Archiv der Kategorie: Filmkritik

I’m not a f**king Princess

(F 2010, Regie: Eva Ionesco)

Glamourös und traurig
von Wolfgang Nierlin

Es ist ein dunkles Reich, das die Künstlerin Hanna (Isabelle Huppert) bewohnt: Umgeben von schwarzem Satin und Symbolen des Todes, dazu noch mit Blick auf einen Friedhof, pflegt die angehende …

Es ist ein dunkles Reich, das die Künstlerin Hanna (Isabelle Huppert) bewohnt: Umgeben von schwarzem Satin und Symbolen des Todes, dazu noch mit Blick auf einen Friedhof, pflegt die angehende Fotografin einen antibürgerlichen, nonkonformistischen Lebensstil. Gewandet in extravagante, schrille Kleidung, wettert sie gegen das Mittelmaß der Spießer und predigt das Hohelied einer Kunst, die heilig sei. Ihr schillerndes Wesen vereint Wahn und Geltungssucht, Reizbarkeit und das Bedürfnis, anders zu sein. Das alles verträgt sich wenig mit ihrer Mutterrolle, die sie an die Oma abgegeben hat und erst wieder „entdeckt“, als ihre 12-jährige Tochter Violetta (Anamaria Vartolomei) zu ihrem Modell wird. Fortan beginnt sie, das Kind in einem Ambiente aus morbider Erotik als laszive Verführerin zu inszenieren. Auf den Spuren von Bataille, Balthus und Bellmer avanciert sie als „Päpstin der Erotik“ bald zum Star der Pariser Kunstszene.

Gegenüber dem exzessiven und in schillernden Dekors gezeichneten Künstlerportrait fällt die Geschichte eines Missbrauchs, um den es in Eva Ionescos Debütfilm „I’m not a f**king Princess“ eigentlich geht, etwas zurück. Die als Schauspielerin bekannt gewordene Regisseurin verarbeitet darin ihre eigenen (traumatischen) Erfahrungen als Modell ihrer Mutter Irina Ionesco, die in den 1970er Jahren mit kunstvoll stilisierten, in barocker Dekadenz schwelgenden Fotos ihrer damals minderjährigen Tochter Eva Erfolge feierte. Als „giftige Blume“, ebenso glamourös wie traurig, inszeniert auch Hanna, von Ehrgeiz und Besessenheit getrieben, ihre Tochter Violetta, indem sie ihr mondäne Kleider anzieht und sie mit düsteren Accessoires schmückt. Doch hinter der behaupteten abgöttischen Liebe und Verehrung verbergen sich eine ausbeuterische Selbstsucht und die Unfähigkeit, ihrer Mutterrolle gerecht zu werden. Hanna überschreitet Grenzen und ist selbst, so wird immer deutlicher, Opfer einer Grenzverletzung.

Bei Violetta wiederum führen die Übergriffe und Tabuverletzungen immer deutlicher zu einer gestörten Selbstwahrnehmung. Indem sie mehr unbewusst die fotografischen Inszenierungen in ihr normales Leben integriert und auf fast selbstverständliche Weise ausdrückt, gerät sie zunehmend in Konflikt mit ihrer (schulischen) Umwelt. Die Differenz zwischen Realität und Abbild, die ihre Mutter für die Freiheit der Kunst in Anspruch nimmt, ist ihrem Gefühl noch nicht eingeschrieben. Und gerade an dieser Nahtstelle verliert sich – in der Darstellung nicht ganz unproblematisch – auch Eva Ionescos Anliegen, von einer gestohlenen Kindheit, den Wirkungen körperlicher Ausbeutung und einer problematischen Mutter-Tochter-Beziehung zu erzählen. Denn ihr Film folgt keinem realistischen Konzept, das auch eine psychologische Entwicklung der Figuren integrieren würde, sondern eher der von Märchenmotiven inspirierten Darstellung einer Befreiung. Und dafür verlängert Eva Ionesco den Exzess fotografischer Inszenierung in die perfekten Bilder ihres Films.

Hugo Cabret

(USA 2011, Regie: Martin Scorsese)

Träume werden aus Filmen gemacht
von Siegfried König

Das Thema scheint in der Luft zu liegen. Ähnlich wie Michel Hazanavicius in seinem „The Artist“ sucht auch Martin Scorsese in seinem neuen Film eine Auseinandersetzung mit der Frühzeit des …

Das Thema scheint in der Luft zu liegen. Ähnlich wie Michel Hazanavicius in seinem „The Artist“ sucht auch Martin Scorsese in seinem neuen Film eine Auseinandersetzung mit der Frühzeit des Kinos. Doch anders als sein französischer Kollege verwendet er nicht die Form des Stummfilms, sondern nutzt ganz im Gegenteil mit 3D die neuesten technischen Möglichkeiten.

Der Film beginnt mit einer grandiosen Kamerafahrt über die Dächer des verschneiten Paris, fährt auf einen Bahnhof zu und steuert den Zuschauer durch die Menschenmenge in der Bahnhofshalle. Fast möchte man glauben, die entfesselte Kamera sei neu erfunden worden. Dieser Beginn zeigt, dass hier ein Filmemacher am Werk ist, der begriffen hat, wozu die 3D-Technik genutzt werden kann. Aber ist dieser Film wirklich von Martin Scorsese? Die letzten Zweifel verschwinden erst, wenn die lange Kamerafahrt ihr Ziel erreicht: Zwei Augen, die aus einem Versteck im Inneren der riesigen Bahnhofsuhr das bunte Treiben unter ihr beobachten. Diese Augen ziehen sich wie ein Leitmotiv durch den ganzen Film. Die Assoziation zu einer ähnlichen Szene am Beginn von „Goodfellas“ stellt sich fast zwangsläufig ein. In beiden Fällen gehören die Augen einem halbwüchsigen Knaben, der das Leben, von dem er ausgeschlossen ist, beobachtet, als sähe er auf eine Bühne oder eben auf eine Leinwand. Und wie man von Martin Scorsese weiß, haben diese Szenen einen biografischen Kern, denn ebenso stand der junge Martin, dessen Krankheit ihn zum Stubenhocker verurteilte, einst am Fenster der elterlichen Wohnung in Little Italy und verfolgte das Treiben auf der Straße.

Die Perspektive des heimlichen Beobachters, eine Rolle, die auch der Kinobesucher einnimmt, weckt Assoziationen an einen anderen Klassiker der Filmgeschichte, an Alfred Hitchcocks „Fenster zum Hof“. Und wie dort gibt es auch in „Hugo Cabret“ eine Reihe von wiederkehrenden Szenen, die Geschichten in der Geschichte erzählen: Ein alter Mann, dessen Avancen für eine alleinstehende Dame regelmäßig an der Bissigkeit ihres Hündchens scheitern, oder die scheue Liebe des kriegsversehrten Bahnhofinspektors für die hübsche Blumenverkäuferin.

Die eigentliche Geschichte ist jedoch die des Waisenjungen Hugo Cabret, der die Uhren des Bahnhofs in Gang hält. Lange Zeit weiß niemand davon, dass der Junge allein ist, und sein Versteckspiel vor dem Bahnhofsinspektor, eine sehr untypische aber gelungene Rolle für Sacha Baron Cohen, dominiert die Handlung in der ersten Hälfte des Films, bevor sich später sein Fokus verschieben wird.

Hugo lebt in einer Welt hinter der Welt, er lebt in den Räumen und Gängen hinter und über der Bahnhofshalle. Er bewegt sich zwischen den Rohren und gigantischen Zahnrädern, die diese Welt am Funktionieren halten. Damit nicht genug, ist sein eigentlicher Lebensinhalt ein Schreibroboter, ein mechanischer Mensch, den er von seinem verunglückten Vater erbte und den er reparieren will. Die nötigen Teile stiehlt er im Vorbeigehen bei einem alten Spielzeughändler (Ben Kingsley), bis er eines Tages ertappt wird und der Händler ihm das Notizbuch seines Vaters wegnimmt. Bei seinen Versuchen, das Buch zurückzuerhalten, findet Hugo die Unterstützung von Isabelle, der Pflegetochter des Alten, einer Waisen und Außenseiterin wie er selbst. Die beiden Kinder, denen das Leben eine unbeschwerte Kindheit verweigerte, lieben das Abenteuer und ziehen die Welt der Fantasie der öden Wirklichkeit vor.

Eines Nachmittags schleichen sich Hugo und seine Freundin in ein Kino, wo gerade Harold Lloyds „Ausgerechnet Wolkenkratzer“ läuft, mit der berühmten Szene, in der Lloyd an einem Uhrzeiger über den Straßenschluchten baumelt. Es ist wahrscheinlich unnötig zu erwähnen, dass wenig später Hugo ebenso an einem riesigen Zeiger der Bahnhofsuhr über den Straßen von Paris hängen wird.

Sein eigentliches Thema findet der Film, wenn der Zuschauer erfährt, dass der alte Spielzeughändler niemand anderes ist als Georges Meliés, der Pionier des Kinos. Doch Meliés ist zur Zeit der Handlung, Anfang der dreißiger Jahre, weitgehend vergessen, und schlimmer noch, er verdrängt seine Vergangenheit so erfolgreich, dass er selbst sie vergessen zu haben scheint. Die Verbindung zwischen Hugo Cabret und Meliés ist vielschichtiger als es zunächst den Anschein hat, wobei dem Maschinenmenschen im wahrsten Sinn des Wortes eine Schlüsselrolle zukommt. Diese Zusammenhänge aufzudecken und Meliés die ihm gebührende Stellung zu verschaffen, ist das Thema der zweiten Hälfte des Films.

Ganz nebenbei präsentiert Scorsese einen regelrechten Kurs über die Anfänge des Kinos. Der Zuschauer bekommt Ausschnitte aus den klassischen Werken der Frühzeit des Mediums geboten: Szenen von den Brüdern Lumiere bis Charles Chaplin, Ausschnitte aus „Intolerance“, „The General“, „Doktor Caligari“, und anderes mehr. Der Schwerpunkt liegt natürlich bei den Werken von Georges Meliés. Der Film hat die Macht, Träume zu fangen und zu erzeugen, erfahren Hugo und Isabelle.

Bei den Stichworten Traum und Magie fallen die Motive des Films zusammen und verschränken sich: Das Innenleben bewegter Maschinen und die Herstellung künstlichen, mechanischen Lebens auf der einen, das Kino als realisierter Traum und die Herstellung dieser Träume mit Illusionsmaschinen auf der anderen Seite. Der Zuschauer lernt in Rückblenden Meliés als Zauberer und Regisseur kennen, der mit seinen Maschinen Illusionen erzeugt. „Hugo Cabret“ ist ein sehr persönlicher Film, vielleicht sogar der persönlichste seit „Hexenkessel“. Denn Scorsese erzählt hier über seine Leidenschaft für das Kino, die größte Maschine zur Herstellung von Illusionen und Träumen, die es jemals gab. Und er tut es, ohne auf irgendwelche Erwartungshaltungen Rücksicht zu nehmen. Denn das hat er schon lange nicht mehr nötig.

„Hugo Cabret“ basiert auf dem gleichnamigen Kinderbuch von Brian Selznick und auch im Trailer wird er als Kinderfilm präsentiert. Doch dies halte ich für ein Missverständnis, das die falschen Leute ins Kino locken oder zumindest falsche Erwartungen wecken könnte. Wer einen typischen Familienfilm erwartet, wird zu wenig Action und zu wenige Lacher finden, vielleicht gar die die filmhistorischen Einschübe als Bremse empfinden. Manchen Cineasten dagegen könnte der Film zu verspielt sein.

Martin Scorsese wendet sich mit seinem „Hugo Cabret“ an ein Publikum, das den Film als kunstvolles Medium mit ganz eigenen Gesetzen begreift und sich nicht einfach von seinen Illusionen vereinnahmen lässt, das aber bei allem Wissen über die Technik die Freude des kindlichen Staunens noch nicht verloren hat, oder sich zumindest manchmal nach dieser Unbefangenheit zurück sehnt.

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Die Thomaner

(D 2011, Regie: Paul-Ludwig Smaczny, Günter Atteln)

Verunglückte Adidas-Streifen
von Andreas Thomas

„Herz und Mund und Tat und Leben“: Ganz Programm ist der Kantatentitel und Untertitel des Dokumentarfilms über das Leben und Arbeiten im Leipziger Thomanerchor. Und ganz Bach ist er. Johann …

„Herz und Mund und Tat und Leben“: Ganz Programm ist der Kantatentitel und Untertitel des Dokumentarfilms über das Leben und Arbeiten im Leipziger Thomanerchor. Und ganz Bach ist er. Johann Sebastian Bach besitzt wohl kaum an einem anderen Ort der Welt heute noch eine größere Präsenz als an seiner Wirkungsstätte als Kantor der Thomaskirche von Leipzig von 1723 bis 1750.

Und doch feiert der Thomanerchor in diesem Jahr seinen 800. Geburtstag, und die angegliederte „Thomas“-Schule gilt als älteste Schule Deutschlands. 800 Jahre ungebrochene Tradition ist das Thema und zum Gutteil auch Methode dieser Dokumentation der auf Musikfilme und Musikerportraits spezialisierten Autoren und Regisseure Günter Atteln und Paul-Ludwig Smaczny. Methode, weil kaum etwas an den „Thomanern“ die Pfade herkömmlicher Dokumentationen zu verlassen wagt. Alles, von der Chronologie der Ereignisse während eines Jahres im Thomaner-„Alumnat“ angefangen, bis zur augen- und hirnschonenden Bildkadrierung, ist ästhetischen und ordnenden Kriterien unterstellt, die, positiv ausgedrückt, vertraut wirken. Aus Bewährtem muss nun nicht zwangsläufig Langweiliges erwachsen, und „Die Thomaner“ ist tatsächlich ein runder Film geworden, der beides weniger hinterfragt als bestätigt: Die Tradition der guten alten Thomaner und die Tradition des guten alten Dokumentarfilms.

Ein Film, beginnend mit Abschied und Ankunft. Das tränenreiche Ausscheiden der jungen Abiturienten nach acht oder neun Jahren und die aufregende Aufnahmeprüfung der 10-jährigen Jungen stehen am Anfang und am Schluss dieser ein Jahr dauernden Observation. U.a. steht die Frage im Raum: „Wie cool kann ein Thomaner sein?“ und dass die Leipziger Externen sie als „Thomaner-Schwulies“ bezeichnen, scheint schwer vermeidlich, obgleich, wer sie besser kennt, wie die Freundin eines Thomaners, weiß, dass sie hetero und nett sind und lustig und es nie langweilig mit ihnen wird. Sie tragen zwar fast durchweg uncoole Frisuren und das Muster an den Krägen ihrer Trikots sieht so aus wie verunglückte Adidas-Streifen, dennoch muss ihrer Gemeinschaft etwas Besonderes zu eigen sein, was die Schüler und Chorknaben dazu bringt, z.B. sogar den Weihnachtsabend lieber im Internat als bei ihren Eltern zuhause zu verbringen. Überhaupt können sich die Thomaner nicht entscheiden, was für sie eher ihr Zuhause ist, der „Kasten“, wie das Alumnat genannt wird, oder das Elternhaus.

Ein bisschen rätselhaft bleiben uns die Thomaner, denn so ganz schafft der Film es nicht, die wichtige Frage zu beantworten, was denn am Thomanerdasein so aufregend ist, sodass einige derer, die das Internat verlassen, meinen, eine so schöne Zeit im Leben nie mehr erleben zu werden. Aber der Film zeigt einen straff durchorganisierten und mit Arbeit durchsetzten Stundenplan und „Thomasser“, wie sie intern genannt werden, die sich fragen, wie denn die Externen die ganze Zeit nach Schulschluss ab 15:30 Uhr verbringen mögen, wenn diese doch nicht vollgestopft ist mit Chorproben (jede Woche muss eine neue Kantate erlernt sein), Klavierstunden, Hausaufgaben und dem Fach Stimmbildung. Natürlich kreist der Internatsbetrieb um die Musik, den Chor, der Bach-Kantaten, -Motetten und -Passionen übt oder aufführt. Wir sehen Kinder als Kinder, so etwa beim Fußballspielen gegen den Kreuz-Chor, Dresden, und Kinder als Künstler: Der Film begleitet eine Gruppe Auserwählter auf ihre Auslandstournee, São Paulo, Montevideo, Buenos Aires mit der ausnahmsweisen Lizenz zur „Divenhaftigkeit“. So nennt es der Kantor Georg Christoph Biller, der mit seinen langen geföhnten Haaren ein wenig aussieht wie eine Kreuzung aus Rudolph Mooshammer und Johann Sebastian Bach. Eine Lizenz, weil sie sie sich als Teil von etwas Besonderem fühlen dürfen, ein Gefühl, das mitunter „ein Leben lang vorhält“, ein „geiler Moment“ sagt einer von den Älteren, sei es, wenn sich der Chor erhebt und das Publikum frenetisch applaudiert. „Geil“, eben, die Thomaner sind trotzdem ganz normale Jungs, auch wenn sie Goldkehlen besitzen.

Da wo die Bachfrage dominiert, da liegt die Glaubensfrage nicht weit. Der Thomanerchor steht zwar unter der Trägerschaft der Stadt Leipzig, seine Hauptaufgabe allerdings ist eine kirchliche, nämlich das gesangliche Begleiten der Gottesdienste. Gern gesehen ist, wenn die Thomanerjungen christlich orientiert sind, aber etwa ein Drittel kommt zunächst konfessionslos oder fremdkonfessionell, jedenfalls nicht protestantisch in die „Familie“. Sichtlich bewegt berichtet jedoch Thomaskantor Biller, wie die Musik von Bach und das Leben im Alumnat immer wieder bekehrende Wirkungen erzielen.

Nur ein junger Mann erzählt, dass das mit dem Glauben bei ihm nicht so recht funktioniere, auch hadert er ein wenig mit seiner Internatsvergangenheit, weil er so nicht mehr die Entwicklung seiner eigenen Familie verfolgen konnte und bei manchen tritt zum Ende ihrer Internatszeit und zum Anfang ihres Erwachsenenlebens so etwas wie Ratlosigkeit auf: vielleicht kein Wunder, wenn das Leben vorher so schön geordnet und gefüllt war. Aber, als wolle er uns beruhigen, zeigt der Film vor dem Abspann noch auf Texttafeln, was aus drei Jungs geworden ist, alle streben sie ordentliche Berufe an, und überhaupt haben die Thomaner traditionell immer die besten Abiture gemacht.

Da sind Thomaner-Pannen wie die „Prinzen“ wohl doch und hoffentlich eher die Ausnahme und nicht Konsequenz. Jedenfalls interessant, dass diese Ex-Thomaner sich offenbar nicht aus ihrer Gemeinschaft lösen wollten und sozusagen als kleine „Thomanergruppe“ zusammenblieben – um dann eine einigermaßen geschmacklose Popmusik zu machen. Tja, sehr cool sind sie wahrscheinlich wirklich nicht, die Thomasser, und Stilbildung scheint nicht wirklich zum Hauptpensum ihrer langen Tage zu gehören, aber sowas wie Style ist sowieso Teufelszeug, nicht wahr, Herr Bach?

Faust

(RU 2011, Regie: Alexander Sokurow )

Flanierender Hungersmann
von Wolfgang Nierlin

Als „Flaneur des Lebens“ und als „Hungersmann“ charakterisiert Alexander Sokurov den Titelhelden seines frei nach Goethe verfilmten „Faust“. Eingangs seines anspielungsreichen, Allgemeingültigkeit beanspruchenden Films, der nach „Moloch“, „Taurus“ und „Die …

Als „Flaneur des Lebens“ und als „Hungersmann“ charakterisiert Alexander Sokurov den Titelhelden seines frei nach Goethe verfilmten „Faust“. Eingangs seines anspielungsreichen, Allgemeingültigkeit beanspruchenden Films, der nach „Moloch“, „Taurus“ und „Die Sonne“ den Abschluss der sogenannten „Tetralogie über die Macht und das Böse“ bildet, seziert der Professor (Johannes Zeiler) unter Mithilfe seines Famulus Wagner (Georg Friedrich) und mit ausladenden Gesten eine Leiche, um in den blutigen Eingeweiden nach dem Sitz der Seele zu suchen. Hemdsärmelig, rustikal und schnoddrig geht es dabei zu; und auch ein bisschen geschwätzig, denn Faust hüllt seine Sinn- und Erkenntnissuche in ein permanentes philosophisches Gemurmel. Diese Redundanz hat allerdings Methode: Sie beschreibt einen Forscherdrang, der immer weiter macht, ohne etwas zu begreifen oder gar irgendwo anzukommen. Faust wird einfach nie satt. Also konstatiert er: „Alles wie immer.“

„Am Anfang war das Wort“, wiederholt Faust immer wieder den ersten Vers des Johannes-Evangeliums, ohne seinen Sinn zu verstehen; bis ein gewisser Mauricius alias Mephisto (Anton Adassinsky), ein undurchsichtiger Wucherer von unförmiger Gestalt, etwas linkisch auf der Szene erscheint und seine Theorie des Ursprungs formuliert: „Am Anfang war die Tat.“ Also schleppt der dunkle Nihilist und selbsterklärte Übermensch den verwirrten Gelehrten durch die engen Gassen einer verwinkelten, sepia getönten Stadt, in der es burlesk und wüst zugeht. Sie landen unter lauter Frauen im Badehaus, wo Faust mit geilen Blicken die junge schöne Margarete (Isolda Dychauk) und Mauricius seinen entstellten Körper enthüllt; im Auerbachschen Keller geraten sie in ein wildes Trinkgelage und in einen bizarren Streit, an dessen Ende Faust schuldig wird am Tod von Margaretes Bruder. Und so wird eine Beerdigung zum blasphemischen Ausgangspunkt einer (sexuellen) Verführung, die männliches Machtstreben widerspiegelt.

Ziemlich innerweltlich ernüchtert sich für selige Augenblicke Fausts Suche nach Transzendenz auf dem Boden körperlicher Tatsachen. Dass er dafür seine Seele verkauft und den teuflischen Kontrakt mit seinem Blut zeichnet, ist nur ein weiteres ironisches Detail dieser schweifenden Suchbewegung, die an kein Ziel findet. Sokurov filmt die Atemzüge dieses merkwürdigen Schwankens mit der Steadicam, lässt die fast farblosen Bilder ins Halluzinatorische verschwimmen und erzeugt eine eigenwillig fremde Atmosphäre voll grotesker Verzerrungen und Symbole. Die Wissenschaft sei nur ein Mittel, die Leere auszufüllen und alles Vergängliche nur Gestank, sagt einmal der große Verneiner Mauricius. Am Ende entledigt sich ein entfesselter Heinrich Faust seines allzu menschlichen Förderers (beziehungsweise das Geschöpf seines Schöpfers), um sich einer zweifelhaften Freiheit gegenüber zu sehen, die als weites, kaltes Geröllfeld vor ihm liegt und sinnlose Wanderschaft verheißt.

The Artist

(F / B 2011, Regie: Michel Hazanavicius)

Bildgeklingel
von Andreas Thomas

„The Artist“ ist, das muss man sagen, ein Wohlfühlfilm. Ein Film, gegen den man nichts haben kann, weil er niemandem wehtun, sondern allen wohltun will. Das Leben jenseits des Kinosessels …

„The Artist“ ist, das muss man sagen, ein Wohlfühlfilm. Ein Film, gegen den man nichts haben kann, weil er niemandem wehtun, sondern allen wohltun will. Das Leben jenseits des Kinosessels ist hart genug. „The Artist“ ist ein großer, unterhaltsamer Spaß, ein fantasievoller, einfallsreicher, ein augenzwinkernder Film über die Zeit, in der der Stummfilm endete und der Tonfilm begann. Der Film ist eine gelungene Demonstration dessen, wie gut man heute Filme drehen kann, die so aussehen wie von „damals“ – ein für die Kundschaft von heute übrigens quasi nicht vorhandenes Damals, weil die aktuelle Kundschaft jemals weder einen Stummfilm noch einen frühen Tonfilm gesehen hat.

„The Artist“ ist für die meisten seiner Kunden sozusagen eine Zusammenfassung dessen, was man so glaubt, was so ein Stummfilm eben so war. Ich schreibe „Kunden“, weil der Film sich in erster Linie zu verkaufen anschickt und das auch ganz gut versteht. Der Film wendet sich nicht an eine Blockbusterkundschaft, eher an jene, die von einem Kinoerlebnis auch ein wenig „Tiefgang“ und „Poesie“, in diesem Fall die Poesie der Stummfilmära, oder eben das, was man so dafür hält (gleichwohl es nicht schlecht kopiert ist), erwartet, und eben auch bekommt, jedenfalls das, was sie so glaubt, was das sein muss. Eine ziemlich strunzige Rahmengeschichte und eine Lovestory, wie sie eigentlich heutiger nicht sein könnte, weil es fast nur um Karriere(n) geht und eine ganze Menge ziemlich verspielter Gags, die keinen weiterbringen, aber das müssen sie ja auch nicht. Der Film spielt geradezu mit der Erwartungshaltung, dass Stummfilme eher unaufregend daher kommen, um aber immer wieder zu zeigen, wie sehr das nicht stimmt, weil „The Artist“ natürlich kein Stummfilm ist, sondern ein Tonfilm, der z.B. extra so tut, als wäre er ein Stummfilm, um uns mit seinem Ton zu erschrecken, und um dann mit diesem Schrecken ganz schrecklich anzugeben.

Angeben, das ist wohl das zentrale Wort: „The Artist“ ruft die ganze Zeit: „Guckt mal, wie echt unser Hauptdarsteller den Errol Flynn nachmachen kann, guckt mal, wie original unsere Hauptdarstellerin Kusshändchen werfen kann, guckt mal, wie gut wir diese angeockerte Schwarzweiß-Filmpatina hinbekommen haben. Diese permanente Hui-Angeberei, dieses dauernde Zurschaustellen seiner nostalgischen Kopierkunst und seiner ach so hinreißenden kleinen Ideen ist das, was „The Artist“ exakt mit Filmen wie „Die fabelhafte Welt der Amelíe“ gemein hat. Der Film ist ein Konglomerat aus publikumsimmanenten Klischees, Kinomythen, Nostalgiebegrifflichkeiten, aufgepowert mit aktuellen technischen Effekten, Gags, Spielereien, welche das dazu aufgelegte Publikum (und es ist sehr dazu bereit, dazu aufgelegt zu sein!) meinen lässt, verzaubert worden zu sein, in eine andere Welt entrückt worden zu sein – und das noch auf kunstvollem, stilvollem, fantasievollem Niveau. Kulturelle Glückseligkeit! Abspannapplaus! Dabei waren wir Zeugen billiger Jahrmarktstricks und die Kernhandlung von „The Artist“ ist dünn, gedehnt und auch widersprüchlich; die Figuren, und das ist vielleicht das Beste, was man über den Film sagen kann, gehen in ihrer Flachheit kaum über ihre melodramatischeren Stummfilmvorbilder hinaus, immerhin ist diese Kopie-Mission erfüllt.

„The Artist“, das muss ich sagen, ist ein Angeberfilm, und ich fühl‘ mich wohl, wenn ich das wenigstens schreiben kann, und ich rate der Kundschaft: Wenn Sie wirklich eine schöne stumme Liebesgeschichte sehen wollen: Gucken Sie sich bitte mal lieber Murnaus „Sunrise“ an.

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Meek’s Cutoff

(USA 2010, Regie: Kelly Reichardt)

Ausweglos im Fremden
von Wolfgang Nierlin

“LOST”. Ein junger Mann ritzt das Wort in Großbuchstaben mit seinem Messer in einen abgestorbenen Baum am Wegesrand. Seit mittlerweile fünf Wochen sind die drei Siedlerfamilien mit ihren Planwagen und …

“LOST”. Ein junger Mann ritzt das Wort in Großbuchstaben mit seinem Messer in einen abgestorbenen Baum am Wegesrand. Seit mittlerweile fünf Wochen sind die drei Siedlerfamilien mit ihren Planwagen und Ochsen unterwegs auf unbekanntem Terrain und haben zunehmend das Gefühl, verloren zu sein. Das Vertrauen in ihren Führer Stephen Meek (Bruce Greenwood), einen Trapper und großspurigen Aufschneider, ist verbraucht. Zweifel und Ungewissheit, Ratlosigkeit und Angst machen sich unausgesprochen unter den ausgezehrten Reisenden breit. Aus Furcht vor Indianern haben sie die Hauptroute nach Westen, den sogenannten Oregon-Trail, verlassen. Doch „die Karten geben nicht viel her“, wie es einmal heißt, und die Hoffnung schwindet. Nur ein unerschütterliches Gottvertrauen und die Solidarität untereinander halten die Siedler aufrecht.

Das alles weiß man als Zuschauer von Kelly Reichardts außergewöhnlichem Western „Meek’s Cutoff“, der von historischen Figuren und Ereignissen inspiriert wurde (und durchaus auch politische Aktualität besitzt), zunächst nicht. Was uns die US-amerikanische Filmemacherin im langsamen, geduldigen Voranschreiten der unspektakulären Handlung, die die Bewegung des Erzählens mit derjenigen des Trecks (manchmal fast wie in Trance) synchronisiert, vor allem zeigt, sind die Mühen und Strapazen des Alltags. Mit genauem Blick verortet Reichardt ihre Protagonisten in der Weite einer nahezu unberührten Landschaft, registriert sie natürliche Grenzen, die mitunter unüberwindlich sind, und folgt dem Gleichmaß der Tage, deren Zeitfluss auch den Rhythmus des Films bestimmt. Der Konzentration aufs Gehen und auf das Dasein in der körperlichen Arbeit, die zwischen den Geschlechtern genau aufgeteilt ist, gilt dabei ihr besonderes Interesse. Und es ist schließlich ein spezifisch weiblicher Blick, der diesen Western so anders macht und damit das Bild der von diesem Genre erzählten Geschichten nachhaltig verändert.

Neben der ebenso kenntnisreichen wie realistischen Alltagsbeschreibung (verdichtet im nahezu quadratischen Academy-Bildformat, das seine Konzentration aufs Jetzt gegen die genreüblichen Cinemascope-Romantisierungen richtet), der Demaskierung von Meeks abenteuerlichen Heldengeschichten und Kelly Reichardts Weigerung, die nackte Existenz ihrer Figuren irgendwie zu idealisieren oder dem Mythos eines erreichbaren Ziels zu unterwerfen, gilt dies vor allem für die Erfahrung der Differenz in der Begegnung mit dem Fremden. Als die Siedler einen Indianer gefangen nehmen, weicht die Dämonisierung des Wilden immerhin zögerlich der Hoffnung, dass der Eingeborene den rettenden Weg zur nächsten Wasserquelle wissen könnte; doch die sprachliche und kulturelle Distanz, genährt von Vorurteilen, Hass und Angst, bleibt nahezu unüberwindlich. Zwar gelingt es der starken, selbstbewussten Emily Tetherow (Michelle Williams), sich dem Indianer zu nähern, doch kann auch sie den Abstand zu ihm kaum verringern. Der Fremde mit seinen Bedürfnissen und Interessen, seinen Absichten und Hoffnungen ist undurchschaubar. Gerade darin liegt die Radikalität von Reichardts Film: Dass er keine Geschichte der Annäherung, der Integration oder gar gelingender Freundschaft erzählt, sondern das die ungewisse Suchbewegung seiner Figuren in eine beunruhigende Ausweglosigkeit mündet.

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Hugo Cabret

(USA 2011, Regie: Martin Scorsese)

Kinozauber
von Harald Mühlbeyer

Martin Scorsese hat einen Kinderfilm gedreht, der sich dem ganz Alten widmet, einen Film in neuester Technik in 3D und mit Digitaltouch, der das Zauberbudenkino der 1900er und 1910er Jahre …

Martin Scorsese hat einen Kinderfilm gedreht, der sich dem ganz Alten widmet, einen Film in neuester Technik in 3D und mit Digitaltouch, der das Zauberbudenkino der 1900er und 1910er Jahre feiert. Scorsese hat eine Hommage an die Magie des Kinos geschaffen, indem er den ersten Magier des Kinos vorstellt und sich aus dem Arsenal des heutigen Inszenierungs-Illusionszauberkastens bedient.

In der Eingangssequenz fliegt die Kamera über das nächtliche, winterliche Paris der 20er Jahre in einen Bahnhof ein, über die Gleise, durch die belebte Halle, hinauf zur Uhr und in eine Großaufnahme des Gesichts von Hugo Cabret, der Hauptfigur. Industrial Light and Magic hat für diesen atemberaubenden Anfang einen eigenen Abspanncredit bekommen, mit diesem rasanten Flug holt der Film Schwung, einen Schwung, der ihm bis zum Ende nicht ausgehen wird.

Hugo, 10 Jahre, ist das Phantom des Bahnhofs, der nicht in unterirdischen Katakomben, sondern in den Gängen hinter den Wänden haust. Er ist der, der die vielen Bahnhofsuhren aufzieht, stellt, wartet. Er hat einen künstlichen Menschen, einen mechanischen Automaten in seiner Kammer stehen, und er beobachtet die Menschen in der Bahnhofshalle, all die Pendler und Reisenden, auch alle, die immer da sind, die Wirtin des Cafés, den Maler, die Blumenverkäuferin und den alten Mann mit den mechanischen Spielzeugen. Der Bahnhof: das ist das Konzentrat der typischen französischen Stadt, wie sie im Kino immer wieder aufersteht: vor dem Café spielen Musiker (ist einer davon Django Reinhardt?), zu denen die Gäste tanzen, zwischen der Wirtin und dem Maler bahnt sich eine Liebesgeschichte an, die nur vom kläffendem Kleinköter verhindert wird, und die Patentochter des Spielwarenhändlers sieht man mit Baskenmütze und Baguette. Nie macht der Film einen Hehl aus seiner Künstlichkeit und Konstruiertheit – es geht ihm ja auch nie um Realität, sondern um den Traum, der das Kino sein kann. Dante Ferretti, der Altmeister der Ausstatter, hat diese Welt designt, und sie ist die Hauptattraktion im ganzen ersten Teil des Films. Ein reiches, lebendiges Panoptikum voller kleiner, lustiger, liebevoller Details.

Die Handlung zu diesem Zeitpunkt: Hugo muss vor dem Bahnhofsvorsteher fliehen – der in einer Mischung aus Keystone Cop und Inspektor Clouseau von Sacha Baron Cohen gespielt wird –, und er will sein Notizbuch zurück, das ihm der Spielwarenhändler (Ben Kingsley als mürrischer alter Mann mit sicherlich goldenem Herzen) weggenommen hat. Dabei lernt Hugo Isabelle kennen, dessen Patenkind, ein Bücherwurm, die auf Abenteuer aus ist – womit das Stichwort ausgesprochen ist, das Abenteuer, der Wunschtraum, in den man versinken kann im Kino. Isabelle liebt Dickens „David Copperfield“, Hugo bekommt vom Buchhändler (Christopher Lee in einer Veteranenrolle) den „Robin Hood“ geschenkt; und sie liefern sich weitere Verfolgungsjagden mit dem Bahnhofsvorsteher, der alle Kinder ins Waisenhaus stecken will, jagen weiter dem Notizbuch nach und versuchen, das Automaton wieder in Gang zu setzen – ein turbulentes Sammelsurium an Haupt- und Nebenhandlungen, von denen auch gerne mal ein paar untern Tisch fallen können. So ist das Notizbuch irgendwann gar nicht mehr wichtig, der mechanische Schreibautomat auch nicht, nachdem er seine Funktion erfüllt hat, und Hugos Erinnerung an den verstorbenen Vater quält ihn auch nicht mehr, denn plötzlich verfolgt der Film eine ganz neue Spur: die von George Méliès.

Méliès, der Traumfabrikant des frühen Kinos, dem die beiden nachspüren, der längst vergessen ist zur Zeit der Handlung, der selbst nicht mehr von sich, von seiner Vergangenheit als Filmemacher wissen will. Vom Kinderabenteuer kommt Scorsese zu einer spielerischen Erforschung der Filmgeschichte, er skizziert kursorisch das Werden und das Wirken von Film, feiert das frühe Kino und damit die Kraft, die in der Filmkunst steckt. Wo die Bahnhofs-Abenteuergeschichte manchmal allzu flott von Action zu Action sprang und mitunter die Emotion vernachlässigte, da ist der Film hier ganz im Einklang mit sich selbst, jetzt, da er sich dezidiert mit dem eigenen Medium befasst.

Präzise und gleichzeitig wie aus einem Traum stellt Scorsese Méliès’ Dreharbeiten nach, im Glasatelier mit Schiebekulissen, Feuerwerk, Bühnenzauber und Kameratricks. Dass diese in 3D geschieht, hat eine eigentümliche innere Notwendigkeit; das frühe Kino und die heutige Technikrevolution werden kurzgeschlossen: denn die Mittel sind austauschbar. Es geht beim Film stets darum, was er auslöst. Wenn ein Zug in den Bahnhof einfährt, dann löst das eine Reaktion aus, ob sich bei einer Vorführung der Lumiere-Brüder in den 1890ern das Publikum vor Schreck wegduckt oder ob nun bei Scorsese der Zug den Prellbock durchstößt, durch den ganzen Bahnhof rast, bis er auf der anderen Seite auf die Straße stürzt.

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Die Frau in Schwarz

(GB / CAN 2012, Regie: James Watkins)

Schwarzer Tod
von Harald Mühlbeyer

Man sollte mal über „Ghost Rider: Spirit of Vengeance“ sprechen, auch wenn der Film nicht der Rede wert ist. Die Comicverfilmung – eine mystisch-verquaste Actionstory – sieht aus wie die …

Man sollte mal über „Ghost Rider: Spirit of Vengeance“ sprechen, auch wenn der Film nicht der Rede wert ist. Die Comicverfilmung – eine mystisch-verquaste Actionstory – sieht aus wie die bewegte Bebilderung von Heavy-Metal-Albumcovern aus den 80ern: Titelfigur ist ein feuerumtoster Totenkopfmann auf einem feurigen Motorrad, der kettenschwingend die Bösewichter bekämpft. Fürs vollends Stilechte fehlen nur noch nackte Frauen an seiner Seite. In diesem Film jedenfalls wird – unsinnig-eklektizistischerweise – unvermutet auch das Cover des Pink Floyd-Albums „Wish You Were Here“ zitiert, der Handschlag mit einem Brennenden – sinnfreie Referenz in einem sinnfreien Film.

Dieser zweite Ghost Rider-Film jedenfalls scheint eine Ära der Schallplattencoververfilmungen einzuläuten. Denn nicht so konkret, aber offenkundig genug wirkt „Die Frau in Schwarz“ wie das filmgewordene erste Black Sabbath-Album. Die schwarzgekleidete Frau vor einer halbverfallenen viktorianischen Villa inmitten eines verwilderten Gartens mit diversem Gestrüpp: das ist die Atmosphäre im Örtchen Crythin Gifford, wo das Anwesen Eel Marsh House, fast unerreichbar auf einer Watt-Insel gelegen, nach dem Tod der Besitzerin verkauft werden soll, und wo sich die Geister umtreiben, angeführt von der Frau in Schwarz: „What is this that stands before me? Figure in black which points at me!”

Dies ist der erste Film mit Daniel Radcliffe in der Hauptrolle nach den Harry Potter-Zeiten. Und wieder kriegt er es mit dem Übernatürlichen zu tun, ist mit dem Zug unterwegs an einen verzauberten Ort – aber nicht von Gleis 9 ¾ aus, sondern eher, wie Jonathan Harker in die Karpaten kutschiert. Er, der Anwalt Arthur Kipps, soll die Formalitäten von Erbschaft und Verkauf regeln. Der Film spielt in den 20ern, Autos und Telefon sind selten, der Aberglaube ist stark und die Traumata, die das Böse in Eel Marsh House heraufbeschworen, liegen erst ein paar Jahrzehnte zurück, in einer Zeit, als auf dem englischen Thron die in Trauerkleidung gewandete Königin saß … Doch es geht weniger um die viktorianische Gesellschaft zwischen Repression und Großmachtsempire als um die ganz persönlichen Trauermomente von verlorenen Ehefrauen und verlorenen Kindern. Der bösen schwarzen Frau ist die weiße Frau der Liebe gegenübergestellt, die Braut von Mr. Kipps, die im Kindbett starb, und dem rachsüchtigen Zorn der Toten die Trauer all derer, die ihre Kinder verloren haben an den Tod, zum Sterben verführt vom schwarzen Geist.

Es gibt die Hammer-Studios wieder, die in den 60er Jahren ihre eigenen stilbildenden Horrorfilme schufen und nun diesen Film produzierten, der den Geist des Unheimlichen hervorruft: höchst atmosphärisch die Ausstattung des Films, sowohl der paar ärmlichen Hütten des Dorfes wie auch des Herrenhauses, vollgestopft mit allerlei Nippes, Figuren, Puppen und Spieldosen. Kaltes, verregnetes, nebliges Wetter in einer kargen Küstenlandschaft, eine Villa auf einer Insel, die nur über einen Fahrweg erreichbar ist, der bei Flut verschwindet – der Hintergrund ist so klischeehaft wie perfekt, wie auch die Schauer- und Schockmomente des Films sich am traditionellen filmischen Repertoire bedienen, aber dennoch funktionieren.

Schatten und unheimliche Geräusche, Gesichter an Fenstern und Figuren in verregneter Nacht, kleine Suggestionen und große Effekte – man weiß, was kommen wird, und erschrickt doch. Das ist die Kunst der Gruselinszenierung. Gut, manchmal wird ein Schatten zu deutlich von unheimlicher Musik begleitet, und zwischendrin wird das allzu ähnliche Auftauchen der Erscheinungen fast eintönig – wie der Song „Black Sabbath“ allzu lange am Tritonus-Riff hängt. Doch der nächste Schock im Film – wie der nächste musikalische Einfall von Black Sabbath – folgt sogleich. Bis „Die Frau in Schwarz“ dann in einem perfekten Ende – soll man es happy nennen? – mündet.

The Artist

(F / B 2011, Regie: Michel Hazanavicius)

Weniger ist mehr
von Siegfried König

Vielleicht ist es an der Zeit, dass das Kino sich auf seine Ursprünge zurückbesinnt. Ein besserer Anstoß als „The Artist“ von Michel Hazanavicius, ein Film der gleichermaßen unterhaltsam wie intelligent …

Vielleicht ist es an der Zeit, dass das Kino sich auf seine Ursprünge zurückbesinnt. Ein besserer Anstoß als „The Artist“ von Michel Hazanavicius, ein Film der gleichermaßen unterhaltsam wie intelligent gemacht ist, wird sich kaum finden lassen.
Die erste Einstellung setzt das Thema. Sie zeigt einen gefesselten Mann, der mit Elektrostrahlen traktiert wird. Er soll sprechen, verlangt man von ihm, und der Befehl wird als Zwischentitel eingeblendet, denn die übertrieben stilisierte Szene entstammt einem Stummfilm. Die Assoziationen an „Modern Times“ und „Metropolis“ stellen sich fast zwangsläufig ein. Doch er wird nicht sprechen, nicht bevor der Film sein Ende erreicht. Das Bild erweitert sich rasch zu einem Kinosaal mit rauchenden Zuschauern und einem Orchestergraben vor der Leinwand. Es wird deutlich, dass es sich um einen Film im Film handelt.

Was „The Artist“ so bemerkenswert macht, ist seine Konsequenz. Zu einem Zeitpunkt, da CGI und 3D-Technik das Kino unumkehrbar in die Richtung immer spektakulärerer Effekte zu treiben scheinen, setzt Hazanavicius einen Kontrast, der radikaler nicht sein könnte. Dieser Film über die Zeit des Stummfilms ist nicht nur in Schwarz-Weiß, er ist selbst ein Stummfilm, und zwar von Anfang bis Ende. Und dies ist keine Spielerei, sondern Thema und filmische Umsetzung verschmelzen zu einer Einheit. Die einzigen zwei Stellen, an denen der Film Toneffekte einsetzt, reflektieren eben diese Form. „The Artist“ ist damit nicht einfach eine Hommage oder Parodie, es handelt sich um einen wirklichen und wahrhaftigen Stummfilm, der alle filmischen Mittel des Stummfilms souverän nutzt. Das Spiel von Licht und Schatten, die leicht übertriebenen, aber niemals kitschig wirkenden Gesten und Mienen, es stimmt alles.

Die Hauptfigur ist George Valentine, der Held schlechthin, eine Mischung aus Douglas Fairbanks, Errol Flynn und Sean Connery. Der Film spart nicht mit Anspielungen und Zitaten, weder in Bildern noch bei musikalischen Themen. Von „Panzerkreuzer Potemkin“ über „Citizen Kane“, „Singin‘ in the Rain“, „Sunset Boulevard“ bis „Vertigo“ reicht die Spannweite, und es braucht wahrscheinlich ein mehrmaliges Anschauen, um alle Verweise zu finden.

George Valentine befindet sich zu Beginn des Films auf dem Gipfel seiner Karriere. Er ist der bewunderte Star und er genießt seinen Erfolg als etwas Selbstverständliches. Er ist der Größte, der seinen Mitspielern gönnerhaft ein bisschen was vom Ruhm abgibt, aber nur ein bisschen. In kritischen Situationen setzt er sein unwiderstehliches, lausbubenhaftes Lächeln auf. George Valentine ist auf eine ganz unschuldige Weise selbstverliebt, er ist überheblich und liebenswert in einem. Diese Mischung verkörpert der Hauptdarsteller Jean Dujardin, als wäre er für die Rolle geboren.

Inmitten der Fans, die sich vor dem Kino drängen, steht auch die kleine Statistin Peppy Miller, ähnlich gut besetzt mit Bérénice Bejo. Unabsichtlich schubst sie Valentine, und dieses kleine Missgeschick endet mit einem Küsschen auf die Wange, das von einem Fotografen festgehalten wird und am nächsten Tag die Titelseite der Zeitschrift Variety ziert: „Who’s that Girl?“ Mit dieser Schlagzeile als Eintrittskarte gelingt es Peppy eine Rolle in George Valentines neuem Film zu erhalten und einen Moment lang sieht es so aus, als würden die beiden ein Paar. Doch in dem Augenblick, als sie kurz davor sind, sich zu küssen, werden sie unterbrochen, und die Beziehung wird um Jahre verzögert. Begehren, Bewunderung, Wehmut, Verzicht und vorgeblich vernünftige Einsicht fallen in dieser kleinen Szene zusammen. Es sind Momente wie dieser, in denen „The Artist“ seinen ganzen Charme entfaltet. Alle Emotionen und Informationen werden einzig über Blicke, Mimik und Gestik vermittelt und zeigen, dass der Stummfilm eine ganz eigene Kunstform mit einer ganz eigenen Filmsprache war.

In einer herrlich selbstbezüglichen Szene wird das Eindringen des Tons in diese Welt dargestellt. George Valentine sitzt vor seinem Spiegel, als er plötzlich Geräusche und Töne wahrnimmt. Ein Glas klingt beim Hinstellen, das Telefon läutet, sein Hund bellt und draußen hört er Menschen lachen. Dieser Einbruch des Tons als etwas völlig Fremdes und Bedrohliches bringt die ganze Welt ins Wanken und die Kamera gerät in Schräglage. Als eine langsam zu Boden fallende Feder dröhnend aufschlägt, erwacht George. Es war nur ein Alptraum.

Doch seine Welt ist wirklich zu Ende. Er erfährt aus der Zeitung, dass sein Studio alle Stummfilmprojekte eingestellt hat. Die Menschen wollen neue Gesichter, sprechende Gesichter, wie sein Produzent Al Zimmer ihm erklärt. Diese Rolle des gutmütigen Brummbären verkörpert John Goodman, der nie besser war.

Auch Georges Valentines Ehe ist gescheitert, und zwar schon lange. In einer Reminiszenz an die berühmte Frühstücksszene aus „Citizen Kane“ wird die Entwicklung wie in einem Zeitraffer zusammengefasst. Seine wichtigste Bezugsperson ist sein Hund, ein Jack Russel Terrier, der aus dem gleichen Wurf wie Tims Struppi zu stammen scheint. Warum weigerst du dich zu sprechen? fragt seine Frau. Und dies ist der entscheidende Punkt. George hält den Stummfilm für das künstlerisch überlegene Medium, er scheitert nicht aus Unvermögen, sondern aus Stolz. Die Menschen kommen, um mich zu sehen, niemand hat es nötig, mich zu hören, verkündet er trotzig an einer Stelle.

Er dreht einen eigenen Stummfilm, der natürlich ein Flop wird. Und während George Valentine in Vergessenheit gerät, beginnt Peppy Millers steile Karriere zum gefeierten Tonfilm-Star. Während Georges Film vor fast leerem Kino läuft, stehen die Menschen vor Peppys Film Schlange. Die Premiere beider Werke findet am 25.Oktober 1929 statt, dem Schwarzen Freitag.

George wird von seiner Frau verlassen und er muss seinen gesamten Besitz versteigern. Als er vor einer leeren Leinwand sein Schicksal beklagt, verlässt ihn sogar sein Schatten. Einzig sein Hund bleibt ihm treu. Doch auch im Abstieg bewahrt George Valentine Stil. Selbst als er seine Anzüge zum Pfandleiher trägt, gibt er ein großzügiges Trinkgeld. Ganz unmerklich nimmt Jean Dujardin im Verlauf der Handlung seine Darstellung zurück. So wie an die Stelle überschwänglichen Selbstbewusstseins feinsinnige Resignation tritt, so wandelt sich die Figur vom stilisierten Helden zu einer verletzlichen und vielschichtigen Person. Die Mittel des Stummfilms reichen auch dafür vollständig aus.

Auf dem Tiefpunkt angelangt, zerfetzt George in einem Akt der Verzweiflung seine Filmrollen und zündet sie an. Sein Hund rettet ihn im letzten Moment aus den Flammen. Als George entdeckt, dass Peppy Miller schon seit langem heimlich versucht, ihm zu helfen, kann sein Stolz es nicht ertragen, ihre Hilfe anzunehmen.

Der Film spielt kurz mit der Möglichkeit eines tragischen Endes, um dann doch mit einer neuen Perspektive für George Valentine zu schließen, und zwar einer neuen Perspektive in jeder Hinsicht. „The Artist“ endet auf dem Set. Und eigentlich war er nie anderswo.
Hazanavicius‘ Film ist ein tragikomisches Melodram, inszeniert mit ironischer Leichtigkeit und melancholischem Witz. Er ist eine Liebeserklärung an das frühe und stumme Kino, wo ein Lächeln oder ein Winken mehr ausdrücken kann als ein langer Dialog. Dabei wirkt der Film kein bisschen angestaubt, er ist nicht einfach Nachahmung einer vergangenen Epoche, sondern in jedem Moment ironisch gebrochenes Gegenwartskino.

J. Edgar

(USA 2011, Regie: Clint Eastwood)

Das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit
von Harald Mühlbeyer

Leonardo Di Caprio nähert sich mehr und mehr Orson Welles an; nicht nur wegen des scheinbar harmlosen Babyface, hinter dem sich die Subtexte aufstauen, nicht nur, weil er einige wellessche …

Leonardo Di Caprio nähert sich mehr und mehr Orson Welles an; nicht nur wegen des scheinbar harmlosen Babyface, hinter dem sich die Subtexte aufstauen, nicht nur, weil er einige wellessche Manierismen in sein Spiel aufgenommen hat. Die Ähnlichkeit, die Analogie zeigt sich auch und gerade in der Maske des alten Mannes – zwischen dem gealterten J. Edgar Hoover und dem gealterten Kane ist nicht viel Unterschied, maskentechnisch, äußerlich wie auch inhaltlich. Wie Citizen Kane erhebt sich Hoover zum selbsternannten ersten Bürger der Staaten und muss trotz seiner Errungenschaften, trotz allem, was er aufgebaut hat, worauf er stolz ist, unerfüllt sterben, menschlich, sozial, an sich selbst gescheitert.

Die glänzende Karriere und die Macht, die dämonische Mutter und die unerfüllte Liebe, die vollkommene Hingabe an die Berufung und die damit einhergehende Einsamkeit: Clint Eastwood hat alle Elemente versammelt, die für die Dramaturgie eines Biopics wichtig sind, ordnet die Schlüsselelemente eines Lebens geschickt, gibt die großen Linien wieder und spiegelt sie in symbolischen Details, inszeniert die einzelnen Stationen pointiert und mit stetem Widerhall im großen Ganzen – was den Filme auf den ersten Blick den Anschein solider, professioneller, aber auch etwas biederer Konventionalität verleiht. Doch tatsächlich geht Eastwood geschickter vor – anderes wäre auch kaum von ihm zu erwarten gewesen. Dass als Rahmen des Films John Edgar Hoover diversen PR-Kräften des FBI seine Memoiren diktiert, ist mehr als ein Aufhänger für die filmische Aufarbeitung der Biographie eines der mächtigsten Männer der US-Geschichte. Raffiniert nutzt Eastwood die doppelte Erzählebene, um eine Erzählung über das Erzählen selbst einzuflechten.

Die wichtigen Punkte aus Hoovers Leben werden von ihm selbst erzählt, aus seiner Perspektive, im steten Bemühen, den eigenen Mythos auf Papier festzuhalten, für die Ewigkeit festzuschreiben. Und Eastwood erzählt so nicht nur die Biographie, nicht nur den Mythos, sondern auch das Making of. Die Dramaturgie des Films wird zu einem guten Teil von Hoovers Dramaturgie seiner Memoiren bestimmt, die auf Wirkung, auf Selbstüberhöhung setzt. Die deshalb am Anfang auf die Kraft des Geheimnisses um einen aufstrebenden jungen Mann setzen, und die Hoover im Augenblick seines größten Triumphes für vollendet erklärt. Subtil-ironisch lässt sich Eastwood auf dieses hooversche Konzept ein, um damit dessen Selbsterklärung zu brechen; was in einer Szene gegen Ende kulminiert, als einiges von dem, was zuvor gezeigt wurde, als Übertreibung, als Lüge entlarvt wird.

Der selbstgeschaffene Mythos, die Selbststilisierung, die Neuerfindung des eigenen Ich, die Hoover betreibt, sind direkt verknüpft mit seiner Persönlichkeit, damit mit seinen Taten, damit mit seinem Ruf. Hoover ist der, der Law and Order in den USA durchgesetzt hat, durch die Professionalisierung des FBI, durch Durchsetzung kriminaltechnischer Methoden wie Beweissicherung am Tatort, Fingerabdruckkartei, Laboruntersuchungen. Und er ist ein paranoider Kontrollfreak, der ohne Schranken an der Spitze eines selbstgeschaffenen Überwachungsstaates im Staate steht. 48 Jahre war er der Chef des FBI, der Bundespolizeibehörde, die mehr und mehr zum spionierenden Inlandsgeheimdienst wurde; acht Präsidenten hat er erlebt, und er hat ihre Politik kontrolliert. Information ist Macht, katalogisierte Karteien über die Verbrechers des Landes – zu denen potentiell jeder gehören konnte – sind Teil dieses Systems ebenso wie die Geheimakten, die er über allerlei prominente und politische Akteure anlegte. Und die er gezielt einsetzte für die Sache, die er für die richtige hielt.

In Schlaglichtern beleuchtet Eastwood die Karriere, ausgehend von Hoovers Memoirendiktat und ergänzt durch die Szenen, die hinter Hoovers Fassade blicken. Und die ihm doch das notwendige Geheimnis lassen, das ihn als Filmfigur interessant hält: Eastwood erzählt die Figur und ihre Geschichte nie aus, belässt es in einigen Dingen in Andeutungen – Stichwort Transvestizismus.

Dabei hat jede Szenen eine bestimmte Funktion, oder auch zwei oder drei. Wo Eastwood die Selbsterzählung Hoovers schildert, da inszeniert er stets auch eine zweite Sicht, eine eigene Facette mit: eine subtile Vielschichtigkeit, die jeder Szene ihre Pointe gibt, auch ihre ganz eigene Ironie. Wie Hoover nonchalant gegenüber Robert F. Kennedy, damals im Amt des Generalstaatsanwaltes, zu verstehen gibt, belastendes Material gegen dessen Bruder, den Präsidenten, in der Hand zu haben; und wie er nebenbei mehr und bessere Befugnisse gegen die Bedrohungen für das Land, für die Repräsentanten des Staates fordert: ein übler Erpressungsversuch, gerichtet gegen bestimmte liberale Kräfte in USA – bei dem er dann doch recht behalten wird, auf eine ganz andere Weise. Von den Schüssen in Dallas erfährt er dann beim Abhören eines einschlägigen, geheimen Tonbandes – eine Verdichtung von Gegensätzlichem, wie sie typisch ist für diesen Film über einen Protagonisten der gelebten Gegensätzlichkeit. Hoover ist ein Meister der manipulativen Freundlichkeit, der charmanten Nötigung im Dienste der guten Sache – im Dienste dessen, was er als einzig gute Sache erkannt hat: für die Anständigkeit in Amerika, gegen jeden Radikalismus, ob Bolschewisten, Gangster oder Bürgerrechtler; wobei die Definition der Kriterien, was anständig und was radikal ist, selbstverständlich bei ihm liegt.

Eastwood weiß, was er wie erzählen muss: wie sich die Geschichte wiederholt, wenn wieder ein Autokorso mit dem neuen Präsidenten vor Hoovers Fenster vorbeizieht, wenn er wieder in dessen Vorzimmer warten muss. Das Treffen selbst zeigt Eastwood nicht, aber zugespitzt dessen Auswirkungen – entweder mehr Macht für das FBI (und damit für Hoover), oder die Bedrohung des Untergangs. Denn mit Nixon, das weiß Hoover genau, ist ihm ein Konkurrent in Sachen Kontrollparanoia gewachsen, einer, der aus ähnlichem Holz geschnitzt ist …

Drehbuchautor Dustin Lance Black hat mit „Milk“ (Regie: Gus Van Sant) schon bewiesen, dass er sich auf die Biographie schwuler Politiker versteht – und liefert jetzt das Gegenstück zum von Sean Penn gespielten Vorreiter der Gleichgeschlechtlichkeit. Triebunterdrückung, Selbstverleugnung, vollkommene Disziplin, komplette Hingabe an das Amt und Aufgabe des eigenen Ichs sind die Triebfedern für Hoovers Leben. Dass er an seiner Mutter hängt, dass er nicht tanzen mag, schon gar nicht mit Frauen, dass er nur zwei Personen vertraut und sich keinerlei Privatleben, keinerlei Geselligkeit leistet: die Impulse für sein Leben und Denken kommen aus dem Verzicht, Kraft erwacht ihm aus dem Fehlen. Eastwood erzählt nicht wie andere Biopics, die sich um Hoffnung, Zuversicht und Feelgood des Zuschauers kümmern, vom Aufbau der eigenen Kraft und von der Selbstfindung; Eastwood erzählt von Abbau und Selbstverlust.

Die Sekretärin Helen Gandi ist seine Vertraute, ihr hat er mal einen unbeholfenen Heiratsantrag gemacht, stilecht in seinem bibliothekarischen Archiv; und als sie ablehnte, gab er ihr als Liebesersatz eine Arbeitsstelle. Clyde Tolson: mit ihm ist es Liebe auf den ersten Blick, eine Liebe, die sich nie entfaltet, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Naomi Watts spielt glänzend, ebenso wie DiCaprio – was sich besonders heraushebt im Vergleich zu Armie Hammer, der es manchmal etwas übertreibt – und dem als einzigem die Altersmaske nicht richtig stehen mag.

Doch wie schön herausgespielt ist die Szene zwischen Tolson und Hoover im Hotel, beim gemeinsamen Urlaub, im gemeinsamen Zimmer: wie sie sich über Stil und Mode unterhalten, wie dem eine Liebeserklärung folgt und ein heftiger Beziehungsstreit, wie sich dann zwei Männer, die auf Gedeih und Verderb fürs Leben zusammengehören, sich auf dem Boden wälzen, im Kampf innig umschlungen … wie das Platonische ihrer Liebe sich beinahe auflöst …

Sturm

(D / DK 2009, Regie: Hans-Christian Schmid)

Vom Justizproblemfilm zum Frauendrama
von Dietrich Kuhlbrodt

Absprachen im Strafprozess – ein eher dröges Thema. Gericht, Staatsanwalt und Verteidiger handeln ein bisschen Geständnis aus, lassen alles andere unter den Tisch fallen, in Windeseile ist das Urteil da, …

Absprachen im Strafprozess – ein eher dröges Thema. Gericht, Staatsanwalt und Verteidiger handeln ein bisschen Geständnis aus, lassen alles andere unter den Tisch fallen, in Windeseile ist das Urteil da, sechsstellige Beträge sind gespart, der Steuerzahler soll sich freuen. Wer kann daraus um Gottes Willen einen spannenden Film machen? Hans-Christian Schmid („Die wundersame Welt der Waschkraft“) macht daraus sogar einen Aufreger. Die (Hand-)Kamera geht auf die dokumentarische Tour dicht an die beiden Hauptpersonen heran. Die Staatsanwältin und die Belastungszeugin nehmen es persönlich, wie Gerechtigkeit und Sühne der Prozessökonomie Platz machen. Völlig real und mitnichten fiktiv muss das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag – jawohl, darum geht’s hier – mit seinen Prozessen bis 2010 zu Potte kommen. Das besagt die UN-Direktive 1503. Also wird abgesprochen, dass der neue Anklagepunkt gegen den General der jugoslawischen Volksarmee fallen gelassen wird. Und das grade ist der Betrieb eines Vergewaltigungscamps in der heutigen Republika Srpka. Ein Opfer, die bosnische Zeugin Mira, war von Anklägerin Hannah zu einer Aussage überredet worden („Es hört nicht auf, solange Sie wegrennen“). Jetzt setzt Mira in Den Haag ihr Familienglück aufs Spiel, das sie in Berlin gefunden hatte. Und was passiert im Gerichtssaal? Ihr wird das Wort entzogen. Auch Staatsanwältin Hannah verliert den Glauben an die Justiz.

Was wir als Zuschauer dabei gewinnen, behaupte ich mal, ist der Glaube an die Schauspielerinnen Anamaria Marinca und Kerry Fox. In ihrem Spiel wird alles, was Klischee sein könnte, die reinste Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Die Kadrierung ein TV-Format? Nicht wenn die beiden drin sind. Die Dialoge („Ich weiß eigentlich gar nicht, wer du bist“) – blitzgescheit! In Den Haag trecken Nordseewellen an den Strand, okay. Emotionen wollen wallen? – Ihre Körpersprache nimmt sie zurück. Gut, schön, jaja, es mag an der Inszenierungskunst von Hans-Christian Schmid liegen. Chapeau!

Aus einem Justizproblemfilm ein Frauendrama machen und das in einer deutschen Filmproduktion (23/5) – ein starkes Stück. Aber ganz nebenbei ist „Sturm“ auch ein Promofilm für das International Criminal Tribunal for the Former Yougoslavia, das um seine Existenz bangt und jedes Jahr vor der UNO sein Budget erkämpfen muss. Justizpolitisch soll dem Gerichtshof von Bosnien-Herzegowina nach 2010 die volle Kompetenz eingeräumt werden. Das soll, und jetzt wieder zurück zur Filmdramaturgie, sowohl Vergewaltigungsopfer als auch den Zuschauer trösten. Vage die Aussicht. Wird bosnische Sonne das Verbrechen an den Tag bringen?

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 09/2009

Whistleblower – In gefährlicher Mission

(CAN / D 2010, Regie: Larysa Kondracki)

Sisyphos vs. wahre Begebenheiten
von Carsten Happe

„Inspiriert von wahren Begebenheiten“ prangt groß auf dem Cover von „Whistleblower“ und es ist eine ziemliche Bürde für einen Thriller, zumal noch wenn der deutsche Verleih den Allerwelts-Untertitel „In gefährlicher …

„Inspiriert von wahren Begebenheiten“ prangt groß auf dem Cover von „Whistleblower“ und es ist eine ziemliche Bürde für einen Thriller, zumal noch wenn der deutsche Verleih den Allerwelts-Untertitel „In gefährlicher Mission“ addiert und damit die Stoßrichtung bzw. das Excitement vorgibt, das irgendwo zwischen James Bond und Ethan Hunt angesiedelt zu sein scheint und eben nicht im Spannungsfeld von Menschenrechtsverletzungen und UN-Konventionen.

Aber von Anfang an: Die US-amerikanische Polizistin Kathryn Bolkovac verpflichtet sich für einen gutdotierten Halbjahresjob als „Peacekeeper“ beim Beobachtungseinsatz der Vereinten Nationen im Nachkriegsbosnien. Ihre Motive sind zunächst rein privater Natur – auf lange Sicht möchte die Karrierefrau endlich das Sorgerecht für ihre Tochter zurückgewinnen. Das Geld und die bewiesene Flexibilität sollen als Argumente helfen. Im kriegswunden Sarajevo sind jedoch alle taktischen Erwägungen vergessen, schnell eckt sie bei ihren pragmatischen bis desillusionierten Kollegen mit ihrem Engagement insbesondere für die misshandelten und unterdrückten Frauen an. Andererseits weckt ihr Einsatz auch das Interesse der UN-Menschenrechtsorganisation, die Kathryn rasch befördert. Je tiefer sie in die Materie eindringt, umso schmutzigere Wahrheiten kommen zu Tage – schließlich stößt Kathryn auf einen Mädchenhändlerring, der gar von hochrangigen Mitarbeitern der Vereinten Nationen gedeckt wird. Sie ist einem Skandal auf der Spur und wird somit zum titelgebenden „Whistleblower“, indem sie ihre internen Kenntnisse nutzt, um die unfassbaren Geschehnisse öffentlich anzuprangern.

Die kanadische Regisseurin Larysa Kondracki hat sich für ihr Langfilmdebüt eine ganze Menge vorgenommen und ihr aufrichtiges Engagement scheint in jeder Szene durch. Allerdings verlässt sie sich schließlich doch auf eine recht konventionelle Spannungsdramaturgie, die zwar dem Genre, nicht aber dem Sujet eingehender gerecht wird. So bleiben viele Aspekte an der Oberfläche haften, wie etwa ein Subplot, in dem die von Monica Bellucci dargestellte Leiterin einer NGO Kathryn Bolkovac schnöde auflaufen lässt. Wesentlich gelungener geraten dagegen die emotionalen Momente, die sensibel entwickelt sind und einige Male wirklich unter die Haut gehen. Dabei wird Kondracki von einem beeindruckenden Ensemble unterstützt, allen voran den Oscar-Preisträgerinnen Rachel Weisz und Vanessa Redgrave, einem manchmal etwas verloren wirkenden David Straithairn sowie – dank deutscher Co-Produktion – Jeanette Hain und Paula Schramm als Ukrainerinnen (!).

Am Ende jedoch, wenn die letzte Texttafel, die die weiteren Entwicklungen von Kathryn Bolkovac und des vorliegenden Falls darlegt, in den Abspann hinübergleitet, stellt sich das unbestimmte Gefühl ein, ob der Thematik nicht besser ein Dokumentarfilm gedient hätte – die „wahren Begebenheiten“ scheinen immer wieder als akribisch aufzudröselnde Sisyphosarbeit durch, der ein Spielfilm im Allgemeinen und „The Whistleblower“ im Speziellen einfach nicht gerecht wird.

Der Junge mit dem Fahrrad

(B / F / I 2011, Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne)

In Gefahr und größter Not ...
von Carsten Happe

Ein wenig altersmilde sind sie schon geworden, die großen Regisseure des Weltkinos im Jahr 2011. Sei es Martin Scorsese, der mit „Hugo Cabret“ seinen ersten Kinderfilm dreht, Woody Allen mit …

Ein wenig altersmilde sind sie schon geworden, die großen Regisseure des Weltkinos im Jahr 2011. Sei es Martin Scorsese, der mit „Hugo Cabret“ seinen ersten Kinderfilm dreht, Woody Allen mit seinem touristisch-gefälligen „Midnight in Paris“, Aki Kaurismäki mit seiner wundersamen Warmherzigkeit in „Le Havre“ oder Steven Spielberg mit seinem hemmungslosen Pathos in „War Horse“. Auch die Dardennes, belgische Wahlverwandte des britischen Sozialrealismuskinos à la Ken Loach und Mike Leigh, haben die unbarmherzige Härte ihrer Meisterstücke „Der Sohn“ (2002) und „Das Kind“ (2005) ein wenig zurückgefahren und bieten in ihrem neuesten Werk „Der Junge mit dem Fahrrad“ Raum für Hoffnungsschimmer, für Solidarität, gar für Liebe.

Dabei beginnt alles ganz bitter für den 12-jährigen Cyril, einem fast prototypischen Dardenne-Charakter – die Mutter ist verschwunden, der Vater hat ihn in einem Heim zurückgelassen und jeglichen Kontakt abgebrochen. Aber Cyril ist ein Kämpfer, zunächst um sein geliebtes Fahrrad, dann um die Gunst seines Vaters, den er mit seiner ganzen Hartnäckigkeit doch ausfindig macht, aber seine Zuneigung erzwingen kann er dann doch nicht.

Wie Cyril und die Friseuse Samantha, die sich aus zunächst nicht nachvollziehbaren Motiven fortan um den Jungen kümmert, sich schließlich annähern, sich gegenseitig akzeptieren und Vertrauen aufbauen, ist so entwaffnend selbstverständlich erzählt, dass die beeindruckende Präzision der Dramaturgie fast mühelos erscheint. Das Glück währt jedoch nur kurz, Cyril gerät auf die schiefe Bahn und setzt dabei auch die einzige funktionierende Beziehung in seinem Leben aufs Spiel – und auch Samantha offenbart die Abgründe hinter ihrer Maske der guten Fee. Und dennoch, die Chance, dass alles gut ausgehen könnte, dass es wirkliche Perspektiven für die Zukunft gibt, das ist neu im Oeuvre der Dardennes.

Mit genauem Blick rücken sie zwar einmal mehr die Menschen am Rande der Gesellschaft in den Fokus, bewegen sich aber – anders als zuletzt in ihrer bitteren Asylgeschichte „Lornas Schweigen“ – ein wenig auf die Mitte zu. Und mit der populären Cécile de France erlauben sie sich erstmals einen Star in ihren Filmen. Eine Sympathieträgerin, die ihren düsteren Kosmos aufhellt und möglicherweise nachhaltig verändert – so wie Samantha Cyrils vernarbten Panzer aufzubrechen versteht, mit ihrer Beharrlichkeit und Geduld und einer gehörigen Portion Charme.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Martha Marcy May Marlene

(USA 2011, Regie: Sean Durkin)

Natural Born Hippies
von Carsten Happe

„Well she, she’s just a picture / Who lives on my wall / With a smile so inviting and a body so tall / She, she’s just a picture / …

„Well she, she’s just a picture / Who lives on my wall / With a smile so inviting and a body so tall / She, she’s just a picture / Just a picture, that’s all.“ – Mit diesen Zeilen beginnt „Marcy’s Song“, den John Hawkes eines Tages als charismatischer Sektenführer Patrick anstimmt, um das scheue Reh Martha zu becircen. Er nennt sie Marcy May und umschmeichelt sie, bietet ihr Geborgenheit und vermittelt ihr das Zusammengehörigkeitsgefühl mit einer Gruppe Gleichgesinnter, er gibt ihr Halt. Erst spät im Film ist diese vermeintliche Idylle zu sehen, eine auf den flüchtigen Blick unschuldig anmutende Kommune im Wald, friedlebende Hippies womöglich. Dass diese falsche Fährte schon von Beginn an zerstört wird, ist der cleveren Montage von „Martha Marcy May Marlene“ zu verdanken, die die Flucht der jungen Frau aus dem Camp direkt an den Anfang setzt und die extensiven Erinnerungen an die Hinterwäldler-Hölle im weiteren Verlauf einstreut.

Zwei Jahre lang ist Martha ohne Nachricht und Lebenszeichen verschwunden, als sie mit panisch zitternder Stimme bei ihrer Schwester anruft. Sie will nichts davon erzählen, was ihr widerfahren ist, bevor Lucy und ihr Mann sie bei sich aufnehmen, nur die tiefsitzende Verstörung ist ihr anzumerken und eine permanente Angst, die Vergangenheit könnte sich materialisieren und erneut zur fatalen Gegenwart werden. Eine unheilvolle Atmosphäre liegt auch über den Bildern von Lucy und Teds Haus an einem einsamen, nebelverhangenen See, die weitestgehende Stille auf der Tonspur wirkt umso bedrückender. Misstrauen und ehemals unausgesprochene Schuldzuweisungen vergiften die ungeplante Familienzusammenführung und es ist eine perfide Strategie von Regisseur und Autor Sean Durkin, die Momente der vermeintlichen Rettung und Rückkehr zur Normalität so beschwerlich und klaustrophobisch zu zeichnen und sie gleichzeitig mit sonnendurchfluteten Erinnerungen an hoffnungsvolle Anfangstage in der Sekte zu konterkarieren.

Elizabeth Olsen, die weitaus Talentierteste des Clans, füllt ihre erste Hauptrolle aufopferungsvoll und mit beeindruckender Präsenz aus. Ähnlich ihrer Kollegin Jennifer Lawrence aus „Winter’s Bone“ kann man hier ihrer Starwerdung beiwohnen. Und einmal mehr zeigt John Hawkes als Gegenpart sein lange Zeit allzu unterschätztes Talent zum darstellerischen Understatement.

Schleichend nimmt Patrick Besitz von Marthas beziehungsweise Marcy Mays Verstand, ebenso von ihrem Körper, so wie er es bereits bei den anderen Sektenmitgliedern vollzogen hat. In die pazifistisch anmutende Gemeinschaft mischen sich auch zusehends militaristische Züge und unter dem schönen Schein verbirgt sich eine kaum verschlüsselte Manson-Family-Allegorie, die ebenso psychotische Anwandlungen offenbart. Vieles in „Martha Marcy May Marlene“ bleibt unausgesprochen und es ist ein Verdienst der klugen Inszenierung und eines eindrucksvollen Ensembles, dass die Ambivalenzen des Stoffes nicht glattgebügelt werden, sondern eine eigentümlich traumverhangene Faszination in sich tragen.

The Future

(D / USA 2011, Regie: Miranda July)

Absurde Existenz
von Wolfgang Nierlin

Eine große melancholische Vergeblichkeit spricht aus Miranda Julys neuem Film “The Future”, der die Beziehungs- und Lebenskrise eines Paars Mitte Dreißig zur Sinnkrise steigert und diese wiederum in einen unausweichlichen …

Eine große melancholische Vergeblichkeit spricht aus Miranda Julys neuem Film “The Future”, der die Beziehungs- und Lebenskrise eines Paars Mitte Dreißig zur Sinnkrise steigert und diese wiederum in einen unausweichlichen Nihilismus taucht. Die gleich eingangs mit Julys verstellter Stimme aus dem Off in die Dunkelheit sprechende Katze Paw Paw, die an der Pfote verletzt ist und deren Tage gezählt sind, etabliert diese desillusionierte Perspektive. Gefangenschaft, Schmerz und ein resigniertes Warten auf eine unbestimmte Veränderung verdichten ihr freudloses Dasein zur absurden Existenz. Selbst das Jenseits, aus dem sie später mit weiser Stimme spricht, hat sie nicht aus ihrem Käfig befreit, der für Paw Paw („Pfötchen“) fast schon zu einer zweiten Haut geworden ist: „Das Leben ist nur ein Anfang“, sagt die kluge Katze und ergänzt zur Beunruhigung der Adressaten: „Und der Anfang ist vorbei.“

In diesem Anfang stecken die Tanzlehrerin Sophie (Miranda July) und der eine telefonische Computerberatung betreibende Jason (Hamish Linklater), die seit vier Jahren ein Paar bilden, regelrecht fest. Besser gesagt, fläzen sie gelangweilt, ja fast schon lethargisch auf dem gemütlichen Sofa ihrer mit Secondhand-Möbeln ausstaffierten kleinen Wohnung in Los Angeles und überlegen sich mit undeutlich ironischem Unterton, ob sie ihren Zustand durch Bewegung verändern sollten. Doch was wie ein zeitloses Schweben in reiner Gegenwart aussieht und nach müßiggängerischer Freiheit klingt, zeugt in Wahrheit von einer allgemeinen Perspektivlosigkeit und Entscheidungsschwäche. Und dahinter wiederum verbirgt sich die Angst vor dem Erwachsenwerden und der Vergänglichkeit. Sophie und Jason müssten also handeln, tun dies aber nur zögerlich. Immer wieder inszeniert Miranda July, unterstützt von einem kongenialen Soundtrack, die Statik dieser Pausen vor dem nächsten möglichen Schritt, in denen sich das Leben wie in Zeitlupe fast schon ins Apathische dehnt.

Dreißig Tage dauert dieser Moment vom Einschlag der Abrissbirne bis zum Einsturz des Gebäudes, wie dies Jason einmal in einem anderen Zusammenhang mit Blick auf die drohende Klimakatastrophe formuliert; dreißig Tage, in denen Sophie und Jason auf ihr „Pflegekind“ Paw Paw warten, Verantwortung übernehmen wollen und deshalb ihre ungeliebten Jobs kündigen und die Internetverbindung kappen. Um Prioritäten zu setzen, beginnt Jason, sich ehrenamtlich in einer Umweltschutzorganisation zu engagieren. Weil der Rest des Lebens scheinbar immer spürbarer wird und der Horror des immer Gleichen droht, was July in einer Montage wechselnder Lebensalter imaginiert, flüchtet sich ihr Alter Ego Sophie in eine Beziehung zu dem älteren Marshall (David Warshofsky). Selbst ein sprechender Mond kann das nicht verhindern. Julys eigenwilliger Humor überschreitet dabei immer wieder die Grenzen zur skurrilen Phantastik und zur Metaphorik des Tagtraums, entwickelt sich daneben aber auch aus wiederkehrenden Situationen und Figuren. So wird Sophie schließlich von einem geheimnisvoll krabbelnden T-Shirt verfolgt, das sie zum Tanz mit sich selbst auffordert. Denn natürlich ist ihre Vergangenheit längst nicht zu Ende und ihre Zukunft steht erst am Anfang.

Spur der Steine

(DDR 1966, Regie: Frank Beyer)

Wie verspielt die Partei die Macht?
von Dietrich Kuhlbrodt

1965 gedreht, diskutiert, abgesetzt, 1990, als alles vorbei ist, gezeigt: Frank Beyers DEFA-Film 'Spur der Steine' DDR, Mai 1965, Außenaufnahmen im Kombinat Schwedt und in Leuna. Manfred Krug, damals 28 …

1965 gedreht, diskutiert, abgesetzt, 1990, als alles vorbei ist, gezeigt: Frank Beyers DEFA-Film 'Spur der Steine'

DDR, Mai 1965, Außenaufnahmen im Kombinat Schwedt und in Leuna. Manfred Krug, damals 28 Jahre alt, spielt den Brigadier Balla. Die aufrechten Sieben von der Zimmermannsbrigade brauchen die volle Breite der Straße. Ein demonstrativer Einmarsch. Das Bildformat – Totalvision, schwarzweiß – ist voll genutzt. So treten die glorreichen Sieben im Cinemascopebild des Western auf; die Zimmermannskluft erscheint als Variante des Westernkostüms, und die Großbaustelle des Industriekombinats ist nicht minder wüst wie die Steppen des fernen Westens. Auch erkennen wir das Männerpathos des Westernfilms wieder; Balla und seine Brigade tun, was Männer tun müssen. Zum Beispiel nackt, aber mit genug Bier im Bauch, in einen See springen, vor einem voll besetzten Cafe, und den uniformierten Offizier der Volkspolizei ins Wasser kippen, eine grobe Disziplinlosigkeit. Oder ist bereits der Film selbst, der, jedenfalls in seinem ersten Teil, sich einer der DEFA bis dahin fremden Ästhetik bedient, eine grobe Disziplinlosigkeit? Nachdem nach Schluss der Dreharbeiten, im Dezember 1965, das 11. Plenum des ZK der SED getagt hatte, war die Antwort ein dogmatisch begründetes Ja, und 'Spur der Steine' verschwand – nach wenigen Aufführungen im Sommer 1966 – zusammen mit fast der ganzen Jahresfilmproduktion der DDR im Keller.

Ein Vierteljahrhundert später läuft 'Spur der Steine' im Kino, ungealtert, unversehrt und hochwillkommen, weil er eine Diskussion anstößt, die gesellschaftlich längst hätte geführt werden müssen, die aber in der DDR, in der es diesen exemplarischen Film gibt, nicht öffentlich war und in der Bundesrepublik nicht vorkam, weil es einen solch exemplarischen Film hier eben nicht gegeben hat. – Am Anfang provoziert Balla, der Sympathieträger, Fragen. Die Brigade kapert Kieslaster, die auf dem Weg zu einer anderen Großbaustelle sind, und dirigiert sie zur eigenen Arbeitsstelle um, dem Rückkühlwerk. Ist das nun eine vernünftige Initiative, weil die eigene Bauleitung unfähig und der Plan fehlerhaft ist? Nach der Aktion kommt die Reflektion, und der Film ändert sein Gesicht. Brigadier Balla, der nicht in der Partei ist, setzt sich mit Horrath, dem Parteisekretär, der nicht orthodox ist, auseinander – auch mit der Bauingenieurin Kati, die Liebe braucht und die Partei schädigt, weil das Dreiecksverhältnis gegen die sozialistische Moral verstößt. Kati ist die einzige, die schließlich die Baustelle verlässt: 'Ich will neu anfangen! Ich habe es satt, mir selbst leid zu tun!'. Balla schwört der Brachialgewalt ('Mit dem Stuhlbein diskutiert es sich leichter!') ab und läutert sich zum bewusst sozialistischen Arbeiter, und über Parteisekretär Horrath, vorschriftswidrig dem außerparteilichen Dreieck verbunden, sitzt die Parteileitung unter dem Vorsitz des gütigen und verständnisvollen Bezirksparteisekretärs Jansen zu Gericht: Ausschluss oder nicht?

Auf der großen Leinwand stellt sich schon bald nichts mehr zur Schau, keine Brigade quer über die Straße, keine Totale auf die Großbaustelle. Wir sitzen stattdessen in engen, niedrigen Räumen an Tischen, Tischen, Tischen. Stets aber am äußersten Ende, das längs in den Vordergrund geschoben ist, subjektiv über die Leinwand hinaus an den Zuschauerplatz. Selbstredend kann es auch ein Tresen sein – mit einem Glas Salzstangen ganz im Vordergrund. Meist liegen jedoch Akten auf dem Tisch, und der Zuschauer wird Augen- und Ohrenzeuge von Parteileitungs- und anderen Sitzungen, von denen eine auf die andere folgt und die zum erstenmal durchsichtig und öffentlich werden. Die Kamera verzichtet auf Finessen, Dunkelzonen und Ausleuchtungen, sie dokumentiert ohne jede Aufregung eine Sitzung, in der offen die offenen Fragen der Republik zur Sprache kommen. Regisseur Frank Beyer, damals 33, hat Schluss gemacht 'mit einer verlogenen Kamera- und Beleuchtungsschule, die die Ufa der DDR hinterlassen hat' (Beyer, 1960). Vielleicht ist es diese Klarheit und Durchlässigkeit, die den Film heute aufregend, der Vernunft zugänglich macht. Wie würden Sie entscheiden? Die Ausschlusssitzung ist in 'Spur der Steine' Rahmenhandlung, aus der Rückblenden in die Geschichte des Dreiecks Balla – Horrath Kati zurückführen: Inaugenscheinnahme, Beweisstücke auf dem Verhandlungstisch. Zum Schluss des Films zerreißt Bezirksparteisekretär Jansen zur großen Erleichterung des Zuschauers die Ausschließungsurkunde gegen den Parteisekretär Horrath, auch wenn dieser nachgewiesenermaßen gefehlt und gesündigt hat. Und da Parteifunktionär Jansen ja keine fiktive Figur war, sondern in dem Bezirksparteisekretär Bernhard Koenen aus Halle sein reales Vorbild hatte, war zum guten Ende die Welt wieder in Ordnung, und die Partei hatte recht.

Aber es war zu viel auf den Tisch gekommen, und die subjektiv plazierte Kamera suggerierte, dass der Zuschauer damit befasst werden sollte, gesellschaftliche Probleme zur Kenntnis zu nehmen, gar darüber zu entscheiden. Dem steuerte nach einigem Hin und Her das offizielle Verständnis des Films als verordnete ('kommandierte') Lebenshilfe-Frage: Jemand wie Balla, ausgezeichneter Aktivist, der aber streikt, wenn die lasche Bauleitung das Schalholz nicht rechtzeitig beschafft, – grenzt man den aus ('Daraus haben Faschisten ihre Helden gemacht') oder macht man ihn zum Verbündeten ('Wir brauchen Leute wie Balla')? Und stellt man diese Frage, weil man Planfetischist ist oder sonst ein Ideal hat ('haben auch die Nazis gehabt')? Worum gehts bei der Frage, ob man so etwas wie den Brigadier Balla isoliert oder nicht? Darum, ob man dabei 'die Macht verspielt oder nicht', sagt der Parteisekretär von 1965. Soll man das, was Mitte der sechziger Jahre zur Entfremdung führt, zu Gunsten eines reinen Bildes des sozialistischen Fortschrittes ausblenden? Oder nicht? Der Film spricht sich dagegen aus. Er registriert, was stört. Das Fernsehprogramm? 'Schalt um!' – Ein Ritterkreuzträger von damals? Ein Arschkriecher von heute! – Warum gehst Du nicht rüber? Um hier das Vernünftige durchzusetzen (und das ist schwer rückgängig zu machen)! – Sozialistische Moral ('Anfälliger Lebenswandel indiziert anfällige Prinzipientreue')? Heilsarmee-Moral! – Den Werkschutz rufen, wenn einer die Initiative ergreift? 'Lass uns doch alle abführen!'

Der Mief, der sich in den sechziger Jahren in der DDR zu bilden beginnt, weil es an Lüftung fehlt, hier bläst ihn ein Film weg, ein Balla, der Flegel, mitten in Berlin, in Gegenwart des Ministers. Balla versucht, sich an Sprachrituale zu halten. Er schafft es nicht. Dafür setzt er gegenüber seiner Brigade und den Kumpels das Dreischichtensystem durch. Aber wenn er seine Rede einübt, 'Hochgeschätzter Herr Minister, Hochwohlgeboren', endet er bei 'Hochwürden', und wenn er so etwas Naheliegendes, aber Unvorhergesehenes erwähnt wie das, was im Plan nicht bedacht ist, dass nämlich das Dreischichtensystem dem Arbeiter weniger Geld einbringt, dann hat das nicht im Manuskript gestanden, sondern ist der freien Rede geschuldet.

Die freie Rede der 'Spur der Steine' führte schließlich dazu, dass der Film der Abgrenzungskampagne gegen 'Abweichungen', die das 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 beschlossen hatte, zum Opfer fiel. Freilich zog sich der Streit ein halbes Jahr hin, bis das Verdikt endgültig war. Denn der Roman von Erich Neutsch, den Frank Beyer mit 'Spur der Steine' verfilmt hatte, war in zwei Jahren zum Bestseller geworden (9 Auflagen) und hatte dem Autor einen Nationalpreis eingebracht. Das Drehbuch hatte Beyer, schon damals mit dem Buchenwald-Film 'Nackt unter Wölfen' und der gesellschaftlichen Komödie 'Karbid und Sauerampfer' einer der talentiertesten und gesellschaftlich höchst geachteten jüngeren DEFA-Regisseure, zusammen mit Karl-Georg Egel, gleichfalls Nationalpreisträger, geschrieben. Dabei war durch die Rahmenhandlung (die Sitzung über den Parteiausschluss) die Rolle des menschlich integren, verständnisvollen und gerechten Parteifunktionärs Jansen weiter aufgewertet worden. – Die Jugendausschreitungen vom Herbst 1965 hatten die Partei jedoch ängstlich gemacht. Offenbar fürchtete sie, dass sich die aufmüpfigen Bürger mit der Figur des damals schon populären, aber sich anarchistisch gebärdenden Manfred Krug identifizieren könnten. Bereits Ende November 1965 ergingen in der Sorge, der Film der DDR vernachlässige seine Aufgabe als 'Lebenshilfe', Anweisungen, denen zufolge die 'freizügige' Darstellung sexueller Themen 'nicht mehr zulässig' war; auch wurde die Darstellung von 'Entfremdung' beanstandet, weil sie der sozialistischen Gesellschaft in der damaligen Periode ihres Aufbaus unbekannt sei. Zwischen Beyer und der neu eingesetzten Studioleitung in Babelsberg entbrannte daraufhin ein monatelanger Kampf um Schnitte sogenannter freizügiger Stellen, der zur Kürzung des Films um dreißig Minuten führte. (Die ostentative Keuschheit, die daher im Dreiecksverhältnis obwaltet, ist heute der einzige Schwachpunkt des Films). Lediglich die Nacktbadeszene, an der keine Frau beteiligt ist, wohl aber ein uniformierter Polizist, blieb jedenfalls in der Schlussfassung erhalten.

Die Tabuisierung der Freizügigkeit war jedoch nur vorgeschoben. Letztlich ging es um das Thema, das 'Spur der Steine' selbst angeschlagen und diskutiert hatte: Wie behält die Partei die Macht? Wie verspielt sie sie? Die Parteiführung meldete sich im Dezember 1965 selbst zu Wort. Erich Honecker griff in dem von ihm auf der Eröffnungssitzung des 11. ZK-Plenums gegebenen Bericht des Politbüros die Position der in diesen Filmen angeblich über der sozialistischen Gesellschaft stehenden 'Beobachter' an, die, indem sie Fehler und Schwächen der DDR-Gesellschaft registrierten, die Position der Feinde des Sozialismus vertreten würden. Kurt Hager brandmarkte die Darstellung der 'Entfremdung' zwischen Individuum und Gesellschaft als Kafka-Imitation, die gegen den Sozialismus und seine Lebenswirklichkeit gerichtet sei. Und Walter Ulbricht wandte sich auf dem Plenum (veröffentlicht am 19. Dezember 1965 im 'Neuen Deutschland') gegen die Meinung, dass man solche Filme zeigen müsse, um sie zur allgemeinen Diskussion zu stellen und damit freie Meinungsäußerung zu ermöglichen. Erziehung der Jugend durch diese Filme? Das Politbüro sage dazu Nein. – Denn diese Diskussion zuzulassen, so formulierte es Hermann Axen, bedeute 'erst das Volk vergiften und dann das Gift wieder rausziehen'.

Die Diskussionen, die in 'Spur der Steine' geführt werden, gingen wie selbstverständlich in die Diskussionen der sozialistischen Wirklichkeit des Jahres 1966 über – mit dem Unterschied, dass diese eben nicht öffentlich werden sollten. Es spricht für die SED, dass sie zur Meinungsbildung ein halbes Jahr intensiver Diskussion brauchte. Noch im Mai 1966 empfahl der neu gegründete künstlerische Beirat der Hauptverwaltung Film des Ministeriums für Kultur 'die baldige Aufführung dieses Werks', wobei über die künstlerische Darstellung der Rolle der Partei der Arbeiterklasse künftig aber 'Beratung' erforderlich sei. Auch das 'Neue Deutschland' registrierte die Uraufführung des Films, die am 15. Juni 1966 als Auftakt der 8. Arbeiterfestspiele in Babelsberg stattfand, positiv. Am 28. Juni, vor der Berliner Premiere, beschloss das ZK des Sekretariats der SED jedoch, den Film zurückzuziehen. Die Begründung war am 6. Juli im 'Neuen Deutschland' nachzulesen. Unter dem Pseudonym Hans Konrad – es sind die Initialen des 'ND'-Kritikers Horst Knietzsch – wurde kritisiert, dass der Film 'Spur der Steine' 'ein verzerrtes Bild von unserer sozialistischen Wirklichkeit, dem Kampf der Arbeiterklasse, ihrer ruhmreichen Partei und dem aufopferungsvollen Wirken ihrer Mitglieder gebe' . – Das war eine Beurteilung, für die ein real existierender Kritiker seinen Namen nicht hergeben mochte.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 07/1990

Verblendung

(USA 2011, Regie: David Fincher)

Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
von Harald Steinwender

Gerade einmal zwei Jahre ist es her, dass Stieg Larssons 'Millennium'-Trilogie verfilmt wurde. Damals in den Hauptrollen: Noomi Rapace als geniale Hackerin Lisbeth Salander und Michael Nyqvist als Enthüllungsjournalist Mikael …

Gerade einmal zwei Jahre ist es her, dass Stieg Larssons 'Millennium'-Trilogie verfilmt wurde. Damals in den Hauptrollen: Noomi Rapace als geniale Hackerin Lisbeth Salander und Michael Nyqvist als Enthüllungsjournalist Mikael Blomkvist. Die schwedisch-europäischen Kino/Fernseh-Koproduktionen, als 'amphibische Filme' zugleich im Kino und in erweiterten Fassungen im Fernsehen ausgewertet, waren kommerziell erfolgreich. Auch viele Fans der Romanvorlage waren mit Rapaces tough-herber Salander-Interpretation zufrieden. Leider kamen die Filme von Niels Arden Oplev ('Män som hatar kvinnor' / 'Verblendung') und Daniel Alfredson ('Flickan som lekte med elden' / 'Verdammnis' und 'Luftslottet som sprängdes' / 'Vergebung'; alle 2009) kaum über das Niveau herkömmlicher Fernsehkrimis hinaus. Wirkliche Überraschungen gab es wenige, einzig vielleicht die Härte, mit der die Vergewaltigung der Protagonistin durch einen schmierigen Sozialarbeiter – eben einer der 'Männer, die Frauen hassen' des Originaltitel – im ersten Teil inszeniert wurde. Für mehr – visuell, dramaturgisch, ästhetisch – hätte es der Chuzpe eines Dominik Graf bedurft, der zuletzt in seinem 'Polizeiruf 110' 'Cassandras Warnung' (2011) genrekundig Anspielungen auf italienische Gialli wie Aldo Lados 'Chi l’ha vista morire?' ('The Child – Die Stadt wird zum Alptraum'; 1972) und Lucio Fulcis 'Non si sevizia un paperino' ('Don’t Torture a Duckling'; 1972) unterbrachte und stilistisch hemmungslos über die Stränge schlug. Oder es hätte die abgründige Neugierde und die Professionalität gebraucht, die Jimmy McGoverns britische Krimiserie 'Cracker' ('Für alle Fälle Fitz'; 1993-96) in den 1990er Jahren ausgezeichnet hatten. Davon war in den Salander-Filmen jedoch nur wenig zu spüren. Bezugspunkt war nicht das europäische Populärkino, sondern das risikofreie Einerlei der fürs Fernsehen zusammengezimmerten 'Schwedenkrimis' à la Wallander & Co. Die Leinwand- und Mattscheibengeschichten vom 'Mädchen mit dem Drachen-Tattoo' klebten zu nahe an den Vorlagen, zeichneten sich durch allgemeine Mutlosigkeit und ästhetische Beliebigkeit aus. Und, auch wenn ich mir jetzt alle Sympathien der Larsson-Fans endgültig verscherze: Noomi Rapaces Lisbeth Salander hat mich nie so recht überzeugt – nicht bevor ich die Bücher gelesen hatte, und noch weniger danach.

In diesem Sinn ist der zurzeit in Internetforen ausgelebte antiamerikanisch gefärbte Furor darüber, dass Hollywood nun auch diesen Stoff vereinnahmt hat und ihn David Fincher zu einer neuen Trilogie verarbeitet, völlig überzogen. Gewiss, ohne kommerzielles Kalkül, das im Übrigen schon die ersten Adaptionen motiviert hat, hätte Fincher seine zehn Mal höher budgetierte Neuverfilmung 'The Girl With the Dragon Tattoo' ('Verblendung'; 2011) nie gedreht. Andererseits gibt es aktuell keinen US-Regisseur, der so dafür prädestiniert wäre wie der Regisseur von 'Seven' ('Sieben'; 1995), 'Fight Club' (1999) und 'Zodiac' (2007).

Tatsächlich ist Fincher eine sehr gute Adaption gelungen: angemessen düster, elegant, wo nötig auch brachial, und vor allem: filmischer als der europäische Vorgänger. Fincher überhöht und stilisiert das Material durch elegant gleitende Kamerafahrten, richtet mit Stammkameramann Jeff Cronenweth sorgfältig kadrierte Bilder ein und findet einige krasse Kontrapunkte wie etwa den zynischen Einsatz von Enyas Popsong 'Orinoco Flow (Sail Away)', der während der entscheidenden Konfrontation mit dem Serienmörder im weiß gekachelten Folterkeller hämisch im Hintergrund säuselt. Wie schon für The Social Network' liefern Trent Reznor und Atticus Ross einen zwischen Industrial, Rock und Klangcollage pendelnden Score, der die düstere Bildsprache ideal ergänzt. Überzogen wirkt lediglich Onur Senturks pompöse Vorspannsequenz, die an einen überproduzierten Videoclip erinnert und deren Anspielungen von Karl Blossfeldt über Saul Bass bis zu Maurice Binders 'James Bond'-Titelsequenzen reichen.

Die beiden einzigen wirklichen Probleme des neuen 'Girl With the Dragon Tattoo' entziehen sich Finchers Einfluss. Zum einen ist die Vorlage, und damit die Handlung, mittlerweile hinlänglich bekannt und bietet vor allem innerhalb der ersten 30 Minuten viele Déjà-vus. Die Romane, ihre Hörbuchfassungen und die ersten Adaptionen haben Larssons Plot, seine Figuren, ihre mitunter merkwürdigen Idiosynkrasien und forcierten Wendungen so sehr im kollektiven Gedächtnis verankert, dass der Film auf der Plot-Ebene zumindest europäischen Zuschauern nur wenig zu bieten hat. Das andere Problem ist grundlegender, denn Larsson war zwar ein begabter Geschichtenerfinder, aber zugleich ein eher mittelmäßiger Schriftsteller. Seine 'Millennium'-Trilogie leidet unter unzähligen überflüssigen Plot-Twists, Ausschmückungen, Überzeichnungen und Logiklöchern. Und diese Mängel kann auch das beste Drehbuch, soll es denn der Vorlage halbwegs treu bleiben, nur notdürftig kaschieren. Ein ähnliches Problem konnte auch Ridley Scott bei seiner barocken Thomas-Harris-Adaption 'Hannibal' vor zehn Jahren nicht ganz überwinden.

Zugegebenermaßen sind Larssons Romane mitreißend, letztlich aber Pulp. Wie überkonstruiert die Vorlagen sind, zeigt schon der Charakter Lisbeth Salander: ein gesellschaftlicher Outcast, in der Kindheit traumatisiert, bisexuell, mit fotografischem Gedächtnis und brillantem mathematischen Verstand ausgestattet, angetrieben von einer gehörigen Wut auf das ganze Sexistenpack, das halb Schweden zu bevölkern scheint. Larssons Lisbeth Salander ist sexuell aggressiv und Opfer zugleich, Vergewaltigte und Vergewaltigerin, fragil und kindlich im Körperbau, zugleich eine martialische Kampfmaschine, die sich ihre Wehrhaftigkeit mit einem Drachen- und einem Wespen-Tattoo auf ihren Körper eingeschrieben hat. Doch frei nach Umberto Eco gilt auch hier: Zwei Klischees sind lächerlich, hundert Klischees sind ergreifend. Und so ist die Figur Lisbeth Salander gar nicht so weit von Thomas Harris’ Kannibalenpsychiater Hannibal Lecter entfernt: eine grotesk mit Allmachtsfantasien überladenen Figur, die sich wie aus dem Nichts trotz (und gerade wegen) ihrer Widersprüchlichkeit in der populären Kultur festsetzt. Beide Figuren, Lecter wie Salander, vereinen die denkbar extremsten Gegensätze in sich: Intellekt und Barbarei, Licht und Schatten, Männlichkeit und Weiblichkeit. Als Grenzgänger zwischen dem Erhabenem und dem Banalen sind sie gleichermaßen Figuren der populären Mythologie geworden. Dabei ist die Figur, die der ehemalige Polizeireporter Harris mit Lecter entwarf, freilich ein dunkler Souverän, der sich mit nietzscheanischem Gestus zum Bösen ermächtigt, während Salander gewissermaßen den 'linken' Gegenentwurf dazu bildet, von einem der Gegenöffentlichkeit verpflichteten Journalisten erschaffen als Figur, die sich aus dem sozialen Abseits aufschwingt, das Leid der Frauen in einer misogynen Gesellschaft zu rächen.

Und wie bei den Hannibal-Lecter-Verfilmungen steht und fällt alles mit der Besetzung der zum mythischen Racheengel erhobenen Hauptfigur. Mögen auch Daniel Craig als zwischen Idealismus und Weltschmerz pendelnder Enthüllungsjournalist, Christopher Plummer und Stellan Skarsgård als Mitglieder der dysfunktionalen Industriellenfamilie Vanger und all die anderen Schauspieler ideal besetzt sein – der Coup des neuen Films ist Rooney Mara als Lisbeth Salander: eine rotzige Punkrockgöre, ein furioses Riot Grrrl, eine schwarze Pippi Langstrumpf. Mara ist ein mörderisches Mädchen mit den Schwefelhölzern und einem Benzinkanister. Natürlich wird es diejenigen geben, die Noomi Rapace als Lisbeth Salander weiter die Treue halten werden. Aber ganz im Ernst: Mara ist die bislang glaubwürdigste Inkarnation von Larssons androgyner Kriegerin mit all ihren Widersprüchen. Die 26-jährige Darstellerin, die bereits in 'The Social Network' eine bravouröse Leistung ablieferte, wird als 'The Girl With the Dragon Tattoo' ihren Durchbruch feiern. Sie legt Feuer im kontrollierten Chaos der Hochglanzbilder.

Der atmende Gott – Reise zum Ursprung des modernen Yoga

(D 2011, Regie: Jan Schmidt-Garre)

Spiritueller Kern
von Wolfgang Nierlin

Auf den ersten Blick sehen die Asanas genannten Yoga-Übungen, die ein alter Demonstrationsfilm vom Meister Krishnamacharya und seinen Schülern zeigt, eher anstrengend und „ungesund“ aus. Und doch zeugen die perfekt …

Auf den ersten Blick sehen die Asanas genannten Yoga-Übungen, die ein alter Demonstrationsfilm vom Meister Krishnamacharya und seinen Schülern zeigt, eher anstrengend und „ungesund“ aus. Und doch zeugen die perfekt ausgeführten, harmonisch wirkenden Körperhaltungen von einem hohen Maß an geistiger Konzentration und Energie. Geradezu artistisch biegen sich die Körper in komplizierte Stellungen. Es wundert deshalb kaum, dass Yoga in seinen Anfängen von vielen als eine Art spektakuläre Zirkusdarbietung
angesehen wurde, die von „Scharlatanen und Halbdebilen“ praktiziert wurde. Das jedenfalls behauptet der berühmte Yoga-Lehrer B. K. S. Iyengar, der zum Yoga kam, um diese Vorurteile zu widerlegen. Und der zugleich von der Zurückweisung durch seinen Lehrer und Schwager T. Krishnamacharya angestachelt wurde, seine Befähigung unter Beweis zu stellen. Dieser ebenso legendäre wie unerbittlich strenge „Lehrer der Lehrer“ steht im Zentrum von Jan Schmidt-Garres „Reise zum Ursprung des modernen Yoga“, wie seine filmische Spurensuche „Der atmende Gott“ im Untertitel heißt.

Doch die historischen Fakten und überlieferten Dokumente, für die der eingangs erwähnte Film ein beeindruckendes Beispiel ist, sind ansonsten spärlich. Krishnamacharyas südindischer Geburtsort Muchukunte, wo er um 1890 zur Welt kam, wurde umgesiedelt; und die heutigen Dorfbewohner wissen nur Widersprüchliches zu berichten. Also befragt Schmidt-Garre, der selbst Yoga praktiziert und sich in einigen Szenen dem anstrengenden Unterricht aussetzt, die Kinder und ehemaligen Schüler Krishnamacharyas an den Orten seines Wirkens. Neben Iyengar trifft er unter anderen auf den 1915 geborenen Pattabhi Jois, der während der Dreharbeiten starb. In seiner Schule in Mysore erzählt Jois von der harten Schule des Meisters, der seine Schüler oft mit Schlägen traktierte und in schmerzhafte Asanas zwang.

Jan Schmidt-Garres sehr persönlicher Versuch, mit noch lebenden Zeitzeugen, wenigen Fakten und körperlich-geistiger Selbsterfahrung die Geschichte des Yoga und seiner verzweigten Praxis zu rekonstruieren, erweist sich für den Laien teils als speziell und uneinheitlich. Der religiöse Ursprung des Yoga und die genaue Bedeutung seiner Techniken entziehen sich immer wieder. Doch gerade im Ungreifbaren und den Verschiebungen zeigt sich andererseits der gemeinsame spirituelle Kern dieser ganzheitlichen Lehre, die dazu verhelfen soll, durch konzentrierte Koordination von Atem und Bewegung den Geist zu kontrollieren und die körperliche Vitalität zu steigern. Idealerweise kommt dabei die Seele des Yogis mit Gott in Kontakt.

Abendland

(A 2011, Regie: Nikolaus Geyrhalter)

Komplexe Situationen
von Wolfgang Nierlin

Es sei „ein Film über Europa in der Nacht“, sagt der österreichische Regisseur Nikolaus Geyrhalter über den doppeldeutigen Titel seiner neuen dokumentarischen Arbeit „Abendland“. Sein höchst konzentrierter Blick auf ausgewählte …

Es sei „ein Film über Europa in der Nacht“, sagt der österreichische Regisseur Nikolaus Geyrhalter über den doppeldeutigen Titel seiner neuen dokumentarischen Arbeit „Abendland“. Sein höchst konzentrierter Blick auf ausgewählte Lebens- und Arbeitswelten der „Festung Europa“ verfolgt dabei zwei Fragestellungen, die eng miteinander zusammenhängen und die das „Prinzip der Exklusivität, des Nicht-Teilens“ untersuchen: „Wie leben wir?“ Und: „Was beschützen wir?“ Sein Nachdenken über die Privilegien des Mitteleuropäers und seine politischen wie sozialen Verfahren kultureller Ausschließung führen Geyrhalter an Orte, die als Teile des Ganzen die Totalität gesellschaftlicher Funktionsweisen zum Vorschein bringen. So beobachtet er in einer langen Abfolge wechselnder Schauplätze und unkommentierter Szenen jene Arbeitsprozesse, die das System zwar am Laufen halten und seine Sicherheit weitgehend gewähren, deren materialistischer Kern aber zugleich vielfältige Formen der Entfremdung sichtbar macht.

Die Briefsortierung in einem Postzentrum, die in jeder Hinsicht zugespitzte, geradezu absurde Massenabfertigung in der drangvollen Enge des Münchner Oktoberfests kurz vor dem Kollaps oder auch die erschreckend unterkühlte Routine der Arbeitsabläufe in einem Krematorium sind dafür die offensichtlichsten Beispiele. Wobei diese Einblicke immer wieder dadurch verblüffen, dass sie Alltäglichstes überhaupt erst bekannt machen, es in Bilder setzen, die teilweise futuristisch anmuten; so etwa die intensivmedizinische Betreuung auf einer Säuglingsstation oder auch die hochspezialisierte Arbeit beim Flugzeugbau. Dabei vermittelt der Film immer wieder Kontraste zwischen dem Vertrauten und dem Fremden, zwischen Nähe und Distanz, die auf jene Grenzen im Innern eines komplizierten Apparates verweisen, der sich zugleich nach außen abschottet. Die Sicherung dieser inneren und äußeren Grenzen dokumentiert Geyrhalter an den Außenposten europäischer Grenzzäune (z. B. in der spanischen Exklave Melilla) sowie in den mit Videoüberwachung arbeitenden Kontrollzentren der Großstädte am Beispiel Londons.

„It’s a complex situation“ lautet eine Textzeile, die durch das (be)dröhnende Techno-Gewitter des Qlimax-Rave im niederländischen Arnheim dringt, wo sich tausende Party-Jünger der kollektiven Ekstase hingeben. Geyrhalter, der den existentiellen Gehalt seiner minutiösen Beobachtungen oft in Totalen verdichtet, gibt in wenigen Szenen diese objektivierende Distanz auf und mischt sich regelrecht unter die taumelnden, nach Entgrenzung suchenden Menschen. Hedonistischer Eskapismus und politische Flucht, Ausgrenzung und Kontrolle bilden die widersprüchliche Textur dieser filmischen Aufzeichnungen, einer Art ethnographischer Vermessung des Abendlandes. Im Sprachengewirr des Europäischen Parlaments wird diese Differenz sogar hörbar. Nikolaus Geyrhalter und sein Ko-Autor und Cutter Wolfgang Widerhofer finden beim Aufspüren des verborgenen Lebens aber auch Verbindendes zwischen den Menschen, das sich in der Sorge, der Pflege und Beratung ausdrückt.

Angesichts einer immer komplexer werdenden Gesellschaft und den Anfechtungen des geistlichen Berufs fragt ein lateinamerikanischer Priester den Papst bei einer Audienz vor dem Petersdom: „Welchen Weg sollen wir gehen, Heiliger Vater, in welche Richtung?“ Und Papst Benedikt antwortet, dass nur in der Liebe zu Gott Sicherheit und Trost liege.

Das traurige Leben der Gloria S.

(D 2011, Regie: Ute Schall, Christine Groß)

Das ganze Leben ist ein Spiel
von Ulrich Kriest

Mit ihrem Spielfilm über Ulrike Meinhof ist die linke Filmemacherin Charlotte selbst nicht ganz glücklich: ihr radikaler Ansatz verläpperte sich, die Hauptdarstellerin zickte herum, ein alter Genosse bemängelt, dass der …

Mit ihrem Spielfilm über Ulrike Meinhof ist die linke Filmemacherin Charlotte selbst nicht ganz glücklich: ihr radikaler Ansatz verläpperte sich, die Hauptdarstellerin zickte herum, ein alter Genosse bemängelt, dass der Film „total im Melodram hängengeblieben“ sei. Um künstlerisch wieder Boden unter die Füße zu bekommen, entschließt sich Charlotte spontan, einen Dokumentarfilm über die Armut alleinerziehender Mütter zu drehen. Ein billiger Film soll es werden, gedreht mit ganz kleinem Team. Leider hat Charlotte keine Ahnung, wo man diese Mütter findet und wie man sie anspricht. Also entschließt sie sich zum gewohnten Vorgehen und lädt zum Casting ein.

Hier kommt die unter prekären Bedingungen lebende Schauspielerin Gloria ins Spiel, die seit Jahr und Tag mit ihrer nicht sonderlich begnadeten Off-Off-Theatertruppe eine Handvoll Zuschauer beglückt. Leider weiß Gloria von der sozialen Realität alleinerziehender Mütter so wenig wie Charlotte und ihr Team, weshalb sich Gloria eine Legende zulegt, die es in sich hat: Alkohol, Gefängnis, Vergewaltigung hinter Gittern, schwangere, minderjährige Tochter, häusliche Gewalt, Hartz-4. Klar, dass Gloria »die Rolle« bekommt. Die Dreharbeiten gestalten sich schwierig. Um ihre Rolle auszufüllen, muss Gloria etwas tun, was sie auch sonst gerne tut, obwohl sie es nicht kann: sie improvisiert und inszeniert Realität mit den Mitteln des Off-Theaters radikal ins Absurde. Das Filmteam ist begeistert: so etwas Authentisches könne man ja wohl gar nicht inszenieren! So treffen hier zwei Vorstellungen – von Theater und Film – Authentizität suchend aufeinander, grotesk, Funken schlagend.

Aufgrund der Fallhöhe von Glorias fiktiver Biografie bekommen nach und nach sämtliche Mitglieder der Theatertruppe ihren Platz vor der Kamera, mal als gewalttätiger Ex-Ehemann, mal als krimineller Freund der Tochter, mal als Junkie. Während die Theaterschauspieler beginnen, über die möglichen Wünsche der Filmzuschauer nach etwas Positivem nachzudenken und diesen Wünschen vor der Kamera entgegenkommen, entdeckt das Filmteam die ästhetischen Möglichkeiten der dokumentarischen Form und experimentiert mit kunstgewerblichen Filmzitaten. Der Humor, der aus dem Zusammenprall der Kulturen erwächst, ist nicht immer subtil, aber dafür ungeheuer treffsicher. Wenn sich beispielsweise ein Schauspieler bei seiner Rolle von „Taxi Driver“ inspirieren lässt, findet die Ton-Assistentin soviel Verruchtheit echt sexy. Schließlich fliegt der Schwindel auf – und dann rächt sich das brüskierte Filmteam, indem es Glorias Fiktion in die Pflicht nimmt. Wann im „Reality Format“ die Dreharbeiten beendet sind, bestimmt das Filmteam, nicht der Darsteller.

So verdeutlicht der Film nicht nur die abgründige Macht-Konstellation, die dem Reality-Format innewohnt, sondern auch, wie der Gier nach Authentizität die Wirklichkeit abhanden kommt, weil sie nur noch imaginiert wird. Übrigens: man sollte am Schluss im Kino sitzen bleiben, denn der Film hält noch eine letzte Volte bereit. Wenn im deutschen Film gar nichts mehr geht, dann gibt es immer noch die Option der Literaturverfilmung. Großartig!

Branded to Kill

(J 1967, Regie: Seijun Suzuki)

Loch im Kopf
von Carsten Moll

Mit dem Beginn des Kinozeitalters waren auch die bewegten Bilder von Waffen aller Art da, bereits im Proto-Western „Der große Eisenbahnraub“ von 1903 hatte ein Revolver einen prominenten Auftritt und …

Mit dem Beginn des Kinozeitalters waren auch die bewegten Bilder von Waffen aller Art da, bereits im Proto-Western „Der große Eisenbahnraub“ von 1903 hatte ein Revolver einen prominenten Auftritt und verhalf dem Film zu seiner berühmtesten Szene: Ein Bandit steht frontal zur Kamera, zielt mit seinem Revolver direkt in ihr Zentrum und feuert ab (und nimmt dabei gleich die gun barrel sequence aus den James-Bond-Filmen vorweg). Schüsse ins Publikum sind seitdem fester Bestandteil des Kinos und mittlerweile auch in 3D oder Zeitlupe gang und gäbe. Spätestens seit „Robin Hood – König der Diebe“ von 1991 ist aber auch die arrow cam als filmisches Gegenstück äußerst populär. Hierbei fliegt die Kamera mit Geschossen wie Pfeilen und Pistolenkugeln mit oder nimmt gleich vollständig deren Perspektive ein, bis der Flug beispielsweise im Kopf eines Orks oder Kindersoldaten endet. Die Beispiele sind zahllos („Der Herr der Ringe“, „Lord of War“, „Der Soldat James Ryan“…), unübertroffen bleibt aber der Sturzflug mit einem tonnenschweren Sprengkörper aus Michael Bays Materialschlacht „Pearl Harbor“; wie Münchhausen reitet die Kamera auf der japanischen Bombe, die auf ein US-amerikanisches Schlachtschiff zurast. Die Sequenz ist so sinnfrei wie der ganze Film, der nur Spektakel und Pathos stammelt, aber hier offenbart sich die ganze Blödheit auf so unübersehbare Weise, dass sie all die subtileren, aber ähnlich verkorksten Filme gleich mitverrät: Georg Seeßlen hat „Pearl Harbor“ treffend als „eine als Weltkrieg verkleidete Sexualneurose“ bezeichnet, problematisch wird ein Film wie „Pearl Harbor“ jedoch erst dadurch, dass er Männlichkeitswahn und Allmachtsfantasien nicht reflektiert und Gewalt ohne jede Irritation als cumshot zelebriert.

1967 kam Seijun Suzukis Yakuza-Film „Branded to Kill“ in die japanischen Kinos, eine B-Movie-Produktion, die bei Kritikern und Publikum gnadenlos durchfiel und Suzukis Karriere als Regisseur für 10 Jahre lahm legen sollte. Eigentlich als gewöhnlicher Genrefilm mit Anleihen an den Film noir und die James-Bond-Reihe (Bond rettete im selben Jahr mit Hilfe der Japaner die Welt vor den Chinesen) konzipiert, geriet der Film unter Suzukis spontaner Arbeitsweise und dank seiner Vorliebe für skurrile Ideen zu einem schwer klassifizierbaren Werk. „Branded to Kill“ übertreibt und pervertiert lustvoll Genrekonventionen und vermischt gängige Filmklischees mit abwegigen Einfällen. Ähnlich wie im ebenfalls 1967 uraufgeführten „Bonnie und Clyde“ oder den Filmen Hitchcocks dient der Krimi-Plot dabei als Vehikel für psychosexuelle Erzählungen; die Pistole ist offensichtlich ein Phallus und wird auch so in Szene gesetzt, sie ist Hauptdarstellerin in einer komplexen Geschichte über die Verknüpfung von Sexualität, Gewalt und Macht. Wo James Bonds – letztendlich kalter – Machismo mit leicht ironischer Brechung lediglich als cool und stylisch inszeniert wird, da entwirft Suzuki mit seiner Profikillerballade ein düsteres und ungemein vielschichtigeres Gegenbild. Selten wirkte eine Pistole so lächerlich winzig wie in den zitternden und schwitzigen Händen des Killers Hanada, die Schusswechsel sind hier kein anmutiges Ballett sondern Slapstick, der mit einem Loch im Kopf endet.

In „Branded to Kill“ treten all die Widersprüche und Obsessionen offen zutage, die in den typischen Genreproduktionen meist nur latent sind oder vollkommen ausgeblendet werden. Als ein Kommentar hierzu lässt sich die Sexszene sehen, in der der vom Duft von frisch gekochtem Reis aufgegeilte Hanada sich mit seiner Frau quer durch das Haus koitiert. Dabei wird nur das Bett ausgelassen, Bilder vom unberührten weißen Laken und vom Geschlechtsakt an anderen Orten des Hauses werden ineinander montiert und verweisen so auf Suzukis Abweichen von der Konvention und die Leerstelle, auf die es sich bezieht. Der Film folgt seinem perversen Protagonisten dabei so konsequent, ja zwanghaft auf seinen Abwegen, dass „Branded to Kill“ wie ein bizarrer Fiebertraum anmutet, der gar nicht anders kann, als in einer Tragödie zu enden. Wo Hitchcock Traum und Wirklichkeit recht sauber trennt und seinen (Anti-)Helden eine Auflösung gönnt, da verwischen bei Suzuki alle Grenzen und hinterlassen einen oft ratlos. Alles Heroische verschwindet, das Loch im Kopf bleibt.

Unmoralische Geschichten

(F 1974, Regie: Walerian Borowczyk)

Der unsichtbare Liebhaber
von Oliver Nöding

Ein zwanzigjähriger Junge führt seine vier Jahre jüngere Cousine an einen abgelegenen Teil der Küste, wartet, bis die Flut sie abgeschnitten hat und überredet sie dann zum Oralverkehr. Er kommt …

Ein zwanzigjähriger Junge führt seine vier Jahre jüngere Cousine an einen abgelegenen Teil der Küste, wartet, bis die Flut sie abgeschnitten hat und überredet sie dann zum Oralverkehr. Er kommt zum Orgasmus, während er ihr die Entstehung der Gezeiten erklärt.

Ein junges Mädchen wird in ein Zimmer gesperrt, weil sie zu lang in der Kirche war. Sie findet ein Buch mit erotischen Zeichnungen und masturbiert mit einer Gurke. Als sie danach das Haus wieder verlässt, wird sie von einem Vagabunden überfallen und vergewaltigt.

Die Gräfin Elisabeth Bathory wählt in einem Dorf jungfräuliche Mädchen aus, die sie zu sich ins Schloss bringen lässt. Dort lässt sie sich von diesen erst die Kleider vom Leib reißen, bevor sie sie umbringen lässt, um in ihrem Blut zu baden. Ihr Diener, wie sich herausstellt selbst ein junges Mädchen und die Geliebte der Gräfin, verrät sie schließlich an die Polizei.

Gemeinsam mit ihrem blutarmen Gatten Giovanni Sforza besucht die Fürstin Lucrezia Borgia ihren Vater, Papst Alexander VI. Während er sich im Beisein Sforzas an seiner Tochter vergeht, klagt Hieronymus Savonarola von der Kanzel den unmoralischen Lebenswandel von Adel und Klerus an, bis er abgeführt wird.

Der polnische Regisseur Walerian Borowczyk schlug mit seinen poetischen Erotikfilmen in den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren die Brücke zwischen Autorenkino, Pornografie und Exploitation, platzierte sich letztlich aber so zielsicher zwischen diesen beiden Polen, dass er von keiner Seite wirklich aufgenommen wurde und heute als einer der großen vergessenen Autoren des anspruchsvollen Films der Siebzigerjahre gilt. Der Episodenfilm „Unmoralische Geschichten“, sein dritter Spielfilm, der als Vorbereitung auf den ein Jahr später erschienenen meisterlichen „La Bête“ betrachtet werden darf, wird meist als Thematisierung verschiedener sexueller Tabubrüche – Oralverkehr, Masturbation und religiöse Obsession, lesbische Liebe und Blutlust, Inzest –beschrieben. Eine Sichtweise, die mit etwas Distanz zwar durchaus nachvollziehbar ist, dem unmittelbaren Eindruck, den der Film beim Zuschauer hinterlässt, aber kaum gerecht wird. Denn während der Betrachtung tritt die Frage nach einem „Inhalt“ des Films weit in den Hintergrund. Mehr als durch eine Handlung oder ein Thema zeichnet „Unmoralische Geschichten“ ein bestimmter Kamerablick aus, der nicht so sehr von voyeuristischer Lust und Gier geprägt ist als vielmehr von wissenschaftlicher Neugier und Zärtlichkeit. Mehr als daran, einen erotischen (und erotisierenden) Film zu drehen, schien Borowczyk daran interessiert, überhaupt die Möglichkeiten filmischer Abbildung von Körpern und Liebe zu erproben, zu verstehen, wie das Körperliche sich adäquat mit der Technik einfangen lässt. Der Film ist eine ständige Annäherung, ein Schleichen, Suchen und Ausprobieren.

„Unmoralische Geschichten“ hat einen unverkennbar essayistischen Charakter, seine einzelnen Episoden sind wie kleine Aufgaben, die sich Borowczyk gestellt hat, eher Bilder, Eindrücke, Ideen als echte Geschichten. Das beginnt mit ihrer Verortung in vier verschiedenen historischen Epochen und setzt sich fort mit den an den Stummfilm erinnernden schwarzen Texttafeln, die jede Episode einleiten und ihren Inhalt vorwegnehmen. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers kann sich danach ganz auf die Bilder konzentrieren: auf das Tosen der Flut, die sich mit der Lust des Jungen emporzuschaukeln scheint; die Raserei, in die sich das masturbierende Mädchen hineinsteigert und damit der Enge ihres vorübergehenden Gefängnisses entkommt; die weiße Haut der Jungfrauen im Kontrast zu ihrem tiefroten Blut; der gerechte Zorn des in Lumpen gehüllten Ketzers Savonarola auf der einen, der selbstvergessene Exzess des dekadenten Adels und Klerus auf der anderen Seite. So intellektuell „Unmoralische Geschichten“ in seinem Entwurf auch sein mag, es sind keine Thesen und Gedanken, die sich aufdrängen, sondern eher Stimmungen und Gefühle: die greifbare, aber nicht wirklich begründbare Spannung zwischen Cousin und Cousine auf dem Weg zum Strand, das Nebeneinander von Angst und Lust, die Ekstase der beiden vor dem Hintergrund der ungerührten Natur; der sich machtvolle und unaufhaltsam Bahn brechende Orgasmus der Masturbierenden, der wieder an die Flut aus der Auftaktepisode denken lässt und dessen Ursprung längst nicht nur in den anzüglichen Bildchen liegen kann, die sie als Vorlage benutzt, sondern tiefer liegen muss; das neugierig-ungeduldige Hin und Her der Jungfrauen, die schließlich nicht wie eine Gruppe von Individuen, sondern wie ein einziger hungriger Organismus über die sich ihnen bereitwillig darbietende Blutgräfin Bathory herfallen, bevor sie schließlich selbst vertilgt werden, nach einem harten Schnitt, der das Unfassbare dieser Bluttat strukturell spiegelt; schließlich die stille Verzückung der streng frisierten Lucrezia Borgia, wenn sich der Papst – ihr Vater – an ihr vergeht. Die Kamera fängt das alles ganz ungerührt ein, bleibt selbst dann noch auf Distanz, wenn sie auf Tuchfühlung geht. Sie dringt nie in die Privatsphäre der Figuren ein, die ganz im Moment aufgelöst sind, keinerlei Außen wahrnehmen, ganz nach innen gewandt sind. Borowczyk schaut zwar ganz genau hin, wie die Lust sich in den Körpern abzeichnet, doch scheint sein Blick ja gleichzeitig auch an ihnen abzuprallen: Da ist noch etwas, das er nicht einfangen kann, etwas, das wesentlicher scheint als das erregte Stöhnen, das Aufbäumen der Leiber, die erigierten Brustwarzen. Etwas, für das diese bloß Zeichen sind, die zwar keiner Interpretation mehr bedürfen, aber dennoch nicht mit dem Bezeichneten identisch werden können.

Nach „La Bête“ veröffentlicht Bildstörung mit „Unmoralische Geschichten“ bereits den zweiten Film Borowczyks. Zwar reicht dieser nicht ganz an die Klasse des erstgenannten heran (der ursprünglich als eine Episode von „Unmoralische Geschichten“ geplant war, bevor er dann zu einem eigenständigen Film heranwuchs), doch da auch diese DVD wieder erstklassig ausgestattet ist, tut das dem Genuss keinen Abbruch. Neben dem Booklet mit einem ausführlichen Essay von Daniel Bird finden sich der Kurzfilm „Une Collection Particulere“ über Sexspielzeuge, der „Unmoralische Geschichten“ eigentlich eröffnen sollte, bevor diese Idee wieder verworfen wurde, Interviews mit Kameramann Noël Véry und Regieassistentin Dominique Duvergé und Audiokommentare zu beiden Filmen im Bonusmaterial. Wer sich auch nur ein bisschen für erotisches Kino interessiert, kommt an „Unmoralische Geschichten“ nicht vorbei und hat hoffentlich längst zugeschlagen. Allen anderen aufgeschlossenen Filmliebhabern sei die DVD hiermit wärmstens ans Herz gelegt, zumal man mit dem Kauf das derzeit vielleicht beste DVD-Label Deutschlands unterstützt.

Der Leichenverbrenner

(CSSR 1968, Regie: Juraj Herz)

Der schnellste Weg ins Paradies
von Oliver Nöding

Die Kälte steigt einem in den Nacken, wenn der „Leichenverbrenner“ Karl Kopfrkingl (Rudolf Krusínský) – Bestatter und stolzer Betreiber eines staatlichen Krematoriums –, dessen glitschige Konturlosigkeit die Verwandlung vom braven …

Die Kälte steigt einem in den Nacken, wenn der „Leichenverbrenner“ Karl Kopfrkingl (Rudolf Krusínský) – Bestatter und stolzer Betreiber eines staatlichen Krematoriums –, dessen glitschige Konturlosigkeit die Verwandlung vom braven Tschechen zum aufrechten Nazi mit deutschem Blut erheblich begünstigt hat, sich seiner jüdischen Gattin nähert, sie quer durch die Zimmer der gemeinsamen Wohnung verfolgt wie ein hungriges Raubtier. „Ist heute nicht unser Hochzeitstag? Oder wenigstens der Jahrestag unseres Kennenlernens?“, fragt er die sichtlich verängstigte Frau, der er mithilfe der subjektiven Kameraperspektive so dicht auf den Leib rückt, dass man sich als Zuschauer schämt ob dieser unangemessenen Nähe. Der angekündigte romantische Abend endet schließlich wenig später im klinisch anmutenden Badezimmer, wo Kopfrkingl seiner Frau mit dem schlangenhaften Charme des Hypnotiseurs auf einen Hocker hilft und ihr eine Schlinge um den Hals legt …

„Der Leichenverbrenner“ erzählt die Geschichte eines Mannes, der in den Tod verliebt ist. Das Leben ist für Karl Kopfrkingl nicht viel mehr als der beschwerliche Weg zur Erlösung und das Krematorium die größte Errungenschaft der Menschen. In nur 75 Minuten ermöglicht es, so berichtet er begeistert, wofür eine gewöhnliche Bestattung 20 Jahre braucht: den menschlichen Körper in Asche zu verwandeln und der Seele so den Eintritt ins Paradies zu gewähren. Während sich andere im makabren Wachsfigurenkabinett ob der ausgestellten Gräueltaten abwenden, mustert Kopfrkingl sie mit distanzierter Sachlichkeit, doch gleichzeitig ist er ein hoffnungsloser Romantiker: Wenn er über den Tod spricht, die große Befreiung nach einem Leben, das doch nur lästiges Vorspiel ist, spricht da auch ein Mann, der dem Irdischen merkwürdig enthoben scheint. Dem schwärmerischen Ton, mit dem er über seinen Beruf spricht, fehlt der Körper: Kopfrkingl scheint nie ganz da, er entfleucht, sobald man meint, ihn in den Griff bekommen zu haben. Statt einer Identität ist da nur ein Mosaik aus Meinungen, Empfindungen, Ansichten und Motivationen, das sich immer wieder neu formiert, je nachdem, mit wem er spricht, in welcher Situation er sich befindet. So ist er besessen vom Leben nach dem Tod, doch gleichzeitig hat er panische Angst vor Krankheiten (gebetsmühlenartig erwähnt er, dass er weder raucht noch trinkt, als mache ihn das zu einem besseren Menschen). Er ist mit einer Jüdin verheiratet, doch macht mit den Nazis gemeinsame Sache. Er gesteht seinen Kindern seine Liebe, während er ihren Mord plant. Kopfrkingl ist der ideale Opportunist: Er scheint Vor- und Nachteile einer Entscheidung gar nicht mehr gegeneinander abwägen zu müssen; wie ein Chamäleon passt er sich ganz instinktiv seiner Umgebung an. Er bleibt sich immer treu, weil er gar keine feste Persönlichkeit hat, die er verbiegen müsste.

„Der Leichenverbrenner“ entstand unter der Regie von Juraj Herz 1968 während des Prager Frühlings, einer Zeit, in der in dem kommunistischen Staat plötzlich Vieles möglich schien und in der der Regisseur nach eigenem Bekunden glaubte, „dass das gesamte tschechische Volk den Russen die Stirn bot“. Herz‘ düsterromantische Schauerkomödie richtet sich also nicht bloß gegen das damals schon vergangene Regime der Nationalsozialisten (unter dem der Regisseur als Zehnjähriger selbst im Konzentrationslager landete), vielmehr nutzt er diese Fassade, um gegen die totalitäre Herrschaft der Kommunisten vorzugehen. Kopfrkingl ist einer der nützlichen Idioten, die jede Diktatur braucht, um bestehen zu können: Er verkörpert die Banalität des Bösen, die Eichmann’sche Biederkeit, die sich kritiklos jedem Befehl unterwirft, die so willen- und rückgratlos ist, das sie gar nicht erst geformt werden muss – sie passt sich beim leichtesten Druck von außen automatisch an. Aber auch beim Kommunismus bleibt Herz mit seiner Kritik nicht stehen: Alle diese Ideologien scheinen nur Ableger einer übergeordneten zu sein – der Religion, die mit ihren Versprechungen von einem paradiesischen Leben nach dem Tod den Grundstein für Niedertracht und Egoismus gelegt hat. Hinter Kopfrkingls Wahn steht eine Lebensfeindlichkeit, die zur Gefahr für seine Mitmenschen wird.

„Der Leichenverbrenner“ gilt heute als einer der wichtigsten Vertreter der tschechischen „Neuen Welle“, auch wenn Juraj Herz von den meisten anderen Protagonisten dieser Bewegung aufgrund seiner Wurzeln im Puppenspiel nie wirklich akzeptiert wurde. Wie der ebenfalls bei Bildstörung erschienene „Valerie – Eine Woche voller Wunder“ zeichnet sich auch „Der Leichenverbrenner“ durch eine absolut einzigartige Stimmung aus. Diese ergibt sich aus der Stellung des Films zwischen sehr konkreter, scharfer und präziser Gesellschaftskritik und träumerisch-poetischer Schauerromantik, die sich vor allem in seinen Bildern widerspiegelt. Die kontrastreiche Schwarzweiß-Fotografie malt sehr klare Bilder, die durch die expressive Kameraarbeit und raffinierte Schnitttechnik jedoch immer wieder verwischt werden. Es ist nie ganz klar, ob man sich als Zuschauer in einer sicheren Beobachterposition befindet oder doch im Kopf des Protagonisten gefangen ist. Und so verliert der Film bei aller Schärfe seiner Kritik nie die Ambivalenz, die zeitlose Kunst von bloßer Propaganda unterschiedet: Wenn die Montage Gesichtszüge und Körpermerkmale Kopfrkingls zu Beginn immer wieder mit solchen von Raubtieren gleichsetzt, ist es nur die naheliegendste Deutung, dahinter einen Hinweis auf seine Gefährlichkeit zu sehen. Die viel beunruhigendere sagt einem, dass dieser Mensch nicht etwa böse ist, sondern auch nur seiner Natur folgt.

Bildstörung setzt seine beeindruckende Veröffentlichungsreihe mit diesem Juwel fort, das Lust auf weitere Perlen eines oft übersehenen Filmlandes macht. Die DVD kommt im schön gestalteten Pappschuber und enthält als Bonusmaterial einen Audiokommentar von Juraj Herz, ein knapp halbstündiges Featurette, ein alternatives Ende des Films und ein umfangreiches Booklet mit einem Essay von Adam Schofield sowie einem ausführlichen Interview.

The Look

(F / D 2011, Regie: Angelina Maccarone)

Brechungen des Blicks
von Wolfgang Nierlin

„Ein Selbstportrait durch andere“ heißt Angelina Maccarones Film über die britische Schauspielerin Charlotte Rampling im Untertitel. Tatsächlich ist „The Look“, der die Doppeldeutigkeit bereits im Namen trägt, keine gewöhnliche, mehr …

„Ein Selbstportrait durch andere“ heißt Angelina Maccarones Film über die britische Schauspielerin Charlotte Rampling im Untertitel. Tatsächlich ist „The Look“, der die Doppeldeutigkeit bereits im Namen trägt, keine gewöhnliche, mehr oder weniger chronologisch gegliederte filmische Biographie über Leben und Werk einer außergewöhnlichen Schauspielerin. Im Wechsel von der objektiven zur subjektiven Seite der Betrachtung, die intime Selbstzeugnisse und Statements von Freunden beziehungsweise künstlerischen Weggefährten vereint, inszeniert Maccarone vielmehr ein sehr konzentriertes, klar strukturiertes Portrait entlang zentraler Themen und existentieller Fragen. Diese gliedern den Dokumentarfilm in neun Kapitel, denen wiederum Ausschnitte je eines Films aus dem umfangreichen Œuvre Ramplings kunstvoll zugeordnet sind.

Den Begegnungen und Gesprächen mit ausgesuchten Freunden an ausgewählten Orten kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. In Charlotte Ramplings Nachdenken über Alter und Schönheit, Liebe und Tod sind diese vertrauten Gegenüber Stichwortgeber und Resonanzkörper, die Erinnerungen und Reflexionen in Schwingungen versetzen. Im fotografischen, die Rollen tauschenden Flirt mit dem Starfotografen Peter Lindbergh etwa geht es um das komplizierte Wechselspiel von individuellem Ausdruck und seiner Widerspiegelung durch das Kamera-Auge; also darum, wie beispielsweise Ramplings legendärer, hier titelgebender „Blick“ den Blick des Fotografen lenkt und quasi mit Identität auflädt. Dabei bekennt sich die charismatische Schauspielerin ebenso zum instinktiven Spiel wie zum bewussten Tabubruch, der im Gespräch mit Juergen Teller über seine Fotos zum Buch „Louis XV“ sowie über Liliana Cavanis Skandalfilm „Der Nachtportier“ eine zentrale Rolle spielt.

So entstehen fast nebenbei auch kleine, skizzenhafte Portraits der Gesprächspartner, zu denen neben den beiden erwähnten Fotografen unter anderen auch die Schriftsteller Paul Auster und Frederick Seidel gehören. Den französischen Filmemacher François Ozon, der mit seinen in Ausschnitten zitierten Filmen „Unter dem Sand“ und „Swimming Pool“ der Schauspielerin ab dem Jahr 2000 zu einem künstlerischen Comeback verhalf, konnte Maccarone leider nicht gewinnen. Dafür findet sie in Ramplings ältestem Sohn Barnaby Southcombe, der als Regisseur und Schauspieler arbeitet, einen Sparringspartner, der bei einer nach der Meisner-Technik improvisierten Reaktionsübung im Boxring auf spielerische und sehr persönliche Weise die „Resonanzen“ verstärkt und zugleich fiktionale Brechungen erzeugt. Diese korrespondieren wiederum mit Maccarones dokumentarischem Stil, der die Anwesenheit des kleinen Filmteams über Spiegeleffekte integriert. „The Look“ verdichtet sich so zum facettenreichen Bild einer selbstbewussten, nachdenklichen Schauspielerin und starken Frau, die sich mit ihrem Faible für kontroverse und komplexe Rollen immer wieder gezielt jenseits des reinen Unterhaltungskinos positioniert.

Empire Me – Der Staat bin ich!

(A / LU / D 2011, Regie: Paul Poet)

Wegfall der Geschäftsgrundlage
von Dietrich Kuhlbrodt

Paul Poet ging für ZDF / Arte auf Weltreise von Brandenburg bis Australien und stellt jetzt flott und munter seine Beobachtungen vor. Eine musikunterfütterte, unterhaltsame TV-Doku über Leute, die aussteigen, …

Paul Poet ging für ZDF / Arte auf Weltreise von Brandenburg bis Australien und stellt jetzt flott und munter seine Beobachtungen vor. Eine musikunterfütterte, unterhaltsame TV-Doku über Leute, die aussteigen, in die Esoterik flüchten, sich Dealer ins Nest holen, mit Flößen auf Abenteuerfahrt gehen, sich touristisch verkaufen oder eine Sexsekte gründen. Sechsmal hat Poet Station gemacht, mal teilnehmend (Sex in Belzig), mal distanziert (Christiania, laut Film das Dealer- und Drogenparadies).

Das ist was zum Hinkucken. Trotzdem enttäuscht 'Empire Me'. In einem Einführungsvortrag werden wir gecoached. Erwin Strauss empfiehlt sein Buch How to Start Your Own Country, adressiert an Freigeister und Piraten. Leistet Widerstand! Jeder an seinem Platz! Aber nichts davon oder allenfalls nur ein bisschen von dem, was die Einleitung verspricht, löst der Reisebericht ein. Ein Gemeinsames der sechs Aussteigerstationen ist nicht erkennbar, schon gar nicht der Wille, Staat zu machen.

Die ausführlich begründete Eingangsthese meint es ernst. Was wir davon in Poets Bildern wiederfinden, ist Spaß, den sich die vielen mehr oder minder sympathischen Spinner machen. Jedenfalls ist die Familie auf der Nordsee-Schrottplattform schlau. Vater und Sohn kommen durchs Internet-Hacken und dubiose Geschäfte zu Geld. Mutter hat eine Pistole unterm Kopfkissen, um der aggressiven Hackerkonkurrenz zu widerstehen. Legal das alles, wegen der Kontakte zur Uno. Weiter nach Australien: Die Monarchenmaskerade wird zur Touristenattraktion. Geld fließt. Wieder weiter zur esoterischen Sekte im Piemont. Und dann nach Belzig: 80 Kilometer von Berlin wird 'Menschengestaltung' durch Sex geübt. Die Kamera kann sich nicht sattsehen an nackten Gestalten, in Öl gebadet. Brav hat ein Mädchen die Lektion gelernt: 'Ich schätze an euch Männern, dass ihr so gut in mir reinpasst.' Super das, macht doch Spaß, teilnehmenden. Überdies lernen wir, dass schon die DDR in Belzig den Frauen, die sie im Westen einsetzen wollte, beibrachte, wie man Liebe macht. – Schon gut, schon gut. Klar ist das putzig. Aber wird dadurch der brandenburgische Erotikrausch zur Widerstandsleistung?

Der Film driftet ab. Was bleibt, sind Schauwerte. Was zum Selbermachen? Nä, so kommen wir nicht ins Geschäft.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 01/2012

Tetsuo – The Bullet Man

(J 2009, Regie: Shinya Tsukamoto)

Der Eisenmann domestiziert
von Michael Schleeh

„Tetsuo: The Bullet Man“ ist bereits der dritte Teil in Shinya Tsukamotos zu einigem Ruhm gekommener Cyberpunk-Reihe, die er 1989 mit dem furios ungestümen ersten Beitrag „Tetsuo: The Iron Man“ …

„Tetsuo: The Bullet Man“ ist bereits der dritte Teil in Shinya Tsukamotos zu einigem Ruhm gekommener Cyberpunk-Reihe, die er 1989 mit dem furios ungestümen ersten Beitrag „Tetsuo: The Iron Man“ eröffnet hatte. Schon damals war es das Zusammenspiel aus dem Topos der Mensch-Maschinen-Metamorphose, dem industriellen Soundtrack, dem Schnittgewitter und der rasenden, anarchischen Erzählweise gewesen, die den Film sofort zum Kultobjekt gemacht hatte – also beinah eine ganze Dekade bevor Hideo Nakata mit seinem „Ringu“ (1998) das japanische J-Horror-Kino in jeden europäischen DVD-Player bugsierte und eine weitere, immer noch anhaltende Asienbegeisterung auslöste. So erschloss sich das Werk Tsukamotos vielen erst im Rückblick – was sicherlich auch ein Stück weit an der damals noch problematischen Veröffentlichungslage gelegen haben dürfte.

In „Tetsuo: The Iron Man“ war es die Verwandlung eines emotional verkrüppelten Mannes in einen riesigen, biomechanoiden, rotierenden Bohrer-Penis gewesen, der das Publikum schockierte und der außer Kontrolle geraten als transformiertes Subjekt-Objekt in der anonymen Megalopolis auf die Frau losging (ein Film, der sich als wunderbares Double-Feature zu Cronenbergs „Crash“ schauen lässt) – im „Bullet Man“ ist es nun ein Familienvater, der den Mörder seines Sohnes jagt. Neben dieser thematischen Nähe zu seinen Vorgängern ist es vor allem wieder die tsukamotosche ureigene Ästhethik, die den Film scheinbar unverkennbar macht. Ausgebleicht monochrome und metallene Bilder glatter Oberflächen einer in kalten Hochhäusern lebenden Karriereoberschicht (die sehr an die blaue Kälte in „A Snake in June“ erinnern) treffen auf pumpenden Industrie-Sound, während sich der Protagonist aus seiner menschlichen Hülle schält und zunehmend verwandelt, gepresst zwischen die Betonplatten modernen urbanen Lebens (Bilder, direkt wie aus „Haze“ übernommen), und mit einem teuflischen Gegenspieler konfrontiert wird (Tsukamoto selbst als Killer), der sich blitzschnell und komisch zugleich bewegt (siehe „Nightmare Detective“). Das ist immer noch Adrenalin pur und ein Anschlag aufs Nervenzentrum des Zuschauers, weil niemand sonst im westlich-europäischen Kulturkreis auch nur annähernd solchen Terror auf der Leinwand zu verbreiten versteht. Allerdings wirkt das alles mittlerweile zu bekannt, zu glatt, in seinem Chaos zu kalkuliert. Das ungestüme Rohe der frühen Filme Tsukamotos weicht einer perfekt ausgeleuchteten, antiseptischen Videoclipästhetik, die nur so tut, als ob. Tetsuo 2009 ist in Zellophan verpackt, kondomisiert.

So erlebt man, wenn man Tsukamotots Oeuvre in toto kennt, im „Bullet Man“ eigentlich nichts Neues: alles ist schon mal dagewesen (die paar oben genannten, offensichtlichen Verweise sollten als Eindruck reichen). Tsukamoto recycelt sich selbst. Keine neuen Ideen, keine neuen Bilder, keine neuen Sounds. Man liest, Nine Inch Nails hätten hier etwas Musik beigesteuert. Nun ja, soviel zum Undergroundstatus. Am Ende flüchtet sich der Film in die Erlösung des Familienfilms und ist damit maximal weit davon angelangt, wo der einst radikale Filmemacher begann: bei schwierigem, bisweilen arg stressigem, schnellem und körperlich angriffigem, immer herausforderndem Genrekino. „Tetsuo: The Bullet Man“ ist Mainstream in der Camouflage des Independentkinos, erschienen unter dem Deckmantel des großen Namens eines einst verlässlichen Genreregisseurs. Man soll ja nicht unken, aber der nächste Film Tsukamotos wird einiges entscheiden.

Let Me In

(GB / USA 2010, Regie: Matt Reeves)

Eissturm im Vampirnest
von Sven Jachmann

„Do you know where your children are?“, fragt vielleicht etwas zu aufdringlich die TV-Texttafel die schlafende Mutter auf der Couch. Wo sollte ihr 12jähriger Sohn Owen schon sein? In diesem …

„Do you know where your children are?“, fragt vielleicht etwas zu aufdringlich die TV-Texttafel die schlafende Mutter auf der Couch. Wo sollte ihr 12jähriger Sohn Owen schon sein? In diesem farblosen Ort Los Alamos in New Mexico, dessen Tristesse der andauernde Schneematsch allenfalls akzentuieren, jedenfalls nicht weiter verschlimmern kann, sitzt er regelmäßig allein in einem schäbigen Hinterhof auf einem nicht minder schäbigen Klettergerüst und lernt, dass die Welt zum Fürchten ist.

Es ist 1983 und mit Furcht kennt man sich aus. Im Fernsehen agitiert Ronald Reagan in seiner berüchtigten Rede gegen das Reich des Bösen und meint den Russen. Auf dem Hinterhof sticht Owen (Kodi Smit-McPhee) mit seinem Taschenmesser drohend auf einen Baumstamm ein und meint seine Mitschüler. Die Drangsal, der der schüchterne Junge jeden Tag aufs Neue ausgesetzt ist, ist so allgegenwärtig, dass er abends mit einer Hockeymaske bekleidet vor dem Spiegel in seinem Zimmer den Serienkiller mimt oder mit einem Fernrohr vielleicht sogar eher ängstlich als neugierig die Nachbarn beobachtet. Das Reich des Bösen zumindest befindet sich direkt vor seiner Nase: Die geschiedenen Eltern sind entweder Stimmen aus dem Telefon oder Gestalten, deren Gesicht nie zu sehen ist, fast so, wie alle Erwachsenen bei den Peanuts. Der Lehrer übersieht die Qualen des Jungen geradezu stoisch, die Klassenkameraden sind Sadisten und im Radio stimmen orthodoxe Prediger auf das Fegefeuer ein. Hier braucht man das Andere nicht mehr zu fürchten, das das grundgute Leben ins Wanken bringen könnte – hier ist man sich längst selbst zum Anderen geworden.

Abby (Chloë Grace Moretz) jedenfalls, ein junges, manchmal unangenehm riechendes Mädchen, das eines Tages ebenfalls auf dem Klettergerüst sitzt, ist nicht bedrohlicher als der Rest dieser Welt, sondern für Owen schnell eine Verbündete, die sich mit ihrem eigenen Außenseiterstatus quälen muss. Barfuß sitzt sie da, weil ihr „eigentlich nie kalt ist“ und obwohl sie nicht befreundet sein können, wie Abby zu Beginn harsch klarstellt, verbringen sie immer mehr Zeit miteinander. Als er sie nach langem Zögern endlich fragt, ob sie seine Freundin sein möchte, verneint sie zuerst, weil sie kein Mädchen, sondern „nichts“ sei, was meint, dass bei ihr sowohl die Identitätskategorien als auch ihr Ich versagen, denn tatsächlich ist sie ein Vampir im Körper einer Zwölfjährigen.
Das alles könnte deshalb bekannt klingen, weil Regisseur Matt Reeves mit seinem zweiten Film nach der Found Footage-Monsterattacke „Cloverfield“ ein Remake des schwedischen Coming of Age-Vampirdramas „So finster die Nacht“ gedreht hat, seinerseits eine Literaturverfilmung des gleichnamigen Bestsellers von John Ajvide Lindqvist, die sich 2008 zu einem recht preisverwöhnten Geheimtipp entwickelte. Bis hin zu den Einstellungen folgt Reeves dem spröden Sozialrealismus des Originals. Es bleibt die zaghafte Liebesgeschichte zweier Outcasts, die sich finden müssen, um nicht unterzugehen, der das Drehbuch allerdings einen geringfügigen politischen Subtext andichtet.

Nachdem Owen leibhaftig Abbys Verwandlung in einen Vampir miterlebt hat – dabei wollte er nur einen harmlosen Blutspakt mit ihr schließen -, fragt er verstört den Vater am Telefon: „Gibt es das Böse?“ Der bejaht zumindest indirekt, weil er voller Wut aus der vermeintlich unschuldigen Frage nach den großen Pfeilern, die die Welt im Schlechten verbinden, die religiöse Indoktrination der Mutter herauszuhören glaubt. Was um die Kinder errichtet wird, ist die Hölle einer pervertierten Moral, die im Innern eine geistige Verelendung tradiert, derer sie sich gegenüber dem Außen erwehren will und wenn die Tonspur recht dauerhaft eine latente Paranoia erzeugt, dann kündet sie fast mehr von dieser gesellschaftlichen Qual der Isolation als von den genregültigen Spannungsformeln. Mit denen hält sich der Film ohnehin vornehm zurück, wenn er unter die monochromen Bilder der Schneelandschaften, der Wälder, Hinterhöfe und Schulen, in die die Figuren eher wie geduldete Fremdkörper platziert sind, ein paar Spezialeffekte mischt – dies jedoch dann blitzschnell, im Off, im Hintergrund oder aus weiter Ferne in ruhenden Einstellungen. Selbst ein Autounfall wird auf der Rückbank mit einer stehenden Kamera inszeniert, um die herum sich das Wageninnere überschlägt – treibende, visuell aber unspektakuläre Inserts, die die Lebensfeindlichkeit des Ortes nicht vergessen lassen.

Verursacher des Unfalls ist Abbys Freund und, so muss man wohl sagen, Ernährer (Richard Jenkins), mittlerweile ein alter Mann, der auf nächtlichen Streifzügen seine Opfer in einen Kanister ausbluten lässt. Um Abby zu schützen, verätzt er noch am Unfallort sein Gesicht mit Säure und entgeht im Krankenhaus den Fragen des misstrauischen Ermittlers, indem er sich von ihr töten lässt. Fortan ist auch zentrales Movens der jungen Beziehung, ob Owen sich als sein Nachfolger eignet. Dadurch stirbt allerdings auch die Ambivalenz der Vorlage. Wenn Abby Owen darin bestärkt, sich gegen seine Schulpeiniger mit aggressiven Mitteln zur Wehr zu setzen, dann testet sie damit sein Gewaltpotenzial. Aus der Annäherung zweier Außenseiter, die ihr Leid zusammenführt, wird eine unausgesprochene Bewährungsprobe. Dass die fortschreitenden Ermittlungen nun eine klassische Spannungskurve pitchen, befeuert nur den Eindruck, dass das zweckrationale Motiv dieses ungleichen Verhältnisses endgültig geklärt zu sein scheint. Abbys Massaker an Owens Schultyrannen besiegelt schließlich weitaus blutiger doch noch einen Pakt, dessen Tragweite indessen sie allein begreift. Mit gutem Willen offenbart sie sich da geradewegs als Kind ihrer Zeit. Ebenso aber auch als recht eindimensionaler Todesengel, dem bloß das Klischee der Femme fatale im Lolita-Look den melancholischen Blick ins Gesicht zaubert.

Brand – Eine Totengeschichte

(A / D 2010, Regie: Thomas Roth)

Morbide Lust
von Wolfgang Nierlin

Warum der Titelheld aus Thomas Roths Film „Brand“ geradezu obsessiv Kranke, Verletzte und Tote fotografiert, ist zunächst unklar und bleibt auch im weiteren Verlauf der ungelenken Handlung spekulativ. Einmal erklärt …

Warum der Titelheld aus Thomas Roths Film „Brand“ geradezu obsessiv Kranke, Verletzte und Tote fotografiert, ist zunächst unklar und bleibt auch im weiteren Verlauf der ungelenken Handlung spekulativ. Einmal erklärt der von Josef Bierbichler gespielte Schriftsteller seiner krebskranken Frau Martha (Erika Deutinger), dies sei die einzige Arbeit, die er zurzeit tun könne. Der finanziell angeschlagene Brand, der seine Gefühle mittels Fotoapparat auf Abstand hält, arbeitet nämlich an einem Buch übers Sterben. In seiner kruden Leidenschaft trifft also die Verarbeitung eines persönlichen Schmerzes auf die grenzverletzende Lust am Morbiden. Zugleich mischt sich in seine Bilder immer stärker der Kontrast zum Leben, denn Brand verliebt sich in Angela (Angela Gregovic), die junge Krankenschwester seiner Frau. So wird auch die sexuelle Lust zum Sujet seiner Fotos.

Weil beide verheiratet sind, antwortet Brand auf Angelas Gewissensbisse nach dem Liebesspiel mit der rhetorischen Frage: „Was ist falsch, was ist richtig?“ Bevor sich das Netz aus Lügen und Geheimnissen, Misstrauen und Eifersucht über die Beziehungen legt, sind die beiden Protagonisten längst in eine Geschichte verstrickt, die ihre markanten Eckdaten zu schnell setzt und darüber die plausible Entwicklung der Erzählung vernachlässigt. Die Unglaubwürdigkeit dringt gewissermaßen aus den Ellipsen, die Thomas Roth konstruiert, ohne sie dramaturgisch und inhaltlich vorzubereiten. Weil in den Zäsuren nichts nachhallt, verflüchtigt sich das kunstvoll Gemeinte ins Ungefähre, gar Leere. Dieser stoffliche Mangel setzt sich mitunter fort in den teils hölzernen Dialogen eines Drehbuchs, das leider nicht frei ist von Fehlern.

Spannender ist Roths Film in den ersten Szenen, mit denen er die auf Rache zielende Eifersucht von Angelas Ehemann, einem türkischstämmigen Polizisten, etabliert. Wie Celik Caymaz (Denis Moschitto) seinen Gegenspieler Brand in die Konfrontation zwingt und psychisch unter Druck setzt, vermittelt über Blicke und Unausgesprochenes, sorgt für untergründige, irritierende Momente. Nur ist auch hier zu schnell zu viel gesagt, bleiben Stoff und Figuren zu wenige Entwicklungsmöglichkeiten. Immerhin steigert Roth die Eifersuchtsgeschichte im letzten Drittel seines Films mithilfe skurriler Wendungen zu einem gewalttätigen Thriller mit symbolträchtigem Ende.

The Ides of March – Tage des Verrats

(USA 2011, Regie: George Clooney)

Politische Archetypen
von Andreas Busche

Der kurze Zeitraum von der Präsidentschaftswahl 2008 bis zum erbitterten Tauziehen im Kongress um Obamas Gesundheitsreform wird wohl für längere Zeit die letzte Phase amerikanischer Politik gewesen sein, die von …

Der kurze Zeitraum von der Präsidentschaftswahl 2008 bis zum erbitterten Tauziehen im Kongress um Obamas Gesundheitsreform wird wohl für längere Zeit die letzte Phase amerikanischer Politik gewesen sein, die von so etwas wie Aufbruchsstimmung und Optimismus geprägt war. Den Normalzustand beschreibt George Clooneys Politdrama „Tage des Verrats“, dessen Originaltitel „Ides of March“ gleich noch eine historische Referenzgröße ins Spiel bringt. An den Iden des März im Jahr 44 AD wurde Julius Caesar von einer Gruppe Verschwörer im römischen Senat ermordet. Um politische Ränkespiele und machthungrige Ziehkinder geht es auch in „Tage des Verrats“. Clooney selbst spielt den demokratischen Präsidentschaftskanididaten Mike Morris, der mit einem Sieg in den entscheidenen Ohio-Vorwahlen die Weichen für seine zukünftige Präsidentschaft stellen will.

Zwar ist Politprofi Morrris die zentrale Figur, um die sich alle Interessenkonflikte anlagern, doch im Mittelpunkt des Films steht sein aufstrebender Pressesprecher Stephen (Ryan Gosling in einer Paraderolle). Gosling verkörpert Morris’ jüngeres Alter Ego: strahlend, charmant, einnehmend und mit einem grenzenlosen Idealismus ausgestattet. Stephen steht eine glänzende Zukunft in Aussicht. „Tage des Verrats“ zeichnet seinen rasanten Aufstieg über einen Verlauf von nur wenigen Tagen nach, doch unbeschädigt wird am Ende niemand aus der Geschichte hervorgehen.

Man merkt dem Film seine Theaterherkunft deutlich an. Wie schon im Kammerspiel „Good Night and Good Luck“ dominieren auch in „Tage des Verrats“ Close-Ups und Dialoge. Clooney hat ein grandioses Ensemble an Charaktergesichter um sich versammelt: Philip Seymour Hoffman spielt Morris’ Berater, ein Politschlachtross der alten Schule, Paul Giamatti den zwielichtigen Berater von Morris’ Widersacher, Marisa Tomei die knallharte Journalistin und Jeffrey Wright einen Senator, von dessen Zuspruch die Wahlentscheidung maßgeblich abhängt. Es ist eine brisante Konstellation, eine heruntergekochte Version von „West Wing“ – die jedoch kaum Platz für Politik lässt. Clooney kritisiert in erster Linie ihre Performanz. Das ist mitunter scharf beobachtet, und verfehlt doch den Kern der Problematik. Denn das Festhalten an der Macht beziehungsweise das Streben nach mehr ist nicht der eigentliche Skandal. Sondern dass die politischen Inhalte darüber zur bloßen Verhandlungsmasse verkommen. Insofern ist es bezeichnend, dass Clooney kaum auf die konkrete Politik seiner Figur eingeht; vornehmlich, um das System Politik in den Blick zu nehmen. Am Ende aber liefert „Tage des Verrats“ vor allem politische Archetypen. Als hätte sich die Politik seit den historischen Iden des März nicht selbst verändert.

In Their Room

(USA 2009, Regie: Travis Mathews)

Wie die Lemminge
von Carsten Moll

In seinem Blog auf den Seiten der BBC erzählt der Dokumentarfilmer Adam Curtis die Geschichte der Umarmung im britischen Fernsehen und wie das medial vermittelte Sich-um-den-Hals-fallen vom authentischen Ausdruck zur …

In seinem Blog auf den Seiten der BBC erzählt der Dokumentarfilmer Adam Curtis die Geschichte der Umarmung im britischen Fernsehen und wie das medial vermittelte Sich-um-den-Hals-fallen vom authentischen Ausdruck zur zwanghaften Konvention geworden ist. Als ein Beispiel zieht er ein bemerkenswertes Interview der BBC mit dem Schriftsteller Jean Genet heran. Genet, dem das Image des subversiven Außenseiters anhaftet, merkt man schnell an, dass er mit der Interviewsituation nicht einverstanden ist. Zuerst gibt er sich einsilbig, zu gut kennt er das Prozedere aus Emotionalisierung und Psychologisierung, um ein vermeintlich authentisches Portrait zu zeichnen, als dass er sich darauf einließe. Dass er ein Leben in Einsamkeit gelebt habe, gibt er bereitwillig zu, aber die Annahme seines Interviewpartners, dass ihn dies doch betrübt haben müsse, bleibt für Genet unverständlich. Die Gesprächssituation nimmt eine dramatische Wendung, als Genet versucht, sie aufzubrechen, indem er die Techniker hinter der Kamera ins Geschehen involviert und sie auffordert ins Interview einzugreifen und sich authentisch zu äußern. Nur: Genets Traum von der Revolte des Filmteams kollidiert mit dessen Unlust; der Tonmann äußert, dass er sich gar nicht äußern will und ist somit auf eine Art authentisch, die den Vorstellungen Genets zuwiderläuft. Ob die Authentizität des Tonmannes nun „really real“ ist, wie Curtis behauptet, und die Genets nicht, darüber kann man streiten. Auf jeden Fall sorgt die Kollision der beiden Ansichten für einen faszinierenden Moment.

Travis Mathews ist der Mann hinter „In Their Room“, einer Serie von dokumentarischen Filmen über homosexuelle Männer und ihre Schlafzimmer, die nicht ganz zu Unrecht als „Indie-Porno“ vermarktet wird. Wenn Mathews über sein Werk redet, spricht er viel von Authentizität und Natürlichkeit. Was er darunter versteht, erschließt sich am besten, wenn man einen Blick auf seine Filme wirft, die nun als eine Art Werkschau auf DVD erhältlich sind. Neben einem 20-minütigen Teil mit Männern aus San Francisco und dem einstündigen Berliner Part findet sich noch der Ursprung der Serie in Form von so genannten „Singles“ auf der DVD. Das sind sechs Filme von wenigen Minuten Länge, die sich jeweils nur einem einzigen Mann widmen und in Zusammenarbeit mit dem schwulen Magazin „Butt“ als Web-Serie entstanden sind. Als Bonus gibt es dann noch einen Kurzfilm namens „I Want Your Love“, der Mathews’ dokumentarische Arbeiten in einen Spielfilm übersetzt. Was allen Filmen gemein ist, ist ein Look, der seit dem Direct Cinema einer der Standards für dokumentarisches Filmen ist. Mathews filmt anscheinend im Alleingang mit Handkamera und ohne zusätzliche Beleuchtung, die Produktionsbedingungen schreiben sich so in das Material ein und versprechen authentische Aufnahmen vom wirklichen Leben. Dass dieser Anspruch als illusorisch zu bewerten ist, ist nicht neu, aber es überrascht, wie konsequent Mathews sich als Fliege an der Wand versucht und dabei unreflektiert ästhetische Klischees reproduziert. Als authentisch dürften das wohl vor allem die wahrnehmen, auf die es affirmativ wirkt und die schon immer genau wussten, wie das Echte und Wahrhafte auszusehen hat.

Vor der Kamera, deren Blick eher ein ethno- als pornografischer ist, performen die Protagonisten halbnackt bis nackt einen Alltag aus Rumliegen, Duschen und Vor-der-Webcam-masturbieren. Während die Kamera Körper und Räume erfasst und abfährt, erzählen die Männer von schwulen Befindlichkeiten, ihren sexuellen Vorlieben und Ängsten. Das wird angenehm unaufgeregt inszeniert, auch gibt hier niemand Geschichten von tränenreichen Coming-Outs und schwierigen Familienverhältnissen zum Besten. Stattdessen kriegt man Bekenntnisse zu hören, die zumindest innerhalb heteronormativer Kontexte selten artikuliert werden; da ist von Schmerzen beim Analverkehr ebenso die Rede wie vom Faible für verheiratete Familienväter und seinen Folgen. Auch Genets Aussage, dass Einsamkeit nicht gleich Unglücklichsein bedeute, wird hier geäußert und gibt Zweifeln am Mythos vom Pärchenglück Raum. Durch die Beschränkung auf das eigene Zimmer und das Ausblenden größerer Zusammenhänge wirken die Situationen oft im positiven Sinne banal. Texteinblendungen verraten uns lediglich die Vornamen der Protagonisten und auch ihr Erzählen gibt wenige Anhaltspunkte zum Rekonstruieren einer Biografie. Im Gegensatz dazu sind die Körper und besonders die Räume mit ihrer identitätsstiftenden Funktion geradezu verräterisch; Tätowierungen, Narben, Körperbehaarung und American Apparel-Unterhosen berichten genau wie die Einrichtungen aus Plattenspielern, MacBooks und Radiohead-Postern mehr von der Sozialisation der Männer als ihre Worte.

Man kann sie wohl alle als Hipster bezeichnen und auch wenn sie sich in Körperform, Alter und Herkunft unterscheiden mögen, es ist erstaunlich festzustellen, wie sehr sie und auch ihre Zimmer einander ähneln. Mathews Filme sind keine „Tales of the City“, sondern zeigen anhand vieler Männer und Räume einen einzigen Typen von Mann und Raum. Sie schaffen so eine Ikonografie des nackten Hipsters, wie man sie eben aus „Butt“ oder auch dem für heterosexuelle Frauen konzipierten „Jungsheft“ kennt. So unverkrampft und beiläufig das alles in Szene gesetzt ist, in ihrer Häufung wirken die Indie-Bilder vom Indie-Schwulen bald klischeehaft und unfreiwillig komisch. Mathews’ Konzept funktioniert bei den „Singles“; die kurzen, konzentrierten Blicke auf interessante Charaktere ergeben zusammen mit Mathews’ Montage reizvolle Vignetten. Sie bestechen, wie auch die besseren Sequenzen aus den Nachfolgewerken, immer wieder durch irritierende Momente, in denen über die Möglichkeiten von Intimität reflektiert wird oder die Protagonisten über die Anwesenheit der Kamera stolpern und sich zumindest kurzzeitig befangen geben. Da wird verschämt die Unterhose zurechtgerückt oder einem schwulen Pärchen wird beim vertrauten Geplapper bewusst, dass sie für ein Publikum sprechen. Vor allem im Berliner „In Their Room“ überwiegt dann aber eine in der Dramaturgie recht konventionelle Achsel- und Nabelschau, die mit einem Kaffee am Morgen beginnt und mit dem Fick zweier Fremder in der Nacht endet. Hier hat man das Gefühl, beiwohnen zu müssen, wie Leute kameratauglich ihr Selbst verwerten und dabei keinen Unterschied zwischen der eigenen Webcam und einem willigen Dokumentarfilmer im Schlafzimmer machen. Spätestens beim Spielfilm „I Want Your Love“, der versucht, die Stimmung der „In-Their-Room“-Reihe in einen melancholischen Porno mit rehäugigen Bartträgern zu übertragen, nimmt Mathews’ Arbeit dann ungewollt parodistische Züge an.

„Die Schilderung einer völlig einseitigen Welt von Homosexualität im Film könnte zu einer Desorientierung in der sexuellen Selbstfindung führen“, heißt es aktuell in der Begründung der Freiwilligen Selbstkontrolle zur Altersfreigabe von Sabine Bernardis an sich harmlosen Coming-Of-Age-Film „Romeos“ ab 16 Jahren. Angesichts solcher Statements ist man fast versucht, Filme wie „In Their Room“ aus Prinzip gut zu finden (oder auch Andrew Haighs „Weekend“, der mit ähnlichen Mitteln wie Mathews eine sentimentale Liebesgeschichte erzählt, und bei den meisten Kritikern für Verzückung sorgt. Dabei wird wie in Daniel Sanders Rezension im „Spiegel“ gerne betont, dass der Film nicht nur was für Schwule sei, denn es wirke ja alles so echt und die Protagonisten seien so menschlich). Beinahe möchte man sich schon auf ein Feindbild vom Mainstream einschwören, das besagt, der Mainstream zeige entweder gar keinen oder nur den falschen Sex. Aber ist der Mainstream wirklich so homogen und gesteht man ihm nicht allzu viel Macht und Relevanz zu, wenn man sich im Angesicht seiner angenommenen Übergröße zum Underdog stilisiert und gleich den „Indie-Porno“ als neues Filmgenre ausruft? Weiterhin ist fraglich, inwiefern gerade „In Their Room“ dem Anspruch auf Außergewöhnlichkeit gerecht wird und nicht lediglich einen pseudo-alternativen Mainstream repräsentiert, dem nichts Originelleres einfällt, als Amateurporno als Subversion und Indie als Heilsversprechen für das richtige Leben zu verkaufen. Die Nachfrage nach Filmen, die mit anderen Geschichten und anderen Bildern herausfordern, ist da. Ich glaube nicht, dass „In Their Room“ einer von ihnen ist.

Zur DVD: Die DVD enthält mitsamt dem Bonusmaterial Travis Mathews’ bisheriges Gesamtwerk. Die Sprache ist teilweise Englisch, teilweise Deutsch, deutsche Untertitel sind zuschaltbar. Neben den „Singles“ und dem Kurzfilm „I Want Your Love“ finden sich noch einige gut ausgewählte Trailer unter den Extras.

Contagion

(USA 2011, Regie: Steven Soderbergh)

Händewaschen nicht vergessen!
von Sven Jachmann

Es ist schon eine schwer desolate Welt, die Regisseur Steven Soderbergh (in diesem Fall eigenhändig) mit der Kamera zeichnet: Bricht in Hongkong ein Mensch in der Straßenbahn zusammen, zücken die …

Es ist schon eine schwer desolate Welt, die Regisseur Steven Soderbergh (in diesem Fall eigenhändig) mit der Kamera zeichnet: Bricht in Hongkong ein Mensch in der Straßenbahn zusammen, zücken die Beifahrer ihr Handy für Fotoaufnahmen; erfährt ein Ehemann (Matt Damon) im Krankenhaus von Minneapolis vom unerklärlichen Tod seiner Frau (Gwyneth Paltrow), mit der er kurz zuvor noch sprechen konnte, legt ihm der Arzt die Seelsorge nahe und ist nach einer Minute bereits wieder verschwunden. Die Laborforscher plappern ohne Anteilnahme über Thanksgiving, derweil sie die Untersuchung der Gewebeproben der Frau vor ein Rätsel stellt. Und das ist nur der Zustand leidlicher Sozietät, bevor eine Pandemie die Kontinente heimsucht – 26 Millionen Tote, und einen nach über 130 Tagen entwickelten Impfstoff später hat Soderberghs Krisenexperiment bewiesen, dass zusammen mit dem Abwehrsystem der Menschen auch jede soziale Ordnung erodiert.

Einerseits geht das sehr sachlich vonstatten. Texteinblendungen kumulieren in Tagesschritten den Verlauf der Ausbreitung. Die große Starriege verteilt sich, wie man es von Soderbergh kennt, länderübergreifend, von der Angestellten der WHO, die bei der ungerechten globalen Distribution des rettenden Serums in Gewissenskonflikte gerät, über den Vorsitzenden des amerikanischen Seuchenzentrums, der für die Öffentlichkeit den sündigen Boten spielt, bis zum krankheitsimmunen Vater, der seine Tochter vor Plünderern beschützen muss – aber ihre Popularität feit doch vorm Virus nicht. Der Film spannt, und dies ernüchternd realistisch, ein Netz aus globalen Bekämpfungsstrategien und lokalen Schicksalen. Überhaupt ist es schaurig anzusehen, wie jede Türklinke, jede Busfahrt und Umarmung schlagartig über Leben und Tod entscheidet. Intimität ist ein Seuchenherd und die sichere Kommunikation via SMS gerät – Kulturpessimisten werden es nicht gerne hören – da schon mal zum letztmöglichen Seelentröster.

Weitaus schauriger andererseits jedoch ist, mit welcher Verve der Film ein Plädoyer für die Vernunft der Institutionen im Krisenzustand entwirft. Gewöhnlich wartet die Genretradition jener Provenienz ja mit sehr pessimistischen Lesarten auf: Wenn die Politik in George A. Romeros „The Crazies“, in Juan Carlos Fresnadillos „28 Weeks Later“, ja selbst in Wolfgang Petersens „Outbreak“ eine Evakuierung beschließt und ans Militär delegiert, sollte man sich als Überlebender jedenfalls besser nicht in den betroffenen Gebieten aufhalten.

In „Contagion“ bemühen sich die Amtsträger nach Leibeskräften und sind dabei natürlich auch zu unpopulären Entscheidungen gezwungen, die sich ohne viel Aufhebens durchsetzen ließen, grassierte in der Bevölkerung nicht diese unkontrollierbare Angst vor Infektion und Unterversorgung. Exemplifiziert wird dies an der Figur Alan Krumwiede, einem von den Printmedien natürlich verschmähten Blogger (Jude Law, an dem wirklich alles schief ist: Gang, Zähne, Funktion …), dessen regierungsfeindliche Verschwörungstheorien unter seinen 12 Millionen täglichen Lesern ein riskantes Echo erzeugen. Tatsächlich besitzt er keinerlei Informationen von über geheime Massenpanikprophylaxe hinausreichender Relevanz, aber er weiß seine Aufmerksamkeitssucht publikumswirksam am Lebensabend der Menschheit zu verkaufen. Panikmacher wie er sind es, die den aufopferungsvollen Wissenschaftlern, die gar im letztlich erfolgreichen Selbstversuch ihr Leben aufs Spiel setzen, vor die Füße spucken und mit ihrer öffentlichen Skepsis gegen eine Politik taktieren, die doch keinen Anlass zum Verdruss bietet. Wenn sich dieser konservative Durchhaltewille schließlich mit einem buchstäblich weltenrettenden Puritanismus verbindet – denn womöglich wäre die ganze Virenmisere anders verlaufen, wenn Ehefrau Gwyneth Paltrow brav das Gebot der außerehelichen Enthaltsamkeit geachtet hätte -, mag man sich schon fragen, gegen welches Katastrophenszenario Soderbergh eigentlich opponieren möchte.

Mama Africa – Miriam Makeba

(D / ZA / FIN 2011, Regie: Mika Kaurismäki)

Die Wahrheit singen
von Wolfgang Nierlin

Mika Kaurismäkis Dokumentarfilm „Mama Africa“ über die südafrikanische Sängerin Miriam Makeba Zum Lied „Soweto Blues“, gesungen von Miriam Makeba, sehen wir Bilder von Straßenkämpfen im Zeichen der Apartheid. Kurz darauf …

Mika Kaurismäkis Dokumentarfilm „Mama Africa“ über die südafrikanische Sängerin Miriam Makeba

Zum Lied „Soweto Blues“, gesungen von Miriam Makeba, sehen wir Bilder von Straßenkämpfen im Zeichen der Apartheid. Kurz darauf erzählt die junge südafrikanische Sängerin von ihrer Geburt in einem Gefängnis, in dem ihre Mutter wegen illegalen Bierbrauens im März 1932 für kurze Zeit inhaftiert war. Das bewegte und bewegende Leben Miriam Makebas ist von Anfang an geprägt von Gefangenschaft und Trennung. Als Tochter einer Heilerin in Prospect Township nahe Johannesburg aufgewachsen, wird sie früh mit den Paradoxien der Rassentrennung, mit Diskriminierung und Unterdrückung konfrontiert. Mika Kaurismäkis sehenswerter Dokumentarfilm „Mama Africa“, der die Lebensstationen der ebenso engagierten wie charismatischen Künstlerin nachzeichnet und dafür Archivmaterial und Zeitzeugen-Interviews verwendet, akzentuiert diese Verschränkung von Leben, Musik und Politik.

„Ich singe nicht über Politik, ich singe bloß die Wahrheit“, wird Miriam Makeba gleich zweimal zitiert. Aus dem Understatement dieser Aussage leuchtet nicht nur die Kraft ihrer Musik, sondern auch ihr Selbstverständnis als politische Künstlerin, die sich vor allem der Menschlichkeit verpflichtet fühlte. Als „Königin der Musik Südafrikas“ apostrophiert, lässt sich an ihrem künstlerischen Ausdruck unmittelbar das Glück des Singens beobachten und damit auch die integrative Funktion ihrer Performance, die sich aus einem „schwarzen Bewusstsein“ (H. Belafonte) speiste, also die Traditionen und Lebenswirklichkeiten der „black commuity“ reflektierte. Dabei war sie ein musikalisches Naturtalent voller Gefühl, von klein auf vom Singen beseelt und von seiner heilenden Wirkung erfasst. 1952 tritt sie in ihrem Heimatland zusammen mit den Manhattan Brothers auf, bald danach ist sie Mitglied des bewunderten Frauentrios „The Skylarks“. Als sie 1959 in Lionel Rogosins Anti-Apartheid-Film „Come back, Africa“ mitwirkt und daraufhin zu den Filmfestspielen in Venedig eingeladen wird, verweigert ihr das südafrikanische Regime die Rückreise in die Heimat.

Es folgen viele Jahre des Exils in den USA, wo sie von ihrem Kollegen Harry Belafonte unterstützt wird, im berühmten Jazzclub Village Vanguard auftritt, mit „Pata Pata“ (zu Makebas Bedauern ein „Lied ohne tieferen Sinn“) ihren ersten großen Erfolg feiert und vor den Vereinten Nationen über die Lage in Südafrika spricht. Doch nach ihrer Heirat mit dem ebenso kämpferischen wie redegewandten Black Panther-Aktivisten Stokely Carmichael, der vom FBI überwacht wird, kehren die Mechanismen der Diskriminierung zurück. Ihre Auswanderung nach Guinea wird zu einer weiteren Station ihres Exils, das erst mit der Freilassung Nelson Mandelas im Jahre 1990 endet. Immer wieder sucht Mika Kaurismäki zusammen mit ehemaligen Bandmitgliedern, mit Freunden und Familienangehörigen private Refugien und Orte ihres Wirkens auf und lässt so Miriam Makebas (musikalischen) Spirit lebendig werden. Das Leid des Getrenntseins, verbunden mit mehreren persönlichen Schicksalsschlägen, überschattet dabei immer schwerwiegender ihr Leben. Doch so wie die Botschaft ihrer Lieder einem ganzen Kontinent Hoffnung geben, erfährt auch die „Mama Africa“ in ihrem Gesang persönlichen Trost und neue Kraft.

Und dann der Regen

(MEX / SP / F 2010, Regie: Icíar Bollaín)

Kein Leben ohne Wasser
von Wolfgang Nierlin

Die spanische Filmcrew unter der Leitung ihres pragmatischen Produzenten Costa (Luis Tosar) benimmt sich auf ihre Weise zunächst fast so skrupellos wie die goldgierigen Konquistadoren des 15. und 16. Jahrhunderts …

Die spanische Filmcrew unter der Leitung ihres pragmatischen Produzenten Costa (Luis Tosar) benimmt sich auf ihre Weise zunächst fast so skrupellos wie die goldgierigen Konquistadoren des 15. und 16. Jahrhunderts unter Christoph Kolumbus: Um den historischen Film über die brutale Eroberung Amerikas möglichst günstig zu finanzieren, verlagert man das Geschehen von der Karibik in die östlichen Anden Boliviens, wo sich überdies die zahlreichen indigenen Statisten für einen Hungerlohn gewinnen lassen. „Mir geht’s nur um den Film“, antwortet Costa auf die Gewissensbisse seines visionären Regisseurs Sebastián (Gael García Bernal). Die spanische Filmemacherin Icíar Bollaín wiederum nutzt diese doppelte Ausbeutung in ihrem neuen Film „Und dann der Regen“ (También la lluvia) für eine leicht schematische Spiegelung der Vergangenheit in der Gegenwart und damit für die Darstellung der Widersprüche zwischen Kunst und Leben. Die Arbeit des Filmemachens wird also einmal mehr zum Thema.

Einfallsreich und immer wieder überraschend inszeniert Bollaín die Übergänge zwischen Film und Film mit ihren jeweiligen Graden der Fiktion. So erzählt sie den historischen Stoff in wechselnden medialen Brechungen: Zum Beispiel im Making of, mit dem die Assistentin Maria (Cassandra Cíangherotti) die Spannungen und Widersprüche im Team während der Dreharbeiten festhält und das zugleich die Schnittstelle zur Gegenwart markiert; vor allem aber anhand von Drehbuch-Lesungen, szenischen Proben, den Imaginationen des Regisseurs Sebastián, Mustervorführungen und nicht zuletzt den konkreten Dreharbeiten. Geschickt und effektiv integriert Bollaín auf diese Weise die Geschichte in der Geschichte und reflektiert überdies die Arbeit mit dem Medium Film.

Um die inneren Konflikte der Filmcrew im Spannungsfeld zwischen Kunst und Leben zuzuspitzen, spiegelt Icíar Bollaín die Themen Unterdrückung und Ausbeutung zusätzlich im sogenannten „Wasserkrieg“ des Jahres 2000, als in Cochabamba die Wasserversorgung privatisiert wurde und sich das Wasser um 300 Prozent verteuerte. Dagegen formierte sich ein massiver Volksaufstand, dessen – in der Fiktion des Films – indigener Anführer Daniel (Juan Carlos Aduviri) wiederum mit dem aufständischen Taino-Häuptling Hatuey des Jahres 1511 identifiziert wird. Aus den Parallelen dieser doppelten historischen Rolle entwickelt der Film einen Großteil seines dramatischen Konfliktpotenzials, verbunden mit emotionalen Zuspitzungen, die den anvisierten Realismus unterwandern. Dabei geht es vor allem um die „menschliche Bekehrung“ eines unpolitischen Filmproduzenten, der erkennen muss, dass seine Arbeit ganz konkret mit der umgebenden Wirklichkeit verknüpft ist und dass das Leben und die Freundschaft manchmal wichtiger sind als die Kunst. Denn, so Daniel: „Ohne Wasser gibt es kein Leben.“

Jane Eyre

(GB 2011, Regie: Cary Fukunaga)

Gruben voller Fallen
von Wolfgang Nierlin

Eine junge Frau, von Panik ergriffen, befindet sich auf der Flucht. Sie rennt, als ginge es um ihr Leben. Nebelpfade kreuzen sich, im Hintergrund droht dunkel und mächtig ein geheimnisvolles …

Eine junge Frau, von Panik ergriffen, befindet sich auf der Flucht. Sie rennt, als ginge es um ihr Leben. Nebelpfade kreuzen sich, im Hintergrund droht dunkel und mächtig ein geheimnisvolles Schloss; über der weiten, dämmrigen Landschaft zucken Blitze, bis schließlich heftiger Regen einsetzt, der nichts reinigt, sondern alles beschwert. Äußere Erschöpfung und seelischer Schmerz durchdringen sich. Als die 19-jährige Jane (Mia Wasikowska) in der Familie des jungen Vikars John Rivers schließlich Schutz findet, ist sie, verfolgt von inneren Stimmen, dem Wahnsinn nahe: Sie sei der Hölle, einer „Grube voller Fallen“, entronnen. Und: „Man darf mich nie wiederfinden.“

Ein solch dramatischer Auftakt verlangt nach einer Erklärung. Cary Joji Fukunagas Literaturverfilmung „Jane Eyre“ verschachtelt diese geschickt in einer Montage der Erinnerung und identifiziert dabei den berühmten Romanstoff von Charlotte Brontë als eine Leidensgeschichte aus dem viktorianischen England: Die Vollwaise Jane, im Haus der bigotten Tante schikaniert und gequält, landet im puritanischen Internat Lowood, wo es noch schlimmer zugeht und die weiblichen Zöglinge im Namen der Religion brutal gezüchtigt werden. „Sie hat ein boshaftes Herz“, heißt es von Jane. Ihre Figur spiegelt das Motiv der verfolgten Unschuld. Aus erlittener Ungerechtigkeit gewinnt sie Selbstbewusstsein und innere Stärke.

Ihre Anstellung als Gouvernante der kleinen Adèle auf dem abgelegenen Landgut Thornfield Hall, das ebenso als (geistiges) Refugium wie düsteres Gefängnis erscheint, bringt das besonders gut zum Ausdruck. Jane blüht auf, übersetzt ihre überwältigende Vorstellungskraft in die Entfaltung ihres zeichnerischen Talents, mit dem sie die „Schatten der Gedanken“ festhält, und pflegt mutig ebenso scharfsinnige wie ironische Dispute mit dem Hausherrn Edward Rochester (Michael Fassbender). Die offene Direktheit der empfindsamen Frau sowie ihr unabhängiger Sinn treffen auf einen Mann, der in einer dunklen Vergangenheit gefangen ist. Bald sin die seelenverwandten Außenseiter in Liebe miteinander verbunden.

Fukunagas Inszenierung erforscht die von Unsicherheit und Zweifeln begleitete Bewegung dieses Gefühls, seine Verfestigung zur Gewissheit, seine Tragik und sein Schmerz. Doch der Ort dieser Liebe ist ein Gefängnis mit einem dunklen Verlies, dessen Mauern erst noch fallen müssen.

Michael

(A 2011, Regie: Markus Schleinzer)

Täterprofil Österreich
von Carsten Happe

Fast könnte man auf den Gedanken kommen, für ein ganzes Land, nämlich Österreich, ein psychopathologisches Profil erstellen zu wollen, und „Michael“, das Regiedebüt des ehemaligen Casting Directors von Michael Haneke …

Fast könnte man auf den Gedanken kommen, für ein ganzes Land, nämlich Österreich, ein psychopathologisches Profil erstellen zu wollen, und „Michael“, das Regiedebüt des ehemaligen Casting Directors von Michael Haneke wäre ein weiteres, bestätigendes Puzzleteil in diesem wenig charmanten Profil. Nach Natascha Kampusch und Josef Fritzl, nach den Ulrich Seidl-Filmen, von denen „Hundstage“ und „Import Export“ lapidar gesagt noch zu den harmlosesten gehören – und der Tatsache, dass Seidl seit einigen Jahren an einer Dokumentation mit dem bezeichnenden Titel „Im Keller“ arbeitet, in der er das Eigentümliche an österreichischen Kellern herausstellen möchte, falls es das denn gibt – fügt sich „Michael“ in eine gewisse Traditionslinie, die das so verträumt wirkende Alpenland seit geraumer Zeit sehr beunruhigend erscheinen lässt.

Kurzum: Es geht einmal mehr um Missbrauch und um Keller, verpackt in eine distanzierte, fast klinisch kalte Inszenierung, durch die sich die Geschehnisse mitunter noch furchterregender darstellen. Die äußerst verknappte Ankündigung für den Debütfilm, der überraschenderweise in den letztjährigen Wettbewerb in Cannes eingeladen wurde, deutete lediglich an, das Zusammenleben des 10jährigen Wolfgang und des 35jährigen Michael zu beschreiben. Der Titel verweist bereits darauf, dass der Täter hier in den Mittelpunkt gestellt wird, und die Normalität, mit der Michael gezeichnet wird, ist bestechend und bestürzend zugleich: er ist ein durchschnittlich erfolgreicher Versicherungsangestellter, er wird befördert, seine Kollegen laden ihn wie selbstverständlich zu ihrem Skiausflug ein. Natürlich ahnt niemand, dass dieser scheinbar so nette und zuvorkommende Junggeselle einen kleinen Jungen in seinem Keller gefangen hält und regelmäßig missbraucht. Michael Fuith spielt den Pädophilen mit, so seltsam das klingt, beeindruckender Präzision und Selbstbeherrschung. Nie gleitet seine Darstellung in eine Freakshow ab und ist durch die leisen Momente der Repression umso nachhaltiger erschreckend. Die wahre Entdeckung ist jedoch der junge David Rauchenberger in der Opferrolle, der sowohl die Abgestumpftheit des monatelangen Gefangenendaseins wie auch die nur kurz aufblitzende kindliche Hoffnung auf einen positiven Ausgang seiner verzweifelten Lage mit einer Abgeklärtheit spielt, die schier den Atem raubt.

Markus Schleinzer hat sich augenscheinlich eine Menge abgeschaut bei seinen vormaligen Arbeitgebern wie Michael Haneke, Jessica Hausner oder Ulrich Seidl. Er vermag es, die emblematischen Inszenierungen der ausgewiesenen Meisterregisseure perfekt zu reproduzieren und verdichtet sie zu einem rasiermesserscharfen Portrait eines Monsters mit menschlichem Antlitz. Das ist durchgehend unbequem anzuschauen, aber in seiner Konsequenz auch ebenso faszinierend wie verstörend, denn seine wirkungsmächtigste Strategie ist die der Auslassung, die den wahren Schrecken erst im Kopf des Betrachters entstehen lässt. Nur äußerst selten entgleitet Michael die Kontrolle über die Situation, ebenso selten weicht Schleinzer von seiner distanzierten Beobachtung ab, erzwingt dann aber durch eine kluge Kadrierung oder Montage, dass sich das komplette Grauen außerhalb des Gezeigten abspielt und so je nach Disposition des Zuschauers eine eigene Monstrosität entfaltet.

Gerade dadurch, dass „Michael“ weder moralisiert noch psychologisiert, dass er keine offensichtliche Erklärung anbietet, keine Rückblenden einer mitleiderregenden Kindheit instrumentalisiert, also letztlich keine Anzeichen für eine Unzurechnungsfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit bietet, bleibt der Film bis zuletzt so unbehaglich. Auch wenn das finale Bild zum denkbar klügsten Moment abblendet, lassen sich die folgende Fassungslosigkeit und das sprachlose Entsetzen problemlos weiterdenken, zu oft hat man die üblichen Reaktionen schon gehört: Er war so nett, so unscheinbar und normal. Aber eben auch fremd, und wer kann schon – außer im Kino – hinter die Fassade blicken. Frei nach Titus Maccius Plautus: Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, nicht ein Mensch, wenn man sich nicht kennt.

Dieser Text erschien zuerst in: Pony #69

In guten Händen

(GB / F / D 2010, Regie: Tanya Wexler)

Harte Arbeit
von Wolfgang Nierlin

Die Frauen der bürgerlichen Gesellschaft, die im London des Jahres 1880 die Praxis des Frauenheilkundlers Dr. Dalrymple (Jonathan Pryce) aufsuchen, klagen über Mordphantasien, sexuellen Hunger, eine unbestimmte Traurigkeit oder auch …

Die Frauen der bürgerlichen Gesellschaft, die im London des Jahres 1880 die Praxis des Frauenheilkundlers Dr. Dalrymple (Jonathan Pryce) aufsuchen, klagen über Mordphantasien, sexuellen Hunger, eine unbestimmte Traurigkeit oder auch über den Verlust der Gesangsstimme. Die Eingangsmontage aus Tanya Wexlers Film „In guten Händen“, einer sorgfältig ausgestatteten Komödie „nach wahren Begebenheiten“, fasst diesen Beschwerdekatalog der Patientinnen unter dem Originaltitel „Hysteria“ zusammen. Der erfahrene Mediziner macht für die „Plage unserer Zeit“ einen „überreizten Uterus“ verantwortlich und „kuriert“ die Damen mit einer Intimmassage.

Als „harte Arbeit“ beschreibt Dr. Dalrymple diese Therapie dem jungen, gutaussehenden Arzt Mortimer Granville (Hugh Dancy), den er kurz darauf als Assistenten einstellt und der sich in dem zeitintensiven Job bald sagenhaft bewährt. Dabei macht er nicht nur die immer zahlreicher werdenden Patientinnen glücklich, sondern weckt auch die Gefühle der schönen Emily (Felicity Jones), der ebenso pflichtbewussten wie tugendhaften Tochter des Hauses. Uneingestanden faszinierender ist für Mortimer jedoch deren Schwester Charlotte (Maggie Gyllenhaal), eine kompromisslose Suffragette, die selbstlos, kämpferisch und gegen den Willen ihres konservativen Vaters in einer Unterkunft für Bedürftige arbeitet.

In diesem gesellschaftlichen Kontrast treffen sich die beiden Hauptfiguren des Films, um „an einem Strang zu ziehen“. Denn auch Mortimer ist ein unverstandener Pionier der Moderne, der mit seinen revolutionären medizinischen Ansichten schon einige Entlassungen provoziert hat. Aber von ihrem körperlichen Zusammenstoß auf offener Straße bis zu ihrer glücklichen Vereinigung im Finale dieser relativ harmlosen Komödie, braucht es noch einige dramatische Winkelzüge. Schließlich erzählt Tanya Wexler lust- und humorvoll nicht nur von realen und eingebildeten Frauenleiden, sozialen Gegensätzen und der skurrilen Erfindung des Vibrators, sondern vor allem von gleich zwei Erfolgsgeschichten im Zeichen individueller Selbstverwirklichung.

Sherlock Holmes – Spiel im Schatten

(USA 2011, Regie: Guy Ritchie)

Two Mules for Madame Simza
von Harald Steinwender

Kurz vor Weihnachten kommen traditionell nur wenige Großproduktionen in die deutschen Kinos. Kaum ein Verleih will sein Pulver verschießen, während das Publikum die letzten Weihnachtseinkäufe erledigt und sich auf die …

Kurz vor Weihnachten kommen traditionell nur wenige Großproduktionen in die deutschen Kinos. Kaum ein Verleih will sein Pulver verschießen, während das Publikum die letzten Weihnachtseinkäufe erledigt und sich auf die Völlerei und Quengelei unterm Tannenbaum und den alljährlichen Kirchbesuch vorbereitet. Die Fernsehsender bieten zudem alles an Spielfilmen auf, um Alt und Jung zuhause zu halten. Und so starten am 22. Dezember dieses Jahres wieder vor allem romantische Komödien und Kinderfilme, auch ein Dokumentarfilm namens 'Abendland' von Nikolaus Geyrhalter ist dabei, den der Verleih als 'ein Filmpoem über einen Kontinent bei Nacht' anpreist; also ein eher verkopfter Stoff, der von vorneherein keine Chance hat, ein größeres Publikum zu finden und der hier verheizt wird. George Clooneys Politthriller 'The Ides of March' dürfte ebenfalls wegen seines für deutsche Zuschauer eher unattraktiven Themas, den 'Primaries' des US-amerikanischen Vorwahlkampfs, hier positioniert worden sein. Der einzige dicke Fisch ist 'Sherlock Holmes: A Game of Shadows' ('Sherlock Holmes – Spiel im Schatten'), ein sehr teurer Blockbuster, den der Brite Guy Ritchie inszeniert hat. Und hier hält sich das Risiko im Rahmen: Als Sequel zum ersten Holmes-Abenteuer von 2009 dürfte der Film wohl problemlos sein Massenpublikum finden, immerhin hat schon der erste Teil weltweit 500 Millionen Dollar eingespielt.

Guy Ritchie hält sich bei dem neuen Holmes-Abenteuer so eng an die etablierte Formel, dass Original und Fortsetzung sich über weite Strecken bis zur Ermüdung gleichen. Das beginnt schon beim erprobten Gothic-Look. 'A Game of Shadows' ist wie der 2009er-'Sherlock Holmes' eine ziemlich düstere Angelegenheit. Das 'Spiel im Schatten' vollzieht sich in von Farben entsättigten Bildern, die von Blau, Grau, Braun in allen ihren Abstufungen hin zu Schwarz bestimmt werden. Hinzu kommt die barock überladene Ausstattung, die kaum kein atmosphärisches Klischee auslässt: Nebel wabert in den Straßen des Fin-de-siècle-Londons, der Boden ist von schwarzem Kies bedeckt, in den Ecken drücken sich Bettler, sinistre Gestalten und Opiumraucher herum. Durch die Gassen donnern schwarze Kutschen, Flaneure schwingen Gehstöcke mit silberverzierten Knäufen. Die gotischen Villen und die düsteren Herrenhäuser, in die es die Helden verschlägt, sind ausgestattet mit marmornen Säulen, dunklem Tropenholz und Steinböden mit Schachbrettmuster, selbstverständlich auch von Geheimgängen durchzogen. Hinzu kommen Doppelgänger und abstruse Verkleidungen, abgründige Ränke und undurchschaubare Mysterien, eine falsche Wahrsagerin, ein Universitätsprofessor, der einen Weltkrieg entfesseln will (also der mad scientist par excellence) und eine gigantische Munitionsfabrik in Deutschland mit Wächtern, deren Uniformen verdächtig an diejenigen erinnern, in denen deutsche Soldaten ein halbes Jahrhundert nach der Filmhandlung die Welt terrorisieren sollten. Ebenfalls dabei: eine Gruppe französischer Anarchisten, die allerdings der totalen Zerstörung der herrschenden Ordnung längst abgeschworen hat. Der einzig wahre Anarchist ist Professor Moriarty, gespielt von Jared Harris, dem Vorzeigebriten aus 'Mad Men'. Moriarty riecht den Weltenbrand, der bereits 1891 in der Luft hängt und er will die Zersetzung der bestehenden Ordnung beschleunigen. Dass er sich davon einzig Reichtum erhofft, wirkt wie eine lahme Ausrede. Was kann er schon von seinem Geld haben, wenn alles in Trümmern liegt?

Ihm entgegen treten natürlich Holmes (Robert Downey Jr.) und Dr. Watson (Jude Law). Nun aber hat Watson gerade gegen alle Widerstände des transvestitisch veranlagten Partners seine versnobte Verlobte Mary (Kelly Reilly) geheiratet. Das treibt einen Keil in den Miniaturmännerbund Holmes/Watson, der bei Ritchie stärker als in frühen Parodien, wie Billy Wilders 'The Private Life of Sherlock Holmes' ('Das Privatleben des Sherlock Holmes'; 1970), homoerotisch konnotiert ist. Da ein solches Männerpaar partout keine Frauen verträgt, es sei denn, sie benehmen sich wie Männer oder ihre sexuelle Identität lässt sich erfolgreich ignorieren, findet sich schnell ein Vorwand, Watsons Braut aus einem fahrenden Zug zu stoßen. In die Flitterwochen fahren dann Holmes und sein treuer Doktor gemeinsam. Als Dritte im Bunde, sozusagen als minimalidentifikatorisches Angebot ans weibliche Publikum, kommt Noomi Rapace hinzu, die in ihrem Hollywooddebüt die undankbare Rolle der Zigeuner-Wahrsagerin Madame Simza gibt, die wie ein überflüssiges Anhängsel wirkt. Immerhin können die beiden Jungs mit Simza gemeinsam all das unternehmen, was zu einem zünftigen Abenteuerfilm gehört: Rennen und reiten, schießen und prügeln, hauen und stechen. Quer durch Europa, von London nach Frankreich über Deutschland bis in die Schweizer Alpen, wo es in Anlehnung an Arthur Conan Doyles 1893 veröffentlichte Kurzgeschichte 'The Final Problem' zum Showdown mit Moriarty am Reichenbachfall kommt.

Fast eine Stunde dauert es, bis 'A Game of Shadows' endlich Fahrt aufnimmt. Ennio Morricones beschwingt-skurriles Thema von Don Siegels 'Two Mules for Sister Sara' ('Ein Fressen für die Geier'; 1970) kündigt den Wechsel im Erzählton an und erinnert zugleich daran, wie sehr der Meister doch seinem Epigonen Hans Zimmer überlegen ist, der den restlichen Score beigesteuert hat. In den folgenden 60 Minuten liefert Guy Ritchie endlich das, was man zuvor sehnsüchtig vermisst hat: Tempo, Irrwitz, das Comichaft-Überdrehte des Figurenarsenals und der Ausstattung treten in den Dienst des herzlich albernen Plots. Eine furios inszenierte Hetzjagd durch einen Wald, während der die Helden unter Artilleriebeschuss geraten und bei der Ritchie in der Montage offensichtlich Sam Peckinpahs delirierenden 'Steiner – Das eiserne Kreuz' ('Cross of Iron'; 1977) zitiert, zählt zu den Höhepunkten der Materialschlacht. Im Finale wird sogar die längst abgenutzte Routine des in Zeitlupe von Holmes antizipierend vorweggenommen Kampfs selbstironisch gebrochen: Nun betreibt sein ihm ebenbürtiger Gegner parallel dazu die gleichen Überlegungen, und die Opponenten müssen sich quasi telepathisch darauf einigen, dass der Kampf bereits entschieden ist, bevor er überhaupt geführt wird. Einen Ausweg findet Holmes trotzdem.

'A Game of Shadows' ist alles in allem ziemlicher Blödsinn. Aber im Vergleich zu herkömmlichem Mainstream vom Reißbrett, etwa der 3D-Neuauflage von 'Die drei Musketiere' (2011; R: Paul W. S. Anderson), merkt man dem Film immerhin den Spaß an, mit dem Ritchie seinen filmischen Comic-Strip inszeniert, und vom Italowestern und Richard Lester inspiriert, die Travestie des Holmes-Mythos betreibt. Vom viktorianischen Meisterdenker ist hier nicht mehr viel übrig: Holmes ist weniger ein Intellektueller denn eine Mischung aus Dandy und Prolet. Nur allzu gerne experimentiert dieser rüpelhafte Dreitagebart-Hedonist mit Drogen, probiert immer neue Verkleidungen aus und stellt geheimnisvollen Männern nach. Der Holmes des neuen Jahrtausends will einfach nur sein Jungs-Ding ausleben und ungestört von Frauen, sozialer Etikette oder gesellschaftlichen Verpflichtungen seinen Kindereien nachgehen. Da geht es ihm wie Guy Ritchie. Nur bekommt der viel mehr Geld dafür.

Yumurta – Ei

(TUR / GR 2007, Regie: Semih Kaplanoglu)

Aufgeschobener Aufbruch
von Wolfgang Nierlin

In den bedeutendsten Filmen des modernen türkischen Kinos bricht sich ein Lebensgefühl Bahn, das zwischen melancholischem Existentialismus, Entfremdung und Perspektivlosigkeit changiert. So wirken die Arbeiten von Autorenfilmern wie Nuri Bilge …

In den bedeutendsten Filmen des modernen türkischen Kinos bricht sich ein Lebensgefühl Bahn, das zwischen melancholischem Existentialismus, Entfremdung und Perspektivlosigkeit changiert. So wirken die Arbeiten von Autorenfilmern wie Nuri Bilge Cylan und Zeki Demirkubuz mitunter geradezu als zeitgenössische Fortsetzungen der Filme Antonionis. Doch hinter selbstbezogener Einsamkeit und der Unfähigkeit, Beziehungen einzugehen, steht hier nicht allein ein allgemeiner Sinnverlust im Zeichen der Moderne, sondern vor allem ein kultureller Bruch nach dem Wegfall traditioneller Gewissheiten. Zwar bleibt die aktuelle Politik des Landes weitgehend unsichtbar, doch der durch sie verursachte gesellschaftliche Wandel hat sich in den Biographien der dargestellten Figuren festgesetzt und ihre Identitäten mit Ungewissheiten infiziert. Unterdrückte Sehnsüchte und innere Unruhe bei gleichzeitig äußerem Stillstand, scheint ein Wesensmerkmal von ihnen zu sein. Anderseits sind sie oft in Indifferenz und Unentschiedenheit gefangen, was sich zum Beispiel in Cylans Filmen „Uzak“ (Weit weg) und Iklimler (Jahreszeiten) besichtigen lässt.

Auch der schweigsame Dichter Yusuf (Nejat Isler) aus Semih Kaplanoglus Film „Yumurta – Ei“, dem ersten Teil der „Yusuf-Trilogie“, gehört in diese Reihe melancholischer, scheinbar verlorener Gestalten. Zu Beginn des tief beeindruckenden Films sieht man ihn in seinem Istanbuler Buchladen: Umgeben von vollgestopften Regalen, sitzt er in sich gekauert, rauchend und leise Musik hörend, während er dem aufreizenden Auftreten einer späten Kundin kaum Beachtung schenkt. Seine Distanz zur oberflächlichen Beliebigkeit des städtischen Lebensgefühls ist genauso ausgeprägt wie diejenige zu seiner ländlichen Herkunft. Yusuf lebt in einem ungewissen Zwischenreich: Er hat seine traditionelle Erdung gegen eine trügerische Hoffnung eingetauscht, weil ihm seine künstlerische Berufung im klassischen Konflikt mit dem Leben keine Wahl zu lassen scheint; er sucht, ohne sich darüber bewusst zu sein, nach einer Identität, die er zugleich flieht.

Als Yusuf zur Beerdigung seiner Mutter Zahra nach Tire unweit der ägäischen Küste gerufen wird, konfrontiert ihn das nicht nur mit dem ungeliebten Ort seiner Kindheit und Jugend, sondern in der jungen, schönen Ayla (Saadet Aksoy) auch mit seinem uneingestandenen, unterdrückten Liebesbegehren. Während er noch mit der formalen Abwicklung des Trauerfalls beschäftigt ist und dabei kaum innere Regung zeigt, trifft er auf frühere Bekannte und seine einstige Jugendfreundin Gül (Gülcin Santyrcyoelu). Doch Yusuf ist ein Fremder in der Heimat; seine Erinnerungen sind wie ein ferner Schatten verlorener Möglichkeiten. Müde und melancholisch, scheinbar ohne Interesse und immer den anvisierten baldigen Aufbruch im Blick durchquert Yusuf die Szenerien vertrauter Orte, an denen alte Bräuche, überlieferte Werte und das Wissen um handwerkliche Techniken lebendig sind. Gerade seine Begegnung mit Ayla, die trotz selbstbewusster Emanzipiertheit ein ungebrochenes Verhältnis zu den heimatlichen Traditionen besitzt und die ihm in gewisser Weise die Mutter ersetzt, zwingt ihn in die Auseinandersetzung mit seiner Herkunft. Widerstrebend einem Gelübde seiner verstorbenen Mutter folgend, soll Yusuf einen Widder opfern.

Semih Kaplanoglu, der seinen Film in langen Einstellungen komponiert hat und seine mitunter betörend schönen Bilder mit einer unaufdringlichen Symbolik metaphysisch auflädt, schickt Ayla und Yusuf, als wären sie verheiratet, auf eine Fahrt über den Berg Bozdag bis zum Gölcük-See. Dabei wird die göttliche Natur zum Spiegel der Erinnerung und zum Seelenraum. Im Schweigen verdichtet sich für Yusuf schließlich ein Gefühl der Heimkunft und eines verdrängten Liebesverlangens. In einer atmosphärisch höchst eindringlichen, völlig ungewöhnlichen Szene mit einem großen Hirtenhund, der in einer Mischung aus Bedrohung und schützender Geborgenheit Yusuf eine Nacht lang auf freiem Feld festhält beziehungsweise bewacht, verdichtet Kaplanoglu in einem außerordentlichen, irritierenden Bild das Motiv des aufgeschobenen Aufbruchs. Für einen langen kathartischen Augenblick wird aus dem verlorenen Schaf, das seinen Weg nicht mehr kennt, ein weinendes Kind. In „Yumurta“ mündet die verhinderte Flucht in eine Rückkehr.

Süt – Milk

(TUR / F / D 2008, Regie: Semih Kaplanoglu)

Wege in die Selbstständigkeit
von Wolfgang Nierlin

In Semih Kaplanoglus Filmen ist die zeitliche Dauer der Einstellungen das Leben selbst. Man kann, wenn man möchte, in ihnen wohnen. Im meditativen Fluss der Bilder sind existentielle Fragen gespeichert: …

In Semih Kaplanoglus Filmen ist die zeitliche Dauer der Einstellungen das Leben selbst. Man kann, wenn man möchte, in ihnen wohnen. Im meditativen Fluss der Bilder sind existentielle Fragen gespeichert: Die Dinge gewinnen eine Aura, aus dem Schweigen der Figuren dringt das Sein. Damit verbunden ist die Erfahrung des Raums, seine sinnliche Ausdehnung. In der Totale erzeugen die Beziehungen zwischen Vorder- und Hintergrund immer wieder eine dialektische Spannung: Natur und Zivilisation, Tradition und Moderne, Stadt und Land treten in einen Dialog.

Kaplanoglus filmische Ästhetik und visuelle Poesie ähneln darin derjenigen seiner Generationskollegen Nuri Bilge Ceylan und Zeki Demirkubuz, zwei weiteren herausragenden Vertretern des zeitgenössischen türkischen Autorenfilms. Während jedoch bei aller Verwandtschaft Ceylans Arbeiten zunehmend artifizieller wirken und Demirkubuz‘ „Geschichten der Finsternis“ den Neorealismus erneuern, begeben sich Kaplanoglus Filme auf den schmalen Grat zwischen der Wirklichkeit und ihrer symbolischen Überhöhung. „Wir sehen die Welt nicht nur mit unseren Augen, sondern auch mit unseren Träumen“, hat der 1963 in Izmir geborene Regisseur dazu gesagt.

Sein Film „Süt – Milch“, nach „Yumurta – Ei“ der zweite Teil der sogenannten „Yusuf-Trilogie“, beginnt mit einem Ritual. Ein alter Schlangenbeschwörer kritzelt Beschwörungsformeln auf einen kleinen Zettel, den er dann in einem Kessel mit dampfender Milch versenkt. Darüber hängt kopfüber eine junge Frau, die den Dampf einatmet und unter Husten allmählich eine kleine Schlange hervor würgt. Kaplanoglu hat sein Symbol aus der Lebenswirklichkeit gewonnen. Eine andere, größere und dunklere Schlange dringt in das Haus des etwa 20-jährigen Yusuf (Melih Selcuk) und seiner Mutter Zehra (Basak Köklükaya) und symbolisiert insofern die sich zuspitzende Krise einer Mutter-Sohn-Beziehung. Die Reinheit und Unschuld dieser in der türkischen Gesellschaft symbiotischen Beziehung erfährt in „Süt“ eine entscheidende Störung und kulminiert in einem doppelten Ablösungsprozess.

Yusufs Weg in die Selbständigkeit schwankt zwischen Neigung und Pflicht, Freiheit und Notwendigkeit. In einem Vorort der Provinzstadt Tire im Hinterland der ägäischen Küste hilft er auf dem kleinen Hof der Mutter, indem er sich um die Kühe kümmert, Milch und Käse verkauft. Aber eigentlich fühlt sich der verschlossene Außenseiter mit dem intensiven Blick zum Dichter berufen. An der Wand seines Zimmers hängen Portraits von Rimbaud und Dostojewski; gerade hat eine Literaturzeitschrift eines seiner Gedichte veröffentlicht, was Yusuf mit heimlichem Stolz erfüllt und seine künstlerische Berufung zu bestätigen scheint. Doch dem jungen Dichter fehlt der soziale Rückhalt: Für seine Mutter ist er ein Träumer und ein trunksüchtiger Professor fällt als Vaterersatz und literarischer Mentor aus. Allein die Studentin Semra, die Yusuf nach seiner Musterung in Izmir kennenlernt, und ein Dichterfreund, der im Bergbau arbeiten muss, können als gleichgesinnte Seelenverwandte gelten. Doch diese bleiben seinem Alltag zu entfernt.

Als schließlich seine attraktive Mutter Zehra eine Beziehung zum örtlichen Stationsvorsteher eingeht, erfährt Yusufs labiles Gleichgewicht eine entscheidende Störung, seine Perspektive verengt sich und wird allmählich von Dunkelheit und Resignation eingehüllt. Semih Kaplanoglu spiegelt die Krise dieses Erwachsenwerdens am Eindringen der Moderne in die traditionelle Gesellschaft, ablesbar an der Vorort-Architektur, der Landnahme durch die Großindustrie, dem Zurückdrängen der bäuerlichen Kultur und einer damit einhergehenden veränderten Arbeitswelt, die das Individuum verschluckt, was die Kamera im sehr intimen Blick auf Yusufs Dichterfreund zeigt. Einmal bringt der Sohn wie zur Versöhnung einen großen Fisch mit nach Hause. Doch die Realität verwandelt sich in einen Traum, in dem die Mutter mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen einen Truthahn rupft.

Bal – Honig

(TÜR / D 2010, Regie: Semih Kaplanoglu)

Der Mond im Wassereimer
von Wolfgang Nierlin

Ein intensives, saftiges Grün und eine Stille, in der die Naturgeräusche lebendig sind, wohnen von Anfang an in den Bildern von Semih Kaplanoglus poetischem Film „Bal – Honig“. Die akustische …

Ein intensives, saftiges Grün und eine Stille, in der die Naturgeräusche lebendig sind, wohnen von Anfang an in den Bildern von Semih Kaplanoglus poetischem Film „Bal – Honig“. Die akustische Erzählung begleitet und erweitert so den visuellen Rahmen über seine Ränder hinaus. Aus der Tiefe des Bildes bewegen sich ein Mann und ein Esel langsam in den Vordergrund, was die Kamera in einer langen statischen Einstellung erfasst. Licht fällt durch das dichte Blätterdach des Waldes und erzeugt ein Schattenspiel. Es ist ein alter, magischer Wald aus einer anderen Welt, die der Regisseur für den dritten Teil seiner Yusuf-Trilogie in der Provinz Rize an der Schwarzmeerküste im Nordosten der Türkei gefunden hat. Der Mann, ein Imker namens Yakup (Erdal Besikcioglu), der sein Handwerk noch nach alten Traditionen ausübt, schwingt ein langes Seil über einen Ast. Als er sich daran, mit den Beinen gegen den hohen Stamm gestützt, hochzieht, bricht das Holz; und für einen ewigen Augenblick schwebt Yakup hilflos und in Todesgefahr zwischen Himmel und Erde.

Es ist dieser ungewisse Schwebezustand der Exposition, den Kaplanoglu auf den Film ausdehnt: Einerseits als andauerndes Warten von Yakups kleinem Sohn Yusuf (Bora Altas), der die Heimkehr seines geliebten, herzensguten Vaters ersehnt; andererseits als ein existentielles Verharren auf der Schwelle zu etwas Neuem, was der türkische Regisseur schon in den Filmen „Yumurta – Ei“ und „Süt – Milch“ auf unnachahmliche Weise thematisiert hat. Dabei geht es jeweils um einen bedeutsamen Wendepunkt im Leben der Protagonisten, um Ereignisse und Veränderungen, die einen Entwicklungsschritt bedingen. Im Falle des kleinen Yusuf ist es ein Schritt, der den Spuren des Vaters folgt, hin zu einem überlieferten, sinnlichen Weltbezug, und der die Isolation seiner kindlichen Traumwelt aufbricht.

Yusufs träumerisches Wesen, seine Empfänglichkeit für Poesie, vor allem aber sein stotterndes Lesen in der Schule machen ihn zum Einzelgänger. Mit dem fürsorglichen, geduldigen Vater verständigt er sich flüsternd, mit Tricks und Täuschungen vermeidet er unangenehme Situationen. Einmal lauscht er bei einer älteren Schülerin, die Rimbauds „Sensation“ (auf Deutsch in der Nachdichtung von Paul Zech) rezitiert: „Erlöst bin ich aus Raum und Zeit / die Sonnenwolke kann nicht freier sein.“ Die schmerzliche Abwesenheit des Vaters beschleunigt die Dringlichkeit, das Eigene zu finden. Semih Kaplanoglu verbindet diese doppelte Suche, die Yusuf in den nächtlichen Wald führt, mit der Darstellung einer vom Verschwinden bedrohten Lebensweise und Kultur. Sein kontemplativer „spiritueller Realismus“ übersetzt die Natur für den Zuschauer in einen sinnlichen Erfahrungsraum, in dem sich Mikro- und Makrokosmos durchdringen und sich dafür symbolisch die Mondscheibe auf der Oberfläche eines gefüllten Wassereimers spiegelt.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

I’m Still Here

(USA 2010, Regie: Casey Affleck)

Selbstgebaute Gefängnisse
von Wolfgang Nierlin

Der amerikanische Mythos vom selbstgemachten Erfolg lastet schwer auf Casey Afflecks Fake-Dokumentation “Im Still Here”, die man genauso gut als pseudo-dokumentarischen Spielfilm bezeichnen könnte. Noch in seiner Negation geht es …

Der amerikanische Mythos vom selbstgemachten Erfolg lastet schwer auf Casey Afflecks Fake-Dokumentation “Im Still Here”, die man genauso gut als pseudo-dokumentarischen Spielfilm bezeichnen könnte. Noch in seiner Negation geht es ums Gewinnen, noch im Scheitern um den heroischen Auftritt. Um sich als „Siegertyp“ einzuführen, genügt dem Schauspieler Joaquín Phoenix ein Ausschnitt aus einem Familienfilm, der ihn als Kind beim mutigen Sprung von einem Wasserfall zeigt. Doch einige Szenen weiter, auf dem Höhepunkt seines Erfolgs als Schauspieler, empfindet er diesen bereits als „selbstgebautes Gefängnis“. Im dunklen Kapuzen-Shirt und mit dem Rücken zur Kamera nuschelt und lallt er sich seinen Frust von der Seele: Er wolle keine „Marionette“ mehr sein, sondern nach seinem persönlichen Ausdruck suchen und dabei sein „Innerstes zeigen“. Doch Phoenix‘ angekündigter Ausstieg aus dem falschen Traum ähnelt eher einem letztendlich folgenlosen Experiment in der Möglichkeitsform.

Ausgerechnet als Hip Hop-Musiker will sich der populäre Schauspieler nach seiner Abkehr vom Filmgeschäft neu erfinden. Der Film seines Kollegen und Schwagers Casey Affleck soll diesen Prozess wiederum dokumentieren. Aber schon die Voraussetzungen dafür sind von jenen Krankheitserregern infiziert, die hier angeblich bekämpft werden sollen. Denn zum einen handelt es sich hier natürlich um ein luxuriöses Projekt mit doppeltem Boden; zum anderen wählt Phoenix nur andere Mittel der Selbstinszenierung: Er lässt sich Haare und Bart wachsen, gibt sich schwerfällig und unberechenbar, fühlt sich unverstanden und spricht kaum einen Satz ohne das F-Wort. In wüsten Szenen, in denen Drogen und Sex, Provokationen und Streitereien den Klischees vom Showgeschäft zuarbeiten, zelebrieren Affleck und Phoenix das absehbare, wenn nicht gar gewollte Scheitern ihrer Kunstfigur „JP“ als langsames Untergehen.

Weil Joaquín Phoenix‘ Traum von einem Neubeginn als Suche nach der wahren Identität mehr oder weniger von Fiktionen ummantelt ist, bleibt auch das (dokumentarische) Bild der Wirklichkeit von Manipulationen infiltriert. „I’m Still Here“ vereint deshalb vor allem eine wenig inspirierte Selbstparodie mit einer etwas zähen Satire auf das Showbusiness. So wirkt der Film über weite Strecken wie ein schludrig montiertes Amateurvideo, vollgestopft mit hohlen Aktionen, die den darunterliegenden Leerlauf nur unzureichend kaschieren können. Nur wenige Szenen erzeugen jene flirrende Intensität, in denen die sicheren Zuordnungen versagen und die Verwischung der Grenze zwischen Fiktion und Realität irritierend wird.

Geständnisse – Confessions of a Dangerous Mind

(USA 2002, Regie: George Clooney)

Tausche Würde gegen Kühlschrank
von Andreas Busche

In den amerikanischen Medien ist der Kalte Krieg heute schon nicht mehr als ein Treppenwitz der Geschichte. Für Chuck Barris war er das auch Anfang der Achtziger schon – genauso …

In den amerikanischen Medien ist der Kalte Krieg heute schon nicht mehr als ein Treppenwitz der Geschichte. Für Chuck Barris war er das auch Anfang der Achtziger schon – genauso wie die ganze US-Unterhaltungsindustrie. Reagan war gerade an die Macht gekommen, als Barris bereits seine Memoiren schrieb: 'Confessions of a Dangerous Mind'. Außerhalb Amerikas wurde Barris kaum bekannt, aber die Folgen seiner Pionierarbeit, die er in den Sechzigern im US-Fernsehen geleistet hatte, sind bis heute spürbar. Zu seiner Hochphase galt er wahlweise als grandioser Prankster, Riesenarschloch oder Nemesis abendländischer Restkultur. Hätte man ihn damals gefragt, hätte er sich zwischen diesen drei Möglichkeiten wohl nur ungern entscheiden wollen – zu einfach wäre es gewesen, sich auf eine der Rollen festlegen zu lassen.

Seine Game-Shows 'The Dating Game', 'The Newlywed Game', 'The Gong Show' oder 'The $1,98 Beauty Show' waren eine Art radikale Demokratisierungsattacke auf die Old Boy’s Club-Hierarchien des Fernsehens: Das Fernsehvolk drängte unerbittlich auf den Bildschirm. Letztlich war es ein Akt der Selbstentlarvung. Mit Barris lieferte das Massenmedium Fernsehen erstmals ein authentisches Bild seiner Gesellschaft: Dumm, hässlich und ohne Selbstachtung standen ihre Vertreter da auf der Bühne und nahmen kein Blatt vor den Mund. Und als sie erkannten, was sie da angerichtet hatten, begannen sie Barris kollektiv zu hassen.

Mit 'Confessions of a Dangerous Mind' schlug Barris 1984 dann zurück. Aus dem Kellerloch, in das er sich fast drei Jahre zuvor zurückgezogen hatte, stieg der Mann, den die Fernsehnation zuletzt öffentlich ausgebuht hatte, als hochdekorierter US-Bürger. 33 Staatsfeinde hatte er laut seiner 'unautorisierten Autobiografie' im Laufe der Siebziger umgelegt, alle im Auftrag der CIA. Die Agency kommentierte Barris Geständnis damals mit den Worten, dass er wohl etwas zu nah am Gong gestanden hatte. Barris erzählt bis heute in Interviews, dass er schon immer ein mittelmäßiger Arbeiter gewesen sei – als Showmaster wie als Spion.

Das wilde Leben Barris’ liefert reichlich Material für das Regie-Debüt von George Clooney. Seit der zusammen mit Steven Soderbergh in subversiver Mission in Hollywood unterwegs ist (gerade erst kam ihr 'Solaris'-Remake in die Kinos), zieht es ihn zu den unkonventionellen Stoffen. Auch Drehbuch-Wunderkind Charlie Kaufman musste nur noch etwas an den Dialogen feilen, besser als Barris hätte es der Begründer des Gehirnkäfig-Kinos à la 'Being John Malkovich' sich selbst nicht ausdenken können. Und beide, Clooney wie Kaufman, wollen sich auch – wie der Autor der Romanvorlage – keine Sekunde darauf festlegen lassen, ob Barris nun Prankster, Riesenarschloch oder Nemesis gewesen ist. In 'Geständnisse' kommt jeder Charakterzug zu seinem Recht. Manchmal zeigt Clooney Barris auch als skrupellosen Manipulator, der die Mechanismen der Unterhaltungsindustrie meisterlich bedient. Und trotzdem bleibt der Visionär bis zum Ende ein armes Würstchen, den es vor allem ins Showbusiness verschlagen hat, damit er seinen kleinen Schwanz überall reinstecken kann. Ficken und gefickt werden ist das Motto der Showbranche und – so will es zumindest die Legende – von Barris’ Leben.

'Geständnisse' ist so delirant, wie es Barris’ Vorlage möglich macht. Und Clooney ist schlau genug, sich mit seinem Film tief in die Niederungen der Spekulation zu begeben. Zwischen den nicht einmal um eine äußere Kohärenz bemühten Eindrücken aus Barris’ Fernsehkarriere tauchen immer wieder die 'Talking Heads' ehemaliger Kollegen wie 'American Bandstand'-Erfinder Dick Clarke und Gene Gene The Dancing Machine aus der 'Gong Show' auf. Clooneys kleines 'Rashomon' der Fernsehkultur sucht nicht den Schuldigen, sondern lediglich den Deppen der Nation. Aber dann besitzt der Film nicht einmal den Anstand, das arme Schwein am Ende – nach dem Vorbild seiner eigenen Show – auszugongen. Die Schlussworte muss da erst ein altersweiser Barris sprechen: 'Ich habe eine Idee für eine neue Gameshow, sie heißt 'The Old Game'. Du hast drei alte Typen auf der Bühne mit geladener Knarre. Sie blicken auf ihr Leben zurück. Gewinner ist, wer sich nicht sein Gehirn wegbläst. Er gewinnt einen Kühlschrank.'

Sam Rockwell bringt genug Ausdruckslosigkeit in seine Rolle als Chuck Barris ein, dass sich der Film nur langsam aus seinem stoischen Erzählfluss löst. Dafür arbeiten Clooney und sein Kameramann Newton Thomas Sigel visuell im roten Bereich. Der Einsatz verschiedener Linsen, Farbfilter, exzessiver Schnitte und qualitativ schwankendem Filmmaterial rückt Barris’ Lebensgeschichte in die surrealen Dimensionen einer größenwahnsinnigen Erweckungsphantasie. Irgendwann lässt er sich in einem mittelmäßigen Restaurant einfach für den CIA-Außendienst anheuern. 'Das Profil stimmt', heißt es. 'Betrachte es einfach als Hobby. Etwas zum Entspannen. Du bist ein Mordsenthusiast.' Jesus ist in seinem Alter bereits tot gewesen und wiederauferstanden.

Für den Zynismus der Gameshow-Kultur schien der Kalte Krieg eine angemessene Metapher zu sein. In seinem Buch erzählt Barris, wie die CIA die Flugreisen der Gewinnerpaare seiner 'Dating Game'-Show dazu benutzte, ihn als Begleiter an seine Einsatzorte zu befördern. So kippt auch der Film schließlich von den ausgelassenen Gameshow-Sauereien der Sechziger in eine Spionage-Farce. Das Agenten-Personal zwischen Helsinki und Ostberlin (u. a. Julia Roberts, Rutger Hauer) besitzt ebenfalls Treppenwitz-Charakter, fügt sich aber bruchlos in den katatonische Aktionismus der Geschichte.

So einen Film hat es aus Hollywood noch nie gegeben. Barris hatte das Fernsehen mit seinen eigenen Mitteln geschlagen und mit seinen populistischen Gameshows kalkuliertes Anti-Fernsehen geschaffen: ohne Stil, ohne Inhalt, ohne Würde. Clooney geht jetzt den umgekehrten Weg, um zu einem ähnlichen Ergebnis zu kommen. 'Geständnisse' spielt mit populären Versatzstücken, um einen überbudgetierten Experimentalfilm mit A-Besetzung zu realisieren. Über den Stil lässt sich vielleicht noch streiten, über den Inhalt, seine Polemik, nicht. Vor 40 Jahren war es immerhin noch die Aussicht auf einen Kühlschrank gewesen, die das Publikum dazu trieb, sich vor der ganzen Fernsehnation zum Affen zu machen. Heutzutage ist es nur noch die pervertierte Sehnsucht, selbst aktiver Teil dieser TV-Öffentlichkeit zu sein, die die Menschen ihre Würde vergessen lässt. Barris mag ein Zyniker sein. Aber dass es einmal so schlimm kommen würde, hätte er sich wahrscheinlich auch nicht träumen lassen.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 05/2003

Kill Bill – Volume 1

(USA 2003, Regie: Quentin Tarantino)

Videotheken-Hengst-Wissen und Hyperkitsch-Kunstwelten
von Andreas Busche

Rache, heißt es in Quentin Tarantinos 'Kill Bill Vol. 1', ist niemals eine gerade Linie – sondern ein Wald. Der sonderbare Satz soll wohl auch für das Filmemachen gelten, ganz …

Rache, heißt es in Quentin Tarantinos 'Kill Bill Vol. 1', ist niemals eine gerade Linie – sondern ein Wald. Der sonderbare Satz soll wohl auch für das Filmemachen gelten, ganz sicher aber für das Kino des Quentin Tarantino. Die gerade Linie ist seine Sache nie gewesen. Mit 'Reservoir Dogs' hatte er die achronologische Narration – fortan 'postmodern' genannt – im Kino etabliert. Pulp Fiction' war dann der Beweis, dass der Job in der Videothek um die Ecke doch noch zu was gut sein kann. Tarantinos Kino ist ein Meta-Happening von Filmgeschichte; die Bäume in seinem Märchenwald sind wildwuchernde Zitate, die einem manchmal auch die Sicht auf den Film verstellen. Mit seinem vierten Film 'Kill Bill', der aufgrund seiner Länge und Informationsdichte zweigeteilt ins Kino kommt, ist Hollywoods ehemaliger Wunderjunge nach innerlicher Reifung mit 'Jackie Brown', der schönsten Form von Huldigung, die für eine B-Film-Queen vorstellbar ist, zum Kind regrediert. Man könnte auch sagen, er sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Tarantino ist mit 'Kill Bill' zum reinen Genrekino, der Pulp Fiction, zurückgekehrt. Hätte er die Form von Kino, die er mit 'Jackie Brown' erreicht hatte, weiter verfolgt, wäre er in 15 Jahren beim geriatrischen Film angekommen, hat er in einem Interview gesagt. Also ist 'Kill Bill' zwangsläufig das Gegenteil von 'Jackie Brown' geworden, denn Tarantino ist ein Regisseur, der mehr auf das Kino hält als auf sich – auch wenn das im ersten Moment nicht so scheint. 'Der vierte Film von Quentin Tarantino' titelt überheblich der Vorspann. Zuvor allerdings hat er eine Hommage eingeschoben wie noch kein anderer in Hollywood. Vor den ersten Produktionscredits erscheint der legendäre Schriftzug 'Shaw Scope' der Shaw Brothers – und 'Kill Bill' braucht keine fünf Minuten, die Würdigung der Pioniere des chinesischen Martial-Arts-Genres ('Die 36 Kammern der Shaolin', 'Das Schwert des Gelben Tigers') zu rechtfertigen. In den Suburbia von Passadena liquidiert Uma Thurman nach allen Regeln der Kampfkunst eine ehemalige Kombattantin.

Was Tarantino mit 'Kill Bill' veranstaltet hat, ist obsessiv, um das Mindeste zu sagen. Bisher war es in die Jahre gekommenen Regisseuren wie Scorsese oder Godard vorbehalten, wehmütige Erinnerungen an ihre ganz persönliche Kinogeschichte mit dem Publikum zu teilen. Insofern ist 'Kill Bill' vielleicht schon Tarantinos frühes Alterswerk, sein 'Histoire(s) du cinÈma'. Der Film komprimiert 30 Jahre asiatisches Kino auf etwas mehr als drei Stunden, eine hemmungslose Nabelschau von angestautem Videotheken-Hengst-Wissen. Seinen Kameramann und seine Schauspieler hat er zur Nachhilfe ins Kino geschickt, damit sie mit den Einstellungen und Posen vertraut werden, die er in 'Kill Bill' penibel rekonstruiert.

Wenn Uma Thurman und Lucy Liu im Haus Der Blauen Blätter zum Duell antreten, dann schwingt in der martialischen Poesie, den Farbspielereien und der Schwerelosigkeit seiner Kämpferinnen der Geist der alten Shaw-Brüder mit. Die Blutfontänen, die abgetrennten Glieder und Köpfe sind eine ehrfurchtsvolle Verneigung in Richtung Kenji Misumis 'Okami / Shogun Assassin'-Filmen sowie des japanischen Animes. Takeshi Kitanos stoischer Gewalt wird ebenso Referenz erwiesen wie der Martial Arts / Drahtseil-Technik Yuen Wo-Pings ('Matrix', 'Tiger & Dragon'). 'Kill Bill' ist mit staubigen Erinnerungen vollgestellt wie ein Museum, und so verwundert es kaum, dass er trotz seines erhöhten Tempos etwas leblos wirkt. Denn was am Ende bleibt, wenn man die drei furiosen Kampfsequenzen, die im Zentrum des Films stehen, die hölzern-comichaften Dialogszenen und die wenig erhellenden Rückblenden beiseite lässt, ist eine Handlung, die locker auf das Zettelchen eines Glückskekses passen würde.

Wert legt Tarantino paradoxerweise vor allem auf die Authentizität seiner Hyperkitschkunstwelt, in der geschlagene Kämpfer noch in doppelten Pirouetten zusammenbrechen. Diese Authentizität bezieht sich direkt auf die Gewalt, die sowohl in Tarantinos wie auch in seinem asiatischen Lieblingskino eine zentrale Rolle spielt. Das Filmblut, das im Film literweise in die Kamera spritzt, hat er sich aus Asien importieren lassen. Und bei den Kampfszenen mit dem Drahtseil-Experten Yuen Wo-Ping verzichtete er auf digitale Tricks. Gewalt, die mit Tarantinos Filmen immer noch zuallererst in Verbindung gebracht wird, hat in 'Kill Bill' nur noch den Stellenwert eines bloßen Zitats. Ein Effekt, der sich im Film sehr schnell abnutzt. Als schließlich die Schlacht im Haus Der Blauen Blätter, eine Hommage an das Rasenmäher-Finale von Peter Jacksons 'Braindead' und Kinji Fukasakus High School-Massaker 'Battle Royal', ihren Anfang nimmt, ist das blutrünstige Gemetzel weit weniger artistisch als die Schlusstotale auf das Schlachtfeld, auf dem sich die Körper der Kämpfer wie zu grotesken Schriftzeichen angeordnet haben.

Die Tatsache, dass 'Kill Bill' von seinem Verleih Miramax in zwei Teilen in die Kinos gebracht wird, lässt sich erst nach Besichtigung des recht schleppenden ersten Teils richtig bewerten. Am Ende eines langen Kinosommers voller Sequels mutet diese Entscheidung nicht unbedingt geschäftstüchtig an. Denn das Geschäftsjahr 2003 könnte als das Jahr in die Kinogeschichte eingehen, in dem die Idee des Sequels zu Grabe getragen wurde. Dass Fortsetzungen in der Regel nicht erfolgreicher als ihre Vorgänger sind (sie kosten mehr, spielen aber weniger ein), war schon in den siebziger Jahren bekannt. In diesem Jahr aber sind die wichtigsten Blockbuster – und damit Sequels ('Tomb Raider II', 'Terminator III', Matrix Reloaded', 'Bad Boys II' etc.) – bereits nach der ersten Startwoche kläglich abgesoffen. Die Umsätze fielen um etwa 50 Prozent. Schuld daran trägt die Mundpropaganda, die nach der ersten Woche die Runde macht – denn was dieser Sommer bot, war meist wirklich unter aller Sau. Genau auf diese Mundpropaganda aber baut Miramax-Chef Harvey Weinstein, wenn er im nächsten Frühjahr den zweiten Teil von 'Kill Bill' in die Kinos bringt. Er hofft auf den Hunger der Tarantino-Fans, die sechs Jahre auf den neuen Film warten mussten. Ein billiger Trick, der ihm viel Geld bringen könnte. Der Fan muss nun doppelt zahlen.

Dem ersten Teil nach zu urteilen, wäre es allerdings besser gewesen, 'Kill Bill' einfach auf 2 1/2 Stunden herunterzukürzen. Weinstein, der in Hollywood den Spitznamen 'Harvey Scissorhand' hat, ist berüchtigt dafür, seinen Regisseuren das Leben zur Hölle zu machen und blindwütig in ihre Filme zu pfuschen. 'Kill Bill Vol. 1' transportiert – wohlgemerkt bei einer Länge von nur 95 Minuten – bereits genügend Füllmaterial, auf das man gut und gerne hätte verzichten können. Man könnte die Entscheidung, den Film zu teilen, natürlich auch als Sieg der künstlerischen Freiheit über das unternehmerische Kalkül werten – Weinstein hat eine Schwäche für den Arthouse-Film, auch wenn es kein 'Tiger & Dragon' geworden ist. Aber mit 'Kill Bills' Cliffhanger-Ende geht Weinstein kaum ein Risiko ein, dass der zweite Teil floppen könnte. 'Kill Bill Vol. 2' könnte sogar zu einer seltenen Ausnahme werden: das Sequel erfolgreicher als das Original.

Wenn Sie einen Tipp haben wollen: Pfeifen Sie auf 'Vol. 1', leihen Sie sich ein halbes Jahr später die DVD und gucken Sie danach im Kino die Fortsetzung. Man muss sich von den Hollywood-Leuten ja nicht für vollkommen blöd verkaufen lassen.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2003

Brokeback Mountain

(USA 2005, Regie: Ang Lee)

Konstante Homophobie
von Andreas Busche

Es musste also wirklich erst ein taiwanesischer Regisseur kommen, Amerika zu zeigen, was eigentlich längst jeder geahnt hatte. Dass der Western, das uramerikanische Genre schlechthin, eigentlich eine klandestine Zusammenkunft von …

Es musste also wirklich erst ein taiwanesischer Regisseur kommen, Amerika zu zeigen, was eigentlich längst jeder geahnt hatte. Dass der Western, das uramerikanische Genre schlechthin, eigentlich eine klandestine Zusammenkunft von closet cowboys und reardoor jockeys ist – ein willkommener Vorwand für frohlockende Reiterspiele unter freiem Himmel. Nicht umsonst gilt der Western als das – neben dem Gladiatorenfilm – männlicheste Filmgenre. Wir erinnern uns nur zu gerne an den unvergesslichen Dialog aus „Red River“, wenn Montgomery Clift, Hollywoods bekannteste Klemmschwester, und John Ireland ehrfürchtig ihre besten Stücke (ihre Colts, natürlich) vergleichen. „Das ist ein besonders schönes Stück, das Du da hast. Darf ich es mal halten?“ Jaja, der Wilde Wilde Westen …

Ang Lees Cowboy-Schnulze „Brokeback Mountain“ ist aber nicht nur deswegen schon jetzt einer der besten Filme des Jahres, weil er einmal unverblümt zeigt, was die Pistoleros und Viehtreiber tatsächlich so trieben in den einsamen, bitterkalten Prärienächten, wenn billiger Whiskey und Peyote den einzigen Trost spendeten – sondern weil Lee solche doch recht schalen Treppenwitze (die nach den Oscarnominierungen natürlich wieder durch alle amerikanischen Talkshows – von Lettermann bis Conan O’Brien – geisterten) in eine der ergreifendsten und traurigsten Liebesgeschichten seit Douglas Sirks Rock Hudson-Filmen (noch so ein Klemmi!) verwandelt hat, ohne seine schwule Thematik für ein Hetero-Mainstream-Publikum zu kompromittieren.

„Brokeback Mountain“ ist „großes Kino“ im allerbesten Sinne. Ein in seiner räumlichen wie zeitlichen Ausdehnung episches Melodrama, das den Genre-Konventionen so eng wie nötig verbunden bleibt, damit es gerade noch als universelle Love Story funktionieren kann. Lee und sein Produzent James Schamus haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie sich für ihren Film weniger am klassischen Western als an „Titanic“ orientiert haben (die amerikanischen Filmplakate sind nahezu identisch). Es ist nicht zuletzt den Drehbuchautoren Larry McMurtry und Diana Ossana, ersterer ein gestandener Western-Veteran, zu verdanken, dass der amerikanische Westen in „Brokeback Mountain“ nie zur bloßen Hintergrund-Kulisse verkommt. Lees Film beschreibt gleichermaßen das „Far Country“ Anthony Manns wie auch die gesellschaftlichen Zwänge, wie sie in den Suburbia-Dramen Sirks allgegenwärtig sind.

Alles beginnt in den titelgebenen Bergen von Wyoming im Sommer 1963. Ennis del Mar (Heath Ledger) und Jack Twist (Jake Gyllenhaal), zwei mittellose Farmarbeiter, heuern für einen Sommer bei einem Viehhändler an. In den Monaten der Isolation kommen die beiden sich langsam näher; viel gibt es auch sonst nicht zu tun. Die Tage verbringen sie mit Patrouillenritten zwischen ihrem Camp am Fuß der Berge und ihrer Schafherde, dem Aufkochen von Dosenfraß (zur Abwechslung erledigen sie auch mal einen Hirsch) und dem Austausch von Familiengeschichten. Das alles wirkt zunächst wie eine Pfadfinderidylle, und sie gipfelt schließlich in einer betrunkenen Nacht am Lagerfeuer.

Früh wird offensichtlich, dass Lee die imposante Bergwelt Wyomings als einen utopischen Naturzustand außerhalb der Grenzen der Zivilisation versteht. Seine Landschaftstotalen etablieren einen besseren, freien Ort. Die Zurückhaltung, mit der er Ledger und Gyllenhaal bei ihren alltäglichen Verrichtungen (dem Waschen am Fluss, ihrem Raufen, den Ausritten) in dieser Landschaft beobachtet, bewahrt seine Liebesgeschichte auch vor dem Gefühlskitsch. Lee entwicklet in diesen Szenen eine ganz natürliche Atmosphäre von Vertrauteit, die aus der Verbundenheit zur Landschaft erwächst – und somit ein Topos des klassischen (Hetero-)Westerns komplett auf den Kopf stellt. So muss in „Brokeback Mountain“ nie mehr geredet werden als nötig. Das ist so angenehm wie für den Verlauf der Geschichte auch symptomatisch.

Wenn man Lee etwas vorwerfen wollte, dann allenfalls, dass „Brokeback Mountauin“ sehr bald wieder in die traditionellen Rollenmodelle des Melodrams zurückfällt. Das beginnt schon mit Ledgers ungleich maskulinerer Statur. Sein Ennis Del Mar, der verstocktere der beiden Männer, ist ein wortkarger Hüne und nahezu unfähig, Gefühle zu artikulieren. Ledgers beeindruckend mahlender Unterkiefer scheint pausenlos die angestauten Emotionen seiner Figur verarbeiten zu müssen. Seine Neigung zu Unbeherrschtheit und Gewaltausbrüchen unterscheidet ihn von Gyllenhaals sensiblem Jack Twist mit seinen strahlend blauen Augen. Jack ist eindeutig die bodenständigere Figur. Aus seiner Sehnsucht nach einer gesicherten Existenz (eine kleine Ranch, ein paar Pferde) sprechen wieder die hunderte von domestizierten Frauenrollen aus Howard Hawks- / John Ford- / William Wellman etc.-Western. Und sein tränenersticktes „I wish I knew how to quit you“ ist in Queer-Kreisen schnell zum geflügelten Wort avanciert.

Wie flüssig Lee „Brokeback Mountain“ inszeniert hat, zeigt sich schon darin, dass der Film zwanzig Jahre verstreichen lässt (von 1963 bis in die frühen Achtziger), ohne dass diese äußere Zeit je spürbar wird. Jacks wie Ennis (heterosexuellen) Beziehungen festigen sich und zerfallen wieder, ihre Kinder wachsen heran. Gleiches gilt für Ennis’ und Jacks regelmäßige Camping-Ausflüge, die ihre einzigen ungestörten Zusammenkünfte bleiben. Sie kommen und gehen, Jahr für Jahr. Nur Gyllenhaals schnuckeliger Schnauzer (in den Siebziger Jahren war das noch weniger verfänglich als spätestens mit der Ankunft der Village People) lässt erahnen, wie schnell die Jahre in „Brokeback Mountain“ ins Land ziehen. Moden und gesellschaftliche Erscheinungen gehen am Film spurlos vorüber.

McMurtry und Ossana haben aus Annie Proulx’ 14seitiger Kurzgeschichte, die 1997 zum ersten Mal im New Yorker veröffentlicht wurde, eine geschlossene Welt entworfen, die von äußeren Einflüssen fast unberührt bleibt. Einzige Konstante ist in „Brokeback Mountain“ die grassierende Homophobie der amerikanischen Provinz: zunächst anhand einer Kindheitserfahrung, wenn Ennis am Lagerfeuer Jack erzählt, wie sein Vater ihm eines Tages das Opfer eines hate crimes vorführte („Mein Vater sorgte dafür, dass mein Bruder und ich das zu sehen kriegen. Und, verdammt, es hat gewirkt. Zur falsche Zeit, am falschen Ort … und wir sind tot!“), schließlich in der Gewalt, die Jack widerfahren wird. Und dann klingt in „Brokeback Mountain“ auch die Geschichte von Matthew Sharp nach, der 1998, gerade ein Jahr nach der Veröffentlichung von Proulx’ Kurzgeschichte, in Wyoming von einer Gruppe Rednecks gelyncht wurde. Was Ennis und Jack über all die Jahre verbindet, ist die Erinnering an ihren gemeinsamen Sommer auf Brokeback Mountain. Es wird auch das Einzige sein, das ihnen am Ende bleibt.

Es liegt nahe, in „Brokeback Mountain“ einen politischen Kommentar hineinzulesen, nicht nur weil Texas und Wyoming, die Staaten, in denen Ennis’ und Jacks Familien leben, zufällig auch die Staaten von Bush und Cheney sind. Doch das Drehbuch von McMurtry und Ossana kursierte bereits jahrelang in Hollywood, bevor es Lee schließlich in die Hände fiel. Und der hat die Zeitlosigkeit des Stoffes richtig erkannt. Die Stärke des Films liegt gerade in seiner formalen Konventionalität. Wenn man denn in „Brokeback Mountain“ nach einem politischen Kommentar sucht, dann steckt er in dem tragischen Widerspruch, der sich aus der Weite dieses Landes und dem Mangel an Freiheit des Einzelnen ergibt.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 03/2006

matrix reloaded

Matrix Reloaded

(USA 2003, Regie: Andy Wachowski, Lana Wachowski)

Was heißt Kontrolle?
von Andreas Busche

Die Matrix hat den Blick auf die Apparatur des Spektakels geschärft. Unter der Oberfläche sieht es finster und unwirtlich aus, wie eine Erweiterung des Kinoapparats auf der Leinwand: Vorne versorgt …

Die Matrix hat den Blick auf die Apparatur des Spektakels geschärft. Unter der Oberfläche sieht es finster und unwirtlich aus, wie eine Erweiterung des Kinoapparats auf der Leinwand: Vorne versorgt er uns mit bunten Bildern und Illusionen, während im Inneren des Gebäudes die Projektionsgeräte geräuschvoll die Bilder produzieren. Es war auch das überzeugendste Bild, das “The Matrix” vor vier Jahren im Bewusstsein des Kinogängers plazierte: in schwarze Schluchten abfallende Lagertürme menschlicher “Batterien”, in einer desolaten Nachkriegslandschaft. Ein gigantischer Parkplatz für “Human Resources”. Der Mensch existiert in diesem System nur noch, um in seiner Versklavung die Simulation einer materiellen (und materialistischen) Realität aufrechtzuerhalten. Die Wahl zwischen Simulation und Desolation reduziert sich auf die Wahl der richtigen Farbe: blaue Pille oder rote Pille? Willkommen in der Wüste des Realen!

Das Erfrischende an “The Matrix” war – trotz seiner messianischen Erweckungsbotschaft – der unumstößliche Nihilismus, der sich in einem schweren Paradoxon auflöste. Nicht mehr die idealtypische Wirklichkeit, den utopischen Ort, an dem das menschliche Begehren sich manifestiert, galt es zu bewahren (dieser “Ort” ist längst zum “Großen Anderen” mutiert); es galt, sich mit der realen Verheerung bestmöglich zu arrangieren – ein Topos, das im gegenwärtigen Science Fiction-Film (zuletzt “Die Herrschaft des Feuers”) häufiger anzutreffen ist. Utopia und Dystopia sind ununterscheidbar geworden, aufgelöst in einer fantastischen Möglichkeitspalette von Schein- und Hyperwirklichkeiten.

Dieser kategorische Konjunktiv verschaffte den Wachowski-Brüdern, die vor vier Jahren die “Matrix”-Trilogie aus jenem kruden Gemisch aus Superhelden-Mythologie, Videospiel-Ästhetik, Hongkongs Bloodshed-Filmen, Techno-Gnosis und Vulgär-Philosophie geschaffen hatten, eine Fülle von inhaltlichen Anschlüssen, die gleich für eine ganze Trilogie gereicht haben. Der Ende Mai gestartete “The Matrix Reloaded” (der Abschluss folgt im November 2003 mit “The Matrix Revolutions”) muss mit dieser Materialübersättigung, narrativ wie intellektuell, erst einmal zurechtkommen. Die Zweifel an dieser gewaltigen Aufgabe sind seinem Superhelden bereits eingeschrieben, wenn Neo (Keanu Reeves) sich gleich in den ersten Minuten des Films fragt, was das ganze Theater um Erlösung und Heilsbringertum eigentlich soll. Die Frage hat hier natürlich voll und ganz ihre Berechtigung, aber natürlich ist kein Zuschauer mehr fähig, sie nach dem intensiven medialen Bombardement noch laut auszusprechen. Wie eine Matrix hat sich der Marketing-Apparat (dessen effizienteste ‘Drone’ ein High End-Videospiel ist, das so manchen Hollywood-Blockbuster in puncto Technik deklassiert) über unsere Wahrnehmungssynapsen gelegt. That`s Entertainment!

Was aber ein echter Fan ist, der lässt sich von solchen Nebensächlichkeiten nicht abschrecken. Das Sequel schafft es erneut spielerisch, zwischen Popcorn- und geisteswissenschaftlicher Fraktion zu vermitteln. Und Larry und Andy Wachowski haben sich noch genug Hintertüren offen gelassen, um nicht allzu früh in ihrem eigenen mythologischen Käfig zugrunde zu gehen. Mit platinblonden Dreadlock-Zwillingen, einer saftigen (sic!) Liebesgeschichte zwischen Neo und Trinity (Carrie-Ann Moss) und jeder Menge attraktiver afro-amerikanischer Freiheitskämpfer beiderlei Geschlechts (im Kontrast zum ausgesprochen ‚weißen‘ Brother-against-Brother/Nu Metal-Soundtrack) haben die Brüder genug Nebenfährten für ein angemessenes Finale gelegt. Obwohl in Sachen Action mit der spektakulären, 15-minütigen Highway-Verfolgungsjagd wahrscheinlich alles erreicht worden ist, was Storyboard und Digitaltechnik heutzutage möglich machen. Das Thema ‚Technologie‘ ist dann wohl auch der einzige Punkt, an dem ein Film wie “The Matrix Reloaded” überhaupt noch angreifbar wird.

‚Kontrolle,‘ sagt Haman, so etwas wie der Stadtrat von Zion, der Unterwasserzuflucht der letzten Menschen vor den feindlichen Maschinen, und lässt den Blick über die eigenen Maschinen, die Zion vor der Außenwelt schützen, streifen, ‚Kontrolle ist das Schlüsselwort. Was heißt Kontrolle?‘ Um den tieferen Sinn dieser Frage zu verstehen, muss man sich nochmal in Erinnerung rufen, dass zwischen ‚The Matrix‘ und seinem Sequel das Selbstwertgefühl Amerikas gehörig in Mitleidenschaft gezogen wurde (9/11 und Folgen). Kontrolle ist der Schlüsselbegriff, der den Subtext von ‚The Matrix Reloaded‘ heller noch als seinen Vorgänger illuminiert. Denn von Beginn an ist die ‚Matrix‘-Trilogie der Brüder Wachowski vor allem ein epischer Paranoia-Text gewesen, vielleicht sogar der beste seit Pakulas ‚Parallax View‘.

Wenn Blow Up‚ (1966) und ‚The Conversation‘ (1975), wie Frederic Jameson in “The Geopolitical Aesthetic” schreibt, die beiden markantesten Momente im historischen Prozess der Postmodernisierung (des Kinos) festhalten, weil mit diesen beiden Filmen die Authentizität sowohl des visuellen Image als auch des Tondokuments unterminiert wird, dann ist die ‚Matrix‘-Trilogie zweifelsohne das ultimativ-postmoderne Verschwörungskino. Bilder und Sounds sind keine Instanzen mehr; die Auflösung dieses Dilemmas kann nur noch rein esoterisch erfolgen. Auf die Frage Neos, woran er erkennen solle, dass das Orakel (Gloria Foster), mit dem er sich im zweiten Teil in einem New Yorker Hinterhof zum Taubenfüttern trifft, nicht auch ein feindliches Computerprogramm sei, entgegnet sie, dass er schon das Richtige tun werde – wenn er wirklich der Auserwählte ist.

Die Paranoia wird in ‚The Matrix Reloaded‘ in einer Szene ganz unmittelbar, wenn Agent Smith (Hugo Weaving), der nach seinem ‚Tod‘ im ersten Teil als ‚freischaffender‘ Superbösewicht zurückkehrt, sich im Zweikampf mit Neo wie ein Computervirus hundertfach in der Matrix verdoppelt, und Neo sich plötzlich gegen eine ganze Armee von Agenten zur Wehr setzen muss. Technisch ist ‚The Matrix Reloaded‘ wie auch der Vorgänger seiner Zeit wieder weit voraus, aber es sind eben genau solcherlei technische Voraussetzungen, die (im Film) auch die unterdrückerische Matrix erst ermöglichen. Bezeichnenderweise stammt die Technologie, die in den ‚Matrix‘-Sequels zur Anwendung kommt, zu einem nicht unbeträchtlichen Teil – abgesehen von den Kung Fu-Choreographien von Martial Arts-Veteran Yuen Wo-Ping – aus dem Wissenbestand des US-Militärs. Die Mitarbeiter des Special Effect-Wizzards John Gaeta ließen sich in den letzten anderthalb Jahren überall dort antreffen, wo sich auch die Vertreter des militärisch-industriellen Komplexes die Technologie für ihren ‚War against Terror‘ beschafften. ‚The Matrix Reloaded‘ ist damit schon jetzt das erfolgreichste Franchise des neuen ‚Military-Entertainment Complex‘.

Die Alternativen in dieser neuen Paranoia-Matrix versprechen kaum Erleuchtung. Fürchten Sie sich vor terroristischen Anschlägen, nehmen Sie bitte die blaue Pille. Fürchten Sie sich vor Ihrer eigenen Regierung, nehmen sie die rote.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 06/2003

Terminal

(USA 2004, Regie: Steven Spielberg)

Die Statisten unter der Terminal-Kuppel: pathetisch
von Andreas Busche

Steven Spielbergs neuer Film “The Terminal” sieht aus, als basiere er auf einem Treppenwitz, den sich gestresste Manager irgendwann in den Achtzigern, als die modernistische Obsession der Sechziger Jahre nach …

Steven Spielbergs neuer Film “The Terminal” sieht aus, als basiere er auf einem Treppenwitz, den sich gestresste Manager irgendwann in den Achtzigern, als die modernistische Obsession der Sechziger Jahre nach unbegrenzter Mobilität (die Spielberg mit “Catch me if you can” ja auch gerade erst verfilmt hat) längst zum Alptraum geraten war, gegenseitig auf Flughafen-Toiletten erzählt haben. Bei Spielberg bekommt der alte Kalauer auch nochmal einen Einsatz, aber er ist gar nicht mehr witzig. Ob er sich nicht manchmal vorkomme, als würde er auf einem Flughafen leben, fragt ein Geschäftsreisender Tom Hanks beim Rasieren auf der Männertoilette, und der kann sich als Antwort nur noch ein verständnisloses Jacques Tati-Gesicht abringen.

“The Terminal”, der neueste Streifen aus der Steven Spielberg-Mythenfabrik, basiert aber noch auf einem anderen “Witz”; der wahren Geschichte des Iraners Merhan Karimi Nassiris, der seit fünfzehn Jahren im Terminal 1 des Pariser Flughafens Charles de Gaulle lebt, weil Frankreich ihm die Einreise nicht gestattet, und er den Asyl-Status, den die belgische Regierung ihm vor Jahren gewährte, als inakzeptabel abgelehnt hat. Es ist eine komplizierte Geschichte aus einer Zeit, lange bevor Europa Festung sein wollte oder Politiker öffentlich über Auffanglager in Nordafrika nachdachten. Und ähnlich komplex sind auch die bürokratischen Schlupflöcher, die bis heute verhindern, dass die französische Regierung Nassiri einfach wieder aus dem Land schmeißt. Spielberg hat daraus einen Film gemacht, der seine Geschichte konsequent an jeglichen politischen Realitäten vorbei erzählt.

Spielbergs Ahnungslosigkeit im Umgang mit politischen Themen (“Die Farbe Lila”, “Minority Report”, “Saving Private Ryan”) ist hinreichend kritisiert worden, doch nie war sie so frappierend. Er muss seine Filme auf einem weit entfernten Planeten drehen, anders ist solch eine Weltfremdheit nicht zu erklären. Spielbergs Amerika ist im Jahr 2004 immer noch ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das Einwanderungstraumland der Gründerväter, in dem jeder es zu etwas bringen kann, wenn er nur eine Vision hat. Auch wenn der Beamte der Einwanderungsbehörde Hanks gleich am Anfang die Tür vor der Nase zuschlägt: “America is closed!”

Hanks spielt Viktor Navorski, Reisender aus einem fiktiven osteuropäischen Zwergstaat, der bei seiner Landung auf dem New Yorker John F. Kennedy Airport erfahren muss, dass in seinem Land gerade ein Militärputsch stattgefunden hat. Stanley Tucci als Sicherheitschef Frank Dixon erklärt einem radebrechenden Hanks, dass er nicht in sein Land zurück könne, und die amerikanische Regierung sein Visum nicht mehr akzeptiere, weil sie keine diplomatischen Beziehungen zum neuen Regime seines Landes unterhalte. Es stehe ihm aber frei, sich auf dem Flughafengelände aufzuhalten, solange er die Einreisevorschriften nicht verletze. Der Sadismus dieser verkorksten Immigrationspolitik spricht boshaft aus Tuccis Figur: “Welcome to the US – almost!”

Interessant an “The Terminal” ist, dass eine Ahnung von Post-9/11-Trauma noch in Nebensätzen und szenischen Details latent spürbar ist. Einmal wird eine Glastür durchschritten, und die Kamera bleibt kurz auf dem Logo des Departments of Homeland Security hängen. Später im Film sagt Dixon über den Heimatlosen Navorski, dass Amerika schon so viele Leute ins Gefängnis gesteckt habe, dass da einfach kein Platz mehr sei. Aber Spielberg beweist eine enorme Verdrängungsleistung. Vor diesem Hintergrund entwickelt der Film mit seinem grenzenlosen Gutmenschentum eine fast psychopathologische Qualität. Spielberg ist der Regierungstreue zweifellos unverdächtig, doch seine Ignoranz der politischen Zustände zeugen von einer geradezu sträflichen Naivität. Zudem ist Tom Hanks wieder in Forrest Gump-Modus. Bei Spielberg müssen die Menschen erst wieder zu Kleinkindern regredieren, um sich mit den Verhältnissen arrangieren zu können.

Dabei ist Hanks Figur gar nicht einmal so uninteressant. Im reibungslosen Getriebe der Abschiebungsmaschinerie ist er ein Fremdkörper, ein passiver Saboteur wie Melvilles Bartleby, der sich dem System durch seine Weigerung, den Flughafen nicht zu verlassen, widersetzt – und es damit zum Stocken bringt. Viktor Navorski ist ein bürokratischer Albtraum. So bleibt die Gastfreundlichkeit des Sicherheitspparats nur von kurzer Dauer. Der Sicherheits-Chef will seinen unliebsamen Gast möglichst schnell wieder aus seinem Zuständigkeitsbereich entfernen, verfügt jedoch über keine rechtliche Handhabe.

Die Starrsinnigkeit Navorskis ist allerdings nicht viel mehr als ein unvermeidliches Spielberg-Produkt humanistischen Pathos’, das nichts mit der ehrlichen Entrüstung des realen Vorbilds Nassiri zu tun hat. Dessen Ablehnung des Gnadenasyls, das Belgien ihm angeboten hatte, war noch ein passiver Protest gegen die europäische Immigrationspolitik, die immer mehr Bürger ohne Status hervorbringt. Spielberg dagegen spielt in “The Terminal” die Verwaltungs- und Abschiebepraktiken der Immigrationsbehörden launisch-slapstickhaft durch, ohne ihre Problematik zu erfassen. Am Ende ist es fast zum Verzweifeln: Das Material liegt offen da, der Jargon, die Methoden, das Szenario, und Spielberg zeigt sich nicht in der Lage, die Punkte zu einem kohärenten Bild zu verbinden.

So wird der Flughafenterminal für Viktor Narvorski zu einer Spielwiese des “American Dream”. Auf die Frage, was er denn nun machen solle, entgegnet ihm ein Sicherheitsbeamter: “Es gibt hier nur eine Sache, die sie tun können: Einkaufen”. Doch zum Einkaufen fehlt ihm das Geld. Und ein Mensch ohne Geld ist in einem Milieu, dessen einziger Sinn der Warenverkehr ist, ein Paradoxon. Navorski macht das Beste draus: Seine Mahlzeiten finanziert er sich mit dem Pfand für die Gepäckwagen, sein Lager errichtet er in einem abgelegten Flügel des Terminals (das erste, was er tut, ist die unerträgliche Muzak abzustellen, die pausenlos aus den Flughafenlautsprechern quillt) und verbündet sich mit den anderen Un-Personen, die täglich unsichtbar über den Flughafen geistern: das Servicepersonal. Eine indische Reinigungskraft, ein mexikanischer Catering-Boy und ein Frachtangestellter – eine klandestine Pokergemeinschaft – sollen in “The Terminal” den Solidaritätskontrakt des Melting Pots erfüllen, auf den Spielberg so verzweifelt vertraut.

Aber dann wird es ganz schnell banal. Kann man die erste Hälfte des Films noch mit viel gutem Willen als Variation von Jacques Tatis viel intelligenteren Modernismus-Satiren verstehen (Narvorskis Terminal ist eine einzige, unglaublich detailreiche Kulisse, die sehr clever ein Gefühl von Klaustrophobie und Konsumterror herstellt), verkommt der zweite Teil zu einer billigen Melange aus Seifenoper und Sitcom. Catherine Zeta-Jones erregt als herzgebrochene Stewardess (auch Stewardessen gehören zum Inventar eines Flughafens, aber sie sind im Gedränge viel auffälliger als Spielbergs Blue Collar-Servicekräfte) das Interesse Narvoskis. Ihre Rolle beansprucht kein allzu großes Talent, aber es geht in “The Terminal” sowieso hauptsächlich um Hanks idiotischen Volkshelden, der sich im Flughafen-Untergrund langsam den Ruf einer Legende á la Tom Joad verdient.

Womit Spielbergs intaktes Amerika-Bild auch wieder hergestellt ist. “The Terminal” funktioniert aber noch ganz anders als jüngere amerikanische Propagandafilme vom Schlage “Black Hawk Down”. Der Film verhält sich sozusagen komplementär – zum Amerika-Bild, wie es derzeit noch im reaktionären Hollywood-Umfeld generiert wird, und zur politischen Realität. Er ist eine Utopie, per se ja nichts Schlechtes. Ein zutiefst schlechtes Gewissen spricht aus Spielbergs Film, aber sein Versuch, von einem besseren, dem wahren Amerika zu erzählen, scheitert mit “The Terminal” grandios. Denn das Bild, das er präsentiert, ist grundlegend schief. Flughäfen sind heute längst nicht mehr das Tor zur Welt. Im Gegenteil endet für viele Ankommende die Reise bereits hier.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 10/2004

Anything Else

(USA 2003, Regie: Woody Allen)

Holocaust-Witze und Trauma-Prophylaxe
von Andreas Busche

Woody Allen hat in seiner Karriere schon bessere Zeiten erlebt. Im Kinotrailer zu seinem letzten Film “Anything Else” tauchte gerade mal sein Name in den Credits auf. Man hätte leicht …

Woody Allen hat in seiner Karriere schon bessere Zeiten erlebt. Im Kinotrailer zu seinem letzten Film “Anything Else” tauchte gerade mal sein Name in den Credits auf. Man hätte leicht den Eindruck gewinnen können, es mit der Vorankündigung für eine neue 'Neuromantic Comedy' mit Christina Ricci, inzwischen erschreckend abgemagert, und “American Pie”-Star Jason Biggs in den Hauptrollen zu tun zu haben. Allens Verleih Dreamworks hatte dem Kinopublikum seinen Regisseur, Drehbuchautor und Hauptdarsteller diskret unterschlagen, um das geringe kommerzielle Potential des Films nicht weiter zu gefährden. Der Stadtneurotiker, so scheint es, hat endgültig abgedankt; Zeit für die hippen Bulimikerinnen und nervösen Zwangsmastubierer der “Prozac Nation” (so der Titel eines anderen Films von Ricci / Biggs).

Im Vergleich zu Deutschland allerdings hat es Allen in Amerika noch relativ gut erwischt. Hierzulande kam sein vorletzter Film “Hollywood Ending”, als erster Woody Allen-Film überhaupt, gar nicht mehr in die Kinos, und ähnlich wird vorraussichtlich auch das Schicksal von “Anything Else” aussehen, der schon von der amerikanischen Kritik – wie alle jüngeren Allen-Filme seit “Sweet and Lowdown” – nicht allzu positiv aufgenommen wurde. Das mangelnde Interesse an Woody Allen in Deutschland, wo er bislang noch auf eine treue Fanbasis bauen konnte, ist symptomatisch für das künstlerische Dilemma, in dem Allen sich seit einigen Jahren befindet. In Amerika hat er sich nach Filmen wie “Celebrity”, “Im Bann des Jade-Skorpions” und “Hollywood Ending” seinen Sympathie-Bonus als kauziger Eigenbrötler im freudlosen Hollywood-Geschäft schon lange verspielt. Selbst das “Village Voice”, wie Allen eine durch und durch New Yorker Institution, hatte “Anything Else” in Grund und Boden verrissen.

Christina Ricci und Jason Biggs für die Hauptrollen in seinem neuen Film auszuwählen, mag da ein cleverer Schachzug gewesen sein. Er verdeutlicht aber auch Allens Problem. Dreamworks hatte das ganz richtig erkannt. Es dürfte heute selbst dem cleversten Marktstrategen schwer fallen, der “American Pie”-Generation zu erklären, wer Woody Allen eigentlich ist. Arriviert allein durch schiere Präsenz (für den Kinogänger um die Mitte Vierzig scheint Allen schon immer irgendwie dagewesen zu sein) und das Ostküsten-Selbstverständnis als intellektuelle Institution hat Allen sich mit seinen Filmen immer tiefer in eine beschauliche Isolation manövriert. Die Spielregeln innerhalb dieses hermetischen Soziotops sind seit den siebziger Jahren bekannt, nur hat Allen über die Jahre den Kontakt zur Außenwelt abgebrochen. Das ging so lange gut, wie sich dieses System selbst am Leben erhalten konnte. Mit Unterstützung darf Allen inzwischen aber nicht einmal mehr in den eigenen vier Wänden rechnen: In der Dokumentation “Wild Man Blues” erzählt Allens Adoptivtochter und Lebensgefährtin Soon-Yi, dass sie bis heute nicht “Der Stadtneurotiker” gesehen hat. The Kids are not alright.

In Deutschland ist jeder neue Woody Allen-Film zudem den Bedingungen eines völlig neu strukturierten Kinomarktes ausgesetzt. Ende der 90er Jahre hatte der Verleiher Kinowelt nach erfolgreichem Börsengang mit seinem Ableger Arthouse, über den eine Zeit lang auch Woody Allen-Filme in die deutschen Kinos kamen, einen beispiellosen Verdrängungswettbewerb im Programmkino-Sektor gestartet und kleineren Verleihern damit sehr schnell die Preise verdorben. Diese Preise gelten auch nach Bereinigung des Marktes durch den Einbruch der “New Economy” noch, nur fehlt seitdem zwischen zahlungskräftigen Multiplex-Majors und finanzschwachen Kleinstverleihern die solvente Mittelschicht, die sich den Luxus eines Woody Allen-Films noch leisten kann. Oder will. Woody Allen – demnächst ein Fall für Filmfestivals?

Es gibt aber noch einen anderen Grund, warum “Anything Else” besonders auf dem deutschen Kinomarkt einen schweren Stand haben könnte. Nach eher zahmen Ausflügen in selbstreferentielle Comedy-Gefilde wirkt Allens neuer Film wie das saure Aufstoßen eines überzeugten Apokalyptikers (“Ich konnte mich nicht entscheiden,” sagt Christina Ricci an einer Stelle im Film zu Allens jüngerem Alter Ego Biggs, “ob Nihilismus oder Pessimismus dich glücklicher machen würde”). Es mag an diesem Punkt in Allens Karriere vielleicht überraschen, aber unter der charmanten Twentysomethings-Beziehungskisten-Oberfläche ist “Anything Else” ein ausgesprochen böser und unversöhnlicher Film. Eine Komödie, der das Lachen permanent im Halse stecken bleibt. Sieht man einmal gnädig darüber hinweg, dass er hier erneut sein eigenes Oeuvre ausgeschlachtet hat (in diesem Fall vor allem “Der Stadtneurotiker”), hinterlässt “Anything Else” vor allem einen Eindruck: Lange nicht mehr hat Allen es so ernst gemeint.

Von allen Allen-Figuren ist David Dobel die bislang wohl frustierteste Gestalt. Ein Stand Up-Comedian mit einem pathologischen Verfolgungswahn, der hinter jeder Bemerkung eine antisemitische Beleidigung vermutet. Der sich im Militar-Gebrauchtwarenladen ein Holocaust Survival Kit zusammenkauft, um für den Ernstfall gewappnet zu sein. Seinem Protegé Jerry Falk, gespielt von Biggs, bringt er in einer denkwürdigen Szene ein Gewehr mit nach Hause (“nur zum Schutz”); und auch wenn die Szene in komödiantischer Hinsicht etwas orientierungslos scheint, sagt sie doch einiges über Allens mentale Verfassung aus. Holocaust-Witze geben den scharfen Ton in “Anything Else” vor, aber sie sind keineswegs witzig gemeint. Genau das hat die amerikanische Kritik an “Anything Else” so gründlich missverstanden: Allens Judenwitze sind nicht geschmacklos, sondern zutiefst traumatisch.

“Die Verbrechen der Nazis,” hackt Jerry die Worte Dobels in sein Laptop, “waren so enorm, dass, wenn die gesamte menschliche Rasse danach ausgelöscht worden wäre, man darüber hätte streiten können, ob diese Strafe nicht gerechtfertigt gewesen wäre.” Der Satz füllt für einige Sekunden das gesamte Bild aus. Ein Satz, den man zu gerne einmal auf deutschen Kinoleinwänden sehen möchte. David Dobel ist Allens Mann der Tat. Irgendwann schlägt die paranoische Grundstimmung des Films in unkontrollierte Gewalt um – ein Moment, auf den der Woody Allen-Fan Jahrzehnte lang warten musste: Dobel steigt aus seinem Cabrio und demoliert mit einem Vorschlaghammer den Wagen eines Verkehrsrowdies. “Überall,” sagt Dobel, “widersetzen sich Menschen gegen irgendwas. Und meistens hat es mit Faschismus zu tun.”

Dobel ist eine interessante pathologische Figur im aktuellen Hollywood-Kino. Ob paranoider Spinner oder nicht, ist völlig irrelevant. Die Bilder seines Traumas speisen sich nicht mehr aus einer erlebten Geschichte, sondern aus medialen Überlieferungen, einer Art jüdisch-apokalyptischer 'Oral History'. Ein Paradoxon. Das Trauma ist in “Anything Else” bereits schneller als die Verletzung. Im Umkehrschluss kann schon das Trauma eines allgegenwärtigen Antisemitismus als Beweis von dessen Existenz genügen. Für Allens Verhältnisse ist das ein politisches Statement von außerordentlicher Deutlichkeit. Der mental hochgerüstete Dobel ist die tickende Zeitbombe, die sich an den gesellschaftlichen Verhältnissen entzündet. Oder anders gesagt: Der strikt anti-psychoanalytisch argumentierende, jüdische Paranoiker ist Woody Allens Rekreation des alten Stadtneurotiker-Images, im dritten Jahr der christlich-fundamentalistischen Bush-Regierung.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 02/2004

Dem Himmel so fern

(USA 2002, Regie: Todd Haynes)

Niemand hat hier Vorurteile
von Andreas Busche

Die Frage, welche Gewalten die sozialen Verhältnisse in der gehobenen amerikanischen Mittelklasse verfassen und unter welchen Bedingungen diese wirksam werden, hatte Todd Haynes bereits 1987 in seinem Kurzfilm 'Superstar – …

Die Frage, welche Gewalten die sozialen Verhältnisse in der gehobenen amerikanischen Mittelklasse verfassen und unter welchen Bedingungen diese wirksam werden, hatte Todd Haynes bereits 1987 in seinem Kurzfilm 'Superstar – The Karen Carpenter Story' mit pragmatischem Zynismus beantwortet: Er sperrte Karen Carpenter, die traurige Sängerin des WASP-Familienpopbetriebs The Carpenters, in ein Puppenhaus. Das öffentliche Leben der Karen Carpenter, zeigte Haynes, ist ein (durch ihren Bruder) gesellschaftlich sanktioniertes gewesen, und darum musste sie in ihrem nicht-öffentlichen Leben auch so fatal zu Grunde gehen. Karen Carpenter starb depressiv, magersüchtig und viel zu jung. In Haynes Film hatten Barbiepuppen die Rollen von Unterdrücker und Unterdrückter übernommen.

In 'Safe' (1995) wirkten die Repressionen bereits struktureller. Julianne Moore verfiel als neurotische All American-Hausfrau Carol White unter dem Einfluss einer höllischen Ehe und permanenter Selbsthilfe-Fernsehspots einer schleichenden Keim-Phobie, bis sie sich von ihrer Umwelt und sich selbst komplett abgeschottet hatte. Haynes hatte damals in einem Interview über sein luftdichtes, antiseptisches Kammerdrama gesagt, dass er eindeutig auf der Seite der 'Krankheit' stehe, nicht auf der der so genannten 'Normalität'.

Die Dialektik von Krankheit und Normalität bestimmt auch Haynes neuen Film 'Dem Himmel so fern'. An der Position Haynes hat sich nichts geändert, nur am Ton. Die Beklemmungen haben sich etwas gelöst, in Bild und Sprache, und sind umgeschlagen in eine stumme Hysterie. Normalität ist in 'Dem Himmel so fern' so überhöht, dass sich das latent Kranke bereits in jeder Geste, jeder Bewegung der Menschen zueinander ausdrückt. Haynes fand Spuren einer solch schleichenden Soziopathie in den 50er Jahre Technicolor-Melodramen Douglas Sirks. Aber auch wenn der 50er-Jahre Retro-Charme von 'Dem Himmel so fern' eine sentimentale Verklärung impliziert, hat Haynes seinem Film die Nostalgie gründlich ausgetrieben. Dem Zitat, das er hier anführt, kommt eine ganz bestimmte Funktion zu: In den Filmen Sirks konnte Normalität nur noch über eine karthatische Symbolik (Flugzeugabstürze, Selbstmordversuche, Autounfälle) wiederhergestellt werden. Auch Sirk ist nie auf der Seite dieser Normalität gewesen, und wie bei Haynes verfügten auch seine Figuren nicht über die Mittel, die gesellschaftlichen Konventionen erfolgreich zu überwinden.

Kathartische Momente sind auch in 'Dem Himmel so fern' Symptome eines beunruhigenden Krankheitsbildes, aber die Gesellschaft hat selbst bereits eigene spezifische Krankheiten ausgebildet, um den Normalzustand zu wahren: Rassismus und Homophobie. Diese Normalität lässt sich in 'Dem Himmel so fern' zur Not auch medizinisch-wissenschaftlich wiederherstellen: mit Elektroschock- und Hormontherapien gegen die 'unnatürliche' Libido. Innerhalb dieses 'normalen' sozialen Gefüges dagegen ist alles so sauber, strahlend und klinisch, dass die Menschen unter der Anspannung der permanenten Selbstkontrolle fast zu ersticken drohen. In der Diskrepanz zwischen diesem Innen und Außen liegt die Tragik von Haynes Figuren.

Hieß es bei Sirk noch All that Heaven allows', sind die Menschen in Haynes Film bereits hoffnungslos 'Far from Heaven' (so der Originaltitel). Dennis Quaid und Julianne Moore sind Frank und Cathy Whitacker, Mr. And Mrs. Magnatech, ein Bilderbuch-Ehepaar im kleinstädtischen Hartfort, Connecticut der 50er Jahre: dem Amerika der Sirk-Melodramen. Und Sirk ist bei Haynes in jeder Sekunde präsent, ob in der Farb-Regie von Kameramann Ed Lachmann (lichtdurchflutete Bilder in knalligen Herbstfarben) oder der Musik von Elmer Bernstein zwischen orchestralem Pathos und Kammermusik. Das Melodram hat seine Bilder wiedergefunden und in dieser zugespitzten formalen Dramaturgie steht die panische Verzweiflung der Menschen verloren wie die bonbonfarbenen Wohlstandskarossen zwischen den sauber abgezirkelten Vorgärten.

Sirks 'All that Heaven allows' liefert die erzählerische Grundlage für 'Dem Himmel so fern'. Haynes hat die Geschichte um die unmögliche Liebe zwischen einer ältlichen Witwe und ihrem jungen Gärtner an zwei entscheidenden Punkten um weitere Sirk-Zitate ergänzt. Im Gegensatz zu Jane Wyman ist Julianne Moore mit einem Mann verheiratet, den es nachts in Schwulenbars treibt (Quaid spielt die einzelnen Stadien von Robert Stacks Männlichkeitsverlust aus 'Written in the Wind' perfekt nach), und der Gärtner Rock Hudson wird bei Haynes von dem Afro-Amerikaner Dennis Haysbert gespielt: eine Referenz an 'Imitation of Life'. Das Konfliktpotential staut sich wie in einer Seifenoper, aber es hat überhaupt nichts Lächerliches, weil die Menschen den sozialen Druck kaum noch kompensieren können.

Julianne Moores Gesicht ist unter der gesellschaftlichen Zwangs-Etikette wie zu einer Maske erstarrt; ihr zwanghaftes Dauerlächeln wirkt fast hysterisch. Hysterie ist mehr noch als in 'Safe' eine permanente Grundstimmung, und nur manchmal noch bricht es aus den Menschen heraus (meistens passiert es hier Dennis Quaid, der entweder heult oder seine Frau schlägt). Haynes liegt ganz richtig, wenn er mit 'Dem Himmel so fern' dem Pomp anstelle eines Realismus den Vorzug gibt: Rassismus und Homophobie als Zivilisationskrankheiten sind eigentlich nur noch als Groteske beizukommen, und selten hat ein Regisseur das Pathologische dieser sozialen Defekte grandioser konterkariert. Haynes lässt die Farben sprechen.

Raymond Deagon (Haysbert) hat die semiotische Determiniertheit der Verhältnisse schon sehr gut verstanden, wenn er Cathy Whitacker ihren weißen Schal mit den Worten 'Die Farbe passt' zurück gibt. Farben bestimmen in “Dem Himmel so fern” die gesellschaftliche Ordnung. Es ist nur die Farbkombination ihrer zaghaften Liaison, die im puritanischen Connecticut so überhaupt nicht 'passt'. Wie als sarkastischer Kommentar sind die übrigen Farben dafür umso genauer aufeinander abgestimmt: das Herbstlaub, die Kostüme, die Autos, die Einrichtungen – selbst das Urlaubsparadies Miami ('Everything’s so pink!').

Was es heißt, unter solchen Bedingungen wieder einen Normalzustand herzustellen, zeigt Haynes in letzter Konsequenz. Am Ende muss ein schwuler Ehebruch gegen eine vermeintliche Liebesaffäre aufgerechnet werden, damit wieder Ruhe herrscht. Die Gesellschaft hat sich ein Minimum an Toleranz abgerungen, denn die Grundprämisse lautet: Niemand hat hier Vorurteile. Haynes zeigt sehr genau, wie diese elitäre Gemeinschaft sich selbst am Leben erhält. So sehr sie sich nach Außen hin auch abgeschirmt hat, durchzieht eine fast totalitäre Überwachungsstruktur die Privatleben: von alten Damen mit zu großen Hüten herausgegebene Gesellschaftsmagazine, das Kaffeekränzchen, die Abendgesellschaft, die beste Freundin.

Das Scheitern dieser Menschen ist im Sirk-Zitat implizit. Genau wie die Kamera Moore oder Quaid immer wieder alleine im Bild stehen lässt, machen auch ihre verbotenen Leidenschaften einsam. Haynes bringt dabei ein Höchstmaß an Verständnis für seine Figuren auf. Letztendlich aber steht 'Dem Himmel so fern' einem anderen Sirk-Apologeten noch näher als Sirk selbst: Rainer Werner Fassbinder. Auch Haynes gönnt seinem Film keine Sentimentalitäten.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 04/2003

Der Weiße mit dem Schwarzbrot

(D 2006, Regie: Jonas Grosch)

Flucht aus Leidenschaft
von Andreas Busche

Jonas Groschs Dokumentation gebührt in der Aufarbeitung der RAF ein Sonderplatz. Sie beschreibt eine Geschichte des Widerstands mit feiner Ironie und einen Erkenntnisprozess ohne falsche Reue. Muss man erwähnen, dass …

Jonas Groschs Dokumentation gebührt in der Aufarbeitung der RAF ein Sonderplatz. Sie beschreibt eine Geschichte des Widerstands mit feiner Ironie und einen Erkenntnisprozess ohne falsche Reue. Muss man erwähnen, dass der Film ohne öffentliche Gelder entstanden ist? Der Weiße ist Christof Wackernagel, Exterrorist, Dramaturg, Schauspieler, hoffnungsloser Idealist, Entwicklungshelfer wider Willen. Das Schwarzbrot heißt Madou Coulibaly und ist ein Freund Wackernagels, der … nein, stop. Das Schwarzbrot kommt aus Bayern, weil Wackernagel in Mali, wo er seit einigen Jahren lebt, das Brot aus seiner Heimat vermisste. Sonst vermisst er Deutschland überhaupt nicht. Denn Wackernagel hat Zugang zum World Wide Web. Aus der Distanz bekommt er einen viel besseren Blick auf dieses bescheuerte Land mit seinen alten Grabenkämpfen und die Widersprüche, in die man zwangsläufig noch immer verstrickt ist. Er erzählt von einem ehemaligen Mitstreiter, der dreißig Jahre später lieber 'Friedenssoldaten' in den Sudan schickt, als ein paar Millionen für eine Friedenskarawane durch die Bürgerkriegsregion auszugeben (wenn jemand wisse, wie paradox die Vorstellung eines Friedenssoldaten sei, dann ja wohl er selbst, ereifert sich Wackernagel), und von dem 'Bullen', der sich für seine vorzeitige Entlassung einsetzte, weil ein Verbrechen aus Idealismus nicht mit einem aus Habgier zu vergleichen sei.

Wackernagel lebt in Mali, weil er in Deutschland sein Leben lang als der Exterrorist bekannt sein wird. Aber auch das Leben in Mali ist nicht einfach als privilegiertes Weißbrot. Wackernagel spürt, dass er erneut in Widersprüchen gefangen ist, einer kulturellen Differenz, die ihn manchmal in den Wahnsinn treibt. Wie die Sache mit seiner Nachbarin, die er einmal zum Essen eingeladen hat und die nun denkt, er würde sie heiraten. In Mali werde ein Weißer automatisch zum Missionar, weil jeder meint, den armen Negern helfen zu müssen. Am Ende sei es doch bloß blanker Egoismus. So redet Wackernagel – und muss dabei manchmal über seine eigene Naivität lachen. Die Lehren aus seiner kurzen Zeit als aktiver Widerstandskämpfer (nach nur zwei Monaten wurde er gefasst) sind inzwischen im sozialen Engagement aufgegangen. Für die Kinder veranstaltet er 'Plastikspiele', um den Müllbergen im Dorf beizukommen, eine Art Sozialkundeunterricht. Aber es wird wohl immer so sein, dass die Kinder den Scheiß ihrer Eltern wegräumen müssen. Volker Schlöndorff hat über 'Der Weiße mit dem Schwarzbrot' gesagt, es sei der einzige RAF-Film, aus dem ein Mensch spreche. Man könnte auch sagen: der gesunde Menschenverstand.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 06/2008

Tödliche Versprechen – Eastern Promises

(GB / CAN 2007, Regie: David Cronenberg)

Gewaltpotentiale des Körpers
von Andreas Busche

Zum Genrefilm hat Hollyood schon lange ein gestörtes Verhältnis. Das musste Ende der Fünfzigerjahre auch Orson Welles erfahren, dessen Noir-Klassiker “Touch of Evil” von Universal derart konfektioniert wurde, dass es …

Zum Genrefilm hat Hollyood schon lange ein gestörtes Verhältnis. Das musste Ende der Fünfzigerjahre auch Orson Welles erfahren, dessen Noir-Klassiker “Touch of Evil” von Universal derart konfektioniert wurde, dass es fast vierzig Jahre dauern sollte, bis der Film erstmals in einer Fassung zu sehen war, die zumindest annähernd Welles’ Vorstellung entsprochen haben muss. Dessen 58-seitiger Bittbrief an die Universal-Chefetage ist bis heute eines der leidenschaftlichsten Dokumente jener Verbundenheit, die selbst die größten Regisseure für ihre Filmgenres gehegt haben. In Hollywood aber hatte sich spätestens mit dem Ende des Studiosystems die Meinung durchgesetzt, dass Genrekino automatisch mindere Qualität bedeutete. Die Unterscheidung zwischen A- und B-Film war nicht länger budgetabhängig, sondern nur noch eine Frage von Form und Inhalten. Bestimmte Themen und Geschichten blieben danach in Hollywood auf Jahre unangetastet. In den Siebzigerjahren war Roger Corman einer der wenigen Produzenten, der weiter reine Genrefilme finanzierte, während die ‘jungen Wilden’ New Hollywoods die klassischen Genres gleich reihenweise demontierten. Inzwischen hat das multifunktionale Prinzip ‘Blockbuster’ die Idee des Genrefilms weitgehend aus dem Mainstreamkino verdrängt; markttechnisch erfüllt er lediglich noch die Anforderungen eines Nischenprodukts.

Man kann unter diesen Umständen David Cronenberg gar nicht genug würdigen. Kein anderer Regisseur arbeitet in den letzten zwanzig Jahren erfolgreicher daran, das kommerzielle Kino mit den Methoden des Genrekinos zu unterwandern. Mit “Die Fliege” (1986), dem Remake eines ausgesprochenen B-Films, gelang es Cronenberg erstmals, den psychotronischen Body-Horror seiner frühen Arbeiten (die explodierenden Köpfe aus “Scanners”, der New Media Splatter aus “Videodrome” oder die vulgofreudianischen Kreaturen in “Die Brut”) in den Konventionen des Mainstreamkinos aufgehen zu lassen, ohne seine unverkennbare Handschrift zu opfern. Im Gegenteil scheint es, als würden Cronenbergs filmische Motive erst unter den Bedingungen der Kulturindustrie ihre ganze subversive Kraft entfalten. Dabei haben Genres und Massengeschmack Cronenberg nie sonderlich interessiert. Stattdessen schuf er über die Jahre ein Gesamtwerk, das sich nicht in bloße Gegensätze auflösen ließ und trotzdem eine im Mainstreamkino einzigartige thematische Dichte und Geschlossenheit entwickelte. Wie ein Chirurg arbeitet Cronenberg mit den Gewalt- und Blutbildern aus der Populärkultur: Er legt die fragile Verfasstheit des menschlichen Körpers schonungslos offen, behält aber stets einen kühlen Kopf.

Auch Cronenbergs neuer Film “Tödliche Versprechen” strahlt wieder diese klinische Coolness aus, die viel eher zu einem Horrorfilm als zu einem Thriller passt, der im Londoner Milieu der russichen Mafia Vory v Zakon spielt. Der Trick geht wie schon in seinem letzten Film “A History of Violence” auf Kosten der Zuschauer, die lange in dem Glauben gelassen werden, in einem klassischen Gangsterfilm zu sitzen. Aber Krimis und die Strukturen des organisierten Verbrechens reizten ihn nicht so sehr wie Menschen, die sich in einem Zustand ständiger Grenzüberschreitung befinden, hat Cronenberg in einem Interview gesagt. Der Mafia-Handlanger Nikolai, gespielt von Viggo Mortensen, ist so ein Mensch. Während seiner Aufnahmezeremonie in den Kreis der Captains erklärt er den Clanchefs ohne eine Miene zu verziehen, dass er längst tot sei und nur noch in der ‚Zone’ lebe.

Die ‚Zone’ ist ein wiederkehrendes Konzept in den Filmen Cronenbergs. Sie markiert den Übergang der Physis ins Metaphysische; der Ort, an dem Cronenbergs Protagonisten während ihrer Drogentrips materialisieren („The Naked Lunch“) oder von Todesvisionen heimgesucht werden („The Dead Zone“). Für die Hebamme Anna (Naomi Watts) ist diese ‚Zone’ ein russisches Restaurant im Herzen von London, durch das sie auf ihrer Suche nach dem Vater eines Säuglings die Unterwelt der Vory v Zakon betritt. Hier herrscht der Familienpatriarch Semyon (Armin Müller-Stahl) über ein Clanwesen, in dem Mütterchen Russland und die Moderne eine bizarre Koexistenz führen. Peter Suschitzky, Cronenbergs Vertrauensmann hinter der Kamera, belässt diese Welt in bedrohlicher Dunkelheit, als sei sie kein realer Ort, sondern ein Geisteszustand. Tatsächlich hat Semyons Sohn Kirill (Vincent Cassel) nicht alle Tassen im Schrank; der mysteriöse Nikolai ist permanent damit beschäftigt, diese tickende Zeitbombe unter Kontrolle zu bringen.

Die wichtigste Lektion, die Cronenberg vom Genrekino gelernt hat, ist erzählerische Ökonomie. “Tödliche Versprechen” ist Muskeln ohne ein Gramm Fett zuviel – so wie der Körper von Mortensen, der sich in der besten Szene des Films nackt und unbewaffnet gegen zwei Killer zur Wehr setzen muss. Der spektakuläre Sauna-Kampf wird bald schon in Cronenbergs Bildergalerie eingehen, nicht nur weil er sich bislang weniger durch sorgfältige Action-Choreografien hervorgetan hat. In dieser Szene verschmelzen auch, losgelöst von der reinen Action, wiederkehrende Motive seiner Filme zu einem kaltblütigen Todesballett: der Körper als Fetisch, Schneidewerkzeuge (die des Schlachters diesmal, keine chirurgischen), Nikolais Mafia-Tattoos als physische Überformung, ein Tribut seiner mentalen Verhaftung in der ‘Zone’ (das ‘Neue Fleisch’), und der geschundene Körper als extremster Ausdruck seiner Vergänglichkeit – einem der beiden Killer rammt Nikolai abschließend ein Messer ins Auge.

Cronenberg, der Zeremonienmeister der Transgression, hat mit “A History of Violence” und “Tödliche Versprechen” klare, einleuchtende Formen für die multiple Körperpolitik seiner frühen Filme gefunden. Cronenberg-Fans mag das enttäuschen, aber in ihren Grundstrukturen unterscheiden sich Snuffporno-Piratenszene („Videodrome“), Car Crash-Subkultur („Crash“) und Mobster-Unterwelt nur marginal. Was sich gewandelt hat, ist Cronenbergs Gewalt-Begriff: weg vom Metaphorisch-Blumig-Schmadderigen hin zu einer nüchternen Schilderung der Gewaltpotentiale des Körpers und deren Folgen. Vom Exzesshaften (Amputationskult, Metamorphosen) seiner frühen Filme ist in “Tödliche Versprechen” nichts geblieben. In den beiläufigen Einstellungen auf Blutbäder hat der Chirurg Cronenberg auch formal die Oberhand gewonnen. Eine Szene zeigt Mortensen beim routinierten Zerlegen einer Leiche, und fast will man da Cronenberg selbst erkennen, der sich genüsslich die Zigarette auf der Zunge ausdrückt, bevor er sich an die Arbeit macht. Gewalt ist in “Tödliche Versprechen” kein abstraktes Konzept mehr. Sie ist die unmittelbarste Form von Kommunikation zwischen zwei Körpern.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 01/2008

Fahrenheit 9/11

(USA / CAN 2004, Regie: Michael Moore)

Fuck Facts
von Andreas Busche

Ein Mädchen hatte eine Streichelziege. Und es lief gerne mit seiner Ziege herum. Aber die Ziege tat etwas, was den Vater böse machte. Die Ziege aß Sachen. Die Ziege aß …

Ein Mädchen hatte eine Streichelziege. Und es lief gerne mit seiner Ziege herum. Aber die Ziege tat etwas, was den Vater böse machte. Die Ziege aß Sachen. Die Ziege aß Dosen und Kuchen und Katzen. Bis der Vater sagte, dass die Ziege gehen müsse, weil die Ziege zuviel aufesse. Da wurde das Mädchen traurig und versprach hoch und heilig, dass die Ziege nie wieder etwas aus dem Haus aufessen würde. – Einfach sind diese Worte und doch so geheimnisvoll, dass George W. Bush an jenem Morgen des 11. September 2001 über sieben Minuten lang in ihnen versank, als suche er dort nach einem tieferen Sinn. Dabei war es so einfach: Ein Mädchen hatte eine Streichelziege. Einige Minuten zuvor hatte Bushs Berater Andrew Card seinem Chef mitgeteilt, dass soeben zwei Flugzeuge ins World Trade Center geflogen seien. Also nochmal langsam: Die Ziege aß Sachen …

George Juniors beschwerliche Lektüre von Siegfried Engelmanns Kindergeschichte 'My Pet Goat' kursierte lange Zeit als Running Gag durch die einschlägigen Webforen. Der mächtigste Mensch der Welt, allein gelassen von seinem Beraterstab, von Condi und Rumsi und Daddy. Auch in Michael Moores neuem Film 'Fahrenheit 9/11' sind die Aufnahmen aus dem Grundschulklassenzimmer in Florida prominent plaziert; sie öffnen eine Gedankenklammer, die mit den geschäftlichen Beziehungen der Familien Bush und Bin Laden beginnt und sich zur gewagten These aufschwingt, dass saudiarabisches Geld das Schmieröl der amerikanischen Politik sei. Was mag in diesen sieben Minuten im Kopf George Juniors wohl vorgegangen sein, fragt Moore – und weiß die Antwort natürlich längst: 'Scheiße, ich häng’ mit den falschen Leuten rum.'

Den Begriff 'politische Dokumentation' auf 'Fahrenheit 9/11' anzuwenden, ist ungefähr so ergiebig, wie den Film auf genuin linke Positionen hin abzuklopfen. Moore hatte sein Ziel im Vorfeld bereits hinreichend publik gemacht: Bush muss weg, egal mit welchen Mitteln. Diese Meinung teilt er mit der amerikanischen Linken, aber auch mit konservativen Demokraten, Old-School-Konservativen und anderen 'guten Amerikanern'. Politisch ähnlich bunt sind die Argumente, die Moore in 'Fahrenheit 9/11' auffährt. Sie reichen von grundsätzlich konsensfähig bis haarsträubend. So wie Moore sich beliebig dokumentarischer und journalistisch-investigativer Mittel bedient, verwurstet er in seiner Anti-Bush-Polemik auch linke Argumente (die richtigen wie die falschen), wie sie ihm gerade ins Bild passen. Mit Differenzierungen hat er es nicht so.

Moore macht in 'Fahrenheit 9/11' was er immer schon am besten konnte: Er liefert eine Argumentation der blitzschnellen Effekte, deren Überzeugungskraft nicht auf Kohärenz, sondern auf schierer Opulenz beruht. Bereits nach der Hälfte des Films hat er alle Fakten, Hintergrundinformationen und Expertenmeinungen (u.a. kommt Craig Unger, Autor des Buches 'House of Bush, House of Saud' zu Wort) verpulvert, die als Grundlage eines sorgfältigen Argumentationsaufbaus dienlich gewesen wären. Nichts Neues hat bis dahin gehört (gesehen schon eher, denn eins muss man Moores Rechercheteam lassen: sein Bildmaterial ist unbezahlbar), wer sich in den letzten drei Jahren auch nur halbwegs ernsthaft mit den Folgen des 11. Septembers beschäftigt hat. Für die allerdings, und das ist der springende Punkt, hat Moore 'Fahrenheit 9/11' auch nicht gemacht.

Jean Luc Godard hat in Cannes, wo 'Fahrenheit 9/11' im Mai die Goldene Palme gewann, Moore vorgeworfen, dass er nicht zwischen Text und Bild unterscheiden könne. Dieser Vorwurf impliziert jedoch, dass Moore genau der Tölpel mit Kamera ist, als der er sich in seinen Filmen inszeniert. Tatsächlich weiß Moore sehr genau, wie er seine Bilder einzusetzen und zu kommentieren hat, um beim Zuschauer die gewünschten Reaktionen hervorzurufen. Da wird eine Kriegsrede Bushs mit spielenden Kindern in Afghanistan montiert; da werden die freundschaftlichen Zusammenkünfte der Häuser Bush und Saud mit dem REM-Song 'Shiny Happy People' untermalt. Das ist extrem platt – und verfehlt trotzdem seine Wirkung nicht. 'Fahrenheit 9/11' gucken ist wie den Filmapparat beim Arbeiten zu beobachten. Moore legt den Propagandacharakter seines Filmes mit jeder Montage, jedem Kommentar bereitwillig offen.

Eben deshalb perlt der Vorwurf des Populismus an Moore ab wie Wasser an einer Fettschicht. Zu behaupten, Moore neige zu groben Vereinfachungen, ist eine fahrlässige Verniedlichung. 'Fahrenheit 9/11' funktioniert noch viel rigoroser als frühere Moore-Filme: Um seine Thesen, Bush habe erstens den Demokraten die Wahl gestohlen, stehe zweitens unter dem finanziellen Einfluss der Saudis und sei drittens in Afghanistan und den Irak einmarschiert, um die Ölgeschäfte seiner Familie anzukurbeln, zu untermauern, hat sich Moore aus dem Fundus des Post-9/11-Recherchematerials seine eigenen kleinen Wahrheiten zusammengebastelt. Christopher Hitchens hat in einer von persönlichen Animositäten gefärbten Kritik im amerikanischen Online-Magazin 'slate.com' einige dieser falschen beziehungsweise halbwahren Behauptungen Moores zerpflückt.

Der wichtigste Kritikpunkt bezieht sich auf Moores Behauptung, die amerikanische Regierung habe während des nationalen Flugverbots nach den Anschlägen vom 11. September in sechs Privatjets und einem Dutzend Linienmaschinen 142 Personen arabischer Nationalität, darunter 24 Mitglieder der Bin-Laden-Familie, 'heimlich' außer Landes geschafft. In 'Fahrenheit 9/11' spinnt Moore eine große Verschwörungstheorie aus der bloßen Tatsache dieser Flüge. Hierbei nimmt er u.a. Bezug auf ein Interview, das Larry King mit Prinz Bandar, einem Vertrauten sowohl der Bin-Laden- als auch der Bush-Familie, im amerikanischen Fernsehen geführt hat. Die Flüge sind im vergangenen Herbst auch von der sogenannten '9/11'-Kommission untersucht worden.

Moores Verschwörungstheorie beruht jedoch auf reiner Spekulation. Wie inzwischen nachgewiesen wurde, gingen diese Flüge zwischen dem 14. und 24. September 2001, also nach der Wiederöffnung des Luftraums, außer Landes. Auch die '9/11'-Untersuchungskommission hat in ihrem Abschlussbericht das bürokratische Genehmigungsverfahren für diese Flüge nicht gerügt, sich jedoch besorgt über die Landung eines ominösen Privatjets auf dem Flughafen von Tampa, Florida, am 13. September 2001 geäußert – zu einem Zeitpunkt also, als weder private noch kommerzielle Maschinen den amerikanischen Luftraum benutzen durften. An Bord dieses Fliegers befanden sich laut einem Bericht der 'St. Petersburg Times' vom 9. Juli 2004 drei arabische Männer, einer von ihnen angeblich ein Mitglied des saudischen Königshauses, und ein ehemaliger FBI-Mitarbeiter. Die amerikanische Regierung hat die Existenz dieses Fluges bis vor wenigen Wochen vehement bestritten.

Ein Interview im amerikanischen Branchenblatt 'Entertainment Weekly' Anfang Juli 2004 gab einen kleinen Einblick in Moores Berufsethos als investigativer Journalist und Dokumentarfilmer. Er äußerte sich sehr gelassen zu den Ergebnissen der Kommission, die seine Behauptungen entkräftet hatten. Moores 'Der Zweck heiligt die Mittel'-Pragmatismus stört sich auch an größeren Schönheitsfehlern nicht. Allein die Tatsache, dass dieser eine Tampa-Flug so lange von der Regierung verschwiegen wurde, so Moore, rechtfertige die Vorwürfe, die er in 'Fahrenheit 9/11' erhebt. Ein Glück für ihn, dass die Amerikaner nach dem 9.11. so ausgiebig geschlampt haben. Die Chancen, da nicht fündig zu werden, sind gering, wenn man, wie Moore, mit Dynamit im Trüben fischt.

Bemerkenswert ist Moores Gabe der strikt selektiven Wahrnehmung vor allem in den Sequenzen, die Amerikas Gegner betreffen. In 'Fahrenheit 9/11' schafft er es innerhalb weniger Minuten, den Vorkriegs-Irak als souveränen Staat zu bezeichnen und obendrein zu behaupten, dass von Saddam Hussein niemals eine Gefahr ausgegangen sei. Was in Europa von vielen als beherzter Antiamerikanismus goutiert wird, erfüllt in 'Fahrenheit 9/11' jedoch eine ganz bestimmte Funktion: Moore instrumentalisiert Figuren wie Hussein oder auch Bin Laden, um die Niedertracht der eigenen Regierung zu verdeutlichen. Er interessiert sich nicht für eine Analyse der geopolitischen Zusammenhänge des 'War against Terror' (im Gegenteil geistert durch 'Fahrenheit 9/11' immer noch die fixe Idee einer Ölpipeline durch Afghanistan; die Informationen, auf die Moore sich hier beruft, sind inzwischen zwei Jahre alt). Jedes Bild, jeder Kommentar, jede Montage dient einzig dem Zweck, die Regierung Bush zu denunzieren. Sobald Moore die Fakten zu kompliziert werden, muss Sarkasmus den Film aus der Argumentationsnot retten.

Moores Unfähigkeit zur politischen Analyse zu kritisieren, heißt, nicht begriffen zu haben, was er eigentlich will. 'Fahrenheit 9/11' ist ein Non-Fiction-Film, der sich an ein Massenpublikum wendet. Moore hat damit aktiv in den laufenden US-Wahlkampf eingegriffen. Und er spielt das Spiel seiner Gegner bereitwillig mit. Er hat sich mit 'Fact-Checkern' und Anwälten (u.a. dem berüchtigten demokratischen Strategen Chris Lehane, den Moore seinen 'Chief Motherfucker' nennt) umgeben, die rechtlich gegen unliebsame Kritiker vorgehen, und lässt das Privatleben seiner zahlreichen Gegner (zu seinen erbittersten gehören Fox News-Moderator Bill O’Reilly und Jason Clarke, Autor des Buches 'Michael Moore is a Big Fat Stupid White Man') ausspionieren – so wie es in Amerika inzwischen in Fernsehsendungen, Büchern und auf Websites auch ihm geschieht. All das untermauert Moores Ruf als selbstgefälliges Arschloch. Aber Moore hat auch angekündigt, dass dieser Wahlkampf zu wichtig sei, um ihn den Demokraten zu überlassen.

Um diesen Aufwand zu verstehen, muss man wissen, dass 'Fahrenheit 9/11' in Amerika wie eine Wahlkampagne gelauncht wurde. Die überraschende Absage Disneys als Mutterkonzern des Verleihers Miramax hat ihren Werbeeffekt ebenso wenig verfehlt wie Moores Ansage, den Film vor allem in den Vor- und Kleinstädten spielen zu lassen, wo ein Großteil jener 'Swing Voter' lebt, die der Film erreichen soll. Mit seinen Promo-Aktivitäten hat sich der Verleih zudem auf jene US-Bundesstaaten konzentriert, in denen weder Bush noch Kerry sich auf eine eindeutige Mehrheit verlassen können – in denen die Wahl also entschieden wird. Unterstützt wird Moore dabei von Grassroots-Organisationen wie MoveOn.org, die ihre Mitglieder dazu auffordern, sich 'Fahrenheit 9/11' im Kino anzusehen. Das klingt verdächtig nach dem Getöse christlicher Gruppen um Mel Gibsons The Passion of Christ', ausgestattet mit der berufsjugendlichen Street-Credibility von 'MTV – Rock the Vote'. Doch Moore ist längst nicht mehr der Einzelkämpfer, als der er sich nach seiner Oscar-Schmährede 2003 gerne dargestellt hat. Die Enthüllungen um die Folterpraktiken in Abu Ghraib und die falschen CIA-Informationen über Massenvernichtungswaffen im Irak haben seinem Projekt in den letzten zwei Monaten zusätzlichen Rückenwind verschafft.

Dass Moores Strategie aufgegangen ist, zeigten schon die Einspielergebnisse vom ersten US-Startwochenende, das von Moore hochsymbolisch auf das Wochenende vor dem 4. Juli gesetzt wurde. Die knapp 25 Millionen Dollar Umsatz (trotz einer umstrittenen Altersfreigabe ab 17 Jahre) können zwar keinen Harry Potter beeindrucken, aber ein politisches Zeichen setzten sie allemal. Mit Rekordzuschauerzahlen in republikanerfreundlichen Bundesstaaten und selbst in Einzugsgebieten um Militärbasen findet der Aufstand der anständigen Amerikaner dieses Jahr in den Kinos statt.

An der Kinokasse wird über den wahren Erfolg Moores jedoch nicht entschieden. Auch ist irrelevant, ob deutsche oder französische Filmkritiker in Moore den neuen Eisenstein oder lediglich einen großmäuligen Blender mit ausgeprägtem Geschäftssinn sehen. Ob Michael Moore mittlerweile tatsächlich ein Penthouse an der Fifth Avenue besitzt oder abends seine schwieligen Füße auf seinem Balkon in einem Hot Tub kühlt, wie die 'Daily News' kürzlich berichtete, ändert nichts an der Tatsache, dass er mit 'Fahrenheit 9/11' etwas geschafft hat, was bisher weder der amerikanischen Linken noch Howard Dean gelungen ist: eine mediale Gegenöffentlichkeit herzustellen. Nach dem Wie fragt in sechs Monaten keiner mehr.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/2004

Road to Guantánamo

(GB 2006, Regie: Michael Winterbottom, Mat Whitecross)

Publikumsumarmung
von Andreas Busche

Es beginnt alles ganz harmlos. Anfang Oktober 2001, knapp drei Wochen nach den Anschlägen auf das World Trade Center, folgen Shafiq, Ruhel und Monir ihrem Freund Asif von Birmingham nach …

Es beginnt alles ganz harmlos. Anfang Oktober 2001, knapp drei Wochen nach den Anschlägen auf das World Trade Center, folgen Shafiq, Ruhel und Monir ihrem Freund Asif von Birmingham nach Pakistan, um an dessen Hochzeit teilzunehmen. Da es bei den Feierlichkeiten Verzögerungen gibt, kommen die vier jungen Männer auf die grandiose Idee, einen Abstecher nach Afghanistan zu machen. Die naive Erwartung, sie könnten der einheimischen Bevölkerung zu Hilfe kommen, wird schnell enttäuscht. 'Als wir die Grenze überquerten, schien alles ganz normal', erzählt Asif im Interview. 'Es schien nicht einmal, als würden wir ein anderes Land betreten. Doch mit unserer Ankunft ergab sich ein völlig neues Bild.' Die amerikanischen Bombardements auf die Taliban-Stellungen in der Region um Kandahar im Süden Afghanistans haben gerade ihren Höhepunkt erreicht; an humanitäre Hilfe ist nicht zu denken. Nach zwei Wochen in Kabul landen die vier im falschen Bus, der sie, statt zurück nach Pakistan, weiter in Richtung der Frontlinien transportiert, Monir geht in den Kriegswirren von Kunduz verloren. Die übrigen drei werden im November 2001 von den vorrückenden Truppen der Nordallianz zusammen mit fliehenden Talibankämpfern aufgegriffen und dem amerikanischen Militär übergeben.

Der Fall der sogenannten Tipton Three Asif, Shafiq und Ruhel machte 2004 international Schlagzeilen. Über zwei Jahre lang wurden die drei Briten im amerikanischen Internierungslager Guantánamo Bay festgehalten, bis man sie schließlich aus Mangel an Beweisen freilassen musste. Alles, was man gegen sie vorzubringen hatte, war eine englische Strafakte wegen einiger kleinkrimineller Delikte und das grobkörnige Video einer iranischen Demo aus dem Jahr 2000, auf der Osama Bin Laden zugegen war – und laut CIA auch einer der Briten (als könnte der amerikanische Geheimdienst einen Muslim vom anderen unterscheiden). Als der britische Regisseur Michael Winterbottom von den drei Männern aus Tipton bei Birmingham hörte, entschloss er sich spontan, einen Film über ihre Erfahrungen in Guantánamo Bay zu machen.

Der zusammen mit Ko-Regisseur Mat Whitecross realisierte Film, 'Road to Guantánamo', erlebte auf der diesjährigen Berlinale unter frenetischem Beifall seine Premiere. Die Berlinale ist immer wieder gut für solcherlei deklamatorische Bekenntnisse. Nicht erst seit dem Antritt von Dieter Kosslick steht sie in dem Ruf, von den drei großen A-Festivals (Cannes, Venedig, Berlin) das politischste zu sein. Diese Haltung hat auch etwas Penetrantes, und Winterbottoms Film, zweifellos mit hehren Absichten (und der finanziellen Hilfe des britischen Senders Channel Four) gestemmt, ist ein gutes Beispiel für diese Form der politischen Selbstverortung. Erwartungsgemäß gab es auf der Berlinale jede Menge Schulterklopfer und zur Krönung den Silbernen Bären (den Goldenen Bären hatte Winterbottom sich bereits zwei Jahre zuvor mit dem Flüchtlingsdrama 'In this World' geholt). Die Filmwelt war mit sich im Reinen.

Zusätzliche Brisanz erhielt 'Road to Guantánamo' wenige Tage darauf, als die Darsteller des Films sowie zwei der Tipton Three bei der Einreise nach England von den britischen Behörden in Gewahrsam genommen wurden und für einige Stunden Erniedrigungen und peinliche Fragen über sich ergehen lassen mussten. Die britische Regierung tat diesen Zwischenfall als Routineüberprüfung ab, aber das Vorgehen der Grenzer und ihre Verhörmethoden ließen auf einen Akt polizeilicher Willkür schließen. Unter anderen wollten die Beamten von den pakistanisch-stämmigen Schauspielern wissen, ob sie vorhätten, in Zukunft mehr politische Filme zu drehen.

Ein faires Urteil über 'Road to Guantánamo' fällt unter diesen Umständen schwer. Alles Filmische, Ästhetische, selbst das Formale wird von seinem Thema überschattet. Das allein macht Winterbottoms Film nicht per se problematisch, aber es verstellt bereits im Vorfeld alle von Winterbottom nicht intendierten Rezeptionsmöglichkeiten. Wenn der Regisseur in Interviews immer wieder betont, er habe einfach nur 'eine ganz konkrete Geschichte' erzählen wollen, ist Vorsicht geboten. Mit 'In this World' hatte das zum Teil noch funktioniert. Winterbottoms pseudodokumentarische Spielszenen halfen, eine abstrakte politische Bedrohung, die 'Festung Europa', unmittelbar erfahrbar zu machen und den toten Körpern in den Containern von Dover oder an den Grenzzäunen von Melilla sozusagen eine (wenn auch fiktive) Geschichte zuzuschreiben.

Die Geschichte der Tipton Three hingegen ist bekannt – 'konkret', in den Worten Winterbottoms. Sie ist ein Skandal, eine Menschenrechtsverletzung sondergleichen und eine Bankrotterklärung der Demokratie. Die Aussagen von Asif, Shafiq und Ruhel sind immens wichtige Zeugnisse, um Guantánamo Bay nicht nur als Politikum, sondern auch als menschliche Tragödie begreiflich zu machen. Eine Erfahrung, die Schmerz und Traumata nach sich zog. Das Politische ist hier vom Persönlichen nicht zu trennen, und dennoch erfordern beide differenzierte Betrachtungsweisen. Genau hierin versagt 'Road to Guantánamo'.

Winterbottom kann sich der Empörung des Zuschauers gewiss sein, doch über diese Empörung hinaus scheint ihn kaum etwas zu motivieren. Er begnügt sich in erster Linie damit, das spärliche Bildmaterial, das von Guantánamo Bay existiert, lebhaft auszuschmücken, als vermittele schon die bloße Abbildung von bereits ins Reich der Populärmythen eingegangenen Folteringredenzien (die orangefarbenen Sträflingsanzüge, die Hundezwinger, Heavy-Metal-Beschallung, Koranschändung) die letzte Erkenntnis über das Skandalon Guantánamo Bay. Für die politischen Zusammenhänge hingegen scheint sich Winterbottom nicht sonderlich zu interessieren. Statt dessen hat er außerhalb von Teheran einen originalgetreuen Nachbau von Camp X-Ray und Camp Delta errichtet.

'Road to Guantánamo' scheitert in doppelter Hinsicht: als Augenzeugenbericht dreier ehemaliger Guantánamo-Häftlinge – weil Winterbottom (im Gegensatz zu einem Humanisten wie zum Beispiel Claude Lanzmann) kein Vertrauen in die Überzeugungskraft ihrer Geschichte hat und der Versuchung nachgibt, die zweijährige Odyssee der Männer größtenteils von Darstellern nachspielen zu lassen. So sind die Vorzeichen in 'Road to Guantánamo' plötzlich verkehrt. Nicht mehr die Bilder verleihen den Aussagen von Asif, Shafiq und Ruhel Gewicht, sondern vereinzelt eingestreute Interviewpassagen müssen dafür herhalten, den fiktiven Spielszenen Authentizität zu verleihen. Das geht gründlich schief, weil Dokumentation, Fiktion, Rekonstruktion und Nachrichtenmaterial irgendwann kaum mehr auseinanderzuhalten sind – und Winterbottom darüber hinaus alles gleichermaßen mit einer hochdramatischen musikalischen Soße untermalt.

Ebenso wenig funktioniert 'Road to Guantánamo' als Kritik, weil der Film im dramatischen Korsett eines Fernsehspiels nie über seine 'konkrete Geschichte' hinausweist. Daran ändern auch die eingestreuten Nachrichtenschnipsel, die Wackelkamera und die hektischen 'Action'-Szenen wenig. Winterbottoms dubiose Methoden schaden nicht nur der Grundintention seines Films, Empathie für die Opfer des 'War against Terror' zu entwickeln. Ärgerlicher ist, dass auch die notwendige Reflexion der politischen und rechtlichen Umstände von Guantánamo Bay im Laufe des Films rapide an Fallhöhe verliert. So verpasst er nicht zuletzt die Gelegenheit, eine grundlegende Kritik an Folterpraktiken – egal ob an Dschihad-Kriegern oder Zivilisten erprobt – zu üben. Winterbottom argumentiert wie liberale Kritiker der Todesstrafe: Guantánamo Bay ist nicht gut, weil es auch Unschuldige treffen könnte.

Weil Winterbottom sich den unbequemen Fragen – allem, was über den politischen Konsens (oder schlicht: den gesunden Menschenverstand) hinausgeht – verweigert, bleibt 'Road to Guantánamo' als Kritik wirkungslos. Sein Film ist nicht mehr als ein Akt ziviler Selbstvergewisserung, der Aufstand eines Anständigen. Und darin in letzter Konsequenz auch ein typisches Produkt seiner Zeit: symptomatisch für eine Öffentlichkeit, die politische Diskussionen allzu bekenntnishaft um der eigenen Positionierung willen führt.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 10/2006

Planet Terror

(USA 2007, Regie: Robert Rodriguez)

Kintopp mit Rotorblättern
von Andreas Busche

Die gute Nachricht gleich vorweg: Immerhin einer der vier Faketrailer aus dem Grindhouse-Doppelpack von Quentin Tarantino und Robert Rodriguez hat es in die deutschen Kinos geschafft, als 'Preview of coming …

Die gute Nachricht gleich vorweg: Immerhin einer der vier Faketrailer aus dem Grindhouse-Doppelpack von Quentin Tarantino und Robert Rodriguez hat es in die deutschen Kinos geschafft, als 'Preview of coming attractions' vor Rodriguez’ 'Planet Terror', wie das zerschlissene Videologo am Anfang großspurig verkündet. 'Coming attraction' ist gut – handelt es sich beim Mextex-Actionreißer 'Machete' doch um potentielle Direct-to-Video-Ware; darum geht es schließlich. Tarantinos und Rodriguez’ Grindhouse-Filme, die bei uns nur getrennt in die Kinos kommen, zelebrieren eine glorreiche Ära, in der solch ein C-Ramsch noch seinen Weg in die Kinos fand, als durchgenudelte Kopie, aus der verantwortungslose Vorführer bereits ihre Lieblingsszenen entfernt hatten (auch im Fall von 'Planet Terror' übrigens).

Nach so einem spektakulären Auftakt ist der Hauptfilm um so enttäuschender. Als Double-Feature lief 'Planet Terror' noch vor Tarantinos Beitrag – eine weise Entscheidung. Denn im direkten Vergleich mit Death Proof' kommt Rodriguez’ Zombiefilm schlecht weg, trotz seines hohen Guts ’n’ Gore-Faktors. Rodriguez fabriziert reinen Kintopp, wenn mitunter auch sehr unterhaltsamen (wie 'Sin City'). Ihm ist nicht gelungen, was Tarantino perfektioniert hat: Genres zu transformieren. Während 'Death Proof' aus einem macho movie einen female revenge flic machte, hat Rodriguez dem Zombiegenre nichts hinzuzufügen außer der Groteske und einer Variation alter Standards, bis hin zu den Rotorblättern, die durch eine Horde Untoter pflügen. Allenfalls Rose McGowan wird sich bei Horror- und Science-fiction-Fans unvergeßlich machen. Nach einem Zombieangriff verliert sie ein Bein, welches mit Hilfe plastischer Chirurgie durch ein Maschinengewehr ersetzt wird. Dazu allerdings ist jede Menge digitaler Tricktechnik nötig, was 'Planet Terror' die slicke Ästhetik eines Videospiels verleiht und nicht die eines Siebzigerjahre-B-Movies.

Auch vom subversiven Geist des Zombiefilms bleibt nichts. Kürzlich hat Horrorveteran Joe Dante für das amerikanische Fernsehen 'Homecoming' gedreht, in dem sich im Irakkrieg gefallene Soldaten aus ihren Gräbern erheben, um an der Wahlurne ihre Stimme gegen George W. Bush abzugeben. Solche Zombiefilme wollen wir sehen.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 10/2007

Death Proof

(USA 2007, Regie: Quentin Tarantino)

Male Trouble
von Andreas Busche

Quentin Tarantino gehört zur ersten Videogeneration. Von der Ära der Grindhouse-Kinos, in denen man für ein paar Dollar einen ganzen Tag mit Double- und Triplefeatures aus Zombie-, Karate-, Blaxploitation-, Revenge- …

Quentin Tarantino gehört zur ersten Videogeneration. Von der Ära der Grindhouse-Kinos, in denen man für ein paar Dollar einen ganzen Tag mit Double- und Triplefeatures aus Zombie-, Karate-, Blaxploitation-, Revenge- und Slasherfilmen verbringen konnte, hat er Anfang der Achtziger gerade noch die traurigen Ausläufer mitbekommen. Seitdem versucht er mit viel Hingabe, diese Zeit zu rekonstruieren. 'Death Proof' ist nach Kill Bill' Tarantinos zweite Hommage an das Kino seiner Jugend; das ist heute, im Gegensatz zu den Filmen von Roger Corman oder den Golan/Globus-Cousins, natürlich nur noch mit viel Geld zu realisieren. In Amerika lief 'Death Proof' Anfang des Jahres zusammen mit Planet Terror' von Tarantinos Checker-Kumpel Robert Rodriguez als dreieinhalbstündiges Doublefeature, drei Trailer von fiktiven B-Movies inklusive. Bei uns kommen beide Filme vorerst nur getrennt ins Kino, was die Idee des Projekts mehr oder weniger ad absurdum führt. Dafür ist 'Death Proof' solo ganze 27 Minuten länger, womit Tarantino auch gegen ein ehernes Exploitation-Gesetz verstößt: Ein guter Film ist niemals länger als 80 Minuten.

Wenigstens passt die Geschichte noch auf einen Bierdeckel: Ein ehemaliger Stuntman (Actionfossil Kurt Russell) lockt junge Mädchen in sein Muscle Car, um sie in tödliche Unfälle zu verwickeln – bis er an die falschen gerät. Vorbild sind die Car-Crash-Movies der Siebziger, einer unschuldigen, vordigitalen Ära, in der Stuntmen (oder Stuntfrauen; die Neuseeländerin Zoe Bell spielt in 'Death Proof' eine Hauptrolle) noch die Cowboys der Neuzeit waren. Tarantino zollt ihnen Respekt, macht aber auch Schluss mit den Machoallüren des Genres. Russell, reptilienartig gealtert, ist die Idealbesetzung als psychopathischer Schmierlappen mit MacGyver-Frisur. Selbstironie ist ihm nicht fremd. 'Hast du Angst vor mir?', fragt er einmal ein Mädchen. 'Nicht vor dir', entgegnet sie, 'vor deinem Auto.'

Noch mehr als qualmende Reifen und spektakuläre Auffahrunfälle liebt Tarantino aber harte Mädchen mit schönen Füßen, die sie ihren männlichen Kontrahenten wenn nötig auch tief in den Arsch stecken. Es sind nicht unbedingt die altmodischen Verfolgungsjagden, der mitreißende Soundtrack (Warner Music) oder selbstreferentielle Gimmicks wie zerkratzte Filmkopien und Filmsprünge, die 'Death Proof' so unterhaltsam machen, sondern der ureigene Tarantino-Touch: endloser Girls Talk über Sex, Drogen, Popkultur und das Leben in der amerikanischen Provinz. Man möchte diesen Mädchen stundenlang beim Quasseln zuhören – unterschätzen sollte man sie niemals. Tarantinos Vorstellung von Feminismus mag aus schlechten Siebziger-Jahre-Filmen geklaut sein; aber kann das gegen 'Death Proof' sprechen?

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/2007

Bowling for Columbine

(USA / CAN / D 2002, Regie: Michael Moore)

Zinsknechtschaft
von Andreas Busche

Um herauszufinden, wo Amerikas Problem liegt, begibt sich Michael Moore sogar auf die Bowlingbahn von Littleton. Hier haben Eric Harris und Dylan Klebold am Morgen des 20. April 1999 noch …

Um herauszufinden, wo Amerikas Problem liegt, begibt sich Michael Moore sogar auf die Bowlingbahn von Littleton. Hier haben Eric Harris und Dylan Klebold am Morgen des 20. April 1999 noch ein paar Kugeln geschoben, bevor sie an der Columbine High School ein Massaker anrichteten. 'Sind wir eine Nation von Waffenverrückten, oder sind wir einfach nur alle verrückt?' ist die tautologische Grundüberlegung seines neuen Films, und Moore hat seinem Amerika ordentlich auf den Zahn gefühlt: dem Hausmeister der 'Littleton Lanes', Charlton Heston, Marilyn Manson, 'South Park'-Autor Trey Parker, der Michigan Militia, 'American Bandstand'-Begründer Dick Clarke etc. pp. Man kann nicht behaupten, dass er sich keine Mühe gegeben hätte, Antworten zu finden, die er längst weiß. Moores Filme sind keine Dokumentationen im herkömmlichen Sinne, sondern verkappte Sozialreportagen. Seine Methoden sind dabei so induktiv wie bei jedem anderen Populisten. Daraus macht er auch keinen Hehl.

Moore ist natürlich nicht mehr, wie noch zu Zeiten von Roger and Me', der kleine Mann von der Straße, wenn er mit Fünftagebart, Baseballcap und Windjacke seinen 'Corporate Celebrities' vor ihren Prachtvillen und Bürotürmen auflauert. Er ist inzwischen selbst der Posterboy der amerikanischen Sozialkritik, das schlechte Gewissen des 'Corporate America'. In Cannes hat 'Bowling for Columbine' in diesem Jahr sogar als erster Dokumentarfilm überhaupt einen Spezialpreis gewonnen. Moore weiß um die Macht der Networks, in deren Auftrag er heute unterwegs ist, und manchmal würde man sich auch etwas mehr von dem alten Kamikaze-Spirit wünschen, vor allem dort, wo 'Bowling for Columbine' streckenweise auf das Niveau übelsten Betroffenheitsfernsehens zurückfällt. Der Film hätte aber auch leicht eine launige NRA-Nummernrevue werden können; nur ist dann dummerweise 9/11 dazwischengekommen.

Wenn Moore am Ende wieder in Littleton angekommen ist (bzw. am Swimmingpool von Charlton Heston), nach einem Abstecher in die Vorgärten der 'Gated Communities', nach South Central und in die Produktionsstudios der Fernsehshow 'Cops', hat er eine beispiellose Angstkultur ausgemacht, die ganze Wirtschaftszweige finanziert. Die Rechnung sieht folgendermaßen aus: Die von der Angst profitieren, produzieren sie, um sich von ihrem Gewinn Waffen kaufen zu können, mit denen sie dann andere Länder bombardieren, damit in der eigenen Bevölkerung noch mehr Angst geschürt werden kann. Die Toten von Littleton bleiben unterm Strich stehen als die Zinsen dieser ertragreichen Angstproduktion.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2002

Die Passion Christi

(USA 2004, Regie: Mel Gibson)

Karfreitagsporno
von Andreas Busche

Dass mit Mel Gibsons Jesus-Film die christliche Heilsgeschichte einige Flecken abbekommen würde, war schon nach den ersten Reaktionen aus den USA absehbar. Da hatte den Film noch kaum jemand gesehen. …

Dass mit Mel Gibsons Jesus-Film die christliche Heilsgeschichte einige Flecken abbekommen würde, war schon nach den ersten Reaktionen aus den USA absehbar. Da hatte den Film noch kaum jemand gesehen. Aber ein fundamentalistischer Religionsvertreter, und sei er aus Hollywood, der in einem Anfall von Wahn um Authentizität ringt, ist in den amerikanischen Küstenstädten, traditionell das Zentrum der liberalen Intelligenz, a priori suspekt. Nachträglich hat sich die Medienschlacht als Strohfeuer erwiesen; immerhin warf es hierzulande ein – wenn auch schwaches – Licht auf die Feuilletons. Nachdem man sich schnell von den gängigen Antisemitismusvorwürfen freigeschwommen hatte, fiel das Urteil in der deutschen Presse humorlos wie in einem Kirchenblatt aus: unchristlich und blasphemisch. Feuilletonisten als vermeintlich letzte Außenposten der abendländischen Kultur schwangen sich zu Verfechtern der reinen christlichen Lehre auf.

Natürlich ist 'Die Passion Christi' ein barbarischer Schmarrn – ein Bibelfilm für Extremchristen, die ihr Heil in der körperlichen Verstümmelung suchen. Davon bietet Gibsons Film mehr als genug. Die Kamera labt sich am geschundenen Leib Christi, als gelte der Karfreitag als höchster Feiertag. Fleischfetzen fliegen durch die Luft, Blut spritzt in die Kamera, Augen werden ausgehackt, Nägel bohren sich durch Hände. Dass während dieser Kreuzigungsszene eine Amerikanerin im Kino an einem Herzanfall starb, nützte der PR – in Amerika spielte der Film bereits am ersten Wochenende seine Kosten wieder ein. Unchristlich ist das – dabei soll doch sogar der Papst zugegeben haben, dass es in Gibsons Film so sei, wie es war.

Aber auch der Antisemitismusvorwurf gegen den Film steht auf wackligen Füßen. Wie prosemitisch kann eine Bibelverfilmung schon sein? 'Die Passion Christi' ist so antisemitisch wie der Text seiner Vorlage; der Gerechtigkeit halber kommen die Römer im Film aber auch nicht besser weg als der jüdische Mob. Was die römischen Folterknechte mit dem Menschensohn anstellen, fällt sowohl unter die Genfer Konventionen als auch unter den Tatbestand der Gewaltpornographie.

Letztlich eignet sich dieser Bibel-Trash nur für ein Double Feature mit 'Das Leben des Brian'. Der Marylin-Manson-ähnliche Teufel mit den entstellten Aphex-Twin-Babys ist eine Reminiszenz an MTV, der donnernde Soundtrack an 'Black Hawk Down'. Mit Glaube hat das so viel zu tun wie mit schlechtem Geschmack (schwer, das eine vom anderen zu trennen). Beunruhigender als der Film selbst war nach den ersten Zuschauerkommentaren allerdings der Verdacht, dass das Publikum genau den Film bekommen hat, den es verdient.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 04/2004

Flags of Our Fathers

(USA 2006, Regie: Clint Eastwood)

Spielbergs Wunschträume
von Andreas Busche

Nach nihilistischen Pulp- und Gothicfilmen (Mystic River', 'Million Dollar Baby') widmet sich Clint Eastwood nun wieder einem Thema, das mit der katastrophalen Gemütsstimmung seiner Landsleute deutlich korrespondiert. Wenn Amerika sich …

Nach nihilistischen Pulp- und Gothicfilmen (Mystic River', 'Million Dollar Baby') widmet sich Clint Eastwood nun wieder einem Thema, das mit der katastrophalen Gemütsstimmung seiner Landsleute deutlich korrespondiert. Wenn Amerika sich im Kriegszustand befindet, dreht man in Hollywood ja lieber Romantic Comedies oder einen neuen Jerry Bruckheimer. Dass Clint Eastwood mitten im 'war against terror' einen Film wie 'Flags of Our Fathers' durchboxen konnte, hat auch damit zu tun, dass man in Hollywood bei Kriegserinnerungsfilmen immer noch eher an 'Pearl Harbour' als an 'Big Red One', Sam Fullers definitives Statement zum Zweiten Weltkrieg, denkt.

Und was macht Eastwood? Er dreht nicht nur ein dumpf brütendes Antiheldenepos über die blutigste Schlacht der Amerikaner auf der japanischen Insel Iwo Jima; er wird denselben Film 2007 gleich noch mal in die Kinos bringen – dann aus japanischer Sicht. 'Flags of Our Fathers' verweigert sich konsequent jedem Kriegspathos, vor dem auch der sogenannte Antikriegsfilm nie ganz gefeit ist. Eastwood erzählt von den inneren Kämpfen der armen Teufel, die vom Schlachtfeld als Helden zurückkamen. Die Ikone der Kriegsfotografie schlechthin, Joe Rosenthals Schnappschuss vom Flaggenhissen auf dem Mount Suribachi, dient ihm bei seiner Demontage amerikanischen Heldentums als Vorlage. 'Helden sind etwas, das wir schaffen, etwas, das wir brauchen', heißt es am Ende. Das könnte auch die Quintessenz von Eastwoods pessimistischem Spätwerk sein, angefangen mit 'Erbarmungslos'.

Selbst das Hissen der US-Flagge ist Inszenierung. 'Okay, wer möchte heute ein Held sein?' spaßen die Soldaten, bevor sie sich für die Kamera in Pose schmeißen. Zurück in der Heimat werden die tapferen Soldaten, die die Hosen gestrichen voll haben, dann auf Promotiontour für Kriegsanleihen geschickt, damit der Kampf in ihrem Namen weitergehen kann. Diese Form der Kriegs- und Heldenvermarktung führt Eastwood sarkastisch vor, wenn die Soldaten bei einem Bankett Desserts serviert bekommen, die ihrer Pose nachempfunden sind – übergossen mir Erdbeersoße.

'Flags of Our Fathers' erinnert in seinen Flashbacksequenzen an einen düsteren Fiebertraum (einmal schneidet Eastwood die Eroberung von Suribachi parallel mit der nachgestellten Schlacht im Chicagoer Soldier Field Stadion); seine postheroischen Kämpfer agieren blind und orientierungslos.

Eastwood hat keinen großen Film gemacht, aber er zeigt Größe. Ein Affront ist seine Kritik am Krieg nicht mehr. Doch 'Flags of Our Fathers' ist der Film, den Spielberg, hier ausführender Produzent, mit 'Saving Private Ryan' gerne gemacht hätte.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 01/2007

Yusuf-Trilogie

(TÜR / D / GR / F 0, Regie: Semih Kaplanoglu)

Atem der Zeit
von Wolfgang Nierlin

Semih Kaplanoglus „Yusuf-Trilogie“ in einer „3-DVD Special Edition“ Die Filme des türkischen Filmkünstlers Semih Kaplanoǧlu evozieren eine Sinnlichkeit, die den Zuschauer geradezu physisch erfasst. Eine poetologische Referenz dafür findet sich …

Semih Kaplanoglus „Yusuf-Trilogie“ in einer „3-DVD Special Edition“

Die Filme des türkischen Filmkünstlers Semih Kaplanoǧlu evozieren eine Sinnlichkeit, die den Zuschauer geradezu physisch erfasst. Eine poetologische Referenz dafür findet sich in „Yumurta – Ei“, wo einmal aus John Steinbecks Novelle „Die Perle“ zitiert wird: Man müsse ein Ereignis als Ausgangspunkt wählen und dieses dann raum-zeitlich verdichten. In langen konzentrierten Einstellungen, getragen vom Atem der Zeit und dem ruhigen Fluss alltäglicher Ereignisse verdichtet Kaplanoǧlu sein Erzählen in Bildern. Dieses öffnet und vermischt sich immer wieder mit dem Traum, beschwört eine magische Welt inmitten der Wirklichkeit und zieht so dem poetischen Realismus eine spirituelle Dimension ein. Rituelle Handlungen und religiöse Bräuche, wiederkehrende Symbole und eine beseelte Natur stehen für diese Transzendenz. Als „Hinterwelt“ ist diese stets gegenwärtig und bildet im Verbund mit kulturellen Traditionen zugleich das Gegengewicht zum modernen Leben.

In der soeben erschienenen „3 –DVD Special Edition“ der „Yusuf-Trilogie“, die in den Jahren 2005 bis 2010 entstand und die die Filme „Yumurta – Ei“, „Süt – Milch' und „Bal – Honig“ umfasst, ist dieser spannungsreiche Kontrast zwischen Natur und Kultur, Tradition und Moderne stets gegenwärtig. In ihrer Suche nach Heimat, nach einem Platz im Leben, nach Liebe und sprachlichem Ausdruck reflektieren die Yusuf-Figuren in verschiedenen Lebensaltern dieses Verhältnis. Bezogen sind sie dabei nicht nur auf bestimmte Familienkonstellationen, in denen die Beziehungen zu Vater und Mutter eine herausgehobene Rolle spielen, sondern vor allem auch auf Orte und Landschaften.

Im informativen, aber wenig strukturierten Making Of, das der Trilogie-Edition beigegeben ist und das Gespräche mit Mitarbeitern, „Impressionen von den Dreharbeiten“ und Filmausschnitte versammelt, wird die Bedeutung dieser Schauplätze, aber auch bestimmter, in allen drei Filmen auftauchender Objekte nochmals anschaulich. Das ungewöhnliche Nebeneinander von traditioneller und moderner Kultur in der Stadt Tire im Hinterland der Ägäis (Schauplatz der Filme „Yumurta“ und „Süt“) ist dafür ebenso ein Beispiel wie die urwüchsige Natur in der Provinz Rize an der Schwarzmeerküste im Nordosten der Türkei, wo „Bal“ gedreht wurde. Um ein möglichst „realistisches Gefühl entstehen zu lassen“, arbeitet Semih Kaplanoǧlu aber nicht nur an Originalschauplätzen, sondern auch mit möglichst wenig künstlichem Licht und einem reduzierten Ton, der „die Stille zum Klingen“ bringt.

Ebenso bedeutsam für Kaplanoǧlus Realismuskonzept ist seine Arbeit mit Laienspielern, die mitunter gleich in mehreren Filmen der Trilogie mitwirken. Diese sollen sich selber spielen und dabei ihre eigenen Erfahrungen, Einstellungen und Empfindungen einbringen. Immer wieder lässt sich anhand der dokumentierten Dreharbeiten beobachten wie Kaplanoǧlu, der unter seinen Mitarbeitern als sehr fordernd und bestimmt gilt, mit seinen Regieanweisungen die Schauspieler auch emotional führt. „Wegsein ist ein Gefühl, das wir immer in uns selber tragen“, lautet einer dieser suggestiven Sätze, der die Schauspieler zu einer möglichst undramatischen, glaubhaften Darstellung führen soll; oder auch: „Fühle die Armut in deinem Herzen.“

In Kaplanoǧlus „Yusuf-Trilogie“, die unheimlich reich an Details ist, lassen sich die Spuren dieser Arbeit sowie wiederkehrende Motive und Symbole durch alle drei Filme hindurch verfolgen oder wiederentdecken. Dazu gehören beispielsweise der symbolische Gehalt der Filmtitel, die wiederum archetypische Beziehungen zwischen den Figuren verschlüsseln, die Darstellung und Deutung der alten Berufe (z. B. Seiler, Brunnenbauer, Imker), Yusufs dichterische Berufung (in den Worten aus Arthur Rimbauds Gedicht „Empfindung“: „Einsame Wege will ich gehen.“) oder auch die wiederkehrenden (epileptischen) Anfälle, die eine empfindliche Grenze zwischen Realität und Traum, Leben und Tod berühren. Dass ein solch vergleichendes Sehen in kurzer zeitlicher Abfolge jetzt möglich wird, ist ein großes Verdienst dieser DVD-Edition. Deren werbetechnische Fokussierung auf den Berlinale-Gewinner „Bal“ führt in der Anordnung und Gestaltung der Box allerdings zu leichten Irritationen. Wie lautet doch einer der Kalendersprüche, die der kleine Yusuf in „Bal“ gleich zu Beginn mit zögerlicher Stimme seinem Vater vorliest: „Ihr sollt die Dinge erleichtern statt sie zu erschweren.“ Dieses prophetische Wort mag auch hier gelten.

Ausgestoßen

(GB 1947, Regie: Carol Reed)

Märtyrer der Organisation
von Michael Schleeh

Zwei Jahre vor „Der dritte Mann“ inszenierte Carol Reed 1947 diesen in Irland spielenden Thriller, in dem ein aus der Haftanstalt entflohener politischer Aktivist (James Mason) einen Überfall plant, um …

Zwei Jahre vor „Der dritte Mann“ inszenierte Carol Reed 1947 diesen in Irland spielenden Thriller, in dem ein aus der Haftanstalt entflohener politischer Aktivist (James Mason) einen Überfall plant, um für „die Organisation“ Geld zu beschaffen. Die Örtlichkeit wird nie explizit genannt, doch dürfte es klar sein, dass es sich hier um Belfast und die IRA handelt. Der Film beginnt zunächst wie ein Caper-Movie, in dem die „Bande“ in ihrem Hideout konspirativ zusammen sitzt und von den Frauen des Hauses mit heißem Tee versorgt wird. Der Anführer ist Johnny McQueen (James Mason), der mit seiner politischen Überzeugung und einem wie in Askese geschnitzten, scharfen Gesicht messianisch die ihm Folgenden mitreißen kann – allein mit seiner Präsenz und Ausdrucksstärke füllt er den ganzen Raum. Auch Kathleen Sullivan (Kathleen Ryan) ist bedingungslos auf seiner Seite, wenngleich voller Angst, die Sache könnte schief gehen. Für sie allerdings ist Johnny jetzt schon ein Märtyrer.

Dass der Überfall dann scheitert, entspricht den Gesetzen des Genres – beinahe schon slapstickhaft ist das, wie Johnny nach der Rauferei und dem Schusswechsel, der freilich völlig unnötig war, mit den Beinen zappelnd aus dem Auto hängt. Und in der scharfen Kurve dann auf die Straße geschleudert wird. Zu Fuß auf der Flucht und angeschossen in die Schulter, kämpft sich Johnny durch die Straßen und Straßenzüge – und hier kommt dann der nächste Protagonist ins Bild: die Stadt. Eine Stadt nach dem Krieg, zerbombte Häuser, Schutt, Luftschutzkeller, Kinder, die mit Straßenkötern spielen. Zu Fuß auf der Flucht ist Johnny allein, „auf eigene Faust“ – und doch zu schwach geworden mit der Verwundung, um sich an einen sicheren Platz zu retten. Robert Krasker packt die Geschichte in expressionistische Bilder, die mit denen aus „Der dritte Mann“ rivalisieren: hartkontrastiges Schwarzweiß, Verfolgungen im Gegenlicht durch die engen Gassen bei Nacht, Großaufnahmen auf die Gesichter der Verlorenen, Halunken und Gauner.

Dorthin nämlich verschlägt es den Helden (als der Film den Thrillerplot verlässt, sich einige Längen gönnt, und das Drama in den Mittelpunkt rückt), zu einem halbverfallenen Haus, das von einem Trunkenbold und einem irren Maler bewohnt wird, der vor allem im Suff sein Ingenium zu wecken hofft. Er ist besessen davon, den Ausdruck im Gesicht eines Mannes zu erfassen, der auf der Schwelle des Todes steht, was ihm das Kunstwerk beseelen soll. Der eigentliche Tod aber kommt später, nach dem Regen, als es bereits zu Schneien begonnen hatte. Es ist kalt. Es ist der kalte Nachkriegswinter von 1946/47 und die Lebensmittel sind rationiert. Kathleen hat ihren Johnny wiedergefunden und schleppt ihn zum Hafen. Doch sie sind zu spät, das Schiff legt ab. Im blendenden Licht der Autos der Verfolger stehen sie geschlagen, eng an den Zaun gepresst. Sie wird ihn niemals wieder loslassen wollen und zieht, völlig überzeugt, die Waffe aus dem Mantel. Im Kugelhagel dann sinken sie sterbend zusammen aufs Pflaster nieder.

The Walking Dead

(USA 2010, Regie: Frank Darabont u.a.)

Chaos regiert
von Sven Jachmann

„Für mich waren die Zombies immer Sinnbilder der Revolution: Eine Generation frisst die andere auf“, sagte Horrormaestro George A. Romero einmal – und lieferte mit seinen Filmen die Probe aufs …

„Für mich waren die Zombies immer Sinnbilder der Revolution: Eine Generation frisst die andere auf“, sagte Horrormaestro George A. Romero einmal – und lieferte mit seinen Filmen die Probe aufs Exempel: Die kannibalistischen und noch recht uniformen Gestalten aus seinem frühen Schwarzweißfilm „Night of the Living Dead“ (1968) entwickelten sich im Laufe der Jahrzehnte zu Identitäten, die das Menschsein imitierten. Erfreulich deutlich wurde das in Romeros „Land of the Dead“ aus dem Jahr 2005.

Dem Zombiefilm fehlte es ja nie an Modellen, wenn es darum ging, den schlechten Zustand der menschlichen Zivilisation zu konstatieren. Die Rezeptionsgeschichte des modernen Zombies als soziale Metapher, die mit Romero ihren Anfang nahm, hat sich heute mehr denn je zu einer Dystopie konkretisiert: der Suche nach dem richtigen Leben im nunmehr völlig falschen; der verzweifelten Suche nach Humanität, wenn die Menschheit erst zur Minderheit geworden ist und die Überlebenden sich gegenseitig an die Gurgel gehen.

Im Vergleich zum Spielfilm hat die TV-Serie „The Walking Dead“ diesbezüglich die besseren Karten, zumal ihre Vorlage, die 2003 gestartete, überaus erfolgreiche amerikanische Comicreihe von Robert Kirkman, Tony Moore und Charlie Adlard als Endlosserie konzipiert ist. Im Prinzip wird darin nichts verhandelt, was man nicht schon von anderen Gattungsvertretern kennt, doch geschieht es hier eben weitaus ruhiger – und deswegen umso eindringlicher.

Der Auftakt der TV-Adaption (bei der u.a. Frank Darabont – dank einiger Stephen King Verfilmungen in Genre-Angelegenheiten sattsam erprobt – als Produzent verantwortlich zeichnet) erinnert an „28 Days Later“, an jenen Film, in dem Regisseur Danny Boyle 2002 die Zombies mit der physischen Konstitution von Hochleistungssportlern über England herfallen ließ: Da erwacht nach wenigen Minuten der wegen einer Schusswunde operierte, komatöse Polizist Rick Grimes (Andrew Lincoln) schweißgebadet im Patientenzimmer eines Krankenhauses. Die Blumen neben seinem Bett sind längst vertrocknet. Die Uhr über der Tür und die Geräte, an die sein Körper angeschlossen wurde, haben ihren Geist aufgegeben. In den verfallenen Fluren herrscht bedrückende Stille. Last Man on Earth? In „28 Days Later“ diktierte die Erzählökonomie des Spielfilms nach wenigen Minuten heillose Panik, ein Blick aus der Vogelperspektive auf die irritierte Hauptfigur musste bereits genügen, um alle Einsamkeit der Welt zu indizieren. Kurze Zeit später kam es zur ersten Flucht.

In „The Walking Dead“ – das gilt für den Comic und für die Fernsehserie – heißt das Prinzip „Entschleunigung“. Und dies nicht nur, weil die Zombies wieder etwas gemächlicheren Schrittes durch die menschenleeren Straßen schlurfen. Rick registriert langsam, dass die Welt dem Verfall preisgegeben wurde. Er stößt auf Leichenberge und verwesende Torsi, die grunzend durchs Gras kriechen, dann auch auf erste Überlebende und mit ihnen auf hilflose Erklärungsversuche für das Chaos ringsherum. Bis er schließlich am Stadtrand von Atlanta in einem winzigen provisorischen Camp seine Familie zusammen mit seinem besten Freund und früheren Kollegen Shane Walsh (Jon Bernthal) wiederfindet. Um diese Kerngruppe zentriert sich fortan das weitere Geschehen.

Mit der Verve verzweifelter Utopisten ziehen sie nomadengleich durch zivilisatorische Überreste, durch Orte, die längst kolonisiert worden sind, obwohl sie nicht mal mehr die Zukunft irgendeiner Herrschaft versprechen. Die Erzählung switcht hin und her, zwischen Melodram und Soap, Splatter und Ekel. Es geht um alte Ordnung und neuen Normen, um Verzweiflung und Zukunftsentwürfe, Sozialdarwinismus und menschliches Mitgefühl, um Rollenbilder und Lebensmuster, Glaube und Materialismus … Und natürlich nicht um „normalen“ sozialen Wandel, im Gegenteil, Thema ist die Erosion von Gesellschaft selbst: Was bedeutet diese Art von Leben für intime Beziehungen, für Familien und Sexualität? Wie steht es um die (gewissermaßen nivellierten) Unterschiede zwischen Generationen, wenn der Tod aller zur alles überschattende Prämisse geworden ist und die entfernte Zukunft gar nicht mehr denkbar? Welche Konflikte sind existenziell? Was heißt hier Vernunft?

Die Krise, in die die Figuren überführt werden, ist schleichend und bemisst sich kaum an den blutigen Kämpfen mit den monströsen Gestalten. Vielmehr thront über allem die Frage, wie sich eigentlich in einer Welt miteinander aushalten lassen soll, in der völlige Isolation und höchste Lebensgefahr die Alternativen sind. Man muss dem Comic hoch anrechnen, dass er die Krise weitaus radikaler abbildet als die Fernsehserie. Denn im Comic hebt das Chaos sogar die Gesetze der narrativen Ordnung aus den Angeln. So greift sich der Tod hier gleich haufenweise Hauptfiguren, meist wesentlich pessimistischere erzählerische Wege müssen deswegen beschritten werden – diese absolute Unvorhersehbarkeit verlangt eben auch vom Leser ständig neue Orientierungsleistungen.

Im Cross Cult Verlag erscheint jetzt der 14. Sammelband der Comicreihe, in dem, stets vorbildlich editiert, erneut sechs Einzelhefte zusammengefasst sind. Eine (leicht gekürzte) DVD- und Blu-ray-Box der ersten Fernsehstaffel präsentiert Entertainment One / WVG Medien; außerdem wurde jüngst eine Ausstrahlung im Free TV für das kommende Jahr von RTL II angekündigt. Die zweite Staffel läuft derzeit im Pay TV beim FOX Channel.

Dieser Text erschien zuerst in: Pony #69

Deep in the Woods – Verschleppt und geschändet

(F 2010, Regie: Benoît Jacquot)

Magnetismus der Verführung
von Wolfgang Nierlin

Obwohl Benôit Jacquots aktueller Film “Au fond des bois” im vergangenen Jahr das Filmfestival von Locarno eröffnete, war ihm hierzulande kein regulärer Kinostart vergönnt. Dabei stammt er nicht nur von …

Obwohl Benôit Jacquots aktueller Film “Au fond des bois” im vergangenen Jahr das Filmfestival von Locarno eröffnete, war ihm hierzulande kein regulärer Kinostart vergönnt. Dabei stammt er nicht nur von einem der renommiertesten und interessantesten französischen Regisseure unserer Tage, sondern ist mit Isild Le Besco ebenso prominent wie kongenial besetzt. Zu brisant, spekulativ und vieldeutig schillernd war potentiellen Verleihern offensichtlich die tiefenpsychologische Geschlechterpolitik des Films, der rückhaltlos um eine besonders verwegene Amour fou kreist; oder einfach nur zu wenig gewinnversprechend. So ist es zumindest ein Trost, dass der Alamode Filmverleih Jacquots Film nun unter dem englischen Titel „Deep in the Woods“ auf DVD herausbringt, wobei die damit suggerierte Internationalität beim Kaufpublikum ebenso falsche Erwartungen und Assoziationen weckt wie der reißerische Untertitel („verschleppt und geschändet“) und die fragwürdige Genrebezeichnung des Films als „Erotikthriller“.

Der auf Gerichtsprotokollen basierende historische Fall, der sich im Jahre 1865 in der südfranzösischen Provinz zutrug, ähnelt in seinen Bildern und Motiven vielmehr einem romantischen Gespinst, das von einem unheimlichen Begehren beseelt ist. Benôit Jacquot übersetzt die irritierenden Kraftströme zwischen der gutsituierten Bürgerstochter Joséphine Hughes (Isild Le Besco) und dem zerlumpten Streuner Timothée Castellan (Nahuel Pérez Biscayart mit dämonischer Wildheit) zunächst in eine Dialektik von innen und außen und in ein subtil mehrdeutiges Spiel zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Beobachtung. Die magisch durchdringenden, gar verhexenden Blicke des männlichen Begehrers überkreuzen sich gewissermaßen mit dem Erwachen der weiblichen Lust. Der Körper, der die Blicke des Voyeurs auf sich zieht, ist selbst von unbekannter Sehnsucht gespannt und bietet sich dar.

Jacquot inszeniert die Topoi dieser wechselnden Verführung, die das sexuelle Begehren und die Sehnsucht nach dem Verlust der Unschuld zusammenschließt, als romantisch düsteren Realismus. Wenn die Farben-Trikolore von Joséphines Kleidern in relativ schneller Abfolge von Weiß zu Rot und zu Blau wechselt, wenn die Kamera zärtlich den Nacken der schönen Nachtwandlerin ins Bild setzt, sie beim Flussbad beobachtet oder sie am Fenster stehend zeigt, wo der Blick in die unbestimmte Ferne eines wie gemalten Himmels geht, verklärt sich das Opfer in eine Phantasie und der Täter in ein Opfer. Doch zunächst dominiert die rohe Gewalt Timothées, der Taubstummheit vortäuscht, um sich die Nähe der ätherisch Schönen im Haus des Armenarztes Dr. Hughes (Bernard Rouquette) zu erschleichen und sie daraufhin in seine brutale Abhängigkeit zu zwingen. Der gespenstische Zauber der Hypnose illuminiert dabei die Vergewaltigungen mit magnetischer Kraft und verbindet die sexuelle Unterwerfung mit einer unterschwelligen Todessehnsucht.

Um ihre fast willenlose Hörigkeit zu erklären, sagt Joséphine später im Verhör: „Ich war nicht ich selbst.“ Sie habe sich lethargisch, wie in Trance gefühlt und dabei eine besondere Nähe zum Tod gespürt. Der mit übersinnlichen Kräften begabte Timothée wiederum gibt zu Protokoll: „Ihr Wille drang in mich ein. Sie hat alles gewollt.“ Es handelt sich also um die Darstellung einer doppelten Besessenheit, die Züge des Heiligen trägt und die als äußere Flucht in die titelgebenden Tiefen des Waldes – und im Weiteren mit dem Dickicht der Wildnis – auch die Tiefenschichten des Bewusstseins erkundet. Liebeswahn und Freiheitsdrang, Anziehung und Abstoßung durchdringen und vermischen sich wie das Blut und die Körpersäfte der Liebeskranken und machen aus „Deep in the Woods“ die dissonante Faszination einer betörenden Verstörung.

Die Höhle der vergessenen Träume

(F / CAN / USA / GB / D 2011, Regie: Werner Herzog)

Der Blick des Krokodils
von Andreas Busche

Werner Herzog hat ein Herz für Alligatoren. Seine 'Kroko-Cam' aus 'Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen' war schon für einen der seltsamsten psychedelischen Momente der jüngeren Kinogeschichte verantwortlich. Im Epilog …

Werner Herzog hat ein Herz für Alligatoren. Seine 'Kroko-Cam' aus 'Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen' war schon für einen der seltsamsten psychedelischen Momente der jüngeren Kinogeschichte verantwortlich. Im Epilog seiner Dokumentation 'Die Höhle der vergessenen Träume' greift Herzog seine neueste Lieblings-Obsession nun wieder auf, wenn er mit einem letzten Nachgedanken von der Chauvet-Höhle in Südfrankreich zu einem mit Reaktorkühlwasser beheizten Tropenpark abschweift, in dem Albino-Alligatoren geboren werden. Doch steckt eine inhärente Logik in der Reptilienperspektive: Auch Herzog betrachtet die Menschen als Außenstehender, der über die absonderlichsten Verbindungen einen Bezug zur Welt herzustellen versucht. Er ist gleichermaßen unermüdlicher Forscher und verstrahlter Weltdeuter. Extreme Orte und menschliche Grenzerfahrungen haben Herzog schon immer fasziniert.

Die Chauvet-Höhle mit ihren Jahrtausende alten Wandbildern liefert ihm schönes Anschauungsmaterial für das mythische Rauschen unter seinen Off-Kommentaren. Als erster Filmemacher überhaupt durfte Herzog diese Zeitkapsel aus einer anderen Epoche der Menschheitsgeschichte betreten. Und die Expedition beflügelt ihn zu hochtrabenden Gedanken. Im Gegensatz zu den Wissenschaftlern sucht er in der Höhle etwas, das sich nicht mit Geräten vermessen lässt: 'die Seele des modernen Menschen'. Wenn Herzog die Millionen von erfassten Daten mit dem Telefonbuch von Manhattan vergleicht, schließt er mit der Feststellung, dass diese Zahlen nichts über die Träume der Urmenschen verraten.

Herzog ist längst mehr Hobby-Anthropologe denn Filmemacher. Er lässt sich in Informationen treiben, um an überraschende Ufer zu gelangen. Diese Neugier verbindet ihn mit dem Archäologen Wulf Hein, der beruflich mit prähistorischen Werkzeugen experimentiert. In 'Die Höhle der vergessenen Träume' spielt Hein im Bärenfell auf einer Knochenflöte die amerikanische Nationalhymne nach, ein bizarrer Moment, der jedoch in Herzogs Reptilienblick wieder schlüssig wird. Der Bärenfellmann stellt unsere Verbindung in die Vergangenheit dar, während die Albino-Krokodile ein Bild aus der Zukunft transportieren. So, scheint Herzog zu sagen, sieht unser Vermächtnis an kommende Generationen aus.

Dieser Text erschien zuerst in: Pony #68

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Meek’s Cutoff

(USA 2010, Regie: Kelly Reichardt)

Die Eroberung des Nutzlosen
von Ulrich Kriest

Der Western wird wohl kein 'richtiges' Revival mehr erleben, aber sein langsames Sterben zieht sich weiter dahin. Immer, wenn man glaubt, jetzt ginge wirklich gar nichts mehr, nein, immer, wenn …

Der Western wird wohl kein 'richtiges' Revival mehr erleben, aber sein langsames Sterben zieht sich weiter dahin. Immer, wenn man glaubt, jetzt ginge wirklich gar nichts mehr, nein, immer, wenn man glaubt, dass niemand mehr das vollständige Verschwinden des Western überhaupt noch bemerken würde, kommt ein Meisterwerk oder zumindest ein beachtlicher neuer Beitrag zum Genre in die Kinos. 'Todeszug nach Yuma' oder True Grit' mögen handwerklich befriedigende Fingerübungen gewesen sein, doch 'Erbarmungslos' oder die HBO-Fernsehserie 'Deadwood' können es mit den Klassikern des Genres allemal aufnehmen. Trotzdem war es eine Überraschung, als es hieß, Indie-Ikone Kelly Reichardt werde als nächstes einen Western drehen. Schließlich hatte die Filmemacherin in den vergangenen Jahren mit einem idiosynkratischen Kino des Minimalismus international reüssiert. Ihre Filme 'Wendy and Lucy' und 'Old Joy' waren zwar keine Kassenschlager, aber Kritik und erklärte Fans reagierten durchaus enthusiastisch. Und jetzt ein Western?

Nun gibt es im Westernland ja nicht nur die Jungsfilme mit ihren Action-Sequenzen und Shoot-outs, sondern auch das Sub-Genre der Filme der Langsamkeit und Stille, die unter Cineasten weitaus höher gehandelt werden, wenngleich sie kaum bekannt sind. Zum Beispiel 'Wagon Master' (1950) von John Ford. Ende der 60er Jahre drehte Monte Hellman zwei Western: 'Ride in the Whirlwind' und The Shooting'. Zuvor hatte Hellman an seinem Studententheater erstmals in den USA 'Warten auf Godot' von Beckett inszeniert. Man könnte Hellmans Western als existentialistisch bezeichnen, auf jeden Fall aber als Meta-Western, die mit dem Wissen des Zuschauers um das Genre spielen.

Hier setzt auch Reichardt an, wenn sie eine Episode vom Oregon Trail aus dem Jahre 1845 schildert. Unzählige Western haben ihre Geschichten entlang eines Trecks angelegt; Reichardt aber erzählt den Treck – und zeigt damit einen ganz erstaunlichen Stilwillen. 'Meek’s Cutoff' ist ein minimalistischer Western, der – wenn man so will – Antonioni mit Malick und Hellman mit Herzog kombiniert. Es ist ein Film, der erfüllt ist vom Quietschen der Planwagen, mit denen sich drei Paare durch die Hochplateau-Wüste Oregons quälen. Als wir dem Treck erstmals begegnen, ist die Stimmung bereits gedrückt. Man hat den Trapper Stephen Meek als Führer engagiert, der seinerseits die titelgebende Abkürzung gewählt hat. Jetzt geht dem Treck allmählich das Wasser aus. Das Reisetempo ist schleppend, der Weg mühsam, die ausgedörrte Hochebene scheint endlos. Allmählich regt sich in der unbedarften Reisetruppe leises Misstrauen gegenüber dem Führer, was den völlig unberührt lässt.

Das Western-Genre und insbesondere die Spät-Western sind voll von merkwürdigen Trappern, denen das Leben zwischen Zivilisation und Wildnis nicht immer gut bekommen ist. Man erinnere sich nur an den Trapper in Michael Ciminos 'Heaven’s Gate', der buchstäblich in den Kinosaal hinein zu miefen schien. Oder an Jeremiah Johnson in Sydney Pollacks gleichnamigem Film. Das sind keine edlen Lederstrümpfe mehr. Ein interessanter Fall ist auch Stephen Meek, der glatt als Pfadfinder-Darsteller in einer Wild-West-Show durchginge und sich selbst als Kassandra der Steppe gefällt. Mal kalauert er, mal spricht er in Rätseln. Sogar in aussichtslosen Situationen bleibt sein in sich hinein kichernder Optimismus ungebrochen. Vielleicht ist Stephen Meek ein Aufschneider, ein Blender, vielleicht ist er auch einfach wahnsinnig. Auf jeden Fall ist er eine der tollsten Western-Figuren in der Geschichte des Genres, gerade weil die Figur ihr Geheimnis behält.

Weil sich die Kräfteverhältnisse innerhalb der Reisegruppe im Verlauf der Krise verschieben, rückt Meek vom Zentrum ins Abseits. Hier zeigt sich die große Kunst Reichardts, die die Frauen zunächst immer am Rande des Geschehens zeigt, wo sie auf ihre Rolle als Beobachter der Männer beschränkt bleiben. Man sieht die Männer zusammen stehen und sich beratschlagen, doch man hört (genau wie die Frauen) ein paar Gesprächsfetzen, die indessen rätselhaft bleiben. Als ein Indianer gefangen genommen wird, kippt der Film. Während Meek sofort vorschlägt, den Indianer zu töten, damit dieser nicht zur Gefahr werden kann, nähert sich Emily vorsichtig an, beginnt ihrerseits Zeichen zu lesen, um etwas zu 'verstehen'. Auch in diesen Szenen offenbart der Film einen subtilen Humor, der davon handelt, wie sich völlige Kommunikationslosigkeit zwischen den Kulturen anfühlt. Wird der Indianer sie zu einer Wasserquelle führen? Oder wird er sie direkt in die Arme der Krieger seines Stammes führen? Die armen Pioniere stecken in der Klemme: Wem sollen sie sich anvertrauen? Dem möglicherweise wahnsinnigen Meek oder dem Indianer? Gleichwohl wird der Film niemals dramatisch: Die Kamera beobachtet stets aus einiger Entfernung; und in den oft wunderschönen Bildern, die an zeitgenössische Malerei erinnern, dominieren Braun- und Ockertöne – nicht einmal der Himmel ist blau. Manchmal erklingt etwas Musik. Hier ist der Film ganz nah dran an Terrence Malicks 'Days of Heaven'. Zeitenthobene Schönheit.

Einmal müssen die Siedler ihre Wagen einen steilen Abhang hinunter abseilen. Während sie sich mit vereinten Kräften mühen, sitzt der Indianer leicht abseits und schaut dem Treiben zu. Hier wähnt man sich in einem Film von Werner Herzog – und das hat jetzt kaum etwas mit 'Fitzcarraldo' zu tun. Sondern vielmehr mit dem fremden Blick auf das seltsame Treiben der Menschen, die all diese Mühen auf sich nehmen, ohne zu wissen, was sie erwartet. Selten wurde die 'Eroberung des Nutzlosen' prägnanter gezeigt als in 'Meek’s Cutoff', einem makellosen Meisterwerk, das völlig aus der Zeit gefallen scheint.

Dieser Text erschien zuerst in: Pony #68

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Der Gott des Gemetzels

(F / D 2011, Regie: Roman Polanski)

Krisenkaffeekränzchen bei den Spießbürger-Barbaren
von Marit Hofmann

Mit dem sicheren Gespür hochkultivierter Feuilletonisten wagen wir uns an diese Filmkritik. Wir wägen Argumente ab, lassen auch andere Meinungen zu und erörtern das Für und Wider, bis wir zu …

Mit dem sicheren Gespür hochkultivierter Feuilletonisten wagen wir uns an diese Filmkritik. Wir wägen Argumente ab, lassen auch andere Meinungen zu und erörtern das Für und Wider, bis wir zu einem ausgewogenen Urteil gelangt sind. Ganz ähnlich wollen es die beiden Elternpaare halten, als ihre Söhne sich in die Haare kriegen. Nach dem Motto 'Wenn Kinder sich streiten, sollten Erwachsene sich raushalten, aber: Gewalt geht uns alle an!' trifft man sich im Appartement der 'Opfereltern' und hält fürs Protokoll fest, der eine Sohn habe, 'bewaffnet mit einem Stock', dem anderen die Zähne ausgeschlagen. Auf den Einwand des 'Tätervaters' einigt man sich auf die Formulierung 'ausgestattet mit einem Stock'.

Im Laufe des Krisenkaffeekränzchens dürfen wir miterleben, wie die hehren Vorsätze und distinguierten Höflichkeitsfloskeln der Erziehungsberechtigten der Spießbürger-Barbarei weichen. Gewiss könnte man einwenden, der Plot nach einem Theaterstück von Yasmina Reza wirke eigentlich recht abgeschmackt, aber wie kleinkariert ist das denn bitte? Die Brillanz liegt im bösen Detail: im gefrorenen Lächeln Kate Winslets, in der ausgestellten moralischen Verbissenheit Jodie Fosters, in der vorgeschützten Trotteligkeit John C. Reillys, vor allem aber in der blasierten Mimik des Christoph Waltz. Herrlich ist’s, dem Quartett zuzusehen, wenn im Folgenden rasant die Fronten wechseln: Mal kämpft Paar gegen Paar (was auch heißt: Businesstypen gegen die Aktivistin und den Klospülungsvertreter, Finanz gegen Kultur, neoliberal gegen liberal), mal hetzen Männer gegen Frauen, mal hyperengagierte Mütter gegen desinteressierte Väter, mal dreschen die Ehepartner gegenseitig aufeinander ein. Wie die Gäste will man raus aus diesem geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer und schafft es nicht – man könnte glatt auf den Coffeetable-Kunstband kotzen.

Dass manch Kritiker Roman Polanskis Beschränkung aufs Kammerspiel mit dessen Schweizer Hausarrest in Verbindung bringt oder seinem Film gar eine persönliche Beichte unterstellt, ist natürlich Bullshit. Nehmen wir uns lieber an den zusehends verwahrlosenden Sitten der Gastgeber und Gäste ein Beispiel und genehmigen uns einen Schluck aus der Scotchpulle, bis wir vor Lachen vom Stuhl rutschen. 'Ich wisch mir den Arsch ab mit euren Menschenrechten!' grölt Kate Winslet am Ende in die Runde. Und ich scheiß auf Differenzierungen: Super Film! Ich wisch mir den Arsch ab mit euren ausgewogenen Werturteilen!

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 12/2011

Habemus Papam – Ein Papst büxt aus

(I / F 2011, Regie: Nanni Moretti)

Pop-Pope-Plot
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein farbenprächtiger Film über das Leben am Hofe, speziell im Konklave während der geheimen Papstwahl. Jei, was kriegen wir zu sehen! Museale Gemächer und rauschende Ornate in den Palästen und …

Ein farbenprächtiger Film über das Leben am Hofe, speziell im Konklave während der geheimen Papstwahl. Jei, was kriegen wir zu sehen! Museale Gemächer und rauschende Ornate in den Palästen und eine Riesenmenge gläubiger Katholiken davor – in freudiger Erwartung, welchen Papst wir denn haben werden, und eigentlich ist es egal, wen denn nun genau. Der Film inszeniert die Papstwahl als Popevent, genauso wie Pop-Pope und die Medien es haben wollen. Eine Milliarde Gläubige! Was für Einschaltquoten! Aber müssen wir deshalb ins Kino gehen?

Nanni Morettis Film wendet sich an die Gemeinschaft von Gläubigen und Pop-Affinen in aller Welt. 'Habemus Papam' ist radikal unkritisch. Auch wir sollen glauben an die heile Welt im Vatikan. Und so widmet sich der Spielfilm den Kardinälen, wie sie im Konklave untertänigst bezeugen, wen von ihnen die göttliche Macht als Führer der katholischen Kirche erkoren hat. Wir dürfen sicher sein, es bleibt bei einer fiktiven Beschreibung. Eine Haltung des sogenannten linken Starregisseurs Italiens ('Wasserball und Kommunismus', 'Die Messe ist aus') suchen wir vergebens. Aber immerhin gibt es ein Plot.

Einer der Kardinäle, Michel Piccolo (85), sieht sich unvermutet gewählt. Wir erfahren nicht, warum. Gab es Machtkämpfe? Gibt es einen Kompromisskandidaten? Sollte die Dritte Welt nicht zum Zuge kommen? Stellte sich die Vatikanbank quer? Spielten die Kirchenkrisen wie Missbrauch, Zölibat, Verhinderung der Gleichberechtigung, Diffamierung der Schwulen und Lesben eine Rolle? Und, und, und. Nichts davon. Welchen Papst wir haben, entscheidet nicht ein Machtkampf, sondern der Wille des katholischen Gottes.

Weiter im Plot. Der Gewählte stößt einen grauenhaften Schrei aus und verfällt in eine psychotische Depression. Psychisch krank, kann er die Bürde des Amtes nicht tragen. 'Ich kann nicht führen, ich muss geführt werden.' Tja, was nun. Die erwartungsvolle Menge vor dem Konklavepalast kann nicht wochenlang warten. Das Amt nimmt er nicht an. Spannung! Es ist dieselbe Spannung wie im Stadium, wenn die Popgröße noch nach Stunden nicht auftritt, zuviel Stoff und Alk im Körper. Wir kennen diese Schiene. – Also, was wird? Der Gewählte will einen Führer. Da kommt er schon. Es ist Regisseur Moretti höchstselbst. Er spielt einen Psychiater, also jemanden, der er vorm Filmemachen war. Ein toller Einfall. Denn er erklärt mehrmals, dass er mitnichten gläubig sei. Und schon hat 'Habemus Papam' auch die Ungläubigen als Zuschauer gewonnen.

Wie geht’s weiter? Zunächst mal: Warum wird der Öffentlichkeit schamhaft verschwiegen, dass der gewählte Kandidat das Amt nicht angenommen habe? Wegen einer Krankheit? Oh Gott, nein, die Auswahl war doch Wille Gottes, und der ist nicht krank. Aha, dann nicht. Und wieso haben die wählenden Kardinalsbrüder nicht gewusst oder geahnt, dass der Piccoli psychisch labil ist? Was für eine Intrige steckt dahinter? – Unverschämt!! Fragen dürfen nicht gestellt werden! Schon gar nicht vom Zuschauer, der sich an der heilen Vatikan-Welt erbauen soll.

Ja, und was macht nun der Piccoli? Psychiater Moretti labert mit ihm rum, verschreibt aber keine Tabletten (dabei gibt’s welche gegen Depression und gegen Psychosen, ich weiß es genau, aber auf mich hört ja keiner, schon gar nicht im Konklave). Der Fast-Pop-Pope Piccoli wird notgedrungen aktiv, flüchtet aus dem Konklave und nimmt in der Stadt Rom eine Auszeit, ausgestiegen aus dem Hofzeremoniell, anonym eingetaucht ins normale Leben und in seine Erinnerungen. Er landet in einem Theater. 'Die Möwe' von Tschechow wird geprobt. Den Text hat der Auserwählte immer noch drauf, von damals, als er Schauspieler werden wollte und von der Akademie nicht genommen wurde. Aber immerhin ist er aktiv geworden und hat seine berufliche Zukunft als Mitspieler in der Kirche gesucht. Nur die Ehe musste er sich versagen. So war das. Jaja.

Genug davon. Jetzt zum anderen Schauspieler, dem Herrn Moretti. Sein Patient ist weg. Er bleibt im Konklave. Er inszeniert dort (als Darsteller!) ein Volleyballspiel, an dem alle Kardinäle teilnehmen, mehr oder minder widerwillig. Ist das ein Bild, wie die Kutten fliegen! So schafft man Sympathiewerte. Was für ein Spaß im Vatikan! Human touch für alle! Standing ovations! Bleibt da wirklich jemand im Kino sitzen?!

Ganz nebenbei erfahren wir auch, warum die von der Dritten Welt für die Papstwahl überhaupt nicht in Frage kommen. Die fröhlichen, aber ein wenig unbedarften Kardinäle aus Australien haben sich in Priester-Straßendress geworfen, um die Amtsbrüder im Konklave zu verlassen und mal schräg gegenüber in einem Café einen Cappuccino zu trinken! Na, da müssen sie aber von einem Italiener belehrt werden, wie man sich bibeltreu verhält. Und wie sieht das im Einzelnen aus? Im Konklave puzzelt der eine, der andere sitzt im Heimtrainer, man tanzt und ist guter Dinge – ej, das sind doch Kumpels wie du und ich, Aller.

Lassen wir es genug sein mit der Werbung für den Hl. Stuhl. Der Film startet Mariä Empfängnis. Er wird genug empfängliche Zuschauer haben, und die will man mit Fragen nach der ausstehenden Stellungnahme zum Holocaust und dergleichen Unaufgearbeitetem nicht vergraulen. Das wäre kein Fun, und mit Fun kriegt man Leute, Quote und alles.

Allerdings, und das ist der Gerechtigkeit wegen zu sagen, hat der Film mich doch gepackt, was Piccolis Spiel betrifft. Ich kann nicht anders. Ich stehe dazu. Mir liefen die kalten Gräsen den Rücken runter. Gegen dieses körperliche Indiz kann ich nicht argumentieren. Diese Mischung zwischen verzweifelter Erhabenheit und latenter bis manifester Komik ist grandios.

Insgesamt aber ist Moretti mit seinem schalen Komödchen bemüht, über alle Widersprüche wegzusehen, alle Ecken rund zu schleifen und dem Vatikan (mit allen seinen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Sünden) Absolution zu erteilen – und dabei einen gewissen deutschen Appeal auszustrahlen. Auf der Straße fokussiert die Kamera auf das Magazin 'Der Spiegel', auf dem Platz vor der Konklave wird die schwarz-rot-goldene Fahne geschwungen, aus der immer noch wartenden Menge ruft’s auf deutsch: 'Aber das ist doch nicht möglich!' – wir sind immer noch dabei, immer noch Papst. Sagt der Film. Sagt die 'Bildzeitung' zum Herrn Ratzinger. Aber aufgepasst: 'Habemus Papam' soll Fiktion sein. Sagt Nanni Moretti.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 12/2011

Ride in the Whirlwind

(USA 1965, Regie: Monte Hellman)

Existentialismus in Westernform
von Harald Mühlbeyer

Banditen überfallen eine Postkutsche. Der Kutscher wird getötet, einer der Gangster verwundet. Drei Cowboys, Vern, Wes und Otis, sind auf dem Weg nach Texas und finden Unterschlupf in der Berghütte …

Banditen überfallen eine Postkutsche. Der Kutscher wird getötet, einer der Gangster verwundet. Drei Cowboys, Vern, Wes und Otis, sind auf dem Weg nach Texas und finden Unterschlupf in der Berghütte der Bande. Gastfreundschaft siegt über Misstrauen, die Banditen unter ihrem Boss Blind Dick gewähren Unterkunft für die Nacht. Morgens ist die Hütte umstellt, die Bürgerwehr eröffnet das Feuer. Wes und Vern können entkommen, doch sie werden verfolgt; und sie müssen sich irgendwie wehren.

Nach längerer Abwesenheit kommt Willett Gashade zurück zur kleinen, ertraglosen Goldmine, die er mit Bruder Coin und den Freunden Coley und Leland betreibt. Doch: Leland ist tot, Coin abgehauen, Coley völlig verängstigt – irgendwo da draußen muss ein Killer sein. Eine Fremde ohne Namen taucht auf, sie bietet Geld für Geleit nach Kingsley – doch sie hat eigentlich andere Pläne. In fordernder, koketter, unerbittlicher Art zwingt sie Willett und Coley, einer Fährte zu folgen, hinaus in die Wüste. Ein Killer, Billy Spear, schließt sich ihnen an, und während Coley naiv, kindisch und schusselig verliebt der Frau folgt, ahnt Willett, worauf das hinausläuft: auf ein großes Schießen.

„Ride in the Whirlwind“ (1965) und „The Shooting“ (1966) sind die zwei Filme, die den Ruf von Monte Hellman begründeten; einen Ruf, den er 1971 mit seinem meisterhaften Roadmovie „Two-Lane Blacktop“ vollauf bestätigte – um danach ins Loch zu fallen, um vor allem als Scriptdoctor, Second Unit Director, Berater und Cutter Arbeit zu finden – und immerhin Tarantinos „Reservoir Dogs“ zu produzieren. Diese Nicht-Karriere ist eigentlich eine Tragödie – weil das Künstlerische, die Qualität, dem Box-Office, den fehlenden Zuschauern unterliegt. Hellmans Filme sind Kultfilme – in dem Sinn, dass sie einer breiten Öffentlichkeit von Anfang an kaum bekannt waren, sprich: nur eine eingeschränkte Anhängerschaft hatten.

Minimalismus in Form und Inhalt strebt Hellman an – Einfachheit und Linearität, ohne dass alles klar, alles erklärt würde. Die simple Plotstruktur bedeutet nicht Flachheit, Oberflächlichkeit, Eindimensionalität – vielmehr ist sie die feste Basis, auf der sich einerseits Genreregeln, andererseits Charakterporträts entfalten können. Männer in elementaren Grundsituationen von Flucht oder Verfolgung sind zugleich – und unaufdringlich – Betrachtungen zum Menschen an sich: was diesen beiden Western das Label „existentialistisch“ eingebracht hat, das einerseits natürlich richtig ist, wenn man die Geworfenheit der Figuren in ihre Situationen bedenkt, für die sie nichts können, die für sie zunehmend absurd, weil unerklärbar werden. Andererseits ist auch klar: Es sind und bleiben Western, B-Filme mit sichtbar kleinem Budget, und auch auf dieser Ebene, unter Außerachtlassung aller philosophischen conditio-humana-Obertönen, funktionieren die Filme – besonders „The Shooting“ –, weil sie spannend, energisch, geradlinig, mit perfektem Timing und großem Gespür für die Landschaft inszeniert sind. Mit Gespür auch für Witz, der sich aus der Realität speist – vor dem Überfall unterhalten sich die Banditen über Furunkeln am Hintern, und Blind Dick geht hinter einem Felsen nochmal für kleine Räuberchen. Und mit Gespür für Zuspitzung: wie sich in „The Shooting“ zwei abgekämpfte, halbverdurstete, entkräftete Männer im Wüstenstaub tödlich prügeln…

„The Shooting“ und „Ride in the Whirlwind“ wurden 1965 direkt nacheinander, mit einer Woche Pause dazwischen, gedreht, in Utah, in einer Landschaft, die Steppe, Canyons, Bergpanorama und Wüste bietet. Roger Corman finanzierte die Filme – ungenannt in den Credits –, denn klar: zwei Filme auf einmal zu drehen ist billiger als einen allein. Monte Hellman und Jack Nicholson produzierten, letzterer spielt in beiden Filmen mit und schrieb für „Ride in the Whirlwind“ auch das Drehbuch. Und Monte Hellman ließ aus den Drehbüchern, die ohnehin kaum Dialoge enthalten – das zu „The Shooting“ schrieb Carole Eastman unter dem Pseudonym Adrien Joyce – jede Einführung der Figuren weg, die Vorgeschichten werden nur angedeutet. Die Cowboys haben irgendwelche dunkle Flecken auf ihren Westen, und wenn es nur die Arbeitslosigkeit sein sollte; Willett Gashade war mal Kopfgeldjäger gewesen. Mehr erfährt man nicht; mehr muss man nicht wissen, weil es stets um die Auseinandersetzung mit dem Hier und Jetzt geht.

Coley, der kindische Typ in „The Shooting“, spielt Geduldspiele, solche, bei denen man kleine Kugeln in kleine Löcher bugsieren muss. Schafft er natürlich nicht: Nicholson als Billy Spear machts ihm dann vor; und klar, wer später wen erschießen wird. Vern und Wes, die unschuldig Verfolgten in „Ride in the Whirlwind“, nehmen in ihrer hilflosen Verzweiflung eine Farmerfamilie als Geiseln. Und spielen zum Zeitvertreib Dame, denn mehr als Warten können sie nicht; Warten auf die Männer, die sie aufknüpfen wollen.

Beide Filme sind jetzt im DVD-Doppelpack erschienen; denn beide Filme gehören unbedingt zusammen. Allerdings fehlen alle Extras, und den hellmanschen Minimalismus auf die Ausstattung zu übertragen ist bei diesen Filmen unangebracht. Zumal in den USA DVD-Ausgaben mit Audiokommentaren von Hellman und der Schauspielerin Millie Perkins existieren.

Apollo 18

(USA 2011, Regie: Gonzalo López-Gallego)

Mooncrap
von Sven Jachmann

Es gibt aberdutzende Evergreens in der Science Fiction. Zu ihnen zählt, dass man 1. den Regierungen nicht trauen und 2. dem Mond besser fern bleiben sollte. Dies lehrte im letzten …

Es gibt aberdutzende Evergreens in der Science Fiction. Zu ihnen zählt, dass man 1. den Regierungen nicht trauen und 2. dem Mond besser fern bleiben sollte. Dies lehrte im letzten Jahr gerade erst wieder „Moon“ von Duncan Jones. Legionen an Verschwörungstheoretikern wissen es bereits seit über 40 Jahren noch weitaus genauer: Jedes Bild, das uns vom Mond aus erreichte, stamme in Wirklichkeit aus amerikanischen Filmstudios. Weil sich aus solch pathologischer Perspektive die Wahrheit nur ohne Gatekeeper verbreiten kann, schmuggelt sie „Apollo 18“ mit Blick auf jene Mondfahrtszweifler ziemlich link als found footage ans Tageslicht. Worin sich der Witz dieser Mockumentary leider schon erschöpft. 40 Stunden angeblich von der US-Regierung unterschlagenen Materials wurden zu einem 90-minütigen Erkundungsmarsch auf der Mondoberfläche destilliert.

Zu sehen sind verschmutzte Aufnahmen des geheimgehaltenen Flugs der Apollo 18 auf den Mond aus dem Jahr 1974, ein Mix aus Bord- und Super 8-Handkameras, die von den drei teilnehmenden Astronauten bedient wurden. Die Kombination aus statischen und dynamischen Bildern gleicht also der aus „Paranormal Activity“; der fremde, dunkle und unübersichtliche Raum entspricht dem Wald aus „The Blair Witch Project“. Der erzählerische Reiz des gefundenen Materials in „Apollo 18“, dessen Autorenschaft unbekannt bleibt und das konzeptionell ein Ende mit Schrecken verspricht, besteht im Arrangement vorausgegangener Settings, angereichert mit dezent ironischen Verweisen auf weitere Filme, die den Mondbesteigungen lebensbedrohliche Risiken andichteten.

Verloren im All stößt man auf eine unbekannte Gefahr, die das Wettrüsten unten auf der Erde schnell vergessen lässt. Gegenstände verschwinden, Gesteinsproben befinden sich am falschen Platz, man entdeckt fremde Fußspuren, dann eine unbemannte russische Raumkapsel und schließlich den ersten Leichnam. Weil Regisseur Gonzalo López-Gallego (der in Spanien einige bemerkenswerte Mysteryerzählungen inszenierte, von denen bislang lediglich „King of the Hill“ (2006) in Deutschland erhältlich ist) in seinem ersten amerikanischen Film einerseits einzig auf die Prämisse der medialen Unordnung des Filmmaterials setzt, andererseits die klaustrophobische Isolation im stillen Weltraum zugunsten einer zigfach erprobten Bedrohungsdramaturgie opfert, gedeiht der Schrecken mühselig.

Ist die bösartige Alienfront, die den Mond – in zugegeben sehr unkonventioneller physischer Gestalt – längst besiedelt hat, erst einmal identifiziert und lokalisiert, beginnt die Kamera äußerst lax auf ihre found footage-Prinzipien zu achten; urplötzlich nimmt sie alles so wahr, wie es der Schock, nicht ihre erzählerische Logik verlangt und diese Lustlosigkeit, der eigenen Agenda überhaupt zu vertrauen, überträgt sich peu à peu auf den Plot. Alles neigt zur Asymmetrie: Dem teils geradezu melancholischen Kammerspiel mit sarkastischem Hau der ersten Hälfte steht eine nicht nur mondbedingt retardierte Hetzjagd übers im blauen Schimmer gefasste Geröll entgegen. Die letzte Möglichkeit zur Flucht muss als Umweg sogar den Zwei Personen-Showdown nehmen: Alles Fremde personifiziert sich im vertrauten Anblick eines mehr oder weniger besessenen Astronauten. Von da an ruft die Schlusspointe nur noch ins Gedächtnis, wie viele Ideen nach wie vor auf dem Mond begraben liegen könnten.

Submarine

(GB / USA 2010, Regie: Richard Ayoade)

Wie unter Wasser
von Wolfgang Nierlin

„Was für ein junger Mensch bin ich?“, lautet die Frage für den Aufsatz, den ein Lehrer aus dem walisischen Swansea seinen Schülern als Hausaufgabe aufgibt in der Hoffnung, sie mögen …

„Was für ein junger Mensch bin ich?“, lautet die Frage für den Aufsatz, den ein Lehrer aus dem walisischen Swansea seinen Schülern als Hausaufgabe aufgibt in der Hoffnung, sie mögen in der Behandlung des Themas ihr Selbst entdecken. Der 15-jährige Oliver Tate (Craig Roberts), ein dezidierter Individualist und schrulliger Antiheld, ist einer von ihnen. In Richard Ayoades phantasievoller Coming-of-age-Komödie „Submarine“ monologisiert der sympathische Nerd mit den großen, wunderlichen Augen und dem stets starren Blick mittels Voice-over unentwegt über diese Frage. Weil der Einzelgänger mit dem übergroßen Liebesbedürfnis wie alle jungen Menschen in diesem Alter von der eigenen Besonderheit überzeugt ist und sich in seinen Tagträumen am wohlsten fühlt, krönt er seine tränenreichen Todesphantasien, in denen er zum allseits beliebten und bewunderten Helden aufsteigt, mit einer „glorreichen Auferstehung“.

Leicht über der Realität schwebt auch Richard Ayoades bemerkenswertes, assoziativ gebautes Spielfilmdebüt, das voller spleeniger Einfälle steckt und seinen originellen Witz aus der engen, mitunter Dissonanzen erzeugenden Verschränkung von Text und Bild bezieht. Seine virtuose Montage, das Spiel mit filmischen Effekten und der verschroben ironische Tonfall erinnern mitunter an die Filme von Wes Anderson. Mit der Blockschrift der Vorspanntitel, der Gliederung des Films in verschiedene Kapitel, der elliptischen Erzählweise und den filmmusikalischen Anklängen an Georges Delerue beschwört Ayoades „Submarine“ aber auch den Geist der Nouvelle Vague.

Wenn Oliver mit seiner Angebeteten Jordana Bevan (Yasmin Paige) im Foyer des „Cinema Neptune“ steht, wo Carl Theodor Dreyers „La passion de Jeanne d’Arc“ läuft, und ihr mit kennerischer Geste Bücher von Shakespeare („König Lear“), Nietzsche und Salinger („Der Fänger im Roggen“) empfiehlt, könnte das auch aus einem Godard-Film stammen. Tatsächlich ist die flirrende, in zeitlosen Koordinaten situierte Beziehung der beiden nach „zwei Liebeswochen“ („Two weeks of lovemaking“ lautet der Titel ihres gemeinsam gedrehten Super-8-Films) in einer ernsthaften Krise gelandet: Seit seine neurotische Mutter Jill (Sally Hawkins) im Verdacht steht, den unverhohlenen Avancen ihres Jugendfreundes und praktizierenden New Age-Gurus Graham Purvis (Paddy Considine) erneut zu erliegen und ihr Mann Lloyd (Noah Taylor), ein scheuer Meeresbiologe, darüber in einer Depression versinkt, versucht der argwöhnische Oliver seine Familie zu retten. Und weil er darüber Jordana – die überdies unter der schweren Krankheit ihrer Mutter leidet – vernachlässigt, zieht diese sich von ihm zurück. In seinem Liebeskummer fühlt sich Oliver „wie unter Wasser“. Doch die von ihm für schlechte Zeiten erträumte Seifenoper-Abblende bleibt aus. Stattdessen wagt Oliver, vom Spiel mit dem Feuer beflügelt, mutige Schritte ins kalte Wasser.

Unter Dir die Stadt

(D / F 2009, Regie: Christoph Hochhäusler)

Undurchsichtige Transparenz
von Michael Schleeh

Die Scheibe, durch die die Kamera blickt, ist im Kino schon immer ein Mittel der Distanzierung gewesen. Ob das nun das Fenster zum Hof in den „120 Tagen von Sodom“ …

Die Scheibe, durch die die Kamera blickt, ist im Kino schon immer ein Mittel der Distanzierung gewesen. Ob das nun das Fenster zum Hof in den „120 Tagen von Sodom“ ist, wo sich unten Unglaubliches abspielt, und was durch die Kameraperspektive ferngerückt, gerahmt und somit ästhetisiert wird. Oder ob Christoph Hochhäuslers Film „Unter dir die Stadt“ mit einem solch beobachtenden, bildgestalterischen Ästhetisierungsprozess beginnt: Im Blick die Glasfront des Hochhauses, deren Durchlässigkeit schemenhaft zu ahnen ist, jedoch durch Schwenk und Überblendung die Transparenz verliert. Man sieht hindurch und sieht zugleich doch nichts. Diese Taktik des Zeigens und der Bildverweigerung, die hier in eins fallen, wendet Hochhäusler mehrfach an in einem Film, der seinen locus amoenus ausgerechnet in der Frankfurter Bankenwelt verortet.

Man könnte aber auch ganz anders anfangen von diesem Film zu berichten. Mit Fokus auf die Figuren etwa: da ist die mit einem Banker verheiratete Svenja (Nicolette Krebitz), die nach dem Umzug aus Hamburg sich in Frankfurt einzuleben hat. Sie ist eine mysteriöse Frau, ein bisschen verloren und irgendwo zwischen der Sprachverweigerung einer verstockten Berliner Schule-Protagonistin und einer Heldin der Nouvelle Vague positioniert. Anbetungswürdig, diese smart durchgeknallte sexyness, die vor allem deswegen aufscheint, weil die Frau Charme hat und Ausstrahlung und auf jede Form des Hochglanzstylings verzichtet. Diese lässt sich ausgerechnet auf eine Affäre mit Robert (Robert Hunger-Bühler), einem Vorstandsmitglied der Firma ihres Gatten, ein. Ein Erfolgsmensch, Banker des Jahres, ein Player im Machtgefüge des großen Finanzschachspiels. Um an die Frau heranzukommen, schickte er, wie in der biblischen Geschichte von David und Batseba, Svenjas Ehemann an die Front nach Indonesien. Verkauft als Karrieresprung – und verheimlichend, dass dessen Vorgänger ebendort entführt und gefoltert, mit abgehackten Händen aufgefunden worden ist. Was sich also zunächst als Amour Fou mit einer starken, weil undurchsichtigen Protagonistin darstellt, erfährt im Laufe des Films eine Neubewertung. Die Fäden hält Robert in Händen, der rücksichtslos seine Ziele verfolgt.

Was also die Macht zusammenhält, das sind die Seilschaften einer sterilen Männerwelt, die Hochhäusler vor allem beim Essen in einem vollverglasten Loftrestaurant darstellt. Immer wieder ist die Kamera ganz dicht dabei und wirft dem Zuschauer ein paar Informationen hin, der dann den Plot, wie in einem Krimi, selbst zusammenbauen darf. Glücklicherweise arbeitet Hochhäusler mit etlichen Leerstellen, Ellipsen und Sprüngen, und verfällt nicht in die allzu gängige Praxis derer, die ihren Zuschauern nichts zutrauen und glauben, alles in Linie stellen und zwanghaft erklären zu müssen.

Einer, der sich nie erklärt, ist Roland Cordes. Ein Banker mit einer steilen Karriere und der es ganz nach oben geschafft hat. Der keinen Blick mehr für den Wert von Dingen übrig hat. Für die Kunst in seinem Büro, für die Musik in seinem Zuhause, der den Respekt vor dem Menschen verloren hat. Und den allein die Manieren daran hindern, selbst denen, die ihm am nächsten stehen, zu sagen, sie könnten ihm gestohlen bleiben. Wenn es nicht mehr weiter nach oben geht, dann bleibt einem nur noch der Blick nach unten. Unter dir die Stadt. Und überraschenderweise schließt Hochhäusler seinen Film mit einer Szene, die wieder zum Anfang des Films zurückführt: mit einem Blick der Protagonistin von oben durch ein Fenster hinab auf die Straße. Doch dort rennen urplötzlich die Menschen wie in Panik durcheinander. Es bleibt offen, ob das nun der große Börsencrash ist oder eine Zombie-Apokalypse. Diejenigen jedoch, die immer oben alleine am Fenster stehen, die müssen gewaltig einsam sein.

[Link zu einer weiteren Filmkritik

Die Mühle und das Kreuz

(SW / P 2011, Regie: Lech Majewski)

Das verborgene Sujet
von Wolfgang Nierlin

Lech Majewskis Film „Die Mühle und das Kreuz“ zeigt den Künstler als Chronist und Visionär seiner Zeit Eine gewaltige Mühle thront hoch oben auf einem Berg. Unten im Tal verrichten …

Lech Majewskis Film „Die Mühle und das Kreuz“ zeigt den Künstler als Chronist und Visionär seiner Zeit

Eine gewaltige Mühle thront hoch oben auf einem Berg. Unten im Tal verrichten die Menschen ihr Tagwerk: Zwei Holzfäller schlagen einen Baum; Gaukler, Spiel- und Marktleute folgen ihren Geschäften; ein junges Paar macht sich mit seinem Rind auf den Weg; tobende Kinder erfüllen am frühen Morgen das Haus mit Geschrei. Wie auf ein geheimes Startzeichen der angestoßenen gigantischen Windräder setzt sich auch das Alltagsleben in Bewegung. Es sind Szenen, die sich Mitte des 16. Jahrhunderts in einer flämischen Landschaft ereignen. Der polnische Filmregisseur Lech Majewski, der auch als Maler, Schriftsteller und Komponist arbeitet, hat sie mit Detailverliebtheit und historischer Treue für seinen höchst kunstvollen Film „Die Mühle und das Kreuz“ inszeniert. Ganz auf die visuelle und akustische Darstellung konzentriert, arrangiert er fast dialoglose Szenen, die dem berühmten Gemälde „Die Kreuztragung Christ“ von Pieter Bruegel dem Älteren aus dem Jahre 1564 nachgestellt sind.

Dabei tritt Majewskis eindrucksvoll gestalteter Film in einen Dialog mit dem Bild und seiner „wimmelnden“ Szenerie eines pulsierenden Lebens, aus dem er wenige Episoden herausgreift, um die Entstehung des Bruegelschen Kunstwerks nachzuvollziehen. Neben dem „versteckten“ Zentrum der Kreuztragung, die „den Erneuerer“ Jesus und seine Schächer als Zeitgenossen ausweist, und den rot berockten spanischen Reitern, die im Namen der Inquisition grausam foltern und morden, ist dies vor allem der von Rutger Hauer gespielte Maler-Philosoph selbst, der im Gespräch mit seinem Auftraggeber Nicolas Jonghelinck (Michael York), einem reichen Antwerpener Kaufmann und Mäzen, anhand von Vorstudien und Skizzen seine Konzeption erläutert. Diese fiktive Erörterung, in der sich die beiden unter anderem über die blindwütigen politischen Zeitläufte einer „sinnlosen Epoche“ und die ihr zugrunde liegende menschliche Natur verständigen, folgt wiederum einer Studie des Kunsthistorikers Michael Francis Gibson, der zusammen mit Majewski auch das Drehbuch geschrieben hat.

Dessen Deutung des verborgenen Sujets gipfelt in der These, dass das, was die Welt verändert, von den jeweiligen Zeitgenossen dieser Geschehnisse nicht bemerkt und also erst in der historischen Rückschau wahrnehmbar wird. Folgt man diesem Gedanken, käme dem Maler nicht nur die Rolle des Zeugen und Chronisten zu („Mein Gemälde muss viele Geschichten erzählen.“), sondern auch diejenige des Visionärs. In Majewskis Film, dessen verblüffend gedankliche und visuelle Klarheit mit Hilfe gemalter Hintergründe immer wieder die Übergänge und damit die Nähe zwischen Leben und Kunst betont, vergleicht Bruegel aus der Distanz seine Arbeit mit dem Gewebe eines Spinnennetzes, das die vielzähligen Bewegungen fixiert. Malen heiße, mit Gottes Hilfe die Zeit anzuhalten. In Majewskis Interpretation von Bruegels Bild kommt diese Macht dem „Müller des Himmels“ zu, der zum göttlichen Verbündeten des Künstlers wird. Er hält in einer Szene die Windräder an und friert damit für einen Augenblick jene Bewegungen ein, die das Gemälde verewigt. In der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums Wien, wohin der Film an seinem Ende auf das reale Bild Bruegels überblendet, ist dessen bedeutende Geschichte eine unter anderen. Damit eröffnet der Film einen ahnungsvollen Blick auf einen kunsthistorischen Reichtum, der menschliche Geschichte widerspiegelt und aufbewahrt.

Das Gespenst

(BRD 1982, Regie: Herbert Achternbusch)

Und das Fleisch ist Wort geworden
von Carsten Moll

Weil am Kreuz hängen die Hölle ist, steigt eine lebensgroße Christusfigur in einem bayerischen Kloster von ihrem Kreuz herab und will versuchen, fortan als Mensch zu leben. Die Oberin des …

Weil am Kreuz hängen die Hölle ist, steigt eine lebensgroße Christusfigur in einem bayerischen Kloster von ihrem Kreuz herab und will versuchen, fortan als Mensch zu leben. Die Oberin des Konvents nimmt sich des Herabgestiegenen an und ernennt ihn in Anlehnung an ihren eigenen Titel zum Ober, ein Job in der klostereigenen Kneipe ist auch schnell gefunden. Doch das Zusammenleben von Ober und Oberin soll sich als schwierig erweisen und eine Menschwerdung in München scheint immer unmöglicher …

Anfang der achtziger Jahre war der Skandal um den Film groß (und bescherte Herbert Achternbusch seinen größten Publikumserfolg); die Springerpresse stichelte gegen die staatliche Filmförderung, mit deren finanzieller Unterstützung auch „Das Gespenst“ entstanden ist, die FSK verweigerte zunächst sogar die Freigabe, zu pessimistisch und nihilistisch sei der Film. Auch die katholische Kirche mit ihrem Hang zur Beanspruchung der Bildgewalt empörte sich lautstark über die vermeintliche Blasphemie, aber immerhin die Jury der evangelischen Filmarbeit zeichnete Achternbuschs Werk als „Film des Monats“ aus und bewies mit ihrem Hinweis auf die Filme Buñuels Sachverstand.

Dass der Film von Jesus Christus erzählt, ist dabei ein grobes Missverständnis und somit läuft sowohl der Vorwurf der Blasphemie als auch die Vereinnahmung von religiöser Seite ins Leere. Was hier vom Kreuz steigt, um als Mensch zu leben, ist bloßes Abbild eines Herrgotts, bemerkenswerterweise die 42. von 41 im Kloster befindlichen Christusfiguren. Dieser Post-Jesus ist ein Simulacrum und kann sich nicht daran erinnern, jemals in Jerusalem gewesen zu sein, geschweige denn Wasser in Wein verwandelt zu haben. So handelt der Film nicht von Gott, sondern stellt bestenfalls die Frage nach dem Gottesbegriff in einem postmodernen Deutschland, nicht einmal 40 Jahre nach dem Holocaust.

Mehr als an einen Messias erinnert Achternbuschs Jesus eh an einen Clown in der Tradition des absurden Theaters: Der Ober wirkt gutmütig und naiv in seiner Unfähigkeit, die Unsinnigkeit seiner Bemühungen anzuerkennen, wie bei Ionesco ist sein „Leiden nichts als tragischer Spott“. Die Forderungen, die der Mensch stellt und die an ihn gestellt werden, sind grotesk und unerfüllbar. Nicht einmal der Wunsch nach Scheiße lässt sich noch befriedigen, der Fäkalhumor bleibt so trotz allerlei Bemühungen aufs Verbale beschränkt; wo alles Handeln zum Scheitern verurteilt ist, da dominiert die Sprache, um Bewegung und Fortschritt zu simulieren. Doch soviel im Film auch geredet werden mag, es bleiben Leerstellen, die Dialoge dienen nicht der Verständigung, sondern demonstrieren Ohnmacht. Sie kreisen immer wieder um sich selbst, führen ins Leere oder fallen auf sich selbst zurück. Je mehr die Figuren über sich selbst sprechen, umso deutlicher wird, dass sie sich selbst und einander unverständlich bleiben. Was können Gespenster schon sagen außer Gespenstisches?

Gespenstisch ist auch die Welt mit ihren bühnenhaften Innenräumen, ein Eindruck, der durch lange, unbewegte Einstellungen noch verstärkt wird. Wie eingekapselt wirken die Figuren, ein Außen scheint es nicht zu geben. Das Telefonklingeln ist ein Telefonklingeln und nicht etwa ein Anruf, das betont künstliche und vollkommen hysterische Vogelgezwitscher verweist mehr auf das Vorhandensein der Tonspur als auf einen Garten vor dem Fenster. Ein Weg raus ist nur der Tod, hier ein unpathetisches Kippen aus dem Bildrahmen. Wenn Ober und Oberin am Ende an der Gesellschaft der Menschen gescheitert sind, wählen sie aber nicht den Tod, sondern die Verwandlung zum Tier; die Greifvogel-Oberin packt den Schlangen-Ober und sie fliegen auf – aber nicht davon. Wie eine Fliege schwirren sie in der Ferne, immer im Kader, gefühlte Minuten lang. Eine Erlösung ist das nicht, auch kein Aufbruch in den Sonnenuntergang. Am Ende von „Matrix“ heißt es aus dem Mund eines anderen vermeintlichen Messias vor dessen Davonflattern hoffnungsfroh: „I’ll show you a world, where everything is possible. The choice is up to you.” Achternbusch gönnt uns nur ein lakonisches „Amen“.

Auch Henker sterben

(USA 1943, Regie: Fritz Lang)

Flaschenpost aus Hollywood
von Sven Jachmann

„Not the End“ verheißt die Texttafel am Schluss des Films und wenn man so will, muss man diesen kurzen Verweis auf eine Realität außerhalb der Kinoleinwand bereits als brechtschen Anteil …

„Not the End“ verheißt die Texttafel am Schluss des Films und wenn man so will, muss man diesen kurzen Verweis auf eine Realität außerhalb der Kinoleinwand bereits als brechtschen Anteil in diesem Fritz-Lang-Film identifizieren, als Verfremdungseffekt mit didaktischem Furor. Denn das reale Attentat auf Reinhard Heydrich, stellvertretender Reichsprotektor in Böhmen und Mähren und Leiter des Reichssicherheitshauptamts im Jahr 1942 in Prag und seine Folgen für die tschechische Bevölkerung bilden den erzählerischen Mittelpunkt für die 1943 uraufgeführte Gemeinschaftsarbeit der zwei Exilanten. Lang bezeichnete „Hangmen also die“ später als seinen wichtigsten anti-nationalsozialistischen Film. Brecht, der das Drehbuch verfasste und ohnehin gegenüber Hollywood eine rege Abneigung hegte, wollte hingegen seine einzige bis zur Produktion gereifte Mitarbeit an einem amerikanischen Film am liebsten aus dem Gedächtnis streichen.

Brechts Zerwürfnisse mit Fritz Lang und dem ebenfalls aus Deutschland geflohenen Produzenten Arnold Pressburger sind im 44-seitigen DVD-Booklet, das Gespräche mit Lang und Komponist Hanns Eisler, zum größten Teil aber Auszüge aus Brechts Arbeitsjournal sowie zeitgenössische Filmkritiken enthält, reichhaltig dokumentiert. Unrühmliches Schlusslicht bildete der letztlich sogar erfolgreiche Versuch des hinzu beorderten Drehbuchautors John Wexley, der eigentlich in erster Linie als Brechts Übersetzer fungierte, in den Credits als alleiniger Urheber genannt zu werden.

Brecht notiert in seinem Journal über Lang: „Die Veränderung, die mit ihm in der Nähe der 700.000 $ vorgeht, ist bemerkenswert. Er sitzt, mit den Allüren eines Diktators und alten Filmhasen, hinter seinem Bossschreibtisch, voll von Drugs und Ressentiments über jeden guten Vorschlag, sammelnd „Überraschungen“, kleine Spannungen, schmutzige Sentimentalitäten und Unwahrhaftigkeiten und nimmt „licenses“ für das Boxoffice.“ Die Auseinandersetzungen sind jenseits von Honorarstreitereien, aus denen die ökonomische Not spricht, zugleich ein Kampf um die Flaschenpost, die Brecht mit dem Film aussetzen wollte, ein Versuch, ästhetische und politische Überzeugungen in die seiner Ansicht nach vollkommen konfektionierte Warenproduktion Hollywoods zu transponieren.

Man merkt dem Resultat deutlich an, dass irgendwo während des Arbeitsprozesses die Politik der kriminalistischen Paranoia-Erzählung weichen musste. Die fiktive Geschichte um Heydrichs Attentäter Dr. Svoboda, der bei der Tochter aus bürgerlichem Hause Mascha Novotny (deren Vater, ein angesehener Professor, ohne ihr Wissen ebenfalls der Widerstandsbewegung angehört) Unterschlupf findet, zehrt von einer Motivik, die Langs Repertoire entspringt. Aus Dr. Mabuse wurde Inspektor Gruber von der Gestapo, der sich mit sardonischer Hingabe auf Spurensuche begibt – ein gedrungenes Männchen voller höflich-sadistischem Eifer, etwas dekadent und allgegenwärtig: Dreht sich eine Figur in ihrer leeren Zelle unversehens um, sitzt er plötzlich da, diabolisch lächelnd über seine Psychospiele. Der Mob, der in „M“ (1931) den Kindermörder vors Tribunal stellt, wandelt sich unter positiven Vorzeichen zur tschechischen Bevölkerung, die in konspirativer Zusammenarbeit der Gestapo einen Spitzel und Nazikollaborateur aus der Widerstandsgruppe als vermeintlichen Attentäter Heydrichs überführt. Und der Faschismus, der sich in „M“ bereits in der moralischen Ambivalenz der mechanischen Gemeinschaft aus Exekutive, Bürgertum und Schattenwelt ankündigte, knechtet in „Hangmen also die“ als grausame Besatzungsmacht vor allem die Autonomie des tschechischen Volks. Antisemitismus gibt es nicht, und obwohl er in Brechts ursprünglichem Script durchaus in Erscheinung trat (etwa bei einer Gruppendiskussion zwischen inhaftierten Geiseln der Gestapo, die den Eindruck eines kollektiven Opferdaseins unterminieren sollte), wurde er von Lang getilgt – zugunsten einer homogeneren Konzeption eines aufrührerischen Volkes, dass sich in einem gemeinsamen, wenn auch schließlich vergeblichen Kraftakt gegen seine Unterdrücker erhebt.

Heute würde man diese Nivellierung charakteristischer Merkmale des Faschismus wohl als totalitaristisch bezeichnen. Retrospektiv zeigt sich jedenfalls, dass die antifaschistischen Kriegserklärungen, mit denen 1942 auch Hollywood seine Offensive gegen Nazideutschland begann, ohne viel Mühe auf jedes weitere politische System umgemünzt werden konnten. In dieser Hinsicht ist Langs Film mehr noch als das antifaschistische Fanal, wozu ihn Teile der Filmgeschichtsschreibung erklärten, eine propagandistische Fingerübung, deren politische Universalität Lang später mit seherischen Fähigkeiten verwechselte: „Es ging mir auf, dass dieser Film, der den Kampf einer ganzen Nation gegen die faschistischen Eindringlinge in Prag zeigte und der mit dem Schluss-Titel „Das ist nicht das Ende“ aufhörte, heute einen prophetischen Charakter hat. Nur ist der „Ort der Handlung“ heute woanders gelagert, nur kommen die Eindringlinge jetzt von der anderen Seite …“

Potato Fritz

(BRD 1976, Regie: Peter Schamoni)

Der listigste Cowboy erntet die dicksten Kartoffeln
von Oliver Nöding

Vom Cover blicken dem Betrachter Hardy Krüger als verwegener Cowboy und Paul Breitner als US-amerikanischer Soldat entgegen, ihre Namen darüber zerstreuen letzte Zweifel am eigenen Sehvermögen schon im Ansatz. Der …

Vom Cover blicken dem Betrachter Hardy Krüger als verwegener Cowboy und Paul Breitner als US-amerikanischer Soldat entgegen, ihre Namen darüber zerstreuen letzte Zweifel am eigenen Sehvermögen schon im Ansatz. Der albern anmutende Titel „Potato Fritz“ scheint den instinktiven gehegten Verdacht zu bestätigen, die Schublade mit dem Etikett „German Trash“ steht zur Einordnung des Films bereits sperrangelweit offen. Doch weit gefehlt: Peter Schamonis Western, der dieser Tage von absolut medien auf DVD veröffentlicht wird, ist eine noch weitaus größere Kuriosität, als es der Blick auf die Verpackung erahnen lässt …

Eine siebenköpfige Gruppe amerikanischer Soldaten begibt sich mit 30.000 Dollar auf den Weg zum Indianerhäuptling Asuke, um ihm mit dem Geld Land zur Besiedlung durch Weiße abzukaufen. Doch die Soldaten geraten in einen Hinterhalt, werden umgebracht, das Geld gestohlen. Ein Jahr später sitzen die Siedler, die längst ihr neues Land bezogen haben sollten, immer noch in einem Tal um das Fort Lang fest; jeder Versuch, es zu verlassen – in welche Richtung auch immer – wird von den Indianern unterbunden. Einer der Siedler ist der Deutsche Friedrich Jensen (Hardy Krüger): Er hat sich als einziger ein Fleckchen Erde genommen und dort Kartoffeln angepflanzt, was ihm den Spitznamen „Potato Fritz“ eingebracht hat. Auch die regelmäßigen Angriffe der Indianer auf sein Land können ihn nicht vertreiben. Als es dem Fremden Bill Ardisson (Stephen Boyd) gelingt, sich bis nach Fort Lang durchzuschlagen, kommt Bewegung in die verfahrene Situation: Denn er hat den Verdacht, dass es nicht die Indianer sind, die sich das Geld unter den Nagel gerissen haben …

Der diesen Sommer im Alter von 77 Jahren verstorbene Peter Schamoni ist eine der großen Filmpersönlichkeiten Deutschlands: 1962 gehörte er zu den Unterzeichnern des Oberhausener Manifests, das als Initialzündung des Neuen Deutschen Films maßgeblichen Einfluss auf die deutsche Filmlandschaft hatte. Sein Spielfilmdebüt von 1965, „Schonzeit für Füchse“, wurde mehrfach prämiert, unter anderem mit dem Silbernen Bären, er fungierte 1967 als Produzent der Erfolgskomödie „Zur Sache, Schätzchen“ von May Spils und wurde 1973 für die Dokumentation „Friedensreich Hundertwasser“ für einen Oscar nominiert. Schon diese kurze Liste lässt erahnen, was man von „Potato Fritz“ nicht erwarten sollte: standardisiertes Genrekino oder exploitativen Trash. Schon der Auftakt des Films, der Überfall auf die Soldaten, ist als Verstoß gegen die Western-Konventionen inszeniert. Statt blutiger Einschüsse und fallender Opfer gibt es von Schussgeräuschen untermalte Impressionen des teilnahmslosen Wildlebens, erst dann wagt Schamoni einen vorsichtigen Blick aus sicherer Distanz auf das sich unter ihm darbietende Schlachtfeld. Später löst er eine Schlägerei in einer Blockhütte mit im Rhythmus der Schlaggeräusche geschnittenen Detailaufnahmen des Hauses auf und seinem Titelhelden drückt er auch erst ganz zum Schluss eine Waffe in die Hand. Was auf den ersten Blick eine deutsche Antwort auf den Mitte der Siebzigerjahre noch einmal ein kleines Revival feiernden Italowestern zu sein scheint, ist überhaupt nur hinsichtlich seines Sujets ein Western. Statt von der das Genre sonst prägenden Weite wird „Potato Fritz“ von fast reduktionistischer Enge bestimmt, die ihm etwas entschieden Theater- und Parabelhaftes verleiht, und die Enthüllungen im letzten Drittel des Films rückten ihn eher in die Nähe von Murder Mystery und Whodunit, wenn Schamoni sich der Erzeugung von Spannung mit seiner Inszenierung nicht so offensiv entgegenstellen würde. Die ikonografische „Falschheit“ des deutschen Westerns, der sein Monument Valley in Andalusien oder Jugoslawien aufbaut, blendet er nicht etwa aus, sondern nutzt sie für sich: Man weiß nie ganz genau, wann man seine Bilder ernst nehmen muss und wann die suspension of disbelief nötig ist.

„Potato Fritz“ wird aufgrund der Teilnahme des Fußballstars Breitner meist als Kuriosität im Stile des Beckenbauer-Vehikels „Libero“ (Wigbert Wicker, Deutschland 1973) rezipiert, was in mehrfacher Hinsicht Unsinn ist. Zum einen, weil Breitner lediglich eine kleine Nebenrolle spielt, zum anderen, weil „Potato Fritz“ ein zwar ungewöhnlicher, aber eben auch ein durch und durch kompetenter Film ist. In Szenen wie jener, in der ein arroganter, selbstgerechter Prediger (Peter Schamoni selbst) sich mit weit ausgebreiteten Armen und nur mit der Bibel bewaffnet einer Büffelherde nähert und die „Dämonenbrut“ mit dem Wort Gottes zu vertreiben versucht, tritt der gesellschaftskritische und satirische Impetus von Schamonis Film deutlich in den Vordergrund, lässt der Regisseur keinen Zweifel daran, dass das Westernsujet für ihn kaum mehr als eine Maske ist, derer er sich spielerisch bedient. Das heißt jedoch nicht, dass er das Genre mit der Herablassung des intellektuellen Künstlers behandelte: Schon in der Besetzung zeigt sich die Liebe zum größten aller Filmgenres. Neben internationalen Filmstars wie Hardy Krüger, Stephen Boyd und Anton Diffring treten so markante Gesichter wie Arthur Brauss, der kürzlich verstorbene David Hess und Dan van Husen neben deutschen Schauspielgrößen wie Rainer Basedow, Friedrich von Ledebur oder Diana Körner auf.

Wer sich für die Randphänomene des deutschen Kinos interessiert, kommt an „Potato Fritz“ mithin nicht vorbei. absolut medien erleichtern die Kaufentscheidung der DVD, die als Begleitwerk zum cinefest 2011, dem internationalen Festival des deutschen Filmerbes, erscheint, durch die Beigabe von fünf Kurzfilmen mit Westernbezug, von denen eine rührende Dokumentation zum Indianistik-Treffen in Erfurt 1972 und der preisgekrönte „L’ultimo pistolero“ mit Franco Nero hervorzuheben sind.

Black Brown White

(A 2011, Regie: Erwin Wagenhofer)

Helfende Bilder
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Fluchthelfer- resp. Menschenhändlerfilm, der sich auf wenige Darsteller konzentriert und damit in der Lage ist, vom Geschäft zur Empathie zu kommen. Genauer: Trucker Don Pedro transportiert wöchentlich ukrainischen Knoblauch …

Ein Fluchthelfer- resp. Menschenhändlerfilm, der sich auf wenige Darsteller konzentriert und damit in der Lage ist, vom Geschäft zur Empathie zu kommen. Genauer: Trucker Don Pedro transportiert wöchentlich ukrainischen Knoblauch via Spanien nach Marokko. Dort wird er umverpackt und kommt als marokkanischer oder spanischer Knoblauch zu uns. Außerdem kauern sich auf der Rückfahrt ein Dutzend Schwarze im doppelten Boden zusammen. Die Zuladung bringt Geld. Den Geschäftsbetrieb stört eine Schwarze mit ausgeprägtem Durchsetzungswillen, die sich weigert, in den doppelten Boden zu kriechen. Sie nimmt mit ihrem vierjährigen Kind im Führerhaus Platz.

Das Roadmovie nimmt sich Zeit, aus der unwillkommenen Nähe etwas anderes zu machen, nämlich Gefühle füreinander – bis zum wenig überraschenden Ende. Währenddessen sehen wir Bilder, eindrucksvoll fotografiert von Martin Geschlacht. Landschaften, ungestört durch Action und harte Schnitte. Wie nebenbei kriegen wir einiges über das Leben der Trucker mit: lonesome cowboys unserer Tage. Soweit funktioniert der Spielfilm aufs beste als dokumentarisch anmutende Beschreibung und kontrastierendes Kammerspiel.

Meine Schwierigkeit habe ich mit den Dialogen, für die Regisseur Erwin Wagenhofer, der renommierte Dokumentarfilmer (We Feed the World'), ebenfalls verantwortlich ist. Sie tragen gewichtig ihre (stets korrekte) Botschaft vor sich her und wollen abgenickt werden. Die Folge ist, dass selbst gestandene Schauspieler ein Glaubwürdigkeitsproblem bekommen. 'Dicke Hintern sind beautiful', hören wir urplötzlich aufgesagt aus dem Munde der Schwarzen. – Ja, schon gut, und nun wieder etwas ganz anderes: Mutter und Kind werden heimlich in eine riesige Ferienhaussiedlung im neomaurischen Einheitsstil einquartiert. Belehrung: Die Designorgie von Almería sei nicht zum Wohnen, sondern zum Investieren gedacht. – Ah ja, stimmt. Wir dürfen nicken. Doch nicht der belehrende Dialog, sondern die Macht und die Wucht der Kamerabilder machen 'Black Brown White' sehenswert und helfen über dramaturgische Ellipsen hinweg. Warum bleiben die im Truck versteckten Menschen gesichtslos? Warum weiß der Uno-Beamte in Genf nicht, dass sein vierjähriger Sohn ihn mit Mutter besuchen kommt? Vielleicht wäre die Einreise gar kein Problem gewesen? Wie auch immer: Ich denk mir meinen Teil und das ganz ohne Anleitung.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2011

Nur für Personal

(F 2010, Regie: Philippe Le Guay)

Ausbruch ins Leben
von Wolfgang Nierlin

Noch bevor eine Montage die Dachkammern der sechsten Stockwerke, von außen betrachtet, ins Bild setzt, geben ihre Bewohnerinnen, allesamt temperamentvolle Spanierinnen, in quasi-dokumentarischen Statements über sich Auskunft. Im Paris des …

Noch bevor eine Montage die Dachkammern der sechsten Stockwerke, von außen betrachtet, ins Bild setzt, geben ihre Bewohnerinnen, allesamt temperamentvolle Spanierinnen, in quasi-dokumentarischen Statements über sich Auskunft. Im Paris des Jahres 1962 sind sie die „Bonnes“ der vornehmen Leute, die sich um den Haushalt und die Kinderbetreuung ihrer wohlhabenden Herrschaften kümmern und in den Mansarden der geschmackvoll eingerichteten Bürger-Häusern eine bescheidene Bleibe haben. Philippe Le Guays Filmkomödie „Nur für Personal!“, die von Anfang an diese Kontraste akzentuiert und dafür in Ausstattung und Dekor die Epoche genau rekonstruiert, heißt im Original deshalb auch „Les femmes du 6ème étage“, also „Die Frauen vom sechsten Stock“. Dort, wo die Wände abgeschrappt sind, die Zimmer keine Heizung haben, sich das Waschbecken und die (verstopfte) Toilette im Flur befinden und von den Bewohnerinnen gemeinsam genutzt werden, liegt aber auch ein idealisiert gezeichnetes Refugium, das der Regisseur deshalb in warmes Licht taucht.

Nicht weniger mild ist die Beleuchtung in der gediegenen Wohnung des peniblen Anlageberaters Jean-Louis Joubert (Fabrice Luchini), der für einen gelingenden Tag vor allem ein „perfektes“ Frühstücksei braucht. Eine lange (berufliche) Familientradition, Standesbewusstsein und der Mangel an emotionalem Austausch charakterisieren ihn, seine spröde Frau Suzanne (Sandrine Kiberlain) und die beiden eingebildeten Söhne, die unter der Woche ein Internat besuchen. Als die langjährige Haushälterin Germaine, eine resolute Bretonin, aufgrund von Differenzen ihre Stelle kündigt, wird die eben in Frankreich angekommene Maria (Natalia Verbeke) zu ihrer Nachfolgerin. Die junge, hübsche Spanierin mit den großen Augen und dem freundlich strahlenden Lächeln schleppt allerdings einen schweren Koffer und eine schwierige Vergangenheit mit sich. Fasziniert von Marias Stolz, Furchtlosigkeit und Schönheit, interessiert sich Monsieur Joubert bald für die Sorgen und Nöte der Angestellten: „Diese Frauen leben über unseren Köpfen, und wir wissen nichts von ihnen.“ Dabei entdeckt er nicht nur eine unbekannte, aber sehr nahe liegende Welt und solidarische Gemeinschaft, sondern auch seine eigenen Gefühle.

Die märchenhafte, geradezu utopische Überwindung beziehungsweise Durchdringung der sozialen Gegensätze führt dabei über die Dienstbotentreppe in den 6. Stock. „Zum ersten Mal gehöre ich irgendwo hin. Ich habe eine Familie gefunden“, schwärmt der Hausherr über seine neu gewonnene Freiheit nach dem Einzug in eine der Dachkammern, wo er zu einem verliebten Romantiker und hilfsbereiten Heiligen avanciert. Geerdet in Kontrasten und Typisierungen, bezieht Le Guays Film einen guten Teil seines Witzes gerade aus dem Überschreiten gesellschaftlicher Konventionen, daneben aber auch aus der Ironisierung des bürgerlichen Milieus. Mit der Figur der von Carmen Maura gespielten kommunistischen Aktivistin Concepcion und dem tragischen Schicksal ihrer ermordeten Eltern deutet der französische Regisseur zugleich auf die politischen Hintergründe der Immigranten unter dem Franco-Regime, ohne diese jedoch zu vertiefen. Stattdessen entwickelt er mit Hilfe einiger abrupter Drehbuchwendungen und vielen stimmigen Details einen Film über den märchenhaften Zauber der Liebe und den feierlichen Ausbruch ins Leben.

The Thing

(USA / CAN 2011, Regie: Matthijs van Heijningen Jr.)

Das neueste Ding aus dieser anderen Welt
von Louis Vazquez

Die Säbel sind gewetzt nach einigen miesen Remakes der letzten Zeit. Da war zum Einen Marcus Nispels „Conan“, ein albernes, asoziales und trotzdem aalglattes Stück Kalkül-Kino, das im Gegensatz zur …

Die Säbel sind gewetzt nach einigen miesen Remakes der letzten Zeit. Da war zum Einen Marcus Nispels „Conan“, ein albernes, asoziales und trotzdem aalglattes Stück Kalkül-Kino, das im Gegensatz zur Auffassung der Fanboys eben nicht subversiv war, sondern nur noch Bedürfnisse bediente. Man wünscht sich, die Produktionsfirma Troma hätte mit dem Budget des Films gleich das Gesamtwerk von Robert E. Howard verfilmt, um zu zeigen, wie „asozial“ wirklich geht. Und es gab „Footloose“ von Craig Brewer, dem es gelang, aus einem mittelmäßigen Film über eine teenage rebellion einen windelweichen Mist zu machen, in dem es allen Ernstes nur noch um das Recht auf zeitlich befristete Ausgelassenheit gehen soll: Wir wollen tanzen dürfen, bis auch wir alle arbeiten und Familien gründen, heißt es im Plädoyer des neuzeitlichen „Rebellen“. Wer braucht bei einer solchen Denke überhaupt noch Horrorfilme? Und dann auch noch einen solchen: das als Prequel verkaufte Remake eines Remakes, dessen angeblich so „eigene“ Geschichte nicht nur Struktur und einzelne Szenen der Vorgänger (bzw. des zugrunde liegenden Romans von John W. Campbell) verwendet, sondern auch fröhlich die Bildsprache von Carpenters „Das Ding aus einer anderen Welt“ (1982) und dessen Morricone-Soundtrack zitiert, wie bereits der Trailer verriet.

Trotzdem bleiben die Säbel stecken, weil das neue „Ding“ den anderen genannten Remakes etwas Entscheidendes voraus hat: Es bewahrt die Qualitäten seiner Vorgänger. Und das sind, wie bereits angedeutet, vor allem Carpenters Qualitäten, weil der 1982 der alten Version von Christian Nyby und Howard Hawks aus dem Jahr 1951 ein zeitgemäßes Gewand verpasste, das auch heute noch kleidsam scheint. Der neue Film mutet stilistisch über weite Strecken fast epigonal an, selbst über die direkten Zitate hinaus. In Sachen Suspense wird hier der frühe Carpenter durchdekliniert, und das ist mehr, als man mit „Conan“ und „Footloose“ im Hinterkopf von einem Werbeclip-Regisseur und Spielfilmdebütanten wie Matthijs van Heijningen Jr. erwarten konnte. Keine Stakkatoschnitte, kein wildes Kameraschwenken, stattdessen die spannungsvolle Langsamkeit, die Carpenters Frühwerk auszeichnete. Eine Figur flüchtet, geht rückwärts, die Kamera ist hinter ihrem Kopf, der Blick entgegen der Laufrichtung. Der Bildkader lässt genug Raum für einen erschreckenden Monsterauftritt. Oder hat man das Monster im Rücken? Man kennt solche Spielereien. Aber sie sind immer noch gut. Eine wirklich eigene, neue Bildsprache gibt es nicht. Fast ist man in diesem Fall ein bisschen froh darüber. „The Thing“ feilt auch nicht an einer Mythologie (siehe die Fortsetzungen von „Alien“ oder „Predators“), sondern bleibt in seiner Präsentation der Bedrohung und der Paranoia so vage wie seine Vorgänger. Die Schocks des Films sind meistens gut gesetzt. In manchen Momenten aber schockieren die Dialoge sogar noch mehr: Wenn ein enttarnter Ding-Mensch die Flammenwerferträger darum bittet, doch erst über alles zu reden, ist das ziemlich dämlich.

Wie zu erwarten war, sind es ausgerechnet die Spezialeffekte, die dem Film hier und da schaden, obwohl doch gerade sie oft als Argument für veränderte Sehgewohnheiten und die deshalb angeblich nötige Neuinszenierung oder Überarbeitung von Klassikern heran gezogen werden. Sie sind zwar ganz gewiss nicht schlecht, aber eben längst nicht in dem Maß ihrer Zeit voraus wie 1981 Rick Bakers oscarprämierte Arbeit für „An American Werewolf in London“ oder im Jahr darauf Rob Bottins Effekte für Carpenter, die die Messlatte vielleicht sogar noch höher hängten. Womöglich ist CGI zu alltäglich und durchschaubar. Wer Konsolenspiele schätzt, dürfte sich ein ums andere Mal an die Mutationen aus „Dead Space“ oder „Resident Evil“ erinnert fühlen, die ihrerseits unter anderem von Carpenters Film beeinflusst wurden. Und apropos Dschungel der Referenzen: Statt eines zur Spinne mutierenden Kopfs bietet van Heijningen in seinem Remake-Remake mutierende Arme, die wiederum an die Alien-Facehugger erinnern. Dazu kommt Mary Elizabeth Winstead als den Flammenwerfer schwingende Protagonistin – Ellen Ripley lässt schön grüßen.

Ohne zu viel zu verraten: Das Ende ist wirklich gut gelungen. Da wird zum Abspann Carpenters Film noch einmal direkt zitiert und ein fließender Übergang zur Version von 1982 geschaffen. So ist „The Thing“ im Jahr 2011 ein zugegebenermaßen rückwärtsgewandter Schocker, aus dessen altmodischer Umsetzung aber Liebe zur Filmgeschichte und ihren Genreklassikern spricht. Das rückt ihn definitiv näher an Super 8' von J.J. Abrams als an Nispels „Conan“ – oder „Footloose“.

I Am You – Mörderische Sehnsucht

(AUS 2009, Regie: Simone North)

Tödliche Freundschaft
von Michael Schleeh

Als die fünfzehnjährige Rachel (Kate Bell) nach dem Balletttraining nicht nach Hause zurückkehrt, alarmieren die besorgten Eltern (Guy Pearce, Miranda Otto) die Polizei. Doch diese betrachtet die Angelegenheit als lästiges …

Als die fünfzehnjährige Rachel (Kate Bell) nach dem Balletttraining nicht nach Hause zurückkehrt, alarmieren die besorgten Eltern (Guy Pearce, Miranda Otto) die Polizei. Doch diese betrachtet die Angelegenheit als lästiges Übel – es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass ein wohl behütetes Vorstadtmädchen sich etwas verspäten würde. Also machen sich die verzweifelten Eltern selbst auf die Suche. Rachels ehemaliges Kindermädchen Caroline (Ruth Bradley) gerät dabei immer mehr in Verdacht.

Simone Norths engagiertes Regiedebüt weiß auf mehreren Ebenen zu überzeugen. Schon im Vorspann zieht eine freischwebende Kamera, die in Pendelbewegungen erst über einen Feldweg gleitet, dann über ein Feld, ins Gegenlicht schießt, sich schließlich einschwingt am Boden, im Wald, über einem Tierfriedhof, den Zuschauer in den Film hinein. Toshiaki Toyodas „Kuchu Teien/The Hanging Garden“ (2005) kommt einem da in den Sinn, denn auch dort schwingt die Kamera wie auf einer Schaukel und Überkopf durch den Vorspann, und zeigt so bereits an, dass die verlässlich festen Koordinaten des Alltags ausgehebelt sind. Hier ist einiges, wenn auch in sanfte Elegie gekleidet, nicht in Ordnung. Die Regisseurin wählt die horizontale Bewegung, als ob sie mit der Kamera einen Tatort abschreiten würde, was sofort Spannung hervorriefe, wäre die Szene nicht mit dem kontraproduktiven Postgrunge-Sound einer Independentband unterlegt. Gleich darauf wird auf eine Ballett-Tanzszene geschnitten, in der Rachel mit ihrem Partner eine ausdrucksstarke, sexuell aufgeladene Vorstellung gibt. Die Szene kulminiert in einem harten Schnitt zu einem paradiesischen Waldbett im Garten Eden, auf dem die beiden Liebenden nackt aufeinander liegen. Plötzlich regnen Sterne vom Himmel, sanfte Berührungen perfekter, alabastener Körper. Was dem Zuschauer über die emotionale Disposition des Paares gesagt werden soll und worin der metaphorische Gehalt des Tanzes liegt, dürfte nun jedem klar geworden sein.

Die Schauspielerleistungen in „I Am You“ sind gleichwohl tadellos zu nennen. Es sei noch Sam Neills souveräne Darstellung von Carolines Vater erwähnt: Ein Mann, ganz Rationalist, der immer wieder verzweifelt und mit Unverständnis auf das merkwürdige Gebaren seiner psychisch labilen Tochter reagiert. Diese nämlich ist, seit sie denken kann, unglücklich mit ihrem Leben: übergewichtig, faul und hässlich findet sie sich. Und so ist ihr die Nachbarstochter Rachel, der Augenstern der Familie Barber, die selbst Carolines Mutter mit ihren graziösen Tanzvorstellungen zu betören weiß – hier leistet sich der Film eine peinliche Oppositionsmontage – ein Dorn im Auge. Gegen wen also sollen sich Carolines Aggressionen richten, wenn nicht gegen die von allen geliebte, schöne und schlanke Nachbarstochter? Die Spannung des Filmes speist sich fortan aus der detektivischen Aufklärungsarbeit der immer panischer werdenden Eltern, wobei mehrfach irreale, träumerische Assoziationsszenen dazwischen montiert werden. Auch die Tonspur nähert sich bisweilen sehr den subjektiven Wahrnehmungen der Figuren an, was zu interessanten Bild-/Tonscheren führt. Letztlich aber werden auch diese tollen Momente oft durch allzu simple und naive Monologe der Täterin, die hier mehrfach als Erzählerin aus dem Off auftritt, kaputt gemacht. Es sind die Einträge in ihr Tagebuch, die man zu hören bekommt.

Das Verschwinden der Rachel Barber zählt zu den Aufsehen erregendsten Mordfällen in der jüngeren Geschichte Australiens. Simone Norths Film rührt daher mit seinem Anspruch auf Authentizität an ein sensibles Thema, das mit einigen Schwächen in einen Spielfilm überführt wurde, der dennoch immer wieder mit schönen Bildkompositionen, einer spannenden Narration und guten Darstellern zu überzeugen weiß. Auf Simone Norths nächsten Film darf man gespannt sein.

Island of Lost Souls

(USA 1932, Regie: Erle C. Kenton)

Breaking the Law
von Oliver Nöding

„Are we not men?“ – „Sind wir nicht (auch) Menschen?“: Das ist die Frage, die sich die Tiermenschen in Erle C. Kentons Verfilmung von H. G. Wells‘ Roman „The Island …

„Are we not men?“ – „Sind wir nicht (auch) Menschen?“: Das ist die Frage, die sich die Tiermenschen in Erle C. Kentons Verfilmung von H. G. Wells‘ Roman „The Island of Dr. Moreau“ in einem mantraartigen Gesang immer wieder selbst stellen. Eine Frage, die jedoch keiner Antwort bedarf: Schon im Akt des Sich-selbst-Hinterfragens offenbaren die geschundenen Kreaturen eine Menschlichkeit, die ihrem Schöpfer, dem größenwahnsinnigen Wissenschaftler Dr. Moreau, längst abhanden gekommen ist.

Der Schiffbrüchige Edward Parker (Richard Arlen) wird von einem Frachtschiff aufgesammelt, das mit einer Ladung wilder Tiere unterwegs zu einer kleinen Südseeinsel ist, auf der ein gewisser Dr. Moreau (Charles Laughton) seinen Experimenten nachgeht. Auf der Insel angekommen, fallen Parker die merkwürdig missgebildeten Menschen auf, die ihn aus dem Dickicht beobachten und die Moreau als „Eingeborene“ bezeichnet. In Wahrheit handelt es sich jedoch um Tiere, denen Moreau mittels chirurgischer Eingriffe zum Sprung auf die nächste Evolutionsstufe verholfen hat: Er hat Halbmenschen aus ihnen gemacht, die er nun mittels eines eigens verfassten Gesetzes, das der „Sayer of the Law“ (Bela Lugosi) verkündet, unter Kontrolle halten muss. Um herauszufinden, wie gut die Transformation von Tier zu Mensch tatsächlich funktioniert hat, kommt ihm Parker gerade recht. Er stellt ihn der Pantherfrau Lota (Kathleen Burke), der Krone seiner Schöpfung, vor und hofft, dass ein erotischer Funke zwischen ihnen überspringen möge …

„Island of Lost Souls“ ist die erste von bislang vier offiziellen (und zahlreichen inoffiziellen) Adaptionen des Wells-Romans und sehr wahrscheinlich auch die beste, weil sie den humanistischen Kern des Ausgangsstoffes vollkommen freilegt. Konzentrieren sich die Verfilmungen von 1977 ('Die Insel des Dr. Moreau', Don Taylor) und 1996 ('D.N.A. – Experimente des Wahnsinns', John Frankenheimer/Richard Stanley) sehr stark auf eine „realistischere“ (sprich: zeitgemäße) Darstellung der Tiermenschen und stellen sie damit einhergehend einen engen Bezug zu den zweifelhaften Errungenschaften der Genforschung her, entfaltet Erle C. Kentons Film ein größeres allegorisches Potenzial. Weil die lautlos-schattenhaft umherhuschenden und mit geweiteten Augen aus dem Busch glotzenden Tiermenschen eher an ihr eigenes Schicksal betrauernde Geisterwesen als an die Resultate missglückter naturwissenschaftlicher Experimente erinnern und Moreaus Erklärungen seiner Methode so vage bleiben, dass sie mehr an Zauberei als an Wissenschaft denken lassen, tritt auch die postdarwinistische Wissenschaftskritik gegenüber der allgemeineren Frage in den Hintergrund, was den Menschen eigentlich zum Menschen macht, ihn mithin vom Tier unterscheidet. „Island of Lost Souls“ belegt, dass mit der Vernunftbegabung des Menschen auch die fatale Fähigkeit einhergeht, sich gegen die eigene „Natur“ zu verhalten.

Das Menschsein ist für Moreau vor allem eine biologische, aber auch eine teleologische Disposition: Der Mensch ist der Endpunkt natürlicher Evolution, das Ziel, auf das die Natur unweigerlich zuläuft, wenn man sie ungehindert sich entfalten lässt. Das Tier ist nur eine Vorstufe zum Menschen. Moreau hat mithilfe der Vivisektion eine Abkürzung gefunden, eine Möglichkeit, den Prozess der Evolution zu beschleunigen. Doch seine Tiermenschen sind fehlerbehaftet: Die ganz missglückten Fälle verrichten für Moreau niedere Sklavenarbeit, die gelungeneren irren ziellos durch den Urwald, nicht wissend, was sie eigentlich sind. Das Gesetz soll sie an ihre von Moreau behauptete Menschlichkeit erinnern, vor allem aber unter Kontrolle halten. Verstoßen sie gegen das Gesetz und begehren sie gegen ihren Meister auf, werden sie wie Tiere behandelt und im „House of Pain“, Moreaus Operationssaal, einer grausamen Bestrafung unterzogen. Seine Kreaturen zerbrechen vor allem an dem Widerspruch zwischen ihrer äußeren Körperhülle und ihrem Inneren, der Unvereinbarkeit ihres natürlichen Triebs mit der ihnen oktroyierten Zivilisiertheit. Für Moreau ist das alles eins: Weil er den Menschen ausschließlich biologistisch definiert, kann er die Tiermenschen einerseits per Gesetz für ihre Unzulänglichkeiten knechten und andererseits der Pantherfrau, seinem avanciertesten Geschöpf, eben jene Menschlichkeit absprechen, wenn ihr Körper sich immer wieder zurückentwickelt. Der moralische Kompass, der den Menschen eigentlich auszeichnet, ist ihm völlig abhanden gekommen, er ist seinen Kreaturen näher, als er glaubt und wird von ihnen am Ende konsequenterweise genau jener Behandlung unterzogen, die er ihnen hat angedeihen lassen.

Die Annäherung von Mensch und Tier bzw. Natur und Zivilisation und die sich langsam vollziehende Umkehrung des Verhältnisses der beiden findet nicht nur Niederschlag in den auch heute noch überzeugenden, weil sparsamen Masken, sondern vor allem in den Settings: Moreaus Anwesen ist halb vom Urwald überwucherter Tempel, halb Bauhausvilla – die Grenzen zwischen drinnen und draußen sind fließend. Die unheilvollen Schattenwürfe des Urwalds vor der Tür finden ihre Entsprechung im auch im Inneren vorherrschenden Chiaroscuro, statt Fensterscheiben gibt es Eisenstangen und man fragt sich unweigerlich, ob die dazu da sind, die Tiermenschen draußen oder Moreau drinnen zu halten. Von der Tonspur erklingt keine Musik, die emotionale Orientierung böte, „Island of Lost Souls“ wird fast ausschließlich bestimmt von der Klangkulisse der Wildnis, die auch seine Protagonisten befällt: Wenn Parker seiner Begierde erliegt und die Pantherfrau Lota küsst, erkennt er auch, wie fragil das Konzept der Zivilisiertheit tatsächlich ist, wie leicht die Ratio wegbrechen kann, wie wenig stabil der Mensch in sich ist. Moreau hat sich deshalb entschlossen, den Unterschied mit Gewalt zu zementieren: Immer wenn er sich der Siedlung seiner Kreaturen nähert, von einer kleinen Anhöhe zu ihnen spricht, hebt die Kamera an, um über ihn hinweg auf die Tiermenschen zu seinen Füßen zu schauen. Wie ein strafender Gott schwingt er die Peitsche über ihren Köpfen. Doch man spürt, dass die Hierarchie, die Moreau etabliert hat, auf tönernen Füßen steht. „The natives are restless“ heißt es in einer berühmten Zeile des Films und das bietet dann auch den Ansatz für eine mögliche engere Interpretation: Es ist unverkennbar, dass Moreau Vertreter eines chauvinistischen Kolonialismus‘ ist, wie er 1932 noch gang und gäbe war. Wenn er sich mädchenhaft-verzückt auf einem Operationstisch niederlässt, die Beine übereinanderschlägt und verspielt ausstreckt, ein freches Grinsen im wohlgenährten Gesicht, dann kommen die ganze Dekadenz und Unverfrorenheit seines Charakters, aber auch eine sexuelle Verdrehtheit zum Vorschein. Es ist die Fratze des Technokraten, für den allein die Machbarkeit entscheidet, der die Unterlegenen knechtet und sich selbst verabsolutiert. Ein Mann des 20. Jahrhunderts.

Erle C. Kentons Film wurde von Karl Struss fotografiert, der unter anderem an Murnaus „Sonnenaufgang“ und Chaplins „Der große Diktator“ beteiligt war. Es ist auch seine Fotografie, die „Island of Lost Souls“, der nach seiner Veröffentlichung in mehreren Ländern – etwa in Großbritannien – verboten worden war, auf eine Stufe mit den großen Klassikern des Horrorfilms wie Whales „Frankenstein“ (1931) und „ Frankensteins Braut“ (1935) oder Brownings „Dracula“ (1931) und „Freaks“ (1932) hebt. Nicht unerwähnt bleiben sollten auch Charles Laughton, dessen fassettenreiches Spiel seinen Dr. Moreau zu einer der interessantesten Schurkenfiguren des Horrorkinos macht, sowie die ausgezeichneten Masken und die pointierten Dialoge, bei denen das, was nicht gesagt wird, mindestens genauso wichtig ist wie das, was gesagt wird – eine Kunst, die heute leider verlorengegangen scheint. Criterion hat (Horror-)Filmfreunden mit der wie immer hervorragend ausgestatteten RC-1-DVD dieses seltenen Films einen großen Dienst erwiesen. Wer der englischen Sprache mächtig ist, kommt an dieser Veröffentlichung nicht vorbei.

Die Höhle der vergessenen Träume

(F / CAN / USA / GB / D 2011, Regie: Werner Herzog)

In der Zeitkapsel
von Wolfgang Nierlin

Als eines der größten und ältesten Zeugnisse menschlicher Kultur gilt die Chauvet-Höhle im südfranzösischen Ardèche-Tal. Über 30.000 Jahre alt sind die Malereien, die sie an ihren Wänden zu Hunderten beherbergt. …

Als eines der größten und ältesten Zeugnisse menschlicher Kultur gilt die Chauvet-Höhle im südfranzösischen Ardèche-Tal. Über 30.000 Jahre alt sind die Malereien, die sie an ihren Wänden zu Hunderten beherbergt. Weil die mehrere Gänge und Säle umfassende Grotte durch einen Felssturz etwa 20.000 Jahre lang verschlossen war, ist in ihrem Inneren die Zeit quasi stehen geblieben. Die rund 400 mit Holzkohle und in Ocker gemalten Wandbilder, auf denen vornehmlich urzeitliche Tiere dargestellt sind, wirken noch immer frisch und unversehrt. Werner Herzog bezeichnet in seinem Dokumentarfilm „Die Höhle der vergessenen Träume“ den Schatz dieser „Zeitkapsel“, der auch zahlreiche Knochenfunde beinhaltet, als „Momentaufnahme eines vergangenen Augenblicks“. Seine Begeisterung und Faszination, die sich vor allem auch auf den Ort selbst mit seinen unwirklich erscheinenden Kristallen, Stalaktiten und Versteinerungen beziehen, beflügelt von Anfang an Herzogs sehr subjektiven, von einem heiligen Schauder ergriffenen Erzählkommentar.

In Interviews mit Forschern versucht er diesen „emotionalen Schock“ zu verarbeiten und dem Geheimnis dieser „verzauberten Welt des Unwirklichen“ auf die Spur zu kommen. Dabei ist sein Hunger nach Bedeutung und nach einem Zusammenhang zwischen der Gegenwart und einer verschwundenen, in den Malereien gespeicherten Vergangenheit deutlich zu spüren. Ausgerüstet mit Handkamera und tragbaren Lampen, begeben sich Herzog und sein kleines Team im Schlepptau der Wissenschaftler in die Höhle, wobei die Aufenthaltsdauer streng reglementiert ist. In langen, eindringlichen Passagen, unterlegt mit sakraler Chormusik, schwenkt die Kamera über die großflächigen Bilder mit ihren Reliefstrukturen, saugt sich mit fragender Dringlichkeit an ihnen fest oder lässt sich von den Darstellungen simulierter Bewegungen mitreißen. Neben tierischer Artenvielfalt werden dabei Geschichten sichtbar, die von Kampf und Paarungsverhalten handeln, im Bildnis eines Zwitterwesens aus Frau und Stier findet sich aber auch ein symbolisches Artefakt, das an Venusfigurinen (etwa an die Venus vom Hohle Fels) erinnert.

Werner Herzogs kunstphilosophischen Spekulationen, die sich am Spiel von Licht und Schatten als einer Art möglichem „Urkino“ entzünden und von der unheimlichen Plötzlichkeit dieser „geschichtslosen“ Kulturzeugnisse ergriffen werden, fragen im ahnungsvoll dunklen Tonfall existentieller Beunruhigung: „Ist hier die Seele des modernen Menschen erwacht?“ Oder sind die Höhlenmalereien Ausdruck einer spirituellen Kunst, bei der die Hand des Malers von Geistern geführt wurde? Auch wenn in diesen Fragen zunächst die Prägungen des eigenen kulturellen Wissens aufscheinen, möchte Herzog mit seinem Film doch vor allem ein Staunen angesichts des Unfassbaren vermitteln, das diese einmaligen, zuvor nie gesehenen Bilder konservieren. „Alle Versuche“, so Herzog in einem Interview, diese „festgefrorenen Träume einer tiefen Vergangenheit“ zu deuten, „werden immer scheitern“. Und er steigert schließlich am Ende seines beeindruckenden Films diese interpretatorische Unruhe noch, indem er die Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt zu einem „Blick in den Abgrund“ relativiert.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Lone Star

(USA 1995, Regie: John Sayles)

Die Wirklichkeit der Legenden
von Wolfgang Nierlin

Auf einem stillgelegten Schießplatz der Armee, im Wüstensand zwischen Kakteen und alten Patronenhülsen, wird neben einem skelettierten Schädel ein verrosteter Sheriff-Stern gefunden. Sheriff Sam Deeds (Chris Cooper), der den Fall …

Auf einem stillgelegten Schießplatz der Armee, im Wüstensand zwischen Kakteen und alten Patronenhülsen, wird neben einem skelettierten Schädel ein verrosteter Sheriff-Stern gefunden. Sheriff Sam Deeds (Chris Cooper), der den Fall ermittelt und dabei mit dem Leben und Sterben seines korrupten Amtsvorgängers Charlie Wade (Kris Kristofferson) konfrontiert wird, recherchiert mit einer Mischung aus Nähe und Distanz: Als Rückkehrer, der längere Zeit in der Fremde gelebt hat, betrachtet er alles Vertraute abgerückt und gelassen; als Sohn des Hauptverdächtigen Buddy Deeds (Matthew McConaughey), der ebenfalls Sheriff war, wird aus dem öffentlichen auch ein privater Fall, eine Reise in die eigene Vergangenheit und in diejenige der Grenzstadt Frontera. Denn mit dem „Lone Star“ verbindet sich nicht nur der Mythos vom einsamen Westerner, sondern auch derjenige des „Lone Star State“ Texas, der zurückgeht auf die Ein-Stern-Flagge, die von englischen Siedlern im Jahre 1836 nach der Schlacht am Alamo gehisst wurde. Und so ist Frontera, wo selbst die Biermarke „Lone Star“ heißt, ein Synonym für das schwierige Zusammenleben in einem melting-pot, der die Lebenswelten der Angloamerikaner, der Mexikaner und Afroamerikaner umfasst und der stets von Intrigen und Machtkämpfen bedroht ist.

John Sayles, Schriftsteller, Filmemacher und einer der hellsten Sterne am Himmel des amerikanischen Independent-Kinos, erzählt in „Lone Star“ seine Geschichte im Plural. So entsteht ein höchst komplexes Geflecht aus Geschichten, die allesamt geschichtsträchtig sind, sich in der Vergangenheit berühren, zusammenhängen und überraschende Verbindungslinien in der Gegenwart knüpfen. Sayles, der seine Filme nicht nur schreibt und inszeniert, sondern auch selbst schneidet, entwirft diese Verschlingungen eines höchst vielschichtigen und differenzierten Mikrokosmos mit Hilfe einer verschachtelten Montage und mit einer Rückblendetechnik, die die gleitenden, fast unmerklichen Übergänge zwischen Gegenwart und Vergangenheit, das prinzipielle Aufgehoben-Sein des einen im andern betont. So wird der Prozess des Erzählens zum Abbild einer Entdeckungsreise, die den Wahrheitssucher mit Legendenbildung, Geschichtsklitterung und eigenen schmerzlichen Erinnerungen konfrontiert, und dabei das Disparate, Verstreute und Undeutliche ordnet. Indem Sayles Geschichten erzählt, wird Geschichte bei ihm zu einer fassbaren Größe. Und weil ihn das wirkliche Leben und die wirklichen Menschen interessieren, aber zugleich auch die von ihnen hervorgebrachten Legenden, wählt er das Breitwandformat des Westerns für eine beständige Gratwanderung zwischen Realismus und Genre und für das stets ambivalente Verhältnis von Erinnern und Vergessen. Denn Sayles‘ Figuren geht es nicht nur um Bewältigung, sondern auch um Neuanfang. Entsprechend lautet der Rat eines indianischen Trödelhändlers: „Beim Stöbern muss man vorsichtig sein. Man weiß nie, was man findet.“

Killer Elite

(USA / AUS 2011, Regie: Gary McKendry)

Ohne Schweiß kein Preis
von Sven Jachmann

Kein Actionfilm von der Stange, aber auch – was die zufällige Namensgleichheit suggerieren könnte – kein Versuch Sam Peckinpahs gleichnamigen Agententhriller aus dem Jahre 1975 in die Gegenwart zu übertragen. …

Kein Actionfilm von der Stange, aber auch – was die zufällige Namensgleichheit suggerieren könnte – kein Versuch Sam Peckinpahs gleichnamigen Agententhriller aus dem Jahre 1975 in die Gegenwart zu übertragen. Gary McKendrys Debütfilm arbeitet sich an einer anderen Vorlage ab, nämlich am vermeintlich biografischen Roman „The Feather Man“ von Ranulph Fiennes, in dem auf recht unrühmliche, wenn auch kaum glaubwürdige Weise die Teilnahme der britischen SAS (Special Air Service) im Bürgerkrieg des Sultanats Oman in den 60er und 70er Jahren aufgedeckt wird.

Diesen Link zum Buch setzt der Film denn auch ganz explizit: die schwerwiegenden Enthüllungen bei dessen Veröffentlichung (im Film mit dem Titel „Soldiers and Tribesmen“) sind nämlich dafür verantwortlich, dass der Elite-Söldner wider Willen Danny (Jason Statham) seinen letzten Auftrag notgedrungen fortsetzen muss, weil einer der drei Agenten, auf die er angesetzt wurde, der falsche Mann gewesen war. Eine Aufgabe, der er von Anfang an keineswegs freiwillig folgt: Um sich eines reibungslosen Ablaufs sicher zu sein, hält ein verbannter omanischer Scheich Dannys früheres Teammitglied und einstigen Ausbilder Hunter (Robert de Niro) gefangen und fordert die Liquidation besagter dreier SAS-Agenten, die während des Dhofar-Aufstands wiederum drei Söhne des Scheichs töteten.

Danny fungiert also als Racheengel mit loyalem Herzen, und damit weder politische Intrigen noch konspirative Kleinkriege die Folge sind, müssen die Morde zudem wie Unfälle aussehen. Unter Profis funktioniert so etwas selbstverständlich nicht. Die Geheimorganisation Feather Man soll dafür Sorge tragen, dass die Verstrickungen Britanniens und der SAS im arabischen Raum auch weiterhin im Dunkeln bleiben und schon bald trifft Danny mit Spike (Clive Owen) auf deren nicht minder professionellen Bluthund.

So prügelt und schießt man sich durch einen Polit-Paranoia-Action-Auftragskiller-Thriller, der sich eher umständlich in der politischen Rahmenhandlung verzettelt, umso umstandsloser hingegen bei seinen rauen Actionsequenzen glänzt. Dann gibt es nur wenige Sounds und erst recht keine Musik; die Kamera taumelt sehr vital den Bewegungen hinterher, als könne sie selbst am wenigsten vorhersehen, wo der nächste Treffer landen wird. In solchen Momenten dringt ruppiger B-Charme durch: kein Anschluss, keine Übersicht und keine aseptische Gewalt im donnernden Videospielmodus, sondern pragmatische Choreographien und Schusswechsel, die der Brutalität ein Stück weit realen und unkontrollierbaren Schrecken zurück verleihen.

Auf seine Gewalt blickt „Die Killer Elite“ ohne Zweifel mit heiligem Ernst, leider aber ebenso auch auf das längst genregehorsame Päckchen aus Männerbund, Moralkrise, Frauenschutz und Loyalitätszwang, das für das letztlich zweitrangige Polit-Paranoia-Element immergleich geschnürt wird: Niemand weiß eigentlich so recht, wie tief man ihn in die Karten blicken lässt und dann geraten die Kerle eben nicht nur auf dem urbanen Schlachtfeld, sondern zwischenzeitlich auch schon mal auf der politischen Hinterbühne ins Schwitzen.

Perrak

(BRD 1970, Regie: Alfred Vohrer)

Hamburg Violenta
von Oliver Nöding

Perrak. Derrick. Tappert. Zwei Namen wie ein Peitschenhieb, einer wie das Klappern des Kochtopfdeckels, wenn das Sauerkraut endlich heiß geworden ist. „Perrak“, so heißt sowohl ein Kommissar des Hamburger Sittendezernats …

Perrak. Derrick. Tappert. Zwei Namen wie ein Peitschenhieb, einer wie das Klappern des Kochtopfdeckels, wenn das Sauerkraut endlich heiß geworden ist. „Perrak“, so heißt sowohl ein Kommissar des Hamburger Sittendezernats – gespielt von Horst Tappert – als auch ein deutscher „Sittenreißer“, der 1970 unter der Regie Alfred Vohrers entstand. Und der Film, den der mit Edgar-Wallace-, Karl-May- und Simmel-Verfilmungen bekannt gewordene Regisseur da vorlegt, mutet inmitten der überwiegend betulichen deutschen Filmlandschaft jener Zeit an wie das Ergebnis einer heißen Liaison zwischen dem noch mit dem Mief der Fünfzigerjahre behafteten deutschen Lustspiel und dem klassenkämpferischen italienischen Polizeifilm jener Zeit.

Kommissar Perrak ermittelt im Mordfall an dem jungen Transvestiten Tony, der in einem Nachtclub als Striptease-Tänzer arbeitete. Offensichtlich erpresste er einen Geschäftsmann mithilfe kompromittierender Fotos aus dem Bordell von Emma Kastelbauer (Judy Winter) und musste dafür mit dem Leben bezahlen. Die Lösung des Falls wird dadurch verkompliziert, dass sich auch der Gangster Kaminski (Hubert Suschka) einmischt: Er hofft nämlich, ins Erpressungsgeschäft einsteigen zu können …

In der Rolle des Kriminaloberinspektors Derrick wurde Horst Tappert zum Inbegriff deutscher Krimiunterhaltung: Die Serie „Derrick“ wurde von 1974 bis 1998 produziert, in rund 100 Länder verkauft und gilt damit immer noch als erfolgreichste deutsche Serienproduktion aller Zeiten, aber eben auch als Beispiel für bundesdeutsche Bräsig- und Spießigkeit. Mit dem blechernen Bellen seiner Stimme, dem humorlosen altväterlich-autoritären Auftreten und dem bieder-verlässlichen Outfit aus beigem Trenchcoat, braunem Anzug und getönter Sonnenbrille verkörperte Derrick einen Kriminalbeamten, dem der Sexappeal und Humor, mit dem seine Kollegen aus Übersee ihren Dienst verrichteten, vollkommen abging, der dafür aber eine unangenehme moralische Überlegenheit in die Waagschale warf. Der Hamburger Kommissar Perrak hat zwar einen ähnlich knallenden Namen wie sein Münchener Kollege, unterscheidet sich aber dennoch erheblich von diesem: Die Strenge, die er im Berufsleben an den Tag legt, weicht in den Auseinandersetzungen mit seinem gerade volljährigen Sohn Joschi der liebevollen Nachsicht, die Nachtschattengewächse, mit denen er bei seiner Arbeit konfrontiert wird, können sich seiner Hilfe gewiss sein, wenn sie sich kooperativ verhalten. Während Derrick also an einen übermenschlichen und unnachgiebigen Richter denken lässt, ist Perrak der Street Worker, der weiß, dass er Kompromisse eingehen muss, um ans Ziel zu gelangen. Die Nutten und Obdachlosen, die kleinen Kiezgangster und Gauner, die er Tag für Tag einfängt, können sich seiner grundsätzlichen Empathie sicher sein, anders als die Strippenzieher im Hintergrund, die sich in Gutsherrenart über Gesetze hinwegsetzen und glauben, dass alles und jeder käuflich ist.

Die Welt, die Alfred Vohrer uns in „Perrak“ zeigt, ist schmuddelig und hässlich. Wortwörtlich mit schmutziggrauen deutschen Nachkriegssettings wie Hafenviertel, Müllhalde, zwielichtigen Etablissements, maroden Pfandleihgeschäften und zugemüllten Kellerräumen, aber auch im übertragenen Sinn. Jeder ist auf seinen eigenen Vorteil bedacht und tut, was möglich ist, um irgendwie vorwärts zu kommen. Eigentlich müsste man alle in einen Käfig sperren, aber das geht nicht und so hat Perrak die undankbare Aufgabe, die Spreu vom Weizen zu trennen. Ein durchaus ungewöhnlicher Ansatz für einen deutschen Krimi, die doch sonst so sehr darauf bedacht sind, einen reibungslos funktionierenden Staatsapparat vorzuführen und zu belegen, dass Verbrechen sich nicht lohnt. „Perrak“ ist von Vohrer ganz aus dem Bauch heraus gefilmt worden und er unterzieht den Zuschauer einer wahren Affektkur: Das erste gesprochene Wort des Films ist ein mit Inbrunst ausgestoßenes „Scheiße“, unmittelbar danach zerstört ein Bonze mit seinem Mercedes mutwillig die bunt bemalte Ente von Perraks Sohn Joschi. Der Blankoscheck, mit dem sich der Bonze von seiner Schuld zu befreien sucht, wird von Joschi auf Geheiß des Papas zerrissen, der Bonze schließlich mit einem Tritt in den Hintern unsanft aufs Kopfsteinpflaster befördert. In diesem Tempo geht es weiter: Ein Penner findet auf einer dampfenden Müllhalde eine Leiche, interessiert sich aber nur für deren Habseligkeiten, die er sofort einsteckt, ein Schwarzer wird von seinem Chef als „Bimbo“ gedemütigt und dann mit den Farben schwarz, rot und gelb besudelt. Und wenn Perrak schließlich in einem als Kloster getarnten Nobelbordell die unscheinbaren Türen zu den einzelnen Zimmern öffnet, um dahinter mit allen möglichen sexuellen Praktiken konfrontiert zu werden, so attackiert Vohrer damit auch die in Deutschland vorherrschende verlogene Sexualmoral. Die Szene, in der der Striptease eines Transvestiten mit aufdringlich nah heranrückender Kamera abgefilmt wird – nebenbei die einzige erotische Szene des Films –, kann man in diesem Kontext kaum anders denn als gezielte Provokation des Publikums begreifen.

„Perrak“ ist aber längst nicht nur als reines Zeitdokument sehenswert. Mit Unterstützung des fantastischen treibend-hysterischen Beat-Scores von Rolf Kühn und zahlreicher damals schon oder erst heute bekannter Gesichter – neben den bereits Genannten u. a. Werner Peters, Erika Pluhar, Arthur Brauss, Walter Richter und Jochen Busse – ist es Vohrer tatsächlich gelungen, inmitten bundesdeutscher Piefigkeit einen packenden Reißer anzusiedeln, der die vorherrschenden Zustände brillant in seine Geschichte integriert und zeigt, dass „Genrekino“ und „Deutschland“ keine unvereinbaren Gegensätze sein müssen. Dass das Finale in einem verschneiten Fußballstadion gar Don Siegels unsterblichen „Dirty Harry“ zu antizipieren scheint, kann gar nicht oft genug erwähnt werden.

poliezei

(F 2011, Regie: Maïwenn)

Die Ersatzfamilie
von Wolfgang Nierlin

Intensive Recherchen im Milieu der Pariser Jugendschutzpolizei sowie die Bearbeitung „realer Fälle“ bilden die Grundlage von Maïwenns in Cannes mit dem Jurypreis ausgezeichneten Film „Poliezei“ (Polisse). Der absichtlich falsch geschriebene …

Intensive Recherchen im Milieu der Pariser Jugendschutzpolizei sowie die Bearbeitung „realer Fälle“ bilden die Grundlage von Maïwenns in Cannes mit dem Jurypreis ausgezeichneten Film „Poliezei“ (Polisse). Der absichtlich falsch geschriebene Titel und die Kinderzimmer-Bilder des Vorspanns verweisen bereits auf die Betroffenen, um die es hier geht: Auf Kinder und Jugendliche, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind und die unter dem Missbrauch durch Erwachsene leiden. Ohne Umschweife und Erklärungen taucht der Film ein in den harten, fordernden und emotional aufreibenden Arbeitsalltag der Jugendschutzpolizei. Entsprechend „authentisch“ ist der Look des sozialrealistischen Ensemblefilms, der mit einer intuitiven Kameraführung und einem fast atemlosen Erzähltempo, schnellen Schauplatzwechseln und hitzigen Dialogen eine Vielzahl von Fällen streiflichtartig vorführt, ohne sie zu vertiefen. Maïwenns gehetzte, fragmentarische Erzählung im Plural entwickelt keine dramatische Geschichte, sondern montiert episodische Handlungssplitter aus reiner Gegenwart zu einem nicht immer schmeichelhaften Polizei-Portrait.

Nicht die Schicksale der Kinder mit ihren teils erschreckenden, teils kuriosen Erlebnissen stehen aber im Mittelpunkt, sondern die konkrete Polizeiarbeit. Neben Verhören mit traumatisierten Opfern und uneinsichtigen Tätern, die meist in einer sehr direkten, wenig einfühlsamen und aggressiven Sprache geführt werden, und Einsätzen im Außendienst beleuchtet der Film vor allem die Hierarchien innerhalb des Polizeiapparates und die spannungsreichen Beziehungen unter den Kollegen. Diese bilden eine Art Ersatzfamilie, die als Spiegelbild der Gesellschaft fungiert; andererseits verdichten sich in ihr die Konflikte der Polizei-Einheit: Die widersprüchliche, mitunter grenzwertige Ermittlungsarbeit und deren emotionale Wirkungen, Streitereien unter den Beamtinnen und Beamten sowie die Wechselwirkungen zwischen Beruf und Privatleben.

„Wir können die Welt nicht verändern“, sagt einmal resigniert der Ermittler Fred (gespielt vom französischen Rapper Joeystarr). Dem hehren Berufsideal verpflichtet, die Wahrheit herauszufinden und den Opfern zu helfen, werden die Polizisten immer wieder an Grenzen geführt und mit dem Sinn ihrer Arbeit konfrontiert. Die französische Regisseurin und Schauspielerin Maïwenn, die in der etwas unmotivierten Rolle der Fotografin Melissa zu sehen ist, zeichnet in ihrem mitunter (auch personell) überfrachteten, öfters mit Übertreibungen zuspitzenden Film, kein verklärtes Bild der Polizei. Neben wenigen, heldenhaften Momenten stehen immer wieder (menschliche) Schwäche und Scheitern. Unnötig ist es deshalb, dass am überstilisierten Ende des Films der Polizei – im Gegenschnitt zur „Rettung“ eines Kindes – auch noch ein Opfer abverlangt wird.

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The Way Back – Der lange Weg

(USA 2010, Regie: Peter Weir)

Der Gulag und seine Folgen
von Sven Jachmann

Der Terror des Sowjetkommunismus soll die gewaltige erzählerische Klammer stiften: Zu Beginn sehen wir das konspirative Verhör von Janusz (Jim Sturgess), der 1939 als polnischer Dissident zu 25 Jahren im …

Der Terror des Sowjetkommunismus soll die gewaltige erzählerische Klammer stiften: Zu Beginn sehen wir das konspirative Verhör von Janusz (Jim Sturgess), der 1939 als polnischer Dissident zu 25 Jahren im sibirischen Zwangsarbeiterlager verurteilt wird. Am Ende des Films listet wiederum eine zweiminütige Montage zu pathetischen Klängen die Stationen des kommunistischen Niedergangs auf. Historie ist indes nicht viel mehr als ein dringend benötigter MacGuffin, mit dessen Hilfe Regisseur Peter Weir die Legitimation für eine irrsinnige und lebensgefährliche Reise sucht. Wer würde schon die Strapazen auf sich nehmen und mehr als 5000 Kilometer, von Sibirien bis Indien, zu Fuß zurücklegen, außer: ein Fliehender? Deswegen beansprucht der Einblick ins Lagersystem keine 20 Minuten, dann tritt Janusz bereits zusammen mit fünf weiteren Inhaftierten die Flucht durch die gigantischen Wälder an. Der Kommunismus bleibt im Plot fortan das, wozu ihn Marx und Engels in ihrem Manifest erklärten: ein Gespenst. An seine Stelle rückt der Kampf gegen die Natur, womit sich Weir ans andere Ende eines extremen Überlebenskampfes begibt, den Danny Boyle ebenfalls in diesem Jahr mit 127 Hours' auslotete: Ist in Boyles Film ein Extremsportler tagelang zur Bewegungslosigkeit gezwungen, weil sein Arm unter einem Felsbrocken eingequetscht wurde, bis er ihn sich schließlich abschneidet, drängt es Weirs Figuren zur ständigen Fluchtbewegung, weil Stillstand den sicheren Tod durch Erfrieren, Verhungern oder Verdursten bedeutet. In beiden Filmen überschreitet der Wille zum Überleben wahnwitzige Grenzen; beide Filme berufen sich zudem auf die Authentizität realer Ereignisse (auch wenn mittlerweile es als recht gesichert gelten darf, dass der spektakuläre „lange Weg“, den der ehemalige polnische Offizier Slavomir Rawicz im gleichnamigen autobiografischen und erstmals 1955 veröffentlichten Erfahrungsbericht schildert, zumindest nicht sein eigener war) – das Kino kann vielleicht doch nur bis zu einem gewissen Grad Räuberpistolen über den menschlichen Körper erzählen, die man ihm auch glauben will.

Weir interessiert sich also nicht unbedingt für politische und historische Verhältnisse und Zusammenhänge, sondern für die Tortur. Im Kern ist der Film ein Ausreißerdrama über eine Flucht ohne Verfolger, wuchtige Genrekost, die jede Gefühlsregung penibel unter Kontrolle behalten möchte. Im besten Falle, wie noch bei seiner bereits sieben Jahre zurückliegenden Seefahrermär „Master and Commander“, treibt Weir solch eingegrenzten Formaten durch ein fragmentiertes Erzählverfahren und dem Hang zur Naturalisierung die Naivität aus. Die ärgerlichere Variante exerziert „The Way Back“ vor: malerische Panoramabilder hochhausgroßer Höhlen und langsame Fahrten über endlose Wälder und Steppen wechseln sich ab mit Detailaufnahmen sonnengegerbter Haut, trockener Münder, gefrorener Füße, ausfallender Zähne. Durch Landschaften so pittoresk im Bildkader vermessen, als illustrierten sie eine GEO-Ausgabe, quält sich die internationale Gruppe – durch die Mongolei, die Wüste Gobi, Tibet, über den Himalaya. Man ringt mit Hunger und Durst, kämpft gegen Mückenplagen und Sandstürme, isst, was vor die Füße kriecht, trinkt aus Schlammpfützen und verzeichnet auch einige Tote.

Ein Verhältnis zu seinen Bildern sucht der Film keineswegs; sie sind das entzückend gestaltete Handout für eine Geschichte, die, ständig dies doppelt und dreifach versichernd, vom Konflikt zwischen Mensch und Natur erzählt und zugleich die Natur als überwältigenden Schauplatz über die Qual des Überlebens dominieren lässt. Das Problem ist weniger, dass hin und wieder Langeweile droht, weil die Männer nur ein funktionales Interesse füreinander entwickeln (es zählte ja doch nur zu den mythologischen Tücken des Erzählkinos, würde der schmutzige wie beiläufige Tod im Wüstensand zum Konflikt der Herzen degradiert), sondern die Impertinenz, mit der der schwindende Kontrast zur eigentlich doch majestätischen Natur eingebläut wird. Nur ein Beispiel: Kaum haben die Fliehenden ein Rudel Wölfe von deren frisch erbeutetem Reh vertrieben, fallen sie auch schon bestialisch über das Tier her, reißen sich knurrend die rohen Fleischstücke aus den Händen, und der sorgenvolle Blick von Janusz auf die ausgehungerte Meute fragt stellvertretend für uns: Ist da überhaupt noch eine Grenze zur Natur und ihren gnadenlosen Gesetzen? Gegenfrage: Bietet der Rücken eines solch unfassbaren und gleichwohl realen Leidenswegs tatsächlich so wenig Platz, dass auf ihm lediglich und ausgerechnet dieser stinklangweilige Urtopos des Abenteuerfilms ausgetragen werden muss?

Cheyenne – This Must Be the Place

(I / F / IR 2011, Regie: Paolo Sorrentino)

Popstar auf Nazijagd
von Harald Mühlbeyer

Wenn man diesen Film sieht, sieht man eine Menge Filme. Hört eine Menge Musik. Trifft eine Menge Stars der Musikgeschichte. Denn Paolo Sorrentinos Film enthält eine Menge der Mythen, Motive, …

Wenn man diesen Film sieht, sieht man eine Menge Filme. Hört eine Menge Musik. Trifft eine Menge Stars der Musikgeschichte. Denn Paolo Sorrentinos Film enthält eine Menge der Mythen, Motive, Mittel der Popkultur der letzten paar Jahrzehnte; und er lässt dabei seinen Film alles andere als ein Setzkastensammelsurium oder ein epigonisches Hommagekino sein.

Dass Sorrentino zwei Stories verknüpft, ist das eine: Die eines gealterten, pensionierten Rockstars der 80er, der nun in Depression und Langeweile dem ewigen Nichtstun frönt; und die von der Jagd nach einem alten Nazi durch halb USA. Dass Sorrentino Sean Penn in der Hauptrolle bietet, ist das andere. Der spielt seinen Cheyenne, als wäre der leibhaftige Johnny Depp hinter ihm her – und lässt dabei alle aufdringlichen Manierismen fallen, um eine unglaublich exzentrische, exaltierte, kaprizöse Darstellung zu erreichen, die durchaus auf dem Boden der Tatsachen steht. Ozzy Osbourne schlurfte durch seine MTV-Show auf ganz ähnliche Weise, tapsig, ungelenk, lethargisch … Schwarzer Zehenlack, Ringe, rotgeschminkte Lippen, Lidschatten, schwarzes, hochtoupiertes Haar; dazu eine hochgepitchte Stimme, als hätte er Kreide gefressen, ein schwarzes Wägelchen, das er stets hinter sich herzieht, völlige Teilnahmslosigkeit, die gepflegte Langeweile dessen, der niemals mehr arbeiten muss, ein passives Sich-durchs-Leben-treiben-lassen, und zugleich eine Art zaghaftes Bemühen, doch irgendwo dabeizusein, dem freilich wirklicher innerer Impuls fehlt: Das ist Cheyenne, bis vor 20 Jahren Leadsänger einer 80er-Jahre-Gothic-Pop-Band, der nun in einem schlossähnlichen Anwesen hockt und nichts mehr tut; nicht einmal das Leben genießen.

Jane, seine Frau, ist Frances MacDormand, sie hat das Heft in der Hand, kümmert sich um Haus und Hund, neckt Cheyenne, zieht ihn auf, spielt mit ihm Hand-Pejote im leeren Pool im Garten. Wenn einer fragt, wo das Wasser ist, staunt Cheyenne, als hätte er das noch nie bemerkt. Warum sein Hund einen Kragen der Schande um den Hals hängt – darum kümmert sich Jane. Warum sie den Architekten angewiesen hat, in der Küche des schlossartigen Anwesens groß „CUISINE“ an die Wand zu schreiben – keine Antwort.

Cheyenne: Das ist eine Kombination verschiedener Popkünstler, die Sorrentino in seiner Kindheit begleiteten, Robert Smith von The Cure, Morrissey von The Smiths, David Byrne von den Talking Heads – letzterer hatte nicht nur einen Song geschrieben, der dem Film seinen Titel gab, er hat nun auch den Soundtrack komponiert und spielt in einer Szene sich selbst: Cheyenne trifft seinen alten Freund und Kollegen David, der fiktive den tatsächlichen Künstler. Die feinen, artifiziell wirkenden Stimmen der beiden ähneln sich auf durchaus komische Weise, und hier zeigt Cheyenne erstmals Emotionen, lässt sein Innerstes raus. In einem Ausbruch des Auskotzens beklagt er sich und sein Schicksal, hier, in Gegenwart eines Mannes, den er als wirklichen Künstler anerkennt, im Gegensatz zu ihm, der nur ein paar Hits geschrieben hat, der die Depression pubertärer Jugend in Songs gegossen hat, um damit viel Geld zu machen …

In Momenten wie diesem wird Sorrentino richtig ernst, geht ins Existentielle des Künstler- und Menschendaseins hinein: Cheyenne sitzt in seinem Zustand apathischer Depression, seit sich 20 Jahre zuvor ein paar Teenager von seiner traurigen Musik anstecken und zum Suizid haben anstacheln lassen … Doch versinkt der Film selbst nie in dem bloßen Porträt eines abgewrackten Rockstars, das geht gar nicht, wenn Sean Penn im Mittelpunkt steht, und auch nicht auf diese Weise. Wie er ungelenk in Unterhosen auf dem Sofa sitzt; wie er die Welt an sich vorbeigleiten lässt; wie er andere auflaufen lässt; wie er immer wieder Weisheiten von sich gibt, die naiv sein können wie von einem altklugen Kind oder aber weise Aphorismen des lebenserfahrenen Herrn sind: „Vom Hafen sieht man nie, wie rau die See ist“; oder: „Das ist das Problem der Jugend: Ablenkung“; oder: „Zuerst heißt es im Leben: so wird mein Leben sein. Später dann: So ist das Leben.“

Sorrentino zeigt keine schwermütige Musikerbiographie; und im zweiten Teil keine heißblütige Jagd nach einem Altnazi. Nach dem Tod seines Vaters, mit dem Cheyenne nie etwas zu tun hatte, macht dieser sich auf, dessen Lebenswerk zu vollenden: den Mann zu finden, der ihn damals im polnischen KZ gequält und gedemütigt hat. Was Cheyenne für seinen verstorbenen Vater tut, tut er eigentlich für sich selbst: Ja, es macht ihm Spaß, mal rauszukommen, eine Aufgabe zu haben.

Wenn im Hintergrund wie bei jedem Roadmovie die Selbstfindung – oder zumindest die Selbstsuche – steht, so ist doch für Sorrentino ein zumindest ebenbürtiger Teil seiner Filmerzählung der skurrile Witz, den er einflicht. Und er bleibt da nicht nur bei dem Sean-Penn-Porträt eines bizarren Relikts aus vergangenen Popjahrzehnten, nein: die ganze Welt, die der Film zeigt, hat Symptome des leichten, komischen Irrsinns. Nachts läuft ein älterer, dicklicher Herr in Superheldenkostüm nach Hause; ein alter Mann mit Hitlerbärtchen fährt aufrecht stehend auf der Ladefläche eines Pickuptrucks vorbei. Cheyenne begegnet allen möglichen Typen – einem Investmentbanker, für den das größte Problem die Parkgebühren in New York sind; einem tatooübersäten Kneipenhocker mit sanftem Herzen; einem passionierten alten jüdischen Nazijäger, den vor allem der Verbleib all der Goldzähne fuchst, die die Nazis zusammengehortet haben; einem Waffenladenbesitzer, der in den Menschen Monster sieht; und einen älteren Herrn, der über die Rollen an Trolley-Koffer sinniert – die er 1988 selbst erfunden hat … Wir geraten hier nahe an Jarmusch- oder Kaurismäki-Bereiche der seltsamen Komik, die nicht weit entfernt ist von einer Poetik des Losertums. Selbst der alte, 94jährige Nazi, der nichts bereut, hält eine berührende, erklärende Rede – er lebt in einer Holzhütte mitten im grellweißen Schnee, eines dieser Bilder, mit denen Sorrentino auf perfekte Weise die seltsam artifizielle, fast surreale, raffiniert gestaltete Atmosphäre des Films erzeugt.

Wahrscheinlich ist dies einer der letzten Filme, die eine zeitgenössische Jagd auf einen Nazi zeigen – schlicht, weil die halt irgendwann auch aussterben. Und es ist deshalb genau richtig, mehr zu zeigen als das – denn wie die alten Nazis wegsterben, muss und wird auch die Wut, die unbedingte emotionale Qual der Erinnerung und der Recherche sich abschwächen (freilich ohne das Andenken an die Entsetzlichkeit der Naziverbrechen auszutilgen). „Uns schwirrte die Antithese eines herkömmlichen Detektivs im Kopf herum“, sagt Sorrentino, „ein langsamer, fauler Rockstar, der der absolut letzte Mensch ist, von dem man sich vorstellen könne, dass er sich auf so etwas verrücktes wie die Jagd nach einem Naziverbrecher, der vielleicht schon tot ist, quer durch die USA einlässt.“ Diese Verbindung verschiedener (Lebens)Welten hat etwas Zwingendes in diesem Film, gerade, weil sie gar nicht zueinander passen. Und zwingend ist auch, dass diese Geschichte mit Witz, mit Ironie, mit grotesken Ideen gefüttert ist, dass sie in den Grad des Unwirklichen erhoben wird – denn nur so kann sie eine so wunderbare, komische Unterhaltung bieten. „Der Tragödie aller Tragödien, dem Holocaust, die Welt der Popmusik gegenüber zu stellen, den Inbegriff des Aufgeblasenen, Oberflächlichen und Frivolen, schien mir eine Kombination, die so gefährlich und gewagt ist, dass sich daraus eine interessante Geschichte entwickeln lässt. Eine Geschichte ist es nur dann wert, erzählt zu werden, wenn die Gefahr besteht, dass man sie in den Sand setzt, dass man daran scheitert.“ Was nicht geschehen ist.

Putty Hill

(USA 2010, Regie: Matthew Porterfield)

Haut und Schmerz
von Wolfgang Nierlin

Eine leere, verwahrloste Wohnung, in einem Vorort Baltimores gelegen, fungiert als Projektionsfläche und leitmotivische Klammer des Films. In einer Sequenz schnell montierter Einzelbilder wird sie anfangs eingeführt. Matthew Porterfields „Putty …

Eine leere, verwahrloste Wohnung, in einem Vorort Baltimores gelegen, fungiert als Projektionsfläche und leitmotivische Klammer des Films. In einer Sequenz schnell montierter Einzelbilder wird sie anfangs eingeführt. Matthew Porterfields „Putty Hill“ kreist um diese Leerstelle, die auf eine Abwesenheit deutet. Denn Cory, der Bewohner dieses merkwürdig provisorisch und unpersönlich wirkenden Zimmers, ist nach einer Überdosis Heroin im Alter von 24 Jahren gestorben. In semidokumentarischen Interviews sprechen Verwandte und Freunde über ihn. Doch sein Portrait bleibt unscharf und vage. Nach einem kurzen Gefängnisaufenthalt sei es Cory nicht gut gegangen, sein Rückzug, so wird vermutet, erfolgte wohl vorsätzlich. Ein Fatalismus grundiert diese Auskünfte, in denen das schmerzliche Bedauern eine echte Anteilnahme geradezu verdrängt. Im desillusionierten, deterministischen Blick der Befragten aufs Leben gewinnt Cory kaum Kontur. Schon kurz nach seinem Tod sind seine wenigen Spuren fast vollständig gelöscht.

Der unsichtbare Interviewer, dessen beobachtender Blick auch in den mehr fiktionalen Spielszenen des episodisch strukturierten Films anwesend zu sein scheint, fragt die Jugendlichen aber auch nach ihrem persönlichen Leben. Doch aus den verstockten Antworten und unterdrückten Gefühlen sprechen nur wenig Lust und Freude. Als gäbe es für sie keine Perspektive, überwiegen Antriebslosigkeit und Langeweile. Nur beim Paintballschießen und im Skaterpark, wo die Jungs ihre Kunststücke vorführen, entsteht eine lustvolle Bewegung, sind sie für Augenblicke bei sich selbst.

Immer deutlicher verdichtet Independentfilmer Matt Porterfield seine szenische Spurensuche zu einer Erkundung des Milieus. An den Rändern der Stadt, wo das Bebaute ins Verwilderte ausfranst und das soziale Abseits auch als geographische Größe evident wird, erzählt der junge Filmemacher von Freaks, zerrütteten Familien und abwesenden Vätern, von Drogen und Tätowierungen. „Du lieferst die Haut, ich den Schmerz“, sagt der Tätowierer bei der Arbeit. Porterfield, der Ort und Milieu aus eigenem Erleben kennt, lässt seine Protagonisten sich selbst spielen und vertraut dabei der Improvisation. Nach Debra Graniks „Winter’s Bone“ ist Matthew Porterfields „Putty Hill“ ein weiteres eindrucksvolles Dokument vom harten, trostlosen Leben im Abseits der amerikanischen Gesellschaft.

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Fenster zum Sommer

(D / FIN 2011, Regie: Hendrik Handloegten)

Keine Wahl
von Wolfgang Nierlin

Schon die Schärfenverlagerung in den Vorspanntiteln, die nur für Augenblicke deutlich lesbar sind, weist auf das Mysteriöse hin, das sich im Folgenden ereignet. Das Spiel mit dem Undeutlichen und Ungreifbaren, …

Schon die Schärfenverlagerung in den Vorspanntiteln, die nur für Augenblicke deutlich lesbar sind, weist auf das Mysteriöse hin, das sich im Folgenden ereignet. Das Spiel mit dem Undeutlichen und Ungreifbaren, das sich rationalen Erklärungen entzieht, charakterisiert Hendrik Handloegtens Film „Fenster zum Sommer“. Eben noch genießt die 35-jährige Juliane (Nina Hoss) unter dem milden Licht einer finnischen Mittsommernacht ihr neues Liebesglück mit August (Mark Waschke), als sie plötzlich im winterlichen Berlin aufwacht. Die Zeit ist um etwa ein halbes Jahr zurückgestellt. „Jetzt ist alles wieder früher“, sie habe „alles schon erlebt“, sagt die äußerst verwirrte Juliane, die sich wie in einem lebensechten Traum wähnt. Denn ihr langjähriger Freund Philipp (Lars Eidinger) und ihre beste Freundin Emily (Fritzi Haberlandt) sind noch ganz die Alten, während sich ihr Leben zu wiederholen beginnt.

Kann man alles anders machen und etwaige Fehler vermeiden, wenn man seine Zukunft kennt? Ist das Leben vorherbestimmt oder kann man seinem Schicksal entgehen? Wird das Handeln von Zufällen geleitet? Mit solchen und ähnlichen hypothetischen Fragen beschwert Handloegten die Protagonistin seines Films, der in schwelgerischen Bildern und mit dominanter Filmmusik mehr um eine Idee und ihre unscharfen Prämissen kreist, anstatt eine Geschichte mit Menschen aus Fleisch und Blut zu erzählen. Entsprechend illustrativ und zeichenhaft sind die Schauplätze gewählt und eingesetzt: vom verträumten, liebesromantischen Mittsommernachtsidyll, über das in gefühlter Winterstarre liegende Berlin, bis ins überstilisierte Weiß des Krankenhauses, in das die technische Übersetzerin nach einem Schwächeanfall eingeliefert wird.

Immer wieder inszeniert Hendrik Handloegten eine geheimnisvolle Atmosphäre mit Bildern von langen, endlos scheinenden Fluren, spiralförmigen Treppen, zeitlupenhaften Bewegungen und „Rückblenden“ in eine bereits erlebte und deshalb paradoxerweise erinnerte Zukunft. Deren Zentrum ist jener magische Moment (am fiktiven 12. Mai 2011), in dem sich die Liebenden erkennen und der wiederum mit einem tragischen Unglücksfall verknüpft ist: Als bräuchte das Glück ein Opfer und die Liebe ein Gefühl der Schuld, die es abzutragen gilt. Vielleicht bekommt Juliane (im Umweg über ein Kind) deshalb eine zweite Chance für eine Korrektur ihres Lebens, deren Notwendigkeit jedoch nicht ganz einleuchtet. Doch im deterministischen Konzept diese Films haben die Figuren nicht wirklich eine Wahl. Alles kommt so, wie es letztlich kommen muss.

Die Liebesfälscher

(F / I / B 2010, Regie: Abbas Kiarostami)

Komm! Ins Offene, Freund!
von Janis El-Bira

Am Anfang steht bildgewordene Erwartung: Ein Tisch, vorbereitet für eine Lesung, ein Mikrophon dahinter, das Buch, um das es gehen wird, ist dekorativ aufgestellt. Die Erwartung wird zum Warten, als …

Am Anfang steht bildgewordene Erwartung: Ein Tisch, vorbereitet für eine Lesung, ein Mikrophon dahinter, das Buch, um das es gehen wird, ist dekorativ aufgestellt. Die Erwartung wird zum Warten, als ein Mann, nicht der Autor, ins Bild und ans Mikrophon tritt, um in italienischer Sprache anzukündigen, dass jener sich verspäte. Kaum nachvollziehbar sei diese Verspätung, wohne der Autor doch in einem Zimmer direkt über dem Saal der Lesung. Schließlich erscheint dieser, ein Brite, und beginnt, die italienische Version seines Buches, „Certified Copy“, vorzustellen. Um die Kunst geht es darin, genauer um Originale und Fälschungen und die Frage, welche Pfade von der Fälschung zum Original führen. Eine mutige Behauptung des Eigenwerts von Fälschungen soll es sowieso sein und auch „an invitation to self-enquiry“, wie der Autor, James Miller (William Shimell), einen seiner begeisterten Leser zitiert. Eine Frau (Juliette Binoche), deren Namen wir in den kommenden knapp zwei Stunden nicht erfahren werden, betritt den Raum, setzt sich in die erste Reihe. Ihr kleiner Sohn kommt etwas später dazu, ist offensichtlich gelangweilt. Ärgerliches Getuschel zwischen den beiden, das wir akustisch nicht hören, aber verstehen. Die Frau steckt dem italienischen Verleger eine Karte zu, darauf bittet sie um ein Treffen mit Miller. Die Szene wechselt. In einem Café bringt der Sohn die Mutter mit seinen Fragen nach dem amourösen Hintergrund ihres geplanten Treffens mit dem Autor in Bedrängnis, schließlich zum enervierten Gesprächsabbruch. Mit einem weiteren Schnitt befinden wir uns im Souterrain des Antiquitätengeschäfts der Frau. Miller erscheint. Das Treffen findet tatsächlich statt.

Mit diesen ersten Minuten hat Abbas Kiarostami sein Kino ein weiteres Mal aufs Schönste etabliert: Ein Filmemacher, der das vermeintlich Wichtige konsequent ins „Zwischen“ auslagert und dabei doch niemals Geheimnisse behauptet, nie „Verstecke“ der Bedeutung suggeriert, die es bloß aufzudecken gelte. Die Leerstellen, um die herum sich ein Netz feinster Andeutungen gruppiert, sind genau das: Unbesetzt und darum mannigfach besetzbar. In „Die Liebesfälscher“ grenzt diese schwebende Freiheit, die die radikale Emanzipation des Betrachters bedeutet, an ein Wunder. Sie steht am ehesten in einer Linie mit früheren Filmen Kiarostamis, jener Serie von Meisterwerken aus den 1990er-Jahren, die sich, mehr als zuletzt, konsequent der narrativen Überfrachtung von Filmbildern verweigert hatten: „Der Geschmack der Kirsche“ (1997), „Der Wind wird uns tragen“ (1999) und insbesondere „Und das Leben geht weiter“ (1992) und „Close-Up“ (1990).

In seinem neuen Film wird dieser rigorose Bruch mit dem „Filmerzählen“ mit den Mitteln des Romans auf besondere Weise evident, indem Kiarostami eine Ausgangssituation wählt, der das Erzählen normalerweise unabdingbar erscheint, nämlich ein Kennenlernen zwischen Mann und Frau. Dieser Situation schiebt er auf wunderbare und rätselhafte Weise den Diskurs um Original und Fälschung vermittels einer seltsamen Volte quasi unter: Die Antiquitätenhändlerin und der Autor begeben sich auf einen Ausflug in eines der umliegenden Dörfer in der Toskana, das jungen Paaren traditionellerweise als Hochzeitsort dient. Als eine Wirtin die beiden folglich als Ehepaar identifiziert, verzichtet die Frau nicht nur auf die Richtigstellung dieses Irrtums (ist es ein Irrtum?), sondern gemeinsam mit Miller beginnt sie ein Spiel der „Liebesfälschung“: Sie verweisen fortan auf eine vermeintlich gemeinsam verbrachte Vergangenheit, reden und streiten wie ein lange Jahre verheiratetes Paar. Abwechselnd spricht man Englisch, Französisch und Italienisch. Kiarostami verortet dieses Spiel in der Intimität des Autos, in dem die beiden fahren, und in der seltsamen Enge eines leeren Restaurants, die durch streng dialogisierende Schuss-Gegenschuss-Montage noch verstärkt wird. Dann aber entlässt seine Kamera sie auch immer wieder ins Freie, scheint ihnen in äußerster Beweglichkeit eher vorauszueilen als ihnen zu folgen. Personen treten in das und aus dem Bild, Passanten kommen mit dem angeblichen Paar ins Gespräch. Alles ist flüchtig, alles leicht. Wie in „Der Geschmack der Kirsche“ meint man, eine dritte Präsenz zu ahnen: Die der Kamera, des Filmteams oder unsere eigene als Betrachter. Hin und wieder scheinen die Frau und der Mann auf dieses Dritte zugehen zu wollen. Doch die Kamera ist stets schneller, entzieht sich als Zielpunkt der Bewegung. Warum jedoch diese zwei Menschen all dies tun und zu welchem Teil ihr Spiel tatsächlich „Fälschung“ und zu welchem vielleicht doch „Original“ ist, das bleibt kompromisslos im Zwischenraum der Zeichen.

Auf diese Weise wird Kiarostamis Film körperlos, löst sich geradezu ab von seinen eigenen Bildern, deren leuchtende toskanische Landschaften in den typischen langen Autofahrtenszenen wie überparfümierte Schönheiten vorbeifliegen. Desto weiter die beiden „Fälscher“ auf den sich schlängelnden, von Zypressen beschatteten Straßen fahren, desto zielloser sie über Marktplätze und durch alte Gassen schlendern, desto mehr, so möchte man meinen, wird – in Umkehrung des Wagner’schen Diktums – der Raum zur Zeit: Die Bilder werden porös, die Orte, die sie zeigen, durchlässig für eine Vergangenheit, die Miller und die Frau vielleicht gemeinsam an diesen verbracht, vielleicht aber auch gerade bloß erfunden haben können. Manche dieser Orte, insbesondere ein Hotelzimmer, in dem die Eheleute der „Erzählung“ vor fünfzehn Jahren ihre Hochzeitsnacht verbracht haben sollen, behaupten eine Eigenständigkeit abseits der Frage, ob sie nun in ein Spiel der Wiederholung realer Geschehnisse oder in eines der kunstvollen Fiktionen eingebettet sind. Sie werden zu Sehnsuchtsorten in der weiten Offenheit des Hier und Jetzt: Vielleicht ist nichts das, wonach es aussieht, doch im Graubereich jenseits der Eindeutigkeit schwingt hier etwas, das weder Andeutung noch „Hinweis“ ist.

Vor einigen Jahren erschien auch in deutscher Übersetzung ein Band mit Gedichten Kiarostamis, „In Begleitung des Windes“. „Die Liebesfälscher“ fühlt sich vielleicht an wie das Weiß zwischen Zeilen wie diesen: „Als ich aus dem Schlaf fuhr / War gerade Frühlingsanfang / Nicht weniger / Und nicht mehr“

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Tyrannosaur – Eine Liebesgeschichte

(GB 2011, Regie: Paddy Considine)

Im Schmerz gefangen
von Wolfgang Nierlin

Fahles Licht fällt in die menschenleeren Straßen und dunklen Hinterhöfe eines Glasgower Problemviertels. Joseph (Peter Mullan) ist mal wieder betrunken; und weil er beim Wetten Geld verloren hat und zum …

Fahles Licht fällt in die menschenleeren Straßen und dunklen Hinterhöfe eines Glasgower Problemviertels. Joseph (Peter Mullan) ist mal wieder betrunken; und weil er beim Wetten Geld verloren hat und zum Jähzorn neigt, tritt er gegen den eigenen Willen seinen geliebten Hund „Bluey“ zu Tode. Anderentags wirft der allein lebende Witwer wutentbrannt einen Stein in die Schaufensterscheibe eines Pfandleihers, prügelt sich mit Jugendlichen und streitet sich mit einem Nachbarn, der ihn mit seinem Kampfhund bedroht. Joseph ist ein einsamer, innerlich getriebener Mensch, dessen Abscheu vor den anderen einem zerstörerischen Selbsthass entspringt und der sich zwar kennt, aber doch öfters die Kontrolle über sein Handeln verliert.

In aschgrauen Bildern und mit konzentriertem Erzählduktus schildert der britische Schauspieler Paddy Considine in seinem kraftvollen Regiedebüt „Tyrannosaur“ eine trostlose, gewalttätige Welt. Deren Ausdruck ist eine gestörte, aggressive Kommunikation, die sich als umfassende, alle Lebensbereiche durchdringende Sprache der Gewalt in einem permanenten Gegeneinander manifestiert und nicht selten menschverachtende Züge trägt. Über die konkreten sozialen Bedingungen hinaus zeigt Considine aber vor allem Menschen, die ihr „wahres Ich“ nicht kennen und geradezu existentiell in ihrem Schmerz gefangen sind.

Als Joseph auf die gläubige Hannah (Olivia Colman) trifft, die im Stadtteil einen Charity-Shop betreibt, keimt nur sehr zögerlich Hoffnung auf. Denn die verheiratete, kinderlose Frau aus einem besseren Viertel, die wider alle Vernunft und gegen die eigene Erfahrung an das Gute im Menschen glaubt, ist selbst eine tief Versehrte und Gedemütigte, die von ihrem Mann geschlagen und vergewaltigt wird. Nackte Angst, verzweifelte Gegenwehr und zunehmender Hass bestimmen ihr Leben. Paddy Considine unterzieht seine Figuren einer harten Prüfung und konfrontiert sie dabei auf erschütternde Weise mit religiösen Zweifeln und der schwierigen Frage nach den Grenzen der Vergebung. „We were wasted all“, singen The Leisure Society zum Abspann des Films. Vielleicht entgeht der Mensch tatsächlich nicht seinen dunklen Schatten. Doch trotz aller Zweifel und Negativität eröffnet “Tyrannosaur” den Protagonisten des Films letztlich die Perspektive auf eine noch ungewisse, vielleicht aber bessere Zukunft.

Willkommen im Leben

(USA 1994, Regie: Victor Du Bois, Michael Engler u.a.)

Der Montag nach dem Breakfast Club
von Carsten Moll

Wer ist Angela Chase? Eine Frage, die sich auch Angela Chase, High-School-Schülerin aus einem fiktiven Vorort Pennsylvanias, immer und immer wieder stellt. Nachdenken, Grübeln und Träumen ist überhaupt wichtig in …

Wer ist Angela Chase? Eine Frage, die sich auch Angela Chase, High-School-Schülerin aus einem fiktiven Vorort Pennsylvanias, immer und immer wieder stellt. Nachdenken, Grübeln und Träumen ist überhaupt wichtig in „Willkommen im Leben“, um dem Alltag aus Schule, Familie und Wochenenden einen Sinn zu geben und herauszufinden, was das alles jetzt mit einem selbst zu tun hat. Nichts scheint sicher in Angelas Welt, alles ist Veränderung: Auf einmal ist da eine neue beste Freundin und mit ihr „Crimson Glow“ als neue Haarfarbe, ein Pickel kann eine ganze Woche ruinieren und selbst die Eltern sind nicht mehr das, für was man sie gehalten hat …

Die Stärke von „Willkommen im Leben“ liegt vor allem in der komplexen Darstellung eines Teenagerdaseins im Amerika der 90er. Sichtlich in der Tradition eines John Hughes‘ nimmt die Serie seine heranwachsende Protagonistin ernst und lässt sich auf ihre Lebenswelt ein. Angela gibt hier den Ton an, ihr Voice-Over erlaubt Einblicke in ihr Seelenleben (was manchmal durchaus peinlich sein kann) und kommentiert ihre Umwelt mit dem kritischen Verstand einer Pubertierenden. Selbst die zahlreichen Nebenstränge um Angelas Familie und Freunde handeln dabei stets auch von der Protagonistin, indem sie Angelas Gedankenwelt und inneren Konflikte illustrieren und widerspiegeln. Durch dieses verdichtete Erzählen wird zwar einerseits Angelas Charakter recht vielschichtig, andererseits werden die Probleme ihrer weniger behüteten Freunde wie Alkoholsucht, Rassismus und Homophobie nur oberflächlich betrachtet und heruntergespielt. Ihre Schicksale sind Motor für das Treiben im Hause Chase, in dem sich sonst nicht viel ändern würde außer den Frisuren. Angelas Kernfamilie rückt näher zusammen in Anbetracht des ganzen Elends da draußen, das im Hintergrund rauscht. Diese Fixierung auf das weiße Suburbia wirkt oft befremdlich, etwa wenn die Auftritte der zahlreichen schwarzen Schüler sich darauf beschränken im Hintergrund Rap zu hören und Malcolm X’ Rede über den Selbsthass der Afroamerikaner zur Erbauung für von Pickeln geplagte Teenies gerät.

Nach 19 Episoden kam bereits das Aus für „Willkommen im Leben“, unter anderem auch deshalb, weil Hauptdarstellerin Claire Danes nicht mehr Angela Chase sein wollte. Das kann man ihr nicht übel nehmen, da das Niveau zwar auch gegen Ende der Show noch hoch war, aber schon deutlich nachließ (von der fürchterlichen Weihnachtsepisode einmal ganz zu schweigen). Das Interesse an den Nebenfiguren blieb zu oberflächlich, stattdessen wurden die Probleme der Familie Chase wiedergekäut und die Serie begann immer selbstreflexiver zu werden. Angela denkt darüber nach, dass sie zuviel nachdenkt, ihre kleine Schwester verkleidet sich als Angela und ihre beste Freundin Rayanne imitiert sie; die Serie scheint geradezu besessen von der eigenen Protagonistin. Mit der Stagnation der Geschichte schleicht sich Selbstironie ein, als könnten auch die Drehbuchautoren das dauernde Seufzen und Haarsträhne-hinters-Ohr-streichen nicht mehr ernst nehmen. Dass dann so plötzlich Schluss war, bevor man über Haie springen konnte, kam „Willkommen im Leben“ zugute. Und Angela Chase war eh längst zu einer Ikone des Teen-Dramas geworden.

Zur DVD:
Bild- und Tonqualität sind okay. Auf der DVD befinden sich sowohl die deutsche als auch die englische Sprachfassung, allerdings gibt es keine Untertitel und auch keinerlei Extras.

All My Life

(EG 2008, Regie: Maher Sabry)

Seh'n wie ein Ägypter
von Carsten Moll

„Wie äußert man sich in einer Welt, in der die Möglichkeiten sich zu äußern von der Ideologie geprägt sind, der man widersprechen möchte“, fragt Frieda Grafe. Oder in diesem Fall: …

„Wie äußert man sich in einer Welt, in der die Möglichkeiten sich zu äußern von der Ideologie geprägt sind, der man widersprechen möchte“, fragt Frieda Grafe. Oder in diesem Fall: Wie sieht ein schwuler Film aus dem vorrevolutionären Ägypten aus? Wohlgemerkt einer, der sich nicht auf Codes und Andeutungen beschränkt, sondern einer, der raus will aus dem „Celluloid Closet“ und offen Schwulsein darstellen will.

Wo Sichtbarkeit lebensgefährlich und Unsichtbarkeit kein Leben ist, da bleibt oft nur der Weg in den Untergrund oder ins Exil. Beides verknüpft „All My Life“. Die No-Budget-Produktion entstand teils in Ägypten und teils in San Francisco. Gefilmt wurde mit einfachsten Mitteln, Laiendarstellern und der Ambition ein möglichst vielfältiges Bild vom homosexuellen Leben in Kairo zu zeichnen. Das Ergebnis ist ein Film, der zugleich selbstbewusst und hilflos wirkt; die Konventionen und die billige Machart arabischer Seifenopern treffen auf schwulen Softporno, dokumentarische Aufnahmen von den Straßen Kairos, die ans Direct Cinema erinnern, auf völlig überforderte Schauspieler.

In seinen besseren Momenten ist „All My Life“ unterhaltsamer Camp, eine Qualität, der er sich allerdings nicht bewusst zu sein scheint, denn immer wieder schielt der Film aufs Drama. Am Ende wartet die große Katastrophe, alle fliehen, sterben oder werden verhaftet. Selbstmord, Isolation und Exil, das wirkt in seiner unverhältnismäßigen Häufung nicht bloß fatalistisch und deprimierend, alles am Film von seiner Entstehung bis zur Ästhetik erzählt eigentlich eine andere Geschichte.

Zur DVD:
Bild und Ton sind den Produktionsbedingungen entsprechend schlecht. Auf der DVD ist die Originaltonspur, es besteht die Möglichkeit deutsche oder englische Untertitel dazuzuschalten. Als Extra gibt es einen selbstscrollenden Text zur Produktion und Rezeption des Films.

Attack the Block

(GB 2011, Regie: Joe Carnish)

Riot City
von Sven Jachmann

Es dauert keine fünf Minuten, bis die Invasion der Außerirdischen beginnt. Allerdings vorerst im recht überschaubaren Ausmaß, ist es doch zunächst nur ein einziges Alien, das da im Londoner Ghetto …

Es dauert keine fünf Minuten, bis die Invasion der Außerirdischen beginnt. Allerdings vorerst im recht überschaubaren Ausmaß, ist es doch zunächst nur ein einziges Alien, das da im Londoner Ghetto einschlägt, mitten in den Überfall einer fünfköpfigen, fast ausnahmslos schwarzen Jugendgang, die gerade eine Krankenschwester (Jodie Whittaker) beim nächtlichen Heimweg ausraubt. Mit dem bissigen Eindringling – ein schwarzhaariges, augenloses Scheusal mit gewaltigen Zähnen und von recht hundeähnlicher Gestalt – wird die Gruppe, nicht ohne Stolz, behände fertig und zum Witz dieses Debütfilms des englischen Komikers Joe Cornish zählt bereits, dass niemanden die Existenz eines Aliens so recht erschüttert: Segen einer popkulturellen Sozialisation, ganz sicher, womöglich aber ist man einfach nur vom Staat bereits genügend Schweinereien gewohnt, denen auch ein kleinwüchsiger Werwolf aus dem All nichts Schwerwiegendes mehr hinzufügen kann. Die Euphorie jedoch ist trotzdem groß: Für die Trophäe sollte sich die Klatschpresse finanziell nicht lumpen lassen und ansonsten gibt es schließlich noch Ebay. Also beschließt Anführer Moses (John Boyega) die Überreste am vermutlich sichersten Ort des Viertels unterzubringen, nämlich auf der Indoor-Marihuana-Plantage eines stadtbekannten Drogenhändlers mit Allmachtsattitüde, dem Panic Room des gesamten Blocks.

Statt die anschließende Invasionsgeschichte mit kuriosen Erklärungen zu unterfüttern – denn natürlich folgen ganze Horden noch weitaus größerer Ungetüme, die den Tod ihrer kleinen Vorhut rächen wollen -, bleibt der Film stets bei seinen Figuren, ihren Ritualen, ihrer Sprache (von der sich schwer sagen lässt, wieviel von ihr es in die deutsche Synchronisation geschafft hat, „Alter, Lan“-Idiome jedenfalls sucht man erfreulicherweise vergeblich), ihren Gesten und Codes und all ihren dem Alltag entnommenen Strategien der Krisenbewältigung in diesem hermetischen Block, den die Kamera nie verlässt. Die Polizei, die von der Invasion herzlich wenig bemerkt, ist da bloß eine weitere Gefahr. Überhaupt: Grundsätzlich sind es all die Stigmata einer vermeintlichen Underclass-Kultur, gegen die „Attack the Block“ die Möglichkeiten der Persiflage in Stellung bringt. Einen didaktischen Anstrich besitzt das nicht. Schauplatz und einige Laiendarsteller bürgen für Nähe zum „Milieu“, die Crew hinter der Kamera garantiert für geistreicheren Witz, der keineswegs in naiver Sozialromantik dümpelt (mit Edgar Wright, Regisseur von „Shaun of the Dead“ oder „Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt“ und enger Freund von Joe Cornish, ist unter den Produzenten denn auch eines der interessanteren Aushängeschilder des gegenwärtigen Popculture-Nerdism-Humors vertreten und Nick Frost, den schmierigen Couch-Potatoe Ed aus „Shaun of the Dead“, hat er als vom Typus nur unwesentlich veränderten Drogendealer gleich mitgebracht), sondern sich ganz auf die Muster der Erwartungen einschießt.

Die Fallhöhe entsteht aus der Vermengung von realem Vorurteil und fiktivem Genregesetz: Natürlich setzt man sich gegen die Alienbrut zur Wehr, dann jedoch mit dem Samuraischwert oder den Feuerwerkskörpern aus dem Jugendzimmer; natürlich wird man später in der Not mit der zuvor überfallenen Krankenschwester, die sich als Nachbarin herausstellt, zusammen arbeiten, muss dann aber auch auf beiden Seiten realisieren, dass die sozialen Grenzen kleiner als ein Fingerhut sind und natürlich spiegelt sich in den angriffslustigen Aliens der subalterne Status der Gang, was aber noch lange nicht mit einem heroischen Ausgang nach der Schlacht quittiert wird – für einen spritzigen Culture Clash gibt das Setting nichts her, dafür bleibt es eine Spur zu hart nah dran am Elend, verpackt in einen kernigen und ziemlich lustigen Genrefilm, der einiges mehr bereit hält, als er vielleicht zunächst verspricht.

Die Liebesfälscher

(F / I / B 2010, Regie: Abbas Kiarostami)

Zwischen Illusion und Realität
von Wolfgang Nierlin

Der Autor lässt auf sich warten, sein Platz vor dem neugierigen Publikum in der toskanischen Stadt Arezzo ist noch leer. Vertreten wird der britische Schriftsteller James Miller (William Shimell) in …

Der Autor lässt auf sich warten, sein Platz vor dem neugierigen Publikum in der toskanischen Stadt Arezzo ist noch leer. Vertreten wird der britische Schriftsteller James Miller (William Shimell) in der ersten Einstellung des Films gewissermaßen von seinem Buch „Copie conforme“ (Die perfekte Kopie), einer Studie über den Wert der Kopie. Doch entgegen dem saloppen Untertitel des Buches solle die gelungene Kopie nicht das Original vergessen machen, sondern zu ihm hinführen, sagt Miller schließlich kurz darauf im Rahmen der Buchpräsentation. Denn das Original verkörpere den authentischen Ursprung, von dem aus sich die Herkunft einer Kopie ableite. Kulturelle Abbilder seien deshalb Instrumente der Selbsterkenntnis. Doch was lässt sich verstehen, wenn sich das vermeintliche Original in einer Art fortschreitendem Rekurs selbst immer wieder als Kopie erweist und sich also seiner Einmaligkeit entzieht?

Nichts ist sicher in Abbas Kiarostamis neuem Film „Die Liebesfälscher“ (der im Original seinerseits „Copie conforme“ heißt), einem ebenso komplexen wie raffinierten Spiel um Sein und Schein, Fiktion und Wirklichkeit. Denn bald verknüpft der iranische Meisterregisseur den komplizierten Kunstdiskurs über subjektive und objektive Schönheit mit einer hintergründigen Ehekrise, die zunächst als Wiederholung einer Liebesgeschichte beginnt und im dunklen Kellergewölbe eines Antiquitätenladens ihren Ausgang nimmt. Hierher hat dessen kunstsinnige Besitzerin (Juliette Binoche) den schöngeistigen Autor eingeladen. Kurz darauf ist das sympathische Paar, das vielleicht nur als Modell, Kopie oder Abbild eines Paars fungiert, über Kunst diskutierend unterwegs, während sich in Spiegelungen die identifizierbaren Umrisse der Protagonisten verlieren oder ihr Spiegelbild zu ihrem Stellvertreter wird. Inmitten junger Brautpaare und alter Eheleute flanieren sie durch jenen Ort, der fünfzehn Jahre früher vielleicht der Ort ihrer Verheiratung war und jetzt zum imaginären Museum ihrer Erinnerung wird.

In doppeldeutigen Bildern und Dialogen, getragen von einem ruhigen, konzentrierten Tonfall, erzählt Kiarostami vom Wandel der Liebe, ihrer „süßen Illusion“ und dem „bitteren Geschmack der Realität“, dem Glück des Augenblicks und dem „Garten ohne Blätter“. „Das Ideal existiert nicht“, lässt er eine alte, lebensweise Wirtin sagen, während die Frau und der Mann mit Worten um das richtige Maß zwischen Selbstverwirklichung und gegenseitiger Verantwortung in einer Beziehung ringen. Ohne diesen modernen Streit zu lösen, plädiert Kiarostamis Film für die Kraft der einfachen, dem Nächsten zugewandten Geste und für „die Nachsicht mit der Schwäche der anderen“, was vom Alleinsein befreie. Vielleicht hat deshalb in diesem schönen Film Glockengeläut das letzte Wort.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Das kleine Zimmer

(CH / LUX 2010, Regie: Stéphanie Chuat, Véronique Reymond)

Den Bann brechen
von Wolfgang Nierlin

Ein nebliges, regenverhangenes Grau hängt über Lausanne und dem Genfer See und verschleiert mit seinem Dampf die jenseitigen, schneebedeckten Berge. In die fast farblose Welt der kalten, tristen Jahreszeit fällt …

Ein nebliges, regenverhangenes Grau hängt über Lausanne und dem Genfer See und verschleiert mit seinem Dampf die jenseitigen, schneebedeckten Berge. In die fast farblose Welt der kalten, tristen Jahreszeit fällt nur selten wärmendes Licht. Mit subjektivem Blick und auf verschiedenen, parallel montierten Handlungswegen inszenieren die beiden westschweizer Filmemacherinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond in ihrem preisgekrönten Langfilmdebüt „Das kleine Zimmer“ ('La petite chambre') die familiären und sozialen Kontexte ihrer beiden ungleichen Protagonisten, die im Verlauf des nachdenklich stimmenden Films eine starke innere Verbindung zueinander entwickeln.

Rose (Florence Loiret Caille) hat nach einer längeren Auszeit wieder angefangen, als Hauspflegerin zu arbeiten. Doch der Grund für ihre Zwangspause wird nur schrittweise in subtilen Andeutungen vermittelt: Durch ihre übergroße Sensibilität und Verletzlichkeit, einen gewissen Rückzug ins Private und durch Eheprobleme, zu denen auch gehört, dass der Sex mit ihrem Mann Marc (Eric Caravaca) nicht mehr richtig funktioniert. Dabei rückt immer wieder das titelgebende, in Blau gestaltete und komplett eingerichtete Kinderzimmer ins symbolische Zentrum, das von Rose wie eine Art Heiligtum bewacht wird: „Das Zimmer darf nicht verändert werden.“ Erst später erfahren wir, dass Rose im achten Monat ihrer Schwangerschaft ein totes Kind geboren hat.

Dass sie sich in ihrem Schmerz ausgerechnet dem alten, ebenso verbitterten wie zynischen Grantler Edmond (Michel Bouquet) öffnet, hat entgegen dem ersten Anschein gute Gründe. Denn der menschenfeindliche, stets mürrische Pflanzen- und Musikliebhaber fühlt sich von seinem Sohn vernachlässigt und abgeschoben (was das Drehbuch mit leisem Humor zuspitzt und abmildert). Noch schwerer jedoch wiegt für den ehemaligen Hobby-Bergsteiger der Verlust seiner Selbständigkeit und Vitalität bei gleichzeitig zunehmender Gebrechlichkeit. Die unausgesprochenen Gedanken an den Tod und die Angst vor dem „Verpflanzt-Werden“ liegen als schwere Schatten über seinem Lebensabend.

Nur langsam öffnen sich die beiden Versehrten füreinander. Die traumatisierte, in ihrer Trauer gefangene Rose und der gebrechliche, einsame Edmond entwickeln dabei einen intensiven Kräfteaustausch. Indem sie sich gegenseitig umeinander kümmern und sorgen, setzen sie einen doppelten Heilungsprozess in Gang, der schließlich den Bann des „kleinen Zimmers“ bricht und neben der „Rückeroberung der Identität“ (Chuat/Reymond) zugleich Versöhnung ermöglicht. Die emotionale Wiederholung des Traumas öffnet Rose gewissermaßen neu dem Leben, während Edmond auf einer bewegenden Reise in die Erinnerung Abschied nimmt. Auf geheimnisvolle Weise berühren sich Anfang und Ende, Ende und Anfang in dem von Chuat und Reymond stringent und gefühlvoll erzählten Kreislauf des Lebens.

The Shooting

(USA 1966, Regie: Monte Hellman)

Existentialismus in Westernform
von Harald Mühlbeyer

Banditen überfallen eine Postkutsche. Der Kutscher wird getötet, einer der Gangster verwundet. Drei Cowboys, Vern, Wes und Otis, sind auf dem Weg nach Texas und finden Unterschlupf in der Berghütte …

Banditen überfallen eine Postkutsche. Der Kutscher wird getötet, einer der Gangster verwundet. Drei Cowboys, Vern, Wes und Otis, sind auf dem Weg nach Texas und finden Unterschlupf in der Berghütte der Bande. Gastfreundschaft siegt über Misstrauen, die Banditen unter ihrem Boss Blind Dick gewähren Unterkunft für die Nacht. Morgens ist die Hütte umstellt, die Bürgerwehr eröffnet das Feuer. Wes und Vern können entkommen, doch sie werden verfolgt; und sie müssen sich irgendwie wehren.

Nach längerer Abwesenheit kommt Willett Gashade zurück zur kleinen, ertraglosen Goldmine, die er mit Bruder Coin und den Freunden Coley und Leland betreibt. Doch: Leland ist tot, Coin abgehauen, Coley völlig verängstigt – irgendwo da draußen muss ein Killer sein. Eine Fremde ohne Namen taucht auf, sie bietet Geld für Geleit nach Kingsley – doch sie hat eigentlich andere Pläne. In fordernder, koketter, unerbittlicher Art zwingt sie Willett und Coley, einer Fährte zu folgen, hinaus in die Wüste. Ein Killer, Billy Spear, schließt sich ihnen an, und während Coley naiv, kindisch und schusselig verliebt der Frau folgt, ahnt Willett, worauf das hinausläuft: auf ein großes Schießen.

„Ride in the Whirlwind“ (1965) und „The Shooting“ (1966) sind die zwei Filme, die den Ruf von Monte Hellman begründeten; einen Ruf, den er 1971 mit seinem meisterhaften Roadmovie „Two-Lane Blacktop“ vollauf bestätigte – um danach ins Loch zu fallen, um vor allem als Scriptdoctor, Second Unit Director, Berater und Cutter Arbeit zu finden – und immerhin Tarantinos „Reservoir Dogs“ zu produzieren. Diese Nicht-Karriere ist eigentlich eine Tragödie – weil das Künstlerische, die Qualität, dem Box-Office, den fehlenden Zuschauern unterliegt. Hellmans Filme sind Kultfilme – in dem Sinn, dass sie einer breiten Öffentlichkeit von Anfang an kaum bekannt waren, sprich: nur eine eingeschränkte Anhängerschaft hatten.

Minimalismus in Form und Inhalt strebt Hellman an – Einfachheit und Linearität, ohne dass alles klar, alles erklärt würde. Die simple Plotstruktur bedeutet nicht Flachheit, Oberflächlichkeit, Eindimensionalität – vielmehr ist sie die feste Basis, auf der sich einerseits Genreregeln, andererseits Charakterporträts entfalten können. Männer in elementaren Grundsituationen von Flucht oder Verfolgung sind zugleich – und unaufdringlich – Betrachtungen zum Menschen an sich: was diesen beiden Western das Label „existentialistisch“ eingebracht hat, das einerseits natürlich richtig ist, wenn man die Geworfenheit der Figuren in ihre Situationen bedenkt, für die sie nichts können, die für sie zunehmend absurd, weil unerklärbar werden. Andererseits ist auch klar: Es sind und bleiben Western, B-Filme mit sichtbar kleinem Budget, und auch auf dieser Ebene, unter Außerachtlassung aller philosophischen conditio-humana-Obertönen, funktionieren die Filme – besonders „The Shooting“ –, weil sie spannend, energisch, geradlinig, mit perfektem Timing und großem Gespür für die Landschaft inszeniert sind. Mit Gespür auch für Witz, der sich aus der Realität speist – vor dem Überfall unterhalten sich die Banditen über Furunkeln am Hintern, und Blind Dick geht hinter einem Felsen nochmal für kleine Räuberchen. Und mit Gespür für Zuspitzung: wie sich in „The Shooting“ zwei abgekämpfte, halbverdurstete, entkräftete Männer im Wüstenstaub tödlich prügeln…

„The Shooting“ und „Ride in the Whirlwind“ wurden 1965 direkt nacheinander, mit einer Woche Pause dazwischen, gedreht, in Utah, in einer Landschaft, die Steppe, Canyons, Bergpanorama und Wüste bietet. Roger Corman finanzierte die Filme – ungenannt in den Credits –, denn klar: zwei Filme auf einmal zu drehen ist billiger als einen allein. Monte Hellman und Jack Nicholson produzierten, letzterer spielt in beiden Filmen mit und schrieb für „Ride in the Whirlwind“ auch das Drehbuch. Und Monte Hellman ließ aus den Drehbüchern, die ohnehin kaum Dialoge enthalten – das zu „The Shooting“ schrieb Carole Eastman unter dem Pseudonym Adrien Joyce – jede Einführung der Figuren weg, die Vorgeschichten werden nur angedeutet. Die Cowboys haben irgendwelche dunkle Flecken auf ihren Westen, und wenn es nur die Arbeitslosigkeit sein sollte; Willett Gashade war mal Kopfgeldjäger gewesen. Mehr erfährt man nicht; mehr muss man nicht wissen, weil es stets um die Auseinandersetzung mit dem Hier und Jetzt geht.

Coley, der kindische Typ in „The Shooting“, spielt Geduldspiele, solche, bei denen man kleine Kugeln in kleine Löcher bugsieren muss. Schafft er natürlich nicht: Nicholson als Billy Spear machts ihm dann vor; und klar, wer später wen erschießen wird. Vern und Wes, die unschuldig Verfolgten in „Ride in the Whirlwind“, nehmen in ihrer hilflosen Verzweiflung eine Farmerfamilie als Geiseln. Und spielen zum Zeitvertreib Dame, denn mehr als Warten können sie nicht; Warten auf die Männer, die sie aufknüpfen wollen.

Beide Filme sind jetzt im DVD-Doppelpack erschienen; denn beide Filme gehören unbedingt zusammen. Allerdings fehlen alle Extras, und den hellmanschen Minimalismus auf die Ausstattung zu übertragen ist bei diesen Filmen unangebracht. Zumal in den USA DVD-Ausgaben mit Audiokommentaren von Hellman und der Schauspielerin Millie Perkins existieren.

Das Schweigen

(S 1963, Regie: Ingmar Bergman)

Unter uns Pastorentöchtern
von Andreas Thomas

Es ist heiß, schon bevor die Sonne aufgeht. Ein Zug fährt durch ein unwirtliches, fremdes Land. Das Fahrgeräusch klingt merkwürdig unecht. In einem Abteil zwei junge Frauen und ein Kind. …

Es ist heiß, schon bevor die Sonne aufgeht. Ein Zug fährt durch ein unwirtliches, fremdes Land. Das Fahrgeräusch klingt merkwürdig unecht. In einem Abteil zwei junge Frauen und ein Kind. Die eine schwitzt, die andere hustet Blut ins Taschentuch. Im Nachbarabteil zwei finstere Militärs, auf dem Gegengleis ein nicht endender Güterzug mit Militärpanzern. Irgendwie sehen die aber aus wie schlecht beleuchtete Spielzeugpanzer in Großaufnahme. Der Schaffner ruft etwas ins Abteil, in einer Sprache, die die drei nicht verstehen. Die Reise wird unterbrochen. In der fremden Stadt, in zwei Suiten eines herrschaftlichen Hotel aus der Zeit des Jugendstils warten sie darauf, dass Ester, die Schwerkranke, sich erholt. Der Junge, Johan, erforscht die langen Flure mit einer Spielzeugpistole in der Hand. In einem Aufbäumen gegen ihr Leiden raucht, onaniert und betrinkt sich Ester, bis sie zusammenbricht. Ein skurriler, alter Hotelangestellter nimmt sich ihrer an. Kommunikation in Zeichensprache. Dann wird sie wieder „vernünftig“, arbeitet an einer Übersetzung. Anna, die Gesunde, die Mutter Johans, lässt sich von ihrem Sohn den Rücken einseifen, schläft nackt neben ihm im Bett, streunt durch Spelunken und Varietés, und „hat“ einen Kellner auf dem Fußboden einer Kirche. Später holt sie ihn ins Hotel. Nachts biegt vor dem Hotel ein Panzer um die engen Straßenecken.

Eine merkwürdiger Gefühlsknoten bestimmt das Verhältnis der Schwestern. Ester neidet Anna ihre Sinnlichkeit, aber mehr noch, sie ist „gedemütigt“ durch Annas Liebhaber, weil sie sie „liebt“. Doch je mehr die gesunde Anna diese Liebe spürt, desto mehr muss sie ihre Schwester verletzen – später treibt sie es vor ihren Augen mit dem Mann. Sie weiß, dass sie sie damit nur noch kranker macht. Aber die Kranke will unter den „unsittlichen“, sinnlichen Exzessen ihrer Schwester auch leiden. Masochistische Selbstzerfleischung einer Moralistin?

Die Schizophrenie aus dem Pfarrhaus

Zwei Prinzipien stehen zunächst gegeneinander: Moral, Vernunft, Ordnung gegen Unmoral, Sinnlichkeit, animalische Instinkte. Bemerkenswert, wie okkupiert der Begriff „Moral“ zu Beginn der Sechziger noch war durch so etwas wie Sexualfeindlichkeit. Die „Moral“ jener Zeit war reduziert auf Keuschheit, Sinnenfeindlichkeit, und dementsprechend galt das außereheliche Ausleben von Sexualität als das genuin „Unmoralische“. Kein Ort konnte diesen Konflikt zwischen Lust und Kontrolle, Libido und Scham, „Sündigem“ und Schuld besser bündeln als das traditionelle evangelische Pfarrhaus. Der Pastorensohn Ingmar Bergman ist der Präzedenzfall eines Künstlers, der sich zeitlebens an seinem protestantischen Erbe abgearbeitet hat. In seinen Filmen spiegelt sich – psychoanalytisch reflektiert – die gesamte Phänomenologie einer strengen protestantischen Erziehung, Denkweise, Selbstwahrnehmung, Weltwahrnehmung. Allem voran der unauflösbare Konflikt mit der nicht einlösbaren Schuld des Ich. In der evangelischen Religion wird der Mensch zum Glauben an Gott nur befähigt über die Erkenntnis, dass er in sich selbst immer schwach, schuldhaft, mit Sünde behaftet sei. Erst in dem Akt dieser Art von Selbsterkenntnis und in dem Eingeständnis der totalen eigenen Unzulänglichkeit liegt für den Protestanten die Chance der Vergebung durch Gott. Das bedeutet, dass dem protestantischen „Gut“-Sein-Können immer die Einsicht in das gegebene persönliche „Böse“-Sein vorausgegangen sein muss. Ergebnis dieser Rechnung: Eine latente schizoide Grunddisposition. Denn ein Ich, das sich selbst gleichzeitig, oder kurz aufeinander, als absolut mangelhaft oder als „Werkzeug des Guten“ verstehen muss oder darf, kann sich selbst nicht wirklich verstehen (im Sinne von: akzeptieren), und muss in einer unauflösbaren Angst vor einem starken Über-Ich leben. In der Pfarrhaus-Kindheit wird diese moralische Instanz vom – von Amts wegen mit göttlichen Erkenntnissen und Sanktionsbefugnissen versehenen – strafenden und belohnenden Vater verkörpert. Jenem Vater, dessen moralischer Zeigefinger weiter nach oben verweist, zu Gott, dem allergrößten Über-Ich, das alles sieht. Ein streng protestantisch erzogener Erwachsener leidet häufig an einem überentwickelten Über-Ich, seinem „schlechten Gewissen“. Er empfindet sein Es als etwas „Böses“ und als Bedrohung, versucht daher seine Triebe stärker zu unterdrücken und zu verdrängen als der Normalmensch, und er ist deshalb oft nicht in der Lage ein ausgeglichenes, selbstbewusstes und starkes Ich zu entwickeln, weil ihm verwehrt bleibt, sich in seiner, „Unvollkommenheit“ oder seiner Binarität zu akzeptieren.

Sex und Schuld

Die beiden Frauen in „Das Schweigen“ mögen vielleicht auch Symptome einer modernen Welt sein, in der Kommunikation unmöglich geworden ist – so wie der Film häufig verstanden wurde -, aber eher noch sind sie wie die beiden divergierenden Pole eines protestantisch sozialisierten, sprich: beschädigten, Wesens. Nicht wirklich zwei eigenständige Figuren, sondern ein Es und ein Über-Ich spielen die Hauptrollen in Ingmar Bergmans Film. „Das Schweigen“ portraitiert die ambivalente Psyche eines gründlich mit christlichen Werten beackerten Menschen, der erkannt hat, dass Gott aus seiner Welt verschwunden ist. Was ihm bleibt, ist das fundamentale Bewusstsein seiner Schuld und Schlechtigkeit. Wer hier wirklich schweigt, ist Gott, und was übrig bleibt, ist das, was diesen Gott stets vorbereitet und ermöglicht hat, Gottes wichtigste Vorbedingung: Die Selbstverachtung des Menschen. Diese Selbstverachtung äußert sich im Film am deutlichsten im Umgang der Frauen mit ihrer Sexualität und in der Art der Darstellung von Sexualität generell. Beide sind sexuell gestört. Anna, die Jüngere, Gesunde, Sinnliche steht für das (nicht mehr unversehrte, vom Über-Ich beeinflusste) Es. Sie ist weniger sexsüchtig als zwanghaft promiskuitiv. Für sie ist Sex Flucht, Vergessen, antikommunikativ – an ihrem Liebhaber schätzt sie besonders, dass sie seine Sprache nicht versteht – und Sex ist Trotz, gegen ihre Schwester, also gegen die moralische Instanz (die auch marginal noch in ihr selbst verwurzelt ist), gegen ihr schlechtes Gewissen, das sie versucht zu bekämpfen. Mit dem Grad des Verbotenseins aber – das hat sich einigermaßen herumgesprochen – steigt der Reiz einer Sache und wo ein strenger, allmächtiger Gott ein Gebot/Verbot auferlegt hat, scheint für Anna der Wunsch, es zu übertreten, übermächtig geworden zu sein. Eine wiederholte sexuelle Zwangshandlung also, gegen ein zu starkes Über-Ich. Keine autonome oder erwachsene Entscheidung, nicht ein überdurchschnittlich ausgeprägter Hormonhaushalt treibt sie in die Arme fremder Männer, sondern der Drang, Verbotenes zu tun, moralisch „schlecht“, schmutzig (beim Geschlechtsakt in der Kirche – größtes Sakrileg! – beschmutzt sie tatsächlich ihr Kleid) zu sein, um endgültig verstoßen werden zu können, aus den Moralvorstellungen eines sinnenfeindlichen Elternhauses, aus den „behütenden“ Händen eines Gottes, der Selbstaufgabe und Unterordnung verlangt. Doch Annas „Gewissen“ ist zu stark ausgeprägt, sie kann sich nicht wirklich befreien. Mit jedem Schritt gegen die Norm verletzt sie sich selbst. Weil sie sich und ihre Sexualität als weiterhin schmutzig empfindet und weil ihr die Mittel fehlen, sich argumentativ zu rechtfertigen, sich kulturell und rational zu verteidigen und zu bejahen, wird ihr Emanzipationsversuch scheitern, wird das, was sie tut, immer mit Gewissensbissen behaftet bleiben.

Auf dem Weg in die vaterlose Gesellschaft

Der Vater der Schwestern ist die Schlüsselfigur. Nach seinem Tod wollte Ester nicht mehr weiterleben – und es scheint, als erfülle sich ihr Wunsch. Das Leben hat für Ester seinen Sinn verloren, so sehr hat sie ihren Vater geliebt, so wichtig war er für sie, oder so abhängig war sie von ihm. Der Vater, der Sinnstifter, ist, wenn man so will, Bergmans Pastorenvater, aber zugleich der Vater im Himmel. Im protestantischen Pfarrhaus regiert immer das Phantom zweier Väter, deren klare Grenze für die Psyche von Pastorenkindern nur schwierig zu erfassen ist. Der Vater hat seine Kinder verlassen, die Kinder treiben alleine durch eine Welt mit einer fremden Sprache, die unverständlich bleibt und ohne Sinn, weil sie kein Vater mehr erklärt, weil kein Vater mehr zu ihnen spricht. „Das Schweigen“ steht gleichermaßen für das Schweigen des Vaters wie für das Verstummen Gottes.

Ester, die Übersetzerin, hat nichts mehr zum Übersetzen. All die „guten Büchern“, die sie früher übersetzt habe, haben ihr nicht helfen können, sagt Anna. Ester, das schwache Bindeglied zwischen Metaphysik und Physis, die Schwester mit dem viel ausgeprägteren Über-Ich, mit den hohen Prinzipien, ist arbeitslos geworden, weil (Anna: „Ohne ewig Bedeutungsvolles kannst du nicht existieren!“) sie keine Zeichen und keine Bestätigung mehr bekommt von Gott, auf den sie angewiesen war. Auch hier sind zwei Übertragungen möglich: 1. Der moderne Mensch in der modernen Welt hat seinen Glauben verloren, deshalb ist er allein und ohne eine Aufgabe und sein Leben bedeutungslos geworden. 2. Das Pastorenkind Bergman hatte von klein auf gelernt, dass sein Innerstes sündhaft ist, hatte seine libidinöse Seite verdrängt, sein Über-Ich ausgeprägt, um seinem Vater zu gefallen und festgestellt, dass der versprochene Handel: Angst und Selbsterniedrigung gegen Liebe und Sinngebung von Außen, vom Vater (oder Gott), ein unfairer Handel war.

Schwellkörper, Schleim und Krebsgeschwüre

In einem Interview beschreibt Bergman die Situation, wenn er Zuhause etwas angestellt hatte: Zuerst kam die körperliche Züchtigung, danach die Zeitspanne, in der die Kinder Reue fühlen sollten, das endlos erscheinende Warten auf den Moment, wenn der Vater kommt, man ihn um Entschuldigung bittet und er einem endlich vergibt (im Film „Fanny und Alexander“ (Fanny och Alexander, 1982) stellte Bergman dieses Ritual sehr genau dar). In „Das Schweigen“ kommt der Vater nicht mehr, die Vergebung durch Gott bleibt aus und das Verlorensein in der Sünde ist zum Dauerzustand geworden. Am meisten leidet darunter Ester, die die christlichen Rituale von Sühne und Vergebung schon so internalisiert hat, dass sie weder zu einer trotzigen Sinnlichkeit, wie ihre Schwester, noch zu einer selbständigen und unabhängigen „geistig-moralischen“ Existenz fähig ist. Ihre Verachtung des eigenen Körpers, ihr Ekel vor dem Eros („… alles nur Schwellkörper und Schleim, Schwellkörper und Schleim …“) und der Verlust ihrer (metaphysischen) Stütze durch den Vater oder Gott führen sie in die Krankheit, die Selbstdestruktion, machen sie also rein physisch schon lebensunfähig.

Die Schwestern wirken wie zwei mehr oder weniger gescheiterte Versuche, mit den Resultaten einer strengen christlichen Erziehung – vielleicht auch einem dogmatischen, christlichen Weltbild – zu leben: Ihre gegenseitige Abhängigkeit, ihre Hassliebe aber deutet darauf, dass sie eben, so wie Es und Über-Ich, die verschiedenen Seiten (und deren Selbstgespräche) innerhalb einer einzigen Person sein könnten. Auch die Kamera zeigt ihre Gesichter immer wieder neben- und übereinander arrangiert, beide Gesichter manchmal wie in einem Picasso-Portrait kubistisch zu einem verschmelzend. Doch müssen sie sich immer wieder voneinander trennen. Körper und Geist können nicht zueinander finden. Anna ahnt, dass Ester sie hasst, weil sie sich durch sie bedroht fühlt, doch Anna kann sich nicht erklären warum, ihr fehlen die Worte, der Intellekt, denn sie ist Gefühl und Körper. Anna sehnt sich nach Esters Liebe, weil sie nie vom Vater geliebt wurde, dessen Rolle Ester versucht zu übernehmen. Doch die zu rationale Ester kann ohne Anna, den Körper, die Lust, nicht leben, obwohl sie sich davor ekelt, deshalb ist sie todkrank. Beide sehnen sich nach einem harmonischen Miteinander, nach psychischer Einheit, nach einem Ich, das sie integriert.

Die Kunst als Chance

„Das Schweigen“ analysiert eine seelische Krankheit. Zwei Seiten einer Person sind aufeinander angewiesen, weil jede für sich unvollständig ist. Die innere Zerrissenheit dieser Person ist nur aufzuheben durch eine Instanz, die sie beide gleichermaßen achtet und bejaht. Diese Instanz ist anscheinend nicht vorhanden. Der Vater, Gott, der bisher für eine zweifelhafte Einheit sorgte – denn offenbar hat er Ester mehr geliebt als Anna – ist tot. Es bleibt den beiden Schwestern aber noch ein verbindendes Element, nämlich Annas Sohn Johan. Beide lieben das Kind auf ihre Weise, die Mutter in ihrer Sinnlichkeit, die Tante mit ihrer idealistischen Liebe. Und Johan liebt jede für sich, wie Kinder es tun, auf unvoreingenommene Weise. Johan beobachtet, registriert, nimmt den Konflikt auf, ohne ein Urteil zu fällen. Weil Johan noch nicht „fertig“ ist, besitzt er noch die Freiheit, abzuwägen. Auch wenn seine Liebe noch nicht stark genug ist, die Frauen vor ihrem Schicksal zu bewahren, verkörpert Johan die Chance auf eine Zukunft, in der es zu einer Lösung des Dilemmas kommen könnte. Johan ist die gewonnene Freiheit Bergmans, seinen eigenen biografischen Konflikt distanzierter zu betrachten und Johan ist inmitten der Sprachlosigkeit eine Sprache gegeben, die er versteht und in der er sich artikulieren kann: Die Kunst. Die Liliputaner im Hotel sind ihm nicht nur aufgrund ihrer Größe ähnlich, denn sie sind auch Schauspieler (in ihrem „Spiel“ sind sie auch Kinder, und Johan ist auch ein Puppenspieler), Gaukler, Komödianten. Sie erkennen ihn als einen der ihren und nehmen ihn wie selbstverständlich auf in ihren Kreis. Wenn Gott tot ist, bleiben andere Formen des Fragens, der Suche und der Freiheit zur Distanz, nämlich die der Kunst.

Johan ist Bergmans Weg oder Perspektive sich mit seiner Herkunft und mit sich selbst auseinander zu setzen. Ester schreibt Johan Wörter in der fremden Sprache in einen Brief, Wörter, die er vielleicht verstehen wird, wenn er erwachsen ist. Der alte Glaube kann nicht überleben, er ist auf seine Weise gescheitert, aber vielleicht barg er doch geheime, verschlüsselte Wahrheiten. Johan wird später mehr wissen, wenn er gelernt haben wird, das Erbe seiner Tante zu entziffern. Doch Johan wird vollständiger sein als seine beiden vereinzelten „Mütter“, weil er beide beerben wird, und weil ihm die Kunst vielleicht dazu verhelfen wird, anscheinend Unvereinbares zu vereinen, d.h. zu verstehen.

Porno, Krieg und Männlichkeit

Als „Das Schweigen“ 1964 in die deutschen Kinos kam, stand der Film sofort unter „Pornographieverdacht“. Immerhin gibt es zwei – sittsam bedeckte – Koitusse und zwei Paar nackter Brüste zu sehen – vor Oswald Kolle zuviel (nicht nur) für den deutschen Bürger. Ein Teil der Kritik empfand den Film aber auch als sexualfeindlich, was ja insofern passt, da die praktizierte Sexualität im Film immer als etwas „Schmutziges“, also mit Sündhaftigkeit behaftet, gezeigt wird – fraglich dabei, ob das nur daran liegt, dass sein Thema eine (auch) sexualfeindliche Moral ist. Denn so dunkel und bedrohlich sind die sexuellen Begierden, so sehr reißen sie Anna in einen Schlund der Gleichgültigkeit und seelischen Kälte, dass die Sexualität durchgehend äußerst schlecht abschneidet. Gleichzeitig aber besteht ganze Film – abgesehen von seinen provokanten Szenen – aus sexuellen Unterschwelligkeiten, Konnotationen, und Symbolen, wie sie sich ein Sigmund Freud kaum besser hätte ausdenken können.

Die wirkliche Haupt- und Entwicklungsfigur ist eigentlich Johan, das Kind, mit dessen Augen und Ohren wir eine merkwürdige Welt entdecken. Mit einer „realen“ Außenwelt hat das unheimliche Land im „Schweigen“ nicht viel gemein, abgesehen davon, dass es ein paar „Ostblock“-Stereotypen versammelt. Das Land, in das die Frauen und und das Kind geraten sind, ist ein „Männerland“, und die Männer darin sind meist dumpf, triebhaft, unverstehbar, bedrohlich. Auf den Straßen werden von Männern Befehle gebellt, Leute zusammengetrieben, erschossen. Das Männliche also als fremdartige Bedrohung von Außen. Der Zufluchtsort und die Abgrenzung gegen dieses Außen ist das merkwürdig altmodische und luxuriöse Hotel, worin Frauen von merkwürdigen, aber hilfsbereiten Männern beschützt werden. Nur Anna traut sich hinaus in diese bedrohliche Welt, sie lässt sich auf diese Männerwelt ein, indem sie sie in sich eindringen, sich penetrieren lässt, und als sie den fremden Mann mit in das Hotel nimmt, bricht die männliche Sexualität, und mit ihr alles Bedrohliche, ein in das vorläufige Zuhause Johans. Als Anna mit dem Kellner schläft, drängt zeitgleich ein Panzer – ein kompletter männlicher Geschlechtsapparat – durch die enge Straße. Der Geschlechtsakt als militärische Okkupation, als aggressiv männliches Prinzip. Johans Zuhause, bis dahin ein Ort der relativen Geborgenheit durch zwei Mütter, ist gefährdet durch einen Konkurrenten, den neben dem Kind zweiten physisch mit (seiner physischen) Mutter kommunizierenden Mann, der wahrlich nicht viel von einer Vaterfigur hat, dessen Rolle aber, wie die eines (unvertrauten) Vaters, den klassisch freudschen Ödipus-Konflikt hervorruft.

Wenn Vater schwieg

Wenn das Fremde das Männliche ist, und wenn die Männer eher unverstehbar bleiben, dann mag das auch von der Abwesenheit der Väter dieser halben Familie herrühren: Johans Großvater, vermutlich ein Mann von großer Autorität, ist gestorben und hat offenbar keinen Nachfolger mehr in Johans Vater gefunden, der sich entweder nicht für Frau und Kind interessiert, oder von seiner promiskuitiven Frau bald verlassen wurde. Präsente, das heißt auch lebendige und psychologisch nachvollziehbare Männer gibt es nicht in Johans Familie. Nur von Männern allein gelassene Frauen. Bergman sagte zwar zu seinem Film, auch Männer hätten für ihn vorstellbare Hauptfiguren in „Das Schweigen“ sein können, vermutlich aber hätten wir dann nicht so viel über Bergmans Verhältnis zu seinem „emotional abwesenden“ Vater erfahren, den er als in seinem Beruf sehr repräsentativen, moralischen, im Privaten aber als sehr unsicheren, überempfindlichen und zurückgezogenen Menschen beschrieben hat. Der Vater als einerseits strenge moralische Instanz und als Repräsentant seiner Religion, andererseits als psychisch nicht autonome Persönlichkeit, also keine einfache männliche Identifikationsfigur. Auch hierauf passen wieder zwei Interpretationen, die individuelle: ein zum Scheitern verurteiltes, da schizoides protestantisches männliches Konzept, also das fehlende funktionierende Vorbild für ein männliches Kind – daraus resultierend ein Unbehagen und ein Misstrauen gegenüber jeglicher Maskulinität – und die gesellschaftliche: die spürbare Auflösung eines funktionierenden (männlich geprägten) Überbaus, z.B. die des Patriarchats in den sechziger Jahren, welche bekanntlich zunächst zu der eher „femininen“ Hippiebewegung und später zum offen antiautoritären Aufbegehren gegen sämtliche patriarchischen Strukturen in der Gesellschaft führte.

Wenn Männlichkeit infolge ihrer Verlustes an Integrität und Glaubwürdigkeit eher zu reiner Roheit und aggressiver Stumpfheit verkommen ist, bleiben nur „weibliche“ Konzepte wie Zärtlichkeit und Sensibilität. Beides findet Johan bei seinen „Müttern“; aber nur ansatzweise, denn die Frauen haben ja nicht lernen können, sich in ihrer Weiblichkeit zu emanzipieren, und wenn Anna sich zwar von Johans Vater getrennt haben mag, wenn sie auch einen – etwas zwanghaften – Weg zum Ausleben ihrer Sinnlichkeit gefunden hat, so kann sie sich doch nie richtig von ihrem schlechten Gewissen trennen, auch nicht, wenn sie dagegen an kopuliert. Die physisch nicht lebensfähige Ester hingegen verfügt über geistige und kulturelle Werte, wie über die Musik Johann Sebastian Bachs. „Musik“ übrigens ist das einzige Wort, das es auch in der fremden Sprache gibt, eben so wie auch die Sprache der Musik (=der Kunst) von jedem Menschen verstanden werden kann, und sie steht – speziell aber natürlich die Musik Bachs – für ein humanistisches (aber – typisch für Bergman – heimlich auch wieder christliches) kulturelles Erbe, das offenbar den Vater und scheinbar selbst Gott überdauert hat. Ester hat sich also ideelle Werte erhalten, aber sie kann sie ihrer Schwester nicht vermitteln, weil die alten kulturellen und moralischen Konzepte nicht den ganzen Menschen berücksichtigen, velleicht auch nie berücksichtigt haben. Fragmentarische Personen und Lebenskonzepte, durch Gott, Vater und Patriarchat beschädigt, also sind diese Frauen, weibliche scheiternde Lösungsversuche, die zu integrieren nur Johan, der zukünftige „neue“ Mann vielleicht in der Lage sein wird. Auch dieser Lösung mag noch ein Rest patriarchischen Denkens durch den Regiseur innewohnen.

Europäisches Kino der Einsamkeit

„Das Schweigen“ reihte sich – einmal abgesehen von der typisch Bergman’schen moralischen Zerknirschung – ein in einen neuen europäischen Filmtypus zu Beginn der sechziger Jahre, der das Ende alter Wertvorstellungen, das Problem einer Moderne der Einsamkeit und Kommunikationslosigkeit thematisiert hatte. Michelangelo Antonioni mit „Liebe 1962“ (L’Ecclise, 1962) und einigen anderen Filmen, Federico Fellini mit „Das süße Leben“ (La Dolce Vita, 1962) und „Achteinhalb“ (8 ½, 1963), Louis Malle mit „Das Irrlicht“ (Le Feu Follet, 1963), beschrieben ziellose Existenzen in einer Gegenwart, in der gesellschaftliche Konventionen nur noch leere Formen und Rituale geworden sind, für die aber auch die Flucht in die Ekstase oder Dekadenz kein Ersatz sein kann. Während Antonioni die Einsamen seiner Filme sehr distanziert und mit kühler Ästhetik beobachtete, entwickelten Alain Resnais, Fellini (besonders in „Achteinhalb“) und Bergman eine Filmsprache der personalen Subjektivität, des Unbewussten, innerer, seelischer Zustände – beeinflusst durch die Freudsche Traumdeutung und Psychoanalyse und mit Anklängen an die Surrealisten, wie z.B. Buñuel („Das goldene Zeitalter“; L’Age d’or, 1930). Das Haus oder die Wohnung (so wie das Hotel in „Das Schweigen“) standen bei manchen dieser Filme für die Persönlichkeit, die ihre verschiedenen Impulse und Normen versucht zu koordinieren, und die sich von außen bedroht fühlt. Sicherlich beeinflusst durch „Das Schweigen“ zeigte Polanski in „Ekel“ (Repulsion, 1965) den zur Realität werdenden Alptraum einer durch (männliche) Sexualität verstörten Frau, die sich in ihrer Wohnung verschanzt. Im Unterschied zu „Das Schweigen“, worin die stilisiert alptraumhafte Wirklichkeit nie in Frage gestellt oder außer Kraft gesetzt wird, aber unterscheidet Polanski in „Ekel“ eher, was darin subjektiv verzerrte Wirklichkeit und was real sein soll. Durchweg künstliche, innere Wirklichkeit symbolisierende Welten wie in „Das Schweigen“ gab es vorher auch in Alain Resnais’ Film „Letztes Jahr in Marienbad“ (L’Année dernière à Marienbad, 1961) und über zehn Jahre später in David Lynchs erstem Langfilm: „Eraserhead“ (1977).

Schweigen und Zerknirschung

Wie schon erwähnt, wurde „Das Schweigen“ gemeinhin als Metapher für das Verschwinden Gottes gedeutet und mit dem Erscheinen des Films wurde Ingmar Bergman eine Wandlung zum Agnostiker attestiert. Wie eine Befreiung von protestantischen Dogmen und Zwängen wirkt der Film allerdings noch kaum. Mit jeder Minute seines Schweigens, mit jeder weiteren sündhaften Handlung der Menschen wird die Moral und sozusagen die negative Präsenz dieses Gottes umso deutlicher, erdrückender und schwerwiegender – und sein Schweigen umso lauter. Zu einem großen Teil handelt der Film von Schuld und Schuldgefühlen, und so auch insgeheim von der Sehnsucht nach einer Vergebung durch einen eben nicht toten, sondern noch irgendwo verborgenen Gott. Würde ein Regisseur seinen Film „Das Schweigen“ nennen, wenn er dabei nicht an ein Subjekt denken würde, das des Sprechens mächtig ist, das also auch existiert?

Erst sehr viele Filme und Kämpfe später, vielleicht am ehesten mit seinem Film „Fanny und Alexander“, scheint Bergman wirklich gelernt zu haben, Vater und Gott, protestantische Erziehung und Glauben als etwas von einander Getrenntes, gänzlich Verschiedenes zu betrachten und Gott aus seinem Entitätenkatalog zu eliminieren – seine protestantischen Ängste aber umso genauer unter die Lupe zu nehmen. Dass er mit „Fanny und Alexander“ tief mitten ins fiese Herz des (puritanischen) Protestantismus getroffen hat, möchte ich mir, in meiner Eigenschaft als Pastorensohn, erlauben zu bestätigen. „Das Schweigen“ hat schon Ansätze dessen, was „Fanny und Alexander“ perfektionieren wird, aber ist teilweise noch verstrickt in nicht abtragbare moralische Zerknirschung. Diese protestantisch-abendländische Zerknirschung, diese prüde, sexualfeindliche und ziemlich unmenschliche Haltung ist allerdings auch zu Beginn der Sechziger in Europa – auch unter „Nicht-Pastorentöchtern“ – viel weiter verbreitet gewesen als zu ihrem Ende, als die sogenannte „Sexuelle Revolution“ stattfand. Bergmans gebrochen protestantischer Blick, die schuldgedrückte, freudlose, ja absolut humorfreie Zeichnung moralisch verwerflicher Verhältnisse, die „Das Schweigen“ exemplarisch vormachte, hat sich allerdings noch lange gehalten, zumindest im konservativen Fernsehen, im deutschen, in einer Fernsehserie wie „Der Kommissar“, worin häufig die sexuelle Freizügigkeit irgendwelcher Hippiemädchen zwangsläufig Mord oder Totschlag nach sich zog. „Kommissar“-Autor Herbert Reinecker hat später auch Folgen der bekannteren Kriminal-Serie „Derrick“ geschrieben, und die lief bis in die Neunziger. So viel zu unser aller christlichem, protestantischem, patriarchischem Erbe …

La Promesse – Das Versprechen

(B / F / LU 1996, Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne)

Sterben für die Marktwirtschaft
von Andreas Thomas

Im Titel schon enthalten: Die moralische Qualität des Inhalts. Wie in allen ihren Spielfilmen erzählen die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne auch in „La Promesse“ von ökonomischen Zwängen, von den …

Im Titel schon enthalten: Die moralische Qualität des Inhalts. Wie in allen ihren Spielfilmen erzählen die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne auch in „La Promesse“ von ökonomischen Zwängen, von den Bedingtheiten und Wertigkeiten, die sie zur Folge haben und von – wie soll man es ausdrücken, ohne altmodisch zu klingen? – einem in der Menschheit schlummernden Rest Menschlichkeit, einem unterentwickelten aber entwicklungsfähigen Gewissen, einem Sinn für Verantwortung und einem Bedürfnis nach Freundschaft und Solidarität, dem immer weniger hinterfragten Gebot wirtschaftlichen Wettbewerbs und Einzelkämpferdenkens zum Trotz.

Und die belgischen Regisseure machen es dieser Moral wahrlich nicht leicht. Sie muss von den meist jugendlichen Protagonisten ihrer Filme quasi aus dem Nichts erfunden werden. Jugendliche, die zunächst nichts anderes tun – und tun wollen -, als nach den Regeln zu handeln, die ihnen durch die Erwachsenenwelt vorgegeben sind, stellen fest, dass bestimmende Parameter des konventionellen Miteinanders vielleicht profitmaximierend, aber in ihrer letzten Konsequenz auch mörderisch sein können.

Auch Igor in „La Promesse“ ist einer dieser Jugendlichen. Früh schon wird er von seinem Vater Roger zum Kompagnon gemacht. Der Betrieb: Einschleusung von Migranten, ihre illegale Unterbringung in Bruchbuden zu horrend überteuerten Mieten, Vermittlung von Schwarzarbeit oder Beschäftigung zu Hungerlöhnen auf der familieneigenen Baustelle. Wir werden Zeugen eines professionellen Ausnützens der Notlage von etwa zwei Dutzend Flüchtlingen, ausgehend von jemandem, der sich – weder durch seine Wohnung noch durch sein Äußeres – kaum von ihnen unterscheidet, der vielleicht, wir erfahren es nicht, selbst vor nicht langer Zeit arbeitslos war, aber einen Riecher für neue Trends im Dienstleistungsbereich besaß. Roger ist also das, was man heute (zynisch) einen „Macher“ nennen könnte, denn er macht ja im kleinen Stil nur das nach, was die Multis im großen tun: Er bedient sich illegaler, vor allem aber unmoralischer Methoden, um Gewinne zu erzielen.

Igor, dem halben Kind (Jérémie Renier mit dem Charme und Aussehen eines blonden Jean-Pierre Léaud), gefällt dieses fröhliche Ausbeuten, diese im Kleinen ausgeprägte Variation des globalen freien Marktes, offensichtlich gut, denn ihm wird früh viel Verantwortung übertragen und er kann sich erwachsen und seinem Vater (stets großartig: Olivier Gourmet), den er bewundert, gleichwertig fühlen. Bei jeder wichtigen Aktion ist er dabei. Igor sammelt Gelder ein, er ist Mädchen für alles und er verdient dabei gut. Regelmäßig holt ihn sein Vater mitten aus seiner Lehre in der KFZ-Werkstatt, um ihm wichtigere Aufgaben zu übertragen. Auf diese Art lernt der Junge sukzessive, dass Flexibilität, Erfindungsgeist und ein gewisser Mangel an Skrupeln in Zeiten des Neoliberalismus gewinnbringender sind als eine „ordentliche Ausbildung“, mit der man dann doch vermutlich arbeitslos sein wird (eine Philosophie, nach der übrigens genauso Igors Alter Ego Bruno [ebenso gespielt von Jérémie Renier] im Dardennes-Film „L’enfant“ [2005] lebt und handelt) …

Gezeigt wird uns das alles – übrigens sehr unmittelbar und ohne eine viel erklärende Einleitung – von einer ruhelosen, unwissenden, also auch nicht urteilenden, Kamera: getriebene Menschen aus der rauen Vorstadt Seraing bei Lüttich, einer Arbeitergegend – als es dort noch Arbeit gab. Weißer Trash also, der nun mit schwarzem Trash sein finanzielles Auskommen findet. So authentisch die Kulissen, so organisch hinein passen die Figuren, von denen „La Promesse“ erzählt. Mit ihrer Nähe zum Dokumentarfilm folgten Jean-Pierre und Luc Dardenne im Jahr 1996 weniger der Dogma 95-Mode als ihren eigenen Wurzeln. Denn aus Seraing stammend, hatten die 1951 und 1954 geborenen Regisseure bereits in den Achtzigern mehrere Dokumentarfilme über das Leben der dort ansässigen Arbeiterschicht gedreht, bis zur Erkenntnis, dass die Wirklichkeit das Dokumentarische manchmal scheut. Mit ihrer Inszenierung ortsüblicher Realitäten wechselten sie also zum Spielfilm, der vorgefundene Sachverhalte, ökonomische, soziale, menschliche Verhältnisse nachspielt, fiktionalisiert und dadurch vielleicht dem, was die Seraing-Chronisten erklärtermaßen suchen, nämlich der „dokumentarischen Wahrheit“, näher kommt, als der teilnehmend beobachtende Dokumentarfilm. Jedenfalls atmen die Spielfilme der Dardennes so viel Erfahrung, Kenntnis und Beobachtungsgabe, dass sie einerseits wie komprimiertere Dokumentationen erscheinen, wie Dokus ohne observierende Dokumentaristen gewissermaßen, in ihrer Form aber sind sie nichts weniger als reine klassische Dramen.

Ein Teil der Darsteller, in „La Promesse“ wie in den anderen Filmen der Dardennes, bestand aus nichtprofessionellen und unbekannten Schauspielern, bei denen es darauf ankam, dass sie nicht mit ihren Schauspieler-Standards spielten, sondern als vorbildlose, unverbrauchte, unbekannte „Körper“ und „Gesichter“, wie die Regisseure es ausdrücken, agierten. Tatsächlich sucht die Originalität des Films vor allem wegen der Differenziertheit in der Figurenzeichnung ihresgleichen. Ein einfaches Feindbild fehlt hier, es gibt keinen ausgemacht schlechten oder guten Menschen, aber trotzdem zeichnet sich so etwas ab wie richtig und falsch, menschlich und unmenschlich (was, wie im griechischen Drama aber auch wie im Entwicklungsroman, zu unterscheiden dem jungen Protagonisten aufgetragen ist). Und es fehlt die Stimulation des Nervensystems durch Szenenmusik, durch aufdringliche dramatische Effekte. Der entsetzlichste Moment des Films, als, nachdem einer der Flüchtlinge kurz vor einer Polizei-Razzia vom Baugerüst gefallen ist und nun schwer verletzt auf dem Boden liegt, Igors Vater entscheidet, ihn lieber verbluten zu lassen, als seinen Betrieb zu gefährden, wird mit eben jener dokumentarisch-nüchternen Genauigkeit registriert, die jeder hollywoodesken Dramaturgie widerspricht:
Igor hat den vom Gerüst gefallenen Afrikaner Amidou (Rasmane Ouedraogo) zuerst gefunden. Er verspricht ihm, egal was passiert, sich um seine Frau und sein Baby zu kümmern. Er versucht, das stark blutende Bein abzubinden, aber sein Vater löst den Gürtel wieder. Roger geht auch nicht auf den Vorschlag ein, Amidou als Autounfallopfer auszugeben und ins Krankenhaus zu bringen. Bevor die Polizei kommt, legt er eine Plane über den Bewusstlosen, darauf ein paar Bretter. Später wird Amidous Körper in ein Loch gelegt und mit flüssigem Zement übergossen. Igor muss Roger dabei helfen. Der Film zeigt Amidous Sterben nicht, man weiß nicht einmal, ob er zum Zeitpunkt seiner Einzementierung wirklich schon tot ist oder ob er gar lebendig begraben wird.

Die Sachlichkeit, mit der dieser Tötungsakt gezeigt wird, beinahe als sei er eine weitere Tagesroutine, aber macht das Unerträgliche erst wirklich unerträglich. Denn der Zuschauer wird nicht, wie üblich, durch elegische Musik darin bestärkt, dass Trauer oder Empörung angemessene Reaktionen wären, ihm wird kein Affektmuster angeboten, er wird nicht an der Hand genommen und niemand anderes erklärt ihm, was er sieht, bzw. zu sehen und wie er es zu interpretieren habe. Die Zumutung dieser Sterbeszene liegt in der Abwesenheit eines Kommentars und in der Übertragung der Beurteilung des Gesehehen auf den Zuschauer.

Und sie liegt in ihrer Übertragbarkeit auf weiße Flecken in der europäischen Politik und Gesellschaft. Dass es illegale Flüchtlinge bei uns gibt, weiß jeder, dass sie z.T. unter schlimmen Bedingungen leben (oder sterben) müssen, auch, aber die wenigsten wollen sich damit beschäftigen. So funktioniert der Tod des Afrikaners also als eine Metapher für das buchstäbliche Wegsehen, für ein Unter-den-Tisch-kehren, fürs Lebendig-Begrabensein illegaler Existenzen und zugleich für den Wert eines Menschen, der allzu oft zusammen mit seiner Kauf- und Arbeitskraft erlischt.

Igor erfährt die Regeln dieses Spiels von ganz nah und von innen heraus. Er gehört zum mächtigen Teil des Systems, das heißt, er ist der Kronprinz und wird vom Vater-König in die Rituale des Trinkens, Tätowierens, Herrschens eingeführt. Dem mal jähzornigen und mal herzlichen Roger kann Igors Mannwerdung nicht schnell genug gehen, vielleicht wünscht er für sich auch nur einen Blutsbruder, einen Verbündeten, denn auch sein Leben ist das eines einsamen Kämpfers. Igor selbst möchte am Liebsten mit seinen Kinder-Freunden zum Go-Cart-Rennen, doch dazu bleibt ihm keine Zeit.

Aus Igor wird vielleicht nicht das, was Roger einen „Mann“ nennen würde, aber er lernt es, die Perspektive zu wechseln. Im Moment, als er dem sterbenden Afrikaner verspricht, sich um seine Familie zu kümmern, beginnt stattdessen so etwas wie eine Menschwerdung. Die aber führt ihn wiederum zum Bruch mit einer falschen Ideologie. Einer Ideologie, die, indem sie das Materielle höher bewertet als das Leben, zwangsläufig und immer wieder über Leichen geht.

„La Promesse“ (der übrigens natürlich nichts mit Sean Penns Film „Das Versprechen“ von 2001 zu tun hat) ist in Deutschland skandalöserweise immer noch nicht auf DVD erschienen, aber in einer Box gemeinsam mit dem Gewinner der Goldenen Palme „Rosetta“ als UK-Import beziehbar. Falsch machen kann man mit dem Kauf dieser Box rein gar nichts! Doch wann gibt es endlich deutsche Editionen beider Filme?

Meine Nacht bei Maud

(F 1969, Regie: Eric Rohmer)

Physische Vorbehalte
von Andreas Thomas

„Frauen haben immer zu meinem moralischen Fortschritt beigetragen.“ (Jean-Louis) Es stimmt: Die meisten der Filme Eric Rohmers sind zuallererst aus Wörtern, Sätzen, Aussagen, Reflexionen gemacht. Allein diesen Sätzen zu folgen …

„Frauen haben immer zu meinem moralischen Fortschritt beigetragen.“ (Jean-Louis)

Es stimmt: Die meisten der Filme Eric Rohmers sind zuallererst aus Wörtern, Sätzen, Aussagen, Reflexionen gemacht. Allein diesen Sätzen zu folgen ist Abend füllend, Kopf füllend, anregend – und mitunter auch anstrengend. Doch was wäre ein Film wie „Meine Nacht bei Maud“ ohne die Menschen, die diese Sätze sagen? Bestenfalls eine Philosophievorlesung der interessanteren Art. „Meine Nacht bei Maud“ ist deshalb nützlicher als jeder philosophische Rekurs, weil der Film das mit der Philosophie anstellt, was sie einzig und schließlich legitimiert. Er wendet sie auf die Praxis, also auf das Leben, an. Jede Figur rohmerscher Filme ist ein anderer ethischer Entwurf und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen sind Diskurse zwischen diesen Ethiken.

Frankreich, Clermont-Ferrand in der Zeit um Weihnachten bis Neujahr. Jean-Louis, ein Ingenieur von Anfang Dreißig, von Haus aus lascher Katholik mit einer sexuell nicht unbewegten Vergangenheit, hat sich irgendwann selbst zum gläubigen Katholiken konvertiert und denkt ans Heiraten. Auch eine dafür geeignete Kandidatin vermeint er gefunden zu haben, eine junge (blonde) Frau, die – wie er – regelmäßig am sonntäglichen katholischen Gottesdienst teilnimmt. Wie es aber der Zufall will, ergibt sich zunächst nicht die richtige Gelegenheit, in Kontakt zu kommen, mehr über sie zu erfahren. Stattdessen trifft er überraschend Vidal, einen alten Jugendfreund und Studienkollegen wieder, inzwischen ein Philosophie-Dozent, welcher ihn unbedingt einer (dunkelhaarigen) Freundin vorstellen will. Mit Maud, sagt er, verbinde ihn nicht viel, außer Sex, deshalb sei es nicht bedenklich, wenn Jean-Louis sie näher kennenlerne. Maud ist geschieden, Mutter eines kleinen Mädchens und Kinderärztin. Als sie Jean-Louis im Laufe eines langen, alkoholinspirierten und polemischen Abends zu Dritt deutliche Avancen macht, lässt Vidal die beiden allein – und wieder der Zufall, starker Schneefall, verhindert, dass Jean-Louis mit seinem Auto zurück nach Hause, in einen kleinen Nachbarort, fahren kann. Die attraktive Maud versucht ihn zu verführen, Jean-Louis widersteht ihr mit letzter Kraft, und wie von einem Zweifel befreit, kann er nun den Zufall, der am nächsten Tag zu einer Begegnung mit Françoise (Marie-Christine Barrault), der Blondine, führt, nutzen, um sich ihr vorzustellen und sich mit ihr zu verabreden. Zwei weitere (u.a. witterungsbedingte) Zufälle wollen es jedoch, dass er ihr schon vor ihrem Rendezvous begegnet und zwangsläufig auch bei ihr übernachten muss. Die Nacht bei Françoise ist in jeder Hinsicht das Gegenmodell zu der Nacht bei Maud. Wo dort zwar Sympathie, aber auch sinnliche Versuchung und Verführung dominierend waren, herrscht hier keusche Distanz, Respekt, die ehrlichen, hoffnungsvollen Absichten eines Heirats-Antrags und die Freiheit der Wahl statt der Manipulation durch die Triebe.

Diese zwei Prinzipien scheinen den ganzen Film zu prägen. Lohnt es, sich dem Reiz des Augenblicks, der zufälligen Begegnung hinzugeben – und so ein Leben von zufällig mehr oder minder passenden (wie man bei Maud erkennt, enttäuschenden) Liebesaffären zu leben, oder ist es besser, darauf zu warten (und daran zu glauben), dass einem der Mensch begegnen wird, der ideal zu einem passt. Wobei letzteres die Qualität der self fullfilling prophecy haben kann. Wenn sich zwei Menschen treffen, deren Ideal das der Zuversicht ist und die in den Sinn der Geschichte und des menschlichen Daseins vertrauen, so werden sie sich natürlich leicht gegenseitig in ihrer Einstellung bestätigen können. Durch ihre religiöse Antizipation eines großen positiven Sinnzusammenhangs schaffen sie bereits Sinn – egal, ob ihrer Religion ein existierender Gott zugrundeliegt oder nicht.

Rohmers vierter Film aus seinen sechs „Moralischen Erzählungen“ handelt zwar explizit von Religion und Glauben, lange Passagen bestehen aus Predigt und Gottesdienst, doch wie immer bei Rohmer ist es der Mensch, der sich seinen Gott oder seine Religion vorstellen oder aussuchen kann, der die Freiheit hat zu wählen zwischen der (antizipierten) moralfreien – was für ihn auch bedeutet: pessimistischen – Beliebigkeit der sozialen Beziehungen und dem Zutrauen in einen letzten Sinn des Daseins; Zutrauen, welches alles aufwertet: das Ich, das Du, das Miteinander.

„Mein Leben besteht aus Zufällen.“ Jean-Louis

Angesichts der Menschheitsgeschichte liegt natürlich der Zweifel an einem positiven Ausgang oder an einen positiven Fortschritt der menschlichen Rasse nahe. Genau dieses Problem steht im Zentrum von „Meine Nacht bei Maud“. Ein Katholik, ein Marxist und eine Nihilistin diskutieren die schlechthinnige Frage nach Moral: Wie sollen wir leben, und aus welchen Gründen sollten wir so leben, wie wir es beabsichtigen? Bindeglied zwischen den Extremen ist der materialistische Marxist Vidal, bezeichnenderweise er hat gelernt, dass gerade auch politische Arbeit nicht ohne ein metaphysisches und irrationales Element auskommt, das der Hoffnung auf den Sinn der Geschichte. Es ist kein Zufall, dass alle die Handlung (die Historie) vorantreibenden Begegnungen in „Meine Nacht bei Maud“ Zufallsbegegnungen sind und dass Jean-Louis’ und Vidals Gespräch im Restaurant den Zufall zum Thema hat, angefangen bei der Wahrscheinlichkeit, sich zufällig zu begegnen bis zur Wahrscheinlichkeit eines metaphysischen globalen Sinnzusammenhangs. Die Jugendfreunde haben sich das erste Mal nach Jahren in Clermont-Ferrand, dem Geburtsort des Mathematikers und Philosophen Blaise Pascal, getroffen, und Pascal und seine „Wette, die besagt, dass man, und sei es gegen die Wahrscheinlichkeit, auf Gott setzen müsse, weil man eine solche Wette nur gewinnen könne“, sind es eigentlich, wovon der Film handelt:

Vidal:

“Gerade für einen Kommunisten ist dieser Text von der Wette ausserordentlich aktuell. Glaub mir: im Grunde zweifle ich, dass die Geschichte einen Sinn hat. Trotzdem setze ich auf die Geschichte – und ich bin in der pascalschen Situation. Hypothese A: das Gesellschaftsleben, jede politische Aktion haben keinerlei Sinn. Hypothese B: die Geschichte hat einen Sinn. Ich bin ganz und gar nicht sicher, dass Hypothese B eher zutrifft als Hypothese A. Ich würde eher das Gegenteil behaupten. Nehmen wir an, dass für Hypothese B eine Wahrscheinlichkeit von zehn Prozent besteht und für Hypothese A neunzig Prozent. Jetzt pass auf. Aber trotzdem, ich kann nicht darauf verzichten. Ich muss auf sie setzen, auf Hypothese B. Denn sie gibt der Geschichte einen Sinn, denn sie ist die einzige, die mir ermöglicht zu leben. Nehmen wir an, ich habe auf Hypothese A gewettet und Hypothese B stellt sich als wahr heraus, trotz der zehn Prozent Wahrscheinlichkeit, dann hab ich mein Leben völlig verloren. Also muss ich mich entscheiden, für Hypothese B, denn sie ist die einzige, die mein Leben rechtfertigt. Natürlich spricht eine Wahrscheinlichkeit von neunzig Prozent dafür, dass ich mich irre. Aber das ist unwichtig. – So etwas nennt man mathematische Hoffnung. Das heisst: der Gewinn wächst mit der Wahrscheinlichkeit. Und was deine Hypothese B betrifft, mag die Wahrscheinlichkeit vielleicht gering sein. Aber der Gewinn ist unermesslich. Denn für dich ist er ja der Sinn des Lebens und für Pascal der Gewinn des Unendlichen.“

Der strenggläubige Katholik Jean-Louis bleibt skeptisch, und sein Rest von Skeptizismus trennt ihn von dem, was Pascal die „subjektive mystische Erfahrung“ nennen würde. Durch Vidal aber wird sein Glaube mit seinen eigenen Vorbehalten und mit Maud, dem rationalistisch-atheistischen, sehr physischen Vorbehalt in Person konfrontiert und auf die Probe gestellt. Seine Nacht bei Maud schließlich ist der Katalysator, der ihm seine unbedingte Entscheidung für Hypothese B (Die blonde Katholikin) ermöglicht.

Am Ende besteht alles aus Zufällen, Zufälle, die sinnvoll geworden sind, weil Jean-Louis ihnen Sinnhaftigkeit beimisst, d.h. weil er ihrer Abfolge eine zugrundeliegende Ordnung unterstellt. Weil er aufgehört hat, sich ihnen zu verschließen, weil sie für ihn bedeutungsvoll sind, haben sie Offenbarungscharakter, haben sie für ihn etwas Mystisches. Oder auch: Weil sie immer schon mystisch waren, kann er die Zufälle als mystisch begreifen, seit er aufgehört hat, nur mit seinem Verstand zu glauben. Glaube und Hoffnung, d.h. ein glückliches Leben funktionieren so nur wider die Vernunft.

„Wie die Sittlichkeit eine Sache der Empfindung, nicht des Denkens ist, so ist Gott, so sind selbst die ersten Grundsätze, auf denen die Gewissheit der Beweise beruht, ein Gegenstand nicht der Vernunft, sondern des Herzens.' Blaise Pascal

„Ich glaube nicht an Kausalität, ich suche nicht nach Gründen. Es stört mich, wenn gesagt wird: diese Tatsache hat einen Grund. Warum sollte sie einen haben? Warum muss man unbedingt nach Gründen suchen? Das zwingt einen, eine Erklärung zu finden. Ich sehe das anders. Ich verstehe es eher so, dass die Dinge einem Ziel zustreben. Wie in einer Geschichte. Die Welt hat einen Sinn. Eine solche Erklärung ist theologischer. Gerade der Film entzieht sich menschlicher Kausalität, weil uns der Film an die Natur verweist, an eine organisierte Natur, die auf ein Ziel gerichtet ist. In diesem Fall ist der Mensch nicht der absolute Herrscher über sein Material. Sein Material bewegt sich in eine bestimmte Richtung, und er hat sich in diese Richtung treiben zu lassen.“ Eric Rohmer

„Meine Nacht bei Maud“ verrät viel über Rohmer und seine Philosophie des Zutrauens in den Gang der Geschichte. Aber im Film verbirgt sich offenbar auch ein unreflektiertes, konservativ wirkendes Menschen- speziell Frauenbild. Dass die sinnliche und verführerische Maud schwarzhaarig, die ideale Ehefrau dagegen katholisch, eher ätherisch als erotisch und blond sein muss, mag von Rohmer zwar schon bewusst so inszeniert worden sein. Eine notwendige Distanz zu althergebrachten, typisch männlichen, restriktiven und sexualfeindlichen Moralvorstellungen von der Frau als der Heiligen oder der Hure stellt er im Film aber nicht her.

So wenig Rohmer sich auch in seinen Filmen ums tagespolitische Geschäft kümmert, der Zeitgeist vom Pariser Mai 1968 steckt in der Figur des Vidal und der Aufbruch einer neuen feministischen Bewegung wird durch Maud verkörpert. Maud steht in jeder Eigenschaft für die zum Ende der sechziger Jahre ausgerufene Emanzipation der Frau, sie ist nonkonformistisch, sie hat sich von ihrem Mann scheiden lassen, ist alleinerziehend und berufstätig, und sie sucht sich ihre Liebhaber lieber selbst aus, statt auf sie zu warten und sich ihnen hinzugeben. Sie bedroht anscheinend nicht nur den Katholiken, sondern auch den Mann in seiner Autorität, indem sie für sich die gleichen Rechte wie die der Männer geltend macht, sie gefährdet das Patriarchat, das Jean-Louis trotz seiner zur Schau gestellten Toleranz repräsentiert und praktiziert. Fakt ist, selbst wenn Maud prinzipiell in den Augen von Jean-Louis Recht hätte, selbst wenn sie wirklich die interessantere Frau wäre für Jean-Louis – es wäre ihm unmöglich, sie zu erwählen, weil sie ihn mit ihrer offensiven und autonomen Weiblichkeit zutiefst verunsichert.

Schließlich ist es dann auch er als Mann, der sich für Françoise entscheidet (ein selbstherrlicher Akt, lange bevor er sie überhaupt kennt), dabei ziemlich uncharmant und aufdringlich vorgeht, und nicht umgekehrt. Mit Françoise stimmt seine konservative Ordnung wieder. Der Mann erwählt und er entscheidet und umso rechtmäßiger ist die Entscheidung des Mannes, wenn er Gott (den Sinn der organisierten Natur) auf seiner Seite wissen darf. Françoise spielt im Film eine ziemlich untergeordnete Rolle. Doch, auch Françoise hatte früher einen Geliebten, im Gegensatz zu Maud aber bereut sie es und bezeichnet es als Sünde. Wenn dagegen Jean-Louis von seinen Affären spricht, dann mit einem jovial-chauvinistischen Unterton: Kavaliersdelikte insgesamt. Für beide aber gilt offiziell und wohldeklariert, d.h. von Rohmer leider wenig gebrochen: Sie haben ihre (Erb-)Sünden erkannt, haben bereut und können auf Vergebung hoffen.

„Ich glaube, es hat dich in meinem Leben immer gegeben.“ Jean-Louis
„Und ich glaube, da täuschst du dich.“ Françoise

Bezeichnend dann der Schluss: Jahre später, Jean Louis und Françoise mit ihrem kleinen Kind begegnen Maud (natürlich zufällig) im Urlaub am Meer. Das Paar sieht glücklich aus, sie haben ihr Kind bei sich: das Produkt, das sichtbare Zeichen, der „Gnade“, während Maud nun ganz allein ist. Mauds neue Ehe ist unglücklich und selbst ihre Tochter ist offenbar nicht mehr bei ihr – jedenfalls fällt kein Wort über die Tochter und in der Szene fehlt sie. Man braucht kein Chauvinist zu sein, um zu denken, dass die Ehe zwischen Jean-Louis und Françoise nur deshalb so gut klappt, weil sich die Ehefrau zurücknahm, keine hohen eigenen Ansprüche stellte, um zu wetten, dass sie zum „Wohl der Familie“ auf den Beruf verzichtete, und leider könnte man geneigt sein zu schließen, dass es sich Maud nur deshalb immer mit allem (der Welt Gottes) und vor allem mit allen (den Männern) verscherzt, weil sie sich ihnen verdammt-noch-mal nicht unterordnen will.

Die schicksalhafte Fügung, so der Tenor, lässt keinen aus. Das Glück winkt denen, die sich dem Schicksal anvertrauen; das Unglück ist mit den Zweiflern und denen, die eher an sich, als an das „Gute“ glauben. Besonders hart trifft das Unglück die emanzipierte Frau. Wahrscheinlich wird ihr Schicksal vorrangig begründet in der „organisierten“ Natur der etablierten Geschlechterverhältnisse.

Oder man wechselt kurz die Perspektive und blickt auf den verbürgerlichten Jean Louis, der sich ewig ärgern wird, diese eine Gelegenheit ausgelassen zu haben.

Party Monster

(USA 2003, Regie: Fenton Bailey, Randy Barbato)

Schimäre Macauly
von Andreas Thomas

„Jeder Spielfilm ist ein Dokumentarfilm“ – Werner Herzog Eltern, die gegen Anfang der Neunziger männlichen Nachwuchs bekamen, den aber insgeheim am liebsten allein Zuhaus zu lassen gedachten, gaben ihm gerne …

„Jeder Spielfilm ist ein Dokumentarfilm“ – Werner Herzog

Eltern, die gegen Anfang der Neunziger männlichen Nachwuchs bekamen, den aber insgeheim am liebsten allein Zuhaus zu lassen gedachten, gaben ihm gerne den Namen Kevin – ein Name entliehen beim gleichnamigen Hollywood-Horrorfilm, worin ein von seinen Eltern vergessenes Kindmonster harmlose Kleinkriminelle in lebensgefährliche Lebenslagen beförderte. Da Kindergewalt dieser Art breite Zustimmung erfuhr, gab’s bald eine Fortsetzung namens „Kevin allein in New York“ und spätestens deshalb werden heutzutage sehr viele Teenager in Deutschland Kevin gerufen.

Gerufen, weil diese ungezählten Kevins schon immer gerufen und nie angesprochen wurden, weil entweder ihre Eltern nicht mehr ansprechbar waren oder sie ihre Kevins gar nicht ansprechen wollten, weil sie Kevin allein zuhaus lassen wollten, z.B. wenn sie sich mit ihren Freunden an der Bude trafen oder sie riefen Kevin, wenn er draußen in den wilden Straßen der Sozialblocks mit Patrick und Nicole Scheiße baute. KEVIN! Ein Symptom der Distanz und Kälte, aber auch ein endogener, authentischer Aufschrei in den Zeiten der Arbeitslosigkeit.

Bezeichnend für Ur-Kevin, um den es hier geht, ist, dass der auch schon von seinen Eltern Zuhause vergessen worden war. Der Darsteller dieses ersten von tausenden allein seiender Kevins aber hörte (zunächst) in Wahrheit auf den unmöglichen Namen Macauly Culkin – MACAULY, ein Schrei, der zuerst auf den Schreienden zurückfällt, ihn der Lächerlichkeit preisgibt, aber der auch dem so Bezeichneten seine Glaubwürdigkeit rauben muss, seine street credibility, seine school oder girlfriend credibilty.

Gebt dem Kind, das so heißt – Holden Caulfield könnte übrigens sein Opa in der Familie der Namensverlierer sein – Geld. Macht es reich! Und lasst es weiter allein und denken, es sei ein Star, und ganz schnell habt ihr jemand, der nicht erwachsen werden kann, keine Identität findet und auch sonst von der Welt immer das denkt, was die Welt gerade mal nicht gesagt hat. Lüge, Illusion und Orientierungslosigkeit, das sind die drei Dinge, die Hollywood für Geld produziert.

Macauly blieb die Schimäre Kevin, und ihm blieben die Partys und die Designerdrogen. Pubertät war nicht vorgesehen und wurde nicht belohnt. Er wollte nur weiter spielen, mehr nicht. Ähnlich wie der authentische Michael Alig, den Culkin nun in seiner ersten Rolle seit „Kevin allein in New York“ im Film „Party Monster“ spielt, der gemeinsam mit James St. James (im Film Seth Green) Anfang der Neunziger zum dauerbedröhnten New Yorker Party-Kind aufstieg und schließlich aus Gründen des Realitätsverlusts damit prahlte, jemanden umgebracht zu haben. Das war aber nicht nur Angeberei und St. James schrieb über das tödliche wilde Leben der Freunde einen Roman namens „Disco Bloodfeast“, der als Vorlage für den Film diente.

Das Resultat ist eine überaus unkritische und schwärmerische Koketterie mit der Szene, die der Film gleichzeitig versucht zu problematisieren. Trunken taumelt eine äußerst konventionelle, aber dabei äußerst ungelenke Kamera den lustigen Paradiesvögeln (die übrigens durch die Bank schwul sind, keine Partys ohne Homos, keine Homos ohne Partys) hinterher, die vor allem durch ihre Dummheit glänzen. Die Regie hat nicht den Hauch einer Ahnung von Dramaturgie, und ein chronisch ironisch angelegter Unterton desavouiert in seiner Indifferenz jeder Figur gegenüber am Ende den kleinsten Rest von Empathie oder Distanz oder Analyse. Ganz klar ist dieser, übrigens in billiger Video-Qualität gedrehte, Brei von einem Film ein Rohrkrepierer, und langweilig sofort nach dem Opener, in dem der breite Seth Green eine noch witzige Einführung vom Stapel lässt. Macauly sieht immer noch so aus wie mit 8, nur hat er inzwischen sein Talent restlos eingebüßt, interessant als Nebenfiguren sind Chloe Sevigny („Kids“) und Marilyn Manson, der (hier wirklich nur noch durch sein darstellerisches Charisma wieder zu erkennen) eine blumige „Christina“ gibt.

Gescheitert als Film, aber interessant als Dokument ist „Party Monster“, weil man den Eindruck nicht los wird, er sei von denselben bemitleidenswerten, orientierungslosen Showhäschen gemacht worden, von denen er handelt. Die Drogen scheinen vor und hinter der Kamera ihre Wirkung zu tun, und dass das Leben nur aus Party, Verkleiden (den Oscar für die besten Kostüme hätte der Film verdient) und in Rollen schlüpfen besteht, darin werden sich Macauly & Co, James und Michael wohl völlig einig sein – ob vor oder nach dem Film.