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Gnade

(D / NR 2012, Regie: Matthias Glasner)

Geteiltes Seelenleid
von Wolfgang Nierlin

Schnee, Eis und Kälte bestimmen das Leben während der langen Polarnächte im norwegischen Hammerfest, einer der nördlichsten Städte der Welt. Zwischen Mitte November und Mitte Januar herrscht daneben vor allem …

Schnee, Eis und Kälte bestimmen das Leben während der langen Polarnächte im norwegischen Hammerfest, einer der nördlichsten Städte der Welt. Zwischen Mitte November und Mitte Januar herrscht daneben vor allem Dunkelheit. Nur noch wenige Strahlen der Sonne illuminieren den Horizont der weiten, stillen Landschaft mit rötlichem Dämmerlicht. Ansonsten sind es die vielen Lichter der Stadt, die als helle Punkte in der nächtlichen Landschaft stehen. Gleich zu Beginn von Matthias Glasners Film „Gnade“ und auch später immer wieder fliegt die Kamera über diese großartige Natur mit ihren gewaltigen Panoramen, nähert sie sich den Menschen aus der Vogelperspektive. Klein und vergänglich wirken sie inmitten dieser Eiswüste, die als weißes Nichts Ewigkeitswert besitzt. In Glasners Film ist die Welt zunächst ein kalter Ort und ihre Natur eine Seelenlandschaft, die die vergletscherten Gefühle der Protagonisten widerspiegelt.

„Wir gehen weit weg – zusammen. Wir brauchen eine zweite Chance.“ Auf einer Splitscreen, nebeneinander und nacheinander sortieren die Mitglieder der dreiköpfigen Familie gegenüber unsichtbaren Fragern ihre Motive für den einschneidenden Ortswechsel. Doch auch neun Monate in Hammerfest, äußerlich bestens eingerichtet und adaptiert, haben an den verkrusteten Beziehungsstrukturen nichts geändert. Familienvater Niels (Jürgen Vogel) gibt sich aggressiv, ist reizbar und rammelt auf selbstverständlichste Weise mit Linda (Ane Dahl Torp), einer Arbeitskollegin aus der Gasverflüssigungsanlage. Er sagt: „Die Dunkelheit hängt mir zum Hals raus.“ Derweil betreut seine Frau Maria (Birgit Minichmayr) in der Hospiz-Abteilung eines Krankenhauses sterbende Patienten und singt in ihrer spärlich bemessenen Freizeit in einem Kirchenchor. Der gemeinsame Sohn Markus (Henry Stange) wiederum, ein stiller, introvertierter Junge, ringt mit mäßigem Erfolg um Anschluss und beginnt, das gestörte Familienleben mit einer Handy-Kamera heimlich aufzuzeichnen.

Doch diese äußeren Daten erfahren keine echte Vertiefung, sie liefern allenfalls das Spielmaterial für eine spiegelbildliche Bearbeitung der Themen Schuld und Vergebung, um die der Film in seinem weiteren Verlauf kreist, indem er jeden Protagonisten mehr oder weniger damit konfrontiert. Als die überarbeitete Maria auf nächtlicher Fahrt mit ihrem Auto eine 16-jährige Schülerin erfasst und daraufhin, von Ungewissheit, Angst und dunklen Ahnungen getrieben, Fahrerflucht begeht, macht sie sich schuldlos schuldig. Eine Verkettung ebenso unglücklicher wie zufälliger Umstände verleiht dem schicksalhaften Ereignis tragische Züge. Maria erscheint das eigene Handeln als fremd und unverständlich: „Ich bin nicht dieser Mensch.“ Als der Tod des Unfallopfers bekannt wird, ringt das Ehepaar um das richtige Tun, entscheidet sich schließlich für Schweigen und Verdrängung und macht sich darüber doppelt schuldig.

Gerade aus diesem geteilten Seelenleid erwächst eine neue emotionale Nähe und Verbundenheit der Ehepartner, die zum zentralen Ausgangspunkt für einen Läuterungsprozess wird. Matthias Glasner projiziert die inneren Vorgänge dieser Verwandlung, atmosphärisch verdichtet und von einer intensiven Darstellung getragen, auf die Tabula rasa der umgebenden Landschaft, bis mit dem Eis auch das Schweigen aufbricht. Daraus resultieren immer wieder eine bemerkenswerte Offenheit (in den Dialogen), stimmungsvolle „Seelenbilder“ und poetische Zäsuren aus flockigen Spuren des Lichts, in denen das Unhintergehbare einer begangenen Tat als unlösbarer Konflikt und existentielles Drama aufscheint.

Fraktus

(D 2012, Regie: Lars Jessen)

Affe sucht Liebe
von Wolfgang Nierlin

Der Spaßfaktor von Lars Jessens Fake-Doku „Fraktus“ ist hoch. Gleich zu Beginn des ziemlich lustigen Films beschwören reale Musiker-Veteranen wie Blixa Bargeld, Stephan Remmler von Trio oder auch Yello-Sänger Dieter …

Der Spaßfaktor von Lars Jessens Fake-Doku „Fraktus“ ist hoch. Gleich zu Beginn des ziemlich lustigen Films beschwören reale Musiker-Veteranen wie Blixa Bargeld, Stephan Remmler von Trio oder auch Yello-Sänger Dieter Meier in fingierten Zeitzeugen-Interviews den Mythos der einstigen Elektropop-Band Fraktus. Im eher altmodischen Stil einer Musikdokumentation, mit Kommentarstimme, gefaktem Archivmaterial und sehr ernst dreinblickenden Interviewpartnern wird dabei Musikgeschichte geschrieben. Doch die schräge, ausgerechnet in Brunsbüttel gegründete Band, die angeblich zwischen 1979 und 1983 wirkte, und ihre legendäre Musik sind fiktiv; und ihr vielgelobter Avantgardismus ist ein zeittypisches Amalgam aus analogem Synthie-Sound, selbstgebauten Instrumenten und Nonsens-Texten.

„Affe sucht Liebe“ lautet etwa der Titel eines jener zwischen Dada, Anarchie und Persiflage changierenden Lieder, die von der Hamburger Künstlergruppe Studio Braun für den Film geschrieben wurden. Dahinter verbergen sich bekanntlich ganz real Heinz Strunk, Rocko Schamoni und Jacques Palminger, die unter den Rollennamen Torsten Bage, „Dickie“ Schubert und Bernd Wand die Band Fraktus bilden. 25 Jahre nach deren Aufsehen erregendem Ende begibt sich der ehrgeizige Musikmanager Roger Dettner (Devid Striesow) mit einem kleinen Kamerateam auf Spurensuche nach den Techno-Vorreitern, um sie für ein Comeback zu reanimieren. Trotz zahlreicher Schwierigkeiten, Rückschläge und glatten Scheiterns gelingt das auch irgendwie. Doch das Erzählen tritt dabei auf der Stelle. Dafür konfrontiert Lars Jessen die ausgeprägt verschrobenen Individualisten immer wieder mit den erfolgs- und kommerzsüchtigen Produzenten des Musikgeschäfts. Mit satirischem Witz, kalauerndem Humor und deftiger Ironie entlarvt er deren wortreich-hohles Gebaren ebenso wie die ausufernde Reunion-Manie altgedienter Popstars.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Die Vermessung der Welt

(D / AT 2012, Regie: Detlev Buck)

Guckkastenkintopp
von Andreas Thomas

Liebe Leser! Wenn mich derzeit etwas wurmt, dann ist das der absolut hirnlose wie inflationäre Gebrauch des Adjektivs „emotional“ in Funk, Fernsehen und Medienwelt. Ein Abend im Restaurant, ein „Event“, …

Liebe Leser! Wenn mich derzeit etwas wurmt, dann ist das der absolut hirnlose wie inflationäre Gebrauch des Adjektivs „emotional“ in Funk, Fernsehen und Medienwelt. Ein Abend im Restaurant, ein „Event“, eine Kinovorstellung ist nach Meinung der Leutchen immer dann ein gelungenes, wenn es auch „emotional“ war! Würde man der Logik dieser neumodischen und neunmalklugen Emotionsjunkies folgen, dann müsste man auch das Dritte Reich als eine überaus gelungene Großveranstaltung bezeichnen, denn für Emotionen – da kann man ihm vorwerfen, was man will – hatte Herr Hitler eine Menge übrig, und er war durchaus daran interessiert, dass es keinen gab, der das nicht ganz persönlich und ganz emotional zu spüren bekam. Dass diese von Herrn Hitler kreierten Emotionen dann vom Großteil der Menschheit eher als negativ bewertet wurden: Geschenkt! Denn es geht ja wohl bei der Emotionsfrage um die Quantität und nicht um die Qualität, oder habe ich da was falsch verstanden, weil sich da andauernd wer falsch ausdrückt?

So viel zum aktuellen Sprachgebrauch. Aber was ist denn nun wirklich gemeint, wenn von „emotional“ die Rede ist? Die „Emotionalität“ eines Menschen wird z.B. immer dann besonders gewürdigt, wenn jemand Gefühle zeigen oder erwecken kann, Gefühle im Sinn von Rührung und Bewegt werden oder Bewegt sein. Vielleicht ist sogar emotionale Anteilnahme gemeint, um nicht zu sagen Empathie? Das wäre ja der Keim eines solidarischen, vielleicht gar politischen Bewusstseins. Bliebe zu hoffen. Ich fürchte nur, die allgemein favorisierten „emotionalen“ Gefühle gehen kaum über die künstliche Herstellung einer gewissen Heimeligkeit hinaus. Sie sind die Würze, mit der das Produkt leichter konsumierbar ist. Das Produkt kann dann auch wahlweise ein Arbeitsplatz sein, an dem man sich wohler fühlt, weil der Chef so „emotional“ ist.

Zum anderen heißt „Emotionalität“ wahrscheinlich nur das, was früher „Eskapismus“ hieß: Wir wollen nicht dauernd denken müssen, wir wollen nicht rational sein müssen, wir wollen, ein bisschen so wie Kinder, einfach nur erleben und fühlen dürfen, ohne Komplikationen, Konsequenzen und ohne Verantwortung. Für Eskapismus fühlt sich natürlich auch das Kino zuständig, und was kann eskapistischer sein als z.B. ein Film in 3D?

Detlev Bucks neuer Film ist in 3D gedreht und darin kann man eintauchen, wie in eine andere Realität, die nicht nur plastische Tiefe vorweist, sondern die auch mit sichtbar großem finanziellen Aufwand eine ganz andere Epoche, nämlich die der Aufklärung (sagen wir mal, um beim Emo-Jargon zu bleiben:) nachempfindet.

Detlev Buck war mal einer dieser hoffnungsvollen jungen Filmemacher, dessen Frühwerk originell war, weil es sich mit Themen beschäftigte, die der Regisseur aus eigener Anschauung kannte. Der erste, halbdokumentarische Langfilm Bucks „Erst die Arbeit und dann“ etwa beobachtet einen Jungbauern (Buck) aus der schleswig-holsteinschen Provinz bei den alltäglichen Arbeiten im Stall und dabei, wie er sich ausgehfertig macht, und dann mit dem väterlichen Mercedes nach Hamburg fährt, um sich zu vergnügen. Landluft trifft auf Pöseldorf. Urwüchsigkeit auf Oberfläche. Damals spürte man noch, dass Buck wusste, worüber er sprach. Eine Zeitlang wähnte man ihn auf den Pfaden eines norddeutschen Kaurismäki, denn seine wortkargen Figuren hatten viel von der Lakonie (und der darin verborgenen Abgeklärtheit) kaurismäkischer Helden. Leider gibt es seitdem kaum einen deutschen Regisseur, der es so geschickt vermag, die Spuren einer eigenen Handschrift nach und nach bis zur Auflösung zu verwischen. Mit anderen Worten: Jeder neue Buckfilm sieht einem alten Buckfilm noch unähnlicher als der letzte. Bucks trockener Witz scheint sich mittlerweile in seinen Werbespots für Flensburger Pils erschöpft zu haben und Buck selbst scheint der Meinung zu sein, dass des Profis Können, Handwerk und Technik wichtiger sind als seine persönlichen Themen und als ein persönlicher Stil. Deshalb kann er inzwischen Filme über alles drehen, über eine Liebesgeschichte im Zeitalter von Sextourismus und AIDS, über Jugendgewalt, ohne dass man merken würde, dass es ein Buck ist, und nun gar einen Historienfilm über zwei Koryphäen der Wissenschaften in der Zeit der Aufklärung, nämlich Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt.

Dass ausgerechnet Daniel Kehlmanns Bestseller „Die Vermessung der Welt“ die Vorlage eines neuen Buck-Films werden sollte, hat vermutlich einen Grund in den Leserzahlen des Romans, die auf ähnlich starke Besucherzahlen im Kino hoffen lassen. Klar sagt Buck, dass die beiden Typen Gauß und Humboldt ihn faszinieren, aber sicherlich ist der Film „Die Vermessung der Welt“ auch Produkt eines wirtschaftlichen Kalküls, ganz ähnlich, wie seinerzeit Tom Tykwers Verfilmung des Romans „Das Parfüm“ eines war.

Natürlich ist wiederum die ökonomisch kalkulierte zeitgenössische Art der Verfilmung einer wiederum auch zeitgenössischen Art von Historienroman Anschauungsmaterial dazu, wie hierzulande Geschichte rezipiert wird, bzw. wann oder wodurch Geschichte für das Publikum überhaupt noch interessant, bzw. schmackhaft, ist – sowohl in Romanform als auch im Kino.

Was den Roman betrifft, ist der Autor dieser Zeilen aus dem Schneider, denn er hat ihn nicht gelesen, also kann er sich den literarischen Teil betreffend (Kehlmann schrieb am Drehbuch mit) in Mutmaßungen ergehen, zum anderen kann er sich aufs konkrete Filmergebnis konzentrieren – und endlich den Schlenker zum Anfang machen und seine Behauptung wiederholen: Filme (ob das auch für Historienromane gilt, sei dahin gestellt) müssen heute „emotional“ sein, das heißt: wichtiger als irgendeine tiefere Aussage oder Bedeutung ist deren „sinnlicher“ Gehalt: Das Publikum will was erleben und eintauchen, und es ist eigentlich zweitrangig, ob Til Schweiger im Kugelhagel rumballert oder Carl Friedrich Gauß vom unhygienischen Hufschmied auf blutigste Weise einen Zahn ausgerissen bekommt. Ja, so war das damals eben – und heute ist es eben so in 3D! Dabei sein ist alles, wobei ist nebensächlich. Diese „Gefühlsbetonung“ macht den Film „Die Vermessung der Welt“ übrigens nicht gleich zum schlechten Film, ein wichtiges Merkmal ist sie trotzdem.

Die zwei Wissenschafts-Genies in 'Die Vermessung der Welt' leben ihre Leben unabhängig voneinander, der eine, der große Mathematiker Gauß, sitzt zuhause, denkt sich seinen Teil und, grob gesagt, „induziert“ vor sich hin, während der andere, Humboldt, die Welt durchstreift und vermisst und zählt und fleißig deduziert (nämlich vom Allgemeinen auf Einzelne – dass schon David Hume prinzipiell das Theorem der reinen Induktion widerlegt hat, geschenkt!). Die Bebilderung Gaußscher Forschungstätigkeit ist erwartungsgemäß eher eine einfarbige, weil das ausgehende 18. Jahrhundert und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts in den deutschen Städten (Braunschweig!) vorwiegend schlamm- bzw. kotfarben war und das deutsche Wetter ja, wie bekannt, traditionell depri-grau gehalten ist. Demgegenüber kann der Film, sobald er sich dem Abenteurer Humboldt zuwendet, farb- und emotionstechnisch mit dem Pfund Amazonas wuchern: Nicht nur schön grün, auch schön weit können die Landschaften dann in Ecuador (zweiter Drehort) sein, außerdem halten die dort ansässigen Kannibalen jede Menge Emotionen parat. Seine im wahrsten Sinne Schlaglichter hat der Film immer dann, wenn es mal zur Sache geht. Was bei Humboldt die Wildheit von Natur und Indianern, ist bei Gauß die preußische Zucht und Ordnung: Zur Strafe für eine genial gelöste Rechenaufgabe gibt es erst einmal 10 Schläge mit dem Rohrstock auf den Po – natürlich in Großaufnahme. Während dessen senken sich die Staubflocken aus der Zwergschule des 18. Jahrhunderts langsam auf die Kinogäste.

Aber auch weiblicher Po und Busen heben die Stimmung und vertiefen das dreidimensionale Bild auf emotionale Weise: laut Selbstauskunft („Das Kino ist zu prüde geworden!“) legte der Regisseur gesteigerten Wert auf eine Instandsetzung und räumliche Auslotung sowie Auswertung primärer Geschlechtsorgane. Kurz: Es wird wirklich was geboten in diesem kurzweiligen Historienstück, solange man es mehr mit dem Gefühl als mit dem Verstand aufnimmt. Dann ist Einiges los und einige nicht unwitzige Ideen scheint die Romanvorlage geboten haben, die sich auf die Leinwand übertragen lassen. Der Bildungsbürger in uns mag dann sich vielleicht noch fragen: Aber welche Position gegenüber dem Geist der Aufklärung transportiert denn dieser Film, in welchem die Aufklärer zwar schrullig und z.T. skurril aber auch liebenswert dargestellt werden? Oder transportiert er eben nur Schauwerte und will nicht mehr als unterhalten, Entschuldigung: emotional sein?

Und vielleicht liegt eben in diesem Schauwert seine ganze Eigenart. Ich kam mir mit meiner merkwürdigen dicken 3D-Brille auf der Nase vor wie auf einem Jahrmarkt um das Jahr 1900, wie vor einem Guckloch, in das zu spähen mir empfohlen war, um in einem großen Holzkasten Szenen aus dem wahren Leben der großen Entdecker Humboldt und Gauß zu erblicken, und wirklich entdeckte ich darin, manchmal merkwürdig weit weg und manchmal reichlich nahe, zwei mal kleine, mal große Männer, immer ins Verhältnis gesetzt zu den Dingen, zur Welt, zum Raum, sozusagen mitvermessen und kurios. Wie Spielzeugfiguren, Spielzeug der Weltgeschichte oder nur Spielzeug des Kinos? Das Ganze entbehrte nicht eines gewissen gleichzeitig fremdartigen und altmodischen Charmes. Altmodisch, weil ich mich in die Rolle eines zu überwältigenden und naiven und unaufgeklärten Menschen vor der großen medialen Revolution zurückversetzt fühlte.

Das 3D-Kino auf seinem aktuellen Entwicklungsstand jedenfalls halte ich für eine revolutionäre Erneuerung des Kinos. Ich fände es sehr interessant, wenn auch 2-Personen-Kammerstücke in 3D gedreht würden. Dass „Die Vermessung der Welt“ in 3D gedreht wurde, macht ihn interessanter, als er vielleicht ist? Kann sein, na gut: Dann hat Herr Buck eben noch mal Glück gehabt.

96 Hours – Taken 2

(F 2012, Regie: Olivier Megaton)

Action-Verschnitt
von Louis Vazquez

Eigentlich könnte man meinen, dass eine Einer-gegen-Alle-Situation im Leben eines zufällig zum Action-Helden gewordenen Mannes ein ziemlich singuläres Ereignis sein müsste, selbst wenn es um einen Polizisten oder einen verrenteten …

Eigentlich könnte man meinen, dass eine Einer-gegen-Alle-Situation im Leben eines zufällig zum Action-Helden gewordenen Mannes ein ziemlich singuläres Ereignis sein müsste, selbst wenn es um einen Polizisten oder einen verrenteten Geheimagenten geht. Umso herrlicher die Nonchalance, mit der Fortsetzungen für gewöhnlich alle Plausibilitätsbedenken in den Wind schlagen, um einen Protagonisten noch einmal durch die Hölle zu schicken. Manchmal hilft angesichts des kosmischen Zufalls ein bisschen Selbstironie („Die Hard 2“). Noch einfacher ist es natürlich, Rache für die Heldenleistungen in Teil eins zum Antrieb der neuen Handlung zu machen – so geschehen in „96 Hours – Taken 2“.

Die Voraussetzungen sind nicht schlecht, war doch der erste Film unter der Regie von Pierre Morel ein schnörkelloser, überraschend harter und gar nicht mal so bescheuerter Rachethriller. Irgendwann schreckte Ex-Agent Bryan Mills (Liam Neeson) nicht einmal mehr davor zurück, Unschuldigen zu schaden, um seine Tochter aus den Händen einer albanischen Menschenschlepperbande zu befreien. Die ganze schöne Rache-Gewalt machte plötzlich gar keinen Spaß mehr, und die zuvor immer wieder auch auf humorvolle Weise präsentierte, latent paranoide Hauptfigur verlor endgültig die Bodenhaftung. In „Taken 2“ indes darf die Paranoia wieder ironisch daherkommen, und unter des Helden Hand leiden nur noch jene, die es sich redlich verdient haben. Auch wenn es womöglich selbst im fiktiven Zusammenhang nicht ganz schicklich ist, die körperliche Unversehrtheit Unschuldiger zu bedauern: Schade drum.

Es geht auch wieder gegen üble Gestalten: Der mächtige Vater eines Schleppers aus dem ersten Teil will sich mit seiner wilden Bande an Mills rächen. Diesmal wird aber nicht dessen Tochter Kim (Maggie Grace) entführt, sondern gleich er selbst, zusammen mit seiner Frau Lenore (Famke Janssen). Kim muss nun ihre Eltern befreien und erhält dazu telefonische Anleitung von ihrem in derlei Dingen erfahrenen Vater. Der ist zum Glück bald ebenfalls wieder entfesselt und kann wie gewohnt zur Tat schreiten.

Während Mabrouk El Mechri („JCVD“) kürzlich mit „The Cold Light of Day“ grandios scheitern musste, weil er ein unfassbar formelhaftes Drehbuch zu verfilmen hatte, dessen Figuren kaum interessierten und erst recht nicht dauerten, steht Regisseur Olivier Megaton ein bisschen besser da, weil seine Autoren Luc Besson – der freilich auch produzierte – und Robert Mark Kamen die Suche nach den Entführten halbwegs originell, wie eine Schnitzeljagd zu gestalten versuchen. Dass sie dabei oft übers Ziel hinaus schießen und eine ordentliche Portion unfreiwillige Komik beisteuern, kommt dem Vergnügen durchaus zupass, etwa wenn Kim so folgen- wie bedenkenlos Granaten durch Istanbul wirft, damit Papa anhand der Explosionsgeräusche ihre Position orten und ihr den Weg zu sich weisen kann.

Was Olivier Megaton leider überhaupt nicht gelingt, ist eine vernünftige Actioninszenierung. Die Montage macht selbst die stimmungsvollsten Schauplätze unkenntlich, was umso mehr auffällt, wenn man den neuen Bond-Film „Skyfall“ zum Vergleich heranzieht. Der nämlich teilt sich einige Drehorte mit „Taken 2“ und macht dabei nicht nur eine viel bessere, sondern überhaupt eine Figur, wo „Taken 2“ nur Wind macht. In rekordverdächtigem Stakkato prasseln die Einstellungen herein. Drei Schnitte pro Sekunde werden zum Standard. Besonders enttäuschend gerät ein Handgefecht zwischen Neeson und einem Bösewicht, in dem kein Bild zum anderen passt und kein einziger nachvollziehbarer Bewegungsablauf sich aus dem Geflacker schält. Action fand offenbar lediglich im Schneideraum statt, nicht am Set.

So handelt es sich bei „96 Hours – Taken 2“ um einen ziemlich unterdurchschnittlichen Vertreter jenes faden, zeitgenössischen Actionkinos, das Action eher durch schnelle Schnitte simuliert als mit kinetischen Mitteln inszeniert, und gegen den sich originelle, klassisch inszenierte Actionunterhaltung wie David Koepps „Premium Rush“ wie Balsam ausnimmt. Dass der Film aber ein ziemlicher Flop geworden ist, während „Taken 2“ ordentlich Kasse macht, ist eine andere, traurige Geschichte.

Skyfall

(USA / GB 2012, Regie: Sam Mendes)

The Bond Supremacy
von Louis Vazquez

„Skyfall“ sei doch auch ein Spitzentitel für einen neuen Asterixfilm, meint ein Kollege vor der Pressevorführung und hat natürlich völlig Recht. Fiele den nicht minder patriotischen und im Kino ebenfalls …

„Skyfall“ sei doch auch ein Spitzentitel für einen neuen Asterixfilm, meint ein Kollege vor der Pressevorführung und hat natürlich völlig Recht. Fiele den nicht minder patriotischen und im Kino ebenfalls ziemlich langlebigen Galliern endlich der Himmel auf den Kopf, könnte es im Asterix-Universum noch einmal richtig spannend werden. Doch auch im Bond-Kontext darf der Himmelssturz als nicht schlechte Überraschung gelten, denn Regisseur Sam Mendes gelingt zum 50. Jubiläum der Reihe nicht weniger als der beste Bondfilm seit langer, langer Zeit.

Diesmal richtet sich eine zunächst anonyme Bedrohung vordergründig gegen verdeckt arbeitende Undercover-Agenten, zielt aber eigentlich direkt ins Herz des britischen Geheimdiensts MI6. Auf der Seite der Guten mag man schon lange nicht mehr vorbehaltlos stehen. Wenn Bonds Vorgesetzte M (Judi Dench) in einem Ausschuss zur Verteidigung ihrer Abteilung diffuse Terrorismusängste schürt, dann versucht der Film womöglich sogar, sein Publikum abzuholen, wo auch immer es steht. Gleichzeitig aber lotet der Film konsequent die moralischen Untiefen des Agentenalltags aus, wo jeder Geheimdienstler für das große oder kleine Ganze aufgegeben werden kann und nicht einmal die Spitzenkräfte sich des Rückhalts ihres Arbeitgebers sicher sein können.

Eine erzählerische Glanzleistung ist in diesem Zusammenhang die Prä-Titelsequenz, die in der jüngeren Bond-Historie ihresgleichen suchen dürfte und den enttäuschenden, werbeclipartigen Auftakt von „Quantum of Solace“ schnell vergessen macht. Der Schauplatz ist Istanbul. Viele Locations waren auch schon in „96 Hours – Taken 2“ zu sehen bzw. nicht zu sehen, denn dort gingen sie im Schnittgewitter unter. Sam Mendes aber weiß, wie man Action inszeniert. Ein Duell auf einem fahrenden Zug weckt sogar Erinnerungen an Robert Aldrichs „Emperor of the North Pole“ (1973). Doch es geht eben nicht nur um Spektakel und Schauwerte, es wird sogar ein bisschen was erzählt. Gleich zu Beginn wird Bond per Funk beordert, einen schwer verletzten Agenten zurückzulassen, statt seine Blutung zu stoppen. Er gehorcht und überlässt den Kollegen dem sicheren Tod. Eine Szene, die Ton und Thema des Films vorgibt, denn am Ende des Vorspanns ist plötzlich 007 selbst entbehrlich.

Einmal mehr wird Bond als höchst fragwürdige Figur mit kaum zu ergründender Psyche gezeichnet, als nicht nur vielfach gebrochener, sondern gewiss auch ziemlich kaputter Held. Während er den zurückgelassenen Agenten so schnell nicht vergisst, scheint ihn später das viel traurigere Schicksal einer versklavten Femme Fatale kaum zu erschüttern. Als Macho soll Bond aber trotzdem nicht mehr gelten – sogar seine sexuelle Orientierung darf in diesem Film ironisch in Frage gestellt werden. Vorbei auch die Zeit, in der Bond permanent wie ein Superheld agierte und Schmerz höchstens in der finalen Konfrontation kannte: Als er sich in Shanghai an einen Fahrstuhl hängt und die Fahrt nach oben furchtbar lange dauert, da zeigt Mendes, dass selbst einem James Bond die Arme dabei verdammt weh tun.

Nein, kein kleiner Junge möchte noch Geheimagent werden, wenn er die Bondfilme der letzten Jahre gesehen hat. Obwohl immer wieder Ironie aufblitzt, dominiert hier doch die Ernsthaftigkeit, und die psychischen Schäden scheinen bei Guten wie Bösen vergleichbar groß. Kaum ein exotischer Schauplatz tröstet über diese Makel hinweg, denn selbst bei den Sets dominiert bald der Zerfall und spiegelt die kaputten Seelen der Figuren.

„Skyfall“ wirkt – ohne zu viel zu verraten – auf gewisse Weise wie der Höhepunkt und Abschluss einer Trilogie. Erneut liegt der Fokus auf zwischenmenschlichen Konflikten, bei reduzierter, aber stets beeindruckender Action. Man darf gespannt sein, in welchem Tonfall Bonds Geschichte weitererzählt wird. Der Film scheint sich mehrere Optionen offen zu halten – am Ende wähnt man sich für einen Moment sogar im Roger-Moore-Universum. Wie auch immer sich die Franchise entwickelt: Die neue Bodenständigkeit sollte besser bleiben. „Explodierende Kugelschreiber, so etwas machen wir nicht mehr“, sagt ja schließlich auch Bonds neuer Waffenmeister Q (Ben Wishaw). Und überreicht nur eine Pistole und einen Peilsender. Beim Teutates!

Oh Boy

(D 2012, Regie: Jan Ole Gerster)

Fluss unmerklicher Veränderungen
von Wolfgang Nierlin

„Das Einzige, was ich jetzt noch für dich tun kann, ist nichts mehr für dich tun”, sagt der Vater (Ulrich Noethen) zum Sohn. Niko Fischer (Tom Schilling) wirkt wie ein …

„Das Einzige, was ich jetzt noch für dich tun kann, ist nichts mehr für dich tun”, sagt der Vater (Ulrich Noethen) zum Sohn. Niko Fischer (Tom Schilling) wirkt wie ein Verlorener in einem provisorischen Leben. Mit Ende zwanzig, nach abgebrochenem Jura-Studium, ohne Job und ohne Geld hat er weder Plan noch Ziel. Seine Wohnung ist leer, die Umzugskartons sind noch immer nicht ausgepackt, die Briefpost bleibt weitgehend geschlossen. Überhaupt fungieren Räume nur als Zwischen- und Durchgangsstationen in einem ortlosen, transitorischen Dasein. Niko driftet durch die Stadt, er ist unterwegs, ohne getrieben zu sein. Als melancholischer Flaneur und „einsamer Wolf“ imitiert er die Gesten von Robert de Niros „Taxi Driver“ und von James Dean in „Giganten“. Aber der sympathische, introvertierte und leicht schüchterne Mann ist kein Rebell, auch wenn er unangepasst wirkt und in seinen Beziehungen mitunter unverbindlich bleibt. Vielmehr ist er sensibel und durchlässig für die Sorgen und Nöte der anderen.

Einen langen Tag und eine lange Nacht lang bewegt sich der traurige Held von Jan Ole Gersters bemerkenswertem, in Schwarzweiß gedrehtem Debütfilm „Oh Boy“ durch die Stadt Berlin. Aus den zahlreichen Begegnungen, die er dabei macht, resultiert die episodische Struktur des Films und die Verdichtung eines großstädtischen Lebensgefühls. Doch Niko absorbiert nicht einfach nur Erfahrungen, noch funktioniert er primär als Katalysator, sondern sein Charakter gewinnt Konturen durch seine Reaktionen auf andere. Auch wenn sich die Welt gegen ihn verschworen zu haben scheint, ablesbar an seinen mitunter komischen Konfrontationen mit behördlichen Autoritäten, bockigen Automaten und übergriffigem Machismo, ist Niko nicht einfach ein typischer Verlierer. Zwar hat sein Scheitern, das auch eine Distanz und ein Innehalten beschreibt, eine zumindest angedeutete Geschichte, doch es erschöpft sich nicht in der modischen Darstellung dessen, was man heute gern als Prekariat bezeichnet.

Stattdessen erzählt Jan Ole Gerster einfühlsam und glaubwürdig von einem jungen Mann, der entgegen dem Anschein offen und Anteil nehmend genug ist, um den Geschichten der Menschen, die ihm begegnen, einen Resonanzraum zu verschaffen. Persönliche Dramen, aber auch die große Geschichte werden so vernehmbar. Die Zeit erscheint gedehnt, die Schicksale überlagern sich und Nikos vermeintlicher Stillstand, den der Regisseur in stimmungsvollen, von einem jazzigen Soundtrack unterlegten Bildern der Stadt widerspiegelt, wird zu einer Zeit der Reflexion. Diese ist noch nicht abgeschlossen, befindet sich vielmehr im Fluss nahezu unmerklicher Veränderungen. Er habe die letzten zwei Jahre nachgedacht, erklärt Niko seinem verständnislosen Vater. Seine mutmaßliche Stagnation erzeugt fortgesetzt innere und äußere Bewegung. Einmal, in der Wohnung eines Dealers, wo Niko auf einen Freund wartet, begegnet er einer herzensguten alten Dame, die ihn einlädt, sich in ihrem bequemen Sessel auszuruhen. Kurz darauf, für einen langen, schläfrigen Moment in Liegeposition, in dem alle Verlorenheit von ihm abzufallen scheint, erlebt er plötzlich und unerwartet Nähe und Geborgenheit.

Vielleicht lieber morgen

(USA 2012, Regie: Stephen Chbosky)

Das Glück der Mauerblümchen
von Carsten Happe

Emma Watsons erste Hauptrolle nach dem Ende des „Harry Potter“-Franchise. Allein das reicht schon aus, die Fanboys in Verzückung zu versetzen. Und dann ist es auch noch keine gesichtslose Hollywood-Ware, …

Emma Watsons erste Hauptrolle nach dem Ende des „Harry Potter“-Franchise. Allein das reicht schon aus, die Fanboys in Verzückung zu versetzen. Und dann ist es auch noch keine gesichtslose Hollywood-Ware, sondern eine persönliche Indie-Dramödie, die allen verunsicherten Teenagern und schüchternen Nerds Hoffnung machen sollte. So deutet bereits der Originaltitel die Vorzüge des Mauerblümchen-Daseins an, die den unsicheren Charlie an der neuen High School vollends aus der Bahn werfen, denn die Geschwister Sam und Patrick nehmen ihn ohne Vorbehalte in ihre bohemische Außenseiter-Clique auf. Sie sind cool und anders und auch wenn Charlie zunächst einfach nur anders ist und weit entfernt von cool, färbt ein wenig von ihrem Glanz auch irgendwann auf ihn ab.

Es wäre einfach, „Vielleicht lieber morgen“ als lediglich eine weitere Variante der ewig gleichen Teenie-Komödie abzustempeln, die das Coming-of-Age seines jugendlichen Helden mit den hinlänglich bekannten Stereotypien durchexerziert, die seit den Zeiten der kanonischen John-Hughes-Filme wie „Breakfast Club“ oder „Ferris macht blau“ nur selten ein phantasievolles Update erfahren haben. Dafür ist die zweite Regiearbeit von Stephen Chbosky, der zugleich auch fürs Drehbuch und die semi-autobiographische Romanvorlage sorgte, zu treffsicher in der Analyse pubertärer Befindlichkeiten, ohne in peinliche Toiletten-Humor-Gefilde abzurutschen. Und vor allem: „Vielleicht lieber morgen“ entwickelt einen entwaffnenden Charme und eine Liebenswürdigkeit, die ihn vielmehr in die Nähe von Filmen wie „Garden State“ rückt.

Das ist in erster Linie nicht allein Emma Watson zu verdanken, die sich hier erfolgreich der Hermione Granger entledigt, sondern insbesondere dem Charlie-Darsteller Logan Lerman, der im vergangenen Jahr in dem höchst überflüssigen „Drei Musketiere“-Update als D’Artagnan leidlich fehlbesetzt durch die Kulissen stolzierte. Hier verleiht er einem eigentlich längst auserzählten Charakter-Typus die exakt richtige Balance aus Aufbegehren und Zurückhaltung, aus kindlicher Naivität und tiefgründiger Nachdenklichkeit. Und gerade diese reflektierte Haltung macht „Vielleicht lieber morgen“ so universell wie sehenswert: dass es letzten Endes vor allem darauf ankommt, seinen Platz im Leben zu finden. Und ihn zu behaupten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: pony 11/2012

Fraktus

(D 2012, Regie: Lars Jessen)

Guter Witz von alten Hasen
von Andreas Busche

Die „Retromania“ ist schon lange zu einem Witz verkommen. Während My Bloody Valentine wieder mit ihrem Klassiker „Loveless“ auf Tour gehen, Kevin Shield es in zwanzig Jahren aber nicht schafft, …

Die „Retromania“ ist schon lange zu einem Witz verkommen. Während My Bloody Valentine wieder mit ihrem Klassiker „Loveless“ auf Tour gehen, Kevin Shield es in zwanzig Jahren aber nicht schafft, mit seiner Band ein neues Album aufzunehmen, gaben kürzlich die Hannoveraner Kraut/Jazzrock-Veteranen Eloy ihre Reunion bekannt. Inzwischen scheint jeder noch mal an den Futternapf zu dürfen; Nostalgie ist eine hochgradig regressive Befindlichkeit. An einen schlechten Witz muss im Juli 2007 auch das Publikum auf dem Melt! Open Air gedacht haben, als in den frühen Morgenstunden drei trostlose Gestalten in albernen Outfits die Bühne betraten und sich zu uninspirierten Technobeats zum Affen machten. Der Auftritt dauerte nur wenige Minuten, dann hatten die Fans des Headliners Deichkind die drei Typen wieder von der Bühne verscheucht. Das Comeback der deutschen „Techno-Pioniere“ Fraktus schien gescheitert, bevor es richtig begonnen hatte. Manche Problem lösen sich wie von selbst.

Fünf Jahre später sind Fraktus doch noch einmal zurück. Im November spielen sie einige Konzerte in Originalbesetzung (Mastermind Dickie Schubert, Klangtüftler Bernd Wand und Produzent Torsten Bage), gleichzeitig kommt eine Dokumentation in die Kinos, die vom Aufstieg und Fall der Kultband erzählt. Untertitel: „Das letzte Kapitel der Musikgeschichte“. Und alle, die im Film zu Wort kommen (Westbam, Trio-Sänger Stefan Remmler, H.P. Baxxter, Jan Delay, Blixa Bargeld), sind sich einig: Fraktus haben Anfang der Achtziger mit ihrem Sound, ihren für die damalige Zeit bahnbrechenen Klangexperimenten und ihrer radikalen Ästhetik elektronische Musik aus Deutschland revolutioniert. Fraktus waren Techno, Punk und Avantgarde zugleich. Man höre nur die essentialistische Poesie ihrer düsteren Gesellschaftskritik „Affe sucht Liebe“ vom Debütalbum „7353=057“. (2012 auch im Remix von Alex „U-96“ Christensen)

Aber Fraktus lösten sich auf, bevor die Band die Früchte ihrer wegweisenden Arbeit ernten konnte. Interne Streitigkeiten über die künstlerische Richtung der Band führten zum Zerwürfnis. Ihr letztes gemeinsames Konzert im November 1983 endet in einer Katastrophe: Das selbstgebastelte Equipment fängt Feuer, der legendäre Hamburger Undergroundclub Turbine brennt bis auf die Grundmauern nieder. Schubert, Wand und Bage ziehen sich aus der Öffentlichkeit zurück und werden von der Geschichte vergessen.

Wer sich mit der Neuen Deutschen Welle ein bisschen auskennt, wird sich wundern, noch nie von Fraktus gehört zu haben. Du besitzt den kompletten Katalog des Hamburger Labels Zickzack, doch Dir ist noch nie die Fraktus-LP „7353=057“ untergekommen? Und fragt sich da jemand, warum einem der Sänger von Fraktus so verdammt bekannt vorkommt? Lars Jessens „Fraktus – Das letzte Kapitel der Musikgeschichte“ ist tatsächlich ein Witz, ein ziemlich guter allerdings. Dahinter steckt die Hamburger Komikertruppe Studio Braun, die sich einst mit Telefonstreichen einen Namen gemacht hat, deren Humor-Imperium sich in den vergangenen Jahren jedoch rasant diversifiziert hat: dazu gehören heute neben dem legendären Hamburger Absturzladen Golden Pudel Club diverse literarische Bestseller („Fleisch ist mein Gemüse“, „Dorfpunks“), Kinofilme („Immer nie am Meer“), Theaterproduktionen („Fahr zur Hölle, Ingo Sachs“) und Musik (Jacques Palminger and the Kings of Dubrock). Fraktus-Sänger Dickie Schubert wird übrigens vom Waterkant-und-Westentaschen-Chansonnier Rocko Schamoni gespielt. Schubert ist eine kleine Hommage an Schamonis Rolle im Hamburger Proll-Klassiker „Rollo Aller“, für den er Anfang der Neunziger auch das Titellied mit dem sehr plausiblen Refrain „Raus aus der Gesellschaft, rein in den Rock“ geschrieben hat. Der „Fraktus“-Film ist sozusagen Kult mit Ansage: ein schwieriges Unterfangen, das selten glückt.

Aber Studio Braun sind alte Hasen im Unterhaltungsgeschäft. Sie haben verstanden, dass man der Abgestumpftheit der deutschen Humorindustrie nur mit Sinnentzug begegnen kann. „Affe sucht Liebe“ ist das „Katzeklo“ der Post-Rave-Generation. Es muss doch mit dem Teufel zugehen, wenn man mit einer renitent pulsierenden Synthie-Line, einem eingängigen Drum-Pattern, das von New Order geklaut ist, und einem debilen Großraumdisco-Schlachtruf (alles unter Anleitung von Bill Drummonds Handbuch „Der schnelle Weg zum Nr. 1 Hit“) nicht die Charts knacken könnte. Studio Braun, beziehungsweise Fraktus, wären die Letzten, die sich darüber wundern würden.

Aber vielleicht ist die Mockumentary auch einfach nur die unverblümte Antwort auf eine kriselnde Musikindustrie. Ein Indiz für die panische Verzweiflung, in der Vergangenheit um jeden Preis noch etwas finden zu wollen, was sich in der Gegenwart weiter verwerten lässt. Style, Haltung, einen autobiografischen Sound. Sehnsucht ist die Geißel der Retromanie, sie kennt keine Würde und kein Schamgefühl. Das macht Fraktus zu den Spinal Tap des Teutonen-Techno. (Wie ihre heimlichen Vorbilder sind auch Fraktus so blöd, sich auf dem Weg zur Bühne zu verlaufen) Roger Dettner (Devid Striesow), der die zerstrittenen Musiker nach 25 Jahre wieder zusammengetrommelt hat, ist sozusagen das gute Gewissen der Musikindustrie: ein Idealist, der noch an das richtige Leben im falschen glaubt („Die Idee Fraktus ist doch viel größer als ihr drei“ versucht er der Widerspenstigen Zähmung zu moderieren) und sich konsequenterweise als der größte Trottel entpuppt. Am Ende läuft er mit einem Döner-Spieß Amok.

„Fraktus“ ist so grenzdebil, dass es wehtut, aber unübersehbar auch ein Liebesprodukt: die körnigen Konzertaufnahmen, die alten NDW-Plattencover, der nachgestellte Formel Eins-Auftritt, Heinz Strunk als bis in die Haarwurzeln blondierter, Arschgeweih-flashender Ibiza-König („Geil Geil Geil“ war Torsten Bages größter Hit), Jacques Palmingers asymetrischer Seitenscheitel. Und immer wieder blitzt das gut camouflierte Genie von Studio Braun auf, wenn Strunk etwa ein neues Techno-Stück von Fraktus auf der Querflöte begleitet. Die Idee dazu stammt aus einer alten Folge von „Durch die Nacht mit …“, in der Strunk im Studio von H.P. Baxxter ein Flötensolo über den Basistrack von Scooters „How Much is the Fish“ spielt. So befruchten sich bei Studio Braun die Kunst und das Leben, Realität und Dichtung. Vielleicht ist es um die deutsche Popmusik doch gar nicht so schlecht bestellt, wie immer behauptet wird. Der Film jedenfalls versammelt einige ihrer größten Vertreter. Fraktus, muss man ehrlicherweise einschränken, gehören nicht dazu.

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Der Aufsteiger

(F / B 2011, Regie: Pierre Schoeller )

Le crocodile, c‘est moi!
von Ulrich Kriest

Als Vorspiel eine bizarre Mischung von Heiliger Inquisition und Tierfilm: eine unbekleidete Frau nähert sich in aristokratischem Ambiente einem Krokodil, das nicht sonderlich aggressiv sondern eher träge das Spiel mitspielt …

Als Vorspiel eine bizarre Mischung von Heiliger Inquisition und Tierfilm: eine unbekleidete Frau nähert sich in aristokratischem Ambiente einem Krokodil, das nicht sonderlich aggressiv sondern eher träge das Spiel mitspielt und sein Maul öffnet. Sie kann schon, wenn sie unbedingt will, da rein. Muss aber auch nicht. Ein Traum? Wer träumt? Wer ist die Frau? Und wer das Krokodil? Schnitt. Mitten in der Nacht wird der französische Verkehrsminister Bertrand Saint-Jean geweckt. In den Ardennen ist auf vereister Straße ein Bus mit Schulkindern verunglückt und in eine Schlucht gestürzt. Der Minister fliegt mit dem Helikopter zum Unglücksort, um eine erste Stellungnahme für die Medien abzugeben. Unübersichtliche Situation am Unfallort, komplette Überforderung durch Bilder des Schreckens, doch die Worte kommen, gekotzt wird später. Business as usual.

Dumm nur eine Konsequenz des nächtlichen Einsatzes am Unglücksort: denn so fällt für Saint-Jean ein geplanter Auftritt beim Frühstücksfernsehen flach. Ein Kollege vom Koalitionspartner springt ein und sorgt sogleich für Unruhe. In den folgenden Tagen steht nicht der bedauerliche Busunfall, sondern die Privatisierung der Bahn auf der Tagesordnung, in Szene gesetzt als abstraktes Schachspiel, wo entscheidende Züge in den Medien oder zwischen drei gleichzeitigen Telefonaten im Dienstwagen passieren. Der Busunfall, unvorhergesehen, sorgt für etwas Luft im Getriebe der politischen Mechanismen. In diesem konkreten Fall geht es zunächst darum, das Heft des Agenda Setting wieder in die Hand zu bekommen. Saint-Jean gilt nämlich, im Gegensatz zu der ihn umgebenden Politiker-Aristokratie, als Hoffnungsträger, der aufgrund seiner Herkunft als „Aufsteiger“ noch eine andere, authentischere Sprache spricht. Was ihn allerdings zunächst lediglich als Kanonenfutter zu prädestinieren scheint. Der Hoffnungsträger wird im Verlauf des Films dabei beobachtet, wie er hakenschlagend und durch immer neue Manöver versucht, wieder in die Vorlage zu kommen. Was wenig mehr bedeutet, als das richtige Telefonat zum richtigen Zeitpunkt zu führen – und die Reaktion des Kontrahenten als die Effekte dieses Telefonats zu antizipieren. Als „Beobachtungsbeobachtung“ hat Luhmann das sehr schön beschrieben.

Sieben Jahre hat der Regisseur und Drehbuchautor Pierre Schoeller an diesem Film gearbeitet, um adäquate Bilder und Szenen für „Machtspiele“ in der politischen Sphäre zu entwerfen. Sein Film beschränkt sich nicht auf die (dürftige) These des politischen Zynismus, sondern weitet den Blick auf die umfassende De-Legitimierung des Politischen, die entschieden auch ins Private lappt. So bekommt Saint-Jean im Rahmen einer Imagekampagne zur Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen einen neuen Fahrer. Und erhält dadurch eines Tages die Gelegenheit zu einer ungeschützten Begegnung mit dem Volk, der er sich nur durch Vollrausch in haarsträubenden Pragmatismus entziehen kann. Gleiches zeigt sich auch im Verhältnis zu seiner Ehefrau, zu der Saint-Jean einmal sagt: „Du kennst mich nicht, deshalb liebst du mich.“ „Der Aufsteiger“ erzählt auf beklemmende und sehr kalkulierte Weise vom Verlust der Ideale und der prinzipiellen Einsamkeit in der Sphäre des Politischen, in der buchstäblich jedes Ereignis, jedes Unglück noch quasi systemisch »politische« Effekte produziert. Als Saint-Jean schon gescheitert scheint, passiert ein zweiter Unfall, der die Karten neu mischt.

Interessanterweise sehen die Bilder, die Schoeller für dieses Ereignis findet, so aus, als habe er sie im Schneideraum von „Walking Dead“ gefunden. (Okay, da wurde nicht mehr altmodisch »geschnitten«!) Um zu begreifen, wie gelungen dieser vergleichsweise kalte und analytische Film ist, sollte man an jene Szene denken, in der Kabinettsleiter Gilles – er keineswegs ein Parvenü, sondern ein intellektueller Politiker mit Geschichte – in einer ruhigen Stunde dabei gezeigt wird, wie er sich per Schallplatte die Hymne von André Malraux auf den zu Tode gefolterten Widerstandskämpfer Jean Moulin anhört. Das ist in etwa die Fallhöhe, um die es Schoeller geht, der allerdings kein Nostalgiker, sondern ein Analytiker ist. Der Lackmus-Test: Man schaue sich Andreas Dresens naive Polit-Soap „Herr Wichmann aus der dritten Reihe“ an – und frage sich, wie ein politischer Film 2012 idealerweise auszusehen habe. Wie „L‘exercice de l‘Etat“ (Originaltitel) nämlich.

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Die Kinder vom Napf

(CH 2011, Regie: Alice Schmid)

Heidi-Surroundings
von Andreas Thomas

„Niiiiiina!“ – „Caaaaaarolyn!“- Kinderstimmen im Dunkel. Kleine Lichtkegel von Helmlämpchen beleuchten einen Schneehang; das ist der winterliche Schulweg einer Handvoll Kinder aus der „UNESCO Biosphäre Entlebuch“, auch genannt „Napf“. Zehn …

„Niiiiiina!“ – „Caaaaaarolyn!“- Kinderstimmen im Dunkel. Kleine Lichtkegel von Helmlämpchen beleuchten einen Schneehang; das ist der winterliche Schulweg einer Handvoll Kinder aus der „UNESCO Biosphäre Entlebuch“, auch genannt „Napf“. Zehn Kilometer zu Fuß und mit der Seilbahn, welches andere Kind hat schon einen so spannenden Schulweg?

Ein Jahr lang, von Winter zu Winter, hat die Filmemacherin und Autorin Alice Schmid „Die Kinder vom Napf“ begleitet, auf dem Schulweg, in der Schule, auf der Wiese, bei den Hühnern, Kühen, Ziegen. Beim Musizieren, beim Spielen und beim Arbeiten. Zwischendurch erzählen die Kinder (auf Schwyzerdütsch), was sie Spannendes erleben, berichten über den Habicht, der die Hühner frisst und den Wolf, der die Schafe reißt. Die Tonspur (Musik und Sounddesign: Daniel Almada) tut ein Übriges: Ein unheimliches Geheul irgendwo zwischen Note und Tierlaut ertönt, wenn die Sprache auf den Wolf kommt, ein finsteres Grollen lässt die Lautsprecher erbeben, sobald auch nur eine Wolke sich über die Almen schiebt.

Mikrofontechnisch ist hier das Leistungsstärkste aufgefahren: wir hören die Kühe schmatzen, den Schnee knirschen, den Wind (die Kinder sagen: das sind die Geister!) sausen, dass es eine Art ist. Ununterscheidbar, ob das Gehörte noch O-Ton oder schon künstlerische Überhöhung darstellt, wird klar: Hier geht‘s um Stimmungskreation und wo die Bilder manches Mal nur halb befriedigen, da säuselt, rauscht und muht das Horn vom Score besser als jede Kuh das könnte.

„Caaarolyn!“ – „Niiiiina“ – Auch im Hochsommer illustrieren noch einmal die schön klar und kindlich gerufenen Namen die Filmessay-Romanze im Hochalpenidyll auf grüner Alm. Ein Schelm, der sich da nicht an die rezeptierende Hand genommen fühlte. Aus welchen Gründen auch immer, bei aller pittoresker Malerei von Idyll und raunender Natur, ein wenig im Abseits, obschon im deklarierten Zentrum, bleiben die Kinder, bei denen wir auch nach 85 Minuten immer noch nicht genau wissen, wer denn nun Carolyn und Nina sind, und wer und was ihre Eltern sind und machen – oder gar nur, wie eigentlich ein ganz normaler Tag bei ihnen abläuft.

Momentaufnahmen, Stimmungsbilder haben mehr Gewicht als banale oder chronologische oder gar deskriptive Alltagsbilder bei den „Kindern vom Napf“, doch sie übermalen nicht, dass auch in entlegenen schweizer Bergdörfern nur mit Wasser gekocht und modernste Technik verwandt wird: Computer, Keyboard und Hightech-Mähmaschine sind Alltagsutensilien, und eine überpräsente Tonspur übertönt nicht, dass auch eine Kindheit im Napf eine ziemlich normale Kindheit sein muss. Nur eben mit ein wenig Heidi-Surrounding.

Frankreich privat – Die sexuellen Geheimnisse einer Familie

(F 2012, Regie: Pascal Arnold, Jean-Marc Barr)

Nummernrevue
von Wolfgang Nierlin

Der 18-jährige Romain (Mathias Melloul), der aus dem Off des Films über sich und seine Familie spricht, leidet ziemlich heftig unter seinem Mangel an sexueller Erfahrung. „Alle tun es, nur …

Der 18-jährige Romain (Mathias Melloul), der aus dem Off des Films über sich und seine Familie spricht, leidet ziemlich heftig unter seinem Mangel an sexueller Erfahrung. „Alle tun es, nur ich nicht“, konstatiert er frustriert mit Blick auf die anderen, sexuell aktiveren Familienmitglieder. Der verschlossene Junge fühlt sich unverstanden, ist genervt und „viel zu weit weg“ von ihnen. Im Grunde steckt er noch mitten in der Pubertät. Mehr schüchtern als heimlich ist Romain in seine Mitschülerin Coralie (Adeline Rebeillard) verliebt. Dass ausgerechnet er im Biologie-Unterricht beim Masturbieren erwischt wird und sich dabei auch noch selbst filmt, ist einer Mutprobe unter Klassenkameraden geschuldet, wirkt aber trotzdem einigermaßen abstrus. In Pascal Arnolds und Jean-Marc Barrs Film „Chroniques sexuelles d’une famille d’aujourd’hui“, der hierzulande unter dem vorbelasteten, weil irreführende Assoziationen (an die Amateurfilm-Sammlungen von Robert van Ackeren) weckenden DVD-Titel „Frankreich privat – Die sexuellen Geheimnisse einer Familie“ veröffentlicht wird, ist dies ein Vorwand, um das (vermeintlich) tabuisierte Gespräch über Sexualität in Gang zu setzen.

Aber noch mehr geht es den beiden französischen Filmemachern, die um die Jahrtausendwende im Zuge der Dogma-Bewegung ihre ersten gemeinsamen Projekte realisierten (mit der Trilogie über Liebe und Freiheit: „Lovers“, „Too Much Flesh“, „Being Light“) um das Zeigen einer möglichst natürlich dargestellten Sexualität. Was zunächst wie eine typische Coming-of-age-Geschichte beginnt, entpuppt sich sehr schnell als relativ unmotivierte und auch holprige Aneinanderreihung mehr (Uncut-Version) oder weniger expliziter Sexszenen. Das dünne Drehbuch behauptet eine Erzählung, die jenseits freundlich vorgetragener Klischees kaum der Rede wert ist. Vielmehr wird diese durchsetzt respektive „interruptiert“ von einer sexuellen Nummernrevue der einzelnen Familienmitglieder: So entdeckt etwa Romains Bruder Pierre (Nathan Duval) bei einer lustvollen ménage à trois seine Bisexualität, während sein verwitweter Großvater Michel (Yan Brian) in den Armen einer einfühlsam-zärtlichen Prostituierten stirbt. Aber auch das Generationen übergreifende sexuelle Treiben seiner Eltern und seiner Stiefschwester Marie (Leïla Denio) wird ausgiebig ins Bild gesetzt, bis schließlich und endlich er selbst – auf dem „Höhepunkt“ der fadenscheinigen Geschichte – sein erstes Mal erlebt.

„Wer das Leben liebt, liebt den Sex“, lautet die schlichte Botschaft des Films. Pascal Arnold und Jean-Marc Barr wollen mit ihren „Chroniques sexuelles“, wie sie im Bonusmaterial der DVD sagen, „die sonnige Seite der Sexualität“ zeigen und dabei mit einer „kinematographischen Note“ den „Freiraum zwischen Softsexfilmen und Pornographie“ ausloten. Die „Grammatik des Porno“ soll durch eine möglichst „naturalistische Darstellung“, die „vulgäre Schau“ durch ein sowohl heiteres als auch schamhaftes sexuelles Tun ersetzt werden. „Das Thema des Films ist die sexuelle Erfüllung und wie wir darüber reden“, formuliert Pascal Arnold die anvisierte Doppelgesichtigkeit ihres als „menschliche Komödie“ (Barr) gemeinten Films. Aber die ehrenwerten Absichten sympathischer Filmemacher ergeben noch keinen guten Film, sondern allenfalls akzeptable Pornographie. Ihre theoretischen Überlegungen wirken freilich etwas aufgesetzt und vordergründig, wenn man das manchmal langweilige, manchmal pseudopoetische und letztlich doch recht konventionelle Ergebnis sieht. Filmästhetisch betrachtet, verzichten die beiden Regisseure weitgehend auf detaillierte Großaufnahmen und musikalischen Kleister und wechseln die Perspektive immer wieder zwischen Nähe und Distanz, wodurch mitunter auch intime, sogar berührende Momente entstehen. Trotzdem folgen sie mit ihrer durchsichtigen Dramaturgie, der es vor allem an Entwicklung mangelt, einer pornographischen (Erzähl-)Logik und bleiben insofern mit ihren Intentionen auf halber Strecke stehen.

Premium Rush

(USA 2012, Regie: David Koepp)

Bremsen sind der Tod
von Andreas Busche

Ein Stahlrahmen, ein Gang, keine Bremsen. Das Credo des Fahrradkuriers gibt auch ein gutes Rezept für eine verbesserte, reduzierte Form des Actionfilms ab. Regisseur David Koepp fungiert als Autor großformatiger …

Ein Stahlrahmen, ein Gang, keine Bremsen. Das Credo des Fahrradkuriers gibt auch ein gutes Rezept für eine verbesserte, reduzierte Form des Actionfilms ab. Regisseur David Koepp fungiert als Autor großformatiger Blockbuster ('Jurassic Park', 'Mission Impossible', 'Spiderman') gewöhnlich im Hintergrund; sein “Premium Rush” verhält sich nun eher wie die Antithese zu den Filmen, mit denen man Koepps Namen ansonsten assoziiert. “Premium Rush” verzichtet bis auf ein paar gimmickhafte Googlemaps-Einblendungen und einige sehr unterhaltsame, 3D-animierte Unfallszenarien auf flashige Effekte. Sein Film ist gemessen an den High Tech-Vehikeln, die Hollywood saisonal bedingt in die Multiplexe spült, das Fixie unter den Actionfilmen. Mean and lean – und überdreht wie ein Chuck Jones-Cartoon. Nicht zufällig nennt sich der von Joseph Gordon-Levitt gespielte Fahrradkurier, angelehnt an Jones’ Cartoonfigur Wile E. Coyote, Wilee. Wilee ist der beste und waghalsigste unter den Kurieren, die jeden Tag die Straßen von New York unsicher machen. “Bremsen sind der Tod”, lautet sein Motto. Streng genommen spielt Wilee in “Premium Rush” allerdings den Roadrunner. Seine Nemesis, Wile E. Coyote, ist ein korrupter Cop namens Bobby Monday, der Michael Shannons Kuriositätenkabinett von derangierten Psychos ein weiteres unvergessliches Gesicht hinzufügt.

Der Cop jagt einem Briefumschlag hinterher, der sich in Wilees Kuriertasche befindet. Aber was in der Tasche landet, bleibt in der Tasche. Auch so ein Kurier-Credo. Der Inhalt des Umschlags ist ohnehin nicht mehr als ein klassischer MacGuffin: der Vorwand für einige halsbrecherische Verfolgungsjagden einmal quer durch den Rush Hour-Verkehr von Manhattan. Wilee auf dem Fahrrad, Detective Monday im Auto hinterher, unterstützt von einem Fahrradpolizisten, der ein ums andere Mal an den Gesetzen der Schwerkraft scheitert. Wilee auf seinem Fixie ist dagegen unkaputtbar. Die Fahrradstunts wurden real gedreht, was “Premium Rush” eine schöne Griffigkeit verleiht: Die Verfolgungdjagden sind rasant, aber nie over the top. Was man von Michael Shannon nicht behaupten kann, der seinen Bobby Monday als entgrenzten Borderliner spielt – augenrollend und irre vor sich hin brabbelnd. Damit wird er Nicolas Cage über kurz oder lang ernsthaft Konkurrenz machen. In gerade mal 90 Minuten liefert “Premium Rush” den schlagenden Beweis, dass das gute alte B-Movie noch lange kein Relikt der Vergangenheit ist.

Dieser Text erschien zuerst in: pony #77

3 Zimmer/Küche/Bad

(D 2012, Regie: Dietrich Brüggemann)

Zertrümmerte Botschaften
von Wolfgang Nierlin

„Heute ziehen alle ständig um“, sagt Dietrich Brüggemann. Für seine Beziehungskomödie „3 Zimmer/Küche/Bad“, die mit schlagfertigem Dialogwitz dem Zusammenhang von Wohnen und Lieben auf der Spur ist, konnte der 36-jährige …

„Heute ziehen alle ständig um“, sagt Dietrich Brüggemann. Für seine Beziehungskomödie „3 Zimmer/Küche/Bad“, die mit schlagfertigem Dialogwitz dem Zusammenhang von Wohnen und Lieben auf der Spur ist, konnte der 36-jährige Regisseur deshalb den eigenen Erfahrungsschatz als „Umzugshelfer“ plündern. Alles, was der Film zeigt, ist demzufolge mehr oder weniger dem Leben abgeschaut. Das kann man kaum glauben, wenn man auf das Umzugs- und Beziehungschaos und die sich in ihm spiegelnden Dauerkrisen blickt, die das quirlige Generationenportrait in rasantem Tempo ausbreitet oder vielmehr verdichtet. Denn bei dieser atemlosen Hetze zwischen Orten – namentlich den Städten Berlin, Hannover, Stuttgart und Freiburg – und zahlreichen Wohnungen verliert man als Zuschauer schon mal Überblick und Orientierung.

Das wiederum hat vor allem mit einem schier unübersichtlichen Ensemble von Figuren zu tun. Zieht man die Eltern ab, sind es acht junge Menschen, deren Wege sich ständig kreuzen und die unter wechselnden Perspektiven durch die kleineren und größeren Katastrophen des Alltags schlittern, wobei die komplizierte Chemie der Gefühle zum furiosen Taktgeber wird. Im Wechsel der vier Jahreszeiten folgen wir den Auf- und Umbrüchen der Geschwister Philipp (Jacob Matschenz), Wiebke (Katharina Spiering) und Swantje (Amelie Kiefer), die auf der Suche nach Liebe fortwährend ihre Wohnungen wechseln, weil die Gefühlsbindungen immer auch einen neuen Wohn- und Lebensraum beanspruchen.

Das mag zwar symptomatisch sein für die dargestellte Generation, doch die dahinter stehende allgemeinere These lautet: Keiner weiß, wie das Leben geht. Dietrich Brüggemann reflektiert das mit zynischem Blick auf die Elterngeneration und dem Hinweis auf die „Risse im Fundament“. Im Abspann-Song der Gruppe Indelicates heißt es entsprechend: „Every generation gets fooled again/And every generation is the same.“ Allerdings bleibt den typisierten Figuren seines Films auch keine große Entwicklungsmöglichkeit, um den wiederkehrenden Entscheidungsdilemmata zu begegnen.

Nicht etwa französische Beziehungsfilme haben ihn inspiriert, sagt Brüggemann, sondern Woody Allens komplexe romantische Komödie „Hannah und ihre Schwestern“ aus dem Jahre 1986 fungierte als „loses Vorbild“. An originellem Witz und fast schon abgeklärter Ironie mangelt es „3 Zimmer/Küche/Bad“ tatsächlich nicht. Aber zu oft sind die ebenso lustigen wie schmissigen Dialog-Schnipsel auf die Pointe hin geschrieben und inszeniert, was zur Folge hat, dass dem Film mitunter das erzählerische Fleisch und leider auch ein gewisses Maß an Realitätsgehalt fehlt.

Dieser Mangel an Wirklichkeit und echtem Leben ist natürlich schade, zumal Brüggemann in einem Statement fürs Presseheft beansprucht, eine Generation zu porträtieren, „deren Leben unter dem Stern der Unübersichtlichkeit steht.“ Dass das Leben wie eine „verrostete Waschmaschine“ ist, von der keiner wisse, wie sie funktioniere, ist einer der zahlreichen Gags des Films. Doch Brüggemann möchte diese Aussage nicht als Botschaft verstanden wissen. Vielmehr gehe es ihm darum, „Botschaften zu zertrümmern“. „3 Zimmer/Küche/Bad“ beschreibt also Symptome einer allgemeinen Unsicherheit und ist selbst Zeugnis dieser Desorientierung. Auch wenn ein wiederholt zitierter Sterne-Song das alles gar nicht so hoffnungslos sieht: „Wir müssen nichts so machen wie wir’s kennen/Nur weil wir’s kennen wie wir’s kennen.“

Die Wand

(AT / D 2011, Regie: Julian Roman Pölsler)

Von der Sorge leben
von Wolfgang Nierlin

Text und Bild, gesprochenes Wort und Schauspiel bilden in Julian Roman Pölslers werktreuer Adaption von Marlen Haushofers 1963 erschienenem Roman „Die Wand“ eine starke Einheit. Die sachliche Gedankenprosa der namenlosen …

Text und Bild, gesprochenes Wort und Schauspiel bilden in Julian Roman Pölslers werktreuer Adaption von Marlen Haushofers 1963 erschienenem Roman „Die Wand“ eine starke Einheit. Die sachliche Gedankenprosa der namenlosen Ich-Erzählerin, die sich schreibend eines Berichtszeitraums von zwei Jahren erinnert, und die reduzierte, wenig dramatische äußere Handlung, in deren Mittelpunkt die existentielle Einsamkeit einer Frau steht, legen eine solche gleichwertige Behandlung auch nahe. Haushofers gewichtiger innerer Monolog über einen katastrophalen Ausnahmezustand und das Geworfen-Sein des Menschen verlangt förmlich nach einer solchen Präsenz. Und Pölsler findet dazu Bilder, die nicht nur illustrieren, sondern teils visionäre Kraft besitzen. Immer wieder evozieren sie das Surreale und Unheimliche, das als Ungreifbares der Natur und ihrer verschlossenen Ordnung entwächst und über der apokalyptischen und zugleich sehr realen Sciencefiction-Szenerie schwebt.

Das Schreiben der Ich-Erzählerin (Martina Gedeck), vergegenwärtigt durch ihre nüchtern-melancholische Stimme aus dem Off, strukturiert den Film, indem es Rückblenden in die erzählte Vergangenheit auslöst. Zugleich ist es selbstvergewissernde Zwiesprache gegen die Angst, Existenzbeweis und der Versuch, das Menschliche des Menschen zu bewahren. „Ich schreibe nicht aus Freude am Schreiben; es hat sich eben so für mich ergeben, dass ich schreiben muss, wenn ich nicht den Verstand verlieren will“, heißt es gleich zu Beginn. Dann schließen die Buchstaben des Filmtitels „Die Wand“ die handschriftlichen Aufzeichnungen der Ich-Erzählerin ein. Kurz darauf wird die Gefangenschaft der Protagonistin zum alptraumhaften Thema. Während eines Ausflugs in die Berge, wo sie zusammen mit einem befreundeten Ehepaar das Wochenende in einer Jagdhütte verbringen möchte, findet sie sich plötzlich isoliert und abgeschnitten vom Rest der Welt. Eine unsichtbare Wand versperrt ihr den Weg und hindert sie am Weitergehen. Als nicht wahrnehmbare Grenze durch Raum und Zeit erzeugt diese Paradoxie mannigfache Konfrontationen. In Julian Roman Pölslers Film bildet sie zugleich (als Auge der Kamera) die Trennlinie zum Publikum.

Nach dem lange anhaltenden Schock und Selbstmordgedanken, nach Alpträumen und einer sich verlierenden Hoffnung entwickelt die Heldin wie in einer Robinsonade Überlebensstrategien und neuen Lebensmut. Gegen die vermeintliche Sinnlosigkeit und Absurdität des Daseins will sie „sich der Wirklichkeit stellen“. Und dabei helfen ihr Tiere: die tägliche Sorge um einen Hund namens „Luchs“, eine Katze, die Kuh „Bella“ und einen kleinen Stier sowie die mühevolle Arbeit, die mit dieser Verantwortung verbunden ist. Sie erkundet das Gebiet, erlernt landwirtschaftliche Techniken, aber auch – und trotz fortgesetzten Widerwillens – das überlebensnotwendige Jagen und Töten. Zwar ist ihr dieses notwendige Handeln eine Last, in die sie immer bewusster einwilligt, zugleich befreit es sie aber auch von der „Last der Entscheidung“. Schließlich erlebt sie eine allmählich sich vollziehende Verwandlung, ein langsames Hineinwachsen in eine neue, natürliche Ordnung, aus der die Liebe als „einzige Möglichkeit“ aufscheint. Eine Distanz zum „eingefrorenen Leben“ jenseits der Wand und eine Skepsis gegenüber der Rationalität sind damit verbunden. Pölslers nachdenklich stimmender Film konzentriert sich auf diese ebenso besänftigende wie schwerelose „helle Stille ohne Gedanken“ und spiegelt die inneren Aufbrüche und wechselnden Gemütszustände der Protagonistin – sowohl ihre Verschmelzungsphantasien als auch ihr Außenseitertum – in eindringlichen Bildern der Natur, die zur Seelenlandschaft wird.

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Schönheit

(D 2011, Regie: Carolin Schmitz)

Die Macht der Vorurteile
von Ricardo Brunn

Ohne Zweifel ist „Schönheit“ von Carolin Schmitz in formal-ästhetischer Hinsicht einer der bemerkenswertesten deutschen Dokumentarfilme der letzten Zeit. Ähnlich ihrem Debütfilm „Portraits deutscher Alkoholiker“ kommt dem Raum dabei eine besondere …

Ohne Zweifel ist „Schönheit“ von Carolin Schmitz in formal-ästhetischer Hinsicht einer der bemerkenswertesten deutschen Dokumentarfilme der letzten Zeit. Ähnlich ihrem Debütfilm „Portraits deutscher Alkoholiker“ kommt dem Raum dabei eine besondere Rolle zu. In tableau-vivant-artigen, bis in jedes Accessoire durchgeformten Einstellungen, die ähnlich den Kulissen des Theaters kein Außerhalb zulassen und durch ihr Inventar oftmals eine klinische Atmosphäre der Ordnung und Sauberkeit ausstrahlen, zeigt die Regisseurin Personen, in deren Leben Schönheitsoperationen einen zentralen Stellenwert besitzen. Konsequent kommentieren die Umgebungen die Protagonisten und ihr Gesagtes, überhöhen oder revidieren mal ironisch, mal zynisch. Während sie über ihr Online-Forum zum Thema Schönheitsoperationen als Lebensinhalt spricht, formt eine Protagonistin silikonkissengroße Buletten in ihrer Traumküche. In der Montage, die über den gesamten Film hinweg fabelhafte Transitionen herstellt, erfährt diese Szene einen weiteren Bruch, indem ihr anschließend das Bild eines Vertreters in gediegenem Ambiente entgegengesetzt wird, der über die Verschiedenartigkeit von Brustimplantaten referiert.

Unablässig wird so der Versuch unternommen, die Figuren in ihrem Wunsch zu entlarven, Teil einer diffusen (in Habitus und Raum jedoch erspürbaren) Elite sein zu wollen, wenn sie sich mit Statussymbolen umgeben, die durch die Zuordnung bestimmter Räume jedoch wie Fremdkörper wirken: Der Mercedes mit Holzarmaturen will in seinem edlen Erscheinungsbild einfach nicht zu den Vorhängen, der Couch und der großformatigen Teddybärfotografie im Wohnzimmer einer Protagonistin passen. Es geht demnach auch um Schönheit als Ersatzhandlung und manchmal ganz banal um das Gefühl von (Selbst-)Sicherheit. Und nicht selten wird durch die Organisation der Menschen im Raum nach einem strengen visuellen Konzept das Subjekt zum Objekt einer fast schon pathologischen Betrachtungsweise.

In dieser riskanten Gratwanderung belastet sich der Film schnell mit dem Vorwurf der Denunziation. Zwar entlarven sich die Protagonisten hinter ihren äußerst sauber verputzten Fassaden ihres Spießbürgerdaseins durch Habitus und Sprache oft genug selbst. Der konzeptuelle Ansatz und die gewählten filmischen Mittel verstärken diesen Eindruck jedoch, der zu allererst im Ansatz des Filmes zu suchen ist und mit der Auswahl der Figuren beginnt. Egal ob alleinstehender Dandy in gehobenem Alter, der es sich schuldig ist, schön zu sein oder in Partnerschaft lebende Automobilkauffrau auf Karrierefeldzug, die erst einmal keine Kinder möchte und auch nicht bereit wäre, diese (zum Schutze ihrer Brüste) zu stillen – das Figureninventar ist geprägt von Menschen, die spielend als Karikaturen zu zeichnen sind. Natürliche Ambivalenzen in den Personen werden, insofern sie je gedreht wurden, durch den Schnitt zu Gunsten einer Meinung großflächig wegoperiert. Denn indem sie bestimmte Figuren suchen und in akribisch konstruierte Tableaus setzen, gehen die Filmemacher bereits mit einer Ansicht in die Dreharbeiten, welche sie nicht hinterfragt wissen wollen. Auf einen dramaturgischen Bogen (einige Figuren werden nicht konsequent begleitet und ihr soziales Umfeld bleibt teils drastisch ausgespart), wodurch Relativierungen erzeugt werden könnten, wird verzichtet. Die offene dramatische Struktur reiht lieber zusätzliche Figuren, wie die 92jährige Oma, die noch ein paar Jahre schön sein will, in das Jahrmarktkaleidoskop der Eitelkeiten ein, obwohl diese dem Gesamtbild kaum mehr etwas hinzufügen können und im Fall dieser Frau nur bestätigen, dass Schönheitsoperationen bis ins Greisenalter hoch im Kurs stehen.

Der Vergleich mit den Filmen Ulrich Seidls („Mit Verlust ist zu rechnen“, „Tierische Liebe“), die einem aufgrund der überzeugenden formalen Strenge in den Sinn kommen, will deshalb nicht recht greifen. Im vollkommenen Gegensatz zu Ulrich Seidl wirken alle Personen in „Schönheit“ wie medizinisches Anschauungsmaterial. Auf seiner Suche nach Extremen will uns Seidl hingegen einen Spiegel vorhalten und immer dann, wenn seine Filme in reine Bloßstellung abzudriften drohen, gleicht er diese mit der Würde seiner Figuren aus. Denn im Kern geht es immer um deren und damit letztlich um die Einsamkeit des Zuschauers beziehungsweise das ewige menschliche Drama des Geliebtwerdenwollens.

Am Ende verweist folglich selbst der Titel nur noch auf ein für die Protagonisten diffuses Schönheitsideal, welches für die Regisseurin offensichtlich nicht hinnehmbar ist. Deswegen macht es auch keinerlei Sinn einen Diskurs über den Begriff Schönheit anzustrengen, da der Film sich dafür nicht interessiert, so wie die Regisseurin den Fragen nach Schönheit in Interviews konsequent aus dem Weg geht und lapidar auf die Vielschichtigkeit des Themas verweist. Was sich hinter dem Wunsch nach einem schöneren Körper tatsächlich verbirgt (die Schönheitsoperation kann nur als Teil einer viel umfassenderen Strategie des Body-Enhancements verstanden werden), welche Probleme den Menschen in seinem Verhältnis zum eigenen Körper auch in Bezug auf moralische Qualitäten der Schönheit begleiten, das spart der Film weitestgehend aus.

Was tun wir nicht alle tagtäglich, um uns besser und, in einem weiter gefassten Sinne, schöner darzustellen als wir sind. Den Machern von „Schönheit“ scheint es nicht so zu gehen. Sie begreifen die Sucht nach (chirurgisch hergestellter) Schönheit nicht im Kontext des Körpers als Träger vielfältiger sozialer Botschaften, sondern begnügen sich mit der offensichtlichen Ablehnung einer Mittelschicht, die das Glücksversprechen der Schönheit mit ihren Mitteln zu erreichen sucht.

Léa – Die strippende Studentin

(F 2011, Regie: Bruno Rolland)

Sein und Schein
von Wolfgang Nierlin

Léa (Anne Azoulay) lebt mehrere Leben in verschiedenen Welten, die alle durch ein Band sozialer Abhängigkeiten miteinander verknüpft sind. In der nordfranzösischen Hafenstadt Le Havre versorgt sie ihre demenzkranke Großmutter …

Léa (Anne Azoulay) lebt mehrere Leben in verschiedenen Welten, die alle durch ein Band sozialer Abhängigkeiten miteinander verknüpft sind. In der nordfranzösischen Hafenstadt Le Havre versorgt sie ihre demenzkranke Großmutter (Ginette Garein), bei der sie auch wohnt, studiert tagsüber in der Bibliothek und arbeitet abends als Bedienung in einer Striptease-Bar. Dass sie die Tochter des örtlichen Bürgermeisters ist, der mittlerweile mit einer neuen Familie zusammenlebt, erfährt man eher nebenbei. Als sie einen Studienplatz für politische Wissenschaften in Paris erhält, verschärft sich die soziale Dialektik: Um ihren Unterhalt und die Pflegeheim-Unterbringung ihrer Oma zu finanzieren, beginnt sie als Striptease-Tänzerin zu arbeiten. Bruno Rollands starkes Langfilmdebüt „Léa“ ist für seine DVD-Veröffentlichung in Deutschland deshalb mit dem sowohl dümmlich klingenden wie irreführenden Untertitel „Die strippende Studentin“ versehen worden.

Tatsächlich ist sein differenzierter Film eine Auseinandersetzung mit dem marxistischen Diktum, wonach das soziale Sein das Bewusstsein bestimme. Zwar arbeitet Léa selbstdiszipliniert und streng, sozial isoliert und sich bis zur Erschöpfung selbst ausbeutend an der Widerlegung dieses Satzes, gerät dabei aber immer tiefer in eine sowohl psychische als auch existentielle Krise. „Ich bin ein unabhängiger Typ!“, sagt sie trotzig und gegen allen Stress und Ärger anfangs noch zu ihrem Spiegelbild, was durchaus auch als Suche nach einem eigenen Weg jenseits der traditionellen Rollenzuweisung zu verstehen ist. Leitmotivisch zieht sich dieses mit Zweifeln, Ungewissheiten und Ermutigungen verbundene Bild der Selbstprüfung durch den Film. Ergänzt und kontrastiert wird es von Léas einsamen Gängen durch leere nächtliche Straßen.

Doch dann lässt sich die kontrollierte Frau regelrecht fallen und gerät zunehmend in einen Sog der Selbstzerstörung. Léa schottet sich ab, verliert das Vertrauen zu Menschen, erträgt kaum noch Nähe – etwa die zärtliche Fürsorge des Barmanns Julien (Eric Elmosnino) – und zeigt Symptome körperlicher Erstarrung. Bruno Rollands elliptisch erzähltes Portrait einer jungen Frau auf der Suche nach einem Platz im Leben lässt dabei Praxis und Theorie, Uni-Vorlesung und Prostitution, vor allem aber Sein und Schein aufeinander prallen. Immer wieder inszeniert er Anne Azoulay, die übrigens am Drehbuch mitgearbeitet hat (und demnächst in Pierre Schoellers „L’Exercice de l’État“ zu sehen sein wird), wie auf einer Bühne in frontaler Sicht: ob beim Putzen in der großelterlichen Wohnung, bei der Aufnahmeprüfung im Hörsaal oder bei ihren aufreizenden Tänzen im Stripteaselokal. Stets ist Léa den Blicken ausgesetzt, weckt aber auch Phantasien und verkauft Träume; der Dealer existiere durch den Käufer wird in einer Vorlesung Bernard-Marie Koltès zitiert.

Doch Bruno Rolland will weder die Opfer-Rolle umkehren, noch geht es ihm um einfache Zuschreibungen oder die lineare Verkettung von Ursache und Wirkung. Sein komplexer Film beschreibt vielmehr die Wechselwirkungen von Licht und Schatten, Vorder- und Hintergrund. Und wenn am Ende seine unerlöste Heldin am Strand von Le Havre das Bild verlässt, während am Horizont ein Schiff in den Weiten des Meeres verschwindet, liegt in diesem Abschied trotz aller Offenheit auch die Hoffnung des Aufbruchs.

Die Ökonomie des Glücks

(GB / USA / D / F 2011, Regie: Helena Norberg-Hodge, Steven Gorelick, John Page )

Die Blaubluse der Weltrevolution
von Andreas Thomas

Wie man offene Türen einrennt, um gleich darauf mit der Hintertür aus dem Haus zu fallen, das demonstriert die Trägerin des alternativen Nobelpreises, Helena Norberg-Hodge anhand ihres couragierten – oder …

Wie man offene Türen einrennt, um gleich darauf mit der Hintertür aus dem Haus zu fallen, das demonstriert die Trägerin des alternativen Nobelpreises, Helena Norberg-Hodge anhand ihres couragierten – oder eher coregierten und soloproduzierten Films „Die Ökonomie des Glücks“.

Es gibt manchmal Momente, da will man einfach nicht rezensieren, was aber als Rezension obliegt. Dieser ist einer davon. Hier kommt die Begründungskette: a) Helena Norberg-Hodge, das kann der Zuschauer zur Genüge registrieren, weil diese blaugebluste Frau nicht müde wird, perfekt und permanent blaugeblust auszusehen, des Weiteren immer eine Stimmungskanone des Weltfriedens zu sein, indem sie permanent positiv gesundheitsgetestet kuckt, und wie eine Art abgespeckte (in Wahrheit wahrscheinlich krankheitgeschrumpfte) und langhaarige Maggie Thatcher aussieht, was b) aber auch nicht hilft, weil sie in ihrem blauen Mao-T-Shirt und mit ihrer permanenten Grinserei wie die Reinkarnation der kompletten Mun-Sekte wirkt, und man sich als Zuschauer sofort überlegt, ob man lieber eine Volldosis Heroin oder jene masseneinschläfernde Heroine zu sich nehmen sollte: Wenn aber jemand wie Frau Northam-Carter eben so gut Bescheid zu wissen scheint, das bringt ihr Film ja rüber, dass blaue Hemden den Weltfrieden beherbergen, dann muss man sich ihr wahrscheinlich anvertrauen.

Daher: Der Film ist dufte und handelt davon, dass du und ich (also WIR) die Weltrevolution insofern zu betreiben haben, dass a) eben keiner mehr einsam ist. Und b) es keine Ausbeutung von Ladaq und all diesen anderen ökonomischen Nischen mehr zu geben hat, weil sonst da alles, was da kreucht und fleucht, leidet, denn normal haben die da ihre Kultur, auch bis vor kurzem gehabt, nur kam da jemand anderes, auch nicht Helena Bonham-Carter, aber trotzdem Schlechtes, und hat gesagt: Jetzt wird KONSUMIERT und nicht mehr amüsiert, sondern ganz arg gelitten. Innerhalb von etwa drei Jahren hat dann die ladaqsche komplette Bevölkerung (die Filmbilder beweisen das eindringlich) alle alten und festgefügten traditionellen Werte des Lachens und der Freundschaft fahren lassen; überall gab es plötzlich nur Schmutz und weinende Leute. Grund dafür war die Globalisierung. Das bestätigen auch alle Freunde von Frau Blauham. Daher ist der Rat von Frau Blaumann-Carter, dass ab jetzt Schluss sein muss mit Coca Cola und Hamburger für alle, plausibel. Und das nicht nur im fernen Asien!

Es darf auch bei uns nicht mehr normalen Berufen nachgegangen werden, wie Einzelhandelsfachverkäuferin oder Animateur im Beach-Club. Es wird die komplette Bevölkerung dazu benötigt, überall wo noch ein Krumen Erde ist, Gemüse und Obst anzupflanzen, damit wir wieder lokal und nicht global verknüpft sind. Dann wird sich das Lachen der ab sofort ausschließlich landwirtschaftlich tätigen Weltbevölkerung ganz schnell wieder einstellen, die doofen Kapitalisten, Banker und Spekulanten werden nach Hause gehen und sich schämen und freundlich werden wir uns Gurke um Gurke zur Hand reichen, es wird getanzt und gesungen werden rund um den Maulbeerbaum (friedvolle Film-Welt-Musik: Florian Fricke, Popol Vuh), und es wird wieder die Frage erlaubt sein: Wozu sind Kriege da? Und die Antwort wird lauten: Wir haben den Grund tatsächlich vergessen, denn wir sehen keinen Grund, einen Krieg zu führen, weil wir alle Erdbewohner lieben und uns auch alle Erdbewohner lieben.

Dass diese ganze Zukunftsvision der Helena Norberg-Hodge und ihrer weitgehend esoterisch gefärbten Freunde (es gibt alle fünf Minuten eine behauptete, fettgedruckte These, und nicht ein einziges Mal eine Gegenmeinung) tatsächlich so wirkt, als wäre sie einem Faltblatt der Zeugen Jehovas entsprungen, könnte Freunde der Weltverbesserung davon abschrecken, die Welt zu verbessern, und es könnte Freunde der bestehenden „Freiheit“ darin bestärken, auf jeden Fall Arbeitslosigkeit, Klimaerwärmung, Umweltverschmutzung und persönliche Depressionen derartiger Gleichmacherei und sektenartiger Hirnwäsche vorzuziehen.
Fänden wir das gut? Nein! Finden wir deshalb den Film gut? Nein!

Angels‘ Share

(GB / F 2012, Regie: Ken Loach)

Dreamteam
von Wolfgang Nierlin

„Steckt man einmal in der Scheiße, kommt man nicht mehr raus“, sagt Robbie (Paul Brannigan) über sich und seine kriminelle Familiengeschichte im sozialen Abseits des Lebens. Genau diesen Satz und …

„Steckt man einmal in der Scheiße, kommt man nicht mehr raus“, sagt Robbie (Paul Brannigan) über sich und seine kriminelle Familiengeschichte im sozialen Abseits des Lebens. Genau diesen Satz und den darin enthaltenen Determinismus widerlegt Ken Loach auf märchenhafte Weise in seinem neuen Film „Angels‘ Share“. Durch Herkunft benachteiligt, vom tristen Milieu geschädigt, perspektivlos und ohne Job sind alle, die zu Beginn des humorvollen Sozialdramas vor dem Richter erscheinen, um ihr Strafmaß in Empfang zu nehmen, was der britische Meisterregisseur ziemlich nüchtern und ernüchternd inszeniert. Gewalt und Gegengewalt, Diebstähle und Drogen bestimmen den Alltag dieser kleinkriminellen Verlierertypen, deren Vergehen mal beknackt, mal erschreckend brutal ausfallen. So bescheinigt der Richter dem tumben Albert (Gary Maitland), dass seine „abgrundtiefe Dummheit“ nur noch von seinem Glück überwogen werde, während er Robbie attestiert, ebenso gefährlich wie talentiert zu sein.

Der verständnisvolle und gutmütige Sozialarbeiter Harry (John Henshaw), der die straffällig gewordenen Jugendlichen bei ihrer Ableistung gemeinnütziger Arbeit unter seine Fittiche nimmt, bezeichnet seine chaotischen Schützlinge gar als „Dreamteam“. Die witzige Verschrobenheit der Rumpeltruppe, die letztlich ihren Status quo bestätigt, fungiert dabei als Kontrastfolie zu Robbies tragikomischer Entwicklungsgeschichte, für die sich der routinierte Drehbuchautor Paul Laverty einen cleveren Coup ausgedacht hat. Dass das Verlassen der alten Bahnen und der Beginn eines neuen Lebens der Solidarität und Freundschaft guter Seelen bedarf, gehört gewissermaßen zu Ken Loachs Grundüberzeugungen. Teilhabe hat in seinem Film mit Teilen zu tun, was ein wenig auch im doppeldeutigen Titel steckt.

Neben Harry, der Robbie immer wieder auffängt, ist es vor allem Robbies Freundin Leonie (Siobhan Reilly), die an ihren Freund glaubt und an dessen Verantwortungsgefühl für das gemeinsame Baby appelliert. „Ich habe Angst vor mir selbst“, kommentiert dieser sein Erschrecken über seine zerstörerische Aggressivität. Doch dann macht er Bekanntschaft mit schottischem Malt Whisky, vertieft sich in dessen Studium und findet darin in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung und Aufgabe. Es braucht diesen Katalysator, um seine schrittweise Befreiung auch bildlich und räumlich in Gang zu setzen. Getarnt mit Kilts, begeben sich Robbie und seine schrägen Freunde auf einen Trip von Glasgow in die schottischen Highlands, wo in einer altehrwürdigen Destillerie ein besonders alter und teurer Whisky versteigert werden soll. Mit viel Sympathie für seine liebenswerten Helden, mit augenzwinkerndem Humor und einer Prise Spannung inszeniert Ken Loach ein märchenhaftes (Whisky-)Abenteuer über die verändernde Kraft der Solidarität und macht „Angels‘ Share“ so zu einem sehr unterhaltenden, rundum gelungenen feelgood movie.

The Ghostmaker

(USA 2011, Regie: Mauro Borrelli)

Tod ist eine Losung
von Sven Jachmann

Novize im Filmgeschäft war Mauro Borrelli höchstens nur noch dort, wo er für seinen Debütfilm 'The Ghostmaker' den Regiestuhl besetzte. Als Illustrator, Storyboardzeichner und concept artist hat er bereits bei …

Novize im Filmgeschäft war Mauro Borrelli höchstens nur noch dort, wo er für seinen Debütfilm 'The Ghostmaker' den Regiestuhl besetzte. Als Illustrator, Storyboardzeichner und concept artist hat er bereits bei dutzenden megalomanischen Blockbuster-Produktionen (u.a. 'Dark Shadows' (2012), 'Captain America' (2011), 'The Wolfman' (2010), 'Fluch der Karibik' (2006 / 2007)) ein wenig von den Regeln des Spiels der Großen lernen dürfen. Und aus der streng ökonomischen Perspektive eines beliebigen Global Players, der neben Radios, Zeitschriften, Spielzeug oder Waffen eben auch an Filmen verdient, macht Borrelli mit seiner B-Film-Visitenkarte möglicherweise sogar einiges richtig. Immerhin verkneifen sich Regie und Drehbuch auch wirklich jede eigenständige Idee und entscheiden sich im Bedarfsfall ausnahmslos für die simpelste Lösung, weil Regelbrüche mit steigendem Budget schließlich umso massiver das Risiko Kapitalvernichtung potenzieren. Das wäre zumindest ein Indiz für vermeintlich zielgruppenorientiertes Arbeiten. Nur, einem Streber dabei zuzusehen, wie er gefällig die frustrierten Weisheiten seines narzisstischen Lehrers nachplappert, ist ungefähr so ergiebig wie den Focus als Mittel zur Weltflucht zu nutzen.

Mit anderen Worten: Als Horrorfilm, der uns, aus welchen Gründen und wovor auch immer, das Fürchten lehren will, hat „The Ghostmaker“ vollends versagt. Und es braucht nicht viel Federlesens, um die ausnahmslos mittelmäßige Konzeption dafür zu verantworten: In schlechtestdenkbarer TV-Ästhetik aus Prä-HBO-Zeiten, umsäuselt von einem addiert weniger als zehn Minuten verstummenden, nicht mal diskussionswürdig akzentuierenden, sondern rabiat dauerhaft eingesetzten Hier-ist-der-Teufel-in-jeder-Szene-versteckt-Score geht es hinein in die schauspielerisch leidlich vermittelte kaputte Psyche eines Studenten-Dreiergespanns (mit Frauenanhang) – oder was man eben dafür halten soll. Der erste, Kyle (Aaron Dean Eisenberg), ist Schönling mit zu großer Crystal-Leidenschaft, wofür er sich auch mal heimlich an den Ersparnissen seiner Freundin Julie (Liz Fenning) bedient, sofern er sie nicht im WG-Whirlpool verführt. Das bringt wiederum Sutton (Jeff Walter Holland), seinen Mitbewohner und zweiten im Bunde, insgeheim in Rage, hegt der doch eine unausgesprochen obsessive wie einseitige Bindung zu Julie – mit später noch fatalen Folgen. Aber zunächst erstmal ist Sutton gelähmt und deswegen ein armer Tropf. Weil die zwei keine Erklärung finden, welches Geheimnis der antike Sarg mit der obskuren Mechanik im Kopfbereich birgt, den Kyle mehr oder weniger zufällig von seiner Arbeitstour zuhause anschleppt, wird alsbald zur Recherche Platt (Jared Grey) konsultiert. Der ist, der drollige Name spoilert‘s, forschungsaffiner Geistesmensch, sieht deswegen eher unschön aus, trägt Brille und garniert in der Unibibliothek die von Studenten erbetenen Literaturtipps mit den Sätzen: „Du denkst über postmoderne Philosophie nach? Super, find ich gut! Da, die ersten Kapitel sind etwas zäh, aber der Schluss verändert dein Leben!“ (Expertenfrage: Wie heißt der Klassiker zum Verdikt?)

Wenn Klischees buchstäblich transzendieren, wächst wohl der Raum für Einfalt: Der Sarg, der titelgebende Ghostmaker, ist Schöpfung des morbiden Anti-Da Vincis Wolfgang von Tristen, einem Konstrukteur von Folterwerkzeugen aus dem 15. Jahrhundert. Ist die Maschine aktiviert, versetzt sie den in ihr Liegenden in den Nahtod (Platt:' Das ist eine NDE, eine NAHTODERFAHRUNG!'), der sich dann für wenige Minuten als Geist frei bewegen kann. Das Trio versucht es also unisono (dem Goldfisch hat der vorherige Testlauf nicht geschadet), dies gleich mehrere Male und bekommt alsbald üble Konsequenzen zu spüren. Der kluge Platt wird vom fürchterlich animierten Tod heimgesucht, weil er sonst noch das Ende verraten hätte, der potentiell derangierte Kyle lernt pädagogisch wertvoll seine Crystal-Abhängigkeit ver- und Julie wieder achten (ein Geisterblick hinter die Kulissen des abgeranzten Wohnwagens, in dem sein Dealer, ein schmerbäuchiger Grunger – da sind die also heute! -, samt Lakai fürs schnelle Geld über Leichen gehen, hilft) und Sutton steigen die neu mobilisierten Omnipotenz-Fantasien direkt in die Beine, sodass er Julie, als Geist zuvor ausgiebig observiert und befummelt, schließlich ins Finale entführen kann.

Die Spuren von „Flatliners“, 'Final Destination', Paul Verhoevens „Der Unsichtbare“-Variante „Hollow Man“ und „Christiane F.“ im Plot fallen nicht weiter ins Gewicht, die penibelst hanebüchenen Konstruktionen von Konflikten sind kein Graus, weil sich die gesamte Apparatur in ihrem grundsätzlichen Desinteresse an jedem Aspekt der Filmarbeit bestens darauf versteht, nicht die geringste Sorge um all die Klappentext-Figuren mit ihren Broschüren-Nöten aufkommen zu lassen. Diese ausgestellte Lustlosigkeit ringt mit einem schaurig ernsten inszenatorischen Erklärzwang, der seinem Publikum auch nicht eine Verständnis-Eigenleistung zugestehen will. Kontrollsucht jedoch, die auf jedwede Mühe lieber gleich zugunsten eines höheren Regelkatalogs verzichtet, bewegt sich in Nähe der Manie und die droht spätestens dann misanthropisch zu werden, sobald man unter solchen Voraussetzungen fremde Menschen 90 Minuten in einen dunklen, geschlossenen Saal gesperrt wissen will. Man muss sich ja nun nicht auch noch im Kino als Depp vorführen lassen.

Uliisses

(BRD 1982, Regie: Werner Nekes)

Schwellenfilm
von Klaus Kreimeier

Als „Polyhistor“ bezeichneten die alten Griechen einen Universalgelehrten. Das Universum und das Wissen über das Universum waren damals noch überschaubar. Der Begriff wurde obsolet. Dennoch, ich wage es: Werner Nekes …

Als „Polyhistor“ bezeichneten die alten Griechen einen Universalgelehrten. Das Universum und das Wissen über das Universum waren damals noch überschaubar. Der Begriff wurde obsolet. Dennoch, ich wage es: Werner Nekes ist ein Polyhistor des kinematografischen Wissens aus dem Ruhrgebiet. Er wächst in den 50er Jahren in Duisburg-Hamborn, Oberhausen und Mülheim/Ruhr auf, studiert Sprachwissenschaft und Psychologie in Freiburg und Bonn, ist Leiter des studentischen Filmclubs und produziert ab 1965 eigene experimentelle Filme, zunächst auf 8mm, dann auf 16mm, sehr bald zusammen mit seiner Lebensgefährtin, der Malerin Dore O. 1968 ist er Mitbegründer der Filmmacher-Cooperative und der Hamburger Filmschau. Mit Dore O. dreht er den 10minütigen Experimentalfilm 'jüm-jüm', in dem er über Montage nachdenkt; man sieht Dore O. auf einer Schaukel sitzend, sie bewegt sich vor einem gemalten überdimensionalen Phallus hin und her, in einem mathematisch ausgeklügelten Rhythmus.

1968 sah ich erstmals einen Nekes-Film in Oberhausen und war fasziniert – das war 'Kelek', ein Stummfilm, der das Blicksubjekt hinter ein vergittertes Kellerfenster verbannt, durch das man auf eine Straße und Menschen sieht. Nekes erhält Filmpreise, wird Professor an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und an der Kunsthochschule Offenbach – vor allem aber wird er als Sammler berühmt, er sammelt alles zur Prähistorie der Kinematografie: optische Spielzeuge des 19. Jhs., Medien wie die Laterna Magica, panoptische Geräte und vieles mehr.

Das Ruhrgebiet, optische Spielzeuge, magische Medien – damit sind wir schon im Zentrum seines Films 'Uliisses', den er in den Jahren 1980 bis 1982 gedreht hat. 'Uliisses' ist einer der ganz wenigen deutschen Avantgardefilme, die nach 1945 bis heute entstanden sind. Man müsste sich den Film mindest dreimal hintereinander ansehen: Das erste Mal, um sich von seinen Sprüngen und Übersprüngen verwirren zu lassen und ratlos zurück zu bleiben. Ein zweites Mal, um seine ästhetische Raffinesse, die radikale Schönheit vieler seiner Bilder zu genießen. Ein drittes Mal schließlich, um dessen gewahr zu werden, dass uns dieser Film auch eine Geschichte erzählt, dass er Unterhaltungswert hat und nicht nur Witz, sondern auch viele unglaublich komische Momente.

'Uliisses' ist eine Collage, ein äußerst präzis angelegtes Netz aus Bildern, die unterschiedlichsten Filmtechniken entstammen – und er ist ein Amalgam, eine Verknüpfung von Homers 'Odyssee' und James Joyce’ 'Ulysses'. Eingelagert sind Theaterszenen aus dem 24-Stunden-Stück 'The Warp' des englischen Autors Neil Oram, mit dessen Schauspielern Nekes in England zusammen gearbeitet hat. Mit Homer begann alles Erzählen in der europäischen Kulturgeschichte, und mit Joyce beginnt das Erzählen in der Moderne. Der Ulisses der Odyssee – oder der Leopold Bloom von James Joyce – ist in diesem Fall Uli, ein Fotograf, der von Dublin in die Heimat reist; sein Ithaka ist ein halb marodes Ruhrgebiet düsterer Fördertürme, grauer Autobahnen und schrundiger Brandmauern. An seiner Seite: Telemach alias Phil, er entstammt Neil Orams Stück „The Warp“. Seine Penelope oder seine Molly Bloom ist das Model Tabea Bloomenschein, die vom ganz großen Film, von Hollywood träumt. Die von Homer bekannten Episoden – von Calypso über die Sirenen, Eumäos und Helios bis zur Heimkehr nach Ithaka – strukturieren den Film durch eingeblendete Zwischentitel und gönnen uns insoweit eine gewisse Orientierung, ebenso wie die Anspielungen auf den epochalen Roman von Joyce. Sie mobilisieren unser literarisches Gedächtnis – gleichzeitig setzen sie die Literarisierungen dem Bilderhagel aus Nekes‘ Filmmaschine und damit einer Um- und Neuinterpretation aus. „Lighterature“, „Lichteratur“ nennt Nekes selbst sein Amalgam aus ‚Lichtspiel’ und Literatur.

Doch damit nicht genug. Allein auf der Ebene der Filmgenres durcheilen wir das gesamte Repertoire des Kinos: von der Slapstick-Groteske über das Roadmovie bis zum Agentendrama, vom abstrakten Film der 20er Jahre über den Industriefilm bis zum Pornofilm. Die Genrevielfalt dient keinem Selbstzweck. Nekes verwebt die Genreanspielungen und Genregrenzen sowohl mit dem Stoff der erzählten Geschichte als auch mit seiner subtilen Filmgrammatik, seiner Philosophie des Sehens. Dieses Verweben und Verknüpfen, das wechselseitige Durchdringen von Motiven, literarischen und filmischen Techniken gilt auch für die zahlreichen Zitate aus der Filmgeschichte mit ihren großen Figuren, Mythen und Klischees: Blitzartig, oft durch doppelte und dreifache Überblendung verrätselt, begegnen wir einem Zitat aus 'Casablanca', der Cathérine Deneuve aus 'Belle de Jour', dem gespreizten Gang von Groucho Marx und der Einfahrt des Zuges von Lumière – jenem Urknall, mit dem angeblich die Geschichte des Kinos begann.

Als ich den Film nach vielen Jahren wieder sah, ging mir ein Dreiklang aus Wörtern nicht aus dem Kopf, sie belegen auch die Schönheit und Genauigkeit der französischen Sprache: Voyer – voyeur – voyage. In Nekes’ Film geht es, in erster und letzter Instanz, um das Sehen und Sehen-Können; um das Sehen-Wollen und die Seh-Lust; um Wahrnehmen und Reisen, auch um eine Reise in das Innere des Sehvorgangs als einer Leistung unseres Gehirns. Dietrich Kuhlbrodt hat mit Recht festgestellt, Gegenstand dieser Odyssee sei „die Bildsprache selbst: das Sehenlernen und das Sehenwollen.“ Werner Nekes ist Zauberer und Erfinder, ein Archäologe, der in seiner Werkstatt von den präkinematografischen Attraktionsmaschinen bis zur Computersimulation alle Werkzeuge nutzt, um „die Welt als kinematographisches Vexierbild“ nachzubauen. Es sieht so aus, als teste er die gesamte Geschichte der künstlichen Seh-Maschinen noch einmal durch, um dem Geheimnis der bewegten Bilder auf die Spur zu kommen: die Spiegelbilder des Barock, rotierende Spiegel, die Stereo-Effekte der frühen Fotografie und die Cinemascope-Künste des Kinos, die Holografie, die Bildzeilen des Fernsehens, schließlich die computergesteuerte Bildschaltung, das Polaroidfoto und den Laserstrahl.

Bazon Brock beschreibt in seinem langen Essay über diesen Film, wie Nekes die Funktionsweise des Thaumatrops, eines Spielzeugs aus dem 19. Jahrhundert, rekonstruiert, einer wahren „Wundermaschine der Bilderzeugung“: „Die Abbildung zeigt einen Mann und eine Frau in einer allseits bekannten Berührungsform. Die Berührung wird auf dem Spielzeug selbst gar nicht dargestellt, sondern entsteht erst in der Wahrnehmung des Betrachters, sobald das Metallplättchen um seine Achse mit hinreichender Geschwindigkeit rotiert. Dann verschmilzt die auf der Vorderseite dargestellte männliche Figur mit der auf der Rückseite dargestellten weiblichen Figur zum Paar. Auf diesem Verschmelzungseffekt von bewegten Bildern, die durch ein Nichtbild, einen Grenzstreifen, eine Schwarzphase oder ähnliches vonei-nander getrennt sind, beruht die gesamte Wunderwelt des Films.“

Beeindruckend ist der Schluss des Films. Uliisses tötet die Freier Penelopes bzw. Tabeas mit Hilfe der Fotografie, er schießt auf sie mit seiner Kamera, bannt sie im Bild. Das Bild aber zerfällt zu Staub, zu Nachbildern aus phosphoreszierendem Pulver. Das letzte Bild ist eine alte Lithographie von Odysseus’ Heimkehr nach Ithaka, die in wechselnder Beleuchtung als fotografisches Negativ oder Positiv erscheint.

'Uliisses' ist ein Schwellenfilm, genauer: ein Film, der um 1980 an einer Umbruchstelle entstanden ist. Das elektronische Bild hatte die technische Grundlage der Bildproduktion radikal verändert. 'Uliisses' ist noch ein Kinofilm, aber er stellt sich dem Fernsehen und bezieht, in einer sehr markanten Szene, die Fernsehtechnik in seine Bilderwelt ein. Heute, mehr als 30 Jahre später, können wir hinzufügen: 'Uliisses' steht auch an einer Schnittstelle zwischen den analogen und digitalen Medien. Nekes bedient sich bereits des Computers als eines technischen Hilfsmittels – die neuen imaginären Welten, die heute die digitalen Techniken ermöglichen, sind hier schon zu erahnen, aber sie werden noch mit analogen Techniken evoziert.

Bombay Beach

(USA 2011, Regie: Alma Har‘el)

Traumkulissen
von Carsten Happe

Bombay Beach ist ein Ort, an dem die Träume enden. Das Kaff an den Gestaden des Salton Sea, rund 150 Meilen südöstlich von Los Angeles entfernt, liegt im ärmsten County …

Bombay Beach ist ein Ort, an dem die Träume enden. Das Kaff an den Gestaden des Salton Sea, rund 150 Meilen südöstlich von Los Angeles entfernt, liegt im ärmsten County des Bundesstaats, nur noch etwa 100 Einwohner halten sich hier auf – Gestrandete im wahrsten Wortsinn. Es stinkt zum Himmel an diesem größten See Kaliforniens, das Ökosystem kollabiert in absehbarer Zukunft komplett, das einstige Naturparadies ist ein trauriger Schauplatz massiven Vogel- und Fischsterbens geworden.

Die wenigen Menschen, die sich hier, nahe der mexikanischen Grenze, unter anderem mit Zigarettenschmuggel über Wasser halten, ließen sich nach den gängigen Kategorien am ehesten unter White Trash subsumieren, ein paar Hippies sind auch dabei, Penner, Junkies, Ausgestoßene. Die israelische Videokünstlerin Alma Har’el hat sich dennoch die Mühe gemacht genauer hinzuschauen und hinzuhören. Und sie entdeckt Faszinierendes in den Biografien ihrer Protagonisten, wie dem schwarzen Teenager CeeJay, der der alltäglichen Gewalt in South Central Los Angeles entflohen ist und den Glauben an seine Football-Karriere noch nicht aufgeben mag. Oder dem kleinen Benny Parrish, einem manisch-depressiven Jungen mit blühender Phantasie, dem Alma Har’el in einer berührenden Sequenz die kurzzeitige Erfüllung seiner Wünsche schenkt.

„Bombay Beach“ schert sich nicht um die Konventionen des Dokumentarfilms, lässt Inszeniertes furchtlos in die Dramaturgie einfließen und bricht sie an vielen Stellen regelrecht auf – mit choreographierten Tanzszenen und videoclipartigen Montagen, die dem Film eine ganz eigentümliche Poesie verleihen, dem entrückten Ort seltsam angemessen. Wo die Dokumentation in der Regel einer Wahrheit oder Realität nachspürt, stellt „Bombay Beach“ vielmehr in Frage, ob seine Protagonisten ihre Realität nicht selbst imaginieren – anstelle ein Produkt ihrer Umwelt zu sein – und somit dem Leben in all seiner Unwirtlichkeit letztlich nicht einen tieferen Sinn und auch Wert abtrotzen.

Zur Filmmusik von Zach Condon und ausgesuchten Songs von Bob Dylan feiert Alma Har’el ein einsames Fest der winzig kleinen, großen Momente, die diese Menschen so besonders machen und ihren Film zu einem sperrig-schönen Kleinod. Und schließlich, wenn alle Fragen gestellt und keine beantwortet sind, endet „Bombay Beach“ wie selbstverständlich mit einem Traum.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

(D 2012, Regie: Florian Opitz)

Verdammte Raserei
von Wolfgang Nierlin

„Eigentlich ist alles super.“ Aber: „Ich hab‘ keine Zeit!“ Flankiert von Familienbildern und privaten Geschichten, wählt Florian Opitz für seinen Dokumentarfilm „Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ …

„Eigentlich ist alles super.“ Aber: „Ich hab‘ keine Zeit!“ Flankiert von Familienbildern und privaten Geschichten, wählt Florian Opitz für seinen Dokumentarfilm „Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ die persönliche Perspektive, um die „verdammte Raserei“ als gesellschaftliches Phänomen zu untersuchen. Dabei hat er für seinen individuellen Ansatz, dem er in lockerem Plauderton folgt, gute Gründe: Persönliche Schicksalsschläge, die Geburt seines ersten Sohnes und ein drohendes Burnout lassen ihn innehalten, um die Frage nach dem guten Leben zu stellen und sich auf die Suche nach der schmerzlich vermissten Muße und Gelassenheit zu machen. In zahlreichen Gesprächen mit Experten und Aussteigern umkreist er das Thema der Beschleunigung, dem er trotz einiger Redundanzen und einem zeitgerafften, etwas überfrachteten Mix mitunter wenig aussagekräftiger Illustrationen immer wieder neue Facetten abgewinnt. Das liegt zweifellos an den interessanten Gesprächspartnern, denen man gerne zusammenhängender, also ohne Unterbrechung des zeitlichen Redeflusses zugehört hätte.

„Gehe langsam, wenn du es eilig hast“, lautet die scheinbar paradoxe Formel des Zeitmanager-Gurus Lothar Seiwert, der mit faulem Zauber und griffigen Slogans gestressten Führungskräften die „Prioritätensetzung“ predigt. Aber gerade dieses angeblich einfache Trennen des Wichtigen vom Unwichtigen und also das Wählen im unüberschaubaren Feld zunehmender Möglichkeiten ist ja das Problem von Florian Opitz und vielen seiner Zeitgenossen. Alex Rühle von der Süddeutschen Zeitung, der sich selbst – nicht ohne Koketterie – mediales Suchtverhalten attestiert, hat sich deshalb ein zeitlich begrenztes, sicherlich auch privilegiertes „digitales Fasten“ verordnet und dabei das Verschwinden der analogen Welt bemerkt. Ein ehemaliger Banker von Lehman Brothers wiederum ist unter zunehmendem Leistungsdruck ausgestiegen, um als Berghüttenwart endlich „im Jetzt zu leben“ und damit die „Gegenwart aufzuwerten“.

Florian Opitz, der seinen Film als politischen, gar gesellschaftskritischen versteht, bleibt im Rahmen seiner weltweiten Recherchen jedoch nicht bei den Einzelfällen stehen, sondern dehnt seine Suche nach den Ursachen der allgemeinen Zeitnot aus auf das Feld der modernen Arbeitswelt. Unterstützt von den profunden Analysen des Soziologen Hartmut Rosa trifft er sich in London mit den „Beschleunigern“ der entfesselten Wirtschafts- und Finanzmärkte, die Zeit in Geld verwandeln und dabei die Kontrolle zunehmend an Automaten abgeben. Als „Drang zur Weltverbesserung“ bezeichnet dies tatsächlich Antonella Mei-Pochtler, eine der führenden Unternehmensberaterinnen.

Opitz findet aber auch Alternativen zum gesellschaftlichen Mainstream: Er besucht eine Bergbauernfamilie, die noch einem natürlichen Lebens- und Arbeitsrhythmus folgt; er erkundigt sich in Bhutan nach der Politik des „Bruttonationalglücks“ und trifft sich in Chile mit dem ehemaligen Unternehmer Douglas Tompkins, der in großem Stil Land und Wälder kauft, um in geschützten Nationalparks der Natur die nötige Zeit zu ihrer Entfaltung zurückzugeben und damit den „Raum zu entschleunigen“. „Ich beschleunige die Entschleunigung“, sagt der Gründer der Modefirma Esprit dabei lachend, um die Dringlichkeit seines Projekts zu erklären. Auch wenn in der paradox anmutenden Logik der Analyse dafür Geld und also Zeit notwendig sind, muss sich unsere Gesellschaft also beeilen, um die Raserei irgendwie aufzuhalten.

Kriegerin

(D 2011, Regie: David Wnendt)

Nazis gießen keine Blumen
von Ricardo Brunn

Voll auf Krieg gestriegelt zieht Marisa (Alina Levshin) als Teil einer rechtsextremen Clique durch die ostdeutsche Provinz. Mit geflügeltem Hakenkreuz auf der Brust werden Schlitzaugen im Regionalexpress ruckzuck auf DIN-A-4 …

Voll auf Krieg gestriegelt zieht Marisa (Alina Levshin) als Teil einer rechtsextremen Clique durch die ostdeutsche Provinz. Mit geflügeltem Hakenkreuz auf der Brust werden Schlitzaugen im Regionalexpress ruckzuck auf DIN-A-4 gefaltet und Kanaken an der Kasse einfach nicht bedient. Der Freund (Gerdy Zint) wird, da Deutsch-Nationale hart wie Krupp-Stahl sind, entsprechend hart gevögelt. Und weil der Hass so tief sitzt, wird das Feindbild auch schon mal mit dem Auto umgefahren. Zu Hause dann wird mit Mutti heftig gestritten und die Zimmerpflanze liebevoll gegossen. Weil Neonazis aber keine Blumen gießen, sondern saufen, pöbeln, Juden hassen und in Nostalgie schwelgend überteuerte Waffen aus alten Reichsbeständen kaufen, wird bald klar, dass Marisa die Sache mit dem Überfahren und Pöbeln noch leid tun wird. Das ist dann auch die Quintessenz der Geschichte: Die Ablösung von der ehemals identitätsstiftenden Neonazi-Szene als Abschluss eines Prozesses jugendlicher Selbstfindung. Oder vereinfacht ausgedrückt: Wenn es nicht länger als 90 Minuten anhält, darf man ruhig mal Nazi sein. Und als Marisa es tatsächlich nicht mehr aushält, schminkt sie sich die Ideologie wortwörtlich ab und zieht ein hübsches Kleidchen an. Am Ende ist das Mädel ein Sinnbild für den Widerstand und befreit somit auch den Zuschauer von seiner symbolischen Schuld. Nur die Schwingen des Reichsadlers werden auf ewig Marisas (und unsere) Brust schmücken.

Bei aller Polemik in der Beschreibung, David Wnendts Debütfilm „Kriegerin“ ist an und für sich ordentlich recherchiert: Die Hinwendung Jugendlicher zum Rechtsradikalismus als „Gelegenheitsstruktur“ (Christine Wiezorek), in der, aufgrund fehlender familialer Integration und geeigneter Bezugspersonen, nach Halt und Orientierung gesucht wird, ist in der Biografieforschung zum Thema nachhaltig belegt. Mit Teenager Svenja (Jella Haase), deren Weg in die rechte Szene, quasi als jüngere Version Marisas, aufgezeigt wird, erzählt der Film ein mögliches Szenario in der Bewältigung der eigenen, brüchigen Biografie. Dass Marisa sich mit ihrem beschädigten Leben der Großelterngeneration zuwendet, ist für weibliche Neonazis in ihrem Versuch der Selbstverortung ebenfalls von nicht zu unterschätzender Bedeutung und von Wnendt gut beobachtet.

Im Gegensatz zur soziologischen Feldforschung sieht der Film sich nun jedoch dazu gezwungen das Nebeneinander der unterschiedlichsten Handlungs- und Orientierungsmuster zum Exemplarischen zu verdichten und zu psychologisieren. Und David Wnendt leistet in diesem Punkt ganze Arbeit. Hier wird reduziert, zugespitzt und auf den kleinsten brutalen Nenner gebracht, bis kein Platz mehr für Reibungspunkte oder Widersprüche ist. Jeder ostdeutsche Neonazi ist in „Kriegerin“ durch und durch das, was der Zuschauer spätestens seit den Rostocker Pogromen immer wieder medial vermittelt bekommt. In einem Interview zum Film betont der Regisseur, dass er ein „aktualisiertes Bild der Rechten“ zeigen wolle, das mit unseren Vorstellungen vielleicht nicht übereinstimmt. Das ist ihm gründlich misslungen. Ein anderes Bild wäre gerade eines gewesen, in dem der Neonazi, wie beispielsweise in Winfried Bonengels Dokumentarfilm „Beruf Neonazi“ (1993) eloquent und freundlich den Holocaust leugnet und den Nachwuchs mit der Sprache eines Versicherungsvertreters und einigen Dias aus Auschwitz davon zu überzeugen sucht. Ein Neonazi, der auch zu den Eltern ein gesundes Verhältnis pflegt. Einer aus der Mitte der Gesellschaft.

Wnendt begnügt sich hingegen mit groben Figuren (Gerdy Zint scheint als festes HFF-Inventar mittlerweile ausschließlich auf Rollen dieser Art festgelegt zu sein), um diese in seine schablonenhafte Dramaturgie einer Läuterung hinein zu zwängen. Die Erzählung läuft nicht nur darauf hinaus, dass es, trotz vorliegender lebenslanger Sozialisation Marisas, scheinbar ganz einfach ist, den Neonazi in sich loszuwerden, sondern dass Opa seiner „Kriegerin“ den Virus des Bösen regelrecht eingepflanzt hat: „Der Jude war’s“, sagt Opa, „Hitler ist schuld“, wissen wir. Indem der Großelterngeneration die Schuld zugeschrieben wird, die Rahmung des Filmes durch Rückblenden lässt genau diesen Schluss zu, da darin die ganze Spannung des Filmes verborgen liegt, projiziert der Film das Problem Marisas in die Vergangenheit.

In dieser klaren historischen Abgrenzung und der Ausgrenzung der Rechten in ihrer zugespitzten Darstellung als ewig Gestrige mit niedrigem IQ werden die Verbindungen zum Alltag des Zuschauers vollständig gekappt. Er kann eine beruhigende Außenposition einnehmen, in der Rechtsradikalismus (oder der Ausschnitt den Wnendt uns in seinem Film präsentiert) zwar als Gefahr durchaus begriffen und geächtet, aber nicht als soziale Bewegung mit netzwerkartigen Strukturen verstanden werden muss. In „Kriegerin“ geht es nach wie vor um eine gesellschaftliche Randerscheinung, die nicht auf eine Neugestaltung der Gesellschaft, sondern ausschließlich auf einen möglichst hohen Bodycount zielt. Nur so bleibt es dem Zuschauer zum Einen weiterhin möglich, einen 70%igen „Ausländeranteil“ an Schulen für problematisch zu halten, ohne nach den pädagogischen Strukturen zu schauen, und gleichzeitig nach einem NPD-Verbot zu schreien. Zum Anderen kann er sich, und das ist schlichtweg eine falsche Absicht des Regisseurs in Bezug auf sein Thema, unterhalten fühlen.

Der Unwille, sich des tatsächlichen Diskurses, abseits aller gut gemeinter Ressentiments und Unterhaltungswerte, anzunehmen, offenbart, dass das ganze Gefilme gegen Nazis und Neo-Nazis nichts weiter als eine Geste der Ohnmacht ist – eine Lichterkette des Kinos. Man könnte folglich für den deutschen Spielfilm nach 1945 konstatieren, dass aus der mangelhaften filmischen Vergangenheitsbewältigung – von „Große Haie, kleine Fische“ (1957) bis „Der Untergang“ (2004) – eine dürftige Auseinandersetzung mit aktuellen Phänomenen des Rechtsradikalismus resultiert. „Schlimm ist unser Klischee von dummen Skins und hasserfüllten Visagen, denn die Realität ist schlimmer“, schreibt Dietrich Kuhlbrodt in „Deutsches Filmwunder. Nazis immer besser“. Die Terrorzelle von Zwickau samt ihren Verstrickungen in deutsche Geheimdienstkreise und die Rocker-Szene gibt ihm Recht und „Kriegerin“ ist ambitioniertes Gutmenschenkino. Ich gehe jetzt Blumen gießen!

Looper

(USA / CHIN 2012, Regie: Rian Johnson)

Reise zum Ich
von Harald Mühlbeyer

„Bleib mir weg mit dem Zeitreisekram“, sagt Filmbösewicht Abe (Jeff Daniels), „das röstet dir das Hirn.“ Und auch Bruce Willis stellt klar: „Über Zeitreise fangen wir gar nicht erst an …

„Bleib mir weg mit dem Zeitreisekram“, sagt Filmbösewicht Abe (Jeff Daniels), „das röstet dir das Hirn.“ Und auch Bruce Willis stellt klar: „Über Zeitreise fangen wir gar nicht erst an zu reden.“ Mit Ironie legt „Looper“ seine Grundprämisse fest, die Zeitschleifen, die das Denken verdrehen und bei denen die Logik irgendwo an der durchlässigen Grenze zwischen Zukunft und ihrer Vergangenheit versickert.

Willis spielt Joe – dessen älteres Ich –, der von Joseph Gordon-Levitt – dem jungen Joe – gejagt wird. Joe ist ein Looper im Jahr 2044. Er tötet die, die die Mafia des Jahres 2074 durch die Zeit zu ihm zurückschickt: So entledigen sich die Gangster der Zukunft ihrer Leichen, in der Vergangenheit kann keiner suchen. Der Delinquent wird gefesselt und geknebelt in die Zeitmaschine gesteckt, Joe lauert mit seiner Schrotflinte am Ort der Ankunft, peng, Job erledigt; währenddessen übt er französische Vokabeln. Als Lohn gibt es Silberbarren …

Doch die Looper werden einer nach dem anderen ausgeschaltet, ihr Zukunfts-Ich wird zurückgeschickt und vom jüngeren Ich unwissentlich getötet: So ist der Vertrag gelöst, und man hat noch genau 30 Lebensjahre vor sich. Willis aber als alter Joe entkommt, Gordon-Levitt verfolgt ihn, hinter ihm wiederum sind Abes Gangster her. Und auf einer Farm wächst der künftige Tyrann der Menschheit heran, den der alte Joe – eines seiner Opfer im Jahr 2974 – noch im Kindesalter töten will.

Dem Plot, der die Hirnwindungen verknotet, gelingt es, irgendwie logisch zu erscheinen. Die Zeitebenen sind dynamisch miteinander verknüpft, und auf der Basis von Tun und Erinnern baut Regisseur Rian Johnson einen intelligenten, komplexen Film, der die richtige Mischung aus Spannung und Verstörung bietet. Und er schafft es, seinem Debüt, einer Independent-Produktion, die von China mitfinanziert wurde, das richtige Feeling zwischen harter Action und persönlichem Drama zu verleihen. Auf Verfolgung und Schießereien folgen charakterbezogene Passagen, in denen Johnson das Tempo herausnimmt, bevor der nächste Ausbruch von metzelnder Gewalt folgt.

Clever geht der Film mit Erwartungen und Zuschauerwissen um, spielt damit, nutzt das Genre-Vorwissen, um in Andeutungen und Ellipsen zu erzählen. Anleihen von Film noir und Western verstärken den Drive des Films, und einige Szenen bleiben unvergesslich. Wie Johnson zwischendrin den Zuschauer in einem Zustand heftiger Verwirrung hängen lässt – um dann das Leben von Joe dreißig Jahre vorzuspulen, ein nahezu wahnwitziger dramaturgischer Kunstgriff, der funktioniert. Wie er gleich zwei Tabus berührt, das Töten eines Kindes und ein tödliches Kind. Und wie er seine Gewaltausbrüche intensiviert, indem er über Bande spielt: An einem Flüchtigen aus der Zukunft werden die schrecklichen Folgen von Folterungen an seinem jüngeren Ich demonstriert, indem den Alten immer mehr Narben entstellen, immer mehr Gliedmaßen fallen ihm ab, drastisch und grausam ist das, wie sich an seinem verunstalteten Körper der Zustand seines jungen Ichs spiegelt …

Der lange heiße Sommer

(USA 1958, Regie: Martin Ritt)

Bigmouth strikes again
von Carsten Happe

Nicht William Faulkner, von dem die literarische Vorlage stammt und der die zeitgenössischen Filmplakate dominiert, nicht Regisseur Martin Ritt, der hiermit seinen ersten großen Hit verbuchen konnte, nicht einmal Hauptdarsteller …

Nicht William Faulkner, von dem die literarische Vorlage stammt und der die zeitgenössischen Filmplakate dominiert, nicht Regisseur Martin Ritt, der hiermit seinen ersten großen Hit verbuchen konnte, nicht einmal Hauptdarsteller Paul Newman, der für seine Rolle des Ben Quick in Cannes ausgezeichnet wurde, ist die größte Attraktion dieses flirrenden Südstaatendramas, sondern ein aufgedunsenes, streitsüchtiges Großmaul, das kurz zuvor eine erneute Demütigung von Hollywood hinnehmen musste und bald wieder enttäuscht gen Europa davonziehen sollte: Orson Welles, Genie und Wichtigtuer, Urgewalt und auch fast zwanzig Jahre nach „Citizen Kane“ eine der erratischsten Figuren des amerikanischen Films.
Seine letzte Regiearbeit „Touch of Evil“ war gerade wie so vieles zuvor von den Studiobossen verstümmelt worden, sein Auftreten am Set von „Der lange heiße Sommer“ brachte offenbar jeden der restlichen Crew und Darsteller auf die Palme. Welles ist verschwitzt, speckig und manchmal grotesk geschminkt, und doch dominiert er jede Szene, selbst wenn er nicht einmal körperlich präsent ist. Als Familienpatriarch Will Varner spielt er einen Charakter, der rund zwanzig Jahre älter sein sollte als Welles selbst zu dem Zeitpunkt, und man kann dies als erneute Spitze des Systems gegen den verlorenen oder ausgestoßenen Sohn lesen, der mit allem zu früh dran war: der Radiostar mit „The War of the Worlds“ im Alter von 23 Jahren, das monolithische Hauptwerk „Citizen Kane“ mit 25, der Fall vom Olymp nur zwei Jahre später. Mit 43 Jahren nun also der alte Südstaatengrantler, der vom blauäugigen Emporkömmling Newman herausgefordert wird und sein Imperium schwinden sieht. Ein fast prophetischer Abgesang, bevor Welles im Jahr darauf wieder in Spanien, Italien, Hong Kong vor der Kamera steht. Hauptsache, weit weg von Hollywood.

Nebenbei war „Der lange heiße Sommer“ das perfekte Vehikel für eine von Hollywoods schönsten Romanzen. Paul Newman und Joanne Woodward kannten sich zwar bereits fünf Jahre, aber erst im Zuge dieses Films wurde publicityträchtig geheiratet und die beiden blieben für fünfzig (!) Jahre eines der Traumpaare der Traumfabrik. Dass die Chemie zwischen Newman und Woodward stimmte, merkt man auch diesem ersten von sieben gemeinsamen Filmen an – ihre unterkühlte, erwachsene Romanze unter den gestrengen Augen ihres Papas und seines Chefs fasziniert jenseits der üblichen, süßlichen Klischees.
Und doch liegt über allem der leise Schmerz des Abschieds und das unbestimmte Gefühl, dass hier eine Ära langsam aber stetig ausklingt. Der alte Süden, der klassische Hollywoodfilm, die Karriere des Orson Welles, alle kapitulieren schon bald vor den nahenden Sixties. Hier tanzen sie noch einmal, in De Luxe Farben und schönstem Cinemascope, einen langen heißen Sommer.

Bombay Beach

(USA 2011, Regie: Alma Har‘el)

Monument des Scheiterns
von Andreas Busche

Es gab eine Zeit, da suchte man den „American Dream“ allen Ernstes in der Wüste. Die Wüste war die letzte Front der Pioniere, die es noch zu erobern galt. Kalifornien, …

Es gab eine Zeit, da suchte man den „American Dream“ allen Ernstes in der Wüste. Die Wüste war die letzte Front der Pioniere, die es noch zu erobern galt. Kalifornien, der gelobte Westen, war längst aufgeteilt. Über diese Landnahme in den dreißiger Jahren gibt es auch einen sehr guten Kinofilm: Roman Polanskis „Chinatown“, der Jack Nicholson zum Star machte. „Chinatown“ handelte von der Verteilung der südkalifornischen Wasservorräte, die zur Besiedlung des Umlands von Los Angeles von entscheidender Bedeutung waren. Wer das Wasser besaß, hatte die Macht. In der Wüste dagegen standen sich die Bodenspekulanten noch nicht gegenseitig auf den Füßen. Die Mafia machte den Anfang. Mitten in der Wüste von Nevada entstand Las Vegas, das in den Fünfzigern zur Boomtown wurde: nah genug am Sehnsuchtsort Kalifornien mit seinen Palmen und Sandstränden, aber mit einem ganz speziellen, artifiziellen Glamour aus Plastikpyramiden, Casinotempeln und dem Ruch des organisierten Verbrechens.

Der Saltonsee, knapp 400 Kilometer südlich von Los Angeles, hat eine ähnlich bewegte Vergangenheit, nur dass der amerikanische Traum hier keine Erfolgsgeschichte schrieb. 1905 brachten schwere Regenfälle den Colorado River zum Überlaufen, so dass ein riesiges Binnengewässer mitten in der Wüste entstand. In den Fünfzigern entdeckten clevere Investoren den Saltonsee als Ausflugs- und Urlaubsziel gestresster Großstädter. Hotelanlagen und Casinos schossen an der „neuen Riviera“, so die damalige Werbung, aus dem Boden. Bald drückten sich auch die Berühmtheiten aus Las Vegas und Los Angeles die Klinke in die Hand.

Über diese Landnahme gibt es jetzt auch einen Film – es ist jedoch kein Krimi geworden, sondern eine Art Dokumentation, ein Sozialdrama oder auch ein filmischer Wachtraum. Die Farben und Texturen von „Bombay Beach“ sind so ausgewaschen und blass, daß sie geradezu unwirklich erscheinen – als wären Landschaft und Figuren allein vom Sonnenlicht konturiert.

Einen ähnlich zerbrechlichen Eindruck hinterläßt auch Bombay Beach, ein ehemaliges resort an den Ufern des Saltonsees. Vom Glanz der Fünfziger und Sechziger ist nichts geblieben. Heute ist der Salzgehalt des Sees so hoch, daß an seinen Ufern täglich große Mengen toter Fische angespült werden. Die Feriensiedlungen sind verfallene Geisterstädte, ein Monument des Scheiterns. Die israelische Filmemacherin Alma Har’el, die unter anderem für ihre ätherischen und hypnotisch verrätselten Musikvideos für Sigur Rós, Beirut und Jack Penate bekannt ist, verschlug es vor drei Jahren durch Zufall an diesen unwirtlichen Ort. Ursprünglich hatte sie einen Drehort für ein Musikvideo gesucht. Die Menschen, die dort am Rande der Gesellschaft leben, hinterließen auf die Filmemacherin jedoch einen so starken Eindruck, daß Har’el gleich mehrere Monate blieb.

Drei Menschen haben es ihr besonders angetan. Der achtjährige Benny Parrish, der unter einer bipolaren Störung leidet, ist das emotionale Zentrum des Films. Die Eltern wissen mit seiner Krankheit nicht anders umzugehen, als den Jungen mit Medikamenten vollzupumpen. Seine Arztbesuche gehören zu den Routinen im Film. Benny weiß, daß er anders ist als die Kinder, mit denen er in den Ruinen von Bombay Beach spielt, obwohl er den Unterschied nicht versteht. “Bin ich verrückt?” fragt er seine Mutter einmal.

Die Parrishs sind ohnehin ein Fall für sich. Der Vater hatte Ende der Neunziger eine kleine Wehrsportgruppe, die sich in der Wüste ausgefeilte Scheingefechte lieferte. Als das Jugendamt eines Tages vor der Tür stand, entdeckten die Behörden im Garten Sprengsätze und Waffen. Es war ein Jahr nach 9/11, die Eltern wanderten wegen der Gründung einer terroristischen Vereinigung für zwei Jahre ins Gefängnis, der damals drei Wochen alte Benny landete im Waisenheim. Heute sitzt der Vater stumpf in seinem Fertighaus; außer Biertrinken und Rumballern weiß er mit seiner Zeit nichts anzufangen. Viel mehr hat Bombay Beach allerdings auch nicht zu bieten.

Eine andere Geschichte handelt von CeeJay. Er ist zu seinem Vater nach Bombay Beach geflüchtet, nachdem sein Cousin bei einer Gangschießerei in Los Angeles ums Leben gekommen war. Dass ein Jugendlicher ausgerechnet an diesem gottverlassenen Ort seinen Traum (von einem College-Stipendium) verwirklichen will, sagt einiges über die gesellschaftlichen Zustände in Amerika aus. Und dann ist da noch der fast 80jährige Red. Er hat die Große Depression und einen Weltkrieg überlebt, um seine letzten Jahre in einer kleinen Siedlung von Aussteigern und Freaks zu fristen. Um sich finanziell über Wasser zu halten, kauft er im nahe gelegenen Reservat steuerfrei Zigaretten an, die er an die Bewohner von Bombay Beach weiterverscherbelt. “Die Wüste hat mit niemandem Mitleid”, erzählt er mit Granitstimme aus dem Off. ”Du mußt improvisieren, um zu überleben.”

Reds Worte sind auch eine treffende Beschreibung seines Landes. Der US-Independentfilm hat sich in den vergangenen Jahren immer weiter von den Metropolen entfernt, um ein Amerika zu zeigen, das mit der Realität in den Abendnachrichten nur noch wenig gemein hat. Har’el schneidet mit ihrem Film in ein Segment der US-Demographie, das weitestgehend vergessen wurde. Doch belässt sie es nicht bei einem trockenen Sozialrealismus, wie er im Independentkino gerade verstärkt zu beobachten ist, sondern entwickelt einen traumhaften Collagenstil, der die Bewohner von Bombay Beach nicht zu Objekten einer Sozialstudie degradiert, sondern sie als Subjekte einer selbst geschaffenen Realität ernstnimmt. Zusammen mit den Kindern hat Har’el einfache, berührende Tanz-Choreografien entworfen, die den harten Realismus ihrer Bilder immer wieder mit surrealen Spielsequenzen aufbrechen. So scheint es in manchen Momenten, als wäre Terrence Malick den Menschen von Bombay Beach in der Wüste erschienen. Der unscharfe, verschleierte Akustik-Folk von Beirut tut sein Übriges.

Im amerikanischen Kino lassen sich nur wenige Vorläufer von Har’els Stil finden: etwa Charles Burnetts „Killer of Sheep“ (1975) oder David Gordon Greens „George Washington“ (2000). Filme über Kinder, die die Wohlstandsruinen der Elterngeneration gezwungenermaßen in einen Abenteuerspielplatz verwandeln. “Bombay Beach” besteht aus nicht viel mehr als Licht, Tanz und Spiel (die Kinder vergnügen sich mit angespültem Schrott, die Eltern mit Waffen). Dahinter verbirgt sich kein gesellschaftlicher Kommentar, auch wenn der Film genügend Facetten des Lebens unterhalb der Armutsgrenze abbildet. Har’el geht es vor allem um ehrliche Anteilnahme und liebevolle Wertschätzung. Dass das Kino der Politik diese Aufgaben inzwischen abgenommen zu haben scheint, ist das eigentlich Deprimierende an der Geschichte von Benny, CeeJay und Red.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 10/12

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Schutzengel

(D 2012, Regie: Til Schweiger)

Ein Herz für Kinder
von Ulrich Kriest

Ironie der Geschichte! Wenn sich ein Filmkritiker am Donnerstagnachmittag als einziger Gast in einem riesigen Multiplex-Kinosaal einfindet, sollte man die Filmvorführung dann nicht vielleicht doch als „Pressevorführung“ bezeichnen? Til Schweiger …

Ironie der Geschichte! Wenn sich ein Filmkritiker am Donnerstagnachmittag als einziger Gast in einem riesigen Multiplex-Kinosaal einfindet, sollte man die Filmvorführung dann nicht vielleicht doch als „Pressevorführung“ bezeichnen? Til Schweiger hat es bekanntlich nicht so sehr mit Journalisten, die sich mit Film auskennen. Lieber kollaboriert er mit der „Bild“-Zeitung oder zeigt seinen neuen Film „Schutzengel“ gleich vor Ort in Afghanistan begeisterten Bundeswehrsoldaten, die seinen Film über stahlharte Ex-Bundeswehrsoldaten mit großem Herzen und coolen Sprüchen selbstredend „Bombe!“ finden. Oder er setzt sich in Fernseh-Talkshows dem knallhart menschelnden Fragenkatalog einer Rakers oder eines Lanz aus, um sich in der Pose dessen zu gefallen, der unangenehme Wahrheiten ausspricht, die die „Gutmenschengesellschaft“ (Schweiger) sonst gerne unter den Teppich der political correctness kehrt. Da fährt der Mann dann „als Vater“ gerne eine harte Linie gegen Sexualstraftäter und vermisst greinend den Respekt vor den Soldaten, die unsere Freiheit und Demokratie gegen Islamismus und FDP am Hindukusch verteidigen. Ein anerkannter und auch als solcher bereits ausgezeichneter „Querdenker“, der von seinen links-liberalen Eltern einst gezwungen wurde, beim Cowboy-und-Indianer-Spielen immer Indianer zu sein, weil Cowboys per se ja böse seien. So was kommt von so was.

„Schutzengel“ ist neben den noch lebenden und schon gefallenen Bundeswehrsoldaten übrigens ebenso programmatisch dem jüngst verstorbenen Action-Regisseur Tony Scott gewidmet. Es handelt sich dabei um pures Genre-Kino, eine wenig originelle Mischung aus allerlei Versatzstücken von „Leon, der Profi“ und dem aktuellen Jason Statham-Vehikel „Safe – Todsicher“. Also: das junge Mädchen Nina, Marke: Straßenkind mit Diabetes, wird zufällig Zeugin eines kaltblütigen Mordes an einem jungen Mann durch einen fiesen Waffenhändler – und wird folglich in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Doch des Waffenhändlers Macht reicht nicht nur in die korrupte Führungsetage der Staatsanwaltschaft, sondern verfügt auch noch über Dutzende schwerbewaffnete Killer, die hier in für deutsche Verhältnisse spektakulär inszenierten Shoot-outs ins Gras beißen müssen. Dafür sorgt nicht zuletzt der desillusionierte Ex-Elitesoldat Max Fischer, der sich des Mädchens annimmt und sich dabei gegen die Polizei und die Schergen des Waffenhändlers stellen muss. Allein gegen alle.

Fischer, ein von Til Schweiger gespielter Schweiger, freundet sich mit der von Schweigers Tochter Luna gespielten Zeugin an, die ihm ganz viele Fragen stellt. „Schutzengel“ ist also ein Ballerfilm mit Herz, dessen Dialoge auf dem Niveau von Udo Lindenbergs Klassiker „Wozu sind Kriege da?“ gründeln. Bevor der Film zu viel Tiefgang entfaltet, kommt mit Moritz Bleibtreu ein weiterer Afghanistan-Veteran zum Einsatz, der im Kampfeinsatz zwar seine Beine, nicht aber seinen Humor verlor. So gesellen sich die kessen Sprüche zu den großen Gefühlen und der wuchtigen Action. Man ahnt, was Schweiger, der hier als Produzent, Regisseur, Hauptdarsteller, Mit-Drehbuch-Autor und Mit-Cutter präsentiert, wohl im Sinn hatte: einen richtig harten Actionfilm, aber mit Herz und Witz. So amerikanisch, dass hier die Berliner Polizeisirenen glauben, sie seien bereits auf den Straßen von San Francisco unterwegs. Aber es hakt mit der Ökonomie der Mittel: die Action verwechselt den Thriller mit dem Kriegsfilm, das Herz wird mit Pathos zugeschmalzt, wenn der traumatisierte Schweiger-Fischer anhebt, vom Krieg in Afghanistan und von der dort erlebten Kameradschaft zu nöhlen.

Bleibt der Witz, der die zwei, drei Szenen trägt, die in Erinnerung bleiben werden. Weil die Handlung absolut vorhersehbar ist und auch gar kein Hehl daraus gemacht wird, dass hier alles den Genreregeln folgt (nur eben etwas unpräzise und ohne Timing), bleibt dem Zuschauer viel Zeit, um zu staunen, welch eine illustre Truppe von Schauspiel-Prominenz hier mit von der Partie ist. Von Herbert Knaup über Heiner Lauterbach und Kostja Ullmann bis Karoline Herfurth und Axel Stein – bis in die kleinsten Nebenrollen ist „Schutzengel“ »erstklassig« besetzt und kann es sich leisten, die Stars gleich reihenweise aus dem Film zu kegeln, äh, zu schießen. Spätestens wenn Axel Stein zu Beginn des Films bei seiner Frau anruft, um sie zu fragen, ob sie wirklich schwanger ist und sich trotz hörbarer Laktoseunverträglichkeit wie ein Schneekönig freut, weiß man, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Erstaunlicherweise dauert es dann noch gefühlte zehn Minuten, bis er endlich erschossen wird. Unökonomisch wie in diesem Fall werden Szenen immer wieder derart aufgeblasen und ausbuchstabiert, bis auch der dümmste Zuschauer es kapiert hat.

Andererseits schafft es der Film schließlich sogar noch, irgendwo im Brandenburgischen ein echtes Western-Szenario in Gang zu setzen, mit einsam gelegenem Farmgebäude, einer Herde Lamas und ein paar Bösewichten, die vorbeigeritten kommen. Beim blutigen Finale zitiert Schweiger durchaus ernsthaft Michael Ciminos „Heaven’s Gate“, genauer: die Szene, in der Christopher Walken stirbt. Nur, dass Christopher Walken hier nicht stirbt, weil Schweiger lieber noch ein paar Tears jerkt. Überhaupt zeigt Til Schweiger hier mit überraschend lässiger Geste, in welchem Universum von Jungs-Filmen zwischen Michael Mann, Luc Besson und Ben Affleck er sich selbst wohl einordnet. Wenn er nur nicht so ein sentimentaler Hund wäre! Mit fast 50! Oder gerade deshalb?

Messner

(D 2012, Regie: Andreas Nickel)

Eroberer des Nutzlosen
von Wolfgang Nierlin

Zitate aus Albert Camus‘ philosophischem Essay „Der Mythos von Sisyphos“ rahmen den Dokumentarfilm „Messner“ von Andreas Nickel. Tatsächlich ähneln die abenteuerlichen Unternehmungen des Südtiroler Extrembergsteigers und Grenzgängers Reinhold Messner, der …

Zitate aus Albert Camus‘ philosophischem Essay „Der Mythos von Sisyphos“ rahmen den Dokumentarfilm „Messner“ von Andreas Nickel. Tatsächlich ähneln die abenteuerlichen Unternehmungen des Südtiroler Extrembergsteigers und Grenzgängers Reinhold Messner, der sich selbst einmal als „Eroberer des Nutzlosen“ bezeichnet hat, einem absurden Tun. Zugleich ist dieser immer wieder neue „Kampf gegen Gipfel“, wie es bei Camus heißt, seine ebenso extremen wie nutzlosen Anstrengungen und Strapazen, Ausdruck existentieller Freiheit, die im Falle des Portraitierten schicksalhafte Züge trägt. Nicht umsonst zeigt das Plakatmotiv zum Film die Verschmelzung von Berg und Mensch. „I am obsessed by my vision“, heißt es im Song, der Messners „Leidenschaft bis zur Krankheit“ unterlegt ist. Jedoch geht es dem Bergsteiger dabei nicht um die Anhäufung von Rekorden, sondern um Erkenntnis und Überblick. Denn gerade die Grenzerfahrung lasse ihn, so Messner, „die Zerbrechlichkeit des Lebens“ spüren.

Als „Metapher für das universelle Thema des Wachsens an Widerständen, dem Überwinden von Rückschlägen“ und also für das Leben selbst versteht Andreas Nickel das Bergsteigen. Sein Film folgt insofern den Lebensstationen Reinhold Messners, indem er diese und die mit ihnen verbundenen Expeditionen unter gliedernde Begriffe wie zum Beispiel „Rebellion“, „Moral“, „Verantwortung“, „Selbstprüfung“ und „Erkenntnis“ stellt. Dazu äußern sich der Portraitierte selbst, drei seiner Brüder, Weggefährten und Zeitzeugen, während Nickel mit Zeitdokumenten und nachgestellten Bergtouren den berührenden Wahnsinn dieses ungewöhnlichen, sich dem Verstehen letztlich entziehenden Lebens nachzeichnet. Die Bergsteiger Florian und Martin Riegler sind neben andern für diese teils waghalsig erscheinenden Nachinszenierungen, die an faszinierend fotografierten Originalschauplätzen entstanden, in den Rollen von Reinhold und seines tödlich verunglückten Bruders Günther zu sehen.

Als Leitmotiv für Andreas Nickels biographischen Dokumentarfilm dient Messners Rebellion und unbedingter Freiheitswillen in der Konfrontation mit den Grenzen des Möglichen. Sein Klettern bedeutet Ausbruch aus der Enge von Tal, Elternhaus und Internat und ist zugleich Widerstand gegen Autoritäten sowie pure „Lust an der Auflehnung“ im Geiste der Achtundsechziger. „The Times They Are a Changin‘“, singt Bob Dylan auf der Tonspur des Films. Messner klettert gegen innere und äußere Widerstände und revolutioniert das Bergsteigen gegen die Helden-Mythen der Altvorderen. Doch der alpine Paradigmenwechsel fordert seine Opfer. Als sein Bruder Günther im Jahre 1970 auf tragische Weise am Nanga Parbat stirbt, vermischt sich Messners Trauma mit Schuldgefühlen, Zweifeln und äußeren Anfechtungen. Zugleich radikalisiert sich in der Folge sein Abenteurertum als gelte es, die Energie des Verstorbenen der eigenen hinzuzufügen und weiterzutragen.

Berg Fidel – Eine Schule für alle

(D 2012, Regie: Hella Wenders)

Münsteraner Bildungsutopie
von Ricardo Brunn

Wie kaum ein anderes Genre hat der utopische Film hypothetischen Charakter. In sich geschlossene, phantastische Welten dienen als Resonanzraum gesellschaftlicher Entwicklungen und Stimmungen. Hier kann sich die Wirklichkeit ihrer Grenzen …

Wie kaum ein anderes Genre hat der utopische Film hypothetischen Charakter. In sich geschlossene, phantastische Welten dienen als Resonanzraum gesellschaftlicher Entwicklungen und Stimmungen. Hier kann sich die Wirklichkeit ihrer Grenzen entledigen und etwas nicht Geschehenes so beschreiben, als wäre es bereits geschehen.

Der Dokumentarfilm „Berg Fidel – Eine Schule für alle“ ist quasi ein utopischer Film. Und als solcher beginnt er auch: Drei Astronauten müssen mit ihrem Raumschiff innerhalb weniger Sekunden die Erde erreichen, sonst droht ihnen der Tod. Mit gekonnter Parallelführung von unerbittlichem Countdown auf der einen und den Anstrengungen der Space-Shuttle-Besatzung auf der anderen Seite trägt David voller Hingabe seine selbst verfasste Geschichte vor. Am Ende atmet er erleichtert auf – die Astronauten haben es geschafft.

Zwei knappe Texttafeln im Anschluss an diesen Prolog zeigen die Koordinaten des Münsteraner Grundschuluniversums an: Unabhängig von ihrer sozialen Herkunft lernen hier Kinder mit und ohne Behinderung, Lernschwäche oder Migrationshintergrund zusammen und werden entsprechend ihren Fähigkeiten gefördert. Damit ist Berg Fidel (benannt nach dem Stadtteil in Münster) eine der wenigen Inklusivschulen in einem Land, das mehr Sonderschulkategorien kennt als alle anderen Staaten der Erde.

In ihrem Debütfilm beschreibt Regisseurin Hella Wenders das Konzept der Inklusion anhand ihrer Protagonisten David, Anita, Lukas und Jakob, denen sie mit zurückhaltender und einfühlsamer Kamera auf Augenhöhe in den Schulalltag folgt. Erst nach und nach treten die unterschiedlichen Voraussetzungen, mit denen die kleinen Hauptdarsteller die Schule begonnen haben, zu Tage, wenn vor Allem der scheinbar hochbegabte David in einer der vielen Interviewsequenzen von seiner Behinderung erzählt. So entsteht, auch weil die Erwachsenen nicht zu Wort kommen und die musikalische Untermalung es unterstützt, ein äußerst harmonisches Bild einer idealen, utopischen Schule.

Utopisch auch deshalb, weil die Regisseurin es vermeidet, die filmische Welt mit ihrer allzu genauen Erklärung zu relativieren: Zwar erzeugen der Verzicht auf einen begleitenden Kommentar sowie die Wahl der Kamerapositionen und Einstellungsgrößen das Gefühl konzentrierter Nähe zu den Kindern. Im Gegensatz zum großen Vorbild „Sein und Haben“ (F 2002, R: Nicolas Philibert) ist dieser Standpunkt für „Berg Fidel“ allerdings problematisch. Ein umfassenderer Blick auf das Zusammenspiel mit Erwachsenen (Eltern wie Lehrern) und der daraus resultierende, übergreifende Einblick in das Thema Inklusion und deren politische wie gesellschaftliche Voraussetzungen (Lehrermangel, Finanzierung, Barrierefreiheit, Engagement, spezielle Ausbildung der Pädagogen, elterliche Unvoreingenommenheit) wird somit leider vollkommen verwehrt. Wo sich „Sein und Haben“ auf schlichtes Abbilden eines (eigentlich selbstverständlichen!) humanistischen Miteinanders beschränkt, plädiert „Berg Fidel“ gerade für einen anderen pädagogischen Ansatz durch die Auswahl der porträtierten Kinder sowie die Texttafeln an Anfang und Ende des Filmes. Diesen Ansatz reduziert die Regisseurin allerdings mit dem kategorischen Imperativ des „Es geht doch!“ aus sicherer Entfernung. Aber halt! Sie wollte ja auch keinen pädagogischen Film machen, wie es im Pressetext heißt. Weshalb es eben ein utopischer geworden ist, in dem Hypothesen keiner Begründung bedürfen und vom (angeblichen) sozialen Brennpunkt Berg Fidel auch nichts zu spüren ist.

Der zwiespältige Eindruck, den „Berg Fidel“ so provoziert, spiegelt sich auch in der hilflosen Montage wider, die nur lose Strukturen schafft und Handlungsstränge stellenweise hektisch aneinander fügt. Einzig die Episode von Anita erhält eine gewisse Stringenz durch die drohende Ausweisung ihrer gesamten Familie. Und selbst dieser Hintergrund wird nervös erzählt, vielleicht aus Angst vor einem Ungleichgewicht unter den Figuren. Zu viele Szenen besitzen dann doch eine gewisse Beliebigkeit und scheinen allzu sehr ein verklärtes Bild gemeinsam lernender Kinder bedienen zu wollen. In diesen Momenten tritt die mangelnde Unvoreingenommenheit der Regisseurin deutlich zutage: Berg Fidel ist eben nicht nur eine beliebige Schule, es ist die Schule an der Hella Wenders‘ Mutter unterrichtet.

Kurzum: „Berg Fidel“ ist ein unausgewogener Film, der nicht zwischen dem Porträt der einzelnen Kinder und einem dahinter liegendem, bildungspolitischen Topos vermitteln kann und stattdessen lieber auf seinem utopischen Charakter beharrt. Hella Wenders‘ Debütfilm kann zwar durchaus als gefühlvolles Plädoyer für ein humanistisches Zusammenleben und -lernen gesehen werden, aber als Teil einer politischen Debatte – in der sich die Volksvertreter in der anmaßenden Rhetorik des lifelong learning und der „Wissensgesellschaft“ üben, ohne überhaupt noch eine normative Idee von Bildung zu haben und lieber deren Industrialisierung sinnentleert forcieren – ist er nicht zu gebrauchen. Dafür lässt er sich jedoch umso leichter instrumentalisieren: Es geht doch!

Die Wohnung

(D / IS 2011, Regie: Arnon Goldfinger)

Das Schweigen vor der Geschichte
von Wolfgang Nierlin

Als seine hochbetagte Großmutter Gerda Tuchler im Alter von 98 Jahren in Tel Aviv stirbt, hinterlässt sie ein ganz besonderes, weitgehend unbekanntes Kapitel deutsch-jüdischer Geschichte. Ihr Enkel, der israelische Filmemacher …

Als seine hochbetagte Großmutter Gerda Tuchler im Alter von 98 Jahren in Tel Aviv stirbt, hinterlässt sie ein ganz besonderes, weitgehend unbekanntes Kapitel deutsch-jüdischer Geschichte. Ihr Enkel, der israelische Filmemacher Arnon Goldfinger, spürt dieses auf im umfangreichen Nachlass der Verstorbenen, der neben einer Identität auch einen aus der Zeit gefallenen Lebensstil konserviert hat. „Alles ist so wie es war“, konstatiert Goldfinger, nachdem er die Jalousien hochgezogen hat und Licht in die titelgebende Wohnung und damit auch auf eine verborgene Geschichte fällt. Gerda Tuchler, die zusammen mit ihrem Mann, dem Verkehrsrichter Kurt Tuchler, 1937 von Berlin nach Palästina emigriert war, hatte offensichtlich zeitlebens in der deutschen Kultur gelebt, die ihr zweifellos ein Sehnsuchtsort der Erinnerung und zugleich geistige Heimat war. Ihre umfangreiche Bibliothek zeugt ebenso davon wie ihre Arsenale gesammelter Gebrauchsgegenstände, mit denen ihre verwunderten Nachkommen, die nach handfesten Werten suchen, wenig anfangen können.

Überhaupt weiß man in der Familie erschreckend wenig über die Verstorbene; die Erinnerungen sind rar. Und vor allem ihre Tochter Hannah, die Mutter des Filmemachers, zieht entschieden die konkrete Gegenwart der Vergangenheit vor, flieht diese geradezu. „Über wirklich Wichtiges wurde immer geschwiegen“, heißt es einmal. Erzählt wurde wenig und Fragen stellte man nicht. So beginnt Arnon Goldfinger, von zufälligen Entdeckungen in Briefen und alten Zeitungen angestoßen, im bislang ausgeblendeten Teil seiner Familiengeschichte zu recherchieren. Wie in einem Detektivfilm habe er diese in einem Zeitraum von fünf Jahren Schritt für Schritt erforscht. Dabei habe das Projekt, in dem sich auf sehr persönliche Weise Privates und Politisches, Gegenwart und Vergangenheit verbinden, eine eigene Dynamik entwickelt und sei stetig gewachsen. Insofern zieht sein Film „Die Wohnung“ als Dokument dieser konservatorischen Recherche immer weitere Kreise. Und er ist zugleich eine Art Enthüllungsbrief, der das Gespräch zwischen den Generationen befördern möchte.

Eine enge, jahrzehntelange Freundschaft steht im Mittelpunkt von Goldfingers spannenden Ermittlungen. Viele Briefe geben darüber Auskunft, dass seine jüdischen Großeltern vor und noch lange nach dem Krieg mit dem Adligen Baron Leopold von Mildenstein und seiner Frau befreundet waren. Dass dieser auch ein Nazi-Funktionär war, der Eichmann in sein furchtbares Amt brachte und der später im Propaganda-Ministerium von Goebbels arbeitete, macht diese Beziehung für Goldfinger zunehmend unverständlicher. Zumal Gerda Tuchlers Mutter Susanne Lehmann in einem Konzentrationslager starb. Gingen Nazi-Propaganda und Zionismus eine Zeitlang Hand in Hand? Was wussten die deutsch-patriotischen Tuchlers von den Aktivitäten des Barons von Mildenstein? Und was weiß dessen in Wuppertal lebende Tochter Edda Milz von der Vergangenheit ihres Vaters, der später im Getränkekonzern von Coca Cola Karriere machte?

Arnon Goldfinger besucht sie zusammen mit seiner Mutter in Deutschland. Offensichtlich waren seine Großeltern „in der Seele deutsch“, wie es einmal heißt. Jenseits von Spekulationen und Unverständnis über diese ungewöhnliche, gar ungehörige Freundschaft vermittelt Goldfingers Film vor allem etwas von der Tragweite des unausgesprochenen Schweigegebots. Dahinter wiederum stehen die angstvolle Abwehr des Ungeheuerlichen, die Scham angesichts schuldhafter Verstrickung, die schmerzliche Revision von Beziehungen und vertrauten Menschenbildern und nicht zuletzt die Skrupel vor dem Fragen selbst.

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Work Hard – Play Hard

(D 2011, Regie: Carmen Losmann)

Propheten der Veränderung
von Wolfgang Nierlin

Beim Arbeiten solle man möglichst nicht an die Arbeit erinnert werden, meint einer der Architekten, die für Unilever die neue Firmenzentrale am Hamburger Hafen planen. Deshalb gelte es, eine Atmosphäre …

Beim Arbeiten solle man möglichst nicht an die Arbeit erinnert werden, meint einer der Architekten, die für Unilever die neue Firmenzentrale am Hamburger Hafen planen. Deshalb gelte es, eine Atmosphäre zu kreieren, die die Arbeitskultur des Auftraggebers widerspiegele. Mit den modischen Schlagworten „Team-Spirit“, Innovationskraft, Kreativität und Kommunikationsstärke ist diese benannt. Und so wird das Büro kurzerhand umdefiniert in einen Ort, der vor allem Begegnung und Kommunikation ermöglichen soll, weil diese, so sind die Planer überzeugt, eine Quelle für Innovationen bilden. Das fertige Gebäude zeichnet sich insofern dann aus durch offene, lichte Räume, durch Treppen und Galerien, die verbinden und großzügig Bewegung ermöglichen sowie durch Transparenz. Hier können die Mitarbeiter flanieren, an langen Theken bei einem Getränk ihren Gedanken nachhängen oder in einer der vielen gemütlichen Sitzecken Gespräche führen. Aber das leise Klicken der Tastaturen, der sanfte Telefonterror und die leeren, aseptischen Räume weisen schon noch darauf hin, dass es bei aller wohnlichen Behaglichkeit dieser „Net und Nest-Etagen“ vor allem um knallharte „Mega-Wachstumsziele“ geht.

„Open door-policy“ und „non-territoriale“ Arbeitsplätze lauten andere Zauberworte dieser neuen Arbeitskultur, die vorgeblich den persönlichen Bedürfnissen der Mitarbeiter Rechnung trägt und so etwas wie Zeiterfassung zu „Schnee von gestern“ macht, tatsächlich aber die „Lösungsgeschwindigkeit“ erhöhen soll. Denn natürlich geht es hier neben Wachstum und Gewinnmaximierung vor allem um die Selbstoptimierung der Ressource Mensch, die dafür nötig ist. Carmen Losmann ist in ihrem beeindruckenden Dokumentarfilm „Work Hard – Play Hard“ den unterschiedlichen Facetten dieser gruseligen Zurichtung auf der Spur. Ohne Kommentar und in luziden Bildern, deren tiefenscharfe und oft symmetrische Komposition den totalen Anspruch dieser gar nicht so schönen neuen Arbeitswelt vermittelt, beobachtet sie mit distanziertem Blick jene seelenlosen Orte und Trainingscamps, an denen die Gehirnwäsche am „Humankapital“ stattfindet. Kongenial unterstützt wird sie dabei von dem Bildgestalter Dirk Lütter, der als Regisseur in seinem eigenen, starken Spielfilmdebüt „Die Ausbildung“ ein verwandtes Thema behandelt hat.

„Change“ lautet eine der vielstrapazierten Vokabeln, von denen „Human Resource Manager“ faseln, um die Veränderung des Menschen und seiner angeblich überholten (Arbeits-)Kultur zu beschwören. Eine in diesem Sinne gepolte weibliche Führungskraft der Deutschen Post ist gar so vermessen zu fordern, diesen anvisierten „Wandel“ in die DNA der zu „entwickelnden Mitarbeiter“ „verpflanzen“ zu wollen. Die „Kultur der ständigen Verbesserung“ im Blick, in der sich die Arbeitskraft am besten „selbst wegrationalisiert“ führen uns die Ideologen des paradoxen „Change“ zum „Flow“-Training in dunkle Erdlöcher, in Büro-Räume, die „World“ heißen und an deren Wänden ebenso kryptische wie kindische Graphiken zur Motivationssteigerung hängen. Am verräterischsten ist aber die inhaltsleere Sprache dieser selbsternannten Propheten der Veränderung, eine mit anglizistischen Worthülsen durchsetzte Pseudo-Terminologie, die viel heiße Luft verbläst und den sprachhandelnden Menschen in eine Marionette des üblen Systems verwandelt.

The Substance – Albert Hofmann’s LSD

(CH 2011, Regie: Martin Witz)

Jenseits von Raum und Zeit
von Wolfgang Nierlin

Als einen „Trip ins Ungewisse“ beschreibt Albert Hofmann seinen ersten Selbstversuch mit LSD. Im Frühjahr 1943 war der Schweizer Chemiker, der für den Baseler Pharmakonzern Sandoz nach einem den Blutkreislauf …

Als einen „Trip ins Ungewisse“ beschreibt Albert Hofmann seinen ersten Selbstversuch mit LSD. Im Frühjahr 1943 war der Schweizer Chemiker, der für den Baseler Pharmakonzern Sandoz nach einem den Blutkreislauf regulierenden Medikament suchte und dafür den Getreidepilz Mutterkorn erforschte, auf die unbekannte Substanz gestoßen. Was er dann erlebte, so der fast Hundertjährige im Interview aus dem Jahre 2006, war „furchtbar“: Neben absoluter Ungewissheit und starker Angst, wähnt sich Hofmann bereits im Jenseits, fern seiner jungen Familie. Als er nach stundenlangen Halluzinationen schließlich doch wieder zurückkehrt von seiner phantasmagorischen Reise, empfindet er das wie eine Wiedergeburt, ein Erwachen zu einem neuen Leben.

In Martin Witz‘ informativem Dokumentarfilm „The Substance – Albert Hofmann’s LSD“, der die verzweigte Geschichte des Lysergsäurediethylamids nachzeichnet, gibt es immer wieder Versuche, die geheimnisvolle Wirkung dieser psychoaktiven Droge zu beschreiben. Doch die Sprache scheint kein geeignetes Instrument zu sein, den Zustand des „High“ und des „Außer-sich-Seins“ adäquat zu erfassen. Dabei ist die bereits in geringen Dosen hochwirksame Substanz strukturell verwandt mit Botenstoffen des Gehirns. „Alles, was ich dachte, war bildlich da“, sagt Albert Hofmann, der in späteren Versuchen vor allem „beglückende Gefühle“ erlebt hat und als „mystischer Chemiker“ der spirituellen Dimension des LSD auf der Spur war. Andere Wissenschaftler und Konsumenten betonen wiederum die öffnende, die sinnliche Erfahrung und das innere Erleben verstärkende Kraft der Droge. Raum und Zeit, vor allem aber das Ich scheinen sich aufzulösen zugunsten eines harmonischen, nahezu kosmischen Erfüllt-Seins.

Diese transpersonale Erfahrung nutzte in den 1950er Jahren der tschechische Psychiater Stanislav Grof, um in klinischen Studien mit Hilfe von LSD Psychosen im Sinne veränderter Bewusstseinszustände zu untersuchen. Aber auch der US-amerikanische Geheimdienst CIA und das Militär experimentierten auf teils kuriose Weise mit der Substanz, um sie als „Wahrheitsserum“, vor allem aber als „psychosomatische Waffe“ in einem etwaigen „LSD-Krieg“ einsetzen zu können. Als schließlich in den sechziger Jahren der Harvard-Professor und Drogen-Guru Timothy Leary die psychedelische Lebensweise ausruft („Turn on, tune in, drop out!“), einen damit verbunden Wertewandel propagiert, dafür die Wissenschaft der Ekstase lehrt („Wir sind hier, um zu fliegen!“) und im Zuge dessen immer mehr Anhänger findet, wird im Oktober 1966 das wundersame Rauschmittel verboten. Damit stagniert auch die Forschung, die später jedoch im Zusammenhang mit der Therapie von Krebspatienten neue Relevanz gewinnt. In Interviews, zahlreichen Archivaufnahmen und assoziativen Collagen folgt Martin Witz den Spuren des LSD, das dem verantwortungsvollen Konsumenten offensichtlich eine Transzendenz-Erfahrung ermöglicht, die geeignet ist, der göttlichen Schöpfung bewusst zu werden und mit der Endlichkeit des Lebens zu versöhnen.

Resident Evil: Retribution

(D / CAN 2012, Regie: Paul W.S. Anderson)

Der letzte Kampf beginnt schon wieder
von Louis Vazquez

Der Werbeslogan ist natürlich ein Brüller: „Der letzte Kampf beginnt.“ Seit dem Start der Resident-Evil-Franchise beginnt der letzte Kampf mit jedem Film aufs Neue. Nur fortgeführt wird er nie. Zwar …

Der Werbeslogan ist natürlich ein Brüller: „Der letzte Kampf beginnt.“ Seit dem Start der Resident-Evil-Franchise beginnt der letzte Kampf mit jedem Film aufs Neue. Nur fortgeführt wird er nie. Zwar bietet jedes Schlussbild bereits den Ausblick auf ein neues Spektakel, jede Fortsetzung aber setzt noch einmal anders an, verlagert die Perspektive ein wenig, erfindet neue Hindernisse – und vertröstet am Ende gleichfalls auf kommende Attraktionen. Auch wenn schon so ziemlich alle zeitgenössischen Filmserien von „Harry Potter“ bis zu den „Transformers“ mit vermeintlich letzten bzw. „finalen“ Schlachten und Kämpfen warben: Selten schien eine Serienmaschine so gut geschmiert zu sein wie im Fall von 'Resident Evil', weil die Franchise unter der Federführung von Paul W.S. Anderson mit Gattin Milla Jovovich als Zombie-killendem Star längst in der völligen inhaltlichen Beliebigkeit angekommen ist, dies aber auf eine Weise, die durchaus beeindruckt.

Von der zugrunde liegenden Computerspielreihe – Teil sechs erscheint passenderweise im Oktober – haben sich die Filme früh gelöst. Figuren aus den Spielen tauchen zwar immer wieder mal auf, allerdings beschränken sich die Gemeinsamkeiten meist auf Namen und Outfits. So entsteht ein äußerst seltsames Universum voller Querverweise, die nicht so recht funktionieren. Andauernd werden Figuren, die im Film kaum mehr als Staffage sind, aus für den unbedarften Zuschauer unerklärlichen Gründen inszenatorisch mit höchster Bedeutung aufgeladen. Weil aber jeder neue Resident-Evil-Film – obwohl er vorgibt, eine komplexe Story voranzutreiben – immer wieder neu ansetzt, Figuren ganz verschwinden und neue aus heiterem Himmel auftauchen lässt, ist es letztlich völlig egal, wer das austauschbare Kanonen- bzw. Zombiefutter gibt, solange nur Hauptfigur Alice (Jovovich) weiter mit dabei ist. Seit die Franchise das Thema Klonen für sich entdeckt hat, wird es sogar möglich, längst verstorbene Figuren wieder auftauchen zu lassen. Und weil böse Wissenschaftler über die Technik verfügen, den Charakter eines Klons zu manipulieren, kann Michelle Rodriguez – im ersten Teil verstorben – diesmal als gute und als böse Figur mitmischen.

Wie in vielen Actionspieldramaturgien wird handlungsmäßig möglichst viel Lärm um Nichts gemacht: Alles bleibt Fragment, tut aber bedeutungsschwer. Ob da irgendwas zusammenpasst, ist völlig egal, solange sich die Möglichkeit bietet, eine Art Genre-Best-of zusammenzuklatschen, das sich, natürlich, noch immer bei Vorbildern wie Carpenter, Cameron oder Romero bedient. Diesmal geraten die Helden sogar in eine Art virtuelles Trainingscamp, so dass die einzelnen Szenarien umso beliebiger und levelartiger nebeneinander stehen. Hier eine Sequenz aus Zack Snyders Remake von „Dawn of the Dead”, da mal wieder das unvermeidliche „Herr-der-Ringe'-Schlachtengetümmel, und Nazi-Zombies waren doch zuletzt in „Dead Snow“ recht populär. Dass die Exposition rückwärts erzählt wird, dürfte eine kleine Reminiszenz an den Werbetrailer des Zombie-Computerspiels „Dead Island“ sein – Spielefans wird es freuen, auch wenn die Idee spektakulärer ist als die Umsetzung.

So richtig begeisternd sind Andersons Filme seit dem gelungenen und singulär atmosphärischen „Event Horizon“ (1997) leider nicht mehr. Doch angesichts der deplazierten Ernsthaftigkeit von Len Wisemans „Total Recall“ und der überraschungsarmen Schnörkellosigkeit von Simon Wests „Expendables 2“ ist der halsbrecherisch wilde Edeltrash von „Resident Evil 5“ geradezu erfrischend, wie eine völlig entglittene frühe Arbeit von Sam Raimi. Aber ach, der Wahnsinn ist schon gebremst: Im Vorgängerfilm hinterließen getötete Gegner noch ein Häuflein Goldmünzen. Damit ist jetzt Schluss. Diese Reminiszenz an das Belohnungssystem der Computerspiele erschien im Rückblick wohl selbst Paul W.S. Anderson zu albern.

Small Town Murder Songs

(CAN 2010, Regie: Ed Gass-Donnelly)

Dunkle Vergangenheit
von Wolfgang Nierlin

Jeder kennt jeden in der kleinen Mennoniten-Gemeinde nahe Listowel in der kanadischen Provinz Ontario. Rechtschaffen und strenggläubig leben die Menschen hier ihren gewohnten Alltag. Manche von ihnen sprechen noch den …

Jeder kennt jeden in der kleinen Mennoniten-Gemeinde nahe Listowel in der kanadischen Provinz Ontario. Rechtschaffen und strenggläubig leben die Menschen hier ihren gewohnten Alltag. Manche von ihnen sprechen noch den fremd klingenden Dialekt aus der alten Welt, der den Zusammenhalt stärkt und in dem sich Gerüchte und Neuigkeiten verbreiten. Als am Ufer eines nahen Sees die nackte Leiche einer jungen Frau gefunden wird, wirkt das wie ein Schock. Und weil zunächst weder die Identität der Getöteten noch eine stichhaltige Spur des Täters auszumachen sind, entwachsen der allgemeinen Unsicherheit und Angst bald auch noch die schwelenden Spannungen ungelöster Konflikte.

Der örtliche Polizist Walter Ruden (Peter Stormare) steht in deren Zentrum. Schweigsam und in sich gekehrt versieht er seinen Dienst nach Vorschrift. Doch in ihm gärt eine dunkle Vergangenheit, eine Geschichte der Gewalt und unterdrückter Aggressionen, die sich immer schwerer niederhalten lassen. Walter ist traumatisiert von einer belastenden Tat, deren verstörenden Bilder in kurzen Rückblenden immer widerkehren. Er leidet unter Schuldgefühlen und ersehnt Vergebung, zumal sich seine Familie offensichtlich von ihm abgewandt hat. „Bereue und bekenne deinen Glauben“, lautet eines der Bibelzitate, mit denen Ed Gass-Donnelly seinen konzentriert erzählten, von einem nahezu alttestamentarischen Drama bewegten Film „Small town murder songs“ gegliedert hat.

Ein anderes, dem 2. Buch Mose entnommenes Wort, steht über der Exposition des Films: „Der Herr wird für euch streiten, und ihr werdet still sein.“ Vorbedeutungen und Unabänderliches, Handlungsmaximen und Lebensweisheiten liegen jeweils in diesen Sätzen, die Gass-Donnelly als kraftvolle Zäsuren inszeniert. Das Geschehen verlangsamt sich, dehnt sich aus in der Ruhe statischer Bilder und wird zugleich dramatisch aufgeschreckt durch die schmerzliche Wucht der sie begleitenden Songs, die die kanadische Indie-Band Bruce Peninsula als intensive Mischung aus Blues, Soul und religiöser Folklore komponiert hat. „Gott trifft uns, wo wir gerade sind“: Walter kann bald nicht mehr anders, als unter dem Druck implodierender Gefühle „seiner Vergangenheit nachzugeben“. Der Mordfall wirkt dabei wie ein Vorwand und zugleich als Katalysator für eine andere, verborgene und vielleicht ausweglose Geschichte.

Wandlungen – Richard Wilhelm und das I Ging

(CH 2011, Regie: Bettina Wilhelm)

Auf der Suche nach dem Großvater
von Michael Schleeh

Im Jahr 1899 gelangt Richard Wilhelm als Missionar nach China. Zu einer turbulenten Zeit als China von den Kolonialmächten ausgebeutet wird, sich der Boxeraufstand gegen die ausländischen Imperialisten ereignet, schließlich …

Im Jahr 1899 gelangt Richard Wilhelm als Missionar nach China. Zu einer turbulenten Zeit als China von den Kolonialmächten ausgebeutet wird, sich der Boxeraufstand gegen die ausländischen Imperialisten ereignet, schließlich die Xinhai-Revolution die kaiserliche Dynastienfolge unter Pu Yi, dem letzten Kaiser, beendet, und Sun Yat-sen zum Übergangspräsidenten der Volksrepublik gewählt wird. Richard Wilhelm ist zu dieser Zeit in der deutschen Kolonie in Qingdao tätig, baut eine Schule auf und übernimmt später im Ersten Weltkrieg die Leitung eines Hospitals – er flüchtet also nicht in die sichere Heimat. Die Fremde ist ihm zur neuen Heimat geworden. Seine Ehefrau folgt ihm, und Wilhelm nähert sich der chinesischen Kultur mit einer eigentlich für jede Zeit ungewöhnliche Offenheit im Geiste. Anstatt sich um die Bekehrung der Chinesen zu kümmern, beginnt er chinesische Schriften zu lesen und schließlich zu übersetzen. In jahrelanger Arbeit übersetzt er Texte von Konfuzius, Laotse sowie Texte des Daoismus und auch das „Buch der Wandlungen“, das „I Ging“, den ältesten Text der klassischen chinesischen Lehren. Ein Text, den C. G. Jung, später ein enger Freund Richard Wilhelms, wiederum ins Englische übersetzt und der dadurch einem großen westlichen Publikum zugänglich gemacht werden konnte.

Bettina Wilhelm, die Enkelin des großen kulturellen Vermittlers, begibt sich in ihrem Dokumentarfilm nun auf die Spuren ihres Vorfahren, reist ins chinesische Qingdao, besucht ihr Geburtshaus (heute eine hochmoderne Augenklinik), spricht mit dem Enkel des Schulleiters, der ein enger Verbündeter des Deutschen wurde, und mit vielen anderen Zeitzeugen oder deren Nachfahren. In liebevoll persönlicher Weise skizziert sie ihre Reisen durch das moderne China und verdeutlicht den großen Einfluss des philosophisch-religiösen Denkens auf den chinesischen Alltag. Zugleich werden immer wieder kurze Exkurse mit westlichen Experten diverser Fachgebiete dazwischen montiert, die verschiedene Aspekte der chinesischen Lehren erläutern. Der Film bringt dem Zuschauer auf diese Weise die Prinzipien des I Gings und des Konfuzianismus näher und erläutert die Faszination auf westliche Denker und Schriftstelle; eines der prominentesten Beispiele ist Hermann Hesse.

Es zählt zu den großen Leistungen dieses narrativ recht herkömmlich gestalteten Filmes, dass die Regisseurin ihren Weg durch das Land mit einer ähnlichen Offenheit für das Fremde beschreiten wie der Großvater; so ist er nicht nur das Portrait und der späte Versuch einer Rehabilitation eines Mannes, der außerhalb eingefleischter Sinologenkreise wenig bekannt wurde (auch aufgrund des Zweiten Weltkrieges), sondern auch Zeugnis eines Verständnisses von Weltoffenheit, in dem ein kleingeistiger Kulturpatriotismus keinen Platz hat. Wer allerdings denkt, dieser Film würde allzu esoterische Themen anschneiden, täuscht sich. Er ist Hommage und persönliche Biographie eines großen Kulturwissenschaftlers zugleich – mit sensationellen Filmdokumenten aus den Archiven, mit wunderbaren Bildern aus dem modernen chinesischen Alltag zwischen Tradition und Moderne, dem Leben der Landbevölkerung und dem der hektischen Metropolen.

On the Road – Unterwegs

(F / BR 2012, Regie: Walter Salles)

Mehr Cronenberg wagen
von Carsten Happe

Es dauert nur wenige Minuten, da beschleicht einen das unbestimmte Gefühl, im falschen Film zu sitzen: die Szenerie ist gediegen ausgeleuchtet, das Production Design wirkt akkurat und edel – selbst …

Es dauert nur wenige Minuten, da beschleicht einen das unbestimmte Gefühl, im falschen Film zu sitzen: die Szenerie ist gediegen ausgeleuchtet, das Production Design wirkt akkurat und edel – selbst in den vermeintlich schäbigeren Momenten – der Off-Kommentar hat die unmissverständliche Einordnung geliefert, Texteinblendungen geben zusätzliche Orientierung. Vielleicht nicht direkt im falschen Film, so aber doch in der Ahnung, welche Adaptionen von Jack Kerouacs „On the Road“ statt der letztlich realisierten Version von Walter Salles möglich gewesen wären – Kerouacs eigener Wunsch, gemeinsam mit Marlon Brando die Hauptrollen zu spielen, Francis Ford Coppolas jahrelanges Interesse an dem Stoff, die Ankündigungen, Jean-Luc Godard und Gus Van Sant seien als Regisseur im Gespräch.

Stattdessen nun dies: ein braves Ausstattungsstück – dem die Akzentuierung der Sexszenen allerdings ein wenig entgegentritt – das der Vorlage gerade einmal den Plot entreißt, ihn in leicht verdauliche Episoden wegsperrt und auf ein biographisch motiviertes Ziel zuspitzt. Und dabei fast alles außer Acht lässt, was „On the Road“ (das Buch) ausmacht: den Rhythmus der Sprache, das Lebensgefühl von Freiheit und Ziellosigkeit, der Jazz der Bilder.

Mit einer ähnlichen Strategie hatte Bernd Eichinger in den 90ern Bestsellern wie dem „Geisterhaus“ oder „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ jeglichen Charme ausgetrieben. Dort wie hier steht die perfekt-leblose Rekonstruktion einer Umgebung oder Epoche im Vordergrund, bis in die Nebenrollen gespickt mit einer Starbesetzung, die sich völlig unterfordert den Authentizitätsanstrengungen unterordnen muss. Im Zentrum hingegen mit Garrett Hedlund und Sam Riley zwei Darsteller bar jeder Ausstrahlung, die eine ungefähre Ahnung ihrer jeweiligen Rolle transportieren und darüber hinaus nur aufgewärmte Klischeebilder anfertigen.

Das Triumvirat der Beat-Generation – Allen Ginsbergs „Howl“, William S. Burroughs‘ „Naked Lunch“ und Jack Kerouacs „On the Road“ – lässt sich nun vollständig auf der Leinwand betrachten. Wäre es nur bei David Cronenbergs wahnwitziger Burroughs-Adaption geblieben!

Die Wand

(AT / D 2011, Regie: Julian Roman Pölsler)

Freiheitsberaubung
von Carsten Happe

Eines Tages, in der Idylle einer alpinen Bergwelt, die fast greifbar scheint, wird die namenlose Erzählerin von einer unsichtbaren Wand umschlossen und vom Rest der Welt getrennt. Ein Hund bleibt …

Eines Tages, in der Idylle einer alpinen Bergwelt, die fast greifbar scheint, wird die namenlose Erzählerin von einer unsichtbaren Wand umschlossen und vom Rest der Welt getrennt. Ein Hund bleibt ihr als Ansprechpartner, ein fest abgesteckter Radius als Lebensumfeld – und ein Zurückgeworfensein auf die eigene, nackte Existenz. Marlen Haushofers Roman, der in einer feministischen Lesart zum Klassiker avancierte, bildet auf den ersten Blick eine einzige Negation des Kinos: ein Stillstand, der den bewegten Bildern entgegentritt, eine Introspektion, die kaum dialogisch aufzubereiten ist. Eine Off-Stimme als Umweg, der oftmals nur als hilflose Krücke genutzt wird, erweist sich hier allerdings als richtige Entscheidung, des Textes Herr zu werden. Martina Gedecks emotionslose Intonation ermöglicht mehr noch als die sorgfältig komponierten Bilder einen Zugang zu einer hermetischen Welt, die in all ihrer Schönheit schroff und abweisend daliegt. Die Frau verfällt nicht dem Wahnsinn, sondern erträgt ihr Schicksal mit einem staunenswerten Gleichmut, der ihre Entrücktheit nur unterstreicht und vor allem kaum zu beantwortende Fragen impliziert: Was bedeutet Freiheit, innere wie äußere? Müssen beide kongruent sein, um sogenannte Erfüllung zu erlangen?

Doch auch jenseits – oder besser diesseits – dieser metaphysischen Ebene ist Julian Roman Pölsler mit seiner durchdachten Adaption der „Wand“ die Quadratur des Kreises geglückt – einen schleichend unbehaglichen Film voller Spannungsbögen zu kreieren, die zu keiner Zeit als Blendwerk durch die Geschichte irrlichtern, sondern das mysteriöse Faszinosum der Ausgangssituation konsequent steigern. Martina Gedeck, zuletzt oftmals und durchaus zu Recht für ihre Rollenwahl gescholten, kann in dieser One-Woman-Show die ganze Bandbreite ihres facettenreichen Spiels aufbieten, das sie zu einer der interessantesten Darstellerinnen ihrer Generation machte. Mit ihrer Stimme, ihrem ganzen Auftreten verkörpert sie eine Frau, die hinter der Wand nicht gramgebeugt langsam verblasst, sondern möglicherweise gar ihre Bestimmung findet.

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Der deutsche Freund

(D / AR 2012, Regie: Jeanine Meerapfel)

Politisch Lied, garstig Lied
von Dietrich Kuhlbrodt

In Buenos Aires leben deutsche Emigranten Tür an Tür, Juden (aus den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg) und Nazis (nach 1945), und sie wahren Distanz. Der Film konzentriert sich auf …

In Buenos Aires leben deutsche Emigranten Tür an Tür, Juden (aus den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg) und Nazis (nach 1945), und sie wahren Distanz. Der Film konzentriert sich auf die in Chile geborenen Kinder: auf die Jüdin Sulamit (Celeste Cid) und den SS-Obersturmbannführersohn Friedrich (Max Riemelt). Wir sehen die beiden zum Missfallen der jeweiligen Eltern zusammen spielen, unschuldige Küsschen tauschen, pubertieren, ein Paar werden, sich trennen, zwischen Argentinien und Frankfurt dank des DAAD hinundherfliegen und schließlich zusammenfinden.

„Der deutsche Freund“ ist ein Romeo-und-Julia-Plot mit Happyend – und im allseits bekannten TV-Format, bunt, gewaltfrei und kitschig. Das ist umso auffälliger, weil es im Film um eine Geschichte von Gewalt und politischem Kampf geht. Jeanine Meerapfel (Regie und Buch) versichert, sie habe viel Autobiographisches in den Film eingebracht. Ich respektiere die Autorin („Malou“, 1980). Und ich finde es schade, dass die guten Absichten jetzt im Fernsehformat versackt sind. In den Filmbildern finden sich allenfalls Spuren wieder von dem, was die Dialoge beabsichtigen, nämlich in die Liebesgeschichte sowohl die Geschichte Südamerikas (Militärjunta, Allende) als auch die der BRD (68er Jahre, Dutschke) einzuhängen. Schön, das Ho, Ho, Ho Chi Minh wird sekundenlang als Dokument eingeblendet und unmittelbar danach noch mal als Reenactment.

Was transportiert wird, ist nur eine Peinlichkeit mehr. Politisch Lied, garstig Lied. Zur Beruhigung des Zuschauers und selbstredend um den Quoten Genüge zu tun, schwelgt die Kamera in der Landschaft Patagoniens, und kammermusikalische Harmonien versichern uns, dass alles gut ausgeht. Und es geht gut aus. Das gelingt nur, so die explizite Botschaft, wenn der deutsche Freund sein politisches Engagement aufgibt (Studentenbewegung, aktiver Kampf für die dritte Welt) und sich voll auf die geliebte Sulamit konzentriert. In der herrlichen Landschaft Patagoniens (sagte ich das schon?) ist er dann so weit. Er schwört in wohl gesetzten Worten allem Politischem ab und zieht mit Sulamit mitten in der Einöde in ein verfallenes, aber hochgradig romantisches Haus, die zwei nur für sich.

Die Welt drumherum gibt es nicht mehr. Hach, ist das schön. Schön kitschig. Schöne heile Welt. In der jüngsten Generation ist das Unheil von Auschwitz vergessen (und vergeben?), das politische Engagement sowieso. Die unheilvolle Nachkriegsgeschichte ist abgeschafft und das Biedermeier etabliert. – Ich wünsche den beiden eine satte Beziehungskrise.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2012

Liebe

(F / A / D 2012, Regie: Michael Haneke)

Komm mit!
von Dietrich Kuhlbrodt

Michael Haneke („Das weiße Band“) fragt, was das ist, Liebe zwischen Menschen, die alt geworden sind. Realität ist, dass sich immer mehr Gewissheit aufdrängt: es geht aufs Ende zu. Normalerweise …

Michael Haneke („Das weiße Band“) fragt, was das ist, Liebe zwischen Menschen, die alt geworden sind. Realität ist, dass sich immer mehr Gewissheit aufdrängt: es geht aufs Ende zu. Normalerweise fassen wir den Tod ungern ins Auge. Auch gibt es eine Schwelle, deswegen ins Kino zu gehen. Hanekes „Liebe“ aber ist ein großartiger Kinofilm, und er garantiert ein neuartiges, grandioses, nachwirkendes Kinoerlebnis. Auf den Festspielen in Cannes bekam „Liebe“ die goldene Palme.

Was passiert im Film? Zunächstmal: es wird dem Zuschauer nichts erzählt. Es gibt kein Plot. Aber es wird beobachtet. Im großen Ganzen bleiben wir die volle Kinolänge in einem Zimmer und beobachten zwei Alte. Jean-Louis Trintignant ist mittlerweile achtzig Jahre alt, Emanuelle Riva 85. Protokolliert wird der sich verändernde Zustand vom Leben zum Tod. – Das klingt jetzt so, als ob wir alle ganz traurig werden müssen. Vielleicht ist das sogar der Fall. Das Besondere aber ist, dass der Film von Zärtlichkeit erfüllt ist. Zärtlich gehen die beiden Alten miteinander um, und zärtlich geht der Regisseur mit seinen Protagonisten um. Der Film „Liebe“ ist auch ein Film über die Liebe des Regisseurs zum Film.

Eine Rolle spielt, dass die Alten altbekannt sind. Seit den fünfziger Jahren treten sie in Filmen auf. „Verliebt in scharfe Kurven“ (Trintignant, 1962), „Hiroshima, Mon Amour“ (Riva, 1962). Gebrechlich und dem Tode nahe, werden sie uns jetzt in „Liebe“ vorgeführt – mit allem Respekt und ihrer Würde belassen. In der ersten Filmeinstellung, noch vor dem Filmtitel, sehen wir Riva im Bett liegen, entspannt, unbeweglich. Tot? Auf dem Kopfkissen sind die Blüten abgeschnittener Blumen wie Sterne drapiert. Polizei kommt. Es ist etwas geschehen. Aber was? Nächstes Bild. Die beiden Alten sind frisch und munter in einem Konzertsaal zu sehen. Franz Schubert. Eins der Impromptus aus dem Opus 90. Aha, die beiden sind oder waren Musikprofessoren. Ihr Schüler ist berühmt geworden.

Riva sitzt am Frühstückstisch, starren Blicks, abgeschaltet. Eine Absence? Ein Schlaganfall. Trintignant übernimmt die Pflege in der Wohnung. Er verspricht, sie niemals in ein Heim oder in die Klinik zu überweisen. Es gibt was zu tun. Viel. Das Bettlaken ist nass. Urin? Er zieht ihr eine Unterhose hoch. Hat er sie gewaschen? Er wäscht ihr die Haare. Sie fährt im Rollstuhl im Kreis herum. Beide lachen. Dann der zweite Schlaganfall. Die Tochter reist an (Isabelle Huppert). Sie denkt praktisch. Der Vater ist doch völlig überfordert. Die Mutter müsste klinisch versorgt werden. Der töchterliche Blick wandert in der Wohnung herum. Dann erzählt sie der Mutter eine lange Geschichte, wie schwierig es ist, eine Wohnung zu finden, aber es wird schon werden. Von Empathie kaum eine Spur, von Zärtlichkeit auch nicht. Ganz der gesunde Menschenverstand. Denken alle Töchter so? Ja?

Haneke antwortet nicht. Er stellt Fragen. Stellung nehmen, bewerten, ablehnen, sich entrüsten, mitfühlen, sich erinnern, – all das muss der Zuschauer selbst tun, und das Ergebnis wird unterschiedlich sein. „Liebe“ ist ein sich intensivierendes Wahrnehmungs- und Rezeptionserlebnis an Hand präziser Fakten und detailreicher Beobachtung. Ich sags laut: Der Film hat mich aufgewühlt – im guten Sinne. Oder sensibilisiert, – aber das klingt zu abgegriffen. Oder: er implodiert in mir, – aber das klingt zu pathetisch. Hanekes Geheimnis ist, dass mit der der Protokollierung der Details des Sterbenmüssens so etwas wie Wahrheit entsteht. Und Normalität. Genial sind die Einschübe von Bildgeschichten, die sich erst im Laufe des Films entschlüsseln lassen. Wieder ist es am Zuschauer, die Codes zu knacken. Wieder wird zur aktiven Rezeption eingeladen.

Als zehnjähriger Junge, so erzählt er der Dahingehenden, war ich in einem Schullandheim. Mit der Mutter war ein Code ausgemacht. Schickt der Junge Postkarten mit Blumen drauf, ist alles okay. Mit Sternen: hol mich hier raus. Hört Riva, die nichts mehr artikulieren kann, überhaupt zu? Versteht sie, von was er erzählt? Ihr Gesichtsausdruck entkrampft sich. Sie wirkt jetzt entspannt. Lächelt sie nicht sogar? Und waren in der Eingangssequenz des Films nicht Blumen, Blumenköpfe, um ihr so wunderschön entspanntes Gesicht drapiert? Oder waren sie wie Sterne angeordnet? Hatte sie nicht vorher im Film gesagt, als sie noch was sagen konnte, dass sie weg will, weg aus dem unerträglich gewordenen Leben? Immerhin hatte er aus ihrem Lallen erraten, was sie mit ihm singen wollte. Und dann singen die Musikprofessoren „Sur le pont d’Avignon“. Und lächeln sich an.

Jetzt aber, schlussendlich, ist Zeit zu gehen. Wenn Liebe heißt, für einander zu sein, muss das nicht auch für das Fortgehen miteinander gelten? Wohlgemerkt, der Film formuliert die Fragen nicht. Die Bilder, die Codes, provozieren aber Antworten des Zuschauers. In einer eingefügten Szene wird für dieses Gehen ein nüchternes, alltägliches, normales Bild gefunden. Die Wohnungstür öffnen. „Ja, willst Du denn nicht den Mantel anziehen?“ Der Mantel wird angezogen. Die Tür klappt zu. – Lieber Leser, ob Du das glaubst oder nicht. Ich versichere, dass diese Szene eine der größten und unvergesslichsten der Filmgeschichte ist.

Okay, jetzt glaubt mir sowieso keiner mehr diesen Überschwang. Cool ist das ja nicht grade. Aber es ist mir egal. Es ist mein Ding, vom Film mitgenommen zu werden und, ja, wirklich zu werden. Denn „Liebe“ ist ein Film, der sich der angesagten Entwirklichung in den Medien entgegensetzt, sozusagen ein erratischer und individueller Fels inmitten der digitalen Brandung um uns herum. Dank Haneke hab ich Wirklichkeit unter den Füßen und Emotionen im Kopf, und die hab ich hier rausgelassen, hier, eine volle Seite in „Konkret“. Bestimmt gibt es andere Wahrnehmungen.

„Ein Horrorfilm“, sagte in der Pressevorstellung einer von der jüngsten Generation. Schnief, machten andere und zückten ein Tempotaschentuch. Glänzende Augen hatten viele und verließen das Kino in sich gekehrt. Ich machte mir Sorgen. Wie schreib ich über „Liebe“? Gewohnt ironisch/spöttisch? Nö. Autobiografisch? Allemal. Immerhin werde ich dieses Jahr ja auch achtzig. Und mit Brigitte bin ich mir einig.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 09/2012

The Expendables 2

(USA 2012, Regie: Simon West)

Ein bisschen (Folter)Spaß muss sein
von Louis Vazquez

Selten dürfte eine Inhaltsangabe so unnötig gewesen sein wie im Fall von „The Expendables 2“. Was mehr als ein Schaulaufen der Actionfilmveteranen durch das handlungsminimierte Gerippe eines Söldnerfilms sollte man …

Selten dürfte eine Inhaltsangabe so unnötig gewesen sein wie im Fall von „The Expendables 2“. Was mehr als ein Schaulaufen der Actionfilmveteranen durch das handlungsminimierte Gerippe eines Söldnerfilms sollte man auch erwarten? Alles, was geschieht, ist vorhersehbar – abgesehen von den völlig abwegigen Details.

Beispiel: Nachdem der Bösewicht (Jean-Claude Van Damme) das von allen gesuchte Plutonium schneller aus einer Mine hat bergen lassen, als den Helden lieb ist, gelingt es ihm, seine Ladung trotz des (strategisch eher simplen) gegnerischen Dauerfeuers persönlich per LKW-Konvoi zu einem Flughafen zu transportieren. Dieser befindet sich, so suggeriert die Montage, etwa dreihundert Meter von der Mine entfernt mitten im osteuropäischen Nirgendwo. Wie er dahin kommt und warum plötzlich ganz viele Zivilisten und Flughafenmitarbeiter aus dem Weg springen müssen, ist völlig egal, solange bildstark die Scheiben bersten. Mit einem realistischen Weltkonzept hat man es hier also eher nicht zu tun. Alles ist Mittel zum Zweck, die Patronenhülsen möglichst spektakulär fliegen zu lassen. Macht ja auch erstmal gar nichts.

An anderer Stelle finden die Helden sich in einer klar als Kulisse erkennbaren New Yorker Straßenszenerie wieder – ein Fertigset der bulgarischen „Nu Boyana Film Studios“, in denen „The Expendables 2“ gedreht wurde. Diese Fassaden, so die Erklärung im Film, stünden irgendwo in Osteuropa herum, damit Bösewichte dort Anschläge auf Amerika üben können. So phantasievoll wie bei dieser Rechtfertigung ist das Drehbuch bedauerlicherweise sonst nirgends. Ein ums andere Mal wünscht man sich, dass ein Meta-Trash-Spezialist wie Robert Rodriguez mit Rat und Tat zur Seite gestanden hätte.

Lässt man Gekrittel an Vorhersehbarkeit oder Logik außen vor, dürfte das größte Problem dieses erweiterten Treffens der Action-Ikonen sein, dass keiner der Teilnehmer – außer Fiesling Van Damme – irgendetwas darstellen darf, was von der Erwartung abweichen würde. Stattdessen werden Image und Rollengeschichte so lange im Zitatenreigen potenziert, bis rein gar nichts mehr ernst zu nehmen ist. Emotionale Bindung, die stellenweise durchaus erwünscht scheint, und Spannung bleiben deshalb völlig auf der Strecke, denn diesen Ikonen wird niemand etwas anhaben können. Die einzigen Ausnahmen bilden das einzige absehbare Opfer aus der Gruppe, das den Rachefeldzug erst auslöst, und natürlich Van Damme.

Die kalkulierte Unantastbarkeit der Helden ist ziemlich mutlos und langweilig. Immerhin blieben selbst von glorreichen Sieben nur drei, ebenso wenige von sieben Samurai. Lee Marvin brachte sogar nur einen aus seinem dreckigen Dutzend wieder nachhause. In „Expendables 2“ dagegen machen die Helden eine Art Abenteuerurlaub, in dem nichts auf dem Spiel steht. Weil die Franchise weiter gehen muss, wird weitgehend gefahrlos geballert. Die Action beschränkt sich dabei erstaunlich oft auf den typischen Low-Budget-Starschnitt: Helden halbnah von vorne mit wummernder Knarre zeigen, dann im Gegenschuss die Gegner durch die Luft fliegen und Sachen kaputt gehen lassen. Auf interessante kinetische Inszenierungen wartet man vergeblich.

Weil das alles relativ langweilig ist, soll zumindest herzhaft gelacht werden, zum Beispiel über das kleine bisschen Folter ausgerechnet durch Maggie (Nan Yu), die einzige Frau der Söldnertruppe. Das schafft Fallhöhe, denn so hart sein dürfen eigentlich nur Männer. Genervt von der nur geringen Auskunftsfreude eines Feinds, der nach einem Kampf in einer Bar festgesetzt wurde, packt Maggie eine kleine Schachtel aus und gewährt einen Blick auf viele kleine, spitze und scharfe Folterinstrumente. Ein schneller Schnitt nach draußen, und die Helden verlassen bereits die Bar, weil die Auskunft schon eingeholt ist. Das lässt Raum fürs Kopftheater und akzentuiert den Gagversuch wie der Fastnachtstusch die Büttenrede. Interessanterweise bereitet der schnelle, cartoonhafte Tod kein Darstellungsproblem: Die gegnerischen Heerscharen dürfen im Kugelhagel zu Dutzenden zerplatzen. Dass eine Frau foltert, wird zwar als Witz verpackt, aber lieber doch nicht explizit gezeigt – es ist doch nur ein Späßchen.

Wenn man mit dem Lachen fertig ist, freut man sich womöglich auch über die diesmal ausführlichere Rückkehr von Arnold Schwarzenegger, der inzwischen sogar auf praktische Erfahrungen in Sachen Gnadenlosigkeit und Sterbenlassen verweisen kann, und auf Chuck Norris, der maximal einen Tag am Set gewesen sein dürfte und gleich zweimal den Deus ex machina gibt. Wenn er einen Chuck-Norris-Witz erzählt, ist bereits der Gipfel des Metahumors erreicht. Ansonsten sind unkritisch aufbereitete chauvinistische Klischees – Frauen können nämlich zwar foltern, aber, haha, gar nicht gut schießen – immer für ein behagliches Lachen gut, denn da kennt man sich aus. Hauptsache keine Überraschungen.

Der Fluss war einst ein Mensch

(D 2011, Regie: Jan Zabeil)

Der Ort ist das Ziel
von Andreas Thomas

Ein junger Mann aus Deutschland (Alexander Fehling), namenlos, auf einer Reise durch ein afrikanisches Land, ebenfalls namenlos. Er benutzt eine Fähre und einen Mietwagen. Bei einem Unwetter in der Nacht …

Ein junger Mann aus Deutschland (Alexander Fehling), namenlos, auf einer Reise durch ein afrikanisches Land, ebenfalls namenlos. Er benutzt eine Fähre und einen Mietwagen. Bei einem Unwetter in der Nacht ist durch die Windschutzscheibe fast nichts mehr zu erkennen, dann plötzlich ganz nah Kühe, eine scharfe Bremsung und ein scharfer Schnitt, so wie wenn man sich die Augen zuhält.

Ein neuer Tag: Der Deutsche liegt ziemlich relaxed auf der Kühlerhaube und raucht. Keine toten Kühe und kein toter Deutscher. Nicht mal eine Beule im Rover. Situation folgt auf Situation. War da eine Zäsur oder nicht? Der Deutsche, ohne Auto jetzt, wird von einem alten Afrikaner, namenlos, auf einem Einbaum durch ein ausgedehntes namenloses Flussdelta, Ziel unbekannt, gesteuert. Der Deutsche wirkt müde und ziellos, er verschläft die halbe Fahrt, der Fährmann sagt am Lagerfeuer: Der Elefant kommt zu dir, um dich zu töten.

Am nächsten Morgen ist der Alte tot und der Junge ratlos. Wie soll er den Weg zurück finden, wenn er auf dem Boot noch nicht einmal das Gleichgewicht halten kann?
Was nun überwiegt, sind die Geräusche der Gefahr und die Geräusche des ausgedehnten Flussdeltas. Der Deutsche kann an seiner Angst zugrunde gehen, er kann sich aber auch dem langsamen Strom überantworten, so wie man sich seinem Schicksal ergibt.

Für einen Film wie „Der Fluss war einst ein Mensch“ stehen derzeit zwei Genretypisierungen zur Verfügung. Zum einen passt der Film zu Filmen wie „The Sixth Sense“ von Night S. Shyalaman, „Alice“ von Claude Chabrol oder „Jacob’s Ladder“ von Adrian Lyne, er ist also als eine Art metaphysischer Psychothriller les- bzw. erlebbar. Zum anderen, je nach Auslegung, passt das Langfilmdebüt von Jan Zabeil auch in die Reihe jener neueren zivilisationskritischen Filme, die von der Entfremdung des westlichen Menschen berichten, indem sie ihn in einer urwüchsigen und gleichgültigen Natur aussetzen. Hier könnte man an Filme wie Gus Van Sants „Gerry“ denken, gar an „The Blair Witch Project“ aber auch an jene die Natur mystifizierenden Filme eines Weerasethakul, in denen die Natur zwar als mächtig und allgegenwärtig erscheint, aber wo aus ihrer Allmacht (und ihrer Geisterwelt) auch Heilung und Sinnzusammenhang erwachsen kann.

Ein junges Beispiel für einen deutschen Film, der eher für die (afrikanische) Natur als für die (westliche) Kultur votiert, war „Schlafkrankheit“ von Ulrich Köhler. Nah daran und sichtlich geprägt von „Dead Man“ von Jim Jarmusch entwickelt Zabeil eine Metapher von der (Über-)Lebensunfähigkeit eines europäischen Zeitgenossen angesichts einer allumfassenden Natur, mit und in der er nichts anfangen kann. Die Natur in „Der Fluss war einst ein Mensch“ ist nahezu identisch mit dem darin Untergehen, mit dem Tod. Solch Metaphorik lässt nicht viel zu rätseln übrig.

Bereits das mutige Konzept der weitgehend improvisierten Dreharbeiten, sich mit einem aus nur vier Leuten bestehenden Team in (ein auch im Abspann des Filmes nicht näher bezeichnetes) afrikanisches Land und mehr oder weniger ungeschützt in dessen Gefahren (Skorpione im Zelt, Flusspferde im Fluss) zu begeben, um sowohl handlungstechnisch als auch realiter alles auf sich zukommen zu lassen, ist programmatisch. Natürlich wird so der Weg, nämlich der Ort und seine Charakteristika, zum Ziel und deshalb verbringt der Film die Hälfte seiner Zeit schweigend bei seinem teils skeptischen, teils „leidenden“, teils panischen und teils dreingegebenen Protagonisten (wofür dem Hauptdarsteller weniger Mimik als nötig zur Verfügung steht) und guckt und lauscht und fühlt die geheimnisvolle afrikanische Natur, er meditiert quasi das weg, was der Junge wegleidet.

Was der junge Mann nun eigentlich vorhatte auf dem fremden Kontinent, ist dabei so wenig wichtig wie Land und z.B. Leute, die, wie auch er und alles andere hier, zum Exemplarischen erhoben und im Abspann nur als „People of the Village' bezeichnet werden. Der Film, seine Figuren, die Handlung und der Ort Afrika, offenbar alles im Dienst einer Mystifikation. Es bleibt das zwiespältige Gefühl, zwar spürbar mitten drin gewesen zu sein und weitab von jeder Zivilisation, zugleich aber, dass hier ein Kontinent zusammenschnurrt zum Zweck einer ziemlich eskapistischen Romantisierung von Wildnis: sei sie nun positiv oder negativ besetzt – Hauptsache, sie ist wilder als das degenerierte Europa.

In Köhlers Afrikafilm „Schlafkrankheit“ war Afrika gehaltvoller, widersprüchlicher, und daher plausibler. Aber „Der Fluss war einst ein Mensch“ ist ja, wie gesagt und offenbar, auch nur ein Film über diese jungen Deutschen, die vor lauter Coolness nicht mal Autofahren können.

Holy Motors

(F / D 2012, Regie: Leos Carax)

Tod und Vergänglichkeit
von Andreas Busche

„Wo bleiben nachts eigentlich all die Limousinen?“ fragte gerade erst Robert Pattinson in David Cronenbergs „Cosmopolis“. Die Antwort liefert nun Leos Carax‘ neuer Film „Holy Motors“. Da versammeln sich am …

„Wo bleiben nachts eigentlich all die Limousinen?“ fragte gerade erst Robert Pattinson in David Cronenbergs „Cosmopolis“. Die Antwort liefert nun Leos Carax‘ neuer Film „Holy Motors“. Da versammeln sich am Ende des Tages die Stretch-Limousinen der Stadt in einer Garage im Randbezirk. Nachdem der letzte Chauffeur die Halle verlassen hat, erwachen die Autos zum Leben und beginnen, über ihren Arbeitstag zu klagen. Ihr Gespräch spannt den ganz großen philosophischen Bogen vom Profanen zum Erhabenen. Die heiligen Maschinen, deren Geist längst unseren Alltag transzendiert hat und deren Schicksal darin besteht, von immer kleineren Prozessoren ersetzt zu werden.

Diese Schlusseinstellung fügt sich nahtlos in Carax‘ unberechenbaren kleinen Geniestreich von Film, in dem sich David Lynchs hypnotische Traumgespinste und die labyrinthische Logik eines Luis Borges verbinden. Neun „Verabredungen“ hat Monsieur Oscar im Auftrag einer ominösen Agentur zu erledigen, im Fond seiner Limousine lässt er sich von Termin zu Termin befördern. Verlässt er den Wagen, schlüpft er in eine neue Rolle: eine verkrüppelte Bettlerin, einen Familienvater, einen Martial Artist. Hochgradig bizarr ist die Zwergen-Episode um einen Modefotografen und sein Supermodel (Eva Mendes). Der als Gnom verkleidete Monsieur entführt die Schöne in die Unterwelt, wo er ihr Designerkleid wie einen Tschador herrichtet und sich mit erigiertem Schwanz in den Schlaf singen lässt.

Doch so herrlich beknackt das klingt, eigentlich ist Monsieur Oscar eine tragische Figur: ein Shapeshifter, eine Hülle ohne eigene Identität. Tod und Vergänglichkeit sind in Carax‘ Film allgegenwärtig. Mit einer Kollegin spielt Monsieur Oscar eine unglaublich bedrückende Sterbeszene durch. Ein anderes Mal tötet er einen Kriminellen, verwandelt ihn in seinen Doppelgänger und legt sich zum Sterben neben sein Ebenbild. Nur ist der Tod keine Option für ihn.

Hauptdarsteller Denis Lavant ist mit seinem sehnigen Körper und diesen tiefliegenden Augen schon physisch nicht für einen tragischen Heldentod geschaffen. Ein solches Privileg genießt nur eine Diva wie Kylie Minogue, die Lavant beim Schlendern durch die baufällige Pracht der „Samaritaine“-Korridore ein Liebeslied singt, das die Mauern zum Weinen bringen könnte. Wer waren wir, was ist aus uns geworden? Die Liebenden haben sich in Monster verwandelt. Es ist zum Sterben schön. Monsieur Oscar aber muss noch weiter zu einer Schimpansenfamilie. Sein leerer Blick aus dem Fenster spricht Bände.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Was bleibt

(D 2012, Regie: Hans-Christian Schmid)

Die Mauer muss weg!
von Ulrich Kriest

Die bürgerliche Kleinfamilie bleibt ja immer noch die schönste Konstellation, wenn man einmal einen richtigen Kriegsfilm so ganz ohne Uniformen drehen will. Noch schöner wird es, kehrt jemand zurück aus …

Die bürgerliche Kleinfamilie bleibt ja immer noch die schönste Konstellation, wenn man einmal einen richtigen Kriegsfilm so ganz ohne Uniformen drehen will. Noch schöner wird es, kehrt jemand zurück aus der Fremde in die Enge seiner Anfänge. Alle Konflikte noch da? Setzen! Marko (Lars Eidinger) ist ein Schriftsteller und lebt seit Jahren in Berlin. Sein Debüt als Autor war wohl recht erfolgreich, aber jetzt geht es irgendwie nicht recht voran und die Beziehung zur Mutter seines Sohnes Zowie (!) scheint gescheitert: man ist vorsorglich schon wieder auseinandergezogen. Für ein langes Wochenende kehrt Marco mit Zowie zurück ins Elternhaus nach Siegburg.

Dort, im Zentrum der alten Bundesrepublik, steht der großzügige Frühsiebiger-Bungalow der Bauhaus-Moderne. Marcos Alt-68er-Vater Günther (Ernst Stötzner) ist ein sehr erfolgreicher Verleger, der allerdings gerade seine Verlagsanteile verkauft hat, um jetzt endlich die Dinge tun zu können, die ihm vorher nicht möglich waren. Er, der souveräne Chef im Ring, will jetzt als Sachbuchautor ein weiteres Mal reüssieren. Marcos jüngerer Bruder Jacob (Sebastian Zimmler) ist Zahnarzt geworden, die Praxis und auch die eigene Wohnung hat ihm der Vater finanziert – und nebenher auch schon mal Küche und Couch ausgesucht. Was nicht viel geholfen hat, denn in dieser Stadt braucht es offenbar keinen weiteren jungen Zahnarzt: die ersten Geräte werden bereits wieder abgeholt, die Bank versteht keinen Spaß. Jacob führt zudem eine nicht ganz unproblematische Wochenendbeziehung. Marcos Mutter Gitte (Corinna Harfouch) ist vielleicht depressiv. Jedenfalls stand sie 30 Jahre unter Medikamenten. Ruhig gestellt. Jetzt hat sie diese eigenmächtig abgesetzt – und es geht ihr gut dabei. Sagt sie. Ein symbolischer Akt. Doch die Ordnung der Familie, ohnehin nur fragil und durch Wohlstand abgefedert, kommt durch diese eigensinnige Entscheidung ins Gleiten.

Mit chirurgischer Präzision entfernt Hans-Christian Schmid elegant Maske um Maske, bis die Wahrheit hinter der bürgerlichen Fassade kenntlich wird: diese Familie ist längst nur noch eine Fiktion, ein Transitraum, zentriert allein durch die sedierte Mutter im Bungalow. Fallen die Medikamente fort, wird der Blick plötzlich klar! Krankheit als Metapher in der Schlacht der Beziehungsökonomien: die alten Rollen zwischen Egoismus und Selbstmitleid, Verständnis und Überforderung werden noch einmal ausprobiert und dann verworfen. Die alten Rechnungen gehen nicht mehr auf! Günther hat sich sein Recht auf ein bisschen Unabhängigkeit schwer erarbeitet, hat er doch alles der Familie geopfert. Doch Gittes Rebellion verpufft in einem zwiespältigen Akt des Widerstands, weshalb der Filmtitel auch ohne Fragezeichen auskommt.

Kaum jemand könnte hierzulande einen solch subtilen und schmerzhaften Stoff, der an Ibsen und Tschechow erinnert, souveräner und pointierter – der Film dauert gerade mal 85 Minuten! – inszenieren als Hans-Christian Schmid („Requiem“), der hier auf ein erstklassiges Drehbuch von Bernd Lange, ein vorzügliches Set-Design und ein wirklich phänomenales Darstellerensemble um allerlei Theatergrößen bauen konnte. Ein nahezu perfekter Film – bis hin zur passend brüchig-elektronischen Musik von The Notwist. Einziges Manko, vielleicht unvermeidlich, ist, dass der Film gut 25 Jahre zu spät kommt. Man stelle sich „Was bleibt“ in der Geschichtsstille von 1987 vor! So muss jetzt wohl ein Double-Feature mit Petzolds „Barbara“ her, um die ganze Geschichte in den Blick zu bekommen.

Holy Motors

(F / D 2012, Regie: Leos Carax)

Der Verwandlungskünstler
von Wolfgang Nierlin

Die Geräuschkulisse kommt vom Meer. Möwenschreie und eine Schiffssirene sind zu hören, als sich ein offensichtlich blinder Mann von seinem Bett in einem düsteren Hotelzimmer erhebt und sich entlang einer …

Die Geräuschkulisse kommt vom Meer. Möwenschreie und eine Schiffssirene sind zu hören, als sich ein offensichtlich blinder Mann von seinem Bett in einem düsteren Hotelzimmer erhebt und sich entlang einer Wand tastet. Plötzlich entdeckt er eine Tapetentür aus Baum-Mustern, öffnet sie mit einem Schlüssel und betritt einen Kinosaal, in dem das anwesende Publikum seltsam erstarrt und leblos wirkt. Ein kleiner nackter Junge, der Stummfilm-Leinwand entsprungen, huscht durch den Mittelgang. Zwischen Traum und Realität bewegt sich der neue, seit langem ersehnte Film von Leos Carax. „Holy Motors“ ähnelt einer bewegenden Reise durch die Genres und Stile des Kinos, seine Geschichte und Geschichten, hin zu den großen Themen, die sich um das Verhältnis von Leben und Kunst, Liebe und Tod drehen. Dabei skizziert der französische Regisseur, der sich im Prolog in der Rolle des somnambulen Blinden selbst inszeniert, auch ein Selbstportrait des Filmkünstlers angesichts einer sterbenden Kinokultur.

Gegen diesen schleichenden Tod betreibt Leos Carax ein höchst phantasievolles und sinnliches Spiel mit Masken und Verkleidungen, indem er sein Alter Ego Monsieur Oscar (Denis Lavant) als Verwandlungskünstler auf einen Trip durch Paris schickt, das so zu einer Mitspielerin wird. In einer weißen Stretchlimousine, die von seiner Assistentin Céline (Edith Scob) gelenkt wird, gleitet er von Station zu Station. Der schwerfällige, wie aus der Zeit gefallene Luxuswagen, dient ihm dabei als Büro, Fundus und Rückzugsort. Hier empfängt Monsieur Oscar die Aufträge und Termine eines unsichtbaren Auftraggebers, hier wechselt er die Kleider und Masken, um in immer neuen Rollen fremde Leben zu spielen und seine Identität in wechselnden Persönlichkeiten aufzuspalten, bis das Leben selbst zur Kunst wird und der Traum zur Wirklichkeit.

Die Lust an der Verwandlung und die Bewegung als Motor der Geschichte verleihen „Holy Motors“ Flügel, funkelnde Ideen und einen dunklen Witz. In Denis Lavant treffen sie überdies auf einen kongenialen Performer, der sich regelrecht häutet, vom Geschäftsmann zur alten Bettlerin, vom Katzenmenschen in Latex zum Auftragskiller und vom Liebenden zum Sterbenden mutiert. Dabei ist er zugleich Täter und Opfer, Vater und Kind, vor allem aber ein Künstler, der für die Wahrheit streitet und die Schönheit verteidigt. Als Monster aus der Unterwelt entführt der die Schöne (Eva Mendes), um sich später mit ihr zu einer Art Pietà zu gruppieren. Als Vater, der von den Lügen seiner pubertierenden Tochter enttäuscht ist, verkündet er: „Deine Strafe besteht darin, du selbst zu sein und damit leben zu müssen.“ Gegenüber seiner früheren, verlorenen Geliebten (Kylie Minogue) wiederum konstatiert er: „Die Zeit arbeitet gegen uns.“ Und über der Leiche des ermordeten Bankiers ruft er aus: „Ich verbiete euch zu lügen!“ So produziert der Kampf des „Einen“ gegen die „Vielen“ Sätze, die in gewisser Weise für alle gelten.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Chico & Rita

(ES / GB 2010, Regie: Fernando Trueba, Javier Mariscal, Tono Errando)

Bésame mucho
von Wolfgang Nierlin

Die Zeiten haben sich geändert, doch die Erinnerung bleibt. Der alte Schuhputzer Chico nährt sich davon. Im Havanna der Gegenwart, das mit der Pflicht zur Anpassung politisch hausieren geht, öffnet …

Die Zeiten haben sich geändert, doch die Erinnerung bleibt. Der alte Schuhputzer Chico nährt sich davon. Im Havanna der Gegenwart, das mit der Pflicht zur Anpassung politisch hausieren geht, öffnet er das Fenster seiner kleinen Wohnung für einen langen Blick in die Vergangenheit. Das Radio spielt „Melodien von gestern“: „Bésame mucho“ – Küss‘ mich, küss mich ganz fest!“, lauten die Zauberworte für den Eintritt in die Imagination. Chico selbst ist zu hören, der in den 1940er und 50er Jahren ein gefeierter Jazzpianist war. Inspiriert ist diese Figur von dem kubanischen Pianisten, Bandleader und Komponisten Bebo Valdés, dem das kreative Team um den spanischen Filmemacher Fernando Trueba, Zeichner Javier Mariscal sowie dessen Bruder, dem Regisseur Tono Errando, ihren zwischen hitziger Leidenschaft und Nostalgie changierenden Animationsfilm „Chico & Rita“ gewidmet haben.

In den Clubs von Havanna, wo sich reiche Amerikaner vergnügen und die Einheimischen die Hintereingänge benutzen müssen, dringt aus der energiegeladenen Musik und den schwungvollen Tänzen pure Lebenslust. Unterbrochen werden die treibenden Beats nur von jenen romantischen Balladen, die die schöne Rita singt und mit denen sie die Herzen entflammt. Im dynamischen Wechsel der verschattet gezeichneten Blicke ist es kurz darauf um Chico geschehen. Eine große, schicksalhafte und unsterbliche Liebe nimmt ihren Anfang. Ihre Geschichte, flankiert von Eifersucht, Missverständnissen und Intrigen, wechselt konsequent zwischen Anziehung und Abstoßung und handelt insofern immer wieder vom Suchen und Finden der sich verfehlenden Liebenden.

„Chico & Rita ist stimmungsvoll und melodramatisch, erotisch und kitschig und manchmal auch rasant. Vor allem ist der Film aber eine Hommage an eine Hochphase des Jazz, als Bebop und lateinamerikanische Rhythmen eine wilde, musikalisch ausschweifende Beziehung eingingen. So folgt Chico nach einem eher unfreiwilligen Aushilfsjob in Woody Hermans Orchestra, der legendären „Herd“, wo er sich mit Noten von Igor Strawinsky konfrontiert sieht, seiner geliebten Rita ins winterlich-graue New York, lernt dort den Perkussionisten Chano Pozo kennen, der mit Charlie Parker spielt und tourt kurz darauf mit Dizzy Gillespie durch Europa. Derweil entwickelt sich Rita zum Filmstar und singt „Love For Sale“. Später, bei einem Auftritt von Chico an der Seite des Saxophonisten Ben Webster im Village Vanguard, werden sich die beiden wiederfinden. „Meine Hoffnung ist auf die Vergangenheit gerichtet“, sagt Rita einmal. In gewisser Weise gilt das auch für Chico und den ganzen Film, auch wenn dieser mit seinen Protagonisten am Ende in der Gegenwart ankommt.

Heiter bis wolkig

(D 2011, Regie: Marco Petry)

Danke Tod, danke!
von Andreas Thomas

Dass der Tod ein Scherzkeks aus Deutschland ist, will uns das deutsche Kino der letzten Jahre, mindestens seit „Knockin‘ on Heavens Door“ glauben machen, sprich: Die deutsche Filmkunst glaubt, sie …

Dass der Tod ein Scherzkeks aus Deutschland ist, will uns das deutsche Kino der letzten Jahre, mindestens seit „Knockin‘ on Heavens Door“ glauben machen, sprich: Die deutsche Filmkunst glaubt, sie bedienen zu können, die Klaviatur von 'vergnügt' bis 'verzweifelt'; doch allein schon beim Titel dieses Werkes von Marco Petry „Heiter bis wolkig“ fragt man sich, was denn der mit seinem Thema zu tun haben soll. Oder haben Sie schon mal bei der Gemütsverfassung einer Krebskranken an Attribute wie „Heiter bis wolkig“ gedacht?

Aber weil dem deutschen Tod eben sein Stachel gezogen ist, ist er auch in diesem Film eben nur eine ziemlich unangenehme Begleiterscheinung in einem ansonsten heiteren Unterfangen, welches „Leben“ genannt wird. Heiter schreitet durch die Welt, wer kopflos ist, und „Marie“ (deren Darstellerin aussieht wie eine junge Veronica Ferres mit schwarzer Perücke) ist schon mal so eine Kopflose, denn als Schwester einer an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankten Jessica Schwarz mit dem Filmnamen „Edda“ hat sie natürlich nichts Besseres zu tun, als dem an Hirntumor erkrankten „Tim“ seinen letzten Wunsch zu gewähren, nämlich eine schöne Nacht, die dann kurz vor Vollzug abgebrochen werden muss, weil ihre Schwester und Wohnungsgenossin mal wieder einen ihrer Kotzanfälle hat. Als hätte Marie nichts Besseres zu tun, als wäre ein Krebspatient nicht schon Belastung genug, nimmt sie also sich gleich einen zweiten als Onenightstand mit nach Hause, also dahin, wo es eh schon einen schwerstkranken Pflegefall gibt, so etwa wie: 'Upps, an meine todkranke Schwester, die von mir gepflegt wird, hatte ich zurzeit und im Schwange meiner amourösen Ausschweifungen gar nicht gedacht.' Aha! Ich widme diesem Detail des Films diese besondere Aufmerksamkeit, weil es nicht nur eine für diesen Film typische Unplausibilität darstellt, sondern weil Unplausibilitäten dieser Art in Filmen der Gegenwart gang und gäbe sind, und weil sie geradezu daraus zusammengebaut sind.

Dass dieser Tim übrigens gar nicht krank ist, dass das Ganze eine in der Kneipe von seinem Kumpel und ihm eingefädelte Mitleidstour ist, die „immer, auch bei den schönsten Frauen, zieht“, ist eine weitere dieser dummen Behauptungen, auf denen eine Handlung dieser Art basiert, mit anderen Worten sagt der Film: Die schönsten Frauen fallen auf die plumpesten Annäherungsversuche herein. Na sicher, das ist wirklich gut getroffen, total lebensnah und daher auch so heiter! Nebenbei weiß der Film folgerichtig auch gar nicht, was schöne Frauen sind, denn die meisten, die die beiden Jungspunde als solche bezeichnen, sind hässliche, aufgetakelte Eulen. Auch weiß der Film überhaupt nicht, was gute Musik ist, denn unablässig läuft so ein billiger, nachgespielter Neunziger-Jahre-Verschnitt, alles andere als aktuell und die Einrichtung der Wohnungen ist so etwa GZSZ. Interessant und mehrfach bemerkbar in den Wohnungen ist, dass deren Fenster zwar immer Vorhänge besitzen, diese jedoch, auch bei der Todgeweihten, nachts niemals zugezogen werden, auch wenn von draußen grelle Laternen den Schlafenden in die Gesichter scheinen.

Nicht nur interessant sondern geradezu absolut entsetzlich ist, dass sich der Pseudohirnkrebskranke bei der Echtbauchspeicheldrüsenkrebskranken, kaum dass sie ihn kennt, einfach so mal auf die Bettkante setzt, um mit ihr zu reden, und er dort stur verharrt, obwohl sie ihn dreimal deutlich dazu auffordert, zu gehen. Entsetzlich ist das nicht, weil es vielleicht solche Idioten im richtigen Leben geben mag, entsetzlich ist, dass der Film dieses rücksichtslose Verhalten würdigt, indem er es mit Erfolg, in diesem Fall mit dem Beginn einer (aus lethalen Gründen: kurzen) Freundschaft belohnt.

Quälend an diesem Film und Filmen dieser Art, ist, dass sie sich erstens nicht mehr im Geringsten um psychologisch plausible Verhaltensweisen scheren und zweitens, dass sie Rücksichtslosigkeiten bis hin zur körperlichen Gewaltanwendung als thrill und fun-haltige Alternativen zum langweiligen Leben (in diesem Fall langweiligen Sterben) propagieren. Hier ist es der (übrigens stark abgemagerten) Schwarz erlaubt, eine Schlägerei anzuzetteln, der, was haben wir gelacht, am Ende natürlich Max Riemelt alias „Tim“ zum Opfer fällt.

Also: Prügeln, Zeche Prellen, aus Rache so tun, als wäre man Selbstmordattentäter, aus Rache Ziegen das florale Innere eines Blumenladens verspeisen lassen, das sind so die Sachen, die dem Leben seine Würze geben, denn auf die wahre Lebenskunst verfällt man natürlich erst, wenn der Tod freundlicherweise vor der Tür steht. Danke Tod, danke. Und dann ist es natürlich auch total nett vom Tod, dass er erst so etwa eine gefühlte Viertelstunde vor seinem Eintritt auch Tribut fordert: Ein bisschen Blut beim Husten, dann wird nochmal ein Kranz fürs eigene Grab geflochten,und dann wird geschwächelt und man legt sich besser mal hin, bis die „Atempausen immer länger werden“ .

Muss ich noch mehr verraten? Vielleicht muss ich, aber ich habe keine Lust dazu, nur eines: Nach diesem Film hatte ich das Gefühl, irgendjemand Ekliges hätte mich anderthalb Stunden geduzt.

Das grüne Wunder – Unser Wald

(D 2012, Regie: Jan Haft)

Maus und Behausung
von Wolfgang Nierlin

Die Werbung zu Jan Hafts Natur-Dokumentarfilm „Das grüne Wunder – Unser Wald“ verkündet produktionstechnische Superlative: „Sechs Jahre Drehzeit, 70 Drehorte, 100 Nächte im Tarnzelt, 250 Stunden Rohmaterial, Pirschgänge mit der …

Die Werbung zu Jan Hafts Natur-Dokumentarfilm „Das grüne Wunder – Unser Wald“ verkündet produktionstechnische Superlative: „Sechs Jahre Drehzeit, 70 Drehorte, 100 Nächte im Tarnzelt, 250 Stunden Rohmaterial, Pirschgänge mit der Kamera, neueste Filmtechnik.“ Tatsächlich sieht man das dem eindrucksvoll fotografierten Film in jedem Augenblick an. Mit Makroaufnahmen, extremer Zeitlupe und Zeitraffer setzen der erfahrene Naturfilmer Haft und sein Ko-Kameramann Kay Ziesenhenne die verborgene Tier- und Pflanzenwelt des mitteleuropäischen Waldes ins Bild und machen sie so auf bislang nie gesehene Weise sichtbar. Knospen und Blüten brechen in Sekundenbruchteilen hervor, Ameisen verspritzen ihre Säure zur Abwehr von Feinden, eine Erdhummel vertreibt eine Maus aus ihrer Behausung und Hirschkäfermännchen streiten sich um ein Weibchen. Daneben nehmen wir Teil an der berührenden Aufzucht von Fuchs-Welpen und Frischlingen oder wohnen jenen großen Erschütterungen bei, die zum Beispiel von kleinen Regentropfen ausgelöst werden können.

Bei all dem ist ein Hang zur Überästhetisierung und zur Steigerung des stimmungsvoll fotografierten Bildes ins faszinierend Wundersame unverkennbar. Unterstützt wird das noch durch ein Sounddesign, das die natürlichen Geräusche akustisch verstärkt und durch seine musikalische Untermalung das Gezeigte theatralisiert. Da tanzen dann Blümchen, öffnen sich Blüten im Walzertakt oder trollen sich die Frischlinge zu einem luftigen Flöten-Thema. Solche Anthropomorphisierung, die noch durch den metaphernreichen, von Schauspieler Benno Fürmann mit warmer Stimme gesprochenen Text akzentuiert wird, hat natürlich weniger mit Naturalismus oder Wissenschaftlichkeit als vielmehr mit poetischer Überhöhung zu tun. Suggestiv lenkt der Film die Gefühle der Zuschauer, keine Brüche oder Irritationen stören sein ästhetisches Gleichgewicht. Jan Haft produziert hier Überwältigungskino, dessen emotionalen Einflüsterungen man sich, selbst wenn man wollte, kaum entziehen kann.

Inhaltlich beschreibt sein Film „Das grüne Wunder“ den Wald einmal nicht als mythischen Ort, sondern „als Universum für sich“ und als verborgene Welt, deren vielfältiges Leben es zu entdecken und zu bewahren gilt. Im Wechsel der Jahreszeiten spürt Haft ihren Geheimnissen nach und zeigt dabei den Wald als planvoll eingerichteten, funktionierenden Organismus, dessen geordnete Schichten ineinandergreifen und in einem permanenten Austausch stehen. Nachdenklich folgt er den natürlichen Kreisläufen des Wachsens und Vergehens, des Fressens und Gefressen-Werdens als „fließende Übergänge zwischen Leben und Tod“. Und er plädiert mit Nachdruck für den offenen, lichten Wald, den es früher einmal gab und der, so Jan Haft, die Artenvielfalt dieses einmaligen Lebensraums erst ermögliche und garantiere.

Rum Diary

(USA 2012, Regie: Bruce Robinson)

Gonzo Family
von Marit Hofmann

Kann man denn nicht mal, wenn man tot ist, seine Ruhe haben? Als Hunter S. Thompson 2005 starb, beschloss sein Kumpel Johnny Depp, an dem gemeinsamen Projekt, der Verfilmung des …

Kann man denn nicht mal, wenn man tot ist, seine Ruhe haben? Als Hunter S. Thompson 2005 starb, beschloss sein Kumpel Johnny Depp, an dem gemeinsamen Projekt, der Verfilmung des spät veröffentlichten Romanerstlings 'Rum Diary', weiterzuarbeiten und den Schriftsteller 'zu zwingen, selbst im Tod einer der Produzenten zu sein'. In der Praxis sah das dann so aus: Hauptdarsteller und Koproduzent Depp ließ einen Stuhl und eine Flasche Rum für Thompson ans Set stellen, um zusammen mit Regisseur Bruce Robinson jeden Morgen das Highball-Glas ihres Obergonzos mit Schnaps zu füllen: 'Wir wollten einfach sicherstellen, dass Hunter da war. Und er war da. Für uns.'

Nun sind Halluzinationen und im wahrsten Sinne des Wortes trunkene Heldenverehrung nicht eben eine gute Voraussetzung, um einen Roman zu verfilmen. Die Kinoversion von Thompsons Erlebnissen als junger Journalist bei einer US-Zeitung auf Puerto Rico beginnt hübsch absurd wie eine Fortsetzung von Terry Gilliams Thompson-Adaption 'Fear and Loathing in Las Vegas', an die man dann jedoch immer wieder wehmütig zurückdenkt. Denn der Alkoholrausch, dem die Presseknallchargen in 'Rum Diary' hauptsächlich frönen, produziert weniger surreale Bilder als die Trips, die Depp und Konsorten in Las Vegas einwarfen. Robinsons unangemessen brave Verfilmung widerlegt unfreiwillig den von Thompson befeuerten Mythos, dass Drogeneinfluss die Kreativität steigere. Form und Inhalt decken sich immerhin insofern, als der Regisseur so wenig wie der Jungreporter weiß, was er will. Die dahinplätschernde Handlung unterbrechen Luftaufnahmen von tropischen Traumstränden, als sei’s eine Werbepause von TUI. Endgültig ernüchtert, dass der von Depp so sympathisch gegebene Slacker zum Langweilerhelden mutiert, der vergeblich gegen das Böse (US-Investoren, die die Insel samt Pressevertreter aufkaufen) kämpft. Scheiß auf Werktreue, aber da hat der Autor bei aller Machoattitüde mehr Fähigkeit zur Selbstkritik bewiesen: Sein der Korruption nicht abgeneigtes und alles andere als couragiertes Alter ego bezeichnet sich im Roman als 'menschlicher Saugfisch', der sich an Haie hängt, 'und wenn der Hai eine große Mahlzeit fängt, bekommt der Saugfisch den Rest'. Hunter S. Thompsons Jüngern ist der Ru(h)m offenbar zu Kopfe gestiegen.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/12

The Dark Knight Rises

(USA 2012, Regie: Christopher Nolan)

Fledermausschinken
von Louis Vazquez

Der nicht mehr ganz neue Trend zum epischen Erzählen im Blockbusterkino macht es den Filmemachern ja nicht gerade leicht. Opulente Vorlagen sind schwer zu bändigen und resultieren meist in ausgedehnten …

Der nicht mehr ganz neue Trend zum epischen Erzählen im Blockbusterkino macht es den Filmemachern ja nicht gerade leicht. Opulente Vorlagen sind schwer zu bändigen und resultieren meist in ausgedehnten Mammutwerken. Und weil’s gefällt und das entsprechende Publikum ohnehin an nichts Geringerem als mindestens Trilogien interessiert zu sein scheint, werden immer häufiger Ideen, die früher einen flotten B-Film abgegeben hätten, von vornherein (und ohne den Erfolg abzuwarten) auf Fortsetzbarkeit getrimmt.

Nicht immer lässt sich mit Bestimmtheit sagen, was hinter dem Drang zur ausufernden Erzählweise steckt: finanzielle Gründe, Respekt vor dem geschriebenen Wort oder das Unvermögen, mit filmischen Mitteln zu verdichten. Manchen Regisseuren jedenfalls nimmt man es eher ab als anderen, dass sie es schrecklich gut meinen mit der Ausführlichkeit. [Wenn Peter Jackson, dessen „Herr der Ringe“ sich noch auf eine dreigeteilte Vorlage berufen konnte, nun auch „The Hobbit“ mit Hilfe von Nachdrehs zu drei (mutmaßlich überlangen) Filmen zerdehnen will, so dürften dahinter nicht nur wirtschaftliche Überlegungen stecken. Jackson glaubt vermutlich wirklich, so richtig viel erzählen zu müssen. Was aber so eine späte Entscheidung über sein bisheriges Konzept und sein Verständnis von Dramaturgie zumindest nahe legt, steht auf einem anderen Blatt.]

Auch in der Superheldenfilmproduktion muss man viel beachten, wenn man allen Erwartungen gerecht werden will. Schließlich wurden schon längst zahllose Varianten durchgespielt, und die verschiedenen Paralleluniversen der Comicvorlagen bieten unzählige Möglichkeiten. Da kann man als Fan wie als Filmemacher schon mal den Überblick verlieren. Christopher Nolan ist beides, und es bleibt spekulative Vermutung, dass ihm das eine beim anderen in die Quere gekommen sein könnte. Zum Abschluss seiner realistisch gemeinten Batman-Trilogie erzählt er jedenfalls gleichzeitig viel zu viel und zu wenig.

Als eine Terroristengruppe auf ungewöhnliche Weise ein Flugzeug zum Absturz bringt, ist die Erwartung noch groß. Die Exposition nämlich empfiehlt Nolan einmal mehr als Regisseur für einen Bond-Film oder einen vergleichbar klassisch inszenierten Action-Kracher, obwohl die Montage es gegen Ende mit der Übersichtlichkeit nicht mehr so genau nimmt. Bald aber entfaltet sich eine Geschichte, die ihren angemessenen Rahmen wohl in einer mehrstündigen TV-Miniserie hätte finden müssen. Das Drehbuch von Christopher und Jonathan Nolan wird zunehmend elliptisch – wie manche Fernsehserien beim Abschluss großer Handlungsbögen –, lässt aber ausgerechnet die spannendsten Aspekte der Geschichte aus und zu viele Fragen offen. Über die entstehenden Plotlöcher wischt die schnelle Montage hinweg, aber wehe, man atmet kurz durch und denkt über das Gezeigte nach.

Die Bevölkerung Gothams spielt kaum eine Rolle, obwohl der Film von einer monatelangen Belagerung der Stadt erzählt. Der Konflikt aber wird bloß über Stellvertreter ausgetragen – hier die Bösen, da die Vertreter von Recht und Gesetz, die zwar korrupt und feige sein mögen, aber im rechten Moment über sich hinauswachsen. Zumal es ja gegen Terroristen geht, deren Ziel so wischiwaschi ist wie die Haltung des Films in seinem Bemühen um Ambivalenz. Für Blicke zur Seite, die ein bisschen Alltag hätten vermitteln können, bleibt jedenfalls leider keine Zeit. So konform diese Feier der ordnenden Kraft der Exekutive und ihrer Helden letztlich ausfällt, so mutlos und konfektioniert wirkt auch die Inszenierung.

Vermeintlich überraschende Wendungen oder Erkenntnisse der Figuren zum Beispiel müssen so lange erklärt und durch Rückblenden und Worte mehrfach abgesichert werden, bis vom behaupteten gritty realism nicht mehr viel übrig ist, weil jedes Zugeständnis an den kleinsten gemeinsamen Nenner auf arg durchschaubare Weise eben doch nur den üblichen Blockbuster-Mechanismen folgt. Auch Emotionen werden allzu oft von unterstützenden Worten begleitet.

Durch einen interessanten (aber vorhersehbaren) Kniff soll man am Ende schließlich noch das Gefühl bekommen, jetzt könne eine ganz neue Geschichte losgehen. Ausgerechnet die aber hätte man lieber noch innerhalb dieses Film erzählt bekommen, etwa anstelle der unsinnigen Nebenplots über heldenhafte Polizisten oder leichtgläubige Untergrundkämpfer. Durchaus von Interesse wäre auch die Information gewesen, was Tausende von Ordnungshütern, die wochenlang unter der Erde eingeschlossen sind, den ganzen Tag so treiben.

Sollte Christopher Nolan in Zukunft wirklich einen James-Bond-Film drehen dürfen, bleibt zu hoffen, dass jemand anderes ihm ein gutes Drehbuch schreibt, das sich von allem Ballast der multiplen Möglichkeiten, der so eine populäre Figur begleitet, frei macht. Was dagegen Batman angeht, kann man sich damit trösten, dass der beste Film zum dunklen Ritter schon von Tim Burton gedreht wurde – nicht minder abgründig, dabei aber fähig zur Selbstironie. Vor ziemlich genau 20 Jahren erschien „Batman Returns“ als perfektes Sequel und idealer Mittelteil einer Trilogie, die man sich indes, mangels Vollendung, bis heute selber zu Ende träumen muss.

Der Vorname

(F / B 2012, Regie: Alexandre de la Patellière, Matthieu Delaporte)

Diskurs der Enthüllungen
von Wolfgang Nierlin

Schon die weitschweifige Exposition, die mit Lust am Fabulieren kulturgeschichtliche Umwege nimmt, um im Herzen der Geschichte zu landen, ist ein kleines filmisches Kunststück nach der Art Wes Andersons. Während …

Schon die weitschweifige Exposition, die mit Lust am Fabulieren kulturgeschichtliche Umwege nimmt, um im Herzen der Geschichte zu landen, ist ein kleines filmisches Kunststück nach der Art Wes Andersons. Während ein Off-Erzähler im Verbund mit der Montage in rasendem Tempo die Protagonisten vorstellt und dabei eine Ästhetik der Abschweifung kultiviert, etablieren die beiden Regisseure Matthieu Delaporte und Alexandre de la Patellière jene flirrende Ironie zwischen Wahrheit und Lüge, die ihre intelligente Komödie „Der Vorname“ in einem turbulenten Diskurs der Enthüllungen vorantreibt. Dabei entwickeln sie in ihrem Ensemblefilm, der auf einem eigenen, höchst erfolgreichen Theaterstück basiert, eine enorme Dynamik der Kommunikation. Bluffs und Missverständnisse, Verletzungen und Tabubrüche ziehen in der Folge immer weitere Kreise und lassen in einem stetigen Wechsel von Täter- und Opferrolle die Masken fallen.

Im Kern sind davon tiefe Familien- und Freundschaftsbande bedroht. Schon die geschmackvoll-heimelige Wohnung des Pariser Literatur-Professors Pierre (Charles Berling) und seiner Frau Élisabeth (Valérie Benguigui), einer gesellschaftskritischen Lehrerin, strahlt jene behagliche Wärme einer freundschaftlichen Verbundenheit aus, die der Film nach und nach demontiert. In die gedämpfte Atmosphäre des mit vielen Büchern, gemütlichen Sofas und mildem Licht angefüllten Cinemascope-Bildes, das der Auseinandersetzung Raum gibt und sie zugleich einschließt, treten der sensible Orchestermusiker und Freund der Familie Claude (Guillaume de Tonquédec), Élisabeths Bruder Vincent (Patrick Bruel), ein erfolgreicher Immobilienmakler und spöttischer „Held der modernen Zeit“, sowie seine im fünften Monat schwangere Frau Anna (Judith El Zein).

Und wie soll das Kind, von dem der zukünftige Vater annimmt, es werde ein Junge, heißen? Genau an der Antwort auf diese Frage entzündet sich im Folgenden ein ebenso heftiger wie lautstarker Streit, der angefüllt ist mit schlagfertigen Dialogen, Witz und philosophischen Sophismen. Doch nach dem ersten Schlagabtausch und seinen unumkehrbaren Beschädigungen, in denen das Gesagte seine zerstörerischen Wirkungen entfaltet, ist der zweite nicht fern. Dabei geht es immer deutlicher und offensiver ans Eingemachte der Beziehungen; weder Freundschaften noch Ehen werden verschont in diesem ausufernden Kampf der Kränkungen, der an den (nicht zuletzt politischen) Wurzeln der jeweiligen Persönlichkeit gräbt. De la Patellière und Delaporte inszenieren diesen fulminanten Seelenstriptease mit viel Liebe zum Detail, aber auch mit einer großen Liebe für ihre sehr stimmig gezeichneten Figuren, die sie schließlich in einem versöhnlichen Finale zusammenführen. Denn: „Wir haben alle unsere kleinen Probleme.“

Das Schwein von Gaza

(F / D / B 2011, Regie: Sylvain Estibal)

Eber in Socken
von Wolfgang Nierlin

Jafaar (Sasson Gabay) ist ein glückloser Fischer von trauriger Gestalt. „Und wieder nur Dreck“, flucht er leise, wenn sich in seinem Netz außer ein paar kleinen Fischen wieder einmal hauptsächlich …

Jafaar (Sasson Gabay) ist ein glückloser Fischer von trauriger Gestalt. „Und wieder nur Dreck“, flucht er leise, wenn sich in seinem Netz außer ein paar kleinen Fischen wieder einmal hauptsächlich Zivilisationsmüll findet. Auf dem Markt kauert er vor seinem mickrigen Fang wie ein Häuflein Elend. Und gegenüber seiner geduldigen Frau Fatima (Baya Belal) muss er mal wieder eine kleine Lügengeschichte erfinden, denn Schulden bedrohen den kümmerlichen Haushalt. Was so märchenhaft tragikomisch beginnt und in guter filmgeschichtlicher Tradition mit Humor den Kampf eines leidgeprüften Helden gegen widrige Lebensumstände beschreibt, hat doch einen ernsten politischen Hintergrund. Denn Jafaar lebt im Gaza-Streifen, wo die Wege auf Schritt und Tritt von Grenzzäunen markiert sind und scharf kontrolliert werden. Sylvain Estibals Komödie „Das Schwein von Gaza“ ist insofern durchzogen von Zäunen, Mauern und Checkpoints. Selbst die Fischfangzonen sind reglementiert. Und auf dem Dach von Jafaars marodem Haus patrouillieren zwei junge israelische Soldaten.

Dieses absurde Bild ist neben vielen anderen natürlich symbolisch gemeint. Der französische Schriftsteller und Journalist Sylvain Estibal verwendet es, um in seinem Debütfilm die paradoxe Situation der festgefahrenen Verhältnisse zwischen Juden und Palästinensern zu zeigen. Als Jafaar eines denkwürdigen Tages auch noch ein vietnamesisches Hängebauchschwein aus dem Meer fischt, erreicht die Problem- und Konfliktlage eine neue symbolische Stufe. Denn das Schwein gilt in der Religion beider Völker als unrein, gar sündig; und verkörpert insofern eine Menge Vorurteile. Jafaars Schock und Verzweiflung über seinen wunderlichen Fang findet auch bald entschlossene Ratgeber: „Du musst diese Schweinerei so schnell wie möglich loswerden, sagt sein befreundeter Barbier (Gassan Abbas), bevor er ihm eine Kalaschnikow in die Hand drückt.

Aber natürlich ist Jafaar für eine kaltblütige „Lösung des Problems“ zu gutmütig. Als tumber Tor wird er darüber hinaus überraschend erfinderisch und geschäftstüchtig. Denn bald darauf schmuggelt er den lukrativen Samen des Ebers in einen Kibbuz, wo sich die Russin Yelena (Myriam Tekaïa) um die Schweineaufzucht kümmert. Die Grenzen sind also durchlässiger als man denkt: Während Jafaars Schwein in Socken und Schafspelz durch den Gaza-Streifen spaziert, gesellt sich einer der israelischen Soldaten zu Fatima, um eine brasilianische Telenovela zu sehen. „Das Hängebauchschwein ist meine Friedenstaube“, kommentiert Estibal seine komische Utopie eines friedlichen Zusammenlebens. Aber bis zum märchenhaften Ende mit seiner versöhnlichen Vision muss der Antiheld noch einige gefährliche Abenteuer im absurden, satirisch zugespitzten Grabenkrieg zwischen Hamas und israelischem Militär bestehen; wobei beide Seiten mal mehr, mal weniger lustig ihr Fett abkriegen.

Knistern der Zeit – Christoph Schlingensief und sein Operndorf in Burkina Faso

(D 2012, Regie: Sibylle Dahrendorf)

Austausch von Beziehungen in Dingen
von Wolfgang Nierlin

Gleich zu Beginn ist auf der Tonspur zu hören, was dem Film den Titel gab: das „Knistern der Zeit“, eingeprägt einer alten Vinyl-Schallplatte, die durch häufiges Abspielen individuelle Spuren und …

Gleich zu Beginn ist auf der Tonspur zu hören, was dem Film den Titel gab: das „Knistern der Zeit“, eingeprägt einer alten Vinyl-Schallplatte, die durch häufiges Abspielen individuelle Spuren und Kratzer bekommen hat. Für den Filmemacher und Theaterkünstler Christoph Schlingensief, den Sibylle Dahrendorf bei seiner Projektarbeit für ein Operndorf in Burkina Faso filmisch begleitet, geht es gerade um diesen geheimen Schatz, der sich als vergehende Zeit und lebendiger Austausch von Beziehungen in den Dingen manifestiert. Im Sinne seines erweiterten Kunstbegriffs, der sich wiederum auf Joseph Beuys‘ Soziale Plastik bezieht, ist es deshalb die menschliche „Unschärfe“, die Leben und Kunst, Natur und Spiritualität zu einem Ganzen miteinander verbindet. In einem permanenten Prozess des Wachstums, der Metamorphose und Transformation, der Fehler ebenso integriert wie das Chaos der Unberechenbarkeit und Spontaneität, entstehen so jene multimedialen Gesamtkunstwerke, in denen Schlingensief die Grenzen ständig verschiebt. „Der muss alles verrühren“, sagt in diesem Sinne einmal der Architekt Diébédo Francis Kéré über seinen Weggefährten.

Übertragen auf seine Suche nach einem geeigneten Ort für das geplante Operndorf in Afrika, die Christoph Schlingensief im Mai 2009 zusammen mit Kéré nach Burkina Faso führt, bedeutet dies vor allem, dass dieser Platz lebendige Austauschprozesse nach allen Seiten ermöglichen müsste. Insofern soll das anvisierte Dorf zu einer „multifunktionalen Begegnungsstätte“ werden, die wie das Leben selbst ist und neben einer Bühne auch eine Schule, eine Klinik und einen Sportplatz integriert. Als er diesen Ort schließlich in der weiten Savannen-Landschaft unweit von Ouagadougou findet, gibt es dort weder Wasser noch Strom. Doch nach Unterredungen mit Politikern, der Grundsteinlegung am 8. Februar 2010 und dem Eintreffen der ersten Container inklusive eines Generators beginnt das Projekt im Sinne seines Erfinders wie ein „lebendes Organ“ zu wachsen und dabei selbst zu einem Teil jener prozesshaften, grenzüberschreitenden Kunst zu werden, die für Schlingensief „Balsam für die Seele“ ist.

Sibylle Dahrendorfs zwischen den Zeiten, Orten und Bildformaten mäandernder Film begleitet dieses Projekt in seinen Planungs- und Bauphasen, seiner Stagnation nach Christoph Schlingensiefs Tod am 21.8.2010 bis zur feierlichen Schuleröffnung im Oktober 2011 durch dessen Ehefrau Aino Laberenz. Dabei entsteht nicht nur ein intimes Portrait des Künstlers, der mit seiner positiven Energie und sprudelnden Kraft Menschen bewegt und begeistert, sondern auch das Dokument eines nicht zuletzt künstlerischen Austauschs zwischen Leben, Krankheit und Tod. Schlingensiefs Arbeit an seiner afrikanischen Oper „Via Intolleranza II“, die in Ausschnitten zu sehen ist, gibt darüber ebenso Auskunft, wie seine Hinwendung zu religiösen Fragen. Damit verbunden ist eine tief empfundene Dankbarkeit für das Ererbte, das Menschen und Künstler, so Schlingensief, über das Leben hinaus für die Zukunft verpflichte. Sein Projekt lebt also weiter.

Guilty of Romance

(J 2011, Regie: Sion Sono)

Die dunkle Seite der Frauen
von Wolfgang Nierlin

Das Frauenbild, das der japanische Kult-Regisseur Sion Sono in seinem Film „Guilty of romance“, dem dritten Teil seiner sogenannten „Hass-Trilogie“, genüsslich ausbreitet, ist schlicht konservativ und misogyn. Unter dem Deckmantel …

Das Frauenbild, das der japanische Kult-Regisseur Sion Sono in seinem Film „Guilty of romance“, dem dritten Teil seiner sogenannten „Hass-Trilogie“, genüsslich ausbreitet, ist schlicht konservativ und misogyn. Unter dem Deckmantel weiblicher Identitätssuche mittels sexueller Befreiung zelebriert er eine perverse Lust an der Grenzüberschreitung, um die Hure in der Frau zu entdecken. „Frauen sind rätselhaft“; und: „Bei Frauen ist alles möglich“, lauten orakelhaft jene Sätze mit denen Sion Sono in einer Mischung aus Faszination und Angst auf das von ihm unterstellte Potential weiblicher Selbstentgrenzung und Lussteigerung blickt. Eine typische, mythologisch gut geerdete Männerphantasie also, die sich filmisch einerseits in einem lustvollen, delirierenden Fiebertraum entlädt. Andererseits gilt es natürlich, diese gewaltige, dunkle und chaotische weibliche Kraft zu bannen oder zumindest zu domestizieren.

Sion Sono selbst sieht seine Hassliebe zum weiblichen Geschlecht natürlich ausgewogener: „Ich bin ein feministischer und ein grausamer Filmemacher.“ In stilisierten Bildern und grellen Farben, in exaltierten Stimmungen und kalkuliert vulgären Zuspitzungen, in denen sich Hoch- und Populärkultur vermischen, schickt er seine stereotyp gezeichneten Heldinnen durch fünf Kapitel, die zeitlich ineinander verschachtelt sind. Dabei amalgamiert Sion Sono niedere Instinkte und hohe Kunst zu einem wilden Mix aus Thriller, Sexploitation und Autorenfilm, motivisch-raunend flankiert von Franz Kafkas „Das Schloss“ und Gustav Mahlers beliebter 5. Sinfonie.

„Niemand hat je den Eingang zum Schloss gesehen“, heißt es deshalb einmal in Bezug auf die weniger verschlüsselte (sexuelle) Identitätssuche der drei Frauen, die alle ein Doppelleben führen. Liebe und Untreue werden dabei in ein „naturgegebenes“ Verhältnis gesetzt: Während die überangepasste, unterwürfige Hausfrau und Schriftsteller-Gattin Izumi Kikuchi aus ihrer hellen, ruhigen Ordnung ins „Unreine“ dunkler Love Hotels ausbricht und dabei ihr wahres Wesen entdeckt, folgt die Universitätsdozentin Mitsuko Ozawa als Teilzeit-Prostituierte ihrer eigentlichen Bestimmung, und zwar dorthin, wo die „Finsternis dunkler als der Schatten“ ist. Ihr poetischer Leitstern ist dabei das Gedicht „Heimkehr“ von Ryūichi Tamura, das die Welt der Worte gegen die Evidenz sinnlicher Erfahrungen stellt. Ein Ritualmord im Rotlicht-Milieu, den die Kommissarin Kazuko Yoshida ermittelt, integriert schließlich die dritte Frauenfigur, deren sexuelle Entgrenzung am deutlichsten mit einer Sehnsucht nach Unterwerfung und Tod assoziiert ist. Und so schickt Sion Sono seine Protagonistinnen auf eine (zweieinhalbstündige) Tour de Force durch jenen Abgrund aus Lust und Schmerz, Demütigung und Strafe, an dem angeblich die lebensspendende Kraft des Weiblichen beheimatet ist.

Hasta la Vista!

(BE 2011, Regie: Geoffrey Enthoven)

Leidlich beste Freunde
von Louis Vazquez

Zum Einstieg gibt es subjektive Bilder, die aus einer Highschool-Sexklamotte stammen könnten: Wogende Frauenbrüste sind in Zeitlupe zu sehen. Die Kamera schwenkt von einem Brustpaar zum anderen. Wer hier aber …

Zum Einstieg gibt es subjektive Bilder, die aus einer Highschool-Sexklamotte stammen könnten: Wogende Frauenbrüste sind in Zeitlupe zu sehen. Die Kamera schwenkt von einem Brustpaar zum anderen. Wer hier aber so ungeniert gafft und die bösen Blicke zweier Joggerinnen fängt, ist Philip (Robrecht Vanden Thoren), vom Hals abwärts gelähmt und auf einen Spezialrollstuhl angewiesen. Deshalb funktioniert die enervierend plakative Blickinszenierung der Exposition auf gewisse Weise sogar, ob so intendiert oder nicht, denn Frauenkörper kennt Philip höchstwahrscheinlich nur als mediale Abbilder. Mit seinen beiden besten Freunden – Lars (Gilles de Schryver) ist wegen einer Krebserkrankung ebenfalls auf einen Rollstuhl angewiesen, Jozef (Tom Audenaert) fast blind – verfolgt Philip ein Ziel, das auch auf besagte Klamotten zu verweisen scheint: Die drei wollen ihre Jungfräulichkeit verlieren.

In Südspanien soll es ein Bordell geben, das auf die Bedürfnisse von behinderten Gästen vorbereitet ist. Da wollen die drei Freunde unbedingt hin. Sie tarnen das Vorhaben als Weinreise und überzeugen tatsächlich ihre Eltern. Doch dann droht alles zu platzen, weil einer von ihnen schwerer krank ist als erwartet. Die Fahrt muss freilich trotzdem stattfinden – heimlich, unter noch komplizierteren Bedingungen. Schnell stellt sich Ernüchterung ein. Die Entzauberung des feuchten Traums beginnt damit, dass der neue Busfahrer Claude (Isabelle de Hertogh) sich als resolute und übergewichtige Fahrerin entpuppt …

„Hasta la vista“ ist ein tragikomisches Roadmovie mit viel Menschelei, das auf wahren Begebenheiten bzw. einer BBC-Dokumentation beruht. Auffällig ist dabei einmal mehr eins: Wenn ein Film über behinderte Menschen gefühlig und witzig sein soll, darf Geld bzw. seine Abwesenheit keine Rolle spielen, womöglich um das Publikum nicht zu überfordern. Anders ist es kaum zu erklären, dass in den entsprechenden Komödien (siehe „Ziemlich beste Freunde“) kaum jemand finanzielle Probleme zu haben scheint. Behindert und arm – die Tristesse eines solchen Lebens mag man schmunzelwilligen Zuschauern wohl nicht zumuten, wenn man wertvolle Anregungen in Sachen Toleranz und Menschlichkeit vermitteln will.

So ist es also kein Problem, einen behindertengerechten Bus und die entsprechende Begleitung zu organisieren, von Hotelkosten und den Ausgaben beim finalen Vergnügen ganz zu schweigen. Immerhin wird kurz erwähnt, dass Papa geschäftlich in Dubai unterwegs war, und da war dann eben noch Geld auf dem Sparbuch.

In manchen wahrhaftig wirkenden Momenten gelingt es „Hasta la Vista“ durchaus, von Intimität und Nähe zu erzählen und für die sexuellen Bedürfnisse von behinderten Menschen zu sensibilisieren. Aber spätestens gegen Ende verzettelt sich der Film von Geoffrey Enthoven, mit einer grässlichen Traumsequenz, in der die drei Freunde nicht behindert sind und sich weiß gekleidet in gleißendem Licht zulächeln, und einer Auflösung, die sowohl dem Tragischen als auch dem Versöhnlichen auf denkbar überkonstruierte Weise Tribut zollen will. Die konventionelle, ehemals womöglich bahnbrechende Idee, behinderte Menschen auch mal als Arschlöcher zu zeigen, wird ebenfalls überreizt: Irgendwann nervt die dauernde Misogynie nur noch. Ein leider viel zu gut gemeinter Film.

Total Recall

(USA / CAN 2012, Regie: Len Wiseman)

Real? Recall? Egal?
von Louis Vazquez

Die Geschichte, wie man sie aus Paul Verhoevens „Total Recall“ (1990) kennt, geht ungefähr so: Douglas Quaid, ein Arbeiter in einer dystopischen Zukunft, gelangweilt von seinem ereignisarmen Leben, geht zu …

Die Geschichte, wie man sie aus Paul Verhoevens „Total Recall“ (1990) kennt, geht ungefähr so: Douglas Quaid, ein Arbeiter in einer dystopischen Zukunft, gelangweilt von seinem ereignisarmen Leben, geht zu einer Firma, die durch implantierte Erinnerungen mehr Zufriedenheit verspricht. Die gefälschte Vorstellung, Abenteuer als Geheimagent erlebt zu haben, vielleicht sogar auf dem Mars gewesen zu sein, das wäre doch was. Beim Versuch der Gedächtnismanipulation kommt es aber zu technischen Problemen, weil die Erinnerungen des Helden zuvor offenbar schon einmal verändert wurden. Der Durchschnittsmann – nun ja, gespielt von Arnold Schwarzenegger – ist tatsächlich ein Geheimagent namens Hauser, ohne es selbst geahnt zu haben. Sein Arbeiter-Leben entpuppt sich als Tarnung, und er wird in einen komplizierten Konflikt zwischen skrupelloser Regierung und Aufständischen hineingezogen. Oder träumt er all die Abenteuer und sitzt noch immer im Behandlungsstuhl? So ganz sicher kann er sich nie sein.

Paul Verhoevens „Total Recall“ ist nicht nur ein ziemlich gelungener Actionreißer und Mindfuck, sondern ein weiterer Beleg dafür, dass der posthume Erfolg von Philip K. Dick als Vorlagenlieferant für Science-Fiction-Filme sein eigentliches Werk überstrahlt und er viel zu wenig gelesen wird. Für eine ganze Weile fand sich beispielsweise in Filmtexten immer wieder die Behauptung, Ridley Scotts „Blade Runner“ basiere auf einer Kurzgeschichte. Dass man „Do Androids Dream of Electric Sheep“ mit seinen über 200 Taschenbuchseiten durchaus als Roman bezeichnen kann, hat sich erst mit dem Start des Director’s Cut in den Kinos so langsam auch bis zu jenen Cineasten herumgesprochen, die keine Zeit mehr haben, selbst zu lesen.

Im Fall der Neuauflage von „Total Recall“ durch Len Wiseman („Underworld“, „Live Free or Die Hard“) verhält es sich nun so: Regisseur und Produzenten erwähnen zwar durchaus, dass Paul Verhoeven mal einen Film gemacht hat, betonen aber gleichzeitig, nicht ein Remake, sondern eine neue, gar getreuere Umsetzung von Philip K. Dicks zugrunde liegender Kurzgeschichte „We Can Remember It for You Wholesale“ im Sinn gehabt zu haben. Eine Schutzbehauptung, um den Verdacht der inspirationsfreien Geldschneiderei zu entkräften? Gewiss nicht. Man sei „neu inspiriert“ worden, heißt es im Presseheft. „Wir hatten den Eindruck, dass man der originalen Geschichte völlig neue Seiten abgewinnen könnte“, sagt Produzent Neal H. Moritz. Darüber kann herzhaft lachen, wer Dicks Kurzgeschichte kennt. Denn die „völlig neuen Seiten“ muss man mit Sicherheit neu dazu schreiben, weil die Vorlage gar nicht viel mehr liefert als die Grundidee des unbewussten Superagenten, der über den Versuch, sich Spionage-Abenteuer und eine Reise zum Mars implantieren zu lassen, enttarnt wird. Und darauf folgt kein komplizierter Plot, sondern recht schnell eine der schönsten und absurdesten Pointen im mit Wendungen gespickten Oeuvre von Philip K. Dick, die keine höher budgetierte Verfilmung sich je getraut hätte.

So viele neue Seiten sind letztlich gar nicht zu entdecken in der neu inspirierten Version. Len Wisemans „Total Recall“ ist nichts anderes als ein Remake von Verhoevens Film, das sich entgegen der behaupteten Intention sogar noch weiter von der kurzen Vorlage entfernt. Es verzichtet ganz auf die Idee einer Reise zum Mars, um stattdessen eine vermeintlich logischere, insgesamt jedoch recht bescheuerte Reise durch die Erde per Super-Fahrstuhl zu präsentieren, die sogar bedeutungsvoll im Vorspanntext erklärt wird, obwohl man besser stillschweigend darüber hinweg inszeniert oder besser ganz darauf verzichtet und sich etwas Besseres ausgedacht hätte. Ansonsten werden die Plotpoints der Original-Filmstory wiederholt, deren Autoren in den Credits brav neben den Neuinterpreten Kurt Wimmer und Mark Bomback genannt werden. Ausgerechnet die letzte zynische Wendung aber, in der sich der wahre Charakter des Helden ihm selbst erschließt, per direkter Gegenüberstellung via Bildschirm, wird in der Neuauflage komplett in den Sand gesetzt – aber bis dahin hat man das Interesse ohnehin schon verloren.

Von Verhoevens Härte ist nichts mehr übrig. Damit ist nicht unbedingt gemeint, dass viele der Gegner in Wisemans Version moderne Sicherheitsroboter sind und es eher Blechschäden statt Blutfontänen zu bestaunen gibt, denn mehr Gewalt hätte nicht automatisch einen besseren Film bedeutet. Verhoevens Ambivalenz und Subversion aber, seine überdrehte, cartoonhafte Over-the-Top-Inszenierung trafen den Geist der Vorlage viel eher als der Versuch, durch aufwändige Setpieces à la „Blade Runner“ seriöse, realistische Science-Fiction zu simulieren, und dann doch umso mittiger in Logikfallen zu tappen. Auch die wunderbaren Mars-Mutationen und der schwarze Humor – restlos getilgt für eine familienfreundliche Thriller-Light-Variante mit zu vielen Verfolgungsjagden.

In einigen Szenen ist es durchaus sympathisch, wie Wiseman mit der Erwartungshaltung von Kennern des Originals spielt. Doch meist fällt durch die Nähe zur Vorlage umso mehr auf, wie stark der Neuentwurf abfällt, etwa wenn er sich sogar um ein paar böse Formulierungen drückt und es statt „Get your ass to Mars!“ plötzlich nur noch heißt: Geh nach Hause, und suche dort nach einem weiteren Hinweis. Was tatsächlich ganz gut funktioniert ist die nun etwas ausführlichere romantische Backstory, die ehedem nicht unbedingt im Fokus des Teams Verhoeven/Schwarzenegger stand (und bei Philip K. Dick in der Tat gar keine Rolle spielt).

Insgesamt wirkt „Total Recall“ wie ein typisches Remake von der Stange: Es wird ignoriert oder nicht verstanden, was eigentlich am Original gut war, und trotzdem soll genau dasselbe noch einmal verkauft werden, und zwar möglichst allen. Drum bitte bloß nicht wehtun!

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Atomic Age

(F 2011, Regie: Héléna Klotz)

Im Dunkelrot der Nacht ein Abschied
von Michael Schleeh

Die beiden Freunde Victor (Elliott Paquet) und Rainer (Dominik Wojcik) fahren mit dem Vorort-Zug ins nächtliche Paris und glühen schon mal mit ein paar Vodka-Red Bull vor. Es wird eine …

Die beiden Freunde Victor (Elliott Paquet) und Rainer (Dominik Wojcik) fahren mit dem Vorort-Zug ins nächtliche Paris und glühen schon mal mit ein paar Vodka-Red Bull vor. Es wird eine Odyssee durch die nächtliche Stadt werden, obwohl man jetzt schon müde ist. Mit Discobesuch und Schlägerei, einer beinah stattgefunden habenden Liebelei, mit ein wenig homoerotischer Zweisamkeit, mit leerem Magen, Zigaretten und roten Augen. Bis morgens dann das Zwielicht beginnt und man wie auf einem anderen Planeten durch die dystopische Landschaft taumelt, die sich in der vorangegangenen Nacht im Innern angesammelt hat.

'L’âge atomique' hat eigentlich keine wirkliche Geschichte zu erzählen. Darum geht es der Regisseurin aber offenkundig auch nicht: Es ist das Einfangen einer bestimmten Atmosphäre, einer Freundschaftserfahrung im Moment des Erwachsenwerdens – und des unausgesprochenen Abschiednehmens zugleich – durch und mit den Mitteln des Großstadtfilms, der seine visuellen Reize in dunklen, manchmal hypnotischen, jedenfalls oft grobpixeligen Bildern findet. Das ist nichts Neues, dennoch gelingt es durch die immer wieder sehr persönliche und dicht an die Protagonisten heranrückende Kamera allein durch die Bilder eine Spannung aufzubauen, die wenig erklärt, vieles ungesagt und offen lässt, zugleich aber die nachtdunkle Atmosphäre vermittelt und nachfühlbar macht. Einen Zustand der sanften Euphorie, die auf das Ungewisse zuschreitet; die zugleich das alles aber auch schon kennt, weil man es unzählige Male zuvor bereits genau so gemacht und sehr ähnlich erlebt hat. Und was man nun, schließlich, hinter sich lassen kann: Diese Zeit geht ihrem Ende zu. Es ist die Vermittlung einer Ortlosigkeit durch die Momentaufnahme, eines Transitzustands, der sich auch in der ungeklärten Herkunft der Figur Rainers offenbart. Dieser ist deutscher (polnischer?) Abstammung und lebt in unklaren Verhältnissen (als Student?) in der Peripherie von Paris. Eine Figur, die, Gedichte zitierend, mit ihrer intellektuellen Reife ganz romantisch an die absinth-trinkenden Bohémiens des vergangenen Jahrhunderts erinnert – nun im Geflacker der Techno-Tanzfläche, in der Ekstase des bpm-Pulses.

Besonders die Kameraarbeit ist sensibel für die Stimmungsschwankungen, die Atmosphäre dieser Nacht: Immer wieder finden sich lange Sequenzen der dunkel flirrenden nächtlichen Metropole, Bilder im Schwenk von der Anhöhe mit den Lichtern der Großstadt, den Reklamen, den Unschärfen, den nur punktuell klaren Momenten, die rasch wieder in der Dunkelheit verfliegen, im Diffusen verschwinden. Bilder, die am Abteilfenster des Zuges vorbeifliegen, gleichwo und in gleich welcher Stadt. Ein schöner, dunkler, unaufdringlicher weil verhalten ekstatischer Großstadt-Film, der seine Figuren aufrichtig liebt.

This ain’t California

(D 2012, Regie: Marten Persiel)

(Re)konstruierte Wirklichkeit
von Ricardo Brunn

Hat es das tatsächlich gegeben? Diese Frage stellt sich angesichts der Aufnahmen von Skateboard fahrenden Jugendlichen Ende der 1980er Jahre am Alexanderplatz in „This ain’t California“, der bereits auf der …

Hat es das tatsächlich gegeben? Diese Frage stellt sich angesichts der Aufnahmen von Skateboard fahrenden Jugendlichen Ende der 1980er Jahre am Alexanderplatz in „This ain’t California“, der bereits auf der diesjährigen Berlinale für Aufsehen sorgte. Und schon finden sich entsprechende Kommentare zum Film im Internet, in denen Erinnerungen an Rollbrettfahrer ausgetauscht, gesucht oder auch imaginiert werden. Das Großartige an „This ain’t California“ ist deshalb, dass der Film, neben der Entwicklung des Rollbrettfahrens in der DDR und der Anbindung an das Bild des (Leistungs)Sports sowie der permanenten Verquickung von Privatem mit Politischem im Angesicht der vollkommenen staatlichen Überwachung, ganz nebenbei die Frage nach der Konstruktion von Erinnerung an die DDR stellt.

Im Zentrum des Filmes steht, nach einem furios montierten Prolog, der bereits den Kontrast von staatlich kontrollierter sportlicher Betätigung und freiheitlicher Subkultur eröffnet, die Geschichte einer Freundschaft: In der Betonwüste eines Vorortes von Magdeburg trifft Dennis Paracek eines Tages auf Nico und Dirk. Zusammen bauen sie erste Skateboards aus Rollschuhen und alten Holzplatten und üben mithilfe eines Fahrradschlauches erste Tricks. Später in Berlin werden die Freunde Teil der dort ansässigen Skaterszene. Für Dennis ist das Rollbrettfahren jedoch mehr als nur ein Zeitvertreib. Für ihn ist es die Chance, sich der Autorität des Vaters, der aus Dennis einen Leistungsschwimmer machen will, entziehen zu können. Schnell bringt ihm seine Art der Autoritätsverweigerung den Spitznamen „Panik“ ein, was die Staatssicherheit auf den Plan ruft. An dieser Stelle zeigt der Film die verzweifelten Versuche eines Staates in der letzten Phase seines Bestehens, der Subkultur durch Eingliederung in den staatlichen Sportapparat entgegen zu wirken, sein Scheitern und die darauf folgende ungezügelte Repression. Zur Zielscheibe dieser Repression wird „Panik“. 20 Jahre später treffen sich die Freunde wieder und tauschen Anekdoten über diese Zeit und ihren Freund „Panik“ aus, denn der Anlass des Treffens ist der Tod von Dennis, denn die nach Freiheit strebende Hauptfigur wird auch in der vereinigten Republik keinen Fuß vor den anderen bekommen und schließlich in Afghanistan als Bundeswehrsoldat im Einsatz ums Leben kommen.

Getragen wird diese vielschichtige Erzählung von Archivaufnahmen der DDR, Super-8-Material der Skater, vielen Interviews, wunderbaren Schwarz-Weiß-Animationen, die wichtige Stationen des Lebensweges von Dennis nachzeichnen und einem ergänzenden Off-Kommentar in Form einer Erzählerstimme. Der musikvideoclipartigen Montage gelingt es dabei, sich nicht in ihrer Hochgeschwindigkeitsästhetik zu verlieren, sondern immer nah an den Figuren und dem zu Erzählenden zu bleiben. Der hervorragende Soundtrack, die außergewöhnliche Montage und die sensible Ton-Mischung verbinden das Bildmaterial zu einer äußerst lebendigen Erinnerungscollage, die das Lebensgefühl Jugendlicher im sich auflösenden DDR-Staat kraftvoll transportiert.

Aber hat es das tatsächlich gegeben? Selbst im Abspann des Filmes gibt es keinen Hinweis auf den Schauspieler Kai Hillebrandt, der 2011 sein Spielfilmdebüt in „Swans“ (Regie: Hugo Vieira da Silva) gegeben hat und hier die Rolle des Dennis Paracek übernimmt. Auch dass David Nathan (Synchronsprecher u. a. von Christian Bale und Johnny Depp) tatsächlich bester Kumpel von Dennis gewesen sein soll, ist eher unwahrscheinlich, zumal er im Film einen anderen Namen trägt. Vieles an „This ain’t California“ muss also nachgestellt oder einfach frei erfunden sein. Das lässt sich mit „Verschleierungstaktik“ oder „Pseudo-Doku“ umschreiben. Man kann sich schlimmstenfalls auch einfach verschaukelt fühlen (wie Susanne Burg vom Deutschlandradio Kultur) und die Konstruktion des Filmes nicht weiter hinterfragen.

„Die Geschichte von Dennis‘ Leben mit uns beginnt eigentlich mit einer Legende. Die hat er selber erfunden. (…) Er selber hat immer darauf bestanden, dass das genau so passiert ist – wie in einem Traum.“ In diesen Sätzen, mit denen die Hauptfigur eingeführt wird, deutet Regisseur Marten Persiel nicht nur das schwierige Verhältnis von Erinnerung und Wirklichkeit im Film an. Besonders in Bezug auf die Erinnerungen an die DDR scheint es tatsächlich oft so, als wäre das, was in der DDR passierte, nicht ganz real gewesen und der Fall der Mauer wird nicht selten als Symbol für das Erwachen aus einem Albtraum begriffen. Mit diesem Erwachen werden auch die Erinnerungen an den SED-Staat einer Neubewertung unterzogen, weil die Beziehung zur eigenen Vergangenheit im Angesicht des anderen deutschen Teilstaates eine Neudefinition erfährt. „Es war nicht alles schlecht' ist in dieser Situation die größte anzunehmende Verteidigungsstrategie der aus den angenommenen Wahrheiten heraus geworfenen Menschen gegenüber dem gescheiterten Staat. Und weil mit dem Ende der DDR die Frage nach der Wirklichkeit und Richtigkeit des Gelebten gestellt wurde, diese gelebte Wirklichkeit erst entwertet und später neu erfunden wurde, darf Marten Persiel in seinem Film (scheinbar) Dokumentarisches ebenfalls erfinden, nicht auf diesen Umstand hinweisen und so sein historisches Spiel mit dem Zuschauer treiben. Am Ende ist die Veränderung und Erfindung von Erinnerungen mindestens genauso wahrhaftig wie jeder vermeintlich puristische Dokumentarfilm. Und darauf kommt es an. Denn es ist vollkommen gleich, ob die Hauptfigur erfunden oder aus mehreren Lebensläufen zusammengesetzt ist. Dennis steht nicht zuletzt auch als Symbol für die als traumatisch empfundenen Anpassungsschwierigkeiten von Menschen in einer Zeit des vollkommenen Umbruchs.

Mag also sein, dass „This ain’t California“ durch seine Konstruktion ein Zerrbild der tatsächlichen Ereignisse liefert und von dokumentarischer Authentizität nicht im Ansatz mehr die Rede sein kann. Aber abgesehen davon, dass Erinnerungen immer Zerrbilder darstellen, ist gerade in Bezug auf die DDR Erinnerung einer (absichtlichen) Verzerrung unterworfen gewesen. Zu dieser ernsten Auseinandersetzung zwingt uns „This ain’t California“ auf spielerische und humorvolle Weise.

Total Recall

(USA / CAN 2012, Regie: Len Wiseman)

„Oh, shit!“
von Ulrich Kriest

22 Jahre nach Paul Verhoevens absichtsvoll trashiger Philip K. Dick-Verfilmung mit Arnold Schwarzenegger schien es höchste Zeit, sich den Mindfuck-Stoff einmal wieder vorzunehmen. Nicht jeder kann sich schließlich noch daran …

22 Jahre nach Paul Verhoevens absichtsvoll trashiger Philip K. Dick-Verfilmung mit Arnold Schwarzenegger schien es höchste Zeit, sich den Mindfuck-Stoff einmal wieder vorzunehmen. Nicht jeder kann sich schließlich noch daran erinnern.

Plötzlich, so erzählte der Produzent Toby Jaffe im Presseheft, hatte er im Buchladen eine Sammlung klassischer Kurzgeschichten von Philip K. Dick in der Hand, darin auch die Geschichte „We can remember it for you wholesale“, die 1990 unter dem Titel „Total Recall“ sehr erfolgreich verfilmt worden war. Jaffe erkannte, dass es Zeit für eine Neuverfilmung sei und sprach darüber mit seinem Kollegen Neal H. Moritz. Der war von der Idee sehr angetan: „Wir hatten den Eindruck, dass die Figuren und die Geschichte von der ersten Verfilmung noch nicht auserzählt war. Wir wollten eine frische Version schaffen.“ Nun ist „frisch“ ja ein relativer Begriff und erstaunlicherweise hat sich die Neuverfilmung von „Total Recall“ sogar noch weiter von der Originalgeschichte entfernt als der Film von 1990, aber vielleicht hilft es Jaffe und Moritz ja, dass Kinogänger kein gutes Gedächtnis haben heutzutage. Wir erinnern uns! „Wenn ich nicht ich bin, wer bin ich denn?“ Niemand wusste diese existenzphilosophische Grundsatzfrage in Zeiten der potentiellen Überschreibung des Gedächtnisses besser zu formulieren als Arnold Schwarzenegger mit seinem schwerzungigen Akzent. Schwarzenegger spielte in Paul Verhoevens Blockbuster „Total Recall“ 1990 den Arbeiter Doug Quaid, dem ein Erinnerungsimplantat der Firma „ReKall“ erlaubt, sich den Wunsch einer Mars-Reise als Geheimagent zu erfüllen. Ihm wird versprochen, dass er am Ende der Reise das Mädchen bekomme, die Bösen getötet und dabei auch noch den Planeten gerettet haben wird. Der Blueprint eines Action-Films, der früh den Inhalt von „Total Recall“ auf den Punkt bringt, gleichzeitig aber auch hilft, den Protagonisten zu charakterisieren. Quaid erweist sich im Laufe des Films als Doppelagent in perfider Mission – und wird trotzdem zum Befreier. Verhoeven inszenierte die erkenntnistheoretische Petitesse von Philip K. Dick als bewusst grobschlächtigen Cartoon, kombinierte drastisch überzeichnete Gewalt mit einem bösen Humor („Consider this a divorce!“) und kulturkritischen Untertönen – und war stolz darauf, dass bis zum Schluss nicht zweifelsfrei zu entscheiden war, ob sich Quaids Abenteuer nicht vielleicht doch nur in den Räumen der Firma „ReKall“ abgespielt hatten.

Gespannt sein durfte man auf das Remake des „Underworld“-Regisseurs Len Wiseman, denn die literarische Vorlage „Erinnerungen en gros“ (1966) ist eine Kurzgeschichte, deren finale Alien-Pointe von Verhoeven seinerzeit komplett ignoriert worden war. Doch Wiseman und sein Team von fünf Drehbuchautoren entschieden sich lieber für ein nur leicht modifiziertes Remake, dass das Original in zentralen Motiven bestenfalls umtanzt, manche Szene zitiert, manch andere Szene gerade eben nicht nicht zitiert – und nur zwei, drei entschiedene Änderungen an der Handlung vornimmt. Mit Colin Farrell hat jetzt sogar ein »echter« Schauspieler die Hauptrolle übernommen, der sowohl die Paranoia spielen und die furiose Action körperlich glaubwürdig bewältigen kann. Auch steht Quaid jetzt zwischen zwei fast gleichberechtigten Frauenfiguren, gespielt von Kate Beckinsale und Jessica Biel, die sich einen heftigen und die Handlung über weite Strecken bestimmenden Cat Fight liefern. Wichtiger noch: Quaids Reise führt ihn nicht mehr zum Mars, sondern bleibt auf der von Kriegen weitgehend verwüsteten Erde, auf der es nur noch zwei Orte zum Leben gibt. Zwischen der Megalopole „Vereinigte Föderation von Britannien“ (VfB) und dem Super-Slum Australien („The Colony“) verkehrt ein Fahrstuhl namens „The Fall“, der quer durchs Erdinnere führt.

Man sieht dem Remake deutlich an, dass Wiseman einst als Set Designer gearbeitet hat. So wie Ridley Scott sich im Falle von „Prometheus“ bei Kubricks „2001-Odyssee im Weltraum“ bediente, so entwirft Wiseman „The Colony“ als deutliche Referenz an Scotts Klassiker „Blade Runner“ oder Bessons „Das fünfte Element“, wobei es ihm vornehmlich darum geht, Räume zu schaffen, die mehrdimensionale Verfolgungsjagden erlauben. So spielt dieses kinetische Kino derart aufreizend mit den vertikalen und horizontalen Dynamiken, dass man sich wundert, warum hier nicht gleich auf das modische 3D gesetzt wurde und warum die futuristischen Sets so liebevoll entworfen wurden, wenn sie doch bloß durch atemlose Action als Kulissen verheizt werden. Weil Wiseman ganz auf die stark beschleunigte Level-Dramaturgie eines Computerspiels setzt, tritt die Psycho-Thriller-Dimension des Stoffes fast komplett in den Hintergrund. Die Schauspieler, allen voran Kate Beckinsale, wirken unterfordert und sind zumeist damit beschäftigt, die Zähne zu fletschen, die Augen zu rollen und zu rennen, springen, hechten. Es wirkt unfreiwillig komisch, wenn die Figuren hier gefühlt ein paar dutzend Male auf Unvorhergesehenes und böse Überraschungen mit einem herzhaften „Oh, shit!“ reagieren. Wenn Quaid kurz vor Schluss einen verstörenden Einblick in die Komplexität seiner mehrfach manipulierten Identität gewinnt, dann ist dieser Schock bereits durch eine fatale Äußerung Matthias‘, des Anführers des Widerstands, abgefedert worden. Der hatte ihn kurz zuvor darauf hingewiesen, dass die Erinnerung immer ein Konstrukt sei, während allein das Handeln in der Gegenwart zähle. Und Handeln erwächst aus der Gegenwart. Ein solcher Satz unterläuft die kritisch-paranoide Substanz der ganzen Geschichte und beschädigt den Film so schwer, dass man nur noch schmunzelt, wenn die Kolonisierten nach dem sich endlos hinziehenden Showdown-Zinnober ganz beruhigt in die Zukunft blicken: „Jetzt wird alles gut!“

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Track 29 – Ein gefährliches Spiel

(GB 1988, Regie: Nicolas Roeg)

Alltagskrisen
von Dietrich Kuhlbrodt

Regisseur Nicolas Roeg und Drehbuchautor Dennis Potter führen in ihrem neuesten Film, der Mitte Januar in der Bundesrepublik startet, Hör- und Sehgewohnheiten vor, dass einem Hören und Sehen vergeht Ein …

Regisseur Nicolas Roeg und Drehbuchautor Dennis Potter führen in ihrem neuesten Film, der Mitte Januar in der Bundesrepublik startet, Hör- und Sehgewohnheiten vor, dass einem Hören und Sehen vergeht

Ein Film, den man hemmungslos empfehlen kann. Einsteigen in den Chattanooga Choo Choo. Abfahrt bekanntlich Gleis 29. 'Pardon me, boy, is this the Chattanooga Choo Choo? Yes, yes! Track 29! All aboard!' Musik (Harry Warren) und Text (Mack Gordon) dieser Nummer aus dem Jahr 1941. Auch die anderen Hits sind aus der Zeit von Urahne, Großmutter, Mutter und Kind: 'M.O.T.H.E.R.' (Theodore Morse und Fiske O.Hara, 1915), 'When The Red Red Robin Comes Bob Bob Bobbin‘ Along' (Harry Woods, 1926), 'Young At Heart' (John Richards und Carolyn Leigh, 1954), 'Mother' (John Lennon, 1971). Die Songs, voll gepackt mit Emotionen und Lebensweisheiten, Anklagen und Ermutigungen, appellieren ans Gemüt dieser amerikanischen Normalstbürger, die in mehr oder minder dumpfer Stube versammelt sind. Ein traumatisches Emotionaldefizit: 'Mother, you had me, but I never had you, I wanted you, but you did’nt want me' (John Lennon). Empfehlung: 'Engstirnigkeit vermeiden, über Alpträume lachen. Das Unmögliche wa`gen, zum Äußersten gehen – to be young and high' (Carolyn Leigh).

Der Alltag im kleinstädtischen North Carolina – gedreht ist der Film in Wilmington und Wrigthsville Beach – ist normal, typisch amerikanisch, eben Horror, Alptraum, Engstirnigkeit. Wieder wird Linda (Theresa Russell) von ihrem Gatten abgefertigt, wenn sie den Wunsch, begattet zu werden, signalisiert: 'Das ist nicht möglich, Linda', sagt Dr. Henry Henry (Christopher Lloyd), Oberarzt der gerontologischen Abteilung im städtischen Krankenhaus. Dann setzt er zur Attacke gegen die unmöglichen Frauenwünsche an, nämlich seine Modelleisenbahnanlage in Betrieb, er schiebt eine Diskette ein: 'All aboard', und dann jagt der häusliche Chattanooga Choo Choo durch die Zimmer, dass es der armen Linda ein Alptraum ist. Empfehlenswert ist in dieser Situation ein großer terroristischer Anschlag.
Kaum gedacht, schon gezeigt. Der Film verhilft ihm zu blutiger Realität, genauer gesagt: der junge Martin (Gary Oldman) tritt in Aktion, ein Zugereister aus dem fernen Engelland, eine unmögliche Kombination von Sohn, Liebhaber und Rächer. Wenn er mit seinen starken Fäusten die Modellwagons zerquetscht, teure Sammlerstücke, fließt rotes Blut heraus. Aber möglicherweise ist der starke Mann nur eine neue, bisher unterdrückte Seite von Linda, denn als sie das Äußerste wagt und mit dem langen Küchenmesser nach oben geht, wo Gatte Dr. Henry am zentralen Eisenbahnschaltpult Regie führt, sieht man den jungen Martin eben dieses Messer schwingen. Splitternackt springt er bzw. sie dem Doktor an die Brust und stößt die Klinge tief in den Rücken, dass das Blut durch die Decke tropft. Lachend, young and high setzt sich Mutter Linda keck einen unmöglichen Hut auf, weiß mit großen schwarzen Punkten, startet ihr Kabriolet und bloß weg aus Wilmington.

Ich könnte schwören, daß ich diese Szene schon in einem Film gesehen habe. Aber in welchem? Keine große Schwierigkeit war es, Martins Mutter, 'a cleaning woman', im Kultfilm 'Tote tragen keine Karos' zu finden. Und wenn Martin mit seinen groben Affenhänden nach den Choo-Choo-Zügen greift, wie sie grade über die Hängebrücke fahren, dann ist das King Kongs schiere Kinowirklichkeit. Martin, der Retter, scheint jedoch auch aus den unendlichen Mysterien des Kosmos zu kommen, einer TV-Serie aus dem ewig laufenden Fernseher entsprungen. Einen SF-Helden menacing reality kündigt eine off-Stimme im TV-Gerät an. Linda hört mit einem Ohr hin; die Realität, in der sie lebt, kann gar nicht genug bedroht werden. Und schon ruft es grausig und hilfeflehend im Weltenraum: 'Mami, Mami', und ein Kind sucht seine Mutter. Später sind es Filmsequenzen auf dem Monitor, deren Handlung Linda aufgreift und weiterführt, wie zufällig. TV-Comic-Strips erlauben Bildverkürzungen und sprechende Nahaufnahmen. Linda sieht sich als Fünfzehnjährige wieder auf dem Jahrmarkt im Elektroscooter. Hinter ihr steht einer im Wagen. 'Blitzelblitzel' macht der Kontaktschleifer an der Decke. Die Großaufnahme erzählt die erste – böse – Liebesgeschichte. Für die, die Comics gelesen haben, also für alle.

Kurzum, 'Track 29' ist eine schrille Horrorkomödie. Und eine satte antiamerikanische Satire. Und ein mediales Kunstwerk ohnegleichen. Weil zum erstenmal konsequent und intelligent und souverän mit den Hör- und Sehgewohnheiten derjenigen operiert wird, die den Film hören und sehen – , so wenig konsequent und intelligent und souverän diese Rezeptionsformen sein mögen. Aber sie sind inzwischen selbst Realität geworden, haben sich an die Stelle dessen gesetzt, was wir äußere Wirklichkeit nennen. Regisseur Nicolas Roeg ('Wenn die Gondeln Trauer tragen', 'Castaway') ist es mit Hilfe eines überaus erfindungsreichen Drehbuchs (Dennis Potter) gelungen, die neue (mediale) Wirklichkeit operabel, für den einzelnen handhabbar zu machen und durch eine subversive Ästhetik die konservativen Lebensformen zumindest in North Carolinas Kleinstädten grinsend-grimmig zu attackieren. Wer den ganzen Tag den TV laufen lässt und eine Musi-Kassette nach der anderen einwirft, dem kann man nicht mit schlauen Diskursen kommen und mit sauberer Argumentation. Roeg und Potter haben stattdessen in 'Track 29' Hör- und Sehgewohnheiten vorgeführt, hör zu, sieh zu, die Dekoration, die Schauspieler, die Montage und Collage sind wichtiger als die Literatur und der explizierende Dialog. Verbal wird uns in diesem Film am wenigstens erzählt, und das unterscheidet ihn auf das Angenehmste von all diesen amerikanischen Filmen, in denen uns erklärt wird, was wir nicht gesehen und gehört haben und was wir infolgedessen nicht glauben können.

'Track 29' ist ein in US-Amerika produzierter Film, aber eine ziemlich Un-American activity. Ich würde sagen: very British. Erstens wegen Martin. Im Hämburger Place stellt er sich vor: 'My name is Martin. I’m from England', um festzustellen, dass er sich an diesem Ort nicht verständigen kann, jedenfalls nicht verbal über die Frage, wie er die Spiegeleier haben will. Autor Potter ist Brite, und er hat eingestandenermaßen in 'Track 29' den Kulturschock verarbeitet, den ihm Anfang des Jahrzehnts Los Angeles bereitet hatte: 'Das ist eine Stadt, die nicht nur physische Hässlichkeit kennzeichnet, sondern auch ein akuter geistiger Terror. ‚Track 29‘ spielt in einer Kultur, die die Menschen nur allzu leicht ihrer Identität beraubt'. Nicolas Roeg und Hauptdarstellerin Theresa Russell ('Die schwarze Witwe'), verheiratet, leben in London. Von hier aus verkündet Roeg sein Credo, dass 'Kino die Kunstform unserer Zeit ist' und dass er mit diesem Mittel 'Barrieren durchbrechen will'. Ehefrau Theresa Russell hatte sich bereits 1979 bei der Aufdeckung des Watergate-Skandals engagiert. In 'Blind Ambition', einem Film der auf John Deans Enthüllungen basierte, spielte sie die weibliche Hauptrolle.

Die britische Antwort auf den American Way of Life liefert am anschaulichsten und eindrücklichsten der Martin-Darsteller Gary Oldman, der zuletzt in 'Prick Up Your Ears' von Stephen Frears zu sehen gewesen ist. Ein hochtalentierter Schauspieler, der in 'Track 29' gefordert war – in einer Rollen- und Identitätenvielfalt, nämlich in immer neuen Ausgeburten von Lindas deformierter Phantasie. Eine glänzende schauspielerische Performance. Ein sechsjähriger, ungezogener, weinerlicher, trotziger Junge. Ein romantischer Liebhaber. Ein Engländer from Outer Space. Und gleichzeitig immer wieder Linda selbst: die defizitäre Frauenidentität. Rollenwechsel, Rollenspiel und Identitätserprobungen sind die britische Antwort auf Frust, Verkrustung und Stuss des American Way. 'Do you like games, Mami', fragt der junge Mann mit der Stimme des Sechsjährigen und fasst der schönen Linda unziemlich an die Brust. Schau-Spiele. Dann sagt er zu ihr: 'You can kiss me if you want'; aber das ist nicht seine, sondern Lindas Identität, die sich ins Spiel bringt.

'Track 29' ist ein Film des Schauspiels, der Akteure. Sie sind so gut und ungewöhnlich, wie man es sich aus therapeutischen und britischen Gründen nur wünschen kann. Listiger- und tückischerweise ist der Film so angelegt, dass die Schauspieler, sofern sie nicht britisch sind, aus der Rolle des typischen Amerikaners nicht herauskönnen. Zum Beispiel ist dem Dr. Henry Henry der 'Chattanooga Choo Choo'-Song zu weiter nichts als einem perversen Spielchen nütze, nämlich immer demselben. Christopher Lloyd spielt die lustige Masoszene mit derselben Mimik, wie er sie als Sado-Nazirichter im 'Falschen Spiel mit Roger Rabbit' zur Schau stellte. In 'Track 29' wird uns der Hit von 1941 wieder abgewöhnt, wenn Schwester Stein (Sandra Bernhard, mein Gott: seht Euch dieses Antlitz an!) die sterilen, aber roten Handschuhe überstreift und mit Inbrunst sowie im Takt auf den bloßen Oberarzthintern schlägt, dass die Lustschreie gellen und die Patienten auf ihren Rollstühlen aus der Fahrbahn geraten, draußen im Gang.

Christopher Lloyds Mimik ändert sich auch nicht, wenn er in einer großen Szene zum Präsidenten der Modelleisenbahnergesellschaft gewählt wird. Der Trainorama-Auftritt ist öffentlich und die Quintessenz aller TV-Aufnahmen, die wir vom amerikanischen Wahlkampf gesehen haben. Unter dem Union Jack fordert er geistige Disziplin und militärische Zucht. Was hat unsere große Nation zusammengeführt? Die Gleise waren es! (Zurufe, Zuschauer erheben sich von den Plätzen, Frauen heulen vor Rührung) Ich sage, was ich fühle. Wollt Ihr es wissen? (Ja! !) Ich schließe meine Augen. Ein Bild aus alten Zeiten. Wo wir wussten, wer wir waren, wo wir waren und wohin wir gingen. (Euphorische Schreie, orgiastischer Applaus, Luftballons steigen, der Chattanooga Choo Choo fährt ein, besetzt mit Girls, die rhythmisch mit ihren Tambourstäbchen schlagen, und unser Dr. Henry Henry-Darsteller stößt wieder seine Lustschreie aus, es sind die gleichen wie auf dem perversen Operationstisch im Stationstrakt, und es ist auch die gleiche musikalische Nummer. Womit Lloyds Spiel mimisch, aber leicht einsehbar bewiesen hat, dass zwischen privater und öffentlicher Perversität keinerlei Unterschied besteht und der schöne Chattanooga Choo Choo nebst reichster Hör- und Seherfahrung nichts nützt, wenn er lediglich als Reizauslöser für zwanghafte Wiederholungen benutzt wird, eben für den American Way of Life mindestens in diesem North Carolina).

Drehbuchautor Potter, Sohn eines Grubenarbeiters und Labour-Parlamentskandidat in den sechziger Jahren, hat die Konservativismus- und Nationalismusorgie dieses Wahlkampfs kenntnisreich nachempfunden und auf den Höhepunkt getrieben, und Regisseur Roeg hat in den Schauspielerorgasmus Szenen der Zerstörung, der Anarchie und des Umsturzes hineingeschnitten: eine manische, aber verdiente Antwort. Gott sei Dank gibt es King Kong, der Dr. Henry Henrys Lebenswerk plattmacht und seine Lustschreie abwürgt. Jeder, der Kinoerfahrung hat, weiß, wie das geht.

Zum Schluss des Horrortages ruft Linda die Freundin Arlanda (Colleen Camp) zu Hilfe. Arlanda ist unvergesslich, wie sie sich mit dem Papiertaschentuch die feuchten Achseln trocken reibt und im allerneusten Fitnessdress die Hanteln stemmt. Sie hat als typische Amerikanerin nichts gesehen und nichts gehört. Nicht mal den naughty boy Martin kriegt sie mit, selbst wenn sie danebensteht und er mit ihr spricht. Aber nun muss sie wählen. Zwischen der offenbar schwer psychotischen Linda und dem nicht minder geschädigten Gatten. Dr. Henry Henry lässt den Macho raushängen: 'Ich bin ein Doktor! Ich weiß, was ich tue', brüllt er und ohrfeigt seine Frau im Takt der roten Handschuhe, denn 'women and trains don’t mix'. (Ich nehme an, im Kino wird dies eine deutsche Synchronstimme sagen). Arlanda übt daraufhin Frauensolidarität und entscheidet: 'Herr Dr. Henry, Sie sind es, der verrückt ist', womit das amerikanische Upperclassdrama auch als das Drama einer Geschlechterunterdrückung definiert wird. Die Frau, daheim in der perfekten Zivilisation zwischen Massagestab und Swimmingpool, allein und einsam, sie registriert zuerst, dass 'das Leben leer, sinnentleert und zwecklos ist' (Linda). So dass der Aufbruch auf Gleis 29 mit Musik und allerlei Rollenspiel am besten von Frauen betrieben wird, die sich unartige aber liebe Jungs dazuholen, welche andererseits nichts anderes als manifeste feminine Hirngespinste zu sein brauchen. – Stimmt das Fazit? Egal. Einsteigen und abfahren ist immer noch besser als dableiben. In Wilmington.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 01/1989

Stammheim

(BRD 1985, Regie: Reinhard Hauff)

Hauffs Märchen Film
von Dietrich Kuhlbrodt

Wie der Baader den Prinzing zu Fall brachte und andere lustige Streiche aus der Festung Stammheim Ein Schaukampf am Hof des mächtigen Prinzing. Der Baader, obzwar Gefangener, fordert den Burgherrn …

Wie der Baader den Prinzing zu Fall brachte und andere lustige Streiche aus der Festung Stammheim

Ein Schaukampf am Hof des mächtigen Prinzing. Der Baader, obzwar Gefangener, fordert den Burgherrn höchstselbst heraus. Die Turnierregeln schreiben Wortgefechte vor. Hin und her wogt der Kampf. Und da, des Baader geschicktester Streich, fällt der große Prinzing. Erbärmlich nun und komische Figur. Denn er darf nicht mehr mitspielen und schon gar nicht vorsitzen. In der Stammheim-Sprache heißt das: er ist erfolgreich als befangen abgelehnt worden und muss abtreten.

Der Baader, ein junger Siegfried, schiebt sich die blonde Tolle zurück und freut sich des großen Siegs. Da steht er, strahlender Held, in Jeans und offenem Hemd, und schaut auf das Publikum. Die Männer in den schwarzen und roten Roben haben ihre Gewänder sorgsam in Falten gelegt. Und hinten, hinter der Barriere drängen sich die jungen Turniergäste. Kerls in Leder und Frauen mit der kunstvoll frisierten blonden Mähne. So könnten sie 1986 auch im Cafe Daisy in Blankenese sitzen. Und Baader, wie ihn Ulrich Tukur spielt, wäre einer der ihren, Tukur, ein hochbegabter und sehr beliebter Schauspieler, weiß, wie man sich in Szene setzt und wie man den eigenen Mythos schafft. Baader, 'ein ziemliches Schwein, ein Psychopath, ein Verrückter, – ein Mensch, der permanent die Schmerzgrenze überschritt; seine Brutalität, sein kindlicher Charme' (Tukur) wird in der Baader-Rolle als mythische Heldengestalt und als moderner Mensch, der voll im Trend liegt, angelegt. Tukur-Baader, Produkt modernen stylings, lässt sich zweifellos bestens vermarkten. Auch als Held eines Popsongs hätte Baader endlich Aussicht, in die Charts zu kommen. Tukur, freilich, spielt Theater, und Hauff macht aus dem Theater Film. Tukur will Baader 'politische Intentionen hier gar nicht absprechen, aber ich meine, die waren zur Zeit des Prozesses nicht mehr von der überragenden Bedeutung'. Ein wahres Wort.

Baader war zusammen mit seinen Mitgefangenen in Stammheim reduziert auf seine Rolle als Angeklagter, vorgeführt zwecks Ablieferung von Material für die Urteilsfindung. In der Rolle für einen Schauspieler wird Baader mehrmals vorgeführt, diesmal einem für Sprechkünste aufgeschlossenen Theaterpublikum. Und in der Filmvorführung reduziert sich Baader zum dritten Mal, als ästhetische Figur, als Dialoglieferant und als Bedeutungsträger in einer Welt des schönen Scheins. Denn Hauff hat einen gediegenen, redlichen, schönen, ja eleganten Film gemacht, der freilich den Nachteil hat, dass er den Widerstand, von dem so viel gesprochen wird, ästhetisch nicht vermittelt. Glatt, perfekt und supergepflegt sind die Bilder. Diese glauben nicht an das, was Baader, Meinhof, Ensslin, Raspe sagen. Ästhetisch gibt es keinen Widerstand gegen die bürgerlichen Normen. Baader und Meinhof reden ins Leere. Totaler könnte man sie nicht dementieren.

Hauffs Film ist gutgemeint, und er beherrscht das Kunstgewerbe. Aber der Biedersinn fruchtet nichts, im Gegenteil: er schreibt die Strategie der Richter von Stammheim ästhetisch fort und macht aus den Angeklagten, die vor neun Jahren in Stammheim den Tod fanden, heute nature morte, tote Gegenstände, Nippes fürs bürgerliche Interieur. Zum elektronisch verfremdeten Streichquartett gesellt sich ein zager Orgelton. Ulrike Meinhof in gedämpftem Licht. Der Ton blau in blau. Selbst die Farbe ihrer Schreibmaschine passt sich geschmackvoll ein. Das gepflegte Arrangement verrät, dass hier für eine Feier aufgeräumt wurde. Die Totenfeier für Ulrike Meinhof, inszeniert von der Firma Pietät & Takt: ein 'Stammheim'-Stilleben. Und die Ensslin, mit der Geige in der Hand, in der Isolationszelle: sanftes Licht umspielt ihr Antlitz, ihr Blick geht nach innen, Musik – Ja das ist hohe Isolations-Kunst. Ästhetisch sperrt sich nichts gegen diese Szene, im Gegenteil, sie vergoldet das Stammheimer Justizarrangement.

Die Zellen-Szenen ersetzen im Film den Blick hinter die Kulissen. Auf der Bühne selbst, dem Gerichtssaal, wird Theater gespielt, 192 Prozesstage in 107 Filmminuten. Drehbuchautor Stefan Aust hat hierfür das vierte Kapitel aus seinem Buch 'Der Baader Meinhof Komplex' benutzt. – In den Kulissen stellt er anhand von Zellenzirkularen und Briefen, die er zur Verfügung gehabt haben will, gruppendynamische Minispielszenen zusammen. Baader, Meinhof, Ensslin, Raspe – Opfer, die sich nicht mehr wehren können – werden im 'Stammheim'-Film nochmals observiert. Schon damals konnten sie nichts gegen Wanzen und Kameras ausrichten. Heute degradiert sie die bürgerliche Ästhetik des neugierigen Blick-hinter-die-Kulissen zum Gegenstand psychologischen Interesses.

Die Dramaturgie lässt den 'Stammheim'-Schauspielern keine Wahl. Sie müssen vor Gericht auftreten, und dies bühnenwirksam. Das machen sie daher so gut, dass man ihnen nicht glauben kann, was sie sagen,- nämlich dass sie sich im Hungerstreik befänden und verhandlungsunfähig seien. Denn sie sind in bester Bühnenform. Die Schlägereien mit den adretten Polizeibeamten zeugen von gezügelter Spielfreude. Die Kostüme sind gut gewählt, alles clean und propper. Wie sie das alles in 2 1/2 Wochen Drehzeit hingekriegt haben! Alles paletti! Alles Film! Alles frisch!

Das überschnelle, aber gut artikulierte Sprechen der Schauspieler verrät die meisterhafte Beherrschung von Bühnentechnik. Auch der Ton ist makellos. Freilich bedarf es einiger Anstrengung, die Inhalte aufzunehmen. Müheloser ist es da schon, den Weg in die psychische Entgleisung nachzuvollziehen. Man braucht dann nur noch hinzusehen. Drum kann sich der hervorragende Schauspieler Ulrich Pleitgen an die Rampe spielen. Er macht die Rolle des Vorsitzenden Richters Prinzing zu einem Kabinettstück. Als Gegenspieler von Tukur-Baader wird er aufgewertet. Schließlich geht es im 'Stammheim'-Film nur noch um ihn. Fällt er, fällt er nicht? Eine bange Frage. Die Dramaturgie des Films tut dem Richter viel Ehre an. Mit ihm wird die Justiz zur Hauptperson. Rise and fall of Prinzing: das zieht wieder die Aufmerksamkeit ab von dem, was Baader und Meinhof politisch beabsichtigen. Konsequenzen für die Gegenwart ergeben sich aus dem Duell Baader-Prinzing nicht. Der Fall Baader-Meinhof ist damit geschichtlich, dramaturgisch und ästhetisch erledigt. Hauff war zwar mit anderen Absichten an den Film herangegangen ('Der gesamte Komplex ‚Widerstand‘ ist in seiner Problematik aktuell, wie damals'), die von ihm für diesen Film benutzten Mittel der bürgerlichen Kultur haben ihn jedoch ganz woanders hingebracht. Die Mode und der Schick der spätachtziger Jahre haben Baader und Meinhof vereinnahmt. Irgendwann wird es einen Film geben, ein Video, eine Platte, eine Mode, die den Baader-Look und den Meinhof-Touch kreiert. 'Es war Jagd, Krimi, Bonnie und Clyde' (Drehbuchautor Aust). – Im 'Stammheim'-Film wird die Action noch ersetzt durch den Blick in die Baader-Meinhof-Seele. Es ist die falsche Aufklärung. Die Aufklärung, die Aust mit der Wiedergabe authentischen Materials über den Stammheim-Prozess beabsichtigt, scheitert daran, dass er keine Position bezieht. Formell kann er sich darauf zurückziehen, dass er sich mit der Ausbreitung von dokumentarischem Material (der Wiedergabe der Argumente) zufriedengeben kann oder muss. Tatsächlich ist Rede-Stoff auch einigermaßen ausgewogen ausgebreitet, ein jeder kommt zu seinem Wort. Aber der Trick mit dem dokumentarischen Prozess-Film funktioniert nicht. Buchstäblich durch die Hintertür, durch den Blick hinter die Kulissen, treibt das Drehbuch die politischen Kämpfer in die Psychologie und Pathologie: in den Wahnsinn. Eben das war seit Beginn des vorigen Jahrzehnts die Strategie des Staats die Straftäter zu entpolitisieren und den Kriminalfall durch die Justiz und schlimmstenfalls durch die Psychiatrie sauber zu erledigen. Die Richter blockten juristisch ab.

Der 'Stammheim'-Film ästhetisch

So wie der 'Stammheim'-Film funktioniert, ist die Bundesrepublik dieselbe geblieben. Und der Raspe-Spruch ('Die Bundesrepublik wird nach Stammheim nicht mehr dieselbe sein') wird vom Film selbst widerlegt, Jetzt ist es das liberale Bewusstsein, das die Rote Armee Fraktion problemlos vereinnahmt und stillstellt: eine Trophäe, ein Schmuckstück auf dem Vertiko. – Aust spricht von den Sympathien für die Angeklagten, 'auch als sie noch in Freiheit waren: eine Bewunderung für den Mut, die Entschlossenheit, die Konsequenz, mit allem zu brechen, was einem als bürgerliche Norm aufgegeben worden ist'. – Das Drehbuch und erst recht der Film unterlassen jedoch alles, was eine Umsetzung dieser Einsicht bedeutet hätte. Der Film lässt jeden Mut vermissen. Ästhetisch ist keinerlei Konsequenz gezogen, mit dem zu brechen, was den Wort- und Filmemachern als bürgerliche Norm, ein Buch oder einen Film herzustellen, aufgegeben ist. Der normgerechte Film, sein schöner Schein weisen auf Unentschlossenheit, Ängstlichkeit und Sorge ums gute Gewissen hin. Die Form widerspricht dem Inhalt der transportierten Argumentationsketten. Wer zu Wort kommt, hat den zugewiesenen Platz, die Redezeit und die Beschränkungen, wie wir sie von den aktuellen Podiumsdiskussionen kennen.

Ulrike Meinhof und Aust haben Ende der sechziger Jahre gemeinsam bei KONKRET gearbeitet. Heute hat Aust das letzte Wort – und die Kontrolle über das, was Baader und Meinhof gesagt und getan haben. Gefiltert durch Prozess, Buch, Theater und Film: Aust hat Verantwortung für eine Machtposition. Er wird sich fragen lassen müssen, ob es politisch verantwortlich, künstlerisch angemessen und menschlich vertretbar war, Baader-Meinhof im 'Stammheim'-Film ästhetisch zu bannen und politisch zu erledigen. Die ersten Reaktionen auf die geplatzte Premiere am 31. Januar in der Hamburger Kampnagel-Fabrik sprechen dafür, dass der Anspruch, Baader/Meinhof zu kontrollieren, nicht akzeptiert wird und auch nicht durchsetzbar ist. Totale – aber diesmal totale politische – Kontrolle war nach Ansicht Baaders eben der Gegenstand des Stammheim-Verfahrens. ('Gegenstand dieses Verfahrens ist die totale Kontrolle dieses Staates durch die Welt-Innenpolitik des US-Kapitals'). Die gutgemeinten Versuche, diesen Film zu produzieren, gingen über das Thalia Theater in Hamburg und das Hamburger Filmbüro zur Hamburger Wirtschaftsfilmförderung. Die Behörde mit dem Namen 'Filmbewertungsstelle Wiesbaden' vergab dem 'Stammheim'-Film das höchste Prädikat: besonders wertvoll. Und eingeladen wurde 'Stammheim' Ende März 1986 zur Teilnahme am Wettbewerb der Berliner Filmfestspiele. Was Aust und Hauff ästhetisch vereinnahmten, nimmt auch der Staat in Anspruch. Das führt sicherlich nicht zu der von Baader bezeichneten totalen Kontrolle. Die staatliche Beteiligung hat etwas Versöhnliches an sich. Will der neue Kompagnon teilhaben an der Erledigung und endlichen Bewältigung des 'Baader-Meinhof-Komplexes'? Das Interesse scheint ästhetisch-strukturell vorprogrammiert. Hauff, der in der staatlichen Förderung 'Öffnungen', sieht, die es 'immer noch gibt', müsste sich überlegen, ob es nicht auch umgekehrt geht: Öffnet sich der Film dem Staat? Hat er – Angehörige wie Gottfried Ensslin meinen es – die Funktion, 'bei Normalbürgern endgültig revolutionäre Hoffnung zu zerstören und innerhalb der Linken Spaltung zu betreiben'? (aus einem Flugblatt in der Hamburger Kampnagelfabrik).

Im 'Stammheim'-Film bleibt Tukur Sieger, auch Aust, Hauff, die deutsche Kultur. Wo die Baader-Meinhof-Gruppe abbleibt, das ist tragisch, zum Mitleiden, hoffnungslos und Schicksal. Da können sich alle einig sein. Oder nicht?

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 03/1986

Man for a Day

(D 2012, Regie: Katarina Peters)

What a (Wo)Man
von Ricardo Brunn

Es ist einer dieser skurrilen Kinomomente, die das Medium so faszinierend machen: Da tobt eine Debatte um das Ritual der Beschneidung quer durch das politische und religiöse Leben des Landes …

Es ist einer dieser skurrilen Kinomomente, die das Medium so faszinierend machen: Da tobt eine Debatte um das Ritual der Beschneidung quer durch das politische und religiöse Leben des Landes und just in diesem Moment kommt ein Dokumentarfilm über Gender-Konstruktionen in die Kinos, in dessen Prolog eine Beschneidung zu sehen ist, bevor in aller Gelassenheit der Titel des Filmes („Man for a Day“) eingeblendet wird. Ich will keine falschen Erwartungen wecken. Der hier besprochene Film kreist nicht um das Thema religiöser Beschneidung und ich werde diese Szene, wie der Film im Übrigen auch, nicht noch einmal aufgreifen. Als Auseinandersetzung mit den eigenen Kastrationsängsten, die der Film auszulösen vermag, und als Verweis auf die kuriosen Bezüge zwischen Realität und Film taugt der Exkurs aber allemal.

In „Man for a Day“ verfolgt Regisseurin Katarina Peters, die 2005 mit ihrem sehr privaten wie beeindruckenden Debütfilm „Am seidenen Faden“ für den Europäischen Filmpreis nominiert wurde, einen Workshop der Gender-Aktivistin und Performance-Künstlerin Diane Torr, die darin den Ursprüngen der Gender-Identität nachforscht. Die Teilnehmerinnen dieses Kurses, es sind zunächst einmal Archetypen wie die allein erziehende Mutter, die kesse Schönheitskönigin oder die selbstbewusste Politikberaterin, verwandeln sich unter Anleitung Torrs innerhalb einer Woche in Männer. Nicht die Mimesis oder die Annäherung steht hier im Vordergrund, sondern das Einlassen auf das Unbekannte, das Beherrschende und die damit verbundenen, eigenen Befangenheiten. Es geht um eine möglichst vollkommene Transformation mit der Absicht, männliche wie auch weibliche Verhaltensmuster sichtbar zu machen, zu verstehen und bestenfalls bewusst zu nutzen – oder um einfach „die Windstille, die Männer umgibt“ zu spüren, wie es eine der Teilnehmerinnen formuliert. Deshalb genügt es auch nicht, die langen Haare unter einer Mütze zu verstecken oder weiterhin mit lackierten Fingernägeln in Erscheinung zu treten, denn in ihrer neuen Rolle sollen die Teilnehmerinnen früher oder später auf die Straße und unter (echte) Männer treten.

Mit angenehmer Leichtigkeit hinterfragt der Film die soziokulturelle Konstruktion der Geschlechterrollen. Und es ist insbesondere dem ungeheuer genauen Blick von Diane Torr, der in der Montage durch Archivaufnahmen zu einigen ihrer Performances reflektiert wird, zu verdanken, dass der männliche Zuschauer das ein oder andere Mal angenehm irritiert im Kinosessel nach unten rutschen und über das eigene Gebaren schmunzeln muss: Der (öffentliche) Raum wird beispielsweise durch einen bestimmten Gang erobert, Augen bewegen sich prinzipiell nur mit dem Kopf und das Lächeln müssen sich die Teilnehmerinnen gleich als erstes abgewöhnen, denn Männer lächeln nicht grundlos. In seinen schönsten Momenten wird so der Gaze im Film spielend umgekehrt, ohne zum übermotivierten Zeigefingerfeminismus zu geraten.

Leider verzettelt sich der Film gegen Ende dann heftig. Solange er sich im geschützten Raum seiner Experimentieranordnung (Workshop) bewegt, funktioniert er. Problematisch wird es an den Grenzen dieses Systems. Zu sehr verlässt sich die Regisseurin auf das Ideengebäude von Diane Torr. Ohne sie und das Seminar verliert der Film seine Richtung und den Mut, sein Thema auch außerhalb des Kurses zu betrachten oder gar weiterzuentwickeln. Stattdessen wird dem Workshop teils redundantes Material nachgelagert. Inkonsequent werden Figuren noch ein Stück weiter begleitet, aber nicht zu Ende erzählt. Mit ihrer Zurückhaltung vermeidet die Regisseurin zwar, in die allzu offensichtlichen Gender-Fallen zu tappen (die archetypischen Hauptfiguren haben allesamt auch archetypische Probleme mit dem anderen Geschlecht), dadurch verfehlt der Film allerdings auch jede Abgeschlossenheit. Die Regisseurin ist so sehr auf das Zeigen aus sicherer Entfernung bedacht, dass am Ende weniger sichtbar gemacht wird als am Beginn möglich schien. Wenn Diane Torr mit ihrer Tochter in Venedig spazieren geht, ist das keine Annäherung an die charismatische Protagonistin, sondern vielmehr eine Ausrede, ihr und ihrer Motivation, sich mit Geschlechterrollen so intensiv auseinanderzusetzen, nicht näher kommen zu müssen. Vielleicht stand hier die bereits dreißig Jahre währende Freundschaft zwischen Regisseurin und Protagonistin einer objektiveren filmischen Begegnung im Weg.

Wirklich bitter ist jedoch, auch wenn es kleinlich erscheinen mag, der Kurzauftritt von Claudia Roth, die ach so überrascht ins Bild hineinperformt und vollkommen hin und weg ist, von so viel Aufmerksamkeit. Und dann steht sie für ein paar Sekunden da und darf bewundert werden – die Musterfrau der deutschen Politik. Doch weder dafür, noch als Erläuterung des beruflichen Umfelds einer der Protagonistinnen ist sie tatsächlich geeignet. Und es hilft auch nicht, dass Diane Torr im Anschluss an diese Szenen anmerkt, dass wir alle Schauspieler sind. Der Auftritt Claudia Roths ist vor allem Ausdruck für die politische Gesinnung der Regisseurin und damit unangenehm irritierend.

Am Ende bleibt das Gefühl, der Film hätte mehr aus seinem Sujet und seinen Figuren machen können. Zwar ist die Verwandlung der Kursteilnehmerinnen wunderbar amüsant anzuschauen, schafft aber beim Zuschauer zu keinem Zeitpunkt ernsthafte Verunsicherung, die bei diesem Thema durchaus reizvoll hätte sein können. Gerade über die Montage hätte der Film mit der Inszenierung der Identitäten spielen können und so auch seinen thematischen Überbau stützen und für das Publikum erfahrbarer machen können.

Vielleicht hätte ein Mann dem Schnitt gut getan, denn manchmal ist eine andere Sichtweise eben entscheidend hinsichtlich all der Verwirrungen zwischen den Geschlechtern.

Das verflixte 3. Jahr

(F 2012, Regie: Frédéric Beigbeder )

Komödien-Potpourri
von Wolfgang Nierlin

Die Gefühle sind nicht echt und glaubwürdig dargestellt schon gar nicht. In der ersten Hälfte von Frédéric Beigbeders Filmkomödie „Das verflixte 3. Jahr' („L’amour dure trois ans') werden die große …

Die Gefühle sind nicht echt und glaubwürdig dargestellt schon gar nicht. In der ersten Hälfte von Frédéric Beigbeders Filmkomödie „Das verflixte 3. Jahr' („L’amour dure trois ans') werden die große Liebe und die Zweier-Beziehungen, die sie begleiten, mit einem mächtigen Aufgebot virtuos eingesetzter filmischer Mittel denunziert. Den Auftakt dazu darf der lebenserfahrene Charles Bukowski machen: „Liebe ist wie ein Nebel am Morgen. Im ersten Licht des Tages löst sie sich auf.“ Zweifellos identifiziert sich mit diesem Statement wohl nicht nur der Regisseur und Schriftsteller Beigbeder, der für seinen Debütfilm einen eigenen Roman adaptiert hat, sondern auch sein larmoyantes Alter Ego Marc Marronier (Gaspard Proust). Der 30-jährige Pariser Literaturkritiker und Szenekolumnist hat auch gleich eine Allerweltstheorie für diesen angeblich empirischen Sachverhalt parat: „Liebe ist ein von vornherein verlorener Kampf gegen die Zeit.“ Demnach dauert sie drei Jahre; und deshalb findet sich der frustrierte Marc, nachdem ein stimmungsvoller Super-8-Vorspann sein verflossenes Liebesglück zusammengefasst hat, mit vielen anderen unglücklichen Paaren vor dem Scheidungsrichter.

Wenn sich Marc dann im ersten Kapitel seines aus dem Off erzählten Rückblicks auf das Scheitern der Liebe im Allgemeinen wie Besonderen in niveauvollem Weltschmerz, hedonistisch aufgehübschtem Selbstmitleid und schicker Verwahrlosung ergeht, zeigt sich die ganze Inhaltsleere, um die herum Beigbeders Hokuspokusfilm arrangiert ist. Denn hinter den sattsam bekannten Zeichen einer von Klischees durchwirkten Oberflächenästhetik gibt es kaum etwas, was dem echten Leben ähnelt, sondern das allenfalls und bis in die Negationen hinein Wunschvorstellungen projiziert. Insofern ist „Das verflixte 3. Jahr“ reinstes, durchaus souverän und abwechslungsreich gestaltetes Zutaten- und Reproduktionskino, das kreativ aussieht, mit größter Selbstverständlichkeit abschnurrt und kaum mehr als kurzweilige Unterhaltung bietet. Leider kommt noch dazu, dass Frédéric Beigbeder sein mäßig lustiges Komödien-Potpourri bis zu seinem vorhersehbar schmalzigen Happyend mit einer sehr traditionellen, um nicht zu sagen konservativen Liebes- und Geschlechterpolitik ummantelt.

Diese ist es wohl auch, die Marc ebenso zum schriftstellerischen Erfolg verhilft wie zum Verhängnis wird, als er sich seinen Liebes- und Beziehungsfrust in einem literarisch dürftigen Erfahrungsroman von der Seele schreibt. Nicht umsonst will der gefeierte Autor, der sich selbstverliebt als „sexistisches Arschloch“ bezeichnet, anonym bleiben. Die Modefotografin Alice (Louise Bourgoin), seine neue, heiß umworbene Liebe, hält das auf Bestseller getrimmte Buch nämlich für „Schreibdurchfall eines Wichsers“. Dass er schließlich trotzdem geoutet wird, liegt nicht nur in der retardierenden Erzähllogik der Dramaturgie, sondern vor allem in der damit verbundenen glorreichen Bekehrung des Helden zur wahren – jetzt rehabilitierten – Liebe, die ohne regenreiche Durststrecken und romantisch-schwärmerisch-männliche Selbstkasteiung in Beigbeders filmischem Liebeskitsch nicht zu haben ist. Oder handelt es sich hier etwa um eine Parodie des Genres? Dann fehlen ihr allerdings zumindest Abstand und Biss.

The United States of Hoodoo

(D 2012, Regie: Oliver Hardt)

Afrikanische Spezifika
von Andreas Thomas

Im Film „The United States of Hoodoo“ erklärt an einer Stelle eine Musikerin, dass alle Geräusche, die je an einem Ort hörbar waren, für immer an diesen Ort gebunden bleiben …

Im Film „The United States of Hoodoo“ erklärt an einer Stelle eine Musikerin, dass alle Geräusche, die je an einem Ort hörbar waren, für immer an diesen Ort gebunden bleiben und verharren, wenngleich sie auch nicht für jedermann hörbar sind.

Dieser Satz fasst schon in etwa Programm und Problem dieses Dokumentarfilmprojekts von Oliver Hardt und seinem Forschungsreisenden in Sachen Hoodoo, Darius James zusammen, denn genauso verhält es sich mit den Spuren der afrikanischen Kultur, sie blieben trotz massiver Verdrängung durch die weiße Vorherrschaft im Verborgenen und bahnten sich ihren Weg – für die, die sie wahrnehmen wollen und können. Ihren Weg in die, zunächst, amerikanische Musik-, Popkultur und in die moderne Kunst, aber auch etwa in den Hoodoo- bzw. Voodooglauben – der Film macht da keine klaren Unterscheidungen – neue amalgamische, mit indianischen Riten und dem auferlegten Katholizismus bzw. Protestantismus versehene Formen alter afrikanischer Religionen. Zugleich jedoch, und das ist ein kleineres Problem, ist diese Erkenntnis eine banale, denn schon lange bekannt, und sie beschränkt sich nicht nur auf die Genese eines afrikanischen Kulturerbes, sondern auf jede Art verschütterter oder unverschütteter Kultur: Teile davon bleiben erhalten oder sie auferstehen in mehr oder weniger mutierten Formen.

Den größeren Verdruss an diesem Projekt der Neuentdeckung Afrikas in Amerika, welches als eine Art selbsternanntes Roadmovie abrollt, aber bereitet mir die doch eher unkritische Bereitschaft von Autor und Regisseur Hardt und Co-Autor und Explorateur James, jedes und alles, was nur irgendwie afrikanisch konnotiert werden kann, zu glorifizieren, uneingedenk der Tatsache, wie mystisch der Quatsch auch ist, der dabei zum Teil an eine Oberfläche kommt, deren Oberflächlichkeit aber auch nicht hinterfragt wird: ist man doch froh über alles und jedes, was einem die Illusion von Wurzeln, Historie und Authentizität vermitteln kann.

Kurz dazu die Rahmenbedingungen des Films und zugleich die biografischen des Schriftstellers und US-Reisenden: Darius James lebt bereits seit 10 Jahren in Berlin, im „Exil“, wie er es ein wenig dramatisch bezeichnet, als er durch den Tod seines Vaters wieder mit seiner Herkunft, in vielfacher Weise, konfrontiert wird. Das Haus des Vaters, nördlich von New York gelegen, ist voller afrikanischer Masken und Kultgegenstände, deren religiös-mystische Dimension vom Vater stets verleugnet wurde. An eben der These, dass die afrikanischen Ursprünge auch in Zeiten der Unterdrückung und Verleugnung in den USA stark geblieben sind, hangelt sich nun der Sohn und Co-Filmautor James entlang, aber seine apostrophierte „Entdeckungsreise“ wirkt in weiten Teilen wie das Abklappern verschiedener ihm längst bekannter Menschen und ihrer jeweiligen afrikanischen Spezifika, denn als Buch-Autor hat er sich doch schon in mehreren Büchern mit dem Thema Voodoo, Hoodoo und „Baaaadassss“-Kultur und den einschlägigen Spezialisten befasst. Was er „entdeckt', das kennt er schon.

Besonders kurios fühlt sich sein Besuch in New Orleans an: Zur Belegung der These, wie vital afrikanische Kultur noch heute sei, wird einem Voodoo-Ritual beigewohnt, dessen Teilnehmer_innen durchweg Weiße sind. Seien wir nicht kleinlich, dass auch Weiße den Blues haben können, muss hier natürlich nicht gesagt werden und Kultur ist natürlich keine Frage der Hautfarbe. – Also doch nicht? Ging es nicht auch um Rückbesinnung auf die schwarze Identität?

Zunächst interessant ist die kaum bekannte Tatsache, dass da, wo heute mitten in Manhattan ein so genanntes „African Burial Ground National Monument“ steht, ein großer Friedhof liegt, in dem unzählige namenlose Sklaven verscharrt wurden, ehemalige Arbeiter, die die Hauptstadt des Weltkapitalismus errichteten. Aber auch hier darf die Religionsmystik nicht zu kurz kommen, und es muss ein gewisser „Legba“ heranzitiert, bzw. gar „kontaktiert“ werden, nach dem Voodoo-Glauben der Mittler zwischen Geister- und Menschenwelt. Dass übrigens Legba als „Protagonist“ des Films sogar im Presseheft (nicht im Filmabspann) aufgeführt wird, ist ein Scherz jener zweifelhaften Art, von denen auch der Film so manche aufweist.

Nur ein Mitwirkender und Interviewpartner von Darius James, der Schriftsteller und Berkeley-Professor Ishmael-Reed, weist den doch eher latent religiös-euphorisierten Autoren freundlich aber bestimmt darauf hin, dass der Segen der Menschheit ja nun wirklich nicht in irgendeiner Religion zu finden sei – er hat im Film den kürzesten Auftritt. Leider. Wenn es interessant zu werden droht und Gedanken zu Ende gedacht werden könnten, verliert „The United States of Hoodoo“ sein Interesse daran.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Oma & Bella

(D 2012, Regie: Alexa Karolinski )

Erzählen und Fehlen
von Carsten Moll

Eine kleine Einbauküche in Berlin-Charlottenburg. Zwei jüdische Damen in ihren 80ern sind beim gemeinsamen Kochen. Einmütig, konzentriert und schweigsam, ohne sich auch nur einmal in die Quere zu kommen. Immer …

Eine kleine Einbauküche in Berlin-Charlottenburg. Zwei jüdische Damen in ihren 80ern sind beim gemeinsamen Kochen. Einmütig, konzentriert und schweigsam, ohne sich auch nur einmal in die Quere zu kommen. Immer wieder kehrt Alexa Karolinskis Film in die Küche ihrer Großmutter Regina und deren Mitbewohnerin und Freundin Bella zurück und dokumentiert das Treiben der beiden Frauen. Ob beim Rasieren von Kalbsfüßen und Hähnchenschenkeln, beim Hagelzuckerkekse-Backen oder Borschtsch-Zubereiten, die Kamera ist nah dran an Gesichtern und Händen und blickt aufmerksam auf das Geschehen.

„Oma & Bella“ ist ein Film der kleinen Gesten, der unaufgeregt und ohne aufgesetzte Dramatik dem Alltag seiner Protagonistinnen folgt. Dabei bleiben die bewegten Biografien der beiden Holocaust-Überlebenden stets Fragmente, die sich als Anekdoten, Lieder, Alpträume und den jiddischen Speisen ihrer Kindheit mit der Textur eines banalen Alltags verweben. Karolinski versucht gar nicht erst aus dem Leben der Oma und deren bester Freundin eine runde Geschichte zu machen, stattdessen inszeniert sie mit äußerster Zurückhaltung das Erzählen und Erinnern als Teil der Lebenspraxis, fernab von falscher Sentimentalität und Holo-Kitsch.

Erzählen heißt nochmal überleben, meint Bella, die Partisanin der jüdischen Widerstandsbewegung war und ihre gesamte Familie im Dritten Reich verloren hat. Wie schwer das Erzählen fallen kann, sieht man an den Freundinnen von Regina und Bella; beim Rommé-Spiel erfasst die Kamera die eintätowierte KZ-Nummer einer Bekannten, mehr als dass sie in Auschwitz war und später auf Schindlers Liste stand, möchte sie nicht verraten. Bella und Regina aber nutzen den Raum, den der Film ihnen zur Verfügung stellt, drängen sich bisweilen gegenseitig zu reden, wenn vieles auch nur angedeutet bleibt. Die Offenheit, mit der sich die charismatischen Seniorinnen präsentieren, kommt wohl auch deshalb zustande, weil Regisseurin und Kamerafrau Karolinski keinen investigativen oder kritischen Zugang zum Leben der Großmutter sucht, sondern stets Enkelin bleibt. Da kommt sie nicht drum herum, noch einen Keks zu essen, obwohl sie schon satt ist oder tritt amüsiert aber folgsam vor die Kamera, um den Orangensaft zu trinken, den Regina ihr hingestellt hat. Wegen der Vitamine.

Der liebevolle Blick der Filmemacherin hinter der Kamera wird von den Protagonistinnen erwidert, vertrauens- und verständnisvoll erzählen sie nicht nur von jüdischer Kultur, sondern auch vom Nachtleben im Nachkriegsdeutschland, vom Familienleben und Altsein, mal nachdenklich, mal mit trockenem Witz. Wo das Leben der Einen anfängt und der Anderen aufhört, lässt sich kaum ausmachen, ihr Erzählen ist ein gemeinschaftliches, ein ständiges Ergänzen, Kommentieren und Übersetzen, selten auch ein Widersprechen. Karolinski verbindet Interviews mit Alltagsbeobachtungen zu einer losen, episodischen Struktur, die gelegentlich etwas beliebig wirken mag. Gleichzeitig lässt sie sich aber ganz auf den Rhythmus und Ton ein, den Regina und Bella vorgeben. So werden auch die Leerstellen Teil des Erzählens: verpasste Einsätze, vergessene Strophen und verschollene Fotografien.

Bavaria – Traumreise durch Bayern

(D 2012, Regie: Joseph Vilsmaier)

Sedativkino
von Ricardo Brunn

Grüne Wiesen und rosarote Blumen, die sich sanft im Wind wiegen. Rehe im Wald, auf der Suche nach Futter. Das rauschende Meer, das bei Sonnenuntergang gegen die Küste brandet. Ein …

Grüne Wiesen und rosarote Blumen, die sich sanft im Wind wiegen. Rehe im Wald, auf der Suche nach Futter. Das rauschende Meer, das bei Sonnenuntergang gegen die Küste brandet. Ein Mann, der auf einem Sterbebett liegend diese Bilder mit Tränen in den Augen auf einer großen Leinwand vor sich betrachtet und sanft zu den Klängen von Edvard Griegs „Peer Gynt“ entschläft.

In dieser Szene, die gegen Ende des Filmes „Soylent Green“, einem amerikanischen Science-Fiction-Film aus den 1970er Jahren, zu sehen ist, dringt die Hauptfigur Robert Thorn (gespielt von Charlton Heston) in eine Sterbehilfeeinrichtung ein, in die sich Thorns Freund und Vaterfigur Sol selbst eingewiesen hat, nachdem dieser das Geheimnis des titelgebenden Nahrungsmittels entdeckt hat. Doch Thorn kommt zu spät. Sol liegt bereits auf dem Sterbebett vor besagter Kinoleinwand und Thorn kann seinem alten Freund in diesen letzten Momenten nur noch beistehen, als auf der Leinwand die Naturaufnahmen erscheinen. Weinend schauen beide auf eine Welt, die nur noch im Dokument existiert und es ist ein rührender Moment, der in den Kitsch sackt, auch weil Charlton Heston eher ein Mann der Taten und weniger der Tränen ist.

Ähnliche Naturbilder wie die soeben beschriebenen können derzeit in großer Zahl auch im Kino bewundert werden. Die Naturdokumentationsschwemme der letzten Jahre hat an ihren Höhepunkten („¡Vivan las antipodas!“) eine poetische Kraft entfaltet, die das Verbindende im Gegensätzlichen und das Erhabene im Detail suchte. Manchmal kam ein ambitioniertes und mitunter pathetisches Mahnen an die Zerstörung unseres Planeten in kristallklaren Full-HD-Bildern („Home“) dabei heraus. Schlimmstenfalls gab es imposantes, aber für maximale Kinoausbeute stümperhaft zusammen montiertes Material aus bereits vorhandenen TV-Serien zu sehen („Unsere Erde“). Den Tiefpunkt dieses Phänomens markieren allerdings Filme („Deutschland von oben“), deren Bilder in ihrer beruhigenden und verklärenden Wirkung denen aus der beschriebenen Szene zu „Soylent Green“ in nichts nachstehen.

Eine nahe liegende Vermutung hinsichtlich der schieren Masse an cineastischem Nature and Wildlife ist natürlich: Je größer die Krise, desto größer der Bedarf an Zerstreuung. Und weil wir uns neben der monetären Krise neueren Datums seit Langem in einer ökologischen Krise befinden und die Zuschauerzahlen bei all diesen Filmen (für die Gattung des Dokumentarfilmes) astronomische Marken erreicht, wird mit einer immer einfacheren Formel munter weiter produziert. Plötzlich erstaunt die Fülle an kitschigen Naturbildern, die derzeit die Kinos sicher machen, kaum noch.

„Bavaria“, der neue Film von Joseph Vilsmaier, reiht sich in seiner Banalität und Einfältigkeit gut in diese Reihe ein. 50 Stunden lang hat Vilsmaier sich mit dem Hubschrauber im Daueranflug auf das so unsagbar schöne Bayern begeben, dass es an dieser Stelle einfach noch mal betont sei: Bayern ist traumhaft schön. Ansonsten gibt es nicht viel über diesen außerordentlich berechnenden Film zu sagen. Die Kamera gleitet, die Musik begleitet, der Schnitt rasselt die Sehenswürdigkeiten in bester Reiseprospektmanier aneinander, der Kommentar verdoppelt das Bild oder lässt historisch Brisantes elegant unter den Tisch fallen und irgendwann ist’s halt vorbei.

Die Schönheit eines Landes in einem Dokumentarfilm zu zeigen ist nichts Verwerfliches. Die Bilder in „Bavaria“ zehren jedoch nicht einmal mehr vom altmodischen Anspruch, Schönheit als Übereinstimmung von Mensch, Welt und Schöpfung zu begreifen. Im Unterschied zu „¡Vivan las Antipodas!“ existiert in „Bavaria“ kein Zusammenhang mehr zwischen der Darstellung von Schönheit und dem Anspruch auf eine irgendwie geartete Wahrheit. Vilsmaier geht es mit seinem Film ausschließlich um die triviale Abbildung des Schönen; um die Verheißung eines Glückes, das im Angesicht der Krisen um uns herum immer seltener erreichbar scheint. Damit wird der Film aus der Kunst heraus tief hinein in den Kitsch gerückt. Und hier liegt auch der Unterschied zu dem eingangs erwähnten „Soylent Green“, denn die Bilder andächtiger Ergriffenheit aus der Sterbebettszene erfahren am Ende des Filmes ihre fast zynische Brechung, wenn ebendiese Aufnahmen über den Abspann gelegt werden. Diesmal ist der Zuschauer allein der Adressat der Bilder und wird damit in die Position des sterbenden Mannes gesetzt.

Das Erstaunlichste an „Bavaria“ und seinen aktuellen Von-oben-Vorbildern ist demnach, dass die bisher dem Fernsehen eigene einschläfernde Dauerberieselung nun (dank der Macht der Sendeanstalten) auch im Kinodokumentarfilm eine Heimat findet. „Bavaria“ ist nichts weiter als Sedativfernsehen, das mit seiner Wirkung und der angesprochenen Zielgruppe gut zwischen das Traumschiff und die seichten Talks des ZDF-Adoptiv-Schwiegersöhnchens Markus Lanz passt und zum Zwecke des Profits für die große Leinwand fit gemacht wurde.

Übertroffen wird dies nur noch von den abstrusen Vermarktungsstrategien für den Film. Eine Sendung mit dem Titel „Talk in the City“, moderiert vom Generalsekretär der CSU, Alexander Dobrindt, fällt hierbei besonders ins Auge. Mit typisch bayrischem Selbstverständnis philosophieren Dobrindt, Vilsmaier und sein Pilot Hans Ostler eine Stunde lang über die technischen Herausforderungen des Filmes, witzeln über die im Film kaum zu sehenden Bauern und beschwören einmal mehr die Schönheit Bayerns. Kumpelhaft und hochgradig entzückt klopft der Moderator am Ende der Sendung dem Regisseur aufs Knie und bietet, schwanger vor Ergriffenheit, seine Hilfe an: „Wenn’s Probleme mit der Filmförderung gibt, dann bitte melden. Solche Filme müssen weiterhin in Bayern entstehen und gefördert werden.“ Ja genau, solche Durchhaltefilme brauchen wir.

Bevor nun aber die unsagbar teure Kameratechnik für weitere Naturdokumentationen dieser Art spazieren geflogen wird (ich freue mich schon auf „Sachsen von oben“ oder „das Ruhrgebiet von oben“), lieber noch ein paar eindrucksvolle Bilder zum Abschluss: Grüne Wiesen und rosarote Blumen, die sich sanft im Wind wiegen. Rehe im Wald, auf der Suche nach Futter. Das rauschende Meer, das bei Sonnenuntergang gegen die Küste brandet.

Underground

(YU / F / HU / D 1995, Regie: Emir Kusturica)

Lügenhafte Feste, satte Wahrheiten
von Dietrich Kuhlbrodt

Der Krieg in Bosnien wurde in Belgrad inszeniert. Anfang 1995 drehte dort Emir Kusturica, geboren in Sarajevo, seinen Film zu Ende – die gewaltige Schock- & Lach-Parabel, die einem ästhetisch …

Der Krieg in Bosnien wurde in Belgrad inszeniert. Anfang 1995 drehte dort Emir Kusturica, geboren in Sarajevo, seinen Film zu Ende – die gewaltige Schock- & Lach-Parabel, die einem ästhetisch und politisch den Boden unter den Füßen wegreißt, zur merkwürdigerweise immer neuen Verblüffung. Drunter ist, wie der Titel es verspricht, der Untergrund. Und der ist ein inszenatorischer Kunstbau von inflationären Maßen, der sich wie verrückt ausdehnt im Lauf der Geschichte oder richtiger des Es-war-einmal, das kurz vor dem Einmarsch der Nazis in Maribor, Slowenien, beginnt – ein kleiner Schutzkeller zunächst, der sich in den 169 Filmminuten zu einem Tunnelsystem ausweitet, das alle Schutzbauten Hitlers und Ceaucescus um ein Vielfaches übertrifft. Schließlich erfahren wir die Wahrheit: dass untergründig die Hauptstädte Europas verbunden sind, bspw. über die Subroute Berlin-Balkan-Athen, und wer heute vor dem Reichstag den Gullydeckel lüftet – ein letzter Blick zurück nach oben, gerade sind noch die Worte 'Dem Deutschen Volke' zu entziffern – , der kriecht bei irgendeinem bosnisch-kroatischen Massaker wieder ans Tageslicht, glücklich dem unterirdischen Wahnsinnsverkehr entronnen, ein Laster nach dem anderen schrammt an den Tunnelwänden entlang, Abgase verdunkeln das Abblendlicht.

Hitler hatte die Kapazität der Entlüftungsventilatoren falsch bemessen. Heute kassieren schwarzhäutige Blauhelme für unterirdische Flüchtlingstransporte. Waffenhändler machen Kasse für Lieferungen nach Serbien und Kroatien – egal, wer der Abnehmer ist. Wir sind beim Exjugoslawen Marko, dem schurkischen und gar nicht unsympathischen Helden und seiner Frau, der schönen und zweckmäßig optierenden Natalija. Gegen Schluss des Films sind sie reich, VIPs und all das; die Rückreise tritt das Waffenhändlerpaar standesgemäß im Mercedes 500 an, Kennzeichen M-TV 6769, doch halt, die gehbehinderten Dealergatten, doppelt riskant im Obergrund aktiv und das im Rollstuhl, werden in einer überaus imposanten Szene liquidiert und pyrotechnisch brillant in Brand gesetzt. Ein Fanal! Als lebende Fackel umkreist das vermögende und in geschlechtlicher Lust vereinte Rollstuhlpaar ein ruinöses Kruzifix, der Gemarterte hängt mit dem Kopf nach unten, ein Schimmel (Utopie!) durchquert die Hieronymus-Bosch-Landschaft von rechts nach links und umgekehrt. Ein Bild! Grande opéra! Schön und gerecht! Oder nicht? Denn das liebende, aber verkohlende Paar ist so ein richtiger Feind denn doch nicht, immer waren die beiden unsere Brüder-und-Schwestern, Jugoslawen, verdiente Funktionäre (er) und Künstler (sie) der kommunistischen Partei des Genossen Tito.

Wieder ist der Boden unter den Füßen weg. Wie war es doch zu Köln bequem, mit Heinzelmännchen umzugehn, äh: den Faschistenschweinen einerseits, den Guten (uns) andererseits. Kusturicas Welt lässt sich nicht sortieren, und wir stecken mittendrin im Schlamassel, bös involviert. Außerdem bin ich außerstande, das zu tun, was der Leser, die Leserin als Service erwartet, nämlich den Plot des Films wiederzugeben. Aber wie das, wenn einer – endlich! – das Bildermedium vom narrativen Ballast des Und-dann-und-dann-und-dann befreit; schließlich hat der Film der Literatur voraus, dass er auf die allseits bewunderten Höhlenzeichnungen zurückgeht, welche man mit Fug & Recht ja auch Undergroundinszenierungen nennen könnte. Wer auch würde ein kolossales, zudem noch schockierend komisches Bosch-Bild durch Ausplaudern der dort meinetwegen versteckten Fabeln angemessen wiedergeben wollen?

Meine Bemühungen sollen nur, ich bitte um Nachsicht, darauf hindeuten, dass Kusturicas Film 'Underground' tatsächlich in den Abgrund, aber auch in verlockende Tiefen von so etwas Verdächtigem wie der Seele, auch der Volksseele, eintaucht – und mehr oder weniger schelmisch auch wieder heraufkommt. Drum geht der Verkehr ins Untergründige auch gern durch Dorf- und andere altertümliche Brunnen, die infrastrukturell durch Jugoslawiens Fluss, die Donau, verbunden werden, so dass der Vater dort in einem Fischnetz gefangen werden kann. – Ein Unding, das verstandesmäßig aufdröseln zu wollen. Kurz: Wer sich Kusturicas 'Underground' besieht, hat keine Theorie des Untergrundkampfes zu gewärtigen, auch keine Vorlesung über die Strategie des Bosnienkriegs, wohl aber ein grandioses Abenteuer der Wahrnehmung, politisch und moralisch so offen, wie man es sich nur wünschen kann, jedenfalls dann, wenn in der bösen Realität die oberirdischen Grenzen geschlossen sind.

Ergebnis: Kusturica ist mit seinem Megafaszinosum 'Underground' Undenkbares gelungen, nämlich alle Parteien Ex- und Rest-Jugoslawiens an einen Tisch zu bringen, wo sie zu Zigeunerweisen in entspannter Atmosphäre an einem Tisch sitzen, am Donauufer; pathetisch ist von Verbrüderungen die Rede, Hoffnung! Einheit! Wir sind in der Schlusssequenz des Films, plötzlich geht der Blick in die Kamera: 'Verzeihen können wir, vergessen nie', heißt die Botschaft. Ein optimistisches Fest, aber dann – so geht’s halt zu in diesem Film, underwater in diesem Fall – löst sich die Halbinsel mitsamt der Festgesellschaft vom Ufer und treibt im großen Strom davon. Die Kamera, grad noch angesprochen, bleibt zurück. Wir hören etwas, was statt eines hoffnungsvollen Appells eher Grabrede ist: 'In Trauer und Freude werden wir an unser Land zurückdenken. Es war einmal …' Aber mit eben diesen Worten hatte der Film begonnen, und er hatte uns die Geschichte Jugoslawiens als unablässige Folge politischer Inszenierungen vorgestellt: Propaganda, Botschaften, Filmmedium, Kamera. Kusturica selbst stellt schließlich sein Werk augenzwinkernd in den Dienst der propagandistischen Lügeninszenierungen. Wahrhaftige Selbstironie, brüderliche.

Belgrad 1941. Die Serben Marko und Blacky betreiben ihren prosperierenden Waffenhandel – die Ware wird durch Überfälle auf Nazikonvois beschafft – als Kampf für die kommunistische Partei. Zwei Jahre später sind sie Volkshelden. Blacky wird vom schönen Nazi Franz (Ernst Stötzner) ebenso blutig wie grotesk gefoltert. Seine Flucht endet in einem Luftschutzkeller, während die Bomber der Alliierten 'das zu Ende führen, was die Deutschen begonnen hatten, und aus Belgrad eine Ruinenstadt machen'. Freund Marko, oberirdisch, übernimmt inzwischen Blackys Frau, die reizende junge Schauspielerin Natalija, und um diesen für ihn erfreulichen Besitzstand nach der Befreiung zu wahren, inszeniert er für die Volkshelden im Keller den Fortbestand von Besatzung und Krieg, wofür er ein Medium braucht. Er betreibt einen Minisender, der täglich 'Lili Marleen' und ähnliche Botschaften in den Keller schickt. Das geht jahrzehntelang gut. Die Eingeschlossenen finden ihr propagandagestütztes Leben ganz prima. Funktionär Marko rückt in die Riege von Titos Spitzenfunktionären auf, ein bisschen Waffenschieberei bleibt auch noch zu erledigen. Doch dann 'nimmt Tito das Geheimnis der Einheit Jugoslawiens' mit ins Grab. In die historischen Dokumentaraufnahmen von den Trauerfeierlichkeiten wird Held Marko einkopiert. Wir sehen ihn neben Helmut Schmidt und Kurt Waldheim die Trauerparade abnehmen, wozu alle Strophen des unausweichlichen 'Lili Marleen' erklingen – eine offensichtliche Mehrfachinszenierung.

Vor einem solchen pompös-komischen und unverstellt liebevollen Bild glaub ich gleichwohl: Die satte Wahrheit findet sich in der Inszenierung dieses prallen, lügenhaften Festes, das uns 'Underground' auftischt.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 11/1995

Holidays by the Sea

(F 2011, Regie: Pascal Rabaté)

Ungeordnete Triebe
von Wolfgang Nierlin

Was hat die Großaufnahme einer Schnecke im Vordergrund des Bildes mit dem verbissenen Wettrennen zweier Golfmobils (15 km/h) im Hintergrund zu tun, das sich vor der Kulisse eines gigantischen Industrieparks …

Was hat die Großaufnahme einer Schnecke im Vordergrund des Bildes mit dem verbissenen Wettrennen zweier Golfmobils (15 km/h) im Hintergrund zu tun, das sich vor der Kulisse eines gigantischen Industrieparks abspielt? Konkurrenzkämpfe und heimliche Leidenschaften, die Ordnung des Lebens und die Unordnung der Triebe bestimmen das obsessive Verhalten der Figuren in Pascal Rabatés Film „Holidays by the Sea“. Und weil seine stumme Komödie im französischen Original den etwas paradoxen, aber politisch anspielungsreichen Titel „Ni à vendre ni à louer“ („Weder zu kaufen noch zu vermieten') trägt, wirkt das versprengte Häufchen von Urlaubern, als sei es in einer merkwürdig entvölkerten Nachsaison gelandet. Am atlantischen Strand ist jedenfalls nichts los, im Hotel „L’Océan“ tummeln sich nur vereinzelt Gäste und im „Supermarché Diagonal“ sind viele Regale leer oder nur spärlich gefüllt, während sein Kassierer mit Lineal und Bleistift den Strichcode auf die Produkte zeichnet.

In den skurrilen Verhaltensweisen der Protagonisten, die Rabaté ins Groteske verzerrt oder ironisch überhöht, lassen sich immer wieder allzu menschliche Wahrheiten entdecken. Dabei lebt der Film des französischen Zeichners vor allem von seinem visuellen, ebenso verspielten wie verrückten Einfallsreichtum. Die Staffelung des Bildraums, seine Erweiterung durch das Wechselspiel von On und Off, Großaufnahme und Totale sowie die episodische Struktur der einzelnen Geschichten, die sich mitunter berühren oder überschneiden, erzeugen immer wieder einen visuellen, geradezu surrealen Witz und nicht selten schwarzen Humor. In einer Art erzählerischem Staffellauf und unter Verzicht auf Dialoge konzentriert sich Pascal Rabaté dabei auf den nackten Kern von Handlungen. In all dem ist sein Film ästhetisch verwandt mit den Arbeiten seiner Kollegen Jacques Tati, Pierre Étaix und Alex van Warmerdam.

Die Ab- und Umwege des Sexualtriebes sind das zentrale stoffliche Element dieses sommerlichen Ferienfilms der etwas anderen Art. So findet sich ein Masochist im Leder-Outfit, im Rollenspiel ans Bett gekettet, dann aber von seiner Domina verlassen, plötzlich in einer ganz realen Gefangenschaft. In einer anderen Episode kommen sich ein Mann (Jacques Gamblin) und eine Frau (Maria de Medeiros) auf der Jagd nach einem vom Wind fortgetragenen Drachen mit anhängender Halskette näher und landen dabei in einem Nudisten-Camp, während sich ihre jeweiligen Partner sexuell miteinander vergnügen. Parallelen, die zu Verwechslungen führen und Kontraste, die das Absurde sichtbar machen, strukturieren auch die anderen Geschichten, in denen es um Liebe, Sex und Tod geht und in denen die Spannung von Ordnung und Chaos zu einem echten Sturm, zu Eruptionen und Implosionen führt. Trotz allem oder gerade deshalb lautet das ganz und gar ironische Fazit des Films, gesungen von Mike Brank: „Les vacances à la mer, c’est super!“ Ferien am Meer sind einfach klasse.

A Gang Story

(F 2011, Regie: Olivier Marchal)

Odds Against Tomorrow: Les Lyonnais
von Harald Steinwender

Eine Gang-Story, keine Polizisten-Geschichte. Der ehemalige Polizist, Drehbuchautor und Regisseur Olivier Marchal wechselt die Seiten: von seinen staatlich sanktionierten Gewalttätern, die eigentlich das System stützen sollen und doch irgendwann im …

Eine Gang-Story, keine Polizisten-Geschichte. Der ehemalige Polizist, Drehbuchautor und Regisseur Olivier Marchal wechselt die Seiten: von seinen staatlich sanktionierten Gewalttätern, die eigentlich das System stützen sollen und doch irgendwann im korrupten Apparat anecken, so sehr über die Stränge schlagen und Sand ins Getriebe werfen, dass sie zu Outcasts werden, hin zu denen, die von Anfang an draußen sind und mit kriminellen Mitteln gegen die herrschende Ordnung opponieren. Doch was ändert sich mit dem Wechsel vom Polizeifilm (bzw. Polizistenfilm) zum Gangsterfilm? Nicht viel. Das ist kein Wunder, hat Marchal doch als Chronist der Schattenseiten des Flic-Daseins seine Polizeistücke stets in Schwarz gemalt, ohne jede Hoffnung und einzig im Glauben an das Scheitern seiner Protagonisten. Da ist es nicht weit zum Gangsterfilm, dessen Protagonisten laut Robert Warshow stets dem Untergang geweiht sind. Und Marchal ging schon in seinen Polars sehr weit. In 'Gangsters' (2002) erweisen sich die titelgebenden Gangster allesamt als Polizisten, '36 – Quai des orfèvres' ('36 – Tödliche Rivalen'; 2004) beginnt bereits mit dem gequälten Schrei eines Polizisten, der von den korrupten Kollegen im Knast lebendig begraben wurde, 'MR 73' (2008) ist der Polizeifilm im Fegefeuer, die Welt eine Bosch’sche Höllenvision, bevölkert von Serienmördern, Psychopathen und deren Opfern. Einzig im Blutbad konnten diese Geschichten enden. Marchals Kino ist ein Kino der Verdammten, die blindwütig gegen die falsche Ordnung und die bornierten Regeln des Betriebs anrennen.

Auch für die Gangster in 'Les Lyonnais' gibt es keine Erlösung, kein Vergeben und Vergessen. Auch sie sind gefangen in einem autoritären Männerbund, der sie zugleich beschützt wie zerstört. Selbst im Ruhestand bedroht den Gangster seine Vergangenheit: 'Aged 20. I didn’t know it, but it’s already too late. Your fate is set. … Your past’s your flesh and blood. And in the end it drags you down', räsoniert der noch namenlose Protagonist auf der Voice-over, bevor die Titel auf der Leinwand erscheinen. Kein Ausweg, nirgends, keine Hoffnung, nicht einmal in einem Film, der mit einer Taufe und einem großen Familienfest beginnt, das mit Authentizität und Liebe zum Detail in Szene gesetzt ist und den Familienmythos aus Coppolas 'The Godfather' ('Der Pate'; 1972) zitiert.

Edmond 'Momon' Vidal (Gérard Lanvin) ist dieser Mann, den seine Vergangenheit einholen wird. Ein alternder Gangster, modelliert nach dem echten Edmond Vidal, der in Lyon Anfang der 1970er Jahre mit seiner multiethnischen 'Gang des Lyonnais' einige spektakuläre Raubüberfälle durchgeführt hatte und von dessen Autobiografie sich Marchal und sein Kodrehbuchautor Edgar Marie inspirieren ließen. Gérard Lanvins Momon hat sich zur Ruhe gesetzt, sitzt, wie die Polizisten hoffen, nur noch in Kneipen herum, trinkt und spielt Boule Lyonnaise, den Sport der alten Männer. Momon ist ein massiger Kerl, der Bauch spannt sich unter dem Hemd, der graumelierte Henriquatre-Bart im bronzefarbenen Gesicht verleiht ihm Züge eines Renaissancefürsten, seine raumgreifenden Gesten und Bewegungen sowieso. Er ist ruhig und bestimmt, reflektiert und besonnen. Und doch strahlt er eine unterschwellige Aggression aus. Tatsächlich braucht es nicht lange, bis er in 'Les Lyonnais' einem nichtsnutzigen Junggangster mit einer dieser silbern glänzenden Boule-Kugeln beinahe den Schädel einschlägt. Trotzdem: an der Eskalation und der Rückkehr zum gewalttätigen Gangstertum hat er kein Interesse. Wie Marchals Bullen will er das Richtige und bewirkt stets das Falsche. Wie die Cops folgt auch Marchals erster Gangsterprotagonist einem archaischen Code, den er über alles stellt, auch wenn er längst weiß, dass falsch verstandener Stolz in den Tod führen kann. Und vorher wird er alles, was er liebt, und jeden, den er liebt, verlieren. 'Les Lyonnais' ist die Sorte Film, in der ein Protagonist sagt, er liebe seinen Hund sehr, und man ahnt gleich, dass das Tier bald abgeschlachtet werden wird.

Für Momon, dem Gangster aus der ärmlichen Roma-Siedlung, der sich mit Gewalt hochgekämpft hat und nun so viel besitzt, dass er angreifbar geworden ist, gilt wie schon für Al Pacinos alternden Paten in Coppolas 'The Godfather: Part III' ('Der Pate – Teil III'; 1990): 'Every time I’m out, they pull me back in.' Serge Suttel (Tchéky Karyo), ein Jugendfreund, der sich 13 Jahre versteckt gehalten hat, kehrt aus dem Untergrund zurück. Er war vor der Polizei abgetaucht und hat sich mit üblen Gestalten eingelassen, gemordet, mit Drogen gehandelt und sich einige einflussreiche Feinde gemacht. Nun entscheidet er sich am Tag der Taufe von Momons Enkel, seine leibliche Tochter zu besuchen, um die sich der alte Freund kümmert. Dabei wird er sogleich von Kommissar Brauner (Patrick Catalifo) und einem Polizeirollkommando niedergerungen. Im Knast wird es der Alte nicht lange machen, das ist Momon klar. Doch da er seiner Frau zuliebe der Gewalt abgeschworen hat, überlässt er die Aufgabe, Serge rauszuhauen, einigen jungen Heißspornen. Das Resultat, wie nicht anders zu erwarten: Ein Massaker. Und der Auftakt einer Serie von Gewalt und Gegengewalt, die Marchal ebenso konsequent wie kompromisslos auf das bittere Ende hin inszeniert.

Bezugspunkt dabei ist, wie schon in Marchals vorangegangener Polizeifilmtrilogie, die Filmgeschichte: Von Melvilles Gangsterfilmen, vor allem 'Le doulos' ('Der Teufel mit der weißen Weste'; 1962) und 'Le cercle rouge' ('Vier im roten Kreis'; 1970), die Stilisierung und die aufs Wesentliche begrenzte Inszenierung. Als Hommage à Coppola die inhaltlichen Verweise auf die 'Godfather'-Trilogie. Von José Giovanni das Existenzialistische und das Einfühlungsvermögen in den Kriminellen, der immer auch Produkt seiner Umwelt ist. Und natürlich von Leone die Art, wie Marchal virtuos drei Zeitebenen miteinander verwebt, dazu Zeittransitionen zwischen Jugend, Erwachsensein und Alter seiner Protagonisten vollzieht und zugleich den Mythos Männerfreundschaft entzaubert. Wenn der alte Momon sich an seine Jugend erinnert, dann verfährt Marchal wie Leone in 'Once Upon a Time in America' ('Es war einmal in Amerika'; 1984) mit Noodles (Robert De Niro) und dessen verschlungener recherche du temps perdu: der Wechsel in die Vergangenheit wird stets durch Matchcuts vollzogen oder von bedeutsamen Großaufnahmen eingeleitet, über die Grenzen der Zeit hinweg tauschen Momon und Serge Blicke aus, eine Schuss-Gegenschuss-Einstellung überbrückt schon einmal mehrere Dekaden.

Allen Zitaten und der ausgestellten Allusionstiefe zum Trotz ist 'Les Lyonnais' keinesfalls rückwärtsgewandt, sondern Bestandteil des gegenwärtigen postklassischen Noir-Kinos aus Frankreich, das Marchal mit seinen Filmen und seinen Drehbucharbeiten ganz maßgeblich beeinflusst hat. Tatsächlich sind die Franzosen aktuell neben den Südkoreanern die einzigen, denen es immer wieder gelingt, Genrekino im Geist der wilden 1960er/70er Jahre zu inszenieren – in Serie und höchst populär. Nicolas Boukhriefs 'Le convoyeur' ('Cash Truck'; 2004) und Gardiens de l’ordre' ('Off Limits'; 2010), Jacques Audiards 'De battre mon coeur s’est arrêté' ('Der wilde Schlag meines Herzens'; 2005) und 'Un prophète' ('Ein Prophet'; 2009), Fred Cavayés 'Pour Elle' ('Ohne Schuld'; 2008), Jean-François Richets 'L’instinct de mort' ('Public Enemy No.1 – Mordinstinkt'; 2008) und 'L’ennemi public n°1' ('Public Enemy No.1 – Todestrieb'; 2008) sowie Gilles Béhats 'Diamond 13' ('Diamant 13'; 2009) und Frédéric Jardins 'Nuit Blanche' ('Sleepless Night'; 2011) sind nur einige Beispiele einer Erneuerung des europäischen Genrekinos, wie sie in Deutschland völlig undenkbar erscheint. Vielleicht ist das der Grund, warum diese großartigen Filme bei uns fast nie auf der großen Leinwand zu sehen sind. Keine einzige Regiearbeit Marchals hatte in Deutschland einen Kinostart. Wer genug von der Beschränktheit der deutschen Verleiher hat, kann sich jetzt schon einmal 'Les Lyonnais' aus Frankreich als Blu-ray (mit englischen Untertiteln) bestellen. Es lohnt sich – der Film wächst mit jeder Sichtung. Eine Alternative hierzu bietet das 'Fantasy Filmfest', das zwischen dem 21. August und dem 13. September 2012 in sieben deutschen Großstädten stattfindet, und dessen Macher sich lobenswerterweise entschlossen haben, Marchals Film zu zeigen. Im Oktober folgt die deutsche DVD- und Blu-ray-Auswertung via EuroVideo.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Splatting Image #90, Juni 2012

The United States of Hoodoo

(D 2012, Regie: Oliver Hardt)

Some Deep New Orleans Shit
von Andreas Busche

Jeder Streifzug durch die amerikanische Geschichte des Voodoo führt zwangsläufig über New Orleans: The Big Easy, Stadt der guten und bösen Geister, wo die Lebenden in den Straßen ihre Toten …

Jeder Streifzug durch die amerikanische Geschichte des Voodoo führt zwangsläufig über New Orleans: The Big Easy, Stadt der guten und bösen Geister, wo die Lebenden in den Straßen ihre Toten zelebrieren. Und natürlich führt kein Weg vorbei an „Treme“, der neuen HBO-Serie des „The Wire“-Erfinders David Simon über das Leben in New Orleans nach Katrina. „Treme“ ist auch für Musikfans eine kleine Offenbarung, weil die Serie aus dem schillernden Repertoir lokaler Straßenmusiker, Blues-Prediger und Szene-Größen schöpft, die in unbezahlbaren Cameo-Auftritten ein Stück marginalisierter Musikgeschichte verkörpern. In der zweiten Episode zieht die New Orleans-Legende Coco Robicheaux vor den Augen eines Radiomoderators (Steve Zahn) ein Huhn aus dem Sack und schneidet dem Federvieh unter rituellen Beschwörungen den Hals durch. “Some deep New Orleans shit,” wie Zahn das Opfer lapidar kommentiert.

Tremé ist schon immer die erste Adresse für “deep New Orleans shit” gewesen. Der Stadtteil westlich des French Quarter stellt mit seinem ureigenen Synkretismus aus Aberglaube, Magie und westlichen Hochreligionen, europäischer, afrikanischer und karibischer Musiktraditionen, Voodoo und Southern Gothic, Fried Chicken und Gumbo, so etwas wie einen genuin amerikanischen Schmelztigel dar. Hier erfand Jazz-Legende Jelly Roll Morton in den Puffs von Storyville sein Maschinengewehr-Pianospiel; und in einer dieser düsteren Seitenstraßen soll es sich auch, so überliefert es der Musikanthropologe Alan Lomax, zugetragen haben, dass dessen Patentante, eine Expertin in schwarzer, kreolischer Magie, die Seele Mr. Mortons dem Teufel anbot. Jazz und Voodoo, das war von Beginn an eine fruchtbare Verbindung. Nach dem Ende des Bürgerkriegs hatten sich die befreiten Sklaven die zurückgelassenen Instrumente der Dixie-Marschkapellen geschnappt und auf dem Blech mit ihren Heiligen kommuniziert. Jazz war die säkularisierte Form der spirituellen Musik ihrer afrikanischen Vorväter. Mit allem Hokuspokus, der dazu gehörte.

Natürlich landet ein afro-amerikanischer Schriftsteller auf der Suche nach den Wurzeln seiner eigenen Spiritualität früher oder später in New Orleans. Darius James hat seine Affinität zu “Hokuspokus” aller Art bereits in den frühen neunziger Jahren unter Beweis gestellt. In seinem Kultroman “Negrophobia” erlebte die neureiche, blonde, sexgeile Teenagergöre Bubbles einen fantasmagorischen Trip durch das Spiegelkabinett des amerikanischen Rassismus. Von der schwarzen Haushälterin mit einem Voodoo-Fluch belegt, fällt sie durch das halluzinogene Raum/Zeit-Kontinuum einer afro-amerikanischen Figurentypologie. Hier begegnet sie cracksüchtigen Homeboys, dem Trickster Uncle Rap Ramus, Dr. Mengele Duck, dem Elvis Zombie und anderen popkulturell kodifizierten und deformierten Cartoongestalten. Spirituell war das vielleicht noch etwas unausgegoren, auf eine hochgradig delirante Weise aber erleuchtet.

Seine ersten tiefergehenden spirituellen Erfahrungen machte James Jahre später durch den Tod seines Vaters. Im dessen Nachlass stößt er zu seiner Überraschung auf eine Sammlung afrikanischer Masken. Hatten die Kultobjekte für seinen Vater etwa eine religiöse Bedeutung? Und in welcher Weise leben Ausdrucksformen afrikanischer Spiritualität in der gegenwärtigen amerikanischen Gesellschaft fort? Diese Fragen sind der Ausgangspunkt von Oliver Hardts Dokumentation “The United States of Hoodoo”, die Darius James auf seiner Spurensuche durch die Vereinigten Staaten begleitet. In New Orleans wohnt er einer Voodoo-Zeremonie bei. Und ein befreundeter Schamane erklärt ihm, warum Symbole und mythische Figuren afrikanischer Provenienz in den Überlieferungen amerikanischer Ureinwohner zu finden sind. Die Sklaven hatten sich mit den eingeborenen Amerikanern gegen die weißen Unterdrücker verbündet. Und die Europäer fürchteten, nicht zu Unrecht, die geballte Macht des Juju und des Animismus der indigenen Medizinmänner. Ende des 18. Jahrhunderts zettelten afrikanische Sklaven auf Haiti – angeblich mit Hilfe von Voodoopriestern – einen Aufstand gegen die französischen Kolonialisten an und vertrieben sie von der Insel. Rituale, eine Erkenntnis aus der christlichen Religionssoziologie, erzeugen Macht.

Diese Angst hat der weiße Mann bis heute nicht überwunden. Als Haiti vor zwei Jahren von einem Erdbeben verwüstet wurde, wetterte der Fernsehprediger Pat Robertson, das Erdbeben wäre Gottes Strafe für das haitianische Volk, das sich zweihundert Jahre zuvor mit dem Teufel verbündet hätte. Mit seinem Kommentar empfahl Robertson sich nebenbei auch für eine Rolle in Darius James’ nächstem Roman. Robertsons Tirade vereinte alle Klischees, die im westlichen Kulturzusammenhang bis zum heutigen Tag mit dem Begriff “Voodoo” assoziiert sind. 1929 reiste der amerikanische Okkultist William Seabrook nach Haiti, um die religiösen Bräuche der Einheimischen zu erforschen. Seinen Reisebericht “The Magical Island” verfilmte Hollywood drei Jahre später als Horrorfilm: “White Zombie” von Victor Halperin.

James versteht afrikanische Spiritualität weder als primitiven Volksglauben noch als festgeschriebenen Katechismus (weswegen der Filmtitel auch eine Abgrenzung zum traditionellen Voodoo-Begriff vornimmt), sondern als Seismograf einer bewusstseinserweiterten Realitätsauffassung – und somit auch als einen bilateralen, postkolonialen Diskurs im Sinne von Paul Gilroys “Black Atlantic”. Eine Schnittstelle von körperlicher und geistiger Welt, symbolisiert im Kreuzzeichen der Heiligenfigur Legba. (Auch Robert Johnson verkaufte seine Seele bekanntlich an einer Straßenkreuzung) Eine intelligente Energie, wie die Voodoo-Priesterin Sallie Ann Glassman es im Film nennt, als Orientierungshilfe für ein holistisches, moralisch verantwortliches Handeln. Und notfalls eben auch als strategische Waffe. In Ishmael Reeds “Mumbo Jumbo” (1972) nahm diese Spiritualität eine virale Gestalt an: Jes Grew war eine “Krankheit”, hervorgegangen aus der Polyrhythmik westafrikanischer Yoruba-Musik, Jazz, afro-karibischer Magie und der politischen Dynamik der Bürgerrechtsbewegung, die sich als eine Art Besessenheitstanz rasant unter der schwarzen Bevölkerung ausbreitete.

Reed kommt in “United States of Hoodoo” gewissermaßen als Stimme der Vernunft zu Wort. Er sieht in afrikanischer Spiritualität, ausgehend von der “schwarzen Erfahrung” der Sklaverei über die geschichtsbewussten Improvisationen im Jazz bis hin zu den religiösen Ursprüngen der Bürgerrechtsbewegung, die Grundlage für eine zeitgemäße Interpretation von Religion. Erst wenn sich der Mensch von allen kirchlichen Dogmen befreit habe, sei sein Geist offen für eine höhere spirituelle Erfahrung. Oder wie Darius James es auf seine unnachahmliche Weise formuliert: Unter Einfluss einer authentischen Voodoo-Erfahrung wird das menschliche Bewusstsein außer Kraft gesetzt. Eigentlich eine verlockende Vorstelllung. Mir jedenfalls fallen auf Anhieb ein paar Personen des öffentlichen Lebens ein, die von einer Voodoo-Behandlung geistig profitieren würden.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/12

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Die Ausbildung

(D 2011, Regie: Dirk Lütter)

Naiver Täter
von Wolfgang Nierlin

„Clean-desk-Policy“ lautet einer der modernen Arbeitsplatzgrundsätze in dem hellen, auf Transparenz zielenden Großraumbüro einer Firma für Klimatechnik. Wenn die Mitarbeiter, die hier für die Werbung und Betreuung von Kunden zuständig …

„Clean-desk-Policy“ lautet einer der modernen Arbeitsplatzgrundsätze in dem hellen, auf Transparenz zielenden Großraumbüro einer Firma für Klimatechnik. Wenn die Mitarbeiter, die hier für die Werbung und Betreuung von Kunden zuständig sind, nach Arbeitsschluss ihren Laptop samt Headset und ein paar wenigen Akten in einem sogenannten „Pilotenkoffer“ verschwinden lassen und diesen dann beim Verlassen des Büros in einem Regal deponieren, ist der Raum leer und seine gedämpfte Atmosphäre verwandelt sich in eine unheimliche Stille. Nichts Persönliches bleibt zurück, als würde hier auf Abruf oder nur vorübergehend gearbeitet werden. Und diese Abwesenheit individueller Spuren korrespondiert dabei nicht nur mit der zunehmenden Abstraktion von Arbeit, die ihren Inhalt durch ein System von Funktionen ersetzt hat, sondern auch mit den Mechanismen der Kontrolle, die sich ebenso subtil wie perfide den Mitarbeitern einschreiben. Denn die hierarchischen Machtstrukturen haben sich keinesfalls in den äußerlichen Leerstellen einer nur vorgetäuschten Wirklichkeit verflüchtigt; ihre Träger und Repräsentanten geben sich nur offener, geschmeidiger, toleranter und vertraulicher.

An diesem Punkt setzt Dirk Lütters beindruckender Film „Die Ausbildung“ mit seiner radikalen Verschränkung von Form und Inhalt ein. In streng kadrierten Bildern, mit distanziertem Beobachterblick und den Wiederholungsschleifen rhythmisierter Arbeitsprozesse und ebenso durchorganisierter Freizeitgestaltung, wird die Arbeitswelt zu einem entpersönlichten, fortwährend überwachten Gefängnis. Abweichung oder Funktionsuntüchtigkeit werden gnadenlos bestraft, weshalb die Angst davor zu einem enormen Anpassungsdruck und einer gravierenden Selbstdisziplinierung führt. Das bekommt gleich zu Beginn der etwa 20-jährige Auszubildende Jan Westheim (Joseph K. Bundschuh) zu spüren, der in einem Gespräch mit seinem Vorgesetzten Tobias Hoffmann (Stefan Rudolf), einer Gewerkschaftsvertreterin (Anja Beatrice Kaul), die zugleich seine Mutter ist, und der Abteilungsleiterin Susanne (Dagmar Sachse) sein Leistungsprofil und eine etwaige Übernahme in die Firma bespricht. Aber eigentlich ähnelt die Situation eher einem Verhör, das den Kandidaten suggestiv zwingt, sich selbst zu evaluieren und eine Fehleranalyse zu betreiben.

Die Pflicht zur eigenverantwortlichen Selbstoptimierung steht hinter dem scheinbar neutralen, Machtlosigkeit vortäuschenden Statement des Chefs: „Die Zahlen entscheiden.“ Um seiner offenen Forderung nach einer Leistungssteigerung Nachdruck zu verleihen, fördert Tobias versteckt Konkurrenzdenken und Mobbing, wobei ihm befristete Arbeitsverträge und Kündigungsdrohungen zusätzlich als strukturelle Druckmittel dienen. Mit der nicht zuletzt aufgrund privater Probleme überforderten Susanne hat er auch schon eine Schwachstelle im System ausfindig gemacht. Indem er Jan auf sie „ansetzt“, entsteht ein unterschwelliges Abhängigkeitsverhältnis. Dieses wird noch verstärkt, als sich Jan in die gleichaltrige Zeitarbeiterin Jenny Bolewski (Anke Retzlaff) verliebt und sich bei Tobias auch für ihre berufliche Zukunft engagiert. So wird Jan, dessen Charakter in diesem schwierigen und zugleich widersprüchlichen Spannungsverhältnis als schwankend, ungefestigt und passiv beschrieben wird, zu einer Art naivem Täter. Wenn er nach Feierabend im eigenen Auto den Geschwindigkeitsrausch sucht, in Einkaufszentren unterwegs ist oder viel Wert auf Kleidung und Körperpflege legt, erscheint er als typischer Vertreter einer Konsumentengeneration. Und doch gibt es bei ihm immer wieder auch kurze Momente eines nachdenklichen Zögerns, eines mitfühlenden Innehaltens und einer fast unmerklichen Sabotage, die als Zeichen eines erwachenden Bewusstseins den beängstigenden Konformismus der gar nicht schönen neuen Arbeitswelt zumindest in Frage stellen.

Woody Allen: A Documentary

(USA 2012, Regie: Robert B. Weide)

In Anbetracht der Endlichkeit
von Wolfgang Nierlin

Die Kindheitsidylle im damals noch beschaulichen und sicheren New Yorker Stadtteil Brooklyn endete für den kleinen, 1935 geborenen Allen Stewart Konigsberg in dem Moment, als er sich seiner eigenen Sterblichkeit …

Die Kindheitsidylle im damals noch beschaulichen und sicheren New Yorker Stadtteil Brooklyn endete für den kleinen, 1935 geborenen Allen Stewart Konigsberg in dem Moment, als er sich seiner eigenen Sterblichkeit bewusst wurde. In seiner Vorstellung war das unbeschwerte Glück und die Geborgenheit innerhalb einer großen, lebendigen Familie plötzlich nicht mehr von Dauer. Dazu begleitete den Heranwachsenden, der als schlechter, von den Lehrern gehänselter Schüler in der Schule wenig Freude hatte, zunehmend das Gefühl, nicht richtig in seine Familie zu passen; was von verschiedenen Familienmitgliedern mehr oder weniger bestätigt wird. Auch wenn Robert B. Weide in seinem ausführlichen Film „Woody Allen: A Documentary“ diesen Außenseiterstatus des werdenden Komikers kaum strapaziert, so ist er in der Lebens- und Werkbeschreibung doch stets präsent.

Schon der 16-jährige Gag-Schreiber und Stand-up-Comedian, der sich einen Künstlernamen zulegt und eine viereckige schwarze Brille zu seinem Markenzeichen macht, scheint dies zu bestätigen. Auf der Bühne des „Bitter End“ in Greenwich Village erarbeitet sich das Naturtalent Woody Allen mit Staunen erregendem Improvisationstalent, überbordendem Einfallsreichtum und viel Fleiß eine treue Fangemeinde. Doch obwohl der Komiker als „neue Stimme“ wahrgenommen und gefeiert wird, fühlt er sich als Performer unwohl. Noch im Rückblick auf sein umfangreiches, über vierzig Filme zählendes Œuvre merkt der Verfechter der „Quantitätstheorie“ selbstkritisch an, dass kaum ein guter darunter sei. Diese Skepsis in Bezug auf das eigene künstlerische Schaffen, seine etwas schrullige, altmodische, dabei jedoch ökonomisch höchst effiziente Arbeitsweise (seit seinen Anfängen hat Allen eine unverwüstliche Olympia-Schreibmaschine in Gebrauch) sowie seine kontinuierliche Arbeitswut (auch über schwierige Lebensphasen hinweg) belegen und verfestigen mit den Jahren Woody Allens Außenseiter-Status.

Die enorme Produktivität des New Yorker Filmkomikers erscheint dabei als Abwehr und zugleich als permanente Auseinandersetzung mit der eingangs zitierten Frage nach dem Sinn des Lebens in Anbetracht seiner Endlichkeit. Geradezu leitmotivisch ziehen sich deshalb die als absurd empfundenen Daseins- und Liebesverhältnisse durch seine Filme, weshalb er von einem der vielen interviewten Weggefährten und Zeitzeugen auch einmal als „Camus unter den Komikern“ bezeichnet wird. Im Verlauf seiner Karriere verbindet Allen dabei immer stärker sein komisches Talent mit seinem Hang zu ernsten Stoffen und zum Geschichtenerzählen, was sich in seinem höchst erfolgreichen Film „Annie Hall“ aus dem Jahre 1977 widerspiegelt, den der bescheidene Regisseur im Vergleich zu seinem umstrittenen „Stardust Memories“ (1980) allerdings als künstlerisch weniger gelungen einstuft.

Das Tragische habe, so Woody Allen, einen direkteren Bezug zur Realität als die distanzierende Komik. Unterstützt wird seine filmkünstlerische Entwicklung in dieser Hinsicht vom Bildgestalter Gordon Willis, dem „Fürst der Dunkelheit“, sowie seinen bevorzugten Schauspielerinnen Diane Keaton und Mia Farrow, die sein zunehmendes Interesse für eine weibliche Perspektive befördern. Außer einem knappen Hinweis auf den Einfluss von Bergman und Fellini erfährt man in Weides konventionell gestalteter Dokumentation, die sich mehr mit dem Menschen und Künstler als mit der Exegese seines Werks beschäftigt, jedoch leider nichts über Allens Cinephilie. Dass dieser die Praxis des Filmemachens im Vergleich mit der puren Freude des Schreibens als „Katastrophe“ empfindet, eröffnet wohl nicht absichtslos den Reigen seiner Statements. Seine Filme sind insofern gegen den stets künstlerisch wie auch existentiell drohenden Kontrollverlust gemacht, halten sich aber überraschenderweise nicht dabei auf, perfekt sein zu wollen. Sein Leben sei ein glückliches, trotzdem habe er das Gefühl, es immer wieder zu „vermasseln“, so Woody Allen.

Allein die Wüste

(D 2011, Regie: Dietrich Schubert)

Zwangserwärmung
von Andreas Thomas

Regen, Kälte und kein Ende. So schmeckt der Sommer. Filmemacher Dietrich Schubert tut genau das Richtige: Er packt sein Zelt und fährt dahin, wo die Hochs sich die Klinke in …

Regen, Kälte und kein Ende. So schmeckt der Sommer. Filmemacher Dietrich Schubert tut genau das Richtige: Er packt sein Zelt und fährt dahin, wo die Hochs sich die Klinke in die Hand geben. In die marokkanische Wüste, die Ende September mit Temperaturen von teilweise über 40 Grad ziemlich überdeutlich an Sommer erinnern, „wie er früher einmal war“ (Rudi Carrell).

Zugegeben, bei Schuberts Selbstversuch handelt es sich eher um eine selbstverordnete Zwangsisolation als um eine Rückerwärmung, die selbstgestellte Frage lautet: Wie lange kann ich die Wüste, wie lange kann ich mich ertragen?

Mit Mineralwasser, Brauchwasser und Verpflegung für etwa zwei Monate ausgestattet, kampiert Schubert neben einer Akazie, lässt sich die Sonne auf den Pelz scheinen und den Sandsturm um die Nase wehen. Er füttert täglich eine benachbarte Maus, damit sie ihn nicht mehr nachts durch ihr Knabbern wecken soll, nennt sie fantasiebegabt „Herr Maus“, und einen geselligen kleinen schwarzweißen Vogel, arabischer Name „Mula Mula“, nennt er „Frau Mula Mula“.

Entstanden aus der Idee, primär einen Selbsttest zu machen, sekundär darüber eventuell diesen Film zu drehen und tertiär diesen Film eventuell zu vermarkten, wirkt das Werk etwas unentschlossen und streckenweise ähnlich lethargisch wie sein Protagonist, Regisseur, Ton- und Kameramann in Personalunion, der ganz erstaunt berichtet, dass er es fertigbringt, stundenlang einfach da zu sitzen und in die erstaunlich vielseitige und vielfarbige Wüste vor dem Panorama hoher Berge zu schauen, ohne sich zu langweilen und ohne auch nur einmal ein Buch oder den Weltempfänger zu gebrauchen: Eine für den Siebzigjährigen sicherlich kathartische Erfahrung („Die Wüste ist eine Dusche für die Seele“), für den Zuschauer aber nur schwer optisch vermittelbar, besonders wenn der Selbstfindungsreisende ein doch weniger eloquenter und exhibitionistischer Mensch ist, als es dem Film gut täte.

Es wäre z.B. aufschlussreicher gewesen, hätte Schubert einmal die Kamera auf seine alltäglichen Verrichtungen gerichtet: Aufstehen, Waschen, Frühstücken, nur verbal erfahren wir von ihm, dass er stets versucht, die Stille in der Wüste nicht zu stören, indem er beim Abwaschen jedes laute Klappern vermeidet. Fast nichts erfahren wir über seine mitgebrachten Nahrungsvorräte, nur indirekt und zufällig, wenn Schubert „Herrn Maus“ mit Rosinen aus seinem Müsli füttert.

Dass die Wüste viel mit Selbsterfahrung zu tun hat, zeigen, wenn schon nicht dem Träumer selbst, dann wenigstens dem psychologisch interessierten Zuschauer, Schuberts Gewaltträume, die ihn überfordern, die zu Fluchtträumen werden; für jemanden, der als Kind selbst Flüchtling war, ist von Flucht zu träumen, nichts unbedingt Abwegiges. Und auch ein Traum von einem großen schwarzen Hund, der bald für immer eingesperrt wird, geträumt am Ende seines Aufenthaltes, spricht eine deutliche Sprache. Schubert brauchte offenbar erst einen Psychologen, der ihm erklären musste, dass er hier von sich selbst träumte.

„Allein die Wüste“ wäre vielleicht besser ein privates Erlebnis/Unternehmen geblieben. Für ein Interesse von größerer Tragweite fehlt es entweder an einer, sagen wir es ruhig, interessanteren Hauptfigur oder aber an einem Regisseur, der das kathartische Element, die Wüste, bewusst in den Mittelpunkt des Vermittlungsinteresses zu stellen versucht. Das aber hätte bedeutet, eine Intensität der Stille, der Sandstürme, der Weite zu zeigen, die nicht immer wieder durch Kommentare gestört würde, die man auf jedem Campingplatz vernehmen kann: „Wenn der Wind so bleibt, werde ich morgen wieder abreisen!“

Alpen

(GR 2011, Regie: Giorgos Lanthimos)

Eindringen in den Familienleib
von Wolfgang Nierlin

„Du bist noch nicht bereit für Pop“, verfügt der strenge Tanzlehrer im Kommandoton gegenüber seiner gehorsamen Schülerin. Die grazile Sport-Gymnastin (Ariane Labed) versucht sich in der Eröffnungsszene des Films an …

„Du bist noch nicht bereit für Pop“, verfügt der strenge Tanzlehrer im Kommandoton gegenüber seiner gehorsamen Schülerin. Die grazile Sport-Gymnastin (Ariane Labed) versucht sich in der Eröffnungsszene des Films an einer Choreographie zu Carl Orffs „Carmina Burana“, möchte aber viel lieber zu Popmusik tanzen. Ihr unzufriedener Trainer (Johnny Vekris) bleibt aber gnadenlos unnachgiebig, droht der eingeschüchterten Tänzerin sogar mit brutaler Gewalt. Wie schon in „Dogtooth“ analysiert der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos auch in seinem neuen Film „Alpen“ (Alpeis) hierarchische Machtverhältnisse und gewalttätige Abhängigkeitsbeziehungen. In absurd erscheinenden Arrangements und grotesken Handlungen skizziert er dabei eine parabolische Ordnung, deren bedrohliche innere Spannung zur Implosion neigt und sich mit einer Art gefährlichem Humor immer wieder in unvermittelten Schocks entlädt. Dabei ist „Alpen“ völlig undramatisch, geradezu indirekt erzählt, was sich vor allem in Schärfenverlagerungen, angeschnittenen Bildern und vielen Rückenansichten ausdrückt.

Auch in seinem Handlungskern, einer verrückten Versuchsanordnung aus absurdem Theater und Sciencefiction, dekliniert Lanthimos mit Ironie und doppeldeutigen Dialogen die destruktiven Spielregeln der Macht. So straft Mont Blanc (Aris Servetalis), Anführer einer Gruppe, die sich Alpen nennt, Ungehorsam und abweichendes Verhalten mit sadistischer Gewalt und Ausschluss. In den penibel recherchierten und geplanten Einsätzen betreut der Geheimbund die Angehörigen von Verstorbenen, indem seine Mitglieder deren frühere Rollen als Ehefrau, Tochter oder Freundin einnehmen und nachspielen, um den Verlust des geliebten Menschen zu mildern. In der theatralischen Wiederholung von Gesten, Sätzen und Handlungen wird dabei die Erinnerung beschworen und die verlorene Vergangenheit konserviert. Die Inszenierung eines falschen Lebens im richtigen funktioniert insofern fast wie ein Hollywoodfilm; nicht umsonst bilden die Namen populärer Filmstars, als wären sie Platzhalter von Träumen, den Subtext des Films.

So ist es die Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit, die das in mehrfacher Hinsicht abweichende Verhalten der Krankenschwester mit dem Decknamen Monte Rosa (Aggeliki Papoulia) motivieren. Diese spielt zum Einen die immer deutlicher sexuell konnotierten Rollen einer Ladenbesitzer-Gattin sowie einer Frau, die mit einer Blinden befreundet ist; zum anderen aber übernimmt sie auf eigene Rechnung die Rolle eines 16-jährigen Mädchens, das bei einem Unfall tödlich verunglückt ist und vermischt dabei die Ebene des Rollenspiels mit ihrem Privatleben. Monte Rosa lebt noch mit ihrem Vater zusammen, was Yorgos Lanthimos nutzt, um mit unterkühltem Blick von einem ungestillten Liebesverlangen in einer Vater-Tochter-Beziehung zu erzählen. Dafür pervertiert er nicht nur die Struktur des Inzests, sondern er inszeniert darüber hinaus das hilflose Begehren der traurigen Heldin als aggressives Eindringen in den Familienleib. Der Tyrann straft das mit sadistischer Gewalt. Ob sich darin auch gesellschaftliche Machtverhältnisse spiegeln, lässt der Film offen. In der Rahmenhandlung – gerade hat die Gymnastin zum Instrumental der bekannten Melodie „Popcorn“ getanzt – lässt Lanthimos die Schülerin zu ihrem väterlichen Lehrer über dessen fragwürdigen Erziehungserfolg jedenfalls sagen: „Du bist der beste Trainer der Welt.“

Tomboy

(F 2011, Regie: Céline Sciamma)

Rollentausch
von Wolfgang Nierlin

„Es ist der Blick der anderen, der darüber entscheidet, wer man ist“, sagt die französische Regisseurin Céline Sciamma. In ihrem neuen Film „Tomboy“ hält sie den Zuschauer relativ lange im …

„Es ist der Blick der anderen, der darüber entscheidet, wer man ist“, sagt die französische Regisseurin Céline Sciamma. In ihrem neuen Film „Tomboy“ hält sie den Zuschauer relativ lange im Ungewissen darüber, ob es sich bei der etwa 10-jährigen Hauptfigur um ein Mädchen oder einen Jungen handelt. Dieses gekonnte Spiel mit den schwebenden Einstellungen des Blicks, der nach identifizierbaren Merkmalen sucht, reflektiert das Verhältnis der Geschlechter; und er weist diesen zugleich Rollen zu. Wie der Filmtitel bereits andeutet, ist Laure (Zoé Héran) ein Mädchen, das sich nicht nur wie ein Junge kleidet, fühlt und benimmt, sondern mit seinem burschikosen Kurzhaarschnitt auch wie ein solcher aussieht. Dazu kommt noch, dass sie gerne Fußball spielt und auch vor Raufereien nicht zurückschreckt. Ihre maskulinen Bewegungen und Gesten sind Ausdruck eines androgynen Körpergefühls und sprechen zugleich von der Suche nach der eigenen Identität.

Der kontrollierende Blick in den Spiegel und die förmliche Einstudierung von Rollen zeigen aber immer auch den spielerischen Charakter dieser Unsicherheit. Dabei ist Laure emotional noch ganz Kind, das am Daumen nuckelt und sich nach väterlicher Geborgenheit sehnt. Wenn ihr Vater (Matthieu Demy) sie eingangs das Steuer seines Wagens lenken lässt, ihr später anbietet, an seinem Bier zu nippen und dann ankündigt, ihr das Pokerspiel beibringen zu wollen, thematisiert der Film auch die unterbewusste elterliche Projektion von Geschlechterrollen. Für ihre jüngere Schwester Jeanne (Malonn Lévana) wiederum ist Laure eine Mischung aus bester Freundin und beschützendem großen Bruder. Die Gefühlslage von Sciammas Heldin, von Zoé Héran ganz selbstverständlich und mit großer Natürlichkeit dargestellt, ist also äußerst komplex und widersprüchlich.

Als Laure mit ihrer Familie an einen neuen Wohnort umzieht, wo es für sie gilt, neue Freunde zu gewinnen, wird aus dem Spiel bald Täuschung und aus der Täuschung Lüge, die sich immer mehr zum Dilemma verdichtet. „Du bist nicht wie die anderen“, sagt die gleichaltrige Lisa (Jeanne Disson), als sich Laure ihr gegenüber als Mickäel vorstellt. Während zwischen den beiden Liebesgefühle aufkeimen und sich Laure in ihrer Jungs-Rolle immer besser in Lisas Clique integriert, gestaltet sich ihr Wechsel zwischen den Geschlechter-Welten immer schwieriger und komplizierter. Céline Sciamma inszeniert diese Kontraste als Spiel zwischen Wahrheit und Lüge. Die unverbrauchten Bilder ihres unaufdringlichen, geradezu luftigen Realismus spüren in alltäglichen Gesten Gefühlsnuancen auf. Angesiedelt in den Sommerferien an einem Ort inmitten der Natur und des Lichts, sind in „Tomboy“ die Aufbrüche entsprechend hoffnungsvoll und die Ausschlussverfahren umso schmerzhafter. Trotzdem findet sich zwischen Geheimnis, Scham und unvermeidlicher Wahrheit schließlich doch noch ein (zumindest vorläufig) gangbarer Weg für die Heldin.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Water Lilies

(F 2007, Regie: Céline Sciamma)

Enthaarungsinspektion
von Wolfgang Nierlin

Céline Sciammas Debütfilm „Water Lilies“ zeigt die Grausamkeit der Adoleszenz Die Übereinstimmung und das Gleichmaß bestimmen die Choreografie der Mädchenkörper, ihre Bewegungsabläufe und Formationen beim Synchronschwimmen. Während unter der Wasseroberfläche …

Céline Sciammas Debütfilm „Water Lilies“ zeigt die Grausamkeit der Adoleszenz

Die Übereinstimmung und das Gleichmaß bestimmen die Choreografie der Mädchenkörper, ihre Bewegungsabläufe und Formationen beim Synchronschwimmen. Während unter der Wasseroberfläche die Beine zappeln, rudern und lenken, setzen die geschminkten Gesichter über Wasser im gleichgeschalteten Rhythmus graziler Bewegungen ein künstliches Lächeln auf. Fragmentiert erscheinen die gedrillten Körper dieser „Mädchenarmee“ (Sciamma) in den Bildern uniformer Abläufe und ästhetisierter Schwimmfiguren. Das Verborgene und das Sichtbare, Schein und Sein sind hier in einem fortlaufenden Wechselspiel aufeinander bezogen, tauschen unablässig die Rollen. In einem Spannungsverhältnis stehen aber auch individuelle Anmut und Anpassungsdruck in bezug auf die Gruppe. Vom Muskeltraining bis zur Enthaarungsinspektion unterliegen die ausgestellten Körper einer strengen Kontrolle und Disziplin. Der sterile, kalte Raum der Schwimmhalle scheint diese militärisch anmutende Zurichtung noch zu unterstützen. Und doch ist dies zugleich der Ort, an dem die Konzentration auf den Körper verborgene Blicke und sexuelle Phantasien weckt.

„Für mich ist es ein schwüler Ort, wo Begierden geboren und Dinge offenbart werden“, sagt die 28-jährige französische Regisseurin Céline Sciamma, die ihren beeindruckenden Debütfilm „Water Lilies (Naissance des pieuvres) zu großen Teilen im Schwimmbad eines namenlosen Vororts spielen lässt. Überhaupt beschreibt ihr Pubertätsdrama eine hermetische, zeitlose Welt aus Leere und Langeweile, in der fast keine Erwachsenen oder Eltern vorkommen und in der alles auf die „Grausamkeit dieses Lebensabschnitts“ konzentriert ist. Der wirkliche Feind in der Adoleszenz, so Sciamma, ist man selbst. Alle Formen von Begierde seien unvermeidlich und nicht zu mildern. Und so ist jede ihrer Heldinnen in einem imaginären Netz aus unausgesprochenen Gefühlen und sexuellen Begierden, aus Hoffnungen und Enttäuschungen gefangen. In dieser Phase des Übergangs und der ersten Schritte auf fremdem Terrain ist alles Fühlen und Handeln von einer allgegenwärtigen Unsicherheit dominiert. Als Ausdruck der sich entwickelnden Individualität wird dieses Schwanken zwischen Offenheit und Schweigen in einem ambivalenten Körperbewusstsein reflektiert: dem selbstkontrollierenden Blick in den Spiegel, der Scham vor Nacktheit und der Sorge um den „falschen“ Körper(geruch). Céline Sciammas Blick auf die „Geburt der Weiblichkeit“ entfaltet ein psychologisch fein nuanciertes Geflecht aus verspielter kindlicher Unschuld und erwachsenen Sehnsüchten.

Die 15-jährige Marie (Pauline Acquart), ihr begehrender Blick und ihre vielstimmige Schüchternheit, bilden das Zentrum dieser an sich selbst leidenden, sich selbst verzehrenden Identität. Ihre Bewunderung und ihr Sehnen gilt der reifer wirkenden, schönen Floriane (Adèle Haenel), dem neidisch beäugten Star einer Gruppe von Synchronschwimmerinnen. Zugleich ist die Außenseiterin Marie mit der leicht übergewichtigen Anne (Louise Blachère) befreundet: eine kindlich-verschworene Freundschaft, die sakrosankte Züge trägt und die zunehmend überschattet wird von der Rivalität zwischen Floriane und Anne, die um den gleichen Jungen buhlen. Die sich entwickelnde Distanz hat aber noch einen anderen Grund: Weil Marie in Floriane verliebt ist, sie anhimmelt und ihr nahe sein will, lässt sie sich von ihr ausnutzen. Sie deckt die vermeintlich amourösen Abenteuer Florianes, die bei den anderen Mädchen im Ruf steht, eine sexuell erfahrene „Schlampe“ zu sein. Darüber entwickelt sich eine intime Nähe zwischen den beiden, eine ebenso komplizenhafte wie komplizierte Vertrautheit, die allmählich offenbart, dass Florianes Abgeklärtheit mehr Wunsch und Selbstschutz ist als Wirklichkeit und dass Maries Liebe unerfüllt bleiben muss.

Céline Sciamma zeigt in ihrem verhalten inszenierten, von subtilen Zwischentönen durchwirkten Film das geheime Ausloten der Gefühle, ihre Widersprüchlichkeit und ihr missverständliches Scheitern als qualvolle Dunkelheit, in der lichte Momente wie Hoffnungsblitze aufschimmern und wieder verglimmen. Fast ohne Handlungsdramatik übersetzt sie die Dialektik zwischen verborgenen Sehnsüchten und äußerem Schein in eine von verstörenden Selbstzweifeln geprägte Ungewissheit. Mehr mit Blicken, Gesten und Bewegungen als mit Worten werden Nähe und Distanz zwischen den Figuren ständig neu austariert. Sie habe „an den Gefühlen arbeiten“ wollen, „anstatt nur Gemütsverfassungen abzubilden“, sagt Sciamma. Dabei tritt die innere Gespaltenheit als Merkmal der Pubertät, die manchmal wie ein unter hormonellem Überdruck stehendes Entwicklungsstadium anmutet, deutlich hervor. Und doch bleiben gerade die Gefühle im Geheimen, Verborgenen. Immer wieder schleichen und stehlen sich die jugendlichen Heldinnen durch Hintertüren, Zaunlücken und über Gartenmauern davon in eine Angst, die aus der Sehnsucht kommt. Dabei finden sie eine Erlösung, die scheinbar dem Tod ähnelt, glücklicherweise aber doch weiterträgt.

Religulous – Man wird doch wohl fragen dürfen

(USA 2008, Regie: Larry Charles)

Schenkelklopfer
von Dietrich Kuhlbrodt

Wer sich über die Dummheit unserer Glaubensfanatiker amüsieren möchte, kommt garantiert auf seine Kosten. Und das Beste ist, dass sich die Fundis von George W. Bush bis Osama bin Laden …

Wer sich über die Dummheit unserer Glaubensfanatiker amüsieren möchte, kommt garantiert auf seine Kosten. Und das Beste ist, dass sich die Fundis von George W. Bush bis Osama bin Laden vor der Kamera lächerlich machen. Der Film formatiert sie zu ulkigen Gästen in TV-Shows, Einspielung oder Auftritt, Abtritt, der nächste bitte. Und in der Tat ist Moderator Bill Maher beliebter Showmaster mit 21 Emmy-Nominierungen. Kompagnon Larry Charles hatte inzwischen den legendären „Borat“-Film gemacht.

Jetzt also der Dokumentarfilm über den organisierten Hyperfiktionalismus. Gott und Allah lassen sich nicht überbieten, und wir wissen es, sobald wir im System drin sind. Maher und Charles wissen es auch, reisen wie Borat herum, lassen sich vorgeblich affirmativ aufs Gegenüber ein und verleiten zu törichten Statements. Wer das goutiert, sitzt virtuell im Showpublikum und haut sich auf den Schenkel. Nur zu! Der Papst inszeniert sich mit a little help vom Filmschnitt als Rockstar. Ha! In der Muslim Gay Bar in Amsterdam: „Ich hasse keine Schwule. Gott hasst sie.“ Ha! Vor den Kameras küsst der verrückte Rabbi den Holocaustleugner Ahmanishabad. Ha!

TV-mäßig werden die vielen Selbstdarstellungen moderiert. Jetzt wird es im Off Ernst. „Religion ist Opium fürs Volk“, hätten schon die Gründerväter der USA gewusst (offenbar alles Marxisten). Das Weltende naht? – Es ist schon da! Gletscher tauen. Twin Towers stürzen. Alles Gegenwart. Wieder erhebt Moderator Maher mahnend den Finger. „Don’t lecture!“ sagt er noch, ganz Profi, der Lacher gewiss. Dann aber kommt das Manifest gegen organisierte Religiosität (sowie gegen den Klimawandel, wäre zu ergänzen): „Go up or die!“ Kämpfen oder sterben! Ende des Wortschwalls.

Aktiver Eulenspiegel und Identifikationsfigur Borat hatte sich mit dem Vorgängerfilm ins kollektive Filmgedächtnis eingegraben. In „Religulous“ werden wir dagegen als Opfer des Religionsfundamentalismus angesprochen. Der Glaube des Bibelgürtels soll wanken. Drum, lieber Konkretleser, wenn Sie Mormone sind und sich darauf freuen, nach mustergültigem Familienleben von Gott einen Planeten zugewiesen zu bekommen, auf dass Sie, auch liebe Leserin, dort gottgleich herrschen, – wenn das so ist, sind Sie nach dem Filmbesuch nicht mehr sicher, dass es sicher ist. Stimmts?

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 04/2009

Time of the Gypsies

(YU / I / GB 1989, Regie: Emir Kusturica)

Die Seele eines Truthahns, bspw.
von Dietrich Kuhlbrodt

Je überschießender, desto wahrer: 'Time of the Gypsies', der neue Film des jugoslawischen Regisseurs Emir Kusturica, zeichnet trotz allen Kunstaufwands ein gänzlich ungekünsteltes Bild vom Leben und von den Träumen …

Je überschießender, desto wahrer: 'Time of the Gypsies', der neue Film des jugoslawischen Regisseurs Emir Kusturica, zeichnet trotz allen Kunstaufwands ein gänzlich ungekünsteltes Bild vom Leben und von den Träumen der slowenisch-kroatischen Roma

'Gott kam auf Erden, sah die Zigeuner – und nahm den ersten Flug zurück': Baba, die 1-Zentner-Oma (unvergesslich: Llubica Adzovic), läuft in diesem bemerkenswerten jugoslawischen Film zu mythologischer Höchstform auf, wenn die Not am größten ist, beispielsweise das Haus von einem Kran auf den Haken genommen wurde, Blitze zucken und Regen auf das freigelegte Interieur prasselt. Mangels Anwesenheit höherer Mächte fordern Katastrophen – und die gehören zum Alltag der slowenisch-kroatischen Roma – lediglich dazu auf, sich der eigenen Macht zu versichern. Also hört man Baba zu, macht sich den eigenen Glauben und hebt die Grenzen zwischen Traum ('Fata Morgana') und Wirklichkeit auf.

Wenn etwas Übernatürliches hoch am Himmel flattert, dann ist das natürlich nur der Truthahn des jungen Perhan, sein Spielgefährte, wir haben ihn längst kennengelernt. Beide hockten einander gegenüber, fixierten sich, und wenn der eine die Ellbogen hob, spreizte der andere die Flügel. Es war eine sehr intensive Beziehung gewesen, die leider damit endete, dass einer der beiden (der Truthahn) im Kochtopf schmorte. Wieder eine Katastrophe, diesmal von kannibalischem Format. Denn hatte nicht in diesem Geflügel ein Roma-Vorderer fortgelebt? Die Realität mußte darüber so außer Fassung geraten, dass sich mit Recht die Frage stellte, ob nicht wir eine Fata Morgana sind und die Wirklichkeit gottweißwo ist. Perhan, der Zigeunerjunge, kennt sich jedoch in dem unübersichtlichen Grenzgebiet zwischen Wirklichkeit und Traum aus, er bezieht daraus seine emotionale Stärke, während sein Vetter, auf Besuch aus Deutschland ('Deutschland ist meine Heimat'), sich mit einem Gastarbeitertraum zufriedengeben muss und nur noch imstande ist, im Schlaf Zahlen auf deutsch zu memorieren: 4 – 3 – 2 – 1, aber das zwölfmal hintereinander.

Höchste Zeit, die Filmfabel zu erzählen. Aber wer rekurriert schon aufs Libretto, wenn von einer Oper zu berichten ist? Denn den ebenso überwältigenden wie hoffnungsvollen Eindruck des Gesamtkunstwerks 'Time of the Gypsies' machen Kunst und Metaphorik seiner Bild- und Ton-(Musik-)Sprache. Sie übertragen einen Energiestrom und lösen die Fesseln des alltäglichen Einerleis … Der Kopf wird wieder frei zu neuen Taten …

Und die Euphorie macht eine Bauchlandung. – Wie wär’s mit folgender Vita: Emir Kusturica, 1955 in Sarajewo geboren, war der jugoslawischen Öffentlichkeit zunächst nicht als Filmregisseur, sondern als Fußballprofi bekannt (übers Kicken in Ljubljana und Umgebung fand er auch Zugang zur einheimischen Roma-Welt der 'Time of the Gypsies'). Als 21jähriger dreht er seinen ersten TV-Film über den spanischen Bürgerkrieg ('Guernica'). 1985 gewann er in Cannes die Goldene Palme für seinen Film 'Papa ist auf Dienstreise' (dessen Hauptdarsteller Davor Dujmovic spielt in 'Time of the Gypsies' die Rolle des Truthahnfreundes Perhan). Hollywood winkte: Nominierung für den Golden Globe und für den Oscar. Doch Kusturica winkte ab: Er wurde Bass-Gitarrist der Punk-Gruppe 'No Smoking'. Kusturica: 'Ich will nicht nach einem industriellen Prinzip arbeiten. Mir bereitet etwas Schwierigkeiten, was anderen offensichtlich nicht so schwer fällt: einen Grund zu haben, einen Film zu drehen, und das kann ich nur, wenn es für mich ein dringendes Bedürfnis gibt. Bei ‘Time of the Gypsies’ war das der Fall.' – 1989 wurde diese Einstellung in Cannes mit dem Preis für die beste Regie ('Time of the Gypsies') belohnt. Aber heute ist er doch in den USA. An der New Yorker Columbia Universität hat er einen Lehrauftrag für Filmregie angenommen, und mit Jerry Lewis, Faye Dunaway, Johnny Depp und Tom Waits dreht er gerade den Film 'Arroteeth Halibut'. – Wir sind damit nicht weg von der Zeit der Zigeuner, sondern mittendrin, denn:

Perhan, der Zigeunerjunge, hat sich längst an Orson Welles ein Beispiel genommen. Vor einem Kinoplakat imitiert er die Haltung des genialen Zigarrenrauchers und pafft bald nicht minder eindrucksvoll. Er braucht Geld, um die Mitgift für die schöne Azra (Sinolicka Trpkova) aufzubringen. Hierfür ist das kapitalistische Ausland zuständig. Der unglücklich Verliebte verlässt die armselige, aber intakte Heimat und schließt sich einer in Mailand operierenden Kinderbande an, die von Ahmed Dzid (Bora Todorovic) – Goldkette, weißes Jackett, Hut – geführt wird. Wohnungseinbrüche, professionelle Bettelei, Babyhandel, Prostitution, Gewalt: Sind das die Roma im Ausland? Die Zigeuner-Gang beutet aus, wie sie ausgebeutet wird. Aber Perhan hat die Kraft behalten, sich die Wirklichkeit zurechtzurücken. Oder, wie man es altmodisch ausdrücken könnte, Wunder zu tun. In Rom spendet der Papst Segen – urbi et orbi. Doch was der kann, kann Perhan längst. Sozusagen truthahnmäßig herbeifixiert, trifft er neben dem Brunnen, in welchem gerade die Touristenmünzen zusammengefegt werden, seine 13jährige Schwester (die ebenso alte Elvira Sali macht aus den wenigen Szenen eine Hauptrolle), die er belogen und verraten hatte. Zeit zur Umkehr. Perhan, vier Jahre älter und inzwischen selbst Gangsterboss, bricht seine einträgliche, aber verräterische Karriere ab. Die Zeit der Anpassung ist vorbei, denn 'seit ich mich selbst zu belügen begann, glaubte ich keinem Menschen mehr'. Jetzt glaubt er wieder an Gabel und Messer, die er durch schiere Willenskraft auf Reisen schicken konnte. Damals fand Oma Baba diese Kunst zwar schön, aber unnütz. Jetzt trifft das telekinetische Besteck die Halsschlagader eines Oberschurken.

Ja, was in diesem wundersam durchkomponierten Erziehungsroman zu Tränen rührt und zum Lachen reizt, ist der Glaube an die Unfehlbarkeit der auf die Reise geschickten Gabel. Selbst im Tod kann der Zigeunermensch noch erhöht werden, nämlich ca. drei Fuß über dem Erdboden schweben, – wenn es denn einer will. Selbst der Truthahn schafft diese Höhe, und das Geflügel, das aller Orten durch den Film huscht, macht vor, wie man abhebt. In 'Time of the Gypsies', in dem Opfer nicht erniedrigt, sondern erhöht werden, herrscht infolgedessen eine biologisch begründete Euphorie. Diese wird freilich nicht von den französischen Roma- und Sinti-Verbänden geteilt, die dem Film mangelnde Repräsentanz vorwarfen. Ein Zigeuner, der dort in die Gesellschaft integriert ist, das mag sein, 'ist so nicht'. Aber wie geht man mit Kräften und Emotionen um, die nicht integrierbar sind und deren man nicht verlustig gehen möchte? Kusturicas dokumentarisch gesättigtes Epos führt uns auf verlockende Weise vor, wie Nicht-Integrierbares – sagen wir: eine Utopie – nicht nur gewünscht, sondern gelebt werden kann. Freilich benötigen wir hierfür über eine schlüssige Beweisführung und wissenschaftliche Argumentation hinaus etwas mehr, nämlich ein Bild oder ein Lied, in dem wir expressiv werden können. Die magischen Realismen des Films 'Time of the Gypsies' sind da ein Angebot. Perhan und seine Sippe sind auf Du und Du mit etwas, was uns unbekannt ist – mit der Seele eines Truthahns zum Beispiel. Das scheint mir viel einladender zu sein, als die Forscherdistanz einzuhalten – etwa gegenüber Schamanen in einem fremden Land.

Wenn Perhan, statt die Lage zu analysieren und den Handlungsbedarf zu eruieren, in der Stunde höchster Not zum Akkordeon greift, dann entgeht er der Verzweiflung im Lied. Der Film ist in diesen Szenen Musik, so wie er in jenen poetischen Bildern seinen stärksten Ausdruck findet, die vorsätzlich die Grenzen des Dokumentarspiels verlassen. Dann öffnet sich der Horizont vor dem Schlamm und Schnee der armseligen Häuser, und auf dem Fluss treibt eine magische Prozession züngelnder Flammen, während die Gläubigen sich rituell im Fluss waschen. – Gewiss, die Roma kamen aus Indien. Die Kraft dieser Bilder besteht jedoch darin, dass sie dies nicht zum Ausdruck bringen, sondern schlicht expressiv sind. So beschränken sie sich nicht darauf, Aussagen zu treffen; mit ihrem offensichtlichen Überschuss laden sie zum Spiel ein, das gesellschaftliches Leben einübt.

Was also lehrt uns dieser Film? Erstens, dass das Verdikt über 'Verfall und Ende' unseres öffentlichen Lebens (Sennett) nicht unabänderlich ist. Zweitens, dass die Befolgung von Lehren nicht das Mittel ist, sich der eigenen Expressivität wieder zu versichern. Es ist daher zwar unangebracht, sich in Spekulationen über die gesellschaftliche und ästhetische Funktion dieses Films zu verbeißen. Aber wie sollte man sonst – in Worten – zum Ausdruck bringen, dass 'Time of the Gipsies', der sich mit einer marginalen Gruppe beschäftigt, durch Bilder und Töne etwas grundsätzlich Neues entwirft, das allgemein gültig zu werden verspricht?

Kusturica, der zusammen mit Gordan Mihic das Drehbuch für 'Time of the Gypsies' schrieb, vermeidet strikt jede essayistische Reflexion. Er beklagt nicht die emotionale Depravation des slowenischen Gastarbeiters, der deutsch träumt und daher nur noch rückwärts zählen kann. Er lässt stattdessen die Roma-Oma sagen: 'Lass mich träumen', wenn jeder Deutsche ihr sofortiges Handeln anempfehlen würde, und dann kommt der Roma-Traum, der alles andere als regressiv ist und der eine Wirklichkeit schafft. Was also passiert, wenn Danira, die verkrüppelte Dreizehnjährige, im Hospital von Ljubljana träumt: 'Beine wie von Marilyn Monroe'? Die Antwort kommt etliche Sequenzen später, sie lautet: 'Die Frau mit dem Silberzahn ist Opfer des Wolfes', und das ist überhaupt keine Antwort, sondern ein zweiter Traum. Dass geträumt und daraus Kraft geschöpft werden kann, ist die Antwort des Films. – Um naheliegenden Missverständnissen vorzubeugen: Das Traumbild (im Jugoslawischen: Fata Morgana) hat durchaus nichts mit bürgerlichem Eskapismus zu tun. Wenn, sagen wir, der Schleier der unglücklichen Braut mit rätselhaftem Eigenantrieb durch die Bilder gleitet, könnte man zwar das poetische Zuviel mit heimischer Sentimentalität füllen. In der Wiederholung dieses Bildes manifestiert sich jedoch gleichzeitig eine vitale und ungezügelte Emotionalität, die sich von dramaturgischen Standards nicht bremsen lässt. Wenn geschluchzt wird, dann hemmungslos, und wenn das komisch ist, darf gelacht werden, ebenso hemmungslos. Tränen und Gelächter sind nicht nur erlaubt: Sie sind die äußersten Grenzen dieser trotz allen Kunstaufwandes gänzlich ungekünstelten Veranstaltung, die 'Time of the Gypsies' heißt.

Wenn man von diesem Film sagen kann, dass seine Bilder und Töne im Gedächtnis überdauern werden, so liegt dies daran, dass sie nicht frei flottieren, sondern eine menschlich und gesellschaftlich definierte Basis haben. Regisseur Kusturica, der neun Monate lang mit den slowenisch-kroatischen Roma zusammenlebte und in dieser Zeit mit den Laiendarstellern dokumentarisches Material drehte, brauchte anschließend noch einmal sechs Monate, um in der Film-Montage die Struktur der Inszenierung zu finden. Doch 'Time of the Gypsies' blieb – je überschießender, desto wahrer – die Geschichte der Zigeuner aus Kusturicas Geburtsstadt, über die die Zeitungen berichtet hatten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 08/1991

Tierische Liebe

(AT 1995, Regie: Ulrich Seidl)

Blick in die Hölle
von Dietrich Kuhlbrodt

Feinrippunterhemd, Turnhose und Socken, so sitzt rechts auf dem Sofa der Schlecker-Peter, der so heißt, weil er Wiens Spitzenmann für Cunnilingus ist. Allerdings hat er grade den Telefonhörer am Ohr …

Feinrippunterhemd, Turnhose und Socken, so sitzt rechts auf dem Sofa der Schlecker-Peter, der so heißt, weil er Wiens Spitzenmann für Cunnilingus ist. Allerdings hat er grade den Telefonhörer am Ohr und nimmt den Telefonsexservice in Anspruch. Links auf dem Sofa ödet sich ein mittelgroßer Köter zu Tode. Die Hinterbeine hat er auseinander geklappt, so kann er das Genital der Kamera weisen. Letztere dokumentiert einwandfrei ihren eigenen subjektiven Blick auf eine Szene, die unschwer als floride Beziehungskrise beschrieben werden kann. Hierfür wäre eigentlich die uns allen sattsam bekannte Filmgattung der Beziehungsdramen und – komödien zuständig, um uns sofort mit Filmdialogen vollzulabern. Wie man einsehen wird, fehlt es den Wiener Heimtieren jedoch an der Möglichkeit, sich verbal zu artikulieren.

Was ein Segen ist. Weil der begnadete Wiener Dokumentarist Ulrich Seidl jetzt tun kann, wofür er berühmt ist, nämlich dem Bildermedium geben, was des Bildermediums ist: Mit dem unterschwelligen Affekt des Einverständnisses inszeniert er, wie der Mensch es mit dem Tier treibt. Seine Selbstdarsteller kommen erfreulich schnell zur Sache, auch wenn Stefanie Renée Felden, die Ex-Schauspielerin, erst ein Schaumbad nimmt, bevor sie mit ihrem Husky ins Bett steigt und liebevoll seinen Bauch streichelt. Dann geht sie dem Tier an die Eier, aber grade noch rechtzeitig: Schnitt!, und das verstehen wir, weil wir den Film ja im Kino sehen wollen.

Moralisch ist er insofern, als er voller Liebe ist und der Inszenator Ulrich Seidl sozusagen im herzlichen Einverständnis mit auf der Couch oder gar im spitzenbezogenen Himmelbett sitzt. Mondo cane ist weit weg, niemand wird verraten, wir sind erfolgreich Komplizen, der Film kommt nah, sehr nah. Bloß Werner Herzog bekam einen metaphysischen Schock: 'Noch nie habe ich im Kino so geradewegs in die Hölle geschaut', bekannte er nach dem Besuch der 'Tierischen Liebe', dann setzte er seinen düster umflorten Blick auf und reiste zu Filmaufnahmen ins ferne Mexiko. Wieder eine dieser Fluchten, bloß weil er nicht bringt, was doch der Husky auf dem Satinlaken mit Leichtigkeit vorführt: sich die eigenen Genitalien lecken. Aber er hätte doch ohne weiteres Zungenküsse tauschen können, mit dem großen struppigen Schmusehund, hier in Wien, im Abbruchhaus auf dem Gelände des ehemaligen Verschiebebahnhofs, hinter den hunderttausend alten Autoreifen, die auf den Abtransport nach Albanien warten.

Franz Holzschuh, jung, Bettler, braucht im kalten Winter was sehr Warmes. Er, ein Weglegekind, im Mistkübel gefunden und in Erziehungsheimen groß geworden – Franz Holzschuh also, so hören Sie doch, lieber Werner Herzog, hat Ambitionen und Visionen. Er träumt von der Liebe, und die Himmelsmacht machte es wahr, nur das Objekt hat gewechselt. Seit mehr als einem Jahr, aber das ist jetzt ein Nachtrag zum Film, lebt er als Lebensabschnittsgefährte mit der Filmassistentin der 'Tierischen Liebe' zusammen, Eva Roth. Das ist zum Mitfühlen, aber bevor einem die Tränen kommen, wollen wir des Stadtstreicherkollegen Erich Wögerer gedenken, der mit Franz Holzschuh ein 'symbiotisches Verhältnis' eingegangen war, wie uns Ulrich Seidl versichert hat. Jetzt muß Kellerratte Wögerer allein betteln gehen, während der Kumpel aus der Unterschicht aufgestiegen ist. Geht das in Ordnung? Durfte die Dokumentaristin eingreifen? – Wir geben ihnen ein weiteres Jahr und werden in der Septembernummer 1997 berichten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 09/1996

Das Vaterspiel

(D / AT / F 2008, Regie: Michael Glawogger )

Daheim bei Opa Judenkiller
von Dietrich Kuhlbrodt

Kill Daddy, online vertrieben, wird zum Hit. Ausgetüftelt hat das Computerspiel der autistische junge Ratz (Helmut Köpping), Sohn eines sozialdemokratischen österreichischen Ministers. Damit jeder virtuell gewaltbereite Sohn den Hass auf …

Kill Daddy, online vertrieben, wird zum Hit. Ausgetüftelt hat das Computerspiel der autistische junge Ratz (Helmut Köpping), Sohn eines sozialdemokratischen österreichischen Ministers. Damit jeder virtuell gewaltbereite Sohn den Hass auf den eigenen Pappa ausleben kann, kann er das Opfergesicht durch die Fresse des eigenen Vaters ersetzen, und ab geht’s, die Vatermutanten werden öffentlich massakriert, mitten im Straßenverkehr. Super. Auf der großen Leinwand auch.

Nun ist es so, dass Michael Glawogger, Megadokumentar- („Workingman’s Death“) und Spielfilmer („Contact High“, „Slumming“), einen 600-Seiten-Roman von Josef Haslinger verfilmt. Und damit wird es einerseits komplex. Andrerseits ist als Megalob zu sagen, dass man davon nichts merkt. Nichts Papierenes am Film. Dafür fleißig experimentellen Wagemut, freilich nicht moralischen. Denn es versteht sich, wenn neben den üblichen verdächtigen Filmförderern auch Arte, ORF, WDR, Degeto dabei sind, dass man zu Gewaltcomputerspielen mehr sagen muss. Sehr viel mehr. Diese Aufgabe übernimmt in einer Parallelhandlung, die zunächst unbegreiflich eingeschnitten wird, Ulrich Tukur, überlebender Jude aus Klaipeda/Memel. Und einziger Belastungszeuge in einem Ermittlungsverfahren zur Verfolgung von Judenprogromen in Lettland während des Krieges. Tukur sitzt in einem Vernehmungsraum der Zentralen Stelle zur Verfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Ludwigsburg. Fast emotionslos, die Kamera unbeweglich, und erzählt von einer Gewalt-Realität in Lettland, die man mit Kill your jews übersetzen könnte. Einer der Täter ist in Manhattan untergetaucht. In einem Keller. Gewalt-Spieler Ratz lernt ihn 1999 kennen.

Und nun? Vaterhass funktioniert nicht. Der Judenmörder ist von der Großvatergeneration. Mit der hat der junge Ratz keine Schwierigkeit. Außerdem leidet der alte Herr an einem Isolationssyndrom der autistischen Art. Kommunikationsunfähig. Damit kennt sich der Ministersohn aus. Die beiden kommen sich näher. Am Ende reden sie. „Ja, ich war der Mann am Maschinengewehr. Ich habe getötet. Das war meine Überzeugung“, sagt Opa Judenkiller. Töten ist menschlich, werden wir belehrt. Da wird der Daddykiller, der sein Enkel sein könnte, aber doch nachdenklich. Er versucht sein Gewaltspiel vom Online-Markt zu nehmen. Zu spät! Er hat die Rechte nicht mehr! Aber der gute Wille zählt. Außerdem ist Weihnachten, das Fest des Friedens. Die beiden Gewaltigen im Keller machen der Jingle-Bells-Puppe den Garaus und legen eine schön altmodische 33er Platte auf. Die Pastorale. Grad recht zur Adventszeit startet der Film „Das Vaterspiel“.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 11/09

Strajk – Die Heldin von Danzig

(D / P 2006, Regie: Volker Schlöndorff)

Geschichte wird gemacht
von Dietrich Kuhlbrodt

Filmautorin Silke Rene Meyer hat herausgefunden, wer es gewesen war, der, als der Streik der Werftarbeiter auf der Kippe stand, zum Kampf motivierte – und zur Gründung der Gewerkschaft Solidarnosz. …

Filmautorin Silke Rene Meyer hat herausgefunden, wer es gewesen war, der, als der Streik der Werftarbeiter auf der Kippe stand, zum Kampf motivierte – und zur Gründung der Gewerkschaft Solidarnosz. Lech Walesa? Nein, eine Frau war es gewesen, vor kurzem noch unbekannt: „Wer ist Anna Walentynowicz?“ (Dokumentarfilm von 2000). Jetzt, im Spielfilm von Volker Schlöndorff, heißt sie Agnieszka, und Katharina Thalbach leiht ihr ihr Gesicht, repräsentativ. Das Drehbuch wurde „in permanenter Rückkopplung“ mit Polen entwickelt (Produzent Professor Haase). Dreißig Jahre lang ist die Nahtschweißerin Heldin. 1970 Heldin der Arbeit. 1980 Heldin des Streiks in Danzig. Im Jahr 2000 geht sie heldenhaft am Stock. In Polen gibt es freie Wahlen, „doch Ungerechtigkeit gibt es noch immer“. Lech Walesa spielt eine Rolle am Rande. Er reagiert auf schmutzige Politik. Unsere Heldin aber agiert. Sie hat das Herz auf dem rechten Fleck. Sie ist resolut und gläubig.

Vor dem Monitor kniet sie und bekreuzigt sich. Karol Wojtyla, der neue Papst ist in Polen! Die Polen sind Papst! Paul Johannes II. betet im staatlichen Fernsehen: “Komm über uns, Hl. Geist, und wende das Antlitz dieser Erde zu.“ Erfüllt mit geistlicher Nahrung eilt die Heldin zur Werft und motiviert die zögerlichen Arbeiter: „Der Papst hat gesagt, wir brauchen die Solidarität der Menschenherzen“. Letztlich also war es der polnische Papst, der Solidarnosz gegründet hat. Wir wissen es jetzt, dank Schlöndorffs rückgekoppeltem Film, und wir können die Heldin, die hl. Agnieszka, verehren.

Solidarnosz wie es wirklich war. Um aufkeimende Zweifel zu beseitigen, legitimiert der Film seine Fiktionen durch zahlreiche dokumentarische Sechs-Sekunden-Einschnitte. Wir sehen sogar Brandt im Warschauer Getto knien, und bitteschön, das weiß jeder, dass er das tat. Allerdings fehlt eine solche Beglaubigung für die Wunder, die der Heiligen von Danzig widerfahren sind. Wir beten in der Bibel zur Gottesmutter: gebenedeit sei die Frucht deines Leibes. – „Du bist die Frucht dieser Liebe“, klärt Mutter Agnieszka ihren ungläubigen Sohn auf, und da es wir auch nicht vorher wussten, wissen wir es jetzt: Vater des Kindes ist nicht etwa Joseph, sondern Lech Walesa! Das ist eines frommen Spielfilm-Traktates würdig. Doch es kommt noch wunderlicher. „Ich hab Krebs“, seufzt sie, völlig am Boden. Dann die Nachuntersuchung. Die Ärzte, am Boden zerstört, sind fassungslos. Der Krebs ist weg, einfach weg, und dafür gibt es weder eine medizinische noch sonstwie eine naturwissenschaftliche Erklärung. „Freuen Sie sich“, fällt dem Chefarzt noch ein, säuerlich lächelnd. Sie, die auf der Stelle genas, stand auf und wandelte zum Vater ihrer Leibesfrucht, „einer Persönlichkeit ähnlich der des Papstes“ (Walesa-Darsteller Andrzej Chyra). Und wieder orgelt es hoch, das erbauliche Großorchester des Jean Michel Jarre. Er hatte schon 1986 dem Papst persönlich vorgespielt. Und wenn zum Schluss des Films dokumentarisch die Mauer fällt, dann wissen wir auch dies: diese unsere deutsche Einheit haben wir dem hl. Geist, der hl. Agnieszka sowie den Päpsten Paul Johannes II. und Lech Walesa zu danken. Amen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 03/2007

Winterkinder – Die schweigende Generation

(D 2005, Regie: Jens Schanze)

Familienaufstellung
von Dietrich Kuhlbrodt

Jens Schanze macht in seinem Diplomfilm einen Anlauf, die Familiengeschichte zu verarbeiten. Warum wird darüber geschwiegen, welche Rolle der Großvater vor 45 gespielt hat? Er war doch in der Partei …

Jens Schanze macht in seinem Diplomfilm einen Anlauf, die Familiengeschichte zu verarbeiten. Warum wird darüber geschwiegen, welche Rolle der Großvater vor 45 gespielt hat? Er war doch in der Partei was Höheres gewesen. In Schlesien. Was hat er erzählt? Nichts, wirklich nichts? Vor der Interviewkamera arbeitet es im Muttergesicht. Warum ringt sie sich nur mühsam zu einer Antwort durch? Der Film wird spannend. Wir wissen nicht, was kommt. Die langen Pausen zwischen Frage und Antwort oder Nichtantwort werden stehen gelassen. Zeit vergeht. Sie lädt zum Abwarten und Abschätzen ein. Wir sehen eine deutsche Mutter, die Würde wahrt.

Der Interviewer wird in Archiven fündig. Großvater war schon 33 in der SA. Im Krieg kämpfte er als Ortsschulungsleiter an der Heimatfront und schwor auf den Endsieg ein, bis zum März 1945. 'War Großvater ein Nazi?' Die Mutter windet sich. 'Wenn, würde ich Nationalsozialist sagen.' Nein, sie schafft es nicht. Weder ist sie fähig zu einer Kritik noch zu Emotionen. Sie hält sich bedeckt, selbst im KZ Groß-Rosen, dessen Außenstellen nahebei gelegen hatten. Sie kann dazu nichts sagen, selbst als der Sohn, unser Autor, sie jetzt ins Lager gebracht hat. Schnee. Deutlich sichtbar sind die Grundmauern der Baracken. Sie meint die Situation zu meistern, indem sie sich zurückhält. Kein Gedanke an die Opfer. Kein Mitleid mit anderen. Keine Betroffenheit. Nichts. Nichts.

Aus dem Off hören wir, dass die 30.000 KZ-Insassen 1944 eine Bedrohung für die Deutschen gewesen waren. 'Wenn da Bomben reinfielen und die Juden frei wären, dann wär’s fürchterlich' – für die Deutschen, die dann Opfer wären. Der Autor lässt dies stehen.

Der Nazi-Opa hat im antisemitischen Verein Deutscher Studenten einen Ehrenplatz. Als Alter Herr. Sein Porträt ist mit einem Trauerflor geschmückt. Für die Filmkamera wird 'Oh alte Burschenherrlichkeit' gesungen. Und vor der Kamera ein 'positives Verhältnis für Deutschland' gefordert. Der Film nimmt es zur Kenntnis. Ebenso, dass ein erster Nachkriegsbesuch in Schlesien zur Einsicht verhilft, dass es 'die Heimat bleibt'. Nichts ging verloren. Alles ist, wie gehabt.

Das Fazit? Nach langer Zeit vereint sitzt die Familie vor dem Monitor und guckt sich das Ergebnis an. 'Mutti ist irgendwie erleichtert.' Man ist sich nähergekommen. Man hat gesprochen. Alles ist gut. Eric Satie erklingt. War das die Aufarbeitung der Familiengeschichte? Die Mutter ist als amtierendes Oberhaupt bestätigt. Und respektvoll wird ihre Kritik am Film vernommen. Ihr erstes und letztes kritisches Wort: 'So sehe ich mich nicht. Ich finde, dass ich im Film sehr alt aussehe'. Heiterkeit, Sonne, Sommer, Versöhnung. Sommerkinder.

'Winterkinder', der Film, ist zum Fürchten. Es ist schlimmer als zuvor. Was überwintert hat und jetzt zu Wort kommt, ist gut für die Familie und schlecht für uns. Wieder hat Mutter eine Situation gemeistert. Jetzt haben wir das Wort. Wer sagt ihr, dass es auch außerhalb des Clans Menschen gab und gibt? Opfer der deutschen Familie? – Sohn Schanze, der Autor, reiht sich in der Schlusseinstellung zum Familienfoto ein. Format 35 mm. Gediegene Cadrage. Frontal. Applaus heischend.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2005

Vielleicht in einem anderen Leben

(Ö / D / UNG 2010, Regie: Elisabeth Scharang)

Von Revanche zur Gegengabe
von Drehli Robnik

April 1945 über Niederösterreich: Ein US Air Force-Pilot wirft Kaugummipapier aus seinem Cockpit; es segelt zur Erde, in die Hand eines jener ungarischen Juden, die grade von SS und Dorfleuten …

April 1945 über Niederösterreich: Ein US Air Force-Pilot wirft Kaugummipapier aus seinem Cockpit; es segelt zur Erde, in die Hand eines jener ungarischen Juden, die grade von SS und Dorfleuten nach Mauthausen getrieben werden. Ähnlich wie 'Forrest Gump' (mit seiner Feder) beginnt 'Vielleicht in einem anderen Leben' mit der Doppelung von Wunder und 'geworfener' Materie im Bild des schwebenden Futzels. Für das Bild des NS-Judenmordes in dieser ORF-Koproduktion ist das programmatisch.

Das Papier aus Amerika/vom Himmel verweist auf ein Schlupfloch in eine Wunderwelt der Rettung. Der Ungar, dem es zufiel – vor seiner Deportation Operettentenor – sagt: 'Die Welt will uns töten, also müssen wir so tun, als wären wir in einer anderen.' Irrealisierung qua Inszenierung, ein Standardmotiv neuerer Holocaust-Spielfilme. Wenn der Mann genussvoll am Kaugummipapier riecht, ist damit das Thema 'Subjektwerdung durch Genießen' etabliert. Um die mit ihm Deportierten aufzumuntern, ruft der Tenor: 'Wir können krepieren wie Ratten – oder Musik machen!' Also beginnen die in einen Stadel Gepferchten, die Erfolgsoperette Wiener Blut einzustudieren.

Das ist als improvisierter Schlupfweg in die Wunderwelt gemeint – und doch mehr als Eskapismus. Scharangs Film fehle, so Siegfried Mattl in seiner Kritik, Reflexion auf die Rolle von Filmoperetten wie Wiener Blut im NS-Propagandabetrieb. Mehr noch: Dass der Film impliziert, erst Wiener Blut mache Menschen zu solchen (und nicht bloß Ratten!), ist in diesem Kontext fatal. Auch wenn das nicht rassenbiologisch zugespitzt ist, wie im Wiener FPÖ-Wahlkampf – einen Vitalismus intensiver Gefühle teilt die Farce von 2011 mit der Filmoperette von 1942: Musik spendet unmittelbar Leben ('Blut… Saft… Kraft… Mut'), in Gegensatz zu einem Nicht-Leben, das in kalten Formen gefangen ist: in Kleinstaatlerei und Etikette (so zeigt es Wiener Blut) bzw. in herzloser Kälte (so zeigt es Scharang). Diese Kälte durchbricht eine Bäuerin, die den im Stadel Hungernden Brot und Suppe bringt. Zum Dank bietet der Tenor an, Wiener Blut für sie zu spielen.

'Die Fälscher' ist jener Holocaust-Erfolgsfilm, an den 'Vielleicht in einem anderen Leben' sich am offensichtlichsten anlehnt (zumal im Dialog über die Stofflichkeit von Suppe). Es geht um Doppelungen von Wunder und fühlbarer Materie: 'Die Fälscher' konterte den Massenmord im Zeichen der Fälschung, Inszenierung durch Kreativarbeiter; 'Schindlers Liste' hielt dem Holocaust eine Kino-Ontologie der Liste als Gedächtnis-Bildung entgegen; und Tarantino stellte NS-Geschichte ins Zeichen eines Archivs, das sich als sabotierbarer Bildbestand materialisiert. Doch Scharang (von der es bessere Filme über NS-Verbrechen gibt) zielt nicht auf Jewish revenge, sondern auf jüdische Dankbarkeit – und Richtung 'Revanche'. So hieß Götz Spielmanns Neo-Heimatfilm, in dem das Traumpaar Johannes Krisch/Ursula Strauss – bei Scharang Bauer und Bäuerin – ein Drama um Verlust und Wieder-Zulassen von Gefühlen absolvierte. Und nun: Holocaust als Setting einer Paartherapie, bei der Herr und Frau Österreicher zu sich und einander zurückfinden; sie spielt wieder Zither, er holt die alte Ziehharmonika raus und lässt Tränen zu. Sogar Sex gibts wieder.

Wellnesskultur als Heilung vom National(sozial)ismus hinzustellen, damit ist dieser Film nicht allein; aber so wie er Vitalitätstherapeutik und Wirklichkeitstranszendenz engführt, das lässt der Geschichte besonders wenig Raum.

Dieser Text erschien zuerst in: Bildpunkt, Zeitschrift der IG BILDENDE KUNST, Wien, Ausg. Frühling 2011

Das Haus auf Korsika

(F / B 2012, Regie: Pierre Duculot)

Ungewöhnliche Ruhe
von Wolfgang Nierlin

In einem kleinen, abgelegenen Bergdorf auf über 1100 Meter Höhe liegt das titelgebende „Haus auf Korsika“. Mit dem deftigeren französischen Originaltitel von Pierre Duculots Film „Au cul du loup“ könnte …

In einem kleinen, abgelegenen Bergdorf auf über 1100 Meter Höhe liegt das titelgebende „Haus auf Korsika“. Mit dem deftigeren französischen Originaltitel von Pierre Duculots Film „Au cul du loup“ könnte man sinngemäß auch sagen: „Am Arsch der Welt“. Zwölf Einwohner zähle der Ort, sagt der Bürgermeister zu Christina (Christelle Cornil), die nach beschwerlicher Reise eben angekommen ist. Überstürzt und eher planlos ist die 30-Jährige gegen den Widerstand ihrer Familie aufgebrochen, um auf Korsika das Erbe ihrer verstorbenen Großmutter anzutreten und ihren italienischen Wurzeln nachzuspüren. Inmitten einer ungewöhnlichen Ruhe und einer herrlichen Natur, im Kontakt mit der fremden Kultur (etwa dem polyphonen Männergesang Paghjella) und eigenwilligen Menschen wächst in ihr zugleich das Bedürfnis, den Traum von einem anderen Leben zu leben.

Der belgische Regisseur Pierre Duculot inszeniert in seinem sehenswerten Langfilmdebüt diese aufkeimende Aussteiger-Sehnsucht seiner Heldin im Kontrast zu ihrer belgischen Heimatstadt Charleroi. Berufliche Perspektivlosigkeit und ein einengender Freund im Verbund mit dem immer stärker werdenden Klammergriff der Familie, lassen Christina schließlich ausbrechen. Ein Jump cut setzt diesen harten Bruch mit dem gewohnten Alltag schließlich ins Bild, auch wenn innere Zweifel bleiben und die Rückschläge, von Hoffnungen und Enttäuschungen begleitet, erst beginnen. Doch Duculot, der seinen versöhnlichen Film – darin seinem erklärten Vorbild Robert Guédiguian verwandt – mit Anteilnahme und menschlicher Wärme erzählt, lässt seine Protagonistin nicht allein. Vielmehr beschenkt er sie mit familiärer Solidarität und neuem Mut.

Marley

(GB / USA 2012, Regie: Kevin Macdonald)

Verworfener Eckstein
von Wolfgang Nierlin

Das Portrait eines Außenseiters zeichnet Kevin Macdonald in seinem Dokumentarfilm „Marley“. Der charismatische Reggae-Musiker, geboren am 6. Februar 1945 in einem kleinen jamaikanischen Dorf und in Kingstons Armenviertel Trenchtown aufgewachsen …

Das Portrait eines Außenseiters zeichnet Kevin Macdonald in seinem Dokumentarfilm „Marley“. Der charismatische Reggae-Musiker, geboren am 6. Februar 1945 in einem kleinen jamaikanischen Dorf und in Kingstons Armenviertel Trenchtown aufgewachsen und künstlerisch sozialisiert, bezeichnet sich in einem seiner Lieder selbst einmal anspielungsreich als „verworfener Eckstein“. Bob Marley, Mischlingskind einer 18-jährigen schwarzen Mutter und eines flatterhaften 50-jährigen Offiziers der britischen Armee, reflektiert darin sein Gefühl der Vaterlosigkeit, das ihn offensichtlich zeitlebens begleitet hat. Noch in den Selbstaussagen dieses sehr detaillierten und materialreichen Films, daneben aber auch in den vielen Konzertausschnitten ist diese introvertierte Unnahbarkeit spürbar. Bob Marley ist der fremde Andere, dessen eindrucksvolles Leben und Werk Kevin Macdonald durch zahlreiche Interviews mit Zeitzeugen und den darin enthaltenen Perspektivwechseln zu erhellen sucht. Dabei mischen sich unentwirrbar Tatsachen und Legenden.

Marleys erste musikalische Gehversuche, beharrlich und mit Ehrgeiz vorangetrieben, fallen dabei ziemlich genau zusammen mit Jamaikas Unabhängigkeit im Jahre 1962. Auch an späteren Stellen der genau montierten Dokumentation gibt es immer wieder einen Austausch zwischen einschneidenden Ereignissen der Zeitgeschichte und Marleys künstlerischem Werdegang. Dabei wird die Musik zum Mittel einer sowohl persönlichen als auch gesellschaftlichen Befreiung. Bob Marley findet für sich einen Weg aus den bedrückenden sozialen Verhältnissen, kehrt aber auch mit zunehmendem Erfolg immer wieder dahin zurück. Denn seine anti-materialistische Einstellung feiert den Reichtum des Lebens und – nicht zuletzt auch im Reggae – das brüderliche Miteinander der Menschen.

Seine spirituelle Erdung bezieht Marley in diesem Zusammenhang aus seiner Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Rastafari, einer Religion, in der die Praxis von Liebe und Versöhnung eng mit dem Streben nach Befreiung verbunden ist. Aus diesem Kontext, in dem sich der Außenseiter mit den unterdrückten Sklaven identifiziert und die Rückkehr nach Afrika propagiert oder zumindest ersehnt, gewinnt Macdonalds Film einige seiner bewegendsten Momente. Beginnend mit Bildern von jenem berüchtigten „Door of no return“ im „House of slaves“ an der westafrikanischen Küste, von wo aus Millionen von Menschen „gestohlen“ und versklavt wurden, bis zu den Benefizkonzerten in Simbabwe und Gabun, erzählt „Marley“ eine Geschichte der Unterdrückung, die auch lange nach dem viel zu frühen Tod des Musikers im Jahre 1981 noch nicht zu Ende ist und insofern Relevanz besitzt.

Brasch – Das Wünschen und das Fürchten

(D 2011, Regie: Christoph Rüter)

„Schreiben heißt für mich, die Angst zu überwinden ...“
von Michael Schleeh

Immer wieder friert Christoph Rüter die Bilder des Films ein: Brasch nachdenklich, Brasch mit Zigarette, nonchalant, Brasch mit dunklen, stechend scharfen Augen. Um ihn herum: die Wohnung, Stapel von Papier, …

Immer wieder friert Christoph Rüter die Bilder des Films ein: Brasch nachdenklich, Brasch mit Zigarette, nonchalant, Brasch mit dunklen, stechend scharfen Augen. Um ihn herum: die Wohnung, Stapel von Papier, Bücherwände, Spiegel, die Fenster hinaus auf Berlin. Dokumentarische Interviewbilder, Schlaglichter, das Standbild als Poster. So wird man sich an ihn erinnern: die einprägsame Physiognomie, das zerfurchte Gesicht der späten Jahre. Es findet seinen Platz in der Erinnerung neben den frühen Fotos, die man von ihm kennt: mit Whiskeyflasche auf dem Tisch, entspannt die Beine auf dem Sofa übereinander geschlagen, eine gestikulierende Katharina Thalbach neben sich, die eine Zeit lang seine Lebensgefährtin war und mit der er in den Westen gegangen ist. Gegangen wurde.

Wo er zwar Erfolge feierte und hofiert wurde für sein Dissidententum, dem er aber misstraute und wo ihm auch nach und nach die Reibung am System verloren ging, ganz ähnlich wie einem Heiner Müller nach der Wende („Wer keinen Feind mehr hat, trifft ihn im Spiegel“). So ist es kein Wunder, dass er später, nach der Wiedervereinigung freilich, zurück in den ehemaligen Osten Berlins zog, nicht weit entfernt vom Berliner Ensemble. Sich dort abkapselte, rauchte, soff und ausgiebig kokste. Und wenn bei Heiner Müller noch die Tauben auf Berlin schissen, so ist es bei Brasch das Kokain, das auf die Stadt herabfällt: „Das schneit, Kinder, das schneit / die Horizonte werden weit, / der Schnee, so schönes Kokain / fällt nieder auf die Stadt Berlin“ (aus dem Gedicht „Der schnelle Schnee – Lied der Kokainintellektuellen“). Brasch arbeitete da an seinem Brunke-Mammutprojekt (später dann: „Mädchenmörder Brunke“, Roman bei Suhrkamp), für das sich zehntausende Manuskriptseiten auf dem Fußboden ansammelten und stapelten.

„Brasch – Das Wünschen und das Fürchten“ ist überwiegend chronologisch, entlang der Biographie des Schriftstellers arrangiert, der Lyriker, Dramatiker und Filmemacher zugleich war. Es werden etliche Dokumente, Ausschnitte und Spielfilmsequenzen von Christoph Rüter zu einem Mosaik montiert, das die Involviertheit des Künstlers in die verschiedenen Kunst-Bereiche portraitiert. Seine berühmte Nestbeschmutzer-Rede bei der Verleihung des Bayerischen Filmpreises in Anwesenheit von Franz-Josef Strauß ist im Film ebenso zu bewundern wie Sequenzen mit Brasch aus Hanns Zischlers Dokumentarfilm „Ich gehe in ein anders Blau“ über Rolf Dieter Brinkmann. Außerdem gibt es etliche Ausschnitte aus den Langfilmen „Engel aus Eisen“, „Domino“ und „Der Passagier“ (mit Tony Curtis) sowie aus den Theaterstücken „Lieber Georg“, „Rotter“ und „Liebe Macht Tod“. Aus der deutsch-deutschen Theater- und Literaturszene ist er nicht wegzudenken, auch wenn er nie die Popularität der ganz großen Namen erlangte. Gegen Ende finden sich dann verstärkt aufwühlende Handkameraaufnahmen, die Brasch in seiner Wohnung von sich selbst gemacht hatte, vor den Spiegeln und den vollgekritzelten Wänden, nach den Herzinfarkten und von der Krankheit gezeichnet. Sie zeigen ihn als fragile Person, die gleichwohl keineswegs kraftlos ist, sondern voller Energie zu stecken scheint. Aber eben die Kraft desjenigen, der auf der Suche ist, der seinen Platz nicht finden kann und sich an den politischen wie gesellschaftlichen Zuständen reibt.

Christoph Rüter gelingt ein intimes Portrait seines Freundes Thomas Brasch, das nie sentimental wird oder gar gekünstelt wirkt. Eine liebevolle und spannende Hommage zugleich, die von einer klaren Offenheit ist und in ihrem weiteren Horizont die Rolle der Schriftsteller und Intellektuellen in der Zeit vor und nach dem großen Umbruch der Wiedervereinigung darstellt. Eine Hommage, die bisweilen nicht nur melancholisch ist, sondern manchmal auch schmerzt. Wie Brasch im Interview mehrfach sagt: es ist die Wunde, die ihn interessiert, der Riss, der durch den Menschen geht.

Cosmopolis

(KAN / F 2012, Regie: David Cronenberg)

Der Proust der Stretchlimousine
von Ekkehard Knörer

In einer gleißendweisen Stretchlimousine begegnet Eric Packer, Finanzkapitalist, seinem persönlichen Schwarzen Schwan: Er hat sein Vermögen an eine allergrößte Wahrscheinlichkeit verwettet, den Fall des Yuan; mit diesem Hebel setzt er …

In einer gleißendweisen Stretchlimousine begegnet Eric Packer, Finanzkapitalist, seinem persönlichen Schwarzen Schwan: Er hat sein Vermögen an eine allergrößte Wahrscheinlichkeit verwettet, den Fall des Yuan; mit diesem Hebel setzt er per leveraged buyout aufs ganz große Geld. Der Yuan aber fällt nicht und fällt nicht, die Kurven auf den vielen Geldstromanzeigern im Innern der Stretchlimousine haben wir uns als Höllenfahrt ins Desaster vorzustellen: ein Ereignis jenseits des Erwartens.

Weiß neben weißen Stretchlimousinen in Reihe im Innern Manhattans. Sie gleichen einander von außen wie ein Yuan dem andern. Schwarz aber ist nicht nur der Schwan, eine Asymptote ans Schwarze ist auch Mark Rothkos berühmte Kapelle in Houston. Sie ist der Gegenstand von Packers Begehren, als Ausweis von dessen Maßlosigkeit: Auch sie will er kaufen. Und wird eines Besseren belehrt, das sein Begreifen jedoch übersteigt. Das nicht Käufliche ist in der Matrix der Ökonomie ein Grenzpunkt, mit dem sich so wenig wie mit einem Schwarzen Schwan rechnen lässt.

Ein Projektil, das sich in äußerster Verlangsamung durch New York bewegt, ist Packers Wagen. Das Fleisch welcher Wirklichkeit er dabei berührt, ist die Frage. Es gibt ein Drinnen und Draußen, ein Dringen nach Innen und ein Drängen nach außen, aber was hier wem korrespondiert, was hier durch was darstellbar ist, wie sich Repräsentation auf Wirklichkeit, das Konkrete auf die Abstraktionen, die Gegenwart aufs Archaische, das Geld auf die Welt, die Marktbewegung auf die Natur, Kosmos auf Polis, der Sex auf die Liebe, wie sich hier überhaupt etwas auf etwas bezieht: das muss, so die These des Buchs und des Films, unterbestimmt bleiben. Der Film fügt, was als Stücke von Wirklichkeit durch seine Darstellung treiben, einzig zur These zusammen, dass eindeutige Zusammenfügungen, die das eine durchs andere etwa erklären, jenseits der Möglichkeit auch der ästhetischen Repräsentation liegen.

Was so entsteht, ist jedoch – fast paradox – ein Überschuss an Lesbarkeit. Überdetermination und Unterbestimmung ergänzen sich zum Festmahl für die Allegorese, jedes Detail lockt die Deuter wie Blut im Wasser die Haie. Vor die Nase gehängt als Schlüsselwort wird einem die Asymmetrie: 'Ihre Prostata ist asymmetrisch' diagnostiziert der Arzt nach erfolgter Rektaluntersuchung im Wagen, die vor den Augen weiterer Insassen erfolgte. Die Erläuterung, die DeLillo als erlebte Rede des Helden noch gab, hat Cronenberg im Film gestrichen: 'But there was something about the idea of asymmetry. It was intriguing in the world outside the body, a counterforce to balance and calm, the riddling little twist, subatomic, that made creation happen.' Die Asymmetrie als Kraft, die die Dinge unmerklich aus dem Gleichgewicht stößt, aber schließt das wirklich was auf? Oder ist es nicht einfach ein weiteres Stück Allegorem in einem gewaltsam geradezu endlos sich öffnenden Text?

Oder nehmen wir Proust: Es ist nämlich die Stretchlimousine auch eine Proustkonfiguration. 'To proust', v.: Auskleidung des riesigen Wagens mit Kork und damit Schallisolation und damit Prousts Schreibzimmer und damit Bezug zu Erinnerungsbewegungen in Richtung des Wegs der Guermantes. Das so scheinbar irrationale Ziel, der Antrieb dieser Fahrt durchs allegorisch verstopfte New York, in dessen Straßenverkehr auch der Präsident unterwegs ist, ein Attentäter, der Packer ans Leder will, außerdem; der Antrieb und Anlass der Bewegung ist: Packer will zum Friseur. Irgendwann ist er dort und man begreift, es ist der Friseur, den er mit seinem Papa als Kind schon besuchte. Also quasi Biss in den Keks (aber Beginn keines großen Subjektentfaltungsromans), der Yuan will nicht fallen, der Drops ist gelutscht, was einzig noch folgt, ist das große Endspiel in sehr unklinischen Räumen, Paul Giamatti als Ex-Angestellter mit Rachegelüsten und Knarre. (Genauso nahe liegt, versteht sich, die andere Inkunabel der modernen Literatur: James Joyces 'Ulysses': Ein Mann, eine Stadt, ein Tag, Packers Bloomsday als Doomsday.)

Die Stretchlimousine als Projektil, aber auch ein Fenster zur Welt. Meist sind wir drinnen, meist wird der Raum in statischen Einstellungen grob, aber sehr scharfkantig aufgelöst, sehr toll sind Momente, in denen in einer Art Egoshooterperspektive die Leinwand Bildschirm wird und das Auto zum Raumschiff. Das ist sehr videokunstmäßig, da hat Cronenberg Mise-en-Scène-Ideen, die übers Papier, aus dem er weite Teile seines Films gebaut hat, hinausgehen. (Zugegeben, Thomas-Demand-artig gebaut: Aus dem Papier des Romans gebastelt, als New York – freilich von Toronto gedoubelt – hingestellt, fast täuschend echt abgefilmt.) Draußen, vor dem Fenster zur Welt, brennt ein Mann, toben Proteste, geht ein Gespenst um in der Welt, das Gespenst des Kapitalismus (daher hat Joseph Vogl den Titel seines Diaphanes-Bestsellers, der aus einer Lektüre von DeLillos Roman die Leitmotive seiner Analyse bezieht.)

Drinnen – im Drinnen, das die affektfreie Innenwelt des Finanzkapitals/Finanzkapitalisten ist – ist alles Zahl oder Sex, aber Sex ist – wie bei Cronenberg üblich – eine weitere Form der Entfremdung, die Körper haben sich nichts zu sagen, nicht die Augen gehen über und nicht die Gefühle, nur die Münder, meine Fresse, gehen die über: Die manieriert verknappten, mit Bedeutung aufgeladenen, durch und durch künstlichen Dialoge nimmt Cronenberg direkt aus dem Buch – dessen Dialogpassagen er, wie er in Interviews erklärt hat, in einem ersten Aneignungsakt erst mal komplett abschrieb – und legt sie seinen Darstellern in den Mund, aus dem sie wie Eiswürfel purzeln.

In der Theorie ist das sogar schön: Die Künstlichkeit und Kälte der DeLilloschen Dialoge ergreift Besitz von der Figur und macht diese im Illusionsraum des Kinos rücklings zu Papier; der Weg zur Expressivität ist damit verbaut – wogegen einzig Juliette Binoche mit einem furiosen Auftritt als Packers Kunstberaterin cum fuck buddy rebelliert – und eben darum etwas deplatziert wirkt. In der Praxis entfaltet sich das aber zu einer Dialogendlosigkeit, über der alles sonst so klar Konturierte in Geschwafel (Geschwafel höchster Ordnung, versteht sich) zerfließt. Wenig ist leider auch übrig von den grandios choreografierten Vorder- gegen Hintergrund-Mise-en-Scène-Installationen, mit denen Cronenbergs an Dialogen nicht armer Vorgängerfilm 'A Dangerous Method' bestach.

'Cosmopolis' gewinnt keinen Rhythmus, Cronenberg findet keine überzeugenden Mittel, etwa den Kontrast zwischen Innen und Außen zu formulieren. Das nimmt nicht zuletzt dem Showdown am Ende den Impact. Die ganz andere Räumlichkeit, in der Packers Höllenfahrt – wie eine Rückkehr in ein falsches Reales – dann endet, bleibt in der Inszenierung so formlos wie all die anderen Orte, die der Film mit Packers gelegentlichen Ausflügen aus dem Innern der Stretchlimousine ins ungeordnete Außen unternimmt. Eine Ausnahme gibt es, ein einziges Mal wagt sich die Kamera ins von keinen Schnitten zerhackte Fluide – ausgerechnet eine Buchhandlung ist dafür der Ort. In einer Subjektiven schlängelt sich der Blick an Büchertischen und Regalen vorbei, bis er auf Packers Ehefrau landet, die da in einer Ecke ein Buch liest. Es ist, als spürte der Film, der ein Buch war, dass er nicht Film ward. Das wäre dann sein schönstes Paradox: Einzig in einer Buchhandlung fühlt er sich so sehr zuhause, dass er sich zum jubilatorischen Kameragleiten befreit.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Cosmopolis

(KAN / F 2012, Regie: David Cronenberg)

Einsteigen zur Aussprache
von Drehli Robnik

Ein junger Börsen- und Powerbroker will partout am anderen Ende Manhattans zum Friseur, während antikapitalistische Massendemonstrationen (bei denen riesige Rattenpuppen als apokalyptisches Sinnbild fungieren), ein attentatsbedrohter Präsidentenkonvoi und der Begräbniszug …

Ein junger Börsen- und Powerbroker will partout am anderen Ende Manhattans zum Friseur, während antikapitalistische Massendemonstrationen (bei denen riesige Rattenpuppen als apokalyptisches Sinnbild fungieren), ein attentatsbedrohter Präsidentenkonvoi und der Begräbniszug eines Sufi-Rappers die Straßen blockieren. Also fährt sein Chauffeur und Leibwächter ihn im Schritttempo und mit mehreren Stopps in der Limousine durch die Stadt; ständig steigt jemand für ein paar hundert Meter und Worte zu ihm in die Limousine ein (etwa Jay Baruchel als sein IT-Experte, Juliette Binoche als Kunsthändlerin und gierige Geliebte, Samantha Morton als philosophisch gestimmte Spekulationsberaterin).

'Cosmopolis' basiert auf dem 2003 erschienenen gleichnamigen Roman von Don DeLillo. Den Stationenlaufstoff hätte ein John Carpenter vielleicht als Actiongroteske im urbanen Indianerland verfilmt (nach Art seiner 'Escape'-Filme etwa). David Cronenberg hingegen – der das Regiehandwerk ebenfalls um 1970 mit SciFi- und Horrorfilmen begann, die allerdings noch weit konzeptueller angelegt waren – situiert das unberechenbare Raubtier im Inneren des Fahrzeugs und gestaltet den Umweg zum Haircut als Shortcut, im doppelten Sinn. Einerseits genügt 'Twilight'-Star Robert Pattinson in der Milliardärsrolle, um dem Regisseur neue, jüngere Zielgruppen zu erschließen – wenn auch nur kurzfristig, so doch über jene Strahlkraft und Breitenwirkung hinaus, die vom vormaligen 'Lord of the Rings'-König Viggo Mortensen in Hauptrollen der letzten drei Cronenberg-Filme ausgegangen war. (Für Pattinson in seiner anhaltenden Romanzenrollenbindung wird 'Cosmopolis' wohl einen jähen, riskanten Befreiungsschlag bedeuten, und er wechselt nun vom Vampir-Ethos des Dauerverzichts in den blass-schlaffen Habitus von einem, der von allem zu früh zuviel kriegt. Blutsaugersymbolik – geschenkt!)

Anderseits scheint Cronenberg einem später zugestiegenen Publikum eine Art Schnelldurchlauf durch das Repertoire seiner bisherigen Standardmotive zu bieten: der diskursanalytische Blick auf Kapitalmachtpraktiken und New Age-Hoffnungen; das Sich-Verstricken körperlicher Intimität in Endlossprachspiele (solche der Kunst, der Sucht, der Technologie, der Medizin, letzteres hier in Form einer privatärztlichen Rücksitzuntersuchung an Pattinsons Prostata, die sich als so asymmetrisch erweist wie weiland die Gebärmutter der Heldin von 'Dead Ringers'); ein Kopfschuss als (narrativ kompliziert konstellierter) Handlungsfluchtpunkt; ein Abbruchhaus als Tempel eines nur halb verständlichen Rituals; ein Auto als in aller Enge geräumiges Habitat voller Screens, Flüssigkeiten und Eigengeruch. (Und auch was die Verweigerung – oder Verhunzung? – einschlägiger Reize von Massenszenen betrifft, bleibt Cronenberg seiner Linie treu: Die Rattenattrappenmassendemos von 'Cosmopolis' stehen der Karikatur einer Pariser Mai-Straßenschlacht in 'M. Butterfly' in nichts nach.)

Zirkus Crones Greatest Hits – aber so, dass es alle Fans verstören wird, die aus Team Edward wie auch die aus Team David. Das haltlose Drauflosreden über Revolutionsapokalyptik, Referenzverlust des Geldes und die zwischen Kunstsammeln und Lebensmüdigkeit gähnenden Sinnkrisen der Reichen, das ist einfach extrem prätentiös; es schlägt etwa das Ennui- und Existenzialexperiment-Gehauche von 'Crash' um Längen, und es hat auch seine Längen, die fast schon atemberaubend und selbstwerthaft anmuten (der beinah halbstündige antiklimaktische Dialog zwischen Pattinson und Paul Giamatti am Filmende ist schlicht jenseitig). Das wird sich in Form von Verzweiflung auf Teenieblogs niederschlagen. Hingegen können Cinephile und viele, die glauben, der Kapitalismus sei erst durch seine jüngste Finanzkrise zur gesellschaftsbestimmenden Macht geworden, sich das mitunter wie eine Spätachtziger-Retro-Version von Cyber-Postmodernismus anmutende Gerede (Medienguru Professor Brian O’Blivion aus 'Videodrome' lässt grüßen, nicht zuletzt per Limousinenscreen) schönsaufen, indem sie, wie in Besprechungen von 'Cosmopolis' zu lesen, die Romanvorlage als 'prophetisch' und den Film als im emphatischen Sinn 'of our time' hinstellen. Nun ja. Dass wieder mal eine Krise kommen wird, dass Geld eigenlogisch und Krawall vorprogrammiert ist, sich das zu denken, bedarf es einer Art von Oberschlauheit, die durch die Metaphernakrobatik in den rezitierten Romandialogen von 'Cosmopolis' eh gut bedient wird. Ähnliches gilt für den Aha!-Konnex zwischen den Jackson-Pollock-artigen Farbspritzern im – wie so oft bei Cronenberg – abstrakt-graphistischen Vorspann und dem Auftritt von Mathieu Amalric als durchgeknallter Aktivist, der das 'Torten' von Finanzmagnaten und Politikern als Action Painting unserer Zeit apostrophiert. (Andererseits: Auch die im Rückblick liebenswertesten Eros-Erkrankungs-Filmdiagnosen eines Antonioni hatten ihre kunststil-, entfremdungs- und tauschabstraktionspädagogischen Momente, bei deren Bedeutsamkeit es dir die Schuhe auszieht.)

Für jene, die sich (wie ich) als Fans von Cronenberg immer wieder gut bedient und zwischendurch auch kurzfristig mal verarscht fühlen, ist der Bildungsmüll-Sprechdurchfall von 'Cosmopolis' eine zwiespältige Angelegenheit. Nicht dass Cronenbergs Filme nicht seit jeher ausgesprochen redselig gewesen wären: Das reicht von seinem Debüt 'Stereo' (1969), dessen monaurale Tonspur fast nur aus der voice over eines Klinikexperimentberichts bestand, über 'The Fly' (1985), dessen Handlung der Regisseur auf Anfrage einmal mit 'two people in a room, talking' beschrieb, bis zu seinem vorigen Film 'A Dangerous Method' (2011), einem Sprechstück über Autorität, Begehren und Projektionen aus den Anfängen der Psychoanalyse. (Sarah Gadon, die damals C.G. Jungs Gemahlin verkörperte, ist in 'Cosmopolis' als die jungvermählte Frau des Brokers zu sehen, die sich auf einigen Zwischenstopps zu sinnierenden Gesprächen mit ihrem Mann trifft. In 'Antiviral', dem Langfilmdebüt von Cronenbergs Sohn Brandon, spielt sie 2012 eine Hauptrolle.) Allerdings: In 'A Dangerous Method' ging der Anspruch der Sprechakte in die Richtung, den Spieleinsätzen der jeweiligen Zugänge von C.G. Jung, Sabina Spielrein und Sigmund Freud zum Wissenstypus und Ethos der Psychoanalyse im Format eines rührenden Beziehungsdramas gerecht zu werden, eben bis in die scharf konturierten Rededuelle hinein. (Man konnte da, schlicht gesagt, auch etwas draus lernen, und das ist nichts Schlechtes.)

Dem gegenüber frönt 'Cosmopolis' eher einer Verschwendungsökonomie der großen Worte, die folgerichtig in Entleerung mündet; solch nihilistischer Gestus – verwandt etwa jenem, mit dem 'Crash' Sexszenen bis zur Trockenlegung aller Spielfilm-Erotik akkumulierte – hat auch sein Gutes: Der Anspruch, durchs schauspielerisch-leiblich und im Alltagserfahrungsmilieu sorgfältig verkörperte Reden ließe sich eine phänomenologische Wahrheitstiefe in Sachen Wirtschaftspsychologie, Unternehmensgruppendynamik oder Karrieremoral erreichen, ein Anspruch, wie ihn zuletzt das Finanzkrisenkammerspiel 'Margin Call' erhoben hat, der wird hier beherzt fahrengelassen. All der Feuilletontalk mutiert – vermischt mit dem Flirrgitarrenambientscore von Howard Shore und der kanadischen Rockband Metric –, zu einer Art verbaler Soundscape, noch dazu in der bis zur Unbehaglichkeit im Kinosaal forcierten, äußerst ungewöhnlichen Sterilität der akustischen Atmosphäre in der gepanzerten, getönt verglasten und vor allem total schallisolierten Limousine, in deren Innenraum – alle Blasen- und Blasiertheitsmetaphorik von vornherein kurzschließend – die Hälfte des Films spielt. Ach, wie tot das tönt! Das ist Spaßverderberei auf hohem Niveau!

Es war wohl einfach wieder mal Zeit für einen Schuss ins eigene Knie auf offener Regielaufbahn. 'Crimes of the Future' (1970), 'Fast Company' (1979, ein Actiondrama über dragracing, das ebenfalls viel aus dem Daueraufenthalt im Autombil macht), 'M. Butterfly' (1993), 'Spider' (2002): Alle zehn Jahre macht Cronenberg einen Film, der ist genuin unwatchable – und das am besten mehrmals.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Die Liebenden

(F / GB / CZ 2011, Regie: Christophe Honoré)

Leichtsinn, Hochmut, Lust und Wut
von Wolfgang Nierlin

Alles beginnt mit Schuhen. Zu der von Eileen gesungenen französischen Version des Nancy Sinatra-Songs „These Boots Are Made For Walkin’' gehen sie an den Füßen ihrer eleganten Trägerinnen in Großaufnahme …

Alles beginnt mit Schuhen. Zu der von Eileen gesungenen französischen Version des Nancy Sinatra-Songs „These Boots Are Made For Walkin’' gehen sie an den Füßen ihrer eleganten Trägerinnen in Großaufnahme durchs Bild. Ein besonders exquisites Paar, vom erfindungsreichen Roger Vivier für Christian Dior entworfen, hat die junge Schuhverkäuferin Madeleine (Ludivine Sagnier) eben geklaut, um nach Feierabend als Gelegenheitsprostituierte potentielle Freier zu verführen und ihr „Taschengeld“ aufzubessern. So zumindest lautet die „elterliche Legende“, wie ihre Tochter Véra (Chiara Mastroianni) im Rückblick erzählt. Als Madeleine bei einem ihrer Liebesdienste den tschechischen Arzt und Endokrinologen Jaromil Passer (Radivoje Bukvic) kennen lernt, ist es um sie geschehen. Sie heiratet, folgt ihrem leichtlebigen Ehemann schweren Herzens nach Prag und bringt im Jahre 1965 ihre Tochter Véra zur Welt, deren Aufwachsen der Film über wechselnde Schuhgrößen vermittelt.

In warmes Licht und cremige Farben taucht Christophe Honoré das Leben und die Liebe seiner Protagonisten. Mit leichter Hand und romantisierender Note erzählt er in seinem Musical „Die Liebenden“ („Les bien-aimés') von individuellen Aufbrüchen in einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche; und er entfaltet dafür eine kunstvoll gestaltete Chronik komplizierter Liebesverhältnisse, die einen Zeitraum von über vierzig Jahren umfassen. Aus wechselnden Perspektiven und zu ebenso wechselnden Zeitpunkten, an Schauplätzen in Paris, Prag, London, Montreal und Reims entsteht ein Panorama des modernen Beziehungslebens, in das Honoré, von Jacques Demy inspiriert, immer wieder melodramatische Gesangseinlagen seiner Liebeskranken setzt. „Ich kann nicht leben, ohne dich zu lieben“, singt etwa Madeleine, als sie im Jahr des Prager Frühlings von ihrem treulosen Mann betrogen wird und sich daraufhin von ihm trennt.

Damit ist das letzte Wort über dieser Beziehung, deren Partner in späteren Jahren von Catherine Deneuve und Milos Forman gespielt werden, aber noch nicht gesprochen. Schließlich zählt Jaromil zu beider Tugenden neben Leichtsinn und Hochmut, auch noch Lust und Wut. Und weil der Apfel nicht weit vom Stamm fällt, wie es in einem der Chansons heißt (oder auch: „Wie die Mutter, so die Tochter.“) ergeht es ihrer Tochter Véra in den Wechselfällen ihres Liebesverlangens kaum besser. Im Gegenteil: Während die Zeit vergeht und die Jugend endet, sie ihren Freund und Lehrer-Kollegen Clément (Louis Garrel) provozierend unbekümmert betrügt und dann irgendwann aufgibt, löst die Begegnung mit dem homosexuellen amerikanischen Rockmusiker Henderson (Paul Schneider) jenes große, geradezu ausschließliche und deshalb tragische Gefühl in ihr aus, das ihr schließlich zum Verhängnis wird: „Ohne deine Liebe kann ich nicht leben“, lautet die entscheidend abgewandelte Version ihres Liebesleids.

Ted

(USA 2012, Regie: Seth MacFarlane)

Wie Mutti Kunis dem Wahlberg einen Bären gebar
von Drehli Robnik

Hallo, Hollywoodsommerkonzeptkomödie zum Thema Unvernünftig-Bleiben! In diesem Format brachte der Vorjahrserfolg von 'Bridesmaids – Brautalarm' etwas Gendergleichberechtigung in Sachen Nicht-ganz-dicht-sein-Dürfen (im Kopf und auch sonst). Nun kommt 'Ted', das heißt: …

Hallo, Hollywoodsommerkonzeptkomödie zum Thema Unvernünftig-Bleiben! In diesem Format brachte der Vorjahrserfolg von 'Bridesmaids – Brautalarm' etwas Gendergleichberechtigung in Sachen Nicht-ganz-dicht-sein-Dürfen (im Kopf und auch sonst). Nun kommt 'Ted', das heißt: Es regieren wieder die Buben; und die müssen alles dürfen.

Auch mit Ende dreißig hält man an Jugendritualen und Kindheitshelden fest: Kiffen, Schweinigeln, Couchsurfen, Endlosfernsehen, alte Rockhits, alte Filme – zumal der 'Flash Gordon' von 1980, dessen Queen-Soundtrack und 'Star' Sam J. Jones hier einige gediegen phrasierte Retromomente feiern. Alltag als Konsumerinnerungsverkultung: 'Ted' exerziert das durch, sanft satirisch, sprich: propagandistisch, jedenfalls anbiedernder als es in rezenten einschlägigen Komödien mit Seth Rogen bzw. von Judd Apatow geschehen ist, im Wechsel zwischen obsessivem Kindergauben und einer ebenso obsessiven sarkastischen Desillusionierung, die uns wieder, öh: runterholt (Kennt man ja aus 'Shrek'.).

'Ted' will noch mehr: Der Titelheld ist ein – digital animierter – dauergeiler Plüschbär; wie der zum quasi-menschlichen ewigen Intimfreund des von Mark Wahlberg dargestellten (quasi-)menschlichen Helden wurde, das tut wenig zur Sache bzw. fällt in die Kategorie 'Kindergaube' (in einem Frühachtziger-Weihnachts-Intro, dessen sich selbst penetrant desavouierender Märchenonkelkommentar von Patrick Stewart gesprochen wird). Wie Ted sich benimmt, das fällt in die Kategorie Desillusionierung: Er spricht, säuft, kifft und steht so zu seinem ewigen Lebenspartner in einer Beziehung der Verdoppelung bzw. Verkörperung. Soll heißen: Ted ist zwar etwas kleiner und pummeliger als der von Wahlberg gespielte Autoverleihangestellte und Underachiever (und meistens nackt), aber sonst ganz gleich wie er, sein Double und Gegenüber, zugleich die plüschige Inkarnation dessen, was an dem Mann nicht Mensch ist, sondern ein exzessiver Identitätskern, ein Bär als ein Mehr, das hier eher ein Weniger ist, der Hardcore eines verendlosigten Bub-Bleibens – und eben Nicht-Eintretens in die Wechselseitigkeiten bürgerlicher Erwachsenheit. (Mit oder zwischen Deleuze, Agamben und Žižek gesagt: Das Bub-Bleiben im Medium des Antiautoritär-Bär ist die genderhegemonial hässliche Seite eines posthumanen, postpatriarchalen Tier-Werdens.)

Ted ist, was die Leute wollen, und die, die alles dürfen, was sie wollen, sind notorischerweise die Buben. Dies ist ein Retro-Film, und gegenwärtig retrokulturell bespielte Buben aus der Altersgruppe des Buben aus 'Ted' (oder etwas älter) erinnert dieser Kurzname weniger an einen Teddybär – und schon gar nicht an jenen US-Präsidenten (den ersten, weniger berühmten Roosevelt), nach dem der Legende nach das Stoffspielzeug international benannt wurde –, sondern eher an ein anderes Jugendmaskottchen namens TED, an den 'Tele-Dialog', mit dem die Fernsehshow 'Wetten, dass…?' (vormals: 'Wetten, daß…?') in den späten 1980er Jahren Geschmack und Wollen des Publikums in Sachen Wettkönig des Abends live und interaktiv ermittelte, unter Anleitung von Mastermind Frank Elstner, der später von dem auf Lebenszeit praktizierenden Buben-Ideologen Thomas Gottschalk abgelöst wurde, so wie der TED (damals der Gipfel der Tele-Demokratie, quasi der Wahl-Berg) später vom Web Zweinull. Und so wie übrigens Ted, also der aus der Hollywoodkomödie, wohl bald – in der Disziplin 'Bestückung von Büropinwänden und -screens mit triebgesteuert amoralisch sprücheklopfendem Flauschgetier' – Garfield ablösen bzw. dessen Weltherrschaftserbe antreten wird.

Bei der ostentativ tiefen Redseligkeit des Bären im Verbund mit dem plötzlich unter Leistungs- und Beziehungsdruck (es geht um eine heterosexuelle Beziehung zu einer Frau aus Fleisch und Blut, nicht Plüsch) gestellten Helden, beim Konzept von 'Ted' also, da ist auch 'Der Biber' mit im Spiel – mehr als nur ein herber Hauch des Titelplüschwesens aus der gefloppten, hochgradig eigenwilligen Mel Gibson/Jodie Foster-Groteske 'The Beaver' (2011) mit im Spiel. (Jetzt keine Wortspiele mit Justin oder der englisch-umgangssprachlichen Bedeutung dieses Worts – beides ist im Bubenkontext zu sehr aufgelegt.) Naja, und 'Alf' ist da wohl auch mit drin, aber auf dessen Vorbildfunktion weist der Dialog von 'Ted' eh mit pflichtschuldigem Augenzwinkern hin. Wer aber wollte die Mastermind-Funktion des für die TV-Serie 'Family Guy' renommierten Seth MacFarlane in Frage stellen? Der hat den Ted gesprochen und den Film inszeniert; in seiner Regie steuert Walter Murphy (der einst Beethovens Fünfte im Discosound verjazzte) einen gepflegten Swing-Score bei, und ein gaudiger Cast spielt durchwegs stark auf.

Viele der – auf Ethnizität (sowie Antisemitismus), Arbeitswelt und Körperausscheidungen fokussierten – Gags sitzen; viele auch nicht. Der Kurzauftritt von Norah Jones als herself bzw. Teds Fuckbuddy hat was; die vielen Promi-Namedrop-Injokes haben nix. Wenn Ted gefragt wird, wer der fettleibige stoppelglatzige Knabe hier im Raum ist, und er erwidert: 'That‘s Sinead O‘Connor. She don‘t look so good no more,' dann ist das billig (oder bärig). Wenn eine Fantasiesequenz lang der Wahlberg-character an seinen ersten Tanz mit seiner Freundin zurückdenkt und sich in die Rolle des Kapitäns in weißer Galauniform aus der Disco-Szene in 'Airplane!', der Großmutter aller Genreparodien (aus demselben Jahr wie 'Flash Gordon'), hineinimaginiert, eine Szene, die ja ihrerseits schon parodistische Paraphrase einer John Travolta-Tanzszene aus 'Saturday Night Fever' war – dann ist auch das billig, aber von einer Art, die hirnsausenmachend, weil völlig direkt und zugleich potenzierend ist, das Reenactment eines Reenactment, Parodie einer Parodie. Jedenfalls schlägt es die Retro-Traumszenen von Wahlbergs Mit-Surfen mit Flash (Gordon) in den wackeligen, aber ernst gemeinten Bildern des von ihm verehrten Films um Längen.

Das Finale läuft dann zunächst nach 'Toy Story'-Manier ab: Ted wird entführt, im Showdown auf einem Turm im Sportstadion zerfetzt und ist eigentlich schon so gut wie tot. Die nachfolgende Heilungsszene ist die endgültige Demontage dessen, was dem Bären-Buben in die Quere seines selbstverdoppelnd-narzisstischen Allmachtsphantasmas kommen könnte – nämlich der Frau, insofern sie Reiz auf und dadurch Macht über ihn ausüben könnte. Die ihre ganze Beziehung – zumindest den ganzen Film – lang von Ted genervte, aber doch vieles engelsmütig verzeihende Freundin des Helden muss dessen Bären wiedergebären; anders lässt sich die Szene von Teds Wiederbelebung auf einer Art OP-Tisch, bei der nur die Frau ihr lebensspendendes Wunder wirken kann (sie näht ihn zusammen!), aus dem dann eine Kernfamilie mit ein bis zwei Kindern hervorgeht, kaum verstehen. (Jedes andere Verstehen wäre sozusagen eine krampfhafte Überinterpretation.) Obwohl von Mila Kunis gespielt, soll die Freundin schlussendlich gerade nicht als attraktiv, sondern als alles schmunzelnd gewährende Pflegerin definiert sein und das Kind retten – das plüschige ihrer duldsamen Liebe wie auch das innere ihres Nicht-Mannes. Da zeugt es von einer fast genialen Form ironisch-impliziter Filmreferenz, dass die Hauptdarstellerin aus 'Flash Gordon' in 'Ted' nicht auftritt, obwohl sie aussieht wie Kunis als Omi und ihr Nachname für diesen stellenweise entbärlichen Film fast Programm sein könnte: Ornella Muti.

Töte mich

(D / F / CH 2012, Regie: Emily Atef)

Flucht vor dem Anfang
von Ricardo Brunn

Ein Mädchen steht an der Klippe und springt nicht. Weil sie sich für den Tod des Bruders verantwortlich fühlt, will Teenager Adele (Maria Dragus) ihrem Leben ein Ende setzen. Allein, …

Ein Mädchen steht an der Klippe und springt nicht. Weil sie sich für den Tod des Bruders verantwortlich fühlt, will Teenager Adele (Maria Dragus) ihrem Leben ein Ende setzen. Allein, es fehlt der Mut. Glücklich deshalb der Umstand, dass der entflohene Mörder Timo (Roeland Wiesnekker) zufällig im Haus der Eltern Adeles Schutz sucht und das Mädchen ihn sogleich darum bittet, sie von ebenjener Klippe zu stürzen. Timo, verwirrt, aber ganz Mann der Stunde, nimmt Adele erst einmal als Pfand und verspricht, sie in Frankreich (immer noch das beste Land, um sich als entflohener Sträfling abzusetzen, solange der Film nicht von einem anderen Staat koproduziert wird und deshalb dort gedreht werden muss) freizulassen und umzubringen, bevor er sich selbst nach Afrika absetzt.

Vollkommen gleich wie absurd konstruiert die Ausgangssituation in Emily Atefs neuem Film „Töte mich“ auch erscheinen mag, solange dieser Beginn in ein Geschehen aufgeht, seine Künstlichkeit nach und nach verblasst und schließlich in Vergessenheit gerät, sollte alles möglich sein. Und tatsächlich ist der Plot bemüht, sich zumindest geografisch vom Anfang zu entfernen, indem die für Road-Movies typischen Und-dann-Stationen konsequent aneinandergereiht werden. Da wird sich verlaufen, Nahrung ergattert, im Wald geschlafen. Zwingend ist das Ganze dabei selten, weil Nebenfiguren und Orte austauschbar bleiben und keine spürbaren Auswirkungen auf die Beziehung der beiden Protagonisten mit sich bringen. Aber egal, Hauptsache erst einmal weg vom Anfang, bloß nicht mehr dran denken, was da war mit der Selbstmörderin und dem Mörder, in der Hoffnung, es wird am Ende „diesen Moment, in dem es begann, nicht gegeben haben.“ (Antje Ravic Strubel)

Dumm nur, dass genau das nicht geschieht, dass der Anfang atlasschwer auf dem restlichen Film liegt und zum Gefängnis für die Figuren und die Dramaturgie wird, bis die Logik der Erzählung in sich zusammenbricht. Mit jeder neuen Szene wird die vorhergehende unweigerlich in Frage gestellt, weil die alchemistischen Versuche, den künstlichen Anfang zu überwinden oder zu plausibilisieren, in peinlichen Erklärungsnöten der Regisseurin münden, sie dabei immer nur auf die Ausgangssituation zurückgeworfen wird und ihre Figuren vollkommen aus den Augen verliert.

Diese stolpern in der Folge nicht nur planlos durch Wiesen und Wälder, bis jede Glaubwürdigkeit dahin ist, sondern auch durch die kantig herben Dialoge, die in ihrer Einsilbigkeit eigentlich nur für einen prädestiniert sind: Bruce Willis. So sehr sich Hauptdarsteller Roeland Wiesnekker auch bemüht, seinen laienhaft dahingesagten Sätzen doch noch Leben einzuhauchen, er scheitert am eigenen Talent genauso wie am Drehbuch und der Tatsache, dass er eben nicht Bruce Willis ist. Daneben rätselt sich die junge Maria Dragus von einem nichts sagenden Gesichtsausdruck zum nächsten, einfach weil sie nicht weiß, wie Todessehnsucht mimisch zu fassen sein könnte und das Drehbuch ihr auch keinerlei Raum bietet, dieses Gefühl in physische Aktionen zu übersetzen. Da ändert auch die lehrbuchartige Maskulinisierung der Hauptfigur gegen Ende des Filmes wenig. Diese bleibt ein dramaturgisches Mahnmal. Ein verzweifelter Versuch, den vernachlässigten Figuren doch noch eine Entwicklung abzuringen.

Der Anfang des Filmes ist bis zum Ende hin omnipräsent, weil eine Idee zu haben eben nicht genug ist. Deshalb ist „Töte mich“ auch nicht als Gegenpol zu etwaigen Migrationsgeschichten der letzten Jahre lesbar, denn selbst dieses Thema bleibt diffus und schlagzeilenartig. Außer der geografischen Stoßrichtung (Afrika) gibt es keine weitere Auseinandersetzung mit Migration oder eben deren Umkehrung im Angesicht der europäischen Krise (und in sechs (!) Jahren Drehbuchentwicklung hätte viel einfließen können). Alle Deutungen in diese Richtung können also nur als narzisstische Überinterpretationen gelesen werden, als Intellektualisierung eines Problems, das der Film selbst nicht geschaffen hat oder in irgendeiner Weise ernsthaft behandelt.

Letztlich ist „Töte mich“ großer Quatsch, weil der Film sich in jeder Hinsicht mit dem eigenen Pitch zufrieden gibt. Es hat einfach von Beginn an kein Entkommen vor dem Anfang gegeben.

2 Tage New York

(F / D 2011, Regie: Julie Delpy)

Handlungsturbulenzen
von Wolfgang Nierlin

Julie Delpy versteht sich hervorragend auf das abgründige Spiel mit der Selbstironie. Auch in ihrer neuen Komödie „2 Tage New York“, dem Gegenstück zu ihrem früheren Film „2 Tage Paris“, …

Julie Delpy versteht sich hervorragend auf das abgründige Spiel mit der Selbstironie. Auch in ihrer neuen Komödie „2 Tage New York“, dem Gegenstück zu ihrem früheren Film „2 Tage Paris“, gelingt dies deshalb so gut, weil sich die französische Schauspielerin und Regisseurin in der zentralen Rolle selbst besetzt hat. Respekt- und tabulos gegenüber sich selbst und ihrem Alter Ego Marion Dupres inszeniert sie die allzu menschlichen, tief im alltäglichen Leben wurzelnden Spleens und Neurosen ihrer gestressten Heldin und zeigt sich darin schlagfertig wie Woody Allen. Zugleich hält sie dem gesellschaftlichen Zeitgeist, seiner angeblichen Liberalität und Toleranz, den Spiegel vor, indem sie seinen normierten Wahnsinn und seiner geradezu institutionalisierten Angst mit intelligentem Witz und Spott belegt. Dabei dreht sich erneut alles um Sex. Oder anders gesagt: Der Körper und das Geschlechtliche determinieren über alle kulturellen Differenzen hinweg das Fühlen, Denken und Handeln der Menschen.

Mentalitätsunterschiede, kulturelle Gegensätze und sprachliche Kommunikationsbarrieren sind auch dieses Mal die treibende Kraft für Handlungsturbulenzen und einen geschliffenen Wortwitz. Marion, die in New York als Fotografin arbeitet, bereitet gerade eine Ausstellung vor, zu deren konzeptkünstlerischem Bestandteil (als parodistischer Seitenhieb auf den Kunstbetrieb) auch der Verkauf ihrer Seele gehört, als ihre Familie aus Paris zu einem Kurzbesuch eintrifft. Doch zunächst bleibt ihr verwitweter Vater Jeannot (Albert Delpy) mit geschmuggelten Wurst- und Käsewaren im Zoll hängen; und dann hat ihre exhibitionistische Schwester Rose (Co-Autorin Alexia Landeau) mit dem kiffenden Aufschneider Manu (Alex Nahon) auch noch einen Liebhaber aus Marions früherem Leben im Schlepptau. Die Konflikte, in Wortgefechten auf engem Raum verdichtet, sind also vorprogrammiert. Und das Klischee von den kulturell verfeinerten Franzosen wird dabei kräftig gegen den Strich gebürstet.

Als Barbaren aus einem früheren Jahrhundert erscheinen diese in den Alpträumen von Marions Freund Mingus (Chris Rock), dem Hauptleidtragenden. Den Radiomoderator trennen nämlich nicht nur Hautfarbe und Sprache von seinen Artgenossen aus Übersee, sondern auch die Manieren. Dazu kommt noch, dass er seine Freundin, die schimpfend und handgreiflich mit ihrer Familie kommuniziert, plötzlich kaum wieder erkennt. Deren krisenhaftes Leben nach Trennung und Schwangerschaft, flankiert von verhindertem Sex und von mäßigem beruflichem Erfolg, stehen eigentlich im Zentrum des Films. Mit ihren Fotos dokumentiert Marion ihre „Beziehungsentwicklung“ und beansprucht für diesen dargestellten „Mikrokosmos“ zugleich Allgemeingültigkeit. Und so erzählt Julie Delpy, filmisch verspielt, konfus und unbekümmert, entgegen der Absicht eher nebenbei von der anvisierten „Liebesgeschichte mit Happy End“. Das Puppenspiel in der Rahmenhandlung hält diesbezüglich nur notdürftig die teils losen, teils wirr geknüpften Erzählfäden zusammen. Als witzige, tempogeladene Nummernrevue funktioniert der Film jedoch recht gut.

Bombay Diaries

(IN 2010, Regie: Kiran Rao)

Sublimierte Wirklichkeit
von Wolfgang Nierlin

Entlang Mumbais berühmter Meerespromenade Marine Drive geht die Fahrt in einem Taxi, während der Monsunregen gegen die Autoscheiben prasselt. Dabei gehört der subjektive Kamera-Blick aus dieser Exposition einer jungen Studentin …

Entlang Mumbais berühmter Meerespromenade Marine Drive geht die Fahrt in einem Taxi, während der Monsunregen gegen die Autoscheiben prasselt. Dabei gehört der subjektive Kamera-Blick aus dieser Exposition einer jungen Studentin namens Yasmin (Kriti Malhotra), von der wir zunächst jedoch nur erfahren, dass sie sich seit wenigen Monaten in der indischen Millionen-Metropole aufhält. Noch immer fühle sie sich fremd und leide unter Heimweh, sagt sie zum Taxifahrer. Die frische Meeresluft empfindet sie als Ausdruck des Verlangens. Tatsächlich ist Yasmin gerade dabei, ein Videotagebuch für ihre Schwester Imram zu realisieren. Melancholische Stimmungen, verursacht durch Liebeskummer, Fremdheitsgefühle und die Suche nach einem Halt, wechseln sich ab mit Bildern der brodelnden, höchst vitalen Stadt. Dokumentarisches und Persönliches verbinden sich in diesen filmischen Aufzeichnungen zu einem bewegenden Vermächtnis.

Als Hommage an die flirrende Intensität und gewaltige Energie der tropischen Hafenstadt versteht auch die indische Regisseurin Kiran Rao ihren Debütfilm „Bombay Diaries“ (Dhobi Ghat). Mit verschiedenen Aufnahmeformaten an Originalschauplätzen gedreht, folgt sie in ihrem episodisch gebauten Drama und unter wechselnder Perspektive verschiedenen Protagonisten, deren Wege sich (mitunter allzu oft und zufällig) kreuzen und deren Schicksale sich immer deutlicher miteinander verbinden. Dabei geht es um unerfüllte Liebe, die determinierende Kraft extremer sozialer Gegensätze, das Scheitern von Träumen und um den Mut zur Freundschaft. Physisch direkt und emotional berührend spürt Kiran Rao den geheimen Verbindungen zwischen ihren Helden nach, spinnt ihre Bewegungen ein in ein kalkuliert organisiertes System von Hinweisen und Zeichen und reflektiert darüber hinaus die Entstehung von Kunst.

Im Universum ihrer reizvoll konstruierten Parallelgeschichten ist es dem Maler Arun (gespielt von Raos Ehemann, dem Bollywoodsuperstar Aamir Khan) vorbehalten, nach einem Wohnungsumzug Yasmins Videotapes in einer Blechdose zu entdecken. Durch die Auseinandersetzung mit deren tragischer Geschichte gewinnt auch seine eigene Kunst neue Kraft und sein Blick aufs Leben eine neue Richtung. Verbunden ist er darin mit der jungen, überaus erfolgreichen Investmentbankerin Shai (Monica Dogra), die sich nach Jahren in den USA jetzt in ihrer Heimatstadt Mumbai als Fotografin versucht. Selbst wohlhabend und gutsituiert, spürt sie in ihren Bildern dem Leben der sozial benachteiligten Menschen nach, was im Film jedoch über den oberflächlichen Status der Illustration kaum hinausgeht. Begleitet wird sie auf ihren Streifzügen durch die Stadt und ihre entlegenen Bezirke – den bunten Märkten, Parfümerien, Baustellen und der im Original titelgebenden Wäscherei – von dem jungen Wäscher (und Rattenfänger) Munna (Prateik), der von einer Karriere als Filmschauspieler träumt und sich unsterblich in die schöne Shai verliebt. Uns so ist es letztlich die Sublimierung einer unmöglichen Liebe, die sich in Kiran Raos sehenswertem Film „Bombay Diaries“ immer wieder kinotauglich über eine authentische Wirklichkeitsdarstellung legt.

Die Wohnung

(D / ISR 2011, Regie: Arnon Goldfinger)

Wie uns Oma Gerda langsam unheimlich wurde
von Ulrich Kriest

In seinem Dokumentarfilm „Die Wohnung“ rekonstruiert der Filmemacher Arnon Goldfinger Familiengeschichte mit detektivischer Verve. „Fängt man an, von der Vergangenheit zu sprechen, findet man kein Ende mehr!“, heißt es gegen …

In seinem Dokumentarfilm „Die Wohnung“ rekonstruiert der Filmemacher Arnon Goldfinger Familiengeschichte mit detektivischer Verve. „Fängt man an, von der Vergangenheit zu sprechen, findet man kein Ende mehr!“, heißt es gegen Ende des Films einmal. Da ist der Filmemacher Arnon Goldfinger schon nicht mehr neugierig, sondern eher ratlos. Angefangen hatte der Film eher harmlos: Gerda Tuchler, die Großmutter des Filmemachers, war im hohen Alter von 98 gestorben und jetzt muss ihre Wohnung geräumt werden.

Erstes Problem: Gerda und ihr Mann Kurt konnten sich offenbar von wenigen Gegenständen trennen, durchaus zur Belustigung ihrer Nachkommen finden sich Sammlungen von eleganten Handschuhen, ziemlich angejahrter Pelzmode und allerlei Schnickschnack wie ein paar Ausgaben des Nazi-Kampfblattes „Der Angriff“. Zweites Problem: Gerda und Kurt haben Deutschland 1937 verlassen, wurden aber in Israel offenbar nie heimisch. Sie lernten kein Hebräisch, sprachen mit ihren Enkeln lieber englisch, hatten eine komplett deutschsprachige Bibliothek.

Noch irritierender: es existieren Fotos von Gerda und Kurt, die nach dem Krieg in der Bundesrepublik aufgenommen wurden. Mit auf den Fotos: ein deutsches Ehepaar. Kein Familienmitglied mag davon wissen, aber es tauchen Briefe auf, die von der Geschichte einer langen Freundschaft erzählen. Wer ist dieses Ehepaar von Mildenstein? Und wie kommt die Nazi-Propaganda in den Besitz von Gerda und Kurt? Warum haben sie sich davon nicht getrennt?

Goldfingers Mutter Hannah erklärt, man habe über Familiengeschichte nie länger gesprochen. Goldfinger macht sich auf die Suche, stößt auf Mauern des kollektiven Beschweigens und sich die Geschichte-Schönredens. Doch, siehe oben, wenn man mit der deutsch-jüdischen Vergangenheit anfängt, öffnen sich Tore des Schreckens – und aus einer ganz privaten Familiengeschichte wird eine-deutsch-israelische Co-Produktion.

Baron von Mildenberg war nicht nur ein Reisejournalist, der sich für das Leben in Palästina interessierte, sondern ein SS-Mann, der lange vor 1933 in die Partei eingetreten war, als Leiter des NS-Judenreferats direkter Vorgesetzter von Adolf Eichmann war, dann Referent im Reichspropagandaministerium wurde und schließlich mit bereinigtem Lebenslauf als Repräsentant von Coca-Cola sein Auskommen fand. Kurt Tuchler war ein glühender Zionist und träumte vom gelobten Land, sympathisierte also vielleicht sogar mit einigen Ideen Mildensteins vom Judenstaat in Palästina. An dieser Freundschaft unter kultivierten Menschen konnte offenbar auch der Holocaust nicht rütteln: obwohl Gerdas Mutter Ende 1942 in Theresienstadt »verschwand«, blieb man auch nach dem Krieg befreundet.

Von all dem haben die Kinder und Enkel Gerdas nichts gewusst. Goldfinger stöbert in Wuppertal auch Mildensteins Tochter Edda auf, eine eloquente Frau, die sich sehr gut an die jüdischen Freunde ihrer Eltern erinnert. Besser jedenfalls, als an die NS-Karriere ihres Vaters, die offenbar im Hause Mildenstein mit einer Legende kaschiert wurde. Doch Goldfinger lässt nicht locker, findet eine alte „Spiegel“-Story von 1966 über die Geschichte der SS, spricht mit dem Verfasser, geht in die Archive, befragt Historiker. Schließlich kommt es erneut zur Begegnung mit Tochter Edda, nur dass der mittlerweile von seinen Recherchen ziemlich überforderte Filmemacher jetzt Unterlagen dabei hat, die bestimmte Fragen zulassen. Die Situation wird rasch unbehaglich, obwohl der Tonfall noch immer freundlich ist. Doch hatte nicht kurz zuvor Hannah nicht achselzuckend gewarnt: „Würdest du einem Freund auf die Nase binden, dass sein Vater ein Mörder war, wenn er es selbst nicht weiß? Wozu?“

Wie in jedem guten Krimi bleiben am Schluss entscheidende Leerstellen, auf die sich niemand einen Reim zu machen weiß. Doch auf dem Weg dorthin wurde man Zeuge, dass nicht nur auf Täterseite nach 1945 geschwiegen wurde. Gleich zu Beginn des Films hatte ein Antiquar darauf hingewiesen, dass es in Israel Menschen gibt, die 10 oder 20 Jahre in Deutschland gelebt haben, danach aber 50 Jahre in Israel. Als Fremde, in der Diaspora, weil sie in ihrer Seele Deutsche blieben. So wie Gerda und Kurt?

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

17 Mädchen

(F 2011, Regie: Delphine Coulin, Muriel Coulin)

Marienkäfercheninvasion
von Wolfgang Nierlin

Der Kontrast zwischen kleinstädtischer Enge und der Weite des atlantischen Ozeans grundiert Delphine und Muriel Coulins Film „17 Mädchen“ („17 filles“), den die beiden Schwestern in ihrer bretonischen, von Umbrüchen …

Der Kontrast zwischen kleinstädtischer Enge und der Weite des atlantischen Ozeans grundiert Delphine und Muriel Coulins Film „17 Mädchen“ („17 filles“), den die beiden Schwestern in ihrer bretonischen, von Umbrüchen geprägten Heimatstadt Lorient gedreht haben. Es ist das Jahr, in dem die Marienkäferchen eine Invasion starten und die Natur gleich doppelt verrücktspielt. Denn nach und nach werden immer mehr minderjährige Mädchen absichtlich und auf Verabredung schwanger. Dass diese Schwangerschaften auch als Manifestation jugendlichen Widerstands gegen die beschränkte Erwachsenenwelt und ein vorgezeichnetes Leben zu verstehen sind, formuliert der Film mehr als Behauptung. Die sozialen Ursachen und familiären Anlässe – von der überforderten alleinerziehenden Mutter bis zum autoritären Gebaren der Lehrer und Eltern – sind nur angedeutet; stattdessen konzentrieren sich die französischen Filmemacherinnen in ihrem Coming-of-age-Film auf die Perspektive der Mädchen.

Deren ausgeprägt verschworenes Cliquenverhalten durchzieht dieses ebenso energiegeladene wie nachdenkliche Langfilmdebüt, dem tatsächliche Ereignisse zugrunde liegen, von Anfang an. Die 16-jährige Camille (Louise Grinberg), die erste Schwangere, ist inoffizielle Anführerin einer Bande von zunächst fünf Freundinnen, die den Schulsport schwänzen, in den Dünen kiffen und sich offensiv den erzieherischen Autoritäten verweigern. Dass sie andererseits auch Mitschülerinnen ausgrenzen, namentlich Florence (Roxane Duran), sagt viel über ihr Alter und noch mehr über ihre Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit, Liebe und Solidarität. Denn es ist schließlich ausgerechnet die Außenseiterin Florence, die, vom Verlangen nach Freundschaft und Teilhabe getrieben, das utopische und zugleich kindlich-naive Streben der Mädchen nach Freiheit und Unabhängigkeit in Gang setzt.

„Jetzt habe ich einen Grund, etwas aus meinem Leben zu machen“, formuliert Camille ihre neugewonnene Perspektive. Da sie nach der Geburt des Kindes sowohl ein Leben in der Schule als auch eines zu Hause habe und darüber hinaus voraussetzungslos geliebt werde, verfüge sie über „200 Prozent Leben“. Der Anspruch, es besser zu machen als die eigenen Eltern, deren hilflose Reaktionen weitgehend schematisch gezeichnet sind, lässt die Mädchen von einer gemeinsamen Schwangeren-Wohngemeinschaft träumen. Immer wieder beschwören die Schwestern Coulin, unterstützt von einem rockigen Soundtrack, die unbändige Kraft der Jugend und ihre Lust an der Regelverletzung. In einer poetischen Spannung dazu stehen melancholische Momentaufnahmen, in denen die Mädchen, fotografiert im Ambiente ihrer Jugendzimmer, über sich selbst nachdenken. Verstärkt wird diese unterschwellige Unsicherheit noch durch Blicke auf Details von Körpern und Haut, die das Zerbrechliche und die Verletzlichkeit der Jugendlichen festhalten. Und so sind auch die märchenhaften Träume der siebzehn Mädchen nur eine schmerzliche Etappe aus der Zeit des Übergangs.

Rock of Ages

(USA 2012, Regie: Adam Shankman)

Smells Like No Spirit
von Drehli Robnik

„Rock of Ages' erinnert an Franz Antel-Klamotten von circa 1971; ansonsten kann man dieser Verfilmung einer Backstagemusicalkomödie wenig zugutehalten. Das kostümfreudige Sich-zum-Dodel-Machen von Publikumslieblingen, hier im Ambiente eines Hair Metal-Clubs …

„Rock of Ages' erinnert an Franz Antel-Klamotten von circa 1971; ansonsten kann man dieser Verfilmung einer Backstagemusicalkomödie wenig zugutehalten. Das kostümfreudige Sich-zum-Dodel-Machen von Publikumslieblingen, hier im Ambiente eines Hair Metal-Clubs in L.A. 1987, haut halbwegs hin: Als Avatare von Paul Löwinger und Franz Muxeneder fungieren Alec Baldwin und Russell Brand (der im Hardrock-Zappelclown-Fach festhängt), Paul Giamatti ist Gunther Philipp, als Susi Nicoletti zieht Mary J. Blige Divenregister. Im Stuntcasting- und Schauwertzentrum dieser Designerproduktion besetzt Tom Cruise – um den Vergleich auf die rezente Pophitpotpourrimusicalwelle auszudehnen – die Position von Meryl Streep in „Mamma Mia!': Publikumsgenerationen verbindendes show horse, bei dem jede trotz des Alters gelingende Verrenkung und Entblößung in sich reflektiert und doppelt obszön wirkt.

Nix gegen Tom Cruise: Der macht, in der Rolle von Altrockgott Stacee Jaxx, zwischen Räkeln, Flüstern und Irrblick, den Gockel-Maniac mit gewohnter Verve. Aber das ist nicht so lustig wie sein Part in „Tropic Thunder', und es füllt nur ein Achtel des überlangen Films. Der Rest will ausgesessen sein: ein jetzt schon vergessenes junges Schmachtpaar, dressiertes Afferl, Einfühlung in die guten alten Achtziger, vor Techno, Grunge und Clinton, als Männer und Frauen noch performt haben, wie sehr sie ihre Intaktheit genießen. Brunftrock-Karaoke, Bildstilparaphrasen (Haarlicht, Draufsicht, Blaustich: grauslich), alles in jedem Sinn verschwitzt und tongue in cheek. Es regiert das Bewusstsein, das Gezeigte sei so wert- wie alternativlos: nahtlose Identifikation von Nihilismus und Hingabe im Modus des Überschmähs. Ergo befiehlt der alle zur Doppelhochzeit in L.A. am Wörthersee vereinende Schlusshadern „Don’t stop believing!'. Öhm.. warum eigentlich nicht?

Fast verheiratet

(USA 2012, Regie: Nicholas Stoller)

Eine materialistische Hollywoodkomödie
von Drehli Robnik

Immer wieder blendet dieser Film, auch mal zu Van Morrison-Klängen, zurück zum Magic Moment eines Kostümfests zu Silvester, bei dem Tom und Victoria zusammenkamen: er im Bunny-Plüschanzug, sie im Lady …

Immer wieder blendet dieser Film, auch mal zu Van Morrison-Klängen, zurück zum Magic Moment eines Kostümfests zu Silvester, bei dem Tom und Victoria zusammenkamen: er im Bunny-Plüschanzug, sie im Lady Di-Look. Im jahrelangen Verlauf ihrer Beziehung erweist sich: Sie ist ungleich klüger als Lady Di, er aber wird immer flauschiger, lässt Haar und Bart sprießen, trägt gar wieder den Bunnyplüsch als praktischen Hausanzug, braut zuhause seinen eigenen Met und regrediert generell ins Ungustiöse.

Ein Prozess jahrelangen Verfalls nach einem doch irgendwie guten Start ins Glück beginnt, als Victoria eine Psychologie-Postdoc-Stelle an der Universität Michigan annimmt und Tom mit ihr in den kalten Norden zieht, wobei er seinen Seafoodchefkochtraumjob in San Francisco gegen einen Posten in der örtlichen, nun ja: Sandwichbelegschaft eintauscht. Und während rundum Großeltern sterben, Eltern meckern, Schwestern gebären und im Inneren Beziehungskrisen knistern, schieben die beiden ihre Hochzeit immer wieder auf: Sie sind 'Fast verheiratet' im 'Five-Year Engagament' (so der Originaltitel des Films).

Am Ende aber lernen sie, dass all das Hinauszögern nix bringt: Das halb paralysierte, halb hyperaktive Warten auf den perfekten Zeitpunkt zur Jawort-Entscheidung füreinander – wo doch schon der alles entscheidende Beginnmoment nicht perfekt, sondern hasenhaft-hatschert war –, das ist die depressive Verendlosigung einer Nicht-Haltung des Alles-Offenlassens. Jene gesellschaftlichen Verhältnisse, die (über alle Individualpsychologie hinaus) den Leuten genau dies abverlangen – nämlich sich eben nur ja nicht festzulegen und sich dabei dem ständigen Imperativ der Perfektionierung dessen, was du bist und tust, zu unterziehen –, nennen die einen euphemistisch Flexibilisierung, die anderen nennen das kritischer Neoliberalismus oder Kontrollgesellschaft. Es läuft aufs selbe hinaus: auf den antrainierten Habitus eines Alltagshandelns, das sich immer relativiert, weil es allzuvieles mitzubedenken trachtet. Von solchem ins Zwangsreflexive freigesetzten Lifestyle hat etwa Maren Ades Film 'Alle anderen' 2009 ein sehr direktes Bild, ein (Deleuze’sches) Zeitbild nahezu, entworfen, und auch 'Fast verheiratet' zielt auf ein direktes Bild von Zeit, von sozial erlebter Zeit, die vergeht, nagt, sich als Erinnerung erhält, Egos spaltet: Wenn etwa Viktoria und ihre Schwester über das Elend von Elternschaft jammern wollen, während Schwesters Kinder dabei sind, müssen die beiden ihr verbittertes Gespräch aus Rücksicht auf die unschuldig glotzenden Kleinen als quakendes Reenactment eines Sesamstraße-Dialogs tarnen.

(Kleiner Exkurs) Solche Dialoge, denen unter dem und durch den Blick einer ahnungslosen dritten Instanz eine – oft lustig anmutende – Deformation auferlegt wird, kennen wir ja markenzeichenhaft aus komödiantischen Momenten klassischer Hitchcock-Thriller; etwa wenn in 'The Man Who Knew Too Much' Doris Day und James Stewart ihr geheimes Gespräch im Mittvollzug eines rund um sie stattfindenden sakralen Chorgesangs abwickeln müssen, weil man doch grade während der Messe in einer Kirche ist; oder wenn in 'North-by-Northwest' Cary Grants Flucht vor Geheimagenten die Form einer wortwitzig sabotierten Kunstauktion annimmt, weil der Flüchtende sich in den institutionellen Sprachspielrahmen der Versteigerung einklinkt, ohne dass seine Notlage dabei offenkundig würde. Diese Position des machtvollen Dritten, der den Dialog der Einen mit den Anderen dominiert, ohne es selbst zu merken, nehmen in der mit virtuosem Witz gespielten Szene von 'Fast verheiratet' die kleinen Kinder ein, in ihrer Funktion als verlebendigtes, verkörpertes neoliberales Kapital. Dieses Kapital fordert, dass du es optimal bewirtschaftest, ihm aber auch wirklich alle Chancen eröffnest, ihm auch nicht die kleinste Kränkung (etwa durch ein mitgehörtes harsches Wort) antust, dass du ihm gegenüber immer gutgelaunt bist, nie jammerst, immer fähig bleibst, dein Handeln zu reflektieren und zu ironisieren. Vermittelt über Stanley Cavells Gedanken vom zentralen Stellenwert der remarriage comedy (der Komödie der Wieder-Bekräftigung des Ehebundes) im Hollywood-Kino, zumal in dessen Beitrag zur Formierung eines tugendhaften, entscheidungsfreien amerikanischen Subjekts, ließe sich 'Fast verheiratet' auch in anderer Hinsicht Hitchcocks Filmen über heterosexuelle Pärchen auf der Flucht oder auf Ermittlungsreise gegenüberstellen. Die Frage ist jeweils, was eine Bindung garantiert, beglaubigt – der symbolisch-performative Akt eines Jaworts oder die Erfahrung gemeinsam bestandener Abenteuer? Remarriage comedies relativieren das Jawort zugunsten der Erfahrungstests, die es erst gültig machen, indem sie seine Bekräftigung ermöglichen (nach all den Abenteuern merken die zwei, wie sehr sie zusammengehören); Hitchcock und 'Fast verheiratet' – und andere jüngere US-Comedies aus dem verästelten Judd Apatow-Kreativbiotop – zeigen, wie sich Jawort und Erfahrung ineinander auflösen, weil das Abenteuer voller symbolischer Jawort-Momente steckt und zugleich das Symbolritual des Jawort-Gebens selbst zur endlosen Teststrecke wird, zum Prozess intensiver Vorbereitungen, Aufschübe, Absagen, Durchfälle und Vorabend-Dinners, der selbst abenteuerlich (und komisch) gerät. In dieser Hinsicht knüpft 'Fast verheiratet' natürlich ganz direkt an den Vorjahrskomödienerfolg von 'Bridesmaids' an. (Ende vom Ex-, wieder auf Kurs.)

Wie auch 'Bridesmaids', 'Hall Pass', 'Funny People', 'Forgetting Sarah Marshall – Nie wieder Sex mit der Ex', 'Knocked Up – Beim ersten Mal' und andere rezente Romantic Comedies (die vielleicht so romantisch gar nicht sind, weil sie eben der Logik des Tests und der Prüfung und noch der kritischen Prüfung der Prüfung folgen) ist 'Fast verheiratet' ein Film, der nicht nur zeigt, wie Leute in und aus ihrem Leben etwas lernen können, sondern aus dem auch wir etwas fürs Leben lernen können, vielleicht sogar für unseres. (Mainstream-Kino ist ein Ort, an dem lebenslanges Lernen Wirklichkeit wird und oft lustig ist.) (Oft natürlich auch Scheiße.) Was lernen wir aus 'Fast verheiratet'? Da ist zunächst eine paulinische Weisheit: Es ist besser zu heiraten als zu pennen. Also, in Paulus‘ Korintherbrief war von 'Brennen' statt 'Pennen' die Rede, aber – you get the picture. Es geht darum, nichts unnötig lang aufzuschieben. Vielleicht ist diese Lehre – wurstle nicht im Aufschub zugunsten des richtigen Augenblicks herum, sondern entscheide dich, und weiterwursteln kannst du danach ja immer noch – auch eher über die Paulus-Lektüre des kommunistischen Ereignisphilosophen und Kinopuristen Alain Badiou zu lesen, und dann würde sie sich als Variante einer handlungsethischen Lektion von Rosa Luxemburg erweisen: Der richtige Zeitpunkt zum Handeln ist dann, wenn du endlich handelst; Perfektion wird es nie geben. (Es ging da ums Ja zur Revolution, nicht zur Ehe, das nur nebenbei.)

Ist also 'Fast verheiratet' gar ein – wenn schon nicht kommunistischer, so doch – materialistischer Film? Die Art, wie er Symbol-Akt und Endlostest-Abenteuer ineinander auflöst, spricht dafür. Ebenso das Gespür für die vielgestaltige Bedingtheit bürgerlichen Lebens – insbesondere für Arbeitsplätze –, das der Film entfaltet: Was wir sind, ist materiell bedingt: durch Dauerwinter oder kauzige Mitmenschen, zumal Kolleg_innen, durch die Stofflichkeit von Kummerspeck und Designermenüs (bis hin zum nur bedingt geilen Phantasieszenario von Sex unter Einsatz von Kartoffelsalat, in das eine kauzige Kollegin Tom hineinzwingt), durch die sich uns auferlegende Beziehungsmaterie von Rivalitäten und Identitätszuschreibungen auf dem multiethnischen Uni-Campus.

Zweite Lektion, die hier aber eher zwiespältig zum Tragen kommt: das Lenin’sche Bonmot, wonach jede Köchin imstande sein muss, die Staatsmacht auszuüben. Dazu bedarf es eines revolutionär vereinfachten Staats und einer Köchin. Was aber, wenn wir es nicht mit einer Köchin zu tun haben, sondern mit einer hochqualifizierten Nachwuchspsychologin – und einem verkrachten Koch? In ihrem Postdoktorat an der Uni ist Viktoria zweifellos imstande, Macht auszuüben, nicht direkt die der Staatsinstitution als vielmehr die gouvernementale Macht, die Führungsmacht, die durch das Wissensregime der Universität und im besonderen durch ihre behavioristischen Psychologietests ausgeübt und ausgeformt wird. Die Logik von Film als Lebensteststrecke (schon Walter Benjamin wusste, dass das Kino uns in die Endlosausweitung der Testzone einführt) und die Logik von remarriage bzw. forever delayed marriage oder multiple almost-marriage comedy, sie beide bilden sich hier noch einmal ab in den Szenen der Befriedigungsaufschubfähigkeitstestanordnung, die sich Viktoria, ihr arroganter walisischer Chef (und zeitweiser Lover) und sein Team ausgedacht haben; eine 'Anordnung' im Doppelsinn (Sabine Nessel), ein Machtgefüge, das Viktoria irgendwann dann auch auf den Bartgebüsch und Bunnyplüsch tragenden und daheim vegetierenden Tom anwendet – um mit Schrecken zu sehen, dass ihr Endlosverlobter gleich die alten Donuts auffrisst, anstatt auf frische zu warten, dass er also das Zweitbeste jetzt anstatt das Beste irgendwann will (siehe Lektion Luxemburg). Auf das Ethos des Zweitbesten, das immer schon Bestes gewesen sein wird, sofern wir es hingebungsvoll wollen, groovet sich der Film gegen Ende ein, feiert etwa eine musikalische Glücksmontagesequenz lang, wie Tom – zurück in San Francisco, geheilt vom ressentimentalen Festhalten am Luxusrestaurantseafoodchefkochphantasma – seine eigene pfiffige, ganz dem Multiethnischen zugetane Homemade-Imbissbude betreibt; und da sehen wir plötzlich die als Psychologin zur Führungsmacht befähigte Viktoria als seine fröhliche Kochgehilfin. Das aber kann es nicht sein! Dass es kurz einmal – zum Glück geht der Film dann noch weiter, und die 'Köchin' dirigiert ja dann auch die ostentativ nicht-perfekt stattfindende Hochzeit – so aussieht, als wäre alles eitel Wonne, wenn das Männlein seinen bescheidenen Kreativarbeitertraum verwirklicht und das überqualifizierte Weiblein, aus den Fängen angemaßter Intellektualität befreit, sich an seiner Seite zur Familienbetriebshilfsarbeit einfindet.

Soll heißen: In genderpolitischer Hinsicht ist da noch room of improvement vorhanden, und dieser Aspekt von Apatow-Komödien ist exemplarisch verbildlicht im Anblick von Hauptdarsteller Jason Segel. Spätestens seit seiner markanten Nebenrolle in 'Knocked Up' und exemplarisch in 'Forgetting Sarah Marshall' spielt Segel ganz aus der Sanftheit seines babyspeckigen Riesenleibs, seiner Schmollippen und Dackelaugen, seiner muttermalübersäten Haut heraus – was? Den Typus des Frauenverstehers und Underachievers, der sich am Ende doch durchsetzt, und vor allem den Typus Mann, der gelernt hat, seine nicht-souveräne, massiv affizierbare, nah am Wasser gebaute Physis zu akzeptieren. Der Segel-Mann unterwirft die einstige ideologisch-phallische Allmacht der Testikel dem Test der bürgerlichen Realität und akzeptiert das Ergebnis, nimmt jene makelhafte Leiblichkeit, die (klassischen feministischen Filmtheorien zufolge) im maskulinistischen Film-Imaginarium das zugeschriebene Merkmal von Weiblichkeit war, bereitwillig auf sich – und behält sich doch die Definitionsmacht vor. Das zeigt sich schon allein daran, dass Hauptdarstellerinnen postromantischer Hollywood-Beziehungskomödien, die ähnlich wie Segel, Chris O’Dowd in 'Bridesmaids' oder Seth Rogen in 'Knocked Up', ostentativ nicht-perfekt aussehen, noch kaum denkbar sind – die müssen schon eher wie Mila Kunis oder Katherine Heigl daherkommen. (Der Look von Kristen Wiig in 'Bridesmaids' war da mal ein kleiner Schritt in Richtung Wirklichkeit.) (Und die Allianz zwischen Cameron Diaz als ihre reichlichen Reize schamlos und vom Filmplot erfrischend 'ungestraft' einsetzendes Working Girl und Jason Segel als laschem Underachiever in 'Bad Teacher' sei hier, en passant, als ein Bündnis zur Leistungsterrorverweigerung gewürdigt.)

Nun ja. Das soll nicht heißen, dass Segel in seinem Part in 'Fast verheiratet' nicht brilliert. Und auch Emily Blunt in der Rolle der zeitweiligen Köchin, die dann doch die Geschäfte wieder in ihrer Eigenschaft als Verhaltenssteuerungspsychologin lenken darf – wobei: In der vollentwickelten Kontrollgesellschaft ist ohnehin das Kochen längst zur verfeinerten Verhaltenssteuerungssozialtechnik avanciert –, auch Blunt, die in der Handlungskonstellation des Films (oder im Swiss Air-Kund_innenmagazin) seltsamerweise als Verkörperung einer optisch-erotisch nur zweitbesten Frau hingestellt ist, die demnächst mit 'saggy tits' herumlaufen wird (Wenn ihr Look für Nicht-ganz-so-toll-Aussehen und drohende Hängetitten steht, dann wär ich damit schon recht zufrieden), auch sie, let’s be blunt about it, ist toll wie immer. Blunt und Segel, die beide übrigens angenehm älter aussehen als sie sind, spielten schon in 'Gullivers Reisen' und im Muppets-Film, wie nun auch in 'Fast verheiratet', nach einem Skript bzw. in der Regie von Nicholas Stoller Seite an Seite. Lassen wir mal die kleinen Hormonriesen aus dem Gulliver-Film weg und machen lieber die Vergleichsperspektive mit den Muppets stark: Dann ist natürlich auch 'Fast verheiratet' ein Film, der von der Anerkennung des 'No Body Is Perfect' in Richtung – nur in Richtung! – eines musikalisierten Kommunismus des Wissens- und Kreativprekariats weist. Auch hier ein lustiges Paar inmitten eines starken Ensembles von Typen wie du und ich, mit etwas weniger Plüsch, aber ebensoviel reflektiertem Charme und humanem Schmäh. (Applaus! Applaus!)

Wagner & Me

(GB / CH / RU D / 2010, Regie: Patrick McGrady )

Voll die Antisemiten
von Dietrich Kuhlbrodt

Wer da von Me redet, Stephen Fry, ist ein in England wohl bekannter TV-Moderator, Fan der Musik Richard Wagners seit Kindesbeinen. 2009 öffnen sich die Pforten des Bayreuth-Tempels, für ihn, …

Wer da von Me redet, Stephen Fry, ist ein in England wohl bekannter TV-Moderator, Fan der Musik Richard Wagners seit Kindesbeinen. 2009 öffnen sich die Pforten des Bayreuth-Tempels, für ihn, den Gläubigen. Die Kamera ist dabei, und wir folgen dem bekennenden Anhänger des Wagner-Kults, wie er durch die heiligen Hallen schreitet und mit kindlicher Naivität, ob gespielt oder nicht, die Gefühle beschreibt, die ihn überwältigen. Er ist bei Proben dabei. Auf die Tasten des Pianos hatte der verehrte Richard Wagner höchstselbst seine Hände gelegt. Im sonst für die Öffentlichkeit unzugänglichen Festspielhaus reden die Prominenten mit ihm, empathisch. Ein Fest für ihn, für ihn ganz allein, und trotzdem dreht er nicht durch. Warum nicht? Stephen Fry hat ein Problem, er muss seinen Wagnerglauben rechtfertigen und verteidigen, und dazu braucht er einen klaren Kopf.

Fry hat einen jüdischen Hintergrund. Angehörige sind im KZ Auschwitz ermordet worden. Wagner war bekennender Antisemit. Hitler, der andere Wagnerfan, ließ dessen Musik auf dem Parteitagsgelände in Nürnberg erschallen. Hitler stand dazu auf dem steinernen Podium und reckte die rechte Hand. – „Wagner & Me“, der Film, rückt jetzt, bald sechzig Jahre
danach, den Podest ins Bild, Gras wächst drauf. Der Stein bröckelt, Stephen Fry bringt es nicht fertig, sich draufzustellen. Ja, was sagen?

Eben noch, in Bayreuth, kam der Satz „Ich bin ein Kind im Bonbonladen“. Jetzt erkennt er: „Hitler und die Nazis haben Wagner befleckt“. So rum wird’s für ihn richtig. Aber, Herr Fry, hatte Wagner, der Antisemit, nicht selbst einen Fleck auf seine Musik gemacht? – Neinnein, „er brauchte Feinde, um kreativ zu werden“, „er brauchte den Kick“. —

Momentmal, Her Fry, – aber der kann mich ja nicht hören. Er ist unterwegs, um sich Unterstützung zu holen. In St. Petersburg, im Mariinsky-Theater, spricht der weltberühmte Wagner-Dirigent Richtung Israel: „Wenn wir nach dem zweiten Weltkrieg hier Wagner aufführten, dann kann ihn jedes Land spielen“. – Aber waren die Stalinisten nicht voll die Antisemiten gewesen? – Wieder hört mich keiner. – Stephen Fry legt noch einen drauf. In London lässt er die weltberühmte Cellistin zu Wort kommen. Als Mädchen hatte sie im Gefangenen-Orchester Wagner gespielt – und Auschwitz überlebt. „Musik kann man nicht besudeln. Sie ist heilig“, hören wir. –

Haben wir die Argumente zusammen? – Herr Fry, Ihr Schlusswort! – “Ich verzichte doch nicht wegen Adolf Hitler auf Wagner, das große Genie“ – Danke. Aber hatten Sie nicht am Anfang gesagt, kokett, aber der Situation angepasst: „Ich bin eine Blamage“?

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 07/2012

Copacabana

(F / B 2010, Regie: Marc Fitoussi)

Antibürgerliche Reflexe
von Wolfgang Nierlin

Babou (Isabelle Huppert) heißt eigentlich Elisabeth Delmotte. Wenn sie sich eingangs von Marc Fitoussis tragikomischem Film „Copacabana“ schminken lässt und dabei mit ihrem Blick lange auf ihrem Spiegelbild verharrt, spürt …

Babou (Isabelle Huppert) heißt eigentlich Elisabeth Delmotte. Wenn sie sich eingangs von Marc Fitoussis tragikomischem Film „Copacabana“ schminken lässt und dabei mit ihrem Blick lange auf ihrem Spiegelbild verharrt, spürt man etwas von ihrer Gespaltenheit. Der Wunsch, ein anderer zu sein und ein Leben abseits der konventionellen Regeln zu führen, haben Babou zu dem gemacht, was sie ist: eine verträumte Müßiggängerin ohne rechten Plan und ein ausgeflippter Freak mit einem Hang zum Chaos, der das geregelte Spießerleben verabscheut. Einmal kommt sie, die es nicht lange in Arbeitsverhältnissen aushält und stets pleite ist, zu spät zu einem Vorstellungsgespräch in einer Konfiserie. Als sie daraufhin des Ladens verwiesen wird, rastet sie kurzerhand aus und räumt die Auslage ab. Babous Freiheitsdrang, gepaart mit der Angst, durch zu viel Nähe ihre Unabhängigkeit zu verlieren, haben sie aber auch einsam gemacht.

Das Unstete und Exaltierte sowie Babous vermeintlicher Mangel an Verantwortungsgefühl sind zugleich die Gründe, weshalb ihre 22-jährige Tochter Esméralda (gespielt von Hupperts Tochter Lolita Chammah) Abstand zu ihr hält und nur noch wenig mit ihr zu tun haben will. Die Sprachstudentin, die sich ihr Studium als Bedienung finanziert, schämt sich geradezu für ihre Mutter. Und weil sie deshalb diese zu ihrer geplanten Hochzeit explizit auslädt, kommt es zum Zerwürfnis. Tief gekränkt, nimmt sich Babou vor, ihr Leben zu ändern und dafür die gemeinsame Wohnung zu verlassen. Diese Umkehrung des Konflikts innerhalb einer Mutter-Tochter-Geschichte nutzt Marc Fitoussi für den nachdenklichen Witz seines Films, der seine schillernde Wirkung vor allem dem tragikomischen Spiel Isabelle Hupperts verdankt.

So wirkt Babou in ihrer lustvollen Antibürgerlichkeit immer auch ein wenig traurig, einsam und verloren. Als sie schließlich in Ostende bei einer dubiosen Immobilienfirma anheuert („Ich muss mich eingliedern.“), um auf der Straße potentielle Käufer für Ferienappartements zu werben, kontrastiert Fitoussi – vor allem über den Soundtrack vermittelt – Bilder der grauen, tristen Hafenstadt mit Babous titelgebender Brasilien-Sehnsucht. „Ich reagiere auf Begegnungen“, äußert sie einmal gegenüber einer Kollegin, um ihre unbestimmte, nicht festlegbare Lebensbewegung zu beschreiben. In den neuen, provisorischen Arbeits- und Lebensverhältnissen sind Nähe und Distanz in den Sozialkontakten bald austariert. Dabei bleibt Babou zwar einerseits ihrer Haltlosigkeit (etwa in ihrer Beziehung zum Hafenarbeiter Bart) treu, durchbricht durch eine unvermutete Einfühlsamkeit auf versöhnliche Weise aber auch ihr negatives Mutter-Image. Trotz diverser Drehbuchschwächen, die Fitoussi durch Ellipsen überspringt, ist diese Facette glaubhaft. Wenn gegen Ende Babous neu gewonnenes Vertrauen – zur Vorgesetzten Lydie (gespielt von der wunderbaren Aure Atika) – bitter enttäuscht wird, bestätigen sich auf ironisch-schmerzliche Weise doch noch ihre antibürgerlichen Reflexe und verlangen geradezu nach einem utopischen Ausbruch in brasilianische Farbigkeit.

Wanderlust – Der Trip ihres Lebens

(USA 2012, Regie: David Wain)

Oh du segensreicher Kapitalismus!
von Michael Schleeh

Ein New Yorker Yuppiepärchen hat sich eben noch beim Kauf einer völlig überteuerten Wohnung in bester Lage finanziell überhoben (sie (Jennifer Aniston) bekommt den Auftrag von HBO nicht, er (Paul …

Ein New Yorker Yuppiepärchen hat sich eben noch beim Kauf einer völlig überteuerten Wohnung in bester Lage finanziell überhoben (sie (Jennifer Aniston) bekommt den Auftrag von HBO nicht, er (Paul Rudd) wird fristlos entlassen, da die Firma überraschend pleite macht), da beschließen sie aus recht masochistischen Gründen, den Bruder Protz in der Provinz zu besuchen, um in dessen Firma unterzuschlüpfen. Beim Roadtrip durch das Land stranden sie allerdings, völlig ausgelaugt und übernächtigt, in einer Hippie-Kommune, deren Lebensmaxime den gewohnt Großstädtischen diametral entgegensteht. Eine Erfahrung, die sich als berauschend lebenserfrischend erweist. Hier könnte man vielleicht ein wenig verweilen, fantasieren sie lachend und euphorisiert bei der Weiterfahrt, nicht ahnend, dass sie in der kapitalistisch aufschneiderischen Welt des Bruders völlig Schiffbruch erleiden werden. Plötzlich nimmt der Flirt mit dem Aussteigerleben konkrete Züge an, und man erwägt, es mal zu probieren. Auf in den Tanz!

In dieser von Judd Apatow produzierten Komödie steht die amerikanische „recession“ als konfliktauslösende Prämisse zunächst im Vordergrund. Die Frau mit ihrem Bedürfnis nach einer repräsentativen Wohnlage erweist sich dann im Film als wankelmütige und orientierungslose Protagonistin, die auf der Suche nach dem rechten Wege im Leben ist: Filmemacherin, Autorin, Künstlerin und Kaffeebarbesitzerin wollte sie schon sein. Die Immobilie (die er finanziert) soll ihr also auch das Erwachsensein versichern (muss man extra erwähnen, dass in diesem Film Kinder keine Rolle spielen?). Er hingegen ist Rationalist und hat von Beginn an Vorbehalte, nennt die Dinge beim Namen und ist sich der Entscheidung weit weniger sicher als sie. Aber was tut man nicht alles für den häuslichen Frieden! Nein zu sagen ist nicht die Stärke dieses unfreiwilligen Komödien-Helden.

Und wenn sie dann im Land, wo Milch und Honig fließen, angekommen sind, werden gut eine Stunde lang Komödienszenen aneinander gereiht, Klischees und Standards bedient, und man hat auch mal wieder Sex (mit dem bärtigen Guru der Kommune (Justin Theroux) etwa). Sich zu öffnen fällt dem Helden allerdings schwer. Übersprungshandlungen kündigen sich an, obwohl ihm die hotteste Sexbiene gerne mal zu Diensten sein will. Das soll wohl irgendwie lustig sein. Oder politisch. Seine Moral, seine Verklemmtheit, seine Ordnungsliebe, die Erziehung oder sonst irgendwas machen ihm alles Körperliche schwer. Er kann sich halt nicht öffnen. Die ganze Sache geht ihm gegen den Strich, wohingegen seine Geliebte immer stärker zu sich selbst findet und sich von ihm entfernt. Sagt sie zumindest. So also droht ihm auch dieser Pfeiler seiner Existenz wegzubrechen.

Die apatowsche Pimmelwitzquote ist erfreulicherweise recht niedrig in „Wanderlust“ und beschränkt sich auf einen etwas quälenden running gag, der als leibhaftiger Nudist durch den Film stolpert. Als verhinderter Autor ist dieses Kommunenmitglied mit einer stilechten Intellektuellenbrille gekennzeichnet.

Und am Ende, da steht nach der Entzweiung des Liebespaars nicht nur die Reinstallierung der Beziehung, sondern auch, ganz dem Gesetz des Filmes folgend, die Gründung einer gemeinsamen Firma. Eine Drehbuchentscheidung, die nicht nur völlig konsequent ist, sondern auch die Ekelhaftigkeit des Filmes nochmal abschließend zu Bewusstsein bringt. Der Verlag übrigens hat Erfolg (freilich, was sonst). Mit den Romanen des bebrillten Nudisten … Von wegen Wirtschaftskrise! Schauet her, wie wir gerettet wurden!