eltern bei einem Kaffee, während Rio Reiser noch einmal singen darf: „ … und der lange Weg der vor uns liegt, führt Schritt für Schritt ins Paradies“. Gleichzeitig reden sie über die mehr als 200 Gesetzesnovellen der Bundesregierung. Es tut sich also was, nur man bemerkt es nicht. Zeitgleich und in einem Raum naiv-revolutionäre Utopien, SPD-Politik als Job – und zwei Beziehungsfiaskos. Kurz darauf: Die Freundin kippt um, mal ganz schnell. Eine vorübergehende tiefe Ohnmacht, nichts weiter.

Die Flucht zu geschwisterlicher Freundschaft funktioniert auch nicht, denn am Morgen ist der Bruder ein Verräter (er hat den fassungslosen Frieder in den Harz eingeladen) geworden, und Ton Steine Scherben sind sowieso ein Relikt aus einem anderen, fremden Jahrhundert. (Auch hier drängt der Film nicht zur Erkenntnis; er produziert sie ganz einfach, indem er einen kurzen kulturhistorischen Exkurs und Vergleich anstellt, den man nicht weiter beachten muss, aber kann.)

Nina leiht sich den Norwegerpullover ihres Bruders und radelt davon in den winterlichen Harz. Ein Hotelkomplex, „wie ein Ufo“ steht er da mitten im Forst. Das Presseheft hat Recht. Mit einem roten Geschenkbändchen drum und aus einem vergangenen Jahrhundert (als vor der (architektonischen) „Moderne“ noch nicht mal ein „Post“ klebte und auch Häuser, die für Geld und Wohlstand standen, noch absichtlich hässlich gebaut wurden). Wer’s nicht glaubt, muss den Film sehen. Es wird noch surrealer – obwohl es immer noch real sein könnte. Nina taucht im Hotel unter, vorübergehend, und gerät in ein Event: Ilie Nastase, der Tennisprofi der siebziger Jahre, tritt als Tennisprofi der siebziger Jahre in Anzug und Krawatte zu Spaßmatches an, in einer Halle mit Event-Publikum, Schampus, Kaviar und Technopop. Das Zentrum der Wälder birgt die denkbar größte Künstlichkeit. Soviel zum 21. Jahrhundert und seiner Definition von Romantik. Und soviel über ein paar schön beiläufige Details, derer „Montag kommen die Fenster“ ganz verblüffend viele aufweist.

An Antonioni musste ich denken, an seine Parabeln über die Fremdheit des Menschen mit sich selbst und seine Fremdheit in der Welt, und einen Film habe ich gesehen, von dem ich mich fair behandelt fühlte, weil er nicht mit dramatischen Forcierungen oder Belehrungen vorgeht. Einen Film, der es schafft, mit großer Sorgfalt und Geduld eine Geschichte aus der Gegenwart zu erzählen, deren einzige Zumutung darin liegt, dass sie einem vielleicht bekannt vorkommt.

Zur DVD:
Versehen mit zwei frühen Kurzfilmen des Regisseurs (die noch kaum auf die Spielfilme hindeuten), ein paar Kinotrailern und einer „Presseshow“ mit Kritiken zum Film (u.a. für Französisch-Könner auch, in unübersetztem Französisch, ein gescannter Artikel aus den Cahiers du Cinéma), verfügt die DVD nicht gerade über ein enorm umfangreiches Bonusmaterial. Das Interessanteste – neben dem Film selbst – ist ein im Booklet abgedrucktes Interview mit Köhler und Kameramann Orth aus der Vierteljahrszeitschrift Revolver Heft 16. Aber über das Hirn des Regisseurs kann man auch hier was erfahren.

Taxi Driver

(USA 1975, Regie: Martin Scorsese)

Der verschluckte Mensch
von Andreas Thomas

Awake again I can’t pretend and I know I’m alone And close to the end of the feeling we’ve known How long have I been sleeping How long have I …

Awake again I can’t pretend and I know I’m alone
And close to the end of the feeling we’ve known

How long have I been sleeping
How long have I been drifting alone through the night
How long have I been dreaming I could make it right
If I closed my eyes and tried with all my might
To be the one you need
(Jackson Browne: “Late for the Sky”)

Wie ein U-Boot gleitet das Taxi durch ein Wolkenmeer. Risse im Dampf. Am Grund des Meeres. Die Schluchten des nächtlichen New York. Aus den Kanaldeckeln wachsen Ungeheuer von Nebel. Wassergüsse, Farbschlieren ziehen über die Scheiben. Auf dem Gesicht des Taxifahrers die wechselnden Lichter der Neonreklamen. Die unbeständige, die bunte Haut der Leere. Die Welt zerfließt, bis in ihre psychedelische Auflösung. Ein böser Trip dieses New York, ein giftiger Rausch. Eine Taxi-Fahrt, die nie ans Ziel kommt. Travis Bickle im Labyrinth des Molochs. Der Schlaflose, solange er nicht verrückt wird, träumt bei der Arbeit. Travis träumt von Tieren, die abends erwachen, aus ihren Löchern kommen. Abschaum, der für ihn weggespült gehört.

Ein böser Traum: Dieses New York, das sich prostituiert. Auch Betsy, die Wahlkampfhelferin, tut das, und sie weiß es. Ihre politische Arbeit ist Waschmittelwerbung. Inhalte, Ziele, Ideale spielen keine Rolle. Travis spürt, dass sie unglücklich ist, dass ihrem Leben etwas fehlt. Der Verlorene erkennt Seinesgleichen, doch ist er „Gottes einsamster Mann“, weil er als einziger das Verhängnis zu sehen scheint, das auf der Stadt, dem Land lastet. Travis ist der traurige Rest einer Selbstreflexion. Er ist New York, er ist die USA. Er erlebt den Schmerz in seinem Kopf. Und er kann nicht wegsehen, nicht schlafen.

Was die Politik offenbar aufgegeben hat, treibt ihn noch an: Veränderung. Irgendwie. Er will sich wehren gegen das Siechtum draußen – das Siechtum in ihm selbst. Er wehrt sich auf die einzige Art, die ihm beigebracht wurde. Professionell. Mit Waffengewalt. Travis kommt aus Vietnam und er bringt Vietnam nach New York. Wie sehr sich „Apocalypse Now“ und „Taxi Driver“ doch ähneln! Martin Sheen und Robert De Niro sind unheilbar krank von Anfang an, beide kriegen einen Job, der sie auf einem Boot/Taxi durch eine menschengemachte Hölle führt. Alles da draußen ist gefährlich und unberechenbar. In Vietnam löst ein normaler Gemüsekahn Paranoia aus, in New York ist jeder ein potentieller Verbrecher oder Killer. Worauf Travis auch zielt, überall ist der Feind. Und nirgends.

Der Fernseher, der die Zeit bannt, der die Wirklichkeit in sich hinein saugt und sie löscht. Tanzende Pärchen und das Lied von Jackson Browne: “Awake again I can’t pretend and I know I’m alone / And close to the end of the feeling we’ve known”. Die große Resignation. Liebe ist nicht möglich mit Menschen, die aus Plastik sind. Die vom Fernseher verschluckte Liebe: Sie implodiert, wenn du sie ein bisschen umkippen lässt.

Travis in New York City, der Geburtsstätte des Punk, zeitgleich in der Mitte der Siebziger. Im New Yorker Club CBGB’s spielten die Ramones, als „Taxi Driver“ gedreht wurde. Travis als erster Punk des Kinos? Erster Irokesenschnitt jedenfalls, und Durchdrehen, Rebellieren, ohne noch wirklich zu wissen, wogegen. Die lähmenden Siebziger, die KOMA und AMOK hervorbringen.

Wenn er Iris „rettet“, indem er ihre(n) Zuhälter tötet, dann ist das sein Versuch, sich von sich selbst zu befreien. Der amoklaufende Serienmörder als der verhinderte Selbstmörder. Seine Wahl ist so beliebig, wie sie falsch ist, aber jede Wahl wäre das. Das Problem ist substanziell. Innen ist Außen ist Innen. Die Wirlichkeit hat vor sich selbst kapituliert, die Gesellschaft spielt sich selbst, ein hohles Ritual, keine Bedeutungen, keine Ziele mehr. Und wenn Bernard Herrmann seine letzte musikalische Elegie hören lässt, gerinnen die vierziger, fünfziger, sechziger Filmjahre zu einem Furioso aus film noir und New York und Jazz, eine lange Geschichte des Kinos ist enthalten in dieser, einer der besten Filmmusiken überhaupt. Alles ist tot und still und für diese lange Kamerafahrt von oben (von da, wo Gott nicht mehr sehen mag, was er sieht) ließ Scorsese extra die Decken aus einem Haus brechen. Das Blut war so blutrot, dass den Zensoren nur eine Verdunkelung der kompletten Schlüsselszenen statthaft war – die Originale gibt’s nicht mehr, und so auch keinen Director’s Cut. Nur in der Verdunkelung (und da sind wir wieder auch beim Krieg) blieb „Taxi Driver“ gesellschaftsfähig. Aber diese Einfärbung des Materials nimmt nichts von der überirdischen und traurigen Magie der Szene, wenn der waidwunde Robert De Niro auf dem Puff-Sofa sitzt, mit dem blutstropfenden Zeigefinger an seine Schläfe zeigt und mehrmals „pfchhhh“ macht.

Überhaupt ist das Gute an De Niro, dass er noch nicht De Niro ist. Es ist alles noch offen und möglich für diesen jungen Schauspieler, der später – so sehr er noch beteuerte, er könne auch ein Schnitzel spielen – sich immer nur als De Niro besetzen ließ. Vielleicht waren es Leute wie Coppola („Der Pate 2“), aber vor allem Leone („Es war einmal in Amerika“), die ihn nachhaltig zu dem konservativen Macho-Patriarchen formten, zu dieser De Niro-Rolle, auf der er sich jahrzehntelang ausruhen konnte, und wohl auch wollte – ob als Gangster oder Cop oder schließlich auch als Schwiegervater. Wie eintönig er in den Achtzigern wurde, und wie doch ziemlich unsymphatisch! Wir erkennen diesen De Niro-Standard immer wieder, aber es scheint beinahe vergessen, welch wirkliche Klasse dieser Mann mal hatte. In „Taxi Driver“, in „Wie ein wilder Stier“, in „King of Comedy“ aber auch – ein seltener, später Glücksfall – in Tarantinos „Jackie Brown“ traut er sich noch, unerprobte Gesichter aufzusetzen. Die Klasse (Lebensnähe, Klischeeferne) des jungen De Niro lag in seiner Unberechenbarkeit, in seiner Neurotik, Psychotik und seiner Paranoia. Niemand hatte für dieses Talent ein besseres Gespür als Martin Scorsese. Gemeinsam schafften Scorsese und De Niro vibrierende, widersprüchliche, rauhe Meisterwerke. Die besten De Niro-Filme waren immer auch die besten Scorsese-Filme – und umgekehrt. Welch trauriger Irrtum von Scorsese, Leonardo Di Caprio auch nur für annähernd ebenbürtig zu halten und ihm nun schon in zwei Filmen („Gangs of New York“, „Aviator“) die Hauptrolle zu geben. Mediokres Hollywoodkino ist das Ergebnis (leider nicht nur wegen Di Caprio), ohne den früheren Mut zu den großen Ambivalenzen, zu den verdichteten Visionen einer amerikanischen Phänomenologie und ohne Scorseses alten künstlerischen Instinkt.

Am Schluss ist der Amokläufer ein Held. Sein letztes bizarres Umsichschlagen deutet sich der komatöse Organismus um zum Indiz seiner Gesundheit. Unwirklich die letzten Szenen. Endgültig unwirklich und unheimlich ist diese Welt geworden. Der Furchtbare weist den Weg, doch keiner fragt, wieso. Die Rechtfertigung der neuen Ordnung liegt allein darin, dass es sie gibt. Nichts ist normal an dieser Normalität, aber niemand mehr nimmt davon Notiz – und der letzte, fatal irrende, Rebell ist vollintegriert. Eine merkwürdig irreale Stadt, mit Menschen, die ihr Leben spielen, ohne zu wissen, wozu. Eine Oberfläche, die keine Richtung mehr kennt, austauschbare Figuren, keine Individuen mehr. Das Ende der Rebellion, das Ende der Aufklärung, das Ende der Moral. Die Beliebigkeit hat den Menschen verschluckt. „Taxi Driver“ endet so, wie David-Lynch-Filme beginnen: eine böse, eine von Gott verlassene Welt, die nur noch von sich selbst träumen kann. Es bleibt keine Wahl mehr. Das Grauen ist immer da, wo es keine Alternative mehr gibt.

Der Dieb des Lichts

(F / D / NL / KG 2010, Regie: Aktan Arym Kubat)

Bedrohte Identität
von Wolfgang Nierlin

Weil es in dem kirgisischen Landstrich wenig Arbeit und Wohlstand gibt, gehen die jungen Männer nach Kasachstan und Russland. Die Alten bleiben derweil daheim und nerven mit ihrer beharrlichen Schwerhörigkeit …

Weil es in dem kirgisischen Landstrich wenig Arbeit und Wohlstand gibt, gehen die jungen Männer nach Kasachstan und Russland. Die Alten bleiben derweil daheim und nerven mit ihrer beharrlichen Schwerhörigkeit und stolzen Heimatliebe jene windigen Geschäftemacher und berechnenden Investoren, die es auf Ländereien und Immobilien abgesehen haben und dafür mit Dollars und kostspieligen Geschäftsessen die lokale Politik instrumentalisieren. Die Preise für den privatisierten Strom steigen in dieser strukturschwachen Region kontinuierlich und wider alle Vernunft an. Nur der Wind über den weiten Ebenen scheint sich treu zu bleiben.

Natürlich regt sich in diesem unaufgeregt hingetupften, mit feiner Ironie ziselierten Setting auch ein leiser Widerstand, dessen Träger sich jedoch weniger subversiv versteht und stattdessen mit naiver Aufrichtigkeit tätige Nächstenliebe praktiziert. Verkörpert wird er mit sanftem Mut und sozialem Gewissen vom örtlichen Elektriker Svet-Ake, der von Aktan Arym Kubat, dem Regisseur des Films „Der Dieb des Lichts“, selbst gespielt wird. Der „gute Mensch“ mit dem großen Herzen dreht nämlich die Stromzähler derjenigen Dorfbewohner zurück, „die nicht bezahlen können“, was nicht ohne Konsequenzen bleibt. Insgeheim hegt der liebevolle Familienvater aber eine energiepolitische Vision und träumt von einer autonomen, windgetriebenen Energiegewinnung. Dafür lässt er sich zunächst arglos mit den neuen, falschen Wortführern ein.

Kubats Film wirft jedoch nicht nur einen kritischen Blick auf die Ankunft der Globalisierung in einem kleinen kirgisischen Dorf, sondern zeichnet vor allem das stimmungsvolle Portrait eines stets aufmerksamen, solidarischen und liebevollen Menschen, dessen Handeln Anteilnahme ausdrückt und der doch nicht frei ist von Widersprüchen und Versuchungen. So wünscht sich der Vater von vier Töchtern sehnlichst einen Sohn; und eine geheimnisvolle Schöne aus der Nachbarschaft weckt sein erotisches Begehren. Verwoben sind diese teils burlesken Episoden wiederum mit Impressionen des traditionellen Lebens, seinen Bräuchen und Ritualen, hinter denen eine bedrohte Identität aufscheint.

Wir sind, was wir sind

(MX 2010, Regie: Jorge Michel Grau )

Subtiler Schrecken, offener Text
von Ulrich Kriest

Im Programm des Fantasy Filmfest 2010 hatte „Somos lo que hay“ schnell den Status eines Geheimtipps. Ein etwas anderer Kannibalenfilm, gar ein Meilenstein des Kannibalenfilms, vielleicht sogar das für den …

Im Programm des Fantasy Filmfest 2010 hatte „Somos lo que hay“ schnell den Status eines Geheimtipps. Ein etwas anderer Kannibalenfilm, gar ein Meilenstein des Kannibalenfilms, vielleicht sogar das für den Kannibalenfilm, was „So finster die Nacht“ für den Vampirfilm war. Wahrscheinlich haben solch aufgeregte Schwärmereien dem Film jetzt einen regulären Kinostart verschafft.

Beim Wiedersehen fällt auf, dass der Film derart »offen« gestaltet ist, dass das Schreiben über den Film wahrscheinlich sogar spannender ist als das Ansehen des Films: Er lässt viele Lesarten zu. „Wir sind, was wir sind“ erfüllt nur sehr am Rande und geradezu offen desinteressiert die Ansprüche des Genres: Der Horror hält sich fast schon altmodisch in Grenzen, Gewalt findet zumeist außerhalb der Kadrage statt. Auch der Kannibalismus funktioniert eher als MacGuffin, setzt die Handlung in Bewegung. Aber gerade das, was dem Kannibalenfilm einst nachgerühmt wurde, der neugierige Blick unter die Haut und ins Gedärm, unterbleibt hier geradezu herausfordernd. Stattdessen werfen wir einen Blick ins Gefüge einer Familie und einer Gesellschaft – beides ist aus den Fugen.

„Wir sind, was wir sind“ ist eine Studie über soziale Anomie und über eine dysfunktionale Familie, getarnt als Kannibalenfilm. Suggestiv die Exposition, die den Film in nuce vorwegnimmt: Ein älterer, etwas zotteliger Mann schleppt sich unter Schmerzen durch eine gut aufgeräumte Shopping Mall, starrt auf nur halb bekleidete Schaufensterpuppen, erbricht plötzlich Blut, stirbt – und wird vom Reinigungspersonal rasch und routiniert entfernt. Bei der Autopsie wird in seinem Magen ein Finger gefunden, unverdaut. Mehr zu uns Zuschauern als zu seinen Kollegen raunt der Arzt: „Sie glauben gar nicht, wie viele Menschen in Mexico City sich von Menschen ernähren!“ Das kann man als Kannibalismus verstehen, aber auch als Kapitalismus.

Zu Hause wartet die Familie des Toten: Mutter, Tochter und zwei ungleiche Brüder. Die Familie sind Kannibalen und der Vater sollte eigentlich Fleisch beschaffen, ging aber dann doch lieber zu Prostituierten. Jetzt muss der Vater ersetzt werden, was die binnenfamiliale Gruppendynamik ordentlich in Schwung bringt. Jetzt kommt erneut der MacGuffin ins Spiel, denn die Zeit für „das Ritual“ rückt näher – und der älteste Sohn Alfredo scheint von seiner Aufgabe als Ernährer überfordert. Der aufbrausende, gewalttätige und homophobe Bruder Julian ist nur bedingt eine Hilfe, die Schwester Sabina neigt zur undurchsichtigen Intrige.

Der Regisseur Jorge Michel Grau lässt Ritual Ritual sein und zeigt lieber eindrücklich, wie Gewalt aus der sozialen Isolation und Armut entsteht. Für die Identität dieser Familie gilt: Hier wird gemeinsam gegessen! Der Film zeigt den Schrecken zunächst in Form einer Choreografie der Blicke, bevor es dann doch ein paar achtlos hingeworfene Splattermomente gibt, die gerade deshalb recht wirkungsvoll sind. Damit hatte man gar nicht mehr gerechnet. Als die überforderten Brüder auf Menschenjagd gehen, wählen sie zunächst Straßenkinder, dann Prostituierte als Opfer. Doch das Handwerk des Tötens will erlernt sein. Und die Mutter ist nachtragend. Ihr kommt nach Vaters Tod keine Prostituierte mehr in den Topf.

Der Film zeigt Mexico City suggestiv in abgedunkelten Braun- und Dunkelgrüntönen und in Nachtaufnahmen als einen an den Rändern bereits unbewohnbaren Ort; der Zerfall des Sozialen ist mit Händen zu greifen. Es herrscht Sozialdarwinismus, die unterschiedlichen Milieus – man erinnere sich an die Eingangssequenz in der Mall – kommen nur noch in Ausnahmefällen miteinander in Kontakt. Schließlich setzen sich zwei Polizisten eher zufällig auf die Fährte der Kannibalen-Familie. Sie sind nicht sehr helle, werden von ihren korrupten Kollegen verspottet und ihren Entschluss, auf eigene Faust zu ermitteln, später nicht einmal mehr bedauern können. Auf die Polizei sollte man ohnehin nicht mehr zählen: Man löse keine alten Fälle mehr, heißt es einmal ganz lässig, was allerdings nicht bedeute, dass man neue Fälle löse.

Short Cuts

(USA 1993, Regie: Robert Altman)

This is The End
von Andreas Thomas

Zerstörung bringende Hubschrauberstaffeln eröffneten „Apocalypse Now“, den legendären (Anti-) Kriegsfilm von Francis Coppola – Tösende Hubschraubertrupps ziehen ihre Bahn über das abendliche Los Angeles. So beginnt Robert Altmans berühmtes „Short …

Zerstörung bringende Hubschrauberstaffeln eröffneten „Apocalypse Now“, den legendären (Anti-) Kriegsfilm von Francis Coppola – Tösende Hubschraubertrupps ziehen ihre Bahn über das abendliche Los Angeles. So beginnt Robert Altmans berühmtes „Short Cuts“.

„Die Zeit ist gekommen, wieder einmal in den Krieg zu ziehen. Nicht gegen den Irak, internationale Terroristen oder das ehemalige Jugoslawien, sondern gegen die Fruchtfliege…“ Mit diesen Worten lässt Altman einen Fernsehkommentator „Short Cuts“ einleiten, den raffiniert verschachtelten, großzügig komponierten Episodenfilm über das L.A. zu Beginn der 1990er Jahre.

Nicht weniger als 8 Ehepaare aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten stehen im Mittelpunkt dieses analytischen Reigens, kleine Familien, die scheinbar willkürlich aus der weitläufigen Nachbarschaft des San Fernando Valley herausgegriffen sind, denen, jede für sich, eine gleichermaßen alltägliche wie dramatische Entwicklung widerfährt, Kleinsteinheiten, die sich gegenseitig immer wieder touchieren. Berührungen, vom zufälligen Besuch desselben Geschäfts bis zum Unfall mit Todesfolge. Die soziale Interdependenz eben, ein Film als ein Mikrokosmos, der exemplarisch den Zustand einer Gesellschaft vorführt.

Ein großspuriger Polizist (Tim Robbins), der versucht seiner ewig krakeelenden Kinderschar, dem ihn ankläffenden Hund, in die Arme geschiedener Frauen zu entfliehen (wo er sich in ähnlichen Situationen wiederfindet), eine Frau (Jennifer Jason Leigh), die, während sie die Windeln ihrer Tochter wechselt und ihr Mann, der Pool-Cleaner (Chris Penn) verstört zuhört, die knappe Haushaltskasse mit Telefonsexdiensten aufstockt, ein Paar (Andie McDowell und Bruce Davison), das hilflos mitansieht, wie der kleine Sohn stirbt, die Bedienung in einem Drive In (Lily Tomlin), die sich von geilen alten Anglern unter den Rock schielen lassen muss, ein von Kopfschmerzen gepeinigter Arzt (Mathew Modine), der seine malende Ehefrau (Julianne Moore) verdächtigt, fremdgegangen zu sein, eine egozentrische Jazzsängerin (Annie Ross), die die Hilferufe ihrer Tochter (Lori Singer) nicht wahrnimmt. Alle leben in einem dauerhaften Spannungszustand, in Unruhe, Aggressivität, die sich selten oder nie entladen kann. Jedes dieser Familiengefüge ist gestört, wenn nicht schon zerbrochen. Falls dazu Gelegenheit besteht, sich bewusst zu machen, was falsch läuft, so gelingt es nicht, sich damit auseinander zu setzen oder nach Ursachen zu forschen. Der kalte Krieg ist zuende, der „Krieg gegen die Fruchtfliege“ hat begonnen: Materielle Zwänge und eine schweigende Übereinkunft mit dem alles dominierenden monetären und hedonistischen Zeitgeist bestimmen die Lebensweise. Voller Sarkasmus und gereizt, selbst bei ihren Freizeitbeschäftigungen, leben sie, wie sie es gerade können, selten sind sie zufrieden, meistens überdreht.

Die Destruktivität, der Zynismus, der dieser Normalität innewohnt, fordert kleine und große Tribute. Da ist es noch freundlich, wenn der eifersüchtige Hubschrauberpilot in Abwesenheit seiner Ex-Frau deren gesamtes Mobiliar zersägt (nur – und hier blitzt die Altmansche Satire hell auf – der Fernseher überlebt), oder wenn der Konditor die Mutter des schwer kranken Jungen mit anonymen Anrufen terrorisiert, nur weil sie derzeit keine Angaben zur Dekoration der Geburtstagstorte machen kann. Vier Leichen bringt dieses kalifornische Paradies hervor, keine von ihnen ist eines natürlichen Todes gestorben. Die überarbeitete Drive-In-Bedienung reagiert zu spät, als der Sohn des Fernsehmoderators vor ihrem Auto über die Straße läuft. Die Tochter der Jazzsängerin kommt nicht über den Tod des Jungen hinweg – vor allem aber nicht über die Unmöglichkeit mit ihrer Mutter darüber zu reden zu können – und nimmt sich das Leben. Ein Angler (Fred Ward) stellt fest, dass da, wo er gerade in den Fluss pinkelt, eine weibliche Leiche – ein Mordopfer, wie sich später zeigt – angeschwemmt wurde. Kein Grund für das Anglerquartett den Ausflug vorzeitig zu beenden. Man befestigt die Tote und angelt neben ihr weiter bis zum nächsten Tag. Die Normalität des Telefonsex als Job schließlich macht den ehelichen Verkehr zu etwas Unnormalen oder Unmöglichem, weil das Intime zu einer Ware geworden ist. Der Gefühlsstau des derangierten Gatten entlädt sich im Augenblick, als die Erde bebt…

Ein Erdbeben und ein „Krieg gegen die Fruchtfliege“. Zwei Ereignisse werden von allen geteilt. In zwei Momenten, am Anfang und am Schluss, erinnert der Film an die Einheit von Zeit und Raum diese Großversuchs. Einleuchtend macht er den großen Aufriss und führt all die gesehenen kleinen Schicksale – nicht nur für diese beiden Augenblicke – zu einem umfassenden, gemeinsamen Schicksal zusammen. Beides, der angestrengte Kampf des Menschen gegen Widrigkeiten der Natur (mit Mitteln, über deren Gefährlichkeit Unklarheit herrscht) und der „göttliche“, allwissende Fingerzeig des Bebens, weckt auf wunderbare Weise Verständnis für das Wesen von Gemeinschaft an sich, weil wir die einzelnen Partikel am Ende zu kennen scheinen, und weil wir ahnen können, wie sie zusammengehören – und wie sie übergreifenden Gesetzmäßigkeiten untergeordnet sind.

Irgendwann trifft der berühmte Fernsehkommentator den Reiniger seines Pools und fragt: „Hey Jerry, wie läuft denn der Krieg?“ „Die Bösen sind am Gewinnen, Sir“, antwortet der beiläufig. In eben dieser Beiläufigkeit erzählt auch „Short Cuts“ von einer „Gesellschaft ohne Verantwortlichkeit, Scham und Intimität“ (Lexikon des internationalen Films), von einem als Frieden getarnten Kriegszustand. Der Film bedient sich häufig überzeichnender Mittel, die insofern Satire „at it’s best“ sind, weil sie genau da die Realität treffen, wo sie am besten zu erkennen ist: ein kleines bisschen außerhalb ihrer selbst. Und „Short Cuts“ wimmelt nur so von mitreißenden Schauspielern, die die Palette von der albernsten Komik bis zur ernstesten Tragik spielfreudig und konzentriert beherrschen. „Short Cuts“ ist lang, etwa 180 Minuten, doch „Short Cuts“ ist nie langweilig. Im Gegenteil, je länger „Short Cuts“ dauert, desto süchtiger macht er nach diesem ungeheuerlichen, deprimierenden, aberwitzigen, nach Menschen riechenden, nach Wahrheit schmeckenden Film.

Nicht böse sein!

(D 2006, Regie: Wolfgang Reinke)

„Kein Mensch lebt doch gerne alleine!“
von Michael Schleeh

In ruhigen Einstellungen gleitet die Kamera durch menschenleere Räume: Es ist die Wohnung Wolfgangs, der mit seinen beiden Mitbewohnern Dieter und Andi in einer Altherren-WG zusammen lebt. Die Kamera schwenkt …

In ruhigen Einstellungen gleitet die Kamera durch menschenleere Räume: Es ist die Wohnung Wolfgangs, der mit seinen beiden Mitbewohnern Dieter und Andi in einer Altherren-WG zusammen lebt. Die Kamera schwenkt in ruhigem Gleichmaß die Wände ab, fokussiert den Schmutz, die Schränke, den dreckigen Boden und findet Details: einen verbeulten Topf, einen Stromzähler, eine improvisierte Schlafstatt im Badezimmer, eine Spritze, dann Bücher eines Autors namens J. W. Siegner. Fixpunkte, um die sich der Film drehen wird, ohne dass man das bereits wüsste. Die Männer jedoch sind draußen, machen einen Ausflug vor der Stadt, sitzen am Fluss, spielen Gitarre, spielen Schach, trinken Bier in der wärmenden Sonne. Die WG, ja, die sei wie eine Ehe: Man kenne sich seit Ewigkeiten, liebe sich vielleicht irgendwie und streite verbittert, habe sich manchmal auch nichts mehr zu sagen, die Themen wären durch. Da setzt Andi zum siegreichen Zug an … Andi: „Schach matt!“, Wolfgang: „Jepp.“

Das Besondere an Reinkes Dokumentarfilm wird also sofort und nach wenigen Minuten klar: es ist die ungewöhnlich einfühlsame, respektvolle und klug gewählte Annäherung an sein Sujet, eine Abbildungsstrategie, die gekonnt die Klippen einer sensationsheischenden Boulevardskandalisierung umschifft. Denn Reinke wählt eine diametral entgegengesetzte Taktik: Annäherung durch Ernstnehmen des Gegenstandes, durch ein unaufgeregtes, ruhiges Herantasten an die fragilen Existenzen. Und dabei wäre es ein leichtes gewesen, schockierende Bilder mit Magengruben-Impact zu montieren, unterlegt mit unheilvoller Musik vor dem Hintergrund der grauen Metropolentristesse Marke Berlin: denn schließlich sehen wir drei suchtkranken Männern beim Überleben zu. Einem schweren Alkoholiker, der ohne Schnaps schon lange nicht mehr sein kann (Wolfgang), einem Heroinabhängigen, der seit dreißig Jahren an der Nadel hängt (Dieter), und einem etwas jüngeren Ex-Knacki, der nicht nur ausgiebig trinkt, sondern ebenfalls dem Venengifte frönt (Andi). Nicht auszudenken, wie dieser Film aussähe, wäre er als Fernsehproduktion eines Privatsenders realisiert worden.

Doch diese Angemessenheit ist erst der Ausgangspunkt, von dem aus sich der Film in die Biographien hinein tastet. In die Kindheiten und Adoleszenzen, die Beziehungen zu den Eltern, den Wünschen und Sehnsüchten. Ein Blick zurück in Zeiten, als das Leben noch Optionen bereit zu halten schien. Genauso aber tastet sich der Film an das komplexe Miteinander der Freunde heran, die beinah auch immer Feinde zu sein scheinen. Es wird gezofft und konsumiert, philosophiert und gepöbelt, geweint und getröstet. Man kümmert sich, kocht zusammen und duldet die Schwächen des Andern – und findet ihn zugleich ätzend, bisweilen unerträglich, zum Ausrasten blöde. Manchesmal scheint es, als wären die einzigen Gemeinsamkeiten der drei Männer die Einsamkeit, das Ausgestoßensein und der enorme Zigarettenkonsum.

Reinke hält sich auch mit anderen Standards des Dokumentarfilms zurück: in „Nicht böse sein!“ findet sich etwa kein Kommentator aus dem Off, es gibt keine Einführung in die Koordinaten Schauplatz, Zeit, oder Figuren. Es gibt keine Einblendungen am Bildrand. Ab und an hört man die Fragen des Interviewers, einmal, zu Beginn, werden die Namen der Personen wie in Buchkapiteln dazwischen geschnitten. Der Film bleibt so stets im Fluss, die Kamera innerhalb der Diegese, nie findet sich ein Kommentar von außen. Selbst auf Nachbarn, die sich über die Zustände in der Wohngemeinschaft empören, wartet man vergebens. Der Film nimmt den Zuschauer mit hinein in diesen inneren und sehr privaten Zirkel, und entlässt ihn erst wieder am Ende des Films. Auch eine Technik, die Reinke bis zum Exzess durchexerziert: die Nah-, bzw. Detailaufnahme. Gesichter zunächst, später dann das Saufen, das Drücken, das Weinen, die Verzweiflung. Die schmutzigen Fingernägel, die alten Klamotten und das offene Bein von Andi. Die schwarzen Zahnstümpfe Wolfgangs. Die harten Venen Dieters, der die Nadel nicht mehr hinein bekommt.

Es ist eine progressiv im Film zunehmende Annäherung, die durch die gewählte strukturelle Form beglaubigt wird, und die diese moralisch erst zulässt. Denn durch die zuvor geleistete Einführung der Charaktere, die Annäherung an den Menschen und das Menschliche selbst, verlieren diese Szenen ihr Skandalpotential, wenngleich sie natürlich immer noch enorm aufwühlend sind. Eine klug gewählte Strategie, die jeden Sensationstouristen in Sachen Film abschrecken dürfte. Emotional wird man hier in die Verantwortung geholt und eine grobe Distanzierungshaltung einzunehmen ist kaum möglich. Auch auf das ruhige Tempo dieses Films muss man sich einlassen. Dann allerdings wird man mehr als belohnt. „Nicht böse sein!“ ist auf seine eigene Weise ein ziemlich sensationeller Film.

Stadt Land Fluss

(D 2011, Regie: Benjamin Cantu)

Landluft macht frei (wenn etwas Stadtluft hinzu kommt)
von Ulrich Kriest

Man bemängelt ja häufig und häufig auch nicht ganz zu Unrecht, dass die Milieuschilderung in Spielfilmen zumeist nur während der Exposition wichtig genommen wird und später im Verlauf der Handlung …

Man bemängelt ja häufig und häufig auch nicht ganz zu Unrecht, dass die Milieuschilderung in Spielfilmen zumeist nur während der Exposition wichtig genommen wird und später im Verlauf der Handlung bestenfalls noch zeichenhaft verdichtet eine Rolle spielt. Haben sich die Protagonisten erstmal als solche etabliert, spielen sie ihre Geschichte vor einem »Hintergrund« herunter. Bei seinem ausgesprochen schönen Spielfilmdebüt wählt Benjamin Cantu einen radikal anderen Weg, indem er den »Hintergrund« nicht mehr zum »Hintergrund« degradiert, sondern diesen mit dokumentarischen Mitteln in großem Maßstab ausmalt.

„Stadt Land Fluss“ spielt zur hochsommerlichen Erntezeit auf einem größeren Landwirtschaftsbetrieb im Brandenburgischen. Hier werden junge Menschen zum Landwirt ausgebildet oder absolvieren ein orientierendes Praktikum. Wir sehen Menschen arbeiten, an der Möhrenwaschanlage, am Traktor oder im noch nicht sehr souveränen Umgang mit dem Vieh. Wir werden von Kühen angeglotzt und sehen, wie Menschen über den Hof gehen, sich etwas Zeit nehmen. Wir sitzen mit im Frühstücksraum und werden Zeuge, wie ein Vanillepudding verschenkt wird. Es nicht so viel geredet – und wenn geredet wird, reden gerne die Ausbilder.

Ein Neuer ist angekommen: Jacob hat eine Banklehre abgebrochen, weil sie ihm nicht das Richtige erschien. Als er erzählt, was er im ersten Lehrjahr verdient hätte, staunen die anderen Anwesenden nicht schlecht. Tja, in der Produktion verdient man nicht so viel, erklärt Frau Thymian. Die wohl wirklich so heißt, denn das Team von „Stadt Land Fluss“ tauchte nicht nur im Erntebetrieb gewissermaßen unter, sondern ließ auch nur zwei Schauspieler vor die Kamera. Alle anderen sind Laien, die sich selbst spielen – und auch mal grinsen müssen, wenn die Kamera läuft. Oder lieber bockig vor sich hinstarren, um nicht grinsen zu müssen.

Eine ganze Zeit lang könnte „Stadt Land Fluss“ auch eine Dokumentation über den Alltag in der Landwirtschaft sein, dann entwickelt sich eine spröde, tastende Liebesgeschichte zwischen Jacob und dem sehr zurückhaltenden Marko, dessen problematischer familiärer Hintergrund gerade einmal hingetuscht wird. Marko ist sehr ruhig, mit sich beschäftigt und absolviert gerade eine Ausbildung zum Landwirt, weiß aber nicht mit Bestimmtheit zu sagen, ob er das auch wirklich will. Das ist nun aber wirklich ein Problem, wird ihm geantwortet.

Okay, aber wenn man den Blick in Jänickendorf so schweifen lässt (und dazu lädt der Film nachdrücklich ein!), dann drängen sich nicht allzu viele Alternativen auf. Aus dem ruhigen Fluss von Impressionen schält sich nun ganz allmählich die Geschichte von Jacob und Marco heraus: erst ist es noch ein neugieriges Taxieren, ein Wahrnehmen von Körpern, ein Kräftemessen, ein Sich-Annähern, das zur Jahreszeit passt, aber irgendwie nicht zum Kuhscheiße-Schippen im Stall. Es braucht dann aber doch noch einen gemeinsamen Ausflug nach Berlin, bis sich die beiden Jungen aufeinander einlassen können. Noch nicht bedenkenlos, aber schon etwas euphorisch (und etwas betrunken). Liegt es am Zauber der sommerlichen Nacht in der bunten Metropole?

Es geht dann wieder zurück nach Jänickendorf, wo sie zurück in den Alltag müssen. Was Marko kurz zu irritieren scheint. Doch ganz so prosaisch will es der Film dann doch nicht ausklingen lassen: am Ende hat Marko seine Prüfung bestanden. Zu seiner ungewissen Zukunft gratuliert ihm Jacob mit einer langen und eigentlich unmissverständlichen Umarmung. Mal sehen, was die anderen dazu sagen.

Unter Kontrolle

(D 2011, Regie: Volker Sattel)

Zwischen Faszination und Schrecken
von Wolfgang Nierlin

Als wären es leuchtende Spinnweben, die kurz aufglimmen und wieder verlöschen, illuminieren sichtbar gemachte Strahlen den Vorspann des Films. Dazu dringt ein seltsames, fast unmerkliches Knistern in die tiefe Ruhe, …

Als wären es leuchtende Spinnweben, die kurz aufglimmen und wieder verlöschen, illuminieren sichtbar gemachte Strahlen den Vorspann des Films. Dazu dringt ein seltsames, fast unmerkliches Knistern in die tiefe Ruhe, die das Bild umhüllt; bevor sich schließlich, begleitet von schwereren Geräuschen, ein Raketen ähnlicher Brennstab ins Bild schiebt. Zwischen Geheimnis und Enthüllung, Faszination und Schrecken bewegt sich Volker Sattels visuell eindrucksvoller Dokumentarfilm „Unter Kontrolle“, der eine Innensicht deutscher Kernkraftwerke vermittelt und noch vor der atomaren Katastrophe in Fukushima entstand. Die normalerweise unsichtbaren Vorgänge im Innern der Reaktoren sichtbar zu machen, ist insofern ein wesentliches Anliegen des Films.

„Unter Kontrolle“ ist deshalb auch „kein Lehrfilm über Atomkraft“, so Volker Sattel, sondern ein in Cinemascope gedrehter Kinofilm, „der seine Erzählkraft aus den Bildern entwickelt“. Nicht politisches Engagement habe seine Arbeit motiviert, sondern das Interesse, mit der Filmkamera in das hermetische System eines Atomkraftwerkes hineinzugehen, um die „nebulösen Bilder“, die wir davon haben, von ihrem „Schleier“ zu befreien. Dabei hat Sattel auf erklärende Kommentare und klassische Interviews verzichtet. Stattdessen sollen die Bilder zu Projektionsflächen für den Zuschauer und seine jeweilige Perspektive werden; und damit auch einen neuen Blick auf das schwierige Thema eröffnen.

Die ambivalente Faszination, die der Film ausstrahlt, ist eng verknüpft mit den Utopien einer Technologiegläubigkeit, die sich in den Architekturen der Kraftwerke widerspiegelt. Regisseur und Kameramann Volker Sattel, 1970 in Speyer geboren und mit Blick auf die gewaltigen Kühltürme von Philippsburg aufgewachsen, spürt diesen Dimensionen und ihren symmetrischen Strukturen in statischen Totalen und ruhigen Schwenks nach. Mit insistierendem Blick auf die unzähligen Knöpfe und Kontrollleuchten von Schaltzentralen, auf Kabelgewirr und riesige Betonkuppeln entstehen so immer wieder irritierende Kontraste und gespenstische Szenerien.

In den komplexen, überdimensionalen Ausmaßen der Kraftwerke, die vom Geist der Kontrolle beseelt sind, wird der arbeitende, sich in unverständlicher Terminologie artikulierende Mensch auf ein Funktionsteilchen im sich selbst regulierenden System der Maschine reduziert. Als handelte es sich um ein – im Übrigen ausschließlich von Männern verwaltetes – militärisches Sperrgebiet, sind die Anlagen folgerichtig von einem engmaschigen Sicherheitsnetz durchzogen. Es ist dies ein pervertierter Ausdruck jener utopischen, auf friedliche Nutzung zielenden Atomtechnologie, deren „archäologischen Spuren“ Sattel mit seinem Film folgt. Dabei schimmert zugleich auf beunruhigende Weise immer wieder jene gefährliche Schattenseite durch, deren Unkontrollierbarkeit die Welt zurzeit in Atem hält.

Arschkalt

(D 2011, Regie: André Erkau)

Die Geschichte vom brennenden Iglu
von Michael Schleeh

Ein emotional eingefrorener Tiefkühlkostlieferant wird aus seiner zynischen Starre gerissen, als ihm die neue Chefin einen Beifahrer in den Lieferwagen setzt, den er innerhalb zweier Wochen zum Verkäufer schulen soll …

Ein emotional eingefrorener Tiefkühlkostlieferant wird aus seiner zynischen Starre gerissen, als ihm die neue Chefin einen Beifahrer in den Lieferwagen setzt, den er innerhalb zweier Wochen zum Verkäufer schulen soll – ansonsten sei er seinen Job los. Nun ist Teamgeist gefragt – doch der Misanthrop ist naturgemäß wenig begeistert von seinem geradezu aufdringlich lebenslustigen Kollegen. Nach und nach jedoch taut er auf, freundet sich an, interessiert sich sogar für das Lächeln seiner Chefin. Doch damit fangen die Probleme erst an …

Sommerzeit: Komödienzeit. Die idealen Voraussetzungen für einen Film, der so sehr auf offensichtlichen Gegensätzen aufbaut, wie „Arschkalt“. Denn schließlich geht es in ihm um das große Auftauen, die Resozialisierung des zwischenmenschlich vergletscherten Rainer Berg (ein souveräner Herbert Knaup), der den Betrieb des Vaters in den Ruin geführt hat, dessen Frau schon lange davongelaufen ist, und der sein Dasein zwischen Mietwohnung im unpersönlichen Hochhausklotz und Industriegebiet fristet. Dieser Mann hat sich in die innere Isolation zurückgezogen, und seine kuriose Berufswahl ist freilich völlig plausibel: zwischen Tiefkühlkost, Kühlhäusern und Stunden allein im Lastwagen auf Überlandstraßen hat er für sich eine Nische gefunden, in der er ungehemmt seinem Grantlertum frönen darf. Berg hat sich aus der Solidaritätsgemeinschaft verabschiedet. Doch dann die Erschütterung: Da ist die neue Chefin Lieke (Elke Winkens), die Paroli bietet und gar nicht mal so unsympathisch ist, der Beifahrer Moerer (Johannes Allmeyer aus „vincent will meer“), der mit entwaffnender Fröhlichkeit und nerviger Penetranz zugleich die Kommunikation erzwingt, und schließlich Bergs Vater (Peter Franke), der zum runden Geburtstag die Bewohner seines Altenheimes samt Belegschaft in den alten Familienbetrieb einlädt, und dessen Konkurs Berg Junior schon seit Jahren verheimlicht. Der Protagonist gerät also mächtig unter Druck – und je mehr sich die Horizonte auf dem Weg zurück in die Gesellschaft öffnen, desto größer werden die Konflikte.

„Arschkalt“ ist ein Film, der in beinah allen Aspekten völlig unsubtil ist – und gerade deswegen so ärgerlich. Er traut seinem Zuschauer überhaupt nichts zu. Alles wird ausdiskutiert oder in Worte gepackt – nichts wird mit Bildern erzählt. Zudem werden die Metaphern überstrapaziert, die Darsteller sind unterfordert, der Plot ist meilenweit vorhersehbar. Sein norddeutscher Humor ist, um im Horizont des Films zu formulieren: so flach wie das Land selbst. Erkaus Anliegen mag ehrenwert sein: die Darstellung einer inhuman gewordenen Dienstleistungsgesellschaft, vor der das Individuum frustriert in die Isolation hinein und dem Burnout entgegen fährt. Schon in seinem Film „Selbstgespräche“ (2007) hatte der Regisseur sich des Sujets angenommen. Mit „Arschkalt“ allerdings glückt ihm dies nicht: Anstatt eine bittere Komödie vor einem ernsten Hintergrund zu inszenieren, missbraucht der Film sein Thema. Ihm fehlt jene bissige Abgründigkeit, die den Blick hinter die Oberfläche freigibt, um so das eigentliche Drama ins Zentrum zu rücken. In dieser also letztlich flachen Komödie versandet jede Gesellschaftskritik in stereotypen Unterhaltungs(fernseh)filmkonventionen, die – und das darf man ihm dann doch zugute halten – in einigen wenigen, seltenen Momenten funktioniert; Momente, in denen Herbert Knaups Zynismusdarstellung durchschlägt.

Danach ist wieder zwanghafte Konfliktgenerierung angesagt, was sich beispielhaft an der Figur Moerers, des ungewünschten Beifahres, verdeutlichen lässt. Über ihn gibt es kaum ein Geschichte zu erzählen: Für sich alleine genommen wäre die Banalität der Filmfigur untragbar (Zitat: „Die Welt ist voll geilo! Alles ist möglich!“). Doch in „Arschkalt“ ist diese eine der Hauptfiguren, und es wird in beinah jedem Moment deutlich, dass sie lediglich eine rein konfliktauslösende Triggerfunktion erfüllt, und somit vollständig im Dienste Bergs steht. Ohne Berg kein Moerer. Soviel zur Oppositionsschusterei.

Zu allem Überfluss ist der Film durch kapitelartige Einschübe gegliedert, in denen Berg, morgens im Bett liegend und neben ihm der volle Ascher, in Selbstgesprächen seinen Leidenszustand reflektiert. Hier werden allerlei Tiefkühlprodukte zur Allegoriegestaltung bemüht um seelische Zustände zu beschreiben, die natürlich selbstironisch psychologische Tiefe vorgaukeln sollen – und sich jedoch auf einem Katja-Riemann-auf-Prosecco-Niveau einpendeln: Er sei wie ein Fischstäbchen … ein Leben lang in eine eisige Hülle eingepackt, die nur direkt vor dem Tod mal kurz auftaut. Solche Einführung in Tiefkühlkostphilosophie passt wunderbar zum einzig emblematischen Bild des Films, in dem nach einer Nacht der Trunkenheit die Figuren ihre fragile Existenz akzeptieren und bereit sind, auf ein neues Leben zuzugehen: Im Hof des Lieferbetriebs fängt das Kunststoff-Iglu Feuer. Flammen schlagen hoch, es ist mit Gas gefüllt. Nun wird aufgetaut, und das düstere Ende ist plötzlich ferner, als Berg sich das vorzustellen bereit war. Es bleibt also noch etwas Zeit – auch für weitere Sommerkomödien. Bitte warm anziehen.

Hangover 2

(USA 2011, Regie: Todd Phillips)

Abgehangen
von Harald Mühlbeyer

Eine gute Filmkomödie kann man sich mehrmals ansehen, und man muss jedes Mal lachen. An den richtigen Stellen, aus den richtigen Gründen. Obwohl man alle Gags, alle Sprüche, alle Volten …

Eine gute Filmkomödie kann man sich mehrmals ansehen, und man muss jedes Mal lachen. An den richtigen Stellen, aus den richtigen Gründen. Obwohl man alle Gags, alle Sprüche, alle Volten und Wendungen schon kennt, wirken sie dennoch. Ja, man kann umgekehrt sogar sagen: Eine gute Filmkomödie definiert sich dadurch, dass sie auch noch beim zweiten, dritten oder noch öfteren Ansehen so witzig ist wie beim ersten Mal. Das liegt vermutlich daran, dass sie von vornherein mit dem genau richtigen Rhythmus erzählt ist, dass die Pointen stets genau im richtigen Moment kommen: Dazu gehört ein gehöriges Können auf Seiten der Macher, aber auch ein gewisses Maß an glücklichem Zufall (der natürlich durch gewisse Kniffs des Komik-Könners provoziert werden kann, der zum Beispiel wissen muss, an welchen Stellen er ihm in welchem Maße freien Lauf lassen darf). So erklärt sich die Frische des Witzes, die erhalten bleibt, indem dem Film eine gewisse Unbefangenheit eigen ist – ob scheinbar oder echt, ist zweitrangig: Das Moment der Überraschung spielt da mit, die nicht nur den Zuschauer betrifft, sondern auch die Komödienmacher selbst, die sich von der Dynamik ihrer hart erarbeiteten Gags mitreißen lassen müssen. Letztendlich läuft es bei einer guten Komödie auf eine gewisse Freiheit hinaus, eine Freiheit des Denkens, der Ideen, des ausgelassenen Tuns. Eine Freiheit, die Todd Phillips, seine Produzenten und seine Darsteller im zweiten „Hangover“-Teil nicht mehr hatten.

Ein zweites Phänomen der Filmkomödie ist nämlich: Zwar kann man einen filmgewordenen, damit technisch reproduzierbaren Witz immer und immer wieder genießen – wird dieser Witz aber nochmal erzählt, im Grunde gleich, nur etwas anders, dann wirkt er nicht mehr. Deshalb funktionieren Remakes oder Sequels so oft nicht: Weil der Zwang der Wiederholung des ersten Erfolges zu groß, die Freiheit dadurch eingeschränkt ist. „Hangover 2“ ist so ein Fall: Da er sowohl Sequel als auch Remake ist, fehlt die Ungebundenheit, die Ungezwungenheit, die das Überraschende und Absurde erste ermöglicht.

Denn der erste „Hangover“-Film wird komplett noch einmal nachgespielt, in Bangkok diesmal, aber mit demselben Personal und demselben Problem eines kompletten Filmrisses während einer Junggesellenfeier. Was der Film gegenüber dem Original variiert, ist nur oberflächlich, diesmal spielt ein Äffchen und ein schweigender alter Mönch im Rollstuhl mit, statt eines Babys und eines Tigers: alle Elemente, die einem im ersten Teil so überraschend um die Ohren geflogen sind, haben im zweiten ihre Entsprechung. Nur das Feeling fehlt, diese Aura des Überrascht Werdens, die den ersten „Hangover“-Film auszeichnete. Wo vor zwei Jahren die absurdesten Situationen in perfektem Timing ganz ungebändigt die drei Freunde des Wolfsrudels wie auch die Zuschauer heftig durchrüttelten, herrscht jetzt das Schema vor. Der Witz wird noch einmal erzählt, aber nicht wiederholt; da hilft nur, den ersten Teil noch einmal anzuschauen und den zweiten zu vergessen.

Un homme qui crie – Ein Mann, der schreit

(F / B / TD 2010, Regie: Mahamat-Saleh Haroun)

Schwindende Hoffnung, lastendes Schweigen
von Wolfgang Nierlin

Ein spielerischer Wettstreit zwischen Vater und Sohn eröffnet den Film: Wer kann die Luft unter Wasser länger anhalten, der 55-jährige Adam (Youssouf Djaoro), ehemaliger zentralafrikanischer Schwimmmeister, oder der 20-jährige Abdel …

Ein spielerischer Wettstreit zwischen Vater und Sohn eröffnet den Film: Wer kann die Luft unter Wasser länger anhalten, der 55-jährige Adam (Youssouf Djaoro), ehemaliger zentralafrikanischer Schwimmmeister, oder der 20-jährige Abdel (Diouc Koma)? Übermütig und gleichberechtigt, als gäbe es keinen Altersunterschied, ringen die beiden miteinander im Swimmingpool eines Luxushotels der tschadischen Hauptstadt N’Djamena, wo Adam seit dreißig Jahren als Bademeister arbeitet. Noch kann es sich Abdel leisten, den Vater gewinnen zu lassen, doch bald wird aus dem Spiel Ernst, und Vater und Sohn verwandeln sich in erbitterte Rivalen. Als im Zuge der Hotel-Privatisierung Stellen gestrichen und langjährige Mitarbeiter entlassen werden, gerät auch der von allen „Champion“ genannte Adam unter Druck: Er muss seinen Arbeitsplatz seinem bisherigen Gehilfen Abdel überlassen und sich fortan als Schrankenwärter verdingen.

„Der Pool ist mein Leben“, kommentiert Adam fassungslos diese demütigende Degradierung. Regisseur Mahamat-Saleh Haroun reflektiert in seinem preisgekrönten Film „Un homme qui crie“ (Ein Mann, der schreit) diese einschneidende Veränderung als Symptom einer neuen Zeit und als Folge der Globalisierung, die auch vor den Ländern Afrikas nicht Halt macht. Und er übersetzt sie in teils deutlich gezeichnete Kontraste: So muss der „Champion“ seine weiße Kleidung gegen eine graue, zu kurz geratene Uniform eintauschen; sein Stresspegel erhöht sich merklich; und das firmeneigene Motorrad mit Beiwagen wird jetzt von seinem Sohn gelenkt. Resigniert versinkt Adam in einer tiefen Depression, die sich zu einer Identitätskrise auswächst. Aber fast noch schwerer wiegt das lastende Schweigen zwischen Vater und Sohn, das sich wie ein dunkler Schatten über die Familienbeziehungen legt.

Mahamat-Saleh Haroun inszeniert dieses innere Drama in langen, statischen Einstellungen und gewinnt gerade dadurch emotionale Tiefe. Verschärft und zugespitzt werden die psychischen Konflikte, als Abdel von der Armee, die sich im Bürgerkrieg gegen Rebellen befindet, zwangsrekrutiert wird. Adam nimmt wieder seinen alten Platz ein, doch eine Ahnung seiner schuldhaften Verstrickung legt sich immer deutlicher über die Szenen. Die Dynamik einer zunehmend chaotischer werdenden Außenwelt dringt in die Bilder. Opfert der Vater seinen Sohn? Geschickt verschränkt Haroun private und politische Tragödie und spart dabei auch religiöse Fragen nicht aus. Während Adam gegenüber seiner Frau einmal resigniert feststellt: „Vom Himmel ist nichts zu erwarten“, sagt sein weniger skeptischer, doch immer mutloser werdende Freund David, der entlassene Hotelkoch mit dem großen, aber kranken Herzen: „Ich bin gläubig, aber ich verliere langsam die Hoffnung.“

Auf Teufel komm raus

(D 2010, Regie: Mareille Klein, Julie Kreuzer)

Risikominimierung in Volkes Hand
von Louis Vazquez

Dass jede Medaille zwei Seiten hat, ist eine Binsenweisheit. Und dass Dokumentarfilme sich bemühen, gegensätzliche Standpunkte nachvollziehbar zu machen, indem sie unterschiedliche Perspektiven auf Konflikte einnehmen, ist auch nichts Neues. …

Dass jede Medaille zwei Seiten hat, ist eine Binsenweisheit. Und dass Dokumentarfilme sich bemühen, gegensätzliche Standpunkte nachvollziehbar zu machen, indem sie unterschiedliche Perspektiven auf Konflikte einnehmen, ist auch nichts Neues. Aber was „Auf Teufel komm raus“ aus konkurrierenden Blickwinkeln über ein Dilemma erzählt, sollte beachtet werden, denn die aufgeworfenen (und leider nicht beantworteten) Fragen zum Umgang mit Sexualstraftätern, die ihre Strafe bereits verbüßt haben und wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden sollen, werden gewiss nicht an Brisanz verlieren, bedenkt man das kürzlich gefällte Urteil über die Verfassungswidrigkeit der Sicherungsverwahrung. Auswege kann der Film unter den gegebenen Bedingungen nicht zeigen. Aber er macht sehr deutlich, wie viel schief läuft. Er erzählt von einer Resozialisierung, die überhaupt nicht stattfindet.

Vor dem Haus von Helmut D. stehen seit fast einem Jahr täglich die Demonstranten. „Schick uns deinen Bruder raus, Feigling!“ rufen sie. Der Bruder, Klaus D., hat zwei langjährige Haftstrafen wegen Vergewaltigung verbüßt und wurde nach seiner Entlassung von Helmut und dessen Familie aufgenommen, denn irgendwo musste er ja hin. Die Einwohner der Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen sind aber alles andere als gewillt, einen möglichen Rückfalltäter in ihrer Mitte zu dulden und fordern, so sagen sie, eine nachträgliche Sicherungsverwahrung. „Raus, raus, raus aus dem Haus!“ rufen sie. Aber was soll dann eigentlich passieren? „Wenn keine Polizei da wäre, wären wir schon längst drinnen.“

Hinter den Jalousien des rund um die Uhr von der Polizei be- und überwachten Hauses steht Helmut D. und fotografiert die Protestierer, um eventuelle Rechtsbrüche zu dokumentieren. Von den grausamen Taten, für die sein Bruder verurteilt wurde, von Vergewaltigungen und Genitalverstümmelungen, die nicht zu fassen sind, redet er voller Abscheu. In so einen Täter könne man sich gar nicht rein versetzen, so einer gehöre, das findet selbst er, „weggesperrt“. Aber sein Bruder könne es auf keinen Fall gewesen sein, zumal er stets seine Unschuld hinsichtlich der zweiten Anklage beteuerte. Helmuts Parteinahme bringt nicht nur die Demonstranten gegen ihn auf, sondern hat weitere schwerwiegende Folgen: Das Jugendamt lässt untersuchen, ob Helmuts Sohn Kevin unter diesen Umständen weiter mit der Familie leben kann. Die Polizei habe einmal bereits versucht, den Jungen mitzunehmen, ohne rechtliche Handhabe, erzählt Helmut D.

Karl D. selbst äußert sich verharmlosend zu seinen Straftaten und macht Äußerungen, die kaum zu ertragen sind, etwa wenn er betont, eine von ihm vergewaltigte Frau habe keinen Psychologen gebraucht. Nicht minder erschreckend ist allerdings, was sich in den Köpfen einiger der ordentlich angemeldeten Demonstranten abzuspielen scheint: „Wenn ich den einfach wegsperre, dann kostet der 11 € am Tag, wenn wir uns irren als Staat. Und jetzt kostet der ’ne Menge mehr.“ Wenn Unrechtsprechung billiger ist als Rechtsprechung, scheint die Versuchung groß.

Doch die Demonstranten lassen sich – ein bisschen Hoffnung tut durchaus gut – nicht alle über einen Kamm scheren. Eine Gruppe von Frauen will das Gespräch mit Helmut D. suchen, zunächst zwar nur, um zu ergründen, wie er den Bruder bei sich aufnehmen konnte, doch immerhin gibt es den Versuch einer Kontaktaufnahme als Alternative zu den vorherrschenden Gerüchten und Spekulationen. Die Initiative spaltet die Demonstranten und sorgt für Anfeindungen. Erneut zeigt sich, wie die Linie gezogen wird: Wer den Straftäter nicht eindeutig „weg“ haben will – wohin nochmal? –, wird zum Feind und bekommt nächtliche Drohanrufe oder ebenfalls das Sozialamt auf den Hals gehetzt wegen der Kinder. Da wirkt es durchaus ein wenig inkonsequent, wenn die Demonstranten mit windelweichen Worten den Schulterschluss mit Neonazis verweigern, die sich als Unterstützer anbieten.

„Auf Teufel komm raus“ hat einige Mängel, mit denen man sich aber arrangieren sollte. Insbesondere leiden die Gespräche der kleinen Gruppe von Demonstrantinnen mit Klaus und Helmut D. unter der Anwesenheit der Kamera. So manches tollkühne Wort wäre in wirklich privatem Rahmen vielleicht nicht gefallen, denn bei allen Beteiligten ist ein gerüttelt Maß an Selbstdarstellung im Spiel. Zwischen den Frauen entwickelt sich einmal eine regelrechte Mutprobe, sich den Demonstranten vorm Haus zu zeigen, im Wissen, dass ihr Gespräch mit dem Gegner als Verrat angesehen wird. Immerhin aber schließt der Film kritische Äußerungen über die Art und Weise dieser Zusammentreffen mit ein.

In manchen Szenen wäre mehr Beharrlichkeit der sich sehr zurücknehmenden Filmemacherinnen wünschenswert gewesen, damit verschiedene Vorwürfen und Spekulationen nicht unbelegt stehen bleiben. Trotzdem ist „Auf Teufel komm raus“ unbedingt sehenswert. Weil der Film zeigt, wie schwierig und weit der Weg zu einem angemessenen Umgang mit entlassenen Sexualstraftätern noch ist. Und es stellt sich die Frage, ob es überhaupt vorangeht, wenn auch 80 Jahre nach Fritz Langs „M“ nach Mord und Totschlag gerufen wird, verklausuliert oder ganz offen.

Auf brennender Erde

(USA / AR 2008, Regie: Guillermo Arriaga)

Geduldspiel
von Louis Vazquez

Puzzlefreunden geht es in der Regel ums Puzzeln selbst, nicht um das fertige Bild. Man mag sich als Außenstehender manchmal fragen, warum so ein gelöstes Puzzle dann unbedingt gerahmt an …

Puzzlefreunden geht es in der Regel ums Puzzeln selbst, nicht um das fertige Bild. Man mag sich als Außenstehender manchmal fragen, warum so ein gelöstes Puzzle dann unbedingt gerahmt an der Wand hängen muss, wenn doch das Motiv nur mäßig beeindruckt. Aber dieses Unverständnis verkennt die Freude am Rätseln und ihre Auswirkungen.

Ein vergleichbares Problem kann man mit Guillermo Arriagas Film „Auf brennender Erde“ haben, der jetzt mit einiger Verspätung in die deutschen Kinos kommt. Bereits seine Drehbücher für Alejandro Gonzáles Iñárritu („Amores Perros“, „21 Grams“ und „Babel“) wiesen den Autoren als großen Freund der Verrätselung aus. Doch während die verschachtelten Erzählebenen jenen Filmen gut zu Gesicht standen, finden viele Rezensenten Arriagas Regiedebüt zu konstruiert, denn eigentlich erzähle es doch eine schlichte, nicht sonderlich originelle und gar nicht mal so schlüssige Geschichte. Das ist nicht falsch. Aber wenn eine Geschichte anders erzählt wird, ist sie immer auch eine andere Geschichte. Und obwohl das Wechseln zwischen den verschiedenen Erzählsträngen und die Verschleierung ihres Verhältnisses zueinander Geheimnisvolleres suggerieren als die Auflösung letztlich bietet, so entwickelt sich doch ein nicht geringer Reiz aus der Anstrengung, die Puzzleteile zu sortieren. Außerdem passt die komplexe Konstruktion gar nicht schlecht zum Erzählten, denn auch die eine oder andere Figur hat ihre Probleme mit dem großen Ganzen – wenngleich „Auf brennender Erde“ nicht als „Mind Movie“ inszeniert ist.

In einem Wohnwagen sind zwei Menschen verbrannt, die eine heimliche Affäre miteinander hatten. Zurück bleiben ihre geschockten Familien in gegenseitiger Abneigung – hier amerikanische Arbeiterklasse, da mexikanische Einwanderer –, bis sich die Kinder plötzlich gegen den Willen des jeweils betrogenen Elternteils füreinander interessieren. Im Rückblick erzählt der Film auch, wie Tochter Mariana (Jennifer Lawrence) der Affäre ihrer Mutter (Kim Basinger) langsam auf die Schliche kommt und zeigt Schlaglichter eines unerfüllten Ehelebens. Dann ist da noch Sylvia (Charlize Theron), deren Rolle in der Geschichte anfangs unklar ist, und die zunächst einen äußerst toughen Eindruck macht: Scheinbar stressresistent leitet sie ein anspruchsvolles Restaurant, und der Koch, mit dem sie eben noch im Bett lag, wird bei der Arbeit kaum mehr eines Blickes gewürdigt. Als Sylvia dann aber auf einer Klippe sitzt, aufs Meer blickt und sich plötzlich mit einem Stein die Innenseite der Oberschenkel aufschlitzt, ist das ein sehr schockierender Moment. Jetzt traut man ihr auch zu, im nächsten Augenblick zu springen, und ahnt, dass unter der Oberfläche sehr viel kaputt ist. Aber warum? Und wer ist der Mann, der sie und ihre sexuellen Eskapaden heimlich beobachtet?

„Auf brennender Erde“ ist ein in seiner abschließenden Versöhnlichkeit fast märchenhafter Film über Schuld, über (natürlich) Liebe und die Narben, die das Leben aus verschiedenen Gründen hinterlässt. Und es ist sein großes Glück, dass seine Schauspielerinnen Charlize Theron, Kim Basinger und Jennifer Lawrence auch recht oberflächliche oder unstimmige Figuren glaubwürdig mit Leben füllen können und jeweils ein paar herausragende Szenen zu spielen haben. Manchmal lassen sie sogar über wirklich eklatante Schwächen des Drehbuchs hinweg sehen, wenn etwa eine Figur, mit ihren Lebenslügen konfrontiert, allen ernstes die Dialogzeile „I can’t run away anymore“ hingeschrieben bekommt. „Auf brennender Erde“ bietet reichlich Gelegenheit, sich über nur halb Gelungenes oder nicht zu Ende Gedachtes zu ärgern. Wenn es aber gelingt, hier und da ein Auge bzw. beide Ohren zuzudrücken, dann gibt es nichts zu bereuen.

Pippi Langstrumpf TV-Serie Teil 4 und 5, Folgen 14-17 und 18-21

(SE / D 1969, Regie: Olle Hellbom)

Mach' mal Pippi!
von Andreas Thomas

Eltern sind bei Astrid Lindgren eher schmückendes Beiwerk und bei Pippi Langstrumpf, ihrem berühmtesten literarischen Kind, sind sie gar störend, nervtötend oder lächerlich. Aber gerade hierin liegt natürlich Pippis Mission …

Eltern sind bei Astrid Lindgren eher schmückendes Beiwerk und bei Pippi Langstrumpf, ihrem berühmtesten literarischen Kind, sind sie gar störend, nervtötend oder lächerlich. Aber gerade hierin liegt natürlich Pippis Mission und pädagogischer Auftrag. Sie ist das kathartische Element, das dem grauen Kinderalltag fehlt, das ohne die Lindgren fehlen würde; mit Pippi erleben die durchregulierten und gelangweilten kleinen Geschöpfe, was sie eigentlich immer mal erleben wollten, jedoch nie zu machen gewagt hätten. Pippi trägt mal einen Bart aus Nudeln, mal geht sie mit ihren überdimensionierten Schuhen ins Bett, mal benutzt sie dasselbe so lange als Trampolin, bis es zusammenkracht; und ständig fliegt sie vermittelst möglicher und unmöglicher Hilfsmittel, wie z.B. einem Fahrrad ohne Räder durch die Lüfte. Pippi verweigert sich allen möglichen Normen und Regeln, und sie macht nicht mal vor den Naturgesetzen halt. Pippi gilt heute als Urfeministin und Autonome, und wenn es wahr sein sollte, dass Lindgren mit Pippi Langstrumpf die erste Punkerin in der Geschichte geschaffen hat, dann gab es Punk schon während des Zweiten Weltkrieges, nämlich 1941, als Lindgren ihrer kranken Tochter die ersten Pippi-Geschichten erzählte, deren gedruckte Erstveröffentlichung im Jahr 1945 erfolgte. Heute ist Pippi Langstrumpf eine Kinder-Institution und ein Traumberuf: beim Kindergartenfasching tauchen ungefähr so viele Pippi Langstrumpfs auf wie Cowboys oder Hexen.

Sich des grauen Kinderalltags entheben können Kinder jedoch nicht nur mithilfe der weltberühmten drei gedruckten Pippi-Hauptwerke, sondern auch durch deren filmisches Äquivalent, der schwedisch-deutsch koproduzierten Fernsehserie mit Inger Nilsson in der Titelrolle. Wer, wenn er den Namen Pippi Langstrumpf hört, sieht nicht automatisch die rotbezopfte Inger Nilsson vor sich, dieses mitunter geradezu aufsässig unorthodoxe und rotzig grinsende Mädchen?

Und selbiges hält nicht inne, seinesgleichen zu unterhalten und zu entspannen. Auch vierzig Jahre nach dem Entstehen der Pippi-Langstrumpf-TV-Serie (deren Master of Ceremonies seines Zeichens ein gewisser Olle Hellbom war, ein dezidierter Lindgren-Freund und -Regisseur, leider viel zu früh an Magenkrebs verstorben) erkannte die DVD-Firma „Universum Kids“ (nicht zu verwechseln mit „Universal Kids“) die kommerziellen Gewinnchancen einer kompletten DVD-Verewigung des TV-Langstrumpf-Vermächtnisses, welches – trotz seiner nur zwei Jahre Entstehungszeitraums von 1968 bis 1970 – schon lange Mythos war und weit über seine Zeit hinaus wies.

Kurioserweise gab und gibt es in Schweden von dieser Fernsehserie nur 13, in Deutschland aber 21 Teile, und der Grund dafür liegt in den jetzt auf DVD aufgelegten zwei mal 4 Folgen „Mit Pippi Langstrumpf auf der Walze“ und „Pippi und die Seeräuber“, die kleinkindgerecht portionierten Fernsehfassungen der vorab schon in den Kinos gelaufenen Spielfilme „Pippi außer Rand und Band“ und „Pippi in Taka-Tuka-Land“.

Was hier also rezensiert wird, ist das gleiche Grundmaterial wie in den genannten Spielfilmen, nur neu synchronisiert und irreführenderweise mit abweichendem Titel unterlegt und mehr oder weniger sinnvoll nachträglich in künstliche Episoden zerlegt. Falls man die beiden Kinofilme schon besitzt, ist die Anschaffung der TV-Version sicherlich eher überflüssig und falls man sie nicht besitzt, ließe sich darüber nachdenken, ob die episodale Verabreichung für kleine Kinder (Empfehlung: ab 5 Jahren) nicht die bekömmlichere ist als die komplett anderthalb Stunden Spielfilmlänge; runder und sehtauglicher aber sind beide Filme natürlich en bloc, davon abgesehen, dass der weitaus gelungenere „Urfilm“ davon „Pippi außer Rand und Band“ (in der TV-Version also die Folgen 14-17 „Mit Pippi Langstrumpf auf der Walze“)ist.

Die Handlung des Films/der Serienfolgen soll, so kann man nachlesen, sich stärker an Motive des Kinderbuchs halten als das bei „Pippi in Taka-Tuka“ der Fall ist, und das meint man auch zu spüren: Die Texte sind durchweg witzig und die Erlebnisse von Tommy und Annika, die zusammen mit Pippi von Zuhause ausreißen DÜRFEN, sind durchweg spannend, ohne dabei übermäßige Angst zu erzeugen, was bei den Piratenfolgen eher programmiert ist. Highlights der Ausreißer-Geschichte sind Pippis Wasserfall-Fahrt in einem Fass und „Konrads Alleskleber“, mit dem man auch an der Decke spazieren gehen kann. „Pippi und die Seeräuber“ (TV-Folgen 18-21) fällt dagegen ab ins Mediokre, der exotische Background kann nicht über eine schleppende, z.T. chaotische, z.T. ungereimte Dramaturgie hinwegtäuschen. Kurz zur Handlung: Wieder einmal muss Pippi das Kindermädchen von Thomas und Annika spielen, weil deren Eltern ein paar Wochen verreist (!) sind. Da bekommt Pippi einen Hilferuf in Form einer Flaschenpost ihres Vaters Ephraim Langstrumpf, der sich in den Händen von Piraten befindet. Auf ihrer Reise begegnen sie übrigens dem im Film einigermaßen unbedeutenden Piraten Wolfgang Völz, der der See treu blieb und bekanntermaßen später zur Stimme Käptn Blaubärs avancierte, dem echten großen Weltumsegler Thor Heyerdahl und einer tonkonservierten Fernsehamsel, deren unverkennbarer Gesang in einer Endlosschleife während der kompletten siebziger Jahre sommerliche Außenszenen deutscher Fernsehunterhaltung untermalte: Besondere Vorliebe: „Der Kommissar“ oder „Derrick“. Dass sie es, wie hier mit „Pippi in Taka-Tuka-Land“ auch ins Kino schaffte, war mir bisher neu.

Pippis deutsche Stimme in allen 21 Folgen wurde von Eva Mattes geliefert, sie wiederum spielte später unter anderem in Klassikern des Neuen Deutschen Films, so bei Werner Herzog („Stroszek“), Rainer Werner Fassbinder („Die bitteren Tränen der Petra von Kant“) und 2002 ist sie zur Tatort-Kommissarin Klara Blum geworden. Rise and Fall kann man dazu nur sagen, aber das – wie so vieles andere mehr – gehört nicht unbedingt an diesen Ort …

Utopia Ltd.

(D 2011, Regie: Sandra Trostel)

„But what can a poor boy do?“
von Ulrich Kriest

Schön, dass es sie gibt, diese Band! Klar, man kann Anton Spielmanns Attitüden etwas enervierend finden, dieses selbstbewusste Drauflosrabulieren ohne Punkt und Komma. Diesen Rock’n’Roll-Habitus, wenn er seine Bandkollegen an …

Schön, dass es sie gibt, diese Band! Klar, man kann Anton Spielmanns Attitüden etwas enervierend finden, dieses selbstbewusste Drauflosrabulieren ohne Punkt und Komma. Diesen Rock’n’Roll-Habitus, wenn er seine Bandkollegen an der S-Bahn abholt – und auftritt wie der junge Stiv Bators. Okay, man kann auch sagen, dass die Musik von 1000 Robota ziemlich retro klingt, nach Palais Schaumburg und Fehlfarben, nach Holger Hiller. Aber immerhin klingt sie nicht nach Tomte oder Madsen und auch nicht befindlichkeitsfixiert wie Kettcar – und das ist doch schon mal ein Anfang, auf den man bauen kann.

Überhaupt: Man erführe auch gerne etwas mehr über die drei Jungs, die da an der Hamburger Peripherie offenbar noch mal das old school-Ding durchziehen. Als wäre es wieder 1964 oder 1975 oder 1980. Man geht gemeinsam zur Schule, gründet eine Band, wagt die Ochsentour, hat Glück und wird berühmt. Wie sie wurden, was und wie sie sind, erzählt diese filmische Langzeitbeobachtung von Sandra Trostel leider nicht. Okay, man sieht die Eigenheime im Hamburger Speckgürtel, in denen Anton, Jonas und Sebastian von 1000 Robota wahrscheinlich aufgewachsen sind. Man sieht ihre Schule, ein Gymnasium. Abitur steht an. Die Eltern bleiben im Hintergrund, verlangen teilweise wohl eine aufgeklärte Gratwanderung zwischen Vernunft und Abitur, legen ihren Kindern (die übrigens auch nur Teilzeit-Rebellen sind!) aber keine größeren Steine in den Weg. Aber woher ihre Wut in ihrer Musik kommt, erfährt man nicht. Die Haltung ist einfach da. Und diese Haltung ist erfrischend widerspenstig. Mal wird lustig gegen Thees Uhlmann gelästert, mal wird ein Generationsbruch mit Tocotronic exekutiert.

Bei 1000 Robota fängt alles sehr früh und fast naturwüchsig an: man hat einen klitzekleinen Indie-Hit mit dem Titel „Hamburg brennt“, will den aber eigentlich nicht mehr live spielen und auch nicht auf dem Debütalbum drauf haben. Weil man sich schließlich lyrisch weiter entwickelt habe. Mittlerweile gelten 1000 Robota als Underground-Hit, die Pop-Magazine stehen Schlange, die renommierte Indie-Plattenfirma „Tapete Records“ klopft an. Ein Hype beginnt! Aber früh schon fangen die Probleme an: Spielen 1000 Robota Punk? Und falls ja, was mag dies um 2010 noch bedeuten? Ist Punk nicht längst ein Genre und keine Haltung mehr? Klingen 1000 Robota nicht wie Post-Punk anno 1980/81? Spielen sie den Soundtrack ihrer Eltern? Anton Spielmann, Gitarrist, Sänger und Wortführer des Trios 1000 Robota, ist sich jedenfalls sicher, dass er nicht nur Andere erinnern will, sondern selbst etwas entstehen lassen will.

Sandra Trostel hat die drei Jungs ausgesprochen lange begleitet, zeigt die Band beim Proben und im Studio, bei Konzerten, Festivalauftritten und auf dem Weg zum Abitur. 1000 Robota legen einen ganz erstaunlichen Enthusiasmus an den Tag, werden allerdings auch mit der Tatsache konfrontiert, dass alles, was man an bösen Geschichten vom Musikbusiness zu kennen glaubt, tatsächlich zu stimmen scheint. Die Probleme im Aufnahmestudio lassen sich noch bewältigen, aber die Plattenfirma „Tapete Records“ übt sich auf das Wohlmeinendste in repressiver Toleranz. Man muss dazu wissen, dass „Tapete“ ein durchaus gut beleumdetes Indie-Mainstream-Label mit Musikern in der Geschäftsführung ist. Anton Spielmann nutzt den Kontakt, um hier nach der Schule gleich eine Lehre als Kaufmann für audiovisuelle Medien zu beginnen. „Tapete“ bildet aus, aber natürlich total lässig, augenzwinkernd und ironisch. Die Bilder, die „Utopia Ltd.“ im „Tapete“-Büro einfängt, sind bestechend klar. Alle sitzen im selben Boot, nur, wenn jemand mal ausschert, wird die Keule des Selbstmitleids rausgeholt: »Hey, was fällt dir ein, wir beuten uns hier alle selbst aus!«

Was folgt, ist ein Glücksfall von Musikdokumentation, die ideologisch-strukturelle Krise wird geradezu mit dem Skalpell konturiert: Einerseits werden 1000 Robota seitens der Musikpresse so gehypt, dass die Band sogar Auftritte in England bekommt, andererseits ist die ausgedehnte Tour so schlecht geplant, dass man sogar auf Dorffesten oder als Vorgruppe von Fettes Brot »verheizt« wird. Und zwischen dem Hype der Musikpresse und dem Interesse des Publikums klafft eine schmerzhafte Wunde. Einmal sieht man Spielmann verzweifelt vor der Tür um Zuschauer werben, nachdem er aus eigener Tasche Plätze auf der Gästeliste gekauft hat. Gleichzeitig erkennt er bei der Arbeit in der Plattenfirma, dass die Knüppel, die seiner Band zwischen die Beine geworfen werden, durchaus üblich sind und von einer prinzipiellen Missachtung des Künstlers und seiner Autonomie zeugen. Als die Band sich schließlich entscheidet, die Einladung zu Stefan Raabs Bundesvision Song Contest auszuschlagen, ist ein Grad an Eigensinn erreicht, der der Plattenfirma zu weit geht. Man trennt sich. Wahrscheinlich in gegenseitigem Einvernehmen. Eigentlich ist es erstaunlich, dass „Tapete“ nicht gegen „Utopia Ltd.“ vorgegangen ist, denn der Ruf der Firma ist nach diesem Eklat ziemlich angekratzt. Am Ende haben 1000 Robota ihre Unabhängigkeit auf ganz erstaunliche Weise bewahrt, dabei allerdings ihre jugendlich-aufmüpfige Unbeschwertheit verloren, sind von „Tapete“ zu „Buback“ gewechselt, wo es sich der erfolgreiche Bildende Künstler und Labelchef Daniel Richter offenbar leisten mag, diese ungestüme Band in ihrem Anders-Sein weiterhin zu fördern. Anton Spielmann hat seine Lehrstelle bei „Tapete“ hingeschmissen: sein letzter Besuch am alten Arbeitsplatz dokumentiert Verhaltenslehren der Kälte.

All dies registriert „Utopia Ltd.“ recht nüchtern und ohne daraus einen Heldengesang der Resistenz zu stricken. Für ein paar Momente des Glücks laufen Anton, Jonas und Sebastian mit Wucht gegen die Wand, gerne auch ein paar Mal hintereinander. So unglamourös (und ganz ohne Mädchen!) stellt sich der Alltag im Pop-Biz 2011 dar, dass man sich wundert, warum sich jugendlicher Eigensinn mit revolutionärer Ungeduld noch immer mit Verve auf die Pop-Musik stürzt. Schließlich liegt ein Abgrund zwischen Mythos und Realität. „Utopia Ltd.“ gibt auf solche Fragen keine Antwort, wendet sich aber auch nicht erwachsen-desillusioniert oder gar zynisch ab. Wie gesagt: schön, dass es 1000 Robota gibt. Und diesen Film über die Anfänge einer Pop-Karriere, die fast schon wieder beendet war.

Benda Bilili!

(CG / F 2010, Regie: Renaud Barret, Florent de La Tullaye)

Musik als Überlebensmittel
von Wolfgang Nierlin

„Ich erfinde nichts, ich singe über das Leben“, sagt ein Musiker der kongolesischen Band Staff Benda Bilili. Übersetzt bedeutet dieser Name „Jenseits des Scheins“; und dahinter steht ein Kollektiv von …

„Ich erfinde nichts, ich singe über das Leben“, sagt ein Musiker der kongolesischen Band Staff Benda Bilili. Übersetzt bedeutet dieser Name „Jenseits des Scheins“; und dahinter steht ein Kollektiv von behinderten und nicht behinderten Musikern, die auf den Straßen der afrikanischen Megacity Kinshasa zu Hause sind, wo sie zwischen Dreck und Armut geduldig ein kümmerliches Dasein fristen. Doch mit überschäumender Musikalität, kreativer Energie und einem unerschütterlichen Lebenswillen trotzen sie dem Wahnsinn der Lebensverhältnisse, die den Schwachen ausstoßen und den Stärkeren begünstigen. „Einen Tag habe ich zu essen, den anderen nicht“, heißt es lapidar und nüchtern in ihren Liedtexten; oder auch: „Auf Karton kann man träumen.“ Die Musik als Spiegel einer rauen Lebenswirklichkeit erweist sich jedoch für sie zugleich als Überlebensmittel.

Als die beiden französischen Filmemacher Renaud Barret und Florent de La Tullaye im Sommer 2005 auf die seltsame Band mit ihren ungewöhnlichen Rollstühlen und selbstgebauten Instrumenten aufmerksam werden, fassen sie bald darauf den Entschluss, ihnen zur Produktion eines Tonträgers und größerer Bekanntheit zu verhelfen. Hinter ihrem Dokumentarfilm „Benda Bilili!“, der ein Porträt „über marginalisierte Ausgestoßene“ zeichnen will, „die sich dem System widersetzen“, steht also eine Art Tauschhandel. Diese Nähe liefert zwar eine große Unmittelbarkeit und teils faszinierend authentische Bilder, der mangelnde Abstand in der Verschränkung der beiden Produktionsgeschichten produziert aber auch eine Vielzahl täuschender Inszenierungen. Man merkt, dass die Anwesenheit der Kamera für die Porträtierten die Hoffnung und Chance auf ein anderes Leben verkörpert.

Außerdem geht es Barret und de La Tullaye weder um eine Darstellung politischer Hintergründe noch um eine vertiefende Analyse der sozialen Verhältnisse. In Streiflichtern und Impressionen schreibt ihr Film vielmehr den Mythos eines heldenhaften Überlebenskampfes fort. Dabei ist der Erfolg, der sich nach der Produktion des Albums „Très très fort“ und einer Europatournee im Jahr 2009 einstellt, den sympathischen, auf den unerwarteten Rummel selbstironisch reagierenden Musikern durchaus zu gönnen. So geht zumindest ein Traum in Erfüllung, den viele andere leider hoffnungslos weiterträumen müssen.

Gigantisch

(USA 2010, Regie: Matt Aselton)

Von Laborratten und Menschen ...
von Michael Schleeh

Der in seiner Adoleszenz versumpfende Einzelgänger und Bettenverkäufer Brian (Paul Dano) hat einen großen Plan, den er schon seit seiner Kindheit hegt: er möchte ein chinesisches Kind adoptieren. Nun ist …

Der in seiner Adoleszenz versumpfende Einzelgänger und Bettenverkäufer Brian (Paul Dano) hat einen großen Plan, den er schon seit seiner Kindheit hegt: er möchte ein chinesisches Kind adoptieren. Nun ist es endlich so weit! Doch da lernt er die charmant-flippige Happy (Zooey Deschanel) kennen, die sich nicht nur mit Schwung in eines seiner Ausstellungsstücke wirft, sondern die sich auch mit ihrer ungehemmt frechen Art seines Herzens zu bemächtigen weiß. Und als sich sogar so etwas wie eine schüchterne Liebe abzuzeichnen beginnt, da scheint sich auch die Sehnsucht nach einem neuen, spannenden Lebensabschnitt zu erfüllen! Doch als er ihr die Sache mit dem Kind erzählt, ergreift sie die Flucht und meldet sich – vor den Kopf gestoßen – kurzerhand bei einer Elitekochschule im fernen Frankreich an …

So manche arthousige Independentkomödie macht sich ihre Sache etwas zu einfach, wenn sie sich allzu unverfroren aus dem Baukasten des Genrekonsenses bedient: so auch „Gigantisch“, in dem alles so ganz und gar nicht gigantisch sein will. Einmal mehr bekommt man die Story vom Nerd, bzw. vom Loner oder vom zumindest komischen Typen geboten, der von einer Schönheit (die auch eine ziemlich komische Type ist) gleich einem fish-out-of-water an der Angel der Zuneigung aus dem sozialen Abseits in die eine menschliche Existenzform bugsiert wird, die es lohnt (als love story selbstredend) verfilmt zu werden: die Zweierbeziehung. Hinter der natürlich im Dunst der Irrungen und Wirrungen die gesellschaftlich einzig selig machende, vertraglich vollabgesicherte Existenzform hervorlugt: die Ehe. Um dorthin zu gelangen, gilt es natürlich etliche, in diesen Film leider künstlich in den Plot hinein konstruierte Hürden zu überwinden, die mindestens ebenso kurios sein müssen wie dessen Charaktere.

Das befreiend Zwanglose (also eigentlich Erratische) an „Gigantisch“ ist, dass diese Hürden vollkommen willkürlich anmuten und in keinerlei Zusammenhang stehen. Einen plausibel sich entfaltenden Plot sucht man vergebens. So muss man schon ein gehöriges Maß an interpretatorischer Kaltschnäuzigkeit aufbieten, um etwa dem nächtlich prügelnden Unbekannten einen Sinn jenseits seiner offensichtlichen „Schrägheit“ zukommen zu lassen; etwa als Alter Ego des Protagonisten, der sich metaphorisch selbst im Wege steht und über die eigenen Beine stolpert. Oder auch: der furchtbar „schräge“ Chemikerfreund, der seine Verhaltensforschung an Laborratten testet (die natürlich stets in Allegorie zum Protagonisten zu sehen sind). Und wem diese Anspielung nicht ins Auge springen sollte, dem wird die Parallele überflüssigerweise noch in einem kurzen klärenden Dialog, den Zuschauer bevormundend, klar gemacht. Auch der Vater der Braut, gespielt von John Goodman in all seiner massigen Rumpeligkeit, ist neben seiner großen Klappe und in seiner polternden feldmarschallartigen Rücksichtslosigkeit (ein Status, der ihm sein Vermögen ermöglicht) vor allem und zuerst einmal eine „schräge Type“. Dass der Patriarch zugleich, jenseits seiner harten Hülle, ein liebender Vater ist, versteht sich. Von all dem abgesehen ist natürlich schon die Prämisse des Films, ein Kind einfach so aus China zu adoptieren, furchtbar „schräg“ (auch wenn es dafür gar keinen filminhärenten Grund gibt und sich auch aus der Figurenzeichnung keine Notwendigkeit ergibt. Zudem könnte es auch eines aus Afrika sein oder aus Südamerika – warum nicht aus Haiti? Oder warum sich nicht einfach einen Hund zulegen und ein kleines Nilpferd?). Der Bruder, als Gegenentwurf zum Protagonisten ein verdorbener Karrierist, der sich mit seinen Geschäftskollegen im Massagesalon kollektiv unter großen roten Hauben von langbeinigen Schönheiten masturbieren lässt (eine total „schräge“ Idee), kommt auf den Gedanken, man könne ja auch die Dienste illegaler Menschenhändler bemühen, um an so ein Kind zu kommen. Er kenne da so Leute …

So also schleicht sich eine total subtile Gesellschaftskritik hinein in diesen Film, der von so ziemlich allem befreit ist, was interessant wäre. Hinzu kommt leider noch eine allenfalls mittelprächtige schauspielerische Leistung aller Beteiligten, die merkwürdig unengagiert ihre Stereotypen herunterspielen: Dano wieder mal betreten schüchtern und zurückhaltend, Deschanel augenaufreißend, Goodman spielt sowieso eine Karikatur. Dazu ein wenig Großstadtmelancholie und fertig ist ein Film, der schon irgendwem gefallen wird. Allerdings nicht in der deutschen Synchronisation, die merkwürdig hölzern und künstlich geraten ist. Herzlos wirkt das alles, geflickschustert und wenig zwingend. Der Schluss allerdings, der ist ein offener. Was generell ein Pluspunkt ist, wirkt in „Gigantisch“ jedoch so, als wäre dem Drehbuch einfach nichts „Schräges“ mehr eingefallen, das man parataktisch hätte dranhängen können. Nun, dann machen wir hier eben Schluss.

Dogtooth

(GR 2009, Regie: Giorgos Lanthimos)

Diktatur zum Selbermachen
von Oliver Nöding

Man stelle sich vor, Lampen hießen „Muschis“ und weibliche Geschlechtsteile „Tastatur“, harmlose Katzen stellten eine tödliche Bedrohung für den Menschen dar, der seine Volljährigkeit erst mit dem Ausfallen eines Eckzahns …

Man stelle sich vor, Lampen hießen „Muschis“ und weibliche Geschlechtsteile „Tastatur“, harmlose Katzen stellten eine tödliche Bedrohung für den Menschen dar, der seine Volljährigkeit erst mit dem Ausfallen eines Eckzahns (dem titelgebenden „Dogtooth“) erreicht, sexuelle Gefälligkeiten könnte man im Tausch gegen nutzlose Pfennigartikel erwerben und eine Frau ganz allein kraft ihres Willens schwanger werden, der auch darüber entscheidet, ob sie einen Jungen, ein Mädchen oder gar einen Hund gebiert. Willkommen in der absurden und im Wortsinne verlogenen Welt von Giorgos Lanthimos‘ „Dogtooth“, deren Stabilität durch die Sichtung von Filmklassikern wie „Der weiße Hai“ oder „Rocky“ ganz folgerichtig ernsthaft gefährdet wird.

In einem luxuriösen Haus mit großem Garten und Swimming Pool lebt eine nicht näher benannte fünfköpfige Familie, bestehend aus Vater, Mutter und drei erwachsenen Kindern, einem Sohn und zwei Töchtern. Ein hoher Bretterwall umgibt das Grundstück, das die Kinder noch nie verlassen haben, weil die Eltern ein strenges Regiment über sie führen: Nicht nur wird jede Information über die Außenwelt von ihnen ferngehalten, sie werden außerdem mit gezielten Fehlinformationen gefüttert, die keinen anderen Zweck haben, als sie für immer an das Elternhaus zu binden. Mit zunehmendem Alter wird die Aufgabe für die Eltern schwieriger: Für den Sohn besorgt der Vater – der einzige, der auch ein Leben außerhalb des Eigenheims führt – eine Sexualpartnerin, die bald auch das Interesse der Schwestern weckt. Die Neugier für die Welt hinter dem Zaun wächst und so sind die Eltern gezwungen, immer neue Bedrohungen herbeizufabulieren, um die Kinder davon abzuhalten, sie zu verlassen …

Giorgos Lanthimos‘ Oscar-nominierte Faschismus-Allegorie besticht durch ihre blendende Klarheit und Schärfe, die sich zuerst in seinen von Licht durchfluteten Bildern und dann in seiner Narration niederschlägt. In buchstäblich porentief reinen Weiß- und Pastelltönen zeichnet Lanthimos eine kleine abgeschottete Welt, aus der jeder schädliche Einfluss, jeder Hauch von Gefahr, jeder auch nur „unreine“ Gedanke, ja sogar die Möglichkeit des Zufalls per Dekret getilgt wurden und die sich folglich als überspitztes Abbild einer auf Sauberkeit und Sicherheit bedachten Gegenwart verstehen lässt. Diese Welt erweist sich jedoch kaum überraschend nicht als das Paradies auf Erden, als das Shangri-La aller Kulturpessimisten und Kostverächter, sondern als lebensfeindlicher, aseptischer Raum, der zudem zum Zusammenbruch verdammt ist, weil er den Menschen und seine Bedürfnisse konsequent unterschätzt. Dass die Abkopplung von der Außenwelt mitnichten eine Befreiung mit sich bringt, zeigt sich schon in der kongenialen Kameraführung von Thimios Bakatakis, der „Dogtooth“ bis auf zwei, drei kurze Ausnahmen komplett in statischen Einstellungen auflöst, in denen auch schon einmal Köpfe ab- und Gesichter angeschnitten werden oder sprechende Personen gar nicht im Bild zu sehen sind, die die Anwesenheit einer versteckten oder gar einer Überwachungskamera suggerieren und so keinen Zweifel daran lassen, dass das Regime der Eltern nichts anderes als ein totalitärer Überwachungsstaat ist.

Dass Lanthimos jeglichen Kontext ausblendet, niemals die Frage nach den Beweggründen der Eltern stellt oder deren System in einem näher definierten, konkreten gesellschaftlichen Raum verortet, markiert den Unterschied zu etwa M. Night Shyamalans thematisch ganz ähnlich gelagertem, letztlich aber in den erzählerischen Konventionen des Genrekinos verharrendem „The Village“. Diese Befreiung von erzählerischem Ballast trägt jedoch nicht bloß vordergründig zur Rätselhaftigkeit von „Dogtooth“ bei, der seine Gesellschaftskritik wie aus dem Nichts entwirft und sich dem Zuschauer darbietet wie eine Ameisenfarm, sie verstärkt seinen emotionalen Impact, der auch durch die leisen humoristischen Untertöne nicht verstellt wird: Wir brauchen keine zusätzlichen Informationen über seine Charaktere oder die Welt, in der er spielt, weil es darauf nicht ankommt. Die Welt, die die Eltern für ihre Kinder entworfen haben, ist die Hölle und nichts kann diese Erkenntnis mildern oder relativieren. Dass Lanthimos seinen Zuschauern zu dieser Erkenntnis verhilft, ohne sie mit langen erklärenden Monologen oder eindimensionaler Schwarzweiß-Malerei auf den richtigen Weg zu schubsen, sie mittels eines wogenden Scores oder durch abgedroschene Plot-Devices zu bevormunden, ist nur konsequent. Sein Verzicht auf solche Mittel gründet in einem unerschütterlichen Glauben an die Macht der Bilder, der auch auf der Inhaltsebene von „Dogtooth“ zum Ausdruck kommt. Es handelt sich nämlich um eine Macht, die Diktatoren und Despoten suspekt sein muss, wie man an der Reaktion des Vaters sieht, der seine Tochter für das unerlaubte Anschauen eines 40 Jahre alten Hollywood-Blockbusters mit einer Videokassette verprügelt. Es mag naiv sein, zu glauben, die Existenz eines Filmes wie „Dogtooth“ verändere die Welt zum Positiven. Vielleicht ist es aber auch dieser Pessimismus, der die methodische Antiaufklärung, die in den Diktaturen dieser Welt stattfindet, erst ermöglicht.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Source Code

(USA / F 2011, Regie: Duncan Jones)

Paranoische Weltflucht
von Lukas Foerster

Ein Blick in den Spiegel, auf den ein anderer antwortet, bringt die Irritation in den Film und den Film in Schwung. Genauer gesagt: In den Spiegel hinein blickt das Filmstargesicht …

Ein Blick in den Spiegel, auf den ein anderer antwortet, bringt die Irritation in den Film und den Film in Schwung. Genauer gesagt: In den Spiegel hinein blickt das Filmstargesicht Jake Gyllenhaals, ihm entgegen kommt das Antlitz des frankokanadischen bit players Frédérick De Grandpré. Worum es dem Film und seiner komplizierten Zeitmanipulationskonstruktion geht, scheint lange Zeit vor allem: Jake Gyllenhaal und damit das Starsystem wieder mit sich selbst identisch zu machen. Tatsächlich endet Duncan Jones’ „Source Code“ allerdings wieder mit demselben Bild: Einer weiteren Reflektion, die dem Blick des Stars wieder den falschen Körper zurück wirft. Nur ist diese Nichtidentität am Ende kein Problem mehr, sondern die Lösung.

Zunächst aber durchläuft der Starkörper Jake Gyllenhaal eine ausführliche Fremderfahrung. Er wird in sie hineingeworfen, hinein in einen ihm (aber nicht der Kamera, die erkennt den Star in ihm) fremden Körper, der sich noch dazu in einem Schnellzug befindet, in einer rasanten, mechanischen, also nicht selbstbestimmten Bewegung. Ihm gegenüber sitzt eine Frau (Michelle Monaghan), die vorsichtige Annäherungsversuche unternimmt und ihn mit dem ihm fremden Namen Sean anspricht, schräg hinten sitzt ein landesweit bekannter Comedystar, eine vorbeieilende Frau verschüttet Kaffee. Acht Minuten später – der Protagonist hat die Verhältnisse noch nicht einmal annähernd ordnen können – zerreißt eine Explosion den Zug und tötet alle Passagiere.

Nach der Explosion kommt Jake Gyllenhaal zu sich selbst zurück, zumindest scheinbar. Er heißt jetzt Colter Stevens, ist ein Veteran des Afghanistankriegs und befindet sich in einem düsteren Stahlgehäuse, das so einfach als “Realität” zu nehmen ihm bald auch nicht mehr möglich sein wird. Auch dort ist sein Gegenüber eine Frau (Vera Farmiga; so blond und eiskalt wie Michelle Monaghan brünett und naiv ist), allerdings trägt sie Uniform, erscheint lediglich auf einem Bildschirm und flirtet nicht. Statt dessen erklärt sie die Spielregeln: Die acht Minuten im Zug sind der “Source Code” des Titels, die Explosion Ergebnis eines realen, aber bereits vollendeten Terroranschlags, der Täter in der Jetztzeit auf freiem Fuß, unterwegs mit einer noch verheerenderen Bombe im Gepäck in Richtung Chicago. Im “Source Code”, einer wahrnehm-, begeh-, aber nur scheinbar veränderbaren Parallelwelt, die der ersten, tatsächlichen Welt vom amerikanischen Militär als interindividuelles mentales Bild abgerungen wurde, soll Colter Stevens nach dem Terroristen fahnden, um Schlimmeres zu verhindern.

Diese Konzeption erinnert an Tony Scotts furiosen Techno-Thriller „Deja-vu“; wie dieser darf der zweite Film des talentierten britischen Regisseurs Duncan Jones („Moon“) zu den interessantesten filmischen Bearbeitungen des Terrordiskurses nach dem 11. September 2001 gelten. Beide Filme entwerfen komplexe Modelle der Simulation und der technisch vermittelten Ersatzhandlung, das Hier und Jetzt der Bedrohung – aber auch des politischen Handelns – tritt in den Hintergrund. Diese paranoische Weltflucht treibt „Source Code“ noch ein ganzes Stück weiter als „Deja-vu“, wo man sich in einer porös gewordenen Realität immerhin noch auf den Körper Denzel Washingtons als ontologischen Anker verlassen konnte. „Source Code“ stellt gerade diese Konstante ganz vehement in Frage. Wenn da kurz vor Schluss doch noch der „echte” Körper der Hauptfigur auftaucht – als ein verstümmelter Leichnam, dessen Gehirnfunktionen lediglich durch Elektroimpulse aufrecht erhalten werden und der gefangen ist zwischen mehreren Ebenen der Simulation – findet Jones ein beeindruckendes Bild für den Ort, von dem aus das Subjekt der Weltgeschichte heutzutage spricht.

Sechsmal durchläuft der Film die acht Minuten des „Source Codes” (und damit sich selbst). Jake Gyllenhaal fungiert im Zug als Doppelagent: Einerseits durchsucht er den Code, um den Terroristen in der ersten Welt dingfest machen zu können (verdächtig sind Menschen, die mit technischen Medien kommunizieren, also im Grunde: alle), andererseits sucht er nach Hinweisen auf seine aktuelle Situation in eben dieser ersten Welt, denn so recht will er der uniformierten Blondine und ihren knappen Anweisungen nicht trauen. Und da ihm sein weibliches Gegenüber im Zug mit jeden acht Minuten mehr ans Herz wächst, taucht schließlich ein drittes, noch ambitionierteres Ziel auf: Der erste, eigentlich bereits geschehene Anschlag soll verhindert und also die ontologische Schranke zwischen den beiden Welten niedergerissen werden.

Dass es wieder einmal die romantische Liebe ist, die dieser letzten und größten Aufgabe als Katalysator dient, mag manch einer dem Film zum Vorwurf machen: Die innovative Erzähloberfläche wäre dann wieder einmal nur Fassade für einen altbekannten, strukturell betrachtet wertkonservativen Plotkern, der auf die heterosexuelle Paarbildung hinaus will. Man kann das allerdings auch anders herum aufziehen: Die handlungs- und individuumzentrierte Grundform des Hollywoodkinos ist eben nicht von vorn herein ein beengendes Korsett, das wieder und wieder künstlerische Kreativität erstickt und die dominanten kulturellen Normen reproduziert, sondern sie erscheint – und zwar selbst in einer Produktion, die sich stilistisch zumindest in der Nähe der Blockbusterästhetik bewegt – als eine erstaunlich elastische Hülle, die mit einem modernistischen, in letzter Konsequenz posthumanistischen Erzählexperiment wie „Source Code“ problemlos kompatibel ist.

Godard trifft Truffaut – Deux de la Vague

(F 2010, Regie: Emmanuel Laurent)

Fünf Freunde und der Qualitätsfilm
von Ulrich Kriest

1993 veröffentlichte Bernd Begemann auf seinem Album „Rezession, Baby!“ den Song „Rambo III mit Jochen Distelmeyer im Autokino“, der von gemeinsamen Kino-Besuchen mit dem Blumfeld-Sänger und Vorzeige-Diskurspopper Distelmeyer erzählte. Darin …

1993 veröffentlichte Bernd Begemann auf seinem Album „Rezession, Baby!“ den Song „Rambo III mit Jochen Distelmeyer im Autokino“, der von gemeinsamen Kino-Besuchen mit dem Blumfeld-Sänger und Vorzeige-Diskurspopper Distelmeyer erzählte. Darin heißt es: „Vor seiner Haustür hatten wir dann noch einen Streit / Ich weiß nicht, wegen irgendeiner Kleinigkeit / Jochen sagte: »Bernd, du betreibst Betrug / Du bist einfach nicht radikal genug!« / Ich sagte: »Jochen, sieh es mal so: / »Du bist Godard und ich bin Truffaut.« / (Und auch für folgende Einsicht ist es nicht zu früh: / Du bist Sartre und ich bin Camus).“ Tertium non datur! Doch der weit verbreitete Gegensatz hier Truffaut, der Regisseur, der die Frauen liebte und da Godard, der Regisseur, der die Politik liebte und im Kollektiv verschwand, war immer nur die halbe Wahrheit. Daran will dieser Crashkurs in Sachen Filmgeschichte von Emmanuel Laurent ein Kinopublikum erinnern, dem hierzulande seit 1990 keine Gelegenheit mehr gegeben wurde, sich zu veranschaulichen, dass Godard, der Überlebende, noch immer Filme dreht.

In „Deux de la Vague“ wird die Geschichte noch einmal erzählt, vielleicht etwas zu sehr aus der Position Truffauts, aber immerhin. Zwei junge Männer aus höchst unterschiedlichen sozialen Verhältnissen begegnen sich 1949 in einem von Eric Rohmer geleiteten Filmclub und merken schnell, dass sie dieselben Filme lieben, dass sie dieselben Kritiken zu diesen Filmen mögen, dass sie vielleicht selbst Filmkritiken schreiben sollten, weil sie auch dieselben Filme verachten. Später werden sie beginnen, ihrerseits Filme zu drehen, die wahrhaftiger, mutiger sein sollen als die verachteten Qualitätsfilme der Altbranche. Truffaut versetzte dieser Altbranche dann einen Schock, als „Sie küssten und sie schlugen ihn“ 1959 in Cannes mit dem Regiepreis ausgezeichnet wurde. Generös überließ Truffaut Godard den Stoff für „Außer Atem“, der der zweite große Erfolg der Nouvelle Vague werden sollte. Freunde in der Cinephilie.

So richtig traut der Film, der fast nur aus Archivmaterial und Filmausschnitten montiert ist, seinem Nukleus aber selbst nicht über den Weg. Er setzt zwar mit den ersten großen Erfolgen ein, führt dann aber zurück in die späten 1940er und frühen 1950er Jahre, erzählt von Andre Bazin und Eric Rohmer, zeigt auch, dass man das Duo Truffaut/Godard wohl zumindest um Chabrol und Rivette erweitern müsste, bringt frühe Kurzfilme wie „Les Mistons“ (1957) oder „Une histoire d´eau“ (1958) ins Spiel. Die Geschichte ist also größer und komplexer. Und die Cinephilie, von der der Film berichtet, scheint heute nur noch als Nostalgie denkbar.

In einer Reihe von Sequenzen wird in intensiver Auseinandersetzung mit den großen Vorbildern Hitchcock, Hawks, Rossellini, Renoir, Bergman eine neue Ästhetik erkennbar: „Das macht Godard, Truffaut und die Nouvelle Vague wahrhaft revolutionär: Sie befreien sich vom normalen Kino, dem guten wie dem schlechten, um andere Filme anders zu drehen, auf der Straße, mitten in Paris, mit leichtem Equipment ohne aufwändige Ton- und Lichtausrüstung, mit unbekannten Schauspielern, nicht älter als sie selbst. Die Geschichten sind ihnen nahe, manchmal intim, der Ton ist persönlich, lebendig und fängt das Lebensgefühl junger Leute ein. Ihr Kino ist authentischer, trotz eines ausgeprägten Stils: der Stilisierung in Schwarzweiß eines Moments der Geschichte“, beschreibt es der Drehbuchautor, Filmhistoriker und ehemalige Chefredakteur der „Cahiers' Antoine de Baecque in seinem Off-Kommentar. Dazu sieht man dann Jean-Paul Belmondo im Finale von „Außer Atem“ tödlich verwundet auf eine Kreuzung zulaufen, die er lebend nicht mehr erreichen wird. „Näher am Leben, aber gespeist aus Kinoerfahrungen“, könnte eine Parole der Nouvelle Vague sein. Wobei die Novelle Vague als Gruppenbegriff ja umstritten und nur auf lange Sicht eine Erfolgsgeschichte geworden ist. Zwar beschränkt sich „Deux de la Vague“ auf die Freundschaft zwischen Truffaut und Godard, aber selbst diese Freundschaft bleibt in ihren freundschaftlichsten Momenten eher unterkühlt. Man erinnere sich daran, dass Chabrol, Rivette und auch Rohmer den Mythos von der verschworenen Gemeinschaft der „Cahiers“-Kritiker immer wieder entschieden in Frage gestellt haben. Aber nicht nur auf die Freundschaft war kein Verlass, auch auf das Publikum nicht! Laurent zeigt nicht nur, auf welche Ablehnung ein Film wie „Außer Atem“ beim zeitgenössischen Publikum stieß, sondern er verschweigt auch nicht, dass eine Reihe von Misserfolgen aus der Neuen Welle fast ein Strohfeuer gemacht hätte. Godards „Der kleine Soldat“ wurde von der Zensur verboten; „Die Karabinieri“ wollten in Paris nur noch 20.000 Zuschauer sehen. Dennoch konnten Godard und Truffaut während der folgenden Jahre bis „1968“ kontinuierlich arbeiten und sich bei Projekten auch gegenseitig unterstützen.

Ein interessanter Aspekt dieser „Gemeinsamkeiten“ ist das Zirkulieren des Schauspielers Jean-Pierre Leaud zwischen den mittlerweile schon distinkten Film-Welten von Godard und Truffaut. Während Leaud bei Truffaut stets (oder zumindest noch lange) das Alter Ego Antoine Doinel bleibt, hat er bei Godard die Möglichkeit seine eigene Persona zu entwerfen und entwickeln. Auch nach dem Zerwürfnis der beiden Filmemacher bleibt das Scheidungskind Leaud beiden Vätern treu. Ist dieser Aspekt der Karriere Leauds eigentlich schon einmal intensiver untersucht worden? Wenn Leaud als Alter Ego Truffauts bestens eingeführt ist, was bedeutet oder impliziert es dann, wenn Godard sich diesen Darsteller schnappt und immerhin das Alter Ego auf Linie bringt, indem er die Rollen Leauds radikalisiert? Kann man das auch als eine auf Truffaut bezogene Ersatzhandlung werten? „Deux de la Vague“ interessiert sich dafür nicht, will er doch französische Filmgeschichte gerne als Familiengeschichte erzählen.

In der Affäre um Henri Langlois und die Cinémathèque française agieren Godard und Truffaut jedenfalls noch Seite an Seite, aber bereits beim Abbruch des Filmfestivals zu Cannes 1968 werden Differenzen in der Bedeutung des Politischen für beider Leben deutlich. Godards Militanz wird Truffaut nicht folgen; für Godard ist Truffaut nun als ein Bourgeois entlarvt. Oder, noch einmal auf Anfang, formuliert Godard: „Wenn man nicht mehr die gleiche Ansicht vom Kino hat, wenn man nicht mehr dieselben Filme liebt, kommt Streit, kommt Trennung. Die Freundschaft erlischt.“ Allerdings mit unerwartet heftigen Invektiven. Als Godard Ende der 1970er Jahre seine Spielfilmproduktion wieder aufnimmt, hat Truffaut nur noch drei Spielfilme zu leben. Die Schärfe der öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen Godard und Truffaut, ansatzweise dokumentiert in der Truffaut-Biografie von De Baecque und Toubiana, umschifft Laurent vielleicht aus Höflichkeit, allerdings auch die freundlichen Worte Godards im Vorwort zur Ausgabe der Briefe Truffauts. Trotzdem: „Deux de la vague“ bleibt – zumal für jüngere Kinogänger, denen die Legenden und Anekdoten wahrscheinlich nicht mehr so präsent sind/sein können – ein höchst anregender Ausflug in eine heroische Phase der Filmgeschichte, die insbesondere viel Lust macht, sich die alten Filme mal wieder anzuschauen – und aus heutiger Sicht zu überprüfen, wie es aktuell steht mit Godard und/oder Truffaut. Am Ende blickt uns noch einmal Jean-Pierre Leaud direkt ins Gesicht. Mit jenem Blick aus dem Jahre 1959, der ihn unsterblich gemacht hat. Überhaupt hat der jugendliche, sehr aufgeweckte und enorm selbstbewusste Laiendarsteller Leaud in diesem Film ein paar ganz große Momente.

A real life – Au voleur

(F 2009, Regie: Sarah Leonor)

Ein wahres Leben
von Wolfgang Nierlin

Die Vertretungslehrerin Isabelle (Florence-Loiret Caille), die Deutsch als Fremdsprache unterrichtet, zitiert Rilkes „Der Panther“: „und hinter tausend Stäben keine Welt“. Die Kamera erfasst sie dabei im Detail, rastert ihre Schritte, …

Die Vertretungslehrerin Isabelle (Florence-Loiret Caille), die Deutsch als Fremdsprache unterrichtet, zitiert Rilkes „Der Panther“: „und hinter tausend Stäben keine Welt“. Die Kamera erfasst sie dabei im Detail, rastert ihre Schritte, fixiert sie von hinten im Nacken. Wie eine Nichtsesshafte wechselt sie Orte und Beziehungen und wähnt sich dabei in einem Gefängnis, das Schule heißt und das seine Gitter über die Bilder und Architekturen legt. Ähnlich dem zitierten Panther in seinem Käfig ist auch ihre Stärke gehemmt, ihr Wille betäubt. Das wahre Leben ist anderswo. Ihre Existenz wird von nicht gelebten Möglichkeiten verzehrt. Und doch hält sie in ihrem Beruf an einer Utopie fest: Gegenüber einer Nachhilfeschülerin verteidigt sie die Fremdsprache als Möglichkeit, in ein anderes Leben einzutauchen.

„Au voleur“, der Debütfilm der jungen Straßburger Regisseurin Sarah Leonor, bewegt sich langsam, aber zielstrebig auf diese Freiheit zu. Verkörpert zunächst in der Gegenfigur des Diebs Bruno (Guillaume Depardieu), einem coolen, routinierten Kleinkriminellen mit wachem Geist und unfehlbarem Instinkt, der eine große Selbstsicherheit und Unabhängigkeit ausstrahlt. Sein kriminelles Handwerk ist Spiel und Ritual; still und unaufgeregt folgt es einer geheimen Ordnung, die Bruno mit seinem älteren, eben aus der Haft entlassenen Freund und Kollegen Manu (Jacques Nolot) verbindet und ihn andererseits von dem jugendlich unbedachten Nacheiferer Ali (Rabah Nait Oufella) abrückt.

Ein Unfall initiiert das Liebesbegehren zwischen Isabelle und Bruno, eine gemeinsame, rasant inszenierte Flucht in die Natur lässt es wachsen. Als verschworene Gesetzlose werden sie zu Waldindianern, zu Wilden, die in das überwältigende Grün einer mythologisch aufgeladenen Flusslandschaft eintauchen. In einem alten Fischerkahn lassen sie sich auf dem Wasser treiben, umringt von einer wildwuchernden Vegetation und den besänftigenden Geräuschen der Natur. In den oberrheinischen Rheinauen gedreht und mit den verhaltenen Klängen des Delta-Blues unterlegt, erweisen Sarah Leonors Bilder hier ihre Referenz Jim Jarmusch und seinen Filmen „Down by Law“ und „Dead Man“. Bruno und Isabelle bewegen sich frei und ziellos in einem temporären Fluchtraum jenseits der Zivilisation. Und doch müssen sie auf einer langen schmerzlichen Reise, die auch eine Überfahrt ins Reich der Schatten ist, dieses Leben zurücklassen.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Der Golem, wie er in die Welt kam

(D 1920, Regie: Paul Wegener)

Der moderne Mann
von Andreas Thomas

Roboter, Homunkuli, Androiden. Nicht erst seit dem 20. Jahrhundert fasziniert und gruselt den Menschen das nach seinem Ebenbild hergestellte fremde Wesen. Die Figur des Golem, ein der Legende nach schon …

Roboter, Homunkuli, Androiden. Nicht erst seit dem 20. Jahrhundert fasziniert und gruselt den Menschen das nach seinem Ebenbild hergestellte fremde Wesen. Die Figur des Golem, ein der Legende nach schon im 16. Jahrhundert vom Prager Rabbi Löw aus Lehm geformter künstlicher Mensch, geht sogar zurück auf noch weit ältere Bücher der jüdischen Kaballa.

Paul Wegeners Film „Der Golem, wie er in die Welt kam“ aus dem Jahr 1920 vermischt den jüdischen Mythos mit dem christlichen Faust-Mythos, so ist der Rabbi Kabbalist, aber auch Astrologe und Geisterbeschwörer. Er liest in den Sternen, dass seiner Gemeinde im alten Prager jüdischen Ghetto Unheil durch den Kaiser droht; und deshalb modelliert er zum Schutz vor einem Pogrom den mit übermenschlichen Kräften ausgestatteten riesenhaften Golem (hebr.: unförmige Masse, Klumpen), den er durch die „Implantation“ eines Amuletts (in Form eines Davidsterns), in welchem sich ein magisches Zauberwort verbirgt, zum Leben erweckt.

Dieser Golem, gespielt von Regisseur Wegener selbst, zunächst ein ungelenker, aber unterwürfiger Diener (robota heisst auf tschechisch: „körperliche Fronarbeit leisten“. Der Begriff „Roboter“ ist aus dem Tschechischen herleitbar, der „Golem“ hat sicherlich einen maßgeblichen Anteil daran), entwickelt jedoch immer mehr eigensinnige – also menschliche – Züge. Durch den Duft einer Rose erwacht seine Sinnlichkeit. Er verliebt sich eifersüchtig in die Tochter des Rabbis, sträubt sich dagegen, dass ihm das Amulett abgenommen (also, dass er „abgeschaltet“) wird und wird nach und nach aufgrund seiner „eigensinnigen“ Impulse vom Helfer zur Bedrohung.

Parallelen, Vorbilder und Nachfolger des Golem und seiner Geschichte finden sich überall: angefangen bei der biblischen Schöpfungsgeschichte, nach der Gott den Menschen aus „Erde vom Acker“ machte, über die romantische Literatur des frühen 19. Jahrhunderts, etwa bei E.T.A. Hoffmann oder explizit in Mary Shelleys Gothic-Roman „Frankenstein“, bis hin in die für den Menschen unserer Zeit greifbare Realisierbarkeit von menschenähnlichen Wesen, seien es Roboter, Computer oder schliesslich Klone, Cyborgs, Androiden und was die Zukunft noch so alles für uns bereit hält.

Signifikante Motive der „Romantik der Moderne“, des Expressionismus – und „Der Golem, wie er in die Welt kam“ gilt als der expressionistische Film schlechthin – scheinen zu sein: der hypnotisierte, somnambule, verrückte Mensch („Das Cabinet des Dr. Caligari“), der Maschinenmensch („Metropolis“) oder generell der künstliche Mensch, ein Produkt des Menschen also, das Kind menschlicher Wissenschaften und Technologien, welches nicht beherrschbar ist. Nicht zufällig besitzen das Monster von „Frankenstein“ und „Der Golem, wie er in die Welt kam“ einige Ähnlichkeiten. Wenn der Film „Der Golem, wie er in die Welt kam“ vielleicht u.a. noch durch Mary Shelleys Roman inspiriert war, so hat sich James Whales „Frankenstein“ von 1931 klar, mitunter bis ins Detail, wiederum „Golem,…“ zum Vorbild genommen. Der Golem und Frankensteins Kreatur sind tatsächlich Brüder im Geiste, der eine aus Lehm, der andere aus Leichenteilen zusammengesetzt.

Zwei Haupttendenzen liegen in diesen Stoffen vom Schöpfer und seinem Geschöpf verborgen: einerseits das Verhältnis Mensch zu Gott, andererseits das Verhältnis Mensch als gottgleicher Schöpfer zu dessen Kreation – in meinen Augen auch ausdehnbar auf das Verhältnis Mensch und moderne Technik allgemein.

Es scheint kein Zufall, dass mit der Ausbreitung der Industrialisierung die Romantik in ihrer Reaktion auf eine beginnende diesseitige, rationalistische, maschinisierte Welt sich einerseits eskapistische Gegenwelten erschuf, andererseits durch die Maschinen hervorgerufene unterschwellige Ängste in Figuren wie dem Frankensteinschen Monster manifestierte und zu verarbeiten suchte: Industrialisierung als unberechenbares Kind des Menschen.

Gleichzeitig, wie in einer Art Ablösung – und mit der beginnenden Übertragung der Schöpferrolle -, kam es zu einem Rückzug des Religiösen als schützende, sinnstiftende Kraft. Boris Karloff, die filmische Inkarnation der Romanfigur des Frankensteinschen Monsters, erklärte sich seine Rolle später so: Das Monster habe, wie alle Menschen, keinen Einfluss darauf gehabt, dass und wie es erschaffen wurde, und der eigentliche tragische Aspekt seiner Existenz sei, dass sein Schöpfer sich von ihm distanziert. „Er war für uns ein Bild des Menschen, der bei seinen unvollkommenen Versuchen, sich selbst zu entwickeln, herausfinden muss, dass er von Gott verlassen wurde.“

Gleichwohl findet der Mensch auch in des Monsters Gegenüber einen Spiegel: im Schöpfer, im Wissenschaftler Frankenstein, der Gott ähnlich sein und Leben erschaffen will – oder vielleicht eine zweite Welt neben, statt der Natur, seine eigene Welt der Maschinen? –, was zum einen undurchschaubare, gefährliche Folgen hat, weil es zum anderen Verantwortung und Weitblick voraussetzt.

Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Moderne mit ihren technischen Errungenschaften in den reicheren Ländern der Welt explodierte, reagierten deren Künstler darauf mit dem Expressionismus: panisch, verzückt, verwirrt. Das „The End of the World as We know it“ von R.E.M. galt ja eigentlich schon immer, immer etwas anders und in immer kürzeren Intervallen. Verfremdung und Verzerrung der Perspektiven, ja, sogar die Filmsets – das krumme, düstere, schwindelerregende Kulissenghetto im „Golem..“ ist die einzige im expressionistischen Stil für einen Film erbaute kleine Stadt – stehen für eine emotionale Entladung zwischen Angst und Aggression, zwischen dem bewussten, rebellischen Abbrechen alter, altmodischer Brücken, Traditionen, Zeichen und einem fanatischen, fast zwanghaften Drang, eine ganz andere, völlig neue Zeit einzuläuten.

Der Expressionismus im Film zeigt beides, die neugewonnene Freiheit zur Abbildung innerer, psychischer Zustände und eben diese Zustände selbst, bedrängende Phantasmagorien, Alpträume von einer Welt, deren menschliche Gesichter Fratzen, deren Straßen steile Gebirgspfade, deren Behausungen windschief und einsturzgefährdet sind. Im „Golem…“ bröckeln Paläste, brennen Häuser ab. Der Mensch hat seine Welt, und sich selbst, neu geschaffen: Auch darin ist der Golem ein Prototyp. Ein Wesen ohne Werte, Religion oder Normen, ein moderner Mensch. Ein Mann ohne Eigenschaften, ohne repressive oder stabilisierende Sozialisation und daher frei, aber auch unheimlich und einsam, wie ein Kind, das sich – eher durch Unachtsamkeit als durch die große Liebe – selbst in die Welt gesetzt hat.

Gewiss handelt der „Golem…“ von einer lange vergangenen Vergangenheit, eher noch von jüdischen – und deutschen – Legenden. Aber ihn interessieren weniger die Quellen als deren künstlerische Verwertbarkeit in einer Zeit des fremdartigen Aufbruchs, ihrer Wunder und ihrer Schrecknisse. Deshalb sind seine bevorzugten Ausdrucksmittel Subjektivität, Dunkelheit und das Grelle: Auch die 1920 verwendeten Filmeinfärbungen sind rekonstruiert worden. Der Stummfilm „Der Golem..“ war (wie viele andere Filme auch), entgegen landläufiger Meinung, nicht schwarzweiss, er war bunt, und dadurch noch einmal so expressionistisch.

Die Transit Film GmbH hat in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung im März 2004 eine schöne, sorgfältig rekonstruierte – und bunte – Neubearbeitung des Films auf DVD herausgebracht.

Hitlerkantate

(D 2005, Regie: Jutta Brückner)

Blut und Hoden
von Andreas Thomas

Gottseidank sind die Zeiten vorbei, in denen der Gebrauch eines Wortes wie „Faszinosum“ im Zusammenhang mit Hitler hierzulande für Irritationen sorgen und Karrieren zu einem jähen Ende verhelfen konnte. Dass …

Gottseidank sind die Zeiten vorbei, in denen der Gebrauch eines Wortes wie „Faszinosum“ im Zusammenhang mit Hitler hierzulande für Irritationen sorgen und Karrieren zu einem jähen Ende verhelfen konnte. Dass deutsche Vergangenheitsbewältigung nicht nur freudlos sein muss sondern auch liebe Erinnerungen wachrufen kann, haben uns Filme wie „Der Untergang“ vorgeführt, mit einem Führer, der nicht nur bös’ sondern auch endlich menschlich und sogar ein wenig bemitleidenswert gezeigt wurde, mit einer Führer-Sekretärin, die (wie wir wohl alle ?) doch auch eine große Bewunderung und heimliche Liebe für diesen männlichen Mann in ihrem Busen trug, eine Liebe, die doch so bitter enttäuscht wurde. Hätte Traudl Junge nur schon vor dem April 1945 gewusst, dass Hitler keine Juden mag, der Mann hätte wahrlich einen schweren Stand gehabt!

Als eine Mischung aus Traudl Junge und Leni Riefenstahl erscheint endlich mit dem Film „Hitlerkantate“ jetzt auch ein deutsches Mädel namens Ursula im Kanon der kollektiven Vergangenheitsbewältigung, welches dem Führer eine Kantate (aber eigentlich ihren jungen, burschikosen Leib) schenken will. Sie trägt einen Stahlhelm aus ultrablondem Haar, sieht auch sonst in ihren strengen weißen Klamotten ultrauncool aus und hat zunächst nichts Besseres im Sinn, als in Gegenwart des mit phallischen Handgrüßen inflationär herumfuchtelnden Quadratschnurrbarts in eine tiefe Ohnmacht zu stürzen. Dabei ist ihr eigentliches Problem der unvorhandene Vater und wahrscheinlich eine schmutzige Abtreibung, die sie wiederum der Fähigkeit beraubt hat, eine vorhandene deutsche Mutter werden zu dürfen. Verlobt ist sie mit einem ach zu harmlosen jungen Mann namens Gottlieb, der zwar erst frisch (Presseheft:) „bei der SS arbeitet“, aber dem hurtig nichts Geringeres als die Planung der (Film:) „stilvollen“ Erledigung des „Judenproblems“ anvertraut wird und der sich (Abgründe tun sich auf) doch heimlich auf ein Softerotikfilmchen mit der „Jüdin“ Gisela als Hauptdarstellerin einen von der Palme wedelt. Dabei war das schlüpfrige Filmchen eigentlich nur für einen guten, also militärischen, Zweck gedreht worden, nämlich für die Demoralisierung des kompletten Polenlandes. Heimlich soll der Streifen ins Land geschmuggelt werden, und dann wird der Pole schon sehen. Wer wixen muss, kann nicht schießen. Raffinierter Plan! Ausgerechnet SS-Gottlieb muss uns demonstrieren, wie todsicher das funktioniert. Wenn das nur Ursula wüsste.

Doch während Gottlieb in der ins trostlos Eisengraue zurechtdigitalisierten Reichshauptstadt hoffnungslos vor sich hin menschelt, beruft sie ihr Schicksal ins nordische, graugrüne Finnland zu Höherem. Die musisch Begabte soll Hanns Broch (Hilmar Thate), dem umstrittenen aber großen Komponisten, bei der Erstellung jener titelgebenden „Hitlerkantate“, einem Geschenk zum 50. Führergeburtstag („Sie wissen schon: mit allen verfügbaren Chören und illuminiert mit einem Lichtdom von Albert Speer“), assistieren. Ihr Lebenstraum Nummer Zwo, die sublimierte, die tonale Hitler-Hingabe, steht kurz vor der Verwirklichung, doch was ist das? Broch heißt nicht nur so ähnlich und sieht nicht nur so aus wie ein verkappter Bertolt Brecht, er ist auch einer. Undeutsche, schwarzgraue Borsten trägt er auf dem Schädel, dünne Zigarren im Mundwinkel, krause Gedanken im Kopf. Eine jüdische Freundin hat er auch. Kein Wunder, dass so einer früher mal Kommunist war. Nicht der Führer, nur die ihm für die Kantate versprochene Reputation im nazideutschen Kulturbetrieb bewegt ihn zum Komponieren.

Da muss Ursula aber ganz schnell eine arische Schnute ziehn und ihre sehnige Windhundstatur verkrampft zum Grammophon-Schubert auf dem Rentierfell zerdehnen, sodass es beim bolschewikischen Vaterlandsverräter schnackelt. Natürlich mit Erfolg, denn so schnell vergisst auch der verjudetste Deutsche die Schöße nicht, aus denen er einst kroch: das deutsche Lied, das deutsche Loch, das deutsche Glied, das deutsche Joch. Und Verdun war schmählich, schmutzig und schlammig. Schlamm, in dem er einst den besten Freund (rein zufällig auch Vater unserer Ursel) liegen lassen musste. Schlamm, der ja so viel schmutziger war, wundert er sich laut, als die schönen Reichsparteitage. Auch die deutschen Soldaten in Berlin sehen unter Hitler irgendwie straffer, ordentlicher, gepflegter aus als die halbtoten damals vor Verdun. Aber merkwürdig dieser kollektive Hang zum Untergang, darüber möchte Broch eine komplette Oper komponieren. Und er will, sagt er ihr deutlich, der Ursula den Hitler aus dem BDM-Leib vögeln. „Das kannst du gar nicht, er ist ganz tief in mir drin.“ So ihre Replik.

Ein Film mit Figuren, die an lauter Ambivalenzen leiden, bis sie stagnieren, bis der Film stagniert. Irgendwie hat dieser böse Hitler allen wohlmeinenden Deutschen die Fähigkeit zur Liebe geraubt und gegen einen ganz verrückten Sexus eingetauscht. So kann Broch Ursulas NS-Erotik nicht widerstehen, und gleichzeitig muss er leider das „hysterische Nazi-Flittchen“ verachten (was seine Geilheit natürlich nur steigert). So muss sie dem faltenreichen Charme des Maestro und Vaterersatzes erliegen, aber seine ewige Krittelei am Reich ist ihr unerträglich. Sie kann so nicht leben. Kann sie so sterben? Sie radelt mittenmang in den finnischen Weiher hinein. Ein dilletantischer Selbstmordversuch? Oder ist sie nur zu deutsch zum Radfahren? Wahrscheinlich hat sie es nur auf Unterkühlung, Fieber und Doktorspiele abgesehen, Nazischlampe, die! – und doch verwirrtes, armes Kind zugleich!

Ein Film über Demagogie, Sex und Hysterie im „3. Reich“. Und ein Versuch, die Gefühle von Nazis zu verstehen. Nazis, die eben doch keine richtigen Nazis waren, weil sie hin- und hergerissen, sprich: weil sie Opfer waren einer sexuell aufgeladenen Propagandamaschinerie. Alles nicht so schlimm, könnte man sagen, der Film tut ja selbst schon sein Bestes, um nicht ernst genommen zu werden. Der Skandal ist nur, dass er es ernst meint. Er zeigt Nazi-Aufmärsche und er zeigt den bellenden Hitler und er glaubt anscheinend wirklich, das alles sei sexy. Er zeigt ein naives BDM-Mädchen, bis zur Lächerlichkeit authentisch, und will uns davon überzeugen, dass ihrem stumpfen Ariergehabe etwas subtil Geheimnisvolles, eine magische Erotik innewohne.

Zunächst mal zur Erinnerung: Die Ästhetik des „3. Reichs“ ist eine Ästhetik für Arschlöcher. Punkt. Das war damals so und das ist heute so. Das haben auch damals schon einige gemerkt, aber komischerweise haben diese Hellseher Nazi-Deutschland entweder frühzeitig verlassen oder sie wurden von Nazi-Deutschland ermordet. Nur ein klein wenig Aufmerksamkeit und ein klein wenig Empathie der RestdeutschInnen hätte genügt, um Hitler zumindest unerotisch zu finden. Aber unsere Eltern und Großeltern fanden es in Ordnung, wenn die jüdischen Nachbarn abgeholt wurden, und sie machten, jeder auf seine Weise, dabei irgendwie mit, denn irgend jemand hat’s ja schließlich doch getan. Das mag schon tiefe seelische Schäden hervorrufen, speziell hinterher, wenn der Krieg verloren ist, hinterher, nach dem „Untergang“. Natürlich, die deutsche Nation kann einem schon ganz schön leid tun: All die unbeabsichtigten Orgasmen bei den Reichsparteitagen und beim Aufgeilen daran, zur Herrenrasse zu gehören, und hinterher die ekligen Leichenberge, die man nicht mehr schaffte, durch die Schornsteine zu entsorgen. Was für ein Gefühlsgefälle!

Daran wird auch nichts ändern eine von Regisseurin Brückner insinuierte (und für sie von Filmen wie „Der Untergang“ inspirierte) „education sentimentale“, wie sie sie in einem Artikel im „Freitag“ (vom 15.10.2004) beschreibt. Ihre Phantasie, die „Erstarrung im Trauma“ und die damit entstandenen Mythen über das 3. Reich mittels eines „erneuten Durchlebens“ zu durchbrechen. „Eine nationale, mit einem Trauma beladene Geschichte wirkt ähnlich wie eine individuelle traumatische Biografie“, schreibt Brückner. Das „gefühlte“ „3. Reich“ sei die mögliche neue Form einer Überwindung von „Trauma, Tabu, und Faszination“. Das Kino sei für diese Aufgabe „der privilegierte Ort“.

Die durch Brückner vom Kino eingeforderte Herstellung eines „distanzlosen Dabeiseins“ ist ja schon aufgrund der dem Spielfilm impliziten (und übrigens auch in der „Hitlerkantate“ deutlich durch Überstilisierungen vorangetriebenen) unvermeidbaren Fiktionalisierung von Geschichte und Handlung ein Ding der Unmöglichkeit (und eine Illusion, der z.B. auch oft die Rezeption des „Untergangs“ erlegen ist: „Endlich konnten wir Hitler erleben, wie er wirklich war“). Zum anderen erforderte diese Art der Rekonstruktion von „Geschichte zum Nacherleben“ (wäre sie überhaupt praktikabel) eine Eliminierung von über sechzig Jahren Rezeption und Bewusstsein der NS-Zeit. Verlangt also wäre Verblödung, um Verblendung zu verstehen. Gefühlt wurde auch unter den Verblendeten allerdings reichlich, aber nur in eine Richtung. Gedacht wurde weniger. Heute auch? Eine neuerliche Eins-zu-Eins-Empathie fürs Sentiment von Nazideutschland jedenfalls würde nicht über dieselbe Nazi-Blödheit hinaus gehen (und wenn die Seifenoperndiva Nazi-Ulla im Film tausendmal unerwartet schnell begreift, wie böse doch leider das Faszinierende am Faschistoiden ist).

Dass für Brückner nun auch ausgerechnet die hollywoodeske Serie „Holocaust“ und der im TV-Format gedrehte Film „Der Untergang“ Hilfen zu einer „tieferen Erkenntnis des Dritten Reiches“ darstellten, dass sie bei ihrer Aufzählung Filme wie der über achtstündige Dokumentarfilm „Shoah“ von Claude Lanzmann (ein Film, der bewusst versucht, jede Fiktionalisierung zu vermeiden, indem er nichts „nachstellt“, sondern lediglich Zeitzeugen über den Holocaust berichten lässt) und „100 Jahre Adolf Hitler – Die letzten Tage im Führerbunker“ von Christoph Schlingensief (ein Film, der bewusst und gezielt und höchst „emotional“ seine eigene Fiktionalität einsetzt, um Mythen und Tabus des „3. Reichs“ zu überzeichnen und durchbrechen) schlicht vergisst, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass es Brückner womöglich weniger um eine künstlerische, der cineastischen Selbstbeschränkungen bewusste, Reflexion der Phänomenologie des „3. Reichs“ gegangen sein muss, sondern um etwas anderes. Nur um was denn eigentlich, wenn nicht um eine fragwürdige Reputation derer, die an sich schon unübersehbar fragwürdig waren?

Erkenntnis setzt Distanz voraus, sei es die Distanz durch künstlerische Überhöhung oder die Distanz durch Berichtetes, also etwa durch die Subjektivität der Überlebenden (und damit sind keine mit Musik aufemotionalisierte Interviews a lá Knopp gemeint). Nazi-Deutschland – und die „Hitlerkantate“ ist dafür nur ein weiterer Beweis – ist filmisch so wenig reproduzierbar wie die „Passion Christi“. Also erübrigt sich auch hier die naive Frage nach dem „Wie hat es sich angefühlt?“. Was uns vom „3. Reich“ bleibt, sind historische Daten, überlieferte Erfahrungen und z.B. seine Spiegelungen im Kino, das sich seiner Eigenschaft als Kunstform (also auch als „künstlicher“ Form) bewusst ist. Schlimm genug, wenn das Kino seine eigenen Mittel verkennt, aber in mir ruft es Übelkeit hervor, wenn es nicht nur behauptet, Authentizität herzustellen, sondern mittels derselben auch noch angetreten ist, die „deutsche Neurose“ zu kurieren.

Abgesehen davon, dass nun dieser Gefühls-Therapie-Film von Brückner den „Deutschen“ das Gleiche antut wie der Zahnarzt dem Patienten nach seiner Blendax-Prophylaxe („Mutti, Mutti, er hat überhaupt nicht gebohrt“), schlage ich vor, jenen unheilbar arischen Deutschen, um die es dem Film ja vornehmlich zu gehen scheint, unbedingt ihre „Traumata“ zu erhalten – wenigstens etwas, woran sie zu knabbern haben – und dass wir (ja wir!) uns ganz gefühlsmäßig und empathisch und final bitte ab sofort nur noch dem Schicksal der Deutschen und der Europäer zuwenden, die während des „3. Reichs“ aufgrund ihrer „Rasse“, ihrer Religion oder ihrer Nationalität verfolgt oder ermordet wurden. Würden wir nämlich genau das tun, was unsere verbrecherischen Vorfahren im Faschismus tunlichst vermieden haben, müssten „wir Deutschen“ dieses ekelhaft selbstmitleidige „Trauma“, das doch immer nur nach einer Relativierung von Verantwortung riecht, wohl am schnellsten überwinden können, weil wir dann andeutungsweise ahnen würden, was ein echtes Problem ist und wer das echte Problem hatte. Um die (deutsche) Welt in Zukunft vor faschistoiden Tendenzen zu bewahren, ist es unbedingt angezeigt, nicht den Nazis nachzufühlen, sondern ihren Opfern. Wir waren darin schon einmal weiter als heute.

Der Kick

(D 2006, Regie: Andres Veiel)

Destillat der Stagnation
von Andreas Thomas

In der Nacht zum 13. Juli 2002 wird im brandenburgischen Potzlow ein 16jähriger ermordet, nachdem er stundenlang mit Faustschlägen traktiert wurde. Die drei jugendlichen Täter sind seine Bekannten, ein konkretes …

In der Nacht zum 13. Juli 2002 wird im brandenburgischen Potzlow ein 16jähriger ermordet, nachdem er stundenlang mit Faustschlägen traktiert wurde. Die drei jugendlichen Täter sind seine Bekannten, ein konkretes Tatmotiv ist nicht auffindbar.

In einfühlsamer, langwieriger Kleinarbeit machten sich der Regisseur Andres Veiel („Black Box BRD“) und die Dramaturgin Gesine Schmidt in Potzlow auf die Suche nach möglichen Hintergründen. Gespräche mit den Tätern, ihren Eltern und Bekannten, mit der Mutter des Opfers, Verhörprotokolle und Prozessakten komprimierten sie zum Theaterstück „Der Kick“, eine Inszenierung für zwei Personen, die allein bis zu 20 verschiedene Sprecher verkörperten. Veiels nun nachgelieferte Filmadaption des eigenen, erfolgreichen Stücks bewahrt beinahe vollständig den spröden Bühnencharakter und ist doch zugleich echtes Kino geworden.

Das Setting: Eine matt beleuchtete, alte Lagerhalle, darin ein manövrierfähiger Blechcontainer. Auf dieser kargen Bühne ein Lehrstück in Sachen Schauspiel und Empathie. Mit feinsten Nuancen der Tonlage, des Dialekts, der Körperhaltung, des Blickes eignen sich die Schauspieler Susanne Marie Wrage und Markus Lerch die Rollen der Befragten an, fühlen sie sich in sie ein, scheinen sich geradezu in sie zu verwandeln. So nehmen sie dem Zuschauer einen Teil seiner Arbeit ab. Der minimalistische Inszenierungsstil distanziert ihn zwar von der Profanität des Authentischen – der Einblick auf den realen Ort und die realen Personen bleibt ihm völlig vorenthalten – die textualen Destillate des Wesentlichen (Veiel nennt das „Fiktionalisierung“) aber fördern die Konzentration auf divergierende Blickwinkel, Erklärungsansätze, besonders aber auf das Dahinter, auf die Psyche der Dorfbewohner, auf Menschen, die versuchen, sich an Stagnation, an einen ökonomischen Dauernotstand, an eine Entwertung ihrer selbst zu gewöhnen.

Die verschiedenen Stimmen summieren sich zu einem deprimierenden Stimmungsbild, zur Bestandsaufnahme eines schrumpfenden Dorfes, das mit seinem hohen Arbeitslosenanteil, mit seiner Perspektivlosigkeit, mit Alkoholismus, Fremdenfeindlichkeit und seiner Neigung zum Rechtsextremismus vielen Orten nicht mehr nur in Ostdeutschland ähnelt. Aber „Der Kick“ geht Pauschalisierungen aus dem Weg und er arbeitet an gegen die Dämonisierung der Täter. „Wir holen sie aus dem Monsterkäfig heraus und geben ihnen eine Biografie. Das ist die eigentliche Provokation“, sagt Veiel.

Es ist tatsächlich selten ein Film der Befindlichkeit unserer Zeit, unseres Landes so nahe gekommen wie „Der Kick“ auf seiner Suche nach weiterführenden Antworten. Er stellt die Frage nach dem Wert des Menschen neu, indem er jenen eine Stimme gibt, die buchstäblich, d.h. im wirtschaftlichen Sinne, „nicht gefragt“ sind. „Es hätte genauso einen von ihnen treffen können“, sagt irgendwann die Mutter zweier der Täter. Ein beinahe beiläufiger Satz, aus dem die unheimliche, beklemmende Wahrheit klingt, die der Film sukzessive freilegt. Der schockierende „Kick“ aus dem Film „American History X“, den Marcel nachahmte, als er ins Genick des Marinus sprang, um ihn „hinzurichten“, ist am Ende dieser konzentrierten, intensiven und fesselnden Anamnese nur ein auffälligeres Symptom eines expandierenden sozialen, ökonomischen und politischen Versagens.

Die Kinder sind tot

(D 2003, Regie: Aelrun Goette)

Das Sein bestimmt das Bewusstsein
von Andreas Thomas

Natürlich bringt man seine Kinder nicht um, aber sie können schon sterben, wenn man mal eben Zigaretten holen geht. 14 Tage dauerte das Zigarettenholen von Daniela Jesse (Name, Vorname und …

Natürlich bringt man seine Kinder nicht um, aber sie können schon sterben, wenn man mal eben Zigaretten holen geht.

14 Tage dauerte das Zigarettenholen von Daniela Jesse (Name, Vorname und Gesicht der Kindsmörderin sind im Film bewusst unverfremdet belassen), ihre beiden Jungens verdursten, weil ihre Mutter von irgendeinem Glatzkopf Liebe erhoffte. Gibt da ja auch fast nur solche, im Plattenviertel in Frankfurt/Oder. Von wem soll man schon Liebe erwarten? Und es gibt die innovativen Verhältnisse von Kapital und Arbeit, die seit dem Fall der Mauer in den östlichen Bundesländern eine fundamentale Arbeits- und Perspektivenlosigkeit provozieren. Fundamentalismus mitten im lieben Kapitalismus, wer hätte dergleichen vermutet?

Für die ganz unbürokratisch schnelle Wiedereinführung der Todesstrafe sind Nachbarn, die taub waren für Klagelaute aus Kinderkehlen hinter verschlossenen Wohnungstüren, und ganz folgerichtig fragt Regisseurin Aelrun Goette implizit, ob es denn damit getan sei, wenn Kinder lediglich überleben im Herzen des elterlichen Destruktionswillens? Und insgesamt: ob das weniger strafwürdig sei, ob nicht überhaupt die Frage der Schuldfähigkeit hier und da und manchmal allgemein eingeschränkt gehöre?

Zumindest hinterfraglich, auch ohne signifikante psychologische Störung (dem anschließen müsste sich eine Frage nach dem Standard von psychologischer Normalität, dem östlichen, westlichen, insgesamt aktuellen) bleibt: Dürfen wir unsere Kinder denn verdursten lassen, weil wir im Kapitalismus leben (obwohl Kommunismus – gegenseitige soziale und geheimdienstlerische Aufmerksamkeiten, Kinderkrippen, Vollbeschäftigung, Nachbarschaftshilfe und dergl. ursprünglich gelernt wurde)?

Des weiteren: Sind wir Ossis verantwortlich zu machen für die Leere in unseren Portemonnaies, Hirnen, Beziehungen, für unsere Hoffnungslosigkeit nach der hoffnungsschwangeren Wiedervereinigung? Sind wir dennn verantwortlich für die biologischen Uhren, die ein paar Jahre lang für uns Kinder hinticken, und uns ein paar Jahre lang an diese binden, ohne zu gucken, wer oder was wir sind und was wir wollen, für die wirtschaftlichen Uhren, die uns ein paar Jahre lang unsere absolute Überflüssigkeit eintrichtern?

„Die Kinder sind tot“ ist ein Dokumentarfilm über einen Zustand, in welchem aus einer mangelhaften elterlichen Perspektive heraus kaum eine positive Perspektive für die nächste Generation erwachsen kann. Der Film versucht nicht, Entschuldigungen heranzuziehen, er attestiert nur, dass selbst „Kindsmord“ eine zu beschönigende Bezeichnung ist für das viel Beunruhigendere, das einen viel zu großen Raum in unserer bundesdeutschen Realität einnimmt: Individuelle Verzweiflung und eine gleichzeitige allgemeine Gleichgültigkeit.

Unser neuer Präsident findet sowas natürlich. Sollen potentielle Kindsmörder doch möglichst schnell wegziehen aus Frankfurt/Oder nach Süddeutschland, überhaupt no problem. Dann kommt schon wieder Freude auf – und Familiensinn. Und vielleicht menschenleere Landschaften, vielleicht gut für Naturschutz, denn seit wann kann Politik „Menschen“ schützen? Absurder Gedanke!

Barfuß auf Nacktschnecken

(F 2010, Regie: Fabienne Berthaud)

Schöne Ziellosigkeit
von Wolfgang Nierlin

Lily (Ludivine Sagnier) ist eine junge Frau mit ziemlich vielen Eigenschaften, Macken und Spleens. Sie lebt in einem abgelegenen Haus inmitten der Natur im direkten Kontakt mit den Elementen: erdverbunden, …

Lily (Ludivine Sagnier) ist eine junge Frau mit ziemlich vielen Eigenschaften, Macken und Spleens. Sie lebt in einem abgelegenen Haus inmitten der Natur im direkten Kontakt mit den Elementen: erdverbunden, erfahrungsbezogen, verwurzelt. Sie ist spontan und ungezwungen, wild und hemmungslos, aber auch unberechenbar und chaotisch. Mit ihrer provozierend natürlichen Direktheit verstößt sie gegen Konventionen und spricht dabei überraschend hellsichtig unbequeme Wahrheiten aus; mit ihrer kindlichen Spiellust und naiven Versponnenheit gestaltet sie phantasievolle Welten und magische Objekt aus toten Tieren, Puppen und Gebrauchsgegenständen: ein bizarres Reich zwischen Leben und Tod, Kunst und Kitsch (entstanden unter Mitarbeit der französischen Künstlerin Valérie Delis). Genauso seltsam und verstörend ist Lilys ungreifbares, widersprüchliches Wesen. Mal gibt sie sich liebeshungrig, dann wieder abweisend. Lily ist eine psychische Grenzgängerin auf der Suche nach Freiheit. Im Geiste Pippi Langstrumpfs bewegt sie sich auf der Borderline zwischen Normalität und Wahnsinn.

Dagegen ist ihre Schwester Clara (Diane Kruger) geradezu „eigenschaftslos“ und ein bisschen gewöhnlich. Als Mitarbeiterin in der Anwaltskanzlei ihres Mannes Pierre (Denis Ménochet) lebt sie gutsituiert und sorglos ein relativ normales Leben in der Großstadt. Das ändert sich, als plötzlich die Mutter der beiden Schwestern stirbt und sich die verantwortungsbewusste Clara um die psychisch labile Lily kümmern muss, was einen Prozess beiderseitiger Annäherung in Gang setzt und damit auch eine Auseinandersetzung mit der verdrängten Familiengeschichte: der unglücklichen Ehe der Eltern und den Erwartungen des Vaters, der Selbstmord verübte.

Trotz dieser angedeuteten biographischen Problematisierung besitzt Fabienne Berthauds Film „Barfuß auf Nacktschnecken“ („Pieds nus sur les limaces“) zunächst und über weite Strecken eine schöne Ziellosigkeit, die noch unterstützt wird durch einen weitschweifig mäandernden Erzählstil. Inspiriert von den improvisierten Filmen John Cassavetes‘, arbeitet Fabienne Berthaud spontan und intuitiv, wobei ihre oft unruhigen, angeschnittenen und sehr körperlichen Bilder immer wieder den Informationsfluss verzögern und ins Unbestimmte führen; womit sie auch auf das Ungreifbare der Protagonistin reagieren.

Auch wenn die Regisseurin den Umgang mit Lilys Abweichung zunächst erfreulich offen lässt und den thematisch üblichen Therapie- und Hospitalisierungsmaßnahmen entzieht, läuft ihre Geschichte schließlich doch darauf zu, in der Umkehrung dieses Klischees von einer Heilung beziehungsweise Befreiung zu erzählen. Mit emanzipatorischem Furor löst die vermeintlich Kranke also die „in eine Form gepresste“ Gesunde aus ihren Zwängen. Zwar überzeugt die utopische Perspektive dieser Verwandlung nicht ganz; dennoch leuchtet Berthauds Film als Feier des Lebens im Hier und Jetzt.

Liverpool

(AR / F / NL / D/ ESP 2008, Regie: Lisandro Alonso )

Fremd am Ende der Welt
von Wolfgang Nierlin

Das geduldige, fast absichtslose Beobachten und Aufzeichnen physischen Handelns charakterisiert die Filme Lisandro Alonsos. Die Sprache des Körpers, die sich ausdrückt in Bewegungen und Gesten, in alltäglichen Verrichtungen und handwerklicher …

Das geduldige, fast absichtslose Beobachten und Aufzeichnen physischen Handelns charakterisiert die Filme Lisandro Alonsos. Die Sprache des Körpers, die sich ausdrückt in Bewegungen und Gesten, in alltäglichen Verrichtungen und handwerklicher Arbeit gibt dem Schweigen der verschlossenen Figuren eine Stimme. Dieser Umgang mit den Elementen erfüllt Raum und Bild und überträgt sich als physische Erfahrung förmlich auf den Zuschauer. Essen und Trinken, Arbeiten und Nichtstun, als Meditation über die berührende Tiefe des Gewöhnlichen in langen Einstellungen und mit dokumentarischem Blick inszeniert, verdichten die physische Existenz zum schieren Seinsgrund. Ausgesetzt in der Zeit und durch Orte determiniert, sind die Figuren jenseits dramatischer und psychologischer Vorgänge einfach nur sie selbst. In Alonsos Filmen gibt es nichts, was dem schönen Schein gängiger Kino-Ware zuarbeitet. Selbst ein mögliches Zentrum scheint sich immer wieder zu verflüchtigen.

Das ist auch in „Liverpool“, dem aktuellen Film des argentinischen Regisseurs, nicht anders. In Wiederaufnahme verschiedener Motive seines 2004 entstandenen Werkes „Los muertos“ (Die Toten) begleitet der Film den Matrosen Farrel (Juan Fernández) auf seiner Reise zur südlichsten Stadt Argentiniens in der Provinz Feuerland. Von Ushuaia aus, wo sein Containerschiff anlegt, bewegt er sich durch eine unwirtliche, schneebedeckte Landschaft am Ende der Welt, durch Eis und Kälte, um seine Mutter zu besuchen, von der er nicht weiß, ob sie noch lebt. Doch in seiner Heimat ist Farrel zum Fremden geworden. „Warum bist du zurückgekehrt?“ und „Was hoffst du zu finden?“, wird er argwöhnisch gefragt. Seine mittlerweile alte, bettlägerige Mutter erkennt ihn nicht wieder, während er vergeblich versucht, Nähe herzustellen und sich mit diversen Erinnerungsstücken seiner Kindheit vergewissert.

Farrel ist ein einsamer Held ohne feste Bleibe, der in ärmlichen, heruntergekommenen Provisorien sein Lager nimmt. Überhaupt interessiert sich Lisandro Alonso für ein Kino der Armut und des einfachen Lebens, darin ähnlich seinem portugiesischen Kollegen Pedro Costa oder auch Buñuel und Pasolini. Wenn sein verlorener, trostloser Protagonist seinen Geburtsort schließlich wieder verlässt, verschwindet er förmlich in der Landschaft, die – auch in den Bildern vom Meer – alles Enge kontrastiert. Entgegen der Erzählkonvention ist der Film allerdings dann noch nicht zu Ende. Vielmehr bleibt der Zuschauer nach diesem Abschied noch eine Weile im Dorf unter den Fremden zurück.

Das Hausmädchen

(KR 2010, Regie: Im Sang-soo )

Die Dialektik von Herr und Magd
von Harald Steinwender

Eine junge Frau nimmt eine Stelle als Hausmädchen bei einer reichen Familie an. Eun-yi (Do-youn Jeon) ist schön, aber auch naiv, und, wie die Exposition zeigt, wohl auch etwas zu …

Eine junge Frau nimmt eine Stelle als Hausmädchen bei einer reichen Familie an. Eun-yi (Do-youn Jeon) ist schön, aber auch naiv, und, wie die Exposition zeigt, wohl auch etwas zu neugierig. Ihre wohlhabenden Arbeitgeber dagegen, die Gohs, sind blasiert, gelangweilt, distinguiert. Der Hausherr Hoon (Jung-jae Lee) trägt teure Hemden und trinkt noch teureren Wein, seine schöne, aber launische Frau Hae-ra (Woo Seo) ist schwanger mit Zwillingsmädchen. Eine Tochter haben beide schon, die junge Nami (Seo-hyun Ahn), um die sich Eun-yi kümmern soll. Manche haben eben alles, andere fast nichts. Eine alte Hausdame Byung-sik (Yuh-jung Youn) kümmert sich zudem seit Jahrzehnten um die Familie. Vielleicht trägt sie ein dunkles Geheimnis mit sich, eine Geschichte, die sich in ihrer Jugend ähnlich ereignet haben mag, wie sie das neue Hausmädchen erleben wird – wir werden es nie erfahren. Verbittert und etwas wunderlich ist die Alte über die Jahre geworden. Heimlich nascht sie von den Resten der Goh’schen Mahlzeiten und bedient sich am Wein des Hausherrn, als ob ihr das zusteht – dafür, dass sie all die Jahre diese hohlen, boshaften Menschen ertragen hat. Vielleicht hält sie sich auch mittlerweile für die eigentliche Hausherrin, wer weiß? Eines wird schnell offensichtlich: Das Verhältnis Herr und Knecht, bzw. Herr und Magd ist komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint.

Ein Selbstmord in der Exposition, den Eun-yi beobachtet, bevor sie zu den Gohs kommt, wirft bereits einen dunklen Schatten der Vorahnung über die Geschichte vom Hausmädchen, das aufs Land zieht, zu den egoistischen Bourgeois, die in eleganten, kalten, von gedämpften Weiß- und Schwarztönen bestimmten Villen leben. Das düstere Omen wird bald bestätigt, denn die Gohs werden die junge Frau ausnutzen und quälen. Doch so eindeutig sind die Machtverhältnisse nicht. Wenn der Ehemann plötzlich betrunken im Zimmer der jungen Frau steht, dann unterwirft sich das junge Hausmädchen dem stumpfsinnigen Macho, als hätte sie schon seit Wochen auf ihn gewartet. Überhaupt übernehmen die Frauen hier die zentrale Rolle als eigentlich starkes Geschlecht: Die Hausherrin und ihre Mutter scheinen zu allem fähig und im Hintergrund zieht die alte Hausdame die Fäden. Mehr als einmal wirken Hae-ra und ihre Mutter, wenn sie beim Mordpläneschmieden vor den lodernden Flammen eines offenen Kamins fotografiert werden, wie zwei Hexen. Der Mann im Haus dagegen ist nur ein eitler Geck, der selbst beim Vögeln das Spiel seiner Muskeln im Spiegel bewundert. Und doch zieht Eun-yi etwas magisch zu dieser Familie, die wie aus einem schwarzen Märchen entsprungen wirkt. Selbst als Eun-yi schwanger wird und die Frauen des Hauses einen ersten Mordanschlag auf sie verüben, kehrt das Hausmädchen zurück in das Landhaus. Die Konsequenzen sind, was sonst, mörderisch.

Sang-soo Ims 'Das Hausmädchen' ist ein freies Remake des gleichnamigen, 1960 erschienenen Thrillers von Ki-young Kim, einem Meister des psychologischen, melodramatisch grundierten Horrorfilms. Kims Film ist der wohl bekannteste koreanische Film der Nachkriegszeit, und mit Regisseuren wie Martin Scorsese hat er auch im Westen viele Bewunderer. In der ersten Version des 'Hausmädchens' war die Titelheldin noch eine mörderische Femme fatale. In Ims Neufassung bleiben die Beweggründe der jungen Frau rätselhaft.

Bestenfalls Fragmente einer Biografie erfahren wir von Eun-yi, fast nichts über ihr Leben vor der Begegnung mit den Gohs. Aber realistische, psychologisch motivierte Charaktere sind in der Neufassung dieser klassischen Geschichte sowieso nebenrangig. Stattdessen inszeniert Im einen postmodernen Thriller, der mit seinen boshaften Spitzen gegen die südkoreanische Bourgeoisie zu Beginn wie ein Versuch wirkt, Chabrol nach Asien zu transponieren. Über weite Strecken erinnert 'Das Hausmädchen“ in seiner Stilisierung auch an die Gialli, diese eleganten, wilden psychosexuellen Thriller aus dem Jet-Set-Italien der 70er Jahre. Mit der eleganten Kameraarbeit, der assoziativen Montage, den sorgfältig kadrierten CinemaScope-Bildern und der exzellenten Ausstattung des Hauses mit kubistischen Gemälden, rauschhaft-ornamentalem Jugendstil-Design und nach innen gewundenen Treppen ist 'Das Hausmädchen' über weite Strecken vor allem ein visuelles Erlebnis; ein erlesener Bilderreigen, dessen effektive Wechsel von Tonalität und Stimmung umso verstörender wirken. Zum Schluss lässt Im dann den Plot Purzelbäume schlagen, gibt eine realistische Dramaturgie endgültig auf und wagt sich auf das Terrain von David Cronenberg und David Lynch.

Retrospektiv fragt man sich, ob das alles nicht die Phantasie einer der Figuren war. Aber welcher? Die der alten Hausdame, die sich eine Rachephantasie zurechtspinnt mit einer jungen Stellvertreterin ihrer selbst in der Hauptrolle? Die der schwangeren Mutter, die sich als omnipotente schwarze Märchenkönigin an ihrem treulosen Mann rächt? Oder die des jungen Hausmädchens, das sich in einer sadomasochistischen Phantasie als den heimlich aktiven Part imaginiert? In jedem Fall bestätigt „Das Hausmädchen“ zusammen mit den Werken anderer südkoreanischer Filmemacher wie Joon-ho Bong (“Madeo” / „Mother“; 2009), Hong-jin Na (“Chugyeogja” / “The Chaser”; 2008), Jee-woon Kim (“Akmareul boatda” / “I Saw the Devil”; 2010) und Jeong-beom Lee (“Ajeossi” / “The Man From Nowhere”; 2010), dass die besten Thriller derzeit aus Südkorea kommen – sei es als psychologischer Kriminalfilm, klassische detective story, harter Polizeifilm, wilde Action-Fantasie oder eben als surreales Kammerspiel.

Thor

(USA 2011, Regie: Kenneth Branagh)

Wo die wilden Kerle wohnen ...
von Harald Steinwender

Augenzucker aus Hollywood, kandiert und glasiert, glitzernd und strahlend: Kenneth Branagh, bekannt als Theatermime und für seine Kinoadaptionen von Shakespeare-Stücken wie „Henry V“ (1989), „Much Ado About Nothing“ („Viel Lärm …

Augenzucker aus Hollywood, kandiert und glasiert, glitzernd und strahlend: Kenneth Branagh, bekannt als Theatermime und für seine Kinoadaptionen von Shakespeare-Stücken wie „Henry V“ (1989), „Much Ado About Nothing“ („Viel Lärm um nichts“; 1993) und „Hamlet“ (1996), hat sich an einen Superheldenfilm gewagt. Und, wider Erwarten ist ihm das ziemlich gut gelungen.

Dabei hat sich der 51-jährige Brite den wohl abstrusesten Helden aus dem weitverzweigten Marvel-Comicuniversum ausgesucht: den hammerbewehrten, nordischen Donnergott Thor. Verkörpert wird dieser von dem australischen Schauspieler Chris Hemsworth („Star Trek“; 2009), der blond, blauäugig und muskelgepanzert wie ein Bilderbucharier wirkt. Nach einer visuell überdeutlich an Leni Riefenstahls Paraden aus „Triumph des Willens“ (1935) angelehnten, aber gescheiterten Inauguration zum König wird Thor wegen seines aufbrausenden Temperaments von seinem Vater Odin verstoßen (Anthony Hopkins – noch ein Brite, der, wenn er nicht gerade als kannibalischer Serienmörder reüssiert, vor allem als Bühnenschauspieler und mit Literaturverfilmungen bekannt ist). Aus Asgard verbannt, verschlägt es unseren Helden dann nach Amerika. Und obwohl der Film im New Mexico der Gegenwart angesiedelt ist, zitiert er natürlich in fast jeder Einstellung 50er-Jahre-Americana wie die Kleinstadt mit Diner, Bar, Dorfschönheit und Wüste drum herum. Der Runninggag, den Branagh daraus entwickelt, dass der tumbe Heros im modernen Amerika wie ein debiler Wrestler oder ein stumpfsinniger Redneck wirkt, ist allerdings auch bei der x-ten Wiederholung nicht sonderlich innovativ. So weit, so vorhersehbar.

Was Branagh aber umso besser gelingt, das ist die Parallelhandlung in Asgard und die Geschichte von Thors Vertreibung aus dem Götterreich, die uns zu Beginn in einer langen Rückblende erzählt wird. Ist hier erst einmal die ärgerliche Riefenstahl-Reminiszenz abgehandelt und die abstruse Prämisse des Films vergessen, dann kann man „Thor“ durchaus als das genießen, was er in erster Linie sein will: visuell opulentes Überwältigungskino, das selbst das mittlerweile totgerittene und für Produktionen dieser Größenordnung obligatorische 3D effektiv einsetzt. Der eigentliche Star des Films aber ist weder das stereoskopische Format, der Superheld oder seine Gegner, sondern die in der Krone der Weltenesche Yggdrasil gelegene, in komplementärfarbigen Tableaus von Goldgelb und Blau getaucht Götterwelt Asgard, wo die aufbrausenden Göttersöhne hausen. Diese Fantasiewelt ist eine wahre Augenweide: mit Ansammlungen goldener Türme, die wie futuristische Orgelpfeifen wirken, allenthalben glänzenden Oberflächen und einem glitzernden Sternenhimmel; zusätzlich eine gigantische Brücke, die dunkel funkelt und aus einem Material gefertigt ist, das wie eine Art elektrisierter schwarzer Marmor aussieht. Über diese Brücke gelangen die Helden in die Gegenwelten; zu den Menschen oder in die Welt der Frostriesen von Jotunheim, die, so will es der Plot, Thors Erzfeinde sind. Eye candy nennen die Amerikaner so etwas: Nichts für den Kopf, sondern was fürs Auge.

Für solch einen irrwitzigen Bombast scheint paradoxerweise gerade ein kühler Brite wie Branagh der ideale Regisseur zu sein. Immerhin war es einer seiner Landsleute, der den bis heute besten Fantasyfilm überhaupt gedreht hat: John Boorman, der mit seinem rauschhaften „Excalibur“ 1981 versuchte, die Artus-Legende noch einmal ganz ironiefrei zum Leben zu erwecken. Doch während der Mythopoet Boorman die Artus-Sage von späteren christlichen Anverwandlungen befreit und zum Schwanengesang auf das Heidentum und die alten Naturgötter umdeutete, da beschreitet Branagh den diametral entgegengesetzten Weg: Er christianisiert Thor und die nordische Mythologie. So wirkt der Donnergott eher wie der blond-blauäugige Jesus unzähliger Bibelverfilmungen, sein gütig-weiser Vater Odin mit dem weißen Rauschebart wie eine Mischung aus den kitschigsten Gottesbildern des Christentums und dem Weihnachtsmann. Auch Loki (Tom Hiddleston), hier Thors (Stief-)Bruder, ist nicht mehr der Trickster der Mythologie, sondern wird zum gefallenen Engel Luzifer inklusive der nach hinten gebogenen Hörner, die seinen Helm zieren. Hinzu kommen Anklänge an die durch das Kino wieder und wieder geplünderte griechische Mythologie, etwa wenn Thor auf der Erde wie einst Steve Reeves’ Herkules in Pietro Franciscis „Le fatiche di Ercole“ („Die unglaublichen Abenteuer des Herkules“; 1958) gute Taten vollbringt und mit einer Menschenfrau (Natalie Portman) anbandelt. Das Ergebnis ist Camp in höchster Vollendung, und gerade die prinzipielle Lächerlichkeit dieses Sammelsuriums an Absurditäten bereitet dem befreienden Lachen seinen Weg. Selbst eine Referenz an „Richard III.“ findet hier ihren Platz, wenn der stoische Held in ein Zoogeschäft stürmt und „A horse, I need a horse!“ deklamiert. Warum Thor überhaupt (akzentfrei) Englisch spricht, ist wie die anderen Logiklöcher des Plots darüber schnell vergessen. Und da Branagh nicht den Fehler macht, den Bogen zu überspannen und eine Actionszene an die andere zu reihen, sondern stattdessen auf jeden Krawall eher kontemplativen Unsinn folgen lässt, kommt man auch nicht völlig erschlagen, sondern im Großen und Ganzen ziemlich gut gelaunt aus dem Kino.

I Killed My Mother

(CAN 2009, Regie: Xavier Dolan)

Hassliebe
von Wolfgang Nierlin

Mitten hinein in das Lebensgefühl eines 17-jährigen, künstlerisch veranlagten Jugendlichen taucht Xavier Dolans Spielfilm „J’ai tué ma mère“ (I killed my mother). Der 1989 in Montréal geborene Frankokanadier hat sein …

Mitten hinein in das Lebensgefühl eines 17-jährigen, künstlerisch veranlagten Jugendlichen taucht Xavier Dolans Spielfilm „J’ai tué ma mère“ (I killed my mother). Der 1989 in Montréal geborene Frankokanadier hat sein Debüt in Personalunion als Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler realisiert und gilt unter Kritikern seither als cineastisches Wunderkind. Diese autobiographische Nähe zum eigenen Lebensstoff, verbunden mit einem erfrischend unverbrauchten, experimentierfreudigen Inszenierungsstil, sorgt für die besondere Authentizität und lebendige Unmittelbarkeit des Films.

Dabei arbeitet Dolan jedoch kaum mit verwackelten Handkamerabildern. Sein intimes Selbstportrait über die schier ausweglos erscheinende Hassliebe zwischen dem von ihm selbst gespielten 16-jährigen Hubert Minuel und seiner Mutter Chantale Lemming (Anne Dorval), die sich in ständigen Streitereien und hitzigen Wortgefechten ausdrückt, verdichtet die Stagnation dieser Beziehung vielmehr in statischen Tableaus. Insofern gleicht der Film mit seinen frontal aufgenommenen Dialogszenen, den angeschnittenen oder an den Bildrand gedrängten Figuren, den akzentuierten Räumen und Interieurs eher einem Gemälde als einem Roman, eher der Beschreibung eines Zustands denn der Entwicklung einer Geschichte.

Formal aufgelockert und in eine spielerisch leichte Schwingung versetzt wird dieses relativ starre Bildkonzept durch eingeschnittene, augenblickshafte Flashs, durch phantastische Tagträumereien, Visionen und assoziative Bildfolgen, in denen sich das subjektive Bewusstsein des Protagonisten ausdrückt. Daneben aber auch durch ein in Schwarzweiß gehaltenes persönliches Videotagebuch, in dem Hubert sein wütendes Verhältnis zur Mutter, seine Homosexualität und sein Aufbegehren reflektiert. Zitate von Guy de Maupassant, Jean Cocteau und Alfred de Musset verlängern diese Intimität, schaffen auf poetische Weise einen nachdenklichen Ausgleich zu den emotionalen Ausbrüchen und geben darüber hinaus Auskunft über den künstlerischen Kosmos des jungen Xavier Dolan. Der hat unter dem Titel „Les amours imaginaires“ (Heartbeats) bereits seinen zweiten Film abgedreht und veröffentlicht.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Nostalgia de la luz

(CL / F / D 2010, Regie: Patricio Guzmán)

Pforten zur Vergangenheit
von Wolfgang Nierlin

Die Gegenwart existiert nicht, sie ist nur eine Illusion. Diese Feststellung des Astronomen Gaspar Galez kontrastiert gewissermaßen die Kindheitserinnerungen des Filmemachers Patricio Guzmán (Jahrgang 1941), ohne diese zu entzaubern. In …

Die Gegenwart existiert nicht, sie ist nur eine Illusion. Diese Feststellung des Astronomen Gaspar Galez kontrastiert gewissermaßen die Kindheitserinnerungen des Filmemachers Patricio Guzmán (Jahrgang 1941), ohne diese zu entzaubern. In poetischen Bildern, in Stillleben von Räumen und Gegenständen beschwört der chilenische Dokumentarist zu Beginn seines neuen Films „Nostalgia de la luz“ (Heimweh nach den Sternen) jene „friedliche Zeit“ eines fernen Kindheitsparadieses, in dem es immer nur die Gegenwart gab. Doch dann mischt sich funkelnder Sternenstaub in das Spiel von Licht und Schatten. Leicht und schwebend fällt er in die Bilder und illuminiert sie mit einem sanften Hauch von Ewigkeit.

Woher kommen wir und wohin gehen wir? Immer wieder formen sich aus den Sternbildern faszinierende farbige Ornamente. Die Kraterlandschaft der Mondoberfläche mit ihren Abdrücken und Spuren vermittelt eine Ahnung von Geschichte und ihren undurchdringlichen Geheimnissen. Doch dann kehrt sich die Blickrichtung der Teleskope um; und der blaue Planet schrumpft zu einem braunen Fleck, dessen Trockenheit derjenigen des Mars ähnlich ist. „Verdammte Erde“ sagt der Volksmund zur chilenischen Atacamawüste, dieser toten Landschaft, die zugleich voller Geschichte steckt. Als „offenes Buch der Erinnerung“ birgt sie spätkolumbianische Felszeichnungen und oberirdische Nomadengräber. In der jüngeren chilenischen Geschichte war sie aber auch Schauplatz grausamer Verbrechen: Hier installierte Diktator Pinochet in den Ruinen eines alten Bergwerks ein Konzentrationslager, in dem Regimegegner gefoltert und ermordet wurden.

Dieser gesellschaftlich verdrängten Geschichte und der Suche nach den „desaparecidos“, den Verschwundenen, ist Patricio Guzmán, der selbst viele Jahre im Exil lebte, in seinem essayistischen, visuell eindringlichen Dokumentarfilm auf der Spur. Denn die Toten dürfen nicht vergessen werden: „Diejenigen, die eine Erinnerung haben, sind fähig, in der zerbrechlichen Gegenwart zu leben. Diejenigen, die keine haben, leben im Nirgendwo.“ Während Angehörige seit Jahren mit fast übermenschlicher Beharrlichkeit die Wüste nach Opfern absuchen, ist diese aufgrund ihrer extremen Trockenheit und der damit verbundenen optimalen Beobachtungsbedingungen bevorzugtes Terrain astronomischer Observatorien und ihrer Forschungen. Die „Pforten der Vergangenheit“ öffnen sich an diesem ungewöhnlichen Ort quasi in zwei Richtungen, die sich letztlich miteinander verbinden. Denn das Licht, das die Fernrohre aus einer unglaublich fernen Vergangenheit einfangen, teilt seine Energie mit den Zyklen des irdischen Lebens, seinem Werden und Vergehen.

Kinder der Steine – Kinder der Mauer

(D 2010, Regie: Robert Krieg, Monika Nolte)

Verlorene Hoffnungen, unzerstörbare Träume
von Wolfgang Nierlin

Die Fotografie zeigt sechs 10-jährige palästinensische Jungen (und einen siebten, der in die entgegengesetzte Richtung schaut und über den man leider nichts erfährt), die mit strahlenden Gesichtern und leuchtenden Augen …

Die Fotografie zeigt sechs 10-jährige palästinensische Jungen (und einen siebten, der in die entgegengesetzte Richtung schaut und über den man leider nichts erfährt), die mit strahlenden Gesichtern und leuchtenden Augen in die Kamera blicken und dem Betrachter dabei übermütig das Victory-Zeichen entgegenstrecken. Eine schelmische Komplizenschaft und eine unbändige Bewegungslust, von kindlichem Enthusiasmus und Neugier angespornt, sind darauf festgehalten. Aufgenommen wurde das Bild von dem Fotografen Ralf Emmerich 1989 in Bethlehem, wo während der ersten Intifada ein „Krieg der Steine“ tobte. Für den Dokumentarfilmer Robert Krieg, der damals seinen Film „Intifada – Auf dem Weg nach Palästina“ drehte, ist dieses Foto „zu einem Symbol des Widerstands gegen die Besatzermacht“ geworden. Zwanzig Jahre später dient es ihm und seiner Ko-Autorin Monika Nolte als Ausgangspunkt für ihren neuen Film „Kinder der Steine – Kinder der Mauer“ und damit für eine Spurensuche über verlorene Hoffnungen und unzerstörbare Träume.

Die Nachstellung des Bildes mit den heute 30-jährigen Männern in einer engen Gasse der Bethlehemer Altstadt steht am Beginn von Kriegs und Noltes Dokumentarfilm über den Werdegang und die persönlichen Lebensverhältnisse der Portraitierten. Die räumliche Nähe zueinander, eine langjährige Freundschaft und eine tiefe Solidarität zwischen den Familien sind ihnen über die Jahre hinweg erhalten geblieben. Trotz eingeschränkter Arbeitsmöglichkeiten haben sie ihr bescheidenes Auskommen als Souvenirverkäufer, Geldwechsler, Küchenhilfe, Reinigungskraft oder auch als Hühnermetzger gefunden und sich dabei eine grundlegende Lebensfreude bewahrt: „Wir lachen immer noch, aber unser Lachen damals war viel herzlicher.“

Denn im sichtbaren, etwas redundant ins Bild gesetzten Zentrum des Films stehen die einschneidenden Veränderungen durch den israelischen Siedlungsbau und die Errichtung einer gigantischen Grenzmauer nach dem Einmarsch von Truppen in die Autonomiegebiete im Zuge der zweiten Intifada. Zwar witzeln die Freunde desillusioniert, die Häuser seien mit den Steinen von damals gebaut worden; doch tatsächlich haben diese zerstörerischen Eingriffe ihre Perspektive regelrecht verbaut und sie zu Eingeschlossenen gemacht. Dass der Film bei den teils inszenierten Schilderungen dieser beschwerlichen Lebensverhältnisse und ihrer geschichtlichen Rekonstruktion thematisch einerseits auf der Stelle tritt, spiegelt andererseits in sich die reale Stagnation im Alltag von Menschen, die vielleicht gerade deshalb eine starke Solidarität eint.

9 Leben

(D 2010, Regie: Maria Speth)

Vom Porträt zur Apotheose
von Sven Jachmann

Es sind überaus drastische Schicksale, von denen Regisseurin Maria Speth („In den Tag hinein“ (2001), „Madonnen“ (2007)) in ihrem ersten Dokumentarfilm erzählen lässt. Geschichten von seelischen und körperlichen Misshandlungen, Vergewaltigung, …

Es sind überaus drastische Schicksale, von denen Regisseurin Maria Speth („In den Tag hinein“ (2001), „Madonnen“ (2007)) in ihrem ersten Dokumentarfilm erzählen lässt. Geschichten von seelischen und körperlichen Misshandlungen, Vergewaltigung, Drogensucht, familialer Gewalt und sozialer Isolation. Erzählt wird ebenso von Befreiungsschlägen, von dem Nullpunkt, der Sunny, Toni, Krümel, JJ, Stöpsel, Soja und Za, die sieben Protagonisten des Films, dazu verleitete, das Leben auf der Straße jeder Illusion von familiärer Sicherheit vorzuziehen. Das ist der grobe Rahmen, über den Speth ihre Charaktere arrangiert: die Portraits verschiedener Menschen zu entwerfen, die in Berlin auf der Straße lebten oder es immer noch tun. Zu Zeiten, in denen die Dominanz des Infotainments seinen Figuren keinerlei Wahrheit mehr zugesteht, sie stattdessen etwa vor stimmungsfördernde Kulissen platziert oder lieber gleich durch Schauspieler ersetzt, zeugt der stilistische Purismus Speths von großer Anteilnahme gegenüber den Sprechenden.

Der gesamte Bildapparat gehorcht der Prämisse, jede Suggestivmethode, jede Ablenkung von den Worten zu unterbinden. In schwarzweißen, perfekt ausgeleuchteten Bildern (Kameramann Reinhold Vorschneider wirkte bereits bei den Filmen von Rudolf Thome („Die Sonnengöttin“, „Paradiso – Sieben Tage mit sieben Frauen“), Angela Schanelec („Marseille“, „<<TEXT:UNTERSTRICHEN>Orly“), Benjamin Heisenberg („Schläfer“, „Der Räuber“) oder Thomas Arslan („<<TEXT:UNTERSTRICHEN>Im Schatten“) mit, ebenso bei Speths ersten beiden Spielfilmen) sprechen die Interviewten in einem weißen Studio auf einem Stuhl sitzend von sich: keine Musik (es sei denn, sie wird von ihnen selbst erzeugt), keine Außen- oder Archivaufnahmen, kein Dekor, keine weiteren Gegenstände (es sei denn, sie wurden von ihnen selbst mitgebracht) und dadurch auch kein Kontext, der als Mischung aus Vorurteilen und Stigmatisierungsprozessen die Aussagen unweigerlich zu Symptomen verklärt. Was den Dokumentarismus des Fernsehbeitrags mit seiner kruden Absicht einer Milieubeschreibung in der Regel so widerwärtig macht – dass er nämlich Repräsentanten und keine Individuen benötigt, auf die er dann mit den abgefeimtesten Mitteln der Dramaturgie einschlägt, bis das Schreckbild einer fremden Parallelwelt endlich grundiert ist und sich den Gesetzen der Dramaturgie unterordnet -, gerät hier durch den Rückgriff aufs Artifizielle zum Dokumentarismus einer Authentizität. Und die erzeugen einzig die Interviewten: durch Gesten, durch Kleidung, durch Sprache, durch musische Talente, die sie unter Beweis stellen, vor allem aber durch die Wahl, wovon sie überhaupt sprechen wollen. Ihre Namen erfahren wir erst recht spät und ihre Biographien entfalten sich nicht chronologisch. Dramaturgisch korrekt ist das nicht. Dadurch sprechen sie zugleich aber auch nicht einzig für und über das Umfeld, dem sie erwachsen sind, und in der Tat will beispielsweise das Klischee der jugendlichen Punkerin, die im bürgerlichen Elternhaus das Gymnasium besucht, Musikunterricht nimmt, gleichzeitig aber ein Doppelleben als Heroinsüchtige führt, bis sie sich endgültig für ein qualvolles Straßenleben entscheidet, noch geboren werden.

Ohne den filmischen Apparat, der Gesellschaft nicht beschreiben, sondern erzeugen will, bleibt einzig die Konzentration auf die posthumen Beschreibungen der meist noch jugendlichen Sprecher/innen. Man kann davon abstrahieren und die statistisch längst verifizierte These, dass der Mikrokosmos Familie der weitaus gefährlichste Ort für Kinder und Jugendliche ist, um physischen und psychischen Misshandlungen ausgeliefert zu sein, durch die Aussagen ein weiteres Mal in bedingungsloser Klarheit gestützt sehen. Man kann aber auch gleichfalls mit tiefstem Respekt zuhören, wie sich ein damals 14-jähriges Mädchen dazu entschloss, sich keinesfalls mehr vom neuen Partner der Mutter schlagen zu lassen und dafür die existenziellste Konsequenz der Armut in Kauf nahm. Über das Gespräch und einem sich nur ihnen verpflichtenden Raum wachsen die Figuren von der Variable zur omnipräsenten Biographie. Zweifel darüber, was mit aller Härte, Offenheit und Verletzlichkeit gesagt wird, wollen die Bilder, die ausschließlich Gesichter kennen, jedenfalls mit sämtlichen zur Verfügung stehenden Mitteln des Films verhindern und aus den Portraits wird eine regelrechte Apotheose.

Solino

(D 2002, Regie: Fatih Akin)

Pizza versus Bratwurst
von Andreas Thomas

Wie der 2004 prämierte und gefeierte „Gegen die Wand“ thematisierte auch Fatih Akins dritter Spielfilm „Solino“ die Fragen nach Leben und kultureller Identität von ehemaligen „Gastarbeitern“ und/oder deren Kindern in …

Wie der 2004 prämierte und gefeierte „Gegen die Wand“ thematisierte auch Fatih Akins dritter Spielfilm „Solino“ die Fragen nach Leben und kultureller Identität von ehemaligen „Gastarbeitern“ und/oder deren Kindern in Deutschland. Der Versuch, diese Seite der bundesrepublikanischen Geschichte wahrzunehmen, erhielt (verdientermaßen) das Prädikat „Besonders wertvoll“. Denn allzu wenig erfahren wir Deutschen, auch die Deutschen südeuropäischer Herkunft selbst über ihre eigene Vergangenheit. Es scheint oft, als wäre Integration gleichbedeutend mit dem Vergessen der eigenen Wurzeln, und als erschöpfe sich interkulturelle Differenz und Kommunikation in Fastfood-Symbolik: Bratwurst, Döner, Pizza. Wo zu wenig memoriert, reflektiert, kommuniziert wird, entstehen Stereotypen. Obwohl sicherlich in bester Absicht gelangt auch „Solino“ – und das unterscheidet ihn auffallend von „Gegen die Wand“ – nur selten darüber hinaus.

In den sechziger Jahren verlässt die glückliche italienische Familie Amato ihr freundliches Heimatdorf Solino, um ihr Glück im grauen und tristen Deutschland, sprich in Duisburg, zu suchen. Schon der Beginn ist rätselhaft, denn zwingende wirtschaftliche Not ist bei den Amatos nicht auszumachen, eher folgt man dem Trend der Zeit: Gastarbeiter in der BRD werden. Über die Stationen siebziger und achtziger Jahre behandelt der Film den familiären Werdegang (sie eröffnen die erste Pizzeria im Ruhrgebiet), aber speziell den der beiden ungleichen Brüder Gigi (Barnaby Metschurat) und Giancarlo (Moritz Bleibtreu). Deren Aufwachsen im Spannungsfeld von (mäßig überzeugendem) italienischem Patriarchat (Gigi Savoya), antiautoritärem Rebellentum (Sex, Drogen, Ton Steine Scherben, The Can) und Kunst (Gigi will Filmemacher werden) steht im Mittelpunkt, ist so in den besten Momenten Aufbereitung von Zeitgeschichte, in den schlechtesten aber leider eine Karikatur dessen, was wir immer schon über unseren Pizzabäcker an der Ecke gedacht, jedoch nie hinterfragt haben.

Bitte auf keinen Fall die auf der DVD (neben Italienisch/Deutsch mit UT) enthaltene völlig überflüssige deutsche Version ohne Untertitel anschauen. Der gravierendste Schwachpunkt dieser Synchron-Fassung besteht darin, dass man in diesem Film-Italien genauso deutsch spricht wie in Deutschland. Da wirkt es dann sehr seltsam, wenn Mama (Antonella Attili) das Deutsch der Deutschen plötzlich nicht versteht und es sich vom Sohn ins (bis dahin nicht gesprochene) Italienische übersetzen lassen muss. Das Angebot eines Verzichtes auf die Originalsprache war wohl ein Zugeständnis an den Mainstream-Zuschauer. Irgendwie aber scheint ein solcher unnötiger Kompromiss symptomatisch für das Ganze: Der Film krankt an der Vereinfachung seiner Bestandteile. So ist beinahe jede Figur deutlich überdeterminiert: Ein dutzendmal muss Gigi wiederholen, dass er Filme machen will (der Film erklärt: er ist ein sensibler, geborener Künstler), ein dutzendmal stellt Bruder Giancarlo seine kriminellen Tendenzen unter Beweis (der Film erklärt: er ist ein schwacher, grober Mensch), latent blass und müde leidet die Mutter an der deutschen Kälte im Doppelsinn (der Film erklärt: sie sehnt sich nach Italien zurück), und so weiter und so fort. Weil der Film zu wenig an seine Figuren (und an das Reflexionsvermögen der Zuschauer) glaubt, überzeichnet er sie so lange, bis sie zu Klischees werden. Ein weiterer Schwachpunkt dabei mag aber auch die Wahl der Darsteller gewesen sein, von denen als einziger Moritz Bleibtreu ein bisschen Leben in die Bude bringt, auch wenn seine forcierte Italo-Gestik doch hin und wieder zu bemüht erscheint. Überhaupt ist ziemlich unverständlich, warum nicht echte Söhne von Italienern Söhne von Italienern spielen sollten?

„Solino“ endet – auch da eine Parallele zu „Gegen die Wand“ – mit einer Rückkehr in die Heimat. Selbst ein Land kann zum Abziehbild werden: Italien ist hell, Deutschland ist dunkel, Italien ist warm, Deutschland ist kalt, und wenn Gigi nicht Filmemacher geworden ist, so hat er doch sich selbst finden können – da wo er geboren ist, da wo die Menschen einfach und freundlich sind, da wo seine Jugendliebe auf ihn immer gewartet hat, da wo er hingehört? Löst „Solino“ das Problem Multikulti, indem er das Projekt Multikulti einfach rückgängig macht?

„Solino“, und deshalb wäre der Film Teil eines interessanten Lehrbeispiels, ist trotz des sehr verwandten Themas in seiner Realisation beinahe das genaue Gegenteil von „Gegen die Wand“, obwohl der Regisseur beider Filme derselbe ist. Was „Solino“ falsch macht, macht „Gegen die Wand“ richtig. Seine Kraft bezieht „Gegen die Wand“ vor allem aus dem Vertrauen in seine Geschichte und in seine Figuren – die wiederum von starken Darstellern gespielt werden. Die Protagonisten in „Gegen die Wand“ sind faszinierend, weil sie widersprüchlich und geheimnisvoll bleiben dürfen, die Handlung bleibt spannend, weil sie unvorhersehbar ist. Die Protagonisten in „Solino“ – und die Länder „Italien“ und „BRD“ zählen dazu – sind ermüdend, weil ihre Geheimnisse allzuschnell gelüftet sind. „Solino“, leider überwiegend, ist die Verfilmung von „Pizza“ und „Bratwurst“.

Das Traumschiff

(D 0, Regie: Hans-Jürgen Tögel, Karola Zeisberg-Meeder, Gero Ehrhardt, Christine Kabitsch-Knittel )

„Die Reise ist wie ein Urlaub von der Wirklichkeit“
von Nina Koebernick

Viel zu viel ist passiert in den letzten Jahren. Das Schiff Deutschland hat nur allzu viel ertragen müssen an ekelhafter Veränderung und Modernisierung. Das brauchen wir nicht. Wir, die Menschen, …

Viel zu viel ist passiert in den letzten Jahren. Das Schiff Deutschland hat nur allzu viel ertragen müssen an ekelhafter Veränderung und Modernisierung. Das brauchen wir nicht. Wir, die Menschen, die sich entkräftet nach dem ausbeuterischen Arbeitstag in der menschenfeindlichen Karrierewelt einfach nur auf die heimische Sitzgruppe schmeißen und fernsehformatisch FLIEHEN wollen. Wir wollen keine Symbiose mit dieser komischen Hochzeitssendung, zu der das Traumschiff heruntergekommen ist, wir wollen keine dilettantischen Schauspielversuche Helmut … äh…Harald Schmidts und zynische Anfeindungen Christoph (immerhin) MARIA Herbsts. WIR WOLLEN Dr. Horst Schröder wieder ZURÜCK!!! Deshalb kaufen wir die kürzlich erschienene DVD-BOX VII: „Die schönsten Reiseziele des Traumschiffs“ – Indien/Malediven, Hongkong, Mauritius, Tasmanien, Singapur, Hawaii.
Heide Keller samt Brut, Anja Kling, Bernd Herzsprung, Sigmar Solbach, Nadja Tiller, Elmar Wepper, Heinz Weiss, Georg Thomalla, Klausjürgen Wussow (gotthabsieselig), samt Brut, Gila von Weitershausen, Marion Kracht und HORST NAUMANN als Dr. Schröder. Eigentlich reicht das, um Freunde des gepflegten Eskapismus zu begeistern.

Uns treibt die Einfachheit der Dinge, hier ist ein 'Mädel noch ein Mädel' (Nadja Tiller), hier sind Einzelkinder noch bedauernswerte Geschöpfe, die ob des Verlustes ihrer Eltern („Mami und Papi sind jetzt im Himmel als Engel.“) bei einem Autounfall (eigentlich unerklärlich für alle Beteiligten: „Sogar auf dem Rücksitz musste ich mich anschnallen.“) mit einer anderen Einzelkindfamilie zusammengeführt werden („In meinem Zimmer wär‘ noch Platz für ein zweites Bett.“). Hier kommt zusammen, was zusammen gehört: BDM-Tiller und der Käpten (Beatrix: „Der Käpten sieht zum VERLIEBEN aus!!!“) finden nach dem Mauerfall endlich wieder zusammen. Der BAU DES ANTIFASCHISTISCHEN SCHUTZWALLES trennte die Liebenden („Schicksal: Hat es oft gegeben, DAMALS.“).

Ganz so einfach ist das aber alles nicht. Wir sind doch nicht senil und siebzig und schnallen nix mehr! Geflüster an Deck führt zu Turbulenzen: „Nichts weißt du. Gar nichts!“. Heinzens Prinzgemahlsorgen betrüben uns kurzfristig. Der ekelhafte Seitensprung widert uns an: „Heinz liebt mich – es ist nicht so, wie Sie denken. Wir wollen heiraten.“ – „Sie sind nicht die richtige Frau für ihn.“ Der betrügerische Diebstahl des scheinbaren Gigolos („Ich kann warten.“) regt uns auf. Abenteuerliche Räuberpistolen entreißen uns der Leichenstarre (HUCH: Der Dieb wurde bestohlen!). Unförmige Nebenbuhlerin gefährdet den amourösen Erfolg beim Käpten: „Eigentlich reise ich nicht gern allein, aber was soll man machen. Ich bin der Meinung, die meisten allein reisenden Frauen auf einer Kreuzfahrt suchen einen Mann.“ Aber „MUTTER“ weiß: „Es hat alles seinen tieferen Sinn“.

Auf zum Sightseeing. Landgang auf dem Höhepunkt der Komplikationen. Wir brauchen eine Pause. Spektakuläre Bilder landestypischer Sitten („Schöne Sitte, sollte man bei uns auch einführen!“), Gebräuche und Bauwerke lassen uns träumen. Diese stets fröhlichen anderen Kulturen – alles so bunt und mystisch. Hüpfende Einheimische. Rauschende Feste mit Tanz und Drachenkostümen. „Singapur hat die niedrigste Verbrechensrate der Welt.“ Wir holen uns ein Bier, um uns besser in die Stimmung reinzuversetzen. „Ach, Roland, ich finde hier alles so leicht und schön.“ Entspannung setzt wieder ein, wir und die erhitzten Paare, Damen und Herren des ewigen Achtzigerjahre-ZDF-Repertoires („Schwarzwaldklinik“) beruhigen uns. Nicht zuletzt lösen sich alle Probleme, weil das souveräne, immer sympathische Leitungstrio der MS Deutschland alles im Griff hat: Beatrix als vertrauliche Kupplerin (Käpten: „Beatrix, könnte es sein, dass sie gerne Amor spielen?' – Beatrix: nick, augenroll, grins), der strenge und moralisch stets integere „Doc“ (der gestählt aus der Krise um seinen wegen väterlicher Vernachlässigung klischeedrogenabhängig gewordenen Sohn tritt) und natürlich der kernige, durchsetzungsfähige Käpten („Na, dann sehen wir uns die Sache mal genauer an.“).

Das Traumschiff (DVD-Box VII), eine Mischung aus der DDR-Serie „Zur See“ und der amerikanischen Serie „The Love Boat“, ist geliebte westdeutsche Erinnerung. Der moderne Schmonzes der aktuellen Variante hat wenig damit zu tun, was das Traumschiff können muss.

Noise and Resistance

(D 2011, Regie: Julia Ostertag, Francesca Araiza Andrade )

DIY Till Death
von Sven Jachmann

Man könnte diesen Dokumentarfilm als Reaktion auf ein 25jähriges Jubiläum verstehen: Nachdem sich die englische Politpunk-Band Crass im Orwell-Jahr auflöste, begeben sich die Regisseurinnen Julia Ostertag („Gender X“ (2005), „Saila“ …

Man könnte diesen Dokumentarfilm als Reaktion auf ein 25jähriges Jubiläum verstehen: Nachdem sich die englische Politpunk-Band Crass im Orwell-Jahr auflöste, begeben sich die Regisseurinnen Julia Ostertag („Gender X“ (2005), „Saila“ (2008)) und Francessca Araiza Andrade auf die Suche nach dem, was gegenwärtig übriggeblieben ist von Punk und vor allem DIY. DIY ist das programmatische Signum für die antikommerzielle Geste der Vernetzung und Eigeninitiative Do it Yourself, die in den 80ern mit Hardcore die wohl letzte politisch relevante Jugendsubkultur erzeugen und Legionen an Bands, Labels, Konzertgruppen, autonomen Zentren, Mailorder, Fanzines usw. beflügeln sollte – Soundtrack für eine autonome Szene, die sich mit den Jahren immer weiter diversifizierte und so viele Subszenen bildete, dass Außenstehende nicht zu Unrecht die Verbindung solch inhaltlich unterschiedlicher Positionierungen wie der Selbstentblößung des Emocores, dem anarchistischen Crustpunk oder dem puritanischen Revolutionspathos von Straight Edge (das Mitte der 90er Jahre derart pervertieren sollte, bis selbst konservative Mittelstandskids wie Earth Crisis relativ unbeschadet gegen Abtreibung und Homosexualität agitieren konnten) allenfalls in der höchst aggressiven Musik erkennen konnten.

Zwei ehemalige Crass-Aktive kommen mit Gee Vaucher und Penny Rimbaud denn auch regelmäßig zu Wort und bilden als Vertreter der ganz alten Garde, neben Protagonisten der „zweiten Generation“ wie John Active vom ehrwürdigen Londoner Anarcho-Mailorder Active Distribution oder der niederländischen Hardcoreband Seein Red, das historische Bindeglied dieser Reise durch die europäischen Metropolen. Und wie es bei Reisen meist so ist: für tragfähige, dauerhafte Eindrücke sind sie in der Regel zu kurz. Das kann man dem Film wahlweise als Vor- oder Nachteil ankreiden.

Eine Lehrstunde in Geschichte will er nicht geben. Von einem kurzen Rückblick auf die Bandhistorie von Crass abgesehen, fällt kein Wort über europäische oder gar amerikanische Entwicklungen. Alles, was interessiert, ist der Ist-Zustand, den die Regisseurinnen in Russland, Spanien, Schweden, England und Deutschland aufspüren (dem Gegenstand angemessen übrigens in ebenbürtiger DIY-Manier, die jedes Produktionsdetail in den eigenen Händen behält, weswegen sich denken lässt, welch organisatorischer Kraftakt hinter dem Projekt stand). So sammeln sich zahlreiche Szene-Stimmen, die unkommentiert von sich und ihren Motivationen erzählen. Worum es dabei keinesfalls geht: das Leid zu klagen von der Unmöglichkeit als Musiker heutzutage, im Angesicht von digitalem Datenklau und beständiger Selbstvermarktung, ohne Zugeständnisse überlebensfähig zu bleiben. Hier ist bereits das Prozessuale Politikum, die Verweigerung zugleich auch utopischer Entwurf, Selbstermächtigung ein Statement wider die Ohnmacht. Der Aktivismus ist gleichbedeutend mit einem Gegenmodell – der Suche nach Möglichkeiten, dem gesellschaftlichen Zugriff zu entkommen. Und so allgemein dies nun auch klingt, konkreter wird das Ansinnen der Beteiligten nicht greifbar. Regionale Unterschiede erschließen sich höchstens indirekt, so sie denn als kurze Schlaglichter überhaupt annähernd repräsentativ sein können. Was sich hingegen erschließt, ist ein Geflecht weltweiter Vernetzung, das stets Öffentlichkeit und Teilhabe beansprucht. Wird in Barcelona eine Hausruine samt leer stehendem Hof besetzt, um darauf ein Festival zu organisieren, spielen dort selbstverständlich auch Antimaster aus Mexiko. In Russland, wo sich eine DIY-Kultur gerade erst vergleichsweise zaghaft zu etablieren beginnt, bedeuten die Netzwerke gar ein lebensnotwendiges Refugium. Im Wissen um den dort grassierenden, europaweit vielleicht massivsten Rechtsruck ist der zunächst übertrieben scheinende martialische Eindruck schnell verschwunden, wenn die Bandmitglieder von What We Feel (deren Fortbestehen nach einer ursprünglich einmaligen Konzertreihe beschlossen war, nachdem ein Freund auf einem ihrer Konzerte ermordet wurde) kollektiv die Messer präsentieren, ohne die sie das Haus niemals verlassen.

Selbstkritik bleibt, abzüglich einiger kurzer Statements von Sookee aus Berlin, im Prinzip außen vor. Umgekehrt jedoch erweist sich Kritik als (bildsprachlich niemals forcierte) Folge der dargebotenen Praxis: Natürlich kann man nach der Geschichtsblindheit von Seein Red fragen, wenn sie seit 20 Jahren vom Proletariat als grundgute Lohnsklaven auf der Bühne brüllen, nach dem anscheinend selbstverständlich vorausgesetzten emanzipatorischen Kern von DIY, wenn er doch „auch eine Form von Kommunismus oder Anarchismus ist. Denn er steht für Leute, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen.“ Gilt das nicht ebenfalls für organisierte Nazis? Man kann sich ärgern, wie Naturbeherrschung erschreckend technophob mit Naturunterwerfung in der Nestwärme des Kommunedasein kontrastiert wird, wenn die norwegischen Ökopunks La Casa Fantom resümieren: „Mir scheint, die Menschheit hat sich eine eigene Welt geschaffen und die ist beispielsweise nicht mit den Gesetzen der Natur im Einklang. Es ist nicht natürlich. Ich brauche nichts, was die Gesellschaft mir zu bieten hat. Ich will vielleicht ein paar Bäume pflanzen.“ Man kann sich wundern über Hybris und religiösen Furor, pädagogischen Eifer und Missionierungsdrang der Sängerin von Sju Svåra år, wenn das Bekenntnis „Mir ist es wichtig, etwas zu sagen, wenn ich auf der Bühne bin; ich muss die Chance nutzen, um das zu vermitteln“ zu Textzeilen wie „Ich hasse diese Gesellschaft, und ich werde alles tun, um aus ihr eine bessere Gesellschaft zu machen“ führt. Man kann fragen nach Sexismus beim Anblick der pogenden Männergrüppchen oder nach Strukturen der freiwilligen Selbstausbeutung, nach den Grenzen des in dem Zusammenhang ständig beschworenen, aber nie konturierten Freiheitsbegriffs, also: nach der Kohärenz von Parole und Lebenswirklichkeit. Der Film wirbt für vieles, ganz sicher aber nicht für den Anachronismus und die Selbstreferentialität so mancher Aktion und Haltungen, die seit über 25 Jahren, trotz szeneinterner Spaltungen, unverändert blieben. Das erledigen einige der Mitwirkenden selbst, ohne in irgendeiner Weise desavouiert zu werden. Letztlich lässt sich vielleicht am besten von Widersprüchen erzählen, indem man ihnen distanzlos gegenüber tritt.

Der Name der Leute

(F 2010, Regie: Michel Leclerc)

Hybride Vitalität
von Wolfgang Nierlin

Nicht wenige Komödien beziehen ihren Witz aus der Darstellung gegensätzlicher Charaktere. Das ist auch in Michel Leclercs französischem Erfolgsfilm „Der Name der Leute“ ('Le nom des gens') nicht anders, der …

Nicht wenige Komödien beziehen ihren Witz aus der Darstellung gegensätzlicher Charaktere. Das ist auch in Michel Leclercs französischem Erfolgsfilm „Der Name der Leute“ ('Le nom des gens') nicht anders, der vordergründig eine Liebesgeschichte behauptet, ohne diese Liebe erzählerisch plausibel zu machen. Sein Film über den vehementen Zusammenprall zwischen einem verklemmten Ornithologen und einer offenherzigen Politaktivistin gleicht eher einer tempogeladenen szenischen Nummernrevue, deren bemühte Späße ebenso schnell abgenutzt sind. Zwar transportiert diese ungleiche Begegnung relevante und hochaktuelle Gesellschaftskonflikte, doch deren Potential bleibt auf politische Schlagworte reduziert und erschöpft sich in Vordergründigem. Überhaupt zeigt sich hier einmal mehr die Crux oberflächlicher Komödien: Um die Typen und Klischees in ihrem vorgestanzten Koordinatensystem wirksam in Szene zu setzen, wird das wahre Leben einfach ausgeblendet.

Dabei geht es Michel Leclerc und seiner Ko-Autorin Baya Kasmi um nichts weniger als um die schwierige Vermittlung zwischen ethnischer Herkunft und sozialer Identität. Die Bedeutung der titelgebenden Namen, ihre identifizierende Funktion und ihr Potential für Missverständnisse spielen diesbezüglich eine besondere Rolle. In ausführlichen Rückblenden, die dokumentarische und phantastische Elemente verbinden, erzählen die Protagonisten aus dem Off erst einmal ihre Familiengeschichten. Demnach verdrängt Arthur Martin (Jacques Gamblin), dessen Name ständig mit einem Hersteller von Küchengeräten assoziiert wird, die Traumata seiner jüdischen Herkunft aus einer Familie mit Namen Cohen, die von der Ermordung seiner Großeltern in Auschwitz herrühren. Dagegen pflegt Bahia Benmahmoud (Sara Forestier), Tochter eines algerischen Flüchtlings und einer Hippie-Mutter, einen offensiven Umgang mit ihrem politischen Erbe.

„Make love not war“, lautet das abgenutzte Motto, mit dem sie als „politische Hure“ den „Faschos“ sexuell zu Leibe rückt, um politische Überzeugungsarbeit zu leisten. So naiv und eindimensional wie die ungezwungen und chaotisch agierende Figur, so vordergründig und fadenscheinig ist der inhaltliche Aufhänger für sie. Denn natürlich geht es vor allem darum, dass die hübsche Sara Forestier als quirlige Bahia ihren unbestrittenen Sex-Appeal ausspielen kann, wobei ihr in fast jeder Szene irgendwo ein Stück Nacktheit herausrutscht. Mit übertriebener Geste, die gleichwohl prüde inszeniert ist, erschöpft sie sich leider weitgehend in dieser Rolle. Dass ihre sexuelle Freizügigkeit fast schon augenzwinkernd mit einem frühen Missbrauch durch den Klavierlehrer erklärt wird, ist zumindest nicht unproblematisch.

Dass andererseits ihre schematische Weltsicht schließlich beim zurückhaltenden, dem „Vorsichtsprinzip“ verpflichteten „Jospinisten“ Arthur andockt, liegt in der Logik einer Komödie, die die „hybride Vitalität“ von „Mischlingen“ als „Zukunft der Menschheit' propagiert. Doch die wenig zwingende Behandlung des Widerspruchs zwischen einer prägenden Herkunft und einer selbstbestimmten Identität, in dem die Figuren gefangen sind, bleibt gerade in seiner Unlösbarkeit und Brisanz viel zu harmlos. Die Tragik der Vergangenheit und die etwas aufgesetzte Toleranz der Gegenwart passen eben in diesem Genre doch nicht recht zusammen.

Das Schmuckstück

(F 2010, Regie: François Ozon)

Wenn sich der Nippes wehrt und aufbegehrt ...
von Michael Schleeh

Ein Vögelchen zwitschert, ein Reh huscht durch den Wald, ein Eichhörnchen putzt sich das Schnäuzelchen. Fabrikantengattin Suzanne Pujol, für kurze Momente der provinzstädtischen Haute-Volée entkommen, befindet sich auf dem idyllischen …

Ein Vögelchen zwitschert, ein Reh huscht durch den Wald, ein Eichhörnchen putzt sich das Schnäuzelchen. Fabrikantengattin Suzanne Pujol, für kurze Momente der provinzstädtischen Haute-Volée entkommen, befindet sich auf dem idyllischen Trimm-Dich-Pfad rund um das eigene Anwesen. Da setzt schnulzige Musik ein, Weichzeichner umflort die Konturen, die Credits springen im allerschönstem Siebziger-Jahre-Font von Bild zu Bild im segmentierten Split-Screen-Arrangement. Wo wir sind, das sind die Siebziger – und deren Probleme.

Der patriarchalische Gatte Robert regiert mit eiserner Hand seit Jahren schon die Regenschirmmanufaktur. Auch zu Hause ist er ein Despot, der die Gattin zum Schmuckstück degradiert, zur Porzellanvase auf dem Beistelltisch – zu einer „Potiche“ (so der französische Originaltitel). Doch plötzlich streiken die Arbeiter in der Fabrik: die Revolte ist da. Robert hat es übertrieben, die Geduld der Arbeiter überreizt. So kommt der Herzinfarkt zum Choleriker, der ihn für kurze Zeit zum Pflegefall macht. Robert hat freilich immer noch genug Energie zum Granteln. Nun muss, schon um Frieden zwischen den Parteien zu stiften, die Gattin ran. Und die, zwar unsicher zunächst, doch ausreichend frustriert von ihrem sinnentleerten Tagesablauf auf dem Abstellgleis, begehrt nun ebenso auf gegen die strikten Reglements ihrer Ehe – und nimmt den Posten der Direktorin an. Wie sich zeigt, gewinnt sie die Herzen der Angestellten mit Sympathie und Diplomatie im Handumdrehen. Es gelingt Suzanne sogar, den unwilligen Sohn und die verwöhnte Tochter in die Betriebsführung mit einzubinden. Das Geschäft also floriert, man macht Gewinn. So beginnt die Geschichte der Emanzipation der Suzanne Pujol und ihres Erfolgs.

Boulevardkomödie, Familiendrama und Emanzipationsburleske: François Ozon gelingt es souverän ein Potpourri der Genres in Szene zu setzen, die dank ihrer überzeugenden Hauptdarsteller (Catherine Deneuve als Suzanne Pujol, Gérard Depardieu als sozialistischer Bürgermeister Babin, Fabrice Luchini als Robert Pujol) enorm zu unterhalten weiß. Hier jagt ein Plotpoint den nächsten, ein Lacher, durchaus auch subtil gesetzt, den voran gegangenen. Dass die Figuren, ganz wie es sich für eine klassische Komödie gehört, keine Individuen („Hamlet“) sondern Typen („Der Menschenfeind“) sind, die eine Rolle ausfüllen, nimmt ihnen kaum etwas von ihrem Charme.

Jedoch, die Beschränkung der eindimensionalen Figuren macht aus Sohn und Tochter Pujol bemitleidenswerte Karikaturen, die ganz in ihren beengten Charaktereigenschaften gefangen sind. Und wenn sich dann doch ein Umschwung im Charakterhaushalt andeutet, dann ist er nur einen Tanzschritt weit entfernt: so ist es kein Wunder, dass der hübsche Sohn ein begnadeter Designer ist und nur noch seine Homosexualität zu entdecken hat. Die Tragödie, die sich etwa in der grausamen Hierarchie der Ehe der Tochter manifestiert, scheint nur in kurzen Momenten durch. Die Trauer über das familiäre Schicksal gleicht einem Tränchen, das mit einem exklusiven Taschentüchlein weggewischt werden kann. Die Akzeptanz der zugewiesenen familiären Rolle verspricht der Tochter eben auch eine Sicherheit, die selbst im Unglück noch verführerisch lockt, da sie Ordnung und Stabilität verspricht.

Es ist nicht wirklich einsichtig, weshalb Ozon dieses wunderbare Stück in den 70ern verortet hat und es nicht auf heutige Verhältnisse hin aktualisiert. Die Konflikte, nun, die könnten mit etwas Gesellschaftspessimismus ohne weiteres auch auf zeitgenössische Zustände hin adaptiert werden. Aber so ist der Lacher eine sichere Sache: die Diskrepanzen zwischen den Geschlechtern erscheinen im Rückblick gravierend. Über die Rückdatierung des Filmes in historische Ferne, die ja nichts anderes als eine Distanzierung auch von den thematisierten Problemen bedeutet, macht sich Ozon unangreifbar und flirtet zudem mit dem Zuschauer, der gewillt ist, mit (alters-)mildem Blick und aus seiner heutigen, abgesicherten Position heraus in die Vergangenheit zurück zu schauen und schmunzelnd über diese Zustände den Kopf zu schütteln.

Im performativen Finale, in dem sich die Verbindlichkeiten schließlich vollends auflösen, steigert sich der Film in die Groteske, die in der Ansprache der Protagonistin auf dem Podium ihren Höhepunkt findet. Suzanne regrediert zu einer skandalös konservativen Mutterphantasie, dass einem angst und bange werden kann. Sie breitet die Arme aus und beginnt gestisch ihre „Kinder“, also die Anwesenden, zu umarmen und, wie sie sagt, zu „beschützen“. Suzanne, das Muttertier. Wie der cholerische Robert mit seinem patriarchalen Führungsstil die Grenzen verletzte, so übertritt nun auch Suzanne mit ihrer Mutterliebe die Schwelle des Erträglichen. Der Chanson „Das Leben ist schön!“ wird anschließend von ihr mit einer solch strahlenden Euphorie vorgetragen, dass nirgends auch nur ein Hauch von Zynismus zu erkennen wäre. So ist es François Ozon tatsächlich gelungen, seinen harmlosen Charmeur von Unterhaltungsfilm in den allerletzten Minuten nicht gerade „Unter den Sand“, aber doch in denselben zu setzen.

Sommer der Liebe

(BRD 1992, Regie: Wenzel Storch)

Sex, Drugs ’n’ totaler Quatsch
von Harald Mühlbeyer

Wenzel Storch ist einer der wenigen Filmemacher in Deutschland mit wirklich eigenem Touch. Keine Kompromisse, keine Schema-F-Dramaturgien, keine handelsüblichen Figurencharakterisierungen, keine feine Ausstattung, keine wirkliche Handlung, keine schöne Kameraführung, keine …

Wenzel Storch ist einer der wenigen Filmemacher in Deutschland mit wirklich eigenem Touch. Keine Kompromisse, keine Schema-F-Dramaturgien, keine handelsüblichen Figurencharakterisierungen, keine feine Ausstattung, keine wirkliche Handlung, keine schöne Kameraführung, keine Kunsthandwerklichkeit, wie sie die Filmhochschulen und TV-Redaktionen lehren: kein gar nichts bietet er in seinen bisher drei Langfilmen, deren mittlerer, „Sommer der Liebe“ von 1992, jetzt als großartig edierte DVD herauskam. Storch bietet reinen assoziativen Spaß, in dem sich liebevoll Selbstgebasteltes mit wildem Storygestrüpp vereint, dargebracht von Laiendarstellern vor Billigkulissen. Wenn man die Erzählungen der Großelterngeneration von selbstgemachtem Spielzeug und selbsterfundenen Abenteuerspielen im Wald in Beziehung setzt zu heutigen digitalen Spielwelten, dann hat man ungefähr das Verhältnis eines Storch-Films zur sonstigen Kinogegenwart: reine Fantasie, reiner Spaß, reines Austoben, reiner Pubertärklamauk, reine Anarchie: Do it yourself-Kino – „der Drehort ist für mich wie ein Spielplatz. Nur ohne Eltern und Verbotsschilder“, sagt Storch selbst auf seiner Homepage.

Man sollte dabei nicht den Fehler machen, „Sommer der Liebe“ allein vor dem kleinen Fernsehbildschirm zu gucken. Denn das dämpft den Spaß. Der wird sich eher ergeben, wenn das Filmerlebnis sich in der Gemeinschaft der Zuschauer potenziert und man optimalerweise noch irgendwelche Substanzen zur Verstandesbenebelung und Bewusstseinsanregung eingenommen hat – falls überhaupt was helfen sollte, dann das. Denn: „Sommer der Liebe“ ist abgrundtief blöd. Ein schlecht gemachter, billiger, lahmer, langweiliger Streifen mit Darstellern, die besser zuhause geblieben wären, mit Dialogen, Sprüchen und Labereien, die nicht mal auf einer Retro-Trash-Ironieebene witzig sind, ohne filmischen Rhythmus, ohne Gespür für den Effekt. Die Pappkulissen passen zu den groben 8mm-Bildern und dazu, dass der Film stumm gedreht und danach einfach und desaströs schlecht nachsynchronisiert wurde, so dass kein Wort zur Mundbewegung passt. Und die Handlung, die Handlung! Oleander, der Klosterschreck, nistet sich bei zwei Nonnen ein, guckt mit ihnen Sexfilme, in der Ecke steht ein Wim Thoelke-Kumpel-Ofen, zu Weihnachten wird er mit Selbstgebackenem überschüttet. Dann gibt es eine Rock- und Popparty in einem Poster-Kloster, aufgebaut aus einer Menge Starschnitte diverser Sangeskünstler aus den 70ern. Irgendwann trifft Oleander eine glatzköpfige Eremitin, die ihm verfällt, wie es auch alle anderen jungen Frauen reihenweise tun. In einem Zaubersee lassen sich Oleander und seine Eremitin Haare wachsen und leben mit den anderen ihre Liebe – der Film spielt schließlich 1972, mitten im Hippie-Zeitgeist, mit Drogen, Lässigkeit, Lockerheit, duften Bienen und heißen Typen. Einmal hören sie einem als 'Neger' titulierten, schwarz angemalten Mitteleuropäer zu, wie er versucht, deutsche Volkslieder auf einer selbstgebauten Geige zu spielen. Einmal wird eine junge Anhalterin von einem Triebtäter gejagt, vergewaltigt, zerstückelt und verwurstet. Oleander übrigens ist dick, hat keine Haare, und er sächselt. Am Ende stirbt er und wird in einem Römertopf beerdigt, dazu müssen ihm die langhaarigen Hippie-Totengräber die Füße absägen. Schließlich gibt es noch Kaffeekranz bei älteren Damen.

Aber das Interessante ist: Gerade weil es in diesem Film alle Gründe gibt, ihn nicht gut zu finden, kann man ihn gut finden. Denn natürlich ist das alles Absicht, dieser gesamte Dilettantismus, das Inkaufnehmen von Mängeln aller Art. Qualität ist hier nicht verloren gegangen, sondern wurde bewusst weggeschleudert, um unbelastet vom Diktat des Guten, Wahren, Schönen einfach mal was zu machen. Richtig kokett ist dieser Film, der seine abgrundtiefe Schlechtigkeit offen vor sich her trägt, der in jedem seiner irrwitzigen Bilder eine Anklage ist gegen das handwerklich gut Gemachte, das aber oft genug steril und künstlich scheint. Kokett ist auch Wenzel Storch, wenn er im Bonusmaterial der DVD und auf seiner Homepage genüsslich diverse Verrisse zitiert. Verrisse, die natürlich alle recht haben: „Schwachsinn“, „ein jämmerlicher Film […], der einem den Feierabend vergällt“, „selbst in benebeltem Zustand verdammt schwer zu ertragen“, etc.

Und auch die Frauen/Lesbengruppe „Die wilden Spulen II“ haben recht: „ein schlechter, pubertärer, sexistischer, brutaler, rassistischer und dummer Film“, nannten sie den „Sommer der Liebe“. Und entführten aus einem Göttinger Kino eine der 16mm-Filmrollen mit der Forderung, den Film nie wieder aufzuführen. Eine überzogene, absurde Aktion gegen einen absurden, überzogenen Film, der sich weigert, verstanden zu werden. Diesen Film zu hassen bedeutet freilich im Umkehrschluss, das Handelsübliche, das Konventionelle zu lieben…

Wesentlich vereinfacht wird die Goutierung des miesen Hippietrips – der gerade dadurch zur unbedingt empfehlenswerten Filmerfahrung wird – durch das Bonusmaterial der DVD, speziell durch die zweiteilige Making-of-Dokumentation von insgesamt 100 Minuten. Dadurch erst erhellt sich der Film, das, was er ursprünglich sein sollte im Gegensatz zu dem, was er nun ist, die Quellen, aus denen er sich speist, die Ideen, die dahinterstecken und sich oft genug eher weniger als mehr im fertigen „Sommer der Liebe“ zeigen.

Ausgangspunkt ist ein alter Bauernhof in einem Kaff bei Hildesheim, wo Storch und seine Gefährtin Alexandra Schwarzt (die natürlich auch im Film mitspielt), bei einem (gelinde gesagt) exzentrischen Vermieter leben. Dort wurden die Innenaufnahmen von „Sommer der Liebe“ gedreht, und in diesem Dörfchen haben die Storchs im Sperrmüll gestochert, um alles, was irgendwie nach Seventies aussieht, zu sammeln. Ja: „Sommer der Liebe“ ist aus Müll gemacht, das sieht man ihm an, und das ist auch inhaltlich so. Denn aus den beiden Dokus „Rickeracke Hippiekacke“ und „Sitzfußball und Gruppensex“ erschließen sich die Ursprünge, die in Teenie-Pop-Heftchen liegen, in billigen Sexmagazinen wie „Praline“ und „Wochenend“, in Werbeanzeigen, Interviews, Texten in vorgeblicher Jugendsprache; daraus konstruiert Storch diesen Sound des Gestelzten, des Pseudocoolen, des erzwungen Lockeren, der doofen Sprüche und billigen Kalauer: der erbärmlichste ist wohl, wenn Oleander Frühstückseier vorgesetzt werden: „Eichen sollst du weichen, Kuchen sollst du suchen.“ Oh Mann!

Ganze Episoden, vollständige Backstories seiner Figuren hat Storch aus diversen Berichten aus diversen mehr oder minder schlecht beleumundeten Magazinen entnommen, um sie dann in Trickfilmform umzusetzen: als Zeichentrick in Schiebetechnik oder als Puppentrick. Die Story mit der Anhalterin und dem Triebtäter wollte er in der Form von „Aktenzeichen XY ungelöst“ bringen, wo immer vor den Gefahren, die in fremden Autos lauern, gewarnt wird. Dass das Opfer dann zu Popwurst verarbeitet wird, einem grünen Gebilde, das aus einer Bude verkauft wird, ist die konsequente Steigerung.

Im Übrigen wird in den Making ofs die Geschichte des Films noch einmal nacherzählt, viel verständlicher als in „Sommer der Liebe“ selbst; angereichert mit geschnittenen Szenen, die nie fertig wurden, mit Ideenfragmenten, die keinen Eingang in den endgültigen Film erhielten, mit Interviews mit damals Beteiligten, die in einer Mischung aus nostalgischer Wehmut und schmerzhaften Erinnerungen auf die Strapazen des Drehs zurückschauen, auf eine Zeit, als sie jung und für jeden Spaß zu haben waren. Im Wissen, dass sie jetzt nur noch für jeden Spaß zu haben sind… Denn natürlich sind die Dokus selbst wieder kleine Wenzel-Storch-Stücke, in denen nichts ernst genommen wird, schon gar nicht ihr Gegenstand, der „Sommer der Liebe“, selbst.

Die Rückschau in den Making ofs 20 Jahre zurück auf den Dreh eines Films, der wiederum 20 Jahre früher spielt, ist eine Art doppelte Nostalgie, die doppelt ironisch gebrochen wird. Wo „Sommer der Liebe“ all den Pop-Müll aus den 70ern recyclet und sich affirmativ daran delektiert, da wird dieser Film in seinen Sekundärdokus plötzlich auch auf spielerische Weise in den Stand von Qualitätsware erhoben. Und vielleicht ist „Sommer der Liebe“ tatsächlich ein richtig guter Film, abgesehen davon, dass er schlecht ist. Vielleicht ist er irgendwo eine Reflexion über das Phänomen kultischer Verehrung des Vergangenen, das nur funktioniert im Bewusstsein, dass das Vergangene in all seinem Schwachsinn, in seinem Quatsch und in seiner Albernheit nie mehr wiederkehrt. Nur in einem Film, der diese Vergangenheit der 70er ganz neu schwachsinnig, quatschig und albern aufbereitet.
Vielleicht ist „Sommer der Liebe“ aber auch ganz einfach und straight doof. Aber das mit Charme.

Die Doppel-DVD im Digipack ist ausschließlich auf der Homepage des Verleihs Cinema Surreal Link erhältlich.

The Loved Ones – Pretty in Blond

(AUS 2009, Regie: Sean Byrne)

Blutiger Abschlussball
von Harald Mühlbeyer

Brent ist innerlich ausgebrannt. Er hatte das Auto gefahren bei dem Unfall, an dem sein Vater starb. Jetzt hängt an einer Kette um seinen Hals ein Rasiermesser, und an seiner …

Brent ist innerlich ausgebrannt. Er hatte das Auto gefahren bei dem Unfall, an dem sein Vater starb. Jetzt hängt an einer Kette um seinen Hals ein Rasiermesser, und an seiner Hüfte sieht man die Ritzwunden, die er sich zugefügt hat. Einmal klettert er eine Felswand hoch, der Fuß rutscht ab, an seinen Fingerspitzen hängt er über dem gähnenden Abgrund, und in Zeitlupe, vor dem weit entrückten Boden, auf dem er aufschlagen würde, genießt er dieses Spiel mit dem Tod, den Kitzel des Vielleicht-Fallens. Um sich dann aufzuraffen, sich hochzureißen und oben anzukommen.

Die Szene spielt im Kleinen den ganzen Film durch. Denn als Brent sich oben ausruht, wird er von einem Mann geschnappt, betäubt und weggeschleppt. In einem abgelegenen Farmhaus wartet Lola, die zusammen mit Daddy Brent fesseln, bis aus Blut quälen, ihm schreckliche Gewalt antun wird – sadistisches Foltern dafür, dass er sie als Partnerin für den Abschlussball abgelehnt hat. Aus dieser Hölle muss Brent wieder herauskommen.

Wo Sean Byrnes Debütfilm auf der einen Seite ein Torture-Horrorfilm ist, ist er mit demselben Recht auch ein Highschool-Drama. Am Anfang sehen wir die obligatorische Spindszene, in der sich die zwei Kumpel Brent und Jamie zotig über den Abschlussball und ihre Chancen bei den Weibern unterhalten, und Jamie wird plötzlich ganz klein, als er die stolze Mia fragt – und ja, sie stimmt zu! Danach eine Pettingszene im Auto, Brent und seine Freundin Holly, und nein: er kann ihr „I love you“ nicht erwidern. Byrnes gibt John Hughes und Linklaters „Dazed and Confused“ als Vorbilder an, und tatsächlich kann er mit Einfühlsamkeit die Melancholie, die Leere, die Hoffnung, das Vorwärtsdrängen der Jugend und die brodelnden Hormone in wenige Szenen fassen.

Lola ist das schüchterne, zurückgewiesene Mädchen, das sich rächt. Weil Lola von ihrem Schwarm nicht zur prom night eingeladen wurde, feiert sie zuhause, im Privaten, wo niemand die Schreie hört. Discokugel an der Decke, Papierkronen für Ballkönigin und -könig, ein stolzer Papa, eine aufgeregte Tochter in pinkem Kleidchen, Glitzer, Luftschlangen und Brent als prinzenhafter Partner – der ist der Hauptspaß für Lola, denn an ihm fließt das Blut. Lola und Daddy pervertieren die Insignien der Schulabschlussweihe, sie veranstalten ein Gore-Fest in immer neuen Steigerungen.
Lola hat einen Riesenspaß am Quälen, das sind Sadismen, die ihr seit der Kindheit als ganz normal eingeimpft wurden vom Vater, der ein ruhiger, kleinbürgerlicher Irrer ist. Und den die Tochter im Einfallsreichtum der Sticheleien noch übertrifft; sie zwingt Brent zu pissen und lässt Daddy ihn dabei mit Hammer und Nagel kastrationsmäßig bedrohen. Spritzt ihm Abflussreiniger, damit er nicht mehr sprechen kann – schreien kann er immer noch. Zwingt ihm einen Hähnchenschlegel rein, „fingerlickin’ good“; tanzt mit ihm, als die Füße in die Holzbohlen des Bodens genagelt sind; und darf heute erstmals selbst den Bohrer auf die Stirn eines ihrer Opfer richten.

Den Gang in immer schlimmeren Horrorwahnsinn kontrastiert Byrne in geschicktem Rhythmus mit dem Abschlussball, wo Brents Kumpel Jamie seine Angebete ausführt, Mia, ein Goth-Mädel, schwarz in Kleidung und Seele, die lieber im Auto kifft und säuft und dann ihren Verstand wegficken will als den institutionalisierten Initiationsball mitzumachen. Eine Nebengeschichte, die an sich gar nichts mit Brents blutiger Passion zu tun hat, die aber die Themen jugendlicher Verwirrung, innerer Verletzung, Einsamkeit aufnimmt und weiterspinnt: das Bewusstsein, dass das Leben, so wie es ist, nicht gut ist, dass aber eine Menge Zukunft noch kommen wird; die Zweifel, ob es diese Zukunft wert ist, ob die Vergangenheit nicht die Oberhand gewinnen soll, eine Vergangenheit der Traumata, des Verlustes, der Trauer …

Brent muss sich auflehnen gegen die Anfechtungen von Lola, dem zarten Mädchen mit eingebauter Grausamkeit. Denn sie kennt kein Halten: Sie hat das Habenwollen des Kleinkindes nie abgelegt, verbindet es mit dem Sadismus brutalstmöglicher Serienkiller, ist ein soziopathischer Psycho-Killer und zugleich Daddys kleines Mädchen mit dem Tagebuch, in dem sie ihre Schwärmereien in rosa Sternchen und roten Herzen festhält. Und auch all diejenigen dokumentiert, die sie wieder hat fallen lassen … Heftige Sexualneurose, überkochende Pubertätshormone, vollkommen verdrehtes Denken, eisige Gefühlskälte, tiefsitzende Inzesttriebe deutet Byrne an, das sind die subtilen Unterströmungen, die er den Teenager-Verwirrungen auf dem Highschool-Ball entgegensetzt: kleine Momente, die aufscheinen, aber nie so richtig manifest werden.

Wobei natürlich alles noch viel viel schlimmer ist, als es den Anschein hat, denn unterm Teppich gibt es eine Falltür, darunter ein dunkler Betonraum mit schrecklichen Kreaturen… Mit viel Gefühl für den richtigen Rhythmus, für seine Charaktere, für die passenden Schritte der Steigerung des Grauens, für die effektvollen Splattermomente geht Byrne vor. Gerade in einem Low-Budget-Film mit seinen beschränkten Möglichkeiten muss man aus dramatischen Szenen effektiv die Essenz rausholen, sagt Byrne im Audiokommentar. Und was wäre dramatischer als dieser Moment auf der Kippe zwischen Leben und Tod, wenn eine durchgeknallte Teenagerin mit dem Bohrer auf einen zukommt? Das kostet er aus, unerträglich lange. Und den eigentlichen Horror erklärt er in seinem Kommentar und in den Interviews auf der Bonus-DVD: dass er sich nämlich stark an der Wirklichkeit orientiert hat, an den perversen Mördern im wirklichen Leben: Jeffrey Dahmer, der seine Opfer betäubte und ihnen dann mit dem Bohrer ein Loch in den Schädel bohrte, dann Salzsäure oder heißes Wasser hineingoss, um lebende Zombies zu kreieren – einer soll mit zerkochtem Hirn tatsächlich eine Woche lang gelebt haben. Sylvia Likens wurde von einer Nachbarin und deren Kindern zu Tode gefoltert. Und natürlich der Österreicher Fritzl, mit seiner im Keller jahrelang gefangengehaltenen dauervergewaltigten Tochter …

Wie diese grauenvolle Wirklichkeit sich in Film übersetzen lässt, davon zeugt das Bonusmaterial, Byrne, der im (zuweilen etwas dröge wirkenden) Audiokommentar und in Interviews Hinweise auf die Suche nach dem richtigen filmischen Rhythmus gibt, oder die 35-Minuten-Doku über Maske, Makeup, Splatter-Spezialeffekte. Und der Setrunner darf seine ganz eigene Hinter den Kulissen-Sicht auf die Dreharbeiten werfen, ein lustiges Porträt des filmischen Prozesses von unten, das Lolas Hölle witzige Albernheiten entgegensetzt.

Unter Dir die Stadt

(D / F 2009, Regie: Christoph Hochhäusler)

Vor der Revolution
von Ulrich Kriest

Ist das nicht schade? Mit „Unter Dir die Stadt“ kommt ein veritables Meisterwerk ins Kino – und viel zu wenige Menschen gehen hin. Um das hinzuschreiben, muss man kein Prophet …

Ist das nicht schade? Mit „Unter Dir die Stadt“ kommt ein veritables Meisterwerk ins Kino – und viel zu wenige Menschen gehen hin. Um das hinzuschreiben, muss man kein Prophet sein! Denn: „Unter Dir die Stadt“ ist meisterhaft fotografiert, besetzt mit großartigen Schauspielern wie Robert Hunger-Bühler, Nicolette Krebitz und Corinna Kirchhoff. Ein Meisterwerk, so reich an stimmigen Details und Beobachtungen, dass die Intelligenz des Zuschauers sich im Kino nicht beleidigt fühlen muss, vielleicht, weil am Drehbuch auch noch der Schriftsteller Ulrich Peltzer („Teil der Lösung“) mitgearbeitet hat. Der neue Film von Christoph Hochhäusler („Milchwald“, „Falscher Bekenner“) lief bereits im vergangenen Jahr auf dem Filmfestival in Cannes in der Sektion „Un certain regard“ und wurde von der französischen Filmkritik umjubelt, von der deutschen Filmkritik allerdings eher mit spitzen Fingern angefasst. Jetzt läuft der Film endlich hierzulande an – mit gerade einmal 30 Kopien. Hochhäusler ist nicht nur Mitherausgeber des Filmmagazins „Revolver“, sondern auch noch einer Gruppe von Filmemachern zuzurechnen, die man unter dem Markenzeichen „Berliner Schule“ rubriziert. So, jetzt ist alles gesagt: alle diese Signale zusammen und jedes für sich werden dafür sorgen, dass dieses Meisterwerk kein Erfolg wird. Weil längst Filmkritiken erschienen sind, in denen ein vom „Tatort“ zugerichtetes Publikum gewarnt wird, dass der Film es wage, bestimmte Handlungsmotivationen der Figuren nicht lückenlos aufzuhellen. Kurzum: hier müsse man sich als Zuschauer doch tatsächlich eigene Gedanken machen. Sich davon schrecken zu lassen, könnte indes ein Fehler sein! Denn ob das Kinojahr 2011 noch etwas Präziseres, Schöneres, Reicheres und Zeitgenössischeres zu bieten haben wird, scheint doch sehr fraglich.

Was gibt es zu sehen? Einen Film über Macht, Langeweile und die Langeweile der Macht? Eine Amour fou? Einen Vampirfilm? Einen Tanz mit dem Teufel? Ein Spiel mit dem Feuer? Einen filmisch klar strukturierten Systemvergleich über die Gesetze der Leidenschaft und des Business? Von allem etwas bietet dieser sehr präzise und ziemlich reichhaltige, weil realitätsgesättigte Film – und ist doch auch noch eine Mentalitäts- und Habitusstudie vor dem Hintergrund der Welt der Hochfinanz. Es ist dabei sicherlich kein Film über die Finanzkrise, hält aber durchaus Momente bereit, die zeigen, wie die Arroganz der Macht in Hybris, in Selbstzerstörungsphantasien umschlagen kann. Es ist aber auch kein Liebesfilm, aber er hält Momente bereit, die von der anarchischen Qualität der Liebe erzählen. Aber in Liebe gefallen wird hier nicht. „Unter Dir die Stadt“ erzählt nicht von einer verhängnisvollen Affäre bei der Deutschen Bank, sondern ist – man könnte sagen: milieubedingt – die Inversion eines Melodrams ohne Melos. Svenja und Robert spielen ein Macht-Spiel auf dem Feld der Emotionen. Fast könnte man sich an „Zur Sache, Schätzchen!“ erinnert fühlen, wenn Werner Enke Uschi Glas zu einem kleinen Match einlädt.

Wenn Svenja (Nicolette Krebitz) auf der Straße eine Frau sieht, die exakt dieselbe Bluse trägt, ihr in eine Konditorei folgt und dort dasselbe Stück Gebäck verlangt, dann probiert sie etwas aus: Gehen die Gemeinsamkeiten über den Geschmack für Blusen hinaus? Später wird Roland Cordes (Robert Hunger-Bühler) auf der Basis einer Fotografie eine alternative Biografie entwerfen. Findet er seine eigene Biografie zu langweilig, zu stromlinienförmig? Ist es die unterdrückte Gier nach etwas Lebendigem, die Roland erst zu den Junkies, dann zu Svenja treibt? „Unter Dir die Stadt“ erlaubt viele solcher Fragen. Bei manchen dieser Fragen bleibt der Film eine verbindliche Antwort schuldig. Gerade darin besteht seine Qualität.

Die grundlegende Struktur des Films wird vorgegeben durch die biblische Geschichte von König David und Batseba: ein Mann begehrt eine Frau und schafft deren Mann als mögliches Hindernis aus dem Weg, indem er ihn in den Krieg schickt. Eine einfache Geschichte, die aber ziemlich interessant wird, wenn man sie in die Gegenwart verlegt, soziologisch verdichtet und um die Perspektive der Frau ergänzt, die nicht notwendig nur Objekt der Begierde ist. Was geschieht mit dem Begehren, wenn Macht und Abenteuerlust hinzukommen und sich in einer Sphäre begegnen, in der bestimmte Verhaltensmaßregeln und Konventionen gelten? Es geht hier auf mehreren Ebenen des Films um Maskenspiele, um die hohe Kunst des Performens. Darum einerseits, strategisch zwei Züge des Gegners zu antizipieren und darauf eigene Geschäfts- und Handlungsentscheidungen zu gründen. Darum andererseits, sich ständig neu zu entwerfen, gewissermaßen auch biografisch flexibel zu bleiben wie Svenja, die sich permanent neu entwirft und dies durchaus auch provokant, also im Wissen um das Wissen des Gegenübers über die Fiktion. Im Presseheft zum Film erklärt Hochhäusler dazu: „Es geht (…) nicht mehr so stark um die Wirklichkeit einer Person, sondern um ihre Wirkung und um ihre Wirkungsmöglichkeit.“ Klingt anspruchsvoll? Mag sein, aber gleichzeitig ist „Unter dir die Stadt“ sehr konkret.

Svenja und Oliver (Mark Waschke) sind frisch in Frankfurt, wo Oliver einen guten Job bei einer Top-Bank angenommen hat. Svenja hat sich eine kokette Distanz zu Olivers Welt bewahrt, was ihr eine Stärke verleiht, die sie, gepaart mit mädchenhafter Unberechenbarkeit, ungeheuer attraktiv macht. Auch für Roland Cordes, Olivers Chef und aktuell der „Banker des Jahres“. Svenja agiert in der fast schon satirisch gezeichneten und durchkonfektionierten Banker-Welt wie ein Fremd-Körper. Das macht sie interessant und weckt Rolands Jagdinstinkt (in mancher Einstellung erinnert das Spiel von Hunger-Bühler an dasjenige von Klaus Kinski in Herzogs „Nosferatu – Phantom der Nacht“), der Oliver nach Indonesien versetzen lässt – ein Karrieresprung voller Tücke, denn Olivers Vorgänger wurde entführt und in Einzelteilen zurückgesendet.

Hier gelingt die aufregend präzise und detaillierte Beschreibung einer Welt, in der Macht, Biografien und auch Liebe performt werden. Manchmal bietet die Möglichkeit, Schicksal spielen zu können, den ultimativen Kick, angetrieben immer auch von der Lust an der Selbst-Zerstörung. So gibt es hier glänzend choreografierte, fast schon dokumentarische Szenen, die man eher in den Filmen von Harun Farocki und Christian Petzold erwarten würde: wenn beispielsweise Stellenbesetzungen einerseits dem Kalkül der Intrige folgen, andererseits aber streng nach Kompetenz rationalisiert und diskursiviert werden müssen – und selbst eine forcierte Kritik am Gegenüber einem gegensätzlichen, abstrakteren Plan folgt, was der Kritisierte übrigens durchaus durchschaut. Meta-Diskurse. Die diversen Sitzungen in den Führungsgremien zählen zu den Höhepunkten von „Unter dir die Stadt“, sind rhetorisch brillant, perfide und amüsant zugleich, zumal wenn es heißt: „Das muss jetzt nicht mehr ins Protokoll!“ Während es auf einer Ebene des Films also recht archaisch zugeht, wird auf einer anderen Ebene das Leben mit Hochkultur aufgehübscht: Man sammelt zeitgenössische Kunst, auf Hauskonzerten hört man Neue Musik und für die Ehefrauen in dieser Männerwelt gibt es Selbstverwirklichungsräume im Charity-Wesen.

Wie bereits gesagt: „Unter dir die Stadt“ ist reich an Details, verweigert aber glücklicherweise eine thesenhafte Zuspitzung. Einige der Details fügen sich nicht ins Bild, bleiben rätselhaft, wenn etwa der Banker Roland sich beklagt, dass sein Londoner Büro genauso aussieht wie sein Büro in Frankfurt und Svenja dazu die schräge Anekdote einfällt, dass eine Popband einmal das Hamburger Publikum mit einem herzlichen „Hello Munich!“ begrüßt habe. In einer der nächsten Szenen sieht man Roland dann, wie er sich eine CD eben dieser Underground-Band anhört. In immer neuen Variationen zeigt der Film Menschen, die mittels unterschiedlichster Strategien versuchen, Kontakt zu so etwas wie Realität herzustellen oder den Kontakt zur Wirklichkeit nicht abreißen zu lassen. Manche dieser Strategien wirken lächerlich hilflos, andere bodenlos. Rolands kühnes, herausforderndes Spiel mit dem Feuer ist durchaus auch lesbar als ein antizipierter Kommentar zum »Fall« zu Guttenbergs. Dass die Figur Roland Cordes in diesem Sinne vielleicht für mehr steht, wird ganz am Schluss angedeutet, wenn der Sturm losbricht. Wohlgemerkt: angedeutet.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Dream Home

(HK 2010, Regie: Pang Ho-Cheung)

Resident Evil Hongkong
von Michael Schleeh

Da sich die Bankangestellte und Telefonverkäuferin Cheng Lai-Sheung (Josie Ho) das seit ihrer Kindheit ersehnte Apartment mit Meerblick an der Victoria Bay in Hongkong nicht leisten kann – und das …

Da sich die Bankangestellte und Telefonverkäuferin Cheng Lai-Sheung (Josie Ho) das seit ihrer Kindheit ersehnte Apartment mit Meerblick an der Victoria Bay in Hongkong nicht leisten kann – und das obwohl sie sich mit zwei Jobs zu Tode schuftet – greift sie schließlich zu drastischen Mitteln, um den Wert der Immobilie zu senken. Denn plötzlich werden mehrere Mieter des Wohnturms auf grausam ermordete Weise aufgefunden.

Pang hat diesen Film aber nun keineswegs als Whodunit angelegt, sondern als (immer wieder auch satirischen) Gewaltschocker. Man weiß vom ersten, grausam ersonnenen Mord an einem Wachmann an bereits, wer der Täter ist – lediglich das Motiv ist noch unklar. „Dream Home' geht es also nicht um die Aufklärung der Verbrechen, sondern um das verquere Schicksal seiner Protagonistin, gebildet, hübsch, ausgenutzt von ihrem verheirateten Freund (wie alle Frauen des Films), die auf grausame Weise ihr Schicksal, bzw. ihre Zukunft, die sich in der Erfüllung ihres Traumes darstellt, selbst in die Hand nimmt.

Aber auch die psychische Disposition der (Anti-)Heldin wird lediglich marginal thematisiert; die möglichst kreative und zugleich explizite Inszenierung von grausamen Tötungsszenarien scheint Pangs Augenmerk zu sein. Die Flashbacks in die Kindheit, die der Figur biographische Tiefe verleihen könnten, sind auf eine naive Art primitiv und rührselig. Die Tragik um das Schicksal der Einwohner der alten Viertel Hongkongs durch das rücksichtslose Vorgehen einer korrupten Stadtverwaltung, die mit den Triaden gemeinsame Sache macht, um die Menschen für gewinnbringende Großbauprojekte aus den Häusern zu treiben, wird ebenfalls nur in kurzen Momenten angeschnitten. Der Entschluss der Heldin, für ihre Familie, besonders dem geliebten Großvater, eine solche Wohnung in einem Wohnturm als Zeichen ihres Erfolgs zu erwerben (die Prämisse, aus der sich der gesamte Film speist), ist völlig unglaubwürdig und überdeutlich ein hanebüchenes Konstrukt, um dem Film eine Begründung für dessen Schauwerte unterschieben zu können.

„Dream Home' ist ein Film der Vertikalen. Denn er zeichnet sich vor allem durch seine imposante Photographie aus, die eindrücklich die Hochhausschluchten der Wohn- und Geschäftstürme einzufangen weiß. Manches Mal aber wirken die Bilder allzu gesucht und manieriert. Kameramann (Nelson) Yu Lik-Wai (der alle Filme Jia Zhangkes photographiert) und Regisseur (Edmond) Pang Ho-Cheung finden in beinah allen Außenaufnahmen Bezüge zu an der Senkrechten orientierten Bildkompositionen. Häufig aus extremer Untersicht. Einmal wird das ganz besonders offensichtlich, als die Protagonistin mit Geschäftskollegen auf eine Zigarettenpause vor dem Gebäude steht. Die Kamera befindet sich innerhalb des Gesprächskreises und schießt beinah senkrecht nach oben, die Körper entlang zu den zusammengesteckten Köpfen und den sich darüber türmenden Spitzen der Hochhäuser, bis hinein in einen kleinen Rest des blauen Himmels. In anderen Szenen wählt Pang häufig den Kniff eines „indirekten Blicks“, indem er die Bauarbeiten, das „Hochziehen“ solcher Wohnblocks, einerseits im Zeitraffer darstellt (was einen künstlichen Effekt hervorruft), andererseits dies aber nicht direkt zeigt, sondern gespiegelt: in Fensterscheiben oft, noch häufiger als aufsteigende Schatten, die diese entstehenden Türme mit ihrer Monumentalität auf andere Gebäude werfen. Es entsteht der Eindruck, dass die kleineren Häuser von den Neubauten nicht nur verdrängt, sondern regelrecht gefressen werden. Außerdem war das sicherlich einfach der kostengünstigste Weg, diese Szenen zu realisieren.

Die Gesellschaftskritik des Filmes äußert sich darin, dass nicht nur, wie fast überall in China, historische Stätten durch den sogenannten „enthemmten Turbokapitalismus“ vernichtet werden (am Eindrücklichsten sicherlich in der Zerstörung der traditionellen Hutongs in Peking, um auf dem frei gewordenen Gelände das von Herzog und DeMeuron entworfene „Bird’s Nest“, das imposante Olympiastadion, bauen zu können), sondern auch die altbekannte Schere zwischen arm und reich öffnet sich immer weiter, der Druck auf das Individuum steigt enorm. Da die Forderung nach privatem Wohneigentum zumeist die Grundbedingung vieler junger Paare auf ein Eheversprechen darstellt, und diese Absicherung für die Zukunft noch vor der Hochzeit gewährleistet werden muss, ist für viele der Erfolg im Beruf nun verstärkt an das private Glück gekoppelt, wodurch eine enorme Belastung finanzieller wie psychischer Natur entsteht. Eine Belastung, die sich die Protagonistin im Film dank ihres Versprechens an den Großvater selbst auferlegt hat.

Zwangsläufig befremdlich also wirkt die Reduktion des Filmes auf das grausame Gorefest, das hier abgefeuert wird. Und dass die Grausamkeiten von der enorm souverän agierenden Josie Ho (die hier auch als Produzentin auftritt), und die diesen Film im Alleingang trägt, ausgeübt werden, macht das Spektakel nicht gerade kleiner. Der Film ist eine One-Woman-Show, die alle anderen Figuren zu Nebendarstellern degradiert. Weitere Schwächen sind aber ebenso eklatant: Das Drehbuch geht hongkongtypisch verschlungene Pfade. Das ist zunächst spannend, aber mit zunehmender Spielzeit wirkt die Struktur mit ihren permanenten Zeitsprüngen (und aus der Not heraus eingeblendeten Datumsanzeigen) sehr bemüht. Die Kindheitserinnerungen sind, wie bereits erwähnt, viel zu klischiert und schmachtfetzig ausgefallen. Die in Szene gesetzte Stadtarchitektur wird nicht befriedigend in die filmische Narration eingebunden. Auch auf der interpretatorischen Ebene bleibt „Dream Home' unbefriedigend. Und das Hauptproblem ist die wahrlich unglaubliche Brutalität, die hier zwar auf kreative Weise, aber auf graphisch direkte (und überspitzte) Art ausgestellt wird. Dafür lässt sich filminhärent keine Notwendigkeit finden – der Zynismusvorwurf dürfte „Dream Home' gegenüber sehr angebracht sein. Die Sozialkritik verkümmert hier zum Alibi.

Zurück bleibt die Erinnerung an einen Regisseur, den man als Auteur liebevoller Genreproduktionen kennengelernt hatte (etwa „Beyond our Ken', „Exodus'). „Dream Home' ist zwar immer noch Genre, aber doch ein großer Schritt Richtung Mainstream, Blockbuster und Spektakel. Er hat nichts mehr von der spartanischen Reduktion, für die man Pang lieben lernte. Die deutsche DVD von I-On New Media hat eine FSK 18/KJ – Einstufung erhalten und ist dennoch ganze 3:50 Minuten geschnitten. Der Hongkong-Fassung von Edko, auf die man momentan bestenfalls zurückgreifen kann, fehlen etwa 30 Sekunden (CAT III). Hier ist man also recht nah am Original. Entsprechend katastrophal und zielgruppenorientiert ist das Cover der deutschen DVD ausgefallen: da räkelt sich eine blutverschmierte Nackte, nur mit einem Höschen bekleidet, vor einem angedeuteten Leichenberg. Scharfes Messer in der Hand. Aua.

Willkommen bei den Rileys

(USA / GB 2010, Regie: Jake Scott)

Ein kleines Versprechen auf Zukunft
von Michael Schleeh

Seit vor Jahren die Tochter der Rileys bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, ist auch das Leben der Eltern, von Doug (James Gandolfini) und seiner Frau Loïs (Melissa Leo), …

Seit vor Jahren die Tochter der Rileys bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, ist auch das Leben der Eltern, von Doug (James Gandolfini) und seiner Frau Loïs (Melissa Leo), völlig aus den Bahnen geraten. Auch wenn nach außen eine perfekte Fassade gewahrt wird, so geht es im Kern nur darum, irgendwie mit dem schrecklichen Verlust zurechtzukommen. Doug, erfolgreicher Kleinunternehmer, stürzt sich in die Arbeit und heult nachts heimlich in der Garage. Loïs allerdings hat alle Kontakte mit der Außenwelt abgebrochen: sie hat seit Jahren das Haus nicht mehr verlassen und sich nicht nur von der Gesellschaft, sondern auch von ihrem Mann ganz in sich selbst zurückgezogen. Da kommt dem frustrierten Doug ein Kongress in New Orleans gerade recht. Doch auch fremd unter den Kollegen, zieht er nachts alleine los und macht in einer Rotlichtbar die Bekanntschaft der kindlichen Ausreißerin und Stripperin Mallory (Kristen Stewart). Diese erinnert Doug an die eigene Tochter, und so beginnt er nach mehreren Treffen ein väterliches Verhältnis zu ihr aufzubauen. Seiner Frau erklärt er in knappen Worten am Telefon, er könne nun nicht mehr nach Hause zurück kommen und bleibe in New Orleans.

Eine Lebenskrise, die kein Ende nehmen will: Dieser Independent-Film (produziert von Jake Scotts Vater Ridley und dessen Bruder Tony Scott) beginnt reichlich aussichtslos. Die Rileys verstehen sich als Opfer eines Schicksals, dem sie nicht entgehen können. So ist der Titel des Films „Willkommen bei den Rileys“ dem kleinen Begrüßungsschild an der Garage entnommen; ein sarkastischer Hinweis darauf, dass die Rileys lediglich eine Fassade der Bürgerlichkeit aufrecht erhalten – denn in Wahrheit ist diese Familie schon lange zerstört. Schon in den Anfangsszenen erkennt man im Herunterfahren des elektrischen Garagentors das Verschließen, Abriegeln und geradezu Versiegeln des Hauses als Metapher für den seelischen Zustand der Figuren.

Doug, in seiner körperlichen Präsenz und Massigkeit überzeugend verkörpert von Sopranos-Star Gandolfini, ist ein Verdränger, der mit dem Verlust des Kindes auf den ersten Blick besser fertig zu werden scheint, als seine Frau. Dass dem nicht so ist, zeigt die Radikalität seiner Entscheidung, in New Orleans zu bleiben, sich dieser neuen Beziehung zuzuwenden und schließlich sogar seine Firma zu verkaufen. Und obwohl die Perspektive des Films sich zunächst an seiner Figur orientiert, wird zunehmend deutlich, dass die eigentliche Hauptfigur seine Gattin Loïs ist, die, fragil, verhärmt und passiv-aggressiv in ihrem Rückzug brillant gespielt von Melissa Leo („Frozen River“, „Die drei Begräbnisse des Melquiades Estrada“), sich mit zunehmender Laufzeit aus ihrem Kokon befreit und ihrem Gatten nachreist, den sie zu verlieren glaubt. Hier findet der Film einige sehr lustige Momente, etwa wenn die kontaktscheue Loïs mit dem Wagen ihres Mannes in die Gesellschaft der Menschen zurückrummst. Szenen, die die Tragik des Sujets für Augenblicke auszubalancieren vermögen. Einzig das Teenie-Idol Stewart („Twilight“, „Into the Wild“) hat eine undankbare, funktionale Rolle zu erfüllen: als Projektionsfläche und Krampflöser der Protagonisten. Umso bemerkenswerter ist es ihr gelungen, die Figur der Stripperin und Gelegenheitsprostituierten nicht allzu eindimensional auf ihre Opferrolle zu reduzieren, sondern durchaus einen komplexen Gefühlshaushalt darzustellen, der der Figur neben der Zerbrechlichkeit einen Panzer der Stärke zugesteht.

Jake Scott ist eine vielschichtige Regiearbeit gelungen, die von einem starken Schauspielerensemble getragen wird. Einzig die allzu vorhersehbare Entwicklung des Plots und die bisweilen klischeehafte Gestaltung der Rahmenhandlung fallen negativ auf – und weshalb die konflikttriggernde Figur ausgerechnet ein „gefallenes Mädchen“, eine Prostituierte, sein muss, weiß nur der Regisseur allein. Der Film gewinnt seine Brisanz aus seinem Fokus, der auf die charakterliche Entwicklung der Eheleute gerichtet ist – und die am Ende wieder beziehungs- und lebensfähig werden. So gewährt der Film in der Überwindung der Trauer einen kleinen Ausblick auf Hoffnung und schließt mit einem Versprechen auf eine lebbare Zukunft.

Die Mondverschwörung

(D 2010, Regie: Thomas Frickel)

Mondspinner
von Harald Mühlbeyer

In Thomas Frickels irr-lustigem Dokumentarfilm „Die Mondverschwörung“ dreht sich alles um den Mond. Ganz besonders erforscht er die Kraftfelder der deutschen Esoterik- und Verschwörungstheoretikerszene und damit irgendwo auch die Schwarzen …

In Thomas Frickels irr-lustigem Dokumentarfilm „Die Mondverschwörung“ dreht sich alles um den Mond. Ganz besonders erforscht er die Kraftfelder der deutschen Esoterik- und Verschwörungstheoretikerszene und damit irgendwo auch die Schwarzen Löcher in der deutschen Seele. Ausgangspunkt ist ein amerikanischer Spinner, der Grundstücke auf dem Mond verkauft und einen kleinen Disput hatte mit einem deutschen Spinner, der den Mond für sich reklamiert – weil Friedrich der Große damals seinen Vorfahren den Himmelskörper per Urkunde geschenkt habe. Aber das ist natürlich Quatsch, auch im juristischen Sinn, wie ein Experte der Kölner Universität ausführlichst erläutert: Nach einem internationalen Abkommen von 1967 dürfen alle Himmelskörper keinem Staat und keiner Person gehören. In diesem Spannungsfeld bewegt sich der Film: er zeigt die abstrusesten Geschichten, die verrücktesten Gedanken, die bescheuertsten Weltanschauungen, und er zeigt vor allem, wie ernst es vielen Leuten damit ist.

Dafür bedient er sich eines einfachen, aber wirkungsvollen Tricks: er setzt einen Interviewer ein, der vorgeblich naiv und wohlwollend all den Spinnern zuhört, die da ihren Quark ausbreiten. Und weil der Mann mit dem Mikrophon so nett ist und so jovial nickt, plappern sie munter drauflos. Dennis R. D. Mascarenas ist dieser gemütliche Amerikaner, der die Deutschen erforschen möchte, ein dicker, behäbiger Mann irgendwo zwischen Michael Moore – wie er sich an die Gesprächspartner ranwanzt – und Alfred Hitchcock (in lustigen Filmtrailern oder „Alfred Hitchcock-Hour“-Anmoderationen) – wie er mit ironischem Gestus und lakonischem Humor alles mitmacht, was sich anbietet. Diese konstruierte Vermittlerfigur blickt tief in die Mond-Esoterik-Ecke, mit Mondgymnastik, -anbetung, -wasser. Und stößt dabei auf die merkwürdigsten Typen, die an positive Schwingungen und Energien, an allgegenwärtige Satanismen glauben, an Astralmächte und kosmische Engel. Ein schwäbischer Spinner aus dem anthroposophischen Breich grenzt sich dabei strikt ab von den Ufonauten, diesen Spinnern mit der anderen und gänzlich falschen Weltsicht, und vom nächsten Gesprächspartner wird Mascarenas gewarnt vor den giftigen organischen Zinnverbindungen auf den Euroscheinen, und jetzt wird es politisch: Das nämlich haben die Amerikaner verbrochen. Wie die Spinner freimütig gegenüber dem Amerikaner beklagen, der gutmütig nickt.

Das ist eines dieser höchst lustigen Momente, dass hier die Spinner jede Zurückhaltung vergessen, weil sie so froh sind, ihre Spinnereien ins Mikrophon, in eine Kamera verkünden zu dürfen – „Die Leute müssen ja gewarnt werden!“ Und mehr und mehr gerät Mascarenas und der Film hinein ins urdeutsch-nationalmythisch-rechtsradikale Milieu. Amerikaner sind schuld, aber eigentlich vor allem die Juden, und das kann man sogar messen: an negativen Schwingungen und am Plutoniumgehalt der Menschen, vor allem der Politiker. Die ja, wie könnte es anders sein, alle zu Juden umgepolt wurden, von Strahlen aus dem Weltall natürlich, wobei es dagegen ein kraftvolles schützendes Symbol gibt. Und schon sind wir wieder bei zwei ganz anderen Spinnern, die, so scheint es, nicht antiamerikasemitisch eingestellt sind, weil sie ihre Weisheit direkt vom Erzengel Gabriel erhalten haben – sie fürchten auch nicht das Plutonium, sondern die Barium-Aluminium-Verbindungen in den Strahlen – doch das nur nebenbei.

Wichtiges Stichwort ist hier Neuschwabenland. Unter diesem Rubrum versammeln sich die nationalrechten Esoterikspinner. Hitler ist selbstverständlich nicht tot, sondern lebt am Südpol, bzw. im Erdinneren, bzw. ist mit seinen Diesseits-Jenseits-Sprüngen beschäftigt, die ihn jung erhalten. Der Weltraum ist natürlich das Territorium der Reichsdeutschen, denen von den Aldebaranern die Raumfahrt gelehrt wurde, die nun die Rückseite des Mondes bevölkern – es ist ja eine unbegreifliche Verbindung zwischen dem Makromultiversum und dem Mikroversum, klar: das Innere der Erde ist hohl, da leben die Atlantis-Überlebenden und die Reichsdeutschen, die unter der Erlöserfigur Hitler mit ihren untertellerförmigen Raumschiffen dereinst das jüngste Gericht halten werden: steht doch alles in der Offenbarung!

Ein unglaubliches Sammelsurium von Theorien und wissenschaftlichen Erkenntnissen, die fundamental alles in einem neuen Licht erscheinen lassen, erforscht Mascarenas hier, bzw. Regisseur Thomas Frickel. Und das ist überaus witzig und immer wieder auch sehr erschreckend, was sich da an verquerem Denken auftut – und man kann hoffen, dass aus dem Denken dieser Spinner kein Handeln wird. Dramaturgisch ist das recht simpel gemacht, ohne größere Steigerung außer der, dass auf jede Theorie noch eine weitere, obskurere, absurdere draufgeschichtet wird. Tiefe Erklärungen für das Bedürfnis nach derartigen Welterklärungsversuchen darf man nicht erwarten, die sind aber auch gar nicht nötig. Frickel und sein Mascarenas-Maskottchen folgen einfach dem Weg der Spinner, ohne vordergründig belehren zu wollen: die Strategie ist Einfühlung, und vermutlich deshalb ließen sich so viele vor der Kamera aus mit ihren irrationalen Abstrusitäten, an die sie so fest glauben.

Ein Ende ist auch am Filmende nicht abzusehen, ein großes Zusammenfassen ist unmöglich, klar ist nur, dass alles mit allem zusammenhängt. Frickel und sein Mascarenas kommen da nur raus mit der Pointe, dass der Protagonist ob all dieser verwirrend-widersprüchlichen Glaubensbekenntnissen verrückt wird – ein etwas billiger Gag, aber wie hätte man sonst einen Abschluss finden sollen?
Im Abspann werden jedenfalls nicht nur die Gesprächspartner aufgeführt, die im Film vorkommen, sondern eine mindestens ebenso lange Liste an Idiosynkratikern, die nicht auftauchen; darunter ein Chronologiekritiker, ein Reichskanzler und ein Hasser des Brandenburger Tores.

Trollhunter

(NOR 2010, Regie: André Øvredal)

Verschwörung auf dem Lande
von Sven Jachmann

Das found footage-Prinzip, welches „The Blair Witch Project“ 1999 als vollwertiges dramaturgisches Gerüst endgültig im Horrorfilm etablieren sollte, erlebt in jüngster Zeit eine kleine Renaissance. „[Rec]“ (2007), dem ein Sequel …

Das found footage-Prinzip, welches „The Blair Witch Project“ 1999 als vollwertiges dramaturgisches Gerüst endgültig im Horrorfilm etablieren sollte, erlebt in jüngster Zeit eine kleine Renaissance. „[Rec]“ (2007), dem ein Sequel und ein amerikanisches Remake folgen sollte, „Cloverfield“ (2008), „Paranormal Activity“ (2007) samt Fortsetzung im Jahre 2010 oder „Der letzte Exorzismus“ (2010) funktionieren als – zumindest was die Originale betrifft –teilweise exquisite Genrebeiträge allesamt mittels der Übereinkunft, dass es sich beim Filmmaterial um unbearbeitete oder jedenfalls unverfälschte dokumentarische Aufnahmen handelt, die durch Zufall an die Öffentlichkeit gelangt sind. Dieses Pantheon wird zukünftig mit „Trollhunter“ um einen besonders schönen Beitrag bereichert, dessen norwegische Herkunft auch zugleich für einige seiner Qualitäten verantwortlich zeichnet.

Bereits die Grundidee ist ein Spiel mit nationaler Folklore. Denn die Trolle, die als Märchen- und Sagengestalten oder als Touristenschreck Norwegen mythologisch und popkulturell überbevölkern, gibt es wirklich. Von einem Zeitgenossen mag man hier verniedlichend allerdings wirklich nicht mehr sprechen. Der Troll ist ein ziemlich primitives, gigantisches Tier, das unter Ausschluss der Öffentlichkeit in abgegrenzten Reservaten lebt (die riesigen Strommasten fungieren in Wirklichkeit als elektrische Zäune) und mit Hilfe von regierungseigenen Organisationen geheim gehalten wird. Eine veritable Verschwörungstheorie also, aber eine von ziemlich unglamouröser Herkunft, wie ein Studententrio schon bald herausfinden muss. Um nämlich den Schwindel aufzudecken und nicht zuletzt um den eigenen Mutmaßungen Evidenz zu verschaffen, heftet man sich mit einer Kamera bewaffnet an die Fersen von Hans (Otto Jespersen), einen vermeintlichen, äußerst bärbeißigen Trolljäger. Der gibt nach eifriger Penetranz auch schließlich nach, schon weil er des Versteckspiels und des undankbaren Jobs überdrüssig ist, und so erfasst die Kamera relativ frühzeitig die ersten Bilder eines gleich dreiköpfigen Troll-Ungetüms.

An dessen Präsentation zeigt sich bereits, dass sich der Schrecken dramaturgisch aus anderen Mitteln speist. Steuern die restlichen found footage-Filme auf die finale Enthüllung des Unvorstellbaren oder eine endgültige (Nicht-)Erklärung zu und gehorchen beim Arrangement des Materials entsprechend einem Steigerungsgesetz, bietet sich „Trollhunter“ vergleichsweise schaulustig dar. Statt also rein auf die Erschütterung der Rationalität zu setzen, streift der Plot lakonisch das Satirische, ohne dazu jedoch den Schauer zu kastrieren. Immerhin wird aus einem kitschigen Nationalmythos ein monströser Störfaktor, für dessen Geheimhaltung die Regierung in Gestalt getöteter, aus Osteuropa importierter Bären sorgt, deren Leichname recht plump von den Spuren der Trolle ablenken sollen. Auch das triste Leben von Hans in seinem vor Trollmist berstenden Wohnwagen auf einem Campingplatz könnte nicht weiter von der landläufigen Vorstellung eines offiziösen Regierungsagenten entfernt sein. Von den vielgestaltigen Trollen, die zwar Christen wittern können, ansonsten jedoch tumb aufs Fressen und Überleben gepolt sind, mal ganz abgesehen. Zur omnipräsenten Ironie, die dem Monsterfilm bloß den Boden unter den Füßen wegreißen will, gerinnt der Plot trotzdem niemals. Zu sehr schwelgt die Kamera in Impressionen der pittoresken Wald- und Berglandschaften und zu erhaben entwickelt sich indes auch die Reise der Filmcrew zusammen mit Hans, der quer durchs Land einem ausgenommen riesigen und, wie sich herausstellen wird, tollwütigen Exemplar hinterher jagen muss. Dann gerät die Natur tatsächlich zum fantastischen Ort, der auf fast romantische und dann natürlich wieder ironische Weise das Schöne und das Unheimliche beherbergt, weil die Haptik der Zerstörung die Spurensucher (und natürlich auch die Zuschauer) zwangsläufig zu anderen Schlüssen als jenen der unaufgeklärten Bürger führt. Aus Felsengeröll wird das Indiz eines Trollkampfes und eine gleichmäßig umgestürzte Baumreihe zeugt keinesfalls von der peniblen Brachialität eines nächtlichen Tornados. Zwischen Apotheose und Ironisierung, Faszinosum und nivellierter Unschuld schafft „Trollhunter“ ein kurioses Zwischenstadium, das erst über seine Disparitäten glückt. Wem an der Entdeckung roher Genreperlen gelegen ist: Hier wird man fündig!

Joschka und Herr Fischer

(D / CH 2010, Regie: Pepe Danquart)

Performance
von Dietrich Kuhlbrodt

Zwei Tage lang stand Fischer vor der Kamera seines Freundes Pepe Danquart („Am Limit“, 2007) und erzählte die Geschichte seines Lebens, ein Stück weit. „Ein Stück weit“ ist seine Lieblingswendung. …

Zwei Tage lang stand Fischer vor der Kamera seines Freundes Pepe Danquart („Am Limit“, 2007) und erzählte die Geschichte seines Lebens, ein Stück weit. „Ein Stück weit“ ist seine Lieblingswendung. Sie signalisiert den Abstand von den Dingen, seine Souveränität. So sieht sich einer, der sich nie habe vereinnahmen lassen. Und wir sollen das bewundern. 140 Minuten lang. Uns und ihm wird diese Haltung durch Setting und Drehort nahegelegt. Fischer steht die zwei Drehtage im angesagten Club Tresor, dem Ex-Heizkraftwerk in Berlin, in einer für ihn aufgebauten aufwändigen Videoinstallation. Auf Glasstellagen spiegeln sich Dokuloops, die mehr als das bekannte Material zeigen. Wir werden Zeuge, wie Performer Fischer sich überraschen lässt, den Priester seiner Kindheit wiederzusehen, dem er als Ministrant diente. Und wir entdecken eine Regung auf Fischers Zügen, die der Film als authentisch qualifiziert. Die Medien-Galerie-Ästhetik ist eine feine Sache. Im tollen Club-Design wird Fischer ein Galeriebesucher ganz wie wir, bloß das wir uns die Nase an der Schaufensterscheibe reiben oder am Monitor.

Die Dramaturgie des langen Films enthält keine Überraschungen. Eine Chronologie deutscher Zeitgeschichte, bezeugt von Joschka und Herrn Fischer. Keiner redet dazwischen, kein Kommentar, keine Nachfragen, keine Kritik. Fischer hat den Film autorisiert. Was der Film hinzutut, ist anspruchsvolle ästhetische Gestaltung. Eingemischt ist die Musik der jeweiligen Jugendkultur, die Fehlfarben etwa, und die kommen als alte Herren auch zu Wort. Hierfür hat der Film diverse Einschübe vorgesehen. Und immer wieder hat Cohn-Bendit was zu sagen.

Fischer also hat sich in die diversen Szenen stets ein Stück weit hineinbewegt, aber eigentlich überall rausgehalten. Antiatomdemos habe er nicht mitgemacht. Na ja, bei Brokdorf irgendwie, war ja eher die Stimmung für eine Latschdemo. Und mit Turnschuhen zur Vereidigung im Plenarsaal? War schon peinlich, aber Beschluss der Grünen. Und die Wiedervereinigung? Nur ein superkleines Stück rein, Europa ist das Ding. Und die Einsätze im Kosovo und in Afghanistan? Ein superlanges Stück, schon, aber Einsatz im Iran? Nein, Mr. President!! – Fischers Selbstdarstellung entspricht ganz dem Bild eines seriösen Seniorchefs, zum Beispiel der Beraterfirma Joschka Fischer & Company GmbH.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 05/2011

Gnomeo und Julia

(USA 2011, Regie: Kelly Asbury)

Shakespeare-Zwerge
von Harald Mühlbeyer

Dies ist einer dieser Animationsfilme, die man getrost auch zweidimensional sehen kann. Die 3D-Version wurde ganz offensichtlich nur deshalb in Verkehr gebracht, weil sie bei Computeranimationen leicht herzustellen ist. Den …

Dies ist einer dieser Animationsfilme, die man getrost auch zweidimensional sehen kann. Die 3D-Version wurde ganz offensichtlich nur deshalb in Verkehr gebracht, weil sie bei Computeranimationen leicht herzustellen ist. Den Filmbildern kann die dritte Dimension nichts hinzufügen. Allerdings kann man sich nach Sichtung des englischen Originals kaum eine adäquate deutsche Synchronisation vorstellen: das originale Shakespeare-Englisch wird mit einer Menge Wortspiele durchmischt.

Was im Kleinen die ganze Konzeption des Films widerspiegelt: Die große Tragödie um Romeo und Julia wird nämlich als Gartenzwerg-Fehde wiedergegeben. Wo Baz Luhrman das Stück als Teenie-Pop-Version inszenierte, dreht Kelly Asbury hier nun alles auf Witz. Asbury hatte zuvor „Shrek 2“ inszeniert, und dieselbe Strategie wendet er auch hier an: Gags in größtmöglicher Dichte. Wo Pixar in den „Toy Story“-Filmen Wert auf Charaktere und Geschichte legt, da sucht Asbury den Gag. Obwohl der Hintergrund nicht unähnlich ist: Wo im einen Film Spielzeuge ein geheimes Leben führen, da bekriegen sich im anderen die Zwerge im blauen und im roten Garten, wenn die Menschen grad nicht gucken.

Aus der Liebe zwischen dem roten Gnomeo und der blauen Julia ergibt sich der Shakespeare-Plot: Und das ist dann doch ein schöner Kniff, die allgemein bekannte Geschichte auf anderer Ebene auf andere Weise zu erzählen. Zumal es die Gartenzwerge faustdick hinter den Ohren haben: von wegen kleinbürgerliche Knuffeligkeit und liebenswerte Gartengemütlichkeit! Da geht es zur Sache, wenn die Rivalitäten in Rasenmäherwettfahrten ausgelebt werden. Am Ende wird gar der riesige Terrafirminator, „weapon of grass destruction“, eingesetzt – aber das ist dann doch etwas zu forciert, wenn diese Großkampfmaschine mit lasergestützter und computergesteuerter Zielerfassung auftritt, mit Gadgets also, die bei keinem noch so teuren Rasenmäher, sondern nur im Repertoire der Gagschreiber vorkommen. Zu viel sind auch die gleich vier Sidekicks des Films, ein dämlicher Wasserspeierfrosch, ein schnüffelndes Pilzchen, ein Flamingo und ein Kampfreh.

Aber witzig ist es doch, was die sieben Drehbuchautoren nach dem Originaldrehbuch zweier weiterer Autoren konstruiert haben – zumal William Shakespeare vom hohen Denkmalsockel persönlich seinen Segen für ein Happy End gibt. Im Übrigen dürfen sich alle freuen, die Elton John lieben – seine größten Hits sind die Begleitmusik der zwergischen Turbulenzen. Und denen, die Elton John hassen, macht es der Film nicht allzu schwer, denn seine Songs werden in verzwerglichten Versionen dargebracht, und in ein paar Kurzauftritten tritt John sogar selbst auf, als selbstironisch animierte Karikatur.

Irreversibel

(F 2002, Regie: Gaspar Noé)

Das Leben stinkt
von Sven Jachmann

Gaspar Noés zweiter Spielfilm hat seinerzeit die Kritik enorm gespalten, was bereits seinen Anfang bei der Uraufführung in Cannes 2002 nahm, als zahlreiche entrüstete Besucher vorzeitig den Kinosaal verließen. Eine …

Gaspar Noés zweiter Spielfilm hat seinerzeit die Kritik enorm gespalten, was bereits seinen Anfang bei der Uraufführung in Cannes 2002 nahm, als zahlreiche entrüstete Besucher vorzeitig den Kinosaal verließen. Eine flächendeckende Berichterstattung beim hiesigen Kinostart war aufgrund dieses Furors vorprogrammiert, und seither geht es ums Ganze: Meisterwerk oder Niedertracht? Bei aller formalen Finesse, die der Bildapparat zweifellos auffährt, besteht der entscheidende Clou in der rückwärtschronologischen Narration, die durch die daraus entstehende Verkehrung der Kausalitätsketten Diskurse um Zeit, Gewalt, Rache, Schuld, Unterdrückung, Glück, Schicksal, Freiheit, Liebe, Sexualität, Unschuld usw. usf. erzeugt. Mittelpunkt des Films, der Erzählung und teilweise auch der Aufregung bildet die berüchtigte fast zehnminütige Vergewaltigung einer Frau, die zudem auch noch ohne Schnitte in einer einzigen Einstellung zu sehen ist. Sie ist die Zäsur, die allem, was sich im Plot vollzog und vollziehen wird, eine neue Bedeutung verleiht.

Schon der Abspann wird zum Vorspann mit spiegelverkehrter Schrift. Danach raunt in der ersten Sequenz der misanthropische Metzger aus Noés Debütfilm „Menschenfeind“ (1998), nachdem er vom Missbrauch seiner Tochter erzählte, mit stoischer Miene in einem versifften Hotelzimmer zu seinem Gast: „Die Zeit zerstört alles.“ Um den Beweis anzutreten, bewegt, nein, überschlägt sich die nie stillstehende Kamera nach draußen und dringt in den angrenzenden Schwulenclub Rectum, aus dem gerade zwei Männer, Marcus (Vincent Cassel) und Pierre (Albert Dupontel), von der Polizei abgeführt werden. Die Kamera taumelt direkt in den Unterwelt zur nächsten Sequenz. Pierre und Marcus suchen in der Dunkelheit des Clubs in einem regelrechten Inferno aus kopulierenden Ledermännern und hysterischen Klagen der Geilheit nach einem Unbekannten mit dem Spitznamen La Tenia, der „Bandwurm“. Als sie ihn finden, greift Marcus an, wird jedoch überwältigt und sofort von ihm vergewaltigt. Der während der Suche noch beschwichtigende, wenn nicht gar ängstliche Pierre greift zum Feuerlöscher und schlägt so lange auf den Schädel von „Bandwurm“ ein, bis dessen Gesicht vollends zertrümmert ist, dabei umringt von einem Pulk schwuler Männer, die das Spektakel sichtlich ergötzt. So arbeitet sich der Plot rückwärts vom scheinbar motivlosen Mord zum Anfang allen Lebens zurück. Es ging um Rache. Die Mörder waren der Freund und der Ex-Freund von Alex (Monica Bellucci), die wenige Stunden zuvor in einer Unterführung von (was sich zudem als Fehler herausstellen soll) eben jenen Ermordeten anal vergewaltigt und ins Koma geprügelt wurde – die einzige Szene, in der die Kamera in Permanenz erstarrt.

Von hier an geht es aus dem Milieu anomischer Perversion heim in die Idylle der Zweisamkeit: von der Party, die Alex im Streit mit Marcus verlässt, um anschließend in die Hände des Vergewaltigers zu geraten (Wie schuldig ist also Marcus?), über die S-Bahn-Fahrt zu dritt, während der man ausgiebig über Sex plaudert, bis ins Bett der Liebenden, wo Marcus Alex irgendwann in verspielter Ausgelassenheit zuflüstert: „Weißt du was? Ich glaube, ich hab Lust dich gleich in den Arsch zu ficken.“ In der letzten Szene erfahren wir, dass Alex schwanger ist, bevor sich die Kamera von ihrem Antlitz inmitten einer sonnendurchfluteten Parkwiese, auf der Kinder mit einem Wasserstrahl herumtoben, in spiralförmigen Bewegungen entfernt – dann ist das anfängliche repetitive Synthiedröhnen des Rectum-Szenarios Beethovens 7. Sinfonie gewichen.

Formal wird hier das fortschrittliche Zeitverständnis der Aufklärung außer Kraft gesetzt. Das Gute wird zum Schlechten und Utopien zerbrechen am Trieb des Menschen, sobald er die Kontrolle über sich verlieren will. Solcherlei Negativ-Anthropologien kennt man als nihilistischen Schmand von Michel Houellebecq, der stets das Menschsein selbst als den blinden Fleck aller emanzipatorischen Bemühungen konstatiert. „Irreversibel“ will in diesem Sinne fatalistisch herumwühlen, indem er in beide Richtungen kontrastiert: aus dem Club der Kaputten wird die zärtliche Liebe, aus einem trunkenen Gespräch über sexuelle Dominanz die Vorahnung einer Vergewaltigung, aus Verzweiflung unschuldiges Glück, aus einem blutrünstigen Mord eine grauenvolle Katharsis, aus einem Experimentalfilm über die Allgegenwart der Triebe und der Gewalt der Tagesverlauf einer Romanze, der grenzenlose Tragik bevorsteht. So etwas passiert, und darin besteht der dumpf-pessimistische Tonfall des Films, zufällig (die zunächst eruptiv wirkende Gewalt), ist aber zugleich unausweichlich (die Zeitachse, die allem letztlich eine Bestimmung angedeiht). Irritierend hieran ist neben der negativ gewendeten Kalenderweisheit, dass kein Glück der Welt vor dem bösen Schicksal gefeit ist, vor allem die Abgebrühtheit, mit der sich der Film als klügeres Rape and Revenge-Kino geriert. Letztlich ist die Auflösung der Geschichte in zwölf Szenen recht kokette Trickserei: Ohne die Liebe und weibliche Unschuld, die als Utopien am Anfang bzw. Ende stehen, kann auch er weder reaktionäre Racheimpulse noch Furcht vor der plötzlichen Endlichkeit des Glücks mobilisieren. Er kann allenfalls durch den Bruch mit – quasi im linear erzählten Fall – sonst geltenden Genrekonventionen und Motiven aus rassistischen und homophoben Tätern verzweifelte Liebende und dann zärtliche Partner konstruieren, um darüber die banale Diagnose der Omnipräsenz der Gewalt, zu der jeder unter außergewöhnlichen Bedingungen fähig ist, zu behaupten (noch dazu, wenn nicht der hitzköpfige Marcus, sondern der intellektuelle Pierre zum Mörder wird). Um von der reinen Universalität der Verkommenheit der menschlichen Natur zu erzählen, hätte „Irreversibel“ gleichwohl noch rückblickend die Perspektiven des Getöteten und des Vergewaltigers berücksichtigen können, wäre ihm grundsätzlich an der Genese von Gewalt und nicht an weltüberdrüssiger Provokation gelegen, die das so oft besungene Filmcredo „Alles wird gut“ in ein nicht minder blöd nivellierendes „Alles wird schlecht“ übersetzt. Aber vor diesem Schlechten gibt es dennoch einen hermetischen Zustand der Reinheit, der unwiederholbar sein soll, weil er irgendwann zwangsläufig auf das Schlechte stößt. Dass für die Demonstration solcherlei vulgären Daseins-Pessimismus‘ ausgerechnet eine Vergewaltigung in Echtzeit herhalten muss, entspricht zumindest der eigens etablierten zynischen Logik.

Das Schmuckstück

(F 2010, Regie: François Ozon)

Rückkehr zum Matriarchat
von Wolfgang Nierlin

Einer lange versunkenen Zeit entstammen die ersten Bilder von François Ozons neuem Film „Das Schmuckstück“ (Potiche). Sie beschreiben eine ebenso märchenhafte wie kitschige Naturidylle, ein künstliches Paradies, durch das die …

Einer lange versunkenen Zeit entstammen die ersten Bilder von François Ozons neuem Film „Das Schmuckstück“ (Potiche). Sie beschreiben eine ebenso märchenhafte wie kitschige Naturidylle, ein künstliches Paradies, durch das die Unternehmergattin Suzanne Pujol (Catherine Deneuve) frühmorgens im poppig roten Trainingsanzug joggt. Ruhe und Friede, Entspannung und Einklang liegen über der Szene, wenn Suzanne verträumt mit den Tieren des Waldes spricht und als Hobby-Dichterin sentimentale Verse über das „vergängliche Schicksal“ schmiedet. Aber natürlich ist dieser überzuckerte Fluchtraum in Ozons ironischer Perspektive nicht ernst gemeint; allenfalls bildet er den imaginären Ort, wo sich die noch schlummernden Gegenkräfte zum verordneten Status quo sammeln. Damit korrespondiert, dass der überaus produktive französische Regisseur die in milchige Farben getauchte Eingangssequenz als Hommage an Filmkomödien der siebziger Jahre in einer Splitscreen auflöst.

Die diskriminierende Verlängerung dieser scheinbar heilen Welt erfährt Suzanne später im schmucken Eigenheim, und zwar in der Konfrontation mit ihrem cholerischen Ehemann Robert Pujol (Fabrice Luchini), einem herrischen Unternehmer alter Schule. Die traditionsreiche Regenschirmfabrik mit ihren 300 Mitarbeitern führt er mit unnachgiebig harter Hand; und als geiler Schürzenjäger überträgt er sein standesbewusstes Besitzdenken mit größter Selbstverständlichkeit auf sein Verhältnis zum anderen Geschlecht. Mit provozierender Direktheit und satirischer Überzeichnung seziert Ozon das machistische Verständnis der Geschlechterrollen Mitte der 1970er Jahre. Demnach fällt Suzanne die „dekorative“ Aufgabe zu, fraulich, häuslich und vor allem repräsentativ zu sein. Ob hinter dem schönen Schein duldsamer Genügsamkeit unterdrückte Bedürfnisse schlummern, lässt Ozon allerdings zunächst offen.

Das ändert sich, als der despotische Chef im Verlauf eines unerbittlich geführten Streiks einen Schwächeanfall erleidet und die Unternehmensleitung an seine Frau abgeben muss. Diese hat – für manche überraschend – nicht nur eine eigene Meinung, sondern pflegt auch einen weniger hierarchischen Führungsstil, der auf Kommunikation und Mitbestimmung setzt. Unterstützt wird sie dabei zunächst vom kommunistischen Bürgermeister Maurice Babin (Gérard Depardieu), der als Suzannes ehemaliger Liebhaber eine alte Sehnsucht wiederbeleben möchte, und ihren beiden erwachsenen Kindern Laurent (Jérémie Renier) und Joëlle (Judith Godrèche). Doch die Untiefen eines instabilen Familiengefüges, basierend auf Lügen und Verrat, bleiben bei Ozon auch im Genre der heiteren Komödie präsent, wenngleich er sich diesmal mehr auf die Phänotypen konzentriert. Erfrischend undogmatisch jedenfalls erzählt Ozon von Geschlechterkampf, Rollentausch und der Macht der Frauen. So wird Suzanne zur bewunderten Vorkämpferin einer Emanzipation, die im fulminanten, politsatirischen Finale als neues Matriarchat gefeiert wird.

Monga – Gangs of Taipeh

(TW 2010, Regie: Doze Niu Chen-Zer)

Die Jungs von der Bruderschaft des Brathähnchenschenkels
von Michael Schleeh

In der Altstadt des Wanhua Bezirks in Taipeh, im Gewirr der Gassen von Manka/Banka (oder eben wie hier: „Monga“) finden fünf Freunde zusammen und schließen Blutsbrüderschaft. Seit Generationen gehört man …

In der Altstadt des Wanhua Bezirks in Taipeh, im Gewirr der Gassen von Manka/Banka (oder eben wie hier: „Monga“) finden fünf Freunde zusammen und schließen Blutsbrüderschaft. Seit Generationen gehört man zum Clan des Tempelplatzes, der die kriminellen Geschäfte auf den Hauptstraßen des Viertels regelt. Der junge Chou Yi-Mong (Mark Chao), den sie „Mosquito“ taufen, ist einer von außen, ein Dazugezogener, der sich aber in der Schule im Streit um einen Hähnchenschenkel, um den ihn ein Fiesling (zufällig einer von der Konkurrenzgang, des Clans der Hintergassen) beim Mittagessen erleichtern wollte, schlagkräftig bewährt – und dem sie nun einen Platz in ihrer Gang anbieten. Kurze Zeit später klettern sie (symbolträchtig) über die Mauer des Schulgeländes, um der bürgerlichen Welt für immer den Rücken zu kehren und ein Leben in der Kriminalität zu führen.

„Monga“ ist ein Gangster- und ein Coming-of-age-Drama zugleich. Der Film erzählt von den Irrungen und Wirrungen des Gangsterlebens zwischen Schutzgelderpressung, Revierverteidigung, Loyalitätsbeweisen, Saufgelagen und der ersten richtigen Liebe. Selbstverständlich verkuckt sich der Außenseiter Mosquito in eine ebensolche Außenseiterin, in eine (Achtung Zynismus!) besonders hübsche und besonders schüchterne Prostituierte edlen Gemüts. Als der Bösewicht von der Konkurrenz (der obige Hähnchenschenkeldieb) die Freundin eines Bruderschaftlers in die Hintergasse lockt und dort missbraucht, kann es nur eine Konsequenz geben: Rache.

„Monga“ ist einer jener Filme, die sich ihres exotistischen Gehalts bewusst sind, dieses hemmungslos ausbeuten – und dabei auf ganzer Linie scheitern. Permanent wird versucht, die Altstadt des Gangsterviertels besonders beeindruckend darzustellen, mit all den Neonschildern, dem Menschengewusel, der Unübersichtlichkeit, den Garküchen und dem ganzen Schmutz: dem Leben also, das so nah am Tode weilt.
Jedoch gewinnt nichts einen eigenständigen Charakter, alles scheint austauschbar und bereits hundertmal gesehen. Hier werden keine Räume eingefangen, sondern Abziehbilder eines modernen Molochmetropolenlebens simuliert. Dieser Film ist ausschließlich antiseptische Oberfläche. Hier findet sich nur Hochglanz-Dreck (da sehen selbst die Bilder des Verfall in Iñárritus „Biutiful“ noch authentischer aus). Ganz besonders deutlich wird das in den offenkundig in Kulissen gedrehten Szenen im „Hauptquartier“ der Nachwuchsgangster, das voller Gerümpel steht und ein Bild des Chaos einer großen Abstellkammer vermitteln soll. Jedoch: der Boden ist blitzblank, kein Müll nirgends. Optisch ist man hier in einer polierten koreanischen Soap-Opera gelandet. Der ideale Platz für Hausstauballergiker.

Dieser Trash-Chic korrespondiert mit der Wahl der Protagonisten, die vor allem ein einziges Kriterium zu einen scheint: sie sehen aus wie Coverboys von Mädchenzeitschriften. Schön sein, auch noch mit Blut im Gesicht, oder, wie in Mosquitos Fall, mit den Tränen des Sensiblen. Die Schauspieler sind denn auch aus bekannten taiwanesischen Fernsehsoaps oder Boygroups gecastet worden. Hier sehen alle immer sehr gut aus in ihren ultra angesagten Stylings der internationalen Modewelt. Keiner trägt die Röhrenjeans so eng wie Mosquito. Was nicht bedeuten muss, dass hier schlecht gespielt wird oder dass das ein relevantes Kriterium wäre für einen gelungenen Blockbusterabend. Nah am Overacting ist man zwar die ganze Zeit – und tritt dabei auch manchmal klar über die Schwelle des Erträglichen – doch der Zuschauer ist bereits gewohnt dies hinzunehmen, da er sich durch die vielen Filmsichtungen klischierter hongkongchinesischer Komödien und Gangsterkomödchen seit den Achtzigern entsprechend abgehärtet hat.

Es ist den immergleichen Regeln des Genres geschuldet, dass es am Ende zu einer Neuordnung der Machtverhältnisse im Viertel kommen muss. Der auf Oppositionen aufbauende Film parallelisiert den Kampf der Clanführer, deren langjährige Freundschaft sich in Feindschaft und Konkurrenz auflöst, mit der Konkurrenz der Jugend um die Vorherrschaft auf den Straßen.

Und ein abtrünniger Überläufer, der die verpönte Schusswaffe gebraucht, schießt sich symbolisch ins eigene Herz, indem er den ahnungslosen Freund, alle Anstandsgebote der Unterwelt missachtend, ermordet. Das System der Straßengangs ahndet diesen Regelverstoß mit dem Tod.
Dass der Film also mit deutlich konservativen Werten einer stark in Ritualen strukturierten Unterwelt schließt, lässt ihn noch einmal hinter die Errungenschaften eines nihilistischen Gangsterkinos zurückfallen. Und das satte Finale, das strömende Blut, kann nicht übertünchen, dass man es hier mit einem reaktionären Schinken zu tun hat. Dass das Ende kein gutes sein kann, das hätte man sich schon am Anfang denken können, als der Fiesling ganz gemein den Brathähnchenschenkel raubte.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Sascha

(D 2009, Regie: Dennis Todorovic)

Coming Out in Köln-Eigelstein
von Ulrich Kriest

„Jetzt bist du schon schwul, dann will ich auch was davon haben!“, antwortet die Chinesin Jiao, als Sascha ihr bei einem Spaziergang am Rheinufer gesteht, dass er sich in seinen …

„Jetzt bist du schon schwul, dann will ich auch was davon haben!“, antwortet die Chinesin Jiao, als Sascha ihr bei einem Spaziergang am Rheinufer gesteht, dass er sich in seinen Klavierlehrer Gebhard verliebt hat. Jiao und Sascha haben sich an der Musikschule kennengelernt, beide stehen kurz vor der Aufnahmeprüfung, um Musik studieren zu dürfen, auf ihren Schultern lasten die großen Hoffnungen ihrer Eltern. Und eigentlich ist Jiao ja auch in Sascha verliebt – und jetzt das! Jiao verliert nur kurz die Fassung, dann erkennt sie ihre Chance: „Ich war noch nie auf einer Schwulenparty!“ Die Abschiedsparty schmeißt der Klavierlehrer und Konzertpianist Gebhard, denn der will Köln verlassen und eine Professur in Wien antreten. Jetzt hat Sascha die Bescherung: noch vor dem Coming out wird dem 19jährigen das Herz gebrochen. Und Saschas Vater Vlado, ein Bär von einem Montenegriner, lebt zwar schon seit 20 Jahren in Köln, aber seine Präferenzen für Geschlechterrollen sind noch von altem Schrot und Korn. Tradition und Moderne.

Blickt man etwas genauer hin, ist „Sascha“ recht eigentlich ein Film über verlorene Träume, Pragmatismus und Hoffnungen, die auf Stellvertreter projiziert werden. War es bei Vlado einst eine Verletzung, die seine Karriere als Basketballer beendete, so spielt Mutter Stanka in ruhigen Minuten gerne mal Klavier: die Söhne Boki und Sascha werden zu Stellvertretern der einstigen Träume ihrer Eltern. Aber auch für Gebhard ist die Professur in Wien die ersehnte Chance, seinen Traum vom Leben als Konzertpianist zu realisieren. Fast mühelos integriert der Film auch noch die Mentalitäten der unterschiedlichen Volksgruppen Ex-Jugoslawiens und die Erinnerungen und Verwerfungen der Balkankriege in seine Familien-Geschichte.

Diese komplizierte, weil zumindest unausgesprochene Gemengelage mischt Saschas Konflikt nun auf: mit teils grotesken, teils durchaus schmerzhaften Konsequenzen. Am Ende wird kaum noch etwas so sein wie zu Beginn, aber die Figuren haben ihre Konturen auf den aktuellen Stand ihrer Biografie gebracht. Man kann dem Spielfilmdebüt von Dennis Todorovic vielleicht vorwerfen, dass der Film ein, zwei Konflikte zu viel etwas schematisch zu schultern versucht, aber dafür ist diese ausgesprochen charmante Komödie mit Migrationshintergrund und ernsten Zwischentönen erfrischend bissig und schwungvoll. Sie steht zudem in der Tradition des osteuropäischen Films, kann also auch ohne viele Worte komisch sein, nämlich mittels pointierter Bildmontagen und treibender Balkan-Beats. Den direkten Vergleich mit dem harm- und zahnlosen „Almanya“ und dessen von Kritikern nachgerühmter Warmherzigkeit braucht „Sascha“ bestimmt nicht zu scheuen. Im Gegenteil: hier hat man immerhin nicht das Gefühl, dass einem aus Gefallsucht im Kino die Hucke vollgelogen wird.

True Grit

(USA 2010, Regie: Joel Coen, Ethan Coen)

Lebensabschnittspartner Western
von Andreas Thomas

Welchen Film auch immer die Coen-Brüder drehen, er ist Kino, aufgesogenes, durchlebtes und durchlittenes Kino. Kaum ein Coen-Film ohne nerdige Referenzen an die Genres der amerikanischen Filmgeschichte. Bisweilen fragt man …

Welchen Film auch immer die Coen-Brüder drehen, er ist Kino, aufgesogenes, durchlebtes und durchlittenes Kino. Kaum ein Coen-Film ohne nerdige Referenzen an die Genres der amerikanischen Filmgeschichte. Bisweilen fragt man sich: Sitze ich jetzt in einem Original von vor 40, 60, 80 Jahren oder in der Liebeserklärung an eines? Die Form, der Stil und die Ästhetik der Vorbilder sind es, die von Joel und Ethan Coen geradezu fetischisiert werden. Um wahrhaft kreativ sein zu können, so scheint es, müssen sie stets die großen Mythen Hollywoods neu erfinden, indem sie sie nicht nur nachbilden, sondern sie von der Gegenwart her vollenden, abrunden oder zuspitzen – nicht ohne dabei natürlich den Kenntnisvorsprung der Nachgeborenen, und das heißt bei ihnen: die Paradigmen der Postmoderne, ins Spiel zu bringen. Dieser Spleen der Coens hat sie einerseits zu einer Art avantgardistischen Kino-Nostalgikern gemacht, falls es so etwas gibt, andererseits aber wirken ihre Filme mitunter dann etwas zu wenig geerdet, sobald sie eben diesen Boden der Vorbilder verlassen möchten und stilistische Hybride herstellen wie etwa „A Serious Man“, einen Film, bei dem nicht nur sein Protagonist in der Welt nicht so recht aufgehoben ist.

Mit „No Country For Old Men“ aus dem Jahr 2007 holten sich die Coens nicht nur vier Oscars, sie begannen mit diesem Film auch einen Flirt mit dem Western, der nun mit „True Grit“, zumindest vorübergehend, zu einer handfesten Liaison geworden ist. Kaum zuvor war ein Coen-Film so vollständig und unironisch in einem Genre verwurzelt, und selten hat ein Genre wiederum einem Coen-Film und seinen Figuren so viel Leben eingehaucht. Andererseits hat es wohl kaum einen Western nach den Siebzigern gegeben, der dem klassischen (Spät-)Western so nahe kommt, wie „True Grit“.

Dieses mag vielleicht an der gerühmten Romanvorlage „True Grit“ (gleichbedeutend etwa mit „Wahrer Schneid“) des Autors Charles Portis aus dem Jahr 1968 liegen (das Buch zählte zu den Lieblingsromanen Truman Capotes), die schon ein Jahr darauf von Henry Hathaway mit John Wayne verfilmt (Deutscher Titel: „Der Marshal“) wurde, ein Film, der, nach eigenem Bekunden der Coens, bei weitem nicht so entscheidend für die zweite Umsetzung war, wie das Buch.

Der Plot ist schnell zusammengefasst. Ford Smith, Arkansas, spätes 19. Jahrhundert: Mattie Ross, 14 Jahre alt (im neuen Film die bemerkenswerte Hailee Steinfeld), will den Mörder ihres Vaters zur Verantwortung ziehen. Weil jedoch Recht und Gesetz auf tönernen Füßen stehen, muss sie einen Kopfgeldjäger verdingen – Jeff Bridges‘ zweiter Auftritt in einem Coen-Film nach „The Big Lebowski“ als alter, alkoholabhängiger Marshal Rooster Cogburn. Aber auch der Texas Ranger LaBoeuf (gesprochen: 'La beef'), gespielt von Matt Damon, wittert eine Einkommensquelle und schließt sich der Suche an. Der weitere Verlauf wird hier höflich verschwiegen, aber erwähnt sei, dass „True Grit“ über einen klassischen Spannungsbogen verfügt, überraschende Wendungen eingeschlossen, und dass die Coens auch hier wieder ihr Händchen zeigen für die Kunst, Gewalt als etwas Komisch-Absurdes zu inszenieren. (Wozu angemerkt sei, dass sie diese spezielle Art derben Humors [gleichauf mit David Lynch] schon etwa 10 Jahre vor Quentin Tarantino [mit „Blood Simple“] ins Kino eingeführt haben. Trotzdem gilt „Pulp Fiction“ bis heute als der erste seiner Art.)

„True Grit“ ist eine Fusion, eine gelungene und spannende, aus einem seriösen Spätwestern und dem Humor, von dem die Coens sagen, er sei hier so trocken geraten, dass niemand mehr lachen könne. Streckenweise wird man sich erinnern an Clint Eastwoods „Erbarmungslos“, dessen Handlung (zur Sühne eines ungesühnten Verbrechens engagieren Prostituierte einen Kopfgeldjäger, der einen trunksüchtigen, alten Kollegen zur Hilfe nimmt), bis in so manches Detail (ein betrunkener alter Revolverheld fällt vom Pferd) der von „True Grit“ gleicht. Aber stärker noch als Eastwood, dessen Film mit der ironischen Abgeklärtheit des Post-Westerners aus den Neunzigern daher kommt, nehmen die Coens den Westen und seine kalte Unwirtlichkeit in „True Grit“ beinahe so beim sehr authentischen Milieu des Romans, als hätten sie selbst vor 120 Jahren dort gelebt. Willkür und menschliche Härte definieren in Ford Smith eine Welt des Unrechts, in der Ordnungsinstanzen (auf die in zwei Dritteln aller Western wenigstens noch Verlass gewesen war) komplett ausfallen. Wenn sich auf Grund von Bestechlichkeit keine ordentlichen Marshalls und Sheriffs in der Verantwortung sehen, sind es die Schwachen, die sich selbst helfen müssen – und können! Kinder und abgehalfterte „Shootists“ müssen sich gegen die Barbarei zusammenschließen.

„True Grit“ ist der in den Staaten kommerziell bisher erfolgreichste Film der Coens gewesen; manche sahen angesichts dieser Story in diesem Erfolg die Ratlosigkeit eines Landes gespiegelt. Man kann aber seine hohen Besucherzahlen auch darauf zurückführen, dass „True Grit“ ganz einfach einen hohen Unterhaltungswert hat. „True Grit“ ist ein Western, der so spät ist, dass er einem schon wieder früh vorkommt, er ist partiell ein Hardcore-Indiana-Jones und er macht überhaupt keine Gefangenen. Sowas reicht nicht für ein Meisterwerk wie „No Country For Old Men“, aber für einen ganz schön spannenden Filmabend durchaus.

Open Hearts

(DK 2002, Regie: Susanne Bier)

Von der Unumkehrbarkeit des Lebens
von Wolfgang Nierlin

In den stärksten Filmen, die nach den Regeln der dänischen Dogma-Bewegung gedreht wurden, gibt es jene irritierenden Momente, in denen die Fiktion aufgehoben scheint und die geballte Kraft des Realen …

In den stärksten Filmen, die nach den Regeln der dänischen Dogma-Bewegung gedreht wurden, gibt es jene irritierenden Momente, in denen die Fiktion aufgehoben scheint und die geballte Kraft des Realen ungefiltert den Zuschauer erreicht. Eine Verunsicherung stellt sich ein, die den Illusionscharakter des Kinos für Augenblicke in Zweifel zieht und an der unsichtbaren Demarkationslinie zur Wirklichkeit kratzt. Lars von Trier, der Mitinitiator und Unterzeichner des Manifests, hat in seinem Film „Idioten“ auf verstörende Weise diese Konventionen attackiert. Susanne Biers „Open Hearts“ besitzt kaum noch etwas von diesem ästhetischen Affront. Zwar hat sie in einem Interview mit der Zeitschrift „Filmbulletin“ erklärt, Dogma sei für sie „die Kunst, Wirklichkeit im Spielfilm direkt und ungekünstelt darzustellen.“ Jedoch geht es ihr jenseits fundamentalistischer Reinheitsgebote primär darum, eine praktikable, dem Stoff angemessene Methode in ihren eigenen filmischen Stil zu integrieren. Fast unmerklich wird im Film der dänischen Regisseurin die Inszenierung zum Mittel, die auch in Dogmafilmen stets vorhandene Differenz zwischen Wirklichkeit und Abbildung zu reinstallieren.

Ein in der Bewegung kurz anhaltender Schwenk, ein beiläufiges Verharren des Kamerablicks in einem Spiegel oder auf Details, erzählerische Ellipsen und ironische Dialoge liefern entsprechende Anhaltspunkte für die Anwesenheit des inszenierten Spiels. Jump Cuts und grobkörnige, lichtarme Bilder sind deshalb nur noch äußere Merkmale eines bereits ausgehöhlten Rigorismus. Dies zeigt auch die Verwendung zusätzlicher Musik und die besonders Dogmafilme ästhetisch verfälschende Praxis des Synchronisierens.

Da „Open Hearts“ aber vor allem ein Kino der Gefühle exponiert, ist die Wahl der Handkamera ein durchaus adäquates Mittel, um die Sprunghaftigkeit von Emotionen, die das Leben der Figuren heftig erschüttert und durcheinander wirbelt, in Szene zu setzen. Biers Film ist gerade dort am intensivsten, wo es ihm gelingt, die quasi „asozialen“ Leidenschaften in ihren eruptiven, vernunftwidrigen Ausschließungstendenzen unmittelbar erfahrbar zu machen. Auch wenn diese Gefühle verrant und egozentrisch sind, verleiht ihnen Susanne Biers Inszenierung doch eine starke Intimität und Körperlichkeit.

Nicht der äußere Alltag, sondern die inneren Dramen stehen im Mittelpunkt des Films. Als nach einem ebenso plötzlichen wie schicksalhaften Unfall mit schwerwiegenden Folgen das junge Liebesglück zwischen der Köchin Cecilie (Sonja Richter) und dem Architekturstudenten Joachim (Nikolaj Lie Kaas) zerstört ist, muß das Leben weitergehen, obwohl es sich unumkehrbar verändert hat. Der junge Mann ist querschnittsgelähmt und erträgt die Liebe seiner hübschen Freundin nur noch schwer. Diese sucht Trost und findet ihn in den Armen des Arztes Niels (Mads Mikkelsen), der im selben Krankenhaus arbeitet. Weil dessen Frau Marie (Paprika Steen) den Unfallwagen steuerte, mischen sich anfangs Schuldgefühle in die aufkeimende Liebe, denen auf der anderen Seite der Schock einer unheilbaren Verwundung gegenübersteht.

Biers Film handelt von der Gefährdung des Glücks und von den irreversiblen Veränderungen des Lebens, die hier neben Paarbeziehungen das Gefüge einer Familie erschüttern. Trotz handlungstechnischer Konstruktionen und allzu gesuchter Koinzidenzen bewahrt „Open Hearts“ eine unaufdringliche, manchmal schmerzliche Nähe zum Leben. Und auch wenn der blinde Zufall Auslöser der tragischen Ereignisse ist, sucht die Regisseurin – man mag das bedauern – eher nach realistischen denn nach metaphysischen Lösungen, damit sich die Protagonisten für das Neue in ihrem Leben öffnen.

Carlos – Der Schakal

(F / D 2010, Regie: Olivier Assayas)

Terror ist Pop
von Marcus Stiglegger

„Terrorismus ist ein Faktum der modernen Weltpolitik, schon lange – aber Carlos ist ein Mythos. In dem Sinne, dass das Individuum Ilich Ramírez Sánchez eine Art Monster erschaffen hat, aus …

„Terrorismus ist ein Faktum der modernen Weltpolitik, schon lange – aber Carlos ist ein Mythos. In dem Sinne, dass das Individuum Ilich Ramírez Sánchez eine Art Monster erschaffen hat, aus dem mit Hilfe der Medien Carlos wurde. Carlos ist ein Archetyp, ein Phantom, das Superhirn des Bösen. Dass Ilich Ramírez nicht diese Person ist, ist doch klar. Ich wollte natürlich schon die Maske herunterreißen, etwas darüber herausfinden, wer die Person dahinter ist. Die Geschichte von Carlos ist die Geschichte, das Schicksal dieser Person.“ Olivier Assayas

Carlos, das Phantom – eine Legende der 'wilden siebziger Jahre'. Mit Barett und Bart stilisierte sich der meistgesuchte Terrorist seiner Zeit, der letztlich eine Art Söldner war, als Nachfahre von Che Guevara – um selbst durch Gewalt zum Popstar zu avancieren. 1979 hatte René Cardona jr. in Mexiko bereits eine exploitative Actionvariante des Themas gedreht: „Carlos el Terrorista“, doch dort ist noch nichts zu spüren von jenem verwegenen Popappeal, den der Terrorismus jener Jahre heute ausstrahlt. Olivier Assayas, einer der spannendsten Autoren des jüngeren französischen Films, hätte einen ähnlichen Weg gehen können, denn eigentlich war seine Fernsehproduktion „Carlos“ (2009) eher als 90-minütige Etüde geplant, die sich auf seine Festnahme im Sudan 1994 konzentrieren sollte, doch in der Recherche wurde sich Assayas des Potentials bewusst und weitete den Film zum epischen Biopic aus, das sowohl in der dreistündigen Kinoversion als auch als dreiteilige Miniserie Verbreitung fand. Der Film begleitet in chronologisch fragmentierter Narration den venezolanischen Terroristen bei mehreren Aufträgen, während seines Überfalls auf das OPEC-Hauptquartier in Wien 1975 und endet in dem Verfall von Carlos’ Wert auf dem internationalen Markt: Am Ende gilt er als lästiges Relikt des abklingenden Kalten Krieges und wird von seinen Verbündeten (u.a. der Stasi) verraten.

Édgar Ramírez spielt Carlos in unterschiedlichen Altersstufen (und physischen Konstitutionen) als charismatischen Krieger-Charakter, der sich Menschen (vor allem Frauen) hörig macht, um ein vielschichtiges Netzwerk zu etablieren, in dem er sich geschützt bewegen kann. Wie dünn diese Membran jedoch wirklich ist, zeigen zahlreiche Standardszenen des Films: die notwendigen Grenzübertritte, die immer wieder zu Risiken werden. In solchen Szenen wird deutlich: Es geht um Adrenalin, um ein unstetes Leben in Gefahr, um die Welt als ewigen Krieg. Ramírez zeigt, dass Carlos eher Abenteurer als Intellektueller war: „Ich habe alle belastbaren Quellen genommen zu Dingen, die er gesagt hat“, betont Assayas. „Die drei Szenen, in denen er richtig redet, sind vollständig belegt. Ich habe das verkürzt, aber es ist alles aus erster Hand. Die Sprache der Linken war damals so eigenartig, aber Carlos klang besonders seltsam. Was diese Szenen über ihn sagen: Er hatte Überzeugungen – aber ein Denker war er nicht gerade.“

Bemerkenswert ist die Besetzung der weiblichen Hauptrollen mit jungen deutschen Schauspielerinnen: Nora von Waldstätten als seine langjährige Geliebte und Julia Hummer als ultra-radikale Waffenschwester, die in überzeugend exzessiven Sequenzen ihrem Hass auf die Autoritäten freien Lauf lässt.

Wie in früheren Werken baut Assayas auf die Synergie von Popmusik und Film: Er nutzt Songs von Wire und New Order, um das Lebensgefühl einer Zeit zu vermitteln, die diese Bands noch nicht einmal erahnte. Solche Anachronismen sind Assayas’ Strategie, um die Kontinuität jener ideologischen Leere zu betonen, die auch heute immer wieder nach Neobesetzung zu verlangen scheint. Mehr als alle anderen zeitgenössischen Terrorismusfilme betont „Carlos“, dass es eher ein Lebensgefühl als eine politische Disposition ist, die den Terrorismus der 1970er Jahre leitete. Und ähnlich wie Andreas Baader wurde Carlos zu einer Art Popstar in seiner Zeit, der jugendlichem Aufbegehren einen aggressiven Ausdruck zu verliehen schien. Um welchen Preis das geschah – auch das zeigt Assayas.

Das deutsche Label NFP – im Vertrieb von Warner – bringt „Carlos“ in drei Versionen: Als Kinofassung (180 Min.) auf DVD, als Vierer-DVD-Set inklusive Director’s Cut (330 Min.) und Bonusmaterial (lange Interviews mit den Schauspielern und Assayas), Trailer, sowie als ultimative Blu-ray, die auf drei Scheiben das gesamte Material bietet. „Carlos“ wurde zum Teil bewusst körnig und 'flach' im Stil des Kinos der 1970er Jahre inszeniert, daher sind vor allem die Nachtszenen nicht für Blu-ray prädestiniert, doch insgesamt ist diese Version die überzeugendste. Vom Tempo her funktionieren sowohl Kino- als auch Extended-Fassung, es lohnt sich also, mit der kurzen Version zu beginnen und dann die lange als Vertiefung noch einmal zu sehen.

Link zu einer weiteren Filmkritik
Link zu einer weiteren Filmkritik

Klaus Kinski im Interview – Kinski Talks 1 und 2. Zusammengestellt von Peter Geyer

(D 2011, Regie: )

Wutbürger Nr.1
von Harald Mühlbeyer

Ist Klaus Kinski wahnsinnig? Ist er ein Philosoph? Ein Egozentriker? Ein Exzentriker? Einfach nur ein Selbstdarsteller? Alles zusammen? Nichts davon? Das sind Fragen, die sich beim Betrachten von Kinski-Interviews stellen; …

Ist Klaus Kinski wahnsinnig? Ist er ein Philosoph? Ein Egozentriker? Ein Exzentriker? Einfach nur ein Selbstdarsteller? Alles zusammen? Nichts davon? Das sind Fragen, die sich beim Betrachten von Kinski-Interviews stellen; und Fragen, die völlig wurscht sind. Weil in einem Kinski-Interview nur der Augenblick zählt, nur die absolute Gegenwärtigkeit, und Fragen nach dem Warum und Wieso, nach dem Woher und Wohin nur der Freude an perfekter Unterhaltung im Weg stehen.

Wahrscheinlich muss man Kinski bei allem, was er sagt, als Performer betrachten. Es ist nur konsequent, dass der „Jesus Christus Erlöser“-Abend, den Kinskis Nachlassverwalter Peter Geyer so verdienstvoll auf DVD veröffentlicht hat, sich in (Miss)Kommunikation mit dem Publikum auflöst; und dass – andersrum – Kinski in journalistischen Gesprächen nur seiner eigenen Agenda folgt. Einige der eindrucksvollsten Auftritte von Kinski bei Interviews und in Talkshows hat Geyer in zwei hervorragenden DVDs zusammengestellt: „Kinski Talks 1“ und „Kinski Talks 2“ zeigen ihn sanft und unverstanden, rabiat und wütend, die Welt erklärend und verdammend: ein Kinski-pur-Kompendium, dem vielleicht – wenn sich die ersten beiden Editionen gut genug verkaufen – noch eine drittes folgen könnte.

Bekannt ist Kinski für seine cholerischen Ausbrüche, für seine wütenden Beschimpfungen – die könnten tatsächlich seinem überschäumendem Temperament geschuldet sein, oder sie sind kalkulierte Brüche mit den Gepflogenheiten, eine Selbststilisierung als enfant terrible. Auf jeden Fall sind sie herausragende Stücke Fernsehgeschichte – Geschichte im Sinn von abgeschlossen, niemals wieder kehrend: Denn wo wäre in der Überflutung mit ununterscheidbaren öffentlich-rechtlichen Talkshows ein heutiger Kinski möglich?

In der WDR-Talkshow „Je später der Abend“ von 1977 ignorierte Kinski jede Frage und verwickelte sich mit einem der Studiogäste in einen Streit. Moderator Reinhard Münchenhagen – von Kinski in permanenter Scherzhaftigkeit als „Münchhausen“ betitelt – erinnert sich, nach der Sendung weitere verbale Ausfälligkeiten Kinskis befürchtet zu haben; der habe ihn aber nur angestupst: „Wars gut so?“ In einem ebenfalls auf „Kinski Talks 1“ befindlichen 75-Minuten-Interview für RTL plus von 1985 machte Kinski keinen Hehl aus seiner Verachtung für die Interviewerin Helga Guitton, an der er kein gutes Haar ließ. Ansonsten glänzt er durch Lustlosigkeit, die ihn zugleich zu einigen rhetorischen Höhenflügen inspiriert. Bezeichnenderweise wurde das Interview, offenbar auf Kinskis Wunsch hin, beim Mittagessen aufgezeichnet. Dass sich Kinski, so Geyer in seinem Essay im Booklet der DVD, demonstrativ weigerte, für seinen damals aktuellen Film „Kommando Leopard“ in irgendeiner Form Werbung zu machen, war von Produzent Erwin C. Dietrich genau kalkuliert worden: Bei der vertraglich festgelegten Werbetour Kinskis (die ihm 7.000 $ Gage täglich brachte) sollte er sich möglichst schlecht benehmen, das würde die größtmögliche Aufmerksamkeit generieren. Auch Alida Gundlach durfte das spüren in ihrer NDR-Talkshow, in der Kinski sie unverschämt anmachte und fast ausschließlich übers Geld sprach: wie hoch die Bezahlung sein muss, wenn er in einem Film mitspielt, dass auf jeden Fall im Voraus bezahlt werden muss, dass das Ergebnis ihn nicht interessiert. Schauspieler? Künstler? Pustekuchen.

Als Überraschungsgast in der NDR-Talkshow – es war Kinskis 59. Geburtstag – tauchte Hans Leutenegger auf, Schweizer Ex-Bob-Olympiasieger von 1972, Unternehmer, Co-Darsteller in „Kommando Leopard“ und seit dem Dreh auf den Philippinen Kinskis bester Freund. Mit lustigem Schweizer Dialekt und vielleicht echter Naivität hängt der sich an Kinski, schon beim RTL-Interview mit Helga Guitton saß er am Esstisch dabei und versuchte, ab und an ein wenig über den Film zu reden … Seine Unbeholfenheit vor der Kamera ist ein reizvoller Kontrast zu Kinskis einnehmender, alles verdrängender Präsenz. Vielleicht bestand tatsächlich zwischen Leutenegger und Kinski eine – vor allem von ersterem behauptete – enge Bindung; vielleicht deshalb, weil Leutenegger Kinski unverhohlen bewunderte, ihn als Mentor ansah und ihm nie im Weg stand. Leutenegger und Kinski: als Traumpaarung. Höhepunkte auf beiden „Kinski Talks“-DVDs.

Apropos Paarung: Im Gespräch mit Desiree Nosbusch, aufgenommen 1982, gesendet 1985, erregt sich Kinski zunächst über Anspruchsdenken, über Klempner und über die ignorante Jugend, um sich dann zärtlich in Desirees Schoß zu kuscheln und auf romantischer Blumenwiese süßholzraspelnd Zärtlichkeiten ins Ohr der 17jährigen zu säuseln. An der Kamera: Nosbuschs damaliger Ehemann Georg Bossert; und wenn man bedenkt, wie sie sich – unter dessen Management – Anfang der 80er lolitahaft gerierte (man denke auch an Eckhard Schmidts Film „Der Fan“ (1983), worin sie minutenlang nackt herumläuft (und eine Leiche zerteilt)), dann ist vor allem zu bewundern, wie sich hier zwei Menschen begegnen und glänzend verstehen, die sich innerhalb ihres selbstgewählten Images ganz frei bewegen können.

Wahnsinniger? Philosoph? Selbstdarsteller? Kinski war alles zusammen, der Wahn wird zur Philosophie, bei der Widersprüche innerhalb weniger Sätze nicht stören, und Kinski lässt das zu, spielt seine Rolle des Ungebändigten, weil er weiß, dass genau das von ihm erwartet wird. Oder: Vielleicht lässt er nur offen seinem Gedankenfluss freien Lauf. Wut, Eitelkeit und Verachtung stehen neben Liebe, Zärtlichkeit und Leidenschaft, und ganz ungefiltert verausgabt er sich, gibt sich hin, entblößt sich. Wahrscheinlich kotzen ihn die naheliegenden, immergleichen Fragen unvorbereiteter Journalisten an. Deren Unprofessionalität ist ihm ein Gräuel, und zugleich bieten sie ihm eine Spielwiese für die eigene Eitelkeit und Egomanie. Vergnüglich ist es allemal.

Stuttgart 21 – Denk mal!

(D 2011, Regie: Lisa Sperling, Florian Kläger )

Im Protest vereint
von Wolfgang Nierlin

Als die angehenden Filmstudenten Lisa Sperling und Florian Kläger im Januar 2010 begannen, mit ausgeliehenen Filmkameras die wachsenden Proteste gegen das Bahnprojekt „Stuttgart 21“ zu filmen, wollten sie zunächst einmal …

Als die angehenden Filmstudenten Lisa Sperling und Florian Kläger im Januar 2010 begannen, mit ausgeliehenen Filmkameras die wachsenden Proteste gegen das Bahnprojekt „Stuttgart 21“ zu filmen, wollten sie zunächst einmal die Stimmungslage der Demonstranten einfangen. Heterogen zusammengesetzt und zugleich in der Mitte der Gesellschaft geerdet, überraschten die Protagonisten dieser bunten Bewegung nicht nur durch ihren Zusammenhalt und zunehmende Stärke, sondern auch durch ihre Toleranz und Offenheit gegenüber ideologisch Unverdächtigen. Mit dem Wahlspruch „Oben bleiben!“ demonstrierten hier empörte Bürger unterschiedlicher Couleur gegen den Bau eines unterirdischen Durchgangsbahnhofes und damit für den Erhalt des alten Kopfbahnhofs, vor allem aber sicht- und hörbar für mehr Demokratie. Der Film „Stuttgart 21 – Denk mal!“ ist insofern vor allem ein Dokument über kritische Bürgerbeteiligung und ihr aufklärerische Funktion.

Dieser Perspektive ist die politische Einseitigkeit und unverhohlene Parteinahme der beiden jungen Filmemacher geschuldet, denen es eben nicht um Analyse geht, sondern um einfühlendes Verstehen. Die kurzen, aber prägnanten Statements der verantwortlichen Politiker und Funktionäre sind deshalb vor allem Ausdruck einer Arroganz der Macht, die das demokratische Engagement und Durchhaltevermögen der immer größer werdenden Protest-Bewegung kontrastiert. In relativ ausführlichen Interviews rekonstruieren einzelne Beteiligte die Geschichte des Protests, der für viele offensichtlich auch ein politisches Erweckungserlebnis darstellt. Natürlich geht es dabei auch um Überlegungen zur städtischen Topographie, geologischen Unwägbarkeiten, architektur- und naturgeschichtlichen „Denkmälern“, um geldverschwenderische „Kapitalinteressen“ und um die Verfilzung von Politik und Wirtschaft. Doch durch diese Sachthemen hindurch ist es immer wieder die Ignoranz der Politiker gegenüber dem Prozess der demokratischen Willensbildung, die viele Bürger im Widerstand vereint.

Neben dem kulturschändlichen Abriss des Bahnhof-Nordflügels im August 2010, den der Film im Zeitraffer vergegenwärtigt, sind es vor allem die gewalttätigen Auseinandersetzungen im Stuttgarter Schlossgarten am 30. September des gleichen Jahres, die zu einer Eskalation des Protests führen. Mit Wut, Sprachlosigkeit und Ohnmacht beschreiben beteiligte Demonstranten ihre Gefühle angesichts eines unverhältnismäßigen Polizeieinsatzes, der sich mit massiver Gewalt gegen unbescholtene, friedfertige Protestierer richtet und der später von Innenminister Heribert Rech auf empörende Weise bagatellisiert und gerechtfertigt wird. In langen, ungeschnittenen Einstellungen dokumentieren Sperling und Kläger diese Übergriffe im Vorfeld der Baumfällarbeiten und liefern damit ein ebenso intensives wie anschauliches Lehrstück über Demokratie und über das schwierige Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern.

Auszeit

(F 2001, Regie: Laurent Cantet)

Aus der Welt gefallen
von Wolfgang Nierlin

Ein ungutes, seltsam klaustrophobisches Gefühl staut sich beim Zuschauer. Etwas sollte ausgesprochen werden und bleibt doch unausgesprochen. Je länger man dem sinnlos erscheinenden Zeitvertreib der Hauptfigur in Laurent Cantets zweitem, …

Ein ungutes, seltsam klaustrophobisches Gefühl staut sich beim Zuschauer. Etwas sollte ausgesprochen werden und bleibt doch unausgesprochen. Je länger man dem sinnlos erscheinenden Zeitvertreib der Hauptfigur in Laurent Cantets zweitem, bemerkenswert starkem Langfilm „Auszeit“ (L’emploi du temps) folgt, ihrem ziellosen, selbstvergessenen Unterwegssein, desto gespenstischer wird die Frage, wie dieser Mann sein Doppelleben aushält. Erst allmählich enthüllen sich dem Zuschauer die Abgründe einer tiefen Verlorenheit, werden die Umrisse einer von Lügen aufgezehrten Existenz sichtbar, die ins Mark der Gesellschaft treffen.

Vor dreieinhalb Monaten hat Vincent (Aurélien Recoing) seine Stelle als Consultant in einer Firma verloren, für die er elf Jahre lang gearbeitet hat. Seither spielt er seiner ahnungslosen Familie und den alten Freunden eine Ordnung vor, die es nicht mehr gibt. Daß diese Täuschung überhaupt gelingt, sagt auch etwas über die Qualität seiner Beziehungen, in denen der Mangel an Kommunikation mit einem Blendwerk aus Äußerlichkeiten korrespondiert. Ablesbar ist das nicht nur an den leeren Konventionen eines wohlsituierten, vom Konsum verdorbenen Bürgertums, sondern auch am trügerischen Schein einer Arbeitswelt, deren konkrete Arbeit immer mehr in der diffusen Rhetorik eines vorgeblich undurchdringlichen Spezialwissens verschwindet.

Cantet, der bereits in seinem Debüt „Ressources humaines“ die Bruchlinien zwischen traditionellem Arbeitsethos und modernem Strukturwandel unter den Bedingungen des Kapitalismus differenziert gezeichnet hat, geht in „Auszeit“ noch einen Schritt weiter in der Analyse der modernen Arbeitswelt: Diese ist in einem undurchdringlichen Äußeren erstarrt. Ihre spiegelnden Oberflächen, eingefangen im seelenlosen Rhythmus der Angestellten, ihrem austauschbaren Erscheinungsbild und der flirrenden Architektur von Glasfassaden, täuscht die selbstverordnete Transparenz nur noch vor. In Wirklichkeit schottet sie sich ab, schließt sie aus. In ihrem Innern kreiert sie Formen einer neuen Entfremdung: eine fast undurchdringliche Lust- und Teilnahmslosigkeit.

Diese Hermetik macht die integrative Funktion der Arbeit in einer Gesellschaft, die ihre sozialen Beziehungen vorwiegend über Gehaltsklassen definiert, noch evidenter. So wie der Arbeitsplatz einerseits „kein öffentlicher Ort“ ist, gibt es andererseits kein „Außerhalb“ mehr. Deshalb spielt Vincent Rollen, imitiert er eine Geschäftigkeit, die ihn bis an den Rand der Selbsttäuschung führt, weil die „Angst, zu enttäuschen“, übermächtig geworden ist. Stundenlang unterwegs, im Auto, fühlt er sich von der Last der Gedanken befreit, wähnt er sich aufgehoben im wohligen Gefühl einer inneren Leere.

Weiß und leer, kalt und grau sind auch die winterlichen Landschaften, durch die sich Vincent, der unerreichbar bleibt, bewegt. Wie ein Ausgestoßener schläft er im Auto auf Park- und Rastplätzen, sucht er Entspannung in Hotelhallen und heimatlichen Unterschlupf in den Foyers anonymer Bürogebäude. Aber äußere Bewegung bedeutet in Cantets soghaftem Film nicht Aufbruch und Freiheit. Nicht einmal Entlastung oder Kompensation bietet dieses Sich-treiben-Lassen. Vincent driftet nurmehr durch eine Welt, aus der er gefallen ist.

Alles, was wir geben mussten

(GB 2010, Regie: Mark Romanek)

Hauptsache gesund
von Harald Mühlbeyer

Im Jahr 1952 erlebte die Welt einen medizinischen Durchbruch. Seit 1967 hat die durchschnittliche Lebenserwartung 100 Jahre überschritten. Zwei Einblendungen zu Anfang des Films versetzen den Zuschauer in die Parallelwelt …

Im Jahr 1952 erlebte die Welt einen medizinischen Durchbruch. Seit 1967 hat die durchschnittliche Lebenserwartung 100 Jahre überschritten. Zwei Einblendungen zu Anfang des Films versetzen den Zuschauer in die Parallelwelt einer leicht verschobenen Realität – dann springt der Film in eine Internatsgeschichte.

Im Eliteinternat Hailsham im Jahr 1978 wachsen die Freunde Kathy, Tommy und Ruth auf, eine glückliche, behütete Kindheit, so normal, wie sie sein kann. Wären da nicht kleine Irritationsmomente: die intensive schulmedizinische Untersuchung könnte noch als vorschriftsmäßig hingenommen werden, doch dann sind da im Unterricht Rollenspiele um das korrekte Bestellen in einem Café, ein Flohmarkt mit gebrauchtem Kinderspielzeug, auf dem die Schülerinnen und Schüler mit Plastikmärkchen offenbar das Handeln und Einkaufen üben, die Gedichte und Gemälde, die von den Internatsinsassen kreiert werden, werden sorgfältig für eine geheimnisvolle Galerie aufbewahrt und es gibt diese Gerüchte von Kindern, die über den Zaun des Schulgeländes geklettert waren und niemals wiederkehrten…

Und dann kommt es raus: Die Kinder in diesem von der Welt abgeschlossenen Eliteinternat sind etwas Besonderes. Auf ihnen ruht die Hoffnung der Menschheit, sie sollen später nämlich die Krankheiten der Welt bekämpfen helfen. Indem sie hier herangezüchtet werden als künftige Organspender, als lebende Vorratskammern für lebenswichtige Organe: sie sollen ausgebeutet werden, ausgeschlachtet für die Volksgesundheit. Dafür wurden sie geschaffen – offenbar geklont –, das ist ihre einzige Aufgabe in ihrem kurzen Leben. Ende des ersten Aktes.

Wir steigen ein im Jahr 1985 auf einem idyllischen Bauernhof, wo die künftigen Organspender eine schöne, behütete Jugendzeit verbringen dürfen. Kathy, Tommy und Ruth – sie werden jetzt von den britischen (Jung)Stars Carey Mulligan, Andrew Garfield (der nächste Spiderman) und Keira Knightley gespielt – leben hier mit einigen anderen Jugendlichen aus anderen Internaten. Und sie wissen um ihr Schicksal: sie werden in ein paar Jahren ihre erste Operation hinter sich haben; und nach spätestens vier Organentnahmen werden sie sterben; oder, wie es euphemistisch heißt: vollendet sein.

Regisseur Mark Romanek tut etwas Unerhörtes: er lässt nicht hollywoodtypisch irgendjemanden gegen dieses grausame System aufbegehren, es gibt keinen Rebellen. Nein, er erzählt vor diesem unmenschlichen Hintergrund eine kleine Dreiecksgeschichte mit Kathy im Mittelpunkt, die sich schon im Internat in Tommy verliebt hatte, den ihr aber Ruth weggeschnappt hat. Was allerdings der Freundschaft des Trios nichts anhaben konnte – das ist ein weiterer subtiler Schritt Romaneks, in denen er die Zuschauererwartungen untergräbt: dass die Freundschaftsgeschichte nicht zum Eifersuchts- und Rivalitätsdrama wird. Die drei kennen nichts anderes als sich selbst, als die kleine Welt, in der sie aufgewachsen sind: es gibt keine Alternative, keine Option auf andere Freunde, auf eine andere Liebe, und keine Option auf ein anderes Leben.

Mit großer Einfühlsamkeit doppelt Romanek in seiner Freundschaftsgeschichte das große Ganze des Films: Wie Ruth Kathy das Glück ihres Lebens, die Liebe zu Tommy, weggenommen hat, so nimmt das System allen dreien ein erfülltes Leben, indem ihre Zukunft gekappt werden wird. Und wie gegen dieses System niemand aufbegehrt, weil es völlig normal ist, weil für die Protagonisten kein anderes denkbar ist, so akzeptiert auch Kathy, dass Ruth mit Tommy zusammen ist und sie nur daneben steht und zusehen darf.

Der dritte Akt des Filmes, der 1994 spielt, zeigt die Zukunft der drei, die keine ist. Ruth und Tommy haben ihre ersten Operationen hinter sich, sie sind geschwächt und der „Vollendung“ nahe. Kathy wurde Pflegerin, das heißt: sie hat noch ein paar Jahre Aufschub bekommen, darf sich solange um die operierten Organspender kümmern. Alleingelassen wird in diesem System der absoluten Volksgesundheit, das über Leichen geht, niemand; das ist das Perfide daran. Die glückliche Kindheit und Jugend in Internat und auf dem Bauernhof sind sicher das Beste, was einem passieren kann – und sie sind doch nur dafür organisiert, um die wertvollen Organe der künftigen Spender zu schützen und zu bewahren. Die Opferlämmer der Medizin sollen gesund bleiben, um durch ihren Tod die Krankheiten anderer, „echter“ Menschen zu heilen.

Und gerade, indem Romanek dieses System als ganz selbstverständlich hinnimmt und einfach den Umgang junger Menschen damit zeigt, wie sie darin leben und sterben, indem er nicht mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Inhumanität hinweist, macht er alles noch unheilvoller, noch abgründiger; noch emotionaler und noch bewegender. Und es geht nicht mehr nur um das Diktat eines durchmedizinisierten Systems über Leben und Sterben junger Menschen, nicht mehr nur um die Frage, wie inhuman die Menschheit werden kann (und darf), um Krankheiten zu besiegen und die Lebenserwartung der Mehrheit zu steigern, es geht um die Liebe in Zeiten der Ausweglosigkeit, darum, wie ein System der Unterdrückung durch anerzogene Gewöhnung nicht als Last, sondern als normale Gegebenheit empfunden wird. Wie Romanek das inszeniert, ist weit spannender, viel intensiver als alles andere, was auch vorstellbar wäre. Das Fehlen des Aufbegehrens, das Akzeptieren des Unmenschlichen, das reine Erzählen eines kleinen Liebesmelodrams vor dem Hintergrund ethischer Erosion: das macht den Film höchst wahrhaftig. Ergreifend, melancholisch, dramatisch, verstörend, berührend. Und unvergesslich.

Wer wenn nicht wir

(D 2011, Regie: Andres Veiel)

Langer Marsch durchs Ursachendickicht
von Ulrich Kriest

Da denkt man, alles sei gesagt – und dann erscheint ein neues Dokument oder gar eine neue Studie, die eine neue Perspektive auf das Geschehen eröffnet. Und wieder geht’s von …

Da denkt man, alles sei gesagt – und dann erscheint ein neues Dokument oder gar eine neue Studie, die eine neue Perspektive auf das Geschehen eröffnet. Und wieder geht’s von vorne los: Die Geschichte der RAF scheint eine never ending story. Der Dokumentarist Andres Veiel erzählt jetzt eine Vor-Geschichte der RAF, bei der der biografische Zufall zu seinem Recht kommt. Was muss passieren, damit etwas passiert?, fragt Veiel. Er tut dies mit den Mitteln des Spielfilms, des Kostümfilms. Man kann auch sagen: Veiel versucht eine Bilderkritik mittels inhaltlich alternativer, aber strukturell identischer Bilder. Hat jemand mal gedacht, es sei alles gesagt? Unfug!

Action speaks louder than words. Wer Action will, erzählt von Schüssen, Brandsätzen und Bomben: 2. Juni 1967, 2. April 1968, 11. April 1968, Osterunruhen, Schlacht am Tegeler Weg. Kontext: Bilder vom Vietnamkrieg, Martin Luther King, Robert Kennedy, auf der Straße demonstrierende junge Menschen, Jubelperser, die mit Dachlatten auf Demonstranten einschlagen, Rudi Dutschke, wild gestikulierend. The fury and the sound: Je nach Gemütslage eignet sich als Soundtrack entweder „Street Fighting Men“ der Rolling Stones, „Revolution“ von den Beatles oder, etwas melancholischer, „For what it’s worth“ von Buffalo Springfield. Alles bei Stefan Austs „Der Baader Meinhof Komplex“ nachzulesen und der gleichnamigen Eichinger/Edel-Verfilmung zu bestaunen. Überhaupt hat sich Austs Buch als Fundus bewährt, aus dem sich zahlreiche RAF-Filme von „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ bis „Die dritte Generation“ bedient haben. Das Sub-Genre des RAF-Films ist längst ein ganz erstaunlicher Echoraum aus Bildern, Anekdoten, Gerüchten und auch Schauspielern.

Bei Aust kann man auch auf sehr wenigen Seiten nachlesen, wovon Andres Veiel in seinem ersten Spielfilm handelt. Für den Dokumentaristen Veiel, der sich bereits wiederholt mit der Materie auseinandergesetzt hat, war allerdings ein anderes Buch wichtiger: Gerd Koenens „Vesper Ensslin Baader“ (2003), das in einer Reihe von Tiefenbohrungen die Pathogenese des linken Terrorismus offen zu legen versuchte. Diese Perspektiv-Weiterung auf die Figur des Schriftstellers und Verlegers Bernward Vesper – erster Lebensgefährte Gudrun Ensslins und Sohn eines Blut-und Boden-Dichters – bot reichlich neues Material für eine Milieustudie, wie sie Veiel seit jeher faszinieren. Zudem bot sich dem aus dem Stuttgarter Umland stammenden Filmemacher die Möglichkeit, einmal mehr vor der eigener Haustür – zwischen Tübingen und Bad Cannstatt – zu kehren. Insofern erweitert „Wer wenn nicht wir“ seine eigenen Vor-Arbeiten „Die Überlebenden“ und „Black Box BRD“ um einige Nuancen, die allerdings wohl nur diejenigen Zuschauer überraschen werden, die nicht hinreichend mit der Materie vertraut sind. Wer hingegen bei der Auseinandersetzung mit der Geschichte der RAF, der Neuen Linken, der Studentenbewegung über die Eckpfeiler Eichinger/Edel, Breloer und Knopp hinausgelangt ist, wer das Buch von Koenen, den jüngst edierten Briefwechsel von Ensslin und Vesper, Henner Voss‘ Buch „Vor der Reise. Erinnerungen an Bernward Vesper“ und vielleicht sogar Vespers „Die Reise“, die ja sogar schon 1986 von Marcus Imhoof verfilmt worden ist, gelesen bzw. gesehen hat, wird von Veiels Film enttäuscht werden. Und zwar inhaltlich wie formal. Inhaltlich: Letztlich ist die Perspektivöffnung, die Veiel anbietet, doch nur ein kleiner Schritt zur Seite. Von Baader Meinhof Ensslin zu Vesper Ensslin Baader. Wenn es darum gehen soll zu zeigen, dass die Akteure sich nicht an faschistoiden Eltern rieben, dann hätte Veiel ebenso gut auch noch Ulrike Meinhof ins Boot holen können. Andererseits kann man etwa bei Bommi Baumann nachlesen, dass sehr wohl auch nicht-gutbürgerliche Verhältnisse den Weg in die Gewalt weisen konnten. Warum nicht mal ein Film über Petra Schelm oder Werner Sauber oder Dr. Wolfgang Huber?

In erster Linie, bis hin zu den Achselhaaren der Hauptdarstellerin Lena Lauzemis, ist „Wer wenn nicht wir“ nämlich eine Ausstattungsorgie, die bis hin zur bunten Tapete, bis hin zum Kofferradio, bis hin zum Telefon, bis hin zur rissigen Hauswand den Mief der frühen 60er Jahre in der schwäbischen Provinz, im schwäbischen Pfarrhaus fühlbar macht. So intensiv der Film in Dekors schwelgt, so merkwürdig ungreifbar bleiben dagegen die Figuren und die Dinge, die sie umtreiben. Tatsächlich passiert hier etwas, was man von dem sonst so sorgfältig arbeitenden Filmemacher gerade nicht erwartet hätte: Der Film besteht aus einer Abfolge von lauter Einzelszenen, die einzelne Thesen, Pointen, Recherche-Ergebnisse illustrieren, auf den Punkt bringen. Im Presseheft zum Film findet sich ein Gespräch mit Andres Veiel, das klar macht, dass buchstäblich jede Nuance der Handlung die dramaturgische Verdichtung einer These, Beobachtung oder Schlüsselsatzes ist. Im Grunde ist Veiels filmischer Diskurs also durchaus demjenigen von „Der Baader Meinhof Komplex“ vergleichbar, nur dass Veiels Stoff weniger auf spektakuläre Action aus ist. Veiel rekonstruiert die 60er Jahre gewissermaßen aus der Perspektive des alternativen Literaturbetriebs, allerdings auch hier mit erstaunlichen Unschärfen. Vespers mehr als schillernde Auseinandersetzung mit der modernen Literatur wird auf zwei, drei Sprüche reduziert. Herausgestrichen wird die politische Kontingenz der Aktivitäten des eigenen Verlages, wo man sich einerseits für den verfemten Nazi-Schriftsteller Will Vesper stark macht, andererseits jedoch die hochkarätig links-liberal besetzte Anthologie „Gegen den Tod“ publiziert. Dass Vesper in Tübingen mit Walter Jens über neuere und neueste Literatur disputiert, ist aus heutiger Perspektive besonders lustig, wenn sich Jens, mittlerweile als NSDAP-Parteimitglied identifiziert, hier noch ungebrochen zum moralischen Richter über Nazi-Dichter aufspielt. Veiel jedoch nutzt hier nur das Bild des liberalen Hochschuldozenten, das Jens in jenen Jahre so brillant verkörperte. Während er andererseits manche Szene bereits aus dem Wissen um den weiteren Verlauf der Geschichte gestaltet, wenn etwa gleich zweimal der schöne Vorschlag des Black Panther Stokely Carmichael im Film erscheint. Der rät Vesper stellvertretend für alle Weißen, die sich mit dem Kampf der Black Panther solidarisieren und die Welt zu einem schöneren Ort machen wollen: „I tell you what you can do: Go home, kill your wife, father and mother, then hang up yourself!“ Was Vesper und Ensslin ja in den folgenden Jahren irgendwie beherzigt haben, zumindest teilweise und symbolisch. Oder wenn Vesper vitalistisch ausholen darf: „Ich schreibe so, wie wenn man mit der Faust der Gesellschaft in die Fresse haut!“ Oder Gudrun Ensslin von Hanns Henny Jahnn schwärmen lässt: „Bei ihm verwirklicht sich die Liebe erst durch den Tod. Durch Gewalt, durch Mord wird es erst möglich, dass Sexualität gelebt wird.“ Ganz schön brisant, wenn einem die Begegnung mit Andreas Baader erst noch bevorsteht!

Während der Film also einerseits sehr an der Oberfläche bleibt, setzt er an anderer Stelle geradezu Kennerschaft voraus: etwa, wenn er die Rolle der USA in der Biografie Ensslins nur andeutet, wenn der elitäre Anti-Amerikanismus, den Vesper vom Elternhaus mitbekommen hat, fast bruchlos in die Antikriegsbewegung gegen den Vietnamkrieg mündet, wenn er zeigt, wie Vesper in Berlin in den literarischen Zirkel des Wahlkontor der SPD aufgenommen wird, aber leider unklar bleibt, mit wem er es hier zu tun hat, wenn plötzlich mit der „Gruppe Spur“ und Dieter Kunzelmann ein ganz neuer, situationistischer Ton in die schwerblütigen Debatten gelangt. Es ist also eine hoch interessante intellektuelle Gemengelage, die viel genauer auszubreiten man Veiel gewünscht hätte. Der entlastet seinen Film von der Aufgabe, all zu viel Zeitkolorit aufhäufen und in Dialog überführen zu müssen, durch den »raunenden« Einsatz von Dokumentarmaterial in Verbindung mit Popmusik – nur, dass bei Veiel dann zu den Bildern von 2. Juni 1967 nicht mehr die Stones, sondern bloß noch ironisch kommentierend Lovin Spoonful zu hören sind: „Summer in the City“. „Heißer Sommer“ heißt ein Roman von Uwe Timm über die Zeit der Studentenbewegung, den man vielleicht mit Gewinn gegen die RAF-Filme halten könnte.

Zur privaten Liebesgeschichte zweier junger Menschen, von denen unklar bleibt, ob ihr Mix aus Existentialismus und Politik nicht vielleicht doch bloß eine Pose ist, gesellt sich die große Politik als Hintergrundrauschen: Kuba-Krise, Kennedy, Vietnam etc. Auf dieser Ebene ist Andres Veiel nicht mehr als eben nur ein weiterer und leider erstaunlich unorigineller Beitrag zu einem viel beackerten Feld gelungen. Je näher der Film dem 2. Juni 1967 kommt, desto weniger originell werden die Bilder von „Wer wenn nicht wir“. Schwerer wiegt jedoch, wofür er gar keine Bilder gefunden hat: für den Eros der Revolte nämlich. Für alles, was mit der Modernisierung der Lebenswelten, mit Pop, Musik, Kino, Drogen zu tun hat. Obwohl Vespers Schizophrenie durch Drogenexperimente befeuert wird, spielt dieses Thema gar keine Rolle, wird nicht gezeigt, obwohl sein unveröffentlichtes Romanprojekt „The Trip“ heißen sollte. Wenn Aufbruch in der Luft liegt, wird ein wenig zu dritt herumgeknutscht und mit Rotwein gekleckert. Andreas Baader bleibt als Andreas Baader von einem merkwürdigen Desinteresse des Films an dieser Figur stigmatisiert: ein Sprücheklopfer, der in einer Schwulenbar zum Mikrophon greift und sich schminkt. Jazz oder Popmusik spielen keine Rolle; die Originalmusik ist denkbar lustlos ausgewählt. Eine Szene spielt im Kino (obwohl sich Baader dort doch allabendlich seine Posen abgeholt haben soll); sie erstaunt alleine dadurch, dass man damals offenbar im Saal rauchen durfte. All das, was wohl auch „geil“ war bei jenem Aufbruch, all die Projekte, die Teach-ins und der Lektürewahnsinn jener Zeit, der ja 1968/69 in den rein physischen Zusammenbruch der Akteure der Revolte mündete, für den ja auch Vespers Trip in den Wahnsinn stehen kann, dafür findet Andres Veiel filmisch überhaupt keinen Ausdruck. Kurzum, es fehlt alles, was Christopher Roths „Baader“ zu einem großen Wurf machte. Insofern ist auch etwas irritierend, dass Veiels Film, der doch eher ein Fernsehspiel geworden ist, wie „Baader“ mit dem Alfred Bauer Preis für neue Perspektiven der Filmkunst ausgezeichnet wurde. Wo Roth durch die Injizierung einer ordentlichen Ladung die Mythenbildung um die RAF aufsprengte, schafft sich Veiel erstaunlich offen ein alter ego im Film: in Gestalt jener Gefängnisleiterin, die versucht Gudrun Ensslin den Marsch durch die Institutionen schmackhaft zu machen. Als Linke, die fest auf dem Boden der FDGO steht, wenngleich es manches gibt, was man durchaus kritisieren kann, nein, muss. Daraus wird aber nur dann ein Schuh, wenn man – wie Veiel es anscheinend ernsthaft vorschlägt – seinen Ausflug in die Geschichte mit den aktuellen Bürgerprotesten in Verbindung bringt – und darin Vorboten einer Re-Politisierung der Gesellschaft (Stichwort: „Wutbürger“) erkennen will. Was man kann, aber sicher nicht muss.

Link zum Interview mit Regisseur Andres Veiel

Road to Perdition

(USA 2002, Regie: Sam Mendes)

Eine Frage der Witterung
von Dietrich Kuhlbrodt

Einer dieser amerikanischen Filme zum Sortieren von Gut und Böse, allerdings mit einer Variante, die eine bange Frage ist: kann ein Böser ein Guter werden? Bis das klar ist – …

Einer dieser amerikanischen Filme zum Sortieren von Gut und Böse, allerdings mit einer Variante, die eine bange Frage ist: kann ein Böser ein Guter werden? Bis das klar ist – Antwort: er kann -, ist Dramaturgie vonnöten. Solange ist der Zuschauer mit dem Wie-würden-Sie-entscheiden? beschäftigt.

Es ist 1931, das Jahr Al Capones und das der Großen Depression. Der Vater ist Hitman der kriminellen Vereinigung, aber er hat einen braven kleinen Sohn, wie ihn jeder anständige Bürger sich nur wünschen kann. Und siehe, die reine Kinderseele ist es, die den in Gewalt verstrickten Erwachsenen erlöset. Das wiegt umso schwerer, als der Bandenboss (Newman) einen bösen großen Sohn hat, der ihn nicht erlösen wird. Paul Newman wird auf dem Weg in die Hölle bleiben, die ja das Wort ‚Perdition‘ umschreibt. Amerikas Weite und Größe von 1931 ist die der Mythen. On the road again, Vater und Sohn. In Chicago wachsen die Wolkenkratzer. Die schwarze Zeit der Wirtschaftskrise ist in „Road to Perdition' licht und blank. Alles voll frisch gewaschener Museumsautos und neu eingekleiderter Komparsen. Die Autos sind das gleiche Modell, die Passanten haben den gleichen Hut auf. Bauten, Kostüm und Maske regieren den Film. Die Produktion ist es, die den Film gemacht hat. Nun gibt es zwar einen Regisseur, einen berühmten: Sam Mendes („American Beauty'). Dieser aber war auch einer der Produzenten, und er scheint in dieser Eigenschaft seine Kräfte erschöpft zu haben. Die Schauspieler tragen den einfältigen Dialog bieder vor, und das war’s.

Wir müssen uns damit abfinden, dass wir siebzig Jahre zurück in die Vergangenheit zurückgehen müssen, in die Zeit, in der, den Filmbildern zu trauen, die USA noch groß und stark waren, um die Kraft zu bekommen, die Kurve vom Bösen zum Guten zu kriegen. Dann spielt auch das Wetter mit. Der Film gibt sich große Mühe, diese wiewohl schlichte wie moralische Botschaft nostalgisch zu verbrämen. Wolken, Eis und Schnee zu Beginn, da unser Held im Reich des Bösen lebt. Aufhellungen, da er schwankt und mit dem Glauben ringt. Und dann zieht das Tief ab, die Sonne strahlt und das Hoch regiert, und die Große Depression ist vergessen. Was für ein Land!

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 09/2002

Der Manchurian Kandidat

(USA 2004, Regie: Jonathan Demme)

Erfolgreiche Beratung
von Dietrich Kuhlbrodt

Der deutsche Filmtitel ist holprig, das Adjektiv Implantat, und eben um ein solches geht es in diesem Remake. Das Original von 1963, „The Manchurian Candidate', war von John Frankenheimer und …

Der deutsche Filmtitel ist holprig, das Adjektiv Implantat, und eben um ein solches geht es in diesem Remake. Das Original von 1963, „The Manchurian Candidate', war von John Frankenheimer und hieß auf deutsch „Botschafter der Angst' – mit Frank Sinatra in der Hauptrolle. Gehirnwäsche in der Mandschurei also. Dort drehen die „Leute vom Moskauer Pawlow-Institut' gefangene US-Koreakämpfer um. Wieder daheim in Washington tarnen sie sich mit antikommunistischen Tiraden, um als fünfte Kolonne Moskaus ins Pentagon und gar ins Weiße Haus einzuziehen. Und damit diese Infiltration totalitär kommt, wird der sowjetische Institutspsychiater mit Hitlerbärtchen ausgestattet. – „Durch und durch verlogene Propagandahetze' befand die Zeitschrift Filmkritik im Kalten-Kriegs-Jahr 1963.

Das Remake von 2004 landet einen Coup. Als Hort der großen Verschwörung wird nicht das ferne Moskau-Asien ausgemacht, sondern das heimische Zentrum, die amerikanische Wirtschaft, vertreten durch den Großkonzern 'Manchurian Global'. Die Big Bosse sichern sich die politische Macht am besten dadurch, dass sie sich vom propagandistisch indoktrinierten Volk eine Marionette als Vizepräsidenten wählen lassen. Und der Präsident? Wird gekillt. – Damit der Plan funktioniert, wird dem Vizekandidaten (Liev Schreiber) ein Chip unter die Haut (Rücken, links) implantiert, gar eine Sonde durch den Schädel gebohrt. Das Gehirn ist frisch gewaschen, der Intelligenzquotient entsprechend niedrig, aber die Marionette kann sagen, was ihr gesagt wird. Die Wörter kommen leicht verspätet, an der Mimik hapert es. Doch das, was als blaß und unbeholfen gedeutet werden kann, erweist sich für die Öffentlichkeit als sympathisch. In das leere Gesicht kann jeder hineinprojizieren, was er will. Da stört weder Ecke noch Kante. Und besser noch als in der Realität ist das Chipkästchen nicht auf dem Jackett (Rücken, links), sondern nur auf der bloßen Haut zu sehen. Es lässt sich herausbeißen. Ben, der alte Kumpel (Denzel Washington), tut es, aber nur um Beweise zu sichern.

Denzel hat voll die Paranoia. So müssen es alle sehen, und so sollen es alle sehen. Einer gegen alle: Psychiatrie, CIA, FBI, Manchurian Global, Politik. Wird Denzel es schaffen? Er braucht Hilfe, will er das große Komplott aufklären. Und die findet er. Der deutsche Freund ist es, der unabhängige und von der Industrie noch nicht gekaufte Wissenschaftler Bruno Ganz. Sein Behandlungsraum ähnelt einer Alchimistenküche, weist aber ein Elektroschockgerät auf. Sehr gothic. Old Europe, wird es denn konsultiert, weiß Rat. Ganz, dessen Antlitz schon wieder vor Güte schimmert, legt dem amerikanischen Patienten die Kathoden an die Schläfen, und dann wird die Leinwand weiß. „Es ist wie beim Computerabsturz', erläutert unser Faust. Alles, was die Implantate ins Gehirn hineingefüllt hatten, ist wieder draußen. Die Traumata sind dahin! Gehirnwäsche hilft gegen Gehirnwäsche.

„Der Manchurian Kandidat' ist spannend, aber nicht nur wegen der Frage Wird-er-es-schaffen. Interessanter ist der Wettlauf der Filmfiktion mit der Realität. Wird sie vom Film eingeholt, gar überholt? Ergebnis: Der Film wird leider nur zweiter. Die Wirklichkeit ist weiter. – Das Meiste erkennen wir wieder, das ist schnell abgehakt. Der Vorstandsvorsitzende von Manchurian Global wird in Washington Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Politik. Unser Vizekandidat begrüßt ihn mit den Worten: „Was machen die Geschäfte?'. – Und? Okay. Weiter. – Manchurian hat in Indonesien für Blutplasma weit überhöhte Preise genommen und das ohne Ausschreibung. – Wirtschaftlich gesehen: okay. – Manchurian oder wars Enron oder Halliburton unterschreibt Rüstungsverträge mit Schurkenstaaten. – Und? Saudiarabien ist noch keiner. – Manchurian baut private Kampfgruppen auf. Die Söldner sollen das Militär entlasten. – Wissen wir schon. Der Thatcher-Sohn war’s.

Manchurian entwickelt Hautimplantate: Mikrochips, die Informationen über und an den Träger erlauben. – Das ist human, sagt die Fa.: „Das kann Leben retten.' Dumm nur, dass jetzt 25 Wissenschaftler wegen Menschenexperimenten angeklagt sind. – Der Film, um der dominierenden Realität was draufzusetzen, wird plakativ. Der Chefexperimentator trägt statt des Hitlerbärtchens von vor vierzig Jahren das Haar seitlich gescheitelt. Damit die rechte Assoziation kommt, ist einem der humanen Opfer ein Hakenkreuz auf die Stirn gemalt. Sollen wir die Innovationen der Großtechnologie für faschistisch halten und uns lieber im Ganzschen Studierstübchen verkriechen? – Die Frage passt nicht ins Remake hinein. Für den Multi Manchurian spielen politische, gar parteipolitische Ideologien keine Rolle. „Wir haben eh den halben Senat in der Hand, sowohl Republikaner wie Demokraten.' Paritätische Parteispenden bringen Großkonzernen Segen. – Ist das neu?

Es greift zu kurz, sich dabei aufzuhalten, ob der infiltrierte Vizekandidat die Marionette Bush jr. ist oder die Marionette Kerry hätte sein können. Ob die dominierende Kandidatenmutter, die Senatorin Meryl Streep (sie imponiert in jeder Hinsicht), die künftige Präsidentin Hillary Clinton vorwegnimmt. All das zählt nicht. Wohl wahr, Regisseur Jonathan Demme („Das Schweigen der Lämmer') hat sich vor der Wahl für Kerry und gegen Bush erklärt („eine Gefahr für die Welt, die USA und für mich'). Der Film hält sich aber insoweit bedeckt. Und das wieder entspricht einer Realität, in der als Herrscher der elitären US-Oligarchie gesellschaftliche Netzwerke wie die Bonesmen ausgemacht werden. Das sind, wie die soziologische Forschung weiß, Absolventen der Yale University, zu denen nicht nur die komplette Bush-Sippe, sondern auch der Kandidat John Kerry zählt. (Großvater Bush soll die Knochen des Apachenhäuptlings Geronimo und die des Pancho Villa, mexikanischer Freiheitskämpfer, gestohlen haben.)

Dass das Old Boy Network der privilegierten Oberschicht-Clubs Verschwörungstheorien nicht nur provoziert, sondern bewahrheitet, wird heute gern diskutiert (Le Monde Diplomatique November 04). Nicht Film, sondern Geschichte: Das Massachusetts Institute of Technology in Boston pflegt traditionell eine enge Partnerschaft mit dem Pentagon und den Geheimdiensten. Henry A. Murray leitete eine Versuchsreihe des CIA, bei der mit Drogen experimentiert wurde. Führungsverhalten wird untersucht: ein Beitrag der neuen Sozialwissenschaften für den „Weltfrieden in einer neuen Weltgesellschaft mit Weltgesetzen, einer Weltpolizei und einer Weltregierung'. Hierauf können, so Murray, die Vereinigten Staaten Anspruch erheben. Es ist weiter nichts zu tun, als Unbewusstes neu zu programmieren und das Verhalten der Probanden zu steuern.

Das war in den sechziger Jahren. „Der Manchurian Kandidat' belehrt uns nicht über diese alten Forschungen. Er wendet die Forschungsergebnisse an. Was wir sehen, hinkt jedoch der Wirklichkeit hinterher. Mindestens die Weltpolizei ist längst in die Praxis umgesetzt. Wer mag da noch von Verschwörung reden, wenn es passiert ist? Von der führenden Rolle des Pentagons erfahren wir im Film jedoch so gut wie nichts. Das mag ein Erfolg der militärischen Beratung und Hilfe gewesen sein, die Regisseur Demme, wie uns die Produktion mitteilt, in Anspruch genommen hatte. Um so ratsamer und hilfreich wird es daher sein, sich vom Essay-Film „Das Netz – Unabomber/LSD/Internet' wissenschaftlich beraten zu lassen. In der Wirklichkeit ist es viel schlimmer, als Denzel Washington glaubt.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 12/2004

Nixon

(USA 1995, Regie: Oliver Stone)

Jedermann-Nixon im Medienhimmel
von Dietrich Kuhlbrodt

Dem konservativen Großregisseur Stone ist es gelungen, durch seinen Film Akzeptanz für Nixon herzustellen, und zwar zunächst medienmäßig für das Produkt „Nixon' und sodann rehabilitationsmäßig für den Staatsmann. Nun mag …

Dem konservativen Großregisseur Stone ist es gelungen, durch seinen Film Akzeptanz für Nixon herzustellen, und zwar zunächst medienmäßig für das Produkt „Nixon' und sodann rehabilitationsmäßig für den Staatsmann. Nun mag man zwar bemäkeln, dass die Ware stilistisch unausgewogen, d.h. allzu bunt verpackt sei. Das stört jedoch nur denjenigen, der es nicht gelernt hat, Plastikfolien aufzureißen und sofort wegzuschmeißen. Was bleibt, ist der schmeichelhafte Eindruck, dass Stone alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt hat, uns von der Güte seines Produkts zu überzeugen.

Wir erblicken: ein Königsdrama shakespearischen Ausmaßes. Richard »IV.« Nixon, der Watergatepräsident, geht schließlich buchstäblich in die Knie, Freund Kissinger tut es ihm nach, und dann schicken sie ein inbrünstiges Abschiedsgebet gen Himmel, dass kein Auge trocken bleibt. Aber das ist noch nicht das Ende, denn Stone erhebt Underdog Tricki Dickie in den Olymp, dort thront er jetzt neben Lincoln, vor dessen Statue er sich noch kurz zuvor unters murrende Studentenvolk gemischt hatte. Aber hatte er sich, bittschön, denn nicht verdient gemacht? Sich mit Maos China verständigt? Den Krieg in Vietnam beendigt? Den Ostblock gespalten? Aber die Studenten argumentieren nicht. Blanker Hass schlägt ihm entgegen. Wo kommt er nur her, all dieser Hass? fragen sich Nixon und sein Regisseur.

Eine intakte, professionell ausgeleuchtete Bilderbuchwelt, dieses Weiße Haus, in welchem Nixon lebt, wütet, arbeitet, sinniert, herrscht und intrigiert, wie weiland J.R. auf der Dallas-Farm. Larry Hagman hat es dort auch fies getrieben, aber geben Sie ruhig zu, dass Sie an ihm ihre klammheimliche Freude hatten, weil es der wahre amerikanische Way of Life war. Yessir. Es erscheint daher ziemlich logisch, dass in „Nixon' neben Nixon Filmbösewicht Larry Hagman himself auftritt, mit weißem Texashut, und wer zugab, dass er den einen liebt, muss nun auch den anderen lieben. Genauer gesagt, kommt Schwerenöter Nixon, der Whiskytrinker und Tablettenschlucker, also einer wie du & ich, in den Serien- und Medienhimmel. Auch hüpft der Film, wie wir es von den Serien gewohnt sind, von der einen in die andere Handlung und wieder zurück, und die vielen redenden Köpfe geben die zu erwartenden Auskünfte übers Ehe- und Familienleben. Eher störend brechen in diese heile Medienwelt dokumentarische Aufnahmen vom Schlagstockeinsatz daheim und dem Kampfinferno da draußen herein, aber das ist so kurz und unwahrscheinlich wie die Illustration zu den News der kommerziellen Sender vor dem nachfolgenden Spielfilm.

Sir Anthony Hopkins spielt mitnichten den Nixon, sondern sich selbst, wie er Nixon spielt – so beifallheischend und -würdig wie in der xten Vorstellung von Richard IV. – Die Computereinblendung des Hopkins-Gesichts in dokumentarische Staatsbesuchaufnahmen ist ebenso theaterhaft-dekorativ wie die zuverlässig unwitzige Requisite, nichts stört den Ablauf des Weihespiels, das Jedermann-Nixon in den Himmel befördert.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 03/1996

Eine Familie

(DK 2010, Regie: Pernille Fischer Christensen)

Ein Atemzug Unterschied
von Wolfgang Nierlin

Eine dokumentarische Bilderfolge aus historischen Fotografien und Filmen fingiert als kurzer Einspieler die Chronik einer Familie über mehrere Generationen hinweg: Die dänische Regisseurin Pernille Fischer Christensen beginnt ihren bewegenden Film …

Eine dokumentarische Bilderfolge aus historischen Fotografien und Filmen fingiert als kurzer Einspieler die Chronik einer Familie über mehrere Generationen hinweg: Die dänische Regisseurin Pernille Fischer Christensen beginnt ihren bewegenden Film „Eine Familie“ mit einer mythischen Erzählung über den Pioniergeist und Fleiß der Familie Rheinwald, einer Bäckerfamilie, die mit ihren qualitativ hochwertigen Backwaren zum „königlichen Hoflieferanten“ aufsteigt. Das Gewicht der Tradition und das Wissen über die hohe Backkunst sind in dieser schwarzweißen Bildergeschichte aufgespeichert und vermitteln ein Gefühl für familiäre Pflichten, aber auch für Qualitätsmaßstäbe wider den Zeitgeist. Im Gespräch verweist die sensible Filmemacherin noch auf eine weitere Funktion dieses „Familienalbums“: Es zeige als kollektives Gedächtnis, was Menschen teilen und miteinander verbindet.

Insofern entwickelt sie zunächst die Rollen, die ihre Figuren in der Familie zwischen Pflichtgefühl und individuellem Freiheitsdrang spielen. Schnell, direkt und mit intimer Nähe erzählt Christensen wie die Galeristin Ditte (Lene Maria Christensen), die älteste Tochter der Rheinwalds, in eine tragisch verknüpfte Abfolge von Entscheidungsdilemmata gerät: Aus New York erreicht sie ein verlockendes Job-Angebot, das mit einer regen Reisetätigkeit verbunden ist, während sie gleichzeitig erfährt, dass sie von ihrem Künstler-Freund Peter (Pilou Asbæk) schwanger ist. Kurz darauf erleidet ihr Vater Rikard (Jesper Christensen), ein kämpferischer Patriarch, der seine Krebserkrankung überwunden zu haben glaubt, einen schweren Rückfall und stemmt sich mit nachlassenden Kräften gegen sein Schicksal. Dabei erwartet er von seiner Lieblingstochter, dass diese den Familienbetrieb weiterführt.

Lebensnah und echt entwickelt Pernille Fischer Christensen ein komplexes Geflecht aus Entscheidungskonflikten. In Abhängigkeit von wechselnden Umständen und Zufällen, von unumkehrbaren Entscheidungen und einem unabänderlichen Schicksal versucht die Protagonistin zwischen Selbstverwirklichungsträumen und familiärem Zusammenhalt zu vermitteln, deren Wert sie in der Begleitung ihres qualvoll sterbenden Vaters neu erfährt. Gerade im Angesicht des Leidens erneuert und intensiviert sich für sie auch das Leben. „Das Thema Tod“, sagt Christensen, ist deshalb auch „nicht das Wichtigste in dem Film“, sondern „die Angst davor, etwas zu verlieren.“ Nur „ein Atemzug Unterschied“ trennten das „Da-Sein“ vom „Nicht-mehr-Sein“, das als „magischer Ort“ dieses Übertritts sich dem Verstehen entziehe. Die Antworten auf die Frage nach dem Umgang mit der Angst gebe deshalb, so die Regisseurin, das Leben selbst.

(Die Zitate stammen aus einem Publikumsgespräch, das Pernille Fischer Christensen anlässlich einer Preview ihres Films am 27.2.11 im Heidelberger Gloria-Kino führte.)

Der Adler der Neunten Legion

(USA 2010, Regie: Kevin MacDonald)

Mancher gibt sich viele Müh’ / mit dem lieben Federvieh
von Louis Vazquez

Am Anfang des Films steht ein von Legenden umrankter Fetisch: der goldene Adler, das Wappen der Neunten Legion. Er ging einst im Feindesland Nordbritannien verloren und mit ihm eine ganze …

Am Anfang des Films steht ein von Legenden umrankter Fetisch: der goldene Adler, das Wappen der Neunten Legion. Er ging einst im Feindesland Nordbritannien verloren und mit ihm eine ganze römische Armee von fünftausend Mann. Kaiser Hadrian ließ daraufhin den nach ihm benannten Schutzwall errichten, der die Grenze des Reichs zur unzivilisierten Welt markierte. Für den Römer Marcus Aquila – Lateinkenner ahnen bereits eine Verbindung zum verschwundenen Vogel – fangen die Probleme erst an, denn er ist der Sohn des damals unterlegenen Feldherren. Er verlor nicht nur seinen Vater, sondern leidet zudem stark unter der Schmach dieser Niederlage. Und weil ein nobler Mann sich und der Welt etwas zu beweisen hat, wird das Wiedererlangen des Symbols (und der Familienehre) zu seines Lebens größtem Traum. So weit, so schlicht.

Doch das erste Kommando des aufstrebenden Kriegers steht unter einem schlechten Stern, und diese frühe Kehrtwende des Films überrascht positiv: Aquila wird schwer verletzt und muss den Militärdienst quittieren – in Ehren zwar, aber einen richtigen Soldaten kann das nicht zufrieden stellen. Die entsprechende Kampfszene bemüht sich um Realismus und ist demzufolge verwackelt, aber frei von übertriebenen Spezialeffekten und trotz des gering dosierten Blutgehalts angemessen unangenehm. Sie erinnert ein wenig an die HBO-Serie „Rome“, der es in einigen Momenten bereits gelang, eine Ahnung vom jämmerlichen Dasein des gemeinen Legionärs zu vermitteln. Etwas befremdlich ist dagegen die Inszenierung der Feinde als blutrünstige, wilde Horde, die einmal mehr von Peter Jacksons Orks beeinflusst zu sein scheint – aber gut, es sind nun mal Barbaren, und wir sind ja auf der Seite der Römer und der Zivilisation und so …

Nachdem Aquila gezwungenermaßen zum Privatmann geworden ist, benötigt er für das Erreichen seines Ziels die Hilfe eines jungen Sklaven namens Esca, dem er das Leben rettet und der ihm seines folglich schuldet. Esca kommt just aus den feindlichen Gebieten jenseits des Walls. Er soll Aquila mit seiner Sprach- und Ortskundigkeit zur Seite stehen. Doch kann der Römer ihm trauen? Es geht viel um Ehre, Treue und die Beschwörung solcher Empfindungen, denn so funktioniert dieses Genre. Aber man nimmt auch quälende Momente in Kauf, weil man dem Film nach seiner überraschenden Kehrtwende eine durchdachte moralische Fabel zutraut, zumal Action kaum eine Rolle spielt und „Der Adler der Neunten Legion“ sich eher auf das dramatische Potential seiner Geschichte stützt. Marcus Aquila ist kein makelloser Sympathieträger: Wenn er nicht entdeckt werden will, tötet er auch mal einen flüchtenden Feind, der noch ein halbes Kind ist. Esca kann nur entsetzt zusehen, da er ja durch seinen Schwur gebunden ist – wodurch sich genregemäß wohl Charakterstärke zeigen soll. Doch bald ergibt es sich, dass das Machtverhältnis zwischen Herr und Sklave sich umkehrt.

Beziehungen können eine trügerische Angelegenheit mit gruseligem Ausgang sein, und dies trifft leider auch auf Beziehungen zwischen Rezipient und Film zu, denn obwohl sich zunächst etwas Außergewöhnliches und Besonderes anzukündigen scheint, enttäuscht „Der Adler der Neunten Legion“ letztlich auf ganzer Linie. Die unsichere Beziehung zwischen Aquila und Esca gipfelt in einer Szene, in der ein großer Vertrauensbeweis erforderlich ist. Anstatt den Film nun dramatisch aufzulösen, wird plötzlich ein unfassbar hanebüchen motivierter Abschlusskampf übers Knie gebrochen, dessen Teilnehmer quasi aus dem Nichts auftauchen: Es sind die Deserteure und versprengten Reste der Neunten Legion, die der Sklave während der Reise heimlich und ohne das Wissen seines Herrn (oder des Zuschauers) gefunden und wiedervereint haben will. Die Läuterungsbeteuerungen der einst fahnenflüchtigen Männer gegenüber dem Sohn ihres früheren Anführers sind so schlecht geschrieben, dass sie wirklich große Schmerzen verursachen: „Als ich vor deinem Vater wegrannte, bin ich vor mir selbst weggerannt.“ Aber nun wird alles wieder gut, man stirbt schließlich aufrecht und stolz.

Diesem so kruden wie frustrierenden Finale folgt noch ein Dialog wie aus einem schlechten Buddy-Movie, der nahe legt, dass die beiden Helden, Römer und befreiter Sklave, nun die Tür zu neuen Abenteuern aufstoßen. Man fragt sich, an welcher Stelle die Produktion so schief gehen konnte, dass dieser abrupte Tonwechsel niemandem aufgefallen ist und ob die eklatanten Schwächen des Drehbuchs vielleicht mit der Jugendbuchvorlage zu tun haben. Aber wie auch immer: Ganz zum Schluss, und wirklich erst dann, entpuppt sich „Der Adler der Neunten Legion“ als Gummihuhn.

The Tree

(F / AUS / D 2010, Regie: Julie Bertucelli)

Verwurzeltes Leben
von Wolfgang Nierlin

Wenn in der Morgendämmerung die Nebel über der weiten Landschaft liegen und die Blicke sich am fernen Horizont verlieren, vermitteln die Bilder eine Ahnung von Unendlichkeit. Die überwältigende Schönheit der …

Wenn in der Morgendämmerung die Nebel über der weiten Landschaft liegen und die Blicke sich am fernen Horizont verlieren, vermitteln die Bilder eine Ahnung von Unendlichkeit. Die überwältigende Schönheit der Natur, die Nähe zu ihr und ihre Durchdringung des Lebens grundieren und erfüllen Julie Bertucellis in Australien entstandenen Film „The Tree“. Die sensible, durchlässige Membran zwischen Mensch und Natur markiert neben dem möglichen Einklang aber auch eine Distanz, deren zerstörerische Seite immer präsent bleibt und deren Gewalt eine latente Unsicherheit erzeugt. Eine langanhaltende Trockenheit, ein gefährlich wucherndes Wurzelwerk und ein wüster Zyklon erzwingen von den Protagonisten in Bertucellis Film die Bereitschaft zu Veränderung und Mobilität. Verwoben und synchronisiert werden diese äußeren Bedingungen mit dem schwierigen Prozess eines inneren Abschiednehmens.

So beginnt „The Tree“ mit einem Verlust, der die Grenze zwischen Bewegung und Stillstand, Ende und Aufbruch genau beschreibt. Als der Familienvater Peter O’Neil (Aden Young), der bezeichnenderweise Fertighäuser transportiert, plötzlich während der Heimfahrt einem Herzinfarkt erliegt, rollt er mit seinem Wagen gerade auf das Familiengrundstück und kommt fast sanft an jenem symbolträchtigen Baum zu stehen, der dem Film seinen Titel gibt. Fortan glaubt die 8-jährige Simone (Morgana Davies), dass die Seele des verstorbenen Vaters in dem gewaltigen Feigenbaum weiterlebe. Immer wieder klettert sie in sein imposant verzweigtes Geäst, um Schutz zu suchen, auf seine geräuschvolle „Stimme“ zu horchen und mit ihm zu sprechen. Tatsächlich inszeniert Julie Bertucelli diesen Baum als ebenso mystisches wie anthropomorphes Wesen, dessen Zeitlosigkeit in die Ewigkeit hineinragt.

Während Simone im Austausch mit dem Baum einen gewissen Trost und innere Stärke erfährt, versinkt ihre Mutter Dawn (Charlotte Gainsbourg) unter dem Schock des plötzlichen Verlusts in Trauer, Schmerz und Passivität. Die Abwesenheit des geliebten Ehemanns und Familienvaters durchdringt mit einer unheimlichen Leere förmlich die Zimmer des Hauses. Dawn wirkt hilflos, ausgesetzt und mit den vier Kindern überfordert. Charlie, ihr jüngster Sohn, hört auf zu sprechen, während ihr Ältester Tim erste Schritte in die Selbständigkeit unternimmt. Als sich Dawn schließlich zaghaft in den Klempner George Elrick (Marton Csokas) verliebt, reagiert vor allem Simone mit offenem Widerstand. Noch ist die Zeit nicht reif für einen Aufbruch; noch treibt der Baum seine Wurzeln, als wären es verzweigte Erinnerungen, die das Leben und die Gegenwart der Familie umklammern.

Im langwierigen Prozess der Trauerarbeit, den Bertucelli in ihrem nachdenklichen Familiendrama einfühlsam schildert, wird erst die übermächtige Natur die Wurzeln lösen können. Deren stoische Stärke bannt die Figuren und befreit sie zugleich. In sinnlichen Bildern wird die Natur so zum Spiegel von Gefühlszuständen und eröffnet in überwältigenden Landschaftspanoramen einen mystischen Resonanzraum, der die Zeit dehnt und verdichtet.

Julie Bertucelli, die sich schon in ihrem Debütfilm „Seit Otar fort ist“ mit Tod und Verlust beschäftigt hat, beschreibt sehr behutsam die Trauer als einen andauernden Zustand, der alle Einflüsse und Lebensäußerungen absorbiert; mit deutlicher, aber unaufdringlicher Symbolik erscheint sie als ein Verharren, das mögliche Ziele unterdrückt und die Hoffnung nur sehr langsam aus der depressiven Überwältigung entlässt.

Lärm & Wut

(FR 1988, Regie: Jean-Claude Brisseau)

Letzte Ausfahrt Bidonville
von Michael Schleeh

„Lärm & Wut' beginnt mit einem Westernzitat: Es kommt ein Neuer in die Stadt. Aber in diesem Fall ist es kein Revolverheld, sondern der gerade mal dreizehnjährige Bruno (Vincent Gasperitsch) …

„Lärm & Wut' beginnt mit einem Westernzitat: Es kommt ein Neuer in die Stadt. Aber in diesem Fall ist es kein Revolverheld, sondern der gerade mal dreizehnjährige Bruno (Vincent Gasperitsch) – mit einem Vogelkäfig in der Hand. Gerade aus dem Jugendheim entlassen, zieht er zu seiner Mutter in eine der Pariser Vorstädte, in der sich die Wohnblocks auf einem vorgelagerten Hügel ghettoisierend zusammendrängen. An der Haltestelle wird er nicht abgeholt, er muss alleine zurechtkommen. Im Treppenhaus macht er die Bekanntschaft von Jean-Roger (Francois Négret), des jüngsten Sprosses der Familie Roffi, der die Fußmatten vor den Eingangstüren der Sozialwohnungen abfackelt. Ein Tunichtgut, ein im wahrsten Sinne asozialer Mofarocker, der auch vor Keilerei, Diebstahl und Vergewaltigung nicht zurückschreckt. Und der dann Bruno seine Freundschaft aufdrängt. Die Zustände also sind chaotisch: Jean-Rogers Vater (Bruno Cremer, ganz groß!) zum Beispiel nutzt die heimische Wohnung als Schießübungsplatz und feuert mit dem Repetiergewehr den Flur entlang auf selbstgemalte Indianersilhouetten. Schwarzhumorig und grotesk ist das; unnötig jedoch, dass in Jean-Rogers Zimmer ein Rambo-Plakat an der Wand hängen muss und die Jungs manchmal einen Porno zusammen schauen. Da geht Brisseau leider unwürdige Abkürzungen.
Als Bruno schließlich in der Wohnung ankommt, ist die Mutter abwesend. Im weiteren Film, man ahnt es schon, werden der einzige Kontakt zum Sohn die handgeschriebenen Zettel sein, die sie ihm ans Korkbrett pinnt. Sie wird den ganzen Film über nicht auftauchen. Der Junge ist auf sich allein gestellt.
In der Schule hat der sensible Bruno Schwierigkeiten; doch seine attraktive Französischlehrerin erkennt sein Potential und fördert ihn. Hier findet er einen der wenigen Orte der Geborgenheit und vor allem auch: der Selbstbestätigung. Von ihr erfährt er zum ersten Mal, dass er kein Nichtsnutz ist, sondern ein liebenswerter Mensch. Man muss selbstverständlich nicht lange darauf warten, dass solche Bevorzugung die Eifersucht Jean-Rogers herausfordert, welcher ebenfalls in dieser Klasse sitzt. Er kann es nicht ertragen, Brunos Zuneigung mit einem anderen Menschen, und dann noch einem Lehrer, zu teilen – zumal er selbst als permanenter Störenfried und sexuell übergriffiger Rabauke von der Schule zu fliegen droht.
Als schließlich auch noch Jean-Rogers großer Bruder aus dem Strudel von Gewalt und Kriminalität auszubrechen versucht und einen Job in der Druckerei einer Zeitung findet, spitzt sich die Situation zu: die Familie Roffi kämpft um den ältesten Sohn, auf dass aus diesem alles nur kein ehrenwerter Bürger, kein „Sklave der Gesellschaft“, werde. Im stetig eskalierenden Geschehen, in das alle Figuren hineingezogen werden, ist es nur eine Frage der Zeit, bis es zu einem schlimmen Finale kommen muss.

Dass das Thema „Gewalt in den Vorstädten“ auch heute, 22 Jahre nach Brisseaus filmischem Kommentar und Mathieu Kassovitz‘ sehr erfolgreichem „La Haine' (1995), noch virulent ist, kann man nicht zuletzt an den jüngeren Ausschreitungen in Paris (2005, 2007, 2009) wieder einmal sehen. Auch ein aktueller Film wie „Harry Brown' bemüht dieses Setting als Schauplatz für seine Rachephantasie und stellt den gesetzlosen (Klein-)Kriminellen das gesellschaftliche Unverständnis in Form seines Protagonisten (Michael Caine) gegenüber. Dieser Film allerdings geht einen anderen Weg: Harry nimmt das Heft selbst in die Hand und verkörpert derart den fleischgewordenen, aber stets unterdrückten Rachegedanken des konservativen Bürgertums, und aktualisiert damit den nicht gerade neuen moralischen Zwiespalt, der sich im Vigilantentopos des Selbstjustizfilms manifestiert – und der bekanntlich bereits in Don Siegels „Dirty Harry' (1971) mitsamt seinen Sequels ausgiebig formuliert wurde.

Die Figur des Rächers fehlt in Brisseaus Film. Hier geht es um die alltägliche Gewalt in den Wohnblocks der Banlieue, der Lebensrealität der sozial Benachteiligten und an den (Stadt-)Rand Gedrängten; um die Gewalt der Jugendbanden und um die Auswirkungen von verwahrlosten Familienstrukturen, exemplarisch festgemacht am Schicksal Brunos und Jean-Rogers. Brisseau hat, laut Selbstaussage, in diesem Film seine eigenen Erfahrungen als Lehrer an einer Realschule eines sozialen Brennpunkts verarbeitet. Dass aus „Lärm & Wut' kein didaktisch-moralinsaures Pädagogenlehrstück, sondern ein ästhetisch bisweilen herausfordernder und formal interessanter Spielfilm geworden ist, darf man dem Regisseur hoch anrechnen.

Moral ist aber auch nicht nötig. Denn die Personen desavouieren und demontieren sich selbst. Der Film ist souverän: er zeigt, er erklärt nicht. Jenseits des realistischen Ansatzes, der sich auch dem Humor nicht verschließt (welcher freilich ab und an im Halse stecken bleibt), sind besonders Brunos Visionen bemerkenswert. Tableauartig stilisierte Szenen veranschaulichen die jugendlichen Sehnsüchte Brunos, stark symbolhaft, enigmatisch. Da liegt beispielsweise eine erotisch inszenierte, gütig blickende und halbnackte Frau auf dem Bett und erwartet ihn mit offenen Armen (und Beinen). Diese durchaus problematisch kitschigen und emblematisch bedeutungsschwangeren Phantasiewelten fügen sich aber kontextuell gut in den Film ein, visualisieren sie doch die kurzen Momente eines Bedürfnisses der Weltflucht auf der Suche nach Zuneigung. Sie werden ästhetisch lediglich durch eine Veränderung in der Beleuchtung als irreal markiert. Somit besitzen sie dank ihres unmittelbaren Erscheinens sowohl eine Nähe zur Fiktion wie auch zur Realität: für Bruno sind diese Wahrnehmungen eindeutig reale Ereignisse.

Dass der Junge zusehends die Bodenhaftung verliert und sich immer stärker auf einen Abgrund hin bewegt, wird im Film mehrfach auch allegorisch thematisiert: in der Schule stellt Bruno der Lehrerin die Frage, warum die Menschen auf der Südhalbkugel nicht von der Erde herunterfallen. Daraufhin erklärt sie ihm die Phänomene der Erdanziehung und der Schwerelosigkeit. Später im Film wird dann klar, dass das „Herunterfallen von der Welt“ für ihn nichts Bedrohliches symbolisiert, sondern eine Befreiung von der irdischen Misere seines Lebens – ein Fortkommen hin zu den Sternen. Aber da ist der Vogel schon längst tot und alle Hoffnung fern. Für Bruno bedeutet das: Last Exit Bidonville.

Faster

(USA 2010, Regie: George Tillman Jr.)

Old School
von Harald Steinwender

Im Werk von John Ford gab es einen heimlichen Star, den das große Publikum nie richtig wahrnahm. Der 1914 geborene Woody Strode war Profi-Football-Spieler und Wrestler, bevor er Ende der …

Im Werk von John Ford gab es einen heimlichen Star, den das große Publikum nie richtig wahrnahm. Der 1914 geborene Woody Strode war Profi-Football-Spieler und Wrestler, bevor er Ende der 30er, Anfang der 40er Jahre zum Film kam und zunächst in Nebenrollen auftrat. Für Ford, mit dem er eng befreundet war, spielte er in den 60er Jahren den aufrechten 'Sergeant Rutledge' („Mit einem Fuß in der Hölle'; 1960), den muskulösen Komantschen Stone Calf in „Two Rode Together' („Zwei ritten zusammen'; 1961) und John Waynes loyalen Assistenten Pompey in „The Man Who Shot Liberty Valance' („Der Mann, der Liberty Valance erschoss'; 1962). Eine eindrucksvolle Nebenrolle hatte Strode in „Spartacus' (1960), in dem er den äthiopischen Gladiator Draba spielte. Danach verschlug es den 1,93 Meter großen Athleten für einige Filme nach Europa, wo er in der Exposition von Sergio Leones „C’era una volta il West' („Spiel mir das Lied vom Tod'; 1968) seinen ersten wirklich großen Auftritt erhielt. In den folgenden Jahren wurde Strode zur Ikone vordergründig harter Männlichkeit, hinter deren Fassade doch immer die Sensibilität des Außenseiters zwischen den Kulturen durchschien. Der Sohn afroindianischer Eltern mit dem markanten, kahlgeschorenen Schädel und der herkulischen Physis trat in B-Pictures von Fernando di Leo auf, etwa in „La Mala Ordina' („Der Mafia-Boss – Sie töten wie Schakale'; 1972), er spielte einen an Lumumba angelehnten Politiker in Valerio Zurlinis „Seduto alla sua destra' („Töten war ihr Job'; 1968), der in den USA als „Black Jesus' verliehen wurde. Eine seiner letzten Rollen hatte er als 80jähriger in Mario Van Peebles‘ postmodernem Western „Posse' (1993), in dem er der MTV-Generation eine Geschichtslektion über die vergessenen afroamerikanischen Cowboys erteilen durfte.

Dwayne 'The Rock' Johnson ähnelt Woody Strode in vieler Weise: in Herkunft, Physiognomie, und Werdegang. Johnson ist afrokanadisch-samoanischer Abstammung, wie Strode ein 1,93-Meter-Hüne, ehemaliger Footballer und Profiwrestler und seit etwas mehr als zehn Jahren auch im Filmgeschäft aktiv, vornehmlich mit Rollen in Actionstoffen wie „Walking Tall' (2004; Kevin Bray) und „Doom' (2005; Andrzej Bartkowiak). Sein jüngster Film, „Faster' von George Tillman Jr., ist ein düsterer Thriller, der im gleißenden Sonnenschein spielt und wie ein Western daherkommt. Für den ehemaligen Wrestler Johnson leistet er in etwa das, was die Italiener mit Strode in den 1960er und 70er Jahren taten: Er inszeniert 'The Rock' nicht einfach als Naturgewalt, sondern als Mythos; als eine Ikone; als jemanden, der nicht von dieser Welt ist und der nicht nur 'faster', sondern auch 'pure' ist, wie es einmal über ihn heißt. Dwayne Johnson wirkt in diesem Film mitunter so, als ob Woody Strode direkt aus der Exposition von „Spiel mir das Lied vom Tod' in einen gegenwärtigen Thriller transponiert worden wäre.

Tillman reduziert den Plot auf das Minimum einer mythischen Erzählung: Ein Mann kehrt aus dem Gefängnis, dem prädestinierten Nicht-Ort, zurück in die normale Welt. Er verfolgt stur ein einziges Ziel: Die Mörder seines Bruders zu töten, einem nach dem anderen eine Kugel in den Kopf zu jagen. Dabei streut der Regisseur, der bislang vor allem mit Mainstreamfilmen wie „Notorious' („Notorious B.I.G.'; 2009) und „Men of Honor' (2000) aufgefallen ist, einige Andeutungen ein, dass sein Protagonist womöglich nicht von dieser Welt ist; ein Wiedergänger sein könnte, wie der von Lee Marvin gespielte Walker in John Boormans „Point Blank' (1967). Diesen rächenden Geist hält kein Gegner, keine Prügel, nicht einmal Kugeln auf. Als er sein düsteres Werk vollbracht hat, zieht er weiter, vermutlich zurück in den Hades. Der Film gönnt Johnsons Figur dazu – ganz ironiefrei – eine letzte Fahrt in seinem schwarzen Chevrolet Chevelle in den Sonnenuntergang.

„Faster' ist ein fast paradigmatisch postmoderner Film (oder 'postklassisch', je nachdem, welchen Begriff man bevorzugt). Sein Held ist eine Art leeres Zentrum; ein lebender Toter, der einzig von seinem Trauma angetrieben wird und der mit schlafwandlerischer Präzision und einer gehörigen Portion Wut durch eine Welt stapft, die aus Versatzstücken anderer Filme und losgelöster Zeichen der Popkultur besteht. Die Protagonisten tragen wie in Walter Hills „Driver' (1978) nicht einmal mehr Namen, sondern werden meist nach ihrer Funktion benannt: 'Driver' (Johnson), 'Cop' (Billy Bob Thornton), 'Killer' (Oliver Jackson-Cohen), 'Warden' (Tom Berenger) usw. Die wichtigsten von ihnen werden in freeze frames vorgestellt, die mit Textinserts versehen sind. Sie benennen ihre Funktion für den Plot, so wie schon Leone in „Il Buono, Il Brutto, Il Cattivo' („Zwei glorreiche Halunken'; 1966) seinen 'Guten', 'Bösen' und 'Hässlichen' vorstellte. Der Handyklingelton des 'Killers' klingt entsprechend vertraut: Es ist die Titelmelodie von Leones Western. Die Nebenfiguren von 'Faster' sind jedoch sorgfältig ausgearbeitet, geradezu überorchestriert und durch die Bank mit fähigen Darstellern besetzt. Dadurch streicht der Film die Leere der von Johnson verkörperten Hauptfigur nur umso deutlicher heraus. Er evoziert so zugleich die besten der italienisch-europäischen Western, die ihre Nebenhandlungsstränge und ihr hyperbolisch-groteskes Personal mit einer unbändigen Lust am Barock-Überladenen und am ornamentalen Exzess behandeln, während sie zugleich ihren Hauptprotagonisten auf den reinen Mythos reduzieren.

„Faster' hat als Film gewiss seine Fehler. Die Plottwists am Ende mögen überflüssig wirken, einige der Nebenhandlungsstränge erscheinen arg forciert. Aber andererseits ist es gerade diese Unkalkulierbarkeit, die immer wieder überrascht und die neben dem Score von Clint Mansell, den Popsongs von Kenny Rogers bis Iggy Pop, den mitunter abseitigen filmhistorischen Anspielungen und der gelungenen Scope-Fotografie von Michael Grady begeistert. „Faster' ist ein lupenreines B-Picture, ein Film der Sorte, die heute selten geworden ist, seit die großen Hollywood-Produktionen wie teure B-Pictures daherkommen und klassische Grindhouse-Stoffe in Filmen wie „Drive Angry 3D' aus stumpfem Kalkül auf den Massengeschmack hin recycelt werden. „Faster' hingegen ist so zeitlos wie ein Noir aus den 40er/50er Jahren und zugleich so erfrischend wie die wilden europäischen Western und Thriller der 60er/70er Jahre. Dieses Erbe weist der Film ganz selbstbewusst aus, wenn er seine Exposition mit Guido und Maurizio DeAngelis’ Titelstück aus Enzo G. Castellaris Action-Klassiker „Il cittadino si ribella' („Ein Mann schlägt zurück' / „Street Law'; 1975) unterlegt. Castellari hatte Woody Strode übrigens 1976 eine seiner schönsten Spätrollen ermöglicht: als ehemaliger Sklave, der zusammen mit einem von Franco Nero gespielten Halbblut mit Pfeil und Bogen gegen ein Trio rassistischer Brüder antritt.

Sucker Punch

(USA 2011, Regie: Zack Snyder)

Enter the posthistoire …
von Harald Steinwender

Im Fernsehen gibt es keine Videoclips mehr. Bevor MTV zum Bezahlsender umfunktioniert wurde, liefen selbst hier nur noch „Jackass“ und „South Park“, debile Datingshows und „Pimp-my“-Was-auch-immer-Formate in Dauerschleife. Angesichts dieser …

Im Fernsehen gibt es keine Videoclips mehr. Bevor MTV zum Bezahlsender umfunktioniert wurde, liefen selbst hier nur noch „Jackass“ und „South Park“, debile Datingshows und „Pimp-my“-Was-auch-immer-Formate in Dauerschleife. Angesichts dieser offensichtlichen Lücke erbarmt sich manchmal das Kino mit Filmen wie „Sucker Punch“. In vieler Weise wirkt Zack Snyders Film wie eine Zeitreise zurück in die 1980er Jahre, als Regisseure wie Adrian Lyne mit Filmen wie „Flashdance“ (1983) Musikvideos im Spielfilmformat produzierten – oder wahlweise Videoclips auf Spielfilmlänge aneinander reihten. Snyder ist nur konsequent, wenn er „Sucker Punch“ neben einem Nichts an Alibirahmenhandlung als reine Nummernrevue strukturiert, deren an Videospiele angelehnte Einzelclips als Tagtraum der Heldin „Baby Doll“ (Emily Browning) ausgegeben werden. Baby Doll sitzt in einer vermodernden Irrenanstalt und wartet auf einen korrupten Arzt (John Hamm aus „Mad Men“!), der sie in ein paar Tagen mit einem Eispickel lobotomisieren wird. Um sich ein wenig von dieser düsteren Zukunft abzulenken, träumt sich Baby Doll die Irrenanstalt um zu einer Art Cabaret-Bordell voller Kindfrauen mit ulkigen Namen wie „Sweet Pea“ (Emily Browning), „Rocket“ (Abbie Cornish) oder „Blondie“ (Vanessa Hudgens). Dann tanzt sie sich zu 80er-Jahre-Rock und Punksongs frei. Soweit, so blöde.

Leider nimmt Snyder die Trash-Fantasie seines Films keinen Deut ernst. Vielmehr begeht er den Kardinalfehler, das Ganze als leidenschaftsloses, weitgehend blut- und schmerzfrei auf den Teenagermarkt ausgerichtetes Kommerzprodukt zu inszenieren. Was schade ist, da der Regisseur mit seinem ausgezeichneten „Dawn of the Dead“-Remake von 2004 und der ambitionierten „Watchmen“-Adaption von 2009 – gewissermaßen der „Moby Dick“ der Comic-Verfilmungen – durchaus Talent zeigte. Andererseits ist Snyder auch der Regisseur, der Frank Millers „300“ (2006) als humor- und ironiefreien Fascho-Pop auf die Leinwand brachte. Irgendwie hätte man trotzdem mehr erwartet.

„Sucker Punch“ ist lediglich eine Ansammlung abgegriffener Stilismen, die heute im postklassischen Kino en vogue sind: hohe Schnittfrequenz, extreme Auf- und Untersichten, mal Zeitlupe, dann wieder Beschleunigung der Filmbilder, eine Tonspur, auf der ständig das Sounddesign rumpelt und die von Popsongs dominiert wird – und viele, viele Großaufnahmen der Hauptdarstellerinnen, die uns aus riesigen Augen anstarren, die von Eyeliner, Mascara und schneeschaufelgroßen künstlichen Wimpern verunstaltet sind. Die Bilder sind fast gänzlich von Farbe entsättigt oder monochrom eingefärbt – mal rostrot, dann blaugrau oder grünstichig –, die Protagonistinnen, bestenfalls Typen, keinesfalls Charaktere, tragen Lack und Leder, Fetisch-Kleidung à la Gothic-Lolita, Manga-Chic und Punk-Göre. Zu starken Zeichen kommt großes leeres Pathos, künstliche Fantasiewelten und bombastische Digitaleffekte, alles so gefällig wie gehaltlos. Überhaupt die Bilder: tausendmal woanders gesehen, etwa in David Finchers „Fight Club“ (1999), bei Terry Gilliam, dessen monströse Ritterfiguren aus „Brazil“ (1985) und „The Fisher King“ (1991) uns hier wieder begegnen, natürlich auch der Surrealismus light der „A Nightmare on Elm Street“-Serie (1984ff.). Die einzelnen Episoden funktionieren wie setpieces, die Perlen gleich auf eine Schnur gereiht werden. Zusammengeleimt wird das Ganze durch die pseudophilosophischen Kommentare eines von Scott Glenn gespielten „Wise Man“, die selbst für die Teenager in Publikum ob ihrer Dummheit kaum zu ertragen sein dürften. Und wenn Songs von Annie Lennox, den Pixies, Queen und Iggy Pop erklingen, dann nur als Remixes, Medleys und in Cover-Versionen. Bezeichnenderweise sieht nicht einmal die Heldin wie ein Original, sondern verdächtig nach Paris Hilton aus.

Die einzige Konstante von Snyders Film ist der Widerspruch: Die Bilder von „Sucker Punch“ sind zugleich dreckstarrend und glamourös, vulgär und spießig, geschichtsvergessen und historisierend, die Handlung wird sexualisiert und gleichzeitig puritanisiert. Der Mann mit dem Eispickel ist zugleich in der Tagtraumhandlung der „High Roller“, ein Freier, der die Jungfräulichkeit der Heldin rauben will. Alles also ein Krieg, um die Jungfräulichkeit der Heldin zu verteidigen, der wir paradoxerweise in aus Anime und Manga vertrauten „panty shots“ immer wieder unter den Rock starren dürfen. Der Handlungsort aber bleibt eine posthistoire frei flottierender Zeichen und hemmungslosen Bildermülls. Wenn die Kindfrauen in ihren Fetischklamotten in eine Kriegsarena stürmen und ein plüschiges Stahlbad genießen, dann stürzen alle Bilder und Zeiten ineinander: die Grabenkämpfe und Gasmasken aus dem Ersten Weltkrieg und die Stahlhelme und Nazi-Uniformen aus dem Zweiten, gepaart mit der Hello-Kitty-Niedlichkeit der Heldinnen. Gekämpft wird mit Bajonett, Katana, Martial Arts und High-Tech-Kampfbots gegen Nazi-Cyborg-Zombies, die aus „Return to Castle Wolfenstein“ entsprungen sein könnten. Und über allem schweben Zeppeline, mit denen gleich der Untergang der Hindenburg nachgestellt wird. „Sucker Punch“ ist eine Synthese-Maschine ohne Sinn, die in ihrem zerstückelten Raum distinktiver Zeichen leer läuft. Mitunter fragt man sich, ob Snyder Baudrillards „Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen“ (1978) gelesen hat. Wer weiß, vielleicht hat er das sogar – und gleich als Bastelanleitung missverstanden. Was fehlt, ist nur noch der Marktschreier, der vor dem Kino steht und brüllt: Hereinspaziert, hereinspaziert! Es gibt keine Geschichte mehr, es gibt keine Geschichten mehr zu erzählen.

Die Taube auf dem Dach

(DDR 1973, Regie: Iris Gusner)

Das richtige Leben im falschen
von Oliver Nöding

Kosmonauten beim Training für den Einsatz in der Schwerelosigkeit. Der Start eines Raumschiffes. Die Titeleinblendung „Die Taube auf dem Dach“. Dann ein Junge, der auf der Schaukel im Garten seiner …

Kosmonauten beim Training für den Einsatz in der Schwerelosigkeit. Der Start eines Raumschiffes. Die Titeleinblendung „Die Taube auf dem Dach“. Dann ein Junge, der auf der Schaukel im Garten seiner Eltern den Überschlag übt. Der Vater: „Ein außergewöhnlicher Junge. Er wird sich irgendwann einmal den Hals brechen.“ Iris Gusners Film ist noch keine Minute alt, da hat sie das beherrschende Thema bereits in griffige Bilder übersetzt, die keine Fragen offenlassen.

Die junge, engagierte Bauleiterin Linda Hinrichs (Heidemarie Wenzel) überwacht mit viel Übersicht und Geschick in der Menschenführung den Bau einer Plattensiedlung irgendwo im Süden der DDR. Zwei ihrer Arbeiter verlieben sich in sie: der Student Daniel (Andreas Gripp), der in den Semesterferien auf der Baustelle jobbt und sowohl vom Jahr 2000 als auch davon träumt, den Weltraum zu erforschen, und der erfahrene Brigadier Hans Böwe (Günter Naumann), der schon überall in der DDR gebaut hat, über diesen Einsatz sein Zuhause verloren und seine Familie zersplittert hat und nun endlich zur Ruhe kommen will. Doch was will Linda?

„Die Taube auf dem Dach“ – man übersieht leicht die Finesse dieses Titels im Bezug auf den Film, weil man seine fehlende Hälfte im Geiste sofort zu ergänzen weiß. „Besser der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“, weiß der Volksmund und will damit sagen, dass es besser ist, sich mit dem zufrieden zu geben, was man hat, auf Nummer sicher zu gehen, anstatt sich auf ein zwar verheißungsvolles, aber letztlich auch ungewisses Ziel zu versteifen. Für die Protagonisten von Iris Gusners Film ist diese Maxime aber kaum noch lebbar: Ständig mit dem tristen Alltag konfrontiert, wird der Wunsch, die eigenen Träume zu verwirklichen, immer stärker. Doch je stärker dieses Verlangen wird, umso härter werden sie in die Realität zurückgeworfen, dämmert ihnen die Erkenntnis, dass ihre Träume vielleicht Träume bleiben müssen. Als Film, der mit der Lebenswirklichkeit in der DDR befasst ist, hätte Gusners Film also eigentlich „Der Spatz in der Hand“ heißen müssen. Doch wie seine Protagonisten eben angetrieben werden von dem, was nicht ist, aber noch werden soll – das Setting der Baustelle ist hier durchaus metaphorisch zu betrachten –, so wird auch der Film geprägt durch eine träumerische Vagheit, die einen Kontrapunkt zu den sehr echten Sorgen seiner Charaktere, der Direktheit, mit der sie ihre Probleme besprechen, und der Klarheit der Bildkomposition bildet. So wird das Leben im Sozialismus gar nicht so sehr durch das als bedrückend empfundene Sein geprägt, sondern durch die Abwesenheit einer Alternative zu diesem Sein. Die Utopie sitzt wie eine fette gurrende Taube auf dem Dach und verhöhnt die Menschen, die versuchen, sich mit dem Gedanken abzufinden, dass sie nur den Spatz haben können.

Man kann über „Die Taube auf dem Dach“ nicht sprechen, ohne auf seine komplizierte Geburt hinzuweisen. 1973 fertiggestellt, wurde der Film für seine Zeichnung einer in der Sinnkrise befindlichen Arbeiterklasse verboten und noch im Studio vernichtet. Eine farbige Arbeitskopie blieb jedoch erhalten und wurde von Kameramann Roland Gräfe 20 Jahre später wiederentdeckt. Eine aufgrund der Materialschäden notwendige Schwarzweißkopie wurde 1990 in Berlin uraufgeführt, ging danach aber erneut verloren. Erst 2009 konnte die DEFA-Stiftung diese Kopie wieder finden und den Film rekonstruieren. Eine Farbversion wird man wohl nicht mehr zu Gesicht bekommen und in einer kurzen Szene muss der Zuschauer mit Untertiteln vorlieb nehmen. Aber in diesem Fall gilt tatsächlich: „Besser der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.“

IP Man Zero

(HK 2010, Regie: Herman Yau)

Der Habermas des Prügelns
von Oliver Nöding

„Bei einer Schlägerei lernt man sich kennen“, behauptet der Protagonist von Herman Yaus „Ip Man Zero“, der Wing-Tsun-Kämpfer Ip Man (Dennis To), dessen reale Inkarnation die Kampfkunst revolutionierte und schließlich …

„Bei einer Schlägerei lernt man sich kennen“, behauptet der Protagonist von Herman Yaus „Ip Man Zero“, der Wing-Tsun-Kämpfer Ip Man (Dennis To), dessen reale Inkarnation die Kampfkunst revolutionierte und schließlich zum Lehrer Bruce Lees wurde, der seinerseits den Eastern in den Siebzigerjahren international etablieren sollte. Es ist dies einer der interessantesten Ansätze von „Ip Man Zero“ und was hätte man daraus machen können? Einen Kung-Fu-Film, der den schlagkräftigen Austausch konsequent als einen Modus zwischenmenschlicher Kommunikation interpretiert. Leider bleibt es bei dem Ansatz und Yaus Film letztlich ein – wenn auch sauber inszenierter – generischer Martial-Arts-Film.

Zu Beginn der 20. Jahrhunderts werden der junge Ip Man und sein Adoptivbruder Tin chi (Siu Wong-fan) von ihrem Vater in der Kung-Fu-Schule von Meister Chan Wah-shun (Sammo Hung) abgegeben, um die Kampfkunst Wing-Tsun zu erlernen. Beide werden erst von diesem und nach dessen Tod von Ng Chun-suk (Yuen Biao) ausgebildet, bis es Ip Man zur Universität nach Hongkong zieht, während sein Bruder an der Schule bleibt, auf die zunehmend Einfluss von japanischen Geschäftsleuten genommen wird. Als es nach Ip Mans Rückkehr zu einem Mordfall kommt, droht die Situation zu eskalieren …

„Bei einer Schlägerei lernt man sich kennen.“ Dieser Gedanke mag vielleicht auch die Köpfe hinter „Ip Man“ vor drei Jahren dazu bewogen haben, sich der Lebensgeschichte eines der größten Kung-Fu-Kämpfer und -Erneuerer des vergangenen Jahrhunderts zu widmen. Und wie sollte man sich einem solchen Kämpfer annähern, wenn nicht mit den Mitteln des Kung-Fu-Films? Dass Ip Mans Biografie durch seine Assoziation mit Bruce Lee zudem untrennbar mit der Filmgeschichte allgemein und dem Eastern in Besonderen verbunden ist, prädestinierte ihn geradezu für eine Adaption, die im dritten Teil der Reihe, einem Prequel, das sich mit der Jugend des Helden befasst, allerdings nur wenig ambitioniert geraten ist. Nur einmal wird auf die filmischen Ambitionen Ip Mans verwiesen, ansonsten eine Geschichte erzählt, die der Eastern-Freund so oder ähnlich schon etliche Male gesehen hat. Inszenatorisch betrachtet ist „Ip Man Zero“ einwandfrei: Er sieht ungemein edel aus mit seinem ausgeblichenen Sepia-Look, verfügt über erstklassige Production Values und die Kampfchoreografien – das Kernstück eines jeden Martial-Arts-Films – sind rasant und originell, ohne sich dabei in der Realität gänzlich enthobene Sphären zu begeben. Vor allem Dennis To bekommt ausreichend Gelegenheit, seinen Ruf als kommender Superstar zu untermauern, doch das Highlight ist meines Erachtens ein Trainingskampf zwischen den Altmeistern Sammo Hung und Yuen Biao, die trotz verbundener Augen immer die passende Antwort auf den Angriff des Gegners parat haben und so dem Bild des Kampfes als einer Form der Kommunikation sehr nahe kommen. Leider sind solche Momente jedoch rar gesät und stattdessen müht sich der Zuschauer durch eine melodramatische Liebesgeschichte, undurchschaubare Ränkespiele und die alte Mär vom friedlichen Chinesen und dem hinterhältigen Japaner.

Das ist schade, denn man sollte doch meinen, dass ein Film, der sich um einen der kreativsten Martial-Artists aller Zeiten dreht, selbst etwas mehr Kreativität aufbrächte, um dessen Geschichte zu erzählen. Dass „Ip Man Zero“ jedoch zu keinem Zeitpunkt über gutklassiges Formelkino hinauskommt, legt nahe, dass es sich eher umgekehrt verhält: Die Person Ip Man und seine Hinterlassenschaft sind so gewaltig, dass es nahezu unmöglich ist, sich aus ihrem Schatten zu lösen. Aber vielleicht ist das ja auch die Lehre, die man aus dem Film ziehen kann: Wir kennen diesen Ip Man bereits, wenn auch nicht aus seinen eigenen Schlägereien.

Brothers

(USA 2009, Regie: Jim Sheridan)

Die Wiederholung des Traumas
von Wolfgang Nierlin

Eine durchschnittliche amerikanische Mittelschichtfamilie bildet das Kraftzentrum in Jim Sheridans starbesetztem Drama „Brothers“, einem Remake von Susanne Biers gleichnamigem Film. Als gesellschaftliches Abbild spiegelt sich in ihr jener von Patriotismus …

Eine durchschnittliche amerikanische Mittelschichtfamilie bildet das Kraftzentrum in Jim Sheridans starbesetztem Drama „Brothers“, einem Remake von Susanne Biers gleichnamigem Film. Als gesellschaftliches Abbild spiegelt sich in ihr jener von Patriotismus und aufrechtem Bürgerstolz erfüllte Wertkonservativismus, der die Rollen traditionell verteilt und Harmonie als Anpassung definiert. Mit der möglichen Abweichung davon ist damit zugleich eine Konfliktlinie vorgezeichnet, die in Sheridans Film auf geradezu archetypische Weise zwei ungleiche Brüder in ein antagonistisches Verhältnis setzt. Während der verantwortungsbewusste Familienvater und treue Staatsdiener Sam Cahill (Tobey Maguire) kurz vor seinem nächsten Afghanistan-Einsatz steht, wird sein unsteter, straffällig gewordener Bruder Tommy (Jake Gyllenhaal) aus dem Gefängnis entlassen.

Zementiert wird ihr gegensätzliches Verhältnis noch durch die einseitig gewährte Liebesgunst des Vaters (Sam Shepard), einem zwischen Vaterlandsstolz und verdrängtem Trauma heillos lavierenden Vietnam-Veteran. Als Sam bei einem Hubschrauber-Einsatz abgeschossen wird und danach als tot gilt, verschiebt sich unter Schock und Trauer das labile Familiengefüge: Der Vater-Sohn-Konflikt erreicht allmählich seinen Wendepunkt, die Rollen der Brüder kehren sich um. So beginnt Tommy, sich um die Familie seines Bruders zu kümmern und nähert sich dabei auch emotional seiner hübschen Schwägerin Grace (Natalie Portman) und ihren beiden aufgeweckten Töchtern. Unter veränderten Vorzeichen werden hier das Glück und der Halt in der Familie beschworen.

Doch Trauma und Schmerz kehren zurück, als der tot geglaubte Sam unverhofft gerettet wird. In einer langen Parallelmontage, alternierend zwischen den Ereignissen zu Hause und im Kriegsgebiet, erzählt Jim Sheridan von Sams schrecklicher Verstrickung in Schuld im Angesicht eines drohenden Todes. Wenn er, psychisch versehrt und dem Familienleben entfremdet, seinen Angehörigen begegnet, bleibt diesen sein immer bedrohlicher erscheinendes Verhalten unverständlich. Der diesbezügliche Wissensvorsprung des Zuschauers gegenüber den Figuren steigert noch die konfliktreichen Spannungen, die sich vor allem bei den Familienessen entladen. Sam wiederholt gewissermaßen das Trauma seines Vaters, setzt es unfreiwillig fort und trägt es damit in die Mitte der Gesellschaft. „Ich habe das Ende des Krieges gesehen. Werde ich je wieder leben können?“, fragt der gebrochene, desillusionierte Held am Schluss des Films. Nur in der (mit-)geteilten Erfahrung und dem Eingeständnis der Schuld, so legt uns Sheridan nahe, liegt die Hoffnung auf einen Neubeginn.

Jack in Love

(USA 2010, Regie: Philip Seymour Hoffman)

Positive Vibes
von Wolfgang Nierlin

“Diese Jahreszeit ist wie ein beschissener Auslöser”, heißt es einmal in Philip Seymour Hoffmans Regie-Debüt “Jack in Love” über den New Yorker Winter. Vor der imposanten Wolkenkratzer-Silhouette Manhattans erscheint die …

“Diese Jahreszeit ist wie ein beschissener Auslöser”, heißt es einmal in Philip Seymour Hoffmans Regie-Debüt “Jack in Love” über den New Yorker Winter. Vor der imposanten Wolkenkratzer-Silhouette Manhattans erscheint die Suche nach dem kleinen Glück als gewaltige Aufgabe. Besonders dann, wenn man wie der von Hoffman selbst gespielte Titelheld, ein Junggeselle in mittleren Jahren, irgendwie Angst davor hat. Die „positiven Vibes“ bezieht der Privatchauffeur, der für einen Limousinen-Service arbeitet, aus der Reggae-Musik: „By the Rivers of Babylon“ von den Melodians ist sein ständiger Begleiter. Tatsächlich fehlt dem etwas schwerfällig wirkenden, aber herzensguten Jack eine Frau. Das jedenfalls meinen seine Freunde Clyde (John Ortiz) und Lucy (Daphne Rubin-Vega), die seit langem ein Paar sind und die in wechselnder Hinsicht eine Kontrastfolie bilden. Als mögliche Kandidatin für Jack haben die beiden deshalb Connie (Amy Ryan) ausgesucht, die als Telefonakquisiteurin in einem Bestattungsinstitut arbeitet.

Es sind zwei schrullige Außenseiterfiguren, die in Hoffmans Adaption des Off-Broadway-Theaterstücks „Jack Goes Boating“ von Bob Glaudini langsam, aber sicher zueinander finden. Die Behutsamkeit ihrer Annäherung sowie die vorsichtige Zärtlichkeit ihrer Begegnung korrespondieren dabei mit der entspannten Dramatik und dem lakonischen Tonfall von Hoffmans Inszenierungsstil. Immer wieder dehnt der schauspielernde Regisseur die relativ statische Grundkonstellation seiner Liebesgeschichte durch die beredte Stille zwischen den Sätzen einer ziemlich stockenden Kommunikation. Diese wird von teils skurrilen Geschichten und Dialogen in Schwingung versetzt, deren melancholischer Nachhall im noch Unbestimmten verklingt. „Ich bin noch nicht bereit für eine Penis-Penetrierung“, sagt Connie einmal in ihrem eigentümlich verschrobenen Ernst. Bevor es Frühling wird, muss Jack also noch Schwimmen und Kochen lernen, zwei fast schon ritterliche Aufgaben, die er bravourös absolviert. Aber das ist nur der erzählerische Vorwand für eine längst entschiedene, sympathische Beziehungskomödie, die allerdings nicht nur vom Gelingen, sondern auch vom Scheitern der Liebe handelt.

In einer besseren Welt

(DK / SW 2010, Regie: Susanne Bier)

Moralische Seifenoper
von Harald Mühlbeyer

Anton ist idealistischer Arzt im Flüchtlingslager in Afrika, selbstlos hilft er, ist Freund der Kinder, denen er gleich am Filmanfang einen Fußball schenkt, und er schiebt auch kurz vor Feierabend …

Anton ist idealistischer Arzt im Flüchtlingslager in Afrika, selbstlos hilft er, ist Freund der Kinder, denen er gleich am Filmanfang einen Fußball schenkt, und er schiebt auch kurz vor Feierabend gerne noch eine Notoperation rein. Zuhause in Dänemark läuft’s nicht so gut: seine Frau will sich von ihm trennen, und Sohn Elias ist das Opfer der Rabauken in der Schule.

Christian, 12 Jahre, ist Elias’ einziger Freund, verstört, verschlossen, traumatisiert vom Krebstod der Mutter, entfremdet vom Vater, dem er Schuld gibt; entwurzelt, niemandem zugehörig, in London aufgewachsen und nun in Dänemark, bei der Großmutter, fremd. Und er brütet in sich einen Hass aus, basierend auf Gerechtigkeitsgefühl und Rache.

An diesen beiden Figuren als gegenüberliegenden Polen führt Susanne Bier ihren Diskurs um Gewalt, um den Umgang mit Brutalos, um Friedfertigkeit und gerechtfertigte Vergeltung. Hat Anton Recht, der den Armen selbstlos hilft, auch wenn zuhause, im persönlichen Umfeld, vieles im Argen liegt? Der rechte, linke und nochmals die rechte Backe hinhält, um das Böse an sich selbst scheitern zu lassen? Oder Christian, der sich auflehnt gegen das, was ihm nicht passt, der sich damit aber mit seinen Feinden gemein macht? Wenn Anton vor den Augen der Kinder von einem idiotischen Schläger geohrfeigt wird, ihm aber angstlos gegenübersteht: ist er dann tatsächlich der Sieger, wenn der andere in seiner körperlichen Überlegenheit seine moralische Niederlage gar nicht bemerkt? Oder ist es OK, wenn Christian den Schulsadisten brutal vermöbelt und dafür künftig aus Respekt in Ruhe gelassen wird; wenn er aber dabei cholerisch überreagiert, seinen eigenen inneren Frust rausprügelt und auch noch ein Messer benutzt? Wenn jeder gleich zurückprügeln würde: in was für einer Welt würden wir dann leben? In einer kriegerischen und brutalen, oder in einer, in der sich keiner mehr mucken würde?

Bier hat eine Versuchsanordnung erstellt, künstlich kontrastiv komponiert: verschiedene Weltanschauungen werden gegenübergestellt, scharf und fast schablonenhaft gezeichnet; dazwischen Grauschattierungen wie Christians Vater, der nicht mit dem Sohn klarkommt, oder Elias’ Mutter, die mitunter ihre Contenance verliert. Als Antagonisten, an denen sich die Konzepte zwischen Ertragen und Zurückschlagen brechen, dienen die Brutalos: fiese Mitschüler, oder der aggressive Arsch, der auf dem Spielplatz Anton attackiert, oder in Afrika der sadistische Milizführer, ein Psychopath, der Schwangeren die Leiber aufschlitzt und die Föten herausreißt, aus Spaß. Der dann verwundet bei Anton um Behandlung ersucht, im Bewusstsein seiner Macht über Leben und Tod.

Aus einer moralischen Diskussion um ethische Positionen und den daraus resultierenden Verhaltensweisen kann man einen guten Film machen. Bier ist das nicht gelungen. Denn sie verlässt sich nicht auf die Bebilderung eines Diskurses, darauf, ihn in eine parabelhafte Geschichte zu gießen. Zu sehr stützt sie sich auf Klischees, und vor allem gegen Ende – also in der letzten halben Stunde des Films – gerät sie in sentimental-melodramatische Fahrwasser, was besonders fatal ist, weil sie ihre funktionellen Figuren als volle, emotionale Charaktere begreift und daraus kaum mehr als eine soap opera formt. Sie treibt sie in dramatische Verstrickungen um Missverständnisse und Schuldzuweisungen – etwa als der verstockte, innerlich angespannte und wütende Christian Feuerwerkskörper findet, aus denen sich prima Bomben basteln lassen. Figurengewordene Diskussionsbeiträge, Thesen und Antithesen gerinnen zu stereotypen Handlungsträgern, die Erörterung moralischer Fragen wird zum sentimentalen Spiel auf der Klaviatur der Gefühle. Und die Klischees feiern fröhliche Urständ, wenn Bier ihre antithetische Konstruktion als dramatisch-emotionalen Konflikt missversteht.

Das Lied in mir

(D / AR 2009, Regie: Florian Cossen)

Spuren in eine dunkle Vergangenheit
von Wolfgang Nierlin

„The day I wasn’t born“, lautet der englischsprachige Titel von Florian Cossens Debütfilm „Das Lied in mir“. Nimmt man zu diesen beiden Titeln noch den Slogan „Buenos Aires is waiting …

„The day I wasn’t born“, lautet der englischsprachige Titel von Florian Cossens Debütfilm „Das Lied in mir“. Nimmt man zu diesen beiden Titeln noch den Slogan „Buenos Aires is waiting for you“ hinzu, der überdeutlich auf einer Reklametafel im Flughafengebäude der argentinischen Metropole prangt, so sind die wesentlichsten Motive dieser leicht melancholischen Selbstfindungsgeschichte bereits genannt. Denn als die Schwimmerin Maria Falkenmeyer (Jessica Schwarz) an besagtem Ort auf ihren Anschlussflug nach Chile wartet, hört sie ein spanischsprachiges Kinderlied, das unbewusste Erinnerungen bei ihr auslöst und sie in der Folge auf schmerzliche Weise mit ihrer unbekannten Kindheit in Kontakt bringt. Am Beginn der Suche nach ihrer wahren Identität verliert Maria symbolträchtig ihren Pass. Wenn sie dann später ihren Kinderausweis in Händen hält, findet sie sich mit einem abweichenden Geburtsdatum konfrontiert.

Marias beunruhigter, herbeigeeilter Vater Anton (Michael Gwisdek) klärt sie zögerlich und schuldbewusst auf: Er habe sie adoptiert, ihre leiblichen Eltern stammten aus Argentinien und seien während der Militärdiktatur verschleppt und vermutlich getötet worden. Doch mit diesem unfreiwilligen Geständnis ist ihr Adoptivvater noch nicht entlastet; vielmehr unternimmt Maria eine Spurensuche in eine dunkle Vergangenheit, auf der sie von dem liebenswerten Polizisten Alejandro (Rafael Ferro) begleitet wird. Dabei lernt sie ihre wahre – sehr authentisch dargestellte – Familie kennen und entdeckt allmählich das Geheimnis ihrer Herkunft, das wiederum ihr Verhältnis zu Anton nachdrücklich verändern wird.

Florian Cossen erzählt diese Identitätsgeschichte, an deren Ende die Vergebung stärker ist als die Anklage, im Kontrast zu jener gesellschaftlichen Verdrängung der Geschichte, die den Opfern die Bearbeitung ihres Traumas verwehrt. Dabei versetzt er seine Heldin auch räumlich in einen Großstadtdschungel, dessen Bilder bereits im Vorspann wie eine bewegte Wasseroberfläche immer wieder ins Undeutliche verschwimmen. Wahrheit und Lüge, Gegenwart und Vergangenheit wechseln permanent, was Coosen durch kleine Verschiebungen in der zeitlichen Chronologie noch akzentuiert. Leider verzichtet er andererseits an einigen prägnanten Stellen auf erzählerische Konzentration, um stattdessen gefühlige Stimmungsbilder zu inszenieren.

127 Hours

(USA / GB 2010, Regie: Danny Bolye)

Vom wahren Wert des Lebens
von Wolfgang Nierlin

Die Kontraste wirken hart in Danny Boyles neuem Film „127 Hours“, der nach wahren Begebenheiten entstand. Im Vorspann parallelisiert eine dreigeteilte Leinwand den Einzelnen und die Gemeinschaft, die Hektik des …

Die Kontraste wirken hart in Danny Boyles neuem Film „127 Hours“, der nach wahren Begebenheiten entstand. Im Vorspann parallelisiert eine dreigeteilte Leinwand den Einzelnen und die Gemeinschaft, die Hektik des Großstadtlebens und das langsame Verrinnen der Zeit. Mit dem abenteuerlustigen Outdoor-Freak Aron Ralston (James Franco), der an einem Aprilwochenende des Jahres 2003 zu einer Klettertour in den Canyonlands National Park von Utah loszieht, wird die Dynamik eines euphorischen Aufbruchs in eine weite, überwältigend schöne Landschaft jenseits der Stadt versetzt. Der 28-jährige Aron, ein geübter Mountainbiker und Kletterer, ist ein übermütiger Draufgänger mit Eroberer-Mentalität, ein witziger Kerl, der einen harten Sturz mit einem lächelnden „Ups!“ wegsteckt. Waghalsig und siegessicher ist der Einzelgänger auf Rekorde aus. Bis er plötzlich in einem schicksalhaften Moment schwerwiegend verunglückt.

Dieser Unfall im Blue John Canyon, wo ein großer schwerer Felsbrocken Arons rechten Unterarm gnadenlos fixiert, ist nicht als Strafe für eine allzu unbekümmerte Spaßhaltung zu verstehen. Vielmehr nutzt Danny Boyle die ebenso fatale wie hilflose Situation seines Helden, um von „der plötzlichen Einsicht in den wahren Wert des Lebens“, so der Regisseur, zu erzählen. Denn im Zustand der Bewegungslosigkeit, die einen abrupten Bruch zur schwungvollen, von schnellen Beats begleiteten Action des Unterwegsseins markiert, gehen Arons Erinnerungen auf Reisen. Und sie imaginieren jene geliebten Menschen, zu denen er plötzlich eine neue, verändernde Verbundenheit fühlt und an die er einen vielleicht letzten Videogruß adressiert.

Denn Arons Lage erscheint aussichtslos: Sein Wasservorrat ist knapp bemessen, sein Handy hat er nicht eingesteckt und keiner weiß, wo er ist; was Boyle an mehreren Stellen als tragische Ironie oder auch als blinden Zufall inszeniert. Tatsächlich ist der junge Mann mit dem großen Freiheitsdrang auf fast absurde Weise inmitten der Weite gefangen und verloren. Die Natur ist gleichgültig und das Leben geht anderswo einfach weiter, was die Kondensstreifen der Flugzeuge am Himmel, die Sonnenstrahlen der aufgehenden Sonne oder auch der täglich über die Canyon-Spalte fliegende Rabe signalisieren. Schließlich, nach den titelgebenden 127 Stunden, fasst Aron mit dem Mut absoluter Verzweiflung einen folgenschweren Entschluss und amputiert sich die Hand. Doch Boyles spannender, virtuos gestalteter Film zielt nicht auf die Glorifizierung dieses heldenhaften, schier übermenschlichen Überlebenskampfes, sondern – als eine Art zweite Geburt – auf einen neuen Zugang zum Leben.

Good Food Bad Food – Anleitung für eine bessere Landwirtschaft

(F 2010, Regie: Coline Serreau)

Gegen die tote Erde
von Wolfgang Nierlin

Ganz nahe kommen uns die Tiere, vornehmlich Schweine mit ihren Schnauzen und Borsten, in den ersten Bildern von Coline Serreaus Dokumentarfilm „Good Food Bad Food”. Das aus diesem Titel sprechende, …

Ganz nahe kommen uns die Tiere, vornehmlich Schweine mit ihren Schnauzen und Borsten, in den ersten Bildern von Coline Serreaus Dokumentarfilm „Good Food Bad Food”. Das aus diesem Titel sprechende, enorm vielschichtige Thema, seine existentielle Bedeutung und universelle Wirkung, geht uns alle an. Entsprechend engagiert und parteiisch montiert die streitbare französische Filmemacherin ihr reichhaltiges Material zu einer wachrüttelnden Tour de force durch das verzweigte Feld der Nahrungsmittelherstellung. Dazu liefern alternative Bauern, Pioniere der ökologischen Landwirtschaft, Agrarwissenschaftler und Mikrobiologen aufklärende Hintergrundinformationen, deren Gleichklang zwar einerseits eine gewisse Redundanz erzeugt, andererseits aber auch ein sich stabilisierendes Gefühl der Dringlichkeit. Diese Überdosierung bewirkt, dass die politische Botschaft ankommt, auch wenn die ausgesuchten Bildbelege mitunter etwas plakativ geraten sind.

Während Referenzfilme wie Erwin Wagenhofers „We feed the world“ und Nikolaus Geyrhalters „Unser täglich Brot“ auf teils kritische, teils ästhetisierende Weise die perverse Praxis industrieller, profitmaximierter Lebensmittelproduktion zeigen, nimmt Serreau diesen zerstörerischen Tatbestand zum Anlass, um Alternativen vorzustellen. Die „Akteure des Wandels“ findet sie in Frankreich und Marokko, in Indien, Brasilien und der Ukraine. Einig sind sich die Fachleute und Aktivisten in ihrer kritischen Analyse der so genannten „grünen Revolution“, die zu toten Böden, einem Verlust der Artenvielfalt, zu finanzieller Abhängigkeit, zunehmendem Hunger und einem Verschwinden des Bauerntums geführt habe. Wo statt Nahrungsmittel Waren hergestellt werden, sind die Lebensgrundlagen bedroht. Die hohe Selbstmordrate unter indischen Bauern und die alarmierenden Abtreibungszahlen weiblicher Embryos auf dem Subkontinent veranlassen die Experten gar dazu, von „Suizidwirtschaft“ und „Völkermord“ zu sprechen.

Für Coline Serreau sind kapitalistische Wachstumsideologie, männliche Naturzerstörung und globalisierter Warenverkehr „die Folge eines Gesellschaftsmodells, das die Ausbeutung, die Plünderung und den Profit höher bewertet als die wahren Kräfte des Lebens.“ Dagegen setzt sie das Wissen und die Lösungsvorschläge von Menschen, die die Techniken der Landwirtschaft als natürlich und zeitlos begreifen und die deshalb die Bodenbiologie sowie die Bewahrung respektive Rückgewinnung der Saatenvielfalt ins Zentrum ihrer Aktivitäten stellen. Dieser Ansatz wiederum ist verknüpft mit der Entwicklung lokaler Strukturen und einer autonomen Nahrungsversorgung, wie Projekte in Indien und Brasilien zeigen. Trotz einer beklemmenden, Wut erzeugenden Realität, die in den vielen Statements als Kontrastfolie fungiert, hofft Coline Serrau am Ende ihres anregenden Films auf einen Paradigmenwechsel für die Zukunft.

Howl – Das Geheul

(USA 2010, Regie: Robert Epstein, Jeffrey Friedman)

„Im tierischen Sumpf der Zeit“
von Wolfgang Nierlin

„Ich sah die besten Köpfe meiner Generation zerstört vom Wahnsinn, ausgemergelt hysterisch nackt, wie sie sich im Morgengrauen durch die Negerviertel schleppten auf der Suche nach einer wütenden Spritze…“ Mit …

„Ich sah die besten Köpfe meiner Generation zerstört vom Wahnsinn, ausgemergelt hysterisch nackt, wie sie sich im Morgengrauen durch die Negerviertel schleppten auf der Suche nach einer wütenden Spritze…“

Mit diesen Anfangszeilen aus Allen Ginsbergs berühmtem Langgedicht „Howl“ (Das Geheul) beginnen die beiden Filmemacher Rob Epstein und Jeffrey Friedman ihren gleichnamigen dokumentarischen Spielfilm über den hymnischen Schlüsseltext der Beat Generation und über den Prozess, der auf seine Veröffentlichung folgte. Ginsbergs Lesung in der Six Gallery in San Francisco vom 7. Oktober 1955, in Schwarzweiß nachgestellt mit dem Schauspieler James Franco, bildet dabei den roten Faden in dem mehrgliedrigen Film und zugleich die Grundlage für eine überwiegend illustrierende Animation des Gedichts. In grellen Farben, phantasievoll und verspielt, taucht diese ein in den „tierischen Sumpf der Zeit“ und den Wahnsinn der amerikanischen Gesellschaft, flankiert von Jazz und Drogen, Rausch und Ekstase.

Als der Verleger Lawrence Ferlinghetti zwei Jahre später Ginsbergs Werk in seinem Verlag City Lights Books veröffentlicht, kommt es zum Prozess. Die teils drastische Sprache empfinden die Ankläger als obszön, die beziehungsreichen Anspielungen sind ihnen unverständlich und die wüsten Szenen aus den Randbezirken der Gesellschaft kollidieren mit ihrem strengen Moral- und Sittenkodex. So gerät die Literatur in ein Kreuzverhör, das die beiden Filmemacher aus den Gerichtsprotokollen rekonstruiert haben und geschickt mit der Lesung verschränken. Das mitunter paradoxe und haarspalterische Ringen um einzelne Worte und Formulierungen und damit um den literarischen Wert des Textes oder auch um den Wert der Literatur gerät dabei besonders eindrücklich. Das damals überraschende, von der Zeit längst bestätigte Urteil des Richters wiederum stellt schließlich die Subjektivität des Künstlers und die Freiheit der Rede über die Zensur.

Ginsbergs künstlerische Biographie, die eng verknüpft ist mit der Erfahrung des Andersseins als Homosexueller, thematisieren Epstein und Friedman schließlich in einem vierten Handlungsstrang, einer ausführlichen Selbstauskunft des Dichters, die aus verschiedenen Interviews kompiliert ist. Darin berichtet Ginsberg zum einen von seiner schwierigen Loslösung vom bürgerlichen Leben, an der seine Freunde Jack Kerouac, Neal Cassady und Peter Orlovsky, aber auch eine Psychotherapie maßgeblichen Anteil hatten; zum anderen von seiner Homosexualität und einem mehrmonatigen Aufenthalt in der Psychiatrie, wo er jenen Carl Salomon kennen lernt, dem „Howl“ gewidmet ist. So reflektiert der Film durch die Perspektive von Ginsbergs Erinnerungen immer wieder die persönlichen, teils unbewussten Anlässe des Gedichts sowie die wesentlichen Überzeugungen eines Schreibens, das Ginsberg im Idealfall als „meditative Übung“ versteht und das radikal dem eigenen Lebensstoff verpflichtet ist.

Eine weitere Kritik finden Sie unter diesem Link.

Unser täglich Brot

(A 2005, Regie: Nikolaus Geyrhalter)

Faszination und Schrecken
von Wolfgang Nierlin

„Produktion und Essen sind wie zwei getrennte Universen“, sagt der Wiener Dokumentarfilmregisseur Nikolaus Geyrhalter. Sein vielfach ausgezeichneter Film „Unser täglich Brot“ zeigt deshalb die Lebensmittelindustrie als eine fast unwirklich erscheinende …

„Produktion und Essen sind wie zwei getrennte Universen“, sagt der Wiener Dokumentarfilmregisseur Nikolaus Geyrhalter. Sein vielfach ausgezeichneter Film „Unser täglich Brot“ zeigt deshalb die Lebensmittelindustrie als eine fast unwirklich erscheinende Parallelwelt: ein geschlossenes System, wo das Alltägliche und Naheliegende ins Verborgene abgerückt ist. Dieser Abstand markiert einen beunruhigenden Grad der Entfremdung des Menschen von seiner Nahrung und macht zugleich seine Verdrängungsleistung sichtbar. Geyrhalters filmische Bestandsaufnahme ist insofern der nüchterne Versuch, ein möglichst sachliches Bild dieser weitgehend unbekannten Produktionszone für die Nachwelt zu speichern. Daneben geht es ihm aber auch darum, beim Zuschauer das Bewusstsein für die Herkunft von Nahrungsmitteln zu wecken.

Minutenlang blickt die Kamera in unbewegten Einstellungen und dabei oft in der Totalen auf riesige Obst- und Gemüseplantagen, in Gewächshäuser und Aufzuchthallen, auf Getreidefelder und in automatisierte Schlachtbetriebe. Sie begibt sich in das Innere eines Schweinetransporters, in Labors und Steuerungszentralen. Sie blickt in kalte, technifizierte Fabrikhallen, auf Fließbänder und überdimensionale Arbeitsgeräte. Kein Kommentar begleitet den Wechsel der Bilder, die sich gefühllos aneinander reihen und in denen der Bildinhalt, verloren im Raum, zu einer manchmal fast abstrakten Größe wird. Hinter den gewaltigen Ausmaßen lauert eine anonyme Macht, die sich längst verselbständigt hat. So liegen auch in Geyrhalters Film Schrecken und Faszination nahe, mitunter vielleicht zu nahe beieinander. Der Blick des Filmemachers, seine mitleidlose Totalität, ist selbst machtvoll; und die erlesene, distanzierte Fotografie im Verbund mit einem getragenen Rhythmus, verlängert die abgerückte, kalte Rationalität ins quasi Objektive.

Dass „Unser täglich Brot“ trotzdem nicht einfach konsumierbar ist, liegt am Sujet. Wie schon „We feed the world“ von Erwin Wagenhofer zeigt auch Nikolaus Geyrhalters Film Pflanzen und Tiere als entindividualisiertes Material in einem standardisierten, wirtschaftlich optimierten Herstellungs- und Verwertungsprozess, der sich bezeichnenderweise in der Arbeit selbst widerspiegelt. Ständiger Überwachung und Kontrolle unterworfen, zählen bei der maschinellen Verarbeitung des Lebendigen, gemessen am Profit, allein die Kriterien der Effizienz. Und es sieht nicht danach aus, als gäbe es einen Weg zurück.

We feed the World – Essen global

(A 2005, Regie: Erwin Wagenhofer )

Zurichtung der Natur
von Wolfgang Nierlin

Den einleitenden Bildern wogender Getreidefelder sieht man den Verlust der Unschuld nicht an. Ein österreichischer Bauer, vor seinem Mähdrescher positioniert, sagt: Seit dem EU-Beitritt seines Landes gebe es ein Viertel …

Den einleitenden Bildern wogender Getreidefelder sieht man den Verlust der Unschuld nicht an. Ein österreichischer Bauer, vor seinem Mähdrescher positioniert, sagt: Seit dem EU-Beitritt seines Landes gebe es ein Viertel weniger Landwirte; er habe den 12 Hektar-Betrieb seines Vaters versechsfachen müssen, um den gleichen Lebensstandard zu halten; Weizen sei heutzutage so billig wie Streusplitt; und jeder Bauer müsse 10 Prozent seines Ackerlandes brach liegen lassen, was finanziell gefördert werde. Der Werteverlust, den Erwin Wagenhofer in der Exposition seines Dokumentarfilms „We feed the world“ andeutet, hat mehrere Gesichter: Immer weniger Landwirte mit immer größeren, von Monokulturen dominierten Anbauflächen produzieren Überschüsse und verdienen daran immer weniger. Dann sieht man Brotberge so genannter „Retourware“, die in einer Großstadt wie Wien dem Tagesverbrauch in Graz entspricht und sich im Jahr auf 2 Millionen Kilo summiert.

Wenn Jean Ziegler, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, darauf hinweist, dass im Bankenland Schweiz das Getreide aus Indien importiert werde, wo viele Menschen an Hunger leiden, werden die Widersprüche der Globalisierung anschaulich. Wagenhofers beeindruckender Film betreibt aber keine Ursachenforschung dazu und ist auch keine Hintergrundrecherche über weltwirtschaftliche Verflechtungen, obwohl der Zusammenhang zwischen kapitalistischer Profitmaximierung und Armut eine Grundthese bildet. Vielmehr ähnelt seine Dokumentation einer phänomenologischen Studie, die in genau komponierten Bildern Veränderungen sichtbar macht, letztlich diese als Entfremdung und Verlust beschreibt. Wagenhofer verzichtet auf einen Kommentar und lässt stattdessen Beteiligte und Betroffene zu Wort kommen. Die Zusammenhänge liegen deshalb zum einen im Nebeneinander der Stimmen, zum anderen resultieren sie aus dem Verlauf einer behutsamen Annäherung.

Diese vollzieht sich, sieben Kapiteln entsprechend, an sieben Orten der Welt. Sie beginnt mit einem bretonischen Fischer, der von der „Genauigkeit der Natur“ spricht und dessen Wissen über nachhaltigen Fischfang, geht es nach der EU, bald nur noch eine Berechnungsgröße für die wirtschaftlich effizientere, ökologisch aber zerstörerische Industriefischerei sein soll. In Südspanien, der nächsten Station, blickt die Kamera aus der Vogelperspektive auf das „Wunder von Almeria“: In der Hochburg der europäischen Gemüseproduktion erstrecken sich auf einer Fläche von 95.000 Hektar Gewächshäuser, in denen künstlich bewässerte Pflanzen in einem Steinwollsubstrat stecken und, von 3000 Sonnenstunden im Jahr begünstigt, eine wirtschaftlich optimierte, geschmacklich aber standardisierte Nahrung erzeugen, deren Export andernorts das Bauerntum ruiniert.

Der Saatgutkonzern „Pioneer“ wiederum, der im Billiglohnland Rumänien Hybridsamen für Soja entwickelt, kollidiert dabei mit einer fast noch archaischen bäuerlichen Gegenwelt, deren allmähliches Verschwinden einer Zurichtung der Natur Platz machen muss. Dieser destruktiven Logik folgt auch die Urwaldrodung im brasilianischen Mato Grosso, wo Soja für die Masttierzüchtung in Europa angebaut wird. Eine solche Zuchtfabrik für Geflügel befindet sich in der Steiermark: „Lebende Ware“ sagt der Fachmann zu diesen traurigen Geschöpfen, deren trostloses Dasein der Film von der Befruchtung bis zur Schlachtung in einer bewegenden Montage verdichtet. Leben und Sterben auf einem Fließband: „Stückzahl“ 50.000 pro Tag.

The Green Wave

(D 2010, Regie: Ali Samadi Ahadi)

Einladung zur Empörung
von Dietrich Kuhlbrodt

Der Festivalfilm über die Stimmung in Teheran vor und nach den Präsidentschaftswahlen 2009. Massen auf den Plätzen, grün dominiert, Hoffnung auf die Wende, auf Reformen. Euphorie! Dann der Abfall. Depression, …

Der Festivalfilm über die Stimmung in Teheran vor und nach den Präsidentschaftswahlen 2009. Massen auf den Plätzen, grün dominiert, Hoffnung auf die Wende, auf Reformen. Euphorie! Dann der Abfall. Depression, Frust, Terror. Ahmadineschad wird zum Sieger erklärt, 69 Prozent, angeblich. Es ist schlimmer als zuvor.

Der Film fügt den bekannten News nichts Neues hinzu. Er hat einen anderen Fokus. Im Blick sind die Betroffenen mit ihren Handys. Iran, blogger nation. So gibt es Hunderttausende von Zeitzeugen, die die große Euphorie und dann die große Frustration dokumentiert haben. „The Green Wave' ist ein Film der Emotionalisierung, des jähen Stimmungsumschwungs, des verhängnisvollen Rückschlags.

Regisseur Ali Samadi Ahadi, eigentlich ein Meister der Stimmungsmache, Tschuldigung, die Stimmung im Lande zu spüren, zu gestalten und filmische Formen dafür zu finden („Salami Aleikum“ = Bollywood im VEB Textile Freuden, Niederoberwalde), hat in „The Green Wave“ des Guten zu viel getan. Von 1.500 Seiten blogs habe er 15 ausgewählt, sagt er, und die zu sehen, weckt Beteiligung und Gefühl genug. Soweit sind wir in einem Dokumentarfilm. Ahadi wollte jedoch einen Spielfilm machen, und das ist ihm ja auch gelungen. Aber, so ist meine Meinung, auf Kosten des authentischen Materials. Denn versetzt sind die originalen, eher unscharfen Handyaufnahmen mit reenactments: mit Szenen, vorzüglich fotografiert, die von Schauspielern nachgestellt sind. Und das ist nicht alles. Um die Spielfilmdramaturgie zu wahren, werden die reenactments und die originalen Zeugnisse auf zwei Personen projiziert, fiktive Studenten, die den Film hindurch die Hauptdarsteller abgeben. Dieses Studipaar sagt zwar sehr wahre Worte, die aber als Worthülsen funktionieren wie Sprechblasen im Comic. Die Studenten sind Animationen. Den Film hindurch werden sie zu einer Zeichen-Struktur, übrigens einer sehr guten im Stil von „Waltz with Bashir“.

Kommen wir ihnen näher? Eher nicht. Dass man sich nicht recht auf sie einlassen kann, mag auch daran liegen, dass die verschiedenen Strukturen des Films hippelig und überschnell geschnitten sind. Man könnte sagen, das schafft Distanz und schont die Wahrnehmung, womit allerdings das Doku-Entertainment umschrieben ist.

Ich bitte nochmals um Entschuldigung. Es bleibt der Sache nach genug, sich über die Repression in Teheran zu empören, über Gewalt, Folter und Mord im Namen der Religion. Einige eingestreute Professorenstatements weisen die Richtung. Das ist eine Empörung, die uns angeht, den Westen, der die aufbegehrenden Massen, die Studenten und Hauptstadtbewohner, 2009 allein gelassen hat, im Blick nur die Ölversorgung, nicht aber die Menschenrechte im Iran. Korrekt. Aber. Wird die Botschaft nicht durch die Häppchenkollage entschärft? Ich konnte sie nicht mehr hören, die Begleitmusik, Geige und Klavier, die die großen Gefühle des Films verniedlicht. Die Musik verantwortet Ali N. Askin. In „Salami Aleikum“ hatte ich seine Musik geliebt… – Genug genörgelt. „The Green Wave“ wird schließlich im Gewand, das er hat, als Festivalfilm wahrgenommen (Hamburg, Sundance, Amsterdam). Ich wünsche ihm auf Leinwand und Monitor alles Gute.