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Wanderlust – Der Trip ihres Lebens

(USA 2012, Regie: David Wain)

Oh du segensreicher Kapitalismus!
von Michael Schleeh

Ein New Yorker Yuppiepärchen hat sich eben noch beim Kauf einer völlig überteuerten Wohnung in bester Lage finanziell überhoben (sie (Jennifer Aniston) bekommt den Auftrag von HBO nicht, er (Paul …

Ein New Yorker Yuppiepärchen hat sich eben noch beim Kauf einer völlig überteuerten Wohnung in bester Lage finanziell überhoben (sie (Jennifer Aniston) bekommt den Auftrag von HBO nicht, er (Paul Rudd) wird fristlos entlassen, da die Firma überraschend pleite macht), da beschließen sie aus recht masochistischen Gründen, den Bruder Protz in der Provinz zu besuchen, um in dessen Firma unterzuschlüpfen. Beim Roadtrip durch das Land stranden sie allerdings, völlig ausgelaugt und übernächtigt, in einer Hippie-Kommune, deren Lebensmaxime den gewohnt Großstädtischen diametral entgegensteht. Eine Erfahrung, die sich als berauschend lebenserfrischend erweist. Hier könnte man vielleicht ein wenig verweilen, fantasieren sie lachend und euphorisiert bei der Weiterfahrt, nicht ahnend, dass sie in der kapitalistisch aufschneiderischen Welt des Bruders völlig Schiffbruch erleiden werden. Plötzlich nimmt der Flirt mit dem Aussteigerleben konkrete Züge an, und man erwägt, es mal zu probieren. Auf in den Tanz!

In dieser von Judd Apatow produzierten Komödie steht die amerikanische „recession“ als konfliktauslösende Prämisse zunächst im Vordergrund. Die Frau mit ihrem Bedürfnis nach einer repräsentativen Wohnlage erweist sich dann im Film als wankelmütige und orientierungslose Protagonistin, die auf der Suche nach dem rechten Wege im Leben ist: Filmemacherin, Autorin, Künstlerin und Kaffeebarbesitzerin wollte sie schon sein. Die Immobilie (die er finanziert) soll ihr also auch das Erwachsensein versichern (muss man extra erwähnen, dass in diesem Film Kinder keine Rolle spielen?). Er hingegen ist Rationalist und hat von Beginn an Vorbehalte, nennt die Dinge beim Namen und ist sich der Entscheidung weit weniger sicher als sie. Aber was tut man nicht alles für den häuslichen Frieden! Nein zu sagen ist nicht die Stärke dieses unfreiwilligen Komödien-Helden.

Und wenn sie dann im Land, wo Milch und Honig fließen, angekommen sind, werden gut eine Stunde lang Komödienszenen aneinander gereiht, Klischees und Standards bedient, und man hat auch mal wieder Sex (mit dem bärtigen Guru der Kommune (Justin Theroux) etwa). Sich zu öffnen fällt dem Helden allerdings schwer. Übersprungshandlungen kündigen sich an, obwohl ihm die hotteste Sexbiene gerne mal zu Diensten sein will. Das soll wohl irgendwie lustig sein. Oder politisch. Seine Moral, seine Verklemmtheit, seine Ordnungsliebe, die Erziehung oder sonst irgendwas machen ihm alles Körperliche schwer. Er kann sich halt nicht öffnen. Die ganze Sache geht ihm gegen den Strich, wohingegen seine Geliebte immer stärker zu sich selbst findet und sich von ihm entfernt. Sagt sie zumindest. So also droht ihm auch dieser Pfeiler seiner Existenz wegzubrechen.

Die apatowsche Pimmelwitzquote ist erfreulicherweise recht niedrig in „Wanderlust“ und beschränkt sich auf einen etwas quälenden running gag, der als leibhaftiger Nudist durch den Film stolpert. Als verhinderter Autor ist dieses Kommunenmitglied mit einer stilechten Intellektuellenbrille gekennzeichnet.

Und am Ende, da steht nach der Entzweiung des Liebespaars nicht nur die Reinstallierung der Beziehung, sondern auch, ganz dem Gesetz des Filmes folgend, die Gründung einer gemeinsamen Firma. Eine Drehbuchentscheidung, die nicht nur völlig konsequent ist, sondern auch die Ekelhaftigkeit des Filmes nochmal abschließend zu Bewusstsein bringt. Der Verlag übrigens hat Erfolg (freilich, was sonst). Mit den Romanen des bebrillten Nudisten … Von wegen Wirtschaftskrise! Schauet her, wie wir gerettet wurden!

Babycall

(NR / S / D 2011, Regie: Pål Sletaune)

Norwegen kann sehr kalt sein
von Ulrich Kriest

„Wo ist Anders?“, fragt eine männliche Stimme eine verletzt am Boden liegende Frau. Mit einer mysteriösen Szene – Rückblende oder Vorgriff, vielleicht – beginnt der neue Spielfilm des Norwegers Pal …

„Wo ist Anders?“, fragt eine männliche Stimme eine verletzt am Boden liegende Frau. Mit einer mysteriösen Szene – Rückblende oder Vorgriff, vielleicht – beginnt der neue Spielfilm des Norwegers Pal Sletaune, der vor ein paar Jahren mit dem kontroversen Psychohorror „Naboer“ für Aufsehen sorgte. „Babycall“ ist zugleich harmloser und ambitionierter, ändert aber auch wiederholt seinen Tonfall und spielt ein doppelbödiges Spiel mit den Konventionen des Films und den Erwartungen der Zuschauer.

Zu Beginn scheint „Babycall“ eine Sozialstudie a la „Fish Tank“: Anna (Noomi Rapace mal wieder ungebremst intensiv als Schmerzensfrau des skandinavischen Films) und ihr Sohn Anders ziehen in einen anonymen und tristen Wohnblock am Rande Oslo, der ihnen Schutz bieten soll vor dem gewalttätigen Ex-Mann und Vater der Kleinfamilie. Insbesondere Anna wirkt schwer traumatisiert, geht ungern unter Leute, verbarrikadiert sich in der Wohnung, lässt die Vorhänge geschlossen. Man lebt sehr zurückgezogen und fast schon symbiotisch aufeinander bezogen gegen die (potentielle) Bedrohung durch die Außenwelt. Einziger regelmäßiger Kontakt der Rest-Familie sind zwei Sozialarbeiter des Jugendamtes, die allerdings auf der Seite des Täter-Vaters zu stehen scheinen und stets etwas parteilich und respektlos nach dem Rechten schauen.

Wobei irgendwann auffällt, dass Anders‘ Sehnsucht nach Normalität wächst. Will er doch nicht länger bei der Mutter im Bett schlafen! Hat er doch beim Spiel einen neuen, schweigsamen Freund kennengelernt, der einen mysteriösen Einfluss auf Anders ausübt. Anna reagiert darauf zunächst mit dem Kauf eines Babyphons, um den Schlaf ihres Sohnes zu kontrollieren. Im Elektromarkt lernt sie den ruhigen Helge kennen, der ihr etwas Sicherheit zu geben scheint. Doch dann hört Anna eines Nachts das Wimmern eines Kindes durch Babyphon. Helge spricht von möglichen Frequenzüberlagerungen. Anna ahnt, dass irgendwo in der Siedlung ein Kind misshandelt wird und beginnt, sich wirklich seltsam verhaltende Nachbarn zu beobachten. Schließlich wird sie Zeugin einer Gewalttat, doch ihr Versuch einzugreifen scheitert.

Was sich jetzt in sozialrealistischer Manier auf eine krude Mischung aus „Tatort“ und Horrorfilm einzupendeln scheint, wird immer häufiger durch surreale „Schocks“ und „Flashes“ verfremdet, die allmählich Misstrauen gegen die Zuverlässigkeit der Erzählperspektive säen. Einmal misstrauisch geworden, kommen einem immer mehr Schönheitsfehler in den Sinn, die – wie zuvor – auf die paranoide Wirklichkeitserfahrung der Protagonistin bezogen werden können. War Anna zunächst nur traumatisiertes Opfer, so wird sie jetzt allmählich unheimlich. Was, wenn die Kinderschreie im Babyphon aus einer anderen Zeit kämen und subjektive Erinnerungen wären?

„Wo ist Anders?“ Regisseur Sletaune gelingt über weite Strecken die intelligent gemachte Konstruktion eines verstörenden Schwebezustands zwischen Realität und Wahn, der von David Lynch („Mulholland Drive“), Stanley Kubrick („The Shining“) oder Rainer Werner Fassbinder („Despair-Eine Reise ins Licht“) inspiriert sein könnte. Dumm nur, dass das Ganze dann schließlich zu etwas führen muss, was den ganzen Aufwand lohnt. Und genau hier liegt die Schwäche von „Babycall“! Die Auflösung der filmimmanenten Spannung wird letztlich durch einen ziemlich platten Coup de theatre geleistet, was nur insofern besticht, weil man den Film jetzt gerne wegen Falschaussage vor Gericht zerren würde. Die Beweisführung in diesem Verfahren könnte indes wirklich interessant werden: es steht Aussage gegen Aussage!

Trotzdem: neugierig geworden, wie es dem Film gelingen konnte, so viele falsche Fährten zu legen und den Kern der Handlung immer wieder neu zu setzen, macht man die Probe der Wiederholung. Doch beim zweiten Sehen enttäuscht der Film nur noch, weil nicht nur die Cleverness der Konstruktion des unzuverlässigen Erzählens sichtbar wird, sondern auch deren Willkür. Ärgerlich, man hätte schon bei der erste Szene der »richtigen« Handlung stutzig werden müssen! Dumm gelaufen. Muss man jetzt alles, was oben steht, in den Konjunktiv setzen?

Wader Wecker Vater Land

(D 2011, Regie: Rudi Gaul)

Altsentimentale
von Andreas Thomas

Beiden gemeinsam war und ist das Tremolo, zum Glück noch nicht der Tremor. Trotzdem kann der Dokumentarfilm „Wader Wecker Vater Land“ einen emotional erwischen, negativ emotional, gerade, wenn man in …

Beiden gemeinsam war und ist das Tremolo, zum Glück noch nicht der Tremor. Trotzdem kann der Dokumentarfilm „Wader Wecker Vater Land“ einen emotional erwischen, negativ emotional, gerade, wenn man in seiner sinistren Jugend versucht war, eine Art Vorbilder in ihnen zu sehen.

Auf ihre älteren Tage, nicht „mit letzter Tinte“, aber auch nicht mehr im vollen Saft der Jugend haben sich die schon immer ziemlich ungleichen Liedermacher Konstantin Wecker aus München (Jahrgang 1947) und Hannes Wader aus Bielefeld (Jahrgang 1942) zu einer gemeinsamen Tournee zusammengefunden, und – wie man anhand dieser Dokumentation von Rudi Gaul nachprüfen kann, es geschafft, größere Sääle kleinerer Städte unserer Republik zu füllen. Gekommen sind noch erstaunlich viele Altsentimentale, als Altlinke kann man heute wohl weder das Publikum noch die beiden Musiker bezeichnen, denn links ist ja irgendwie out heutzutage und höchstens was für Nostalgiker oder unverbesserliche Parteipolitiker.

Was musikalisch bei dieser Fusion des eher extrovertierten Showmannes und Politpianisten Wecker und des eher introvertierten Folk-Romantikers Wader herauskommt, reicht leider selten, wie der Film selbst mittels Archivmaterial beglaubigt, an die stimmungsvollen Auftritte beider aus den siebziger Jahren heran, und skurril wird es, wenn Wecker gar den eher steifen Wader dazu überredet, doch ein Intermezzo mit dem Caterina-Valente/Roberto-Blanco-Klassiker „Quando quando quando“ einzubauen, und das wohl tatsächlich für eine besonders witzige Idee hält.

Seine besten Momente – und eben das ist das Zwiespältige an diesem Film – hat der Film tatsächlich nicht, wenn er dem Endsechziger Hannes Wader dabei zusieht, wie er Spiegeleier brät oder wenn er ihm dabei zuhört, wie er einigermaßen ratlos über den Verlust seiner politischen Ideale spricht, sondern wenn er Konzerte aus den siebziger Jahren heranzieht oder Interviews. Mit beidem aber, den Bildern der desillusionierten Gegenwart und der revolutionär beseelten Vergangenheit und mit der beidem innewohnenden Diskrepanz, paraphrasiert er Zeitgeschichte, bebildert er die Geschichte einer Generation des Aufbruchs – und Abbruchs.

So sieht man z.B. Spotlights auf Stationen der politisch-künstlerischen Odyssee des Hannes Wader. Wader, der in den Sechzigern als romantisch-liberaler Liedermacher im Stil von George Brassens oder Bob Dylan begann, fühlte sich von seinem messianischen Nimbus in den Siebzigern so überfordert, dass er sich in die DKP flüchtete, sich ihren überschaubaren ideologischen Werten unterordnete, darin sozusagen intellektuell abtauchte, und so, wie er sagt, das Leid der Welt nicht mehr auf seinen eigenen Schultern tragen musste. Liest man Wader-Interviews aus dieser Zeit, hat man tatsächlich den Eindruck, dass hier jemand sich weigert, sein Gehirn zu benutzen. Den Fall der Mauer und den Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks erlebte Wader (für ihn konsequenterweise) dann als das Ende aller politischen Utopien und Ideale (so als würde der Kollaps des einen mehr oder weniger unmenschlichen Systems die Qualität des anderen mehr oder weniger unmenschlichen Systems verifizieren).

Der Höhepunkt der Absurdität seiner biografischen Entwicklung besteht in einem Auftritt Waders in der DDR vor SED-Bonzen im Friedrichsstadt-Palast. Unterstützt vom Chor des FDJ (oder dergl.) singt er ein Arbeiterlied. Udo Lindenberg („Sonderzug nach Pankow“) muss blau vor Neid geworden sein. Vom Rock’n’Roll übrigens (wobei man Lindenberg ja auch nicht allen Ernstes als „Rockmusiker“ bezeichnen kann) blieben beide Barden bis heute ungeküsst, vielleicht erklärt das auch das Festgefahrene an ihnen, ihren inhärenten Anachronismus.
Der einstige Folkmusiker Bob Dylan jedenfalls, das erklärte Vorbild Waders, wandte sich zum Zeitpunkt seiner wirksamsten „Messiashaftigkeit“ dem trivialen Rock’n’Roll zu und rettete damit womöglich nicht nur im übertragenen Sinn sein Leben. Was nicht heißt, dass Rockmusiker etwa dagegen gefeit seien, von ihren Fans heilig gesprochen und ausgesaugt zu werden.

Wader aber ging den Weg zurück zum Volkslied, zum Arbeiterlied, zurück in den Schoß der „Partei“ und Wecker löste seine Konflikte zwischen Ruhm und Alltag und zwischen Ideal und Wirklichkeit mittels Kokain. Der Rest ist Boulevard und bekannt. Dennoch: Das Erlöschen des Enthusiasmus‘ der Anfangszeit beider Musiker ist so bezeichnend wie schade, eben weil sich darin auch spiegelt, wie viel doch von dieser vitalen, wenngleich naiven, Energie, das heißt, wie viel von einem Glauben an die Veränderbarkeit der Welt dahingegangen ist.

Habermann

(D / AT / CZ 2010, Regie: Juraj Herz)

Sudetenland ist abgebrannt
von Harald Steinwender

August Habermann (Mark Waschke) ist ein erfolgreicher sudetendeutscher Holzfabrikant und bereitet seine Hochzeit mit der Tschechin Jana (Hannah Herzsprung) vor. Als deutsche Truppen in der Folge des 'Münchner Abkommens' im …

August Habermann (Mark Waschke) ist ein erfolgreicher sudetendeutscher Holzfabrikant und bereitet seine Hochzeit mit der Tschechin Jana (Hannah Herzsprung) vor. Als deutsche Truppen in der Folge des 'Münchner Abkommens' im Oktober 1938 das Sudetenland besetzen, erfährt Habermann, dass seine Ehefrau nach den 'Nürnberger Rassegesetzen' als 'Halbjüdin' gilt. Um Jana zu schützen, arrangiert er sich mit dem fanatischen SS-Sturmbannführer Kurt Koslowski (Ben Becker). Bald gerät er zwischen die Fronten von deutschen Besatzern und tschechischer Bevölkerung.

Der slowakische Filmemacher Juraj Herz ist vornehmlich für seine Märchenverfilmungen sowie für die exzentrische Geschichtsparabel Spalovac mrtvol' ('Der Leichenverbrenner'; 1969) bekannt. Mit der deutsch-tschechisch-österreichischen Koproduktion 'Habermann' versucht sich der heute 76-Jährige nun an einem Weltkriegsdrama, das neben dem NS-Terror auch die Vertreibung der Sudetendeutschen nach Kriegsende thematisiert. Das an sich legitime Unterfangen wird allerdings von der Inszenierung des Films unterlaufen, die so subtil wie ein Hieb mit einem Vorschlaghammer ist.

Besonders ärgerlich sind die reißerischen, mitunter kolportageartigen Elemente des Films, die durch den aufdringlich emotionalisierenden Score von Elia Cmiral zusätzlich herausgestrichen werden. Die Schlusssequenz des Films ist in dieser Hinsicht bezeichnend. Hier versteigt sich Herz dazu, nicht nur den Pogrom eines tschechischen Mobs gegen die Sudetendeutschen zu inszenieren, bei dem er den 'volksdeutschen' Helden Habermann zum christlichen Märtyrer stilisiert. Die blutrünstige Kolportage gipfelt zusätzlich in einer absichtsvoll geschichtsrevisionistischen Bildallegorie, mit der die Vertreibung der Sudetendeutschen zur historischen Neuauflage der Deportation der europäischen Juden wird.

Abgesehen von solchen im Gestus des Tabubruchs dargebotenen Set-Pieces krankt 'Habermann' an seinem unausgegorenen Drehbuch, das sich durch schlecht orchestrierte Figuren und sperrige Dialoge auszeichnet, die von den wild chargierenden Darstellern kaum mit Leben gefüllt werden. So gelingt es Mark Waschke nicht, seinen Habermann als zerrissenen Helden glaubhaft zu machen, Wilson Gonzalez Ochsenknecht spielt stocksteif, selbst die durchaus talentierte Hannah Herzsprung bleibt blass. Ben Becker wiederum nimmt es sportlich und agiert als herrischer Sturmbannführer so überzogen, dass die stereotyp angelegte Figur immerhin als irrwitzige Karikatur des typischen Leinwand-Nazis durchgeht. Einzig Radek Holub gelingt es, in dem zu Tiefstleistungen angeleiteten Ensemble durch einigermaßen nuanciertes Spiel aufzufallen.

Sicherlich hat der in erdige Farben gehaltene und stimmig ausgestattete 'Habermann' zumindest ästhetisch seine Momente. Herz und seinem Kameramann Alexander Surkala gelingen immer wieder technisch beeindruckende Sequenzen, etwa wenn die entfesselte Kamera beim Hochzeitswalzer mit der Braut durch die Menschenmenge tanzt. Für einen akzeptablen Film reicht dies aber nicht aus. Politisch ist 'Habermann' sowieso eine Frechheit. Wieso der Film beim 'Bayerischen Filmpreis' eine Auszeichnung für die 'beste Regie' erhielt und von der Wiesbadener Film- und Medienbewertungsstelle FBW mit dem 'Prädikat besonders wertvoll' ausgezeichnet wurde, wird wohl ein Geheimnis bleiben.

Lola

(PH / F 2009, Regie: Brillante Mendoza)

Manila, Open City
von Harald Steinwender

In einem Stadtteil von Manila versucht die verarmte Greisin Lola Sepa (Anita Linda), das Begräbnis ihres Enkelsohns zu organisieren, der bei einem Raubüberfall erstochen wurde. Sie sammelt Geld bei Verwandten, …

In einem Stadtteil von Manila versucht die verarmte Greisin Lola Sepa (Anita Linda), das Begräbnis ihres Enkelsohns zu organisieren, der bei einem Raubüberfall erstochen wurde. Sie sammelt Geld bei Verwandten, Freunden und in der Nachbarschaft. Die Bestattungskosten sind jedoch zu hoch. Währenddessen rät der Pflichtverteidiger des Täters dessen Großmutter, Lola Puring (Rustica Carpio), zu einer außergerichtlichen Einigung mit der Familie des Opfers. Daraufhin begibt sich auch Lola Puring auf eine verzweifelte Suche nach Geld. Schließlich treffen sich beide Frauen.

2009 erhielt der damals 50-jährige Regisseur Brillante Mendoza in Cannes für sein kontroverses Polizeidrama 'Kinatay' den Regiepreis. Dass der philippinische Filmemacher auch die leiseren Töne beherrscht, belegt er eindrucksvoll mit seinem zurückhaltenden Drama 'Lola'. Wie 'Kinatay' spielt auch 'Lola' in der Landeshauptstadt Manila. Repräsentative oder touristische Orte spart Mendoza jedoch aus. Stattdessen siedelt er seinen Film in den Slums der überfluteten Gemeinde Malabon an, ein undurchdringlicher Platzregen, der in vielen Szenen auf die Protagonisten niedergeht, verdeckt zusätzlich die Sicht.

Wie in 'Kinatay' steht ein Verbrechen im Zentrum der Geschichte. Doch im Gegensatz zu dem drastischen Vorgänger spart 'Lola' die Tat völlig aus. Mendoza interessiert einzig der Schmerz der Angehörigen und der schwierige Weg zur Versöhnung. Seine über 80-jährigen Hauptdarstellerinnen, beide in ihrer Heimat bekannte Schauspielerinnen mit jeweils über 30-jähriger Kinoerfahrung, beeindrucken durch naturalistisches Spiel.

Für seine einfache, aber berührende Geschichte über die beiden Lolas, so das philippinische Wort für Großmutter, wählt Mendoza einen kargen, aber höchst lyrischen Stil, der am französischen poetischen Realismus der 1930er Jahre und am italienischen Neorealismus der Nachkriegsära geschult ist. Im Mittelpunkt seines Films stehen einfache Menschen, Geldnöte und Alltagsprobleme. Raue Digitalbilder und Handkamera signalisieren Unmittelbarkeit, die Außenaufnahmen, ausschließlich vor Ort gedreht, Authentizität. Der Moment ist hier alles; Gesichter, Gesten und Blicke erzählen den Film. So werden die mühsamen Versuche einer alten Frau, im Sturzregen einen Schirm aufzuspannen und ein Streichholz anzureißen, zum Sinnbild für den Überlebenskampf in der feindlichen Umwelt.

'Lola' verlangt von seinem Publikum Geduld und den Willen zur genauen Beobachtung. Nur selten rafft die Montage Zeit, Alltagshandlungen werden in Echtzeit gefilmt, dramatische Zuspitzungen vermieden. Wer sich auf das etwas sperrige Sozialdrama einlässt, erhält einen Einblick in eine fremde Welt und eine Chance, abseits der tradierten Sehgewohnheiten neu sehen zu lernen.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Insidious

(USA / CAN 2010, Regie: James Wan)

Klein, aber fein
von Harald Steinwender

Die Lamberts sind eine ganz normale amerikanische Familie. Vater Josh (Patrick Wilson) arbeitet als Lehrer, seine Frau Renai (Rose Byrne) kümmert sich liebevoll um die drei Kinder. Doch der Umzug …

Die Lamberts sind eine ganz normale amerikanische Familie. Vater Josh (Patrick Wilson) arbeitet als Lehrer, seine Frau Renai (Rose Byrne) kümmert sich liebevoll um die drei Kinder. Doch der Umzug in das neue Traumhaus wird für die Familie zum Alptraum: Nachts sind merkwürdige Geräusche zu hören, Renai wird mit Geistererscheinungen konfrontiert und Dalton (Ty Simpkins), der 8-jährige Sohn der Lamberts, hat schreckliche Alpträume. Als der Junge schließlich in ein Koma fällt und kein Arzt helfen kann, zieht die Familie aus. Doch auch in das neue Heim folgen ihnen die bösen Geister. Schließlich rät Joshs Mutter Lorraine (Barbara Hershey), ein Medium (Lin Shaye) zu engagieren und den Kampf gegen das Übernatürliche aufzunehmen …

Vor acht Jahren inszenierte der australische Regisseur James Wan mit dem Horrorthriller 'Saw' ('Saw – Wessen Blut wird fließen?'; USA / Australien 2004) einen ruppigen Überraschungserfolg, der es bis heute auf sechs Fortsetzungen gebracht hat. 'Saw' war ein B-Horrorfilm, realisiert mit kleinem Budget, harten Schockeffekten und offensichtlichen Anleihen aus modernen Klassikern wie 'Seven' ('Sieben'; USA 1995; David Fincher). Bis heute ist Wan diesem Konzept treu geblieben. Auch 'Insidious', seine fünfte Kinoregiearbeit, ist mit einem Budget von 1,5 Millionen US-Dollar für eine geradezu lächerlich geringe Summe entstanden, auch hier spielt der Filmemacher deutlich auf Vorbilder wie 'Poltergeist' (USA 1982; Tobe Hooper & Steven Spielberg), 'The Exorcist' ('Der Exorzist'; USA 1973; William Friedkin) und 'The Haunting' ('Bis das Blut gefriert'; USA / UK 1963; Robert Wise) an.

Dennoch ist 'Insidious' kein reines Patchworkprodukt. Wan gelingt es, seine disparaten, aus der Filmgeschichte zusammengeklaubten Elemente mittels atmosphärischer Breitwandfotografie und gutem Timing zu einem effektiven Horrorthriller zusammenzufügen, der durchaus mit unerwarteten Wendungen überrascht. Dabei zieht das Grauen schleichend in den Alltag der Protagonisten ein. Der Terror, der schließlich über die amerikanische Musterfamilie einbricht, ereignet sich indes vor allem auf der Tonspur. Blut oder Ekeleffekte spart der Regisseur diesmal fast völlig aus, auch sorgt der Auftritt zweier verschrobener Geisterjäger für ein amüsantes Gegengewicht zu den Horroreinlagen.

'Insidious' ist ein über weite Strecken geradezu klassischer Genrefilm, ebenso schnörkellos wie effektiv inszeniert, höchst traditionsbewusst im Einsatz von Geisterbahneffekten, wie sie seit den frühen 1960er Jahren im Genre etabliert sind und die bis heute kaum etwas von ihrem Potential verloren haben. Damit leistet der Film genau das, was man im Kino von dieser Sorte Film erwartet. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Herbst

(TR / D 2008, Regie: Özcan Alper)

Sommer, Herbst und Tod
von Harald Steinwender

Nach zehn Jahren wird der politische Häftling Yusuf (Onur Saylak) vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Der ehemalige Mathematikstudent kehrt in sein Heimatdorf in der östlichen Schwarzmeerregion und zu seiner gebrechlichen …

Nach zehn Jahren wird der politische Häftling Yusuf (Onur Saylak) vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Der ehemalige Mathematikstudent kehrt in sein Heimatdorf in der östlichen Schwarzmeerregion und zu seiner gebrechlichen Mutter (Raife Yenigül) zurück. Bei einem Ausflug in die nahe gelegene Hafenstadt Rize lernt er die junge georgische Prostituierte Eka (Megi Kobaladze) kennen. Beide beginnen eine Affäre. Doch Yusuf hat sich bei einem Hungerstreik im Gefängnis eine Lungenkrankheit zugezogen.

Mit 'Sonbahar' ('Herbst / Autumn'; 2008) gelingt Regisseur Özcan Alper eine Persönlichkeitsstudie, die insbesondere von ihrer poetischen Bildsprache und den Darstellern getragen wird. Allen voran überzeugt die Debütantin Megi Kobaladze mit zurückgenommenem, aber stets authentischem Spiel. Auch der international bislang unbekannte Fernsehdarsteller Onur Saylak macht die Verlorenheit des gebrochenen Heimkehrers mit nuanciertem Spiel und sparsamen Gesten greifbar. Dialoge setzt der Regisseur dabei nur zurückhaltend ein. In dem ruhig inszenierten Film genügen stumme Blicke und kleine Alltagsmomente, um große Emotionen auszudrücken.

Regisseur Özcan Alper und Kameramann Feza Çaldiran binden die Landschaft der türkisch-georgischen Grenzregion symbolhaft in die Handlung ein, nutzen sie als Spiegel der Emotionen der Figuren. Immer wieder zeigt 'Sonbahar' in langen Einstellungen den Protagonisten, bisweilen gerahmt durch Türen, wie er auf die bewaldeten Berghänge der Umgebung blickt und seine neu gewonnene Freiheit zu genießen versucht. Doch dieser gerade einmal 32-Jährige, der zaghaft ein neues Leben beginnt, ist todkrank. Während der Spätsommer langsam in den Herbst übergeht und schließlich der erste Schnee fällt, schwinden auch Yusufs Kräfte.

Mit subtilen Verweisen auf die Gegensätze von Moderne und Tradition, Tourismus und Landflucht, Polizeistaat und säkularer Demokratie zeichnet 'Sonbahar' ein hintersinniges Psychogramm eines Landes im Umbruch. Beiläufig liefert der melancholische Film dazu Bruchstücke aus den Biografien seiner Figuren. Vereinzelt bricht dokumentarisches Bildmaterial in die Handlung ein; Bilder von Hungerstreiks, Gefängnisrevolten und Polizeigewalt, mit denen der Film die Traumatisierung des Protagonisten illustriert. Warum Yusuf inhaftiert wurde und was ihm in einem der berüchtigten Hochsicherheitsgefängnisse nahe Istanbul zugestoßen ist, erfahren wir allerdings nie. Alpers Metaphorik mag alles andere als innovativ sein. Bis zuletzt bleibt 'Sonbahar' jedoch ein sensibel und introspektiv erzähltes Spielfilmdebüt, das neben seiner Beherrschung der filmischen Mittel durch glaubwürdige Figuren überzeugt.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Five Minutes of Heaven

(GB / IR 2009, Regie: Oliver Hirschbiegel )

Reden hilft auch nicht
von Harald Steinwender

Als junger Mann hat Alistair Little (Liam Neeson) im Auftrag der protestantischen Ulster Volunteer Force den Katholiken James Griffin (Gerard Jordan) exekutiert. 30 Jahre später arrangiert ein Fernsehteam ein Treffen …

Als junger Mann hat Alistair Little (Liam Neeson) im Auftrag der protestantischen Ulster Volunteer Force den Katholiken James Griffin (Gerard Jordan) exekutiert. 30 Jahre später arrangiert ein Fernsehteam ein Treffen zwischen dem geläuterten Täter und dem Bruder des damaligen Opfers. Alistairs Begegnung mit Joe (James Nesbitt) soll vor laufender Kamera stattfinden, das Gespräch ein Zeichen der Versöhnung setzen. Doch der verbitterte Joe, der als 11-Jähriger die Hinrichtung seines Bruders mit ansehen musste, sinnt auf Rache.

Oliver Hirschbiegel hat über die letzten Jahre einige klaustrophobische Gesellschaftsparabeln inszeniert. In 'Das Experiment' (D 2001) schilderte er, wie ein sozialwissenschaftlicher Versuch in eine veritable Terrorherrschaft umschlägt. Sein ebenso pompöser wie düsterer Hitler-Film Der Untergang' (D 2004) konzentrierte sich auf die letzten Tage im Führerbunker, in der von der Kritik unterschätzten Dystopie 'The Invasion' (USA / Australien 2007) wiederum porträtierte er das gegenwärtige Amerika im Gewand des Science-Fiction-Films als Zwangskollektiv. Hirschbiegels Thema sind Menschen in Extremsituationen; Gewalt, Wahn und Politik in seinem Werk stets aufs engste miteinander verflochten. Da verwundert es kaum, dass der in Hamburg geborene, mittlerweile international tätige Regisseur sich mit 'Five Minutes of Heaven' nun dem seit 1969 schwelenden Nordirlandkonflikt widmet.

'Five Minutes of Heaven' konzentriert sich trotz einer Mitte der 1970er Jahre spielenden Exposition weitgehend auf die kammerspielartig inszenierten Ereignisse, die der Konfrontation seiner exemplarischen Protagonisten vorausgehen. Hinsichtlich Habitus und Einstellung könnten der Ex-Terrorist Alistair und sein Antagonist Joe nicht unterschiedlicher sein. Während Alistair mit seiner Vergangenheit gebrochen hat und sich seit seiner Haft für die Versöhnung der Bürgerkriegsparteien einsetzt, kann Joe die Tat nicht verzeihen. Der ehemalige Täter ist eloquent und reflektiert, das Opfer aufbrausend und irrational. Doch bald wird deutlich, dass beide gleichermaßen von der Tat gezeichnet sind. Als parabelhafte Miniatur über den Nordirlandkonflikt verweigert sich 'Five Minutes of Heaven' allzu einfachen Antworten. Eine wirkliche Versöhnung findet letztlich nie statt, zu tief sind die Wunden aller Beteiligten.

Wie in den vorangegangenen Filmen Hirschbiegels beeindrucken Sounddesign, Kameraarbeit und Ausstattung durch Präzision und Lokalkolorit – die technische Seite des Filmemachens ist fraglos die Stärke dieses Regisseurs. Dafür hakt es bei diesem auf dem Sundance Filmfestival mit einem Regiepreis ausgezeichneten Politdrama umso mehr an der Schauspielerführung. Während Liam Neeson wie gewohnt souverän spielt, da tendiert James Nesbitt zum exaltierten Überspielen und bühnenhaften Deklamieren. Gerade dieses darstellerische Ungleichgewicht lässt den frei auf realen Figuren basierenden, oft aber überkonstruiert wirkenden Film immer wieder aus der Balance geraten.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Verrückt nach Steve

(USA 2009, Regie: Phil Traill)

Distanzverlust
von Harald Steinwender

Die verhuschte Mary (Sandra Bullock) arbeitet als Kreuzworträtseldesignerin für ein kalifornisches Provinzblatt und lebt noch bei ihren Eltern. Um ihre komplexbeladene Tochter endlich zu verkuppeln, vermitteln diese ihr ein Blind …

Die verhuschte Mary (Sandra Bullock) arbeitet als Kreuzworträtseldesignerin für ein kalifornisches Provinzblatt und lebt noch bei ihren Eltern. Um ihre komplexbeladene Tochter endlich zu verkuppeln, vermitteln diese ihr ein Blind Date. Wider Erwarten ist Mary äußerst angetan von Steve (Bradley Cooper). Doch mit ihren brachialen erotischen Avancen verschreckt sie den Fernsehkameramann. Kurz entschlossen beginnt sie, Steve von Drehort zu Drehort zu folgen – sehr zu dessen Verdruss.

Licht und Schatten liegen manchmal dicht beieinander. Und so brachte die diesjährige Oscar-Verleihung Sandra Bullock nicht nur eine der begehrten Trophäen für ihre Hauptrolle in dem Drama 'Blind Side – Die große Chance' (2009; John Lee Hancock) ein. Am Tag zuvor erhielt die Schauspielerin für ihren Auftritt in der Komödie 'Verrückt nach Steve' ('All About Steve'; USA 2009) auch die 'Goldene Himbeere', den Anti-Oscar für die schlechteste Performance. So kam die 45-Jährige in das zweifelhafte Vergnügen, gleichzeitig zur besten und schlechtesten Darstellerin des Jahres gekürt zu werden. Das ist zumindest ein Novum in der amerikanischen Filmgeschichte.

In gewisser Weise ist Phil Traills gründlich vergeigtes Kinodebüt tatsächlich das negative Spiegelbild des bisweilen arg kitschigen Sportlerdramas 'Blind Side – Die große Chance'. In der Integrationsgeschichte verkörperte Bullock eine patente Mentorin, die selbstbewusst einen lernbehinderten Jungen in die Gesellschaft integriert. Umgekehrt zeigt 'Verrückt nach Steve' Bullock nun als sozial auffällige Außenseiterin – hyperaktiv, distanzlos, manisch-depressiv.

Dabei erweist sich gerade Bullocks Figur als Geduldsprobe für das Publikum. Mit geschmacklosem Batik-Kleidchen und feuerwehrroten Lackstiefeln verunstaltet, stolpert die Schauspielerin chargierend durch den lieblosen Plot und präsentiert vor allem ein aufgesetzt-nervöses Dauergrinsen und fahrige Gesten. Ihr Filmpartner Bradley Cooper als unwilliges Objekt der Begierde wirkt dagegen meist nur peinlich berührt. Einzig Thomas Haden Church als dümmlicher Reporter bringt etwas Stil in das aufwändig produzierte Desaster.

Das Ärgerlichste an der verklemmten Klamotte ist, dass sie die psychischen Probleme ihrer Hauptfigur gezielt für billige Witze ausschlachtet. So fällt Drehbuchautorin Kim Barker als Gipfel des Humors nichts anderes ein, als die Dauerquasselstrippe Mary in einer lahmen Anspielung auf Billy Wilders 'Reporter des Satans' ('Ace in the Hole'; 1951) in einem stillgelegten Bergwerksstollen mit einem taubstummen Kind stranden zu lassen. Selbst die Farrelly-Brüder, an deren derb-geschmacklosen Kassenerfolg 'Verrückt nach Mary' ('There’s Something About Mary'; 1998; Peter & Bobby Farrelly) der deutsche Verleih mit der Titelwahl anzuknüpfen versucht, zeigten immerhin ein wenig Zuneigung für ihre Figuren. Davon ist in dieser seelenlosen Travestie nichts zu spüren, die einzig durch die Verweigerung eines Happy Ends überrascht.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Zelle 211 – Der Knastaufstand

(F / ES 2009, Regie: Daniel Monzón)

Riot in Cell 211
von Harald Steinwender

Zwei Hände, ein Feuerzeug; Dunkelheit, hartes Seitenlicht von Links. Ein hagerer Mann erhitzt einen Zigarettenfilter, formt den heißen Kunststoff mit bloßen Fingern, schleift ihn am Boden seiner Zelle so lange, …

Zwei Hände, ein Feuerzeug; Dunkelheit, hartes Seitenlicht von Links. Ein hagerer Mann erhitzt einen Zigarettenfilter, formt den heißen Kunststoff mit bloßen Fingern, schleift ihn am Boden seiner Zelle so lange, bis er eine scharfe Klinge gefertigt hat. Dann öffnet er sich damit über dem Waschbecken die Pulsadern. Die Kamera registriert diese Selbsttötung, distanziert-beobachtend, abwartend, um dann ins Schwarzbild abzublenden. Ein pessimistischer Auftakt für einen pessimistischen Film, genauer: einen Gefängnisfilm, dem vom Sujet her sowieso schon düsteren Genre par excellence.

Gefängnisfilme, ob in der Ausbrecher- oder Gangstervariante, als engagiertes Sozialmelodram oder harter Thriller, erzählen im Kern immer von zwei Sorten von Menschen: Wärtern und Gefangenen. Die einen sind im Genre immer der Spiegel der anderen, beide jeweils eine Seite der gleichen Medaille. Ohne Wärter keine Gefangene. Ohne Gefangene keine Wärter. Die Summe des Genres brachte Alan Clarke in 'Scum' ('Abschaum'; 1977 und 1979) auf den Punkt. Da erklärt ein Anarchist – eine Figur, die wie der Verräter, der Kapo, der Bandenführer, das ewige Opfer, der Mitläufer zu den Standardtypen des Genres zählt – einem Wärter in einer Kaffeepause, dass sie sich doch sehr ähnlich seien: Wärter wie Gefangene sind dem disziplinierenden Rhythmus des Systems Gefängnis unterworfen, werden permanent überwacht, befinden sich die meiste Zeit des Tages hinter Gittern, folgen stumpfsinnigen Routinen und Befehlen, deren Missachtung Sanktionen nach sich ziehen. Nur einen Unterschied gibt es: die Gefangenen sind nicht freiwillig hier.

Daniel Monzóns 'Cell 211' spitzt diesen Grundkonflikt zu und stellt ihn zugleich auf den Kopf, indem er den jungen Wärter Juan (Alberto Ammann) beim Antrittsbesuch am Vortag vor seinem regulären Arbeitsbeginn zum Gefangenen wider Willen macht, ihn mitten in einem blutigen Gefängnisaufstand wirft, so dass er sich als Gefangener ausgeben muss, um irgendwie zu überleben. Er geht eine Art Männerfreundschaft mit dem gewalttätigen Malamadre (Daniel Monzón) ein, dem Anführer des Aufstands. Über die folgenden Ereignisse wird er immer mehr zum echten Verbrecher. Bald übersteigt er Malamadre an Verve als Aufrührer und Killer. Freilich hat er zunächst kaum eine Wahl. Aber später ist dann alles egal, denn die Staatsgewalt draußen verstellt ihm alle Möglichkeiten, in sein normales Leben zurückzukehren und zu weit ist er sowieso schon gegangen. Was Monzón sagen will, ist offensichtlich: Eine Gesellschaft, die Gefängnisse entwirft und unterhält, schafft keine Disziplinierungsanstalten, sondern Institutionen, die vor allem eines produzieren: Gefangene, emotional und intellektuell verkrüppelte Menschen, die vor allem über Gewalt kommunizieren, strukturelle wie physische. Sie kennen es nicht mehr anders, der Knast sorgt dafür. Und Malamadre hat ganz recht, wenn er in Bezug auf seinen Aufstand bemerkt, dass die da draußen auch nur eines verstehen würden: Gewalt.

Daniel Monzóns Malamadre ist eine ungewöhnlich komplexe, auch widersprüchliche Figur im Genre: Ein Aufrührer mit pechschwarzen, funkelnden Augen, der mal gegen Drogen wettert, dann selbst kokst, der Anteilnahme ebenso wie eiskaltes Kalkül an den Tag legt, ein Anführer, der seine Jünger in den Tod führt (Malamadre – böse Mutter – ist natürlich ein 'sprechender Name'). Und trotz seiner soziopathischen Erscheinung agiert er letztlich auch wie einer von Hobsbawms Sozialrebellen. Malamadre hat nichts zu verlieren und nur wenig zu gewinnen und so rennt er gegen die Ordnung an, nicht blind, sondern mit den Mitteln eines archaischen Banditenführers. Sein vorgebliches Ziel ist die Verbesserung der Haftbedingungen und in seinem Selbstverständnis unterscheidet er sich kaum von den ETA-Aktivisten, die er als Geiseln nimmt, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Schließlich ist es ausgerechnet der ehemalige Wärter Juan, der ihn davon überzeugt, dass sich sowieso nichts ändern wird, wenn er sich von denen da draußen mit leeren Versprechungen abspeisen lässt. Was bleibt ist der blutige Exzess, der blindwütige Aufstand, wie er schon am Ende von Clarkes 'Scum' stand und vielleicht gerade durch seinen Blutzoll etwas bewirken kann.

'Cell 211' steht in der Tradition des sozial engagierten Gefängnisfilms. Monzóns Film ist kein Epos wie Jacques Audiards brillanter 'Un prophète' ('Ein Prophet'; 2009), kein zermürbender Trip in den Nihilismus wie John Hillcoats 'Ghosts … of the Civil Dead' ('Willkommen in der Hölle'; 1988), auch kein formales Experiment wie Sidney Lumets 'The Hill' ('Ein Haufen toller Hunde'; 1965) oder Nicolas Winding Refns 'Bronson' (2008). 'Cell 211' steht eher in der Tradition von George W. Hills stilprägendem 'The Big House' ('Hölle hinter Gittern'; 1930); Don Siegels düsterem 'Riot in Cell Block 11' ('Terror in Block 11'; 1954) und John Frankenheimers ausweglosem TV-Drama 'Against the Wall” – lupenreine, klassische Genrefilme ohne Schnörkel. Sein bitteres Ende erinnert an die Genreproduktionen der 70er Jahre, als es in Europa noch funktionierende Filmindustrien gab und Kompromisse noch nicht vom Gremienkino erzwungen wurden. Das macht 'Cell 211' trotz Logiklöchern und kleiner Mankos zu einem äußerst erfrischenden, begrüßenswerten Film.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Splatting Image, Heft 84

The Messenger – Die letzte Nachricht

(USA 2009, Regie: Oren Moverman)

Das letzte Kommando
von Harald Steinwender

Für die letzten drei Monate seines Militärdienstes wird US-Sergeant Will Montgomery (Ben Foster) dem erfahrenen Captain Tony Stone (Woody Harrelson) zugeteilt. Ihre Aufgabe ist es, den Angehörigen im Kampf gefallener …

Für die letzten drei Monate seines Militärdienstes wird US-Sergeant Will Montgomery (Ben Foster) dem erfahrenen Captain Tony Stone (Woody Harrelson) zugeteilt. Ihre Aufgabe ist es, den Angehörigen im Kampf gefallener Soldaten als Erste die schlechten Nachrichten zu überbringen. Während Stone scheinbar ungerührt Dienst nach Vorschrift absolviert, leidet Montgomery unter dem Mangel an Empathie, den das Protokoll vorschreibt. Als der junge Soldat sich in die Witwe Olivia (Samantha Morton) verliebt, zeigt sich, dass sein Vorgesetzter labiler ist, als es den Anschein hat.

Das US-amerikanische Kino hat den gegenwärtigen Irak-Krieg aus vielen Perspektiven beleuchtet. Kathryn Bigelow inszenierte den Einsatz eines Bombenentschärfungskommandos in dem Oscar-prämierten 'The Hurt Locker' ('Tödliches Kommando – The Hurt Locker'; 2008) als zermürbenden Kriegsthriller. Paul Haggis wählte für In the Valley of Elah' ('Im Tal von Elah'; 2007) einen Zugang über die Mittel des Melodrams. Errol Morris’ Dokumentarfilm 'Standard Operating Procedure' (2008) wiederum war ein aufwühlender Exkurs über US-Kriegsverbrechen.

Jeder dieser Ansätze hat seine Berechtigung, und all diese Filme zeugen von der fundamentalen Verunsicherung der Filmindustrie angesichts des unpopulären Kriegs in Irak. Gemein ist ihnen eine Tendenz zur Verinnerlichung, zur Reflexion, weg von der Darstellung unmittelbarer Kriegshandlungen. Auf der Ebene der Dramaturgie entfernt sich der Kriegsfilm immer weiter von den Wurzeln des Genres im Aktions- und Bewegungskino.

Oren Movermans eindringliches Drama 'The Messenger' steht ganz in dieser Tradition. Das Regiedebüt des gebürtigen Israelis verzichtet auf eine aufdringliche Botschaft ebenso wie auf Actionsequenzen. Im Fokus stehen vielmehr die direkten und indirekten Traumatisierungen der Soldaten und ihrer Verwandten. Jeder Gang zu einem weiteren Angehörigen wird für die Überbringer der Todesbotschaft zur Herausforderung, denn individuelle Anteilnahme ist ihnen untersagt. Jedes ihrer Worte steht im Vorfeld fest, aber die Reaktionen der Angehörigen bleiben unkalkulierbar.

'The Messenger' ist nicht nur ein Kriegsfilm, der an der 'Heimatfront' spielt, sondern auch ein Schauspielerfilm, der von seinen ausgezeichneten Darstellern lebt. Die Folgen der emotionalen Versteinerung, die der militärische Drill und das strenge Reglement aufzwingen, machen Ben Foster und Woody Harrelson ebenso deutlich wie den Abgrund, der sich unter ihrer mühsam aufrechterhaltenen Routine auftut. Im letzten Drittel wechselt 'The Messenger' sein Erzähltempo und wagt den Anschluss an Klassiker des 'New Hollywood'-Kinos. Wie in Hal Ashbys 'The Last Detail' ('Das letzte Kommando'; 1973) werden Motive des Roadmovies und des Buddy-Films aufgegriffen. 'The Messenger' bleibt jedoch ein bis zuletzt unbedingt sehenswertes Drama, das ohne vordergründige Effekte und falsches Pathos auskommt.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Tabu – Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden

(Ö / Lux / D 2011, Regie: Christoph Stark)

Der Blick durchs Schlüsselloch
von Ulrich Kriest

Erinnert sich noch jemand an „Julietta“? Vor gut einem Jahrzehnt drehte der Regisseur Christoph Stark diesen Film nach Motiven von Kleists „Marquise von O.“. Wo es Eric Rohmer Mitte der …

Erinnert sich noch jemand an „Julietta“? Vor gut einem Jahrzehnt drehte der Regisseur Christoph Stark diesen Film nach Motiven von Kleists „Marquise von O.“. Wo es Eric Rohmer Mitte der 70er Jahre noch darum ging, ein filmisches Äquivalent zu Kleists eigenwillig gedrechselter Psycho-Prosa zu entwickeln, da ließ sich Stark seinerzeit eher von Kleists vorgängigem Sinn für die drastische Kolportage inspirieren. Er ließ die wohl behütete Schülerin Julietta von Stuttgart nach Berlin reisen, wo sie auf der Love-Parade mitfeierte und schließlich im Drogenrausch bewusstlos vom Rettungssanitäter Max vergewaltigt wurde.

Schon damals konnte man sich fragen, welche Funktion der Rekurs auf Kleist erfüllte, wo es Stark doch ganz nachdrücklich daran ging, seine Figuren möglichst authentisch im Hier und Jetzt der Berliner Party-Szene der Jahrtausendwende zu situieren. Wahrscheinlich, wir erinnern uns nicht mehr, ging es auch damals darum, einen klassischen Stoff einer jungen Generation von Lesern dadurch näher zu bringen, indem man sämtliche Spuren von Literarizität und Historizität tilgte. Und natürlich um ein paar gute Argumente bei der Finanzierung eines Filmprojektes. Christoph Stark hat seither durchaus erfolgreich fürs Fernsehen als Drehbuchautor und Regisseur gehobene Dutzendware der Marken „Tatort“ und „Bloch“ abgeliefert. Jetzt aber gilt’s wieder der klassischen Literatur und dem Kino!

„Tabu – Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden“ ist allerdings keine Literatur-Verfilmung, sondern eher eine Art von Schlüsselloch-Biopic auf der Grundlage einiger Vermutungen zur und einiger Fakten der Biografie des dunklen Expressionisten Georg Trakl, der in den ersten Wochen des 1. Weltkriegs, nach der Erfahrung der Schlacht von Grodek, an einer Überdosis Kokain starb. Es geht hier also ein weiteres Mal um die Ver-Filmung von Kunstproduktion, was bekanntlich – man denke an Filme wie „Pollock“ oder „Der Klang der Stille“ oder „Mit meinen heißen Tränen“ oder „Das Leben der Anderen“ – immer eine heikle Aufgabe ist.

Die Frage sei erlaubt: Ist Dichtung ein Handwerk oder doch eher eine existentielle Passion, die es dem genialischen Dichter abfordert, sich vom Weltschmerz und Drogenrausch verzehrt, seine Visionen mit letzter Tinte aus dem maladen Körper zu schneiden? Für Christoph Stark ist das keine Frage: er frönt hier auf Spielfilmlänge dem Pathos des romantischen Künstlermythos so entschieden, bis dieser nur noch lächerlich im Regen steht. Stark stellt sich in „Tabu“ den expressionistischen Drogenesser Georg Trakl als fiebrigen Schmerzensmann, als Bruder im Geiste eines Pete Doherty vor, dessen symbolistische Lyrik davon lebt, dass er mit ihr ein unglückliches inzestuöses Verhältnis zu seiner Schwester Gretl kompensiert. Weshalb er seine Gedichte auch vorzugsweise nackt und im Rausch im – huch! – Bordell ausführlich rezitiert, was die anwesenden, eher kunstfern dahinlebenden Prostituierten eher langweilt.

Kreativität gerät diesem schwülstig-schmierigen Blick durchs Schlüsselloch einer Dichterbiografie zu wenig mehr als einer misslichen Ersatz- oder Übersprungshandlung. Manch Germanist hätte wohl eher Nietzsche, Freud, Moderneerfahrung und Ich-Dissoziation ins Feld geführt, doch „Tabu“ mag es eindeutiger. Stark hat zu Protokoll gegeben, sein Film ziele aufs Allgemeine, auf die „innere Reise zweier Menschen, die sich nicht lieben dürfen“. Allerdings inszeniert er dies „Allgemeine“ nicht angemessen abstrakt, sondern komplett ironiefrei mit den Mitteln des Kostümfilms, wobei die sprachlichen Anachronismen und die hier ungebremsten pubertären Manierismen Lars Eidingers dem Film endgültig den Garaus machen. Hier wird also nicht nur gekokst, gesoffen, gelitten, gesündigt und mit Worten gerungen, sondern dies geschieht auch noch vor einem Ambiente, das sich skizzenhaft und parasitär von der Sphäre des „kulturell Wertvollen“ nährt.

Hier gibt es tatsächlich Szenen im Kaffeehaus, wo aus dem „Off“ jemand „Alma, komm jetzt!“ ruft, worauf ein Paar an der Kamera vorbei flaniert, bis jemand Anderes flüstert: „Das ist der Kokoschka!“ Ist er dann auch, wenn man so will. Mag auch der Ansatz, sich auf diese Weise der Literatur als Pop-Phänomen zu nähern, ein intellektuelles Desaster sein, so beweist Stark immerhin ein Händchen fürs Team: so findet der Kameramann Bogumil Godfrejow zeitweise ganz erstaunliche Bilder zum traurigen Treiben, die immer wieder vor Augen führen, was hier an Substantiellem verschenkt wurde. Und so wie „Julietta“ uns seinerzeit mit Lavinia Wilson bekannt machte, ist auch hier die intensive darstellerische Leistung von Peri Baumeister ein Versprechen auf künftig hoffentlich adäquatere Projekte. Insgesamt aber erinnert „Tabu“ in seiner Herangehensweise an „Egon Schiele – Exzesse“, jenen fast vergessenen Film von Herbert Vesely, der sich seinem Gegenstand auch nicht auf Augen-, sondern lieber auf Schamhaarhöhe näherte. Merke: Kunst ist schön, macht aber auch viel Arbeit.

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Snow White & the Huntsman

(USA 2012, Regie: Rupert Sanders)

Fauler Apfel mit Wurm
von Louis Vazquez

Neulich erst hat Tarsem Singh mit „Mirror, Mirror“ eine Schneewittchen-Verfilmung vorgelegt und damit etwas ziemlich Erstaunliches geleistet: Er hat einen lustigen Film inszeniert. Manche mögen seinen pompösen Stilwillen noch immer …

Neulich erst hat Tarsem Singh mit „Mirror, Mirror“ eine Schneewittchen-Verfilmung vorgelegt und damit etwas ziemlich Erstaunliches geleistet: Er hat einen lustigen Film inszeniert. Manche mögen seinen pompösen Stilwillen noch immer artsy fartsy finden und über die Witze nicht lachen können, aber die erzählerische Leichtigkeit seiner Märchen-Screwball-Komödie setzte doch einen wunderbaren Kontrapunkt zur Singh-typischen visuellen Opulenz. Und wenn dann noch Julia Roberts als böse Königin eitel und neidzerfressen losgrantelte, gab es eigentlich nicht viel zu meckern, zumal das Geschlechterbild – Männer und Frauen sind gleichermaßen bescheuert, außer Schneewittchen – nachgerade als aufgeklärt gelten muss. Jedenfalls im Vergleich zu „Snow White & the Huntsman“. Hier nämlich wird die böse Königin zur dämonischen Verkörperung aller Emanzipationsbemühungen und hasst, ganz unironisch, so ziemlich alle Männer.

„Snow White & the Huntsman“ ist einer jener Filme, die sich im Märchenkontext um eine vermeintlich „erwachsene“ Herangehensweise bemühen. Dass die formelhaft gestrickte Fantasygeschichte (mit dem inzwischen wohl obligatorischen Trollauftritt), die sich ein Storyerfinder und drei Drehbuchautoren ausgedacht haben, umso infantiler wirkt, ist die übersehene Kehrseite. Die Stationen der Heldenreise werden pflichtschuldig abgespult, viele überoffensichtliche Sätze („Sie ist die Auserwählte“) werden ausgesprochen – die meisten wohl vom bemitleidenswerten Bob Hoskins als Zwerg –, und eine Mobilmachungsrede von Schneewittchen kurz vorm entscheidenden Kampf hat mehr Pathos als drei Filme von Michael Bay zusammen, ist aber nicht ganz so gut geschrieben. Das große Finale wirkt sogar wie eine lästige Pflichtübung, weil absolut nichts Unerwartetes mehr passiert, außer, dass doch keine Entscheidung zwischen den zwei möglichen Prinzenanwärtern gefällt wird.

Seine Ernsthaftigkeit beschert dem Film einige Probleme. Kann man den berühmten Spieglein-Spruch wirklich mit einem Gesichtsausdruck deklamieren, als würde ein überambitioniertes Schülertheater Shakespeare vortragen? Der Werberegisseur (und laut Presseheft „angesagte Visualist“) Rupert Sanders jedenfalls gibt Charlize Theron Gelegenheit zu einer enttäuschenden und unfreiwillig komischen Performance. Die wenigen absichtlichen Gags dagegen, wenn etwa ein Zwerg das Disneysche „Heigh-Ho“ zitiert und zurechtgewiesen wird, wirken wie Fremdkörper zwischen dem Kraut und den Rüben. Ein komisches Highlight zumindest der deutschen Fassung ist sicherlich nicht beabsichtigt: Als nämlich der Jäger, der sein Herz fürs Schneewittchen entdeckt, zum ersten Mal namentlich aufgerufen wird, da zischt ein zorniges „Hans Määähn!“ durch den Kinosaal. Der huntsman wird konsequent nicht übersetzt, wie das Schneewittchen bzw. Snow White ja auch nicht.

„Weiß wie Schnee, rot wie Blut“ und nicht etwa „schwarz wie Ebenholz“, sondern „schwarz wie die Flügel eines Raben“ soll das anfangs ersehnte Kind werden. Der Grund dafür bleibt rätselhaft wie so vieles, denn zwar helfen Rabenvögel dem Schneewittchen einmal bei seiner Flucht, aber ansonsten heißt doch die böse Königin Ravenna und trägt den Raben im Namen. Sie ist es, die sich in einen Vogelschwarm auflösen kann, nicht das arme Schneewittchen.

Und das ist nur einer der vielen Widersprüche des Drehbuchs. Gute Ansätze führen ins Nichts, manche Szenen wirken zu lang oder sogar ganz überflüssig, und das Timing ist insgesamt alles andere als optimal. Aber Fantasybilder und -gestalten kann Rupert Sanders wirklich. Bei der Ankunft im Märchenwald wimmelt es derart von Kreaturen, dass man sich kurz an die Anime-Welten von Hayao Miyazaki erinnert fühlt. Zu Recht, denn bald darauf zitiert/kopiert Sanders eine Szene aus „Prinzessin Mononoke“, auch wenn sie im Kontext seines Schneewittchenfilms längst nicht so gut aufgehoben ist. Ob Sanders sich in die Warteschlange der Anwärter einreiht, wenn dereinst jemand eine zwar nicht nötige, aber gewiss trendgemäße Realverfilmung des immerhin schon 15 Jahre alten Zeichentrickklassikers mit echten Schauspielern und vielen bunten Effekten machen darf? Immerhin hätte er dann mal ein phänomenales Drehbuch.

Tabu – Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden

(AT / L / D 2011, Regie: Christoph Stark)

Vaginal ist scheiße!
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Film, der keinen Plan hat. Im Großen und Ganzen geht es um die Liebe zwischen den Geschwistern Georg und Margarete Trakl, die heftig, aber verboten ist, damals vor hundert …

Ein Film, der keinen Plan hat. Im Großen und Ganzen geht es um die Liebe zwischen den Geschwistern Georg und Margarete Trakl, die heftig, aber verboten ist, damals vor hundert Jahren erst recht. Sie endet, wie wir per Untertitel informiert werden, mit den Selbstmorden des Paares im Ersten Weltkrieg. Andererseits ignoriert das Plot den etablierten biografischen Rahmen und tut so, als ob es halt um einen Kostümfilm geht, der sich verbotenem Sex der Zeit um 1900 rum annimmt. Aber auch der Degetoschmonzes haut nicht hin, weil Tatortregisseur Christoph Stark sich intensiv den Fickszenen widmet, wie sie erst hundert Jahre später filmtauglich werden sollten. Anal ist okay, aber vaginal scheiße. Weil zur Verhütung nichts da ist, und dann kommt das Embryo. Tja, es kommt. Wir haben die Bescherung.

Für literarisch interessierte Bildungsbürger ist das nichts. Und für Kostümfreunde ist das zu unkostümiert, wenn Paarung zum Porno wird. Und für Sexhungrige ist das schlicht zu wenig – und zu viel an abgeilendem Bildungspathos (siehe Zweittitel des Films). Hinwiederum wirken die traklaffinen Dialoge hoffnungslos deplaziert, wenn daneben und durchaus in der Hauptsache banalstes Zeug geplappert wird – von den Protagonisten, die gute Miene zum bösen Spiel machen müssen, Stimmts, Grete? Lars Eidinger, der den Literaten Trakl spielt, muss sozusagen jeden Satz zu seiner Schwester mit „Grete“ beginnen und/oder enden. Grete, ist doch so, Grete. So etwa, Grete. Grete, ich hab von den Dialogen einen Schaden bekommen, Grete, und ich wollte den Film gar nicht verreißen, Grete, jedenfalls nicht ganz.

Denn es gibt etwas, das alles, was auseinanderstrebt, doch wieder zusammenhält. Und das ist die ausgeklügelte und fein differenzierte Lichtgestaltung. Alle Achtung. Da sieht man denn doch, dass die öffentlichrechtlichen Gelder professionell angelegt sind. Kann man denn das Wort Porno in den Mund nehmen, wenn die ansehnlichen nackten Körper im Licht altmeisterlicher Gemälde präsentiert werden, schwer ästhetisch in Licht und Schatten getaucht? Bravo, soweit. Auch die Kamera kann zeigen, was sie kann. Ein Gesicht sieht sich im dreigeteilten Spiegel als Triptychon. Einfach so. Das ist Kunst!

Es ist so, als ob der renommierte Tatortregisseur das Team hat machen lassen, was es möchte. Schief gegangen ist das Laissez-faire allerdings bei der Unmenge an Komparsen, die das Bild zum Bersten füllen, und kein Schwein weiß, was es tun soll – außer Schulter an Schulter gepresst irgendwohin zu gucken, ein jeder, wie es ihm beliebt. Sach doch, Grete, so wars doch, Grete!

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 06/2012

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Phase 7

(AR 2012, Regie: Nicolás Goldbart)

Slacker in der Endzeitzone
von Michael Schleeh

„Phase 7“ ist ein Endzeit-Virus-Thriller, der sich in der Anlage des Films sowohl bei Paco Plazas „Rec“ als auch bei Chris Goraks „Right at your Door“ bedient. Und freilich ebenso …

„Phase 7“ ist ein Endzeit-Virus-Thriller, der sich in der Anlage des Films sowohl bei Paco Plazas „Rec“ als auch bei Chris Goraks „Right at your Door“ bedient. Und freilich ebenso bei unzähligen anderen Filmen des Genres. Allerdings gesehen durch eine ironische Brille, denn der Protagonist ist der zum Erwachsensein gezwungene Slacker Coco, dessen Frau Pipi (Namen wie aus einem absurden Theaterstück) kurz vor der Entbindung des gemeinsamen Kindes steht. Und als hätte der sympathische Wuschelkopf mit dem S.O.D.-T-Shirt durch das ständige Herumkommandieren seiner Gattin, die mit einem aufbrausenden Temperament gesegnet ist, nicht schon genug zu tun, nein: plötzlich steht auch noch die Welt am Abgrund. Nach einem Einkauf in der Mall gelangt die junge Familie zurück in den Wohnblock, wo kurze Zeit später das Dekontaminierungsteam das Gebäude abriegelt und dann mit Schutzplanen versiegelt. Es ist ein tödlicher Grippevirus, der nun am Ein- und Ausdringen, je nachdem, gehindert werden soll. Das junge Paar denkt sich nichts dabei, Vorräte hat man ja eben noch ausreichend gekauft und kaputte Glühbirnen ersetzt der Nachbar, der in weiser Voraussicht für die Apokalypse vorgesorgt hat. Doch dann gehen die Froot Loops aus!

Nun, ganz so albern wird „Phase 7“ dann doch nicht, obwohl die Froot Loops tatsächlich zur Neige gehen. Coco wird alsbald in die Machtspiele und Konkurrenzkämpfe der Nachbarschaft hineingezogen und muss mit einem roten Anzug und Gasmaske herumlaufen – ohne zu wissen, ob dies überhaupt notwendig ist. Wenig später ist man auch bewaffnet. Und wer unter Quarantäne steht, vom Rest der Welt abgeschnitten ist, entwickelt eigene Hierarchien und Machtstrukturen. Im Kampf um Vorräte wird bald geschossen und Sprengfallen mit Stolperdrähten werden im Treppenhaus angebracht, die Schädel platzen durch den Splatterfilm und versauen die Korridore des Neubaus. Coco ist klar: das muss er jetzt hinkriegen, er muss Pipi hier rausschaffen, irgendwohin, wo es sicher ist. Doch draußen, da tobt die Welt.

„Phase 7“ ist ein Film, der ohne Zombies auskommt. Das ist schon mal gut, obwohl der Schritt zu einem „Rec 3“ nicht weit gewesen wäre. Hier diszipliniert sich Goldbart, wie überhaupt in diesem sehr strukturierten Film. Schauplatz ist beinahe ausnahmslos das Haus; eine handvoll Figuren sowie deren Interaktion ist alles, was dieser Film braucht. Dass ihm auf halber Strecke dann doch die Luft ausgeht, liegt daran, dass eigentlich nichts Interessantes mehr passiert. Zu vorhersehbar sind die kleinen Entwicklungen, zu redundant die Kabbeleien. Ein Thriller hätte hier mehr Plot gebraucht, oder mehr Wahnsinn, oder einen spannenderen Nebenstrang. Zum Ende hin wird es leider auch noch willkürlich, wie dann urplötzlich doch die asiatische Familie wie aus dem Nichts auftaucht und mal eben dem Protagonisten das Leben rettet. Etwas ärgerlich ist das sogar. Auch die Chancen, die die Architektonik des Gebäudes bietet, werden nicht wirklich genutzt. Dafür ist es auch einfach zu durchschnittlich und nichtssagend, und weit weniger reizvoll in Szene gesetzt, als das etwa der tolle „Rammbock“ (Marvin Kren, 2010) vorgemacht hatte, welcher gerade durch seinen Schauplatz und dessen inszenatorische Einbindung so überzeugen konnte. Ganz zum Schluss fahren die Überlebenden schließlich durch eine zerstörte Stadt auf ein unbestimmtes Hoffnungsziel zu. Wäre „Phase 7“ ein fünfzig Minuten kurzer Langfilm geworden, dann hätte er das Zeug zu einem kleinen Genre-Hit gehabt. So zerdehnt er sich wie Kaugummi auf dem Straßenpflaster unter einer heißbrennenden argentinischen Sonne.

Moonrise Kingdom

(USA 2012, Regie: Wes Anderson)

Mit der Axt durchs Puppenhaus
von Andreas Busche

Wes Anderson macht Puppenhaus-Filme. In seinen penibel arrangierten Kunstwelten kommt jedem Detail ein fester Platz zu. In den Produktionsnotizen zu seinem neuen Film „Moonrise Kingdom“ ist viel die Rede von …

Wes Anderson macht Puppenhaus-Filme. In seinen penibel arrangierten Kunstwelten kommt jedem Detail ein fester Platz zu. In den Produktionsnotizen zu seinem neuen Film „Moonrise Kingdom“ ist viel die Rede von Inneneinrichtungen, Farben, Requisiten, Vintagemode und Musik. Es geht immer um Haptik, Oberflächentexturen und ganz nebenbei auch um die Griffigkeit von Genres, zu denen Anderson ein gespaltenes Verhältnis pflegt – was sich unter Anderem in einer seltsam verhaltenen Affirmation von genrespezifischen Formalismen und nostalgischen Erinnerungsfragementen äußert, die leicht als Ironie missverstanden werden kann. Andersons Filme folgen einer Genrelogik, die von seinen Figuren, wenn sie sich bewusstlos gegen das Erwachsenwerden stemmen, immer wieder gekonnt unterlaufen wird.

In „Moonrise Kingdom“ gipfelt diese regressive Disposition in der Erkenntnis, dass die Kinder im Grunde schlauer als die Erwachsenen sind. Wir befinden uns im Jahr 1965. Sam und Suzy haben bereits eine Vorstellung von der Beschaffenheit der Erwachsenenwelt, und sie wenden deren Prinzipien konsequent auf ihre eigene Kindheit an. Sam „kündigt“ ordnungsgemäß bei seiner Pfadfindereinheit, während Suzy ihre erste Nouvelle Vague-Romanze durchlebt. Auf ihrem tragbaren Plattenspieler schmachtet Francoise Hardy, ihr blauer Lidschatten signalisiert eine Sehnsucht, die ausgerechnet ein nerdiger Junge mit Biberfellmütze erfüllen soll. Der kennt sich als Pfadfinder schließlich mit Überlebenstechniken aus. Und während die Erwachsenen (unter ihnen Bill Murray, Bruce Willis und Tilda Swinton) in gewohnt hysterischer Manier die Strukturen von Andersons eigenwilliger Realität erkunden, verwandeln die jungen Liebenden eine einsame Bucht in ihr kleines Refugium.

Andersons Imaginationskraft kann die Beschränktheit seiner Entwürfe jedoch nie ganz verhehlen. Zur domestizierten Nostalgie des Puppenhauses gesellt sich stets das Ordnungsprinzip des Setzkastens. Nur die Melancholie seiner Figuren weist über die Liebesgeschichte hinaus. Der Schlüssel zu dieser Grundstimmung ist das Jahr 1965. Nur wenige Jahre später, so erzählte Anderson nach der Premiere in Cannes, würden Sam und Suzy in einem völlig anderen Amerika leben. Wenn Suzy eine Schere in das Pfadfinderhündchen bohrt und Bill Murray axtschwingend durchs Puppenhaus läuft, überschattet dieses neue Amerika bereits das Mondscheinkönigreich.

Spieglein Spieglein – Die wirklich wahre Geschichte von Schneewittchen

(USA 2012, Regie: Tarsem Singh)

Wirklich Ware
von Oliver Nöding

Auch wenn der ungelenke Untertitel ein Bonus ist, den die deutsche Fassung von Tarsem Singhs Schneewittchen-Verfilmung für sich allein beanspruchen darf: Das Versprechen, nach der „wahren“ die „wirklich wahre“ Version …

Auch wenn der ungelenke Untertitel ein Bonus ist, den die deutsche Fassung von Tarsem Singhs Schneewittchen-Verfilmung für sich allein beanspruchen darf: Das Versprechen, nach der „wahren“ die „wirklich wahre“ Version einer Geschichte zu liefern, passt natürlich wunderbar in diese Zeit, die gespickt ist mit filmischen Remakes, Reboots und Prequels. Nicht das, was erzählt wird ist entscheidend, sondern nur noch, dass es neu ist – oder zumindest den Anschein von Neuheit erweckt. Und für diese Neuheit nimmt man ja auch gern in Kauf, dass jeder Anflug von Magie schon im Keim erstickt wird.

'Spieglein Spieglein' beginnt – wie man es von den Filmen Singhs erwartet – visuell berauschend mit einem wirklich atemberaubenden, animierten Prolog, der die Vorgeschichte des bekannten Märchens erzählt und an dessen Ende die schöne Königstochter Schneewittchen ohne ihren liebevollen, gutmütigen Vater und allein mit der boshaften, eifersüchtigen und eitlen Stiefmutter dasteht. Die Figuren erinnern optisch an aus glänzendem Marmor oder kostbarem Holz geschnitzte Puppen, die sie umgebenden Landschaften sind plastisch, aber gleichzeitig sehr stilisiert. So entsteht tatsächlich eine geheimnisvolle, jeder konkreten historischen Epoche enthobene Welt vor den Augen des Betrachters: Hier würde man gern verweilen – oder erfahren, was sich hinter den unbeweglichen Gesichtern der Figuren verbirgt. Der zickige Voice-over-Kommentar der bösen Stiefmutter (Julia Roberts), der erklärt, dass die bekannte Geschichte nun aus ihrer Sicht erzählt werde, lässt aber schon erahnen, dass es im Folgenden weniger düsterromantisch als vielmehr plump-modern zugehen wird. Und so ist es dann auch.

Zur Handlung: Nach dem Tod des beliebten Königs hat sich ewiger Winter über das Königreich gelegt, das von der herrschsüchtigen Königin rücksichtslos geknechtet wird. Trotzdem droht ihr der Konkurs: Ein wohlhabender Ehemann muss her. Der bald eintreffende Prinz Alcott (Armie Hammer) verliebt sich aber nicht in die Königin, sondern in deren bezaubernde Stieftochter Schneewittchen (Lily Collins), die daraufhin auf Geheiß der erbosten Königin vom treuen Diener Brighton (Nathan Lane) entsorgt werden soll. Weil der aber Mitleid mit ihr hat, lässt er sie in den tiefen Wäldern des Reichs frei – wo sie dann auf eine siebenköpfige Bande kleinwüchsiger Diebe stößt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten wickelt das bildhübsche Mädchen diese natürlich um den Finger und plant mit ihnen den Putsch gegen die böse Königin. Am Ende ist diese um Jahre gealtert und ihre Herrschaft zerschlagen. Schneewitchen heiratet den braven Prinzen, die Zwerge werden rehabilitiert und selbst der totgeglaubte König kehrt zurück, um sein Amt wieder aufzunehmen. Hach.

Man merkt es schon an dieser Nacherzählung: Allzu groß sind die Unterschiede zwischen dieser „wirklich wahren“ und der allseits bekannten Version des Märchens nicht. Das Vorhaben, die Geschichte aus der Sicht der bösen Stiefmutter zu erzählen, wird schon bald aufgegeben; wohl auch, weil viele populäre Elemente des Märchens sonst gänzlich unter den Tisch fallen müssten. Und hat es zunächst noch den Anschein, als unternehme Singh den Versuch, die märchenhaften Vorgänge zu entmystifizieren, kommen im weiteren Verlauf des Films stattdessen immer neue fantastische Elemente zu den bereits bekannten hinzu. Entmystifizierend im negativen Wortsinne ist lediglich der unsäglich platte Humor, der sich zunehmend in den Vordergrund drängt und die zuvor etablierte Stimmung wieder zerstört. Dabei wäre es wirklich interessant gewesen, etwa die tiefenpsychologische Bedeutungsebene des Märchens freizulegen, so wie Neil Jordan es einst mit 'Die Zeit der Wölfe' für Grimms „Rotkäppchen“ erfolgreich durchexerziert hatte. Mit Singh stand ein Regisseur zur Verfügung, dem man diese Aufgabe durchaus zutrauen durfte, versteht er sich doch zweifellos darauf, Seelenlandschaften in eindrucksvolle Bilder zu übersetzen, wie man seit 'The Cell' oder auch The Fall' weiß. Aber der Regisseur agiert hier von Beginn an auf verlorenem Posten, steckt in einem konzeptionellen Korsett fest, das ihn zum Choreografen aufwendig kostümierter Schauspieler degradiert. So prachtvoll 'Spieglein Spieglein' auch aussieht: Seine Bilder lassen jede Tiefe vermissen, sind lediglich auf Hochglanz polierte Postkartenmotive. Da ist nichts, was wirklich überraschen oder gar verstören würde.

Das verwundert nun nicht, wenn man weiß, wer hinter 'Spieglein Spieglein' steht: Produzent Brett Ratner ist bislang als zuverlässiger Lieferant stets seelenloser Massenware aufgefallen ist und darf jeder Inspiration als unverdächtig angesehen werden. Statt das Potenzial seiner Prämisse zu heben, geht es ihm allein darum, Entertainment für die ganze Familie zu bieten. Ein ehrenwertes Unterfangen, wenn 'Spieglein Spieglein' dabei nicht immer den naheliegendsten, dümmsten und unkreativsten Weg ginge. So bleibt am Ende ein Film, der Kindern vielleicht noch ans Herz zu legen ist, insgesamt aber angesichts des ins Rennen geworfenen Talents doch als Enttäuschung bezeichnet werden muss. Die wirklich wahre Geschichte von Schneewittchen ist wirklich nicht das Wahre.

Leb wohl, meine Königin!

(F / SPA 2012, Regie: Benoît Jacquot)

Eisige Forciertheit
von Janis El-Bira

Die Übertragung der Eröffnungsgala aus dem Berlinale Palast in den Friedrichstadtpalast vor dem Eröffnungsfilm ist wohl so etwas wie der Kompromiss, den man eingehen muss, wenn man zwar nicht 'wichtig' …

Die Übertragung der Eröffnungsgala aus dem Berlinale Palast in den Friedrichstadtpalast vor dem Eröffnungsfilm ist wohl so etwas wie der Kompromiss, den man eingehen muss, wenn man zwar nicht 'wichtig' genug ist, um zur eigentlichen Veranstaltung eingeladen zu werden, aber dennoch ein bisschen 'offiziell' in die Filmfestspiele starten möchte. So schaut man geschlagene sechzig Minuten zu, wie Dieter Kosslick und Anke Engelke hemdsärmelig durch ein Programm stolpern, das alles und jeden feiert, aber irgendwie nicht die Filme, um die es gehen soll. Man hört ungläubig, wie Bernd Neumann Sätze sagt, die so anfangen: 'Kunst und Kultur und dazu zähle ich auch den Film …' und Klaus Wowereit sich offen am allermeisten darüber freut, dass er und niemand sonst es ist, der wieder als regierender Bürgermeister auf der Bühne stehen darf. Trotzdem ist das alles auch ein bisschen lustig: Einmal mehr nimmt man zur Kenntnis, dass Menschen in HD und Gesichter groß wie Tennisplätze in Wahrheit doch irgendwie unvorteilhaft aussehen – vor allem, wenn sie von einer erbarmungslos durch den Raum springenden Kamera ahnungslos just im Ausdruck tiefster, fernschweifender Langeweile eingefangen werden. Dann kann man förmlich sehen, wie alles, was dort geschieht, durch Diane Krugers stahlblaue Augen direkt hindurchgeht und irgendwo – man weiß es nicht – zu sein aufhört; verdenken kann man es ihr nicht.

Erfreulicher ist dagegen, dass Benoît Jacquots Eröffnungsfilm 'Les Adieux à la Reine' kein Ausfall ist, obwohl Schlimmes zu befürchten war: Die letzten Tage auf Schloss Versailles am Vorabend der französischen Revolution werden erzählt aus der Sicht einer jungen Dienerin (Léa Seydoux), die als Vorleserin Marie-Antoinettes (Diane Kruger) sozusagen aus unmittelbarer Nähe den Zerfall des 'ancien régime' miterlebt. Am Anfang ist das auch genau jener 'upstairs / downstairs'-Film, den man sich darunter vorstellt: Die Herrschaft ergeht sich in dekadentem Prunk, dafür sind 'unten' die Partys lustiger, die Frauen frivoler, die Pfaffen geil wie eh und je und ein alter Bibliothekar zwischen den Welten hat einen Buckel und spricht gerne dem Wein zu – alles wie gehabt, alles wenig aufregend. Jacquots Mittel sind konservativ-gradlinig und bleiben das auch. Dennoch macht es im Verlauf des Films immer mehr Spaß, dem ständigen Öffnen und Schließen der Türen und Gemächer zu folgen und zuzuschauen, wie die verknöcherten Hofschranzen nachts verunsichert aus ihren Kammern gekrochen gekommen, als die ersten Berichte von den Ereignissen in der Bastille im Schloss die Runde machen.

Mit fortschreitender Dauer bekommt die Erzählung von der ihrer Königin bedingungslos ergebenen Vorleserin eine zynische, fast grausame Note, wenn sie aufzeigt, dass der Gang aus der Unmündigkeit zunächst vor allem nicht Gewinn, sondern schwerwiegende Verluste bedeutet: Mit einem Marivaux’schen Kleider- und Identitätswechsel, der letztlich die Flucht ermöglichen soll, werden die erstarrten Hierarchien zwar im Spiel durchlässig, doch bedrückt dieser Tausch durch seine eisige Forciertheit und einen Moment völliger entblößter Nacktheit zwischen Aus- und Ankleiden. Das Bedecken und wieder Ent-Decken der Scham im Angesicht der Königin stellt Aufbruch und fatalistischen Gehorsam, Gewinn und Verlust im Anbruch der Aufklärung auf so engem Raum und so zart nebeneinander, dass das Festival einen ersten berührenden Moment geschenkt bekommt.

Dieser Text erschien zuerst anlässlich der Berlinale 2012 in der filmgazette.

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Leb wohl, meine Königin!

(F / SPA 2012, Regie: Benoît Jacquot)

Die da oben
von Carsten Happe

Es wäre natürlich ein Leichtes, das bekannte Diane-Kruger-Bashing fortzusetzen, das sie sich seit ihren ersten Filmauftritten in „Troja' und „Das Geheimnis der Tempelritter' – inklusive einer grauenvoll emotionslosen Selbstsynchronisation – …

Es wäre natürlich ein Leichtes, das bekannte Diane-Kruger-Bashing fortzusetzen, das sie sich seit ihren ersten Filmauftritten in „Troja' und „Das Geheimnis der Tempelritter' – inklusive einer grauenvoll emotionslosen Selbstsynchronisation – wohlverdient hat. Aber dazu liefert „Leb wohl, meine Königin!', der Eröffnungsfilm der diesjährigen Berlinale, kaum einen Anlass. Ihre Performance als Marie Antoinette in diesem Schlüssellochblick auf die letzten Tage vor der Revolution ist angemessen und respektabel austariert zwischen königlicher Härte und kindlicher Unschuld – und erwartungsgemäß akkurater als Kirsten Dunsts lt-Girl in Sofia Coppolas hübsch misslungener Punk-Pop-Version.

Dabei ist Marie Antoinette hier nicht der Mittelpunkt, allenfalls das Licht, das die Motten, die Ratten und die Bediensteten des Hofes magisch anzieht. Insbesondere ihre Vorleserin Sidonie, die ihre Königin abgöttisch verehrt, ihr zum letztlich unglücklichsten Zeitpunkt zu nahe kommt und in dem Glanz und dem schönen Schein verbrennt. Lea Seydoux, die auf der Berlinale auch in Ursula Meiers „Sister' brillierte und sich mit Nebenrollen in „Midnight in Paris' und „Mission: Impossible – Phantom Protokoll' in Hollywood einen Namen gemacht hat, ist als Sidonie der größte Trumpf in Benoit Jacquots Film. Trotz ihrer Ergebenheit bleibt sie stets ein starker, selbstbewusster Charakter, gerade in dem Chaos, das über Frankreich hereinbricht; und ihr zu folgen durch die labyrinthische Architektur von Versailles, macht einen Gutteil der Faszination von „Leb wohl, meine Königin!' aus, der auf episches Pathos und Pomp weitgehend verzichtet und, möglicherweise in Anlehnung an Robert Altmans „Gosford Park', gekonnt aus der Frosch-Perspektive über „die da oben' erzählt.

Wobei Jacquots Film die kühle, sezierende Brillanz des US-britischen-Pendants nur selten erreicht – dafür bleiben die Dialoge oftmals zu flach, die Handlung zu wenig fokussiert und auch der ausgiebige Gebrauch der Handkamera suggeriert allenfalls Direktheit und Nähe, wo das bisweilen zu schematische Drehbuch sie nicht herzustellen vermag. Um jedoch seine Meinung über Diane Kruger ein wenig zu relativieren und 100 Minuten lang die derzeit aufregendste französische Darstellerin zu erleben – allein dafür lohnt dieses Blättern in einem eigentlich ausgelesenen Geschichtsbuch allemal.

Dieser Text erschien zuerst in: pony #74

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The Cabin in the Woods

(USA 2010, Regie: Drew Goddard)

Im Steinbruch der Filmgeschichte
von Carsten Happe

Es sind die Archetypen, die das Horrorgenre am Leben erhalten und mit ewig frischem Blut versorgen, die Werwölfe und Mutanten, die Zombies, Vampire und verwandte Untote, die verrückten Wissenschaftler und …

Es sind die Archetypen, die das Horrorgenre am Leben erhalten und mit ewig frischem Blut versorgen, die Werwölfe und Mutanten, die Zombies, Vampire und verwandte Untote, die verrückten Wissenschaftler und ihre entfesselten Kreaturen, die garstigen kleinen Mädchen und die hinter der Fassade langweiligster Normalität sich verschanzenden Schlitzer und Serienkiller. Kaum ein anderes Genre als der Horrorfilm geriert sich ähnlich konservativ, seinen Regeln und Konventionen stets verpflichtet. Erfolgreiche Schemata werden wieder und wieder ausgebeutet, gelegentlich variiert, selten auch einmal dekonstruiert. Wes Craven zog in den Neunzigern mit „Freddy’s New Nightmare“ und insbesondere dem ersten Teil der „Scream“-Reihe effektive und augenöffnende Metaebenen in die gängigen Horrorkonstruktionen ein, entlarvte einerseits die Stereotypie und machte andererseits das Genre mit ironischen Brechungen für die Post-Post-Moderne flott. Bis die Torture-Porn-Welle der Nuller-Jahre einen sowohl ästhetischen wie auch ideologischen Rückschritt bedeutete – die auf einer spekulativen Ebene möglicherweise den politischen Gegebenheiten geschuldet war, jedoch in seiner grimmigen und unerbittlichen Art vor allem die Angstlust als zentrales Motiv des Horrorfilms ignorierte und letztlich wenig ergiebig um nichts als sich selbst kreiste. Dass sich auch das dekonstruierende Element nicht beliebig wiederholen ließ, zeigte Cravens eigener, uninspiriert modernisierter „Scream 4“. Den Gegenbeweis, dass sich auch im Jahr 2012 die penible Erfüllung der Genreregeln und das lustvolle Auskosten der ironischen Metatextualität zu einem homogenen Werk vermengen lassen, treten nun „Buffy“- und „Avengers“-Mastermind Joss Whedon sowie der „Cloverfield“-Autor Drew Goddard mit seinem Regiedebüt „The Cabin in the Woods“ an.

Die Selbstreferenzialität ist auch hier das dominierende Prinzip; visuelle Anspielungen und Zitate kanonischer Horrorfilme sind Legion und können wahrscheinlich erst bei einer Standbild-Analyse vollständig entschlüsselt werden. Aber auch beim ersten Sehen entwickelt sich ein unbändiger Spaß: Zunächst an der in bester „Breakfast Club“-Analogie aufgestellten Clique aus Sportler, Jungfrau, Streber, Flittchen und Nerd sowie ihren an Waldorf & Statler gemahnenden Gegenparts im unterirdischen Kontrollraum, die das zum Klischee erstarrte Motiv von der Privatparty in der Waldhütte und ihren obligatorischen ungebeten Gästen ins Rollen bringen und gleichzeitig Wetten darüber abschließen, wer von den ahnungslosen Teens als Erster ins Gras beißt.

Die Versuchsanordnung der ungleichen Gegner, die fast jedem Horrorfilm innewohnt, wird konsequent auf die Spitze getrieben. Anfängliche Befürchtungen, dass sich das Gemetzel in einem artifiziellen, in jeglicher Hinsicht überschaubaren Raum abspielt, werden allerdings schnell beiseite gewischt. Darin liegt auch eine Selbsterkenntnis der Filmemacher verborgen, die sich ab einem gewissen Punkt nicht länger hinter ihren Kontrollmonitoren und in den Schneideräumen verschanzen können und sich der brutalen Außenwelt stellen müssen. Ironischerweise wurde „The Cabin in the Woods“ bereits 2009 gedreht, konnte aber aufgrund struktureller Umwälzungen der Studios MGM und Lionsgate erst in diesem Jahr veröffentlicht werden. Die lange Lagerzeit hat dem Film jedoch keineswegs geschadet. Das Angebot an Mainstream-Horror in den vergangenen Jahren hat nur vielmehr verdeutlicht, wie weit „The Cabin in the Woods“ der Konkurrenz enteilt ist.

„Expect the worst“ ist ein weiteres der ungeschriebenen Genregesetze, und wie es sich in der zweiten Hälfte des Films, der nunmehr immer wildere Haken schlägt, dann auch gegen die Schöpfer der Gruselwelten richtet, das ist nicht weniger als furios zu nennen. Auf ihrer Achterbahnfahrt durch die Mythen und Legenden des Horrorfilms reißen Whedon und Goddard alle Regeln genüsslich nieder (und errichten sie aus den Trümmern wieder neu). Dass „The Cabin in the Woods“ vom US-Publikum eher lauwarm angenommen wurde, deutet dabei eher auf ebenso konservative Genrefans, die lieber ihre Protagonisten durch den Fleischwolf gedreht sehen wollen als ihre Gewohnheiten. Denn trotz der ironischen, manchmal auch zynischen Spiegelung der Konventionen gelingt Whedon und Goddard ein ebenso nervenzerrendes, blutspritzendes Spektakel wie auch der reflexive Diskurs über seine Bedingungen.

End of Animal

(KR 2010, Regie: Sung-Hee Jo)

Sozial unplugged
von Carsten Moll

Landstraße. Kein Baum. Ein Taxi bahnt sich seinen Weg durch südkoreanisches Niemandsland. Auf dem Rücksitz befindet sich die hochschwangere Sun-young – unterwegs von Seoul in ihr abgelegenes Heimatdorf zur Mutter …

Landstraße. Kein Baum. Ein Taxi bahnt sich seinen Weg durch südkoreanisches Niemandsland. Auf dem Rücksitz befindet sich die hochschwangere Sun-young – unterwegs von Seoul in ihr abgelegenes Heimatdorf zur Mutter – und lässt die graue Einöde vor dem Fenster vorüberziehen. Die Fahrt endet jäh, als ein mysteriöser Anhalter zusteigt und fast schon beiläufig mit einem Countdown das Ende der Welt einläutet: Bei Null angekommen blitzt ein blendend weißes Licht auf – Sun-young erwacht später mutterseelenallein im Taxi und findet sich in einer Welt wieder, in der keine Elektronik mehr funktioniert und in den Wäldern wilde Bestien lauern …

Bereits nach wenigen Minuten steigert sich Sung-hee Jos Debütfilm vom Roadmovie zum postapokalyptischen Film und damit zu einer Art Anti-Roadmovie; Straßen gibt es noch zur Genüge, bloß Bewegung, Vorankommen ist nicht mehr möglich. So irrt die junge Protagonistin auf der Suche nach Hilfe über beinahe zwei Stunden Laufzeit ziellos durch den verlassenen Landstrich und gerät dabei immer wieder an Fremde, die wenig vertrauenerweckend und ebenso ahnungslos wie Sun-young erscheinen. Die Welt ist kaputt, die materielle Sphäre lahmgelegt. Was bleibt, sind Menschen, die sich verstört an nutzlos gewordene Apparate und banale Accessoires klammern und sich das Leben gegenseitig zur Hölle machen. Der Überlebenskampf ist ein stiller und mit einer Zurückhaltung inszeniert, die Stillstand und Redundanzen einem konventionellen Spannungsaufbau und logischen Erklärungen vorzieht. Die Gewalt, die wieder und wieder ausbricht, bleibt genau wie die menschenfressenden Monster meist ungesehen im Off. Einzig auf der Tonspur tut sich stets was: Da dröhnt es monoton, ein Monster brüllt, das Walkie-Talkie rauscht und lautstark wird ein Schokoriegel verschlungen.

Der Vergleich mit Filmen wie John Hillcoats „The Road“ oder Michael Hanekes „Wolfzeit“ liegt beim Betrachten der trost- und farblosen Bilder nahe, „End of Animal“ verzichtet aber sowohl auf Hillcoats Sentimentalität als auch auf eine eindeutige moralische Lektion à la Haneke. Vielmehr noch erinnert Sung-hee Jos Film an das Theater des Absurden; wo Leerlauf herrscht, alle Ideale bereits aufgegeben wurden und die banalen Dialoge eher Folterinstrument als Mittel zur Verständigung sind. Dass der Film den Zuschauer_innen dabei immer wieder vermeintliche Hinweise zur Entschlüsselung der rätselhaften Vorkommnisse vorsetzt, mag beim Zuschauen noch motivieren, den Trip durch diese Welt aus Schmerzen, Schmatzen und Schlürfen durchzustehen. Wenn am Ende allerdings der Film selber wie ein ödes Niemandsland anmutet und keinem der zahlreichen Deutungsansätze von der religiösen Parabel bis zur Zivilisationskritik wirklich Raum gibt, bleibt ein schaler Nachgeschmack und ein Gefühl von Leere. Die Desillusionierung, die im absurden Theater das eigene Denken herausfordern will, bewirkt hier Lust auf bunte Täuschung und eskapistisches Vergnügen als Gegenprogramm zum pessimistischen Weltentwurf. Wenn Sun-young zum Schluss nach Durchleiden ihres ganz persönlichen Horrorszenarios bloß an das Leben davor anknüpfen will und sich unverändert nach sattem Alltag sehnt, kann man ihr das als Zuschauer_in nicht verübeln und durchaus nachvollziehen. Der Traum vom eigenen Kühlschrank schien nie tröstlicher. Die Apokalypse jedoch bleibt in „End of Animal“ ein zwar alptraumhaftes aber über das Erleben hinaus folgenloses Intermezzo.

DVD: Bild- und Tonqualität sind gut, die Sprachausgabe ist koreanisch mit deutschen Untertiteln. Auf der DVD finden sich noch einige Trailer zu Filmen aus dem Programm von Rapid Eye Movies.

Point Blank – Aus kurzer Distanz

(F 2010, Regie: Fred Cavayé)

Adrenalin: Paris
von Michael Schleeh

Der französische Polizeifilm, im Heimatland ein beliebtes Genre mit langer kinematographischer Tradition, hat es nicht leicht in Deutschland. Kaum einmal schafft er es auf die Kinoleinwand, zumeist wird er als …

Der französische Polizeifilm, im Heimatland ein beliebtes Genre mit langer kinematographischer Tradition, hat es nicht leicht in Deutschland. Kaum einmal schafft er es auf die Kinoleinwand, zumeist wird er als Direct-to-Digitalmedium–Actionreißer verheizt. Lediglich beim Fantasy Filmfest scheint sich der Policier einen festen Programmplatz erkämpft zu haben. Anhand von Fred Cavayés hartem Thriller „Point Blank“, in dem sich auch Spurenelemente des Cinema Beur nachweisen lassen, kann man einmal mehr plausibel nachvollziehen, warum diese französischen Nischengewächse mit ihrer kinetischen Energie auf die Kinoleinwand gehören, und woher und weshalb sich, über den Teich gedacht, Hollywood so gerne Inspirationen fürs obligatorische Remake holt.

Der Krankenpfleger Samuel Pierret (Gilles Lellouche) überrascht während der Nachtschicht eine unbekannte Person auf der Station. Eine Kontrolle der Patienten ergibt: das Beatmungsgerät des kurz zuvor eingelieferten und verletzten Sartet (Roschdy Zem) wurde abgeschaltet. Ein Mordversuch? Wieder zuhause wird Samuel in der eigenen Wohnung niedergeschlagen und die hochschwangere Gattin entführt. Ein unbekannter Anrufer zwingt ihn dazu, eben jenen Patienten, dem nach dem Leben getrachtet worden war, unbemerkt aus der Klinik zu schaffen und ihn anschließend gegen seine Frau einzutauschen. Was Samuel nicht weiß: mittlerweile ist auch die Polizei hinter dem Mann her und er selbst wird nach der abenteuerlichen, geglückten Entführung für einen Komplizen gehalten. Dass hinter der Sache ein Mordfall an einem Industriellen steckt, und er selbst immer tiefer in die unübersichtlichen Verschlingungen französischer, rumänischer und maghrebiner krimineller Vereinigungen hineingezogen wird, ist dabei wenig überraschend. Schließlich geht es nur noch ums Überleben und darum, Frau und ungeborenes Kind zu retten.

Und freilich ist es wieder auch einmal so, dass sich die Grenzen zwischen Gut und Böse aufheben, dass zwischen Polizist und Kriminellem kein Unterschied mehr besteht. Und abgesehen davon, dass alles nach Korruption und Bereicherung stinkt, muss auch Samuel schließlich gewalttätig werden, um der Gewalt Herr zu werden – einen Rest Menschlichkeit allerdings bewahrt er sich natürlich, unser Held. Dass sich der Fall für den Zuschauer nach bereits 40 Minuten geklärt hat, ist dabei eine interessante narrative Entscheidung. Der Plot gibt sich anschließend völlig an die Action hin, eine Verfolgungsjagd hetzt die andere, und Paris gleicht einem Kriegsgebiet. Hier wird irgendwann auch auf offener Straße und in den Stationen der Métro herumgeballert. Zum Showdown geht es dann ins Herz der Finsternis hinein, dorthin, wo alles Übel herkommt: ins Polzeirevier. In einem völlig auf Chaos und Atemlosigkeit getrimmten, fulminanten Finale scheint das Gebäude geradezu zu implodieren. Eine ziemlich überflüssig hinzukonstruierte Rahmenhandlung zwecks Suspensegenerierung und einige grobe Unwahrscheinlichkeiten sind dabei kleinere Kritikpunkte an einem nicht immer hundertprozentig stilsicheren und manchmal absurden, dafür aber rasanten und knackig-kurzen Actionfilm. Ein Film, der zwar etwas hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt, dafür aber Lust auf weitere Vertreter seines Genres macht. Auch ohne Vincent Cassel. Zut alors!

Das Turiner Pferd

(HU / F / D / CH 2011, Regie: Béla Tarr, Ágnes Hranitzky (Co-Regie))

Alles ist für ewig verloren
von Wolfgang Nierlin

In das Dunkel der Leinwand hinein erzählt eine Stimme aus dem Off eine Geschichte, die sich am 3. Januar 1889 in Turin ereignet haben soll. Demnach hat damals der Philosoph …

In das Dunkel der Leinwand hinein erzählt eine Stimme aus dem Off eine Geschichte, die sich am 3. Januar 1889 in Turin ereignet haben soll. Demnach hat damals der Philosoph Friedrich Nietzsche schluchzend ein misshandeltes Pferd umarmt, um es vor den Schlägen des Kutschers zu schützen. Kurz darauf habe er die legendären Worte „Meine Mutter, ich bin dumm“ gesprochen, bevor er in einen Zustand „geistiger Umnachtung“ gefallen sei. Die literarisch romantisierende Formulierung für Nietzsches psychische Erkrankung passt natürlich gut zu einem in Schwarzweiß gedrehten Film, der einen existentiellen Verdunkelungsprozess vorführt und konsequent in Stille und Finsternis mündet, als handle es sich dabei um eine negative oder umgekehrte Schöpfungs- und Menschheitsgeschichte. Der Hinweis am Ende des Prologs, wonach man nicht wisse, was aus dem Pferd geworden sei, sowie der Filmtitel „Das Turiner Pferd“ beanspruchen zugleich, die Geschichte dieser geschundenen Kreatur und ihres Herrn weiterzuerzählen. Im artifiziellen, formal extrem stilisierten Kosmos von Béla Tarrs Film wird diese zum exemplarischen Fall einer Untergangs- und Endzeitvision.

Der Blick des leidenden Tiers, das gegen den heulenden Sturmwind einen Wagen zieht, steht deshalb am Beginn der sich symbolisch über sechs Tage erstreckenden Handlung, die sich im kargen Wohn- und Arbeitsraum einer aus Stein gebauten Kate abspielt, wo der Kutscher mit seiner Tochter in ärmlichen Verhältnissen lebt. Aber eigentlich inszenieren der ungarische Regisseur Béla Tarr und sein kongenialer deutscher Bildgestalter Fred Kelemen (der auch als Filmemacher arbeitet), kunstvoll komponiert aus nur 29 Einstellungen, eher eine Nicht-Handlung, einen existentiellen Zustand des Immergleichen. Unterlegt mit der repetitiven Musik von Mihály Vig, wiederholen sich im reduzierten Setting des Films die alltäglichen Verrichtungen der Protagonisten unter leicht veränderten Perspektiven: Wie sich der alte Bauer Ohlsdorfer (János Derzsí) täglich wie von einem Totenbett erhebt, von seiner Tochter (Erika Bók) angekleidet wird und einen Schnaps trinkt; wie die beiden, wortlos und aufeinander abgestimmt, dann ihr Tagewerk erledigen, Wasser aus dem Brunnen schöpfen, gierig eine dampfende Kartoffel verschlingen, Wäsche waschen, Holz hacken und das Pferd versorgen. Der unaufhörliche gewaltige Wind, der draußen über die wüste Ebene fegt, liefert zu dieser schier ausweglosen Trost- und Perspektivlosigkeit gewissermaßen eine schrecklich-bedrohliche Melodie, gegen die sich das wärmende Feuer im Steinofen stemmt.

Doch dann schweigen plötzlich die Holzwürmer, der Brunnen versiegt, das Pferd will nichts mehr fressen und versinkt in Apathie und ein defätistischer Nachbar prophezeit „das Gericht der Menschen über sich selbst“: Alles werde „niedergemacht und zerstört“, alles sei „ergattert und verhext“, es gebe keine Nischen oder Rückzugsorte mehr. „Alles, alles ist für ewig verloren“, sagt der Unheilverkünder noch, bevor er wieder geht und die Tage (der Welt) allmählich in Dunkelheit und Stille versinken. Illusionslos formulieren Béla Tarr und sein langjähriger Co-Autor, der Schriftsteller László Krasznahorkai, ihre nihilistische Weltsicht in einem tiefdunklen, minimalistischen Film, der nach dem Willen seines Regisseurs und in der Konsequenz seines Gesamtwerks zugleich sein letzter sein soll. „Das Turiner Pferd“ handelt von den Folgen eines Sündenfalls, von „der Schändung“ eines „heiligen Ortes“, wie es in dem Buch heißt, das vorbeifahrende Zigeuner der Tochter schenken, und der ewigen Buße, die als Strafmaß daraus folgt. In ausgeklügelten Bildern, symmetrischen Einstellungen, abgezirkelten Kamerabewegungen und einer ausgefeilten Hell-Dunkel-Dramaturgie hält Tarr seine Zuschauer in einer bedeutungsvollen Distanz. Diese wird immer wieder dort aufgehoben und auf ebenso poetische wie berührende Weise verdichtet, wo Dinge bildfüllend zu Symbolen werden: Etwa das Wagenrad als Bild des ewigen Kreislaufs, die verschlossenen Stalltür, die auf ein Ende (der Geschichte) deutet oder auch das frisch gewaschene weiße Hemd an der Wäscheleine, das einmal die Leinwand in eine Tabula rasa für das Nichts und zugleich in eine ambivalente Projektionsfläche zwischen Reinheit und Auslöschung verwandelt.

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The Man from London

(HU / F / D 2007, Regie: Béla Tarr)

Im Dunkel gefangen
von Wolfgang Nierlin

Es gibt in Béla Tarrs Werk “The Man from London” (A London férfi) eine Ambivalenz von Zeigen und Verbergen, die in direkter Weise mit der Helldunkelmalerei des Films korrespondiert. So …

Es gibt in Béla Tarrs Werk “The Man from London” (A London férfi) eine Ambivalenz von Zeigen und Verbergen, die in direkter Weise mit der Helldunkelmalerei des Films korrespondiert. So wie der Protagonist Maloin (Miroslav Krobot), ein Gleisrangierer im Nachtschichtdienst, vom Dunkel der Tage förmlich gefangen ist, sind die Bilder von tiefschwarzen Streifen gegliedert. Die vom kongenialen Bildgestalter Fred Kelemen fotografierten Raster und Schatten vermitteln insofern ein Gefühl der Gefangenschaft und verleihen darüber hinaus dem Raum einen zwielichtigen Charakter, machen ihn zum Abbild der Seele. Kalter Nebel und ein distanzierter Blick auf den unwirtlichen Zugbahnhof im Hafengebiet einer namenlosen französischen Stadt verstärken diese triste Atmosphäre noch. Zugleich hält der Abstand das Geschehen in einer schwebenden Uneindeutigkeit. Das Transitorische des Ortes setzt sich fort in den Sprachen, den Handlungen, der Existenz.

Von seinem Rangierturm aus beobachtet der schweigsame Maloin einen Mord. Kurz darauf fischt er aus dem Hafenbecken einen Koffer voller Geld, das er unrechtmäßig an sich nimmt. So schleicht sich die Schuld in seinen einsamen, grauen Alltag, der sich in Ärmlichkeit und häuslichem Händel mit seiner Frau (Tilda Swinton) verliert. Bald darauf findet er sich mit seinen widerstreitenden Gefühlen in einem Spannungsfeld, das von Brown (János Derzsi), dem titelgebenden Dieb aus London, und dem ermittelnden Inspektor Morrison (István Lénárt) abgesteckt wird. Aber Béla Tarr interessiert sich weniger für die kriminalistischen Aspekte seiner Georges Simenon-Adaption; er inszeniert vielmehr eine bedrückend schwermütige Atmosphäre aus Lethargie und Hoffnungslosigkeit. Diese verdichtet die Sehnsucht nach Erlösung im existentiellen Drama des Lebens, seinem Stillstand.

Entsprechend reduziert ist die Handlung, sind die auf Gesten konzentrierten Bewegungen der Figuren im Raum, die choreographiert erscheinen. Wie auf einer Bühne, unterstützt durch expressive Ausbrüche und eine hypnotische repetitive Musik, bewegen sie sich und fügen sich so in die artifizielle Ordnung des Films, dessen Komposition jenseits konventioneller Erzähldramaturgien vor allem eine visuelle ist. Die langsame, stetige Entfaltung des Bildes, die durch ausgeklügelte Kamerabewegungen forciert wird, rechnet in Béla Tarrs Filmen mit der Zeit sowie mit den komplexen Austauschprozessen zwischen innen und außen.

Men in Black 3

(USA 2012, Regie: Barry Sonnenfeld)

I'd love to wear a rainbow every day
von Louis Vazquez

So manches Franchise wäre nach langen Jahren besser unangetastet geblieben. Normalerweise muss der Peitsche schwingende (bzw. in einem Kühlschrank eine Atombombenexplosion unbeschadet überstehende) Dr. Indiana Jones als mahnendes Beispiel herhalten. …

So manches Franchise wäre nach langen Jahren besser unangetastet geblieben. Normalerweise muss der Peitsche schwingende (bzw. in einem Kühlschrank eine Atombombenexplosion unbeschadet überstehende) Dr. Indiana Jones als mahnendes Beispiel herhalten. Einen gewissen Reiz aber haben derlei späte Fortsetzungen selbst beim miesesten Drehbuch: Das Verstreichen der Zeit wird nämlich sichtbar, ganz ohne Tricks. Und das sichtbare, echte Altern erzählt ja immer auch etwas über die Figuren, was nicht unbedingt im Drehbuch stehen muss. „Men in Black 3“ jedenfalls ist entgegen vieler Erwartungen ein ziemlich guter Sommerblockbuster geworden und dabei so knallunterhaltsam, dass man fast vergessen könnte, wie oft Konfektionskino in die Hose geht.

„Men in Black“ überzeugte 1997 als zeitgemäße Cartoon-Variante eines Paranoia-Films und stellte eine geheime NGO vor, die für die Belange der längst auf der Erde lebenden Aliens zuständig ist. Zehn Jahre nach der nicht ganz so mitreißenden ersten Fortsetzung erscheint „Men in Black 3“ in (nicht minder zeitgemäßem) 3D und kommt offensichtlich einigen Beteiligten sehr gelegen: Regisseur Barry Sonnenfeld hat seit „Die Chaoscamper“ (2006) nur noch Fernsehen gemacht, Will Smith in den letzten Jahren eher die Filmkarriere seines Sohnes Jaden („The Karate Kid“) befördert als die eigene. Die Rückkehr zur Erfolgsmasche – wie schön könnte man darüber lästern, wenn „Men in Black 3“ einen hingerotzten Eindruck hinterlassen würde. Etan Cohen aber – keiner der berühmten Brüder, aber immerhin Autor von „Tropic Thunder“ – hat ein witziges Drehbuch verfasst, das nicht nur einen Aufguss alter Ideen bietet, sondern darüber hinaus eine abgegriffene Zeitreisegeschichte. Die Kombination von beidem macht überraschend viel Spaß und ringt der üblichen Weltrettergeschichte ein paar neue Facetten ab.

Schon die feine Exposition spielt aufs Vortrefflichste mit Klischees: Eine aufgebrezelte Schönheit (Nicole Scherzinger) bringt einen Kuchen mit in ein Mondgefängnis, wo ihr Freund Boris the Animal (kaum zu erkennen: Jemaine Clement aus „Flight of the Conchords“), eine Art gemeingefährlicher Space-Biker, seit Jahrzehnten festsitzt. Zwar ist keine Feile in der Süßigkeit versteckt, aber so ähnlich, jedenfalls ist Boris bald darauf kein Gefangener mehr. Weil er noch eine Rechnung mit dem Agenten K (Tommy Lee Jones) offen hat, verändert er den Lauf der Zeit, indem er ins Jahr 1969 reist und K tötet. Da K sich nun nicht mehr, wie eigentlich geschehen, um einen Schutzschirm für die Erde kümmern kann, ist es Boris in der neuen Gegenwart möglich, den Planeten zu erobern. Agent J (Will Smith) erinnert sich als einziger Mensch noch an den eigentlich „richtigen“ Verlauf der Geschichte. Auch er reist deshalb in der Zeit zurück, um alles wieder hinzubiegen, muss sich aber mit der jüngeren Version des wortkargen K (dann gespielt von Josh Brolin) herumschlagen.

„Men in Black 3“ nutzt die Zeitreise ins Jahr 1969 zu einem (kleinen) satirischen Exkurs zur Rassentrennung, zwirbelt die ein oder andere historische Persönlichkeit in die Handlung und beschränkt die Möglichkeiten des Settings ansonsten auf eine wilde Jagd mit Sixties-Dekors und entsprechender Ausstattung. Macht aber nichts, weil allein die Interaktion der Hauptfiguren den Film locker trägt. Allerdings spielt ausgerechnet Tommy Lee Jones, in dessen Gesicht man so wunderbar das Verstreichen der Zeit bewundern kann, diesmal leider nur eine ziemlich kleine Rolle. Immerhin: Josh Brolin passt perfekt als jüngere Version, und man kann sich gut vorstellen, dass da im Erfolgsfall so eine Art Staffelübergabe geplant sein könnte.

Ein weiteres Highlight ist die Figur des außerirdischen Griffin (Michael Stuhlbarg), der sich als multidimensionales Wesen stets fragt, welche Version der Gegenwart er gerade erlebt und was wohl als nächstes geschieht. Da klingt dann sogar ein bisschen Douglas Adams (oder wenigstens Neil Gaiman) mit an. Manch andere Figur wirkt dagegen verschenkt: Emma Thompson kommt als woman in black definitiv zu kurz.

Dass Heldengeschichten meistens nicht ohne Pathos erzählt werden, ist klar, auch wenn die Men in Black zu deadpan sind, um in dieser Hinsicht wirklich zu nerven. Eine Figur aus den alten Filmen wird sogar gleich zu Beginn auf ziemlich komische Weise zu Grabe getragen. Dennoch hat „Men in Black 3“ wie schon seine Vorgänger ein Finale, das ein bisschen auf die Tränendrüse abzielt. Viel besser als die angebotene, rührselige Wendung ist aber der auch in diesem dritten Teil wieder eingesetzte Schlussgag, der die menschliche Hybris in gewisser Weise in die Schranken weist. (Zur Erinnerung: Im ersten Teil entpuppte sich unser Universum im Schlussbild als Inhalt einer Murmel.)

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Adaption

(USA 2002, Regie: Spike Jonze)

Verstümmelungstechnik
von Dietrich Kuhlbrodt

L.A. Wenn ich den Adapter in die Dose stecke, dann ist das meine private Systemüberlistung – was die Normen von Stecker und Spannung betrifft, und ich schere meine Glatze wie …

L.A. Wenn ich den Adapter in die Dose stecke, dann ist das meine private Systemüberlistung – was die Normen von Stecker und Spannung betrifft, und ich schere meine Glatze wie im good old Europe. Für komplexere Systeme braucht es jedoch einen Film wie 'Adaptation'. Wie überlebe ich zum Beispiel die Evolution? Es geht immerhin um drei oder vier Milliarden Jahre. Regisseur Spike Jonze zeigt es in knapp 55 Sekunden: vom Urknall über die Formierung der Erde, die Saurier, die Eiszeit, den Affen, den Menschen, das Konglomerat der Großstadt bis zum Kopf des Drehbuchautors, Charlie Kaufman. Der wird im Kreißsaal grade aus der Mutter gezogen. Er atmet. Der Film hat längst begonnen.

Legitimiert wird der Schöpfungsakt vom good old Darwin persönlich. Mit weißem Rauschebart. Ein Zwillingsgott. Denn in den Staaten muss er bekanntlich mit dem anderen konkurrieren, dem Fundamentalisten, der in den Schulen das Sagen hat – mit seiner hollywoodkompatiblen Story, die linear die Schöpfungsgeschichte erzählt. Wer sich dort auf Darwin beruft, ist Ketzer. Weshalb in den USA ein Darwin-Feature nach dem anderen entsteht, das wir dann – zuletzt im Februar – auf Arte sehen dürfen. Bloß ist das wieder linear erzählt und unadaptiv. Weshalb 'Adaptation' mit seinem 'aaaaa'-Programm benötigt wird: adaptiv, assoziativ, autobiografisch, anekdotisch, apokryph. Eben alles, was in der Datei oder den Kontaktanzeigen vor dem ersten Wort steht.

Wie überlistet ein Drehbuchschreiber in Hollywood das Hollywoodsystem? Dagegen angehen? Kompromisse schließen? Kämpfen? Leiden? Gar Hollywood mit eigenen Mitteln schlagen? 'Adaptation' entwickelt eine evolutionäre Strategie, die unschlagbar, weil nicht diskursiv, sondern autobiografisch ist. Weil der Filmheld nicht nur Kaufman heißt, sondern auch der Scriptwriter Charlie Kaufman ist, überdies (im Off) mitspielt und seinen Text spricht. Wer will dagegen anargumentieren, wenn der, der das Drehbuch zu 'Being John Malkovich' schrieb, jetzt im Set eben dieses Films mit sich hadert: 'Ich bin ein wandelndes Klischee.' Wie soll er aus einem Printwerk, das sich der Orchideenzucht widmet, einen spannenden Kinoplot machen? Wobei sowohl das Buch real existiert (The Orchid Thief) als auch die Autorin, und sie gab mit Freuden ihren Namen für den Film her wie vormals Malkovich. Bei soviel Legitimation durch die Wirklichkeit wird glaubwürdig, was sonst der Argumentation bedürfte. Wer wird sagen: Du hast das nicht erlebt? – Und doch gibt es den adaptiven Zwilling. Jede Orchidee hat den speziellen Partner, der organisch auf sie und nur auf sie fixiert ist und der, ist er ein Insekt, für ihren dreißig Zentimeter langen Blütenkelchschlauch mit seinem ebenso langen Rüsselschwanz eingerichtet ist. Kopulierend sichern beide sich die Existenz. Auch für den Dauerbrenner 'Casablanca', so erfahren wir, brauchte es ein Doppelwesen: die Drehbuchbrüder Epstein. Was uns wiederum Hollywood gelehrt hat.

Scriptwriter Kaufmann braucht also die spezielle Persönlichkeit, die ihn vor Frust, Depression und Suizid bewahrt. Charlie Kaufman (Nicholas Cage) kriegt im Film einen fiktiven Zwillingsbruder, einen eineiigen sogar. Der heißt Donald Kaufman (Nicholas Cage) und taucht auch im Abspann auf. Cage eine multiple Persönlichkeit? Zwilling Donald, auch Drehbuchschreiber, geht die Dinge straight und linear an. Für die multiple Szene entwirft er ein Klischeebild: den geborstenen Spiegel. Die Hollywoodproduzenten sind begeistert. Auch pflegt Bruder Donald den Direktkontakt mit Frauen. Eine toller als die andere, schleppt er sie in die Zwillingswohnung ab, während Charlie, sich selbst befragend, freudlos onaniert. Wodurch sich immerhin eine ebenso überraschende wie kitschige Szene nachträglich erklärt. Was nicht linear ist, springt hin und her. Zeitlich wenigstens.

Die Zwillinge verstehen sich oder verstehen sich nicht. Man braucht sich. Charlie, der frustrierte berühmte Autor, folgt einem brüderlichen Rat. Er besucht das Drehbuchseminar des noch berühmteren Hollywoodwriters Robert McKee. Selbstverständlich gibt’s den wirklich, und er tritt als sein eigenes Dokument im Film auf. Er gibt zum Besten, was hochberühmte Plotentwerfer zum Besten geben. Zielgerichtet zum Ziel! Im Berlinalepalast, wo ich den Film sah, gab’s Beifall von der falschen Seite. Hier war’s, wo Hollywood 'Adaptation' adaptierte. Im Kino wurde der verzweifelte Orchideen-Kaufman applaudierend zur Schnecke gemacht. Crash! Im Film jedoch bat die Schnecke Gott um Rat und siehe: Gott McKee gewährte ein Whisky-Privatissimum. Wenn vier Akte schon fertig geschrieben sind, okay, dann den fünften hinterher, der endlich den Plot bringt, Action, Sex und Drogen: den Schlussakt, 'der überrascht und verblüfft und die Dinge auf den Kopf stellt'.

Die gefestigte Orchideenbuchautorin (Meryl Streep), die gerade noch gelehrt mit lateinischen Namen operiert und beim Unbekannten im Fahrstuhl prompt die Hand an der Gassprühdose hat – sie fällt aus ihrem geschlossenen System heraus. Im fünften Akt. Sie lügt! Im Orchideenhaus produziert sie Drogen. Lange, grüne Bahnen zieht sie sich in die Nase. Ihr Gesicht ist um ein Jahrzehnt gealtert. Wilder Sex mit dem Orchideensammler! Währenddessen klären die Zwillingsautoren Kaufman endlich ihre alte Beziehung zum ersten Collegemädchen. Action! Verfolgungsjagden! Schüsse! Leichen! Ein Krokodil frisst in Floridas Sümpfen den sexsüchtigen Orchideensammler! – Alles kommt auf die Reihe. Welch ein Plot! Eigentlich war das die Story des straighten Bruder Donald gewesen. Der bekam glatt anderthalb Millionen für sein Buch. Im Film des anderen, zum Schlussakt komprimiert, wird die Hollywoodstory jedoch zur Hollywoodverstümmelung, zur Selbstverstümmelung der Zwillingsautorenschaft.

Grandios das! Jackass als Antwort auf das System der Filmindustrie. Tut dem, der’s sieht, nicht weh, und der Hollywoodkörper ist verletzt. Eine prima Systemüberlistung. 'Adaptation' ist erfreulich, und Spike Jonzes nächster Film ist auch schon fertig: 'Jackass – der Film'. Jonze, der Experte für Skatepunk und Videoclips, hat die MTV-Show 'Jackass' erfunden: eine Serie, in der sich aufgeregte nackte Männer mit Hilfe des Publikums den Hodensack an die Schenkel tackern, einmal links und einmal rechts. Die Selbstverstümmelung – ein Phänomen der US-Jugendkultur. Der Film zur Serie kam bei uns am 27. Februar in die Kinos. Aggression und Gewalt am eigenen Körper zu erfahren, ist hip. Das ist eine andere Größenordnung als die Selbstverstümmelungsdemonstration Hermann Nitschs und der anderen Wiener Aktionisten bei uns vor vierzig Jahren. – In 'Adaptation' verstümmelt Jonze die Kulturindustrie: im Mainstream den Mainstream. Die brave Meryl Streep ist jetzt Drogi und Sexschlampe. Verwüstet. – Autsch!

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 03/2003

Der Diktator

(USA 2012, Regie: Larry Charles)

Real existierende Achselbehaarung
von Andreas Thomas

Im neuen Sacha-Cohen-Film fällt die Scheiße vom Himmel und in der UNO schwappt die Pisse auf die Politiker. Ich find‘ es einfach nur herrlich. Mindestens so herrlich wie den Diktator …

Im neuen Sacha-Cohen-Film fällt die Scheiße vom Himmel und in der UNO schwappt die Pisse auf die Politiker. Ich find‘ es einfach nur herrlich. Mindestens so herrlich wie den Diktator Aladeen (Cohen), der natürlich diktatorenmäßig den Anforderungen seiner Umwelt nie gerecht wird und deshalb so etwa jeden zweiten, mit dem er zu tun hat, hinrichten lässt.

Diktatoren, so lautet das Klischee, sind meist dunkelhaarig, bärtig und haben schicke Uniformen an. Cohen unternimmt nichts, um gegen dieses Klischee vorzugehen, er versucht, wie es eben auch bei Ali G In Da House, bei Borat und Brüno seine Art war, das Klischee überzuerfüllen, und dabei nebenbei jede Menge Lachreflexe zu produzieren, wobei das Lachen ihm wichtiger zu sein scheint als die allzu treffende und entlarvende Karikatur.

Cohens „Diktator“, Herrscher des Wüstenstaates Wadiya, ist nicht unbedingt die Summe aller bekannten Diktatoren, er ist vor allem großes und infantiles Kind, das, wenn es ein Spielzeug nicht bekommt, stinkig wird. Weil ein Ingenieur eine Atomrakete nicht in spitzer Form baut, lässt er ihn hinrichten, und bei seiner privat veranstalteten Olympiade nimmt er die Startpistole gleich selbst in die Hand, auch weil er damit jeden, der ihn überholen könnte, praktischerweise mitabknallen kann.

Eine entscheidende Wende in Aladeens Leben tritt ein, als er bei einem Staatsbesuch in New York gewaltsam seines Amtes enthoben, seines Bartes und somit seiner Identität beraubt wird, und er einen Job als Ökoladen-Verkäufer antritt. Er verliebt sich tatsächlich in eine Feministin, Veganerin, Antifaschistin und was frau noch so alles an in sein kann, mit – und das schlägt beim Kinopublikum dem Fass den Boden aus – real existierender Achselbehaarung. Wellen des Ekels bestürmen den Cineplexx-Saal und Cohen kennt die neuzeitliche Haar-Phobie seiner Pappenheimer und walzt das Thema Scham- und Achselbehaarung genüsslich aus. Interessanterweise erträgt das Publikum Exkremente, Urin und sogar Leichenteile (an nichts davon mangelt es dem „Diktator“) leichter als den Anblick einiger weniger gekräuselter Haare.

Tabu für Tabu checkt Cohen in seinem Film ab, und wo er Empfindlichkeit wittert, da geht er noch einmal so gern zur Sache. Dies gelingt Cohen in „Der Diktator“ besser und runder als in seinem letzten Spielfilm „Brüno“, der offenbar darunter gelitten hatte, dass in ihm „Opfer“ einkalkuliert waren, reale Personen, keine Filmfiguren, die mit Cohens z.T. brüskierenden Grenzüberschreitungen konfrontiert, in Schockzustände versetzt wurden. Cohens in seiner TV-Serie erfolgreich etablierte Provokation rassistischer, homophober oder anderer intoleranter Tendenzen seiner Gesprächspartner funktionierte in „Brüno“ nicht mehr richtig, entweder weil Brünos „Belastungstests“ auch jeden toleranzfähigen Bürger geschockt hätten oder aber, weil sie bei Cohens Bekanntheitsgrad definitiv nicht mehr unter neutralen und unverfälschten Testbedingungen gefilmt worden sein konnten.

Cohens und Regisseur Larry Charles‘ Konsequenz nun liegt darin, „Der Diktator“ als rein fiktiven Film konzipiert zu haben, und die in den vorigen Filmen zum Teil schon weit entwickelten und spielerischen, satirischen und überzeichnenden Ideen über den kompletten Film zu verteilen. Dadurch entfernt sich Cohen einen entscheidenden Schritt von seiner Art investigativem Journalismus‘ hin zur satirischen Komödie, mit ihm als Clown der Perversion, die einmal mehr auch hier eher die einer analen Phase als die eines blutigen Machtabusus‘ ist.

Die inflationäre Ausscheidungshäufung aber tut dem ganzen großen Spaß keinen Abbruch, im Gegenteil ist es sehr erfreulich, wie konsequent Cohen nicht davon lassen kann und will, und es macht ungeheuer Spaß mit Cohen zusammen zu regredieren. Kritiker haben dem Film „eine für eine gelungene Zivilisationskritik fehlende konzeptuelle Schärfe“ vorgeworfen. Ich interpretiere seine Nichtbereitschaft, den Diktator, wie man es wohl allgemein von Cohen erwartet, in irgendeiner vorausgesetzten Grässlichkeit auf einen Punkt zu bringen, als Verweigerung politisch korrekter politischer Inkorrektheit. Gerade wegen dieser Verweigerung haben Sacha B. Cohen und Larry Charles einen anarchischen, runden, und sehr witzigen Film zustande gebracht.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Das bessere Leben

(P / F / D 2011, Regie: Malgorzata Szumowska)

Spiegelbilder der Einsamkeit
von Wolfgang Nierlin

Streng genommen ist die erzählte Zeit in Malgoska Szumowskas Film „Elles“ (Das bessere Leben), der eine starke Form mit einer offenen Reflexion verbindet, auf einen einzigen Tag verdichtet. In ihn …

Streng genommen ist die erzählte Zeit in Malgoska Szumowskas Film „Elles“ (Das bessere Leben), der eine starke Form mit einer offenen Reflexion verbindet, auf einen einzigen Tag verdichtet. In ihn schiebt sich die Vergangenheit mit ihren personalisierten Erinnerungen, Phantasien und Fiktionen in unterschiedlichen Graden. Doch die erinnerte Zeit ähnelt in Szumowskas präzise kalkuliertem Film keiner Rückblende. Vielmehr entfalten die parallelen Erzählstränge ein sehr flächiges Bild gleichzeitgier Handlungen. Aus dieser Struktur haben sich etwaige Erzählhierarchien zurückgezogen, das Zentrum befindet sich ebenso in den Teilen wie in deren Summe. Alles Erzählte ist zugleich Gegenwart und Vergangenheit eines sich selbst vergewissernden Bewusstseins, das mit sich selbst im Gespräch ist.

Diese Introspektion, die Gewissheiten in Frage stellt, widerfährt Anna (Juliette Binoche). Die gutsituierte Pariser Journalistin schreibt für das Magazin „Elle“ gerade an einem Beitrag über Studentinnen, die als Prosituierte arbeiten. Deren (soziale) Motive, die Praxis dieser „verborgenen“ Arbeit, aber auch die Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte der jungen Frauen versucht Anna in langen Gesprächen mit Charlotte (Anaïs Demoustier) und Alicja (Joanna Kulig) zu erkunden. Dabei muss sie einige ihrer Hypothesen und Vorurteile revidieren. Denn die aus sozial schwachen Verhältnissen stammenden Studentinnen bedienen sich der Prostitution nicht nur, um gesellschaftlich aufzusteigen und am allgemeinen Wohlstand als Konsumenten zu partizipieren; sondern sie geben gegen alle Erwartung auch an, sich zu amüsieren und ihren Job eher erregend als erniedrigend zu finden -, auch wenn verschiedene Szenen dieses Klischee wiederum aus der anderen Richtung hinterfragen oder brechen.

Anna blickt während dieser Gespräche gewissermaßen in einen Spiegel und damit auf ihr eigenes Leben, dessen Abnutzungen und Selbstverständlichkeiten sich längst über ihre kaum noch identifizierbaren eigenen Bedürfnisse gelegt haben. Der Preis von Alltagsroutine und Wohlstand ist auch in „Elles“ zwischenmenschliche Entfremdung: Anna leidet unter Stress, Eheproblemen und den Schwierigkeiten mit zwei Kindern, die ihr immer mehr entgleiten. Aber Malgoska Szumowskas detaillierte filmische Analyse über die Zusammenhänge zwischen Leben und Arbeit, Liebe und Konsum geht noch tiefer, indem sie (nicht untröstlich, wie die Schlussszene suggeriert) durch den Schutzpanzer aus Lügen auf das einsame, brüchige Dasein blickt.

Die Kunst zu lieben

(F 2011, Regie: Emmanuel Mouret)

Fesseln der Freiheit
von Wolfgang Nierlin

Um deine Leidenschaft zu befriedigen, musst du nämlich auch dein Gewissen befriedigen“, sagt der französische Filmemacher und Schauspieler Emmanuel Mouret. Sein neues kinematographisches Kleinod „Die Kunst zu lieben“ (L’art d’aimer), …

Um deine Leidenschaft zu befriedigen, musst du nämlich auch dein Gewissen befriedigen“, sagt der französische Filmemacher und Schauspieler Emmanuel Mouret. Sein neues kinematographisches Kleinod „Die Kunst zu lieben“ (L’art d’aimer), das viele Referenzen hat und (von Eric Rohmer und Jacques Demy bis zu Pascal Bonitzer und Christian Vincent) viele Erinnerungen an das französische Kino unbestimmt zum Schwingen bringt, handelt insofern von einem moralischen Dilemma: Wie lässt sich die „instabile Natur“ der Leidenschaft sowie ihr moderner Anspruch auf Freizügigkeit und Offenheit in Einklang bringen mit den Skrupeln des moralischen Gewissens? Oder anders gefragt: Wie verträgt sich die Theorie des sexuellen Begehrens mit der Praxis der Liebe? Im Prolog seines episodisch gebauten, locker geknüpften Films lässt Mouret einen jungen Komponisten ebenso sehnsüchtig wie vergeblich nach der wahren Liebe suchen. Zwar findet er die richtige Melodie, aber kein Herz, das durch sie zum Klingen gebracht werden würde.

Auch die meisten anderen Figuren in Emmanuel Mourets ironisch-verspieltem Lehrstück empfinden ein Verlangen, das einerseits ungestillt bleibt und sich andererseits auf unerwartete Weise doch erfüllt. Die tragische Exposition dient insofern als Kontrastfolie, um das Gelingen der Liebe ins rechte Maß zu setzen. So landet etwa ein junges, verliebtes Paar, dessen Partner sich die Freiheit des Fremdgehens zugestehen, nach verschiedenen vergeblichen Versuchen und Missverständnissen doch wieder bei sich selbst. Oder eine verheiratete Frau, gespielt von Ariane Ascaride, die einen unbändigen Hunger nach anderen Männern verspürt, wird gerade durch die von ihrem Mann gewährte Freiheit, umso stärker an ihn gefesselt. Auch für Isabelle (Julie Depardieu), die seit langem einen Liebhaber entbehrt, erfüllt sich das Liebesglück auf eher unerwartet unkonventionelle Weise.

Als müssten die Liebesuchenden zunächst einander fliehen, um sich (wieder) zu finden oder um sich ihres Gefühlsschatzes zu vergewissern, unterziehen sie ihr Begehren einer Prüfung, die den Wunsch mit der Wirklichkeit verhandelt. Doch selbst dort, wo der Traum Realität wird, lässt sich diese nicht einfach ergreifen. „Lehne nie ab, was dir angeboten wird“, lautet eines der Mottos, die Emmanuel Mouret den einzelnen Tänzen seines romantischen Liebesreigens vorangestellt hat. Oder auch, gleich zu Beginn des bezaubernd leichten filmischen Rondos: „Es gibt keine Liebe ohne Musik.“ Tatsächlich spielt diese selbst nicht nur eine prominente Rolle, sondern sie strukturiert als erzählerisches Mittel mit ihren Wiederholungen und Variationen, mit ihren Einschüben und Tempowechseln auch die Form des Films. Dieser ist in seiner künstlichen Abgeschlossenheit nie etwas anderes als reines Kino(vergnügen), mit dem Mouret bis in die Ausstattung und das Dekor hinein nach der perfekten Synthese von Form und Inhalt sucht.

Hell

(D 2011, Regie: Tim Fehlbaum)

In der Genrehölle
von Ricardo Brunn

Es mag mühselig sein, über Genrekino in Deutschland zu sprechen, doch es ist notwendig. Denn selbiges erschöpft sich vor allem in repetitiven Gesten und steht sich damit selbst im Weg, …

Es mag mühselig sein, über Genrekino in Deutschland zu sprechen, doch es ist notwendig. Denn selbiges erschöpft sich vor allem in repetitiven Gesten und steht sich damit selbst im Weg, obwohl es wichtige Impulse für eine vielfältigere Filmlandschaft geben könnte.

Das jüngste Beispiel in dieser Diskussion stellt Tim Fehlbaums apokalyptisches Road-Movie „Hell“ dar, dessen Plot, genrekonform, schnell erzählt ist: In einer Welt, in der die Sonne nahezu jedes Leben von der Erdoberfläche gebrannt hat, versucht eine Gruppe junger Menschen in die Berge zu gelangen, da dort Wolken, Vegetation und Wasser vermutet werden. Auf dem Weg dahin gerät die Gruppe in eine Falle fieser Kannibalen und muss sich später aus dem Versteck der menschenfressenden Hirnverbrannten befreien. Das Ende: Ein hoffnungsvoller Blick auf bergiges Land, dramatische Musik, Sonne, Abspann.

Jetzt kann man sich über das durchaus gelungene Szenenbild des Filmes freuen, das viel zur endzeitlichen Atmosphäre beiträgt, oder sich über die blassen Figuren ärgern, denen scheinbar mit der Farbe auch jede Charakterzeichnung entzogen wurde. Man kann zudem darüber schimpfen, dass Vieles aufstoßend dreist bei McCarthy’s „Die Straße“ abgekupfert ist oder aber die solide Inszenierung loben, in der gut zwischen Anspannung und Ruhe vermittelt wird und Licht und Dunkelheit gezielt gegeneinander montiert werden.

Das eigentliche Spannungsverhältnis, in dem der Film jedoch steht, ist unsere schwierige Beziehung zum Genrekino: Entweder unterziehen wir die eigenen Versuche darin argwöhnischer Beobachtung oder wir neigen dazu, sie überschwänglich zu loben, weil es endlich einmal (und darin liegt eine gewisse Sehnsucht) handwerklich Solides aus dem eigenen Land gibt. Diese Ambivalenz zieht sich bis in die Förderinstitutionen, wenn in jedem Antrag auf Filmförderung auch nach dem Genre gefragt wird, obwohl die meisten geförderten Filme traditionsgemäß keinem Genre zuzuordnen sind und die entsprechenden Anstalten auch nur sehr wenig Interesse an der Unterstützung von Genrefilmen zeigen. Genrekino, das erschöpft sich hierzulande meist in dumpfen Komödien regieführender Schauspieler. Da gilt es schon als mutig, wenn das ZDF einen Zombiefilm mitfinanziert.

Man würde sich mehr Natürlichkeit im Umgang mit Genrefilmen wünschen, doch das Problem ist vielschichtiger und hat letztlich mit der neuerlichen Debatte um die Identität des deutschen Kinos zu tun: Nach einer Phase der Erschöpfung in den 1960er und 70er Jahren hat nie eine Neubildung, sondern eine Loslösung vom Genrefilm eingesetzt, bedingt unter anderem durch das Filmförderungsgesetz, die Abwertung gegenüber dem Autorenkino sowie der Übermacht amerikanischer Großproduktionen. Die heutige Situation lässt sich am besten mit dem von Dominik Graf geprägten Begriff des „Relevanzfilms“ umschreiben: Wir produzieren mehrheitlich Filme, die auf eine – auch gezielt auf Fördertauglichkeit gerichtete – begrenzte Themenpalette (Nazis, RAF, Krankheit, DDR, Mittelstandskrisen) zurückgreifen und formal immer ähnlicher werden. Doris Dörrie hat zur diesjährigen Berlinale in anderem Zusammenhang auf diese Fehlentwicklung hingewiesen und spricht von einer Bipolarität des deutschen Kinos, das sich fast nur noch in Festivalfilme (der Relevanzfilm) und Publikumsfilme (die dumpfe Komödie) aufteilen lässt. Die Politik der Förder- und Sendeanstalten, kann man schlussfolgern, hat über Jahre hinweg zu einer eintönigen Filmlandschaft geführt. Es fehlt das Bewusstsein dafür, dass Kino Bandbreite benötigt.

An den Rändern dieser Filmwirtschaft entstehen so hin und wieder kraftlose Genrefilme, die sich im Nachahmen und Wiederholen bekannter Muster zumeist amerikanischer Vorbilder (in der Hoffnung auf Anschluss) erschöpfen. „Wir sind die Nacht“ (R: Dennis Gansel) wirkt beispielsweise wie ein eilig nachgeschobener Versuch, dem vor einigen Jahren international wiederbelebten Vampirfilm auch einen deutschen Beitrag hinzuzufügen. Und jetzt tritt eben „Hell“ mutlos in die endzeitlich wundgetretenen Fußstapfen bekannter Genrevertreter und begnügt sich in der Zurschaustellung altbekannter B-Movie-Konventionen dermaßen, dass man das Kino nach der Hälfte des Filmes auch beruhigt verlassen kann. Denn zu verpassen gibt es nichts. Etwas Eigenständig-Überlebensfähiges zu schaffen bleibt diesem Film verwehrt, weil er sich lieber auf das ewige „wir können das auch“ reduziert, anstatt gezielt eine eigene Position zu suchen.

Man muss also (und dieser Ambivalenz kann niemand entrinnen) „Hell“ zugleich unausstehlich finden und sich dennoch über den Film freuen, denn endlich gibt es einmal handwerklich Solides aus dem eigenen Land. Irgendwann kann man das sicher auch als (Genre-)Tradition bezeichnen.

Sharayet – Eine Liebe in Teheran

(USA / F / IR 2011, Regie: Maryam Keshavarz)

Raus aus Iran
von Carsten Moll

Atafeh und Shirin rasen durch das nächtliche Teheran. Weil diese Stadt anders nicht zu ertragen ist und das bildungsbürgerliche Zuhause für die beiden Freundinnen immer weniger Schutzraum als geschmackvoll eingerichtete …

Atafeh und Shirin rasen durch das nächtliche Teheran. Weil diese Stadt anders nicht zu ertragen ist und das bildungsbürgerliche Zuhause für die beiden Freundinnen immer weniger Schutzraum als geschmackvoll eingerichtete Gruft ist; draußen die patriarchalische Diktatur und drinnen Muttis erstarrtes Lächeln und ein gut gestimmtes Klavier als Zentrum des liberalen Familienkosmos. Als Ausweg: Verliebt sein ineinander. Tagträume, die aussehen wie Parfümwerbung. Ein paar Drogen. Und immer wieder Pop: anglophonen von Bonnie Tyler bis Le Tigre, aber auch persischen Hip Hop. Ein Ausweg ist das dann aber doch nicht, mehr ein hilfloses Pendeln zwischen Transgression und Repression, das Aufbegehren von politisch Illusionslosen, die nicht von San Francisco träumen, sondern froh sind, wenn sie es gemeinsam rüber nach Dubai schaffen. Hier versuchen zwei, ihr individuelles Glück gegen die Deutungshoheit von Staat und Familie zu behaupten, ein betrunken gegröltes „Auf Hollywood!“. Resignifikation und Aneignung. Fucking Iran.

Maryam Keshavarz‘ Spielfilmdebüt setzt immer wieder auf Melodramatisches: Die Geschichte (auch wortwörtlich ein Melodram: Handlung mit Musik) einer Emanzipation wird anhand einer bemerkenswerten mise en scène erzählt; die Farbdramaturgie macht Rot- und Blautöne zu Protagonisten, der Soundtrack rhythmisiert die Handlung und jeder Raum schreit heraus, was die Fassade lieber verschweigt. Zugegeben: Der Film ist nicht nur Melodram (ich behaupte, es sind aber mindestens 6/10 des Films), ein bisschen scheint Keshavarz das Künstliche, Pathetische und Exzessive abmildern zu wollen, indem sie immer wieder auch betont nüchterne Bilder im Sozialdrama- und Doku-Look liefert. Auf diese springt dann auch ein nicht geringer Teil der Kritiker_innen an und findet den Film dann trotz der melodramatischen Einschübe ganz gut: Authentizität, Abbild-Realismus und die Message überzeugen, Melodram bleibt hier Schimpfwort.

Ein Grund für die zwiespältigen Meinungen zu „Sharayet“ mag im Film selber liegen, der stellenweise einfach wirr und überladen ist. So reich er an Ideen ist, so unmotiviert wirkt mancher Einfall. Allein die Figur des Mehran, Atafehs fundamentalistischem Bruder und persönlichem Big Brother, ist eine Katastrophe und wirkt als überstrapazierte Allegorie wie ein Fremdkörper. In seiner Gestalt stolpert dann auch immer wieder etwas arg Thesenhaftes in den Film und ruiniert die subversive Trivialität so mancher Szene. Die Reduzierung des Films auf Statements oder eine Eins-zu-eins-Übersetzung von Realitäten wird dem Film aber ebenso wenig gerecht wie reflexartige Querverweise auf die Arabellion. Ihm das Melodram auszutreiben, um Bedeutung aus ihm zu destillieren, hieße nicht nur ihm die Haut abzuziehen, sondern auch sein Skelett zu zertrümmern. Spannender als in Keshavarz‘ Teheran-Simulation nach Bestätigung von Allgemeinplätzen à la „Im Iran werden Frauen unterdrückt“ zu suchen, dürfte es ohnehin sein, nachzuspüren, mit welchen Mitteln hier Bedeutung überhaupt erst produziert wird und sich auf die komplexe Ästhetik des Melodrams einzulassen.

Der Diktator

(USA 2012, Regie: Larry Charles)

Die Ambivalenz verlässt das Kino
von Dietrich Kuhlbrodt

Diktator Admiral General Aladeen stellt der Öffentlichkeit in seiner nordafrikanischen Republik die neue Atomrakete vor, die rein friedlichen Zwecken diene, wie er vor der Kamera sagt, mühsam ein Lachen unterdrückend. …

Diktator Admiral General Aladeen stellt der Öffentlichkeit in seiner nordafrikanischen Republik die neue Atomrakete vor, die rein friedlichen Zwecken diene, wie er vor der Kamera sagt, mühsam ein Lachen unterdrückend. Die Uno in New York lädt ihn ein, eine Rechtfertigungsrede zu halten. 14 Stunden wird sie dauern. Im »Geburtsort von Aids« wird er jedoch durch einen Doppelgänger ersetzt. Mit viel Glück findet er in Manhattan eine Stelle in einem veganen Bioladen.

Der Film lebt von einem Gag-Gewitter im TV-Comedy-Stil, wobei die PC-Verstöße austariert sind. Im Alltäglichen führt der exdiktatorische Ladenangestellte neue alte Sitten ein. Selbstverständlich kann man einen frechen Jungen, der Artikel aus den Regalen reißt und dem Personal den Mittelfinger zeigt, zu Boden schlagen. Und als Geburtshelfer im Laden ein Baby aus dem Mutterloch reißen (Großaufnahme) – es ist ein Mädchen – und nach der nächsten Mülltonne fragen. Es gibt für Aladeen vieles zu verbessern. Strafandrohung für Ladendiebstahl ist Waterboarding, und amerikanische Demokratie ist vielleicht doch nicht so schlecht. Ein Prozent Reiche und 99 Prozent Arme – kein Problem: ignore the poor. Die Reichen feuern ihre Angestellten. Der Diktator feuert auf seine Untergebenen. What’s the difference? Ich hab zu Haus meinen Diktator, und Texas hat sein Rechtssystem. Noch mal: What’s the difference? »Ist für euch Amerikaner schwer zu verstehen.« Aber wir kommen ins Geschäft.

Ich hab jetzt so zitiert, wie ich’s in der Pressevorstellung verstanden habe. Nicht lange vor dem Filmstart lief dort statt der deutschen Synchronfassung die original version – weiß der Teufel, warum. Eine gewisse Geheimhaltung umgab den Film bisher. Im New Yorker Waldorf Astoria wurde ebenfalls kurz vor Start eine Pressekonferenz abgehalten, auf der, wie in der »Berliner Zeitung« zu lesen war, hundert handverlesene Journalisten Fragen an den höchstselbst erschienenen Sacha Baron (eigentlich:Baruch) Cohen richten durften – vorformulierte Fragen des Verleihs.

Spielen wir Journalisten jetzt in der postfilmischen Marketingoffensive mit? Ja? Nein? Und wenn? Die Ambivalenz verlässt das Kino und wirkt nach außen. Hallo! Wo sind die Gewissheiten? Es gibt bei Baron Cohen keine. Es ist seine Methode, Urteile zu hintertreiben, gerne Vorurteile. Wie sieht unser Bild von islamischen Diktatoren aus? Wir sehen Karikaturen mit schwarzem Vollbart, Comicfiguren, Kriegsverbrecher, Böse voller Vorurteile gegen den demokratischen Westen.

Zweiter Schritt: Das Bild des Bösen verflüchtigt sich in der superaffirmativen Aladeen-Darstellung. Er wird lächerlich, absurd und komisch. Zu fürchten sind radikalkonservative Fundamentalisten in den USA, einer wie Sweeney, den der Film namentlich nennt, auf einem Level mit den Diktatoren. Da sie sich nicht unterscheiden, gibt’s kein Hindernis fürs große Ölgeschäft.

Ist »Der Diktator« also ein politischer Film? Sagen wir: eine therapeutische Lockerungsübung. Oder besser: eine prima Unterhaltungsshow zum zwischendurch heftig die Lufteinziehen. Die Comedy-TV-Kultur in Amerika wird ja nicht nur in Manhattans Bioladenmilieu gepflegt, sondern global. Sie wird weltweit verstanden, mehr oder weniger. Es scheint angebracht, den »Diktator« von den deutschen TV-Komikern abzugrenzen, die gern ihr Geschäft auf Kosten anderer betreiben. Baron Cohens Komik legt sich dagegen nicht fest. Der von ihm verkörperte Diktator wird im Laufe des Films nicht mehr vorgeführt. Er führt vor, zum Beispiel die Politiker der Uno-Vollversammlung. Wir müssen unsere Meinung ändern, und das, wie gesagt, in einer Show, die unterhält und sich verhält.

Im »Diktator« erscheint die Wirklichkeit medial. Live-Übertragungen, reale und fiktive, Moderatoren, bekannte und unbekannte – eine davon getrennte »objektive« Realität gibt es angeblich nicht, wie nach wie vor die Lehre ist. Baron Cohen ist also mit dem »Diktator« auf der Höhe der Zeit. Bitte aber zu beachten, dass das Alltägliche mitläuft. In den Straßen Manhattans liest ein Motorrollerfahrer den ausgesetzten Diktator auf. Cohen sitzt auf und fasst ihn um die Brust. »Lass die Brüste los«, sagt der. »Oh, the boy is a girl«, ist die Lektion. Zum Schlusskuss des Films wird er die schöne Retterin (Anna Faris) heiraten. Die Großaufnahme sagt es: voll melodramatisch und gar nicht komisch. Der Diktator ist zum Küssen. Vorher hat sie ihn noch zu ihrer Entlastung in ihm bisher entgangene Onaniemethoden eingewiesen. Wieder Großaufnahmen, euphorisch: Delphine springen. Das Wasser spritzt. Der Diktator ist toll sexy.

Im Film dominiert die Handlung. Wir sind damit weiter weg von Baron Cohens TV-Shows der neunziger Jahre, in denen er – im Paramount Comedy Cable Channel – die Figur des Ali G populär gemacht hat (»Eleven O’Clock Show«). In »Ali G in da House« hat er als Moderator durch unverschämte Fragen echte Gäste aus Politik und Showbusiness in Verlegenheit gebracht. Im Film »Borat« war er dann aus Kasachstan zur Feldforschung in die USA aufgebrochen – mit der kasachischen TV-Kamera in der Hand. Wieder war er Hauptperson und brachte seine Gesprächspartner in böse Verlegenheit. Böse, weil sie vor den gespielt naiven Fragen ungebremst die ungeheuerlichsten Vorurteile rausließen. Das war komisch und entlarvend zugleich. Der Staat Kasachstan hatte bekanntlich diplomatisch gegen den Film interveniert, und bei uns fühlte sich der Verband der Sinti und Roma durch den Film verletzt. Die Gefühle, angegriffen zu werden, haben im »Diktator« jedoch keinen rechten Platz mehr. Der von Baron Cohen gespielte Held ist kein Fragesteller mehr, er gibt Antworten. Ja, die amerikanische Demokratie der Armen hat doch etwas. Man trifft ohne weiteres auf ein schönes Mädchen, das man heiraten kann. Großes Finale: der Schlusskuss. Voll die Medienwirklichkeit. Noch Fragen?

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 06/2012

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Moonrise Kingdom

(USA 2012, Regie: Wes Anderson)

A Young Person’s Guide to Wes Anderson’s Cinema
von Harald Mühlbeyer

„The Young Person’s Guide to the Orchestra“ von Benjamin Britten: Auf einem hellblauen, batteriebetriebenen, knarzenden Taschenplattenspieler läuft das Stück, das die einzelnen Instrumente des Orchesters vorstellt und das Entstehen der …

„The Young Person’s Guide to the Orchestra“ von Benjamin Britten: Auf einem hellblauen, batteriebetriebenen, knarzenden Taschenplattenspieler läuft das Stück, das die einzelnen Instrumente des Orchesters vorstellt und das Entstehen der Harmonien erklärt.

Wes Anderson lässt seine Kamera dabei durch das Haus der Familie Bishop gleiten, in gleichmäßiger Parallelfahrt, durch alle Zimmer, über alle Stockwerke: gleich zu Anfang von „Moonrise Kingdom“ eine typische Anderson-Einstellung, der Film wird zum Gang durch ein Puppenhäuschen, das wie eine mehrstöckige Theaterbühne als Spielplatz für den Regisseur dient. Immer im Blick dabei: Suzy Bishop, die mit ihrem Fernglas direkt in die Kamera schaut, in die Ferne späht. Oder die ihre Nase in eines ihrer Abenteuerbücher steckt.

Eine solche Panoramafahrt durch ein aufgeschnittenes Haus, in das die Filmfiguren nach Gutdünken hingestellt sind – selbstverständlich unter strengen ästhetischen Gesichtspunkten, die Standort, Körperform, Raumaufteilung, nicht zuletzt die Farben beinhalten –, ist ein Markenzeichen von Wes Andersons filmischer Ästhetik; in „Moonrise Kingdom“ wird er sie durch diverse weitere Parallelfahrten, Rundumschwenks oder Totalen ergänzen: Ob nun Scout Master Ward seinen morgendlichen Gang an diversen Pfadfindern vorbei zum Frühstückstisch antritt, ob sich auf weiter Wiese Suzy und Sam treffen, um gemeinsam aufzubrechen, ob sie in weitem Rundumblick die paradiesische Umgebung von Wald und Küste sondieren: Stets gibt Anderson einen Gesamtüberblick, um zugleich die Künstlichkeit des filmischen Arrangements aufzuzeigen und das Zusammenspiel der einzelnen Bildelemente – gerade so, wie Benjamin Britten Streicher, Bläser und Schlagwerk vorstellt, in Einzelteilen, aber gemeinsam.

Ein Wes Anderson-Film ist im Grunde stets auch ein filmgewordenes Seminar über filmisches Sein und filmisches Wirken: Jedes Einzelelement wird betont, wird dabei völlig gleichwertig behandelt, und gleichzeitig wird das Bewusstsein geschaffen vom perfekten Zusammenklang, davon, dass das Ganze stets noch viel größer als die Summe von ohnehin außergewöhnlichen Einzelteilen ist. Andersons Filmtechnik ist die des Mosaiks: das aus vielen Bestandteilen besteht, die auch alle sichtbar sind, und die zugleich in ihrer Gesamtheit ein Bild ergeben.

Ein Bild, das bei Anderson auf jeden Fall symmetrisch wäre, auf jeden Fall mit leuchtenden Farben gestaltet – im Fall von „Moonrise Kingdom“ bevorzugt ein warmes Gelb –, das auf jeden Fall künstlich, gar skurril wirken würde, damit durchaus übertrieben – und dabei ganz lebensecht, in seiner hyperbolischen, überdrehten Art authentisch im nicht-fotorealistischen Sinn. Dass der Film von einem Erzähler (Bob Balaban) präsentiert wird, der einerseits im Rückblick kommentiert, andererseits ganz gegenwärtig anwesend ist in der Filmhandlung, ist fast schon ein selbstverständliches Detail.

Auf diese Weise erzählt Anderson seine Geschichte von einer großen Liebe – so ernsthaft, wie man nur sein kann, ohne ins Melodramatisch-Sentimentale zu rutschen, und so komisch, wie man nur sein kann, ohne eine der Figuren oder gar den Zuschauer vor den Kopf zu stoßen.

Sam liebt Suzy. Ihre erste Begegnung: Eine Auffühung von Benjamin Brittens „Noye’s Fludde“, die Noah-Geschichte mit einer Menge Tiere auf einer Bühne in der örtlichen Kirche. Sam büchst aus, blickt hinter die Kulissen – ein weiterer dieser langen andersonschen Kameragänge –, bis er hinter einem Kleiderständer hervorlugt und die als Vogel gekleideten Mädchen sieht. „Was bist du für ein Vogel?“ – „Ein Rabe.“ Damit ist die Liebe besiegelt.

Ein Jahr später büxen die beiden aus. Sam aus seinem Pfadfinderlager, Suzy aus ihrem Elternhaus, sie wollen in der Wildnis leben, gemeinsam, als Liebespaar: sie sind beide zwölf Jahre alt. Die Eltern – Bill Murray und Frances McDormand –, der Pfadfinderlagerleiter – Edward Norton –, der örtliche Sheriff – Bruce Willis – drehen hohl: wo sollen sie suchen auf dieser Insel, auf New Penzance, immerhin 25 Kilometer lang, vor Rhode Island gelegen? Die Flucht und das Verborgenbleiben, die Suchaktion von Polizei und Pfadfindern, der Druck, den Jugendamt (Tilda Swinton – ja: „Jugendamt“, das ist ihr Name!) ausübt: Das ist schon eine Menge Handlung, die Anderson noch anreichert durch eine Affäre zwischen Mrs. Bishop und dem Sheriff Captain Sharp und durch die angedeuteten Schwierigkeiten, die die Kinder stets bereiteten.

Sam wie Suzy gelten als schwer erziehbar, als unnormal, als emotional gestört. Sam wird von seinen Pflegeeltern per Telefonanruf verstoßen. Für den Umgang mit Suzy suchen die Eltern ein Rezept in schwarz eingeschlagenen Ratgeberbüchern. Was die beiden anderen antun? Es wird nicht gezeigt. Es wird nur im Briefwechsel angedeutet, den die beiden über ein Jahr lang miteinander führten: Lehrerin anschreien, schlafwandelnd ein Feuer legen, malen – unter anderem nackte Mädchen, Tobsuchtsanfälle. Kurz: Das ganz normale Programm derer, die in die Pubertät kommen. Und die auf stetes Unverständnis stoßen, weil sie ein bisschen exzentrisch sind. Die keine Freunde haben. Und keine suchen. Die gerne lesen – Suzy verliert sich in Büchern über tapfere Mädchen in fantastischen Welten, mit Buchcovern, die von verschiedenen Künstlern ganz liebevoll extra für diesen Film gestaltet wurden.

Die Liebe zwischen den Kindern, die selbstverständlich auf Ablehnung stößt: In ihr liegt die Wahrhaftigkeit, sie ist der Kern, in ihm liegt mehr Reife, mehr Erwachsensein als bei all den kindischen, mit sich selbst beschäftigten Erwachsenen um sie herum. Durch dramaturgisches Kreisen und inszenatorisches Abtasten kommt Wes Anderson diesem Kern immer näher, vergisst dabei auch die Spannung nicht – ein Finale auf dem Kirchturm, mitten im Hurrican-Sturm! – und stellt alles in einer uneigentlichen Mise en scene dar, der Film als ironischer Kommentar zu sich selbst. Wie Britten durch ein Orchesterstück zum Orchester führt, führt Anderson durch seinen Film zu seinem Film. Ganz leichtfüßig, scheinbar mühelos fügt sich alles zu einem großen Ganzen zusammen. Am Ende, während des Abspanns, wird gar das Making of der Filmmusik präsentiert, als Führer in die musikalische Welt von Alexandre Desplat.

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Janosch – Komm, wir finden einen Schatz!

(D 2012, Regie: Irina Probost)

Gemäßigt actionreich
von Andreas Thomas

Neben Astrid Lindgren hat seit den siebziger Jahren niemand so sehr seine Finger in der Sozialisation unserer Kinder gehabt wie Janosch, der verschrobene oberschlesische Hinterwäldler. Aber man möchte sagen, dass …

Neben Astrid Lindgren hat seit den siebziger Jahren niemand so sehr seine Finger in der Sozialisation unserer Kinder gehabt wie Janosch, der verschrobene oberschlesische Hinterwäldler. Aber man möchte sagen, dass die Geschichte der Kinderliteratur schon Schlimmeres hervorgebracht hat als Pippi Langstrumpf oder den Kleinen Tiger, man denke z.B. nur an den auch heute noch in den Kinderstuben anwesenden Inbegriff preußischer Sadopädagogik wie den „Struwwelpeter“. Die ungeheure Popularität von Janosch und Lindgren ist sicherlich deren hohem kreativen Output geschuldet – aber eben auch jenem gewissen Etwas, das die kindliche Seele anspricht, weil dessen Urheber die kindliche Seele verstanden haben.

Schön an Janoschs Oeuvre ist vor allem schon immer sein kreativer Wildwuchs gewesen, seine gegen den Strich gebürsteten, fantasiereichen Geschichten, in einer farbenfrohen Welt voll mit Schaustellern, Bären, Gänsen oder Fröschen, die lustige Namen tragen und nicht nur verschrobenes Zeugs erleben, sie sprechen auch eine ganz spezifische, nämlich die Janosch-Sprache, dem Deutschen zwar verwandt, aber immer als von Janosch kreierte erkennbar. Und mal von der von vornherein wie ein Konsumtionsprodukt erscheinenden Tigerente abgesehen, besitzt jede Figur bei Janosch einen individuellen und liebevollen Pinselstrich – eben den janoschschen Charakter, der sich – das bewiesen die fürs Fernsehen in den Achtzigern produzierten 26 Folgen von „Janoschs Traumstunde“ – problemlos und ohne Qualitätseinbußen in den Zeichentrickfilm überführen ließ. Fast noch lustiger als im Original des illustrierten Buchs gerieten etwa die 25-minütigen „Tiger und Bär“-Folgen, wenn etwa der Doktor Brausefrosch dem kranken Tiger (Diagnose: Streifen verrutscht!) in rheinischer Mundart den OP-Ablauf erklärt.

Rheinische Mundart gibt’s in „Janosch – Komm wir finden einen Schatz!“ leider nicht mehr, werden die Figuren doch von Symphatieträgern wie Michael Schanze (dessen tiefe Stimme sich anhört, als wäre er zwischenzeitlich in einen zweiten Stimmbruch gekommen), Elton oder Malte Arkona, einem KIKA-Moderator, gesprochen, und überhaupt merkwürdig ist, wie, seitdem Janoschs „Tiger und Bär“-Geschichten für das Kino adaptiert werden, das typisch Janoschsche daraus eher verbannt wird, so als wäre die Janosch-Phänomenologie, die Eigenwilligkeit seines Striches und seiner Sprache plötzlich nicht mehr kindgerecht oder zumindest nicht kinderkinokompatibel. Schon in der ersten Kinoadaption eines Janosch-Stoffes für die Leinwand, in „Oh, wie schön ist Panama“, fielen die Glätte und Rundheit der beiden Protagonisten Tiger und Bär unangenehm auf, doch vor allem waren sie ihrer Sprache und somit ihrer charakterlichen Eigenarten beraubt, und so der beiden Merkmale, die Janoschs Geschichten doch erst ausmachen.

Dieses zweifelhafte Verfahren der Verflachung wird nun leider auch (nach der 'Tigerentenbande', 2011) in der dritten Kinoaufbereitung fortgesetzt. Sowohl Tiger als auch Bär sehen aus wie rundköpfige Teddybären, also langweilig, und die dritte Hauptfigur, Jochen Gummibär, hat nichts mehr gemein mit seinem literarisch-grafischen Original: Wo jener klein wie ein Gummibär und zugleich mutig wie ein Löwe war, ist dieser hier groß und ängstlich darum bemüht, Freunde zu finden, also eher eine Allerweltsfigur …

Besonders auffällig ist die Langsamkeit der Inszenierung, jedenfalls wenn vorher ein Trailer von „Ice Age 4“ über die Leinwand donnerte, aber im Prinzip spricht dieses wohl eher für eine gelungene Zielgruppenorientierung. Die Zielgruppe selbst (hier Tochter, 5 Jahre) jedenfalls findet den Film „schön, vor allem, weil alle am Schluss Freunde geworden sind. Blöde an der Geschichte war, dass der Kater (GoKatz) so blöd war, außerdem hat er behauptet, er könne zaubern, obwohl er einen Magneten benutzt hat, um die Nadel im Heuhaufen zu finden.“

Wir bilanzieren: „Janosch – Komm, wir finden einen Schatz“ ist gemäßigt actionreich, transportiert eine humanistische Message („Der größte Schatz ist die Freundschaft“), ist insofern, wie deklariert, für Kinder ohne Altersbeschränkung geeignet, aber insofern für Erwachsene (und insgesamt und im Vergleich zu den Büchern sicherlich auch für Kinder pädagogische Mangelware) eher langweilig, weil der Eigensinn aus Sprache und Zeichnung getilgt ist: ein geglätteter Janosch ohne Janosch-Charme.

Attenberg

(GR 2010, Regie: Athina Rachel Tsangari)

Zarte Misanthropie
von Andreas Busche

Athina Rachel Tsangaris hinreißendes Coming-of-Age-Drama „Attenberg' ist typisch für das neue griechische Kino. Der Zeitpunkt, über ein neues griechisches Kino zu reden, könnte kaum unpassender sein. Die Politik hat dazu …

Athina Rachel Tsangaris hinreißendes Coming-of-Age-Drama „Attenberg' ist typisch für das neue griechische Kino.

Der Zeitpunkt, über ein neues griechisches Kino zu reden, könnte kaum unpassender sein. Die Politik hat dazu beigetragen, dass der Name Griechenland wenig positive Assoziationen weckt. Griechenland steht für Krise, Misswirtschaft, Krawalle auf den Straßen, Fremdenhass. Und damit übergreifend für ein Europa, das sich neu hinterfragen muss. Eine Filmkultur, die aus dieser Gemengelage erwächst, kann eigentlich nichts anderes hervorbringen als ein Kino der Krise. Dass Krisenkino aber keine Katastrophe sein muss, zeigt sich in diesem Frühjahr, weil mit Athina Rachel Tsangaris ebenso großartigem wie skurrilem Coming-of-Age-Drama „Attenberg', für das Ariane Labed 2010 in Venedig mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet wurde, und mit „Alpen' von Giorgos Lanthimos zwei Filme in die Kinos kommen, deren Regisseure viel für das Selbstverständnis des neuen griechischen Kinos getan haben. Lanthimos letzter Film „Dogtooth' (2009) war im vergangenen Jahr für den Oscar nominiert – als erster griechischer Film seit fast fünfzig Jahren.

Filme wie „Attenberg', das Alltagsporträt „Wasted Youth' (2010) von Argyris Papadimitropoulos und Jan Vogel oder Panos Koutras campy Transenliebesgeschichte „Strella' (2009) könnten unterschiedlicher kaum sein. Wenn Tsangaris weiibliche Hauptfiguren Marina und Bella indes mit Stechschritt-Choreografien ihrem Nicht-Einverstanden-Sein Ausdruck verleihen, der junge Skater Haris in „Wasted Youth' auf seinem Rollbrett ziellos die Un-Orte seiner Stadt abklappert und Strella auf High Heels unaufhaltsam durch die Straßen Athens stöckelt, erschließt sich im neuen griechischen Kino eine Dynamik, die unmittelbar ans gesellschaftliche Leben rührt.

Wie machen Menschen das bloß?

„Attenberg' ist charakteristisch für die Temperatur des neuen griechischen Kinos: Reserviert, auf liebenswerte Weise emotional verkorkst, latent soziophob, neugierig und dabei mit einer unwiderstehlichen, rohen Energie ausgestattet. Dem warmen, mediterranen Licht wirkt Tsangari mit analytischer Klarheit entgegen. Ihre Figurenkonstellationen gleichen konzeptuellen Entwürfen mit einer lockeren Distanz zu ihrem Gegenstand. Tsangari beschreibt diesen Abstand als notwendig, um den Blick für die Verhältnisse zu schärfen. Zu große Nähe, sagt sie, mache befangen.

Die Eröffnungsszene von „Attenberg' veranschaulicht Tsangarls Haltung auf rührige Weise. Da stehen sich Marina und Bella vor einer weißen Wand gegenüber, ganz nah, wie in einem Western-Showdown. Bella steckt Marina die Zunge in den Mund. „Wie fühlt sich das an? Du musst atmen, sonst erstickst du', belehrt Bella ihre Freundin. Kusstraining. Marina kennt Balzverhalten nur aus den Dokumentationen des Naturfilmers David Attenboroughs („Attenberg', wie Bella sagt). Der Umgang mit den eigenen Artgenossen, speziell den männlichen, fällt der 23-Jährigen schwer. „Wie machen Menschen das bloß?', wundert sie sich.

In „Attenberg' wird aufopferungsvoll inszeniert und nachgeäfft, doch Marinas Handlungen sind stiller Protest. Eine deviante Form der Trauerarbeit. Marinas Vater, einziger Verbündeter In ihrer zarten Misanthropie, liegt im Sterben, und ihr letztes Geschenk an ihn ist die körperliche Hingabe an einen anderen Menschen. Weil es mit 23 vielleicht doch mal an der Zeit ist, aber eben auch der Beruhigung des Vaters dient, der sich Sorgen macht um seine Tochter, die bislang nur mit dem Paarungsverhalten von Berggorillas vertraut ist. Und dann schenkt sie ihrem einsamen Vater, den sie sich immer ohne so ein Ding zwischen den Beinen vorgestellt hat, ein letztes Mal – mit Bella, die von Penisbäumen träumt und ohnehin für Marinas Vater schwärmt. Der ultimative Freundschaftsbeweis. „Attenberg' ist mit seinen hinreißend knutschenden, sabbernden, spuckenden, stechschreitenden Hauptdarstellerinnen die schönste Liebeserklärung dieses Kinofrühlings. „Les demoiselles d’Attenberg' sozusagen, nur dass statt der symphonischen Zuckerwatte, die 1967 Jacques Demys „Les demoiselles de Rochefort' süßte, bei Tsangari der Fürst der Entfremdung höchstpersönlich, Alan Vega, auf der Tonspur croont. Vegas entkörperlichter Rock’n’Roll beschreibt zugleich Marines Verhältnis zur Welt. Da ist es nur konsequent, dass genau vier Worte sie vor der inneren Vergletscherung retten: „Alan Vega ist Gott.' Marina verliebt sich erst in eine abstrakte Idee von Liebe und später in die konkrete Vorstellung davon.

Das Gefühl der Entfremdung ist so etwas wie das Leitmotiv im neuen griechischen Kino. Lanthimos Filme zum Beispiel erinnern in ihrem kühlen Versuchsaufbau eher an soziologische Experimente. In „Alpen' schlüpfen die Mitglieder einer seltsamen Bedarfsgemeinschaft in die Rollen Verstorbener – die der Tochter, der Geliebten, des besten Freundes. Monte Rosa, die weibliche Hauptfigur, spürt in diesen Re-Enactments einem Gefühl von Wahrhaftigkeit nach, das ihr längst abhanden gekommen ist. Aber alle Ausbruchsversuche aus Lanthimos‘ rigiden Wirklichkeitskonstruktionen sind von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Tsangari hingegen hat vor „Attenberg' zehn Jahre in den USA gelebt. Sie beschreibt das Gefühl des Außenseiters als einen essentiellen Zustand. „Als Filmemacherin ist es wichtig, zunächst eine Distanz zu schaffen, um sich ein klares Bild von den Verhältnissen zu machen.' Auch Konstantins Glannaris, dessen Migrantenporträt „From the Edge of the City' (1998) Tsangari einen wichtigen Referenzpunkt für das neue griechische Kino nennt, lebte viele Jahre im englischen Exil.

Florierende Mangelwirtschaft

Man könnte den neuen griechischen Film als florierende Mangelwirtschaft beschreiben. Für Tsangari ist die Solidarität untereinander die treibende Kraft. Die widrigen wirtschaftlichen Verhältnisse sind ausschlaggebend für die aufregende Entwicklung im aktuellen griechischen Kino, das gerade zwei Riesenschritte auf einmal nimmt. Während sich die Strukturen noch im Aufbau befinden, wird fleißig weiter produziert – ohne staatliche Förderung, mit Minimalbudgets, in zäher, aufopferungsvoller Kleinarbeit. Die Energien, die bei diesen Arbeitsprozessen freigesetzt werden, sind in den Filmen von Tsangari, Lanthimos & Co. förmlich zu spüren. Kein Wunder, dass das Kino aus Griechenland bei Festivals derzeit so hoch im Kurs steht. Griechenland hat sich lange im Glanz der eigenen glorreichen Vergangenheit gesonnt. Tsangari betrachtet die selbst gewählte Isolation angesichts der derzeitigen Wirtschaftskrise äußerst kritisch. In „Attenberg' bricht es einmal aus dem Vater heraus, als er über die Stadt blickt, die er selbst mitentworfen hat. Aspra Spitia ist ein perverses Konstrukt der sechziger Jahre, eine moderne, dem sozialistischen Ideal nachempfundene Arbeitersiedlung, finanziert vom Industriekapital des damals boomenden Griechenlands. Heute ist sie eineTotenstadt. Sie hätten eine lndustriekolonie auf einer Schafweide errichtet, meint der Vater verbittert. Ein Bild, das bis ins gegenwärtige Kino Griechenlands nachwirkt. Tsangari & Co. haben innerhalb kürzester Zeit vierzig Jahre Filmgeschichte aufgeholt. Dass sie dasselbe Schicksal wie Aspra Spitia ereilt, steht nicht zu befürchten.

Dieser Text erschien zuerst in: Pony #73

Dogtooth

(GR 2009, Regie: Giorgos Lanthimos)

Überwachen und Strafen
von Wolfgang Nierlin

Szenen absurder Rituale und bizarrer Verhaltensweisen reihen sich mehr oder weniger unverbunden aneinander: Eine Frauenstimme vermittelt via Kassettenrecorder falsche Wortbedeutungen; zwei Schwestern üben sich in infantilen Wettbewerben und merkwürdigen Spielen; …

Szenen absurder Rituale und bizarrer Verhaltensweisen reihen sich mehr oder weniger unverbunden aneinander: Eine Frauenstimme vermittelt via Kassettenrecorder falsche Wortbedeutungen; zwei Schwestern üben sich in infantilen Wettbewerben und merkwürdigen Spielen; ihr Bruder treibt es mechanisch und lustlos mit einer jungen Frau, die ihm sein Vater in regelmäßigen Abständen zuführt; dieser wiederum bringt sich und seine Frau mit einem Pornofilm in Stimmung, bevor die beiden sich Kopfhörer aufziehen und den ehelichen Sex abspulen.

Der Wahnsinn lauert hinter diesen alltäglichen Skurrilitäten und verschrobenen Handlungen, die ein perverses Erziehungssystem abbilden und das irre Portrait einer Familie in Gefangenschaft skizzieren. Außer dem Vater dürfen deren Mitglieder nämlich das Anwesen, bestehend aus einem Haus mit Garten und Swimmingpool, nicht verlassen. Einmal streiten sich die Geschwister um ein Spielzeugflugzeug, das schließlich in der verbotenen Zone jenseits der Grundstücksgrenze landet, während am Himmel immer wieder Flugzeuge vorüberziehen. Eine Ahnung von Freiheit streift diese abgezirkelte, reglementierte Welt im Abseits.

Wenn eine der Schwestern mit einer Schere die Gliedmaßen einer Puppe amputiert und die andere ihren Bruder mit einem Messer vorsätzlich verletzt, lassen sich bereits in beunruhigender Weise die zukünftigen Gewaltexzesse erahnen, die zur Implosion des abartigen Systems führen. Der griechische Regisseur Giorgos Lanthimos inszeniert diese in seinem außerordentlich beeindruckenden Film „Dogtooth“ (Kynodontas) als kalkulierte Schockeffekte: radikal direkt und ohne Filter, intensiv und verstörend. Diese wirkungsvolle Drastik hat allerdings Methode und fügt sich nahtlos ein in einen sachlichen, naturalistischen Stil, der mit seinem nüchternen, ungeschönten Zeigegestus eine untergründige Spannung aufbaut und an die Arbeiten des Österreichers Ulrich Seidl erinnert.

Abgeschirmt von der Außenwelt, kontrolliert und überwacht, werden die Kinder von ihren Eltern einer strengen Erziehungsdressur innerhalb eines geschlossenen Raums unterzogen. Das ähnelt in seinen Extremen einer Gehirnwäsche und zielt auf Regression. Die kalkulierten Manipulationen durch den Vater-Tyrannen lösen bei den Geschwistern insofern kindliche Verhaltensweisen und sexuelle Störungen aus, die schließlich im Inzest, aber auch in Aggressionen bis hin zur Selbstverstümmelung kulminieren. Aus Eltern, die ihren Kindern die Freiheit verweigern, werden diktatorische Herrscher, die überwachen und strafen. Die Familie ist in Lanthimos‘ schockierender filmischer Parabel auf gesellschaftliche Unterdrückung ein Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt.

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Black Forest

(D 2010, Regie: Gert Steinheimer)

Schwarzwälder Schinken
von Harald Steinwender

Zurück zur Natur: Sabine (Nikola Kastner), Mike (Adrian Topol), Eva (Johanna Klante) und Jürgen (Bernhard Bulling) machen in einer abgelegenen Schwarzwaldhütte Urlaub. Auto, Handys und andere technische Helferlein haben die …

Zurück zur Natur: Sabine (Nikola Kastner), Mike (Adrian Topol), Eva (Johanna Klante) und Jürgen (Bernhard Bulling) machen in einer abgelegenen Schwarzwaldhütte Urlaub. Auto, Handys und andere technische Helferlein haben die beiden Pärchen zurückgelassen; einzig ein Generator liefert Strom. Als der technisch begabte Jürgen entgegen der Abmachung versucht, einen altersschwachen Fernseher instand zu setzen, entwickelt sich der Erholungsurlaub zum Horrortrip. Bald beginnen mysteriöse Mächte, die Freunde gegeneinander aufzuhetzen.

In der Stummfilmzeit hatte Deutschland eine lebendige Tradition des Horrorfilms. 'Das Cabinet des Dr. Caligari' (1920; Robert Wiene), 'Nosferatu, eine Symphonie des Grauens' (1922; Friedrich Wilhelm Murnau) und 'Orlacs Hände' (1924; Robert Wiene) sind die Klassiker des phantastischen Films, die den Ruf des deutschen Kinos als 'Dämonische Leinwand' begründeten. Das ist lange vorbei. Während in Frankreich derzeit der neue Horrorfilm mit Gewaltexzessen und ausgefeilten Handlungsbögen boomt, kann man deutsche Genrebeiträge an zwei Händen abzählen. Obendrein wandern im Genre erfolgreiche Regisseure wie Christian Alvart ('Antikörper'; 2005) und Robert Schwentke ('Tattoo'; 2002) bald nach Hollywood ab.

Nun hat sich Gert Steinheimer, Grimmepreisträger für seinen Fernsehmehrteiler 'Atlantis darf nicht untergehen' (1988), an einem B-Horrorfilm versucht. Die Grundidee ist bewährt und kostengünstig: Eine Gruppe junger Menschen begegnet in einer einsamen Waldhütte dem Bösen und dezimiert sich gegenseitig. Das war schon die Vorgabe von Debütfilmen wie Sam Raimis 'The Evil Dead' ('Tanz der Teufel'; 1981) und Eli Roths 'Cabin Fever' (2002). An diese überdrehten, wilden und stimmungsvollen Filme kommt Steinheimers Versuch allerdings nicht heran.

Dabei beginnt alles vielversprechend. Pascal Rémonds agile Kamera begleitet mit eleganten Fahrten die Ankunft am einsam gelegenen 'Wunderlehof', erkundet mit den Neuankömmlingen neugierig die einsame Hütte im dunklen deutschen Märchenwald. Die immer wieder eingestreuten Landschaftsimpressionen schaffen zusammen mit Andreas Adlers und Jo Matz’ Filmmusik die rechte Stimmung. Die Handlung erweist sich jedoch bald als ein mit Brachialmedienkritik versetztes Potpourri vertrauter Motive aus Filmen wie 'Poltergeist' (1982; Tobe Hooper & Steven Spielberg), 'The Blair Witch Project' (1999; Daniel Myrick & Eduardo Sánchez) und 'Ringu' ('Ring'; 1998; Hideo Nakata) bzw. 'The Ring' (2002; Gore Verbinski).

B-Filme leben vom formelhaften Spiel mit Erwartungen und Klischees. In 'Black Forest' werden diese Versatzstücke jedoch ohne Sinn und Verstand zusammengehackt. Ärgerlich sind neben kolossalen Logiklöchern die schlechten, von den Schauspielern oft steif deklamierten Dialoge. Am Ende der vorhersehbaren Handlung verweigert 'Black Forest' seinem Publikum obendrein eine halbwegs glaubwürdige Auflösung. So überzeugt dieser Heimat-Horrorfilm-Mix letztlich auf keiner Ebene: Horrorfans dürfte der jugendfreie Film zu blutarm sein, durchschnittliche Kinogänger werden sich an der dürftigen Umsetzung stören und als Trashfilm schlägt 'Black Forest' einfach nicht genug über die Stränge.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Surrogates – Mein zweites Ich

(USA 2009, Regie: Jonathan Mostow)

Der letzte Pfadfinder
von Harald Steinwender

Die Zukunft bietet der Menschheit einige Annehmlichkeiten. Die bei weitem populärste Innovation sind sogenannte 'Surrogate', hochentwickelte, äußerlich nicht von echten Menschen unterscheidbare Avatare. Mit diesen gehen ihre Besitzer nahezu allen …

Die Zukunft bietet der Menschheit einige Annehmlichkeiten. Die bei weitem populärste Innovation sind sogenannte 'Surrogate', hochentwickelte, äußerlich nicht von echten Menschen unterscheidbare Avatare. Mit diesen gehen ihre Besitzer nahezu allen Alltagsverrichtungen nach, während der eigene Körper derweil im sicheren Zuhause dämmert. Als eine rätselhafte Mordserie an den Androiden den Tod des zugehörigen Menschen nach sich zieht, muss FBI-Agent Tom Greer (Bruce Willis) die Ermittlungen aufnehmen. Sie führen ihn zu einer ominösen Widerstandsgruppe und einer Verschwörung von ungeahnten Dimensionen.

James Camerons 'Avatar' (2009) hat es vorgemacht, auch in Mark Neveldines und Brian Taylors 'Gamer' (2009) war es Thema: Zukunftsvisionen über die Aufgabe des physischen Körpers und das utopische Versprechen, in einer virtuellen Hülle die Beschränkungen der Naturgesetze zu überwinden. Nach Camerons hymnischer Feier der Technik kritisiert Jonathan Mostow in 'Surrogates' nun das prometheische Streben. Schon in den ersten Minuten verkündet ein 'Prophet' (Ving Rahmes), wir seinen nicht dafür geschaffen, die Welt durch Maschinen zu erleben. Tatsächlich erweisen sich die technischen Helferlein bald als Gefahr für die Menschheit.

Oberflächlich entwirft 'Surrogates' eine böse Gegenwartsallegorie. Während wir heute bereits durchschnittlich mehr als vier Stunden täglich mit Fernsehen und Internet verbringen, da ist das Leben im Jahr 2017 fast gänzlich virtuell geworden. Selbst Kriege werden mittels Avataren geführt. Die Technikkritik läuft allerdings ins Leere. Letztlich leben Filme wie dieser gerade von den Möglichkeiten digitaler Spezialeffekte, die sie zugleich geschickt in die Dramaturgie einbinden und als ästhetisches Surplus ausstellen. Bis auf vereinzelte, mit galligem Humor vorgetragene Spitzen verzichtet 'Surrogates' dann auch zugunsten eines konventionellen Whodunit-Plots auf satirische Seitenhiebe und präsentiert am Computer bearbeitete Actionsequenzen als Schauwerte.

Thematisch geht die Comic-Verfilmung auf Nummer Sicher. Die Drehbuchautoren bedienen sich bei modernen Klassikern wie 'Blade Runner' (1982; Ridley Scott), 'The Terminator' (1984; James Cameron) und 'Twelve Monkeys' (1995; Terry Gilliam). Selbst Willis’ Figur ist ein Kompositum seiner vertrauten Leinwandimages. Wie einst in 'Die Hard' ('Stirb langsam'; 1987; John McTiernan) gibt der Star den menschlichen Helden in einer gefühlskalten Hypermoderne. Als lebender Anachronismus torkelt Greer durch die von Androiden bevölkerten Straßen, und doch kann gerade dieser 'letzte Pfadfinder' es mit den Gefahren der Hightech-Welt aufnehmen. Der altmodisch gewordene Körper ist trotz aller Fehler der Hybris perfekter Technisierung überlegen.

Leider werden viele reizvolle Ideen nicht konsequent zu Ende gedacht. Unklar bleibt etwa, warum die Verbrechensrate in der Zukunft gegen Null tendieren sollte, wenn sich doch die Menschen nicht geändert haben, sondern nur ihre Erscheinung. Wenn man sich jedoch nicht an Ungereimtheiten stört, unterhält 'Surrogates' als solider Science-Fiction-Thriller alter Schule. Die apokalyptischen Bilder im Finale entschädigen zudem für manche Durchhänger.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Gamer

(USA 2009, Regie: Mark Neveldine, Brian Taylor)

Jungsfantasie 2.0
von Harald Steinwender

In einer nicht näher bestimmten Zukunft hat eine neue Generation von Onlinespielen die herkömmlichen Computerspiele abgelöst. Hier lenken die Teilnehmer echte Menschen als Avatar. Neben 'Society', einer pornografischen Variante von …

In einer nicht näher bestimmten Zukunft hat eine neue Generation von Onlinespielen die herkömmlichen Computerspiele abgelöst. Hier lenken die Teilnehmer echte Menschen als Avatar. Neben 'Society', einer pornografischen Variante von Second Life, ist 'Slayers' das erfolgreichste Format. Es ist ein 'Killerspiel' im wahrsten Sinn des Wortes, bei dem zum Tode Verurteilte als moderne Gladiatoren auf Leben und Tod antreten. Unangefochtener Held der Cyber-Arena ist der stoische Kable (Gerard Butler). Vom Teenager Simon (Logan Lerman) gesteuert, werden seine Kämpfe von Millionen weltweit live verfolgt. Um seine Familie zu retten, muss Kable jedoch einen Ausweg aus der virtuellen Fremdbestimmung finden und den exzentrischen Spieledesigner Ken Castle (Michael C. Hall) stellen.

'Gamer' ist eine Film gewordene Jungsfantasie: hyperaktiv, grell und laut, passagenweise so düster wie ein Marilyn-Manson-Videoclip, dann wieder bis in die schreienden Neonfarben der Pop-Art überzeichnet. Erklärt geschmacklos ist das Ganze obendrein. Mehr noch als in ihren 'Crank'-Filmen (2006/09) mit Martial-Arts-Star Jason Statham mischt das Regisseurs- und Autorenteam Mark Neveldine und Brian Tylor Sex, Gewalt und Obszönitäten, alles zusammengeleimt durch zynischen Humor. Ob einem das gefällt, ist ganz eindeutig eine Geschmacksfrage. Deutlich auf die Sehgewohnheiten eines jungen Publikums zugeschnitten, ist 'Gamer' auch eine logische Weiterentwicklung der 'Crank'-Filme. Trat dort Statham als lebender Toter in einer hyperrealen Comicwelt an, in der Stillstand den Tod bedeutet, so ist der neue Film mit Gerard Butler als Online-Gladiator gleich in einer weitgehend virtuellen Welt angesiedelt.

Motivisch bedient sich diese Anti-Utopie bei Science-Fiction-Werken wie 'Rollerball' (1975; Norman Jewison), 'The Running Man' (1987; Paul Michael Glaser) und 'Robocop' (1987; Paul Verhoeven). Aber wo zumindest Verhoevens 'Robocop' eine boshafte Satire bot, da läuft die mit dem Vorschlaghammer vorgetragene Gesellschaftskritik hier nur ins Leere. Ärgerlich ist vor allem der pseudo-moralische Gestus, mit dem vorgegeben wird, dem voyeuristischen Spielepublikum den Spiegel vorzuhalten. Dabei ist es gerade die virtuose Action- und Gewalt-Inszenierung, durch die der harte Reißer das Kinopublikum unterhält.

Tatsächlich gelingt es Neveldine und Tylor in den mit Reißschwenks und digitalen Pixelfehlern inszenierten Kampfsequenzen, sich der Ästhetik moderner First-Person Ego-Shooter anzunähern. Hier, in den an Computerspiel-Levels angelehnten Wettkampfarenen, feiern die Regisseure Kino als Kunst purer kinetischer Energie; ein Rausch der Bewegung, in dem der rasante Schnitt und die extrem agile Kamera den Eindruck von Unmittelbarkeit erzeugen. Doch der visuelle Overkill kann letztlich die dramaturgischen Schwächen kaum kaschieren. Als Science-Fiction-Dystopie bleibt 'Gamer' weit hinter seiner guten Ausgangsidee zurück, als zynischer Unterhaltungsfilm wird er von 'Crank' um Längen übertroffen. Und als innovative Fusion von Computerspielästhetik und Kino verblasst er sowieso im Schatten von James Camerons 'Avatar'.

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Dark Shadows

(USA 2012, Regie: Tim Burton)

Im Dunkeln ist gut Munkeln
von Harald Mühlbeyer

Bei Warner ist Tim Burton definitiv besser aufgehoben als bei Disney. Sein Ausflug ins dortige Wunderland walzte über ausgetretene Pfade. Nun, zurück im Warner-Studio, durchstreift er wieder den rankenden Zaubergarten …

Bei Warner ist Tim Burton definitiv besser aufgehoben als bei Disney. Sein Ausflug ins dortige Wunderland walzte über ausgetretene Pfade. Nun, zurück im Warner-Studio, durchstreift er wieder den rankenden Zaubergarten seiner eigenen kindlich-romantisch-schrägen Fantasie.

Johnny Depp spielt in „Dark Shadows“ einen Vampir namens Barnabas Collins, seit 200 Jahren eingeschlossen in einem Sarg, lebendig begraben. Bis er von einem Bagger befreit wird, im Jahr 1972, und zu den verlotterten Nachfahren seiner alten Neuengland-Familie zurückkehrt, ins halb verfallene burgähnliche Herrenhaus Collinswood, von wo aus seine Familie damals, in der guten alten Zeit des 18. Jahrhunderts, über die Hafenstadt Collinsport herrschte. Inzwischen ist die Familie verarmt, das Fischereiunternehmen heruntergewirtschaftet, der Stammsitz verstaubt und die Familienmitglieder degeneriert.

Gegenspieler der Collins – und speziell des Urahns Barnabas – ist Angelique Bouchard, die er dereinst verschmähte, nicht wissend, dass sie eine Hexe ist. Sie verfluchte ihn und die Familie, tötete alle, die er liebte, verwandelte ihn in einen Vampir, auf dass er ewig leiden müsse … Nun herrscht sie – durch Hexenkunst ebenfalls unsterblich – über Collinsport mit ihrem Unternehmen Angelbay. Doch Barnabas ist gekommen, sie zu besiegen, persönlich und geschäftlich.

Catherine Collins, Hirn der Collinsfamilie, ist pragmatisch, aber kalt, ihr Bruder Roger ein Nichtsnutz. Die 15-jährige Tochter Carolyn will nichts mit irgendwem zu tun haben. Der Neffe David sieht den Geist seiner verstorbenen Mutter. Die Psychiaterin säuft und ist an sich nutzlos – und diese neue Gouvernante ist seltsam und heißt nicht, wie sie sich nennt: sie hat sich den Namen „Victoria Winters“ von einem Plakat mit Wintersportreklame abgeguckt. Im Übrigen sieht sie aus wie Barnabas‘ verflossene wahre Liebe.

Eine fabelhafte Vampirstory ist diese Filmadaption einer trashigen US-Seifenoper aus den Endsechzigern, mit Fluch und Untoten und Wiedergängern, mit der Qual der Ewigkeit auf Barnabas‘ Schultern und dem Hass zurückgewiesener Liebe als Angeliques Motivation, mit merkwürdigem Personal in der Collins-Sippe, die alle ein Geheimnis haben, mit Geistererscheinungen und Psychiatrie, mit Säufern, Geldgierigen, Mutterlosen und Teenierebellen, mit Burg und Geheimgängen, einem verwilderten Park und einer Selbstmörderklippe über dem brausenden Meer. Burton unternimmt einen wilden Ritt durch die Vampirmythen, von Max Schreck bis Twilight, inklusive Johnny Depps Hypnosefingern, die er von Bela Lugosi übernommen hat – eine Referenz auch auf den von ihm dargestellten Ed Wood, der Lugosi seine letzten Rollen gegeben hat …

Natürlich birgt das Düstere in Burtons Filmen weniger Schrecken als Wehmut und Sehnsucht – und da wir uns in Burtonland befinden, ist alles ebenso ernst gemeint, wie es ironisch gebrochen ist und mit Gags und Witz durchwoben. Ein paar parodistische Schmankerl gibt’s als Zugabe obendrauf: Wie Barnabas sich einen Schlafplatz sucht, kopfüber am Himmelbett, in einem Pappkarton, im Wäscheschrank. Wie er sich steif wie ein Brett von der Horizontalen in die Vertikalen erhebt; wie er sich die Zähne putzt vor einem Spiegel, in dem er sich nicht sieht …

Dazu das schön eingeflochtene Unzeitgemäße von Barnabas, mit seiner altertümlichen Sprache, seinen altertümlichen Gewohnheiten und Sitten, seinem Unverständnis für eine Zeit, in der eh alles drunter und drüber ging, von Vietnamkrieg bis Women’s Rights Movement: Depp ist ja ein Meister des erstaunten Herumstakens, das kann er hier wieder mal ausleben. Er wundert sich mit seinem unsterblichen Dead-Pan-Stutzen über Autos – die Augen des Teufels! – , einen Bagger – ein gelber Drache, der ihn fressen will! – und das McDonalds-M – Mephistopheles, der wahre Name Satans! Wie um ein Mädel werben, wenn er so altmodisch ist? Wo sie doch ein so gebärfreudiges Becken hat, und heutzutage reicht es eben nicht, dem Vater Geld oder Schafe anzubieten! Doch er lebt sich ein, zitiert die Sprachmacht der zeitgemäßen Poeten, die stärker ist als bei Shakespeare: „I’m a picker, I’m a grinner, I’m a lover, and I’m a sinner, playin‘ my music in the sun …“

Das Fish-out-of-Water-Motiv des anachronistischen Untoten, der versetzt wurde in eine nun auch schon lange vergangene Zeit, ist das Fleisch des Films, stark und dynamisch. Das Rückgrat, das ist die alte Geschichte von den Vampiren, als Metapher für den alten, überlebenden, immer wieder erstarkenden, erdrückenden Adel. Mit einem Kniff: Die Collins‘ waren 1760 als Bürgerliche aus Liverpool geflohen, ihr Blut, ihre niedere Herkunft hat ihnen in der englischen Ständegesellschaft nie eine Chance gelassen. In Maine bauen sich die Collins‘ eine Fabrik auf, eine Burg, eine ganze eigene Stadt. Diese Dynastie, die auf Familie und Blut beruht, hat Erfolg, Geld, Achtung gepachtet – bis ihnen eine Hexe, eine Magd noch dazu, diese Errungenschaften strittig macht: in der Neuen Welt schwelt der Kampf des alteingesessenen Geldadels gegen eine dahergelaufenen Emporkömmling in Gestalt von Angelique weiter, über die Jahrhunderte lodert er immer wieder auf bis in die Ewigkeiten des Untotseins, eine Umkehrung der Liverpooler Verhältnisse, denen die Collins‘ entflohen sind.

In Collinswood verschmelzen europäische Eleganz und amerikanischer Unternehmergeist, wie Barnabas über die Einrichtung feststellt – in der Familie paaren sich europäischer Adelsdünkel und amerikanisches Geld- und Machtstreben. Eine Parabel auf den Kapitalismus also, die Burton zu Gunsten des Geldadels auflöst, denn die Neue, die den Status quo streitig macht: sie ist die Hexe, die die traditionell – und völlig zu Recht – Herrschenden entweder umarmen – sprich: aufkaufen – oder ruinieren will. Auf die Seite der alten Blutsauger stellt sich der Film, die gegen die neuen Blutsauger ankämpfen.

Dabei hält Barnabas viel auf Familie: wer drin ist, ist drin. Wer ihn betrügt, wird vor die widerwärtige Wahl gestellt, entweder zu bleiben und die ehrenvolle Aufgabe wahrer Vaterpflichten zu erfüllen, oder mit praller Abfindung schnöde und unehrenhaft abzureisen. Wer nicht drin ist, wer nicht das rechte Blut hat, und ihn dann noch hintergeht, wird innerhalb von fünf Sekunden ausgesaugt.

Im Übrigen muss man auf seinen Ruf achten, ein Ball ist die Präsentation und Manifestation der Macht, sichtet den Herrschenden das Herrschen. Auch wenn der Ball jetzt Happening heißt, eine Discokugel, Schnaps und Alice Cooper, den Schauerspaßrocker, erfordert. Der notabene – und das ist so was wie ein Sinnbild für Burtons nostalgisch-modernes Kino überhaupt – auch in seinem Gastauftritt als über 60-jähriger noch genauso aussieht wie vor 40 Jahren, als der Film spielt.

Ich liebe dich, ich töte dich

(BRD 1970, Regie: Uwe Brandner)

Neue alte Ordnung
von Wolfgang Nierlin

Uwe Brandners Langfilmdebüt aus dem Jahre 1970 formuliert seine paradoxen Liebes- und Lebensverhältnisse bereits im Titel: „Ich liebe dich, ich töte dich“ markiert sprachlich das abrupte Umschlagen von Nähe in …

Uwe Brandners Langfilmdebüt aus dem Jahre 1970 formuliert seine paradoxen Liebes- und Lebensverhältnisse bereits im Titel: „Ich liebe dich, ich töte dich“ markiert sprachlich das abrupte Umschlagen von Nähe in Distanz, von Zuneigung in Zerstörung und ist durchaus auch übertragbar auf die ebenso wechselvolle wie labile Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Eine Hassliebe grundiert also Brandners „Bildergeschichte aus der Heimat“, einem der frühen „linken Heimatfilme“ des Neuen Deutschen Films, der das Genre gründlich gegen den Strich bürstet, indem er seine künstlerische Anti-Haltung in einen unkonventionellen visuellen Stil übersetzt. Brandner verzichtet dabei sowohl auf eine herkömmliche Erzähl- und Spannungsdramaturgie als auch auf gängige Figurenpsychologie; stattdessen versetzt er eine Reihe prototypischer Repräsentanten der Gesellschaft, die er theatralisch inszeniert, durch eine ausgeklügelte Bild- und Tonmontage und mittels anarchisch-subversivem Witz in ebenso absurde wie entlarvende Situationen.

Die scheinbar sinnlosen Dialoge, die dabei ausgetauscht werden und die wie in einem Sprechtheaterstück von Peter Handke oftmals auf wenige oder einzelne Wörter reduziert sind, verdichten den exemplarischen beziehungsweise symbolischen Gehalt des Films. Zugleich fügen sie sich nahtlos ein in die musikalisch-repetitive Struktur auf der Bildebene mit ihren wiederkehrenden Motiven, kontrapunktischen Arrangements und verfremdeten Realitäten. Das Ausgestellte und Gemachte in Brandners bemerkenswertem Film, der insofern Assoziationen an Brechts dialektisches Theater weckt, lässt einen an den anarchischen Humor eines Claude Faraldo und die absurden szenischen Versuchsanordnungen eines Giorgos Lanthimos denken. Auch der sezierte dörfliche Mikrokosmos in Branders Film, der auf groteske Weise einen Fremden in eine zementierte Ordnung versetzt und damit einen freiheitsliebenden Außenseiter gegen eine hierarchisch organisierte Gesellschaft stellt, ist durchzogen von latenter und offener Gewalt.

„Der Vogel fliegt, die Blume blüht, die Regierung regiert, das Gewehr schießt“, ergänzen die Schüler die Subjekt-Vorgaben des neuen Lehrers (Hannes Fuchs). Diese Tautologien über das Selbstverständliche der Gesellschaft und das Unabänderliche der Natur sind gar nicht so weit entfernt von der fatalistischen Schicksalsergebenheit des Dorfdichters („Die Tage gehen unmerklich ineinander über. Über unseren Köpfen wechseln die Jahreszeiten. Dagegen kann niemand nichts tun.“) oder auch der uneingeschränkten Lebensbejahung des Dorfpfarrers („Was ist, macht uns Freude.“). Dagegen steht gewissermaßen eine Montage, die in schneller Abfolge den Lehrer („Die Gedanken sind frei.“) mit nicht geladenem Gewehr auf die Häuser der Bürger zielen und schießen lässt. „Ich wollte etwas zeigen über Ordnung und Rebellion“, sagt der Filmemacher und Schriftsteller Uwe Brandner im Rückblick.

Ausgerechnet mit dem jungen Jäger in Lederkluft (Rolf Becker) freundet sich der rebellische Lehrer an und teilt sich mit ihm bald nicht nur die tierische Beute, sondern auch die sexuelle Gunst der Dorfschönheiten. Zugleich wird er wider das Tabu zu seinem Geliebten. Als der Eindringling neben der dörflichen Ordnung als mutmaßlicher Wilderer auch noch das Gefüge des Waldes zu bedrohen scheint, greifen die bis dato gelangweilten Ordnungshüter zu drastischen Strafmaßnahmen. Schließlich soll alles beim Alten bleiben. Dazu Uwe Brandner: „Der Wilderer ist der unbewusste Außenseiter, der kaputtgeht an seinem unbewussten Ausbruchsversuch.“

Sein von der zeitgenössischen Kritik als „merkwürdig“, kafkaesk“ und „seltsam offen“ beschriebener Film erlebte im Kino der Bundesrepublik nur ein kurzes Schattendasein. Wahlweise als „politische Parabel“, „Puzzle-Spiel“, „Allegorie“ und „reines Kino“ apostrophiert, das seinen Realismus mit „Elementen eines Mysterienspiels“ verbinde, wurde „Ich liebe dich, ich töte dich“ einmal mehr zuerst in Frankreich und später in den USA als eines „der reichsten und gelungensten Werke des jungen Kinos überhaupt“ rezipiert. So war etwa im „New Yorker“ – durchaus dick aufgetragen – zu lesen: „Der Film hat eine besondere, kaltschimmernde Brillanz … ein Mikrokosmos des Faschismus, Sadomasochismus, Konformismus und Chauvinismus.“ Doch wenn dem Filmemacher Uwe Brandner, der Ende der 1960er Jahre auch als Autor im Umfeld der Pop- und Undergroundliteratur in Erscheinung trat, großes Talent und eine Zukunft im Jungen Deutschen Film bescheinigt wurden, erfüllten sich die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht. Wie einige andere Filmschaffende dieser bedeutenden Aufbruchsbewegung, deren filmästhetische Innovationen und Eingriffe nach wie vor relevant sind, gehört auch Brandner heute mehr oder weniger zu den Vergessenen.

Men in Black 3

(USA 2012, Regie: Barry Sonnenfeld)

Schwarzer Zwirn, weiße Perücke, suspekte Haut
von Drehli Robnik

'MiB', wie die Logoökonomie – oder Logologik – ihn nennt, spielte 1997 als satirischer SciFi-Action-Blockbuster mit mehrschichtigen Übersteigerungen und Sinnwucherungen (bis zur Bedeutungsentleerung) des Konzepts illegal alien, wie sie in …

'MiB', wie die Logoökonomie – oder Logologik – ihn nennt, spielte 1997 als satirischer SciFi-Action-Blockbuster mit mehrschichtigen Übersteigerungen und Sinnwucherungen (bis zur Bedeutungsentleerung) des Konzepts illegal alien, wie sie in Migrationsgesellschaften sowie angesichts neuer Rassismen und der Normwerdung subkultureller Lifestyles zunehmend hervortraten. Der auffallend kurze 'MiB2' spielte vor zehn Jahren mit Maßstäben (Zwergenstadt im Bahnhofsschließfach), bespielte die damals schon steigende Prominenz einer Nerdkultur, die damals noch mit Videokassetten bewaffnet und politisch unverteten war, und zwang uns einen singenden Hund auf. 'MiB3' lässt dankenswerter Weise wortwitzige Vierbeiner weg und sich und uns mehr Zeit – so viel sogar, dass eine Zeitreise zwecks Rückkehr zur historischen Herkunft in der Gründerzeit des technobürokratischen Alienbeaufsichtigungswesens drin ist.

'Men in Black 3' ist ein Prequel. Der Schurke, ein etwas öder Zottelbold namens Boris, the Animal mit allerdings schön skurrilem Loch voller Partialwurmwesen in seiner Handfläche, fordert zu Beginn programmatisch 'Let‘s change history!'; das soll nun per Aufrechterhaltung des Zeit-, zumal Biografiekontinuums verhindert werden. Also werden franchisetypische Slapstickentblätterungen von kosmischen Aliens, die in der Haut ethnischer Aliens stecken, hier eher pflichtübungshaft absolviert (etwa per Boxkampf mit Riesenspeisefisch im Chinarestaurant). Ist das erledigt, lassen sich alle Dimensionensprünge voll ausspielen: nicht nur vom flächigen Filmbild zum gestaffelt-geschichteten in 3D, das sich hier recht hübsch macht, sondern eben auch vom Handlungs- und Zonierungsraum (mit seinen Bereichen gesicherter Fremdheit) zur Zeit, deren Vergangenheitsschichten hier primär abgesucht sein wollen. Mit einem leap of faith springt der immer noch burschikose Will Smith vom Chrysler Building und damit aus einem irrwitzig verdichteten Doomsday-Invasions-Szenario heraus zurück zum Vortag des ersten Raketenstarts zum Mond, um seinem damals gewissermaßen noch jungen Kollegen beizustehen.

Es ist 1969, also setzt es Hippieklamauk, Action mit Bikes (die selbst ganz, nun ja: immersiver Zyklus sind), ein Outing von Andy Warhol (Bill Hader) als MiB-Agent, den das Flöten vielsinniger Floskeln als Teil seiner Tarnidentität so sehr nervt wie seine Weißhaarperücke und sein Hofstaat in der Factory. Hinzu kommt ein an den Nowhere Man aus 'Yellow Submarine' erinnernder pummeliger Kauz, der fröhlich possible futures ausposaunt. (Die Möglichkeit, dass dunkelhäutige Menschen – nicht nur – in den USA auch in Zukunft ungefähr so schamlos sicherheitsrassistisch misshandelt werden, wie es Smith als Sixtiestourist einen Polizistensketch lang kopfschüttelnd erfahren muss, sieht er nicht. Dafür brilliert er in Baseballmeisterschaftsprognosen – sowas ist ja zumindest ein verlässlicher Epochenmarker.)

Ein drittes Mal melkt Barry Sonnenfelds Regie nun mit dem Charme der Routine die Konfrontationskomik zwischen Dauerredner und Lakoniker in schwarzem Zwirn und mit Sonnenbrille. (Letztere kommt merchandisetechnisch fast zu spät: Sämtliche Zielgruppen scheinen schon seit dem Vorjahr mit ähnlichen Ray-Bans ausgestattet zu sein.) Die ältere Hälfte des in der Zeit verdoppelten weißen Agenten gibt Tommy Lee Jones; Josh Brolin spielt sein 43 Jahre jüngeres und circa fünfzehn Jahre jünger aussehendes Selbst. Das comicbasierte Skript (u.a. von Etan Cohen und David Koepp) endet in ödipaler Selbsterkenntnissentimentalität mit einem Hauch von 'La jetée'; naja, zumindest gibt es einen sozusagen immer schon undeutlich erinnerten gewaltsamen Tod am Rand eines Flughafenkomplexes. Am Rand spielen auch Frauen mit (Nicole Scherzinger, Alice Eve, Emma Thompson). Mehr sei nicht verraten, denn immerhin brauchen wir diesen Film so dringend wie das demnächst anstehende retrokulturelle Spätneunzigerrevival, also eh auch irgendwie.

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Der Junge mit dem Fahrrad

(B / F / I 2011, Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne)

Und Basta!
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein Film, bei dem mir die Floskel einfällt, – ein Film, den ich Dir ans Herz legen möchte. Kannst du Empathie für ein zwölfjähriges Heimkind entwickeln, einen Straßenräuber, der mit …

Ein Film, bei dem mir die Floskel einfällt, – ein Film, den ich Dir ans Herz legen möchte. Kannst du Empathie für ein zwölfjähriges Heimkind entwickeln, einen Straßenräuber, der mit einem Baseballschläger hinterrücks Nachbarn niederschlägt?

Wobei der Witz ist, dass mitnichten ein Thema verhandelt wird, soziale Anklage etwa oder psychologische Dispositionen. Es geht in diesem Film einfach nur um Menschen und ihre Fähigkeit, zu anderen Beziehungen einzugehen oder eben nicht. Angesagt ist das nicht. Warum sollte man. Sollte man nicht. Wir sind gewöhnt, zum einen oder anderen motiviert zu werden. Was die Regisseure uns aber bieten, ist die Möglichkeit, sich ohne Vorbedingung auf einen anderen einzulassen, auf den Zwölfjährigen zum Beispiel. Und dann funktionierts, märchenhaft. Ja, „Der Junge mit dem Fahrrad“ ist ein Märchen, und eine Fee wird Wunder tun.

So weit mein Wort zur Einstimmung. Der Film aber macht keine Worte. Er kommt direkt zur Sache. Cyril also entweicht aus dem Heim, den Vater suchen. Er braucht ihn und überdies sein Fahrrad, um Wochenendurlaub zu bekommen. Der Vater entzieht sich. Die Wohnung ist leer. Unbekannten Orts verlassen. Cyril geht auf die Suche. Ihm hilft jemand, Samantha. Einfach so. Dann ist das Fahrrad weg. Der Vater selbst hat es geklaut und verkauft, das Schwein. – Ein Dreipersonenstück. Der Beziehungsunfähige. Die Beziehungsfähige. Ein Junge auf der Kippe, ausgenutzt von einer Jugendgang, die ihn mit dem Baseballschläger versorgt. – Klarer Fall, wie die Geschichte ausgeht, nämlich zu schön, um wahr zu sein.

Die Dardenne-Brüder tun alles, um den Film wahr erscheinen zu lassen. Aufgenommen ist er ohne jeden Firlefanz in ihrem berühmten personennahen, realistisch-dokumentarischen Stil. Ich fand es aufregend, den Schauspielern körperlich nah zu sein. Keine Psychologie dazwischen als Schutzschirm! Die Darsteller handeln, wie sie handeln. Und basta. – Das ist für unser Filmverständnis, für den Film als Thementransmitter, ungewöhnlich. Die Regisseure weichen damit von ihren großen Filmen ab, die immer auch den Gestus hatten, vor dem Zuschauer einen Fall zu verhandeln. Einige Kritiker haben jetzt beim „Jungen mit dem Fahrrad“ beanstandet, dass ihnen da nichts zum Befinden vorgelegt werde. – Je, tut mir leid, Leute. Ist ja auch nicht immer leicht, sich zu etwas natürlich zu verhalten. Aber diese altertümliche Reaktion gibt’s auch, wie man an der Flut der Preise sieht, die der Film auf den Festivals bekommen hat.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 2/2012

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Das Zimmer meines Sohnes

(I / F 2001, Regie: Nanni Moretti)

Einfach göttlich
von Dietrich Kuhlbrodt

Das ist Bestsellertechnik vom Feinsten. Und man muss zugeben, dass daraus auch was Gutes entstehen kann. Was schon dadurch bewiesen wird, dass dieser Film in Cannes 2001 die Goldene Palme …

Das ist Bestsellertechnik vom Feinsten. Und man muss zugeben, dass daraus auch was Gutes entstehen kann. Was schon dadurch bewiesen wird, dass dieser Film in Cannes 2001 die Goldene Palme bekam. Alles, was zu hören und zu sehen ist, ist eins zu eins. Man kann sich darauf verlassen. Die Welt ist in Ordnung, auch wenn ein Schrecken zu bewältigen ist. Er wird bewältigt. Man kann ohne Scheu seinen Gefühlen freien Lauf lassen. Kein formaler Krimskrams stellt sich zwischen uns und Nanni Moretti. Das ist der, der den Film gemacht hat. Und die Hauptrolle spielt.

'Das Zimmer meines Sohnes' betreibt Angehörigentherapie in gepflegtem Ambiente. Was ist zu tun, wenn ein Kind tödlich verunglückt? Der Psychotherapeut (Moretti) bedarf selbst psychischen Zuspruchs. In Großaufnahme müssen sowohl er wie die Zuschauer ansehen, wie die Schrauben in den Sargdeckel gedreht werden. Jetzt bricht er die Behandlung seiner Patienten ab. Wodurch der eine spontan geheilt ist, der andere aber das kostbare Design des Praxismobiliars zerdeppert. Das ist eine besonders schöne Szene des Films, bei der ich voll mitgehen konnte. Wir erfahren auch, wie Mutter und Schwester ihre Depressionen meistern. Zum Schluss sind wir in einer Postkartenidylle am Mittelmeer, und wir wissen, dass alles gut wird und der Film zu Ende ist, denn es darf gelacht werden.

Es tut mir sehr, sehr leid, wie zynisch ich den Filmplot soeben wiedergegeben habe. Womöglich habe ich eine Hemmschwelle, mich meinen Gefühlen hinzugeben, gar eine Störung. Alle anderen waren vom Film schwer beeindruckt. Auch muss ich einräumen, dass ich mich während der Vorstellung überhaupt nicht gelangweilt habe. Schließlich ist das Thema wichtig. Die Angehörigen werden fokussiert. Vom Opfer haben wir zwar nichts erfahren, außer dass der Junge, bevor es soweit war, ständig auf die weiche Art gelächelt hat. Ich nehme an, es ist zurzeit en vogue, an sich zu denken, wenn man überlebt. Bille August, der alte Schwede, hat ebenfalls einen Angehörigentherapiebestsellerfilm in gepflegtem Ambiente gemacht. Übrigens ist in 'Martins Lied', der im Winter in die Kinos kommt, der Angehörige eine Frau, und da sie Erste Violinistin ist, könnten sie und der Psychotherapeut Moretti ein standesgemäßes Paar werden.

Wie gesagt, 'Das Zimmer meines Sohnes' ist edel, hilfreich und gut.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2001

Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben

(THAI / GB / D / F / ESP 2010, Regie: Apichatpong Weerasethakul )

Bilderrausch
von Harald Steinwender

Onkel Boonmee (Thanapat Saisaymar) leidet an Nierenversagen und hat sich auf sein Landgut im Nordosten Thailands zurückgezogen. Während der alte Mann inmitten seiner Familie den Tod erwartet, erhält er Besuch …

Onkel Boonmee (Thanapat Saisaymar) leidet an Nierenversagen und hat sich auf sein Landgut im Nordosten Thailands zurückgezogen. Während der alte Mann inmitten seiner Familie den Tod erwartet, erhält er Besuch von verschiedenen Geistern. Darunter sind seine verstorbene Frau Huay (Natthakarn Aphaiwong) und sein verschollener Sohn Boonsong (Jeerasak Kulhong), der nun im Dschungel als Affengeist lebt. Als Boonmees Leben sich dem Ende zuneigt, rekapituliert er seine früheren Leben in anderen Körpern …

Mit seinem sechsten Spielfilm gelingt dem Avantgarde-Regisseur Apichatpong Weerasethakul ein höchst unkonventioneller, märchenhafter Film. Jenseits der mythopoetischen Bildsprache ist 'Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben' eine Parabel auf das gegenwärtige Thailand und seine zwischen Tradition und Moderne zerrissene Gesellschaft. Während Boonmees jüngere Verwandte längst die rückständige Provinz verlassen haben und in der hochtechnisierten Moderne angekommen sind, leben die Älteren noch in einer von Animismus und Geisterglauben geprägten Welt. Wie selbstverständlich unterhalten sich Boonmee und seine Schwester mit verstorbenen Verwandten, die ihnen als Geister oder in Tiergestalt erscheinen.

'Uncle Boonmee …', auf dem Filmfestival in Cannes 2010 mit der Goldenen Palme prämiert, ist der Abschluss von Weerasethakuls Kunstprojekt 'Primitive', das sowohl Installationen wie Filme umfasst. Viele der Stilmittel, die der Filmemacher nutzt, sind im westlichen Kino mit dem Kunstfilm assoziiert: lang gehaltene, oft starre Kameraeinstellungen, eine niedrige Schnittfrequenz und eine verinnerlichte Handlung. Der mäandernden, oft enigmatischen Erzählweise voller Ellipsen und Sprünge stehen Sequenzen mit demonstrativ ausgespielter Echtzeit gegenüber. Manche Zuschauer mag dieser disparate, nur schwer zugängliche Erzählgestus abschrecken. 'Uncle Boonmee …' ist fraglos ein erratischer Film, der tradierte Sehgewohnheiten unterläuft.

Weerasethakuls Drama lebt von ruhigen, fast malerischen Bildern: Wasserdampf, der aus dem Dschungel aufsteigt; zwei Alte, die im Sonnenlicht ungerührt von den sie umfliegenden Bienen Honig aus Waben naschen; ein Wasserbüffel, der in der Nacht durch den Urwald streift – allesamt Bilder, die, begleitet von der fast musikalischen Geräuschkulisse, lange nach dem Kinobesuch nachwirken. Besonders gelungen ist eine märchenhafte Sequenz über eine Prinzessin, die sich von einem Wels begatten lässt – der Fisch ist Boonmee selbst in einer seiner früheren Reinkarnationen. In ihrer anrührenden Naivität erinnert die Episode an die besten Momente aus Pier Paolo Pasolinis 'Trilogie des Lebens'. Wer sich auf solche mythischen Bilder und den meditativen Rhythmus einlässt, wird mit einem Filmerlebnis belohnt, das durch seine lyrische Bildsprache besticht.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

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From Paris with Love

(USA 2010, Regie: Pierre Morel)

Buddy Buddy
von Harald Steinwender

Getarnt als Assistent des US-Botschafters in Paris führt der junge und unerfahrene Geheimagent James Reese (Jonathan Rhys Meyers) ein ruhiges Leben. Das ändert sich, als ihm sein neuer Partner vorgestellt …

Getarnt als Assistent des US-Botschafters in Paris führt der junge und unerfahrene Geheimagent James Reese (Jonathan Rhys Meyers) ein ruhiges Leben. Das ändert sich, als ihm sein neuer Partner vorgestellt wird. Der US-Amerikaner Charlie Wax (John Travolta) ist ebenso egozentrisch wie ordinär und laut. Trotz anfänglicher Probleme rauft sich das ungleiche Paar bei ihrer Jagd nach Drogenhändlern und Terroristen zusammen. Bald entdecken sie, dass Reeses Verlobte Caroline (Kasia Smutniak) in den Fall verwickelt ist.

Luc Besson hat ein Händchen für Fließbandware und B-Filme. Seit fast dreißig Jahren produziert der Franzose parallel zu seinen eigenen Regiearbeiten europäische Genrefilme. Serien wie die 'Taxi'- und 'Transporter'-Filme waren äußerst erfolgreich, zuletzt avancierte Pierre Morels harter Rachethriller '96 Hours' zum Überraschungshit. Mit 'From Paris With Love' hat das Team Morel-Besson nun einen weiteren Thriller abgeliefert, der wie gewohnt in einem irrealen Paris zwischen Postkartenmotiven und Banlieue-Tristesse angesiedelt ist.

Die Geschichte vom ungleichen Männerpaar, das seine anfängliche Abneigung im Kampf gegen einen gemeinsamen Gegner überwindet und schließlich zu Freunden wird, ist schon unzählige Male erzählt worden. Wie so oft sind auch hier die Gegensätze kultureller Art. Der intellektuell-distinguierte Jungagent James hat sich in Paris an die Vorzüge einer europäischen Metropole gewohnt und genießt das süße Leben zwischen Hochkultur, französischer Küche und Schachpartien mit seinem begriffsstutzigen Chef. Travolta dagegen tritt als Zerrbild des amerikanischen Touristen in Europa an. Wie ein Bulldozer walzt er mit lärmigem Gehabe durch Paris und erweist sich noch beim Drogendeal im Vorstadtghetto als Elefant im Porzellanladen.

Lustvoll gibt Travolta mit Glatze und Henriquatre-Bart zurechtgemacht die Rampensau – mit affektierten Gesten und expressiver Mimik, rüpelhaftem Benehmen und Chuzpe. Das alles ist immer mehr als eine Nuance zuviel und deutlich als Zitat seiner Rollengeschichte angelegt. Wie in 'Schnappt Shorty' ist Travoltas Charlie Wax ein cooler Killer, wie zuletzt in 'Die Entführung der U-Bahn Pelham 123' legt der Star sein Schauspiel als überzogene Camp-Performance an. Einmal verlangt er in einer offensichtlichen Anspielung auf Pulp Fiction' nach einem 'Hamburger Royal'. Dabei degradiert er seinen aus 'Match Point' bekannten Schauspielkollegen Rhys Meyers zum Nebendarsteller.

Aus den kulturellen Gegensätzen und den unterschiedlichen Schauspielstilen erwachsen durchaus einige amüsante Scherze. Auch technisch ist 'From Paris With Love' kompetent umgesetzt und bietet fulminante Actionszenen. Ärgerlich ist jedoch der dummdreiste Sexismus des derben Buddy-Movies, in dem selbst der Tod der Lebenspartnerin mit einem Achselzucken quittiert wird. Wer sich an solchen Geschmacklosigkeiten nicht stört und von einem gelungenen Kinoabend viel Geballer und zynische One-liner erwartet, ist hier allerdings bestens aufgehoben.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf www.br.de

Medianeras

(AR / D / ES 2011, Regie: Gustavo Taretto )

Schachteldasein
von Wolfgang Nierlin

Als „urbane Fabel“ über Einsamkeit in der Großstadt und die Neurosen ihrer Bewohner hat der argentinische Regisseur Gustavo Taretto seinen Film „Medianeras“ bezeichnet. Demgemäß eröffnet er sein überraschend stilsicheres Langfilm-Debüt …

Als „urbane Fabel“ über Einsamkeit in der Großstadt und die Neurosen ihrer Bewohner hat der argentinische Regisseur Gustavo Taretto seinen Film „Medianeras“ bezeichnet. Demgemäß eröffnet er sein überraschend stilsicheres Langfilm-Debüt mit einer Montage beeindruckender Stadtansichten von Buenos Aires, die eine chaotische „Bauwüste“ voller ästhetischer Brüche und architektonischer Widersprüche zwischen Tradition und Moderne zeigen. Hier drängen sich Wohnsilos an alte Villen, hier wird hemmungslos abgerissen und umgebaut. Und wo Lücken in den Häuserzeilen entstehen, werden jene, oft mit Kunst oder Werbung verzierten Trennwände und Brandmauern sichtbar, von denen der Filmtitel spricht. Tarettos Reflexion über die moderne Stadt setzt dabei die Planungs- und Bausünden einer menschenfeindlichen Architektur in eine direkte Beziehung zu den seelischen Leiden der Stadtbewohner. Diese werden zum Abbild der Stadt, die umgekehrt ständig von ihnen transformiert wird.

„Medianeras“ meint aber auch das Dazwischenliegende, das zugleich trennt und verbindet. In Gustavo Tarettos ebenso origineller wie witziger Versuchsanordnung wird das isolierte Leben in der Schachtel-Wohnung deshalb auch zu einer sehr zeitgemäßen Reflexion über moderne Kommunikationsmittel und virtuelle Beziehungen. Der 29 Jahre alte Webdesigner Martín (Javier Drolas), der sich in seinem kleinen Ein-Zimmer-Appartement komplett abgeschottet hat, fast nur noch Online kommuniziert und von diversen Phobien geplagt wird, drückt sein Dilemma in einem der vielen Off-Monologe so aus: „Das Internet bringt mich der Welt näher, aber es entfernt mich vom Leben.“ Sein weibliches Pendant heißt Mariana (Pilar López de Ayala), arbeitet als Schaufensterdekorateurin und wohnt im Häuserblock gegenüber. „Wo ist Walter?“ („Wally In The City“) lautet der Titel des Wimmelbuches, das sie seit ihrer Kindheit begleitet und das ihre eigene Verlorenheit, aber auch Sehnsucht metaphorisiert: „Wie soll man eine Person finden, von der man nicht weiß, wie sie aussieht?“

Aber „Medianeras“ handelt dadurch auch vom Suchen und Finden der Liebe, von unverhoffter Nähe, zufälligen Begegnungen und von ganz altmodisch romantischer Vorherbestimmung der Liebesuchenden füreinander. So erzählt Taretto die parallelen Leben seiner beiden sympathischen Protagonisten entlang einer Vielzahl von Entsprechungen, die sich in Phobien, Trennungen und Enttäuschungen manifestieren. Auf eine in der Montage enge Verschränkung von Wort und Bild folgen immer wieder längere Passagen, die von emotionalen Stimmungen getragen werden. In ihnen spiegeln sich auch die drei Kapitel des nach Jahreszeiten gegliederten Films, der einen „kurzen Herbst“, einen „langen Winter“ und zuletzt den Beginn des Frühlings als Aufbruch und Ausbruch umfasst: In den Ritzen der Fassaden wuchert unkontrolliert Pflanzengrün; und „Mariana y Martín“ produzieren für YouTube ein Playback-Video zum Soul-Klassiker „Ain’t No Mountain High Enough“ von Marvin Gaye und Tammi Terrell.

Marvel’s The Avengers

(USA 2012, Regie: Joss Whedon)

Zug zum Thor, den Hulk im Nacken: Jetzt mit noch mehr Superheld pro Film
von Drehli Robnik

Zwar kommen prominent besetzte Nebenfiguren aus den jeweiligen Primärfilm-Universen hier nur kurz (Gwyneth Paltrow als Iron Mans Geliebte), bloß per Foto (Natalie Portman als Thors Geliebte) oder gar nicht vor …

Zwar kommen prominent besetzte Nebenfiguren aus den jeweiligen Primärfilm-Universen hier nur kurz (Gwyneth Paltrow als Iron Mans Geliebte), bloß per Foto (Natalie Portman als Thors Geliebte) oder gar nicht vor (Tommy Lee Jones als Captain Americas Ausbilder bei der US Army Anno 1942). (Der von Anthony Hopkins gespielte nordische Allgöttervater und Hammerflüsterer Odin schläft weiter im Off der Erzählung, und das ist kein Schaden.) Trotz dieser Reduktionen ist 'The Avengers' randvoll übersät mit (Neo-)Stars unterschiedlicher Kaliber und Superhelden aus diversen – ohnehin bald auch wieder separat weiterlaufenden – Marvel/Disney-Franchises. Dazu gibts überraschende Cameos der Altspatzen Jerzy Skolimowski, Jenny Agutter und Harry Dean Stanton.

Angelegt als High-Concept-Irgendwas zwischen Kinofassung eines Comic-Sonderhefts und Ensemblefilm, Mashup-Style-Spätlese und Markenfusion setzt 'The Avengers' die seit Jahren akkumulierten Identitätskapitalien von Halbgott-, Hulk- und Hero-Figuren um: Alle wissen so einigermaßen, wer sie sind und was ihr Problem oder Kerngeschäft ist, nun können Allianzen durchgespielt werden im Kampf gegen Thors fiesen Adoptivbruder Loki (Tom Hiddleston) – zu zweit, zu dritt, im ganzen Team, mal zerstritten, mal durch künftig wohl weiter auszulotende mysteriöse Vergangenheiten verbunden, mal in Trauer oder Entschlossenheit vereint. Zählt man den bisher stets zumindest am Ende oder gar nach abgelaufenem Abspann der jeweiligen Marvel-Blockbuster aufgetretenen S.H.I.E.L.D.-Kommandanten und Oberfusionierer (Samuel L. Jackson) hinzu, dann kommen da an die zehn Superheld_innen zusammen, da ergeben sich schon rein mathematisch … sehr viele mögliche Konstellationen, und einige davon sind ja auch reizvoll; etwa die der beiden hormonell aufgedrehten Technikwissenschaftler (die bei Bedarf in Eisenhaut bzw. grüner Größe samt notorischer, hier offensiv thematisierter Hosennot agieren). Das Tempo, mit dem Robert Downey Jr. und Mark Ruffalo ihre jeweiligen Eitelkeits- und Nervositätsmarotten virtuos absondern, zeugt weniger von Sinn für rhythmische Dynamik als vom Bemühen der Regie (Fernsehformelmastermind Joss Whedon, der auch das Drehbuch geschrieben hat), die in den Figuren eröffneten Potenziale in läppischen 142 Minuten ebenso pflichtfertig abzuarbeiten wie die 3D-Actionroutinen in Sachen Flugkünste und Leute-an-Wände-donnern-Lassen. Scarlett Johansson ist zwar für manch überraschende kleine Handlungswendung gut, war aber auch schon mal kesser und kampfsportlich beeindruckender, und Jeremy Renner werden wir wohl nie wieder als so entspannten Actionfilm-Average-Guy erleben wie weiland in '28 Weeks Later' oder 'The Hurt Locker'.

Schmerzlich vermisst werden hier die Screwball- und Kauz-Komik, der schwelgerische Retrochic, die auschoreografierten Schwebemomente, die Politik- und Zeitgeschichtsbezüge der Watch-, Iron und X-Men von 2009/10/11. Vergleichen wir nur die Dichte der Verweisnetze in Hinblick auf nachwirkende Nazi-Vergangenheit, jüdische Gegengewalt, antirassistische Bürgerrechtspolitik und homophobe Zwangsheilungsstrategien in den X-Men-Filmen (in den ersten drei und vor allem jenem vom vorigem Jahr) mit dem läppischen Moment in einer in Stuttgart – of all places – spielenden Szene von 'The Avengers', in der ein offenkundiger greiser Holocaust-Überlebender zwei Sätze lang gegen den göttlich-aristokratischen Menschheitsunterwerfer Loki anreden darf, dies nur, um dem sogleich anfliegenden Captain America die Anknüpfung an die ethischen Weihen seiner (historisch kontrafaktischen) antidiktatorischen Schutzschildkriegsführung aus dem Zweiten Weltkrieg zu erleichtern. Eher unangenehm ist in 'The Avengers' auch der politikfeindliche filmische Entwurf der Beziehung zwischen dem (einzig durch das Wissen um die Dringlichkeit der Lage legitimierten) Weltsicherheitsmanagement von S.H.I.E.L.D. einerseits und einem in orwellhafter Monitordüsternis auftretendem 'Security Council' anderseits, der offenbar auf die UNO oder die US-Regierung gemünzt ist.

Aber wie gesagt: Schon die Genre- und Franchise-immanenten Vergleiche fallen eher zu Ungunsten von 'The Avengers' aus. Den Satire-, Weirdness- und Traumatik-Level etwa von Jon Favreaus 'Iron Man II', seinem kommerziell erfolgreichsten und (wenn man den ganz aus der Art gefallenen, von Ang Lee biopolitästhetisch-pflanzenwuchernd inszenierten und aufgrund von umfassender Seltsamkeit eher gefloppten ersten 'Hulk'-Film von 2003 weglässt) besten Vorgängerfilm, unterfliegt 'The Avengers' locker. Noch größer sind da wohl die Märkte, noch jünger (und eher weniger nerdig) sind die Kernzielgruppen, die dieser Film anpeilt; dem entsprechend versprüht sein Endlosshowdown mit großstadtzertrümmernden Stahlriesenraupen mehr als nur einen Hauch von HASBRO-Spielwarenadaptionskino.

Our Idiot Brother

(USA 2011, Regie: Jesse Peretz)

Trost mit Zuckerguss
von Carsten Happe

„Dumm ist der, der Dummes tut“, wusste schon Forrest Gump, und in dieser Hinsicht ist Ned wahrlich der Idiot des Titels, der für den Verkauf von Marihuana an einen Polizisten …

„Dumm ist der, der Dummes tut“, wusste schon Forrest Gump, und in dieser Hinsicht ist Ned wahrlich der Idiot des Titels, der für den Verkauf von Marihuana an einen Polizisten mal eben für ein paar Monate in den Knast wandert. Danach hat seine Freundin einen Neuen und verjagt ihn vom gemeinsamen Ökobauernhof, seinem angestammten, überschaubaren Biotop. Einzig Willie Nelson bleibt ihm noch, sein treuer Golden Retriever, mit dem sich der Neo-Hippie sanft in den gut gepolsterten Schoß seiner entfremdeten Familie fallen lässt.

Kein schlechter Ausgangspunkt für eine hübsche Social-Clash-Komödie, möchte man meinen, und hat dabei längst den liebenswerten Slacker ins Herz geschlossen – erst recht, wenn er mit dem sauertöpfisch-britischen Teil der stocksteifen Sippe zusammenprallt. Paul Rudd, der bislang zumeist solide seinen Stiefel in der zweiten Reihe heruntergespult, hin und wieder sogar das Mädchen abbekommen hat (Reese Witherspoon! Michelle Pfeiffer!), ist die Spielfreude angesichts des Drehbuchs, das ihm auf den schmächtigen Leib gezimmert wurde, durchweg anzumerken – und er dankt es mit einer solch charmanten Performance, der lediglich die übelsten Zyniker nichts abgewinnen könnten.

Dieser größte Pluspunkt des Films fordert allerdings zugleich auch seine massivste Schwachstelle heraus: In der gängigen Komödienarithmetik, der sich „Our Idiot Brother“ auf bisweilen allzu überkandidelte Weise unterwirft, sind Neds drei Schwestern allesamt frustrierte, verklemmte, verbissen karrieresüchtige Furien, die zu ihrem Glück gezwungen werden müssen und natürlich nicht ansatzweise erkennen, wenn es in Form ihres vertrauensseligen, herzensguten Bruders vor ihnen steht. Die Läuterung der sträflich unterforderten Zooey Deschanel, Elizabeth Banks und Emily Mortimer bildet dabei den Zuckerguss, den man gerne schon vorab heruntergekratzt hätte, bevor er klebrig hängenbleibt.

Aber möglicherweise muss das auch so sein, wenn man neben gefälligem Entertainment noch eine kleine Moral unters Volk mischen möchte, die von der Bedeutung des Andersseins für ein Sozialgefüge, einer Familie mithin, erzählt und in ihrem ganz eigenen Happy End, das selbstredend von Beginn an so sicher scheint wie das Amen in der Kirche, eine große integrative Kraft verströmt. Dass sich sogar für geborene Außenseiter wie Ned ein passgenauer Platz in der Gesellschaft findet, hat letztlich etwas ungemein Tröstendes.

Ausente

(AR 2011, Regie: Marco Berger)

Blicke männlichen Begehrens
von Wolfgang Nierlin

Der männliche Körper als Objekt des Begehrens und die Blicke, die dieses Begehren evozieren, durchziehen in ihrer motivischen Verschränkung Marco Bergers Film „Ausente“ (Abwesend). Zunächst ist es der jugendliche Körper …

Der männliche Körper als Objekt des Begehrens und die Blicke, die dieses Begehren evozieren, durchziehen in ihrer motivischen Verschränkung Marco Bergers Film „Ausente“ (Abwesend). Zunächst ist es der jugendliche Körper des 16-jährigen Schülers Martín (Javier De Pietro), der in einer Reihe von Detailaufnahmen auf Gliedmaßen, Muskeln, Haut und Haare als Gegenstand erotischer Faszination beschworen wird. Es sind dies Fragmente der Lust, die andererseits in Martíns eigenen Blickbewegungen, die er auf seine Klassenkameraden in der Umkleidekabine eines Schwimmbads richtet, eine Fortsetzung finden und die Wahrnehmung dominieren. Im subjektiven Wechselspiel mit dem Auge der Kamera teilt Berger die Lust des Voyeurs zugleich mit seinem Protagonisten und dem Zuschauer. Immer wieder auch inszeniert der argentinische Filmemacher seinen Helden in typischen Pin-up-Posen unter der Dusche oder auf dem Bett, um seinen homoerotischen Obsessionen Ausdruck zu verleihen. Diese Offensichtlichkeit geriete in einem heterosexuellen Diskurs sofort unter den Verdacht sexueller Ausbeutung und ästhetischer Kitsch-Produktion. In Marco Bergers Kino der Blicke und der unausgesprochenen Gefühle verdichtet sich jedoch gerade darin eine spannungsgeladene erotische Atmosphäre.

Insofern ist Martín Blanco – sein Name deutet es an – auch eine Projektionsfläche für heimliche oder uneingestandene Sehnsüchte und Wünsche. Das Doppeldeutige zwischen Anziehung und Abstoßung sowie der mysteriöse Thrill des Unbestimmten, von der Musik Pedro Irustas kongenial unterstützt, kennzeichnet auch die Beziehung Martíns zu seinem Schwimmlehrer Sebastián Armas (Carlos Echevarría). Unter diversen Vorwänden und immer neuen Lügen versucht der Jüngere den Älteren zu verführen. Die ungewohnte Nähe, die daraus resultiert, vermittelt sich über Blicke und Gesten und stellt sich ein über absichtliche Umwege und Verhinderungen. Das einmal von Sebastián imaginierte Versteckspiel im Labyrinth der Umkleidekabinen ist ein treffendes Bild für diese wechselseitige Suchbewegung, die Marco Berger zwischen Wunsch und Wirklichkeit ansiedelt.

Denn in seiner Verantwortung als Lehrer ist Sebastián einem zunehmend stärker werdenden psychischen Druck ausgesetzt und in einem fatalen Gefüge aus Lust, Angst und Schuld gefangen. Berger entwickelt hier einen komplexen Charakter, der im komplizierten Spannungsfeld zwischen privaten und öffentlichen Konflikten, die immer nachdrücklicher sein Leben erschüttern, förmlich aus der Bahn geworfen wird. Als er erkennt oder sich eingesteht, was er tatsächlich fühlt und will, ist es bereits zu spät. Sebastián ist ein tragischer Held, der schließlich an sich selbst und den verinnerlichten gesellschaftlichen Verboten scheitert.

Klitschko

(D 2011, Regie: Sebastian Dehnhardt)

Ganz totales Überfernsehkino
von Ricardo Brunn

Das Verhältnis von Dokumentarfilm und Fernsehen ist seit jeher ambivalent. Zwar hat das Dokumentarische im Öffentlich-Rechtlichen seinen festen Platz. Der Anteil ist, gemessen an fiktionalen Formaten, sogar größer, bezieht man …

Das Verhältnis von Dokumentarfilm und Fernsehen ist seit jeher ambivalent. Zwar hat das Dokumentarische im Öffentlich-Rechtlichen seinen festen Platz. Der Anteil ist, gemessen an fiktionalen Formaten, sogar größer, bezieht man Spielarten wie Features und Reportagen in die Betrachtung mit ein. Leider fristet gerade der abendfüllende Dokumentarfilm schon seit langer Zeit ein Dasein an den Peripherien des Programmplanes und wird auch immer seltener durch das Fernsehen koproduziert. Die Gründe dafür sind vielfältig und oft erbärmlich: In seiner Langsamkeit, Offenheit und der Unwilligkeit, Fragen eindeutig zu beantworten, passt er – so wollen es die Verantwortlichen – nicht zum allzeit zappbereiten Zuschauer. In seiner produktionsbedingten Unvorhersehbarkeit passt er – so will es der Quotendruck – nicht zu den zuständigen Redakteuren, die lieber zu Beginn schon genau wissen wollen, wie das Produkt am Ende ausschauen wird und auch unabwägbaren Finanzierungssituationen aus dem Weg gehen wollen. Manchmal heißt es einfach auch nur abfällig, der Dokumentarfilm sei zu kritisch.

Mit „Klitschko“ kam ein Film ins Kino, der von Sebastian Dehnhardt, einem versierten Regisseur erfolgreicher TV-Dokumentationen („Krupp – Mythos und Wahrheit“, „Das Drama von Dresden'), inszeniert wurde. Die große Fernsehproduktionsfirma für Geschichts-dokumentationen, „Broadview TV“, bei der Dehnhardt auch Geschäftsführer ist, hat den Film maßgeblich produziert. Aus dieser reinen Betrachtung der Produktionsbedingungen ergibt sich also eine Art Umkehrbewegung: Der vom Fernsehen auf allen Ebenen vernachlässigte abendfüllende Dokumentarfilm wird hier von Fernsehmachern initiiert und für die große Leinwand produziert.

„Klitschko“ erzählt, ausgehend von den unmittelbaren Vorbereitungen auf einen Kampf, in einer Rückschau von der Kindheit und den Kickbox-Anfängen der Brüder Vitali und Wladimir in Kiew, ihren ersten Boxkämpfen und der Entdeckung in Deutschland, bis hin zu den Millionen-Kämpfen der beiden Athleten. Zu Wort kommen auf dieser Wegstrecke Trainer, ehemalige Gegner, Boxpromoter, Ärzte und Manager. Erstmals sind auch die Eltern der Klitschko-Brüder zu sehen.

Über zwei Jahre hinweg hat der Regisseur seine Protagonisten mit dem Ziel begleitet, mehr über die besondere Beziehung der Brüder zu erfahren. Nähe scheint dabei jedoch keine entstanden zu sein. Dehnhardt geht mit seinen Protagonisten nicht anders um als mit den Interviewpartnern seiner zahlreichen Geschichtsdokus: sie liefern vor allem das, was er zu einer einfachen und verständlichen Geschichte montieren kann. Ihre Mutter wird auf der Couch drapiert, als wäre es nicht ihre eigene, während Wladimir auf der Terrasse eines Hauses in den Bergen grillt, das auch gut für den Film gebaut worden sein könnte. Es ist ein geradezu aseptischer Blick auf das Leben der zurzeit berühmtesten Boxer der Welt.

Zugunsten einer perfekten Inszenierung des Klitschko-Universums wird auf Unmittelbarkeit sowie das Vertrauen in den Moment fast gänzlich verzichtet. Nichts wird hier dem Zufall überlassen. Kaum auszuhalten sind die Szenen, in denen Wladimir und Vitali eine inszenierte Schachpartie spielen und dem Zuschauer von Rivalität und Freundschaft der Brüder erzählen sollen, weil es kaum authentische Momente im Film gibt, die das auf andere Art vermitteln könnten, oder weil diesen Momenten nicht genug vertraut wird. Denn im Kopf des Regisseurs ist immer noch das Fernsehpublikum die Zielgruppe.

So ist es auch kein Wunder, dass der Film litfasssäulenartig mit Musik und Sounddesign verkleistert ist. Immer höher türmen sich im Verlauf des Filmes die musikalischen Triumphbögen. Stellenweise mag dies Ausdruck von Angst und Unbeholfenheit sein, dem fehlenden Off-Kommentar (ein offensichtliches Zugeständnis an das Kino) adäquat zu begegnen und die fernsehuntypische Leerstelle einfach mal zuzulassen. Vor allem aber ist es die Routine des Fernsehregisseurs, jedem Bild durch musikalische Untermalung zu besserer Verständlichkeit verhelfen zu wollen und Mehrdeutigkeiten zu vermeiden, denn „Klitschko“ möchte vor allem eine Ansicht verbreiten: Mit aller Macht will der Film Dokumentarmonument sein.

Doch die Inszenierungsstrategien einer aufgeblasenen Fernsehdokumentation genügen diesem Anspruch nicht. Egal, wie groß der Flachbildfernseher auch ist, allein die Überlebensgröße des Kinos soll dem Werk samt seinen Protagonisten einen anderen Stellenwert zuweisen und es nicht zuletzt ermöglichen, die historische Bedeutung der Klitschkos zu stärken. Besonders deutlich wird dieser Aneignungsversuch in den Anfangstiteln des Filmes: die Produktionsfirma „Broadview TV“ wird kurzerhand in „Broadview Pictures“ umbenannt. Der Wille zum Kino ist überall zu spüren, nur im gedrehten Material, dem jede Fragestellung und Unvoreingenommenheit gegenüber seinen Protagonisten fehlt, ist davon nichts vorhanden.

„Klitschko“ ist eines der vielen Beispiele dafür, dass die Frage nach dem Kino als Kunst hierzulande immer häufiger in die Frage nach dem Kino als Fernsehen mündet. Umso wichtiger ist es gerade für die Gattung des Dokumentarfilmes, die leichtfertige Vermischung der Terminologien, wie sie in der deutschen Filmkritik gang und gäbe ist, einer klaren Begriffsbestimmung zuzuführen: Eine Dokumentation ist kein Dokumentarfilm – auch dann nicht, wenn sie sich durch die Hintertür ins Kino schleicht.

Junta

(AR / I 1999, Regie: Marco Bechis)

System der Angst
von Wolfgang Nierlin

Im alten Griechenland galt als Barbar, wer keinerlei Regeln und Gesetzen unterstand. „Garage Olimpo“, der Originaltitel von Marco Bechis‘ Film „Junta“, trägt seine schreckliche Zwiespältigkeit deshalb bereits im Namen: Zwischen …

Im alten Griechenland galt als Barbar, wer keinerlei Regeln und Gesetzen unterstand. „Garage Olimpo“, der Originaltitel von Marco Bechis‘ Film „Junta“, trägt seine schreckliche Zwiespältigkeit deshalb bereits im Namen: Zwischen 1976 und 1982, als Argentinien von einer brutalen Militärjunta unter den Generälen Videla, Agosti und Massera terrorisiert wurde, war die ausrangierte Werkstatt eines von über dreihundert geheimen Folterlagern im Untergrund von Buenos Aires, in denen Regimegegner und mutmaßliche Oppositionelle zu Tausenden willkürlich gefangen gehalten und misshandelt wurden. Um die Spuren illegaler Verschleppung und grausamer Folter zu verwischen, warf man die Opfer staatlicher Gewalt von Militärflugzeugen aus ins Meer. Seither gelten nach Schätzungen etwa 30000 Menschen als „desaparecidos“ – als Verschwundene. Für Regisseur Marco Bechis sind sie Opfer einer modernen Barbarei, die Folter nicht mehr primär als Bestrafungsmittel einsetzt, sondern als perverse Methode benutzt, um den Körper der Geschundenen zu instrumentalisieren und in totaler Weise ihre Psyche zu besetzen. Die Seele selbst werde zum Gefängnis, so der argentinische Regisseur.

Abgelöst von den konkreten historischen Ereignissen, möchte Bechis insofern seinen Film ganz allgemein als Manifest gegen staatliche Gewalt verstanden wissen. Gleichwohl bezieht sich „Junta“ auf autobiographische Erlebnisse und auf Aussagen von Überlebenden. Im Jahre 1977 wurde der damals 20jährige Grundschullehrer und linke Aktivist Bechis selbst von Soldaten in Zivil entführt und inhaftiert, bevor er schließlich das Land verlassen musste. Im Film erleidet ein ähnliches Schicksal die erst 18 Jahre alte Maria (Antonella Costa), die in den Slums der argentinischen Hauptstadt Alphabetisierungskurse gibt und bei ihrer Mutter Diane (Dominique Sanda) lebt. Hier wohnt als Untermieter auch der zunächst unauffällig wirkende Felix (Carlos Echeverría), der Maria seine Liebe aufdrängt und später in einem komplizierten Verhältnis zu ihrem Peiniger wird. Die Abhängigkeit des Opfers von der Willkür des Täters fasst Bechis äußerst komplex, indem er den anonymen Raum durch einen privaten überlagert und in dieser Ambivalenz als verzweigtes System der Angst kennzeichnet. Die Hierarchie der Unterwerfung verlangt von Maria die Selbstaufgabe, während Felix als ein in mehrfacher Hinsicht Abhängiger sichtbar wird.

Mit Marias dramatischer Gefangennahme betritt auch der Zuschauer „die Welt der Geräusche“, wo in sogenannten „Operationssälen“ – das sind dunkle, kalte Verschläge aus Beton und Blech – die junge Frau, eine schwarze Augenbinde tragend und nackt auf eine Pritsche gefesselt, mit Stromschlägen bis zur Bewusstlosigkeit gefoltert wird. Die Primitivität des Ambientes und der Methoden korrespondiert dabei auf erschreckend paradoxe Weise mit der planmäßigen Durchführung und Organisation der Quälerei, die hier in pervertierter Form als „Normalität“ eines Arbeitsalltags mit Stempeluhr, Freizeitraum und Strafversetzung in den „Außendienst“ erscheint. Körper und Seele der Opfer unterliegen der totalen Kontrolle durch die Täter und ihren hybriden Herrschaftsanspruch: „Wir entscheiden, wann gestorben wird. Wir sind hier unten Gott.“

Besonderes Augenmerk legt Bechis in seinem beeindruckenden Film auf den schmalen Grat zwischen Normalität und Wahnsinn, Freiheit und Tod. Immer wieder kontrastiert er den Horror der Folterkeller mit Ansichten der Stadt und dem gleichmäßigen Fluss des täglichen Lebens. Hauchdünn ist die Membran zwischen den beiden Welten, zwischen oben und unten, draußen und drinnen. Ein gemeinsamer Ausflug, den Felix mit Maria in die „oberirdische“ Stadt unternimmt, spitzt dieses paradoxe Verhältnis noch zu, das Marco Bechis folgendermaßen charakterisiert hat: „Die Bewohner der Stadt lebten in einer Fiktion, während die Wahrheit im Untergrund war.“

Attenberg

(GR 2010, Regie: Athina Rachel Tsangari)

Expedition ohne Förderung
von Marit Hofmann

Das seltsamste Tier ist der Mensch. Die 23jährige Marina versteht ihresgleichen nicht und hält sich lieber an Tierdokumentationen des Briten David Attenborough. Zusammen mit ihrem todkranken Vater imitiert sie mit …

Das seltsamste Tier ist der Mensch. Die 23jährige Marina versteht ihresgleichen nicht und hält sich lieber an Tierdokumentationen des Briten David Attenborough. Zusammen mit ihrem todkranken Vater imitiert sie mit Leidenschaft das Balzverhalten von Wasservögeln und Gorillas. Wenn sie dagegen mit der in Liebesdingen erfahrenen Freundin bis zum Brechreiz Zungenküsse übt, fühlt sich das für Marina an 'wie eine Nacktschnecke' im Mund: 'Wie machen Menschen das nur?'

Aus dem krisengebeutelten Griechenland kommt nicht nur einer der 'schrecklichsten Küsse der Kinogeschichte' (New York Times), sondern auch ein besonders selbstbewusstes Argument für die steile These von Regierocker Klaus Lemke, dass Filmförderung fürn Arsch sei. Filme lieber ungewöhnlich, könnte das Motto von Athina Rachel Tsangari lauten, die ihre eigene Produktionsfirma gegründet hat, um ihre und die Projekte anderer eigenwilliger Filmemacher verwirklichen zu können.

Für die bizarre Mischung aus einer 'Doku über eine andere Familie im Stil eines Tierfilms' und einem 'abstrakten Musical, das in unseren Köpfen stattfindet' (Tsangari über 'Attenberg'), hätte sich wohl auch kaum ein staatliches Fördergremium erwärmt, wenn derzeit in Griechenland in nennenswertem Maße Kultursubventionen zu vergeben wären. Einerseits seziert die Regisseurin in kühlen Versuchsanordnungen menschliche Verhaltensweisen vor den klinischen Kulissen eines zerfallenden Fabrikstädtchens. Andererseits sind unvermittelt absurde Tanzeinlagen der beiden Freundinnen im Stil der silly walks von Monty Python eingestreut, die die Handlung wie ein griechischer Chor unterbrechen und kommentieren, aber vor allem signalisieren, wie die Protagonistinnen, die Suicide hören und trostlosen Jobs nachgehen, auf ihre Art der aussichtslosen Lage trotzen.

Diese angenehm unsentimentale Coming-of-age-Story mündet nicht darin, dass die junge Frau in der Krise endlich erwachsen wird und sich ins System fügt. Die Anthropologin wider Willen, die man nie lächeln oder gar flirten sieht, klopft gesellschaftliche Konventionen auf ihren Gehalt ab: Was kann sie davon übernehmen, und was kann ihr gestohlen bleiben? Ebenso wie Marina sich schließlich vorsichtig aufs Leben mit ihresgleichen einlässt, wird der Zuschauer mehr und mehr zum anteilnehmenden Beobachter dieser außergewöhnlichen Variante menschlicher Spezies.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 05/2012

Tomboy

(F 2011, Regie: Céline Sciamma)

Der letzte unbeschwerte Sommer
von Andreas Busche

„Du bist ganz anders als die anderen“, sagt die zehnjährige Lisa zu Michael, als sie am Bolzplatz stehen und den Jungs beim Fußballspielen zugucken. Was sie damit meint, wird erst …

„Du bist ganz anders als die anderen“, sagt die zehnjährige Lisa zu Michael, als sie am Bolzplatz stehen und den Jungs beim Fußballspielen zugucken. Was sie damit meint, wird erst später klar, als die beiden allein sind und Lisa ihren neuen Freund schminkt. Der Junge lässt es über sich ergehen. Doch Michael heißt eigentlich Laure.

Laure und ihre Familie sind neu in der Wohnsiedlung. Für das Mädchen bedeutet der Umzug eine Umstellung: wieder eine andere Schule, wieder neue Freunde finden. Der Sommer neigt sich dem Ende zu, die Kinder genießen die letzten Ferientage. Laure stößt zu der Gruppe; mit ihrem schlaksigen Körper und den burschikos-kurzen Haaren könnte sie glatt als Junge durchgehen. Mädchenkram interessiert sie sowieso nicht. Vielleicht ist das der Grund, warum sie sich Lisa, dem einzigen Mädchen, als Michael vorstellt. Beim Fußball ist sie nicht schlechter als die Jungs, ein bisschen stolz reicht Lisa ihr während des Spiels das Wasser. Nur als die anderen eine Pinkelpause einlegen, gerät Laura in Erklärungsnot. Gender Trouble. Im Spiel manifestieren sich früh soziale Normen. Subjekte werden konstituiert und dekonstruiert.

Céline Sciamma bedient sich in „Tomboy“ des Rollenspiels als erzählerischem Modus‘, sie interessiert sich für diesen so heiklen wie spannenden Moment der Kindheit. Wenn die Kinder unter sich sind, sind sie ganz sie selbst und gehen gleichzeitig in Rollen auf. Laures kleine Schwester Jeanne läuft im rosa Tutú durch die Wohnung und spielt mit Puppen – weil sie gelernt hat, dass Mädchen so was tun. Später erzählt sie Laures Freunden von ihrem starken großen Bruder; prompt verprügelt Laure/Michael einen anderen Jungen, der Jeanne geschubst hat. Der Vater wiederum meint ernsthaft, dass er Laure endlich das Pokern beibringen muss.

Derart verwirrt von Geschlechtervorstellungen genießt Laure ihre Rolle als Michael, ohne sich der Konsequenzen bewusst zu werden. Als der Schwindel auffliegt, verliert auch das Spielen seine Unschuld. Sciamma aber nimmt alle Gefühle gleich ernst. Laure, die ihr eigenes Jungsding einmal ausprobieren möchte; Lisa, die sich in Michael verliebt hat; Jeanne, die ihr Kindsein noch ausleben kann. Und die Eltern, die von Laures Geschlechterverwirrung zunächst schockiert sind. Für Sciamma gehören Rollenspiele zu den prägenden Kindheitserfahrungen. Aber irgendwann ist auch der unbeschwerteste Sommer vorbei.

Totem

(D 2011, Regie: Jessica Krummacher )

Zombieland
von Andreas Thomas

Ein Ahnentier, ein Stammeszeichen der Sippe sei ein Totem laut Duden. Laut Wikipedia ist der Totem ein Schutzgeist in Gestalt einer Naturerscheinung. Er kann sich als Pflanze, als Tier, gar …

Ein Ahnentier, ein Stammeszeichen der Sippe sei ein Totem laut Duden. Laut Wikipedia ist der Totem ein Schutzgeist in Gestalt einer Naturerscheinung. Er kann sich als Pflanze, als Tier, gar als Berg, Fluss oder Stein materialisieren. Im Debutfilm von Jessica Krummacher tritt dieser Schutzgeist seiner schutzbefohlenen Familie in Menschengestalt in Erscheinung, in der durchaus bezugsreichen Eigenschaft als Haushaltshilfe.

Weil sie Totem ist, bleibt es rätselhaft, woher die junge Fiona eigentlich kommt; ihre Gastfamilie sagt, so was wie sie bekomme man im Internet; und wenn Fiona an einem Tag behauptet, ihre Eltern seien tot und sie am anderen Tag mit ihrer Mutter telefoniert, der sie weismachen will, sie sei im Urlaub am Meer, so mögen solche Widersprüche die Familie und uns verwirren oder kriminologischen Ehrgeiz aktivieren, aber sie könnten auch einfach darauf verweisen, dass Fiona aus dem Nichts kommt und wieder ins Nichts gehen wird, dass sie Interimslösungen benötigt für eine Mission, dass sie nichts ist als ein Geist oder in ihrer Eigenschaft als Totem der Geist dieser hier im Reihenhaus hausenden Sippe ist, der gekommen ist, um zu helfen, denen, die vielleicht Hilfe nötig haben, diese aber eigentlich nicht annehmen wollen oder können.

Man könnte auch sagen, Fiona sei ein Spiegel der Verhältnisse, die in jenem Reihenhaus herrschen, wahrscheinlich deutsche Verhältnisse, und sie spiegelt sie den von ihnen Beherrschten, ganz einfach, indem sie widerspruchslos dient und das mitmacht, was ihr vorgemacht wird. Aber weil sie spiegelt, katalysiert sie und sie zieht den vorhandenen Hass auf sich, weil sie verdeutlicht und verstärkt: die vorhandene Einsamkeit/Depression.

Fiona hat in der internationalen Filmgeschichte mindestens zwei Geschwister, das eine ist Grace aus Lars von Triers „Dogville“, die, indem sie gut und gnädig zu den Menschen ist, das ultimativ Böse aus ihnen herausholt und das andere ist der Fremde aus Pasolinis „Teorema“, dessen „Heimsuchung“ wie die von Fiona sich auf eine Familie beschränkt, aber im Gegensatz zu der von Fiona alles auf den Kopf stellt. Bei Fiona ändert sich nichts an den Verhältnissen. Außer dass sie zuerst versucht wird, geliebt zu werden und dann abgesondert wird. Vielleicht liegt das daran, dass der Fremde von „Teorema“ nichts Geringeres als Gott himself ist und Fiona nur ein Aushilfsgeist. Ich tendiere eher zur Theorie, dass weder Jesus noch Fiona hier Abhilfe leisten könnten, denn Deutschland – und diese deutsche Familie mit ihrem ausgestopften Reichsadler an der Wand, ihrem versteinerten Deutschen Schäferhund im Wohnzimmer und ihrer Kegelbahn ums westfälische Eck, ihren gesenften Wurstspießchen und ihrem Kaninchenstall ist Deutschland – denn dieses von langer Hand verkorkste Deutschland scheint immun gegen Schutz und Liebe, Gott oder Hass, denn es ist, nach Jahrzehnten verweigerter Anamnese, immer noch das siechkranke Erbe des unverhüllten Bösen, welches Nationalsozialismus genannt wird.

Schön, dass es endlich (wieder) jemanden gibt, der diesen Dauerkollaps nachzumalen gewillt ist und schön, dass Fiona und Jessica Krummacher dabei so viel Empathie für die Täter/Täterkinder/Täteropfer mitbringen. Allein, diese Gnade scheint vergeblich(denn das Böse/der Übergriff/ die Gewalt und Vergewaltigung, das zeigt der Film, hat sich festgefressen), ähnlich vergeblich wie die des österreichischen Regiekollegen Ulrich Seidl. Im Unterschied zu ihm, und das macht „Totem“ zu einem empathischeren Film als z.B. Seidls „Hundstage“, bedarf Krummacher keiner theologisch grundierten Dichotomie ihrer Erzählung, sprich: wo Seidl die (österreichische) Welt als (durch Werner Herzog beglaubigte) pure Hölle inszeniert, mit Menschen, welche vollkommen verloren sind – und damit die Existenz eines Himmels geradezu postuliert (wenigstens den Wunsch/Glauben an einen Himmel provoziert), da geht Krummacher einen Schritt weiter, wenn sie zeigt: „Die Hölle sind wir“ und sich nicht auf Distanz begibt, weil es der „Geist“ des Films, Fiona, auch nicht tut. Weil wir mittendrin sind, ohne Gegenargumente, ohne Himmel, ohne Gott, ohne Ausweg, ohne die verborgene Möglichkeit eines Gebets, nur behaftet mit dem Fluch, den Fluch zu fühlen, ist „Totem“ so stark und in seiner Stilisierung so realistisch geworden.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Perfect Sense

(D / GB / S / DK 2011, Regie: David Mackenzie)

Vorgestellte Fülle
von Wolfgang Nierlin

“Es gibt Dunkelheit und Licht, Männer und Frauen”, hebt eine allwissende Erzählerstimme aus dem Off des Films an, während eine assoziative Montage das vielgestaltige Dasein als schier endlosen Bilderstrom visualisiert. …

“Es gibt Dunkelheit und Licht, Männer und Frauen”, hebt eine allwissende Erzählerstimme aus dem Off des Films an, während eine assoziative Montage das vielgestaltige Dasein als schier endlosen Bilderstrom visualisiert. Die Rede in Gegensätzen und ihr globaler Bezug zielt in David Mackenzies Film „Perfect Sense“ auf „die Welt, wie wir sie uns vorstellen“, gewissermaßen auf ihre Vollständigkeit. Dass darin trotzdem nicht immer alles zum Besten bestellt ist, dass Mangel und Entbehrung, Verletzung und Schmerz mitunter bedrohliche Ausmaße annehmen, gehört zu dieser vorgestellten Fülle dazu. So leiden etwa Michael (Ewan McGregor) und Susan (Eva Green) – jeder auf seine Art und aus unterschiedlichen Gründen – an einem Mangel an Liebe und Beziehungsfähigkeit. Das Leben ist für den Glasgower Chefkoch und die Epidemiologin unvollständig, auch wenn sie scheinbar alles haben. Der Wert der Fülle ist ihnen verschlossen. Als sie sich begegnen, geschieht dies gerade noch rechtzeitig, denn eine Menschheitskatastrophe wirft ihre dunklen Schatten voraus.

Diese beginnt mit einem Verlust des Geruchssinnes, der begleitet wird von einer Trauer über die Versäumnisse des Lebens; als müsste den Menschen zuerst etwas genommen werden, damit sie dessen Wert erkennen. Auch in den darauf folgenden Krisen, in denen die Menschen Schritt für Schritt ihre zentralen Sinnesempfindungen einbüßen und damit ihre Zugänge zur Welt, geht dem jeweiligen Verlust ein heftiger emotionaler, aus dem Unterbewusstsein aufsteigender Ausbruch voraus. Das Verschwinden des Geruchssinns wird eingeleitet von einer rasenden, großer Angst entspringenden Völlerei. Vor dem Verlust des Hörsinnes toben sich die Betroffenen in wüsten, anarchischen Wutausbrüchen und hasserfüllten Zerstörungsorgien aus. Und bevor die Menschen schließlich ihre Sehkraft verlieren und in die Dunkelheit versinken, erleben sie noch einmal tiefe Glücksmomente.

David Mackenzie inszeniert diese apokalyptische Vision aus der subjektiven Perspektive seiner Protagonisten, die im Verlauf der Epidemie allen Desillusionierungen zum Trotz die Liebe füreinander entdecken beziehungsweise neu lernen. Den gesellschafts- und zivilisationskritischen Aspekten seines Stoffes, der unterschiedliche Verschwörungstheoretiker auf den Plan ruft, begegnet er mit wechselnden Überlebensstrategien und phantasievollen Kompensationsleistungen seiner Helden. „Das Leben geht weiter“, lautet trotzig ein wiederkehrender Satz. An die Stelle der Sinnesempfindung tritt die Vorstellungskraft, die neue Eigenschaften entdeckt und mit Erinnerungen verknüpft. Aber auch wo die Erfahrung fehlt oder Ausschließung droht, bleibt etwas übrig, was die Erzählerin des Films als real erfahrene Gegenwart des Lebens, als menschliche Liebesfähigkeit und spirituelle Sehnsucht umschreibt. Im Klammergriff der unheilvollen Katastrophe tritt dieser „vollkommene Sinn“ nur deutlicher und nachdrücklicher ans Licht.

Shame

(GB 2011, Regie: Steve McQueen)

Tristesse und Penis
von Carsten Moll

Brandon sieht zwar aus wie ein gut bestückter Michael Fassbender, hat einen gut bezahlten Job samt schickem Appartement in New York, gut geht es ihm trotzdem nicht. Der erfolgreiche Yuppie …

Brandon sieht zwar aus wie ein gut bestückter Michael Fassbender, hat einen gut bezahlten Job samt schickem Appartement in New York, gut geht es ihm trotzdem nicht. Der erfolgreiche Yuppie ist nicht bloß einsam, er leidet auch unter seiner Hypersexualität; zwanghaft wichst und fickt sich Brandon durch seinen Alltag, unfähig zu jeglicher zwischenmenschlichen Beziehung, die tiefer geht als sein Penis. Sein Dasein als Sex-Zombie gerät erst aus der Bahn, als sich seine hyperemotionale Schwester Sissy (Carey Mulligan in einer eher undankbaren Rolle als düstere Variation des Manic Pixie Dream Girls und Katalysator für den männlichen Protagonisten) bei ihm einnistet …

Trotz einiger inhaltlicher Parallelen erinnert Steve McQueens zweiter Spielfilm weniger an „American Psycho“ als an Darren Aronofskys „Black Swan“. Sowohl die Tänzerin Nina aus „Black Swan“ als auch Brandon machen nach außen hin den Eindruck von Perfektion, sind aber unter der Oberfläche emotional erstarrt. Als eine Art männliches Pendant ersetzt „Shame“ Ballett durch Sex und statt Schwanensee gibt es einen Schwanz zu sehen. Die phantasmagorische Hysterie Aronofskys ist bei McQueen zwar einem nüchternen Autismus gewichen, die dokumentarisch anmutenden Bilder von einem kalten New York als Seelenlandschaft des Protagonisten aber sind ganz ähnlich. Gemein ist beiden Filme auch die aufdringliche Tonspur, die die Zuschauer_innen in den Würgegriff nimmt und mit dem pathetischen Soundtrack keinen Raum für Zwischentöne lässt.

Wo „Black Swan“ als trashiges Grand Guignol zumindest unterhaltsam und als Camp durchaus konsumierbar ist, da meint es „Shame“ todernst mit seiner wirren Verknüpfung von individueller Leidensgeschichte und sozialkritischem Befund. (Verantwortlich für dieses Durcheinander dürfte vor allem das Drehbuch sein, an dem neben McQueen auch Abi Morgan mitgeschrieben hat, die für „Die Eiserne Lady“ eine ähnlich krude Mischung aus Ästhetik und Politik konstruiert hat.) Dass so manche Kritiker_innen in „Shame“ eine Verhandlung existenzieller menschlicher Fragen ausmachen und sogar das wirkliche Leben, wenn nicht Wahrheit abgebildet sehen, dürfte weniger an der Aufrichtigkeit und Tiefgründigkeit von „Shame“ als an einer Vorliebe für filmischen Realismus liegen. Das vom method acting beeinflusste Schauspiel Michael Fassbenders sowie allerlei Realitätseffekte rufen nicht nur Begeisterung hervor, sondern veranlassen zum Beispiel den britischen Guardian dazu, sogenannte Sexsüchtige zur Beurteilung des Films heranzuziehen, wie es zuvor bei „Black Swan“ mit professionellen Tänzern geschah; das Kino muss sich nicht nur an den wahren Geschichten des Lebens messen lassen, sondern wird auch als Mittel zur Kracauerschen Errettung der äußerlichen Wirklichkeit verklärt. Dass mit einer vollkommeneren Wirklichkeitstreue auch eine vollkommenere Irreführung einhergehen könnte, wird dabei nicht in Betracht gezogen.

Ebenso bleibt oftmals eine kritische Betrachtung der Klischees, mit denen McQueen und Morgan arbeiten aus. Natürlich ist die Affirmation von Stereotypen ein effizientes Mittel zur Herstellung des Eindrucks von Authentizität, aber die Auswahl der im Film vorgeführten Klischees ist bestenfalls zweifelhaft und reicht von albern bis ärgerlich. Von der obligatorischen asiatischen Nutte bis zum infernalischen Schwulenclub als Tiefpunkt von Brandons Abwärtsspirale nutzt der Film im besonderen Maße sozial stigmatisierte Randgruppen zur Illustrierung von Brandons Schamerfahrung (obwohl die Scham hier eigentlich auf kaum mehr als Selbstverachtung reduziert wird) und beschämt diese gleich mit. Nicht allein das Zeigen des echten Sexclubs und der Prostituierten, von denen einige im echten Leben immerhin Burlesquetänzerinnen sind, machen die Bilder problematisch, sondern deren manipulative Emotionalisierung durch den Soundtrack und die fragwürdige Kontextualisierung. Denn so sehr der Film mit seiner episodischen und offen angelegten Kreisstruktur, den langen Einstellungen und der Aussparung von psychologischen Erklärungen auch Wirklichkeit abzubilden versucht, folgt er im Grunde doch einer formelhaften und konventionellen Dramaturgie vom Fall und der möglichen Läuterung des Protagonisten, retardierendes Moment in der Schwulenhölle und moralisierender Grundton inklusive. Dass McQueen seinen Protagonisten dabei in einer durch und durch konstruierten Welt ausgesetzt hat, gelingt ihm nie ganz zu verschleiern, dafür ist der Hang zum Bedeutungsschwangeren zu groß: Jedes Plakat in der U-Bahn und jeder Song („I Want Your Love“) gibt sich bedeutungsvoll und liefert meist doch nur platte Kommentare. Dabei bleibt der psychotische Blick, der nur vorgibt ein kühler, distanzierter zu sein, immer auf Brandon beschränkt, Prostituierte werden zusammen mit Internetpornografie, Analsex und Promiskuität zu bloßen Symptomen einer kranken Gesellschaft.

Statt auf eine Vielfalt von Fiktionen setzt „Shame“ ganz auf eine als Authentizität missverstandene Egozentrik, die an die Ränder drängt, was eh schon marginalisiert wird. Scham und Sexsucht dienen lediglich als Aufhänger für einen geschmackvoll fotografierten Höllenritt und eindimensionale Gesellschaftskritik, die beinahe etwas Nostalgisches hat. Am Schluss, der einen Wandel Brandons andeutet (wir wurden Zeugen einer blutigen Wiedergeburt), wird noch einmal die konservative Moral des Films bebildert: Im konfusen Zusammenfall aus Psyche und Gesellschaft wird der krankhaften Abweichung immer wieder Zweisamkeit und Ehe als gesunde oder zumindest weniger kranke Alternative entgegengestellt. Der Hoffnungsschimmer für Brandon und eine vermeintlich entmenschlichte Gesellschaft funkelt uns deshalb am Ende des Films auch als Detailaufnahme eines Eherings entgegen.

Monsieur Lazhar

(CAN 2011, Regie: Philippe Falardeau)

Was gesagt werden muss
von Ulrich Kriest

Quebec, die frankophone Region im Osten Kanadas, an einem Tag wie viele andere. Der elfjährige Simon kommt zur Schule, spricht kurz mit der gleichaltrigen Klassenkameradin Alice und macht sich dann …

Quebec, die frankophone Region im Osten Kanadas, an einem Tag wie viele andere. Der elfjährige Simon kommt zur Schule, spricht kurz mit der gleichaltrigen Klassenkameradin Alice und macht sich dann auf den Weg, die Schulmilch für seine Klasse zu besorgen. Die Tür zum Klassenraum ist verschlossen, doch durch die Scheibe in der Tür sieht er, dass die junge, bei den Kindern sehr beliebte Lehrerin Martine an der Decke hängt.

Dass Simon entsetzt auf diese Entdeckung reagiert, ist nicht nur nachvollziehbar, sondern hat tiefere Gründe in seiner ganz besonderen Beziehung zu Martine. Wollte die Lehrerin ihm vielleicht dadurch etwas sagen, dass sie sich von Simon finden ließ? Starker Tobak für ein Kind. Aber der Selbstmord der Lehrkraft bringt ohnehin die Verhältnisse in der Schule in Bewegung. Die Kollegen sind ratlos, die Kinder traumatisiert und bekommen psychologische Betreuung – und schließlich fehlt auch noch eine Lehrkraft, die Martines Stelle einnimmt.

Auf diese Stelle bewirbt sich der aus Algerien stammende, schon etwas ältere Bachir Lazhar, der auf eine langjährige Erfahrung als Lehrer in seiner Heimat zurückblicken kann. Sagt er jedenfalls. Doch Kanada ist nicht Algerien und einige von Monsieur Lazhars ungewöhnlichen und auch vergleichsweise ungewöhnlich altmodischen Unterrichtspraktiken stoßen bei der Schulleitung und den Eltern (und selbst bei den Kindern!) auf wenig Gegenliebe, weil sie gegen bestens inkorporierte Regeln der professionellen Konfliktvermeidung verstoßen. In der Schule herrscht eine enorme Distanz zwischen den Anwesenden: körperliche Züchtigung ist selbstredend verpönt, aber auch eine Umarmung gilt als unbotmäßig. Man hat das Klassenzimmer, in dem Martine sich erhängt hat, neu gestrichen – und nun soll der Alltag auch, bitteschön, wieder alltäglich werden.

Für alles weitere ist die Schulpsychologin Madame Latendresse (sic!) zuständig, die ihre Arbeit allerdings explizit jenseits des Unterrichtsalltags verortet: der Lehrkörper muss draußen bleiben. Nur Monsieur Lazhar scheint zu ahnen, dass auf Seiten der Kinder Redebedarf besteht und Trauerarbeit geleistet werden muss. Als Alice schließlich eine Gelegenheit nutzt, um Martines Gewaltakt eloquent anzuklagen, platzt der Knoten.

„Monsieur Lazhar“, der „Oscar“-nominierte Film von Philippe Falardeau nach einem Theaterstück, legt mit einiger Sensibilität Schicht um Schicht einer eigentümlichen Problemkonstellation frei, um gleichzeitig ziemlich passgenau menschliche Schicksale ineinander zu fügen. Dabei ist die Gefahr, in allerlei Fettnäpfchen zwischen Kitsch, Klischees und Feelgood-Avancen zu treten, beängstigend groß: schließlich ist das Thema „Schule“ in den letzten Jahren wirklich groß in Mode gekommen – in Spiel- , wie in Dokumentarfilmen.

Von Szene zu Szene wechselt der Film seine Perspektive, erweitert den Blick, wird immer komplexer: was mit dem skandalösen Selbstmord beginnt, den die Kinder als Gewaltakt gegen sich erleben, wird zu einer Reflexion über kulturelle Differenzen, wobei überdeutlich gezeigt werden soll, dass die weiblich dominierte, rationale Erziehung in Kanada eher konfliktscheu ist und die Kinder mit ihren Emotionen alleingelassen und so gewissermaßen entmündigt werden. Der neue (männliche) Lehrer, ein intuitiv arbeitender Araber, der auch noch eine unglückliche Biografie mit sich herum trägt, wählt nicht nur gerne das offene Wort, sondern er fordert seinen Schülern auch intellektuelle wie emotionale Leistungen ab und packt sie nicht in künstliche Watte.

Das alles hat das Zeug zu einem hölzern ächzenden und durchaus auch explizit konservativen Lehrstück über die Defizite politischer correctness, die aus Bequemlichkeit Konflikte scheut und verdeckt und Kinder systematisch überfordert, aber der trotz allem eher leichtfüßige Film punktet vor allem mit seinen Darstellerleistungen. So überzeugt nicht nur Mohammed Fellag in der Rolle des charismatischen Lehrers, insbesondere die beiden jungen Protagonisten Emilien Néron und Sophie Nélisse bestechen durch die Authentizität ihres Spiels. Da sieht man denn auch darüber hinweg, dass der Film oder auch schon die Vorlage ein paar blinde Flecken im schnurrenden Handlungsgefüge durch eine etwas süßliche Sentimentalität kaschiert. Da es aber um das kommunikative Bearbeiten von Trauer geht, verbuchen wir das jetzt mal unter letztlich menschenfreundliche und wärmende Poesie.

Film Socialisme

(F 2010, Regie: Jean-Luc Godard)

Vom Wunsch, Europa glücklich zu sehen
von Wolfgang Nierlin

Man müsste das Spät- und Alterswerk Jean-Luc Godards, in das sich seine aktuelle Arbeit „Film Socialisme“ nahtlos einfügt, eigentlich aus seinen ästhetischen Verneinungen heraus definieren und davon sprechen, was seine …

Man müsste das Spät- und Alterswerk Jean-Luc Godards, in das sich seine aktuelle Arbeit „Film Socialisme“ nahtlos einfügt, eigentlich aus seinen ästhetischen Verneinungen heraus definieren und davon sprechen, was seine Filme im Abgleich mit den gängigen filmsprachlichen Konventionen alles nicht sind. Weil in ihnen traditionelle Erzählmuster durchbrochen und aufgehoben werden, gibt es weder eine durchgehende dramatische Geschichte noch einen auf diese bezogenen Spannungsbogen. Bilder und Töne, collagiert oder einander nebengeordnet, sind vielmehr diskursiv aufeinander bezogen, wobei ein stetiger Austausch zwischen Vorder- und Hintergrund, On und Off stattfindet. Wie lässt sich, so eines der vielen Themen von Godard und von „Film Socialisme“, „die Wirklichkeit in die Wirklichkeit stecken“, also auch filmisch abbilden? Immer wieder kreist der Film – ähnlich dem Bild des Fischschwarms unter Wasser – um die Frage, wie sich die komplexe Realität trotz mangelhafter Instrumente erfassen lässt. Indem er erhofft, „das Unsichtbare zu zeigen“, formuliert Godard zugleich einen utopischen Anspruch an die Kunst.

Man müsse vor dem Lesen das Sehen lernen, heißt es einmal. Und an anderer Stelle: „Es gibt nichts Bequemeres als einen Text.“ Trotzdem oder gerade deshalb spielen Texte und Zitate, namentlich von Benjamin, Derrida, Sartre, Heidegger und vielen anderen, eine maßgebliche Rolle. Und aus der Vielstimmigkeit und Gleichzeitigkeit des Text- und Sprachengewirrs stellt sich dem Rezipienten immer wieder die Frage: Wer spricht?, während Töne und Musik (u. a. von Schnittke, Zimmermann, Kancheli, Beethoven und Pärt), Bilder und Texte einander überlagern oder beziehungsreich nebeneiander stehen. So wie sich die Träger der Stimmen bildlich nicht einfach identifizieren lassen, so bleiben auch die Urheber der Texte weitgehend ungenannt. Das aufgerufene Wissen (und seine Archive) fügt sich in Godards filmischer Dialektik gewissermaßen zu einer neuen (politischen) Ordnung; das Verstehen beginnt mit dem Staunen; und am Anfang des Films sieht man deshalb nicht umsonst ein Bild mit Papageien, von einem Piepston unterlegt.

„Film Socialisme“ handelt zunächst und vor allem von Wanderbewegungen, von den Wegen und Strömen, auf denen sich Geld, Waren und Menschen durch Zeiten und Räume bewegen; und davon, wie aus ihren Berührungspunkten und grausamen Zusammentreffen eine „unmögliche Geschichte“ entsteht. Diese Bewegung zwischen Flucht- und Sehnsuchtsorten ist vor allem eine zwischen Süden und Norden, Afrika und Europa und wird im ersten Teil des Films von einem Kreuzfahrtschiff auf dem Mittelmeer vollzogen. Dabei werden Orte wie Odessa, Jaffa, Hellas, Barcelona und Neapel als Wiegen der Menschheit aufgerufen und mit markanten Geschichtsdaten verknüpft: etwa der Russischen Revolution, dem Spanischen Bürgerkrieg und den Folgen des 2. Weltkriegs in menschlicher und nicht zuletzt kultureller Hinsicht.

Vor allem Griechenland als Ursprung der Demokratie, aber auch der Tragödie nimmt Godard dafür immer wieder in den Blick und mischt dabei inszenierte Bilder in den dominierenden Farben Blau, Rot und Gelb mit dokumentarischen Fundsachen. Das führt ihn im zweiten Teil des dreigliedrigen Films unweigerlich zu der Frage: „Quo vadis Europa?“ Und in eine französische Autowerkstatt mit dem nicht zufällig gewählten (Résistance-Tarn-)Namen „Martin“, wo die Kinder der gleichnamigen Familie gerade dabei sind, ihre Eltern einem ebenso privaten wie öffentlichen Verhör über die familiäre Zukunft zu unterziehen. Im „Wunsch, Europa glücklich zu sehen“, wird die Jugend überraschenderweise zum (sozialistischen) Hoffnungsträger für Brüderlichkeit, Freiheit und Gleichheit: „Die Ideen trennen uns wohl wie uns die Träume einander näher bringen.“ Und: „Der Traum der Individuen ist, zu zweit zu sein.“

Nathalie küsst

(F 2011, Regie: David Foenkinos, Stéphane Foenkinos)

Verschrobene Schweden und rührende Großmütter
von Wolfgang Nierlin

„I call it love“, heißt es im Popsong zur Liebe auf den ersten Blick, die Nathalie (Audrey Tautou) und François (Pio Marmaï) ereilt. Diese beginnt im Café an der Ecke, …

„I call it love“, heißt es im Popsong zur Liebe auf den ersten Blick, die Nathalie (Audrey Tautou) und François (Pio Marmaï) ereilt. Diese beginnt im Café an der Ecke, in hoffnungsvollem Grün und mit Aprikosensaft. Das „Glück ohne Donnerstage“ ist federnd leicht und beschwingt wie Nathalies Gang durch die leere Straße; der Liebe wachsen Flügel und der Zufall ist zunächst ein willfähriger Freund. David und Stéphane Foenkinos‘ Tragikomödie „Nathalie küsst“, für die David Foenkinos seinen eigenen, erfolgreichen Roman „La délicatesse“ adaptiert hat, beginnt wie ein romantisches Liebesmärchen aus einer vergangenen Zeit, imprägniert mit altmodischem Charme und französischer Liebesleichtigkeit. Da wird der Kniefall zum Heiratsantrag, wobei der Schlüsselbund als Verlobungsring dient, bis schließlich eine schwebende Kreisfahrt der Kamera das weiß gewandete Hochzeitspaar förmlich umarmt.

Doch so viel unbeschwertem Liebesglück ist keine Dauer beschieden. Die Brüder Foenkinos verklären es zum schwebenden Ideal, um ihrer bittersüßen comédie dramatique eine tragische Fallhöhe einzuziehen. Denn kurz darauf stirbt François völlig abrupt bei einem Unfall. Wenn Nathalie vor seinem Grab steht, vermittelt das Bild einen irrealen Moment. In subjektiver Perspektive kehrt sie zurück in die leere, gemeinsame Wohnung. Nathalie „verschließt sich in ihrem Leid“, will nur noch allein sein und mit niemandem reden. Um den emotionalen Druck zu lindern, entledigt sie sich gemeinsamer Erinnerungsstücke. Doch ihr Dilemma spiegelt sich fortan in dem Bedürfnis, „nach vorne zu sehen“ und zugleich „der Vergangenheit treu zu sein“.

Also stürzt sie sich in die Arbeit, wehrt immer beherzter das Liebeswerben ihres Chefs (Bruno Todeschini) ab und trifft endlich auf jenen Menschen, der die Perspektiven in mancherlei Hinsicht durcheinander wirbelt und Nathalie mit ihrer schmerzenden Vergangenheit versöhnt. Denn Markus (François Damiens) ist nicht nur ein leicht verschrobener Schwede und linkischer Außenseiter, sondern er wird von seinen Kollegen schlichtweg übersehen. Das ändert sich gründlich nach dem titelgebenden Kuss, der den steifen Sonderling regelrecht verzaubert und ihm das „Herz verdreht“. Zu „Get it on“ von T-Rex verwandelt sich ihm die Welt in eine Parade lockender Frauen. Immer wieder wechselt der Film die Tonlage zwischen grauer Realität und Tagtraum, zwischen Dialogwitz und visuellem Humor, den die Brüder Foenkinos mit zahlreichen Ellipsen und assoziativen Bildanschlüssen transportieren. Die retardierende Komödiendramaturgie gibt den so ungleichen Figuren genügend Zeit, um ganz klassisch zueinander zu finden und sich im Spannungsfeld zwischen Beruf und Privatleben gegen eine feindliche Umwelt zu behaupten. Doch bleibt es Nathalies rührender Großmutter vorbehalten, mit Unvoreingenommenheit und Menschenkenntnis Markus‘ „gutes Herz“ zu erspüren und damit auf Anhieb jene emotionale Kontinuität zu entdecken, deren sich Nathalie insgeheim längst sicher ist.

Warrior

(USA 2011, Regie: Gavin O'Connor)

Friendly Fire
von Harald Steinwender

Boxerfilme sind Geschichten über proletarische Helden, die sich mit harter (Körper-)Arbeit aus der Gosse hocharbeiten; über stumpfe und abgestumpfte Männer, die mit dem Kopf gegen Wände und gesellschaftliche Konventionen anrennen; …

Boxerfilme sind Geschichten über proletarische Helden, die sich mit harter (Körper-)Arbeit aus der Gosse hocharbeiten; über stumpfe und abgestumpfte Männer, die mit dem Kopf gegen Wände und gesellschaftliche Konventionen anrennen; die den Überblick darüber verlieren, wo die Begrenzung des Rings beginnt und wo sie endet; über Männer, die sich in einem endlosen Kampf mit sich selbst und der Gesellschaft befinden. Boxerfilme sind Aufsteigergeschichten: entweder unreflektierte success stories, die mit dem Triumph des Außenseiters enden, der mit einem alles entscheidenden Sieg zum Volkshelden aufsteigt. Oder aber sie erzählen als kritische Noir-Varianten davon, was nach dem großen Sieg mit dem Boxer geschieht, wie dieser von skrupellosen Managern ausgebeutet wird, sich mit kriminellen Rackets einlässt, an seinem Ruhm zerbricht und von seinem Körper im Stich gelassen wird. Boxerfilme sind immer auch Familienfilme: David O. Russells 'The Fighter' (2010) erzählt von zwei ungleichen Brüdern und deren desolater Familie, die eigentliche Tragödie in Martin Scorseses 'Raging Bull' ('Wie ein wilder Stier'; 1980) ist der endgültige Bruch zwischen den LaMotta-Brüdern, und Burgess Merediths Trainer ist für Sylvester Stallones 'Rocky' (1976; John G. Avildsen) natürlich ein Vaterersatz.

Gavin O’Connor zitiert in seinem Mixed-Martial-Arts-Boxerfilm 'Warrior' die Bausteine und Klischees des Genres, von Rouben Mamoulians 'Golden Boy' (1939) bis zu 'Rocky', der Apotheose des Genres, und 'Raging Bull', Scorseses Anti-Boxerfilm. Auch er erzählt von ungleichen Brüdern, dem verbitterten Heißsporn Tommy (Tom Hardy), einem tablettenabhängigen Ex-Marine, und dem abgeklärten Familienvater Brendan (Joel Edgerton), der als Physik-Lehrer arbeitet. Während Brendan als Verlierer der Wirtschaftskrise gezwungen ist, wieder in den Ring zu steigen, um seine Familie zu ernähren, kehrt Tommy in seine Heimatstadt Pittsburgh zurück, um sich vom verhassten Vater (Nick Nolte) für die Großveranstaltung 'Sparta', eine Art MMA-Super-Bowl, trainieren zu lassen. 'Warrior' beinhaltet die für das Genre unvermeidlichen Trainingssequenzen und Ausflüge in den Sozialrealismus. Und natürlich läuft alles auf den letzten, alles entscheidenden Boxkampf hinaus, bei dem die Brüder und ihre unterschiedlichen Lebensentwürfe im Ring aufeinanderprallen und die Familie wieder zusammenfindet, während in Kneipen und zuhause ein Millionenpublikum zusieht.

O’Connor gelingt es, den im Genre bis zum Erbrechen durchgespielten Plot ohne jede Ironie zu inszenieren, ganz so, als ob er hier zum ersten Mal erzählt werden würde. Neben den ausgezeichnet choreografierten Kampfsequenzen macht gerade dies den Reiz seines Films aus, der leicht neben Russells vordergründig soziologischem 'The Fighter' bestehen kann. Der Hauptgrund dafür, dass 'Warrior' so gut funktioniert, liegt jedoch am exzellenten Schauspielerensemble: Nick Nolte leistet als passiv-aggressiver Alkoholiker, der am 1000. Tag seiner Abstinenz rückfällig wird, wahrlich Großes. Tom Hardy, seit 'Bronson' (2008) und 'Inception' (2010) auf dem Weg zum Star, gelingt es, die Zerrissenheit seiner Figur geradezu physisch erfahrbar zu machen. Der bislang kaum bekannte Joel Edgerton bietet mit seinem zurückhaltenden Spiel ein ideales Gegengewicht zu Hardys intensiver Performance. In einer rein dialogisch aufgelösten Konfrontation der beiden Brüder, exakt in der Mitte des Film positioniert und als Foreshadowing des Schlusskampfes angelegt, erscheint Tommys Körper krumm und schief, wie unter der Last der familiären Konflikte verbogen. Zwischenmenschliche Konflikte visualisiert der Film dagegen vor allem mit Großaufnahmen, die den Fokus vom Körper auf das Gesicht, vom embodiment zum acting verschieben. Zugleich bündelt O’Connor damit den Konflikt, der das Zentrum seines Films bildet: In 'Warrior' ist der eigentliche Kriegsschauplatz die Familie, die alle Beteiligten gezeichnet hat. Selbst die Flucht Tommys in die Ersatzfamilie Army bestätigt die Erfahrung, dass es gerade das 'friendly fire' ist, das umso tiefer verletzt.

Dieser Text ist in einer erweiterten Fassung erschienen in Splatting Image # 89, März 2012

Bellflower

(USA 2011, Regie: Evan Glodell)

Waste Land USA
von Harald Steinwender

Wochenende, eine heruntergekommene Kneipe in Kalifornien: Bier-Pitcher und Whiskey-Shots gehen im Dutzend über den Tresen, das Publikum besteht vor allem aus Slackern Anfang 20 bis Mitte 30. Ein Wettbewerb wird …

Wochenende, eine heruntergekommene Kneipe in Kalifornien: Bier-Pitcher und Whiskey-Shots gehen im Dutzend über den Tresen, das Publikum besteht vor allem aus Slackern Anfang 20 bis Mitte 30. Ein Wettbewerb wird ausgerufen: 50 Dollar für denjenigen, der die meisten lebenden Heuschrecken isst! Milly (Jessie Wiseman) ist sofort dabei, ihr Herausforderer ist Woodrow (Evan Glodell). Milly gewinnt. Am Tresen trifft sie Woodrow wieder, spendiert ihm ein Bier und einen Whiskey. Tags darauf das erste Date. Wohin es gehen soll? 'I want you to take me to the cheapest, nastiest, scariest place you know!' Also fährt Woodrow Milly nach Texas, dahin, wo man vom Essen Diarrhö bekommt, eine Frau wie Milly schon nach wenigen Metern belästigt wird und Woodrow sogleich von einem Redneck ein blaues Auge verpasst bekommt. Was für ein Beginn für eine Romanze.

Regisseur Evan Glodell (zudem Drehbuchautor, Ko-Cutter und Ko-Produzent) inszeniert mit 'Bellflower' ein kleines, rotziges Indiefilmchen, schnell abgedreht und ökonomisch geschickt mit sich selbst in der Hauptrolle besetzt. Das Ergebnis ist oft unerwartet charmant, auch wenn manche Passagen etwas forciert ausgefallen sind und 'Bellflower' sich zu sehr in der Perspektive seiner Jungsprotagonisten suhlt. Es geht, unter anderem, um Perspektivlosigkeit und die dunkle Magie der Popkultur, den Traum vom Leben wie im Film: 'You need some better images in your life.' Wie wahr! Aber was, wenn diese besseren Bilder vor allem aus Endzeitfilmen stammen? Die Hauptbeschäftigung von Glodells Slacker-Protagonisten ist neben Saufen und dem Herumschrauben an Muscle-Cars vor allem das Basteln eines eigenen Flammenwerfers. Ihr role model ist Lord Humungus aus George Millers 'The Road Warrior', dem zweiten 'Mad Max'-Film. Warum? Darum: 'LORD Fuckin‘ HUMUNGUS! The master of fire, the king of the waste land! Lord Humungus doesn’t get cheated on by some stupid bitch. Lord Humungus doesn’t say: ‚Was it good for you?‘ He doesn’t say: ‚Who called?‘, or: ‚Where were you last night?‘ He doesn’t leave the fuckin‘ game when he falls in love. Nobody fuckin‘ tells Lord Humungus what to do. Lord Humungus fights when he wants to fight. And fucks when he wants to fuck. And when all else fails he drives straight into the fuckin‘ tanker!' Es geht also um narzisstische, gekränkte Männlichkeit, die sich in Endzeitvisionen und Gewaltphantasien verirrt.

Milly geht fremd. Woodrow rastet aus. Er haut dem Rivalen eins auf die Nase, rennt weg, wird von einem Auto angefahren, leidet aber vor allem an seinem gebrochenen Herzen. Es folgt viel tote Zeit. Dann geht’s zur Sache. Ein Zwischentitel informiert uns: 'Nobody gets out of here alive'. Der Flammenwerfer kommt zum Einsatz, ein Baseballschläger, ein Messer und eine 45er. Eine Tattoo-Maschine wird blutig zweckentfremdet – ein Zitat aus 'Love & a .45' (1994; C.M. Talkington), off-screen, gottseidank. Aber, ätsch: Alles nur gelogen, alles nur eine Jungsphantasie in der Jungsphantasie. Ein schlauer Kniff, mit dem der Film sich vorm Abdriften ins Prätentiöse rettet. Statt einer klaren Narration folgt nun die Auflösung der Handlung bis zur Stasis. Kaskaden von Bildern brechen in die Narration ein, miteinander konkurrierende Erzählungen kollidieren. Amerika wird zum 'Mad Max'-Territorium: Waste Land USA. Woodrow und sein Kumpel Aiden (Tyler Dawson) fahren durch die kalifornische Wüste, die tatsächlich wie Australien aussieht. Die Sonne brennt direkt in die Kamera. Sie trinken Bier und schießen mit einer Schrotflinte auf Verkehrsschilder. Am Meer verbrennt Woodrow Millys Sachen, um – vielleicht? – Kalifornien zu verlassen. Warum auch nicht: 'We never even go to the beach.'

Die Frauen spielen hier nur die zweite Geige. Milly versaut die Beziehung mit ihrem Seitensprung, Courtney (Rebekah Brandes), eine der wenigen Frauen, der das Drehbuch ein paar Zeilen zugesteht, ist nur ein Anhängsel der 'Helden'. Aber auch die Jungsfreundschaft besteht vor allem aus Saufen und Nichtstun. Produktiv sind die Protagonisten nur im Basteln ihrer Zerstörungsgerätschaften. 'Bellflower' hat fast nichts gekostet, gerade einmal lächerliche 17 000 US-Dollar laut IMDb. Das sieht man dem Film auch an. Die Dialoge wirken mitunter improvisiert, sind oft redundant. In die Breitwandbilder schleicht sich der Dreck und der Staub ein: Immer wieder finden sich Flecken im Bild und auf der Linse. Die Bilder der handgeführten Digitalkamera rutschen in die Unschärfe, wirken flach, die Farben oft übersteuert: Gelb und Grün erstrahlen toxisch, Rot blutet aus, Blau ist vor allem fahl. Irgendwie spielt 'Bellflower' tatsächlich nach der Apokalypse. Keiner der Protagonisten geht arbeiten, woher sie das Geld für Benzin und Schnaps haben, interessiert den Regisseur nicht.

'Bellflower' ist vielleicht kein großer Wurf, aber durchaus sehenswert. Es wäre interessant zu sehen, was Glodell mit einem moderaten Budget und einem besseren Drehbuch auf die Beine stellen kann. Immerhin hat er laut einer Interviewaussage schon eine ganze Reihe von Drehbüchern in Arbeit. Arbeitstitel: 'Tales from the Apocalypse.' Na dann: 'Long live Lord Humungus!'

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Splatting Image # 89, März 2012

Die Summe meiner einzelnen Teile

(D 2011, Regie: Hans Weingartner)

Überwachen und Strafen
von Wolfgang Nierlin

Zwischen Wahn und Wirklichkeit, gedehnter Zeit und sehr konkreten Räumen bewegt sich der psychisch erkrankte Mathematiker Martin Blunt (Peter Schneider) in Hans Weingartners neuem Film „Die Summe meiner einzelnen Teile“. …

Zwischen Wahn und Wirklichkeit, gedehnter Zeit und sehr konkreten Räumen bewegt sich der psychisch erkrankte Mathematiker Martin Blunt (Peter Schneider) in Hans Weingartners neuem Film „Die Summe meiner einzelnen Teile“. Der österreichische, in Deutschland arbeitende Regisseur knüpft damit inhaltlich und thematisch an sein beeindruckendes Spielfilmdebüt „Das weiße Rauschen“ an. Wieder geht es um einen jungen Mann, der durch eine Psychose und einen längeren Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik aus der Bahn geworfen wird. Dabei interessiert sich der politische Filmemacher Weingartner vor allem für die möglichen gesellschaftlichen Ursachen dieser Erkrankung sowie für den repressiven Umgang des Systems mit denjenigen, deren Handeln, Fühlen und Denken von der Norm abweicht, also für den Außenseiter, der durch Überwachen und Strafen ruhiggestellt werden soll.

Gleich die Einleitung des Films, in der die Weite und Ruhe einer Waldeinsamkeit mit der klaustrophobischen Enge eines Gefängniswagens kontrastiert wird, etabliert leicht forciert diese Dialektik von Freiheit und Gefangenschaft. Nach seiner Entlassung aus der Klinik entgleitet Martin rasant der soziale Boden unter den Füßen: Er landet in einer Wohnung des Berliner Problembezirks Marzahn, verliert wegen „mangelnder Belastbarkeit“ seinen Job, kann sich nur schwer von seiner ehemaligen Freundin Petra (Julia Jentsch) lösen und stürzt sich schließlich in seine Alkoholsucht. Weingartner inszeniert das ruhig, fast wortlos und mit genauem Blick auf die soziale Realität. Das macht seinen Film sehr intensiv und reich an Zwischentönen. Zugleich mildert er die dargestellten Härten immer wieder mit einem empathischen Blick.

„Back in reality“, sagt Martin einmal und glaubt selbst nicht recht daran. Als er schließlich – in einer der eindringlichsten Szenen – durch den Räumungsvollzugsdienst und schier ohnmächtig vor Hilflosigkeit auch noch aus der Wohnung geschmissen wird, kehren die alten Zahlen-Dämonen und Alpträume wieder, verschieben sich ihm die Koordinaten seiner (Selbst-)Wahrnehmung. In einem Abbruchhaus begegnet er dem etwa 10-jährigen ukrainischen Waisenjungen Viktor (Timur Massold). Ihr Zusammensein, aus dem bald innige Freundschaft wird, mildert den permanenten Druck von außen. Gemeinsam flüchten sie in den Wald, der zum Refugium, zum zivilisatorischen Gegen-Ort und zum utopischen Aussteiger(t)raum wird. Sie bauen eine Hütte und erleben eine neu erwachende Stärke und Freiheit im Einklang mit der Natur. „Sei du selbst“, „hab‘ keine Angst“, lauten die Sätze, die diesen mutigen Aufbruch in einer Spiegelgeschichte mit der Zahnarzthelferin Lena (Henrike von Kuick) begleiten. Doch dann melden sich die Wächter der Norm zurück; und mit ihnen die dunklen Schatten des anderen, zerstörerischen Ichs.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Chronicle – Wozu bist Du fähig?

(GB / USA 2012, Regie: Josh Trank)

Ist es ein Vogel? Ein Flugzeug? Ein psychopathischer Heranwachsender?
von Louis Vazquez

Teenager mit Superkräften im Found-Footage-Stil – da darf man als Feind metaphysisch aufgeblasener Seifenopern und unmotivierter Wackelkameras das Interesse völlig zu Recht hart auf Null schrauben und einfach gar nicht …

Teenager mit Superkräften im Found-Footage-Stil – da darf man als Feind metaphysisch aufgeblasener Seifenopern und unmotivierter Wackelkameras das Interesse völlig zu Recht hart auf Null schrauben und einfach gar nicht mehr zuhören. Wenn man dann aber doch, quasi aus Versehen, völlig ungespoilert im Kino landet und sich auch nur einen Hauch für phantastische Filme interessiert, könnte das Erstaunen nicht größer sein. Was Josh Trank da in seinem Spielfilmdebüt auf die Leinwand bringt, ist nämlich tatsächlich so gut, wie der Hype inzwischen lautstark behauptet.

Drei Jugendliche gelangen unverhofft an telekinetische Kräfte, die ihnen sogar das Fliegen ermöglichen, und schnell ist da die pubertäre Lust, die neuen Fähigkeiten an arglosen Mitmenschen auszuprobieren. Man ahnt bald, wie der Hase rennt. Stichworte: Übermensch, Machtrausch, Korruption. Aber das ist ja schon mal interessanter als die zu befürchtende Seifenoper.

Zudem sind die drei Helden nicht unbedingt beste Freunde, sondern die zwei ungleichen Cousins Andrew (Dane DeHaan) und Matt (Alex Russel) sowie der in der Schule ziemlich populäre Steve (Michael B. Jordan, der in der ersten Staffel von „The Wire“ mal eine Sterbeszene hatte, die vieler Leute Auffassung von Fernsehserien für immer verändert hat). Diese vom Zufall zusammengewürfelten Figuren entwickeln sich viel interessanter als die austauschbaren Gesichter, die man sonst in Found-Footage-Filmen vorgesetzt bekommt.

Während die Person hinter der Kamera üblicherweise am unwichtigsten ist, handelt es sich bei Andrew um die Hauptfigur. Seine Mutter ist todkrank, sein Vater ein gewalttätiger Säufer – als geplagter Außenseiter und Sonderling wäre Andrew eigentlich ein wandelndes Teenagerfilmklischee. Als Kameramann einer Pseudo-Doku aber begeistert er schlichtweg, weil er mal keiner von den unrealistischen Wackelbild-Amateuren ist, die nicht im Stande sind, auch mal ohne Zoom zu arbeiten und ein totales Bild zu liefern. Andrew stellt die Kamera auch mal hin. Er will nicht nur draufhalten, sondern wirklich dokumentieren und aus seinem Leben erzählen. Was er zeigt, erzählt ziemlich viel über ihn selbst. Selten gewann der Kameramann so viel Profil.

Und dann gelingt es dem Film sogar noch, mit der Entdeckung der telekinetischen Fähigkeiten ganz unaufdringlich eine freiere Kameraführung zu motivieren. Erst viel später bemerken die Freunde, was Andrew inzwischen per Gedankenkraft macht, und sprechen ihn darauf an. Mit welchem Aberwitz der Film im letzten Akt sein Found-Footage-Konzept schließlich auf die Spitze treibt, wie er mit den typischen Auslassungen arbeitet und welchen Sinn für Timing er dabei an den Tag legt, das alles ist schon ziemlich erstaunlich und hebt „Chronicle“ weit über vergleichbare Genrestücke hinaus. Die Entwicklung des Antagonisten kann einem durchaus den Boden unter den Füßen weg ziehen, falls man sich nicht längst durch Trailer oder geschwätzige Filmkritiker alle Überraschungen hat verderben lassen.

Ein bisschen was zur Struktur wird jetzt aber auch hier verraten, vor lauter Begeisterung natürlich: Dass das Charakterdrama mit seinen dezent eingesetzten Spezialeffekten gerade dann, wenn man so gar nicht mehr damit rechnet, aus seinem Mikrokosmos ausbricht und zum sehr lauten Kracher wird, ist schon wieder brillant und dürfte wie im letzten Jahr das Zugunglück in J.J. Abrams’ „Super 8“ für sperrangelweit geöffnete Münder bei jenen sorgen, die den Trailer noch nicht auswendig kennen.

Ein nicht geringer Anteil am fälligen Lob gebührt Drehbuchautor Max Landis, dessen schon berühmter Vater John („An American Werewolf in London“, „Blues Brothers“) inzwischen augenzwinkernd und stolz lamentiert, sich seinen Sohn nun leider nicht mehr für die eigenen Filme leisten zu können. Vielleicht brauchte es zwei Nerds wie Trank und Landis, um dem Superheldenfilm eine so erfrischende Perspektive abzuringen. Wenn man sich auf Youtube Tranks Kurzfilm „Stabbing at Leia’s 22nd Birthday” oder die wunderbaren Reenactments von Landis’, hm, Kurzdokumentarfilm „The Life and Death of Superman” ansieht, erkennt man schnell eine gewisse Leidenschaft fürs Fach. Und das ist noch immer mehr als man von so manch anderem kalkulierten Blockbuster sagen kann.

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Chronicle – Wozu bist Du fähig?

(GB / USA 2012, Regie: Josh Trank)

Von Zero zu Hero (and back again)
von Ulrich Kriest

Andrew hat es nicht leicht. Seine Mutter stirbt gerade qualvoll an Krebs, sein Vater ist ein gewaltbereiter Frührentner mit einem Alkoholproblem und in der Schule ist er ein Außenseiter, eher …

Andrew hat es nicht leicht. Seine Mutter stirbt gerade qualvoll an Krebs, sein Vater ist ein gewaltbereiter Frührentner mit einem Alkoholproblem und in der Schule ist er ein Außenseiter, eher noch ignoriert als gepiesackt. Zum Schutz gegen die Welt hat er sich eine Kamera gekauft, die er jetzt immer dabei hat. Beliebter wird er durch diesen Spleen nicht gerade. Aber an dem Abend, als sein cooler und leicht philosophisch angehauchter Cousin Matt und der an der High School äußerst beliebte Steve ein geheimnisvolles Loch im Wald entdecken, aus dem unheimliche Geräusche dringen, bekommt Andrews Kamera tatsächlich mal eine sinnvolle Funktion. In einer unterirdischen Höhle begegnet den drei Jungs etwas, was sie, um den Preis von etwas Nasenbluten, mit enormen telekinetischen Fähigkeiten ausstattet.

Mit etwas Training reicht das schnell hin, um beim Schulfest zum Star zu werden, aber die wahren Freuden im Umgang mit ihren neuen Fähigkeiten entdecken die Drei beim intimen, gemeinsamen Football-Spiel über den Wolken. Dass man es trainieren muss, seine unbegrenzten Fähigkeiten zu realisieren, ist ein sehr schöner Gedanke dieses Films. Der, das wird früh klar, allerdings in eine andere Richtung will: es geht um die Verantwortung beim Genuss. Matt, der gerne mal ein paar philosophische Lesefrüchte in seine Gespräche einbaut, warnt früh vor einer „Hybris“, die sich einstelle, wenn man unter diesen Umständen seinen Gefühlen freien Lauf lasse. Was bei Andrew schon mal passiert, wenn er sich im Straßenverkehr genötigt fühlt: wisch und weg. Matt würde, damit sich das nicht wiederholt, gerne Regeln aufstellen, doch der jahrelang frustrierte Andrew hat dessen Schopenhauer- und Nietzsche-Exkurse in den falschen Hals bekommen – und bricht, nach etwas Recherche im Netz, als flugfähiger Super-Predator mit Riesenkräften und –kränkungen komplett mit der Welt.

Insofern handelt es sich bei „Chronicle“ tatsächlich um ein teenage angst-Drama im Gewande einer gebrochenen Superhelden-Geschichte. Am erstaunlichsten: die Low Budget- und Pseudo-Found Footage-Ästhetik der Kameraperspektive wird immer wieder intelligent aufgebrochen, zunächst durch die zusätzliche Perspektive einer Bloggerin (die allerdings nicht auf Andrew, sondern auf Matt bezogen ist – ein kleiner Schönheitsfehler?), später kommen dann, je nach Stadium der Hybris und der radikalen Selbstermächtigung, Überwachungskameras, Polizeikameras und Fernsehkameras hinzu. Aber auch Andrews Found Footage-Material hat es in sich, weil sich die frisch erworbenen Fähigkeiten in diesem Punkt mit Talent und Ehrgeiz paaren. Will sagen: wenngleich Andrew ein ziemlicher Loser bleibt, hätte er doch eine blendende Zukunft als Kameramann gehabt, weil er diese sehr elegant zu führen weiß – allein durch die Kraft seiner Gedanken. (Aber natürlich hätte ihn eine solche Karriere wieder ins zweite Glied verwiesen!)

Das ist ein ziemlich cleverer Einfall der Filmemacher, um den Flow des Films wieder näher an den Genre-Mainstream zu binden, ohne die kargen Produktionsmittel zu dementieren. Eine gelungene Talentprobe also, deren Schwächen allerdings auch nicht zu übersehen sind: die moralische Botschaft eines verantwortungsvollen Umgangs mit Superkräften liegt etwas zu sehr auf der Hand und der (sehr!) langwierige Action-Showdown des Films verkommt leider zur öden und spannungslosen Materialschlacht á la Roland Emmerich.

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Splice

(CAN 2009, Regie: Vincenzo Natali)

Die eierlegende Wollmilchsau
von Harald Steinwender

Trotz ihrer Jugend haben Clive (Adrien Brody) und Elsa (Sarah Polley) bereits eine brillante Wissenschaftskarriere absolviert. Als das aktuelle Projekt des Forscherpaars jedoch Gefahr läuft, eingestellt zu werden, wagen die …

Trotz ihrer Jugend haben Clive (Adrien Brody) und Elsa (Sarah Polley) bereits eine brillante Wissenschaftskarriere absolviert. Als das aktuelle Projekt des Forscherpaars jedoch Gefahr läuft, eingestellt zu werden, wagen die Gentechniker ein riskantes Experiment: Sie bringen menschliche DNA in ein Hybridwesen ein. Die auf den Namen 'Dren' getaufte Kreatur (Delphine Chanéac) wächst schnell zu einem menschenähnlichen Wesen heran. Während die Jungforscher elterliche Gefühle entwickeln, wird Dren zunehmend unkontrollierbarer.

Kurz vor dem deutschen Kinostart von 'Splice' vor zwei Jahren gelang es einem Team von US-Wissenschaftlern, in einem Labor erstmals ein komplett künstliches Bakterium zu erschaffen. Damit wurde die Idee, die Vincenzo Natalis Science-Fiction-Thriller zu Grunde liegt, durch die Wirklichkeit eingeholt, noch bevor der Film die Kinos erreicht hatte. Das von den realen Forschern geschaffene Bakterium mag zwar weit von dem menschenähnlichen, das Erbgut verschiedener Tiere vereinenden Fantasiewesen aus 'Splice' entfernt sein. Einen zusätzlichen tagesaktuellen Bezug verleiht dies dem von Regiekollegen Guillermo del Toro ('Pans Labyrinth') produzierten Werk aber allemal.

Streckenweise erhebt 'Splice' durchaus den Anspruch, einen populärkulturellen Beitrag zur gegenwärtigen Bioethikdebatte zu leisten. Wie dort läuft alles auf die Frage hinaus, ob der Mensch immer auch umsetzen darf, was technisch möglich ist. Ein allzu kopflastiges, gar philosophisches Traktat über das prometheische Streben sollte allerdings niemand von dem Crossover aus Science-Fiction, Fantasy und Thriller erwarten. Vielmehr bedient sich Regisseur und Drehbuchautor Natali, der mit dem klaustrophobischen Thriller 'Cube' 1997 ein Überraschungserfolg landete, neben den obligatorischen Verweisen auf James Whales 'Frankenstein'-Adaption und das 1980er-Jahre-Remake der 'Fliege' einer B-Film-Dramaturgie und genretypischer Effekte. Die atmosphärisch gestalteten Bilder von 'Splice' sind mittels Farbfilter monochrom eingefärbt, auch mit Digitaleffekten geizt der Monsterfilm kaum. Das Design der Kreatur setzt offensichtlich auf die Schaulust des Publikums, das die Entwicklung des Hybridwesens vom nagetierartigen Kleinkind bis zur Mischung aus Mensch, Känguru, Fisch und Vogel verfolgen darf.

Doch was unter den Händen eines David Cronenberg provokantes und intellektuelles Genrekino hätte werden können, verzettelt sich in altbekannten Klischees und krankt am vorhersehbaren Drehbuch. Ambitioniert ist einzig der von Natali konsequent verfolgte Ansatz, den Science-Fiction-Plot als Ausgangspunkt einer mit Verweisen auf die griechische Mythologie und Freud aufgeladenen sarkastischen Kritik an oppressiven Familienstrukturen zu nutzen. Aber gerade durch die forcierten Verweise auf ödipale Ursituation und Inzest wirkt 'Splice' überkonstruiert. Übrig bleibt ein unbefriedigender Genrezwitter, ähnlich hybrid wie die geklonte Kreatur in seinem Zentrum.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Wer weiß, wohin?

(F / Liban. / Ägypt. 2011, Regie: Nadine Labaki)

Die List der Frauen
von Wolfgang Nierlin

Auf dem steinigen Grund des Friedhofs vollführt eine Gruppe schwarzgekleideter Frauen einen Tanz aus Trauer und Schmerz. Sie beweinen ihre Ehemänner und Söhne, die dort begraben sind. Doch selbst der …

Auf dem steinigen Grund des Friedhofs vollführt eine Gruppe schwarzgekleideter Frauen einen Tanz aus Trauer und Schmerz. Sie beweinen ihre Ehemänner und Söhne, die dort begraben sind. Doch selbst der Tod weist ihnen getrennte Plätze zu, denn es handelt sich bei den Gefallenen um verfeindete Muslime und Christen eines kleinen libanesischen Dorfes. Aus missverständlichen oder geringfügigen Anlässen kommt es hier zwischen den unterschiedlichen Religionsgemeinschaften immer wieder zu Konflikten. Das darin liegende Unbestimmte ist in Nadine Labakis neuem, tragikomischen Film „Wer weiß, wohin?“ (Et maintenant, on va où?) durchaus Absicht. Denn der dörfliche Mikrokosmos mit seinen „dunklen Schatten“ steht stellvertretend für die vergangenen und gegenwärtigen Konflikte des Landes, lässt sich aber auch universell verstehen. So sagt eine Erzählerin zu Beginn des Films, dass die folgende Geschichte ein Geschenk für all diejenigen sei, die „zwischen den Welten leben“.

Eigentlich könnte alles gut sein. Liebevoll und mit Humor zeichnet Nadine Labaki zunächst das friedliche Zusammenleben innerhalb der Dorfgemeinschaft. Schrullige Typen und burleske Späße, verträumte Musical-Einlagen und geschlechtsspezifische Rollenklischees werden dabei lustvoll gemischt und geben nicht zuletzt Auskunft über Mentalitäten. Selbst die Religionsgrenzen überschreitende Liebe zwischen der von der libanesischen Regisseurin selbst gespielten Barbesitzerin Amale und dem Anstreicher Rabih findet hier ihren romantischen Niederschlag. Doch vom Versöhnungsfest der Dorfbewohner und den bei diesem Anlass gefassten guten Vorsätzen bis zum nächsten Scharmützel vergeht nur kurze Zeit. Und als die Muslime ihre Moschee von Schweinen und anderen Tieren verunreinigt vorfinden, dauert es nicht lange, bis Hühnerblut im Weihwasser der Christen-Gemeinde auftaucht. Ohne (politische) Hintergründe zu erhellen oder zu problematisieren, geht es Labaki hier vor allem um die Dynamik der Eskalation, die bei allem Ernst immer auch ironisch betrachtet wird.

Vor allem die blindwütige Triebnatur der Männer, ihre Streitsucht und mangelnde Kommunikationsbereitschaft werden zu Symptomen dieser aggressiven Verhaltensmuster aus Gewalt und Gegengewalt. Nadine Labaki gibt sie der Lächerlichkeit preis und weist selbstbewusst den Frauen die Rolle der Friedensstifterinnen zu. Mit Mut und List, mit selbstgebackenen Haschkuchen und dem Sexappeal der russischen Tänzerinnen aus dem „Paradise Palace“ bringen sie die Männer auf andere Gedanken und in andere Zustände. Das Ablenkungsmanöver aus dem Geist der Versöhnung gelingt. Und tatsächlich ist die Welt am Morgen nach dem Rausch, als die Männer aus ihrem tiefen Schlaf erwachen, eine andere, irgendwie „verkehrte“ oder umgedrehte.

Iron Sky – Wir kommen in Frieden!

(FIN / D / AUS 2012, Regie: Timo Vuorensola)

Lachen über alles
von Drehli Robnik

Der Titel ist in mehrerlei Hinsicht Programm: In 'Iron Sky' ist vieles aus Eisen und fast alles in Stahlgrautönen gehalten, und mit einigem Recht schwelgt die Inszenierung in der Gigantomanie …

Der Titel ist in mehrerlei Hinsicht Programm: In 'Iron Sky' ist vieles aus Eisen und fast alles in Stahlgrautönen gehalten, und mit einigem Recht schwelgt die Inszenierung in der Gigantomanie digitaler und physischer Metalllarchitekturen. So auch bei Raumschiffschlachten am Himmel, hoch oben oder gleich über New York, zwischen den USA und Invasoren, die per Riesenzeppelin von ihrer versteckten Basis auf der Rückseite des Mondes aus anno 2018 zur Rückeroberung ihres einstigen Heimatplaneten antreten. 'Wir kommen in Frieden!' lautet die Titel-Byline des Films.

Eisern ist der Himmel und himmelweit offen das Panorama der Satire in dieser sich selbst so definierenden 'Sci-Fi-Komödie'. In Anklang an Tim Burtons – in jedem Punkt ungleich schlaueren und irreren – 'Mars Attacks' (1996) werden hier alle als hässlich, korrupt und machtneurotisch hingestellt, verstrickt in ihre Gelüste, Eitelkeiten und die Eigendynamik ihrer gruppenspezifischen Redeweisen: die strammen und doch untereinander in Rivalität zerstrittenen Invasoren, die weiße US-Präsidentin mit ihrem Slogan 'Yes, she can' und ihrem Buhlen um schwarze Wählergunst (um deretwillen sie einen afroamerikanischen Astronaut auf den Mond entsendet, der den ganzen Film über viel Blackness-Speak strapaziert), ferner ihr militärischer und ziviler Beraterstab, diverse UNO-Delegierte im Dauerzank, unter ihnen ein dem Oberst Gaddafi nachempfundener. Bezieht sich 'Iron' hier auch auf die Ironie, in deren stahlhartes Gehäuse 'Iron Sky' sich umso mehr einschließt, je mehr er gegen Ende auf heilloses Chaos setzt, das bloß die Anmutung von Lachzwang und bleischwerer Konfusion versprüht?

Wenn wir von der an Freitaghauptabendfernsehen gemahnenden Lichtsetzung und Tonmischung des Films absehen, zugunsten der Faktoren, die die PR-Linie zu diesem Trash-Handstreich sich selbst zugute hält – was bleibt zu erwähnen? Die Regie stammt von dem jungen finnischen Do-It-Yourself-SciFi-Satiriker Timo Vuorensola, und er hat in jahrelanger Mühsal, wie man so sagt, Einige(s) bewegt: den im Status lebender Legendenschaft erstarrten Udo Kier zum Mitspielen (an der Seite von Julia Dietze, Götz Otto und Tilo Prückner), ferner die Industrial-Altspatzen Laibach zu Beiträgen zu einem platten Soundtrack (Marschmusik, Easy Listening, 'Star Spangled Banner'-Variation) – und schließlich eine weltweit vernetzte Gemeinde potenzieller Fans zum Stopfen von Budgetlücken dieser deutsch-finnisch-australischen Koproduktion. Im Gegenzug darf die Community sich selbst oder ihre Ideen in Teilen in den Film reinreklamieren. (So sieht er auch aus? Was? Das hab ich nicht gesagt!) Wir notieren: crowd funding, mit Zusatz 'innovative Geschäftsidee', ab jetzt Fallstudie im Betriebswirtschaftslehregrundkurs.

Allein, die Sache hat noch einen Haken, ausgehend vom Hakenkreuzgrundriss der Raumbasis. Die Invasoren sind Nazis, die 1945 auf den Mond geflohen sind und dort ein lunares Regime unter einem Führer namens Kortzfleisch aufrechterhalten. Den Nationalsozialismus und sein Bild macht der Film, wie gesagt, zum Teil-Ziel eines Rundumschlags, der auf die Einsicht hinausläuft: Alle spinnen – und manche tragen dabei noch SS-Uniform. Das passiert im Kino immer wieder mal und wird dadurch nicht weniger falsch. Ein Vergleich liegt allzu nah: 'Inglourious Basterds', mit dessen lang nachglühender Strahlkraft auch 'Iron Sky' sein Kultsüppchen kochen möchte, war ein pointierter Film mit einem bildpolitischen Konzept (artikuliert im Horizont der Trashtraditionsbespielung, warum auch nicht?); Tarantinos Inszenierung setzte an beim engen Fokus auf ein Verständnis von Nazismus als Gewaltpolitik aus Rassenhass und antisemitischem Wahn – und beim jüdischen Widerstand dagegen, zumal bei einem Bruch von Erwartungen und Benimmregeln, ausgelöst durch das nachgerade obszöne Erscheinen von Handlungsmacht seitens jener, denen die Geschichtsbilderkultur bis vor ganz kurzer Zeit kaum je gestattet hat, die Rolle 'reiner' Opfer zu überschreiten. (Nicht zu vergessen den charmanten, eloquenten Wiener SS-Mann – eben kein Kauz, Dickwanst oder Choleriker wie so viele andere Kinonazis –, dessen Bild klar machte, dass das Kernproblem und -verbrechen am Nazismus etwas anderes ist als Fettsucht oder chronische Übellaunigkeit.)

Anders gesagt: Es spricht grundsätzlich rein gar nichts gegen einen Film, der Nazis zeigt und dabei als Partyknaller daherkommen will – aber dann dürfen nicht nur Eisentrümmer durch den Himmel, sondern muss eben auch eine Nazi-Party in die Luft fliegen (und mit ihr dasjenige an Sinnbestand, was deren heutige kulturnationalistische und staatsrassistische Nachfolgeschaft antreibt). Nochmal anders gesagt: Die so notorische wie völlig sinnlose – weil von ihrer Logik her politisch-ästhetische Positionierung durch Unschulds- und Hygienemoral ersetzende – Frage, ob man über Nazis lachen darf, sie stellt sich bei 'Iron Sky' nicht: Der Film zielt erstens nicht auf Nazis (oder auf politische Aspekte ihrer Popkultur- und Medienbilder), sondern auf Allzumenschliches (das er auch nicht trifft), und zweitens bietet er nichts zum Lachen.

The Grey – Unter Wölfen

(USA 2011, Regie: Joe Carnahan)

Bisse und Schnitte ins Leben
von Drehli Robnik

Wölfe lassen sich gut melken, ebenso die Landschaften und Plotregister, in denen das in schicker Körnigkeit und ausreißenden Farben gedrehte Abenteuer-Horrorfilmhybrid „The Grey – Unter Wölfen' sie platziert. In endlosen …

Wölfe lassen sich gut melken, ebenso die Landschaften und Plotregister, in denen das in schicker Körnigkeit und ausreißenden Farben gedrehte Abenteuer-Horrorfilmhybrid „The Grey – Unter Wölfen' sie platziert. In endlosen Schneewüsten, Wäldern und nervenaufreibend zu überquerender Schlucht samt reißendem Flüsschen agiert der Wolf per Umzingelung im Rudel oder jähem Biss aus dem Nichts; er jault und knurrt, was das Sounddesign hergibt, er lässt Augenpaare aus dem Dunkel leuchten, als wäre dies ein Slasherfilm mit unsichtbarem Killer.

Grauenhaft sind sie, die Grauen, aber das gilt auch für die nicht minder angegrauten Zweibeiner, auf die sie Jagd machen: eine kleine Gruppe kerniger Ölkonzernarbeiter um die Vierzig, auf dem bierseligen Flug über Alaska abgestürzt, nunmehr auf der Flucht vor Hunger, Frost und Isegrim. 'Men unfit for society' nennt sie der in McGyver-hafter Routine bescheidwissende Held, der recht ausgiebig sinniert, entweder mit sonorer Intimstimme im inneren Monolog direkt in unser Ohr oder etwas vehementer vor versammelter Mannschaft; ihn spielt der mittlerweile ganz ins Actionf(l)ach gewechselte Liam Neeson in seiner nunmehr zweiten Hauptrolle für Regisseur Joe Carnahan nach „The A-Team“. Wer also ist hier nun A-, wer B-Team? Wer ist Bestie, wer Futter? Wer ist Alphatier, und wer mutiert doch zum family man, beim Erzählen von Frau und Kind daheim vor dem Lagerfeuer.

Die Besten und die Bestien

Auch die rasch weniger werdenden Petroknechte (durchwegs männlichen Geschlechts) knurren einander an oder jaulen zurück, wenn sie den Kopf eines eben erlegten Killerwolfes triumphal ins Dunkel schleudern. Am Ende – wenn von dem 'Flug des Phönix'-artigen Kleinkolllektiv kaum mehr einer übrig ist – wird gar Gott angeheult. Regression und Ritual, Reviermarkierung und Rivalität, Kreatur pur und ihre Klage an eine Schicksalsgewalt, die es ihr nicht leicht macht: Wo bleibt aber da das Menschliche? Was das Leben nicht nur brünftig leben, sondern auch wehmütig lieben lässt, über das bloß animalische und improvisationsfreudige Survival hinaus, das sitzt hier im Schnitt: in melancholischen Erinnerungsflashes aus verlorenen Zeiten der Geborgenheit – sei es auf dem Schoß des Sinnsprüche hinterlassenden Daddy, sei es im Bett mit der früheren Frau; deren sanft geflüsterte Mahnung, keine Angst zu haben, ist da noch in die Flugzeugabsturzsequenz oder in den Showdown insertiert. Ui, da macht jemand einen auf Malick oder Soderbergh. Ziemlich prätentiös ist das schon. Aber der Film ist trotzdem nicht so schlecht.

Tag und Nacht

(A 2010, Regie: Sabine Derflinger)

Königliche Abbrecherinnen
von Wolfgang Nierlin

Der titelgebende Wiener Escortservice „Tag und Nacht“ ist ein kleines, privates Unternehmen, das insgesamt sechs Prostituierte beschäftigt und deren Sex-Dienste via Internet offeriert. Zuhälter Mario (Philipp Hochmair), ein Amateur mit …

Der titelgebende Wiener Escortservice „Tag und Nacht“ ist ein kleines, privates Unternehmen, das insgesamt sechs Prostituierte beschäftigt und deren Sex-Dienste via Internet offeriert. Zuhälter Mario (Philipp Hochmair), ein Amateur mit Profi-Attitüde, der die Geschäfte über seine verwahrloste Privatwohnung abwickelt, gibt sich gegenüber den beiden neuen Frauen in seinem Team locker, gutgelaunt und höchst zufrieden: Er habe neben drei Osteuropäerinnen noch seine Frau Sissi (Martina Spitzer) am Start, alles laufe bestens. Unter diesen Voraussetzungen erhoffen sich die beiden Studentinnen Lea (Anna Rot) und Hanna (Magdalena Kronschläger) leicht und schnell verdientes Geld. Außerdem, so glauben sie, ist für sie ein Spiel, was die erfahrenere Sissi für sich einmal als Leben bezeichnet.

Die Motivation der beiden jungen Frauen in Sabine Derflingers realistischer Milieustudie „Tag und Nacht“ ist vielleicht ein wenig dürftig. Sie dient der österreichischen Regisseurin jedoch für einen detaillierten Einblick in die (unbekannte) Welt der Sexarbeiterinnen. Darüber hinaus generieren die wechselnden Begegnungen mit mehr oder weniger perversen Kunden, der Sex auf Abruf und die Milieus, in denen er stattfindet, die revueartige Struktur des Films. Ein Panoptikum der Perversionen vom Klischee behafteten koksenden Geschäftsmann, über den verklemmten Verbalerotiker bis zum romantisch umwölkten Freier mit BH, Strapse und einem obszönen Gedicht auf den Lippen wird hier vorgeführt. Wofür Derflinger allerdings Alltäglichkeit und Normalität beansprucht, was sich wiederum in der ungeschönten Ästhetik des Films niederschlägt: „Alles das, was sonst wegfällt, wollte ich so normal wie möglich zeigen.“

Vor allem erzählt ihr Film „Tag und Nacht“ aber die Geschichte einer langsam zerbrechenden Freundschaft in zunehmend desillusionierenden prekären Verhältnissen. Immer stärker wird das Leben von Lea, die sich cool und selbstbestimmt gibt, und der etwas unsicherer und labiler wirkenden Hanna vom dunklen Sog des neuen Jobs absorbiert, infiltrieren schwerwiegende Kontrollverluste ihren nur scheinbar geordneten Alltag. Hanna vernachlässigt ihr Studium der Kunstgeschichte und scheitert in einer Prüfung, während Lea sich resigniert für ein Schauspielstudium bewirbt. Einmal bezeichnet sie sich als „Abbrecherin“; dabei trägt die beiden gemeinsame Perspektivlosigkeit gerade bei ihr antibürgerliche Züge. Immer deutlicher driften die Freundinnen ab und entfernen sich dabei zugleich voneinander. In schmerzliche Ironie verkehrt sich deshalb jener Satz, den eine der beiden einmal zu Beginn ihrer abenteuerlichen Unternehmung äußert: „Männer kommen und gehen, aber wir zwei sind Königinnen.“

The Music Never Stopped

(USA 2011, Regie: Jim Kohlberg)

Rock’n’Roll will never dead!
von Ulrich Kriest

Schöne Idee: Musiktherapie als ultimative Chart-Show, funktioniert – wie in diesem Film – so nur mit bestens abgehangener Pop-Musik. „The Music never stopped“, basierend auf einem Essay von Oliver Sacks …

Schöne Idee: Musiktherapie als ultimative Chart-Show, funktioniert – wie in diesem Film – so nur mit bestens abgehangener Pop-Musik. „The Music never stopped“, basierend auf einem Essay von Oliver Sacks („The man who mistook his wife for a hat“), ist also gewissermaßen Ü50-Formatradio im Kino, „die größten Hits der Sechziger!“

Gänsehaut! Es gilt: „Rock’n‘Roll (I gave you the Best Years of my Life)“ – und zwar damals in den Sechzigern, als Popmusik noch ein alternatives, vielleicht sogar gegenkulturelles Lebensgefühl und, herrje, Protest gegen das Establishment und seine Politik(en) repräsentierte. Playing in the Band. Talking ’bout my generation. Give me a F … ! Next Stop is Vietnam. Father? Yes, son? I want to …

Wie gesagt: die Sixties. Doch jetzt, also circa 1988, hat Gabriel Sawyer leider einen Hirntumor und kann rein gar nichts erinnern, was ihm nach 1970 geschah. Gabriel dämmert in der Klinik vor sich hin, seine Eltern sind rat- und hilflos – bis eine pfiffige Musiktherapeutin auf die Idee kommt, ihm die größten Hits der sechziger Jahre vorzuspielen. Dann erwacht Gabriel unvermittelt aus dem Off und beginnt drauflos zu schwadronieren – von Dylan (Mensch, der konnte reimen!) und den Beatles (Alles, was du brauchst, ist Liebe), von The Grateful Dead („Leider nie live gesehen!“) und Simon & Garfunkel. Oder waren es doch Buffalo Springfield? Es passiert etwas hier. Was es ist, ist nicht exactly clear.

Seine Eltern pflegen Gabriel, obwohl sie ihn seit 1968 nicht mehr gesehen haben. Warum das so ist, erzählt der Film in einer Folge von Rückblenden: Vater, ein Patriot und Pop-Liebhaber der Proto-Beat-Zeit, und Sohn entzweiten sich Mitte der Sechziger über ihre musikalischen Vorlieben, die für existentielle politische Haltungen standen. Immer länger wurden Gabriels Haare, immer lauter seine Lieblingsmusik, bis es schließlich hieß: „Flagge verbrennen! Regierung ertränken!“ Ironie der (Pop-)Geschichte: wenn der (liebende?) Vater Zugang zu seinem verlorenen Sohn finden will, muss der knorrige Bing Crosby- und Sinatra-Fan sich im Schnelldurchlauf die Musik der Sechziger draufschaffen.

Das ist eine lustige Idee, doch leider missglückt dem Film völlig, seinen Figuren eine Form von Leben einzuhauchen. Vater und Sohn bleiben repräsentative Pappkameraden, wandelnde Allgemeinplätze, die gemeinsam Musik von gestern hören, weil sie sich heute noch immer nichts zu sagen haben. Übrigens auch nichts über Musik, was mindestens die Figur Gabriels enorm beschädigt. Denn wem Popmusik existentiell etwas »bedeutet« hat, dem sollte dazu doch etwas mehr und etwas Anderes dazu einfallen als beispielsweise die Plattitüden Oliver Geißens bei der ultimativen Chart-Show.

Regisseur Jim Kohlberg setzt mit „The Music Never Stopped“ beherzt und letztlich auch ziemlich gespenstisch auf die Rührung von Nostalgikern durch Zeichen und Humor: Erkennen Sie die Melodie, gar das Schallplatten-Cover? Am Schluss der Therapie verkleiden sich Vater und Sohn dann vergnügt als Hippies (no drugs, please!) und besuchen (endlich) gemeinsam ein Grateful Dead-Konzert. Da feierte die Band mit „Touch of Grey“ gerade ihre erste Hit-Single seit „Uncle John‘s Band“, was dem Film natürlich gut ins Konzept passt, weil hier ja eh nur Hits gespielt werden, damit die Nostalgie auch beim Mainstream verfängt. „Out on the road today / I saw a deadhead sticker on a cadillac / A little voice inside my head said / „Don’t look back, you can never look back.“ Das hörte man bereits 1984.

Muss man also unterstellen, dass es einen kulturellen Unterschied gibt zwischen dem Besuch eines Dead-Konzertes 1967/68 und eines Dead-Konzert 1987/88? Der Film dementiert das um der Versöhnungsgeste willen. Obwohl, soviel Liebe zum Detail muss sein, unter uns Deadheads, Stichwort Humor: Pigpen wird schon vermisst. Aufschlussreich indes ist die krude Verbindung von Pop-Nostalgie und entpolitisiertem Geschichtsrevisionismus. Motto: Music brings you home, experience the ride.

Indes sagt dieser geradezu auf erpresserische Weise rührende Film doch auch: Hätte der Vater, vulgo: die Vätergeneration bereits »1968« über diese empathische, wenngleich letztlich auch völlig oberflächliche und aus der Not der narzisstischen Verletzung geborene Neugier auf den Sound der Jugend verfügt, hätte man sich das ganze Gerangel auf den Nebenkriegsschauplätzen Vietnam, Post-Kolonialismus, Bürgerrechte, Rassismus und Auschwitz auch sparen können. Schließlich wussten die Alten schon, als sie noch jung waren: „But what can a poor boy do except to sing for a rock’n‘roll band.“

My Week With Marilyn

(GB / USA 2011, Regie: Simon Curtis)

Film im Film und Führung in Frottee
von Drehli Robnik

An Spielfilmen über das Filmemachen und seine Geschichte mangelt es derzeit nicht; gefühlte 24 pro Sekunde kommen dieser Tage in die Kinos, zumeist in neokonservativ-nostalgischem Tonfall und mit der Beschwörung …

An Spielfilmen über das Filmemachen und seine Geschichte mangelt es derzeit nicht; gefühlte 24 pro Sekunde kommen dieser Tage in die Kinos, zumeist in neokonservativ-nostalgischem Tonfall und mit der Beschwörung einer Wahrheit hinter den Kulissen des Spektakels, die uns verlorengegangen ist und nun geborgen werden soll. Das kann die schiere Evidenz beredt grinsender Gesten hinter der Sprachmauer des Sprechtonfilms sein (The Artist') oder der verlorene Archivschatz einer im Rückblick vergoldeten Gründerzeit des Laufbilds (Hugo Cabret') – oder die Vorstellung einer echten Marilyn hinter der Fassade der Monroe und ihrer Filmarbeit.

Die ostentativ zartbittere Komödie 'My Week With Marilyn' spielt 1956 in der Umgebung von London während des Pinewood-Studiodrehs zu 'The Prince and the Showgirl – Der Prinz und die Tänzerin' und zeigt die Titelheldin zerrissen zwischen Leistungsdruck, Imagezwang, Geltungsbedürfnis, Konfusion und Tablettensucht. Alle wollen an ihre Vitalsubstanz heran, wollen sie führen und formen: ihr Co-Star und Regisseur Laurence Olivier aus der Position des abgeklärten Profimimen; Paula Strasberg als ihre mütterliche Method-Acting-Mentorin, die das Ethos ungekünstelter Ausdrucksechtheit in eine andere Art von Dressur umwandelt; Arthur Miller als ihr Ehemann, der seine Frau schon nach kurzer Ehe heimlich ab- und im Notizbuch zur unvorteilhaften Romanfigur umschreibt.

Es herrscht allseits Zank und Frust, Bosheit und Unwahrheit. Da genügen die lieb gemeinten Ermunterungen der selbstironischen Schauspielkollegin Dame Sybil Thorndike (Judi Dench) an die heillos überforderte Marilyn nicht mehr; da müssen härtere Kontraste in Form sanfterer Verkehrsformen her. Gerade recht kommt Colin Clark: Der spätere Kunsthistoriker (Sohn des prominenteren Branchenkollegen Sir Kenneth), auf dessen Memoiren basierend der Film weitgehend aus seiner Perspektive erzählt ist, arbeitet als filmbegeisterter, einfallsreicher Laufbursche am Set. Um einiges jünger als Marilyn und fast ebenso schmollmündig wie sie, avanciert er zu ihrem einfühlsamen Vertrauten, Helfer bei kleinen Fluchten, 'perfect date' (samt Spontannacktbad nach Schloss- und Collegevisite) und Kuschelbuddy, dem sie alles gesteht.

Simon Curtis‘ Inszenierung und Musikeinsatz lassen wenig Zweifel, wann wir jeweils beschwingt, bezaubert oder betroffen sein sollen. Sicherheitshalber aber bekommen die dämmrig hauchende MM und der zwischen Wutanfall vor dem Schminkspiegel und Shakespeare-Rezitation angesichts von Marilyn-Mustern im Vorführraum changierende Olivier – Michelle Williams und Kenneth Branagh spielen jeweils mit Gusto – ein paar Schlüsselszenen, in denen sie ausbuchstabieren, was Sache ist: In Wirklichkeit will Marilyn will ja nur um ihrer selbst willen lieb gehabt werden wie jedes Mädchen; und doch hat sie was, da muss man einfach hinschauen, das ist irgendwie ein Traum. Letzteres in etwa sind die tief gedachten Worte, die uns 'My Week With Marilyn' als Resümee mit auf den weiteren Lebensweg gibt, ob unter Anrufung von Prospero oder versonnen aus dem Off verkündet vom Zwischendurchlover Colin, der nun heartbroken und gereift zu seiner Normalo-Geliebten zurückkehrt. (Das junge Paar spielen Eddie Redmayne und Emma Watson, vormals die Hermione aus dem Harry Potter-Franchise.)

Mit dem mehrfach ausgesprochenen Appell, die Augen nicht zu verschließen oder abzuwenden, schwingt sich der Film zu einer Geste der Nobilitierung auf, gegenüber der angepeilten Publikumshaltung eines Voyeurismus, wie es ihn so schwitzig seit den seligen Zeiten der Sexklamotten mit Laura Antonelli nur noch selten gibt. In gediegener altenglischer Ausstattung, mit viel glänzendem Holz und gepflegtem Grün, tritt die Titelfigur zur Entblößung forcierter Natürlichkeit an, die in Bein- und Popo-Begutachtung kulminiert. Marilyn kiekst nackt vor der Badezimmertür, trällert kokett in der Wanne, räkelt sich in Frottee. Am Beginn und Ende des Films ist jeweils noch das Re-enactment einer Bigband-Tanz- und Gesangsnummer ('Heatwave' und 'That Old Black Magic') drangepappt – warum nicht, wenn die vielseitige Williams (of Kelly Reichardt and Shutter Island fame) schon verfügbar, platinblondiert und in die Rolle eingespielt ist? Das beleidigt die Intelligenz der Filme, für die Marilyn Monroe zu Recht nach wie vor gern erinnert und betrachtet wird (zumal jener, die besser, lasziver und verstörender sind als 'My Week With Marilyn' und die Komödie, von deren Dreh er handelt), ebenso wie unsere anonym gestreute Publikumsintelligenz. So als hieße das ganze “My Weak Wit – Marilyn”.

Totem

(D 2011, Regie: Jessica Krummacher)

Leben und Leiden im Parzellenparadies
von Carsten Happe

Die elektrischen Fensterläden fahren herab wie ein Theatervorhang. Aus dem Off wispert Fiona, die Protagonistin „Ich wusste nie, was ich wollte. Ich weiß es auch jetzt nicht.“ über einem uneindeutig …

Die elektrischen Fensterläden fahren herab wie ein Theatervorhang. Aus dem Off wispert Fiona, die Protagonistin „Ich wusste nie, was ich wollte. Ich weiß es auch jetzt nicht.“ über einem uneindeutig eindeutigen letzten Bild, dann senkt sich der Abspann über „Totem“. Und alles zuvor ist pure Irritation, der Wirklichkeit um einen Pixel oder eine Bildzeile verschoben, so dass sie in ihr noch verhaften bleibt, unbedingt sogar, aber sich gleichzeitig dem Surrealen einen Spalt öffnet. Und nicht wirklich zu fassen ist, im Ungefähren und Abgründigen.

Reden wir über Sozialrealismus im Kino, über Filme von Mike Leigh oder Andreas Dresen. Filme, die einen gewissen Aufwand betreiben, genau diesen zu verschleiern. Die einen Blick in das unverstellte, echte, wahrhaftige – derer Adjektive gibt es zuhauf – Leben ermöglichen wollen, die mit zugegeben großer Meisterschaft die Wirklichkeit zu simulieren beabsichtigen – mit ihren Kleine-Leute-Geschichten, ihren präzisen Alltagsbeobachtungen, immer dem wahren Leben abgeschaut und abgetrotzt und entsprechend maßstabsgetreu nachgestellt. Sind sie mit ihrer Realitäts-Mimikry nicht das wahre Illusionskino, und nicht etwa „John Carter“ oder „Avatar“? Begeben sie sich nicht sehenden Auges in jene Falle des Kinos, die das Stellvertretende, die Vorspiegelung falscher Tatsachen als Grundvoraussetzung ausmacht?

„Totem“ verfolgt eine divergente Strategie, ist sich der Künstlichkeit des Kinobildes extrem bewusst und erfüllt dieses Muster mit unerbittlicher Konsequenz, trotz oder möglicherweise gerade wegen seiner beschränkten Mittel. Die beiden Babys in ihrem Bettchen sind Babypuppen, als solche auch direkt zu identifizieren und entsprechend thematisiert, und doch kümmern sich die „Mutter“ Claudia und ihre neue Haushaltshilfe Fiona rührend um sie, möchten sie gar nicht mehr aus dem Arm geben. Was macht diese Tatsache mit den Charakteren, wo werden sie verortet, gleich in der ersten Sequenz? Fiona, die Neue in dem seltsamen Familiengefüge irgendwo im Ruhrgebiet, so heißt es, aber das ist letztlich egal, bleibt eine Fremde durch den gesamten Film. Ihre Eltern seien gestorben, antwortet sie auf Nachfrage; ein paar Minuten später sehen wir sie mit ihrer Mutter telefonieren. Eines Nachts spaziert sie mit dem Kinderwagen durch die Stadt, zwei aufmerksam gewordenen Polizisten gegenüber gibt sie sich als Mutter der Baby(puppen) aus und hält der Überprüfung stand. Währenddessen bleibt die „echte“ Mutter tagsüber im Bett liegen oder regt sich über Fionas Terrassenfegen auf und fordert lautstark ihre Ruhe. Claudias Leben ist unbemerkt aus den Fugen geraten. Ihr Mann Wolfgang macht sich, wenn nicht ohnehin abwesend, höchstens noch an Fiona ran, auch zur Tochter Nicole findet Kommunikation nicht mehr statt. Die Routine ist zu etwas Bedrückendem geworden, die Rituale sind schal, die Wohlstandsgesellschaft ertrinkt im Banalen und frisst ihre Kinder.

Im Referenzraum von „Totem“ ist Ulrich Seidls „Hundstage“ nicht allzu weit entfernt, die Sommerluft flirrt und ermattet die Menschen, und Nicoles doppelt so altem Freund fehlt nur noch Georg Friedrichs breiter österreichischer Dialekt, wie er sich so unterhemdig und breitbeinig auf der Couch lümmelt. Ansonsten ist das kleinbürgerliche Leben in dieser Wohnsiedlung zwischen Gelsenkirchener Barock und selbstgezimmertem Kaninchenstall in der Gartenparzelle ebenso hässlich und depressiv und latent selbstmordgefährdet wie in der Wiener Vorstadt. Zwischen den nahezu unbekannten Darstellern in „Totem“ findet sich mit Natja Brunckhorst ein ehemals berühmtes Gesicht, die Christiane F. von vor dreißig Jahren, und so gar nichts scheint die lethargische, abgespannte Claudia mit jenem Charakter zu verbinden, aber vielleicht würde Christiane F., wenn sie den Absprung wirklich geschafft hätte, dreißig Jahre später in einer ebensolchen westdeutschen Vorortsiedlung versauern, am Heute verzweifeln und dem Gestern ein klein wenig nachtrauern. Das Morgen hingegen ist ein zu großer gedanklicher Kraftakt, so schließt man besser die Rollläden vor dem, was dort kommen mag oder wählt noch radikalere Wege sich dem Ungewissen zu verweigern. Das ist durchaus eigenwillig wie so vieles an „Totem“, der sich mit ebensolcher Strenge wie erzählerischer Freiheit eindrücklich und nachhaltig ins Bewusstsein schleicht.

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Das Leben gehört uns

(F 2011, Regie: Valérie Donzelli)

Die Nouvelle Vague im Posthistoire
von Carsten Happe

Valérie Donzelli erklärt dem Melodram den Krieg. Die Regisseurin, Autorin und Hauptdarstellerin von „Das Leben gehört uns“, Frankreichs Oscar-Beitrag des vergangenen Jahres, schnappt sich die denkbar tragischste Geschichte – dem …

Valérie Donzelli erklärt dem Melodram den Krieg. Die Regisseurin, Autorin und Hauptdarstellerin von „Das Leben gehört uns“, Frankreichs Oscar-Beitrag des vergangenen Jahres, schnappt sich die denkbar tragischste Geschichte – dem kleinen Sohn eines jungen Paares wird ein Gehirntumor diagnostiziert – und wendet sie komplett auf links. Mit Hilfe von drei Off-Kommentatoren, so eklektischer musikalischer Unterstützung von Vivaldi über Morricone bis hin zu Chansons und sogar Techno, mit visuellen wie akustischen Schrullen und überbordender Energie kämpft sie gegen den unbedingten Runterzieher ihres Themas an – und verdeutlicht auf schönste Weise, dass es letztlich überhaupt nicht so sehr darauf ankommt, was man erzählt, sondern in erster Linie auf das Wie.

Die Geschichte hat sich Valérie Donzelli und Jérémie Elkaim, ihrem Co-Star und Co-Autor, aus dem realen Leben buchstäblich aufgedrängt, und wenn „Das Leben gehört uns“ möglicherweise als therapeutische Aufarbeitung gedacht war, gleicht das Endergebnis eher einem Exorzismus. Mit vereinten Kräften und der im Angesicht der Tragödie freigesetzten Energie eines kleinen Wirbelsturms erobern sich die beiden – und mit ihnen der Film – die Gestaltungsmacht über das Schicksal zurück. Selten waren Original- als auch deutscher Titel treffender.

Ausgerechnet Roméo und Juliette heißt das junge Paar, und Roméo schwant, als sie sich das erste Mal begegnen und einander vorstellen, bereits Böses. Doch die Liebe ist zu stark für einen kosmischen Witz und der Film zu exaltiert, es bei subtilen Anspielungen zu belassen. Stattdessen fährt er volles Risiko, mit Musical-Einsprengseln, wechselnden Erzählperspektiven und einer erfrischenden Respektlosigkeit gegenüber Obrigkeiten ebenso wie Konventionen. Damit schlingert er oftmals am Rande des Peinlichen, des Kitschigen oder Unangebrachten. Er ist weitgehend unstimmig und findet nie zu einer einheitlichen Linie. Und genau dafür kann man ihn liebgewinnen – und ihm dankbar sein, dass er die Spielfreude und Experimentierlust der Nouvelle Vague entstaubt und updatet, dass er dem Betroffenheits- und Gefühlsduselkino den Mittelfinger entgegenstreckt und leicht Verdauliches wie „Ziemlich beste Freunde“ mit einer gehörigen Portion Exzentrik konterkariert. Ich ziehe meinen Hut und strecke alle Waffen vor Valérie Donzelli und ihrem mutigen Film.

Barbara

(D 2012, Regie: Christian Petzold)

Grenzüberschreitungen
von Wolfgang Nierlin

Unser Blick ist zunächst der Blick der anderen, der aus der Vogelperspektive und dem Verborgenen heraus eine Frau beobachtet, die an einem neuen Ort eine neue Arbeitsstelle antritt. Aus der …

Unser Blick ist zunächst der Blick der anderen, der aus der Vogelperspektive und dem Verborgenen heraus eine Frau beobachtet, die an einem neuen Ort eine neue Arbeitsstelle antritt. Aus der Distanz spricht ein Misstrauen; und die Worte, die dieses Taxieren begleiten, zielen auf die Einsperrung im Vorurteil. Der sie ausspricht, heißt Schütz (Rainer Bock) und ist von der Stasi; und diejenige, die durch diese Worte und Blick denunziert wird, trägt den Namen Barbara Wolf (Nina Hoss). Wegen eines Ausreiseantrages und der möglichen Gefahr einer sogenannten Republikflucht wird die junge Ärztin von der renommierten Berliner Charité an ein Provinz-Krankenhaus an der Ostsee versetzt. Wie eine Gezeichnete bewegt sich die schweigsame Außenseiterin durch die Szenerie. Sie ist skeptisch, reserviert und ungesellig; und hat dafür auch gute Gründe, denn sie wird ständig observiert und kontrolliert. Barbara ist in ihrem Land eine Frau ohne Recht auf Privat- und Intimsphäre.

„Hier kann man nicht glücklich werden“, sagt Stella (Jasna Fritzi Bauer), eine andere Verfolgte, an anderer Stelle über die DDR. Fast schon im Kontrast zu diesen Erfahrungen zeigt Christian Petzold in seinem neuen, preisgekrönten Film „Barbara“ einen überaus sinnlichen Osten mit viel schöner Natur, alten Häusern und einem mächtigen Wind vom Meer. Eine warme Atmosphäre erfüllt die Räume, die Zeit atmet und selbst die Arbeit folgt noch einem ruhigeren, freieren Rhythmus. Aber im Sommer des Jahres 1980 zeigt die Diktatur immer wieder ihr hässliches Gesicht. Barbara beginnt, sich zaghaft zu integrieren und bereitet doch zugleich bei konspirativen Treffen mit ihrem Geliebten aus dem Westen (Mark Waschke) ihre Flucht vor.

„Wir wollten das filmen, was zwischen den Menschen ist, sich aufgetürmt hat, was sie misstrauen lässt oder vertrauen, abwehren und annehmen“, schreibt Christian Petzold in einer Anmerkung zum Film. In Barbaras zögerlichem Verhältnis zu ihrem überaus offenen und kommunikativen Kollegen Andre Reiser (Ronald Zehrfeld), der zuvorkommend ist und um sie wirbt, lässt sich viel von diesen differenzierten zwischenmenschlichen Bewegungen spüren. Dabei geht Barbaras distanzierte Skepsis durchaus in verschiedene Richtungen, gewissermaßen gen Ost und West. Ihre Verantwortung als Mensch und Ärztin hat eine Geschichte und einen Ort; und ist geerdet in einem Gefühl, das in vielerlei Hinsicht Grenzen überschreitet.

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Arirang – Bekenntnisse eines Filmemachers

(KOR 2011, Regie: Kim Ki-Duk)

Gequälte Seele
von Wolfgang Nierlin

Seit drei Jahren lebt der international bekannte südkoreanische Filmemacher Kim Ki-duk abgeschieden und allein in einer Berghütte. Gegen die winterliche Kälte hat er innerhalb des Hauses ein Zelt aufgeschlagen, in …

Seit drei Jahren lebt der international bekannte südkoreanische Filmemacher Kim Ki-duk abgeschieden und allein in einer Berghütte. Gegen die winterliche Kälte hat er innerhalb des Hauses ein Zelt aufgeschlagen, in dem er campiert. Darin steht ein Rechner, während im anderen Teil der spärlich eingerichteten Behausung ziemlich viel Werkzeug und jede Menge Ersatzteile herumliegen, als handle es sich um die Werkstatt eines Maschinenbauers. Tatsächlich ist Kim Ki-duk handwerklich sehr geschickt, baut etwa eine Espressomaschine oder auch einen Revolver zusammen. Meistens sieht man ihn jedoch beim Kochen und Essen. Diese wiederkehrenden alltäglichen Verrichtungen sind jedoch gegen alle Erwartungen an eine durch das Sujet etwaig nahegelegte meditative Erzählstruktur überraschend schnell geschnitten und zeitlich verdichtet. Das spiegelt zum einen den unruhigen, gequälten Geist des eigenwilligen Filmemachers (und Menschen), zum anderen die Ökonomie seiner Arbeit. Denn Kim Ki-duk hat sein filmisches Selbstportrait „Arirang“ komplett allein realisiert.

„Ich filme mich selbst, um mir klar zu werden über mich und meine Arbeit“, sagt der renommierte und überaus produktive Regisseur in einem der ausgedehnten Selbstgespräche, die im Zentrum dieses schonungslos radikalen, manchmal geradezu fremd anmutenden Films stehen. Ungewöhnlich offen und intim fingiert Kim Ki-duk eine Selbstbefragung, imaginiert er ein zweites Ich, das über die Montage in einen Dialog mit dem spürbar leidenden, zunehmend verwahrlosenden Regisseur tritt. Dabei wird die Kamera einerseits zum Spiegel einer filmischen Selbsttherapie, die mitunter einer verzweifelten Austreibung dunkler Seelenqualen ähnelt; andererseits ist sie das Medium einer Selbstinszenierung, die die Dokumentation immer wieder mit fiktionalen Brechungen unterwandert.

Vor diesem Hintergrund ist „Arirang“ zunächst das Dokument einer künstlerischen Krise und Verstörung. Als bei den Dreharbeiten zu seinem Film „Dream“ eine Darstellerin beinahe ums Leben kommt, löst dies bei Kim Ki-duk ein Trauma aus, das seine Arbeit und ästhetischen Überzeugungen in Frage stellt. Dabei reflektiert er nicht nur die Ethik eines Filmemachens, das ihn zunehmend traurig stimmt, sondern auch die gehetzte Praxis seiner Arbeitsweise, die den nach Erfolg und Anerkennung strebenden Künstler – so seine Beobachtung an sich selbst – zu einer Maschine macht. Aus diesen künstlerischen Zweifeln erwächst schließlich eine allgemeine Sinn- und Lebenskrise, in der sich der schmerzliche Rückblick auf ein einsames Leben und ein neues Verständnis des Todes verbinden. Dieser sei „etwas Weißes, das schwarz wird.“ Immer wieder singt Kim Ki-duk, in Tränen aufgelöst, das titelgebende Lied „Arirang“, verdichtet es zum Schrei einer gequälten Seele. „Mal geht’s bergauf, mal geht’s bergab…“, heißt es darin über die Hinfälligkeit allen menschlichen Tuns im großen Strom der Geschichte.

Muriels Hochzeit

(AUSTRAL. / F 1994, Regie: P. J. Hogan)

Coming out of Porpoise Spit
von Carsten Moll

Das ist der Stoff aus dem chick flicks sind: Muriel aus dem australischen Städtchen Porpoise Spit ist wohl das, was man ein hässliches Entlein nennt. Mit ein paar Kilos zu …

Das ist der Stoff aus dem chick flicks sind: Muriel aus dem australischen Städtchen Porpoise Spit ist wohl das, was man ein hässliches Entlein nennt. Mit ein paar Kilos zu viel auf den Hüften, auffälligen Hautunreinheiten, scheußlichen Klamotten und einem Mund, der immer ein wenig zu weit offen steht, bestreitet Toni Collette als Muriel den ersten Teil des Films. Wie es sich im Kino gehört, haben die anderen für Leute, die so aussehen, nur Spott und Gemeinheiten übrig, auch wenn Muriel eigentlich recht gutmütig ist – vielleicht ein bisschen zu gutmütig und bestimmt auch ein wenig obsessiv dabei. So fängt ausgerechnet Muriel auf der Hochzeit einer vermeintlichen Freundin den Brautstrauß und muss sich dann erst mal rechtfertigen, was ihr denn überhaupt einfalle, sie habe ja nicht einmal einen Freund und werde wohl auch niemals einen kriegen. Demütigender wird es noch, als sie vor versammelten Gästen von der Polizei abgeführt wird, weil sie ihr neues Kleid (im Leoparden-Look!) angeblich im Supermarkt geklaut hat. Spätestens aber wenn die Clique aus Kleinstadt-Tussis, die Muriel bislang zumindest in ihrer Nähe geduldet haben, Muriel eiskalt abserviert, wünschen sich die Zuschauer_innen, dass sich das hässliche Entlein endlich zum schönen Schwan mausert und es ganz Porpoise Spit zeigt. Der Plan lautet: nach Sydney gehen und endlich heiraten.

Die Erwartungen an einen Film, der die Hochzeit schon im Titel trägt und dessen Kinoplakat eine glückliche Braut in Weiß zeigt, sind natürlich klar gesteckt. Und wenn man nicht gerade in einem Film von Todd Solondz sitzt, kann man getrost davon ausgehen, dass sich das Blatt für Figuren wie Muriel irgendwann zum Besseren wendet. Denn auch wenn Toni Collette hier Dawn Wiener aus „Welcome to the Dollhouse“ in Sachen Geschmacklosigkeit in kaum etwas nachsteht, ist Muriel natürlich kein Nerd, der konsequenterweise ja niemals zum Helden werden kann. Von Anfang an stehen die Zeichen in „Muriels Hochzeit“ auf Feel-Good-Movie; ein Soundtrack, der fast vollständig aus ABBA-Songs besteht, kann natürlich keine Tragödie untermalen. Die Eheschließung als Happy End und Lösung aller Konflikte scheint also unvermeidlich und eigentlich erwarten die Zuschauer_innen auch nicht viel mehr. Zu oft schon war der populäre Mythos von der Traumhochzeit auf der Leinwand zu sehen, die Ehe wurde naturalisiert und erscheint somit geradezu alternativlos.

Doch ganz so leicht macht es einem „Muriels Hochzeit“ dann doch nicht. Titel und Plakat sind nur Köder und der Film bestenfalls ein chick flick auf Abwegen. Wo in den typischen Hollywoodproduktionen, die ganz klar ein wichtiger Bezugspunkt für den australischen Überraschungserfolg „Muriels Hochzeit“ sind, straight und unterreflektiert von Traumhochzeiten als Erlösungsfantasie erzählt wird, da ist „Muriels Hochzeit“ auch ohne offensichtliche Homosexualität ein queerer Film. Die titelgebende Hochzeit, die mindestens so schaurig wie unterhaltsam ist, mag zwar ein Höhepunkt des Films sein, für Muriel ist sie aber definitiv der Tiefpunkt. Immer kann Muriel mit den Sympathien der Zuschauer_innen rechnen, egal wie schlecht sie aussieht und wie falsch sie sich verhält, der Film ist immer auf Augenhöhe mit seiner Protagonistin und lässt ihr selbst bei ihren erbärmlichen Träumereien zu seichter Popmusik ihre Würde. So wie „Muriels Hochzeit“ ohne die Standardware aus Hollywood nicht denkbar wäre, so fungieren Unterhaltungsmusik und abgedroschene Kinofantasien für Muriel als Überlebensstrategie und Quelle von Sinn und Bedeutung. Erst als ihr Traum von der eigenen Hochzeit auf Kosten aller Beteiligten in Erfüllung geht und sich als hohles Schauspiel offenbart, wird auch sie zu einer der hässlichen Karikaturen, die das Küstennest Porpoise Spit so zahlreich bevölkern und denen der Film erst spät ihre Portion Menschlichkeit gewährt.

In diesem Moment ist Muriel endlich eine von den anderen oder glaubt es zumindest zu sein. Doch den Zuschauer_innen ist sie hier fremd, genau wie ihrer besten Freundin Rhonda. Rhonda und Muriel freunden sich an, nachdem diese aus ihrer Clique verstoßen wurde, und natürlich ist Rhonda all das, was Muriel nicht ist. Sie ist selbstbewusst, dunkelhaarig und sexuell aktiv. Völlig unvorbereitet wird bei ihr allerdings Krebs diagnostiziert (und als Kennerin des Mainstreamkinos fragt Rhonda ihren Arzt, ob das darin liegt, dass sie so viel Sex hatte – und „Muriels Hochzeit“ ist clever genug, um ihn das verneinen zu lassen). Die Folgen für Rhonda sind Operationen und gelähmte Beine, aber sie bleibt die selbstbewusste Person, die sie vorher war und hat auch weiterhin Sex. Der Film zeigt auch kein sonderliches Interesse an der Bebilderung einer Leidensgeschichte. Dennoch ringt sie Muriel in einem Moment der Verzweiflung das Versprechen ab, bei ihr zu bleiben, damit Rhonda nicht auf ihre Mutter angewiesen ist und nach Porpoise Spit zurückkehren muss. Hier liegt das eigentliche Eheversprechen des Films, ein Schwur, der ganz ohne ABBA-Soundtrack, Hochzeitskitsch und institutionelle Billigung auskommt. Doch Muriel wird Rhonda für (irgend)einen Ehemann verlassen. Dieser Verrat und die daraus resultierende Rückkehr zur Mutter nach Porpoise Spit beschreiben Rhondas Schicksal treffender als kamerataugliches Siechtum im Krankenhaus oder der unbedingte Wille zum Extremsport, der erstaunlich viele Film-Rollstuhlfahrer befällt.

Auch wenn die Demaskierung von Heirat und Ehe als utopisches Moment ein zentrales Motiv im Film ist, die große Stärke von „Muriels Hochzeit“ ist die Einbettung seiner Protagonistin in einen komplexen sozialen Kontext. Zwar ist Muriel immer im Fokus der Geschichte, aber am Rande spielen sich nicht nur Familiendramen ab, in kräftigen Strichen wird auch das Portrait einer ganzen Kleinstadt gezeichnet. Dabei wird auch die Australianness des Films deutlich, der, obwohl er im Grunde eine universelle Geschichte in der Tradition Hollywoods erzählt, eindeutig in der australischen Kultur verwurzelt ist. So sind das grausame Patriarchat von Muriels Vater genau wie die krasse Geschmacklosigkeit von Porpoise Spit und seinen Einwohnern typische Elemente des australischen Kinos, die außerhalb Australiens schwer einzuordnen sein dürften. Muriels schlechter Stil markiert sie so auch nicht als Außenseiterin oder Nerd, sondern ist vielmehr ein Zugeständnis an ihr Umfeld, das der für ihren Kitsch berühmten Gold Coast nachempfunden ist. Die Tragik Muriels, die noch nicht wie später nach ihrer Flucht nach Sydney im Grunge-Look rumläuft, liegt nicht darin, dass sie nicht dazugehört, sondern in ihren verzweifelten Versuchen sich anzupassen.

Die Selbstfindung Muriels, die natürlich durch eine starke, unabhängige neue Freundin initiiert wird, wird dabei nicht gerade unkonventionell inszeniert, aber unterläuft dennoch gekonnt ärgerliche Klischees. Klar, am Ende sieht Toni Collette natürlich um einiges besser aus als zu Beginn des Films, aber der Film erlaubt sich immer wieder Widersprüche: Muriel mag zwar nach Grunge aussehen, hört aber weiterhin ABBA, wenn es ihr schlecht geht. Die Plastik-Tussis aus Porpoise Spit sind es, die Nirvana hören. Auch ist man beinahe schon erstaunt, dass das Dicksein Muriels nicht thematisiert wird und als Panzer gegen Frust oder für ironische Diätwitze herhalten muss. Die Anekdote, dass Toni Collette für ihre Rolle in sieben Wochen über achtzehn Kilo zugenommen hat, ist dabei natürlich trotzdem genauso albern und peinlich wie bei ihrer Kollegin Renée Zellweger. Ob das kurzzeitige Erdicken als Teil der Leistungsschau bald vollkommen durch authentischeres Fett wie das von Gabourey Sidibe und Mo‘nique ersetzt wird, bleibt abzuwarten.

Am Ende ist Muriel selbstverständlich glücklicher und besser, aber die Abgründe in ihrem Leben sind weiterhin da. Der Film lässt sogar die satirischen Überspitzungen, die die ganze Bitterkeit erst erträglich gemacht haben, für einen Moment beiseite und wird zu dem Drama, dass die ganze Zeit unsichtbar im Hintergrund ablief. Die Konfrontation mit dem herrischen Vater wird unausweichlich, aber sie bietet keinen Befreiungsschlag und keine tränenreiche Läuterung. Porpoise Spit bleibt fürs Erste Porpoise Spit. Gemeinsam mit Rhonda verlässt Muriel schließlich ihren Heimatort, ohne dass sich die Freundinnen mehr erkämpft hätten als einen Neuanfang in der Großstadt Sydney. Im Vorbeifahren verabschieden sich die beiden sichtlich erleichtert von dem Kleinstadt-Muff, den Malls und Diners und Touristen am Straßenrand. Dazu läuft wieder ABBA und irgendwie fühlt sich das im ersten Moment ein bisschen zu versöhnlich an. Aber Muriel hat es schon verraten: Das ist der Soundtrack für die schlechten Zeiten. Wenn geträumt werden muss.

Police, adjective

(RO 2009, Regie: Corneliu Porumboiu)

Eine Frage des Gewissens
von Wolfgang Nierlin

Was in den meisten anderen Filmen aus dramaturgischen Gründen fehlt, wird in Corneliu Porumboius Film „Police, adjective“ ausführlich gezeigt: der konkrete Alltag und die tägliche Arbeit der handelnden Figuren. Was …

Was in den meisten anderen Filmen aus dramaturgischen Gründen fehlt, wird in Corneliu Porumboius Film „Police, adjective“ ausführlich gezeigt: der konkrete Alltag und die tägliche Arbeit der handelnden Figuren. Was diesen auf die gesellschaftliche Wirklichkeit bezogenen Realismus und die mit ihm verknüpfte Ästhetik des Zeigens dabei so eindringlich macht, ist die Darstellung von Zeit als elementarer Inhalt der Handlung und zugleich als nachzuvollziehende Dauer des Erlebens. Äußerlich betrachtet, geschieht in „Police, adjective“ insofern fast nichts; und auch die Anlässe des Geschehens erscheinen mehr oder weniger geringfügig. Trotzdem erzeugt diese sowohl ästhetische als auch inhaltliche Reduktion, mit der Porumboiu hier den trögen Arbeitsalltag eines jungen Drogenfahnders beschreibt, eine erhebliche Spannung. Das resultiert zum einen aus der permanenten, fast schwebenden Offenheit des Films, zum anderen aus dem Blick auf Details.

Die äußere Handlung vollzieht sich in den Koordinaten von Bewegung, Beobachtung und Warten. Seit Tagen beschattet Cristi (Dragos Bucur), ein Polizist in Zivilkleidung, drei jugendliche Haschischkonsumenten, ohne nennenswerten Ermittlungsfortschritt. Für ihn ist klar, dass dieses Vergehen geringfügig ist und sich unter den Schülern kein Dealer befindet. Doch seine Vorgesetzten verlangen Ergebnisse und erzeugen einen Handlungsdruck. Eine Razzia soll durchgeführt werden. Aber Cristi, der sonst eher mit gesenktem Kopf und müdem Körper unterwegs ist, macht moralische Skrupel geltend und zweifelt gar am Sinn des Gesetzes. Er gerät in einen Gewissenskonflikt, in dem sich persönliche Verantwortung und staatliches Gesetz, gesunder Menschverstand und die hierarchischen Strukturen einer verstaubten Bürokratie gegenüberstehen.

Deren Verkrustungen in den täglichen Arbeitsprozessen und in den abgenutzten Einrichtungen maroder Gebäude verfolgt Porumboiu bis in die graue Stadttopographie. Zum anderen entfaltet er einen vielschichtigen Diskurs über den Zusammenhang von Sprache, Denken und Handeln, der mit einem Gespräch zwischen Cristi und seiner Frau Anca (Irina Saulescu), einer Rumänischlehrerin, über die Metaphorik eines Schlagerlieds beginnt und in einer Auseinandersetzung über Gewissensfreiheit seinen Höhepunkt findet.

Der geradlinige Cristi, für den die Wahrheit offensichtlich nicht das Ergebnis einer Interpretation ist, sondern die Einsicht in eine unmittelbare, jedem zugängliche Evidenz, führt dieses fast schon absurde, jedenfalls sehr komische Gespräch mit seinem respekteinflößenden Chef, einem ideologische gestählten Dialektiker alter Schule. Ob nun beim Sprechen in Bildern oder beim Nachdenken über die Definitionen aus dem Wörterbuch: Immer geht es um die Frage des Verstehens und seine Bedeutung für das Handeln. Dessen Spielraum zwischen Eigenverantwortung und Fremdbestimmung, zwischen moralischer Pflicht und Gesetzestreue, erweist sich in „Police, adjective“ als sehr eingeschränkt, denn die Macht der Sprache spiegelt (und zementiert) in Corneliu Porumboius Film vor allem ein hierarchisches Ordnungssystems.

John Carter – Zwischen zwei Welten

(USA 2012, Regie: Andrew Stanton)

Tarzans Avatar macht Star Wars am Mars
von Drehli Robnik

Bei Fantasyfilmhelden gehört es zum guten Ton, dass sie am Handlungsende – entwicklungsromanhaft, fortsetzungshoffnungsgerecht und vorzugsweise per Off-Kommentar – bekräftigen, dass sie nun wissen, wer sie sind und wie sie …

Bei Fantasyfilmhelden gehört es zum guten Ton, dass sie am Handlungsende – entwicklungsromanhaft, fortsetzungshoffnungsgerecht und vorzugsweise per Off-Kommentar – bekräftigen, dass sie nun wissen, wer sie sind und wie sie heißen. Das tut auch dieser. Er heißt eben nicht Virginia – daraus, dass die örtlichen Aliens, also eigentlich indigene 'Indianer', im holprigen interkulturellen Dialog seinen Herkunftsort für seinen Namen halten, resultiert hier ein Running Gag –, sondern John Carter. Und aber auch nicht John Carter von der Erde, sondern, wie er sagt, John Carter vom Mars. Also wie der Film, dessen Held er ist. Der heißt allerdings 'John Carter – Zwischen zwei Welten' und situiert ihn zwischen ebendiesen, außerdem zwischen drei Populationen (wovon eine ein Stamm von vierarmigen Humanoiden ist), zwei Planeten (einer davon die Erde), zwei bis drei Erzählebenen, diversen dynastischen und intergalaktischen Machtstrategieverwicklungen und 150 (gefühlten 160) Eigennamen, vom Reich Zodanga bis zum Volk der Therns.

Das ist so kompliziert, wie es sich liest und auch noch in 3D und deshalb aber auch nicht gleich schlecht. Insofern tun weitere Namensverweisspiele keinen Abbruch, liefern sie doch jene Hausmarken, auf deren bürgschaftliches Symbolkapital diese Disney-Produktion hinaus will: 'John Carter' ist die Adaption der Kompilation eines zum Teil 100 Jahre alten – eben 1912 begonnenen – Serienromanstoffs von Tarzan-Erfinder Edgar Rice Burroughs und bietet ausstattungsintensiven Schwulst, der sich in jüngere Kino-Fantasy-Traditionen einreiht (wie sehr diese wiederum von Burroughs’schen Mars-Imaginarien zehrten, sei dahingestellt): Wir bekommen Fetischklamotten wie in 'Barbarella', Muckis in Ketten wie in 'Conan', Prophezeiungspathos wie in 'Dune', fette Viecher wie in alten 'Star Wars'-Filmen, dazu ausladende Felspanoramen, bizarre Palastbauten, klobig schwebende Schlachtschiffe, Stammeskultur hochgewachsener Humanoider und anderes, was an 'Avatar' erinnert.

An letzteren Film muss man nicht nur dann unwillkürlich denken, wenn John Carter, nach schaukampfförmiger Metzelung zweier weißpelziger Riesenaffen ganz in deren Blut gebadet und insofern blauhäutig, die Hand zum Salut ans Haupt hebt: Das ist wie eine Grußadresse an einen Blockbuster, dem gegenüber sich 'John Carter' als die spleenigere Variante erweist. Was in James Camerons Inszenierungen von Initiationsriten und Stammesgemeinschaften oft ins unangenehm Völkische und Vitalistisch-Heilsame ausgreift (und was hier, schon von der Vorlage her, kolonialistisch bis 'Edle Wilde'-faschistoid geraten könnte), das wird in 'John Carter' konterkariert und gegengewichtet: Dies geschieht zum Einen durch die unmäßig – und an der Grenze zum Strapaziösen – sprudelnde Lust am Akkumulieren von Erzählmaterial (eben: noch ein Name hier, eine Machination dort, ein Kreatürchen obendrauf, eine Deadline zwischendurch, das Ganze gerahmt in einer Jahrzehnte später auf der Erde angesiedelten Rückblendenrahmenhandlung, die zunächst in ein Sezessionskriegswesternuniversum führt, daher der Name Virginia und der militärische Gruß … Are you still with me?); zum Anderen durch eine Erzählform, die im Kleinen ihrer Jumpcuts und lustig-episodischen Montagen wie auch im Großen ihrer abrupten Schauplatz- und Handlungsstrangwechsel auf kunstvolle Zeitsprünge und Implizitsetzungen baut. Wie gesagt: Die Sache wird dadurch nicht leichter zu verfolgen und der Film noch formloser, aber es fügt Konturen und Reize hinzu.

Die ab und zu traumatisch dazwischenblitzenden Rückblenden zum Verlust der schmerzlich verlorenen geliebten Frau, die der Held nicht vergessen kann – vergessen wir sie lieber gleich wieder, zumal sie an den Vorjahrs-Blockbuster-Krampf 'Cowboys and Aliens' erinnern; wobei der Vergleich mit diesem in seinem Genre-Crossover-Ansatz nicht unähnlichen Film für den durchwegs unernst antretenden 'John Carter' vorteilhaft ausfällt. Hier regiert eben Freude am infantilen Aufhäufen und mittendrin zu Auslassungen und ausgelassenen Sprüngen, und wenn Regisseur Andrew Stanton ein Landschaftspanorama in ostentativer Leere ausbreitet und darin Momente des Slapstickballetts inszeniert, dann knüpft er damit kurz an stilistische Trümpfe seiner (einprägsameren) Animationsfilmerfolge 'Findet Nemo' und 'Wall-E' an.

Der im Original einfach 'John Carter' (ohne Zwischen-Zusatz) betitelte Film frönt der Magie (und Unzahl) ominöser, mehrfach geschichteter Namen und ist somit in der Hauptrolle fast programmatisch besetzt: Neben einem als Vierhänder unkenntlichen Willem Dafoe, sowie Lynn Collins, Ciarán Hinds, Samantha Morton und Dominic West, macht passable Figur ein kanadischer Neo-Star mit dem prägnanten Namen Taylor Kitsch. Nicht nur sein Gesicht erinnert an den jungen Johnny Depp. Ja, diese Namen: Für uns klingen die so seltsam wie 'John Carter aus Virginia' für einen Mars-Indianer. Taylor… Johnny…: Wer heißt schon so?

Headhunters

(NOR 2011, Regie: Morten Tyldum)

Kunstraubend, haarsträubend, hochtrabend – bis zum Plumpsklo
von Drehli Robnik

Die Adaption eines norwegischen Krimibestsellers von Jo Nesbø wird als nächster großer Skandinavienexport nach der 'Millennium'-Trilogie beworben, hat aber mit traumatophilen Bilderrätsel- und Stammbaumdechiffrierungsspielen Stieg Larsson’scher Prägung wenig zu tun. …

Die Adaption eines norwegischen Krimibestsellers von Jo Nesbø wird als nächster großer Skandinavienexport nach der 'Millennium'-Trilogie beworben, hat aber mit traumatophilen Bilderrätsel- und Stammbaumdechiffrierungsspielen Stieg Larsson’scher Prägung wenig zu tun. Um die Mitte versprüht der Thriller 'Headhunters' etwas Wirtschaftsverschwörungsparanoia; davor aber zelebriert der Film zu Bossa Nova-Beschallung kess montierte Gebrauchscoolness, wie sie auch seine PR-Linie prägt.

Ein arroganter Führungskräftejobvermittler mit Doppelleben als Kunstdieb (Aksel Hennie) lässt – ob in Form von gezierten Businessmeeting-Männerritualen oder per Off-Kommentar – allerlei smarte Berufsweisheiten auf uns los: 'Regel Nummer 1…, Nummer 2…, Nummer 3…' Und weiter ist zu hören, dass wie der Kunstmarkt, so auch Lebenslaufbahnen auf fiktiven Werten, auf reinem 'Renommee', basieren. Also, wenn uns zu diesem Zeitpunkt nicht eh schon die Rückenansicht seiner blonden Gattin, von Beruf Galeristin (what else?), beim Duschen im Designerhaus sprachlos gemacht hat über die Anmutung von so viel stilvollem savoir vivre, dann sind wir spätestens durch solche Einsichten geflasht und bereit zur Entgegennahme der Lektion, dass alles unecht ist und nichts wie es scheint.

Und schneller als wir „Coen-Brüder!“ sagen können, kippt hier ein Plan ins Desaster, wird der Dieb zum Gejagten des Beklauten (der sich als ehemaliger Special Forces-Soldat mit ausgeprägten Tracking-Fähigkeiten entpuppt, gespielt von Nikolaj Coster-Waldau) – und irgendwann findet er dann hilf- und haarlos zur Demut vor dem Leben. Freilich, die Momente der Einsicht und des Geständnisses, dem der aus Hochmut tief Gefallene gleich noch einen lang verdrängten Kinderwunsch hinterherschiebt, diese bekehrungsmoralische Form von Sinnbildung gegenüber dem lediglichen Lifestyle ist so reaktionär wie schematisch. Wenn der Film und sein Held ganz am Ende den Tonfall souverän beschwingter Oberschlauheit wiederfinden, ist das zwar inkonsequent und so enervierend wie zu Beginn, aber fast schon eine Erleichterung: Wir sind hier also doch nicht beim 'Jedermann' der Salzburger Festspiele oder bei einer dieser antibürgerlichen Ressentimentetüden in Sachen 'Die Großen ganz klein-Machen', die sich heutzutage – im Kino oder sonstwo – als kritische Bearbeitungen von deregulierter Kapitalherrschaft oder Karrierementalität aufspielen.

Dass der Renommee-Experte auf der Flucht – ein Fall von Kapitalflucht, möchte man sagen – sich von all dem Tand seines kaufkräftigen Status lösen muss, von der Rolex, von der gepflegten rotblonden Mähne bis hin zur Entblößung in kreatürlicher Nacktheit samt Regenerationsbad im klaren Quell eines Flusses (Norwegen scheint ja als Tourismusdestination entzückend zu sein …) – diese Motive des Alles-Abwerfens machen auch ohne symbolische Aufladung genug Sinn, nämlich im Survivalthriller-haften Abschnitt des Films (der die verblüffende Doppeldeutigkeit der Berufsbezeichnung Headhunter ausspielt): Wer überall DNA-Spuren oder Minisendersignale hinterlassen könnte, muss eben ganz zum bloßen Körper werden und in der Stofflichkeit einer zuvor bloß mit pikierten Fingerspitzen berührten Umwelt aufgehen. Die eingangs eher schulbuchhaft bemühte pushyness der Regie von Morten Tyldum entfaltet hier manche Vorzüge, hält den Druck aufrecht und arbeitet mit lockerer Hand einige schön irrwitzige Verfolgungsjagdsituationen in Wald, Schlucht und Plumpsklo heraus.

Vom heist movie in ,,Oceans'-Manier über Paranoia im Fincher-Barock des hohlen – eben auch doppelbödigen – Luxus (man denke etwa an 'The Game' von 1997) bis zur Rettung des nackten Lebens im Dreck wie in einem zerknirschungsethischen Horrorschocker: Diese drei zunächst separat aktivierten Brennstufen werden zuletzt alle gleichzeitig gezündet. Das ergibt drei Filme in einem, also insgesamt einen immer wieder halbwegs guten.

Blutsfreundschaft

(A 2009, Regie: Peter Kern)

Horror Austrianui
von Andreas Thomas

Es gibt Filme, bei denen ich mir, als Kritiker, wünschte, sie gut zu finden. „Blutsfreundschaft“ von Peter Kern ist so ein Fall, weil mir Peter Kern, der Schauspieler, immer positiv …

Es gibt Filme, bei denen ich mir, als Kritiker, wünschte, sie gut zu finden. „Blutsfreundschaft“ von Peter Kern ist so ein Fall, weil mir Peter Kern, der Schauspieler, immer positiv in Erinnerung war: Er spielte in tollen Filmen von Rainer Werner Fassbinder mit („Welt am Draht“, „Faustrecht der Freiheit“), war in Hans Jürgen Syberbergs skandalträchtigem „Hitler – Ein Film aus Deutschland“ dabei, und tauchte nach Jahren von TV-Produktionen („Kir Royal“) folgerichtig als Veteran des „Neuen deutschen Films“ in Filmen Christoph Schlingensiefs wieder auf („Terror 2000“, „United Trash“). So ein Zeitzeuge und Partizipant von Sternstunden des Kinos muss doch seine Lektion gelernt haben, meint man, und sollte er auch kein geborener Filmregisseur sein, so sollte er doch wenigstens mitbekommen haben, wie man sauberen Trash produziert.

Das Cover der DVD der Filmgalerie 451 nährt letzteres Vorurteil: Ein in Würde gedunsener Helmut Berger hält darauf einen kleinen Neonazi im Arm, um ihn vor anderen, böseren Neonazis, die in einer Off-Projektion eine Neonazi-Demonstration abhalten, zu beschützen. Darüber ein sich küssendes Männerpaar, darauf in roten, reißerischen Pulp-Großbuchstaben: „Blutsfreundschaft“

In dieser Bildmontage ist praktisch schon der ganze Film enthalten, ein Film als Wille und Vorstellung sozusagen, als unterhaltsame, wäre es Trash, als naive, wäre es ernst, und, machen wir es kurz: es ist weder dies noch das und es ist bei weitem ganz und gar egal, zu wissen was es ist, weil es in erster Linie ganz fürchterlich auf die Nerven geht. Die Message ist: Peter Kern beherrscht in „Blutsfreundschaft“ nicht die Kunst des Regie-Führens, er beherrscht sie so wenig, dass es schmerzt und quält. Bei allem Anspruch, den der Film wohl irgendwie in sich haben sollte: Es ist kaum wahrnehmbar, was denn überhaupt erzählt werden sollte, so misslungen ist das Erzählen.

So gebe ich hier auch nur kurz wieder, was vom Plot sich bei mir narrativ ansatzweise durchgesetzt hat (ganz bewusst, ohne die Inhaltsangabe zu lesen):
Ein junger Neonazi oder jedenfalls einer, der mit den in Horden den Film bevölkernden Neonazis sympathisiert, ermordet aus Versehen (!) einen Menschen und versteckt sich bei einem alten Herrn und Wäschereibesitzer (das Zentrum des Films und der einzige, dem man ansieht, wie er versucht gegen eine dilletantische Regie anzuschauspielern: Helmut Berger), einem ehemaligen Hitlerjungen, der ebenso aus Versehen während der Nazizeit einen anderen umgebracht hat. Fragen Sie mich bitte nicht nach Einzelheiten! Jedenfalls ist dieses Nazideutschland/-österreich in der Erinnerung des Helmut Berger immer schön in graublau und dieses, wohl, Salzburg der Jetztzeit richtig schön grässlich piefig und klaustrophobisch: Der Horror – und wenn „Blutsfreundschaft irgendetwas ist, dann ein Horrorfilm – wohnt in jeder einzelnen Einstellung dieses Films. „Blutsfreundschaft“ – und darin liegt seine Qualität, wenn man denn unbedingt eine haben will – ist ein Film der Enge, der Angst und des Ekels. Straßenzüge, Häuser, Menschen, niemand macht da eine Ausnahme, auch nicht die kleine queere Gemeinde, die eine merkwürdige Parallelexistenz mit dieser Neonazigeschichte hat, alle wirken irgendwie pathologisch und bedrohlich und ziemlich hirnlos und konfus. Aber dieser Mangel/diese Qualität scheint kein Produkt künstlerischen Willens zu sein, sondern, das Gefühl werd ich nicht los, es scheint ganz einfach der ganz übliche Horror zu sein, an welchem unsere lieben Nachbarn in Österreich täglich zu leiden haben, ein Horror, den man so gar nicht erfinden kann, ein Horror, der mit der Luft eingeatmet wird. Wer kann sagen, woher dieser Horror kommt? Elfriede Jelinek? Ulrich Seidl? Michael Haneke? Peter Kern jedenfalls kann ihn nur unfreiwillig weitergeben.

Wenn man Schlingensief-Filme unausstehlich fand, dann wusste man, der Regisseur hatte sein Ziel erreicht. Das Schlimme an Peter Kern ist, dass er ganz ehrlich eine einfache Geschichte von Liebe und Hass erzählen will, und das Gute an ihm ist, dass er so sehr vom Horror infiziert ist, dass der aus jeder Pore des Films tropft. Nein, aber Spaß macht das wirklich nicht, auch nicht im trashigsten Sinne. Es ist ein Jammer!

Best Exotic Marigold Hotel

(GB / USA / IND 2012, Regie: John Madden)

Mut zur Veränderung
von Wolfgang Nierlin

Wie bestellt und nicht abgeholt, sitzen die sieben Protagonisten des Films in einer Reihe nebeneinander und warten auf ihren Flug nach Indien. In diesem Verharren, dessen Ungewissheit die Kamera in …

Wie bestellt und nicht abgeholt, sitzen die sieben Protagonisten des Films in einer Reihe nebeneinander und warten auf ihren Flug nach Indien. In diesem Verharren, dessen Ungewissheit die Kamera in frontaler Perspektive auf den Zuschauer bezieht, liegt ein gedehnter Moment des Wechsels zwischen altem und neuem Leben, zwischen Stillstand und Aufbruch. Die einleitende Parallelmontage, mit der die Figuren zusammengeführt werden, liefert in John Maddens unterhaltsamer Komödie „Best Exotic Marigold Hotel“ zugleich die Kurzcharakterisierung der Ensemblemitglieder. Deren gemeinsamer Nenner sind die Probleme des Alters, die, als Herausforderung verstanden, in der lebensklugen Perspektive des Films zu einschneidenden Veränderungen und einem neuen Verhältnis zum eigenen Leben führen.

So ist die herzensgute Evelyn (Judi Dench), die zeitlebens für ihren Mann da war, nach dessen Tod plötzlich auf sich allein gestellt und dazu auch noch verschuldet. Graham (Tom Wilkinson) wiederum, Richter am Obersten Gericht, begibt sich mit Schuldgefühlen auf die Spur einer alten Liebe, während der ewige Schürzenjäger Norman (Ronald Pickup) und die vom Ehepech verfolgte Madge (Celia Imrie) mehr oder weniger ernüchtert neues Liebesglück ersehnen. Komplettiert wird die bunte Reisegruppe noch von einem Ehepaar, dessen Partner sich auseinandergelebt haben, und von der fremdenfeindlich grantelnden Haushälterin Muriel (Maggie Smith), die sich ausgerechnet in Jaipur einer Hüftoperation unterziehen will.

Nach der Ankunft im chaotischen Treiben der indischen Metropole lässt der Kulturschock nicht lange auf sich warten. Maddens Film bezieht gerade aus dem Zusammenprall gegensätzlicher Mentalitäten und kultureller Unterschiede, deren Exotik stets geglättet und romantisiert erscheint, seinen schlagkräftigen Wortwitz. Das fremde Indien erstrahlt unter dieser Vorgabe als ein Land aus Licht, Farben und Lächeln, dessen Bewohner von einer überwältigenden Lebensbejahung geleitet werden. Verkörpert wird dieses idealisierte Bild von dem jungen Hotelmanager Sonny (Dev Patel), der sein reizvoll marodes Haus mit einem unerschütterlichen Optimismus in eine bessere Zukunft führen will. „Nichts passiert, solange man es nicht träumt“, heißt es einmal in diesem mit Lebensweisheiten gespickten Film. Dabei verlaufen die Lernprozesse, in denen es darum geht, „an der anderen Welt zu wachsen“, durchaus in beide Richtungen. Dahinter entdecken die Protagonisten wiederum das Wagnis des Handelns als Möglichkeit zur Veränderung. Dass am Ende alles gut wird, versteht sich in diesem Feelgoodmovie von selbst. Denn „wenn es nicht gut ist“, so Sonny, „dann ist es auch nicht das Ende.“

Das Turiner Pferd

(U / F / D / CH 2011, Regie: Béla Tarr, Ágnes Hranitzky (Co-Regie))

Eine Leidensgeschichte in sechs Tagen
von Janis El-Bira

Bei schwarzer Leinwand wird sozusagen der Urknall geschildert: Friedrich Nietzsche erbarmt sich eines geschundenen Gauls, fällt ihm um den Hals, wird abgeholt, lebt noch Jahre in Umnachtung, spricht seine letzten …

Bei schwarzer Leinwand wird sozusagen der Urknall geschildert: Friedrich Nietzsche erbarmt sich eines geschundenen Gauls, fällt ihm um den Hals, wird abgeholt, lebt noch Jahre in Umnachtung, spricht seine letzten Worte: 'Mutter, ich bin dumm.'

Berühmt ist diese Anekdote, allein, so der Sprecher weiter, über das Pferd und den Kutscher wissen wir nichts. Dann öffnet sich das Auge der Kamera und durch den Friedrichstadtpalast rauscht die pure Kinetik: Ein Sturm – hat man je einen solchen Sturm, ein solches Unwetter auf einer Leinwand gesehen? – peitscht eine Kutsche voran durch ein gesichtsloses Niemandsland. Beinahe endlos geht das so und man kann kaum glauben, welche Wucht diese Schwarzweißbilder übertragen; als würde es in den Saal hinein wehen.

Dann wird lange, sehr lange nicht gesprochen und über die gesamten 150 Minuten fallen ohnehin – man erwartet das freilich von Béla Tarr – nur wenige Sätze. Wir verfolgen das Leben und Vegetieren von Pferd, Kutscher und Kutscherstochter in oft minutenlangen, äußerst verlangsamten Einstellungen. Die immer gleichen Alltagsprozesse – das Ankleiden des alten Mannes durch die Tochter, das Verzehren der Kartoffeln mit den bloßen Händen, das Wasserschöpfen aus dem Brunnen – wiederholen sich drei-, vier-, fünfmal.

Die Szenerie, eine Hütte im Nirgendwo, wechselt nicht. Und doch entsteht hier eine Sogwirkung, wie sie dieser Tage im Film ihresgleichen nicht hat. Tarrs völlig entfesselte Kamera vermittelt in schier unbeschreiblichen Schwarzweißkontrasten räumliche Spannung, Weite und Nähe in einer Kunstfertigkeit, die man schlicht sensationell nennen muss.

Ein Unheimliches schleicht dann alsbald ums Haus, eigentümliche Dinge geschehen, seltsame Gäste treffen ein. Eine große Finsternis wird kommen. Ist das die Antwort der Geschichte auf die Umnachtung Nietzsches, auf das Ende der abendländischen Metaphysik? Man stolpert halbwegs benommen aus dem Kino ins Tageslicht zurück. Ein weit offenes Meisterwerk hat man gesehen, das nun im Kopf unaufhörlich nachrattert. 'Für mich war das wie eine Passion; eine Leidensgeschichte in sechs Tagen', sagt uns unvermittelt ein Mann auf der Straße.

Dieser Text ist zuerst anlässlich der Berlinale 2011 in der filmgazette erschienen.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Versicherungsvertreter

(D 2011, Regie: Klaus Stern)

Business as usual
von Marit Hofmann

'Willst du ein Leben lang mit mir dein Blut, dein Herz, deine Seele teilen – für diese Firma?' Ja, das wollten sie, und sie nahmen den Siegelring mit dem MEG-Logo. …

'Willst du ein Leben lang mit mir dein Blut, dein Herz, deine Seele teilen – für diese Firma?' Ja, das wollten sie, und sie nahmen den Siegelring mit dem MEG-Logo. Schließlich kam es nicht oft vor, dass Selfmademillionär Mehmet E. Göker vor einem seiner Vasallen auf der Showbühne in die Knie ging. Für die, die den Umsatz nicht ehrten, galt die Parole: 'Weg die Wichser!' Sie alle wollten’s ja nicht anders, da hat Obermacker Göker nicht ganz unrecht: seine geldgeilen und devoten Gefolgsmänner (Frauen sind hier nur Begleitblondinen), die Politiker und VIPs, die ihn hofierten, und seine Auftraggeber, die Versicherungsriesen, die nach immer mehr Kunden für private Krankenversicherungen gierten und dafür riesige Provisionen zahlten.

Klaus Stern, der bereits in anderen sensiblen Porträts offenbarte, was das Business aus Menschen macht, führt hier den rasanten Aufstieg und Fall des Versicherungsmaklers Göker und die windigen Methoden einer Branche vor. Der MEG-Chef genießt die Anwesenheit der Kamera beim Ferrarifahren, Muskelstählen, Brüllen und Sprücheklopfen ('Das Leben ist eine Torte, und ich möchte nicht nur Krümel davon abkriegen'). Stern spricht mit Untergebenen wie dem dankbaren Ex-NPD-Anhänger, den der Deutschtürke Göker bekehrt hat, und sieht zu, wie sich dessen Exbodyguard nach der Pleite das MEG-Tattoo entfernen lässt. Die bestürzend komischen Firmenvideos, die Stern unkommentiert hineinmontiert, und vor allem sein 1A Hauptdarsteller verleihen der Doku Spielfilmdrive. Göker findet sich übrigens gut getroffen.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 03/2012

Take Shelter – Ein Sturm zieht auf

(USA 2011, Regie: Jeff Nichols)

Graue Wolken
von Drehli Robnik

„Sieht das irgendjemand außer mir?“ fragt entgeistert der Familienvater (Michael Shannon), während irre Blitze durch den Nachthimmel zucken und Frau und Tochter im Auto schlafen. In anderen Momenten des Films, …

„Sieht das irgendjemand außer mir?“ fragt entgeistert der Familienvater (Michael Shannon), während irre Blitze durch den Nachthimmel zucken und Frau und Tochter im Auto schlafen. In anderen Momenten des Films, der insgesamt viel aus dem Anblick und Sound gewittriger Wolkenformationen, Stürme und Regengüsse macht, ist es der Protagonist, der schläft; da erscheinen ihm erst recht Dinge, die niemand anderer sieht – zumal Visionen, in denen das Alltagsvertrauteste plötzlich gegen ihn aggressiv wird: sein Hund, seine Möbel, sein Kollege am Bohrgerät bzw. Biertresen, gar seine Frau (dargestellt von Jessica Chastain; sie stand schon als Hausfrau und Mutter in Terrence Malicks „The Tree of Life“ am Rand eines intensiven Direktaustauschs zwischen familiärem, natürlichem und kosmischem Leben).

Mehr als andere Hollywoodfilme mit düsteren Katastrophenvisionen unter „kleinen Leuten“ auf dem Land (rezente Exorzismusfilme, „The Mothman Prophecies“ und „Signs“ von Anfang der Nullerjahre oder der schon etwas ältere, mehr populistisch denn visionär sein Tornadodesasterthema bearbeitende „Twister“) präsentiert sich „Take Shelter – Ein Sturm zieht auf“ als Milieustudie. Der Film in der Regie von Jeff Nichols bietet ein mehr als nur soziodekoratives Bild von Alltagsnöten, -gesten und -ritualen weißer Arbeiterfamilien in Ohio. Diese Milieustudie wiederum ist vermittelt über die Verhaltensstudie eines einzelnen Mannes, eben des Familienvaters, der abdriftet; sein Verhalten reduziert sich mit der Zeit ganz auf ohnmächtiges Starren und obsessives Mauern. Entgegen allgemeinem Rat und unter Vernachlässigung von Arbeitspflichten, Sozialkontakten und Rücksicht aufs knappe Familienbudget sucht er sein Heil im Ausbau des Tornado-Schutzbunkers auf dem Grundstück vor seinem Haus. Beim dorfgemeinschaftlichen Austerngrillabend in der örtlichen Mehrzweckhalle mündet seine Absonderung in einen Eklat; er geht mit biblisch anmutender Prophezeiung ab: „Ein Sturm wird kommen, und niemand von euch ist vorbereitet!“

Wie in vielen guten Horror- und Mystery-Filmen bleibt die atmosphärische Bedrohung hier so weit in Schwebe, dass gesellschaftsbezogene Lesarten nahe liegen: Was wir an Alpträumen, Wetterkapriolen und Vogelschwarmgebilden sehen und hören, bricht unvermittelt in die working class-Alltagssoziografie ein, als ominöser Ausdruck, der dazu drängt, dass wir ihm Gründe zuweisen. Die Chancen stehen gut, dass diese Gründe in Sinnbildern bestehen wie jenen von einer düsteren Zukunft des weißen Proletariats (schwarz sind hier nur zwei Nebenfiguren, die einen wohlwollenden aber hilflosen Staat verkörpern: eine überforderte Beraterin im Gemeindezentrum und ein Notarzthelfer) oder vom Kapital, dessen Krisenlaunen wie eine Wetterfront aufwallen. Diese Vorstellungen – eben furchtmythologische Bilder einer politischen Ökonomie – sind so abgegriffen wie letztlich selbst ideologisch. Sinn und Einsicht wäre mit ihnen dann zu erzeugen, wenn sie nicht als möglicher Endpunkt einer Interpretation daherkämen, sondern einmal als ein weiter aufzuknackender (zu reflektierender) Ausgangspunkt dastünden, mit der dazu gebotenen Verbindlichkeit.

Dass wir uns nicht falsch verstehen: Als kritischerer Film wäre „Take Shelter“ immer noch ein spannender Mystery-Thriller (und soll das auch sein). Der Art, wie der Film Energie in die bedächtige Entfaltung seines Grusels – mehr schleichende Verunsicherung denn blanker Horror – investiert, würde das keinerlei Abbruch tun, im Gegenteil: Ausgehend von Schauspiel, Montage, Effekten und Sound Design, die in „Take Shelter“ gediegen, gemessen und stets darauf angelegt sind, dass wir in den Bildern ein unheimliches Mehr an Sinn vermuten, ließen sich die Unheilsvisionen als die wahnhafte Form einer potenziellen Erkenntnis zeichnen – eines Irrsinns, der das Zeug zur Hellsicht hat und mit milieuspezifischen Seh- und Denkweisen bricht. Allein, der Habitus, aus dem der Visionär herausfällt, wird hier kaum in Frage gestellt – nämlich der selfmade man-Individualismus und die Familienmentalität, jeweils als Ideologien der Selbstbehauptung, die ihrerseits zwar höchst normalisiert, aber nichtsdestoweniger auch Formen des 'Mauerns' sind, des Sich-Fügens ins Unvermeidliche des Wirtschaftswetters und der tradierten Ordnung.

Was der Film allerdings bietet, ist eine starke Betonung des Elends von Kommunikationsarmut, verdichtet in dem Umstand, dass die kleine Tochter der Familie gehörlos ist (globalistischer Humanitätskitsch der Sorte „Babel“ lässt leise grüßen). Aber auch seine Verbindung zwischen dem Versagen der Worte und dem Unverbindlich-Andeutungshaften der Vorahnungen hält „Take Shelter“ dann doch nicht ganz konsequent durch: Zuletzt erzeugt er eine Eindeutigkeit, die Möglichkeiten einer sozialkritischen Lesart denn auch hinwegfegt. Ohne allzuviel zu spoilen, darf – in einer Zeit, da im Horror- und Mysterygenre ohnehin ein Ende, das nicht gedoppelt ist, schon fast als Gewagtheit hervorsticht – angedeutet sein, dass der Film schließlich doch, jenseits aller Relativierung und Therapeutik, eine Auflösung findet, die als starker, zumal ehrfurchtgebietender dramaturgischer Schlussakzent befriedigt; dies jedoch um den Preis, dass sie die existenzielle Angstempfindung ganz ins New Age-Wolkige hebt.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Huhn mit Pflaumen

(F / D / B 2011, Regie: Marjane Satrapi, Vincent Paronnaud)

Blätter aus dem Buch des Lebens
von Wolfgang Nierlin

„Es war einmal, es war keinmal“: So beginnen persische Märchen, sagt der Off-Erzähler des Films „Huhn mit Pflaumen“ (Poulet aux prunes), der nach „Persepolis“ neuen, zweiten Zusammenarbeit der beiden Comic-Zeichner …

„Es war einmal, es war keinmal“: So beginnen persische Märchen, sagt der Off-Erzähler des Films „Huhn mit Pflaumen“ (Poulet aux prunes), der nach „Persepolis“ neuen, zweiten Zusammenarbeit der beiden Comic-Zeichner Marjane Satrapi und Vincent Paronnaud. Doch dieses Mal haben sie aus der gleichnamigen Comic-Vorlage einen ganz zauberhaft-romantischen Realfilm in Cinemascope gemacht. Ihrem angestammten Metier, also ihrer Lust am Fabulieren und Phantasieren sowie ihrem Talent, ganz eigene imaginäre Räume zu gestalten, sind sie aber treu geblieben. Schon der gezeichnete Vorspann mit seinen Ranken aus Pflanzen und Ästen, eine animierte Traumsequenz im letzten Drittel des Films, die gemalten, teils expressionistisch wirkenden Kulissen der im Studio Babelsberg entstandenen Produktion oder auch der ständige, von Erinnerungen geleitete Wechsel der Zeitebenen zeigen an, dass wir uns hier in einem Reich der Phantasie befinden. Für Satrapi ist das Medium Film „ein Mittel der Erkundung des Imaginären“. Demgemäß wechselt „Huhn mit Pflaumen“ ständig Stimmungen und Stile, ist mal witzig und humorvoll, dann wieder melancholisch und traurig.

Im noch weltoffenen Teheran des Jahres 1958 – Marjane Satrapi hat sich wiederum von ihrer eigenen Familiengeschichte inspirieren lassen – ist der Geigenvirtuose Nasser-Ali Khan (Mathieu Amalric) in einer unheilbaren Schwermut gefangen. Bei einem heftigen Ehekrach hat seine Frau Faringuisse (Maria de Medeiros) die wertvolle, vom Lehrer seines Lehrers geerbte Violine zerschlagen. Die verzweifelten Versuche, ein neues, adäquates Instrument zu finden, scheitern. Weil für Nasser-Ali die Kunst und das vom Leben erfüllte Mittel ihrer Realisierung untrennbar verbunden sind, wird aus dem schmerzlichen Verlust ein existentieller Schmerz. Der melancholisch veranlagte Künstler beschließt zu sterben und entscheidet sich schließlich, von diversen Selbstmordphantasien abgeschreckt, in Würde dem Leben zu entsagen und im Bett auf den Tod zu warten, als wolle er sich damit gegen sein eigenes Schicksal stemmen.

Damit beginnt eine Zeit der Erinnerung und der Reflexion. Wie Blätter aus dem Buch des Lebens vergegenwärtigen Satrapi und Paronnaud in einzelnen Episoden, die kunstvoll ineinander verwoben sind, Nasser-Ali Khans wichtigsten Lebensstationen. Kunst und Liebe bilden auf diesem Weg eine unauflösbare Einheit. Denn erst als sich der Geigenschüler unsterblich in die wunderschöne Irâne (Golshifteh Farahani) verliebt, gewinnt sein technisch perfektes Spiel eine Seele; und nur das Leiden am versagen Liebesglück, das am Realitätssinn von Irânes Vater zerbricht, erzeugt schließlich jenen „Seufzer“, den, so Nasser-Alis Lehrer, jede wahre Kunst einfängt. Die Musik des Geigers wird also ebenso vom Verlorenen genährt wie sie andererseits immer wieder an dieses erinnert. „Durch die Kunst begreifen wir das Leben“, wird in einem von Nasser-Alis Fieberträumen einmal dem sterbenden Sokrates in den Mund gelegt. So wird durch den Verlust der Violine nicht nur das Band der Erinnerung durchschnitten, sondern der Künstler zugleich jenes Mediums beraubt, das als Therapeutikum der Seele wirkt. Was für Nasser-Ali schließlich bleibt, ist – um mit Faulkner zu sprechen – die Wahl zwischen „grief and nothing“, also zwischen leidvollem Kummer und Tod.

Stirb langsam 4.0

(USA 2007, Regie: Len Wiseman)

Body Rock
von Oliver Nöding

Die Anziehungskraft des Actionfilms auf den Zuschauer gründet sich im Verzicht des Protagonisten auf übermäßige Kontemplation, in seinem kurz entschlossenen, beherzten Sprung in die Aktion: Der Held agiert, während der …

Die Anziehungskraft des Actionfilms auf den Zuschauer gründet sich im Verzicht des Protagonisten auf übermäßige Kontemplation, in seinem kurz entschlossenen, beherzten Sprung in die Aktion: Der Held agiert, während der Zuschauer passiv ist. Von der postmodernen Krise und der mit dieser um sich greifenden Passivität ist aber auch der Actionheld nicht verschont worden: Auch Rambo war von der Erkenntnis, dass seine Auftraggeber nur ihre Sache im Sinn hatten und sich einen Dreck um die Moral scherten, nicht gefeit. In seinem bislang letzten Einsatz lässt sich seine Philosophie deshalb auch so paraphrasieren: Geh nach Hause, du kannst den Lauf der Dinge nicht verändern. Die Aktion, die der Actionfilm feiern möchte, ist anrüchig geworden. Wer sich für die eine Sache einsetzt, muss damit rechnen, einer ganz anderen zum Sieg zu verhelfen. Besser also, man bleibt zu Hause. Es ist eh alles egal. Wenn aber die Passivität gewonnen hat, was wird dann aus dem Actionhelden?

Len Wiseman gelingt es mit 'Stirb langsam 4.0', diese innere Krise des Actionfilms in einer zeitgenössische Ängste thematisierenden Story auf die Inhaltsebene zu heben. Wenn er den Actionhelden vielleicht auch nicht endgültig rettet, so konsolidiert er doch dessen Bedeutung als entschlossener Macher in einer Welt des Zauderns und Zögerns. Beherrschendes Thema von Wisemans Film ist logischerweise die Ohnmacht: Dem Oberschurken Thomas Gabriel ist es mithilfe unzähliger kleiner Hacker gelungen, einen „Fire Sale“ durchzuführen und die Vereinigten Staaten ins absolute Chaos zu stürzen. Sämtliche computergesteuerten Systeme befinden sich in seiner Gewalt, der Staat ist ihm hilflos ausgeliefert. Der Einzige, der sich anschickt, seinen Plan zu durchkreuzen, ist John McClane (Bruce Willis), der wieder einmal „zur falschen Zeit am falschen Ort“ ist und wider Willen in Aktion treten muss. Doch halt: Allzu widerwillig ist John McClane in dieser dritten Fortsetzung von McTiernans Endachtziger-Actionklassiker 'Stirb langsam' gar nicht. Relativ schnell ergreift er die Initiative und es scheint so, als habe er die Action in all den Jahren der Abwesenheit vermisst (die lange Pause zwischen 'Stirb langsam – Jetzt erst recht!' und 'Stirb langsam 4.0' wird auch in der Diegese verortet). So wird ein Zug an ihm stärker betont, der schon in den Vorgängern implizit war: McClane ist ein Verrückter, der es insgeheim liebt, sich in Lebensgefahr zu begeben, Autos zu Schrott zu fahren, bad guys umzunieten und Dinge in die Luft zu jagen. Dem asketischen Professionalismus eines John Rambo, Scott McCoy ('Delta Force') oder John Matrix ('Phantom Kommando') setzt er unbändige Kreativität, ein Übermaß an Lebensmüdigkeit und kindliche Zerstörungswut entgegen und spiegelt so all die unerfüllten Wünsche und Bedürfnisse seines Publikums. Nachdem er sich wieder einmal auf originelle Art und Weise eines Schurken entledigt hat und sein Sidekick, der Computerhacker Matt Farrell (Justin Long), ihn ent- und begeistert fragt „Did you see that?!“, antwortet McClane nur euphorisiert: „Yeah I saw it, I did it!“ und bringt die Dichotomie von Zuschauer und Actionheld auf den Punkt. Immer wieder entfährt ihm ein freudig-erregtes Glucksen, wenn er sich um Haaresbreite aus einer tödlichen Situation befreit, ein Laut der ungläubigen Freude, wenn er sich in einem übermenschlichen Kraft- und Willensakt eines Feindes entledigt hat. Seine Tollkühnheit erreicht zum Showdown ihren Höhepunkt, als er sich selbst erschießt, um damit seinen Gegner zu besiegen, der hinter ihm steht. McClanes Körperlichkeit geht über den eigenen Körper hinaus.

Und sie wird besonders betont, weil sein Widerpart ein reiner Kopfmensch ist. Gabriel befindet sich während des ganzen Films in seiner Kommandozentrale, in der er die zu erledigenden Aufgaben delegiert, die korrekte Ausführung seiner Aufträge nur überwacht. Er macht sich nicht selbst die Hände schmutzig, ist Vertreter einer Welt, in der man sich nicht mehr physisch betätigen muss, um etwas zu leisten. Gabriel ist ein Schreibtischtäter, ein Programmierer, der sich kaum von den Computer-Geeks Matt Farrell oder dem „Warlock“ (Kevin Smith), der zwar einen legendären Ruf in der Hackergemeinde genießt, aber noch mit Ende 30 bei seiner Mama lebt, unterscheidet und dessen Errungenschaften eher virtueller Natur sind. Sein Akt des Terrors ist dann auch nicht die Sprengung eines Gebäudes oder der Überfall auf eine Bank: „Everything I’ve broken can be fixed.“ Letztlich ist es der Kollateralschaden, den er verursacht, mit dem der den Zorn McClanes auf sich zieht. Doch dieser ist noch unvermeidlich: Thomas Gabriel braucht die Killer, die die Drecksarbeit für ihn machen, auch er kann sich nicht vollständig auf eine virtuelle Ebene zurückziehen. Und so ist auch ein Held alter Schule wie John McClane noch nicht überkommen. Gabriel muss letztlich mit seinem Körper für die Verbrechen bezahlen, die sein Hirn erdacht hat. Und McClane bringt ihm die Rechnung.

Dieser Text erschien zuerst in: Remember it for later

Prince of the City

(USA 1981, Regie: Sidney Lumet)

Der große Verrat
von Oliver Nöding

1. Mit seinen Kollegen sitzt der Drogenfahnder der New Yorker Spezialeinheit SIU Danny Ciello (Treat Williams) im Garten des Hauses seiner Eltern. Sie trinken Bier, sie lachen, feiern sich und …

1. Mit seinen Kollegen sitzt der Drogenfahnder der New Yorker Spezialeinheit SIU Danny Ciello (Treat Williams) im Garten des Hauses seiner Eltern. Sie trinken Bier, sie lachen, feiern sich und ihre Erfolge. Aber Dannys Bruder, ein Drogensüchtiger, verdirbt die Stimmung: „Ihr seid auch nur Gauner wie die Mafia mit euren dicken Uhren und den schicken Anzügen!“ Danny wählt die einfachste Lösung des Konflikts: Er schlägt den schwächeren Bruder zusammen. Und bestätigt sich damit vor allem selbst, dass dieser im Recht ist.

2. Als Danny die Absolution bei den Staatsanwälten eines geheimen Untersuchungsausschusses zur Aufdeckung innerbetrieblicher Korruption sucht, bricht seine ganze Verzweiflung aus ihm hervor. Er hat niemanden, außer seine Partner: Der einfache Bürger ist ihm ebenso fremd wie der Verbrecher, den er zu bekämpfen hat. Und die Justiz wiederum tut auch nichts, um ihrem ausübenden Organ zur Seite zu stehen. Danny Ciello wollte als Polizist helfen, die Gesellschaft zu schützen. Aber in Ausübung seiner Tätigkeit hat er nicht nur die Grenze zwischen Recht und Verbrechen überschritten, mit der Dienstmarke wurde er geradezu stigmatisiert, sie kennzeichnet ihn als Aussätzigen. Er ist isoliert. Und nun kappt er auch noch die letzte soziale Verbindung.

3. Danny blüht auf, als er reihenweise schmutzige Deals mit dem versteckten Tonband aufzeichnet. Der Eifer, mit dem er auch die heikelsten Treffen noch „verkabelt“ absolviert, muss als selbstmörderisch bezeichnet werden. Danny will erwischt, will für seinen Verrat bestraft werden. Eine Dienstwaffe trägt er schon gar nicht mehr. Noch hält sein Panzer der Belastung statt, nimmt seine Seele keinen sichtbaren Schaden. Aber wenn seine Gattin abends die Klebestreifen und Kabel entfernt, bleiben Brandspuren von der ausgetretenen Batteriesäure zurück. Er ersetzt ein altes Stigma durch ein neues.

4. Je kooperativer Danny ist, je mehr ehemalige Kollegen und Verbündete er verrät, umso mehr verliert er ironischerweise auch das Vertrauen derer, die ihn für ihre Zwecke benutzen. Sein Wort ist nichts mehr wert, weil er ein Verräter ist. Staatsanwalt Polito (James Tolkan) lädt einen kleinen Drogendealer zum Treffen mit Danny ein, der dem Cop unvermittelt ins Gesicht rotzt, bevor er wortlos wieder geht. „Warum lassen sie mich von einem kleinen miesen Verbrecher anspucken?“ fragt Danny hilflos, sich unter der Anspannung vor Krämpfen krümmend. Polito sitzt nur da. Er grinst schadenfroh und wartet darauf, dass die Fassade des Polizisten endlich bricht.

5. Danny hat Glück gehabt: Ein Dealer, der ihn des Meineids hätte überführen können, hat im Lügendetektor-Test versagt. Doch die Anspannung, die längst körperlich Präsenz zeigt, weicht nur für Sekunden von Danny. „Ein Schizo besteht vor dem Lügendetektor, weil er glaubt, was er sagt, auch wenn es gelogen ist. Ich versage, weil ich die Wahrheit sage, sie aber für eine Lüge halte. Ich kenne den Unterschied nicht mehr.“ Danny ist im semantischen Limbo gefangen, in einem Albtraum, der weder ein Ende kennt, noch einer von ihm durchschaubaren Logik folgt. Er kann nur noch warten und die Rolle spielen, die ihm dabei zugedacht ist. Er ist zum Verschwörer gegen sich selbst geworden.

6. Als Danny seinen Partner Gus Levy (Jerry Orbach) überreden will, auszusagen, verweigert sich dieser. Er wird nie so werden wie Danny, ein Verräter, für den er nur noch Verachtung übrig hat. Doch Danny freut sich über diese Ablehnung, über den Kampfgeist des geliebten Partners. Die alten Werte haben noch Bestand, sie waren keine Illusion, kein Traum. Sie sind noch da, werden noch vertreten. „Er ist einer von uns!“, sagt Danny über den Partner, der sich von ihm losgesagt hat. Danny ist trotz allem immer ein Cop geblieben. Sein Verrat ist damit total, weil er seine eigenen Basis untergraben hat. Seine Arbeit gegen die Korruption ist wie ein kalter Entzug. „Der Weg in die Korruption ist kaum merklich, der Weg zurück kann nur durch einen Sprung vollzogen werden“, sagt ein Anwalt. Danny hat das nicht gewusst. Oder doch?

7. Am Ende hat er es doch geschafft, der Entzug ist gelungen. Seine Partner haben Selbstmord begangen oder wurden verhaftet, ihm selbst hat sein Engagement gegen die Korruption die Haftverschonung und einen neuen Job als Ausbilder verschafft. Ein Neuanfang ist das nicht. Als er seinem Kurs vorgestellt wird, fragt einer der Schüler: „Sie sind Danny Ciello? DER Danny Ciello? Ich glaube nicht, dass ich von Ihnen etwas lernen kann.“ Er steht auf und verlässt den Raum. Dannys Blick sagt, dass er weiß, dass er seine Schuld nie ablegen wird. Er wird immer der Verräter bleiben, ein Außenseiter inmitten einer verschworenen Gemeinschaft. Sein flüchtiges Lächeln bleibt ein Rätsel. Es sagt nicht mehr als das: Danny hat es geschafft, irgendwie.

Schon einmal hat Lumet den Kampf eines Polizisten gegen die Korruption und die eigenen Leute thematisiert. In 'Serpico' wird Al Pacino in der Rolle des Einzelgängers zum Helden, zum Vorkämpfer einer moralischen Ordnung, zum Jesus von New York. So sehr er auch leiden muss, so viel er auch an Verlusten erfährt im Kampf gegen die Hydra, er feiert einen großen Triumph. 'Serpico' ist aller dunkler Seiten zum Trotz ein Traum, ein wunderschöner Traum. Die Welt kann gereinigt werden, es bedarf nur eines unnachgiebigen Idealisten. In 'Prince of the City' ist der Filz undurchdringlich, der Triumph leise, aber mit unvorstellbaren Qualen verbunden, der Held ein Lügner und Verräter. 'Prince of the City' ist die schmerzhafte Realität.

Dieser Text erschien zuerst in: Remember it for later

Suburbia

(USA 1983, Regie: Penelope Spheeris)

Alles muss zerstört werden
von Oliver Nöding

In einer verkommenen kalifornischen Vorstadtsiedlung leben einige jugendliche Punks in einem leerstehenden Haus, weil sie es aus verschiedenen Gründen bei den Eltern nicht mehr ausgehalten haben. Sie schlagen sich mit …

In einer verkommenen kalifornischen Vorstadtsiedlung leben einige jugendliche Punks in einem leerstehenden Haus, weil sie es aus verschiedenen Gründen bei den Eltern nicht mehr ausgehalten haben. Sie schlagen sich mit Diebstählen durchs Leben, reagieren sich abends auf Hardcore-Konzerten ab und haben keinerlei Vorstellung davon, wie sie ihr Leben in den Griff bekommen können. Der kleinbürgerlichen Nachbarschaft sind sie ein Dorn im Auge: Anstatt sich mit den Jugendlichen zu solidarisieren, sehen die nur ihre eigenen lächerlichen Besitztümer bedroht. Eine offene Auseinandersetzung bahnt sich an …

„No Future“: Das war in den frühen Achtzigerjahren der Slogan der Punkbewegung und in 'Suburbia' erhält man einen ziemlich guten Eindruck davon, woher diese Weltanschauung kam und was sie jenseits eines bloß plakativen Fatalismus bedeutete. Das einstige Vorstadtparadies des Films hat sich in einen besseren Slum verwandelt und die Elterngeneration, die mitansehen musste, wie ihr Traum vom Wohlstand den Bach runterging, ist viel zu sehr mit der eigenen Identitätskrise beschäftigt, als dass sie sich um die Erziehung des Nachwuchses kümmern könnte. Ungeliebt und aus desolaten Elternhäusern stammend ist den Jugendlichen jeder Optimismus, jede Hoffnung auf ein halbwegs normales Leben und das Vertrauen in die Erwachsenen, die sie im Stich gelassen haben, abhanden gekommen. Mit der Gesellschaft wollen sie zwar nichts mehr zu tun haben, doch leben sie natürlich nicht im luftleeren Raum. Ihre zwangsläufigen Frustrationen brechen sich in sinnlosen Scharmützeln während der abendlichen Konzerte Bahn, bei denen die Musiker mehr als einmal entnervt abbrechen müssen, weil die Situation vor der Bühne zu eskalieren droht. Und diese destruktive Ader entfremdet die Kids noch mehr: Weil die Verlierer um sie herum ein ähnlich beklagenswertes Leben führen und ebenfalls ihre Aggressionen irgendwo loswerden müssen, kommen ihnen die Punks gerade gelegen. Sie sind die perfekten Sündenböcke: ein paar Kids ohne jede Lobby, ohne Privilegien, ohne Fürsprecher.

Penelope Spheeris drehte vor 'Suburbia' die Punkrock-Dokumentation 'The Decline of the Western Civilization', deren Titel durchaus auch auf ihr Spielfilmdebüt gepasst hätte. Es verwundert also nicht wirklich, dass auch 'Suburbia' dokumentarische Züge trägt: Die Schauspieler sind bis auf ganz wenige Ausnahmen Laiendarsteller aus der kalifornischen Punkszene (es gibt u. a. einen sehr jungen Flea, seines Zeichens Bassist der Red Hot Chili Peppers, zu bewundern), die Konzerte bestreiten die Hardcore-Veteranen von D.I., T.S.O.L. und The Vandals und mehrere Ereignisse des Films sind von realen Begebenheiten inspiriert. 'Suburbia' ist dann auch ungemein deprimierend in seiner Rohheit und Ausweglosigkeit, die ihren deutlichsten Ausdruck im Bild einer Rotte ausgesetzter und deshalb verwildeter Hunde findet, von denen einer in der Eröffnungsszene ein Kleinkind vor den Augen der Mutter zerfetzt. Aus Opfern werden Täter, für die die Gesellschaft dann meist auch eine entsprechende Antwort parat hat, während sie vorher tatenlos zusieht. Spheeris blieb dem Sujet noch eine Weile treu: Als nächstes folgten die Teenage-Angst-Filme 'Blind Rage' und 'Dudes – Halt mich fest, die Wüste bebt!', dann widmete sie sich der Glamrockszene in L.A. in 'The Decline of the Western Civilization Part 2: The Metal Years', bevor sie mit 'Wayne’s World' einen Riesenhit landete, der ihr dann diverse Komödienengagements einbrachte. Über jene Filme kann man sich streiten, 'Suburbia' ist über jeden Zweifel erhaben.

Dieser Text erschien zuerst in: Remember it for later

Die Passion der Jungfrau von Orléans

(F 1928, Regie: Carl Theodor Dreyer)

Endlich verfügbar!
von Siegfried König

Welches künstlerische Potential der Stummfilm bot, weiß erst, wer Carl Theodor Dreyers „Die Passion der Jungfrau von Orléans“ gesehen hat. Im Ausreizen filmischer Möglichkeiten ist dieses Werk Klassikern wie „Panzerkreuzer …

Welches künstlerische Potential der Stummfilm bot, weiß erst, wer Carl Theodor Dreyers „Die Passion der Jungfrau von Orléans“ gesehen hat. Im Ausreizen filmischer Möglichkeiten ist dieses Werk Klassikern wie „Panzerkreuzer Potemkin“ oder „Sunrise“ auf jeden Fall ebenbürtig. Seit dem 16. Februar 2012 anlässlich des 600. Geburtstages von Jeanne d‘Arc, ist in der Reihe Arthaus Premium endlich eine deutsche DVD-Ausgabe dieses Meilensteins der Filmgeschichte verfügbar.

Zum Film:
Dreyers Film beginnt mit einer dokumentarischen Einleitung. Dem Zuschauer werden die Akten des Prozesses gezeigt, der auf Betreiben der Engländer 1431 in Rouen gegen die gefangene Jeanne d’Arc geführt wurde. In diesen Akten sei die wahre Jeanne d’Arc zu entdecken, verkündet eine Texttafel, nicht als Kämpferin mit Helm und Rüstung, sondern einfach und menschlich. Fast drei Viertel des Films zeigen die Befragung Jeanne d’Arcs durch ihre Richter. Im letzten Viertel beschleunigt sich die Handlung, um mit Jeannes Feuertod und der gleichzeitigen Niederschlagung eines Volksaufstandes seinen Höhepunkt und Abschluss zu finden.

Der Film ist einer strengen Authentizität verpflichtet. Die Texte der Zwischentitel sind wörtlich den Prozessakten entnommen und die Kostüme sind so echt wie möglich. Und doch verzichtet der Film auf jegliches Kolorit eines Historienfilms. Mit strenger Askese beschränkt Dreyer sich auf sein einziges Thema: Er führt das Mädchen Jeanne in all seiner Angst und Hoffnung, in seiner Seelenpein und Verzweiflung vor. Und er zeigt, wie Jeanne in ihrem Leiden und durch ihr Leiden inneren Frieden und Größe findet, und zwar in dem Augenblick als sie ihr Schicksal, ihren Tod akzeptiert. Der Film hat damit ein explizit religiöses Thema und Dreyer nimmt diese Religiosität ernst, absolut ernst. Trotz aller Eindringlichkeit der Darstellung gelingt es ihm aber, falsches Pathos und Sentimentalität zu vermeiden. Und trotz aller Religiosität ist die „Passion der Jungfrau von Orléans“ kein frömmelnder Film, sondern ein Film über die leidende menschliche Kreatur, die in ihrem Leiden und in ihrer Erniedrigung eine menschliche Größe gewinnt, die sie letztlich über ihre Peiniger siegen lässt.

Dreyer erreicht diese Wirkung durch die radikale Art seiner Darstellung. Sein bevorzugtes Mittel ist die Großaufnahme menschlicher Gesichter. „Nichts in der Welt ist dem menschlichen Gesicht vergleichbar“, sagt Dreyer. „Es ist ein Land, das zu erforschen man niemals müde wird.“ Die Kamera zeigt ungeschminkte Gesichter, die oftmals den ganzen Bildschirm ausfüllen. Nicht selten sind es gar nur Augen oder nur Münder, die im Bild zu sehen sind. Doch werden auf diese Weise äußerst eindringlich die Gefühle und Gedanken der Menschen vermittelt, paradoxer Weise sogar eindringlicher als es durch den Ton geschehen könnte. Dreyer suchte seine Darsteller nach ihren Gesichtern aus, er wollte jeweils das Gesicht, das einer Rolle voll und ganz entsprach. So fand er auf einer Boulevardbühne in Paris, die völlig unbekannte Maria Falconetti, die für ihn die ideale Verkörperung Jeanne d’Arcs war. Es sollte dies die einzige Filmrolle Falconettis bleiben.

Noch etwas wird durch diese Art der Darstellung erreicht: Es wird jegliche Distanz übersprungen. Wir schauen nicht einem historischen Prozess zu, wir befinden uns mitten drinnen. Dies wird dadurch verstärkt, dass es im ganzen Film, so gut wie keine Totalen gibt. Wir sehen nie die handelnden Personen im räumlichen Zusammenhang, sondern die Personen rücken uns ganz nahe. Und nicht selten entsteht der Eindruck, sie würden gleichsam von allen Seiten auf uns eindringen. Wir sehen in rascher Folge die Gesichter der Theologen, lauernd, höhnisch, drohend, wie sie erwarten, dass Jeanne eine falsche Antwort gibt, sich in den Fallstricken ihrer scholastischen Absurditäten verfängt. Und wir sehen Jeanne, ihre großen Augen, die angstvoll aufgerissen sind oder ihre stumme Qual. Die innersten Regungen der Personen werden mit ihrer Mimik und Gestik vermittelt. Es ist diese Art der Darstellung Dreyers, ein Stil, den nach ihm niemand mehr mit solcher Konsequenz verwirklichte, was dem Film seine Unverwechselbarkeit verleiht. Dieser Film wirkt wie ein historisches Dokument aus einer Epoche, in der das Kino noch nicht existierte, sagte Jean Cocteau.

Die Richter werden meist in Untersicht gefilmt und gewinnen so zusätzliche Bedrohung, etwa in einer Szene, wo wir Gesicht für Gesicht eine Reihe von Richtern sehen, die sich etwas zuflüstern, eine Szene die gegengeschnitten wird mit Jeannes angstvollen Blicken. Jeanne wird häufig von oben gesehen oder mit schief geneigtem Kopf. Sie ist das Opfer, das einer erdrückenden Übermacht intriganter Theologen gegenübersteht. Es gelingt Dreyer diesen Gegensatz ganz deutlich zu vermitteln: Auf der einen Seite die Ankläger, denen es bei aller vorgeblichen Frömmigkeit und Kirchentreue doch nur um eine Frage der Macht geht. Wir sehen ihre lauernden Blicke und erahnen ihre ständigen Hintergedanken. Auf der anderen Seite Jeanne, deren Person jederzeit absolut aufrichtig wirkt. Sie glaubt, was sie sagt und sie sagt, was sie glaubt. Bei der Befragung wird ihre Gewissennot deutlich. Ob sie sicher glaubt im Stand der Gnade zu sein und die Kirche zu ihrer Erlösung nicht zu brauchen, lautet eine Frage. Ob sie so wie Jesus der Sohn, die Tochter Gottes sei, lautet eine andere. Und von der Beantwortung dieser Fragen hängt ihr Leben ab. Doch nie versucht sie zu taktieren. Und so bejaht sie: ja sie ist die Tochter Gottes. Sie bleibt gegenüber allen Drohungen standhaft, auch als man sie in die Folterkammer führt und als man ihr die Hostie verweigert, was für sie schlimmer als Folter ist. Auf die Drohung, sie werde in der Ewigkeit allein bleiben antwortet sie: Ja, alleine … alleine mit Gott“.

Die Formulierung „Tochter Gottes“ ist programmatisch für den Film. Dreyer baut eine Vielzahl von Parallelen zu Christus ein. Sie steht vor einem Scheingericht wie Jesus und sie weigert sich allen Qualen zum Trotz, ihren Anspruch aufzugeben, genauso wie Jesus. In den Prozesspausen wird sie von den Wächtern verspottet und diese setzen ihr eine geflochtene Krone auf und drücken ihr ein Quasi-Szepter in die Hand. Und immer wieder filmt die Kamera sie mit leicht schief geneigtem Kopf, so wie Christus in Kreuzigungsdarstellungen erscheint.

Noch einmal baut Dreyer ein retardierendes Moment ein, nur um die Unbedingtheit Jeannes anschließend um so deutlicher herauszuheben. Aus Angst vor dem Feuertod unterschreibt sie endlich das gewünschte Dokument und rettet damit ihr Leben. Sie tut dies nicht aus Überzeugung sondern fast wie schlafwandlerisch und bei der Unterschrift wird ihr von einem Priester die Hand geführt. In der gleichen träumerischen Haltung bleibt sie sitzen, während man ihr die Haare schert, bis sie plötzlich nochmals nach den Richtern verlangt, um ihre Unterschrift zu widerrufen. „Ich habe Gott verleugnet, um mein Leben zu retten“. Jetzt aber hat sie ihre Entscheidung getroffen. Sie akzeptiert ihren Tod. Ein junger Priester, der einzige, der ihr wohlgesonnen war, fragt sie, was jetzt der große Sieg sei von dem sie gesprochen hatte, und sie antwortet: „Mein Martyrium“. Ihr Tod, ihr Selbstopfer, das ist ihr Sieg. Bei der Verbrennung auf dem Scheiterhaufen zieht Dreyer nochmals ganz deutlich die Parallele zu Christus. Am Pfahl, an den sie angebunden wird, ist oben eine Inschrift angebracht und als sie festgebunden ist und das Feuer zu brennen beginnt, fragt sie „Werde ich heute Abend bei dir im Paradies sein?“ Vor dem Scheiterhaufen hat sich eine Menge Volk versammelt und schaut ihrer Todesagonie zu. Jeanne stirbt mit dem Ruf „Jesus!“. Und aus der Menge des Volkes ertönt der Ruf: „Ihr habt eine Heilige verbrannt“. Der Aufstand, der damit beginnt, wird von den Engländern grausam niedergeknüppelt und kostet viele Menschen das Leben.

Dreyer verzichtet in seinem Film auf viele Möglichkeiten, die der Stoff geboten hätte, und die von späteren Versionen auch ausgiebig genutzt wurden. Es gibt keine Schlachten zu sehen, keine Jeanne d’Arc, die dem französischen Heer voran zieht, es gibt keine Engelserscheinungen in der Zelle und auch keine patriotischen Töne bei der Verfilmung der Nationalheiligen, was das zeitgenössische französische Publikum enttäuschte. Doch gerade durch diese Selbstbeschränkung gewinnt der Film seine Intensität. Obwohl der Film sich streng an die historischen Fakten hält, weist er durch die strikte Konzentration auf die angeklagte Jeanne über ein spezielles historisches Ereignis hinaus und Jeanne wird so zum Archetyp der hingerichteten Unschuld schlechthin, die durch ihre Aufrichtigkeit im Angesicht des Todes ihre Henker desavouiert.

Zur DVD:
Die Arthaus Premium Edition von Studio Canal umfasst zwei DVDs und ein 16seitiges Booklet. Der Film ist mit 97 Minuten um fast 15 Minuten länger als die Fassung der Criterion-Collection. Dieser Zuwachs ergibt sich jedoch daraus, dass der Film mit 20 Bildern pro Sekunde abgespielt wird, statt mit 24 Bildern wie bei der Criterion-Ausgabe. Bei dieser langsameren Geschwindigkeit, die auch bei Kinovorführungen, z.B. im Filmmuseum München verwendet wird, wirken die Bewegungsabläufe allerdings natürlicher. Die originalen Zwischentitel in Französisch werden deutsch untertitelt. Die Arthaus Premium Edition enthält eine neu eingespielte Klaviermusik von Joachim Bärenz, die weit weniger pathetisch wirkt als das Oratorium 'Voices of light“ von Richard Einhorn, das die Criterion Edition verwendet. Auf der zweiten DVD bietet Arthaus ein umfangreiches Bonusmaterial: Die Dokumentation „Carl Theodor Dreyer – Mein Metier“, ein Interview mit Helene Falconetti, der Tochter der Hauptdarstellerin, und die Dokumentation „Wer war Johanna von Orléans“.

Shame

(GB 2011, Regie: Steve McQueen)

Leider geil
von Drehli Robnik

Brandon ist ein gut gebauter Mittdreißiger und Teil der burschikosen Belegschaft eines New Yorker IT-Unternehmens. Sein Leben gilt ganz dem gierigen Konsum von Sex: ob online, mit Callgirls oder Aufrisspartnerinnen …

Brandon ist ein gut gebauter Mittdreißiger und Teil der burschikosen Belegschaft eines New Yorker IT-Unternehmens. Sein Leben gilt ganz dem gierigen Konsum von Sex: ob online, mit Callgirls oder Aufrisspartnerinnen aus Nachtlokalen, onanierend im Personal-WC oder daheim im Badezimmer, am Ende gar gay in einem Darkroom.

Dieser im Dauerorgasmus unter mönchisch anmutender Selbstkontrolle erlebte Alltag wird gestört: Brandons leichtlebige, anhängliche Schwester Sissy taucht auf, ohne Job und Bleibe, dafür mit lustigen Neo-Hippie-Klamotten und spielerischen Suizidneigungen; sie zieht zu ihm in seine schicke Wohnung, malträtiert sein Rauchtischchen und seine Seventies-Disco-Schallplatten, nimmt ihm die Abgeschiedenheit, die er braucht, um schamlos kommen zu können. Doch im Leben geht‘s oft her wie in einem Film von – Robert, Bresson nämlich (um Tocotronic zu paraphrasieren): Als entstammte Brandon dem Bresson-Film 'Pickpocket', den zwei sorgsam choreografierte U-Bahn-Augensex-Szenen zitieren (oder Paul Schraders 'Pickpocket'-Remake 'American Gigolo', dessen stylishe Anmutung in Sachen Verzweiflungssex hier als Permanenzfluidum präsent ist), tut sich in der Konfrontation mit Sissy eine Erlösungshoffnung auf – die Chance, dass dieser automatisierte Leib eine Art Gnade erfahren könnte.

Aber abgesehen von filmhistorischen Binnenbezügen und in Übergehung des naheliegenden kleinbürgerlich-hämischen Witzes, Brandons Sorgen, den ganzen Tag mit attraktiven Gespielinnen rummachen zu müssen, hätten wir gerne: Der Mann leidet. Er leidet an Sexsucht, und diese Krankheit gibt es wirklich. Eine Kulturkrankheit, sozial fabrizierter psychophysischer Zustand, zweifellos; die bei jedem Fall dieser Art, von Hysterie über narzisstische Störungen bis hin zum Burnout-Phänomen, gegebene Möglichkeit, entsprechende Symptome und Umgangsformen existenziell bis sozialdiagnostisch aufzuladen, nutzt der Film reichlich.

Audiovisuelle Montagen aus Uhrenticken, Anrufbeantworterstimmen und J.S. Bach-Klavier, Leitmotive rund um prekäre Innen-Außen-Grenzen in einem von Glasscheiben und Eisregen geprägten Stadtambiente, Entblößungen von Körpern und Gesichtern in attraktiver Präsenz, mal lapidar, mal ostentativ, stets streng kalkuliert: Hier wird ein Panorama von Leere, Einsamkeit und Entfremdung virtuos zelebriert. Wenn Brandon sein hard-on zur brand wird, gerät alles zur Suche nach Sinn. Oder sich. Oder Sex. Oder so.

'Zynismus wird zur Ehrfurcht,' heißt es eingangs in einem Motivationsmonolog von Brandons kindischem Chef vor bruderhordenhaft versammelter Büromannschaft, und zwei Nachtclubszenen später wird ebendies anhand der zerdehnten Gesangsdarbietung von 'New York, New York' durch Sister Sissy in endloser Großaufnahme durchexerziert: Der unerschütterliche Brandon weint kurz und in verschämter Rührung, auch wir sind bewegt (und klicken die entsprechende Szene demnächst millionenfach auf Youtube); Brandons Boss – Familienvater und Dampfplauderer – begleitet Sissy zum Quickie nach Hause und bekräftigt damit seine Rollenfunktion als das in seiner eitlen Geschwätzigkeit und unbeholfenen Aufreißerattitüde realitätstüchtigere (zynische) Pendant zu Brandon; der hat sich in einer Düstervariante von Existenzästhetik zum Grenzgänger mit Doppelleben geformt, geiles Fleisch aus Stein, das sich eine Herzensbindung nicht leisten kann.

Allerdings macht es der Film sich und uns immerhin nicht so leicht, den Loner, der keine Nähe duldet, als gänzlich gefühllosen Unsympathler zu zeichnen. Brandon hält durchaus mal einer Nachbarin die Haustür auf; und die zaghaft keimende (eben nicht gleich per Paarungsakt 'konsumierte') Romanze mit einer Arbeitskollegin, samt detailreich beobachteter Befangenheit beim fancy Dinner in plansequenter Inszenierung, sowie der Meinungsaustausch pro und contra fixe Beziehung und die entspannenden Witzeleien am Ende des Dates, das zeichnet sich ob seines unprätentiösen Verlaufs im doppelten Sinn wie ein Hoffnungsschimmer der Erlösung in diesem Film ab. (Exemplarisch dafür der Scherzdialog rund um das Neandertaler-Knochenrelikt an Brandons Nacken, der eben einfach so als selbstreflexiver Witz eines bildungsprivilegierten Großstadtmännchens im Raum des schlendernden Gesprächs stehen bleiben kann, ohne Mehrwert an existenzieller Einsicht realisieren zu müssen.)

Jedoch: Spätestens wenn Brandon beim Mittagspausensexausflug mit der womöglich doch ernstlich geliebten Frau (toll gespielt von Nicole Beharie) in einem vollverglasten Designerhotelzimmer ein Impotenzerlebnis hat, das er gleich darauf vor Ort durch die Dienste eines Callgirls besänftigt, stellt sich jene Ehrfurcht wieder ein, die die Sozialpathologie-Inszenierung dieses Films gegenüber der Tiefgründigkeit ihrer eigenen Vergletscherungsmetaphern hegt. In Sachen Ausmalen des Leblosen im Gelebten kann man 'Shame' nicht vorwerfen, hier würde sich jemand nicht um viel Deutlichkeit und Bedeutsamkeit bemühen. Neues ist da an der Front bildförmiger Authentizitätsbesorgtheit allerdings nicht zu erfahren, und das kunstvolle Umkippen von verdinglichter Sinneslust in blutleere Vanitas gerät, wie denn auch anders, seinerseits zum Augenschmaus.

Mit 'Shame' legt der von Turner Prize-prämierter Installationskunst her kommende britische Regisseur Steve McQueen einen Komplementärfilm zu seinem IRA-Gefängnis-Hungerstreikkreuzwegsschocker 'Hunger' aus dem Jahr 2008 vor. Auch 'Shame' bietet plansequente Dialoge in packender Länge, breitet tägliche Exerzitien einer anderen Art von Selbstmarterung aus, komponiert Aufbahrungsszenen mit schönen Bleichen als Pietà oder auf (Plakatsujet gewordenen) Laken, die hier, anders als in 'Hunger', nur im Sinn einer schamhaften Imagination befleckt sind. Als Unbeirrter, der seinen Weg geht (und abermals dauerläuft), beeindruckt nach seiner Rolle als IRA-Suizid-Mönch ein nach wie vor extrem drahtiger – und beim Filmfestival in Venedig ausgezeichneter – Michael Fassbender. Carey Mulligan als Sissy gibt – wie in 'Drive', dem anderen (sympathischeren) Existenzritual-Hipsterfilm der Saison – die attraktiv leidende Naive, die einen feschen Einzelgänger und Routinier aus der Bahn zu ziehen droht.

Putty Hill

(USA 2010, Regie: Matthew Porterfield)

Die Unschärfe überwinden
von Michael Schleeh

Irgendwo in den Vororten Baltimores, die von der Putty Hill Avenue zerschnitten werden, stirbt der vierundzwanzigjährige Cory an einer Überdosis Heroin. In einem leeren Haus, in dem sich nur alte …

Irgendwo in den Vororten Baltimores, die von der Putty Hill Avenue zerschnitten werden, stirbt der vierundzwanzigjährige Cory an einer Überdosis Heroin. In einem leeren Haus, in dem sich nur alte Zeitungen und ein Skateboard finden lassen. Ein Ort, der ein Niemandsland ist, dem jede Individualität abgeht. Wie Cory darin gelebt haben mag, einer, mit einer kaputten Biographie und einem Hang zur Selbstzerstörung, ist für niemanden vorstellbar. Corys Lebensumstände in den letzten Wochen verschwinden bereits in der Unschärfe der Vergangenheit. Und die Farben der Nacht sind nur noch verschwommen oszillierende Lichtpunkte, als Corys Schwester und ihre Freundin am Ende des Films von seinem letzten Aufenthaltsort davonfahren. Musik setzt ein.

„Putty Hill“ ist ein Independentfilm, der ansonsten völlig ohne Musik auskommt. Es ist ein fiktionaler Dokumentarfilm über die Hinterbliebenen eines Toten, seine Freunde und Angehörigen (gespielt von Laiendarstellern), die sich zu dessen Begräbnis einfinden. In langen Einstellungen werden mit Fragen aus dem Off Interviews geführt; die Schauplätze einer Jugend werden abgeschritten – der Skatepark, der Wald, die Badestelle am Fluss – um auf diese Weise einer Figur näher zu kommen, die anscheinend alle Personen des Films aus den Augen verloren haben. Um dieses Bild von ihm wieder scharf zu kriegen, oder zumindest: schärfer.

Im Gegensatz zu Porterfields früherem Film „Hamilton“ (2006), der in ruhigen, manchmal überlangen Einstellungen von einer jungen Familie und deren alltäglichen Verrichtungen und üblichen Spannungen zwischen den Personen an zwei Sommertagen in einem ruralen Vorort von Baltimore erzählt, ist „Putty Hill“ schneller geschnitten, abwechslungs- und facettenreicher. Durch die Gespräche mit einer Vielzahl an Personen aus den unterschiedlichsten Bezugsräumen ergibt sich sukzessive die spannende Konkretisierung eines Charakters, der sich bis dahin in seinen Unschärfen verlor. Jedoch gelingt es nie, die Persönlichkeit Corys eindeutig zu erfassen; Die Konturen bleiben diffus – wie seine Lebensumstände. So fallen die Aussagen der Interviewten zumeist auf sie selbst zurück und formen derart ein Panorama der Umgebung, ein soziales Koordinatensystem, das sich – auch in Bezug auf die Orte der Interviews – auf einer Straßenkarte abschreiten ließe: Film als soziale Landkarte.

„Putty Hill“ erzählt von einer Leerstelle, die als Gravitationspunkt des Films zum Zentrum der Protagonisten wird. Aus der Peripherie kommen sie zum Begräbnis zusammen, die Freunde und Kumpels, die zerbrochenen Familien ohne Vaterfiguren und berichten von einem Jungen namens Cory, der nur noch als fragmentarische Erinnerung auftaucht. Wenn also schließlich die Musik aus ist und das Bier alle, dann wird sich diese Gemeinschaft wieder in alle Winde zerstreuen, in ihre eigenen Leben und in ein trostloses Amerika hinaus, das den american dream schon längst ausgeträumt hat.

„Putty Hill“ ist bei Revolver / Filmgalerie 451 als DVD erschienen und bietet neben dem Hauptfilm noch das Debut „Hamilton“ (2006, 65 min). Der Film ist im Originalton und hat ausgezeichnete zuschaltbare deutsche Untertitel.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Viva Riva

(KON / F / BEL 2010, Regie: Djo Tunda wa Munga)

Gangsterballade aus Kinshasa
von Harald Mühlbeyer

Kriminalität und das große Geld, Partys und schöne Frauen, Sex und Gier, Rache und Gewalt, der Antagonismus zwischen einem kleinen Überlebenskünstler und dem Großgangster, die Begehrenswerte, die zwischen ihnen steht, …

Kriminalität und das große Geld, Partys und schöne Frauen, Sex und Gier, Rache und Gewalt, der Antagonismus zwischen einem kleinen Überlebenskünstler und dem Großgangster, die Begehrenswerte, die zwischen ihnen steht, die Gangster im Hintergrund und die Soldateska als korrupte Ordnungsmacht: daraus braut Regisseur Djo Tunda wa Munga sein fiebriges, spannendes Stück aus dem Tollhaus Kinshasa, einen afrikanischen Gangsterfilm, der so schön straightes Genrekino ist, dass sich ein wie auch immer gearteter ethnographischer Afrikakennenlern-Folkloreblick von außen grundsätzlich verbietet.

Eine Bande Angolaner durchkämmt ganz Kinshasa nach der Titelfigur Riva, der ihnen eine große Ladung wertvolles Benzin geklaut hat – Treibstoff ist teuer und wird auf dem Schwarzmarkt zu Höchstpreisen gehandelt. Riva wiederum hat sich mit dem Lokalgangster angelegt, dessen Freundin Nora er heftig begehrt. Es folgt ein Reigen von Gewalttaten, von Einschüchterungen, Erpressungen, von Verrat, auch von Begehren, Sex, Liebe: ein lupenreiner Gangsterfilm mit blutigem Finale, mit Schießereien in labyrinthischen Mauern und explosivem Zank um das kostbare Nass für den Tank.

Da geht es immer schön zur Sache, das macht den Film spannend. Das männlich-dominante Verbrechergehabe haben die Figuren sowieso drauf, und der elegante Gangsterboss in weißem Anzug und mit Spitzbart, der hat echt Stil. Wie er gekonnt Leute foltern lässt, über Leichen geht, um an Riva ranzukommen … Gottseidank hat’s (fast) jeder verdient. Den weißen Gangster kann man sich übrigens auch von Snoop Dogg gespielt vorstellen; Riva von einem frechen, hallodrihaften Will Smith.

Der Schnee am Kilimandscharo

(F 2011, Regie: Robert Guédiguian )

Solidarität und Menschlichkeit
von Wolfgang Nierlin

Als handle es sich um eine Lotterie, zieht der Gewerkschaftsvertreter Michel Marteron (Jean-Pierre Darroussin) im Auftrag der Betriebsleitung die Zettel mit den Namen derjenigen Hafenarbeiter aus einer Kiste, die entlassen …

Als handle es sich um eine Lotterie, zieht der Gewerkschaftsvertreter Michel Marteron (Jean-Pierre Darroussin) im Auftrag der Betriebsleitung die Zettel mit den Namen derjenigen Hafenarbeiter aus einer Kiste, die entlassen werden sollen. Zur Rettung der Marseiller Werft sei dies unvermeidlich; und weil man in der französischen Gewerkschaft CGT noch an die unzeitgemäß gewordenen Ideale von Gleichheit und Solidarität glaubt, delegiert man das individuelle Schicksal ohne Ansehung der Person an den Zufall. Dass es dabei den Gewerkschafter selbst trifft, darf man durchaus als Ironie verstehen. Beim jungen Christophe (Grégoire Leprince-Ringuet), der bald darauf zum Antipoden Michels wird, markiert die soziale Not allerdings einen entscheidenden Unterschied.

In Robert Guédiguians neuem Film „Der Schnee am Kilimandscharo“ prallen diese zwei Perspektiven aufeinander und treiben einen Keil ins scheinbar sicher gefügte Zusammengehörigkeitsgefühl der Arbeiterschaft. Während der arbeitslose Michel von seiner Familie, einer intakten sozialen Gemeinschaft und nicht zuletzt durch wirtschaftliche Rücklagen aufgefangen wird, ist Christophe auf sich allein gestellt. Er muss seine zwei kleinen Brüder versorgen und hat kein Geld. Also wird er zum Dieb; und sein Opfer ist ausgerechnet Michel.

Guédiguian nutzt die sich daraus ergebenden Gewissenskonflikte für eine Ausdifferenzierung des sozialen Bewusstseins. Plötzlich sieht sich der alte Klassenkämpfer in Selbstzweifel verstrickt und empfindet sich als Bourgeois, während Christophe zum anklagenden Anwalt der Unterdrückten wird. Raffiniert und detailgenau entwickelt Guédiguian einen komplexen Konflikt und bleibt dabei als bekennender Linker auf fast märchenhafte Weise seinen alten Idealen treu, indem er ebenso versähnlich wie humorvoll den menschlichen Zusammenhalt der Arbeiterklasse, ihre Hilfsbereitschaft und Milieutreue beschwört.

American Gangster

(USA 2007, Regie: Ridley Scott)

Gelobt sei, was Geld bringt
von Oliver Nöding

Nach dem Tod seines Arbeitgebers und Mentors, des Gangsters Bumpy Johnson (Clarence Williams III), schwingt sich Frank Lucas (Denzel Washington) mit marktwirtschaftlicher Geschäftsphilosophie und strengem Arbeitsethos zum Drogenzar in New …

Nach dem Tod seines Arbeitgebers und Mentors, des Gangsters Bumpy Johnson (Clarence Williams III), schwingt sich Frank Lucas (Denzel Washington) mit marktwirtschaftlicher Geschäftsphilosophie und strengem Arbeitsethos zum Drogenzar in New York auf. Wie ein Großhändler schaltet er Gewinn mindernde Mittelmänner aus, indem er sein Heroin direkt vom Hersteller in Kambodscha kauft und so Topqualität zu Spottpreisen anbieten kann. Damit stürzt er nicht nur Harlem – und damit vor allem „seine“ Leute – in die Drogensucht, er erzürnt auch das organisierte Verbrechen und natürlich die Polizei. Detective Richie Roberts (Russell Crowe), selbst ein besessener Vertreter seiner Sache, der zu zweifelhaftem Ruhm gelangt, als er eine Million Dollar beschlagnahmt und einreicht, anstatt sie in die eigene Tasche zu stecken, beginnt mit einer kleinen Spezialeinheit gegen Lucas zu ermitteln …

Ridley Scott wird weniger als großer Visionär als vielmehr als cleverer Projektmanager in die Filmgeschichte eingehen. Ohne große Inspiration, aber mit unleugbarem visuellem Gespür fertigt er in regelmäßigen Abständen seine filmischen Großprojekte und hat es so geschafft, vielerorts als „Meisterregisseur“ bezeichnet zu werden. So ist dann auch in 'American Gangster' schnell klar, was ihn an Lucas’ Geschichte fasziniert hat: Den Schwerverbrecher zeichnet er als Vorläufer des heutigen „Global Players“, dessen Legitimation einzig die erwirtschafteten Gewinne sind. Wenn Bumpy Johnson zu Beginn – wir schreiben die späten Sechzigerjahre – das Aussterben des Einzelhandels beklagt, ist die Anspielung auf gegenwärtige Zustände nicht zu übersehen, genauso wenig wie der Einfluss Lucas’schen Geschäftsgebarens etwa auf die Popkultur: 'American Gangster' ist vor allem in der Hip-Hop-Landschaft begeistert aufgenommen worden, die ja ebenfalls von einer kapitalistischen Lebensphilosophie geprägt ist, aber letztlich immer dem Ziel verpflichtet, das Ghetto hinter sich zu lassen, die eigenen Leute mit einem gewissen Maß an Wohlstand auszustatten. Jay-Z hat sich von Scotts Film zu einem Konzeptalbum gleichen Titels inspirieren lassen, zahlreiche Mixtapes werden mit einem vom Filmplakat inspirierten Artwork versehen, die Parallelen zwischen Rapper und Drogendealer herausgestellt. Die Parallelen sind in Scotts Film tatsächlich eindeutig: Wenn Lucas mit dem selbst verdienten Vermögen seine ganze Sippe aus dem ruralen North Carolina in eine Luxusvilla in New York verfrachtet und seine Brüder und Cousins in sein Geschäft integriert, sie zu Teilhabern macht, fühlt man sich nicht zu Unrecht an zahlreiche Rapper erinnert, die ihre Homies bei ihren Plattenfirmen unterbringen und so an ihrem Erfolg teilhaben lassen konnten. Ridley Scott selbst scheint sich dieser Parallele nicht nur bewusst gewesen zu sein, sie wird ihm zum Marketingschachzug: Zahlreiche populäre Rapper treten in Nebenrollen auf, von RZA über Common bis hin zu T. I. geben sie sich die Klinke in die Hand und machen 'American Gangster' zum filmischen Manifest des Hustles. Das macht Scotts Film aber ideologisch hochgradig fragwürdig: Der Mörder wird hier zum Wohltäter mit kleinen Schwächen verharmlost, der sich reinwäscht, indem er die korrupten Bullen – die eigentlichen Schurken (hallo, Paranoia!) – in den Bau bringt. „Geld stinkt nicht“: Von diesem Diktum kann sich 'American Gangster' nur halbherzig distanzieren.

Leider stellt Scotts eigener protestantischer Arbeitseifer dem durchschlagenden Erfolg seines Films auch formal ein Bein. Die strenge Zweiteilung des Films, die ihn zur Hälfte zum Gangster-, zur anderen zum Copfilm macht, legt 'American Gangster' von Anfang an in Ketten. Der Aufstieg Lucas‘ wird ebenso mit den tausendfach gesehenen Plotversatzstücken (erster Erfolg, die entscheidende Geschäftsidee, der langsame Kontrollverlust, die Entfremdung von den eigenen Wurzeln) abgehandelt wie Roberts’ Jagd auf das Phantom (Ärger mit den eigenen Leuten, der verständnisvolle Chef, Verlust des Partners, Probleme mit der Familie). So kommt der Film nie über die erneute Bestätigung des längst Bekannten hinaus: Das Verbrechen muss irgendwann gesühnt werden, der Polizist ist das Spiegelbild des Gangsters, der Besessene genießt nur ein kurzes weltliches Glück. Man hat nach den 160 Minuten 'American Gangster' das Gefühl, viel Aufbau um einen moralisch angefaulten Kern und nur wenig Payoff bekommen zu haben. Scott erzählt zwei Geschichten und hat am Ende einen halben Film. Das ist auch nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten zu wenig.

Dieser Text erschien zuerst in: Remember it for later

Highlander – Es kann nur einen geben

(GB / USA 1986, Regie: Russell Mulcahy)

Lebenslänglich
von Oliver Nöding

Die Unsterblichkeit bedeutet für Connor MacLeod (Christopher Lambert) eine ewige Gegenwart aller Erinnerungen. Sie werden von gegenwärtigen Eindrücken und Wahrnehmungen ausgelöst und überlagern das Jetzt, das dadurch mehr und mehr …

Die Unsterblichkeit bedeutet für Connor MacLeod (Christopher Lambert) eine ewige Gegenwart aller Erinnerungen. Sie werden von gegenwärtigen Eindrücken und Wahrnehmungen ausgelöst und überlagern das Jetzt, das dadurch mehr und mehr den Charakter einer Collage bekommt, keine eigene Bedeutung mehr besitzt, sondern nur noch als Referenzraum funktioniert. Zeit ist für den Highlander ins Unermessliche gedehnt: Nicht nur, weil er die Ewigkeit besitzt, sondern auch, weil unter dieser Last noch der kleinste Sekundenbruchteil mit der Fülle der Jahrhunderte aufgeladen wird. Alle Empfindung wird gesteigert: Das Gefühl, das sich bei der Erkenntnis der Unsterblichkeit einstellt, bezeichnet MacLeods Lehrer Ramirez (Sean Connery) als „the quickening“ – ein unbeschreiblicher Rausch. Das bedeutet aber auch, dass der Schmerz des Verlustes unvergänglich ist: Den mehrere Jahrhunderte zurückliegenden Tod seiner Frau betrauert MacLeod noch immer. Da ist auch das Gefühl der Schuld gegenüber denen, die er zurücklassen muss, ohne dass ihr Verlust sichtbare Spuren bei ihm hinterlassen würde. MacLeod ist äußerlich immer derselbe: Doch an seiner Seele nagt der Schmerz vieler Leben. Aus dieser Erfahrung hat er die Konsequenzen gezogen: Zwischenmenschliche Kontakte sucht er nicht mehr, er meidet sie, um nicht verletzt zu werden. Seine gegenwärtige Inkarnation Russell Edwin Nash beschäftigt sich daher auch lieber mit toten Gegenständen, mit Antiquitäten, anstatt mit Menschen. Doch welchen Sinn hat sein Leben dann noch?

Seinerzeit war 'Highlander' kein allzu großer Erfolg beschieden, erst über die Verwertung auf Video und im Fernsehen wurde Mulcahys Film rückwirkend als ein sein Jahrzehnt definierender Film erkannt. Diese Einschätzung gründete sich vor allem auf der visuellen Gestaltung des Films, der sich einer kunstvollen Kameraarbeit, ebensolchen Set Designs, nichts dem Zufall überlassenden Bildkompositionen und eines sehr augenfälligen und trickreichen Schnitts bedient, um die Verschmelzung der Zeitebenen und die ständige Präsenz der Vergangenheit für den Zuschauer erfahrbar zu machen. Gegenüber diesem Gestaltungswillen fällt das erzählerische Element jedoch zurück: Die Handlung wird nur rudimentär entwickelt und mit zunehmender Laufzeit fällt diese Diskrepanz immer stärker ins Gewicht. Plotholes, Ungereimtheiten und Unzulänglichkeiten säumen den Weg des Films, der immer dann in seinem Element ist, wenn er mit ausschweifendem Pinselstrich seine großformatigen Bilder malt. Dies hat auch dazu geführt, dass 'Highlander' in den vergangenen Jahren wieder verstärkt kritisiert, ja ihm sein einst zugestandener Klassikerstatus aberkannt wurde. Von einem sehr klassischen Rezeptionsstandpunkt aus betrachtet, ist diese Kritik nachvollziehbar und berechtigt. Andererseits ist diese Perspektive nicht besonders gut dazu geeignet, 'Highlander' zu erfassen. Mulcahys Film lässt sich am ehesten emotional begreifen, als eine Art Stimmungsbild. Als solches spiegelt er unverkennbar seine Zeit wieder, bietet Bilder und Perspektiven, die ein Verständnis der conditio humana im vorletzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ermöglichen.

MacLeod ist nämlich – aller mittelalterlichen Wurzeln zum Trotz – ein typischer Mensch der Achtzigerjahre: Die mit wertvollen Antiquitäten vollgestellte Designerwohnung ist ein Mausoleum; zwischenmenschliche Beziehungen sind ganz dem Zweck unterworfen, Langeweile, eine Enthobenheit von den Dingen hat MacLeod ereilt. „The gathering“ steht bevor, der Tag, an dem sich das Schicksal der Unsterblichen entscheiden soll, der Tag, an dem nur einer von ihnen übrig bleibt und mit einer unvorstellbaren Macht ausgestattet wird: Aber auch diese Aussicht reißt den Highlander kaum aus der Lethargie und Melancholie, die ihn gefangen hält und im berühmten Silberblick Lamberts auch für den Zuschauer sichtbar ist. Auch Mulcahys Film selbst erstarrt fast in seinen Tableaus, Bildern und Effekten. 'Highlander' ist ein minutiös geplantes Spektakel, aus dem alles Leben herausgesogen und durch bloße Bewegung ersetzt wurde. Ein faszinierendes ästhetisches Erlebnis und von einer nur schwer greifbaren Traurigkeit erfüllt.

Dieser Text erschien zuerst in: Remember it for later

Nixon

(USA 1995, Regie: Oliver Stone)

Tricky Dick geht nach Washington
von Oliver Nöding

„Jeder ist politisch.“ Das ist einer der (hier frei zitierten) Schlüsselsätze aus Oliver Stones zweitem „Präsidentenfilm“ nach 'JFK'. Ausgesprochen wird er von Richard Nixon (Anthony Hopkins) als Entgegnung auf seine …

„Jeder ist politisch.“ Das ist einer der (hier frei zitierten) Schlüsselsätze aus Oliver Stones zweitem „Präsidentenfilm“ nach 'JFK'. Ausgesprochen wird er von Richard Nixon (Anthony Hopkins) als Entgegnung auf seine Ehefrau Pat (Joan Allen), die nach der Wahlniederlage ihres Gatten in der Präsidentschaftswahl gegen John F. Kennedy genug vom Politgeschäft hat – noch mehr aber von den Selbstzerfleischungen ihres Ehemannes, die unweigerlich auf jeden Rückschlag folgen. Die Aussage, alles sei politisch, ist nun keine Erfindung Stones, sie gehört vielmehr zu den Allgemeinplätzen politischer Diskussion und will meist sagen: Alles, was wir tun, hat weitreichende Konsequenzen. Wer diesen Satz in aufklärerischer Manier äußert, will den Gegenüber an seine staatsbürgerliche Verantwortung in der Demokratie erinnern, ihn zu reflektiertem Handeln ermahnen. In Stones 'Nixon' wird dieser Satz nun bis zur äußersten Konsequenz gedacht: Der Mensch ist nicht nur auch dann politisch, wenn er es gar nicht sein will, er sich nicht darüber bewusst ist, politisch zu sein, er ist vielmehr mit jeder Faser ein Mitglied des Staates, auch mit jener, die er am liebsten verbergen möchte. Als Individuum ist jeder unentwirrbar an seine Herkunft, seinen Staat und damit auch an das politische Handeln gebunden. Der Staat als Konstrukt und der Mensch als dessen kleinster Bestandteil stehen zueinander in wechselseitiger Beziehung, sie befruchten sich ständig gegenseitig, ob sie das nun wollen oder nicht. Politisch zu sein, ist keine freiwillige Aktivität: Es ist eine dem Menschen eingeschriebene Eigenschaft, eine Eigenschaft die ihn grundlegend konstituiert. Nixon hat als Politiker – als Präsident der USA, als wichtigster Staatsmann der Welt also – gehandelt und Entscheidungen getroffen, politische Relevanz hat Nixon nach Stones Film aber vor allem aufgrund seines Wesens. Oder in den Worten seines Nixons: „Wenn ihr JFK anseht, seht ihr, was ihr gern wärt, seht ihr mich an, seht ihr, was ihr seid.“

Stones Nixon ist ein von Minderwertigkeitsgefühlen getriebener Wadenbeißer. Ein Mann aus einfachen Verhältnissen, erzogen in einer streng religiösen Familie, früh mit einem Schuldkomplex beladen und sich immer der Tatsache bewusst, nur zweitklassig zu sein und somit für jeden Erfolg doppelt so hart arbeiten zu müssen. Dass er es dennoch zum Präsidenten gebracht hat, erfüllt ihn nicht mit Stolz, es ist ihm unangenehm – auch weil dafür der Tod seiner Mitkonkurrenten nötig war: Erst starben seine beiden Brüder an TBC, dann wurden sowohl John F. Kennedy als auch dessen Bruder Bobby ermordet. Und diese Komplexe beeinflussen auch seine Entscheidungen. Die Liebe der Massen ist es, die er sucht und die sein gesamtes Handeln bestimmt, die er jedoch nie bekommt, egal, was er tut. Je stärker sein Drängen wird, umso härter trifft ihn die Ablehnung. Während sein großer Konkurrent John F. Kennedy das Glück hatte, dass jede seiner Entscheidungen im Glanze seines Ansehens erstrahlen konnte, mithin auch seine Fehler noch den Anschein von Heldentaten hatten, musste Nixon stets damit leben, dass seine Entscheidungen von seiner unpopulären Erscheinung überschattet wurde. Das hat sich bis heute nicht geändert: Erinnern wird man sich an ihn nicht etwa, weil er erste Schritte hin zu einer Entspannung des Kalten Krieges machte, sondern weil er untrennbar mit dem Watergate-Skandal verbunden ist. „Tricky Dick“ ist der große Verräter im Weißen Haus, der Schurke Shakespeare‘schen Ausmaßes. Stone versucht auch, diesem Schurken die Menschlichkeit zurückzugeben: Tatsächlich ist Hopkins’ Nixon ein mitleiderregender Charakter, der noch nicht einmal von seinen eigenen Untergebenen Respekt bekommt, ein tragischer Held, ein Clown, der einen aussichtslosen Kampf mit sich selbst führt.

Aber es geht Oliver Stone in 'Nixon' nicht allein darum, diesem Nixon, der die USA in die größte Verfassungskrise seiner Geschichte stürzte, die Absolution zu erteilen. Wie auch 'JFK' ist 'Nixon' hochgradig spekulativ und suggestiv; Stone stützt sich zwar auf Fakten und Zeitzeugenberichte, knüpft diese aber zu einer sich jeglicher Chronologie verweigernden Assoziationskette, die man nicht mit der Realität verwechseln sollte. Unzweifelhaft bleibt nach Betrachtung seines in jeder Hinsicht beeindruckenden und buchstäblich überwältigenden Films, der in der letzten halben Stunde von seiner eigenen Komplexität vollkommen zerrissen wird und haarscharf am Rande des Scheiterns wandelt, aber die Erkenntnis, dass der Anstoß für jegliches politisches Wirken nicht im Individuum allein zu suchen ist. Auch der mächtigste Mann der Welt ist nicht die erste Ursache, sondern vor allen Dingen Wirkung. Er ist nur der Repräsentant dessen, was ist, ein Vertreter eines unbeherrschbaren, unberechenbaren Systems, das in einer schönen Sequenz als wildes, unzähmbares Tier beschrieben wird. Es konnte, so Stone, damals keinen anderen Präsidenten geben als Nixon. Die USA brauchten ihn, den Schurken. Nixon ist ebenso sehr Opfer seiner eigenen Disposition wie der seines Landes, ein Mann der all die Widersprüche in sich vereinte, die die USA zu zerreißen drohten; ein Mann, der diesen Widersprüchen eine Gestalt gab und sie somit bannte: ein Monster, dem ursprünglichen Wortsinn nach. Somit hallen in 'Nixon' auch die Worte wider, die Stone rund zehn Jahre zuvor in seinem Drehbuch zu De Palmas 'Scarface' Tony Montana in den Mund legte: „You need people like me. You need people like me so you can point your fuckin’ fingers and say, ,That’s the bad guy.’” Die Nation bekommt immer den Präsidenten, den sie verdient: So konnte dann auch ein halbes Jahrzehnt später mit Ronald Reagan ein ehemaliger Westernheld ins Weiße Haus einziehen, um der Nation das verlorene Selbstbewusstsein zurückzugeben. Dass dessen Politik des Kalten Krieges und der Aufrüstung weit hinter die des verhassten Nixons zurückfiel, tat seinem Erfolg keinen Abbruch.

Dieser Text erschien zuerst in: Remember it for later

Cruising

(USA 1980, Regie: William Friedkin)

Coming Out
von Oliver Nöding

Ein Serienmörder geht in der homosexuellen Lederszene New Yorks um. Der heterosexuelle Polizist Steve Burns (Al Pacino), der äußerlich ins Beuteschema des Killers passt, wird als Undercover-Cop in die Szene …

Ein Serienmörder geht in der homosexuellen Lederszene New Yorks um. Der heterosexuelle Polizist Steve Burns (Al Pacino), der äußerlich ins Beuteschema des Killers passt, wird als Undercover-Cop in die Szene eingeschleust, um als Köder für den Mörder zu fungieren. Doch statt mit diesem wird er mit seinen eigenen Abgründen konfrontiert …

Es ist nahezu unmöglich, über 'Cruising' zu sprechen, ohne auf seine problematische Entstehungsgeschichte zu verweisen. Friedkins Film zog schon während der Dreharbeiten den Zorn der Gay-Rights-Bewegung auf sich, die ihm Schwulenfeindlichkeit unterstellten, und in der New Yorker Zeitung Village Voice wurde offen zur Sabotage der Dreharbeiten aufgerufen; ein Aufruf, dem viele Homosexuelle bereitwillig folgten und die Drehorte im Meatpacking District im Westen Manhattans unter anderem mit lauter Musik beschallten, um Friedkin bei der Arbeit zu stören. (Dieser Artikel – ironischerweise aus derselben Zeitung – beschäftigt sich anlässlich der DVD-Veröffentlichung von 'Cruising' mit der damaligen Protestbewegung und ihren Auswirkungen.) Damit endeten die Probleme für Friedkin aber noch lange nicht: Sein Film erhielt das gefürchtete X-Rating, das ihn als Pornografie stempelte. Mehrere Schnitte und Kürzungen von rund 40 Minuten waren nötig, um doch noch das R-Rating zu erhalten, das letztlich aber auch nicht verhindern konnte, dass 'Cruising' sowohl an den Kinokassen als auch bei den Kritikern durchfiel. Seine Rehabilitation erfuhr der Film erst in den Neunzigerjahren, in denen es durch das veränderte öffentliche Klima möglich wurde, den Film auf der einen Seite als Zeitzeugnis und als Fenster in eine Welt vor Aids zu betrachten und ihn gleichzeitig auch von der porträtierten Szene losgelöst zu betrachten. Die Kenntnis von Friedkins Werk und seinen Methoden hilft ungemein, 'Cruising' zu verstehen oder besser: sich einem Verständnis anzunähern. Denn eines ist klar: 'Cruising' ist ein schwieriger Film.

Schon mit seinem großen Durchbruch 'French Connection' 1971 etablierte sich Friedkin als provokanter und innovativer Filmemacher. Für diesen griff er auf einen semidokumentarischen Stil zurück und lieferte so die Blaupause für die heute endgültig im Mainstream angekommenen filmischen Authentifizierungsstrategien. Gleichzeitig zwang er sein Publikum, sich mit einem rassistischen Zyniker zu identifizieren und die Welt durch dessen Augen zu betrachten, ohne seine Weltsicht gleichzeitig zu relativieren. In seinem Welterfolg 'Der Exorzist' schließlich manipulierte Friedkin die Zuschauer mittels Einsatz subliminaler Bilder und löste so ihre für gewöhnlich passive Beobachterrolle auf, öffnete den Zuschauer unbemerkt für den Dämon, der auch von seiner Protagonistin Regan Besitz ergriffen hatte. Das ist programmatisch: Man kann sich als Zuschauer in einem Friedkin-Film niemals bequem zurücklehnen, weil sie volle Teilnahme fordern. Zuschauer- und Filmraum sind nicht länger voneinander getrennt, vielmehr entfaltet sich der Film dialektisch im Raum zwischen diesen beiden.

So auch 'Cruising', der – auch wenn Friedkin im Audiokommentar versichert, die Szenen in den Lederbars der homosexuellen S&M-Szene nicht gestellt, sondern deren feiernde Stammkundschaft einfach nur „abgefilmt“ zu haben – mitnichten einen neutralen, quasidokumentarischen Blick auf die Lederszene wirft, sondern diese in einer für den Zuschauer höchst konfrontativen Weise in Szene setzt, die die beherrschenden Themen des Films, Verführung und Gewalt, widerspiegelt. Die Bilder vom orgiastischen Treiben in den verschwitzten Bars, von Menschenaufläufen in nächtlichen Parks und an Straßenecken, von Blicken voller Lust und Begierde und einem offenen Umgang mit Sex werden kontrastiert von den drastischen Mordszenen, dem aggressiv ausgestellten männlichen Körperkult und den autoritären Insignien des Sadomasochismus, die seine Anhänger zur Schau stellen, aber auch vom Hass, der ihnen etwa von Seiten der Polizei entgegenschlägt. 'Cruising' bewegt sich im pulsierenden Rhythmus von Anziehung und Abstoßung, den man als Zuschauer mitgeht, und man kommt kaum umhin, diesen Kontrast schon als prophetischen Boten der nur wenig später aufkeimenden Krankheit zu betrachten. Doch mehr als ein Film über die schwule Lederszene der ausgehenden Siebzigerjahre scheint 'Cruising' ein Film über das ambivalente Selbstbild des postmodernen Mannes zu sein, der zwischen dem Ideal des virilen Kämpfers, dem er nicht mehr entsprechen kann, und seiner femininen Seite, die er nicht zeigen darf, hin und hergerissen ist und darüber in eine tiefe Identitätskrise fällt. Ihren deutlichsten Ausdruck findet diese Erkenntnis wohl im Bild eines mit einer verspiegelten Sonnenbrille verdeckten Gesichts: Der Blick ist nicht mehr vom Erblicktwerden zu trennen, Subjekt und Objekt verschmelzen zu einem, man sucht das Andere und findet immer nur sich selbst.

Schon Burns’ Reaktion auf die überaus direkte (und eine ziemlich deutliche Sprache bezüglich der Haltung gegenüber Homosexuellen sprechenden) Frage, ob er schonmal einen „Schwanz gelutscht“ habe, die ihm sein Vorgesetzter (Paul Sorvino) zu Beginn des Films stellt, lässt seine Selbstzweifel erkennen: Statt eines eindeutigen „Ja“ oder „Nein“ gibt es ein verschämt-überspielendes Lachen, ein unruhiges Auf-dem-Stuhl-Rutschen und eine ausweichende Antwort. Später geht Burns an seinem allerersten Tag als Undercover-Polizist geradezu enthusiastisch mit seinem homosexuellen Nachbarn Ted (Don Scardino) in ein Café, während die seltener werdenden Besuche bei seiner Freundin Nancy (Karen Allen) seltsam belastet scheinen. In einer späteren Sexszene mit ihr nimmt Burns sie rabiat und ohne sie anzusehen, seine schüchternen ersten Tanzbewegungen in einem Schwulenclub weichen nach kürzester Zeit einem aggressiv-dominanten Habitus und wie selbstverständlich hüllt sich Burns in Lederjacke und -armbänder: Man hat nicht den Eindruck, er verkleide sich bloß. Und nachdem er sich in einem Fetischladen über die Bedeutung verschiedenfarbiger Einstecktücher erkundigt hat, sieht man ihn später mit einem gelben Tuch als Natursektliebhaber ausgezeichnet: Hier legt jemand mehr als nur leichte Neugier an den Tag.

In der ungewöhnlichen Auflösung des Krimiplots geht Friedkin noch einen Schritt weiter: Der Mörder, den er während der ersten Hälfte seines Films noch mehrfach bei der Ausübung seiner Taten zeigt, verschwindet in der zweiten völlig aus dem Film. Der verdächtige Student Stuart (Richard Cox), den Burns stattdessen zu beobachten und zu verfolgen beginnt, ist nicht der Mörder aus diesen Szenen. Der Zuschauer weiß, dass Stuart unschuldig ist und lediglich deshalb aggressiv auf Burns reagiert, weil er sich selbst von diesem bedroht sieht. Und Burns macht es sichtbar Spaß, seine Machtposition gegenüber dem verängstigten Studenten auszuspielen. Hatte er vorher, nachdem seine Kollegen einen anderen Verdächtigen auf Grundlage kaum stichhaltiger Indizien gedemütigt und misshandelt hatten, seinem Chef gegenüber noch sein Entsetzen über die offen zur Schau getragene Schwulenfeindlichkeit ausgedrückt, fällt er nun selbst in die Rolle des sadistischen Bestrafers. Und wer ist der Mörder an Burns’ Nachbar Ted, der am Ende tot in seiner Wohnung aufgefunden wird? In der ursprünglichen Schnittfassung waren angeblich Hinweise darauf enthalten, dass Burns während seiner Armyzeit gewalttätig gegenüber Homosexuellen geworden war, die die Lesart, dass Burns ein zwischen den Polen Homosexualität und Homophobie Hin- und Hergerissener ist, stützen. Das Ende, das einen ermatteten Burns zeigt, der voller Selbstzweifel in den Spiegel blickt, während seine Freundin sich in seine abgelegte Lederuniform hüllt, lässt eigentlich keinen anderen Schluss zu.

'Cruising' ist – so viel ist aus diesem Text hoffentlich hervorgegangen – ein rätselhafter, unheimlicher und beunruhigender, in seiner überbordenden Körperlichkeit gleichzeitig aber auch ein erschreckend schöner Film. Gegen die Vorwürfe, die vor rund 30 Jahren gegen ihn erhoben wurden, lässt sich zwar argumentieren, aber gänzlich verwerfen lassen sie sich nicht, weil Friedkin die vorherrschenden Ressentiments gegen Homosexuelle wenn auch nicht bedient, so doch für seinen Film nutzt. Das rauschhafte Treiben, das er zeigt, hat eine durchaus zersetzerische Note: Diese Welt scheint den Werten, auf denen die westlichen Zivilisationen aufgebaut sind, diametral gegenüberzustehen, maßvolle Beschränkung und keusche Enthaltsamkeit weichen dem selbstzerstörerischen Exzess. 'Cruising' fordert mündige, mutige Zuschauer, die sich Friedkins Provokationen stellen, anstatt sich ihnen zu verschließen. Dafür sind wohl auch anno 2010 nur die wenigsten bereit. Die Welt von 'Cruising' ist mit Aids untergegangen, aber der Film hat seine Relevanz noch lange nicht verloren.

Dieser Text erschien zuerst in: Remember it for later

The Fall

(GB / IN 2006, Regie: Tarsem Singh)

Dichtung und Wahrheit
von Oliver Nöding

In einem Krankenhaus im Los Angeles der Zwanzigerjahre entwickelt sich eine Freundschaft zwischen zwei denkbar ungleichen Patienten: der kleinen Alexandria (Catinca Utaru), die sich bei einem Sturz den Arm gebrochen …

In einem Krankenhaus im Los Angeles der Zwanzigerjahre entwickelt sich eine Freundschaft zwischen zwei denkbar ungleichen Patienten: der kleinen Alexandria (Catinca Utaru), die sich bei einem Sturz den Arm gebrochen hat, und dem Stuntman Roy Walker (Lee Pace), der sich wiederum bei einem selbstmörderischen Stunt schwere Verletzungen zugezogen hat. Während ihrer Besuche bei ihm erzählt er ihr die Geschichte vom Kampf einer illustren Schar von Banditen gegen den bösen Governor Odious, in die mehr und mehr autobiografische Details sowohl aus Roys als auch Alexandrias Leben einfließen. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion zerfließen zusehends …

Singhs Hollywood-Debüt 'The Cell' dürfte dem Regisseur rückblickend eher geschadet haben, wofür auch die lange Pause zwischen beiden Filmen spricht: Der Thriller um Jennifer Lopez wird gemeinhin mit dem „Style over Substance“-Vorwurf abgefertigt; zu Unrecht, lässt Singh doch gar keinen Zweifel daran, dass sein Interesse nicht dem hanebüchenen Krimiplot, sondern der Kreation einer morbiden Seelenlandschaft geht. Dennoch: Man sieht 'The Cell' seine Herkunft deutlich an, erkennt darin unzweifelhaft den Versuch des Hollywood-Systems, einen visionären Filmemacher in das Korsett typischen Blockbuster-Kinos zu pressen. Dass der Inder weitaus mehr kann, als atemberaubend schöne Bilder auf die Leinwand zu zaubern, belegt nun 'The Fall' sehr eindrucksvoll und darf zudem als Aufforderung an andere Filmemacher verstanden werden, für die eigenen Projekte zu kämpfen und sie auch unter widrigen Umständen zu verwirklichen, anstatt sich von Hollywood zum faulen Kompromiss zwingen zu lassen. 'The Fall' – gedreht über einen Zeitraum von vier Jahren in über 20 verschiedenen Ländern – feiert das Ritual des Geschichtenerzählens, zeigt, wie der Mensch sein Seelenheil in der Narration findet, wie er die Tristesse der Realität mit den Mitteln der Fantasie überwindet, seine irdische Existenz besser zu verstehen lernt, wenn er sie durch die Brille der Fiktion betrachtet.

Der wegen einer tragisch verlaufenen Liebesbeziehung suizidale Roy lernt im Verlauf seiner Geschichte und dem gemeinsamen kreativen Prozess der Dichtung mit Alexandria auch seinen Kummer zu verarbeiten und seine Krise zu überwinden. Singh weiß, dass zum Erzählen zwei gehören: Der aufmerksame und seinerseits fantasievolle Zuhörer ist genauso wichtig wie der Erzähler und im Idealfall ist das Ritual des Geschichtenerzählens ein wechselseitiger Prozess. Als Zuschauer lauschen wir der Stimme des Erzählers Roy, doch die Bilder, die wir sehen, entspringen der Vorstellungskraft der kleinen Alexandria, die sich so immer in das Ergebnis „einmischt“, Roy manchmal sogar zum Neuanfang oder zur Modifizierung zwingt, wenn ihr etwas nicht gefällt oder ihr ein Fehler, ein Plothole auffällt. Dass 'The Fall' visuell ein Gedicht ist, muss eigentlich nicht gesondert erwähnt werden. Doch der Stilwille, der hier zum Ausdruck kommt, ist nicht weniger als beeindruckend. 'The Fall' ist einer der schönsten Filme der vergangenen Jahre, reiht sich nahtlos ein in eine lange Ahnenreihe von „Erzählfilmen“ – und die Kritiker, die hier von „Inhaltsleere“ stammeln, haben wirklich rein gar nichts begriffen.

Dieser Text erschien zuerst in: Remember it for later