Blog Archives: 2017

Die Nonne

(F / D / B 2012, Regie: Guillaume Nicloux)

Nicht gänzlich enthaltsam
von Janis El-Bira

Ah, Qualitätskino! Schon die nüchtern-weißen Credits auf schwarzem Hintergrund lassen den Vordermann flüstern: 'Das ist jetzt Kunst.' Und dann auch noch Diderots oft verfilmte 'Nonne' – mit Isabelle Huppert in …

Ah, Qualitätskino! Schon die nüchtern-weißen Credits auf schwarzem Hintergrund lassen den Vordermann flüstern: 'Das ist jetzt Kunst.' Und dann auch noch Diderots oft verfilmte 'Nonne' – mit Isabelle Huppert in einer Nebenrolle als nicht gänzlich enthaltsame Oberin. Und los geht’s in feinen Rückblenden, mit eingesprochenem Kommentar und üppigem Spät-Rokoko-Dekor, gehüllt in Schlafmützen und weiße Nachthemden: Die 16-jährige Suzanne Simonin soll ins Kloster, will aber nicht (was sie ganz deutlich sagt), muss natürlich trotzdem und erlebt daselbst die Hölle aus gewaltsamer Erniedrigung und bizarren sexuellen Übergriffen. Am Ende hat sie Glück: Ein Schlüssel durch das Zellengitter erlaubt die Flucht über den Hinterhof.

Es ist schon bemerkenswert, mit welch indolenter Antiquiertheit Nicloux diese Geschichte vom Vorabend der Französischen Revolution noch einmal aufdröselt. Nichts weiß der Film zu berichten über die Selbsterhaltungsmechanismen eines repressiven Systems, nichts über den Konflikt zwischen Gehorsam und Auflehnung der jungen Frau im Zentrum der Geschichte. Stattdessen gibt es: nette alte Nonnen, fies-sadistische junge Nonnen, eifersüchtige Nonnen, indifferente Nonnen, eine fleischesfreudige Huppert-Nonne und eine Suzanne-Nonne, die keine sein will (und auch darüber nie in Zweifel gerät). Über quälend langweilige zwei Stunden wird die Handlung in der immer gleichen, völlig interesselosen Filmsprache dialoglastig und wie dabeistehend abgewickelt, Versatzstücke und Klischees reihen sich aneinander. Wenn die Huppert-Oberin dann nach mehr als einer Stunde endlich auftritt und sich direkt zu Suzanne ins Bett kuschelt, sind die von ihr umwegslos erzwungenen Küsse bloß noch unfreiwillig komisch. Ein Tiefpunkt im Wettbewerb und eine Zumutung.

Dieser Text ist zuerst anlässlich der Berlinale 2013 in der filmgazette erschienen.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Camille Claudel, 1915

(F 2013, Regie: Bruno Dumont)

Alles erstickt
von Janis El-Bira

Unter den wilden Kindern des neuen französischen Körperkinos Ende der 1990er-Jahre war Bruno Dumont so etwas wie der Transzendentalist: So nah fuhr seine Kamera an das Fleisch seiner Figuren (verkörpert …

Unter den wilden Kindern des neuen französischen Körperkinos Ende der 1990er-Jahre war Bruno Dumont so etwas wie der Transzendentalist: So nah fuhr seine Kamera an das Fleisch seiner Figuren (verkörpert eher, im Sinne Bressons, von Darstellern als denn 'Schauspielern') heran, als wähne sie hinter den Poren, den Haaren und dem Schmutz unter den Fingernägeln ein belebtes Inneres, ein Seelenhaftes gar.

In 'Camille Claudel 1915' nun stößt dieser Zugriff auf die Grenze des Wahnsinns: Die Körper und Gesichter der Insassen jener südfranzösischen Anstalt, in die die Bildhauerin und frühere Rodin-Geliebte Camille Claudel 1913 von ihrer Familie verfrachtet wurde, zucken und speicheln unkontrolliert. Es ist, als sei hier alles opak geworden, als gäbe es keinen Weg mehr vom Körper zur Seele und wieder zurück. Camille selbst, von Juliette Binoche großartig gespielt (!), bildet die Ausnahme: Sie ist überempfänglich, jeder Sonnenstrahl, jeder Windhauch und jedes irre Hämmern, Heulen und Toben fallen bei ihr durch Ohren, Nase und Augen auf einen Bewusstseinsgrund, der es gleichwohl nicht mehr zu sortieren, keine Ordnung mehr zu schaffen weiß.

So reibt sich die Transparenz der Camille-Figur an der Opazität der Mauern, schalldämpfenden Teppichen, der Hochgeschlossenheit der betreuenden Schwestern und wahnentstellten Leibern und Gesichtern; schließlich auch an dem ihres Bruders, des Schriftstellers und bekehrten Ultrakatholiken Paul Claudel, den Dumont tatsächlich wie eine Bresson-Figur völliger Gesichtsregungslosigkeit als kalten Verwalter endlos daherdozierter Glaubensreflexionen vorstellt. Das ist dann bisweilen fast so unerträglich mitanzusehen, wie das Meiste von Claudel zu lesen ist. Doch fügt es sich irgendwo treffend in einen Film der völligen Ersticktheit. Dreißig Jahre in einer Anstalt sind ehrlicherweise nicht als Geschichte permanenter Auflehnung erzählbar, wohl aber als eine vom langsamen Vergessen und Vergessenwerden, vom Warten auf gar nichts, von Abstumpfung und unermesslicher Langeweile. Ein zermürbender Film.

Dieser Text ist zuerst anlässlich der Berlinale 2013 in der filmgazette erschienen.

Closed Curtain

(IR 2013, Regie: Jafar Panahi, Kamboziya Partovi)

Ein Nicht-Film
von Janis El-Bira

Das erste Bild des Films zeigt, vermittelt, sublimiert, das Eingesperrtsein Jafar Panahis, der in seiner iranischen Heimat mit einem zwanzigjährigen Berufsverbot belegt ist und doch irgendwie nach 'This Is Not …

Das erste Bild des Films zeigt, vermittelt, sublimiert, das Eingesperrtsein Jafar Panahis, der in seiner iranischen Heimat mit einem zwanzigjährigen Berufsverbot belegt ist und doch irgendwie nach 'This Is Not a Movie' (2011) nun schon seinen zweiten 'Nicht-Film' vorgelegt hat: Ein vergittertes Fenster, der Blick geht nach draußen. In der Ferne das Meer. Ein Taxi fährt vor, der Fahrer (Panahi selbst, wie wir später lernen werden) setzt einen älteren Mann samt Gepäck und Hund ab. Sie betreten das Haus, in dem wir, die Zuschauer, uns bereits befinden. Die Vorhänge vor den Fenstern werden eilig zugezogen, fahles Licht fällt noch durch sie hindurch. Man will nicht gesehen werden. In den Fernsehnachrichten werden grausam zugerichtete Hundekadaver von den Straßen der Städte abtransportiert: Hunde seien unrein und hätten keinen Platz mehr in der islamischen Republik. Der vierbeinige Begleiter des Mannes sieht es mit ganz und gar menschlichem Unbehagen. Plötzlich stehen ungebetene Gäste im Haus. Eine junge Frau und ein Mann, die sich als Geschwister ausgeben, sind auf der Flucht. Unruhe vor dem Haus, ihre Verfolger sehen wir nicht, aber hören sie umso deutlicher. Wie hier überhaupt immer wieder über die Tonspur ein unsicht-, aber hörbarer Raum außerhalb des Hauses behauptet wird, das wir nie verlassen: Eine Partygesellschaft fährt irgendwann lärmend vorbei, ein Hubschrauber dreht seine Runden.

Der Mann, sein Hund und die beiden Flüchtigen, das begreifen wir irgendwann, sind Filmfiguren des Regisseurs Panahi, der plötzlich selbst unvermittelt im Raum steht, und die Plakate seiner eigenen Filme an den Wänden, zuvor durch die Frau von ihren Staubabdeckungen befreit, selbst wieder eilig verhüllt. Figuren eines nicht-gedrehten, ungeschriebenen Films. Es beginnt ein Spiel mit doppelten, dreifachen, vierfachen Böden: Kein Changieren zwischen Realität und Fiktion jedoch, sondern eine konsequente Verschiebung dieser Kategorien bis an den Rand der Auflösung. Die Figuren sind Kinder ihres Autors, der Autor ist Kind seiner Figuren; der tödliche Gang ins Meer, von der Frau als Ausweg aus dem erzwungenen Schweigen angeboten, er wird aufgehoben im Film und durch das Filmmaterial: im rückwärtslaufenden Zeitraffer. Am Ende geht der Blick wieder aus dem vergitterten Fenster; in einem Schlussbild, so groß (und hier natürlich unverraten), dass allein dafür am Samstag ein 'Bär' den Weg dieses Films kreuzen müsste. (Letztlich wurde 'Parde' zumindest für das 'Beste Drehbuch' ausgezeichnet, Anm. Red.)

Dieser Text ist zuerst anlässlich der Berlinale 2013 in der filmgazette erschienen.

Der Hobbit – Eine unerwartete Reise

(USA 2012, Regie: Peter Jackson)

Pornografische Brillanz
von Ricardo Brunn

Eigentlich hat der kleine Hobbit keine große Lust auf eine kolossale Reise. Es mag am schlichten Gemüt Bilbo Beutlins (Martin Freeman) und seiner Vorfahren liegen, dem Reisen die heimische Hobbithöhle …

Eigentlich hat der kleine Hobbit keine große Lust auf eine kolossale Reise. Es mag am schlichten Gemüt Bilbo Beutlins (Martin Freeman) und seiner Vorfahren liegen, dem Reisen die heimische Hobbithöhle vorzuziehen. Vielleicht ahnt er aber auch, dass das bevorstehende Abenteuer, an dessen Ende ein gefährlicher Kampf gegen den Feuer speienden Drachen Smaug stehen soll, reichlich Potenzial für endlose Wanderungen über Bergketten und sich wiederholende Bedrohungsszenarien bereithält. So bleibt Bilbo Beutlin bei seinem sturen Nein auch dann noch, als ihm aufdringlich ulkige Zwerge die Tür einrennen, es sich gemeinsam mit Gandalf dem Zauberer in Wohnzimmer und Vorratskammer der Hobbithöhle gemütlich machen und irgendwann am Abend zu allem Überfluss ein Lied anstimmen, damit der Hobbit endlich nachgibt und die unerwartete Reise ihren erwarteten Anfang nehmen kann.

Diese Szenen sind schwer zu ertragen, zeugen sie doch vom verzweifelten Versuch des Regisseurs Peter Jackson, dem kindlichen und humorvollen Charakter der Romanvorlage J. R. R. Tolkiens gerecht zu werden. Während letztere quasi als Vorbereitung auf „Der Herr Ringe“ ein größeres Universum zwar erahnen lässt, jedoch nicht ausformuliert, streben Jackson und seine Drehbuchautoren in der filmischen Erzählung eine Ausführlichkeit an, die das knapp 400 Seiten umfassende Kinderbuch in ein überaus ernstes und bisweilen düsteres, dreiteiliges Epos von jeweils mehr als zweieinhalbstündiger Dauer verwandelt.

Dass Jackson die Reise trotz des holprigen und stellenweise unfreiwillig komischen Beginns im Folgenden gut im Griff hat, ist maßgeblich den gelungenen Action-Sequenzen zu verdanken, die in schöner Gleichmäßigkeit übereinandergeschichtet werden. Hier fliegt die entfesselte Kamera ein ums andere Mal durch den Raum, sodass schnell klar wird, wo der Film sein Zentrum hat. Und dass das durchaus eine Kunst ist, verrät schon ein Blick auf das oftmals minutenlange, fleischige Getümmel anderer Fantasy-Züchtungen wie „Zorn der Titanen“ (Regie: Jonathan Liebesman) oder „Krieg der Götter“ (Regie: Tarsem Singh).

Die Zielgruppe der Herr-der-Ringe-Verfilmungen fest im Blick, ist die erzählerische Gigantomanie mit einem Detailreichtum gezeichnet, der die rührende Verliebtheit Jacksons in das tolkiensche Universum widerspiegelt. Doch etwas an den Bildern irritiert das Auge, was insbesondere abseits des Spektakels in den ruhigen, erzählerischen Momenten des Filmes deutlich wird. Hier offenbart der Film einen Mangel an Figurenzeichnung, wenn den Zuschauer das Schicksal der Zwergenbande relativ kalt lässt: Im Gegensatz zur reisenden Gesellschaft in „Der Herr der Ringe“ fällt die Identifikation mit dem bunt gemischten Haufen rund um den grimmigen Thorin nämlich schwer. Einzig Bilbo Beutlin erscheint als dreidimensionaler und sich kontinuierlich verändernder Charakter. Schwerer wiegt jedoch, dass vielen Szenen trotz oder gerade wegen Jacksons Detailversessenheit immer eine hohe Künstlichkeit anhaftet, welche durch Anwendung eines neuen Aufnahmeverfahrens noch verstärkt wird.

Um der Akribie in Erzählung und Ausstattung auch in ästhetischer Hinsicht gerecht zu werden, wurde „Der Hobbit“ erstmals mit 48 anstatt wie bisher mit 24 Bildern pro Sekunde gedreht (High Frame Rate), wodurch (insbesondere bei Bewegungen) noch einmal wesentlich schärfere Resultate erzielt werden können. Doch die von Jackson angestrebte Genauigkeit führt zu einer „hyperrealen Überschärfe und Überdeutlichkeit“ (Byung-Chul Han), in der die Bilder ihr Geheimnis verlieren und die Welt des Bilbo Beutlin als Kulisse entlarven. Es entsteht ein Soap-Opera-Effekt, unter dem die Hobbithöhle aussieht wie das Bühnenbild einer deutschen Vorabendserie. Immer wieder stolpert der Blick über das billige Material, aus dem das Auenland gezimmert wurde oder bleibt am deutlich erkennbaren Make-up der Gesichter kleben. In ihrer Gemachtheit stellen sich die überscharfen Bilder so sehr aus, dass sich in ihnen das Kinobild gewissermaßen selbst aufhebt. Die erhöhte Bildschärfe führt nicht zu einer größeren Nähe zur erzählten Welt und den Figuren, sondern zu bloßer Distanzlosigkeit, in der jede Fantasie eliminiert wird, die sich im Kino als Bereitschaft darstellt, das Gezeigte für die Dauer des Filmes als Wirklichkeit anzunehmen. Was bleibt, ist eine pornografische Brillanz der Bilder, die viele Reize, aber jenseits des Spektakels eben keine Intensität mehr besitzt.

Der Hang zu immer klareren Bildern ist primär freilich als Strategie zur Erhöhung von Schauwerten im Kontext der in Bedrängnis geratenen Institution Kino zu verstehen. Die Überschärfe kann jedoch auch als Ausdruck der allgemeinen Forderungen der Gesellschaft nach mehr Transparenz gedeutet werden. Es ist demnach auch kein Zufall, dass die Entstehung von WikiLeaks, die Debatten um „Post Privacy“, die Verbreitung von Sicherheitskameras oder die Entstehung der Piratenpartei zeitlich etwa mit dem HDTV-Boom in den Wohnzimmern und der Digitalisierung der Kinos zusammenfallen. In diesem Sinne gehorcht beispielsweise auch die Wiederauferstehung der 3D-Technik der Maxime größtmöglicher Sichtbarmachung.

Wenn „das Pathos der Transparenz, das die heutige Gesellschaft erfasst“ nach Byung-Chul Han Resultat eines Mangels an Vertrauen (in die politische Macht) ist, dann kann die derzeitige Evolution der Kino- und TV-Technik als Reaktion darauf und vor allem als Ausdruck eines mangelnden Vertrauens in die Bilder verstanden werden. Somit ist „Der Hobbit“ (gedreht in HFR und 3D) der derzeit technisch brillanteste Film, der zugleich vom Misstrauen gegenüber den persuasiven Bildern des Kinos erzählt.

Ginger & Rosa

(GB / DK / KRO / KAN 2012, Regie: Sally Potter)

How I Learned To Worry And To Hate The Bomb
von Ulrich Kriest

Am 5. Oktober 1962 wurde „Love Me Do“, die erste Single der Beatles veröffentlicht und wurde ein mittlerer Erfolg. Am 14. Oktober 1962 machen US-Aufklärungsflugzeuge über Kuba Fotos, auf denen …

Am 5. Oktober 1962 wurde „Love Me Do“, die erste Single der Beatles veröffentlicht und wurde ein mittlerer Erfolg. Am 14. Oktober 1962 machen US-Aufklärungsflugzeuge über Kuba Fotos, auf denen unerhörte Dinge zu erkennen waren. Am 28. Oktober 1962 endet die Kuba-Krise, die die Welt hart an den Rand eines thermo-nuklearen Krieges führte. Am 11. Januar 1963 veröffentlichten die Beatles ihre zweite, nun weitaus erfolgreichere Single „Please Please Me“. Eine kulturhistorische Wasserscheide hat sich Sally Potter für ihren neuen Film ausgesucht, der von einer Jugend im Zeichen der Bombe erzählt. Hier der „Kalte Krieg“, Jazz und Existentialismus, dort die Beatles, die Popmusik, der Mai 68, der Feminismus und der Situationismus.

Der Film beginnt mit einer großen Geste: der Explosion einer Atombombe. Am 8. August 1945. Ein Kameraschwenk über ein Feld der Zerstörung wird datiert: Hiroshima 1945. Während der 2. Weltkrieg in Asien mit einem Paukenschlag endet, der als Menetekel die folgenden Jahrzehnte prägen wird, werden in London zwei Mädchen geboren, von Müttern, die einander bei der Geburt ganz nahe und solidarisch sind: Ginger und Rosa. Die Mütter bleiben befreundet, die Töchter wachsen als beste Freundinnen heran, Rosas Vater verschwindet. Und dann schreiben wir bereits das Jahr 1962, die Kuba-Krise zieht herauf – und die Impressionen einer Jugend in England sind unterlegt mit Popmusik, erst Jazz á la Django Reinhardt, dann „Take the A-Train“ und dann auch schon „Telstar“ von The Tornados. Selbst britischer Instrumental-Rock´n´Roll hält es 1962 mit der Devise „Watch the Skies!“ Diese Eröffnungssequenz skizziert mit meisterhafter Eleganz ein Szenario, dessen Übersichtlichkeit und Pointiertheit es mit einem Brechtschen Lehrstück aufnehmen kann.

Für Sally Potter, die mit „Ginger & Rosa“ ein weiteres Mal ihre Themen „Linke Politik“, Feminismus, Liebe und Musik anmischt, ist diese Klarheit des Erzählens allerdings überraschend. Es liegt nahe, diese Klarheit, die den Film formal wie inhaltlich prägt, als Referenz an die eigene Erinnerung zu nehmen. Und auch gleich das Pathos der Pubertät, dass das gesamte Weltgeschehen auf die eigene Biografie projiziert, mit zu inszenieren. Allerdings bricht Potter dieses Pathos nicht ironisch, sondern solidarisiert sich mit ihren Figuren, die ihren Platz in der Welt suchen.

Die britischen Arthaus-Ikone Potter, Jahrgang 1949, reüssierte 1983 mit „Gold Diggers“, einem unerhört einflussreichen Klassiker des feministischen Kinos, verfilmte betont originell Virginia Woolfs „Orlando“ und begeisterte viel zu wenige Zuschauer mit dem poetischen East meets West-Liebesfilm „Yes“, dessen Figuren in Pentameter-Versen miteinander kommunizierten. Kein Wunder also, dass Sally Potter mit ihren ästhetisch wie politisch hoch reflektierten Filmen hierzulande stets ein Geheimtipp geblieben ist. Das könnte sich jetzt allerdings ändern. Dass der sorgfältig gemachte Film trotz aller Zugeständnisse an die Zugänglichkeit ein emotionales wie intellektuelles Vergnügen ersten Ranges ist, spricht zudem Bände über den Zustand des Gegenwartskinos. „Ginger & Rosa“ erzählt modellhaft von einer Freundschaft zweier sehr unterschiedlicher Mädchen, deren Kindheit und Jugend im Zeichen der atomaren Vernichtung, Existentialismus und Jazz steht. Ginger, rothaarig, ist ein Feuerkopf, Dichterin und Denkerin, will instinktiv gegen die Bombe protestieren, während Rosa, ohnehin mehr an Jungen denn an Politik interessiert, sich auch gut vorstellen könnte zu beten. Die Mädchen wachsen auf in einem Milieu britischer Radikaler und Freidenker; Gingers Vater war als Pazifist im Gefängnis, publiziert anarchistischer Kampfschriften und hat sich dem radikalen Bruch mit bürgerlichen Konventionen verschrieben.

So radikal ist dieser Bruch, dass er eines Tages eine Liason mit Rosa eingeht, was Ginger wiederum in tiefste Depression treibt. Der emotionale Höhepunkt ereignet sich vor dem Hintergrund eines Friedensmarsches zum Atomwaffenlager von Aldermaston auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise. Der Vater bereut schließlich. Ohne viele Umschweife kommentiert Potter seine männliche Larmoyanz als fiese Bigotterie eines Mannes, der sexuell Kapital aus seiner Opferrolle als Linker schlägt. Das Private ist das Politische! Und „Ginger und Rosa“ erzählt die Geschichte einer Desillusionierung. Potter erzählt diese Geschichte retrospektiv mit allerlei Leerstellen und Zuspitzungen, aber weitgehend unter Verzicht auf illusionierendes Sozial- oder Lokalkolorit. Unvergesslich der Moment, in dem die beiden zutiefst verwirrten Mädchen zur Aufmunterung eine Single von Dave Brubeck und Paul Desmond auflegen: „Take Five“ als Seelenretter und (noch) nicht als Matinee-Soundtrack. Ein paar Jahre später wird der Soundtrack zur Zeit härter werden, wird die Beatlemania den Existentialismus ablösen. Aber in der Welt von Ginger und Rosa, im Oktober 1962, ist noch kein Platz für „Love Me Do“. Man mag bedauern, dass es „Ginger & Rosa“ etwas an Komplexität und Raffinesse mangelt, aber man den Film auch als Essay über die unscharfe und etwas verklärende Erinnerung der „68er“ verstehen. Als britisches Pendant etwa zu Andres Veiels „Wer wenn nicht wir“, als Kritik an linker Larmoyanz aus der Perspektive einer Generation, die eben keine Nazi-Väter, sondern WWII-Sieger zum Abarbeiten hatte.

Paradies: Hoffnung

(AT / F / D 2012, Regie: Ulrich Seidl)

Im Straflager
von Wolfgang Nierlin

„Wir werden trainieren, bis die Schwarten krachen und die Kilos purzeln“, dekretiert der autoritäre Sport- und Fitnesslehrer (Michael Thomas) eines sogenannten Diätcamps gegenüber den übergewichtigen Neuankömmlingen der wie aus der …

„Wir werden trainieren, bis die Schwarten krachen und die Kilos purzeln“, dekretiert der autoritäre Sport- und Fitnesslehrer (Michael Thomas) eines sogenannten Diätcamps gegenüber den übergewichtigen Neuankömmlingen der wie aus der Zeit gefallenen Einrichtung. Mit Trillerpfeife, im Kommandoton und mit militärischem Drill fordert der sadistische Einpeitscher uneingeschränkte Disziplin und Unterwerfung im Dienst der Arbeit am überforderten, trägen Körper. „Rein in die Folterkammer!“, lautet etwa ein Befehl, der diese Erziehungsanstalt als Straflager ausweist und die in ihm exekutierten Formen körperlicher Zurichtung als potentiell faschistisch identifiziert. Regelverletzungen werden drakonisch bestraft, der Tagesablauf ist streng reglementiert und für Telefongespräche nach draußen gibt es eine sogenannte „Handy Time“.

Der österreichische Regisseur Ulrich Seidl hat mit „Paradies: Hoffnung“, dem abschließenden Teil seiner „Paradies-Trilogie“ eine Art Internats- bzw. Gefängnisfilm gedreht. Auf langen, hellen und vor allem leeren Fluren sind die Gruppenzimmer mit ihren Stockbetten wie Zellen angeordnet. Die darin herrschende Enge bildet ebenso einen irritierenden Kontrast zur Dominanz des Raums wie die übermächtige Stille, die jeden auffälligen Laut sofort als Abweichung und Übertretung anzeigt. Seidls präzise und bei aller Reduktion höchst mitteilsamen Bildkompositionen erfassen diese Formen der Internierung und Kontrolle in frontalen Ansichten und Symmetrien.

Die rigorose Körperarbeit, der die Mädchen und Jungen – alles Teenager – unterworfen sind, setzt diese Zwänge in den gleichgeschalteten Bewegungen und ihrer Anordnung im Raum fort. Dahinter formiert sich allerdings kein Widerstand oder gar eine Revolte. Vielmehr blendet Seidl äußere und innere Gefangenschaft ineinander: Viele der internierten Jugendlichen sind Scheidungskinder, die sich in ihrem Körper unwohl fühlen und überdies in die Wirren der Pubertät verstrickt sind. Das bekommt besonders die 13-jährige Melanie (Melanie Lenz) zu spüren, als sie sich in den gelangweilten Anstaltsarzt (Joseph Lorenz) verliebt. In Andeutungen, schwärmerischen Blicken, verschämten Gesprächen mit der Freundin, merkwürdigen Doktorspielen und einem die verbotene Annäherung sublimierenden Fetischismus erzählt Seidl von einer unmöglichen Beziehung und tiefem Liebeskummer. Wie zwei Tote liegen die beiden als ungleiches Paar einmal auf dem Waldboden nebeneinander. Für fast alles zwischen ihnen, was ihre Sehnsüchte, Zweifel und Hemmnisse erklären könnte, fehlt eine Sprache. Und diese Sprachlosigkeit fügt den Gefängnissen ein weiteres hinzu.

Der Tag wird kommen

(F / B 2012, Regie: Gustave Kervern, Benoît Delépine)

NOT und DEAD bauen Scheiß
von Dietrich Kuhlbrodt

Der konterrevolutionäre deutsche Filmtitel führt in die Irre. „Der Tag wird kommen“ … will sich fortsetzen etwa wie … an dem Ihr in das Reich des Herrn eingehen werdet. Oder …

Der konterrevolutionäre deutsche Filmtitel führt in die Irre. „Der Tag wird kommen“ … will sich fortsetzen etwa wie … an dem Ihr in das Reich des Herrn eingehen werdet. Oder ins Paradies der Einkaufszentren. – Damit sind wir zwar in der top location dieses Films. Aber mit falschen Erwartungen. Denn der Originaltitel des Films „Le grand soir“ steht als politischer Begriff fest: wir sind am Vorabend der Revolution.

Auwei, solche Botschaften haben bleierne Füße, und wie sollen dann Leute ins Kino à la mode kommen? Das wird sich der deutsche Verleih gesagt haben. Tatsächlich werden im Film zwar null politische Phrasen gedroschen. Aber es wird einwandfrei anarchisch gespielt. Im einem dieser von der Stadtmitte ausgesourcten Einkaufszentren. Mit dem Auto schnell (Parkplatz genug!), aber zu Fuß langweilig zu erreichen (Ausfallstraße, endlos).

Das Adverb NOT hat er auf seine Stirn tätowiert. Er: das ist der in die Jahre gekommene Punk, im Alter, in dem andere die midlife crisis kriegen. Er aber, weit und breit der älteste Punk-mit-Hund (Benoit Poelvoorde), ist sich einer Sache sicher: Die Antwort auf alles, was von ihm gewollt wird, ist das NICHT auf der Stirn.

Was nicht so gern gesehen wird, macht erst recht Spaß. Der Film lebt von diesen frechen und irrkomischen Momenten. Nackt duschen im Kreisverkehr auf der Insel. Sie ist geschmückt mit einem überdimensioniertem Kunstwerk, dem Nachbau einer altrömischen Wasserleitung. Ein Wasserfall ergießt sich (wir sind im Einkaufszentrum von Bègles bei Bordeaux). – Wie übernachten? Am besten samt Hund in einem der Kinderhäuser vor den Juniorshoppingauslagen. Und was ist mit dem Morgen-Yogurt? Den beiden reizenden Damen, die auf dem Parkplatz mit der Fernbedienung ihr Auto geöffnet haben, kommt er zuvor, nimmt sich aus der Einkaufstüte einen Becher und Danke auch.

Heile Punk-Anarcho-Welt, und wir sind nicht weit vom alten Diogenes-mit-Hund und seinem Es-ist-so-easy, Leute. Aber es geht weiter. NOT/NICHT hat Eltern. Sie betreiben ein Kartoffelbistro im Zentrum und füttern ihren Punk durch. Auch gibt es einen Bruder, Verkäufer im Bettenshop, verheiratet, 1 Kind. Es dauert nicht lange, und er ist Job, Frau und Kind los. NOT tätowiert ihm ein DEAD auf die Stirn. Dann gehen beide im Einkaufszentrum Scheiß bauen, wobei gern der ausgestreckte Mittelfinger benutzt wird, aber sowieso genug zu Bruch geht. Geil, das.

Dem Film fallen viele schöne Sachen ein. Von mehr als cineastischem Interesse ist die Anarchoperformance vor den Überwachungskameras. Wie das geht? Ankucken! Aber wohin führt das Ganze? Auch die lieben Pataterie-Eltern schmeißen hin. Was ist mit den anderen? NOT und DEAD sind beim stage diving im Punk-Club. Da geht was ab, Mann! Wenn auch voll Alk und sonst was, – ist das jetzt die vorrevolutionäre Gemeinschaft, die künftige Garde? Komm da was zum Vorschein?

Tja, die beiden Punk-Brüder sind nicht mehr an die 20, sondern an die 40. Sie wollen was bewegen. Sie rufen, wen sie kennen, zum meeting auf. Haben Altpunks weder iPod noch Facebook? Ergebnis: sie bleiben unter sich. Letzte Botschaft: Sie bauen aus den Leuchtbuchstaben der Läden und Märkte Buchstaben ab, bis sie den Schriftzug haben: we are NOT DEAD, aufgestellt und weithin sichtbar auf einem Hügel. In Hollywood-Manier.

Uff. Ein Lehrstück? Wohl denn doch nicht. Denn dem erhobenen Zeigefinger steht der dokumentarisch und teils improvisiert wirkende Charakter dieses Films entgegen. Die Regisseure Gustave Kervern und Benoît Delépine (Louise Hires A Contract Killer') haben ihren Anarchotypen Raum gelassen. Dialoge werden nicht abgefeiert; sie entstehen an Ort und Stelle. In einer Fülle von kleinen Szenen, kommen Leute zu Wort – schräge Voll-Persönlichkeiten -, die mit bösem Witz die Situation nicht nur beherrschen, sondern überhaupt erst herstellen. Geprobt ist das nicht. Und man glaubt, was man sieht, sofort. – Ja, herrgott, ich sags frei heraus, so abgenutzt wie das Wort ist: die Authentizität der vielen kleinen (und sowieso der großen) Mitwirkenden trägt den Film. Ohne dass dem kritischen Rezenten Bedenken kommen. Während des Films.

Auch nimmt man den Orten, an denen gedreht wird, ohne weiteres ab, dass sie so sind, wie sie sind. Okay, ich rede von locations und Bauten und Ausstattung. Wie üblich bei Spielfilmen. Aber jetzt aufgemerkt: vergessen Sie die drei Wörter. Gedreht ist in einem real existierenden Einkaufszentrum mit real laufenden Überwachungskameras und mit realem Publikum. Es nutzt die paradiesischen Konsumtempel zum Flanieren. Alles von hohem Wiedererkennungswert. Der Film kommt an, mit der Anarcho-Komik. Folge: Spezialpreis der Jury in Cannes. Geht doch!

Versteckte Botschaften gibt’s auch. Der dicke Depardieu, Wahrsager im Asia-Outfit, sieht die Zukunft voraus. Hinter ihm ein blauer Design-Horizont, der mit Picassos Friedenstauben übersät ist. Hallo! Verstanden?!

Was ich behaupte, ist, dass der Film eine unvermutete Langzeitwirkung haben wird. Dass die Bewegung mangels Einsatz moderner Kommunikationsmittel nicht zustande gekommen ist, – geschenkt. Denn wir sind nicht so weit. Wir sind, Sie erinnern sich, am Vorabend der Revolution. Und da geht’s ums Gewahrwerden, dass etwas bevorsteht, das mich aktiviert. Der gute alte Bloch schwärmte vom Vorschein, von etwas, das kommen wird. Und ähnlich, aber von der anderen Ecke, begeisterte Derrida die Nicht-Gestalt von etwas, mit dem ich, wir, die Gesellschaft schwanger geht. Das NICHT/NOT solange, bis die Gestalt geboren ist (Jawohl, das war Derridas Bild) und nicht tot ist, sondern lebt.

Sorry, die letzten Zeilen müssen nicht sein, ich hab sie nur grad im Kopf. Aber bittschön, man kann mithilfe des „Grand soir“ auch was ganz Praktisches in den Blick nehmen. Es ist ja nicht nur der Film allein. An allen Ecken und Kanten, in voller Breite häufen sich die Lamentos über den Zerfall der Gesellschaft, fette Beute des Neoliberalismus, des Markts, der Banken-Mafia. –An welchem Punkt der Maßverhältnisse schlagen die Lamentos um in eine neue Qualität?

Gute Frage. Der Film stellt sie, falls man ihn nur ein bisschen auf sich wirken lässt. Also dann: heute noch weiter anheizen, bis morgen der Siedepunkt erreicht ist.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 5/2013

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The Loneliest Planet

(D / USA 2011, Regie: Julia Loktev)

Dialog mit dem Fremden
von Wolfgang Nierlin

Ein Ball fliegt, als käme er aus dem Nichts, über einen hohen Lattenzaun, an dem gerade die beiden jungen, amerikanischen Rucksacktouristen Alex (Gael García Bernal) und Nica (Hani Furstenberg) vorbeigehen. …

Ein Ball fliegt, als käme er aus dem Nichts, über einen hohen Lattenzaun, an dem gerade die beiden jungen, amerikanischen Rucksacktouristen Alex (Gael García Bernal) und Nica (Hani Furstenberg) vorbeigehen. Ist es Absicht, Zufall oder ein Versehen? Jedenfalls wirft Alex den Ball zurück zu dem unsichtbaren Beweger jenseits der Zaungrenze; und daraus wiederum ergibt sich ein spielerisches Hin und Her mit dem Ball, eine Art geheimnisvoller Dialog mit einem Unbekannten beziehungsweise mit dem Fremden, das sich nicht zeigt, aber doch wirkt und seine reale Anwesenheit behauptet. Es sind solche fast absichtslos hingetupften Momente voller visueller Poesie und schwebender Bedeutungen, in denen Julia Loktev das nie ganz greifbare Sujet ihres beeindruckenden Films „The Loneliest Planet“ ahnungsvoll verdichtet. Die Spannung resultiert dabei aus dem Ungesagten einer prinzipiellen Offenheit, die sich in raum-zeitlichen Sprüngen und einer elliptischen Handlungsstruktur artikuliert.

Dazu kommt die Lust an der Bewegung, an Atmosphäre und Stimmung, die sich bald mit grandiosen Landschaftspanoramen verbindet. Alex und Nica unternehmen nämlich eine mehrtägige Trekkingtour durch den Kaukasus, auf der sie von dem georgischen Guide Dato (Bidzina Gujabidze) geführt werden. Ihre demonstrative, verspielte Verliebtheit, ihr unbeschwertes Glück und ihre verschworene Intimität scheinen immun gegen Irritationen und kontrastierende Gefühle, die sich fast unmerklich immer wieder einstellen, etwa wenn Dato makabre Witze erzählt, auf die geheimnisvolle Wirkung von Steinen und Kräutern aufmerksam macht oder mit Zaubertricks überrascht. Doch für Alex und Nica ist das Fremde allenfalls kurios; ihr Weg kennt noch kein Ziel; sie stecken fest in einer Liebeskapsel, die alles absorbiert, ohne es zu reflektieren. Ihr permanentes, strahlendes Lächeln schwebt immer ein wenig über den Dingen und scheint auch nicht ganz frei von einem Hauch kultureller Überheblichkeit.

Das alles wird sich von einem Augenblick auf den anderen unumkehrbar ändern. Es ist ein Moment der Bedrohung und der Todesangst, der das scheinbar so sichere Beziehungsgefüge tief erschüttert, ja eine schockierende Entzweiung sowie einen Verlust der Unschuld bewirkt. Die Realität der Welt bricht den Kokon der Liebesabschottung gewissermaßen auf und führt zu einem irreparablen Vertrauensbruch. Dabei handelt es sich „nur“ um einen Reflex, der jedoch etwas Elementares ausdrückt. Misstrauen und Distanz, Sprachlosigkeit und ein gestörtes Selbstbild begleiten die Protagonisten fortan auf ihrem Weg durch eine Landschaft, deren majestätische Größe sie förmlich zu verschlucken scheint. Immer wieder inszeniert Julia Loktev diese gewaltige Natur, in der sich die Figuren, zunehmend vereinzelt und entfremdet, zu verlieren scheinen. Ihr stimmungsvoller, visuell betörender Film handelt aber auch von den Fallstricken der Kommunikation, sprachlicher Differenz und damit verbundener Unkenntnis respektive Blindheit. Erst als Dato in gebrochenem Englisch seine erschütternde Lebensgeschichte erzählt, gewinnt das fremde Andere – zumindest für Nica – eine ebenso greifbare wie berührende Wirklichkeit.

Sofia’s Last Ambulance

(BUL / D / KRO 2012, Regie: Ilian Metev)

Komm, wir zählen Schlaglöcher
von Ricardo Brunn

Mit dem Humor der Verzweifelten treibt es die Rettungssanitäter Krassi und Mila gemeinsam mit ihrem Fahrer Plamen jeden Tag aufs Neue durch die Straßen der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Stundenlang irren …

Mit dem Humor der Verzweifelten treibt es die Rettungssanitäter Krassi und Mila gemeinsam mit ihrem Fahrer Plamen jeden Tag aufs Neue durch die Straßen der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Stundenlang irren sie von einem Einsatz zum nächsten, müssen die Adressen der Zielorte mühsam suchen oder über das fortwährend ausfallende Funkgerät auf Anweisungen warten. Schnell wird klar, dass es in der Millionenmetropole nicht genügend Einsatzkräfte gibt, aber nur nebenbei erfährt man, dass die Drei das einzige Reanimationsteam der Stadt bilden, weshalb sie manchmal nur noch den Tod eines Patienten feststellen und sich dafür entschuldigen können, dass die Anfahrt vier Stunden gedauert hat.

Zwischen den Einsätzen zeigen die auf dem Armaturenbrett fest installierten Kameras die müden Gesichter der Protagonisten, wie sie Gespräche über Kündigungen anderer Sanitäter führen, die überfüllten Krankenhäuser verfluchen oder sich fragen, warum sie sich das alles antun, wenn es schon an der Grundausrüstung mangelt. So auch bei dem kleinen Mädchen, dem Mila auf der Fahrt ins Krankenhaus zur Beruhigung nur anbieten kann, gemeinsam die Schlaglöcher zu zählen, die den ungefederten Krankenwagen regelmäßig erschüttern, damit es die Schmerzen wenigstens für ein paar Sekunden vergessen kann.

In Ilian Metevs erstem abendfüllenden Dokumentarfilm „Sofia’s Last Ambulance“ genießt das Dokumentarische einen Raum, den es im Zuge einer Hybridisierung und Reality-Verscriptung in unterschiedlichen Medien seit einiger Zeit zu verlieren droht. Hier ist es nicht Nebenprodukt einer dramatischen Geschichte Einzelner im sich cineastisch wähnenden Breitwandformat und kokettiert auch nicht mit Voyeurismus oder Polemik, wie es bei einem solchen Thema ein Leichtes gewesen wäre (man denke nur an Michael Moores dampfwalzigen „Sicko“).

„Sofia’s Last Ambulance“ konzentriert sich stattdessen auf unkommentiertes Zeigen und lebt ganz und gar von seinen Leerstellen. Der Krankenwagen wird nur selten verlassen, Opfer werden nie gezeigt. Bei manchen Einsätzen sehen wir nur das angespannte Gesicht des Fahrers Plamen, während aus dem Off die Bemühungen Krassis und Milas um die Patienten zu hören sind. Und einen Unfall der Ambulanz erleben wir nur durch den sich in den Gesichtern der Ärzte abzeichnenden Schrecken. In der Folge dieser Herangehensweise bleiben viele Fragen offen. Einen genauen Blick in das marode Gesundheitssystem Sofias liefert der Film ebenso wenig wie ein zufrieden stellendes (vielleicht am Voyeurismus des Fernsehens geschultes und deshalb erhofftes) Porträt der drei Rettungssanitäter. Dagegen formt sich aus all den nebensächlichen Details, dem Spiel mit On und Off, den Halbsätzen und insbesondere den so entstehenden Auslassungen ein Gefühl dafür, welch scheinbar aussichtslosen Kampf das Bemühen um die Bedürftigen und Schwachen darstellt, die in Bulgarien tatsächlich kaum noch Zugang zur lebensnotwendigen Gesundheitsversorgung haben.

In der Reduktion und Konzentration erinnert das alles an Cristi Puius ersten Spielfilm „Der Tod des Herrn Lazarescu“ und dessen absurde Fahrt von einem überfüllten Krankenhaus zum nächsten. Ähnlich wie Puius Film stellt „Sofia’s Last Ambulance“ eine Reise ans Ende der Nacht dar, die von vornherein verloren ist und deren Protagonisten sich (wie der spätere Armenarzt Céline) täglich aufs Neue in der Ungewissheit üben, „woher man am nächsten Tag die Kraft holen soll, das, was man gestern getan hat, weiter zu tun […], und alles nur, um einmal mehr festzustellen, dass das Schicksal unbezwingbar ist, dass man unweigerlich wieder auf der untersten Treppenstufe landet, jeden Abend, voller Angst vor dem nächsten Tag, der immer ungewisser, immer trostloser ist.“ Und so bleibt am Ende des Filmes folgerichtig ein Platz im Führerhaus des Krankenwagens einfach leer.

Meine Schwester

(F / I 2001, Regie: Catherine Breillat)

Das Ende der Unschuld
von Wolfgang Nierlin

Ob es besser sei, beim ersten Mal den Sexualpartner zu lieben oder aber emotional „neutral“ zu sein, fragen sich zwei junge Mädchen am Anfang des Films beim Spaziergang in einem …

Ob es besser sei, beim ersten Mal den Sexualpartner zu lieben oder aber emotional „neutral“ zu sein, fragen sich zwei junge Mädchen am Anfang des Films beim Spaziergang in einem Pinienwald. Während sich die 15-jährige Elena (Roxane Mesquida) zur romantischen Liebe bekennt und damit zu einer Sexualität des Gefühls, ahnt ihre jüngere Schwester Anaïs (Anaïs Reboux) schon früh die Verletzungen, die diesem Ideal jugendlicher Unschuld innewohnen und plädiert deshalb nüchtern für die Trennung der körperlichen von der seelischen Liebe. Vielleicht ist es dieser Dualismus, der die Zwölfjährige weniger angreifbar macht, sie schützt und letztlich überleben lässt. Jedenfalls erfahren beide Mädchen im Verlauf des Films auf schmerzhafte Weise das herbeigesehnte Ende ihrer sexuellen Unschuld. Eine gewissenlose Verführung und eine brutale Vergewaltigung, deren strukturelle Gleichsetzung geradezu schockierend und obszön wirkt, bilden die Schlüsselszenen in der Darstellung männlicher Gewalt. Schon ihr umstrittener Film „Romance“ handelte mit kühler Präzision von der Unmöglichkeit, Liebe und Sexualität miteinander zu verbinden. In „Meine Schwester“ ('A ma sœur“) treibt die französische Schriftstellerin und Filmemacherin Catherine Breillat mit analytischer Schärfe die Desillusionierung noch einen Schritt weiter: Ehe die Befreiung aus den Zwängen der Pubertät wirklich werden könnte, findet sie ein deprimierendes Ende.

Bereits das Lied über die als existentiell empfundene Langeweile der Adoleszenz, mit dem die vernachlässigte Anaïs ihre romantische Todessehnsucht ausdrückt, färbt die sowohl ungleiche wie symbiotische Beziehung der Geschwister tragisch. Da Elena schön und anziehend ist und sich beim Ferienaufenthalt in Italien am Meer bald in den römischen Jurastudenten und Frauenhelden Fernando (Libero de Rienzo) verliebt, bleibt für die dickleibige Anaïs nur noch der Spott ihrer Schwester und die Eifersucht einer von unterschwelligen Rivalitäten bestimmten Hassliebe. Für Elena ist die stille Zeugin geduldetes Anhängsel und entlastendes Alibi für ihre geheimen Stelldicheins gegenüber den ansonsten demonstrativ gleichgültigen Eltern. Trotzdem gibt es zwischen den beiden eine Komplizenschaft, die auf geradezu spiegelbildliche Weise die eine zum jeweiligen Teil der anderen macht. Während sich Elena ganz materialistisch über ihr Äußeres und die gängigen Statussymbole definiert, schöpft Anaïs mehr aus ihrem Inneren. Die Distanz schärft ihr den Blick und mit ihrem schweren Körper markiert sie Grenzen. Wenn sich am gewalttätigen Schluss diese Rollen scheinbar vertauschen, tatsächlich aber auf hässliche, vielleicht denunziatorische Weise bestätigt werden, liegt in der plötzlichen Willkür, mit der dies geschieht, eine gewollt schicksalhafte Konsequenz, die zu weit geht, aber in der Architektur des Films begründet liegt.

Breillats harte, ungeschönte Darstellung sexueller Probleme besitzt zwei längere Szenen, die eindringlich und genau den Fokus ihres Interesses konzentriert abbilden: Die dramaturgisch aufsteigende Verführungssequenz, in der Lorenzo mit Versprechungen, schönen Komplimenten und Liebesbeteuerungen die von Zweifeln, Ängsten und Zugeständnissen hin und her gerissene Elena sexuell gefügig macht; und die dem Höhepunkt folgende Autobahnfahrt nach den abrupt abgebrochenen Ferien, die von einer klaustrophobischen Atmosphäre und latentem Terror erfüllt ist. Betrug und Verrat, Sprachlosigkeit und Unverständnis vermitteln hier einen nüchternen Blick von der unaufhebbar erscheinenden Geschlechterdifferenz und fügen sich so zum ungeschminkten Bild zwischenmenschlicher Entfremdung.

The Best Offer – Das höchste Gebot

(I 2013, Regie: Giuseppe Tornatore)

Vexierspiel
von Harald Steinwender

'Nothing is what it seems' – das musste schon der von Donald Sutherland gespielte Kirchenrestaurator in Nicolas Roegs Venedig-Horrormärchen 'Don’t Look Now' ('Wenn die Gondeln Trauer tragen'; 1974) auf ziemlich …

'Nothing is what it seems' – das musste schon der von Donald Sutherland gespielte Kirchenrestaurator in Nicolas Roegs Venedig-Horrormärchen 'Don’t Look Now' ('Wenn die Gondeln Trauer tragen'; 1974) auf ziemlich grausame Weise erfahren. Ganz in dieser Tradition steht auch der von Geoffrey Rush gespielte Virgil Oldman in 'The Best Offer – Das höchste Gebot' ('La migliore offerta'). Der 63-jährige Auktionator mit dem 'sprechenden' Namen diniert in den feinsten Restaurants, feiert berufliche Erfolge und erweitert mit Hilfe seines Komplizen Billy – gespielt von einem verschmitzten, greisen Donald Sutherland – Stück für Stück seine eindrucksvolle Kunstsammlung. Doch Oldman, der alles besitzt und doch nichts hat, ist ein einsamer Sonderling, der sich von seiner Umwelt abkapselt, nie in seinem Leben mit einer Frau geschlafen hat und seine halblegal erworbenen Kunstschätze nur im Geheimen genießen kann. Erst als die mysteriöse Claire (Sylvia Hoeks) ihn bittet, ihren Familienbesitz zu schätzen und zur Versteigerung zu bringen, beginnt Oldman, sich dem Leben zu öffnen. Er meint, in der jungen Frau eine Seelenverwandte gefunden zu haben – und verstrickt sich in eine Affäre, bei der unter anderem ein besonders schwerer Fall von Agoraphobie und ein antiker Automaton, eine Art primitiver Roboter, eine Rolle spielen – und in deren Verlauf Oldman nicht nur erfährt, was die Liebe ist, sondern das Herz gebrochen wird.

Mit 'The Best Offer' hat der italienische Regisseur Giuseppe Tornatore – hierzulande vor allem bekannt für seine etwas sentimentale Ode an das Kino 'Nuovo Cinema Paradiso' ('Cinema Paradiso'; 1988) – einen im besten Sinn altmodischen Mystery-Thriller inszeniert: einen Film, der seine andeutungsvolle Geschichte mit einer Vielzahl falscher Fährten und kleiner Abschweifungen garniert und im Zweifelsfall stets der überraschenden Wendung und der surrealen Volte den Vorzug über bürokratisches Wahrscheinlichkeitsdenken gibt. Zwar verweigert Tornatore sich dem Blutzoll des italienischen Exploitation- und Formelkinos, doch zählen auch hier ganz wie in den gialli der 1970er Jahre vor allem Atmosphäre und Oberflächenreiz. So gleitet Fabio Zamarions Kamera zu Ennio Morricones gewohnt souveräner Filmmusik beinahe schwerelos durch exquisit ausgestattete Räume; die gedämpften Farben von Silber, Marmor und Tropenholz bestimmen die luxuriösen Breitwandbilder; in der Privat-Pinakothek des Protagonisten hängen dicht an dicht unzählige Frauenporträts von Raffael und Tizian, Renoir und Rubens, Goya und Degas.

Passend für einen Film über einen misanthropischen Kunstsammler – einen Mann, dem die Dinge schon grundsätzlich mehr zählen als die Menschen, die sie erschaffen haben – verliert sich der von seinen Obsessionen getriebene Antiheld zunehmend in den mit unzähligen kunsthistorischen Zeichen aufgeladenen (mitunter auch überladenen) Räumen, verwechselt Signifikant und Signifikat und wird schließlich zum Opfer einer raffinierten Fälschung. Der Australier Geoffrey Rush spielt den bald als törichten Alten erscheinenden Kunstfachmann: mal distinguiert-distanziert, dann wieder exaltiert-manieristisch, immer aber lustvoll überzeichnet und mit sichtlichem Spaß bei der Sache. Unterstützt wird er dabei effektiv von Jim Sturgess, Donald Sutherland und Sylvia Hoeks, letztere als obskures Objekt der Begierde des selbst höchst obskuren Protagonisten.

'The Best Offer' entwickelt sich schleichend von der Farce zum Alptraum mit surrealen Zügen, schlägt auf dem Weg dahin ein paar Haken und federt die Abgründe der Geschichte stets ab durch eine recht ironische Grundhaltung gegenüber den Figuren und den Regeln des Genres. Ohne allzu viel über die Handlung zu verraten, sei an dieser Stelle nur gesagt, dass Tornatores Film an David Finchers 'The Game' (1997) wie Roman Polanskis 'The Ninth Gate' ('Die neun Pforten'; 1999) und 'The Ghost Writer' ('Der Ghostwriter'; 2010) erinnert – was Plot, Stilwillen und die latent sadistische Haltung gegenüber der etwas bornierten Hauptfigur betrifft. Zugleich steht der Film deutlich in der Tradition von Tornatores frühen Kriminalfilmen 'Una pura formalità' ('Eine reine Formalität'; 1994) – in dem Polanski übrigens eine der beiden Hauptrollen spielte – und 'La sconosciuta' ('Die Unbekannte'; 2006), fällt aber gegenüber diesen Vorläufern etwas ab. Zu vorhersehbar bleibt ein bedeutender Plot-twist, die Bilder wirken letztlich doch ein wenig zu geschmäcklerisch. Aber selbst wenn dies kein ganz großer Wurf sein mag, ist 'The Best Offer' doch fraglos unterhaltsames, gut inszeniertes Krimikino, das man bedenkenlos für einen nostalgisch eingefärbten Kinobesuch empfehlen kann.

Paradies: Glaube

(D / F / AT 2012, Regie: Ulrich Seidl)

Groteske der Verzweiflung
von Ulrich Kriest

Es hätte der inkriminierten Masturbationsszene mit dem Kruzifix gar nicht bedurft, um „Paradies: Glaube“ wuchtig erscheinen zu lassen. Schon die Szenen, in denen sich die Protagonistin Gebete murmelnd, sich selbst …

Es hätte der inkriminierten Masturbationsszene mit dem Kruzifix gar nicht bedurft, um „Paradies: Glaube“ wuchtig erscheinen zu lassen. Schon die Szenen, in denen sich die Protagonistin Gebete murmelnd, sich selbst geißelnd oder auf Knien durch die Wohnung rutschend zeigt, sind beklemmend genug. Oder kratzen an der Grenze zur (unfreiwilligen) Komik. Die Masturbationsszene jedoch streift die Grenze zur Karikatur, weil hier eine These Seidls auf den (visuellen) Punkt gebracht wird, die man derart simplifizierend nun doch nicht sehen muss. Zum Glück sind in „Paradies: Glaube“ derlei polemische Zuspitzungen die Ausnahme.

Nachdem Ulrich Seidl im ersten Teil seiner „Paradies“-Trilogie seine mittelalte Protagonistin Teresa auf der Suche nach Liebe, Würde und Selbstbewusstsein in ein Ferien-Resort nach Kenia begleitet hatte, bleibt er im zweiten Teil bei deren Schwester Anna Maria (Maria Hofstätter, die Anhalterin aus „Hundstage“) in Wien. Die arbeitet als MTA in der Röntgenabteilung eines Krankenhauses und geht in ihrer Freizeit, im Urlaub mit einer „Wandermuttergottes“ im Milieu der Migranten und Abgestürzten missionieren.

Als katholische Fundamentalistin, die die Liebe zu Jesus etwas zu wörtlich nimmt, die sich schmerzhaften Bußübungen hingibt und deren Bet-Gruppe sich als „Sturmtruppe der Kirche“ bezeichnet. Wenn sich so eine Fanatikerin hingebungsvoll und streng gestrandeter Agnostiker und Andersgläubiger annimmt, dann sorgt das für eine unangenehme Portion Fremdscham, was an ältere Filme Seidls wie „Tierische Liebe“ oder „Hundstage“ erinnert. Aber die Szenen gehen in Fremdscham nicht auf, weil Missionare ja nicht nur in Ostfriesland auch gerne mal totgeschlagen werden. Und auch Anna Maria macht sich angreifbar in ihrer bohrenden Unnachgiebigkeit, ihrem Beharren auf Kontrolle. Ihre tapferen Missionsbegegnungen in den Wiener Vorstädten sind mal erschreckend, mal berührend, mal skurril und manchmal auch schon etwas gefährlich. Und führen darüber hinaus zu schönen Wiederbegegnungen mit Menschen, die man aus anderen Filmen Seidls bereits kennt wie »Busenfreund« René Rupnik, in dessen Wohnung der Platz für die „Wandermuttergottes“ recht knapp bemessen ist.

Doch denunziert Seidl die frömmelnde Katholikin so wenig wie er die Sextouristin in „Paradies: Liebe“ denunzierte: eher sorgt er sich um Zwischentöne. In der etwas groben Versuchsanordnung „Frömmlerin in einer säkularen Gesellschaft“ werden ganz andere Konflikte sichtbar. Und Seidl insistiert, bohrt nach, spielt: nachdem er Anna Maria einen Gutteil der Wegstrecke begleitet hat, erhöht er unvermittelt die Schmerzgrenze für die Figur. Plötzlich steht nämlich deren Mann Nabil in der Wohnung: ein querschnittgelähmter Ägypter, der insistierend seine Rechte als Ehemann einfordert und eifersüchtig reagiert, als er merkt, dass es Anna Maria offenkundig sehr ernst ist mit der Leugnung des Fleischlichen. Jetzt beginnt in der Wohnung ein erbitterter Glaubenskrieg, der zunächst um religiöse Symbole kreist. Letztlich jedoch geht es beiden Antagonisten nicht um Religion, sondern um Macht – und rasch wird klar, dass Anna Maria sich der Religion bedient, um sich von ihrem tyrannischen Ehemann zu emanzipieren. Dessen Rückkehr wird zu einer Herausforderung ihrer Gottgefälligkeit, die ohnedies nicht von Barmherzigkeit und der Achtung der Kreatur geprägt ist.

An ihrem Arbeitsplatz, wo sie es mit Kranken und Hilflosen zu tun hat, gibt sich Anna Maria kühl und professionell – und auch die in Pflege genommene Katze hätte sicher etwas mehr Fürsorge brauchen können. Es passt ins Bild, wenn Anna Maria ihrem gelähmten Gegner schließlich den Rollstuhl fortnimmt und die Türen verschließt. Wie in einer Groteske der Verzweiflung sieht man in einem der von Seidl betont artifiziell stilisierten Tableaus (Kamera: Ed Lachman) Nabil am Boden durch die Wohnung kriechen. Schimpfend und zeternd. Schrecklich. Drastisch. Brutal. Aufreizend komisch. Es ist nun nicht so, dass Anna Maria in ihrer forcierten Form des Glaubens Erlösung fände, sondern tatsächlich findet sie ihre Liebe zu Jesus nicht erwidert. Und dieses Erleben eines permanenten Scheiterns und Verfehlen der eigenen Sehnsüchte ähnelt fatal demjenigen »Schicksal« ihrer Schwester in Afrika. Aus der fundamentalen Einsamkeit führen keine Abkürzungen heraus, solange die Machtfragen nicht geklärt sind.

So wie die Sehnsucht nach Liebe unter den herrschenden Bedingungen zu Sextourismus führt, so führt die Sehnsucht nach Gnade im Glauben zur Bigotterie. Hier erwächst aus der Tabuisierung der Sexualität eine ganz besondere Lust, eine Angst/Lust, die, glaubt man Seidl, im Katholizismus strukturell angelegt ist. Auf den dritten Teil der Trilogie, der die jüngere Generation in den Blick nimmt, darf man gespannt sein, so freud- und erschütternd hoffnungslos sind die ersten beiden Bestandsaufnahmen ausgefallen.

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Spring Breakers

(USA 2013, Regie: Harmony Korine)

Dauerbespaßungshölle
von Andreas Busche

„Spring Break Forever“ lautet das psychedelisierende Mantra von Harmony Korines Anti-Pop-Märchen „Spring Breakers“. Die ungezügelte Lust vier junger Mädchen aus dem amerikanischen „heartland“ auf rauschhafte Bewusstseinszustände führt Korines Protagonistinnen in …

„Spring Break Forever“ lautet das psychedelisierende Mantra von Harmony Korines Anti-Pop-Märchen „Spring Breakers“. Die ungezügelte Lust vier junger Mädchen aus dem amerikanischen „heartland“ auf rauschhafte Bewusstseinszustände führt Korines Protagonistinnen in die Dauerbespaßungshölle jugendlicher Selbstentgrenzung. Der titelgebende „Spring Break“ markiert im Lehrplan amerikanischer College-Studenten das alljährliche Initiationsritual der niederen Instinkte: Sex, Alkohol und Drogen unter der Sonne Floridas, eine Art Ballermann für die verzogenen Wohlstandsgören am Übergang in die geregelten Biografien. Die hochgradig verstrahlten Frühjahrsfestivitäten stellen einerseits also einen Abschied dar, vom Elend der Provinz (ein „neues Leben“ imaginiert sich Faith, die Jüngste der Vier), und gleichzeitig eine Initiation. Das unausweichliche Erwachsenwerden ist die Kehrseite des „Spring Break“-Exzesses, an dessen Ende bestenfalls ein Platz im Humankapitalzoo winkt.

Korine wendet diese gesellschaftliche Zurichtungslogik konsequent in ihr Gegenteil, weil er seine Protagonistinnen zwar aus der Provinz befreit, ihnen den Übergang allerdings verwehrt. Sie stranden – mit Geld aus einem Raubüberfall – im „Spring Break“-Irrsinn, landen im Knast, werden von einem bizarren, drogendealenden Gangsterrapper namens Alien (James Franco mit Flechtfrisur und einer Metallbeißleiste, die Busta Rhymes und ODB neidisch machen würde) rausgehauen und enden, weitab von der knallbunten Fantasiewelt aus Wet-T-Shirt-Wettbewerben und Komasaufen, in einem düsteren Zwischenreich, in der nur noch die plötzlich seltsam deplatzierten Neon-Bikinis strahlen. Der Exzess der Party ebnet dem Exzess der Gewalt den Weg, und die Mädchen lassen sich seltsam fasziniert von dem charismatisch-debilen Alien mitreißen. Seelenverwandte nennt er seine „bitches“ und die geben nur zu gerne die „bösen Mädchen“ einer mittelprächtigen Gangsterrapper-Fantasie – respektive: der Fantasie eines auf Krawall gebürsteten Hipster-Regisseurs.

Korine hat dieses Moment des Übergangs implizit in seiner Geschichte verankert. Zwei der Darstellerinnen, Selena Gomez und Vanessa Hudgens, haben eine Vergangenheit beim Disney-Channel, ihre Figuren folgen also denselben Abnabelungsmechanismen, die sie selbst mit ihrer Rollenwahl vollziehen. Einem anderen Disney-Sternchen, Britney Spears, wird mit einer schmalzigen Piano-Ballade vorm Sonnenuntergang Reverenz erwiesen. Korine bedient sich einer eindeutigen Bildproduktion, entschärft die Fallen der Wahrnehmung aber durch forcierte Unterspielung. „Spring Breakers“ ist nicht hemmungslos geil, sondern hoffnungslos abgefuckt.

Dieser Text erschien zuerst in: Pony #81

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Romance 2 – Anatomie einer Frau

(F 2004, Regie: Catherine Breillat)

Weiblicher Selbsthass
von Wolfgang Nierlin

Kühl und artifiziell ist die experimentelle Versuchsanordnung, die Catherine Breillat in ihrem Film „Romance 2 – Anatomie einer Frau“ (Anatomie de l’enfer) etabliert. Die französische Regisseurin und Schriftstellerin hat dafür …

Kühl und artifiziell ist die experimentelle Versuchsanordnung, die Catherine Breillat in ihrem Film „Romance 2 – Anatomie einer Frau“ (Anatomie de l’enfer) etabliert. Die französische Regisseurin und Schriftstellerin hat dafür ihr Buch „Pornocratie“ adaptiert und als kammerspielartiges Zwei-Personen-Stück inszeniert, das in analytischen Sätzen und symbolischen Handlungen einen Diskurs über die prinzipielle Geschlechterdifferenz beziehungsweise die „Feindschaft zwischen Männern und Frauen“ entwickelt. Dabei wirkt der trocken sezierende Blick auf die Sexualität, vor allem aber auf das weibliche Geschlecht und seine metaphysischen Abgründe radikal desillusionierend. Zumindest die namenlose Protagonistin (Amira Casar), die sich zu Beginn des Films umbringen will („Weil ich eine Frau bin.“) scheint diesbezüglich von Ekel und Selbsthass erfüllt zu sein. Vier Nächte lang trifft sie sich in einem abgelegenen Haus am Meer mit einem Mann (gespielt vom italienischen Porno-Star Rocco Siffredi), um unter seinen Blicken etwas über sich und ihre Weiblichkeit zu erfahren.

Doch manchmal hat man den Eindruck, die Theorie gehe der Praxis voraus, was durch einen von Catherine Breillat selbst gesprochenen Text aus dem Off noch verstärkt wird. „Die Zerbrechlichkeit des weiblichen Fleisches erzwingt Abscheu oder Brutalität“, sagt die Frau. Und: „Der Frauenkörper lechzt nach Verstümmelung.“ Verhandelt wird in dieser ersten Nacht die „Obszönität der Frauen“, die, so die Behauptung, mit der geheimnisvollen Tiefe ihres Geschlechts, mit ihrer Weichheit und Schwäche verbunden sei. In der ebenso expliziten wie drastischen Auseinandersetzung mit dem Menstruationsblut, seiner „Unreinheit“ („Blut ohne Wunde“), aber auch seiner negativ besetzten Symbolkraft für das Leben, spitzt Breillat das Tabu der weiblichen Selbstverneinung noch zu.

„Die Frau ist die Krankheit des Mannes“, heißt es einmal in Erinnerung an die demütigenden Doktorspiele der Kindheit. Um das unersättliche Tier in ihr zu domestizieren respektive zu bezwingen, muss der Mann, so die These, die Frau gewaltsam unterwerfen. Es sei die Begierde des Mannes, die Frau zu töten, sagt sie zu ihm über sein Besitzdenken und seinen Zerstörungstrieb. Im Zurückschrecken des Mannes vor dem Unwiderruflichen und in seinem letztlich sexuellen Scheitern liegt sowohl ein schwacher weiblicher Trost als auch eine männliche Verzweiflung, deren Larmoyanz und Lächerlichkeit, belauscht bei einem Gespräch unter Männern, Breillats statischen, dunklen Film über die naturgegebene Feindschaft zwischen den Geschlechtern für einen Augenblick aufhellt.

The Broken Circle

(B / NL 2012, Regie: Felix van Groeningen)

Bluegrass in Belgien
von Carsten Happe

Die „Beschissenheit der Dinge', so der Titel von Felix van Groeningens letztem Film, lässt sich auch ohne weiteres auf den Beginn von „The Broken Circle Breakdown“ übertragen. So sehr die …

Die „Beschissenheit der Dinge', so der Titel von Felix van Groeningens letztem Film, lässt sich auch ohne weiteres auf den Beginn von „The Broken Circle Breakdown“ übertragen. So sehr die Eltern, die Ärzte und die Krankenschwestern sich bemühen, die Atmosphäre rund um die schwer erkrankte kleine Maybelle ist trostlos bis verzweifelt. Doch der Film tappt nicht in die Falle, ein weiteres Krebsdrama zu bebildern, er erzählt eine ganz andere Geschichte, die allein ein Blick auf die Eltern schon herausfordert: er der zottelige, vollbärtige Lebenskünstler-Typ, sie von Hals bis Fuß mit Tattoos verziert, Bildern und Erinnerungen aus ihrem Leben, ehemaligen Liebhabern, besonderen Eindrücken.

„The Broken Circle Breakdown“ springt frei und ungezwungen durch die Geschichte von Didier und Elise, ihrem unkonventionellen Leben – und ihrer großartigen Musik. In einer Bluegrass-Band. In Belgien. Was will man mehr? Bis der Schmerz sie – und den Film – wieder einholt. Und es nichts mehr zu retten gibt oder zu beschönigen. Aber auch da muss man durch, und wenn schon nicht die Liebe hilft, dann vielleicht noch die Musik, wenigstens.

Weit entfernt vom üblichen Formatkino, das zumeist in den ersten fünf Minuten bereits den weiteren, in geordneten Bahnen dahinplätschernden Verlauf skizziert, galoppiert van Groeningen quer durch sein mitreißendes Material, das mal ein Theaterstück war, aber sich kaum noch danach anfühlt, wohl aber vor hemmungslosen Emotionen fast auseinanderbricht, weil seine Charaktere so stark und so eigen daherkommen, dass es eine einzige Freude ist. Veerle Baetens als Elise und Johan Heldenbergh als Didier geben ihnen ein Gesicht und einen Körper und es ist so wertvoll für den Film, dass man sie zuvor (fast) noch nie gesehen hat, so sehr verschmelzen sie nun ohne die Last früherer Filme mit ihren Rollen. Und wie sie sich die Seele aus dem Leib spielen. Und mit Inbrunst ihre Musik zelebrieren. Genau das macht den Unterschied aus und kündet von der Seele dieses aufwühlenden und bezaubernden Films und von seiner Leidenschaft, die sich mit Worten kaum wiedergeben lässt, aber in jedem seiner Bilder, seiner Töne, seiner tiefempfundenen Gefühle steckt.

Sex Is Comedy

(F / PT 2002, Regie: Catherine Breillat)

Wahrheit der Körper
von Wolfgang Nierlin

Eine Filmcrew schleppt aufgeregt Equipment zu einem Sandstrand an der Atlantikküste. Es ist windig und kalt, die jungen, halbnackten Darsteller, die auf Kommando eine Kussszene spielen sollen, frieren und dann …

Eine Filmcrew schleppt aufgeregt Equipment zu einem Sandstrand an der Atlantikküste. Es ist windig und kalt, die jungen, halbnackten Darsteller, die auf Kommando eine Kussszene spielen sollen, frieren und dann zieht auch noch ein Unwetter auf. Jeanne (Anne Parillaud), die ebenso resolute wie machtbewusste Regisseurin kommandiert und schreit, kritisiert und schimpft, weil bei all diesen Unbilden die Illusionsmaschine nicht so richtig in Gang kommt und die Vorspiegelung eines täuschend echt aussehenden Lebens nicht gelingen will. An der Schnittstelle von Film und Leben liegen Falsches und Echtes schwer miteinander im Clinch und sind kaum noch zu unterscheiden. Das ändert sich ein wenig, als die Produktion auf das scheinbar sicherere Terrain des Studios wechselt, das Jeanne bevorzugt, weil es größtmögliche Kontrolle erlaubt: „Das Studio ist wie eine Kirche. Der Ort der Sprache. Die Sprache des Films.“

Jeanne mit ihrem Plädoyer fürs Artifizielle ist natürlich das Alter Ego der französischen Filmemacherin Catherine Breillat, die mit ihrer Film-im-Film-Parodie „Sex is Comedy“ ein überraschend heiteres und ironisches Selbstportrait voller Doppeldeutigkeiten und Fallgruben gedreht hat. Die fließenden Wechsel zwischen den verschiedenen Wirklichkeits- und Inszenierungsebenen gehören hier ebenso zum Genre wie verwickelte Produktionsbedingungen und launische Schauspieler. Breillat verschiebt aber die Gewichte und fokussiert ziemlich rückhaltlos und intim auf die Regisseurin als „Blutsaugerin“, die als besessene und liebende Künstlerin von Selbstzweifeln geplagt wird, unter ihrer Arbeit leidet („Der Film macht mich kaputt.“) und eifersüchtig über alles und jeden wacht. Vor allem ihr ambivalentes Verhältnis zu den beiden Schauspielern changiert dabei ständig zwischen Liebe und Hass, Anziehung und Abstoßung, Vertrauen und Verrat.

Im Ringen um den wahren Ausdruck spielt Jeanne die Darsteller, die von Grégoire Colin und Roxanne Mesquida verkörpert werden, immer wieder gegeneinander aus. Ihre Angst und Scham, ihre Macht und Ohnmacht werden in diesen Kämpfen von Jeanne produktiv für die Inszenierung genutzt, deren Höhepunkt die Verführung eines noch unschuldigen Mädchens ist. Das Verlangen darzustellen und dabei die Würde zu bewahren wird ebenso zur Aufgabe wie die Suche nach einem Ausgleich für die empfundene Unfreiheit am Set. Gut möglich, dass Catherine Breillat in dieser Schlüsselszene Erfahrungen verarbeitet, die sie bei ihrem vorhergehenden Projekt „Meine Schwester“ ('À ma sœur') gemacht hat. „Sex ist Comedy“ mündet jedenfalls in einer Katharsis, die schließlich den Rahmen des Spiels verlässt und auf ergreifende Weise die gesamte Filmcrew erfasst. „Wörter sind Lügen, Körper die Wahrheit“, heißt es einmal dazu an anderer Stelle über die Stärken gelingender Illusion.

Leg ihn um!

(D 2012, Regie: Jan Schütte)

Crowd Verdumming
von Andreas Thomas

Wie unlängst bei ähnlicher Gelegenheit erwähnt, leidet die aktuelle deutsche Komödie nicht nur unter ihrem eingeschränktem oder zu gut versteckten Humor, sie schert sich vor allem schon mal so was …

Wie unlängst bei ähnlicher Gelegenheit erwähnt, leidet die aktuelle deutsche Komödie nicht nur unter ihrem eingeschränktem oder zu gut versteckten Humor, sie schert sich vor allem schon mal so was von gar nicht um Logik, respektive Plausibilität. Doch wer hätte es gedacht: Auch wo der Mensch lachen soll, da will er ein logisches Fundament, damit es halt spaßig zusammenbrechen kann. Wo schon ein Fundament fehlt, da mangelt es an komischen Highlights, wenn dieses nicht existierende Ding nochmal demontiert werden soll.

Man fasst sich doch nur an den Kopf und will nicht glauben, alleine, was für Drehbücher so den lieben langen Tag geprüft und für gut und verfilmbar befunden werden. Im Fall von „Leg ihn um!“ macht schon die Grundidee so wenig Laune, weil so wenig Sinn, dass man den Eindruck hat, die deutsche Filmindustrie legt es derzeit geradezu drauf an, ihre Zuschauer danach zu testen, wie viel Blödheit man ihnen eigentlich noch unbemerkt unterjubeln und zugleich damit unterstellen kann. (Ich fürchte nur, mit Grund zu viel …)

Der große Mime Hans-Michael Rehberg (2 „Kommissare“, etliche Male „Der Alte“, jedoch auch Kino-Events wie Klicks „Supermarkt“, Fassbinders „Berlin Alexanderplatz“ oder „Schindlers Liste“) jedenfalls wohnt in einem Landhäuschen, hat verstreute vier Kinder mit drei Partnern, von denen allen übrigens einer unausstehlicher ist als der andere, wirklich „people that you’d love to hate“ (was dann schon die größte Stärke des Films ausmacht), und aufgrund eines nicht näher bezeichneten Krebses nicht mehr lange zu leben. Da er auch nicht gerne lange leiden will, lässt er die drei Ältesten via Privatsekretärin wissen, dass nur der ihn beerben darf, der ihn innert der nächsten Woche oder so um die Ecke bringt. Und weil er mindestens so ein Kotzbrocken ist wie seine Kinder, würde, so zeigt sich, eine eventuelle gegenseitige Zuneigung der Tat nicht im Wege stehen. Um den Mord am Papa dann auch noch verifizieren zu können, muss das mordende Kind übrigens noch den Hergang bitte auf Video aufzeichnen.

Punkt. Enough said. Ich habe keine Lust, den Ablauf weiter zu beschreiben, weil alleine diese Prämisse und weil deren selbstverständliche Akzeptanz und Nichthinterfragung durch diese idiotischen Kinder und durch das Drehbuch und durch die Regie schon den gesamten Film hindurch für mich die reine Zumutung waren.

Übrigens braucht sich dieser eine unglaubwürdige Initial-Schwachsinn nicht einsam zu fühlen, alle drei Minuten wartet der Film mit neuen abwegigen Drehbuchlöchern auf und gesteigert werden diese nur noch durch das, was man wohl für eine „bestens aufgelegte“ Crew gehalten hat. Der „Spontaneität“ und der „emotionalen“ Improvisation wurden offenbar Tür und Tor geöffnet, um den Film wohl wenigstens im Bereich der Performance realistisch wirken zu lassen, wenn schon im Bereich der Story nichts funktioniert; und was wir dann da haben, sind Schauspieler, denen erlaubt wurde, alles raus zulassen, speziell ihre Sau. Und das klingt hoffentlich so, wie es klingt, nämlich doch eher so, dass man es nicht gesehen haben will.

Zum crowd-funding, welches der übrigens reichlich amateurhaft fotografierte Film offenbar bedurfte, wie im Abspann zu lesen ist, gesellt sich auch product placement: Der Hagebaumarkt glänzt unangenehm durch quälende Sekunden zu langes Einblenden seines Firmenschildes und eine Jack Wolfskin-Jacke trägt die doch eher triste Jack-Wolfskin-Wirklichkeit unseres Straßenbildes nun leider auch auf die Leinwände der Jack-Wolfskin-infizierten Cineplexxe – oder eben auch nicht?

Dass der Film vom Inhalt und Ambiente her und wohl auch von der Handlungsidee (verkorkster Vater lädt verkorkste Kinder in sein Landhaus, wo die Masken fallen) her im weitesten Sinne in Richtung Thomas Vinterbergs “Das Fest“ tendiert, demonstriert leider einmal mehr und deutlicher, wie groß das Gefälle ist. Aber was rede ich: Enough said, jetzt wirklich! Und tschüss „Leg ihn um!“!

Nachtzug nach Lissabon

(D / PR / CH 2013, Regie: Bille August)

Das andere Leben
von Wolfgang Nierlin

„Wenn es so ist, dass wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist – was geschieht dann mit dem Rest?“ Dieser Satz trifft den Berner …

„Wenn es so ist, dass wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist – was geschieht dann mit dem Rest?“ Dieser Satz trifft den Berner Lateinlehrer Raimund Gregorius (Jeremy Irons) an einem verregneten Tag wie ein Schlag. Eben noch hat der zerstreut wirkende Altsprachler vor seiner Klasse über den Zusammenhang von Gedanke und Tat bei Marc Aurel philosophiert, nachdem er kurz zuvor eine junge Frau vom selbstmörderischen Sprung von der Kirchenfeldbrücke abhalten konnte. Jetzt muss er sich von einem Augenblick auf den anderen selbst entscheiden, ob er der Spur dieses Satzes, den die Lebensmüde samt dazugehörendem Buch in einem roten Regenmantel zurückgelassen hat, folgen will. Der Zufall hilft der Seelenverwandtschaft dabei gewissermaßen auf die Sprünge. Oder um es mit den Worten des fiktiven portugiesischen Schriftstellers Amadeu Inácio de Almeida Prado zu sagen, dessen geheimnisvolles Buch „Um ourives das palavras“ (Ein Goldschmied der Worte) Gregorius tief im Innern berührt: „Der wirkliche Regisseur des Lebens ist das Schicksal.“ Und so findet sich der Schweizer Lehrer kurz darauf in den malerischen Gassen Lissabons wieder.

Was er dabei fürs Erste zurücklässt, ist die Routine eines in Langeweile erstarrten bildungsbürgerlichen Lebens, in dessen schlaflosen Nächten er im geschmackvollen Ambiente seiner Wohnung gegen sich selbst Schach spielt. Jetzt stolpert er unverhofft mit wunderlich forschendem Blick und hungriger Neugier auf ein anderes Leben über fremdes Terrain, um die noch rätselhafte Geschichte jenes unbekannten Autors und Arztes zu rekonstruieren und dabei das Sehen neu zu lernen. Denn Bille August geht es in seiner soliden filmischen Adaption des Weltbestsellers „Nachtzug nach Lissabon“, den der Schweizer Philosophie-Professor Peter Bieri 2004 unter dem Künstlernamen Pascal Mercier veröffentlichte, vor allem um die Reise zu einem neuen Lebenssinn. Indem Gregorius im Verlauf seiner spannenden Recherche mit Hilfe zahlreicher Begegnungen und Gespräche allmählich das Lebenspuzzle Amadeu de Prados (Jack Huston) zusammensetzt, wird er mit seinen eigenen nicht gelebten Möglichkeiten konfrontiert. Daneben taucht er tief ein in die Widersprüche der jüngeren Geschichte Portugals zwischen Faschismus und Revolution.

Der routinierte dänische Regisseur Bille August inszeniert diese komplexe Thematik durch ein sorgsam konstruiertes Gewebe aus Rückblenden, in denen Gegenwart und Vergangenheit nahtlos ineinander übergehen. Weitgehend ohne ästhetische Überraschungen huldigt er in seiner mit Stars besetzten internationalen Großproduktion dem schönen, geschmackvoll ausgestatteten Bild. Anders als der Held des Films überlässt Augusts konventionelles und ein wenig behäbiges Qualitätskino nichts dem Zufall. Zudem unterstützt eine unausgesetzte musikalische Untermalung die emotionale Steuerung des Zuschauers. Trotzdem gibt es einige höchst dramatische Momente, in denen Freundschaften im Konflikt zwischen Politik und Liebe auseinanderbrechen, die Solidarität sich gegen das Unmenschliche behauptet, das individuelle und berufliche Ethos zwischen die gesellschaftlichen Fronten gerät und die Ironie der Geschichte die Paradoxien des Lebens vorführt.

Ein wirklich junges Mädchen

(F 1976, Regie: Catherine Breillat)

Im Kerker weiblichen Begehrens
von Wolfgang Nierlin

Würde man Catherine Breillats Debütfilm „Ein wirklich junges Mädchen“ ('Une vraie jeune fille') aus dem Jahre 1976, der wegen diverser Freizügigkeiten und Tabubrüche erst 1999 in den französischen Kinos gestartet …

Würde man Catherine Breillats Debütfilm „Ein wirklich junges Mädchen“ ('Une vraie jeune fille') aus dem Jahre 1976, der wegen diverser Freizügigkeiten und Tabubrüche erst 1999 in den französischen Kinos gestartet wurde, unter die Coming-of-age-Geschichten rubrizieren, käme dies einer Verharmlosung des Sujets gleich. Zwar thematisiert Breillat in dieser provozierenden Verfilmung ihres vierten Romans „Le Soupirail“ das sexuelle Erwachen eines jungen Mädchens, das sich Mitte der sechziger Jahre gleichermaßen eingeengt fühlt von der französischen Provinz und einem restriktiven Elternhaus; doch das eigentliche Gefängnis, in dem die 16-jährige Titelheldin steckt, ist ihr Körper: seine Lust, sein Verlangen und Begehren, das keine Erfüllung findet. Diese unstillbare Sehnsucht, als Zustand der Unfreiheit und des Leidens an der eigenen Jugend verstanden, lässt die Protagonistin eine Art destruktive „éducation sexuelle“ erleben, die mit einer ebenso exzessiven wie exhibitionistischen Lust an der Besudelung einhergeht. „Der Ekel macht mich klar“, schreibt Alice Bonnard (Charlotte Alexandra), von Erbrochenem befleckt, mit roter Tinte in ihr Tagebuch.

Catherine Breillat bewegt sich mit der Off-Erzählerin ihres Films in Genre der Bekenntnisliteratur. Wie in den Schriften Georges Batailles verbinden sich auch in Alices Erlebnissen und Tagträumen Eros und Tod, ein Hang zum Morbiden und Phantasien über Grenzverletzungen. Dabei ist das Feuchte und Flüssige ihr Element. Immer wieder suhlt sie sich in Ausscheidungen, in Dreck, Blut und Schleim; sie zerdrückt in ihrer Hand lustvoll ein rohes Ei, steckt sich am Frühstückstisch heimlich einen Kaffelöffel in die Vagina oder schlurft mit hängendem Höschen über eine zugemüllte Wiese. „Symbole machen mir keine Angst“, schreibt Alice in ihr Tagebuch. Und genau das formuliert auch Breillat mit ihrem Film, der artifiziell, distanziert und ein wenig ironisch ist und mit seiner Bildsprache – den gedehnten Augenblicken, der gelenkten Blickführung und einer Vermischung von Traum und Realität – zugleich an der damaligen Sexfilmproduktion partizipiert; trotz seiner schwülen Atmosphäre, exemplarischer Schauplätze und prototypischer Geschlechterkonstellationen allerdings mehr an der künstlerisch verfeinerten Variante eines Walerina Borowczyk, der übrigens zuvor Charlotte Alexandra für 'Thérèse philosophe', die zweite Episode seiner „Unmoralischen Geschichten“ verpflichten konnte.

Eingangs fährt die Internatsschülerin Alice mit dem Zug in die Sommerferien zu ihren Eltern in die Landes an die südwestfranzösische Atlantikküste. Von diesen unterdrückt, von der Gesellschaft misstrauisch beäugt und den jungen Männern aufgrund ihrer Jugend zurückgewiesen, streift sie, von ihrer unerfüllten Lust getrieben, durch die Gegend. Dabei sexualisiert sie mit ihrem sinnlichen Verlangen, ausgedrückt in hungrigen Blicken und neugierigen Berührungen förmlich ihre Umwelt, was Breillat immer wieder in gezielten visuellen Schocks inszeniert. Alices „Gefühl der Beklemmung“ löst sich dabei nicht. Stattdessen ergibt sie sich Unterwerfungsphantasien, in denen ein junger, ziemlich gutaussehender Mann namens Jim (Hiram Keller) eine zentrale Rolle spielt. Mit dieser Figur skizziert Breillat zugleich die kontrastierende Freiheit männlicher Sexualität, die, so ihre These, Frauen zu hörigen, willenlosen Opfern macht. Tatsächlich kommt es schließlich zu einer körperlichen Annäherung zwischen Alice und Jim, die in letzter Konsequenz allerdings nur noch tiefer in den Kerker eines übermächtigen weiblichen Begehrens führt.

Gegenwart

(D 2012, Regie: Thomas Heise)

Asche
von Andreas Thomas

Filme von Thomas Heise sind obskur, monolithisch, möchte man sagen. Sie sind das Gegenteil von dem, was man als „an die Hand nehmend“ bezeichnen möchte. Sie zeigen sehr (!) unkommentiert …

Filme von Thomas Heise sind obskur, monolithisch, möchte man sagen. Sie sind das Gegenteil von dem, was man als „an die Hand nehmend“ bezeichnen möchte. Sie zeigen sehr (!) unkommentiert und ausführlich „Material“ (auch ein Titel eines Heise-Films), sie zeigen beinahe das, was man „Found footage“ nennen könnte, also das, was ein Regisseur irgendwie von Außenstehenden gedreht vorgefunden und verwendet hat, mit wieder anderen Worten: Heise weiß, so scheint es, manchmal selbst nicht, wo Prioritäres und Sekundäres zu finden ist im Sucher der langsam gleitenden Kamera, und trotzdem sucht er, oder hört nicht auf zu suchen und zu filmen, bzw. statuiert er, dass in dem, was er sieht aber (noch) nicht benennen kann, Aussagen stecken über irgendetwas – z.B. eine bestimmte Zeit und ihre Geschichte oder eine Vergangenheit, oder das, was von einer Vergangenheit in einer Gegenwart steckt oder über eine Zukunft in einer, vielleicht dieser und unserer Gegenwart.

Für den Film „Gegenwart“ hat Heise sich sehr streng und monogam an einen Ort gehalten, auch die Zeit der filmischen Aufzeichnungen ist, so sagt es das Presseheft – denn Kommentare gibt es nicht in Heisefilmen – eine begrenzte, eine arbeitsreiche Zeit „zwischen den Jahren“ in einem Krematorium, denn die Särge mit Inhalt stapeln sich zwischen Weihnachten und Neujahr.

Zu Beginn sieht man weiße Partikel durch die Luft fliegen. Was ist das? Asche oder Schnee oder Parabel? Sind Filme über deutsche Krematorien Filme über die untrennbare deutsche und jüdische Geschichte? Niemand hats gesagt, geschweige denn der Regisseur, der filmt, dann doch erkennbar, nur tanzenden Schnee, der zeigt nur das eingefrorene Deutschland im Winter,und danach, distanziert und wenig am Detail interessiert, die eher routinierte, kühle und sachliche Arbeit bei der „Behandlung“, der „Verarbeitung“ von menschlichen Überresten. Auch hier eher Ahnung dessen, was da getan wird, als postletale Wahrheit, wegen der Kameradistanz, aber nicht zuletzt auch wegen des Schweigens oder nur gedämpften Austausches der am Vorgang beteiligten Arbeiter.

Einer von denen, einer mit Spiegelglatze (hat der Regisseur ihm gesagt, er solle das aus dramaturgischen Gründen anziehen?) trägt ein Thor Steinar-Muscleshirt und ist auch schön martialisch tätowiert. Minutenlang dürfen wir ihm dabei zusehen, wie er sich zuerst in den Ofen zwängt, dann Schamottesteine passgenau darin einzementiert: Ist das intendiert oder Zufall? Jedenfalls muss man schon aufpassen, um die Aufschrift zu erkennen; ich sage das nur, weil der Regisseur ja mal ein distanziertes Faible für ostdeutsche Neonazis hatte … (Nur dass dieses Krematorium hier ja dann unklischeegerecht irgendwo im Rheinland ist (was nicht im Presseheft steht)). Auch hier: Nebensache, natürlich, aber wo und was ist hier in dieser Doku die Hauptsache?

Was passiert hier eigentlich? Ist es wirklich zu erkennen, ist es wirklich interessant, oder schlafe ich gleich ein, weil alles, was hier passiert, genauso aussieht, wie alles, was überall passiert, wo gearbeitet wird? Jedenfalls so, wie ich Arbeit kenne, deutsche Arbeit? Macht Heise Filme über Deutschland oder über Arbeitsprozesse oder exakt über beides?

Die Särge stapeln sich zwischen Weihnachten und Neujahr. Diese vollautomatische Hochtechnologie, das erinnert an ein bestens schnurrendes und surrendes Atomkraftwerk, jedes tausendstel Grad im Ofen will registriert, jedes künstliche Hüftgelenk will säuberlich angehäuft sein, vom Zahnprothesengold (Gold, wo bleibt das Gold?) ganz zu schweigen. Und nochmal: geschwiegen wird hier sehr konzentriert, außer einmal, als der Senior der Firma, offenbar unaufgefordert, erzählt, dass er schon seit sechzig Jahren dabei ist und da drüben sein Junior, sein Enkel weitermachen wird. Aber das scheint Thomas Heise schon zu viel des verbalen Inputs.

Irgendwie und irgendwann ('fängt für uns die Zukunft an' – Nena) haben alle Gefilmten gemerkt, dass derart Persönliches für den Regisseur nicht hierher gehört und dass der Film schweigend und kommentarlos mehr zu erzählen hat, als mit Kommentar, – obwohl wir soeben via Worte auch viel über deutsche Tradition erfahren haben.

Am Ende macht Heise dann etwas Surrealeres als etwa ein David Lynch im Vorspann von „Mulholland Drive“. Etwas, was definitiv nicht beschreibbar ist. Das muss sein notwendiger Kontrapunkt sein. Ein Karneval der toten Seelen? Eine rheinländische Art von Verdauung der Gegenwart des Todes. Oder? Allenfalls monolithisch! Bitte selber kucken und erdulden, diesen schwierigen, langwierigen und so deutschen Film!

¡NO!

(CHILE 2012, Regie: Pablo Larraín)

Wenn die Freude kommt
von Andreas Busche

Politik und Werbung geben ein hübsches Paar ab. In den westlichen Mediengesellschaften, in denen die Inszenierung der politischen Sphäre die meinungsbildenden Diskurse längst übertönt, verlaufen die Grenzen ohnehin fließend. Tagespolitik …

Politik und Werbung geben ein hübsches Paar ab. In den westlichen Mediengesellschaften, in denen die Inszenierung der politischen Sphäre die meinungsbildenden Diskurse längst übertönt, verlaufen die Grenzen ohnehin fließend.

Tagespolitik erinnert heute an eine 'scripted reality'. Die Zuschauererwartungen haben maßgeblichen Einfluss auf die Rollenverteilung – der Konsument hat schließlich ein Anrecht darauf, vom Politzirkus wenigstens noch unterhalten zu werden.

Solche Zynismen sind natürlich nur angebracht, wo die inhaltlichen Positionen bereits so ununterscheidbar geworden sind, dass sich die Polit-Darsteller allein auf performativer Ebene Distinktionsgewinn verschaffen können.

Wie sich dagegen die Werbung zur Politik verhält, wenn tatsächlich etwas auf dem Spiel steht, zeigt der chilenische Regisseur Pablo Larrain in seiner Politsatire-goes-Thriller '¡NO!'.
1988 verkündete der damals schon schwer angeschlagene Diktator Pinochet siegesgewiss ein Referendum, das erstmals eine Volksabstimmung über seine 'Präsidentschaftskandidatur' vorsah. 15 Minuten Sendezeit im staatlich kontrollierten Fernsehen wurden der Opposition als Wahlkampfmittel zur Verfügung gestellt – verbannt ins Nachtprogramm. Larrain rekonstruiert diesen sonderbaren Wahlkampf, in den sich aus der Ferne selbst Hollywood zuschaltete.

Statt die Gräueltaten des Pinochet-Regimes in den Mittelpunkt der Kampagne zu stellen, engagiert die Opposition einen erfolgreichen, jungen Werber. Gael Garcia Bernal spielt diesen Hot Shot als unbedarften Sonnyboy, der nur eine vage Vorstellung davon hat, worauf er sich einlässt. Er fabriziert den Regimegegnern einen knallbunten Wahlkampf. 'Chile, die Freude kommt!' heißt das Motto seiner Kampagne. Zu sehen sind junge, gutgelaunte Menschen. Die Vorhut des Kapitalismus.

Larrain hat '¡NO!' mit Videokameras aus den achtziger Jahren gefilmt, um die Bildästhetik an das blässliche Archivmaterial anzupassen, das im Film reichlich Verwendung findet. Es ist ein schöner Gimmick, verdichtet aber auch das zeithistorische Porträt, das Larrain mit seinen nunmehr drei Pinochet-Filmen geschaffen hat. Die Thriller-Elemente bedienen sich dcer Paranoia-Tradition eines Costa-Gavras, darüber hinaus ist '¡NO!' auch historisch bemerkenswert. Er zeigt Chile am Übergang von einem repressiven, imperialistiisch-kapitalistisch gelenkten Staat zur 'freien' Marktwirtschaft.

Dieser Text erschien zuerst in: Pony #81

Shootout – Keine Gnade

(USA 2013, Regie: Walter Hill)

Analog ist besser!
von Ulrich Kriest

Die kleine Retro-Welle bewusst altmodischer und gradlinig körperbetonter Actionfilme wie „Drive“, „Jack Reacher“ oder „Parker“ und der überraschende Erfolg augenzwinkernder Rentner-Utopien wie „The Expandables“ verhilft auch Altmeister Walter Hill zu …

Die kleine Retro-Welle bewusst altmodischer und gradlinig körperbetonter Actionfilme wie „Drive“, „Jack Reacher“ oder „Parker“ und der überraschende Erfolg augenzwinkernder Rentner-Utopien wie „The Expandables“ verhilft auch Altmeister Walter Hill zu einer überraschenden Rückkehr ins Kino. Von Hill, der seine ganz große Zeit zwischen 1978 („Driver“) und 1989 („Und wieder 48 Stunden“) hatte, war in den vergangenen Jahre nicht mehr viel zu sehen, abgesehen vielleicht von seiner Regie bei der ersten Episode der Western-Serie „Deadwood“.

Zu seinen Glanzzeiten allerdings setzte Hill Maßstäbe im Actionkino, schrieb Drehbücher für Sam Peckinpah, drehte Spätwestern wie „Long Riders“, brachte den Vietnamkrieg in die Everglades („Die letzten Amerikaner“), erfand das Buddy Movie („Nur 48 Stunden“, „Red Heat“), injizierte dem Actionfilm Elemente des Pop-Musicals mit Videoclip-Ästhetik („Straßen in Flammen“) und antizipierte das Resultat von Mickey Rourkes Schönheitsoperationen in „Johnny Handsome“.

Der zuverlässige Handwerker Hill, mittlerweile 71 Jahre alt, lieferte seinerzeit Steilvorlagen für die Karrieren von Darstellern wie Charles Bronson, Willem Dafoe, Eddie Murphy, Arnold Schwarzenegger, Nick Nolte oder Bruce Willis – da passt es wie die Faust aufs Auge, wenn er in „Shootout – Keine Gnade“ erstmals mit Action-Ikone Sylvester Stallone arbeiten konnte.

Der spielt in dieser Verfilmung eines französischen Comics mit dem schönen Titel „Du plomb dans la tete“ einen alternden Auftragskiller namens James Bonomo, genannt Jimmy Bobo. Bobo ist zwar ein mit allen Wassern gewaschener Profi, macht aber gleich zu Beginn einen Fehler, als er die Zeugin eines Mordes am Leben lässt. Für diese kleine Schwäche muss sein junger Partner mit dem Leben bezahlen – und Bobos Name steht nun auch auf der Liste eines wirklich fiesen Killers (Jason Momoa). Doch der lässt sich davon nicht beindrucken, sondern startet einen Rachefeldzug. Man kann sagen: „Shootout“ sieht aus wie ein Stallone-Film von circa 1986, nur mit einem Stallone in der Hauptrolle, der nur 4 Jahre jünger als sein Regisseur ist.

Stallone sieht mittlerweile auch so alt aus, wie er ist, nur eben mit einem aufgepumpten Oberkörper. Ziemlich lächerlich also, geht aber als Comic-Figur á la Wastl durch. Es spricht für Hills Haltung, dass er gar nicht erst versucht, dem Genre mit Innovationen zu kommen. Er verlässt sich lieber auf all die Zutaten, mit denen er auch schon Mitte der 80er Jahre Erfolg hatte.

Da ist der wortkarge Gangster Bobo mit seinem altmodischen Ehrenkodex. Da ist seine hübsche Tochter (Sarah Shadi), die ihn erpressbar macht. Da ist der alerte, junge Bulle Taylor Kwon, der zu jedem Problem erst einmal sein Smartphone befragt, während Bobo lieber wortlos und ohne großes Aufheben von der Waffe oder den Fäusten Gebrauch macht. Kurzum: der Gangster und der Bulle müssen sich wohl oder übel zusammenraufen, um einer Bande von skrupellosen Immobilienspekulanten (Christian Slater ist auch mit von der Partie!) das Handwerk zu legen, die New Orleans auch ohne Bahnhofsprojekt zu gentrifizieren versuchen.

Zum Grande Finale gönnt sich Hill ein dynamisches Axt-Duell, was direkt aus „Straßen in Flammen“ stammen könnte. Bruchlos fügt sich herrlich altmodische Rockmusik ins Bild einer knurrigen Kritik der Gegenwart im und vor dem Kino.

Die letzte Mätresse

(F / I 2007, Regie: Catherine Breillat)

Abgrund der Zärtlichkeiten
von Wolfgang Nierlin

„Paris, Februar 1835, im Jahrhundert von Choderlos des Laclos“: Mit diesem Insert situiert, äußerlich betrachtet, Catherine Breillat das Geschehen ihres Films „Die letzte Mätresse“ („Une vieille maîtresse“) aus dem Jahre …

„Paris, Februar 1835, im Jahrhundert von Choderlos des Laclos“: Mit diesem Insert situiert, äußerlich betrachtet, Catherine Breillat das Geschehen ihres Films „Die letzte Mätresse“ („Une vieille maîtresse“) aus dem Jahre 2007. Es liegt in dieser Angabe zugleich ein Hauch von Bedauern über den Verlust einer gewissen moralischen Freizügigkeit, die den Leidenschaften und Trieben geschuldet ist. Einmal beklagt sich eine ältere Dame der Gesellschaft über die „Engstirnigkeit“ des Jahrhunderts im Unterschied zum vorhergehenden. Der Exzentriker und Dandy Jules-Amédée Barbey d’Aurevilly veröffentlichte seinen Roman über die schicksalhafte Liebesverfallenheit zweier Menschen, den Breillat für ihren Geschlechterdiskurs adaptierte, im Jahre 1851. In der Rahmenhandlung des Films fungiert das illusionslos-nüchterne Gespräch zwischen zwei Alten, dem Vicomte de Prony (Michael Lonsdale) und der Comtesse d’Artelles (Yolande Moreau) gewissermaßen als Auge der Gesellschaft, dessen überwachender Blick stets präsent ist und das Gerüchte, Spekulationen und Intrigen widerspiegelt.

Ausgelöst werden diese durch die geplante Heirat des etwa 30-jährigen, mittellosen Adligen Ryno de Marigny (Fu’ad Aït Aattou), einem verrufenen Wüstling, mit der jungen, tugendhaften Hermangarde de Polastron (Roxane Mesquida). Um seine aufrichtige Liebe und ehrlichen Absichten zu beweisen, beichtet er in einem langen nächtlichen Gespräch Hermangardes Großmutter und Vormund, der anteilnehmenden Marquise de Flers (Claude Sarraute), seine zehn Jahre währende Liebesbeziehung mit der spanischen Mätresse Señora Vellini (Asia Argento). In langen Rückblenden erzählt Catherine Breillat die Stationen einer Amour fou, in der die Liebenden, schicksalhaft und bis zur Verzweiflung aneinander gekettet, nicht mehr voneinander lassen können. Dabei sind beide abwechselnd Opfer ihrer Leidenschaft und eines unaufhörlichen Begehrens, in das sich immer wieder Hass, Eifersucht und Dominanzstreben mischen. „Etwas Schreckliches regiert mein Schicksal“, sagt Marigny und deutet damit auf die zerstörerische Seite der Liebe.

Die Flucht vor dem „Abgrund der Zärtlichkeiten“ wird von Breillat dabei in Korrelation gesetzt zu den Refugien der Einsamkeit, in die sich die Liebespaare wiederholt zurückziehen, um den Anfechtungen und Konventionen des gesellschaftlichen Lebens auszuweichen. In erlesenen Bildern und geistreich-doppeldeutigen Dialogen, in maßgeschneiderten Kostümen und geschmackvollen Interieurs inszeniert Catherine Breillat den Status quo einer Gesellschaft, in die die Liebe eindringt wie eine heimtückische Krankheit. Mit gewohnt unterkühltem Beobachterblick und in künstlich stilisierten Körper-Tableaus wandelt sich ihre „Komödie der Verführung“ dabei immer mehr zur Tragödie einer ebenso obsessiven wie destruktiven Liebe.

Georg Baselitz

(D 2013, Regie: Evelyn Schels)

Disharmonisch an die Weltspitze
von Andreas Thomas

Früher sah er aus, als würde er jederzeit, wenn es sein muss, Geiseln nehmen. Und machte damit den meisten seiner Kollegen keine Konkurrenz. Wenn man sich heute Fotos von der …

Früher sah er aus, als würde er jederzeit, wenn es sein muss, Geiseln nehmen. Und machte damit den meisten seiner Kollegen keine Konkurrenz. Wenn man sich heute Fotos von der Creme der deutschen Malerei aus den Achtzigern ansieht, Baselitz, Lüpertz, Immendorf, meist mit den Markenzeichen rasierte Glatze und schwarzer Bart, kann man Respekt kriegen – nicht nur vor der Kunst. Bis heute, hört man, sei Georg Baselitz noch immer der Meinung, dass Männer zur echten Malerei besser befähigt sind, weil sie (sinngemäß) über mehr Destruktivität und Aggressivität verfügten als Frauen.

Das entsprechende Bonmot fällt aber nicht im (gleichnamigen) Dokumentarfilm „Georg Baselitz“, den die mit dem Künstler befreundete Evelyn Schels über Leben und Arbeit des heute unwilder und bartlos aussehenden 75-jährigen Malers und Bildhauers gedreht hat. Gesettelter wirkt er, und auch seine Äußerungen bleiben im Rahmen. Geradezu distinguiert erscheint seine Frau Elke, die immer wieder mit einem Fotoapparat im Atelier auftaucht, den genervten Künstler bei der Arbeit und selbige im Progress festzuhalten („Immer knipsen, einfach immer nur knipsen!“) – als wenn nicht schon die eine Frau mit ihrem Aufnahmeteam reichen würde.

Doch im Gegensatz zum durch die Anwesenheit von Kameras schier erstarrten Gerhard Richter in der vergleichbaren Doku („<<TEXT:UNTERSTRICHEN>Gerhard Richter Painting“), scheint Baselitz sich nicht sonderlich durch Dreharbeiten gestört zu fühlen, eher gebauchpinselt, wenn er erklären kann, warum seine Leinwände immer auf dem Boden liegen müssen, wenn er malt („Meine Farben sind zu flüssig, an der Wand würde alles verlaufen“), was gleichzeitig erklärt, wozu die sieben großen Ventilatoren da sind.

Frau Elke dann im Einzelinterview, elegant, großbürgerlich distinguiert: „Georg ist ja leider nur die Nummer Drei in der Welt. Er würde das nicht zugeben, aber er möchte schon gerne die Nummer Eins sein.“ Später er: „Elke hätte natürlich am liebsten, dass ich die Eins bin, sie kommt nicht so gut damit zurecht, dass ich die Nummer Drei bin.“ (Bezug nehmen diese Nummern übrigens auf den so genannten Kunstkompass)

Konzern Baselitz drängt zur Weltspitze? Eine nicht so merkwürdige, sondern nahe liegende Vermischung von Kunst und Kapitalismus wird hier offenbar; ein Schlehmil, der Böses dabei zu denken trachtet: seit Jahrzehnten ist Kunst eine der sichersten Wertanlagen. Avantgarde, Moderne, Postmoderne – schön und gut, alles Geschmackssache. Wichtig ist der Marktwert des Künstlers, seine Präsenz auf den großen Ausstellungen und in den Galerien, nichtwahr?. In diesem Zusammenhang erhellend ist, dass beide Söhne Galeristen geworden sind – und eben keine Künstler …

Spotlights: Baselitz in Köln im großen Atelier, Baselitz in Imperia (Italien), zweiter Wohnsitz („Wo bekommt man in Italien deutsche Apfelbäume her, wenn man deutsche Apfelbäume malen will?“), Baselitz bei einer Ausstellungseröffnung am Seine-Ufer in Paris („Man ist jedes Mal wieder aufgeregt, ob das Neue angenommen wird“) in New York und in Salzburg. Baselitz als erschöpfter Bildhauer mit Kettensäge am groben Stamm, Schwerstarbeit mit Schwerstverletzungsgefahr.

Das Schönste aber (Geschmackssache) am Film sind die (meist gegenständlichen) Bilder, die Farben, und die Arbeit und das Ringen um das Bild. Wie oft Baselitz z.B. eine Stelle des Bildes schwarz überdeckt, dann wieder mit einem Lappen auswischt, mit Linien gestaltet, wieder komplett schwarz übergießt und wieder abwischt, das wirkt ebenso sinnlos wie einzig sinnvoll, und belegt die u.a. besonders körperliche und aktionsorientierte Dimension in Baselitz‘ Bildern (die ihre Initial-Impulse durch die Malerei der amerikanischen Abstrakten Expressionisten [Rothko, de Kooning, Pollock etc.] erhielt).

Seit seine Gemälde ab dem Jahr 1969 „auf dem Kopf stehen“, ist das das Baselitzsche Erkennungs-, Marken- und Erfolgszeichen geworden („Das Problem ist nicht der Gegenstand auf dem Bild, sondern das Problem ist das Bild als Gegenstand. Ich habe die („Frage“) gelöst, indem ich […] meine Gegenstände, meine Motive umgekehrt male. Also sie ohne die Bedeutung, die ein Gegenstand haben kann, darstelle. Denn wenn man sie umdreht, verlieren sie diese Bedeutung.“). Baselitz‘ radikale Idee wird in der Kunstwelt mitunter als Rettung des Gegenständlichen für die Kunst bewertet; und faszinierend sind die Ergebnisse, faszinierend bis ermüdend, denn im Kopf des Betrachters arbeitet alles doch stets gegen dieses Auf dem Kopf Stehende an und will wissen, wie es richtig herum aussieht.

Die aktuelle Erweiterung der Verdrehung ist, dass Baselitz Farbfotos seiner Frau zuerst ins Farbnegativ verkehrt, und dann – natürlich falsch herum – als Porträts auf die Leinwand bringt: Eine blaue Grande Gattin, incl. Perlenohrring, doppelt gemoppelt verkehrt herum, sozusagen.

Am meisten interessierte übrigens den Betrachter (i.e.: der Filmkritiker) vor dem Film: Wie malt Herr Baselitz denn nun diese umgekehrten Bilder? Erst richtig und dreht sie dann um? Oder sieht und malt er seine Motive immer gleich auf dem Kopf stehend? Diese Frage ist natürlich die Uninteressanteste überhaupt und beweist, wie wenig ich von Kunst verstehe. Sie wird deshalb auch hier nicht beantwortet, obwohl der Film eine Antwort zeigt.

Hingegen wirklich interessant ist ein eingespielter Auszug aus einem älteren Interview, in dem Baselitz aus dem Nähkästchen plaudert: „Mein Prinzip ist die Disharmonie, die Unausgewogenheit, die Zerstörung. Wenn ich links oben ein rotes Dreieck male, dann male ich rechts unten gerade keines […] – und das Unglück: Die Harmonie stellt sich ein, einfach so …“

Ob das Baselitzsche Harmonie-Dilemma nun auf ein ewiges und heimliches Grundgesetz der Bildenden Kunst per se zurück zu führen ist, wonach die Kunst, wie die Katze, was man auch dagegen tut, immer auf die Füße der Ausgeglichenheit fällt, oder ob das Genie des Herrn Baselitz nicht anders kann, als – trotz Triefaugen und Beulen in deren Knie – immer harmonische Figuren zu malen, dazu schweigt der Künstler und überlässt es uns, selbst unsere Köpfe zu verdrehen …

Dead Man Down

(USA 2013, Regie: Niels Arden Oplev)

Leiche im Eisschrank
von Gregor Torinus

2009 hatte der Däne Niels Arden Oplev mit der Stieg-Larsson-Verfilmung „Verblendung“ einen weltweiten Erfolg gelandet. Nur zwei Jahre später kam mit David Finchers hierzulande ebenfalls „Verblendung“ betitelter Neuinterpretation die zu …

2009 hatte der Däne Niels Arden Oplev mit der Stieg-Larsson-Verfilmung „Verblendung“ einen weltweiten Erfolg gelandet. Nur zwei Jahre später kam mit David Finchers hierzulande ebenfalls „Verblendung“ betitelter Neuinterpretation die zu erwartende Hollywoodversion des Stoffs in die Kinos. Der anfängliche Ärger der Europäer über eine weitere Vereinnahmung eines hiesigen Stoffs durch die kalifornische Traumfabrik wich schnell der dominierenden Feststellung, dass Finchers Fassung zumindest auf visueller Ebene der von Oplev weit überlegen sei. Auch die herausragende Leistung von Noomi Rapace in der Rolle von Lisbeth Salander schien auf einmal im Schatten der vermeintlich noch weit charismatischeren Rooney Mara zu stehen. Trotzdem brachte genau diese Rolle für Rapace den internationalen Durchbruch und seither war die Schwedin bereits in Filmen wie Ridley Scotts „Prometheus“ zu sehen. Nur um Niels Arden Oplev schien es in der Zwischenzeit merkwürdig ruhig geworden zu sein. Tatsächlich arbeitete Oplev nach „Verblendung“ zunächst nur als Regisseur für das dänische Fernsehen. Dabei wurde er nach „Verblendung“ von Angeboten aus Hollywood geradezu überschüttet. Doch anstatt gleich die erstbeste Gelegenheit wahrzunehmen, las sich der Däne durch über 250 Drehbücher, bis er schließlich eines fand, dass ihm der Umsetzung würdig schien. Hierbei handelte es sich um J.H. Wymans Skript zu dem Thrillerdrama „Dead Man Down“.

Der New Yorker Unterweltboss Alphonse (Terrence Howard) hat ein Problem. Ein Killer dezimiert aus unbekannten Gründen die Männer seiner Organisation. Die letzte Leiche wurde in einem Eisschrank von einem Paketdienst zugestellt. Erneut ist sie mit einem Fotoschnipsel und einer geheimnisvollen Botschaft versehen. Doch Alphonse meint jetzt zu begreifen, wer hinter der Sache steckt. Er startet eine blutige Racheaktion, bei der ihm sein neuer Mann Victor (Colin Farrel) das Leben rettet. Victor lebt alleine in einem Appartement am Rande der Stadt. Im gegenüberliegenden Haus wohnt die Französin Beatrice (Noomi Rapace) zusammen mit ihrer schwerhörigen Mutter (Isabelle Huppert). Beatrice beobachtet Victor und winkt ihm eines Abends schüchtern von ihrem Balkon aus zu. Kurz darauf schlägt die schöne, jedoch aufgrund eines Autounfalls im Gesicht mit Narben übersäte, Frau Victor vor, gemeinsam auszugehen. In einem Restaurant kommt es zu zaghaften Annäherungsversuchen der beiden in sich verschlossenen Charaktere. Doch plötzlich stellt Beatrice klar, dass sie auch ein konkretes Anliegen hat. Victor soll für sie den Mann umbringen, der sie betrunken angefahren hat und somit für ihre Entstellungen verantwortlich ist. Als Druckmittel dient ihr eine per Handy gemachte Aufnahme eines Mordes, den Victor in seiner Wohnung begangen hat. Aber auch Victor hat einen persönlichen Racheplan, den er um jeden Preis bis zum Ende ausführen will.

Bereits die Eröffnungsszene aus „Dead Man Down“ zeigt unmissverständlich, dass dieser Film sich nicht scheut, an Grenzen zu gehen. Victors bester Freund Darcy (Dominic Cooper) spricht mit einem Baby im Arm über seine späte Erkenntnis, dass menschliche Verbindungen das Wichtigste im Leben seien. Dann steigen die beiden schwerbewaffnet aus ihrem Wagen aus und schließen sich der Gruppe ihres Bosses Alphonse an. Der macht sich daran, den vermeintlichen Auftraggeber des geheimnisvollen Killers zur Rede zu stellen. Eine zunächst ruhige Befragung mündet plötzlich im unerbittlichen Kugelhagel, bei dem es nur auf einer Seite Überlebende gibt. Der extreme Kontrast zwischen an reinen Kitsch grenzender Gefühlsbetontheit und abrupter, harter Gewalt verblüfft. Im Gegensatz zu Filmen wie denen von Quentin Tarantino fehlt hier jede ironische Brechung. Dieser fast ans Absurde grenzende Auftakt ist vollkommen ernst gemeint. Verblüffend ist, dass diese oftmals krude Mischung aus Drama und Action, aus Liebesgeschichte und Rachethriller, außerordentlich gut funktioniert. Sechs Jahre hat Wyman an dem Skript gefeilt und dieser Einsatz macht sich im vorliegenden Ergebnis durchaus bemerkbar. Dem Autor gelingt das Kunststück, innerhalb bekannter Konventionen zu arbeiten, diese jedoch immer ein wenig zu verschieben. Alle Charaktere sind eine kleine Spur anders als ihre zahllosen allseits bekannten Vorgänger. Auch die Dialoge sind deutlich authentischer als in vergleichbaren amerikanischen Genreproduktionen. Als Beatrice und Victor sich zu ihrem vermeintlichen ersten Rendevouz treffen, ist ihre Sprachlosigkeit ein wahrhafter Ausdruck ihrer introvertierten Persönlichkeiten und von einer Eindringlichkeit, die ihren tiefsitzenden Schmerz offenbart.

Trotz der durchgängig hervorragenden Darstellerleistungen ist Terrence Howard als Mafiaboss Alfonse eine besonders positive Überraschung. Howard erschafft hier einen ganz eigenen Typus eines Mafiabosses, dessen weltgewandte Umgänglichkeit sich bald als kalte Professionalität entpuppt. In Neil Jordans Rachethriller „Die Fremde in Dir“ hatte der Schauspieler noch einen scheinbar besser zu ihm passenden Detective gespielt. „Die Fremde in Dir“ war der erste amerikanische Rachethriller seit Abel Ferraras „Die Frau mit der 45er Magnum“ (1981), der in Frage gestellt hat, ob die Ausführung der Rache tatsächlich zu einer Auflösung der Traumatisierung des Rächers führen kann. Doch während Ferrara zeigte, dass die Rache mehr eine Folge als eine Lösung des erlittenen Traumas ist, ergab sich Jordans Films am Ende doch wieder den Genrekonventionen und unterminierte damit seine eigene Aussage. „Dead Man Down“ wirft ebenfalls die Frage auf, ob Rache tatsächlich eine Möglichkeit zur Heilung der inneren Wunden ist. Wymans Skript hat die Chuzpe, diese Problematik einerseits ernsthaft anzureißen und zugleich die an das Genre verknüpften Erwartungen auf eine Art zu erfüllen, dass kein offensichtlicher Widerspruch entsteht. Eine wirkliche Vertiefung dieser Problematik steht jedoch weiterhin aus. Trotzdem ist „Dead Man Down“ ein Film, der gerade auch aufgrund seiner vielschichtigen und ausgearbeiteten Charaktere besticht. Den starken inhaltlichen Kontrasten entspricht ein intelligentes und perfekt umgesetztes visuelles Konzept. Vom kühlen Realismus setzen sich die teils brachialen Actionsequenzen und optischen Extravaganzen umso stärker ab. Spätestens wenn sich die Kamera von Paul Cameron („Collateral“) dann in rasanter Fahrt ein Treppenhaus hinunterschraubt, ist der irritierende Effekt durchaus mit Hitchcocks berühmter Treppenhausszene in „Vertigo“ (1958) vergleichbar. Das soll David Fincher erst einmal nachmachen.

Quellen des Lebens

(D 2012, Regie: Oskar Roehler)

Wie man dank Kansas wurde, was man ist
von Ulrich Kriest

„There is no place like home.“ aus: „The Wizard of Oz“ (1939) Kriegsheimkehrer-Drama, Wirtschaftswunder-Burleske, Schriftsteller-Bohème im Zeichen des Existentialismus, antiautoritäre Revolte, Post-Hippie-Adoleszenz, Deutscher Herbst – das wären wohl die Stationen …

„There is no place like home.“
aus: „The Wizard of Oz“ (1939)

Kriegsheimkehrer-Drama, Wirtschaftswunder-Burleske, Schriftsteller-Bohème im Zeichen des Existentialismus, antiautoritäre Revolte, Post-Hippie-Adoleszenz, Deutscher Herbst – das wären wohl die Stationen der Familienchronik, die Oskar Roehler mit „Quellen des Lebens“ vorlegt. Hat man natürlich schon ein paar Dutzend Male gesehen. Aber wie sieht die westdeutsche Geschichte aus, wenn man Fassbinder zwar kennt und bewundert, letztlich aber doch lieber den Ton von „Mein Leben als Hund“ von Lasse Hallström anschlagen möchte? Roehler hat ja davon gesprochen, dass man eigentlich einen John Waters oder einen David Lynch bräuchte, um den Irrsinn und die Widersprüche der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft filmisch auf den Punkt zu bringen. Ist ’ne hübsche Idee, aber mangels Interesse der Amis hat Roehler den Job jetzt selbst gemacht. Herausgekommen ist dabei ein großer Bilder-Verschiebe-Bahnhof, der Konventionelles vielleicht nicht um-, aber überschreibt.

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Familiengeschichte ist bei Oskar Roehler immer auch Sittengeschichte, formuliert durch das Bildinventar der Filmgeschichte hindurch. Nicht umsonst hat man Roehler, der als Drehbuchautor für Christoph Schlingensief bekannt wurde, gerne mit Rainer Werner Fassbinder verglichen. Zunächst, dank verstörender Filme wie „Suck My Dick“ oder „Der alte Affe Angst“ mit dem Fassbinder von „Satansbraten“ oder „In einem Jahr mit 13 Monden“, der dem Kulturbetrieb den Spiegel vorhielt und von Liebes- und Machtspielen, vom verzweifelten Kampf um Liebe und Anerkennung erzählte. Mit „Quellen des Lebens“, der Verfilmung von Teilen seines semi-autobiografischen Romans „Herkunft“, wagt sich Roehler jetzt an eine fast dreistündige Chronik Westdeutschlands zwischen 1949 und 1977 als freier Familiengeschichte. Roehler begibt sich also auf ein Terrain, das Fassbinder mit Filmen wie „Die Ehe der Maria Braun“ oder „Lola“ bereitet hat, schlägt dabei aber gleichzeitig provokantere und versöhnlichere Töne an.

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Als Erich Freytag 1949 aus der Gefangenschaft in Russland zurückkommt, wird er nicht mit offenen Armen empfangen, sondern als stinkender Störenfried wahrgenommen. Nur sein Sohn Klaus hält in dieser Situation zu ihm. Doch Erich lässt nicht locker, beansprucht den alten Platz in der Familie und im Ehebett. Wenige Jahre später wird aus dem linientreuen Nazi ein erfolgreicher Produzent von Gartenzwergen werden. „Quellen des Lebens“ fängt an wie ein typischer Roehler-Film: schrill, trashig und von einem derben Humor geprägt. Doch hier geht es nicht um den BRD-Kammerton: Holocaust, Restauration, Wiederbewaffnung. Roehler ist nachsichtiger, seine Figuren sind fluid. Mag der Großvater auch ein strammer Nazi und an der Ostfront in allerlei Verbrechen verwickelt gewesen sein, jetzt, während des Wirtschaftswunders, entwickelt sich Erich zu einem souveränen Patriarchen, der die Dinge anpackt, die anzupacken sind. Und noch etwas später wird er als Großvater alles tun, um seinem Enkel Oskar ein Familienleben zu schenken. Filmisch gestalten Roehler und sein Kameramann Carl-Friedrich Koschnick jene Jahre als eine Mischung aus Trümmerfilm mit surrealen Melodram-Momenten, die direkt aus den Filmen von Douglas Sirk oder Todd Haynes entsprungen sein könnten.

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Als Klaus sich entschließt, Schriftsteller zu werden und Gisela, Tochter aus reichem Hause, kennenlernt, mischt sich dunkler Existentialismus in die Farbpalette des Films. Später werden Klaus und Gisela nicht nur Oskar in die Welt setzen, sondern sich auch gegenseitig das Leben zur Sartre-Hölle machen. Gisela Elsner erweist sich als literarisches Talent, die mit großem Ego und dem Roman „Die Riesenzwerge“ im Literaturbetrieb der frühen sechziger Jahre reüssiert. Roehler hatte dem Leben seiner exzentrischen Mutter bereits mit „Die Unberührbare“ ein filmisches Denkmal gesetzt. War er seinerzeit noch milde, so schildert er jetzt ihre gemeine Asozialität mit einem unerhörten Furor. Lavinia Wilsons Darstellung dieser Figur, immer am Rande der Hysterie, dabei stets kapriziös, gehört zu den Glanzlichtern dieses Films. In diese trübe Konstellation hinein wird Oskar geboren:, ein ungeliebtes und missachtetes Kind. Die Jahre des antiautoritären Aufbruchs schildert Roehler aus der naiven Perspektive eines Kindes, das verständnislos Zeuge der Lebensexperimente seiner Eltern wird. An den 68ern wird kein gutes Haar gelassen: die Generation der um 1960 Geborenen zeigt der Film als Opfer zweier Täter-Generationen, wobei die Nazi-Großeltern sich immerhin noch zu einer menschlichen Größe aufschwingen. Nachdem der Film über die Darstellung von Giselas Eltern noch Momente einer überkandidelten Schlagerfilm-Groteske in sich aufgenommen hat – allein der Auftritt von Margarita Broich lohnt das Eintrittsgeld! -, gilt der Rest des Films den Irrungen und Wirrungen des jungen Oskar zwischen Internat und erster Liebe, dargestellt in der Manier eines Jugendfilms, wie man sie in den siebziger Jahren zu Dutzenden im Fernsehen sehen konnte. Ungelenke Jugendliche mit seltsamen Frisuren und Brillen, die zu den Klängen von Lobos „I’d love you to want me“ versuchen müssen, einen Ort in der Welt zu finden.

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Trotz ein paar dramaturgischer Schwächen nimmt für Roehlers Ambition ein, dass seine Rekonstruktion von dreißig Jahren westdeutscher Geschichte stets subjektiv bleibt. Die großen historischen Momente, die solch einen Stoff üblicherweise strukturieren, also etwa das WM-Finale 1954, die Kuba-Krise, die Ermordung Kennedys, das Attentat auf Rudi Dutschke, die Mondlandung oder die RAF – all das sucht man hier glücklicherweise vergebens. Diese Freiheit und der Mut Roehlers, sich gerade nicht zur wertenden moralischen Instanz aufzuschwingen, macht „Quellen des Lebens“ zu einem großen Wurf. Dieser Haltung der gelassenen Milde entspricht sogar ein passender philosophischer Song: „Dust in the Wind“ von Kansas. Derlei pathetischen Kitsch hätte es bei Fassbinder nicht gegeben, bei Schlingensief vielleicht schon. Ironisch gebrochen, denn wie heißt es in „The Wizard of Oz“ so schön: „Well Toto, we’re not in Kansas anymore!“ Bedenkt man, dass es Roehler war, der die Rock’n’Roll meets Autoscooter-Geschichte „Lulu und Jimi“ bereits als Pastiche von „Wild at Heart“ anlegte und dass sich „Wild at Heart“ sich deutlich auf „The Wizard of Oz“ bezog, dann ahnt man, was Roehler mit „Quellen des Lebens“ im Sinn gehabt haben könnte. Oder nicht?

Zum Film gibt es hier auch ein Interview!

Renoir

(F 2012, Regie: Gilles Bourdos)

Träume und Traumata
von Wolfgang Nierlin

Die Struktur eines Bildes werde durch die Farbe bestimmt, nicht durch die Linie, sagt Pierre Auguste Renoir (Michel Bouquet) über die zunehmende Tendenz zur Vereinfachung in seinem Alterswerk. Und an …

Die Struktur eines Bildes werde durch die Farbe bestimmt, nicht durch die Linie, sagt Pierre Auguste Renoir (Michel Bouquet) über die zunehmende Tendenz zur Vereinfachung in seinem Alterswerk. Und an einer anderen Stelle von Gilles Bourdos‘ Film „Renoir“ fordert der malende Schönheitssucher und lebensbejahende Impressionist, ein Bild solle „angenehm und freundlich“ sein und das Elend der Welt aussparen. Und genau ein solches Bild voller Wärme und Licht, voller Farben und sinnlicher Lust malt der französische Regisseur mit seinem in eine sommerliche Luftigkeit und traumhafte Poesie getauchten Film. Manchmal scheint es, als ließen sich die Bilder in eine unbestimmte Richtung treiben, als folgten sie der sogenannten „Korkentheorie“ („Im Leben muss man sich treiben lassen.“) des berühmten Malers. Der Wind rauscht in den Bäumen von Renoirs großem Garten, der zu seinem Anwesen „Les Collettes“ an der Côte d’Azur gehört. Goldenes Licht beleuchtet die Szenen, die den Blick immer wieder zum Meer hin öffnen. Und die geheimnisvoll ineinander verschlungenen Farbschlieren, die der Pinsel im Wasserglas hinterlässt, sind erotisch aufgeladen.

Doch in einer feinen Unterströmung wird diese üppige Feier des Lebens melancholisch getönt. Der alte Maler, von einem ganzen Frauenstaat umsorgt, trauert um seine verstorbene Frau und den Weggang seines Lieblingsmodells Gabrielle. Er leidet unter einer schmerzhaften Arthritis und muss bei seiner Arbeit im Rollstuhl sitzen. Zwar sind die Kriegswirren des Jahres 1915 fern, doch Bourdos spart ihre Zeichen nicht aus. In geradezu surrealer Anmutung kontrastiert er immer wieder das Leichte mit dem Schweren, die unbeschwerte Schönheit mit den Narben von Kriegsversehrten. Zu diesen gehören auch Renoirs älteste Söhne Pierre und Jean (Vincent Roittier), der mit einer schlimmen Beinverletzung und auf Krücken das Anwesen seines Vaters erreicht, wo er sich erholen will. Noch ist Jean, der später ein berühmter Filmregisseur werden wird, ohne Ambitionen und rechte Perspektive; noch erscheint der Krieg (und seine Mischung aus Heldentum, Kameraderie und Resignation) wie ein gefährlich falscher Ersatz für diesen Mangel.

Die Liebe zu einer Frau, so legt es zumindest der Film nahe, wird das ändern. Andrée (Christa Théret), genannt Dédée (als Schauspielerin wird sie später unter dem Namen Catherine Hessling bekannt werden), ist „das Mädchen aus dem Nichts, geschickt von einer Toten“, wie Renoir bei der Begrüßung seines neuen Modells sagt. Er blickt auf ihre Hände und sieht dabei ihre samtige Haut, er bewundert ihre Brüste und findet im Fleisch dieser jungen Frau jene für seine Bilder so wichtige Lebendigkeit. Dédée, temperamentvoll und rothaarig, natürlich und selbstbewusst, bezaubert zunächst den alten, dann den jungen Renoir und wird damit zur Muse und Geliebten. Wie Renoir in seinen Gemälden, so feiert auch Gilles Bourdos in seinem Film auf schwelgerische Weise die Lebendigkeit der Körper und die Farben der Natur. Die Traumata der Zeit werden darin als fernes, unwirkliches Echo verschluckt. Mit seinem Helden beschwört „Renoir“ den Eskapismus der Kunst als Mittel des Überlebens: „Der Schmerz geht vorbei, die Schönheit bleibt.“

Invasion

(D / AT 2012, Regie: Dito Tsintsadze)

Die Geburt einer Nation
von Ulrich Kriest

„Kommen große Kriege Wer ist gut, wer böse Der Erlöser ist schon lange tot Neue Völker kommen Alte Völker müssen gehn“ – F.S.K., Fragen der Philosophie – Josef hat schon …

„Kommen große Kriege
Wer ist gut, wer böse
Der Erlöser ist schon lange tot
Neue Völker kommen
Alte Völker müssen gehn“

– F.S.K., Fragen der Philosophie –

Josef hat schon bessere Zeiten gesehen. Mit Mitte 60 steht er alleine da: Sohn tot, Frau tot, riesige Villa an der Backe. Ihm bleibt als Trost nur der tägliche Besuch auf dem Friedhof. Dort begegnet ihm eines Tages eine Frau, die sich als Cousine seiner verstorbenen Frau vorstellt und Josef sehr freundlich begegnet. Josef erinnert sich nicht. Bei der nächsten Begegnung hat Nina, so der Name, ihren erwachsenen Sohn Simon dabei, der wiederum seine Frau Milena und deren Sohn Marco einführt. Es ist eine bunte, muntere Truppe, die sich allmählich in Josefs Villa einfindet und schließlich auch dort einzieht.

Josef, dem sichtlich sein Élan vital abhanden gekommen ist, ist ein guter Gastgeber, weil ihm die Vitalität seiner Gäste gut tut. Fast schon aufreizend symbolisch nimmt man das angegammelte Schwimmbad der Villa mit „Hallo“ wieder in Betrieb. Schließlich taucht auch noch Ninas Lebensgefährte Konstantin auf, ein Anwalt für Menschenrechte, der in der Villa sein Büro eröffnet, was noch ein paar mysteriöse Figuren aufs Gelände spült. Man feiert ausgelassene Feste, trinkt Wodka, hat Sex, meint Balkan-Beats zu hören. Lebensfreude galore, doch dann stellen sich erste Irritationen ein.

Allmählich wird Josef alles etwas zu viel, doch die »Invasoren« sind von ausgesuchter Höflichkeit. Als Josef seine Gäste schließlich auffordert, wieder abzuziehen, lautet die überraschende Antwort: „Endlich bist du soweit! Du musst dich verteidigen, sonst gehst du mitsamt deiner Kultur unter!“ Ein Erziehungsroman? Plötzlich kippt die buntscheckige Multi-Kulti-Komödie ins Parabolische: dachte man bislang noch, dass Josef heimlich, still und leise okkupiert wird, so erwacht jetzt recht unvermittelt sein Widerstandsgeist! Josef nimmt den Kampf auf und macht am Ende seinen Schnitt, der den zentralen Konflikt des Films in anderem Licht erscheinen lässt.

Dito Tsintsadze („Lost Killers“, „Schussangst“, „Der Mann von der Botschaft“), ohnehin ein Meister des Ungefähren und produktiv Offenen, gelingt eine erstaunliche Gratwanderung zwischen Realismus und Parabel: der Zuschauer mag sich selbst entscheiden, ob er es lieber als subtiles Kammerspiel oder als abstrakten Kulturkampf hat. Am Schluss taugt die titelgebende Invasion leider nur zum vitalen, aber letztlich hilflosen Opfer des kapitalistischen Vampirismus. Der Osten muckt kurz auf, fordert heraus, spielt mit Klischees, liefert Stichworte und doch letztlich, wenn es drauf ankommt, nur frisches Blut für eine nur scheinbar sterbende Klasse. Formuliert von einem aus Georgien stammenden Regisseur ist das ein ziemlich starkes Stück. Ob es nun selbstreflexiv oder bloß selbstmitleidig ist, lassen wir jetzt einmal offen.

Paradies: Glaube

(D / F / AT 2012, Regie: Ulrich Seidl)

Glaubenskrieg
von Wolfgang Nierlin

Eine Frau entblößt ihren Oberkörper, kniet in Anbetung nieder vor einem Kruzifix und geißelt sich mit einer Peitsche. Sie versteht dies als Opfer zur Vergebung der Sünden, zu deren schändlichsten …

Eine Frau entblößt ihren Oberkörper, kniet in Anbetung nieder vor einem Kruzifix und geißelt sich mit einer Peitsche. Sie versteht dies als Opfer zur Vergebung der Sünden, zu deren schändlichsten in ihren Augen die „sexuelle Besessenheit“ der Menschen zählt. „Sexuelle Verwilderung zerstört“, lautet einer der Sprüche an der Plakatwand ihres Schlafzimmers. Dieser korrespondiert wiederum mit einem schockierenden Erlebnis, das ihr widerfährt, als sie eines Abends auf ihrem Nachhauseweg durch einen Park Zeugin einer Orgie wird. Manchmal geht sie für ihr „tägliches Opfer“ auf Knien durch die Wohnung und trägt dabei einen Büßergürtel. Ihre Sommerferien nutzt die medizinisch-technische Angestellte, um in Wiener Problembezirken Einwanderer und sozial Schwache zu bekehren oder ihnen zum Schutz für eine gewisse Zeit eine sogenannte „Wandermuttergottes“ zu überlassen. Anna Maria (Maria Hofstätter) ist eine tiefreligiöse Katholikin, die sich zusammen mit ihren Glaubensbrüdern und –schwestern von der „Legio Herz Jesu“ als „Speerspitze des Glaubens“ und als „Sturmtruppe der Kirche“ versteht.

Ulrich Seidl zeigt in seinem Film „Paradies: Glaube“, dem zweiten Teil seiner Paradies-Trilogie, mit ebenso nüchternem wie genauem Blick diese radikale Glaubenspraxis als eine Art parallele Welt, die je nach Betrachterstandpunkt absurde, komische, ernste oder auch grausame Züge trägt. Mit seinem halbdokumentarischen Stil, der die schauspielerische Improvisation in authentischen Settings mit präzisen Bildkompositionen verbindet, thematisiert Seidl die existentiellen Widersprüche seiner Hauptfigur. So erscheint Annas sorgsam geregelter Alltag inmitten von Ordnung und Sauberkeit relativ freudlos. Gegenüber den emotionalen und sexuellen Bedürfnissen ihres querschnittsgelähmten Ehemannes Nabil (Nabil Saleh), der eines Tages unerwartet wieder bei ihr einzieht, zeigt sie sich kalt und hartherzig, während sie andererseits ein geradezu erotisches Verhältnis zu ihrem geliebten und verehrten Jesus-Bild unterhält.

„Die Erde ist schön, es liebt sie der Herr“, singt Anna und begleitet sich dazu auf ihrer Heimorgel. Wenn später, in einer der vielen intensiven Szenen des Films, der Versuch, eine Alkoholikerin zu bekehren, in wüsten Handgreiflichkeiten kulminiert, wird nicht nur dieser Satz, sondern auch Annas Tun ad absurdum geführt. Ihre Bemühungen und Opfer erscheinen mitunter nicht nur sinnlos, sondern auch fragwürdig. Besonders ihre glaubenskriegerischen Kämpfe mit ihrem moslemischen Ehemann, von Seidl mit verstörender Direktheit und teils schwer erträglicher, insistierender Deutlichkeit inszeniert, münden zunehmend in Intoleranz, offener Feindschaft und quälendem Hass. Für den Österreicher Ulrich Seidl, der in seinem Film „Paradies: Glaube“ eine schwierige ästhetische Gratwanderung zwischen einer teils brutal rückhaltlosen Darstellung und einem teils ausgestellt erscheinenden Elend unternimmt, ist dies die Kehrseite von einem ungestillten Bedürfnis nach Liebe und von unterdrückter Sexualität. Und er hält für diesen Mangel kaum Hoffnung bereit. Vielmehr endet sein Film mit dem Abspannlied im nihilistischen Zweifel, wenn es darin im Sinne der Vanitas um die „Nichtigkeit des Menschenlebens“ und die „Flüchtigkeit der Menschenschönheit“ geht.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Les Misérables

(GB 2012, Regie: Tom Hooper)

Inbrunst ohne Samtvorhang
von Carsten Happe

Das Musical gehört seit geraumer Zeit zu den totgesagten Genres, ähnlich dem Western, und doch erfreut es sich, wann immer ein Lebenszeichen an die Öffentlichkeit dringt, durchaus bester Gesundheit, sei …

Das Musical gehört seit geraumer Zeit zu den totgesagten Genres, ähnlich dem Western, und doch erfreut es sich, wann immer ein Lebenszeichen an die Öffentlichkeit dringt, durchaus bester Gesundheit, sei es in seiner klassischen Ausprägung oder in postmodernen, ironischen Formen. Ganz gleich ob „Moulin Rouge“ oder die konservativeren Adaptionen der Andrew Lloyd Webber-Schmachtfetzen „Evita“ oder „Das Phantom der Oper“ – die Filme überzeugten durch ihre hemmungslose Opulenz, die weder vor Kitsch noch Camp zurückschreckte, und die uneingeschränkte Emotionalität der Darstellungen wie auch der Inszenierung. Kurz gesagt: es geht bestenfalls in die Vollen, Pomp and Circumstance, Kostüme, Ausstattung, das ganze Programm.

Bei der Oscar-Verleihung 2011 wurden wir unbewusst Zeuge eines Vorsingens für die lange geplante, immer wieder verschobene Filmadaption des unerhört erfolgreichen Bühnenmusicals „Les Misérables“, als Moderatorin Anne Hathaway ihren Vorgänger Hugh Jackman mit einer parodistischen Version des Stücks „On My Own“ ansang, als der ihre Duettbemühungen schnöde zurückwies. Knapp zwei Jahre später singen und leiden sie schließlich gemeinsam auf der Leinwand und ihre Performances trugen sie auch in diesem Jahr erneut zu den Oscars.

Nachdem in den Achtzigern und Neunzigern bereits Alan Parker und Bruce Beresford für die Verfilmung ins Spiel gebracht wurden, oblag es schließlich Tom Hooper, Regisseur des leidlich überschätzten „The King’s Speech“, die barocke Pracht der Drei-Stunden-Bühnenshow auf die Leinwand zu hieven, und man kann ihm kaum vorwerfen, sich zurückgehalten zu haben. Die Kamera fliegt durch die pompösen Sets, als seien es die Berge von Mittelerde, der Sound dröhnt und tost, als ob er Gefahr liefe, zur zweiten Geige verdonnert zu werden. Diese Befürchtung ist natürlich vollkommen unbegründet, dominieren doch die Songs und Orchestrierungen das Geschehen über die kompletten zweieinhalb Stunden. Alle Darsteller haben nicht nur höchstselbst, sondern auch live am Set gesungen, wie die Produktion nicht ohne Stolz betont. Es wird nicht endgültig zu klären sein, aber vielleicht hat dieser Umstand letztlich auch Anne Hathaway zu ihrer Darbietung beflügelt, die in einer steinerweichenden Version des bitteren Lebensbilanz-Songs „I Dreamed a Dream“ gipfelt, dem uneingeschränkten Herzstück des Films und deutlichsten Empfehlungsschreiben dieser Oscar-Saison. Aber auch Russell Crowe, die ABBA-erprobte Amanda Seyfried und eben Hugh Jackman sind gut bei Stimme und leidenschaftlich bei der Sache – der leicht verstaubte Begriff der Inbrunst drängt sich mehrfach ins Bewusstsein.

Das Elend der literarischen Vorlage von Victor Hugo ist zwar zur pittoresken Pose verkommen und galoppiert schließlich eher als Behauptung durch die akkurat drapierten Szenenbilder, aber die Verve der atemlosen Inszenierung schwemmt selbst ein paar unsaubere Schnitte, lose Enden und Leerstellen in der Dramaturgie mühelos beiseite. Am Ende ist man erschöpft von den überlebensgroßen Gefühlen, von der Wucht und Zartheit der Melodien, vom Geist der Revolution und der Tragik der Figuren. Und es fehlt letztlich lediglich der schwere Samtvorhang, der über das finale Bild sanft zu Boden fällt, statt der schnöden, schlichten Abspanntitel.

Willkommen in der Bretagne

(F 2012, Regie: Marie-Castille Mention-Schaars )

'Positiver Realismus'
von Wolfgang Nierlin

Wenn man den Trailer zu diesem Film gesehen hat, dann weiß man schon ungefähr, was einen in Marie-Castille Mention-Schaars Komödie „Willkommen in der Bretagne“ („Bowling“) erwartet: Harmlose Witze über die …

Wenn man den Trailer zu diesem Film gesehen hat, dann weiß man schon ungefähr, was einen in Marie-Castille Mention-Schaars Komödie „Willkommen in der Bretagne“ („Bowling“) erwartet: Harmlose Witze über die Mentalitätsunterschiede zwischen Städtern und Provinzbewohnern, eine Menge Lokalpatriotismus („Die Bretagne – Man liebt sie oder nicht“) und vor allem ein geradezu hymnisches Loblied auf Freundschaft und Solidarität. „Willkommen in der Bretagne“ ist ein routiniertes Feelgoodmovie aus der Retorte, das ziemlich souverän erfüllt, was es sein will und deshalb langweilt. Mit erzählerischen Versatzstücken, einer holzschnittartigen Dramaturgie, genretauglichen Klischees und plakativen Handlungsmustern unterhält der Film sein geneigtes Publikum ebenso schwungvoll wie rundum verträglich. Weil dabei zugleich gesellschaftliche Missstände mit kämpferischer Hoffnung besiegt werden, charakterisiert die Regisseurin ihre Arbeit als „positiven Realismus“.

Ums Siegen geht es vor allem und gleich mehrfach. Während die nach wahren Begebenheiten inszenierte Haupthandlung den Arbeitskampf um den Erhalt einer Entbindungsstation in der bretonischen Kleinstadt Carhaix beschreibt, formieren sich zwischen den Fronten und über sie hinweg Freundschaft, Widerstand und Solidarität. So soll die aus Paris angereiste Personalmanagerin Catherine Lefèvre (Catherine Frot) die „Schwachstellen“ im System des Provinzkrankenhauses „korrigieren“. Dass sie dabei ausgerechnet die Entbindungsstation ins Visier nehmen muss, verleiht dem Plot eine leicht tragische Note. Denn zum einen sind die von Mathilde (Mathilde Seigner) und Firmine (Firmine Richard) angeführten Hebammen mit Herz und Seele bei der Arbeit; zum anderen bilden sie zusammen mit Catherine und der jungen Louise (Laurence Arné) über anfängliche Animositäten und Vorurteile hinweg bald ein erfolgreiches Bowling-Team.

Gekämpft wird aber nicht nur an politischen und sportlichen Fronten (zu denen auch eine Fahrprüfung mit einem wunderbar nerdigen Prüfer zählt), sondern natürlich auch im Privaten. Um Vertiefung geht es in diesen eher trivialen Streiflichtern auf familiäre Wunden und zeitweise angespannte Beziehungen aber nicht. Schließlich ist Mention-Schaars Unterhaltungsfilm auf „eine schöne und wahre Geschichte“ abonniert. Einer der ersten und zugleich letzten Sätze des Films lautet deshalb auch: „Jetzt hilft uns nur noch ein Wunder!“ Und man kann bei dieser warmherzigen Komödie aus dem Herzen der Bretagne sicher sein, dass dieses Wunder am Ende geschieht.

Die Nacht der Giraffe

(ID / HK / D 2012, Regie: Edwin)

Auswilderung
von Wolfgang Nierlin

Allein und auf der Suche nach dem Vater streift ein kleines Mädchen mit tapsenden Schritten durch einen wundersamen Wald. Durch eine üppige, sattgrüne Vegetation aus tropischen Gewächsen, aus Gräsern, Sträuchern …

Allein und auf der Suche nach dem Vater streift ein kleines Mädchen mit tapsenden Schritten durch einen wundersamen Wald. Durch eine üppige, sattgrüne Vegetation aus tropischen Gewächsen, aus Gräsern, Sträuchern und Blattwerk führt der Weg. Die Luft ist feucht, warm und von exotischen Lauten erfüllt, in die sich von fern das Murmeln eines Baches mischt. Eine träumerische Ruhe und zauberhafte Gemächlichkeit evozieren diese ersten Bilder von Edwins Film „Die Nacht der Giraffe“, in denen der indonesische Filmemacher eine paradiesisch anmutende Gegenwelt beschwört. Entspannt und konfliktfrei, in schweifenden Bewegungen und ohne bestimmte Richtung erkundet Edwin diesen verwunschenen Ort, der zugleich Asyl und Heimat ist. Der Ragunan-Zoo von Jakarta strahlt diesbezüglich eine ungewöhnliche Durchlässigkeit und Harmonie aus. Nachts sitzen Obdachlose zusammen am Lagerfeuer; die Tiere erscheinen in ihrer Gefangenschaft besänftigt und relativ „frei“; und das kleine Mädchen findet ein neues Zuhause.

Dann ist Lana (Ladya Cheryl) eine erwachsene junge Frau, die als Pflegerin und Zooführerin arbeitet und in eine große Tier- und Menschenfamilie integriert ist. Immer wieder behaupten wissenschaftliche Inserts über das Verhalten der Arten eine prinzipielle Nähe von Mensch und Tier. Diese strukturieren zugleich die Handlung, indem sie Lanas Entwicklungsgeschichte als eine „éducation sentimentale“ verschlüsseln. An deren Anfang steht Lanas Freundschaft zu der Giraffe Jera und die Sehnsucht nach Berührung. Später wird sie für die Liebe zu einem mysteriösen Cowboy (Nicholas Saputra), einem schweigsamen Zauberer, der mit dem Feuer spielt und allerlei Tricks beherrscht, den Zoo verlassen. Als dieser sich in einer spektakulären Performance sprichwörtlich in Rauch auflöst, folgt auf Lanas „Auswilderung“ die „Umsiedlung“. Dabei landet sie im „Club Planet Spa“, einem Studio für erotische Massagen.

Hier ist es fast wie im Zoo, wenn es um ein entspanntes körperliches Wohlbefinden geht. Lana massiert, pflegt und streichelt fremde Männerkörper und sehnt sich zugleich nach ihrer Giraffe. Einmal schlüpft sie in ein Leopardenkostüm und wird dadurch zu einem erotischen Fetisch, einem verführerischen Tier. „Wenn das Gefühl der Sehnsucht ein Ort wäre, wäre es der Zoo“, sagt Edwin. Verspielt und undramatisch, unter weitgehender Vermeidung äußerer (auch gesellschaftlicher) Konflikte und dabei auf traumwandlerische Weise schwebend spürt er einem Verlorenheitsgefühl nach, das ein existentiell grundsätzliches ist und vielleicht deshalb so merkwürdig unbestimmt bleiben muss: zwischen Dableiben und Weggehen, zwischen Aufbruch und Rückkehr.

Django Unchained

(USA 2012, Regie: Quentin Tarantino)

Romantischer Rachefeldzug
von Andreas Busche

„Die Sklaverei war kein Sergio-Leone-Western“, kommentierte Spike Lee vor Weihnachten Quentin Tarantinos ambitionierte Italowestern-Hommage „Django Unchained“. Lees Bemerkung sorgte kurzzeitig für Irritation (von Tarantino noch überboten mit einer Sammleredition von …

„Die Sklaverei war kein Sergio-Leone-Western“, kommentierte Spike Lee vor Weihnachten Quentin Tarantinos ambitionierte Italowestern-Hommage „Django Unchained“. Lees Bemerkung sorgte kurzzeitig für Irritation (von Tarantino noch überboten mit einer Sammleredition von Django-Actionfiguren), wärmte aber nur eine Debatte auf, die schon im November Teile der kritischen US-Öffentlichkeit beschäftigt hatte. Anlass war damals Steven Spielbergs geschmackvolles Präsidentenporträt „Lincoln“, das die Kritik äußerst wohlwollend aufnahm, obwohl der Regisseur es nach „Amistad“ (1997) zum zweiten Mal geschafft hat, einen „historischen“ Film über die Sklaverei ohne ein einziges Bild der Unterdrückung – geschweige denn von einer Plantage – zu drehen. Ein sehr ziviler Film also über ein ganz und gar unzivilisiertes Thema. Spielberg delegiert wie schon mit „Amistad“ den Tatbestand der Sklaverei einfach in die Verantwortlichkeit der Justiz – als hinge der Seelenfrieden des amerikanischen Volkes ernsthaft von einem Verfassungsartikel ab. Dass in „Lincoln“ kein Afro-Amerikaner, außer als Sklave oder Soldat, zu Wort kommt, unterstreicht nur die Beschränktheit von Spielbergs Geschichtsbild. Es dominiert das Palaver alter weißer Männer.

Geschwafel kann man Tarantino nicht vorwerfen, schon dafür gebührt ihm Respekt. Sein Django ist genrebedingt ein Mann weniger Worte und grober Taten. Man kann eigentlich auch nichts Verwerfliches daran finden, dass ein ehemaliger Sklave durch den amerikanischen Süden reitet und Rassisten killt. Was die Moral betrifft … – damit hat es der Italowestern, auf den Tarantino sich bezieht (Teile des Soundtracks stammen von Ennio Morricone und Original-Django Franco Nero hat einen markanten Kurzauftritt), nie so gehabt. Doch die Politik des Genres hatte – hier irrt Lee – auf eine verwirrte Weise schon immer progressive Züge. Die Nischenökonomie des europäischen Exploitationkinos war in den Sechzigern und Siebzigern ein Quell radikaler gesellschaftlicher Ansichten. Der Italowestern mischte ganz vorne mit und stellte subalterne Herrschaftsverhältnisse auf den Kopf. Zapata-Western wie Damiano Damianis „Töte Amigo“, Giulio Petronis „Tepepa“ und Sergio Leones „Todesmelodie“ sind auch heute noch kluge Revolutionsfilme.

Es war „Django“-Regisseur Sergio Corbucci, der in „Navajo Kid“ einen Uramerikaner ein Massaker an seinem Stamm blutig rächen ließ. Und in „Django“ durfte Franco Nero den Ku-Klux-Klan mit einem Maschinengewehr niedermähen. Corbucci war ein harter Knochen – wer es nicht glaubt, sehe sich die Schlussszene von „Leichen pflastern seinen Weg“ an, in der der stumme Held im Schneematsch verblutet und die Bösen plündernd und vergewaltigend weiterziehen. Kein Wunder, dass sich Tarantino eher Corbucci als Leone verbunden fühlt. Ihre Filme haben ein Gewissen, aber zeigen keine Skrupel.

Tarantino hat wenig Interesse an wohltemperiertem, akkuratem Historienkino, soviel ist seit „Inglourious Basterds“ klar. Er zeigt, wie ein Sklave von einer Meute Hunde zerfleischt wird – halb im Off, in kurzen Einstellungen, bis die suggerierte Brutalität und die Schreie unerträglich werden. Nur Django guckt hin. „Ich habe lange genug unter Amerikanern gelebt.“

Tarantinos Filme beruhen auf einer anderen Geschichtlichkeit, der des Exploitationkinos, das immer an der Peripherie existierte. Darum kann er sich mit „Django Unchained“ einem vermeintlich politisch korrekten Historienkino (à la „Lincoln“) überlegen fühlen. Der Plot um einen ehemaligen Sklaven (Jamie Foxx), der als Partner eines weißen Kopfgeldjägers (Christoph Waltz) anheuert, um seine Frau aus den Händen eines sadistischen Plantagenbesitzers (Leonardo DiCaprio) zu befreien, ist eine zwingende Italowesternidee, die auch Tarantinos Liebe zum Blaxploitationkino entgegenkommt. HipHop-Stücke, Foxx‘ Sonnenbrille, sein ätzend blaues Landadel-Outfit, das geradezu „Pimp“ schreit – Tarantino versichert sich durch den Rückgriff auf unterschiedliche kulturelle Codes (Djangos Frau hört auf den schönen Metanamen Broomhilda von Shaft) der Überzeitigkeit. Die „blackness“ ist auf ein Publikum zugeschnitten, dem man, wie ein Kollege treffend bemerkte, erst erklären muss, dass das Jahr 1858, in dem der Film spielt, vor dem amerikanischen Bürgerkrieg war.

Vor dem Hintergrund dieser Überzeitigkeit wird die inflationäre Verwendung des (historisch korrekten) Wortes „Nigger“ tatsächlich etwas problematisch. Bei Tarantino klingt das N-Wort automatisch mehr nach Gangster Rap denn nach Mark Twain. Aber Spike Lee übertreibt: Sklaverei ist in „Django Unchained“ kein Insiderwitz unter Filmnerds, allein schon, weil Tarantino ästhetisch in zwei unterschiedlichen Gewaltmodi operiert. Die Gewalt gegen Sklaven weidet er nicht spekulativ aus, sie ist unmittelbar und schockierend – im Gegensatz zu Schießereien mit Rednecks und Plantagenbesitzern, bei denen ansehnliche Blutfontänen spritzen. Die B-Movie-Idee von Mandingo-Kämpfen, Gladiatorenwettkämpfen unter Sklaven, fungiert lediglich als drastische Metapher für die Unmenschlichkeit des Plantagensystems. Eine US-Kritikerin bemängelte diesbezüglich, dass es Tarantinos Film an Solidarität mangele. Aber das zentrale Filmmotiv ist ein romantisches (Django als Siegfried), kein sozialrevolutionäres. So weit geht Tarantinos Liebe zum Italowestern dann doch nicht.

Es gibt aber Momente, in denen Tarantino andeutet, daß er auch Erhellendes über die amerikanischen Herrschaftsverhältnisse zu sagen hätte. Einmal hält DiCaprio am Beispiel eines Totenschädels einen sinistren Monolog über das Wesen der Unterwürfigkeit. In einer anderen Szene dreht Samuel L. Jackson als sein Lakai (eine faszinierend undurchsichtige Figur, die ein eigenes B-Movie verdient hätte) kurzerhand die Machtverhältnisse um, wenn er mit Whiskeyglas im Sessel seines Herrn Platz nimmt und diesen belehrt. Am Ende jedoch ergötzt sich Tarantino vor allem an seinen Rachephantasien. Dass nach „Inglourious Basterds“ ausgerechnet ein Deutscher den Sklaven mit den Werkzeugen der Aufklärung aus seiner Unmündigkeit befreit – Waltz spielt den Aufklärer mit denselben Manierismen wie den Nazi -, ist wiederum eine Ironie, die eines Quentin Tarantino würdig ist.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 02/2013

The Master

(USA 2012, Regie: Paul Thomas Anderson)

Vom Aussterben bedroht
von Andreas Busche

Vielleicht muss man zunächst zwei Schritte zurücktreten, um das Gesamtbild zu betrachten. Für manche Filme und Filmemacher arbeitet bekanntlich die Zeit. Und um eine historische Perspektive geht es Paul Thomas …

Vielleicht muss man zunächst zwei Schritte zurücktreten, um das Gesamtbild zu betrachten. Für manche Filme und Filmemacher arbeitet bekanntlich die Zeit. Und um eine historische Perspektive geht es Paul Thomas Anderson mit „The Master“ definitiv, womit er sich nach dem preisgekrönten Öldrama „There will be Blood“ wohl endgültig von den kaleidoskopischen Vorstadterzählungen aus „Boogie Nights“ oder „Magnolia“ verabschiedet hat. „The Master“, Andersons lang angekündigter „Scientology-Film“, schwelgt in großen Momenten wie ein klassisches Hollywood-Epos. Erinnerungen an eine vergangene Kino-Ära. Der Film will keinen Moment verhehlen, dass er einer sterbenden Spezies angehört. Irritierend daran ist nur, wie kraftlos und taub sich die Nostalgie anfühlt, die Anderson mit viel technischem Aufwand und Liebe zum Detail heraufbeschwört.

Diese Benommenheit beschreibt auch die mentale Kondition von Freddie Quell (Joaquin Phoenix). Freddie ist wie viele andere junge Amerikaner aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrt – entlassen in eine Gesellschaft, die noch damit beschäftigt ist, die Produktivkräfte des Krieges in ein neues Wirtschaftswunder umzumünzen. Doch der traumatisierte Freddie fühlt sich in dieses neue Amerika nicht mehr integrierbar – ein Drifter ohne Ziel. So landet er eines Nachts auf der Yacht von Lancaster Dodd (Philip Seymour Hoffman). Dodd hat gerade eine Bewegung namens “Die Sache” ins Leben gerufen, die über ein Produkt verfügt, das dem neuen Amerika für seine Reise in eine prosperierende Zukunft noch fehlt: Selbsterkenntnis. Verabreicht in Form eines kruden Glaubensbekenntnisses aus New Age-Spinnereien, Westentaschenpsychologie, philosophischen Versatzstücken und obskurer Science-Fiction. Er nimmt Freddie unter seine Fittiche, will ihn zum Modellsoldaten seiner “Sache” erziehen. Doch der will und kann sich nicht mehr einfügen.

Diese überschaubare Geschichte erzählt Anderson mit verschwenderischer Grandezza. Da segelt ein weißes Schiff unter der Golden Gate Bridge in den Sonnenuntergang und es werden noch einmal die alten Kameraobjektive entstaubt, um die Gesichter von Hoffman und Phoenix in extremen Close-Ups wie archaische Widescreen-Landschaften in Szene zu setzen. Jede Einstellung ist für die Ewigkeit, nur verweigert sich Anderson – wie Freddie – jeder Vereinnahmung. Dodd ist kein Ron L. Hubbard, “The Master” kein Film über Scientologie – eher über die gesellschaftlichen Umstände, die eine Organisation wie Scientology ermöglichten. Und er endet als trippiges Resozialisierungsdrama mit den Produktionsmitteln eines “Lawrence von Arabien”. Man wundert sich über die erratische Großzügigkeit, mit der Anderson Gelegenheiten verschenkt. “The Master” ist ein Meisterwerk als formale Behauptung.

Die Jagd

(DK 2012, Regie: Thomas Vinterberg)

Vom Rufmord bis zur Selbstjustiz
von Carsten Happe

Zugegeben, Mads Mikkelsen dreht schon eine Menge Schrott. Für jeden „Casino Royale“ ein „Walhalla Rising“, für jeden „Nach der Hochzeit“ ein „The Necessary Death of Charlie Countryman“, der sich unerklärlicherweise …

Zugegeben, Mads Mikkelsen dreht schon eine Menge Schrott. Für jeden „Casino Royale“ ein „Walhalla Rising“, für jeden „Nach der Hochzeit“ ein „The Necessary Death of Charlie Countryman“, der sich unerklärlicherweise auch noch in den diesjährigen Wettbewerb der Berlinale schmuggeln konnte, statt leise und unbemerkt als Download zu verglühen. Dass er dennoch zwischendurch ein richtig guter Darsteller sein kann, der offenbar vor allem die entsprechende Schauspielführung braucht, zeigt Mikkelsen nun in Thomas Vinterbergs „Die Jagd“, für die er zwar überraschend, aber kaum unverdient im vergangenen Jahr in Cannes als bester Darsteller prämiert wurde.

Es ist allerdings auch eine dankbare Rolle, ein fast an Hitchcock erinnerndes Konzept des „wrong man“, des unschuldig Beschuldigten, der fortan gejagt wird. Nur dass hier die Prämisse keinen Thriller folgen lassen kann, sondern ein erschütterndes Drama, wie sich aus einer kleinen, unbedachten Äußerung, in der die Worte „Schwanz“ und „hart“ vorkommen, ein Mob formiert, der von Rufmord bis Selbstjustiz vor nichts, erst recht nicht der Wahrheit, Halt macht. Die ominösen Worte entstammen dem Mund der fünfjährigen Klara, der Tochter des besten Freundes von Lucas, dem allseits geschätzten Kindergärtner. Und sie bringen eine Lawine ins Rollen, die den besonnenen Familienvater in den Abgrund zu reißen droht, zumal die heile Fassade durch seine Scheidung bereits Risse bekommen hat. Indizien werden zu Beweisen, Vermutungen zu Tatsachen – Thomas Vinterberg zieht alle Register einer selbstgerechten moralischen Entrüstung, die sich allzu schnell verselbständigt und schließlich nur noch Verwüstungen hinterlässt. Dabei ist weniger die Frage virulent, ob Lucas wirklich pädophil sein könnte, sondern vielmehr erschreckend – eben weil es so plausibel entwickelt wird –, wie machtlos die Vernunft vor der (Vor-)Verurteilung kapitulieren muss.

„Die Jagd“ verzichtet auf jeden angestrengten Symbolismus oder ähnliche Mätzchen und vertraut ganz auf die Wucht ihrer Geschichte und die Präsenz ihres – endlich wieder einmal – phänomenalen Hauptdarstellers Mads Mikkelsen. Zweifellos der eindringlichste Film des Dogma-Mitbegründers Thomas Vinterberg seit dessen Urknall mit „Das Fest“ vor mittlerweile fünfzehn Jahren.

Der Hypnotiseur

(S 2012, Regie: Lasse Hallström)

Versatzstücke
von Wolfgang Nierlin

Der Film nähert sich seinem Sujet aus der Vogelperspektive und etabliert damit einen stimmungsvollen, visuell eindringlichen Rahmen. Im Cinemascope-Bild erstreckt sich eine schneebedeckte Stadtlandschaft, durchzogen von Rauchschleiern, bis zum Horizont. …

Der Film nähert sich seinem Sujet aus der Vogelperspektive und etabliert damit einen stimmungsvollen, visuell eindringlichen Rahmen. Im Cinemascope-Bild erstreckt sich eine schneebedeckte Stadtlandschaft, durchzogen von Rauchschleiern, bis zum Horizont. Das Dämmerlicht einer kalten, klaren Wintersonne lässt Stockholm als erstarrte, unbelebte Eiswüste erscheinen. Fremd und abweisend, geheimnisvoll und verloren ist diese Welt, ja geradezu in Schlaf und Vergessen versunken. Bis im Wechsel zur Nahaufnahme eine schnelle, kurze Montage aus Messerstichen und Blut diese trügerische Ruhe aufschreckt und den unvermittelten Auftakt zu einer brutalen Mordserie setzt. Inszeniert ist das als zeichenhaftes Genreversatzstück und als kriminalistische Beschwörungsformel fern der Realität, die im weiteren Verlauf der Geschichte trotzdem immer wieder das Erzählen stabilisieren soll, das insofern zweigleisig verfährt. Weil sich der Score der Eröffnungssequenz nahtlos auch über die Bilder der Bluttat legt, erscheint diese unbeabsichtigt als etwas Beiläufiges, fast Nebensächliches.

In Lasse Hallströms Literaturverfilmung „Der Hypnotiseur“ ist der Rahmen tatsächlich eindrucksvoller als der Inhalt. Und auch auf inhaltlicher Ebene muss man die Aufklärung der Morde eher als erzählerisches Vehikel für die Bearbeitung einer krisenhaften Ehe- und Familiengeschichte verstehen. Die Familie steht dann allerdings gleich in mehrfacher Hinsicht im Zentrum des Interesses. Um die Hintergründe des Verbrechens und den Täter zu ermitteln, nimmt Kommissar Joona Linna (Tobias Zilliacus), eine etwas blasse Figur, die zudem ziemlich viele Klischees polizeilicher Arbeit erfüllen muss, Kontakt auf zu dem umstrittenen Arzt und Traumatologen Erik Bark (Mikael Persbrandt). Dieser soll mit dem Mittel der Hypnose einen Jungen befragen, der seit der schrecklichen Ermordung seiner Eltern und einer jüngeren Schwester im Koma liegt. Als Eriks Sohn Benjamin kurze Zeit später unter mysteriösen Umständen entführt wird, entwickelt sich der Film unter überraschenden Wendungen und mäßiger Spannung einerseits zum Psychothriller.

Andererseits skizziert Hallström in einem etwas realistischeren Modus durch die Einführung seines Titelhelden das Bild einer in Auflösung begriffenen Ehe. Die Malerin Simone (Lena Olin) hat das Vertrauen in ihren Mann verloren, seit dieser sie mit einer Kollegin betrogen hat. Außerdem steckt Erik in einer beruflichen Krise und schluckt, von Schuldgefühlen verfolgt, starke Schlafmittel. Wie ein nur Halbwacher aus einer Zwischenwelt geht diese Figur durch den Film. Als eine Art somnambuler Traumdeuter wird Erik in mehrfacher Hinsicht zwischen Bewusstem und Unbewusstem vermitteln und schlafende Erinnerungen wecken. Dieser Durchbruch dient sowohl der Lösung des Kriminalfalles als auch der Wiederherstellung des familiären Status quo. Lasse Hallström erzählt das routiniert, durchaus nicht vorhersehbar, aber auch nicht immer stringent und schlüssig. Vor allem aber entschärft und vertreibt er mit einem allzu forcierten Happyend die Dunkelheit einer abgründigen Parallelgeschichte, die von einer verstörend krankhaften Mutterliebe handelt.

Lincoln

(USA / IN 2012, Regie: Steven Spielberg)

Der harte Handel
von Ulrich Kriest

Es ist gewiss kein Zufall, wenn Steven Spielberg sich ausgerechnet jetzt mit „Lincoln“ an einem Biopic des mythischen US-Präsidenten versucht. Spielberg zeigt ein zerrissenes Land im Bürgerkrieg, dessen Präsident mit …

Es ist gewiss kein Zufall, wenn Steven Spielberg sich ausgerechnet jetzt mit „Lincoln“ an einem Biopic des mythischen US-Präsidenten versucht. Spielberg zeigt ein zerrissenes Land im Bürgerkrieg, dessen Präsident mit allerlei Kniffen versucht, das bestehende Kriegsrecht und die letzten Monate des Krieges dazu zu nutzen, die Nation zu einen, indem ein künftiger Konflikt – unterschiedliche Haltungen zur Sklaverei und zur angeborenen Gleichheit im home of the brave, land of the free – antizipatorisch gelöst wird.

Oberflächlich geht es hier »nur« um die Abschaffung der Sklaverei, aber eigentlich geht es um die Geburt der Nation aus dem Geist der Debatte. Wie in einem furiosen Theaterstück mit erstklassigen Schauspielern zeigt Spielberg die endlosen Debatten um die Sklaverei im Repräsentantenhaus, die Hinhalte-Manöver und Finten, geführt mit messerscharfen, leidenschaftlichen Dialogen. Die Sache mit der Sklaverei muss vom Tisch, bevor der Krieg vorbei ist, aber dafür muss der Krieg verlängert werden. Spielbergs Film ist grandioses Diskurs-Kino, das tief eintaucht in die Seltsamkeiten der Geschichte. Gezeigt wird ein tief gespaltenes Amerika mit vielfältigen multikulturellen Wurzeln, das stolz auf seine post-koloniale Geschichte ist, in dem aber sehr unterschiedliche Uhren sehr unterschiedlich schlagen. Da treffen Aufklärer auf Rassisten, religiöse Sektierer auf eloquente Demokraten und politische Köpfe auf politische Amateure – und disputieren engagiert.

Spielbergs Zeitreise ist voller Witz und Esprit, zeigt Lincoln als eigensinnigen Kauz, der seine Umgebung mit den immer gleichen Geschichten und Anekdoten nervt, aber letztlich doch so schlau und in sich ruhend geduldig ist, um sein Projekt gegen alle Widerstände durchzusetzen. Daniel Day Lewis verleiht dem Mythos »Lincoln« sehr menschliche Züge und spielt doch einen Mythos, der gerne einmal zur Silhouette in einem unterbelichteten Film stilisiert wird. Jedenfalls lohnt sich ein vergleichender Blick auf John Fords „Der junge Mr. Lincoln“ (1939), in dem Henry Fonda Lincoln verkörperte, um die aktuelle Fallhöhe von „Lincoln“, seine „Arbeit am Mythos“ einschätzen zu können.

Trotz allem ist die Sklaverei in „Lincoln“ nur ein randständiges Thema, mit dem Politik »gemacht« wird. Hier kommt punktgenau (ausgerechnet!) Quentin Tarantino ins Spiel, der mit „Django Unchained“ einen Sklaverei-Southern gedreht hat, der an Brutalität und Wildheit wenig zu wünschen übrig lässt. „Django Unchained“ ist gewissermaßen die Pop-Antwort auf die staatstragende Reminiszenz Spielbergs. Anachronismen weisen beide Filme auf. Tarantino mischt auf bekannt eigenwillige und filmhistorisch kompetente Weise Zitate aus der Filmgeschichte („Django“) mit Zitaten aus der Literaturgeschichte (hier, ausgerechnet, die Nibelungensaga) und exorziert gewissermaßen im und durch den Blutrausch den sentimentalen Kitsch von „Vom Winde verweht“. Dafür kann man Tarantino lieben. Wie bereits bei seinem Vorgänger „Inglourious Basterds“ nutzt er die Möglichkeiten des Kinos zu einer lustvollen Korrektur der Geschichte: Sklaven mischen die Sklavenhaltergesellschaft auf. Wobei gewiss nicht jeder Zuschauer im Kino die frivole Lust Tarantinos an der Rache teilen wird. So kommentieren und ergänzen sich beide Filme wechselseitig.

„Lincoln“ beginnt mit einer Szene nach der Schlacht, als der Präsident sich von zwei afro-amerikanischen Soldaten, die auf Seiten der Union gekämpft haben, gütig seine eigene Rede vortragen lässt und zufrieden ist: „Haben Sie nach den Krieg schon etwas vor?“ Vielleicht zum Teil einer Bürgerrechtsbewegung werden? Eine Option mit Zukunft, wenn man über ein anständiges Zeit-Budget verfügte. 150 Jahre später wird ein in Honolulu geborener Rechtsanwalt „Lincoln“ als Morgengabe seiner zweiten Amtszeit erhalten. Ob Obama auch „Django Unchained“ gesehen hat/sehen wird?

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Gangster Squad

(USA 2012, Regie: Ruben Fleischer)

Best-Dressed Baller-Männer
von Ulrich Kriest

Los Angeles 1949. Eine Stadt am Abgrund und keine rettende Fledermaus in Sicht. Der skrupellose Aufsteiger und Mobster Mickey Cohen hat die Stadt mit Gewalt an sich gerissen und schickt …

Los Angeles 1949. Eine Stadt am Abgrund und keine rettende Fledermaus in Sicht. Der skrupellose Aufsteiger und Mobster Mickey Cohen hat die Stadt mit Gewalt an sich gerissen und schickt in den ersten Minuten des Films schon mal eine Botschaft gen Chicago – als Zweiteiler. Bei der LAPD hat man sich längst damit abgefunden, bestimmte Orte als Cohen-Territorium zu akzeptieren und besser nicht zu betreten. Lieber guckt man dabei zu, wie skrupellose Zuhälter sich an der Central Station an junge, naive Starlets ranmachen, um sie der Zirkulation zuzuführen.

Alle Polizisten? Nein, Sergeant John O’Mara hält sich nicht an die Regeln der Korruption, sondern dagegen. Mit eisernen Fäusten und sehr zum Leidwesen seiner schwangeren Frau. Die dann sehr aktiv wird, als O’Mara vom Polizeichef Parker den Auftrag bekommt, eine Gangster Squad zusammen zu stellen, um als Vigilantes dem Verbrechen Widerstand entgegen zu setzen. Nein, jetzt gelten keine Dienstvorschriften mehr. O’Mara hat schnell eine schlagkräftige, ethnisch bunt gemischte Truppe von Spezialisten beisammen: der eine ist Scharfschütze, der nächste ist ein genialer Bastler – und Ryan Gosling ist ja wohl sowas von cool, dass auch Cohen Gangsterbraut Grace hingerissen ist.

Natürlich ist diese Geschichte nicht neu. Selbst Mickey Cohen sind wir im Kino bereits begegnet. Erinnern wir uns an „L.A. Confidential“, an „Mulholland Falls“ oder an „The Black Dahlia“, dann ahnen wir woher der Wind weht. Auch „Chinatown“ könnte einem noch in den Sinn kommen. Genauso ist es auch Regisseur Ruben Fleischer gegangen, der eine Art von Mash-Up dieser Filme und vielleicht auch einiger anderer archetypischer James Ellroy-Geschichten zusammengestellt hat, um der Selbstjustiz ein Hohelied zu singen. Wichtiger als Story und Atmosphäre waren Fleischer und seinem Team allerdings der edle Look ihres Films, der zudem auch noch in der schmissigen Manier eines Hard-Boiled-Comics erzählt ist.

Interessant ist, dass der Film mit James Brolin, Ryan Gosling, Giovanni Ribisi, Michael Pena, Robert Patrick, Nick Nolte und Emma Stone erstklassig besetzt ist – und mit Sean Penn in der Rolle von Mickey Cohen noch einen Trumpf in der Hinterhand hat. Die Anzüge und Hüte der Herren sehen umwerfend aus, die Frisuren der Damen auch. Die Gewaltdarstellung ist apologetisch und der Kult des Mündungsfeuers nach den jüngsten Amokläufen vielleicht etwas geschmacklos. Aber es hätte dieser Amokläufe nicht bedurft, um zu erkennen, dass es sich bei „Gangster Squad“ um einen Rechtsausleger von Film handelt, der seine reaktionäre Botschaft von Auge um Auge, Zahn um Zahn in feinstem Zwirn camoufliert vorträgt.

Tabu – Eine Geschichte von Liebe und Schuld

(PT / BR / D / F 2012, Regie: Miguel Gomes)

Mäander
von Wolfgang Nierlin

Eine merkwürdige Expedition, ja eine geradezu mythische Prozession im Herzen Afrikas vollzieht sich im Prolog von Miguel Gomes‘ neuem Film „Tabu“. Ein furchtloser Entdecker, von dem der Off-Erzähler sagt, er …

Eine merkwürdige Expedition, ja eine geradezu mythische Prozession im Herzen Afrikas vollzieht sich im Prolog von Miguel Gomes‘ neuem Film „Tabu“. Ein furchtloser Entdecker, von dem der Off-Erzähler sagt, er sei traurig, will nach dem Tod seiner geliebten Frau ans Ende der Welt fliehen, weil er ihren Verlust nicht verwinden kann. Die Bilder, die seinen Weg durch den Dschungel zeigen, sind schwarzweiß und werden von einem Jazz-Piano begleitet. Ein Hauch von Exotik und von fernen Abenteuern liegt über der Szenerie, die aus einem alten Stummfilm stammen könnte oder zumindest visuell dessen Geist beschwört; was im Verbund mit dem fabelhaften Erzähler wiederum dazu führt, dass sich in die tragische Geschichte auch ein leiser Humor mischt. „Deinem Herzen kannst du nicht entfliehen“, erkennt der Held und steigert dadurch noch seine Todessehnsucht. Bis er sich schließlich in einer Verzweiflungstat unter den Augen der Eingeborenen einem Krokodil zum Fraß vorwirft, von dem es heißt, dass es die Traurigkeit des Getöteten in sich aufnehme.

Wahrheit und Legende, Imagination und Wirklichkeit liegen in den Filmen des 1972 in Lissabon geborenen Regisseurs Miguel Gomes nahe beieinander. Mit unbändiger Fabulierlust erzählt er seine mäandernden, abschweifenden und sich immer weiter verzweigenden Geschichten, deren Zusammenhang oft unklar bleibt und deren lose Enden sich mitunter im Unbestimmten verlieren. In ihnen vermischen sich auf ebenso nachdenkliche wie humorvolle Weise Verrücktes und Absurdes, Alltägliches und Menschliches. Dabei arbeitet der Filmemacher immer wieder ganz ungezwungen und selbstverständlich mit ästhetischen Irritationen und narrativen Brüchen, mit Andeutungen und filmgeschichtlichen Referenzen. In „Tabu“ etwa zitiert er den gleichnamigen, thematisch verwandten Film von Friedrich Wilhelm Murnau aus dem Jahre 1931, indem er dessen Kapitelüberschriften in umgekehrter Reihenfolge für seinen eigenen Film übernimmt.

Der mit „Das verlorene Paradies“ betitelte erste Teil spielt im Lissabon der Gegenwart zwischen den Jahren 2010 und 2011 und verknüpft diesen Ort mit einer Erinnerung, die den Verlust der Unschuld auf eine noch unbekannte Vorgeschichte bezieht. Die katholische Friedensaktivistin Pilar (Teresa Madruga), rein, sanftmütig und hilfsbereit, figuriert darin als Heilige und gute Seele mit einem offenen Ohr und Herzen für die Sorgen und Nöte der anderen. Als Integrationsfigur wird sie zum Katalysator für deren Sehnsucht nach Vergebung und Erlösung. Vor allem die alte, resolute Nachbarin Aurora mit ihren scheinbar wahnhaften Geschichten beschäftigt ihr Nachdenken und Beten. Als Aurora (Laura Soveral) plötzlich stirbt, wechselt der Film den Erzählmodus und wird im zweiten, mit „Paradies“ betitelten Teil zu einer poetischen Bildergeschichte, über die sich die Stimme von Auroras früherem Geliebten Gian Luca Ventura (Henrique Espírito Santo) legt.

Dieser erzählt von jener unsterblichen und zugleich „verbrecherischen“ Liebe, die er als junger Mann (Carloto Cotta) Jahrzehnte zuvor „auf einer Farm in Afrika“ am Fuße des mythischen Monte Tabu mit der damals frisch verheirateten und schwangeren Aurora (Ana Moreira) erlebt hat: „Ich verinnerlichte Aurora als absolute, allumfassende Realität.“ Doch die Schatten der Gegenwart liegen von Anfang an über dieser verbotenen Liebe der Vergangenheit. Und auch der Kolonialismus, eher als atmosphärische Störung und visuelle Unterströmung präsent, liegt in den letzten Zügen. Was hier in wortlosen Blicken, unbestimmten Gefühlen von Verlust, Schuld und Trauer und fernen, verblichenen Erinnerungen erzählt wird, könnte auch der Imagination von Venturas Zuhörerin Pilar (oder auch der Phantasie des Kinopublikums) entstammen. Miguel Gomes sagt: „‘Tabu‘ ist ein Film über die Vergänglichkeit, darüber, dass Dinge verschwinden und nur noch als Erinnerung, als Phantasmagorie, als Bilder in unserem Kopf existieren – oder eben als Film.“

Django Unchained

(USA 2012, Regie: Quentin Tarantino)

Ambitioniert gescheitert
von Louis Vazquez

Als es hieß, dass Quentin Tarantino einen Italowestern inszenieren würde, verwunderte das nicht unbedingt, denn der Einfluss eben jenes Genres war schon häufiger in seinen Filmen zu erkennen, siehe „Kill …

Als es hieß, dass Quentin Tarantino einen Italowestern inszenieren würde, verwunderte das nicht unbedingt, denn der Einfluss eben jenes Genres war schon häufiger in seinen Filmen zu erkennen, siehe „Kill Bill: Vol. 1 und 2“ oder „Inglourious Basterds“. Ein lupenreines Imitat sollte man nun allerdings nicht erwarten, denn „Django Unchained“ steht Blaxploitation-Western wie Jack Arnolds „Boss Nigger“ (1975) näher als Sergio Corbuccis vermeintlichem Original. Tarantino selbst nennt seinen Film deshalb einen „Southerner“ und erfindet sich damit gleich ein eigenes Genre.

Der Sklave Django (Jamie Foxx) wird von einem als fahrendem Zahnarzt getarnten Kopfgeldjäger mit dem bedeutungsschwangeren bzw. -schweren Namen Dr. (Martin Luther?) King Schultz (Christoph Waltz) aus einer misslichen Lage befreit. Im Gegenzug soll er für den Doktor, der aus Düsseldorf stammt, seine ehemaligen Besitzer identifizieren, die inzwischen per Steckbrief gesucht werden. Dafür schenkt Schultz ihm nicht nur die Freiheit, sondern macht ihn auch zum Partner bei der Kopfgeldjagd und verspricht ihm seine Unterstützung dabei, seine Frau Broomhilda (Kerry Washington) aus der Hand des mächtigen Sklavenhalters Calvin Candie (Leonardo DiCaprio) zu befreien. Doch bis es so weit kommt, verbringt der Film viel Zeit damit, Django mit dem Leben eines Kopfgeldjägers vertraut zu machen und bietet zunächst alles, was man von Tarantino erwartet: grandios verspielte Szenen mit geschliffenen Dialogen und großen Waltz-Momenten, Standoff-Situationen mit überraschendem Ausgang und einen Auftritt des KKK, den die Monty Pythons kaum alberner hätten inszenieren können.

Mit der Ankunft auf der Plantage des Oberbösewichts Candie allerdings vollzieht der Film eine radikale Richtungsänderung und wechselt die Tonart. Die Ironie muss Pause machen, Rassisten drangsalieren Sklaven, und die Gewaltdarstellung wird schwer erträglich. Richard Fleischers brutaler Sklavenhalterfilm „Mandingo“ scheint ganz plötzlich zur Hauptinspirationsquelle von „Django Unchained“ zu werden. Da verwundert es nicht, dass Spike Lee und Quentin Tarantino wohl eher keine gemeinsamen Grillpartys mehr veranstalten dürften. Selbst wenn man sich darauf einlassen mag, dass Tarantino – mit gewiss guten Absichten – ein unangenehmes Kapitel der amerikanischen Geschichte mit den Mitteln des B-Movies, des Exploitationfilms gar, für breite Zuschauerschichten aufbereiten will, selbst wenn man sich mit der Figur von Samuel L. Jackson abfindet, der einen abgrundtief bösen, von der Macht korrumpierten Haussklaven spielt, so weist das Drehbuch doch große Schwächen genau da auf, wo es seine Brillanz zu beweisen versucht, sodass der Film plötzlich disparat und orientierungslos wirkt.

Suspensereiche Undercover-Aktionen scheinen es Tarantino seit seinem Debüt mit „Reservoir Dogs“ angetan zu haben. In „Inglourious Basterds“ entwickelte er gleich mehrere Situationen, in denen die Söldner in Nazi-Rollen schlüpfen müssen. In „Django Unchained“ schließlich scheint Tarantino sich an einer ultimativen Suspense-Inszenierung zu versuchen: Um Broomhilda legal befreien zu können, gibt Schultz vor, einen Mandingo-Kämpfer kaufen zu wollen, einen Sklaven, der gegen andere Sklaven auf Leben und Tod kämpfen muss. Nur durch den Bezug zum grausamen Hobby des Sklavenhalters Candie sei dessen Interesse zu wecken, zumal es um tausende Dollars gehen würde. Djangos Frau Broomhilda soll quasi nebenbei für kleines Geld mitgekauft werden, weil sie wegen der Abstammung ihrer Vorbesitzer Deutsch spricht – der perfekte Vorwand für Schultz.

Doch der Versuch, den Pop-Pastiche in ein aberwitzig motiviertes Kammerspiel zu überführen, scheitert, weil Tarantinos Drehbuch sich kaum um auftretende Logiklöcher schert, die man in einem Actionfilm zwar vernachlässigen würde, nicht aber bei einer solchen Konstruktion, deren Zweck es doch sein soll, dem Gegner gedanklich einen Schritt voraus zu sein. Weil zudem Leonardo DiCaprio mit Verve Szenen an sich reißen darf, kommt auch die wunderbare Chemie zwischen Foxx und Waltz nicht mehr zum Tragen. DiCaprio legt seine Figur als Dämon mit Charme an und fordert den Vergleich mit Waltz’ Hans Landa aus „Inglourious Basterds“ geradezu heraus, doch er belegt den zweiten Platz nur mit großem Abstand.

Besonders unglaubwürdig wirkt die Auflösung der Situation: Im entscheidenden Moment nimmt man einer Figur eine irrationale bzw. sehr emotionale Handlung nicht ab, weil sie sich zuvor ganz anders präsentierte. Der Spannungsaufbau mündet dann doch wieder in einen so blutigen wie goutierbaren Shootout, in dem sich alle Rachephantasien erfüllen. „Django Unchained“ versucht damit zur Erzählweise zurückzukehren, die die erste Stunde des Films prägte, doch das wirkt vor allem inkonsequent.

Tarantinos Film steckt voller Ambition und guter Ideen, und doch scheint es diesmal, dass er sein Drehbuch besser noch einmal einer Revision unterzogen hätte – und sei es, um wenigstens den Gastauftritt von Franco Nero ein bisschen origineller zu gestalten.

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Lincoln

(USA / IN 2012, Regie: Steven Spielberg)

One Man Gang
von Carsten Happe

Möglicherweise sieht ein Themenabend auf arte zur Sklaverei in den Vereinigten Staaten in zwei oder drei Jahren wie folgt aus: 20:15 Uhr 'Lincoln', 22:45 Uhr Django Unchained', 1:30 Uhr Frankreichs …

Möglicherweise sieht ein Themenabend auf arte zur Sklaverei in den Vereinigten Staaten in zwei oder drei Jahren wie folgt aus: 20:15 Uhr 'Lincoln', 22:45 Uhr Django Unchained', 1:30 Uhr Frankreichs Kulturminister im Gespräch mit Steven Spielberg und Quentin Tarantino über diametral entgegengesetzte Ansätze zum Ende der Sklaverei.

Es ist ein frappanter Zufall, dass diese beiden Filme fast gleichzeitig veröffentlicht werden, bieten sie doch derart weit entfernte Herangehensweisen an ein Thema, derart unterschiedliche ästhetische Konzeptionen, dass sich ein Vergleich zwar vollkommen ausschließt – auch wenn beide mit aussichtsreichen Oscar-Chancen ins Rennen gehen, mitunter in den gleichen Kategorien – aber eine Verknüpfung durchaus reizvoll erscheint.
Während sich Tarantino frei flottierend durch die (Film-)Historie ballert und leider auch kalauert und sein Popkultur-Zitat-Kino mühelos im Westerngenre verankert, verspricht Spielbergs „Lincoln“ zunächst klassisches Biopic-Drama altmodischer Prägung, distinguiert, kontrolliert, erwartungsgemäß. Und doch tappt er weder in die befürchtete Filmbiographienfalle, ein komplettes Leben abbilden zu wollen, noch ein verklärendes Abziehbild eines verbrieften Helden nachzuschieben.

In seinen letzten Lebensjahren – nur die deckt Tony Kushners mit geschliffenen Dialogen gespicktes Drehbuch ab – tritt Abraham Lincoln als gewiefter, in sich ruhender Politiker auf, dessen Herzensangelegenheit es ist, den Verfassungszusatz zur Abschaffung der Sklaverei zu verabschieden, und dessen Herkulesaufgabe, die erforderliche Mehrheit dafür zu gewinnen. Mit einem Wort: „Lincoln“ dreht sich um politisches Kalkül und dem gemäße Taktiken, alte weiße Männer zur Stimmabgabe in die gewünschte Richtung zu lenken. Das ist bei aller Akkuratesse der historischen Rekonstruktion, bei aller Opulenz der ausgewaschenen Bilder und der angenehm zurückhaltenden Musik von Spielbergs altem Weggefährten John Williams leider auch entsprechend langatmig. So bleibt es vor allem der beeindruckenden Metamorphose Daniel Day-Lewis‘ in den 16. Präsidenten der Vereinigten Staaten vorbehalten, das Interesse an Spielbergs gediegener Geschichtsstunde über zweieinhalb Stunden wachzuhalten. Womit sich allerdings wieder der Kreis zu Tarantinos „Django“ schließt – auch hier retten die entfesselten Darsteller den ebenso überlangen Film über die Zeit.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Frankenweenie

(USA 2012, Regie: Tim Burton)

Back to the Roots
von Sven Jachmann

Hätte man eigentlich erwartet, dass derselbe Regisseur, der 1996 in „Mars Attacks!“ seinen damals von Hochkarätern überquellenden Cast bereits nach wenigen Minuten von dauergrinsenden Marsmännchen reihenweise dezimieren ließ, die deshalb …

Hätte man eigentlich erwartet, dass derselbe Regisseur, der 1996 in „Mars Attacks!“ seinen damals von Hochkarätern überquellenden Cast bereits nach wenigen Minuten von dauergrinsenden Marsmännchen reihenweise dezimieren ließ, die deshalb die Erde heimsuchten, weil ihn die Erinnerung an die ähnlich gestalteten Comicfiguren auf den Kaugummibildern seiner Jugend noch als Erwachsenen verfolgte, hätte man also geglaubt, dass so ein herzensguter Sadist des Kinos und Liebhaber der noch so ranzigsten Popkultur-Erscheinungen seiner späteren Lesart von „Alice im Wunderland“ einzig quietschbunte Texturen und schauwertsfixierte Technikbegeisterung abringen würde?

So bedauerlich es mit anzusehen war, wie in Tim Burtons letzten Filmen das eigenwillige Zusammenspiel aus bedingungsloser Verbrüderung mit den gesellschaftlichen Outcasts, Neigung zum Horrorklassizismus als Geste der biografischen Verbeugung, Begeisterung für den nicht nur melancholischen sondern auch destruktiven Geist der Schwarzen Romantik und Archivierung der randständigsten Erscheinungen und Protagonist/inn/en des Phantastischen Kinos zur linkischen Formel erstarrte, auf dem Gebiet des Stop Motion-Animationsfilms bleibt er ein Zepterträger.

„Nightmare before Christmas“ (1993, Regie: Henry Selick), an dem Burton als Produzent rege mitwirkte, „Corpse Bride“ (2005, zusammen mit Mike Johnson) und nun „Frankenweenie“: Burton verwaltet erneut einen gewaltigen Fundus an (Horror-)Filmgeschichte, diesmal ist jedoch seine eigene inbegriffen. 1984, damals noch Animationszeichner für Disney und trotz der hohen Position als Concept Artist von den Produktionszuständen des Studios eher enttäuscht, schuf Burton seinen ersten, gut halbstündigen Realkurzfilm „Frankenweenie“, eine kleine Geschichte über die große Liebe eines Jungen zu seinem Hund, die über den Tod hinausgeht. Im Hause Disney zeigte man sich von der bizarren Frankenstein-Fabel not amused und versenkte das Ergebnis in den Archiven, wo der Film ein Jahrzehnt, bis zur Veröffentlichung der „Nightmare before Christmas“-Laserdisc, die ihn als Bonusmaterial enthielt, unter Verschluss blieb.

Burton konserviert und restauriert nunmehr auch sein eigenes Werk, und dass er dieses abermals von Disney budgetierte Puppentrickfilm-Remake als 3D-Produktion in, wie schon den Vorgänger, schwarz-weiß präsentiert, darf man wohl als filmgeschichtliche Verbeugung (schließlich schwamm schon Jack Arnolds „Schrecken vom Amazonas“ 1954 in 3D-Optik durch die Lagune), im Hinblick auf kommerzielle Richtlinien mindestens aber auch als nachgeholte Selbstbehauptung verstehen. Am im Kern identisch gebliebenen Plot wurde natürlich etwas geschraubt, um ihn auf 80 Minuten zu dehnen.

Inhaltlich nach wie vor eher an der Literaturvorlage denn an James Whales „Frankenstein“-Verfilmung orientiert, in der die Unschuld des Monsters ein wenig abgeschwächt werden musste, geht die Gefahr nicht im Geringsten vom exhumierten und wiederbelebten Hund Sparky aus, sondern von den bigotten Einwohnern des Suburbia-Kosmos New Holland. Dem achtjährigen Victor Frankenstein wird nicht das mad scientist-Gesetz – die Strafe für die Hybris wahlweise Gott oder die Natur auf die Probe zu stellen – zum Verhängnis, sondern nun im Speziellen eine Handvoll hinterhältiger Mitschüler. Heimlich wiederholen sie mit ihren toten Haustieren Victors Experiment, nachdem sie spitzgekriegt haben, dass er seinen vom Auto überfahrenen Hund Sparky mithilfe der rudimentären Kenntnisse aus dem Physikunterricht ins Leben zurückholen konnte. Ihre einstige Niedlichkeit lassen die mutierten Wiederkehrer jedoch arg vermissen und so überträgt sich der Frankenstein-Stoff in die Motive der monster movies der 50er Jahre.

Durch das Burtonville in „Frankenweenie“ lustwandelt man vom Universal- und Hammer-Horror zu Godzilla und zurück, ist aber schon deshalb eine Spur näher an den Vorbildern dran, weil beiden dieselben tricktechnischen Bedingungen zugrunde liegen. Zitat und Demut vor der Herkunft aus der gemeinsamen Schule reichen sich stets die Hände. Das besitzt, wie zu Burtons besten Zeiten, mal einen utopischen, mal einen gehässig-subversiven Anstrich: Vincent suspendiert nicht die Vernunft, die sich rächt, weil er, traurig über seinen Verlust, etwaige Grenzen der Naturwissenschaft überschreiten würde. Vincent reinstalliert das Kino ganz unnostalgisch als Traummaschine, indem er dem Tod ganz einfach und ohne böses Nachspiel ein Schnippchen schlägt. Sparky jedenfalls ist, abzüglich ein paar neuer Nähte auf dem Fell, fidel und gutmütig wie zu Lebzeiten, der reaktionäre Regelkanon des Genres mitsamt seinem Bestrafungskatalog ist Burtons Sache nicht. Da ist die New Holland-Gesellschaft, die das Fremde sogleich kontrollieren oder vernichten will, ein ganz anderes Kaliber. Wenn durch ihre Reihen eine (da will man dem hiesigen YPS-Relaunch glatt noch etwas abgewinnen) Gruppe wildgewordener Urzeitkrebse tobt, ist Burtons Versöhnung mit den Außenseitern endlich auch mal wieder Rache der popkulturellen Auslegeware.

Vergiss mein nicht

(D 2012, Regie: David Sieveking)

Mit der Kamera gegen das Vergessen
von Carsten Happe

Das oftmals bemühte Zitat „write what you know“ wird sowohl William Faulkner als auch Mark Twain zugeschrieben, was wohl kaum letztgültig zu klären sein wird. Es ist jedoch eine universale …

Das oftmals bemühte Zitat „write what you know“ wird sowohl William Faulkner als auch Mark Twain zugeschrieben, was wohl kaum letztgültig zu klären sein wird. Es ist jedoch eine universale Wahrheit, die auch vor dem Medium Film keineswegs Halt gemacht hat. Insbesondere im dokumentarischen Bereich gibt es unzählige (auto-)biographische Filme, deren fehlende Distanz ihre herausragende Qualität darstellt.

Regisseur David Sieveking hat sich für seinen Debütfilm „David Wants to Fly“ auf eine persönliche Reise in die transzendentale Meditation begeben, den Spuren David Lynchs und des Beatles-Gurus Maharishi Mahesh Yogi folgend. Sein Nachfolgewerk allerdings ist noch intimer, unmittelbarer: „Vergiss mein nicht“ begleitet Davids Mutter ins Reich der Alzheimer-Demenz und letztlich auch in den Tod. Dass der Film trotz seines Sujets keineswegs eine rührselige, bedrückende Nabelschau geworden ist, liegt an David Sievekings außergewöhnlichem Gespür für die leichten Momente, die trotz aller Tragik immer wieder durchscheinen. Während Davids Mutter Gretel dem Vergessen anheimfällt, entdeckt der filmende Sohn ihre bewegte Vergangenheit und lernt die Geschichte seiner Familie aus einem völlig neuen Blickwinkel kennen.

Dass der Film sich letztlich so hoffnungsvoll, so einnehmend und liebevoll entwickelt, liegt nicht zuletzt an der ereignisreichen Lebensgeschichte der Gretel Sieveking und ihrer auch im hohen Alter einnehmenden Persönlichkeit sowie nicht minder an David Sievekings offener und aufrichtiger Herangehens-, eigentlich eher Herantrauensweise – sowohl vor als auch hinter der Kamera – an das schwierige Unterfangen, die eigene Familie den Filmaufnahmen und dem Kinopublikum auszuliefern. So ist „Vergiss mein nicht“ alles andere als ein exhibitionistischer Blick auf ein öffentlich weitgehend tabuisiertes Thema geworden, sondern vielmehr eine zärtliche Liebeserklärung an ihm – und damit auch uns – wichtige Menschen.

Babamin Sesi – Die Stimme meines Vaters

(TR 2011, Regie: Orhan Eskikoy, Zeynel Dogan)

Archiv der Erinnerung
von Wolfgang Nierlin

Ein ruhiger Blick in die weite Gebirgslandschaft der südöstlichen Türkei eröffnet Orhan Eskiköys Film „Die Stimme meines Vaters“ (Babamin Sesi). Dass dieses Bild auch einen bestimmten Ort und seine tragische …

Ein ruhiger Blick in die weite Gebirgslandschaft der südöstlichen Türkei eröffnet Orhan Eskiköys Film „Die Stimme meines Vaters“ (Babamin Sesi). Dass dieses Bild auch einen bestimmten Ort und seine tragische Geschichte meint, vermittelt sich erst allmählich im sparsamen, aber stetigen Informationsfluss der undramatisch inszenierten Erzählung. Wenn an deren Ende diese Perspektive nach einem 360 Grad-Schwenk der Kamera unter anderen Vorzeichen wiederkehrt, wirkt diese doppelte Rahmung wie ein Schlusspunkt und ein Neubeginn; oder wie die Bekräftigung einer schmerzlichen Identität.

Eine alte, einsame Frau in einem alten Haus lauscht einer Tonbandstimme, die aus der Vergangenheit kommt. Verputz rieselt von den Wänden, während Mustafa von seiner Arbeit im fernen Ausland und von seiner Sehnsucht nach der Familie in der Heimat spricht. Der Austausch der Tonbänder ersetzt den schriftlichen Briefverkehr und konstituiert zugleich ein Archiv der Erinnerung. Immer wieder sind diese Stimmen, die als akustische Rückblende fungieren, vernehmlich, während die Kamera die Räume und Bilder der Abwesenden abtastet.

Die alte Basê steht im Zentrum dieser zerrissenen Familie alewitischer Kurden, die unter Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung leidet. Der ältere Sohn Hasan hat sich einer Widerstandsgruppe angeschlossen, während sein Bruder Mehmet (Zeynel Dogan) zusammen mit seiner Frau Gülizar in Diyarbakir lebt. Weil er sich Sorgen um seine Mutter macht und mehr über seine Familiengeschichte erfahren will, fährt er zu einem Besuch in die Heimat. Doch Basê zeigt sich zunächst wenig kooperativ, fast abweisend: In die Stadt will sie nicht ziehen und über ihre Erinnerungen will sie nicht sprechen.

„Ist es denn so schlimm, die eigene Vergangenheit zu kennen?“ fragt einmal Mehmet, der sich der Verdrängung widersetzt. In poetischen Bildern und subtilen Andeutungen entwickelt Orhan Eskiköy die komplexen Themen seines Films, in dem sich die Mitglieder der Familie Dogan selbst spielen. Immer wieder öffnet sich der Blick, gibt es gleitende Übergänge zwischen Heimat und Fremde, Erinnern und Vergessen. Dabei vermittelt sich auch der Reichtum von Kultur und Sprache. Für Hasan sammelt Basê seltene kurdische Wörter. Deren semantische Erläuterung wird selbst zu einer Geschichte über Verlust und Sehnsucht.

Cäsar muss sterben

(IT 2012, Regie: Paolo und Vittorio Taviani)

Die Ahnung der Freiheit
von Wolfgang Nierlin

Blutrot ist der Bühnenhintergrund in der Schlussszene dieser Aufführung von William Shakespeares Tragödie „Julius Cäsar“, wenn der „ehrenwerte“ Verschwörer Brutus (Salvatore Striano) seine Getreuen bittet, ihn zu töten. Starke Männer …

Blutrot ist der Bühnenhintergrund in der Schlussszene dieser Aufführung von William Shakespeares Tragödie „Julius Cäsar“, wenn der „ehrenwerte“ Verschwörer Brutus (Salvatore Striano) seine Getreuen bittet, ihn zu töten. Starke Männer mit durchdringenden Blicken und einer schweren, dunklen Vergangenheit stehen ihm gegenüber. Sie alle sind Strafgefangene der römischen Haftanstalt Rebibbia, wo sie aufgrund der Schwere ihrer Verbrechen im Hochsicherheitstrakt interniert sind. Nur einer unter ihnen, der die Rolle des Strato spielt, weigert sich nicht, den tödlichen Dolchstoß zu führen. Dann fällt der Vorhang einer umjubelten Aufführung. Doch während sich für das Theaterpublikum die Gefängnistore öffnen, kehren die Gefangenen in ihre Einzelzellen zurück. Die Ahnung der Freiheit, gewonnen im Spiel, und ein verändertes Bewusstsein nehmen sie mit: „Seitdem ich weiß, was Kunst ist, ist diese Zelle ein Gefängnis geworden“, sagt einer von ihnen.

Paolo und Vittorio Taviani, die Altmeister des italienischen Kinos, haben diese Szene an den Anfang und an das Ende ihres mit dem Goldenen Bären ausgezeichneten Films „Cäsar muss sterben“ gesetzt. Dazwischen dokumentieren sie, in Schwarzweiß gedreht, die Probenarbeiten an wechselnden Orten der Strafanstalt, die mit ihrer Beton-Architektur, dem begrenzten Raum und reduzierten Mitteln eine äußerste Konzentration auf Text und Spiel bewirkt. Bereits das Casting sechs Monate vor der Aufführung, bei dem die Bewerber zwei gegensätzliche Stimmungen spielen, zeigt ausdrucksstarke Mimen, die zu einer enormen Gefühlsverdichtung fähig sind. Sie alle haben schon Einiges erlebt, was sich Körper, Gesicht und Stimme eingeprägt hat und in der Konfrontation mit Shakespeares Text nach Ausdruck verlangt. Nicht umsonst fordert sie der Regisseur auf, in ihrem je eigenen Dialekt zu sprechen und eigene Ideen in die Inszenierung einzubringen.

Nach der Rollenverteilung werden zunächst ihre Namen, dann ihre Delikte, die vom Drogenhandel bis hin zum Mord reichen, und schließlich ihr jeweiliges Strafmaß eingeblendet. Während sie im Folgenden Text und Stück erarbeiten und dabei ein hohes Maß an Eigeninitiative und Disziplin zeigen, kommt es immer wieder zu Interferenzen. Das eigene Leben mit seinen Erfahrungen mischt sich ein und führt so zu einem produktiven, Reibungen erzeugenden Austausch mit der Kunst. Immer wieder auch treten die Schauspieler aus ihren Rollen, um ihr Tun zu reflektieren, was mitunter etwas künstlich wirkt. Doch nicht zuletzt durch eine dramatisch-wuchtige Musik, eine ausgeklügelte filmische Inszenierung und die dramaturgisch geschickte Integration realer Schauplätze ins Probengeschehen fiktionalisieren die Brüder Taviani auf eindrucksvolle Weise das dokumentarische Material. So wird der Gefängnishof zum Forum, auf dem der tote Cäsar aufgebahrt liegt, während die Strafgefangenen in der Rolle des römischen Volkes hinter ihren vergitterten Fenstern „Freiheit“ skandieren.

Aurora

(RO / F / CH / D 2010, Regie: Cristi Puiu)

Dämmerzustand
von Wolfgang Nierlin

Die Zeit fühlt sich an wie eine ausgedehnte, permanente Gegenwart, in der man sich verliert. Obwohl die erzählte Handlung in Cristi Puius dreistündigem Film „Aurora“ etwa eineinhalb Tage umfasst, hat …

Die Zeit fühlt sich an wie eine ausgedehnte, permanente Gegenwart, in der man sich verliert. Obwohl die erzählte Handlung in Cristi Puius dreistündigem Film „Aurora“ etwa eineinhalb Tage umfasst, hat man als Zuschauer Schwierigkeiten, sich in dem Wechsel von Hell und Dunkel zurechtzufinden. Die Atmosphäre des Films ähnelt einem langgezogenen Dämmerzustand, aus dem es kein Erwachen gibt und von dem sich nicht genau sagen lässt, ob auf ihn Tag oder Nacht folgen. Die Schlaflosigkeit des von Puiu selbst gespielten Protagonisten Viorel spiegelt diese irritierende Zeitverschiebung, ja befördert sie in einem physischen und räumlichen Sinn. In langen, ungeschnittenen Einstellungen bewegt er sich an Orten, die vom Betrachter nicht nur identifiziert, sondern mitunter auch umgedeutet oder überhaupt erst definiert werden müssen. Sein Weg führt von der eigenen, aufgrund von Renovierungsarbeiten provisorischen Wohnung zu derjenigen der Mutter, wo er noch ein Zimmer hat, oder auch zur Wohnung seiner von ihm geschiedenen Frau. Unterwegs ist er aber auch in den grauen, von kaputten Hausfassaden gesäumten Straßen Bukarester Außenbezirke, auf dem tristen Gelände einer metallverarbeitenden Fabrik und auf öffentlichen Plätzen.

Die Spuren, die Viorel dabei auslegt, erscheinen eher verschlungen als linear. Sie konstituieren eine Flächigkeit, deren einzelne Bestandteile sich erst nach und nach zusammenfügen. In einem ausführlichen Interview mit der Zeitschrift „Cargo“ hat Cristi Puiu seinen elliptischen Film selbst als eine Art „unvollendetes Puzzle“ bezeichnet. Weil das, was sich wissen und erkennen lässt, ständig unsicher ist und in Frage steht, hinterfragt Puiu immer wieder seinen Standpunkt als Erzähler, indem er Zweifel und Ungewissheiten streut oder Informationen vorenthält und so seinen Film in einen permanenten Schwebezustand versetzt. Eine parataktische Syntax, eine Dramaturgie des Peripheren und das Interesse für scheinbar nebensächliches sind deshalb hervorstechende Merkmale seiner filmischen Narration. Die Spannung resultiert dabei gerade aus der relativen Aktionslosigkeit eines konzentrierten Beobachtens, das seinen Blick wiederum häufig mit demjenigen der Hauptfigur teilt.

Diese ist schweigsam, in wenigen Szenen auch extrem konfrontativ und direkt, meistens aber misstrauisch und zögerlich. Viorel agiert aus der Deckung heraus; sein prüfender Blick, sein Innehalten in der Bewegung und seine präzisen Ansagen sind fast zwanghaft auf Kontrolle aus. Sie zeugen von einer tiefgreifenden Unsicherheit und dem Gefühl einer existentiellen Differenz zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit, durch die sich Viorel manchmal bewegt wie ein großes, tapsendes Baby. Sein wunderlicher Blick ist sich selbst ungewiss und zeugt von einer schwankenden Identität. Ebenso vage muss aber auch das bleiben, was wir von Viorel wissen können, der einmal als „großer Sanfter“ bezeichnet wird und der im Verlauf der Handlung vier Menschen ermordet. Bei seinem Geständnis der Taten gibt er bezüglich seiner Motive zu Protokoll, dass die Komplexität von Beziehungen durch das System der Rechtsprechung nicht erfasst werden könne. Der Einzelne, der sich selbst nicht kennt, empfindet sich hier demnach als Opfer einer diffusen Ordnung, gegen die er vergeblich anrennt. Dazu sagt Cristi Puiu in besagtem Interview: „Wir sind weit davon entfernt zu verstehen, was wir auf dieser Erde machen. In ‚Aurora‘ geht es in erster Linie auch darum.“

Movie 43

(USA 2013, Regie: Elizabeth Banks, Steven Brill, Steve Carr, Rusty Cundieff, James Duffy, Griffin Dunne, Peter Farrelly, Patrik Forsberg, James Gunn, Bob Odenkirk, Brett Ratner, Jonathan van Tulleken)

Dauersack!
von Harald Mühlbeyer

Steht nicht geschrieben in einer apokryphen Offenbarung: „Und es werden herniedergehen die großen Sterne und sich wandeln in glimmenden Mist, und es wird sein eine Komödie ohne Lachen, die da …

Steht nicht geschrieben in einer apokryphen Offenbarung: „Und es werden herniedergehen die großen Sterne und sich wandeln in glimmenden Mist, und es wird sein eine Komödie ohne Lachen, die da aber wird erzeugen Heulen und Zähneklappern, und ihr verfluchter Name wird sein ein Zeichen, das ist Dreiundvierzig“?

Wer „Movie 43“ kennt, weiß, dass dieser ein Vorzeichen des Jüngsten Gerichts sein muss. Vergesst Mayakalender und Sektenfirlefanz: Wenn Hollywood eines seiner Urversprechen nicht einfach nur bricht, sondern völlig ignoriert, ist der Welt Ende nahe. Richard Gere, Kate Winslet, Hugh Jackman, Halle Berry, Emma Stone, Gerard Butler, Kate Bosworth, Liev Schreiber, Naomi Watts, Seann William Scott, Uma Thurman, Johnny Knoxville, Elisabeth Banks, Justin Long, Emma Stone, Christopher Mitz-Plasse, Chloë Grace Moretz – und das sind noch nicht mal alle, die hier mitmachen. Eine der größten Filmbesetzungen aller Zeiten – in einem der miesesten Streifen seit jeher. Sollten nicht große Namen garantieren, zumindest für gute Unterhaltung? Was haben die Produzenten in der Hand gegen diese Stars, sie zum Mitmachen zu erpressen? Wurden sie trunken gemacht, um ein krakeliges Kreuz unter einen Vertrag zu setzen? Sind es nur Doubles, computergenerierte Roboter? Oder ist tatsächlich ihr Urteilsvermögen im Arsch?

Der Film will orientiert sein am „Kentucky Fried Movie“; entsprechend episodisch sind die einzelnen Szenen angelegt, inszeniert jeweils von einem anderen mehr oder weniger prominenten Regisseur (unter anderem Brett Ratner, der ja sowieso noch nie was Gescheites hingekriegt hat). Eine Parade von Filmchen, von denen nur einer als Sketch zu erkennen ist, ein Speed-Dating von Robin, der stets von Batman auf alberne Weise gestört wird, bis beide eine Bombe des Pinguins entschärfen und einen bösen Komplott um Supergirl bzw. dem Riddler auf die Spur kommen. Witzig ist es nicht, aber immerhin ist ein Bemühen erkennbar. Regie führte James Duffy, der eine Art Sequel/Remake schuf seines vorherigen Kurzfilms „Robin’s Big Date“.

Das Date ist ein sich wiederholender Standard, die erste Szene ist symptomatisch: Kate Winslet beim Blind Date mit Hugh Jackman, begehrter Junggeselle der High Society – gesegnet mit Hoden am Hals. Ja: Dort hängt sein fieser, labbriger, unansehnlicher, mit einer hässlichen Zierleiste versehener, haariger, mit gekrausten, mit gekrüllten, mit abgeknickten Haaren gespickter, faltiger alter Dauersack, mit Eier drin und Sacksuppe: Das ist der krasse Gag der Episode, hahaha! – nein, witzig ist das nicht. Regie führte Peter Farrelly, der ja schon seit vielen Jahren im tiefen Loch sitzt.

Solcherart ist das Grundmuster vieler der „Sketche“ – irgendeine Unsinns-Voraussetzung, die breitgetreten wird, ohne dass sich irgendwas darauf aufbauen würde. Anna Faris bittet ihren Freund, der ihr gerade einen Heiratsantrag machen will, sie aus Liebe vollzukacken. Im Supermarkt beschimpfen sich zwei Liebende mit sexuell aufgeilenden Anzüglichkeiten, direkt ins eingeschaltete Kassierermikrophon rein. Johnny Knoxville hat für Seann William Scott zum Geburtstag einen Gerard-Butler-Kobold gefangen, um an einen Goldtopf zu kommen, Chloë Grace Moretz bekommt als 13jährige beim Teenagerdate ihre erste Periode und keiner weiß damit umzugehen. Komische Fallhöhe? Fehlanzeige.

Regie bei der Menstruationsszene führte die Schauspielerin Elisabeth Banks, die auch in der letzten Episode von James Gunn mitspielt: Darin wird sie von der pumucklartig in den Film gezeichneten Comickatze Beezel gehasst, dem Lieblingstierchen ihres Freundes. Gunn hatte zuvor die Superheldenpersiflage „Super“ gedreht, und wie er damals schlichtweg zu spät kam, nach „Kick-Ass“, wirkt auch sein Beezel-Film wie ein eher öder Nachklapp zu „Ted“.

Zusammengehalten wird alles von einer Art Rahmenhandlung um doofe Teenager, die im Internet nach dem mysteriösen „Movie 43“ fahnden, und es ist nur gequälte Selbstironie, wenn es von diesem Film im Film heißt, wer ihn sähe, verliere diverse Gliedmaßen und seine Eingeweide. Denn genauso wirkt der gesamte verdammte Film auf der Leinwand, wenn man seine Augen nicht rechtzeitig auf Durchzug stellt. Dieser Internetfilm „Movie 43“ im Film „Movie 43“ löst übrigens den Weltuntergang aus. Also machet euch bereit, das Ende ist nahe!

Zero Dark Thirty

(USA 2012, Regie: Kathryn Bigelow)

Jagdfieber
von Ulrich Kriest

Eigentlich ist das ja eine hübsche Pointe, wenn Kathryn Bigelow und der Drehbuchautor Mark Boal in Interview zu „Zero Dark Thirty“ erzählen, dass das Filmprojekt über die Jagd auf Osama …

Eigentlich ist das ja eine hübsche Pointe, wenn Kathryn Bigelow und der Drehbuchautor Mark Boal in Interview zu „Zero Dark Thirty“ erzählen, dass das Filmprojekt über die Jagd auf Osama Bin Laden schon in trockenen Tüchern war, als der im Mai 2011 im pakistanischen Abbottabad von einer US-Spezialeinheit gestellt und hingerichtet wurde. War das ein Happy End? Wohl kaum. Eher eine nationale (internationale?) Triebabfuhr mit Zeitverzögerung. Wer erinnert sich nicht an das berühmte Foto von Obama, Hillary Clinton und anderen aus dem Stab, die gebannt den Live-Stream des Militäreinsatzes verfolgen? Dieses Bild fehlt übrigens in „Zero Dark Thirty“, weil das Gezeigte nicht auf der Ebene des Politischen verhandelt werden soll. Dazu später mehr.

Am Anfang steht das Menetekel von „9/11“, mit dem Kathryn Bigelow ihren Film „Zero Dark Thirty“ eröffnet. Die Leinwand bleibt schwarz, aber man hört die Stimmen der Opfer des Terroranschlages aus der Luft. Stimmen voller Angst und Verzweiflung, Menschen, wissend, dass sie diesen Morgen nicht überleben werden. Als Präsident Bush damals unmittelbar nach den Anschlägen vor die Fernsehkameras trat, versprach er der traumatisierten Nation: „We’ll hunt them down!“ So, als sei das Ganze ein alter Indianerfilm, ein böser Traum. Aber nichts anderes als die geduldige, von Rückschlägen nicht zu erschütternde Einlösung dieses Versprechens, die Jagd auf Osama Bin Laden bis hin zur Nacht seiner Exekution durch eine Spezialeinheit in Pakistan, zeigt Bigelows Film – und ist doch zugleich das verstörende Psychogramm einer jungen CIA-Agentin, die von dieser Jagd geradezu besessen scheint.

Die Energie, die vom traumatischen Vorstellungskomplex „9/11“ ausgeht, reicht für eine lange, mühsame, aber ausdauernde Jagd, die gleichwohl gegen die wechselnden Moden und Opportunismen der Politik behauptet werden muss. Und gegen die kontrapunktisch eingesetzten Terroranschläge von Al-Qaida, die die Ermittlungsarbeiten strukturieren und vor allem eine ständige, nie nachlassende Gefahr beschwören, die von diesem Terrornetzwerk ausgeht: Madrid, London, Bali, Islamabad.

Nachdem ein paar Freunde und Mitarbeiter Mayas bei einem aberwitzig in Szene gesetzten und auch aberwitzig naiv geplanten Kontakt mit einem Informanten Opfer eines Selbstmordanschlages wurden, wird die ganze Angelegenheit fast schon zu einem persönlichen Feldzug, wenn Maya äußert, es sei vielleicht Schicksal, dass sie dem Anschlag entging, weil sie »die Sache« zu Ende bringen solle. Doch solch »kritische«, weil sentimentalen Momente gönnt sich der Film nur selten. Zumeist zeigt Bigelow die Arbeit der Geheimdienste unterkühlt als hoch professionell: man überwacht, sammelt Daten und Fakten, wertet aus, stellt Zusammenhänge her, geht Spuren nach, bringt Ordnung in ein Chaos von Informationen.

Und Bigelow zeigt auch: genau, die CIA foltert, um an Informationen zu gelangen und tötet als Konsequenz dieser Informationen; in verschiedenen Ländern unterhält man Geheimgefängnisse, in denen man Menschen verschwinden lassen kann. Vieles, was in den Jahren des „War against Terror“ zum Skandal wurde und vielleicht noch werden wird, wenn es denn überhaupt an die Öffentlichkeit kam oder kommt, wird von Bigelow ganz nüchtern registriert. Menschenrechte sind in Kriegszeiten etwas Relatives und Verhandelbares. Man kann diese Nüchternheit des Film als Indifferenz kritisieren.

Die Filmemacherin sagt von sich, sie habe keine Agenda gehabt, nur ihre Recherche – und ein paar Informationen aus erster Hand. Tritt der Film deshalb mit journalistischem Anspruch auf? In den USA wird „Zero Dark Thirty“ heftig kritisiert, weil man dem Film vorwirft, er legitimiere Folter, weil die Informationen, die durch Folter geschöpft worden seien, letztlich zur Liquidation Bin Ladens geführt hätten. Tatsächlich aber führen Informationen, die im Chaos der ersten Tage nach „9/11“ untergingen, zum Versteck von Bin Laden. Also: warum wird in „Zero Dark Thirty“ dann so ausgiebig gefoltert? Weil ausgiebig gefoltert wurde? Eine Gespensterdiskussion, die den Film grundsätzlich verfehlt, weil hier nichts legitimiert oder kritisiert wird.

Weit interessanter als die Beantwortung dieser Frage ist die Figur der manischen Jägerin Maya, gespielt von Jessica Chastain, die in ihrem Habitus fast an eine mythische Westernfigur erinnert (oder an Kapitän Ahab!) und die, als die Jagd endlich beendet ist, fassungslos ins Leere blickt und in Tränen ausbricht. Man kann diese Schlusspointe individualpsychologisch interpretieren – oder politisch. Ersteres scheint ein wenig vermessen bei einer Figur, die keine Geschichte (und eigentlich auch keine Gegenwart) hat; letzteres scheint eine interessante Gewichtung: Denn die Fixierung auf einen allmächtigen Bösewicht, der als Gegenüber fungiert, entspricht längst nicht mehr der nicht-hierarchischen rhizomartigen Vernetzung des globalen Terrors, sondern, eben, der Dramaturgie eines Indianerfilms.

In diesem Sinne wäre der groß angelegte Showdown von Abbottabad im Mai 2011 im dritten Abschnitt des Films eine verquere militaristische Farce, in der ein Spezialkommando mit großer Professionalität eine heikle Mission erfolgreich durchführt – und letztlich doch die Struktur des internationalen Terrors verfehlt, ja, verfehlen muss. „Zero Dark Thirty“ zeigt auch diesen ernüchternden Befund, der keinerlei Pathos oder Genugtuung zulässt, sondern eigentlich ein Scheitern aus politischer Kurzsichtigkeit konstatiert. So ist der Film ein durchaus temporeicher, spannender, fast schon dokumentarischer, aber vor allem höchst unbequemer Polit-Thriller voller unangenehmer Wahrheiten und politischer Ambivalenzen, dessen Einschätzung letztlich dem einzelnen Zuschauer und seiner politischen oder moralischen Haltung überlassen bleibt.

Diese fehlende Eindeutigkeit mag man bedauern, aber zugleich ist diese Offenheit ein Indiz dafür, dass Bigelow zumindest in einem Punkt irrt, nämlich wenn sie behauptet, ihr Film sei unpolitisch. Das Gegenteil ist der Fall. Dass eine Frau im Zentrum des Films steht, ist nicht neu im Werk Bigelows („Blue Steel“), für Profis hatte sie eh schon immer ein großes Herz („Tödliches Kommando“). Zumal, weil sie selbst das Image des toughen Tomboys, die gerne Genrefilme dreht, vor sich her trägt. Dazu passt der anti-bürokratische Zug von „Zero Dark Thirty“, wenn Maya sich bei ihrer Jagd durch wechselnde politische Großwetterlagen gestört fühlt. Wenn Obama einmal davon spricht, exterritoriale Gefängnisse schließen zu lassen, dann wirkt das aus Mayas Perspektive, die die Perspektive der Geheimdienste ist, bestenfalls unprofessionell.

Viel wichtiger ist jedoch der Respekt, den die Männer vom Einsatzkommando, die den Fall „Bin Laden“ abschließen werden, ihr, die sich selbst einmal als „motherfucker“ bezeichnet, entgegenbringen. Profis unter sich! Und vielleicht, weil die Geschichte ihr ins Drehbuch gepfuscht hat, hat Kathryn Bigelow ihren Film nach den Kapiteln „Folter“ und „Ermittlung“ um den Teil „Hinrichtung“ ergänzt, gefilmt durch schicke Nachtsichtgeräte, obwohl der Triumph am Schluss doch mehr als schal ausfällt. Action-Shoot-outs mit Spezial-Einsatzkommandos und Helikoptern bringen die Welt nicht mehr in Ordnung. So zeigt „Zero Dark Thirty“ 2013, dass George W. Bush 2001 irrte, als er glaubte, mit der Logik Hollywoods auf den Terror antworten zu wollen. Die Hinrichtung Bin Ladens ist schlicht ein Fehlschlag, der auch nicht dadurch camoufliert werden kann, dass man die Leiche im Indischen Ozean verschwinden ließ. Die Zeit der Super-Gangster ist vorbei. Als Maya das erkennt, hat sie ein Drittel ihres Lebens in die Jagd investiert. Diagnose: Burn-out (einer Nation).

Yossi

(ISR 2012, Regie: Eytan Fox )

Eine Liebe erblüht
von Dietrich Kuhlbrodt

Das Sequel zum Militärfilm „Yossi und Jagger – eine Liebe in Gefahr“ (damaliger Verleihtitel). Vor zehn Jahren hatte der Film Aufsehen erregt: eine schwule Liebe zwischen Oberleutnant Yossi und Leutnant …

Das Sequel zum Militärfilm „Yossi und Jagger – eine Liebe in Gefahr“ (damaliger Verleihtitel). Vor zehn Jahren hatte der Film Aufsehen erregt: eine schwule Liebe zwischen Oberleutnant Yossi und Leutnant Jagger, beide im Waffenrock und in Feindesland (Libanon). Der Darsteller des jungen Jagger war damals Teenieschwarm gewesen. Leider hatten die heißen-Küsse-im-kalten-Schnee ein jähes Ende gefunden, als im Libanon eine libanesische Mine explodierte.

Yossi (Ohad Knoller), um gefühlte Jahrzehnte gealtert, ist 2012 Oberkardiologe, aber von damals schwer traumatisiert. Mürrischer Single (Eigenbrötler). Abends macht er sich Nudeln und holt sich vor dem Monitor einen runter. Ein Fehler beim Sten-Einsetzen am offenen Herzen! Sauerstoff! „Patient, hören Sie mich??“ – Wir sind im Arztfilm der TV-Serien, aber das wird sich ändern.

Dem Yossi wird vom Chef eine Auszeit verordnet. Im Liegestuhl am Roten Meer liest er Thomas Mann, Tod in Venedig. Schon wird er von einem hübschen Boy angemacht, Tom (Oz Zehavi). Der junge Soldat urlaubt dort mit seinen Kameraden. Er, jünger als der leider tote Jagger, umgarnt und umgirrt den Älteren. Wenn dieser Mahler hört, weiß der Junge, dass es sich um Gustav handelt. Zwischen denen muss es was werden.

Es hilft ein nächtliches Nacktbad sowie eine Nacht im Hotelbett. „Wir bleiben hier für immer“, sagt der Kardiologe. Auf der unterhaltsamen Tonspur wird von Zwölfjährigen geschwärmt: „Twelve years old in your mamas clothes“. Auch ertönt der Song „Men of Israel“ sowie „Love Boy“ und „Will you love me tomorrow“, und aus ist der Film. „Yossi – eine Liebe erblüht“ müsste der Verleih ihn betiteln.

Aus dem Arztfilm vom Anfang ist eine schwule Schmonzette im Stil von Wie-angle-ich-mir-einen-Millionär geworden. Dazu gehört die Macho-Perspektive auf Jungs, die nichts anderes wollen, als an den Mann zu kommen. Schade eigentlich für den kleinen Soldaten, der als offen Schwuler in seiner Heteroclique super eingebunden ist. Die Cliquenszenen sind schauspielmäßig das Beste am Film. Sie geben immerhin dem Dialog die Gelegenheit, das Heimlichgetue von „Yossi und Jagger – eine Liebe in Gefahr“ zu revidieren. Die einladende Botschaft im Sequel heißt: „Die Armee akzeptiert jetzt Schwule'.

“Yossi“ ist Altmännerphantasie-vorm-Monitor – plus eingestreute deutsche Hochkultur. Die schlicht gestrickte TV-Dramaturgie und die platten Dialoge lassen das Filmende nicht nur voraussehen, sondern – sorry, Tom, natürlich bist Du schwer attraktiv! – geradezu ersehnen.

PS. Bin ich zu streng? Vermies ich Tom-Tadzios bezauberndes Spiel, einen verblockten alten Mann in Wallung zu bringen? Oder hab ich nicht wahrgenommen, dass der junge Soldat sich dienstleistend eines psychisch Geschädigten annimmt? – Antwort: all das und noch viel mehr könnte sein. „Yossi“ stellt jedoch keine Fragen. Yossi geht’s nur um Yossi.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret

The Impossible

(ESP / USA 2012, Regie: Juan Antonio Bayona)

Dabei sein ist alles!
von Louis Vazquez

Ob Porno, Horror- oder Katastrophenfilm: Film ist grundsätzlich auf die Schaulust der Zuschauer angewiesen. Umso interessanter, wenn ein Werk als „true story“ verkauft wird, denn wie die Ejakulation im Porno …

Ob Porno, Horror- oder Katastrophenfilm: Film ist grundsätzlich auf die Schaulust der Zuschauer angewiesen. Umso interessanter, wenn ein Werk als „true story“ verkauft wird, denn wie die Ejakulation im Porno sollen ja auch die inszenierten Gefühle wirklich so stattgefunden haben, was die Anteilnahme verstärken dürfte. Nachdem der Vorspanntext von „The Impossible“ ein paar Eckdaten zum verheerenden Tsunami vom 26.12.2004 in Erinnerung gerufen hat, der weit über 200 000 Menschen in Südostasien das Leben kostete, verschwinden nach und nach alle Worte von der Leinwand, bis nur noch die Beteuerung der Wahrhaftigkeit übrig bleibt. Eine seltsam energische Beschwörung von Echtheit, die zunächst nur kurz irritiert. In den folgenden zwei Stunden bestätigt sich allerdings die dumpfe Vorahnung, dass hier noch aufdringlicher als üblich mit großen, wahren Gefühlen hausiert wird.

„The Impossible“ erzählt vom Schicksal einer Touristenfamilie: Maria (Naomi Watts) und Henry (Ewan McGregor) verbringen mit ihren drei Söhnen Weihnachten in einem thailändischen Ferienresort. Der Tsunami reißt die Familie auseinander. Maria, Henry und die Kinder irren in zwei Gruppen durch die zerstörte Landschaft, verpassen sich einmal knapp und haben am Ende das Glück, sich wieder in die Arme schließen zu können.

Man könnte glauben, der Titel des Films sei im Bewusstsein gewählt worden, dass die Darstellung einer realen Katastrophe, die noch nicht allzu lange zurückliegt, gewisse Probleme bereitet und sich deshalb bei der Inszenierung womöglich die Frage gestellt hat, was denn wie darzustellen wäre. Vielleicht hat man darüber nachgedacht, an welchen Stellen man distanziert bleibt, welche Ereignisse man verfremdet, abstrahiert oder besser gar nicht zeigt. Doch der Film zeugt nicht eben davon, sondern setzt ganz und gar auf Affekterzeugung durch naturalistisches Re-enactment, mit erstklassigen Effekten und vielen nachgeweinten Tränen. Regisseur Juan Antonia Bayona, bekannt vor allem für seinen Schauerfilm „Das Waisenhaus“ (2007), versteht sein Handwerk vor allem wenn es um emotionale Thrills geht. Wie er das Beben und die herannahende Welle inszeniert, zeigt deutlich, dass er bei Spielberg (und vermutlich Emmerich) sehr genau hingeschaut hat. Wann es aber reicht mit dem Spektakel, das weiß er nicht, und deshalb fühlt man sich als Zuschauer bald nicht mehr überwältigt, sondern für dumm verkauft. Denn dass man auch ohne visuelle Steilvorlagen und aufdringliche Musik Mitgefühl entwickeln kann, scheint der Film nicht recht zu glauben und geht lieber auf Nummer sicher – doppelt und dreifach.

Mit subjektiven Bildern und dem entsprechenden Sounddesign rückt er dicht an die Opfer, die unter Wasser gedrückt werden. Er zeigt, wie das Geröll einem Kinderkörper blutige Wunden reißt, weil man sich das ja sonst offenbar nicht vorstellen kann. Das immerhin halbwegs schlüssige Konzept der Subjektivierung wird aber schnell wieder aufgeweicht, weil man unter Wasser leider nichts von der Welle sieht, die die Effektspezialisten doch so täuschend echt nachempfunden haben. Deshalb saust die Kamera immer wieder nach oben und fängt die Attraktion per Top Shot ein, sodass in Sachen Überwältigung keine Wünsche offen bleiben dürften. Hier wird das Unmögliche möglich gemacht.

Das Martyrium der Menschen – sprich: Touristen, denn Thais dürfen hier zwar als Helfer auftreten, stehen aber vor allem für ein Organisationschaos – zeigt der Film lieber etwas ausführlicher und gönnt immer noch einen zweiten, besser sogar dritten Blick auf die Details – etwa eine Wunde oder das Blut, das aus ihr ins schlammige Wasser spritzt. Gut gespielt werden die Angst und die Schmerzen noch dazu, sodass Naomi Watts sich womöglich einen Oscar erschrien und erwimmert hat. Sollte den drastischen Bildern indes die Hoffnung auf eine besondere dokumentarische Qualität zugrunde liegen, so scheitert dieser Anspruch an der Dramatisierung der Ereignisse. „The Impossible“ wirkt auf unerträgliche Weise melodramatisch, zugespitzt und so vereinfacht, dass die „wahre Geschichte“ zur Legitimation starbesetzter Exploitation verkommt. Dass der Film aus einer spanischen Familie Engländer macht um der besseren Vermarktung willen – geschenkt. Aber kam tatsächlich erst ein Touristenjunge auf die Idee, im Krankenhaus mit einer Namensliste durch die Zimmer zu gehen, um Vermisste wieder mit ihren Familien zusammen zu bringen, weil die Thailänder beim Krisenmanagement dermaßen überfordert waren? Möglicherweise ist diese Episode schon nicht mehr so true, aber schön gefühlig zu erzählen, und so wird die Geschichte zur Schmonzette, für die es kein Echtheitszertifikat gebraucht hätte, es sei denn, um ein wenig fester auf Tränendrüsen drücken zu können. Katastrophenfilmfans aber können aufatmen: Um sie zu versöhnen, wird der Alptraum einer Figur prompt als Gelegenheit genutzt, die Ankunft der Welle später im Film noch einmal in aller Pracht zu zeigen.

„The Impossible“ zeugt von Talent und Beflissenheit in den technischen Mitteln, ist aber ohne Maß und Bedacht inszeniert und wird deshalb zum perfekten Surrogat für Katastrophentouristen. Filmischer Realismus und Überwältigung können manchmal eben das grundfalsche Konzept sein.

Red Dawn

(USA 2012, Regie: Dan Bradley)

Nichts Neues an der Heimatfront!
von Ulrich Kriest

Gespannt sein durfte man auf dieses Remake des trivial-reaktionären Klassikers „Die rote Flut“, ist doch der Film von 1984 felsenfest im Freund/Feind-Denken einer längst obsolet gewordenen bipolaren Weltordnung verankert. Regisseur …

Gespannt sein durfte man auf dieses Remake des trivial-reaktionären Klassikers „Die rote Flut“, ist doch der Film von 1984 felsenfest im Freund/Feind-Denken einer längst obsolet gewordenen bipolaren Weltordnung verankert. Regisseur John Milius und sein Co-Drehbuchautor Kevin Reynolds hatten seinerzeit eine Invasion der USA durch Truppen aus Kuba und Nicaragua unter sowjetischer Führung fantasiert, die es einer Gruppe von Teenagern in Colorado erlaubte, ihre aus dem Vietnam-Trauma gezogenen Guerilla-Lehren subversiv einmal in der Praxis am überlegenen Feind zu erproben.

Zumindest rückblickend kann „Die rote Flut“ mit einem erstaunlichen Darsteller-Ensemble punkten. Für die Freiheit stiegen 1984 Patrick Swayze, C. Thomas Howell, Charlie Sheen und Jennifer Grey in den Ring, auch Harry Dean Stanton war damals mit von der Partie. Zudem überrascht der in jeder Hinsicht recht grob gestrickte Film durch die Volte, dass ein kubanischer Führungsoffizier Skrupel bekommt, den vom sowjetischer Oberbefehlshaber befohlenen Terror gegen die Bevölkerung zu exekutieren, weil er bislang stets auf Seiten von Unabhängigkeitsbewegungen kämpfte. Dem skrupellosen Russen war solch idelogischer Ballast egal, schon damals.

Man durfte also durchaus gespannt sein, welches Szenario das Remake entwerfen würde, um die Erfahrungen von 9/11 und den Kriegen im Irak oder Afghanistan in den bekannten Stoff zu integrieren. Doch „Red Dawn“ wurde nur halbherzig in der Gegenwart verortet: unbekümmert von realistischen Ansprüchen und jeder intellektuellen Anstrengung abhold, hat der Second Unit-Regisseur Dan Bradley nun tatsächlich nur eine fade Kopie des Originals abgeliefert. Nur, dass die Invasoren diesmal aus Nordkorea kommen und sich folglich den US-amerikanischen Nordwesten statt des Mittleren Westens ausgesucht haben.

Dort in der Provinz scheint das Leben stehen geblieben zu sein und kreist noch immer um Football und Familie. Angeführt von einem Ex-Marine mit Irak-Erfahrungen verwandeln sich auch 2012 weiße Middleclass-Teenager auf rasante Weise in opferbereite Guerilleros, die zwischen dem Ballern und Bomben markige Reden schwingen über ererbte Freiheit, die man zu verteidigen lernen muss. Einmal heißt es sehr schön, dass dieses Stück Land für die Invasoren nur „some place“, während es für die patriotischen Kids immerhin die Heimat sei. Ihr Partisanenkampf folgt der einfachen Strategie, die Okkupation für die Besatzer so blutig zu gestalten, dass ein Abzug der Truppe alternativlos sei. Derlei prägnante Oneliner sind mit einem unmissverständlichen Score unterlegt, der keinen Zweifel aufkommen lässt, dass hier mit keiner Ironie zu rechnen ist. Derart unverfroren wird hier mit rassistischen Untertönen – Verräter und Kollaborateure sind Afro-Amerikaner oder Menschen mit einem Rest von demokratischem Selbstverständnis – einem autoritären, anti-demokratischen Führerprinzip nebst bewaffneter Selbstverteidigung das Wort geredet, dass man „Red Dawn“ als filmische Antwort der Waffenlobby auf die jüngsten Massaker in den USA interpretieren möchte.

Für die jugendliche Zielgruppe – in den USA erhielt der Film ein „PG-13“ – wurde diese Geschmacklosigkeit mit ein paar Liebeständeleien und etwas Bruderzwist angereichert, vielleicht auch, um von den unterirdischen Darstellerleistungen abzulenken. Ursprünglich, der Film wurde bereits 2009 gedreht, war übrigens eine Invasion der Chinesen geplant gewesen, aber nachdem sich in China Proteste gegen diese Option regten, wurde im Verlauf der Post-Production auf Nordkorea umgestellt. Was immerhin dem Geist dieses Films entspricht: allem Freiheitspathos zum Trotz folgt die Ideologie der Ökonomie.

Crazy Horse

(F / USA 2011, Regie: Frederick Wiseman)

Kurven-Ballett
von Wolfgang Nierlin

Das Spiel der Verführung, als Kunst der erotischen Inszenierung verstanden, hat auf der Varieté-Bühne des berühmten Pariser Nachtclubs Crazy Horse eine lange Tradition. Seit der Gründung des legendären Revue-Theaters im …

Das Spiel der Verführung, als Kunst der erotischen Inszenierung verstanden, hat auf der Varieté-Bühne des berühmten Pariser Nachtclubs Crazy Horse eine lange Tradition. Seit der Gründung des legendären Revue-Theaters im Jahre 1951 durch seinen langjährigen Leiter Alain Bernardin wird hier die Verfeinerung sexueller Lust zelebriert. „Paroxysme“, „Désir“ oder auch ganz gewöhnlich „Baby Buns“ lauten etwa die frivolen Titel der einzelnen Programmteile. Tanzende junge Frauen mit makellosen Körpern bedienen im Crazy Horse sehr freizügig typische Männerphantasien, indem sie Geschichten erzählen von Lust und Begierde, leidenschaftlicher Liebe, Unterwerfung und Befreiung. Sie sind rivalisierende Raubkatzen im Käfig, Astronautinnen des Begehrens, Fische in einem illuminierten Aquarium, von schweren Seilen umschlungene Gefangene oder aber Soldatinnen der Erotik, die in Reih und Glied und Gleichschritt ihr Publikum erobern.

Das Besondere dieser erotischen Kurzgeschichten liegt aber in der visuell eindrucksvollen Inszenierung, die den geheimnisvollen Wechsel zwischen Nacktheit und Verhüllung in ein Spiel aus Licht, Farben und Formen verwandelt. Die Körper und ihre synchronen oder auch symmetrischen Bewegungen werden auf diese Weise modelliert und überhöht. Andererseits sorgen komplizierte Spiegeleffekte und reizvolle Schattenspiele für eine regelrechte Zerstückelung des weiblichen Körpers in seine erotischen Bestandteile. Der zerlegende Blick des Voyeurs wird so vorweggenommen, durch Prismen und optischen Täuschungen multipliziert und zugleich wieder aufgehoben. Dann verwandeln sich die kreisenden Körper entweder in ein obszönes Kurven-Ballett oder aber in abstrakte Landschaften aus Erhebungen und Vertiefungen.

In sehr ausführlichen Filmausschnitten dokumentiert der amerikanische Filmemacher Frederick Wiseman in seinem neuen Film „Crazy Horse“ diese gewagten und zugleich künstlich unterkühlten Inszenierungen. Wie schon in „La danse – Das Ballett der Pariser Oper“ blickt er aber auch hier hinter die Kulissen und zeigt mit scheinbar neutralem Blick die Arbeit der Techniker und Bühnenarbeiter, der Kostümbildner und der künstlerischen Leitung. Wir werden zu Teilnehmern von Proben, einem rigoros körperzentrierten Bewerberinnen-Casting, das die Natur der Sache mit der Würde der Frauen kontrastiert, und den engagierten Diskussionen des Choreographen Philippe Decouflé, der für Neuerungen kämpft. Geradezu intim wird der Blick, wenn wir den Frauen beim Frisieren, Schminken und Ankleiden zusehen können. Wiseman zeigt das kommentarlos, verzichtet dabei auf Interviews oder herausgehobene Einzelportraits, als verschwände er als Autor hinter seinem Material. Keiner bestimmten Absicht scheint sein Wechsel zwischen Vorder- und Hintergrund, Bühne und Kulisse, drinnen und draußen zu folgen. Er zeigt und beobachtet, was ist und wählt doch aus. Und so lösen sich aus dem a-chronologischen Strom der Bilder und in Analogie zu den fragmentierten Frauenkörpern immer wieder Details, die sich an anderer, späterer Stelle in ein größeres, flächigeres Bild, einen lineareren Zusammenhang einfügen.

Spring Breakers

(USA 2013, Regie: Harmony Korine)

Ficken, kotzen, Regeln brechen
von Dietrich Kuhlbrodt

Den Film zu gucken, ist ein krasses Rezeptionsabenteur. Er mutet zunächst als Collegefilm-ohne-College an. Einmal im Jahr schwärmen US-Amerikas Jungstudenten aus, um die Sau rauszulassen. In Florida. Ficken, ficken, fixen. …

Den Film zu gucken, ist ein krasses Rezeptionsabenteur. Er mutet zunächst als Collegefilm-ohne-College an. Einmal im Jahr schwärmen US-Amerikas Jungstudenten aus, um die Sau rauszulassen. In Florida. Ficken, ficken, fixen. Alk, Alk, Alk. Drogen, Drogen, Drogen. Kotzen, kotzen, kotzen. Regeln brechen (Das hatten wir auch mal. Aber die Regeln waren politische gewesen, und einen Bibelgürtel hatten wir nicht gehabt. Keinen richtigen jedenfalls). Was wir im Film sehen, ist eine brutale Funmaximierung. Bis zum Gehtnichtmehr.

Vier Mädchen machen sich auf nach Florida. Geld für die Reise? Ist nicht da. Was tun Fun-Süchtige? Pussy-Riot-Stoffmasken überziehen, Waffen in die Hand nehmen, einen Laden überfallen, randalieren, Geld abgreifen und den Fluchtwagen abfackeln.

Jubel! Ultimativer Spaß! Und dann der Sonnenuntergang in Florida. Mann! Ja, um Männer geht’s den Girls. Vielleicht mal ein feuchter Kuss zwischen Frauen, aber das kennt man ja. Was machts. Es geht zum Dreier. Beim Sonnenuntergang. Im Wasser. Der Fick ist züchtig, weil Regisseur Harmony Korine auf eine Unterwasserkamera verzichtet. Er hat irgendetwas vor mit seinem Film. Was? Die Dialoge fangen an zu nerven, so banal und dürftig wie sie sind. Sie wiederholen sich. Die Szenen wiederholen sich. Sie werden immer platter. Keine Außenaufnahme, ohne dass hinten die Sonne untergeht. Gefühlte Hundertmal (das muss eine Schweinearbeit gewesen sein, wie soll das gehen, wenn, wie üblich beim Filmedrehen, ein Take wiederholt werden soll?).

Hat Harmony eventuell Takes nicht wiederholt? Gut möglich. Denn viele Szenen muten dokumentarisch an. Und tatsächlich hat der Film bei Außenaufnahmen Zuschauer in turbulente Szenen einbezogen. Das fördert den authentischen Effekt der Fun-Explosion. Fun-Implosion wäre der bessere Ausdruck. Bloß dass der Film sich hütet, eine Botschaft zu verkünden. Er beschränkt sich strikt auf das Zeigen. Von Britney Spears ist die Rede. Aber das führt auch nicht weiter. Die Spears reduziert sich auf fun-mit-Sonnenuntergang.

Der Film endet mit dem Zerfall der 4-Mädchen-Gruppe. 2 fahren frustriert in Bussen-ohne-Sonnenuntergang nach Haus. 2 lassen sich von Macho-Gangsta James Franco (ex Spider Man; jetzt Silberzähne und Rastalocken) anheuern. Das sind die Zwei, die ihn zum Schluss abknallen – total cool. Tot liegt er auf der Fun-Brücke. Ende? Nö. Neue Version.

Er macht die Augen auf. Er guckt den Frauen nach. Die Kamera wird subjektiv. Sie sieht die Funmeisterinnen auf dem Kopf weggehen. – Da kommt filmästhetische Freude auf, gell? Momentmal, videoästhetische, wollte ich sagen. Und, ehrlich, macht es nicht Spaß, allmählich, beim Verfertigen der Filmwahrnehmung, eine spielfilmlange Hiphop-Ästhetik zu rezipieren? Bei Youtube sind die Dinger 6 oder 9 Minuten lang. Hier aber 90 Minuten. Und außerdem kann man mit gehörigem Rezeptions-Spaß das Entstehen dieser Ästhetik verfolgen.

Ich sah es jedenfalls mit Vergnügen, wie die Filmhandlung (das Narrative) ihre dominante Rolle verliert und Platz macht für allerlei Mutwillen, mit dem, was Kamera und Ton bieten können, zu spielen. Korine war, so sagt er, zum Initiationsritus nie nach Florida gefahren. Er war skater kid in New York gewesen, dort mit Skater-fun voll abgefüllt.

Mit „Spring Breakers“ hat er ein Rezeptionswunder geschaffen. Alle Voraussagen, auch meine, gehen dahin, dass der Film fiftyfifty als geile Fleischbeschau genossen werden wird (die Mädchen stehen nachts vor einer gelb beschienenen Mauer auf der Straße. In neongelben Bikinis. Links die Reklame von 'Cleaners': Free pick up and delivery). Oh Mann, ist das ein Ding. – Die andere Hälfte der Zuschauer wird in der Fun-Implosion eine Entlarvung des amerikanischen (natürlich des neoliberal gewollten) Konsumwahns sehen, der alles beseitigt, was nicht den Marktgesetzen dient. – Ich finde, es grenzt an ein Wunder, einen Film so doppelkompatibel hinzukriegen. In Venedig bekam er 2012 den Publikumspreis.

Ein Einzelfilm als Film, vielleicht. In der Musikvideoszene ist das kipplige Spiel nichts Außergewöhnliches. Meine Lieblingsgruppe HGich.T (heut geh ich tot) treibt ihr Spiel mit denen, die ich jetzt Grownup Breakers nennen müsste, – also mit denen, die die Regeln des Erwachsenwerdens genussvoll brechen. Macht das Spaß, in der Hauptschuhle (sic) Klopapierrollen ins Klo zu stopfen. Oh Mann, hätte ich auch machen können, damals. Ich könnte den Spaß jetzt nachholen. Aber der Spaß ist doch gänzlich sinnfrei! – Ja eben, er ist die pure Aufsässigkeit des Fünfzehnjährigen gegen gutes Benehmen.

Warum erzähl ich das jetzt? Weil es das kontinentaleuropäische Gegenbeispiel für die Exzesse des Florida-Funs in den USA ist. Die angebliche Aufsässigkeit der sogenannten Spring Breakers ist system- und konsumtechnisch gewollt. Die boys and girls bedienen sich der Angebote des Funmarkts und lassen sich ausnehmen.

Stimmt das aber, was ich behaupte? Jedenfalls dann, wenn man 'Infinite Jest' / 'Unendlicher Spaß' liest. Ich bin inzwischen auf Seite 904 angelangt und überzeugter Fun-Kritiker. Der Roman bringt die Marktgesetze des unendlichen Spaßes ins Spiel, ohne markige Worte und mitnichten explizit. An der Tennisakademie gucken die Jungs auch mal nach Kontinentaleuropa, Rat suchend. Oder gleich nach Kanada, wo es unendlich spaßig ist, vor einem heranfahrenden Zug die Beine auf die Gleise zu legen. Wer sie als letzter wegnimmt, hat gewonnen – und vielleicht die Beine ab. Dann gesellt er sich zur Terrorgruppe der Rollstuhlfahrer. Zu den Fun-Terroristen.

Aber das führt jetzt zu weit. In 'Spring Breakers' sind wir im Vorstadium. Hier ist es noch das Fun-System, das die Alleinherrschaft ergriffen hat. Und zwar indem es raffinierte, freilich auch übertriebene Verführungskunst entfaltet. Die vier Girls in aufreizenden Posen, in saugeilen Bikinis, dich frech fixierend, sie sind die Hingucker. Sie sind es für den Mann Harmony Korine! Hallo, Werbung! Hallo, Vorabendserie! Übrigens waren zwei der Girls vorher (bei Disney) Prototypen der Sittsamkeit, des korrekten American Girl – und nun das, der Bruch. Und ebendas gehört zum genialen Spiel des Films, über den Sprung hinaus, die Codes der Correctness zu brechen – nicht durch Behauptungen, sondern durch Hypercodierung.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 3/2013

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

The Sessions – Wenn Worte berühren

(USA 2012, Regie: Ben Lewin)

Die Eroberung der Sexualität
von Wolfgang Nierlin

Der amerikanische Journalist und Dichter Mark O’Brien (John Hawkes) lebt in seinem Kopf. Wegen einer Polio-Erkrankung ist der fast vollständig bewegungsunfähige Enddreißiger permanent auf fremde Hilfe angewiesen. Vor allem muss …

Der amerikanische Journalist und Dichter Mark O’Brien (John Hawkes) lebt in seinem Kopf. Wegen einer Polio-Erkrankung ist der fast vollständig bewegungsunfähige Enddreißiger permanent auf fremde Hilfe angewiesen. Vor allem muss der im kalifornischen Berkeley lebende Universitätsabsolvent, dessen Muskeln nicht arbeiten, viele Stunden des Tages in einer sogenannten Eisernen Lunge liegen, die ihm beim Atmen hilft. Doch trotz dieser schweren Behinderung besitzt Mark einen äußerst wachen Geist und eine feine Ironie, die ihm eine gewisse Reflexionsdistanz erlauben. Mit seiner „dynamischen Stimme“ in einem „schlaffen Körper“ klebe er „an der Unterseite der Existenz“. Als „zutiefst gläubiger Mensch“ und Katholik, der regelmäßig seinen Beichtvater Brendan (William H. Macy) aufsucht, glaube er „an einen Gott mit Sinn für Humor“. Wenn eingangs von Ben Lewins tragikomischem Film „The Sessions – Wenn Worte berühren“ eine an seinem Gesicht streifende Katze einen Juckreiz bei ihm auslöst, sagt, seine innere Stimme in beschwörenden Wiederholungen: „Kratz mit deinem Geist!“

Es ist diese aus dem Off erzählende Stimme, die von der Kraft der Phantasie angesichts des Ungleichgewichts zwischen Körper und Geist spricht; und die dem Film zugleich seine dichte Struktur gibt, indem sie in fließenden Übergängen ins On der Dialoge wechselt, unter denen die Beichte maßgeblich ist. Dieses leichtfüßige narrative Gleiten bewirkt immer wieder fast unmerkliche Sprünge in Zeit und Raum und implementiert so der authentischen Geschichte einen fiktionalen Flow. Denn der selbst im Alter von sechs Jahren an Kinderlähmung erkrankte Ben Lewin hat sich für sein Drehbuch zum Film neben Mark O’Briens ungewöhnlichem Leben vor allem von dessen Aufsatz „Treffen mit einer Ersatzpartnerin“ (On Seeing a Sex Surrogate) inspirieren lassen.

Diese Sitzungen mit einer Sexualtherapeutin (Helen Hunt), in denen Mark nach langen Jahren der Abstinenz endlich seinen Körper und seine Sexualität entdeckt, bilden den emotionalen Kern des Films. In Entsprechung zu Marks Direktheit, seiner Liebessehnsucht und seinen erwachenden sexuellen Wünschen inszeniert Lewin ungezwungen und mit natürlicher Offenheit Cheryls „Körperbewusstseinsübungen“. Behutsam und in kleinen Schritten hilft die zwischen beruflicher Reflexion, gespielter Lust und tatsächlichem Gefühl changierende Therapeutin ihrem Klienten Mark, seine kostbare Sexualität und damit auch körperliche „Vollständigkeit“ zu erfahren. Dafür muss der gelehrige Schüler, der zuvor die Erlaubnis des Priesters einholt, zunächst Angst- und Schuldgefühle überwinden. Dass die Eroberung der Sexualität auch für Nichtbehinderte nicht immer einfach und normal ist, zeigt der Film – quasi spiegelbildlich dazu – in kleinen, organisch eingefügten Streiflichtern. Die Verbindung von Sex, Imagination und Gefühl führt Mark O’Brien schließlich zu jener Liebe, die sein befreundeter Priester als eine Reise bezeichnet und die mit der „Vorahnung eines Seelenschmerzes“ verbunden ist.

Hannah Arendt

(D / F / LUX 2012, Regie: Margarethe von Trotta)

Gespenst mit Schnupfen
von Wolfgang Nierlin

Der Kontrast von Licht und Dunkelheit als Zeichen der Suche nach Aufklärung bestimmt den Prolog von Margarethe von Trottas neuem Film „Hannah Arendt“: Der Lichtkegel einer Taschenlampe, die nach der …

Der Kontrast von Licht und Dunkelheit als Zeichen der Suche nach Aufklärung bestimmt den Prolog von Margarethe von Trottas neuem Film „Hannah Arendt“: Der Lichtkegel einer Taschenlampe, die nach der Verhaftung des Kriegsverbrechers Adolf Eichmann durch den israelischen Geheimdienst Mossad auf einer Landstraße in der Nähe von Buenos Aires liegen bleibt; die aufleuchtende Flamme des Feuerzeugs, an dem sich die kettenrauchende Titelheldin ihre Zigarette anzündet; und die Lichter des nächtlichen New York, wo die jüdische Emigrantin eine neue Heimat gefunden hat und als Philosophie-Dozentin an der New School lehrt. Nach ihrer Flucht aus dem französischen Internierungslager Gurs sei ihr Amerika wie ein Paradies erschienen, sagt Hannah Arendt (Barbara Sukova) einmal zu ihren Studenten. Eine gewisse Unbeschwertheit und ein leichter Tonfall kennzeichnet dann auch die ersten Szenen des Films: Etwa die ironischen „Frauengespräche“ mit der Schriftstellerin Mary McCarthy (Janet Mc Teer), die immer wieder von der Sekretärin Lotte Köhler (Julia Jentsch) wegen eingehender Telefonate unterbrochen werden; das neckische Liebesgeflüster mit ihrem sinnlich-vitalen Ehemann Heinrich Blücher (Axel Milberg); oder auch die von angeregten Diskussionen bestimmten Hausgesellschaften des „Tribe“.

Stets steht die resolute Hannah Arendt unaufdringlich, aber nachdrücklich im Zentrum der Aufmerksamkeit dieses Portraitfilms, der titelgemäß die ganze Person meint und sich dafür auf einen Abschnitt ihres Lebens konzentriert. Dieses gewinnt dadurch eine schöne Plastizität. Als 1961 in Jerusalem der Prozess gegen Eichmann beginnt, reist Arendt als Berichterstatterin für den „New Yorker“ nach Israel. Was sie dort eindringlich beobachtet und später im gewissenhaften Studium ganzer Aktenberge von Gerichtsprotokollen analysiert, ist das eklatante Missverhältnis zwischen dem vorgeblichen Monster Eichmann im Glaskäfig, den traumatischen Zeugenaussagen der Opfer und der offensichtlichen Mittelmäßigkeit des Angeklagten. Dieser stellt sich dar als Bürokrat und gehorsamer Befehlsempfänger, als „Teilchen des Ganzen“ und als Gesetzestreuer ohne Schuld- und Verantwortungsgefühl. Nie habe er persönlich einen Juden verletzt. „Eichmann ist kein Mephisto“, sagt Arendt zu ihrem jüdischen Freund und Mentor, dem Zionisten Kurt Blumenfeld (Michael Degen), sondern „ein Gespenst mit Schnupfen“ und einer „grauenvollen Amtssprache“. Diese Unfähigkeit, sich durch Denken als kohärente, verantwortliche Person zu begreifen, kulminiert schließlich in jenem berühmt gewordenen Satz von der „Banalität des Bösen“.

Eine solche Vermenschlichung der ungeheuerlichen NS-Verbrechen, verbunden mit der tabuisierten Frage nach der Mitverantwortung der Judenräte, stößt nach der Veröffentlichung der Artikelserie „Eichmann in Jerusalem“ auf erbitterten Widerstand, offene Feindschaft und hasserfüllte Verleumdung. Margarethe von Trotta zeigt in diesen Passagen eine unbedingte Denkerin und kämpferische Frau, die sich der vorherrschenden Meinung nicht beugt, mit ihren Kontrahenten spannende Rededuelle führt und in einer ebenso mitreißenden wie bewegenden Rede vor Studenten und Professoren (von Kamerafrau Caroline Champetier und Cutterin Bettina Böhler hervorragend dynamisiert) ihre Sicht der Dinge verteidigt. Dieser unbeugsame Wille, durch leidenschaftliches Denken dem Verstehen näher zu kommen, bezieht die Regisseurin in wenigen, prägnanten Rückblenden auf Hannah Arendts Begegnung mit dem Philosophen Martin Heidegger (Klaus Pohl), der zu ihrem Lehrer und Liebhaber wird. „Denken ist ein einsames Geschäft“, doziert dieser. Es führe weder zu Wissen noch zu notwendigem Handeln. Dass Heidegger nach dem Krieg in einer Begegnung mit Arendt keine Erklärung für seine nationalsozialistische Verstrickung findet, macht diese Sätze so brisant. Denn der dunkle Schatten des Mitläufertums legt sich damit von der anderen Seite her eben auch auf den denkenden Menschen.

Das schlafende Mädchen

(D 2011, Regie: Rainer Kirberg)

Potenziell lehrreich
von Louis Vazquez

Filme, die fingiertes „Found Footage“ präsentieren, findet man seit geraumer Zeit vor allem im Horrorgenre, auch wenn gelegentlich ein origineller Superheldenfilm („Chronicle“), ein Komödienversuch über eine eskalierende Facebook-Party („Project X“) …

Filme, die fingiertes „Found Footage“ präsentieren, findet man seit geraumer Zeit vor allem im Horrorgenre, auch wenn gelegentlich ein origineller Superheldenfilm („Chronicle“), ein Komödienversuch über eine eskalierende Facebook-Party („Project X“) oder ein inkonsequent umgesetztes Polizeidrama („End of Watch“) dazukommen. Schade, dass ein Großteil der aufs Genre eingeschworenen Filmegucker wohl eher nicht auf „Das schlafende Mädchen“ aufmerksam werden wird, zumal das Label „Künstlerporträt“ sich für manche Ohren womöglich sogar abschreckend anhört. Dabei ist der Film alles andere als sperrig, sondern vielmehr höchst unterhaltsam und dazu eine ziemlich eindringliche Erfahrung.

„Das schlafende Mädchen“ spielt Anfang der 1970er Jahre im Umfeld der Düsseldorfer Kunstakademie und gibt sich konsequent als Videoprojekt des Beuys-Schülers Hans (Jakob Diehl) aus. Hans erforscht mit Hilfe des neuen Mediums den Raum, rückt sich immer wieder selbst ins störungsanfällige Schwarzweißbild und inszeniert sich. Er reflektiert und hinterfragt in experimentellen Sequenzen das Wesen der Kunst und diskutiert bei laufender Kamera mit seinem besten Freund Philipp (Christoph Bach) darüber. Mal ist die Kamera im Raum platziert, mal wird sie von Hans geführt, sodass seine Stimme nur aus dem Off zu hören ist. Und plötzlich entwickelt sich sogar eine Geschichte: Bei einer Aufnahme im Stadtpark gerät Ruth (Natalie Krane) ins Bild. Sie scheint im Park zu leben und weckt sofort Hans’ Interesse. Bald wird sie ihm zur Muse und zur Geliebten, zum Motiv und zum Kunstprojekt. Sie blüht dabei zunächst auf und beginnt, an der Akademie als Aktmodell zu arbeiten – was Hans freilich für keine so gute Idee hält. Auch mit Philipp versteht Ruth sich gut und sie wird immer unabhängiger von Hans, der selbst abends in der Disco nicht von seiner Arbeit, d.h. der Kamera, lassen kann. Er deutet Ruths Entwicklung als Flucht und Selbstbetrug: Für ihn soll sie doch bitteschön das verirrte Mädchen aus dem Wald bleiben und nicht zum „Glamour-Girl“ werden. Um sie in seine nicht mehr angemessene Vorstellung zu zwingen, wird Hans so manipulativ und verzehrend wie der Blick seiner Kamera, deren Einsatz längst einen obsessiven Charakter hat.

Rainer Kirberg, ehemals selbst Kunststudent in Düsseldorf, dürfte Cineasten vor allem wegen seines Films „Die letzte Rache“ (1980) ein Begriff sein, der die Ästhetik expressionistischer Stummfilme evozierte, gleichzeitig aber NDW-Stücke musicalartig in seine phantastische Erzählung einbettete – eine wohl einzigartige Begegnung. Auf den ersten Blick scheint „Das schlafende Mädchen“ visuell weniger auffällig, doch dieser Eindruck trügt. Hans, der hier an die Stelle des Filmemachers tritt, erweist sich schnell als ziemlich begabter und einfallsreicher Selbst- und Welterforscher – mit dem entsprechenden Hang zum Wahnsinn. Das Material hat er, so suggerieren achronologische Montagen später, zumindest zum Teil bereits in seinem Sinn arrangiert. Die Kamera entpuppt sich dabei auch als Machtinstrument eines autoritären Charakters, sodass neben zärtlichen und komischen Momenten dann doch auch der Horror ins Spiel kommt, wenn die Beziehung zu Ruth sich zwischenzeitlich zum grausamen Zweikampf entwickelt. Mit scheinbarer Leichtigkeit balanciert der Film die verschiedenen Elemente seiner Erzählung. So wird das fiktive Video-Relikt und Zeitdokument zum Künstler- und Kunstporträt und gleichermaßen zur Geschichte einer Amour Fou.

„Das schlafende Mädchen“, der bereits auf der Berlinale 2011 zu sehen war, ist ein ungewöhnlicher, bereichernder Film, der trotz seiner radikalen Form nie aufdringlich konstruiert wirkt, und der – obwohl potenziell lehrreich – nie didaktisch daher kommt. Dass die Figuren eindringlich, aber stets mit dem nötigen Maß gespielt werden und hier nichts manieriert oder affektiert wirkt, ist auch keine Selbstverständlichkeit. Gewiss einer der interessantesten deutschen Filme, die dieses Jahr zu sehen sein werden – in viel zu wenigen Kinos.

Marina Abramovic: The Artist Is Present

(USA 2012, Regie: Matthew Akers)

Performance-Kriegerin
von Wolfgang Nierlin

“Künstler müssen Krieger” sein, sagt die 1946 in Belgrad geborene Partisanen-Tochter und Performance-Künstlerin Marina Abramovic. Durch eine enorme Konzentrationsleistung, die dem schwachen Fleisch des Körpers geistige Stärke und Ausdauer entgegensetzt, …

“Künstler müssen Krieger” sein, sagt die 1946 in Belgrad geborene Partisanen-Tochter und Performance-Künstlerin Marina Abramovic. Durch eine enorme Konzentrationsleistung, die dem schwachen Fleisch des Körpers geistige Stärke und Ausdauer entgegensetzt, arbeitet sie mit „kommunistischer Disziplin“, so die serbische Performerin selbstironisch, an einer Veränderung des Bewusstseinszustandes. Indem sie sich innerlich „leer macht“ und „ganz auf die Gegenwart“ fokussiert, verschmelzen im öffentlichen Raum der Performance Kunst und Leben, wird die dabei erfahrene Zeit teilbar. Immer wieder rückt dabei der Körper, seine Nacktheit und Verletzlichkeit ins Zentrum. Dieser wird gewissermaßen zum Synonym für den dünnen Firnis der Zivilisation. Vor allem ihre „Relation Works“, die sie in den 1970er Jahren zusammen mit ihrem seelenverwandten Lebens- und Arbeitsgefährten Ulay realisierte, handeln auf verstörende Weise von dieser Grenzverletzung. Bewegungslos, stumm und fastend dokumentieren diese Performances nicht nur extreme Körperzustände, sondern auch spirituelle Kraft.

Als Konzentrat, Verdichtung und Zuspitzung dieser Erfahrungen lässt sich ihre Performance „The Artist Is Present“ verstehen, die sie vom 14. März bis zum 31. Mai 2010 im New Yorker Museum of Modern Art im Rahmen einer Werkschau und unter enormem Publikumsandrang aufführte. In dem fast mönchisch anmutenden Setting aus zwei Holzstühlen und einem Tisch (der später weggenommen wird) sitzt Marina Abramovic in einem wallenden, zwischen den Farben Rot, Blau und Weiß wechselnden Kleid täglich sieben Stunden, um mit ihrem intensiven Blick zum Spiegelbild für die jeweiligen Gegenüber zu werden; wobei sie diese mit jeweils gleicher, respektvoller Aufmerksamkeit betrachtet. Die Künstlerin fungiert auf diese Weise als Projektionsfläche für die Gefühle derjenigen, die ihren Blick suchen. Entsprechend emotional reagieren viele der Besucher, die in der Begegnung mit Abramovics Blick auf sich selbst zurückgeworfen werden.

Matthew Akers‘ Dokumentarfilm, der unter gleichlautendem Titel diese Performance sowie die monatelangen Vorbereitungen dazu dokumentiert, zeigt den merkwürdigen oder angesichts des Hypes auch bezeichnenden Kontrast zwischen theatralischem Spektakel und meditativer Versenkung, die beim faszinierten Publikum immer wieder aufmerksames Staunen und geradezu kathartische Reaktionen auslöst. Abramovic schaffe einen „charismatischen Raum“ und „visualisiere die Zeit“, erläutert Kurator Klaus Biesenbach dazu. Die Geschichte dieser oft schmerzlichen Body Art, verbunden mit Abramovics künstlerischem Werdegang, wird in zahlreichen historischen Filmschnipseln streiflichtartig beleuchtet, wobei die Zusammenarbeit mit Ulay einen gewissen Schwerpunkt bildet. Doch Akers geht es weder um Analyse noch Vertiefung oder gar kritische Distanz. Sein rasant montierter, teilnehmender und mit vielen Interview-Häppchen garnierter Film, der zudem von minimalistischer Musik in Endlosschleife unterlegt ist, zielt eher darauf, durch Nähe zum Gegenstand die künstlerische Suggestion zu verstärken. Der Mensch hinter der Kunst gewinnt dadurch nur wenig Kontur. Aber vielleicht muss man Abramovics Performance „The Artist Is Present“, wie Biesenbach meint, als Selbstportrait einer in die Welt verliebten Künstlerin betrachten.

Das Wochenende

(D 2012, Regie: Nina Grosse)

Familienaufstellung
von Dietrich Kuhlbrodt

Aufarbeitung der RAF-Vergangenheit in der Familie. Eine politische Familienaufstellung mit der Prominenz von Film und Fernsehen (Koproduzent ZDF). RAF-Mann Sebastian Koch verlässt nach 18 Jahren den Knast und nimmt in …

Aufarbeitung der RAF-Vergangenheit in der Familie. Eine politische Familienaufstellung mit der Prominenz von Film und Fernsehen (Koproduzent ZDF). RAF-Mann Sebastian Koch verlässt nach 18 Jahren den Knast und nimmt in einem ehemaligen Gutshaus Platz, jetzt edles Ferien- und Landhaus von Barbara Auer, gelegen im brandenburgischen Zerlow (Filmförderung Berlin-Brandenburg). Dort findet sich seine Ex ein, Katja Riemann, mit ihrem Neuen, Tobias Moretti, sowie sein Sohn, der äußerst aggressive Robert Gwisdek. Begrüßen können wir dort auch den alten Genossen Sylvester Groth und den reizenden Teenager Elisa Schlott.

Im gepflegten Landhaus sitzt die Familie zu Tisch und zofft sich. Die Dialoge sind ausgefeilt und gewichtig. Zwischen den Sätzen herrscht Stille. Nein, vage Klaviertöne füllen die Pausen, auch ein wenig Cello. Es wird bedeutsam. Ein Kammerspiel. Draußen schwärmen ständig Vögel hinweg. Was soll uns das sagen? Auf Erden Zoff, im Himmel Harmonie?
Identifizieren können sich sicherlich Riemann-Fans mit Riemann und so weiter. Aber auch mit der Rolle, die sie verkörpert? Steht die Prominenz im Weg? Egal. Wir wären dann in einem Starfilm. Sind wir aber am „Wochenende“ nicht. Problem: die Riemann kann sich nicht entscheiden zwischen Moretti und Koch. Exknacki Koch gefällt ihr vielleicht als verbiesterter Macho, der nichts weiter will, als sich an dem Mitglied der RAF-Familie zu rächen, das ihn damals verpfiffen hat. Wird ihm das gelingen? Wird dem Film gelingen, diese Frage für spannend zu halten? Beide Fragen sind schlussendlich zu verneinen. Katja Riemann entscheidet sich in den letzten Filmminuten. Sie entscheidet sich für sich, verlässt die Familie und geht ihres Weges; und der Zuschauer, denke ich, tut es ihr nach. Hallo, es funktioniert! Abspann!

Nun ist es nicht so, dass der Film im Upperclass-Ambiente nicht Atmosphäre, gar politische Einsicht vermittelt. RAF-Mann Koch muss sich anhören: Du bist heute Pop! Oder die Gegenthese: Ihr wart alle Killer! – Das gibt doch zu denken! Und dann liefert Sohn Gwisdek sogar blutige Action. Autoaggressiv gibt er der Fahrstuhlwand Kopfnüsse. Ich denke, so denkt einer, der in Berlin „politisch aktiv in der linken Szene“ ist, an seinen Vater. Sowas kommt von so was. Ist doch so. Kein Wunder, dass der junge Gewalttäter während der Familienaufstellung die Hand des Alten ergreift und auf den heißen Grill drückt, dass es nur so zischt. So sind eben die Linken. Andererseits muss man bedenken, dass vom RAF-Kampf heute durchaus was zu gebrauchen ist, denn „der Kapitalismus kollabiert“. – Recht so! Aber Nina Grosse (Regie und Buch) baut zum Ausgleich dann doch lieber eine ausführliche und körpernahe Sexszene ein. Zwischen Riemann und Koch. Hinkucker? Wegkucker? Muss jeder Zuschauer selbst entscheiden.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 4/2013

Der Geschmack von Rost und Knochen

(F 2012, Regie: Jacques Audiard)

Visuelle Drastik
von Wolfgang Nierlin

Ali (Matthias Schoenaerts) ist ganz in der Gegenwart und im Körper verankert. Direkt und ohne Umschweife geht er aufs Leben los. Seine animalische Kraft und unbändige Energie verlangt nach einem …

Ali (Matthias Schoenaerts) ist ganz in der Gegenwart und im Körper verankert. Direkt und ohne Umschweife geht er aufs Leben los. Seine animalische Kraft und unbändige Energie verlangt nach einem spontanen Ausdruck. Dabei reagiert er völlig instinktiv, unkompliziert und auf seine Weise klar. Dass er in seinem Fühlen unsensibel, naiv und mitleidlos erscheint, gehört ebenso zu diesem Charakter wie sein furchtloses, gewalttätiges Handeln. Ali ist einer jener hartgesottenen Typen, die ihr Leben als permanenten Kampf führen, als bewegten sie sich durch die Gesellschaft wie durch eine rohe, wilde Natur. Sein Mangel an ziviler Anpassung führt zu einer permanenten Verletzung der sozialen Grenzen und Codes, in die er eingeschlossen ist, ohne sie zu reflektieren. Ali ist wahr, tabulos und ungezwungen, weil sein Körper die Regeln nicht kennt.

Eingangs von Jacques Audiards Film „Der Geschmack von Rost und Knochen“ („De rouille et d’os“), einem ziemlich forcierten Liebes- und Sozialdrama, sieht man ihn zusammen mit seinem 5-jährigen Sohn Sam von Belgien aus an die Côte d’Azur reisen. Die beiden trampen, fahren im Zug, ernähren sich von Abfällen und mittels kleiner Diebstähle. Audiard filmt Bewegungen, akzentuiert den Atem und lässt die Körper sprechen. Bei Alis Schwester Anna angekommen, entfaltet der Film einen sozialen Raum aus miesen Wohnverhältnissen, schlecht bezahlten Jobs, Beziehungslosigkeit und elterlicher Vernachlässigung. Physisch direkt und mit musikalischem Kleister, der die Suggestionen markant dosiert, inszeniert Audiard Alis Neuorientierung. Bald darauf lernt dieser als Türsteher einer Diskothek mit Namen „L’annexe“ die attraktive Stéphanie (Marion Cotillard) kennen, die in eine Schlägerei verwickelt ist.

Stéphanie trainiert im Marineland von Antibes Orca-Wale. Doch die erste Szene, die sie bei der Arbeit zeigt, kulminiert gleich in einer schrecklichen Katastrophe, bei der sie beide Unterschenkel verliert. Auch im weiteren Verlauf der Erzählung arbeitet der französische Filmemacher immer wieder mit dramatischen Zuspitzungen, denen man nicht immer folgen will und deren Deutlichkeit oft von visueller Drastik flankiert wird. Nach dem Schock legen sich bei Stéphanie nur langsam schmerzliche Trauer und Entsetzen. Depressiv und einsam meidet sie das Licht, bis ausgerechnet Ali sie wieder in Kontakt bringt mit dem Leben. Er ermuntert sie zum Baden im Meer, begleitet sie in die Disco und beginnt mit ihr ganz unkompliziert, aber zunächst auch unverbindlich eine sexuelle Beziehung.

Offen und ungefiltert kontrastiert Jacques Audiard immer wieder Stéphanies Behinderung mit der sie umgebenden Realität und thematisiert dabei Vertrauen, Lebensmut und Versöhnung, die selbst noch den Wal einschließt. Doch bevor Ali, der in brutalen Kampfspielen seine Natur auslebt und dabei „dazuverdient“, die Flucht vor seinen Gefühlen aufgeben kann, muss er in der Logik des Films erst selbst zu einem Versehrten werden. Audiard strapaziert auf ambivalente Weise die Metapher der menschlichen Bestie, die nur gezähmt Heilung erfahren kann und dadurch zur Integration fähig wird. Die Mittel des Überwältigungskinos sind dabei seine nützlichen Assistenten.

End of Watch

(USA 2012, Regie: David Ayer)

Labyrinth des Verbrechens
von Michael Schleeh

Dem heute in Los Angeles spielenden Polizeifilm müssen neue Aspekte abgewonnen werden, wenn man nicht völlig altmodisch und redundant daherkommen will. „End of Watch“ versucht dies durch die Verwendung von …

Dem heute in Los Angeles spielenden Polizeifilm müssen neue Aspekte abgewonnen werden, wenn man nicht völlig altmodisch und redundant daherkommen will. „End of Watch“ versucht dies durch die Verwendung von found footage-Material zu erreichen, das sowohl mit einer Handkamera als auch mit zwei Mini-Kameras, die an der Bruststasche der beiden Cops angebracht sind, erstellt wurde. Diese Kameras sind nicht viel größer als ein Bleistift, sie sind völlig unauffällig und begleiten die Cops bei jedem Einsatz. Dieses nicht gerade brandneue stilistische Mittel soll dem Zuschauer die Selbsttäuschung ermöglichen, live und authentisch überall dabei sein zu können: ob das nun der Besprechungsraum auf dem Polizeirevier ist, der Streifenwagen bei der alltäglichen Routinearbeit, oder die Hochzeit des Kollegen, bei der volltrunken herumgealbert wird.

In „End of Watch“ geht es um die beiden „ghetto street cops“ Brian Taylor (Jake Gyllenhaal, der auch produziert hat) und Mike Zavala (Michael Peña), die in South Central L.A. Dienst tun, also einem der heißesten Pflaster der USA. Genauer: es geht um eine von nicht ganz ernst gemeinten Machismen geprägte Männer-Freundschaft vor dem Hintergrund des Polizeialltags. Denn die Einsätze, zu denen die Funkstreife gerufen wird, sind zumeist kleinere, gleichwohl schockierende Vergehen vor dem Hintergrund der noch viel schwereren Verbrechen, die stets im Schatten der nächsten Gasse lauern. Da legt man sich schon mal mit einem hühnenhaften Kerl an und boxt es aus. Oder hält aus Jux und Dollerei einen Wagen an, weil dessen freie Sicht durch eine vorm Rückspiegel baumelnde CD beeinträchtigt sei. So schreitet der Film voran, von Ereignis zu Ereignis, recht zusammenhanglos, und da wird schnell klar, dass es eben nicht um den großen Fall, den Skandal, den Serienkiller geht, sondern um die Freundschaft zweier Männer, die im Angesicht des Todes etwas so Banales wie „einfach nur ihren Job machen“. Mit viel Zynismus, Mut, und Mut zum Risiko, als Versicherung nur die schusssichere Weste und den Partner. Dass dann die erzählerische Crux des Films in der Destruktion dieser Freundschaft liegen muss, ist vorhersehbar.

Der Auslöser für die Katastrophe ist das zufällige Hineingeraten in die Machenschaften eines mächtigen Drogenkartells. Wenn man der Schlange auf den Schwanz tritt, so der schwer bewaffnete Mann von der dazu eilenden Spezialeinheit, wendet sie den Kopf und schlägt zurück. Jedoch, die Warnung scheint nicht richtig anzukommen bei den beiden. Es geht also um sehr ernste Dinge: Menschenhandel, Drogen, Waffen. Hier findet der generell recht spannende, kurz getaktete Film zu einigen sehr intensiven, emotional aufwühlenden Szenen. Und als sie sich bei einem weiteren Einsatz noch einmal mit dem Kartell anlegen, landen sie auf der Abschussliste und werden in einen Hinterhalt gelockt, aus dem ein Entkommen unmöglich scheint.

Da ist der Film aber schon beinahe vorbei. Auch hier wird der lebensgefährliche Einsatz wieder zum Prüfstein der Freundschaft, diesmal allerdings mit gravierenden Folgen. Und so bedrohlich der Film auf seinen Wegen durch das feindlich anmutende Stadtgebiet die ganze Zeit über wirkte, so trist endet es nun hier in einer stinkenden, schlecht ausgeleuchteten Hinterhofgasse. Dass der Film dann ganz am Ende noch einmal einen versöhnlichen Erinnerungshaken schlägt, dürfte jedoch nicht so gut ankommen. Und verweist auch noch einmal in aller Deutlichkeit auf eines der Probleme vieler dieser aus „Original-Material“ montierten Filme. Da die subjektive Perspektive nicht konsequent durchgehalten, sondern immer wieder mit Bildern einer klassischen Kameraführung angereichert wird, verschwimmt die klare Kontur der Autorschaft. Am Ende bleibt das Gefühl zurück, manipuliert worden zu sein, und so bringt sich der Film aufgrund formaler Unschärfen selbst um einen großen Teil seiner Wirkmächtigkeit. Nichtsdestotrotz ist „End of Watch“ ein testosteron- und adrenalingesättigter Powertrip am Rande der amerikanischen Nacht und ein Blick in das taghell schmerzhaft gleißende Labyrinth des Verbrechens eines unentrinnbaren Molochs.

Blank City

(USA 2010, Regie: Céline Danhier)

Live fast, film fast!
von Andreas Thomas

„I belong to the blank generation and I can take or leave it each time …” sang 1977 Richard Hell mit den Voidoids, zur Zeit der Initialzündung des Punk. Und …

„I belong to the blank generation and I can take or leave it each time …” sang 1977 Richard Hell mit den Voidoids, zur Zeit der Initialzündung des Punk. Und diese “Blank Generation” lebte in jener “Blank City”, dem heruntergekommenen New York der mittsiebziger Jahre, in abbruchreifen Häusern, die man z.B. noch zum Teil in Filmen wie „Taxi Driver“ oder „Permanent Vacation“ bewundern kann, Jim Jarmuschs erstem Spielfilm, in dem ein junger Mann meditativ durch Abbruchhalden schlendert. Jarmusch ist neben Susan Seidelman („Susan … verzweifelt gesucht“) oder Vincent Gallo („The Brown Bunny“) einer der wenigen übriggebliebenen bekannten Filmemacher aus der sogenannten „No Wave“-Zeit, und neben Amos Poe, John Waters oder Lydia Lunch kommentiert er für den Dokumentarfilm „Blank City“ von Céline Danhier unzählige Filmschnipsel, Ausschnitte aus zumeist Super8-Filmen oder Konzertausschnitte von Bands wie den Voidoids oder James Chance and the Contortions, denn die Darsteller und Regisseure in den Filmen konnte man seinerzeit auch genauso in einer Band finden, frei nach dem Motto: „Gitarre spielen kann ich auch nicht, also gründe ich eine Band.“

No Wave war eine radikale und einflussreiche künstlerische Bewegung, die sich zwar auf New York beschränkte, deren Wirkungsgeschichte sich aber bis heute nachvollziehen lässt. Ihre Wurzeln gehen auf Dada und Surrealismus zurück, sind nicht denkbar ohne William Burroughs oder Bob Dylan, in Andy Warhol und den Aktivitäten seiner „Factory“ bündeln sich ihre künstlerische Vorbilder; auf musikalischem Terrain standen sicherlich u.A. The Velvet Underground für das Pate, was sich Mitte der Siebziger in New Yorker Clubs wie dem relativ kleinen CBGB’s ereignete, wo sich plötzlich eine Häufung unbekannter, genialer Musiker begegnete: Blondie spielte nach Patti Smith, oder die Talking Heads vor den Ramones. Auf filmischem Gebiet orientierte sich die No Wave-Clique, in der quasi jeder mit jedem zu tun und zu arbeiten hatte, an John Cassavetes, dem „Erfinder“ des „Independent-Films“, sowie an den improvisierten Schmalfilmen von Andy Warhol, in denen jeder ein Star sein konnte, und die darauf achteten, dass darin niemand irgendwem vormachen wollte, er sei ein Schauspieler …

Musikalisch, cineastisch, gesamttkünstlerisch aber war die No-Wave-Bewegung wild entschlossen, der breiten und etablierten (Pop- und Kunst-)Kultur ihrer Epoche den Rücken zu kehren, und, wie alle wichtigen Strömungen in der Kunst davor, befreite sie dieses Rezept zu kreativen Prozessen von innovativer Nachhaltigkeit. Musikalisch folgte aus ihr Punk, New Wave, Independent et al., cineastisch etablierte sich mit ihrer Hilfe schließlich ganz das sogenannte Independent–Kino.

„Blank City“ fokussiert sich nun hauptsächlich auf den einen, den filmischen, Ausschnitt des Gesamtbildes, und allein die Filmproduktion jener Tage zwischen 1975 bis Anfang der achtziger Jahre, so lässt die Fülle des verwendeten Materials erahnen, muss so überbordend gewesen sein, dass ihr die Doku nur rudimentär gerecht werden konnte. Sekundenschnipsel von O-Material werden mit Oneliner-Voice-Over oder Sekundenschnipsel-Interviews aus dem Heute montiert, dass es eine Art ist und leider keine Ruhepunkte entstehen können. Dabei führt gerade die Menge des Was, also der Information (die nichtsdestoweniger fundiert und wertvoll ist), zu mangelnden Einsichten in das Wie. Wenn man von keinem der Werke der No-Wave-Macher auch nur wenig mehr als kurze Einstellungen zu sehen bekommt, dann gestaltet sich der Prozess des Nachvollzugs von Atmosphäre und/oder Stilistik etwas schwierig. So ist „Blank City“ dann doch eher ein informativer Film für Kenner der Szene geworden als ein Appetitmacher für Novizen.

Schlussmacher

(D 2013, Regie: Matthias Schweighöfer)

Der Rest ist Schweiger
von Ulrich Kriest

Ein Mann mit einer Mission. Paul Voigt begegnet wildfremden Menschen, um diesen zu erzählen, dass sie das große Los gezogen haben. Sie sind jetzt nämlich wieder solo und können sich …

Ein Mann mit einer Mission. Paul Voigt begegnet wildfremden Menschen, um diesen zu erzählen, dass sie das große Los gezogen haben. Sie sind jetzt nämlich wieder solo und können sich mal wieder so richtig austoben. In Zeiten, in denen die Geschäfte von Hochzeitsplanern gut gehen, ist es nur eine Frage der Zeit und der Phantasie, sich auch die wahrscheinlich etwas unangenehmere Dienstleistung vorzustellen. Paul ist ein Schlussmacher: im Auftrag seiner Agentur fährt er durch die Lande, beendet Beziehungen, verteilt ein kleines Trostpflästerchen und gibt schulterklopfend launig ein paar Tipps zur Krisenbewältigung. Aalglatt, professionell – und immer ein Lächeln auf den Lippen. Paul ist sehr erfolgreich in seinem Job, er steht kurz vor der tausendsten Trennung – und damit vor einem Karrieresprung.

Keine Frage: Matthias Schweighöfer hat sich bei seiner zweiten Regiearbeit erneut eine Rolle auf den Leib geschneidert. Spielte er in „What a Man“ noch den gebrochenen, beziehungsscheuen, nicht mehr ganz jungen Macho, der lernen muss, dass man sich als Mann nicht ändern muss, sondern lieber auf die richtige Frau wartet, so spielt er hier den traumatisierten, bindungsscheuen, nicht mehr ganz jungen Macho, der lernen muss, dass Liebe nichts für Feiglinge ist. Auch sonst gilt: Never change a winning team! Der Erfolg von „Schlussmacher“ an den Kinokassen scheint auch diesmal ausgemacht, denn Schweighöfer hält sich geradezu mimetisch an die sexistisch-sentimentalen Erfolgsformeln aus dem Hause Schweiger: hält man sich mit seinen Ansprüchen in Sachen Humor, Originalität und Handwerk etwas zurück, ist kommerziell erfolgreiches Unterhaltungskino hierzulande keine Zauberei.

„Schlussmacher“ erzählt von Pauls Lehrjahren des Gefühls, denn der ist seit der Trennung seiner Eltern traumatisiert, hält Abstand zu anderen Menschen und zahlt Gefühle nur in kleiner Münze aus. Sehr zum Bedauern seiner höchst attraktiven und ausgesprochen geduldigen Freundin Nathalie, die sich gar nicht zu wundern scheint, was für einen seltsamen Job Paul hat. Doch dieser Job ist natürlich eine Comedy-Steilvorlage: Wenn Paul die unfrohe Botschaft zumeist überraschend für sein Gegenüber vorbringt, ist Situationskomik die Regel. Da bestreitet die Cholerikerin schon mal cholerisch eine Cholerikerin zu sein und schlägt die Wohnung kaputt. Auch Thorsten, genannt Toto, reagiert auf die von Paul vorgetragene Botschaft seiner Freundin Katharina fassungslos, hält sich für ein Opfer der »Versteckten Kamera«. Doch dann will er sich, verzweifelt, umbringen – und nun hat Paul ein echtes Problem: einen Kindskopf mit großem Herzen an der Backe.

Wie es sich für ein Buddy Movie gehört, geht das ungleiche Paar auf eine Reise quer durch die Republik, deren pittoreske Locations zugleich Existenz- und Arbeitsbescheinigungen diverser Filmförderungsanstalten sind. Am Ende der Reise soll es Paul zum Teilhaber seiner Agentur gebracht haben. Reine Routine! Doch mit Toto im Gepäck ist an Routine nicht mehr zu denken; das Leben wird zu einem Abenteuerspielplatz voller »lustiger« Episoden. Wobei der Zuschauer schon ein ausgeprägtes Faible für abgedroschene Klischees, aufdringliches Product-Placement, abgestandenen oder pubertären Humor wie Furz-Witze oder Haarewaschen in der Toilettenschüssel, missglückte oder verschenkte Zitate aus transgressiven Hollywood-Komödien und Witze über Schwule, Lesben und fettleibige Frauen mitbringen sollte, um auf seine Kosten zu kommen.

Es gilt: Humor ist, wenn man trotzdem lacht, nicht mit, sondern über die Figuren, zumal das Team Schweighöfer und Milan Peschel (Toto) vor der Kamera durchaus funktioniert (allerdings scheinen die Sunny Boy-Manierismen Schweighöfers mittlerweile bloß noch routiniert und eindimensional: er spielt immer für die Galerie) und all die derben, teilweise strunzdoofen Scherze ja ohnehin nur die Zeit verkürzen, bis der Film die erwartbare sentimentale Keule auspackt. Wir erinnern uns: „Liebe ist nichts für Feiglinge!“ Toto, der nicht nur eine Nervensäge, sondern auch eine Seele von Mensch ist, bringt diese Formel ins Spiel und knackt damit die nur scheinbar harte Schale des alerten Geschäftsmanns Paul. Am Schluss heißt es dann mit John Paul Young besänftigend „Love is in the Air!“ und der miese Job in der Trennungsagentur ist Geschichte.

„Schlussmacher“ ist Dudelfunk auf der Leinwand, sein Publikum insgeheim oder auch mal geradeheraus verachtend und so ambitions-, lieb- und leidenschaftslos, als sei er im Autopilot-Modus gedreht worden, montiert aus Einfällen, die sich in den vergangenen vierzig Jahren auf dem Fußboden des Schneideraums angesammelt hatten. Dass er ein Erfolg mit Ansage werden wird, ist nur ein Symptom der Krise.

Winternomaden

(D / CH / A 2012, Regie: Manuel von Stürler)

Aus einer fernen Zeit
von Wolfgang Nierlin

In der Abenddämmerung wirkt die Schafherde wie ein schwarzes Band, das sich schier endlos durch die verschneite Winterlandschaft schlängelt. Es sind Bilder wie aus einer fernen Zeit, die Camille Cottagnoud …

In der Abenddämmerung wirkt die Schafherde wie ein schwarzes Band, das sich schier endlos durch die verschneite Winterlandschaft schlängelt. Es sind Bilder wie aus einer fernen Zeit, die Camille Cottagnoud für Manuel von Stürlers Dokumentarfilm „Winternomaden“ („Hiver Nomade') aufgenommen hat. Ihre Archaik kontrastiert immer wieder die Zivilisation, die nie ganz abrückt, doch wie ein fremdes Wesen die Wege der Hirten flankiert. Wenn etwa eingangs des Films das sanfte Getrappel der Schafe sich vom Verkehrslärm entlang einer Straße absetzt; oder wenn wiederum Autos von dem achthundert Leiber zählenden Herden-Körper umschlossen werden. Einmal hat eine moderne Wohnsiedlung, vom Hirten abschätzig „Disneyland“ bezeichnet, die Landschaft verändert; ein anderes Mal versperren Bauern, die sich um ihre Felder sorgen, feindselig den Weg. Doch das einfache Leben in der Natur, umgeben von Tieren, schafft immer wieder starke Gegenbilder als Quellen der Energie und Entspannung: ein einfaches Zeltlager am Waldrand; die Ruhe am wärmenden Lagerfeuer; ein Vollmond am bewölkten Nachthimmel; eine friedliche Morgenstimmung am Fluss.

Sein Beruf sei vom Aussterben bedroht, sagt der 54-jährige Hirte Pascal Eguisier, der sein Handwerk bei einem Bergamasker Schäfer gelernt hat und seit nunmehr 32 Jahren als passionierter Wanderhirte durch die Westschweiz zieht. Zusammen mit seiner jungen Kollegin Carole Noblanc, drei Eseln und vier Hunden bricht er auf zu einem Viehtrieb, der wie eine Reise anmutet, vier Monate dauert und der eine Wegstrecke von etwa 600 Kilometern umfasst. Unterwegs gibt es immer wieder Schwierigkeiten bei der Futtersuche, mit tiefem Gelände oder ausbrechenden Schafen. Auch lautstarke Konflikte zwischen dem forschen Pascal und der bretonischen Aussteigerin Carole bleiben nicht aus, die jedoch bald wieder versöhnlicheren Tönen weichen oder auch kleinen Neckereien. Mehrmals werden die beiden Schäfer auch zum Essen eingeladen, mal von Fremden, mal von Freunden. Doch bei aller kurzzeitigen Geselligkeit bleiben sie Abgeschiedene im Draußen, den Elementen der Natur ausgesetzt. „Ich bin überzeugt, irgendwo ist ein Beschützer, der uns leitet“, sagt Pascal.

Als teilnehmender Beobachter, ohne Kommentare oder Interviews begleitet Manuel von Stürler dieses Unterwegssein durch die Stimmungen der Natur, um das symbolische, religiös konnotierte Bild eines einfachen Hirtenlebens wiederzubeleben. Dabei geht es ihm sowohl um dessen „Schönheit und Reinheit“ als auch um „die ganze Komplexität“ und „harte Realität beim Führen der Herde“. Wie schon Erich Langjahrs thematisch verwandte „Hirtenreise ins dritte Jahrtausend“ beschreibt auch Manuel von Stürlers „Winternomaden“ alte Zyklen in neuer Zeit. Wenn im Verlauf des Viehtriebs die gemästeten Schafe sukzessive vom Patron fürs Schlachthaus abgeholt werden und so am Ende nur noch wenige Leittiere übrigbleiben, handelt der Film nicht nur vom Abschluss einer langen gemeinsamen Wanderung, sondern auch von einem wehmütigen Abschied zwischen Mensch und Tier.

Beasts of the Southern Wild

(USA 2012, Regie: Benh Zeitlin)

Philosophie des Fleisches
von Wolfgang Nierlin

Für die kleine, kindlich-weise Erzählerin Hushpuppy (Quenzhané Wallis) ist es „der schönste Platz der Welt“. Dabei sind die Lebensbedingungen in „Bathtub“, einer Bayou-Siedlung im Süden Louisianas, alles andere als anheimelnd: …

Für die kleine, kindlich-weise Erzählerin Hushpuppy (Quenzhané Wallis) ist es „der schönste Platz der Welt“. Dabei sind die Lebensbedingungen in „Bathtub“, einer Bayou-Siedlung im Süden Louisianas, alles andere als anheimelnd: Hier leben die Menschen in primitiven, heruntergekommenen Bretterbuden im gesellschaftlichen Abseits; sie sind verarmt und schlecht ernährt, umgeben von Wasser, Schrott und Dreck; und schon der nächste Sturm, der drohend über dieser Existenz aufzieht, könnte das wenige zunichte machen. Doch die täglichen Härten scheinen die verwegenen Bewohner gegen alle Unbill imprägniert zu haben. Wirklich hässlich sind für das 6-jährige Mädchen aber die Industrieanlagen jenseits des großen Damms, der von Hushpuppy als „Mauer“ und „Grenze“ bezeichnet wird. Damit ist zugleich der Antagonismus zwischen trockener und feuchter Welt benannt, den Benh Zeitlin und das Künstlerkollektiv Court 13 in der Einleitung ihres wild wuchernden Films „Beasts oft he Southern Wild“ als Hommage und Loblied auf die ausgelassene Lebenslust, pure Vitalität und unbändige Fröhlichkeit der „Bathtubianer“ inszenieren.

Doch nach dem Freuden-Feuerwerk kommt der Sturm, den Zeitlin als Vorbote einer globalen Umweltkatastrophe und Ausdruck einer „kaputten Welt“ versteht. Im Universum hänge alles miteinander zusammen, sagt Hushpuppy. Schon die kleinste Störung des Gleichgewichts könne zu irreparablen Schäden führen. Allerdings thematisiert Benh Zeitlin weder eine verfehlte Umweltpolitik noch zeigt er sich angesichts der amerikanischen Klassengesellschaft und dem eklatanten sozialen Gefälle zwischen Reichen und Armen als Kapitalismuskritiker – was man durchaus bedauern kann. Stattdessen akzentuiert er in seiner magisch-surrealen Endzeitvision einen ebenso bildgewaltigen wie kruden Sozialdarwinismus, eine Art Philosophie des Fleisches, die vom Recht des Stärkeren, vom Fressen und Gefressen-Werden bestimmt ist. Sehr amerikanisch nimmt sich darin als eine Art Selbstermächtigungsphantasie die Zucht zur Härte für den permanenten Überlebenskampf aus.

Denn darum geht es vor allem im Verhältnis der kleinen Hushpuppy zu ihrem zähen, aber herzkranken Vater Wink (Dwight Henry), einer unerschütterlichen Kämpfernatur. Selbst nach den Verwüstungen des Sturms behauptet er gegen das Offensichtliche, „alles unter Kontrolle“ zu haben. Entsprechend impft der unnachgiebige Erzieher seiner Tochter den notwendigen Überlebenswillen und den Mut zur Selbständigkeit ein. Zeitlin positioniert in seiner Bewunderung für die „zähesten Menschen Amerikas“ seine ebenso eigensinnigen wie aufrechten Protagonisten am Rande der Gesellschaft, ja beschreibt diese als einen wilden Stamm, der sich der Zivilisierung und Eingliederung widersetzt.

Bei aller Sympathie für unbeugsame Außenseiter, die auf ihrer Selbstbestimmung beharren, erscheint Zeitlins biologistische „Du bist ein Tier“-Weltsicht mit ihren ganzheitlichen Implikationen, gemessen an den sozialen Realitäten und ihren Erfordernissen, als politischer Eskapismus. Und auch wenn sein überbordendes, von märchenhaften Übertreibungen und phantastischen Zuspitzungen wimmelndes Bilder-Kino, das mit Laiendarstellern an realen Schauplätzen entstand, eigenwillig und echt, unverfälscht und unabhängig erscheint, so besitzt es doch auch jene, nicht zuletzt emotionalen Produktionswerte des Mainstreamkinos, die für beruhigende Wiedererkennbarkeit und Identifikation sorgen.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Das Venedig-Prinzip

(D 2012, Regie: Andreas Pichler)

Stadt als Beute
von Ricardo Brunn

Es ist ein Bild von monumentaler Größe: Ein überdimensionales Kreuzfahrtschiff schiebt sich langsam wie ein Raubtier auf Beutefang, in die Flucht einer beschaulichen Gasse Venedigs und überragt die zierlich schiefen …

Es ist ein Bild von monumentaler Größe: Ein überdimensionales Kreuzfahrtschiff schiebt sich langsam wie ein Raubtier auf Beutefang, in die Flucht einer beschaulichen Gasse Venedigs und überragt die zierlich schiefen Häuser der historischen Stadt; fast so, als würde es diese jeden Moment zermalmen. An Bord des Liners tummeln sich Urlauber, die in einem Stakkato die Welt bereisen, ohne genau zu wissen, in welchem Land sie gerade sind und die die Reise erst viel später und anhand der geschossenen Fotos rekonstruieren. Und es gibt immer mehr von diesen „Take-away-Touristen“, wie sie ein Venezianer an einer Stelle von Andreas Pichlers Dokumentarfilms „Das Venedig Prinzip“ nennt. So viele, dass die Reedereien in Zukunft noch größere Schiffe mit noch mehr Passagieren in die Lagunenstadt befördern wollen, in der schon jetzt täglich so viele Touristen durch die engen Gassen flanieren, wie es noch Einwohner gibt.

Dieses Bild des einlaufenden Schiffes beherrscht den gesamten Film. Umgekehrt würde man vom Schiff aus wahrscheinlich eine traumhafte Anfahrt auf die romantischste Stadt der Welt erleben. Und es sind gerade diese Blicke, mit denen der Film spielt, die er immer wieder verkehrt und vergleicht um Kontraste herauszuarbeiten, ohne dabei auf die Postkartenmotive zurückzugreifen, die jeder kennt. So treibt der Film ein zauberhaftes Spiel mit den Gegensätzen, die diese Stadt lähmen.

Zum Beispiel der Immobilienmakler, der uns durch eine Geisterstadt führt und Wohnungen zeigt, die er, aufgrund der maroden Bausubstanz, eigentlich nicht verkaufen könnte und für seine Kunden doch in schwärmerischen Worten beschreiben muss, während draußen romantisierte Pärchen in der Gondel vorüberfahren, von den schönen Häusern schwärmen und von „echten“ Italienern ein Ständchen gesungen bekommen, – die im Anschluss in tristen Räumen den durchschnittlichen Touristen beschreiben und das Spiel mit ihm entlarven.

Auf diese Weise nutzt der Film seine Protagonisten geschickt, um von den Träumen zu erzählen, von denen Venedig lebt und die deshalb um jeden Preis aufrecht erhalten werden müssen. Doch die Träume der Besucher sind alles, was der Stadt noch bleibt, denn die jungen Leute ziehen aufs Festland, weil die Mieten steigen und im Umkehrschluss die Läden und Märkte schließen, da ihnen die Kundschaft fehlt. Wer keine Gondel, keinen Souvenirshop oder kein Hotel besitzt, hat keine Überlebenschance in diesem historischen Vergnügungspark, wie ein Bewohner der Stadt, der den Touristen stattdessen ein Foto mit sich anbietet, ironisch vor Augen führt.

Mehr von dieser direkten Auseinandersetzung hätte dem Film sicher gut gestanden, allein schon um dem ewigen Untergangsmythos Venedigs, dem auch der Film allzu gern verfällt, entgegenzuwirken. Die Stadtverwaltung, der die Hände gebunden zu sein scheinen oder die bereitwillig wegschaut und die Perspektive der Tourismus-Konzerne, die in Venedig Millionen verdienen, bleiben außen vor. Vieles überlässt der Film dem Zuschauer, zum Beispiel auch an all die Kunstschätze zu denken, die langsam ins Meer erodieren. Auch erste Erfolge der Bürger im Kampf gegen den Ausverkauf der Stadt blendet der Film aus. Stattdessen gibt es romantisch-apokalyptische Bilder des alljährlichen Acqua alta, welche noch einmal die Bedrohungslage Venedigs verdeutlichen sollen, mit der die Stadt schon immer Geld verdient hat.

Durch diesen riskanten Verzicht gelingt es dem Film jedoch, das beschriebene Prinzip, der Titel deutet es an, universeller zu erzählen und auf andere Städte übertragbar zu halten, deren Innenstädte ebenfalls langsam ihrer Bewohner entledigt werden, um Platz zu machen für die 'Barbaren' (wie eine betagte Protagonistin die Touristen im Film nennt), die dann nur für einen Tag kommen oder ihre teuer gekauften Wohnungen nur an Weihnachten nutzen. In Venedig tritt dieses allgemeine und mittlerweile sich immer weiter verselbstständigende Prinzip des Ausverkaufs eines globalisierten Turbotourismus nur am deutlichsten zu Tage und bietet so, wie nebenbei, die eindrucksvollsten Gegensätze.

Un amour de jeunesse

(F / D 2011, Regie: Mia Hansen-Løve)

Sommer der Liebe
von Wolfgang Nierlin

„Für mich zählt nur die Liebe. Sie ist der einzige Grund zu leben“, sagt die 15-jährige Schülerin Camille (Lola Créton) zu ihrem um ein paar Jahre älteren Freund Sullivan (Sebastian …

„Für mich zählt nur die Liebe. Sie ist der einzige Grund zu leben“, sagt die 15-jährige Schülerin Camille (Lola Créton) zu ihrem um ein paar Jahre älteren Freund Sullivan (Sebastian Urzendowsky), der gerade sein Studium abgebrochen hat. Dieses Ausschließlichkeitsgefühl des ungewöhnlich ernsten Mädchens, das davon völlig absorbiert ist, steht in einer permanenten Spannung zu dem Freiheitsdrang des verspielten, noch suchenden Jungen und macht die leidenschaftliche Liebe der beiden fragil. Während Camille alle Gedanken auf ihre Sehnsucht nach Gleichklang und Symbiose richtet und jede Störung als Zeichen der Untreue interpretiert, besteht Sullivan auf ein eigenes Leben und auf eigene Erfahrungen. Für ihn ist noch alles Anfang und im Fluss, er flieht die Form und das Fertige. Als er im September des Jahres 1999, nach einem Sommer der Liebe und des getrübten Glücks, zu einer längeren Südamerika-Reise aufbricht, stürzt Camille in eine Krise. Ihr melancholisches Wesen verwandelt sich in Schwermut, ihr Kummer in Lebensüberdruss.

Man muss Mia Hansen-Løves Film „Un amour de jeunesse“ körperlich erfahren, sich seiner melancholischen Grundstimmung hingeben und sich von ihm mitnehmen lassen durch den Raum und die Zeit der Jugend, die er beschreibt. Offenheit und Bewegung sind dementsprechend die Merkmale von Hansen-Løves fast beiläufig und absichtslos wirkender Inszenierung. Ihr dynamischer Stil mit seinen schnellen Schnitten, Perspektivwechseln und Ellipsen versetzt alles in einen Fluss. Im Wechsel der Jahreszeiten vergehen so fast zehn Jahre, werden die dunklen Wintermonate in der Stadt von lichten, duftenden Sommern auf dem Land abgelöst. Alles ist Veränderung, nur wahrnehmbar in der Rückschau dieser Erzählung im Präteritum. In genau beobachteten oder hervorgehobenen Details verschieben sich die Gewichte, wechseln Stimmung und Atmosphäre und verwandelt sich Melancholie in Nostalgie.

Camilles Coming-of-age-Geschichte bleibt dabei das Zentrum: Wie sich nach einem Selbstmordversuch der Schmerz langsam von ihr ablöst, ohne ins Vergessen abzurutschen; wie sie sich während ihres Architekturstudiums vorsichtig in ihren Dozenten Lorenz (Magne-Håvard Brekke) verliebt und schließlich, behutsam und kontinuierlich, eine neue Perspektive auf ihr Leben gewinnt. Widersprüche und Zufälle sind dabei ihre stetigen Begleiter, ebenso eine grundsätzliche Einsamkeit, die sie nie ganz verlässt. Die „Form eines Schimmers“ entspringe der Dunkelheit, doziert Lorenz. Und: „Du musst dein Leben selbst gestalten, um du selbst zu werden.“ Als Camille nach Jahren Sullivan wiederbegegnet, der sich kaum verändert hat, ist die alte Liebe schnell neu entflammt: „Ich habe dich in mir wie eine Krankheit“, gesteht Camille. Doch am Ende dieses schönen Films treibt ihr Sommerhut, den sie einst von Sullivan geschenkt bekommen hat, verloren auf jenem Fluss (nämlich der Loire), der Camilles Vergangenheit mit ihrer Gegenwart verbindet. Dazu singen Johnny Flynn und Laura Marling den dunkel schimmernden Song „The water“: „All that I have is a river/The river is always my home.“

Anna Karenina

(GB / F 2012, Regie: Joe Wright)

Ironische Operette
von Wolfgang Nierlin

Russisches Kaiserreich 1874. Ein Vorhang öffnet sich und gibt den Blick auf eine Bühne frei. Hier wird Theater gespielt. Doch eigentlich ist auch das Theater Fiktion, denn das Publikum ist …

Russisches Kaiserreich 1874. Ein Vorhang öffnet sich und gibt den Blick auf eine Bühne frei. Hier wird Theater gespielt. Doch eigentlich ist auch das Theater Fiktion, denn das Publikum ist aus Pappe, die Musik kommt aus dem Off und der Raum, von wechselnden Kulissen imaginiert, erstreckt sich über die Bühnenränder hinaus. Seine wechselnden Rahmen und Staffellungen verlagern das Geschehen zuweilen hinter die Bühne, unter das Volk auf dem Schnürboden oder auch ins Freie. Diese doppelte Distanzierung in Joe Wrights Literaturverfilmung „Anna Karenina“ macht aus Tolstois berühmtem Ehe- und Gesellschaftsroman zunächst eine ironische Operette im Walzertakt. En passant versetzt die gleitende Kamera das Schauspiel in Tanz, wechselt dabei wie im Flug Schauplätze und sorgt auf diese Weise für eine enorme Verdichtung von Raum und Zeit. Die Inszenierung arbeitet gewissermaßen gegen die Illusion, löst aus den Ehegeschichten den Rohstoff und blickt zugleich auf die Historie.

Die Theatralisierung, die sich darstellerisch in übersteigerten dramatischen Gesten und lustvoll stilisierten Choreographien Bahn bricht, schafft aber auch die Verwandlung. Bezaubernd, phantasievoll und nahe am Kitsch zitiert sie die Opulenz des Kostümfilms als einen verführerischen Rausch von Farben und Formen, kleidet Keira Knightley in herrliche Kostüme oder lässt ihr schönes Gesicht durch geheimnisvolle Schleier funkeln. Daraus resultiert ein intensives Kino der Blicke und Gesten, die das Begehren regelrecht zelebrieren und dabei dramatisch verdichten. In einer der diesbezüglich eindrucksvollsten Szenen, auf dem Höhepunkt des Ballabends, wenn sich die Gefühle und Körper entscheiden, lässt die Montage eines beschleunigten Reißschwenks zwischen den Protagonisten ihre Gesichter in Liebe und Enttäuschung, Hoffnung und Angst förmlich erstarren.

Einerseits darf der Schürzenjäger Oblonsky sagen: „Romantische Liebe ist die letzte Illusion der alten Ordnung.“ Der Gutsbesitzer Konstantin Levin widerlegt hingegen diesen Satz, indem er das alte Ideal unter Zweifeln und Anfechtungen noch einmal durchdekliniert. Für das ehebrecherische Paar Anna und den Grafen Vronsky gilt wiederum: „Für uns gibt es keinen Frieden, sondern nur Verzweiflung oder vollkommenes Glück.“ Unter den ächtenden Blicken der Gesellschaft, die jede moralische Verfehlung mit gnadenlosem Ausschluss straft, vollzieht sich das Drama einer zerstörerischen Liebe, die sich der gesellschaftlichen Konvention wiedersetzt, eher als schleichende Krankheit denn als Exzess. Sie habe nicht nur „das Gesetz gebrochen, sondern die Regel“, sagt einmal der betrogene Staatsbeamte Karenin (Jude Law) zu seiner untreuen Frau Anna. Seine Gottesfürchtigkeit, sein stilles Leiden und seine Fähigkeit zur Vergebung spielen eine wesentliche Rolle in Joe Wrights ästhetisch vielschichtiger Adaption des russischen Literaturklassikers.

The Man with the Iron Fists

(USA 2012, Regie: RZA)

Enter the RZA, Bushido-Style
von Louis Vazquez

Er war der Mastermind des Wu-Tang Clan. Er hat den Soundtrack für Jim Jarmuschs „Ghost Dog: The Way of the Samurai“ geschrieben. Und er hat für Quentin Tarantino den Score …

Er war der Mastermind des Wu-Tang Clan. Er hat den Soundtrack für Jim Jarmuschs „Ghost Dog: The Way of the Samurai“ geschrieben. Und er hat für Quentin Tarantino den Score zu „Kill Bill Vol. 1“ komponiert. Wenn er dann noch behauptet, seit frühester Kindheit Samuraifilme aufgesogen und sich für Shaolin und Kung Fu begeistert zu haben, dann nimmt man Robert „RZA“ Diggs schnell ab, dass er für die Regie eines Martial-Arts-Films prädestiniert sei, zumal Filmemachen schon immer sein Traum war, sagt er. Und weil Tarantino mittlerweile ein guter Kumpel ist und ihm hilfreich unter die Arme griff, kommt jetzt sein Debütfilm in die Kinos. Blöderweise werden dessen Schwächen umso deutlicher, wenn man sich „Ghost Dog“ und „Kill Bill“ als Vorbilder und Koordinaten ins Gedächtnis ruft.

Jarmuschs „Ghost Dog“ bietet nicht nur die seit Melvilles „Le samouraï“ schönsten ausgedachten Zitate zum vermeintlichen Verhaltenskodex des Samurai, sondern präsentiert und hinterfragt auch einen anachronistischen Ehrbegriff, der nur noch alten, weißen Männern etwas nützt. Der schwarze Samurai vom Rand der Gesellschaft muss in den Tod gehen. Ein komödiantischer, böser und trauriger Film, der sich denkbar weit von der genrespezifischen Action entfernt hat. Tarantinos Action-Spektakel „Kill Bill“ vereint dagegen alle denkbaren Vorbilder, macht noch einen Abstecher zum Italowestern und bietet nicht zuletzt eine starke Heldin, die er in einer schrecklichen und schrecklich guten Exposition mit brachialen Mitteln zur Sympathieträgerin macht. „The Man with the Iron Fists“ im Vergleich mit diesen beiden Werken als Jungsphantasie zu bezeichnen, würde bedeuten, die Phantasie männlicher Heranwachsender stark zu unterschätzen.

Die Story ist so simpel wie unübersichtlich: Einen befreiten Sklaven (RZA) verschlägt es im 19. Jahrhundert in ein abgelegenes chinesisches Dorf, wo er sich als Schmied verdingt und Waffen für die verschiedenen streitlustigen Clans fertigt. Als der Kaiser eine Ladung Gold durchs Land schickt, gerät der Blacksmith zwischen die Fronten. Da ist zum Beispiel der Clan des Bösewichts Silver Lion (Byron Mann), dem sich der heldenhafte Zen Yi (Rick Yune) entgegen stellt, um Rache für seinen getöteten Vater zu nehmen. Da sind aber auch der undurchsichtige Jack Knife (Russell Crowe) mit seinem Faible für Klingen und Madame Blossom (Lucy Liu), die das örtliche Hurenhaus leitet. Dort bietet die schöne Lady Silk (Jamie Chung) ihren Körper feil, die Geliebte des Blacksmith. Mit ihr will er irgendwann alles hinter sich lassen, wenn der Geldkoffer erst voll genug ist. Ein befreiter Sklave, der (mit schlechtem Gewissen) von Waffengeschäften profitiert, aber das Geld braucht, um eine Leibeigene freizukaufen – die Idee ist aberwitzig und deshalb höchst interessant. Nur leider entwickelt das Drehbuch von RZA und Eli Roth daraus letztendlich gar nichts, so wie auch der Gastauftritt von Blacksploitation-Ikone Pam Grier bestenfalls eine Randnotiz wert ist.

RZA inszeniert stattdessen einen Film aus Fanperspektive, der sich von den großen Vorbildern nicht lösen kann oder will und die Geschichte des Martial-Arts-Films zitiert, von den Shaw-Brothers-Produktionen bis zur japanischen „Okami“-Reihe. Auch eine kurze Verneigung vor John Woo über ein Musikzitat darf da natürlich nicht fehlen. Die Kampfszenen sind durchaus gelungen und werden gelegentlich beeindruckend dargeboten, sie sind allerdings nicht immer gut inszeniert. Wie Tarantino scheint RZA ein Fan von Brian De Palma zu sein und erweist dem Vorbild nicht nur mit einem Top Shot über die Räume des Bordells seine Referenz, sondern auch mit vielen Split Screens. Die sehen aber oft eher aus, als müssten sie problematisches Ausgangsmaterial kaschieren.

Mithin unerträglich indes sind die nicht nur holzschnittartigen Figuren des Films, deren Sexismus in keinem Moment kritisch hinterfragt wird. Insbesondere Russell Crowe hat einige lustig gemeinte Szenen als Puffkunde, bei denen man ungläubig ins Presseheft guckt und sich fragt, ob hier wirklich RZA sein Regiedebüt abgibt, weil man ihm solche Humorversuche bzw. so einen Scheißdreck gar nicht zugetraut hätte. Die Frauenfiguren schließlich dürfen nicht einmal mehr witzig sein, sondern erfüllen brav alle Hurenklischees. RZAs Film wirkt in besseren Momenten wie ein blutig-bunter, aber langatmiger Comicstrip, in schlechteren traut man seinen Augen und Ohren nicht. Rat- und unterhaltsamer wäre es also, sich stattdessen einen beliebigen Klassiker zum Beispiel des Hong-Kong-Kinos noch einmal vorzunehmen und den Abend mit ein paar Soulplatten ausklingen zu lassen.

The Walking Dead. Season 2

(USA 2011, Regie: Ernest R. Dickerson, Bill Gierhart u.a.)

I had to kill him! No, you had not.
von Michael Schleeh

Der schmutzige Look der Serie, der sich schon durch das verwendete 16mm-Format einstellt, und der im Netz viel Kritik vor allem unter den Hochglanzfetischisten hervorgerufen hat, führt die Serie auf …

Der schmutzige Look der Serie, der sich schon durch das verwendete 16mm-Format einstellt, und der im Netz viel Kritik vor allem unter den Hochglanzfetischisten hervorgerufen hat, führt die Serie auf einer ästhetischen Ebene zu ihrem inhaltlichen Zentrum zurück: zur zerstörten Welt. Die Eigenschaft des Ausgangsmaterials mit seinen Rauschwerten, den immer wieder deutlich sichtbaren Texturen und dem geliebten wie gefürchteten Filmkorn, lässt sich als Allegorie zur postapokalyptischen Welt und zum zerstörten Gesellschaftsgefüge lesen, in welcher der Überlebenskampf der Protagonisten permanent durch die Sinnhaftigkeit ihres Tuns hinterfragt wird.

Im Interview auf studiodaily berichtet Kameramann David Boyd davon, wie mit verschiedenen Filmformaten experimentiert worden sei, 35mm, 16mm, RedOne, usw., und dass man sich schließlich für die etwas härteren und kälteren Bilder des Super 16-Formats entschieden hätte. 'The Walking Dead' wurde mit drei gleichzeitig laufenden Arriflex 416 gedreht, ohne zugewiesene Hierarchien, und dann sei erst später entschieden worden, welche Sequenz aus welcher Einstellung und Position zu verwenden sei.

Und diese Welt, in der sich die Überlebenden aus Staffel 1 (2010) befinden, hat sich als ein worst case scenario bestätigt: die Zombifizierung ist überall. Die Gruppe um Rick Grimes (Andrew Lincoln) und seine Familie, Frau Lori (Sarah Callies) und Sohn Carl, um Cop-Kollege und Liebes-Affäre Shane (Jon Bernthal), um Glenn, Sohn koreanischer Einwanderer, Dale, den weißbärtigen älteren Herren, der das Gewissen der Gruppe symbolisiert, den Drifter Daryl, dessen Bruder in Atlanta auf dem Hausdach zurückgelassen wurde, sowie einiger anderer Figuren, nimmt in Staffel 2 zunächst die Form einer Odyssee an. Man hat den RV wieder in Stand gesetzt sowie einige PKWs fahrbar gemacht. Daryl heizt mit einem schwarzen Chopper, verziert mit SS-Runen auf dem Tank, durch den Film wie in einer Reminiszenz an „Easy Rider“; das Motiv des Fahrens als das eigentliche Freiheitsmoment der Serie. Doch schon nach kurzer Zeit – man ist auf dem Weg ins Fort Benning, einem Militärstützpunkt, wo es Hilfe und so etwas wie eine Zukunft für alle geben soll – bleibt man in einem riesigen Blechchaos inmitten liegen gebliebener Fahrzeuge und ausgebrannter Automobile auf der Interstate stecken. Offensichtlich sind hier schon mehrere Horden der Zombies, genannt „Walker“, durchgezogen. Diese entwickeln sich mittlerweile zu relativ rabiaten Bestien, da so langsam das Futter ausgeht – einige können sich kaum mehr bewegen, sind kurz vor dem Verenden. Da geschieht ein Unglück: die kleine Sophia wird bei einem Angriff im nahe gelegenen Wald von der Gruppe getrennt und geht verloren. Und es ist kurz vor der einbrechenden Dunkelheit nicht mehr möglich, sie wiederzufinden – was naturgemäß etliche Konflikte innerhalb der Gruppe auslöst. Im weiteren Plotverlauf, und da findet die Staffel ihren zentralen Handlungsort, gelangt man zu einem Farmhaus, in dem ein Arzt mit Familie überleben konnte, und wo sich der Gruppe eine unverhoffte Idylle offenbart. Natürlich ein Frieden auf Zeit, denn sowohl die Konflikte innerhalb der Gruppe nehmen zu, insbesondere zwischen Rick und Shane, und auch eine Entscheidung über die zukünftige Route steht an.

Die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Tuns wird in einzelnen Folgen mehrfach thematisiert und führt zum inhaltlichen Kern der Serie führt: Welche sind die Werte, die es zu erhalten gibt? Ist es in einem Szenario „nach jeder Zivilisation“ überhaupt möglich, sozial zu bleiben? Was macht die Menschlichkeit, die Mitmenschlichkeit aus? Die an grundlegende Probleme des menschlichen Miteinanders rührenden Fragen müssen jedoch unbeantwortet bleiben. Das dichotome Problem des Festhaltens an der moralischen Zivilgesellschaft versus deren Aufgabe zum Zwecke des Überlebens ist letztlich die inhaltliche Crux von „The Walking Dead“, und wird an verschiedenen Exempeln und Konfliktfällen durchgespielt. Da gerät Staffel 2 bisweilen zum Ensemble- oder Problemfilm, denn die Zombiebedrohung tritt für eine Zeitlang in den Hintergrund und das Miteinander der Menschen gerät in den Fokus.

Damit einher geht eine deutliche Verlangsamung der ansonsten rasant gehaltenen Ereignisse. Ganz wunderbar gelingt es den Machern, das Tempo variabel zu halten und Akzente zu setzen; letztlich, um so den Horizont der Serie zu erweitern und sie aus der rein additiven Kettenhaftigkeit der Ereignisse herauszulösen. Ihr tiefere Ebenen hinzuzufügen und Konflikte zu inszenieren, die allgemeingültige sind. Natürlich werden elementare serielle Strukturen beibehalten, erkennbar z.B. am stets verwendeten Cliffhanger, der am Ende einer jeden Folge die Daumenschrauben gehörig zuzudrehen weiß. Der sich einstellende Suchtfaktor der zweiten Staffel ist enorm. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis das Chaos erneut losbricht – und so viel sei verraten: Die Staffel endet mit einem unglaublich actionreichen Finale, das den grünen Rasen Georgias mit hektoliterweise Blut in ein saftiges Rot färben wird.

Silent Hill: Revelation 3D

(F / USA / CAN 2012, Regie: Michael J. Bassett)

Revelation, Retribution! Extinction, Apocalypse!
von Louis Vazquez

Heather (Adelaide Clemens), die Neue an der Highschool, heißt eigentlich Sharon und weiß schon am ersten Tag, dass sie nicht lange bleiben wird. Sie glaubt, das liege daran, dass ihr …

Heather (Adelaide Clemens), die Neue an der Highschool, heißt eigentlich Sharon und weiß schon am ersten Tag, dass sie nicht lange bleiben wird. Sie glaubt, das liege daran, dass ihr Vater Harry (Sean Bean) vor Jahren einen Mord begangen hat und seitdem mit ihr auf der Flucht ist. Sie ahnt nicht, dass die Gefahr noch viel größer ist – vor allem für sie selbst.

Denn schon als Kind – das könnte man noch aus dem ersten Teil der Reihe wissen – zog es sie schlafwandelnd immer wieder zum geheimnisvollen Geisterort Silent Hill hin, wo unterirdische Feuer brennen und Asche vom Himmel regnet. Gelegentlich kippt der Ort aus der ausreichend trostlosen Realität sogar in ein höllisches Zwischenreich voller tödlicher Bedrohungen. Sharons Mutter (Radha Mitchell) konnte ihre Tochter damals zwar retten, musste aber selbst in der Höllendimension zurückbleiben. Seitdem flieht der Vater mit der ahnungslosen Sharon vor den Anhängern eines gefährlichen Kults, der mysteriöse Ziele verfolgt und das Mädchen nach Silent Hill zurückbringen will. Dass das gelingt, versteht sich von selbst, denn schließlich soll die Franchise sechs Jahre nach dem Startschuss endlich in Gang kommen.

Die Fortsetzung der ersten Adaption der Computer- bzw. Konsolenspielreihe soll aber unbedingt auch für sich alleine stehen können, so die Filmemacher, und es trotzdem den Fans des Vorgängers Recht machen. Ebenso übrigens den Fans der Spiele und gewiss auch den Anhängern der genreverwandten Resident-Evil-Reihe. Denn immerhin teilen sich die Franchises nicht nur die albernen, verwechslungsanfälligen Baukasten-Titel, sondern auch die Produzenten. Während Paul W.S. Anderson sich mit seinen Resident-Evil-Filmen längst von der Vorlage gelöst hat, die Actionsequenzen fast kontextfrei, dafür abwechslungreich aufbaut und mit bekannten Handlungsfragmenten jongliert, hat „Silent Hill: Revelation 3D“ stets die Vorlage im Sinn, die sich vor allem durch die morbide, traurige Atmosphäre auszeichnet, einen charakteristischen Score und eine Langsamkeit der Spielentwicklung, die das Grauen umso heftiger hereinbrechen ließ.

Im Kino hat man gerade anfangs das Gefühl, in einen „Nightmare on Elm Street“-Film geraten zu sein, denn Regisseur und Autor Michael J. Bassett spielt mit Traum- und Wachzustand und lässt seine Heldin immer wieder aus der Realität gleiten. Sobald das Licht flackert, kann alles passieren. Besonders originell ist das nicht umgesetzt, so dass ein Traum im Traum bereits zu den raffiniertesten Kniffen gehören dürfte. Ansonsten setzt der Film, banal und effektiv, permanent auf akustische Jump Scares.

Mit zunehmendem Verlauf wird „Silent Hill: Revelation 3D“ die Ernsthaftigkeit zum Verhängnis, mit der er eine epische Story zu erzählen versucht. Wer hier gut und wer böse ist, lässt sich auf den ersten Blick nicht sagen, vor allem, wenn man die Vorgeschichte aus Teil 1 nicht kennt. Weil aber der Zuschauer sich nicht einfach nur gruseln darf, sondern alles verstehen soll, muss viel erklärt werden. Durch ein vorgelesenes Tagebuch zum Beispiel und durch Monologe, viele Monologe. Das wirkt manchmal wie die Handlungszusammenfassung einer Serie zu Beginn jeder neuen Episode. Mehr Tiefe gewinnt der Film durch seine breit getretene Vorgeschichte nicht, und der melancholischen Atmosphäre ist die hektische, umständliche Erzählweise nicht gerade zuträglich.

Auch beim zweiten Silent-Hill-Film erinnern zwar die Sets und die Monsterdesigns an das Nerven zerreißende Spiel gleichen Namens, aber Spannung will trotz einiger an „Hellraiser“ erinnernden Splattereinlagen so gut wie keine entstehen, weil die Figuren zu flach sind und die Handlung zu gleichförmig ist. Nahe liegende Möglichkeiten, die Geschichte mit ein paar Freiheiten von der Vorlage interessanter zu gestalten (und etwa aus dem Highschoolszenario mehr zu machen), werden übersehen oder ignoriert. Gerade einmal zwei Szenen, die beide streng genommen redundant sind und die Spielstruktur des Films umso deutlicher vor Augen führen, bleiben halbwegs im Gedächtnis: die Flucht vor einem spinnenartigen Monster, das aus Puppenteilen zusammengesetzt ist, die wiederum aus Menschen (!) hergestellt wurden, und der fast surreale Kampf gegen Zombie-Krankenschwestern, die sich nur bewegen, wenn sie etwas hören, und ansonsten sofort wieder reglos verharren. Beide Szenen allerdings würden mit Joystick bzw. Gamepad in der Hand mehr Spaß machen.

Immerhin: Viele interessante Schauspieler verstecken sich in kleinen Rollen, zum Beispiel Deborah Kara Unger, Carrie Ann Moss oder Martin Donovan. Hoffentlich haben sie genug Geld verdient, um sich nun wieder anspruchsvolleren Projekten widmen zu können.

Killing Them Softly

(USA 2012, Regie: Andrew Dominik)

Down and Out, Low and Dirty
von Harald Steinwender

Der Australier Andrew Dominik hat ein Faible für Outlaws – für Gangster, Diebe und Mörder; überhaupt für alle, die sich um Gesetze und Regeln einen Dreck scheren. Bereits in seinem …

Der Australier Andrew Dominik hat ein Faible für Outlaws – für Gangster, Diebe und Mörder; überhaupt für alle, die sich um Gesetze und Regeln einen Dreck scheren. Bereits in seinem Regiedebüt 'Chopper' (2000) erzählte Dominik die Lebensgeschichte des australischen Serienverbrechers Mark Brandon Read, der sein halbes Leben im Knast verbracht hatte, bevor er in seiner Heimat durch eine Reihe semi-autobiografischer Romane Kultstatus erlangte. Eric Bana gab Read als rassistischen Kotzbrocken, als echtes Scheusal. Auch Dominiks erste US-Produktion, der düster-lyrische Western 'The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford' ('Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford'; 2007), war eine ambitionierte und gegen die Mythen des Genres gebürstete Outlaw-Ballade, in der Brad Pitt den legendären Jesse James als Soziopathen anlegte, der mit seinen inneren Dämonen und einmal auch mit ganz realen Klapperschlangen ringt.

In seinem jüngsten Film, dem unabhängig produzierten Noir-Thriller 'Killing Them Softly', fährt der Regisseur nun eine ganze Batterie von psychotischen Unsympathen auf, die sich vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise und des US-Wahlkampfs 2008 gegenseitig ins Unglück reiten: dreckstarrende Junkies, endlos dumme Kleinkriminelle, alkoholkranke Killer, heruntergekommene Mafiosi, misogyne Schläger, engstirnige Hehler und inkompetente Diebe. Gespielt werden diese gescheiterten Existenzen und verlorenen Seelen mit viel Mut zur Hässlichkeit von Gangsterfilmveteranen wie James 'Tony Soprano' Gandolfini und dem ehemaligen 'GoodFella' Ray Liotta. Sekundiert werden sie von noch weitgehend unbekannten Schauspielern wie Scoot McNairy und – sensationell schmierig als Johnny-Rotten-Lookalike mit massivem Drogenproblem: Ben Mendelsohn. Einzig Brad Pitt als unterkühlter Auftragsmörder bringt so etwas wie Klasse in das Verliererpanoptikum: Mit getönter Sonnenbrille, schwarzer Lederjacke und Cowboystiefeln, Elvis-Haartolle und Koteletten tritt er, begleitet von Johnny Cashs 'The Man Comes Around', in diese schäbige Welt wie ein Relikt der Popkultur: ein mörderischer Rockabilly, der einem Jugenddrama der 50er Jahre entsprungen sein könnte. Seinen ersten Auftritt inszeniert Dominik überlebensgroß: Da gleitet die Kamera beinahe ehrfürchtig über den Asphalt und folgt den Stiefeln dieses mythischen Engels der Gewalt. Aber natürlich wird auch Pitts Killer, der bevorzugt 'sanft', also aus der Distanz tötet, bald als neurotischer Geck entzaubert.

'Killing Them Softly' ist eine Adaption von George V. Higgins‘ 1974 publiziertem Roman 'Cogan’s Trade', wobei das von Dominik geschriebene Drehbuch die Handlung der Vorlage zeitlich und räumlich disloziert, sie von Boston nach New Orleans verlegt und fast dreieinhalb Dekaden später, im Jahr 2008, ansiedelt. Der Plot allerdings ist zeitlos und funktioniert in den tristen nuller Jahren genauso gut wie in den 'wilden Siebzigern'. Nach einer furiosen Vorspannsequenz, bei der auf der Tonspur eine Rede Barak Obamas zerhackt wird, während die rabiate Montage das Publikum mit Schwarzblenden und Wackelkamera bestens auf die folgenden ruppigen eineinhalb Stunden einstimmt, lernen wir mit Frankie (McNairy) und Russell (Mendelsohn) zwei Gangster kennen, die bestenfalls kleine Fische sind. Als ein Hehler den beiden anbietet, eine illegale Pokerrunde zu überfallen, gelingt es ihnen immerhin, den Raubzug halbwegs professionell und ohne Blutbad über die Bühne zu bringen. Dumm nur, dass Markie (Liotta), der Organisator des Glücksspiels, vor Jahren schon einmal ausgeraubt wurde und seine Bosse, die örtliche Mafia, einen zweiten Überfall nicht ohne Gesichtsverlust hinnehmen können. Also wird Jackie Cogan (Brad Pitt) angeheuert, ein Profikiller, der die Diebe zur Strecke bringen soll. Für ihn ist es ein Leichtes, die Amateure ausfindig zu machen, und bald metzelt Cogan sich durch die Unterwelt. Dabei dreht der Film, der oft tote Zeit ausstellt, ausschließlich an dezidiert öden Orten spielt und von seinen Slang-Dialogen lebt, erst beim Tod von Liottas Figur wirklich auf: in einer furios inszenierten Actionsequenz, die ins Endlose zerdehnt wird und zur irrwitzig-delirierenden Hommage an die barocken Mordtableaus aus Dario Argentos Neo-Gialli 'Opera' ('Terror in der Oper'; 1987) und 'La sindrome di Stendhal' ('Das Stendhal-Syndrom'; 1996) gerät. Alleine diese Szene lohnt den Kinobesuch.

Insgesamt entwirft 'Killing Them Softly' ein düsteres und tristes Zerrbild der USA; eine reine Männerwelt, die von Gier, Frauenhass und Egoismus angetrieben wird, wobei das Gangstertum, wie so oft im Genre, als Metapher für den Raubtierkapitalismus und den Zustand der Nation fungiert. Das mag alles andere als subtil sein, insbesondere wenn Reden des scheidenden Präsidenten George Bush und der Wahlkämpfer Barack Obama und John McCain hochsymbolisch den Begleitsound zu Mord und Totschlag liefern. Aber manchmal muss eine Botschaft übereindeutig sein, um ihr Publikum zu erreichen. Damit ähnelt der Film seinen eigentlichen Vorbildern, den klassischen B-Filmen Hollywoods, denen er Ehrerbietung zollt, während er sie dekonstruiert. Und wenn die Politikerreden einer Kakophonie gleich im Hintergrund rauschen, so behält doch der Killer das letzte Wort: Amerika, das sei kein Land. Amerika, das ist vor allem Business. Und dann, an seinen Sitznachbarn in der Kneipe gewandt: 'Und nun, verdammt nochmal, gib mir mein Geld!' Wie der zweite große Film Noir dieses Jahres, William Friedkins 'Killer Joe' (2011), steht 'Killing Me Softly' für einen neuen Zynismus, geboren aus dem Abstieg Amerikas: dunkle, böse B-Pictures mit fiesem Humor und schmutziger Gewalt; Filme, die hart und bitter sind und ohne jede Sozialromantik auskommen. Die Ritterlichkeit, die bei den verkappten Romantikern Chandler und Hammett noch als Ahnung vorhanden war, ist endgültig verloren gegangen. Hier gibt es nur noch Söldner, Schmutz und Schund, Gewalt und Gefühlskälte. Nach seinem Gefängnisfilm und dem Outlaw-Western ist Dominik über den Gangsterfilm hinausgeschossen und direkt beim post-hardboiled Noir angelangt.

Transpapa

(D 2011, Regie: Sarah Judith Mettke)

Bernd heißt jetzt Sophia
von Wolfgang Nierlin

Maren (Luisa Sappelt) steckt mitten in der Pubertät und leidet sichtlich darunter: Ihr gleichaltriger Freund Benny hat sich eben von ihr getrennt, weil er nicht den Sex bekommt, den er …

Maren (Luisa Sappelt) steckt mitten in der Pubertät und leidet sichtlich darunter: Ihr gleichaltriger Freund Benny hat sich eben von ihr getrennt, weil er nicht den Sex bekommt, den er gerne hätte; ihre ziemlich unsensible Mutter Ulrike (Sandra Borgmann) nervt und scheint die ältere Tochter nur als lästiges Anhängsel ihrer Patchworkfamilie, bestehend aus ihrem zweiten Mann und einer jüngeren Tochter, zu betrachten. Als wären Liebeskummer, häuslicher Zoff, familiäre Konfusion und eine „zugemüllte“ Küche nicht genug Stress für das eher zurückhaltende und verschlossene Mädchen, erhält Maren auch noch eine Postkarte von ihrem leiblichen Vater, der jahrelang nichts von sich hören ließ. Bernd heißt jetzt Sophia. „Dein Vater lebt jetzt als Frau“, erklärt die Mutter ihrer schockierten Tochter und ergänzt lapidar: „Er ist transsexuell.“ Diese Nachricht spitzt Marens Pubertätskrise in einem regelrechten Wirrwarr der Gefühle zu. Ohne ihre Mutter darüber zu informieren, fährt Maren nach Köln, um Sophia zu besuchen.

„Der Film ist zu mir gekommen“, sagt Sarah Judith Mettke und ergänzt: „Er musste gemacht werden, ich war das Werkzeug der Geschichte.“ Dabei wollte die 1981 geborene Absolventin der Filmakademie Ludwigsburg „eigentlich einen Liebesfilm“ machen. Dass es dann doch eine Coming-of-age-Geschichte geworden ist, liege an der empfundenen Nähe zum Thema. Denn eigentlich handelt ihr intimes, zurückhaltend erzähltes Jugenddrama, das bewusst gegen die Klischees transsexueller Darstellung arbeitet und sich einer konventionellen Dramaturgie weitgehend verweigert, von einer gleich doppelten weiblichen Identitätssuche. Wie der verunsicherte, ja verstörte Teenager befindet sich auch Sophia, von Devid Striesow mit großer Natürlichkeit und Zurückhaltung verkörpert, nach einer Geschlechtsumwandlung und unter dem Einfluss weiblicher Hormone in einer Art Pubertät. Beide sehnen sich nach einer Normalität, die unerreichbar scheint.

Dabei zeigt sich Sophia gegenüber dem reservierten, schweigsamen Mädchen, dessen verstohlene Blicke immer wieder den Körper des fremd gewordenen Vaters mustern, sehr offen und kommunikativ, vor allem aber rückhaltlos ehrlich: „Deinen Vater gibt es nicht mehr“, erklärt sie der verständnislosen Maren und fordert von ihr Akzeptanz für ihr „Schicksal“: „Das ist mein Leben!“, insistiert Sophia selbstbewusst. Zugleich entwickelt sie, die mittlerweile mit einem alten Mann zusammenlebt, mütterliche Gefühle, die Maren aber überfordern und in einen emotionalen Zwiespalt versetzen. Sarah Judith Mettkes nuancenreiche Inszenierung dieses „Vater“-Tochter-Konflikts hält die Spannung zwischen Nähe und Distanz, zwischen Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit und einer schier unüberwindlichen Fremde bis zum Schluss offen. Für die beiden Protagonisten ihres Films, mit dem die Regisseurin auch etwaige Tabus des Publikums befragt, hat die Suche nach einem Platz im Leben eben erst begonnen.

Paradies: Liebe

(AT / D / F 2012, Regie: Ulrich Seidl)

Handelsware Leidkultur
von Andreas Thomas

„Hakuna Matata“ – „Es gibt keine Probleme“. Mit diesem Slogan in der kenianischen Landessprache Suaheli werden unsere Kleinen dazu animiert, sich nach „Afrika“ ins Land des „Königs der Löwen“ zu …

„Hakuna Matata“ – „Es gibt keine Probleme“. Mit diesem Slogan in der kenianischen Landessprache Suaheli werden unsere Kleinen dazu animiert, sich nach „Afrika“ ins Land des „Königs der Löwen“ zu träumen (einem der gewalttätigsten und grausamsten Zeichentrickfilme, die ab 0 Jahren freigegeben sind, übrigens), und ihren Großmüttern, westeuropäischen Damen so ab Fünfzig, verheißt das im kenianischen Fremdenverkehr am meisten verwendete Motto: Hier muss wohl alles anders sein als Daheim: Es regnet nicht, es ist warm, die Menschen sind nett und unkompliziert und sie haben auch eine viel schönere Hautfarbe. So oder ähnlich scheint die frustrierte Wienerin Teresa, Mutter einer 15jährigen Tochter und von Beruf Behindertenbetreuerin, zu denken.

Eine Freundin hat sie dazu animiert, doch auch mal nach Kenia zu fahren, dahin, wo die „Beachboys“ so unkompliziert und gefügig sind, und sich so leicht verlieben. Und für Teresa, die, kaum angekommen, erst einmal den Toilettensitz in ihrem Badezimmer wienert, scheint ein Traum wahr zu werden: Am Strand, jenseits der (Ulrich Seidl ist ein Spezialist im Liegestuhlfilmen) Liegestühle, in denen die eingeölten, weißen Frauen braten, befindet sich eine Schnur und dahinter stehen und warten die hübschen, halb so alten Jungs, die Tand und Schmuck anbieten, und – darüber wird aber nicht geredet – anderes, das geeignet wäre, westeuropäische Probleme zu vertreiben. Zum Charakter dieser spezifischen, auf Frauen ausgerichteten Prostitution gehört, dass sie nicht als solche gehandelt wird, sondern als „Liebe“. Sie ist deshalb anspruchsvoller – und verlogener – als Prostitution von Frauen für Männer, weil sie der Kundin einen Anschein von Würde zu wahren versucht, indem sie ihre Illusion von richtiger Liebe zu erhalten trachtet.

Die alleinstehende und, nach Kräften, alleinerziehende Teresa, die schon ein wenig außer Form geraten ist und sich zuhause damit abgefunden hat, nicht mehr im Mittelpunkt männlichen Interesses zu stehen, freut sich über jede körperliche Berührung durch einen Mann, sie würde sie aber wohl nicht zulassen, wenn sie sie als Dienstleistung verstehen und dafür bezahlen müsste. Der ökonomischen Not der afrikanischen Bevölkerung aber hat die europäische Frau ein hohes Maß sensibler Professionalität zu verdanken, solange das gegebene Geld für „kranke Familienangehörige“ aufgebracht wird.

Auch abweichende Spielarten gibt es, etwa für die „Sugarmama“, die sich ein wenig verwöhnen lassen möchte von ihrem schwarzen Diener, die weniger auf Romantik als auf Gouvernantinnentum abzielen – auch diese immer noch eher (und zwar ein noch demütigenderes) ein Spiel mit Rollen als ein transparentes Sexgeschäft. Doch im Paradies muss man sich täuschen lassen wollen, damit es das Paradies bleibt. Denn mit dem Bröckeln der Fassaden – wie Teresa herausfindet, hat ihr Liebhaber Frau und Kind – verliert Teresa nach und nach ihre Illusionen, und sie (und wir Zuschauer auch) lernen etwas über das Wesen globalisierter Gefühle, die offenbar immer schlechter von Konsumobjekten zu unterscheiden sind.

Wie Regisseur Ulrich Seidl im Interview berichtet, geht es ihm, auch in einem Film, der in Afrika spielt, vor allem um die Befindlichkeiten des „westeuropäischen Menschen“, in diesem Fall also um den Export uneingelöster Hoffnungen und Bedürfnisse (bzw. deren neurotische Mutationen) reiferer europäischer Frauen, sozusagen um das Übertragen verkorkster europäischer Leidkultur auf ein Land und dessen Bewohner, deren Probleme eher wirtschaftlicher als psychopathologischer Art sind. Eine Art der psychologischen Kolonisierung also, und ein Lehrstück ist der Film darin, wie genau er das Verhältnis analysiert zwischen den ungleichen und doch auf jeder auf seine Art ähnlich mächtigen Geschäftspartnern.

Mit seiner Folgerichtigkeit, durch seinen Aufbau und seinem Thema nach wirkt „Paradies: Liebe“ vielleicht ein wenig vorhersehbar, nicht zuletzt weil es bereits vergleichbare Vorgängerfilme wie Laurent Cantets „In den Süden“ gibt. Außerdem fehlt es, trotz Laiendarstellern und authentischen Drehorten und vielen improvisierten Szenen, ähnlich wie schon dem letzten, inzwischen auch schon fünf Jahre alten Seidl-Film „Import-Export“, rein subjektiv gefühlt, ein wenig an jener verzweifelten, bedrückenden Realitätssättigung, die z.B. seinen Film „Hundstage“ so überragend machte und durch die vor allem Seidls vorhergehende Dokumentarfilme unerbittlicher und dadurch umso wahrhaftiger wirkten.

„Paradies: Liebe“ spart eher mit grellen Bildern, Menschen und Effekten als Seidls frühere Werke, aber guckt dafür subtiler in das verkorkste Geflecht von Gefühl, Geld und Macht; auf diese Weise wirkt der Film zwar einerseits weniger „betroffen“, zum Anderen lässt er sich aber nicht nur mehr hinunterreißen vom Gewicht der Einsamkeit und Grausamkeit seiner Figuren. Sprich: Werner Herzog wäre angesichts dieses Films vielleicht nicht mehr so schnell mit einem Diktum wie „der direkte Blick in die Hölle“ zur Stelle. Die Verhältnisse reichen im Übrigen auch so hin, um schlimm genug zu sein, da brauchts keinen Teufel und keinen Gott – aber bei Seidl wenigstens noch den, Herzog anscheinend ironisch widerlegenden, Gesamttitel „Paradies“!

Denn ursprünglich sollte das „Paradies“-Projekt ein einziger Episodenfilm werden, handelnd von drei verwandten Menschen weiblichen Geschlechts, bis der Regisseur plötzlich reichhaltiges Filmmaterial zusammen hatte, das mehr als abendfüllend geworden wäre. Und so können wir gespannt sein, was bald „Paradies: Glaube“ und dann „Paradies: Hoffnung“ weiter erzählen werden.

Im Gespräch mit Andreas Thomas erzählt Seidl aber schon mal vorab, wie er es mit dem Glauben hält …

Alexandre Ajas Maniac

(F / USA 2012, Regie: Franck Khalfoun)

Subjektives Serienkillen
von Louis Vazquez

Der einsame und kontaktscheue Frank (Elijah Wood) hat eine Werkstatt, in der er Schaufensterpuppen restauriert. Doch manchmal überwältigt ihn eine ganz andere Leidenschaft: Dann tötet er schöne Frauen, um sie …

Der einsame und kontaktscheue Frank (Elijah Wood) hat eine Werkstatt, in der er Schaufensterpuppen restauriert. Doch manchmal überwältigt ihn eine ganz andere Leidenschaft: Dann tötet er schöne Frauen, um sie zu skalpieren und seine Puppen mit ihrem Haar zu schmücken. Eines Tages kommt die Fotografin Anna (Nora Arnezeder) zufällig an Franks Laden vorbei. Sie findet ein paar anregende Motive und hält Frank für einen Künstler. Der fühlt sich zum ersten Mal verstanden und verliebt sich in die ahnungslose Frau. Aber kann es ihm gelingen, dem Drang zum Töten zu widerstehen?

Franck Khalfouns Film mit dem blöden deutschen Verleihtitel – Alexandre Aja fungierte hier als Produzent und Co-Drehbuchautor – ist ein Remake von William Lustigs Splatter-Kultfilm aus dem Jahr 1980. Der Clou: Die Neuauflage wird fast komplett aus der Perspektive der Titelfigur erzählt. Viel wird deshalb derzeit geschrieben über die besondere Nähe, die der Film zu seinem mörderischen Protagonisten herstelle. Von einem einzigartigen Blick in dessen Seele ist bisweilen die Rede. Dabei ist das, was man wirklich über das Innenleben des schizophrenen Serienkillers erfährt – durch Halluzinationen etwa oder durch Rückblenden, die manchmal wie die Traumbühnen bei Ingmar Bergman inszeniert sind –, der übliche, psychologisch nicht haltbare Pulp. Aber Horrorfilme müssen ja letztlich nur erschrecken und verstören, obwohl man immer froh ist, wenn noch ein bisschen mehr passiert. Zumindest diese konstituierende Aufgabe des Genres löst der neue „Maniac“ gut, denn die subjektive Präsentation der Geschichte ist zuallererst eine Provokation.

Ob eine subjektive Kameraführung überhaupt das geeignete Mittel ist, um Mitgefühl zu erzeugen, ist durchaus umstritten. Auch wenn man sich in der Frühzeit des Mediums einen solchen Effekt erhofft haben mag und die Macher des „Maniac“-Remakes eine solche Erwartung ebenfalls formulieren, erwies sich eine radikal angewandte Subjektive bislang vor allem in anderer Hinsicht als nützlich. Die Einschränkung der Zuschauerperspektive prädestinierte sie zum Beispiel für detektivische Noirs, siehe „Dark Passage“ (Delmer Daves, 1947) oder „The Lady in the Lake“ (Robert Montgomery, 1947). Schon da allerdings wirkte die exzessive Verwendung der Point-of-view-Kamera wie ein Gimmick – selbst beim viel gelungeneren „Dark Passage“. Zweifellos aber stellt die Subjektive eine gewisse Intimität und Nähe her, die vor allem dann eine Reaktion beim Zuschauer hervorruft, wenn sie als hochgradig unangenehm empfunden wird, wenn etwa der Voyeurismus gleichsam erzwungen wie bedient wird und wir als Betrachter zu Zeugen und Komplizen grausamer Taten werden.

Michael Powell machte in „Peeping Tom“ (1960) die voyeuristischen Attribute des Mediums selbst zum Thema, indem er der Subjektiven eines Serienkillers (gespielt von Karlheinz Böhm) folgt und die Perspektive sogleich als Kamerablick entlarvt: Der Mörder filmt seine Taten und projiziert sie später immer wieder. Bereits 1932 legte Rouben Mamoulian in seiner Fassung von „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ den Grundstein für eine solche Auseinandersetzung mit der Schaulust im Kino und der gesellschaftlichen Lust (bzw. ihrer Unterdrückung) generell. Sein Film thematisierte die damals populären Ideen der Psychoanalyse und etablierte Dr. Jekyll (Fredric March) mit einer langen Point-of-view-Sequenz. Später zwingt er den Zuschauer in eine männliche Allmachtsphantasie und lässt die Triebentfesselung in Gewalt und sexuelle Erniedrigung gipfeln. Subjektive Bilder werden dann zwar nie wieder so lang ausgespielt wie anfangs, aber dennoch mit größtmöglicher Wirkung eingesetzt. Besonders provozierend ist die Gleichsetzung des Zuschauerblicks mit dem Blick Dr. Jekylls in jener Szene, in der die Prostituierte Ivy (Miriam Hopkins) sich zur Kamera hin lasziv auszieht und schließlich ihr nacktes Bein pendeln lässt – ein Bild, das durch eine Doppelbelichtung sogar noch die nächste Szene überlagert, den jungen Arzt also nicht loslässt. Weil so ein unterdrücktes Begehren, wie es sich später als dunkle Seite des Doktors manifestiert, in jedem heterosexuellen Mann schlummern dürfte, müssen sich viele Zuschauer während der Terrorexzesse Hydes wenn schon nicht als Komplizen, so doch zumindest als potenzielle Monster fühlen.

Mit subjektiven Bildern aus Hydes Perspektive indes geht der Film sparsam um und zeigt den Terror aus distanzierteren Positionen. Als das Monster Ivy erwürgt, stirbt sie außerhalb des Bildkaders. Weil aber in der langen Zeit bis zum „Maniac“-Remake nicht nur Hitchcocks „Psycho“ (1960) und Powells „Peeping Tom“, sondern auch Carpenters „Halloween“ (1978) und zahllose Slasher-Filme verstörende Bilder aus der Täterperspektive geliefert haben, bleibt Khalfoun für sein Remake von „Maniac“ nur der Weg der Radikalisierung. Den Prinzipien der Splatter-Ästhetik fühlt er sich offenbar verpflichtet, denn er startet programmatisch, indem er den Zuschauer quälend lange in die brechenden Augen des ersten Opfers blicken lässt. Weil die vorangehende Messerattacke für den Zuschauer völlig überraschend kommt, wird schon an dieser Stelle deutlich, dass die subjektive Kamera per se nichts über die Innenwelt der Titelfigur verrät oder eine besondere Nähe herstellt, die über den Blinkwinkel hinausginge. Sie zwingt nur dazu, die unangenehmen Details wahrzunehmen – obwohl es für eine genregemäß exploitative Blicklenkung eigentlich gar keine solche Legitimation gebraucht hätte.

Die Splatter-Ästhetik indes wird hier zu neuer Höchstform getrieben. Die Effekte sind so glaubwürdig wie das dargestellte Leiden, der Distanzverlust durch den ständigen Zwang zum Hinsehen vollkommen. Die Point-of-view-Erzählhaltung funktioniert außerdem als Authentizitätscode, auch wenn auf einen übertriebenen Naturalismus mit künstlichen Blinzel-Effekten à la „Enter the Void“ (Gaspar Noé, 2009) verzichtet wird. Im direkten Vergleich zu dessen entfesselter Geisterkamera wirkt Khalfouns Film fast schon ein bisschen gebremst, bietet aber gerade deshalb einen umso klareren Blick auf die Goreszenen. „Maniac“ ist ein Terrorfilm, der seine destruktive Kraft aus der Permanenz des erzwungenen Blickwinkels speist, aus der serienmäßigen Wiederkehr des Grauens und dem ständigen Blickzwang. Auf eine Opferperspektive, die dem Zuschauer zumindest das masochistische Gefühl geben könnte, mit den Guten und Unschuldigen unterzugehen, wird völlig verzichtet.

So zermürbend und frustrierend (und demzufolge wohl gelungen) der Film auch ist: Einen Ausweg aus den Fesseln des üblichen Genreplots liefert sein stilistischer Ansatz nicht. Die Liebe vermag zwar sonst immer und überall alle zu retten, aber eben nicht die schizophrenen Serienmörder dieser Welt. So stellt sich dann letztlich doch die Frage, ob man statt einem ultraharten Slasherfilm mit Gimmick nicht lieber einen Film gesehen hätte, der die Schaulust kritischer reflektiert, statt sie vor allem nach allen (bekannten) Regeln der Kunst zu bedienen.

Ruby Sparks – Meine fabelhafte Freundin

(USA 2012, Regie: Jonathan Dayton, Valerie Faris)

Diskursiver Schwindel
von Wolfgang Nierlin

Im blendenden Gegenlicht greller Sonnenstrahlen erscheint eine junge, lächelnde Frau. Der irdische Traum von einem göttlichen Wesen signalisiert von Anfang an die enge Verbindung von Wirklichkeit und Illusion sowie einen …

Im blendenden Gegenlicht greller Sonnenstrahlen erscheint eine junge, lächelnde Frau. Der irdische Traum von einem göttlichen Wesen signalisiert von Anfang an die enge Verbindung von Wirklichkeit und Illusion sowie einen stetigen Wechsel zwischen beiden. In „Ruby Sparks – Meine fabelhafte Freundin“, dem neuen Film des amerikanischen Indie-Filmemacher-Paars Jonathan Dayton und Valerie Faris, ist der Träumer ein Schriftsteller mit einer Schreibkrise und einem Frauenproblem. Doch bevor sich seine Träume in Literatur verwandeln und die Literatur sich als Wirklichkeit materialisiert, entwickelt der Film eine wohltuend ausführliche Charakterisierung des Protagonisten und seines vielschichtigen Problems, das den Interpreten reichlich Deutungsstoff bietet, ja geradezu einen diskursiven Schwindel erzeugt.

Seit der 29-jährige notorische Einzelgänger und Kopfmensch Calvin Weir-Fields (Paul Dano) im Alter von 19 Jahren als literarisches Wunderkind entdeckt wurde, gilt er seinen Bewunderern als Genie. Vor allem seine weiblichen Fans haben es auf den smarten, zurückhaltenden Mann abgesehen. Doch seit einer gescheiterten Liebesbeziehung mit seiner früheren Freundin Lila (Deborah Ann Woll) hat der introvertierte Calvin weder Beziehungen zu Frauen noch überhaupt Sex, was von seinem Bruder Harry (Chris Messina) heftig hintertrieben wird. Auch Calvins infantile Regressionsphantasien in der Praxis seines Therapeuten Dr. Rosenthal (Elliott Gould) sowie die Projektion seiner psychischen Probleme auf sein Hündchen „Scotty“ (benannt nach dem Schriftsteller F. Scott Fitzgerald) zeichnen ein ziemlich komplexes Störungsbild: Zur Schreibblockade und Einsamkeit des ebenso romantisch wie rational veranlagten „Sublimierers“ kommen offensichtlich noch ein Mutterkomplex und eine Angstneurose.

„Kein Mann ist freiwillig allein“, wird einmal Humphrey Bogart in Billy Wilders „Sabrina“ zitiert. Also, inspiriert von seinen Träumen, erschreibt sich die Pygmalion-Figur Calvin wie im Rausch seine Traumfrau und erfüllt damit zugleich Dr. Rosenthals Therapievorgaben. Dabei ersetzt das Schreiben zunächst die Realität. Doch als plötzlich völlig unerwartet die Worte Wirklichkeit werden und die Titelheldin Ruby Sparks (Zoe Kazan, von der auch das beziehungsreiche Drehbuch stammt) in seiner Küche hantiert, ist das nicht nur ein phantastischer Schock, sondern auch ein Nachweis für die verändernde Kraft der Literatur. „Dass es dich wirklich gibt, ist völlig unglaublich“, sagt der Schöpfer zu seinem Geschöpf.

Ganz selbstverständlich und mit viel Humor integrieren die beiden Regisseure diese phantastische Prämisse in ihre ironische Beziehungskomödie, in die sich mit subtilem Nachdruck immer deutlicher der Horror schleicht. Denn natürlich bleibt die ideale Schöpfung unter den Einwirkungen des Lebens nicht einfach unverändert stehen. Und so wird der ebenso verunsicherte wie kontrollsüchtige Calvin, von Eifersucht, Verlustängsten und Erfinder-Hybris getrieben, immer stärker zum machtbesessenen Manipulator, der aus seiner Freundin – einem sehr menschlichen Wesen aus Fleisch und Blut – auf seiner Olympia-Schreibmaschine eine beliebig programmierbare Marionette macht. „Es tut mir leid, dass ich dich ändern wollte“, bedauert Calvin dann doch noch am Ende dieser „wahren, unmöglichen Geschichte“, die auch eine Reflexion über kreative Prozesse ist. Dass sich die Männerphantasie schließlich rückverwandeln darf in einen „normalen Menschen“ und die Literatur dabei zugleich ihrer therapeutischen Funktion gerecht wird, gehört zum besonderen Charme dieses geistreichen Films.

Pieta

(KR 2012, Regie: Kim Ki-duk)

Schwere Walzen
von Wolfgang Nierlin

Die engen, verwinkelten Gassen sind voller Öl und Dreck, Müll und Metallgerümpel. Hinter den blechernen Rolltüren dunkler, stickiger Baracken verbergen sich kleine, verwahrloste Werkstätten, in denen wenige verarmte Kleinunternehmer und …

Die engen, verwinkelten Gassen sind voller Öl und Dreck, Müll und Metallgerümpel. Hinter den blechernen Rolltüren dunkler, stickiger Baracken verbergen sich kleine, verwahrloste Werkstätten, in denen wenige verarmte Kleinunternehmer und Arbeiter an schweren Pressen und Walzen hantieren. Die Arbeitsbedingungen sind hier extrem, das Leben erscheint als eine einzige Plackerei. Nach dem Koreakrieg sorgten diese Manufakturen des Seouler Arbeiterbezirks Cheonggyecheon für den wirtschaftlichen Aufschwung im Land. Doch heute treiben Grundstücksspekulanten den Abriss dieses historischen Viertels voran. Die Hütten und kaputten Häuser ducken sich förmlich unter den mächtigen Türmen der modernen Hochhäuser, die allmählich das Terrain besetzen. In „Pieta“, Kim Ki-duks neuem, preisgekröntem (Venedig, Goldener Löwe) Film über die Unmenschlichkeit des Raubtierkapitalismus, ist dieser Kontrast durchaus sinnbildlich zu verstehen für eine Welt ohne Mitleid. „Was ist der Tod?“, fragt sich desillusioniert ein alter, verschuldeter, von der Modernisierung überrollter Arbeiter, bevor er sich mit einem Sprung in die Tiefe das Leben nimmt.

„Was ist die Natur des Menschen?“, fragt sich wiederum Kim Ki-duk in seinen Filmen. In „Pieta“ taucht er tief ein in diese faszinierend fremde, grausame Welt, die er aus eigener Erfahrung kennt, und findet zunächst nur eine schreckliche Antwort. Denn sein Film ist über weite Strecken eine schockierende Abfolge sadistischer Gewaltexzesse und destruktiver Lebensäußerungen. Deren negative Triebkräfte sind systembedingt und spiegeln die Hierarchie von Gewalt und Gegengewalt, die kein Verzeihen zu kennen scheint. Der Einzelgänger Lee Kang-do (Lee Jung-jin), ein ebenso skrupelloser wie brutaler Geldeintreiber, verkörpert dieses menschenverachtende Prinzip. Seine Schuldner aus den Betrieben von Cheonggyecheon verstümmelt er, wenn sie nicht zahlen können, mit ihren eigenen Maschinen, um ihre Versicherungssumme zu kassieren, und raubt ihnen damit auch noch die Arbeitskraft. In „Pieta“ ist das Verlangen nach Geld der Auslöser für eine Gewalt, die gleichermaßen Seele und Körper zerstört. Für Kim Ki-duk reflektiert sie „die Grausamkeit unseres Daseins in der Welt, in der wir leben.“

Ist der „Teufel, der die Menschen mit Geld verführt“, als der Lee Kang-do einmal bezeichnet wird, „böse geboren“ oder einfach nur „ohne Liebe aufgewachsen“? Zumindest Letzteres scheint der Fall zu sein. Denn eines Tages heftet sich eine schon ältere Frau aufopferungsvoll und scheinbar voller Selbstverachtung an seine Fersen, gibt vor, seine Mutter zu sein und hat für diese Behauptung schwere Demütigungen und Prüfungen zu ertragen. Doch nach einer Phase innerer Revolte beginnt sich bei Lee Kang-do irgendwann etwas zu regen, entwickelt sich allmählich ein Läuterungsprozess, der ihn in eine gefühlsmäßige Abhängigkeit zu dieser Frau setzt, ihn menschlicher werden lässt und damit, quasi als Zeichen davon, auch verwundbar macht. Geradezu roh und archaisch setzt Kim Ki-duk die Begriffe von Schuld und Sühne, Rache und Erlösungssehnsucht ins Bild, indem er die erzähllogischen Koordinaten von Raum und Zeit weitgehend negiert und damit seine Geschichte auf ihren allegorischen Kern verdichtet. Das im Filmtitel aufgerufene Bild der um ihren Sohn trauernden Mutter wird dabei sowohl ambivalent zugespitzt als auch umgekehrt und kulminiert schließlich in der Anrufung Gottes mit der Bitte um Frieden und Erbarmen: „Dona nobis pacem! Kyrie eleison!“, heißt es im ersten Lied des Abspanns. Zwischen religiöser Hoffnung und angedeuteter Menschwerdung bleibt am Ende vielleicht nur noch die Flucht aus den Lebensverhältnissen.

Genosse Münchhausen

(BRD 1962, Regie: Wolfgang Neuss)

Ein Paar Vasen
von Andreas Thomas

Die große alte Indianerin des deutschen Kabaretts, Wolfgang Neuss (»Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen«) wäre in diesem Jahr (2012) 89 Jahre alt geworden, wenn sie nicht, …

Die große alte Indianerin des deutschen Kabaretts, Wolfgang Neuss (»Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen«) wäre in diesem Jahr (2012) 89 Jahre alt geworden, wenn sie nicht, natürlich, und wie immer, viel zu früh, nämlich schon 1989 an Krebs und 66-jährig gestorben wäre. Wie es in Deutschland so üblich ist, werden, wenn überhaupt, Menschen von Format und Bedeutung nur für irgendetwas für ihr Lebenswerk total Nebensächliches berühmt. Bei Neuss war diese Nebensache, dass er per Berliner Zeitungsannonce den Mörder einer sechsteiligen Fernseh-Krimiserie („Das Halstuch“, Francis Durbridge) verriet, offenbar ohne dessen gewiss zu sein, aber mit Trefferinstinkt (natürlich war es Dieter Borsche). Neuss verbrach dies, indem er gleichzeitig die Zuschauer aufforderte, doch besser im Kino seinen eigenen Film „Genosse Münchhausen“ anzusehen.

Die intellekt-unterbestückte „Bild“-Zeitung beschimpfte ihn umgehend als „Vaterlandsverräter“ (wenn man die Preisgabe eines Mörders als den Verrat des Vaterlandes bezeichnet, dann erweckt das in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg doch schon interessante Assoziationen …), aber Zuspruchsschwankungen hätte der Film sicherlich auch ohne seine ziemlich blauäugig kumpelige Annäherung an das deutsche Volk von 1962 erfahren, wenn man sich nur ansieht, was er losließ, angesichts dessen, auf was er es losließ.

„Genosse Münchhausen“, 1962, ist seinem frei flottierenden geistigen Gehalt nach einem Helge-Schneider-Film, wie „Jazzclub“, ziemlich näher als etwa seinem zeitgenössischen Vorbild-Exemplar, Billy Wilders „Eins, zwei, drei“ aus dem Vorjahr, das nicht nur eine ähnliche Thematik, nämlich den Ost-West-Konflikt, sondern auch den leichten Anschauungstonfall besitzt, nämlich die deutschen Nachkriegskrüppel zu bespaßen versucht (vergleichbar wie man heutzutage das mit unterbetreuten Kindern macht), aber zugleich alles darunter, dahinter oder darüber Liegende ebenso zu verkleinern versucht, wie eben auch „Eins, zwei, drei“ es tat, indem er Ideologien und Gefühle auseinander zu halten trachtete. Nach dem GAU geht’s erst mal um Schadensbegrenzung, und die heißt im akuten Fall: Wir machen erstmal einen Witz.

Zum Einen ist „Genosse Münchhausen“ eine leidlich leichte und mäßig lustige Nachkriegsundvorkalterkriegsostwestfarceunddurchhalte-Komödie geworden, zum Anderen ein Brainstorm jemandes, der sein Gehirn immer lieber frei flattern lassen musste, ohne Rücksicht auf Verluste (Neuss). Und dieser, der akustisch schlecht verstehbare, dennoch und auch aus dem Off unablässig fließende und schwierig filmisch fixierbare Teil jenes leidlich filmischen und eher verbalen Teiles ist der des Erforschens würdigere dieses Filmes, und sicherlich bis heute der, der Wolfgang Neuss würdiger wäre.

Aber (sich selbst nicht ausgenommen) zusammengenommen, ergibt das Filmprojekt „Genosse Münchhausen“ eine spürbare Satire auf dieses merkwürdig unbeschwerte Deutschland (16 Jahre nach Ende dieses fatalen Vernichtungs-Kriegs und Massenmordes), also so, als wäre es irgendwie lustig, als wären nur ein paar Vasen zerdeppert worden, und man sich nun anderen, neuen und ebenso unbeschwerten Fehlern hinzugeben erlauben dürfe, wie einem lustigen Ost-West-Konflikt inkl. Atombombe.

Pervers also, eingedenk, und aber auch signifikant. Angesichts der Tatsache, dass Deutschland bis heute noch keinen kommensurablen Ansatz für den Umgang mit „seinen kleinen Sünden während des 2. Weltkriegs“ gefunden hat, ist es kein Wunder, wenn es in Form von Wolfgang Neuss frei rumsponn.

Ich liebe ihn und bedaure sein Verschwinden. Vergleichbar mit Tucholsky. Warum eigentlich hat der Deutschland verlassen? Jemand wie Volker Pispers beweist, dass echtes Kabarett immer noch lebt. Aber und: und ich habe vergessen, zu sagen, dass Wolfgang Neuss eigentlich besser als Kabarett und nicht als Film funktionierte …

Worum es geht in Genosse Münchhausen wird nicht verrraten. Na gut: Dieter Borsche!
Zusatz: Eine perverse Zeit mit perversen Geldgebern (CDU und SPD), die alle noch nicht wirklich wirkliche Polaritäten, und noch weniger das, was unsere heutige Politik, und überhaupt, unsere Welt heute ausmacht, gekannt haben, förderten gemeinsam den Film eines, als wäre das nicht damals schon auszumachen gewesen, zukünftigen Kiffers in spe vor dem Herrn.

Mit auf der DVD befinden sich zwei weitere deutsche Filme der frühen Sechziger, denn die DVD, auf der 'Genosse Münchhausen' erschienen ist, ist ein Nebenprodukt des Cinefest 2012, das sich dem deutschen Kino in der Phase des Kalten Krieges vor dem Oberhausener Manifest widmet. Die Kurzfilme 'Klammer auf, Klammer zu' von Hellmuth Costard und 'Erzählung über eine Liebe' von Roland Oehme sind zwei je anschauliche Beispiele für zaghafte neue Wege des Kinos West und Ost. Da wo Costard eindeutig seine Godard-Inspiration auslebt, und ein unkonventionelles junges Paar, ähnlich übrigens wie später May Spils in 'Zur Sache Schätzchen' (nur nicht so komisch), mittels Jump Cuts durch eine restriktive und emotional erstarrte BRD fahren lässt, da schildert Oehme beeinflusst vom jungen tschechischen Film und geschult in der Filmschule die Geschichte eines Arbeiter-Pärchens in der jungen Deutschen Demokratischen Republik, deren zum Teil ungeschminkte Frauenfeindlichkeit (Mehrfachvergewaltigung als männlicher common sense) doch ein ernüchterndes Bild des östlichen Nachkriegsdeutschlands liefert, eines Deutschland, dessen barbarische Sitten mit sozialistischen Idealen wenig zu tun haben.

Alle drei Filme sind einen Tipp wert, schon weil der Normalkonsument ja nicht einmal ahnt, dass es dergleichen im Kino überhaupt gab. Als aufgefüllte Bildungslücke im Kino-Geschichtsunterricht oder überhaupt als Beleg für das Vor-68er-Deutschland ist diese DVD sehr nützlich und interessant.

Searching for Sugar Man

(S / GB 2012, Regie: Malik Bendjelloul)

Lebende Legende
von Andreas Busche

Man könnte Sixto Rodriguez für ein armes Schwein halten. Zwei Platten hat der Singer/Songwriter Anfang der Siebziger Jahre auf dem Label Sussex veröffentlicht, von denen sein damaliger Boss Clarence Avant …

Man könnte Sixto Rodriguez für ein armes Schwein halten. Zwei Platten hat der Singer/Songwriter Anfang der Siebziger Jahre auf dem Label Sussex veröffentlicht, von denen sein damaliger Boss Clarence Avant behauptet, sie haben sich ungefähr siebenmal verkauft. Rodriguez verzweifelte irgendwann an seiner Erfolglosigkeit. Eines Nachts, so wurde kolportiert, zog er vor seinem wieder mal nicht sehr zahlreichen Publikum eine Pistole und jagte sich eine Kugel in den Kopf. Die Welt vergaß ihn. Knapp fünfzehn Jahre später ist Rodriguez in Südafrika bekannter als Elvis und die Beatles zusammen. Noch heute kann jedes Kind den Text von „I Wonder“ mitsingen. „I wonder about the tears in children’s eyes / And I wonder about the soldier that dies / I wonder will this hatred ever end”. Das Stück wurde zur Hymne der Anti-Apartheid-Bewegung, sein Song “Sugar Man” erreichte am Kap sogar Platin-Status. Doch Rodriguez blieb ein Mysterium. Mitte der neunziger Jahre beschlossen ein paar südafrikanische Musikfans, dieses Rätsel zu lösen.

Das Klischee des zu Lebzeiten verkannten Genies ist eine beliebte Legende der Popmusik. Die Biografie von Sixto Rodriguez hat jedoch einen Twist, den sich kein Drehbuchautor besser ausdenken könnte. Die Dokumentation “Searching for Sugar Man” des schwedischen Filmemachers Malik Bendjelloul rekapituliert diese seltsame Lebensgeschichte als Spurensuche, die ihren Höhepunkt in einer symbolischen Wiederauferstehung findet. Denn Rodriguez lebt. Er tritt nach Jahrzehnten buchstäblich aus der Obskurität hervor und spielt schließlich sein erstes Konzert in Kapstadt vor 15 000 begeisterten Fans.

Bendjelloul muss gar nicht viel tun, um diese unglaubliche Geschichte zu erzählen, aber jede seiner Entscheidungen ist stimmig. Den Mangel an Archivmaterial macht er mit sehr sparsamen Animationen und opaken Impressionen aus dem Detroit der siebziger Jahre wett. Er interviewt Arbeitskollegen vom Bau und alte Weggefährten, die sich nach vierzig Jahren noch an jedes Detail ihrer Begegnung mit Rodriguez erinnern. Und vor allem: Bendjelloul lässt die Musik für sich sprechen. Rodriguez’ Texte – lakonische, leicht trostlose Beschreibungen von zwischenmenschlichen Beziehungen mit einem fast dylanesken Wortwitz – verfassen eine Parallelbiografie, die ebenso mysteriös und widersprüchlich ist wie der Mann selbst. In den Interviews gibt sich Rodriguez wortkarg und bescheiden. Aber dann tritt er auf die Bühne und tut mit großer Selbstverständlichkeit das, wozu er offenbar geboren ist. Er wird zum Star.

Dieser Text erschien zuerst in: pony #79

Haus der Sünde

(F 2011, Regie: Bertrand Bonello)

Hinter schweren Vorhängen
von Wolfgang Nierlin

„Erinnerungen an ein Freudenhaus“ lautet der Untertitel von Bertrand Bonellos Film „L’Apollonide (Souvenirs de la maison close)“, der in Deutschland nach seiner kurzen Kinoauswertung jetzt auch auf DVD unter dem …

„Erinnerungen an ein Freudenhaus“ lautet der Untertitel von Bertrand Bonellos Film „L’Apollonide (Souvenirs de la maison close)“, der in Deutschland nach seiner kurzen Kinoauswertung jetzt auch auf DVD unter dem spekulativen Titel „Haus der Sünde“ veröffentlicht wird. Damit ist bereits eine Spur gelegt in jene ferne Vergangenheit des Fin de siècle, das als Zeitenwende zugleich einen Epochenwechsel markiert und den kulturellen Verfall mit dem Beginn der Moderne gleichsetzt. „Ich bin so müde, ich könnte ewig schlafen“, lautet entsprechend der erste Satz von Bonellos ästhetisch erlesenem Abgesang auf das Ende einer Epoche und eines Gewerbes, das nicht zuletzt durch politische Veränderungen forciert wird. Später sind die frivolen Schwarzweißfotografien des Vorspanns, Ansichten von Prostituierten und des Bordellbetriebs, unterlegt mit Soulmusik von The Mighty Hannibal („The Right To Love You“). Doch in die Klage über den kulturellen Niedergang mischt sich auch die Trauer über das Schicksal jener Frauen, die zu einer hermetischen Existenz („verhurter Hurenberuf“) verurteilt waren. „Freiheit gibt’s draußen“, sagt diesbezüglich einmal die nachdenkliche Bordellbetreiberin Marie France Dallaire (Noémie Lvovsky).

Bereits der markante Prolog, zu dem der Film wie in einer Zeitschleife aus wechselnden Perspektiven immer wieder zurückkehrt, versammelt die Themen dieses brillanten, geheimnisvollen Werks. Die Prostituierte Madeleine (Alice Barnole), „die Jüdin“ genannt, wird von einem Freier misshandelt und entstellt. Aus dieser Tat spricht jedoch nicht nur die brutale Willkür der Macht, sondern ihre Erzählung evoziert in einer Mischung aus Traum und Realität auch eine quasi heilige Aura des Opfers, die im Bild der Sperma-Tränen kulminiert. Schwäche und Stärke, Verfügbarkeit und Geheimnis sind darin vereint. Die Prostituierte erscheint als Wesen, dessen Käuflichkeit nie total ist und dessen würdevolle Unnahbarkeit gerade zur Projektionsfläche für die männlichen Kunden – allesamt Industrielle und Aristokraten – wird. Während sich die Zeit dehnt oder im Kreis bewegt, inszeniert Bertrand Bonello das Bordell als phantasmagorischen und mythischen Ort. Prismen und optische Geräte, schwarze und blaue Zimmer gehören zu seinem Inventar; Masken, Verkleidungen und Rollenspiele zu seinen erotischen Inszenierungen von Lust und Begehren; und der schwere Rauch der Opiumpfeife verspricht künstliche Paradiese. „Nights in White Satin“ singen die Moody Blues dazu.

„Das hier ist kein billiges Hotel“, sagt die Madame einmal zu einer noch minderjährigen Bewerberin. Am Ende düsterer Gänge, hinter schweren Vorhängen und Zimmertüren, die in geschmackvoll ausgestattete Räume führen, sowie unter dem kristallinen Tönen der Champagner-Gläser, als „Gesang der Sirenen“ apostrophiert, erscheinen soziale Not und Krankheit zwar gedämpft; sie werden davon aber keineswegs verschluckt, sondern in oftmals neckischem Ton beim Ankleiden, Essen oder auch nur trägen Ruhen verhandelt. „Wir sind gestraft, weil wir es verdienen. Tripper wäre wie Urlaub“, sagt eines der Mädchen. Immer wieder legt sich ein dunkler Schatten auf die Anflüge von Heiterkeit und Spott. Aber Léa, Julie, Samira, Clotilde, Pauline und die anderen bilden auch eine verschworene Gemeinschaft und sind mit ihrer Schönheit, Frivolität und stolzer Eleganz wie „Feuerblumen“: „Wenn wir nicht brennen, wie soll die Nacht erhellt werden?“ Liebe und Trost und ein wenig Glück sind von ihnen zu haben, während Tod und Trauer immer vernehmlicher ihre Stimme erheben.

In ebenso kunstvollen wie erlesenen Bildern inhaliert Bonellos Ensemblefilm die Stimmung der Dekadenz, ohne ihr zu erliegen. Vielmehr konfrontiert er die visuelle Schönheit seiner Phantasien immer wieder mit historischen Realitäten, für die er zahlreiche Dokumente gefunden und teils auch eingearbeitet hat. Über verschiedene Drehbuchfassungen, wiederkehrende Motive in seinem Werk und die Arbeit im Schneideraum gibt ein der DVD beigegebenes Making-of Auskunft, das mit „Haus der Illusionen – Behind the Scenes“ betitelt ist und auch ein wenig von der genauen Planung und Regie des französischen Regisseurs (Jahrgang 1968) vermittelt, der hierzulande mit dem Film „Der Pornograph“ (2001) bekannt geworden ist. Allerdings wirkt der kurze Beitrag von David Ctiborsky und Éric Lorent, auch wenn er mit seinen großartigen Kapitelüberschriften anderes behauptet, nur mäßig geordnet und ziemlich überfrachtet. Und auch „Proben: Die Schauspielerinnen“, das zweite Filmhäppchen der Extras, ist wenig aussagekräftig. Es sieht aus wie der Mitschnitt eines Castings.

Der Pornograph

(F / CA 2001, Regie: Bertrand Bonello)

Refugien der Abgeschiedenheit
von Wolfgang Nierlin

Nicht versöhnt mit sich und ihren Daseinsgründen sind die Protagonisten in Bertrand Bonellos melancholischem Film „Der Pornograph“. Verschlossen, fast abweisend behaupten sie ihre schwankende Identität. Träge und verloren vollziehen sie …

Nicht versöhnt mit sich und ihren Daseinsgründen sind die Protagonisten in Bertrand Bonellos melancholischem Film „Der Pornograph“. Verschlossen, fast abweisend behaupten sie ihre schwankende Identität. Träge und verloren vollziehen sie Bewegungen, die aus der Gewissheit des Scheiterns zu resultieren scheinen und von einer existentialistischen Schwere grundiert sind. Eine wehmütige Abschiedsstimmung durchzieht die Bilder, deren Schönheit nüchtern und illusionslos ist. Im Aufbau von einer Mark Rothko-Ausstellung inspiriert, beschreibt der dreiteilige Film eine zeitliche und räumliche Bewegung, deren diskursive Schichtung in einer Reihe von Parallelmontagen und verschiedenen, übergangslos ineinandergreifenden fiktionalen Ebenen aufgelöst ist. Der als Musiker ausgebildete Bonello versetzt in seinem zweiten Langfilm sowohl die individuelle Lebensgeschichte seiner Figuren als auch ihren Lebensraum in eine dialektische Spannung, die trotz mancher Thesenhaftigkeit und einem leichten Hang zum – typisch französischen – Manierismus ein Gefühl der Vergeblichkeit zurücklässt. So sind die Anfänge von ihrem Ende überschattet, und im allmählichen Weggleiten werden die noch unbestimmten Energien eines neuerlichen Einschwingens spürbar.

Der unvergleichliche Jean-Pierre Léaud spielt den ehemals erfolgreichen Porno-Regisseur Jacques Laurent, der aus finanziellen Gründen gezwungen ist, wieder in sein altes Metier einzusteigen. Bald muss er jedoch erfahren, dass sich die Regeln verändert haben und sich von den alten Idealen unter den neuen Produktionsbedingungen kaum noch etwas retten lässt. Seine Suche nach Liebe und Schönheit, konzentriert in den wenigen, fast unmerklichen poetischen Augenblicken seiner Filme, wirkt wie der matte Glanz einer fernen Epoche. Naiv und wunderlich, theatralisch und würdevoll bewegt sich Laurent über das Set. Als Schlafwandler in einem verlorenen Traum ruht er gedankenschwer in sich selbst. Und doch ist sein Leben ein stetiger Prozess der Auflösung.

An diesem Punkt kommt es zu einer Wiederbegegnung mit seinem Sohn Joseph (Jérémie Rénier), der sich vor Jahren von ihm losgesagt hat. Joseph ist ein stiller junger Mann, der zärtlich und entschieden dabei ist, seinen politischen Aktivismus für ein ungewisses privates Glück zusammen mit seiner ebenso schweigsamen Freundin Monika (Alice Houri) aufzugeben. „Meine Zeit hat nichts zu feiern, und wir sind mitschuldig“, lautet sein Credo. Obwohl das Politische in Bonellos Film plakativ und parolenhaft gesetzt ist und mit dem Pathos einer verschworenen Jugend vorgetragen wird, ist doch auch in ihm die Trauer unwiederbringlicher Verluste und ein schmerzlicher Abgesang auf das Ende der Utopien gegenwärtig. In „Der Pornograph“ werden zögerlich Refugien des Privaten und der Abgeschiedenheit errichtet, um den Abschied von den Idealen und einen akuten Traditionsverlust in eine Form von innerer Stärke zu überführen. Immer wieder reflektiert Bonello auf der Bildebene deshalb das Verhältnis von Zivilisation und Natur, Stadt und Land. Noch in der Arbeit des Porno-Regisseurs, die Bonello mit derjenigen des Autorenfilmers identifiziert, wird diese latente Spannung übersetzt in den Konflikt zwischen Kunst und Kommerz, künstlerischer Identität und seelenlosem Profitdenken.

„Der Pornograph“ endet mit einem Zitat des italienischen Schriftstellers und Filmemachers Pier Paolo Pasolini: „Die Geschichte ist die Leidenschaft von Söhnen, die ihre Väter verstehen wollen.“ In der griechischen Tragödie, die für Pasolinis Geschichtsbegriff die Vorbilder lieferte, muss der Sohn die Schuld des Vaters auf sich nehmen. Bonellos Interpretation dieses Diktums zeigt in diesem nie endenden, elementaren Verhältnis einen Vater, der zum Sohn des eigenen Sohnes wird und wie dieser noch einmal neu anfängt.

In ihrem Haus

(F 2012, Regie: François Ozon)

Komplizierte Komplizenschaft
von Wolfgang Nierlin

Man spürt die Skepsis und ein unterdrücktes Unbehagen in Germains (Fabrice Luchini) Blick, als der Rektor des Lycée Gustave Flaubert zu Beginn des neuen Schuljahres dem versammelten Kollegium verkündet, dass …

Man spürt die Skepsis und ein unterdrücktes Unbehagen in Germains (Fabrice Luchini) Blick, als der Rektor des Lycée Gustave Flaubert zu Beginn des neuen Schuljahres dem versammelten Kollegium verkündet, dass an dem fortschrittlichen „Pilot-Gymnasium“ zukünftig Schuluniformen getragen werden sollen, um die „soziale Heterogenität“ der Schülerschaft nach außen abzumildern. Der stramm kulturkonservative Literatur-Lehrer mit der ernsten Miene hat nämlich etwas gegen „Gleichmacherei“ und moderne psychische Empfindlichkeiten. Der transparente, offene Charakter des Schulgebäudes und der darin propagierte antiautoritäre, von gegenseitigem Respekt getragene Geist scheinen dieser Abwehrhaltung diametral entgegengesetzt. „Barbaren bevölkern die Klassenzimmer“, schimpft Germain gegenüber seiner Frau Jeanne (Kristin Scott Thomas) nachdem er die Aufsätze seiner Zehntklässler gelesen hat. Und als Bettlektüre nimmt sich der kinderlose Pädagoge die französische Übersetzung („Malaise dans la civilisation“) von Sigmund Freuds „Das Unbehagen in der Kultur“ vor.

François Ozon unterlegt auf einem Splitscreen die Vorspanntitel seines neuen Films „In ihrem Haus“ („Dans la maison“), der nach einem Theaterstück des spanischen Autors Juan Mayorga entstand, mit den vielzähligen, sich einander schnell ablösenden Gesichtern der uniformierten Schülerinnen und Schüler. Der Zeitraffer macht aus ihnen eine Masse und spitzt das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft noch zu. Und just an dieser Stelle pickt sich Germain einen seiner Schüler heraus, um ihn in einer sich zunehmend komplizierenden Komplizenschaft zu fördern: Claude Garcia (Ernst Umhauer) ist ein begabter, aber sozial benachteiligter Schüler, der seinen Französischlehrer mit der Beschreibung eines Wochenendes überrascht, das der 16-Jährige im Haus seines Mitschülers Rapha (Bastien Ughetto) verbracht hat. Vor allem das regelrecht physische Eindringen in den „Familienleib“ der bürgerlichen Mittelschicht, das mit Claudes erotischem, auf Raphas attraktive Mutter Esther (Emmanuelle Seigner) gerichteten Begehren assoziiert ist, erregt Germains Aufmerksamkeit und literarische Lust.

Als Manipulator und Spiritus Rector befördert der Lehrer fortan die literarische Produktion seines Schützlings, begleitet kritisch und zugleich fasziniert die Fortsetzungen seines „Bildungsromans“ und treibt ihn dabei immer tiefer in die Intimität der Familie. Offensichtlich kompensiert Germain damit eigene literarische Defizite und private Frustrationen, die insgeheim auch sein Verhältnis zu seiner Frau widerspiegeln, die eine von ihm kritisch beäugte Galerie für moderne Kunst (Le Labyrinthe de Minotaure) betreibt. Germains Flucht vor dem eigenen Leben in die Phantasie seines Schülers, den er instrumentalisiert und literarisch ausbeutet, gewinnt dabei immer deutlicher selbstzerstörerische Züge. Und auch Claude dringt mit seinen Erlebnissen, Wünschen und Projektionen immer tiefer in den Körper der Ersatzfamilie ein.

François Ozon widmet sich auch in seinem aktuellen Werk der Erforschung familiärer Beziehungen, ihrer Störanfälligkeit und ihrem mythischen Gehalt. Überaus vielschichtig, ebenso künstlich wie kunstvoll vermischt der äußerst produktive französische Regisseur die unterschiedlichen Grade der Fiktion, wobei sich die erzählte Realität des Films und diejenige der literarischen Phantasie, von wechselnden Off-Erzählern zusammengeführt, einander immer mehr annähern, gewissermaßen ununterscheidbar werden. Die Bilder, ökonomisch organisiert und in einen Werkzusammenhang verweisend, folgen den Worten und transzendieren sie zugleich. Das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit, Erfindung und Realität wird dabei ebenso thematisiert wie die Funktion von Literatur und Kunst. Auch wenn man aus ihnen vielleicht nichts lernen könne, bildeten sie doch den Sinn für die Schönheit der Dinge aus, sagt Germain einmal: „Menschen brauchen gute Geschichten.“ Am Schluss, vor den erleuchteten Fenstern eines Wohnblocks, blicken Lehrer und Schüler gemeinsam auf die vielzähligen parallelen Leben und Dramen, die sich (in Anknüpfung an den Vorspann) vor ihnen zeigen und die die erzählerische Phantasie beflügeln.

Mondomanila

(PH / F 2012, Regie: Khavn de la Cruz)

I Wanna Know What Punk Is
von Andreas Thomas

„This is not a Film by …“ steht im Vorspann von „Mondomanila” und das hört sich ähnlich an wie “This is not a Love Song” von Public Image, die ja …

„This is not a Film by …“ steht im Vorspann von „Mondomanila” und das hört sich ähnlich an wie “This is not a Love Song” von Public Image, die ja auch keiner mehr so gut kennt wie die Sex Pistols, die aber meist trotzdem nicht Sid Vicious als Sänger hatten, sondern Johnny Rotten alias John Lydon, der selbdritt oder –zweit dann nun eben der verkappte Sänger beider Bands war und in einer gewissen stringenten Tradition des Punk stehend und tätig. Wobei wir, und das ist jetzt cool, eine Kurve gekriegt haben zu diesem Nichtfilm, um gleich dazu zu sagen, dass dieses auch eine Nichtfilm-Filmkritik ist, man könnte zusammenfassen, also eine Nicht-Film-Kritik, man könnte sagen, dass diese eine sein soll und sich eben auch bekennt zu Punk, jedenfalls zu dem, was er sein wollte, und zu dem, was er heute noch sein könnte, nämlich NICHTS, und deshalb eine NICHTFILMKRITIK sein.

Vor gefühlten 100 Jahren da sang mal die Melody-Rock-Band Foreigner „I Wanna Know What Punk is, I Want You To Show Me …“. Zu diesem Zeitpunkt war Punk tatsächlich schon tot und Jazz hat immer noch lustig gerochen und niemand hat‘s gemerkt, außer den Blitzmerkern von Foreigner, die nach Punk fragen; und Punk – wie gesagt, glänzt hauptsächlich dadurch, dass er, wie Dada, Kaka oder Pipi entweder Babykram oder eben gar nicht vorhanden ist, sobald jemand nach ihm greift,- oder dann eben komisch riecht.

Also bin auch ich konsequent und greife nicht nach einem Film, der kein Film ist, sondern eben höchstens Punk und das auf ziemlich überzeugende Weise. Das Beste, ich nehme es vorweg, ich kann nicht anders, an „Mondomalia“ ist tatsächlich die Musik, und die hat, soweit man das hier in Deutschland, denn die Philippinen sind weit weg (kennt jemand noch das umgedrehte Pendant zu philippinischem Punk, die berühmten Wallerts aus Göttingen?), überhaupt beurteilen kann, Punkformat, das heißt, sie setzt im besten Sinne fort, was so andernorts als Independent oder Underground oder so gehandelt wurde, bis etwa 2000 und dann irgendwie professionalisiert war. Mit anderen Worten, der Nicht-Regisseur hat einige veritable Popperlen geschrieben, die nicht nur schön leicht daneben im Keinfilm eingespielt, sondern auch genial komponiert sind, die an Bands wie Pavement erinnern und Laune machen, obwohl man darin überhaupt nicht englisch, sondern nur das verballhornte Spanisch der Philippinen hört: Trotzdem, nein, auch nicht deswegen geil!

Und der Nichtfilm? Naja, so ein verkappter und offenbar zurecht gestutzter Kindersoftporno, dessen mutmaßlich stärkste Szenen wahrscheinlich irgendwelchen kommerziellen Kriterien zuwiderliefen. Will sagen, dass kaum einer der Protagonisten älter als sechzehn ist, die meisten davon männlich, aber sie alle vor allem angeben, wie eine Tüte Mücken, wie schnell und wie oft sie wichsen und ficken und abspritzen könnten, so als wäre die Erotik ihr „Lebensmittelpunkt“ (auch eines meiner absoluten neuen Lieblingswörter), was sie auch sein muss, denn zu essen gibt’s nicht genug und das Wasser, der Rinnsal in den Slums (Upps, habe ich vergessen, zu sagen, dass der Nichtfilm in den verdammten Slums von Manila spielt?) besteht, wie die Wäscherin aus dem Nichtfilm genau aufführt, zum großen Teil eher aus Kacke, Kotze, Pisse und Kot als nur aus Wasser. Hier drin werden die Klamotten gewaschen der Kinder, die ihre Lektion gelernt haben und den Imperialismus und Rassismus der weißen Rasse erkannt. Die Jungs mit den Knoten in ihren Mägen, die sich, also ihre kleinen Ärsche, verkaufen müssen, damit sie und ihre Familien überleben können.

Ich gebe zu, ich werde emotional, aber auch der (Nicht-)Film wird es immer, wenn er der Wahrheit zu nahe kommt, gleichzeitig schafft er es aber, eine gerüttelte Distanz herzustellen zwischen Elend, Spaß und Ausbeutern. „Mondomanila“ ist kein Film, der um Entwicklungshilfe bettelt, sondern ein Film, der Gerechtigkeit einklagt, sein Tenor ist: Ihr weißen Ausbeuter mit Eurer wohltätigen Globalisierung, wir brauchen eure Hilfe nicht, denn wir kamen und kommen besser ohne euch zurecht. Und der Film, der ja dann doch genauso ein Film ist, wie diese Filmkritik eine Filmkritik, tut das, also das Einklagen, das Insistieren auf Gerechtigkeit, auf eine Art und Weise, wie sie mir noch nie begegnet ist bei einem Film aus einem Land mit solch hohen Lebensstandards. Und er tut das so wenig devot oder larmoyant oder melodramatisch, dass ich dem Staunen nicht entweiche.

Der Höhepunkt ist ein durchaus symbolhafter weißer alter Arsch, der sich ficken lassen will und hart ficken, nämlich den baby-tuntigen, armen und einzigen echten kleinen Philippino-Schwuli aus dem Ghetto. Er, und seine Inszenierung, erinnert an eine Mischung aus William Burroughs und jenen untergetauchten Altnazi aus dem berühmten Russ Meyer-Film „Im tiefen Tal der Superhexen“, er ist ein absolut menschenfeindlicher Rassist erster Güte. Nietzsche (oder nicht?) hätte seine Freude an ihm gehabt – oder wenigstens seine Syphilis.
Ich solidarisiere mich mit „Mondomanila“ total.

Am Himmel der Tag

(D 2012, Regie: Pola Schirin Beck)

Standard Operating Procedure
von Ricardo Brunn

Coming-of-Age-Filme bilden ein beliebtes Sujet bei Filmhochschulabsolventen und -absolventinnen. Oft genug selbst in einer Phase des Übergangs, verhandeln sie in ihren Filmen Themen wie die Entfremdung von den Eltern oder …

Coming-of-Age-Filme bilden ein beliebtes Sujet bei Filmhochschulabsolventen und
-absolventinnen. Oft genug selbst in einer Phase des Übergangs, verhandeln sie in ihren Filmen Themen wie die Entfremdung von den Eltern oder die Sehnsucht nach Freiheit, kombiniert mit Fragen nach der eigenen Identität. Damit verbunden geht es in diesen Filmen nicht selten auch um Grenzerfahrungen, weshalb die Selbstfindung der Adoleszenten hin und wieder ins Ausland (Afrika, wenn es besonders exotisch sein soll) verlegt wird. Meistens bleiben die Protagonisten allerdings daheim. Vornehmlich in Berlin, denn der hier ansässige RBB unterstützt seit geraumer Zeit die Arbeiten der HFF „Konrad Wolf“ sowie der DFFB. In der neuen Reihe „Leuchtstoff“ sollen nun noch einmal speziell Filme aus der Region Berlin-Brandenburg unterstützt werden, die nach Aussage des Senders „durch herausragende Qualität, großes Engagement und Leidenschaft beeindrucken“.

Den Anfang macht Pola Beck, die in „Am Himmel der Tag“ eine klassische Coming-of-Age-Geschichte erzählt: Lara ist unzufrieden mit ihrem Leben. Orientierungslos driftet sie durch ihr Architekturstudium, welches sie vor allem für ihre Eltern begonnen hat. Eine ungewollte Schwangerschaft, eingeleitet durch einen Barkeeper auf dem Disco-Klo, kommt da nicht ungelegen, bietet der langsam wachsende Embryo doch eine gute Gelegenheit, sich dem Leben zu stellen. Doch entgegen aller Hoffnung verläuft die Schwangerschaft nicht problemlos und entwickelt sich zu einer schweren Prüfung auf dem Weg zum Erwachsenwerden.

Die verspätete Adoleszenz Laras wird im Folgenden mit der dramaturgischen Akrobatik eines wohlerzogenen deutschen Abschlussfilmes geschildert. Das Verhältnis zu den Eltern (insbesondere zur Mutter), ist, wie könnte es anders sein, angespannt. Und selbstverständlich wird ausgestellt, wie sehr sich die Eltern in ihrem Upper-Middleclass-Architekten-Wohlstand bei traditionellem Filmabendessen mit gutem Wein voneinander und ihrer Tochter entfremdet haben. Und selbstverständlich darf auch ein Streit nicht fehlen, den Lara aus der Ferne beobachtet und anhand dessen für den Zuschauer klar wird, dass die Eltern als Bezugspersonen und Rettungsanker ausgedient haben. Um diese Strategie der Vereinsamung weiter voranzutreiben, ist dann auch die Mitarbeiterin des sozialmedizinischen Dienstes – denn Lara ist anfangs noch unsicher, ob sie das Kind behalten möchte – nichts weiter als eine emotionslose Schreibtischtäterin.

Ich wage zu behaupten, dass diese Situation mangelhaft bis gar nicht recherchiert ist, denn wer einmal in einer solchen Einrichtung vorbeischaut, wird feststellen, dass die MitarbeiterInnen eine Beratungsbescheinigung zum Schwangerschaftsabbruch nicht einfach ausfüllen und abstempeln, sondern zuvor sehr gezielt nach den familiären Hintergründen der Betroffenen sowie den Gründen für eine mögliche Abtreibung fragen. Schließlich geht es nicht um die rein bürokratische Genehmigung einer Abtreibung, sondern um den Erhalt von Leben und das Abwägen der Chancen, die diesem Leben geboten werden können oder verwehrt sind. Aber eine die Protagonistin isolierende Umgebung – da darf auch der aggressive Straßenverkehr der Metropole nicht fehlen – dient dem dramaturgischen Konzept eben mehr, welches die Kamera mit ihrem weitestgehenden Verzicht auf Totalen und mit gezielten Unschärfen um die Protagonistin ausstaffieren darf. Und beim Farbkonzept wird natürlich immer wieder auf das einsamste Kolorit des Farbkreises zurückgegriffen. Pullover, Taschen, Wandfarben, Bettbezüge – es bleibt subtil, aber dennoch das altbekannte Blau.

In diesem Zusammenhang genügt es beispielsweise auch, sich einmal vage vorzustellen, wie das Streichen eines Zimmers bei Mittzwanzigerinnen inszeniert sein könnte – und genau so sieht es dann auch aus. Oder da ist die gleich zu Beginn stattfindende Begegnung Laras mit dem kauzigen Nachbarn Elvar. In der Sekunde, in der er den Fahrstuhl betritt, ahnt man schon, in welchem Stockwerk die Reise am Schluss des Filmes enden wird. Zu aufdringlich skurril ist die Begegnung in Szene gesetzt, in der Lara auch noch einen symbolisch aufgeladenen, weil einsamen Guppy geschenkt bekommt. „Die sind super, die haben kein Gedächtnis“, flüstert der Nachbar Lara zu. Man wünschte sich, die Regisseurin hätte eines – ein Bildgedächtnis nämlich. Denn unter all den pittoresken Blaupausen wird selbst auf die obligatorischen Zugvögel als transitorisches Werkzeug nicht verzichtet.

Auch wenn nicht alles konsequent auserzählt und manchmal nur angedeutet wird, so werden doch nach und nach die handlungsbetonten Erzählkonventionen artig abgearbeitet und mit bekannten Mitteln professionell umgesetzt. Selbst die Wahl der Hauptdarstellerin offenbart den Hang der Regisseurin zu großzügig dosierter Konformität. Unabhängig von ihrer bravourösen Leistung, kommt man nicht umhin, Aylin Tezel unentwegt mit Everybodys-Darlings wie Lena Meyer-Landrut oder Nora Tschirner zu verwechseln. Es ist es schon verwunderlich, welch rehäugiges Frauenbild seit einiger Zeit im deutschen Kino und TV bedient und – auch in diesem Abschlussfilm – konsequent breitgetreten wird.

„Am Himmel der Tag“, dessen Hauptdarstellerin in manchen Szenen zu Tränen rührt und der über weite Strecken trotzdem erfreulich wenig rührselig daher kommt, ist bei aller Souveränität leider einer dieser Filme, auf den sich in seiner Gemachtheit irgendwie alle einigen können. Er ist handwerklich sicher inszeniert, zugleich aber unausstehlich brav und fernsehgerecht. Immerhin, so könnte gutes Fernsehen in näherer Zukunft aussehen und vielleicht verlange ich einfach zu viel von diesem Abschlussfilm. Vielleicht verteidige ich aber auch nur eine Form des Kinos, bei dem ich Dringlichkeit, eine unbändige Leidenschaft für das Medium und ein aufrichtiges Engagement für das gewählte Thema spüre, welches hier in seinem Spiel mit der Tabuisierung des Kindstodes gerade einmal die austauschbare Schablone für ein allzu bekanntes Coming-of-Age-Szenario liefert.

Mit „Am Himmel der Tag“ ist es wie mit den Strebern in der Schule: Das Einzige, worauf der Lehrer bei der Rückgabe der mit Note 1 beurteilten Klassenarbeit noch hinweisen kann, ist, dass das Auswendiglernen eben nicht alles ist.

Müll im Garten Eden

(D 2011, Regie: Fatih Akin)

Höllische Haufen
von Harald Mühlbeyer

2007 kam Fatih Akin nach Camburnu; das Bergdorf am Schwarzen Meer war Heimat seiner Großeltern, hier drehte Akin für „Auf der anderen Seite“. Und musste am Drehort feststellen, wie ein …

2007 kam Fatih Akin nach Camburnu; das Bergdorf am Schwarzen Meer war Heimat seiner Großeltern, hier drehte Akin für „Auf der anderen Seite“. Und musste am Drehort feststellen, wie ein Paradies zerstört wird. Seine Langzeitdokumentation „Müll im Garten Eden“ zeigt den vergeblichen Kampf der Einwohner gegen die autoritäre Obrigkeit, zeigt die verhallenden Aufschreie gegen eine umweltzerstörerische Mülldeponie.

Die Kamera fliegt über die Idylle, über sattgrüne Teeplantagen, heimelige Häuser, im Hintergrund das Meer – und schon gerät der überdimensionale Müllplatz in den Blick, ein höllischer Haufen Unrat. Der wurde von den Behörden dahingesetzt mit löblicher Absicht: Denn zuvor war es Brauch, Abfall ganz einfach im Meer zu entsorgen. Die Ausführung aber war und ist empörend, und mit filmischem Furor deckt Akin die Missstände Punkt für Punkt auf. Wie Gesetze und behördliche Bau- und Umweltverfügungen systematisch umgangen wurden (auch, weil sie vermutlich bewusst schwammig formuliert sind), wie jeder Protest der Bevölkerung schlicht übergangen wurde, wie der Bürgermeister, der sich über den Dienstweg beschwerte, mit Klagen überzogen wurde. Wie frühzeitige Warnungen ignoriert wurden und wie die vorhergesagten Probleme dann umso vehementer eintraten.

Schon in der Bauphase war die schwarze Plastikplane, die Boden und Grundwasser vor verseuchten Flüssigkeiten aus dem Müll schützen sollte, von den Baumaschinen zerstört worden. Problem? Nein, kein Problem. Kann man ausbessern. Was, wenn das Giftwasser über den Rand der Müllkippe schwappt? Auch kein Problem. Solange es nicht stark regnet. Wenn dann der örtliche Bach tot ist, wenn die Plantagen überschwemmt werden – es ist fast rührend naiv, wie der zuständige Ingenieur hilflos herumdruckst: Wer kann im Sommer schon mit einem so heftigen Gewitter rechnen? Es war ganz einfach Allahs Wille.

Hierzulande protestiert man gegen Bahnhöfe und Flughäfen. Im Osten der Türkei geht es um das Leben eines Dorfes, um das Überleben. Akin blickt auf den Müll, und darauf, was er mit dem Dorf macht, mit seinen Bewohnern, die protestieren, die resignieren, die wegziehen. Mit einer Landschaft, die mutwillig verseucht wird. Alles legitimiert durch eine Scheindemokratie, in der die Mitsprache der Bevölkerung reines Alibi ist, in der weggeschaut, weggehört und weitergemacht wird. Selbstherrlichkeit regiert.

Akin ist sozusagen der internationale Fürsprecher des Protestes, hat das Thema schon vor Jahren in die hiesigen Qualitätszeitungen gebracht, veröffentlicht nun diesen Film, in dem sich Wut gegen Willkür und Respekt vor der Zivilcourage begegnen. Was der Film vermissen lässt, ist eine packende Dramaturgie. Erratisch werden einzelne Phasen von Bau, Einwänden, Umweltkatastrophen abgehakt. Das ist szenisch, im Einzelnen spannend, in den Porträts einzelner Menschen, in der Kette der Rücksichtslosigkeiten und obrigkeitlichen Willkürlichkeiten. Im Ganzen aber hat der Film nicht die Kraft, die seinem Thema innewohnt.

Das Finale ist bezeichnend: Da bricht tatsächlich das Becken der ohnehin nur provisorischen und völlig unterdimensionierten Kläranlage: Außer geborstenem Beton, zwischen Teepflanzen rinnendem Müllwasser und einem toten Hund unter den Trümmern zeigt Akin davon nichts. Dabei wäre das das eine, große Bild für diese höllische Landschaftszerstörung, auf die der ganze Film hinauslaufen könnte.

Shut up and play the Hits

(GB 2012, Regie: Will Lovelace, Dylan Southern)

I Was A Mod Before You Was A Mod
von Ulrich Kriest

War offenbar ein ziemlich großer Abend, dieser Abschied mit Ansage, den LCD Soundsystem am 2. April 2010 im New Yorker Madison Square Garden hinlegten. Es gibt ein paar magische Momente …

War offenbar ein ziemlich großer Abend, dieser Abschied mit Ansage, den LCD Soundsystem am 2. April 2010 im New Yorker Madison Square Garden hinlegten. Es gibt ein paar magische Momente in diesem Film, die nahe legen zu bedauern, nicht dabei gewesen zu sein. Zum Beispiel, wenn der Indie-Rock provozierend auf der Stelle tritt, James Murphy eine Etage höher steigt, sich hinstellt, die Augen schließt, die Arme ausbreitet – und plötzlich verwandelt sich die Halle in eine Meta-Disco. Die Erlösung von Rock durch Disco – ein Traum! „Emotional Rescue“.

Murphy, ein Pop-Star, der schon mit seinem ersten Hit davon erzählte, dass seine auf dem symbolischem Kapital der Hipness gründende Existenz sich überlebt habe, tritt mit einem Paukenschlag ab und geht mit dem Gedanken hausieren, er sei jetzt ein Rentier, der sich endlich seinen anderen Hobbys widmen könne. Zum Beispiel? Im Bett bleiben und mit dem Hund schmusen oder – Lennon hat’s vorgemacht – seine Fertigkeiten in Sachen Kaffeekochen upgraden. Oder sich ums „DFA“-Label kümmern. Oder Schriftsteller werden? „Shut Up And Play The Hits“ erzählt von den letzten Tagen des Projekts LCD Soundsystem, hinter dem als Mastermind James Murphy steckt – und das erst zur »Band« wurde, als es als Live-Act nachgefragt wurde. So wie Murphy zum Pop-Star wurde, der a) über jede Menge durchreflektiertes cooles Wissen verfügt und b) kein Pop-Star sein wollte. Wir erinnern uns: Ausgestattet mit dem Popwissen eines Ü30-Hipster-DJs musste es Murphy erleben, dass das Internet sein symbolisches Kapital »vergesellschaftete«, insofern immer mehr Musik problemlos verfügbar wurde und Insider-Wissen (seinerzeit noch obskure No Wave-Bands Bands der frühen 80er Jahre wie Delta 5 oder Liquid Liquid) nicht länger Reflex einer Fan-Biografie, sondern »nur« Resultat einer längeren Internet-Recherche wurde. Genau davon handelte „Losing my Edge“, der Song, der Murphy 2002 bekannt machte.

„Hip“ ist, wenn man »dabei« ist und nicht, wenn man davon gehört hat. Und jetzt, also am 2. April 2010, steht Murphy auf der Bühne und dabei immer etwas neben sich – und feiert seinen Abschied. Und kann sich dabei die Tränen nicht verkneifen, obwohl er die ganze Zeit ungläubig zu staunen scheint, es müsse sich ohnehin um einen Traum handeln. Ein Traum, der auf der anderen Seite 20.000 Menschen hysterisch und tanzen, ausrasten und gleichfalls losheulen lässt. Es gibt ja durchaus kompetente Musik-Kritiker, die halten LCD Soundsystem für die wichtigste Band der Nullerjahre. Wer „Shut Up … „ gesehen hat, wird kaum noch widersprechen wollen, wäre da nicht die Ambition der Filmemacher, mehr sein zu wollen als »this generation’s THE LAST WALTZ«, weshalb Murphy auch noch den Journalisten und Schriftsteller Chuck Klosterman zum Gespräch trifft. Dieses Gespräch, recht kompetent und scharfsinnig, wird allerdings zum Soundtrack von prä- und postkonzertanten Impressionen missbraucht und verschnitten. Und hier liegt die Crux: wer Murphy und LCD Soundsystem kennt und schätzt, weiß auch um Murphys zahlreiche geistreiche und vor Esprit sprudelnde Interviews, deren Niveau die snippets aus dem Gespräch mit Klosterman nie erreichen.

Wer aber Murphy und LCD Soundsystem bislang nicht oder nur am Rande wahrgenommen hat, wird Murphy für einen etwas verstiegenen und schrulligen Melancholiker halten. Was wiederum nur bedingt zur mitreißenden Abschieds-Live-Performance passt, die Menschen zurück ließ, die glücklich Rotz und Wasser heulten, weil sie dabei sein durften. Und natürlich Hoffnung schöpfen, wenn Murphy im Interview erklärt, dass die Auflösung von LCD Soundsystem vielleicht sein größter Fehler war. Parallel zum Film ist eine Box erschienen, die das gesamte Konzert dokumentiert und nicht nur 11 von 29 Songs. Wir sollten James Murphy nicht vorschnell zum alten Eisen zählen.

Der Aufsteiger

(F / B 2011, Regie: Pierre Schoeller )

Die Gesamtheit der Dementis
von Andreas Busche

Man muss sich die aktuelle politische Praxis als eine Kette von Affekthandlungen vorstellen. Das Tempo der medialen Verwertungsmaschinerie gibt den Takt vor, der dem Personal gerade genug Zeit zum Reagieren …

Man muss sich die aktuelle politische Praxis als eine Kette von Affekthandlungen vorstellen. Das Tempo der medialen Verwertungsmaschinerie gibt den Takt vor, der dem Personal gerade genug Zeit zum Reagieren lässt. Die politische Inszenierung beschränkt sich meist auf Ablenkungsmanöver oder Schadensbegrenzung, es herrscht ständige Alarmbereitschaft. Wer versorgt die Öffentlichkeit schneller mit einer unqualifizierten Meinung, welches unbedachte Statement gilt es als nächstes zu dementieren? Das Dementi ist das exemplarische taktische Manöver in der modernen Polit-Kommunikation, es beschreibt anschaulich die Ohnmacht der Mächtigen im Angesicht der freien Kräfte, welche die politischen Entscheidungsprozesse in Gang setzen. Aus der Gesamtheit der Dementis ergibt sich ex negativo ein repräsentatives Stimmungsbild des politischen Diskurses.

Damit ist die Dramaturgie von Pierre Schoellers Satire „Der Aufsteiger“ eigentlich schon auf den Punkt gebracht. In der Krisen-Kommunikation zählt nur die Wahrnehmung, heißt es einmal im Film. Schoeller gewährt einen nüchternen Einblick in die Mechanismen der Demokratie-Arbeit: am Beispiel eines kleinen Rädchens im Getriebe, das eine Verkettung glücklicher Umstände (Talent gehört nicht dazu, nicht einmal ein gehöriges Maß an Abgebrühtheit) auf die große Bühne der Politik befördert.

Bezeichnenderweise markieren zwei Verkehrsunfälle die entscheidenden Wendepunkte im beruflichen Werdegang von Bertrand Saint-Jean. Saint-Jean ist Minister für das französische Transportwesen – jede Krise des Verkehrs ist gleichbedeutend mit einem Scheitern seiner Politik. Er selbst bildet eine träge Masse, die erst unter äußerer Einwirkung beschleunigt. Seine politischen Standpunkte entspringen eher politischem Pragmatismus als ehrlicher Überzeugung. Warum er so vehement gegen die Privatisierung der französischen Bahnhöfe opponiert, weiß er wohl selbst nicht – man könnte es politischen Instinkt nennen. (Vielleicht aber auch nur Ressentiment, weil er den Kollegen aus dem Wirtschaftsministerium für ein aufgeblasenes Arschloch hält) Dass es nicht unbedingt Instinktes bedarf, um es in die Politik zu schaffen, demonstriert „Der Aufsteiger“ ganz wertungsfrei. Der französische Originaltitel „L’Exercice de L’Etat“, Staatsgewalt, legt dann auch weniger Fokus auf die persönliche Geschichte eines Mannes als auf den Machtapparat, den er repräsentiert und der ihn (ver)formt.

Zweimal kracht es in „Der Aufsteiger“ also. Das erste Mal wird Saint-Jean vom Klingeln des Telefons aus seinem nächtlichen Träumen gerissen; es ist eine sexuelle Machtfantasie sondergleichen und sie verschafft ihm einen ordentlichen Ständer. Dann die schlechte Nachricht: Unfall in den Ardennen, ein Bus mit Jugendlichen ist von der Straße abgekommen und in eine Schlucht gestürzt. Vermutlich keine Überlebenden. Kaum ist der Minister aus dem Bett, kursieren die Gerüchte, bereitet der Stab das erste Dementi vor. Um ihn herum tote Kinder und verzweifelte Eltern. Die Routinen der Selbstinszenierung (Saint-Jeans PR-Beraterin Pauline befindet sich ständig an seiner Seite), in der selbst angesichts des menschlichen Leids der professionelle Blick für den richtigen Krawattenfarbton nicht getrübt ist, werden von Schoeller ganz beiläufig im Modus höchster Betriebsamkeit eingefangen. Die Politik schläft nie; auch wenn sie träumt, ist sie noch mit sich selbst beschäftigt. Es spricht für die Aufmerksamkeit Schoellers, dass kaum eine Geste oder ein Dialog in „Der Aufsteiger“ unbedacht gewählt ist.

Bertrand Saint-Jean verkörpert eine Figur der politischen Zeitenwende, doch er ist umgeben mit dem Personal der Vergangenheit. Sein Stabschef Gilles, ein Politprofi alter Schule, verfügt über die Insignien der Macht sozusagen qua Geburt. Gilles ist Angehöriger einer altehrwürdigen französischen Politikerkaste, die Saint-Jean immer verschlossen bleiben wird. Dass er im Politklüngel ein Außenseiter ist, sehen die Alten trotz ihres Misstrauens gegenüber dem Emporkömmling als seine Stärke. Der Karrierist bedeutet keine Gefahr, doch der Mentalitätswandel ist unaufhaltsam.

Saint-Jeans Auftreten mangelt es entschieden an Eleganz und Würde. („Du hast kein Image, weil Du keine Geschichte hast“, erklärt ihm Pauline, „du bist verschwommen.“) Er stammt aus einfachen, groben Verhältnissen. Auch die Zeitungen vermuten hinter seiner Durchsetzungsfähigkeit, die eigentlich nur eine fortgeschrittene Form von Stoizismus ist, eine Residualeigenschaft seiner familiären Herkunft: den Bauern im Politbetrieb haut so leicht nichts um. Aber wovon träumt dieser Bauerntrampel nachts? Von nackten Mädchen, die in prunkvollen, von Kapuzenmännern bereiteten Zeremonien bereitwillig in den Schlund eines gefräßigen Monsters kriechen. Das Unbewusste manifestiert sich als diffuse Sehnsucht nach perversen Machtritualen. Fressen und Gefressen Werden – eine Lektion, die Saint-Jean auf die harte Tour lernt.

Das alles könnte Schoeller leicht als Farce inszenieren, doch er verliert nie seinen kühlen, unterschwellig amüsierten Blick für Machtdispositive im alltäglichen politischen Geschacher. Keiner der Protagonisten wird der Lächerlichkeit preisgegeben oder seiner Korrumpierbarkeit überführt; alle sind gleichwertig wichtige beziehungsweise bedeutungslose Akteure in einem fortlaufenden Prozess der Optionsevaluierung. „Der Aufsteiger“ gibt sich dafür, dass die performativen Akte des Sprechens und Herrschens eigentlich sehr statische Ausdrucksweisen sind, allerdings hochgradig mobil. Ähnlich wie Aaron Sorkin, der mit der US-Serie „West Wing“ das Walk-and-Talk zur verdichteten Kunstform politischer Performanz erhoben hat, zeigt Schoeller den Mobilisierungsgrad der Politik als permanente rhetorische und raumgreifende Manöver. Es gibt keinen Stillstand, „Der Aufsteiger“ ist das Gegenteil von drögem Polittheater. Großes Kino.

So ist es folgerichtig eine zweite Todeserfahrung, die Saint-Jeans Initiation einleitet. Dem sehr ansehnlichen Autounfall, der jeden Actionfilm schmücken würde, entsteigt ein neuer Homo Politicus; die alten biografischen Makel und politischen Verbindungen sind endgültig abgestreift. Der Premierminister persönlich überträgt Saint-Jean die Verantwortung für die Privatisierung der Bahn, das Projekt soll Frankreich den Weg in die Zukunft weisen. Resignation lässt sich der politische Pragmatiker keine Sekunde anmerken; er hat die unbändigen Kräfte der neuen Märkte zu spüren bekommen und lässt sich bereitwillig mitreißen. Ideologische Bedenken gibt es nicht, allenfalls die persönlichen Opfer erzeugen noch einen Anflug pathetischer Regung. „Politik ist eine Wunde, die niemals verheilt“, gibt Saint-Jean seinem treuen Gefährten zum Abschied mit auf den Weg.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 12/12

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Silver Linings – Wenn du mir, dann ich dir

(USA 2012, Regie: David O. Russell)

Stay cool is still the main rule!
von Ulrich Kriest

Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in der Psychiatrie kehrt der mittlerweile ehemalige Aushilfslehrer Pat Solitano in sein Elternhaus in Philadelphia zurück. Job weg, Haus weg und die Ehefrau Nikki ist auch …

Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in der Psychiatrie kehrt der mittlerweile ehemalige Aushilfslehrer Pat Solitano in sein Elternhaus in Philadelphia zurück. Job weg, Haus weg und die Ehefrau Nikki ist auch in weiter Ferne: Kontaktverbot. Doch Pat ist guter Dinge: zwar wurde in der Psychiatrie eine bipolare Störung diagnostiziert, aber Pat ist gut in Form, verweigert die verordneten Medikamente und will sein altes Leben zurück.

Die Sache damals, als er einen Kollegen mit Nikki unter der Dusche beim Sex erwischte und halbtot prügelte – vergessen! Der Aufenthalt in der Psychiatrie zeitigt Wirkung, wenngleich sich Pat immer noch sehr darüber echauffieren kann, wie Hemingway die Liebesgeschichte von „In einem anderen Land“ an die Wand fährt – ohne jede Rücksicht auf die positiven Erwartungen seiner Leser! Dabei hat Pat doch in der Klinik gelernt, dass alles, was passiert, einen Sinn hat und dass man in allem möglichst das Gute sehen solle. Every cloud, habe, wie man so sagt, a silver lining. Oder?

Eines Abends lernt er zufällig die viel jüngere Tiffany kennen, die nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes, auch ein paar psychische Probleme hat. Ihre Depressionen bekämpfte sie mit wahllosem Sex am Arbeitsplatz, bis sie gefeuert wurde. Pat findet, dass Tiffany nicht alle Tassen im Schrank hat, was die nicht davon abhält, sich weiterhin für ihn zu interessieren. Vielleicht, weil sie sich in ihm wiedererkennt?

Man ahnt, was David O. Russell („Three Kings“, „The Fighter“) an der Romanvorlage von Matthew Quick interessiert haben könnte: Eine unkonventionelle Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen mit erheblichen psychischen Problemen, gestaltet in der Manier einer klassischen Screwball Comedy vor dem mit realistischem Anspruch gezeichnetem Milieu des US-amerikanischen Kleinbürgertums? Das wäre anspruchsvoll genug, doch Russell weitet den Blick noch erheblich, bis ein komplexes Familienpanorama voller Spiegelungen und Verdoppelungen etabliert ist: Familienaufstellung als Aufstellung dysfunktionaler Familien.

Der von Robert De Niro gespielte Vater Pats, der gleichfalls Pat heißt, ist auch so ein Choleriker, der sein Leben nur dank einiger Ticks im Griff hat. Wehe, wenn die TV-Fernbedienungen mal nicht ordentlich aufgereiht am richtigen Ort liegen! Als glühender Fan der Philadelphia Eagles hat er zwar Stadionverbot, kompensiert diese Schmach aber durch irrwitzige Sportwetten. Im Hintergrund beider Männer wirkt die Ehefrau und Mutter, welche Dolores (= Schmerzen) heißt. Weil Tiffany offenbar an Nikki vorbei muss, um zu Pat zu gelangen, schlägt sie ihm einen Handel vor: sie wird ihm den (Brief-)Kontakt zur Ex ermöglichen, wenn er sie im Gegenzug zu einem Tanzwettbewerb begleitet. Ausgerechnet! Tanz als Paar- oder Gruppentanz fungiert ja in Zeiten von Casting-Shows als sozialintegrative Disziplinierungsstrategie schlechthin – und Pat genießt sein den Alltag strukturierendes Training auch sichtlich.

Doch dann kommen Pat Senior und seine Sportwetten der Therapie noch einmal in die Quere – und plötzlich erzählt „Silver Linings“ so viele Geschichten von Familie, Neubeginn, alten Rechnungen, Liebe, Tanz, Disziplin und Sportwetten gleichzeitig, dass es einer koketten, aber entschlossenen Kumpanei mit den Genre-Spielregeln der »romantic comedy« bedarf, um die Vielzahl von Fäden wider alle Milieutreue und alle Vernunft zu ordnen.

Die radikale Unbekümmertheit, mit der Russell und sein erstklassiges Darsteller-Ensemble diese »unglaubliche« Rettungsstation ansteuern, beweist Mut und Liebe zum Kino. Zum ganz altmodischen Kino, versteht sich! Einem Kino, das um die Risiken des Realismus weiß und trotzdem realitätshaltige Geschichten erzählen möchte. Für ein Publikum, das Soap-gestählt ganz anders tickt. Ob das funktioniert, wird man sehen. Spätestens bei den „Oscars“, wo „Silver Linings Playbook“ als stiller Geheimtipp in den Ring steigt.

Beasts of the Southern Wild

(USA 2012, Regie: Benh Zeitlin)

Magischer Realismus
von Carsten Happe

Wenn das Jahresende naht und mit ihm die Holiday Season, die der deutschen Weihnachtszeit nur ungefähr ähnelt, wird in Hollywood zusammengerechnet und auseinanderdividiert, was als Oscar-Kandidat Bestand hat und mit …

Wenn das Jahresende naht und mit ihm die Holiday Season, die der deutschen Weihnachtszeit nur ungefähr ähnelt, wird in Hollywood zusammengerechnet und auseinanderdividiert, was als Oscar-Kandidat Bestand hat und mit sanftem Druck „for your consideration“ ins millionenschwere Rennen geschickt wird. Neben den Last-Minute-Schwergewichten wie Steven Spielbergs „Lincoln“, Kathryn Bigelows Bin-Laden-Hatz „Zero Dark Thirty“ und der opulenten Musicaladaption „Les Miserables“ hält sich ein kleines Independentjuwel seit dem Sundance Festival im vergangenen Januar dauerhaft im Gespräch: „Beasts of the Southern Wild“ des Newcomers Benh Zeitlin. Und seit dem Preis fürs beste Debüt in Cannes steigen seine Chancen kontinuierlich.

Das Wunderwerk des magischen Realismus folgt keinen herkömmlichen narrativen Strukturen, vielmehr lässt es sich treiben wie seine sechsjährige Hauptfigur Hushpuppy und übernimmt fraglos ihre Perspektive einer wundersamen Welt. Einer Welt im Umbruch, wie es scheint, denn ein Unwetter zieht auf über dem mutmaßlichen Süden der USA – konkret verortet wird der Schauplatz nie, doch die Anklänge an den Hurrikan Katrina sind augenfällig. Hushpuppy und ihr kranker Vater erwarten nicht nur den Sturm, das kleine Energiebündel erahnt zudem die Ankunft der Aurochs, prähistorischer Monster, die die schmelzenden Polkappen nun wieder freigegeben haben.

Es empfiehlt sich, „Beasts of the Southern Wild“ im Zustand des Halbschlafs zu sehen oder
den Verstand möglichst freizuräumen für eine Erfahrung zwischen Imagination und harter Realität, zwischen Traum und einer ganz eigenen, keiner Logik oder Gesetzen folgenden Wirklichkeit. Wer sich darauf einlassen kann, erlebt einen sinnlichen Rausch exaltierter Bilder einer entfesselten Kamera, einer fast greifbaren Atmosphäre überbordender Lebenslust im Angesicht der drohenden Katastrophe sowie in Quvenzhané Wallis eine phänomenale Hauptdarstellerin – ebenso Laie wie alle anderen Akteure –, die man augenblicklich ins Herz schließt und nicht mehr loslassen möchte.

Nach dem formidablen „Winter’s Bone“, der vor zwei Jahren insbesondere seine Hauptdarstellerin Jennifer Lawrence in die Umlaufbahn schoss, und dem furiosen „Bellflower“, dem hierzulande ein Kinostart verwehrt blieb, zeugt auch „Beasts of the Southern Wild“ von einer neuen Vitalität und Leidenschaft im amerikanischen Independent-Kino, die weit mehr überwältigt und verzückt als alle Superhelden und Bösewichter Hollywoods zusammen.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Sinister

(USA 2012, Regie: Scott Derrickson)

Bis die Kraft erlahmt
von Michael Schleeh

„Sinister“ beginnt mit den grobpixeligen Bildern eines Super 8-Films. Vier Personen, Kapuzen über dem Kopf, stehen unter einem Baum, Schlingen um den Hals. Da bricht plötzlich ein schwerer Ast ab …

„Sinister“ beginnt mit den grobpixeligen Bildern eines Super 8-Films. Vier Personen, Kapuzen über dem Kopf, stehen unter einem Baum, Schlingen um den Hals. Da bricht plötzlich ein schwerer Ast ab und zieht sie mit der Kraft eines Flaschenzugs nach oben. Sie strampeln mit den Beinen, bis die Kraft erlahmt. Das Bild friert ein, unten rechts erscheint der Filmtitel im krakeliger Schrift.

Der eigentliche Plot beginnt allerdings ganz woanders: Ein Schriftsteller von true crime-Romanen, Ellison Oswalt (Ethan Hawke), versucht verzweifelt den einen, ersten großen Erfolg seines Buches Kentucky Blood zu wiederholen. Allein, es will ihm nicht gelingen. Doch nun scheint er einem Serienkiller auf der Spur zu sein. Mit seiner Frau (Juliet Rylance) und den beiden Kindern ziehen sie in ihr neues Heim, obwohl sie sich in ihrem letzten Zuhause gerade einzuleben begonnen hatten. Auch der neue Sheriff ist nicht begeistert – wegen seiner kritischen Darstellung der Polizeiarbeit gilt Oswalt als Nestbeschmutzer. Und etwas mehr Misstrauen wäre durchaus berechtigt, denn was Ellison seiner Familie verheimlicht, ist die Tatsache, dass sich im Garten des Anwesens eben jene Szene abspielte, die wir zu Beginn sahen. Die Ermordung der Familie des Vorbesitzers. Die jüngste Tochter zudem verschwunden. Dass Ellison, der ein Alkoholproblem zu haben scheint, in seinen Recherchen bis an die Grenzen der eigenen Belastbarkeit geht, ist eine Sorge der Ehefrau, die durchaus berechtigt ist. Und als er sich wieder verausgabt, wieder exzessiv zu trinken beginnt, nehmen die bösen Vorahnungen Gestalt an: Oswalt findet auf dem Dachboden eine mysteriöse Kiste mit alten Super8-Filmrollen, auf denen ausschließlich authentische Morde an Familien dokumentiert sind. Die Filme sieht er sich in nächtelangen Sitzungen wieder und wieder an, er beginnt zu recherchieren und verfällt in einen Wahn. Dann wird er beinahe von einem Skorpion gestochen und von einer Schlange gebissen, die urplötzlich auftauchen. Da beginnt Oswalt am Rad zu drehen und er stromert, wie Jack Nicholson in 'Shining', mit dem Baseballschläger bewaffnet durch das dunkle, nächtliche Haus, um sich auf die Jagd nach einem Phantom zu machen, das auf den Geisterbildern der Filme wie ein unheimlicher Kürbismann aussieht.

Der Gedanke, nun vielleicht doch nach einer neuen Bleibe zu suchen, kommt ihm nicht. Dass er die eigene Familie gefährdet, nimmt er für das Buch in Kauf. Was er nicht bedenkt, und was in der Verlängerung auch den Zuschauer irritiert, ist, dass sich zunehmend übernatürliche Elemente bemerkbar machen – in einem Film, der auf authentischen true crime-Thrill ausgerichtet ist. Und mit zunehmender Gefahr für die Protagonisten von allen Seiten wird „Sinister“ bald eine unvorhersehbare Melange aus unterschiedlichen Motiven des Horrorfilms, die alle zusammen und in ihrer Anhäufung nicht nur nerven, sondern auch für sich selbst mehr als abgeschmackt sind. Schreckmomente mit rumsender Tonspur tun ein Übriges, um den Zuschauer ob der billigen Tricks zu verärgern.

Es ist der Darstellung der Schauspieler anzurechnen, dass man dabei bleibt und am Ende einem unvermeidlichen, dabei gar nicht so doofen Twist beiwohnen darf. Obwohl (oder vielleicht eher weil) dieser völlig hanebüchen ist, gelingt es, die offenen Fäden zusammenzuführen und dabei auf ein allzu erwartbares, hollywoodkonformes Ende zu verzichten. Man hätte rechtzeitig die Filmspule mit dem alternativen Ende anschauen sollen, dann wäre das Desaster gar nicht erst passiert! Dass Derrickson, der schon den banalen Totalschaden „Der Exorzismus der Emily Rose“ (2006) und das völlig unnötige Klassiker-Remake „Der Tag, an dem die Erde still stand“ (2008) zu verantworten hat, eine Meta-Gag auf die bonusmaterialversessene DVD-Generation abliefern wollte, darf allerdings bezweifelt werden. So ist „Sinister“ nicht viel mehr als ein zwar überflüssiger, aber immerhin noch anschaubarer, dabei ziemlich durchschnittlicher Time-Waster für die Spätvorstellungsnerds.

Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger

(USA 2012, Regie: Ang Lee)

Die Notwendigkeit des Eskapismus
von Louis Vazquez

Es ist eine Crux mit den Literaturverfilmungen. Die einen basieren auf Büchern, die viel zu viel Geschichte haben und rasen mut- und ideenlos durch die äußere Handlung. Die anderen basieren …

Es ist eine Crux mit den Literaturverfilmungen. Die einen basieren auf Büchern, die viel zu viel Geschichte haben und rasen mut- und ideenlos durch die äußere Handlung. Die anderen basieren auf Büchern, die gar keine Geschichte haben – Liebesratgebern etwa oder philosophischen Essays –, und müssen sich erst mühsam etwas zum Erzählen ausdenken. Aber was tut man nicht alles, um die vielen Bestsellerleser auch mal zu einem Kinobesuch zu bewegen und die Anhänger des einen bedrohten Mediums mit bewährten Titeln für das andere bedrohte Medium zu gewinnen. Und doch gibt es manchmal Literaturverfilmungen, die neugierig machen, weil die Vorlage sich einerseits für eine visuelle Interpretation geradezu aufdrängt, andererseits die Fallstricke mächtig sind.

Yann Martels Roman „Life of Pi“ erzählt eine ungewöhnliche, gar unglaubliche Abenteuergeschichte auf hoher See. Dass der deutsche Titel eine Pointe vorwegnimmt, die den unvorbereiteten Leser in etwa so schlagartig treffen dürfte wie die vergleichbar katastrophale Kehrtwende in John Irvings „The Hotel New Hampshire“, ist zwar schade, schmälert aber weder Buch- noch Filmgenuss, denn es geht eben um mehr als darum, sich auf hoher See in unerwarteter Gesellschaft gegen widrige Umstände zu bewähren …

„Life of Pi“ erzählt die Geschichte von Pi Patel (verkörpert von Laiendarsteller Suraj Sharma), die dieser in einer Rahmenhandlung als gealterter Mann (dann gespielt von Irrfan Khan) einem Autor (Rafe Spall) erzählt. Der Autor weiß noch nicht, was ihn erwartet, doch er verspricht sich von der angeblich ungewöhnlichen Lebensgeschichte des Fremden Inspiration. Im Roman gibt Yann Martell sich selbst als dieser Autor aus, mit einer deutlichen Verbeugung vor der Postmoderne und/oder Jorge Luis Borges. Die Ich-Erzählung Pis wird im Film wie üblich zur Voiceover, die zwar viel Information transportiert, aber zum Glück nie die visuelle Erzählung ersetzt oder entkräftet – wie sonst allzu oft bei „schwierigen“ Literaturverfilmungen.

„Life of Pi“ ist religiöse Parabel und phantastische Abenteuergeschichte gleichermaßen. Die Erzählung ist ornamental ausgeschmückt und über weite Strecken so unglaubwürdig, dass man sich an die mythendurchtränkte Autobiographie von Alejandro Jodorowsky oder die Lebensgeschichte eines Moersschen Blaubären erinnert fühlt. Pi(scine) Molitor Patel, nach einem Schwimmbad benannt und in seiner Kindheit aufgrund der phonetischen Ähnlichkeit zu „pissing“ permanent verhöhnt, wächst als Sohn eines Zoodirektors im indischen Pondicherry auf. Dafür, dass er allen Weltreligionen gleichermaßen zugehören will, erntet er Unverständnis. Seine Geschichte aber, so verspricht er, werde helfen, das Wesen Gottes zu verstehen.

Als die Familie mit ihrem Zoo nach Kanada auswandern will und sich samt der Tiere auf einen japanischen Frachter begeben hat, kommt es zum titelgebenden Unglück. Nur Pi, eine Hyäne, ein Orang-Utan und ein schwer verwundetes Zebra gelangen auf ein Rettungsboot. Und Richard Parker, der bengalische Tiger. Recht schnell sind nur noch Pi und der Tiger übrig und verbringen Monate alleine auf hoher See.

Die unglaubliche Geschichte wird von Ang Lee in ein Kino der Schauwerte überführt – spektakulär und wuchtig, voll mit beeindruckend realistischen CGI-Effekten und dennoch durch kräftige Farben überhöht und voller surrealer, pathetisch gesprochen: magischer Momente, in denen sich die Fabulierlust der Vorlage manifestiert. Zugegeben: Ungeduldige Zuschauer könnten so manches vorschnell für Kitsch halten. Doch um diesen Trugschluss aufzuklären, muss man sehr viel über den Film verraten, so dass sich halbwegs Interessierte das Weiterlesen an dieser Stelle schenken und lieber so bald wie möglich ins Kino eilen sollten. Denn wie das Buch hat der Film eine pointierte Struktur, die seiner Ästhetik erst im Rückblick einen Sinn verleiht.

„Life of Pi“ ist nicht einfach ein eskapistischer, womöglich sogar missionarischer Fantasy-Film, sondern ein Film über die Macht und die schiere Notwendigkeit eskapistischer Phantasien. Ganz zum Schluss konfrontiert er Pis bildgewaltige Geschichte mit einer trostlosen Realität – auf filmisch denkbar einfache und eben darum an dieser Stelle beeindruckende Weise. Da genügt ein erschütternder Monolog, der auf Rückblenden und somit Visualisierungen ganz verzichtet, um eine weitere Dimension des Erzählens zu offenbaren: Die wundersame Geschichte vom Jungen, der das Raubtier bändigte, verschleiert eine Wahrheit, deren Abbildung unerträglich wäre. Das mag man als banal abtun, doch wie vollumfänglich eine Erzählung scheitern kann, die echt und wahr und richtig tut, dabei aber mit fehlgeleitetem filmischen Realismus alles falsch macht, wird demnächst das Tsunami-Drama „The Impossible“ zeigen. Hier indes genügt es völlig, in einer statischen Einstellung mit Worten das bisher Gesehene zu revidieren, um zu erschüttern und fassungslos zu machen.

Auch die potentiell prätentiöse Religionsdebatte des Films findet unmittelbar im Anschluss ihre Auflösung in einer unspektakulären Pointe, die sich die Ringparabel zum Vorbild genommen hat und nach derart gewaltigem Anlauf so lapidar wirkt, dass auch Atheisten ihren Spaß haben können.

Ang Lee ist es mit einem Drehbuch von David Magee tatsächlich gelungen, einen schwer zu verfilmenden Roman zu großem Kino zu machen, das gleichsam überwältigend wie bescheiden wirkt und dabei einem klaren Konzept folgt, dem nicht nur am Spektakel gelegen ist. Dass der Film nebenbei das erstaunlichste 3D präsentiert, das bisher in einem Spielfilm zu sehen war – Goblins und Hobbits hin oder her –, ist nicht mehr als ein (äußerst angenehmer) Nebeneffekt.

More Than Honey

(CH / D / A 2011, Regie: Markus Imhoof)

Zivilisationstod
von Wolfgang Nierlin

Noch bevor die ersten Bilder zu sehen sind, hört man das Summen. Dann erfüllt emsiges Bienengewimmel, in aufwändigen Makroaufnahmen von der Kamera umkreist, die Leinwand. Die vielzähligen fleißigen Tierchen sind …

Noch bevor die ersten Bilder zu sehen sind, hört man das Summen. Dann erfüllt emsiges Bienengewimmel, in aufwändigen Makroaufnahmen von der Kamera umkreist, die Leinwand. Die vielzähligen fleißigen Tierchen sind gerade dabei, ihre neue Königin aus der Weiselzelle zu befreien, bevor diese zu ihrem Hochzeitsflug aufbricht. Bis zu 2000 Eier wird diese täglich legen, um den Nachwuchs zu sichern, erfahren wird dezent aus dem Off. Mit faszinierenden Bildern und sachlicher Informationsdichte führt Markus Imhoof die Zuschauer seines Dokumentarfilms „More than honey“ in das komplexe, für den Laien zunächst schwer zu überblickende Universum der Honigbiene. Viele beeindruckende Details über das Leben und die schier unglaubliche Arbeitsleistung dieser ebenso klugen wie komplizierten Insekten vermitteln dabei ungeahnte Einblicke: Etwa in Bezug auf ihr fein und sensibel justiertes Sozialsystem, die Bedeutung ihrer geheimnisvollen Schwänzeltänze, ihren extrem differenzierten Geruchssinn oder auch ihre gewichtige Rolle als Bestäuber bei der „natürlichen Herstellung“ von Nahrungsmitteln.

Gerade deshalb sind die zunehmenden Meldungen über ein mysteriöses Bienensterben, das in den letzten Jahren Schlagzeilen macht, so beunruhigend. Der renommierte Schweizer Filmemacher Markus Imhoof, der selbst aus einer traditionsreichen Imkerfamilie stammt und damit einen persönlichen Zugang hat, betreibt in seinem vielschichtigen Film eine globale Ursachenforschung. Dabei erzeugt er völlig unaufgeregt und unpolemisch nicht nur ein allgemeines Problembewusstsein, sondern er vermittelt durch die vielen Spuren, denen er rund um den Globus folgt, auch eine beängstigende Ahnung von der Größe und den Auswirkungen dieser Problematik. Seine Analyse beschreibt ein multifaktorielles Szenario. Das Sterben der Bienen hat nicht einen Grund, sondern viele, die eine todbringende Summe bilden: „Die Bienen sterben an der Zivilisation.“

„So klingt Geld“, kommentiert der Imker einer riesigen Mandelbaumplantage in Kalifornien das Summen der Bienen. 4000 Bienenstöcke sind hier aufgestellt, um die geschätzten 80 bis 90 Prozent der weltweiten Mandelproduktion zu sichern. Doch ohne den Einsatz von Pestiziden funktionieren solche überdimensionalen Monokulturen nicht. „Wir sind Kapitalisten, wir wollen Wachstum“, lauten die diesbezüglichen Herrschaftsphantasien des Farmers. Dann treten die in dieser Perspektive vermeintlich „toleranten“ Bienen, in riesige Sattelschlepper verfrachtet, ihre Reise quer durch die USA an, um im Wechsel der Jahreszeiten auf verschiedenen Obstplantagen ihren Dienst zu tun. Stress, Schädlingsbefall und oftmals auch der Tod ganzer Völker, vom Großimker als rätselhafter „Völkerkollaps“ bezeichnet, sind die schrecklichen Folgen, die wiederum den Einsatz von Antibiotika nach sich ziehen.

Seinen Großvater würde diese Form der Honigproduktion wohl erschüttern, sagt der amerikanische Imker. Im Kontrast dazu zeigt Imhoof immer wieder den Schweizer Bergimker Fred Jaggi, der sein Handwerk noch traditionell betreibt, in der Abgeschiedenheit der Schweizer Berge aber nicht verschont bleibt von den Folgen der Globalisierung. Es gehört zu den Stärken von Imhoofs Film, dass er immer wieder die Perspektive wechselt und so neue Facetten des Problems erschließt. Das fast schon apokalyptische Szenario in China, wo Arbeiter von Hand die Blüten bestäuben, gehört ebenso dazu wie der „Angriff der Killerbienen“, der paradoxerweise vom Überleben der Honigbiene zeugt und insofern vorsichtig hoffnungsvoll stimmt.

Das Meer am Morgen

(D / F 2011, Regie: Volker Schlöndorff)

Auf das Gewissen hören
von Wolfgang Nierlin

Frankreich zur Zeit der deutschen Besatzung: Am 20. Oktober 1941 erschießen kommunistische Widerstandskämpfer in Nantes den deutschen Offizier Karl Hotz. Hitler fordert daraufhin als schnelle Vergeltung die Hinrichtung von 150 …

Frankreich zur Zeit der deutschen Besatzung: Am 20. Oktober 1941 erschießen kommunistische Widerstandskämpfer in Nantes den deutschen Offizier Karl Hotz. Hitler fordert daraufhin als schnelle Vergeltung die Hinrichtung von 150 Geiseln. Doch sein General Otto von Stülpnagel (André Jung) aus dem Hauptquartier im Pariser Hotel Majestic meldet Skrupel an: Er zweifelt gegenüber Hauptmann Ernst Jünger (Ulrich Matthes) nicht nur am Sinn einer solch willkürlichen Maßnahme, sondern rechnet als Folge auch mit einer unkalkulierbaren Eskalation der Gewaltspirale. In Berlin habe man „keinen Sinn für Geschichte.“ Zwar wird die Zahl der Todeskandidaten daraufhin reduziert; trotzdem sollen aus Internierungslagern in Nantes und Châteaubriant zunächst 50 politische Häftlinge zur unverzüglichen Exekution benannt werden. Unter ihnen befindet sich der erst 17-jährige Guy Môquet (Léo Paul Salmain), Sohn eines kommunistischen Pariser Abgeordneten, der wegen der Verteilung von antifaschistischen Flugblättern verhaftet wurde und heute in Frankreich (ähnlich den Geschwistern Scholl hierzulande) als Held des Widerstands verehrt wird.

In seinem neuen Film „Das Meer am Morgen“ („La mer à l’aube'), dem leider keine Kino-Auswertung beschieden ist (und der jetzt von Arte erstausgestrahlt wurde), verdichtet Volker Schlöndorff das tragische Geschehen zwischen Attentat und Hinrichtung auf drei Tage. Polizeiprotokolle, die Abschiedsbriefe der zum Tode Verurteilten, Pierre-Louis Basses Biographie über Guy Môquet („Une enfance fusillée“) sowie Ernst Jüngers wiederentdeckte Schrift „Zur Geiselfrage“, in der dieser die „Fälle und ihre Auswirkungen“ schildert, dienten Schlöndorff dabei als Quellen für seinen ebenso multiperspektivisch montierten wie analytisch erzählten Dokumentarspielfilm. Doch in Bezug zu den harten, unmenschlichen Tatsachen setzt er Geschichten von Individuen, von Menschen mit Gesichtern und Namen, die von der Zukunft träumen und sich verlieben. So entwickelt etwa Guy Môquet erste zarte Liebesbande zur Mitgefangenen Odette. „Unsere Zeit wird kommen“, sagt diese noch, kurz bevor ihr beider Glück unwiderruflich zerstört wird.

Schlöndorffs Film zeigt den schicksalhaften, von menschlicher Willkür und blindem Zufall unerbittlich zugespitzten Ablauf der Ereignisse als tragisches Geschehen. Egal wie man handle, man könne in dieser Situation nur das Falsche tun, sagt Otto von Stülpnagel einmal, während sich Jünger auf die Rolle des (literarischen) Beobachters und stolzen Soldaten zurückzieht. Trotzdem gibt der Film auch Einblick in eine Bürokratie von Befehlsempfängern, die der einbestellte Priester Moyon (Jean-Pierre Darrousin) gegenüber seinen Landsleuten kritisiert: Diese sollten nicht „Sklaven von Befehlen“ sein, sondern auf „ihr Gewissen hören“. Im psychischen Zusammenbruch des jungen deutschen Soldaten Heinrich (Jacob Matschenz), der gegen seinen Willen für das Hinrichtungskommando verpflichtet wird und den Schlöndorff einer Figur aus Heinrich Bölls Erzählung „Das Vermächtnis“ nachempfunden hat, ist ein Echo dieser menschlichen Forderung zu spüren. Doch sollte dies nicht als Entlastung von Schuld oder gar als Relativierung historischer Verantwortung gegenüber den Opfern missverstanden werden. Vielmehr ist Schlöndorffs Film neben der Darstellung eines für den antifaschistischen Widerstand in Frankreich bedeutsamen geschichtlichen Wendepunkts vor allem ein differenziertes Plädoyer für Humanität.

Apparition – Dunkle Erscheinung

(USA 2011, Regie: Todd Lincoln)

Ghost in the Harddrive
von Michael Schleeh

Beim Einzug in das neue Heim hoffen Kelly (Ashley Greene) und ihr Freund Ben (Sebastian Stan) die Geister der Vergangenheit abschütteln zu können. Denn seit Ben in Collegetagen mit seinen …

Beim Einzug in das neue Heim hoffen Kelly (Ashley Greene) und ihr Freund Ben (Sebastian Stan) die Geister der Vergangenheit abschütteln zu können. Denn seit Ben in Collegetagen mit seinen Kommilitonen ein übersinnliches Experiment zur Erweckung eines Toten mit Hilfe modernster technischer Gerätschaften durchführte, kommen die ehemaligen Geisterbeschwörer nicht mehr zur Ruhe. Das neue Haus soll also einen unbelasteten Start ermöglichen – doch Kelly hat nicht daran gedacht, dass der Geist nicht der eines Gebäudes ist, sondern sich in den digitalen Weiten derjenigen Medienträger befindet, die damals beim Experiment Verwendung fanden. Und nach nur wenigen Tagen scheinen sich bereits wieder beunruhigende Ereignisse zu häufen. Um dem Übel auf die Spur zu kommen, schließt Kelly Bens alte Festplatte an, auf der sich eben dasjenige Videomaterial befindet, das die damalige Beschwörung dokumentiert …

Kellys Erwartungen auf einen Neuanfang werden also enttäuscht. „This house has no history“, sagt sie noch voller Zuversicht am Anfang des Films, ein markanter Satz, der auf die Spur des Missverständnisses führt. Denn das von ihr abgespielte Filmmaterial, ein sprichwörtliches found footage also, bereits schwerstbelegt mit Patina, aber immer noch ein virulentes Motiv im zeitgenössischen Horrorkino, dieses Material macht Kelly deutlich, worauf sie sich da eingelassen hat. Und was sie bis dahin nicht wusste; etwa dass damals sogar Bens Ex-Freundin Lydia verschwand, die von „der Erscheinung“ durch die Wand ins Jenseits gezogen wurde. Hier wird ihr das Ausmaß der Gefahr, in der sie schweben, zum ersten Mal klar. Es verdeutlicht aber auch, wie viel ihr der Freund eigentlich verheimlicht, und was von seinen beschwichtigenden Worten zu halten ist.

„It’s gonna be okay“ – diese Standardfloskel wird Kelly öfter hören in diesen Tagen, und sie tut gut daran, ihr nicht zu vertrauen. Leider ist die Floskel signifikant für den ganzen Film, der beinah ausschließlich aus uninspirierten Versatzstücken des Horrorfilmgenres zusammengesetzt scheint. Und so wird natürlich erst mal abgewartet, ob sich die Lage nicht vielleicht von selbst bessert. Tut sie freilich nicht. Warum sollte sie? Es wird unter dem Haus herumgekrochen, der Nachbarhund stirbt unter mysteriösen Umständen, das Licht fällt aus, der Security-Service kommt vorbei und findet nichts, die Überwachungskameras sind plötzlich beschädigt, alle Türen stehen offen, obwohl eben noch abgeschlossen wurde, und Kelly muss höchstbedrohliche Situationen in Unterwäsche überstehen. Nun, das alles macht den Film nicht gerade interessanter. Auch die Frau, die wie eine verschimmelte Sadako aus „Ringu“ (Hideo Nakata, 1998) anmutet und analog zu dieser, die aus dem Fernseher kommt, hier aus der Waschmaschine kriecht, tut das nicht; oder die üblichen Hände, die wie aus dem Nichts von hinten die Protagonistin umschlingen, die folglich um Atem ringen muss. Hände, die es dann sogar auf das Filmplakat geschafft haben.

Gleichwohl scheinen einige Momente durchaus positiv erwähnenswert: da wäre die Location. Das Haus des Paares steht in einem Vorort, einem Neubaugebiet weit vor der Stadt, das, auf einer Anhöhe gelegen, einen weiten, bildmächtigen Blick auf eine wüstenähnliche Landschaft bietet, und das von den gewaltigen Strommasten, die auf den Hügeln stehen, dominiert wird. Die Einflussnahme der Elektrizität findet hier eine schöne bildliche Entsprechung, die man auch formal hätte vertiefen können. Oder das menschenleer und still wirkende Neubaugebiet, in dem man, außer dem einen Nachbarn mit Tochter, deren Hund dran glauben muss, straßenzügeweit niemanden sieht. Keine Kinder spielen, keiner grillt, kein Auto steht auf den monströsen Garageneinfahrten. Dieser stille Horror wäre ein Möglichkeit gewesen, dem Film interessante Aspekte hinzuzufügen. Stattdessen: Offensichtlichkeiten nach Schablone.

Und fatalerweise gelingen nicht einmal die billigsten jump-scares. Da man beim Schnitt auf eine jugendfreie Fassung geschielt zu haben scheint, und dabei alles, was irgendwie an Grenzen stößt, bewusst vermieden hat, ist „Apparition“ ein furchtbar zahmer Film geworden, der sich trotz der kurzen Laufzeit von gerade mal 80 Minuten ellenlang anfühlt. Aber auch die psychologischen Aspekte des Horrors, die sich gegenständlich durch die Schimmelflecken im Haus manifestieren, werden lediglich angerissen, nie wirklich schlüssig ausformuliert oder gewinnbringend eingesetzt. So mäandert auch der Film – wie das Haus in ihm – in seinem unausgegorenen Plotverlauf durch verschiedene Stadien der Verwahrlosung. Die Synapsen des Zuschauers jedenfalls werden von „Apparition – Dunkle Erscheinung“ alles andere als elektrisiert.

Winterdieb

(CH / F 2012, Regie: Ursula Meier)

Zahlungsmittel Geld
von Wolfgang Nierlin

Der 12-jährige Simon (Kacey Mottet Klein) ist ständig in Bewegung. In einem westschweizer Wintersportort ist er der kleine Dieb. Als Ski-Tourist unauffällig getarnt, bestiehlt er die reichen Gäste aus dem …

Der 12-jährige Simon (Kacey Mottet Klein) ist ständig in Bewegung. In einem westschweizer Wintersportort ist er der kleine Dieb. Als Ski-Tourist unauffällig getarnt, bestiehlt er die reichen Gäste aus dem Ausland. Zielstrebig, selbstbewusst, ja fast unbekümmert klaut er, was ihm in die Hände kommt und beweist dabei doch auch Markenkenntnisse. Simon wirkt routiniert, effektiv und sehr rationell. Er sagt, er sei gut organisiert. Seine Diebstähle, die sein Tagewerk bilden, ähneln fast schon dem Einsammeln von Wertgegenständen, die Simon zunächst deponiert, später dann verkauft. Er ist darin geschickt und klug. Als Arbeiter und Geldbeschaffer, der mit seinen illegalen Geschäften seinen Lebensunterhalt verdient und dabei Verantwortung übernimmt, wirkt er wie ein Erwachsener. Und doch ist Simon, bewehrt mit dem Zahlungsmittel Geld, vor allem ein Kind, das sich nach Liebe sehnt. Manchmal, wenn er alle Vorsicht fallen lässt, wird er in die Enge getrieben. Dann hilft nur noch Schreien.

In Ursula Meiers neuem, beeindruckenden Film „Winterdieb“ („L’enfant d’en haut') ist Simon als ebenso trickreicher wie erfahrener „Umverteiler“ ein Mittler zwischen den Welten. Wenn er schwerbepackt und zugleich entspannt mit der Seilbahn vom sonnigen, schneebedeckten Berg ins unwirtliche, ziemlich trostlose Tal hinabgleitet, markiert das auch ein soziales Gefälle. Ursula Meier inszeniert diese parallelen Welten mit nüchternem, spannungsreichem Zeigegestus als ebenso natürliche wie verstörende Kontraste, deren Widersprüche sich in den verzerrten Gitarrenklängen von John Parish verdichten. Dabei schmuggelt sie in die festgefügte Welt und Filmordnung immer wieder Wendungen, die für eine Verschiebung der sozialen Koordinaten und ihrer Rezeption sorgen.

So ist Simon eigentlich ein unerwünschtes Kind, das zusammen mit Louise (Léa Seydoux) in einem Hochhaus lebt, das vereinzelt und wie verloren in der Landschaft steht. Louise ist eine wütende junge Frau, die sich mit „Dreckjobs“ durchschlägt, dann wieder arbeitslos ist und in wechselnden Männerbekanntschaften nach Halt und Sicherheit sucht. Simon sagt von ihr, die sich immer wieder fallen lässt, sie sei seine ältere Schwester. Manchmal gibt es zwischen ihnen einen vertrauten, geschwisterlichen Einklang und eine gegenseitige Sorge, dann wiederum bestimmen Simons Eifersucht, Verlustangst und das Bedürfnis nach (mütterlicher) Geborgenheit ihr Verhältnis; und dafür scheint vor allem das Mittel Geld recht. Einmal sagt Louise: „Ich will dir nichts schulden, Simon.“ Man sieht und spürt, dass dieser zunächst unverdächtige Satz für den Jungen einen geradezu brutalen Nachklang hat. In einer sehr speziellen Ordnungslosigkeit zwischen Weite und Enge, oben und unten bewegen sich die beiden in entgegengesetzter Richtung aufeinander zu.

Home

(CH / F / B 2009, Regie: Ursula Meier)

Im Familiengefängnis
von Wolfgang Nierlin

Die Stimmung ist ausgelassen, die Familie wirkt irgendwie anarchisch, ihr Haushalt konfus und chaotisch. Wenn die fünfköpfige Schicksalsgemeinschaft nachts auf dem stillgelegten Autobahnteilstück vor ihrem Haus Rollschuh-Hockey spielt, erscheint das, …

Die Stimmung ist ausgelassen, die Familie wirkt irgendwie anarchisch, ihr Haushalt konfus und chaotisch. Wenn die fünfköpfige Schicksalsgemeinschaft nachts auf dem stillgelegten Autobahnteilstück vor ihrem Haus Rollschuh-Hockey spielt, erscheint das, gemessen an den Umständen, zugleich natürlich und bizarr. Das fröhliche Gefühl der Freiheit, zugespitzt beim anschließenden ungezwungenen Toben im Badezimmer, das wegen seiner großen Intimität ein Hauptschauplatz des Films ist, grenzt an eine tiefe Verlorenheit. Diese liegt wie eine dunkle, beunruhigende Ahnung von Anfang an über Ursula Meiers hervorragendem Kinodebüt „Home“. Das abgelegene, unfertige und teils vermüllte Anwesen im Niemandsland, dem englischen Titel gemäß zugleich Wohnstatt und Heimat, hat den Zusammenhalt ganz selbstverständlich gestärkt und ist doch keine Insel der Seligen. Vielmehr geht der Druck trotz ausgeflippter Hemmungslosigkeit immer stärker nach innen, und zwar proportional zur Beschneidung des Außenraums.

Die 1971 in Besançon geborene westschweizer Regisseurin hat in diesem Zusammenhang von einer Art umgekehrtem Roadmovie gesprochen. Ihr zwischen Burleske und Drama angesiedelter Film sei eine „Expedition ohne Ortswechsel“ und eine „Reise ins mentale Innere“. Denn als nach jahrelanger Verzögerung die Autobahn schließlich doch noch eröffnet wird, verwandelt sich die ohnehin prekäre Familienidylle allmählich in einen Alptraum aus Lärm, Gestank und Dreck. Dabei interessiert sich Ursula Meier weniger für die soziale als vielmehr für die existentielle Dimension ihrer schwarzhumorigen Parabel. Immer beunruhigender wird die beklemmende Klaustrophobie, in der sich die Familie mit dem Beginn der Sommerferien ganz selbstverständlich einrichtet und die schließlich in einer totalen Isolation mündet. Das Zuhause verwandelt sich durch die absurde Anpassungsleistung seiner Bewohner in ein Gefängnis, in dem subjektiver Wahnsinn und häuslicher Terror allmählich die Oberhand gewinnen.

Love is all you need

(DK / S / I / F / D 2012, Regie: Susanne Bier)

Aufschäumende Familienwogen
von Wolfgang Nierlin

Sorrent und die Amalfi-Küste in Süditalien bilden die pittoreske Traumkulisse für den Hauptteil von Susanne Biers als Komödie ausgewiesenen Film “Love is all you need”. Und natürlich ist das Cinemascope-Format …

Sorrent und die Amalfi-Küste in Süditalien bilden die pittoreske Traumkulisse für den Hauptteil von Susanne Biers als Komödie ausgewiesenen Film “Love is all you need”. Und natürlich ist das Cinemascope-Format das Mittel der Wahl, um die wechselnden Stimmungen dieses schönen Schauplatzes ins effektvoll fotografierte Postkartenidyll zu setzen. Während die Vorspanntitel sich aus Sternenstaub zusammensetzen, die alten Fischer im Hafen ihre Netze inspizieren, das Meer wogt und fleißige Bienen Zitronenblüten bestäuben, singt Dean Martin „That’s Amore“. Und um das Klischee perfekt zu machen, dürfen Astrid (Molly Blixt Egelind) und Patrick (Sebastian Jessen), die jungen Verlobten des Films, hier in einem alten, sich in Familienbesitz befindlichen Palazzo heiraten. „Ich finde es wahnsinnig romantisch hier“, sagt sie angesichts seiner Skepsis. Das ist fast schon kitschig, deutet aber an, dass die Konflikte vorprogrammiert sind.

Eigentlich haben die dänische Regisseurin Susanne Bier und ihr Drehbuchautor Anders Thomas Jensen gar keine richtige oder nur eine halbe Komödie gedreht, was vielleicht die etwas fade, irgendwie unentschlossene und ziemlich altmodische Tonlage des Films erklärt, der weder verärgert noch begeistert. Sein Witz ist eher von der biederen, abgestandenen Art; die unbeholfenen Geständnisse und teils brutalen Bekenntnisse aber haben es durchaus in sich. Sie schreiben im Grunde Themen und Motive früherer Dogma-Filme fort und verleihen Biers Komödie eine gewisse Nachdenklichkeit. So bildet auch hier eine mehrtägige Familienfeier den Rahmen für schwelende Konflikte und unbequeme Wahrheiten, deren unmissverständliche Bekanntgabe ausgerechnet bei einer Hochzeit dazu führt, dass die labile und gewöhnlich verlogene Familienordnung kräftig durcheinandergewirbelt wird.

Im Zentrum dieser Erschütterungen stehen Braut-Mutter Ida (Trine Dyrholm) und Bräutigam-Vater Philip (Pierce Brosnan). Während die Friseurin aus Kopenhagen, wo die Welt grau und aus Beton ist, sich gerade von einer Krebserkrankung erholt (Der Originaltitel „Die kahle Friseurin“ spielt darauf an), hat sich der erfolgreiche Geschäftsmann und umworbene Witwer Philip in einer bequemen Distanz zur Welt eingerichtet. Als die beiden ungleichen Protagonisten regelrecht zusammenstoßen – nämlich in ihren Autos – und daraufhin mit steifer Höflichkeit alberne Missgeschicke und eine peinliche Begriffsstutzigkeit parieren, spricht zunächst wenig dafür, dass sich die beiden kriegen. Doch das liegt in der Natur der Komödiendramaturgie und ändert sich alsbald unter der südlichen Sonne. Zuvor müssen sich jedoch erst einmal die aufschäumenden Familienwogen glätten, denn der Bräutigam ist schwul, Idas Ehemann geht fremd und Philips Schwägerin Benedikte (Paprika Steen) nervt diesen mit penetranter Aufdringlichkeit. Das alles geht nicht ohne Enttäuschungen, Verletzungen und Demütigungen ab. Doch weil „Love is all you need“ eine Komödie sein soll, löst sich fast alles Schmerzhafte und Schwere in lieblichem Zitronenduft auf.

Keep the Lights On

(USA 2012, Regie: Ira Sachs)

Blinde Flecken
von Carsten Moll

Seit Ben Walters in einem Artikel für den „Guardian“ das „New-Wave Queer Cinema“ ausgerufen hat, gibt es kein Halten mehr: Eine Handvoll Filme und ihre Macher_innen wurden auserkoren, das alte …

Seit Ben Walters in einem Artikel für den „Guardian“ das „New-Wave Queer Cinema“ ausgerufen hat, gibt es kein Halten mehr: Eine Handvoll Filme und ihre Macher_innen wurden auserkoren, das alte Label „Queer Cinema“ wiederzubeleben und schaffen es dabei sogar in Mainstreammedien, wie dem Spiegel, für euphorische Rezensionen zu sorgen. Unter diesen Vorzeichen veröffentlicht nun die Edition Salzgeber im Rahmen einer neuen und naheliegend „New Wave Queer Cinema“ betitelten Reihe Ira Sachs‘ „Keep the Lights On“ auf DVD. Sachs gilt neben Andrew Haigh und Travis Mathew als Speerspitze dieser neuen Welle und ist wohl einer der Namen, auf den sich die meisten Kritiker_innen einigen können, wenn es um zeitgenössisches nicht-heterosexuelles Kino geht.

Das neue queere Kino soll eines sein, das Geschichten abseits von Coming-Out, AIDS und politischem Aktionismus erzählt, postemanzipatorisch und persönlich, dabei formal offen und unkonventionell. Und tatsächlich trifft das „Keep the Lights On“ ganz gut: Sachs zeigt uns Momentaufnahmen einer sich über ein Jahrzehnt erstreckenden Beziehung zwischen dem Künstler Erik und dem New Yorker Anwalt Paul. Dass diese Beziehung nicht in trauter Zweisamkeit (aber alles andere als in einer Katastrophe) endet, liegt nur bedingt an Pauls Cracksucht, die die Partnerschaft der beiden Männer immer wieder auf eine harte Probe stellt. Die Dramaturgie des Suchtdramas unterläuft Sachs in seinem Spielfilm. Wer einen geschmackvoll bebilderten Höllentrip erwartet, wird enttäuscht. Pauls Drogenproblem äußert sich vor allem durch seine Abwesenheit, wenn er etwa einen Entzug macht oder tagelang einfach verschwindet. Leerstellen, Sprünge und Abschweifungen prägen den Handlungsverlauf, an dessen Rand ganz eigene, unerzählte Geschichten abzulaufen scheinen. Dem Krisentreffen Eriks und seiner Freunde, die beraten, wie sie angesichts des verschollenen Paul handeln sollen, wird die für die Handlung irrelevante Verspätung einer Freundin zum besagten Treffen entgegengesetzt; dem Melodrama kommen so immer wieder Banalitäten in die Quere, die mit genauem Blick inszeniert sind und dafür sorgen, dass die Zuschauer_innen nicht in einen emotionalen Würgegriff geraten.

Der Fokus des Films aber liegt nicht auf Paul, sondern eindeutig auf dem von Thure Lindhardt gespielten Erik. Der stellt, wenn man so will, ein Alter Ego Ira Sachs‘ dar, der im Film auch auf eigene Erfahrungen im Kampf um einen suchtkranken Liebhaber zurückgreift. Dass es hierbei nicht zu einer Nabelschau kommt, liegt an der Distanz, die bei aller Intimität immer bestehen bleibt, und der besonderen Perspektive, der sich André Wendler in seinem Text zum Film in der Sissy detailreich gewidmet hat. „Keep the Lights On“ mag autobiografisch gefärbt sein, aber Sachs verlässt sich nicht auf das Label „Beruht auf einer wahren Geschichte“ oder zu kurz gedachten Vorstellungen von Authentizität, die so manchem Film schon als Qualitätsmerkmal dienen sollen. Stattdessen schafft Sachs eine komplexe Struktur aus Fiktion und Dokumentation, autobiografischen Details und ironischen Brüchen, die wie Spiegelscherben einander reflektieren. Der Ton des Films ist offen für Feinheiten und Schwingungen, sicherlich nicht humorlos, dabei aber stets von verhaltener Nostalgie, evoziert durch die ausgeblichenen Bilder und den grandiosen Soundtrack, der durchgängig aus Stücken und Songs von Arthur Russell besteht.

Trotz einiger Längen ein schlauer, schöner, guter Film also. Sicherlich auch ein queerer. Und man kann es einem einzelnen Film oder seinem Macher nicht zum Vorwurf machen, dass die noch vage Idee vom „New-Wave Queer Cinema“, wie Walters sie hat, bis dato wenig überzeugt und auf wackligen Beinen steht. Auffallend bleibt allerdings, dass die bisher zur Diskussion stehenden Vertreter des neuen queeren Kinos überwiegend weiße Schwule sind, die von Zweierbeziehungen und dem Sexualleben einer schwulen weißen Mittelschicht erzählen. Der bisweilen miterwähnte „Pariah“ von Dee Rees mit einer butchen Woman of Color als Protagonistin wirkt da fast schon etwas alibimäßig. Vor diesem Hintergrund entpuppt sich die viel beschworene Universalität, die Sachs‘ oder auch Haighs Werk auszeichnen soll und von der neben Walters beispielsweise auch Daniel Sander im Spiegel schreibt, eher als Egozentrik eines im Mainstream aufgegangenen Schwulseins. Diesen schwulen Geschichten soll keineswegs die Relevanz oder gar Queerness abgesprochen werden, aber damit das Label „New-Wave Queer Cinema“ in Zukunft Bestand hat, liegt es an Filmemacher_innen, Verleihen, Festivaljurys und Kritiker_innen, die Idee von Queerness mit Leben zu füllen und dabei auch nicht-heterosexuelles Leben abseits vom Schwulen zu berücksichtigen. Das heißt, nicht nur dafür zu sorgen, dass die Kinolichter weiter flimmern und homosexuelle Gesichten sichtbar zu machen, sondern sich auch der blinden Flecke bewusst zu werden, die dabei bleiben.

Puppe, Icke & der Dicke

(D 2011, Regie: Felix Stienz)

Mizaru, Kikazaru, Iwazaru
von Louis Vazquez

Ein kleinwüchsiger, aber großmäuliger Kurierfahrer aus Berlin, eine schwangere Blinde aus Paris und ein schweigender, dicker Trinker, ebenfalls von dort und zufällig mit der Blinden bekannt, geraten noch zufälliger gemeinsam …

Ein kleinwüchsiger, aber großmäuliger Kurierfahrer aus Berlin, eine schwangere Blinde aus Paris und ein schweigender, dicker Trinker, ebenfalls von dort und zufällig mit der Blinden bekannt, geraten noch zufälliger gemeinsam auf den Weg nach Berlin. Kurierfahrer Bomber (Tobi B) hat gerade seinen Job verloren. Mit einer Plastik-Armbanduhr als Zeichen der Dankbarkeit bzw. Gleichgültigkeit wurde er auf seine allerletzte Tour geschickt, die ihn eigentlich nach Warschau hätte führen sollen. Bomber indes fuhr lieber nach Paris, um dort mit zwielichtigen Partnern ein für sich günstigeres Geschäft abzuschließen – und scheiterte grandios. Der dicke Bruno (Matthias Scheuring) springt trotz Verständigungsschwierigkeiten als Retter in der Not ein, bietet Bomber einen Schlafplatz und schließt sich ihm auf der Heimreise an, denn er hätte in Berlin noch etwas zu erledigen. So auch die blinde Europe (Stephanie Capetanides): Sie ist schwanger nach einem One-Night-Stand mit einem Typen aus Berlin, der bei der Müllabfuhr arbeiten soll. Immerhin weiß sie den Vornamen und hat ein Foto …

„Puppe, Icke & der Dicke“, das Spielfilmdebüt von Felix Stienz, ist zum Glück längst nicht so plakativ wie der unglücklich gewählte Filmtitel, der an schlimmste deutsche Mainstream-Komikversuche denken lässt, sondern ein auf unkonventionelle Weise nostalgisches und offenbar ziemlich skandinavisch geprägtes Roadmovie. Oft wirkt der Film, als hätte ihn Aki Kaurismäki schon in den frühen 1990er Jahren gedreht – abgesehen vielleicht von den knalligen Farben. Stets werden die eigentümlichen, aber nicht allzu traurigen Gestalten so in der Umgebung angeordnet, dass man sich lästige Schuss-Gegenschuss-Aufnahmen erspart und in besonders gelungenen Momenten sogar an die Tableaus eines Roy Andersson erinnert. Dazu wird punkig musiziert, wobei ab und an der Einfluss von – natürlich – finnischer Polka zu erkennen ist. Dass die Musiker bisweilen ins Bild spazieren und die Ereignisse immer wieder ins Groteske bis Surreale kippen, etwa bei einer völlig irrsinnigen Verwechslungsepisode, macht den Spaß noch größer. Der Film beschwört allen Ernstes sogar noch einmal den Mythos von Berlin als Stadt der schrägen Kreativen und Sehnsuchtsort der Individualisten, was ganz fürchterlich hätte werden können. Doch durch den skurrilen Stil, die liebevoll gestalteten Figuren und die immer wieder die Grenze zum Absurden mindestens touchierenden Situationen wird selbst dieses Berlin-Bild äußerst bekömmlich, weil es dann doch zu abseitig ist, um in irgend einer Weise als hip gelten zu können.

Eindeutige Happy-Ends sind zum Glück nicht vorgesehen, und selbst eine Titelfigur kann mal eben ohne viel Aufheben komplett aus der Geschichte flutschen. „Puppe, Icke und der Dicke“ bleibt verhuscht und spröde, ist aber gerade deshalb liebenswert. Ein paar Szenenwechsel machen es nicht unbedingt leicht, die räumliche Übersicht zu wahren – aber das geht den Protagonisten ja nicht anders und mag sogar Absicht sein. Beim Max-Ophüls-Festival gab es jedenfalls den Publikumspreis für diese durch und durch gelungene Loser-Komödie mit glaubhaftem Indie-Flair und herrlich räudigem Soundtrack.

„Wir sind wie die drei Affen“, sagt der selbstbewusste Bomber einmal mit Blick auf sich und seine Begleiter, ein wenig fassungslos angesichts dieser Erkenntnis. „Mizaru, Kikazaru und Iwazaru“, entgegnet Europe. Sie kennt sich nämlich aus und weiß, dass die vielfach zu Unrecht geschmähten Affen eigentlich Helden sind.

Dicke Mädchen

(D 2012, Regie: Axel Ranisch)

Plattenbau-Boléro
von Carsten Moll

Wer beim TV-Event a.k.a. Spielfilm-Imitat „Die Wanderhure“ etwas Durchhaltevermögen gezeigt hat, konnte auf halber Strecke zusammen mit einem Millionenpublikum vor den Fernsehapparaten einen kurzen, unspektakulären Auftritt von Heiko Pinkowski bewundern. …

Wer beim TV-Event a.k.a. Spielfilm-Imitat „Die Wanderhure“ etwas Durchhaltevermögen gezeigt hat, konnte auf halber Strecke zusammen mit einem Millionenpublikum vor den Fernsehapparaten einen kurzen, unspektakulären Auftritt von Heiko Pinkowski bewundern. Dass Pinkowskis Figur ein fieser Typ sein muss, ist dabei schon klar, bevor er sich an der mittelalterlichen Powerfrau Alexandra Neldel vergreifen darf. Denn in der Welt der Wanderhure sind die fiesen Typen wahlweise durch schlecht sitzende Frisuren oder – wie Pinkowski – durch einen erhöhten Körperfettanteil sichtbar als solche markiert, während sich die netten Kerle durch haarlose Sixpacks und multidimensional glänzendes Kopfhaar auszeichnen. Raum für Brüche, Mehrdeutigkeiten oder eigene Gedanken bleibt da kaum, die Kacke, die einem hier serviert wird (ästhetisch, ideologisch etc.), bekommt man auch noch vorgekaut.

Aktuell blickt Pinkowski zusammen mit seinem Kollegen Peter Trabner vom Filmplakat zu Axel Ranischs No-Budget-Film „Dicke Mädchen“, immer noch korpulent, aber im Gegensatz zum züchtigen Hurenfilm nicht mit nackter Haut geizend und auch nicht ganz hetero. Wo man über die Qualitäten des Filmtitels und das betont skurrile Plakat mit seinen zwei dicken Nackten und der von oben durchs Bild wirbelnden Oma noch streiten kann, da entpuppt sich der Film dazu zweifelsfrei als eine der unterhaltsamsten und interessantesten deutschen Produktionen der letzten Jahre.

Die Geschichte um Sven, der mit seiner dementen Mutter Edeltraut in einem Berliner Plattenbau wohnt und sich in deren Pfleger Daniel verliebt, fängt Regisseur, Ton- und Kameramann in Personalunion Axel Ranisch mit einer Mini-DV-Kamera ein. Dabei zeigt er sich an Situationen, die seinen Darstellern Raum zur Improvisation geben, interessierter als an einer konventionellen, vom Drehbuch diktierten Dramaturgie. So entsteht eine Reihe locker verknüpfter Episoden und Performances, die von überbordender Clownerei über einen betörenden Boléro im Wohnzimmer bis zur lakonischen Alltagsbeobachtung reichen. Auch ästhetisch ist „Dicke Mädchen“ eigenwillig: Von Anfang an stellt Ranisch dem unvermeidlichen Sozialdrama-Look seiner verwackelten Bilder von der farblosen Wohnung einen ironisierenden Soundtrack entgegen und auch der Vergleich mit einem Home-Video will nicht ganz aufgehen: Dafür sind viele Einstellungen bei allem Understatement und trotz der billigen Produktionsweise doch zu kunstvoll, der Schnitt zu gekonnt.

Spannend an „Dicke Mädchen&#147; ist aber vor allem, dass hier eine Menge Sachen, die man aus anderen Filmen oder auch Serien und der Werbung zur Genüge kennt, gar nicht oder anders gemacht werden. Das ist wohl am auffälligsten bei der Inszenierung des Dickseins: Ebenso weit entfernt von der vollkommenen Fiktionalität der Fatsuit-Fantasien wie vom anbiedernden Authentitzitätsversprechen einer Dove-Werbung, präsentiert Ranisch Körper von Gewicht, die immer mehr sind als ein visueller Gag oder bedeutungsschwanger herumgetragene Bäuche. Das Körperfett der Protagonisten (wie auch Krankheit und Tod) ist in „Dicke Mädchen“ nicht sonderlich sinnstiftend oder schales plot device, es ist einfach da, beim Tanz, beim Spiel, beim Kampf und erzählt ganz eigene Geschichten, die es zu entdecken gilt.

Überhaupt ist „Dicke Mädchen“ ein Film, der durch seine Offenheit zu Entdeckungen einlädt und das Aufbrechen von dem Runterbrechen auf Bedeutung vorzieht. Da weist Daniel beispielsweise einen Kuss von Sven in der Öffentlichkeit zurück, aber es bleibt offen, warum er das tut. Weil es ein schwuler Kuss ist? Weil Daniel Ehefrau und Sohn hat? Aus einem völlig anderen Grund? Der bisweilen etwas überstrapazierte Begriff des Queeren ist durchaus treffend, um das vieldeutige Spiel mit Identitäten, die sich in Ranischs Film immer wieder als flüchtig und provisorisch erweisen, zu beschreiben. Abseits vom manchmal monotonen radikalen Chic vieler als queer gelabelter Produktionen und deren Fixierung auf junge, schlanke Körper gelingt Ranisch mit „Dicke Mädchen“ nicht nur ein komplexer und eigensinniger Film, sondern auch ein Stück queeres Kino, das sich nicht in der Thematisierung von Homosexualität erschöpft und am Ende weit mehr zu bieten hat als dicke Mädchen.

[Interview mit Regisseur Axel Ranisch]
[Link zu einer weiteren Filmkritik]