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Habemus Papam – Ein Papst büxt aus

(I / F 2011, Regie: Nanni Moretti)

Pop-Pope-Plot
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein farbenprächtiger Film über das Leben am Hofe, speziell im Konklave während der geheimen Papstwahl. Jei, was kriegen wir zu sehen! Museale Gemächer und rauschende Ornate in den Palästen und …

Ein farbenprächtiger Film über das Leben am Hofe, speziell im Konklave während der geheimen Papstwahl. Jei, was kriegen wir zu sehen! Museale Gemächer und rauschende Ornate in den Palästen und eine Riesenmenge gläubiger Katholiken davor – in freudiger Erwartung, welchen Papst wir denn haben werden, und eigentlich ist es egal, wen denn nun genau. Der Film inszeniert die Papstwahl als Popevent, genauso wie Pop-Pope und die Medien es haben wollen. Eine Milliarde Gläubige! Was für Einschaltquoten! Aber müssen wir deshalb ins Kino gehen?

Nanni Morettis Film wendet sich an die Gemeinschaft von Gläubigen und Pop-Affinen in aller Welt. 'Habemus Papam' ist radikal unkritisch. Auch wir sollen glauben an die heile Welt im Vatikan. Und so widmet sich der Spielfilm den Kardinälen, wie sie im Konklave untertänigst bezeugen, wen von ihnen die göttliche Macht als Führer der katholischen Kirche erkoren hat. Wir dürfen sicher sein, es bleibt bei einer fiktiven Beschreibung. Eine Haltung des sogenannten linken Starregisseurs Italiens ('Wasserball und Kommunismus', 'Die Messe ist aus') suchen wir vergebens. Aber immerhin gibt es ein Plot.

Einer der Kardinäle, Michel Piccolo (85), sieht sich unvermutet gewählt. Wir erfahren nicht, warum. Gab es Machtkämpfe? Gibt es einen Kompromisskandidaten? Sollte die Dritte Welt nicht zum Zuge kommen? Stellte sich die Vatikanbank quer? Spielten die Kirchenkrisen wie Missbrauch, Zölibat, Verhinderung der Gleichberechtigung, Diffamierung der Schwulen und Lesben eine Rolle? Und, und, und. Nichts davon. Welchen Papst wir haben, entscheidet nicht ein Machtkampf, sondern der Wille des katholischen Gottes.

Weiter im Plot. Der Gewählte stößt einen grauenhaften Schrei aus und verfällt in eine psychotische Depression. Psychisch krank, kann er die Bürde des Amtes nicht tragen. 'Ich kann nicht führen, ich muss geführt werden.' Tja, was nun. Die erwartungsvolle Menge vor dem Konklavepalast kann nicht wochenlang warten. Das Amt nimmt er nicht an. Spannung! Es ist dieselbe Spannung wie im Stadium, wenn die Popgröße noch nach Stunden nicht auftritt, zuviel Stoff und Alk im Körper. Wir kennen diese Schiene. – Also, was wird? Der Gewählte will einen Führer. Da kommt er schon. Es ist Regisseur Moretti höchstselbst. Er spielt einen Psychiater, also jemanden, der er vorm Filmemachen war. Ein toller Einfall. Denn er erklärt mehrmals, dass er mitnichten gläubig sei. Und schon hat 'Habemus Papam' auch die Ungläubigen als Zuschauer gewonnen.

Wie geht’s weiter? Zunächst mal: Warum wird der Öffentlichkeit schamhaft verschwiegen, dass der gewählte Kandidat das Amt nicht angenommen habe? Wegen einer Krankheit? Oh Gott, nein, die Auswahl war doch Wille Gottes, und der ist nicht krank. Aha, dann nicht. Und wieso haben die wählenden Kardinalsbrüder nicht gewusst oder geahnt, dass der Piccoli psychisch labil ist? Was für eine Intrige steckt dahinter? – Unverschämt!! Fragen dürfen nicht gestellt werden! Schon gar nicht vom Zuschauer, der sich an der heilen Vatikan-Welt erbauen soll.

Ja, und was macht nun der Piccoli? Psychiater Moretti labert mit ihm rum, verschreibt aber keine Tabletten (dabei gibt’s welche gegen Depression und gegen Psychosen, ich weiß es genau, aber auf mich hört ja keiner, schon gar nicht im Konklave). Der Fast-Pop-Pope Piccoli wird notgedrungen aktiv, flüchtet aus dem Konklave und nimmt in der Stadt Rom eine Auszeit, ausgestiegen aus dem Hofzeremoniell, anonym eingetaucht ins normale Leben und in seine Erinnerungen. Er landet in einem Theater. 'Die Möwe' von Tschechow wird geprobt. Den Text hat der Auserwählte immer noch drauf, von damals, als er Schauspieler werden wollte und von der Akademie nicht genommen wurde. Aber immerhin ist er aktiv geworden und hat seine berufliche Zukunft als Mitspieler in der Kirche gesucht. Nur die Ehe musste er sich versagen. So war das. Jaja.

Genug davon. Jetzt zum anderen Schauspieler, dem Herrn Moretti. Sein Patient ist weg. Er bleibt im Konklave. Er inszeniert dort (als Darsteller!) ein Volleyballspiel, an dem alle Kardinäle teilnehmen, mehr oder minder widerwillig. Ist das ein Bild, wie die Kutten fliegen! So schafft man Sympathiewerte. Was für ein Spaß im Vatikan! Human touch für alle! Standing ovations! Bleibt da wirklich jemand im Kino sitzen?!

Ganz nebenbei erfahren wir auch, warum die von der Dritten Welt für die Papstwahl überhaupt nicht in Frage kommen. Die fröhlichen, aber ein wenig unbedarften Kardinäle aus Australien haben sich in Priester-Straßendress geworfen, um die Amtsbrüder im Konklave zu verlassen und mal schräg gegenüber in einem Café einen Cappuccino zu trinken! Na, da müssen sie aber von einem Italiener belehrt werden, wie man sich bibeltreu verhält. Und wie sieht das im Einzelnen aus? Im Konklave puzzelt der eine, der andere sitzt im Heimtrainer, man tanzt und ist guter Dinge – ej, das sind doch Kumpels wie du und ich, Aller.

Lassen wir es genug sein mit der Werbung für den Hl. Stuhl. Der Film startet Mariä Empfängnis. Er wird genug empfängliche Zuschauer haben, und die will man mit Fragen nach der ausstehenden Stellungnahme zum Holocaust und dergleichen Unaufgearbeitetem nicht vergraulen. Das wäre kein Fun, und mit Fun kriegt man Leute, Quote und alles.

Allerdings, und das ist der Gerechtigkeit wegen zu sagen, hat der Film mich doch gepackt, was Piccolis Spiel betrifft. Ich kann nicht anders. Ich stehe dazu. Mir liefen die kalten Gräsen den Rücken runter. Gegen dieses körperliche Indiz kann ich nicht argumentieren. Diese Mischung zwischen verzweifelter Erhabenheit und latenter bis manifester Komik ist grandios.

Insgesamt aber ist Moretti mit seinem schalen Komödchen bemüht, über alle Widersprüche wegzusehen, alle Ecken rund zu schleifen und dem Vatikan (mit allen seinen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Sünden) Absolution zu erteilen – und dabei einen gewissen deutschen Appeal auszustrahlen. Auf der Straße fokussiert die Kamera auf das Magazin 'Der Spiegel', auf dem Platz vor der Konklave wird die schwarz-rot-goldene Fahne geschwungen, aus der immer noch wartenden Menge ruft’s auf deutsch: 'Aber das ist doch nicht möglich!' – wir sind immer noch dabei, immer noch Papst. Sagt der Film. Sagt die 'Bildzeitung' zum Herrn Ratzinger. Aber aufgepasst: 'Habemus Papam' soll Fiktion sein. Sagt Nanni Moretti.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 12/2011

Ride in the Whirlwind

(USA 1965, Regie: Monte Hellman)

Existentialismus in Westernform
von Harald Mühlbeyer

Banditen überfallen eine Postkutsche. Der Kutscher wird getötet, einer der Gangster verwundet. Drei Cowboys, Vern, Wes und Otis, sind auf dem Weg nach Texas und finden Unterschlupf in der Berghütte …

Banditen überfallen eine Postkutsche. Der Kutscher wird getötet, einer der Gangster verwundet. Drei Cowboys, Vern, Wes und Otis, sind auf dem Weg nach Texas und finden Unterschlupf in der Berghütte der Bande. Gastfreundschaft siegt über Misstrauen, die Banditen unter ihrem Boss Blind Dick gewähren Unterkunft für die Nacht. Morgens ist die Hütte umstellt, die Bürgerwehr eröffnet das Feuer. Wes und Vern können entkommen, doch sie werden verfolgt; und sie müssen sich irgendwie wehren.

Nach längerer Abwesenheit kommt Willett Gashade zurück zur kleinen, ertraglosen Goldmine, die er mit Bruder Coin und den Freunden Coley und Leland betreibt. Doch: Leland ist tot, Coin abgehauen, Coley völlig verängstigt – irgendwo da draußen muss ein Killer sein. Eine Fremde ohne Namen taucht auf, sie bietet Geld für Geleit nach Kingsley – doch sie hat eigentlich andere Pläne. In fordernder, koketter, unerbittlicher Art zwingt sie Willett und Coley, einer Fährte zu folgen, hinaus in die Wüste. Ein Killer, Billy Spear, schließt sich ihnen an, und während Coley naiv, kindisch und schusselig verliebt der Frau folgt, ahnt Willett, worauf das hinausläuft: auf ein großes Schießen.

„Ride in the Whirlwind“ (1965) und „The Shooting“ (1966) sind die zwei Filme, die den Ruf von Monte Hellman begründeten; einen Ruf, den er 1971 mit seinem meisterhaften Roadmovie „Two-Lane Blacktop“ vollauf bestätigte – um danach ins Loch zu fallen, um vor allem als Scriptdoctor, Second Unit Director, Berater und Cutter Arbeit zu finden – und immerhin Tarantinos „Reservoir Dogs“ zu produzieren. Diese Nicht-Karriere ist eigentlich eine Tragödie – weil das Künstlerische, die Qualität, dem Box-Office, den fehlenden Zuschauern unterliegt. Hellmans Filme sind Kultfilme – in dem Sinn, dass sie einer breiten Öffentlichkeit von Anfang an kaum bekannt waren, sprich: nur eine eingeschränkte Anhängerschaft hatten.

Minimalismus in Form und Inhalt strebt Hellman an – Einfachheit und Linearität, ohne dass alles klar, alles erklärt würde. Die simple Plotstruktur bedeutet nicht Flachheit, Oberflächlichkeit, Eindimensionalität – vielmehr ist sie die feste Basis, auf der sich einerseits Genreregeln, andererseits Charakterporträts entfalten können. Männer in elementaren Grundsituationen von Flucht oder Verfolgung sind zugleich – und unaufdringlich – Betrachtungen zum Menschen an sich: was diesen beiden Western das Label „existentialistisch“ eingebracht hat, das einerseits natürlich richtig ist, wenn man die Geworfenheit der Figuren in ihre Situationen bedenkt, für die sie nichts können, die für sie zunehmend absurd, weil unerklärbar werden. Andererseits ist auch klar: Es sind und bleiben Western, B-Filme mit sichtbar kleinem Budget, und auch auf dieser Ebene, unter Außerachtlassung aller philosophischen conditio-humana-Obertönen, funktionieren die Filme – besonders „The Shooting“ –, weil sie spannend, energisch, geradlinig, mit perfektem Timing und großem Gespür für die Landschaft inszeniert sind. Mit Gespür auch für Witz, der sich aus der Realität speist – vor dem Überfall unterhalten sich die Banditen über Furunkeln am Hintern, und Blind Dick geht hinter einem Felsen nochmal für kleine Räuberchen. Und mit Gespür für Zuspitzung: wie sich in „The Shooting“ zwei abgekämpfte, halbverdurstete, entkräftete Männer im Wüstenstaub tödlich prügeln…

„The Shooting“ und „Ride in the Whirlwind“ wurden 1965 direkt nacheinander, mit einer Woche Pause dazwischen, gedreht, in Utah, in einer Landschaft, die Steppe, Canyons, Bergpanorama und Wüste bietet. Roger Corman finanzierte die Filme – ungenannt in den Credits –, denn klar: zwei Filme auf einmal zu drehen ist billiger als einen allein. Monte Hellman und Jack Nicholson produzierten, letzterer spielt in beiden Filmen mit und schrieb für „Ride in the Whirlwind“ auch das Drehbuch. Und Monte Hellman ließ aus den Drehbüchern, die ohnehin kaum Dialoge enthalten – das zu „The Shooting“ schrieb Carole Eastman unter dem Pseudonym Adrien Joyce – jede Einführung der Figuren weg, die Vorgeschichten werden nur angedeutet. Die Cowboys haben irgendwelche dunkle Flecken auf ihren Westen, und wenn es nur die Arbeitslosigkeit sein sollte; Willett Gashade war mal Kopfgeldjäger gewesen. Mehr erfährt man nicht; mehr muss man nicht wissen, weil es stets um die Auseinandersetzung mit dem Hier und Jetzt geht.

Coley, der kindische Typ in „The Shooting“, spielt Geduldspiele, solche, bei denen man kleine Kugeln in kleine Löcher bugsieren muss. Schafft er natürlich nicht: Nicholson als Billy Spear machts ihm dann vor; und klar, wer später wen erschießen wird. Vern und Wes, die unschuldig Verfolgten in „Ride in the Whirlwind“, nehmen in ihrer hilflosen Verzweiflung eine Farmerfamilie als Geiseln. Und spielen zum Zeitvertreib Dame, denn mehr als Warten können sie nicht; Warten auf die Männer, die sie aufknüpfen wollen.

Beide Filme sind jetzt im DVD-Doppelpack erschienen; denn beide Filme gehören unbedingt zusammen. Allerdings fehlen alle Extras, und den hellmanschen Minimalismus auf die Ausstattung zu übertragen ist bei diesen Filmen unangebracht. Zumal in den USA DVD-Ausgaben mit Audiokommentaren von Hellman und der Schauspielerin Millie Perkins existieren.

Black Brown White

(A 2011, Regie: Erwin Wagenhofer)

Helfende Bilder
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Fluchthelfer- resp. Menschenhändlerfilm, der sich auf wenige Darsteller konzentriert und damit in der Lage ist, vom Geschäft zur Empathie zu kommen. Genauer: Trucker Don Pedro transportiert wöchentlich ukrainischen Knoblauch …

Ein Fluchthelfer- resp. Menschenhändlerfilm, der sich auf wenige Darsteller konzentriert und damit in der Lage ist, vom Geschäft zur Empathie zu kommen. Genauer: Trucker Don Pedro transportiert wöchentlich ukrainischen Knoblauch via Spanien nach Marokko. Dort wird er umverpackt und kommt als marokkanischer oder spanischer Knoblauch zu uns. Außerdem kauern sich auf der Rückfahrt ein Dutzend Schwarze im doppelten Boden zusammen. Die Zuladung bringt Geld. Den Geschäftsbetrieb stört eine Schwarze mit ausgeprägtem Durchsetzungswillen, die sich weigert, in den doppelten Boden zu kriechen. Sie nimmt mit ihrem vierjährigen Kind im Führerhaus Platz.

Das Roadmovie nimmt sich Zeit, aus der unwillkommenen Nähe etwas anderes zu machen, nämlich Gefühle füreinander – bis zum wenig überraschenden Ende. Währenddessen sehen wir Bilder, eindrucksvoll fotografiert von Martin Geschlacht. Landschaften, ungestört durch Action und harte Schnitte. Wie nebenbei kriegen wir einiges über das Leben der Trucker mit: lonesome cowboys unserer Tage. Soweit funktioniert der Spielfilm aufs beste als dokumentarisch anmutende Beschreibung und kontrastierendes Kammerspiel.

Meine Schwierigkeit habe ich mit den Dialogen, für die Regisseur Erwin Wagenhofer, der renommierte Dokumentarfilmer (We Feed the World'), ebenfalls verantwortlich ist. Sie tragen gewichtig ihre (stets korrekte) Botschaft vor sich her und wollen abgenickt werden. Die Folge ist, dass selbst gestandene Schauspieler ein Glaubwürdigkeitsproblem bekommen. 'Dicke Hintern sind beautiful', hören wir urplötzlich aufgesagt aus dem Munde der Schwarzen. – Ja, schon gut, und nun wieder etwas ganz anderes: Mutter und Kind werden heimlich in eine riesige Ferienhaussiedlung im neomaurischen Einheitsstil einquartiert. Belehrung: Die Designorgie von Almería sei nicht zum Wohnen, sondern zum Investieren gedacht. – Ah ja, stimmt. Wir dürfen nicken. Doch nicht der belehrende Dialog, sondern die Macht und die Wucht der Kamerabilder machen 'Black Brown White' sehenswert und helfen über dramaturgische Ellipsen hinweg. Warum bleiben die im Truck versteckten Menschen gesichtslos? Warum weiß der Uno-Beamte in Genf nicht, dass sein vierjähriger Sohn ihn mit Mutter besuchen kommt? Vielleicht wäre die Einreise gar kein Problem gewesen? Wie auch immer: Ich denk mir meinen Teil und das ganz ohne Anleitung.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2011

Apollo 18

(USA 2011, Regie: Gonzalo López-Gallego)

Mooncrap
von Sven Jachmann

Es gibt aberdutzende Evergreens in der Science Fiction. Zu ihnen zählt, dass man 1. den Regierungen nicht trauen und 2. dem Mond besser fern bleiben sollte. Dies lehrte im letzten …

Es gibt aberdutzende Evergreens in der Science Fiction. Zu ihnen zählt, dass man 1. den Regierungen nicht trauen und 2. dem Mond besser fern bleiben sollte. Dies lehrte im letzten Jahr gerade erst wieder „Moon“ von Duncan Jones. Legionen an Verschwörungstheoretikern wissen es bereits seit über 40 Jahren noch weitaus genauer: Jedes Bild, das uns vom Mond aus erreichte, stamme in Wirklichkeit aus amerikanischen Filmstudios. Weil sich aus solch pathologischer Perspektive die Wahrheit nur ohne Gatekeeper verbreiten kann, schmuggelt sie „Apollo 18“ mit Blick auf jene Mondfahrtszweifler ziemlich link als found footage ans Tageslicht. Worin sich der Witz dieser Mockumentary leider schon erschöpft. 40 Stunden angeblich von der US-Regierung unterschlagenen Materials wurden zu einem 90-minütigen Erkundungsmarsch auf der Mondoberfläche destilliert.

Zu sehen sind verschmutzte Aufnahmen des geheimgehaltenen Flugs der Apollo 18 auf den Mond aus dem Jahr 1974, ein Mix aus Bord- und Super 8-Handkameras, die von den drei teilnehmenden Astronauten bedient wurden. Die Kombination aus statischen und dynamischen Bildern gleicht also der aus „Paranormal Activity“; der fremde, dunkle und unübersichtliche Raum entspricht dem Wald aus „The Blair Witch Project“. Der erzählerische Reiz des gefundenen Materials in „Apollo 18“, dessen Autorenschaft unbekannt bleibt und das konzeptionell ein Ende mit Schrecken verspricht, besteht im Arrangement vorausgegangener Settings, angereichert mit dezent ironischen Verweisen auf weitere Filme, die den Mondbesteigungen lebensbedrohliche Risiken andichteten.

Verloren im All stößt man auf eine unbekannte Gefahr, die das Wettrüsten unten auf der Erde schnell vergessen lässt. Gegenstände verschwinden, Gesteinsproben befinden sich am falschen Platz, man entdeckt fremde Fußspuren, dann eine unbemannte russische Raumkapsel und schließlich den ersten Leichnam. Weil Regisseur Gonzalo López-Gallego (der in Spanien einige bemerkenswerte Mysteryerzählungen inszenierte, von denen bislang lediglich „King of the Hill“ (2006) in Deutschland erhältlich ist) in seinem ersten amerikanischen Film einerseits einzig auf die Prämisse der medialen Unordnung des Filmmaterials setzt, andererseits die klaustrophobische Isolation im stillen Weltraum zugunsten einer zigfach erprobten Bedrohungsdramaturgie opfert, gedeiht der Schrecken mühselig.

Ist die bösartige Alienfront, die den Mond – in zugegeben sehr unkonventioneller physischer Gestalt – längst besiedelt hat, erst einmal identifiziert und lokalisiert, beginnt die Kamera äußerst lax auf ihre found footage-Prinzipien zu achten; urplötzlich nimmt sie alles so wahr, wie es der Schock, nicht ihre erzählerische Logik verlangt und diese Lustlosigkeit, der eigenen Agenda überhaupt zu vertrauen, überträgt sich peu à peu auf den Plot. Alles neigt zur Asymmetrie: Dem teils geradezu melancholischen Kammerspiel mit sarkastischem Hau der ersten Hälfte steht eine nicht nur mondbedingt retardierte Hetzjagd übers im blauen Schimmer gefasste Geröll entgegen. Die letzte Möglichkeit zur Flucht muss als Umweg sogar den Zwei Personen-Showdown nehmen: Alles Fremde personifiziert sich im vertrauten Anblick eines mehr oder weniger besessenen Astronauten. Von da an ruft die Schlusspointe nur noch ins Gedächtnis, wie viele Ideen nach wie vor auf dem Mond begraben liegen könnten.

Submarine

(GB / USA 2010, Regie: Richard Ayoade)

Wie unter Wasser
von Wolfgang Nierlin

„Was für ein junger Mensch bin ich?“, lautet die Frage für den Aufsatz, den ein Lehrer aus dem walisischen Swansea seinen Schülern als Hausaufgabe aufgibt in der Hoffnung, sie mögen …

„Was für ein junger Mensch bin ich?“, lautet die Frage für den Aufsatz, den ein Lehrer aus dem walisischen Swansea seinen Schülern als Hausaufgabe aufgibt in der Hoffnung, sie mögen in der Behandlung des Themas ihr Selbst entdecken. Der 15-jährige Oliver Tate (Craig Roberts), ein dezidierter Individualist und schrulliger Antiheld, ist einer von ihnen. In Richard Ayoades phantasievoller Coming-of-age-Komödie „Submarine“ monologisiert der sympathische Nerd mit den großen, wunderlichen Augen und dem stets starren Blick mittels Voice-over unentwegt über diese Frage. Weil der Einzelgänger mit dem übergroßen Liebesbedürfnis wie alle jungen Menschen in diesem Alter von der eigenen Besonderheit überzeugt ist und sich in seinen Tagträumen am wohlsten fühlt, krönt er seine tränenreichen Todesphantasien, in denen er zum allseits beliebten und bewunderten Helden aufsteigt, mit einer „glorreichen Auferstehung“.

Leicht über der Realität schwebt auch Richard Ayoades bemerkenswertes, assoziativ gebautes Spielfilmdebüt, das voller spleeniger Einfälle steckt und seinen originellen Witz aus der engen, mitunter Dissonanzen erzeugenden Verschränkung von Text und Bild bezieht. Seine virtuose Montage, das Spiel mit filmischen Effekten und der verschroben ironische Tonfall erinnern mitunter an die Filme von Wes Anderson. Mit der Blockschrift der Vorspanntitel, der Gliederung des Films in verschiedene Kapitel, der elliptischen Erzählweise und den filmmusikalischen Anklängen an Georges Delerue beschwört Ayoades „Submarine“ aber auch den Geist der Nouvelle Vague.

Wenn Oliver mit seiner Angebeteten Jordana Bevan (Yasmin Paige) im Foyer des „Cinema Neptune“ steht, wo Carl Theodor Dreyers „La passion de Jeanne d’Arc“ läuft, und ihr mit kennerischer Geste Bücher von Shakespeare („König Lear“), Nietzsche und Salinger („Der Fänger im Roggen“) empfiehlt, könnte das auch aus einem Godard-Film stammen. Tatsächlich ist die flirrende, in zeitlosen Koordinaten situierte Beziehung der beiden nach „zwei Liebeswochen“ („Two weeks of lovemaking“ lautet der Titel ihres gemeinsam gedrehten Super-8-Films) in einer ernsthaften Krise gelandet: Seit seine neurotische Mutter Jill (Sally Hawkins) im Verdacht steht, den unverhohlenen Avancen ihres Jugendfreundes und praktizierenden New Age-Gurus Graham Purvis (Paddy Considine) erneut zu erliegen und ihr Mann Lloyd (Noah Taylor), ein scheuer Meeresbiologe, darüber in einer Depression versinkt, versucht der argwöhnische Oliver seine Familie zu retten. Und weil er darüber Jordana – die überdies unter der schweren Krankheit ihrer Mutter leidet – vernachlässigt, zieht diese sich von ihm zurück. In seinem Liebeskummer fühlt sich Oliver „wie unter Wasser“. Doch die von ihm für schlechte Zeiten erträumte Seifenoper-Abblende bleibt aus. Stattdessen wagt Oliver, vom Spiel mit dem Feuer beflügelt, mutige Schritte ins kalte Wasser.

Unter Dir die Stadt

(D / F 2009, Regie: Christoph Hochhäusler)

Undurchsichtige Transparenz
von Michael Schleeh

Die Scheibe, durch die die Kamera blickt, ist im Kino schon immer ein Mittel der Distanzierung gewesen. Ob das nun das Fenster zum Hof in den „120 Tagen von Sodom“ …

Die Scheibe, durch die die Kamera blickt, ist im Kino schon immer ein Mittel der Distanzierung gewesen. Ob das nun das Fenster zum Hof in den „120 Tagen von Sodom“ ist, wo sich unten Unglaubliches abspielt, und was durch die Kameraperspektive ferngerückt, gerahmt und somit ästhetisiert wird. Oder ob Christoph Hochhäuslers Film „Unter dir die Stadt“ mit einem solch beobachtenden, bildgestalterischen Ästhetisierungsprozess beginnt: Im Blick die Glasfront des Hochhauses, deren Durchlässigkeit schemenhaft zu ahnen ist, jedoch durch Schwenk und Überblendung die Transparenz verliert. Man sieht hindurch und sieht zugleich doch nichts. Diese Taktik des Zeigens und der Bildverweigerung, die hier in eins fallen, wendet Hochhäusler mehrfach an in einem Film, der seinen locus amoenus ausgerechnet in der Frankfurter Bankenwelt verortet.

Man könnte aber auch ganz anders anfangen von diesem Film zu berichten. Mit Fokus auf die Figuren etwa: da ist die mit einem Banker verheiratete Svenja (Nicolette Krebitz), die nach dem Umzug aus Hamburg sich in Frankfurt einzuleben hat. Sie ist eine mysteriöse Frau, ein bisschen verloren und irgendwo zwischen der Sprachverweigerung einer verstockten Berliner Schule-Protagonistin und einer Heldin der Nouvelle Vague positioniert. Anbetungswürdig, diese smart durchgeknallte sexyness, die vor allem deswegen aufscheint, weil die Frau Charme hat und Ausstrahlung und auf jede Form des Hochglanzstylings verzichtet. Diese lässt sich ausgerechnet auf eine Affäre mit Robert (Robert Hunger-Bühler), einem Vorstandsmitglied der Firma ihres Gatten, ein. Ein Erfolgsmensch, Banker des Jahres, ein Player im Machtgefüge des großen Finanzschachspiels. Um an die Frau heranzukommen, schickte er, wie in der biblischen Geschichte von David und Batseba, Svenjas Ehemann an die Front nach Indonesien. Verkauft als Karrieresprung – und verheimlichend, dass dessen Vorgänger ebendort entführt und gefoltert, mit abgehackten Händen aufgefunden worden ist. Was sich also zunächst als Amour Fou mit einer starken, weil undurchsichtigen Protagonistin darstellt, erfährt im Laufe des Films eine Neubewertung. Die Fäden hält Robert in Händen, der rücksichtslos seine Ziele verfolgt.

Was also die Macht zusammenhält, das sind die Seilschaften einer sterilen Männerwelt, die Hochhäusler vor allem beim Essen in einem vollverglasten Loftrestaurant darstellt. Immer wieder ist die Kamera ganz dicht dabei und wirft dem Zuschauer ein paar Informationen hin, der dann den Plot, wie in einem Krimi, selbst zusammenbauen darf. Glücklicherweise arbeitet Hochhäusler mit etlichen Leerstellen, Ellipsen und Sprüngen, und verfällt nicht in die allzu gängige Praxis derer, die ihren Zuschauern nichts zutrauen und glauben, alles in Linie stellen und zwanghaft erklären zu müssen.

Einer, der sich nie erklärt, ist Roland Cordes. Ein Banker mit einer steilen Karriere und der es ganz nach oben geschafft hat. Der keinen Blick mehr für den Wert von Dingen übrig hat. Für die Kunst in seinem Büro, für die Musik in seinem Zuhause, der den Respekt vor dem Menschen verloren hat. Und den allein die Manieren daran hindern, selbst denen, die ihm am nächsten stehen, zu sagen, sie könnten ihm gestohlen bleiben. Wenn es nicht mehr weiter nach oben geht, dann bleibt einem nur noch der Blick nach unten. Unter dir die Stadt. Und überraschenderweise schließt Hochhäusler seinen Film mit einer Szene, die wieder zum Anfang des Films zurückführt: mit einem Blick der Protagonistin von oben durch ein Fenster hinab auf die Straße. Doch dort rennen urplötzlich die Menschen wie in Panik durcheinander. Es bleibt offen, ob das nun der große Börsencrash ist oder eine Zombie-Apokalypse. Diejenigen jedoch, die immer oben alleine am Fenster stehen, die müssen gewaltig einsam sein.

[Link zu einer weiteren Filmkritik

Die Mühle und das Kreuz

(SW / P 2011, Regie: Lech Majewski)

Das verborgene Sujet
von Wolfgang Nierlin

Lech Majewskis Film „Die Mühle und das Kreuz“ zeigt den Künstler als Chronist und Visionär seiner Zeit Eine gewaltige Mühle thront hoch oben auf einem Berg. Unten im Tal verrichten …

Lech Majewskis Film „Die Mühle und das Kreuz“ zeigt den Künstler als Chronist und Visionär seiner Zeit

Eine gewaltige Mühle thront hoch oben auf einem Berg. Unten im Tal verrichten die Menschen ihr Tagwerk: Zwei Holzfäller schlagen einen Baum; Gaukler, Spiel- und Marktleute folgen ihren Geschäften; ein junges Paar macht sich mit seinem Rind auf den Weg; tobende Kinder erfüllen am frühen Morgen das Haus mit Geschrei. Wie auf ein geheimes Startzeichen der angestoßenen gigantischen Windräder setzt sich auch das Alltagsleben in Bewegung. Es sind Szenen, die sich Mitte des 16. Jahrhunderts in einer flämischen Landschaft ereignen. Der polnische Filmregisseur Lech Majewski, der auch als Maler, Schriftsteller und Komponist arbeitet, hat sie mit Detailverliebtheit und historischer Treue für seinen höchst kunstvollen Film „Die Mühle und das Kreuz“ inszeniert. Ganz auf die visuelle und akustische Darstellung konzentriert, arrangiert er fast dialoglose Szenen, die dem berühmten Gemälde „Die Kreuztragung Christ“ von Pieter Bruegel dem Älteren aus dem Jahre 1564 nachgestellt sind.

Dabei tritt Majewskis eindrucksvoll gestalteter Film in einen Dialog mit dem Bild und seiner „wimmelnden“ Szenerie eines pulsierenden Lebens, aus dem er wenige Episoden herausgreift, um die Entstehung des Bruegelschen Kunstwerks nachzuvollziehen. Neben dem „versteckten“ Zentrum der Kreuztragung, die „den Erneuerer“ Jesus und seine Schächer als Zeitgenossen ausweist, und den rot berockten spanischen Reitern, die im Namen der Inquisition grausam foltern und morden, ist dies vor allem der von Rutger Hauer gespielte Maler-Philosoph selbst, der im Gespräch mit seinem Auftraggeber Nicolas Jonghelinck (Michael York), einem reichen Antwerpener Kaufmann und Mäzen, anhand von Vorstudien und Skizzen seine Konzeption erläutert. Diese fiktive Erörterung, in der sich die beiden unter anderem über die blindwütigen politischen Zeitläufte einer „sinnlosen Epoche“ und die ihr zugrunde liegende menschliche Natur verständigen, folgt wiederum einer Studie des Kunsthistorikers Michael Francis Gibson, der zusammen mit Majewski auch das Drehbuch geschrieben hat.

Dessen Deutung des verborgenen Sujets gipfelt in der These, dass das, was die Welt verändert, von den jeweiligen Zeitgenossen dieser Geschehnisse nicht bemerkt und also erst in der historischen Rückschau wahrnehmbar wird. Folgt man diesem Gedanken, käme dem Maler nicht nur die Rolle des Zeugen und Chronisten zu („Mein Gemälde muss viele Geschichten erzählen.“), sondern auch diejenige des Visionärs. In Majewskis Film, dessen verblüffend gedankliche und visuelle Klarheit mit Hilfe gemalter Hintergründe immer wieder die Übergänge und damit die Nähe zwischen Leben und Kunst betont, vergleicht Bruegel aus der Distanz seine Arbeit mit dem Gewebe eines Spinnennetzes, das die vielzähligen Bewegungen fixiert. Malen heiße, mit Gottes Hilfe die Zeit anzuhalten. In Majewskis Interpretation von Bruegels Bild kommt diese Macht dem „Müller des Himmels“ zu, der zum göttlichen Verbündeten des Künstlers wird. Er hält in einer Szene die Windräder an und friert damit für einen Augenblick jene Bewegungen ein, die das Gemälde verewigt. In der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums Wien, wohin der Film an seinem Ende auf das reale Bild Bruegels überblendet, ist dessen bedeutende Geschichte eine unter anderen. Damit eröffnet der Film einen ahnungsvollen Blick auf einen kunsthistorischen Reichtum, der menschliche Geschichte widerspiegelt und aufbewahrt.

Das Gespenst

(BRD 1982, Regie: Herbert Achternbusch)

Und das Fleisch ist Wort geworden
von Carsten Moll

Weil am Kreuz hängen die Hölle ist, steigt eine lebensgroße Christusfigur in einem bayerischen Kloster von ihrem Kreuz herab und will versuchen, fortan als Mensch zu leben. Die Oberin des …

Weil am Kreuz hängen die Hölle ist, steigt eine lebensgroße Christusfigur in einem bayerischen Kloster von ihrem Kreuz herab und will versuchen, fortan als Mensch zu leben. Die Oberin des Konvents nimmt sich des Herabgestiegenen an und ernennt ihn in Anlehnung an ihren eigenen Titel zum Ober, ein Job in der klostereigenen Kneipe ist auch schnell gefunden. Doch das Zusammenleben von Ober und Oberin soll sich als schwierig erweisen und eine Menschwerdung in München scheint immer unmöglicher …

Anfang der achtziger Jahre war der Skandal um den Film groß (und bescherte Herbert Achternbusch seinen größten Publikumserfolg); die Springerpresse stichelte gegen die staatliche Filmförderung, mit deren finanzieller Unterstützung auch „Das Gespenst“ entstanden ist, die FSK verweigerte zunächst sogar die Freigabe, zu pessimistisch und nihilistisch sei der Film. Auch die katholische Kirche mit ihrem Hang zur Beanspruchung der Bildgewalt empörte sich lautstark über die vermeintliche Blasphemie, aber immerhin die Jury der evangelischen Filmarbeit zeichnete Achternbuschs Werk als „Film des Monats“ aus und bewies mit ihrem Hinweis auf die Filme Buñuels Sachverstand.

Dass der Film von Jesus Christus erzählt, ist dabei ein grobes Missverständnis und somit läuft sowohl der Vorwurf der Blasphemie als auch die Vereinnahmung von religiöser Seite ins Leere. Was hier vom Kreuz steigt, um als Mensch zu leben, ist bloßes Abbild eines Herrgotts, bemerkenswerterweise die 42. von 41 im Kloster befindlichen Christusfiguren. Dieser Post-Jesus ist ein Simulacrum und kann sich nicht daran erinnern, jemals in Jerusalem gewesen zu sein, geschweige denn Wasser in Wein verwandelt zu haben. So handelt der Film nicht von Gott, sondern stellt bestenfalls die Frage nach dem Gottesbegriff in einem postmodernen Deutschland, nicht einmal 40 Jahre nach dem Holocaust.

Mehr als an einen Messias erinnert Achternbuschs Jesus eh an einen Clown in der Tradition des absurden Theaters: Der Ober wirkt gutmütig und naiv in seiner Unfähigkeit, die Unsinnigkeit seiner Bemühungen anzuerkennen, wie bei Ionesco ist sein „Leiden nichts als tragischer Spott“. Die Forderungen, die der Mensch stellt und die an ihn gestellt werden, sind grotesk und unerfüllbar. Nicht einmal der Wunsch nach Scheiße lässt sich noch befriedigen, der Fäkalhumor bleibt so trotz allerlei Bemühungen aufs Verbale beschränkt; wo alles Handeln zum Scheitern verurteilt ist, da dominiert die Sprache, um Bewegung und Fortschritt zu simulieren. Doch soviel im Film auch geredet werden mag, es bleiben Leerstellen, die Dialoge dienen nicht der Verständigung, sondern demonstrieren Ohnmacht. Sie kreisen immer wieder um sich selbst, führen ins Leere oder fallen auf sich selbst zurück. Je mehr die Figuren über sich selbst sprechen, umso deutlicher wird, dass sie sich selbst und einander unverständlich bleiben. Was können Gespenster schon sagen außer Gespenstisches?

Gespenstisch ist auch die Welt mit ihren bühnenhaften Innenräumen, ein Eindruck, der durch lange, unbewegte Einstellungen noch verstärkt wird. Wie eingekapselt wirken die Figuren, ein Außen scheint es nicht zu geben. Das Telefonklingeln ist ein Telefonklingeln und nicht etwa ein Anruf, das betont künstliche und vollkommen hysterische Vogelgezwitscher verweist mehr auf das Vorhandensein der Tonspur als auf einen Garten vor dem Fenster. Ein Weg raus ist nur der Tod, hier ein unpathetisches Kippen aus dem Bildrahmen. Wenn Ober und Oberin am Ende an der Gesellschaft der Menschen gescheitert sind, wählen sie aber nicht den Tod, sondern die Verwandlung zum Tier; die Greifvogel-Oberin packt den Schlangen-Ober und sie fliegen auf – aber nicht davon. Wie eine Fliege schwirren sie in der Ferne, immer im Kader, gefühlte Minuten lang. Eine Erlösung ist das nicht, auch kein Aufbruch in den Sonnenuntergang. Am Ende von „Matrix“ heißt es aus dem Mund eines anderen vermeintlichen Messias vor dessen Davonflattern hoffnungsfroh: „I’ll show you a world, where everything is possible. The choice is up to you.” Achternbusch gönnt uns nur ein lakonisches „Amen“.

Auch Henker sterben

(USA 1943, Regie: Fritz Lang)

Flaschenpost aus Hollywood
von Sven Jachmann

„Not the End“ verheißt die Texttafel am Schluss des Films und wenn man so will, muss man diesen kurzen Verweis auf eine Realität außerhalb der Kinoleinwand bereits als brechtschen Anteil …

„Not the End“ verheißt die Texttafel am Schluss des Films und wenn man so will, muss man diesen kurzen Verweis auf eine Realität außerhalb der Kinoleinwand bereits als brechtschen Anteil in diesem Fritz-Lang-Film identifizieren, als Verfremdungseffekt mit didaktischem Furor. Denn das reale Attentat auf Reinhard Heydrich, stellvertretender Reichsprotektor in Böhmen und Mähren und Leiter des Reichssicherheitshauptamts im Jahr 1942 in Prag und seine Folgen für die tschechische Bevölkerung bilden den erzählerischen Mittelpunkt für die 1943 uraufgeführte Gemeinschaftsarbeit der zwei Exilanten. Lang bezeichnete „Hangmen also die“ später als seinen wichtigsten anti-nationalsozialistischen Film. Brecht, der das Drehbuch verfasste und ohnehin gegenüber Hollywood eine rege Abneigung hegte, wollte hingegen seine einzige bis zur Produktion gereifte Mitarbeit an einem amerikanischen Film am liebsten aus dem Gedächtnis streichen.

Brechts Zerwürfnisse mit Fritz Lang und dem ebenfalls aus Deutschland geflohenen Produzenten Arnold Pressburger sind im 44-seitigen DVD-Booklet, das Gespräche mit Lang und Komponist Hanns Eisler, zum größten Teil aber Auszüge aus Brechts Arbeitsjournal sowie zeitgenössische Filmkritiken enthält, reichhaltig dokumentiert. Unrühmliches Schlusslicht bildete der letztlich sogar erfolgreiche Versuch des hinzu beorderten Drehbuchautors John Wexley, der eigentlich in erster Linie als Brechts Übersetzer fungierte, in den Credits als alleiniger Urheber genannt zu werden.

Brecht notiert in seinem Journal über Lang: „Die Veränderung, die mit ihm in der Nähe der 700.000 $ vorgeht, ist bemerkenswert. Er sitzt, mit den Allüren eines Diktators und alten Filmhasen, hinter seinem Bossschreibtisch, voll von Drugs und Ressentiments über jeden guten Vorschlag, sammelnd „Überraschungen“, kleine Spannungen, schmutzige Sentimentalitäten und Unwahrhaftigkeiten und nimmt „licenses“ für das Boxoffice.“ Die Auseinandersetzungen sind jenseits von Honorarstreitereien, aus denen die ökonomische Not spricht, zugleich ein Kampf um die Flaschenpost, die Brecht mit dem Film aussetzen wollte, ein Versuch, ästhetische und politische Überzeugungen in die seiner Ansicht nach vollkommen konfektionierte Warenproduktion Hollywoods zu transponieren.

Man merkt dem Resultat deutlich an, dass irgendwo während des Arbeitsprozesses die Politik der kriminalistischen Paranoia-Erzählung weichen musste. Die fiktive Geschichte um Heydrichs Attentäter Dr. Svoboda, der bei der Tochter aus bürgerlichem Hause Mascha Novotny (deren Vater, ein angesehener Professor, ohne ihr Wissen ebenfalls der Widerstandsbewegung angehört) Unterschlupf findet, zehrt von einer Motivik, die Langs Repertoire entspringt. Aus Dr. Mabuse wurde Inspektor Gruber von der Gestapo, der sich mit sardonischer Hingabe auf Spurensuche begibt – ein gedrungenes Männchen voller höflich-sadistischem Eifer, etwas dekadent und allgegenwärtig: Dreht sich eine Figur in ihrer leeren Zelle unversehens um, sitzt er plötzlich da, diabolisch lächelnd über seine Psychospiele. Der Mob, der in „M“ (1931) den Kindermörder vors Tribunal stellt, wandelt sich unter positiven Vorzeichen zur tschechischen Bevölkerung, die in konspirativer Zusammenarbeit der Gestapo einen Spitzel und Nazikollaborateur aus der Widerstandsgruppe als vermeintlichen Attentäter Heydrichs überführt. Und der Faschismus, der sich in „M“ bereits in der moralischen Ambivalenz der mechanischen Gemeinschaft aus Exekutive, Bürgertum und Schattenwelt ankündigte, knechtet in „Hangmen also die“ als grausame Besatzungsmacht vor allem die Autonomie des tschechischen Volks. Antisemitismus gibt es nicht, und obwohl er in Brechts ursprünglichem Script durchaus in Erscheinung trat (etwa bei einer Gruppendiskussion zwischen inhaftierten Geiseln der Gestapo, die den Eindruck eines kollektiven Opferdaseins unterminieren sollte), wurde er von Lang getilgt – zugunsten einer homogeneren Konzeption eines aufrührerischen Volkes, dass sich in einem gemeinsamen, wenn auch schließlich vergeblichen Kraftakt gegen seine Unterdrücker erhebt.

Heute würde man diese Nivellierung charakteristischer Merkmale des Faschismus wohl als totalitaristisch bezeichnen. Retrospektiv zeigt sich jedenfalls, dass die antifaschistischen Kriegserklärungen, mit denen 1942 auch Hollywood seine Offensive gegen Nazideutschland begann, ohne viel Mühe auf jedes weitere politische System umgemünzt werden konnten. In dieser Hinsicht ist Langs Film mehr noch als das antifaschistische Fanal, wozu ihn Teile der Filmgeschichtsschreibung erklärten, eine propagandistische Fingerübung, deren politische Universalität Lang später mit seherischen Fähigkeiten verwechselte: „Es ging mir auf, dass dieser Film, der den Kampf einer ganzen Nation gegen die faschistischen Eindringlinge in Prag zeigte und der mit dem Schluss-Titel „Das ist nicht das Ende“ aufhörte, heute einen prophetischen Charakter hat. Nur ist der „Ort der Handlung“ heute woanders gelagert, nur kommen die Eindringlinge jetzt von der anderen Seite …“

Potato Fritz

(BRD 1976, Regie: Peter Schamoni)

Der listigste Cowboy erntet die dicksten Kartoffeln
von Oliver Nöding

Vom Cover blicken dem Betrachter Hardy Krüger als verwegener Cowboy und Paul Breitner als US-amerikanischer Soldat entgegen, ihre Namen darüber zerstreuen letzte Zweifel am eigenen Sehvermögen schon im Ansatz. Der …

Vom Cover blicken dem Betrachter Hardy Krüger als verwegener Cowboy und Paul Breitner als US-amerikanischer Soldat entgegen, ihre Namen darüber zerstreuen letzte Zweifel am eigenen Sehvermögen schon im Ansatz. Der albern anmutende Titel „Potato Fritz“ scheint den instinktiven gehegten Verdacht zu bestätigen, die Schublade mit dem Etikett „German Trash“ steht zur Einordnung des Films bereits sperrangelweit offen. Doch weit gefehlt: Peter Schamonis Western, der dieser Tage von absolut medien auf DVD veröffentlicht wird, ist eine noch weitaus größere Kuriosität, als es der Blick auf die Verpackung erahnen lässt …

Eine siebenköpfige Gruppe amerikanischer Soldaten begibt sich mit 30.000 Dollar auf den Weg zum Indianerhäuptling Asuke, um ihm mit dem Geld Land zur Besiedlung durch Weiße abzukaufen. Doch die Soldaten geraten in einen Hinterhalt, werden umgebracht, das Geld gestohlen. Ein Jahr später sitzen die Siedler, die längst ihr neues Land bezogen haben sollten, immer noch in einem Tal um das Fort Lang fest; jeder Versuch, es zu verlassen – in welche Richtung auch immer – wird von den Indianern unterbunden. Einer der Siedler ist der Deutsche Friedrich Jensen (Hardy Krüger): Er hat sich als einziger ein Fleckchen Erde genommen und dort Kartoffeln angepflanzt, was ihm den Spitznamen „Potato Fritz“ eingebracht hat. Auch die regelmäßigen Angriffe der Indianer auf sein Land können ihn nicht vertreiben. Als es dem Fremden Bill Ardisson (Stephen Boyd) gelingt, sich bis nach Fort Lang durchzuschlagen, kommt Bewegung in die verfahrene Situation: Denn er hat den Verdacht, dass es nicht die Indianer sind, die sich das Geld unter den Nagel gerissen haben …

Der diesen Sommer im Alter von 77 Jahren verstorbene Peter Schamoni ist eine der großen Filmpersönlichkeiten Deutschlands: 1962 gehörte er zu den Unterzeichnern des Oberhausener Manifests, das als Initialzündung des Neuen Deutschen Films maßgeblichen Einfluss auf die deutsche Filmlandschaft hatte. Sein Spielfilmdebüt von 1965, „Schonzeit für Füchse“, wurde mehrfach prämiert, unter anderem mit dem Silbernen Bären, er fungierte 1967 als Produzent der Erfolgskomödie „Zur Sache, Schätzchen“ von May Spils und wurde 1973 für die Dokumentation „Friedensreich Hundertwasser“ für einen Oscar nominiert. Schon diese kurze Liste lässt erahnen, was man von „Potato Fritz“ nicht erwarten sollte: standardisiertes Genrekino oder exploitativen Trash. Schon der Auftakt des Films, der Überfall auf die Soldaten, ist als Verstoß gegen die Western-Konventionen inszeniert. Statt blutiger Einschüsse und fallender Opfer gibt es von Schussgeräuschen untermalte Impressionen des teilnahmslosen Wildlebens, erst dann wagt Schamoni einen vorsichtigen Blick aus sicherer Distanz auf das sich unter ihm darbietende Schlachtfeld. Später löst er eine Schlägerei in einer Blockhütte mit im Rhythmus der Schlaggeräusche geschnittenen Detailaufnahmen des Hauses auf und seinem Titelhelden drückt er auch erst ganz zum Schluss eine Waffe in die Hand. Was auf den ersten Blick eine deutsche Antwort auf den Mitte der Siebzigerjahre noch einmal ein kleines Revival feiernden Italowestern zu sein scheint, ist überhaupt nur hinsichtlich seines Sujets ein Western. Statt von der das Genre sonst prägenden Weite wird „Potato Fritz“ von fast reduktionistischer Enge bestimmt, die ihm etwas entschieden Theater- und Parabelhaftes verleiht, und die Enthüllungen im letzten Drittel des Films rückten ihn eher in die Nähe von Murder Mystery und Whodunit, wenn Schamoni sich der Erzeugung von Spannung mit seiner Inszenierung nicht so offensiv entgegenstellen würde. Die ikonografische „Falschheit“ des deutschen Westerns, der sein Monument Valley in Andalusien oder Jugoslawien aufbaut, blendet er nicht etwa aus, sondern nutzt sie für sich: Man weiß nie ganz genau, wann man seine Bilder ernst nehmen muss und wann die suspension of disbelief nötig ist.

„Potato Fritz“ wird aufgrund der Teilnahme des Fußballstars Breitner meist als Kuriosität im Stile des Beckenbauer-Vehikels „Libero“ (Wigbert Wicker, Deutschland 1973) rezipiert, was in mehrfacher Hinsicht Unsinn ist. Zum einen, weil Breitner lediglich eine kleine Nebenrolle spielt, zum anderen, weil „Potato Fritz“ ein zwar ungewöhnlicher, aber eben auch ein durch und durch kompetenter Film ist. In Szenen wie jener, in der ein arroganter, selbstgerechter Prediger (Peter Schamoni selbst) sich mit weit ausgebreiteten Armen und nur mit der Bibel bewaffnet einer Büffelherde nähert und die „Dämonenbrut“ mit dem Wort Gottes zu vertreiben versucht, tritt der gesellschaftskritische und satirische Impetus von Schamonis Film deutlich in den Vordergrund, lässt der Regisseur keinen Zweifel daran, dass das Westernsujet für ihn kaum mehr als eine Maske ist, derer er sich spielerisch bedient. Das heißt jedoch nicht, dass er das Genre mit der Herablassung des intellektuellen Künstlers behandelte: Schon in der Besetzung zeigt sich die Liebe zum größten aller Filmgenres. Neben internationalen Filmstars wie Hardy Krüger, Stephen Boyd und Anton Diffring treten so markante Gesichter wie Arthur Brauss, der kürzlich verstorbene David Hess und Dan van Husen neben deutschen Schauspielgrößen wie Rainer Basedow, Friedrich von Ledebur oder Diana Körner auf.

Wer sich für die Randphänomene des deutschen Kinos interessiert, kommt an „Potato Fritz“ mithin nicht vorbei. absolut medien erleichtern die Kaufentscheidung der DVD, die als Begleitwerk zum cinefest 2011, dem internationalen Festival des deutschen Filmerbes, erscheint, durch die Beigabe von fünf Kurzfilmen mit Westernbezug, von denen eine rührende Dokumentation zum Indianistik-Treffen in Erfurt 1972 und der preisgekrönte „L’ultimo pistolero“ mit Franco Nero hervorzuheben sind.

Nur für Personal

(F 2010, Regie: Philippe Le Guay)

Ausbruch ins Leben
von Wolfgang Nierlin

Noch bevor eine Montage die Dachkammern der sechsten Stockwerke, von außen betrachtet, ins Bild setzt, geben ihre Bewohnerinnen, allesamt temperamentvolle Spanierinnen, in quasi-dokumentarischen Statements über sich Auskunft. Im Paris des …

Noch bevor eine Montage die Dachkammern der sechsten Stockwerke, von außen betrachtet, ins Bild setzt, geben ihre Bewohnerinnen, allesamt temperamentvolle Spanierinnen, in quasi-dokumentarischen Statements über sich Auskunft. Im Paris des Jahres 1962 sind sie die „Bonnes“ der vornehmen Leute, die sich um den Haushalt und die Kinderbetreuung ihrer wohlhabenden Herrschaften kümmern und in den Mansarden der geschmackvoll eingerichteten Bürger-Häusern eine bescheidene Bleibe haben. Philippe Le Guays Filmkomödie „Nur für Personal!“, die von Anfang an diese Kontraste akzentuiert und dafür in Ausstattung und Dekor die Epoche genau rekonstruiert, heißt im Original deshalb auch „Les femmes du 6ème étage“, also „Die Frauen vom sechsten Stock“. Dort, wo die Wände abgeschrappt sind, die Zimmer keine Heizung haben, sich das Waschbecken und die (verstopfte) Toilette im Flur befinden und von den Bewohnerinnen gemeinsam genutzt werden, liegt aber auch ein idealisiert gezeichnetes Refugium, das der Regisseur deshalb in warmes Licht taucht.

Nicht weniger mild ist die Beleuchtung in der gediegenen Wohnung des peniblen Anlageberaters Jean-Louis Joubert (Fabrice Luchini), der für einen gelingenden Tag vor allem ein „perfektes“ Frühstücksei braucht. Eine lange (berufliche) Familientradition, Standesbewusstsein und der Mangel an emotionalem Austausch charakterisieren ihn, seine spröde Frau Suzanne (Sandrine Kiberlain) und die beiden eingebildeten Söhne, die unter der Woche ein Internat besuchen. Als die langjährige Haushälterin Germaine, eine resolute Bretonin, aufgrund von Differenzen ihre Stelle kündigt, wird die eben in Frankreich angekommene Maria (Natalia Verbeke) zu ihrer Nachfolgerin. Die junge, hübsche Spanierin mit den großen Augen und dem freundlich strahlenden Lächeln schleppt allerdings einen schweren Koffer und eine schwierige Vergangenheit mit sich. Fasziniert von Marias Stolz, Furchtlosigkeit und Schönheit, interessiert sich Monsieur Joubert bald für die Sorgen und Nöte der Angestellten: „Diese Frauen leben über unseren Köpfen, und wir wissen nichts von ihnen.“ Dabei entdeckt er nicht nur eine unbekannte, aber sehr nahe liegende Welt und solidarische Gemeinschaft, sondern auch seine eigenen Gefühle.

Die märchenhafte, geradezu utopische Überwindung beziehungsweise Durchdringung der sozialen Gegensätze führt dabei über die Dienstbotentreppe in den 6. Stock. „Zum ersten Mal gehöre ich irgendwo hin. Ich habe eine Familie gefunden“, schwärmt der Hausherr über seine neu gewonnene Freiheit nach dem Einzug in eine der Dachkammern, wo er zu einem verliebten Romantiker und hilfsbereiten Heiligen avanciert. Geerdet in Kontrasten und Typisierungen, bezieht Le Guays Film einen guten Teil seines Witzes gerade aus dem Überschreiten gesellschaftlicher Konventionen, daneben aber auch aus der Ironisierung des bürgerlichen Milieus. Mit der Figur der von Carmen Maura gespielten kommunistischen Aktivistin Concepcion und dem tragischen Schicksal ihrer ermordeten Eltern deutet der französische Regisseur zugleich auf die politischen Hintergründe der Immigranten unter dem Franco-Regime, ohne diese jedoch zu vertiefen. Stattdessen entwickelt er mit Hilfe einiger abrupter Drehbuchwendungen und vielen stimmigen Details einen Film über den märchenhaften Zauber der Liebe und den feierlichen Ausbruch ins Leben.

The Thing

(USA / CAN 2011, Regie: Matthijs van Heijningen Jr.)

Das neueste Ding aus dieser anderen Welt
von Louis Vazquez

Die Säbel sind gewetzt nach einigen miesen Remakes der letzten Zeit. Da war zum Einen Marcus Nispels „Conan“, ein albernes, asoziales und trotzdem aalglattes Stück Kalkül-Kino, das im Gegensatz zur …

Die Säbel sind gewetzt nach einigen miesen Remakes der letzten Zeit. Da war zum Einen Marcus Nispels „Conan“, ein albernes, asoziales und trotzdem aalglattes Stück Kalkül-Kino, das im Gegensatz zur Auffassung der Fanboys eben nicht subversiv war, sondern nur noch Bedürfnisse bediente. Man wünscht sich, die Produktionsfirma Troma hätte mit dem Budget des Films gleich das Gesamtwerk von Robert E. Howard verfilmt, um zu zeigen, wie „asozial“ wirklich geht. Und es gab „Footloose“ von Craig Brewer, dem es gelang, aus einem mittelmäßigen Film über eine teenage rebellion einen windelweichen Mist zu machen, in dem es allen Ernstes nur noch um das Recht auf zeitlich befristete Ausgelassenheit gehen soll: Wir wollen tanzen dürfen, bis auch wir alle arbeiten und Familien gründen, heißt es im Plädoyer des neuzeitlichen „Rebellen“. Wer braucht bei einer solchen Denke überhaupt noch Horrorfilme? Und dann auch noch einen solchen: das als Prequel verkaufte Remake eines Remakes, dessen angeblich so „eigene“ Geschichte nicht nur Struktur und einzelne Szenen der Vorgänger (bzw. des zugrunde liegenden Romans von John W. Campbell) verwendet, sondern auch fröhlich die Bildsprache von Carpenters „Das Ding aus einer anderen Welt“ (1982) und dessen Morricone-Soundtrack zitiert, wie bereits der Trailer verriet.

Trotzdem bleiben die Säbel stecken, weil das neue „Ding“ den anderen genannten Remakes etwas Entscheidendes voraus hat: Es bewahrt die Qualitäten seiner Vorgänger. Und das sind, wie bereits angedeutet, vor allem Carpenters Qualitäten, weil der 1982 der alten Version von Christian Nyby und Howard Hawks aus dem Jahr 1951 ein zeitgemäßes Gewand verpasste, das auch heute noch kleidsam scheint. Der neue Film mutet stilistisch über weite Strecken fast epigonal an, selbst über die direkten Zitate hinaus. In Sachen Suspense wird hier der frühe Carpenter durchdekliniert, und das ist mehr, als man mit „Conan“ und „Footloose“ im Hinterkopf von einem Werbeclip-Regisseur und Spielfilmdebütanten wie Matthijs van Heijningen Jr. erwarten konnte. Keine Stakkatoschnitte, kein wildes Kameraschwenken, stattdessen die spannungsvolle Langsamkeit, die Carpenters Frühwerk auszeichnete. Eine Figur flüchtet, geht rückwärts, die Kamera ist hinter ihrem Kopf, der Blick entgegen der Laufrichtung. Der Bildkader lässt genug Raum für einen erschreckenden Monsterauftritt. Oder hat man das Monster im Rücken? Man kennt solche Spielereien. Aber sie sind immer noch gut. Eine wirklich eigene, neue Bildsprache gibt es nicht. Fast ist man in diesem Fall ein bisschen froh darüber. „The Thing“ feilt auch nicht an einer Mythologie (siehe die Fortsetzungen von „Alien“ oder „Predators“), sondern bleibt in seiner Präsentation der Bedrohung und der Paranoia so vage wie seine Vorgänger. Die Schocks des Films sind meistens gut gesetzt. In manchen Momenten aber schockieren die Dialoge sogar noch mehr: Wenn ein enttarnter Ding-Mensch die Flammenwerferträger darum bittet, doch erst über alles zu reden, ist das ziemlich dämlich.

Wie zu erwarten war, sind es ausgerechnet die Spezialeffekte, die dem Film hier und da schaden, obwohl doch gerade sie oft als Argument für veränderte Sehgewohnheiten und die deshalb angeblich nötige Neuinszenierung oder Überarbeitung von Klassikern heran gezogen werden. Sie sind zwar ganz gewiss nicht schlecht, aber eben längst nicht in dem Maß ihrer Zeit voraus wie 1981 Rick Bakers oscarprämierte Arbeit für „An American Werewolf in London“ oder im Jahr darauf Rob Bottins Effekte für Carpenter, die die Messlatte vielleicht sogar noch höher hängten. Womöglich ist CGI zu alltäglich und durchschaubar. Wer Konsolenspiele schätzt, dürfte sich ein ums andere Mal an die Mutationen aus „Dead Space“ oder „Resident Evil“ erinnert fühlen, die ihrerseits unter anderem von Carpenters Film beeinflusst wurden. Und apropos Dschungel der Referenzen: Statt eines zur Spinne mutierenden Kopfs bietet van Heijningen in seinem Remake-Remake mutierende Arme, die wiederum an die Alien-Facehugger erinnern. Dazu kommt Mary Elizabeth Winstead als den Flammenwerfer schwingende Protagonistin – Ellen Ripley lässt schön grüßen.

Ohne zu viel zu verraten: Das Ende ist wirklich gut gelungen. Da wird zum Abspann Carpenters Film noch einmal direkt zitiert und ein fließender Übergang zur Version von 1982 geschaffen. So ist „The Thing“ im Jahr 2011 ein zugegebenermaßen rückwärtsgewandter Schocker, aus dessen altmodischer Umsetzung aber Liebe zur Filmgeschichte und ihren Genreklassikern spricht. Das rückt ihn definitiv näher an Super 8' von J.J. Abrams als an Nispels „Conan“ – oder „Footloose“.

I Am You – Mörderische Sehnsucht

(AUS 2009, Regie: Simone North)

Tödliche Freundschaft
von Michael Schleeh

Als die fünfzehnjährige Rachel (Kate Bell) nach dem Balletttraining nicht nach Hause zurückkehrt, alarmieren die besorgten Eltern (Guy Pearce, Miranda Otto) die Polizei. Doch diese betrachtet die Angelegenheit als lästiges …

Als die fünfzehnjährige Rachel (Kate Bell) nach dem Balletttraining nicht nach Hause zurückkehrt, alarmieren die besorgten Eltern (Guy Pearce, Miranda Otto) die Polizei. Doch diese betrachtet die Angelegenheit als lästiges Übel – es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass ein wohl behütetes Vorstadtmädchen sich etwas verspäten würde. Also machen sich die verzweifelten Eltern selbst auf die Suche. Rachels ehemaliges Kindermädchen Caroline (Ruth Bradley) gerät dabei immer mehr in Verdacht.

Simone Norths engagiertes Regiedebüt weiß auf mehreren Ebenen zu überzeugen. Schon im Vorspann zieht eine freischwebende Kamera, die in Pendelbewegungen erst über einen Feldweg gleitet, dann über ein Feld, ins Gegenlicht schießt, sich schließlich einschwingt am Boden, im Wald, über einem Tierfriedhof, den Zuschauer in den Film hinein. Toshiaki Toyodas „Kuchu Teien/The Hanging Garden“ (2005) kommt einem da in den Sinn, denn auch dort schwingt die Kamera wie auf einer Schaukel und Überkopf durch den Vorspann, und zeigt so bereits an, dass die verlässlich festen Koordinaten des Alltags ausgehebelt sind. Hier ist einiges, wenn auch in sanfte Elegie gekleidet, nicht in Ordnung. Die Regisseurin wählt die horizontale Bewegung, als ob sie mit der Kamera einen Tatort abschreiten würde, was sofort Spannung hervorriefe, wäre die Szene nicht mit dem kontraproduktiven Postgrunge-Sound einer Independentband unterlegt. Gleich darauf wird auf eine Ballett-Tanzszene geschnitten, in der Rachel mit ihrem Partner eine ausdrucksstarke, sexuell aufgeladene Vorstellung gibt. Die Szene kulminiert in einem harten Schnitt zu einem paradiesischen Waldbett im Garten Eden, auf dem die beiden Liebenden nackt aufeinander liegen. Plötzlich regnen Sterne vom Himmel, sanfte Berührungen perfekter, alabastener Körper. Was dem Zuschauer über die emotionale Disposition des Paares gesagt werden soll und worin der metaphorische Gehalt des Tanzes liegt, dürfte nun jedem klar geworden sein.

Die Schauspielerleistungen in „I Am You“ sind gleichwohl tadellos zu nennen. Es sei noch Sam Neills souveräne Darstellung von Carolines Vater erwähnt: Ein Mann, ganz Rationalist, der immer wieder verzweifelt und mit Unverständnis auf das merkwürdige Gebaren seiner psychisch labilen Tochter reagiert. Diese nämlich ist, seit sie denken kann, unglücklich mit ihrem Leben: übergewichtig, faul und hässlich findet sie sich. Und so ist ihr die Nachbarstochter Rachel, der Augenstern der Familie Barber, die selbst Carolines Mutter mit ihren graziösen Tanzvorstellungen zu betören weiß – hier leistet sich der Film eine peinliche Oppositionsmontage – ein Dorn im Auge. Gegen wen also sollen sich Carolines Aggressionen richten, wenn nicht gegen die von allen geliebte, schöne und schlanke Nachbarstochter? Die Spannung des Filmes speist sich fortan aus der detektivischen Aufklärungsarbeit der immer panischer werdenden Eltern, wobei mehrfach irreale, träumerische Assoziationsszenen dazwischen montiert werden. Auch die Tonspur nähert sich bisweilen sehr den subjektiven Wahrnehmungen der Figuren an, was zu interessanten Bild-/Tonscheren führt. Letztlich aber werden auch diese tollen Momente oft durch allzu simple und naive Monologe der Täterin, die hier mehrfach als Erzählerin aus dem Off auftritt, kaputt gemacht. Es sind die Einträge in ihr Tagebuch, die man zu hören bekommt.

Das Verschwinden der Rachel Barber zählt zu den Aufsehen erregendsten Mordfällen in der jüngeren Geschichte Australiens. Simone Norths Film rührt daher mit seinem Anspruch auf Authentizität an ein sensibles Thema, das mit einigen Schwächen in einen Spielfilm überführt wurde, der dennoch immer wieder mit schönen Bildkompositionen, einer spannenden Narration und guten Darstellern zu überzeugen weiß. Auf Simone Norths nächsten Film darf man gespannt sein.

Island of Lost Souls

(USA 1932, Regie: Erle C. Kenton)

Breaking the Law
von Oliver Nöding

„Are we not men?“ – „Sind wir nicht (auch) Menschen?“: Das ist die Frage, die sich die Tiermenschen in Erle C. Kentons Verfilmung von H. G. Wells‘ Roman „The Island …

„Are we not men?“ – „Sind wir nicht (auch) Menschen?“: Das ist die Frage, die sich die Tiermenschen in Erle C. Kentons Verfilmung von H. G. Wells‘ Roman „The Island of Dr. Moreau“ in einem mantraartigen Gesang immer wieder selbst stellen. Eine Frage, die jedoch keiner Antwort bedarf: Schon im Akt des Sich-selbst-Hinterfragens offenbaren die geschundenen Kreaturen eine Menschlichkeit, die ihrem Schöpfer, dem größenwahnsinnigen Wissenschaftler Dr. Moreau, längst abhanden gekommen ist.

Der Schiffbrüchige Edward Parker (Richard Arlen) wird von einem Frachtschiff aufgesammelt, das mit einer Ladung wilder Tiere unterwegs zu einer kleinen Südseeinsel ist, auf der ein gewisser Dr. Moreau (Charles Laughton) seinen Experimenten nachgeht. Auf der Insel angekommen, fallen Parker die merkwürdig missgebildeten Menschen auf, die ihn aus dem Dickicht beobachten und die Moreau als „Eingeborene“ bezeichnet. In Wahrheit handelt es sich jedoch um Tiere, denen Moreau mittels chirurgischer Eingriffe zum Sprung auf die nächste Evolutionsstufe verholfen hat: Er hat Halbmenschen aus ihnen gemacht, die er nun mittels eines eigens verfassten Gesetzes, das der „Sayer of the Law“ (Bela Lugosi) verkündet, unter Kontrolle halten muss. Um herauszufinden, wie gut die Transformation von Tier zu Mensch tatsächlich funktioniert hat, kommt ihm Parker gerade recht. Er stellt ihn der Pantherfrau Lota (Kathleen Burke), der Krone seiner Schöpfung, vor und hofft, dass ein erotischer Funke zwischen ihnen überspringen möge …

„Island of Lost Souls“ ist die erste von bislang vier offiziellen (und zahlreichen inoffiziellen) Adaptionen des Wells-Romans und sehr wahrscheinlich auch die beste, weil sie den humanistischen Kern des Ausgangsstoffes vollkommen freilegt. Konzentrieren sich die Verfilmungen von 1977 ('Die Insel des Dr. Moreau', Don Taylor) und 1996 ('D.N.A. – Experimente des Wahnsinns', John Frankenheimer/Richard Stanley) sehr stark auf eine „realistischere“ (sprich: zeitgemäße) Darstellung der Tiermenschen und stellen sie damit einhergehend einen engen Bezug zu den zweifelhaften Errungenschaften der Genforschung her, entfaltet Erle C. Kentons Film ein größeres allegorisches Potenzial. Weil die lautlos-schattenhaft umherhuschenden und mit geweiteten Augen aus dem Busch glotzenden Tiermenschen eher an ihr eigenes Schicksal betrauernde Geisterwesen als an die Resultate missglückter naturwissenschaftlicher Experimente erinnern und Moreaus Erklärungen seiner Methode so vage bleiben, dass sie mehr an Zauberei als an Wissenschaft denken lassen, tritt auch die postdarwinistische Wissenschaftskritik gegenüber der allgemeineren Frage in den Hintergrund, was den Menschen eigentlich zum Menschen macht, ihn mithin vom Tier unterscheidet. „Island of Lost Souls“ belegt, dass mit der Vernunftbegabung des Menschen auch die fatale Fähigkeit einhergeht, sich gegen die eigene „Natur“ zu verhalten.

Das Menschsein ist für Moreau vor allem eine biologische, aber auch eine teleologische Disposition: Der Mensch ist der Endpunkt natürlicher Evolution, das Ziel, auf das die Natur unweigerlich zuläuft, wenn man sie ungehindert sich entfalten lässt. Das Tier ist nur eine Vorstufe zum Menschen. Moreau hat mithilfe der Vivisektion eine Abkürzung gefunden, eine Möglichkeit, den Prozess der Evolution zu beschleunigen. Doch seine Tiermenschen sind fehlerbehaftet: Die ganz missglückten Fälle verrichten für Moreau niedere Sklavenarbeit, die gelungeneren irren ziellos durch den Urwald, nicht wissend, was sie eigentlich sind. Das Gesetz soll sie an ihre von Moreau behauptete Menschlichkeit erinnern, vor allem aber unter Kontrolle halten. Verstoßen sie gegen das Gesetz und begehren sie gegen ihren Meister auf, werden sie wie Tiere behandelt und im „House of Pain“, Moreaus Operationssaal, einer grausamen Bestrafung unterzogen. Seine Kreaturen zerbrechen vor allem an dem Widerspruch zwischen ihrer äußeren Körperhülle und ihrem Inneren, der Unvereinbarkeit ihres natürlichen Triebs mit der ihnen oktroyierten Zivilisiertheit. Für Moreau ist das alles eins: Weil er den Menschen ausschließlich biologistisch definiert, kann er die Tiermenschen einerseits per Gesetz für ihre Unzulänglichkeiten knechten und andererseits der Pantherfrau, seinem avanciertesten Geschöpf, eben jene Menschlichkeit absprechen, wenn ihr Körper sich immer wieder zurückentwickelt. Der moralische Kompass, der den Menschen eigentlich auszeichnet, ist ihm völlig abhanden gekommen, er ist seinen Kreaturen näher, als er glaubt und wird von ihnen am Ende konsequenterweise genau jener Behandlung unterzogen, die er ihnen hat angedeihen lassen.

Die Annäherung von Mensch und Tier bzw. Natur und Zivilisation und die sich langsam vollziehende Umkehrung des Verhältnisses der beiden findet nicht nur Niederschlag in den auch heute noch überzeugenden, weil sparsamen Masken, sondern vor allem in den Settings: Moreaus Anwesen ist halb vom Urwald überwucherter Tempel, halb Bauhausvilla – die Grenzen zwischen drinnen und draußen sind fließend. Die unheilvollen Schattenwürfe des Urwalds vor der Tür finden ihre Entsprechung im auch im Inneren vorherrschenden Chiaroscuro, statt Fensterscheiben gibt es Eisenstangen und man fragt sich unweigerlich, ob die dazu da sind, die Tiermenschen draußen oder Moreau drinnen zu halten. Von der Tonspur erklingt keine Musik, die emotionale Orientierung böte, „Island of Lost Souls“ wird fast ausschließlich bestimmt von der Klangkulisse der Wildnis, die auch seine Protagonisten befällt: Wenn Parker seiner Begierde erliegt und die Pantherfrau Lota küsst, erkennt er auch, wie fragil das Konzept der Zivilisiertheit tatsächlich ist, wie leicht die Ratio wegbrechen kann, wie wenig stabil der Mensch in sich ist. Moreau hat sich deshalb entschlossen, den Unterschied mit Gewalt zu zementieren: Immer wenn er sich der Siedlung seiner Kreaturen nähert, von einer kleinen Anhöhe zu ihnen spricht, hebt die Kamera an, um über ihn hinweg auf die Tiermenschen zu seinen Füßen zu schauen. Wie ein strafender Gott schwingt er die Peitsche über ihren Köpfen. Doch man spürt, dass die Hierarchie, die Moreau etabliert hat, auf tönernen Füßen steht. „The natives are restless“ heißt es in einer berühmten Zeile des Films und das bietet dann auch den Ansatz für eine mögliche engere Interpretation: Es ist unverkennbar, dass Moreau Vertreter eines chauvinistischen Kolonialismus‘ ist, wie er 1932 noch gang und gäbe war. Wenn er sich mädchenhaft-verzückt auf einem Operationstisch niederlässt, die Beine übereinanderschlägt und verspielt ausstreckt, ein freches Grinsen im wohlgenährten Gesicht, dann kommen die ganze Dekadenz und Unverfrorenheit seines Charakters, aber auch eine sexuelle Verdrehtheit zum Vorschein. Es ist die Fratze des Technokraten, für den allein die Machbarkeit entscheidet, der die Unterlegenen knechtet und sich selbst verabsolutiert. Ein Mann des 20. Jahrhunderts.

Erle C. Kentons Film wurde von Karl Struss fotografiert, der unter anderem an Murnaus „Sonnenaufgang“ und Chaplins „Der große Diktator“ beteiligt war. Es ist auch seine Fotografie, die „Island of Lost Souls“, der nach seiner Veröffentlichung in mehreren Ländern – etwa in Großbritannien – verboten worden war, auf eine Stufe mit den großen Klassikern des Horrorfilms wie Whales „Frankenstein“ (1931) und „ Frankensteins Braut“ (1935) oder Brownings „Dracula“ (1931) und „Freaks“ (1932) hebt. Nicht unerwähnt bleiben sollten auch Charles Laughton, dessen fassettenreiches Spiel seinen Dr. Moreau zu einer der interessantesten Schurkenfiguren des Horrorkinos macht, sowie die ausgezeichneten Masken und die pointierten Dialoge, bei denen das, was nicht gesagt wird, mindestens genauso wichtig ist wie das, was gesagt wird – eine Kunst, die heute leider verlorengegangen scheint. Criterion hat (Horror-)Filmfreunden mit der wie immer hervorragend ausgestatteten RC-1-DVD dieses seltenen Films einen großen Dienst erwiesen. Wer der englischen Sprache mächtig ist, kommt an dieser Veröffentlichung nicht vorbei.

Die Höhle der vergessenen Träume

(F / CAN / USA / GB / D 2011, Regie: Werner Herzog)

In der Zeitkapsel
von Wolfgang Nierlin

Als eines der größten und ältesten Zeugnisse menschlicher Kultur gilt die Chauvet-Höhle im südfranzösischen Ardèche-Tal. Über 30.000 Jahre alt sind die Malereien, die sie an ihren Wänden zu Hunderten beherbergt. …

Als eines der größten und ältesten Zeugnisse menschlicher Kultur gilt die Chauvet-Höhle im südfranzösischen Ardèche-Tal. Über 30.000 Jahre alt sind die Malereien, die sie an ihren Wänden zu Hunderten beherbergt. Weil die mehrere Gänge und Säle umfassende Grotte durch einen Felssturz etwa 20.000 Jahre lang verschlossen war, ist in ihrem Inneren die Zeit quasi stehen geblieben. Die rund 400 mit Holzkohle und in Ocker gemalten Wandbilder, auf denen vornehmlich urzeitliche Tiere dargestellt sind, wirken noch immer frisch und unversehrt. Werner Herzog bezeichnet in seinem Dokumentarfilm „Die Höhle der vergessenen Träume“ den Schatz dieser „Zeitkapsel“, der auch zahlreiche Knochenfunde beinhaltet, als „Momentaufnahme eines vergangenen Augenblicks“. Seine Begeisterung und Faszination, die sich vor allem auch auf den Ort selbst mit seinen unwirklich erscheinenden Kristallen, Stalaktiten und Versteinerungen beziehen, beflügelt von Anfang an Herzogs sehr subjektiven, von einem heiligen Schauder ergriffenen Erzählkommentar.

In Interviews mit Forschern versucht er diesen „emotionalen Schock“ zu verarbeiten und dem Geheimnis dieser „verzauberten Welt des Unwirklichen“ auf die Spur zu kommen. Dabei ist sein Hunger nach Bedeutung und nach einem Zusammenhang zwischen der Gegenwart und einer verschwundenen, in den Malereien gespeicherten Vergangenheit deutlich zu spüren. Ausgerüstet mit Handkamera und tragbaren Lampen, begeben sich Herzog und sein kleines Team im Schlepptau der Wissenschaftler in die Höhle, wobei die Aufenthaltsdauer streng reglementiert ist. In langen, eindringlichen Passagen, unterlegt mit sakraler Chormusik, schwenkt die Kamera über die großflächigen Bilder mit ihren Reliefstrukturen, saugt sich mit fragender Dringlichkeit an ihnen fest oder lässt sich von den Darstellungen simulierter Bewegungen mitreißen. Neben tierischer Artenvielfalt werden dabei Geschichten sichtbar, die von Kampf und Paarungsverhalten handeln, im Bildnis eines Zwitterwesens aus Frau und Stier findet sich aber auch ein symbolisches Artefakt, das an Venusfigurinen (etwa an die Venus vom Hohle Fels) erinnert.

Werner Herzogs kunstphilosophischen Spekulationen, die sich am Spiel von Licht und Schatten als einer Art möglichem „Urkino“ entzünden und von der unheimlichen Plötzlichkeit dieser „geschichtslosen“ Kulturzeugnisse ergriffen werden, fragen im ahnungsvoll dunklen Tonfall existentieller Beunruhigung: „Ist hier die Seele des modernen Menschen erwacht?“ Oder sind die Höhlenmalereien Ausdruck einer spirituellen Kunst, bei der die Hand des Malers von Geistern geführt wurde? Auch wenn in diesen Fragen zunächst die Prägungen des eigenen kulturellen Wissens aufscheinen, möchte Herzog mit seinem Film doch vor allem ein Staunen angesichts des Unfassbaren vermitteln, das diese einmaligen, zuvor nie gesehenen Bilder konservieren. „Alle Versuche“, so Herzog in einem Interview, diese „festgefrorenen Träume einer tiefen Vergangenheit“ zu deuten, „werden immer scheitern“. Und er steigert schließlich am Ende seines beeindruckenden Films diese interpretatorische Unruhe noch, indem er die Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt zu einem „Blick in den Abgrund“ relativiert.

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Lone Star

(USA 1995, Regie: John Sayles)

Die Wirklichkeit der Legenden
von Wolfgang Nierlin

Auf einem stillgelegten Schießplatz der Armee, im Wüstensand zwischen Kakteen und alten Patronenhülsen, wird neben einem skelettierten Schädel ein verrosteter Sheriff-Stern gefunden. Sheriff Sam Deeds (Chris Cooper), der den Fall …

Auf einem stillgelegten Schießplatz der Armee, im Wüstensand zwischen Kakteen und alten Patronenhülsen, wird neben einem skelettierten Schädel ein verrosteter Sheriff-Stern gefunden. Sheriff Sam Deeds (Chris Cooper), der den Fall ermittelt und dabei mit dem Leben und Sterben seines korrupten Amtsvorgängers Charlie Wade (Kris Kristofferson) konfrontiert wird, recherchiert mit einer Mischung aus Nähe und Distanz: Als Rückkehrer, der längere Zeit in der Fremde gelebt hat, betrachtet er alles Vertraute abgerückt und gelassen; als Sohn des Hauptverdächtigen Buddy Deeds (Matthew McConaughey), der ebenfalls Sheriff war, wird aus dem öffentlichen auch ein privater Fall, eine Reise in die eigene Vergangenheit und in diejenige der Grenzstadt Frontera. Denn mit dem „Lone Star“ verbindet sich nicht nur der Mythos vom einsamen Westerner, sondern auch derjenige des „Lone Star State“ Texas, der zurückgeht auf die Ein-Stern-Flagge, die von englischen Siedlern im Jahre 1836 nach der Schlacht am Alamo gehisst wurde. Und so ist Frontera, wo selbst die Biermarke „Lone Star“ heißt, ein Synonym für das schwierige Zusammenleben in einem melting-pot, der die Lebenswelten der Angloamerikaner, der Mexikaner und Afroamerikaner umfasst und der stets von Intrigen und Machtkämpfen bedroht ist.

John Sayles, Schriftsteller, Filmemacher und einer der hellsten Sterne am Himmel des amerikanischen Independent-Kinos, erzählt in „Lone Star“ seine Geschichte im Plural. So entsteht ein höchst komplexes Geflecht aus Geschichten, die allesamt geschichtsträchtig sind, sich in der Vergangenheit berühren, zusammenhängen und überraschende Verbindungslinien in der Gegenwart knüpfen. Sayles, der seine Filme nicht nur schreibt und inszeniert, sondern auch selbst schneidet, entwirft diese Verschlingungen eines höchst vielschichtigen und differenzierten Mikrokosmos mit Hilfe einer verschachtelten Montage und mit einer Rückblendetechnik, die die gleitenden, fast unmerklichen Übergänge zwischen Gegenwart und Vergangenheit, das prinzipielle Aufgehoben-Sein des einen im andern betont. So wird der Prozess des Erzählens zum Abbild einer Entdeckungsreise, die den Wahrheitssucher mit Legendenbildung, Geschichtsklitterung und eigenen schmerzlichen Erinnerungen konfrontiert, und dabei das Disparate, Verstreute und Undeutliche ordnet. Indem Sayles Geschichten erzählt, wird Geschichte bei ihm zu einer fassbaren Größe. Und weil ihn das wirkliche Leben und die wirklichen Menschen interessieren, aber zugleich auch die von ihnen hervorgebrachten Legenden, wählt er das Breitwandformat des Westerns für eine beständige Gratwanderung zwischen Realismus und Genre und für das stets ambivalente Verhältnis von Erinnern und Vergessen. Denn Sayles‘ Figuren geht es nicht nur um Bewältigung, sondern auch um Neuanfang. Entsprechend lautet der Rat eines indianischen Trödelhändlers: „Beim Stöbern muss man vorsichtig sein. Man weiß nie, was man findet.“

Killer Elite

(USA / AUS 2011, Regie: Gary McKendry)

Ohne Schweiß kein Preis
von Sven Jachmann

Kein Actionfilm von der Stange, aber auch – was die zufällige Namensgleichheit suggerieren könnte – kein Versuch Sam Peckinpahs gleichnamigen Agententhriller aus dem Jahre 1975 in die Gegenwart zu übertragen. …

Kein Actionfilm von der Stange, aber auch – was die zufällige Namensgleichheit suggerieren könnte – kein Versuch Sam Peckinpahs gleichnamigen Agententhriller aus dem Jahre 1975 in die Gegenwart zu übertragen. Gary McKendrys Debütfilm arbeitet sich an einer anderen Vorlage ab, nämlich am vermeintlich biografischen Roman „The Feather Man“ von Ranulph Fiennes, in dem auf recht unrühmliche, wenn auch kaum glaubwürdige Weise die Teilnahme der britischen SAS (Special Air Service) im Bürgerkrieg des Sultanats Oman in den 60er und 70er Jahren aufgedeckt wird.

Diesen Link zum Buch setzt der Film denn auch ganz explizit: die schwerwiegenden Enthüllungen bei dessen Veröffentlichung (im Film mit dem Titel „Soldiers and Tribesmen“) sind nämlich dafür verantwortlich, dass der Elite-Söldner wider Willen Danny (Jason Statham) seinen letzten Auftrag notgedrungen fortsetzen muss, weil einer der drei Agenten, auf die er angesetzt wurde, der falsche Mann gewesen war. Eine Aufgabe, der er von Anfang an keineswegs freiwillig folgt: Um sich eines reibungslosen Ablaufs sicher zu sein, hält ein verbannter omanischer Scheich Dannys früheres Teammitglied und einstigen Ausbilder Hunter (Robert de Niro) gefangen und fordert die Liquidation besagter dreier SAS-Agenten, die während des Dhofar-Aufstands wiederum drei Söhne des Scheichs töteten.

Danny fungiert also als Racheengel mit loyalem Herzen, und damit weder politische Intrigen noch konspirative Kleinkriege die Folge sind, müssen die Morde zudem wie Unfälle aussehen. Unter Profis funktioniert so etwas selbstverständlich nicht. Die Geheimorganisation Feather Man soll dafür Sorge tragen, dass die Verstrickungen Britanniens und der SAS im arabischen Raum auch weiterhin im Dunkeln bleiben und schon bald trifft Danny mit Spike (Clive Owen) auf deren nicht minder professionellen Bluthund.

So prügelt und schießt man sich durch einen Polit-Paranoia-Action-Auftragskiller-Thriller, der sich eher umständlich in der politischen Rahmenhandlung verzettelt, umso umstandsloser hingegen bei seinen rauen Actionsequenzen glänzt. Dann gibt es nur wenige Sounds und erst recht keine Musik; die Kamera taumelt sehr vital den Bewegungen hinterher, als könne sie selbst am wenigsten vorhersehen, wo der nächste Treffer landen wird. In solchen Momenten dringt ruppiger B-Charme durch: kein Anschluss, keine Übersicht und keine aseptische Gewalt im donnernden Videospielmodus, sondern pragmatische Choreographien und Schusswechsel, die der Brutalität ein Stück weit realen und unkontrollierbaren Schrecken zurück verleihen.

Auf seine Gewalt blickt „Die Killer Elite“ ohne Zweifel mit heiligem Ernst, leider aber ebenso auch auf das längst genregehorsame Päckchen aus Männerbund, Moralkrise, Frauenschutz und Loyalitätszwang, das für das letztlich zweitrangige Polit-Paranoia-Element immergleich geschnürt wird: Niemand weiß eigentlich so recht, wie tief man ihn in die Karten blicken lässt und dann geraten die Kerle eben nicht nur auf dem urbanen Schlachtfeld, sondern zwischenzeitlich auch schon mal auf der politischen Hinterbühne ins Schwitzen.

Perrak

(BRD 1970, Regie: Alfred Vohrer)

Hamburg Violenta
von Oliver Nöding

Perrak. Derrick. Tappert. Zwei Namen wie ein Peitschenhieb, einer wie das Klappern des Kochtopfdeckels, wenn das Sauerkraut endlich heiß geworden ist. „Perrak“, so heißt sowohl ein Kommissar des Hamburger Sittendezernats …

Perrak. Derrick. Tappert. Zwei Namen wie ein Peitschenhieb, einer wie das Klappern des Kochtopfdeckels, wenn das Sauerkraut endlich heiß geworden ist. „Perrak“, so heißt sowohl ein Kommissar des Hamburger Sittendezernats – gespielt von Horst Tappert – als auch ein deutscher „Sittenreißer“, der 1970 unter der Regie Alfred Vohrers entstand. Und der Film, den der mit Edgar-Wallace-, Karl-May- und Simmel-Verfilmungen bekannt gewordene Regisseur da vorlegt, mutet inmitten der überwiegend betulichen deutschen Filmlandschaft jener Zeit an wie das Ergebnis einer heißen Liaison zwischen dem noch mit dem Mief der Fünfzigerjahre behafteten deutschen Lustspiel und dem klassenkämpferischen italienischen Polizeifilm jener Zeit.

Kommissar Perrak ermittelt im Mordfall an dem jungen Transvestiten Tony, der in einem Nachtclub als Striptease-Tänzer arbeitete. Offensichtlich erpresste er einen Geschäftsmann mithilfe kompromittierender Fotos aus dem Bordell von Emma Kastelbauer (Judy Winter) und musste dafür mit dem Leben bezahlen. Die Lösung des Falls wird dadurch verkompliziert, dass sich auch der Gangster Kaminski (Hubert Suschka) einmischt: Er hofft nämlich, ins Erpressungsgeschäft einsteigen zu können …

In der Rolle des Kriminaloberinspektors Derrick wurde Horst Tappert zum Inbegriff deutscher Krimiunterhaltung: Die Serie „Derrick“ wurde von 1974 bis 1998 produziert, in rund 100 Länder verkauft und gilt damit immer noch als erfolgreichste deutsche Serienproduktion aller Zeiten, aber eben auch als Beispiel für bundesdeutsche Bräsig- und Spießigkeit. Mit dem blechernen Bellen seiner Stimme, dem humorlosen altväterlich-autoritären Auftreten und dem bieder-verlässlichen Outfit aus beigem Trenchcoat, braunem Anzug und getönter Sonnenbrille verkörperte Derrick einen Kriminalbeamten, dem der Sexappeal und Humor, mit dem seine Kollegen aus Übersee ihren Dienst verrichteten, vollkommen abging, der dafür aber eine unangenehme moralische Überlegenheit in die Waagschale warf. Der Hamburger Kommissar Perrak hat zwar einen ähnlich knallenden Namen wie sein Münchener Kollege, unterscheidet sich aber dennoch erheblich von diesem: Die Strenge, die er im Berufsleben an den Tag legt, weicht in den Auseinandersetzungen mit seinem gerade volljährigen Sohn Joschi der liebevollen Nachsicht, die Nachtschattengewächse, mit denen er bei seiner Arbeit konfrontiert wird, können sich seiner Hilfe gewiss sein, wenn sie sich kooperativ verhalten. Während Derrick also an einen übermenschlichen und unnachgiebigen Richter denken lässt, ist Perrak der Street Worker, der weiß, dass er Kompromisse eingehen muss, um ans Ziel zu gelangen. Die Nutten und Obdachlosen, die kleinen Kiezgangster und Gauner, die er Tag für Tag einfängt, können sich seiner grundsätzlichen Empathie sicher sein, anders als die Strippenzieher im Hintergrund, die sich in Gutsherrenart über Gesetze hinwegsetzen und glauben, dass alles und jeder käuflich ist.

Die Welt, die Alfred Vohrer uns in „Perrak“ zeigt, ist schmuddelig und hässlich. Wortwörtlich mit schmutziggrauen deutschen Nachkriegssettings wie Hafenviertel, Müllhalde, zwielichtigen Etablissements, maroden Pfandleihgeschäften und zugemüllten Kellerräumen, aber auch im übertragenen Sinn. Jeder ist auf seinen eigenen Vorteil bedacht und tut, was möglich ist, um irgendwie vorwärts zu kommen. Eigentlich müsste man alle in einen Käfig sperren, aber das geht nicht und so hat Perrak die undankbare Aufgabe, die Spreu vom Weizen zu trennen. Ein durchaus ungewöhnlicher Ansatz für einen deutschen Krimi, die doch sonst so sehr darauf bedacht sind, einen reibungslos funktionierenden Staatsapparat vorzuführen und zu belegen, dass Verbrechen sich nicht lohnt. „Perrak“ ist von Vohrer ganz aus dem Bauch heraus gefilmt worden und er unterzieht den Zuschauer einer wahren Affektkur: Das erste gesprochene Wort des Films ist ein mit Inbrunst ausgestoßenes „Scheiße“, unmittelbar danach zerstört ein Bonze mit seinem Mercedes mutwillig die bunt bemalte Ente von Perraks Sohn Joschi. Der Blankoscheck, mit dem sich der Bonze von seiner Schuld zu befreien sucht, wird von Joschi auf Geheiß des Papas zerrissen, der Bonze schließlich mit einem Tritt in den Hintern unsanft aufs Kopfsteinpflaster befördert. In diesem Tempo geht es weiter: Ein Penner findet auf einer dampfenden Müllhalde eine Leiche, interessiert sich aber nur für deren Habseligkeiten, die er sofort einsteckt, ein Schwarzer wird von seinem Chef als „Bimbo“ gedemütigt und dann mit den Farben schwarz, rot und gelb besudelt. Und wenn Perrak schließlich in einem als Kloster getarnten Nobelbordell die unscheinbaren Türen zu den einzelnen Zimmern öffnet, um dahinter mit allen möglichen sexuellen Praktiken konfrontiert zu werden, so attackiert Vohrer damit auch die in Deutschland vorherrschende verlogene Sexualmoral. Die Szene, in der der Striptease eines Transvestiten mit aufdringlich nah heranrückender Kamera abgefilmt wird – nebenbei die einzige erotische Szene des Films –, kann man in diesem Kontext kaum anders denn als gezielte Provokation des Publikums begreifen.

„Perrak“ ist aber längst nicht nur als reines Zeitdokument sehenswert. Mit Unterstützung des fantastischen treibend-hysterischen Beat-Scores von Rolf Kühn und zahlreicher damals schon oder erst heute bekannter Gesichter – neben den bereits Genannten u. a. Werner Peters, Erika Pluhar, Arthur Brauss, Walter Richter und Jochen Busse – ist es Vohrer tatsächlich gelungen, inmitten bundesdeutscher Piefigkeit einen packenden Reißer anzusiedeln, der die vorherrschenden Zustände brillant in seine Geschichte integriert und zeigt, dass „Genrekino“ und „Deutschland“ keine unvereinbaren Gegensätze sein müssen. Dass das Finale in einem verschneiten Fußballstadion gar Don Siegels unsterblichen „Dirty Harry“ zu antizipieren scheint, kann gar nicht oft genug erwähnt werden.

poliezei

(F 2011, Regie: Maïwenn)

Die Ersatzfamilie
von Wolfgang Nierlin

Intensive Recherchen im Milieu der Pariser Jugendschutzpolizei sowie die Bearbeitung „realer Fälle“ bilden die Grundlage von Maïwenns in Cannes mit dem Jurypreis ausgezeichneten Film „Poliezei“ (Polisse). Der absichtlich falsch geschriebene …

Intensive Recherchen im Milieu der Pariser Jugendschutzpolizei sowie die Bearbeitung „realer Fälle“ bilden die Grundlage von Maïwenns in Cannes mit dem Jurypreis ausgezeichneten Film „Poliezei“ (Polisse). Der absichtlich falsch geschriebene Titel und die Kinderzimmer-Bilder des Vorspanns verweisen bereits auf die Betroffenen, um die es hier geht: Auf Kinder und Jugendliche, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind und die unter dem Missbrauch durch Erwachsene leiden. Ohne Umschweife und Erklärungen taucht der Film ein in den harten, fordernden und emotional aufreibenden Arbeitsalltag der Jugendschutzpolizei. Entsprechend „authentisch“ ist der Look des sozialrealistischen Ensemblefilms, der mit einer intuitiven Kameraführung und einem fast atemlosen Erzähltempo, schnellen Schauplatzwechseln und hitzigen Dialogen eine Vielzahl von Fällen streiflichtartig vorführt, ohne sie zu vertiefen. Maïwenns gehetzte, fragmentarische Erzählung im Plural entwickelt keine dramatische Geschichte, sondern montiert episodische Handlungssplitter aus reiner Gegenwart zu einem nicht immer schmeichelhaften Polizei-Portrait.

Nicht die Schicksale der Kinder mit ihren teils erschreckenden, teils kuriosen Erlebnissen stehen aber im Mittelpunkt, sondern die konkrete Polizeiarbeit. Neben Verhören mit traumatisierten Opfern und uneinsichtigen Tätern, die meist in einer sehr direkten, wenig einfühlsamen und aggressiven Sprache geführt werden, und Einsätzen im Außendienst beleuchtet der Film vor allem die Hierarchien innerhalb des Polizeiapparates und die spannungsreichen Beziehungen unter den Kollegen. Diese bilden eine Art Ersatzfamilie, die als Spiegelbild der Gesellschaft fungiert; andererseits verdichten sich in ihr die Konflikte der Polizei-Einheit: Die widersprüchliche, mitunter grenzwertige Ermittlungsarbeit und deren emotionale Wirkungen, Streitereien unter den Beamtinnen und Beamten sowie die Wechselwirkungen zwischen Beruf und Privatleben.

„Wir können die Welt nicht verändern“, sagt einmal resigniert der Ermittler Fred (gespielt vom französischen Rapper Joeystarr). Dem hehren Berufsideal verpflichtet, die Wahrheit herauszufinden und den Opfern zu helfen, werden die Polizisten immer wieder an Grenzen geführt und mit dem Sinn ihrer Arbeit konfrontiert. Die französische Regisseurin und Schauspielerin Maïwenn, die in der etwas unmotivierten Rolle der Fotografin Melissa zu sehen ist, zeichnet in ihrem mitunter (auch personell) überfrachteten, öfters mit Übertreibungen zuspitzenden Film, kein verklärtes Bild der Polizei. Neben wenigen, heldenhaften Momenten stehen immer wieder (menschliche) Schwäche und Scheitern. Unnötig ist es deshalb, dass am überstilisierten Ende des Films der Polizei – im Gegenschnitt zur „Rettung“ eines Kindes – auch noch ein Opfer abverlangt wird.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

The Way Back – Der lange Weg

(USA 2010, Regie: Peter Weir)

Der Gulag und seine Folgen
von Sven Jachmann

Der Terror des Sowjetkommunismus soll die gewaltige erzählerische Klammer stiften: Zu Beginn sehen wir das konspirative Verhör von Janusz (Jim Sturgess), der 1939 als polnischer Dissident zu 25 Jahren im …

Der Terror des Sowjetkommunismus soll die gewaltige erzählerische Klammer stiften: Zu Beginn sehen wir das konspirative Verhör von Janusz (Jim Sturgess), der 1939 als polnischer Dissident zu 25 Jahren im sibirischen Zwangsarbeiterlager verurteilt wird. Am Ende des Films listet wiederum eine zweiminütige Montage zu pathetischen Klängen die Stationen des kommunistischen Niedergangs auf. Historie ist indes nicht viel mehr als ein dringend benötigter MacGuffin, mit dessen Hilfe Regisseur Peter Weir die Legitimation für eine irrsinnige und lebensgefährliche Reise sucht. Wer würde schon die Strapazen auf sich nehmen und mehr als 5000 Kilometer, von Sibirien bis Indien, zu Fuß zurücklegen, außer: ein Fliehender? Deswegen beansprucht der Einblick ins Lagersystem keine 20 Minuten, dann tritt Janusz bereits zusammen mit fünf weiteren Inhaftierten die Flucht durch die gigantischen Wälder an. Der Kommunismus bleibt im Plot fortan das, wozu ihn Marx und Engels in ihrem Manifest erklärten: ein Gespenst. An seine Stelle rückt der Kampf gegen die Natur, womit sich Weir ans andere Ende eines extremen Überlebenskampfes begibt, den Danny Boyle ebenfalls in diesem Jahr mit 127 Hours' auslotete: Ist in Boyles Film ein Extremsportler tagelang zur Bewegungslosigkeit gezwungen, weil sein Arm unter einem Felsbrocken eingequetscht wurde, bis er ihn sich schließlich abschneidet, drängt es Weirs Figuren zur ständigen Fluchtbewegung, weil Stillstand den sicheren Tod durch Erfrieren, Verhungern oder Verdursten bedeutet. In beiden Filmen überschreitet der Wille zum Überleben wahnwitzige Grenzen; beide Filme berufen sich zudem auf die Authentizität realer Ereignisse (auch wenn mittlerweile es als recht gesichert gelten darf, dass der spektakuläre „lange Weg“, den der ehemalige polnische Offizier Slavomir Rawicz im gleichnamigen autobiografischen und erstmals 1955 veröffentlichten Erfahrungsbericht schildert, zumindest nicht sein eigener war) – das Kino kann vielleicht doch nur bis zu einem gewissen Grad Räuberpistolen über den menschlichen Körper erzählen, die man ihm auch glauben will.

Weir interessiert sich also nicht unbedingt für politische und historische Verhältnisse und Zusammenhänge, sondern für die Tortur. Im Kern ist der Film ein Ausreißerdrama über eine Flucht ohne Verfolger, wuchtige Genrekost, die jede Gefühlsregung penibel unter Kontrolle behalten möchte. Im besten Falle, wie noch bei seiner bereits sieben Jahre zurückliegenden Seefahrermär „Master and Commander“, treibt Weir solch eingegrenzten Formaten durch ein fragmentiertes Erzählverfahren und dem Hang zur Naturalisierung die Naivität aus. Die ärgerlichere Variante exerziert „The Way Back“ vor: malerische Panoramabilder hochhausgroßer Höhlen und langsame Fahrten über endlose Wälder und Steppen wechseln sich ab mit Detailaufnahmen sonnengegerbter Haut, trockener Münder, gefrorener Füße, ausfallender Zähne. Durch Landschaften so pittoresk im Bildkader vermessen, als illustrierten sie eine GEO-Ausgabe, quält sich die internationale Gruppe – durch die Mongolei, die Wüste Gobi, Tibet, über den Himalaya. Man ringt mit Hunger und Durst, kämpft gegen Mückenplagen und Sandstürme, isst, was vor die Füße kriecht, trinkt aus Schlammpfützen und verzeichnet auch einige Tote.

Ein Verhältnis zu seinen Bildern sucht der Film keineswegs; sie sind das entzückend gestaltete Handout für eine Geschichte, die, ständig dies doppelt und dreifach versichernd, vom Konflikt zwischen Mensch und Natur erzählt und zugleich die Natur als überwältigenden Schauplatz über die Qual des Überlebens dominieren lässt. Das Problem ist weniger, dass hin und wieder Langeweile droht, weil die Männer nur ein funktionales Interesse füreinander entwickeln (es zählte ja doch nur zu den mythologischen Tücken des Erzählkinos, würde der schmutzige wie beiläufige Tod im Wüstensand zum Konflikt der Herzen degradiert), sondern die Impertinenz, mit der der schwindende Kontrast zur eigentlich doch majestätischen Natur eingebläut wird. Nur ein Beispiel: Kaum haben die Fliehenden ein Rudel Wölfe von deren frisch erbeutetem Reh vertrieben, fallen sie auch schon bestialisch über das Tier her, reißen sich knurrend die rohen Fleischstücke aus den Händen, und der sorgenvolle Blick von Janusz auf die ausgehungerte Meute fragt stellvertretend für uns: Ist da überhaupt noch eine Grenze zur Natur und ihren gnadenlosen Gesetzen? Gegenfrage: Bietet der Rücken eines solch unfassbaren und gleichwohl realen Leidenswegs tatsächlich so wenig Platz, dass auf ihm lediglich und ausgerechnet dieser stinklangweilige Urtopos des Abenteuerfilms ausgetragen werden muss?

Cheyenne – This Must Be the Place

(I / F / IR 2011, Regie: Paolo Sorrentino)

Popstar auf Nazijagd
von Harald Mühlbeyer

Wenn man diesen Film sieht, sieht man eine Menge Filme. Hört eine Menge Musik. Trifft eine Menge Stars der Musikgeschichte. Denn Paolo Sorrentinos Film enthält eine Menge der Mythen, Motive, …

Wenn man diesen Film sieht, sieht man eine Menge Filme. Hört eine Menge Musik. Trifft eine Menge Stars der Musikgeschichte. Denn Paolo Sorrentinos Film enthält eine Menge der Mythen, Motive, Mittel der Popkultur der letzten paar Jahrzehnte; und er lässt dabei seinen Film alles andere als ein Setzkastensammelsurium oder ein epigonisches Hommagekino sein.

Dass Sorrentino zwei Stories verknüpft, ist das eine: Die eines gealterten, pensionierten Rockstars der 80er, der nun in Depression und Langeweile dem ewigen Nichtstun frönt; und die von der Jagd nach einem alten Nazi durch halb USA. Dass Sorrentino Sean Penn in der Hauptrolle bietet, ist das andere. Der spielt seinen Cheyenne, als wäre der leibhaftige Johnny Depp hinter ihm her – und lässt dabei alle aufdringlichen Manierismen fallen, um eine unglaublich exzentrische, exaltierte, kaprizöse Darstellung zu erreichen, die durchaus auf dem Boden der Tatsachen steht. Ozzy Osbourne schlurfte durch seine MTV-Show auf ganz ähnliche Weise, tapsig, ungelenk, lethargisch … Schwarzer Zehenlack, Ringe, rotgeschminkte Lippen, Lidschatten, schwarzes, hochtoupiertes Haar; dazu eine hochgepitchte Stimme, als hätte er Kreide gefressen, ein schwarzes Wägelchen, das er stets hinter sich herzieht, völlige Teilnahmslosigkeit, die gepflegte Langeweile dessen, der niemals mehr arbeiten muss, ein passives Sich-durchs-Leben-treiben-lassen, und zugleich eine Art zaghaftes Bemühen, doch irgendwo dabeizusein, dem freilich wirklicher innerer Impuls fehlt: Das ist Cheyenne, bis vor 20 Jahren Leadsänger einer 80er-Jahre-Gothic-Pop-Band, der nun in einem schlossähnlichen Anwesen hockt und nichts mehr tut; nicht einmal das Leben genießen.

Jane, seine Frau, ist Frances MacDormand, sie hat das Heft in der Hand, kümmert sich um Haus und Hund, neckt Cheyenne, zieht ihn auf, spielt mit ihm Hand-Pejote im leeren Pool im Garten. Wenn einer fragt, wo das Wasser ist, staunt Cheyenne, als hätte er das noch nie bemerkt. Warum sein Hund einen Kragen der Schande um den Hals hängt – darum kümmert sich Jane. Warum sie den Architekten angewiesen hat, in der Küche des schlossartigen Anwesens groß „CUISINE“ an die Wand zu schreiben – keine Antwort.

Cheyenne: Das ist eine Kombination verschiedener Popkünstler, die Sorrentino in seiner Kindheit begleiteten, Robert Smith von The Cure, Morrissey von The Smiths, David Byrne von den Talking Heads – letzterer hatte nicht nur einen Song geschrieben, der dem Film seinen Titel gab, er hat nun auch den Soundtrack komponiert und spielt in einer Szene sich selbst: Cheyenne trifft seinen alten Freund und Kollegen David, der fiktive den tatsächlichen Künstler. Die feinen, artifiziell wirkenden Stimmen der beiden ähneln sich auf durchaus komische Weise, und hier zeigt Cheyenne erstmals Emotionen, lässt sein Innerstes raus. In einem Ausbruch des Auskotzens beklagt er sich und sein Schicksal, hier, in Gegenwart eines Mannes, den er als wirklichen Künstler anerkennt, im Gegensatz zu ihm, der nur ein paar Hits geschrieben hat, der die Depression pubertärer Jugend in Songs gegossen hat, um damit viel Geld zu machen …

In Momenten wie diesem wird Sorrentino richtig ernst, geht ins Existentielle des Künstler- und Menschendaseins hinein: Cheyenne sitzt in seinem Zustand apathischer Depression, seit sich 20 Jahre zuvor ein paar Teenager von seiner traurigen Musik anstecken und zum Suizid haben anstacheln lassen … Doch versinkt der Film selbst nie in dem bloßen Porträt eines abgewrackten Rockstars, das geht gar nicht, wenn Sean Penn im Mittelpunkt steht, und auch nicht auf diese Weise. Wie er ungelenk in Unterhosen auf dem Sofa sitzt; wie er die Welt an sich vorbeigleiten lässt; wie er andere auflaufen lässt; wie er immer wieder Weisheiten von sich gibt, die naiv sein können wie von einem altklugen Kind oder aber weise Aphorismen des lebenserfahrenen Herrn sind: „Vom Hafen sieht man nie, wie rau die See ist“; oder: „Das ist das Problem der Jugend: Ablenkung“; oder: „Zuerst heißt es im Leben: so wird mein Leben sein. Später dann: So ist das Leben.“

Sorrentino zeigt keine schwermütige Musikerbiographie; und im zweiten Teil keine heißblütige Jagd nach einem Altnazi. Nach dem Tod seines Vaters, mit dem Cheyenne nie etwas zu tun hatte, macht dieser sich auf, dessen Lebenswerk zu vollenden: den Mann zu finden, der ihn damals im polnischen KZ gequält und gedemütigt hat. Was Cheyenne für seinen verstorbenen Vater tut, tut er eigentlich für sich selbst: Ja, es macht ihm Spaß, mal rauszukommen, eine Aufgabe zu haben.

Wenn im Hintergrund wie bei jedem Roadmovie die Selbstfindung – oder zumindest die Selbstsuche – steht, so ist doch für Sorrentino ein zumindest ebenbürtiger Teil seiner Filmerzählung der skurrile Witz, den er einflicht. Und er bleibt da nicht nur bei dem Sean-Penn-Porträt eines bizarren Relikts aus vergangenen Popjahrzehnten, nein: die ganze Welt, die der Film zeigt, hat Symptome des leichten, komischen Irrsinns. Nachts läuft ein älterer, dicklicher Herr in Superheldenkostüm nach Hause; ein alter Mann mit Hitlerbärtchen fährt aufrecht stehend auf der Ladefläche eines Pickuptrucks vorbei. Cheyenne begegnet allen möglichen Typen – einem Investmentbanker, für den das größte Problem die Parkgebühren in New York sind; einem tatooübersäten Kneipenhocker mit sanftem Herzen; einem passionierten alten jüdischen Nazijäger, den vor allem der Verbleib all der Goldzähne fuchst, die die Nazis zusammengehortet haben; einem Waffenladenbesitzer, der in den Menschen Monster sieht; und einen älteren Herrn, der über die Rollen an Trolley-Koffer sinniert – die er 1988 selbst erfunden hat … Wir geraten hier nahe an Jarmusch- oder Kaurismäki-Bereiche der seltsamen Komik, die nicht weit entfernt ist von einer Poetik des Losertums. Selbst der alte, 94jährige Nazi, der nichts bereut, hält eine berührende, erklärende Rede – er lebt in einer Holzhütte mitten im grellweißen Schnee, eines dieser Bilder, mit denen Sorrentino auf perfekte Weise die seltsam artifizielle, fast surreale, raffiniert gestaltete Atmosphäre des Films erzeugt.

Wahrscheinlich ist dies einer der letzten Filme, die eine zeitgenössische Jagd auf einen Nazi zeigen – schlicht, weil die halt irgendwann auch aussterben. Und es ist deshalb genau richtig, mehr zu zeigen als das – denn wie die alten Nazis wegsterben, muss und wird auch die Wut, die unbedingte emotionale Qual der Erinnerung und der Recherche sich abschwächen (freilich ohne das Andenken an die Entsetzlichkeit der Naziverbrechen auszutilgen). „Uns schwirrte die Antithese eines herkömmlichen Detektivs im Kopf herum“, sagt Sorrentino, „ein langsamer, fauler Rockstar, der der absolut letzte Mensch ist, von dem man sich vorstellen könne, dass er sich auf so etwas verrücktes wie die Jagd nach einem Naziverbrecher, der vielleicht schon tot ist, quer durch die USA einlässt.“ Diese Verbindung verschiedener (Lebens)Welten hat etwas Zwingendes in diesem Film, gerade, weil sie gar nicht zueinander passen. Und zwingend ist auch, dass diese Geschichte mit Witz, mit Ironie, mit grotesken Ideen gefüttert ist, dass sie in den Grad des Unwirklichen erhoben wird – denn nur so kann sie eine so wunderbare, komische Unterhaltung bieten. „Der Tragödie aller Tragödien, dem Holocaust, die Welt der Popmusik gegenüber zu stellen, den Inbegriff des Aufgeblasenen, Oberflächlichen und Frivolen, schien mir eine Kombination, die so gefährlich und gewagt ist, dass sich daraus eine interessante Geschichte entwickeln lässt. Eine Geschichte ist es nur dann wert, erzählt zu werden, wenn die Gefahr besteht, dass man sie in den Sand setzt, dass man daran scheitert.“ Was nicht geschehen ist.

Putty Hill

(USA 2010, Regie: Matthew Porterfield)

Haut und Schmerz
von Wolfgang Nierlin

Eine leere, verwahrloste Wohnung, in einem Vorort Baltimores gelegen, fungiert als Projektionsfläche und leitmotivische Klammer des Films. In einer Sequenz schnell montierter Einzelbilder wird sie anfangs eingeführt. Matthew Porterfields „Putty …

Eine leere, verwahrloste Wohnung, in einem Vorort Baltimores gelegen, fungiert als Projektionsfläche und leitmotivische Klammer des Films. In einer Sequenz schnell montierter Einzelbilder wird sie anfangs eingeführt. Matthew Porterfields „Putty Hill“ kreist um diese Leerstelle, die auf eine Abwesenheit deutet. Denn Cory, der Bewohner dieses merkwürdig provisorisch und unpersönlich wirkenden Zimmers, ist nach einer Überdosis Heroin im Alter von 24 Jahren gestorben. In semidokumentarischen Interviews sprechen Verwandte und Freunde über ihn. Doch sein Portrait bleibt unscharf und vage. Nach einem kurzen Gefängnisaufenthalt sei es Cory nicht gut gegangen, sein Rückzug, so wird vermutet, erfolgte wohl vorsätzlich. Ein Fatalismus grundiert diese Auskünfte, in denen das schmerzliche Bedauern eine echte Anteilnahme geradezu verdrängt. Im desillusionierten, deterministischen Blick der Befragten aufs Leben gewinnt Cory kaum Kontur. Schon kurz nach seinem Tod sind seine wenigen Spuren fast vollständig gelöscht.

Der unsichtbare Interviewer, dessen beobachtender Blick auch in den mehr fiktionalen Spielszenen des episodisch strukturierten Films anwesend zu sein scheint, fragt die Jugendlichen aber auch nach ihrem persönlichen Leben. Doch aus den verstockten Antworten und unterdrückten Gefühlen sprechen nur wenig Lust und Freude. Als gäbe es für sie keine Perspektive, überwiegen Antriebslosigkeit und Langeweile. Nur beim Paintballschießen und im Skaterpark, wo die Jungs ihre Kunststücke vorführen, entsteht eine lustvolle Bewegung, sind sie für Augenblicke bei sich selbst.

Immer deutlicher verdichtet Independentfilmer Matt Porterfield seine szenische Spurensuche zu einer Erkundung des Milieus. An den Rändern der Stadt, wo das Bebaute ins Verwilderte ausfranst und das soziale Abseits auch als geographische Größe evident wird, erzählt der junge Filmemacher von Freaks, zerrütteten Familien und abwesenden Vätern, von Drogen und Tätowierungen. „Du lieferst die Haut, ich den Schmerz“, sagt der Tätowierer bei der Arbeit. Porterfield, der Ort und Milieu aus eigenem Erleben kennt, lässt seine Protagonisten sich selbst spielen und vertraut dabei der Improvisation. Nach Debra Graniks „Winter’s Bone“ ist Matthew Porterfields „Putty Hill“ ein weiteres eindrucksvolles Dokument vom harten, trostlosen Leben im Abseits der amerikanischen Gesellschaft.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Fenster zum Sommer

(D / FIN 2011, Regie: Hendrik Handloegten)

Keine Wahl
von Wolfgang Nierlin

Schon die Schärfenverlagerung in den Vorspanntiteln, die nur für Augenblicke deutlich lesbar sind, weist auf das Mysteriöse hin, das sich im Folgenden ereignet. Das Spiel mit dem Undeutlichen und Ungreifbaren, …

Schon die Schärfenverlagerung in den Vorspanntiteln, die nur für Augenblicke deutlich lesbar sind, weist auf das Mysteriöse hin, das sich im Folgenden ereignet. Das Spiel mit dem Undeutlichen und Ungreifbaren, das sich rationalen Erklärungen entzieht, charakterisiert Hendrik Handloegtens Film „Fenster zum Sommer“. Eben noch genießt die 35-jährige Juliane (Nina Hoss) unter dem milden Licht einer finnischen Mittsommernacht ihr neues Liebesglück mit August (Mark Waschke), als sie plötzlich im winterlichen Berlin aufwacht. Die Zeit ist um etwa ein halbes Jahr zurückgestellt. „Jetzt ist alles wieder früher“, sie habe „alles schon erlebt“, sagt die äußerst verwirrte Juliane, die sich wie in einem lebensechten Traum wähnt. Denn ihr langjähriger Freund Philipp (Lars Eidinger) und ihre beste Freundin Emily (Fritzi Haberlandt) sind noch ganz die Alten, während sich ihr Leben zu wiederholen beginnt.

Kann man alles anders machen und etwaige Fehler vermeiden, wenn man seine Zukunft kennt? Ist das Leben vorherbestimmt oder kann man seinem Schicksal entgehen? Wird das Handeln von Zufällen geleitet? Mit solchen und ähnlichen hypothetischen Fragen beschwert Handloegten die Protagonistin seines Films, der in schwelgerischen Bildern und mit dominanter Filmmusik mehr um eine Idee und ihre unscharfen Prämissen kreist, anstatt eine Geschichte mit Menschen aus Fleisch und Blut zu erzählen. Entsprechend illustrativ und zeichenhaft sind die Schauplätze gewählt und eingesetzt: vom verträumten, liebesromantischen Mittsommernachtsidyll, über das in gefühlter Winterstarre liegende Berlin, bis ins überstilisierte Weiß des Krankenhauses, in das die technische Übersetzerin nach einem Schwächeanfall eingeliefert wird.

Immer wieder inszeniert Hendrik Handloegten eine geheimnisvolle Atmosphäre mit Bildern von langen, endlos scheinenden Fluren, spiralförmigen Treppen, zeitlupenhaften Bewegungen und „Rückblenden“ in eine bereits erlebte und deshalb paradoxerweise erinnerte Zukunft. Deren Zentrum ist jener magische Moment (am fiktiven 12. Mai 2011), in dem sich die Liebenden erkennen und der wiederum mit einem tragischen Unglücksfall verknüpft ist: Als bräuchte das Glück ein Opfer und die Liebe ein Gefühl der Schuld, die es abzutragen gilt. Vielleicht bekommt Juliane (im Umweg über ein Kind) deshalb eine zweite Chance für eine Korrektur ihres Lebens, deren Notwendigkeit jedoch nicht ganz einleuchtet. Doch im deterministischen Konzept diese Films haben die Figuren nicht wirklich eine Wahl. Alles kommt so, wie es letztlich kommen muss.

Willkommen im Leben

(USA 1994, Regie: Victor Du Bois, Michael Engler u.a.)

Der Montag nach dem Breakfast Club
von Carsten Moll

Wer ist Angela Chase? Eine Frage, die sich auch Angela Chase, High-School-Schülerin aus einem fiktiven Vorort Pennsylvanias, immer und immer wieder stellt. Nachdenken, Grübeln und Träumen ist überhaupt wichtig in …

Wer ist Angela Chase? Eine Frage, die sich auch Angela Chase, High-School-Schülerin aus einem fiktiven Vorort Pennsylvanias, immer und immer wieder stellt. Nachdenken, Grübeln und Träumen ist überhaupt wichtig in „Willkommen im Leben“, um dem Alltag aus Schule, Familie und Wochenenden einen Sinn zu geben und herauszufinden, was das alles jetzt mit einem selbst zu tun hat. Nichts scheint sicher in Angelas Welt, alles ist Veränderung: Auf einmal ist da eine neue beste Freundin und mit ihr „Crimson Glow“ als neue Haarfarbe, ein Pickel kann eine ganze Woche ruinieren und selbst die Eltern sind nicht mehr das, für was man sie gehalten hat …

Die Stärke von „Willkommen im Leben“ liegt vor allem in der komplexen Darstellung eines Teenagerdaseins im Amerika der 90er. Sichtlich in der Tradition eines John Hughes‘ nimmt die Serie seine heranwachsende Protagonistin ernst und lässt sich auf ihre Lebenswelt ein. Angela gibt hier den Ton an, ihr Voice-Over erlaubt Einblicke in ihr Seelenleben (was manchmal durchaus peinlich sein kann) und kommentiert ihre Umwelt mit dem kritischen Verstand einer Pubertierenden. Selbst die zahlreichen Nebenstränge um Angelas Familie und Freunde handeln dabei stets auch von der Protagonistin, indem sie Angelas Gedankenwelt und inneren Konflikte illustrieren und widerspiegeln. Durch dieses verdichtete Erzählen wird zwar einerseits Angelas Charakter recht vielschichtig, andererseits werden die Probleme ihrer weniger behüteten Freunde wie Alkoholsucht, Rassismus und Homophobie nur oberflächlich betrachtet und heruntergespielt. Ihre Schicksale sind Motor für das Treiben im Hause Chase, in dem sich sonst nicht viel ändern würde außer den Frisuren. Angelas Kernfamilie rückt näher zusammen in Anbetracht des ganzen Elends da draußen, das im Hintergrund rauscht. Diese Fixierung auf das weiße Suburbia wirkt oft befremdlich, etwa wenn die Auftritte der zahlreichen schwarzen Schüler sich darauf beschränken im Hintergrund Rap zu hören und Malcolm X’ Rede über den Selbsthass der Afroamerikaner zur Erbauung für von Pickeln geplagte Teenies gerät.

Nach 19 Episoden kam bereits das Aus für „Willkommen im Leben“, unter anderem auch deshalb, weil Hauptdarstellerin Claire Danes nicht mehr Angela Chase sein wollte. Das kann man ihr nicht übel nehmen, da das Niveau zwar auch gegen Ende der Show noch hoch war, aber schon deutlich nachließ (von der fürchterlichen Weihnachtsepisode einmal ganz zu schweigen). Das Interesse an den Nebenfiguren blieb zu oberflächlich, stattdessen wurden die Probleme der Familie Chase wiedergekäut und die Serie begann immer selbstreflexiver zu werden. Angela denkt darüber nach, dass sie zuviel nachdenkt, ihre kleine Schwester verkleidet sich als Angela und ihre beste Freundin Rayanne imitiert sie; die Serie scheint geradezu besessen von der eigenen Protagonistin. Mit der Stagnation der Geschichte schleicht sich Selbstironie ein, als könnten auch die Drehbuchautoren das dauernde Seufzen und Haarsträhne-hinters-Ohr-streichen nicht mehr ernst nehmen. Dass dann so plötzlich Schluss war, bevor man über Haie springen konnte, kam „Willkommen im Leben“ zugute. Und Angela Chase war eh längst zu einer Ikone des Teen-Dramas geworden.

Zur DVD:
Bild- und Tonqualität sind okay. Auf der DVD befinden sich sowohl die deutsche als auch die englische Sprachfassung, allerdings gibt es keine Untertitel und auch keinerlei Extras.

All My Life

(EG 2008, Regie: Maher Sabry)

Seh'n wie ein Ägypter
von Carsten Moll

„Wie äußert man sich in einer Welt, in der die Möglichkeiten sich zu äußern von der Ideologie geprägt sind, der man widersprechen möchte“, fragt Frieda Grafe. Oder in diesem Fall: …

„Wie äußert man sich in einer Welt, in der die Möglichkeiten sich zu äußern von der Ideologie geprägt sind, der man widersprechen möchte“, fragt Frieda Grafe. Oder in diesem Fall: Wie sieht ein schwuler Film aus dem vorrevolutionären Ägypten aus? Wohlgemerkt einer, der sich nicht auf Codes und Andeutungen beschränkt, sondern einer, der raus will aus dem „Celluloid Closet“ und offen Schwulsein darstellen will.

Wo Sichtbarkeit lebensgefährlich und Unsichtbarkeit kein Leben ist, da bleibt oft nur der Weg in den Untergrund oder ins Exil. Beides verknüpft „All My Life“. Die No-Budget-Produktion entstand teils in Ägypten und teils in San Francisco. Gefilmt wurde mit einfachsten Mitteln, Laiendarstellern und der Ambition ein möglichst vielfältiges Bild vom homosexuellen Leben in Kairo zu zeichnen. Das Ergebnis ist ein Film, der zugleich selbstbewusst und hilflos wirkt; die Konventionen und die billige Machart arabischer Seifenopern treffen auf schwulen Softporno, dokumentarische Aufnahmen von den Straßen Kairos, die ans Direct Cinema erinnern, auf völlig überforderte Schauspieler.

In seinen besseren Momenten ist „All My Life“ unterhaltsamer Camp, eine Qualität, der er sich allerdings nicht bewusst zu sein scheint, denn immer wieder schielt der Film aufs Drama. Am Ende wartet die große Katastrophe, alle fliehen, sterben oder werden verhaftet. Selbstmord, Isolation und Exil, das wirkt in seiner unverhältnismäßigen Häufung nicht bloß fatalistisch und deprimierend, alles am Film von seiner Entstehung bis zur Ästhetik erzählt eigentlich eine andere Geschichte.

Zur DVD:
Bild und Ton sind den Produktionsbedingungen entsprechend schlecht. Auf der DVD ist die Originaltonspur, es besteht die Möglichkeit deutsche oder englische Untertitel dazuzuschalten. Als Extra gibt es einen selbstscrollenden Text zur Produktion und Rezeption des Films.

Attack the Block

(GB 2011, Regie: Joe Carnish)

Riot City
von Sven Jachmann

Es dauert keine fünf Minuten, bis die Invasion der Außerirdischen beginnt. Allerdings vorerst im recht überschaubaren Ausmaß, ist es doch zunächst nur ein einziges Alien, das da im Londoner Ghetto …

Es dauert keine fünf Minuten, bis die Invasion der Außerirdischen beginnt. Allerdings vorerst im recht überschaubaren Ausmaß, ist es doch zunächst nur ein einziges Alien, das da im Londoner Ghetto einschlägt, mitten in den Überfall einer fünfköpfigen, fast ausnahmslos schwarzen Jugendgang, die gerade eine Krankenschwester (Jodie Whittaker) beim nächtlichen Heimweg ausraubt. Mit dem bissigen Eindringling – ein schwarzhaariges, augenloses Scheusal mit gewaltigen Zähnen und von recht hundeähnlicher Gestalt – wird die Gruppe, nicht ohne Stolz, behände fertig und zum Witz dieses Debütfilms des englischen Komikers Joe Cornish zählt bereits, dass niemanden die Existenz eines Aliens so recht erschüttert: Segen einer popkulturellen Sozialisation, ganz sicher, womöglich aber ist man einfach nur vom Staat bereits genügend Schweinereien gewohnt, denen auch ein kleinwüchsiger Werwolf aus dem All nichts Schwerwiegendes mehr hinzufügen kann. Die Euphorie jedoch ist trotzdem groß: Für die Trophäe sollte sich die Klatschpresse finanziell nicht lumpen lassen und ansonsten gibt es schließlich noch Ebay. Also beschließt Anführer Moses (John Boyega) die Überreste am vermutlich sichersten Ort des Viertels unterzubringen, nämlich auf der Indoor-Marihuana-Plantage eines stadtbekannten Drogenhändlers mit Allmachtsattitüde, dem Panic Room des gesamten Blocks.

Statt die anschließende Invasionsgeschichte mit kuriosen Erklärungen zu unterfüttern – denn natürlich folgen ganze Horden noch weitaus größerer Ungetüme, die den Tod ihrer kleinen Vorhut rächen wollen -, bleibt der Film stets bei seinen Figuren, ihren Ritualen, ihrer Sprache (von der sich schwer sagen lässt, wieviel von ihr es in die deutsche Synchronisation geschafft hat, „Alter, Lan“-Idiome jedenfalls sucht man erfreulicherweise vergeblich), ihren Gesten und Codes und all ihren dem Alltag entnommenen Strategien der Krisenbewältigung in diesem hermetischen Block, den die Kamera nie verlässt. Die Polizei, die von der Invasion herzlich wenig bemerkt, ist da bloß eine weitere Gefahr. Überhaupt: Grundsätzlich sind es all die Stigmata einer vermeintlichen Underclass-Kultur, gegen die „Attack the Block“ die Möglichkeiten der Persiflage in Stellung bringt. Einen didaktischen Anstrich besitzt das nicht. Schauplatz und einige Laiendarsteller bürgen für Nähe zum „Milieu“, die Crew hinter der Kamera garantiert für geistreicheren Witz, der keineswegs in naiver Sozialromantik dümpelt (mit Edgar Wright, Regisseur von „Shaun of the Dead“ oder „Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt“ und enger Freund von Joe Cornish, ist unter den Produzenten denn auch eines der interessanteren Aushängeschilder des gegenwärtigen Popculture-Nerdism-Humors vertreten und Nick Frost, den schmierigen Couch-Potatoe Ed aus „Shaun of the Dead“, hat er als vom Typus nur unwesentlich veränderten Drogendealer gleich mitgebracht), sondern sich ganz auf die Muster der Erwartungen einschießt.

Die Fallhöhe entsteht aus der Vermengung von realem Vorurteil und fiktivem Genregesetz: Natürlich setzt man sich gegen die Alienbrut zur Wehr, dann jedoch mit dem Samuraischwert oder den Feuerwerkskörpern aus dem Jugendzimmer; natürlich wird man später in der Not mit der zuvor überfallenen Krankenschwester, die sich als Nachbarin herausstellt, zusammen arbeiten, muss dann aber auch auf beiden Seiten realisieren, dass die sozialen Grenzen kleiner als ein Fingerhut sind und natürlich spiegelt sich in den angriffslustigen Aliens der subalterne Status der Gang, was aber noch lange nicht mit einem heroischen Ausgang nach der Schlacht quittiert wird – für einen spritzigen Culture Clash gibt das Setting nichts her, dafür bleibt es eine Spur zu hart nah dran am Elend, verpackt in einen kernigen und ziemlich lustigen Genrefilm, der einiges mehr bereit hält, als er vielleicht zunächst verspricht.

Die Liebesfälscher

(F / I / B 2010, Regie: Abbas Kiarostami)

Zwischen Illusion und Realität
von Wolfgang Nierlin

Der Autor lässt auf sich warten, sein Platz vor dem neugierigen Publikum in der toskanischen Stadt Arezzo ist noch leer. Vertreten wird der britische Schriftsteller James Miller (William Shimell) in …

Der Autor lässt auf sich warten, sein Platz vor dem neugierigen Publikum in der toskanischen Stadt Arezzo ist noch leer. Vertreten wird der britische Schriftsteller James Miller (William Shimell) in der ersten Einstellung des Films gewissermaßen von seinem Buch „Copie conforme“ (Die perfekte Kopie), einer Studie über den Wert der Kopie. Doch entgegen dem saloppen Untertitel des Buches solle die gelungene Kopie nicht das Original vergessen machen, sondern zu ihm hinführen, sagt Miller schließlich kurz darauf im Rahmen der Buchpräsentation. Denn das Original verkörpere den authentischen Ursprung, von dem aus sich die Herkunft einer Kopie ableite. Kulturelle Abbilder seien deshalb Instrumente der Selbsterkenntnis. Doch was lässt sich verstehen, wenn sich das vermeintliche Original in einer Art fortschreitendem Rekurs selbst immer wieder als Kopie erweist und sich also seiner Einmaligkeit entzieht?

Nichts ist sicher in Abbas Kiarostamis neuem Film „Die Liebesfälscher“ (der im Original seinerseits „Copie conforme“ heißt), einem ebenso komplexen wie raffinierten Spiel um Sein und Schein, Fiktion und Wirklichkeit. Denn bald verknüpft der iranische Meisterregisseur den komplizierten Kunstdiskurs über subjektive und objektive Schönheit mit einer hintergründigen Ehekrise, die zunächst als Wiederholung einer Liebesgeschichte beginnt und im dunklen Kellergewölbe eines Antiquitätenladens ihren Ausgang nimmt. Hierher hat dessen kunstsinnige Besitzerin (Juliette Binoche) den schöngeistigen Autor eingeladen. Kurz darauf ist das sympathische Paar, das vielleicht nur als Modell, Kopie oder Abbild eines Paars fungiert, über Kunst diskutierend unterwegs, während sich in Spiegelungen die identifizierbaren Umrisse der Protagonisten verlieren oder ihr Spiegelbild zu ihrem Stellvertreter wird. Inmitten junger Brautpaare und alter Eheleute flanieren sie durch jenen Ort, der fünfzehn Jahre früher vielleicht der Ort ihrer Verheiratung war und jetzt zum imaginären Museum ihrer Erinnerung wird.

In doppeldeutigen Bildern und Dialogen, getragen von einem ruhigen, konzentrierten Tonfall, erzählt Kiarostami vom Wandel der Liebe, ihrer „süßen Illusion“ und dem „bitteren Geschmack der Realität“, dem Glück des Augenblicks und dem „Garten ohne Blätter“. „Das Ideal existiert nicht“, lässt er eine alte, lebensweise Wirtin sagen, während die Frau und der Mann mit Worten um das richtige Maß zwischen Selbstverwirklichung und gegenseitiger Verantwortung in einer Beziehung ringen. Ohne diesen modernen Streit zu lösen, plädiert Kiarostamis Film für die Kraft der einfachen, dem Nächsten zugewandten Geste und für „die Nachsicht mit der Schwäche der anderen“, was vom Alleinsein befreie. Vielleicht hat deshalb in diesem schönen Film Glockengeläut das letzte Wort.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Das kleine Zimmer

(CH / LUX 2010, Regie: Stéphanie Chuat, Véronique Reymond)

Den Bann brechen
von Wolfgang Nierlin

Ein nebliges, regenverhangenes Grau hängt über Lausanne und dem Genfer See und verschleiert mit seinem Dampf die jenseitigen, schneebedeckten Berge. In die fast farblose Welt der kalten, tristen Jahreszeit fällt …

Ein nebliges, regenverhangenes Grau hängt über Lausanne und dem Genfer See und verschleiert mit seinem Dampf die jenseitigen, schneebedeckten Berge. In die fast farblose Welt der kalten, tristen Jahreszeit fällt nur selten wärmendes Licht. Mit subjektivem Blick und auf verschiedenen, parallel montierten Handlungswegen inszenieren die beiden westschweizer Filmemacherinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond in ihrem preisgekrönten Langfilmdebüt „Das kleine Zimmer“ ('La petite chambre') die familiären und sozialen Kontexte ihrer beiden ungleichen Protagonisten, die im Verlauf des nachdenklich stimmenden Films eine starke innere Verbindung zueinander entwickeln.

Rose (Florence Loiret Caille) hat nach einer längeren Auszeit wieder angefangen, als Hauspflegerin zu arbeiten. Doch der Grund für ihre Zwangspause wird nur schrittweise in subtilen Andeutungen vermittelt: Durch ihre übergroße Sensibilität und Verletzlichkeit, einen gewissen Rückzug ins Private und durch Eheprobleme, zu denen auch gehört, dass der Sex mit ihrem Mann Marc (Eric Caravaca) nicht mehr richtig funktioniert. Dabei rückt immer wieder das titelgebende, in Blau gestaltete und komplett eingerichtete Kinderzimmer ins symbolische Zentrum, das von Rose wie eine Art Heiligtum bewacht wird: „Das Zimmer darf nicht verändert werden.“ Erst später erfahren wir, dass Rose im achten Monat ihrer Schwangerschaft ein totes Kind geboren hat.

Dass sie sich in ihrem Schmerz ausgerechnet dem alten, ebenso verbitterten wie zynischen Grantler Edmond (Michel Bouquet) öffnet, hat entgegen dem ersten Anschein gute Gründe. Denn der menschenfeindliche, stets mürrische Pflanzen- und Musikliebhaber fühlt sich von seinem Sohn vernachlässigt und abgeschoben (was das Drehbuch mit leisem Humor zuspitzt und abmildert). Noch schwerer jedoch wiegt für den ehemaligen Hobby-Bergsteiger der Verlust seiner Selbständigkeit und Vitalität bei gleichzeitig zunehmender Gebrechlichkeit. Die unausgesprochenen Gedanken an den Tod und die Angst vor dem „Verpflanzt-Werden“ liegen als schwere Schatten über seinem Lebensabend.

Nur langsam öffnen sich die beiden Versehrten füreinander. Die traumatisierte, in ihrer Trauer gefangene Rose und der gebrechliche, einsame Edmond entwickeln dabei einen intensiven Kräfteaustausch. Indem sie sich gegenseitig umeinander kümmern und sorgen, setzen sie einen doppelten Heilungsprozess in Gang, der schließlich den Bann des „kleinen Zimmers“ bricht und neben der „Rückeroberung der Identität“ (Chuat/Reymond) zugleich Versöhnung ermöglicht. Die emotionale Wiederholung des Traumas öffnet Rose gewissermaßen neu dem Leben, während Edmond auf einer bewegenden Reise in die Erinnerung Abschied nimmt. Auf geheimnisvolle Weise berühren sich Anfang und Ende, Ende und Anfang in dem von Chuat und Reymond stringent und gefühlvoll erzählten Kreislauf des Lebens.

The Shooting

(USA 1966, Regie: Monte Hellman)

Existentialismus in Westernform
von Harald Mühlbeyer

Banditen überfallen eine Postkutsche. Der Kutscher wird getötet, einer der Gangster verwundet. Drei Cowboys, Vern, Wes und Otis, sind auf dem Weg nach Texas und finden Unterschlupf in der Berghütte …

Banditen überfallen eine Postkutsche. Der Kutscher wird getötet, einer der Gangster verwundet. Drei Cowboys, Vern, Wes und Otis, sind auf dem Weg nach Texas und finden Unterschlupf in der Berghütte der Bande. Gastfreundschaft siegt über Misstrauen, die Banditen unter ihrem Boss Blind Dick gewähren Unterkunft für die Nacht. Morgens ist die Hütte umstellt, die Bürgerwehr eröffnet das Feuer. Wes und Vern können entkommen, doch sie werden verfolgt; und sie müssen sich irgendwie wehren.

Nach längerer Abwesenheit kommt Willett Gashade zurück zur kleinen, ertraglosen Goldmine, die er mit Bruder Coin und den Freunden Coley und Leland betreibt. Doch: Leland ist tot, Coin abgehauen, Coley völlig verängstigt – irgendwo da draußen muss ein Killer sein. Eine Fremde ohne Namen taucht auf, sie bietet Geld für Geleit nach Kingsley – doch sie hat eigentlich andere Pläne. In fordernder, koketter, unerbittlicher Art zwingt sie Willett und Coley, einer Fährte zu folgen, hinaus in die Wüste. Ein Killer, Billy Spear, schließt sich ihnen an, und während Coley naiv, kindisch und schusselig verliebt der Frau folgt, ahnt Willett, worauf das hinausläuft: auf ein großes Schießen.

„Ride in the Whirlwind“ (1965) und „The Shooting“ (1966) sind die zwei Filme, die den Ruf von Monte Hellman begründeten; einen Ruf, den er 1971 mit seinem meisterhaften Roadmovie „Two-Lane Blacktop“ vollauf bestätigte – um danach ins Loch zu fallen, um vor allem als Scriptdoctor, Second Unit Director, Berater und Cutter Arbeit zu finden – und immerhin Tarantinos „Reservoir Dogs“ zu produzieren. Diese Nicht-Karriere ist eigentlich eine Tragödie – weil das Künstlerische, die Qualität, dem Box-Office, den fehlenden Zuschauern unterliegt. Hellmans Filme sind Kultfilme – in dem Sinn, dass sie einer breiten Öffentlichkeit von Anfang an kaum bekannt waren, sprich: nur eine eingeschränkte Anhängerschaft hatten.

Minimalismus in Form und Inhalt strebt Hellman an – Einfachheit und Linearität, ohne dass alles klar, alles erklärt würde. Die simple Plotstruktur bedeutet nicht Flachheit, Oberflächlichkeit, Eindimensionalität – vielmehr ist sie die feste Basis, auf der sich einerseits Genreregeln, andererseits Charakterporträts entfalten können. Männer in elementaren Grundsituationen von Flucht oder Verfolgung sind zugleich – und unaufdringlich – Betrachtungen zum Menschen an sich: was diesen beiden Western das Label „existentialistisch“ eingebracht hat, das einerseits natürlich richtig ist, wenn man die Geworfenheit der Figuren in ihre Situationen bedenkt, für die sie nichts können, die für sie zunehmend absurd, weil unerklärbar werden. Andererseits ist auch klar: Es sind und bleiben Western, B-Filme mit sichtbar kleinem Budget, und auch auf dieser Ebene, unter Außerachtlassung aller philosophischen conditio-humana-Obertönen, funktionieren die Filme – besonders „The Shooting“ –, weil sie spannend, energisch, geradlinig, mit perfektem Timing und großem Gespür für die Landschaft inszeniert sind. Mit Gespür auch für Witz, der sich aus der Realität speist – vor dem Überfall unterhalten sich die Banditen über Furunkeln am Hintern, und Blind Dick geht hinter einem Felsen nochmal für kleine Räuberchen. Und mit Gespür für Zuspitzung: wie sich in „The Shooting“ zwei abgekämpfte, halbverdurstete, entkräftete Männer im Wüstenstaub tödlich prügeln…

„The Shooting“ und „Ride in the Whirlwind“ wurden 1965 direkt nacheinander, mit einer Woche Pause dazwischen, gedreht, in Utah, in einer Landschaft, die Steppe, Canyons, Bergpanorama und Wüste bietet. Roger Corman finanzierte die Filme – ungenannt in den Credits –, denn klar: zwei Filme auf einmal zu drehen ist billiger als einen allein. Monte Hellman und Jack Nicholson produzierten, letzterer spielt in beiden Filmen mit und schrieb für „Ride in the Whirlwind“ auch das Drehbuch. Und Monte Hellman ließ aus den Drehbüchern, die ohnehin kaum Dialoge enthalten – das zu „The Shooting“ schrieb Carole Eastman unter dem Pseudonym Adrien Joyce – jede Einführung der Figuren weg, die Vorgeschichten werden nur angedeutet. Die Cowboys haben irgendwelche dunkle Flecken auf ihren Westen, und wenn es nur die Arbeitslosigkeit sein sollte; Willett Gashade war mal Kopfgeldjäger gewesen. Mehr erfährt man nicht; mehr muss man nicht wissen, weil es stets um die Auseinandersetzung mit dem Hier und Jetzt geht.

Coley, der kindische Typ in „The Shooting“, spielt Geduldspiele, solche, bei denen man kleine Kugeln in kleine Löcher bugsieren muss. Schafft er natürlich nicht: Nicholson als Billy Spear machts ihm dann vor; und klar, wer später wen erschießen wird. Vern und Wes, die unschuldig Verfolgten in „Ride in the Whirlwind“, nehmen in ihrer hilflosen Verzweiflung eine Farmerfamilie als Geiseln. Und spielen zum Zeitvertreib Dame, denn mehr als Warten können sie nicht; Warten auf die Männer, die sie aufknüpfen wollen.

Beide Filme sind jetzt im DVD-Doppelpack erschienen; denn beide Filme gehören unbedingt zusammen. Allerdings fehlen alle Extras, und den hellmanschen Minimalismus auf die Ausstattung zu übertragen ist bei diesen Filmen unangebracht. Zumal in den USA DVD-Ausgaben mit Audiokommentaren von Hellman und der Schauspielerin Millie Perkins existieren.

Die Liebesfälscher

(F / I / B 2010, Regie: Abbas Kiarostami)

Komm! Ins Offene, Freund!
von Janis El-Bira

Am Anfang steht bildgewordene Erwartung: Ein Tisch, vorbereitet für eine Lesung, ein Mikrophon dahinter, das Buch, um das es gehen wird, ist dekorativ aufgestellt. Die Erwartung wird zum Warten, als …

Am Anfang steht bildgewordene Erwartung: Ein Tisch, vorbereitet für eine Lesung, ein Mikrophon dahinter, das Buch, um das es gehen wird, ist dekorativ aufgestellt. Die Erwartung wird zum Warten, als ein Mann, nicht der Autor, ins Bild und ans Mikrophon tritt, um in italienischer Sprache anzukündigen, dass jener sich verspäte. Kaum nachvollziehbar sei diese Verspätung, wohne der Autor doch in einem Zimmer direkt über dem Saal der Lesung. Schließlich erscheint dieser, ein Brite, und beginnt, die italienische Version seines Buches, „Certified Copy“, vorzustellen. Um die Kunst geht es darin, genauer um Originale und Fälschungen und die Frage, welche Pfade von der Fälschung zum Original führen. Eine mutige Behauptung des Eigenwerts von Fälschungen soll es sowieso sein und auch „an invitation to self-enquiry“, wie der Autor, James Miller (William Shimell), einen seiner begeisterten Leser zitiert. Eine Frau (Juliette Binoche), deren Namen wir in den kommenden knapp zwei Stunden nicht erfahren werden, betritt den Raum, setzt sich in die erste Reihe. Ihr kleiner Sohn kommt etwas später dazu, ist offensichtlich gelangweilt. Ärgerliches Getuschel zwischen den beiden, das wir akustisch nicht hören, aber verstehen. Die Frau steckt dem italienischen Verleger eine Karte zu, darauf bittet sie um ein Treffen mit Miller. Die Szene wechselt. In einem Café bringt der Sohn die Mutter mit seinen Fragen nach dem amourösen Hintergrund ihres geplanten Treffens mit dem Autor in Bedrängnis, schließlich zum enervierten Gesprächsabbruch. Mit einem weiteren Schnitt befinden wir uns im Souterrain des Antiquitätengeschäfts der Frau. Miller erscheint. Das Treffen findet tatsächlich statt.

Mit diesen ersten Minuten hat Abbas Kiarostami sein Kino ein weiteres Mal aufs Schönste etabliert: Ein Filmemacher, der das vermeintlich Wichtige konsequent ins „Zwischen“ auslagert und dabei doch niemals Geheimnisse behauptet, nie „Verstecke“ der Bedeutung suggeriert, die es bloß aufzudecken gelte. Die Leerstellen, um die herum sich ein Netz feinster Andeutungen gruppiert, sind genau das: Unbesetzt und darum mannigfach besetzbar. In „Die Liebesfälscher“ grenzt diese schwebende Freiheit, die die radikale Emanzipation des Betrachters bedeutet, an ein Wunder. Sie steht am ehesten in einer Linie mit früheren Filmen Kiarostamis, jener Serie von Meisterwerken aus den 1990er-Jahren, die sich, mehr als zuletzt, konsequent der narrativen Überfrachtung von Filmbildern verweigert hatten: „Der Geschmack der Kirsche“ (1997), „Der Wind wird uns tragen“ (1999) und insbesondere „Und das Leben geht weiter“ (1992) und „Close-Up“ (1990).

In seinem neuen Film wird dieser rigorose Bruch mit dem „Filmerzählen“ mit den Mitteln des Romans auf besondere Weise evident, indem Kiarostami eine Ausgangssituation wählt, der das Erzählen normalerweise unabdingbar erscheint, nämlich ein Kennenlernen zwischen Mann und Frau. Dieser Situation schiebt er auf wunderbare und rätselhafte Weise den Diskurs um Original und Fälschung vermittels einer seltsamen Volte quasi unter: Die Antiquitätenhändlerin und der Autor begeben sich auf einen Ausflug in eines der umliegenden Dörfer in der Toskana, das jungen Paaren traditionellerweise als Hochzeitsort dient. Als eine Wirtin die beiden folglich als Ehepaar identifiziert, verzichtet die Frau nicht nur auf die Richtigstellung dieses Irrtums (ist es ein Irrtum?), sondern gemeinsam mit Miller beginnt sie ein Spiel der „Liebesfälschung“: Sie verweisen fortan auf eine vermeintlich gemeinsam verbrachte Vergangenheit, reden und streiten wie ein lange Jahre verheiratetes Paar. Abwechselnd spricht man Englisch, Französisch und Italienisch. Kiarostami verortet dieses Spiel in der Intimität des Autos, in dem die beiden fahren, und in der seltsamen Enge eines leeren Restaurants, die durch streng dialogisierende Schuss-Gegenschuss-Montage noch verstärkt wird. Dann aber entlässt seine Kamera sie auch immer wieder ins Freie, scheint ihnen in äußerster Beweglichkeit eher vorauszueilen als ihnen zu folgen. Personen treten in das und aus dem Bild, Passanten kommen mit dem angeblichen Paar ins Gespräch. Alles ist flüchtig, alles leicht. Wie in „Der Geschmack der Kirsche“ meint man, eine dritte Präsenz zu ahnen: Die der Kamera, des Filmteams oder unsere eigene als Betrachter. Hin und wieder scheinen die Frau und der Mann auf dieses Dritte zugehen zu wollen. Doch die Kamera ist stets schneller, entzieht sich als Zielpunkt der Bewegung. Warum jedoch diese zwei Menschen all dies tun und zu welchem Teil ihr Spiel tatsächlich „Fälschung“ und zu welchem vielleicht doch „Original“ ist, das bleibt kompromisslos im Zwischenraum der Zeichen.

Auf diese Weise wird Kiarostamis Film körperlos, löst sich geradezu ab von seinen eigenen Bildern, deren leuchtende toskanische Landschaften in den typischen langen Autofahrtenszenen wie überparfümierte Schönheiten vorbeifliegen. Desto weiter die beiden „Fälscher“ auf den sich schlängelnden, von Zypressen beschatteten Straßen fahren, desto zielloser sie über Marktplätze und durch alte Gassen schlendern, desto mehr, so möchte man meinen, wird – in Umkehrung des Wagner’schen Diktums – der Raum zur Zeit: Die Bilder werden porös, die Orte, die sie zeigen, durchlässig für eine Vergangenheit, die Miller und die Frau vielleicht gemeinsam an diesen verbracht, vielleicht aber auch gerade bloß erfunden haben können. Manche dieser Orte, insbesondere ein Hotelzimmer, in dem die Eheleute der „Erzählung“ vor fünfzehn Jahren ihre Hochzeitsnacht verbracht haben sollen, behaupten eine Eigenständigkeit abseits der Frage, ob sie nun in ein Spiel der Wiederholung realer Geschehnisse oder in eines der kunstvollen Fiktionen eingebettet sind. Sie werden zu Sehnsuchtsorten in der weiten Offenheit des Hier und Jetzt: Vielleicht ist nichts das, wonach es aussieht, doch im Graubereich jenseits der Eindeutigkeit schwingt hier etwas, das weder Andeutung noch „Hinweis“ ist.

Vor einigen Jahren erschien auch in deutscher Übersetzung ein Band mit Gedichten Kiarostamis, „In Begleitung des Windes“. „Die Liebesfälscher“ fühlt sich vielleicht an wie das Weiß zwischen Zeilen wie diesen: „Als ich aus dem Schlaf fuhr / War gerade Frühlingsanfang / Nicht weniger / Und nicht mehr“

Link zu einer weiteren Filmkritik

Tyrannosaur – Eine Liebesgeschichte

(GB 2011, Regie: Paddy Considine)

Im Schmerz gefangen
von Wolfgang Nierlin

Fahles Licht fällt in die menschenleeren Straßen und dunklen Hinterhöfe eines Glasgower Problemviertels. Joseph (Peter Mullan) ist mal wieder betrunken; und weil er beim Wetten Geld verloren hat und zum …

Fahles Licht fällt in die menschenleeren Straßen und dunklen Hinterhöfe eines Glasgower Problemviertels. Joseph (Peter Mullan) ist mal wieder betrunken; und weil er beim Wetten Geld verloren hat und zum Jähzorn neigt, tritt er gegen den eigenen Willen seinen geliebten Hund „Bluey“ zu Tode. Anderentags wirft der allein lebende Witwer wutentbrannt einen Stein in die Schaufensterscheibe eines Pfandleihers, prügelt sich mit Jugendlichen und streitet sich mit einem Nachbarn, der ihn mit seinem Kampfhund bedroht. Joseph ist ein einsamer, innerlich getriebener Mensch, dessen Abscheu vor den anderen einem zerstörerischen Selbsthass entspringt und der sich zwar kennt, aber doch öfters die Kontrolle über sein Handeln verliert.

In aschgrauen Bildern und mit konzentriertem Erzählduktus schildert der britische Schauspieler Paddy Considine in seinem kraftvollen Regiedebüt „Tyrannosaur“ eine trostlose, gewalttätige Welt. Deren Ausdruck ist eine gestörte, aggressive Kommunikation, die sich als umfassende, alle Lebensbereiche durchdringende Sprache der Gewalt in einem permanenten Gegeneinander manifestiert und nicht selten menschverachtende Züge trägt. Über die konkreten sozialen Bedingungen hinaus zeigt Considine aber vor allem Menschen, die ihr „wahres Ich“ nicht kennen und geradezu existentiell in ihrem Schmerz gefangen sind.

Als Joseph auf die gläubige Hannah (Olivia Colman) trifft, die im Stadtteil einen Charity-Shop betreibt, keimt nur sehr zögerlich Hoffnung auf. Denn die verheiratete, kinderlose Frau aus einem besseren Viertel, die wider alle Vernunft und gegen die eigene Erfahrung an das Gute im Menschen glaubt, ist selbst eine tief Versehrte und Gedemütigte, die von ihrem Mann geschlagen und vergewaltigt wird. Nackte Angst, verzweifelte Gegenwehr und zunehmender Hass bestimmen ihr Leben. Paddy Considine unterzieht seine Figuren einer harten Prüfung und konfrontiert sie dabei auf erschütternde Weise mit religiösen Zweifeln und der schwierigen Frage nach den Grenzen der Vergebung. „We were wasted all“, singen The Leisure Society zum Abspann des Films. Vielleicht entgeht der Mensch tatsächlich nicht seinen dunklen Schatten. Doch trotz aller Zweifel und Negativität eröffnet “Tyrannosaur” den Protagonisten des Films letztlich die Perspektive auf eine noch ungewisse, vielleicht aber bessere Zukunft.

Das Schweigen

(S 1963, Regie: Ingmar Bergman)

Unter uns Pastorentöchtern
von Andreas Thomas

Es ist heiß, schon bevor die Sonne aufgeht. Ein Zug fährt durch ein unwirtliches, fremdes Land. Das Fahrgeräusch klingt merkwürdig unecht. In einem Abteil zwei junge Frauen und ein Kind. …

Es ist heiß, schon bevor die Sonne aufgeht. Ein Zug fährt durch ein unwirtliches, fremdes Land. Das Fahrgeräusch klingt merkwürdig unecht. In einem Abteil zwei junge Frauen und ein Kind. Die eine schwitzt, die andere hustet Blut ins Taschentuch. Im Nachbarabteil zwei finstere Militärs, auf dem Gegengleis ein nicht endender Güterzug mit Militärpanzern. Irgendwie sehen die aber aus wie schlecht beleuchtete Spielzeugpanzer in Großaufnahme. Der Schaffner ruft etwas ins Abteil, in einer Sprache, die die drei nicht verstehen. Die Reise wird unterbrochen. In der fremden Stadt, in zwei Suiten eines herrschaftlichen Hotel aus der Zeit des Jugendstils warten sie darauf, dass Ester, die Schwerkranke, sich erholt. Der Junge, Johan, erforscht die langen Flure mit einer Spielzeugpistole in der Hand. In einem Aufbäumen gegen ihr Leiden raucht, onaniert und betrinkt sich Ester, bis sie zusammenbricht. Ein skurriler, alter Hotelangestellter nimmt sich ihrer an. Kommunikation in Zeichensprache. Dann wird sie wieder „vernünftig“, arbeitet an einer Übersetzung. Anna, die Gesunde, die Mutter Johans, lässt sich von ihrem Sohn den Rücken einseifen, schläft nackt neben ihm im Bett, streunt durch Spelunken und Varietés, und „hat“ einen Kellner auf dem Fußboden einer Kirche. Später holt sie ihn ins Hotel. Nachts biegt vor dem Hotel ein Panzer um die engen Straßenecken.

Eine merkwürdiger Gefühlsknoten bestimmt das Verhältnis der Schwestern. Ester neidet Anna ihre Sinnlichkeit, aber mehr noch, sie ist „gedemütigt“ durch Annas Liebhaber, weil sie sie „liebt“. Doch je mehr die gesunde Anna diese Liebe spürt, desto mehr muss sie ihre Schwester verletzen – später treibt sie es vor ihren Augen mit dem Mann. Sie weiß, dass sie sie damit nur noch kranker macht. Aber die Kranke will unter den „unsittlichen“, sinnlichen Exzessen ihrer Schwester auch leiden. Masochistische Selbstzerfleischung einer Moralistin?

Die Schizophrenie aus dem Pfarrhaus

Zwei Prinzipien stehen zunächst gegeneinander: Moral, Vernunft, Ordnung gegen Unmoral, Sinnlichkeit, animalische Instinkte. Bemerkenswert, wie okkupiert der Begriff „Moral“ zu Beginn der Sechziger noch war durch so etwas wie Sexualfeindlichkeit. Die „Moral“ jener Zeit war reduziert auf Keuschheit, Sinnenfeindlichkeit, und dementsprechend galt das außereheliche Ausleben von Sexualität als das genuin „Unmoralische“. Kein Ort konnte diesen Konflikt zwischen Lust und Kontrolle, Libido und Scham, „Sündigem“ und Schuld besser bündeln als das traditionelle evangelische Pfarrhaus. Der Pastorensohn Ingmar Bergman ist der Präzedenzfall eines Künstlers, der sich zeitlebens an seinem protestantischen Erbe abgearbeitet hat. In seinen Filmen spiegelt sich – psychoanalytisch reflektiert – die gesamte Phänomenologie einer strengen protestantischen Erziehung, Denkweise, Selbstwahrnehmung, Weltwahrnehmung. Allem voran der unauflösbare Konflikt mit der nicht einlösbaren Schuld des Ich. In der evangelischen Religion wird der Mensch zum Glauben an Gott nur befähigt über die Erkenntnis, dass er in sich selbst immer schwach, schuldhaft, mit Sünde behaftet sei. Erst in dem Akt dieser Art von Selbsterkenntnis und in dem Eingeständnis der totalen eigenen Unzulänglichkeit liegt für den Protestanten die Chance der Vergebung durch Gott. Das bedeutet, dass dem protestantischen „Gut“-Sein-Können immer die Einsicht in das gegebene persönliche „Böse“-Sein vorausgegangen sein muss. Ergebnis dieser Rechnung: Eine latente schizoide Grunddisposition. Denn ein Ich, das sich selbst gleichzeitig, oder kurz aufeinander, als absolut mangelhaft oder als „Werkzeug des Guten“ verstehen muss oder darf, kann sich selbst nicht wirklich verstehen (im Sinne von: akzeptieren), und muss in einer unauflösbaren Angst vor einem starken Über-Ich leben. In der Pfarrhaus-Kindheit wird diese moralische Instanz vom – von Amts wegen mit göttlichen Erkenntnissen und Sanktionsbefugnissen versehenen – strafenden und belohnenden Vater verkörpert. Jenem Vater, dessen moralischer Zeigefinger weiter nach oben verweist, zu Gott, dem allergrößten Über-Ich, das alles sieht. Ein streng protestantisch erzogener Erwachsener leidet häufig an einem überentwickelten Über-Ich, seinem „schlechten Gewissen“. Er empfindet sein Es als etwas „Böses“ und als Bedrohung, versucht daher seine Triebe stärker zu unterdrücken und zu verdrängen als der Normalmensch, und er ist deshalb oft nicht in der Lage ein ausgeglichenes, selbstbewusstes und starkes Ich zu entwickeln, weil ihm verwehrt bleibt, sich in seiner, „Unvollkommenheit“ oder seiner Binarität zu akzeptieren.

Sex und Schuld

Die beiden Frauen in „Das Schweigen“ mögen vielleicht auch Symptome einer modernen Welt sein, in der Kommunikation unmöglich geworden ist – so wie der Film häufig verstanden wurde -, aber eher noch sind sie wie die beiden divergierenden Pole eines protestantisch sozialisierten, sprich: beschädigten, Wesens. Nicht wirklich zwei eigenständige Figuren, sondern ein Es und ein Über-Ich spielen die Hauptrollen in Ingmar Bergmans Film. „Das Schweigen“ portraitiert die ambivalente Psyche eines gründlich mit christlichen Werten beackerten Menschen, der erkannt hat, dass Gott aus seiner Welt verschwunden ist. Was ihm bleibt, ist das fundamentale Bewusstsein seiner Schuld und Schlechtigkeit. Wer hier wirklich schweigt, ist Gott, und was übrig bleibt, ist das, was diesen Gott stets vorbereitet und ermöglicht hat, Gottes wichtigste Vorbedingung: Die Selbstverachtung des Menschen. Diese Selbstverachtung äußert sich im Film am deutlichsten im Umgang der Frauen mit ihrer Sexualität und in der Art der Darstellung von Sexualität generell. Beide sind sexuell gestört. Anna, die Jüngere, Gesunde, Sinnliche steht für das (nicht mehr unversehrte, vom Über-Ich beeinflusste) Es. Sie ist weniger sexsüchtig als zwanghaft promiskuitiv. Für sie ist Sex Flucht, Vergessen, antikommunikativ – an ihrem Liebhaber schätzt sie besonders, dass sie seine Sprache nicht versteht – und Sex ist Trotz, gegen ihre Schwester, also gegen die moralische Instanz (die auch marginal noch in ihr selbst verwurzelt ist), gegen ihr schlechtes Gewissen, das sie versucht zu bekämpfen. Mit dem Grad des Verbotenseins aber – das hat sich einigermaßen herumgesprochen – steigt der Reiz einer Sache und wo ein strenger, allmächtiger Gott ein Gebot/Verbot auferlegt hat, scheint für Anna der Wunsch, es zu übertreten, übermächtig geworden zu sein. Eine wiederholte sexuelle Zwangshandlung also, gegen ein zu starkes Über-Ich. Keine autonome oder erwachsene Entscheidung, nicht ein überdurchschnittlich ausgeprägter Hormonhaushalt treibt sie in die Arme fremder Männer, sondern der Drang, Verbotenes zu tun, moralisch „schlecht“, schmutzig (beim Geschlechtsakt in der Kirche – größtes Sakrileg! – beschmutzt sie tatsächlich ihr Kleid) zu sein, um endgültig verstoßen werden zu können, aus den Moralvorstellungen eines sinnenfeindlichen Elternhauses, aus den „behütenden“ Händen eines Gottes, der Selbstaufgabe und Unterordnung verlangt. Doch Annas „Gewissen“ ist zu stark ausgeprägt, sie kann sich nicht wirklich befreien. Mit jedem Schritt gegen die Norm verletzt sie sich selbst. Weil sie sich und ihre Sexualität als weiterhin schmutzig empfindet und weil ihr die Mittel fehlen, sich argumentativ zu rechtfertigen, sich kulturell und rational zu verteidigen und zu bejahen, wird ihr Emanzipationsversuch scheitern, wird das, was sie tut, immer mit Gewissensbissen behaftet bleiben.

Auf dem Weg in die vaterlose Gesellschaft

Der Vater der Schwestern ist die Schlüsselfigur. Nach seinem Tod wollte Ester nicht mehr weiterleben – und es scheint, als erfülle sich ihr Wunsch. Das Leben hat für Ester seinen Sinn verloren, so sehr hat sie ihren Vater geliebt, so wichtig war er für sie, oder so abhängig war sie von ihm. Der Vater, der Sinnstifter, ist, wenn man so will, Bergmans Pastorenvater, aber zugleich der Vater im Himmel. Im protestantischen Pfarrhaus regiert immer das Phantom zweier Väter, deren klare Grenze für die Psyche von Pastorenkindern nur schwierig zu erfassen ist. Der Vater hat seine Kinder verlassen, die Kinder treiben alleine durch eine Welt mit einer fremden Sprache, die unverständlich bleibt und ohne Sinn, weil sie kein Vater mehr erklärt, weil kein Vater mehr zu ihnen spricht. „Das Schweigen“ steht gleichermaßen für das Schweigen des Vaters wie für das Verstummen Gottes.

Ester, die Übersetzerin, hat nichts mehr zum Übersetzen. All die „guten Büchern“, die sie früher übersetzt habe, haben ihr nicht helfen können, sagt Anna. Ester, das schwache Bindeglied zwischen Metaphysik und Physis, die Schwester mit dem viel ausgeprägteren Über-Ich, mit den hohen Prinzipien, ist arbeitslos geworden, weil (Anna: „Ohne ewig Bedeutungsvolles kannst du nicht existieren!“) sie keine Zeichen und keine Bestätigung mehr bekommt von Gott, auf den sie angewiesen war. Auch hier sind zwei Übertragungen möglich: 1. Der moderne Mensch in der modernen Welt hat seinen Glauben verloren, deshalb ist er allein und ohne eine Aufgabe und sein Leben bedeutungslos geworden. 2. Das Pastorenkind Bergman hatte von klein auf gelernt, dass sein Innerstes sündhaft ist, hatte seine libidinöse Seite verdrängt, sein Über-Ich ausgeprägt, um seinem Vater zu gefallen und festgestellt, dass der versprochene Handel: Angst und Selbsterniedrigung gegen Liebe und Sinngebung von Außen, vom Vater (oder Gott), ein unfairer Handel war.

Schwellkörper, Schleim und Krebsgeschwüre

In einem Interview beschreibt Bergman die Situation, wenn er Zuhause etwas angestellt hatte: Zuerst kam die körperliche Züchtigung, danach die Zeitspanne, in der die Kinder Reue fühlen sollten, das endlos erscheinende Warten auf den Moment, wenn der Vater kommt, man ihn um Entschuldigung bittet und er einem endlich vergibt (im Film „Fanny und Alexander“ (Fanny och Alexander, 1982) stellte Bergman dieses Ritual sehr genau dar). In „Das Schweigen“ kommt der Vater nicht mehr, die Vergebung durch Gott bleibt aus und das Verlorensein in der Sünde ist zum Dauerzustand geworden. Am meisten leidet darunter Ester, die die christlichen Rituale von Sühne und Vergebung schon so internalisiert hat, dass sie weder zu einer trotzigen Sinnlichkeit, wie ihre Schwester, noch zu einer selbständigen und unabhängigen „geistig-moralischen“ Existenz fähig ist. Ihre Verachtung des eigenen Körpers, ihr Ekel vor dem Eros („… alles nur Schwellkörper und Schleim, Schwellkörper und Schleim …“) und der Verlust ihrer (metaphysischen) Stütze durch den Vater oder Gott führen sie in die Krankheit, die Selbstdestruktion, machen sie also rein physisch schon lebensunfähig.

Die Schwestern wirken wie zwei mehr oder weniger gescheiterte Versuche, mit den Resultaten einer strengen christlichen Erziehung – vielleicht auch einem dogmatischen, christlichen Weltbild – zu leben: Ihre gegenseitige Abhängigkeit, ihre Hassliebe aber deutet darauf, dass sie eben, so wie Es und Über-Ich, die verschiedenen Seiten (und deren Selbstgespräche) innerhalb einer einzigen Person sein könnten. Auch die Kamera zeigt ihre Gesichter immer wieder neben- und übereinander arrangiert, beide Gesichter manchmal wie in einem Picasso-Portrait kubistisch zu einem verschmelzend. Doch müssen sie sich immer wieder voneinander trennen. Körper und Geist können nicht zueinander finden. Anna ahnt, dass Ester sie hasst, weil sie sich durch sie bedroht fühlt, doch Anna kann sich nicht erklären warum, ihr fehlen die Worte, der Intellekt, denn sie ist Gefühl und Körper. Anna sehnt sich nach Esters Liebe, weil sie nie vom Vater geliebt wurde, dessen Rolle Ester versucht zu übernehmen. Doch die zu rationale Ester kann ohne Anna, den Körper, die Lust, nicht leben, obwohl sie sich davor ekelt, deshalb ist sie todkrank. Beide sehnen sich nach einem harmonischen Miteinander, nach psychischer Einheit, nach einem Ich, das sie integriert.

Die Kunst als Chance

„Das Schweigen“ analysiert eine seelische Krankheit. Zwei Seiten einer Person sind aufeinander angewiesen, weil jede für sich unvollständig ist. Die innere Zerrissenheit dieser Person ist nur aufzuheben durch eine Instanz, die sie beide gleichermaßen achtet und bejaht. Diese Instanz ist anscheinend nicht vorhanden. Der Vater, Gott, der bisher für eine zweifelhafte Einheit sorgte – denn offenbar hat er Ester mehr geliebt als Anna – ist tot. Es bleibt den beiden Schwestern aber noch ein verbindendes Element, nämlich Annas Sohn Johan. Beide lieben das Kind auf ihre Weise, die Mutter in ihrer Sinnlichkeit, die Tante mit ihrer idealistischen Liebe. Und Johan liebt jede für sich, wie Kinder es tun, auf unvoreingenommene Weise. Johan beobachtet, registriert, nimmt den Konflikt auf, ohne ein Urteil zu fällen. Weil Johan noch nicht „fertig“ ist, besitzt er noch die Freiheit, abzuwägen. Auch wenn seine Liebe noch nicht stark genug ist, die Frauen vor ihrem Schicksal zu bewahren, verkörpert Johan die Chance auf eine Zukunft, in der es zu einer Lösung des Dilemmas kommen könnte. Johan ist die gewonnene Freiheit Bergmans, seinen eigenen biografischen Konflikt distanzierter zu betrachten und Johan ist inmitten der Sprachlosigkeit eine Sprache gegeben, die er versteht und in der er sich artikulieren kann: Die Kunst. Die Liliputaner im Hotel sind ihm nicht nur aufgrund ihrer Größe ähnlich, denn sie sind auch Schauspieler (in ihrem „Spiel“ sind sie auch Kinder, und Johan ist auch ein Puppenspieler), Gaukler, Komödianten. Sie erkennen ihn als einen der ihren und nehmen ihn wie selbstverständlich auf in ihren Kreis. Wenn Gott tot ist, bleiben andere Formen des Fragens, der Suche und der Freiheit zur Distanz, nämlich die der Kunst.

Johan ist Bergmans Weg oder Perspektive sich mit seiner Herkunft und mit sich selbst auseinander zu setzen. Ester schreibt Johan Wörter in der fremden Sprache in einen Brief, Wörter, die er vielleicht verstehen wird, wenn er erwachsen ist. Der alte Glaube kann nicht überleben, er ist auf seine Weise gescheitert, aber vielleicht barg er doch geheime, verschlüsselte Wahrheiten. Johan wird später mehr wissen, wenn er gelernt haben wird, das Erbe seiner Tante zu entziffern. Doch Johan wird vollständiger sein als seine beiden vereinzelten „Mütter“, weil er beide beerben wird, und weil ihm die Kunst vielleicht dazu verhelfen wird, anscheinend Unvereinbares zu vereinen, d.h. zu verstehen.

Porno, Krieg und Männlichkeit

Als „Das Schweigen“ 1964 in die deutschen Kinos kam, stand der Film sofort unter „Pornographieverdacht“. Immerhin gibt es zwei – sittsam bedeckte – Koitusse und zwei Paar nackter Brüste zu sehen – vor Oswald Kolle zuviel (nicht nur) für den deutschen Bürger. Ein Teil der Kritik empfand den Film aber auch als sexualfeindlich, was ja insofern passt, da die praktizierte Sexualität im Film immer als etwas „Schmutziges“, also mit Sündhaftigkeit behaftet, gezeigt wird – fraglich dabei, ob das nur daran liegt, dass sein Thema eine (auch) sexualfeindliche Moral ist. Denn so dunkel und bedrohlich sind die sexuellen Begierden, so sehr reißen sie Anna in einen Schlund der Gleichgültigkeit und seelischen Kälte, dass die Sexualität durchgehend äußerst schlecht abschneidet. Gleichzeitig aber besteht ganze Film – abgesehen von seinen provokanten Szenen – aus sexuellen Unterschwelligkeiten, Konnotationen, und Symbolen, wie sie sich ein Sigmund Freud kaum besser hätte ausdenken können.

Die wirkliche Haupt- und Entwicklungsfigur ist eigentlich Johan, das Kind, mit dessen Augen und Ohren wir eine merkwürdige Welt entdecken. Mit einer „realen“ Außenwelt hat das unheimliche Land im „Schweigen“ nicht viel gemein, abgesehen davon, dass es ein paar „Ostblock“-Stereotypen versammelt. Das Land, in das die Frauen und und das Kind geraten sind, ist ein „Männerland“, und die Männer darin sind meist dumpf, triebhaft, unverstehbar, bedrohlich. Auf den Straßen werden von Männern Befehle gebellt, Leute zusammengetrieben, erschossen. Das Männliche also als fremdartige Bedrohung von Außen. Der Zufluchtsort und die Abgrenzung gegen dieses Außen ist das merkwürdig altmodische und luxuriöse Hotel, worin Frauen von merkwürdigen, aber hilfsbereiten Männern beschützt werden. Nur Anna traut sich hinaus in diese bedrohliche Welt, sie lässt sich auf diese Männerwelt ein, indem sie sie in sich eindringen, sich penetrieren lässt, und als sie den fremden Mann mit in das Hotel nimmt, bricht die männliche Sexualität, und mit ihr alles Bedrohliche, ein in das vorläufige Zuhause Johans. Als Anna mit dem Kellner schläft, drängt zeitgleich ein Panzer – ein kompletter männlicher Geschlechtsapparat – durch die enge Straße. Der Geschlechtsakt als militärische Okkupation, als aggressiv männliches Prinzip. Johans Zuhause, bis dahin ein Ort der relativen Geborgenheit durch zwei Mütter, ist gefährdet durch einen Konkurrenten, den neben dem Kind zweiten physisch mit (seiner physischen) Mutter kommunizierenden Mann, der wahrlich nicht viel von einer Vaterfigur hat, dessen Rolle aber, wie die eines (unvertrauten) Vaters, den klassisch freudschen Ödipus-Konflikt hervorruft.

Wenn Vater schwieg

Wenn das Fremde das Männliche ist, und wenn die Männer eher unverstehbar bleiben, dann mag das auch von der Abwesenheit der Väter dieser halben Familie herrühren: Johans Großvater, vermutlich ein Mann von großer Autorität, ist gestorben und hat offenbar keinen Nachfolger mehr in Johans Vater gefunden, der sich entweder nicht für Frau und Kind interessiert, oder von seiner promiskuitiven Frau bald verlassen wurde. Präsente, das heißt auch lebendige und psychologisch nachvollziehbare Männer gibt es nicht in Johans Familie. Nur von Männern allein gelassene Frauen. Bergman sagte zwar zu seinem Film, auch Männer hätten für ihn vorstellbare Hauptfiguren in „Das Schweigen“ sein können, vermutlich aber hätten wir dann nicht so viel über Bergmans Verhältnis zu seinem „emotional abwesenden“ Vater erfahren, den er als in seinem Beruf sehr repräsentativen, moralischen, im Privaten aber als sehr unsicheren, überempfindlichen und zurückgezogenen Menschen beschrieben hat. Der Vater als einerseits strenge moralische Instanz und als Repräsentant seiner Religion, andererseits als psychisch nicht autonome Persönlichkeit, also keine einfache männliche Identifikationsfigur. Auch hierauf passen wieder zwei Interpretationen, die individuelle: ein zum Scheitern verurteiltes, da schizoides protestantisches männliches Konzept, also das fehlende funktionierende Vorbild für ein männliches Kind – daraus resultierend ein Unbehagen und ein Misstrauen gegenüber jeglicher Maskulinität – und die gesellschaftliche: die spürbare Auflösung eines funktionierenden (männlich geprägten) Überbaus, z.B. die des Patriarchats in den sechziger Jahren, welche bekanntlich zunächst zu der eher „femininen“ Hippiebewegung und später zum offen antiautoritären Aufbegehren gegen sämtliche patriarchischen Strukturen in der Gesellschaft führte.

Wenn Männlichkeit infolge ihrer Verlustes an Integrität und Glaubwürdigkeit eher zu reiner Roheit und aggressiver Stumpfheit verkommen ist, bleiben nur „weibliche“ Konzepte wie Zärtlichkeit und Sensibilität. Beides findet Johan bei seinen „Müttern“; aber nur ansatzweise, denn die Frauen haben ja nicht lernen können, sich in ihrer Weiblichkeit zu emanzipieren, und wenn Anna sich zwar von Johans Vater getrennt haben mag, wenn sie auch einen – etwas zwanghaften – Weg zum Ausleben ihrer Sinnlichkeit gefunden hat, so kann sie sich doch nie richtig von ihrem schlechten Gewissen trennen, auch nicht, wenn sie dagegen an kopuliert. Die physisch nicht lebensfähige Ester hingegen verfügt über geistige und kulturelle Werte, wie über die Musik Johann Sebastian Bachs. „Musik“ übrigens ist das einzige Wort, das es auch in der fremden Sprache gibt, eben so wie auch die Sprache der Musik (=der Kunst) von jedem Menschen verstanden werden kann, und sie steht – speziell aber natürlich die Musik Bachs – für ein humanistisches (aber – typisch für Bergman – heimlich auch wieder christliches) kulturelles Erbe, das offenbar den Vater und scheinbar selbst Gott überdauert hat. Ester hat sich also ideelle Werte erhalten, aber sie kann sie ihrer Schwester nicht vermitteln, weil die alten kulturellen und moralischen Konzepte nicht den ganzen Menschen berücksichtigen, velleicht auch nie berücksichtigt haben. Fragmentarische Personen und Lebenskonzepte, durch Gott, Vater und Patriarchat beschädigt, also sind diese Frauen, weibliche scheiternde Lösungsversuche, die zu integrieren nur Johan, der zukünftige „neue“ Mann vielleicht in der Lage sein wird. Auch dieser Lösung mag noch ein Rest patriarchischen Denkens durch den Regiseur innewohnen.

Europäisches Kino der Einsamkeit

„Das Schweigen“ reihte sich – einmal abgesehen von der typisch Bergman’schen moralischen Zerknirschung – ein in einen neuen europäischen Filmtypus zu Beginn der sechziger Jahre, der das Ende alter Wertvorstellungen, das Problem einer Moderne der Einsamkeit und Kommunikationslosigkeit thematisiert hatte. Michelangelo Antonioni mit „Liebe 1962“ (L’Ecclise, 1962) und einigen anderen Filmen, Federico Fellini mit „Das süße Leben“ (La Dolce Vita, 1962) und „Achteinhalb“ (8 ½, 1963), Louis Malle mit „Das Irrlicht“ (Le Feu Follet, 1963), beschrieben ziellose Existenzen in einer Gegenwart, in der gesellschaftliche Konventionen nur noch leere Formen und Rituale geworden sind, für die aber auch die Flucht in die Ekstase oder Dekadenz kein Ersatz sein kann. Während Antonioni die Einsamen seiner Filme sehr distanziert und mit kühler Ästhetik beobachtete, entwickelten Alain Resnais, Fellini (besonders in „Achteinhalb“) und Bergman eine Filmsprache der personalen Subjektivität, des Unbewussten, innerer, seelischer Zustände – beeinflusst durch die Freudsche Traumdeutung und Psychoanalyse und mit Anklängen an die Surrealisten, wie z.B. Buñuel („Das goldene Zeitalter“; L’Age d’or, 1930). Das Haus oder die Wohnung (so wie das Hotel in „Das Schweigen“) standen bei manchen dieser Filme für die Persönlichkeit, die ihre verschiedenen Impulse und Normen versucht zu koordinieren, und die sich von außen bedroht fühlt. Sicherlich beeinflusst durch „Das Schweigen“ zeigte Polanski in „Ekel“ (Repulsion, 1965) den zur Realität werdenden Alptraum einer durch (männliche) Sexualität verstörten Frau, die sich in ihrer Wohnung verschanzt. Im Unterschied zu „Das Schweigen“, worin die stilisiert alptraumhafte Wirklichkeit nie in Frage gestellt oder außer Kraft gesetzt wird, aber unterscheidet Polanski in „Ekel“ eher, was darin subjektiv verzerrte Wirklichkeit und was real sein soll. Durchweg künstliche, innere Wirklichkeit symbolisierende Welten wie in „Das Schweigen“ gab es vorher auch in Alain Resnais’ Film „Letztes Jahr in Marienbad“ (L’Année dernière à Marienbad, 1961) und über zehn Jahre später in David Lynchs erstem Langfilm: „Eraserhead“ (1977).

Schweigen und Zerknirschung

Wie schon erwähnt, wurde „Das Schweigen“ gemeinhin als Metapher für das Verschwinden Gottes gedeutet und mit dem Erscheinen des Films wurde Ingmar Bergman eine Wandlung zum Agnostiker attestiert. Wie eine Befreiung von protestantischen Dogmen und Zwängen wirkt der Film allerdings noch kaum. Mit jeder Minute seines Schweigens, mit jeder weiteren sündhaften Handlung der Menschen wird die Moral und sozusagen die negative Präsenz dieses Gottes umso deutlicher, erdrückender und schwerwiegender – und sein Schweigen umso lauter. Zu einem großen Teil handelt der Film von Schuld und Schuldgefühlen, und so auch insgeheim von der Sehnsucht nach einer Vergebung durch einen eben nicht toten, sondern noch irgendwo verborgenen Gott. Würde ein Regisseur seinen Film „Das Schweigen“ nennen, wenn er dabei nicht an ein Subjekt denken würde, das des Sprechens mächtig ist, das also auch existiert?

Erst sehr viele Filme und Kämpfe später, vielleicht am ehesten mit seinem Film „Fanny und Alexander“, scheint Bergman wirklich gelernt zu haben, Vater und Gott, protestantische Erziehung und Glauben als etwas von einander Getrenntes, gänzlich Verschiedenes zu betrachten und Gott aus seinem Entitätenkatalog zu eliminieren – seine protestantischen Ängste aber umso genauer unter die Lupe zu nehmen. Dass er mit „Fanny und Alexander“ tief mitten ins fiese Herz des (puritanischen) Protestantismus getroffen hat, möchte ich mir, in meiner Eigenschaft als Pastorensohn, erlauben zu bestätigen. „Das Schweigen“ hat schon Ansätze dessen, was „Fanny und Alexander“ perfektionieren wird, aber ist teilweise noch verstrickt in nicht abtragbare moralische Zerknirschung. Diese protestantisch-abendländische Zerknirschung, diese prüde, sexualfeindliche und ziemlich unmenschliche Haltung ist allerdings auch zu Beginn der Sechziger in Europa – auch unter „Nicht-Pastorentöchtern“ – viel weiter verbreitet gewesen als zu ihrem Ende, als die sogenannte „Sexuelle Revolution“ stattfand. Bergmans gebrochen protestantischer Blick, die schuldgedrückte, freudlose, ja absolut humorfreie Zeichnung moralisch verwerflicher Verhältnisse, die „Das Schweigen“ exemplarisch vormachte, hat sich allerdings noch lange gehalten, zumindest im konservativen Fernsehen, im deutschen, in einer Fernsehserie wie „Der Kommissar“, worin häufig die sexuelle Freizügigkeit irgendwelcher Hippiemädchen zwangsläufig Mord oder Totschlag nach sich zog. „Kommissar“-Autor Herbert Reinecker hat später auch Folgen der bekannteren Kriminal-Serie „Derrick“ geschrieben, und die lief bis in die Neunziger. So viel zu unser aller christlichem, protestantischem, patriarchischem Erbe …

La Promesse – Das Versprechen

(B / F / LU 1996, Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne)

Sterben für die Marktwirtschaft
von Andreas Thomas

Im Titel schon enthalten: Die moralische Qualität des Inhalts. Wie in allen ihren Spielfilmen erzählen die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne auch in „La Promesse“ von ökonomischen Zwängen, von den …

Im Titel schon enthalten: Die moralische Qualität des Inhalts. Wie in allen ihren Spielfilmen erzählen die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne auch in „La Promesse“ von ökonomischen Zwängen, von den Bedingtheiten und Wertigkeiten, die sie zur Folge haben und von – wie soll man es ausdrücken, ohne altmodisch zu klingen? – einem in der Menschheit schlummernden Rest Menschlichkeit, einem unterentwickelten aber entwicklungsfähigen Gewissen, einem Sinn für Verantwortung und einem Bedürfnis nach Freundschaft und Solidarität, dem immer weniger hinterfragten Gebot wirtschaftlichen Wettbewerbs und Einzelkämpferdenkens zum Trotz.

Und die belgischen Regisseure machen es dieser Moral wahrlich nicht leicht. Sie muss von den meist jugendlichen Protagonisten ihrer Filme quasi aus dem Nichts erfunden werden. Jugendliche, die zunächst nichts anderes tun – und tun wollen -, als nach den Regeln zu handeln, die ihnen durch die Erwachsenenwelt vorgegeben sind, stellen fest, dass bestimmende Parameter des konventionellen Miteinanders vielleicht profitmaximierend, aber in ihrer letzten Konsequenz auch mörderisch sein können.

Auch Igor in „La Promesse“ ist einer dieser Jugendlichen. Früh schon wird er von seinem Vater Roger zum Kompagnon gemacht. Der Betrieb: Einschleusung von Migranten, ihre illegale Unterbringung in Bruchbuden zu horrend überteuerten Mieten, Vermittlung von Schwarzarbeit oder Beschäftigung zu Hungerlöhnen auf der familieneigenen Baustelle. Wir werden Zeugen eines professionellen Ausnützens der Notlage von etwa zwei Dutzend Flüchtlingen, ausgehend von jemandem, der sich – weder durch seine Wohnung noch durch sein Äußeres – kaum von ihnen unterscheidet, der vielleicht, wir erfahren es nicht, selbst vor nicht langer Zeit arbeitslos war, aber einen Riecher für neue Trends im Dienstleistungsbereich besaß. Roger ist also das, was man heute (zynisch) einen „Macher“ nennen könnte, denn er macht ja im kleinen Stil nur das nach, was die Multis im großen tun: Er bedient sich illegaler, vor allem aber unmoralischer Methoden, um Gewinne zu erzielen.

Igor, dem halben Kind (Jérémie Renier mit dem Charme und Aussehen eines blonden Jean-Pierre Léaud), gefällt dieses fröhliche Ausbeuten, diese im Kleinen ausgeprägte Variation des globalen freien Marktes, offensichtlich gut, denn ihm wird früh viel Verantwortung übertragen und er kann sich erwachsen und seinem Vater (stets großartig: Olivier Gourmet), den er bewundert, gleichwertig fühlen. Bei jeder wichtigen Aktion ist er dabei. Igor sammelt Gelder ein, er ist Mädchen für alles und er verdient dabei gut. Regelmäßig holt ihn sein Vater mitten aus seiner Lehre in der KFZ-Werkstatt, um ihm wichtigere Aufgaben zu übertragen. Auf diese Art lernt der Junge sukzessive, dass Flexibilität, Erfindungsgeist und ein gewisser Mangel an Skrupeln in Zeiten des Neoliberalismus gewinnbringender sind als eine „ordentliche Ausbildung“, mit der man dann doch vermutlich arbeitslos sein wird (eine Philosophie, nach der übrigens genauso Igors Alter Ego Bruno [ebenso gespielt von Jérémie Renier] im Dardennes-Film „L’enfant“ [2005] lebt und handelt) …

Gezeigt wird uns das alles – übrigens sehr unmittelbar und ohne eine viel erklärende Einleitung – von einer ruhelosen, unwissenden, also auch nicht urteilenden, Kamera: getriebene Menschen aus der rauen Vorstadt Seraing bei Lüttich, einer Arbeitergegend – als es dort noch Arbeit gab. Weißer Trash also, der nun mit schwarzem Trash sein finanzielles Auskommen findet. So authentisch die Kulissen, so organisch hinein passen die Figuren, von denen „La Promesse“ erzählt. Mit ihrer Nähe zum Dokumentarfilm folgten Jean-Pierre und Luc Dardenne im Jahr 1996 weniger der Dogma 95-Mode als ihren eigenen Wurzeln. Denn aus Seraing stammend, hatten die 1951 und 1954 geborenen Regisseure bereits in den Achtzigern mehrere Dokumentarfilme über das Leben der dort ansässigen Arbeiterschicht gedreht, bis zur Erkenntnis, dass die Wirklichkeit das Dokumentarische manchmal scheut. Mit ihrer Inszenierung ortsüblicher Realitäten wechselten sie also zum Spielfilm, der vorgefundene Sachverhalte, ökonomische, soziale, menschliche Verhältnisse nachspielt, fiktionalisiert und dadurch vielleicht dem, was die Seraing-Chronisten erklärtermaßen suchen, nämlich der „dokumentarischen Wahrheit“, näher kommt, als der teilnehmend beobachtende Dokumentarfilm. Jedenfalls atmen die Spielfilme der Dardennes so viel Erfahrung, Kenntnis und Beobachtungsgabe, dass sie einerseits wie komprimiertere Dokumentationen erscheinen, wie Dokus ohne observierende Dokumentaristen gewissermaßen, in ihrer Form aber sind sie nichts weniger als reine klassische Dramen.

Ein Teil der Darsteller, in „La Promesse“ wie in den anderen Filmen der Dardennes, bestand aus nichtprofessionellen und unbekannten Schauspielern, bei denen es darauf ankam, dass sie nicht mit ihren Schauspieler-Standards spielten, sondern als vorbildlose, unverbrauchte, unbekannte „Körper“ und „Gesichter“, wie die Regisseure es ausdrücken, agierten. Tatsächlich sucht die Originalität des Films vor allem wegen der Differenziertheit in der Figurenzeichnung ihresgleichen. Ein einfaches Feindbild fehlt hier, es gibt keinen ausgemacht schlechten oder guten Menschen, aber trotzdem zeichnet sich so etwas ab wie richtig und falsch, menschlich und unmenschlich (was, wie im griechischen Drama aber auch wie im Entwicklungsroman, zu unterscheiden dem jungen Protagonisten aufgetragen ist). Und es fehlt die Stimulation des Nervensystems durch Szenenmusik, durch aufdringliche dramatische Effekte. Der entsetzlichste Moment des Films, als, nachdem einer der Flüchtlinge kurz vor einer Polizei-Razzia vom Baugerüst gefallen ist und nun schwer verletzt auf dem Boden liegt, Igors Vater entscheidet, ihn lieber verbluten zu lassen, als seinen Betrieb zu gefährden, wird mit eben jener dokumentarisch-nüchternen Genauigkeit registriert, die jeder hollywoodesken Dramaturgie widerspricht:
Igor hat den vom Gerüst gefallenen Afrikaner Amidou (Rasmane Ouedraogo) zuerst gefunden. Er verspricht ihm, egal was passiert, sich um seine Frau und sein Baby zu kümmern. Er versucht, das stark blutende Bein abzubinden, aber sein Vater löst den Gürtel wieder. Roger geht auch nicht auf den Vorschlag ein, Amidou als Autounfallopfer auszugeben und ins Krankenhaus zu bringen. Bevor die Polizei kommt, legt er eine Plane über den Bewusstlosen, darauf ein paar Bretter. Später wird Amidous Körper in ein Loch gelegt und mit flüssigem Zement übergossen. Igor muss Roger dabei helfen. Der Film zeigt Amidous Sterben nicht, man weiß nicht einmal, ob er zum Zeitpunkt seiner Einzementierung wirklich schon tot ist oder ob er gar lebendig begraben wird.

Die Sachlichkeit, mit der dieser Tötungsakt gezeigt wird, beinahe als sei er eine weitere Tagesroutine, aber macht das Unerträgliche erst wirklich unerträglich. Denn der Zuschauer wird nicht, wie üblich, durch elegische Musik darin bestärkt, dass Trauer oder Empörung angemessene Reaktionen wären, ihm wird kein Affektmuster angeboten, er wird nicht an der Hand genommen und niemand anderes erklärt ihm, was er sieht, bzw. zu sehen und wie er es zu interpretieren habe. Die Zumutung dieser Sterbeszene liegt in der Abwesenheit eines Kommentars und in der Übertragung der Beurteilung des Gesehehen auf den Zuschauer.

Und sie liegt in ihrer Übertragbarkeit auf weiße Flecken in der europäischen Politik und Gesellschaft. Dass es illegale Flüchtlinge bei uns gibt, weiß jeder, dass sie z.T. unter schlimmen Bedingungen leben (oder sterben) müssen, auch, aber die wenigsten wollen sich damit beschäftigen. So funktioniert der Tod des Afrikaners also als eine Metapher für das buchstäbliche Wegsehen, für ein Unter-den-Tisch-kehren, fürs Lebendig-Begrabensein illegaler Existenzen und zugleich für den Wert eines Menschen, der allzu oft zusammen mit seiner Kauf- und Arbeitskraft erlischt.

Igor erfährt die Regeln dieses Spiels von ganz nah und von innen heraus. Er gehört zum mächtigen Teil des Systems, das heißt, er ist der Kronprinz und wird vom Vater-König in die Rituale des Trinkens, Tätowierens, Herrschens eingeführt. Dem mal jähzornigen und mal herzlichen Roger kann Igors Mannwerdung nicht schnell genug gehen, vielleicht wünscht er für sich auch nur einen Blutsbruder, einen Verbündeten, denn auch sein Leben ist das eines einsamen Kämpfers. Igor selbst möchte am Liebsten mit seinen Kinder-Freunden zum Go-Cart-Rennen, doch dazu bleibt ihm keine Zeit.

Aus Igor wird vielleicht nicht das, was Roger einen „Mann“ nennen würde, aber er lernt es, die Perspektive zu wechseln. Im Moment, als er dem sterbenden Afrikaner verspricht, sich um seine Familie zu kümmern, beginnt stattdessen so etwas wie eine Menschwerdung. Die aber führt ihn wiederum zum Bruch mit einer falschen Ideologie. Einer Ideologie, die, indem sie das Materielle höher bewertet als das Leben, zwangsläufig und immer wieder über Leichen geht.

„La Promesse“ (der übrigens natürlich nichts mit Sean Penns Film „Das Versprechen“ von 2001 zu tun hat) ist in Deutschland skandalöserweise immer noch nicht auf DVD erschienen, aber in einer Box gemeinsam mit dem Gewinner der Goldenen Palme „Rosetta“ als UK-Import beziehbar. Falsch machen kann man mit dem Kauf dieser Box rein gar nichts! Doch wann gibt es endlich deutsche Editionen beider Filme?

Meine Nacht bei Maud

(F 1969, Regie: Eric Rohmer)

Physische Vorbehalte
von Andreas Thomas

„Frauen haben immer zu meinem moralischen Fortschritt beigetragen.“ (Jean-Louis) Es stimmt: Die meisten der Filme Eric Rohmers sind zuallererst aus Wörtern, Sätzen, Aussagen, Reflexionen gemacht. Allein diesen Sätzen zu folgen …

„Frauen haben immer zu meinem moralischen Fortschritt beigetragen.“ (Jean-Louis)

Es stimmt: Die meisten der Filme Eric Rohmers sind zuallererst aus Wörtern, Sätzen, Aussagen, Reflexionen gemacht. Allein diesen Sätzen zu folgen ist Abend füllend, Kopf füllend, anregend – und mitunter auch anstrengend. Doch was wäre ein Film wie „Meine Nacht bei Maud“ ohne die Menschen, die diese Sätze sagen? Bestenfalls eine Philosophievorlesung der interessanteren Art. „Meine Nacht bei Maud“ ist deshalb nützlicher als jeder philosophische Rekurs, weil der Film das mit der Philosophie anstellt, was sie einzig und schließlich legitimiert. Er wendet sie auf die Praxis, also auf das Leben, an. Jede Figur rohmerscher Filme ist ein anderer ethischer Entwurf und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen sind Diskurse zwischen diesen Ethiken.

Frankreich, Clermont-Ferrand in der Zeit um Weihnachten bis Neujahr. Jean-Louis, ein Ingenieur von Anfang Dreißig, von Haus aus lascher Katholik mit einer sexuell nicht unbewegten Vergangenheit, hat sich irgendwann selbst zum gläubigen Katholiken konvertiert und denkt ans Heiraten. Auch eine dafür geeignete Kandidatin vermeint er gefunden zu haben, eine junge (blonde) Frau, die – wie er – regelmäßig am sonntäglichen katholischen Gottesdienst teilnimmt. Wie es aber der Zufall will, ergibt sich zunächst nicht die richtige Gelegenheit, in Kontakt zu kommen, mehr über sie zu erfahren. Stattdessen trifft er überraschend Vidal, einen alten Jugendfreund und Studienkollegen wieder, inzwischen ein Philosophie-Dozent, welcher ihn unbedingt einer (dunkelhaarigen) Freundin vorstellen will. Mit Maud, sagt er, verbinde ihn nicht viel, außer Sex, deshalb sei es nicht bedenklich, wenn Jean-Louis sie näher kennenlerne. Maud ist geschieden, Mutter eines kleinen Mädchens und Kinderärztin. Als sie Jean-Louis im Laufe eines langen, alkoholinspirierten und polemischen Abends zu Dritt deutliche Avancen macht, lässt Vidal die beiden allein – und wieder der Zufall, starker Schneefall, verhindert, dass Jean-Louis mit seinem Auto zurück nach Hause, in einen kleinen Nachbarort, fahren kann. Die attraktive Maud versucht ihn zu verführen, Jean-Louis widersteht ihr mit letzter Kraft, und wie von einem Zweifel befreit, kann er nun den Zufall, der am nächsten Tag zu einer Begegnung mit Françoise (Marie-Christine Barrault), der Blondine, führt, nutzen, um sich ihr vorzustellen und sich mit ihr zu verabreden. Zwei weitere (u.a. witterungsbedingte) Zufälle wollen es jedoch, dass er ihr schon vor ihrem Rendezvous begegnet und zwangsläufig auch bei ihr übernachten muss. Die Nacht bei Françoise ist in jeder Hinsicht das Gegenmodell zu der Nacht bei Maud. Wo dort zwar Sympathie, aber auch sinnliche Versuchung und Verführung dominierend waren, herrscht hier keusche Distanz, Respekt, die ehrlichen, hoffnungsvollen Absichten eines Heirats-Antrags und die Freiheit der Wahl statt der Manipulation durch die Triebe.

Diese zwei Prinzipien scheinen den ganzen Film zu prägen. Lohnt es, sich dem Reiz des Augenblicks, der zufälligen Begegnung hinzugeben – und so ein Leben von zufällig mehr oder minder passenden (wie man bei Maud erkennt, enttäuschenden) Liebesaffären zu leben, oder ist es besser, darauf zu warten (und daran zu glauben), dass einem der Mensch begegnen wird, der ideal zu einem passt. Wobei letzteres die Qualität der self fullfilling prophecy haben kann. Wenn sich zwei Menschen treffen, deren Ideal das der Zuversicht ist und die in den Sinn der Geschichte und des menschlichen Daseins vertrauen, so werden sie sich natürlich leicht gegenseitig in ihrer Einstellung bestätigen können. Durch ihre religiöse Antizipation eines großen positiven Sinnzusammenhangs schaffen sie bereits Sinn – egal, ob ihrer Religion ein existierender Gott zugrundeliegt oder nicht.

Rohmers vierter Film aus seinen sechs „Moralischen Erzählungen“ handelt zwar explizit von Religion und Glauben, lange Passagen bestehen aus Predigt und Gottesdienst, doch wie immer bei Rohmer ist es der Mensch, der sich seinen Gott oder seine Religion vorstellen oder aussuchen kann, der die Freiheit hat zu wählen zwischen der (antizipierten) moralfreien – was für ihn auch bedeutet: pessimistischen – Beliebigkeit der sozialen Beziehungen und dem Zutrauen in einen letzten Sinn des Daseins; Zutrauen, welches alles aufwertet: das Ich, das Du, das Miteinander.

„Mein Leben besteht aus Zufällen.“ Jean-Louis

Angesichts der Menschheitsgeschichte liegt natürlich der Zweifel an einem positiven Ausgang oder an einen positiven Fortschritt der menschlichen Rasse nahe. Genau dieses Problem steht im Zentrum von „Meine Nacht bei Maud“. Ein Katholik, ein Marxist und eine Nihilistin diskutieren die schlechthinnige Frage nach Moral: Wie sollen wir leben, und aus welchen Gründen sollten wir so leben, wie wir es beabsichtigen? Bindeglied zwischen den Extremen ist der materialistische Marxist Vidal, bezeichnenderweise er hat gelernt, dass gerade auch politische Arbeit nicht ohne ein metaphysisches und irrationales Element auskommt, das der Hoffnung auf den Sinn der Geschichte. Es ist kein Zufall, dass alle die Handlung (die Historie) vorantreibenden Begegnungen in „Meine Nacht bei Maud“ Zufallsbegegnungen sind und dass Jean-Louis’ und Vidals Gespräch im Restaurant den Zufall zum Thema hat, angefangen bei der Wahrscheinlichkeit, sich zufällig zu begegnen bis zur Wahrscheinlichkeit eines metaphysischen globalen Sinnzusammenhangs. Die Jugendfreunde haben sich das erste Mal nach Jahren in Clermont-Ferrand, dem Geburtsort des Mathematikers und Philosophen Blaise Pascal, getroffen, und Pascal und seine „Wette, die besagt, dass man, und sei es gegen die Wahrscheinlichkeit, auf Gott setzen müsse, weil man eine solche Wette nur gewinnen könne“, sind es eigentlich, wovon der Film handelt:

Vidal:

“Gerade für einen Kommunisten ist dieser Text von der Wette ausserordentlich aktuell. Glaub mir: im Grunde zweifle ich, dass die Geschichte einen Sinn hat. Trotzdem setze ich auf die Geschichte – und ich bin in der pascalschen Situation. Hypothese A: das Gesellschaftsleben, jede politische Aktion haben keinerlei Sinn. Hypothese B: die Geschichte hat einen Sinn. Ich bin ganz und gar nicht sicher, dass Hypothese B eher zutrifft als Hypothese A. Ich würde eher das Gegenteil behaupten. Nehmen wir an, dass für Hypothese B eine Wahrscheinlichkeit von zehn Prozent besteht und für Hypothese A neunzig Prozent. Jetzt pass auf. Aber trotzdem, ich kann nicht darauf verzichten. Ich muss auf sie setzen, auf Hypothese B. Denn sie gibt der Geschichte einen Sinn, denn sie ist die einzige, die mir ermöglicht zu leben. Nehmen wir an, ich habe auf Hypothese A gewettet und Hypothese B stellt sich als wahr heraus, trotz der zehn Prozent Wahrscheinlichkeit, dann hab ich mein Leben völlig verloren. Also muss ich mich entscheiden, für Hypothese B, denn sie ist die einzige, die mein Leben rechtfertigt. Natürlich spricht eine Wahrscheinlichkeit von neunzig Prozent dafür, dass ich mich irre. Aber das ist unwichtig. – So etwas nennt man mathematische Hoffnung. Das heisst: der Gewinn wächst mit der Wahrscheinlichkeit. Und was deine Hypothese B betrifft, mag die Wahrscheinlichkeit vielleicht gering sein. Aber der Gewinn ist unermesslich. Denn für dich ist er ja der Sinn des Lebens und für Pascal der Gewinn des Unendlichen.“

Der strenggläubige Katholik Jean-Louis bleibt skeptisch, und sein Rest von Skeptizismus trennt ihn von dem, was Pascal die „subjektive mystische Erfahrung“ nennen würde. Durch Vidal aber wird sein Glaube mit seinen eigenen Vorbehalten und mit Maud, dem rationalistisch-atheistischen, sehr physischen Vorbehalt in Person konfrontiert und auf die Probe gestellt. Seine Nacht bei Maud schließlich ist der Katalysator, der ihm seine unbedingte Entscheidung für Hypothese B (Die blonde Katholikin) ermöglicht.

Am Ende besteht alles aus Zufällen, Zufälle, die sinnvoll geworden sind, weil Jean-Louis ihnen Sinnhaftigkeit beimisst, d.h. weil er ihrer Abfolge eine zugrundeliegende Ordnung unterstellt. Weil er aufgehört hat, sich ihnen zu verschließen, weil sie für ihn bedeutungsvoll sind, haben sie Offenbarungscharakter, haben sie für ihn etwas Mystisches. Oder auch: Weil sie immer schon mystisch waren, kann er die Zufälle als mystisch begreifen, seit er aufgehört hat, nur mit seinem Verstand zu glauben. Glaube und Hoffnung, d.h. ein glückliches Leben funktionieren so nur wider die Vernunft.

„Wie die Sittlichkeit eine Sache der Empfindung, nicht des Denkens ist, so ist Gott, so sind selbst die ersten Grundsätze, auf denen die Gewissheit der Beweise beruht, ein Gegenstand nicht der Vernunft, sondern des Herzens.' Blaise Pascal

„Ich glaube nicht an Kausalität, ich suche nicht nach Gründen. Es stört mich, wenn gesagt wird: diese Tatsache hat einen Grund. Warum sollte sie einen haben? Warum muss man unbedingt nach Gründen suchen? Das zwingt einen, eine Erklärung zu finden. Ich sehe das anders. Ich verstehe es eher so, dass die Dinge einem Ziel zustreben. Wie in einer Geschichte. Die Welt hat einen Sinn. Eine solche Erklärung ist theologischer. Gerade der Film entzieht sich menschlicher Kausalität, weil uns der Film an die Natur verweist, an eine organisierte Natur, die auf ein Ziel gerichtet ist. In diesem Fall ist der Mensch nicht der absolute Herrscher über sein Material. Sein Material bewegt sich in eine bestimmte Richtung, und er hat sich in diese Richtung treiben zu lassen.“ Eric Rohmer

„Meine Nacht bei Maud“ verrät viel über Rohmer und seine Philosophie des Zutrauens in den Gang der Geschichte. Aber im Film verbirgt sich offenbar auch ein unreflektiertes, konservativ wirkendes Menschen- speziell Frauenbild. Dass die sinnliche und verführerische Maud schwarzhaarig, die ideale Ehefrau dagegen katholisch, eher ätherisch als erotisch und blond sein muss, mag von Rohmer zwar schon bewusst so inszeniert worden sein. Eine notwendige Distanz zu althergebrachten, typisch männlichen, restriktiven und sexualfeindlichen Moralvorstellungen von der Frau als der Heiligen oder der Hure stellt er im Film aber nicht her.

So wenig Rohmer sich auch in seinen Filmen ums tagespolitische Geschäft kümmert, der Zeitgeist vom Pariser Mai 1968 steckt in der Figur des Vidal und der Aufbruch einer neuen feministischen Bewegung wird durch Maud verkörpert. Maud steht in jeder Eigenschaft für die zum Ende der sechziger Jahre ausgerufene Emanzipation der Frau, sie ist nonkonformistisch, sie hat sich von ihrem Mann scheiden lassen, ist alleinerziehend und berufstätig, und sie sucht sich ihre Liebhaber lieber selbst aus, statt auf sie zu warten und sich ihnen hinzugeben. Sie bedroht anscheinend nicht nur den Katholiken, sondern auch den Mann in seiner Autorität, indem sie für sich die gleichen Rechte wie die der Männer geltend macht, sie gefährdet das Patriarchat, das Jean-Louis trotz seiner zur Schau gestellten Toleranz repräsentiert und praktiziert. Fakt ist, selbst wenn Maud prinzipiell in den Augen von Jean-Louis Recht hätte, selbst wenn sie wirklich die interessantere Frau wäre für Jean-Louis – es wäre ihm unmöglich, sie zu erwählen, weil sie ihn mit ihrer offensiven und autonomen Weiblichkeit zutiefst verunsichert.

Schließlich ist es dann auch er als Mann, der sich für Françoise entscheidet (ein selbstherrlicher Akt, lange bevor er sie überhaupt kennt), dabei ziemlich uncharmant und aufdringlich vorgeht, und nicht umgekehrt. Mit Françoise stimmt seine konservative Ordnung wieder. Der Mann erwählt und er entscheidet und umso rechtmäßiger ist die Entscheidung des Mannes, wenn er Gott (den Sinn der organisierten Natur) auf seiner Seite wissen darf. Françoise spielt im Film eine ziemlich untergeordnete Rolle. Doch, auch Françoise hatte früher einen Geliebten, im Gegensatz zu Maud aber bereut sie es und bezeichnet es als Sünde. Wenn dagegen Jean-Louis von seinen Affären spricht, dann mit einem jovial-chauvinistischen Unterton: Kavaliersdelikte insgesamt. Für beide aber gilt offiziell und wohldeklariert, d.h. von Rohmer leider wenig gebrochen: Sie haben ihre (Erb-)Sünden erkannt, haben bereut und können auf Vergebung hoffen.

„Ich glaube, es hat dich in meinem Leben immer gegeben.“ Jean-Louis
„Und ich glaube, da täuschst du dich.“ Françoise

Bezeichnend dann der Schluss: Jahre später, Jean Louis und Françoise mit ihrem kleinen Kind begegnen Maud (natürlich zufällig) im Urlaub am Meer. Das Paar sieht glücklich aus, sie haben ihr Kind bei sich: das Produkt, das sichtbare Zeichen, der „Gnade“, während Maud nun ganz allein ist. Mauds neue Ehe ist unglücklich und selbst ihre Tochter ist offenbar nicht mehr bei ihr – jedenfalls fällt kein Wort über die Tochter und in der Szene fehlt sie. Man braucht kein Chauvinist zu sein, um zu denken, dass die Ehe zwischen Jean-Louis und Françoise nur deshalb so gut klappt, weil sich die Ehefrau zurücknahm, keine hohen eigenen Ansprüche stellte, um zu wetten, dass sie zum „Wohl der Familie“ auf den Beruf verzichtete, und leider könnte man geneigt sein zu schließen, dass es sich Maud nur deshalb immer mit allem (der Welt Gottes) und vor allem mit allen (den Männern) verscherzt, weil sie sich ihnen verdammt-noch-mal nicht unterordnen will.

Die schicksalhafte Fügung, so der Tenor, lässt keinen aus. Das Glück winkt denen, die sich dem Schicksal anvertrauen; das Unglück ist mit den Zweiflern und denen, die eher an sich, als an das „Gute“ glauben. Besonders hart trifft das Unglück die emanzipierte Frau. Wahrscheinlich wird ihr Schicksal vorrangig begründet in der „organisierten“ Natur der etablierten Geschlechterverhältnisse.

Oder man wechselt kurz die Perspektive und blickt auf den verbürgerlichten Jean Louis, der sich ewig ärgern wird, diese eine Gelegenheit ausgelassen zu haben.

Party Monster

(USA 2003, Regie: Fenton Bailey, Randy Barbato)

Schimäre Macauly
von Andreas Thomas

„Jeder Spielfilm ist ein Dokumentarfilm“ – Werner Herzog Eltern, die gegen Anfang der Neunziger männlichen Nachwuchs bekamen, den aber insgeheim am liebsten allein Zuhaus zu lassen gedachten, gaben ihm gerne …

„Jeder Spielfilm ist ein Dokumentarfilm“ – Werner Herzog

Eltern, die gegen Anfang der Neunziger männlichen Nachwuchs bekamen, den aber insgeheim am liebsten allein Zuhaus zu lassen gedachten, gaben ihm gerne den Namen Kevin – ein Name entliehen beim gleichnamigen Hollywood-Horrorfilm, worin ein von seinen Eltern vergessenes Kindmonster harmlose Kleinkriminelle in lebensgefährliche Lebenslagen beförderte. Da Kindergewalt dieser Art breite Zustimmung erfuhr, gab’s bald eine Fortsetzung namens „Kevin allein in New York“ und spätestens deshalb werden heutzutage sehr viele Teenager in Deutschland Kevin gerufen.

Gerufen, weil diese ungezählten Kevins schon immer gerufen und nie angesprochen wurden, weil entweder ihre Eltern nicht mehr ansprechbar waren oder sie ihre Kevins gar nicht ansprechen wollten, weil sie Kevin allein zuhaus lassen wollten, z.B. wenn sie sich mit ihren Freunden an der Bude trafen oder sie riefen Kevin, wenn er draußen in den wilden Straßen der Sozialblocks mit Patrick und Nicole Scheiße baute. KEVIN! Ein Symptom der Distanz und Kälte, aber auch ein endogener, authentischer Aufschrei in den Zeiten der Arbeitslosigkeit.

Bezeichnend für Ur-Kevin, um den es hier geht, ist, dass der auch schon von seinen Eltern Zuhause vergessen worden war. Der Darsteller dieses ersten von tausenden allein seiender Kevins aber hörte (zunächst) in Wahrheit auf den unmöglichen Namen Macauly Culkin – MACAULY, ein Schrei, der zuerst auf den Schreienden zurückfällt, ihn der Lächerlichkeit preisgibt, aber der auch dem so Bezeichneten seine Glaubwürdigkeit rauben muss, seine street credibility, seine school oder girlfriend credibilty.

Gebt dem Kind, das so heißt – Holden Caulfield könnte übrigens sein Opa in der Familie der Namensverlierer sein – Geld. Macht es reich! Und lasst es weiter allein und denken, es sei ein Star, und ganz schnell habt ihr jemand, der nicht erwachsen werden kann, keine Identität findet und auch sonst von der Welt immer das denkt, was die Welt gerade mal nicht gesagt hat. Lüge, Illusion und Orientierungslosigkeit, das sind die drei Dinge, die Hollywood für Geld produziert.

Macauly blieb die Schimäre Kevin, und ihm blieben die Partys und die Designerdrogen. Pubertät war nicht vorgesehen und wurde nicht belohnt. Er wollte nur weiter spielen, mehr nicht. Ähnlich wie der authentische Michael Alig, den Culkin nun in seiner ersten Rolle seit „Kevin allein in New York“ im Film „Party Monster“ spielt, der gemeinsam mit James St. James (im Film Seth Green) Anfang der Neunziger zum dauerbedröhnten New Yorker Party-Kind aufstieg und schließlich aus Gründen des Realitätsverlusts damit prahlte, jemanden umgebracht zu haben. Das war aber nicht nur Angeberei und St. James schrieb über das tödliche wilde Leben der Freunde einen Roman namens „Disco Bloodfeast“, der als Vorlage für den Film diente.

Das Resultat ist eine überaus unkritische und schwärmerische Koketterie mit der Szene, die der Film gleichzeitig versucht zu problematisieren. Trunken taumelt eine äußerst konventionelle, aber dabei äußerst ungelenke Kamera den lustigen Paradiesvögeln (die übrigens durch die Bank schwul sind, keine Partys ohne Homos, keine Homos ohne Partys) hinterher, die vor allem durch ihre Dummheit glänzen. Die Regie hat nicht den Hauch einer Ahnung von Dramaturgie, und ein chronisch ironisch angelegter Unterton desavouiert in seiner Indifferenz jeder Figur gegenüber am Ende den kleinsten Rest von Empathie oder Distanz oder Analyse. Ganz klar ist dieser, übrigens in billiger Video-Qualität gedrehte, Brei von einem Film ein Rohrkrepierer, und langweilig sofort nach dem Opener, in dem der breite Seth Green eine noch witzige Einführung vom Stapel lässt. Macauly sieht immer noch so aus wie mit 8, nur hat er inzwischen sein Talent restlos eingebüßt, interessant als Nebenfiguren sind Chloe Sevigny („Kids“) und Marilyn Manson, der (hier wirklich nur noch durch sein darstellerisches Charisma wieder zu erkennen) eine blumige „Christina“ gibt.

Gescheitert als Film, aber interessant als Dokument ist „Party Monster“, weil man den Eindruck nicht los wird, er sei von denselben bemitleidenswerten, orientierungslosen Showhäschen gemacht worden, von denen er handelt. Die Drogen scheinen vor und hinter der Kamera ihre Wirkung zu tun, und dass das Leben nur aus Party, Verkleiden (den Oscar für die besten Kostüme hätte der Film verdient) und in Rollen schlüpfen besteht, darin werden sich Macauly & Co, James und Michael wohl völlig einig sein – ob vor oder nach dem Film.

Liegen lernen

(D 2003, Regie: Hendrik Handloegten)

Just like youth never happened
von Andreas Thomas

Rückwärts wendet sich „Liegen Lernen“, um was zu tun? Uns Mittvierzigern Erinnerungen an Erinnerungen zu schenken? Uns mit unserer belanglosen Achtziger-Jahre-Adoleszenz zu versöhnen? Interessant ist, dass Filme über Jugend in …

Rückwärts wendet sich „Liegen Lernen“, um was zu tun? Uns Mittvierzigern Erinnerungen an Erinnerungen zu schenken? Uns mit unserer belanglosen Achtziger-Jahre-Adoleszenz zu versöhnen?

Interessant ist, dass Filme über Jugend in den Achtzigern – die immer häufiger gemacht werden, weil die, die in den Achtzigern jung waren, langsam arriviert genug sind, Filme machen zu dürfen – völlig anders aussehen als die Filme, die in den Achtzigern über das Jungsein in den Achtzigern gedreht wurden. Hauptmerkmal dieser, auch in „Liegen Lernen“ versuchten, Vergangenheitsbewältigung: Das war alles nicht so grell und vor allem nicht so witzig, sondern ziemlich öde, normal und dumpf. Und wenn die Theorie stimmt, dass in repressiven Zeiten besonders viele Komödien gemacht werden, dann sind all die hysterisch-lustigen Filme der Dörries und wie wie sie alle heissen, in denen Katja Riemann und die ganz verrückte Zweier-, Dreier-, Viererkiste die Hauptrolle spielte, bester Beleg dafür, dass der deutsche Film umso unterhaltender und apolitischer war, je dröger und apolitischer seine Zeit wurde, sprich: die Achtziger waren ganz schön schlimm!

Irgendwas hat sich seitdem im deutschen Film geändert. Die spießig-skurrilen Komödien, deren Protagonisten dadurch nervten, dass sie psychomäßig null gemeinsame Schnittmenge mit uns hatten, sterben langsam aus, und spätestens seit Hans-Christian Schmids „23- Nichts ist wie es scheint“ versuchen Regisseure die deutschen achtziger Jahre aus der Erinnerung zu rekonstruieren, was mal besser, mal weniger gelingt, aber stets zu interessanteren Ergebnissen führt, als die zeitgenössischen Exponate (sieht man mal von Ausnahmen ab, wie Detlev Bucks Frühwerk).

Helmut (Fabian Busch) soll erwachsen werden – fordert seine Freundin. Entweder ein Kind machen oder Schluss. Eigentlich liebt er sie ja wirklich, aber um mit seiner eingeschliffenen passiv-verantwortungsfreien Lebenshaltung endlich ein Ende machen zu können, meint er, sich und uns erklären zu müssen, wie und wodurch er zu dem geworden ist, der sich vor finalen Bindungsentscheidungen scheut. Also erzählt er – oder besser: zählt er auf -, welches Mädchen er wann (nämlich in den Achtzigern), warum und wie geliebt hat: Außer einer, der ersten, hat er nämlich nie eine geliebt – bis offenbar jetzt.

Und jetzt tritt der Film in seine Hauptleistungsphase, er erweckt das Jahr 1982 recht schön zum Leben: Die Schulklasse, die Klassenfahrt nach Berlin, die modisch politisch überengagierte Klassenschöne Britta, mit ihren liberalen Eltern, die sie mit Vornamen anspricht, während Helmuts Eltern Vater und Mutter bleiben, in seinem beengten kleinbürgerlichen Zuhause. In diesem Teil stimmt so manches, und selten wurde eine erste Verliebtheit engagierter ausgemalt als in diesem Film. „Liegen Lernen“ beharrt dabei ausschliesslich auf der subjektiven Perspektive des Helden, aber das schadet nicht, denn mit ihm gemeinsam bekommen wir (später) auch seine Irrtümer und Fehleinschätzungen zu sehen. Schöne Einsichten bekommen wir, über die damalige Jugend, die insgesamt noch nicht so cool oder abgebrüht war, sondern – und das mag ich bestätigen – verglichen mit heute naiv und nett (oder ist heute Jugend naiv und cool?).

Schwach ist der Film in Punkto Musik. In einem coming of age-Film über die Achtziger, eine musikalisch ziemlich wichtige Zeit, drängt sich eine akustische Illustration der inneren Befindlichkeiten geradezu auf, doch über Kansas’ „Dust in The Wind“ und Fischer Z’s „Berlin“ geht der Film nicht nachhaltig hinaus, „like punk, wave, hiphop never happened“. Vielleicht – und da nähern wir uns auch schon meinem Haupteinwand – liegt dieser Mangel aber in der Langweiligkeit des Protagonisten, der an keiner Stelle so vital ist, dass er die Erregung vitaler Popmusik, von der es in Achtzigern jede Menge gab, vernimmt. Wenn Popmusik den Gefühlen Jugendlicher Ausdruck verleiht, dann ist unser Helmut – misst man ihn an der ihm zugeordneten Musik – überhaupt kein Jugendlicher. Tanzt er z.B. jemals?

Weniger einfühlsam und eher oberflächlich begleitet der Film Helmut – nach Brittas plötzlichem Abgang – durch seine Twen-Zeit. Studenten-WG, Studium, Beziehungen, Fremdgehen. Die westdeutschen Achtziger bestehen für Helmut fast nur aus Liebesbeziehungen und Helmut Kohl – vermittelt uns der Film. Und letzterer muss irgendwie unangenehm gewesen sein. Hier wird der Film zu unaufmerksam, zu mager, zu privatim, zu weit weg vom Achtzigerzeitgeist, zu sehr liebes Unterhaltungskino, als dass er treffend oder gar kritisch sein könnte.

Je länger „Liegen Lernen“ dauert, desto ungenauer werden auch seine Figuren. Die Mauer fällt. Britta taucht wieder auf – im ekstatischen, großdeutschen Berlin, völlig verändert, wie nach einer Gehirnwäsche; möglich wäre dergleichen, aber erklärt wird ihre persönliche Wandlung gar nicht. Die Personage gerät oft zu oberflächlich. Schließlich ordnen sich Handlung und Figuren zu sehr einem zu konstruierten Script unter, in dem Helmuts Egoperspektive und sein programmatisches Erwachsenwerden Prämisse sind.

Vorweg genommen sei: Er wird es …
Und dass der Film tatsächlich damit endet, dass Helmut erwachsen wird, am Ende nicht nur „liegen“ (schließlich fällt er noch einmal voll auf die Fresse) sondern auch „lieben“ gelernt haben will, was der Titel ja unheimlich raffiniert impliziert, ist zu schlicht und einfach, als dass man es nun noch glauben möchte. Dieses Erwachsenwerden nach Plan offenbart wohl am ehesten, wie unerwachsen es in den Köpfen von Romanvorlagenautor/Regisseur zugehen mag, und so bleibt „Liegen Lernen“ ein teilweise netter, da partiell stimmige Atmosphäre produzierender Film, der leider insgesamt eher etwas für reichlich angepasste, von klein auf Vierzigjährige ist, zu denen ich mich dann doch nicht zählen möchte….

„Lügen lernen“ wäre vielleicht der treffendere Titel. Sich selbst belügen lernen – darüber, dass man nichts verpasst hat. Und dann ganz schnell erwachsen sein? Weitere Vierzigjährige zeugen? Und gut is?
Oder wie?

Nee, danke! Punk rules! Oder irgendwas in der Art …

Love Life – Liebe trifft Leben

(NL 2010, Regie: Reinout Oerlemans)

Defekte Welt
von Wolfgang Nierlin

Die Sätze aus dem Off, in der Vergangenheitsform gesprochen, verheißen nichts Gutes: „In meiner Welt lief einmal alles perfekt. Ich hatte alles unter Kontrolle.“ Der erfolgreiche Werbefachmann Stijn (Barry Atsma) …

Die Sätze aus dem Off, in der Vergangenheitsform gesprochen, verheißen nichts Gutes: „In meiner Welt lief einmal alles perfekt. Ich hatte alles unter Kontrolle.“ Der erfolgreiche Werbefachmann Stijn (Barry Atsma) sagt sie, mit Blick aufs Meer, das im Gegenlicht flirrt. Der Anfang von etwas Neuem, von schweren Erinnerungen an das Vergangene überlagert, markiert den Beginn von Reinout Oerlemans in den Niederlanden äußerst erfolgreichem Film „Love Life“, der auf Raymond van de Klunderts autobiographischem Bestseller-Roman „Mitten ins Gesicht“ basiert. Die retrospektiven Worte aus einer Phase des Übergangs deuten also auf einen Riss, von dem Oerleman mit seinem Film im Folgenden erzählt.

Dieser geht durch die „perfekte“, aus extrem viel Wohlstand und noch mehr Spaß bestehende Welt von Stijn und Carmen (Carice van Houten), einem verheirateten Paar mit Kind, das nach dem Motto „carpe diem!“ lebt (was im Verlauf des Films eine Bedeutungsverschiebung erfährt). Ihr materialistischer Lebensstil spiegelt sich in der oberflächlichen Hochglanzästhetik des Films, der das echte Leben nur streift und in Klischees reproduziert. Zu diesen gehört auch Stijns notorisches Fremdgehen. Beruflicher und sexueller Erfolg gehen auf der Überholspur des Lebens offensichtlich Hand in Hand. Dass das nicht so bleiben kann, ist fast auch schon wieder ein Klischee (und gewissermaßen eine lebensanschauliche Problemstellung des Films), bezieht sich im vorliegenden Fall aber auf die bittere Wahrheit einer authentischen Geschichte.

Denn bei Carmen wird Brustkrebs diagnostiziert, was sie, die sich gar nicht krank fühlt, zunächst nicht glauben kann. Mit spielerischem Unernst und einer Portion Trotz klebt sie sich das Wort „perfekt“ auf die eine und das Wort „defekt“ auf die andere Brust. Doch die strapaziösen Therapien, die auf die schreckliche Diagnose folgen, stellen die Beziehung der beiden auf eine harte Belastungsprobe, die sich bis zur Ehekrise steigert. Die Einschränkung der alltäglichen Funktionstüchtigkeit, schmerzliche körperliche Veränderungen und die Entbehrung der gewohnten Lebensfreude machen aus der Erkrankten eine andere Frau und führen das Paar immer deutlicher in die Sprachlosigkeit. Stijn reagiert auf diese psychische Überforderung – in einem materialistischen Sinn – mit der Flucht in die Arme der Künstlerin Roos (Anna Drijver), was der Regisseur in starken, aber auch überzeichneten Kontrasten zuspitzt.

„Love Life“ behandelt ernste und wichtige Themen, zum Beispiel die Frage nach der Tragfähigkeit einer Liebesbeziehung im Angesicht des Todes, mit den falschen filmischen Mitteln. So fehlt den Bildern jene Distanz und Konzentration, die sie vom bloß Illustrativen zu einer Vertiefung führen könnten. Der zur Disposition stehende Materialismus des Sujets setzt sich gewissermaßen in dessen Bebilderung fort. Dabei ist Oerlemans Vertrauen in seine Bilder nicht besonders groß, denn fast jede Szene und vor allem auch die Übergänge zwischen ihnen sind zur „gefühlsmäßigen Einstimmung“ mit der thematisch passenden Musik zugekleistert. Erst im letzten Teil, wenn das Paar wieder zueinander findet und sich auf einen langen, qualvollen Abschied vorbereitet, gewinnt der Film an Intensität, gelingen ihm berührende Momente.

Mind Game

(J 2004, Regie: Masaaki Yuasa)

Geburt als Selbstzweck
von Carsten Moll

Am Ende ist alles gut. Zumindest bei den großen Animationsfilmen, die oft einen Hang zum Essentialistischen haben und immer noch am liebsten von richtigen Prinzessinnen, richtigen Jungen und der einzig …

Am Ende ist alles gut. Zumindest bei den großen Animationsfilmen, die oft einen Hang zum Essentialistischen haben und immer noch am liebsten von richtigen Prinzessinnen, richtigen Jungen und der einzig wahren Liebe erzählen. Das Ganze wird natürlich immer wieder geupdatet, deshalb kann die Prinzessin jetzt auch mal schwarz sein und der Junge ein Roboter, sogar ogersexuelle Paare dürfen ja mittlerweile heiraten. Die Botschaft ist: Egal wer ihr seid, findet es raus und dann ab auf euren Platz. Familie gründen, den Planeten retten. Baby, you were born this way.

Anders beispielsweise „Mind Game“: Der Film erzählt sich nicht von A nach B, Anfang und Ende bleiben offen, dazwischen gibt es Ellipsen, Loops und Flashbacks. Und immer wieder Konjunktive, wie man sie in dieser Fülle vielleicht noch aus Joachim Triers „Auf Anfang“ kennt. „Mind Game“ ist ein einziges Abklopfen und Zelebrieren von Möglichkeiten, Gott (oder besser: „Gott“) ist hier passenderweise auch kein unbewegter Beweger, sprich Animator, sondern selbst ein Cartoonwesen, das im Sekundentakt die Gestalt wechselt. Noch wildere Animationen hat da bloß die fantastische Sexszene zu bieten, die mehr Animationsstile verbindet als so manche Trickfilmanthologie.

„Mind Game“ zeigt immer wieder Geburten (auch Wiedergeburten) und Schöpfungen in allerlei Varianten. Kinobilder, Träume, Kochkunst und Popowackeln als Ausdruckstanz verweisen ebenso wie die stilistische Vielfalt aus 2D, 3D, Rotoskopie und Zeichentrick immer auf ein Mehr an Möglichkeiten, auf Ungezeigtes und Vergessenes. Wo die Produktionen von Pixar, Ghibli und Co. sich damit begnügen sentimentale Welten heraufzubeschwören und in Nostalgie schwelgen, da stagniert der Animationsfilm zumindest in künstlerischer Hinsicht und verkommt zu perfekt inszenierter Familienunterhaltung mit pädagogischer Moral. Und wo einst Dumbo im Alkoholrausch zumindest noch die Parade der rosa Elefanten erleben durfte, da hat die kochende Ratte in „Ratatouille“ beim Verzehr von Gemüse bloß noch ein paar lahme Farbkleckse vor ihrem inneren Auge. Was Animation sein kann, zeigt „Mind Game“. Ein möglicher Anfang.

Zur DVD:
Bild und Ton sind einwandfrei, neben der deutschen Tonspur findet sich auch der japanische Originalton samt optionalem deutschem Untertitel auf der DVD. Als Extras gibt es Trailer, Interviews, Einblicke in den Animationsprozess und Musikvideos.

Grenzfälle – Es geschah übermorgen

(F / D 1971, Regie: Claude Boissol, Victor Vicas)

Pflaumen zu Diamanten
von Michael Schleeh

Als an der Börse urplötzlich die Kurse durchzudrehen beginnen, da weiß nur ein Mann, warum: ein Forscher im Anzug mit Brille und Halbglatze hält das Geheimnis zur Diamantenherstellung in Händen. …

Als an der Börse urplötzlich die Kurse durchzudrehen beginnen, da weiß nur ein Mann, warum: ein Forscher im Anzug mit Brille und Halbglatze hält das Geheimnis zur Diamantenherstellung in Händen. Doch keiner will auf ihn hören. Später, als er dann tot vor dem Gebäude liegt, da findet sich ein Pflaumenzweig im Aktenkoffer und verwirrende, wissenschaftliche Dokumente. Ein äußerst mysteriöser Fall! Das ruft die Agenten Barbara Andersen (Elga Andersen) und Yan Thomas (Pierre Vaneck) auf den Plan: sie arbeiten für das „Internationale Institut zum Schutz der Wissenschaften“. Ihre Aufgabe ist es, zu verhindern, dass neue umwälzende Erfindungen in krimineller Weise missbraucht werden und so die internationale Lage destabilisiert wird. Und hier haben wir einen solchen Fall: denn unter dem Mikroskop zeigt sich, was sonst verborgen bleibt. Die Zwetschge kann Dank ihres hohen Kohlenstoffanteils mit einigen trickreichen chemisch-physikalischen Verfahren zu einem Diamanten transformiert werden. Kein Wunder also, drehen da die Weltmärkte durch, wenn sie mit diesen Edelsteinen geflutet werden …

„Grenzfälle – Es geschah übermorgen“ ist eine kultige Science-Fiction-TV-Serie aus den 70ern, die weniger an 'Akte X' – wie uns der Vertrieb glauben machen will – sondern eher an die 'Avengers' ('Mit Schirm, Charme und Melone') erinnert. Im Zentrum stehen zwei Ermittler, die als stets gutgelauntes, dabei scharfsinniges Doppelgespann den kriminellen und „paranormalen“ Machenschaften „mit modernster Computertechnik“ auf den Grund gehen. Da gibt es mit Hilfe eines Wellenmodulators paralysierte Dorfgemeinschaften in der Provence, mysteriöse UFO-Sichtungen, Marsmenschen, ein Stadtviertel voll fröhlicher Bewohner in Paris, usw.. Dies ist, wenn auch häufig thematisch etwas redundant und zugleich schwerfällig inszeniert, unterhaltsam anzusehen. Und für Fans sowieso Pflicht.

Die Veröffentlichung beinhaltet alle 13 Teile der beiden Staffeln, deren erste sechs Folgen zunächst im Jahr 1971 entstanden sind, während die folgenden sieben der zweiten Staffel im Jahr 1974 nachgeschoben wurden. Auf den vier DVDs finden sich ausschließlich die deutschen Synchronfassungen, die von der „Berliner Synchron“ erstellt wurden, die als durchweg hochwertig anzusehen sind. Wobei sich immer wieder einige Klöpse dazwischen geschlichen haben: „Die Leute, die wir suchen, sind nicht im Höhlenforscherverein!“, oder: „Sie sind dickköpfiger als ’ne Einbahnstraße!“. Auch zum Thema Geschlechterverhältnis lassen sich einige historisch interessante Beobachtungen machen. Die immer wieder thematisierten Aspekte aus dem Bereich Mystery und Fantasy sind jedoch kaum haltbar, da generell wissenschaftlich-rationale Erklärungen für die Vorgänge gefunden werden – auch wenn diese manches Mal an den Haaren herbeigezogen scheinen. Dennoch weiß die Serie durch ihre immer wieder kreativen und abwechslungsreichen Fälle zu überzeugen, woran das sympathische Auftreten des Agentenduos nicht geringen Anteil hat. Die Bildqualität ist allerdings eher im unteren Mittelfeld anzusiedeln (Bild- und Tonstörungen, teils unruhiger Bildstand, Farben), was sicherlich am schlechten Zustand des Ausgangsmaterials liegen dürfte. Aber allzu viel darf man bei einer heute eher weniger bekannten Serie, die nun beinahe 40 Jahre alt ist, nicht erwarten. Auch auf Bonusmaterial muss verzichtet werden.

John Carpenter’s The Ward

(USA 2010, Regie: John Carpenter)

Retro als Prinzip
von Sven Jachmann

Ein wenig kann man bei diesem Comeback schon denken, dass ein alter Meister dem Zeitgeist die lange Nase zeigen will: John Carpenter hat nach fast 10 Jahren einen neuen Film …

Ein wenig kann man bei diesem Comeback schon denken, dass ein alter Meister dem Zeitgeist die lange Nase zeigen will: John Carpenter hat nach fast 10 Jahren einen neuen Film gedreht. In der Zwischenzeit wurden bereits drei seiner wichtigsten Werke als Remakes der Gegenwart angepasst. Es wird an Rob Zombies genreaffinem, demütigem Umgang mit dem Film und dessen Rezeptionsgeschichte liegen, dass seine Lesart von „Halloween“ (2007) die konfektionierten Updates von „Das Ende“ (2005) und „The Fog“ (ebenfalls 2005) vergleichsweise monumental überstrahlt. Carpenter selbst hingegen produzierte seit seinem Horror-Sci Fi-Kiesgruben-Desaster „Ghosts of Mars“ (2001) nur noch zwei Episoden der amerikanischen TV-Serie „Masters of Horror“ (2005/2006). Seine Reputation verdankte sich da schon längst nicht mehr seinem gegenwärtigen Schaffen, sondern schien mindestens so anachronistisch wie die Art seines Filmemachens selbst.

John Carpenter ist, man liest es oft, ein verbissener Handwerker, ein stoischer Genre-Auteur, der nach wie vor unbeirrt mit jener Hacke auf seinen Materialsteinbruch drischt, die ihm schon in frühen Jahren zu Ruhm verhalf, und auch wenn diese Eigenschaft bei vielen seiner Kollegen als hochgeschätzte Tugend angerechnet wird, ob sie nun Samuel Fuller oder Don Siegel heißen, befindet er sich in der ständigen Bringschuld, seine meist eben auch künstlerischen Flops durch ein formidables Alterswerk mit einem selbstbewussten Ausrufezeichen zu versehen. Man betrachte die Entwicklung einiger Generationsweggefährten, beispielsweise Tobe Hooper oder Dario Argento, und erkennt sehr schnell den Unterschied zwischen schlechter Regie und schlechter Drehbuchwahl. Ausgefeilte Plots oder differenzierte Psychologisierungen zeichneten Carpenters Filme nie aus, sondern stets die Beschränkung von Raum und Zeit; seinen typisierten Figuren blieb nicht mehr, als auf die Situation zu reagieren, in die sie meist schon nach wenigen Minuten geworfen wurden.

Dieses Prinzip strukturiert auch „The Ward“, einen Klinikhorrorfilm, der, wäre die Welt ein gerechter Ort, Carpenter zumindest ansatzweise rehabilitieren sollte, gärte in der Kritik nicht diese lausige Symbiose aus Häme und Geschichtsblindheit. Peinliche Anbiederungsversuche an Erzählkonventionen, an Muster der Torture Porns und des unzuverlässigen Erzählens, sowie stereotype Charakterentwürfe zählt man diesmal auf der Minusseite. Belegt letzteres ganz banal lediglich die Unfähigkeit, den Plot überhaupt erst einmal für sich zu dechiffrieren, vergisst ersteres wahlweise Carpenters Ouevre oder die Bildgesetze des Horrorfilms selbst, die hier, wenn überhaupt, ikonografisch im Gewand des weitaus betagteren Slasherfilms in Erscheinung treten.

Der Film setzt mit einer straighten Ausgangssituation in den 60er Jahren ein: Kristen (Amber Heard) hetzt im Nachthemd durch einen abgestorbenen Wald, verharrt vor einem Landhaus und brennt es triumphierend nieder. Von der Polizei wird sie daraufhin in eine psychiatrische Klinik verfrachtet, wo man mindestens ebenso ratlos über Kirstens Herkunft und Handeln räsoniert wie sie selbst. Sehr dialogarm geht das in ersten 20 Minuten von statten, Carpenter etabliert die Anstalt einzig über die Mise-en-scène als bedrohlichen, fremden Ort, in dem sich Zuschauer wie Protagonistin schlagartig orientieren müssen. Vier weitere Frauen befinden sich auf Kristens Station, die vom ansonsten überschaubaren und undurchsichtigen Personal – Typus: ruppiger Pfleger, ignorante Stationsschwester, diabolischer Arzt – überwacht werden. Schnell stellt sich heraus, dass auf den Gängen etwas umhergeht, was nicht von irdischer Herkunft sein kann und scheinbar mit den Biographien von Kristens Mitinsassinnen zusammenhängt …

Nichts an diesem Szenario ist neu, und weil dies bei Carpenter nie anders war, konzentriert sich der gesamte Bildapparat darauf, das Geschehen auf seine narrative Effektivität abzuklopfen. Das erzeugt heute, wo jüngere Produktionen wie „The House of the Devil“ oder „Super 8' sich sogar im Inszenierungsverfahren auf vergangene Dekaden berufen, umso anschaulicher einen unfreiwilligen Retroeffekt, der Carpenters Stärke hervorhebt: Keine Nebenerzählungen, kein Bilderstakkato, kein Meta und keine Ironie entfernen von dem Zentrum der Angsterzeugung (selbst der geringfügige Einsatz von Ellipsen zu Beginn erhöht allenfalls den Eindruck, als wolle die Erzählung so schnell wie möglich im Sanatorium ankommen), das sich – wie schon in „Das Ende“ (1976), „The Fog“ (1980), „Das Ding aus einer anderen Welt“ (1982) oder „Die Fürsten der Dunkelheit“ (1987) – als angsteinflößender Ort, von dem jede Flucht unmöglich ist, vollkommen selbst genügt. Das Rad bleibt also nach altbekannter Manier in Bewegung; was höchstens ausbleibt, sind Überraschungen (zu denen u.a. zählt, dass der einst so charakteristische Synthiescore Carpenters recht sphärischen Tönen gewichen ist).

Trotzdem ist es ein wahrer Genuss, dabei zuzusehen, wie eine dezent und bedacht platzierte Kamera, die sich nie grundlos in Bewegung setzt und eine Montage, die schlicht und ergreifend dem Anschluss und keiner weiteren Manierismen verpflichtet ist, mit einer gewissen Leck mich-Attitüde in den besten Momenten für ambitionierten old school-Schauder sorgen, der weniger seinem Plot als seinem Setting vertraut. Wenn dann der finale Plot Point nach heutigen Maßstäben konventionell daher kommt, sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihn kein vorausgegangenes Element im Sinne eines bloß schockorientierten Budenzaubers, der überwältigen, aber keine Zusammenhänge herstellen will, ankündigte.

Vorname Carmen

(F 1983, Regie: Jean-Luc Godard)

Portrait des Filmkünstlers als alternder Mann
von Wolfgang Nierlin

Zur Selbstreferentialität der Filme Jean-Luc Godards, den offenen und versteckten Beziehungen zwischen ihnen, gehört auch die Anwesenheit des Künstlers als Filmemacher in seinem Werk. In „Prénom Carmen“ (Vorname Carmen) aus …

Zur Selbstreferentialität der Filme Jean-Luc Godards, den offenen und versteckten Beziehungen zwischen ihnen, gehört auch die Anwesenheit des Künstlers als Filmemacher in seinem Werk. In „Prénom Carmen“ (Vorname Carmen) aus dem Jahre 1983 inszeniert sich Godard in der Rolle des schrulligen „Onkel Jean“ zunächst als eingebildeter Kranker, der in einer Nervenklinik förmlich auf die Symptome seiner Krankheit wartet. Genie und Wahnsinn liegen in dieser wunderlichen Figur an der Schwelle zum Alter dicht beieinander. Isolation und Distanz zur Gesellschaft verleihen ihr darüber hinaus den Status des Außenseiters und Einzelgängers, der sich einerseits in Selbstmitleid und Fatalismus ergeht, andererseits mit starrem Blick und obligatorischer Zigarre zivilisations- und gesellschaftskritische Sätze zu Protokoll gibt.

„Die Einsamkeit hat mich gezwungen, mich selbst zu meinem eigenen Freund zu machen“, lautet Onkel Jeans ebenso persönliche wie radikale Standortbestimmung, die das zwischenmenschliche Scheitern mit einem schonungslosen Blick auf die eigene Künstlerexistenz verbindet. So macht ihn die unvermeidliche Menschenferne zum Rufer in der Wüste, der noch einmal oder immer wieder die Konsumkritik aus früheren Filmen Godards erneuert: „Die moderne Welt produziert Abfall. Die Macht der Maschinen stellt Güter her, für die es keinen Bedarf gibt. Wir brauchen weder die Atombombe noch Plastikbecher.“ Godard alias Onkel Jean fragt aber auch nach der „Ursache der heutigen Krise“ und verliert sich darüber im Nihilismus: „Die Scheiße ist die Welt, nicht wir.“

Als Filmemacher, der sich in der Rolle des Filmregisseurs selbst inszeniert, verknüpft Godard die lebens- und weltanschauliche Krise seines Alter ego zugleich mit dem Außenseiterstatus einer prekären Künstlerexistenz, deren vermeintliches Scheitern nur ein weiteres Symptom der allgemeinen Krise darstellt. Man habe ihn „rausgeworfen aus der Kinematographie“, sagt Onkel Jean und kündigt in der Folge schon mal seine Rache an. Vielleicht ist Godards eigener ästhetischer Widerstand – die Diskursivität seiner Montagen, die grammatischen Regelverstöße seiner Filmsprache und die Dekonstruktion illusionstischer Bilder und Töne – in diesem Sinne zu verstehen. In „Prénom Carmen“ inszeniert er sich in der Rolle des alternden Filmregisseurs folgerichtig als selbstkritischer („Schlecht gesehen, schlecht gesagt.“), stets neugieriger Sucher, der das Prozesshafte des Filmemachens und die zwangsläufige Auflösung der Grenzen zwischen Dokument und Fiktion betont.

Godards unaufhörliche poetologische Suche, die einerseits ein Ausweis seiner jugendlichen Neugier ist, trägt andererseits altersweise Züge. In „Prénom Carmen“ lässt er Onkel Jean gegen die Inflation der äußeren Bilderwelt die innere Schau beschwören: „Man muss die Augen schließen, anstatt sie aufzumachen.“ Damit einher geht der Rekurs auf den inneren, autobiographischen Schatz von Erinnerungsbildern, wenn er in Anspielung auf Marcel Prousts „Recherche“ erklärt, Filme zu drehen, sei „wie eine Madeleine“. Diese kritische Abkehr von den Moden und Methoden der Gegenwart erzeugt in „Prénom Carmen“ verschiedene ästhetische Resonanzen, die dem Immateriellen jenseits der Bilder und Körper auf der Spur sind, gewissermaßen ihren mystischen Gehalt mittels Film zu evozieren suchen. Die Musik, vornehmlich und ausdrücklich Beethovens späte Streichquartette, wird dabei zum wichtigsten Katalysator. Oder um mit den Worten Onkel Jeans zu sprechen, der anfangs ständig einen Ghettoblaster mit sich herumträgt: „Die neue Kamera macht Musik.“

Als Mittelteil von Godards sogenannter „Trilogie des Sublimen“ (nach „Passion“, 1982, und vor „Je vous salue, Marie“, 1984) bildet „Prénom Carmen“ diese Musikalität in seiner poetischen Struktur ab. Immer wieder unterbrechen die Proben des Streichquartetts die „Carmen-Handlung“, kommentieren, akzentuieren und kontrapunktieren einzelne, präzise geschnittene Musik-Sequenzen das Geschehen; oder aber sie begleiten die Bilder vom Meer, seine wechselnde Bewegtheit zu unterschiedlichen Zeiten; dann wieder orchestriert die Musik nächtlichen Auto- und Zugverkehr und wechselt mit dem Quartett selbst Spielorte und Tageszeiten. Die Entkopplung und Neuorganisation von Bild und Ton evoziert auf diese Weise transzendente Stimmungen und ein Gefühl für das Un(be)greifbare jenseits der Bilder. „Möge das Unendliche eintreten“, heißt es einmal. Und an andere Stelle sagt Claire (Myriem Roussel), die Violoncellistin des Quartetts: „Zeige deine Gewalt, Schicksal! Wir sind nicht Herr über uns selbst. Was beschlossen ist, muss sein.“

Godards Carmen, verkörpert von Maruschka Detmers, ähnelt insofern einer Femme fatale, die ihrem leidenschaftlich verliebten, eifersüchtigen Joseph (Jacques Bonnaffé) zeigt, „was eine Frau mit einem Mann macht“. Im Wechsel von permanenter Anziehung und Abstoßung entfaltet sich zwischen dem Polizisten auf der Flucht und der freibeuterischen Kunstterroristin, die mit geraubtem Geld die vorgetäuschten Dreharbeiten für eine geplante Entführung finanziert, die zerstörerische Kraft der Liebe. „Wenn ich dich liebe, bist du erledigt“, sagt Carmen unmissverständlich zu Joseph. Wenn am Schluss des Films der unheilbar Liebeskranke das Objekt seines Begehrens tötet, zieht Godard damit auch einen Schlussstrich unter seine romantische Phase der 1960er Jahre, als seine liebenden Helden aus „À bout de souffle“ (1959) und „Pierrot le fou“ (1965) in den Tod gingen und – in Anlehnung an ein Faulkner-Zitat – das Nichts dem Leid vorzogen.

„Sein oder Nichtsein ist nicht wirklich die Frage“, sagt Onkel Jean einmal in Anspielung auf Shakespeares „Hamlet“. Wie schon in früheren Arbeiten (etwa in „Vivre sa vie“, 1962) reflektiert Godard auch in „Prénom Carmen“ das Verhältnis von Sein und Sprache. So ist Carmen diejenige, „deren Name man nicht sagen dürfte“ (als würde auf ihm ein Fluch lasten), während Joseph immer wieder die Abkürzung seines Namens in „Joe“ korrigiert und damit die Kontingenz sprachlicher Benennung problematisiert. „Was ist vor den Namen?“ lautet insofern jene Frage nach dem ontologischen Grund, deren Beantwortung erst mit einiger Verzögerung erfolgt: „Der Name Gottes.“ Als gäbe es keine begründbare Verbindung zwischen den Namen und dem, was sie bezeichnen, hält Godard die Frage nach dem Seinsgrund jenseits seiner sprachlichen Benennung also im Offenen. Doch trotz dieser Abschiede, Unwägbarkeiten und vielleicht unbeantwortbaren Fragen, mit denen Godard die Krisen des Alters im Verhältnis zu den (verlorenen) Utopien der Jugend gestaltet, ist „Prénom Carmen“ kein resignatives Werk, sondern das filmische Plädoyer für eine permanente ästhetische Erneuerung der Kunst als Reflex und Ausdruck persönlicher und gesellschaftlicher Krisen.

35 Rum

(D / F 2008, Regie: Claire Denis)

Ein einziges Kommen und Gehen
von Wolfgang Nierlin

Minutenlang sieht man, zwischen subjektiver und objektiver Perspektive wechselnd, auf Schienen und Gleisanlagen, auf Züge, die in Bahnhöfe einfahren oder sich entfernen: ein einziges Kommen und Gehen. Manchmal scheint es, …

Minutenlang sieht man, zwischen subjektiver und objektiver Perspektive wechselnd, auf Schienen und Gleisanlagen, auf Züge, die in Bahnhöfe einfahren oder sich entfernen: ein einziges Kommen und Gehen. Manchmal scheint es, als ob die Züge in dem Gewirr von Gleisen, graphisch sichtbar gemacht in den Blinklichtern einer Schaltzentrale, nach dem richtigen Weg suchten. Als handle es sich um Lebenslinien, zeigt die französische Regisseurin Claire Denis zu Beginn ihres Films „35 Rhums“ (35 Rum) ein Geflecht von Schienensträngen, die nebeneinanderher laufen, sich berühren oder überschneiden. Auch ihre Figuren befinden sich auf Wegen, die sie einander näher bringen oder voneinander entfernen. In diesem Sinn geht es in „35 Rhums“ um notwendige und tragische Abschiede und um ein Loslassen, das sich dem Ungewissen öffnet. Die Jahreszeit des Films ist der Herbst.

Claire Denis verbindet die Melancholie des Alters und die unumgänglichen Aufbrüche der Jugend in der zärtlichen Geschichte einer liebevollen Vater-Tochter-Beziehung. Das stille Einverständnis zwischen dem schweigsamen Zugführer Lionel (Alex Descas) und seiner erwachsenen Tochter Joséphine (Mati Diop) ist von umsichtiger, wechselseitiger Fürsorge und einem ruhigen, entspannten Miteinander gekennzeichnet. Denis beobachtet dieses häusliche Glück und die alltäglichen Verrichtungen, die es begleiten, mit gespannter Aufmerksamkeit und mit dem ihr eigenen Interesse für die nuancenreiche Sprache der Körper.

Joséphine, die nachts in einem CD-Laden jobbt, studiert mit Eifer Anthropologie und interessiert sich dabei besonders für die Schuldenfalle, in der die armen Länder Afrikas gefangen sind. Einer ihrer Kommilitonen plädiert mit Frantz Fanon für die Revolte. Doch Claire Denis, die ihren Film unter schwarzen, aus der Karibik stammenden Einwanderern in Paris spielen lässt, benutzt diesen Hintergrund nicht für die Darstellung sozialer Konflikte und die Probleme der Integration. Ihre Protagonisten, wohnhaft in der Rue de la Guadeloupe, sind vielmehr ganz selbstverständlich in der bürgerlichen Mitte der fremden Kultur verortet. Sie haben ihr Auskommen, ihre Wohnung und nehmen am gesellschaftlichen Leben teil. Daneben pflegen sie aber auch den Austausch und den Zusammenhalt innerhalb ihrer Community.

Die inoffizielle Familie, in der Liebe und Arbeit Hand in Hand gehen, wird komplettiert von der Taxifahrerin Gabrielle (Nicole Dogué), einer früheren Freundin Lionels, und von dem unausgeglichen wirkenden Noé (Grégoire Colin), der in Joséphine verliebt ist. Doch das Band zwischen Vater und Tochter ist zunächst so stark, dass sich die verschworene Teilfamilie gegen die Einsamkeit der anderen abschottet. Das ändert sich allerdings nach einer Reise in die Vergangenheit, die Lionel und „Jo“ nach Lübeck und an die Ostsee führt und die zugleich ein Abschied ist.

Claire Denis entwickelt diese Geschichte einer Loslösung mit der ihr eigenen elliptischen Erzählweise. Dabei lenken die Lücken das Interesse auf den sinnlichen Reichtum der Details, auf das Unausgesprochene, Atmosphärische. Der „Wert eines Moments“, so die französische Regisseurin über ihre Kunst, bewahre „das Leben und die Zeit in den Dingen“. Ihr Erzählen meidet das Zentrum, um es stattdessen in einer nebenordnenden Struktur auszubreiten. Geduldig beobachtet sie Blicke und Gesten und verdichtet in deren undramatischer Abfolge eine filmische Spannung, die fast absichtslos starke Emotionen und berührende Momente erzeugt.

Das jüngste Gewitter

(SW / D / F / DK 2007, Regie: Roy Andersson)

Melancholische Miniaturen
von Andreas Thomas

Nicht die Film-Bilder sind ausgelaugt und ausgebleicht, die Menschen selbst sind es. In „You, the Living“, dem fünften Spielfilm des Schweden Roy Andersson in vier Jahrzehnten, fristet eine saft- und …

Nicht die Film-Bilder sind ausgelaugt und ausgebleicht, die Menschen selbst sind es. In „You, the Living“, dem fünften Spielfilm des Schweden Roy Andersson in vier Jahrzehnten, fristet eine saft- und farblose Menschheit in zahnsteinfarbenen Küchen, Sälen, Treppenhäusern ein Dasein, dessen Charakter vielleicht am ehesten jene Miniatur wiedergibt, in der ein Mann eine freudlose Familienfeier aufzuheitern versucht: Das Leben ist so aussichtslos wie sein Tischtuchtrick an einer viel zu langen, viel zu vollen Tafel: Beim Versuch es zu meistern, geht alles zu Bruch. Und für dieses unausweichliche Versagen verurteilt einen ein absurdes Gericht aus biertrinkenden Richtern auch noch zum Tode.

Es gibt nicht einen einzigen glücklichen Ausgang in Anderssons Mosaik der Vergeblichkeiten, auf Resignation folgt Enttäuschung, auf Unglück Traurigkeit, auf Einsamkeit Solitüde. Der Regisseur setzt ein grotesk-deprimierendes Bild hinter das andere, und immer sind es die Gefängnisse kalter und moderner Gebäude, worin der Mensch sich mit falschen Mitteln und Prämissen an sich selbst vorbei zu Grunde experimentiert.

Optisch überaus erlesen und geradezu lustvoll ist die Ästhetik dieses bleichen langen Lebewohls. Diese Bild für Bild wie strenge Malerei komponierte, unwirkliche, hermetische Ästhetik von Anderssons Film muss sich nicht hinter der etwa eines „Playtime“ von Jacques Tati verstecken. Der Humor, aufflackernd im Moment der absurdesten Verzweiflung, korrespondiert mit dem des Co-Skandinaviers Aki Kaurismäki, aber auch Beckett liebt der Regisseur, der sich zwischen seinen Filmen mit Werbung finanziert. Vielleicht rührt daher die Routine inszenatorischer Einzelideen: Showeinlagen als Würze der reichlich apodiktischen Grundthese des Films: Der Mensch: Keiner versteht ihn und keinen versteht er. Das Leben: Der Mensch ist es nicht wert.

Diese komisch-traurige Oper ohne Anfang oder Mitte aber mit einem konsequenten Ende ist ein optischer und auch akustischer (wer nicht glaubt, dass ausgerechnet Dixieland-Jazz das pure Antidot gegen die Welt ist, sollte sich hier überzeugen) Sinnenschmaus für Liebhaber des Suizids – und andere, denen es zu viele Lebens-Lügen in Welt und Kino gibt. Dass „You, The Living“ keinen inneren Widerstand gegen seinen eigenen Fatalismus entwickelt, macht ihn vielleicht streckenweise überraschungsarm. Doch seine moralische Dreingabe praktiziert dieser mental so widerstandslose Film mit einem unglaublich akribischen Kunstwillen, der ihn nicht nur für den humorbegabten Misanthropen sehenswert macht.

Klassenleben

(D 2005, Regie: Hubertus Siegert)

Reißverschluss klemmt
von Andreas Thomas

„Ich glaube, Erziehung hat mit allem was zu tun: mit Bestechung, mit Erpressung, mit Schreien und mit Freundlichsein, das letztere ist notwendig, damit die Kinder die Lehrer nicht hassen.“ (Schüler …

„Ich glaube, Erziehung hat mit allem was zu tun: mit Bestechung, mit Erpressung, mit Schreien und mit Freundlichsein, das letztere ist notwendig, damit die Kinder die Lehrer nicht hassen.“ (Schüler Dennis in „Klassenleben“)

Bei manchen Filmen kratzt man sich am Kopf und fragt sich, wer sie warum für wen gedreht hat und warum man bitteschön teuer Geld bezahlen muss, um sie auf der Kinoleinwand zu sehen. Der Dokumentarfilm „Klassenleben“ ist dafür ein schönes Beispiel.

Ein Mensch namens Hubertus Siegert hat ein halbes Jahr lang eine Berliner Schulklasse in ihrem Unterricht gefilmt – sechs der Kinder in den Mittelpunkt gestellt -, hat das Ganze dann episodisch gegliedert, mit ein Paar Off-Schülerkommentaren und Musik unterlegt und findet das Resultat so spannend, dass er es dem Kinogänger auf keinen Fall vorenthalten will. Der Film zeigt einen ganz normalen Schulalltag mit Gruppenarbeit, Referaten und den Proben zu einem Theaterstück, also Unterrichtsstandards, die jedem geläufig – und hier und da in unschöner Erinnerung – sind, der eine deutsche Schule seit den pädagogisch bemühten siebziger Jahren besuchen musste. Und er zeigt Schulkinder, die in einem dieser hässlichen Betonschulgebäude lernen, sich aufeinander einzustellen, sich berühren, begreifen, wie das sein muss, wenn man sich ausgeschlossen fühlt (Bert Hellingers Methode der „Aufstellung“ sei Dank), um zum Halbjahresende aber doch getrommelt und gepfiffen zu bekommen, dass gesellschaftstauglich nur sein wird, wer wirtschaftstauglich ist: Spätestens bei der Benotung ist klar, dass die Goldene Regel heißt: Jeder gegen Jeden. Nicht Solidarität, sondern individuelle Leistung entscheidet, und so sehr sie auch gelernt haben, einander freundlich anzuschauen, die Kinder dieser fünften Klasse haben sichtbar kapiert, was hier gespielt wird und welche Rollen sich für einen guten Schnitt am besten eignen.

Das Gute an Dokumentarfilmen ist, dass sie immer Authentizitäten zeigen, dass Wirklichkeit ihr Grundstoff ist. Das Schlechte an „Klassenleben“ ist, dass Siegert seiner Doku das hehre Sendungsbewusstsein der Fläming-Schule, Berlin, aneignet und sich von Frau Haases, der Klassenlehrerin, begeistertem pädagogischem Selbstbild anstecken lässt – sprich: Siegert betreibt Werbung für eine moderne, „schülerfreundliche“ Pädagogik, die kaum eine ist. Ganz traditionell vergrämt sieht Frau Haase aus, und genauso wie es die Lehrer immer schon gemacht haben, redet sie von „Vereinbarungen“, wenn sie Anordnungen trifft. Wie alle normalen Schülergenerationen vor ihnen sind die Schüler und Schülerinnen nervös, ängstlich und verkrampft, wenn sie ein Referat halten sollen. Von einem freudigen Lernen, von einem lebendigen „Klassenleben“ ist nicht mehr zu sehen als an jeder x-beliebigen Schule – also nicht allzu viel.

Schule ist die Vorbereitung zur Rücksichtslosigkeit im Konkurrenzkampf um Jobs – oder zur Arbeitslosigkeit. Noch nie hat das Arbeitsleben mehr Einzelkämpfermentalität vorausgesetzt als heute. Das „Lernziel Solidarität“ ist ein totaler Anachronismus, weil es kapitalismusfern ist – und der Kapitalismus ist so nahe wie nie. Aber der Gefahr, zuviel antikapitalistische Solidarität zu entwickeln oder sich im Unterricht zu wohl zu fühlen sind die Kinder der Klasse 5d nicht wirklich ausgesetzt, dafür funktioniert die Leistungsideologie zu gut.

„Klassenleben“ zeigt den ganz banalen deutschen Schulstandard, auch sozial-pädagogische Ringelpiezmitanfassen-Spiele sind heutzutage länderübergreifend verbreitet. Nur eine Kleinigkeit an dieser Schule ist untypisch, die „Integration“ behinderter Kinder in die Klasse. Damit ist gemeint, dass ein Mädchen mit Down-Syndrom (das nie seinen Anorakreißverschluss zubekommt, wobei ihm immer wieder die anderen helfen müssen, um irgendwann festzustellen, dass er klemmt), ein schwerstbehindertes und zwei weitere gehandicapte Kinder dem Klassengeist soziales Flair verleihen. Zum Dank, dass sie sich dergestalt zur Verfügung stellen, bekommen sie keine Noten, und sie brauchen auch nichts zu leisten – außer behindert zu sein und den Nichtbehinderten als Toleranzübungsobjekte zu dienen. Dass Kinder auf diese Art eine neue, freundliche Form der Ausgrenzung verinnerlichen, ist programmiert. Diskriminierung wird so nicht aufgehoben, sondern unter pädagogisch wertvollen Zeichen erneut eingeführt.

Der Rest – von der eben beschriebenen „Integration“ einmal abgesehen – handelt vom typisch deutschen Schulalltag, was interessant genug wäre, wenn der Film es schaffen würde, über seine tendenziell positive Perspektive hinaus zu gelangen und zur Stärke etwa seines offensichtlichen Vorbilds „Sein und Haben“ zu finden, die darin bestand, genauer in die Psyche von Lehrer und Schüler zu schauen. Weil aber „Klassenleben“ leider nur Werbung machen möchte für eine oberflächliche Sozialkosmetik im drögen Schulsystem, bleibt dem Zuschauer nur, die Momente abzupassen, wenn hinter dem angestrebten Idealbild die kleinen Wahrheiten durchgucken, doch die sind zu selten für echte Kinoqualität, bestenfalls geeignet für das Fernsehen, ab 0.00 Uhr, dann, wenn alles sowieso schon schläft.

Immerhin schön, dass dem Pressematerial auch Statements der mitwirkenden Kindern beigefügt sind. Eines davon finde ich als Schlusswort besonders geeignet: „Im Film kommt es so rüber, als ob sich alle freuen und supergerne in die Schule gehen. Aber das stimmt so nicht“ (Schüler Christian im Interview nach dem Film).

Das Leben ist ein Wunder

(F / RS 2004, Regie: Emir Kusturica)

Die Viecher des Krieges
von Andreas Thomas

Was tut die Leitung eines großen Filmfestivals, um einem seiner ehemaligen Starregisseure eine kreative Pause nahe zu legen? Sie ehrt ihn, indem sie ihn zum Präsidenten der Internationalen Jury ernennt. …

Was tut die Leitung eines großen Filmfestivals, um einem seiner ehemaligen Starregisseure eine kreative Pause nahe zu legen? Sie ehrt ihn, indem sie ihn zum Präsidenten der Internationalen Jury ernennt. So erging es in diesem Jahr bei den Filmfestspielen in Cannes dem ehemals glorreichen Gewinner zweier „Goldener Palmen“ (1985 für “Papa ist auf Dienstreise“ und 1995 für „Underground“), dem notorisch ungeduschten Emir Kusturica. Denn der in Sarajewo geborene Regisseur durfte leider im Vorjahr, obwohl „Das Leben ist ein Wunder“ auch für die Goldene Palme nominiert war, nur mit dem „Kinopreis des französisch-nationalen Erziehungssystems“ nach Hause gehen. Dass der ehemalige „Fellini des Balkan“, der „Punk der internationalen Filmszene“ nun plötzlich schultaugliche Filme produzieren soll, stimmt nachdenklich – das Schlimme daran: Die französische Pädagogik hat Recht. Kusturicas bosnische „Romeo-und-Julia“-Variation ist trotz ihrer für den Regisseur typischen Wildheit am Ende tatsächlich nur ein simples, allzu simples Lehrstück geworden. Vom pädagogischen Wert der Kriegsoper darf sich ab morgen nun auch das deutsche Kino-Publikum überzeugen.

„Theater, Fußball, ist doch alles das Gleiche – das Leben ist eine Bühne“, sagt einer der durchgeknallten Helden in Emir Kusturicas Film „Das Leben ist ein Wunder“, und ab sofort weiß man, der Co-Autor und Regisseur neigt zum Fabulieren, weniger zur Philosophie. Über der Ergründung, was Bühne und Wunder eigentlich gemeinsam haben könnten, hält sich Kusturica denn auch nicht unnötig auf; lieber springt er gleich mitten hinein in das, was für ihn auf der „wunderbaren“ Bühne des Lebens passiert. Und das ist vor allem Wirbel, Krach, Hiebe – und Liebe.

Gleich eine ganze Arche voller Tiere schüttet Kusturica zwischen die Bewohner eines ländlichen präkriegerischen Jugoslawien, um zu zeigen, wie menschlich das Tier ist – und wie tierisch der Mensch. Da gibt es eine Katze, die eine Taube hypnotisiert, sodass sie starr zu Boden fällt und gefrühstückt werden kann, einen Esel, der sich auf die Bahngleise stellt, weil er aus Liebeskummer sterben will, einen Braunbären, der einen Mann in dessen Haus verputzt, um selbst Hausbesitzer zu werden, und es gibt eine Kleinfamilie von Menschen, die durcheinander schnattern wie die Enten, sich traurig lieben wie die Hunde, sich zanken wie die Hühner.

So weit, so gut, so naturverbunden. Aber wie das mit den natürlichen Gleichgewichten so ist, die müssen natürlich immer wieder mal kippen. Deshalb steuert der Trieb die Mutter Jadranka (Vesna Trivalic), eine ziemlich derangierte Opernsängerin, in Richtung Genitalien eines ungarischen Musikers, hinfort von Heim, Herd und Serbien. Deshalb muss Sohn Milos (Vuk Kostic) auf eine Fussballer-Karriere bei Partizan Belgrad verzichten und stattdessen zum Heer – und deshalb bricht der Bürgerkrieg los. Ja, und selbst dieser Krieg scheint auf einem biologistischen Mist gewachsen zu sein.

Der insgesamt schlichte Familienvater, Eisenbahningenieur Luka (Slavko Stimac, der wie eine Mischung aus dem jungen Steve Martin und Billy Bob Thornton rüberkommt), bleibt allein zuhause zurück, während sich nun rings umher im großen Stil entwickelt, was die multi-nationale, multi-animalische Anthropologie von „Das Leben ist ein Wunder“ für den Balkan voraussetzt: So besinnungslos wie man sich dort liebt, so fetzt man sich dort auch. Was vorher gescheppert hat, das rummst nun und wer zuvor mit einer Ohrfeige davon gekommen ist, der ist nun mausetot. Ex-Jugoslawien als eine einzige Menagerie aus großen und kleinen Tieren, die sich durchwursteln, durchvögeln, durchballern. Langeweile und niederer Instinkt, Überdruss und Aggression, Korruption und Machtgier münden in einen Krieg der Idioten; einen Krieg ohne Kriegshandwerker. Denn die Panzerfäuste gehen regelmäßig nach hinten los, nicht Kollateral-, sondern Totalschäden zieren die schöne bosnische Landschaft, noch „freundlicher“ ist ein friendly fire schwerlich vorstellbar (und da dachte man doch immer, die USA würden auch hier die traurigen Statistiken anführen) .

Ein Krieg als derbe Burleske, als dröhnende Blechblaspolka, als entfesselte Folklore, als enervierender Dauer-Slapstick, als besoffenes Militaristen-Musical, – aber auch als CNN-Report in Lukas TV. Eine der, leider seltenen, gelungenen Szenen: Wenn Luka die sensationslüsternen Fernsehbilder nicht mehr erträgt, das Gerät aus dem Fenster wirft und es draußen im Schmutz nicht aufhört zu senden. Luka nimmt das Gewehr und erschießt den Krieg im Fernsehapparat, der ihn stärker ängstigt als die Einschläge der Artilleriegeschosse rings um sein Haus. Eine andere Szene: Ein General begibt sich in den Eingang eines Bahntunnels, um mit seinem Handy ein „wichtiges“ Telefonat zu führen. Als er seine Kreditkartennummer angegeben hat, stöhnt eine (reichlich unprofessionell wirkende) Frauenstimme auf deutsch: „Ja, mach mich heiß!“ Das Militär befindet sich auf der Hotline eines deutschen Telefonsexanbieters und holt sich einen runter. Fast nur aus solchen Szenen, aus einem inflationär unverbundenen Nebeneinander von Miniaturen mit Figuren, die wir, kaum haben wir sie kennengelernt, auch schon wieder aus den Augen verlieren, besteht der halbe Film. Inflationär auch die Tunnels, die die Schluchten des Balkan verbinden und die Einzelepisoden regelmäßig von einander scheiden. Rein in den Tunnel, raus aus dem Tunnel, so lange, bis wir vor lauter Geburts- und Sterbe-Metaphorik am Tunnelblick leiden.

Dann tritt mitten in diese von wilden Symbolismen und Fantasien wuchernde Jugoslawien-Farce eine junge Frau. Eine blonde Muslimin, die Geisel Sabaha (Natasa Solak), vom General vorgesehen zum Austausch mit Lukas Sohn Milos, der schon kurz nach Kriegsausbruch in kroatische Gefangenschaft geraten ist. Ausgerechnet Luka soll sie beherbergen und bewachen, ausgerechnet in sie verliebt er sich. Die bosnische Ausgabe eines Marx-Brothers-Films zappt um in eine bosnische Romeo-und-Julia-Geschichte. In seiner zweiten Hälfte versucht der Film nun eine realistische Liebesbeziehung zu stiften, mit plausibleren Figuren, noch pittoresk zwar, aber mit Tiefgang. Doch da, wo er realitätsnäher werden will, wo er den sicheren Pfad der grotesken Überzeichnung zu verlassen versucht, kommt Kusturica kaum über altmodische Standards hinaus. Die Frau ist „süß“, reizvoll und devot, der Mann ist verstockt, verwirrt und verliebt. Dass dann diese Liebe die ganz große, überwältigende sein soll, vemag Kusturica wiederum nur mit Mitteln des totalcineastischen Überfalls zu erzählen: Liebe ist, wenn das ineinander verschlungene halbnackte Paar im prasselndem Herbstlaub über die Veranda kullert (das Mädchen kreischt), wenn derart verzückt ganze Weizenfelder niedergewalzt werden (das Mädchen kreischt lauter), und der Liebe Erfüllung ist, bei herbstlicher Witterung unter einem Wasserfall zu stehen und eine Wassermelone zu essen (das Mädchen kreischt – vor Kälte?).

Der Mensch ist Natur, die Liebe ist ein Wunder, der Krieg Blitz und Donner und das Leben Theater? Überwältigungskino und Totalverwirrung. Wenn Luka am Ende aus Liebeskummer auf den Bahngeleisen steht und Selbstmord begehen will, dann zeigt uns Kusturica, dass Luka ein Esel ist – als hätten wir das nicht vorher gewusst. Natürlich ist der moralische Konflikt, einen geliebten Menschen gegen einen anderen eintauschen zu müssen, ein unauflösbarer, natürlich schlägt der Krieg Gräben zwischen den Menschen, natürlich hämmert uns „Das Leben ist ein Wunder“ ein, dass wir unsere Feinde lieben könnten (besonders wenn sie gut gebaut sind). Die Botschaft ist nicht neu, aber dafür hausbacken umgesetzt. So bleiben vorhandene Ansätze von historischem – oder gar politischem – Erkenntnisgewinn auf halber Strecke in halbgarem Sentiment stecken, und anders als der konsequent brachiale Kusturica-Film „Underground“ bekommt „Das Leben ist ein Wunder“ seine Erzählweisen Groteske und Melodram nicht wirklich unter einen Hut. Dem Film mit der epischen Länge von 154 Minuten entgleitet im Trubel seiner vielen Ideen und aufgrund seiner künstlerischen Richtungslosigkeit der rote Faden.
Eine Satire wie „No Mans Land“ vom bosnischen Regiekollegen Tanovic – auch mit Mitteln der drastischen Überzeichnung inszeniert – zeigte bereits 2001, wie sehr viel eindringlicher und pointierter doch eine filmische Aufarbeitung des Balkankonflikts sein kann.

Mystic River

(USA 2003, Regie: Clint Eastwood)

Die Nebel im Manne
von Andreas Thomas

„Mystic River“ ist Hollywood. Nicht Europa, nicht Autorenkino, nicht Kunstkino. „Mystic River“ ist schlechtestenfalls das, was sich von Sergio Leone hinübergerettet hat nach Hollywood: Der Männerfilm, der von Männern handelt, …

„Mystic River“ ist Hollywood. Nicht Europa, nicht Autorenkino, nicht Kunstkino. „Mystic River“ ist schlechtestenfalls das, was sich von Sergio Leone hinübergerettet hat nach Hollywood: Der Männerfilm, der von Männern handelt, die sich, ihre Ehre oder sonstwas immer für wichtiger erachten als alles vor ihren kleinen, dummen Türen: Frauen, Menschen, Menschenwelt.

„Mystic River“ ist Hollywood. Der Film leiht sich alles, woraus er besteht, bei den Genres: das detektivische Genuschel beim modernen Hollywood-Krimi, die Dunkelheit und den Regen bei Lynch oder Fincher, den Männlichkeitswahn bei Clint-Eastwood-Filmen, oh, Verzeihung, dieser Name ist identisch mit dem des Regisseurs. „Mystic River“ beleiht, aber er schafft keine Distanz, nicht zu den Genres und nicht zu seinem Thema, und daher bringt er nichts Neues hervor.

Um es noch ein letztes Mal klarzustellen: „Mystic River“ ist Hollywood, also nur ein Unterhaltungs-Film, und er gibt sich keine Mühe, mehr als das zu sein. Auch seine vielgelobten Darsteller kommen nicht über das Darstellen von Darstellungen, über Mimiken, die schon seit den siebziger Jahren Hollywood-Standard sind, hinaus. Ein „Schauspielerfilm“ sei „Mystic River“, natürlich ist er das, weil eine Handvoll von Leuten darin ist, die anderswo schon mal gut geschauspielert haben. In „Mystic River“ klappt das eben auch gerade so weit, wie die Figuren das theatralisieren, was Männer-Klischees der Gegenwart eben so Theatralisches anbieten müssen. Raffinierte Klischees sind sie, perfekte Klischees, weil man ihnen fast glauben möchte, und vor allem, weil das auch einfacher ist, als sie, und mit ihnen ein Weltbild, zu hinterfragen.

Falls wir „Mystic River“ schon gesehen haben, erinnern wir uns an diese überschaubare Geschichte:
Also: Drei Jungs haben ein Problem: Einer von ihnen wird in einem Auto von zwei bösen Männern entführt, die in etwa so aussehen, wie man sich laut Eastwood einen Hollywood-Jaques-Dutroux in den Sechzigern vorzustellen hat: Schmierige, brutale Mafiosi, oder dergleichen. Die Krux von „Mystic River“ ist nicht komplex, sondern simpel: Weil perverse Männer Lust hatten, einen Jungen gegen seinen Willen drei Nächte lang zu missbrauchen, leiden darunter nicht nur der Betroffene, sondern schließlich alle drei Kumpels. Und zwar ihr Leben lang. Und mit ihnen deren Frauen und Kinder. Unglückliche Männer produzieren neues Unglück, könnte man sagen.

Dass Misshandlung in der Kindheit das ganze Leben zerstören kann, ist verbürgt. Mich aber stört die Art, wie hier Misshandlung dargestellt und erinnert wird, nämlich als etwas Äußeres, Fremdes, Mystisches eben. Durch die Dämonisierung von Täter und Tat wird sie verschwommen, unreal, und dadurch wieder ungreifbar, nicht zu verarbeiten. Dadurch wird sie einer psychischen Wirklichkeit beraubt und demzufolge einer gesellschaftlichen Relevanz, einer politischen Qualität entzogen. Die meisten Kindesmisshandlungen werden ja nicht von merwürdigen, finster dreinblickenden Gangstern ausgeübt, sondern von durchschnittlich netten, alltäglichen Familienvätern, und sie werden gedeckt von durchschnittlich netten Familienmüttern. Das aber ist wirklich unheimlich, nicht der Märchenwolf, der aussieht wie eine Mischung aus Mafioso und Gangster.

Mit eben dieser Verbannung einer allzu realen gesellschaftlichen Problematik ins (wie der Titel bereits verrät) Mystische, Dunkle, Unerklärliche aber betreibt der Film gerade das, wogegen er angeblich angetreten ist: Er verdrängt das Problem, statt es zu beschreiben. Seine Mittel sind die des Krimis, des Melodrams, (und in der Thematisierung von Selbstjustiz) des Westerns, also die amerikanische Art, Märchen zu erzählen. Die Form ist es eigentlich, die interessant ist, weil sie uns zeigt, wie der american way of repression auch in der Identitätskrise der amerikanischen Gegenwart funktioniert. „Mystic River“ ist Psychogramm eines verstörten amerikanischen und männlichen Narzissmus und gleichzeitig die Methode, den internen Defekt (des Mannes, der Gesellschaft) zu verleugnen, indem „Mystic River“ seine Ursache nicht als gesellschaftsintern versteht, denn sie ist – nur – dunkles, mysteriöses Schicksal, sie ist böser Dämon. Der Fehler liegt nicht im System, sondern in einem mystischen Draußen. Deshalb kann man sich auf hollywoodeske Männerart (ein verletzlicher De Niro oder Pacino, Männer, die obwohl sie Gefühle haben, immer noch keinen Schritt von ihrem machistischen Selbstbild abweichen müssen, stehen für diese sensiblen aber ungebrochenen Machos aus „Mystic River“ Pate) im Leiden suhlen und ausruhen. Selbstkritik ist nicht nötig, und das Prinzip „Mann“ bleibt als Prinzip unhinterfragt. Auch in ihrem Versagen bleiben die Männer des Männerfilms „Mystic River“ Helden, eben weil sie „Männer“ bleiben.

Der große Fehler des Films liegt darin, dass er sich nicht von dem Klischee des Mannsbildes, das uns das amerikanische Kino in seinen Western, oder Eastwood über „Dirty Harry“, „Erbarmungslos“, bis zu „Die Brücken am Fluss“ immer wieder offeriert, lösen will, und so, weil er einen falschen Männlichkeitsmythos affirmiert, der wirklichen Auseinandersetzung mit männlicher Gewalt von vornherein im Weg steht, denn das konventionelle Kommunikationsmittel Gewalt steckt ja schon in der (hier propagierten!) männlichen Struktur selbst. In Eastwood-Filmen steht Männlickeit im Mittelpunkt und diese Männlichkeit ist immer noch die des Patriarchats. Frauen haben bei Eastwood keine Kraft und keine Ideen, die zur Lösung von Konflikten dienlich wären. So bleibt ihnen nur, sich vor den Männern zu fürchten, sie zu bemitleiden oder sie zu bewundern. Für Eastwood ist die Frau immer noch nur aus einer Rippe des Mannes geschaffen. Eastwood schafft es auch in „Mystic River“ nicht, Abstand zum patriarchischen Männer-Klischee Hollywoods zu gewinnen; er subtilisiert es nur. So ist „Mystic River“ seinem ideologischen Gehalt nach nicht anders als ein Western. So wenig wie der Mythos wird das Genre als etwas Künstliches erkannt und überwunden. So wenig wie mit den Fremden, die aus dem Nichts kommen, drei Tage lang einen Jungen vergewaltigen und wieder im Nichts verschwinden, so wenig setzt sich 'Mystic River' ernsthaft mit den destruktiven Seiten des Mannes auseinander. Wenn die drei Protagonisten im Film Böses tun, dann nur deshalb, weil sie Opfer sind, nicht etwa, weil sie auch Männer sind. Das Männerbild ist in 'Mystic River' ein schizophrenes. Weil zur Rettung des Selbstbildes der Ursprung der Gewalt als etwas Systemimmanentes (also Männerspezifisches) isoliert und eliminiert werden muss, werden die Täter-Männer dämönisiert und die Opfer-Männer melodramatisiert. Deshalb ist „Mystic River“ unkritisch seinem Thema männliche Gewalt gegenüber, bestenfalls Unterhaltungskino, aber in keinem Moment von aktueller sozialer oder kultureller Brisanz. Der Film versucht, im Gegenteil, ein rückschrittliches männliches Selbstverständnis in einer Zeit zu reinstallieren, die unter anderem gerade durch es selbst beschädigt wurde. Dabei heraus kommt männliches Selbstmitleid, mehr nicht. Ein Männerfilm mit zerquälten Männern halt.

Die Einsamkeit der Primzahlen

(I / D / F 2010, Regie: Saverio Costanzo)

Kindheitstraumata
von Wolfgang Nierlin

Dieser Film macht den Zuschauer zu seinem Gefangenen. Bereits die überdimensionalen Vorspanntitel in Cinemascope, die einen förmlich anspringen, erzeugen mit forciertem Nachdruck diese fast aufdringliche Nähe, der man sich kaum …

Dieser Film macht den Zuschauer zu seinem Gefangenen. Bereits die überdimensionalen Vorspanntitel in Cinemascope, die einen förmlich anspringen, erzeugen mit forciertem Nachdruck diese fast aufdringliche Nähe, der man sich kaum entziehen kann. Saverio Costanzos Film „Die Einsamkeit der Primzahlen“, entstanden nach dem gleichnamigen Bestseller-Roman von Paolo Giordano, ist intensives Kino, das seine Zuschauer einem permanenten psychischen Druck aussetzt und auf emotionale Überwältigung zielt. Ein nahezu omnipräsenter Soundtrack und ein retardierender Handlungsfluss erzeugen immer wieder jene beklemmende, potentiell schicksalhaft Zuspitzung der Gefühle, die gleichermaßen von Gefahr und Schicksal umlagert ist. Wenig Freiheit lässt der Regisseur dem Betrachter aber auch in Bezug auf den Plot: Durch eine ebenso kompliziert wie geschickt verschachtelte Erzählstruktur, die verschiedene Zeitebenen miteinander verbindet, werden die notwendigen Informationen in kalkulierten Dosen verabreicht.

Vier Lebensphasen, die aus dem sich von 1984 bis 2008 erstreckenden zeitlichen Rahmen herausgegriffen werden, sind für das schicksalhafte, von Kindheitstraumata verdunkelte Beziehungsgeflecht der beiden Hauptfiguren konstitutiv. Was Alice und Mattia unabhängig voneinander und doch parallel in ihrer Kindheit erleben, wird sie in ihrem späteren Leben zu einsamen Außenseitern stempeln und zugleich ihre Seelenverwandtschaft begründen. Während der hochbegabte, introvertierte Mattia unter Schuldgefühlen leidet, weil er für das spurlose Verschwinden seiner Zwillingsschwester Michela mitverantwortlich ist, findet sich die nach einem Skiunfall gehbehinderte Alice den grausamen Hänseleien ihrer Mitschülerinnen ausgesetzt. Saverio Costanzo nutzt diese Konstellation, um in geradezu rauschhafter Dichte von den komplizierten Gefühlswirren der Pubertät und den psychischen Defekten von Familienbeziehungen zu erzählen.

Mattias Mutter rührt diesbezüglich sogar an ein Tabu, wenn sie zu ihrem Mann sagt, die Kinder hätten ihr Leben zerstört. Costanzo konzentriert sich in seinem Film allerdings mit allem Nachdruck auf die seelischen Wunden von Alice und Mattia, deren Liebe nur zögerlich zueinander findet und die wie zwei Ertrinkende miteinander verbunden sind. Schließlich lässt sich das Trauma nicht löschen, sondern allenfalls mitteilen.

Aftershock

(CN 2010, Regie: Feng Xiaogang)

Bebende Herzen, bebende Welt
von Michael Schleeh

Als im Juli 1976 die nordostchinesische Stadt Tangshan von einem fürchterlichen Erdbeben erschüttert wird, sterben hunderttausende Menschen. Auch die beiden Kinder Li Yuan Nis (Xu Fan) werden unter den Trümmern …

Als im Juli 1976 die nordostchinesische Stadt Tangshan von einem fürchterlichen Erdbeben erschüttert wird, sterben hunderttausende Menschen. Auch die beiden Kinder Li Yuan Nis (Xu Fan) werden unter den Trümmern begraben. Da erklärt ein Rettungshelfer der verzweifelten Mutter, die beiden würden noch leben. Jedoch müsse sie sich für die Rettung eines der Kinder entscheiden, die tonnenschwere Betonplatte könne nur an einer Seite angehoben werden. Schließlich wählt sie den Sohn, der zwar einen Arm verliert, aber geborgen werden kann. Unglücklicherweise hört das die Tochter Fang Deng (Zhang Jingchu), die direkt neben ihrem Bruder liegt, und die totgeglaubt im Geröll zurückgelassen wird. Als sie später wie durch ein Wunder ebenfalls gerettet wird, verleugnet sie, schockiert von der Entscheidung der Mutter, ihre Familie. Unter all den verwaisten Kindern wird sie schließlich von einem Pärchen, zwei Offizieren der Volksarmee, adoptiert und aufgezogen. Über Jahre hinweg weigert sich Fang Deng, nach ihrer Familie in Tangshan zu suchen.

Feng Xiaogang ist einer der erfolgreichsten chinesischen Filmemacher unserer Zeit. Die sich vor Bresson verneigende Taschendiebskomödie „World without Thieves“ und der sich an Shakespeares „Hamlet“ orientierende Historienfilm „The Banquet“ waren auch im Westen bei Fans und Kritikern beachtenswerte Erfolge. Der vor Pathos triefende Propagandakriegsfilm „Assembly“ zwar weniger, doch in seinem Heimatland war diese Blockbusterproduktion, die sich an ein kollektives Nationalgefühl richtete, ebenfalls äußerst erfolgreich. Kein Wunder also, dass auch in „Aftershock“ keine Gelegenheit ausgelassen wird, den Zusammenhalt des chinesischen Volkes, die kommunistische Führung, oder die Armee als hilfsbereite Solidaritätsgemeinschaft zu feiern. Und Mao Zedongs Tod wird, kulturell sicherlich korrekt, sowohl als trauerfeierliche Großveranstaltung wie auch als familiärer Schock inszeniert. Die Ausstellung des Bombasts und die Feier der Gigantomanie des Regimes allerdings sind äußerst bedenklich.

Und damit nicht genug – um auch möglichst viel emotionale Anknüpfungspunkte zu generieren, wird auch noch das große Beben in Sichuan von 2008 in den Film eingebunden. Auch die jüngeren Zuschauer sollten wohl nicht leer ausgehen. Und so nimmt es auch nicht Wunder, dass „Aftershock“ als der erfolgreichste chinesische Film aller Zeiten ausgegeben wird; ein Film, der 30 Millionen Dollar gekostet hat und allein in China das dreifache eingespielt haben soll. Die Freiburger Nachrichten lassen sich sogar zu dem Kommentar hinreißen, dass „Aftershock“ all die Elemente vereine, „die „Titanic“ zu einem Welthit gemacht haben.“

Es ist jedoch nicht die Politik, die hier im Vordergrund steht. Es ist der Mensch in seiner kulturell traditionsreichsten Erscheinungsform: der Familie. Um diese dreht sich alles in diesem auf den melodramatischen Kick hin ausgerichteten Film. Und da die Schauspieler hervorragend agieren (wenn sie der Regisseur nicht in das Overacting hineintreibt), wird der Zuschauer immer wieder emotional mitgerissen. Auch die Tonspur macht hier keine Kompromisse und ist sich für keinen Streichereinsatz zu schade. Es ist der Film als Familienfilm, der in dieser sich auftürmenden Epik als ansehbare Schnittstelle anbietet: die Angst der Mutter um die Tochter, die Reue der Tochter für ihre Unnachgiebigkeit, die Tränen des Stiefvaters um die verstorbene Frau. Die Sorge der Mutter um das ungeborene Kind. Zhang Yimous „Leben!“ kommt da in den Sinn, und im Vergleich zu diesem recht ähnlich gelagerten Film, der eine Familie in turbulenten Zeiten über mehrere Generationen hinweg portraitiert, werden doch die genannten Schwachpunkte von „Aftershock“ deutlich. So ist „Aftershock“ ein politisch problematischer, ein sehr vorhersehbarer, sich an den Massengeschmack anpassender Mainstreamfilm, der seinen Blockbusterstatus stolz präsentiert. Ein Film, der in der Darstellung der Katastrophe überwältigen will und in den Momenten der Familienmelodramatik durchaus berühren kann. „Aftershock“ ist ein ergreifend durchschnittlicher Film.

Last Days

(USA 2005, Regie: Gus Van Sant)

Nichtlebenkönnen
von Andreas Thomas

Man solle mit niemandem schlafen, der den Film „Gerry“ nicht liebt, riet John Waters, „Elephant“ bekam in Cannes die Goldene Palme und „Last Days“ geisterte seit 2005 von einem großen …

Man solle mit niemandem schlafen, der den Film „Gerry“ nicht liebt, riet John Waters, „Elephant“ bekam in Cannes die Goldene Palme und „Last Days“ geisterte seit 2005 von einem großen Festival zum anderen, nur ins deutsche Kino wagte den letzten Teil von Gus Van Sants Tode-Trilogie in kompletten eineinhalb Jahren niemand zu bringen. Das verrät Einiges über den desolaten Zustand hiesiger Filmkultur, aber auch ein wenig darüber, wie es Van Sant mit seinem letzten Film geschafft hat, durch eigene Vorarbeit etablierte Sehgewohnheiten noch einmal zu unterminieren.

Van Sants Jugendporträts „Gerry“ und „Elephant“ waren Meditationen über das Sterben, vielleicht besser: das Nichtlebenkönnen. Die Jugend darin war kein Platzhalter der Zukunft mehr, nicht einmal eine Bastion der Rebellion ohne Grund, sondern ein marginalisierter Ort der Unsicherheit, Bedrohtheit und Bedrohlichkeit. Der Film mit dem apokalyptoiden Titel „Last Days“ nun phantasiert über die Todessehnsucht eines amerikanischen Jugendlichen, der binnen weniger Jahre in die Situation geriet, seine biografische Versehrtheit, seine private Wut und Depression mit einer großen jugendlichen Öffentlichkeit kommunizieren zu können (und schließlich zu müssen?), die sich offenbar in seinen Liedern gespiegelt fand. Seattle und Generation X waren die Stichwörter, die Band Nirvana und ihr Sänger Kurt Cobain waren deren Exponate und sie wurden zu internationalen Exportartikeln.

Im April 1994 schoss sich Cobain mit einer Schrotflinte den Kopf von den Schultern, in seinen Adern wurde angeblich eine dreifach tödliche Überdosis Heroin nachgewiesen, was sofort Mordspekulationen zur Folge hatte, obwohl niemand mit Bestimmtheit sagen konnte, an welche Dosen Heroin Cobain derzeit gewöhnt gewesen war. Bekannt ist, dass Cobain kurz vor seinem Tod eigenmächtig eine Krankenhausbehandlung abgebrochen hatte, und mit diesem Zeitraum, zwischen der Rückkehr aus dem Krankenhaus und dem Selbstmord, diesen letzten Tagen Cobains also, beschäftigt sich Van Sants Film, den er Cobain widmete, nicht ohne den Hinweis auf die Fiktionalisierung seiner „letzten Tage“.

Der Film hält sich nur ungefähr an Eckdaten und von Anfang an bricht der Film mit herkömmlichen Standards der Erzählweise. So fehlt ein Vorspann und eine einleitende Vorgeschichte, statt dessen sehen wir in einer halbtotalen Kamera-Einstellung, mit der Nüchternheit, wie man sie sich in Filmen aus der Verhaltensforschung vorstellt, ein fast tierähnliches Wesen, gekleidet und frisiert wie Cobain, welches sich halb instinktiv, halb orientierungslos durch einen Wald bewegt, durch einen Fluss watet, die Nacht an einem Lagerfeuer verbringt.

Blake, so wird das Wesen genannt, von Leuten, die in der Villa wohnen, wohin es immer wieder zurückkehrt, scheint seine Sprache verloren zu haben, nur noch undeutliches Gemurmel bringt es heraus, und es scheint keinen Bezug mehr zu seiner Umwelt herstellen zu können. Die größte Aufmerksamkeit erhält von ihm ein Mann (Thadeus A. Thomas, auch im wirklichen Leben ein Gelbe-Seiten-Handelsvertreter), der im Auftrag der Gelben Seiten ihn zu einer Annonce für seine „Firma“ überreden will. Lange Einstellungen auf Blake, gekrümmt auf dem Wohnzimmerfußboden, während auf MTV Boyz 2 Men „On Bended Knee“ singen, wie er zwischen Bewusstlosigkeit und Vollrausch (nie sieht man übrigens ihn eine einzige Droge konsumieren) dahinvegetiert, wie er sich wahllos in der Küche Essen zusammenmischt, wie ihm seine Plattenproduzentin (Kim Gordon von Sonic Youth) vorhält, er lebe nur ein Rock’n’Roll-Klischee, wie er vor seinem Agenten in den Wald flüchtet. Blake, der im Übungsraum mittels Loops zur Ein-Mann-Band wird, die Kamera schleicht sich während langer Minuten hinaus zur Totale. Blake, der seinen letzten Song singt: “It’s a long lonely way from death to birth“ (Komponiert und interpretiert von Hauptdarsteller Michael Pitt, im Stil durchaus vergleichbar mit Cobain-Songs, von denen im Film übrigens kein einziger zu hören ist, dafür ertönt in voller Länge Velvet Undergrounds „Venus in Furs“ mit der programmatischen Zeile „I could sleep for thousand years“). Und bei allem immer wieder seine Mitbewohner, die ihn kaum mehr wahrnehmen, der sie kaum mehr wahrnimmt, und ihm das Geld für eine neue Heizung einfach aus der Jackentasche ziehen, während er Unverständliches murmelt.

„Last Days“ besitzt weder eine subjektive Perspektive noch einen allwissenden Erzähler. Im Gegenteil, der Film bemüht sich geradezu, unwissend zu bleiben, das heißt, er geht den entgegengesetzten Weg der Presse, der Medien, der Fans, die ja immer alles gewusst haben, die mit Legenden und Mythen und Rockstar-Stilisierungen ihre Idole oftmals schon zu Lebzeiten töten, indem sie sie idealisieren, instrumentalisieren, zur Ikone einfrieren. Van Sants Film maßt sich nicht an, irgend etwas über die letzten Tage Cobains zu wissen, das führt mitunter so weit, dass die Kamera von fern registriert, dass Blake etwas aus dem Waldboden ausgräbt, was, das kann sie nicht erkennen. In der nächsten Einstellung sieht eine andere Kamera (die Kamera ist so antisubjektiv und „zufällig“, dass man manchmal wirklich meinen könnte, verschiedene rein mechanische Überwachungsaugen würden ihn beobachten), wie Blake ein erdverschmiertes Paket mit Schrotgewehrpatronen auf den Tisch legt.

Man könnte, wie ein Detektiv, bemerken: Offenbar ist hier von Blake die Entscheidung getroffen worden, eine Tat auszuführen, die er sich für einen bestimmten Zeitpunkt seines Lebens vorbehalten hat. Tatsächlich hat er von diesem Moment an immer eine Schrotflinte bei sich. Aber man muss es nicht bemerken, vielleicht ist es auch nicht das, worum es hier geht. Oder vielleicht will sich der Regisseur nicht anmaßen, zu wissen, worum es hier geht.

Der Film erzählt nicht eine Geschichte, er legt Beobachtungsmaterial vor, welches vom Zuschauer irgendwie zusammengesetzt werden kann. Die Auswahl und die Kriterien, nach denen diese Filmcollage dechiffriert wird, liegt im Ermessen des Zuschauers. Eigentlich gilt das im Prinzip für alles, was Film ist, aber „Last Days“ unternimmt im Gegensatz zum Standard-Kino große Anstrengungen, den Zuschauer in keine bestimmte Richtung der Handlungsinterpretation zu lenken, ihm also auch keine Erklärungsmuster anzubieten.

Natürlich steckt aber auch hinter der „Anfertigung“ des „Materials“ keine computergesteuerte Überwachungsanlage, sondern ein Filmteam, nicht zuletzt der Kameramann (Harris Savides), und deshalb ist auch das, was wie ein filmisches Zufallsprotokoll wirkt, genau kalkuliert und bewusst lenkend, aber hinein in ungewohnte und ungeübte Bereiche der Rezeption.

„Die Türen der Wahrnehmung“ ist der Titel der Ambient-Music von Hildegard Westerkamp, die Van Sant in „Last Days“ und auch schon in “Elephant“ als Soundtrack verwendete, und wenn „Venus in Furs“ programmatisch für die Geschichte, genauer gesagt, den Zustand des Protagonisten stehen könnte, dann könnte Westerkamps Titel für die Form stehen, in der uns der Inhalt präsentiert wird: Wie Blake ist auch der Film Worten gegenüber misstrauisch und verschlossen (es wird übrigens viel zeitgenössischer Unsinn im Film geredet), misstraut er also der Logik (der Musikindustrie, der Gelben Seiten, des „Sex and Drugs and Rock’n’Roll“, der Legende), stattdessen lenkt er (die, die dazu bereit sind) von der rationalen auf eine andere Wahrnehmungsebene, man hört den Wind in den Bäumen, das Rauschen des Wasserfalls, Bahnhofsgeräusche (Westernkamps Soundtrack) mitten in der Villa, von ferne Leute im Haus und die ganze Zeit werden wir alleine gelassen, als seine Observatoren, mit einem ausgebrannten jungen Mann. Eine mittlere Zumutung ist das schon, aber wie rät uns filmzentralen-Co-Herausgeber Dietrich Kuhlbrodt immer? Lass es einfach geschehen.

Sommer

(F 1996, Regie: Eric Rohmer)

Definitely Maybe
von Andreas Thomas

Die Helden in den Filmen Eric Rohmers sind anders als die meisten Leute, die wir – wenigstens aus dem Kino – kennen: Fast alle sind sie Nichtraucher, sie betrinken sich …

Die Helden in den Filmen Eric Rohmers sind anders als die meisten Leute, die wir – wenigstens aus dem Kino – kennen: Fast alle sind sie Nichtraucher, sie betrinken sich niemals und scheinen höchstens Blümchensex zu praktizieren. Dazu neigen sie auch noch zu etwas anderem Ungewöhnlichen: Sie reden lange, sie reden viel, sie reden bis zum Umfallen. Dass dabei manchmal mehr herauskommen kann als verbrauchte Luft, beweist z.B. die Episode 'Sommer' aus Rohmers Filmzyklus 'Erzählungen der vier Jahreszeiten', ein lebenskluger Film, der jenseits aller modischen Kinotrends eine unspektakuläre Geschichte erzählt, die vorstellbar wäre – wären ihre Helden (hier die der französischen oberen Mittelschicht) ein bisschen weniger wohlerzogen und gesprächig.

Gaspard, ein Mathematik-Student kurz vor Eintritt in das Berufsleben, verbringt seinen Sommerurlaub auf einer Bretagne-Insel, in der Hoffnung, der ihn anziehenden, kapriziösen Lena zu begegnen, mit der er dort locker verabredet ist. Doch Lena lässt auf sich warten, und Gaspard, von Natur aus eher passiv und schüchtern, aber nach eigener Einschätzung 'süß' wirkend, kann nicht verhindern, dass sich schon bald zwei andere Mädchen für ihn interessieren. Zu der unauffälligen, kellnernden Studentin Margot, die ihn am Strand anspricht, entwickelt Gaspard eher freundschaftliche Gefühle, gefördert durch ausgiebige Spaziergänge mit langen Gesprächen, deren zentrales Thema oftmals – er selbst ist. Obwohl bald darauf auch Solène ihn anspricht (nicht er sie), ist sie sichtlich eher Objekt seiner Begierde: langmähnig, temperamentvoll und zielbewusst. Sie hat sich gerade 'von zwei Freunden getrennt', und will sehr bald wissen, woran sie bei Gaspard ist, auch ohne ihn so intensiv kennengelernt zu haben, wie zuvor die kritischere Margot. Der nachgiebige Gaspard ist so schon beinahe Solènes 'neuer Freund', als aus heiterem Himmel doch noch Lena auftaucht und ihm Entscheidungen abverlangt. Da hat das Oasis-Poster mit der schönen Aussage 'Definitely Maybe' in Gapards Ferienwohnung schließlich eine ungeahnte Tragweite …

Ein paar tiefergehende Gedanken mag der studierte Philosoph und Mitbegründer der 'Nouvelle Vague' Eric Rohmer seinem 'Jahreszeiten-Zyklus' schon gewidmet haben, sodass die Jugendlichkeit einer der Protagonistinnen seiner 'Frühlingserzählung' oder die späten Bindungsversuche einer reiferen Frau in der 'Herbstgeschichte' sicherlich beabsichtigt sind. ‚Winter‘ lässt spontan Alter und Tod assoziieren. Die mäßige französische Kälte in Rohmers 'Wintermärchen' jedoch generiert Glauben und Hoffnung einer ausgerechnet noch jungen (aber einsamen) Frau. Die Gleichung Lebensalter = Jahreszeit geht also in Rohmers 'Jahreszeiten' nicht immer vollständig auf. Nähert man sich den Jahreszeiten mithilfe ihrer psychologisch-emotionalen Konnotationen, dann könnte ‚Winter‘ z.B. auch für Kargheit und Stagnation und ‚Sommer‘ für Fülle und Lebendigkeit stehen, und diese Methode erleichtert auch einen Zugang zu Rohmers 'Sommer'.

'Gaspard auf Freiersfüßen' hätte vor hundert Jahren vielleicht ein Roman mit ähnlicher Geschichte geheißen, und abgesehen von ein paar neuzeitlichen Errungenschaften, könnte 'Sommer' unter ähnlich liberalen Bedingungen, wie etwa denen der aufgeklärt-bürgerlichen Epoche der englischen Oberschicht, prinzipiell auch vor zweihundert Jahren spielen. Auf das Setting kommt es an. Doch 'Sommer' entpuppt sich eher als zeitlos als als altmodisch. 'Zeitlos' im Sinne von ungebunden an Epochen, Moden oder Regionen. 'Sommer' ist eher die Studie einer 'conditio humana' der Fülle, als ein Film über das Jungsein in den 1990er Jahren. Diese Bedingtheit glaubwürdig zu kreieren ist nur möglich in einer relativ offenen sowie toleranten Umgebung, wie die der hochsaisonalen sommerlichen Bretagne-Insel, wo wir Gaspard begegnen.

Erstaunlich ähnlich sind die ersten wackligen Handkamera-Einstellungen mit Gaspard auf der Fähre den ersten des Filmes 'Idioten' von Lars von Trier, und im Nachhinein ist es ist kein Wunder, über Eric Rohmers Authentizitätsliebe zu erfahren, dass er z.B. keine hinterher eingespielte Musik in seinen Filmen verwendet, nicht einmal einen Vogel, der nicht 'live' zur Aufnahmesituation singt (als wäre Rohmer ein 'Dogma 95'-er ). Die kleine und dadurch bewegliche Kamera in Rohmers Filmen wackelt zwar selten demonstrativ dokumentarisch (wie es die Dogma-Filme tun), aber sie ermöglicht problemlosen Zugang zu vorgefundenen Drehorten, an denen dann real existierende Szenarien die teilweise vorher ausgefeilten, aber auch improvisierten Szenen und Dialoge untermalen.

Man darf von Rohmer kein fulminantes Spektakelkino erwarten. Aus ‚Action‘ wird in 'Sommer' der ‚Sprechakt‘, und beinahe ausschließlich auf der sprachlichen Ebene entspinnt sich eine trotzdem interessante und abwechslungsreiche Handlung. Charaktere, ja geradezu präzise ausgeführte Seelengemälde liefern die Pole, zwischen denen Spannung erzeugt wird.

Im Zentrum des Films steht der Charakter Gaspard, der junge Mann in der Blüte seiner Jahre und auf der Höhe seines 'Marktwerts', der im Moment, da er die Wahl hat, realisiert, dass er noch nicht recht weiß, was er will. Gaspard ist ein (passiv) Suchender (und der Zuschauer ist eingeladen, mitzusuchen). Er sucht nach einer passenden Freundin, aber damit auch nach seinen eigenen Wertvorstellungen, sprich: nach sich selbst. Wie er das macht, d.h. wie Rohmer ihn und seine drei Wahlmöglichkeiten inszeniert, das zeugt von symphatisierender Menschenkenntnis, weil es in 'Sommer' de facto keinen Charakter gibt, der ernsthaft schlecht abschneidet. In dieser Geschichte gibt es drei Deckel und einen Topf. Mancher Deckel passt eben besser – das weiß der Volksmund -, aber Rohmer weiß auch, warum er das tut – und warum manchmal eine (erwachsene) Entscheidung das Wackeln verhindern könnte …

Wer Lust hat, länger aufmerksam zuzuhören, wird garantiert dazu lernen – wie überhaupt im Leben.

Final Destination 5

(USA 2011, Regie: Steven Quale)

Schöner sterben
von Oliver Nöding

'Final Destination 5'. Der Cineast rümpft die Nase, der Kulturpessimist formuliert im Kopf schon die Kritik, die er jedem Sequel gewohnheitsmäßig angedeihen lässt. Stichworte: Einfallslosigkeit, Kommerz, Wiederholung, Stagnation, Verdummung. Intuitiv …

'Final Destination 5'. Der Cineast rümpft die Nase, der Kulturpessimist formuliert im Kopf schon die Kritik, die er jedem Sequel gewohnheitsmäßig angedeihen lässt. Stichworte: Einfallslosigkeit, Kommerz, Wiederholung, Stagnation, Verdummung. Intuitiv sofort nachvollziehbar, aber nicht selten umso weiter an der Sache vorbei, je mehr man von der Richtigkeit dieser Kritik überzeugt ist. „Don’t judge a book by its cover“, sagt der Anglophone. Die 'Final Destination'-Reihe ist für einen Aufbaukurs in Sequel-Appreciation zwar ein denkbar schwieriges Anschauungsobjekt, weil der Vorwurf der ewigen Wiederholung des Gleichen mitten ins Schwarze trifft, aber gleichzeitig auch eines der besten, weil die Möglichkeiten, die in dieser Wiederholung liegen, nirgendwo effizienter ausgeschöpft werden. Im Verlauf ihrer fünf Teile strebt die Reihe einer Reinheit entgegen, die selbst die 'Freitag, der 13.'-Reihe noch wie eine komplexe Familiensaga aussehen lässt.

Wer die ersten vier Teile (oder zumindest einige von ihnen) gesehen hat, fühlt sich auch in 'Final Destination 5' sofort zu Hause – selbst das 3D kennt man ja schon aus dem direkten Vorgänger. Der Handlungsaufbau folgt streng dem etablierten Muster, für Überraschungen sorgen keine cleveren Wendungen der Geschichte, sondern nur noch die Variablen, die die Reihe vorsieht. So dreht sich die Katastrophensequenz, mit der die 'Final Destination'-Teile regelmäßig beginnen, diesmal um einen kolossalen Brückeneinsturz, bei dem einem als Zuschauer nichts anderes übrig bleibt, als sich mit schwitzigen Handflächen in seinem Kinositz festzukrallen und die Luft anzuhalten, nur widmet sich der Film im weiteren Verlauf etwas ausführlicher als die Vorgänger der Möglichkeit, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, indem man ihm ein Ersatzopfer zuführt. Da geht es dann sehr kurz um die Befähigung des Menschen zum Bösen, wird in einer kurzen und gerade deshalb sehr wirkungsvollen Szene angedeutet, was es eigentlich bedeuten würde, wenn über Jahrhunderte der Zivilisation aufgebaute Tabus plötzlich fielen. Horror, wie er sein muss. Wer psychologisch akkurate Charakterisierungen wünscht, wer Spannung nur da findet, wo er im Dunkeln tappt, der mag sich bei 'Final Destination 5' tatsächlich wie im falschen Film fühlen, aber er übersieht eben auch das Wesentliche. Die Strenge, mit der Regisseur Steven Quale der Formel folgt, schafft für den Zuschauer nämlich eine enorme Freiheit, lädt ihn dazu ein, den Blick auf all das zu richten, was ihm sonst entginge. Der Plot rückt in den Hintergrund, das Austauschbare, Nebensächliche, Banale gerät in den Fokus. Begreift man diese Strategie nicht bloß als Ausdruck einer ökonomischen Prinzipien folgenden Kalkulation, sondern als bewusst gewählten Modus der Erzählung, so kommt ein Film zum Vorschein, der gänzlich unverstellt und in erschütternder Klarheit von der Absurdität eines Lebens erzählt, das in jeder Sekunde von einem sinnlosen Tod beendet werden kann.

Neben den spektakulären Todesarten – das Markenzeichen der Reihe, die das Slasherfilm-Subgenre in einem genial zu nennenden Schachzug vom maskierten Killer befreit, stattdessen den Tod selbst zu ihrem Schurken gemacht und damit enormen kreativen Spielraum errungen hat – gibt es noch weitere stets wiederkehrende Elemente, die dem Zuschauer Orientierung bieten und mittlerweile fast wie musikalische Cues funktionieren: die Vision des Protagonisten, der einen fürchterlichen Unfall voraussieht und daraufhin sich und seine Freunde retten kann; die Großaufnahmen defekter oder ungünstig platzierter Gegenstände, die wie Drohungen oder böse Vorahnungen wirken; den Hauch des Todes, der die Figuren streift, sie kurz innehalten lässt, bevor sie der Vernunft wieder Vortritt vor ihren Instinkten geben. Nehmen andere Reihen solche Elemente zum Anlass, in die Tiefe zu dringen, zu erklären, ihre Mythologie auszuweiten und sich so immer weiter von ihrem ursprünglichen Kern wegzubewegen (man denke an die Kontext stiftenden Prequels, die die Originale mit ihrer Erklärungswut nachträglich ihrer Wirkung berauben), da behalten sie in der 'Final Destination'-Reihe ihre Unschuld, bleibt die Serie, die vor zehn Jahren unter der Regie der 'Akte X'-Erfinder mit latentem Mystery-Touch gestartet war, betörend unmysteriös.
Mit jedem weiteren Teil, der der Formel folgt, wird deutlicher, dass es hier nicht um übersinnliches Wirken und schreckliche Einzelfälle geht, sondern um die Banalität des Todes. Wenn er dich will, gibt es nichts, was sich daran ändern ließe. Es hilft noch nicht einmal, die Hauptfigur in einem Hollywood-Film zu sein.

Die Welt der 'Final Destination'-Reihe ist eine unperfekte: Überall liegen kaputte Kabel herum, tropft Wasser von der Decke, finden sich lose Schrauben und gibt es tückische Stolperfallen. Statt in schicken Glitzermetropolen wie New York, Las Vegas oder Los Angeles spielen sie in gesichtslosen Attrappen amerikanischer Großstädte, statt Stars agieren junge Durchschnittstypen ohne hervorstechende Eigenschaften. Was von ihnen einzig und allein hängenbleibt, das ist die Art, wie sie sterben. Und hier hat sich der Tod diesmal etwas besonders Gemeines ausgedacht: Weil sie seiner meisterlich choreografierten Brückenkatastrophe entgangen sind, lässt er sie im Tod besonders tolpatschig aussehen. Da bringt er etwa für die schöne Olivia alles so in Stellung, dass sie von einem Augenlaser mit Fehlfunktion spektakulär zerschnitzelt werden kann, lässt sie in letzter Sekunde schwer verwundet entkommen – und schubst sie dann zum Fenster raus. Die menschliche Hybris, sie ist das eigentliche Opfer der 'Final Destination'-Reihe.

Über uns das All

(D 2011, Regie: Jan Schomburg)

Ironische Beziehungsspiele
von Wolfgang Nierlin

„Sag mir mal die Wahrheit!“, fordert Martha (Sandra Hüller) von ihrem Mann Paul (Felix Knopp). Für einen irritierenden Augenblick schwebt eine Unsicherheit zwischen den beiden, scheint aus dem Spiel Ernst …

„Sag mir mal die Wahrheit!“, fordert Martha (Sandra Hüller) von ihrem Mann Paul (Felix Knopp). Für einen irritierenden Augenblick schwebt eine Unsicherheit zwischen den beiden, scheint aus dem Spiel Ernst zu werden. Mit Marthas Wechsel in den Konjunktiv entspannt sich die Situation kurz darauf wieder: „Wäre denn was rausgekommen?“. Ja, es wäre, hätte Paul diese Frage beantwortet. Doch der angeblich promovierte Mediziner, der demnächst eine Stelle in Marseille antreten soll, zieht es aus nicht näher behandelten Gründen vor, seine wahre Identität geheim zu halten und eine Lüge zu leben. In Jan Schomburgs Langfilmdebüt „Über uns das All“ gehört die vorsätzliche oder nur vorgebliche Täuschung zum Beziehungsspiel. Eine Sprache der Uneigentlichkeit markiert gewissermaßen seinen festen Kern. Weil das Eigentliche von Klischees umstellt ist, wird die Ironie zum Spiel gegen Abnutzungen. Doch wo das Eigene als Referenzpunkt fehlt, gerät die Ironie zum tödlichen Ernst.

So wird Martha durch die Nachricht von Pauls plötzlichem Selbstmord in eine ungläubige Fassungslosigkeit versetzt. Der Doppeldeutigkeit entzogen, wirkt die Wirklichkeit wie ein Schock. Martha, ebenso verunsichert wie verschlossen, braucht Zeit, das zu akzeptieren. Unfähig zur Trauer, versucht sie, mit kontrollierter Selbstbeherrschung in einem gesellschaftlichen Sinne zu funktionieren und erlebt ihre totale Hilflosigkeit. Dabei gewinnt der Grund der Verdrängung zunehmend Kontur, denn Pauls wahre Identität entzieht sich ihr immer mehr, weil sie kaum Spuren hinterlässt. Indem Marthas möglicher Trauer die Person abhanden kommt, projiziert sie die Bilder ihrer Liebe in einen anderen Menschen. Als gäbe es in ihrem Leben keine existentielle Zäsur, setzt sie das Beziehungsspiel mit dem Geschichtsprofessor Alexander (Georg Friedrich) fort, der in seiner Vorlesung zur Revolution von 1848 mit Hegel gerade über die geschichtliche Wiederholung bedeutender Ereignisse spricht. In einem ähnlichen Sinne spielt Martha mit größter Selbstverständlichkeit ihre alte Rolle mit einem neuen Partner durch.

Unter anderen Vorzeichen macht Martha mit ihrer Liebe also einfach weiter. Dabei wechselt der Film die Perspektive und blickt mit Alexander auf eine Frau, die sich immer wieder entzieht und deren schwankende Identität ungreifbar bleibt. Jan Schomburgs Inszenierung akzentuiert mit verfremdetem Ton, verstellten Bildern und „architektonischen Seelenräumen“ immer wieder diese selbstbezügliche, mysteriöse Ebene; und unterwandert dabei den nüchternen, fast klaustrophobischen Realismus seines sich in spiegelbildlicher Spiralförmigkeit entwickelnden Films, der andererseits zwischen ironischem Spiel und tragischer Ironie changiert. Ist die Liebe eine Projektion eigener Vorstellungen und Wünsche oder verwandelt sie das Gegenüber in einen andern Menschen? Jan Schomburgs Film „Über uns das All“, der mit William Shakespeares Sonett 116 über die im Wandel unwandelbar bleibende Liebe beginnt, verhandelt beide Möglichkeiten und hält eine Entscheidung darüber offen.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Mein Stück vom Kuchen

(F 2011, Regie: Cédric Klapisch)

Sieg der Menschlichkeit
von Wolfgang Nierlin

Der Vorspann von Cédric Klapischs neuem Film „Mein Stück vom Kuchen“ ('Ma part du gâteau') ist in seiner Dynamik und visuellen Dichte ein kleines kinematographisches Meisterwerk. Als virtuose Exposition, die …

Der Vorspann von Cédric Klapischs neuem Film „Mein Stück vom Kuchen“ ('Ma part du gâteau') ist in seiner Dynamik und visuellen Dichte ein kleines kinematographisches Meisterwerk. Als virtuose Exposition, die im Zeitraffer unterschiedliche Lebens- und Arbeitswelten kontrastiert und dabei ein widersprüchliches Bild der modernen Gesellschaft zeichnet, entfaltet die Titelsequenz zugleich die wesentlichen Motive des folgenden Films: Der subjektive Blick auf den vom Titel evozierten Verteilungskampf, verbunden mit dem Anspruch auf gerechte Teilhabe, spiegelt sich in den Gegensätzen von traditioneller Arbeitswelt und neuer Ökonomie, dem Leben am Existenzminimum und abgehobenem Luxus. Dass es dazwischen einen gewichtigen Zusammenhang gibt, ist eine These von Klapischs Film. Seine andere, kämpferischere liefert gleich eingangs mit den kleinen Triumphen von Solidarität und sozialem Zusammenhalt plakative Gegenbilder.

Anklänge an Ken Loachs Filme sind dabei unüberhörbar, etwa wenn der Widerspruchsgeist menschliche Würde einfordert. Klapischs leichtere Variante arbeitet im Tonfall einer sozialromantischen Komödie allerdings stärker mit Zuspitzungen und Überzeichnungen. Auf der Ebene des Dialogs wirkt das mitunter allzu forciert und flach, wenn es heißt, der Kuchen solle in möglichst viele Teile geschnitten werden oder die Fütterung der kleinen Enten habe Vorrang. Visuell wiederum ist der Film so ausgefeilt und elaboriert gestaltet, dass seine eindrucksvollen Hochglanzbilder zwar schön anzuschauen sind, aber aus der Wirklichkeit mitunter nur noch Klischees destillieren.

Das gilt vor allem für die Lebenswelt des 35-jährigen Börsenspekulanten Steve (Gilles Lellouche), eines skrupellosen Geschäftemachers, dessen Raubtierkapitalismus komplett abgekoppelt ist von seiner Verantwortung für reale Probleme und der ein abgehobenes, verschwenderisches Luxusleben führt. „Die Realität ist mir scheißegal“, sagt der zynische Machtmensch und Finanzhai, der als menschlicher Kotzbrocken alle möglichen schlechten Eigenschaften in sich vereint. Steve ist gewissenlos, egoistisch und undankbar; er missbraucht Vertrauen und hat in der Liebe kein Glück, weil es ihm an Empathie mangelt und er nicht kapiert, dass man Gefühle nicht kaufen kann.

An dieser Stelle kommt in der zunächst parallel erzählten Handlung das ethische und moralische Gewicht der zweiten Hauptfigur ins Spiel. Die 42-jährige France (Karin Viard), eine geschiedene Frau und Mutter dreier Töchter, die eben ihren langjährigen Arbeitsplatz in einer Dünkirchener Fabrik verloren hat, findet ausgerechnet im Pariser Haushalt des millionenschweren Maklers und verkrachten Junggesellen einen Job. Bald soll die lebenskluge, einfühlsame France auch noch Ersatzmutter spielen und Steves unehelichen kleinen Sohn Alban betreuen. Mit ihrem offenen Ohr für die Gefühlsnöte ihres gehetzten Chefs und als „Frauenversteherin“ wird sie darüber hinaus zur Ratgeberin in Liebesdingen und – über die sozialen Gegensätze hinweg – auch noch zu seiner Geliebten für eine Nacht. Die Ernüchterung folgt kurz darauf, als France erfährt, dass Steve für die Abwicklung ihrer Firma mitverantwortlich war und sie sich daraufhin von aufgewühlten Gefühlen zur Rache hinreißen lässt.

Cédric Klapisch konstruiert aus dieser konfrontativen Zuspitzung ein Finale, das den moralischen Sieg von Menschlichkeit und Solidarität feiert. Deren Wärme dringt sicht- und spürbar selbst noch in die lebensfeindlichen Kältezonen der Großfinanz.

Fright Night

(USA 2011, Regie: Craig Gillespie)

Beißen ohne Kulanz
von Sven Jachmann

Ein Remake, das einige Umwege wagt, um sich von seiner Vorlage zu emanzipieren: Tom Hollands gleichnamige Vampir-Funsplatter-Komödie aus dem Jahre 1985 besaß Charme, weil sie, neben komödiantischer Coming of Age …

Ein Remake, das einige Umwege wagt, um sich von seiner Vorlage zu emanzipieren: Tom Hollands gleichnamige Vampir-Funsplatter-Komödie aus dem Jahre 1985 besaß Charme, weil sie, neben komödiantischer Coming of Age und der Bedrohung des vorstädtischen Idylls durch einen Vampir in der Nachbarschaft, auch noch die Erzählmodi des Horrorfilms parodistisch, aber niemals albern kollidieren ließ: Der pubertierende Charlie Brewster, der seinem Umfeld vergebens zu erklären versucht, dass sich im Nachbarhaus ein Vampir sesshaft gemacht hat, versucht darin, den alternden TV-Moderator einer Gruselschmonzetten-Sendung Peter Vincent (eine gleich zweifache Hommage an die Dauerrivalen Peter Cushing und Vincent Price) als Unterstützer für seinen aussichtslosen Kampf zu gewinnen. Nur ist dieser Repräsentant des Gothic-Horrors alter Schule nicht sonderlich erpicht darauf, auf die modernen Vampire zu treffen, bei denen nur die wenigsten der früheren Hausmittelchen wirksam sind.

Die Rolle des einstigen Fernseh-Van Helsings übernimmt im Remake ein schillernder Fernseh-Magier (David Tennant), der in Las Vegas über sein eigenes Megacasino herrscht. Mittlerweile sind die Säulen des modernen Horrorfilms selbstreflexiv genug geraten, als dass sich noch aus der alten Differenz zwischen Tradition und Modifikation erzählerisches Kapital schlagen ließe. Auch sonst wurde wenig von der Vorlage adaptiert: Charlie Brewster (Anton Yelchin) muss nun nicht mehr gehemmt sein sexuelles Erwachen fürchten, sondern versucht, durchaus erfolgreich, sein Schulimage als Nerd abzulegen, wobei der Status seiner Freundin Amy (Imogen Poots) das Seinige dazu leistet. Folglich ist es auch nicht Charlie, der den neuen Nachbarn Jerry (Colin Farell) als Vampir identifiziert, sondern sein unscheinbarer Freund Ed (Christopher Mintz-Plasse), den die schrumpfende Schülerzahl in der Klasse, die sonst niemanden weiter interessiert, zu Nachforschungen animiert. Bevor er jedoch Charlie vollends von seinen Beobachtungen überzeugen kann, wird er von Jerry gebissen und verwandelt. Nachdem Charlie doch noch zufällig in den Dokumenten von Ed auf die unliebsame Wahrheit stößt, ist es ein leichtes, seine Mutter und Amy für sich zu gewinnen, denn Jerry gibt sich herzlich wenig Mühe, seine Alterität zu verbergen. Statt, wie einst beim Original, geduldig darauf zu warten, ins Haus der Brewsters eingeladen zu werden (denn anders können sie Vampire nicht betreten, so will es das Gesetz), brennt er es kurzerhand nieder. Fliehen und Jagen wird von nun an zum zentralen Movens des Films, und es ist schon auffällig, wie stark Regisseur Craig Gillespie dabei den Humor der Vorlage auf ein paar seltene Dialogwitze drosselt. Mit dem Eintritt in den urbanen Raum der Glitzermetropole Las Vegas, der so wenig wie die Suburbs ein Refugium sein kann, entblättert sich denn auch ein zweiter Text, der all das Gerangel ums Beißen und Rächen verbindet.

Isolation und Anonymität lauten die Stichworte: Hier wie im Original flüchtet man zwischenzeitlich in einen Club und darbt dann in der tobenden Menge umso hilfloser auf dem Präsentierteller. Der Unterschied: Ein Hauch von Entfremdung ist mit im Spiel: die Vorstädte, in denen ohnehin tagsüber geschlafen wird, weil nachts die Arbeit ruft, das mühselige Ringen um Coolness an den Schulen, überhaupt die geschiedenen Familien und versprengten Existenzen hinter den Vorhängen, und nicht zuletzt Peter Vincents spektakuläre Bühnenshow, die im Gegensatz zur TV-Sendung „Fright Night“ des Originals keine heimelige Nostalgie mehr bereit hält, sondern allenfalls die kollektive Verabredung zum Beschiss kostspielig zelebriert – all dies sind Teile einer Welt, deren Drängen zur Individuation eine Figur wie Jerry letztlich nur zu einer Art kannibalistischem Zerrbild erhebt. Strenggenommen ist er bloß einer, der die Regeln etwas zu genau verinnerlicht hat. Entsprechend präsentiert Colin Farell Jerry irgendwo zwischen apokalyptischem Romantiker, gelangweiltem Rebell und egomanischem Gigolo, der herzlich wenig Gemeinsamkeiten mit seinen zeitgenössischen Tugendterroristen aus dem „Twilight“-Universum aufweist, ja selbst die boshaft-abgründige Erotik des Fremden ist in Teilen einer recht pragmatischen Überlebensstrategie gewichen: Seine Opfer hält Jerry in kleinen toilettenartigen Zellen gefangen, wo sie dann, wenn der kleine Hunger kommt, wie ein Snack angezapft und wieder eingesperrt werden.

Gleichwohl ist der Film viel zu bedacht darauf, das Risiko mit dem Schema zu bannen, als dass er das deviante Treiben bis zum Exzess auszukosten sich traute. Die Hetzjagd wird zur Initiation Charlies, der ängstliche Säufer Peter Vincent zum beherzten Rächer, die vitale Amy kurzweilig zur Femme Fatale und die Mutter fällt in Ohnmacht, bis der Spuk ein Ende nimmt. Aber diese disparate Programmatik besitzt dennoch ausreichend Eigensinn, um zumindest im gegenwärtigen Vampirfilm zu bestehen. Für alles weitere bleibt nach wie vor Kathryn Bigelows „Near Dark“ zuständig.

Lollipop Monster

(D 2011, Regie: Ziska Riemann)

Zum Jagen geboren
von Wolfgang Nierlin

Die Welt ist bunt oder schwarz, die Kontraste sind hart, während die Gefühle in alle Richtungen ausbrechen und explodieren: Das unsichere, suchende Begehren zweier Teenager zwischen erwachender Sexualität und Selbstzerstörungstrieb, …

Die Welt ist bunt oder schwarz, die Kontraste sind hart, während die Gefühle in alle Richtungen ausbrechen und explodieren: Das unsichere, suchende Begehren zweier Teenager zwischen erwachender Sexualität und Selbstzerstörungstrieb, zwischen Trauer und Wut grundiert Ziska Riemanns Spielfilmdebüt, “Lollipop Monster”. Dabei ist bemerkenswert, wie die sexuelle Lust als anarchische Kraft in die spezifischen Ordnungen der vorgestellten Milieus, in Familien und Schule eindringt, Autoritäten aushebelt und geradezu destruktive Wirkungen entfaltet.

Bunt ist das Wochenendhäuschen der Familie Bach, irgendwo im Grünen außerhalb der Großstadt Köln; blond sind die Zöpfe der 15-jährigen Tochter Ari (Jella Haase), die im offenen Widerstand zu ihrer dysfunktionalen Familie steht, deren Liberalität und Toleranz jene Störungen und Hysterien erzeugt, die das labile Gefüge förmlich implodieren lassen. So ist Sohn Jonas (Janusz Kocaj) ein jähzorniger Simulant, die harmoniesüchtige Mutter bekämpft den Kontrollverlust mit übertriebener Sorge und der bildungsbürgerliche Vater hat sich längst ausgeklinkt. Aris Welt ist rot: Sie ist das Candy-Girl „out of control“, das sich auf der Suche nach „grenzenloser Freiheit“ von einem selbstverliebten Aufreißer entjungfern lässt und zum Abschied von der Kindheit die Wände ihres Zimmers schwarz anstreicht.

Oonas (Sarah Horváth) Welt wiederum ist schon schwarz: Die zeichnerisch begabte Tochter eines verschuldeten Künstlerpaars, das eine dunkle Fabriketage bewohnt, drückt ihre drängenden Gefühle mit dem Kohlestift aus, verehrt wie Ari die düstere Musik der fiktiven Band Tier (hinter der Alexander Hacke steht) und kleidet sich schwarz. Als ihr künstlerisch erfolgloser Vater Boris (Fritz Hammel) von seiner Frau Kristina (Nicolette Krebitz) ausgerechnet mit seinem eigenen windigen Bruder Lukas (Thomas Wodianka) betrogen wird und sich daraufhin erhängt, verwandeln sich Oonas Striche in zähnefletschende Monster. In ihnen verdichtet das sich selbst überlassene Mädchen jene traumatischen Erfahrungen aus Verlust, Trauer und Ohnmacht, die Oona in anderen Szenen auch zur Selbstverletzung treiben. Ziska Riemann, die als Comic-Zeichnerin bekannt geworden ist, spitzt diese dunkle Gefühlslage noch zu, indem sie die Handlung immer wieder in kurzen, flashartigen Animationen mit schwarzen Vögeln symbolisch verdichtet.

In „Lollipop Monster“ laufen die beiden Coming-Of-Age-Geschichten der beiden Mädchen so lange parallel nebeneinander her, bis sich Ari und Oona als Freundinnen erkennen und finden. Sie beziehen daraus eine ebenso ausgleichende wie energiegeladene Kraft, die ihr Unbehagen und ihren Widerstand nach außen lenkt und in eruptiver, wilder Entgrenzung entlädt, was sie zu wüsten, rebellischen Riot Girls macht. Ihre Gewalt richtet sich dabei immer stärker gegen jenes Raubtier in Menschengestalt, das als skrupelloser männlicher Verführer auftritt und das für die Freundinnen sowohl zum Objekt des Begehrens als auch zum feindlichen Hassobjekt wird. Die Ambivalenz dieser dunklen Triebnatur zwischen Lust und Zerstörung zieht sich von Anfang an durch „Lollipop Monster“, wenn der „Baron“ genannte Sänger von Tier im Lied „Instinkt“ singt: „Wir sind zum Jagen geboren.“

Easy Rider

(USA 1969, Regie: Dennis Hopper)

Gratis-Nutten
von Andreas Thomas

„Easy Rider“ ist vermutlich das erste Road Movie, das die Bezeichnung ganz verdient. Road Movies sagen immer etwas über die USA, weil sie immer in den USA spielen. Was in …

„Easy Rider“ ist vermutlich das erste Road Movie, das die Bezeichnung ganz verdient. Road Movies sagen immer etwas über die USA, weil sie immer in den USA spielen. Was in anderen Ländern als Road Movie gedreht wird, scheitert meistens daran, dass die Road nicht durch die USA geht. Überall sonst auf der Welt fehlen die unzähligen, unendlichen, geraden Highways, und das Äquivalent zum US-amerikanischen Lieblingsbegriff „Freiheit“, der ausgedehnte, offene Raum mit seinen unbegrenzt scheinenden Möglichkeiten.

Das Road Movie als spezifisches amerikanisches Filmgenre? Womöglich. Vielleicht aber waren manche Western auch schon Roadmovies? Roadmovies ohne Road, aber mit Trampelpfaden für die Trecks in den Westen, die neue Welt. Viehherden, die weit durch die Prärie zu treiben waren, Cowboys, die zu Pferde dem Lande trotzten und seinen eigensinnigen Bewohnern. Cowboys gegen Indianer. Zu entdecken hatten die Weißen in Amerika immer schon einiges, und es in Besitz zu nehmen, zu okkupieren, zu völkermorden. Geschichten von Ethnien, Nationen, Landschaften wurden zu Westernmythen. Der Western als Kreator des nordamerikanischen Mythos. Die Geschichte im Western ist oftmals die idealisierte Geschichte des weißen Amerikas. Und je enger und komplizierter die Gegenwart, also z.B. je unfreier der amerikanische Bürger der McCarthy-Zeit, desto einfacher, freier und überschaubarer wurde das Amerika des Western: ein Land in Cinemascope. Statt ein Land der Verzagten und Unfreien, ein rauhes, doch üppiges Land „of the brave and the free“.

„Easy Rider“ handelt von zwei übrig gebliebenen Cowboys Amerikas. Auf Harley-Davidson-Choppern reiten Wyatt (Peter Fonda) und Billy (Dennis Hopper) von Mexico über L.A. (Kalifornien) nach New Orleans zum dortigen Karneval, zum Mardi Gras. (Alle späteren Roadmovie-Helden stiegen ins Auto, um ihr Land zu erkunden – oder um davor zu flüchten.) Die Vornamen haben sie von Wyatt Earp und Billy the Kid, mehr Hollywood-Western-Legenden als noch biografisch sauber rekonstruierbare Personen, der Supermarshal und der Superbandit stehen Pate für einen freien – auch schießfreudigen – Pioniersgeist. Aber die einzige Bewaffnung Fondas und Hoppers sind ihre Joints. Hopper sieht in seinem Banditen/Trapper-Look dem Vorbild Billy the Kid ziemlich ähnlich: Lange Haare, Schnäuzer, Cowboyhut, Fransenjacke. Nicht zufällig könnte er beides sein: Cowboy und das, für was er in „Easy Rider“ gilt: „Hippie“. Was das sei (und was es eigentlich nur bis 1967 offiziell gab), ist unklar, auch den beiden unbedarften Helden selbst. Deshalb ist es Thema des Films: Suche nach einer Identität, Standortbestimmung einer Generation. Wyatt (Fonda) spielt mit einer zweiten Rolle: Mit dem „Star-Spangled Banner“ auf Lederjacke, Helm und Benzintank ist der Supermarshal auch gleichzeitig Supersoldat Captain America, eine patriotische Comic-Figur, die die USA vermittels übermenschlicher Kräfte seit 1941 gegen die Nazis, in den Fünfzigern gegen die Kommunisten, verteidigte. Zunächst ist dieses Outfit sicherlich ein ironischer Kommentar, so wie z.B. auch Teile von Militäruniformen gerne von Hippies für ihren gewaltfreien „fight for peace“ missbraucht wurden. Darunter aber liegt auch ein ernst gemeintes, positives Verhältnis zu Amerika, ohne das der Film undenkbar wäre: So wie der Film mit der Hippiegeneration symphatisiert, so sorgt er sich auch um die Zukunft seines Landes, bezugnehmend auf dessen historische Errungenschaften und Verfehlungen.

Die Geschichte von Wyatt und Billy ist kurz und doch nicht schnell erzählt: In Mexiko kaufen sie eine große Menge Kokain, deren Verkauf an einen Pusher in Los Angeles sie zu schnellem Reichtum führt. Bevor sie die westöstliche Reise quer durch die Staaten antreten, werfen sie ihre Armbanduhren fort: Eine totale Unabhängigkeitserklärung. Im sehr konsequenten Sinne des in den USA gern und viel zitierten Wertbegriffs „Freiheit“. Am Schluss werden sie die Mentalität ihres Landes buchstäblich am eigenen Leib er-fahren haben; sie ist so intolerant, dass sie tödlich ist. Je weiter sie sich von ihrem Ausgangspunkt fortbewegen, desto misstrauischer und hasserfüllter reagieren die Menschen, denen sie begegnen. Optische Entsprechung ist der gleitende (die Kamera fährt immer nebenher) Übergang von der weiten Prärie und den Bergen Kaliforniens, den Sonnenuntergängen über der schönen, dünnbesiedelten Landschaft des Westens und Mittelwestens zu den eng bebauten Industrie- und Wohngebieten der Südstaaten mit deren sichtbaren Unterschieden von Reich und Arm, von Weiß und Schwarz. Sie sind – wie Cowboys oder wie Outlaws – gezwungen, unter freiem Himmel zu übernachten, weil sie aufgrund ihres Outfits in keinem Motel aufgenommen werden. Nur ein einfacher Farmer und seine mexikanische Frau gewähren Gastfreundschaft, er hilft ihnen bei einer Reifenpanne – während sie einen neuen Reifen aufziehen, bekommt das Pferd nebenan neue Hufeisen – und die große Familie lädt sie zu einem gemeinsamen Mahl ein. Solidarität in der Tradition der ersten Siedler. Ähnlich freundlich begrüßt man sie in einer Landkommune, der entbehrungsreichen Anstrengung einiger von der verfallenden Hippiekultur der Städte enttäuschter junger Leute, ihre Visionen von einem unabhängigen Leben in Liebe, Freiheit und Frieden zu realisieren. Die Dürre des Ackers, den sie besäen, auch sie ist Symbol: Abgemagert, aber entrückt sehen diese Stadtkinder aus, und was ihnen nach einer ersten Missernte bleibt, ist religiöser Art: verzweifeltes Anklammern an die Hoffnung auf und gemeinsames Beten für eine gute Ernte. Wie eine Mischung aus Urchristen und Ureinwohnern, Indianern, sehen sie aus. So durchdrungen vom Geist ihrer Utopie sie auch sind, so fragil, anachronistisch und letztlich naiv wirkt ihr Projekt. Die Unwahrscheinlichkeit des spirituellen Paradieses parallel zur übermächtigen materialistischen Außenwelt schlummert schon in seinem Keim. Zwei Dinge geben sie Wyatt und Billy mit auf den Weg: eine Weissagung des chinesischen Buchs der Wandlungen I Ging: „Aufbruch bringt Unheil. Beharrlichkeit bringt Gefahr.“ (Das nächste Zeichen: Es gibt keine Alternativen, keinen Ausweg – nicht nur für Billy und Wyatt …) und LSD, einzunehmen „mit den richtigen Leuten am richtigen Ort“.

Als sich die beiden Helden auf ihren Choppern freudig und durchaus patriotisch in einer texanischen Kleinstadt in eine Parade eingliedern, werden sie kurzerhand wegen „unerlaubter Teilnahme an einer Parade“ verhaftet. Nur der wohlgelittene Anwalt George Hanson (Jack Nicholson), der mal wieder wegen Alkoholabusus die Nacht in einer Zelle verbracht hat, verhilft beiden zur frühzeitigen Entlassung und rettet sie vor dem gewaltsamen Verlust ihrer langen Haare (die gebellte Forderung: „Haare ab!“ – auch im Deutschland der Endsechziger und der siebziger Jahre oft gehört – erinnert nicht zufällig an: „Rübe ab!“, entsprang sie doch derselben Intoleranz). Hanson, der sich schnell entschließt mit nach New Orleans zu kommen, ist der Vertreter kritischer, doch bürgerlicher Intellektualität in „Easy Rider“. Sein „Unbehagen an der Kultur“ treibt ihn zum Alkohol, doch der spontane (provisorische) Ausstieg gelingt ihm nur mit der Hilfe Wyatts und Billys, die ihn auch mit den Segnungen des Cannabis vertraut machen.

Der Genuss von „Pot“, Marihuana, ist für Billy und Wyatt bei weitem mehr als ein banaler (Alkohol-) Rausch: Er ist religiöser, transzendenter Natur, und das THC – wie auch das LSD – mit seiner „bewusstseinserweiternden“ Wirkung öffnet die Augen für die „wichtigen“ Dinge, es weiht seine Konsumenten ein in die Gemeinschaft der erleuchteten, friedfertigen Menschen. Das „Turn on, tune in, drop out“ („Berausche dich, stimme dich ein, steige aus“) des Ex-Professors Timothy Leary war das ernst gemeinte Credo der Hippiebewegung. Um sich aus der repressiven bürgerlichen Gesellschaft zu lösen, musste zuerst das verinnerlichte bürgerliche Bewusstsein verändert, aufgelöst und abgelöst werden. In der Hippiekultur galt Cannabis als Friedensdroge, übersehen wurde dabei, dass auch Soldaten in Vietnam regelmäßig ihre Joints rauchten oder auf dem Trip waren.

Während Billy und Wyatt sich eher instinktiv und unartikuliert aus der bürgerlichen Ordnung entfernt haben, erläutert er ihnen nachts beim Lagerfeuer – obwohl oder gerade weil er ein integrierter Kenner dieser Ordnung ist – die Gründe, warum sie gehasst werden („Ich finde es ist wirklich schwer, frei zu sein, wenn man verladen und verkauft wird wie eine Ware. Aber wehe du sagst jemand, er sei nicht frei – dann ist er sofort bereit, dich zu töten oder dich zum Krüppel zu schlagen, um zu beweisen, dass er frei ist.“) und er berichtet über Aliens von der Venus, von denen angeblich einige schon seit Jahren unauffällig auf dem Planet Erde leben: „Sie sind Menschen wie wir, genauso – aus unserem eigenen Sonnensystem. Nur mit dem Unterschied, dass ihre Gesellschaft höher entwickelt ist. Sie haben keine Kriege mehr, es gibt kein Geldsystem, sie haben keine Regierung … weil da jedermann regiert. Ich meine jeder Mensch – weil sie sich durch ihre Technologie in der Lage befinden zu wohnen, sich zu ernähren, sich zu kleiden und sich fortzubewegen – alle ohne Unterschied und Mühe.“ Natürlich sind diese „Menschen von der Venus“ nichts anderes als die Vertreter der Gegenkultur und die beschriebene Gesellschaftsform gleicht der Hippie-Utopie eines friedlichen Miteinanders. Eine Utopie, die heute, nach dem Zusammenbruch kommunistischer Staaten und Gesellschaftstheorien gerne belächelt wird, so wie auch der Film „Easy Rider“ wegen seiner Thematisierung dieser Utopie oft als versponnen und altmodisch abgehandelt wird. Der Sinn für Utopien ist uns gründlich ausgetrieben worden, so viel ist sicher. Ob das sein Gutes hat, ist fraglich …

Am frühen Morgen wird George durch einen Prügeltrupp Südstaatler, eine „Bürgerwehr“, im Schlafsack erschlagen, Wyatt und Billy kommen mit Blessuren davon. Die Drohungen und Verbalattacken der einheimischen Männer in einem Imbiss, wo sie am Vortag nicht einmal bedient worden sind, waren wirklich ernst zu nehmen – ebenso Georges Einschätzung ihrer Situation.

Wieder zu zweit fahren Billy und Wyatt nach New Orleans, wo sie zusammen mit zwei Prostituierten einen Tag und eine Nacht lang den Mardi Gras erleben. Eine bewegliche Kamera ist immer mit dabei, die Bildfetzen von den Paraden und Feiernden sind authentisch, und die latent aggressive Trunkenheit Dennis Hoppers ist nicht gespielt. (Wie auch die Joints am Lagerfeuer echte waren, und die dortigen Gespräche improvisiert und sichtbar THC-inspiriert.) Der Karneval wirkt nicht aufheiternd auf sie, er ist eher eine großer Rausch des Verdrängens. Am nächsten Tag ziehen sie sich zusammen mit den beiden Frauen auf einem Friedhof zurück, um das LSD zu nehmen, statt einer mystischen Offenbarung erleben sie die Potenzierung ihrer Niedergeschlagenheit: einen Horrortrip. „Mit den richtigen Leuten am richtigen Ort“ sind sie nicht, und es ist fraglich, wo es den für sie überhaupt noch geben kann.

Bei ihrem letzten Lagerfeuer sagt Wyatt zum über ihren Reichtum begeisterten Billy: „We blew it“. (In der deutschen Synchronisation: „Wir sind Blindgänger.“) Wenn sie eine Chance hatten, dann haben sie sie in Wyatts Augen verpasst. Freiheit bedeutet für ihn offenbar nicht, reich und dadurch finanziell unabhängig zu sein, wirkliche Freiheit liegt für ihn woanders, vielleicht im spartanischen Leben einer Landkommune, aber es scheint keine Rückkkehr mehr möglich – besonders wenn man Visionen seines eigenen Todes hatte, wie Wyatt.

In „Easy Rider“ sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft rätselhaft verzahnt. Immer wieder wird von einer zur anderen Szene mit kurzen, flackernden Jump-Cuts gewechselt, bis die neue Szene „sich durchsetzt“. Der größte dieser Sprünge ist das Bild der brennenden Motorräder aus der sich entfernenden Vogelperspektive, das in die Bordellszene in New Orleans geschnitten ist. Obwohl dieser Methode hier eine persönliche Zukunftsvision zugrunde liegt, passt sie stilistisch zu den beschriebenen zeitübergreifenden Schnitten: Auch die Filmerzählung ist wissend, die Zukunft ist schon in der Gegenwart vorhanden, es gibt eine Bestimmung, ein Schicksal.

Und das vorbestimmte Ende ist der Tod. Das Wissen um das eigene Ende kommt einem aus dem Neuen Testament bekannt vor, vielleicht sind Bezüge auch erlaubt. Ein wenig Märtyrer sind diese passiven Helden schon, so sind sie vielleicht nicht nur Supermarshal, Superbandit, Supersoldat, sondern auch ein bisschen Jesus. Sicherlich aber stehen sie für den Rückzug und die Resignation einer Gegenkultur, die u.a. mittels mystischer Bezüge Toleranz und Frieden realisieren wollte, die vielleicht auch an ihrer zu unpolitischen Naivität gescheitert ist. Den Vietnamkrieg hatte die „Counter Culture“ nicht stoppen können, Martin Luther King und Robert Kennedy waren ein Jahr vor Entstehung des Films ermordet worden, auch unter den politisch aktiven „Weltverbesserern“ kam Hoffnungslosigkeit auf.

Entgegen seinem Mythos als der Film der Flower-Power-Bewegung also ist „Easy Rider“ ein Film, der gerade deren Versagen und Scheitern beschreibt. Aber das zumeist junge Publikum war durch die Romantik von Motorrädern, flatterndem Haar und nicht zuletzt durch die Musik von The Byrds, Bob Dylan („And if my thought dreams could be seen, they’d probably put my head in a guillotine“), The Band, Grateful Dead, Steppenwolf („Born To Be Wild“ gilt heute vielen als der Schlüsselsong der Hippiebewegung), Jimi Hendrix, The Electric Prunes, u.a. (Die Musik in „Easy Rider“ untermalt nicht nur die Bilder, in manchen Szenen dienen die Bilder eher der Musik – frühe Musikvideos also) so beeindruckt, dass z.B. jedes dritte Jungszimmer in der BRD noch bis spät in die siebziger Jahre durch Poster mit Hopper und Fonda auf ihren Maschinen geziert wurde. „Easy Rider“ war Kult.

Die innovativste Element von „Easy Rider“ aber ist der für seine Zeit vergleichsweise hohe dokumentarische Gehalt. Der Film handelt deshalb wirklich von dem, wovon er spricht, weil seine schönen und bedrohlichen Kulissen – die Landschaften, die Städte, die Dörfer, aber auch die Figuren, die darin agieren, weitgehend authentisch sind. So ist „Easy Rider“ in zweifacher Hinsicht ein Zeitzeugnis: Durch sein Konzept, also durch die Geschichte der zwei allegorischen „Hippies“ und durch das Wagnis, seine fiktiven Figuren an der nicht fiktiven US-amerikanischen Wirklichkeit zu messen. Dass dieses Wagnis aufgeht, macht den Film so nachhaltig beeindruckend. Ein wichtiger zweiter Aspekt des Films war die Personalunion von Autoren (Nicholson, Hopper, Fonda) und Darstellern bzw. Regisseur (Hopper). Ein experimenteller Autoren-Film solcher Art hatte in den USA bis dato keine vergleichbaren Gewinne eingefahren (Produktionskosten: 325 000,- Dollar; Einnahmen: über 16 Millionen Dollar), und namentlich der Erfolg von „Easy Rider“ ermöglichte jungen amerikanischen Autorenfilmern die Chance in Hollywood ihre „anderen“ Filme machen zu können: Bill Norton („Cisco Pike“), Monte Hellman („Asphaltrennen“ [„Two-Lane Blacktop“]), Robert Altman („M*A*S*H*“), Hal Ashby („Harold und Maude“), Peter Bogdanovich („Bewegliche Ziele“), Francis Ford Coppola („Apocalypse Now“ – u.a. wieder mit Hopper), Martin Scorsese („Taxi Driver“).

Schauspielerisch leisten die beiden Protagonisten übrigens weniger als eine der wohl bemerkenswertesten Nebenrollen der Filmgeschichte: Der präsente Jack Nicholson spielt den etwas linkischen, unberechenbaren Hopper und besonders den starren, unentschlossenen Fonda von seinem ersten Auftritt im Gefängnis an locker gegen die Wand. Und was der heutige Zuschauer an ihm kennt und liebt (oder was manche auch nervt), ist in den ersten seiner Szenen schon sichtbar, besonders seine notorische, obszöne Manie, bei jeder Gelegenheit die Zunge zu zeigen. Für Nicholson begann mit „Easy Rider“ sein Durchbruch als Star, während Fondas Karriere eher im Sande zu verlaufen begann. Der exzentrische – und damals exzessive Drogenkonsument – Dennis Hopper, der mit „Easy Rider“ wohl seinen wichtigsten Film gedreht hatte, versuchte sich nur noch selten in der Regie – umso häufiger als Darsteller des Hollywood-Bösewichts (dazu verhalf ihm wohl vor allem die ihm auf den Leib geschriebene geniale Rolle als psychopathischer Gangster in David Lynchs „Blue Velvet“ (1985)). Weitere Filme von ihm waren „The Last Movie“ (1971), ein monomanisches, auf hoher Ebene gescheitertes Projekt mit einem meist an der Grenze zum Delirium wandelnden Hauptdarsteller Hopper oder „Explodierende Träume“ („Out of the Blue“, 1979), ein sehenswerter, früher Film über „White Trash“, über eine zerrüttete Familie in den USA.

Der diskrete Charme der Bourgeoisie

(F 1972, Regie: Luis Buñuel)

Psycho ohne Analyse
von Andreas Thomas

„Und dann war ich noch froh, dass ich in diesem Film das Rezept meines Martini dry unterbringen konnte.“ Luis Buñuel Worum geht es hier? Schwer zu sagen. Bliebe nur die …

„Und dann war ich noch froh, dass ich in diesem Film das Rezept meines Martini dry unterbringen konnte.“ Luis Buñuel

Worum geht es hier? Schwer zu sagen. Bliebe nur die Flucht in die Inhaltsangabe … aber was IST denn der Inhalt? Mal überlegen: 6 Großbürgerliche sind zum Essen verabredet. Aber Ort und Zeitpunkt scheinen falsch zu sein. Der Versuch wird wiederholt, mehrfach, ohne rechten Erfolg. Zum Essen kommt es nicht wirklich. Sei es, weil ein Missverständnis vorliegt, sei es, weil alle verhaftet werden, sei es, weil alle erschossen werden, sei es, weil das Treffen nur ein Traum, eher ein Alptraum, war. So ist der ganze Film: Nicht zu entscheiden, ob Traum, oder Pseudorealität (Fiktion), und selbst im Traum immer wieder junge Soldaten, die der Bourgeoisie ihrerseits ihre Träume zum Besten geben, oder von ihrer tragischen Kindheit erzählen („Es wird länger dauern, aber es wird interessant!“).

Absurd und surreal. Ironie und Psycho ohne Analyse. Das Unbewusste lebt. Und es sagt alles, auch wenn Herr Buñuel es nichts erklären lässt. Das Sein ist ein zweckloser Zustand, umso zweckloser das Sein der Bourgeoisie. Das deklarierte, angestrebte Ziel, das Dinner, wird nie erreicht, eine Sättigung, die Auflösung eines leiblichen Bedürfnisses bleibt unerfüllt. Was bleibt, ist der Weg, das Wie. Und meisterlich bringt Buñuel uns nahe: die Codices großbürgerlicher Vornehmheit, Arroganz und Verderbtheit, das nonchalante Arrangement von politischer, klerikaler und militärischer Macht. Es geht darum, zu sein, was man ist, savoir vivre, zu bleiben, wie man ist und wo man ist und hingehört: an die Macht. Morde, mehrere in diesem Film, sind entweder Kavaliersdelikte, Anekdoten der schauerlichen Art, altmodische Kolportage, oder Alpträume – wenn man selbst Opfer politischer Attentate wird. Das Leben der Bourgeoisie ist ein Schauspiel der vornehmen Fassade. In einer der schönsten Szenen öffnet sich hinter der gedeckten Tafel ein Vorhang: dahinter das Publikum, das Essen ist der zu spielende Akt, unsere großbürgerlichen Menschen die Theaterschauspieler – die plötzlich ihren Text vergessen haben und zu schwitzen beginnen.

Gelassene, spielfreudige und brillante Schauspieler verwandeln Buñuels lakonischen Plot in einen schlafwandlerisch stilsicheren Film, der an keiner Stelle einen Aussetzer hat, nie überpointiert oder irgendwie bedeutungsschwanger ist. Ein unbeirrbar weises (und pechschwarzes) Understatement praktiziert der Film in der Sprache seiner Bilder und Figuren, sodass jede neue Pointe den Spaß an der vorigen verdoppelt, in dem Maß, wie jede neue Szene einen weiteren Aspekt der Phänomenologie einer gesellschaftlichen Klasse addiert, weil die filmische Skizzierung durch keine figurellen oder inszenatorischen Fehler ins Stocken gerät. Aus dem idealen Ensemble noch heraus ragt der grandiose Fernando Rey als Kokain schmuggelnder, dauergeiler und schießfreudiger Botschafter der südamerikanischen Bananenrepublik „Miranda“. In einer Gastrolle als befreundeter Justizminister der ihm in nichts nachstehende Michel Piccoli. Militär, Kirche, Polizei, Politik: alle sind sie niedlich vereint in der Bewahrung ihres Status Quo durch Unterdrückung und Korruption. Und sie geben sich kaum Mühe, das zu vertuschen. Die Politik, so der Botschafter, wird schließlich auch nicht durch Diplomatie oder gar Demokratie entschieden, denn sie ist eine militärische Angelegenheit.

Luis Buñuel knüpft mit seinen späten Filmen (u.a.: „Belle de jour“ (1966), „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ (1972), „Diese obskure Objekt der Begierde“ (1977)) bei seinen besten Zeiten an, bei „Ein andalusischer Hund“ (1928) und „Das goldene Zeitalter“ (1930). Doch: Auch wenn Buñuel versucht hat, alle Deutungsversuche seines surrealen Films mithilfe doppelter Böden und verdreifachter Realitätsebenen zu verhindern, so hat er ein wunderbar scharfsichtiges, entlarvendes, komisches und kritisches Portrait abgeliefert von einer Bourgeoisie, die, wenn sie noch nicht abgeknallt wurde, dann heute noch dafür lebt, sich für das nächste Dinner zu präparieren.

Der Elefantenmensch

(GB / USA 1980, Regie: David Lynch)

Crushed by the wheels of industry
von Andreas Thomas

„Oh, Mr. Merrick, Sie sind kein Elefantenmensch, Sie sind Romeo!“ In David Lynchs Werk finden sich zwei Filme, die auf den ersten Blick „normal“ scheinen, d.h. die offenbar nicht in …

„Oh, Mr. Merrick, Sie sind kein Elefantenmensch, Sie sind Romeo!“

In David Lynchs Werk finden sich zwei Filme, die auf den ersten Blick „normal“ scheinen, d.h. die offenbar nicht in einer irgendwie surreal verformten Welt spielen. Beide beruhen auf Tatsachen. Der eine ist „The Straight Story“, der andere „The Elephant Man“.

John Merrick, ein junger Engländer der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wird aufgrund der absurden Deformation seines Kopfes (mit fast einem Meter Umfang) und seines mit Geschwüren bedeckten Körpers von seinem „Besitzer“, dem Schaubudenbetreiber Bytes, auf Jahrmärkten als der „Elefantenmensch“ vorgezeigt, bis er von dem Londoner Arzt Dr.Treves für seine wissenschaftliche Forschung entdeckt und, nach mehreren Hindernissen, auf Dauer im Hospital untergebracht wird. Es stellt sich heraus, dass Merrick nicht, wie man wegen seiner zunächst apathischen Stummheit vermutet, schwachsinnig, sondern ein sensibler Mensch mit wachem Reflektionsvermögen ist, ein einsamer, misshandelter Mann, der jahrelang wie ein Tier gehalten wurde und nie eine Chance hatte mit anderen Menschen in gleichberechtigten Kontakt zu treten. Merrick kann sprechen, sogar lesen und schreiben, und Dr. Treves versucht, ihm ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen.

Schwarzweißbilder klassischen britischen Kinos eines David Lean prägen die Atmosphäre des “Elefantenmenschen“, kontrapunktiert durch einen Prolog, Epilog und Mittelteil (kurze phantasmagorische Verdichtungssequenzen, die für Geburt, Tod und leidvolle Existenz des Elefantenmenschen stehen), Urbilder der Angst, wie wir sie von Lynch kennen – optische und akustische Fremdkörper, die sich wundersam einfügen in diesen eher konventionellen Film, der auch Jahrzehnte zuvor hätte gedreht sein können, was vor allem dem Briten Freddie Francis zu verdanken ist, der als Kameramann seit den Fünfziger Jahren an Filmen beteiligt war, die, laut Robert Fischer, zu den „schönsten Schwarzweißfilmen in Cinemascope zählen, die je gedreht wurden“, (z.B. „Söhne und Liebhaber“ (1960) oder „Schloss des Schreckens“ (1961)). „Der Elefantenmensch“ ist der einzige Film, den der Amerikaner Lynch in Europa inszeniert hat. Er hat in ihm so viel Gespür für England, London und die viktorianische Zeit entwickelt, dass er sich während der Dreharbeiten geradezu in einen britischen Regisseur verwandelte. Da er erst mit dem „Elefantenmenschen“ beim großen Publikum bekannt wurde, hielten ihn lange Zeit viele Amerikaner für einen Engländer.

Das düstere, vernebelte London eines späten Dickens-Romans beherbergt in der Figur dieses „Elefantenmenschen“ John Merrick eine Fusion des „Quasimodo“, dem „Glöckner von Notre Dame“ (nach Victor Hugos Roman, verfilmt u.a. 1939 von William Dieterle) und dem herangewachsenen Baby aus Lynchs „Eraserhead“ (1977): eine missgestaltete, erschreckende und ausgestoßene Kreatur. Im Unterschied zu „Eraserhead“ hat Lynch die Perspektive gewechselt. Er sieht mit den Augen der leidenden Missgeburt auf die Welt, die sie verdammt, nicht umgekehrt. Dieses Monster ist gutmütig und unschuldig, es will nur ein eines Menschen würdiges Leben – in einer frühindustriellen Welt, in der geschundene Menschen in einer durch qualmende Schlote verfinsterten Stadt arbeiten und leben müssen. Eigentlich ist der Elefantenmensch Merrick keine Ausnahme, sondern eher komprimiertes Sinnbild seiner Epoche. Er ist der Status Quo des unterdrückten, an den Rand des Interesses gedrängten und von der Industrialisierung verformten Menschen.

In den Filmen David Cronenbergs besteht die evolutionäre Konsequenz des industriellen Zeitalters meist darin, dass Mensch und Maschine zu einer Einheit verschmelzen. In David Lynchs „Elephant Man“ imitiert der Körper den Himmel über den Fabriken: „… man sieht Bilder von Explosionen – großen Explosionen – sie haben mich immer an die Papillome an John Merricks Körper erinnert… selbst die Knochen explodierten … brachen durch die Haut und bildeten diese Wucherungen in Form von langsamen Explosionen … Die Vorstellung von Schloten, Ruß und Industrie unmittelbar neben dem verwucherten Fleisch war … etwas, das mich weitermachen ließ …“ (aus: „Lynch über Lynch“).

Wie auch „Eraserhead“ atmet „Der Elefantenmensch“ die hermetische, stickige Luft eines rauhen Industrialismus. Wie in „Eraserhead“ ist ein permanentes Grummeln und Wummern Soundgrundlage. Weil im viktorianischen London eines der lynch’schen Lieblingssujets, die Elektrizität (die in jedem seiner anderen Filme summt und jeweils mindestens einmal gefährlich knistert und deren Bedrohlichkeit sich durch flackernde Lampen bemerkbar macht), noch nicht im allgemeinen Gebrauch war, benutzt Lynch das Geräusch der Gaslampen als zweite wichtige Geräuschkulisse neben dem Fabrikenvibrato.

Sehr schön sicht- und hörbar ist seine bewusste Vertiefung in dieses „Gas-Phänomen“, als die Oberschwester das Gas zur Nacht herunterdreht und nicht nur alle Flammen kleiner werden, sondern zuerst das von Tongestalter Alan Splet und David Lynch gemeinsam zurecht ziselierte Geräusch verminderten Gasaustritts ertönt.

„Es ist Nacht!“ murmelt Merrick dann im Dämmerlicht, und er weiss wie kein anderer um die Schrecken und die Ungeheuer dieser Stunde. Damit antizipiert er schon den Augenblick, in dem Frank Booth in „Blue Velvet“ (1986) mit den Worten „Jetzt ist es dunkel!“ seine eigene Verwandlung in den so infantilen wie gefährlichen Psychopathen im Ausnahmezustand einleiten wird. In der Lynch’schen Nacht schläft die Vernunft, und der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Die Dunkelheit ist die Zeit des Traumes, (der Romantik, des Surrealismus), des Bösen (der Gewalt, des Verbrechens) und des nicht Erkennbaren, des Unbewussten, das Angst bereitet, solange es nicht entschlüsselt ist.

Je mehr John Merrick leiden muss, desto dunkler wird der Film, desto weniger können wir ihn erkennen, so als müsse er wieder in der Nacht des Leidens und der Sprachlosigkeit versinken, aus der er gekommen ist. Nur die Sprache bringt Licht, nur durch sie bekommt Merrick Konturen, durch sie entschlüsselt sich ihm die Welt, klärt sie sich auf.

Dunkel sind auch die Bilder seiner mysteriösen Herkunft: Die mit John schwangere Mrs. Merrick sei „in ihrem 4. Monat auf einer unbekannten afrikanischen Insel von einem Elefanten niedergetrampelt“ worden, proklamiert Bytes, Merricks Schausteller. Und Merrick hat tatsächlich selber Ähnlichkeit mit einem Elefanten.

John Merrick ist, auch in der vermeintlichen Sicherheit des „London Hospital“, beidem ausgesetzt, in der Nacht der perversen Schaulust und den demütigenden Qüälereien der Londoner Halbwelt und tagsüber dem Interesse der gehobenen Gesellschaft, die ihn offiziell begafft, der er Tee anbietet, aber deren höfliche Umgangsformen er bis zur vollendeten Vornehmheit kultiviert, und deren Kultur, von Salomons Psalmen bis zum Theaterbesuch, er als Antwort auf die ihm an Leib und Seele erfahrenen Barbarei begreift. Anteilnahme und Respekt widerfahren ihm durch Dr.Treves (Anthony Hopkins), den Klinikleiter (John Gielgud) und die Oberschwester des Hospitals. Anne Bancroft spielt eine Theaterschauspielerin, die in Merrick gar den „Romeo“ erkennt und ihm seinen ersten Kuss gibt (12 Jahre nachdem sie in der „Reifeprüfung“ (1968) als Mrs. Robinson in Dustin Hoffman [profaner] den Mann erkannte und gebrauchte).

Merrick findet sein wahres Ich. Er wird Künstler, weil sich erst in der Kunst der Mensch über sein materielles und sterbliches Dasein erhebt. Er fertigt aus Streichhölzern die Miniatur einer Kathedrale, von der er durch sein Fenster nur die Turmspitze erkennen kann. Mit Hilfe der Phantasie baut er ein komplettes Kathedralenmodell, beinahe erfindet er die Gotik neu, und mit diesem Lebenswerk – wenn es vollendet ist, wird er sich zum Sterben niederlegen – rekonstruiert er das erzählerische Zentrum des „Glöckner von Notre Dame“. Merrick wohnt in einer Kammer unter dem Turm des Hospitals, zunächst erschreckt er beim Schlag der Turmglocke; später scheint es, als erinnere er sich an (s)ein anderes, früheres Dasein …

Später werden uns Kleinwüchsige an die „Freaks“(1932) von Tod Browning erinnern. „Freaks“ ist „immer der unerträglichste Monsterfilm, weil das Hollywood-Kino, das sonst die schönen Körper feierte, hier zu einer Identifikation mit einer Menschheit zwingt, die nicht die üblichen äußeren Formen unserer Art hat“, schrieb Frida Grafe 1993. Diese „Freaks“ retten ihren „Bruder“ John Merrick aus größter Not, führen ihn vorbei an einem nächtlichen Fluss, der wiederum – und da schließt sich ein mysteriöser Kreis – der „Nacht des Jägers“ (1955), Charles Laughtons einziger – und leider damals unterschätzter – Regiearbeit entsprungen sein muss. In „Die Nacht des Jägers“ sind zwei Kinder vom Bösen verfolgt, und der Fluss ist ihr märchenhafter Beschützer. Verletzbarkeit und wehrlose Unschuld eint die Hauptfiguren aller drei Filme.

Die Geschichte John Merricks beruht auf einem Tatsachenbericht des echten Dr.Treves. John Carey Merrick lebte von 1862 bis 1890. Die im Film verwendete Maske des „Elefantenmenschen“ (gespielt vom im Film nicht erkennbaren John Hurt) wurde dem Gipsabdruck der Totenmaske des originalen John Merrick nachgebildet. Dieser Gipskopf hatte seit Merricks Tod bis zum Zeitpunkt der Dreharbeiten noch nie das „London Hospital“ verlassen. So ist also der „Elefantenmensch“ im Schutz, gewissermaßen aber auch im „Besitz“ des Krankenhauses geblieben (ähnlich wie er vorher im „Besitz“ des Schaubudenbetreibers Bytes war), bis David Lynch ihn zum ersten Mal daraus befreite – und sich zu eigen machte.

„Der Elefantenmensch“ ist eine Parabel menschlicher Einsamkeit, der Sehnsucht nach Geborgenheit inmitten einer brutalen, materialistischen Welt. Wenn John Merrick sagt, dass er nur geliebt werden will, so wie er ist, dann spricht er nicht nur für die „Freaks“ dieser Welt, sondern eigentlich für jeden von uns. Oder können wir keinen einsamen Elefantenmenschen in uns finden?

The King of Comedy

(USA 1983, Regie: Martin Scorsese)

Humor ist, wenn man trotzdem beißt
von Andreas Thomas

Zu den unbekanntesten Filmen des US-amerikanischen Regisseurs Martin Scorsese gehört “The King of Comedy” (1982), und das, obwohl daran dasselbe Erfolgsduo beteiligt war, das mit „Taxi Driver“ (1975), „Wie ein …

Zu den unbekanntesten Filmen des US-amerikanischen Regisseurs Martin Scorsese gehört “The King of Comedy” (1982), und das, obwohl daran dasselbe Erfolgsduo beteiligt war, das mit „Taxi Driver“ (1975), „Wie ein wilder Stier“ (1980), später mit „Goodfellas“ (1990) oder „Kap der Angst“ (1991) zu internationalem Ruhm gelangt war: Martin Scorsese und Robert De Niro.

Es ist immer noch alles so wie im „King of Comedy“. Wenn Harald Schmidt oder Thomas Gottschalk auf die Bühne kommen, gibt es eine Erkennungsmelodie, einen Ansager, eine Showtreppe, eine Hausband und ein feistes Grinsen. Deutsche Fernsehunterhaltung ist amerikanische Fernsehunterhaltung. 20 Jahre nach Kuhlenkampff und Carrell ist das, was wir früher belächelt haben, zum unausweichlichen Standard geworden.

Im amerikanischen „The King of Comedy“ gibt es zwei Arten, auf das amerikanische Entertainment zu reagieren: Entweder man liebt den Entertainer bis zum Durchdrehen, man will ihn mit Haut und Haaren besitzen, oder man will selbst der Entertainer sein, selbst heraus kommen auf die Bühne und so geliebt sein wie er.

Fans und Epigonen haben gemeinsam, dass sie mit Liebe nichts aus ihren realen Biografien verbinden können, dass es keine Eltern gab, die sie liebten oder von denen sie geliebt wurden. Der „penetrant biedermännische“ (Kölner Stadtanzeiger) Entertainer mit der gummiartigen Gestik Jerry Langford (Jerry Lewis) eignet sich zum Vaterersatz, Fantasie-Geliebten oder Vorbild.

Ein Soziopath mit dem unmöglichen Namen Rupert Pupkin (Robert De Niro) ist der Typ B, der selbsternannte kommende „King of Comedy“, der Langford bis ins peinlichste Detail kopiert. In seinem Kellerstudio plaudert er Prime-Time-gemäß mit den lebensgroßen Pappfiguren von Langford („Ich liebe diesen Burschen. Ist er nicht wundervoll?“) und Liza Minelli, und in seiner Phantasie geht er mit Langford dinieren.

Dabei denkt der reale Langford an alles andere, als mit einem verrückten Fan und Pseudokomiker auch nur zu sprechen. Deshalb nutzt Pupkin einen Massenandrang auf den Star, um ihn und sich in dessen Limousine zu retten. Als der ihm erklärt, als Komiker müsse man ganz unten anfangen, antwortet Pupkin: „That’s exactly where I am“. Und außerdem sei er schon 32 und da habe er keine Zeit mehr, noch lange auf den Durchbruch zu warten. Deshalb müsse er sich ihm bei Gelegenheit mit seinem Programm vorstellen.

Die Kommunikation schlägt gründlich fehl. Was Langford Pupkin eigentlich vermitteln will, ist, dass er nicht für ihn zuständig ist (oder sein will), sondern sein Büro, das wiederum das Büro einer Produktionsfirma ist. Die „Firmenpolitik“ wird Pupkin später von einem Sicherheitsbeamten erklärt, indem er ihn zum Ausgang schleift.

Da Pupkins Tagträume seine Handlungen beeinflussen, steht er eines Tages mit einer arglosen Freundin unangemeldet in Langfords Landhaus, als sei er ein geladener Gast. Von Langford wird er unmissverständlich hinausgeworfen. Langsam lernt Pupkin: Der lustige Kumpel von nebenan ist wirklich nur ein TV-Format und hinter der Fassade des Komikers steckt ein reichlich humorloser Mann, der (mit gutem Grund) ständig bestrebt ist, seine Privatsphäre zu schützen.

Doch nun aktiviert Pupkin kriminelle Energien. Um nur einen einzigen Auftritt in der „Jerry-Langford-Show“ zu erzwingen, entführen er und die besessene Langford-Fanatikerin Masha (De Niro mit ihrer neurotischen Power voll ebenbürtig: Sandra Bernhard) Jerry Langford, und sie erreichen sein Ziel. Lieber einen Tag lang König sein, als ein Leben lang Bettler, rechtfertigt der neue „King of Comedy“ die Untat, und dann kommt er in den Knast.

Rupert Pupkin, eine der intensivsten Figuren De Niros (der Scorsese zum Projekt „The King of Comedy“ überredete) überhaupt, ist natürlich ein weiterer Bruder der Verlierer Travis Bickle („Taxi Driver“) und Jake La Motta („Wie ein wilder Stier“), eine Art pervertierter letzter Idealist, der irgendwie noch an die Verheißungen des Amerikanischen Traums glaubt und doch gleichzeitig ahnt, dass jemand wie er keine Chance hat. Dabei sind beide, der Star und sein Nachahmer, Ausdruck einer übergreifenden, allgemeinen Oberflächlichkeit. Das Zauberwort heißt Popularität, der Zauberort ist die Showbühne; wie man dahin gekommen ist oder was man dort produziert, ist nicht so wichtig wie einfach da zu sein.

Scorseses Film ist in dem Maße symphatischer, da realitätsnäher, je weniger Sympathieträger er beherbergt. Es wäre ja auch zu schön, wenn das Upper oder Lower New York der beginnenden 80er noch einfache, ungebrochene und nette Individuen hervorbringen, wenn nicht schon jeder den Widerspruch auch im eigenen versehrten Herzen tragen würde. Es gibt keinen Sympathen, auch wenn De Niros Unbeirrbarkeit, zu Langford vorgelassen zu werden, genauso verstehbar ist wie Jerry Lewis’ Bemühungen, ihn auf Distanz zu halten. Die Hauptrolle des Films spielt letztlich das Medium Fernsehen in seiner Eigenschaft als zynische Unterhaltungsindustrie, als Produzent und Projektionsfläche von Illusionen, und das, was das Fernsehen aus seinen Fans und auch aus seinen Stars macht, ist sein Thema.

Trotz all seiner Kulturkritik ist der Film äußerst unterhaltsam, temporeich, mit grandiosen Schauspielern besetzt (Jerry Lewis spielt diesen Komiker, dem er ja auch im normalen Leben sehr ähnelt, bewundernswert unbeschönigend), hellwach, sarkastisch, sogar tragisch, aber gleichzeitig wohl der witzigste, den Scorsese jemals gedreht hat, weil er sich immer wieder ironisch im Genre Komödie bedient. Wenn De Niro im Langfordschen Büro vom Aufsichtspersonal gejagt wird, ist das chaplinesker Slapstick: Die Kamera guckt nur durch eine Tür: Da rennt er von rechts vorbei, die anderen hinterher, da poltert was, da flucht einer, dann kommt er von links und die anderen wieder hinterher. Wenn De Niro mit einer lächerlich überdimensionierten Sonnenbrille aus dem Auto steigt, um Lewis zu kidnappen, verliert er als erstes die Pistole (eine Spielzeugpistole, der man das auf zehn Meter Entfernung ansieht). Jerry Lewis ist so nett – oder so doof -, auch noch darauf zu warten, bis De Niro die Pistole wieder aufgeklaubt hat und ihn auch fachgerecht entführen kann; und das alles auf offener, belebter Straße. Wenn Sarah Bernhard mit einer schwungvollen Handbewegung den reichlich gedeckten Tisch leerfegt, weil sie mit dem zu einer Mumie in Klebeband eingewickelten und entführten Lewis mal etwas „völlig Verrücktes“ anstellen will, wird zum Scheppern der Gläser ein Katzenschrei eingeblendet – weit und breit keine Katze.

„The King of Comedy“ ist für mich ein Nachweis, dass je jünger beide, Scorsese und De Niro, waren und je eher ihre Filme in New York spielten, sie desto besser wussten, wovon sie in ihren Filmen sprachen, weil beide genuine New Yorker sind, und weil dieses New York, Drehort aller drei Filme („Taxi Driver“, „Raging Bull“, „The King of Comedy“ – zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch der frühere „Hexenkessel“(1973)), auch im „King of Comedy“ eine heimliche Hauptrolle spielt. Aber der Film ist auch ein Beispiel für Scorseses ungezwungene Experimentierlust, für seinen anarchischen, intelligenten Spaß im Umgang mit der Kinogeschichte; und das, ohne dabei den roten Faden zu verlieren.

Wenn auch gelacht werden darf im „King of Comedy“: der Film legt großen Wert darauf, dass er beißt. Rupert Pupkin kommt heraus auf die Bühne, im grellkarierten Sakko, mit diesem schmierigen Grinsen, mit diesen abgezirkelten Bewegungen, als hätte er diesen Job schon immer gemacht. Er macht einen Witz: verhaltenes Gelächter, noch eine Pointe, und endlich lacht und klatscht das Publikum. Hat jemand das „Applause“-Schild gehoben? Findet es das Studiopublikum wirklich witzig, wenn Pupkin erzählt, er sei buchstäblich durch seine Schulzeit durchgeboxt worden? Der beste Scherz aber ist der, wenn Pupkin erzählt, er habe Langford kidnappen müssen, um diesen Auftritt zu bekommen. Die Leute kugeln sich vor Lachen und Pupkin ist der wahre „King of Comedy“.

Gianni und die Frauen

(I 2011, Regie: Gianni Di Gregorio)

Das Rad der Zeit
von Wolfgang Nierlin

Wie schon in seinem vorhergehenden Film „Das Festmahl im August“ („Pranzo di ferragosto“) sucht der italienische Drehbuchautor und Regisseur Gianni Di Gregorio auch in seiner neuen Arbeit „Gianni und die …

Wie schon in seinem vorhergehenden Film „Das Festmahl im August“ („Pranzo di ferragosto“) sucht der italienische Drehbuchautor und Regisseur Gianni Di Gregorio auch in seiner neuen Arbeit „Gianni und die Frauen“ („Gianni e le donne“) die „Kontinuität zwischen dem wahren Leben und der Fiktion“. Dabei inszeniert er sich selbst in der Rolle des liebenswerten Titelhelden, der sich still, unaufgeregt und duldsam durch den Mikrokosmos seines römischen Geburtsortes Trastevere bewegt. In langen, teils dynamischen Einstellungen beobachtet Di Gregorio das alltägliche Leben seines Viertels und erzeugt dadurch jenen feinen Realismus, der im Tonfall einer leisen, melancholischen Komödie ganz leicht, lakonisch und mit nur geringem Abstand über der tatsächlichen Realität schwebt.

Die Krise des alternden Mannes angesichts der Vergänglichkeit, seine verlorenen Träume und vergeblichen Mühen in ihrem Missverhältnis zum drängenden, von Schönheit und erotischen Versprechungen beflügelten Liebesverlangen kennzeichnen Giannis existentielles Dilemma. Dazu kommt noch, dass die finanziellen Rücklagen des früh pensionierten 60-Jährigen rasant aufgezehrt werden und er um das mütterliche Erbe fürchten muss. Giannis bereits 95-jährige Mutter (Valeria Di Franciscis Bendoni), eine distinguierte, eigensinnige Frau, die ihren Sohn bei geringfügigsten Anlässen einbestellt und seine willigen Dienste ausnutzt, führt nämlich ein verschwenderisches Leben inmitten ihrer geschmackvoll eingerichteten Villa. Aber auch innerhalb des engeren Familien- und Nachbarschaftskreises kümmert sich Gianni als gute Seele des Hauses rührend und zuvorkommend um die täglichen Besorgungen. Nur sein beständiges Weißweintrinken und der zaghafte Widerspruch hinter der Fassade konventioneller Höflichkeit geben Hinweise auf sein leises Aufbegehren.

Die Zeit sei „ein Rad, das sich dreht und dreht“ doziert Giannis Freund Alfonso (Alfonso Santagata) mit Bezug auf Heraklit. Und weil seiner Meinung nach der „alte Motor“ des Weggefährten „eingerostet ist“, will er ihn zu amourösen Abenteuern überreden. „Gefallen dir keine Frauen mehr?“, fragt Alfonso. Immer öfters bleibt Gianni deshalb auf der Straße stehen, tauscht er lange, tiefe Blicke und prüft seine Gesichtsfalten vor dem Spiegel. Doch alle Frauen, denen er in der Folge begegnet, von Cristina (Kristina Cepraga), der hübschen Betreuerin seiner Mutter, bis zur immer noch attraktiven Jugendfreundin Valeria (Valeria Cavalli), gehören einer anderen Zeit an. Wie unerreichbare Träume bevölkern sie Giannis Phantasie; bis sich schließlich unter den freundlichen Wirkungen einer Droge für eine lange Nacht Giannis raum-zeitliches Korsett auflöst und das Ersehnte wirklich erscheinen lässt.

Abgebrannt

(D 2011, Regie: Verena S. Freytag)

Kinder, Speed und Arschgeweih
von Andreas Thomas

Berlin Wedding. Die Türkdeutsche, (oder sagt man „Deutschtürkin“, und wenn ja warum, und warum soll diese Bezeichnung eigentlich nicht schon eine rassistische sein?) Pelin (Maryam Zaree) hat gefühlte 5 Kinder, …

Berlin Wedding. Die Türkdeutsche, (oder sagt man „Deutschtürkin“, und wenn ja warum, und warum soll diese Bezeichnung eigentlich nicht schon eine rassistische sein?) Pelin (Maryam Zaree) hat gefühlte 5 Kinder, von verschiedenen Vätern aller Couleur, von denen aber offenbar keiner sich über die Herstellung hinaus für die Existenz des eigen Fleisches und Blutes oder das der bei der Herstellung involvierten femininen Pendants zu interessieren scheint. Letzteres nun erwacht natürlich allmorgendlich zu müde in einer vom Amt finanzierten Wohnung, und um die enormen Schulden fürs Simsen („Mein prinz, wo warst du letzte nacht?“) auszugleichen, arbeitet es schwarz in einem Tattoo-Laden, was ja irgendwie auch passt. Um es herum in Permanenz wuselnd (dabei übrigens, wer eigene Kinder hat, könnte das bestätigen, zumeist pflegeleicht und wohlerzogen): die liebe Brut, die ebenso liebe, selber ja noch nicht erwachsene Kindsmutter rund um die Uhr überfordernd.

„Das wird böse enden“, würde Werner Enke („Zur Sache, Schätzchen“) sagen, wenn er gefragt würde, und Friedrich Dürrenmatt („Die Physiker“) kann nicht mehr gefragt werden, hätte vermutlich in einem schulbuchkompatiblen Fast-Imperativ beigefügt: „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.“ Das traditionelle Sozialdrama, das hier wahrscheinlich vorliegt, sagt sich Beschauerin und Beschauer, ist ja dafür bekannt, entweder der einen oder anderen og. Variante zu folgen. Warum das auch hier so ist, entnehmen Sie aber bitte dem weiteren Verlauf der Handlung:

Pelins „Prinz“ namens Edin (Lukas Steltner) ist ein Prinz der Weddinger Nacht, sporadisch nur taucht er auf, und wenn, dann nach Einbruch der Dunkelheit. Und auch diesen Don Giovanni treibt eine eher hormonelle, denn eine sittliche Motivation dazu an, die junge Mutter, eigentlich noch vor dem Händeschütteln und direkt in der Garderobe erneut zu schwängern (wie wir später erfahren werden). „Baby, Baby, it‘s a Wild World“ sang schon damals der im Vergleich zu diesem Edin eher handzahme Cat Stevens, und dafür, dass das genauso bleibt, sorgen beide, Edin und Pelin, wie man sieht, überaus tatkräftig. Ein Quickie im Entreé erschafft jedoch noch kaum gesichert exemplarisches soziales Elend. Also bleibt die Prinzenjacke da, wo sie in den Liebeswirren niederfiel, irgendwo auf dem Boden, damit der zweijährige Elvis, noch bevor das müde gerammelte Pärchen erwacht, ihre Taschen nach interessanten, aber doch alles andere als kindgeeigneten Gegenständen untersuchen kann, als da wären, ein niegelnagelneuer glitzernder Schlagring, Marke Nichtmitmirmeinfreund, sowie eine Tüte Buntes, in der doch sowas von keine Gummibärchen sind, dass man es dem armen Bub‘ noch laut zurufen möchte: Lass es sein.

Doch zu spät. Elvis kostet von den lustigen Drogen, lässt es sich schmecken und kollabiert. Er wird zwar gerettet, doch der Mutter werden nun alle (genau nachgezählt, sind es dann doch nur drei) Kinder entzogen und einzig mithilfe einer besonders engagierten Sozialarbeiterin bekommt Pelin die Chance, sie zu behalten, falls sie eine Mutter-Kind-Kur auf Fehmarn absolviert.

Zunächst einmal, und aller Ironie zum Trotz: Gespielt und inszeniert ist „Abgebrannt“ sehr gut! Die Darsteller passen allesamt sehr in ihre Rollen und die Figuren sind genau beobachtet mit vielen Zwischentönen und nur wenigen Übertypisierungen (z.B. Tilla Kratochwil als verklemmte und auffallend geschmacksfreie Mutter in der Kur). Wohltuend auch die kritische Distanz, die die Kamera weitgehend der bisweilen peinlich naiven Protagonistin gegenüber hält, die allerdings konterkariert wird durch Anfälle musikalischer Überemotionalisierung durch den Soundtrack. Wir haben es hier mehr oder minder zu tun mit weitgehend vorstellbaren Figuren in weitgehend plausiblen Zusammenhängen. Die Frage aber ist: Warum sollten uns eigentlich die Fehlentscheidungen einer erfahrungsresistenten jungen Mutter interessieren, die uns doch durch ihre Dummheiten auch nur halb sympathisch, bestenfalls bemitleidenswert erscheinen kann? Mit anderen Worten: Ist „Abgebrannt“ eigentlich mehr als einer einer dieser Alibi-Filme, gemacht für Studienräte, die sich masochistisch durch 103 Minuten Film quälen, um allen zu beweisen, dass sie für White Trash aller Arten Mitgefühl parat haben (obwohl sie mit diesem Müll privat so was von nix zu tun haben wollen)?

Oder will der Film mehr, oder etwas ganz anderes? Ist der Film im weitesten Sinne noch jener anscheinend still und leise verblichenen Spezies „Berliner Schule“ zuzuordnen, die bis ins Akribischste und Kommentarloseste hinein in kaum wahrgenommene bundesrepublikanische Grauzonen eintauchte, um daraus Wirklichkeiten zu destillieren? Ein guter Vergleich wäre da der Film „Lucy“ von Henner Winckler, der ebenfalls von einer jungen Mutter handelt, und in dessen Ausbleiben der Katastrophen, in dessen dadurch dennoch latenter Bedrohung des Mutter-Kind-Alltags gerade sein überzeugender Realismus lag? Eher nicht, denn für „Abgebrannt“s Zuspitzungen wird dann doch eher ein dicker Pinsel gewählt.

Oder liegt hier ein sozialkritisches Statement nach Art etwa eines (in jüngerer Zeit von der Kritik wenig geliebten, aber vom Autor durchaus immer noch hier und da geschätzten) Ken Loach („Ladybird, Ladybird“) vor? Ein Film, der den Menschen als Opfer eines inhumanen Gesellschaftssystems begreift und einen aufklärerischen, bewusstseinsbildenden Impetus transportieren möchte? Aber dafür ist in „Abgebrannt“ der Staat in Teilen seiner Organe zu besorgt, und die Heldin strengt sich zu wenig an, um die ihr zugedachten fürsorglichen Maßnahmen, inklusive der brüsken Trennung von ihren Kindern, als wirklich ungerechte Akte erscheinen zu lassen.

Oder kann man – noch eine Nummer größer – in der Geschichte der P. gar symbolistisches, wertkritisches und kulturkritisches Potenzial erkennen, wie in den Filmen der belgischen Brüder Dardenne, vielleicht am ehesten vergleichbar mit „Das Kind“, in welchem der Protagonist den degenerierten Materialismus der westlichen Welt so sehr verinnerlicht hat, dass er in der Lage ist, ohne Gewissensbisse sein eigenes Kind zu verkaufen?
Auch hier muss die Antwort negativ ausfallen, denn trotz seines großen Fehlers ist der Protagonist von „Das Kind“ dem Zuschauer entschieden näher und sympathischer, als die wenig symbolträchtige Pelin es ist. „Abgebrannt“ dagegen verteilt sein Verständnis ziemlich gleich auf alle seine Figuren und Institutionen (vielleicht dabei ausgenommen der Dealer und Schläger Edin). Und eine Ursache, oder gar eine bestimmte Geisteshaltung als Ursache für das offenkundige Elend der Pelin und ihrer sicherlich vielen Leidensschwestern ist schwer auszumachen, weil etwa alle gleich viel und gleich unzureichend dagegen tun, Protagonisten, Umfeld, Staat oder Gesellschaft. Mit anderen Worten: Ein ausgewogenes soziales Kino heutzutage versucht anscheinend, alle und alles zu verstehen, und kann daher überhaupt keine Partei mehr ergreifen?

Die Tage eines sozial oder politisch sich positionierenden Kinos scheinen hierzulande gezählt; unsoziale Politik aber wird unverkennbar weiter gemacht, oder sehen Sie das anders, Frau Verena S. Freytag (Regie und Drehbuch)?

Pulp Fiction

(USA 1994, Regie: Quentin Tarantino)

Abziehbild und Bodensatz
von Andreas Thomas

Dieser Film machte Quentin Tarantino zum Starregisseur, und er blieb es (trotz vielbeachtetem Vorgänger „Reservoir Dogs“ (1992) und umstrittenem Nachfolger „Jackie Brown“ (1997)) bisher wegen „Pulp Fiction“. Die Hälfte aller …

Dieser Film machte Quentin Tarantino zum Starregisseur, und er blieb es (trotz vielbeachtetem Vorgänger „Reservoir Dogs“ (1992) und umstrittenem Nachfolger „Jackie Brown“ (1997)) bisher wegen „Pulp Fiction“. Die Hälfte aller Gangsterkomödien der neunziger Jahre wäre ohne diesen Film wahrscheinlich nicht entstanden, und doch konnte keine von ihnen dem Vorbild das Wasser reichen. Grotesk und ruppig, komplex und abwechslungsreich war „Pulp Fiction“ 1994 ein Geniestreich, eine Adrenalinspritze ins Herz des Unterhaltungskinos und mehr als das …

In vier zeitlich gegeneinander verschobenen Episoden schildert „Pulp Fiction“ vier Tage im Halbweltmilieu von Los Angeles. Die chronologische Abfolge der Handlung beginnt am

1. Tag mit der kaltblütigen Ermordung von vier jungen Männern durch die beiden Berufsgangster Jules und Vincent, gefolgt von einer unter Leitung des „Wolf“ (Harvey Keitel) durchgeführten „Reinigung“ von Auto und Personal, einem Überfall in einem Highwayrestaurant, ausgeführt von Kleingangsterpärchen Yolanda (Amanda Plummer), genannt Honeybunny und Pumpkin (Tim Roth), daran anschließend der erste Auftritt von Butch, dem Boxer. Dieser hat eine Unterredung mit Marsellus Wallace (Ving Rhames), dem Gangsterboss, welcher ihm dringend „empfiehlt“, seinen nächsten Kampf zu verlieren und sich hinterher in den Ruhestand zu begeben.

2. Tag: Vincent besorgt sich bei Edel-Dealer Lance (Eric Stoltz) Heroin, setzt sich einen Schuss, bevor er Mia Wallace (Uma Thurman), die Frau des Boss, auftragsgemäß zum Tanz ausführt, sie sein Heroin mit Kokain verwechselt und beinahe an einer Überdosis stirbt.

3. Tag: Boxer Butch gewinnt seinen Boxkampf und flieht zu seiner Freundin (Maria de Medeiros) in ein Motel. Als er am

4. Tag seine Armbanduhr, ein (groß-)väterliches Erbstück, aus seiner Wohnung holt, trifft er den auf ihn angesetzten „Hit-Man“ Vega, den er erschießt. Im Auto sieht ihn Boss Wallace, beide liefern sich einen blutigen Kampf, der sie in eine sinistre Pfandleihe treibt, wo die Handlung einem kruden Ende entgegensteuert.

Die geniale Frechheit von „Pulp Fiction“ liegt in dem, was geschieht, aber auch darin, wie es geschieht. Das liegt nicht zuletzt an der brillanten Spiellaune der bis in kleinste Nebenrollen hochkarätigen Schauspieler. Man hat einen Bruce Willis kaum so selbstironisch und gleichzeitig so ideal in einer Rolle gesehen, wie in der des einfältigen Boxers Butch Coolidge. John Travolta ist der eitle, genusssüchtige Vincent Vega. Er ist nachvollziehbar stoned vom Heroin, beim Tanz obendrein eine Travolta-Parodie, verknallt in Uma Thurman, die ihn wiederum nicht von der Bettkante schubsen würde, wären da nicht Gatte und Luxus. Und Samuel L. Jackson ist der ‚bad motherfucker‘ Jules Winnfield, der böse guckt, wie der (un-)gerechte Zorn Gottes. Offenbar ist er durchs Fernsehen sozialisiert und christlich erzogen, weshalb er auch im Gegensatz zum atheistisch-hedonistischen Vince einen göttlichen Fingerzeig von einem Zufall unterscheiden kann – für ihn Anlass, seinen Beruf aufzugeben und fortan wie „Kane“ aus der Fernsehserie „Kung Fu“, durch die Lande wandeln zu wollen, um „Gutes“ zu tun.

Die Moral des Bösen

Der programmatische Titel „Pulp Fiction“ ist eine Anspielung auf die klischeereichen Gangsterstorys auf billigem Papier (pulp) gedruckter amerikanischer Groschenromane der 30er/40er Jahre, damals auch Vorlagen für Filme der „Schwarzen Serie“. Die Kritik bezeichnete 1994 „Pulp Fiction“ als „postmodernes Kino“ und gestattet man sich den Versuch, die Geschichte der Film- und Fernsehgenres als eine billige Weltgeschichte zu betrachten, lässt sich die vordergründige Künstlichkeit von Story (stories) und Typisierung der Figuren in „Pulp Fiction“ auch als Spiel mit deren billigen Versatzstücken lesen. Doch der Film besitzt neben gar nicht so platten Charakteren auch einen roten Faden, Aussagen und Geheimnisse, die ihn über ein „harmloses Trash-Happening“ (epd-Film) hinausheben. So ist ein zentrales Motiv ein Koffer aus dem Besitz des Bosses Wallace. Seinetwegen werden die vier jungen Männer ermordet. Während des gesamten Films erfahren wir nichts über seinen Inhalt. Als routinierte B-Movie-Experten ist uns natürlich klar, dass im Koffer entweder Geld oder Drogen sein müssen,- das ist das Klischee, dem wir freudig aufsitzen. Beim genauen Hinsehen bemerken wir: Die Nummer des Kofferschlosses ist 666, die biblische Zahl des Teufels, und wenn der Koffer geöffnet wird, fällt ein goldener Schein auf den, der überwältigt hineinblickt. „Ist es das, was ich denke?“, fragt Pumpkin, und Jules antwortet bejahend: „Mmmh!“

Ironisch treibt Tarantino hier das Spiel mit der bekannten Fiktion, reduziert sie aber gleichzeitig auf ihren Symbolcharakter Geld, Gold, Macht. Und die Macht ist beim Teufel (666), dessen Handlanger Jules und Vincent sind. Jules‘ Selbsterkenntnis treibt ihn zur Umkehr, wenn er zu Pumpkin sagt: „Die Wahrheit ist, du bist schwach. Und ich bin die Tyrannei der ‚Bösen Männer‘.“ Eine Klischeefigur, die über sich selbst philosophiert! Ein starkes Stück. Ein Lehrstück politischer Deeskalation übrigens ist Jules‘ diplomatischer Umgang mit Yolanda, Pumpkin und Vincent. Eine Reinigung, wenn man will, auch im kathartischen Sinn, ist die vorhergehende, demütige Säuberung des mit Hirn bekleckerten Wagens unter Anleitung des perfekten „Wolf“, eine Katharsis allerdings, die Vincent nur äußerlich nachvollziehen, der erleuchtete Jules jedoch als weiteres göttliches Zeichen verstehen dürfte.

Auch Boxer Butch besitzt seine spezifische Verwurzelung, er entspringt einer patriarchischen Tradition, welche sich in einer Armbanduhr manifestiert, die als Zeugin sämtlicher US-Kriege des 20. Jahrhunderts in den „Ärschen“ von Großvater, Vater und dem des Vaters überlebendem Kamerad Christopher Walken (hier in einer Selbstparodie auf seine Vietnamfilme, wie „Die durch die Hölle gehen“) aufbewahrt („damit die Reisfresser sie nicht finden“) und dem Kind Butch von letzterem überliefert wurde. Das gleichzeitig väterliche und nationale Erbe ist hier buchstäblich „a pain in the ass“ und dennoch das, wofür auch Butch sein Leben riskiert. So ist Butch die einzige Figur mit einer Tradition von Moral und Ehrbegriff (sei sie noch so zynisch und unhaltbar), was es ihm unmöglich macht, sich von Wallace, dem mächtigen Vertreter des Verbrechens, erpressen zu lassen. Folgerichtig und nicht zufällig ist daher beider Showdown als Duell des „guten“ gegen das „böse“ Prinzip.

Grandios aber ist der darauf folgende überraschende Fall in den Keller, in das pathologische Amerika, und das schiere Versagen der „Pulp Fiction“, denn hier sind beide Pseudo-Prinzipien endgültig hinfällig, hier herrschen nur noch perverse Willkür und Sadismus, das Ende schöner, da sinnstiftender Kriminalgeschichten. Hier heißt das Genre „Horrorfilm“ und das „Texas Chainsaw Massacre“ lässt grüßen. Dieser Keller ist der psychische Bodensatz einer Gesellschaft, die ihre moralischen Werte verloren hat. Gegen seine kranken Akteure (einer von ihnen ist bezeichnendenderweise der einzige Polizist im Film) wirken selbst die eiskalten Killer Jules und Vincent noch wie respektvolle Vollzugsbeamte.

Kult, Kultur und coole Kerle

„Pulp Fiction“ war der Kultfilm der neunziger Jahre. Vermutlich zeichnen dafür besonders die beiden in schwarzen Anzügen agierenden Killer verantwortlich (Söhne der „Blues Brothers“ und Väter der missratenen „Men in Black“), die, wenn sie nicht gerade ihrer blutigen „Arbeit“ nachgehen, ziemlich normale Jungs von nebenan sein könnten, philosophierende Machos, die gerne mal Drogen zu sich nehmen, ihre Zigaretten selber drehen oder über Hamburger plaudern. Wären sie nur normal, wären sie aber egal. Was sie neben ihrem spannend-schaurigen Beruf für die Masse der (wahrscheinlich vorwiegend männlichen) größeren Jugendlichen der neunziger Jahre vor allem attraktiv gemacht hat, war ihre definitive „Coolness“. Zu jeder Extrem-Situation ein extrem gelassener Spruch, das ist Understatement, und dieses Understatement aus „Pulp Fiction“ prägte eine ganze, „coole“ Generation.

Doch die grelle und ironische Verquickung hoher und niederer Filmgenres war auch Vorlage für eine endlose Reihe von Filmen, die Derbheit und Obszönität mit Humor verwechselten (z. B. „Der Eisbär“, „Bube, Dame, König, Gras“, „Lammbock“: Filme, die dem Irrtum aufsitzen, wenn Drogen, Doofheit und brachiale Gewalt zusammentreffen, sei allein das schon provokant und irre komisch).

Der Unterschied zu letztgenannten Elaboraten: Tarantino sitzt seinen selbstgebastelten Klischees nicht wirklich auf. Hintergründig, souverän und voll böser Ironie spielt er mit ihnen. Und wenn Gewalt ins Spiel kommt, wird sie bei aller Plakativität nicht wirklich (d. h. nicht immer) verharmlost. Ein Beispiel: Das Düstere und Schreckliche der langen ‚Hinrichtungsszene‘ wird durch die bedrohliche Routiniertheit der Killer und die angsterfüllten Gesichter der Opfer, die auf ihr sicheres Ende warten, unerträglich potenziert. Kein Mainstream-Hau-drauf-Film hatte sich jemals die Mühe gemacht, uns so unbarmherzig die Todesangst seiner Figuren, den Schrecken des Todes spüren zu lassen. Solches war vor Tarantino eher erklärtes Ziel des „Antikriegsfilms“, des „ernsten“ Films, oder die seltene Leistung stilistisch schwierig einzuordnender, zwischen „Action“ und „Art“ changierender Regisseure wie Peckinpah, Scorsese oder Lynch. Tarantino reiht sich bei ihnen ein, indem er respektlos die Grenze zwischen niederem Entertainment und hoher Kunst ignoriert, der „billigen Fiktion“ tiefere Wahrheiten unterjubelt und dem „kulturell wertvollen“ Film die sinnliche Profanität der real existierenden Populärkultur nahebringt.

Das mit witzigen Dialogen gespickte Drehbuch, die tragfähigen Spannungsbögen, die Führung der hochkarätigen Darsteller und der Formwille von Kamera und Schnitt (incl. verfremdender Elemente) zeugen von einer Allround-Filmkenntnis, die sich der filmbesessene Tarantino u. a. als jahrelanger Angestellter eines Videoverleihs angeeignet, aber auch als Kleindarsteller bei Dreharbeiten zu „Golden Girls“ oder bei Jean-Luc Godard abgeguckt hat.

Entscheidend hinzu kommt der kongeniale Soundtrack, eine Mixtur aus Surfbeat und Seventies-Pop, ohne den der Film so nicht denkbar wäre, und der sogar die Musiktrends der neunziger Jahre beeinflusst hat. Neben der Musik von „Trainspotting“, und „Natural Born Killers“ (nach dem Drehbuch Tarantinos) ist der Soundtrack von „Pulp Fiction“ einer der bestverkauften und originellsten der letzten zehn Jahre.

Noch einmal: „Pulp Fiction“ ist smart und plump, schockierend und witzig zugleich, aber: „There‘s more to the picture, than meets the eye“,- und ebendieses „more“ ist, was zu entdecken das größte Vergnügen an diesem Film bereitet …

Deep End

(D / GB / P 1970, Regie: Jerzy Skolimowski)

Im großen, leeren Becken der Anstalt
von Michael Schleeh

Als der 15jährige Mike (John Moulder-Brown) einen Job in einer Badeanstalt im Londoner East End annimmt, da ahnt er nicht, was auf ihn zukommt. Nicht nur wird er von älteren …

Als der 15jährige Mike (John Moulder-Brown) einen Job in einer Badeanstalt im Londoner East End annimmt, da ahnt er nicht, was auf ihn zukommt. Nicht nur wird er von älteren Damen bedrängt, die sich von ihm Gefälligkeiten erhoffen, sondern vor allem ist es seine Kollegin Susan (Jane Asher), die es dem frisch erblühten Jüngling angetan hat. Auf sie projiziert er seine sexuellen Wünsche und schon nach kurzer Zeit macht er ihr Avancen. Die etwas ältere und abgeklärte Susan aber ist bereits mit einem Nichtsnutz verlobt und hat zudem mit einem Badegast ein finanziell gewinnbringendes Verhältnis – es ist Mikes ehemaliger Sportlehrer, der in seiner biederen Lüsternheit besonders abstoßend wirkt, und der als aktueller Lover die Rivalität des Teenagers herausfordert. Susan zu besitzen wird für Mike zu einer Besessenheit, die ihn in ein enormes Gefühlschaos stürzt.

„Deep End“ ist ein Kuriosum der Filmgeschichte: ein Coming-of-Age-Drama eines Regisseurs der polnischen Nouvelle Vague, das im London der Swinging Sixties spielt, in London, aber auch teilweise in den Bavaria-Studios gedreht wurde, und das zumeist mit Antonionis <<TEXT:UNTERSTRICHEN>„Blow Up“ und Polanskis „Ekel“ kontextualisiert wird – für Polanskis „Das Messer im Wasser“ etwa schrieb Skolimowski das Drehbuch. Die Filmmusik stammt außerdem vom britischen Multi-Instrumentalisten und Singer-Songwriter Cat Stevens, sowie von der Kölner Krautrockinstitution Can. Diese vermögen eindrücklich die psychosexuell aufgeladene Thrilleratmosphäre zu verstärken, in die der Film hineindriftet. Mikes verwirrter Zustand, der sich in seiner Erregung sukzessive steigert, ist wohl das augenfälligste Merkmal dieses immer manischer werdenden Bewusstseins, das in seinem Begehren Grenzen zunehmend überschreitet. So kulminiert der Film in eine wunderbare Szene im Stadtpark, in der sich der Protagonist, unfähig, Ruhe zu finden, die Kleider vom Leib reißt, frech an einem Laufwettbewerb seiner alten Schule teilnimmt, um schließlich in Unterwäsche bei Minustemperaturen die angebetete Susan zu bedrängen. Als sie sich wehrt, verliert sie den Diamanten aus dem Ring ihres Geliebten, der in den Schneekristallen unauffindbar untergeht. Doch Mike hat eine Idee: Sie sammeln allen Schnee in Plastiktüten, brechen in die verschlossene Badeanstalt ein, und schmelzen ihn unter den großen Scheinwerfern der Deckenbeleuchtung.

Im großen, leeren Becken der Anstalt kommt es dann auch zum Beischlaf, doch Susan ist eine Erwachsene, die sich nicht weiter auf den deutlich Jüngeren einlassen will. Der reagiert also entsprechend aggressiv, und so beginnt ein beinahe surreales Ende, in dem sich das Blut, die Farben und die Wahnvorstellungen vermischen und überlagern. Bezeichnend ist Skolimowskis Zurückhaltung hinsichtlich einer moralischen Wertung: eine klare Botschaft vermittelt er nicht. Vielmehr pendelt der Film in diesen abschließenden Szenen in Richtung Exploitationkino und konfrontiert den Zuschauer mit gewagten Kameraperspektiven, die das Begehren des Betrachters auf ihn selbst zurückwerfen. Verstörend endet „Deep End“, ein Film, in dem die Erwachsenen der Jugend die Unschuld rauben.

Neben dem Hauptfilm findet sich ein ausgezeichnetes Making-of samt Interviewszenen auf der DVD. Eine deutsche Untertitelspur fehlt leider.

Blow-Up

(GB / I / USA 1966, Regie: Michelangelo Antonioni)

Style und Unschärfe
von Andreas Thomas

Fotograf Thomas (David Hemmings) verirrt sich in ein Konzert der „Yardbirds“. Ein regungslos dastehendes Publikum starrt auf eine ekstatische Band. Der Gitarrist ärgert sich darüber, dass der Verstärker nicht richtig …

Fotograf Thomas (David Hemmings) verirrt sich in ein Konzert der „Yardbirds“. Ein regungslos dastehendes Publikum starrt auf eine ekstatische Band. Der Gitarrist ärgert sich darüber, dass der Verstärker nicht richtig funktioniert und zertrümmert wütend an ihm seine Gitarre. Den abgebrochenen Hals wirft er in die Menge, die – plötzlich zum Leben erwacht – sich für diese Trophäe umbringen möchte. Thomas – sonst eher Jazzfan – fängt das Teil, verteidigt es vehement und flieht mit ihm nach draußen, wo er bei nochmaliger Begutachtung dessen völlige Wertlosigkeit realisiert und es wegwirft.

„Blow-Up“ von Michelangelo Antonioni ist ein Film der Bedeutungen und Bedeutungslosigkeiten. 1966 im „Swinging London“ gedreht ist der Film ein genau beobachtender Zeuge einer Zeit und eines Ortes der Umbrüche und Paradigmenwechsel.

Der geschäftstüchtige Thomas ist eben gerade so zynisch, wie es die Gegebenheiten erfordern, also extrem: Gelangweilt behandelt er die Models wie Dreck, die bereit sind, alles dafür zu tun, von ihm fotografiert zu werden; die Session mit dem Starmodel (Veruschka) praktiziert er wie einen Geschlechtsakt, bei den beiden Mädchen, die von ihm entdeckt werden wollen, lässt er die Kamera einfach gleich weg. Mit zielloser Neugierde treibt es Thomas und seine Kamera durch ein London, das gerade den Style erfindet. Style, der über Fashion hinausgeht. Wenn zwei Schwule mit weißen Pudeln in einem Stadtteil auftauchen, weiß Thomas, dass sein dortiges Kaufobjekt, der verstaubte Antiquitätenladen, eine Goldgrube werden wird. Selbstbewusstes Schwulsein ist (auf einmal) schick und „cool“ – und wird schon als konjunkturfördernd erkannt. Wenn Thomas auch einen sicheren Instinkt für neue „Trends“, für „Szene“ (das Wort gab es damals noch nicht, aber vermutlich wurde diese Sache im London 1966 geboren) besitzt, dann lässt ihn dieser Instinkt gleichgültig, weil er mit dem Mechanismus zugleich dessen Hohlheit erkennt oder erspürt. Die Oberfläche ist alles, der innere Wert zweitrangig, austauschbar, vernachlässigbar. Thomas – als Fotograf prädestiniert – ist Dokumentarist dieser Oberfläche. Mit derselben kühlen Distanz, mit der sie ästhetisch arrangierte, 'ausgeflippte' Modefotos schießt, beobachtet Thomas’ Kamera das Elend der Männer im Obdachlosenasyl. Ob arrangiertes oder vorgefundenes Objekt, immer ersetzt das Kameraauge das des Subjekts. Naturgemäß sind es dann auch die Vergrößerungen (Blow-Ups) der Fotos, die Thomas in einem kleinen Park gemacht hat, die den Tathergang eines Mordes schildern – er selbst hat nur geknipst, was ihm vor die Linse kam.

Nach intensiver detektivischer Rekonstruktion vergrößert Thomas das Abbild einer Leiche hinter einem Busch heraus.

So, als sei sie der Nachweis einer wirklicheren Wirklichkeit, eine Bedeutung hinter der Entwertung der Dinge, kommt auf einmal Leben in ihn. Er findet die Leiche im Park, geht nicht zur Polizei, versucht jedoch Bekannten von ihr zu erzählen, aber die haben andere Probleme, sie leben in anderen, ihren Welten, probieren Marihuana, sind in „Paris“, obwohl sie in London sind. Entsprechend seiner völligen Belanglosigkeit ist der Tote, als Thomas am nächsten Morgen nachsieht, verschwunden.

Auch Thomas verschwindet, im Augenblick da der Film zu Ende geht, nachdem er einer Gruppe Hippies beim pantomimischen Tennisspiel ohne Ball zugesehen und ihnen den „Ball“ zugeworfen hat, als er über den Zaun geflogen war. Es ist also nur das real, was für den einzelnen real ist, sprich, was mit individueller Bedeutung aufgeladen ist, und: Phantasie an die Macht! (Verzückung heischende Parole etwa des „Roncalli-Zirkus“, – man stelle mir lieber keine Fragen, wie ich Pantomimen finde.)

Der Film endet jedenfalls damit: Der Protagonist Thomas ist weg. Es bleibt nur der grüne Rasen des gleichgültigen Universums. Wieder sind wir auf uns allein gestellt – und auf unsere Interpretationen, aber in diesem Film waren wir es schon die ganze Zeit – so wie selbstverständlich auch in diesem unseren Leben.

Um drei Themen kreist Antonionis Film:

Das erste kehrte seit seinen früheren Filmen „L’Avventura“, 'Die Nacht“ oder „Liebe 1962“ immer wieder: Die Entfremdung des Menschen von sich selbst. Beziehungslosigkeit wurde in den frühen Antonionis noch problematisiert, in „Blow-Up“ wird sie eigentlich schon als normale Prämisse vorausgesetzt. Die Kälte, die Zweckdienlichkeit der menschlichen Beziehungen hat nur eine neue Qualität: Sie wird vom Markt – hier der Modeindustrie – eingefordert und deshalb von allen fraglos akzeptiert.

Zweites Thema: Es gibt auch eine Gegenbewegung, das sind kleine Gruppen von Demonstranten (denen Thomas – vielleicht auch Antonioni – Sympathie entgegenbringt) und eben jene Horde Hippies, die zum Schluss „Tennis“ spielen und am Anfang zu zehnt in einem offenen Auto reisen und dabei krakeelen. 1965 und 1966 waren die Hoch-Zeit der Hippies, in dieser Zeit steckte die Verheißung neuer, kritischer Umwälzungen, die Anfänge der Studentenbewegung und kontramaterialistischer Philosophien. Mag sein, dass Antonioni von dieser nonkonformistischen Jugend beeindruckt war. Der Schluss von „Blow-Up“ ist ein seltener Hoffnungsschimmer in seinem Werk, der in seinem nächsten Film „Zabriskie Point“ einem großen Pessimismus und einer großen Wut angesichts des Scheiterns gesellschaftlicher Gegenbewegungen gewichen ist.

Drittes Thema: Selbsthinterfragung des Mediums Film und die Realität von Bildern. Was geben Bilder wieder, sind sie realer als die Welt? Wie wenig verlässlich sind deren Deutungen? Als eine Freundin die vergrößerte Aufnahme mit der Leiche sieht, sagt sie: 'Das sieht aus, als hätte es mein Freund gemalt.' Annäherungsversuche an die Wirklichkeit, durch das angeblich dokumentaristische Foto und die Kunst. Hier vermögen beide genau so wenig/viel. Hier begegnen sich das Hochartifizielle und das technische Medium. Das bewusst Verfremdende und das unfreiwillig Verfremdete, das ja eigentlich nicht verschleiern, sondern besser erkennen wollte, gleichen sich. Die Wahrheit ist etwas Verschwommenes.

Die Hippiegruppe, die am Beginn des Films kreischend in einem offenen Jeep reist, wird in der Filmgeschichte übrigens wiederkehren: am Anfang von „Mulholland Drive“, dem „Blow-Up“ von David Lynch …

Die totale Therapie

(A 1996, Regie: Christian Frosch)

Konsequente Stillosigkeit
von Andreas Thomas

Der Titel ist ja schon mal klasse! Was da so alles mitschwingt: Die völlige Heilung, der totale Krieg. Da wundert es dann kaum mehr, dass der Film eine deutsch-österreichische Koproduktion …

Der Titel ist ja schon mal klasse! Was da so alles mitschwingt: Die völlige Heilung, der totale Krieg. Da wundert es dann kaum mehr, dass der Film eine deutsch-österreichische Koproduktion ist. Was auch gut ist: Der Film hat etwa drei Jahre lang keinen Verleih gefunden. Obwohl doch normalerweise jeder Kram einen Verleiher findet. Und was dabei dann wieder verwundert: Hat keinen Verleiher gefunden, wenn doch Sophie Rois mitmacht. Und Blixa Bargeld. Und noch so einige andere, die wissen, wie man sch(l)auspielt.

Der Opener ist sowieso der Reißer: Dieser eisengraue und smartbärtige Beschwörer des Präsens Bargeld erklärt uns innerhalb von Sekunden – vor einem rasanten Bilderkalender: Marx, Lenin, Mao – die Geschichte der Menschheit und erwähnt dann so ganz relaxed, was eigentlich unser wahres Problem ist, nämlich, dass wir uns nicht trauen, uns einzugestehen, dass wir einfach glücklich sein wollen. Wir selber stehen uns als Individuen im Weg, in uns selber liegt das Problem und dessen Lösung. Er aber mit seiner Firma SHIRVIA könne da schon Abhilfe schaffen. Das war leider natürlich wieder nur so ein Werbetrailer, und das alles ist leider nur wieder so ein Ausbeutungsding. Und wir sind leider wieder mal nicht in einem Crashkurs fürs wahre Leben, sondern in einem Film über gruppendynamische Praktiken, über deren Anhängerschaft und – in einem Film über Filmgeschichte: Dass Bargelds Oberguru den Namen Roman Romero trägt, soll uns schon ganz früh sagen, wohin der Hase läuft, denn George Romero war doch der, der die „Nacht der lebenden Toten“ gedreht hat. Dass, wenn die Therapie so richtig beginnt, eine krass debile Frau in Zeitlupe winkend uns auf dem abgelegenen Gutshof in Niederösterreich willkommen heißt, ebenso wie sie uns – so wir das Ganze lebend überstanden haben – uns wieder in slow motion winkend verabschiedet, ist mehr schon als ein Wink mit dem Lynchschen weißen Zaunpfahl aus „Blue Velvet“ und dass einen die Szenerie immer mehr an Tobe Hoopers „Texas Chainsaw Massacre“ erinnert, das liegt fast weniger an der dramaturgischen Entwicklung, der gemäß jeder irgendwann dran glauben muss, es liegt vor allem in dieser billig gedrehten und dadurch umso atmosphärischeren Todesnähe, die „Die totale Therapie“ dem „Blutgericht in Texas“ (deutscher Titel) trefflich nachgespürt hat.

Gut! Der Film weckt also Erinnerungen an schöne Zeiten. Der Mann (Regisseur Frosch) kennt sich aus mit dem Guten, Wahren, Schönen. Und er kennt sich aus mit allen möglichen Spielarten der Psychotherapie. Auch hier viel Wahrhaftigkeit. Plausible, auch in ihrer häufigen Überzeichnung leider noch plausible, durchschnittliche Problemfälle: Ein gesellschaftlicher Querschnitt, der sich therapieren oder unterhalten lassen möchte: Ein stets lustiges, junges Life-Style-Ehepaar, er Programmgestalter beim Fernsehen, sie der modebewusste, quirlige Wellness-Sonnenschein an seiner Seite. Ein zweites Paar, sie eine verzagte, stets zuviel (mit)leidende Frau mittleren Alters aus der „ehemaligen DDR“, er ein zynischer (oder realistischer?) Österreicher. Dann einer, der Bungee, Survival etc. schon hinter sich hat, und sich hier den ultimativen Kick holen muss, sowie ein netter Junge, der durch normale Therapie nur „kopfmäßig“ erreicht wurde, auch Gestalttherapie hat bei ihm fehlgeschlagen, weil er „eher so der körperliche Typ“ ist. Ein Manager, der nach einem Infarkt in den Ruhestand gegangen ist, klagt über „mangelnde Gefühle“, oder dergleichen und eine so gut wie stumme junge Frau, namens Gabi, sagt gar nichts, ihre Schwester (Sophie Rois) umso mehr, nämlich vorher, nämlich als sie ihr erzählt, dass ihre Allergien von ganz tief unten kommen und sie auf jeden Fall zu SHIRVIA gehen muss.

Schade, dass „Die totale Therapie“ zwei Sachen gleichzeitig machen will, nämlich einerseits die Erlebniswelt von psychotherapeutischen Kursen darstellen und andererseits ein deutsch-österreichisches Kettensägenmassaker draus machen. Auf diese Weise nämlich vergibt der Film sich die durchaus vorhandene Chance einer gelungenen Konsequenz. Denn Christian Frosch kennt sich wirklich gut aus mit gruppendynamischen Therapiesitzungen, und in mindestens drei Szenen kann man gebannt nachfühlen, was es z.B. für den zynischen Österreicher bedeuten muss, seinen ganzen Frust herauszubrüllen. Hier packt der Film und zwar sehr ernsthaft und überzeugend. Und hier ist er auch genauso deprimierend wie befreiend. Aber diese Wahrhaftigkeit der Psychodramen kollidiert immer stärker mit der Ambition des Splatterfilms, der den zweiten Teil nach und nach völlig okkupiert, denn dort sind die Charaktere bestenfalls nur noch verwaschen, nur noch Vehikel der Mordinstrumente, die ihr Ziel treffen müssen: Messer, Hände, Pump-Gun. Der zweite Filmteil ist nur noch konstruiert, die Abfolge von Morden oder zufälligen Toden der Patienten an ihren Therapeuten und untereinander ist lächerlich, da sie vor allem emotional mehr als unwahrscheinlich sind.

Hier unterscheidet sich dann „Die totale Therapie“ auch von dem „Texas Chainsaw Massacre“ darin, dass, so ungeheuerlich dessen Plot auch erscheint, letzterer Film nie einen Zweifel an der realen Bedrohlichkeit oder der bedrohlichen Realität seiner völlig kranken Richter über Leben und Tod lässt.

„Die totale Therapie“ aber ist deshalb sehenswert, weil der Film scheitert, und weil er scheitert an Vorgaben, die nicht auf Deutschland oder Österreich übertragbar sind, und dennoch für beide Länder relevant sind, weil sie inzwischen auch Bestandteil ihrer Kultur sind. Und er ist sehenswert, weil er wahre Elemente hat, die er nicht ambitioniert versucht zusammen zu bringen, und dennoch ausstellt. Er wirkt manchmal wie ein hilfloses Konglomerat aus zu vielen deutschen Filmen, dann kommt die Bergmansche Psycho-Dimension, dann die Klamotte, dann die surreale Lynch-Situation, die auch schön auf den Punkt kommt. Wenn jemand um Hilfe bittet und nur der Hund auf ihn gehetzt wird, dann ist das Lynch und Kafka genauso, wie es auch Deutschland oder eventuell Niederösterreich ist. Dann wird es wieder witzig, wenn die Rois ständig nicht merkt, dass Leichen ihren Weg pflastern, oder wenn die DDR-Frau aus Versehen entspannt in den Abgrund schreitet und auf dem Tennisplatz zerplatzt.

Vielleicht will Herr Fosch zuviel gleichzeitig und schafft deshalb nichts richtig, obwohl einiges sichtbar bleibt. Was der Film überhaupt nicht besitzt, ist Stil. Aber in seiner konsequenten Stillosigkeit ist er nicht schlecht. Und überhaupt nicht schlecht, sondern die reine Freude – und deshalb schon den ganzen Film wert – ist Sophie Rois, die leider überhaupt im Kino viel zu selten vor der Kamera steht, wo sie sich doch schön verewigen könnte, aber wahrscheinlich hat sie darauf überhaupt keinen Bock. Wirklich schade wäre das!

Ich kann nicht schlafen

(F / CH 1994, Regie: Claire Denis)

Bambule im Panoptikum
von Carsten Moll

“Even in the face of something like gravity, one can jump at least three or four feet in the air and even though gravity will drag us back down to …

“Even in the face of something like gravity, one can jump at least three or four feet in the air and even though gravity will drag us back down to the earth again, it is in the moment we are three or four feet in the air that we experience true freedom.” – David Wojnarowicz

Daiga ist eine junge Litauerin, vor wenigen Tagen erst ist sie in einem schrottreifen Auto nach Paris gekommen. Immer wieder sagt man ihr hier, wie hübsch sie sei oder gafft sie einfach an. Genau wie der Typ, der ihr eines Abends durch die menschenleeren Straßen folgt und der nicht nur gucken will. Daiga flüchtet in ein Pornokino, ihr Verfolger bleibt zurück und zischt ihr zum Abschied noch „Schlampe!“ hinterher. Drinnen im Kinosaal setzt sich die junge Frau zwischen die Reihen von Männern, die peinlich berührt sind, als sie den einzigen weiblichen Zuschauer bemerken. Auf der Leinwand spricht ein Cowboy mit einer splitternackten Frau, die sich unbeholfen räkelt. Daiga lacht laut und befreit auf.

Diese Szene aus Claire Denis’ „Ich kann nicht schlafen“ lässt sich als Verdichtung des ganzen Films sehen, vielleicht sogar als eine Art Quintessenz des Kinos der Claire Denis. Daiga erlebt den Film (auch) als etwas Positives, obwohl er streng genommen das repräsentiert, wovor sie in der Wirklichkeit entkommen wollte: den männlichen Blick, der sie zum Objekt macht und unterdrückt. Die klassische feministische Kritik würde einen solchen Film aufgrund seiner Intention, nämlich der einseitigen Befriedigung männlicher Fantasien, wohl verurteilen und „PorNO!“ rufen. Daiga aber dekonstruiert den Film, liest ihn gegen seine intendierte Bedeutung, oder um es mit Gertrud Koch zu formulieren: Die Art, wie sich Daiga den Film aneignet, ist „eine, die sich in Scherben spiegeln kann.“ Sie zerschlägt das pornografische Machwerk in Fragmente und nimmt den Bedeutungsüberschuss der Zeichen wahr, das Unbeabsichtigte und Ungedachte.

Denis’ Filme sind von vornherein ein einziger Scherbenhaufen: Der Plot bleibt bruchstückhaft und assoziativ, die Dialoge kommen immer wieder zum Erliegen und die Momentaufnahmen sind bedeutsamer als ein großes Ganzes. Da keine Psychologisierung erfolgt oder eine moralische Haltung eingenommen wird, scheint es fast, als wäre „Ich kann nicht schlafen“ bloß noch konnotativer Überschuss, dem keine zwingende Lesart und Absicht zugrunde liegt. An die Stelle konventioneller Spannungsbögen und konstruierter Thrills treten eine sinnliche Atmosphäre und ein eigenständiger Blickwinkel. Die produzierten Bilder der Stadt haben nichts mit den typischen Postkartenmotiven gemein, sondern wagen einen diskreten Blick auf die Ränder der Metropole,- weit und breit kein Eiffelturm in Sicht.

Hier ist nichts fabelhaft, die Blicke der weißen Männer und mit ihnen Rassismus und Sexismus sind allgegenwärtig. In der Blickökonomie stehen die Polizisten, die Legalen und Heteros ganz oben, Paris liegt ihnen in der verstörenden Eröffnungsszene buchstäblich zu Füßen, als wäre die Stadt ein gigantisches centerfold. „Ich kann nicht schlafen“ nimmt all das wahr, erzählt aber vor allem von denen, die beguckt werden und ihren Versuchen, an der Gesellschaft und den Möglichkeiten des Großstadtlebens Teil zu haben. Da sind neben der Immigrantin Daiga noch Théo, der sich nach einem imaginierten Martinique, der Heimat seiner Eltern, sehnt und dessen schwuler Bruder Camille, der als Travestiekünstler auftritt und seinen teuren Lebenswandel mit Raubmorden an alten Damen finanziert. In Ellipsen folgen wir den drei Protagonisten auf ihren Wegen durch die Stadt, die vom Gedanken an Sicherheit und Ordnung besessen zu sein scheint, überall lauern Polizisten, Müllmänner und Putzfrauen. Doch immer wieder tun sich Nischen auf, es entstehen zumindest kurzzeitig Freiräume und neue Perspektiven, besonders da wo Regeln und Vereinbarungen gebrochen werden: Da ist die Flucht der Immigranten in die von den Franzosen als Bedrohung wahrgenommene Muttersprache, das gestohlene Geld, die Komik im Porno und immer wieder der Tanz als Ausdrucksmöglichkeit, wenn die Sprache längst gescheitert ist.

„Seid bloß nicht artig!“, gibt Camilles gutmütige Vermieterin ihm und seinem Liebhaber einmal mit auf den Weg und tatsächlich erweisen sich Grenzüberschreitungen für die Protagonisten als eine wertvolle Überlebensstrategie. Am Ende ist das allerdings nicht genug, Camille wird vom Pin-Up zum Phantombild und landet schließlich im Gefängnis, Théo träumt weiter von einer Heimat, die es nicht gibt und Daiga steigt wieder in ihren klapprigen Wolga und verlässt Paris. Weiterfahren, hier gibt es nichts zu sehen.

Zur DVD:
Bild- und Tonqualität sind gut, der Film findet sich sowohl in der französischen Originalfassung mit optionalen deutschen Untertiteln als auch als deutsche Sprachfassung auf der DVD. Bei der deutschen Tonspur findet allerdings keine automatische Untertitelung der russischen Passagen statt. Neben dem Film sind auf der DVD noch einige Trailer und auf der Rückseite des Covers sind kurze Hintergrundinformationen zum Film und zur Regisseurin gedruckt.

Le Havre

(FIN / F / D 2011, Regie: Aki Kaurismäki)

Flüchtlingsschicksal im Retrolook
von Michael Schleeh

Als der nicht gerade im Luxus lebende Schuhputzer Marcel Marx (André Wilms) in seiner Mittagspause im Hafen von Le Havre am Kai sitzend auf das Wasser starrt, entdeckt er den …

Als der nicht gerade im Luxus lebende Schuhputzer Marcel Marx (André Wilms) in seiner Mittagspause im Hafen von Le Havre am Kai sitzend auf das Wasser starrt, entdeckt er den afrikanischen Flüchtlingsjungen Idrissa (Blondin Miguel), der sich aus Angst vor der Abschiebung vor der Polizei ins Wasser geflüchtet hat. Schockiert und berührt zugleich, lässt er ihm ein belegtes Baguette und ein paar Geldscheine auf den Stufen zurück. Doch das Ereignis lässt ihn nicht mehr los, und so macht er es zu seiner Sache, diesem Jungen zu helfen, und ihm die Weiterreise nach England zu ermöglichen. Denn dort hofft Idrissa, seine Mutter zu finden.

Aki Kaurismäkis jüngster Film scheint wie aus der Zeit gefallen: Die Ausstattung und die Dekors lassen an die 60er Jahre denken, was ihm in seinem stilisierten Reduktionismus einen außerweltlichen, enthobenen Schauplatz verleiht. Der Plot um das Flüchtlingsdrama eines afrikanischen Jungen jedoch, der ist hoch aktuell. Und im Verbund dieser beiden Aspekte lässt sich der Film als engagiertes Sozialmärchen lesen, auch wenn ihm so einiges genuin Märchenhaftes abgeht. In „Le Havre“ geschehen Dinge, die sonst eben nicht passieren. Und wenn doch, dann gehen sie in der realen Welt zumeist in die Hose. Dies ist das Schöne und Humane an Kaurismäkis Film: Denken wir uns doch einfach mal, die Sachen klappen so, wie man sie sich vorstellt, so dass am Ende sogar noch alles gut wird. Das ist ziemlich schockierend.

Marcel vermag eine besondere Solidarität unter seinen Mitmenschen zu wecken – etwa wenn es darum geht, das benötigte Reisegeld für den Jungen zusammen zu bekommen. So wird kurzerhand ein Solidaritäts-Konzert mit dem ehemaligen, nun abgehalfterten Hardrocker Little Bob organisiert (laut Kaurismäki der Elvis Le Havres), welches natürlich ein voller Erfolg wird – ein Schelm, wer hier an Johnny Hallyday denkt. Wenn dann die Polizei anrückt, hier ikonographisch stilisiert im ermittelnden Kommissar (Jean-Pierre Darroussin) mit Trenchcoat und Hut, schmalen Lippen und durchdringendem Blick, dann büxt man am Eingang eben schnell aus und klemmt sich geschwind die Kasse unter den Arm. Und so kommt auch Kaurismäkis Film immer wieder davon, denn schließlich wurde eine offene, schwebende Erzählhaltung etabliert, die solche Handlungsentwicklungen möglich und innerhalb der Logik des Films glaubhaft macht. Man befindet sich – an der Seite der Gauner – nun eben kurzerhand in der Kriminalkomödie (während wir eben auf dem Konzert noch im Musikfilm waren), ergo: es muss die Flucht gelingen.

Dass Kaurismäkis „Le Havre“ nicht nur Komödie sondern immer auch Tragikomödie ist, das ahnt jeder, der die Filme des Regisseurs kennt. Aller offenkundigen Unterhaltungswerte zum Trotz befinden wir uns „im Milieu“, in den Kneipen der Tagelöhner und Arbeitslosen, in denen stets getrunken und exzessiv gequalmt wird, wo sich die Tätowierungen auf den Unterarmen befinden und man die Hoffnungen auf ein bürgerlicheres Leben vor Jahren aufgegeben hat, als man als Hilfsmatrose auf irgendeinem Dampfer gen Südostasien aufgebrochen war. Doch Kaurismäki weiß, was er tut: hier ist Freundschaft und Mitmenschlichkeit noch möglich, hier lässt man sich auf solch ein irrsinniges Projekt noch ein, hier finden sich Menschen, die, selbst am Rande der Gesellschaft stehend, den Gestrandeten helfen. Und so geht Marcel, der selbst einmal Schriftsteller werden und mit dem Roman schreiben sein Geld verdienen wollte, seiner Wege. Jeden Tag, mit seinen Utensilien von Straßenecke zu Straßenecke, bis der Arbeitstag in Wind und Wetter vorüber ist, und er nach Hause zurückkehren kann zu seiner Frau Arletty (Kati Outinen), die in die Klinik muss, weil sie schwer erkrankt ist. Doch mit seinem unerschütterlichen Optimismus kämpft Marcel gegen die zwischenmenschliche Gleichgültigkeit und gegen eine unmenschliche, bürokratische Staatsmacht, die vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher finanzieller, politischer und moralischer Krisen – ganz der wahrhaftigen Utopie der Erzählung folgend – dann doch nicht anders kann, als ein Auge zuzudrücken, um für einmal im Dienste seiner Bürger zu stehen und Mitmenschlichkeit vor Recht ergehen zu lassen.

Mein bester Feind

(A / LU 2011, Regie: Wolfgang Murnberger)

Wann ist ein SS-Mann ein SS-Mann?
von Ulrich Kriest

Die an und für sich völlig legitime, wenngleich mitunter von Kritikerkollegen auch etwas wohlfeil (in „Jud Süss – Film ohne Gewissen“ war Bleibtreu doch ganz wunderbar als Knallcharge!) gestellte Frage: …

Die an und für sich völlig legitime, wenngleich mitunter von Kritikerkollegen auch etwas wohlfeil (in „Jud Süss – Film ohne Gewissen“ war Bleibtreu doch ganz wunderbar als Knallcharge!) gestellte Frage: Brauchen wir wirklich noch einen weiteren Nazi-Kostümfilm mit Moritz Bleibtreu in der Hauptrolle? – hier ist sie tatsächlich fehl am Platz. Denn Wolfgang Murnberger („Der Knochenmann“) ist mit „Mein bester Feind“ ein überaus intelligenter Film gelungen, der seine Spannung nicht etwa im Blick auf das auch nur vermeintlich glückliche Ende generiert, sondern vielmehr durch den aberwitzigen Weg dorthin.

„Mein bester Feind“ erzählt die Geschichte zweier Männer zwischen 1938 und 1945. Der eine, Viktor (Moritz Bleibtreu), ist der Sohn reicher jüdischer Kunsthändler, der andere, Rudi (Georg Friedrich), ist der Sohn von deren Putzfrau. Die jüdische Familie hat Rudi immer als Ziehsohn betrachtet, aber der hat sich selbst immer als Parias begriffen – und tritt seiner Ziehfamilie schließlich gleich nach dem Anschluss Österreichs in einer feschen SS-Uniform gegenüber. Rudi will endlich auch einmal etwas darstellen in der Welt. Die Geschichte von „Mein bester Feind“ ist schnell erzählt: Die Juden besitzen etwas sehr Wertvolles, was die Nazis gerne hätten – eine Original-Zeichnung von Michelangelo. Doch es kursieren zur Sicherheit auch mehrere Fälschungen dieser Zeichnung. Davon weiß Rudi leider zunächst nichts.

Was folgt, ist eine aberwitzige Verwechslungs-, Verfolgungs- und Macht-Komödie (kein Slapstick!), die trotz aller Volten nie vergisst, dass man als Jude mit Nazis nur verhandeln kann, wenn man etwas so unerhört Wichtiges wie eine Original-Zeichnung von Michelangelo besitzt. Kommt so gut wie nie in Realität vor – und der Film stellt auch ganz deutlich klar, dass de facto mit der Kunsthändler-Familie kurzer Prozess gemacht worden wäre. Jetzt dauert dieser Prozess etwas länger.

Dass hier ein Märchen vom Überleben erzählt wird, das es in der Realität schwerlich gegeben haben dürfte, hält der Film in jeder seiner unglaublichen und oft auch unglaublich komischen Volten präsent: woran erkennt man einen SS-Mann, wenn er keine SS-Uniform mehr trägt? Schwierig zu beantwortende Frage, gerade auch nach Kriegsende. Und ist auch sozialpsychologisch zu jedem Moment auf der Höhe der Handlung, wenn er den Nazismus in jeder Faser seines Systems als blanken Terror- und Gewaltzusammenhang beschreibt, der sich jederzeit auch gegen die eigenen Leute richten kann, weshalb auch ein paar Figuren ziemlich sang- und klanglos aus dem Film verschwinden.

Wenn ganz am Schluss die Überlebenden mit einem Bild des ermordeten Vaters in der Hand (scheinbar) triumphierend von dannen ziehen, dann ist diese Feier des Überlebens zugleich ein begrüßenswert unversöhnliches Memento Mori. Klüger, unberechenbarer und wirklich mit erstklassigen Darstellern in Spiellaune besetzt kann man sich Unterhaltungskino mit politischem Anspruch und Respekt vor der Intelligenz des Zuschauers eigentlich nicht wünschen.

Link zum Interview mit Regisseur Wolfgang Murnberger

Quarantäne 2 – Terminal

(USA 2011, Regie: John Pogue)

Zombies im Flughafen
von Sven Jachmann

„[REC]“ (2007) war sicher einer der effektivsten Horrorfilme der letzten Jahre. Eine spanische Zombievariation, die durch den beschränkten Raum eines städtischen quarantänisierten Mietshauses und dank des permanenten Einsatzes der subjektiven …

„[REC]“ (2007) war sicher einer der effektivsten Horrorfilme der letzten Jahre. Eine spanische Zombievariation, die durch den beschränkten Raum eines städtischen quarantänisierten Mietshauses und dank des permanenten Einsatzes der subjektiven Handkamera eines darin gefangenen Fernsehteams ein fast schon meditatives, zumindest aber reflexives Arrangement ihrer genreklassischen Grundlagen entwarf: eine kleine Menschengruppe muss sich ohne aussichtsreiche Fluchtmöglichkeiten gegen eine Horde Infizierter verteidigen, Basis schon des George A. Romero-Werks „Die Nacht der lebenden Toten“.

Was allerdings an weiteren Beiträgen folgte, war schlicht gestrickter Unfug, der die Komplexität der Vorlage ans schlichte Gemüt des forderungsfreien Fortsetzens weiterreichte: 2009 ein spanisches Sequel, das die offenen Fragen des erste Teils mit religiösem Mummenschanz beantwortete und im Jahr zuvor ein amerikanisches Remake mit dem Titel „Quarantäne“, für das auch nicht eine Modifikation im Sinne einer interpretatorischen Leistung ersonnen wurde. An dieses Remake knüpft nun „Quarantäne 2 – Terminal“ an, setzt aber nicht, wie das spanische Sequel, nahtlos den Plot des Originals fort, sondern entwirft eine Parallelhandlung zum städtischen Seuchenausbruch.

Der Film fährt die dokumentarische Unmittelbarkeit des Schreckens des Originals auf die Konventionalität einer in jederlei Hinsicht unspektakulären Kamera- und Montagetechnik runter und tilgt außerdem die einstige Klaustrophobie der dunklen Wohnungen durch die unübersichtliche Architektur eines Flughafenterminals. Dorthin rettet sich vorerst ein Pulk der üblichen Versprengten, nachdem im Flugzeug beim besonders korpulenten Fluggast, dessen Fettleibigkeit vor allem für ein paar tumbe Scherze dringlich war, das Virus ausbricht. Raus kann man nicht, weil das Militär dort bereits, wie in sämtlichen Vorläufern, schussbereit wacht, drinnen verharren will man nicht, weil der filmische Raum so desinteressiert erschlossen bleibt, dass die Infizierten einfach unversehens aus den labyrinthischen Metallgängen vor die erschrockenen Gesichter hüpfen. Statt der stillen Observation toter Winkel gibt es nun „Alien“-Fluchten, statt der unsystematischen Reduktion der Hysterie und der bangen Suche nach Ursachen wüten nun hinterfotzige Bakteriologen und selbstsüchtige Managertypen, denen man den Tod natürlich wünschen soll – so wird er wieder vom Gespinst der Bestrafung in eine narrative Ordnung zurückgeholt, als bloßes Schreckbild, das jederzeit grundlos zuschlagen kann, reicht er nicht mehr aus. Das simple Drehbuch-Credo lautet: Den ganzen früheren Firlefanz bitte mit mehr Zugänglichkeit versehen, von der Panik bis zum Sterben, und so geleiten mehr Schock, mehr Gruppenkonflikt, mehr Motivklau, mehr Bewegung, mehr Figurentypen, mehr Vorhersehbarkeit, ausnahmslos also mehr Entschlackungsambitionen durch die regelrechte Karikatur eines Sequelflicks, bis das Original ein weiteres Mal in ein weiteres Setting durchgepaust wurde. Ein standardisiertes Verfahren der Industrie eigentlich, aber manchmal ist es eben trotzdem kaum zu glauben.

Blue Velvet

(USA 1985, Regie: David Lynch)

Böse große Jungssachen
von Andreas Thomas

„So ein abgeschnittenes Ohr kann – wie Sie wissen – mitunter wahre Abgründe auftun. Nun, 'Blue Velvet' war vielleicht Mitte der 80er-Jahre schockierend. Gemessen an dem, was uns heutzutage in …

„So ein abgeschnittenes Ohr kann – wie Sie wissen – mitunter wahre Abgründe auftun. Nun, 'Blue Velvet' war vielleicht Mitte der 80er-Jahre schockierend. Gemessen an dem, was uns heutzutage in Talkshows serviert wird – Inzest, Pädophilie, Selbstverstümmelung, also fast jede Form menschlicher Abartigkeit – wirkt der Film doch recht harmlos.“ – David Lynch im Interview, nach dem Jahrtausendwechsel

Die Welt von Lumberton ist heil, so heil, dass in ihr notwendig das blanke Böse enthalten sein muss. Wir stecken in der Zange des in Zeitlupe lachenden Feuerwehrmannes, der den Film zusammenhält. Er winkt langsam, als wolle er sagen: Entspann dich, mein Kind, es kann dir nichts geschehen. Nette alte Damen geleiten uns über die Straße zur Schule, der Himmel ist blau, die Rosen vorm weißen Zaun, der unser Haus umgibt, blühen überreal rot, Holztransporte rollen schwer auf unseren heimatlichen Straßen. Der Fernseher zeigt Krimi, der Rasen wird gesprengt, und wenn der Schlauch sich um den Strauch wickelt, dann bremst das nicht nur das Wasser, sondern blockiert auch Vatis Blutgefäße im Hirn. Ein Schlaganfall, oder so, jedenfalls ein Grund für Student Jeffrey Beaumont, als Stellvertreter des Vaters zurück in seine Kindheit zu gucken, und darüber hinaus, jenseits der Lincoln Street, da, wo nur die großen Jungs hin kommen und böse große Jungssachen machen.

Geahnt hatten wir schon von klein auf, dass jener verkrampften Beschwörung der guten, heilen Welt eine mindestens ebenso muskulöse Antithese der bösen, kaputten Welt entgegenwirkt. Aber David Lynch war einer der ersten, die uns sogar das Enthaltensein der einen in der anderen gezeigt haben. In jeder Faser der Fernsehfamilienidylle der Beaumonts (schöne Welt) steckt schon das Unheilvolle, vom Traum zum Alb mutierende, so als lebe in der frommen Lüge die gottlose Wahrheit. Lynch zeigt das nicht plakativ, wie z.B. ein Waters das täte, er gibt sich nur bis zur Naivität aufgeschlossen den unheilvoll harmlosen Kleinstadt-Bildern Lumbertons und seiner Bewohner hin, und kommt ihnen und ihren amerikanischen Codes dadurch näher als ein a priori Skeptiker das täte.

Jeffrey findet auf einer Wiese ein abgeschnittenes Ohr. Ordnungsgemäß bringt er es zur Polizei. Das Ohr ist Symbol der Lynch-Welt, denn kaum ein Regisseur setzt Sounds so bewusst ein wie er. Oft sind es banale Bilder untermalende, dräuend grummelnde Bässe, die uns verunsichern. Lynchs Geräuschtapeten sind seinen Bildern gleichberechtigt und meistens ebenso aufwändig (in „Blue Velvet“ von Alan Splet und ihm) hergestellt und durchkomponiert worden. In das mit einer Schere abgetrennte Ohr eines Fremden wird der Kamerablick gezogen, dessen Inneres ist plötzlich eine düstere Höhlenlandschaft, und der Sound schwillt an, – Jeffrey ist von seinem Fund erschreckt und fasziniert, das morbide Geheimnis weckt seine Neugier.

Zusammen mit Sandy (Laura Dern), der Tochter des Inspektors, spielt er Detektiv. Er ermittelt aus einem Versteck heraus, wird dadurch zum Voyeur – und wir mit ihm. Jeffrey ist rein und unschuldig verliebt in die ebensolche Sandy, schmutzig und verdorben in Dorothy Vallens (Isabella Rossellini) und beides gleichzeitig. Klare Freudsche Muster: Die helle, reine, unschuldige ist die Blondine. Die kranke, gedemütigte, erotisierende ist die Schwarzhaarige. In „Blue Velvet“ ist Sex stets verknüpft mit Macht, Unterdrückung, Gewalt, Perversion und Psychose. Liebe dagegen schliesst die Libido scheinbar aus. Wir sehen zwar, dass Sandy und Jeffrey sich küssen, aber dieser Kuss ist eher die Besiegelung zärtlicher Verbundenheit als der Beginn eines Vorspiels. Dorothys Kuss dagegen und ihre sadomasochistischen Wünsche wecken in Jeffrey abgründige sexuelle Begierden.

Der expressivste Charakter und das Konzentrat dieser Abgründigkeiten ist zweifelsohne Dennis Hopper als Frank Booth (Abraham Lincolns Mörder trug übrigens denselben Namen). Als Hopper das Drehbuch für „Blue Velvet“ gelesen hatte, rief er Lynch an und erklärte, er müsse den Frank Booth spielen, weil er Frank Booth sei. Lynch: „Ich saß in der Klemme, denn ich hatte nicht die geringste Lust mit jemandem wie Frank Bekanntschaft zu machen. [Lacht]“ (aus „Lynch über Lynch“)

Vermutlich ist Frank Booth tatsächlich für Hopper die Rolle seines Lebens. Selten sah man ihn so auf dem Punkt, wie hier als der komplex psychotische, von merkwürdigen Drogen abhängige (er inhaliert z.B. immer wieder ein Gas, das er in einer Flasche mit sich führt) Booth. Antrieb für alle seine Taten scheint seine Impotenz zu sein. Um sich Dorothy gefügig zu machen, entführte er ihren Sohn und Ehemann und schnitt letzterem das Ohr ab. Nur die Anwendung einer Mixtur aus Drogen, Gewalt, daraus resultierender Macht, Sadomasochismus und Fetischismus (blaue Samtfetzen, die er sich und seinen Opfern in den Mund steckt) scheint ihm einen Rest von Befriedigung verschaffen zu können. Als Anführer eines kriminellen Freundeskreises ist jedes zweite seiner Worte: „fuck“, aber sicher fühlt er sich nur im Verborgenen, Dunklen, wo keiner merkt, dass er gerade das nicht mehr kann. Unfähig zu Gefühlen, Kommunikation und Beischlaf kommt sein „Liebesbrief“ aus seiner „Kanone“: ein männlicher Konflikt mit einer männlichen Lösung …

Isabella Rossellini spielt sein Opfer mit einer Offenheit, die zum Äußersten geht. Sie – damals als Top-Fotomodell unter Vertrag – zeigt ihren Körper als verletzlich, versehrt, deformiert. Manchmal wirkt ihre (missbrauchte) Nacktheit nahezu krankhaft aufgedunsen und morbide. Das Darstellen des Hässlichen (einer eigentlich schönen Frau), gepaart mit innerer Verzweiflung, geht weit über das übliche Kino-Frauenbild hinaus. Es wirkt wie ein Sinnbild der Frau als Unterdrückte und Sexualobjekt. Wenn Rossellini später geschunden, geschändet und nackt in Jeffreys Vorgarten steht, ist das ein Bild von Ausbeutung und Deprivation, das seinesgleichen sucht. Auch wenn Lynch sich massiv gegen eine solche Verallgemeinerung wehren würde: Natürlich herrscht Frank mit Gewalt über Dorothy, um ihren Körper benutzen zu können. Natürlich hatten und haben Männer mehr Macht, weil sie sich nicht genieren, Gewalt anzuwenden.

Auch Dean Stockwell, notorischer Nebendarsteller etlicher Filme seit 1944 (!), hat in „Blue Velvet“ vermutlich den Höhepunkt seiner Karriere erlebt. In seiner Rolle als tuntiger Bordellbesitzer Ben hat er seinen Glanzauftritt, indem er zu Roy Orbisons „In Dreams“ pantomimisch die Lippen bewegt, sein Gesicht beleuchtet von einer wie ein Mikrofon benutzten Arbeitslampe. Jeffreys unfreiwilliger Besuch bei Ben ist wie der Aufenthalt in einer Vorhölle. Jeffrey spürt in diesem Ambiente die konsequente Verwirklichung jener „dunklen Seite“. „Es ist eine fremde, seltsame Welt.“-„It’s a strange world“, fasst Jeffrey mehrfach seine Erlebnisse in Worte, weil das Dunkle, Gedeckelte, Gewalttätige mit Macht sich nicht nur seinem voyeuristischen Blick entdeckt, sondern eine Spur dessen sich ihm selber, als ureigener Trieb entpuppt. Vielleicht ist es der Sexual-Trieb an sich, den sich der adoleszente Mann zu entdecken hat, aber es ist auch die Dichotomie zweier Prinzipien, die ihn und uns bannt: Die reine, naive und auch verlogene, neurotische, lustfeindliche bürgerliche Ordnung steht gegen die unverhohlen brutale, exzessive, kriminelle, schließlich psychotische (Un)ordnung proletarischer Couleur.

Wir sehen gepflegt-geordnetes amerikanisches Bürgerleben in der aufregendsten Skizzierung, wir sehen die definitive Artikulation der Impotenz (Hopper, seine beste Rolle), wir sehen wirklich verlorene Wesen (Rosselini, ihre beste Rolle), wir sehen den Entwicklungsroman (MacLachlan, seine beste Rolle). Aber wenn uns beim Happy-End wieder der Feuerwehrhauptmann zuwinkt, haben wir Heranwachsenden endgültig gelernt: Diese seltsame Welt da draußen jenseits der Lincoln Street ist gar nicht wirklich erforscht und besiegt, denn sie ist noch undurchdringlicher, mächtiger und verschlingender geworden, und ihre Flammen züngeln in unsere Fernsehserienfamilienwelt hinüber – seit wir auf sie einen genüsslich masochistischen Blick werfen durften, und wir wissen, dass sie auch in uns selber existiert.

Ich glaube, David Lynch ist kein Träumer, sondern einer der wenigen Realisten des amerikanischen Kinos, mit einem scharfen und mutigen Blick für die innere Logik individueller, aber auch sozialer Psyche. „Psychic Reality“ hat das mal jemand genannt. Aber das besonders Nette an Lynch ist, dass er uns neben dem Schauder auch den Spaß an dieser unserer unheilen psychischen Realität vermittelt.

„Blue Velvet“ ist einer der wenigen Filme Lynchs, in denen das Surreale zwar angedeutet, aber noch weitgehend von einer in sich schlüssigen Handlung losgelöst existiert. In seinen späteren Filmen „Wild At Heart“ (1990), “Twin Peaks – Fire Walk With Me” (1992), “Lost Highway” (1996) und “Mulholland Drive” (2001) sind surreale und reale Elemente gleichberechtigte, miteinander untrennbar verwobene Handlungsbestandteile, wie auch zuvor schon in „Eraserhead“ (1976). „Der Elefantenmensch“ (1980) arbeitet, wie auch der Science Fiction-Film „Dune – Der Wüstenplanet“ (1984), mit ausdrucksstarken Traumsequenzen, ohne sie als real zu apostrophieren, und einzig „The Straight Story“ (1999) scheint ohne Irrationales auszukommen, wäre da nicht die Szene mit der Autofahrerin, die, um die Rehe zu verscheuchen, auf Landstraßen so laut sie kann „Public Enemy“ aufdreht, und dennoch jedes Mal eines totfährt. Aber das gehört woanders hin …

Martin Scorseses Reise durch den amerikanischen Film

(USA / GB 1995, Regie: Martin Scorsese, Michael Henry Wilson)

Blockbuster vs. Bilderstürmer
von Andreas Thomas

Welcher ist wohl Martin Scorseses zurzeit (Stand: August 2011) beliebtester Film? Die Antwort der Leserschaft der berühmten Internet Movie Database lautet nicht: „The Aviator“, nicht „Taxi Driver“ und auch nicht …

Welcher ist wohl Martin Scorseses zurzeit (Stand: August 2011) beliebtester Film? Die Antwort der Leserschaft der berühmten Internet Movie Database lautet nicht: „The Aviator“, nicht „Taxi Driver“ und auch nicht „Raging Bull“. Mit einer Durchschnittsnote von 8,7 von 10 möglichen Punkten rangiert eine bereits über zehn Jahre alte TV-Dokumentation Scorseses mit dem langen Titel „A Personal Journey with Martin Scorsese Through American Movies“, ein Film, der vor über zehn Jahren einmal bei Arte zu sehen war, sogar noch vor seinem bis dahin all-time-favourite „Goodfellas“.

Eine Spitzenposition in den IMDb-Charts sollte nun nicht der einzige Grund sein, sich mit dem beinahe 4-stündigen Film-Essay bekannt zu machen, muss es auch nicht, weil sich das Werk am besten selbst empfiehlt. „Martin Scorseses Reise durch den amerikanischen Film“ macht offenbar nicht nur Filmgeschichte, der Film erzählt auch von ihr (d.h. Scorsese schwärmt, beschwört, begeistert sich, analysiert, mit unermüdlicher Faszination), der Geschichte des US-amerikanischen Films, von Hollywood, und das auf jene kenntnisreiche und besessene Art eines Kino-Süchtigen, dessen einziges Entzugsmittel immer nur, wie er sagt: „noch mehr Kino“ hieß.

An den Anfang des 225-minütigen Werks stellt Scorsese bezugsreich Minnellis „Stadt der Illusionen“, den „emblematischen Film über die halluzinatorische Kraft des Films“, dessen Thema, die Maschinerie Hollywood, für Scorsese immer auch vom Gegenüber „Kunst gegen Kommerzialität“ durch die Reibung zwischen Regie und Produktion geprägt ist. Im Konflikt zwischen Regisseur und Produzent erkennt Scorsese einen „ewigen Streit“, ein fortwährendes Kräftemessen, das basal ist für die Hollywood-Geschichte. Von diesem roten Faden geht er in seiner „Reise“ aus, zu ihm kehrt er immer wieder zurück, um ihn herum ist die nicht chronologische Dokumentation gebaut, die vom „Dilemma der Regisseure“ handelt, einen Weg zwischen Experiment und Anpassung finden zu müssen. Scorsese vollzieht verschiedene dieser Wege und Lösungen plastisch nach:

Mit D.W. Griffiths „The Birth of a Nation“ von 1915, so Scorsese, wurde das Kino erwachsen und etablierte sich zum Kunstwerk. Seine Stärke ist die „Sprache der Bilder“, die „visuelle Grammatik“ und der Film ist Initialzündung für das „Monumentalkino“, für die „historischen Dramen, die nur dann den Zuschauer erreichen, solange sie mit Einzelschicksalen verknüpft sind“. In dieser Tradition sieht Scorsese (bescheiden) auch sein „Gangs of New York“.

Wie „der Regisseur als Geschichtenerzähler“ immer auch die amerikanische Geschichte miterzählt, macht Scorsese deutlich, wenn er die Film-Genres behandelt. Die drei Hauptstränge amerikanischer Kultur finden sich in der Genres wieder: In den Western die Konflikte der Grenzgebiete, im Gangsterfilm die Geschichte der Städte der Ostküste, in den Musicals der Einfluss des Broadways. Diese drei Genres, so Scorsese, seien bestimmend für das amerikanische Kino und ihre immer wieder neu und raffiniert variierende Vermischung machen „den Reiz Hollywoods“ aus. Das Faszinierende der mit vielen Filmausschnitten (auch aus Scorseses kostbarem und umfangreichen privaten Filmarchiv) illustrierten „Reise“ verstärkt sich, wenn man ein wenig bewandert ist in Scorseses Werk, und er weist sehr erhellend darauf hin, gerade für den filmhistorisch nicht sattelfesten Filmfreund, dass etwa „Goodfellas“ sich an Filmen wie „Die wilden Zwanziger“ (Walsh) oder „Scarface“ (Hawks) orientiert. Wenn Scorsese feststellt, wie „in der Nachkriegszeit die Gangsterbande ein Konzern und die ganze Gesellschaft korrupt geworden“ ist und das Individuum gegen das System keine Chance mehr hat, dann befinden wir uns sowohl in der Historie Amerikas und Hollywoods als auch in der Wahrnehmungswelt des Sohnes italienischer Einwanderer und Katholiken Scorsese.

Auch am Western interessiert Scorsese der Wandel vom „Klischee des guten Helden hin zur Ununterscheidbarkeit von Held und Schurken“ (Beispiel: „Der schwarze Falke', Ford) und „seine Verstrickung in die Zwänge einer gewalttätigen Welt“; die Schuldverstrickung, natürlich ein Grundthema des Regisseurs, der beinahe Priester geworden wäre.

Wie wir wissen hat Scorsese sich auch – mit umstrittenem Erfolg – an das Musical gewagt. Aber wer hätte gedacht, dass „New York, New York“ sich am Vorbild „Mein Traum bist du“ (1948) von Michael Curtiz mit Doris Day orientierte? „Die auch im Musical sichtbaren, dunkel gefärbten Strömungen des Nachkriegskinos, Geschichten, in denen private Beziehungen den Karrieren geopfert werden“, empfindet Scorsese als signifkant für ihre Zeit.

Aber Scorsese widmet sich auch den technischen Aspekten des Kinos. Er reserviert ein Kapitel für den Neubeginn durch den Tonfilm, er zeigt, wie die Farbe und das Cinemascope-Format dem Historien-Film (Initialzündung „Das Gewand“) und dem Western eine neue Entwicklungsform bereit stellte (und so alleine die Filmtechnik neue Genres erschuf). Er beschäftigt sich mit der Frage, ob, im digitalen Zeitalter, mit dem Ende des Monumentalkinos auch das Ende des epischen Kinos, gar der Filmkunst, gekommen sei, weist aber darauf hin, dass auch Kubricks „2001“ schon mit digitalen Effekten arbeitete und dennoch, wie Griffiths „Intolerance“ oder Murnaus „Sunrise“, alles zugleich sein konnte: „Superproduktion, Experimentalfilm und visionäres Gedicht.“

Ob Kino also auch Kunst sein (und bleiben) kann, ist für Scorsese immer zuerst eine Frage nach der kreativen Intention der Regisseure, und nach ihren Fähigkeiten, ihre Kunst, ihre Visionen oder auch – in politisch finsteren Zeiten – ihre versteckte Gesellschaftskritik auf die Leinwände zu „schmuggeln“. Gerade Filme mit weniger Geld haben dafür mehr Freiheiten. Als Beispiel nennt Scorsese (und zeigt er Aussschnitte aus) Jacques Tourneurs „Katzenmenschen“, ein B-Movie, das „für die Entwicklung eines reiferen Kinos so wichtig war, wie ‚Citizen Kane’“.

Ein Kapitel über den Film noir setzt Scorsese erst in den zweiten seiner drei „Reisefilm“-Abschnitte, wohl weil seine Klassifizierung als Genre immer umstritten war. Am Film noir interessiert Scorsese vor allem der Topos, dass darin das „Verbrechen nicht mehr Domäne der Unterwelt ist, sondern jeder ein potentieller Verbrecher“. Ein Beispiel für Scorseses vielfältige Recherchen ist ein prägnanter Fritz-Lang-Interviewausschnitt (Scorsese sammelte Interviews aus Archiven und führte selbst Interviews, sodass in seinem Film zu Worte kommen: Kathryn Bigelow, Frank Capra, John Cassavetes, Francis Ford Coppola, Brian De Palma, André De Toth, Clint Eastwood, John Ford, Samuel Fuller, Howard Hawks, Elia Kazan, Fritz Lang, George Lucas, Gregory Peck, Arthur Penn, Nicholas Ray, Douglas Sirk, King Vidor, Orson Welles, Billy Wilder) mit dem Satz: „Gewalt ist endgültig Bestandteil von Drehbüchern geworden“ und der Feststellung: „Die Furcht vorm Teufel ist durch die Furcht vor dem physischen Schmerz abgelöst worden.“ Vielleicht lässt sich die Grundthematik des Film noir mit Scorseses Worten charakterisieren: „Es gibt keinen moralischen Kompass mehr.“ Freimütig übrigens gesteht der Verfasser dieser Zeilen, dass ihm die von Scorsese gelieferte ursprüngliche Herkunft des Begriffs „Film noir“ „US-Filme, die bis 1946 in Frankreich verboten waren“, bisher neu war.

Im letzten und dritten Teil seiner Dokumentation, die sich zunächst mit der McCarthy-Ära beschäftigt, erläutert Scorsese genauer, wie er den „Regisseur als Schmuggler“ verstanden haben will; und er illustriert mit Filmausschnitten von Douglas Sirk, Nicholas Ray oder Samuel Fuller, wie gerade in Zeiten gesellschaftlicher Repression eine faszinierende Ära des amerikanischen Kinos anbrechen konnte, weil es unter dem Druck der Zensur neue und subtilere Wege gehen musste, um Kritik an den herrschenden Verhältnissen zu üben. Ray („… denn sie wissen nicht, was sie tun“) und Sirk („Was der Himmel erlaubt“) spezialisierten sich auf auf den Einsatz des Melodrams, um die „Americana“ zur entlarven. Die beengte Kleinstadtatmosphäre stand dabei für die Stimmung im ganzen Land. Und Samuel Fullers Themen Scheinheiligkeit und Patriotismus fanden ihren filmischen Höhepunkt in „Schock-Korridor“, der kaum verklausuliert den Kalten Krieg und den amerikanischen Rassismus anprangerte, so der überzeugende Tenor Scorseses.

Den „Schmugglern“ gegenüber stellt er die offenen Anklagen der „Bilderstürmer“, die es – bei Griffith („Gebrochene Blüten“) angefangen – schon immer in Hollywood gab. Dazu zählt er Stroheim, von Sternberg, Chaplins „Der große Diktator“ oder Kazans „Endstation Sehnsucht“. Als „vermutlich größten Bilderstürmer Hollywoods“ bezeichnet er den 25-jährigen Orson Welles mit dessen „Citizen Kane“.

Je weiter sich Scorsese mit den Bilderstürmern beschäftigt, desto begeisterter wirkt er. Er berichtet, wie er mit zwölf Jahren zum ersten Mal Kazans „Die Faust im Nacken“ sah und Brandos „neue Art zu spielen“ für ihn eine „Offenbarung“ war. Kazans Stil scheint ihm maßgeblicher Wegbereiter für die „Bilderstürmer der 50er und 60 Jahre“: Robert Aldrich, Richard Brooks, Robert Rossen, Billy Wilder, Arthur Penn, Sam Peckinpah. Er hebt hervor: Premingers „Der Mann mit dem goldenen Arm“ mit dem gewagten Thema Heroinsucht, Wilders „Eins zwei drei“ mit seinem verschärften Humor und Penns „Bonnie und Clyde“, der zusammen mit Peckinpahs „The Wild Bunch“ der letzte „Sargnagel“ des „Production Code“, der offenen Zensur in Hollywood, bedeutete. Eine Sonderbezeichnung erhält John Cassavetes von Scorsese. Seine Filme seien „Epen der Seele“ und ihr Regisseur der „Guerillero der Filmemacher“. Respektvoll schwärmt er von Kubricks Filmen und besonders seinem „Barry Lyndon”. „Oberflächlich kühl und abweisend, ist er doch einer der gefühlvollsten Filme, die ich je gesehen habe!“

Bereits 25 Jahre vor der Produktion dieses seines Film-Essays, beim Jahr 1970, schließlich stoppt Scorsese seine Analyse – mit der Begründung, dass er ab hier „selber mitspielt“ und nicht berechtigt sei, über sich und seinen eigenen Einfluss zu sprechen.

Dafür haben wir ungeahnt viel über die Regisseure und die Filme erfahren, die Einfluss auf Scorsese hatten – um festzustellen, dass der profunde Kenner Scorsese das komplette amerikanische Kino in sich aufgesogen hat. Überall in seinem Werk finden sich Merkmale, Elemente, Ideale und Mythen der amerikanischen Filmgeschichte wieder – was zu beweisen war und vom Regisseur selbst bewiesen wurde. „Scorseses Reise …“ lebt von der Faszination des Kinos für den Filmfanatiker, dessen Fanatismus ihn nicht nur zum Regisseur, sondern auch zum Film-Historiker aus Leidenschaft hat werden lassen. Deswegen ist die persönliche Dokumentation aber auch ein Vermächtnis des amerikanischen Films per se geworden. Nicht nur die zu den einzelnen Kapiteln erklingende schöne Titelmusik von Elmer Bernstein gibt einem das Gefühl, in einem schweren, roten Kinosessel einen dieser Filme zu sehen, von denen dieser Film handelt. Denn der Plauderer und der Spurensucher Scorsese, mit seinen irritierend zueinander strebenden Augenbrauen (die sich auch in der Titelgrafik keines Geringeren als Saul Bass wiederfinden), verwandelt einen eloquenten Monolog in ein Schatzkästlein, geöffnet wie von einem Freund, der einen in die Mysterien des Kinos einweiht. Wenn dann Scorseses Schlusswort vom Kino als dem „Bedürfnis des Menschen, eine gemeinsame Erinnerung teilen zu können“ und von der „Suche nach dem kollektiven Unbewussten und nach Spiritualität“ handelt, dann erweist sich, wie viel Katholizismus in seiner Begeisterung steckt. Weil Scorseses Liebe zum Kino religiöser Natur ist, ist seine „Reise“ zugleich Gottesdienst, cineastisches Glaubensbekenntnis, nebenbei die Beichte einer Suchtkarriere, aber vor allem die Dokumentation der amerikanischen Filmgeschichte, welche – wie sagt man so schön? – jeder Filminteressierte unbedingt gesehen haben sollte.

Eine DVD der Originalfassung (mit deutscher Voice over und deutschen Untertiteln) ist einzeln oder als Teil der 7 DVDs umfassenden Gesamtausgabe der Reihe: „Filmgeschichte Weltweit“ bei absolut Medien erschienen.

Blue Valentine

(USA 2010, Regie: Derek Cianfrance)

Im Kommunikationsgefängnis
von Wolfgang Nierlin

Vergangenheit und Gegenwart, das Erblühen und Verblassen einer Liebe sind in Derek Cianfrances “Blue Valentine” eng miteinander verwoben. In Rückblenden werden die prägnanten Momente eines hoffnungsvollen Beginnens mit dem Status …

Vergangenheit und Gegenwart, das Erblühen und Verblassen einer Liebe sind in Derek Cianfrances “Blue Valentine” eng miteinander verwoben. In Rückblenden werden die prägnanten Momente eines hoffnungsvollen Beginnens mit dem Status quo der Beziehung konfrontiert, wobei die Montage in bildlichen Analogien die Kontraste akzentuiert. Immer wieder treffen sich Blicke, wiederholen sich Umarmungen unter anderen Vorzeichen oder verbinden sich Gefühle mit Erinnerungen. So blitzt das vergangene Glück, zeitlich verdichtet, in wenigen Streiflichtern noch einmal auf, während sich die Beziehungskrise der Gegenwart über einen langen Tag erstreckt.

Schon die Suche der kleinen Frankie (Faith Wladyka) nach ihrem geliebten Hund zu Beginn von „Blue Valentine“ lässt nichts Gutes erahnen. Eine Atmosphäre voller Spannungen und unterdrückter Konflikte schwebt dunkel über dem sich auflösenden Familienidyll. Frankies Mutter Cindy (Michelle Williams), die als Krankenschwester arbeitet, wirkt gestresst und genervt; ihr scheint regelrecht die Luft zum Atmen zu fehlen. Dieses klaustrophobische Grundgefühl spitzt sich noch zu, als ihr Mann Dean (Ryan Gosling), ein romantischer Kindskopf und konvertierter Familienmensch, der als Anstreicher glücklich ist, in einem absurd kitschigen Love-Motel eine Nacht für die beiden bucht. Im sogenannten „Zukunftszimmer“ möchte er die abgenutzte Ehe auffrischen. Doch im Kommunikationsgefängnis aus Missverständnissen und Missverstehen werden vor allem scheinbar unüberwindliche Differenzen deutlich.

Derek Cianfrance entwickelt in „Blue Valentine“ allerdings keine Problemgeschichte. Sein sozialrealistischer Film, der viel Wert auf eine genaue Milieuzeichnung legt, zeigt nicht, wie das Paar in diese Sackgasse geraten ist, sondern eher, wie seine Partner mehr oder weniger hilflos das Ende ihrer Ehe erleben. Unterstützt durch die Musik von Grizzly Bear, setzt Cianfrance deshalb vor allem auf Stimmungen und Emotionen. Gründe für das Scheitern der Beziehung lassen sich allenfalls aus der Figurenpsychologie herleiten: So kommt Cindy aus einem autoritären Elternhaus und hat in der Suche nach Halt mit vielen wechselnden Partnern kein Vertrauen entwickeln können, während das Scheidungskind Dean durch die frühe Entbehrung der Mutter zum Familienmensch geworden ist.

„Lass uns eine Familie sein!“, fleht er verzweifelt in einer der intensivsten Szenen. Dabei trägt sein Aufopferungswille deutlich romantische Züge. Dean ist die sympathische Integrationsfigur, die sich gegen Cindys (emotionale) Haltlosigkeit und gegen die Fliehkräfte seiner Ehe stemmt und mit der Regisseur Derek Cianfrance eigene Kindheitsängste verarbeitet: „Als Kind machten mir zwei Dinge Angst: Die Gefahr eines Atomkriegs und dass sich meine Eltern scheiden lassen könnten. Der Film ist ein Resultat der zweiten Angst.“

Tamala 2010 – A Punk Cat in Space

(J 2003, Regie: Trees of Life)

Das hat keiner gewollt
von Carsten Moll

In seinem Essay „Notes on Charlie Sheen and the End of Empire“ beschreibt der Schriftsteller Bret Easton Ellis einen Paradigmenwechsel, den er in der Celebrity-Kultur unserer Tage auszumachen glaubt. Laut …

In seinem Essay „Notes on Charlie Sheen and the End of Empire“ beschreibt der Schriftsteller Bret Easton Ellis einen Paradigmenwechsel, den er in der Celebrity-Kultur unserer Tage auszumachen glaubt. Laut Ellis zeichnet sich das Dasein und die erfolgreiche Vermarktung als Star seit dem Jahr 2005 immer mehr durch eine schamlose Transparenz aus, die die eigene fucked-up-ness annimmt und zelebriert und sich damit gegen die Verlogenheit der alten Strukturen, des Empire, richtet. Empire sind Ellis zufolge etwa Bob Dylan, Tom Cruise und Tiger Woods. Post-Empire sind beispielsweise Lady Gaga, Kim Kardashian und eben Charlie Sheen, weil sie nicht nach den alten Regeln spielen, welche Gegensätze wie authentisch/künstlich, privat/öffentlich oder richtig/falsch konstruieren. Das Post-Empire ist ein System der Nivellierung, in dem E und U, Mainstream und Subkultur, Dafür und Dagegen zusammenfallen und als Kategorien irrelevant werden.

Bereits 2003 erschien „Tamala 2010 – A Punk Cat in Space“ in Japan, aber der Film ist immer noch Gegenwart wie wenig anderes (von Michael Bays „Transformers“-Reihe einmal abgesehen, aber „Tamala 2010“ hat den Vorteil, konsequenter und clever zu sein). Protagonistin ist das Kätzchen Tamala, ewig jung und ein Star in ihrer Katzen-Parallelwelt. Und man kann es nicht anders sagen: Tamala ist Post-Empire. Sie ist radikale Individualistin, hedonistisch und asozial und dabei eine Werbeikone, deren Konterfei jedes Produkt des Megakonzerns CATTY & Co. ziert. Von den Massen für ihre Niedlichkeit bejubelt zu werden und einem kleinen unschuldigen Katzenkind einen heftigen Karatekick ins Gesicht zu verpassen, bilden hier keinen Widerspruch, sondern sind Teil eines Images. Und mehr als ein Image ist Tamala nicht mit ihren sinnfreien Slogans („‚Juhu!‘ heißt ‚Ich werde dich töten.‘“) und dem Trademark-Augenklimpern. Selbst ihre Romanze mit Kater Michelangelo und die Suche nach ihrer Mutter muten als austauschbare Accessoires oder folgenlose Modifikationen im Lebenslauf einer Videospielfigur an, weniger als Motivation zum Denken und Handeln oder Antrieb einer inneren Entwicklung.

„Tamala 2010“ erzählt nichts, der Film ist mehr ein chaotischer Pop-Katalog, eine faszinierende Bestandsaufnahme der postmodernen Konsumgesellschaft. Da trifft Oscar Wildes Kunstmärchen „Der glückliche Prinz“ auf Josef Schumpeters Theorie von der schöpferischen Zerstörung, der Schwarzweiß-Look von Felix the Cat auf knallbunte 3D-Computergrafiken und die kawaii-Ästhetik von Hello Kitty auf den rauen Ton von Fritz the Cat. Die wilden Assoziationen und endlosen Zitate des Films lassen dabei nicht bloß Pluralismus und Demokratie durchscheinen, sondern erwecken bisweilen den Eindruck von Beliebigkeit und Zufälligkeit bis hin zum Abwegigen. Die Diegese von „Tamala 2010“ kommt damit Brechts Beschreibung des Kapitalismus als „Große Unordnung“ nahe und illustriert eindringlich Marx’ Idee von der Verrücktheit als Moment der Ökonomie. Nicht nur die Ästhetik des Films, auch seine Produktion spiegeln den postfordistischen Kapitalismus unserer Tage wider. Erdacht vom Künstlerduo t.o.L. und dann mit simpler Standard-Software von einem fünfköpfigen Team animiert und produziert, ist der Film das Resultat von Einzelwillen. Hinter „Tamala 2010“ steht kein Masterplan oder planwirtschaftliche Überlegungen, der Film spottet geradezu Marx’ Ausspruch von der Überlegenheit des schlechtesten Baumeisters über die beste Biene. Da sind der fragmentarisierte Plot und das offene Ende nur konsequent, selbst die an Pynchon angelehnte Verschwörungstheorie um eine mysteriöse Katzensekte bietet keine Auflösung oder eine Ordnung unter der wirren Oberfläche, sondern ist bloß eine weitere Verrücktheit, ein Versatzstück unter vielen im postmodernen Chaos, das Intensität Rationalität vorzieht.

Wer nun aufgrund des bisweilen düsteren und ironischen Tons von „Tamala 2010“ wie mancher Kritiker Kulturpessimismus oder eine konsumkritische Haltung (Empire!) zu entdecken glaubt, der übersieht, mit welcher Lust der Film sich die Bilderproduktionen von Hollywood übers Musikvideo bis zum Videospiel aneignet, um seine Totalherrschaft der Ökonomie zu bebildern. Wenn überhaupt, ist „Tamala 2010“ Konsumkritikkonsum, denn wie die japanische Website zum Film verrät, soll das Kätzchen Tamala auch in der Menschenwelt zur globalen Markenikone werden. Das TAMALA2010PROJECT entwickelt sich zum riesigen Merchandise-Imperium mit der Punkkatze als „Super Idol“, vermarktet als Comic, Film, Musik und Game wie einst Lara Croft. Juhu!

Berlin – Paris. Die Geschichte der Beate Klarsfeld

(D 2010, Regie: Hanna Laura Klar)

An die Hand genommen
von Andreas Thomas

„Beate Klarsfeld wirkt sehr französisch, ganz pariserisch, und doch besteht sie darauf, eine gute Deutsche zu sein.“ Verbale Informationen über Dinge, die die Bilder eines Films ja auch ohne Kommentar …

„Beate Klarsfeld wirkt sehr französisch, ganz pariserisch, und doch besteht sie darauf, eine gute Deutsche zu sein.“ Verbale Informationen über Dinge, die die Bilder eines Films ja auch ohne Kommentar zeigen könnten, trüben ein wenig die Freude an einem Kinodokumentarfilm über eine Frau, die in der Tat deutsche Geschichte geschrieben hat. Berühmt wurde sie für eine Ohrfeige, welche sie unter dem Ausruf „Nazi, Nazi!“ im Jahr 1968 dem damaligen Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger verabreichte, um so, erfolgreich, auf seine bis dato kaum bekannte frühere NSDAP-Mitgliedschaft und auf seine Tätigkeit als Nazipropagandist hinzuweisen. Eine Maßnahme, die u.A. vermutlich seine Kanzlerschaft (als Nachfolger Ludwig Ehrhardts) auf drei Jahre beschränkte. Eine physischer Angriff auf einen Politiker, nicht wie eher heutzutage üblich, als Indiz geistiger Verwirrung, sondern als politischer Kommentar, als symbolischer Akt, lange vorbereitet und geplant. „Man muss durch etwas Illegales auf den größeren Skandal aufmerksam machen“, sagt die 1939 in Berlin geborene Klarsfeld heute dazu, die „als gute Deutsche“ nicht hinnehmen konnte, dass ein ehemaliger Nazi Bundeskanzler werden durfte.

Bezeichnend für die Arroganz und Borniertheit jener Vätergeneration: der Kommentar des Kanzlers: „Was sie hier getrieben hat, das … steht in Verbindung mit denen Radaugruppen, die wir in dem letzten Jahr in Deutschland an unseren Universitätsstädten und sonstwo erlebt haben …“ (Grammatikalische Fehler der wörtlichen Rede übernommen).

Der Angelpunkt des Films „Berlin-Paris“ von der Regisseurin Hanna Laura Klar bleibt diese Aktion vom 7.11.1968, für die die Klarsfeld, fast möchte man sagen „standrechtlich“, noch am gleichen Tag zu einem Jahr Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Ein Urteil, das später in 4 Monate auf Bewährung umgeändert wurde; Klarsfelds Anwalt bei der Berufung war Horst Mahler, wie man auf Wikipedia erfährt, nicht aber im Film. Auch dass der Georg Elser-Preis für Klarsfeld, dessen Verleihung auch der Film beiwohnt, intern letztlich nicht legitimiert war, weil seine Entscheidungsfindung gegen die Statuten des Komitees verstieß, wird im Film nicht erwähnt, auch dabei fragt sich, warum eigentlich nicht?

Vielleicht, weil der Film das werden sollte, was er so eben geworden ist: Ein Portrait einer durchaus interessanten und lebendigen seit den Sechzigern in Paris lebenden Dame, das doch in seiner Art einer der Laudationen und Begegnungen der Biografierten mit respektvoll interessierten Kulturförderern ähnelt, die der Film summiert. Brüche, Ecken oder Kanten, offene Fragen bleiben nicht. Stattdessen einige Worte über die und von der Klarsfeld, deren schneller Redefluss mit französischer Intonation (der immer mal wieder durch ein „Bon“ paraphrasiert wird) sich manchmal zu überschlagen droht, manchmal Gedanken und Satzteile verschluckt und mitunter kaum Luft zum Denken lässt.

Nicht unerwähnt lässt der Film die Hauptarbeit von Beate Klarsfeld und ihrem Mann, dem französischen Juden und Anwalt Serge Klarsfeld: nämlich das Aufspüren und zur Verantwortung Ziehen von Nazi-Tätern, wie z.B. Klaus Barbie.

Von der Geschichte der Deportation des Vaters ihre Mannes in Nizza wird berichtet. Fakten, Daten, Hintergründe werden ordentlich präsentiert, nur in der Organisation derselben fehlt es manchmal an Schlüssigkeit, manchmal an dem rechtzeitigen Schnitt und Übergang. Auch taucht die Frage auf, mit welch lax gekleideter Frau die klassisch „französisch“ gekleidete Klarsfeld hier durch Berlin dort durch Frankfurt flaniert, um mitunter gar Kontakt zum Bürger zu erheischen: Es kann niemand anderes sein als die Regisseurin, die sich uns nicht vorgestellt hat, aber deutlich Raum greift, um hier und da die Klarsfeld vorzustellen und um ihre zu Porträtierende an die Hand zu nehmen – eine souveräne und starke Persönlichkeit, die nichts weniger nötig hat, als an die Hand genommen zu werden.

———

Fußnote (also, von da, wo es manchmal riecht): Beate Klarsfeld, eine veritable deutsche Heldin, wurde zweimal für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen, zweimal wurde die Verleihung vom jeweils zuständigen Bundesaußenminister abgelehnt. Der eine – okay – war Guido Westerwelle, der andere unser ehemals größter grüner Held Joschka Fischer, der seit einiger Zeit (RWE, BMW, SIEMENS) überhaupt nur noch höheren Zielen zufliegt: Seit September 2010 berät Fischer u.A. den Handelskonzern REWE! Ein wirklich großes Signal zur Vergangenheitsbewältigung, ein Sühnezeichen, ein Kniefall in Warschau, gell Joschi?

Über uns das All

(D 2011, Regie: Jan Schomburg)

Überall das Uns
von Andreas Thomas

Das Langfilmdebüt von Jan Schomburg ist dubios im besten Sinne. Ein Film, dessen Inhalt, will man eine Kritik über ihn schreiben, man unweigerlich verraten müsste, und zugleich ein Inhalt, der, …

Das Langfilmdebüt von Jan Schomburg ist dubios im besten Sinne. Ein Film, dessen Inhalt, will man eine Kritik über ihn schreiben, man unweigerlich verraten müsste, und zugleich ein Inhalt, der, will man ihn beschreiben, forschend zurück guckt und fragt: Geschieht das wirklich, was hier geschieht?

Für jeden Fall zur Absicherung der Rat: Wer sich von „Über uns das All“ komplett überraschen lassen will – und dass dem Film diese Überraschungen komplett gelingen, wird jetzt mal hier garantiert – sollte diese Kritik vielleicht nicht unbedingt lesen. Andererseits verrät diese Kritik nur herzlich wenig vom Inhalt, und von dem, was sie verrät, ist sie selbst nur zum Teil überzeugt, denn Wahrheit und Identität sind ziemlich unzuverlässige Parameter; das zu zeigen, scheint Drehbuchautor und Regisseur Schomburg jedenfalls am Herzen zu liegen.

Ihm ist das Kunststück gelungen, einen Film zu drehen, der fast nie vorhersehbar ist, dem in jedem Augenblick eine unerwartete Wendung unterlaufen könnte, und das nicht, weil die Handlung zu inkohärent, uninspiriert und konfus wäre. „Über uns das All“ schafft hier und da eine Spannung des Augenblicks, in der man Stecknadeln fallen hören könnte, eine inszenatorische Jungfräulichkeit, die zum so geschundenen Wort „Authentizität“ verführt, eine „Authentizität“, die sich aber weniger auf die Wiedergabe eines Milieus oder dergl. bezieht, sondern auf die Rekreation der Anmutung von Realität. Ahem. Kurz Luft geholt.

Bevor sich der Kritiker hier versteigt, muss er noch schnell kritisieren, dass im deutschen Kino der letzten zehn Jahre immer gerne genuschelt wird, das heißt, es wird schnell geredet und undeutlich, sodass man eigentlich nur die Hälfte versteht (manche Schauspieler eignen sich hierfür sogar regelrechte Sprachfehler an). Die Filmemacher von heute sind anscheinend der Meinung, das muss so sein, weil die Leute von heute (besonders die jungen und dynamischen und relaxten) wohl alle angeblich genauso reden. Das Ganze ist aber nur ein Gerücht, und die einzigen Leute, die zu schnell und zu leise reden, gibt es fast ausschließlich nur in Kinofilmen. Irgendein Film hat mal damit angefangen (weiß jemand welcher? Ich bitte um Tipps), und seitdem führen Nuschler in unseren deutschen Filmen ihre Nuschler-Schein-Existenzen und wollen uns glaubhaft machen, dass wir alle so seien und nuscheln, wie sie. Meine Verwandten, Freunde und Bekannten und ich aber sind anders. Wir reden klar und langsam und deutlich, auch auf die Gefahr hin, nicht ganz authentisch zu sein, und wenn mal einer was nicht verstanden hat, dann fragt er noch mal nach. Ganz anders als die Leute in den Filmen, die anscheinend immer jeden ihnen zugehauchten Halbsatz sofort kapieren. Kunststück, die haben ja auch das Drehbuch gelesen. Da können sie ja munter drauflos nuscheln!

So. Und auch in diesen Film haben es manche Nuschler geschafft. Was ihm Punktabzug bringt. Und Sandra Hüller, die Darstellerin der Martha ist manchmal ein wenig zu authentisch, so schnell redet sie dann, und manchmal schrabbt sie an der Grenze zum Overacting entlang. Aber meistens ist sie fantastisch. Alleine für die herzzerreißende Sequenz, in der zwei einigermaßen hilflose Polizistinnen versuchen, ihr verständlich zu machen [SPOILERWARNUNG], dass ihr Mann nicht mehr lebt, lohnt es sich, diesen Film anzusehen.

„Über uns das All“ ist spannend wie ein Krimi und rätselhaft wie ein Psychothriller (falls es derartiges überhaupt noch gibt) oder eine hochgeschlossene Parabel, wobei das Beste ist, dass der Film überhaupt keine Lust hat, sich selbst zu erklären. Er hält seine selbst geschaffene Kryptik (das Wort steht nicht im Duden, ich weiß, sollte es aber) – eine unverhohlene Herausforderung für die Zuschauer – gelassen bis zum Abspann durch, ja, er setzt sogar noch ein Ausrufezeichen hinter das selbst fabrizierte dicke Fragezeichen.

Man könnte nun noch darüber philosophieren, welcher exotische Reiz für deutsche Filmemacher in der französischen Stadt Marseille liegen mag. Der Film „Marseille“ von Angela Schanelec präsentiert die Hafenstadt, ähnlich wie Schomburg, als erhofften Gegenpol oder als Antidot zur meteorologischen und sozialen deutschen Unterkühlung, und gleichsam ins Mythische und schier undurchdringlich Fremde transformiert in „Über uns das All“ eine marseiller Straßenszene, die mit dem selbst gestrickten Frankreich-Klischee der Protagonisten nicht mehr viel zu tun hat.

Man könnte überdies darüber spekulieren, warum Schomburg das Problem eines Menschen, der meint, seiner eigenen Frau jahrelang eine Promotion vortäuschen zu müssen, nicht (wie es zum Beispiel Laurent Cantets Film „Auszeit“ macht) in keinster Weise als leistungsgesellschaftsimmanentes (wenn schon nicht gesellschaftskritisches) Phänomen behandeln möchte, oder darüber, wie es gehen kann, dass eine junge Frau ihren gerade erst verlorenen innig vertrauten Ehemann so schnell durch einen anderen ersetzen kann, der doch, abgesehen von einer identischen Handbewegung, nicht wirklich viel mit dem Verstorbenen gemeinsam hat. Besonders, wenn der erste Mann (Felix Knopp) viel sensibler und sanfter erscheint als der zweite, den der hier zwar gegen sein Schema besetzte und trotzdem starke Georg Friedrich spielt (welchen der Kritiker, ehrlich gesagt, aber immer noch als österreichischen Psychopathen in Filmen von Ulrich Seidl („Hundstage“) oder Michael Glawogger („Contact High“) präferiert).

Doch wie angedeutet, Fragen und Widersprüche lässt der Film zu, provoziert sie gar absichtlich, hält sie aus und bringt sie zur Blüte, die den Kinobesuch überduften wird. Das Starke an „Über uns das All“ ist, dass er aller Skepsis zum Trotz auf seinen Auslassungen, Behauptungen und Wendungen beharrt. Das Gelingen dieser Strategie der Sturheit macht ihn zu „Kunst“ – und Jan Schomburg wohl zu einem neuen deutschen Filmregie-Hoffnungsanwärter.

Link zu einer weiteren Filmkritik

Gerhard Richter Painting

(D 2011, Regie: Corinna Belz)

Der Farbe beim Trocknen nicht zusehen wollen
von Andreas Thomas

Was macht der Künstler da? Striche durch funktionierende Rechnungen? Zieht er einen Vorhang? Oder annulliert er ein komplettes Gemälde, weil es keinen Bestand haben darf? Was macht eigentlich Gerhard Richter …

Was macht der Künstler da? Striche durch funktionierende Rechnungen? Zieht er einen Vorhang? Oder annulliert er ein komplettes Gemälde, weil es keinen Bestand haben darf?
Was macht eigentlich Gerhard Richter (geboren 1932 in Dresden) da?

Er nimmt ein mannsgroßes Plastik-Lineal (namens Rakel) zur Hand, versieht es mit (bewusst ausgewählten!) Farben und scratcht damit konzentriert und kraftvoll quer über/durch die mannsgroße bemalte Leinwand, deren Farbe zum Teil trocken, zum Teil noch nicht getrocknet ist und die – kurz vorher noch – ziemlich anders aussah. Riefen entstehen, Farbfalten, Risse im Auftrag. An manchen Stellen widersetzt sich die geronnene Struktur, an anderen bleibt von ihr nichts mehr, nichts mehr vom allerersten Gedanken/Schaffensakt. Creating by Destroying, Researching by Overscratching. (Graue Farben können dabei durch reine, kräftige überstrichen werden, kräftige Farben durch Weiß wieder neutralisiert werden.)

Natürlich demonstriert Richter einen landläufigen Akt moderner Malerei; auch das Übermalen besitzt in der Malereigeschichte eine lange und berühmte/anrüchige/banale Tradition. Aber vielleicht ist das gar kein „Übermalen“, sondern „Malen“ mit dickem Pinsel. Vielleicht besitzt der Künstler (in einer durch Ausschlüsse begrenzten Auswahl) nur ein grobes Werkzeug. Und so ist dieser brutale Strich eben ein harter, ausladender und widerständiger, dem Subtilitäten verwehrt bleiben müssen, der sich verlassen muss auf Charakteristika des Zufällig-Unsubtilen und dadurch rein Texturellen, Flächigen und Materialen, eine Studie der Bezüge von Werkzeug, Medium und Zielmaterial: Grobkörnigkeit, Feinkörnigkeit, Flüssigkeit und Widerständigkeit.

Richter ist insofern ein altmodischer Maler, dass er sich in einen immerfort kritischen Bezug zum Bild setzt, sich an dessen Widerstand abarbeitet und um/mit dessen Physis/Ästhetik er ringt, bis nichts mehr geht und das Bild dann entweder gut ist – oder gescheitert. Richter: „So ist das! Die Bilder machen, was sie wollen!“

Wer Richters Werke, speziell die seines „Abstrakten Expressionismus“ kennt, konnte einen solchen Produktionsprozess dahinter erahnen, nun kann man anhand von „Gerhard Richter Painting“ überprüfen, wie nah der Künstler dem kommt, was man immer von ihm gemutmaßt hatte, – oder man kann es eben nicht, denn bald nach den ersten gewährten Einblicken in seine Arbeit signalisiert Richter, dass eben diese Einblicke die Schaffenssituation maßgeblich beeinflussen. „Mit dem Blau habe ich es übertrieben …“ sagt er plötzlich frustriert. „Jetzt müssen wir uns über etwas anderes unterhalten. Jetzt müssen wir über den Film reden …“
Was sehen wir wirklich? Und wie steht‘s mit dem immerwährenden Paradoxon der Dokumentarfilms, der so genannten teilnehmenden Beobachtung? Richter, kein Mann vieler Worte, sagt es, wie ein Tier in der Falle: „ Ich gehe anders vor der Kamera“, und er meint damit eigentlich: Es geht nicht!

Wer sich beobachtet fühlt – und die Kamera von Frank Kranstedt ist verständlicherweise keine zurückhaltende, sondern eine neugierige, immer will sie die Farben zerfließen, die Stirne des Meisters sich runzeln, die Hände am Werkstoff arbeiten sehen – fängt auch selbst an, sich zu beobachten und zu bewerten. Für einen kontemplativen Maler wie Richter ist das aber mehr als eine Behinderung: „Das Schlimmste, was mir seit Langem passiert ist. Das Krankenhaus war so ähnlich. Das Fremdgesteuertsein.“

Erst knapp die Hälfte des Films ist um, wie aber kann „Gerhard Richter Painting“ noch seinem Namen gerecht werden? Mach mal Pause, Gerhard! Geh in den Garten, die Kamera bleibt drinnen. Zwei Kameras werden fest installiert und in Dauerbetrieb gesetzt, – für eine Studie des Künstlers bei der Arbeit reicht das nicht. Der Film wird aufgelockert durch Fremdmaterial, Fernsehinterviews mit dem jungen Mann, der 1961 aus der DDR in Westen floh, um, statt „Sozialistischen“ „Kapitalistischen Realismus“ zu malen, mit Aufnahmen bei der Vorbereitung zu Ausstellungen, mit Richters Ehefrau, mit seinen Mitarbeitern, mit Besuchen und Gesprächen von/bei Galeristen und einem Kunsthistoriker, und so zumindest Gespräche über den Prozess der Entstehung von Richters Kunst.

Natürlich ist Gerhard Richter unumgänglich. Da kann ja eine Filmdoku kommen, wie sie will. Auch wenn sie nur ein Paar seiner Werke zeigen würde (was sie tut), wäre das schon ergiebig. Richter schreibt schon lange Kunstgeschichte, und immer geht er eigene Wege, durchaus nicht immer solch abstrakt-expressionistische, wie die, deren Entstehung wir in dem Film von Corinna Belz teilhaftig werden können. Irgendwann trieb er mal den Fotorealismus in den Ruin, indem er das Portrait für das Gemälde zurück eroberte: Durch den Trick des Unstatthaftesten in der Fotografie, durch die Unschärfe. Und natürlich hat die Fotografie nie mehr gelogen/getrogen als in ihrer Behauptung von Erkennbarkeit/Wahrheit/Schärfe und Richter kaum mehr Recht gehabt, als im Rückfordern/Einfordern der Unklarheiten. Es blieb nicht dabei. In seiner „Stammheim-Serie“ schimmert aus der Unschärfe die Angst, die Panik, die Verdrängung einer monströs gewordenen Nation. Eine Serie, die Richter selbst lange nicht gesehen hatte, bis zur Berliner Gastausstellung des New Yorker Museum of Modern Art im Jahr 2005, eine Zurichtung auf engem Raum, die ihm zu reißerisch war. Frage: „Das war doch sicherlich schwer, an dieses Thema heranzugehen?“ Antwort: „ Es wäre wahrscheinlich schwerer für mich gewesen, es zu lassen.“

Und in seiner zurückhaltenden und alles andere als eingebildeten Art stellt er auch bei Gelegenheit nebenher seine Grunddefinition von Kunst in den Raum, die Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen könnte: „Mich interessiert nur, was ich nicht kapiere.“

Am Ende ist dann doch noch ein ganzer Film daraus geworden und irgendwie sind dann doch noch mehr Szenen „Gerhard Richter Painting“ dabei. Wie die zustande kamen und wie man sich mit dem Künstler arrangiert und der Künstler sich mit dem Film arrangiert hat, das wird im Film nicht mehr thematisiert. Der Konflikt, der Widerspruch zwischen dem Schaffen selbst und dem Versuch des Schaffenden, auch gleichzeitig einen Schaffenden zu repräsentieren, ist nicht lösbar, und er bleibt sichtbar stecken in den Szenen vom Maler, der immer ein wenig neben sich steht, weil er gefilmt wird, in den irgendwie auf Distanz gehaltenen Näherungsversuchen einer wissbegierigen Kamera. Aber vielleicht kann ein Film über die Produktion von Kunst, und damit auch ein Film über ihre Widerständigkeit, nur genau so geraten. Diese Erkenntnis können wir allenfalls mit nach Hause nehmen: Die Quadratur des Kreises ist nicht wirklich durchführbar.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Gerhard Richter Painting'.

Melancholia

(DK / SW / F / D 2011, Regie: Lars von Trier)

Saturn auf Rachekurs
von Janis El-Bira

Vehement hat sich die abendländische Geistesgeschichte seit dem Mittelalter gegen die Melancholie und die ihr Verfallenen zur Wehr gesetzt. Saturn war mitsamt seinen Ringen derjenige Planet, den es geradezu vom …

Vehement hat sich die abendländische Geistesgeschichte seit dem Mittelalter gegen die Melancholie und die ihr Verfallenen zur Wehr gesetzt. Saturn war mitsamt seinen Ringen derjenige Planet, den es geradezu vom Firmament zu stoßen galt, wurde ihm doch nachgesagt, für die weltabgewandte Trauer der Melancholiker verantwortlich zu sein, die auf fernen Bahnen die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften mehr zu umkreisen als an ihnen teilzuhaben schienen. Wen nichts froh zu machen, kein Strahlen der göttlichen Schöpfung in Jubel und kein Heilsversprechen in ruhende Gewissheit zu versetzen schien, der machte sich der Ketzerei verdächtig, war ein Fremder am Rande der etablierten Ordnungen. Wie der Berliner Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme schon vor über 20 Jahren in „Natur und Subjekt“ zeigte, ziehen auch hier die Exklusionsmechanismen der europäischen Aufklärung mit denen des Mittelalters zumindest gleich. Als „melancholisch“ wurden die Gegner der Aufklärung reihum beschrieben und mit ihnen wurde auch die Melancholie selbst mit neuen „Begleiterscheinungen“ aufgeladen: Misanthropie, Geiz, Boshaftigkeit und Melancholie wurden zu verschiedenen Seiten derselben „kranken“ Persönlichkeit. Der Melancholiker wohnte in einer unheimlichen Schattenzone, die vom Licht der Sonne der Vernunft nicht erreicht wurde. In diesem entlegenen Gebiet jenseits ihrer eigenen Toleranzgrenzen bringt die Aufklärung so jene an den Pranger, denen der Schmerz und die verzweifelte Einsicht in die Allvergänglichkeit – unfreiwillig – zum Prinzip geworden ist. An die Stelle der Verurteilung des Melancholikers für seine trauernde Missachtung der Schöpfung tritt nun die moralische Anklage, sich willentlich aus dem Hauptprojekt der Vernunft herauszuhalten.

Lars von Trier, der – neben Terrence Malick – wohl eloquenteste Vertreter einer filmischen Gegenaufklärung, hat nun die Geschichte der Melancholie als Sünde, Absage an den Vernunftglauben und Krankheit zu einem neuen Film verdichtet und sie auf großartige Weise zu ihrem zweiten, fast vergessenen Traditionsstrang hin geöffnet: Als „melancholia generosa“ der Produktivität und tiefsten Einsichten in schwierige Wahrheiten bekommt die Melancholie hier eine positive Konnotation zurück, die am Rande zur letzten Verzweiflung, zum Wahnsinn gar, erstritten werden muss. Sein Film, der gleich zu Beginn Pieter Brueghels des Älteren glücklos heimkehrende Jäger („Die Jäger im Schnee“, 1565) leinwandfüllend in Flammen aufgehen und anschließend einen Totentanz der lustvollsten Farben, ja fast schon überparfümierten Schönheit feiern lässt, weiß, dass das Wesen dieses Streits zwar ein „Sein zum Tode“, sein Feld aber das blühende Leben ist.

Justine heiratet. Die riesige Limousine mit ihr und dem Bräutigam Michael schafft kaum die Kurven, die zum höchstherrschaftlichen Landsitz ihrer Schwester Claire und deren Mann John führen. Die hierdurch entstandene Unordnung und das abwechselnde Sichversuchen am Steuer machen Justine Freude. Am Ort der Hochzeit – die Männer im Frack, am Eingang eine Lotterie, der „wedding planner“ ein Pedant der Pünktlichkeit – ist für derartige Strukturlosigkeit kein Platz. Reden werden gehalten, es wird getanzt, getrunken, Kuchen angeschnitten. Justine zieht sich zurück, die leeren Rituale des Abends werden ihr zur Qual. Sie verweigert den Vollzug der Hochzeitsnacht, kündigt noch auf der Party ihren Job. Der Bräutigam reist ab, die Mutter ist ein erkaltetes Wrack, der Vater ein Wirrkopf. Am Ende der Nacht bleibt Justine in desolatem Zustand bei Schwester, Schwager und deren kleinem Sohn zurück. Lars von Trier zeigt ihren Verfall, wie sie sich nicht mehr eigenständig waschen, kaum noch die Gabel beim Essen halten kann. Und draußen zieht „Melancholia“ auf: Ein Planet, zehnmal so groß wie die Erde, der sich bislang hinter der Sonne verborgen hatte, und möglicherweise mit dem blauen Planeten auf Kollisionskurs ist.

Justine ist für Lars von Trier nicht bloß die Melancholikerin par excellence, sondern es lässt sich an ihr, an ihrem Körper eine Geschichte der Melancholie im Spannungsfeld von Gesellschaft, Wissenschaft und Technik vollziehen. Dabei greift von Trier explizit auf Motive der deutschen und britischen romantischen Tradition zurück: In unzweifelhafter Anspielung an die Ophelia-Darstellungen der präraffaelitischen Maler Millais und Waterhouse treibt eine blumenbekränzte Kirsten Dunst als Justine in einer gewaltigen Anfangssequenz auf einem Bach. Shakespeares Ophelia, die über dem Tod ihres Vaters singend und dichtend wahnsinnige gewordene, ist ein Inbegriff „schöner“, unrettbarer Melancholie. Als ginge es aus ihr hervor, durchströmt den Film, zehnfach wieder einsetzend, das Vorspiel aus Wagners „Tristan und Isolde“. Hier, in der beispiellos radikalen Beschwörung der ewigen Todesnacht als einzigem Ort, an dem die Liebesumrauschten „ungetrennt, ewig einig, ohne End‘, ohn‘ Erwachen, ohn‘ Erbangen“ sein können, findet Justine/Ophelia ihre Entsprechung. Später wird Claire ihre depressive Schwester nachts auf dem Gelände des Anwesens vorfinden, wie sie nackt im Licht des fremden Planeten badet: Eine melancholische Kassandra, die das Unheil hinter der Sonne hervorzuziehen scheint.

All das kommt dem Abgrund gefälligen Hochglanzkitsches sehr nah und würde ihn auch überschreiten, wären für von Trier diese Verweise nicht untrüglich Pfeile in den Tod und – in radikal melancholischer Behauptung – auf Geschichte als Verfallsprozess: Was hier aufleuchtet, wird zu Asche werden und dem Vergessen anheimfallen; wird brennen, wie der Brueghel zu Beginn. Die melancholische Kunst ist eine Überlebenshilfe herrlicher Schönheit gegenüber dem Unmaß an Leid – nicht mehr und nicht weniger. Bei von Trier wird sie gefeiert und erbarmungslos zertrümmert. Und so ist diese Ophelia eben in Wahrheit eine Justine, die im Hochzeitskleid auf den Boden des Golfplatzes pinkelt und einen jungen Arbeitskollegen aus den Reihen der Partygäste – am selben Ort und im selben Kleid – geradezu vergewaltigt: Melancholie in der (Post-)Moderne ist kein nobles Leiden stiller, trauerversunkener Erhabenheit, sondern gegebenenfalls eine verwirrte, vor Furcht gelähmte Frau, die in die Badewanne getragen werden muss.

Die so als Krankheit, als Depression verstandene Melancholie wird behandelbar. Dementsprechend kümmert sich auch Claire um ihre Schwester, füttert sie, wäscht sie, erträgt ihre Aggressionen und sehnsüchtigen Untergangsphantasien, ihren Hass auf das Menschengeschlecht („Niemand wird um uns trauern, wenn wir fort sind.“). Dabei muss sie selbst beruhigt werden: Der am Horizont heraufziehende Planet bereitet ihr panische Angst, obgleich ihr Mann John, Repräsentant einer kühl-rationalen Wissenschaftsgläubigkeit, sie von dessen Ungefährlichkeit überzeugen will – ein spektakulärer Vorbeiflug erwarte sie alle, keineswegs der Weltuntergang. Claire kauft trotzdem Pillen, die im Falle der sich anbahnenden Katastrophe einen selbstwählbaren Todeszeitpunkt ermöglichen sollen. An einem Ende, dessen Wurf hier nicht verraten sei, in dem jedoch Schönheitsrausch und Zertrümmerungswut auf atemraubende (und wie könnte es anders sein: bis an die Schmerzgrenze ohrenbetäubende) Weise zusammenprallen, wird sich eine ruhige Hand der Melancholikern der zitternden Hand ihrer Schwester öffnen. Was das Philosophieren seit dem Phaidon-Dialog ermöglichen will (und wohl nicht kann), ist dem Melancholiker stete Übung: Sterben lernen.

Film Socialisme

(F 2010, Regie: Jean-Luc Godard)

E la nave va
von Ulrich Kriest

Ist das eine Sensation? Eher eine Überraschung. 21 Jahre nach „Nouvelle Vague“ kommt wieder ein Film von Jean-Luc Godard regulär in die deutschen Kinos. Wobei sich angesichts der Anzahl der …

Ist das eine Sensation? Eher eine Überraschung. 21 Jahre nach „Nouvelle Vague“ kommt wieder ein Film von Jean-Luc Godard regulär in die deutschen Kinos. Wobei sich angesichts der Anzahl der verfügbaren Kopien von „Film Socialisme“ – ist es eine, sind es sieben? – der Plural „Kinos“ fast schon wieder verbietet. Man wird also sehen, was aus diesem Experiment, diesem Wagnis werden wird. Schließlich eilt Godard, wiewohl Filme wie „Eloge de L‘Amour“ (2001) oder „Notre Musique“ (2004) eigentlich als unsichtbare Filme gelten müssen, der Ruf voraus, seine Essay-Filme seien extrem schwierig und allemal kein Vergnügen.

Längst vorbei die Zeiten, als Filme wie „Pierrot-le-Fou“ oder „One plus One“ noch zu Kult-Filmen wurden, obwohl sie doch auch »schwierig« waren. Hat sich vielleicht unser Umgang mit »dem Schwierigen« verändert? Lockt »das Schwierige« nicht mehr? Lassen wir uns nicht mehr herausfordern? Gehört „Film Socialisme“ ins Kino oder eher in eine Kunstgalerie? Viele Kritiken zu „Film Socialisme“ beschäftigen sich zunächst einmal mit den Paratexten. Wer sagt was warum und worüber? Hat Godard (uns) noch etwas zu sagen? Oder ist er auf dem Holzweg? Vollends aus der Zeit gefallen? Ist „Film Socialisme“ Esoterik? Arrogant?

Zunächst einmal kann man sagen: „Film Socialisme“ besteht aus drei relativ autonomen, untergründig aber miteinander kommunizierenden Teilen und mehreren Dutzend Splittern, deren Rekonstruktion kein Ganzes ergibt. Muss man genau aufpassen? Teil 1 spielt auf einem Kreuzfahrtschiff, welches im erweiterten Mittelmeer herumfährt: Neapel, Alexandria, Haifa, Odessa, Algier, Barcelona. Odessa ist natürlich wichtig aufgrund der Treppe und der damit verbundenen Erinnerungen an den „Panzerkreuzer“. Menschen tauchen auf, reden miteinander. Namen werden genannt: Hitler, Stalin, Willi Münzenberg, Otto Goldberg, Leopold Krivitzky, Moise Schmucke, Napoleon, Balzac. Bei Godard ist das 20. Jahrhundert noch sehr präsent. Palästina/Israel. Jawohl, Herr Obersturmbannführer Goldberg! „Sie müssen vor Moskau keine Angst mehr haben.“

Eine Handlung erwächst aus den Splittern gerade nicht, denn „Film Socialisme“ ist ja das Gegen-Programm, die konsequente, auch technische Verweigerung des konventionellen Erzählkinos. Deshalb sind hier die Bilder zu dunkel, die Schnitte voreilig, die Mikrophone zu empfindlich, der Wind zu stark, die Geräusche zu laut, der Blick zu ungeduldig. Es heißt: „Schweigen ist Gold.“ Oder: „Sagen genügt niemals.“ Oder: „Ich möchte nicht sterben, ohne Europa noch einmal glücklich gesehen zu haben.“

Stichwort: Europa. „Film Socialisme“ evoziert Trümmer der Geschichte um das „Mare Nostrum“ herum: von Hellas (aka „HELL AS“) bis nach Barcelona. An Bord des Traumschiffs: Nazi-Jäger, Kriegsverbrecher, Finanzjongleure, Spione, Kinder, die Fragen stellen und, ja, Patti Smith. Die muss eine Gitarre bei sich tragen. Um als Patti Smith erkannt zu werden? Alain Badiou hält eine Vorlesung über Geometrie, allerdings in einem leeren Saal. Später im Mittelteil des Films, steht ein Lama an einer Tankstelle in Südfrankreich, und deutsche Touristen werden auch 65 Jahre nach Kriegsende noch immer als Eroberer beschimpft.

Der dritte Teil „Nos humanités“ schließt wieder an den ersten Teil an, kehrt nach Odessa zurück, wo Eisenstein einst Gegen-Bilder im Dienste einer großen Sache entwickelte, die sich dann irgendwann zerschlagen hat. Aber die Bilder sind noch da. Es geht um den Konflikt zwischen Israel und Palästina, um den Holocaust – und um „Democracy + Tragedy married. One child. Civil War.“ Barcelona. Godard durchstreift mit seiner multimedialen, vielsprachigen Collage die 2000jährige Geschichte des Mittelmeerraumes, zitiert Bilder aus Filmen wie „The Battle of Marathon“ oder auch „Cheyenne Autumn“, lässt Derrida und Hannah Arendt zu Wort kommen, setzt dann noch mal an und erzählt die Geschichte des 20. Jahrhunderts – und ist in seiner Fixierung auf den Mittelmeerraum dann doch plötzlich sehr aktuell, wenn man an den arabischen Frühling und die Griechenland-Krise denkt.

Godard hat seit seiner „Histoire(s) du cinéma“ seine Collage-Technik als Markenzeichen perfektioniert: man erkennt einen Godard-Film sofort: angefangen von den Buchstaben über die Auswahl der Musik zu den teilweise atemberaubend schönen Kompositionen aus Bildern, Diskursen, Worten, Tönen, Geräuschen, die dann doch immer wieder zerschossen werden. Oder verächtlich zur Seite geräumt. Oder ironisiert. Denn Godard – erinnert sich noch jemand an „King Lear“, als Godard inmitten von Zelluloid thronte? – ist ja auch ein Clown, einer, der keinen Spaß auslässt. Auch, wenn ihm nicht zum Lachen ist. Aber eine Montagefigur wie „Palestine“ und „Access denied“ muss man auch erst mal bringen. In Cannes lief der Film ja auch mit Untertiteln in „Navajo Englisch“, also einem Englisch, wie es einst in Western die Indianer sprechen mussten. Diese Untertitel gibt es hierzulande jetzt nicht mehr zu sehen. Stattdessen wird seriös untertitelt. Auf dass „Sinn“ produziert werde. (Ist das eigentlich ein legitimer, ein vertretbarer Eingriff?)

Man kann das alles, wie Diedrich Diederichsen (in Cargo #7), unerträglich manieriert und berechenbar und auch in seiner Beharrlichkeit stur finden („Je länger aber das Problem und die künstliche Welt Godards besteht, desto weniger hilft mehr Ironisierung gegen die Dominanz des Godardismus bei Godard.“), aber kann sich auch sehr gut treiben lassen vom Fluss des „Film Socialisme“. Letztlich muss man sich darauf verständigen, was Film ist und/oder hätte sein können. Und was man damit anfangen will. Godard, so viel steht fest, könnte ewig so weiter machen. Ein neuer Film, so ist zu hören, ist längst in Arbeit.

Geständnisse – Confessions

(J 2010, Regie: Tetsuya Nakashima)

Verbrechen und Strafe
von Wolfgang Nierlin

Es braucht eine Weile, um sich auf den filmischen Flow einzulassen, auf den zunehmenden Sog der Bilder, den Tetsuya Nakashimas Film „Geständnisse“ ('Confessions') entwickelt. Von einer fast durchgehenden Zeitlupe rhythmisiert …

Es braucht eine Weile, um sich auf den filmischen Flow einzulassen, auf den zunehmenden Sog der Bilder, den Tetsuya Nakashimas Film „Geständnisse“ ('Confessions') entwickelt. Von einer fast durchgehenden Zeitlupe rhythmisiert und von einer Endlosschleife repetitiver elektronischer Musik unterlegt, schieben sich die Bilder sanft ineinander und erzeugen dabei einen assoziativen, leicht surrealen, fast traumverlorenen Bilderstrom. Dessen Choreographie ähnelt einem Musikstück, das sein Hauptmotiv variiert, mittels wechselnder Stimmen wiederholt und diese zu einem spannenden Finale zusammenführt, das der japanische Regisseur als explosiven Bilderrausch inszeniert. Die unwirkliche Atmosphäre des Films wird schließlich von meditativen, von Bachscher Klaviermusik untermalten Wolkenbildern zerstreut und beruhigt.

Diese schwebende Stimmung handelt zugleich von den Relativitäten der Erinnerung, die in „Geständnisse“ von wechselnden Off-Erzählern aus ihrer jeweiligen subjektiven Perspektive wiedergegeben werden. Gemäß dem Titel sind es Geständnisse von Figuren, die sich schuldhaft verstrickt haben und die, ähnlich wie in Akira Kurosawas „Rashomon“, ihre Version der Wahrheit erzählen. Teils von modernen Kommunikationsmitteln transportiert oder gespiegelt, geht es in diesen Geschichten um Fragen, die den Wert des Lebens und die Moral des Handelns miteinander verknüpfen und die dabei auf Dostojewskis „Schuld und Sühne“ referieren.

Der schulische Kontext, in dem der Film spielt, ist von Gewalt- und Todesphantasien grausamer Kinder, aber auch vom Autoritätsverlust ihrer Erzieher geprägt. Das Ausmaß seelischer Beschädigung, von den Entfremdungen der Konsumindustrie befördert und von hemmungslosem Materialismus, darwinistischem Kampf und wilder Anarchie begleitet, lässt mitunter an William Goldings „Lord oft he Flies“ denken. In Tetsuya Nakashimas Vision kindlicher Entmenschlichung hält sich allerdings ein 13-jähriger Schüler, der seiner geliebten Mutter entzogen ist, für jenes Genie, das über Leben und Tod frei entscheiden kann und dessen Taten keinem menschlichen Gesetz unterliegen. Im pervertierten Bestreben, die Anerkennung seiner Mutter zu gewinnen, tötet er zusammen mit einem Mitschüler die kleine Tochter seiner Klassenlehrerin. Deren Rache wiederum ist ebenso grausam wie doppelbödig, zugleich tragisch und ironisch, weil sie den Täter zur schlimmstmöglichen Selbstbestrafung zwingt und seine vorgeblich genialischen Allmachtsphantasien gegen sich selbst kehrt. Mit der Wucht einer antiken Tragödie, in Feuer und Blut getaucht, steigert Tetsuya Nakashima die Seelenqual seines Helden ins Unermessliche.

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Die Haut, in der ich wohne

(ESP 2011, Regie: Pedro Almodóvar)

Opium und Tierblut
von Harald Mühlbeyer

Womit soll man anfangen bei diesem Film? Vielleicht beim Begriff des Wohnens im Filmtitel. Da ist ein stattliches Landhaus mit angeschlossener Privatklinik und medizinischem Labor, Dr. Robert Ledgard residiert hier …

Womit soll man anfangen bei diesem Film? Vielleicht beim Begriff des Wohnens im Filmtitel.
Da ist ein stattliches Landhaus mit angeschlossener Privatklinik und medizinischem Labor, Dr. Robert Ledgard residiert hier und eine geheimnisvolle Frau, Vera, die er gefangen hält, die er über einen riesigen Plasmabildschirm – und eine Menge kleinerer im Haus verteilter Monitore – liebevoll überwacht, mit der er Opium konsumiert: Ein Ausweg für sie wie auch für ihn. Zudem praktiziert Vera, Gefangene im Idyll des Ländlichen, Yoga: eine weitere Fluchtmöglichkeit ins Innere, zu dem Ort, der nicht zerstört werden kann.

Dazu die Haut, die der Titel anspricht: Die ist neu an Vera, eine durch Transgenese hergestellte neuartige Erfindung von Dr. Ledgard, ein künstliches Gebilde, das vor allerlei Unbill wie Feuer und Mückenstichen schützt: widerstandsfähige künstliche Haut, Ledgard hat Schweinegene eingebaut für höhere Festigkeit. Vera trägt sie – und darüber eine zweite Haut, ein hautfarbenes Ganzkörpertrikot, das sie nackt erscheinen lässt, das ihre neugebildete Körperoberfläche schützen soll. Zudem – um die Sache mit der Haut in einer weiteren Ebene wieder aufzugreifen – arbeitet Vera kreativ – was soll sie sonst tun in der Einsamkeit: aus Fetzen von Frauenkleidung baut sie Puppenköpfe.

Die Haut: Das ist auch die von Dr. Ledgard, der nicht aus der seinen heraus kann. Er hat – plastischer Chirurg, der er ist – Vera das Gesicht seiner bei einem Unfall verbrannten Frau Gal gegeben, sie der zwölf Jahre zuvor verlorenen Liebe angeglichen. Dass der Doktor ein mad scientist ist: Das ist von Anfang an klar: Wie er in seinem Labor im Keller heimlich herumhantiert, wie er besessen an den Möglichkeiten der Gesichtstransplantation und Hauterzeugung forscht, wie ihm die Haushälterin Marilia zum Frühstück einen Kanister Tierblut hinstellt für seine wissenschaftlichen Arbeiten … Vor allem aber die Musik macht deutlich, mit was für einem Menschen, mit was für einem Film wir es zu tun haben: Spannend, mysteriös, unheilverkündend, opulent stimmt sie ganz klassisch auf den Thriller ein, der „Die Haut, in der ich wohne“ (einerseits) ist.

Andererseits bricht sich das Absurde mehr und mehr Bahn, das wird spätestens klar, wenn ein als Tiger verkleideter Mann an der Haustür klingelt, Marilias missratener Sohn, der damals das Unglück an Gal verursacht hatte, der nun Vera – mit Gals Antlitz – in seinem Tigerkostüm mit wippendem Schwanz durchs Haus jagt und sie wie ein Tier vögelt … Eigentlich, vertraut Marilia Vera an, ist dieser Tiger-Sohn Dr. Ledgards Bruder: beide von verschiedenen Vätern, aber beide verrückt.

Hier nun muss man vom „ich“ des Filmtitels reden: Identitäten nämlich sind keine definierten Klarheiten und Wahrheiten in diesem Film – sie waren es bei Almodóvar noch nie. Wenn der Film nach 45 Minuten die Vergangenheit von Gal, Ledgard, dessen Bruder und der Tochter Norma aufdeckt, eine Geschichte von Feuer, Tod, Flucht, Heilung, Verunstaltung, Selbstmord, Verzweiflung und Obsession – dann ist er einerseits an einem Ende angelangt, hat aber doch noch viel zu erzählen, wenn er sechs Jahre zurückblendet und eine neue Figur einführt: Vicente, der fürs Schaufenster einer Boutique Strohpuppen schöne Kleider anlegt, mit ein paar Pillen zuviel auf die Party geht; und Norma, die Tochter von Ledgard und Gal, hat auch einiges intus – Antidepressiva, weil sie höchst labil ist. Ein kleines Missverständnis, was die Wirkung der Drogen angeht, eine Vergewaltigung im Park, ein Nervenzusammenbruch, Suizid – und Rache: Almodóvar führt geschickt vom Schlimmen zum Schrecklichen, von Trauer und Trauma zum Unaussprechlichen, vom Unerwarteten, Unerwartbaren zum Bizarren, von der Tragik zur tragischen Komik. Und damit gelingt ihm das Kunststück, die Elemente von Trashfilmen – von diversen billig-exploitativen Frankenstein-Spin-offs über extreme Revenge-Thriller bis zu Körper-Horror – zu überführen dahin, wo sie schon wieder zu Kunst werden: wo sich die Motive verschachteln, wo sie sich auf verschiedenen Erzählebenen spiegeln – symbolisch oder ganz konkret –, wo sich konkretes Leid mit überdimensioniertem Grotesken vermischt, wo das Billige, Trashige in hochästhetischen, stilisierten, perfekt durchkomponierten Bildern ganz neuen Wert erhält.

Im Grunde das Gleiche, was Tarantino macht – nur dass der viel mehr auf seinen Grindhousewurzeln herumreitet, und Almodóvar ganz einfach und ganz natürlich mit den ihm eigenen Mitteln einen spannenden, überraschenden, mitreißenden, überdrehten, bildstarken und komischen Film dreht.

Die Lincoln Verschwörung

(USA 2010, Regie: Robert Redford)

Verfahrenes Verfahren
von Harald Mühlbeyer

Die „Lincoln-Verschwörung“ wurde von The American Film Company produziert. Laut ihrem Motto „Witness History“ hat sich die 2008 gegründete Firma das Ziel gesetzt, amerikanische Historie filmisch fürs Heute erlebbar zu …

Die „Lincoln-Verschwörung“ wurde von The American Film Company produziert. Laut ihrem Motto „Witness History“ hat sich die 2008 gegründete Firma das Ziel gesetzt, amerikanische Historie filmisch fürs Heute erlebbar zu machen. Dass gleich für die erste Produktion Robert Redford als Regisseur engagiert werden konnte, ist ein toller Coup. Denn es ist klar: Er hat die Erfahrung, eine vergangene Epoche wieder aufleben zu lassen; und er hat die Persönlichkeit, den Charakter, das Bewusstsein, Geschichte für die Gegenwart relevant zu machen.

Redford erzählt vom Prozess gegen die Verschwörer, die 1865 Präsident Lincoln ermordet haben, und die Geschichte einer Verschwörung von Südstaatler-Extremisten, die nicht nur den Präsidenten, auch den Außenminister und den Vizepräsidenten beseitigen wollten, mithin nach der Niederlage im Bürgerkrieg einen Racheakt, einen Staatstreich ausübten. „The Conspirator“ lautet der Originaltitel, er bezieht sich auf die angeklagte Mary Sutton, in deren Pension sich die Verschwörer zur Ausarbeitung ihrer Attentatspläne getroffen hatten. Er kann aber auch auf ihren Anwalt Frederick Aiken verweisen, der als Verteidiger einer Staatsfeindin selbst in den Ruch des Landesverrats gerät. Oder auf ihren Sohn John Sutton, der auf der Flucht ist, der unzweifelhaft Teil der Verschwörerbande war – und für den die Mutter vor Gericht büßen soll. Weil irgendjemand auf jeden Fall verurteilt werden muss.

Es ist ein Militärgericht, vor dem das Verfahren abgewickelt wird, mit Nordstaaten-Generälen als Geschworene, die über eine des Hochverrats, des Präsidentenmords angeklagte Südstaatlerin urteilen. Der Richter ist ein General, der Ankläger die rechte Hand des Kriegsministers. Der Angeklagten werden Rechte entzogen – einen Anwalt darf sie erst einen Tag vor dem Verfahren hinzuziehen, die Liste der Beweismittel und Zeugen der Anklage werden vorenthalten, Zeugen der Verteidigung mit Strafandrohungen eingeschüchtert; jeder Einspruch des Verteidigers wird abgelehnt. Ein politischer Prozess ist das, ein Schauspiel, eine Farce, das wird von Anfang an deutlich gezeigt – da hätte es den Kriegsminister kaum gebraucht, der in einer Szene deutlich sagt, dass er einen schnellen, harten Prozess will, und dass es ihm um den inneren Frieden geht, auch um Rache, mit allen Mitteln; dass es ihm egal ist, wer hängt: Mary oder ihr Sohn John.

Die Parallelen sind unübersehbar: Guantanamo steht im Hintergrund, die Formel von den feindlichen Kombattanten, denen gegen jedes Recht ein ziviler Prozess vorenthalten wird. Immerhin ist Mary Sutton gar noch praktizierende Katholikin, gehört also einer „fremden“ Religion an – ihr Pater versteckt den Sohn, den Mit-Attentäter, das ist zwar illegal, für ihn steht das Gesetz jedoch ausschließlich in der Bibel. Wenn auch die Entsprechungen überdeutlich sind: Redford ist klug genug, sich nicht zum Unterkomplexen hinziehen zu lassen, nicht einfach nur mittels eines historischen Gleichnisses didaktisch die Fehler der US-Politik der Gegenwart anzuprangern.

Er beschreibt den Prozess aus der Sicht des Anwalts, eines Nordstaaten-Kriegshelden, der (zunächst) wie alle anderen Mary Hutton für schuldig hält. Dem aber im Lauf des Prozesses klar wird: es geht weniger darum, ob sie tatsächlich schuldig ist, sondern um die faire Verhandlungsführung: Gerechtigkeit muss erhalten bleiben, egal, was geschieht. Dafür steht die Verfassung, dafür hat die Union gegen die Konföderierten gekämpft. Der Ankläger hat Unrecht: Im Krieg schweigen die Gesetze nicht, im Gegenteil: Sie müssen umso härter vertreten werden. Eine Meinung, die Redford unmissverständlich als Botschaft rüberbringt – mit der er ja auch Recht hat –, die aber dem Film nicht aufgesetzt wird. Denn dieser Kampf um ein gerechtes Verfahren, um die Bürgerrechte einer Frau, die des Furchtbarsten angeklagt ist, ist in die Geschichte eingeschrieben. Egal, ob solche Gedanken damals, 1865, tatsächlich so formuliert wurden oder nicht.

Was Redford gelingt, ist etwas Größeres als das bloße Plädoyer für die Einhaltung amerikanischer, westlicher, menschenrechtlicher Werte auch gegen die, die diese Werte mit Füßen treten. Es ist dies ein auch ein spannender Western in Form eines Gerichtsthrillers – am Ende geht der Held einsam dem Sonnenuntergang entgegen. Und Redford beschreibt in diesem Gewand eines historischen Gerichtsfilmes auch die Lage einer gespaltenen Nation: Der Bürgerkrieg hatte eine schlimme Wunde gerissen, von der nicht klar ist, ob sie je wieder heilen wird. Sutton soll ja nicht nur hingerichtet werden aus blinder Vergeltungssucht: Der Kriegsminister – den Kevin Kline klug als Falken spielt, der aber auch nicht blindwütig die Südstaaten niederdrücken will – will mit seiner harten Haltung gegen die echten und vermeintlichen Verschwörer den Frieden erhalten, will die Südstaaten von weiteren Verschwörungen abhalten, will den Norden von Racheakten gegen die Südstaatler abhalten. Die differenzierte Schilderung einer Nation am Scheidepunkt setzt sich fort in den genauen, komplexen Figurenzeichnungen. Fred Aiken, der Anwalt, ist ein Kriegsheld, für ihn ist es zunächst unerträglich, eine Feindin verteidigen zu müssen; James McAvoy spielt ihn als jungen Mann, den der Krieg mitgenommen hat, ein Krieg, den er auch als Anwalt nicht hinter sich lassen kann. Robin Wright spielt die Angeklagte: sie buhlt nicht um die Gunst des Gerichts oder des Kinozuschauers, sie ist verhärmt, verschlossen, abwesend und abweisend. Sie kann ebenso schuldig sein wie unschuldig. Sie ist steinern – ein Prüfstein für die amerikanische Justiz, für die amerikanischen Werte.

Die Brücke, die Redford mit diesem Film aus der Historie in die Gegenwart schlägt, ist tragfähig, sie wackelt und wankt nicht, und sie ist auch nicht überdimensioniert. Nur ein paar Pfeiler sind es vielleicht zuviel, die Redford hingerammt hat. Am Ende etwa sind alle Verurteilten heulendes Elend, nur Mary Sutton wirkt allzu gefasst, gelöst – und erlöst, weil sie ihre Aufgabe, die Bewusstmachung eines Justizmordes durch diesen Film, vollbracht hat. Und ganz am Schluss weist eine Einblendung darauf hin, dass Fred Aiken einer der ersten Lokalredakteure der neu gegründeten Washington Post wurde – ein Wink mit dem Zaunpfahl hin zu Redfords großer Stunde, als er mit Dustin Hoffman Nixon, den unmoralischen Gesetzesbrecher, zu Fall brachte …

Underwater Love – A Pink Musical

(J / D 2011, Regie: Shinji Imaoka)

Die Liebe in Zeiten der Fischfabrik
von Carsten Moll

Dass Märchen von Sexualität erzählen, ist nicht neu, genauso wenig wie die industrielle Verwurstung von Rotkäppchen und Co. in Sexfilmen aller Art. Die japanisch-deutsche Koproduktion „Underwater Love“ von Shinji Imaoka …

Dass Märchen von Sexualität erzählen, ist nicht neu, genauso wenig wie die industrielle Verwurstung von Rotkäppchen und Co. in Sexfilmen aller Art. Die japanisch-deutsche Koproduktion „Underwater Love“ von Shinji Imaoka versucht sich nun an einer Variante des Märchens vom Froschkönig, inszeniert als Softporno-Musical. Genauer gesagt – da legt der deutsche Verleihtitel Wert drauf – handelt es sich bei „Underwater Love“ um einen Pinkfilm, einer Art japanischer Sexploitationfilm. Das Genre hat viel Schund hervorgebracht, wird aber vor allem immer wieder gerühmt für seine Vertreter, die es schaffen, Pornofilm und anspruchsvolles Kunstkino miteinander zu verbinden. Vor allem in den Sechzigern und Siebzigern dominierte der Pinkfilm das japanische Kino, der Markt war groß und die Produktionsmethoden des Pink Eiga gestanden den Filmemachern viele Freiheiten zu, wenn sie von der Grundformel aus niedrigem Budget, schnellen Dreharbeiten, kurzer Laufzeit und einer Mindestanzahl an Sexszenen nicht abwichen.

„Underwater Love“ will nun einerseits an diese Tradition anknüpfen und andererseits das Genre des Pinkfilms mit neuen Impulsen versehen. Sich auf die Produktionsbedingungen des Pinkfilms zu beschränken, ist aber insofern problematisch, als dass es hier beliebig und unmotiviert wirkt; das Halten an den Konventionen ist kein Zugeständnis an die Dominanz eines Genres, da diese längst Geschichte ist und auch nur auf die japanische Filmindustrie beschränkt war. Der selbstauferlegte Zwang ist vielmehr ein Distinktionsmerkmal, über das sich der Film profilieren will, der Pressetext wird nicht müde zu betonen, dass es sich bei „Underwater Love“ um ein „Novum in der Filmgeschichte“ handelt und die Kritiker stimmen mit ein, wenn sie ihn als „einmalig“ und „unklassifizierbar“ betiteln. Solche Superlative und Einzigartigkeitsurteile helfen bei der Diskussion eines Films nicht weiter und blenden das aus, an dem sie vorgeben interessiert zu sein: Filmgeschichte.

Fatal ist nicht nur, dass der Bezug zum Pinkfilm zur leeren Pose verkommt, sondern auch, dass „Underwater Love“ kaum Freiräume findet, in denen die Kreativität und Experimentierlust der besseren Pinkfilme zum Ausdruck kommt. Skurrilität und Originalität bleiben immer bloße Behauptung, wenn man einen Film nicht nur deshalb für kurios hält, weil er aus Japan kommt oder alleine die Idee von einem Märchen-Porno-Musical für total abgedreht und einzigartig hält (Bud Townsend hat das 1976 mit „Alice in Wonderland“ weitaus amüsanter umgesetzt). So reiht der Film wahllos harmlose Gags und Obszönitäten aneinander, die in ihrer Häufung wenn nicht abstoßen, dann zumindest bald langweilen. Wo der riesige, dildohafte Penis des Kappas, einer anthropomorphen Schildkröte, die hier den Froschkönig gibt, beim ersten Mal vielleicht noch für ein Schmunzeln sorgt, so hat man spätestens genug, wenn die Protagonistin Asuka sich vor dem Analverkehr auch noch eine faustgroße „Analperle“, die eigentlich bloß eine Variation des Kappapenis ist, einführen muss.

Ein wenig erinnert Asuka, die als Arbeiterin in der Fischfabrik ihres Verlobten arbeitet, an eine der Frauengestalten aus den Filmen Lars von Triers, ihre Erfüllung erfährt sie passenderweise in einem idyllischen Wald, am Busen der Natur. „Underwater Love“ – und da ist der Film dem Fischfabrikanten (auch ein Verwurster) ähnlich – verlangt nach einem Minimum an Sex, also muss Asuka immer wieder ran. Nicht bloß beim Finale im Wald, als sie versucht, ihre verstorbene wahre Liebe, besagten Kappa, mit Analsex wieder zum Leben zu erwecken, wirkt der Geschlechtsakt wie eine Dienstleistung am Mann. Auch wenn Asuka sich von ihrem Verlobten rammeln lässt, weil der es grade braucht, oder um ihn vom Schildkrötenmann im Badezimmer abzulenken, ist der Sex ein Akt der Aufopferung. Da ist man auch als Zuschauer froh, wenn statt Kopulation eine Musicaleinlage angesagt ist, besonders wenn Hauptdarstellerin Sawa Masaki ein Tänzchen zur Musik von Stereo Total improvisiert und dabei sichtlich Spaß hat. Aufatmen.

Traffic – Macht des Kartells

(USA 2000, Regie: Steven Soderbergh)

Schurkennachbarn
von Dietrich Kuhlbrodt

Zum Schluss dachte ich: Owei, geht’s jetzt doch um die Restaurierung der family values? Michael Douglas, bis dahin oberster Drogenbekämpfer und best man des US-Präsidenten, steigt aus und sitzt mit …

Zum Schluss dachte ich: Owei, geht’s jetzt doch um die Restaurierung der family values? Michael Douglas, bis dahin oberster Drogenbekämpfer und best man des US-Präsidenten, steigt aus und sitzt mit Frau und Tochter in der Drogengruppentherapie; die Eltern hören sich eine lecture ihrer Caroline an, wie sie ihrerseits ausgestiegen ist, und zwar aus der Schüler-Crack-Szene.

Die Familie ist wieder intakt. Das ist sicherlich erfreulich, jedoch nur ein Nebenergebnis der zweieinhalb Stunden Film, die im übrigen nur so vorbeirauschen. Zentral in der finalen Sequenz ist vielmehr die Einsicht des väterlichen Amtsinhabers: Ich bin hier, um zuzuhören. Der Held des amerikanischen Mainstreamfilms ist der, der kein Held sein will. Halten wir das einmal fest; das klingt eher europäisch. Bloß, dass hier ein solcher Film nicht gedreht wurde.

Michael Douglas also nimmt zum Schluss verbal die Position ein, die Regisseur Soderbergh den ganzen Film hindurch praktiziert hat: zuzuhören. Du bist nicht allein. Die Art und Weise wie Soderbergh an die Menschen rangeht, die mit Drogen zu tun haben (mehr oder minder alle, eben): Ich behaupte hiermit, dass wir alle auf einen Film wie 'Traffic' gewartet haben. Zunächst mal ist der Instanzenweg nicht eingehalten, zum Beispiel der gewerkschaftliche. Soderbergh hätte einen Kameramann engagieren müssen; er benutzte statt dessen ein Pseudonym. Denn das eben war sein Zugang zu den vielen Orten, Szenen, Leuten: die Handkamera selbst zu halten, mit Tageslicht zu arbeiten, dokumentarisch zu drehen (die Grenzkontrolle an der mexikanischen Grenze), mit seinen Darstellern zu improvisieren und ihnen ihre Sprache zu lassen. Die Rollen sind überwiegend an Lateinamerikaner vergeben; es wird spanisch gesprochen oder englisch mit Akzent. Da gibt sich einer Mühe, für sich und seine Kamera etwas herauszufinden – egal, was offizielle Lesart ist. Und es kippt im Film. Die Mexikaner sind nicht unbedingt die Schurken. Die White-collar-Society in Südkalifornien macht bessere Geschäfte als das Klischeedrogenkartell jenseits der Grenze.

Soderberghs Recherchenfokus geht vom angeblichen Schurkennachbarn auf die Konsumschurken im eigenen Land. Der Schüler-Dealer im Kinderzimmer! – Nichts wird behauptet, alles entsteht vor unseren Augen, durchaus auch verwackelt, aufgelöst, gar unscharf – glaubhaft.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 04/2001

Apocalypse Now

(USA 1979, Regie: Francis Ford Coppola)

Anomie im Dschungel
von Sven Jachmann

Wo Stars und Prunk produziert werden, fällt der Wahnsinn schnell als Nebenprodukt ab. Kenneth Anger blickt in „Hollywood Babylon“ so lange durch den Glamour der Suberzählungen hinter den Kameras, bis …

Wo Stars und Prunk produziert werden, fällt der Wahnsinn schnell als Nebenprodukt ab. Kenneth Anger blickt in „Hollywood Babylon“ so lange durch den Glamour der Suberzählungen hinter den Kameras, bis die klassische Ära der Studiofilme nur noch Intrigen, Drogensucht, Mordversuche, Vergewaltigung und Tod abwirft. Peter Biskind füllt in „Easy Riders, Raging Bulls“ fast 800 Seiten, um mit dem Geniekult, dem die Regisseure wie Produzenten des New Hollywood erlegen waren, abzurechnen und weiß irgendwann selbst nicht mehr, ob er nun Guerillakämpfer oder ein stilistisch talentierteres Boulevardgroßmaul sein will. Hollywood produziert systemisch und industriell Geschichten. Vielleicht braucht es deren systematische Entzauberung, um ihre durch Millionenbeträge garantierte Präsenz in der Alltagskultur zu demontieren; vielleicht will man sich beruhigt an der Sehnsucht delektieren, dass Geschichtenerzähler, die für ihre Arbeit solch astronomische Summen erhalten und verpulvern, nichts anderes als verrückt werden müssen; vielleicht ist die Entzauberung selbst aber auch nur Bestandteil einer fortlaufenden, niemals abgeschlossenen Erzählung, die ihrerseits nötig ist, um die primären Werke in den Stand eines zweiten, viel gewaltigeren Mythos zu versetzen. Denn so kaputt und deviant man seit über einem Jahrhundert hinter dem Equipment auch delirieren mochte, es kamen dennoch in der Zeit einige betörende Filme zustande. Es ist also vielleicht Aufgabe dieser Erzählung hinter der Erzählung, die Devianz zur Muse zu verklären.

„Apocalypse Now“, bei dessen Uraufführung einer Rumpffassung 1979 in Cannes Francis Ford Coppola ungestüm posaunte, der Film handele nicht von, sondern sei Vietnam, ist ein Prototyp des katastrophischen Glücksfalls. Dieser Entwicklungsroman des Irrsinns hat Filmgeschichte geschrieben und ist so sehr Parabel und Allegorie, freudianische Metapher und politisches Statement, Dokument und Dokumentation, surrealistischer Fiebertraum und absurdes Theater, dass über ihn die Erzählungen geradewegs zusammenbrechen. „Apocalypse Now“ ist zweierlei: Die vielleicht mustergültige (Nicht-)Reflektion des Krieges, weil der Film ihm nichts, aber auch gar nichts an Sinn zuschieben möchte und, statt Kritik des Zeitgeists zu betreiben, lieber gleich eine Ontologie des menschlichen Verstands im Prozess der moralischen Selbstaufgabe entwirft. „Apocalypse Now“ ist aber auch ein Produkt entfesselter Megalomanie, das zugleich die ersten Seiten des letzten Kapitels von New Hollywood aufschlug und synonym mit dessen Niedergang gedacht wird: ein Regisseur, der sich mit gerade mal 35 Jahren nach „Der Pate“, „Der Pate 2“ und „Der Dialog“ auf seinem Karrierehöhepunkt befand und als hofiertes Wunderkind Freiheit und Macht im Produktionsprozess nicht mehr unterscheiden wollte; ein zunächst überschaubares Budget, das schließlich mit über 30 Millionen Dollar den Film zum damals teuersten der Geschichte werden ließ; chaotische Dreharbeiten im philippinischen Dschungel, bei denen jede Logistik aus dem Ruder lief: ein Taifun zerstörte das millionenschwere Set, Hauptdarsteller Martin Sheen erlitt einen Herzinfarkt und befand sich für Wochen außer Gefecht, Marlon Brando brillierte wegen mangelnder Vorbereitung bei seinem einmonatigen Einsatz durch wochenlange Diskussionen und kostete allein über drei Millionen Dollar, aus ursprünglich 13 Wochen Drehzeit wurden 33 und mittendrin wütete ein hypernervöser, buchstäblich bis aufs Haus verschuldeter Coppola, der „Eisenbieger“ (Dominik Graf), der täglich das Drehbuch änderte, ständig zwischen den Rollen des dekadenten Despoten und depressiven Künstlers switchte und sich selbst von epileptischen Anfällen, Drogen und Selbstmordabsichten nicht beirren ließ. Captain Willards (Martin Sheen) Reise ins Herz der Finsternis, der im Vietnamkrieg vom Geheimdienst instruiert wird, den wahnsinnigen Colonel Kurtz (Marlon Brando) und sein Purgatorium im kambodschanischen Dschungel zu eliminieren, wuchs auch für die Crew zum fiebernden Road Movie.

Bereits im Jahr 2001 noch mal durch die etwa 50 Minuten längere und minimal umgeschnittene Redux-Version pompös zurück ins kulturelle Gedächtnis gerufen, erschien dieser Tage eine definitive 3 Disc-Blu-ray-Edition des Films, die beide Versionen beinhaltet. Betrachtet man das ausladende, auf zwei Discs verteilte Bonusmaterial in chronologischer Reihenfolge, entwickelt sich daraus fast eine eigene Dramaturgie. Die gegenseitige Wertschätzung, derer sich Martin Sheen und Francis Ford Coppola eingangs beim fast einstündigen Anekdotentausch bis zur höflichen Lüge versichern, erhält eine Spur Skepsis, wenn die folgenden Interviews mit den weiteren Beteiligten niemanden wirklich zufrieden auf die Zeit zurückblicken, die meisten eher ächzen lassen, eine solche Anstrengung lieber doch kein zweites Mal auf sich zu nehmen. Das Kernstück, die berühmte Dokumentation „Hearts of Darkness“ (1991), u.a. vor Ort von Coppolas Frau Eleanor Coppola gedreht und mit einigen heimlichen Tonaufnahmen von Francis Coppolas cholerischen Selbstzweifeln und Wutausbrüchen versehen, schildert recht ungebrochen, wie oft sich anscheinend Verzweiflung und kreativer Prozess die Klinke in die Hand reichten. Gerade weil „Apocalypse Now“ (noch stärker in der Redux-Fassung) so unerschütterlich eine Linie zwischen modernem Kolonialismus und institutionell verabsolutiertem Wahnsinn spannt, ist es reizvoll zu sehen, wie sein Sujet gleichzeitig Bedingung seiner Produktion wurde, gedeckelt von einem außer Kontrolle geratenen Genius-Paradigma und nunmehr komprimiert in eine, so viel Begeisterung muss einfach mal sein, Edition für die Ewigkeit übertragen.

Planet der Affen: Prevolution

(USA 2011, Regie: Rupert Wyatt)

Und plötzlich haben alle mitgemacht ...
von Sven Jachmann

Vier Fortsetzungen zog der ursprüngliche „Planet der Affen“ (1968) nach sich, der seinerseits wiederum auf der französischen Romanvorlage der gleichnamigen, 1963 erschienenen Dystopie von Pierre Boulle basierte. Intermedial betrachtet blieb …

Vier Fortsetzungen zog der ursprüngliche „Planet der Affen“ (1968) nach sich, der seinerseits wiederum auf der französischen Romanvorlage der gleichnamigen, 1963 erschienenen Dystopie von Pierre Boulle basierte. Intermedial betrachtet blieb die Reihe fortan in jedem Jahrzehnt präsent, als Computerspiel, Comicreihe, TV-Serie oder TV-Film. Im Kino bildete bislang Tim Burtons sehr freies Remake aus dem Jahre 2001 das traurige Schlusslicht. Im Gegensatz zur zivilisationskritischen, diskursiv zerfransten und jedenfalls versuchsweise die politischen und ethischen Krisen ihrer Zeit reflektierenden (literarischen wie filmischen) Vorlage reduziert Burton das Geschehen aufs simple Aufbegehren zweier dissidenter Köpfe gegen eine atavistische Affen-Gesellschaft, nicht mitreißender oder differenzierter als eine Episode von „Flash Gordon“. Die gegenwärtige und in ihrer Vielfalt immer noch recht frische Reboot-Strategie Hollywoods, nun auch die früheren, erzählerisch bloß vorausgesetzten Prämissen längst ausgeloteter Geschichten dutzender Franchises der Popkultur zu beackern, damit hieraus bestenfalls gleich ganze alternative Zyklen entstehen mögen, bietet idealen Nährboden für einen weiteren Modernisierungsversuch.

Der Blick richtet sich also auf den Lebensabend der Erde, bevor sie zum Planet der Affen werden soll. Wir wissen: Früher war es der Atomkrieg, der die Menschheit zurück in das Stadium zwischen Sklave und Haustier manövrierte. Wir sehen: Nun wird es der korrupte Zugriff auf die Natur gegen die Natur sein, was der Menschheit zum Verhängnis wird. Es ist wie so oft: Die Absichten sind durchaus ehrenvoll, die Methoden und Strukturen, in denen sie gefangen sind, hingegen schändlich. Grundlage ist ein klares Dreiakt-Schema, das das Gefühl für die nötige Revolte sukzessiv potenziert.

Da ist zunächst die Entwicklung des Affen-Außenseiters, bei dessen Mutter im Versuchslabor ein Mittel, das Hirnzellen sich regenerieren lässt und zur Heilung von Alzheimer dienen soll, erfolgreich anschlägt. Jedoch wird sie beim Versuch, ihr von den Wissenschaftlern kurioserweise unbemerktes Kind zu beschützen, getötet, weswegen Forschungsleiter Will Rodman (James Franco) die unfreiwillige Rolle des heimlichen Ziehvaters übernimmt. Die im Verborgenen gehaltene Sensation ist immens, denn tatsächlich haben sich die manipulierten Gene der Mutter auf Caesar, wie Will den außergewöhnlich lernfähigen Affen später nennen wird (man kennt ihn als Revolutionsführer aus dem dritten Sequel „Eroberung vom Planet der Affen“ (1971)), übertragen. So wächst auf Wills Dachboden in einem komfortabel eingerichteten Kinderzimmer ein verkanntes Genie heran, sozusagen a beautiful monkey-mind, das für allerlei Verblüffung sorgt: Mittels Zeichensprache kommuniziert Caesar souverän und selbstreflexiv, eignet sich schnell zivilisatorische Standards (Kleidung, Klo und Tischmanieren – Norbert Elias revisited) an und erkennt frühzeitig die zurückkehrenden Alzheimer-Symptome bei Wills Vater, an dem Will, ebenfalls heimlich und zunächst weitaus erfolgreicher als erwartet, das unvollkommene Medikament testete. Aber zugleich laboriert Caesar am Schicksal der gleich doppelten Entfremdung. Weder den Menschen noch den Affen zugehörig, reift mit den Jahren der Wille zum Aufbegehren, zur Selbstfindung: Wer und was bin ich? Und wieso muss ich eine Leine tragen, wenn wir in den Wäldern spazieren gehen? Nach einem öffentlichen Eklat, bei dem Caesar Wills verwirrten Vater vorm tobenden Nachbarn handfest verteidigt, folgt der bedauernswerten Pubertät die entsetzliche Initiation. Es geht ins trostlose, jede Verstandsregung verhöhnende Gehege eines Primatenheims, wo alle Elemente des Knastfilms – vom stumpfsinnigen, dafür umso grausameren Wärter über den Kampf in der Klassenhierarchie unter den Häftlingen bis zu den machtlosen Angehörigen draußen, deren Interventionen spätestens hinter den Mauern der Institutionen vergeblich werden – schließlich im dritten Teil zur Revolte treiben. Caesars Intelligenz prädestiniert ihn zum Anführer der Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans (auch hier wissen wir aus den früheren Filmen, dass deren noch universale Unterdrückung trotzdem „später“ in der Affen-Gesellschaft zur Installation eines Dreiklassen-Systems führen wird, mal mit den intellektuellen Schimpansen, mal mit den militaristischen Gorillas an der Spitze). Mit der Güte des Spartacus, einem ähnlichen Familienroman und einer mindestens ebenbürtigen moralischen Ambivalenz, führt er mit seinem ersten gesprochenen Wort das „Nein!“ in den Aufstand. Nein, keine Toten, jedenfalls keine unschuldigen. Am Rande der Rebellion zeigen sich denn auch noch die ersten Anzeichen einer Epidemie, weil das Testserum beim Menschen tödliche Nebenwirkungen besitzt.

Die offensichtlichste Funktion eines Remakes / Prequels speziell im fantastischen Film besteht darin, den Stoff technisch auf den neuesten Stand zu bringen und zeitgenössischen Sehkonventionen anzupassen. Das wäre in diesem Fall die mittlerweile zur Performance Capture hyperverfeinerte Motion Capture-Technik, die die Regungen des verkabelten Schauspielers nahezu ungefiltert als Computerbild übersetzt und Caesar-Darsteller Andy Serkins nebenbei, nach Peter Jacksons „King Kong“ und dem Gollum / Sméagol-Hybrid aus „Herr der Ringe“, einen Eintrag als berühmtester gesichtsloser Schauspieler in den Geschichtsbüchern garantiert. Die zweite Funktion besteht in der Modifikation der Vorgänger, die gleichzeitig auch unweigerlich eine Interpretation ihrer Rezeptionsgeschichte ist. Da machte die Menschheit schon weiland in der Urversion keinen guten Schnitt. Heute, 43 Jahre später, sind es aber nicht mehr der hegemoniale Kampf zweier Herrschaftssysteme sondern die nunmehr vollends gottgleichen Emanzipationsversuche des Menschen von der Natur. Das mag man mit müden Augen als Kulturpessimismus und zivilisationsfeindlichen Appell schelten: Mensch, siech an Deinen Krankheiten zugrunde, pfusch nicht in Gottes Handwerk herum! Dabei versäumt der Film es keineswegs – so elaboriert dies einer Genreerzählung eben in der Regel möglich ist –, den Warencharakter der Forschung zu identifizieren und versetzt die manifeste Politik seiner Vorgänger in die Ökonomie der Gegenwart. Forschung ist hier, selbstverständlich, eine Frage des Geldes und so im guten Sinne absichtsvoll die Bestrebungen des Forschers auch sein mögen, seine Erfolge und Erkenntnisse bemessen sich an ihrem Potenzial zur Verwertung; als blanker Beitrag zum Fortschritt sind sie so sehr erwünscht wie die Affenrevolte auf der Brücke San Franciscos. Wenn sich also wenigstens die Affen ihrer Knechtschaft besinnen, ist es doch ein tröstendes Wissen, dass in Fragen des Widerstands der Mensch noch einiges von ihnen lernen kann.

Senna

(GB / F 2010, Regie: Asif Kapadia)

Leidenschaft, Genialität und Gottvertrauen
von Wolfgang Nierlin

Dieser Dokumentarfilm ist spannend wie ein Spielfilm. Die große Nähe zwischen der Wirklichkeit und ihren Abbildern, in einer Produktionszeit von sechs Jahren minutiös destilliert aus einer überwältigenden Fülle von Archivbildern …

Dieser Dokumentarfilm ist spannend wie ein Spielfilm. Die große Nähe zwischen der Wirklichkeit und ihren Abbildern, in einer Produktionszeit von sechs Jahren minutiös destilliert aus einer überwältigenden Fülle von Archivbildern sowie Originaltönen und zu einem dichten Erzählfluss montiert, machen aus Asif Kapadias Film „Senna“ ein Drama und ein Biopic, ein sportpolitisches Lehrstück und eine emotional bewegende Tragödie. Das Leben und die sportliche Karriere des legendären brasilianischen Formel-1-Rennfahrers Ayrton Senna da Silva erzählen viele Geschichten. Sie handeln von Erfolg und Niederlage, Leidenschaft und Rivalität, Glaube und Tod. Daneben spiegelt sich in Sennas Rennfahrer-Biographie aber auch ein sportlicher Paradigmenwechsel, verursacht durch technische Innovationen, die die Kunst des Autofahrens marginalisieren und den charismatischen Fahrer zu einem der Letzten einer aussterbenden Gattung machen.

Die Begeisterung für den „echten Rennsport“ und „das pure Fahren“ ist es dann auch, was den 1960 in São Paulo geborenen hochtalentierten Fahrer antreiben. Seine unglaubliche Schnelligkeit und ein Fahrstil, der bis an die Grenzen des Erlaubten das Konstruktionspotential des jeweiligen Autos ausreizt, werden zu seinen Markenzeichen. Daneben zeichnet sich Senna aus durch seinen unbedingten Willen zum sportlichen Wettstreit, seinen Erfahrungshunger und eine ehrgeizige Wissbegier. Trotzdem bleibt der geniale Fahrer mit der sympathischen Ausstrahlung, dessen einnehmendes Wesen berührt, stets bescheiden. Dahinter wiederum stehen ein unerschütterliches Gottvertrauen und eine sensible Nachdenklichkeit. Immer wieder beschreibt Ayrton Senna, von Fans „The Magic“ genannt, das Fahren als eine Art mystisches Erlebnis, das den Rausch der Geschwindigkeit mit einer starken Gotteserfahrung verbindet.

Aus dem chronologischen Nachvollzug von Sennas Aufstieg vom Go-Kart-Fahrer zum dreimaligen Formel-1-Weltmeister entwickelt der britische Regisseur Asif Kapadia mehrere dramatische Konfliktstoffe. Neben Sennas „politischen Kämpfen“ mit dem ebenso parteiischen wie selbstherrlichen FIA-Präsidenten Jean-Marie Balestre ist es vor allem die sich auch menschlich zuspitzende Rivalität zu seinem McLaren-Teamkollegen Alain Prost, der seine Weltmeistertitel einem überlegenen, pragmatischen Fahrstil verdankt. Der Realitätssinn des als „Professor“ titulierten Franzosen und der leidenschaftliche Wagemut des visionären Brasilianers treffen hier aufeinander und kulminieren immer wieder in schicksalhaften Duellen.

Die einschneidendste Herausforderung bilden allerdings die technischen Neuerungen im Autosport am Beginn der 1990er Jahre, die Senna als „elektronischen Krieg“ bezeichnet, der sich gegen die Fahrer richte. Als Nachfolger von Prost bei Williams spürt Senna diesen Kontrollverlust von Anfang an, doch trotz seiner Zweifel am sportlichen Sinn, kann er sich seiner Fahrleidenschaft nicht entziehen. Nervös, nachdenklich und traurig wirkt er vor seinem letzten Rennen beim Großen Preis von San Marino am 1. Mai 1994 in Imola, wo bereits die Tage zuvor von schweren Unfällen überschattet sind. So weist Sennas tragischer Tod an diesem Sonntag schließlich auch über sein persönliches Schicksal hinaus auf eine historische Wendemarke im Rennsport.

M – Eine Stadt sucht einen Mörder

(D 1931, Regie: Fritz Lang)

Lang wie neu
von Harald Mühlbeyer

Fritz Langs „Metropolis“, im Mai in der wiedererstellten Originallänge in die Kinos gekommen und demnächst auf DVD veröffentlicht, ist ein Film, den man gesehen haben muss – nicht, weil der …

Fritz Langs „Metropolis“, im Mai in der wiedererstellten Originallänge in die Kinos gekommen und demnächst auf DVD veröffentlicht, ist ein Film, den man gesehen haben muss – nicht, weil der Film perfekt wäre, sondern gerade wegen der Unvollkommenheiten, was etwa die sozialmelodramatische Story angeht. Fritz Langs Meisterwerk ist „Metropolis“ nicht – das Meisterwerk ist „M“, ein Thriller, der nichts an Aktualität eingebüßt hat – und der auch ausgesprochen modern inszeniert ist, den man sich wieder und wieder ansehen kann.
Vor allem jetzt ist das ein großes Vergnügen, denn zum 80. Jahrestag liegt der Film nun in einer hervorragend restaurierten Fassung auf DVD und Blu-ray vor, selbstverständlich im originalen, fast quadratischen frühen Tonfilmformat. Bild für Bild wurde das Material digital gesäubert, gerichtet, rekonstruiert – und der Ton im Übrigen auch. Selbst gegenüber der Criterion-Fassung des Films (die es für Regionen außerhalb der USA offiziell gar nicht zu kaufen gibt) stellt diese DVD noch einmal eine Verbesserung dar.

Und wer den Film noch nicht kennt, hat nun die Gelegenheit, einen der besten deutschen Filme – einen der besten deutschen Kriminalfilme zumal – zu entdecken, die Geschichte eines Kindermörders im Berlin der frühen 1930er Jahre. Peter Lorre spielt in „M“ seine erste Hauptrolle, die Rolle seines Lebens, denn immer wieder wurde er künftig in die Rolle des Bösewichtes gezwängt. In „M“ gibt Lorre alles, eine beeindruckende Darstellung – die ihre Wirkung vor allem daraus zieht, dass der Kindermörder Beckert über weite Strecken nur als Phantom im Hintergrund seinen Schatten wirft und der Film die Reaktionen im Volk darstellt: Panik, Paranoia und Denunziationen bei den Bürgern, Aktionismus bei der Polizei – und eine eigene Agenda der organisierten Verbrecher, die auf eigene Faust den Mörder suchen, der ihnen das Geschäft verdirbt. Beckert sitzt unentdeckt in seiner Wohnung, schreibt Briefe an die Presse, und wenn ihn die zwanghafte Lust überkommt, verfolgt er ein kleines Mädchen, lockt es mit sich, und dann …

Lang zieht alle Register, Emotion und Spannung zu verknüpfen, jede Szene hat ihren Zweck, nichts ist überflüssig: Es geht um die Psyche des Mörders ebenso wie um eine fast dokumentarische Schilderung der Polizeiarbeit, um Obrigkeit und Verbrechen, um ein Porträt der Gesellschaft der Weimarer Republik wie auch um das Erproben und Ausstellen der Möglichkeiten filmischen Erzählens in Zeiten des frühen Tonfilms. Denn Lang geht meisterhaft mit dieser neuen Dimension des Films um, belässt ganze Passagen stumm (was ja effektiv im stets musikbegleiteten Stummfilm nie der Fall war), um mit ein paar akzentuierten Geräuschen Ausrufezeichen zu setzen, und charakterisiert den Mörder durch sein Pfeifen: Nach diesem Film wird man Edvard Griegs „Peer Gynt“-Melodie anders hören (wenn man zum Beispiel in einem Seifen-Werbespot auf sie trifft …).

Im sehr guten Audiokommentar moderiert Torsten Kaiser, verantwortlich für die gesamte Restaurierungsarbeit, ein Gespräch mit Prof. Elisabeth Klenk und Dr. Regina Stürickow. Erstere ist Expertin in Sachen Peter Kürten, den vielfachen Mörder mit dem Spitznamen „Vampir von Düsseldorf“, letztere ist Fachfrau für die Situation in der Metropole Berlin zu Zeiten der Weimarer Republik. Beide gleichen klug und kenntnisreich den Film mit der Wirklichkeit ab, und es wird deutlich, wie genau Lang und seine Drehbuchautorin Thea von Harbou für ihren Film recherchiert haben: Alltag und Leben der kleinen Leute in ihren Hinterhofwohnungen sind ebenso genau dargestellt wie die modernen Methoden der Kriminalistik, die in Richtung des heutigen Profilings gehen, oder die Berliner Unterwelt mit ihren Kellerkneipen, Razzien und Ringvereinen, die als „Gewerbeverbände“ das Verbrechen ordneten. Und man bekommt Einblicke in die Ursprünge des Films, die wohl in der Persönlichkeit von und in der Berichterstattung über Peter Kürten lagen. Der hatte 1929 in einer Mordserie acht Menschen (nicht nur Kinder) umgebracht und ein ungeheures Medienecho erzeugt – denn auf diesen Biedermann war niemals ein Verdacht gefallen.

Kürten steht auch im Mittelpunkt von Torsten Kaisers 96-Minuten-Dokumentation „The Hunt for M“ von 2003, einer englischsprachigen Annäherung an diesen Serienmörder in Hinblick auf den Film, die etwas an der allzu dramatisch-pathetischen Sprechweise von Barry Morse leidet, der seinen Kommentar abgibt wie ein Voice-Over-Erzähler in altertümlichen Horrorfilmen. Ein zweiter Teil der Doku geht der weltweiten Suche nach Filmmaterial zu „M“ nach, der Restaurierung und der inszenatorischen Meisterschaft von Fritz Lang – unter anderem in Interviews mit Peter Bogdanovich und Martin Koerber, der für die 2001er-Restauration des Films verantwortlich war.

Mit Koerber zusammen bestreitet Kaiser auch die Kommentierung einer 50minütigen Kompilation verschiedener Fassungen von „M“ – sowohl späterer geschnittener Fassungen als auch der englischen und französischen Sprachversionen von 1932. In diesen wurde nicht nur synchronisiert, es wurden teilweise auch Darsteller durch englische bzw. französische Muttersprachler ersetzt, Sequenzen umgeschnitten und Einstellungen nachgedreht – Lorre musste seinen ganzen ergreifenden Schlussmonolog in anderen Sprachen noch einmal spielen. Dieser Umgang mit Filmen in den Händen ausländischer Verleiher ist hochinteressant; es gab damals verschiedene Verfahren, Auslandsfassungen herzustellen, von (technisch noch unausgereifter) Synchronisation bis zum kompletten Nachdreh eines Films, und verschiedene dieser Techniken wurden auf „M“ angewandt. Leider können im Kommentar die beiden Restauratoren keine Auskunft geben, wann, wo, unter welchen Umständen und unter wessen Regie etwa Nachdrehs zu „M“ entstanden sind, oder auch, wie es zu einigen sehr merkwürdigen, völlig sinnlos hineingeschnittenen Einstellungen kam, in denen einige der Nebendarsteller vor monochrom grauem Hintergrund zu sehen sind. Hier hätte man sich etwas mehr Recherchearbeit gewünscht oder zumindest Hinweise darauf, warum keine Hinweise gegeben werden können.

Ein schönes Fundstück ist das Interview „Zum Beispiel Fritz Lang“ von Erwin Leiser von 1968. In statisch gestellten Fragen und Antworten rekapituliert Lang seine deutschen Filme vor 1933 – und taut mehr und mehr auf, wenn er aufsteht und anekdotische Situationen nachspielt. Hier findet sich etwa seine legendäre Schilderung einer Begegnung mit Goebbels, der ihm die Führerschaft des deutschen Films antrug, worauf Lang noch in derselben Nacht Deutschland verlassen habe – was historisch nicht stimmt, in der verdichtet-verklärenden Version Langs aber ohne Zweifel Unterhaltungswert hat.

Brownian Movement

(NL / D / B 2010, Regie: Nanouk Leopold)

Ein anderes Gefühl der Berührung
von Wolfgang Nierlin

Wie zuletzt in Christoph Hochhäuslers sehr artifiziellem Film „Unter Dir die Stadt“, so spielt auch in Nanouk Leopolds „Brownian Movement“, betitelt nach den gleichnamigen Molekularbewegungen, die Architektur eine wesentliche Rolle. …

Wie zuletzt in Christoph Hochhäuslers sehr artifiziellem Film „Unter Dir die Stadt“, so spielt auch in Nanouk Leopolds „Brownian Movement“, betitelt nach den gleichnamigen Molekularbewegungen, die Architektur eine wesentliche Rolle. Allerdings spiegelt sich in ihr weniger die Dynamik einer finanzkapitalistischen Ordnung, sondern sie ist vielmehr individueller Ausdruck von Gefühlen. In langen, statischen, oft aus einer leichten Untersicht gedrehten Einstellungen werden Orte zu Seelenräumen. Ihre klare Struktur und funktionale Ordnung kontrastiert zugleich die scheinbar unkontrollierten, nicht näher erklärten Bewegungen der Protagonistin, die sich in Ausschnitten und Details verdichten und damit einen elliptischen Erzählfluss transportieren. In „Brownian Movement“ fällt der Blick nicht aufs Ganze, geht es weder um räumliche Geschlossenheit noch um psychologische Durchdringung, sondern um ein Sich-Öffnen gegenüber dem Unverständlichen.

„Brownian Movement“ ist in drei Teile gegliedert, die wiederum drei zentrale Handlungsorte etablieren: Zunächst einmal die Brüsseler Wohnung, in der die verheiratete Ärztin Charlotte Gudrun von Ribeck (Sandra Hüller) fremde Männer zum Sex empfängt; dann der Gesprächsraum der Psychoanalytikerin, wo Charlotte über ihr Verhalten sprechen soll; schließlich die indische Metropole Ahmedabad als Schauplatz der Architektur von Le Corbusier, die das innere Gleichgewicht der Protagonistin wieder herstellen könnte. Während in Brüssel durch Charlottes sexuelle Grenzübertritte auch Vertrauensverluste und Entfremdung gegenüber ihrem verletzten Mann Max (Dragan Bakema) wachsen, beginnt in Indien eine Zeit der vorsichtigen Wiederannäherung. Dominieren in der europäischen Stadt Räume, die der Kälte und Anonymität einer Laborsituation verwandt sind und in die fahles, kaum konturierendes Licht fällt, öffnen sich die Räume in Ahmedabad stärker dem Leben. Zwischen ihnen steht als Leitmotiv des Übergangs immer wieder das Unfertige von Baustellen, auf denen Max als Architekt arbeitet und die Charlotte ziellos durchstreift.

Obwohl Charlotte ein mehr oder weniger erfülltes Ehe- und Familienleben zu führen scheint, trifft sie sich mit wechselnden Sexpartnern. Von ihnen fühlt sie sich angezogen durch bestimmte körperliche Merkmale: eine auffallend starke Behaarung, eine pockennarbige Nase, extreme Dickleibigkeit und die welke Haut des Alters. An Gesichter wird sich die junge Ärztin später nicht erinnern können; vielmehr ist sie fixiert auf das Haptische von Körpern und Gegenständen, von Oberflächen und Details, auf „ein anderes Gefühl der Berührung“, wie sie später selbst sagt. Abgelenkt und im Bann spezifischer Reize, öffnet sie sich neuen Erfahrungen und der Spannung des Ungewissen, die andererseits in einem veränderten Kontext nur noch panische Abwehrreflexe hervorruft.

Die richterliche Sanktionierung und gesellschaftliche Ächtung folgt unmittelbar. Aber Nanouk Leopold geht es in ihrer sorgfältig komponierten, auf das Wesentliche konzentrierten Filmstudie vor allem darum, wie sich jenseits von sprachlicher Artikulation und rationalem Verstehen Vertrauen zwischen Menschen, die sich lieben, zurückgewinnen lässt. Ihr beeindruckender Film lässt das offen und führt deshalb am Schluss auch hinaus aus der Stadt in die Weite einer unberührten Wüstenlandschaft.

Der Komet

(USA 1984, Regie: Thom Eberhardt)

Hinter der Sonnenbrille: Reagans feuchter Traum
von Carsten Moll

Regina und Samantha, genannt Reggie und Sam, sind zwei typische kalifornische Teenager der 80er, sie kauen Kaugummi, spielen pixelige Videospiele an riesigen Automaten und hören Popmusik aus dem Radio. Sie …

Regina und Samantha, genannt Reggie und Sam, sind zwei typische kalifornische Teenager der 80er, sie kauen Kaugummi, spielen pixelige Videospiele an riesigen Automaten und hören Popmusik aus dem Radio. Sie sind ein bisschen cooler, ein bisschen kälter als die Spielberg-Kids. Aber wen wundert’s, ihre Welt ist auch weniger behütet. Auf dem Wohnzimmertisch stehen die Familienportraits, jedes Mitglied für sich in einem eigenen Rahmen. Daddy ist als Soldat in Zentralamerika unterwegs, die böse Stiefmutter Doris flirtet mit dem Nachbarn und boxt der aufmüpfigen Sam im Streit auch schon mal ins Gesicht. Reggie jobbt im Kino, wo ihr Chef sie herumkommandiert, und hat Sex mit ihrem Loser-Freund, dem Filmvorführer. Das ist das Leben und weit und breit kein gutmütiger außerirdischer Gnom in Sicht.

Als aber eines Nachts ein Komet an der Erde vorbeirauscht, löscht er auf ungeklärte Weise fast alles Leben auf dem Planeten aus. Außer Reggie und Sam gibt es nur wenige Überlebende, darunter blutrünstige Mutantenzombies und ein Gruppe zweifelhafter Wissenschaftler. Doch die beiden Schwestern wissen sich zu wehren, mit Maschinengewehren und coolen Sprüchen kämpfen sie um ihr Überleben unter dem rot glühenden Himmel des post-apokalyptischen Los Angeles.

Was sich hier als wilder Genremix verkauft und für jung und frech und spritzig hält, entpuppt sich beim näheren Hinsehen als der feuchte Traum eines alten Mannes namens Ronald Reagan. Verfilmt im Jahr 1984, also als besagter Reagan in der Mitte seiner Amtszeit angelangt war, hat das nach eigenem Drehbuch Thom Eberhardt, den man am ehesten noch als Drehbuchautor von „Liebling, jetzt haben wir ein Riesenbaby“ kennt. Der B-Film war damals kein großer Erfolg und Ende der 80er zu Recht wieder vergessen, aber die Kids, die ihn früher liebten, entdeckten ihn wieder und erkoren „Der Komet“ zum Kultklassiker. Sogar Joss Whedon gab an, dass der Film eine große Inspiration für seine respektable Erfolgsserie „Buffy – Im Bann der Dämonen“ gewesen sei, auch wegen der Darstellung der beiden Heldinnen.

All das muss ein wenig verwundern, denn „Der Komet“ ist nicht bloß schlecht geschrieben, billig produziert und bestenfalls solide gespielt, sondern dabei nicht einmal sonderlich unterhaltsam. Es gibt ein paar wirklich witzige Dialogzeilen, Mary Woronov ist als campy Wissenschaftlerin sehenswert und die Aufnahmen der menschenleeren Metropole sind durchaus gelungen und stimmungsvoll. Aber man sollte sich von der vermeintlichen Unbedarftheit und dem ironischen Ton des Films nicht blenden lassen, denn das Weltbild, das hier vermittelt wird, ist konservativ und spießig und bleibt bei aller Ironie doch immer intakt und unangetastet.

Das fängt an beim Frauenbild: Klar, Sam und Reggie dürfen ihren Spaß haben und machen, worauf sie halt Lust haben, also Motorradfahren, Rumballern und Schuhe kaufen (dazu läuft ein mieses Cover von „Girls Just Wanna Have Fun“, tatsächlich noch das Beste am cheesy Soundtrack). Wer das für emanzipiert hält, für den ist wahrscheinlich auch die fiktive Werbesendung „Chicks Who Love Guns“ aus Tarantinos „Jackie Brown“ ein Bekenntnis zum Feminismus. Und überhaupt: Die Waffen landen am Ende im Müll, entsorgt von Reggies Gatten in spe. Es wurden ausreichend Bilder gezeigt, die der Aufrüstung ein sexy Image verleihen und nach dem Austoben wartet eh das traute Glück als Kernfamilie, ganz wie die Reagan-Regierung es sich wünscht.

Dass der Eindruck entstehen kann, „Der Komet“ handle von selbstbewussten jungen Frauen, ist in erster Linie dem Aussehen der Protagonistinnen geschuldet. Mit Fönfrisur und Cheerleaderkostüm erscheinen sie tatsächlich als weibliche Wesen, obwohl sie vielmehr als Avatare für eine Männerfantasie dienen. Ihre Bedürfnisse sind eine Mischung aus klischiertem Mädchendasein (Materialismus, starke Bezogenheit auf Jungen, Konkurrenzkampf um Männer) und erotischem Jungstraum. Die menschenleere Stadt mit ihren automatisierten Radioprogrammen und an Zeitschalter gekoppelten Pools und Sprinkleranlagen ist passenderweise mehr Simulation als authentische Lebenswelt. Völlig mühelos dringen Reggie und Sam in Gebäude ein, scheinbar aus dem Nichts erhalten sie Waffen, Motorräder und schicke Autos, als hätten sie sie heruntergeladen, um für die Matrix gerüstet zu sein. Selbstredend müssen unsere Valley Girls nicht essen und suchen die Toilette nur zum Schminken auf. Die Diegese des Films hat sich vollkommen auf sie eingestellt und ist ihrer Egozentrik verfallen, der seichte Pop-Rock, den Sam und Reggie im Radio hören, wird konsequenterweise zum offiziellen Soundtrack.

Richtig ärgerlich und ganz im Schatten der Politik Reagans ist „Der Komet“ bei der Darstellung der Zombies, Mutanten oder Zombiemutanten – wie auch immer man will, der Film bleibt hier vage, denn letzten Endes sind sie nur Kanonenfutter und Geisterbahnschreck. Führt man sich aber einmal die Charakteristika, mit denen diese Monster gezeichnet werden, vor Augen, wird aus dem Mutanten schnell ein HIV-Positiver und die zerfledderte Zombiehaut zum Kaposi-Sarkom. Die Mutation wird im Film als körperlicher und geistiger Verfall gezeigt, dem alle zum Opfer fallen, die nicht vollkommen durch Stahl vor den Strahlen des Kometen geschützt waren. Auffällig ist, dass sowohl Reggie als auch der Überlebende Hector vor der Strahlung sicher waren, weil sie sich während des Vorbeiflugs des Kometen an einen privaten Ort zurückgezogen hatten, um Sex zu haben. Weiterhin ist bemerkenswert, dass alle gezeigten Zombies männlich sind, darunter der einzige Schwarze im Film, sowie zwei Motorradpolizisten, die aussehen, als wären sie Mitglieder der Village People. Die Wissenschaftler, die ebenfalls infiziert sind, versuchen verzweifelt sich zu retten, indem sie andere Überlebende als Quelle für frisches Blut anzapfen. Sind ihre Methoden auch verachtenswert und grausam, so legt das Handeln der Wissenschaftler doch nahe, dass es sich bei der Zombiewerdung um eine Krankheit handelt, die behandelt werden kann. Vor diesem Hintergrund erschrecken weniger die entstellten Mutanten, als der Umgang mit ihnen, der die Ignoranz der Reagan-Ära bezüglich der AIDS-Krise widerspiegelt. Bleibt noch anzumerken, dass die Mutantenzombies kaum gewalttätiger sind als unsere Heldinnen, nur verweigert der Film ihnen die Sympathie, die er den Mädchen entgegen bringt. Sie sind nicht verrückt, wie ein Mutant erklärt: „I just don’t give a fuck!“ Wer kann ihnen das in ihrer Situation noch verübeln, auf sie wartet schließlich kein Happy End samt Adoptivkindern und Boyfriends wie auf die ähnlich unempathischen aber hübscheren Valley Girls. Zwei der spärlichen Zombieattacken im Film erweisen sich sogar lediglich als Sams Traum (beziehungsweise als Traum im Traum) und erzählen damit mehr von ihrer Paranoia als von einer existenten Bedrohung.

„Der Komet“ erzählt vom post-apokalyptischen, post-modernen Leben in der shining city Amerikas und ist dabei leider ganz ein Kind seiner Zeit, nämlich ein ausgewachsener Spießer mit schlichtem Gemüt.

Schlafkrankheit

(D / F / NL 2010, Regie: Ulrich Köhler)

Verloren zwischen den Welten
von Wolfgang Nierlin

„Licht“ lautet das erste Wort der Vorspanntitel, deren Bestandteile wie in einem Film von Godard erst nach und nach die Leinwand füllen. Dann löst sich auf nächtlicher Autofahrt ein einzelner …

„Licht“ lautet das erste Wort der Vorspanntitel, deren Bestandteile wie in einem Film von Godard erst nach und nach die Leinwand füllen. Dann löst sich auf nächtlicher Autofahrt ein einzelner Lichtpunkt aus dem tiefen Dunkel, der sich kurz darauf als Schein einer Taschenlampe entpuppt. Die Ankunft der Familie Velten auf dem schwarzen Kontinent, wo der Arzt und Entwicklungshelfer Ebbo (Pierre Bokma) und seine Frau Vera (Jenny Schily) seit vielen Jahren zu Hause sind, beginnt mit einer Kontrolle. Auch das Eintreffen seines französischen Kollegen Alex Nzila (Jean-Christophe Folly) drei Jahre später vollzieht sich in stockdunkler Nacht. Fremde und Orientierungsverlust, die am Ende bei einem nächtlichen Gang durch den Dschungel noch zu einer unheimlichen Verlorenheit gesteigert werden, sind in Ulrich Köhlers beeindruckendem Film „Schlafkrankheit“ regelrecht mit Dunkelheit assoziiert.

Um diese geradezu existentielle Fremdheit zu vermitteln, verschränkt Köhler auf unkonventionelle Weise die Blickrichtungen der beiden Protagonisten. Während der couragierte Ebbo, der seit zwanzig Jahren in Kamerun ein Projekt zur Erforschung der Schlafkrankheit leitet, eine große Erfahrung ausstrahlt und sich dem fremden Leben völlig anverwandelt zu haben scheint, erlebt der kongolesischstämmige Franzose Alex, der im Auftrag der WHO Ebbos Programm evaluieren soll eine Art Kulturschock. Doch Köhlers komplexe, an Zwischentönen reiche Verschränkung der Perspektiven lässt sich in diesen vorgeblichen Gegensätzen nicht einfach fassen. Sein genauer, subtiler Blick auf die schier nicht einholbare Differenz der Mentalitäten unterläuft nicht nur souverän und mit Witz Klischees, sondern durch vielfache Brechungen auch die Bilder, die von ihnen kursieren.

So fühlt sich Ebbo in Afrika zwar heimisch und behauptet in seinen beruflichen wie privaten Auseinandersetzungen eine selbstbewusste, fast schon abgeklärte Unabhängigkeit, doch gleichzeitig zwingt ihn sein Realitätssinn in eine unüberwindliche Distanz. Zudem scheint ihm nach dem sich abzuzeichnenden Ende des Projekts auch die Rückkehr nach Deutschland versperrt. Ebbo ist ein Gefangener zwischen den Welten, der sich nicht lösen kann von seiner Faszination, ja förmlich und auf geradezu mystische Weise von ihr verschluckt wird. Darüber hinaus ist Ebbo eine Figur, die sich dem Zuschauer widersetzt und immer wieder entzieht.

Dagegen repräsentiert der junge, unerfahrene Arzt Alex, der in Frankreich geboren und sozialisiert wurde, trotz schwarzer Haut den Prototyp des Europäers, der Afrika als einen einzigen Alptraum erlebt. Alle seine Absichten werden vor Ort von Willkür und Trägheit blockiert, seine Arbeit stagniert und kommt schließlich zum Erliegen. Ulrich Köhlers vielschichtiger Film hält diese sowohl erfahrene als auch imaginierte Differenz bis zum Schluss offen und bildet sie schließlich auch in seiner elliptischen, dezentralen Plotstruktur ab.

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Orlando

(F / GB / I / NL / R 1992, Regie: Sally Potter)

I’m not then
von Carsten Moll

Hinschauen: „Orlando“ ist eine Ausstattungsorgie, gewollter und gekonnter Camp mit faustgroßen mouches an der Backe und Reifröcken von der Größe eines Kleinwagens, ein Film irgendwo zwischen Derek Jarman, Todd Haynes …

Hinschauen: „Orlando“ ist eine Ausstattungsorgie, gewollter und gekonnter Camp mit faustgroßen mouches an der Backe und Reifröcken von der Größe eines Kleinwagens, ein Film irgendwo zwischen Derek Jarman, Todd Haynes und Sofia Coppolas „Marie Antoinette“. In dichten Vignetten chargieren die Nebendarsteller, als wollten sie es mit dem überbordenden Dekor und den ausufernden Kostümen aufnehmen, die queen Quentin Crisp spielt Queen Elizabeth I. und Schwulenikone Jimmy Somerville gibt den goldenen Videoclip-Engel. Selbstverständlich!

Die Jahreszahlen, Orte und Geschlechter ändern sich, Kostüm und Ausstattung hinterher. Was bleibt ist Orlando, später Lady Orlando, der der Königin versprochen hat stets jung zu bleiben und somit unsterblich wird. Das alles passiert ohne übermäßiges Interesse an Geschichte und Geschichten und ohne den period piece-Muff der Merchant-Ivory-Filme. Dafür gibt es jede Menge leichtfüßigen Witz und den unbedingten Willen zum Pop, dem ganzen Zeitreise-Gender-Literaturvorlage-Ballast zum Trotz.

Weitersehen: Was leicht hätte anstrengend werden können, gelingt vor allem dank Sally Potters ruhiger Regie, Aleksei Rodionovs strengen Bildkompositionen und nicht zuletzt Tilda Swintons großartiger non-performance. Tilda Swinton, immer mittendrin und außen vor, ist Orlando ist Lady Orlando und eben auch Tilda Swinton. Auch ganz wortwörtlich ist sie herausragend, wenn sie beispielsweise die Erzählstimme unterbricht oder durch Blicke Kontakt zu den Zuschauern aufnimmt und uns mal fragend, mal herausfordernd anblickt. Fast schon verloren guckt sie manchmal unter den turmhohen Perücken hervor und wirft so ein Ding auch einfach mal weg, wenn es zu sehr kratzt.

Durch Swintons unprätentiöses Spiel und ihren stoischen Umgang mit dem Lauf der Geschichte vom 17. Jahrhundert bis in die Jetztzeit entsteht einerseits Nähe und Verbundenheit zu Orlando/Swinton, andererseits werden Klischees vermieden, die ein solcher Stoff mit sich bringt. In „Orlando“ wird kein Konstrukt von der Gegensätzlichkeit männlicher und weiblicher Identität entworfen, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind den Vorstellungen und Normen der Gesellschaft geschuldet, die Swinton allerdings kalt lassen.

Orlandos Identität ist komplexer als es die typischen Geschlechtszuschreibungen vermuten lassen, stereotypes Männlichkeitsgehabe kennt Orlando ebenso wenig wie vermeintlich weibliche Schicksalsergebenheit. Selbst nach der plötzlichen Transformation zur Frau ist kein Bruch in Orlandos Charakter erkennbar, der Mensch Orlando betrachtet in einem Spiegel den nun weiblichen Körper und bemerkt: „Same person. No difference at all … just a different sex.“ Ein Gedanke, der hoffentlich nicht alt wird.

Leben und Tod einer Pornobande

(RS 2009, Regie: Mladen Djordjevic)

Back to the Roots
von Sven Jachmann

Wenn die Grenzüberschreitung zum ökonomischen Maßstab wird, schlägt auch ihre Ästhetisierung ins Gegenteil um. Das ist eine der Lehren, die die Protagonisten dieses serbischen Films grausam am eigenen Leib erfahren …

Wenn die Grenzüberschreitung zum ökonomischen Maßstab wird, schlägt auch ihre Ästhetisierung ins Gegenteil um. Das ist eine der Lehren, die die Protagonisten dieses serbischen Films grausam am eigenen Leib erfahren müssen – und die sie schließlich notgedrungen selbst reproduzieren.

Dabei begann alles mit einer Utopie: Um seine Haut vor einem rachsüchtigen Pornoproduzenten zu retten, flieht der Filmemacher Marko, den es eigentlich zur aufrüttelnden, nur leider brotlosen Kunst zieht, von Belgrad aufs Land. An seiner Seite im hippiesk umdekorierten Tourbus: neun Outcasts, vom Transsexuellen mit zoophilen Neigungen bis zum Junkiepärchen, die im urbanen Raum bloß Verelendung erwartet. Ihre Mission: mit einem bizarren Live-Porno-Cabaret die Landbevölkerung von ihren sexuellen Schranken befreien. Die Utopie schlägt ins Gegenteil um: Mit fürchterlicher Gewalt entlädt sich der Hass auf die selbsternannten Aufklärer. In kurzer Zeit sinkt die Gruppenmoral so tief, dass man widerwillig unter der Obhut eines deutschen Journalisten Snuff-Filme für dekadente Westeuropäer produziert, doch zumindest Marko ist zunächst überzeugt, damit seinem Credo einer Grenzen überschreitenden Kunst treu zu bleiben.

Harte Geschütze, die Mladen Djordjevic in seinem ersten Spielfilm auffährt: Pornographie und extreme Gewalt schnürt er in ein drastisches Setting, das auf den ersten Blick an Torture Porns erinnert. Aber auf das exotistische Klischee des entfesselten Balkans reagiert der Regisseur, indem er die Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche betont. Kunst wie Kultur sind präformiert von den realen Kriegsschauplätzen des zerstörten Serbiens: Bis auf eines begeben sich die Snuff-Opfer 'freiwillig' zum Schafott, weil sie sich vom bezahlten Tod vor der Kamera eine Operation ihrer durch radioaktive Nato-Bomben missgebildeten Familienmitglieder versprechen oder für ihre eigenen Kriegsverbrechen büßen wollen. Das aufrührerische Projekt gerät schneller zur pervertierten Dienstleistung, als die Pornobande verkraften kann. Solcherlei radikalen Nihilismus kennt man allenfalls aus Splatterfilmen der frühen Siebziger, die ähnlich unbefangen die gesellschaftliche Erosion zelebrieren.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/11

Lost Highway

(USA 1997, Regie: David Lynch)

Mephisto mit Handy
von Andreas Thomas

Faust im Medienzeitalter. Wie ist er heute denkbar? Wer, wenn nicht der richtungsweisende Regisseur David Lynch ist in der Lage, darüber Untersuchungen anzustellen? Er zeigt uns wieder einmal eine unausgesetzt …

Faust im Medienzeitalter. Wie ist er heute denkbar? Wer, wenn nicht der richtungsweisende Regisseur David Lynch ist in der Lage, darüber Untersuchungen anzustellen? Er zeigt uns wieder einmal eine unausgesetzt klaustrophobische Welt mit dem Teufel als einem mit High-Tech ausgerüsteten Aufklärer des Bösen und Faust als einem verzweifelten Jazzmusiker, der Antworten erhält, von denen er nicht zu alpträumen wagte.

'Dick Laurent ist tot', sagt die Türsprechanlage. Fred Madison (Bill Pullman) kennt niemand mit diesem Namen, er weiß nicht, wer zu ihm gesprochen hat, aber er sieht aus, als habe er auf diese Botschaft gewartet …

So beginnt David Lynchs Film 'Lost Highway'. Der Saxophonist Fred Madison und seine Frau Renee (Patricia Arquette) führen in einem bunkerähnlichen Haus eine gescheiterte Ehe. Renee hat offenbar Affären, die sie halbherzig kaschiert, Fred ist dabei ein verzweifelter, aber hilfloser Zuschauer. Als das Paar zwei anonyme Videofilme bekommt, auf denen nicht nur die Fassade seines Hauses zu erkennen ist, sondern eine gleitend schwebende Kamera in das Haus eindringt und das schlafende Paar beobachtet, ruft es die Polizei, die keine Einbruchsspuren feststellt.

Auf einer Party bei einem Bekannten Renees, dem zwielichtigen Andy (Michael Massee) (wiederum ein Bekannter Dick Laurents (!)), tritt ein zwergenhafter, grinsender Mann (laut credits: 'Mystery Man' = Robert Blake) zu Fred und behauptet, gerade jetzt in seinem Haus zu sein. Zum Beweis reicht er ihm sein Handy und fordert ihn auf, ihn unter Freds eigener Nummer anzurufen, wo sich dieselbe Stimme meldet. Auf die Frage: 'Wie sind Sie in mein Haus gekommen?' antwortet die Stimme: 'Sie haben mich eingeladen. Es ist nicht meine Art, dort hin zu gehen, wo ich nicht erwünscht bin.' Auf dem dritten Videoband, das er am nächsten Morgen erhält, sieht Fred in ungläubigem Schrecken sich selbst im Blutrausch bei der zerstückelten Leiche seiner Frau. Schneller Wechsel: Fred, als Mörder verurteilt, sitzt in einer Todeszelle, schlaflos und gepeinigt von quälenden Kopfschmerzen. Eines Morgens ist Fred verschwunden, doch in seiner Zelle findet sich Pete Dayton (Balthazar Getty), ein junger Automechaniker, der mangels einer rationalen Erklärung entlassen wird. Pete, der noch bei seinen Eltern lebt, normalerweise mit seiner Clique und seiner Freundin 'um die Häuser zieht', hat sich seit jenem 'Vorfall' offenbar verändert. Er interessiert sich plötzlich nicht mehr für seine Freundin Sheila (Natasha Gregson Wagner), sondern verliebt sich in Alice Wakefield (Patricia Arquette), Geliebte von Dick Laurent (Robert Loggia), auch 'Mister Eddie' genannt, einem skrupellosen Pornofilmproduzenten. Alice (das wasserstoffblonde Pendant zur schwarzhaarigen Renee – siehe 'Vertigo') verführt Pete zu einer heimlichen Affäre und überredet ihn kaltblütig, mit dem Ziel eines Lebens in finanzieller Unabhängigkeit, gemeinsam mit ihr Andy in dessen Haus zu berauben, der beim dabei entstehenden Handgemenge getötet wird. Nach dem Geschlechtsakt im Wüstensand, wo sie auf einen ihr bekannten Hehler warten, gesteht Pete Alice seine Sehnsucht: 'Ich will dich!'- 'Du wirst mich niemals kriegen!', returniert die Eiskalte und in diesem Moment verwandelt sich Pete Dayton zurück in Bill Madison. Wie im Rausch einer Wahrheitsdroge laufen die letzten Bilder ab: Alice verschwindet in der Hütte des Hehlers, Fred der ihr folgt, findet dort den mysteriösen Zwerg, der eine Videokamera auf ihn richtet und ihn nach seinem Namen fragt, plötzlich ist Fred im 'Lost Highway Hotel', wo er Dick Laurent beim apres sex mit Renee (nicht Alice) ertappt, er schleppt ihn in die Wüste, wo er ihm mit einem vom Zwerg gereichten Messer die Kehle aufschlitzt und schließlich der Zwerg selbst ihm einen Kopfschuss verabreicht. Am Schluss sehen wir Fred allein mit der Leiche. Morgens fährt er bei seinem Haus vor, drückt den Klingelknopf und sagt: 'Dick Laurent ist tot.' Für Fred Nr.1 beginnt die Geschichte von vorn, für Fred Nr.2 geht sie weiter auf der Flucht vor Polizeiwagen, aber anstatt in den Tag rast er ziellos seinen 'Lost Highway' hinab in eine ewig anmutende Nacht, mit dem Schrei eines Wahnsinnigen … Der Teufelskreis hat sich geschlossen, der Weg heraus ist der in die ewige Verdammnis, die Hölle.

Der besondere Reiz Lynch’scher Filme liegt in in der großen Bandbreite ihrer Interpretationsmöglichkeiten. David Lynch ist unter den zeitgenössischen Regisseuren der Kenner menschlicher Alpträume, der Spion des Unbewussten, und weil er so virtuos auf der Klaviatur unserer Ängste spielt, kann die Inhaltsangabe eines Lynch-Films nicht einmal erahnen lassen, was er beim konkreten Zuschauer auslöst. Unter brachialem Einsatz assoziationsgeladener Bilder, Geräusche und Töne kommuniziert Lynch mit dem Persönlichsten des Einzelnen. Daher kann ein auch nur andeutungsweiser Anspruch auf Allgemeingültigkeit bei einer Lynch-Rezension kaum erhoben werden, und deshalb ist folgendes ein dezidiert persönlicher Annäherungsversuch:

'Lost Highway' handelt von der Hölle. Von der Hölle vor und nach dem Teufelspakt. Von der Hölle des Lebens in einer 'alltäglichen' Unausweichlichkeit, von der Trennung vom Leben, der Vergeblichkeit der Liebe und der Isolation. Die Einsamkeit eines Paares in seiner Partnerschaft, in seinem Haus, in dessen Dunkelheit es sich zu verlieren droht, das mit seinen dicken Mauern und schießschartenartigen Fenstern anscheinend Sicherheit geben soll, aber jede Lebendigkeit erstickt. Und nun der Faustruf nach Entgrenzung. Wie eine verzweifelte Beschwörung diabolischer Mächte klingt Freds Saxophonsolo, und das Videoband belegt: Der Geladene ist schon da, ihm zu helfen – und ihn zu observieren. Aus dem Pudel ist eine Überwachungskamera geworden. Freds größte Sehnsucht, die verlorene Geliebte wieder zu gewinnen, wird ihm erst im Körper des jüngeren Pete erfüllt, der durch die Inkarnation zu seinem heimlichen Werkzeug geworden ist. Pete ist draußen in der Welt, und durch ihn hat Fred Zugang zu den Mächten, die Renee/Alice verführt und sie ihm geraubt haben. Es sind – wie so oft bei Lynch – böse, dunkle Kreaturen, hier verkörpert durch Dick Laurent und Andy, die offenbar (Snuff)-Pornos produzieren. Sie stehen für eine dekadente, gewalttätige Seite der Welt, und sie stehen mit dem Teufel im Bunde 'Sie und ich, Mister, wir stellen all die anderen Scheißkerle bei weitem in den Schatten' sagt Laurent noch mit durchgeschnittener Kehle zum zwergenhaften Mephisto. Aber der Teufel, vertraglich nun auch Fred verpflichtet, gibt Laurent die Todeskugel, nachdem er Fred die ganze Wahrheit über Renee (Alice) und das erdrückende Ausmaß ihrer Verstrickung offengelegt hat. Der Teufel legt seine Machenschaften dar. Er hat sein Versprechen gehalten: Er hat Fred seine Geliebte zurück gegeben, und er hat ihm die Mittel gegeben, sie den Klauen ihrer bösen Herren zu entreissen. Doch am Ende ist auch sie böse, und zugleich mit seinem Einblick in und seiner aktiven Einflussnahme auf das Böse ist Fred (Pete) selbst zum Mörder, ein Teil des Bösen geworden und verloren.

Während der Hergang des ersten Teils im düster-beschaulichen Stil älterer Lynch-Werke ('Blue Velvet') geschildert wird, explodiert der zweite Teil auf grelle, plakative Weise, unterlegt mit aggressiver, emotionsgeladener, viele Szenen dominierender Popmusik von Marilyn Manson (auch als Nebendarsteller in einem Snuff-Video zu sehen), Lou Reed, Rammstein, David Bowie und anderen: eine Reminiszenz an die Schnelligkeit und Zerrissenheit des MTV-Zeitalters. Lynch hat sich nie gescheut, Mythen (Presley/Brando in Wild at Heart') und populäre Erzählformen von Film und Fernsehen, (wie z.B. in 'Twin Peaks' die Teenagerserie) zu zitieren und benutzen, sie collagenhaft als Textur ein- und zusammen zu setzen, und durch das Aufeinanderprallen verschiedener, kontrastierender Klischees der Populärkulturgeschichte kompromittiert er die Unzulänglichkeit unserer Erinnerungskohärenz auch in 'Lost Highway'. Lynch zeigt: Unsere Weltwahrnehmung ist immer auch eine gemachte, virtuelle, zusammengesetzt aus Genres, Mythen, Klischees, Folien.

Unterlegt mit Gangsterfilmmusik der sechziger Jahre gibt Robert Loggia grandios das Urklischee des knallharten, aber auch (typisch Lynch) schwer psychopathischen Gangsterbosses, Patricia Arquette bedient das Gangsterbraut-Image – und plötzlich zerspringen die Eindeutigkeiten in verstörend grellen Bilder- und Soundattacken.

Die Welt, die uns hier vorgeführt wird, ist durchsetzt mit Versatzstücken massenmedialer Erfahrungen. Deshalb geht es bei 'Lost Highway' auch um Erzählweisen von Geschichten und um Weltwahrnehmung, die sich aus diesen Erzählweisen rekrutiert, bzw. um deren Entlarvung. Wenn wir in einer Welt des auch emotionalen Informationüberflusses leben, dann gibt es auch einen Deutungs- und Entwirrungsbedarf der überforderten Psyche. Lynch leistet im Großen, was im Kleinen nur den Träumen überlassen bleibt: Furcht- und kompromisslos schöpft er Interpretationen aus dem Unbewussten und wirft sie mit Gewalt einer gewaltigen, tendenziell gewalttätigen und unüberschaubaren (Kino- und Fernseh-)Realität entgegen.

Anmerkung für Lynch-Freunde: Jack Nance, unvergessener Darsteller des Henry Spencer in Eraserhead', hatte in 'Lost Highway' seinen letzten Filmauftritt (als Phil, Kollege von Pete in der Autowerkstatt). Er starb 1996, kurz nach den Dreharbeiten, 53-jährig an den Folgen einer Schlägerei vor einem Doughnut-Geschäft.

Die Autos, die Paris auffraßen

(AUS 1974, Regie: Peter Weir)

Blood is Cheap
von Carsten Moll

Dass der Kapitalismus vom Crash lebt, wissen auch die anständigen Bewohner des australischen Kaffs Paris. Nacht für Nacht liegen sie auf der Lauer, um nichts ahnende Autofahrer in schwere Unfälle …

Dass der Kapitalismus vom Crash lebt, wissen auch die anständigen Bewohner des australischen Kaffs Paris. Nacht für Nacht liegen sie auf der Lauer, um nichts ahnende Autofahrer in schwere Unfälle zu verwickeln. Die Autos werden ausgeschlachtet, die Unfallopfer ausgeraubt und nach anschließender Lobotomie in die örtliche Psychiatrie eingewiesen. So lässt es sich leben, neben allerlei Schrott werden so auch Pelzmäntel und Kinder für die Gattin erworben. Die Dorfgemeinschaft scheint zufrieden zu sein, jeder hat seinen festen Platz: vom mächtigen Bürgermeister über den Arzt und den Polizisten bis hin zur Hausfrau. Nur die Jugend, weiß nicht recht, wohin mit sich und baut aus den Autowracks wilde Bestien …

Peter Weirs Spielfilmdebüt „Die Autos, die Paris auffraßen“ zeichnet das düstere Bild einer modernen, australischen Gesellschaft zwischen Zukunftsangst und Vergangenheitsverklärung. Die jungen Männer rasen in ihren Vehikeln, die aussehen, wie eine Mischung aus Hippiebus und Raubtier, ziellos durch den öden Ort. Der sieht im Gegensatz zum grünen Naturidyll der Umgebung eher nach Wildem Westen aus und aus dessen Dunstkreis stammen wohl auch die Machoattitüde und das Männlichkeitsgehabe der Pariser. Junge Frauen gibt es übrigens keine in Paris, bloß kleine Mädchen und Hausfrauen, wie man sie aus piefigen 50er-Jahre-Hollywoodfantasien kennt und Aborigines existieren nur als Gartenzwerge im Vorgarten.

Wir sehen diese Welt durch die Augen des Neuankömmlings und Unfallopfers Arthur Waldo, der vom Bürgermeister unter seine Fittiche genommen wird. Arthur ist ein gutmütiger und etwas naiver Kerl, der als unwissender Außenseiter doch die latente Bedrohung spürt, die von Paris und seinen Einwohnern ausgeht und immer wieder zu flüchten versucht, was auch daran scheitert, dass er durch ein Trauma nicht mehr zum Autofahren fähig ist. Hier ähnelt er stark einer Figur aus Weirs späterem Werk, nämlich Truman Burbank aus „Die Truman Show“. In beiden Filmen sind die Protagonisten unfreiwillig Gefangene eines in sich geschlossenen Systems, das mit den Mitteln der Satire angeklagt wird. Bei aller spöttelnden Kritik bleibt Weir doch stets Optimist und spendiert seinen Helden ein zumindest hoffnungsvolles Ende. Ob das immer berechtigt ist, darf bezweifelt werden. Wo Truman Burbanks Geschichte vor der Tür zur realen Welt als Happy End aufhört, wird verschwiegen, dass die reale Welt gar nicht so anders funktioniert als die Studiowelt mit ihren unzähligen Kameras und den allgegenwärtigen Werbebotschaften.

In „Die Autos, die Paris auffraßen“ fällt das Ende zwiespältiger aus. Zwar gelingt auch Arthur am Ende die Flucht, und die Welt, in die er flieht, könnte tatsächlich besser sein als das Nest Paris; immerhin kommt der Dorfpfarrer von außerhalb, er ahnt nicht, dass alle seine Schäfchen schwarze sind und scheint integer. Auch fürchten die Pariser, dass ihre heimlichen Raubzüge entdeckt werden könnten und isolieren sich immer stärker. Inwiefern die Außenwelt wirklich als moralische Instanz fungieren kann, lässt der Film indessen offen. Darüber hinaus ist Arthur kein liebenswerter und tugendhafter Truman, ja nicht einmal einen anständigen Anti-Helden gibt er ab. Dafür ist er zu sehr Mitläufer und am Ende sogar Autofahrer und Mörder, seine Flucht bekommt so einen bitteren Beigeschmack.

Alles in allem ist „Die Autos, die Paris auffraßen“ kein uninteressanter Film, der vieles aus Weirs Spätwerk bereits anreißt. Die Atmosphäre ist dicht und immer wieder gelingen Weir grandiose Aufnahmen zur Bebilderung seiner Gesellschaftskritik. Dennoch ist der Film ein wenig halbherzig geraten, zu zahm als Ozploitation, nicht witzig genug für eine schwarze Komödie.

Tournée

(F 2010, Regie: Mathieu Amalric)

Tour de France
von Harald Mühlbeyer

Wer glaubt, er habe mit Christina Aguileras „Burlesque“ einen Einblick in die New-Burlesque-Szene erhalten, irrt. Was mit Aguilera und Cher lief, war Hollywood, Musikvideo, schöner Schein, Kindergeburtstag. Die wahre, burleske …

Wer glaubt, er habe mit Christina Aguileras „Burlesque“ einen Einblick in die New-Burlesque-Szene erhalten, irrt. Was mit Aguilera und Cher lief, war Hollywood, Musikvideo, schöner Schein, Kindergeburtstag. Die wahre, burleske New Burlesque zeigt Mathieu Amalric in seiner dritten Regiearbeit: „Tournée“ beschreibt den Weg eines Produzenten und einer Handvoll New-Burlesque-Künstlerinnen durch Frankreich, von Hotel zu Hotel, von Auftritt zu Auftritt, und er geht fast dokumentarisch vor.

Amalric ist eigentlich Schauspieler, hat den Gelähmten in „Schmetterling und Taucherglocke“ gespielt und Bonds Gegenspieler in „Ein Quantum Trost“. Nun inszeniert er sich selbst als Joachim, Produzent einer Tournee bizarrer Künstlerinnen durch die französische Provinz, ein selbstgefälliger, abgefuckter, liebevoller, begeisterter, verzweifelter, abgebrannter, hoffnungsvoller Manager einer Gruppe bizarrer, gutgelaunter, selbstbewusster, lauter, überschwänglicher, hemmungsloser, extravaganter und exzentrischer Girls. Die heißen beispielsweise Mimi le Meaux, Dirty Martini, Kitten on the Keys und spielen sich mehr oder weniger selbst – denn es sind tatsächliche New Burlesque-Künstlerinnen, die mit Amalric in dessen Rolle auf Tournee gehen und dabei echte Auftritte vor echtem Publikum absolvieren, die dokumentarisch gefilmt in die fiktive Spielhandlung eingefügt sind – und dabei in voller Länge gezeigt werden.

New Burlesque – das geht zurück auf die Burlesque-Shows im Amerika bis ca. 1930, Zutritt nur für Männer erlaubt, in denen die normale Vaudeville-Show – verschiedene Nummern, ähnlich dem europäischen Varieté – um frivole Auftritte halb- oder ganz nackter Damen ergänzt wurden. New Burlesque ist in den 90ern aufgekommen, und diese Show reichert das alte Konzept mit dem Feminismus der letzten Jahrzehnte an. Denn es geht nicht primär ums Ausziehen, ums Befriedigen männlicher Blickgelüste: New Burlesque ist kein Strip, sondern Tease, das selbstbewusste, offensive, auch subversive Zurschaustellen weiblicher Körper, die den gängigen Schönheitsidealen – jung, schlank, knackig – entgegenstehen.

Die Künstlerinnen inszenieren sich dabei selbst, sie führen die Regie bei ihren Auftritten und lassen sich nicht dreinreden: Sie führen das Erotische hinüber ins Satirische, Selbstreflexive, Komische. Die üppige, weiblich-leibliche Nacktheit wird ironisch präsentiert, das Treiben von Stripshows wird bizarr verzerrt und dadurch auf eine neue, reflexive Ebene gehoben – und das alles zum Vergnügen des Publikums, das oftmals vor allem weiblich ist. Eine der Tänzerinnen bläst um sich herum einen Luftballon auf, eine strippt als Freiheitsstatue, eine mit scheinbar abgehackter Hand, und der einzig männliche Tänzer der Truppe tritt als Louis XIV. auf. Diese Auftritte sind wirkliche Einblicke in die (Sub)Kultur des New Burlesque, und allein sie lohnen den Film schon – wahrscheinlich für sie hat Amalric in Cannes 2010 den Regiepreis erhalten.

Die Rahmenhandlung des Films, das Fiktive, zeigt authentische Einblicke in das Leben hinter der Bühne, wenn die Truppe von Provinzstadt zu Provinzstadt zieht, in tristen Hotels übernachtet und abgekapselt von der Außenwelt von Langeweile bedroht sind. Dann wird in der Lounge eine spontane Party gefeiert, oder man mischt sich unter die Hochzeitsgäste im Hotelrestaurant – und versucht, Joachim aufzuheitern. Dessen Gemütslage ist der grundsätzlichen Heiterkeitsbereitschaft der Damen entgegengesetzt, er hatte in Frankreich alle Brücken abgebrochen und in Amerika Glück und Karriere gesucht – vergebens. Jetzt kehrt er zurück mit der Hoffnung auf ein Comeback, die Tournee soll ihn wieder ins Geschäft bringen. Doch alte Geschäftspartner hauen ihm auf die Nase, die Ex-Freundin überlässt ihm seine kleinen Söhne, obwohl er auf Tour ist, und der Veranstaltungsort für den Tourneeabschluss in Paris lässt sich einfach nicht organisieren … Das Niemandsland, in dem die Burlesque-Truppe auf der Reise durch die Provinz steckt, ist für ihn ein Nichts und seine Girls versuchen, dieses Nichts mit ihrer Leiblichkeit auszufüllen.

Das ist ein gelungenes Konzept für einen Film, doch leider lässt Amalric die Dramaturgie fahren, der Handlungsablauf wirkt unzusammenhängend, zerfasert, fast willkürlich – zwar gibt es schöne running gags, schöne Einfälle für Charakterisierungen sowohl des Managers als auch der sich selbst darstellenden Künstlerinnen – doch wenn auch das Gesamtbild die Hektik des Tourlebens wahrhaftig darstellt, sind doch Details allzu verwaschen und Handlungsschlenker allzu gewollt. Wenn Joachim ständig in jedem Hotel erst mal bitten muss, die Hintergrundmusik leiser zu stellen, weil er das Gedudel nicht leiden kann: dann führt das doch eigentlich zu nichts.

Herzensbrecher

(CAN 2010, Regie: Xavier Dolan)

Schwärmerei und Selbsttäuschung
von Wolfgang Nierlin

„Das einzig wahre auf der Welt ist das Gefasel über Liebe“, lautet das Zitat von Alfred de Musset, mit dem der junge kanadische Regisseur Xavier Dolan seinen zweiten Film „Les …

„Das einzig wahre auf der Welt ist das Gefasel über Liebe“, lautet das Zitat von Alfred de Musset, mit dem der junge kanadische Regisseur Xavier Dolan seinen zweiten Film „Les amours imaginaires“ („Herzensbrecher“) einleitet. Und dann reden junge Menschen beiderlei Geschlechts, ähnlich wie in Woody Allens „Husbands and wifes“ oder auch Jean-Luc Godards „Masculin-féminin“, frontal in die Kamera über die Wechselfälle der Liebe, über Gefühle des Glücks und des Kummers, über den hoffnungsvollen Beginn und das Scheitern von Beziehungen und über ihre sexuelle Orientierung. Dabei setzt ein abruptes Zoom der Kamera die einzelnen Statements immer wieder in Schwingung und durchbricht damit die dokumentarische Fiktion.

Diese gespielten, ganz und gar nicht ernsten Interviews fungieren als Rahmenhandlung und strukturierendes Element für eine Dreiecksgeschichte der dezidiert vordergründigen Art. Mit bemerkenswerter visueller Phantasie, mit lustvoller Experimentierfreudigkeit und witzigen Einfällen inszeniert Dolan geschmackvolle Oberflächen und die Faszination am Schönen. Überraschende Perspektiven, poppige Farben, monochrome Räume, eine „anachronistische“ Mode und traumwandlerische, von Dalida und Bach begleitete Körperbewegungen in slow motion visualisieren den einfältigen, flüchtigen Geschmack von Gefühlen, dem die Protagonisten verhaftet sind. Es ist ein Referenzsystem aus Zeichen und Oberflächen, das Dolan zusätzlich und dabei spielerisch mit Zitaten aus Film, Literatur und Kunst anreichert. Denn in „Les amours imaginaires“, so der 1989 in Montreal geborene Filmemacher, ist „der Stil wichtiger als der Inhalt“.

„Dies ist eine Geschichte über eingebildete Liebe“, sagt Xavier Dolan über seinen von eigenen Erlebnissen inspirierten Film. Darin spielt er selbst den homosexuellen, romantisch veranlagten Francis, der sich gleichzeitig mit seiner besten Freundin Marie (Monia Chokri), einer eleganten, stolzen Schönheit, in den umschwärmten „Herzensbrecher“ Nicolas (Niels Schneider) verliebt. Der engelhafte, blondgelockte Adonis ist ein schamloser Verführer, der scheinbar unschuldig seine Sympathien nach allen Seiten verteilt. Vor allem aber ist er eine Projektionsfläche für die narzisstischen Liebesphantasien und unerwiderten Gefühle seiner Verehrer, die sich alsbald eifersüchtig belauern und ihre aufkeimende Rivalität nur notdürftig durch ihre Freundschaft kaschieren. Zwischen Ungewissheit und schmerzlicher Enttäuschung suchen Marie und Francis, die man immer wieder beim lustlosen Sex mit wechselnden Partnern sieht, nach der wahren Liebe. Doch sie verheddern sich mit ihren Versteckspielen im schillernden Dickicht schwärmerischer Gefühle und bemerken dabei zu spät ihre Selbsttäuschungen.

Im Bazar der Geschlechter

(A / D 2009, Regie: Sudabeh Mortezai)

Es ist immer die Frau
von Dietrich Kuhlbrodt

Für den von WDR / arte koproduzierten österreichischen/deutschen Dokumentarfilm hat Regisseurin Sudabeh Mortezai, geboren in Ludwigsburg, drei Jahre im Iran recherchiert und eine Fülle von unkommentierten Statements zusammengetragen. Mullahs äußern …

Für den von WDR / arte koproduzierten österreichischen/deutschen Dokumentarfilm hat Regisseurin Sudabeh Mortezai, geboren in Ludwigsburg, drei Jahre im Iran recherchiert und eine Fülle von unkommentierten Statements zusammengetragen. Mullahs äußern sich zur Frage, wann ein Geschlechtsverkehr erlaubt ist und wann nicht. Das iranische Strafgesetzbuch hat diese Beurteilung in die Hände von Geistlichen gelegt. Wer „unerlaubt“ Sex hat wird, falls verheiratet, bekanntlich gesteinigt (es ist immer die Frau). Falls unverheiratet, wird man (es ist immer die Frau) nur gepeitscht und im Wiederholungsfall schlichtweg getötet, – es sei denn, aufgepasst!, die Lustpaare gehen zu einem Mullah oder Ayatollah und zahlen ihm eine hohe Gebühr. Dann kriegen sie eine Urkunde und werden weder gesteinigt, noch gepeitscht, noch ohne Umschweif getötet. Der Koran hat diese Erlaubnis vorgesehen, die Schiiten haben sie praktiziert, und heute ist die Ehe auf Zeit Usus im Iran, wiewohl gesellschaftlich geächtet. Denn, zugegeben, sich vom Mullah den Sex für ein halbes Stündchen, ein paar Wochen oder ein paar Monate erlauben zu lassen, ist schon so was wie mullahseits erlaubte Prostitution.

Dementsprechend zahlt der Mann nicht nur an den Mullah, sondern vor allem, wie auch hier üblich, an die Frau, und es ist an ihr, ihren Marktwert zu kennen und ihren Lohn zu fordern. Das gibt ein Geschacher wie auf dem Markt/dem Bazar gebräuchlich. Der Film lässt die potentiellen und praktizierenden Sexpartner reden und zeigt den Mullah beim Geld einstreichen, zählen und bündeln. Nettes Geschäft? Eine Frau kommentiert, wie sie behandelt wird: „Vielleicht ist es wegen des Filmens, dass der Mullah so nett war. Sonst behandeln sie einen recht übel.'

Der Film beschränkt sich auf solche Sätze und auf die Bildsprache, um seine Position deutlich zu machen. Im Übrigen beschreibt er, wie die manifeste Frauenfeindlichkeit des Islams, Erlaubnisse hin, Erlaubnisse her, durchschlägt. „Bist du nun auf Seiten der Männer oder der der Frauen?“, unterbricht der Imam einen jungen Mann. Freund oder Feind?? Die Jugend ist es, die ungeduldig wird. „Im Gymnasium reden wir nur über Sex, auch über Homosexualität und Masturbation.“ – „Im Bazar der Gefühle“ informiert, zeigt ein Sittenbild und einen Ausblick. Zum Schluss sind wir online, und es wird gerappt („Iran“).

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/11

Die Vaterlosen

(A 2011, Regie: Marie Kreutzer)

Abschied von gestern
von Ulrich Kriest

Hans ist gestorben – und jetzt reisen seine Kinder mit ihren Partnern zur Beerdigung in die Steiermark an. Dass plötzlich mit Kyra eine weitere Schwester in der Tür steht, ist …

Hans ist gestorben – und jetzt reisen seine Kinder mit ihren Partnern zur Beerdigung in die Steiermark an. Dass plötzlich mit Kyra eine weitere Schwester in der Tür steht, ist nur die erste Überraschung. Viele weitere werden folgen, denn Hans war der charismatische Anführer einer Landkommune, der – wie es einmal heißt – alles toll fand, wenn es „antikapitalistisch, antiautoritär und zehn Meter von ihm entfernt“ war.

Revolutioniert werden sollte die Lebensform der Familie, aber die Sehnsucht nach Familie nagt hier von allen Seiten. Bezeichnenderweise ist es ausgerechnet die Außenseiterin Sophie, die noch immer behauptet: „Familie ist überbewertet.“ Man denkt unwillkürlich an Pia Marais‘ „Die Unerzogenen“, der ja auch mit Nachdruck einstige Utopien verabschiedete. Und richtig: Mit großer Geduld und einigen Rückblenden beobachtet die Österreicherin Marie Kreutzer ihr vorzügliches Ensemble dabei, wie in diesem leisen Familiendrama eine Leiche nach der anderen aus dem Keller geholt wird.

Am Schluss sind alle Karten neu gemischt und das dunkle Geheimnis um Kyra gelöst: vielleicht war das damals doch nicht so eine gute Idee mit der antiautoritären Erziehung. Vielleicht war es auch nur die Bequemlichkeit der Erwachsenen und Konfliktscheu die andere Seite der Medaille. Andererseits haben die alten Träume vom besseren Leben mehr Charme als die Gegenwart.

In Österreich wurde „Die Vaterlosen“ bereits mit Preisen geradezu überhäuft, was dann doch etwas erstaunt, weil der Film nach gut der Hälfte unvermittelt anfängt, in der Manier eines konventionellen Fernsehspiels ein Rätsel zu lösen – und seinen Kredit zu verspielen. Von diesem Moment an – und das kann einen schon sehr ärgern – wird hier alles sehr eindeutig, sehr unmissverständlich und was nicht passt, wird passend gemacht. Sogar wider die angelegten Möglichkeiten! So, als sei die antiautoritäre Erziehung nur ein anderes Wort für Vernachlässigung der elterlichen Aufsichtspflicht. Aber selbst das größte Unglück entspringt hier dem naiven Wunsch, Familie sein zu dürfen. Ein Blick in den Abgrund, vor dem Marie Kreuzer leider zurückgeschreckt ist. Am Schluss könnte diese seltsame Familienaufstellung problemlos auch ein Klassentreffen gewesen sein. Was es dann doch irgendwie nicht trifft.

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Womb

(D / HU / F 2010, Regie: Benedek Fliegauf)

Geschenkte Ewigkeit
von Wolfgang Nierlin

Eine Insel in der Nordsee, ein Stelzenhaus auf einem weiten, flachen Sandstrand, anbrandende Wellen und das ferne Rauschen des Windes: In eine geheimnisvolle, fast magische Atmosphäre tauch der ungarische Regisseur …

Eine Insel in der Nordsee, ein Stelzenhaus auf einem weiten, flachen Sandstrand, anbrandende Wellen und das ferne Rauschen des Windes: In eine geheimnisvolle, fast magische Atmosphäre tauch der ungarische Regisseur Benedek Fliegauf mit seinem neuen Film „Womb“. Bevor die ersten Bilder langsam vom Weiß der Leinwand verschluckt werden, sagt eine Frauenstimme: „Dass du weggegangen bist, heißt noch lange nicht, dass du nicht mehr hier bist.“ Als wäre das Leben zeitlos und der Atem der Natur ewig behaupten die Worte die Anwesenheit des Abwesenden. Dass die Identität eines Menschen sich nicht in seiner Genetik erschöpft, wäre gewissermaßen die Gegenposition zu diesem Satz, der die Idee der romantischen Liebe mit einem zeitgenössischen Sciencefiction-Motiv verbindet.

Dabei entdecken Rebecca (Ruby O. Fee) und Tommy (Tristan Christopher) ihre tiefe Seelenverwandtschaft bereits als Kinder. Im Alter von etwa zehn Jahren wachsen ihre ersten zärtlichen Gefühle füreinander, während sie die Dünen durchstreifen und die Gezeiten erleben. Zugleich richten sich ihre Blicke auf die Erkundung des eigenen und des fremden Körpers, seine blühende und seine welke Haut. So mischt sich in ihre keimende Sehnsucht und in ihr intimes Vertrauen früh die Ahnung der Vergänglichkeit. Unterm Vergrößerungsglas, mit dem sie die Haut des Großvaters betrachten, aber auch im eingeschränkten Erfahrungshorizont der Schnecke, die zum Symbol ihrer Freundschaft wird, verwandelt sich die Welt in ein relatives Terrain.

Als sich die studierte Mathematikerin Rebecca (Eva Green), die mittlerweile als Software-Entwicklerin für Sonargeräte arbeitet, und der Biologiestudent und Umweltaktivist Tommy (Matt Smith) zwölf Jahre später wiedersehen, ist die frühere Vertrautheit unverändert. Doch bevor sich ihre zärtliche Liebe mit Leben füllen kann, stirbt Tommy bei einem Unfall, der Banalität und Tragik schmerzlich verbindet. Weil das Leben einer nicht allzu fernen Zukunft aber die Möglichkeit bietet, Tommy als Klon noch einmal zur Welt kommen zu lassen, macht Rebecca sich und ihrem Geliebten dieses Geschenk.

Und so wächst im stillen Refugium am Meer neben der Isolation auch die Symbiose zwischen Mutter und Sohn, bis der „Inzest“ schier unvermeidlich wird. Zur existentiellen Dringlichkeit gesteigert wird das, als Tommy seine Freundin Monica (Hannah Murray) mitbringt und Rebecca daraufhin in dunkles Schweigen und lähmende Passivität versinkt. Längere Zeit verharrt Benedek Fliegaufs ebenso eindrucksvoller wie bewegender Film in dieser Depression, in der sich die Identitätskrise des Klons und die Seelenqual seiner Mutter, ihre unterdrückte Liebe und ein peinigendes Schweigen kontinuierlich zuspitzen. „Wer bin ich?“, fragt Tommy immer verzweifelter. Als sein eigener, phantastischer Wiedergänger erfüllt sich durch ihn auf tröstliche Weise Rebeccas verlorene Liebe. Jenseits dieser romantischen Projektion fragt Benedek Fliegauf in „Womb“ aber auch danach, ob das Leben einzigartig und vergänglich oder wiederholbar und ewig ist.