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Jung & schön

(F 2013, Regie: François Ozon)

Körpereinsatz, ironisch
von Carsten Happe

Es braucht nur ein einziges Bild, eine eigentlich simple Einstellung, und die Stimmung ist gesetzt, gleich vom ersten Moment an. Durch ein Fernglas sehen wir ein junges Mädchen, um die …

Es braucht nur ein einziges Bild, eine eigentlich simple Einstellung, und die Stimmung ist gesetzt, gleich vom ersten Moment an. Durch ein Fernglas sehen wir ein junges Mädchen, um die 16, an einem Strand liegen. Die Sonne strahlt herab, das Mädchen öffnet ihr Bikini-Oberteil, die Musik von Philippe Rombi schwillt leicht unheilvoll an – wir sind unmissverständlich in einem ikonografischen Film von François Ozon. Kaum ein anderer Regisseur versteht es, mit so wenigen Mitteln ein derart typisch „französisches“ Flair auf die Leinwand zu zaubern und dabei dem Klischee ein ironisches Augenzwinkern beizumengen.

Das Mädchen heißt Isabelle und wird in diesem Sommer erstmals die körperliche Liebe entdecken und im darauf folgenden Herbst auch die käufliche Liebe, und Ozon lädt diesen überraschenden Schritt nach dem verspielten ersten Kapitel nicht mit banalen Erklärungen auf, er zeigt lediglich und lässt seine Erzählung für sich sprechen. Aus dem unbedarften Mädchen wird innerhalb weniger Schnitte eine kühl berechnende junge Frau ohne Illusionen, die sich älter gibt und gut situierte Herren in schmucklosen Hotelzimmern trifft. Und gerade weil Ozon so wenig Psychologisierendes preisgibt, lädt sich das Verhalten Isabelles ins Ungeheuerliche auf: Was treibt sie an? Ist es lediglich das Geld? Die Lust an der Grenzerfahrung? Eine verquere Form jugendlicher Rebellion? Von allem etwas?

Wir kommen im ganzen Verlauf des Films nie näher an Isabelle heran, ebenso wenig wie ihre Mutter, auch wenn sie das Doppelleben ihrer Tochter eines Tages entdeckt und naturgemäß schockiert ist (aber vielleicht auch nicht allzu sehr). Denn Marine Vacth, die Darstellerin der Isabelle und französisches Supermodel für Yves Saint Laurent und Chloé, verleiht Isabelle trotz allen Körpereinsatzes eine Aura der Unnahbarkeit und des Geheimnisses. Selbst – oder gerade – wenn sie völlig nackt ist, gibt sie längst noch nichts von sich preis. Die allzu schnell herbeizitierten Vergleiche zu Buñuels „Belle de jour“ greifen allerdings jenseits einer gewissen Unterkühltheit ins Leere. François Ozon ist kein Regisseur des Surrealen, selbst das geflügelte Baby in „Ricky“ verwurzelte er in eine naturalistische Bildsprache – die das Groteske freilich noch überhöhte.

Ein junges Mädchen prostituiert sich, nicht aus Not oder Zwang, es wird weder moralisiert noch pathologisiert – „Jung & schön“ erzählt schnörkellos und doch raffiniert, insbesondere gegen Ende, und mit großer Souveränität von einem undurchschaubaren Charakter, subtil und unverwechselbar, nun ja: französisch. Ozon eben.

Das lüsterne Quartett

(USA / D / I 1970, Regie: Radley Metzger)

Sexual Healing
von Wolfgang Nierlin

„Die Realität von heute ist dazu bestimmt, Ihnen morgen als Illusion zu erscheinen“, lautet ein Zitat aus Luigi Pirandellos Drama „Sechs Personen suchen einen Autor“, das Radley Metzger seinem 1970 …

„Die Realität von heute ist dazu bestimmt, Ihnen morgen als Illusion zu erscheinen“, lautet ein Zitat aus Luigi Pirandellos Drama „Sechs Personen suchen einen Autor“, das Radley Metzger seinem 1970 entstandenen Film „The Lickerish Quartet“ („Das lüsterne Quartett“) als Motto vorangestellt hat. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich Metzgers künstlerisch ambitionierter Erotikfilm durch seine Film-im-Film-Struktur und den damit verbundenen Austausch unterschiedlicher Fiktionalisierungsgrade unentwegt und dabei theoretisch komplex. Auf der Realitäts- bzw. Erzählebene des Films „The Lickerish Quartet“ betrachtet eine aristokratische Kleinfamilie, bestehend aus Vater, Mutter und erwachsenem Sohn, im geräumigen Wohnzimmer eines alten, herrschaftlichen Schlosses einen Amateursexfilm. Während dieser in Schwarzweiß projiziert wird, wechselt die Montage fortwährend zwischen dem Gegenstand und seinen Betrachtern, die sich in Spekulationen und Streitereien über den Realitätsgehalt des Dargestellten ergehen.

Einmal wird der Sexfilm, in dem sich zwei Paare miteinander vergnügen, ironisch als „moderne Studie zum Realismus“ apostrophiert. Ein anderes Mal kontert der Vater (Frank Wolff) die moralischen Einwände seines Sohnes (Paolo Turco), indem er einerseits auf den Illusionscharakter des Gesehenen hinweist, andererseits dessen subjektive Konstruktion akzentuiert: „Weißt du, Geschmacklosigkeit liegt im Auge des Betrachters.“ Wird also die Filmwirklichkeit maßgeblich von den Wunschvorstellungen der Zuschauer moduliert? Die Echtheit des Gezeigten ist in „The Lickerish Quartet“ jedenfalls brüchig und wird in der Folge zudem vielfach gebrochen. Im ausführlichen Audiokommentar, in dem Radley Metzger für seinen kunstvoll komponierten, stilistisch brillanten Film die alternativen Titel „Gedankenspiel“ (sic!) und „Dreamplay“ anführt, sagt der Regisseur im Gespräch mit dem Filmhistoriker Michael Bowen, er reflektiere mit dieser Arbeit vor allem „die Impermanenz des Films“ bzw. die Unbeständigkeit des Zelluloids.

Was Metzger damit meint, zeigt der Film im Hauptteil, wenn die Familie bei der Motorradfahrer-Stuntshow auf einem Jahrmarkt die mutmaßliche Hauptdarstellerin (Silvana Venturelli) kennenlernt und sie zu sich ins Schloss einlädt, um sie mit dem Film zu konfrontieren. Aber dessen Bilder sind nicht mehr dieselben. Trügen lediglich die Erinnerungen der Betrachter (und des Publikums) oder handelt es sich bei dem Film um eine sich wandelnde Projektionsfläche für die Wünsche und das Begehren der Zuschauer? Auf der fiktionalen Handlungsebene von „The Lickerish Quartet“ haben die Familienmitglieder, einschließlich der Mutter (Erika Remberg), jedenfalls nacheinander Sex mit der schönen Fremden, die zwischen Phantasiefigur und Phantom changiert und durch ihre sexuelle Hingabe heilend, ja versöhnend wirkt.

In einem anderen Sinn ähnelt sie damit dem mysteriösen Gast in Pasolinis „Teorema“. Mit kurzen Flashs in die Vergangenheit bearbeitet Metzger jedoch primär die persönlichen Konflikte der Figuren im Spiegel des Begehrens. Die filmtheoretischen Implikationen dieses medialen Verwirrspiels spitzt er schließlich noch zu, indem er die Darsteller der beiden Filme die Rollen tauschen lässt und damit die Illusion mit der Wirklichkeit gleichsetzt.

Der Fremde am See

(F 2013, Regie: Alain Guiraudie)

Merkwürdige Liebe, tödliches Begehren
von Wolfgang Nierlin

Die große Schönheit von Alain Guiraudies Film „Der Fremde am See“ („L’inconnu du lac“) ist geradezu klassisch und zeitlos. Wie ein Kammerspiel bezieht er einen Großteil seiner Spannung aus der …

Die große Schönheit von Alain Guiraudies Film „Der Fremde am See“ („L’inconnu du lac“) ist geradezu klassisch und zeitlos. Wie ein Kammerspiel bezieht er einen Großteil seiner Spannung aus der Einheit von Ort, Zeit und Handlung, die sich an einem See in Südfrankreich abspielt. Dabei rhythmisieren wiederkehrende Einstellungen auf emblematische Schauplätze sowie wechselnde Lichtstimmungen, die von der Bildgestalterin Claire Mathon unter natürlichen Bedingungen in höchst nuancierten Abstufungen eingefangen wurden, diese starke Struktur, verleihen ihr eine gewisse Geschmeidigkeit und hauchen ihr Leben ein. Daneben sorgen Naturgeräusche für ein sehr beredtsames Off, indem sie den eng gesetzten Rahmen mit Hilfe der Phantasie des Zuschauers auf das Nicht-Gezeigte hin erweitern. Überhaupt gibt es immer wieder Andeutungen und Verweise, die die Handlung in diese Lücken führt, ohne sie auszuformulieren.

An ungefähr zehn aufeinanderfolgenden Ferientagen besucht der junge, gutaussehende Franck (Pierre Deladonchamps) besagten wildromantischen See, der ein beliebter Treffpunkt für schwule Männer ist. Das Spiel der Blicke, das Cruisen im angrenzenden Wald, offener Geschlechtsverkehr und unverhohlener Voyeurismus charakterisieren diesen Ort als eine eigengesetzliche parallele Welt, die auf Außenstehende teils unverständlich wirkt. Vor allem die Anonymität sexueller Beziehungen, ihr unverbindliches, flüchtiges und scheinbar unkompliziertes Wesen, lassen den in einem mutmaßlichen Mordfall ermittelnden Kommissar (Jérôme Chappatte) von einer „merkwürdigen Art der Liebe“ sprechen. Dabei erzeugt das Begehren ebenso ein differenziertes Gefühlsspektrum aus Liebe, Eifersucht und Angst. Alain Guiraudie durchzieht das engmaschige Gewebe seines Films mit Diskursen über das Schwulsein, umlagert damit gewissermaßen sein Sujet des Begehrens und findet dafür ebenso freizügige wie ehrliche Bilder, die, so die Absicht des Regisseurs, „das Gefühl der Liebe mit der Obszönität der Triebe verschmelzen“ lassen.

Die Grenzen des Begehrens auszuloten, indem sich das Verlangen förmlich in einen dunklen Abgrund stürzt, markiert das zentrale Interesse Guiraudies. Georges Batailles Satz, wonach die Erotik „die Bejahung des Lebens bis in den Tod hinein“ ist, diente ihm dabei als Referenzpunkt, wie der französische Filmemacher in einem Interview sagt. In seinem Film „Der Fremde am See“ lässt er seinen liebes- und sexhungrigen Protagonisten deshalb auf den attraktiven, aber mysteriös und gefährlich wirkenden Michel (Christophe Paou) treffen, dem er wider alle Vernunft und besseres Wissen verfällt. Doch neben „der Angst vor dem Ende der Lust“ reflektiert Alain Guiraudie vor allem in der Figur des verlassenen und schwermütigen Henri (Patrick D’Assumçao) auch Formen der Einsamkeit. Mit dem resignierten Familienvater freundet sich Franck auf berührende Weise an, ohne ihm helfen zu können oder ihn, verstellt durch das eigene Begehren, überhaupt zu verstehen.

Finsterworld

(D 2013, Regie: Frauke Finsterwalder)

Soundgebilde
von Carsten Happe

Wo fängt man an bei einem Film wie „Finsterworld“, der von einem scheinbar aus der Zeit gefallenen Land erzählt und von dem Abgrund, der hinter der mühsam aufrechterhaltenen Fassade lauert? …

Wo fängt man an bei einem Film wie „Finsterworld“, der von einem scheinbar aus der Zeit gefallenen Land erzählt und von dem Abgrund, der hinter der mühsam aufrechterhaltenen Fassade lauert? Vielleicht bei der Regisseurin, die wirklich Frauke Finsterwalder heißt, und die ebenso wie ihre Filmfigur Franziska Feldenhoven, die von der einmal mehr brillant aufspielenden Sandra Hüller verkörpert wird, eigentlich Dokumentarfilme dreht und von daher den genauen Blick für Details erkennen lässt. Oder vielleicht bei Finsterwalders Ehemann Christian Kracht, den Bestsellerautor, der gemeinsam mit ihr das Drehbuch verfasst hat, und hier ebenso wie in seinen Romanen von „Faserland“ bis „Imperium“ eine so leicht erscheinende Sprachmächtigkeit in die Erzählung und die Dialoge eingebracht hat, die im deutschen Film selten zu finden sind.

Und dann, wenn das Drehbuch so funkelt und seine Doppelbödigkeit weit über die verschachtelten Episoden hinausstrahlt, dann kommen sie alle, die Granden des deutschen Films und des Theaters und veredeln die messerscharfen Sätze mit ihrer Lust am Spiel: Michael Maertens als psychotischer Fußpfleger, der alten Damen Kekse schenkt, Ronald Zehrfeld als Polizist und Furry Fan, der seine Freizeit am liebsten im Bärenkostüm verbringt, „Feuchtgebiete“-Star Carla Juri als uniformiertes Schulmädchen, die nach einem Streich ihrer Mitschüler im Ofen einer KZ-Gedenkstätte landet. „Finsterworld“ scheut nicht davor zurück, selbst bizarrste Grenzgegenden auszuloten; dahin zu gehen, wo es wirklich weh tut, und bleibt mit seinem Blick, seiner Erzählhaltung immer in einer sanft ironischen Distanz, die den Film so ungeheuer unterhaltsam macht.

So wie Kracht in „Faserland“ die Republik von Nord nach Süd durchquert hat, zieht „Finsterworld“ einen Querschnitt durch die deutsche Befindlichkeit, längs an allen Generationen entlang, weder repräsentativ noch exemplarisch, aber mit dem Gespür für den Sound des Landes, der zwischen Absurdität und Sarkasmus pendelt (Corinna Harfouch und Bernhard Schütz als grandios giftendes Ehepaar), zwischen peinlicher Betulichkeit und allzu politisch korrektem Vergangensbewältigungszwang, kurz: die Leinwand in einen Spiegel verwandelt, der absichtlich verzerrt, aber erst dadurch das wahre Gesicht offenbart. Schön grausam und grausam schön.

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Aus dem Leben eines Schrottsammlers

(F / SI 2013, Regie: Danis Tanovic)

Etwas zu nah
von Andreas Busche

Als 1999 auf den Filmfestspielen von Cannes die Filme Rosetta' von Jean-Pierre und Luc Dardenne und Bruno Dumonts Humanité' die Hauptpreise abräumten, warfen erboste Kritiker der Jury um David Cronenberg …

Als 1999 auf den Filmfestspielen von Cannes die Filme Rosetta' von Jean-Pierre und Luc Dardenne und Bruno Dumonts Humanité' die Hauptpreise abräumten, warfen erboste Kritiker der Jury um David Cronenberg angesichts der formalen und sozialen Tristesse beider Filme lautstark 'Publikumsfeindlichkeit' vor. Lange Plansequenzen, wortkarge Protagonisten, die beim verzweifelten Marschieren entlang der gesellschaftlichen Peripherie meist aus der Rückansicht gefilmt wurden, der Verzicht auf dramatischen Musikeinsatz und ein schmuckloser, fast dokumentarischer Gestus in den Alltagsbeobachtungen waren damals noch völlig ungewohnt für ein cinephiles Festivalpublikum, das sich mehr mit dem wohlfeilen, bürgerlichen Kunstkino eines Manoel de Oliveira oder eines Pedro Almodóvar, die im selben Jahr ebenfalls ausgezeichnet wurden, identifizieren konnte.

Knapp 15 Jahre später sind die filmischen Mittel, die an 'Rosetta' und 'Humanité' so vehement moniert wurden, selbst zu einem Klischee des internationalen Festivalkinobetriebs geworden. Diese Form von Cine-Miserabilismus hat inzwischen sogar ein eigenständiges Marktsegment geschaffen, das unter völlig verkehrten ökonomischen Voraussetzungen die Idee des 'Dritten Kinos' aus den sechziger Jahren wiederbelebt. Produziert werden die Filme aus den Philippinen, Saudi-Arabien oder dem Tschad heute kaum noch in den Heimatländern der Regisseure, sondern von Europa aus: für einen sich rasant ausdifferenzierenden Weltkinomarkt.

Auch 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' des bosnischen Regisseurs Danis Tanovic fällt in diese Kategorie. Tanovic reaktiviert alle Klischees des globalen Elendskinos. Auf der diesjährigen Berlinale wurden daher ganz folgerichtig seine beiden Hauptdarsteller Nazif Mujic und Senada Alimanovic für ihren selbstlosen Einsatz ausgezeichnet. Tanovic’ Film fährt allerdings eine Doppelstrategie, denn er bedient sich einerseits der dokumentarischen Manierismen des kritischen World Cinema, bricht diese Inszenierung aber mit einem Kunstgriff. Nazif und Senada, wie auch ihre Kinder Sandra und Semsa, spielen sich selbst. Vielmehr spielen die vier ihre eigene Geschichte nach, auf die Tanovic vor einigen Jahren in der Zeitung gestoßen ist. Nazif und Senada, die mit ihren Töchtern in dem Roma-Dorf Poljice leben, machten damals Schlagzeilen, weil das Ehepaar die nötige Geldsumme für eine lebensrettende Operation nicht aufbringen konnte. Senadas ungeborenes Baby ist gestorben, es musste schnellstmöglich aus ihrer Gebärmutter entfernt werden. 980 bosnische Marka sollte die Operation kosten. Kein Arzt ließ sich erweichen, sie umsonst durchzuführen. Die Medien berichteten über den Fall als Beispiel für den grassierenden Rassismus gegenüber ethnischen Minderheiten in den ehemals jugoslawischen Teilstaaten.

Tanovic, der 2001 mit seinem Debütfilm No Man’s Land' den Oscar gewonnen hat, inszeniert diese Human-Interest-Geschichte jetzt als sprödes Dokudrama mit dem Pathos eines kritischen Prekarismus, wie ihn etwa das Neue Rumänische Kino in den vergangenen Jahren bereits erfolgreich in der Formensprache des europäischen Arthaus-Kinos etabliert hat. Dass der Regisseur für 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' auf das populäre, aus dem Trash-TV bekannte Scripted-Reality-Format zurückgreift, entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie. Tanovic leitet aus diesem Besetzungscoup (bis auf die Ärzte spielen alle Protagonisten sich selbst) jedoch weder weiterführende Erkenntnisse ab, noch erkennt er in dem Vorfall eine politische Dimension. Die Unterordnung der Form unter die Geschichte stellt zunächst – ähnlich dem ungarischen Roma-Drama 'Just the Wind', das im Juli in den deutschen Kinos zu sehen war – lediglich eine Intensität her. Tanovic geht es in erster Linie um die (Nach-)Empfindung eines menschlichen Schicksals in einem Unrechtssystem. Eine Diagnose, wie in den klügeren Filmen des rumänischen Kinos, bleibt aus.

Dafür zeigt Tanovic die physischen Beschwerden dieses Lebens um so eindringlicher. Zeit wird hier mit fortschreitender Spieldauer eine immer kritischere Ressource – obwohl 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' mit einer Länge von 75 Minuten relativ kurz ausfällt. Nazifs einzige Einnahmequelle ist der Metallschrott, der im Nirgendwo des verschneiten bosnischen Hinterlandes an jeder Straßenkreuzung herumzuliegen scheint. Zwei nahezu identische Szenen verleihen der Odyssee von Nazif und Senada – mal mit, mal ohne Kinder im Schlepptau – einen erzählerischen Rahmen: Nazif und sein Nachbar Kasim ('Bruder' nennen sich hier die Menschen in einer fast altmodisch solidarischen Geste) nehmen mit Hämmern und Äxten ein Auto auseinander, bis die Einzelteile in den Lieferwagen des Freundes passen. Der Lohn der Arbeit, als sie die Teile später beim Schrotthändler abgeben, ist allerdings ernüchternd. Früh ist also klar, dass für Nazif und Senada die finanziellen Mittel für ein menschenwürdiges Leben in weiter Ferne liegen. 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' verfällt über diese Erkenntnis in eine Art Schockstarre.

Die Konsequenz, mit der Tanovic seine Geschichte umsetzt, legt die Beschränkungen dieser Ästhetik dann auch schonungslos offen. Das Bekenntnis zum 'Reenactment' als wirkungsvollem Abbildungsmodus beschreibt eher die Ohnmacht der Regie gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen. Als letzte Möglichkeit der Anteilnahme wird dem Zuschauer ein Identifikationsangebot gemacht, dem er sich nicht entziehen kann. 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' ist zu spröde, als dass es zum Elendskitsch oder gar zu der Form von magischem Realismus taugt, mit dem der US-Independentfilm seit einiger Zeit seine gesellschaftlichen Bilanzen aufzuhübschen versucht.

Tanovic ist immer dann am besten, wenn er Bewegungen inszeniert, in deren Verschleppungen sich bereits die ganze Vergeblichkeit dieses Überlebenskampfes abzeichnet. Das sind dann meist kurze, sehr filmische Vignetten innerhalb eines ästhetischen Gesamtzusammenhangs, in dem sonst Gesten dominieren. 'Aus dem Leben eines Schrottsammlers' ist etwas zu nah an seinen Figuren dran, um eine Wirkung über die bloße Empörung hinaus zu entfalten. Das System kommt nur selten hinter dem Einzelschicksal zum Vorschein. Zu sehen sind stattdessen Menschen, die anderen Menschen das Leben zur Hölle machen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 10/2013

Prince Avalanche

(USA 2013, Regie: David Gordon Green)

Pioniere der Landstraße, einsam
von Ulrich Kriest

Wir schreiben das Jahr 1988. Waldbrände haben die Landschaft im texanischen Nirgendwo verwüstet, viele Häuser zerstört, wenige Menschen getötet. Nichts, woran man sich erinnern müsste. Doch Alvin und Lance ziehen …

Wir schreiben das Jahr 1988. Waldbrände haben die Landschaft im texanischen Nirgendwo verwüstet, viele Häuser zerstört, wenige Menschen getötet. Nichts, woran man sich erinnern müsste. Doch Alvin und Lance ziehen los, um das Land urbar zu halten, denn die Natur schläft nicht. Mit ihrer kleinen Fahrbahnmarkierungsmaschine und nur dem Nötigsten an Ausrüstung retten die beiden mit gelben Mittelstreifen und Fahrbahnrand-Reflektorpfosten der Zivilisation Terrain. Ganz klar: Alvin und Lance sind Pioniere in der ehrwürdigen Tradition des Westerns, nur, dass ihnen Gefahr nicht länger von Indianern, sondern eher von sich selbst droht. Konflikte liegen erstaunlich früh in der Luft.

Zum Glück gibt es Hierarchien: Alvin ist der Boss, Lance wurde von ihm angestellt. Vielleicht aus Mitleid, vielleicht auch aus Eigennutz, denn Alvin ist mit Lances Schwester Madison liiert, wenngleich nicht gerade glücklich. Aber vielleicht trügt ihn, der seine romantischen Gefühle altmodisch in Briefe kleidet, auch hier die Erinnerung. Die Arbeit ist monoton – und die Straße wie ein Beatles-Song: lang und gewunden. Da bleibt hinreichend Zeit, um Regeln des Zusammenlebens auszuhandeln. Zum Beispiel das „Equal-Time-Agreement“ in Bezug auf den Kassettenrekorder, der mitgeführt wird, um die Zeit zu vertreiben. Alvin, stets etwas zugeknöpft, hört während der Arbeit eine Kassette mit einem Deutsch-Sprachkurs, um sein Deutsch zu verbessern, möglicherweise in Vorbereitung eines lange geplanten Urlaubs im alten Europa. Lance dagegen, ein leicht rebellischer Jungspund, würde lieber Indie-Rock hören, um bei der Arbeit nicht einzuschlafen. Er nutzt die Gunst des Augenblicks, um die Bänder auszutauschen. Alvin stellt ihn zur Rede. Argumente fliegen. Schließlich konstatiert Alvin, der Boss, dass das „Equal-Time-Agreement“ in Sachen „Bildung und Studium“ nicht greife, sondern nur nach Dienstschluss, wenn es um „Erholung“ gehe. Schließlich gibt sich Alvin aber versöhnlich. Mit Depeche Mode befindet er: „Enjoy the Silence!“ Was für Lance keine Lösung ist. „Prince Avalanche“ ist (auch) eine heitere Western-Komödie voller erstklassig getimter, lakonischer Dialoge.

Der Film ist aber (auch) als Zwei-Personen-Stück vor verheerter Landschaft eine melancholisch-existentialistische Parabel über Temperamente, Arbeit, Kreativität, Liebeskonzepte, Einsamkeit und Zivilisationsflucht. Als später Jünger von Albert Camus scheint der grüblerische, introvertierte und irgendwo auch sehr ängstliche Alvin sich Sisyphos sehr wohl als glücklichen Menschen vorstellen zu können, während der ganz und gar diesseitige Comic-Leser Lance es gar abwarten kann, am Wochenende in die Stadt zu fahren, um mit wechselndem Erfolg dort diversen Röcken nachzusteigen. Am besten stehen seine Chancen bei den regionalen Miss America-Vorausscheidungen, wo man als nicht mehr ganz junger Bursche gerade bei den Verliererinnen der Gewinner sein kann. Ist eine Sache der Hormone. Sagt Gentleman Lance, der seinem besten Freund auf einer Party die Freundin ausspannen wollte, es aber nur bis ins Vorzimmer der Lust schaffte, weil plötzlich der beste Freund dazukam, der jetzt nur noch Ex-Freund ist und wirklich nicht so viel trinken sollte. Die Frau mit den dicken, kurzen Beine, die Lance zuvor noch verschmäht hatte, knutschte da schon mit jemandem in der Ecke herum, den Lance noch nicht einmal kannte. Am nächsten Tag war Sonntag, da war Kirche und kein Sex. Was für ein skandalös verlorenes Wochenende!

So sitzt man während der Arbeitspausen zusammen und erzählt sich gegenseitig aus seinem Leben, mit gebotenem Ernst – und vielleicht heißt erwachsen werden ja, dass einem aufgeht, dass man es komplett verbockt hat. Am Ende wissen beide, dass Beleidigungen nur der hilflose Versuch sind, das Gegenüber auf die eigene Unsicherheit aufmerksam zu machen. Ein Paradoxon: die Beleidigung als Hilferuf.

Mit „Prince Avalanche“ kehrt der US-Filmemacher David Gordon Green nach seinen Ausflügen ins Reich der derben Komödien („Ananas Express“, „Bad Sitter“) zu seinen unabhängigen Anfängen zurück. Sein Debüt „George Washington“ (2000) gilt als einer der Schlüsselfilme des „neuen Realismus“ der US-Indie-Szene, womit Filme wie „Winter‘s Bone“, „Shotgun Stories“, „Mud“ oder „Wendy and Lucy“ gemeint sind, Filme von der Rückseite des amerikanischen Traums, die von Arbeit und Armut des „Real America“ erzählen. Green überformt den oftmals spröden Realismus dieser Filme mit surrealen Momenten und Schüben, was die forcierte Langsamkeit des Erzählens unter der Hand psychedelisch werden lässt. Dazu passt, dass ein erklärtes Vorbild von Green bei „Prince Avalanche“ der Naturmystiker Terrence Malick („To the Wonder“) war. Aus der konkreten Erfahrung im Verlauf der Dreharbeiten, dass die Natur sich den verwüsteten Raum sehr schnell zurück erobert, reagierte der Filmemacher mit ausführlichen Tier- und Naturbeobachtungen, die die Idylle in der Zerstörung feiern und dem Film einen eigenwilligen Rhythmus verleihen.

Wenige Begegnungen mit Passanten bleiben seltsam in der Schwebe, könnten auch »Gespenster« („Nosferatu“) sein. Alkohol kommt ins Spiel. Dieser Zug des Films unterstützt nicht nur die eigenbrötlerischen Anwandlungen Alvins, der mitunter als ein kauziger Wiedergänger des Einsiedlers Henry David Thoreau erscheint, sondern wird seinerseits durch den vorzüglichen Country-Folk-Psychedelia-Soundtrack von Explosions in the Sky und David Wingo unterstützt. So scheint bei mancher Begegnung am Wegesrand durchaus nicht ausgemacht, ob sich der Film nicht längst ins Reich der Phantasie verabschiedet hat. Auch das ist eine alte Western-Geschichte: wer zu lange der Stille der Natur lauscht, der wird irgendwann zur Kriegsbemalung greifen. Und zur Rohrzange als Tomahawk.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Sâdhu – Auf der Suche nach der Wahrheit

(CH 2012, Regie: Gaël Métroz)

Aus der Menschenferne
von Wolfgang Nierlin

Seit acht Jahren lebt Suraj Baba als Einsiedler in einer Höhle des Himalaya auf über 3000 Metern Höhe. Hier in Gangotri, wo der Ganges, Indiens heiliger Fluss, entspringt und die …

Seit acht Jahren lebt Suraj Baba als Einsiedler in einer Höhle des Himalaya auf über 3000 Metern Höhe. Hier in Gangotri, wo der Ganges, Indiens heiliger Fluss, entspringt und die Felsen ausgewaschen hat, übt sich der junge Hindu in Askese und Meditation, um sein Bewusstsein zu erweitern. Suraj Baba ist ein Sâdhu, ein „guter, heiliger Mann“ und „Wahrheitssucher“, der sich von seiner Familie getrennt hat und als Bettler ein einfaches, reines und keusches Leben führt. In seiner Grotte, beschränkt auf das Nötigste, backt und kocht er am offenen Feuer. Eine Ratte leistet ihm Gesellschaft. In anderen Szenen von Gaël Métroz‘ intimem Filmporträt „Sâdhu“ taucht der Mann mit den langen Haaren und dem üppigen Bart in das kalte Wasser des Flusses und bittet Gott um Wegweisung. Denn seine geistigen Kämpfe und inneren Zweifel sind längst nicht befriedet. Suraj Baba ist ein Fragender, der sich nach Frieden sehnt und dabei ein gewinnendes Lächeln besitzt.

„Was ist die Essenz des Lebens?“ „Wohin soll ich gehen?“ „Hat Gott überhaupt Antworten?“ Suraj Baba ist kein erleuchteter Weiser, der mit seinem Wissen in sich selbst ruht. Vielmehr stockt sein Reden immer wieder, bricht ab oder verliert sich im Vagen. „Worte sagen wenig über deine Gefühle“, erklärt er sein Schweigen, das vielleicht gerade aus der Menschenferne kommt. Stattdessen singt er in bestem Englisch, das ihn als einen Gebildeten ausweist, selbstkomponierte Folksongs und begleitet sich dazu auf der Gitarre. Métroz‘ Erzählstoff und die Möglichkeiten seiner inhaltlichen Entwicklung sind insofern mitunter etwas dürftig – ein Mangel, der auch durch die stimmungsvollen Bilder majestätischer Landschaften nur bedingt kompensiert werden kann.

In diese bricht der Sâdhu schließlich auf, um zum Ursprung von etwas Konkretem zu gehen und damit meint er die heiligen Seen Tibets. Seine Pilgerreise führt ihn allerdings zuerst zum hinduistischen Fest Kumbh Mela in Haridwar, wo Heerscharen von Pilgern sich im Ganges von ihren Sünden reinwaschen. Zwar begrüßt Suraj Baba die Abwechslung, doch er erlebt sich inmitten des außerordentlich beeindruckenden Treibens, das er als einen „großen Zirkus“ und als „Theater“ empfindet, auch als einen individualistischen Skeptiker, der nach Gott fragt und nach einem eigenen Lebensweg sucht. Dieser führt ihn schließlich auf eine lange Wanderung über Nepal bis in die hochgebirgige Grenzregion zu Tibet, was Gaël Métroz in (film)logistisch nicht immer stimmigen Reiseimpressionen verdichtet. Immer wieder heften sich dabei die Gefühle des Suchenden an die sinnlichen Erfahrungen des Lebens. Und man spürt, wenn Suraj Baba in einer der emotionalsten Szenen durch seine Zweifel hindurch vom Loslassen spricht, wie viel Selbstüberwindung ihn diese Aufgabe kostet.

Rush – Alles für den Sieg

(USA / GB / D 2013, Regie: Ron Howard)

Je lauda es wird, desto mehr niki ein
von Drehli Robnik

Das ungebremst neoliberale Rennfahrerretrodrama “Rush” Bedeutsamkeit auf Hochtouren: Autorennen als Authentiktest, die Formel 1 als Pathosformel, 1976 als (österreichisches oder warum nicht gleich globales?) Schlüsseljahr, das Spiel mit dem nahen …

Das ungebremst neoliberale Rennfahrerretrodrama “Rush”

Bedeutsamkeit auf Hochtouren: Autorennen als Authentiktest, die Formel 1 als Pathosformel, 1976 als (österreichisches oder warum nicht gleich globales?) Schlüsseljahr, das Spiel mit dem nahen Tod als Spiegel einer Lebendigeit, die uns Heutigen echt und fern anmuten soll (sagt zumindest die Retrokultur). Oder zielt das Rennfahrer-Biopic-Drama 'Rush' – zugespitzt aufs WM-Duell zwischen dem Briten James Hunt und dem Wiener Niki Lauda 1976 – gar ins Universelle? (Oder gilt solch ein auf nichts weniger als das Menschliche überhaupt bezogener Anspruch eh nur in Österreich, wo Lauda ein Nationalheiliger und allzu gern gehörter Wirtschaftsvernunftapologet ist und der Tag seines gesichtsverändernden Rennunfalls auf dem Nürburgring als geschichtsverändernder, gar dunkelster Tag der jüngeren Landesgeschichte gilt – die immerhin auch z.B. einiges an politischen Morden aufzuweisen hätte… Jedenfalls wird in Filmmagazinbesprechungen und Zeitschriftenfeuilletons hierzulande Großes dieser Art über 'Rush' behauptet, und dafür, dass meine Rezi dort ansetzt, seien alle Un-Ösis und Sonstigen um Verzeihung gebeten.)

'Rush' also als Bild, so heißt es, 'einer Konfrontation von universeller Gültigkeit'? Nun, je lauter ein solcher Allgemeingültigkeitsanspruch sich, auch filmisch, anmeldet – und mit den routiniert, als wär´s ein Red-Bull-TV-Feature, heruntergesäbelten close-ups dröhnender Motorendetails und den eingestreuten Glamrock-Hadern von 'Rush' ist das ziemlich laut (aber eh auch lauwarm) –, je mehr also der Zug ins Schlechthinige fährt und führt, desto mehr gilt es, dies ganz in seiner historischen Vermittlung zu verstehen. Sprich: Die Frage gilt dem Gegenwartsinteresse, das sich da in eine bunte Vergangenheit, sowie deren Haar- und Textilmoden zurückprojiziert. 'Why this film now?' So hat der Filmtheoretiker Thomas Elsaesser einmal diese kategorische Frage verdichtet formuliert.

Mensch kann 'immer' sagen, dass hier der Neoliberalismus, mit seinen Wert- und Stilpräferenzen, sich reflektiert im revuehaften Rückblick-Bild der Pop- und Technokulturabenteu(r)er seiner abenteuerlichen Frühphase, die von circa 1960 bis irgendwann in die späten 1980er reicht (mithin also jene Jahre und Jahrzehnte umfasst, die im heutigen Retro-Repertoire am stärksten als Referenzstile vertreten sind; schon klar, die Supercoolen zitieren heute 1940er Swing- oder Frühneunziger-Grunge-Kultur). Wie gesagt: Das lässt sich 'immer' sagen. Und was gäbe es Abgedroscheneres, als das rasende Autobusiness als Sinnbild der Businessautokratie im 'Turbokabitalismus' zu lesen. Deshalb gilt zunächst: But why 'Rush' now? Recht spezifisch bietet dieser Film anhand der Formel 1 der Mittsiebziger die triumphale Selbstabbildung eines sehr heutigen, sehr aktuellen Neoliberalismus, der das, was so allgemein 'die Krise' heißt, ziemlich intakt überstanden, Aufprallschäden veräußert (bzw. verstaatlicht), Einspruch minimiert hat – und ergo ganz einfach, schamlos dieselbe Tour weiterfahren kann. Insofern ist gerade die totale Abgedroschenheit aller dröhnenden Sinnbildlichkeit dieses Films der Schlüssel zum Spezifischen seiner Sinnbildung. Das atemberaubende Ausmaß, in dem er business as usual treibt und dies zugleich als völlig alternativlos anschreibt, ist das Besondere und besonders Unangenehme an 'Rush'.

Wenn eine öd inszenierte Runde – und es gibt auch viele nicht öd inszenierte Runden im Autorenn-Kino, angefangen beim Split Screen von John Frankenheimers 'Grand Prix' (1966) oder noch früher –, wenn also eine öd inszenierte Runde nicht weiter stört, warum nicht 74 davon? Wenn das Konfliktschema nach fünf Minuten ausgemalt ist, warum es nicht 118 weitere Minuten lang breittreten? Dieses Konfliktschema bezeichnet zum einen die Bedeutsamkeit, die dieser Film so hartnäckig, wortreich, ausführlich und bei allem Flottschnitt auch behäbig verdeutlicht, dass selbst diejenigen mitschreiben können sollen, die noch gar nicht schreiben können, zum anderen umreißt es das Ausmaß an Wahl, das der sich selbst feiernde Neoliberalismus uns läßt: Partylöwe/Betthase James Hunt versus Technokrat Niki Lauda, Leistung durch Spaß versus Leistung durch Selbstzucht, Berlusconi oder Wirtschaftskammerpräsident – kapitalmachtförmig motorisierte narzisstische Hormonstörung, nobilitiert als Ideologie tatkräftiger Durchsetzungskraft, Gewinnen also, auf beiden Seiten, mithin allseits, unausweichlich.

There is no alternative, so why not more of the same? (Parallelen zu aktuellen Wahlergebnissen verbieten sich von selbst.) Warum also nicht noch ein period-pic-Drama mit 1970er-Medienevent samt ungleichen Männlein-Rivalen und Schlussapplaus von Ron Howard, der uns ja schon etwa 'Apollo 13' und Frost/Nixon', aber auch Exemplare von Kino zum Nebenbei-Bügeln wie z.B. die DaVinci-Code'-Adaptionen beschert hat? Warum nicht Blondheit und Body von Chris Hemsworth melken, wenn er eh demnächst ein zweites Mal den Thor macht? Warum nicht abermals, nach Der Untergang' und Der Baader-Meinhof-Komplex', Alexandra Maria Lara in der Rolle des Rehauges an der Seite eines narzisstischen Power-Animals aus der jüngeren Geschichte, das allerdings diesmal – engagiert gespielt von Daniel Brühl – nicht Deutsch, sondern lupenreines Wiener(engl)isch spricht?

So wird, um über 'Rush' auch mal was Gutes zu sagen, dieses kuriose Idiom, die Kombi von Wienerisch und Englisch eben, wieder einmal in seiner ganzen filmischen Strahlkraft gewürdigt, und Daniel Brühl – der nicht von ungefähr bei Tarantino den Rennstall- und Trikotkollegen eines einschlägig prägnant parlierenden Na(r)zis(s)ten gespielt hat –, reiht sich in eine große Tradition ein, die von Lorre über Landa zu Lauda reicht.

Gold

(D 2013, Regie: Thomas Arslan)

Nackt und verrückt in Zeit und Raum
von Wolfgang Nierlin

„Das Gold zieht alle möglichen Menschen an“, sagt einmal Gustav Müller (Uwe Bohm), der als Journalist für eine New Yorker Zeitung arbeitet. Im Sommer des Jahres 1898 befindet er sich …

„Das Gold zieht alle möglichen Menschen an“, sagt einmal Gustav Müller (Uwe Bohm), der als Journalist für eine New Yorker Zeitung arbeitet. Im Sommer des Jahres 1898 befindet er sich zusammen mit einer kleinen Gruppe von Goldsuchern unter der Leitung des großspurigen „Unternehmers“ Wilhelm Laser (Peter Kurth) unterwegs nach Dawson im Norden Kanadas. Auf 1500 Kilometern führt der Weg in einer noch weitgehend unbekannten Inlandroute durch unerforschte Wildnis, weite Gebirgslandschaften und tiefe Wälder. Aber das sagt der windige Reiseleiter seinen Mitreisenden nicht. Doch die gedrückte, wenig hoffnungsfrohe Stimmung in der Gruppe, gegenseitiges Misstrauen und eine allgemeine Bangigkeit verheißen sowieso nichts Gutes. Man redet wenig; und zu den Reisestrapazen, Orientierungsproblemen und zum schlechtem Essen kommen bald noch Pannen und Unfälle dazu: Ein Planwagen geht zu Bruch, ein Mitreisender stürzt vom Pferd, ein anderes Pferd stirbt vor Erschöpfung.

Der Mythos vom schnellen Reichtum, in der Exposition von Thomas Arslans Spätwestern „Gold“ mit dem Fund eines fast Handteller großen Nuggets beschworen, lockt gegen Ende des 19. Jahrhunderts Tausende auf den beschwerlichen, oftmals tödlichen Weg zum Klondike River. Als Verheißung eines besseren Lebens erscheint das wertvolle Edelmetall auch den Suchenden, Verzweifelten und Verfolgen in Arslans Film. Unter ihnen befinden sich der Familienvater Joseph Rossmann (Lars Rudolph), der für die Reise engagierte Pferdepfleger Carl Boehmer (Marko Mandić), der zwar am meisten weiß, aber als Angestellter nichts zu sagen hat, und die junge, schon von ihrem Mann geschiedene Emily Meyer (Nina Hoss). Soziale Not, vielfältige Enttäuschung und eine deprimierende Perspektivlosigkeit nähren die Hoffnung der Goldsucher auf eine vielleicht bessere Zukunft. Doch je trügerischer diese wird, desto tragischer erscheint ihre Unternehmung; vor allem auch weil es für sie als Gefangene ihrer je persönlichen Geschichten kein Zurück in ein früheres Leben gibt.

Die Erfahrung von Raum und Zeit als wechselwirkenden Koordinaten, verstärkt noch durch die Landschaftspanoramen des Kameramanns Patrick Orth und die atmosphärischen, langgezogenen Gitarrensounds von Dylan Carlson, sind Arslans nüchtern-konzentriertem Film wesentlich. Die möglichen Unbilden des Wetters spielen darin merkwürdigerweise keine (dramatische) Rolle. Stattdessen dehnt der Regisseur das raum-zeitliche Erleben seiner Protagonisten bis zu dem Grad, an dem bange Hoffnung in pure Verzweiflung umschlägt: Ausgesetzt in einer überwältigenden Natur und verloren in der Zeit, erscheinen ihnen Vergangenheit und Zukunft gleich weit, um nicht zu sagen unerreichbar entfernt. Umstellt wird diese existentielle Verlorenheit zudem zunehmend von Zeichen des Todes, etwa von schwarzen Wolken am Abendhimmel, von morschen Ästen, die wie gefährliche Tierfratzen aussehen oder auch von einem einsamen Wanderer sowie einem verzweifelten Selbstmörder. Und auch die immer kleiner werdende Gruppe bleibt nicht verschont von Wahnsinn und Tod. Nackt und verrückt verschwindet einer der Goldsucher im Wald, ein anderer gerät in eine tödliche Bärenfalle. Dass es inmitten der Hoffnungslosigkeit auch ein kurz aufkeimendes, zärtliches Liebesglück gibt, gehört zu den ebenso schönen wie traurigen Momenten des Films.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Der Schaum der Tage

(F 2013, Regie: Michel Gondry)

Gang unter Wasser auf und davon
von Wolfgang Nierlin

Die Wahrheit der Kunst hat nichts mit der Plausibilität ihrer Darstellungen oder dem Realitätsgehalt ihrer Geschichten zu tun, vielmehr erfindet die Kunst ihre eigene Logik und Sprache. So in etwa …

Die Wahrheit der Kunst hat nichts mit der Plausibilität ihrer Darstellungen oder dem Realitätsgehalt ihrer Geschichten zu tun, vielmehr erfindet die Kunst ihre eigene Logik und Sprache. So in etwa lässt sich das Zitat des französischen Schriftstellers und Jazzmusikers Boris Vian weiterspinnen, das Michel Gondry seiner ziemlich versponnenen Verfilmung von Vians zum Kultbuch avancierten Roman „Der Schaum der Tage“ („L’écume des jours“) voranstellt. Denn natürlich regiert hier wie dort die reine Phantasie, als könne man mit ihr der schnöden Welt- und Alltagsschwere entfliehen. Nichts scheint unmöglich, das Surreale ist auf ganz selbstverständliche Art und Weise Bestandteil der Realität. Entsprechend verspielt und bunt, verrückt und lustvoll überbordend sind die Einfälle in Gondrys filmischer Adaption. Seine Freude an Maschinen und den ebenso phantastischen wie tückischen Möglichkeiten ihrer Mechanik findet ihre Entsprechung in der Lust, Dingen ein Eigenleben zu schenken und Gegenstände zu verlebendigen. Besonders reizvoll und charmant ist dabei der symbiotische Austausch zwischen alten Gerätschaften und modernen Funktionsweisen.

In der vielgestaltigen Welt des wohlhabenden Junggesellen und Müßiggängers Colin (Romain Duris), der ein „Auskommen ohne Arbeit“ hat und von seinem sympathischen Koch Nicolas (Omar Sy) kulinarisch extravagant verwöhnt wird, ist es also durchaus nicht ungewöhnlich, wenn Cocktails am Piano per Tastendruck gemixt werden, sich die Türklingel wie ein Käfer in Bewegung setzt oder den Tanzenden lange Beine wachsen. Einmal spricht der große Philosoph Jean-Sol-Partre (Philippe Torreton), der von Colins Freund Chick (Gad Elmaleh) abgöttisch verehrt wird, aus einer zu einem Rednerpult umfunktionierten Pfeife heraus; ein anderes Mal schwebt Colin mit seiner Freundin Chloé (Audrey Tautou) in einer kitschigen Pappmaché-Wolke, die von einem Kran gezogen wird, über den Dächern von Paris. Kurz darauf heiraten die beiden und gleiten in einem fröhlich-schwebenden Gang unter Wasser auf und davon.

Bis hierher erzählt Michel Gondry vom puren Glück: Das Leben ist ein Fest, die Welt erstrahlt in mannigfachen Farben und die Einbildung ist dabei eine willfährige Helferin. Doch auf die Dauer wirkt das leider auch ermüdend, zumal die Figuren in Gondrys visualisiertem Ideenstrom unterzugehen drohen. Die Phantasie folgt gewissermaßen ihrer eigenen assoziativen Logik. Das ändert sich, als Chloé schwer erkrankt und der Arzt eine „merkwürdige Musik im linken Lungenflügel“ diagnostiziert, die später als Seerose identifiziert wird. Plötzlich verliert die Welt ihre Farben, die Menschen altern schneller und das Schöne verschwindet im Grau. Und ebenso plötzlich, als bedürfte es dieses Schreckens, ist man wieder wach und folgt mit einem schmerzlichen Gefühl der Tragik des Unausweichlichen.

Der Fall Wilhelm Reich

(AT 2012, Regie: Antonin Svoboda)

Ungepanzerte Empfindungen
von Wolfgang Nierlin

Im Wien des Jahres 1925 spricht der junge Wilhelm Reich vor Psychoanalytikern, unter denen sich auch sein Lehrer Sigmund Freud befindet, über die Funktion des Orgasmus und stößt dabei auf …

Im Wien des Jahres 1925 spricht der junge Wilhelm Reich vor Psychoanalytikern, unter denen sich auch sein Lehrer Sigmund Freud befindet, über die Funktion des Orgasmus und stößt dabei auf offene Ablehnung. Während die Kamera das Halbrund des Hörsaals nachzeichnet und damit die Reaktionen der Zuhörerschaft – alles Herren in weißen Kitteln – übermittelt, hören wir die Stimme des Reich-Darstellers Klaus Maria Brandauer aus dem Off. Diese klingt zurückhaltend, wenig bewegt, fast ausdruckslos. Im Prolog von Antonin Svobodas Film „Der Fall Wilhelm Reich“ tendiert das konkrete Setting zur Abstraktion und der genau datierte Anlass sucht das Beispielhafte. Das Biopic des österreichischen Regisseurs, der zuvor unter dem Titel „Wer hat Angst vor Wilhelm Reich?“ schon eine TV-Dokumentation über den umstrittenen Psychiater realisiert hat, besitzt unverkennbar einen Hang zur trockenen Sachlichkeit, die mitunter leider auch etwas blutleer wirkt. Dazu kommt noch, dass trotz des dokumentarischen Zugriffs vieles inhaltlich vage und nur angedeutet bleibt.

Dabei sucht Svoboda auf der wissenschaftlichen respektive ideologischen Ebene durchaus den harten Kontrast, um nicht zu sagen, die plakative Polemik. Über einen Zeitraum von dreißig Jahren, die in punktuellen Zeitsprüngen und Ortswechseln als verschachtelte Erzählung wiedergegeben werden, entfaltet der Film Reichs ganzheitliches Denken, die Prinzipien seiner Orgon-Therapie und seine Experimente mit dem sogenannten Cloudbuster. Dabei zeichnet er den als „Sexguru“, „Wunderheiler“ und „Scharlatan“ verschrieenen Forscher, der vor den Nazis fliehen musste und Mitte der fünfziger Jahre vor ein amerikanisches Gericht gezerrt wird, weniger als rebellischen Provokateur denn als liebenden Vater, klugen Wissenschaftler und zurückhaltenden Aufklärer. In seiner therapeutischen Arbeit will dieser das Fließen der als Orgon bezeichneten Lebensenergie verbessern, um Blockaden zu lösen, zu den „ungepanzerten Empfindungen“ durchzudringen und damit die Selbstheilungskräfte zu aktivieren.

Als selbstbewusster, unabhängiger Geist, dessen Wahlspruch „It can be done“ lautet, ist Reich allerdings vielfältigen Vorurteilen und Anfeindungen ausgesetzt, aber auch wissenschaftlichen Zurückweisungen, die er produktiv zu nutzen versucht. In einer Parallelhandlung zeigt Antonin Svoboda die menschenverachtenden Experimente seines Gegenspielers Dr. Cameron (Gary Lewis), der mit fragwürdigen Methoden an einem noch fragwürdigeren Konzept der Bewusstseinskotrolle arbeitet. Zur Folter ist es hier nicht mehr weit. Weitere politische Implikationen finden sich aber auch in Wilhelm Reichs kritischer Opposition zu den atomaren Tests der USA und den damit verbundenen Gefahren. So entsteht das Portrait eines visionären Humanisten, dessen mahnende Stimme und alternative Forschungen aus gesellschaftpolitischen Gründen systematisch unterdrückt wurden.

Tore tanzt

(D 2013, Regie: Katrin Gebbe)

Tore tumbt
von Andreas Thomas

Wer kennt zufällig den Willi aus der Kindersendung „Willi will‘s wissen?“ und wer hat, wie ich, ernsthafte Probleme damit, sich das regressive, permanente Grinsen besagten Willis anzugucken? Warnung: Für Willi-Phobiker …

Wer kennt zufällig den Willi aus der Kindersendung „Willi will‘s wissen?“ und wer hat, wie ich, ernsthafte Probleme damit, sich das regressive, permanente Grinsen besagten Willis anzugucken? Warnung: Für Willi-Phobiker ist der Film „Tore tanzt“ schon mal nix, denn titelstiftender Tore hat sich offenbar dieses Grinsen bei Willi bis zur Perfektion abgeguckt, und, das passt schon: da wo Willi (wer nicht fragt, bleibt dumm) natürlich berufsmäßig immer dumm ausschauen muss, weil er auch kindgerecht dumm fragen muss (denn wer alles wissen will, muss immer dumm fragen), da will „es“ auch Tore wissen, man könnte nur sagen, mit einer ziemlich großen Einschränkung, denn er will nur eines wissen: „Welchen Plan hat Gott für mich ausgeheckt?“ Und sonst nichts.

In Sachen Dummheit schlägt Tore nun somit den guten alten Willi, denn er ist so ein mittelalterliches Relikt, das nicht mal selber denken oder fragen oder logisch ableiten kann wie Willi, sondern Zeichen, Wunder und „Böses“ braucht, damit er „Gutes tun“ kann. Tore, so in etwa 18 Jahre, ist ein sogenannter „Jesus-Freak“, Mitglied einer ziemlich ekstatischen und freakigen hamburger Jesus-Punk-Community, und der Film beginnt mit Tores Taufe in einem See, wonach Tore ganz schön ekstatisch guckt. Dann führt der Film ihn mit ein paar Jesus-Kumpels zu einem Rastplatz, wo ein Auto nicht anspringt und er mal so richtig regredierend grinsen darf, weil er nämlich in Ermangelung eines Starterkabels seinen direkten Draht nach oben demonstrieren kann („Bitte Gott, hilf mir diesen Motor zu starten. Wenn‘s nicht klappt, glaub ich trotzdem an dich!“), die Motorhaube küssen und – oh Wunder, oh Wunder: der Motor geht wieder – richtig entrückt und debil ekstatisch sein kann. Den zunächst eher nur grätzig wirkenden Autobesitzer und Familienvater lädt Tore („Ich bin der neue Messias!“, debiles Lächeln: „War ein Scherz.“) zu einer dieser Jesus-Punk-Erweckungsfeierlichkeiten ein, wo Tore dann leider weniger Pogo tanzt als zuckt, weil er nämlich einen epileptischen Anfall erleidet. Er selbst wird das Phänomen später als: „Der Heilige Geist kam über mich“ definieren, und mit dieser Art des „Über Tore Kommens“ wird der Heilige Geist im Lauf des Films nicht sparen – meist in Augenblicken, in denen Tore von der Weltlichkeit der Welt überfordert zu sein scheint.

Zunächst aber nimmt Benno, der Familienvater mit dem Auto, Tore mit zu seiner Datscha, wo Ersterer mit seiner kleinen Patchworkfamilie den Sommer in einer Kleingartenkolonie verbringt und zunächst auch nett und freundlich rüberkommt. Dass er Tore dann doch nicht erst ins Krankenhaus bringt, bloß weil der sagt, der Heilige Geist war beteiligt, dafür wollen wir noch dieses Mal die eher proletarisch-rustikale Denkweise von Benno verantwortlich machen, nicht ein typisch deutsches inkonsistentes Drehbuch.

Nicht inkonsistent, sondern immer schräger erscheint das Drehbuch aber sukzessive, wenn man die weitere Entwicklung Tores verfolgt. Hatte man zu Beginn noch darauf gehofft, dass sich der Film irgendwie und analytisch der Verwirrung des Geistes junger, fanatisierter Menschen widmet und die eine oder andere kluge Beobachtung dabei macht, bleibt einem schon langsam die Spucke weg, als Tore in seiner Christen-Punker-WG nicht damit klar kommt, dass sein Kumpel so etwas wie ein voreheliches Sexualleben praktiziert. Gerade so, als habe er statt eines nackten Girls einen Mord beobachtet, wendet er sich blass und angeekelt ab, um auszuziehen (aber nicht sich …). Auch jetzt kann man sich natürlich noch darüber freuen, wie deutlich der Film die Absurdität und die Inhumanität überkommener christlicher Dogmen und ihre psychologisch problematischen Folgen herausstellt.

Das sich einstellende Problem ist nur: Der Film hat das offenbar überhaupt nicht vor! Im Gegenteil. Tore, der wieder zu Benno und dessen Familie flüchtet, wird selbstloser und asketischer und selbstkasteiender von Filmminute zu Filmminute, und wo diese Entsagungen zu Gunsten des Heiligen Geistes noch nicht ausreichen, da hilft freundlich Benno nach, der sich parallel dazu mehr und mehr als das personifizierte Böse entpuppt, indem er dem doch auch mal nicht grinsenden, aber immer noch dumm guckenden Tore auf die Nase boxt, gegen seine Schienbeine tritt, oder dann irgendwann ihn einfach mal so in einen veritablen Brutalo-Männerpuff steckt (die sonderbarste Kreation dieses an sich schon die kleinbürgerlichen Verhältnisse fantasievoll gestaltenden Films), wo ihn plötzlich die Schrebergartenkumpels, die doch vorher wirklich noch ganz nett und normal wirkten, aber so was von gründlich in den Arsch ficken. Armer unter der Dusche von rückwärts blutender Tore, der aber nun weiß, dass Gott ihn hierher geschickt hat. Und das hat ja auch sein Gutes.

Spätestens als Tore gemerkt hat, dass Benno sich natürlich auch noch an seiner eigenen Stieftochter vergeht (und das wiederum Benno gemerkt hat), gehts Tore nun ans Eingemachte. Er wird Ziel diverser Sadismen, ein besonders subtiler ist das Zufügen einer Lebensmittelvergiftung durch Einfütterung von vergammeltem Fleisch. Und so fällt der leider kaum mehr zum Sympathieträger Taugende von einer Kotzerei in die andere, von einer Ohnmacht in die nächste, nur um sich umso lustvoller weiter peinigen zu lassen, denn Gott hat ja seinen Gefallen daran, wenn der Christenmensch dem Widersacher sämtliche Backen hinhält. Tore, nicht faul, hat derer zahlreiche.

Und Benno (irgendwie verständlich) lässt nun erst recht richtig die Sau raus, zeigt, wie richtig gemein er sein kann, indem er die Nachbarskatze in einer Regentonne ertränkt (folgerichtige Reaktion Tores: epileptischer Anfall, folgerichtige Reaktion eines deutschen Drehbuchs: Kein Hahn kräht nach, kein Nachbar fragt nach einer Katze, die nass und tot auf dem Rasen liegt), und seine Freundin und auch ihre Freundin, komischerweise, finden das auch alles ganz witzig, besonders, wenn Tore eher tot als lebendig, auf dem Boden liegt, denn dann können sie anfangen, ihn mit ihren Stöckelschuhen zu triezen und zu demütigen. Ja, auch über diese doch so harmlos wirkenden Damen, bisher eher nur des Lasters lustiger Umtrünke verdächtig, ist nun das abgrundtiefe Böse gekommen. Das gibt uns zu denken. Denn so sind sie, die Atheisten, und so waren sie schon, bevor sie Atheisten waren (also bevor Gott zu wirken anhub).

Leider sieht der Film in all dieser Figurengebung auch keinerlei Ambivalenzen, geschweige denn biografische Kausalitäten oder folgerichtige Entwicklungsschritte, er und seine unheilschwanger schwankende Kamera und seine zum Ertauben hypnotisch dräuend rumpelnde Musik schieben den Zuschauer stattdessen zu seinem altbekannten dichotomischen Endurteil: Die Menschheit ist von Natur her böse, und ihr zu helfen ist nur Gott imstande, oder Jesus, der daselbst sich opfert und zermatscht im Tümpel liegt. Es gibt nämlich noch ein dezent angedeutetes Happy End. Aber nicht für Tore, sondern für die Stiefkinder. War nämlich doch kein Scherz, dass Tore der neue Messias ist.

Ein Film mit einer Message und mit einem Messias. Wie lange haben wir darauf schon gewartet? Wie schön, dass die Problematik der Welt immer mal wieder so einfach herzuleiten ist, und überhaupt Danke für dein Opfer, Jesus/Tore! Jetzt schmeckt uns die Butter auf dem Brot wieder und die fiesen Prolls und Päderasten gehen sich alle schämen.
Schlussbemerkung: Was soll dieser Film? Das Thema Passionsgeschichte hat doch schon Lars von Trier mehrfach in seinen Filmen und besonders vielschichtig und doppelbödig und dreifach gebrochen in „Breaking the Waves“ verhandelt. Bis ins Detail kann man wiedererkennen, an welchen Stellen sich die Regisseurin von „Tore tanzt“ von diesem Film hat inspirieren lassen. Aber wo Trier die Reflexion über das Wesen der christlichen Religion(en) erfolgreich befördert hatte (da wo „Breaking the Waves“ als Film das Zeug hatte, gleichzeitig Atheisten zum Christentum zu bekehren und Christen zum Atheismus), betäubt Katrin Gebbe die letzten Zuckungen des Gehirns mit einer Totschlagargumentation, die ja doch selbst unreflektiert stumpf-christlichsten Wesens ist.

Mein Urteil: Tore, ja, gerne, aber bitte nur von Hannover 96.

Gravity

(USA / GB 2013, Regie: Alfonso Cuarón)

Immersionstherapie: Erdung im Airlock mit Bullock
von Drehli Robnik

Schweben, driften, schlingern, entlangschrammen, auf- und abprallen: Imposant ausgekostet wird hier ein ganzes Inventar von Kräften, die auf Masseteile (nicht zuletzt auf menschliche) wirken, wenn das außer Kraft ist, was …

Schweben, driften, schlingern, entlangschrammen, auf- und abprallen: Imposant ausgekostet wird hier ein ganzes Inventar von Kräften, die auf Masseteile (nicht zuletzt auf menschliche) wirken, wenn das außer Kraft ist, was diesem Raumfahrtdrama seinen Titel gibt: 'Gravity', die Schwerkraft.

Unter dem, was hier wirkt, ist die Fliehkraft kategorial, geht es doch in einer minimalistischen, aber im Detail äußerst wendungsreichen Echtzeiterzählung ums Fliehen, um eine hundertminütige Flucht: aus der Unlebbarkeit des Weltalls, über drei havarierte Orbitalstationen (wie sie heute in etwa so im Einsatz sind) hinweg zur Erde zurück: Hubble-Teleskop, Raumstation ISS, eine russische, zuletzt eine chinesische Station. Thematisch lässt 'Gravity' sich in eine Tradition von Filmen über realistische, in ihrer Katastrophik hautnah-existenzielle Raumfahrt-Pannen einordnen (so uns das Einordnen Spaß macht), also nix da Aliens, eher wie 'Marooned', 'Apollo 13', Teile von Mission to Mars'. Aber in seinem (syn-)ästhetischen Appeal doch sehr anders.

Nicht nur Physik, auch die Physis ist in 'Gravity' exponiert: der Leib, eingezwängt in Raumanzughaut und Technikhaus, verwundbar und intim – und zwar intim mit dem Publikum, dessen vielen Sensorien. Die IMAX-affine Inszenierung von Alfonso Cuarón, das Sounddesign zumal, betont Atmung und Selbstgespräche; sie hält sich an die Vorgabe von Stille im All (tolle Actionszenen bieten daher stummes Bersten rundum, zu dem der ansonsten leise dahinatmosphärende Trance-Score anschwillt) und hält die Erde lapidar im Hintergrund. Vielmehr: Eine Umhüllung ist er hier, der blaue, nachts schwarze, aber mit Lichtpunkten übersäte Planet – eine Bildform dessen, was der Globalismus der Story dann zunehmend breit ausspurt: Eine US-Wissenschafterin gibt sich in ihrer Not ganz dem Funkempfang eines chinesischen Wiegenliedes hin, das sie mehr einhüllt als dass sie versteht. Diverse Stationen des Wieder-Einswerdens mit dem Kreatürlichen, vom Wolfsgeheul zum Froschgehüpf, ergeben sich ebenfalls auf dem Weg.

Das Gravitätische von 'Gravity', das Forciert-Tiefe und -Reflexive, auch Reflektierte (etwa in Spiegelbildern in den Sichtfenstern der Raumhelme), es liegt in dem, was hier offenbar aufgerufen ist, zwischen kleinem Körper und großem Kosmos zu vermitteln. Was sich an Religiösem, Mystischem, Metaphysischem ergeben würde, wenn das Allzu-Zerbrechliche hier in Direktkontakt zum Umfassend-Unendlichen gesetzt wäre (ein Grenzwert, dem einmal ein Filmemacher beim psychedelischen Durchfliegen des Stargate ziemlich nah gekommen ist), das muss hier gar nicht bedacht, gefeiert oder kritisiert werden, weil ohnehin etwas Profanes, mitunter auch Abgeschmacktes dazwischentritt und reibungslose Übersetzung gewährleistet: eine – immerhin g´schmackig servierte – Fusion aus Demutsethik und Positiv-Denken-Therapie, Beten-Lernen und Nicht-Aufgeben, Zum-Trauma-Stehen und Über-sich-Hinauswachsen. Das Erlösungs- und Stilbemühen aus Cuaróns vorigem Film hallt in all der Stille nach: 'Gravity' beginnt so endlos ungeschnitten wie Children of Men' endete; zehn Minuten Plansequenz, das hat was von Tarkovskij ebenso wie von Muskelspiel.

Für letzteres ist in 'Gravity' George Clooney zuständig, ohne wirklich da zu sein. Beschränken wir uns auf die Andeutung, dass seine Erscheinung hier beschränkt ist – darauf etwa, dass sie ganz Gesicht ist, ganz schöne Stimme, darin Anflüge Clark Gable´scher Unerschütterlichkeit, Dranbleiben an der Suche nach dem russischen Vodka-Vorrat, wo doch schon Erstickungs- und Erfrierungstode nahe sind. Hat Clooney nicht vor gut zehn Jahren in einem Hollywood-Remake von Solaris' (aus der Cameron/Soderbergh-Ecke) die Hauptrolle gespielt? Ums Aktivieren von Wunschenergie geht es auch hier, sowie um deren Gendering: Clooneys Männlichkeit fungiert in 'Gravity' als eine Art Vermächtnis, motivierender Auftrag, und da kommt noch eine rufzeichenhaft markant platzierte, ostentativ unvollständige Anekdote über eine überraschende Begegnung mit einer Lesbe hinzu, aus der die Dekonstruktivist_innen und Online-Klatschonkeln unter uns wohl noch was machen werden können.

Das All ist hier ganz schweigender Raum, der Mensch vorwiegend körperlose Stimme. (Die von Ed Harris ist auch dabei, und wer sich an die romantische Kosmologie der atemluft- und folglich stimmlosen, dafür getippten Liebeskommunikation in Camerons 'The Abyss' erinnert, SMS-Melodram avant la lettre – naja, auch so ein Technikpannen-Quasi-Raumfahrt-Film, aber: 'Keep Pantyhose on!') Der Rest des extrem limitierten Humankapitals von 'Gravity' ist große Show von Sandra Bullock. Am Filmende ist sie demonstrativ wieder geerdet und aufrecht. (Naja… Darf sie das, weil sie doch immer noch mit vielen leichtgewichtigen Rollen als American Sweetheart-Girl Next Door assoziiert ist? Oder gerade deshalb umso weniger?) Bis dahin aber leitet, geleitet und gleitet, ihr langer Leib uns durch ein Inventar, durch das jeder Bild-Raum hier auch zur Motivschatzkammer des Science Fiction-Kinos gerät. Abgesehen von einem Hauch von 'Speed' (Bullock, unter fernmündlicher Anleitung überfordert und zu sarkastischen Sagern provoziert, beim Steuern eines schwer zu kontrollierenden Fortbewegungsmittels) und entfernten Anklängen an den romantischen Survivalismus von Titanic' (schon die dritte Cameron-Referenz hier), weht es hier Momente aus Barbarella' und Alien', aus 2001' und 'Dark Star' herüber – Bezüge, die der rührenden Wirkung mancher Szenen keinen Abbruch tun. Umso mehr ist 'Gravity' ein Akt filmischer Immersion in eine Anmutung von 'Für alle etwas', verrichtet aber ebendieses Geschäft ziemlich elegant.

Ummah – Unter Freunden

(D 2013, Regie: Cüneyt Kaya)

Einmal mit alles, bitte!
von Ulrich Kriest

Nach einem blutig verlaufenen Undercover-Einsatz in der Neo-Nazi-Szene muss Daniel Klemm erst einmal eine Weile von der Bildfläche verschwinden, weil sein Verbindungsmann beim Verfassungsschutz dabei wohl nicht ganz einwandfrei vorgegangen …

Nach einem blutig verlaufenen Undercover-Einsatz in der Neo-Nazi-Szene muss Daniel Klemm erst einmal eine Weile von der Bildfläche verschwinden, weil sein Verbindungsmann beim Verfassungsschutz dabei wohl nicht ganz einwandfrei vorgegangen ist. Kennt man ja! Daniel wird erst einmal in einer heruntergekommenen Wohnung im Berliner Problemkiez Neukölln »geparkt« und damit zugleich – Daniel ist ja schließlich nicht nolens volens fünf Jahre unter Neo-Nazis als verdeckter Ermittler tätig gewesen – isoliert. Daniel hadert mit seinem Schicksal, nimmt Drogen, lässt sich gehen bis zu dem Punkt, wo es tiefer nicht mehr geht. Warum?

Der Film hält die Figur auf Distanz, psychologisiert nicht. Und dann begibt sich Daniel doch irgendwann blinzelnd vor die Haustür, misstrauisch und widerstrebend, wo die „Ummah“, die islamische Gemeinschaft, ihn erwartet. Oder auch nicht erwartet! Jedenfalls nicht abweist, trotz der eindeutigen Tattoos. Jeder, heißt es, habe seine Geschichte, trotzdem gehe es weiter.

Der Filmemacher Cüneyt Kaya hat davon gesprochen, dass er mit seinem Spielfilmdebüt einen realistischen, kritischen und dabei vor allem auch humorvollen Blick auf das Milieu habe werfen wollen. Mal etwas anderes zeigen, als die üblichen Klischees von der Parallelgesellschaft und der Kleinkriminalität. Das ist ein anspruchsvolles Vorhaben, zumal, wenn man die Räuberpistole noch hinzudenkt, die „Ummah – Unter Freunden“ den Handlungsrahmen liefert. Es geht hier also um education, um interkulturelle Aufklärung, die im besten Sinne unterhaltsam vermittelt werden soll.

Etwas hölzern, aber sehenswert und getragen von drei wirklich hoch sympathischen Schauspielern hangelt sich der Film in der Folge von Szene zu Szene, von These zu These, von Illustration zu Illustration. Man hört das Drehbuch, aber nicht nur. Sehr gelungen ist etwa die Sequenz, in der Daniel im kleinen Elektroladen vom sehr entspannt-schlitzohrigen Abbas einen billigen Gebrauchtfernseher aufgeschwatzt bekommt. Mit extra Bonus-Garantie, weil Abbas Daniel sympathisch findet. Gemeinsam mit dem etwas weniger entspannten, aber gleichfalls sehr zugänglichen Jamal bildet man nun ein Trio, das sich zügig in Richtung Freundschaft entwickelt.

Viele Szenen geraten nun exemplarisch und erzählen von freundlicher Neugier. Dass Daniel zur islamischen Hochzeit Alkohol als Geschenk mitbringt, ist ein Affront aus Unwissenheit und sollte toleriert werden. Dass Abbas und Jamal nach der Feier von deutschen Polizisten schikaniert werden, ist ein rassistischer Übergriff. Man diskutiert divergierende Lebenseinstellungen und Haltungen zur Verschleierung der Frau. Pro und contra – Daniel staunt, er muss wirklich sehr lange undercover gewesen sein.

Man hockt herum, chillt. Dann kehrt unvermittelt die Realität zurück ins Verständigungsmärchen: Aufgrund einer Korruptionsaffäre braucht der Verfassungsschutz einen schnellen Fahndungserfolg; Daniel soll seine neuen Freunde ans Messer liefern. Stattdessen sucht er mutig mit seiner Geschichte die Öffentlichkeit. Wozu kennt man schon die Moderatorin vom Lokalfernsehen?

Wie gesagt: eine echte Räuberpistole mit billigen „Tatort“-Tendenzen. Hätte man vor dem NSU-Terror, dem NSA-Skandal und dem Fall Snowden diesem Film sicher angekreidet. Am Schluss hatte sich Kaya für ein spektakuläres Genre-Finale entschieden, das der schönen, dominanten Lakonie seines Films entgegenläuft. Hat man gemerkt. Der Schluss wurde in der Post-Produktion noch einmal geändert. Nun haben die drei außerordentlich einnehmenden Protagonisten mit ihrem feinen Gespür für Timing in den Dialogen das letzte Wort. Beim Boule im Park. Und die Genickschuss-Profis vom Verfassungsschutz gucken in die Röhre. Kein guter, aber ein sympathischer Film. Und Frederick Lau, Kida Khodr und Burak Yigit sind das Eintrittsgeld allemal wert.

Scherbenpark

(D 2013, Regie: Bettina Blümner)

Stumme Steine
von Andreas Thomas

„Es braucht eine große Klappe und ein dickes Fell, wenn harte Sprüche von der Seite kommen und die eigene Mutter ermordet wird.“ Das sagt das Presseheft über die Geschichte der …

„Es braucht eine große Klappe und ein dickes Fell, wenn harte Sprüche von der Seite kommen und die eigene Mutter ermordet wird.“ Das sagt das Presseheft über die Geschichte der siebzehnjährigen Sascha (Jasna Fritzi Bauer), die im Hartz-4-Milieu als Tochter einer russischen Spätaussiedlerin aufgewachsen ist. Sie und ihre kleinen Halbgeschwister, deren Vater die gemeinsame Mutter getötet hat, leben nun bei ihrer Tante, eher schlecht als recht betreut. Aber allein schon hier ist man genötigt, das mitzudenken und emotional auszuführen, was der Spielfilm von Bettina Blümner doch oftmals eher nur behauptet und hofft, vermittelt zu haben.

Der Film „Scherbenpark“ ist der Versuch, einen sprachlich vielschichtigen und ziemlich elaborierten Roman (von Alina Bronsky) aus dem „Milieu“ dem Filmischen anzuverwandeln, das heißt, die Innenwelt der Ich-Erzählerin Sascha auf Bilder zu übertragen. Weil Bettina Blümner, die Regisseurin, sich da auskennt, wo „Scherbenpark“ spielt – sie hatte sich bereits mit dem Dokumentarfilm „Prinzessinnenbad“ intensiv und überzeugend jungen Spätaussiedlerinnen gewidmet -, konnte man hoffen, dass diese Erfahrungen im Hintergrund sich auch positiv auf die Inszenierung eines fiktiven Stoffes auswirken. Herausgekommen ist aber nur Schulfernsehen. „Scherbenpark“ ist leider nicht einmal die Hälfte der Summe zweier Teile geworden: Da das Literarische im Film nicht mehr seine tragende Rolle spielen kann, wirkt es, wenn Sascha plötzlich wohlfeil monologisiert anstatt rumzumotzen, was sie die Hälfte der Zeit ja machen muss, um zu beweisen, dass sie taff ist, deplatziert und aufgesetzt, und den genauen Beobachtungen im Buch („Zwei Meter Muskeln und Pickel, Adrenalin, Testosteron und Klebstoffdämpfe …“) können im Film einfach nicht die Kandidaten von der Schauspielschule entsprechen, die dann doch zu hochdeutsch reden, deren Ghettomütze dann doch zu modisch auf die Stirn gerutscht ist. Überhaupt hat man diese Typen, die sich in diesen Betonbuchten in der Nähe des Spielplatzes herumdrücken, schon in mindestens zwanzig vorherigen Milieustudien (von denen 18 Fernsehformat waren) kennengelernt.

Klischee hin oder her, das Hauptproblem von „Scherbenpark“ aber ist, dass kein Problem wirklich erkennbar ist. Sascha kommt 99%ig ungeschoren an den Betonbuchten vorbei, weil die Jungs dann ja doch eher aus dem Otto-Katalog stammen als aus prekären Verhältnissen, und dass ihre kleinen Geschwister nun besonders unter ihrer Tante leiden müssten, bleibt unsichtbar, weil selbige dann doch zu nett und eine etwaige materielle Notlage nicht erkennbar ist. Trotzdem geriert sich Sascha unentwegt hochbetroffen und tut so, als sei alles überhaupt nicht mehr auszuhalten. Das Einzige, was hier noch ans „Ghetto“ und seine Problemgemengelage erinnert, sind die stummen Steine der Hochhäuser und der Beton der Betonbuchten. Man sehnt sich regelrecht nach den authentisch bevölkerten schmutzigen Plattenbauten von „Prinzessinnenbad“.

Dass es dem Fortgang der Geschichte dann auch noch an Wahrscheinlichkeit gebricht, macht die Sache nicht leichter und den Film nicht besser. In einem Zeitungsinterview bereut der einsitzende Stiefvater und Muttermörder Vadim seine Tat zutiefst, was die Film-Sascha, (als kausale Deskription scheint hier wieder einmal die literarische Sascha zu fehlen), die sich geschworen hat, selbigen später umzubringen, so auf die Palme treibt, dass sie spontan die verantwortliche Journalistin zur Rede stellt (stellen kann: Wer bitte darf denn mal eben so in eine Zeitungsredaktion hineinschneien, um auf den Putz zu hauen?). Die ist nicht nur sofort vor Ort, sondern traut sich vor lauter Schuldgefühlen überhaupt nichts zu ihrer Rechtfertigung zu sagen und der zuständige Redakteur (Ulrich Noethen) bereut zutiefst, nicht ohne Sascha jedwede Hilfe anzubieten.

Sascha, nicht faul, aber plötzlich eigentlich nicht mehr am Schicksal ihrer kleinen Halbgeschwister interessiert, mietet sich erst mal beim Redakteur und seinem (ihr ungefähr gleichaltrigen) Sohn Felix (Max Hegewald) ein. Beide, so wirkt es, haben nur auf sie gewartet. Sie haben viel Zeit (Noethen), freundliche Umgangsformen und ein (ziemlich unverhohlenes sexuelles) Interesse (Hegewald) an Sascha, vor allem aber ein bildungsbürgerliches Gegenmilieu für sie parat und für die Entschleunigung von „Scherbenpark“,- die es gebraucht hätte, wenn der Film vorher zu viel Unterschichten-Drive gehabt hätte. So aber fällt die Spannung gänzlich auf den Nullpunkt, und man fragt sich, wieso der Film sich minutenlang mit der Frage beschäftigt, ob Sascha nun zu Felix unter die Decke krabbelt oder nicht und wenn ja, ob mit oder ohne T-Shirt? Weil er nun noch Dr. Sommer-Niveau erreicht hat?

„Scherbenpark“ schafft es leider nicht, hier eher disparat wirkende Stückchen und Szenen aus dem Roman zu einem Ganzen zu verwandeln und vor allem scheitert der Film daran, einen erzählerischen Bogen zu vermitteln, der wiederum sich hätte in einem Spannungsbogen zeigen können. Doch Sascha bleibt zu fremd, ihr Milieu bleibt zu harmlos, ihre Probleme entweder zu übergroß oder zu klein, um spürbar zu werden.

Empire of War – Der letzte Widerstand

(CN 2012, Regie: Feng Xiaogang)

Auf der Flucht
von Michael Schleeh

Feng Xiaogang ist der Mann fürs große Kino in China. Schon Aftershock' konnte und wollte mit seinen opulent angelegten epischen Bildern der Zerstörung überwältigen und zugleich mit Hilfe einer parallelen …

Feng Xiaogang ist der Mann fürs große Kino in China. Schon Aftershock' konnte und wollte mit seinen opulent angelegten epischen Bildern der Zerstörung überwältigen und zugleich mit Hilfe einer parallelen Liebegeschichte das Herz des Zuschauers rühren. Die menschlichen Bedürfnisse treten indes in 'Back to 1942', so der internationale Titel, unter dem dieser Historienfilm gemeinhin geläufig ist, in den Hintergrund. Zwangsläufig, freilich, denn hier haben wir es mit einem recht eindringlichen Flüchtlingsdrama zu tun, in dem sich Millionen Menschen zu Zeiten des zweiten Sino-Japanischen Krieges in der Provinz Henan aufgrund einer sich rapide ausweitenden Hungersnot in Bewegung setzen und gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Doch der Hunger holt sie ein, bald sind Nahrungsmittel die einzige Währung, die zählt. Für Gefühle ist in einem solchen Leben kein Platz.

Genauer: kaum mehr. Erzählt wird die Geschichte zweier chinesischer Familien im Winter ’42, die eines Großgrundbesitzers (Zhang Guoli) und die seines Angestellten, die, all ihres Hab und Guts entledigt und in Lumpen gehüllt, nur noch um das Überleben kämpfen. Ihre Gemeinschaft hält sie eine gewisse Zeit noch zusammen, doch bald beginnen die Alten und Schwachen zu sterben. Völlig entkräftet macht man sich zu der Provinz Shaanxi auf und hofft auf Besserung – vor allem da Chiang Kai-Shek Henan aufgegeben hatte und bereit war, den Japanern zu überlassen. Feng Xiaogang findet eindrückliche Bilder für das menschliche Schicksal, und so stellt sich immer mehr die Frage, ob ein Überleben überhaupt sinnvoll ist. Wofür durchhalten, wenn alle anderen tot sind? Ohne Tränendrüsendruck, ja beinahe schon nüchtern werden die Ereignisse gezeigt, ebenso die wenigen Momente, in denen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft wieder neue Kraft gewinnt. Nicht, dass Feng Xiaogang hier irgendetwas neu erfände, das gewiss nicht, aber 'Empire of War' ist ein solider Blockbuster ohne allzuviel Schmalz, dem die Sensationslust nur dann durchgeht, wenn er Action ins Bild rückt.

Da ist es schon bedenklich, wenn Koch Media durch die krass reißerische Titeländerung aus einem Flüchtlingsdrama einen Kriegsfilm macht. Vor allem, da dieser Krieg lange Zeit nicht mehr als Folie im Hintergrund ist. Abgesehen davon, dass kein Mensch, der sich für den Film interessieren könnte (vorgeschlagen für den Golden Rooster Award in mehreren Kategorien), ihn auf diese Weise wiedererkennen wird. Sicherlich gibt es die eine oder andere Kampfhandlung, Actionhöhepunkte des Films, in denen japanische Fliegerstaffeln den Flüchtlingszug bombardieren – doch für die Flüchtlinge, die im Zentrum des Films stehen, an denen auch die Kamera immer ganz nah dran ist (einmal ein POV eines um sich selbst rotierenden, weggebombten Pferdes), ist der Krieg nur eine weitere Prüfung des Schicksals. Gleichermaßen bedenklich ist es dann, den aus dem Westen eingekauften Schauspieler Adrien Brody, der hier eine Nebenrolle als Reporter des Time-Magazines spielt (wie Tim Roth eine Rolle als Missionar), auf das Cover zu packen. Aus Verkaufsgründen ist das in gewisser Weise verständlich, wird aber dem Film in keiner Weise gerecht.

Hervorzuheben ist die wirklich hervorragende Bildqualität der Blu-ray. Neben der Synchronfassung kann der Originalton mit zuschaltbaren Untertiteln gewählt werden. Ansonsten gibt es außer dem Originaltrailer und weiterem Werbezubehör in eigener Sache keinerlei Extras.

Hasta la vista, Sister!

(CUB / GB 2012, Regie: John Roberts)

Zauber und Entzauberung
von Wolfgang Nierlin

Rosa (Eva Birthistle) und Ailie (Charity Wakefield) sind zwei ungleiche Schwestern aus dem Schablonenbuch der sogenannten Feelgoodkomödie: Während die eine als politische Aktivistin gegen die Konsumgesellschaft demonstriert, gefällt sich die …

Rosa (Eva Birthistle) und Ailie (Charity Wakefield) sind zwei ungleiche Schwestern aus dem Schablonenbuch der sogenannten Feelgoodkomödie: Während die eine als politische Aktivistin gegen die Konsumgesellschaft demonstriert, gefällt sich die andere in der Rolle des durchgestylten Modepüppchens. Aber natürlich benutzt John Roberts in seinem Film „Hasta la vista, sister!“ die Klischees vor allem dazu, sie gegen den ersten Anschein umzudrehen. Dass damit auch eine Denunziation der jeweils zugeschriebenen Rolle einhergeht, gehört zum perfiden Prinzip einer solchen Dramaturgie. In Roberts Film trifft das in erster Linie Rosa, die erkennen muss, dass sie arrogant, selbstgerecht und politisch naiv ist und überdies mit einem unzeitgemäßen Welt– und falschen Familienbild herumläuft: Ein Schelm, wer dahinter eine ideologische Erziehungsmaßnahem vermutet.

Die Entzauberung, die dieser moralinsaure Lernprozess vorschreibt, bezieht sich in „Hasta la vista, sister!“ vor allem auf die kubanische Revolution und ihre Errungenschaften. Denn natürlich ist das postrevolutionäre, realsozialistische Leben auf der Karibikinsel nicht so, wie sich das die Besucher aus Schottland vorstellen. Was den Regisseur allerdings nicht davon abhält, die beliebten exotischen Schauwerte, flankiert von stimmungsvoller Musik, zu strapazieren. Doch auch die Schattenseiten, also beispielsweise Armut, Betrug und politische Gleichgültigkeit, finden ins Bild. Jedenfalls bekommen das die beiden Schwestern, die mit der Asche ihres verstorbenen Vaters, eines früheren Aufbauhelfers der Revolution, und ihr Kumpel Conway (Bryan Dick) auf Kuba bald zu spüren.

Bevor sie die Asche am symbolträchtigen Ort im Gedenken an die Revolution und die Eltern verstreuen können, müssen sie deshalb erst einmal einige verwickelte und nicht ganz ungefährliche Abenteuer bestehen. Dabei geht es dem Regisseur nicht nur um die Entlarvung von Revolutionsmythen, sondern er lüftet auch ein Familiengeheimnis. Doch da nach den Regeln des Wohlfühlkinos die Entzauberung den Zauber nicht überwiegen soll, darf sich die verhuschte Rosa in den schönen Reiseführer und Balletttänzer Tomas (Carlos Acosta) verlieben. Auch diese Episode ist letztlich als Lektion zu verstehen, die John Roberts mit den genretypischen, leicht nervenden Retardationen erzählt. „Rosa muss lernen!“, lautet die Botschaft, die hier etwas vordergründig gegen Vorurteile und allzu einfach gestrickte Weltbilder in Anschlag gebracht wird. Doch auch für alle anderen Zuschauer hat der Film eine Lehre parat: „Wenn ich zu viel über die Vergangenheit nachdenke, verpasse ich, was jetzt ist.“ Aussprechen darf sie Tomas, und wer will, kann darin einen nur dürftig verkleideten Geschichtsrelativismus erkennen.

Das Mädchen Wadjda

(SA 2012, Regie: Haifaa Al-Mansour)

Hinter dem Schleier der Anpassung
von Wolfgang Nierlin

Wadjda (Waad Mohammed) ist anders als die anderen. Das 10-jährige saudi-arabische Mädchen trägt nämlich Turnschuhe, hört Popmusik und verkauft selbstgebastelte Armbänder. Während sie im Schulunterricht eher durch Schweigen auffällt, gibt …

Wadjda (Waad Mohammed) ist anders als die anderen. Das 10-jährige saudi-arabische Mädchen trägt nämlich Turnschuhe, hört Popmusik und verkauft selbstgebastelte Armbänder. Während sie im Schulunterricht eher durch Schweigen auffällt, gibt sie sich zu Hause bei der Mutter (Reem Abdullah) umso eloquenter und selbstbewusster. Tatsächlich ist die Titelheldin aus Haifaa Al Mansours Film „das Mädchen Wadjda“, dem ersten Kinofilm einer Regisseurin aus Saudi-Arabien, auch ganz anders, als wir uns das von einem jungen Mädchen dieses sehr religiös geprägten Landes vorstellen. Denn sie zeigt sich nicht nur aufgeweckt und vorwitzig, sondern auch aufmüpfig und kämpferisch. Wadjda lässt sich nicht alles gefallen und widerspricht, wenn es sein muss. Weil das in der restriktiven, autoritär geführten Gesellschaft, in der sie lebt, aber nicht geduldet wird, muss ihr aufsässiger Geist unter dem Schleier der Anpassung immer wieder Tricks und Kniffe anwenden, um seine Ziele zu erreichen.

Der Erwerb eines Fahrrads, das sie sich bei einem Spielwarenhändler ausgeguckt hat, besitzt diesbezüglich höchste Priorität. Ihrem Kameraden Abdullah, der sie eingangs ärgert und mit seinem Drahtesel abhängt, will sie damit Konkurrenz machen. Doch es fehlt ihr zum Kauf nicht nur das Geld, sondern in dem islamischen Land untersagt ein ungeschriebenes Gesetz den Mädchen, überhaupt Fahrrad zu fahren. Diese Einschränkung des kindlichen Bewegungsdranges spiegelt sich auch im Fahrverbot für Frauen, die für ihre Wege zur Arbeit oder zum Einkaufen auf Fahrer angewiesen sind. In einer der vielen Episoden und Hintergrundgeschichten, die unaufdringlich und genau solche wichtigen Details des Alltagslebens erläutern, müssen sich Mutter und Tochter mit dem Machogehabe und den Machtspielen ihres ausländischen, offensichtlich illegal arbeitenden Chauffeurs auseinandersetzen.

Die komplexe, wohltuend unaufgeregte und weitgehend ideologiefreie Darstellung gesellschaftlicher Verhältnisse gehört zu den Stärken des Films. Die Spannungen zwischen individuellem und öffentlichem Leben, die in einer reglementierten Gesellschaft besonders brisant sind, betreffen hier zwar Menschen beiderlei Geschlechts; Haifa Al Mansour akzentuiert aber ganz klar die weibliche Perspektive. Vor allem die parallele Welt der Frauen, die sich zu Hause hinter verschlossenen Türen völlig ungezwungen und unerwartet frei entfaltet, erlaubt dem westlichen Zuschauer ungewohnte Einblicke in einen weitgehend verborgenen Alltag. Darin spielen Kinderlosigkeit, die Verpflichtung auf einen männlichen Stammhalter und die damit verbundene, durchaus unfreiwillige Suche des Vaters nach einer Zweitfrau eine wichtige Rolle. Geschickt und mit einfachen Mitteln erzählt, verknüpft die Regisseurin die von Autoritäten, strengen Vorschriften und gesellschaftlichen Hindernissen umstellten Geschichten von Mutter und Tochter. Und sie entdeckt auf humorvolle Weise in ihnen nicht nur eine findige Kraft des Wollens, sondern auch eine tiefe zwischenmenschliche Verbundenheit, die sich mit einem Gefühl fast utopischer Leichtigkeit über die Schwere des Alltags erhebt.

Prince Avalanche

(USA 2013, Regie: David Gordon Green)

Die Fahrbahn markieren
von Andreas Busche

Zwei Männer schieben ihre Wägelchen durch eine menschenleere, desolate Landschaft. Sie sind keine Freunde, sie haben nicht einmal sonderlich viele Gemeinsamkeiten – nur einen gemeinsamen Auftrag: die Landstraße mit gelben …

Zwei Männer schieben ihre Wägelchen durch eine menschenleere, desolate Landschaft. Sie sind keine Freunde, sie haben nicht einmal sonderlich viele Gemeinsamkeiten – nur einen gemeinsamen Auftrag: die Landstraße mit gelben Mittelstreifen zu versehen. Manchmal müssen sie auch eine Straßenmarkierung in die Erde rammen.

Die Prämisse von David Gordon Greens seltsam entrücktem Buddy-Movie „Prince Avalanche“ klingt nach gepflegter, stilisierter Indie-Langeweile, aber die gähnende Monotonie legt sukzessive eine leise Selbstfindungskomödie über zwei ungleiche Männer frei, die natürlich irgendwann ihre Freundschaft entdecken – auch weil sie nichts Besseres zu tun haben, als sich selbst hoffnungslos entfremdet über das Leben zu sinnieren oder sich mit Kriegsbemalung durch die verkrüppelten Wälder zu jagen.

Alvin gibt die freudlose Arbeit Gelegenheit, über die Beziehung zu seiner Freundin Madison nachzudenken und nebenbei für den gemeinsamen Urlaub Deutsch zu lernen. Lance (Emily Hirsch) ist von der Ödnis und dem pedantischen Alvin zu Tode genervt. Seine Schwester Madison hat ihm den Sommerjob mit ihrem Freund besorgt, aber eigentlich würde er lieber Parties feiern und herumvögeln. Davon kann an diesem gottverlassenen Flecken allerdings nicht die Rede sein.

Es ist der Sommer 1988. Das texanische Hinterland hat eine Reihe von heftigen Flächenbränden erlebt, die die Gegend in eine verkrüppelte Einöde verwandelt haben. Darüber hinaus besitzen der Ort und die Zeit keine weitere Spezifität. Alvin und Lance rollen ihre Farbwagen bloß durch eine Art postapokalyptische Landschaft und haben sich dabei in den Haaren. Viel passiert nicht. Zweimal begegnet ihnen ein alter Trucker, höchst amüsante Intermezzi wie aus einem Lynch-Film. Ein anderes Mal spricht Alvin mit einer alten Frau in ihrem ausgebrannten Haus, in dem er für einen kurzen Moment die Sehnsucht nach einem erfüllten Leben nachspielt. Alvin und Lance sind weitgehend auf sich allein gestellt – eine Gefühl, das der Film auch beim Zuschauer forciert.

David Gordon Greens Selbstfindungskomödie lakonisch zu nennen, wäre eine glatte Untertreibung. „Prince Avalanche“ erinnert an eine Miniatur, die in schöner Eintönigkeit von der Einsamkeit zweier Kind-Männer erzählt. Jeder von ihnen versucht auf seine Art, das Leben in den Griff zu kriegen und befindet sich dennoch ständig auf der Flucht. Judd Apatow-Stammkraft Paul Rudd (mit adrett gestutztem Schnauzer) und Emily Hirsch (schon wieder „into the wild“) haben sich das Drehbuch, das auf einer isländischen Komödie basiert, gemeinsam ausgedacht und mit David Gordon Green, einem Erneuerer des US-Indiekinos, spontan vor der imposanten Kulisse der texanischen Waldbrände gedreht. Für Green war es nach mehreren Studio-Produktionen eine Rückkehr zu seinen Wurzeln. Die Landschaft bekommt dann aber doch noch eine allegorische Qualität. Spät im Film beginnen die ersten Blüten zu knospen, wie auch die Freundschaft zwischen Alvin und Lance. Die sanfte Melancholie des Films steht dabei im harschen Kontrast zur Landschaft, durch die ihr Selbstfindungstrip sie führt.

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Zum Geburtstag

(D / F 2013, Regie: Denis Dercourt)

Schatten der Vergangenheit
von Wolfgang Nierlin

Auch wenn die eingeblendeten Zeit- und Ortsangaben etwas anderes suggerieren, ist Denis Dercourts kurzweiliger Psychothriller „Zum Geburtstag“ kein realistischer Film. Eher ähnelt er einer abgezirkelten Versuchsanordnung über die wiederkehrenden Schatten …

Auch wenn die eingeblendeten Zeit- und Ortsangaben etwas anderes suggerieren, ist Denis Dercourts kurzweiliger Psychothriller „Zum Geburtstag“ kein realistischer Film. Eher ähnelt er einer abgezirkelten Versuchsanordnung über die wiederkehrenden Schatten der Vergangenheit oder einer Parabel über Schuld und Sühne. So legt der französische Regisseur in seiner mysteriös verzweigten Rachegeschichte immer wieder falsche Fährten aus und belässt vieles im Undeutlichen. Daneben erzeugt er mit Andeutungen und Symbolen, starren Blicken und somnambul agierenden Figuren ein Klima dunkler, vermeintlich vom Bösen durchdrungener Ahnungen.

„Ostdeutschland, Mitte der achtziger Jahre“: Der 16-jährige Paul spannt seinem Schulfreund Georg mit einem gefälschten Brief die Freundin Anna aus. Das merkwürdige, überkonstruierte Arrangement gipfelt in einem ominösen Pakt und einer politischen Denunziation. Beides holt die beiden Protagonisten dreißig Jahre später im Westen der Republik wieder ein. Im gutsituierten Leben Pauls (Mark Waschke) als erfolgreichem Investmentbanker, der mittlerweile mit Anna (Marie Bäumer) verheiratet ist und mit zwei erwachsenen Kindern eine fast heile Familie bildet, erstrahlt alles in komfortabler Helligkeit. Bis Georg (Sylvester Groth) als sein neuer Chef mit finsterem Blick, nahezu dämonischer Aura und seiner irritierend unheilvoll wirkenden Freundin Yvonne (Sophie Rois) auf der Szene erscheint, die zu großen Teilen bald in ein düsteres Jagdschloss verlegt wird.

So dringt die Geschichte in die Gegenwart, der Osten in den Westen, das Dunkle ins Helle ein, um jenen Pakt einzulösen, dessen Tragweite sich erst nach und nach entfaltet. Handlungsmuster und Motive wiederholen sich im ebenso kühlen wie künstlich-steifen Kosmos von Denis Dercourts irgendwie blutleerem, von unterdrückter Spannung zehrendem Film. „Alles wird irgendwann wieder gut“, heißt es einmal. Doch das darf bezweifelt werden, denn Dercourt favorisiert die Beunruhigung, entlässt seinen Film aber leider ins Nebulöse.

Alphabet

(AT / D 2013, Regie: Erwin Wagenhofer)

Opa voran!
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein überzeugender und ausgesprochen sehenswerter Dokumentarfilm, der sich mit den Defiziten des wirtschaftsorientierten, weltweit geltenden Bildungssystems befasst. In einem Wort: es geht um die Kreativvernichtung durch PISA. Erwin Wagenhofer hat …

Ein überzeugender und ausgesprochen sehenswerter Dokumentarfilm, der sich mit den Defiziten des wirtschaftsorientierten, weltweit geltenden Bildungssystems befasst. In einem Wort: es geht um die Kreativvernichtung durch PISA. Erwin Wagenhofer hat damit seine mit „We Feed The World“ und „Let’s Make Money“ begonnene Trilogie vollendet. „Alphabet“ ist der Paukenschlag, jetzt was gegen die ausschließliche Elitebildung und den Leistungsdruck zu tun, angefangen am ersten Schultag der Kinder und davor. Eltern sind gefordert, zu einer Haltung zu kommen, die das riesige Kreativpotential, mit der jedes Kind zur Welt komme, zur Geltung kommen lässt. Da ich Opa bin, bin ich hiermit auch gefordert, die Eltern davon abzubringen, nur die Anforderungen der Schule im Auge zu haben, und die Enkel nicht machen zu lassen, was sie (die Enkel) in sich haben; allerdings kommt diese mein, vom Film beförderte Einsicht, im Film nicht vor.

Wohl aber wendet sich der Film manifestartig gegen die Beflissenheit, mit der junge Menschen gedrillt werden, Mitglied der Leistungsgesellschaft zu werden – am liebsten ohne eigene Haltung. Wagenhofer bedient sich dabei nicht einer indoktrinierenden Argumentationskette, sondern stellt in aller Ruhe eine Reihe von Personen, vor allem von prominenten, wenn auch stets eine eigene, durch aus vom Mainstream abweichenden Wissenschaftlern vor, denen das Wort nicht abgeschnitten wird. Respekt! Ich meine damit, dass der Film selbst von der stressigen, wenn auch vorherrschenden Dokumentarfilm-Montage abweicht, die hinter jedem Satz einen Schnitt macht, um das, was Interviewpartner zu sagen haben, zur Illustration für das Allwissen des Regisseurs zu degradieren, der halt nur der Beste sein will. Nur der Beste zu sein, oben auf den Charts, gegen alle anderen, – das ist bekanntlich das Ziel der neoliberalen Leistungskultur. „Alphabet“ stellt das heraus. David Foster Wallace hat das beispielhaft für das Unwesen der US-Tennisakademie beschrieben (Infinite Jest/Unendlicher Spaß). Wär schön, dieses Buch (das erste Drittel) mit dem Film zusammenzudenken.

Der Film beginnt damit, einen deutschen PISA-Koordinator auf einer Chinareise zu begleiten. Wir sehen einen Schüler, PISA-Bester, aber so, wie er aussieht, emotional verkümmert und einer der Schüler-Selbstmordkandidaten, für die China ebenfalls Spitze ist.
Gegenbeispiel ist ein Spanier mit sowohl Down-Syndrom als auch Universitätsabschluss, der mit den anderen zusammen bestehen will. Vom Hirnforscher bis zum Personalvorstand rufen alle dazu auf, von unten her, das etablierte Bildungssystem zu ändern. Haltung zeigen! Sich bewegen! Aktiv werden! Los, in die Puschen! – Das ist es! Opa fängt damit an. Er kennt das.

Dieser Text ist zuerst gekürzt erschienen in: Konkret 11/13

Michael Kohlhaas

(F / D 2013, Regie: Arnaud des Pallières)

Dunkles Glas
von Wolfgang Nierlin

Draußen, unterwegs und fern der Heimat, fegt immer wieder ein lauter, schneidend kalter Wind über die karge, raue Gebirgslandschaft. Rasende Wolken werfen dramatische Schatten, die von jähen, kurzen Lichtfluten aufgebrochen …

Draußen, unterwegs und fern der Heimat, fegt immer wieder ein lauter, schneidend kalter Wind über die karge, raue Gebirgslandschaft. Rasende Wolken werfen dramatische Schatten, die von jähen, kurzen Lichtfluten aufgebrochen werden. Tiefer unter dann, im Wald, liegen kühle Nebel über einem still murmelnden Bach. Man hört förmlich die Feuchtigkeit auf dem Geäst und in den Blättern. Noch intensiver ist das Summen des Sommers zu Hause, wo ein helles, warmes Licht die Schatten der Dunkelheit zu einem spannungsgeladenen, doppeldeutigen Chiaroscuro rastert. Die Kräfte der Natur und das Spiel der Elemente, aufgenommen in den Cevennen und dem Vercors-Massiv der westlichen Alpen, sind gewichtige, ja gewaltige, aber deshalb keineswegs spektakulär inszenierte Protagonisten in Arnaud des Pallières‘ Verfilmung von Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“. Im Verbund mit einer reduzierten Ausstattung und einer unauffälligen, geradezu alltäglichen Kostümierung führen sie den Zuschauer in ein Mittelalter des 16. Jahrhunderts, dessen Materialität und Körperlichkeit fast greifbar wird und eine starke, atmosphärisch dichte Gegenwart erzeugt.

Dunkle, unheilvolle Trommeln künden vom Unrecht, das dem Titelhelden (Mads Mikkelsen) widerfährt. Ein Schlagbaum an einer unerwarteten Grenze und ein nicht vorhandener Passierschein zwingen den Pferdehändler zwei seiner Rappen nebst Knecht einem windigen, dekadent und zwielichtig erscheinenden Baron zu überlassen. Als er einige erzählerische Ellipsen später Mensch und Tier in geschundenem, verwahrlostem Zustand wiederfindet, fordert er zunächst Wiedergutmachung. Doch als diese ausbleibt und auch auf rechtlichem Weg nichts auszurichten ist, weil der Baron über Beziehungen zum Hof verfügt, wird der Betrogene zum gewalttätigen Rächer, der bald eine kleine Armee von getreuen Mitkämpfern anführt. Als heldenhaftes Vorbild taugt er dabei allerdings nicht; eher schon zum Fanatiker, der blindwütig seinen Prinzipen folgt, deren Sinn, vom Ende her betrachtet, immer fragwürdiger und undeutlicher wird.

Trotzdem ist Kohlhaas für den französischen Filmemacher Arnaud des Pallièrs eine „legendäre Figur“. Weil er auf dem Höhepunkt seiner (militärischen Macht), die Waffen niederlegt und sich dem Gesetz überantwortet, gilt er ihm als „moralische Instanz“. „Der Krieg schafft kein Recht“, sagt Kohlhaas einmal und wird kurz darauf selbst zum Richter und Henker. Von Luther (Denis Lavant) muss er sich danach in einem fulminanten Gewissensdiskurs eine zweifelhafte Moral und ein hochmütiges, eigengesetzliches Verhalten vorwerfen lassen. Dabei wird Michael Kohlhaas eingangs als liebender Ehemann, zärtlicher Familienvater und gottesfürchtiger Christ, der die Luther-Bibel liest und erklärt, eingeführt. „Als sehe man durch ein dunkles Glas“, zitiert er einem Knecht gegenüber eine ebenso berühmte wie schwer verständliche Stelle aus dem Korintherbrief; und er erläutert, dass dies bedeute, eine Sache zwar sehen, aber nicht erkennen zu können. „Zum Beispiel einen Feind?“, fragt sein Schüler. „Oder auch einen Freund“, ergänzt Kohlhaas und nimmt damit ein Motiv seines tragischen Schicksals (und Scheiterns) vorweg. Dass sein Handeln dabei gleichermaßen Liebe und Furcht erweckt, wie die Prinzessin von Angoulême (Roxane Duran) mit begehrlichen Blicken auf den schönen, fast nackten Körper des Kontrahenten feststellt, gehört zu den Widersprüchen dieser Figur.

Alphabet

(AT / D 2013, Regie: Erwin Wagenhofer)

Wissende Lehrmeister wollen’s beweglich
von Drehli Robnik

In 'Alphabet' ist alles eine Frage der Belehrung: Sie ist Thema und zugleich Praxis dieses Dokumentarfilms, der sich in seiner Kritik an Leistungsdruck im Schul(ungs)wesen um prägnante Bilder zur Bildung …

In 'Alphabet' ist alles eine Frage der Belehrung: Sie ist Thema und zugleich Praxis dieses Dokumentarfilms, der sich in seiner Kritik an Leistungsdruck im Schul(ungs)wesen um prägnante Bilder zur Bildung ebenso bemüht wie – siehe Titel – ums Ausbuchstabieren einer Lehre.

Gut ist 'Alphabet' dann, wenn der Film Leute, die sich als Betroffene mit Bildungsselektionsmechanismen herumschlagen, über sich erzählen lässt: Ein Dortmunder, der ohne Lehrstelle in einem Aufstockerjob als Security dahinwurstelt, ein Spanier, der erzählt, wie aufregend sein Bildungsleben als erster Universitätsabsolvent mit Down-Syndrom war (und auch, wie aufregend sein Leben als Fan des Fußballclubs von Malaga ist) – sie ermächtigen sich in manch Beharrungsposen und sarkastischen Selbstauskünften. Gut auch, wenn der österreichische Regisseur Erwin Wagenhofer, wie in seinen wirtschaftsentfesselungskritischen Dokus We Feed the World' (2006) und Let´s Make Money' (2008), Profitideologen und Leistungsroutinen so ins Bild setzt, dass Widersprüche hervortreten, dass ihre Rede und das Bild ihres Ablaufs sich gegen sie kehren: Der deutsche PISA-Test-Delegierte bewundert den Effizienzterror im Schulsystem Chinas, ein chinesischer Bub wird zum Gewinn von Mathematikturnier-Medaillen gedrillt, trägt dabei just eine an Rennfahrer erinnernde rote Jacke voller Logos und macht ein Gesicht zwischen Depressionsschub und Sekundenschlaf. Die Besten einer Jung-CEO-Auslese reden – etwa über Babypausen oder feindliche Übernahmen – so zynisch und menschenverachtend daher, wie das Kapital halt ist; die Art, wie die Inszenierung ihre Soundbites ausstellt, trägt allerdings ihrerseits Züge von Prägnanzprofitmaximierung.

Beim engkrawattigen Bildungsexperten mit Armeefrisur, der das Maskulinistisch-Kriegerische des Konkurrenzsystems anprangert und später 'wuchtig handelndes Zertrümmern' von Bildungstraditionen fordert, oder beim alten Kreativguru im 'Mal-Ort', dem heutige Kindermalereien nicht mehr freudvoll genug sind ('Das hat doch nichts Freudvolles! … Das Kind spielt einfach nicht!'), da fragt sich hingegen, ob Wagenhofer sie – mit ihren sich als emanzipatorisch gebenden Äußerungen, die aber doch einiges an Machtanmaßung verraten – aufs Glatteis führt, oder ob er nicht selbst mit ihnen ebendort tanzt. Wenn ein im Film als Positivbeispiel ins Treffen geführter junger Mann, von Beruf Gitarrenbauer, auf der Tonspur erzählt, seine Eltern wollten ihn nie in eine Schule schicken und seien dankenswerter Weise ihrer Entscheidung treu geblieben, während er im Bild dabei zu sehen ist, wie er als Sportbogenschütze einen Pfeil ins Ziel schnellen lässt, dann ist allerdings zu vermuten, dass solche audiovisuellen Formfindungen – Treue zur Entscheidung plus unbeirrbares Im-Auge-Behalten eines Ziels – als Bekräftigungen zu lesen sein sollen.

Wagenhofers Kino-Didaktik versprüht jedenfalls einiges an zutiefst intaktem Glauben an die Autorität wissender Lehrmeister: Der zumeist als auf Vortragsbühnen beim Predigen gezeigte Neurobiologe, der in einer Sequenz just an der einstigen DDR-Grenze sitzend über die uns Menschen ja schon vorgeburtlich aufgegebene Verbundenheit sinniert, ist ein Echo von Fritz Karls paternalistischer Belehrungspose in Dialogen von Wagenhofers vorigem Film, dem migrationsregime- und spekulationskritischen Roadmovie Black Brown White' (2011). Zugleich steht er, mit seiner Berufung aufs Schlechthin-Menschliche – seinen Bildungsdisziplin- und Auschwitz-Vergleich vergessen wir lieber – in einer den Film durchziehenden Motivkette zur (Gattungs- und Individual-)Evolution; das Filmintro etabliert diese Kette mit Montagen von Embryo, Wüste, dazu die Off-Stimme eines Kreativitätsexperten, der weit ausholt. Da weht ein Hauch von Kubricks 2001' durchs Bild und ein Nachhall des verhaltens- und gedächtnistheoretischen Intro zu Resnais‘ 'Mein Onkel aus Amerika' durch den Ton. Der da bei Wagenhofer spricht und uns ganz am Filmende zu mehr Beweglichkeit auffordert (als wäre er ein flexibilisierungswütiger Sprecher der Industriellenvereinigung), ist allerdings kein selbstironischer Resnais‘scher Bergsonianer, sondern Sir Ken Robinson, der, so lehrt uns der Abspann, für seine innovationswissenschaftlichen Verdienste von der Queen geadelt wurde. Na, dann! Dann muss seine Kritik ja wohl stichhaltig sein.

Männer wissen ziemlich viel in 'Alphabet' – allerdings nur sie. Die programmatisch zweimal, beide Male in der Nähe von Embryo- und Babybildern, eingesetzte markante Totale mit den in der Luft tanzenden chinesischen Papierdrachen, von denen es heißt, sie seien ein Sinnbild für kindliche Begabungen – vielleicht erinnert sie deshalb so sehr an das Gewurl von Spermien. Frauen kommen in dem Film jedenfalls kaum vor – es sei denn als beipflichtende Gattin des 'Mal-Ort'-Meisters, als Mathe-Medaillen-geile Omi des schläfrigen Rennfahrerbuben oder als Anschnitt von Mädchenstrumpfbeinen in pinken Rollerblades mit einem Müllhaufen im Hintergrund; letzteres Bild untermalt die Expertenrede vom schädlichen 'Strudel der Konkurrenz'.

'Alphabet' zeigt lieber Anlagen im Sinn von Begabungen als Anlagen im Sinn von Dispositiven und Maschinerien; bildungsinstitutionelle Raum- und Zeitregimes zu erkunden, das erspart der Film sich weitgehend zugunsten pathetischer Appelle an Autorität und Phantasie; als wären beides nicht Kräfte, mit denen das zwangsflexible Kreativkapital heute bestens auskommt und wirtschaftet.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Da geht noch was

(D 2013, Regie: Holger Haase)

Verpacktes Familienglück
von Wolfgang Nierlin

Das Idealbild seiner Traumfamilie kommt aus der Waschmittelwerbung und ist mit der Liedzeile „Siehst du die Blumen blühen?“ unterlegt. So naiv und kitschig stellt sich der Off-Erzähler Conrad Schuster (Florian …

Das Idealbild seiner Traumfamilie kommt aus der Waschmittelwerbung und ist mit der Liedzeile „Siehst du die Blumen blühen?“ unterlegt. So naiv und kitschig stellt sich der Off-Erzähler Conrad Schuster (Florian David Fitz) noch in der Rückschau eine bessere Kindheit vor, dass er als Erwachsener tatkräftig an einer heilen Welt bastelt. Das geplante Eigenheim in einem Naturschutzgebiet am See hat schon ein Fundament, seine attraktive Frau Tamara (Thekla Reuten) verdient mindestens genauso gut wie er und der 13-jährige Sohn Jonas (Marius Haas) ist im Elite-Internat Salem untergebracht. Konsumfreude, körperliche Fitness und gesunde Ernährung komplettieren das kapitalistische Wohlstandsglück des Flüsterschubladenherstellers. Und man ahnt bereits hier, dass der Verpackung dieses Lebens möglicherweise der Inhalt fehlt und hinter vorgespiegeltem Glück gähnende Leere herrscht.

Die Frage nach dem richtigen Leben hinter der falschen Hülle ist in Holger Haases Komödie „Da geht noch was“ untrennbar an Familienbeziehungen geknüpft. Weil also Conrad in seiner Kindheit unter seinen politisch korrekten Eltern gelitten hat, ist sein forcierter Lebensstil als plakative Abgrenzung zu verstehen. Die neuerliche Konfrontation mit seinem Vater Carl (Henry Hübchen), einem alten, grummelnden Gewerkschafter, der sich von Dosenbier und Baumkuchen ernährt, sucht den Witz vornehmlich in der zugespitzten Gegensätzlichkeit ihrer Charaktere. In der Logik des Films und seiner verzögerungstaktischen Dramaturgie der Stolperfallen müssen sich diese durch Streitigkeiten, verbale Gehässigkeiten und emotionale Rückschläge läutern und irgendwann einander annähern. Weil Mutter Helene (Leslie Malton) ihren Gatten nach vierzig Ehejahren verlassen hat, sind die drei „Männer“ aus drei Generationen mit ihren Reibereien, Kämpfen und Ausrastern also zunächst einmal unter sich.

Da will Conrad bei seinem Vater „Hilfe zur Selbsthilfe“ leisten, während dieser wiederum bei der Erziehung seines Enkelkindes von „Pionierarbeit“ spricht. Zwischen „Carl bleibt Carl!“ und „Sei dein neues Du!“ liegen Dialogwitz, Figurenzeichnung und inhaltliche Entwicklung dieses Films, der seinen (schauspielerisch mitunter überzeichneten) Humor mal originell und deftig, dann wieder müde und mau verströmt und am Ende überflüssigerweise leider noch in den Klamauk abrutscht. Dabei schlägt er, vor allem bezogen auf das Schicksal der Mutter, durchaus auch nachdenklichere Töne an. Eine Tragikomödie ist „Da geht noch was“ deshalb noch nicht. Seine Prämissen sind zu plakativ und klischeebeladen, seine Ironie („Und immer immer wieder geht die Sonne auf“) zu grob und seine gleich dreifache Familienzusammenführung zu sentimental. Diese wird übrigens durch die filmische Beschwörung vergangenen Liebes- und Familienglücks bewerkstelligt, das auf Fotos und einem Super 8-Film für die Erinnerung gespeichert ist – eine schöne, wenngleich nicht ganz neue Idee. Da geht also noch was.

Prakti.com

(USA 2013, Regie: Shawn Levy)

Total vergoogelt
von Louis Vazquez

Jetzt ist es offenbar so weit: Hollywood ist nach den vielen Sommerflops so klamm, dass es wie so viele kleine, ambitionierte Produktionsstätten, auch Imagefilme ins Portfolio nehmen muss – „Prakti.com“ …

Jetzt ist es offenbar so weit: Hollywood ist nach den vielen Sommerflops so klamm, dass es wie so viele kleine, ambitionierte Produktionsstätten, auch Imagefilme ins Portfolio nehmen muss – „Prakti.com“ zum Beispiel, der im Original „The Internship“ heißt.

Billy (Vince Vaughn) und Nick (Owen Wilson), Vertriebsmitarbeiter eines Unternehmens für Edel-Armbanduhren, werden gefeuert, weil das Geschäft beschissen läuft und die Firma pleite geht. Eine Uhr zum Abschied und Good-Bye. Beide sind um die 40 und haben nun natürlich nicht mehr viel zu lachen. Weil man sich aber zumindest in diesem von Shawn Levy inszenierten Film (nach einer Idee von Hauptdarsteller und Co-Produzent Vince Vaughn) noch auf den American Dream verlassen kann, ergattern Billy und Nick bald Praktikumsplätze bei Google und wollen nun ihre Chance ergreifen, denn schließlich ist dieses Internetdings die Zukunft. Das Praktikum gleicht indes einem verlängerten Assessment Center: In Teams treten die hoch motivierten Job-Aspiranten gegeneinander an und müssen zum Beispiel eine erfolgreiche App entwickeln oder in einem Harry-Potter-inspirierten Real-Life-Quidditch sportlich gegeneinander antreten. Nur die Mitglieder der erfolgreichsten Gruppe werden nach Ablauf des Praktikums fest angestellt.

Die beiden angeschossenen alten Hasen müssen sich mit jungen Elitestudenten messen und machen ihre mangelnde technische Kompetenz natürlich mit ihrer Erfahrung, ihren Softskills und ihrer Fähigkeit, um die Ecke zu denken, wett. Alle lernen etwas voneinander: die Alten die Technik, die Jungen, sich auch mal im Stripclub locker zu machen. Einer jungen Kollegin erklärt Billy später noch, dass es völlig in Ordnung ist, Jungfrau zu sein. Am Ende wird alles gut. Nick erweicht sogar das Herz der eiskalten Google-Managerin Dana – Obacht, Wortwitz! – Sims (Rose Byrne), obwohl Beziehungen zwischen Mitarbeitern eigentlich streng verboten sind – der Gipfel der Subversion.

Arbeitslos, über 40 und auf den Jobmarkt gezwungen – keine unspannende Grundidee, aus der man einiges hätte machen können, eine Komödie zum Beispiel. Schließlich hätte die nicht ganz freiwillige, aber hoch motivierte Selbsterniedrigung für ein obskures Karriereversprechen (Call Center, anyone?) ja auch das Potenzial zu schwarzem Humor, wenn man nur die zugrunde liegende Perversion hätte entlarven wollen. Doch Pointen sehen hier ungefähr so aus: Weil Google-Mitarbeiter sich in der Kantine kostenlos verpflegen dürfen, bestellt Billy ganz viel Süßkram – fertig.

„Prakti.com“ gerät zum zweistündigen Google-Werbeclip und strickt ungebrochen am längst fadenscheinigen Mythos des Unternehmens. Durch harte Arbeit und viel „Googliness“ wird man eben auch im Alter noch vom „Noogler“ zum „Googler“, da wird sogar die Marketing-Sprache einfach übernommen. Dass die Vorgesetzten hart durchgreifen, dient doch nur dem Ziel, das Beste aus allen herauszukitzeln, weil man bei Google nicht weniger will als – jetzt festhalten – den Menschen dienen. Wortwörtlich. Im Herzen nämlich ist die schrullige Google-Familie gut. Steht ja auch noch mal im Presseheft: „Billy und Nick wählen weise. Im Januar 2013 war im Fortune Magazine zu lesen, dass Google der beste Arbeitsplatz der Welt sei – und das zum dritten Mal seit 2007. Google hat sich einen nun seit Jahren bestehenden Ruf als cooler und witziger Arbeitsplatz erarbeitet. Die Angestellten lieben die Unternehmenskultur, die Führungsgrundsätze sowie die Zusatzleistungen.“

Damit das nun auch all die verzweifelten Arbeitssuchenden über 40 wissen und daraus neue Kraft schöpfen, haben Vaughn und Kollegen uns „Prakti.com“ beschert, einen Film, der laut IMDB 58 Millionen Dollar gekostet haben soll. In diesem Zusammenhang noch ein schöner Gag aus dem Forum der Datenbank: Wahrscheinlich waren die Markenrechte so teuer.

The East

(USA / GB 2013, Regie: Zal Batmanglij)

Amerika erwacht
von Wolfgang Nierlin

Sie sind Ökoterroristen und nennen sich “The East”. Sie bekämpfen Ölkonzerne und Pharma-Unternehmen mit jenen Giften, die Mensch und Umwelt zerstören und machen ihre Anschläge übers Internet öffentlich. Die Verursacher …

Sie sind Ökoterroristen und nennen sich “The East”. Sie bekämpfen Ölkonzerne und Pharma-Unternehmen mit jenen Giften, die Mensch und Umwelt zerstören und machen ihre Anschläge übers Internet öffentlich. Die Verursacher von Leid sollen dieses am eigenen Leib erfahren. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, lautet ihre alttestamentarische Kampfansage. Selbst der Terror, so könnte man sagen, folgt in Amerika den archaischen Mustern von Rache und Vergeltung. Es ist das Gesetz des Wilden Westens, das sich hier medial und filmgeschichtlich fortspinnt; und das missionarischen Eifer propagiert: „Wir sind euer Weckruf!“ Dementsprechend situieren Regisseur Zal Batmanglij und seine Ko-Autorin Brit Marling die anarchistische Gruppe zwischen politischem Geheimbund und obskurer Sekte, die sich in merkwürdigen Ritualen der gegenseitigen Loyalität ihrer Mitglieder versichert. Doch das alles ist weniger neu und radikal als es sich gibt: Der Film „The East“ ist gewissermaßen die militante Version von Hans Weingartners „Die fetten Jahre sind vorbei“ und wirkt trotzdem irgendwie „light“ und naiv, weil das thematisch Brisante plakativ und die Durchführung halbgar bleiben.

Das beginnt schon mit der leicht holprigen Einschleusung der Agentin Jane (Brit Marling), die unter dem Decknamen Sarah für eine private Sicherheitsfirma die Anschlagspläne der Terroristen ausspionieren soll. Auch diese Figur hat eine religiöse Erdung: Zu Beginn ihrer Mission erbittet die attraktive Spionin Gottes Beistand. Ansonsten ist sie eine dieser überdimensionierten Kinoheldinnen, die fast alles können, weil sie schlau und schön, stark und mutig und fast immer einen Schritt voraus sind. Die gefangen nehmende, um nicht zu sagen einlullende Spannungsdramaturgie des Films weiß das für ihre Zwecke zu nutzen. Das Erzähllogische macht dann schon einmal Sprünge und ist in etwas so wahr wie die stets frische Frisur und das perfekte Make-up der Protagonistin. „Typisch Mainstreamkino!“, ist man versucht zu sagen, wenn das, was sich entwickeln soll, nicht erzählt wird, sondern ohne weitere Erklärung einfach da ist.

„Amerika erwacht!“, könnte wiederum eine andere Losung sein, die der Film eher unbeabsichtigt und in gezähmter Form ausgibt. Natürlich geht das im funktionalen Kintopp-Kino nicht ohne Gefühle. Und so verliebt sich Jane in die nachvollziehbaren Ideen der Gruppe, noch mehr aber in den ebenso charismatischen wie gutaussehenden Bandenchef Benji (Alexander Skarsgård), während Jane bei ihrer Chefin (Patricia Clarkson) innerlich immer halbherziger Bericht erstattet. Zwischen Freundschaft und Liebe, Loyalität und Verrat gerät ihr Gewissen in die Krise. Fremd wird ihr dabei das jeweils andere Leben. Batmanglijs forcierte Spannungsdramaturgie spitzt diesen Konflikt konsequent zu. Doch der radikale Schnitt bleibt aus. Der Regisseur und seine Protagonistin können oder wollen sich nicht ganz auf die Seite ihrer Sympathieträger schlagen. Oder aber positiv ausgedrückt: Sie halten dezidiert Abstand zur Losung: „Die Revolution gegen ein Menschenleben.“

Kid-Thing

(USA 2012, Regie: David Zellner)

Zerstörung, lakonisch
von Wolfgang Nierlin

Auf schwerem Grund stoßen schrottreife Autos gegeneinander, verhaken sich, bleiben stecken, schieben sich an und ineinander. Bis nur noch kaputtes Blech, eingedrückte Karosserien, verbeulte Kotflügel und demolierte Stoßstangen übrigbleiben und …

Auf schwerem Grund stoßen schrottreife Autos gegeneinander, verhaken sich, bleiben stecken, schieben sich an und ineinander. Bis nur noch kaputtes Blech, eingedrückte Karosserien, verbeulte Kotflügel und demolierte Stoßstangen übrigbleiben und die Räder im allgemeinen Motorengedröhn hohldrehen. Doch trotz dieses Zerstörungsszenarios strahlt die Einleitung von David und Nathan Zellners Indie-Film „Kid-Thing“ auf eine beiläufige Art fast etwas Sanftes aus, was durch den kindlich-unschuldigen Ausdruck der kontrastierend eingesetzten Begleitmusik noch verstärkt wird. Tatsächlich bildet dieser Prolog den programmatischen Auftakt für eine episodisch gegliederte Abfolge kindlicher Zerstörungsphantasien, in deren Mittelpunkt die etwa 10-jährige Annie (Sydney Aguirre) steht, die zusammen mit ihrem Vater (?) Marvin (Nathan Zellner) auf einer Farm in der texanischen Provinz lebt.

Doch wirklich väterlich oder gar verantwortungsbewusst wirkt dieser skurrile Mann, der Ziegen melkt, Hühner hypnotisiert, Lose rubbelt und einen Selbsthilferatgeber mit dem Titel „How to become a better person“ liest, ganz und gar nicht. Auf Annies Frage nach dem richtigen Handeln, weiß er keine rechte Antwort; und so bleibt das verstockte Mädchen mit seiner Einsamkeit und Langeweile, mit seiner Wut und einem aggressiven Überdruss sich selbst überlassen. Schon die Kinderzeichnungen in Annies Malbuch strotzen vor Gewalt, die sie in der Folge gegen Dinge, (tote) Tiere und Menschen richtet. Mit verstellter Stimme fingiert sie einen Drohanruf bei einem Autohändler, sie wirft Teiglinge auf vorbeifahrende Autos, zerschlägt Gegenstände, klaut Lebensmittel und schießt mit einem Paintballgewehr auf Tierkadaver. Die Zellner Brothers zeigen das betont lakonisch, ohne große Erklärungen oder gar Worte mit einem unverhohlenen Interesse am Abwegigen, Schrägen und Regellosen. So mischen sich in die gewalttätigen Bilder einer dunklen, schweren Kindheit immer wieder absurder Humor, andererseits aber auch ruhige, fast bedächtige Landschaftsstimmungen.

Hinter Annies Zerstörungswut stehen eigentlich die Fluchtphantasien eines vernachlässigten Kindes; und ihre Destruktivität schreit nach Liebe. Annie, die von sich sagt, sie habe vor nichts Angst, folgt ihrem Bauchgefühl. „Woher weiß man, was das Beste ist?“ Ihre kindliche Orientierungslosigkeit, Zeichen ihrer noch ungeformten Seele, lässt sie im Wald ein tiefes, dunkles Erdloch entdecken, in dem eine Frau namens Esther (Susan Tyrrell) gefangen ist. Doch nur deren zunehmend verzweifelteren Hilferufe zeugen von ihrer Existenz. Als diese verstummen, stirbt auch für Annie ein Gefühl der Macht und der Hoffnung. Das schwarze Loch als ambivalenter Ausdruck einer unbewussten Sehnsucht nach Freiheit und zugleich ein Symbol der Gefangenschaft zieht das Kind magisch an, um es schließlich zu verschlucken.

Elysium

(USA 2013, Regie: Neill Blomkamp)

Politik aus Treue, Revolte aus Not, Gestell aus Stahl
von Drehli Robnik

Manch ein Science Fiction-Film verschafft sich heutzutage seinen Nimbus politischer Radikalität dadurch, dass er ein verbreitetes Unbehagen an entfesselter Kapitalmacht oder an neuen Formen des Wohnens, die sich ab- und …

Manch ein Science Fiction-Film verschafft sich heutzutage seinen Nimbus politischer Radikalität dadurch, dass er ein verbreitetes Unbehagen an entfesselter Kapitalmacht oder an neuen Formen des Wohnens, die sich ab- und andere ausschließen (ob in Wohlstandsweltregionen, Gated Communities oder Dachausbauten), überhöht: bis hinauf in Sphären des Hochgestochenen, von wo aus die Filme – namentlich etwa Wall-E', 'In Time', Oblivion' – dystopische Blicke in Jammertäler der Heillosigkeit werfen. Das lässt sich wohlwollend als 'biopolitische Kritik' verstehen – und skeptisch als authentizitätsbesorgte Ökopanik-Moral.

Eine spannende Alternative dazu inszenierte 2009 der Südafrikaner Neill Blomkamp mit District 9': Darin waren Motive von Alien-Invasion und interplanetarischem diversity management zur Groteske eines migrationspolizeilichen Lagerregimes umgedeutet; Cyborg-Splatter-Stil verband sich da treffend mit Satire in Sachen Routineprozeduren und Normalisierungsideologien rassistischer Einsperrung.

Im Hollywoodactionblockbustermaßstab produziert, bewegt sich Blomkamps neuer Polit-SciFi-Film zwischen diesen Polen. 'Elysium' heißt er, nach der riesigen, Mercedesstern-artig geformten Luxusraumstation, in der sich die Superreichen abschotten; das restliche Humankapital darbt und rackert in irdischen Favelas (die vor Ort in Mexiko gedreht wurden). (Auffällig am Rande: Kerngeschäft der lokalen Großindustrie scheint das relativ personalintensive Zusammenbauen von Polizeirobotern zu sein, wobei also die Ausgebeuteten sich wesentliche Mittel und Büttel ihrer Unterdrückung ganz handgreiflich selber schaffen – genau wie in den Fabriksequenzen in dem läppischen Total Recall'-Remake vom Vorjahr.)

Ein infolge fehlender Arbeitssicherheitsstandards strahlenverseuchter Cyborgproletarier mit Glatze, Herz und Exoskelett aus Stahl (Matt Damon) kooperiert allmählich zwecks Umsturz mit Latino-Fluchthilfedienstleistern, darunter Wagner Moura als am Stock hinkender lokaler Gangboss, dem trotz aller harten Worte letztlich nichts weniger als die Universalisierung des Bürgerrechts in/auf Elysium vorschwebt.

Projekt und Praxis des Aufstands werden in dem Film jedoch allzu oft zur Sache von Kindheitstraum und Kinderfürsorge-Ethos stilisiert: Das politische Pathos, das in 'Elysium' den Sinn der Aktionen (und der immer wieder mitreißenden, ökonomisch gesetzten, in Zeitlupen schön phrasierten Actionszenen) markiert, es ist hier verdichtet in Bildern der 'Treue zum Kind' – der Treue von Müttern, die doch nur ganz kurz die auf der Erde unverfügbaren Heilungstechniken der elysischen Gesundheitsdienste für ihre todkranken Sprösslinge in Anspruch nehmen wollen (von politischem Anspruch dann also doch keine Spur), und der Treue zu einem märchenhaften Gelöbnis, das der Held als Kind seiner geliebten Spielgefährtin gegeben hat. Irgendwie kommt da auch eine Art Erlöserprophetie, von karitativen Nonnen ersonnen, ins Spiel; die wird zum Glück nicht 'Matrix'-artig weiter auserzählt, schwelgt aber doch mit durch die allzu üppig ausgestreuten Kinderglücks-Rückblenden. Tiefsinnig jaulen immer wieder Ethnochöre, wenn Armut als Form höherer Moral geheiligt und Gerechtigkeit zum Synonym von Gesundheit veredelt wird: Wenn die Reichen so herzlos sind – verkörpert in den kalten Mienen von William Fichtner als Industrieboss und Jodie Foster als erzpragmatische Polizeiministerin mit Putschplänen in der Raumstation –, dann müssen, so legt dieser Film (und natürlich bei weitem nicht nur dieser) nahe, die Armen doch automatisch gut sein, und das Glück des erfolgreichen Umsturzes liegt, so scheint’s, am gnadenlos optimistischen Ende, in Lebenserhaltung für alle: Wer würde da widersprechen? (Also: abgesehen von den Republikanern im Sturm gegen staatliche Krankenversicherung oder von den Schengen-Asylgesetzen zur Aufenthaltspflicht am Arsch der Welt.)

Fast droht 'Elysium' schon ein Ganz-Abgleiten in Gesundheitsphantasmen (bei denen die Subjekte politischen Übels schnell einmal als 'krank', sprich: frigid, queer, zu dick, zu bleich, zu dunkel… identifiziert werden). Davor rettet den Film nun allerdings weniger sein breitspuriger Erzählentwurf als vielmehr ein Gespür für Ausstattung, zumal fürs Ruinöse, das schon in 'District 9' ausgiebig ins Bild kam. Im Anblick (auch im Sound) von Materien – der sich in Blomkamps Debüt in die Auslotung der Materialität von Medien- und Verwaltungstechniken fortgesetzt hatte – wird hier ganz plastisch, oft auf lustige, manchmal auch eklige Weise, etwas sinnfällig: dass nämlich alles 'Heilen' auch immer nur 'Reparatur' ist, und genau so sehen die Bauten, Vehikel und Körper denn auch aus; Blomkamps beschriftete Stahlplatten und Drahtfransen im Sonnenlicht sind fast schon markenzeichenhaft. (Man könnte das, in Gegensatz zur 'Treue zum Kindlich-Unschuldig-Reinen', als eine Art 'Treue zu den Problemen' bezeichnen.)

Menschen in der Revolte, und die Revolte ist zugleich in ihnen, um’s mal mit Tocotronic zu sagen. Unter all den Prothesenwesen und Gestellhelden im Klassenkampf brilliert Sharlto Copley (der Karriere-Fremdenpolizeibürokrat aus 'District 9') als psychopathischer Söldner mit ersatzteilgespicktem Panzerkörper, dem dann irgendwann auch das ärgerlicherweise durch hautnahen Handgranatendetonationskontakt unschön ramponierte Antlitz per 3D-Fleisch-Drucker rekonstruiert wird. Eine irre Szene als embodiment prägnanter politischer Anmutung: Die Sache der 'Reform' kann in ihrem Ablauf und Effekt einschneidender und krasser sein als eine zum Heils(armeeein)satz verkitschte Idee der Revolution.

Finsterworld

(D 2013, Regie: Frauke Finsterwalder)

Überraschung! Überraschung!
von Dietrich Kuhlbrodt

Der erste Spielfilm der Dokumentarfilmerin Frauke Finsterwalder, und er ist genial, einfach ge-ni-al. Ja, ich muss gleich am Anfang meine halbwegs gesittete Position als Filmkritiker aufbrechen und es jetzt und …

Der erste Spielfilm der Dokumentarfilmerin Frauke Finsterwalder, und er ist genial, einfach ge-ni-al. Ja, ich muss gleich am Anfang meine halbwegs gesittete Position als Filmkritiker aufbrechen und es jetzt und auf der Stelle rauslassen, was ich im Kino erlebt hab. Gelacht, gerührt, empört, außer mir, raus aus der Schale. Damit bin ich auch schon beim Thema, der emotionalen Verschalung, den anderen nicht berühren können, – ich meine richtig anfassen. Die andere, hätte ich sagen sollen. Was sowieso ein Problem ist, wenn man, sagen wir: 16 ist und SchülerIn. Oder ganz alt und sich von einem Jüngeren die Füße pflegen lässt. Oder sich für den humanistisch gesonnenen Lehrer auf Klassenfahrt zum KZ fürs Fahrtziel wenig, für ganz was anderes sehr interessiert.

Mehr als diese Vorgaben kann ich nicht liefern, vor allem nicht die Handlung. Damit hätte ich jedem das Abenteuer der Filmrezeption vermiest. – Quatsch. Ich hätte schreiben sollen: es gibt keine Handlung. Oder besser: alles, was man sieht und hört, verkehrt sich – Überraschung! Überraschung! – in sein Gegenteil, – oder – Überraschung! – eben nicht. Schön ist die Welt in diesem Film. Stets eitel Sonnenschein. Grüne Landschaften. Gepflegt gekleidete Menschen, junge und alte. Nichts stört. Eine Außenwelt wie im Studio nachgebaut. Nichts passiert im Hintergrund. Auf den Straßen verkehrt nichts. Keine Passanten unterwegs. Nur die Protagonisten. Und dann, dann zieht es dir den Boden unter den Füßen weg.

„Finsterworld“ lässt sich in keins der üblichen Filmgenres einordnen. Komödie? Nä, irgendwie nicht. Tragödie? Irgendwie punktuell schon. – Botschaft? Die Dialoge erklären nichts, liefern aber Subtext. Ganz schön aufregend, sich berühren zu lassen, wenn sich ein Spalt in den Kulissen der schönen heilen Welt öffnet. Geschrieben hat das Buch Regisseurin Frauke Finsterwalder zusammen mit ihrem Mann, dem Autor Christian Kracht. Beide haben den Blick von außen (Tansania) auf ein Deutschland drauf, das sich in feine Schale geworfen hat und seltsam emotionslos geworden ist. Opfer werden zu Tätern. Einsiedler schießen von der Autobahnbrücke. Liebende flüchten sich in Ersatzhandlungen. Der Fußpfleger backt Kekse. Die Guten werden bestraft. Die Bösen belohnt. Was bringt Heilung in die monströse Welt der Gutdeutschen?

Der Film macht keinen Vorschlag. Der Film ist der Vorschlag. Jedenfalls hat es bei mir geklappt. „Finsterworld“ hat mich berührt. Ich glaube, einen großen Anteil am therapeutischen Ergebnis haben die vielen Schauspieler, die die Alltagssprache draufhaben und einem nahe, sehr nahe kommen. Die jungen, wie die alten. Margit Carstensen als Fußpflegefall: meine Empathie! Leonard Scheicher als gedemütigter Schüler, dann als Held: ja, er hat die Zukunft für sich (im Film allerdings weniger). Das Paar Corinna Harfouch und Bernhard Schütz im schützenden Auto im gleichfalls schützenden Wortwechsel, der verdeckt, was ungeschützt zu sagen wäre (keine Angst, der aggressive Darsteller wird sich noch schutzlos am Boden winden). Der Schüler-Macker Jakub Gierszal („Na, ihr Spasten, ready for the KZ-Besuch?“), – den vergisst man nicht. Aufregend, er, der ganze Film.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 10/2013

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Wir sind die Millers

(USA 2013, Regie: Rawson Marshall Thurber)

Nicht mehr normal
von Drehli Robnik

Wir wussten es immer schon: Durchschnittlichkeit lässt sich lernen. Zumindest vortäuschen. So will es die Prämisse dieser Urlaubskomödie: Um eine Tonne Marihuana aus Mexiko einzuschmuggeln, rekrutiert ein kleiner Dealer aus …

Wir wussten es immer schon: Durchschnittlichkeit lässt sich lernen. Zumindest vortäuschen. So will es die Prämisse dieser Urlaubskomödie: Um eine Tonne Marihuana aus Mexiko einzuschmuggeln, rekrutiert ein kleiner Dealer aus Denver eine nicht mehr junge Stripperin, ein obdachloses Gör und einen spätpubertären Dillo; getarnt als weiße Vorzeigefamilie reist man in Dreiviertelhosen und im Wohnmobil, frönt kleinbürgerlichen Kuschelritualen, grinst, winkt und ruft ungefragt: 'Wir sind die Millers!'

Das hat seine Eigendynamik: Die vier Solo-Survivors verfallen allmählich ihrer eigenen Tarnidentität und den Reizen zwanghafter Gutgelauntheit unter Bürstenhaarschnitt und Souvenirsombrero, bis sich denn auch genuine Fürsorgegefühle einstellen. Allerdings lässt der Film ihren Habitus wechselseitiger Angezipftheit so weit intakt, dass allfällige Werte nicht allzu aufdringlich ins Spiel kommen; abgesehen von Unterhaltungswerten, und die resultieren hier aus der Fusion apatowscher Familienaufstellung mit farrellyschem Schweinigeln und hangoverscher Spießerwolfpackpose.

Um ungewollte Schwangerschaft zu vermeiden, heißt es im Geplauder mit Zufallsbekanntschaften auf dem Campingplatz, 'There’s nothing like sticking to the Big A.' – 'Anal?' – 'I meant abstinence.' Ausstattung und Dialoge sitzen, Selbsttechniken des kleinen Glücks (samt ängstlichem Swingerversuch 'from mother to mother') sind mitunter schön beobachtet; die Regie von Rawson Marshall Thurber – den seltsamen Namen hätte man sich nach seiner um einiges deftigeren Völkerballfreakteamkomödie 'Dodgeball' von 2004 merken können sollen – hält das Tempo. Zwischendurch wird im Chor 'Waterfalls' von TLC gesungen, muss wohl auch sein.

Inmitten netter Nebendarsteller (etwa Ed Helms, die Zahnlücke aus den Hangover'-Filmen, als Drogengangboss, der sich im Aquarium hinter seinem Schreibtisch einen Orca hält) machen ihr Ding versiert: Jason Sudeikis, Emma Roberts, Will Poulter und Jennifer Aniston – deren strip- und lapdanceadäquate Figur allerdings ein bisschen sehr anbiedernd ausgestellt wird (alt und schön sind wir selber). Nicht ganz koscher: die Sozioklischees in Sachen kriminelles Mexiko (oder geht es doch mehr um weißsockentragende Amis, die solche Klischees im Kopf haben?). Zum Ausgleich sympathisch jedenfalls: stichelnde Gags mit brutaler Grenzpolizeischikane gegen Jointbesitzer und illegalisierte Einreisende. Auch nicht schlecht, weil lehrreich: der Terminus getting earfucked.

Alphabet

(AT / D 2013, Regie: Erwin Wagenhofer)

Wir Tiefbegabten
von Andreas Thomas

Wer sich die Schule ansieht, sieht sich auch die Gesellschaft an, und wer die Schule kritisiert, kritisiert gleich die Gesellschaft mit. In Erwin Wagenhofers („We Feed the World“, „Let’s make …

Wer sich die Schule ansieht, sieht sich auch die Gesellschaft an, und wer die Schule kritisiert, kritisiert gleich die Gesellschaft mit. In Erwin Wagenhofers („We Feed the World“, „Let’s make Money“) neuem Dokumentarfilm „Alphabet” aber wird nicht nur kritisiert, wie den Menschen eine auf Konkurrenz und Leistung hin getrimmte Pädagogik krank und unglücklich machen kann, es wird auch ein pädagogisches Gegenmodell entworfen, welches A.S. Neill, der Begründer der Summerhill-Schule und der 'Antiautoritären Erziehung', sicherlich gerne mitunterschrieben hätte. Das Interessante dabei: manche der Befürworter einer neuen und freien, nennen wir sie: „Nicht-Schule“, die in diesem Film zu Wort kommen, stammen aus eher pädagogikfernen Bereichen, wie z.B. der Top-Manager Thomas Sattelberger, welcher nach einer erfolgreichen Karriere bei Lufthansa oder Telekom sich gegen eine systematische pädagogische „Verklonung“ des Menschen ausspricht.

Besonders signifikant für diese hier kritisierten „Zurichtungen“ sind Entwicklungen ausgerechnet in der Volksrepublik China, in der sich das Bildungssystem nach der Zuwendung zur Marktwirtschaft wohl radikaler in ein Leistungs- und Konkurrenzprinzip gewandelt hat als irgendwo sonst in der Welt. Bei den weltweiten PISA-Studien rangieren die Bildungsstandards der Kinder von China ganz oben, was de facto bedeutet, dass chinesische Kinder von klein auf mit Wissen vollgestopft werden, dass Prüfungen zum Kinderalltag gehören, dass Kinder sich nicht mehr ausruhen dürfen, dass Kinder auf ihre Eltern neidisch sind, weil die wenigstens noch ein Wochenende haben.

Seit Jahren ist Suizid die häufigste Todesursache bei Chinas Jugendlichen, merkt Professor Yang Dongping besorgt an, Leiter der staatlichen Organisation „Bildung des 21. Jahrhunderts“, und er beschreibt eine radikale Veränderung von einer Schule, in der das gemeinsame Lernen im Mittelpunkt stand, hin zu einer Schule, in der es nur noch darum geht, besser als die anderen zu sein und schneller vorgefertigte Inhalte unhinterfragt zu übernehmen, um schnell Karriere machen zu können.

Man muss bereit sein, Freizeit, Familie, Privatleben für den Beruf, die Karriere, sprich: den Markt, zu opfern. Diese Terminologie von Managerschulen, so Wagenhofer, erinnert nicht zufällig an frühindustrielle bzw. preußisch militaristische Zeiten, wenn propagiert (und praktiziert) wird, dass „für den Unternehmenserfolg alle Mittel erlaubt“ sind und von „Angriff und feindlichen Übernahmen“ gesprochen und gedacht wird. Es geht um Angsteinflößung zum Zweck der Anpassung.

Wenn man dem Film „Alphabet“ Glauben schenken mag, dann steht der Welt ein Paradigmenwechsel bevor. 'Angst', darin sind sich die Befürworter der hier propagierten alternativen Pädagogik einig, ist ein schlechter Pädagoge, und statt Angst müsse 'Liebe' die Basis des Lernens bilden. Liebe und Vertrauen in das Kind, das ja von Natur aus neugierig sei, das alles lernen könne, wenn es nur von sich aus wolle. Einen Menschen zu „bilden“ sei unmöglich, und schon das „Alphabet“-Filmplakat, das (ein Baby unter Wasser greift nach der Weltkugel) offenbar vom Nirvana-„Nevermind“-Cover inspiriert ist, verkündet: „98 % aller Kinder kommen hochbegabt zur Welt, nach der Schule sind es nur noch 2 %.“ (Dasselbe höre ich ständig von meiner Yoga-Therapeutin über mich). Tanzen, Musizieren und Malen, darin scheinen sich alle das Worthabenden einig zu sein, ist das Essentielle, was zu praktizieren sei, der Rest käme von selbst (auch hierin stimmen alle meine versammelten Therapeutinnen überein).

Aber, so ließe sich ein Einwand formulieren, was wäre, wenn alle nur das tun würden, was sie glücklich macht? Dann wäre doch kein Mensch mehr form-oder manipulierbar? Wie stellen sich Filmemacher Wagenhofer und seine Gesinnungsgenossen Gerald Hüther, Thomas Sattelberger, Sir Ken Robinson, Yang Dongping oder Arno Stern denn dann die Zukunft des Kapitalismus vor? Gar nicht? Aber wäre das nicht traurig: eine Welt ganz ohne Angst und Armut und Unterdrückung und Ausbeutung? Ich meine, ein bisschen Thrill muss doch schon bleiben?

Sicherlich merkt der Leser, dass hier Humor obwaltet, aber mal im Ernst, welches Wolkenkuckucksheim schwebt euch eigentlich vor? Man kann ja schon froh sein, wenn irgendwann nach der Bundestagswahl ein Mindestlohn von 10 Euro durchgesetzt würde. – Nichtsdestotrotz, Genossen und Andersdenkende, spricht „Alphabet“ die Wahrheit und er verdient das Angesehenwerden, ebenso wie die Schule und die Gesellschaft, und wie die dann wiederum Kritik verdienen! Aber volle Ölle. Danke für Aufmerksamkeit.

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The Bling Ring

(USA 2013, Regie: Sofia Coppola)

So gut wie kein Sex
von Wolfgang Nierlin

Sie sind jung und schön und konsumgeil. Sie kommen aus wohlhabenden Elternhäusern, besuchen angesagte Promi-Partys und träumen davon, berühmt zu werden. „Ich möchte Teil vom Lifestyle sein“, lautet ein Satz, …

Sie sind jung und schön und konsumgeil. Sie kommen aus wohlhabenden Elternhäusern, besuchen angesagte Promi-Partys und träumen davon, berühmt zu werden. „Ich möchte Teil vom Lifestyle sein“, lautet ein Satz, der diese popkulturelle Sehnsucht beschreibt. Andy Warhol könnte sein Pate sein. Wenn es allerdings um den Narzissmus der überwiegend weiblichen Figuren, ihren ausufernden Markenfetischismus und ihre von Drogen benebelte Vergnügungssucht geht, fühlt man sich eher an das Personal aus den Romanen von Bret Easton Ellis erinnert; oder auch an die in totaler Erschöpfung mündenden Exzesse einer auf Spaß fixierten Jungend in Harmony Korines Film „Spring Breakers“. Nur gibt es in Sofia Coppolas neuem Film „The Bling Ring“ so gut wie keinen Sex. Ihre Heldinnen und Helden zelebrieren das Äußerliche und huldigen den Oberflächenreizen als wären sie schon unberührbare Stars aus einer irgendwie jenseitigen, aseptischen Sphäre. Sein und Schein sind in ihrem Leben identisch und definieren sich über das Haben.

Das Streben nach höheren Weihen und einem exquisiten Lebensstil führt die hedonistische Clique um Marc (Israel Broussard) und Rebecca (Katie Chang) fast unweigerlich zu Beutezügen in den Häusern und Luxusappartements der von ihnen angehimmelten Idole. So gehören etwa Paris Hilton, Lindsay Lohan, Orlando Bloom und Megan Fox zu den Beklauten, die sich bezeichnenderweise offensichtlich nicht einmal die Mühe machen, die Türen ihrer Anwesen angemessen zu verschließen. Der schrille (je nach Lesart auch kulturkritische) Alarm zu diesen nach wahren Ereignissen inszenierten Einbrüchen wird dementsprechend nicht von einer Sicherheitsanlage ausgelöst, sondern gleich zu Beginn über die Noise-Musik der Band Sleigh Bells vermittelt. Darauf folgt die doppeldeutige Aufforderung „Lasst uns shoppen!“ Geradezu ekstatisch greifen die kalifornischen Kids nach Schmuck und Uhren, Handtaschen, Kleidern und Bargeld, wobei ihre Euphorie nur noch Worthülsen eines ungläubigen Staunens produziert: „Cool“, „geil“, „krass“, „Hammer“ oder auch „Oh, mein Gott!“ Die von Luxusartikeln und Konsumrausch geweckte Erotik hat den realen Sex abgelöst.

Noch bei ihrer Festnahme zeigen die Jugendlichen, die zuvor mit ihren Taten auf Partys und im Internet prahlen, wenig Unrechtsbewusstsein. Vielmehr wähnen sie sich vor den TV-Kameras als Stars mit Sendungsbewusstsein, die die „kranke Faszination Amerikas“ verkörpern. Sofia Coppola blickt darauf fast neutral und verdichtet dabei die redundante Handlung in einem permanenten Wechsel aus Beutezug und Party, Entzückung und Rausch. Ihr Film erzählt keine Entwicklung, sondern bildet (mitunter leicht ironisiert) Zustände und Äußerungen eines oberflächlichen Lebensstils ab, die immer wieder von Interviews einer „Vanity Fair“-Journalistin unterbrochen werden. Während diese die Anbindung an den realen Fall dokumentieren, vermittelt Sofia Coppola in schwebenden Zeitlupen, delirierenden Montagen und exzessiven Musikeinsätzen das Lebensgefühl einer anderen, fremden Jugend, die vom modernen Medienkonsum geprägt, ja infiziert ist. Ihr Film „The Bling Ring“ reiht sich so nahtlos ein in ein Werk, das um Einsamkeit, existentielle Leere und Oberflächlichkeit kreist und gerade durch seine Modernität sowie seine inhaltliche und ästhetische Geschlossenheit Coppola als eine der interessantesten und wichtigsten zeitgenössischen Filmemacherinnen ausweist.

Der Kongress

(USA 2013, Regie: Ari Folman)

Glückszeug
von Dietrich Kuhlbrodt

In der ersten Stunde des Zweistundenfilms geht es live um Vertragsverhandlungen zwischen Filmproduktion (Miramount) und Serienstar Robin Wright (Robin Wright). Die Gewinne der Firma drohen einzubrechen. Der Star gerät auf …

In der ersten Stunde des Zweistundenfilms geht es live um Vertragsverhandlungen zwischen Filmproduktion (Miramount) und Serienstar Robin Wright (Robin Wright). Die Gewinne der Firma drohen einzubrechen. Der Star gerät auf die falsche Seite der 40. Was tun? Sie zu Tode liften? Nä. Besser sie, wo es grade noch geht, scannen und dann für die nächsten zwanzig Jahre mit ihrem digitalen Ebenbild den Serienmarkt beherrschen. 'Forever Young' auf der Tonspur. Das ist es! Harvey Keitel tritt auf und hält voll empathisch einen sehr langen Monolog. Dann verschwindet er, ungescannt, für immer aus dem Film.

Harvey ist weg. Aber Robins kleiner Sohn bleibt. Und damit ein Problem. Am Flughafen lässt er direkt vor den landenden Passagiermaschinen einen roten Drachen steigen. Erst wenn der Flieger zerschellt, wird er von Blind- und Taubheit gerettet – meint er. Er braucht die Mutter, und dank Miramount hat sie jetzt Zeit. Wird sie den angehenden Terroristen von seinem Vorhaben abbringen? Wie lebt es sich überhaupt privat mit der öffentlichen Digitalversion?
Wird es spannend? Nein. Schnitt. Zwanzig Jahre später: Robin Wright, 60, wird zum digitalen Kongress geladen. Warum fährt sie hin? Vertragsverlängerung? Egal. Grenzkontrolle zum immerjungen Reich, und damit beginnt die zweite, die Animationsstunde des Films. 60 Minuten Schick im Stil des Yellow Submarine' der Beatles. Jetzt oberirdisch. Pinkfarbener Himmel, hundertstöckige Hochhäuser, botanisch wuchernd und treibend. Ey, Mann, ist das bunt. Psychedelisch. Jedenfalls so, dass dir die Augen zufallen und du gern mal abschaltest. Was du beim Nickerchen verpasst hast, kannst du ja in der nächsten Vorstellung nachholen. Ganz im Sinn von Miramount. Oder aber, du bleibst in der zweiten Stunde hellwach, weil dich interessiert, wie das geht, wenn in dieser Koproduktion acht Animationsstudios zweieinhalb Jahre lang parallel gearbeitet haben. Israel, Deutschland, Polen, Luxemburg, Frankreich, Belgien. Unsere ARD-Degeto ist dabei. Erfolg: Immerhin ist das Design einheitlich.

Viele werden sich jedoch was anderes fragen, nämlich wie weit 'The Congress' auf Stanislaw Lems Roman Der futurologische Kongress. Aus Ijon Tichys Erinnerungen basiert – was der Film behauptet. Die Frage ist leicht zu beantworten, und zwar mit: Na ja, arg reduziert. Gereinigt ist der Film von Lems Erzählfreude, seinem Witz und seiner Bissigkeit.

Futurologisch bleiben die Angst und Sorge vor einer Zukunft, in der eine diktatorische Oligarchie die Mentalität von Menschen beherrscht und manipuliert. Geschrieben vor bald 50 Jahren in Polen, waren Lems Erzählungen – Seemannsgarn im besten Sinne – zu einem Roman gewachsen und zu einer frechen Dystopie der realen kommunistischen Herrschaft geworden. Kein schlechter Gedanke, dass Regisseur und Autor Ari Folman mit seinem Film jetzt – Kurswechsel! – auf die Diktatur der Fun- und Eventindustrie abzielt und auf die Verquickung mit dem Drogenmarkt und -wahn (beginnend mit erlaubten Antidepressiva und endend im Glück der verbotenen Substanzen). Folman macht sich Sorgen um den Berufsstand der Filmschauspieler. Zunächst werden sie ins digitale Bild überführt und sind ab diesem Zeitpunkt entbehrlich. Sodann übernimmt die Pharmaindustrie den Markt und versorgt die Abnehmer mit Glückszeug, das jedem die ureigenste Produktion von Bildern – je nachdem auch von Schreckensbildern – ermöglicht. Ganz die individuelle Rezeption von Stoff.
Was wird dann aber aus Robin Wright? Sorgen über Sorgen. Passiv und ratlos streicht sie durch die psychedelische Welt und erblickt die Phantasiegestalten, die sich ein jeder von und für sich macht. Für immer, hallo, Marlene Dietrich sein, da ist sie schon, oder John Wayne, Che Guevara, Pablo Picasso, Elizabeth Taylor, Michael Jackson, Clint Eastwood, Tom Cruise – Wunschidentitäten im Angebot. Zugreifen! Jedenfalls stellen sich Hollywoods Filmindustrielle das offenbar so vor. Sorry, ich meine natürlich die vielen Köche dieses Produktionsbreis.

Aber das, was ich schreibe, ist Interpretation. Und die überlasse ich gern den Usern des Films. Warnen möchte ich aber aus eigener Erfahrung jene, die von Folmans Waltz with Bashir' (2008) auf die Animation von 'The Congress' schließen. Diese Erwartungen werden enttäuscht. In der Bildumsetzung von 'Waltz with Bashir' ist noch die präzise Handschrift des Autors zu spüren. In 'The Congress' ist allenfalls produktionstechnische Studiokooperation zu bestaunen, leicht angestaubt allerdings. Nicht, dass Animation unbedingt das jeweils neueste Design sein müsste. Sie könnte auch richtig schön retro sein. Jahrzehntealtes Anime beispielsweise. Ja, ein Märchen, ein gaaanz altes, das die Futurologie durch entlegenste Historie ersetzt. Ach, wie war es doch vordem, mit dem, ja, Jungbrunnen so bequem … Wir hätten dann den großen Mythos statt die Sorgen der Schauspielergewerkschaft.

Neinneinnein, Folmans freudloser Film ist nicht das letzte Wort zum Futurologischen Kongress. Ich bin jedenfalls neugierig geworden, die deutsche Verfilmung von Ijon Tichys 'Erinnerungen' zu gucken. Phantastisch und trashaffin dazu.

Erstes Jahrzehnt dieses Jahrhunderts: Die Lem-begeisterten Studenten der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin Randa Chahoud, Dennis Jacobsen und Oliver Jahn entwickeln einen frechen und sofort preisgekrönten Kurzfilm, 'Aus den Sterntagebüchern des Ijon Tichy', gefolgt von einer 14teiligen Serie im ZDF. Gedreht wurde in Jahns damaligem Berliner Altbauwohnzimmer unter futurologischem Einsatz von skurrilen Haushaltsgeräten aus den achtziger und neunziger Jahren. Heute möchte Jahn den Futurologischen Kongress neu verfilmen, auf Spielfilmlänge. Im ZDF könnte das Augenzwinkern eines leibhaftigen Autors die Antwort auf Folmans 'Congress'-Produkt geben. Obschon ARD-Degeto aus eigenem Interesse für quotenträchtige Primetime sorgen wird. Folman läuft in seinem Lem-Film Gefahr, auf die Schiene zu geraten, die er als Negativutopie anzuprangern gedenkt.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 9/2013

White House Down

(USA 2013, Regie: Roland Emmerich)

Roland der Barbar
von Marit Hofmann

Prism? Die Amerikaner spähen uns aus? Dass ich nicht lache. Die deutsche Geheimwaffe arbeitet in den USA unermüdlich an der Zermürbung unseres liebsten Feindes. Ab 5. September ist auch an …

Prism? Die Amerikaner spähen uns aus? Dass ich nicht lache. Die deutsche Geheimwaffe arbeitet in den USA unermüdlich an der Zermürbung unseres liebsten Feindes. Ab 5. September ist auch an der Heimatfront zu sehen, wie Roland Emmerich genüsslich die kühnsten Terrorfantasien auf der Kinoleinwand umsetzt. Nach 9/11 ist er in sich gegangen, nur da war ja nichts, weshalb der nach eigenen Angaben 'subversive' Regisseur beschloss, dass er sich die Bilder von einstürzenden Gebäuden 'von den Terroristen nicht wegnehmen lassen' darf. Nachdem 'unser Mann in Hollywood' bereits in Independence Day' das Weiße Haus in die Luft sprengen lassen hat, explodiert in 'White House Down' – nein, Überraschung, nicht das Weiße Haus, das wird nur bis zum Erbrechen demoliert – das Kapitol. Ein Ablenkungsmanöver der rechtsradikalen Terroristen und ihrer rüstungsindustriellen Verbündeten in der Regierung, die sich derweil im Amtssitz des Präsidenten ins Computersystem einloggen, um mal eben den Atomkrieg auszulösen – oder nur eine Ablenkung von Emmerichs einschlägiger Einfallsarmut?

Ein weißer Muskelprotz (Wäscheständer Channing Tatum) rettet den schwarzen Weicheipräsidenten (Jamie Foxx muss hier für seine Titelrolle in Django Unchained' bitter büßen), der auf weltweite Friedensverträge setzt, weil er glaubt, dass man einen Menschen nur füttern muss, um ihm seine Neigung zur Gewalt auszutreiben (Herrgott, kann dann endlich mal jemand dem Emmerich etwas zu essen geben?), respektive, dass 'die Feder mächtiger' ist 'als das Schwert' – was der Regieveteran zwei Stunden lang aufs unbeeindruckendste widerlegt.

Obama persönlich habe ihm, brüstet sich Emmerich im Filmstarts-Interview, bei einem Wohltätigkeitsdinner gesagt: 'Du hast meine Tochter zu Tode erschreckt.' In Wirklichkeit verfolgt der Kleine-Mädchen-Schreck, der die Figur des ängstlichen Girlies auch gern in seine Lärmbelästigungen ohne Knalleffekt einbaut, eine ganz andere Strategie. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Roland der Barbar sein Ziel erreicht und die Amis zu Tode gelangweilt hat.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 9/2013

Hans Dampf

(D 2013, Regie: Jukka Schmidt, Christian Mrasek)

Drogen nehmen und rumfahren
von Ulrich Kriest

Die Utopie vom bedingungslosen Grundeinkommen und ein altes Foto von der Amalfi-Küste – mehr braucht es nicht, um dieses „Roadmoviemärchen“ (Selbstauskunft) aus der Kölner Independent-Szene in Bewegung zu setzen! „Man …

Die Utopie vom bedingungslosen Grundeinkommen und ein altes Foto von der Amalfi-Küste – mehr braucht es nicht, um dieses „Roadmoviemärchen“ (Selbstauskunft) aus der Kölner Independent-Szene in Bewegung zu setzen! „Man hat mir Geld gegeben, damit ich nicht mehr arbeite. Das Geld habe ich dann genommen und versprochen, dass ich nicht mehr arbeite.“ Das erzählt Hans Dampf, der in seinem früheren Leben vielleicht einmal Koch bei der Handelsmarine gewesen sein mag und den es jetzt mit einem Jute-Beutel voller Kies, also: Moos gen Süden zieht. Dorthin, wo die Zitronen blühen.

Grobe Richtung, denn Hans reist improvisierend, gibt sich Eindrücken hin: der Weg ist das Ziel. Dazu passt, dass er den Tauschhandel bevorzugt – und damit in der Regel gut fährt, auch wenn es zunächst anders aussieht. Seine erste Bekanntschaft tauscht er gleich mit seinem besten Freund, sein erstes Fahrzeug – einen alten viereckigen VW-Bus – gegen ein landesübliches Motordreirad, später folgen dann Schlauchboot und Klappfahrrad, bevor man, jetzt ein Paar, sich zu Fuß auf die Socken macht. Am Rande dieser Bildungsreise, die natürlich auf dem anti-kapitalistischen Märchen vom „Hans im Glück“ fußt, gibt es die üblichen Begegnungen mit Menschen, von denen Hans etwas lernt oder die – weitaus eher – von Hans etwas lernen.

Da ist zum Beispiel der windige Django, dessen Wahlspruch lautet: „Wenn jeder nur an sich denkt, ist schon an alle gedacht!“ Kein Wunder, dass ihn der Gedanke an das viele Geld, das Hans mit sich trägt, umtreibt. Man rangelt mitunter. „So etwas habe ich noch nicht erlebt – und das ist jetzt als Kompliment gemeint!“ Der Film lässt sich zu den Klängen eines exquisit kuratierten Soundtracks – von The Kings of Dubrock bis Adriano Celentano, von Keil Stouncil bis David T. Walker, von Nino Ferrer bis Monsieur Leroc, von Sophie Loup bis Die Zukunft – im schweizerisch-italienischen Grenzgebiet treiben und schwärmt von der bukolischen Landschaft, den verlassenen Bergdörfern und den Gumpen des Valle Versasca.

Schließlich begegnen Hans und Django der geheimnisvollen Fee, die erst so tut, als sei sie Italienerin und dann so tut, als sei sie Hausbesitzerin. Hans kocht für sie. Er kennt sich mit Kräutern wie dem Buschbasilikum aus. Indes: Hausbesitz taugt nicht für ein Roadmovie. Und während sich Django – kaum überraschend, er ist noch nicht so weit wie Hans, noch nicht bereit für das Glück – für das Geld entscheidet, fällt Hans in Liebe und findet sogar noch zu seinem Sehnsuchtsort, wenngleich man dafür das Foto vielleicht auf den Kopf stellen oder zur Seite kippen muss.

„Hans Dampf“, der neue Film von Christian Mrasek („Die Quereinsteigerinnen“) und Jukka Schmidt, ist ein echter Glücksfall von philosophischem Sommerfilm, der zudem auch noch an den Traum vom selbstbestimmten Leben rührt. Der Zufall wendet hier stets alles zum Guten, wenn man – wie Hans – lernt, mal nicht so zielstrebig zu sein. Der Film jedenfalls tut es ihm rückhaltlos gleich. Wie heißt es im Presseheft so schön? „Beschränkte Mittel sind der Kreativität eben immer zuträglich und so wurde mal wieder vieles besser als geplant.“ Stimmt genau! Einen so sanften Parzival wie Fabian Backhans hat das Kino lange nicht mehr gesehen, hinzu gesellen sich zuverlässige Kräfte wie Mario Mentrup und Nina Schwabe, nicht zu vergessen die Cameos der Original Kings of Dub Rock an den Gestaden des Lago Mergozzo. Man sollte „Hans Dampf“ nicht verpassen, wenn er in der Stadt ist. Und wenn er in der Stadt ist, sollte man möglichst tauschen: zum Beispiel eine Handvoll Euros gegen eine Eintrittskarte. Der nächste Urlaub im Tessin ist längst gebucht.

Singapore Sling

(GR 1990, Regie: Nikos Nikolaidis)

Die Liebe zu einer Leiche
von Michael Schleeh

Auf der Suche nach seiner Geliebten mit dem Namen Laura gerät ein Detektiv eines Nachts zu einer mysteriösen Villa und dort in die Fänge zweier Frauen, die halbnackt bei strömendem …

Auf der Suche nach seiner Geliebten mit dem Namen Laura gerät ein Detektiv eines Nachts zu einer mysteriösen Villa und dort in die Fänge zweier Frauen, die halbnackt bei strömendem Regen im Garten eine Leiche begraben. Sie überwältigen ihn, und in einer Eruption der sexuellen Obsession und barocken Dekadenz steigert sich das Trio in rücksichtslosen Rollenspielen derart in Zustände des Irrsinns und der Ekstase hinein, dass das Morden des Anderen als höchste Form der Lustgewinns wie eine plausible Notwendigkeit erscheint.

Dabei ist 'Singapore Sling', auch angesichts des Rufes, der ihm vorauseilt, alles andere als ein trashiges B-Movie, das in einem Drive-In-Kino oder einer Mitternachtsschiene eines Bahnhofkinos unter Ausschluss einer breiteren Öffentlichkeit verheizt werden sollte. Vielmehr ist er trotz seines äußerst geringen Budgets der beeindruckende Kunst-Film einer kreativen Potenz, eines originären und radikalen Filmemachers. Eines Mannes, der besessen war vom Kino, und der diese Besessenheit auch in seine Filme einfließen ließ. Der sein Publikum immer wieder herausgefordert und vor den Kopf gestoßen hatte. Der seinen Schauspielern so viel abverlangte, dass er seine Rollen nicht besetzt bekam. Einer, der die erotischste Szene neben die ekligste stellt, der stilistisch durch die Genres springt, der mit einem Film Noir-Zitat beginnt und in erotisch explosives Arthousekino abdriftet, das an der Grenze zum Porno schrammt. Der keine Angst hat, Körper zu inszenieren, wenn einmal tatsächlich alle Hemmungen fallen. Am eindrücklichsten und bekanntesten dürfte die Selbstbefriedigungsszene mit einer Kiwi (!) sein, die sich die Protagonistin in den Schoß einmassiert und zerdrückt.

Und so ist 'Singapore Sling' – übrigens eigentlich der Name eines Longdrinks, der dann dem Detektiven von Mutter und Tochter verliehen wird – ein visuell herausragender Film, der auch vor allem formal, und dies nicht nur auf einer verquasten Metaebene, völlig überzeugen kann. Der seine Geschichte über Bilder erzählt und nicht über Handlung, mit Ellipsen Finten und Spuren legt, der seine Figuren in drei verschiedenen Sprachen sprechen lässt wie einen griechischen Chor und in Monologen das Publikum direkt anspricht. Der die vierte Wand einreißt ohne künstlich zu wirken und schönerweise nie an Zugkraft verliert. Der die Zügel nicht aus der Hand lässt und sich so nie in einer experimentellen Beliebigkeit verliert. Vielmehr vermittelt Nikolaidis‘ Film den Eindruck des vollkommenen Durchgeformtseins. 'Singapore Sling' ist schlicht großartiges Kino: herausfordernd, kraftvoll, verführerisch, humorvoll, bizarr, atemberaubend.

Die Veröffentlichung beim Independentlabel Bildstörung ist von gewohnt hochwertiger Qualität: Die Doppel-DVD kommt in der Pappschuberverpackung mit der üblichen Rahmung der Drop Out-Serie (der FSK-Flatschen ist wieder auf einem zusätzlichen Umschlag aufgedruckt, der entsorgt werden kann). Der Einleger der Amaray ist eine Bildfolge aus verschiedenen Film-Stills und unterscheidet sich vom etwas reißerisch-grobschlächtigen Cover des Schubers (was bei anderen Labels keine Selbstverständlichkeit ist). DVD 1: Das Bild des Featurefilms ist sehr gut: scharf, kontraststark, mit guten Schwarzwerten. Untertitel können auf deutsch oder englisch hinzugewählt werden. DVD 2: Bonusmaterial: neben einem Interview mit Nikolaidis selbst befindet sich eine etwa 75 minütige Dokumentation über den Regisseur auf der DVD, in der verschiedene Lebensgefährten und Schauspieler zu Wort kommen und das Leben und Werk des Meisters erörtert wird. Filmausschnitte werden zur Veranschaulichung herangezogen. Die Doku mit dem etwas reißerischen Titel „Directing Hell“ macht enorme Lust auf das Gesamtwerk Nikolaidis‘, sie arbeitet sehr überzeugend die Besonderheiten seiner Filme heraus und beleuchtet auch Nikolaidis als Exzentriker. Abgerundet wird die DVD von mehreren Werbespots, die den Regisseur auch als kommerziellen Filmemacher vorstellen. Filme, mit denen er seinen Lebensunterhalt finanzierte und die dennoch seinen Stil erkennen lassen. Neben der Doku ist aber das mehrseitige, ausführliche Essay von Splatting Image-Autor Gerd Reda das Herzstück des Bonusmaterials. Sehr kundig und flüssig geschrieben, ordnet er 'Singapore Sling' in Nikolaidis‘ Gesamtwerk ein, spürt der Faszination dieses bizarren, eklektischen Filmes nach und deckt zahlreiche filmhistorische Verweise auf. So werden Kontexte aus dem Film Noir, der Slapstick-Komödie und dem Genre des Horrorfilms in den Fokus gerückt, bevor einige Anekdoten aus dem Leben des Regisseurs das Essay abrunden. Kurzum: eine hervorragende Veröffentlichung, deren Anschaffung hiermit ausdrücklich empfohlen sei.

Room 237

(USA 2012, Regie: Rodney Ascher)

Unmögliche Fenster
von Carsten Happe

Nicht wenige Filme sind beim Verlassen des Kinos längst vergessen, doch es gibt ein paar Exemplare, die wachsen nicht nur mit jedem Sehen, sondern man kann sich in ihnen voll …

Nicht wenige Filme sind beim Verlassen des Kinos längst vergessen, doch es gibt ein paar Exemplare, die wachsen nicht nur mit jedem Sehen, sondern man kann sich in ihnen voll und ganz verlieren – und darüber zu einem komischen Kauz werden, wie die fünf Protagonisten des Dokumentarfilms „Room 237“, die zwar nie im Bild zu sehen sind, deren Theorien sich aber in den Untiefen der Kubrick-Analyse festkrallen und ganz Erstaunliches zu Tage fördern.

Das Zimmer 237 ist die berühmt-berüchtigte No-Go-Area in Stanley Kubricks Stephen-King-Veredelung „The Shining“, nicht nur einer der gewaltigsten Horrorstreifen der Kinogeschichte, sondern bekanntermaßen auch ein Film voller Anspielungen, versteckter Metaebenen und Basis unzähliger Verschwörungstheorien. Also ein wahrer Quell der Freude für postmoderne Popkultur-Nerds mit zu viel Tagesfreizeit, die jedes Standbild einer Einzelanalyse unterziehen und nicht nur schlüssige Bezüge zum Genozid an Amerikas Ureinwohnern, zum Holocaust oder zur gefaketen Mondlandung herstellen, sondern auch aus Logiksprüngen und banalsten Anschlussfehlern die grandiosesten Theorien hervorzaubern. Meister Kubrick macht schließlich keine Fehler, bei diesem Perfektionisten ist alles Bedeutung, Verweis und Sinn.

Und gerade weil die Filmbuffs in „Room 237“ oftmals über das Ziel hinausschießen, macht diese Doku solch einen Spaß, zumal es irgendwann gar nicht mehr um Kubrick und seinen Welttheaterentwurf geht, sondern um eben diese bewundernswerten, aber auch irgendwie traurigen Nerds, die zumindest mit einer gehörigen Portion Selbstironie erkennen, worin sie sich mitunter verrennen. „The Shining“ parallel vorwärts und rückwärts abzuspielen, mag zwar eine hübsche Remix-Idee sein, doch der Erkenntnisgewinn bleibt minimal beziehungsweise wahrscheinlich genau so groß, wie bei jedem anderen Film auch. Aber die Akribie, mit der Karten vom Overlook-Hotel angefertigt werden, die unmögliche Fenster offenbaren – die natürlich auch wieder ihre eigene, besondere Bedeutung haben – zeugt von einer wahren Liebe zum Objekt. Und wer einmal die große Stanley-Kubrick-Ausstellung besucht hat, die vor einigen Jahren durch diverse Museen in Deutschland wanderte, und dort die abertausend Notizzettel gesehen hat, die Kubrick für sein gescheitertes „Napoleon“-Projekt anfertigte, kann sich vorstellen, dass der enigmatische Filmemacher unbändig stolz auf „Room 237“ und die Leidenschaft seiner Protagonisten gewesen wäre.

Fliegende Liebende

(SP 2013, Regie: Pedro Almodóvar)

Grenzwertige Flugreisende
von Wolfgang Nierlin

Alles Folgende ist reine Fiktion, lautet verkürzt der erste Satz in Pedro Almodóvars neuem Film „Fliegende Liebende“ („Los amantes pasajeros“), bevor der fantasievoll gezeichnete Vorspann eine ironisch-verspielte Bekräftigung dazu liefert. …

Alles Folgende ist reine Fiktion, lautet verkürzt der erste Satz in Pedro Almodóvars neuem Film „Fliegende Liebende“ („Los amantes pasajeros“), bevor der fantasievoll gezeichnete Vorspann eine ironisch-verspielte Bekräftigung dazu liefert. Schrill und bunt, schräg und ein wenig verdreht, vor allem aber erotisch und queer ist der Mikrokosmos, den der spanische Meisterregisseur in seiner Komödie entfaltet. Ein Flugzeug der Fluggesellschaft „Península“ dient ihm dabei als Theaterbühne, auf der ein illustres Figurenensemble lustvoll und provozierend tabulos agiert. Schließlich geht es in „Fliegende Liebende“ vor allem darum, unter den vertrauenserweckenden Wirkungen von Alkohol und Drogen unbequeme Wahrheiten auszusprechen.

Deren gravierende erste lautet, kaum ist der Airbus 340 in der Luft und die Funktion der Schwimmwesten erklärt: Ein Fahrwerk funktioniert nicht. Also kreist die Maschine, die eigentlich nach Mexiko fliegen soll, über Toledo, während ihre ratlosen Piloten auf eine Genehmigung zur Notlandung warten. Um Panik unter den Passagieren zu vermeiden, wird die Touristenklasse kurzerhand mit Beruhigungsmitteln in Schlaf versetzt. Nur in der Business-Class regen sich Sorgen, die bald von Bekenntnissen und Exzessen abgelöst werden: Eine Hellseherin, die die tödliche Gefahr förmlich riecht, will ihre Jungfräulichkeit verlieren; ein betrügerischer Geschäftsmann und ein untreuer Frauenheld sind auf der Flucht, während ein junges Ehepaar in die Flitterwochen fliegt; und schließlich verheddern sich ein Bolaño lesender Auftragskiller und sein charmantes Opfer auch noch im gemeinsamen Liebesspiel.

Befeuert werden diese nicht zuletzt sexuellen Eskapaden von einem stimulierenden Cocktail, der wiederum von einem schwulen Flugbegleiter-Trio gemixt und verabreicht wird. Mit reichlich Alkohol und köstlichen Travestien, aus denen eine Tanzeinlage zum Song „I’m so excited“ von den Pointer Sisters herausragt, beflügeln die drei förmlich diese grenzwertige Flugreise, der das Ziel abhanden gekommen ist. Bei Almodóvar sind sie die ins Tuntige überzeichneten Zeremonienmeister, die mit ihrer Kunst den Flug in der Schwebe halten, die gebeutelten Passagiere mit ihren Lebensdramen versöhnen und schließlich für eine sanfte Bruchlandung sorgen.

World War Z

(USA 2013, Regie: Marc Forster)

Ein Quantum Mensch
von Drehli Robnik

Der Weg in den 'World War Z', den Weltkrieg der schrumpfenden Menschheit gegen wachsende Unmengen an Zombies, führt nicht zuletzt vom chopper zum chopping (und inkludiert im Vorbeigehen bzw. -laufen …

Der Weg in den 'World War Z', den Weltkrieg der schrumpfenden Menschheit gegen wachsende Unmengen an Zombies, führt nicht zuletzt vom chopper zum chopping (und inkludiert im Vorbeigehen bzw. -laufen auch das Shopping von Nahrung und Medikamenten im schon halb leergeplünderten Supermarkt im katastrophenfilmhaften ersten Handlungsdrittel): Der Weg führt von Helikoptern und anderen Militärflugzeugen, die alle nur zeitweise Schutz bieten, zu antiquiertem Gerät wie etwa einer Axt im Einsatz gegen bissige Ex-Menschen oder gegen die infizierte Hand einer Heldin.

Zombies breiten sich überallhin aus: im Fernsehen, in der Kinderliteratur, in Onlinebildern kollektiver Späße, nun (recht spät) auch im Kino auf Blockbusterniveau. Da steckt viel Geld, Produktionszeit und -streit drin; das Ende des Films wurde, wie ausführlich in diversen Medien kolportiert, zum Teil neu gedreht ('But this is not the end… Our war is just beginning!'), Anblicke fleischlicher Gewalt sind hier nur angedeutet bzw. per Schnitt ins Off abgedrängt, um in den USA das Rating 'PG-13 – Ab 13 in Begleitung' zu bekommen. Allerdings: Der Häckselschnitt frenetischer Actionszenen und das Entfalten der Symptomatologie, eben: der Andeutungen, der Epidemie in Alltagssituationen zumal des Massenverkehrs, das gelingt dem Hollywood-Schweizer Marc Forster recht gut, nachdem er mit dem schnellen Schneiden von James Bond-Action in 'Ein Quantum Trost' (2008) eher Verwirrung hinterlassen hat. Das Sound Design ist effektiv, sowohl in ominösen Hall-Tönen als auch trockenem Aufprallkrachen oder den kreischenden Stimmen der Zombies, und das 3D-Bild fällt nicht weiter unangenehm auf.

Ein Actionfilm also, mit einem Bond-artigen globalen Stationenlauf (plus ein wenig Rätselrallye samt einer Belehrungsinformatik in Dialogen und Rückblenden, die von einem erhöhten Gehirntotenanteil auch in den Kernzielgruppen dieser Großproduktion auszugehen scheint): Es geht von New York und Newark, über eine US-Flugzeugträgerflotte auf offenem Meer als Nothauptquartier und Evakuierungszwischenlager und eine US-Basis in Südkorea bis schlussendlich Wales – alles auf gehetzter Suche nach Antworten hinsichtlich Auslöser und Abhilfen zu dieser Epidemie, die von Anfang an (Independence Day' lässt grüßen) als Krieg behandelt wird.

Der Trumpf, der im Weltkrieg die Lage wenden könnte, besteht allerdings in Verhaltensweisen zunehmender Bremsung und Erstarrung zwischen den Glasscheiben und Monitoren eines Labors der WHO bis hin zum – mehr sei hier nicht angedeutet – rettenden Quasi-Suizid. Ein bisweilen furioser Zombie-Actionfilm kehrt somit ein ins ostentativ Inaktive, in ein 'Death protects you' (ein Merksatz im Dialog, quasi in Erwiderung auf den eingangs einmal formulierten 'Movement is life'): Darin liegt eine gewisse Ironie, ein möglicherweise ethisches Moment – aber auch die Erfüllung eines Vermächtnisses, bedenkt man, dass (ungeachtet der leidigen Frage 'Rennen oder nicht?') die wirklich krassen Zombiefilme, etwa die von Lucio Fulci aus den späten 1970ern, stets in höhepunktartige Szenen einer nachgerade obszönen Totalerstarrung aller, auch der menschlichen, Körper mündeten. Außerdem gehört das Spiel mit einer Nach-Lebendigkeit und kultivierten Passivität von Protagonisten mittlerweile zu den Standards des konzeptueller angelegten Actionkinos (eine Art kategorische Immer-schon-Zombifiziertheit im Sinn des Befallen- oder Programmiert-Seins, für die Filmtheoretiker Thomas Elsaesser das Label post-mortem-Kino geprägt hat).

Schließlich ließe sich die nach und nach 'bejahte' und ins Autotherapeutische gewendete Demontiertheit des Helden hier als eine Art Kompensation verstehen: Wenn denn schon das breit gefächerte, auf diverse UNO-Standorte verteilte Figurenensemble der Romanvorlage von Max Brooks in der Verfilmung auf einen Helden verdichtet wurde, dann soll dieser eine wenigstens nur ein halber sein. Brad Bitt spielt ihn, dem einige Missgeschicke mit dem Uralt-Mobiltelefon oder einem Eisentrumm, das ihn gänzlich durchbohrt, unterlaufen, umgeben von zweitrangigen Eben-doch-nicht-Aktionsträgern und scheinsouveränen Figuren, die alle ihre kleinen, oft lustigen Momente der Demontage erfahren. Über das durchwegs nicht-weiße 'racializing' dieser Figuren, kulminierend im hexenhaft horriblen, per close-up gemolkenen Anblick einer zombifizierten afrikanischen WHO-Mitarbeiterin, sollten wir uns vielleicht noch mal unterhalten.

Jedenfalls gehört das Bild der Vielen in 'World War Z' ganz den Zombies, die sich in Spasmen winden und vor allem in Körperkaskaden ergießen oder auftürmen. Ein prägnanter und zutiefst phobischer Blick auf das Phänomen und Existenzial 'Masse', inszeniert von einem Regisseur, dessen James Bond sich bisher am meisten unter den von Daniel Craig verkörperten als Subjekt des Ressentiments präsentiert hat (als Rächer der vom Kapital biopolitisch Ausgedörrten, als Versteher einer Rächerin, als Zombie, den nur der Automatismus seines Revanchetriebs am Leben hält). Hm. Das hat einen Nachgeschmack, ebenso wie die lange Sequenz in Jerusalem in der Mitte von 'World War Z'.

Warum, wird gefragt, hält der jüdische Staat dem weltweiten Zombiesturm zunächst Stand? Weil er im Bau von Schutzwällen und Checkpoints versiert ist, sagt ein CIA-Mann und die Szenerie in der israelischen Hauptstadt. Ein dortiger UNO-Beamter führt weiter aus, dass Israel als einziger Staat die ersten verstreuten und wirren Nachrichten über Zombie-ähnliche Krankheitsfälle beherzigt und mit dem Mauerbau begonnen habe – nachdem 'wir' schon mehrmals Gerüchten von der drohenden Vernichtung nicht geglaubt haben: in den 1930ern, vor der Olympiade 1972, vor dem Yom Kippur-Krieg 1973. Aus Prägungen der Vergangenheit, so sei kurz vermerkt, resultiert ein Wissen davon, was zu tun ist, wenn‘s in Grenznähe blutig wird: so etwa auch bei den an der syrisch-israelischen Grenze am Golan stationierten und jüngst fluchtartig abgezischten UNO-Truppen aus Österreich, das sich einst nicht nur an den Massenmorden während des 'World War Y', denen der Staat Israel einen Teil seiner Ratio verdankt, engagiert beteiligt, sondern sich eben auch danach erfolgreich als unzuständig aus potenziell brenzliger Verantwortung vertschüsst hat.

'World War Z' zeigt uns allerdings defintiv keine Blauhelme, sondern IDF-Truppen mit 'robustem Mandat' bei der Verteidigung des eingemauerten und eingegitterten Jerusalem. Wer gerührt ist vom Anblick des Heroismus israelischer Soldat/innen im Überlebenskampf (da lassen Szenen mit Marines Sergeant Vasquez – wer sie kennt … – aus Camerons 'Aliens' grüßen), wird hier ebenso bedient wie jene, die in den monumentalen Mauerpanoramen (halb Griffith-Kino, halb Gameästhetik) ihre Sicht Israels als rassistischer Besatzungsmacht wiederfinden wollen. Keine Zielgruppe wird brüskiert. Alle kriegen was zu sehen, das ihnen zuspricht, und zwar im selben Rahmen. Ein Vexierbild nennt das die Wahrnehmungspsychologie. In der Politik und im Kino sprechen wir eher von einem sog. Blockbuster.

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World War Z

(USA 2013, Regie: Marc Forster)

Seuchenblockbuster
von Louis Vazquez

Wieder einmal überrennen Infizierte die Welt, und diesmal scheut man sich nicht, sie Zombies zu nennen. So ganz bricht die Zivilisation aber noch nicht zusammen: Ein paar US-Regierungsmitglieder und Militärs …

Wieder einmal überrennen Infizierte die Welt, und diesmal scheut man sich nicht, sie Zombies zu nennen. So ganz bricht die Zivilisation aber noch nicht zusammen: Ein paar US-Regierungsmitglieder und Militärs versuchen, von einem Flugzeugträger aus die Weltrettung zu organisieren. Der Ex-UN-Beamte Gerry Lane (Brad Pitt) wird dazu mit einem Angebot konfrontiert, das er nicht ablehnen kann. Er soll sich zusammen mit einem Wissenschaftler und einer militärischen Eskorte in Korea auf die Suche nach dem Ursprung des Virus machen, damit ein Gegenmittel entwickelt werden kann. Im Gegenzug dürfen Lanes Frau Karen (Mireille Enos) und die Kinder weiter auf dem Flugzeugträger bleiben, obwohl der Platz dort begrenzt und eigentlich für Funktionsträger vorgesehen ist. Allen Anderen bleibt nur der gefährliche Gang in die noch gefährlicheren Flüchtlingslager. Beim Einsatz in Korea aber läuft leider nichts nach Plan: Es beginnt eine atemlose Odyssee um den Globus.

„World War Z“ ist die offenbar sehr freie Adaption eines Romans von Max Brooks. Während im Roman verschiedene Erzähler eine globale Perspektive erzeugen, verwerfen Marc Forster und Co-Produzent Brad Pitt dieses Konzept zugunsten einer geradlinigen Geschichte und einer attraktiven Hauptfigur, die im Wettlauf mit der Zeit um die Welt jetten muss. Von den genrebildenden Qualitäten des klassischen Zombiefilms entfernt man sich mit diesem Outbreak-Thriller denkbar weit, schließlich hat man einen Blockbuster im Sinn.

Während die Ensemblestrategie vieler Zombiefilme stets damit rechnen lässt, dass lieb gewonnene Figuren das Zeitliche segnen und Heldsein kaum mehr bedeutet als seine Menschlichkeit zu wahren, soll der Held in „World War Z“ im Auftrag einer eben doch noch vorhandenen Ordnungsmacht für die Wiederherstellung der Zivilisation sorgen. Unter Zeitdruck, wo doch sonst die Uhren längst nicht mehr ticken, wenn es um die trostlose Verwaltung der letzten Tage geht. Auch wenn der ehemalige UN-Angestellte Lane als „Ermittlungsbeamter“ bezeichnet wird, scheint sein Job eher in die Kategorie Superagent oder gar Superheld zu fallen – da überlebt man locker auch mal einen Flugzeugabsturz. So gehört der Ausbruch der Seuche in einem Verkehrsstau in Philadelphia zu den gelungensten Szenen des Films, denn da ist die Perspektive noch relativ alltagsnah.

Natürlich bietet „World War Z“ neben effektreichen Totalen mit Zombiehorden auch klaustrophobische Standardlocations wie ein Hochhaus oder ein Forschungslabor. Die Schnitzeljagd-Dramaturgie lässt aber nie die Befürchtung aufkommen, es könnte sich um einen letzten Zufluchtsort handeln, sondern jagt gleich weiter zum nächsten Schauplatz. Es soll sich ja bloß niemand langweilen. Man tut es auch nicht, zumal Lane bald eine Begleiterin bekommt, mit der man nicht unbedingt gerechnet hat.

Dass die globale Bedrohung für eine Annäherung im Nahen Osten sorgt und dann ausgerechnet ein gemeinsam angestimmtes Friedenslied der Auslöser dafür ist, dass die Mauern Jerusalems überrannt werden, gehört nicht zu den geschmackssichersten Ideen des Drehbuchs. Immerhin entpuppt sich der Verdacht, das Virus könne seinen Ursprung in Israel haben, als falsche Fährte.

Weil „World War Z“ jugendfrei und für alle gemacht ist, muss man sich um Lanes Familie letztlich keine großen Sorgen machen. Dass eine Voiceover des Helden zum Happy End martialisch auf eine Fortsetzung des Kriegs mit allen Kräften einschwört, hat nichts mit den ambivalenten, offenen Enden des Zombiegenres zu tun: Die Androhung einer neuen Franchise ist womöglich das Gruseligste an diesem bis dahin gar nicht schlecht erzählten Actionreißer.

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Frances Ha

(USA / BR 2012, Regie: Noah Baumbach)

Dinge, die wie Fehler aussehen
von Andreas Busche

„Ich bin noch keine richtige Person', sagt Frances in Noah Baumbachs neuem Film „Frances Ha'. Und wie könnte sie auch? Frances hat keinen Job, keine Ambitionen, kein Geld, keine eigene …

„Ich bin noch keine richtige Person', sagt Frances in Noah Baumbachs neuem Film „Frances Ha'. Und wie könnte sie auch? Frances hat keinen Job, keine Ambitionen, kein Geld, keine eigene Wohnung, und wie zum Beweis ihrer Unfertigkeit für das „erwachsene' Leben passt ihr Namensschild nicht mal vollständig an ihren Briefkasten. Frances Ha steht dann da. Für ihre Freunde – selbstverliebte, in irgendwas mit Medien und Kunst rummachende New Yorker Hipster – ist sie einfach „undateable': ein hoffnungsloser Fall nach dem klassischen Regelwerk der Paarbildung, auf das in Hollywoods Jugendwahnkino noch immer alles hinausläuft. „Frances Ha' verweist mit seiner musikalischen Schwarz-Weiß-Lakonie jedoch auf einen etwas avancierteren Erzählstrang des romantischen Selbstfindungstopos – von Truffaut und der Nouvelle Vague über Woody Allen bis zu Lena Dunham und ihrer Lumpen-Boheme aus „Girls'.

Irisierender Fixpunkt in Baumbachs Generationenporträt ist Greta Gerwig, die einen Großteil der Dialoge selbst geschrieben hat. Gerwig ist so ziemlich die unmöglichste „Star'-Erscheinung im aktuellen US-Kino, was auf der flirrenden Dissonanz ihrer Physis beruht: eine Ansammlung schiefer, nicht getroffener Noten und krummer Akkordfolgen, die die seltsam-schönsten Melodien ergeben. Zum Beispiel, wenn Gerwig zu David Bowies „Modern Love' durch die Straßen von New York tanzt und hüpft oder während eines Dates vom Tisch aufspringt, um auf der Suche nach einem Geldautomaten durch die Straßen zu rennen – und sich fürchterlich auf die Nase legt. „Ich mag die Dinge, die wie Fehler aussehen', sagt Frances einmal, als wäre sie ihr eigenes Gesamtunstwerk.

Baumbach vollzieht die Unwägbarkeiten in Frances‘ Leben anhand ihrer ständig wechselnden Adressen nach, die sie bis zurück ins Haus der Eltern und die Studentenunterkünfte ihres alten Colleges führen. So entwickelt „Frances Ha' unterschwellig auch eine Topographie der Gentrifikation von Brooklyn. Das Wohnen ist neben Arbeit und Sex ständiges Thema in den Gesprächen, etwa in denen zwischen Frances und ihrer besten Freundin Sophie, die sogar einen richtigen Job in einem Verlag hat. Frances ist trotz dieser prekären Verhältnisse unkaputtbar, ihre soziale Retardierung macht sie für die Fährnisse ihrer Generation scheinbar unanfällig. Und Greta Gerwig ist der hinreißendste Trampel der jüngeren Kinogeschichte.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Only God Forgives

(F / DK / TH 2013, Regie: Nicolas Winding Refn)

Abziehbilder der Gewalt
von Carsten Happe

Bevor der eigentliche Abspann beginnt, wenn das Metzeln beendet ist und das Blut fast getrocknet, nimmt eine Widmung die gesamte Leinwand ein: „Dedicated to Alejandro Jodorowsky'. Dies kommt nicht von …

Bevor der eigentliche Abspann beginnt, wenn das Metzeln beendet ist und das Blut fast getrocknet, nimmt eine Widmung die gesamte Leinwand ein: „Dedicated to Alejandro Jodorowsky'. Dies kommt nicht von ungefähr: Nicolas Winding Refn, der für „Drive“ in Cannes den Regiepreis gewann und mit dem stylishen Gangsterfilm bewies, dass er das Regelwerk Hollywoods mit dem europäischen Arthousefilm zu verknüpfen versteht, verehrt den chilenischen Kultregisseur über alle Maßen. Das zeigte sich auch beim diesjährigen Festival in Cannes, als dem 84-jährigen Jodorowsky nicht nur für dessen ersten Film seit 22 Jahren eine Bühne bereitet, sondern auch mit der Doku „Jodorowskys Dune“ Tribut gezollt wurde. In der Rekonstruktion eines der am spektakulärsten gescheiterten Projekte der Filmgeschichte, für das Jodorowsky unter anderem Salvador Dalí, Orson Welles und Pink Floyd engagierte, tritt Refn als Fanboy auf, der dem Regisseur von „El Topo“ seine filmische Sozialisation verdanke. Als Fan saß Refn auch nach der Vorführung minutenlang im Saal vor Jodorowsky und huldigte dem Pionier des Mitternachtskinos.

Wenn nun Refns neues, mit immenser Spannung erwartetes Racheepos „Only God Forgives“ diesen Referenzraum eröffnet, scheitert er in mehrfacher Hinsicht. In seiner ausgestellten Oberflächlichkeit und nur als selbstzweckhaft zu bezeichnenden Brutalität hat die Gewaltorgie im thailändischen Unterweltmilieu rein gar nichts mit Jodorowskys surrealer Spiritualität zu tun. Selbst die Schockmomente, die beide Filmemacher einen, sind von höchst unterschiedlicher Qualität. Insbesondere die Dramaturgie von „Only God Forgives“ wirkt eigentümlich unterentwickelt und unfertig, die Charaktere sind reine Abziehfiguren, die in Zeitlupe durch die neongetränkten Bilder schlafwandeln. Lediglich Kristin Scott Thomas als prollige Gangstermama bringt etwas Leben in den blutleeren Plot und wird dann allzu früh schnöde abgeschlachtet. Ryan Gosling dagegen schweigt sich noch einmal durch seine „Drive“-Rolle, die diesmal, ohne den 73er Chevrolet Chevelle, lediglich auf Autopilot vor sich hin tuckert.

Die entrückten Bilder von „Only God Forgives“ ergeben einen hübschen, vielversprechenden Trailer, aber statt der gesamten, immer quälenderen 90 Minuten sollte man vielmehr einen Blick in „El Topo“ oder „Montana Sacra“, Jodorowskys Meisterwerke aus den Siebzigern, werfen und den eigentlich immens talentierten Nicolas Winding Refn diesmal in der Fankurve stehen lassen.

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Free the Mind

(SW / NL / AUS / FIN / DK 2012, Regie: Phie Ambo)

Gewissensfreiheit
von Andreas Thomas

„Free the Mind“? Gute Idee! Nur überlegt “the Mind”, dieser ewige Zweifler, unwillkürlich: Wovon sollte ich denn eigentlich befreit werden? Der Dokumentarfilm der dänischen Regisseurin Phie Ambo präsentiert zwei psychische …

„Free the Mind“? Gute Idee! Nur überlegt “the Mind”, dieser ewige Zweifler, unwillkürlich: Wovon sollte ich denn eigentlich befreit werden? Der Dokumentarfilm der dänischen Regisseurin Phie Ambo präsentiert zwei psychische Erkrankungen, die man niemandem wünschen möchte, an denen dennoch viele Menschen leiden, zum einen ADHS, das Aufmerksamkeitdefizitsyndrom, was durchaus nicht nur bei Kindern auftritt, dort aber bevorzugt wahrgenommen und gerne medikamentös behandelt wird.

Als Fallbeispiel dient Will, ein fünfjähriger Junge, der in seinem ersten Lebensjahr allein bei fünf verschiedenen Pflegeelternpaaren untergebracht war und zudem das Erlebnis, alleine in einem Fahrstuhl festzustecken, niemals verwunden hat und seitdem Panikattacken bekommt, sobald er nur einen Fahrstuhl sieht.

Das zweite quälende Syndrom ist die Posttraumatische Belastungsstörung, genannt PTBS, eine psychische Erkrankung, die besonders häufig bei Kriegsveteranen beobachtet wird. Der Film zieht zur Syndrom-Beleuchtung heran „Steve“ und „Rich“, beide noch junge Männer, aber schon Kriegsveteranen, die für die USA in Afghanistan „dienten“, beide, so scheint es, unheilbar verstört angesichts ihrer Erlebnisse und Taten als Soldaten. Rich kommt nicht über das Miterleben des qualvollen Todes zweier Freunde bei einem Bombenangriff hinweg und Steve kann nicht vergessen, wie er als Verhörsoffizier dazu gezwungen war, „schlechte Dinge zu tun“ und „wie gut“ er darin war, diese „schlechten Dinge zu tun“. Beide leiden unter Schlafstörungen und unter übergroßer Reizbarkeit, beide haben das Interesse an Dingen verloren, die sie früher gerne mochten. Richs Ehe ist schon kaputt gegangen, und Steves Ehe ist sichtbar gefährdet, weil er seine Aggressionen nicht mehr richtig unter Kontrolle hat.

Für alle Beteiligten scheint zu gelten – „Free the Mind“ jedenfalls stellt es in seiner etwas vereinfachenden Art zunächst so dar -, dass sie als Langzeitindizierte auf eine langfristige Milderung der Symptomatik angewiesen sind und zwar üblicherweise in Form einer pharmazeutischen Therapie, wie z.B. Ritalin (bei ADHS) oder Ambien (bei PTBS). Sonst, so suggerierts der Film, scheint es nichts zu geben. Von der klassischen Psychotherapie, von einer Traumatherapie, von Kinder- und Jugendpsychologie scheint Regisseurin Ambo nichts zu wissen bzw. nichts wissen zu wollen, ebenso wenig wie die Pflegeeltern von Will, denn, wie es das DVD-Booklet verrät: „Anstelle von traditionellen Behandlungsmethoden möchten seine Eltern alternative Methoden ausprobieren.“ Wer nicht will, der hat vielleicht schon.

Dass diese „alternativen Methoden“ sich dann aber nur auf eine von unzähligen Alternativen fokussieren, erscheint dann doch ein bisschen tendenziös. Denn die „Alternative“ hat einen Namen und heißt Professor Richard Davidson. Seines Zeichens Neurowissenschaftler, Psychologe und Psychiater, schon seit Jahren praktizierender Meditierender, erforscht er seit Jahrzehnten die heilende Kraft der Atemmeditation, des Yoga auf unsere Hirnströme (welche im Film immer wieder sehr stimmungsvoll und musikalisch unterlegt visuell als eine Art blitzende Kabel simuliert werden). Besonders neu ist sein Ansatz, nicht nur den lokalen Sitz von Depressionen oder Ängsten im Gehirn zu erforschen, sondern auch die Hirnorte, wo sich Empathie und Mitgefühl manifestieren.

Die „Therapieform Meditation“ nun vergrößerte nachweislich die Erscheinungsbilder in den Arealen von Güte, Liebe etc. im Hirn und damit verbunden, so heißt es, auch im Charakter der betreffenden Personen. Auch bei den Patienten mit den oben beschriebenen Leiden – und das dokumentiert der Film – veränderten sich bereits nach einer Woche regelmäßiger bis zu täglich dreistündiger Atemmeditation die betreffenden Areale zum Positiven und: Die drei Patienten scheinen wirklich vom Druck befreit, der auf ihrem Leben lastete.

Der kleine Will traut sich wieder, mit einem Fahrstuhl zu fahren und die Afghanistan-Veteranen verspüren wieder Lebensfreude.

Einmal ganz von der Binsenweisheit abgesehen, dass fernöstliche Entspannungstechniken wie Yoga oder Meditation seit jeher einen positiven Einfluss auf menschliche Psyche und Körper bewirkt haben, könnte der Film den Eindruck erwecken, (und er distanziert sich dabei überhaupt nicht von Davidson selbst) als käme die Wirksamkeit von Atemübungen aus der Lehre des Yoga letztlich doch nur dadurch zustande, dass man (Davidson) diese Wirkung bildlich veranschaulichen kann, was natürlich Unsinn ist.

Viel fragwürdiger jedoch ist das Paradigma, das offenbar hinter dieser Art von Funktionalisierung und Mechanisierung des menschlichen Gehirns existiert, und das speziell in der modernen Hirnforschung verbreitet zu sein scheint, wonach die gewonnene Fähigkeit, emotionale Prozesse und Denkprozesse nicht nur abzubilden sondern auch mechanisch bzw. physisch zu beeinflussen, dazu zu verführen scheint, herkömmliche Faktoren menschlicher Fühl- und Denkweisen, wie Erfahrungen oder Denkmuster, sprich Lebensgeschichten und daraus resultierende Lebensstrategien und –einstellungen als sekundär zu bewerten.

Im Fall von „Free the Mind“ (und deshalb ist auch der Titel schon so unangenehm zweideutig) könnte das gar zum Schluss verleiten, dass es ja nichts ausmacht, wenn Soldaten dazu angehalten werden, „schlechte Dinge“ zu tun, solange man sie aus den daraus resultierenden Traumata befreien kann. Man könnte sie vielleicht sogar mehrfach „wieder verwenden“, wenn das zum Betreiben eines „notwendigen Krieges“ (selbigen hinterfragt dieser Film nicht ein einziges Mal) angezeigt wäre.

Dass ausgerechnet ein Trauma, das ein offenbar bis an die Grenze des Folterns agiert habender Soldat davon zurückbehält, nur als pathologische Einschränkung betrachtet und behandelt wird, ist symptomatisch für eine Zeit, der das Gewissen, wenn nicht gar überhaupt das reflektierende Denken, wenigstens aber die Empathie verloren zu gehen drohen, in der es keine Diskussionen mehr zu geben scheint über Richtig und Falsch, über Humanität oder Inhumanität.

Es gibt ja nichts Gesünderes bzw. Menschlicheres als Menschen, die mit dem Unmenschlichsten, was die Menschheit kennt, dem Krieg, nicht fertig werden können. Fraglos gut ist es für traumatisierte Soldaten, wenn sie wieder ein lebenswertes Leben führen können; noch besser für die Menschheit im Allgemeinen aber wäre es, wenn solche Traumatisierten auch ihre Erfahrungen verarbeiten dürften/könnten, indem sie sie benennen und vielleicht gar öffentlich machen würden, denn vielleicht hat ja ein Trauma, ähnlich wie ein gerechtfertigter Gewissenskonflikt, auch seinen Sinn als Signal für Missverhältnisse und für einen Weg zur Veränderung.

Die Davidson-Methode allerdings, so hilfreich sie für den Emotionshaushalt der Betroffenen zunächst auch sein mag, erinnert ein wenig an orwellsche Lösungen, an Gehirnwäsche, an Amnesie, da wo eigentlich Aufarbeitung, Bewusstmachung und z.B. ein anderes, grundsätzlich pazifistisches Weltbild nötig wären.

Samsara

(USA 2011, Regie: Ron Fricke)

Existentieller Schauder
von Wolfgang Nierlin

Für Godfrey Reggios zivilisationskritischen Kultfilm „Koyaanisquatsi“ war Ron Fricke einst als Bildgestalter verantwortlich. Sein eigener, aktueller Dokumentarfilm „Samsara“, ein assoziativ komponiertes Werk aus Bildern und Tönen, knüpft thematisch und ästhetisch …

Für Godfrey Reggios zivilisationskritischen Kultfilm „Koyaanisquatsi“ war Ron Fricke einst als Bildgestalter verantwortlich. Sein eigener, aktueller Dokumentarfilm „Samsara“, ein assoziativ komponiertes Werk aus Bildern und Tönen, knüpft thematisch und ästhetisch gewissermaßen daran an. Dabei handelt es sich – wie schon beim Vorgänger „Baraka“ – um eine Produktion der Superlative: Über vier Jahre lang wurde in 25 Ländern an fast hundert Schauplätzen gedreht, und zwar mit hochauflösenden 70-mm-Kameras, deren analoges Material für die Kinoauswertung mit einer 4K-Auflösung digitalisiert wurde. Das Ergebnis sind gestochen scharfe Breitwand-Bilder in brillanten Farben, die durch ihre Dichte und Tiefe ein eindringliches visuelles Erlebnis vermitteln. Doch „Samsara“ ist kein Wohlfühlkino über die Wunder dieser Erde, vielmehr bleibt trotz aller überwältigenden Schönheit immer auch ein Schrecken, ein existentieller Schauder spürbar.

Ron Frickes Film „Samsara“, dessen Titel im Sanskrit auf den beständigen Wandel im Kreislauf des Lebens verweist, bewegt sich inhaltlich zwischen den Polen Geburt und Tod, Werden und Vergehen. In atemberaubenden Zeitraffer-Aufnahmen wandern Licht und Schatten über Wüstenlandschaften und brodelnde Vulkane sowie über die schrecklich faszinierenden Formationen von Verkehrsströmen und Menschenmassen. Dabei entstehen fast irreale Bilder zwischen Natur und Kultur, hypermoderner Architektur und archaischem Leben, etwa im Kontrast zwischen einem afrikanischen Dorf und einer Megacity oder auch in der Gegenüberstellung des vom Hurrikan Katrina zerstörten New Orleans und der zerbrechlichen Schönheit des Schlosses von Versailles als Zeichen von Größe und Macht. Immer wieder spricht der Film in Gegensätzen, kontrastiert das Monumentale mit dem Alltäglichen und findet dabei auch zu dramatischen Momenten.

Wie das unglaublich große Heer von Pilgern, die dichtgedrängt um die Kaaba von Mekka wirbeln, als handle es sich um das Auge eines Sturms, strukturieren oft Kreisbewegungen die Bilder. Die zyklische Wiederholung und die rotierende Vervielfachung als Prinzipien des Lebens bestimmen Produktions- und Verwertungsprozesse, in denen ganze Armeen von Arbeitern wie emsige Ameisen kleinteilige Handgriffe an der Schnittstelle von Mensch und Maschine vollführen. Dabei entstehen mechanische Ballette, die auf erschreckende Weise den Weg des Fleisches und der Maschinen als permanenten Kreislauf von Schöpfung und Zerstörung beschreiben. Noch in dem beschwerlichen Tun der Müllsammler, die die Abfallberge eins rücksichtlosen zivilisatorischen Raubbaus durchforsten, ist dieser transformatorische Funke präsent. Wenn die buddhistischen Mönche, die zu Beginn in minutiöser Kleinarbeit ein großartiges Lebensrad-Sandbild gestalten, dieses am Ende wieder auslöschen, ist das nicht nur eine Geste, die alles Menschenwerk als vergänglich ausweist, sondern die zugleich auf einen möglichen Neubeginn zeigt.

Frances Ha

(USA / BR 2012, Regie: Noah Baumbach)

„Ich bin noch gar keine richtige Person!“
von Ulrich Kriest

„Every 1’s A Winner“. Der alte Hit von Hot Chocolate erklingt wie ein boshafter Kommentar, wenn Frances, die Protagonistin des neuen Films von Noah Baumbach, erkennen muss, dass sie das, …

„Every 1’s A Winner“. Der alte Hit von Hot Chocolate erklingt wie ein boshafter Kommentar, wenn Frances, die Protagonistin des neuen Films von Noah Baumbach, erkennen muss, dass sie das, was sie vom Leben erwartet, vielleicht niemals bekommen wird. Es ist ein arger Weg der Erkenntnis, den sie bis zu diesem Zeitpunkt des Films gehen musste: Als Tänzerin nicht sonderlich erfolgreich, ist sie stets darum bemüht, sich ihre Existenz nicht zu offensichtlich von ihren prekären Lebensbedingungen diktieren zu lassen, um weiterhin mit bohemistischen Lebensformen und Stylewars experimentieren zu können. Als sie ihren Hipster-Freunden, die als Künstler-Assistenten oder Möchtegern-Drehbuchautoren für Filme wie „Gremlins 3“ arbeiten, einmal erschöpft »gesteht«, dass sie »arm« sei, wird ihr das sofort als prätentiös vorgehalten: eine Beleidigung aller »wirklich Armen«.

Als später überraschend ein Scheck vom Finanzamt kommt, spricht Frances spontan eine Einladung zum Abendessen in einem Restaurant aus, an dessen turbulentem Ende ihre Einsicht steht: „Ich bin noch gar keine richtige Person!“ Ihre Unsicherheit, die charmant herüberkommt, kaschiert Frances gerne, indem sie sich mittels eines forcierten Freundschaftsbegriffs der solidarischen Geistesverwandtschaft versichert, die sich in einem »intimen« Blickwechsel inmitten einer größeren Gesellschaft substantialisiert. Diese kleine Utopie der intimen Geistesverwandtschaft macht die Figur liebenswert, aber auch verletzlich. Im Sinne jenes ganz alten Songs von Lou Reed sagt sie über ihre beste Freundin Sophie, sie seien ein und dieselbe Person, nur eben mit unterschiedlichen Haaren.

Dass man eine solche Beziehung vielleicht etwas flexibler gestalten sollte, davon erzählt „Frances Ha“. Auch. Denn der Film ist eine bittersüße, leicht melancholische Studie in Sache herausgezögerte Postadoleszenz, die Frances zu einem klassischen Drifter macht, während und weil die Verhältnisse um sie herum allmählich ihr Fluidum verlieren. Dass Frances in den Tag hineinlebt, wird früh klar, als ihre Freundin und Mitbewohnerin Sophie ihr mitteilt, dass sie nach Tribeca umziehen werde, um dort mit einer Frau zusammenzuleben, von der man weiß, dass sie nicht „dazu“ gehört. Aber Sophie, die schon eine feste Anstellung bei „Random House“ hat, ist ohnehin eine etwas unsichere Partie, deren kalkuliertes Erwachsenwerden sie im Laufe des Films in wachsende Distanz zu Frances bringt. Sophie zieht in die bessere Gegend, hat einen merkwürdigen Freund und gibt schließlich ihren Job auf, um mit ihrem Verlobten nach Japan zu gehen. Einmal sagt jemand, dass Frances ihr Leben nicht auf die Reihe bekomme, aber die Art und Weise, wie andere in „Frances Ha“ ihr Leben auf die Reihe bekommen, schmeckt nach faulem Kompromiss und Anpassung an etwas sehr Uninteressantes, ja, Lähmendes.

Obwohl sich der Film um die vielen und teilweise schon sehr schmerzhaften Rückschläge in Frances‘ Leben nicht drückt, haben Baumbach und Hauptdarstellerin Greta Gerwig, die auch Drehbuch-Co-Autorin ist, beschlossen, dass sie ihre Protagonistin schützen wollen. Frances lässt sich nicht unterkriegen. Nicht, als sie erfährt, dass sie die Rolle, die ihr die Miete des Winters sichern sollte, nicht bekommt. Nicht, als ihr die Leiterin der Ballettschule den Bürojob in der Tanzschule – als Schwangerschaftsvertretung – anbietet, damit sie Zeit hat, sich »neu zu orientieren«. Und auch nicht – und damit wären wir wieder bei „Every 1’s A Winner“ -, als Frances sich vielleicht etwas zu spontan zu einem „Zwei Tage in Paris“-Trip entschließt, extrem kostspielig und so vergeblich und sinnlos, dass es schmerzt, dabei zuzuschauen – obschon es auch ganz schön komisch ist.

Paris mit seinen verpassten Verabredungen und schon geschlossenen Buchhandlungen ist zwar längst noch nicht der Tiefpunkt in Frances‘ Leben, doch der Film schließt mit einer Choreografie, bei deren Premiere alle Freunde im Publikum sitzen. Endlich hat Frances tatsächlich mal etwas auf die Reihe bekommen, doch auf Komplimente reagiert sie zurückhaltend: „Ich liebe es, wenn etwas wie ein Fehler aussieht!“ Am Ende präsentiert sie uns mit Blick in die Kamera ein bisschen stolz ihre erste eigene Wohnung. Als sie das Namensschild – Frances Halladay – am neuen Briefkasten anbringt, reicht der Platz nicht hin. So kommt der Film zu seinem seltsamen Titel. The rest is yet to come!

Das Schöne an „Frances Ha“, einmal abgesehen von der überwältigen Präsenz und dem Charme der Hauptdarstellerin Greta Gerwig, ist die Unbekümmertheit, mit der Regisseur Noah Baumberg seine Coming-of-Age-Geschichte in die richtigen Zusammenhänge rückt, daraus intertextuell Kapital schlägt und zudem Sympathiepunkte einheimst. Die Musik stammt zu weiten Teilen von Georges Delerue und öffnet ein Tor zur Nouvelle Vague, zumal manchmal Szenen oder Atmosphären aus „Jules und Jim“ oder „Die Außenseiterbande“ angespielt werden und Baumbach Gerwig ungefähr so verliebt inszeniert, wie Godard es mit Anna Karina tat. Den Pop-Kontrapunkt dazu setzt David Bowies 1983er-Hit „Modern Love“, zu dessen Klängen Greta Gerwig einmal auf dem Weg zu einer neuen Untermiete durch New York tanzt. Doch um „Modern Love“ geht es in „Frances Ha“ eher nicht, zumal Frances leitmotivisch als „undateable“ gilt. Aber in „Modern Love“ finden sich auch die schönen Zeilen „I’m standing in the wind / But I never wave bye-bye“.

Ein New York-Film in Schwarz-weiß? Da landet man schnell bei Woody Allens Spät-70er-Meisterwerken „Manhattan“ und „Stardust Memories“, wenngleich Gerwigs Performance eher an Diane Keaton in „Annie Hall“ denken lässt. So fügt sich doch eins zum anderen. Greta Gerwig spielte mit ihrer eigenwilligen Körperlichkeit, die manch einen Kritiker schon zum Gebrauch des unschönen, aber nicht untreffenden Wort „Trampel“ greifen ließ, vor ein paar Monaten die Hauptrolle in der Campus-Komödie „Damsels in Distress“ (2011), dem sehr überraschenden Comeback von Whit Stillman, der vor Jahrzehnten mit „Metropolitan“ und „The Last Days of Disco“ Filme gedreht hat, die gar nicht so weit von „Frances Ha“ entfernt sind.

Schließlich bedeutet der neue Film, nach „Greenberg“ bereits die zweite Zusammenarbeit von Baumbach und Gerwig, wohl den endgültigen Durchbruch der einstigen „Meryl Streep of Mumblecore“, die es seit „Hannah Takes the Stairs“ (2007) zu einer ganz erstaunlichen Filmografie zwischen Indie-Underground („Nights And Weekends“), angetäuschtem Indie-Mittelbau („Lola Versus“) und Arthaus-Mainstream wie Woody Allens „To Rome With love“ gebracht hat. Man sieht: Mit „Frances Ha“ schließen sich Kreise, zumindest einige davon lohnen die Entdeckung – andere die Erinnerung.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 8/2013

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Halbschatten

(D / F 2013, Regie: Nicolas Wackerbarth)

Bestellt und nicht abgeholt
von Ulrich Kriest

Es ist ein Warten. Als Merle in der Cóte d’Azur-Villa des Verlegers Romuald eintrifft, wird sie von niemandem erwartet. Und die Gegend sieht auch nicht gerade spektakulär aus, grau und …

Es ist ein Warten. Als Merle in der Cóte d’Azur-Villa des Verlegers Romuald eintrifft, wird sie von niemandem erwartet. Und die Gegend sieht auch nicht gerade spektakulär aus, grau und diesig, irgendwo werden Gartenabfälle verbrannt. Schließlich kommt, mit Verspätung, der Hausmeister vorbei, öffnet das Tor und führt durch das Architektenhaus. Erst jetzt, direkt hinterm Pool, fällt der Blick aufs Meer. Beeindruckend. Merle bekommt vom Hausmeister das Gästezimmer angewiesen, was irgendwie brüsk erscheint, und erkundet dann das Haus. Romuald lässt weiter auf sich warten. Dafür kommen die beiden pubertierenden Kinder des Verlegers, die offenbar Ferien haben und Merle wie einen unerwünschten Eindringling behandeln.

Man sieht Merle interessiert dabei zu, wie sie versucht, sich souverän zu positionieren: zum offensichtlichen Reichtum des Hauses mit seiner explizit geschmackvollen Einrichtung („This room is very aware of itself“, hatte die Freundin von Francis Halladay einmal abschätzig angemerkt. Das hätte auch hier gut gepasst.), zu den beiden Kindern, zu der ganzen prekären Situation des Sich-einrichten-Wollens im Fehl-am-Platz-sein. Selbst die Hunde hinter den Zäunen verbellen sie beim Spazierengehen, selbst der Bäcker unten am Hafen kanzelt sie rüde ab. Wenn Gäste kommen, darf sie kurz dabei sitzen, kommen die Kinder hinzu, die die Nachbarn sehr gut kennen, kann Merle unbemerkt verschwinden. Merle richtet sich trotzdem im Warten ein, geht einkaufen und schwimmen, ist den Kindern mal Kumpel, mal Ersatzmutter. Es sind Versuche, Rollenspiele. Rollenspiele auf der Basis, dass sie sich einschreiben müsste/könnte in das Leben des abwesenden Romuald, in dem sie offenbar (bis jetzt) doch keine Rolle spielt. Wie singt Bernd Begemann: „Ich bin ein Fremder in deiner Wohnung und werde es bleiben.“

Der Filmemacher Nicolas Wackerbarth, zugleich einer der Herausgeber des ambitionierten Filmmagazins „Revolver“, hat im Zusammenhang mit seinem Langfilmdebüt etwas provozierend davon gesprochen, sein Film sei ein „Thriller über einige ereignislose Tage“. Ganz in der Manier von einigen Filmen der sogenannten „Berliner Schule“, zu der, gäbe es sie denn, Wackerbarth wohl zu zählen wäre, hält er sich in Sachen Information und Plot-Konstruktion sehr zurück und setzt stattdessen auf detailgenaue Beobachtung, die nicht sofort für etwas Anderes steht, sondern erst einmal nur für sich selbst. Zum Glück kann er sich dabei auf seine Hauptdarstellerin, die Theatergröße Anne Ratte-Polle, die viel zu selten im deutschen Film („Die Nacht singt ihre Lieder“ von Romuald Karmakar) zu sehen ist, verlassen. Es ist bemerkenswert, mit welcher Präsenz die Schauspielerin ihre Rolle im Halbschatten der Geschichtsstille auszufüllen versteht. Man weiß bis zum Schluss dieser unerhört spannenden Studie des Wartens nicht, ob die Cóte d’Azur für Merle nun Endstation oder Aufbruch ist. Schließlich verschwindet sie wie ein Phantom aus einer Geschichte, die wir nur als fernes Echo wahrgenommen haben. Es ist natürlich ein Zufall, dass „Halbschatten“ am gleichen Tag startet wie „Frances Ha“, aber es ist ein sehr glücklicher. Merle könnte die ältere Schwester von Frances sein.

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Paulette

(F 2012, Regie: Jérôme Enrico)

Drogen-Oma und Space-Kekse
von Wolfgang Nierlin

Das Leben der betagten Titelheldin fasst der französische Regisseur Jérôme Enrico im Vorspann zu seiner Filmkomödie „Paulette“ folgendermaßen zusammen: Die Hochzeit mit Francis, die Geburt der Tochter Agnés, die gemeinsame …

Das Leben der betagten Titelheldin fasst der französische Regisseur Jérôme Enrico im Vorspann zu seiner Filmkomödie „Paulette“ folgendermaßen zusammen: Die Hochzeit mit Francis, die Geburt der Tochter Agnés, die gemeinsame Arbeit im eigenen Restaurant und der Tod ihres geliebten Ehemannes am 11.9.2001. Jetzt ist Paulette (gespielt von der kürzlich verstorbenen Bernadette Lafont) bereits seit zehn Jahren Witwe und im Fernsehen wird an die Anschläge auf das World Trade Center in New York erinnert. Weil ihr Restaurant mittlerweile von Chinesen betrieben wird und sie mit einer kleinen Rente von 600 Euro an der Armutsgrenze lebt, ist sie verbittert. Doch das alles erklärt kaum ihren offenen Rassismus und ihre verbalen Ausfälle gegen „Schlitzaugen“ und „Neger“, die beim Kinopublikum für wohliges Lachen sorgen. Ihr rabiater Hass auf Ausländer, genährt auch vom Gegeneinander in der heruntergekommenen Sozialbausiedlung, in der sie lebt, trumpft mit einer gewissen Selbstverständlichkeit auf. Ihrem schwarzen Beichtvater attestiert Paulette: „Sie hätten es verdient, weiß zu sein.“

Die kratzbürstige, nassforsche Rentnerin mit grantiger Art ist also im schlechten Sinn politisch unkorrekt und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. Vor allem besitzt sie eine unbeugsame Kämpfernatur, die auch vor Abwegen nicht zurückschreckt und die gefordert ist, als wegen Zahlungsunfähigkeit ihre Wohnungseinrichtung gepfändet wird. Durch Gelegenheit und mit mutiger Unerschrockenheit steigt sie ins Drogengeschäft ihres Viertels ein, dealt mit Haschisch, erweist sich darin als geschäftstüchtig und überflügelt bald die jugendliche Konkurrenz. Daraus resultiert natürlich Ärger, der sich noch zuspitzt, als die „Drogen-Oma“ die „Speisekarte erweitert“, mit sogenannten „Space-Keksen“ expandiert und damit nicht zuletzt die Aufmerksamkeit eines mächtigen russischen Drogenbosses erregt.

Jérôme Enricos Parodien auf das Milieu der Kriminellen lassen dieses ziemlich lächerlich aussehen, indem er die bekannten Klischees ins Abwegige zuspitzt. Das komödiantische Potenzial seines Films wiederum resultiert aus dem Kontrast zwischen einer kämpferischen Alten inmitten von Drogenkriminalität und sozialen Verwerfungen, deren Beschreibung allerdings harmlos bleibt. Der märchenhafte gesellschaftliche Aufstieg der Protagonistin, die von Bernadette Lafont bravourös verkörpert wird, und die Versöhnung von – sowohl menschlich wie backtechnisch – scheinbar Unvereinbarem, erschöpfen sich insofern restlos in vergnüglicher Wohlfühlunterhaltung.

Only God Forgives

(F / DK / TH 2013, Regie: Nicolas Winding Refn)

Wen Gott kastriert
von Drehli Robnik

Posing und Droning mit Gosling in Nicolas Winding Refns Familien-Rachedrama 'Only God Forgives' In einigen Filmen des dänischen Hipsterschnöselkonzeptualisten Nicolas Winding Refn geht es in bester Melodramtradition darum, dass Leute …

Posing und Droning mit Gosling in Nicolas Winding Refns Familien-Rachedrama 'Only God Forgives'

In einigen Filmen des dänischen Hipsterschnöselkonzeptualisten Nicolas Winding Refn geht es in bester Melodramtradition darum, dass Leute bis zur Lächerlichkeit tragisch scheitern beim Versuch, eine Rolle zu erfüllen, um zu gefallen: und zwar etwa ihrem christlichen Gott zu gefallen in 'Valhalla Rising', dem Gangsterübervater zu gefallen in 'Pusher II', dem eigenen Selbstbild in 'Bronson', zuletzt einer alleinstehenden Mutter in Drive'.

In letzterem Retrokonsensfilm war Herzbub Ryan Gosling allerdings äußerst erfolgreich darin, diversen Feinspitzzielgruppen zu gefallen. In Winding Refns 'Only God Forgives' spielt er nun eine eigentümlich demontierte Star-Rolle als US-Drogendealer und Kickboxmanager in Bangkok. Diffus sind Milieu und Motivation, forciert hingegen ist sein Bemühen, abermals einer Singlemutter zu gefallen – diesmal der eigenen. (Das für Winding Refn typische Thema einer Quasi-Vaterschaft, durch die der Adoptivvater eine Übertretung begeht und sich ins Abseits manövriert, klingt am Ende an, als ein kleiner Bub einem Rachemassaker zum Opfer zu fallen droht.)

Only God Forgives: Wo nur Gott vergibt, da wollen alle anderen Revanche und Strafe: Mutter (Kristin Scott Thomas als frivole Diva in Blond) kommt nach Thailand, weil ihr Lieblingssohn zur Strafe für die Ermordung einer Prostituierten seinerseits zerfleischt wurde. Ihren Zweitsprössling, eben Gosling, treibt sie mit Penislängenvergleichen und verschlingendem Sohnespflichtappell dazu an, ihren Rachedurst zu stillen. Dritter im ungesunden Bunde ist ein lokaler Polizeioffizier als strafender Gottvater, der stets – man weiß nicht, wie und wo – einen riesigen Säbel bei sich führt, um Gangster zu foltern oder auch um Hände abzuhacken, die sich immer wieder zu sehr nach Mutters Schoß gesehnt und gestreckt haben.

Das ist viel bizarrer als es sich liest, stellenweise extrem brutal und so inszeniert, dass Unvermögen und Übererfüllung fiebertraumhaft ineinanderfließen. Im grellen Schwarzrot erstickender Bordellkorridore werden Haltungen der Hingabe ausritualisiert. Wer (wie ich) gefrorene Posen mit schmachtendem Gosling goutiert, kriegt hier, in Übererfüllung solch schnöden Begehrens, voll den Ryan reingedrückt, allerdings in Anblicken eines Selbstopferdandys auf dem Trip ins Sichstrafen- und -schlagenlassen.

Dabei zeichnet sich eine seltsame Verbindung zwischen Winding Refns Retro-Styling und dem postkolonialen Setting seines Films ab. In 'Valhalla Rising' hatten sich desorientierte nordische Erst-'Entdecker' Amerikas in eine Neue Welt verirrt, die sie für das Heilige Land hielten, um dort, schlussendlich unter den Schlägen indifferenter Indigener, das ironische Ziel ihrer Reise und Hybris zu finden; hier steuern nun Amerikaner_innen, die ihre Triebe und Präferenzen über Tabus und Gesetze stellen, auf das kastrierende Strafgericht eines orientalischen Ordnungshüters zu, dessen Erscheinung sich in der Gelassenheit von immer wieder insertierten Götterstatuen verdoppelt. Diesem im Film ausgelebten Masochismus, zumal der Unterwerfung unter Mutters Leib und unter Vaters resultierende Kastrationsdrohung, korrespondiert Winding Refns alles andere als fröhliches Regredieren in filmische Herkünfte, sein Wühlen in Motiv-, Bild- und Tongestaltungsrepertoires von Lynch, Cronenberg und Kubrick (er selbst nennt Undergroundfilmer Richard Kern als Inspiration), das sich als zutiefst schuldig zu verstehen gibt und rückhaltlos schwülstig daherkommt. Zurück in den Bauch der Herkunft und Antreten zur Selbstdemontage des westlichen Tat-Menschen an einem Ort aufgebauschter Fernost-Exotik: Da weht auch ein Hauch der Eröffnungssequenzen von Apocalypse Now' herüber – die räumliche und schicksalhafte Unentrinnbarkeit im Angesicht einer Buddhastatue und Gosling als (auch physiognomischer) Wiedergänger des sich auslöschen wollenden Martin Sheen.

Aller Drive steuert hier Gerinnung und Erstarrung an – in ominösem Fernostkitsch, in Blutbädern ohne jede Action (alle warten auf den nächsten Schmerz), in Nicht-Gesprächen, bei denen zwischen Sätzen, selbst zwischen Schreien, Minuten vorgehen (von denen der Film nur neunzig lang ist). Die Musik stammt wie schon bei 'Drive' von Cliff Martinez, aber es ist nicht ein Bobo-Partyhit dabei, stattdessen Synthiedrones, katatonisches Karaoke vor der andächtig versammelten Polizeibrüderhorde, Götterbilder und real human beings ohne Erlösungsvision. Das ist schon auch höherer Blödsinn, aber – anders als der zur Zeit noch im Kino laufende ödipale Determinismus mit Gosling am Place Beyond the Pines' – ins offenkundig Irrwitzige und Ausgehöhlt-Mysteriöse ausgespielt. Um den Filmtheoretiker und CARGO-Kritiker Daniel Eschkoetter zu paraphrasieren: Ein echter Fuck you!-Film. No, schlecht?

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The Call – Leg nicht auf!

(USA 2013, Regie: Brad Anderson)

Hört die Signale – und speichert sie alle!
von Drehli Robnik

Von den vier Regisseuren im heutigen Mainstreamspielfilmbetrieb, die mit Nachnamen Anderson heißen (und nicht verwandt sind: Paul Thomas, Paul W.S., Wes und Brad), ist Brad Anderson der durchgängig dem düsteren …

Von den vier Regisseuren im heutigen Mainstreamspielfilmbetrieb, die mit Nachnamen Anderson heißen (und nicht verwandt sind: Paul Thomas, Paul W.S., Wes und Brad), ist Brad Anderson der durchgängig dem düsteren Spannungskino zugeneigte. In seltsamen Thrillern wie 'The Machinist', 'Transsiberian' oder 'Herrschaft der Schatten' hatte er immer wieder Situationen der Beengung und des Lichtmangels ausgekostet; 'The Call – Leg nicht auf' handelt nun von einer Entführten, die über zwei Drittel des Films in Autokofferräume gesperrt ist. Von dort aus sendet das Mädchen Hilfssignale, vor allem aber hält sie Handykontakt mit einer engagierten Telefonistin der Polizeinotrufzentrale (Halle Berry). Die im Zusprechen von Trost und Hoffnung versierte Ordnungshüterin ist von ihrer Ohnmachtserfahrung in einem früheren, ähnlichen Fall traumatisiert, hat nun quasi etwas gutzumachen.

Auch der Kidnapper ist ein seelisch Leidender, der etwas gutmachen will: Er bastelt am Rekonstruieren eines Idealbilds seiner verlorenen kleinen Schwester (mithin an einem morbiden Idyll von Whiteness samt Girliekitschaltar); in seinem Autoradio läuft 1980er-Synthiepop (Tacos Version von 'Puttin´ on the Ritz', im doppelten Sinn eine Erinnerung an glamouröse Zeiten, die dahin sind); später im Verlies, wenn er der Entführten als fetischistischer Friseur zu Leibe rückt, legt er eine eiernde Cassette mit Culture Clubs 'Karma Chameleon' ein. Aha, da ist wohl jemand ein kränkelndes Chamäleon, das sich anverwandeln will, und offenbar auch nicht ganz straight als Mann, was der Film unguter Weise als ungut zu verstehen gibt.

Sowohl täter- als auch polizistinnenseitig erinnert da einiges ans 'Schweigen der Lämmer', ohne je dessen Level an Spannung und Sozialdiagnostik zu erreichen. Und der feministische Aspekt dieses neuzeitlichen Thrillerklassikers, die gendermäßig prekäre Verortung der Ermittlerin in ihrem Milieu, ist hier ersetzt durch einerseits die Problematik des unzureichenden Distanzhandelns am Telefon, das nach Eingriff vor Ort ruft, und anderseits eine merkliche Aufgehobenheit der Heldin in ihrem Arbeitsalltag, die ethnisch konturiert ist (woraus wir hier gleich eine Deutungskonsequenz ziehen werden). Aber immerhin: Andersons nicht allzu langer Film bietet einiges an Suspense mit ahnungslosen Zeugen, die dem Entführer auf seiner Fahrt begegnen, und recht originelle Ideen in Sachen Dramatik und Pragmatik im Kofferraum (an sich kein typischer 'Handlungs- und Kommunikationsort' für einen Genrespielfilm). Insofern verdient der Regisseur eine Chance, allerdings vielleicht eher eine Art zweite Chance, einzulösen erst – und hoffentlich – mit seinem nächsten Film.

Einlösen einer zweiten Chance: Das schwingt als Sinnbild prominent mit in diesem Hollywoodfilm zum Thema des 'Rufs', der reich ist an vom Drehbuch als mehrdeutig definierten Objekten. Mehr noch als unlängst Spielbergs Lincoln' ist ,'The Call' ein Film zum Beginn von Obamas zweiter Amtszeit. Wie beim US-Präsidenten geht es hier auch für Halle Berry – eine Art First Lady im Sinn einer Black American Firstness und Leadership, als erste Schwarze Gewinnerin eines Oscar als Leading Actress (2002), notorisch für das Pathos ihrer Dankesrede – in ihrem War Room-artigen Kontrollzentrum und im Kreise anderer Uniformträger, von denen auffallend viele African Americans sind, darum, dass eine starke Ansage nicht bloße Rede bleiben soll. Auch bei der Ordnungshüterin mit den großen Worten und den (berufsgemäß) 'großen Ohren' unter der landläufig als Afro bezeichneten Schneckerlfrisur bedeutet die zweite Chance, dass ein mit rhetorischem Geschick (oder bloßer rhetorischer Routine?) formuliertes Schutz- und Hilfsversprechen diesmal nicht wieder gebrochen werden soll.

Die Ohnmachtserfahrung im moralischen Ausgangspunkt und ein Fahnenmast mit den Stars and Stripes, der im investigativen Plot wie auch in der Inszenierung eines rächenden Endlich-tätig-Werdens eine Doppelrolle spielt, als Signalgeber auf der Aufzeichnung eines Telefonats mit dem Täter wie auch als unverhohlene Ikone der Ermächtigung und unbedingten Rechtschaffenheit: Dies lässt die Entfesselung von hochgerüsteter Rasterfahndung und multimedialer Dauerüberwachung als ersehnte Rettung und unhinterfragbares Allheilmittel erscheinen. Und es legitimiert noch die finale rape-revenge movie-hafte Selbstjustizgeste, kraft derer der Entführer in seinem eigenen Verlies eingeschlossen und offenbar dem Verhungern preisgegeben wird. Naja. Als US-Staatsmacht ohne rechtliche Grundlage Telefonate überwachen oder Leute ohne Gerichtsurteil bis zum Sanktnimmerleinstag einsperren – das ist natürlich nicht OK, aber auch eher etwas weit hergeholt.

The Dark Knight Rises

(USA 2012, Regie: Christopher Nolan)

Kraftmeierei
von Harald Steinwender

Seit acht Jahren hat sich der Millionär Bruce Wayne (Christian Bale) in seinem Herrenhaus verkrochen, wo er den Tod seiner großen Liebe Rachel betrauert. Doch dann stürzt der Terrorist Bane …

Seit acht Jahren hat sich der Millionär Bruce Wayne (Christian Bale) in seinem Herrenhaus verkrochen, wo er den Tod seiner großen Liebe Rachel betrauert. Doch dann stürzt der Terrorist Bane (Tom Hardy) Gotham City mit einer Serie von Anschlägen ins Chaos und droht, die Metropole mit einer Atombombe zu vernichten. Wayne schlüpft ein letztes Mal in die Rolle seines Alter Ego Batman und nimmt den Kampf gegen Bane auf. Unerwartete Unterstützung erhält er von der Meisterdiebin Selina Kyle (Anne Hathaway).

Seit 'Batman Begins' (2005) zählt Christopher Nolan zu den innovativsten Blockbuster-Regisseuren Hollywoods. Mit Filmen wie 'The Prestige' ('Prestige – Die Meister der Magie'; 2006), 'The Dark Knight' (2008) und Inception' (2010) gelang es dem Briten, verschachtelte, hochkomplexe Geschichten zu erzählen und zugleich ein Millionenpublikum zu erreichen. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an 'The Dark Knight Rises', den 250 Millionen US-Dollar teuren Abschlussfilm der Trilogie, die Nolan sieben Jahre zuvor mit 'Batman Begins' so furios eröffnet hatte.

Wie schon in den ersten beiden 'Batman'-Filmen greift Nolan auf ein hochkarätiges Schauspielerensemble zurück, das ein Wiedersehen mit Morgan Freeman, Michael Caine und Gary Oldman in ihren bekannten Nebenrollen bietet. Christian Bale in der Titelrolle legt Bruce Wayne diesmal als psychisch und physisch gebrochenen Schmerzensmann an, der erst Erlösung findet, als er in der Rolle Batmans seinen inneren Dämonen gegenübertritt. Neu zum Ensemble stoßen Anne Hathaway als 'Catwoman', Marion Cotillard in der Rolle der undurchsichtigen Philanthropin Miranda und Tom Hardy als Bane.

Die großen Actionsequenzen, darunter die Zerstörung eines ganzen Stadions während eines Footballspiels, sind, wie kaum anders zu erwarten, atemberaubend inszeniert. Wally Pfister, seit 'Memento' Nolans Stammkameramann, erschafft eine von blau-grauen Farbtönen bestimmte Schattenwelt, die gleichermaßen klaustrophobisch wie bombastisch wirkt. Nur selten wird die düstere Atmosphäre des Films durch Humor gebrochen, ein Aspekt, der 'The Dark Knight Rises' trotz Konzessionen an das Familienpublikum von herkömmlichen Großproduktionen abgrenzt.

Doch die Schauwerte täuschen kaum über die Schwächen des Drehbuchs hinweg. Vieles wird in 164 Minuten Laufzeit auserzählt, was Andeutung hätte bleiben können; die Motivation der Figuren bleibt oft schwer nachvollziehbar. Die größte Enttäuschung ist Hardys Bane, ein aller Kraftmeierei und der futuristischen Atemmaske zum Trotz erstaunlich blasser Antagonist. Nie kommt die Figur an das abgründige Charisma von Heath Ledgers anarchischem Joker oder Liam Neesons aristokratischen Ra’s al Gul aus den Vorgängerfilmen heran. Letztlich wirkt Bane wie ein Drehbuch-Kniff, einzig dazu ersonnen, Batman aus seinem inneren Exil zurückzurufen und die Handlung in Gang zu setzen.

'The Dark Knight Rises' ist gewiss kein schlechter Film. Als ausgezeichnet fotografiertes Überwältigungskino wird er die Fans der Serie vermutlich zufrieden stellen. Gemessen an seinen beiden Vorgängerfilmen ist er allerdings eine Enttäuschung. Christopher Nolan scheitert vor allem an den von ihm selbst gesetzten hohen Maßstäben.

Dass es während einer Vorpremiere in den USA zu einem Amoklauf in einem Kino kam, bei dem der 24-jährige mutmaßliche Täter zwölf Menschen tötete und 58 weitere zum Teil schwer verletzte, ist tragisch und wirft einen Schatten über den jüngsten 'Batman'-Film. Die vereinzelt in den Feuilletons großer Tageszeitungen herbeigeschriebenen Parallelen zur Handlung von 'The Dark Knight Rises' darf man jedoch bezweifeln: Der Täter konnte den Film noch gar nicht gesehen haben, als er mit seiner Mordserie begann. Wahrscheinlicher ist es, dass er die Premiere des lange erwarteten und aufwendig beworbenen Sommerblockbusters auswählte, um ein Maximum an medialer Aufmerksamkeit zu erhalten. Sein widerwärtiges Ziel hat er leider erreicht. Die Kinogänger in den USA haben sich jedoch entschlossen, sich von dem ganz realen Terror eines Einzelnen nicht vom Kinobesuch abhalten zu lassen – am Startwochenende hat 'The Dark Knight Rises' in den USA 160 Millionen Dollar eingespielt.

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Die drei Musketiere

(D / F / GB / USA 2011, Regie: Paul W. S. Anderson)

Dumas for Dummies
von Harald Steinwender

Der junge D’Artagnan (Logan Lerman) verlässt sein Elternhaus in der Gascogne, um als Musketier in den Dienst des Königs zu treten. Doch bereits auf dem Weg nach Paris gerät der …

Der junge D’Artagnan (Logan Lerman) verlässt sein Elternhaus in der Gascogne, um als Musketier in den Dienst des Königs zu treten. Doch bereits auf dem Weg nach Paris gerät der Hitzkopf in Todesgefahr, als er den überheblichen Rochefort (Mads Mikkelsen) zum Duell fordert. Nur die mysteriöse M’lady De Winter (Milla Jovovich) bewahrt ihn vor dem sicheren Tod. In Paris legt sich D’Artagnan dann mit den drei Musketieren Athos, Porthos und Aramis (Matthew Macfadyen, Ray Stevenson und Luke Evans) an. Nach einem gemeinsamen Kampf gegen 40 Männer der Kardinalsgarde ist der Streit jedoch vergessen. Zudem wartet auf die Vier eine gefährliche Aufgabe, denn der durchtriebene Kardinal Richelieu (Christoph Waltz) will durch eine Intrige einen Krieg mit England entfesseln.

Alexandre Dumas‘ 1843/44 erstmals publizierter Roman 'Die drei Musketiere' zählt nicht nur zum französischen Klassikerkanon, sondern auch zu den beliebtesten Inspirationen der Filmindustrie. Geschätzte 50 Adaptionen sind seit der Frühzeit des Kinos entstanden, darunter George Sidneys schwelgerische Technicolor-Verfilmung mit Gene Kelly und Lana Turner (1948) und Richard Lesters kongenial zwischen Satire und ernsthaftem Abenteuerfilm changierendes Diptychon 'The Three Musketeers' / The Four Musketeers' ('Die drei Musketiere' / 'Die vier Musketiere'; 1973/74). Paul W. S. Anderson, eher ein Garant für anspruchlose, aber erfolgreiche Actionware, hat sich nun für die deutsche Produktionsfirma Constantin an einer Neuauflage des Stoffs in 3D versucht – und ein eher überflüssiges und seelenloses Spektakel abgeliefert.

Gewiss ist die jüngste Version von D’Artagnans Abenteuern aufwändig produziert und wartet mit barocker Ausstattung und eindrucksvollen Drehorten auf, die in den Altstädten und auf den Schlössern Bayerns gefunden wurden, u.a. in Würzburg, Bamberg, München und auf der Insel Herrenchiemsee. Doch abseits solcher Schauwerte enttäuscht der Film umso nachhaltiger.

Insbesondere die Versuche, den zeitlosen Stoff für ein junges Publikum zu modernisieren, wirken bemüht, so etwa der an die 'Indiana Jones'-Filme angelegte Prolog in Venedig oder die Zeitlupensequenzen und Martial-Arts-Einlagen, die von dem Science-Fiction-Film 'The Matrix' (1999) inspiriert sind. Drehbuch, Figuren und Dialogen gehen Tragik und emotionale Tiefe vollständig ab. Von der abgründigen Erotik der Femme fatale M’lady De Winter aus Dumas‘ Roman lässt das somnambule Spiel Milla Jovovichs kaum etwas erahnen, die drei Musketiere sind stereotype Comic-Figuren und Orlando Bloom als Herzog von Buckingham ist grotesk fehlbesetzt. Selbst der sonst so wandelungsfähige Mads Mikkelsen spielt lustlos und absolviert seinen Part mit exakt einem Gesichtsausdruck, so dass dagegen selbst Til Schweigers Kürzestauftritt einprägsam erscheint. Lediglich Christoph Walz amüsiert mit gewohnt süffisantem Sarkasmus.

So wirkt diese lärmige Neuadaption wie das, was sie vermutlich in erster Linie ist: ein am Reißbrett entworfenes und ausschließlich von Zielgruppenerwägungen geleitetes Kommerzprodukt, dem jeglicher Charme abgeht. Entsprechend stellt sich im Kino gepflegte Langeweile ein.

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Hugo Cabret

(USA 2011, Regie: Martin Scorsese)

Die Reise zu Méliès
von Harald Steinwender

Nach dem Tod seines Vaters (Jude Law) wird der zwölfjährige Hugo Cabret (Asa Butterfield) in den 1930er Jahren von seinem Onkel Claude (Ray Winstone) aufgenommen. Für diesen wartet er die …

Nach dem Tod seines Vaters (Jude Law) wird der zwölfjährige Hugo Cabret (Asa Butterfield) in den 1930er Jahren von seinem Onkel Claude (Ray Winstone) aufgenommen. Für diesen wartet er die Uhren des Pariser Bahnhofs Montparnasse und lebt in dem von Gängen durchzogenen Gewölbe des alten Gebäudes. Als sein Onkel spurlos verschwindet, führt Hugo dessen Arbeit heimlich weiter. Eines Tages begegnet er einem alten Spielwarenhändler (Ben Kingsley), der Hugo das Notizbuch seines Vaters abnimmt. Um das Erinnerungsstück zurückzubekommen, muss der Junge sein Versteck im Bahnhof verlassen. Dabei kommt er einem großen Geheimnis auf die Spur.

Marin Scorsese zählt nicht nur seit 40 Jahren zu den bedeutendsten Filmregisseuren unserer Zeit, er besitzt auch ein nahezu enzyklopädisches Filmwissen. Seine Leidenschaft für das Kino hat der 69-jährige Filmemacher schon oft bewiesen: mit Dokumentarfilmen über italienische und US-amerikanische Filmgeschichte, auch durch unzählige Anspielungen an von ihm verehrte Regisseure, die seine Filme durchziehen. Mit 'Hugo Cabret', seinem 22. Spielfilm, hat Scorsese nun eine Liebeserklärung an das Kino als Illusionsmedium inszeniert. Denn die Entdeckungsreise führt den jungen Hugo zu Georges Méliès, einem bedeutenden Protagonisten des frühen Films, der nach dem Scheitern seiner Karriere in den 30er Jahren tatsächlich in einem Spielzeugladen der Metrostation Montparnasse arbeitete.

'Hugo Cabret' ist in zweifacher Hinsicht ein Novum in Scorseses Karriere: Er ist Scorseses erster 3D-Film. Und er ist der erste Film dieses Regisseurs, der als Chronist des rauen Straßenlebens und der urbanen Gewalt berühmt wurde, den man sich vorbehaltslos mit der ganzen Familie ansehen kann. Gegenüber Brian Selznicks Vorlage 'Die Erfindung des Hugo Cabret', einer Mischung aus Comic, Bilderbuch und Roman, hat Scorsese Figuren wie den verbitterten Stationspolizisten abgemildert, den Sacha Baron Cohen nun als liebenswerten Tölpel spielt. Die brillant choreografierten Slapstick-Szenen, die ausgezeichneten Kinderdarsteller sowie Gastauftritte von Schauspielern wie Jude Law und Christopher Lee sind gleichermaßen auf ein junges Publikum wie Erwachsene ausgerichtet.

In erster Linie ist 'Hugo Cabret' aber ein rauschhaft schöner Film, der sich ganz auf die visuelle Kraft des Kinos verlässt. Scorsese und seinem Kameramann Robert Richardson gelingt es, das 3D-Format tatsächlich als erzählerisches Element einzusetzen. Wie zuvor nur James Camerons 'Avatar – Aufbruch nach Pandora' ('Avatar'; 2009) erweitert 'Hugo Cabret' den filmischen Raum in eine bislang nicht gesehene Tiefe, die sich der Perspektive des kindlichen Helden annähert. Tanzende Schneeflocken, Rauch, Dampf und Nebel verleihen den in Komplementärfarben gehaltenen Bildern Plastizität. Die Räume, darunter ein labyrinthisch verästeltes System von Gängen im Gewölbe des Bahnhofs und eine wie in die Unendlichkeit erweiterte Bibliothek, sind schlicht atemberaubend. Bereits die Exposition, in der die entfesselte Kamera durch das wuselige Treiben des Bahnhofs schwebt, rechtfertigt den Kinobesuch. Und wenn Scorsese die Filme Méliès‘, darunter den handkolorierten Science-Fiction-Film 'Le voyage dans la lune' ('Die Reise zum Mond') von 1902, zu neuem Leben erweckt, dann gelingt es ihm tatsächlich, Filmgeschichte einem großen Publikum zu vermitteln und zugleich bestens zu unterhalten.

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Noise & Resistance

(D 2011, Regie: Julia Ostertag, Francesca Araiza Andrade )

Selbst ist der Punk
von Harald Steinwender

Punk war von Anfang an eine Jugendkultur zwischen Rebellion und Pose, Authentizität und Selbstdarstellung, Subkultur und kulturindustrieller Vereinnahmung. Drei Akkorde auf der E-Gitarre, ein Bass, ein Schlagzeug und ein Sänger …

Punk war von Anfang an eine Jugendkultur zwischen Rebellion und Pose, Authentizität und Selbstdarstellung, Subkultur und kulturindustrieller Vereinnahmung. Drei Akkorde auf der E-Gitarre, ein Bass, ein Schlagzeug und ein Sänger – mehr war nicht notwendig, um mitzumachen, und im Prinzip war jede und jeder dazu eingeladen. Aus dem egalitären Gestus des frühen 70er-Jahre-Punk entwickelte sich, inspiriert von politisch links stehenden und betont unkommerziellen Bands wie 'Crass' aus Großbritannien eine Subkultur in der Subkultur, die gerade den Aspekt des 'DIY', des 'Do It Yourself', für sich reklamierte. Selbstorganisation und Selbstermächtigung, Misstrauen gegen jegliche Autorität und Kommerzialisierung sind bis heute die zentralen Konzepte dieser Gegenkultur.

In ihrem Dokumentarfilm 'Noise and Resistance' porträtieren die beiden Filmemacherinnen Francesca Araiza Andrade und Julia Ostertag die europäische DIY-Punkszene von ihren Anfängen im England der 70er Jahre bis zu ihren Ausprägungen im heutigen Europa. Sie haben dafür Bands, Künstler und Aktivisten aus Spanien und England, Deutschland und Russland, Norwegen und Schweden interviewt, waren mit der Kamera bei Konzerten und im Backstage-Bereich dabei, haben Hausbesetzer in Katalonien und alternative Sozialprojekte in Deutschland besucht. Zusammen mit den für Musikfans höchst sehenswerten historischen Konzertaufnahmen entstand ein buntes Potpourri, das manchmal etwas redundant wirkt, oft aber, etwa in den Passagen, in denen Punk-Aktivisten aus Russland zu Wort kommen, die sich täglich mit dem Terror einheimischer Neonazibanden auseinandersetzen müssen, höchst erhellend ist.

Dabei wenden Andrade und Ostertag das 'Do It Yourself'-Konzept selbst konsequent an: Neben der gemeinsamen Regie waren die beiden Filmemacherinnen verantwortlich für Kameraarbeit und Drehbuch, Produktion und Schnitt. Sie sind der Szene, die sie porträtieren, mehr als wohlwollend eingestellt. Kritische Fragen werden nicht gestellt, es gibt keine erklärende Voice-over. Die durchaus existierenden Widersprüche innerhalb der Subkultur anzusprechen, bleibt einigen, oft feministisch orientierten Künstlerinnen vorbehalten.

Dennoch entsteht gerade durch die unterschiedlichen Aussagen der Interviewten, die von hoffnungslos naiven Plattitüden bis zu reflektierten Analysen reichen, ein Überblick, der gerade in seiner Widersprüchlichkeit die Vielfältigkeit der Szene verdeutlicht. Von der technischen Gestaltung und der Montage des Materials her ist der Dokumentarfilm allerdings arg konventionell, fast schon konservativ ausgefallen. Das Rohe und Ungeschliffene der Musik, ihre Wut und Unmittelbarkeit überträgt sich kaum in die Bildsprache. Das ist schade, dürfte Fans und musikalische Sympathisanten, an die sich der Film explizit richtet, jedoch kaum stören. Alles in allem ist Francesca Araiza Andrade und Julia Ostertag ein engagierter Film gelungen, der zeigt, dass Punk als Subkultur auch heute noch ein identifikatorisches Potential für junge Menschen bietet.

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poliezei

(F 2011, Regie: Maïwenn)

Am Abgrund
von Harald Steinwender

Tagtäglich werden die Polizisten der Pariser Jugendschutzabteilung mit unfassbarem Elend konfrontiert: Verwahrlosung und familiäre Gewalt, bandenmäßig organisierte Jugendkriminalität, sexueller Missbrauch, Inzest und Kinderpornografie. Während Abteilungsleiter Balloo (Frédéric Pierrot) sich mit …

Tagtäglich werden die Polizisten der Pariser Jugendschutzabteilung mit unfassbarem Elend konfrontiert: Verwahrlosung und familiäre Gewalt, bandenmäßig organisierte Jugendkriminalität, sexueller Missbrauch, Inzest und Kinderpornografie. Während Abteilungsleiter Balloo (Frédéric Pierrot) sich mit bürokratischen Vorgesetzen einen Kleinkrieg um Finanzmittel liefert, wird der Abteilung die junge Fotografin Melissa (Maïwenn) zugeteilt, die deren Arbeit dokumentieren soll. Nach anfänglichen Spannungen von der Gruppe akzeptiert, begleitet Melissa die Sondereinheit in den nächsten Wochen und lernt die Abgründe der französischen Gesellschaft kennen.

Regisseurin Maïwenn, zugleich Koautorin und eine der Hauptdarstellerinnen, versucht in ihrer dritten Regiearbeit, die Komplexität des bedrückenden Sujets mit all seinen Widersprüchen darzustellen. Die Milieus, in denen die Polizisten ermitteln, reichen vom Prekariat bis in die abgeschotteten Luxusappartements der Oberschicht. Nicht in jedem Fall können die Ermittler sicher sein, ob wirklich ein Missbrauch vorliegt. Und manche ihrer Entscheidungen, etwa Familien für immer auseinanderzureißen, mag den Kindern, denen sie helfen wollen, eher schaden.

'poliezei', dessen in krakeliger Kinderschrift falsch geschriebener Titel auf die jungen Opfer verweist, mit denen die Polizisten konfrontiert werden, ist alles andere als ein herkömmliches Genrestück. Vielmehr inszeniert die ehemalige Kinderdarstellerin Maïwenn einen Ensemblefilm, in dessen Mittelpunkt der Umgang der Protagonisten mit ihrer schwierigen Arbeit steht. Die sprunghafte Montage, oft improvisiert wirkende Bildgestaltung und eine episodische Struktur erinnern dabei an dokumentarische Erzählformate. Das naturalistische Spiel der ausgezeichneten Schauspielerriege – allen voran Karin Viard und Marina Foïs – trägt ein Übriges dazu bei, dass 'Poliezei' trotz seiner Länge von mehr als zwei Stunden eine selten erlebte Unmittelbarkeit und emotionale Wucht entwickelt.

Dass 'poliezei' kein gänzlich zermürbender und hoffnungsloser Film ist, liegt daran, dass die Regisseurin ihren Protagonisten trotz des düsteren Arbeitsalltags flüchtige Glücksmomente zugesteht, etwa in einem Nebenhandlungsstrang die vorsichtige Annäherung der jungen Fotografin und des Polizisten Fred (JoeyStarr). Einen gemeinsamen Disco-Besuch der Abteilung inszeniert Maïwenn gar als Musical-Sequenz – ein Stilbruch in der sonst dem Verismus verpflichteten Inszenierung, als ästhetische Zäsur zugleich ein utopisches Moment.

Aufgrund seines schwierigen Sujets wird 'poliezei', der auf den Filmfestspielen in Cannes mit dem Jurypreis ausgezeichnet wurde, kaum ein großes Publikum finden. Das ist schade, denn er zählt zu den eindringlichsten und interessantesten Filmen des Jahres.

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Ponyo – Das große Abenteuer am Meer

(JAP 2008, Regie: Hayao Miyazaki)

Epigonal
von Harald Steinwender

Das Goldfischmädchen Ponyo lebt zusammen mit Vater und Geschwistern im Meer. Als sich die abenteuerlustige Kleine beim Spielen in einem Einmachglas verfängt und an Land gespült wird, rettet sie der …

Das Goldfischmädchen Ponyo lebt zusammen mit Vater und Geschwistern im Meer. Als sich die abenteuerlustige Kleine beim Spielen in einem Einmachglas verfängt und an Land gespült wird, rettet sie der 5-jährige Sosuke. Während Ponyos Vater, der Zauberer Fujimoto, verzweifelt seine Tochter sucht, kümmert sich Sosuke liebevoll um seinen 'Fang'. Als sich die mit magischen Kräften ausgestattete Ponyo in den aufgeweckten Fischerjungen verliebt, verwandelt sie sich in einen Menschen. Nun ein quirliges Mädchen, wird Ponyo sogleich in Sosukes Familie aufgenommen. Doch ihre Gestaltwandlung hat die Kräfte des Ozeans entfesselt und Sosukes Vater, der sich auf See befindet, gerät in Gefahr. Ponyo muss sich entscheiden: entweder ins Meer zurückkehren oder für immer als Mensch leben.

Hayao Miyazaki ist der Altmeister des Anime, des japanischen Zeichentrickfilms. Der heute 69-jährige hat bereits in den 60er Jahren als Zeichner in der japanischen Filmindustrie zu arbeiten begonnen, wirkte in den 70ern an auch bei uns populären Kinderserien wie 'Heidi' ('Arupusu no shôjo Haiji'; 1974) mit und machte mit dem von ihm gegründeten Studio Ghibli und Werken wie 'Mononoke-hime' ('Prinzessin Mononoke'; 1997) das Genre auch im Westen für Erwachsene salonfähig. Sein jüngster Film, bereits 2008 fertig gestellt und auf verschiedenen Festivals ausgezeichnet, ist im Vergleich zu den Vorgängerwerken wieder stärker auf ein rein kindliches Publikum zugeschnitten.

In 'Gake no ue no Ponyo' ('Ponyo – Abenteuer am Meer') gibt es viel zu sehen: allerlei niedliches und sorgfältig animiertes Meeresgetier, futuristische anmutende Hochseefortbewegungsmittel und eine parodistisch an Wagners 'Ritt der Walküren' angelegte Sequenz, in der Ponyo, die eigentlich Brünnhilde (!) heißt, zu Joe Hisaishis Filmmusik auf belebten Wellen reitet. Insbesondere in den ersten Sequenzen im Meer finden sich oft in einer Einstellung mehr Ideen als manch anderer Animationsfilm in der halben Laufzeit aufbringt. Wie gewohnt, verzichtet Miyazaki dabei auf Computeranimationen und vertraut auf traditionelle Handarbeit.

So phantasievoll und atmosphärisch die Abenteuer der kleinen Ponyo gestaltet sind – im Vergleich zu Miyazakis bisherigem Alterswerk fällt die Variation von Hans Christian Andersens Märchen von der kleinen Meerjungfrau deutlich ab. Zu langatmig wird die dünne Handlung erzählt, obendrein ist 'Ponyo – Abenteuer am Meer' mit offensichtlichen Selbstzitaten aus 'Kaze no tani no Naushika' ('Nausicaä aus dem Tal der Winde'; 1984) und 'Tonari no Totoro' ('Mein Nachbar Totoro'; 1988) fast epigonal auf das eigene Werk bezogen. Miyazakis bislang größte Erfolge im Westen, 'Prinzessin Mononoke' und 'Sen to Chihiro no kamikakushi' ('Chihiros Reise ins Zauberland'; 2001), waren bedeutende Animationsfilme, die es leicht mit der Konkurrenz aus dem Hause Disney-Pixar und DreamWorks aufnehmen konnten. 'Ponyo – Abenteuer am Meer' dagegen ist vor allem ein großer Spaß für die Kleinsten. Für deren Eltern ist er allerdings etwas ermüdend.

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Shanghai

(USA / CN 2010, Regie: Mikael Håfström)

Noir in Aspik
von Harald Steinwender

Im Oktober 1941 kommt der US-Amerikaner Paul Soames (John Cusack) in die chinesische Hafenstadt Shanghai, die seit vier Jahren von japanischen Streitkräften besetzt ist. In der internationalen Metropole, in die …

Im Oktober 1941 kommt der US-Amerikaner Paul Soames (John Cusack) in die chinesische Hafenstadt Shanghai, die seit vier Jahren von japanischen Streitkräften besetzt ist. In der internationalen Metropole, in die viele europäische Juden geflüchtet sind, soll Soames als Journalist getarnt für sein Land spionieren. Doch bei seiner Ankunft muss er feststellen, dass ein ebenfalls als Agent tätiger Freund ermordet wurde. Entschlossen, den Mord aufzuklären, stürzt sich Soames in das Nachtleben Shanghais. Seine Ermittlungen führen ihn zu der mysteriösen Anna (Gong Li), dem Triaden-Boss Anthony (Chow Yun-Fat) und dem japanischen Geheimdienstoffizier Tanaka (Ken Watanabe). Auch eine alte Bekannte, die Deutsche Leni (Franka Potente), hält sich in der Stadt auf, die zunehmend von Konflikten zwischen den japanischen Besatzern, einheimischen Widerstandsgruppen und lokalen Gangstern erschüttert wird. Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor und dem Kriegseintritt der USA gerät die Situation völlig außer Kontrolle.

Die Vorbilder von Mikael Håfströms zwischen Thriller und Kriegsfilm, Romanze und Spionagefilm angesiedelter Großproduktion sind offensichtlich: von den Films Noirs der 1940er und 50er Jahre die expressiven Schattenspiele; von Michael Curtiz‘ Klassiker 'Casablanca' (1942) die trianguläre Figurenkonstellation, die einen amerikanischen Abenteurer, eine exotische Femme fatale und einen undurchschaubaren Gangsterboss zusammenbringt; von den Spionagefilmen der Kalten-Kriegs-Ära die Paranoia. Insbesondere die Stilmittel von Hollywoods Schwarzer Serie werden dabei fast pflichtschuldig abgehandelt. So wird der Großteil der Handlung in einer langen Rückblende erzählt, und der Held kommentiert über eine Voice-over die Handlung aus dem Off. Farbgebung und Lichtsetzung lassen 'Shanghai' wie einen Schwarzweißfilm in Farbe wirken – mit ausgesucht dunklem Timbre der Bilder und harten Schlagschatten; Gesichtern, die von der Dunkelheit verschluckt werden; alles zudem angesiedelt in einer Stadt, die als unübersichtlicher Moloch unter eitergelb-stahlgrauem Himmel inszeniert wird. Und natürlich ist nichts, wie es scheint, jeder hat eine zweite Identität und eine heimliche Agenda, alle verstricken sich heillos in Politik und privaten Obsessionen.

Die elegante Kameraarbeit von Benoît Delhomme ('1408' / 'Zimmer 1408'; 2007) und das Produktionsdesign von Jim Clay ('Children of Men'; 2006) erwecken das Shanghai der Weltkriegsära im Londoner Studio glaubwürdig zum Leben. Doch auch die schönsten Bilder und die detailreichste Ausstattung retten Håfströms Retro-Thriller nicht vor einem verworrenen Drehbuch, dem es nie gelingt, die zentralen Konflikte herauszuarbeiten und Cusacks Protagonisten zu einem überzeugenden Antihelden zu machen. Als Film scheitert 'Shanghai' daran, dass er sein Publikum nie emotional einbindet oder über filmhistorische Anspielungen heraus etwas Eigenständiges kreiert. So erstickt 'Shanghai' im Reichtum seiner Bilder und erreicht nie die Klasse seiner Vorbilder, deren Überlegenheit durch die vielen Anspielungen nur umso schmerzhafter herausgestrichen wird.

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To The Wonder

(USA 2012, Regie: Terrence Malick)

Dem Himmel so fern
von Janis El-Bira

Der Film beginnt wie noch keiner von Terrence Malick zuvor: Mit verwackelten Videobildern. Ein Paar filmt sich und Andere(s) während einer Zugfahrt, in einem Museum, im nächtlichen Paris. Die Aufnahmen …

Der Film beginnt wie noch keiner von Terrence Malick zuvor: Mit verwackelten Videobildern. Ein Paar filmt sich und Andere(s) während einer Zugfahrt, in einem Museum, im nächtlichen Paris. Die Aufnahmen sind das Souvenir einer jungen Liebe am schon beinahe überreizten Höhepunkt ihres Bestehens. Die Frau, Marina (Olga Kurylenko), spricht französisch aus dem Off; der Mann, Neil (Ben Affleck), ist ein stiller Amerikaner. Sie sagt Dinge, die Texten mittelalterlicher Mystikerinnen entnommen sein könnten: Vom Neugeborensein, vom schmelzenden Vergehen, vom Sturz in die Flamme, von der ewigen Nacht. Das Material wechselt auf lichtgleißende Malick-Filmbilder und das Paar verlässt Paris im Auto. Am Mont-Saint-Michel vor der normannischen Küste steigt es – wir hören das „Parsifal“-Vorspiel – die Stufen zum Kloster hinauf: „à la merveille“, „to the wonder“.

Spätestens seit „The Tree of Life“ im vorvergangenen Jahr hat der wohl noch immer geheimnisvollste und zurückgezogenste „Starregisseur“ des amerikanischen Kinos die Gemüter relativ trennscharf in zwei Lager gespalten: Das ländliche Leben einer amerikanischen Kleinfamilie wurde zur Folie, vor der – im wahrsten Sinne – die Himmel sich teilten, Sterne geboren wurden und starben, Galaxien aufleuchteten und für immer vergingen. Dazwischen rangen die Irdischen in flehentlichen Gebeten mit dem oft so wenig „lieben Vater überm Sternenzelt“, der, wie schon beim unseligen Hiob, nicht anders antworten wollte, als in Licht und Donner seine Herrlichkeit zu erweisen: „Wo warst du, als ich den Himmel und die Sterne machte?“ Als manche bei all dem gottesdienstlichen Himmelsstreben vor lauter Weihrauch die Leinwand nicht mehr sehen konnten, feierten andere frenetisch einen im besten Sinne hoffnungslos überambitionierten Filmemacher: Als habe hier einer filmisch versucht, über den „Umweg“ der amerikanischen Romantik die „reale“ Natur wieder in die Tradition des deutschen Idealismus (aus der Heidegger-Übersetzer Malick noch am ehesten stammt) zurückzuholen. Die einen sahen ein Meisterwerk, die anderen kreationistischen Kitsch.

Mit „To the Wonder“ scheint die Situation im Moment zugunsten der Kritiker gekippt zu sein. Allzu abgestanden erscheinen die Bilder aus dem Pariser Idyll, allzu ausgelassen tanzt Marina über die Weideflächen Oklahomas nach der Übersiedlung des Paares in die USA und allzu wenig scheinen die wenigen Figuren „tief“ und die Konflikte, die sie um (spirituelles) Heimweh und gegenseitige Entfremdung austragen, „entwickelt“ zu sein. Zum Teil ist das richtig. Andererseits jedoch scheint dahinter auch die Irritation über einen unter der perlmuttglänzenden Oberfläche austernhaft verschlossenen Film zu stehen, der passagenweise fast besser in die „black boxes“ einer Ausstellung als ein reguläres Kino passen würde. Nicht zuletzt ist da womöglich auch die nicht allein angenehme Einsicht, dass es sich hierbei wahrscheinlich um Malicks pessimistischsten (und durchaus: „unfeierlichsten“) Film seit „Badlands“ handelt.

Dabei knöpft „To the Wonder“ zunächst in vielfacher Hinsicht an „The Tree of Life“ an: Der Vorgängerfilm hatte seine stärksten, frappierend rührenden Momente in den regelrecht mikroskopisch aufgezeichneten, physischen Fundamenten des familiären Mitseins: Im Spiel des Vaters mit den Füßen des Kindes, im Erheben der Hand gegen den Sohn oder dem wundersamen Blick eines Zweijährigen auf ein Neugeborenes. Auch „To the Wonder“ ist in diesem Sinne ein Berührungs- und Körperfilm von immenser Sanftheit, fast mehr jedoch noch eine Bewegungsstudie über Leiber im und gegen den Raum. Marinas Figur erscheint dabei auf seltsame Art als ständig schwindend, stets im Vorauseilen begriffen, ist aber in der physischen Konfrontation intensiver, fordernder als der ungleich mühevoller seine Schritte setzende Neil. Sie erhofft zu Beginn, „wenigstens einen Stück des Weges gemeinsam zu gehen“ – die mystische Verschwendung ihres Wesens vom Anfang indes findet keine Resonanz im so amerikanisch-warmen „My sweet love“, das Neil ihr (oder uns) bei der gemeinsamen Ankunft in seiner Heimat entgegenspricht. Die Ornamentik der Pariser Häuserfassaden erzählt eine andere Geschichte als die strenge Funktionalität der Farmen Oklahomas. Hier imitieren Springbrunnen eine Natur, die es nie gab, dort macht der stete Gleichtakt der großen Bohranlagen das Land zu Geld. Malicks neuer Film ereignet sich nahezu ausschließlich auf dieser Ebene beinahe unspürbarer Nuancen und lässt doch allerorten, man möchte sagen: subkutan, einen traurigen Wahrheitskern der Liebe erahnen: Wo Horizontverschmelzung ausgeschlossen bleiben muss, wird Verstehen zu einer Frage der Übersetzbarkeit. Das ist nicht allein eine Angelegenheit der gesprochenen Sprache: Einmal sehen wir, wie Marina und Neil sich spielend gegenseitig die Gesichter mit einem Tuch verdecken. Das Motiv der Verfremdung und Wieder-Entdeckung des anderen Körpers kehrt symbolisch für die ungezählten Anläufe der gegenseitigen Bezugnahme mehrfach wieder.

Mit deren zunehmendem Scheitern zerbricht die Beziehung des Paars. Marina geht zurück nach Frankreich, wird jedoch von Heimweh und Sehnsucht überwältigt und kehrt nach kurzer Zeit um. Die Tochter, die sie in die Beziehung zu Neil mitgebracht hatte, lässt sie beim Vater in Paris. Neil hat in der Zwischenzeit eine Affäre mit einer Jugendliebe (Rachel McAdams) neu aufleben lassen, kann sich aber nicht dauerhaft für sie entscheiden. Als Marina zurückkehrt und die mittlerweile mit Neil geschlossene Ehe erneut in krisenhafte Bahnen gerät, schläft sie mit einem Fremden in einem Motelzimmer. Sie ertastet ihn, fühlt die Fremdheit und was sie bedeutet. Neil wankt, als er davon erfährt, doch er vergibt ihr. Wie ein Exeget des Alltags schleppt sich leichenblass der Ortspfarrer (Javier Bardem) durch die Szenen und erklärt, fast wie zum Spott, es seien vor allem die Zauderer gewesen, für die Jesus das kleinste Verständnis habe aufbringen können: Wer entscheidet, mag sündigen, doch wer zögert und zurückweicht, hat es schon. Entsprechend hämmert er seinen selbst längst verlorenen Glauben mit einigem Trotz in die Köpfe der Gläubigen und salbt hingebungsvoll die Armen und Kranken, die fast wie Interviewpartner aus einem ganz anderen Film vor Malicks Kamera treten. „Man muss lieben“, sagt er. Was könnte er auch sonst noch sagen? Einmal drückt er seine Hand gegen die bemalten Fenster der Kirche. Das Licht, das hindurch fällt, scheint ihm unendlich weit weg. Dem Himmel so fern, bleiben noch die Rituale, die Gebete, die immer neue Beschwörung, das Ausharren. Neil und Marina harren nicht länger aus, sie trennen sich. Wie eine Klammer schließt sich das Bild des Klosters auf dem Mont-Saint-Michel am Ende um den Film: Auf schroffen Stein und täglich überfluteten Sand gebaut, mag es, unsigniert und überzeitlich, vielleicht ein Trost, gar eine Hoffnung sein. „La merveille“, das Wunder aber, es bleibt den Liebenden versagt.

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Das rote Zimmer

(D 2010, Regie: Rudolf Thome)

Sanft, eher passiv ...
von Wolfgang Nierlin

Das Ungewöhnliche und Wunderliche erscheint selbstverständlich und alltäglich in den Filmen von Rudolf Thome. Es sind filmisch realisierte Träume, die der feinsinnige Künstler seit über vierzig Jahren mit romantisch-märchenhafter Verve …

Das Ungewöhnliche und Wunderliche erscheint selbstverständlich und alltäglich in den Filmen von Rudolf Thome. Es sind filmisch realisierte Träume, die der feinsinnige Künstler seit über vierzig Jahren mit romantisch-märchenhafter Verve seinem kleinen, aber treuen Publikum offeriert. Mit großer Offenheit, unkonventionellem Taktgefühl und freiem Geist feiert Thome die Schönheit des Lebens und die Utopie der Liebe als Ausdruck künstlerischer Imagination. „Wir müssen die Liebe neu erfinden“, heißt es diesbezüglich in seinem neuen Film „Das rote Zimmer“. Dabei gehen in Thomes Liebesuniversum die Wünsche durchaus in Erfüllung; und die Sehnsüchte finden einen Ort.

Er fühle sich zeitweise wie eine „Fliege im Spinnennetz“ sagt Fred Hintermeier (Peter Knaack) einmal. Eben ist der Wissenschaftler mit dem merkwürdigen Beruf des „Kussforschers“ (Philematologe) vierzig Jahre alt geworden. Seine Frau lässt sich von ihm scheiden, doch Fred fühlt ewige Treue. Kurz darauf lernt dieser sanfte, eher passive Mann mit seiner ebenso unschuldigen wie übergroßen Liebessehnsucht die beiden jüngeren Frauen Luzie (Katharina Lorenz) und Sibil (Seyneb Saleh) kennen. Die beiden leben als Liebespaar abgelegen in einem schönen Haus im Grünen, umgeben von Wald und Wiesen, einem See und viel Ruhe. Während Luzie an einem Buch über „Die Seele der Männer“ arbeitet, frönt die junge Ausreißerin Sibil dem Müßiggang.

Kurzentschlossen zieht Fred in dieses Paradies, also von Berlin nach Ostvorpommern, um sich dem sogenannten „Ewigkeitstest“ zu unterziehen. Dabei übt er sich ein in einen neuen, naturverbundeneren Rhythmus und unterwirft sich bereitwillig den launischen Bestimmungen einer weiblichen Dominanz, die Genuss schenkt, dabei aber nie den Sinn für eine solide Geschäftstüchtigkeit verliert. Der „Liebesvertrag“ für diese utopische ménage à trois, der die Vermittlung ästhetischer und pragmatischer Gründe beinhaltet, wird deshalb auch von den Frauen formuliert. In Rudolf Thomes phantasievoll, sprunghaft und zurückhaltend inszenierter Glücksvision, in der die Frauen den Kurs bestimmen und die Seele des Mannes sehr weiblich erscheint, hat die Schönheit eben ihren pekuniären Preis.

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To the Wonder

(USA 2012, Regie: Terrence Malick)

Große Musik
von Wolfgang Nierlin

Eine Französin und ein Amerikaner, deren Namen man erst aus dem Abspann erfährt, verlieben sich ineinander. Das wird allerdings nicht als Geschichte erzählt, sondern in Sätzen aus dem Off des …

Eine Französin und ein Amerikaner, deren Namen man erst aus dem Abspann erfährt, verlieben sich ineinander. Das wird allerdings nicht als Geschichte erzählt, sondern in Sätzen aus dem Off des Films behauptet. Denn Terrence Malick ersetzt in seinem neuen, mit einer offenen Form experimentierenden Film „To the Wonder“ die Narration durch schwelgerische Stimmungsmalerei und eine möglich Handlung durch poetisches Geflüster, das auf Dialoge weitgehend verzichtet. Dabei spricht Marina (Olga Kurylenko) französisch und Neil (Ben Affleck) englisch. Die alleinerziehende Mutter einer 10-jährigen Tochter, die sich nach einer gescheiterten Beziehung wie „neugeboren“ fühlt, sagt: „Du hast mich aus dem Schatten geführt“. Solche Sätze sind immer auch Gebete, in denen Gott und seine Präsenz im Menschen als Quelle der Liebe angesprochen wird. „Wir steigen die Stufen hinauf, hinauf zu dem Wunder“, heißt es etwa, wenn das herumtollende Paar die Abteikirche des Mont-Saint-Michel besucht und kurz danach auf dem schwabbeligen Watt wie über Wasser geht. Oder auch: „Was ist das für eine Liebe, die uns liebt?“, während wortloses Glück die Bilder füllt.

„To the Wonder“ ist insofern zuerst filmischer Gottesdienst und heilige Handlung. Terrence Malick beschwört darin das Wunder der Liebe und die Göttlichkeit der Natur. Von großer Musik begleitet, feiert er deren Schönheit. In charakteristischer Untersicht und fließenden Bewegungen folgt die Kamera den tänzelnden Bewegungen Marinas und den nachdenklicheren Neils durch wogende Getreidefelder, in die goldenes Licht fällt. Der Film spielt jetzt in den USA und die konservative Rede ist von einem „ruhigen, ehrlichen und reichen Land“, über das Marina immer wieder mit wunderlichem Blick und ausgestreckt empfangenden Armen wandelt. In den Innenräumen mit ihren erlesenen Interieurs wiederum flutet warmes Licht auf Körper und Gegenstände und ein milder Wind bauscht die Vorhänge wie in einem schönen Traum. Im Bildaufbau genau komponiert, wirkt vieles assoziativ und irgendwie beliebig montiert und folgt allenfalls einer Logik des Herzens. Mit seinem dekorativen, manierierten Stil, der die Schauspieler zur Staffage degradiert und aufs Erzählen weitgehend verzichtet, ersetzt Malick das Abbild konkreten Lebens durch abstrakte Ideen. Deren visuelle Beschwörung gerät oft kitschig, pseudo-tiefsinnig, affektiert und leider auch zunehmend ermüdend.

Es gibt in „To the Wonder“ weder Charaktere mit (nachvollziehbaren) Emotionen noch eine dramatische Spannung; stattdessen kreist die Kamera immer wieder um mehr oder weniger unmotivierte Bewegungen und bedeutungsschwangere Blicke. In denen geht es um Treue und Verrat, Strafe und Vergebung. Denn als Marina zurück nach Paris fährt, hat Neil eine Affäre mit einer Jugendfreundin (Rachel McAdams). Zwar werden er und Marina später doch noch heiraten, aber ihr Eheglück bleibt fragil, nicht zuletzt weil die Französin, von einer italienisch sprechenden Freundin zum Ehebruch „verführt“, der Versuchung des Fremdgehens in der Begegnung mit einem Unbekannten nachgibt. Verschränkt werden diese Plot-Einsprengsel mit den Glaubenszweifeln eines – diesmal spanisch sprechenden – Priesters (Javier Bardem), der sich um sozial Ausgegrenzte kümmert, sowie mit Neils obskurer Tätigkeit im Kampf gegen die Umweltzerstörung. Davon wird wie von vielem anderen zwar wenig sichtbar; Malicks Ode an die göttliche Liebe feiert stattdessen umso ausgiebiger die Natur und umarmt die Welt.

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Berberian Sound Studio

(GB 2012, Regie: Peter Strickland)

Giallo lebt
von Carsten Happe

Eines der Lieblingsgenres von Filmnerds und Cineasten mit etwas abseitigem Geschmack ist der sogenannte Giallo, eine italienische Variante des Horrorfilms, die zumeist in den Erotik- und Psychothriller changierte und in …

Eines der Lieblingsgenres von Filmnerds und Cineasten mit etwas abseitigem Geschmack ist der sogenannte Giallo, eine italienische Variante des Horrorfilms, die zumeist in den Erotik- und Psychothriller changierte und in ihrer Hochphase in den 60er und 70er Jahren so spekulative wie spektakuläre Meisterwerke wie Dario Argentos „Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe“ hervorbrachte. Der Spuk fand schnell ein Ende, als die kommerzielle Ausbeutung vollends einsetzte, doch der Respekt einer neuen Filmemachergeneration für die alten Eurotrash-Schinken ist weit verbreitet, wie etwa die belgische Arthouse-Hommage „Amer“ aus dem Jahr 2009 zeigte. Über Dario Argentos eigenen Genrenachklapp „Giallo“ aus dem selben Jahr und mit dem unglücklichen Adrien Brody in der Hauptrolle hüllen wir hier besser den gnädigen Mantel des Schweigens.

Ein Brite hält nun die Fahne weiterhin eindrucksvoll hoch. Der junge Regisseur Peter Strickland hat sich nach seinem Debüt, dem in Transsylvanien gedrehten Festivalliebling „Katalin Varga“, mit „Berberian Sound Studio“ getraut, nicht nur dem Genre eine liebevolle Reverenz zu erweisen, sondern auch die nicht selten abstrusen Mechanismen seines Herstellungsprozesses zu erhellen – wie sehr der Film sich auch im Halbdunkel gefällt. Darüber hinaus klingen in der zunächst als Culture Clash angelegten Story vom distinguierten britischen Toningenieur, der von windigen italienischen Produzenten für das Sound Design des mutmaßlich ultimativen Schockers angeheuert wird, im Laufe des Films immer mehr Anspielungen an die surreale Welt eines David Lynch an, so dass man irgendwann vor Zitaten, Verweisen und Meta-Ebenen kaum noch weiß, wo man eigentlich hinschaut. Und doch beweist „Berberian Sound Studio“ bei aller Retro-Schwelgerei und demütigen Verneigung genügend Eigenständigkeit und Originalität, dass er auch kaum Eingeweihte zu faszinieren vermag.

Nicht zuletzt durch die phänomenale Performance seines Hauptdarstellers Toby Jones, der nach der Titelrolle in einem untergegangenen „Capote“-Konkurrenzwerk und unzähligen Nebenrollen endlich wieder sein enormes Talent zeigen darf, gelingt Peter Strickland die beeindruckende Neubelebung eines zu Recht unvergessenen Paralleluniversums der europäischen Filmgeschichte.

The Place Beyond the Pines

(USA 2012, Regie: Derek Cianfrance)

Angeberkino und Autorenkino
von Ulrich Kriest

Tja, das waren noch Zeiten, als Männer auf Motorrädern in kugelförmigen Metallkäfigen jahrmarktstaugliche Hochgeschwindigkeitsakrobatik zeigten, durchtrainierte, ganzkörpertätowierte, blondierte Nomaden. Ride like the wind. Heute hier, morgen dort. Luke, gespielt von …

Tja, das waren noch Zeiten, als Männer auf Motorrädern in kugelförmigen Metallkäfigen jahrmarktstaugliche Hochgeschwindigkeitsakrobatik zeigten, durchtrainierte, ganzkörpertätowierte, blondierte Nomaden. Ride like the wind. Heute hier, morgen dort.

Luke, gespielt von Ryan Gosling, dem allmählich ein zweiter Gesichtsausdruck zu wünschen wäre, damit ihm nicht wie bei „Only God Forgives“ das Gesicht zerschlagen werden muss, um dieses Resultat zu erhalten, ist so ein Typ, der einer Trailer-Park-Beauty wie Romina (Eva Mendes) schon mal bei einem One-Night-Stand ein Kind macht, um am nächsten Morgen weiterzuziehen.

Als ihn der Jahrmarkt das nächste Mal nach Schenectady im Bundesstaat New York führt, ist sein Sohn bereits auf der Welt – und Mutter Romina hat sich einen anderen, zuverlässigeren, langweiligeren Mann gesucht, der als Vater für ihr Kind sorgen soll. Aber Luke liebäugelt mit dem Gedanken, jetzt eben auch eine Familie zu haben (zuvor hatte er wohl selbst keine) und drängt sich freundlich, aber etwas unbeholfen in Rominas Leben. Er weiß nicht genau, was er will, aber er weiß auch nicht, wie er es bekommen soll. Punkrock hoch zwei. „Faustrecht der Freiheit“, wenn man so will.

Weil Luke keinen rechten Plan hat, lässt er sich von einer Zufallsbekanntschaft inspirieren, kümmert er sich erst einmal um Finanzielle und nutzt dazu seine Talente als Todesfahrer von der Kirmes: Banküberfall. Da ist Ryan Gosling plötzlich wieder auf der Flucht – und ganz nah bei seiner Rolle aus „Drive“. Nur, dass aus professioneller Coolness des Fahrers jetzt etwas Forciertes geworden ist.

Zwar kann Luke jetzt Geschenke machen, aber nicht immer sind diese Geschenke wohl gelitten. Dieses etwas schräge, über Bande gespielte Familienmodell kann nicht lange gut gehen – und es geht auch nicht lange gut. Als Luke die Sache überreizt, kommt eine neue Figur ins Spiel: der Polizist Avery, gewohnt blauäugig gegeben von Bradley Cooper.

Regisseur und Mit-Drehbuchautor Derek Cianfrance („Blue Valentine“) verweist in Interviews diesbezüglich nur zu gerne auf sein großes Vorbild Hitchcock, der in „Psycho“ schließlich auch gewagt habe, nach einer Dreiviertelstunde den Blick von Janet Leigh zu wenden. Aber „The Place Beyond the Pines“ ist nur bedingt ein Thriller, eher schon ein Epos in Sachen Determinismus und verstörter Männlichkeit. Auch Avery sucht nämlich seinen Platz im Leben, allerdings unter ganz anderen Voraussetzungen als Luke. Avery ist der Sohn eines sehr erfolgreichen Vaters, der eine einschlägige Karriere ausschlug, um aus dessen Schatten zu treten. Was nicht bedeutet, dass er keinen Ehrgeiz hat, aber erst einmal macht er einen Fehler, aus dem er dann, als Held gefeiert und trotz seiner Schuldgefühle, Kapital zu schlagen versucht. Ist Avery ein etwas naiver Idealist, der sich gerne zum falschen Zeitpunkt bemüßigt fühlt, sich seiner Ideale zu erinnern? So blickt er bei seinen gut gelaunten Polizisten-Kollegen (wie stets wunderbar abgründig: Ray Liotta) zunächst in einen Abgrund von Korruption, bevor er beschließt, sein Wissen gegen den herrschenden Korpsgeist Kapital in Anschlag zu bringen, um auf dieser zweiten Heldentat eine politische Karriere zu gründen – und seine Pflichten als Vater zu vernachlässigen.

Väter und Söhne. An- und abwesende Väter, die Schuld auf sich laden. Schuld, die vielleicht erst sehr viel später Konsequenzen zeitigt, aber gewissermaßen in der Familie bleibt. Je mehr der Film will, desto schlechter wird er. Je intensiver der Film daran arbeitet, komplexe Konstellationen und Zusammenhänge zu entwickeln, desto mehr spürt der Zuschauer, dass hier bestenfalls ein prätentiöses Drehbuch waltet, unterfüttert vielleicht von einem Mangel an Selbstkritik, gepaart mit dem Willen zur Kunst. Im dritten Teil dieses viel zu langen Films, wenn der Zufall die beiden Söhne von Luke und Avery aufeinander treffen lässt und die Geschichte sich wiederholen scheint, wird der Film, der durchaus ansprechend begann, zu seiner eigenen Parodie. Er zeigt spekulativ und in naturalistischer Manier »das Leben« als sozial und/oder biologisch determiniert, möchte aber trotzdem einen pädagogisch wertvollen, offenen Schluss, damit zwar angedeutet wird, aber nicht als ausgemacht gelten kann, dass die Söhne die Fehler ihrer Väter wiederholen.

Achtet man auf die Nebenfiguren des Films, auf Romina oder den Kfz-Mechaniker Robin, scheint die Zeit in Schenectady jedoch still zu stehen. Keine Frage, hier spielt jemand die Hits von 1885. Naturalism is on the charts again. Aber mit großer Geste des Autorenfilmers, der sich in Interviews nicht entblödet, Sätze zu sagen wie: „Mein Ziel als Regisseur ist es, Klassiker zu schaffen. Deswegen träume ich natürlich davon, mal die Gelegenheit zu bekommen, einen Film wie „Vom Winde verweht“ zu inszenieren.“ Träum weiter, Derek!

Ins Blaue

(D 2012, Regie: Rudolf Thome)

Die verschworenen Blicke der Frauen
von Wolfgang Nierlin

„Träume können Wirklichkeit werden. Alle meine Filme sind realisierte Träume“, sagt der Produzent Abraham Rabenthal (Vadim Glowna in einer seiner letzten Rollen) einmal. Diese Sätze aus Rudolf Thomes aktuellem Film …

„Träume können Wirklichkeit werden. Alle meine Filme sind realisierte Träume“, sagt der Produzent Abraham Rabenthal (Vadim Glowna in einer seiner letzten Rollen) einmal. Diese Sätze aus Rudolf Thomes aktuellem Film „Ins Blaue“ passen ganz gut zum umfangreichen Œuvre des 73-jährigen Regisseurs, der in der Figur seines Alter Ego Rabenthal auch von sich selbst und seinem Metier spricht. Gewohnt sinnlich und leicht, verspielt und schönheitsverliebt entwickelt Thome seine Poesie des Einfachen, in der sich die Phantasien fast beiläufig symbolisch aufladen und in der aus den verschworenen Blicken der Frauen eine besondere Atmosphäre entsteht. Als Film-im-Film, der am Golf von Neapel spielt und in dem die Liebe vor und jenseits der Kamera komplizierte Wechselwirkungen eingeht, huldigt „Ins Blaue“ aber auch Jean-Luc Godards „Die Verachtung“ und François Truffauts „Die amerikanische Nacht“. Dabei blickt Rudolf Thome ebenso selbstironisch auf die Filmarbeit wie kritisch auf das teils unwürdig empfundene Geschäft dahinter.

„Ins Blaue“ und der gleichnamige Film-im-Film beginnen in Reminiszenz an Roberto Rossellinis „Reise in Italien“ als eine Art doppeltes Roadmovie: Eine Filmcrew um die junge Regisseurin Nike (Alice Dwyer) und ihren Vater Abraham von der Produktionsgesellschaft „Neue Mythos Film Berlin“ fahren zu Dreharbeiten nach Italien. Der alte Mann schläft mit einer der jungen Schauspielerinnen, wird von Finanzierungsschwierigkeiten geplagt und gerät überdies in einen schmerzlichen Vater-Tochter Konflikt. Im Film zweiten Grades wiederum unternehmen Laura (Elisabeth Leistikow), Eva (Esther Zimmering) und Josephine (Janina Rudenska) eine Bildungsreise durch Italien, die auch eine Suche nach dem Lebenssinn ist und auf der sie in wechselnden Gestalten der Liebe begegnen. Nacheinander machen sie Bekanntschaft mit einem Mönch namens Franziskus, mit dem Philosophen Herbert Wittgenstein (dem fiktiven „Sohn des großen Philosophen“) und einem stummen Fischer.

„Gott ist alles“ und „das Paradies ist überall“, sagt der eine, „alles fließt“ (Heraklit) der andere, während der dritte einfach nur Liebe macht. Das Ewige und das Unendliche, angstbesetzt und beunruhigend zugleich, bilden dabei stets den Horizont dieser Suche. Im Blick aufs Meer wird das titelgebende Blau zur Farbe der Sehnsucht, der Ferne und des Abschieds. In einem ständigen Wechsel der Perspektiven und der verschiedenen Ebenen der Inszenierung reflektiert Rudolf Thome letzte und doch stets sehr gegenwärtige Fragen. Dabei entstehen auf ebenso raffinierte wie verschlungene Weise berührende Verbindungen, Widerspiegelungen und Brüche zwischen dem Film ersten und demjenigen zweiten Grades, vor allem aber auch zwischen Kunst und Leben.

Zum Film gibt es hier auch ein Interview mit Rudolf Thome!

Auf brennender Erde

(USA / ARG 2008, Regie: Guillermo Arriaga)

The Beds Are Burning
von Harald Steinwender

Inmitten der mexikanischen Steppe steht ein Wohnwagen in Flammen. Mit ihm verbrennen Gina (Kim Basinger) und Nick (Joaquim de Almeida), die ihre außereheliche Affäre in diesem abgelegenen Liebesnest geheim gehalten …

Inmitten der mexikanischen Steppe steht ein Wohnwagen in Flammen. Mit ihm verbrennen Gina (Kim Basinger) und Nick (Joaquim de Almeida), die ihre außereheliche Affäre in diesem abgelegenen Liebesnest geheim gehalten hatten. Zum Entsetzen ihrer Familien beginnen ihre Kinder Mariana (Jennifer Lawrence) und Santiago (J. D. Pardo) bald nach der Katastrophe ebenfalls eine Beziehung. Viele Jahre später arbeitet die erwachsene Mariana (Charlize Theron) in Oregon unter einem anderen Namen als Restaurantmanagerin. Als Santiago mit einem Flugzeug verunglückt, holt sie ihre Vergangenheit ein.

'The Burning Plain' ('Auf brennender Erde') ist bezüglich seiner Handlung ein Melodram, wie es Douglas Sirk, der Meister des Genres, wohl auch vor 60 Jahren inszeniert hätte. Doch im Gegensatz zu den klassischen Melodramen Sirks, die meist chronologisch erzählt waren und in delirierend buntem Technicolor gedreht wurden, wählt der Mexikaner Guillermo Arriaga für sein Regiedebüt eine achronologische, zeitlich zersplitterte Dramaturgie. 'Auf brennender Erde' wechselt beständig zwischen Vergangenheit und Gegenwart und verknüpft die farblich voneinander abgesetzten, mäandernden Zeitebenen durch im Schnitt erzeugte Analogien. Diese Struktur überrascht kaum, zumal Arriaga ähnlich komplexe Erzählweisen bereits in seinen vielgelobten Drehbüchern für Alejandro González Iñárritu ('Amores Perros'; 2000; 'Babel'; 2006) und Tommy Lee Jones ('The Three Burials of Melquiades Estrada' / 'Die drei Begräbnisse des Melquiades Estrada'; 2005) erprobt hat.
Auch sonst ähnelt sein Film den Werken Iñárritus: die Nähe zum magischen Realismus in der Bildsprache, die seelischen Entblößungen der Schauspieler, die Schicksalhaftigkeit der Handlung. Arriaga arbeitet mit starken Polaritäten und offensichtlicher Symbolik, stellt immer wieder in den Bildern Feuer und Wasser, Männer und Frauen, Mexiko und die USA, die in gleißend helles Licht getauchte Vergangenheit und die blaugraue Tristesse der Gegenwart gegenüber. Und doch findet dieses Regiedebüt gerade in den leisen Szenen, den Zwischentönen, den impressionistischen Momenten zu sich und seine stärksten Momente.

Die in sich verschachtelte Erzählstruktur von 'Auf brennender Erde' überzeugt allerdings nicht vollständig. Letztlich erzählt Arriaga eine einfache Geschichte, die durch die Montage der verschiedenen Zeitebenen und Handlungsorte mitunter unnötig verkompliziert wird. Das von Charlize Theron, Kim Basinger und der seit Winter’s Bone' (2010) zum Jungstar avancierten Jennifer Lawrence angeführte Ensemble beeindruckt dagegen uneingeschränkt. Insbesondere Theron legt einen glaubwürdigen Seelenstriptease hin, der diesen in den USA bereits zwei Jahre vor seinem deutschen Kinostart veröffentlichten Independentfilm allemal sehenswert macht.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

Blue Valentine

(USA 2010, Regie: Derek Cianfrance)

You Always Hurt The One You Love
von Harald Steinwender

Die Ehe von Dean (Ryan Gosling) und Cindy (Michelle Williams) ist gescheitert. Ihre Beziehung ist geprägt von Misstrauen und Vorwürfen, Verbitterung und Wut; ein einziger zermürbender Kleinkrieg, der nur Verlierer …

Die Ehe von Dean (Ryan Gosling) und Cindy (Michelle Williams) ist gescheitert. Ihre Beziehung ist geprägt von Misstrauen und Vorwürfen, Verbitterung und Wut; ein einziger zermürbender Kleinkrieg, der nur Verlierer kennt. Um ihrer Partnerschaft eine letzte Chance zu geben, entscheidet sich das Paar, eine gemeinsame Nacht in einem Motel zu verbringen. Während sie sich streiten, betrinken und einen verzweifelten Versuch unternehmen, miteinander zu schlafen, erinnert sich jeder der beiden an ihre gemeinsamen sechs Jahre.

In seinem zweiten Spielfilm 'Blue Valentine' inszeniert Dokumentarfilmer Derek Cianfrance ein ebenso berührendes wie tieftrauriges Melodram über das langsame Sterben einer Liebe. In einer a-chronologischen Erzählung, strukturiert durch Rückblenden und gegeneinander geschnittenen Sequenzen aus Vergangenheit und Gegenwart, erzählt Cianfrance von den kleinen und großen Momenten im Leben des Paars: ihre erste, flüchtige Begegnung; die schief zur Ukulele gesungene Liebeserklärung, mit der Dean später Cindys Herz gewinnt; der gemeinsame Besuch beim Frauenarzt, als die schwangere Cindy das Kind ihres Exfreundes Bobby (Mike Vogel) abtreiben lassen will, sich aber im letzten Moment dagegen entscheidet, um ihre Tochter zusammen mit Dean aufzuziehen; dann ihre Hochzeit und der gemeinsame Alltag als Kleinfamilie mit Tochter Frankie (Faith Wladyka).

Dabei bleibt 'Blue Valentine' nahe an seinen Protagonisten, die von Michelle Williams ('Shutter Island'; 2010) und Ryan Gosling ('Crazy, Stupid, Love'; 2011) schmerzhaft intensiv und immer glaubhaft verkörpert werden. Einseitige Schuldzuweisungen spart Regisseur und Kodrehbuchautor Cianfrance aus. Keiner der jungen Ehepartner ist perfekt, jeder hat seine Fehler und trägt zum Zerbrechen der Beziehung bei. Auch weichen ihre Lebensentwürfe über die Jahre immer stärker voneinander ab, kleine Verletzungen summieren sich auf, irgendwann leben beide nur noch der gemeinsamen Tochter wegen zusammen.

Mit seiner ebenso nüchternen wie poetischen Erzählweise und dem harten Realismus des ärmlichen Sujets wirkt 'Blue Valentine' wie ein (sub-)urbanes Gegenstück zu Debra Graniks im US-amerikanischen Hinterland angesiedelten Thriller Winter’s Bone' (2010). Der Blick beider Independent-Filmemacher richtet sich auf ein gegenwärtiges Amerika, dessen Bewohner sich mit prekären Arbeitsverhältnissen mühsam durchschlagen, die Entbehrungen und Ungerechtigkeit ausgesetzt sind und doch nie zu Helden stilisiert, sondern stets als Menschen ernst genommen werden. Ähnlich wie 'Winter’s Bone' verklärt 'Blue Valentine' seine Protagonisten nicht und verfällt nie in falsches Pathos. Zusammen mit dem offenen Ende und der komplexen Zeitstruktur dürfte das Melodram für ein großes Publikum vermutlich zu sperrig sein. Aber gerade diese Eigenschaften machen 'Blue Valentine' auch zu einem bewegenden und intensiven Film. Völlig zu Recht wurden die beiden Hauptdarsteller für eine Vielzahl von Preisen nominiert, darunter Williams für den Oscar und Gosling für einen Golden Globe.

Dieser Text ist zuerst erschienen auf: www.br.de

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Die wilde Zeit

(F 2012, Regie: Olivier Assayas)

An der Revolution vorbeigeschrammt
von Andreas Busche

„Die neue Zeit ist zutiefst revolutionär und sich dessen bewusst. Auf keiner Gesellschaftsebene will man weitermachen wie bisher.“ Als die Situationisten 1972 ihre Kampfschrift Die wirkliche Spaltung in der Internationalen …

„Die neue Zeit ist zutiefst revolutionär und sich dessen bewusst. Auf keiner Gesellschaftsebene will man weitermachen wie bisher.“ Als die Situationisten 1972 ihre Kampfschrift Die wirkliche Spaltung in der Internationalen veröffentlichten, hatte sich die französische Linke weitgehend selbst kannibalisiert. Die Kämpfe von ‘68, als sich die Studenten und die Linke einen Sommer lang auf Augenhöhe mit der Arbeiterschaft wähnten, waren längst auf Nebenschauplätze verlagert. Der Protest diente nur noch Partikularinteressen. Wie sich die revolutionäre Zeit ohne wirklich revolutionäre Subjekte gestaltet, erzählt der französische Regisseur Olivier Assayas in seinem autobiographisch gefärbten Film “Die wilde Zeit”.

Der deutsche Titel ist so dämlich, dass er hier nur aus Chronistenpflicht Erwähnung findet. Im Originaltitel “Après Mai” (Nach-Mai) schwingt dagegen die Enttäuschung der spätgeborenen Jugend (zu der sich auch Assayas zählt) mit, an den revolutionären Prozessen knapp vorbeigeschrammt zu sein. Statt dessen durchlief diese Generation ihre politische Initiation in den Trümmern einer bürokratischen Widerstandsrhetorik.

“Après Mai” spielt am Übergang zur “neuen Zeit”: dem Coming-of-Age einer Jugend, die gerade noch die verlorene Freiheit erahnt und dafür gleich am Anfang von der Polizei brutal niedergeknüppelt wird, und dem Coming-of-Age eines revolutionären Gedankenguts, das sich nicht erst in Gremien und Räteabstimmungen legitimieren musste. “Après Mai” handelt also von Reifeprozessen. In den Moment, die Situation sozusagen, müssen sich Assayas’ jugendliche Protagonisten zwar noch einfühlen, aber die fiebrige Antizipation, an etwas Großem teilzuhaben, ist schon überwältigend – und gleichzeitig verdammt einschüchternd. Was tun, wenn einem theoretisch alle Möglichkeiten offenstehen?

Gilles, Assayas’ Alter ego, kriegt das situationistische Pamphlet erst ganz am Schluss in die Hände. Da öffnet “Après Mai” noch einmal die Synapsen, um frische Impulse in die bleierne Zeit der frühen Siebziger zu lassen. Aber Assayas stutzt auch diese aufkeimende Utopie mit einer letzten lakonischen (und gänzlich unhämischen) Volte. Gilles, der eine revolutionäre Syntax für ein revolutionäres Kino einfordert, fährt zur Arbeit am Set eines Nazi-/Monsterfilms. Das Kino des Feindes. Die anderen cinephilen Referenzen in “Après Mai” sind politisch über jeden Zweifel erhaben: Bo Widerbergs “Joe Hill” und “El Coraje del Pueblo” des bolivianischen Filmemachers Jorge Sanjinés, ein Klassiker des antiimperialen Kinos. Abends geht Gilles in einen experimentellen Filmclub, wo ihm seine verflossene Liebe, die immer in ihrer eigenen Zeit gelebt hat, von der Leinwand die Hand entgegenstreckt.

Assayas’ Beschäftigung mit dem politischen Radikalismus der Siebziger nimmt hier eine persönliche Wendung. Während “Carlos” die Auswüchse linker Politik auf einer globalen Skala rekapitulierte, kehrt Assayas nun an die Peripherie zurück, wo die politischen Deklamationen einige Nummern kleiner ausfallen. In der Pariser Vorstadt spielte schon sein anderer Siebziger-Jahre-Jugendfilm “L’eau froide” (1994), mit dem “Après Mai” mehr als nur die Namen seiner beiden Hauptfiguren Gilles und Christine gemein hat. Gilles, Christine, Alain und Jean-Pierre sind, ganz grundsätzlich, überhaupt nicht einverstanden und versuchen sich in verschiedenen Praktiken des (mehr oder weniger) zivilen Ungehorsams. Auf der Straße beziehen sie Prügel, im Schülerrat wird nur schlau gequatscht. Darum verzieren sie nachts die Fassade ihrer Schule mit Parolen.

Die nächtliche Aktion filmt Assayas wie aus einem Guss: eine begeisternde, agile Performance, die Bewegungsabläufe greifen nahtlos ineinander. Diese Inszenierung kommt der Idee von politischer Kunst in einem embryonalen Stadium schon recht nah. Das Kollektiv verleiht der politischen Position eine ästhetische Form. Assayas löst mit “Après Mai” gesellschaftliche Zusammenhänge und die Widersprüche von jugendlicher Identitätsfindung und staatlicher Zurichtung immer wieder auf so einleuchtende Weise erzählerisch auf. Und er spielt verschiedene Möglichkeiten alternativer Lebensentwürfe durch, auf die man sich als Teenager noch nicht festlegen will. Dazu gehören natürlich Sex, am besten auf Drogen, und wie immer bei Assayas: Musik. In “Après Mai” laufen der Hippie-Dippie-Folkrock der Incredible String Band, die dunkle Rorschach-Psychedelik eines Syd Barrett, der progressive Acid-Pop von Soft Machine und Kevin Ayers und der knarzige Kryptoblues Captain Beefhearts.

Es ist deutlich zu spüren, dass “Après Mai” auch Assayas’ persönliche Geschichte erzählt. Dennoch ist sein Film frei von jener Verklärung, mit der sich etwa Bertolucci in seiner weich gezeichneten Altmännerphantasie “Die Träumer” an die Pariser Unruhen an 1968 erinnerte. Die Aufregung, Wut und Verwirrung, die die Kamera aus unmittelbarer Nähe in den Gesichtern registriert, lässt erahnen, dass etwas mehr auf dem Spiel steht als die eigene Unschuld. Assayas nimmt die Träume seiner Protagonisten, genauso wie ihr vorläufiges Scheitern, sehr ernst. Gilles wendet sich dem Kino zu, Alain der Malerei, Christine geht mit einem Filmemacherkollektiv nach Italien, Jean-Pierre wird in der Gewerkschaft aktiv. Die Biographien driften – wie die politischen Bewegungen nach 1968 – langsam auseinander.

Politik begreift Assayas als Konzept, das man sehr unterschiedlich und auch sehr falsch ausgelegen kann. Dass der Begriff eine (richtige) Haltung gegenüber den Verhältnissen voraussetzt, hat er vor zehn Jahren der Witwe Guy Debords in einem langen Brief erklärt. “Selbst wenn du als Jugendlicher in den Siebzigern nicht für deine Überzeugung eintratst, bestand eine Verpflichtung, die dich als Subjekt in Relation zur Gesellschaft definiert: deine Verantwortung für die Welt. Aber dieses Verhältnis war nicht das Problem: Die eigentliche Herausforderung bestand darin, sich auf die richtige Methode und die richtigen Werte zu einigen, mit denen man den gesellschaftlichen Zuständen entgegentritt.”

Der Brief erschien kürzlich, erstmals in englischer Sprache, in der Textsammlung A Post-May Adolescence und liefert gewissermaßen den Schlüssel zu den psychedelischen Unschärfen und identifikatorischen Trial-and-Error-Prozessen in “Après Mai”. Assayas beschreibt das Scheitern von ’68 als eine Befreiung von politischen Dogmen – wofür ihm erst Debords Texte die Augen öffneten. Will man Assayas etwas vorwerfen, dann, dass sein Film endet, als es gerade interessant wird. Als Debords Versprechen einer “neuen Zeit” tatsächlich eine gesellschaftliche Brisanz besaß.

Olivier Assayas: A Post-May Adolescence. Synema, Wien 2012, 104 Seiten, 14 Euro
Kent Jones (Hg.): Olivier Assayas. Synema, Wien 2012, 256 Seiten, 22 Euro

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 6/2013

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Der große Gatsby

(USA / AUS 2012, Regie: Baz Luhrmann)

Der Kater ist berührend
von Andreas Busche

Gatsby also. Hätte F. Scott Fitzgerald ihn sich nicht schon vor neunzig Jahren ausgedacht, man müsste ihn erfinden. So gut passt er in unsere Zeit – erst recht in dem …

Gatsby also. Hätte F. Scott Fitzgerald ihn sich nicht schon vor neunzig Jahren ausgedacht, man müsste ihn erfinden. So gut passt er in unsere Zeit – erst recht in dem Format, in dem Baz Luhrmann ihn jetzt imaginiert: als dekadentes Blockbusterkino, das sich hartnäckig zu behaupten versucht zwischen effektstrotzenden Superhelden-Franchises und aufwendigem, leblosem Arthouse-Kitsch wie „Life of Pi“. Wer schon immer die Zeitlosigkeit von Fitzgeralds Gesellschaftsatire bewundert hat, darf sich wundern, warum sich Luhrmann mit dem Stoff so schwer tut. Die Themen liefern ja bereits die perfekte Vorlage, einen Steilpass geradezu: die Aufbruchsstimmung, der Exzess, der Größenwahn, die Melancholie – das böse Erwachen. Der große Gatsby, der amerikanische Traum: Nie klang er so zynisch wie heute.

Luhrmann, der Spezialist für den schönen Schein und täuschend echt emulierte Gefühle, hat natürlich keine originalgetreue Adaption im Sinn gehabt, als er „Der große Gatsby“ für die Leinwand adaptierte. Luhrmann ist Stilist, aber kein Feingeist wie Fitzgerald. Er schafft Synthesen. Synergieeffekte sagt man dazu in der Wirtschaft. Filmproduktionen im 100 Millionen plus-Bereich haben mit Kino im herkömmlichen Sinn ohnehin nur noch wenig gemein. Luhrmann arbeitet also konsequent. „The Great Gatsby“ ist ein Einrichtungsgegenstand in höchster Vollendung, mit voll integrierter Verwertungskette: der Soundtrack von Jay-Z, mit Kanye West, Lana del Ray und The XX (funktioniert leider überhaupt nicht, obwohl Sampling eigentlich eine Stärke des Hip Hop ist), die Ausstattung (Kostüme von Prada und Miu Miu), die visuellen Wunderwelten (die teuer gerenderten Digitalbilder haben einen kalten Glanz, Leo und Carey Mulligan bewegen sich wie Silhouetten vor Computerhintergründen). So ein Spektakel nach ästhetischen Krieterien zu bewerten, ist natürlich lächerlich.

Aber dann trifft der Exzess von „The Great Gatsby“ auch durchaus den Nerv der Zeit: irgendwann im letzten Drittel, als Di Caprio mutterseelenallein am Pool zwischen leeren Champagnerflaschen steht. Da macht sich erstmals Ernüchterung breit. Keine moralische Entrüstung, eher das nachvollziehbare Gefühl, dass der Rausch große Leere produziert. Wie Drogen. Oder das Spiel an den Märkten des Casinokapitalismus. Vielleicht will man auch um jeden Preis noch etwas Gutes in dieses Machwerk hineinlesen. Aber der Kater im letzten Drittel von Luhrmanns Film – die Leere, die kein Ausstatter, kein Champagner-Pop, kein Hollywoodstar nach dem wahnsinnigen Exzess der ersten halben Stunde mehr füllen kann, ist auf eine perverse Weise berührend. So etwa muss es sich anfühlen, wenn die fette Party endgültig vorbei ist.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 6/2013

Promised Land

(USA 2012, Regie: Gus Van Sant)

Fuck you, Strukturwandel
von Andreas Busche

Zwei Stunden außerhalb der amerikanischen Großstädte sieht es überall wie in Kentucky aus. Felder, so weit das Auge reicht, Pick-Up-Trucks mit kernigen Typen in Flanellhemden hinter dem Steuer zieren die …

Zwei Stunden außerhalb der amerikanischen Großstädte sieht es überall wie in Kentucky aus. Felder, so weit das Auge reicht, Pick-Up-Trucks mit kernigen Typen in Flanellhemden hinter dem Steuer zieren die Straßenzüge der Provinznester und der einzige Hardwarestore im Ort wirbt mit „Guns, Groceries, Guitars, Gas“. Hier wird über Lokalpolitik noch in der Sporthalle abgestimmt. Oder in der einzigen Bar des Ortes, wo man als Auswärtiger die Leute schon für sich gewinnt, indem man zur Open Mic-Nacht Bruce Springsteen singt.

Gus Van Sant streift mit „Promised Land“ unzählige Klischee über das „wahre“ Amerika, doch selbst wenn bei ihm jede zweite Einstellung auf den unauflöslichen Widerspruch von Stadt und (Hinter-)Land hinausläuft, sind seine Beobachtungen sympathisch. Mit seiner Ballade vom kleinen Mann liefert Van Sant eine klassische Americana-Erzählung ab. Steve (Matt Damon) und Sue (Frances McDermond) sind von einem globalen Energiekonzern nach Pennsylvania geschickt worden, um die Bewohner vom Verkauf ihrer Länder zu überzeugen. In den Gesteinsschichten unter dem Farmland lagern riesige Erdgasvorkommen, die die Unabhängigkeit der USA vom Öl aus dem Nahen Osten gewährleisten könnten. Und die Abgesandten von „Big Business“ wissen, dass sie leichtes Spiel haben, auch wenn die Fördermethode des „Fracking“ unabsehbare Umweltrisiken birgt. „Ihr seid hier, weil wir arm sind“, hält ihnen ein Farmer vor.

Gus Van Sant weiß um das Dilemma, das der idyllischen Vorstellung dieses Amerika innewohnt. Die Natur strahlt wie von innen heraus illuminiert, aber der wirtschaftliche Niedergang ist allgegenwärtig. Damons Steve dient in „Promised Land“ als moralische Kippfigur. Steve ist ebenfalls ein Junge vom Land. Er musste mitansehen, wie die Familie ihre Lebensgrundlage verlor, als die Fabrik des Vaters dicht machte. Jetzt wähnt er sich auf der Seite des Fortschritts, wenn er den Farmern und Fertighausbewohnern viel Geld für ihr Land bietet. Fuck you, Strukturwandel! Fuck you-Geld, sagt Steve, mach‘ dich frei. Die Frage ist, welchen Preis man zu zahlen gewillt ist.

Van Sants Botschaft ist unmissverständlich, aber an „Promised Land“ erweist sich mal wieder, dass das amerikanische Erzählkino seine moralische Deutungshoheit glänzend zu verkaufen versteht. Die Konflikte erschöpfen sich nie in bloßen Behauptungen, sie verweisen in vielen unscheinbaren Facetten immer wieder auf reale Lebensverhältnisse. Van Sant gelingt es leichthändig, ein hochaktuelles Umwelt-Statement sogar noch mit einer zarten Romanze zu verbinden, er macht sich über die Städter (und ein wenig auch über die Landeier) lustig – und am Ende hängt, rechtzeitig zum Schlussplädoyer, eine amerikanische Flagge im Hintergrund. „Promised Land“ ist hochwertiges Hollywood-Kino. Frank Capra hätte es nicht besser gemacht.

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Ihr werdet euch noch wundern

(F 2012, Regie: Alain Resnais)

Eine hybride Feier des Kinos
von Ulrich Kriest

Schon nach wenigen Minuten ist man von der Magie dieses Films gefangen genommen. Ebenso schnell ist klar: dies ist kein deutscher Film, keine kaputt subventionierte, redaktionell intensiv betreute Mittelmäßigkeit mit …

Schon nach wenigen Minuten ist man von der Magie dieses Films gefangen genommen. Ebenso schnell ist klar: dies ist kein deutscher Film, keine kaputt subventionierte, redaktionell intensiv betreute Mittelmäßigkeit mit den immer gleichen TV-Stars. „Ihr werdet euch noch wundern“, der neue Film des fast 91jährigen Alain Resnais, der schon Meisterwerke wie „Letztes Jahr in Marienbad“ drehte, als Alexander Kluge noch am „Oberhausener Manifest“ feilte, ist »richtiges« Kino mit Schauspielern der Klasse Michel Piccoli, Pierre Arditti, Lambert Wilson, Sabine Azéma oder Mathieu Almaric. Warum kann/will man sich eine äquivalente Besetzung mit deutschen Schauspielern nicht vorstellen?

In einer unerhört auratischen Exposition werden alle Schauspieler als sie selbst angesprochen und mit der schlimmen Nachricht überrascht, dass der Theaterregisseur Antoine d’Anthac plötzlich verstorben sei. In der Morgendämmerung, beim Reinigen seiner Jagdflinte. Man gehe trotzdem von einem Unfall aus. Die Schauspieler, die mit dem Regisseur Triumphe feierten, werden auf dessen Landhaus eingeladen. Totenwache? So was Ähnliches, es geht ums Theater. Sämtlichen Anwesenden ist gemeinsam, dass sie einst an fabulösen Inszenierungen der „Eurydike“ von Jean Anouilh beteiligt waren. Und eine neuere, etwas experimentelle Inszenierung dieser Modernisierung des „Orpheus“-Stoffes in existentialistischem Geist wird ihnen jetzt als Video vorgeführt, gedreht übrigens von Denis Podalydès, der im Film den verstorbenen Regisseur spielt.

Binnen kürzester Zeit gelingt es Resnais auf das Eleganteste ein sehr komplexes, intellektuell prickelndes Setting zu etablieren: Theater auf Video, Schauspieler als Kritiker, die natürlich sofort ihre Distanz verlieren und auf das Stück einsteigen, wenn »ihre« Textstellen kommen. Erst bewegen sich nur die Lippen, später auch die Körper. Hatte nicht beim Eintritt der Schauspieler in das Landhaus eine Schrifttafel warnend an Murnaus „Nosferatu“ erinnert? „Als sie die Brücke überschritten hatten, kamen die Phantome auf sie zu.“ Wo befinden wir eigentlich gerade? Schon im Reich der Toten? Oder im Reich des Kinos, wo Menschen im Gegensatz zum Theater nicht altern, sondern ewig jung bleiben – wie James Dean? Und wo alte Menschen plötzlich wieder in Texte schlüpfen, die sie vor Jahren sprachen. Anachronismen. Dazu kommen Doppelbesetzungen einzelner Rollen, so dass wir nicht umhin können, uns „Eurydike“ als vielfach verspiegelte Polyphonie aus Wiederholungen und Echos vorzustellen, zumal die Filmhandlung in deutlich erkennbarer Kulisse abläuft.

Film und Theater durchdringen einander buchstäblich, scheinen durch Orte und Sound verzahnt und erzeugen einen traumartigen Schwindel, wobei die Videoaufzeichnung der experimentellen Theaterinszenierung weitaus weniger artifiziell erscheint als das Set des Films. Und dann übernimmt die Literatur das Kommando, denn der „Eurydike“-Stoff bemächtigt sich der Schauspieler, die in ihre alten Rollen fallen. So sehen sich die um ihren Regisseur Trauernden plötzlich bemüßigt, von der Schönheit des Todes angesichts der Mühsal des Lebens zu schwärmen. Es schadet nicht, sich den alten Text des einst modischen und heute längst vergessenen Autors Anouilh präsent zu machen, um die Verve, mit der Resnais hier sämtliche Kunstformen für eine Feier der Macht des Kinos instrumentalisiert, zu erfassen.

Resnais ist der Marionettenspieler im Hintergrund, der, wie der verstorbene Regisseur Antoine d’Anthac, ein großer Freund des »coup de theatré« ist. Weshalb er sich auch einige Überraschungen bis ganz zum Schluss aufhebt, um die alte Geschichte von Orpheus und Eurydike noch zwei oder drei Mal zu wenden. Bis kein Stein mehr auf dem anderen steht und der Originaltitel des Films eingelöst ist, der davon spricht, dass das Beste erst noch kommt. Beziehungsweise, um es mit Bachman Turner Overdrive zu stottern oder Al Jolson zu sagen: „You ain’t seen/heard nothing yet!“ Word, Baby!

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Before Midnight

(USA 2013, Regie: Richard Linklater)

Tickende Zeitbombe
von Wolfgang Nierlin

Man spürt, dass der 41-jährige Jesse (Ethan Hawke) ein Defizit gegenüber seinem 13-jährigen Sohn Hank empfindet. Weil der Sohn aus erster Ehe bei seiner Mutter in Chicago lebt, sein Vater …

Man spürt, dass der 41-jährige Jesse (Ethan Hawke) ein Defizit gegenüber seinem 13-jährigen Sohn Hank empfindet. Weil der Sohn aus erster Ehe bei seiner Mutter in Chicago lebt, sein Vater mit der neuen Familie aber in Paris, sehen sie sich nur selten. Diese quälend verinnerlichte Distanz spricht förmlich aus Jesses etwas unbeholfenen Worten und Gesten. Wenn sich der jugendlich gebende Schriftsteller eingangs von Richard Linklaters Film „Before Midnight“ an einem Flughafen in Griechenland von seinem schweigsamen Sohn verabschiedet, gibt er sich betont kumpelhaft. Irgendwie läuft sein Imponiergehabe aber ins Leere; und in den Blicken, mit denen er die Abreise seines Sohnes begleitet, liegt eine verlorene Sehnsucht, in die sich Wehmut und Trauer mischen.

Es ist der letzte Tag der Sommerferien, die Jesse zusammen mit seiner Lebensgefährtin Celine (Julie Delpy), einer französischen Umweltaktivistin, und ihren gemeinsamen Zwillingstöchtern in Messinien, dem südwestlichen Zipfel der Peloponnes, verbringt. Auf der langen Rückfahrt ins Feriendomizil ihres Gastgebers, die Linklater in einer einzigen, minutenlangen Einstellung aufnimmt, lernen wir ein Paar kennen, dessen Partner so ironisch und neckisch miteinander flirten, als wären sie frisch verliebt. Tatsächlich handelt es sich um den abgeklärten, leicht illusionslosen Diskurs zweier Liebender, die seit Längerem miteinander vertraut sind und deren Kinder im Fond des Wagens schlafen. Der informierte Kinogänger kennt Jesse und Celine aus Linklaters Filmen „Before Sunrise“ (1995) und „Before Sunset“ (2004), in denen von ihrer ersten Begegnung und dem Beginn ihrer Beziehung erzählt wird.

Jetzt, auf der gemeinsamen Fahrt, gibt es einen Moment, in dem Celine ihre Liebesgeschichte halb unernst als „tickende Zeitbombe“ bezeichnet. Auslöser ist Jesses Verlangen, die schmerzlich empfundene Distanz zu seinem Sohn durch einen Umzug in die USA zu überbrücken. Celine sieht sich einmal mehr in der typisch weiblichen Opferrolle, zumal sie gerade ein attraktives Jobangebot bekommen hat. Vor allem im Schlussteil des Films, einer Nacht ungewohnter Zweisamkeit im Hotelzimmer, bricht dieser Konflikt mit Vehemenz aus und kulminiert schließlich in den kleinteiligen Wortklaubereien und gegenseitigem Unverständnis eines Beziehungskrieges.

Ansichten über biologische und emotionale Geschlechterdifferenz, über den Beginn und das Ende der Liebe, über die Liebe zum Leben und die Erfahrung von Vergänglichkeit grundieren die vielen, ausführlichen Gespräche und Unterhaltungen in „Before Midnight“. Ungewöhnlich offen und schlagfertig sind die Dialoge, die hier bewusst das Konzept einer minimalistischen Handlung bei gleichzeitiger Verdichtung von Raum und Zeit sowohl transportieren als auch dominieren. Obwohl das filmisch mitunter etwas einsilbig, unspektakulär und schematisch wirkt, gelingen dem Regisseur doch auch viele heitere und nachdenkliche Momente. Die Spannung kommt gewissermaßen aus den Worten und Blicken der Protagonisten und steckt zugleich in den vielen kleinen Details, die Richard Linklater für Referenzen, Reminiszenzen und Widerspiegelungen nutzt.

Das wundersame Leben von Timothy Green

(USA 2012, Regie: Peter Hedges)

We're a happy family ...
von Michael Schleeh

Wenn nach zwanzig Minuten die Einführung des Films vorüber ist, fragt man sich nicht zum ersten Mal, wie man um Gottes willen nur den Rest auch noch überstehen soll. Es …

Wenn nach zwanzig Minuten die Einführung des Films vorüber ist, fragt man sich nicht zum ersten Mal, wie man um Gottes willen nur den Rest auch noch überstehen soll. Es geht dann aber doch, die ermüdend stromlinienförmige Mittelmäßigkeit des Disney-Films, die einen in eine nebulöse Lethargie versetzt, ist dafür verantwortlich.

Wir haben es hier mit einem Pärchen des amerikanischen Landlust-Mittelstands zu tun, Mitte dreißig, „angekommen“ im Erwachsenensein. Die frischen Abende verbringt man im Karohemd auf der Veranda des Holzhauses und während irgendein Indie-Folk-Singer-Songwriter sein Lied anstimmt, wird die einzige Sorge, die man hat, beträchtlich. Denn: eine „richtige Familie“ ist man noch nicht. Es fehlt zum Glück: das Kind.

Tragisches Potenzial, denn die beiden (das sind Cindy, gespielt von Jennifer Garner, und Jim (Joel Edgerton)) können keine Kinder bekommen. Und an dieser Schwelle kann eine Beziehung, wie jeder wohlerzogene Mensch weiß, schnell zerbrechen. Die Familie als Keimzelle des persönlichen Glücks, ohne sie geht es nicht, darf es nicht gehen, in Disneys Universum.

Und so begraben die beiden wortwörtlich ihre Hoffnungen auf ihr Traumkind: die gute Flasche Wein wird leergebechert, beschwipst bejubeln sie die erwünschten liebenswerten Eigenschaften ihres Traumkindes und vermerken sie in Trunkenschrift auf Notizblättchen. Diese wandern in eine zufällig zur Verfügung stehende Sandelholzkiste, die dann rituell im Garten vergraben wird. Traum beerdigt. Doch in der Nacht regnet es stark, und aus der Fuselfantasie wird Realität, ein Kind entsteht: Timothy, der Wunschjunge, steht in der Küche. Jedoch besitzt er einen Makel: aus seinen Beinen wachsen Efeublätter (ohne Notizen).

Es ist ein Märchen irgendwie, und dann geht es vor allem darum, wie die Ruckzuckeltern mit der Situation zurecht kommen. Liebe jedenfalls haben sie genug zu verschenken, und traumatisiert ist man auch ausreichend durch die eigene Kindheit, sodass man es auf jeden Fall besser machen möchte, als der ebenso plötzlich zum Opa gewordene Vater Big Jim. Welcher sich natürlich nie genug für den eigenen Buben interessiert hatte, woran unser Protagonist bis heute laboriert. Man möchte es besser machen, nein, man möchte perfekt sein!

Am End‘ jedoch, da ist das Glück nur temporär, und Timothy muss weiterziehen. Jedoch der Antrag auf Adoption ist erfolgreich: Cindy und Jim bekommen ein Mädchen, diesmal ein echtes, ganz reales. Die Kleine spricht Englisch und kommt doch aus China irgendwie. Sie ergreift auch gleich die Hand ihrer neuen Mama und gemeinsam gehen sie in den Sonnenuntergang. Nein, Quatsch, ins Haus. Es wird Abend. Musik setzt ein. Melancholische Folkmusik … Und das ist dann doch das einzige Interessante an diesem völlig uninteressanten Film, dass nämlich die Rettung des impotenten Amerikas aus Ostasien kommt. Das wäre nun wirklich eine erzählenswerte Geschichte gewesen. Aber wer mag schon Kanto-Pop?

Promised Land

(USA 2012, Regie: Gus Van Sant)

Schmutziges Geschäft
von Wolfgang Nierlin

Er arbeite für einen „9 Milliarden Dollar-Konzern“, sagt Steve Butler (Matt Damon), wenn es darum geht, die Finanz- und Wirtschaftsmacht seines Arbeitgebers als wirksame Entscheidungshilfe in den Geschäftsgesprächen anzuführen. Zusammen …

Er arbeite für einen „9 Milliarden Dollar-Konzern“, sagt Steve Butler (Matt Damon), wenn es darum geht, die Finanz- und Wirtschaftsmacht seines Arbeitgebers als wirksame Entscheidungshilfe in den Geschäftsgesprächen anzuführen. Zusammen mit seiner Kollegin Sue Thomason (Frances MacDormand) wird der erfolgreiche Grundstücksmakler des Energie-Unternehmens „Global Crosspower Solutions“ in den strukturschwachen Nordwesten Pennsylvanias geschickt, um Grundstücke für die Gasförderung zu erwerben. Weil das mit der umweltpolitisch umstrittenen Fracking-Methode geschehen soll, sind die Konflikte in der ländlichen Idylle fast schon vorprogrammiert; zumal ein pensionierter Wissenschaftler mit kritischen Nachfragen und ein falscher Umweltaktivist mit platter Agitation bald den Widerstand in der Bevölkerung anheizen.

„Ich weiß, wie die ticken“, sagt Butler, der im Flanellhemd und in den Schuhen seines Großvaters die sich zunehmend schwieriger gestaltende Mission antritt. Als gebranntes Kind sozialer Verwerfungen auf dem Land geht er mit einer Portion Idealismus und naiver Gutgläubigkeit an die Sache heran, deren gesellschaftlicher Nutzen für ihn außer Frage steht. Und auch wenn er von sich sagt, er sei kein schlechter Mensch, sind seine Methoden nicht immer sauber. Bald jedoch wird er selbst zum Getäuschten und zum Spielball der Macht. Weil er sich zudem in die hübsche Lehrerin Alice Allen (Rosemarie DeWitt) verliebt, gerät er immer deutlicher in Interessenskonflikte.

Es sei ihnen vorrangig um Amerikas Identitätssuche gegangen, hat Ko-Autor Matt Damon über das Thema des von Gus Van Sant souverän inszenierten Films „Promised Land“ gesagt. Tatsächlich werden hier einmal mehr mit ehrlichem Patriotismus und sehnsüchtiger Heile-Welt-Romantik die guten alten Werte gegen die zerstörerischen Kräfte des Kapitalismus in Anschlag gebracht. Zweimal taucht Butler sein Gesicht in reinigendes Wasser, um Stress und Anspannung, aber auch Schweiß und Schmutz abzuwaschen.

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5 Jahre Leben

(D / F 2013, Regie: Stefan Schaller)

System Guantanamo
von Wolfgang Nierlin

Ein Mensch wird gefangen gehalten, obwohl überhaupt nicht klar ist, ob es dafür stichhaltige Gründe gibt. Er wird verhört, um diese Maßnahme zu rechtfertigen; und er wird gefoltert, um Geständnisse …

Ein Mensch wird gefangen gehalten, obwohl überhaupt nicht klar ist, ob es dafür stichhaltige Gründe gibt. Er wird verhört, um diese Maßnahme zu rechtfertigen; und er wird gefoltert, um Geständnisse zu erzwingen, deren Wahrheitsgehalt von vornherein fraglich ist. In jedem Fall aber legitimiert auf paradoxe Weise der Gefangene das Gefängnis, der Freiheitsentzug die Methoden des Verhörs. Das „System Guantanamo“ hat dies der Filmemacher Stefan Schaller, Absolvent der Filmakademie Ludwigsburg, genannt. Sein beeindruckender Abschlussfilm „5 Jahre Leben“, der auf Erlebnissen des ehemaligen Guantanamo-Häftlings Murat Kurnaz basiert, reiht sich zunächst ein in das Genre des politischen Gefängnisfilms. Zu dessen herausragendsten Arbeiten der jüngsten Vergangenheit gehören Marco Bechis „Junta“ und „Hunger“ von Steve McQueen. Auch Schaller zeigt einen Menschen, der staatlicher Willkür ausgesetzt ist, der körperlich und seelisch misshandelt, gedemütigt und entwürdigt wird.

Anders als seine Vorgänger erzählt „5 Jahre Leben“ allerdings eine Überlebensgeschichte unter extremen Bedingungen. Auch wenn Kurnaz (Sascha Alexander Geršak) einmal sagt, der Tod sei seine Waffe, führt er seinen Kampf trotz Hungerstreik und Einzelhaft eher mental als physisch. Dazu passt, dass der Regisseur seinen Blick weniger auf die Härten körperlicher Gewalt richtet, sondern auf das psychische Duell zwischen dem amerikanischen Verhörspezialisten Gail Holford (Ben Miles) und dem in Ketten gelegten Murat Kurnaz, der zunächst jegliche Kooperation verweigert. Insofern zeigt der Film, wie sich Holford mittels perfider Täuschungsmanöver in einer Art Psychokrieg immer wieder das Vertrauen des türkischstämmigen Bremers erschleicht und ihn in ein permanentes Wechselbad aus Hoffnung und Verzweiflung stürzt. Unsicherheit und Ungewissheit werden hier gewissermaßen total. „Ich weiß mehr über dein Leben als du selbst“, sagt Holford einmal in einer Schlüsselszene dieses Seelenterrors.

Stefan Schallers Inszenierung vermittelt Klaustrophobie und hilfloses Ausgeliefertsein durch zeitliche und räumliche Verdichtung. Dabei zeigt sein Film ein hochmodernes System totaler Kontrolle, das sich mit archaischen Formen der Zurichtung und Strafe verbindet. Ästhetisch weniger radikal als die oben erwähnten Werke, finden sich in „5 Jahre Leben“ aber auch dramaturgische Abmilderungen und Atempausen. Dazu zählen die kontrastierenden Rückblenden „nach draußen“, in Kurnaz‘ Vergangenheit, die inhaltlich mitunter etwas dürftig ausfallen; die dramatisch leider entschärfend wirkende Filmmusik von Enik; oder auch die tragische Freundschaft des tierliebenden Kurnaz zu einer Echse, die schließlich zur Metapher des Lebens und Überlebens im Exil der inneren Freiheit wird.

Freier Fall

(D 2013, Regie: Stephan Lacant)

„Ist alles gut zwischen uns?“
von Ulrich Kriest

Marcs Welt ist überschaubar geblieben. Der junge Mann, sehr körperlich in Szene gesetzt von Hanno Koffler, ist einer Familientradition folgend bei der Bereitschaftspolizei gelandet, seine Freundin Bettina (Katharina Schüttler) erwartet …

Marcs Welt ist überschaubar geblieben. Der junge Mann, sehr körperlich in Szene gesetzt von Hanno Koffler, ist einer Familientradition folgend bei der Bereitschaftspolizei gelandet, seine Freundin Bettina (Katharina Schüttler) erwartet gerade das erste Kind, seine Eltern haben ihm die Doppelhaushälfte vorfinanziert und leben jetzt gleich nebenan. Uff! Wenn das Kind erst mal da sei, so Marc, werde Bettina sich darüber noch freuen. Man kann sich also gut vorstellen, wie überrascht Marc ist, als er während einer Fortbildung den Kollegen Kay (Max Riemelt) kennenlernt. Der ist sehr sportlich, kifft gerne, wirkt gleichermaßen geheimnisvoll wie leichtsinnig und kokettiert mit „Systemunterwanderung“. Zwischen den Männern funkt es.

Das müssen wir dem Film jetzt einmal glauben, denn er findet dafür weder Worte noch Bilder. Schwule, so könnte man denken, reden nicht viel, sondern gehen lieber joggen oder tanzen. Aber, so der Filmemacher Stephan Lacant, seinem Film gehe es auch gar nicht so sehr um die Liebe zweier Männer in einem Milieu, in dem Schwulsein noch immer ein Tabu darstelle, sondern eher um eine archetypische Konfliktlage aus Liebe, Hass, Verleugnung und Selbstfindung.

Aha! Und deshalb wird hier mit bestenfalls holzschnittartigen Figuren „Eine verhängnisvolle Affäre“ unter Homophoben nachgespielt? Obwohl völlig unklar bleibt, was den Phlegmatiker Marc letztlich aus der Reserve, aus dem closet gelockt hat? Marc bleibt sich nämlich selbst ein Rätsel. Kay, dem offenbar der Sinn nach Paarbildung steht, erhöht den Druck, aber auch Bettina schöpft falschen Verdacht. Dass zwei Männer … undenkbar! „Dazu haben wir dich nicht erzogen!“, zischt die ausgerechnet von Maren Kroymann gespielte Mutter Marcs. Ironie? Und dann ist Kay, dieser schwule Mephisto, so plötzlich verschwunden, wie er gekommen ist – und Marcs kleinbürgerlicher Lebensentwurf (wenn man denn ein so großes Wort dafür gebrauchen will!) ist ein Scherbenhaufen.

Jede Szene in „Freier Fall“ ist wenig mehr als die filmische Auflösung einer auf Papier vorformulierten These zu einem Recherche-Ergebnis. Natürlich – wo leben wir denn? – wertet der Film das Geschehen nicht, er exekutiert es lediglich. Leider trivial. Man sieht den sehr präsenten Darstellern gleichwohl sehr gerne dabei zu, wie sie in diesem Meer von biederem Trash den Kopf über Wasser zu halten versuchen.

Gut gemeinte, aber in sich ziemlich redundante Fernsehfilme wie „Freier Fall“, die selbst verstockt Sex ohne jede Lust bebildern und nicht so recht wissen, wohin mit sich, sind zugleich die unmissverständliche Antwort auf die scheinbar immergrüne Frage, warum es seit vielen Jahren keine deutschen Filme mehr in den Wettbewerb von Cannes schaffen. Weil in Cannes in der Regel eben keine Fernsehfilme laufen, sondern eher Filmkunst.

Louise Hires a Contract Killer

(F 2008, Regie: Gustave de Kervern, Benoît Delépine)

„Wacht auf, Verdammte dieser Erde!“
von Wolfgang Nierlin

Schon die Exposition von Benoît Delépines und Gustave Kerverns Film „Louise Hires a Contract Killer“ („Louise-Michel') vermittelt einen guten Eindruck vom ziemlich schwarzen, merkwürdig schrägen und oftmals gewöhnungsbedürftigen Humor der …

Schon die Exposition von Benoît Delépines und Gustave Kerverns Film „Louise Hires a Contract Killer“ („Louise-Michel') vermittelt einen guten Eindruck vom ziemlich schwarzen, merkwürdig schrägen und oftmals gewöhnungsbedürftigen Humor der beiden französischen Komiker. Eine Trauerfeier in einem Krematorium wird von bizarren Pannen torpediert: Erst hat der Bestatter Probleme, den Sarg in den Verbrennungsofen zu bugsieren und dann versagt auch noch der Zündmechanismus, so dass die Einäscherung unterbrochen werden muss. Währenddessen wird von einem Tonband die klassenkämpferische Internationale abgespielt: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde!“ Das ist nicht nur makaber und ironisch, sondern durchaus auch doppeldeutig gemeint.

Denn obwohl der großsprecherische Vize-Chef einer kleinen Nähfabrik in der Picardie den verhärmten Arbeiterinnen mit salbungsvollen Worten gerade noch neue Kittelschürzen aushändigt, ist tags darauf die Produktionshalle der Manufaktur leer geräumt. In Zeiten der Krise gelte es, den „Kopf einzuziehen“. Und so beschließen die frustrierten Näherinnen kurzerhand, sich zu organisieren und ihre mageren Abfindungen zusammenzulegen. Aber nicht etwa für die Eröffnung einer Pizzeria oder einen Nacktfotokalender, sondern um einen Profikiller zu engagieren, der ihren Ex-Chef („Der Chef gewinnt immer.“) ins Jenseits befördern soll. Und weil die sonst eher stumpf und schweigsam vor sich hin starrende Louise (Regisseurin Yolande Moreau) diesen Racheplan einbringt, wird sie beauftragt, den Richtigen zu finden.

Der Richtige ist natürlich der Falsche: Ein vom Überwachungswahn besessener „Sicherheitsspezialist“ namens Michel (Regisseur Bouli Lanners), der dilettantisch ein Container-Dorf observiert und sich auch mal darin verirrt. Der abgebrannte Waffenfetischist stilisiert sich als „Killermaschine“, kriegt den blutigen Job und versagt kläglich. Denn eigentlich ist Michel eine Frau und Louise, die mit ihm loszieht, ein Mann. Tote gibt es trotzdem nicht wenige; und wenn das auch nicht immer die „Richtigen“ sind, so sind es doch auch nicht ganz die „Falschen“.

Trocken, politisch unkorrekt und manchmal geradezu beiläufig inszenieren Delépine und Kervern ihre triste Anarcho-Komödie, die nicht umsonst (siehe Originaltitel) der französischen Pariser Kommune-Aktivistin Louis Michel (1830-1905) gewidmet ist. Apostrophiert als „sozialer Western“, ist ihr lakonischer Film radikal, brutal und absurd, dazu gewürzt mit schlechtem Geschmack und visuellem Witz. Und auch noch nach den Abspanntiteln geht der Kampf weiter.

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Stoker

(USA / GB 2012, Regie: Park Chan-Wook)

Gefangen im Drehbuch
von Andreas Busche

2013 wird für den koreanischen Regisseur Park Chan-Wook ein gutes Jahr. Im Herbst darf man auf Spike Lees Remake des Rächerdramas „Oldboy“ gespannt sein; diese Woche kommt seine erste Hollywood-Regiearbeit …

2013 wird für den koreanischen Regisseur Park Chan-Wook ein gutes Jahr. Im Herbst darf man auf Spike Lees Remake des Rächerdramas „Oldboy“ gespannt sein; diese Woche kommt seine erste Hollywood-Regiearbeit „Stoker“ in die Kinos. Park gehört mit seiner Vorliebe für Pulp und Gewalt zu den eher schwer berechenbaren Filmemachern (Quentin Tarantino und Harmony Korine sind Fans), weswegen „Stoker“ vorsichtshalber auf einem amerikanischen Skript basiert. Wer Parks letzten Film „Thirst“ über einen Priester, der sich nach einer missglückten Blutinfektion in einen Vampir verwandelt, gesehen hat, kann nachvollziehen, dass man das westliche Mainstream-Publikum behutsam an den sonderlichen Lyrismus eines Park Chan-Wook, der auch schon mal Blutfontänen zu heißen Liebesschwüren arrangiert, heranführen muss. „Stoker“ dürfte allein schon wegen der beiden Hauptdarstellerinnen mehr Menschen interessieren als seine bisherigen Filme. Für sein Hollywood-Debüt konnten Nicole Kidman und Mia Wasikowska gewonnen werden: zwei ätherische Schönheiten, deren weiße Alabasterhaut sich ganz hervorragend als Leinwand für Parks Blutfantasien eignet.

Leider ist „Stoker“ etwas konventionell geraten, was vor allem am Drehbuch liegt, das sich unverhohlen bei Hitchcocks „Im Schatten des Zweifels“ bedient. Um Blut geht es in „Stoker“ nur noch in einem übertragenen Sinn: Park erzählt ein kleines, bösartiges Familiendrama als Schlüsselmoment eines sexuellen Coming-of-Age. Nach dem überraschenden Tod des Vaters bleiben Ehefrau Evelyn und die achtzehnjährige Tochter India allein mit dem Dienstpersonal in ihrem pompösen Herrenhaus zurück. Am Tag der Beerdigung steht unerwartet der Bruder des Verstorbenen, den die Frauen nur vom Hörensagen kannten, vor der Tür. Der gut ausehende Fremde findet sofort Anklang in dem hoffnungslos verklemmten Haushalt und nimmt die Einladung Evelyns, eine Weile zu bleiben, dankend an. Mutter und Tochter reagieren zunächst reserviert, doch je aufmerksamer der Mann sich Evelyn zuwendet, desto mehr regt sich Indianas Verlangen. Dass auch noch die Schwiegermutter unvermittelt im Haus auftaucht und wieder spurlos verschwindet, scheint niemanden zu verwundern.

Visuelle Extravaganzen finden in diesem restriktiven Ambiente keinen Raum. Park verlegt sich stattdessen auf die stimmungsvolle Psychologie des häuslichen Dramas – mit einigen Anleihen beim klassischen Psycho-Thriller. Damit beweist er erneut ein gutes Händchen für Atmosphäre, doch ein bißchen mehr vom Irrsinn seiner koreanischen Filme hätte “Stoker” durchaus vertragen. Parks US-Debüt ist die Antithese zu seiner Rache-Trilogie und “Thirst”: humorlos, gefangen im Skript und kontrolliert bis zum Ersticken. Selbst die latenten Gewaltausbrüche besitzen keine karthatische Qualität mehr.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Pony #83

To the Wonder

(USA 2012, Regie: Terrence Malick)

Herr, Deine Liebe …
von Harald Steinwender

Zwanzig Jahre lang, bis zu 'The Thin Red Line' ('Der schmale Grat'; 1998), galt Terrence Malick als 'runaway genius' (Peter Biskind), als ein verschollener Großmeister des US-amerikanischen Kinos, der sich …

Zwanzig Jahre lang, bis zu 'The Thin Red Line' ('Der schmale Grat'; 1998), galt Terrence Malick als 'runaway genius' (Peter Biskind), als ein verschollener Großmeister des US-amerikanischen Kinos, der sich nach gerade einmal zwei Filmen in den 1970er Jahren – der Gangsterballade 'Badlands' (1973) und dem Landarbeiter-Melodram 'Days of Heaven' ('In der Glut des Südens'; 1978), völlig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte.

In diesen zwanzig Jahren wuchs Malicks Ruf vom vielversprechenden Talent zum Kinomagier von nahezu mythischem Rang. Auch die Geschichten, die Zeitungen und Magazine über den öffentlichkeitsscheuen Regisseur und Drehbuchautor über die Jahre kolportierten, waren vor allem eines: Arbeit am Mythos. Malick halte sich in Paris auf, wo er einen Buchladen betreibe oder Philosophie an der Sorbonne lehre; er sei damit beschäftigt, Kierkegaard und Heidegger zu übersetzen; er reise seit Jahrzehnten um die Welt, um sein nächstes Projekt vorzubereiten; er lebe als Einsiedler im Wald. Überhaupt sei er verschwunden und niemand wisse, warum er sich aus Hollywood zurückgezogen habe. Dass der Regisseur sich zwischen 1978 und 1998 mitnichten vom Filmemachen verabschiedet hatte und es alles andere als ein Geheimnis war, was er zu dieser Zeit gemacht hat, kann man etwa dem kürzlich im 'Los Angeles Review of Books' erschienenen lesenswerten Essay von Michael Nordine entnehmen, der mit einigen Legenden aufräumt, auch wenn der Autor fraglos zu den Bewunderern Malicks zählt.

In Nordines Artikel erfährt man unter anderem, dass der heute 69-Jährige, der sein Geld offenbar in der Ölindustrie gemacht hat, schlicht aufgrund seines Reichtums in der Lage war, seine Filme selbst auszuwählen, und er zwar beständig neue Projekte entwickelt hat, von denen allerdings nur wenige je das Postproduktions-Stadium erreichten. Wer will, kann sich auf YouTube sogar ein Video ansehen, in dem das vermeintliche Phantom zu Countrymusik tanzt ('Terrence Dances'). Der J. D. Salinger des Kinos ist offenbar ein ganz normaler Mensch, allerdings mit einer nachvollziehbaren und stark ausgeprägten Abneigung gegen Publicity.

Nun ist es nicht so, dass Malicks Status als Ausnahmefigur des New-Hollywood-Kinos völlig unbegründet wäre. Sein Regiedebüt 'Badlands' zählt fraglos zu den Schlüsselwerken des US-Kinos der 70er Jahre. 'Days of Heaven' ist trotz aller Kitschmomente ein bis heute eindrucksvolles Porträt einer Ära und ein wuchtiges Melodram, das seinen exemplarischen Platz im Genre verdient hat. Und wer den Kriegsfilm 'The Thin Red Line' einmal auf einer ganz großen Kinoleinwand mit voll aufgedrehter Surround-Anlage sehen konnte, wird das Erlebnis kaum vergessen, auch wenn sich einige schwer erträgliche pseudophilosophische Exkurse in der vielstimmigen Voice-over-Erzählung des Dreistundenwerks finden ('Love – Where does it come from? Who lit this flame in us? No war can put it out, conquer it. I was a prisoner. You set me free.'). Auch Malicks Versuch, den Pocahontas-Mythos in 'The New World' (2005) neu zu deuten, hatte seinen Reiz. Aber spätestens The Tree of Life', unter großem Bohei 2011 auf dem Filmfestival Cannes der Weltöffentlichkeit präsentiert und dort mit der 'Goldenen Palme' ausgezeichnet, zeigte ernsthafte Verschleißerscheinungen der Methode Malicks, die sich der immer gleichen Autoren-Signaturen bedient und mit jedem neuen Film weiter in die Richtung eines christlichen, mitunter esoterischen inneren Dialoges entwickelt hat. Eine Kritiker-Kollegin wollte 'The Tree of Life' damals als 'einen Film wie ein Gedicht' umschreiben und gelangte durch eine Freud’sche Fehlleistung bezeichnenderweise zum 'Film wie ein Gebet'. Mit seinem jüngsten Werk, 'To the Wonder', ist Malick nun endgültig beim Predigen angelangt und legt dabei seinen Protagonisten einige der unerträglichsten Phrasen in den Mund, die ich abseits meines Konfirmationsunterrichts vor 22 Jahren ertragen durfte.

'To the Wonder' ist wie 'Days of Heaven' ein Melodram und erzählt von dem US-Amerikaner Neil (hölzern: Ben Affleck), der in Frankreich die Ukrainerin Marina (ätherisch: Olga Kurylenko) kennen und lieben lernt. Neil nimmt Marina und deren 10-jährige Tochter Tatiana (Tatiana Chiline) mit in seine Heimat. Doch im Alltag in Oklahoma kühlt die Beziehung bald ab. Während Marina bei einem von Javier Bardem mit versteinertem Gesicht gespielten (und freilich selbst mit dem Glauben hadernden) Pater spirituellen Beistand sucht, trifft Neil mit Jane (ebenfalls ätherisch: Rachel McAdams) eine Jugendfreundin wieder, mit der er eine Affäre beginnt. Dennoch finden Neil und Marina wieder zusammen, heiraten und entfremden sich abermals voneinander. Dabei verlässt der Film zunehmend die Begrenzungen einer herkömmlichen Narration, um sich schließlich in einer Serie von erratischen Bildkaskaden aufzulösen, die offenbar das religiöse Erwachen der beiden seit Jahren voneinander getrennten Partner behandeln.

Der Weg zur Transzendenz, den Malick seine Protagonisten beschreiten lässt, ist gepflastert mit visuellen Klischees: Immer wieder folgt die schweifende, gleitende Kamera den schönen Frauen, die wie in einem Postkartenmotiv durch Weizenfelder oder über Wiesen tanzen, rote Rosen im Schnee finden oder verzaubert über einen Strand wandeln, die verträumt zu ihren Männern oder Kindern aufblicken oder sich in der Sonne räkeln. Malicks Männer dagegen werfen ernste Blicke aus dem Fenster, brüten nach innen gekehrt über das Wunder der Natur, die Anwesenheit des Bösen in der Welt oder die Existenz an und für sich. Fast immer ist Emmanuel Lubezkis Kamera in Bewegung und spätestens, wenn sie das zehnte Mal über Wasserflächen gleitet, wird deutlich, dass sie den Blick Gottes imitieren soll, der hier ganz buchstäblich über Wasser wandelt. Die Tonspur dagegen gehört den Menschen, die zu den geschmäcklerischen Bildern meditieren und bleischwere, prätentiöse Sätze absondern – über die Bedeutung der Liebe und die Herrlichkeit Gottes, über die Liebe Gottes zu den Menschen und die Liebe der Menschen zu Gott. Wenn es hart auf hart kommt, dann blubbert Bardems Priester auf der Tonspur tiefgründige Einsichten wie diese: 'Gefühle ziehen vorüber wie Wolken. Liebe ist nicht nur ein Gefühl. (…) Du hast Angst, deine Liebe ist erloschen. Vielleicht wartet sie nur darauf, in etwas Höheres verwandelt zu werden. Erwache in der göttlichen Gegenwart, die jedem Mann, jeder Frau innewohnt. Erkenne einander in dieser Liebe, die niemals endet.' Halleluja!

Überhaupt reden die Menschen in Malicks Film niemals miteinander, sondern räsonieren über ontologische Befindlichkeiten, monologisieren über sich selbst, die Liebe oder Gott. Statt miteinander zu vögeln, 'gehen sie gemeinsam ein Stück des Weges'. Selbst wenn Afflecks Protagonist, der als für Umweltbelange zuständiger Bauaufseher arbeiten soll, im Boden einer Wohnsiedlung Blei und Kadmium findet, lässt Malick die Sonne und das göttliche Licht in die Kamera gleißen und glitzern, dass es eine Freude ist. Bald darauf schwenkt die Kamera zum Stoßseufzer 'My Hope!' in Holzhammersymbolik vom Acker zum Himmel. Die Orgel darf natürlich auf der Tonspur nicht fehlen und Stücke von Wagner, Haydn, Berlioz, Dvorák, Tschaikowski, Schostakowitsch und Bach ('Uns ist ein Kind geboren, Halleluja') erfreuen den Bildungsbürger. Irgendwann in Malicks Film sagt die Tochter Marinas aus erster Ehe: 'Irgendetwas fehlt hier!', und sogleich ist eine winzige Kinderhand zu sehen. Doch es ist nicht die Unfruchtbarkeit der Ehe zwischen Marina und Neil, sondern die Abwesenheit echten Lebens, von Gefühlen und Emotionen in diesem Film, die sich als Assoziation aufdrängt. Wenn die Voice-over von 'einer Lawine der Gefühle' stammelt, dann erscheinen all die schönen Bilder auf der Leinwand vor allem schrecklich leer und künstlich. Malicks Naturimpressionen wirken wie in Aspik eingeschlossen und seine Schauspieler wie unbeteiligte Statisten in einem drögen Kirchentagerbauungsvideo. Ohne den Gegensatz, den die irrationale Gewalt in seinen frühen Filmen darstellte, den Schmutz und den Wahn, der dort durchaus vorhanden war, wirkt all die Schönheit nur klinisch. Wenn Tatjana in einem Supermarkt auch noch bemerkt: 'Alles ist so sauber hier', dann möchte man laut auflachen darüber, dass Malick die Ironie dieses Kommentars wohl völlig abgeht. Er will die Leere des Konsumismus anklagen und überlädt seinen Film doch mit Oberflächenbildern.

So scheint es, als ob Malick ist eine Falle getappt ist, die Kubrick, mit dem er gerne verglichen wird, trotz aller Selbststilisierung vermieden hat: Er ist sein eigenes Genre geworden und kreist in seinen Filmen nur noch um sich selbst und die zum Fetisch gewordenen religiösen Erweckungs- und Erlösungsphantasien. Zwar gelingt ihm mit der endgültigen Dispensierung einer herkömmlichen Dramaturgie im letzten Akt nach fast zwei Stunden Ödnis eine zumindest visuell eindrucksvolle Koda. Das ändert aber nichts daran, dass man, wenn man nach all den klebrigen Seins-Diskursen endlich das Kino verlässt, das Bedürfnis verspürt, sich die hohle Predigt mit einem hochpotenten Antidot ganz schnell aus dem Kopf zu spülen. Etwa indem man ein wirklich schmieriges 70er-Jahre-B-Picture sieht, sich von einem hirnlosen Dolph-Lundgren-Direct-to-DVD-Actionfilm berieseln lässt oder sich dem kreativen Chaos eines amoralischen Bildersturms wie Harmony Korines Spring Breakers' aussetzt – kurz: die physisch greifbare Ambivalenz und Aufrichtigkeit eines gänzlich materialistischen Budenzaubers genießt. In diesem Sinn macht 'To the Wonder' durchaus Lust auf Kino. Nur eben nicht auf den nächsten Terrence-Malick-Film.

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Max Beckmann – Departure

(D 2013, Regie: Michael Trabitzsch)

Radiumhaltige Kraftkomplexe
von Wolfgang Nierlin

Imposante Aufnahmen von New York, seinen Wolkenkratzern und Straßenschluchten, an deren Enden das Blau des Ozeans funkelt, rahmen Michael Trabitzschs filmisches Künstlerportrait „Max Beckmann – Departure“. Eine zweite Klammer setzt …

Imposante Aufnahmen von New York, seinen Wolkenkratzern und Straßenschluchten, an deren Enden das Blau des Ozeans funkelt, rahmen Michael Trabitzschs filmisches Künstlerportrait „Max Beckmann – Departure“. Eine zweite Klammer setzt Beckmanns titelgebendes Triptychon „Abfahrt“, das in den Jahren 1932 – 1935 als Nr. 1 von insgesamt neun Triptychen entstand und im Museum of Modern Art ausgestellt ist. Seine Seitenteile zeigen auf schauerliche Weise den gequälten, geschundenen Menschen. In einer Selbstinterpretation des 1884 geborenen Künstlers, zitiert aus dem Off, heißt es dazu: „Das Leben ist Marter, Schmerz jeglicher Art.“ Dagegen evoziert die mittlere Tafel dieses bedrückenden Infernos das Paradies und die Möglichkeit der Erlösung: „Die Königin trägt den größten Schatz, die Freiheit, als ihr Kind auf dem Schoß. Die Freiheit ist das, worauf es ankommt. Sie ist die Abfahrt, der neue Beginn.“

In diesem Spannungsfeld zwischen Bedrängnis und Aufbruch, mythologischem Erbe und der dringenden Suche nach Transzendenz bewegen sich Leben und Werk dieses so vitalen Menschen und äußerst selbstbewussten Schöpfers. Als gegenständlicher Maler, der gegen den künstlerischen Zeitgeist die „raumtiefe“, figurative Malerei verteidigt, will er „durch die Realität“ „das Unsichtbare sichtbar machen“. Dabei verbindet er immer wieder den Alltag mit dem Mythos, um durch die „Gestaltung“ zur „Erlösung“ zu gelangen. „Meine Bilder sind radiumhaltige Kraftkomplexe“, notiert er in einem der Briefe, die in Trabitzschs Dokumentarfilm als Selbstzeugnisse eine starke, subjektive Stimme bilden. Diese wiederum steht in Beziehung zu den Interpretationen von Kunsthistorikern und Museumsleitern, die vor Beckmanns Bildern in einen – filmisch mitunter allzu forcierten – Dialog treten. Gewöhnungsbedürftige Profil-Aufnahmen vor halbdunklem Hintergrund, abrupte Perspektivwechsel auf die Sprecher sowie die Selbstinszenierung des Filmteams sorgen hier eher für Irritationen und Ablenkung denn für Einsichten und Konzentration.

Trotzdem zählt die Auseinandersetzung mit den Bildern zu den Stärken des Films. Ergänzt durch Zitate Beckmanns, historische Filmdokumente und einen emotional leicht einlullenden Soundtrack entsteht so eine thematisch verdichtete Passage durch das Leben und Werk dieses herausragenden Malers. Zu den gravierendsten Einschnitten seiner Vita gehören dabei die Erfahrungen der beiden Weltkriege, die Beckmann 1914 als freiwilliger Krankenpfleger und später, während der NS-Diktatur, im Amsterdamer Exil erlebt. Der Mensch als Marionette der Götter wird in seinen Zirkus- und Theaterbildern zum wiederkehrenden Motiv. Dagegen setzt Beckmann seine Kunst als einen Akt individueller Selbstbestimmung, deren Kraft sich möglichst auch auf den Betrachter übertragen soll und deren Antrieb die Suche nach einer höheren Wahrheit ist. In seinem letzten, kurz vor seinem Tod im Jahre 1950 vollendeten Triptychon „Die Argonauten“ verbindet sich diese Hoffnung in motivischen Anklängen an sein erstes Werk „Junge Männer am Meer“ von 1905. Und so schließt sich in mehrfacher Hinsicht ein Kreis.

Iron Man 3

(USA / CN 2013, Regie: Shane Black)

Wer bin ich und wenn ja, wie viele?
von Louis Vazquez

„The Avengers“ hat wehgetan. Nicht so sehr den Zuschauern, denn die kamen ja in Scharen zum Gipfeltreffen der Marvel-Superhelden. Arg gelitten hat aber Tony Stark (Robert Downey Jr.), der Iron …

The Avengers“ hat wehgetan. Nicht so sehr den Zuschauern, denn die kamen ja in Scharen zum Gipfeltreffen der Marvel-Superhelden. Arg gelitten hat aber Tony Stark (Robert Downey Jr.), der Iron Man, obwohl er auch bei seinem Auftritt im Ensemblefilm nie um einen flotten Spruch verlegen war. Fast jedoch wäre er im Kampf gegen Götter und Außerirdische den Opfertod gestorben. Ach komm, altes Heldenklischee, könnte man nun einwenden. Wer ist schließlich noch nicht zum Schein oder sogar ganz in echt gestorben und dann doch wieder zurückgekehrt?

Trotzdem muss Stark jetzt per Voiceover darüber sprechen, dass er nicht mehr ganz der Alte ist nach dem apokalyptischen Trubel, dass ihn Panikattacken überkommen und er nachts nicht mehr schlafen kann. Und das markiert schon den entscheidenden Unterschied zu den Avengers: Es soll wieder ein bisschen ernster zugehen bei Marvel, Ironie hin oder her. Die maßlose Action schlägt dem Helden aufs Gemüt. Ganz neu ist das freilich auch wieder nicht, denn moderne Superhelden richten ja traditionell den Blick nach innen und sehen nichts Begeisterndes. Im rasanten Stelldichein der Avengers ging das ein bisschen unter, weil man miteinander genug beschäftigt war. Nicht so in „Iron Man 3“. Zur allgemeinen Verunsicherung gesellen sich Fehler aus der Vergangenheit, die sich selbst Jahre nach der Läuterung des inzwischen altruistischen Großindustriellen Tony Stark noch rächen. Es geht um die Verantwortung von Wissenschaftlern, um einen sehr persönlichen Rachefeldzug und, nicht zuletzt, Schauwerte in gar nicht mal so beeindruckendem 3D.

Weil Terroristen auch im Blockbuster wieder ganz gut gehen, dürfen die Außerirdischen ausnahmsweise Pause machen. Stattdessen tritt der geheimnisvolle Mandarin (Ben Kingsley) auf den Plan und bombt auch mal gegen Zivilisten. Dabei soll man sich schon wieder an Bin Laden erinnert fühlen, aber letztlich wird der krude Bösewicht nicht wie Batmans Bane zum Überterroristen stilisiert, um Law-and-Order-Phantasien zu legitimieren, sondern alles ist ein bisschen komplizierter, alberner und deshalb sogar wirklich besser. Regisseur und Co-Autor Shane Black („Lethal Weapon“, „The Last Boy Scout“) bleibt bei aller Simulation von Tiefe und Anspruch dem ironischen Jungs-Kino treu, doch immerhin kann er sich in diesem Umfeld ohne größeren Blechschaden bewegen. Keine Selbstverständlichkeit, wenn man bedenkt, mit welcher Konsequenz kürzlich die eigentlich todsichere Stirb-Langsam-Franchise gegen die Wand gefahren wurde.

Weil die populärste Figur aus dem Marvel-Universum untrennbar mit ihrem derzeitigen Darsteller verbunden ist, darf Tony Stark weite Strecken des Films ohne Anzug bestreiten, wegen technischer Probleme, und weil „Iron Man 3“ so auch noch mit einer Spielberg-esken Episode um einen hilfreichen kleinen Jungen aufwarten kann, dem Stark zu einer Vaterfigur wird. Im großen Finale freilich stehen Anzüge ohne Zahl parat, die sich längst von ihrem Schöpfer emanzipiert haben. Man könnte natürlich versuchen, in dieser schizophrenen Trennung von Mann und Anzug bzw. der Vervielfältigung von Starks Persönlichkeit durch Dutzende ferngesteuerte Eisenmänner ein Statement zur Kriegsführung per Drohne zu sehen – besonders kritisch würde das aber eher nicht ausfallen. Denkbar wäre freilich auch die planmäßige Vorbereitung eines „Iron Man 4“ nicht nur ohne Robert Downey Jr. – er will ja vielleicht nicht mehr –, sondern gleich ganz ohne Schauspieler, denn die Anzüge können ja auch alleine.

Manches aber bleibt beim Alten: In „Iron Man 3“ wird wieder gestorben und auferstanden. Mal sehen, wie dringend die betreffende Figur in der Fortsetzung darüber reden muss.

I, Anna

(D / GB 2012, Regie: Barnaby Southcombe)

Hervorbrechender Schmerz
von Wolfgang Nierlin

Eine düstere, farblich ausgebleichte Szenerie großstädtischer Beton-Architektur bestimmt den Look von Barnaby Southcombes Neo-Noir-Thriller “I, Anna”. Schwach beleuchtete Tunnel und Unterführungen, nächtliche Diners à la Edward Hopper, mächtige Wolkenkratzer und …

Eine düstere, farblich ausgebleichte Szenerie großstädtischer Beton-Architektur bestimmt den Look von Barnaby Southcombes Neo-Noir-Thriller “I, Anna”. Schwach beleuchtete Tunnel und Unterführungen, nächtliche Diners à la Edward Hopper, mächtige Wolkenkratzer und anonyme Raumfluchten vermitteln ein Gefühl von Einsamkeit und Entfremdung. Vor allem das Barbican Center in London, wo ein Großteil des Films angesiedelt ist, verkörpert mit seinen wuchtigen, abweisenden Proportionen diese Stimmung aus Verlorenheit und existentieller Leere. Verstärkt wird diese dunkle Atmosphäre noch durch die melancholischen Songs von Richard Hawley und die nervös-irritierenden Sounds des französischen Elektronik-Duos K>i<d, durch die sich ein Element des Mysteriösen und Halluzinatorischen in die Bilder mischt. Es sind dies die zunehmend intensiveren Flashs auf Traumata, in denen die weibliche Hauptfigur gefangen ist und durch die sich die Koordinaten von Raum und Zeit verschieben.

Geheimnisvoll, merkwürdig unnahbar und fremd ist die Titelheldin Anna, gespielt von Southcombes berühmter Mutter Charlotte Rampling, von Anfang an. Nach der Trennung von ihrem Mann Simon sucht sie auf Single-Partys nach Anschluss. Dabei nennt sie sich Allegra und trägt ein rotes Kleid. Doch ihr Blick auf dieses Tun ist eher nüchtern und illusionslos. Einmal folgt sie einem Mann in dessen Appartement in besagtem Hochhaus. Später in der Nacht wird dieser erschlagen und blutüberströmt aufgefunden. Bald darauf erscheint Kriminalkommissar Bernie Reid (Gabriel Byrne), der seit der Trennung von seiner Frau an Schlafstörungen leidet, am Tatort. Doch die Spuren, die zunächst ins Verbrecher-Milieu zu führen scheinen, erweisen sich bald als falsch; und auch die Filmerzählung selbst dramatisiert die Ermittlungen dieses Mordfalls nur, um zu tieferen Schichten des Sujets vorzudringen.

Dessen Fokus liegt auf den beiden Protagonisten, ihrer schier unüberwindlichen Einsamkeit, dem langen Moment ihrer wechselseitigen Faszination sowie den parallelen und spiralförmigen Bewegungen, mit denen sie sich einander annähern. Barnaby Southcombe, der für sein Kinodebüt den gleichnamigen Roman von Elsa Lewin adaptiert hat, inszeniert diese Begegnung zweier Seelenverwandter als Trip in die dunklen, verborgenen Areale der menschlichen Psyche, von wo aus das Verdrängte seine eigene Wirklichkeit erschafft. In stimmungsvollen Bildern und Tönen lässt er den Schmerz in der Konfrontation mit der Erinnerung hervorbrechen, ohne ihn ganz auszulöschen. Vielmehr vermittelt „I, Anna“ eine Katharsis ohne Erlösung und eine Einsamkeit, die trotz allem menschliche Nähe und damit die Hoffnung auf einen Neubeginn zulässt.

Die wilde Zeit

(F 2012, Regie: Olivier Assayas)

Konjunktiv II, sexy
von Ulrich Kriest

So ist es gewesen. So hätte es zumindest gewesen sein können. Hierzulande sind wir es ja schon seit ewigen Zeiten gewohnt, die frühen 70er Jahre mit ihren kollektiven und individuellen …

So ist es gewesen. So hätte es zumindest gewesen sein können. Hierzulande sind wir es ja schon seit ewigen Zeiten gewohnt, die frühen 70er Jahre mit ihren kollektiven und individuellen Suchbewegungen zwischen Pop und Politik zwischen den Polen „68“ und „77“ fixiert zu bekommen. Sprich: wer von „68“ reden will, darf von Schleyer und Stammheim nicht schweigen! Und umgekehrt? Wie uninteressant und unproduktiv solch Präsentieren alter Rechnungen, solch eine Affirmation des Status quo ist, konnte man gerade im Kino bei „Das Wochenende“ erleben. Politische Aktivisten, so könnte man glauben, sollen sich gefälligst erst einmal entschuldigen, wofür konkret, darüber reden wir, vielleicht, später. Aber eher nicht!

Anders der französische Filmemacher Olivier Assayas, Jahrgang 1955, der mit seinem neuen Film „Aprés Mai“ von der Zeit nach dem Mai ‘68 erzählen will, als die Revolution gescheitert war, aber für die Jugendlichen trotzdem noch immer etwas in der Luft lag.

„Something in the Air“ lautet denn auch der internationale Verleihtitel von „Die wilde Zeit“. Es ist ein Film, der mit größter Sympathie für seine Protagonisten davon erzählt, dass man sich seinen Reim auf die Gegenwart immer erst »danach« macht, was aber nicht notwendig dazu taugt, die jeweilige Gegenwart zu denunzieren. Es geht hier um eine historische Spurensuche, die – einen Gedanken von Greil Marcus aufgreifend – ein marginales und marginalisiertes Aktionsfeld rekonstruiert, basierend etwa auf dem Abdruck eines Lippenstifts auf einer Zigarette.

Assayas begleitet eine Gruppe von Jugendlichen, die sich durchaus als Teil einer historischen Bewegung verstehen, allerdings nur bedingt die Dogmen der »alten Politik« teilen. Wir sehen also einige Maoisten, Trotzkisten, Anarcho-Syndikalisten und Situationisten in unruhigen Zeiten, aber manche von ihnen wollen und werden später doch eher dichten, schreiben, malen oder filmen. Drogen und Musik kommen ins Spiel, gleichberechtigt zur Politik; ein exquisiter, von Kennerschaft und Zeitgenossenschaft zeugender Soundtrack mit Musiken von Syd Barrett, Kevin Ayers, The Incredible String Band oder Tangerine Dream weitet die Bilder atmosphärisch (zur Erinnerung: in „Das Wochenende“ fördert das Durchforsten der Vinyl-Sammlung des Ex-Terroristen ausgerechnet das Stones-Album „Love you Live“ zutage). Man soll, darf und muss zuhören, darf sich von Bildern und Tönen gefangen nehmen lassen. Assayas zielt mit seinem ambitionierten Erzählreigen auf eine antiautoritäre Polyphonie, die einen aufmerksamen Zuschauer erfordert.

Zugleich erzählt der Film, der erzählerisch lose um die autobiografische Figur Gilles herum organisiert ist, fast schon pastoral ein paar Liebesgeschichten, die mal enger, mal weniger eng mit dem politischen Bewusstsein der Akteure verknüpft sind. Es stehen allerlei bedeutsame Fragen im Raum: „Wie positionierst du dich?“ Oder: „Braucht der richtige politische Inhalt nicht auch eine entsprechende revolutionäre Syntax?“ „Oder ist allein schon diese Frage ein Ausdruck kleinbürgerlicher Ideologie?“ „Wie hat Kunst auszusehen, die die Massen erreicht?“ Hier werden keine stellvertretenden Pappkameraden für bestimmte diskursive Positionen durch die Kulisse geschoben, es wird vielmehr versucht, eine historische Atmosphäre filmisch lustvoll mit beseelten Akteuren zu rekonstruieren.

Ihm gehe es auf der Grundlage autobiographischer Erinnerungen zuvörderst darum, ein Gefühl für die Schönheit der Utopien jener Zeit zu vermitteln, hat Assayas in Interviews erklärt. Und die Jugendlichen von 1971 von Laien von 2012 hat spielen lassen, die die »Sprache von ‘68« wie eine Fremdsprache lernen mussten. Auch dies ist ein schöner (Seiten-)Aspekt dieses Films: wie kommt man von heute überhaupt noch nach 1971 zurück, als Darsteller? Intuitiv?

Kurz vor Schluss brennt dann erstmals ein Fluchtfahrzeug. Dass der aktionistische Schwung und die Energie des gegenkulturellen Aufbruchs auf Dauer nicht zu halten sind, zeigt sich auch darin, dass immer wieder einzelne Figuren in narrativen Lücken verschwinden und unvorhergesehen wieder auftauchen. Dieses Mäandern birgt Überraschungen. Denn wer gerade noch von einer spirituellen Erfahrung in Indien träumte und dorthin auch aufbrach, wird vielleicht dann doch »nur« ein Kunsthandwerker, der das herrschende System mit Deko-Ware beliefert. Und dem Maoisten von vorgestern werden die vielen Niederlagen und Desillusionierungen zu viel, weshalb er für die Strategie des bewaffneten Widerstands nicht mehr nur plädiert, sondern Taten sehen will und sich dazu jüngere Aktivisten sucht.

Die folgenden, terroristischen und katastrophischen 70er Jahre, so Assayas, die habe er ja mit seinem semi-dokumentarischen „Carlos“ bereits verhandelt. „Die wilde Zeit“ ist jedenfalls der schönste und wichtigste Film des Jahres, weil er dringender und für uns Ältere, die sich vielleicht noch an die siebziger Jahre erinnern, schmerzhafter denn je von der Schönheit der Utopie, der Revolte erzählt. „Die wilde Zeit“ schwärmt nicht ohne Melancholie, aber letztlich doch ausgelassen und fröhlich von der Frische des jugendlichen Lebendigseins. Die Geschichte mag sich anders entwickelt haben: aber beschädigt das die Ideen von „Aprés Mai“? So hätte es gewesen sein können.

Mutter & Sohn

(RO 2013, Regie: Calin Peter Netzer)

Alte Seilschaften
von Wolfgang Nierlin

Von Frau zu Frau beklagt sich eine Mutter über ihren erwachsenen Sohn. Ihr Verhältnis scheint distanziert und zerrüttet, der Kontakt weitgehend abgebrochen zu sein. Vor allem ärgert sich Cornelia (Lumini&#355;a …

Von Frau zu Frau beklagt sich eine Mutter über ihren erwachsenen Sohn. Ihr Verhältnis scheint distanziert und zerrüttet, der Kontakt weitgehend abgebrochen zu sein. Vor allem ärgert sich Cornelia (Lumini&#355;a Gheorghiu) aber darüber, dass Barbu (Bogdan Dumitrache) angeblich von seiner Lebensgefährtin Carmen (Ilinca Goia) dominiert wird. Was die resolute Frau und von besitzergreifender Eifersucht getriebene Mutter darüber weiß, erfährt sie aus zweiter Hand; etwa von der Putzfrau, die für ihre Auskünfte kleine Geschenke erhält. Cornelia ist nämlich nicht nur eine bestimmende Mutter, die mit Liebe und übertriebener Sorge über ihr einziges Kind wacht, sondern sie gehört als wohlhabende Innenarchitektin zur Funktionselite der postkommunistischen rumänischen Gesellschaft. Politiker, Ärzte, Rechtsanwälte und Künstler zählen zu den Gästen ihrer Geburtstagsfeier, die in einem gepflegten, dezent luxuriösen Ambiente stattfindet. Der selbstverständliche Wohlstand des gehobenen Bürgertums sowie die alten Strukturen und Methoden der Macht bilden in diesem Milieu eine unmoralische Allianz. Verbittert zitiert die Mutter ihren Sohn mit den Worten: „Diese Generation muss verschwinden.“

Aufmerksam, sensibel und höchst konzentriert erforscht der rumänische Regisseur C&#259;lin Peter Netzer in seinem preisgekrönten Film „Mutter & Sohn“ (Goldener Bär der Berlinale) diese Amalgamierung, die sich als Fortdauer alter Machtstrukturen unter neuen, kapitalistischen Verhältnissen verstehen lässt. Noch immer regieren alte Seilschaften, gehören Bestechung und Korruption zur Tagesordnung und wäscht eine Hand die andere. In vielen, spannungsgeladenen Szenen des Films wird das anschaulich, vor allem aber ist dieses fast schon gewissenlose Taktieren und Paktieren eine Art stillschweigend akzeptierte Währung im zwischenmenschlichen Austausch, der von Misstrauen, Lügen und hässlichen Machtkämpfen bestimmt wird. Offen oder verdeckt, unausgesprochen oder direkt geht es in vielen Gesprächen und diskret inszenierten Details um konsumgeile Geldgier und zynisches Erfolgsstreben.

Als Barbu bei einem Überholmanöver mit überhöhter Geschwindigkeit einen Verkehrsunfall verursacht, bei dem ein 14-jähriger Junge aus einer ärmeren Gesellschaftsschicht stirbt, kämpft die Mutter mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, um ihren Sohn vor einer Gefängnisstrafe zu bewahren. Dabei wird ein kompliziertes Geflecht aus gesellschaftlichen Hierarchien, sozialen Gegensätzen, Privilegien, aber auch Abhängigkeiten sichtbar. Vor allem aber thematisiert der realistische Film das problematische Verhältnis zwischen einer Mutter, die ihr Kind nicht loslassen kann, und einem Sohn, der sich aus dieser Umklammerung zu befreien versucht, um endlich selbständig zu werden. Dass diese private Ebene auch eine gesellschaftliche meint, deutet Netzer an. Sein kleinteiliger, dichter Erzählstil, der von langen Handkamera-Einstellungen getragen wird und seine starke Spannung genauem Beobachten und Zuhören verdankt, lenkt die Aufmerksamkeit immer wieder auf Details und findet so zu einer enormen Vielschichtigkeit. Diese befördert schließlich nicht nur unangenehme Wahrheiten ans Licht, sondern stellt auch die Frage nach Schuld und Vergebung.

Snitch – Ein riskanter Deal

(USA 2013, Regie: Ric Roman Waugh)

Fighting the Law
von Louis Vazquez

John Matthews (Dwayne Johnson) sitzt in der Klemme. Sein Sohn Jason (Rafi Gavron) wurde mit einem dicken Drogenpaket erwischt, das ihm ein vermeintlicher Freund untergejubelt hat. Jetzt drohen Jason zehn …

John Matthews (Dwayne Johnson) sitzt in der Klemme. Sein Sohn Jason (Rafi Gavron) wurde mit einem dicken Drogenpaket erwischt, das ihm ein vermeintlicher Freund untergejubelt hat. Jetzt drohen Jason zehn Jahre Haft, wenn er nicht selbst jemanden beschuldigen kann. Aber der Junge kennt niemanden sonst, der dealt. Weil das Rechtssystem sich in dieser Sache erbarmungslos zeigt – Straferlass gibt es nur gegen weitere Verhaftungen –, muss der Papa helfen. Staatsanwältin Joanne Keeghan (Susan Sarandon) verspricht ihm, die Strafe seines Sohnes zu reduzieren, wenn er für die Festnahme eines wirklich großen Fischs sorgen kann. Weil Matthews Speditionsunternehmer ist, will er sich zum Schein als Kurier anbieten. Sein vorbestrafter Angestellter Daniel (Jon Bernthal, „The Walking Dead“) soll ihm einen Kontakt zur Szene verschaffen …

Ex-Wrestler Dwayne „The Rock“ Johnson spielt die Hauptrolle, der ehemalige Stuntman Ric Roman Waugh führt Regie – gleich zwei gute Gründe für falsche Erwartungen. „Snitch“ ist nämlich kein Action-Spektakel, sondern ein Krimi-Drama mit Botschaft und leicht dokumentarisch angehauchter Ästhetik. Der Film beruft sich auf wahre Begebenheiten und will auf einen Missstand im amerikanischen Rechtssystem hinweisen, der vielen Drogenkonsumenten lange Haftstrafen beschert. Obwohl die Produzenten betonen, kein „message movie“ geplant zu haben, ist „Snitch“ doch sehr treffsicher eines geworden. Sein Anliegen trägt der Film stets deutlich in erklärenden Dialogen vor sich her, seine Geschichte erscheint wie ein Mittel zum Zweck. Sowohl dem Plot als auch den Figuren fehlt alles, was übers bloß Funktionale hinausgehen würde, zum Beispiel überraschende Entwicklungen. Michael Kenneth Williams etwa, der in „The Wire“ einen der interessantesten Gesetzlosen der Bewegtbildgeschichte spielte, darf hier bloß die Erwartungen ans Drogendealer-Klischee erfüllen. Susan Sarandon, die in einem so gut gemeinten Film natürlich nicht fehlen darf, hat noch die komplexeste Rolle: Staatsanwältin Keeghan ist Republikanerin und strebt eine politische Karriere an. Deshalb pocht sie auf die Einhaltung der strikten Gesetze, obwohl sie nicht unbedingt viel von ihnen hält.

Manchmal wird es durchaus interessant: Wenn etwa Matthews, der immerhin auch der Boss ist, seinem Untergebenen Daniel unverschämt viel Geld für seine Unterstützung anbietet. Denn Daniel ist noch auf Bewährung und will eigentlich mit seiner Vergangenheit abschließen. Aus dieser unmoralischen Verstrickung macht der Film aber letztlich nicht genug, sondern bleibt arg vorhersehbar und etwas langatmig. Überraschend, weil inkonsequent, ist höchstens das Finale. Plötzlich gibt es nämlich doch noch eine größere, wenn auch nicht gerade glaubwürdige Actionszene. Deren Inszenierung indes überzeugt so wenig wie der Film insgesamt.

Evil Dead

(USA 2013, Regie: Fede Alvarez)

Fünf Seelen bis zur Wiedergeburt
von Harald Steinwender

Eine abgelegene Hütte im Wald, eigentlich eher eine heruntergekommene Bretterbude, aber unter ihr befindet sich – gänzlich untypisch für Nordamerika – ein weitläufiger Keller. Dort, in diesem Keller liegt der …

Eine abgelegene Hütte im Wald, eigentlich eher eine heruntergekommene Bretterbude, aber unter ihr befindet sich – gänzlich untypisch für Nordamerika – ein weitläufiger Keller. Dort, in diesem Keller liegt der Schlüssel zu einem Tor zur Hölle: ein in Menschenhaut geschlagenes Buch mit mystischen Krakeleien, Beschwörungssprüchen in einer fremden Sprache und Tuschezeichnungen von Lovecraft’schen Ungeheuern. Diese Hütte im dunklen Märchenwald wartet nur darauf, dass eine Gruppe junger Erwachsener eintrifft, um dort die Nacht zu verbringen. Dann rumpelt es im Keller, bis die Twens – drei Frauen, zwei Männer – die Luke im Boden finden und in den Keller hinabsteigen. Und bald beginnt ein besonders Neugieriger von ihnen, in dem Buch zu blättern und unbeholfen die bösen Worte vorzutragen. Nun erwacht etwas in den Wäldern. Bäume und Gestrüpp entwickeln ein Eigenleben, Wurzeln und Zweige greifen nach einer der Frauen, einer der Äste fährt ihr zwischen die Beine. An Flucht ist nicht zu denken, die Natur hat sich gegen die zum Menschenopfer bestimmten Neuankömmlinge verschworen: Der nahegelegene Fluss tritt über die Ufer und flutet die einzige Straße, die einen Ausweg bieten könnte. Dann ergreift das Böse nach und nach von den unglückseligen Besuchern Besitz, die in Rage auf einander losgehen.

Die Dramaturgie erinnert an einen bösen Abzählreim, allerdings in einer sadistisch gewendeten Achterbahnvariante: Die Überbietungsstrategie setzt auf Terror und Schock und Ekel, und die Überlebenden richten bald alle Haushaltsutensilien und Waffen, die sich finden lassen, gegen die anderen und sich selbst – von der Axt über die Schrotflinte bis zur Königsdisziplin des Genres: der benzinbetriebenen Kettensäge. Neben der drastisch ausgespielten Gewalt spielen Suspense und Atmosphäre eine wichtige Rolle, auch als Rückgriff auf die Gothic-Wurzeln des Genres. So stehen gleichberechtigt neben all dem Blut und dem Gekröse die starken Bilder der schwarzen Romantik und der religiösen Apokalyptik: wabernder Kunstnebel; suggestive Kamerafahrten; die Sonne geht unerwartet am Tag unter; auch der fahle Vollmond versinkt bald im Schwarz einer ewigen Nacht. Wir kennen das: 'Und die Sonne ward schwarz wie ein härener Sack, und der Mond ward wie Blut; und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde'. Selten jedoch hat das Kino diese Bilder so drastisch und mit einer solch zügellosen Lust bis zur Groteske ausgelebt.

Die Geschichte von der Hütte im Wald und den fünf Seelen, die der Dämon bei seinem Erwachen frisst, hat der 22-jährige Sam Raimi vor mehr als 30 Jahren in seinem Kultklassiker 'The Evil Dead' ('Tanz der Teufel'; 1981) so furios wie lustvoll erzählt – für ein lächerlich geringes Budget von gerade einmal 375 000 US-Dollar und mit Freunden vor und hinter der Kamera (mit dabei als Schnittassistent: der junge Joel Coen, drei Jahre vor seinem Debüt 'Blood Simple'). Nun, 2013, erzählt der uruguayische Regisseur Fede Alvarez die gleiche Geschichte noch einmal, diesmal für 17 Millionen US-Dollar und im Auftrag des Produzenten Raimi. Der hat sich, ähnlich wie sein neuseeländischer Kollege Peter Jackson, längst mit Multimillionen-Dollar-Produktionen wie den drei 'Spiderman'-Filmen (2002-2007) und dem 3D-Disney-Spektakel 'Oz the Great and Powerful' ('Die Fantastische Welt von Oz'; 2013) als prestigeträchtiger Großregisseur etabliert. Alvarez dagegen, der nach einigen Kurzfilmen hier sein Spielfilmdebüt inszeniert, kehrt zurück zu den Wurzeln der einfachen Geschichte, die seit mehr als 30 Jahren durch das Kino geistert: Zunächst in Raimis Kurzfilmvariante 'Within the Woods' von 1978, mit der der Jungregisseur Investoren für seinen Debütfilm zu begeistern suchte; dann mit dem ersten 'Evil Dead', der den harten Horrorfilm der 70er Jahre geschult am Körperhumor der 'Three Stooges', dem Cartoon-Wahnwitz der 'Looney Tunes' und der Unbekümmertheit des internationalen Trash-Kinos als 'Splatstick' neu erfand. 1987 erreichte Raimi mit dem für das zehnfache Budget des Vorgängers realisierten 'Evil Dead II – Dead By Dawn' ('Tanz der Teufel 2') den Höhepunkt der Blut-&-Eingeweide-Grotesken der 80er Jahre. Der eher harmlose Slapstick-Horror von 'Army of Darkness' ('Armee der Finsternis'; 1992) mit seinen Anspielungen an den kürzlich verstorbenen Ray Harryhausen und die Sandalenfilme italienischer und US-amerikanischer Provenienz wurde bald abgelöst von einer Vielzahl mehr oder weniger gelungener Varianten der Ursprungsgeschichte. So versuchte sich Grimme-Preisträger Gert Steinheimer in seinem völlig vergeigten deutschen Beitrag 'Black Forest' 2010 an einer Medienkritik-Variante; Regisseure wie Eli Roth ('Cabin Fever'; 2002), Ti West ('Cabin Fever II: Spring Fever'; 2009) und Drew Goddard ('The Cabin in the Woods'; 2012) schufen Varianten, die mal die sexuelle Komponente betonten ('Cabin Fever'), mal mit Drogenmetaphorik spielten ('Cabin Fever II') oder gleich die ganze Formel in einer doppelt postmodern gedrechselten Meta-Variante zur Fortführung Jahrtausende alter Rituale mit modernen Mitteln umdeuteten (The Cabin in the Woods'). Nachdem alle denkbaren Varianten des Stoffs auserzählt sind, was bleibt Alvarez da noch für seine Neuauflage übrig? Er versucht das Naheliegende: Das Original noch einmal erzählen, mit möglichst wenigen Abweichungen von der Urgeschichte. Er will den Fans des Originals alles rechtmachen. Und verfehlt dabei doch den Kern des Originals.

Neu hinzugekommen im Remake ist ein Prolog, der den Zweck erfüllen soll, dem namenlosen Terror eine Mythologie zu geben – und der doch nur Verwirrung stiftet. Ebenfalls neu: die aufgesetzte Motivation für das blutige Wochenende im Wald. Diesmal ist der Vorwand kein Kurzurlaub, sondern ein Ausflug, bei dem die Studenten Eric, Olivia und Natalie (Lou Taylor Pucci, Jessica Lucas und Elizabeth Blackmore) ihrer Freundin Mia (Jane Levy) beim Drogenentzug beistehen wollen. Mit dabei beim 'cold turkey' im Wald ist deren Bruder David (Shiloh Fernandez). Was fehlt (tatsächlich verzichtbar): Der bestimmte Artikel 'The' im Titel. Und (umso schmerzhafter): Bruce Campbell, der Star der ersten drei 'Evil Dead'-Filme, der dort den menschlichen Sandsack gab. Rührend naiv und zu allem entschlossen war er zugleich das Herz und die Seele der Filme; eine Figur, über die das Publikum sich amüsieren und mit der es mitleiden konnte. In der Version von 2013 erhält Campbell nur einen Mini-Cameo – nach den Abspanntiteln und völlig uninspiriert. Das Personal des neuen 'Evil Dead' dagegen ist völlig austauschbar. Passé sind auch die Ironie, der überdrehte Witz und die Tragik, die Raimi trotz begrenzter Mittel, Laiendarsteller und semiprofessionellem Personal vor und hinter der Kamera allen Unzulänglichkeiten zum Trotz wie aus dem Nichts zauberte. In der Bundesrepublik, in der sein Film als 'Tanz der Teufel' Mitte der 1980er Jahre zum Fall für die Staatsanwaltschaft wurde, haben die Behörden bis heute den anarchischen Humor des Films nicht verstanden. Erst 1992 wurde das Verbot des Films wegen 'Gewaltverherrlichung' vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben und 'Tanz der Teufel' offiziell zu Kunst erklärt. Kurz darauf wurde der Film, der heute in Frankreich ab 12 (!), in Italien ab 14 und in den Niederlande ab 16 Jahren freigegeben ist, in seiner ungeschnittenen Fassung abermals indiziert. Nach einer Novellierung des entsprechenden Paragraphen 131 des Strafgesetzbuchs im Jahr 2003 gilt diese Fassung wieder als beschlagnahmt. Bis heute hat sich daran nichts geändert.

Diese besondere deutsche Situation dürfte Alvarez weder bekannt sein, noch ihn sonderlich beeindrucken. Tatsächlich steigert seine 'Evil Dead'-Neuauflage den Blutzoll des Vorgängers erheblich. Obendrein verzichtet er wie Franck Khalfoun in seinem durchaus ambitionierten 'Maniac'-Remake (Alexandre Ajas Maniac'; 2012) auf jegliche ironische Brechungen. So treten die Schauspieler im Remake vornehmlich als Kanonenfutter für die garstige Dämonenbrut an, die Alvarez nur allzu gerne von der Leine lässt, und kehrt der harte Horror der 'Video Nasties'-Ära der frühen 80er Jahre zurück. Zumindest auf die Kinoleinwand, denn auf DVD und Blu-ray sind beide Filme sichere Kandidaten für den Indizierungswahn der 'Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien'. Da gehe ich jede Wette ein.

Doch während jüngere Varianten des Stoffs wie 'The Cabin in the Woods' oder auch Sam Raimis Regiearbeit 'Drag Me to Hell' (2009) trotz ihrer ironischen Haltung gegenüber dem Genre tatsächlich etwas Innovatives erreichten und dem Stoff entweder eine neue Mythologie hinzufügen ('The Cabin …') oder die alten Geschichten effektiv modernisieren ('Drag Me …'), da bleibt Alvarez‘ Teufelstanz nur ein schwacher Abklatsch von Raimis Low-Budget-Klassiker. Der neue 'Evil Dead' wirkt schal und leer: Nur wenig findet sich hier von Raimis Sensibilität für schwarzromantische Bildwelten und seinen aus der Not geborenen technischen Innovationen, die er durch die mit einfachsten Mitteln realisierten rasanten Kamerafahrten in das Genre eingebracht hat. Auch wenn Alvarez‘ überwiegend auf CGI-Computereffekte verzichtet, wirkt sein Remake wie eine kalkulierte Nummernrevue, die sich nicht zwischen grotesker Übersteigerung des Körperhorrors und echtem Schmerz entscheiden kann. So ist die wirklich schockierende Erkenntnis der in den USA erstaunlich erfolgreichen 'Evil Dead'-Neuauflage (knapp 50 Millionen Einspiel in den ersten drei Wochen), dass es Raimi und Konsorten mehr als 30 Jahre zuvor mit einem Mini-Budget und selbstgemachten Stop-Motion-Effekten gelang, den effektiveren Horrorfilm zu inszenieren.

Einzig in der letzten Sequenz findet Alvarez zu einem originären, gänzlich apokalyptischen Bild: Während die Kettensäge wieder und wieder in einen zuckenden Körper fährt, beginnt es plötzlich Blut vom Himmel zu regnen. Hier gelingt es Alvarez immerhin, noch einmal das Groteske zu beschwören und zu so etwas wie einer eigenen Poesie der Gewalt zu finden. Aber sonst ist es, als hätten die Springteufel im Wald nicht nur die Seelen der verfluchten Collegestudenten gefressen, sondern gleich das Herz des Films.

Mademoiselle Populaire

(F 2012, Regie: Régis Roinsard)

Richtige Frauen und richtige Männer
von Wolfgang Nierlin

“Alle Mädchen wollen Sekretärin werden”, sagt Louis Échard (Romain Duris). Glaubt man dem ebenso smarten wie arroganten Macho, der in Lisieux, einer Provinzstadt der Normandie, eine kleine Versicherungsagentur leitet und …

“Alle Mädchen wollen Sekretärin werden”, sagt Louis Échard (Romain Duris). Glaubt man dem ebenso smarten wie arroganten Macho, der in Lisieux, einer Provinzstadt der Normandie, eine kleine Versicherungsagentur leitet und sich dabei als ketterauchender Platzhirsch gebärdet, war das in den 1950er Jahren sogar ein Modetrend unter jungen Frauen. Sehnsüchtig den wohlhabenden, möglichst gut aussehenden Chef anhimmeln und mit Schreibmaschineschreiben, Stenographie und Telefonieren eigenes Geld verdienen: Das war, eingepackt in traditionelle Geschlechterrollen und selbstverständlichen Sexismus, fast schon eine Vorstufe weiblicher Emanzipation. Mit genüsslicher Ironie und teils doppelbödigem Humor blickt der französische Regisseur Régis Roinsard zurück auf die Klischees dieser so fern erscheinenden Jahre. Seine romantische Komödie „Mademoiselle Populaire“ ist allerdings keine kritische Stellungnahme zum Geschlechterdiskurs, die den ästhetischen Abstand zum Genre sucht oder ihm wenigstens Brechungen einziehen würde; vielmehr reproduziert er in heiter-beschwingtem Tonfall, mit cremefarbener Wärme und perfekter Ausstattung dessen auf relativ harmlose Unterhaltung zielenden Vorgaben.

Insofern zielt Roinsard mit seinem Film in gleich mehrfacher Hinsicht auf die Erfüllung der Traditionen. Um die etwas biederen Heile-Welt-Träume seines Liebes- und Erfolgsmärchens in Gang zu setzen, schickt er die hübsche Rose Pamphyle (Déborah François), selbstbewusste Tochter eines verwitweten Gemischtwarenhändlers aus der noch tieferen Provinz, zum begehrten Bewerbungsgespräch bei dem schnöselig-eleganten Versicherungsvertreter. Dieser stellt die schusselige junge Frau mit verklemmtem Blick auf ihren Sex-Appeal ein und hat bald nur noch eines im Sinn, um sein unterdrücktes Begehren zu sublimieren: Er will Rose zu einer modernen, erfolgreichen Frau formen. Das dabei die aufkeimende Liebe zwischen den beiden permanent auf Ersatzhandlungen umgelenkt und verschoben wird, ist der dramaturgischen Logik der Komödie geschuldet, die zielsicher auf folgende bejubelten Schlusssätze zusteuert: „So wie du bist, machst du mich sehr glücklich. Ich liebe dich.“

Ende gut, alles gut, könnte man sagen. Doch angesteuert wird dieses Happy End vor allem durch die Feststellung: „Männer und Frauen sind sehr unterschiedlich.“ Und so unterwirft der ehrgeizig auf Sieg fixierte Louis, ein traumatisierter Kriegsveteran und ehemaliger Sportsmann, seine gelehrige Schülerin Rose einem strengen Training im Schreibmaschineschreiben, um sie für die kuriosen Regionalmeisterschaften fit zu machen. Mit abzutippenden Literaturklassikern (u. a. „Madame Bovary“ und „Rot und Schwarz“), farbigen Tasten, abgedeckter Tastatur und wenig Lob drillt er Rose auf Höchstleistung. Aus ihrem bemerkenswert effizienten Zwei-Finger-Suchsystem auf einer alten Triumph wechselt sie zur Zehn-Finger-Technik, schafft bald um die 500 Anschläge pro Minute, wird nationale Meisterin, umschwärmter Star und Werbeträgerin der Firma Japy, bis sie schließlich zum finalen Showdown bei den Weltmeisterschaften in New York antritt. Régis Roinsard inszeniert diesen als spannendes Duell mit rasanten Schnitten auf fliegende Finger, Kreisfahrten der Kamera und geteiltem Bild. Tatsächlich ist Rose schneller als die Maschine. „Die Amerikaner sind gut fürs Geschäft, die Franzosen für die Liebe“, wissen die Männer. Und der Zuschauer lernt: Das alles gab und gibt es wirklich – nicht nur im Kino.

Oblivion

(USA 2013, Regie: Joseph Kosinski )

Das Design ist die Botschaft
von Ricardo Brunn

Das Kino der 1980er Jahre ist, zugespitzt formuliert, ein Kino der Oberfläche. Mit ungeahnten Schauwerten holen die in dieser Dekade entstandene Blockbuster wie „Indiana Jones“ (1981) oder „Aliens“ (1986) die …

Das Kino der 1980er Jahre ist, zugespitzt formuliert, ein Kino der Oberfläche. Mit ungeahnten Schauwerten holen die in dieser Dekade entstandene Blockbuster wie „Indiana Jones“ (1981) oder „Aliens“ (1986) die Zuschauer von den Fernsehsesseln zurück ins Kino und nutzen die neuen technischen Möglichkeiten für eindrucksvolles Production Design. Der Kunsthistoriker Jürgen Müller spricht in diesem Zusammenhang etwa von der „Apologie der Oberfläche“ und verweist auf die Obsession von Filmemachern wie Ridley Scott, mit der Ästhetik der Oberfläche die Illusionskraft des bewegten Bildes zu betonen und gleichzeitig zu hinterfragen. Denn als Grenze eines Innen und Außen wird die Oberfläche auch von der Frage nach den dahinter liegenden Wahrheiten bestimmt: In „Blue Velvet“ (1986) beispielsweise in Gestalt einer Reise an die hinter den Fassaden liegenden düsteren Orte amerikanischer Vorstadtnormalitäten.

Aber auch abseits des Kinos ist das Motiv der Oberfläche von eminenter Bedeutung für das Jahrzehnt. So beschreibt Bret Easton Ellis in seinen Romanen über die Neonlichtdekade eine übersättigte, gelangweilte und nur an Äußerlichkeiten interessierte Welt. Daneben hat Steve Jobs in den 80ern auf andere Art das Potenzial der Oberfläche erkannt und mit dem „Macintosh 128k“ (1984) nicht nur einen der ersten PCs mit einer grafischen Benutzeroberfläche auf dem Markt etabliert, sondern den Computer von seinem hässlichen Gehäuse zu befreien versucht und schließlich ein Unternehmen erschaffen, das vor allem perfektes Design und weniger perfekte Technik herstellt.

„Oblivion“ ist in vielen Aspekten ebenfalls ein Kind der 1980er Jahre und der Fixierung auf das Äußere. Regisseur Joseph Kosinski, 1974 geboren und mit den Filmen der Reagan-Ära groß geworden, lieferte bereits 2010 mit „Tron: Legacy“ eine Fortsetzung des Sci-Fi-Streifens „Tron“ (1982) ab, der sich in seinem spiegelnden und nur von Neonlicht durchzogenen Schwarz vollkommen der Oberfläche (und leider auch der Oberflächlichkeit) verschrieben hatte. In seinem zweiten Film knüpft Kosinski in ästhetischer Hinsicht direkt an den verunglückten „Tron: Legacy“ an, nur wird den diesmal strahlend weißen, spiegelnden und transparenten Dekors eine Geschichte an die Seite gestellt, die zumindest vom Kohärenzwillen des Regisseurs zeugt.

Im Jahr 2077 ist Techniker Jack Harper (Tom Cruise als WALL-E von Scientology, wenn man so will) zusammen mit seiner makellosen Kollegin Victoria (Andrea Riseborough) auf der von Aliens zerstörten Erde als Reparaturteam im Einsatz. Hier überwachen sie als letzte auf der Erde verbliebene Menschen riesige, über dem Meer schwebende Maschinen, die Ressourcen aus dem verwüsteten Planeten extrahieren.

Bereits in diesen einleitenden Szenen preist die Kamera das virtuose Design des Filmes, fliegt mit Jacks Gleiter ausgiebig über die in Schönheit erstarrte Erdoberfläche, die selbst in ihrer Zerstörung noch aufgeräumt erscheint oder ergötzt sich am gleichsam über dem Boden schwebenden Haus des Technikers, das (sich ganz der Form verschreibend) sogar mit einem durchsichtigen Swimmingpool aufwarten kann. Untermalt werden diese Zelebrierungen des schönen Scheins, in denen sich der Plot kaum entwickelt, mit dem Score der französischen Elektropop-Band M83, deren 80er-Jahre-Synthi-Wurzeln deutlich herauszuhören sind.

Das perfekte und bisweilen transparente Äußere verweist indes auch in „Oblivion“ auf ein Dahinter. Als Jack eine abgestürzte Rettungskapsel findet, in der eine Frau (Olga Kurylenko) im Tiefschlaf liegt, gerät das aseptische Technikerleben aus den Fugen und die wohldosierte Action nimmt ihren Lauf. Zugleich sorgen das im Titel angedeutete Motiv der Erinnerung sowie die damit einhergehende Frage nach dem Erkennen des eigenen Selbst für die nötigen Wendungen, denn Jack kennt die schöne Unbekannte bereits aus seinen Träumen.

In diesem Zusammenhang wirken die zahlreichen Filmzitate, die von „2001: Space Odyssee“ über „Mad Max – Jenseits der Donnerkuppel“ bis hin zu „Independence Day“ oder „Matrix“ reichen und mitunter nur knapp dem Plagiatsvorwurf entgehen, wie die Überreste eines vergangenen, sich erinnernden Kinos. Sogar Hauptdarsteller Cruise tritt gleichsam als Zitat seiner selbst auf, begann doch die Karriere des Saubermannes ebenfalls in den 1980er Jahren.

Dessen schauspielerische Leistung bleibt jedoch zu routiniert und glatt, weshalb die entstehende Liebesgeschichte zwischen Jack und der Rettungskapselschönheit zu keinem Zeitpunkt richtig Fahrt aufnehmen will. Ähnlich ergeht es den unter der Oberfläche liegenden Themen, die um Kritik am umweltbedrohenden Turbokapitalismus transkontinentaler Konzerne und dem im digitalen Zeitalter transparent gewordenen Menschen (Stichwort durchsichtiger Swimmingpool) kreisen, sich unter der Eindeutigkeit der Werbeästhetik aber als zu plakativ gebärden.

Getreu dem Grundsatz „Sometimes the design is the statement“, mit dem Ridley Scott einst die Kritik an seiner Versessenheit auf das Production Design in „Blade Runner“ kommentiert hat, erschafft Joseph Kosinski mit „Oblivion“ einen sehenswerten Oberflächenfilm, dem es leider an der Originalität und Subtilität seiner Vorbilder mangelt.

Eine Dame in Paris

(F / EST / B 2012, Regie: Ilmar Raag)

Subtile Einsamkeit
von Wolfgang Nierlin

Eine melancholische Stimmung, unterstützt durch die Musik der Pop-Jazzband Dez Mona, liegt über den ersten Bildern von Ilma Raags Film „Eine Dame in Paris“ („Une Estonienne à Paris“). Durch die …

Eine melancholische Stimmung, unterstützt durch die Musik der Pop-Jazzband Dez Mona, liegt über den ersten Bildern von Ilma Raags Film „Eine Dame in Paris“ („Une Estonienne à Paris“). Durch die dunklen, verschneiten Straßen einer namenlosen estnischen Stadt fährt ein Bus. Anne Rand (Laine Mägi), eine blasse, erschöpfte Frau mittleren Alters, befindet sich auf dem Heimweg zu ihrer alten, kranken Mutter. Unterwegs torkelt ihr im fahlen Licht einer Straßenlaterne ihr sturzbetrunkener Schwager Toomas entgegen. Seit zwölf Jahren ist Anne, die einmal Französisch studiert hat, danach aber als Altenpflegerin arbeiten musste, geschieden. Die erwachsenen Kinder sind aus dem Haus und Anne ist darüber einsam geworden. Eines Nachts hört die Mutter auf zu atmen und zu Annes Einsamkeit kommt das Alleinsein – ohne Perspektive und Aufgabe. Bis sie kurz darauf ein Jobangebot aus Frankreich erreicht: Sie soll in Paris eine alte, eigenwillige Estin betreuen.

Was wie ein tristes, nordisches Sozialdrama beginnt, verwandelt sich nach Annes Ankunft in der Seine-Metropole in ein subtiles Kammerspiel, in dessen Mittelpunkt gleich zwei einsame Frauen stehen. Denn die betagte Frida (Jeanne Moreau), eine ebenso elegante wie lebensüberdrüssige Dame, lebt fast vollständig isoliert; wäre da nicht noch ihr ehemaliger, jüngerer Liebhaber Stéphane (Patrick Pineau), den sie wie einen Sohn behandelt und der gegen ihren Willen die estnische Betreuerin engagiert hat. Das bekommt Anne bei der ersten Begegnung mit Frida auch gleich vehement zu spüren. Hinter dem von Stéphane als „unverblümte Art“ beschönigten Charakter der resoluten Dame steckt pure Misanthropie. Die herrische Alte, die weder etwas bedauert noch bereut, zeigt sich verbittert, gehässig und böswillig. Dahinter wiederum verbirgt sich ein tiefsitzendes Gefühl des Verlusts, mit dem Frida einem lustvollen Leben und ihrem verlorenen Liebhaber nachtrauert.

Anne kompensiert die demütigende Ablehnung zunächst mit nächtlichen Spaziergängen, auf denen ihre alten, fernen Träume einen Hauch von Erfüllung finden und ihr verschüttetes Selbstbewusstsein zu wachsen beginnt. Nach ersten Rückschlägen und Grenzziehungen nähern sich die beiden Frauen unter Stéphanes moderater Vermittlung aber auch zaghaft einander an, werden dabei kurzzeitig zu Komplizinnen und müssen ihr gegenseitiges Vertrauen doch immer wieder neu gewinnen. Ruhig und unspektakulär entwickelt Ilmar Raag dieses leise Drama zwischen zwei einsamen Frauen, deren unterschiedliche Temperamente aufeinander stoßen, sich aneinander reiben, um sich dem Austausch zu öffnen und die (innere) Heimatlosigkeit der Protagonistinnen zu durchbrechen. Das ist, gemessen an den großen, oft lautstarken Kinodramen vielleicht nicht viel, im Kontext dieses eher „kleinen“, aufrichtigen Films aber auch nicht wenig.

Paradies: Hoffnung

(AT / F / D 2013, Regie: Ulrich Seidl)

Teenage Fanclub
von Marit Hofmann

Das Paradies ist eine Pyjamaparty mit Flaschendrehen und verbotenen Schokoriegeln. Die Hölle ist der Drill im Diätcamp, aber so richtig anhaben kann er den Kindern nichts. Es ist ein sympathischer …

Das Paradies ist eine Pyjamaparty mit Flaschendrehen und verbotenen Schokoriegeln. Die Hölle ist der Drill im Diätcamp, aber so richtig anhaben kann er den Kindern nichts. Es ist ein sympathischer Zug von Realityschockfilmer Ulrich Seidl, dass er Skrupel hat, seine Teenagerprotagonistin ähnlichen Qualen und Abgründen auszusetzen wie deren weibliche Verwandte, die im Mittelpunkt der anderen Teile seiner „Paradies“-Trilogie stehen und gleichermaßen zu Peinigerinnen und Gepeinigten werden. Doch damit ist der letzte Teil auch der harmloseste und von der Realität am weitesten entfernte. Während die Mutter ihr Glück im Sextourismus sucht (siehe Paradies: Liebe') und die ultrakatholische Tante im herausragend beklemmenden „Paradies: Glaube“ missionieren geht, verliebt sich Melanie in ihren Ferien unglücklich in den Diätarzt. Mitleiden ist, anders als sogar bei der sich selbst geißelnden Fanatikerin, schwer möglich, denn dass aus dieser Schwärmerei nicht mehr wird als ein Traum im Märchenwald, macht eben: Hoffnung.

Eher belustigend wirken die schön komponierten, symmetrischen Bilder der anachronistisch wirkenden Schikanen zur Körpernormierung. Gilt die Erkenntnis der Jugendlichen, dass mit Erwachsenen keine Kommunikation möglich ist, auch für ihr Verhältnis zum Regisseur? Hätte er, getreu seinem Motto, „die Absicht der Inszenierung mit dem Zufallsprinzip in Verbindung“ zu bringen, seine jungen Protagonistinnen noch mehr Raum für ihre starken Improvisationen gelassen, hätte er vielleicht mehr über die Qualen einer Teenagerexistenz in der Jugendgruppenhölle erfahren.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 5/2013

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Love Alien

(D / HR / ES / AT 2012, Regie: Wolfram Huke)

Geschlossene Gesellschaft
von Marit Hofmann

„Die Pärchenlüge ist überall, ihr Anblick ist nicht schön“, sangen die Lassie Singers. Die Zumutung, die es für einen unfreiwilligen Dauersingle bedeutet, in einer medial übersexualisierten Welt zu leben, in …

„Die Pärchenlüge ist überall, ihr Anblick ist nicht schön“, sangen die Lassie Singers. Die Zumutung, die es für einen unfreiwilligen Dauersingle bedeutet, in einer medial übersexualisierten Welt zu leben, in der sich alles ums Doppelpack dreht und Liebe als Lebenssinn verkauft wird, führt Wolfram Huke in seiner Dokumentation erschütternd vor Augen. Davon, die omnipräsente heterosexuelle Zweierkiste als Lüge zu verstehen, ist er jedoch weit entfernt – nichts wünscht er sich sehnlicher als eine Liebesbeziehung, die er ebenso wie sexuelle Kontakte in den 30 Jahren seines Lebens nie gehabt hat.

Der Regisseur hatte zunächst vor, eine Dokumentation über andere zutiefst verunsicherte „Love Aliens“ zu drehen. Das Ganze geriet zum Selbstversuch mit Huke als Regisseur, Kameramann und Protagonist in Personalunion. Von seinem 29. bis 30. Geburtstag begleiten wir ihn bei seinen Versuchen, eine Frau zu finden: bei missglückten Dates, beim Ausfüllen von dämlichen Partnerbörsenprofilen, bei einer Therapeutin, die sein Vermeidungsverhalten analysiert, beim Frustessen und Abspecken und bei Stilberaterinnen, die ihm neben Eyebrow Waxing raten: „Du musst dich als Produkt betrachten.“ Denn wenn er ausstrahle, dass er nicht viel wert ist, „warum sollten andere dich dann kaufen?“ Da sage noch einer, die Thesen der israelischen Soziologin Eva Illouz von der Romantikindustrie und deformierten „Gefühlen in Zeiten des Kapitalismus“ seien übertrieben.

Huke lässt den Zuschauer nie vergessen, dass hier jemand sich selbst filmt: Beim Radfahren schauen wir mit über den Lenker, in der Badewanne sehen wir nur die Füße, wir kommen nachts in die dunkle Messiwohnung, in der niemand wartet, oder Huke legt die Kamera neben das halbleere Hoteldoppelbett, um in Selbstgesprächen seine Einsamkeit zu umkreisen.

Sein Film rührt an ein Tabu, das auch unsere aufgeklärten Kreise pflegen: Da redet man schon eher über angesagte Themen wie Polyamorie als über vermeintlich uncoole bis prüde Liebesabstinenzler und ihre Schamgefühle. Vor der Kamera spricht Hukes Mutter zum ersten Mal mit ihrem Sohn darüber, dass sie sich Sorgen um sein Jungfrauendasein macht, und gibt „der scheißegoistischen Gesellschaft“ die Schuld. Allerdings läuft der Regisseur in seiner gewagten und erstaunlich selbstironischen Selbstbeschau Gefahr, dass man den Film als Symptom begreift. So ist man versucht, Hukes Hang zur „Spiritualität“, zu Pilgerreisen und kirchlichem Weltjugendtag, als Flucht zu deuten. Auch die Kamera dient, wie die Therapeutin zu Recht bemerkt, dazu, ein Problem wegzuschieben, das vielleicht gar keins sein müsste. Das Projekt ist nicht, eine Freundin zu finden, sondern einen Film darüber zu drehen, dass man keine findet.

Der Sache nicht gerade dienlich ist, dass Huke sich an seinem 30. Geburtstag in ein Kloster zurückzieht, wo ihn die deprimierende Glückwunschmail einer Onlinepartnerbörse erreicht: „Bleiben Sie den Münchner Singles weiterhin treu!“ Immerhin gelangt er dort zu einer Einsicht, die ihn von der auch sexuell von Jesus besessenen Fanatikerin aus Ulrich Seidls „Paradies: Glaube“ unterscheidet: „Jesus ist keine Frau, das muss man mal festhalten.“

Dieser Text ist zuerst gekürzt erschienen in: Konkret 5/2013

Paradies: Hoffnung

(AT / F / D 2013, Regie: Ulrich Seidl)

Welpenschutz unter der Käseglocke
von Sven Jachmann

In den ersten beiden „Paradies“-Filmen leben die zwei weiblichen Hauptfiguren in der Hölle auf Erden – und schmeißen kräftig Brennholz nach. Dritte weibliche Figur in Seidls Trilogie der Christlichen Tugenden …

In den ersten beiden „Paradies“-Filmen leben die zwei weiblichen Hauptfiguren in der Hölle auf Erden – und schmeißen kräftig Brennholz nach. Dritte weibliche Figur in Seidls Trilogie der Christlichen Tugenden ist nun die dreizehnjährige Melanie (Melanie Lenz), Tochter der Sextouristin aus „Paradies: Liebe“ und Nichte der Radikalmissionarin aus „Paradies: Glaube“. Für das Leid, das ihr bevorstehen wird, trifft sie nicht die geringste Schuld – was sie auch zugleich von ihren Vorgängerinnen am stärksten unterscheidet. Bislang ist Melanie nur Opfer des gesellschaftlichen Blicks auf ihren leicht übergewichtigen Körper. Um Opfer und Täterin zu werden und sich, so ausbuchstabiert, in die Phalanx schmerzhaft ambivalenter Seidl-Charaktere einzureihen, fehlen ihr womöglich noch ein paar Jahre. Deswegen heißt ihr Ferienprogramm vorerst nur Drangsal der eigenen Physis und Psyche. Während die Mutter in Kenia ihre Einsamkeit mit kolonialen Gefühlen betäubt, muss Melanie den Sommer in einem Diätcamp verbringen.

Ankunft, Abschied, Antritt. In der symmetrischen Schönheit der hässlichen Einrichtung steckt, das war vorherzusehen, das Gesetz der Schwarzen Pädagogik. „Wir arbeiten hier mit Disziplin, Freunde. Disziplin ist das Um und Auf für den Erfolg, im Leben, im Sport und überall anders auch“, proklamiert der Sportlehrer (Michael Thomas), der sich ständig ruhigen Schrittes, mit ernstem Blick und abstehenden Armen durch die Turnhalle und Korridore bewegt, als würde er gerade in eine Wrestlingarena einmarschieren. Monoton lässt er die Pubertierenden Purzelbäume schlagen und im Kreis laufen; er steht derweil in der Mitte und schwingt die imaginäre Peitsche. Zu mehr Brutalität ist er nicht befugt. An anderer Stelle hält die Ernährungsberaterin die Gruppe an zum rhythmischen Chorgesang: „If you’re happy and you know it, clap your fat!“ Deutlicher darf sie die Jugendlichen nicht verhöhnen.

Demütigung, Bestrafung, Ausbeutung, Autorität, Regeln, Disziplin: Man weiß dank Seidl, welch fürchterliche Gestalten dies alles annehmen kann, was es aus Menschen macht, die ihrerseits wiederum andere Menschen machen. Liebe und Glaube wurden bereits suspendiert, an der Hoffnung jedoch hält Seidl fest, jedenfalls stärker als in all seinen anderen Filmen. Die Teenager ertragen die Dressur mit ruhiger Miene. Ihre Würde holen sie sich zurück, wenn sie unbeobachtet sind und sich dann über Verbote hinwegsetzen auf den üblichen Wegen pubertärer Grenzüberschreitungen: Rauchen, Saufen, Flaschendrehen, Strippoker, nachts den Kühlschrank plündern oder sich vom Gelände in die Dorfdisco davon stehlen. Die Disziplinierung schlägt fehl, einerseits. Und damit wäre tatsächlich eine gewisse Hoffnung verbunden. (Trotzdem folgt die Strafe immer auf dem Fuße, was da bspw. heißt, schweigend, ausgestreckt und unter den Augen des Sportlehrers die Nacht auf dem kalten Flurboden verbringen zu müssen.) Überhaupt scheinen die Kids am wenigsten an und mit ihren Körpern zu leiden. Ihre improvisierten Gespräche drehen sich ohne die geringste Gehässigkeit um andere Dinge, die ihre Welt bedeuten: Wie war der erste Kuss, wie das erste Mal? Und glaubst du, unser Diätarzt (Joseph Lorenz) steht auf mich?

Zum eher karikaturesken Blick auf die Kontrollanstalt gehört andererseits aber auch noch eine Lolitavariation: Melanie ist zum ersten Mal verliebt, ausgerechnet in besagten, vielleicht fünfzigjährigen Arzt (adrett und jung geblieben, Sakko-, aber kein Sockenträger), dessen Praxis sie täglich unter fadenscheinigen Vorwänden aufsucht. Es ist beachtlich, wie selbstbewusst das schweigsame Mädchen seine Autorität ins Wanken bringt. Es ist aber gleichfalls beängstigend, dass ihre Avancen nicht unerwidert bleiben: Spätestens wenn sie ihn mit dem Stethoskop abhört, vereinen sich fehlende Distanz und Doktorspiel zur latent bedrohlichen Situation.

Die Symmetrie der Bilder überträgt sich in eine Symmetrie der Handlungen. Hinter jedem unschuldigen Spiel lauert im zweiten Schritt die Gefahr: Melanies erstes Besäufnis bleibt harmlos. Ein paar Bier, abends, heimlich und in der Gruppe. Die zweite Sauftour endet im Exzess (und der hat schon aus den Erwachsenen der „Hundstage“ die abscheulichsten Eigenschaften hervorgekitzelt). Jägermeister, nachts, zusammen mit der Freundin in einer verranzten Kneipe, wohin man sich eigentlich schlich, um den letztlich doch zu gehemmten Arzt mit allen Mitteln des Kontrollverlusts aus dem Kopf zu bekommen. Nur Melanies trunkene Ohnmacht und die Intervention des Wirts bewahren sie schließlich vor der Vergewaltigung durch zwei Großmaul-Buddies.

Zweimal auch ziehen sich Melanie und der Doktor in den Wald zurück. Zuerst, während eines Gruppenausflugs, bleibt‘s bei einer Umarmung, die ihn sichtlich irritiert, weil die zarte Berührung alles über Melanies Sehnsucht nach einem Vaterersatz verrät. Die zweite Begegnung verläuft weitaus bizarrer: Vom Kneipenwirt alarmiert, macht der Arzt auf dem Rückweg zur Klinik mit Melanie halt auf einer Lichtung, legt das komatöse Mädchen ins Gras, schnüffelt an ihr wie ein scheuer Hund – und legt sich friedlich neben sie.

Selbstkontrolle der Verantwortungsträger, Naivität des Teenager-Ichs: Überall, wo die Jugendlichen mit so etwas wie Gesellschaft in Berührung kommen, lauert bereits die Destruktivität: in der Kälte der Familie, im Drill zur Selbstdisziplinierung und Hörigkeit durch die Institution, in den gerade noch gedeckelten Perversionen der Erwachsenensexualität. Ist es ein Welpenschutz, der die Kinder vor dem Allerschlimmsten bewahrt? Sie sind zu unschuldig, um ihre Situation zu begreifen, wohingegen die Erwachsenen ihren Krieg der Köpfe und Körper am unerbittlichsten noch unter ihresgleichen ausfechten. Ob das nun der Hoffnung, dem Optimismus, der Ruhe vor dem Sturm oder falscher Milde das Wort spricht, ist ohnehin keine Frage der korrekten Diagnose. Im Interview mit der filmgazette sagt Ulrich Seidl: „Wenn man wachen Auges und Geistes durch die Welt geht, ist Optimismus ja nicht wirklich möglich, nicht?“ Seine Konstruktion von Jugend unter einer brüchigen Käseglocke jedenfalls ist für Figuren und Publikum eine allemal erbauliche Erfahrung.

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Charlies Welt – Wirklich nichts ist wirklich

(USA 2012, Regie: Roman Coppola)

Film als reines Privatvergnügen
von Ulrich Kriest

Erwachsenwerden ist auch keine Lösung. Roman Coppola, Sohn von Francis Ford und Bruder von Sophia, hat seine Meriten als Drehbuchautor an der Seite von Wes Anderson („The Darjeeling Limited“, „Moonrise …

Erwachsenwerden ist auch keine Lösung. Roman Coppola, Sohn von Francis Ford und Bruder von Sophia, hat seine Meriten als Drehbuchautor an der Seite von Wes Anderson („The Darjeeling Limited“, „Moonrise Kingdom“), als Produzent von „Somewhere“ und „On the Road“ und als Regisseur von Musikvideos für The Strokes und Daft Punk verdient.

Sein Spielfilmdebüt „GQ“, eine experimentelle Film-im-Film-Hommage an den Pop der späten sechziger Jahre mit Verbeugungen vor „Modesty Blaise“, „Barbarella“ und Fellini, kam hierzulande nicht in die Kinos und war an den US-Kinokassen ein veritables Desaster.

„Charlies Welt“, der im Original den ungleich schöneren und treffenderen Titel „A Glimpse Inside the Mind of Charles Swan III“ trägt, erzählt von der midlife crisis des erfolgreichen Werbegrafikers Charles Swan III, dessen Leben komplett aus den Fugen gerät, als ihn seine Freundin Ivana verlässt. Wie in Trance stolpert Charles Swan III, gespielt von Charlie Sheen, durch ein surreales Kunst-Hollywood, das vollgestellt ist mit stylisher Pop Art und allerlei Regulars aus den Filmen von Wes Anderson: Jason Schwartzman und Bill Murray glänzen in Nebenrollen, Patricia Arquette ist auch von der Partie als Charles Schwester Izzy.

Charlie Sheen, der hier natürlich auch mit seinem öffentlichen Image als aus dem Ruder gelaufene Skandalnudel spielt, bekämpft seine Depressionen mit Alkohol und flüchtet sich in der Rolle des Kindskopfs, der die Frauen liebte, in Tagträume, die der Film dann sogleich in die (Film-) Realität überführt. Das führt zu amüsanten Sketch-Szenen, wenn beispielsweise Sheen und Schwartzman im Tom Mix-Cowboy-Outfit durch die Wüste reiten und plötzlich auf eine Gruppe sexy Indianerinnen treffen, die sich an einem Wasserloch waschen.

Angelockt von diesen Sirenen / Amazonen, geraten die beiden unbewaffneten Männer in einen Hinterhalt, bis ihnen von John Wayne / Bill Murray ein Gewehr gereicht wird. Trotzdem wird Sheen beim Versuch, mit der Anführerin der Indianerinnen, die wie Ivana aussieht, von einem Pfeil getroffen – und erwacht im Krankenhaus. Charlie ist, ein Blick in seinen Kopf hat das zu Beginn des Films unmissverständlich klargestellt, ein lässiger und larmoyanter Macho, dessen Hirn zu 70% ausschließlich mit Sex beschäftigt ist.

Mindestens so lässig wie sein Protagonist ist auch Coppolas Film selbst, der es sich mittels der Tagtraum-Logik erlaubt, jedem Einfall zu folgen, sei dieser nun gut (wie die Indianerszene) oder auch nur halb gut (wie die Begegnung mit russischen Taxifahrern, die nebenher Kaviar schmuggeln). „Charlies Welt“ erinnert immer wieder an jene kurze Phase des „New Hollywood“, als junge Kreative begannen, ihre Version der Nouvelle Vague als Fans in Szene zu setzen: man denke nur an Bob Rafelsons Monkees-Film „Head“. (Charles Swan(n) ist übrigens der Name des Protagonisten von Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“.) Dazu passt nicht nur, dass Charlie als Künstler auch für die Gestaltung des Covers des neuen Albums seines besten Freundes „Kirby“ (Schwartzman), einem jüdischen Countrysänger, zuständig ist, dessen Shooting als „Kitchen Sink Cowboy“ schließlich das Finale des Films ausmacht.

Dazu passt auch, dass Charlie bei der finalen Begegnung mit Ivana nicht nur eine überbordende Liebeserklärung macht, sondern seine Zukunftsvorstellung auch gleich als brillante Shownummer phantasiert: er und Ivana überzeugen mit einer grandios schmierigen Interpretation von „Aguas De Marco“ von Tom Jobim. In der Manier von Al Bano und Romina Power, versteht sich. Charlie singt auf portugiesisch und parliert mit seiner Haushälterin in Gegenwart eines Tukan, den er als Haustier hat, auf spanisch.

Dazu passt besonders, dass Coppola seinen ganzen Film auch als Vehikel instrumentalisiert, um einen Musiker vorzustellen, dessen Talent hinreicht, um den Besuch dieses Films anzuraten: Liam Hayes. Der Musiker darf im Laufe des Films ein gutes Dutzend eigener Songs spielen, ergänzt noch um zwei Songs, die von Coconut Records interpretiert werden, wohinter sich ein (gleichfalls sehr empfehlenswertes) Musikprojekt von Jason Schwartzman verbirgt.

Am Ende dieses sehr entspannten, fast schon skizzenhaften Films, der sich mehr für Style als für Inhalt interessiert, gönnt sich Coppola dann noch die Volte, die Figuren aus ihren Rollen heraustreten zu lassen und sich dem Publikum vorzustellen. In einer ungeschnittenen Einstellung am Strand mit Kran-Einsatz – wie damals, am Ende von Godards „One Plus One“ oder am Anfang von Orson Welles‘ „Im Zeichen des Bösen“.

MansFeld

(D 2013, Regie: Mario Schneider)

Frühlingsopfer
von Andreas Thomas

Filme über Kinder können sehr dankbare Filme sein, solange das Interesse an dem Sujet echt und der Blick auf die Kinder ein interessierter und offener ist. Der Dokumentarfilm „MansFeld“ von …

Filme über Kinder können sehr dankbare Filme sein, solange das Interesse an dem Sujet echt und der Blick auf die Kinder ein interessierter und offener ist. Der Dokumentarfilm „MansFeld“ von Mario Schneider ist ein dankbarer Film dieser Art! Der Regisseur, der schon 2007 mit „Heinz und Fred“ durch seine einfühlsame und zugleich respektvolle Beobachtung einer Vater-Sohn-Wohngemeinschaft überzeugen konnte, kehrte auch für seinen neuen Film zurück in seine Heimat, ins Mansfelder Land im Südharz in Sachsen-Anhalt, quasi auf der Suche nach dem Ort seiner Kindheit und – auf der Suche nach dem Kind an sich. Denn „MansFeld“ versucht sich an mehr als einer (in diesem Fall genau gesagt drei) „Kindergeschichte&#147;, der Film stellt – und dabei ist ihm eine Jahrhunderte alte Tradition der Region behilflich – schon die philosophische Frage nach Kindheit und Erwachsensein, danach, was beides trennt oder was beides vereint, danach was bleiben mag, wenn Kindheit endet, aber vor allem, was Kindheit eigentlich ausmacht.

Drei acht- und neunjährige Jungen aus einem kleinen Dorf, das im halb anheimeligen, halb bedrohlichen ewigen Schatten einer riesigen schwarzen Halde liegt, ein Andenken an den Kupferschieferbergbau und ein Überbleibsel eines der wichtigsten industriellen Ballungszentren der DDR, begleitet der Film: zur Schule, ins Zuhause, zur Schweineschlachtung, zum Spielen, zum Abendessen bis zum Schlafengehen und das alles so unauffällig und unaufdringlich und zugleich hautnah, dass man den Eindruck hat, die Kameras und das Filmteam seien sicherlich unsichtbar gewesen.
Das Wichtigste ist dabei das Ergebnis: Wir lernen drei Kinder kennen, weil wir Gelegenheit haben, ihre Gesichter zu studieren, und weil wiederum Gesichter von Kindern, wenn man sie lässt, das Ehrlichste sind, was man sich vorstellen kann. Dieses „Lassen“ meint nichts Geringeres als die volle Aufmerksamkeit für das und nur das, was diese Gesichter erzählen (einmal davon abgesehen, dass diese Kinder auch Interessantes mit Worten zu sagen haben), und sie erzählen es unverstellt, während um sie herum ihr Alltag geschieht.

Wie in modernen Dokumentarfilmen so üblich, wird an jedem Off-Kommentar gespart und (beinahe) jede Frage von Seiten des Filmteams vermieden. Das wirkt mitunter etwas verkrampft, weil es Situationen gibt, in denen eine kurze Erläuterung dem Verständnis der Szenerie gedient und dem Fluss der Schilderung auf die Sprünge geholfen hätte. So sieht man, dass der Vater eines Kindes offenbar ein Problem mit seinem Bein hat, dass diese Gehbehinderung die Folge eines Arbeitsunfalles ist und dass auf der Familie die mögliche Arbeitsunfähigkeit des Vaters lastet, das erfährt man dann leider erst aus dem Presseheft – so zur Hand.

In solchen Augenblicken werden leider zu Gunsten des Stils und der einheitlichen Ästhetik eines Films wichtige informative Aspekte vernachlässigt, mit anderen Worten: Impression statt Information mag schön sein, aber das Eine sollte und muss bitte nicht das Andere ausschließen … Womit die Gefahr, der heute Dokumentarfilme generell und auch begrenzt „MansFeld“ ausgesetzt sind, benannt wäre: Die Gefahr, die Ästhetisierung überzubewerten, die Gefahr, ins namenlos Mystische zu entgleiten, speziell bei Filmen über Kindheiten scheint das verführerisch zu sein (der vergleichbare Film “Die Kinder vom Napf“ sei hier erwähnt), das Unschuldige, Träumerische, Unmittelbare, das zweifelsohne auch jeder Kindheit zu eigen ist, zu verklären und mittels eines gerüttelt Aufwandes an Bild- und Tonmalerei ins Paradiesisch-Märchenhafte zu überhöhen.

Dieser Gefahr aber schafft es sich „MansFeld“ doch weitgehend zu entziehen, der Film bleibt auf dem Boden, bleibt so nah dran am Kind, dass er die vielen durchaus nicht nur verzauberten Teile seiner Wirklichkeit einfängt. Dazu gehört der Schulalltag, das Beisammensein in der Familie bei den Mahlzeiten, Einblicke in die Arbeitswelt der Eltern, was vom Archaischen des Tierschlachtens bis zur virtuellen Welt der modernen Computerarbeit reicht. Eine Ausnahmesituation besteht, besonders in der Abgeschiedenenheit des Mansfelder Landes, für den eher sensiblen 8jährigen Tom, der bei zwei „Müttern“ aufwächst, und sich vorsichtig mit männlichen Verhaltenscodizes auseinandersetzt, eher ein Suchender und Träumender, ganz anders als etwa Paul, der schon im Alter von 9 Jahren genau weiß, dass er Fleischer werden will.

Schön ist, wie der Film ganz natürlich aus seiner Betrachtung heraus dies alles nachvollziehen lässt, wie das Milieu uns prägt, wie auch prekäre wirtschaftliche Verhältnisse uns beeinträchtigen und wie die Kinder sie wahrnehmen, und wie Kinder sich dem Zeitpunkt nähern, dass sie diese Welt von uns Erwachsenen übernehmen müssen, ob sie wollen oder nicht.

Dieser adoleszente Wendepunkt wird im Mansfelder Land seit Jahrhunderten symbolisiert durch ein Ritual, in welchem die Männer von den Kindern vertrieben werden. Verkleidete Männer wälzen sich zu Pfingsten im Wald in Schlammlöchern und krallen sich in die Erde. Vertrieben werden sie von Peitschen schwingenden Jungs, auch die drei Jungs des Films sind dabei (offenbar ist hier übrigens weibliche Gleichberechtigung noch kein Thema). Der Kampf Winter gegen Frühling entspricht dabei der Ablösung der Generationen und dem Erwachsenwerden. Wie ursprünglich und wie wild dabei manche Szene gerät, das erinnert regelrecht an stammesrituelle Handlungen. Beeindruckend und befremdlich, wie solche Ekstase auf deutschem Boden möglich sein kann. Und es ist das Verdienst des Films, auch diese Ursprünglichkeit so hautnah und lebendig einzufangen, als wäre man dabei. Denn so kommt man auch den großen impliziten Fragen näher, nach dem Alten und Neuen, nach dem Werden und Vergehen, nach dem Aufbauen und Zerstören, ja schon ziemlich grundsätzlich eben der Frage nach dem Leben an sich, und das ist schon eine ganze Menge, oder?

Glänzend unterstützt übrigens wird der Film durch Musik von J.S. Bach und von Strawinskis „Le Sacre du Printemps“, das „Frühlingsopfer“, dessen musikalische Drastik wohl selten so gut in einen Film gepasst hat wie hier. Regisseur Schneider, ursprünglich studierter Musikfilmkomponist, komponierte auch den Original-Soundtrack des Films.

Am Ende scheint‘s, als wäre der Regisseur selbst so getragen von dieser berührenden Thematik, dass er sich es doch nicht verkneifen kann, das Schweigegebot zu brechen und man hört halblaut aus dem Off die philosophische Frage an Tom: „Warum spielst du?“ Der bringt den hoch fliegenden Regisseur mit seiner Antwort unmittelbar zurück auf den Boden: „Weil‘s Spaß macht!“ Der Film ebenso! Aber nicht nur: denn er berührt wirklich, so abgenutzt das Wort oft sein mag, hier stimmt‘s!

Der Tag wird kommen

(F / B 2012, Regie: Gustave Kervern, Benoît Delépine)

Sich selbst revolutionieren
von Wolfgang Nierlin

Eingangs sieht man fast bildfüllend nur eine etwas spärliche Irokesenfrisur und eine Stirn, auf der drei Buchstaben tätowiert sind: „Not“ nennt sich der selbsternannte „älteste Punk Europas“, der mit bürgerlichem …

Eingangs sieht man fast bildfüllend nur eine etwas spärliche Irokesenfrisur und eine Stirn, auf der drei Buchstaben tätowiert sind: „Not“ nennt sich der selbsternannte „älteste Punk Europas“, der mit bürgerlichem Namen Benoît Bonzini (Benoît Poelvoorde) heißt und mit seiner programmatischen Verweigerungshaltung und einem kleinen Hund („Schäfer-Punk“) spazieren geht. Als verwilderter Neinsager, der sich dem kapitalistischen System widersetzt, erfüllt er äußerlich die üblichen Klischees des biertrinkenden, rotzenden, pöbelnden und provozierenden Außenseiters: Dem Werbeschild am Straßenrand versetzt er einen Fußtritt, den Überwachungskameras des Supermarktes zeigt er den Stinkefinger und den Kunden mit ihren überfüllten Einkaufswagen stellt er auf dem Parkplatz nach. „Ich bin frei!“, behauptet „Not“. Doch angesichts seiner isolierten Position unter Gleichgesinnten und der relativen Gleichgültigkeit seiner Mitmenschen, die ihn eher wie einen Außerirdischen betrachten, will man das nicht recht glauben. Bei einem Konzert der Punkband Les Wampas landet er nach einem ausgedehnten Crowdsurfing einmal symbolträchtig in einer Mülltonne.

Die beiden französischen Regisseure und Comedians Gustave Kervern und Benoît Delépine, die für ihren schrägen Humor bekannt sind („Louise Hires a Contract Killer“, „Mammuth“) wollen den unangepassten Helden ihres neuen Films „Der Tag wird kommen“ („Le grand soir“) als „modernen Diogenes“ verstanden wissen. Tatsächlich blickt das beobachtete Subjekt „Not“ zurück und entlarvt damit dasjenige, was es radikal ablehnt: die Konsumgesellschaft mit ihren Agenten der Überwachung und der Sicherheit, die sich die „verdächtigen Individuen“ und „nicht tragbaren“ Randfiguren mit Kameras, Trennscheiben und Security-Personal auf Distanz hält. Kervern und Delépine nutzen diese Dialektik immer wieder für ihren visuellen szenischen Witz, indem sie in oft lang stehenden Bildern einen lakonischen Dialog zwischen Vorder- und Hintergrund inszenieren, mit überraschenden Perspektivwechseln die Szenen in eine unerwartete Richtung lenken oder aber diese offen halten. Dazu kommen lange Einstellungen, in denen die Schauspieler Zeit für ausgedehnte Improvisationen haben: in Gastauftritten etwa der belgische Regisseur Bouli Lanners in der Rolle eines Wachmanns oder Gérard Depardieu als Wahrsager.

„Die Wahrheit ist viel zu schön, als dass du sie ertragen könntest“, erklärt dieser „Nots“ Bruder Jean-Pierre (Albert Dupontel). Eben hat der ziemlich angepasste Matratzen-Verkäufer, der von seinem Chef unter Verkaufsdruck gesetzt wird und der mit „Smartschaum“ auf Kundenfang geht, noch ein Loblied auf den „normgerechten Menschen“ angestimmt. Doch nach einem renitenten Kunden, verzweifelten Verkaufsbemühungen und einem wüsten Ausraster im Vollsuff ist der smarte Anzugsträger seinen Job los. Da hilft weder das wilde Herumballern mit der „Fingerpistole“ noch das aggressive Niederringen eines kleinen Bäumchens. Aber dann greift ausgerechnet „Not“ seinem Bruder unter die Arme, hilft ihm „locker“ zu werden und „mit sich zu haushalten“ und macht schließlich aus Jean-Pierre den Punker „Dead“.

„Der kürzeste Weg zur Freiheit ist geradeaus“, erklärt „Not“. Doch die Bewegungen der beiden Ausgestoßenen zwischen verhaltener Konsumkritik und zaghafter Sozialrevolte, zwischen Freiheitsbehauptung und sozialer Abhängigkeit bleiben merkwürdig harmlos und irgendwie irrelevant. Die Revolution findet nicht statt, weil die Gesellschaft ihre Abweichler mit Ignoranz bestraft. Vielleicht gibt es deshalb in dem Film auch einigen Leerlauf. Seiner mäßig trotzigen Botschaft, „weiterzumachen“ und „sich selbst zu revolutionieren“, fehlt jedenfalls die stoffliche Anschauung. Außerdem erschöpft sie sich in mehr oder weniger lustigen Gesten. „We are not dead“, aus zusammengeklauten Leuchtbuchstaben zusammengesetzt, ist davon eine der originellsten. Es ist dies zugleich die minimalste Konstante in einem ansonsten ziemlich tristen Leben, dem schließlich auch noch die Gewissheit der Herkunft entzogen wird: „Wir hatten keine Zukunft und haben jetzt nicht mal eine Vergangenheit.“

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3/Tres

(UY / AR / D / CL 2012, Regie: Pablo Stoll Ward)

Kalter Krieg
von Wolfgang Nierlin

Eigentlich bilden Ana, Rodolfo und Graciela eine bürgerliche Kleinfamilie im heutigen Montevideo. Doch der uruguayische Regisseur Pablo Stoll Ward zeigt die Protagonisten seines Films „3/Tres“, wie der Titel bereits andeutet, …

Eigentlich bilden Ana, Rodolfo und Graciela eine bürgerliche Kleinfamilie im heutigen Montevideo. Doch der uruguayische Regisseur Pablo Stoll Ward zeigt die Protagonisten seines Films „3/Tres“, wie der Titel bereits andeutet, als vereinzelte Individuen, die sich längst aus dem Familienverbund entfernt haben. Unbestimmte Fliehkräfte dividieren sie auseinander. Die Parallelmontage ist deshalb das stilistische Mittel der Wahl, mit dem Pablo Stoll Ward den Wegen seiner Figuren durch einen unspektakulären, eintönigen Alltag folgt, dessen graue Realität immer wieder leicht entrückt oder schwebend erscheint. Ein distanziertes Verhältnis und eine gestörte Kommunikation innerhalb des in Auflösung begriffenen Familiengefüges bilden dabei nur den negativen Ausdruck einer Sehnsucht nach Liebe und Zusammengehörigkeit.

Kein Wunder steht auf dem Stoffplan von Anas (Anaclara Ferreyra Palfy) Geschichtsunterricht der kalte Krieg. Doch meistens bleibt die hübsche Schülerin, deren Bonus für gute Leistungen eingangs noch einiges Gewicht hat, dem Unterricht unentschuldigt fern. Relativ gleichgültig und lustlos lässt sie sich durch die Tage treiben und wirkt dabei abtrünnig, ohne wirklich rebellisch zu sein. Beim Sex mit ihrem Freund gibt sie sich ebenso leidenschaftlich wie gefühllos. Ana will mehr und vor allem etwas anderes. Auch ihr Vater Rodolfo (Humberto De Vargas), ein unmotivierter Zahnarzt mit einem Sinn für Grünpflanzen, sucht, nachdem er sich von seiner Familie getrennt hat, nach etwas Fehlendem. Doch von seiner neuen Lebensgefährtin Alicia sieht der rührend zwangsneurotische Ordnungsfanatiker nur volle Aschenbecher; und so kehrt er immer öfter in die alte Wohnung, zu Tochter und Frau, zurück. Aber auch Graciela (Sara Bessio) ist meistens abwesend: Wenn sie nicht gerade als Stenographin arbeitet und dabei gegen ihre Müdigkeit ankämpft, besucht sie ihre alte, kranke Tante im Hospital und verliebt sich darüber in einen anderen Besucher namens Dustin.

Die unordentliche, vernachlässigte und ziemlich renovierungsbedürftige Wohnung der Familie wird dabei zum Sinnbild der Beziehungen ihrer Mitglieder. „Du bedeutest mir alles“, sagt Rodolfo einmal zu Ana, während er beginnt, die Wohnung instand zu setzen und sich dabei zu reintegrieren. Ein anderes Mal sieht er sich allein Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ an, während Mutter und Tochter ihre Liebhaber treffen. Ein lakonischer Erzählduktus und ein (filmischer) Blick für die Absurditäten des Alltags kennzeichnen Pablo Stoll Wards melancholisch getönte Komödie, in der die Musik (u.a. von Iggy Pop und Reverb) eine prominente Rolle spielt. Auch wenn die inhaltlichen Parallelen und Entsprechungen mitunter etwas zu konstruiert erscheinen mögen, sind es doch gerade diese bewussten Setzungen und elliptischen Verknüpfungen, die „3/Tres“ ein paradoxes Flair, einen skurrilen Charme und nicht zuletzt einen verhaltenen Humor verleihen.

Papadopoulos & Söhne

(GB 2012, Regie: Marcus Markou)

Tränen trotz Krise
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein postkapitalistisches Märchen, eine fette Krisenkomödie und obendrein etwas fürs Gemüt. Wer aus dem Kino kommt, der weiß nicht, behaupte ich mal, warum er feuchte Augen hat. Vom Lachen? Weils …

Ein postkapitalistisches Märchen, eine fette Krisenkomödie und obendrein etwas fürs Gemüt. Wer aus dem Kino kommt, der weiß nicht, behaupte ich mal, warum er feuchte Augen hat. Vom Lachen? Weils so schön war? Weil mitten in der fiesen Bankenstadt London, UK, der Sirtaki in der halbleeren Ladenzeile Einzug hält? Weil genau das, aber nicht die argumentierende Kapitalismuskritik einen in Wallung bringt. – Okay, mir gings so. Und um nicht weiter zu schwärmen, gehe ich jetzt auf reset.

Papadopoulos sen. ist längst nicht mehr griechischer Kellner, sondern Millionär im zweistelligen Bereich. Grade haben ihm die Banken das Papadopoulos Plaza finanziert. Und der Premierminister ehrt ihn als Europäischer Unternehmer des Jahres. Dann aber die Krise. Kredite weg. Insolvenz. Papadopoulos rauft er sich mit seinem Bruder zusammen. Beide bringen in einer Schattenseite von London den brach liegenden Fish&Chips-Laden in Gang. Ein paar Wirren unter Brüdern, mit den Döner-Nachbarn, mit den schon grade erwachsenen Kindern (Tochter geht mit sexy Jungtürken?? Sohn denkt nicht ökonomisch, sondern ökologisch und füllt Dach und Haus mit liebevoll gepflegten Pflanzen, und dabei bleibts), – und im Finale verbindet auf Londons Straßen der Sirtaki alle und jeden. Reih dich ein zu Fun&Family! Und Daddy bleibt doch der Größte: „Mach, was du willst, denn wir sind stolz auf dich!“

Ja, ich weiß, das Plot klingt naiv. Aber das ließe sich von Märchen auch sagen. Besser wäre von einem bollywoodhaften Finale zu sprechen. Finale mit Hintergrund: wie von ungefähr wird vom Clanchef Papadopoulos als King Lear gesprochen, und der endete dann ja auch als Clochard. Der Filmheld (Stephen Dillane fing 1990 seine Filmvita als „Hamlet“ an, im Film von Franco Zeffirelli) findet sich dagegen in der tanzenden Gemeinschaft auf der Straße wieder, unter Kindern und vielen vertrauten Gestalten, wiederzuerkennen aus den TV-Formaten. Zu begrüßen ist auch Öko-Sohn James (Frank Dillane), der vor vier Jahren noch als Marvolo Riddle in „Harry Potter und der Halbblutprinz“ die Herzen höher schlagen ließ.

Schön, jeder der Schauspieler hat schon mal dies und jenes gemacht. Deswegen müsste „Papadopoulos & Söhne“ ja noch nicht funktionieren. Tut er aber. Die Figuren des Films wirken insgesamt genommen authentisch. Man glaubt ihnen (weitgehend). Und siehe da, Regisseur (und Autor) Markus Marcou, griechisch-zypriotischer Abstammung, erzählt mit diesem Film, wie er sagt, auch seine Geschichte. Seine Vorliebe fürs Improvisionstheater bringt uns näher an den Film heran. Nix Leistungsgesellschaft, aber alle Menschen werden Brüder, oder so.

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: Konkret 07/2013

Camille Claudel, 1915

(F 2013, Regie: Bruno Dumont)

Alles erstickt
von Janis El-Bira

Unter den wilden Kindern des neuen französischen Körperkinos Ende der 1990er-Jahre war Bruno Dumont so etwas wie der Transzendentalist: So nah fuhr seine Kamera an das Fleisch seiner Figuren (verkörpert …

Unter den wilden Kindern des neuen französischen Körperkinos Ende der 1990er-Jahre war Bruno Dumont so etwas wie der Transzendentalist: So nah fuhr seine Kamera an das Fleisch seiner Figuren (verkörpert eher, im Sinne Bressons, von Darstellern als denn 'Schauspielern') heran, als wähne sie hinter den Poren, den Haaren und dem Schmutz unter den Fingernägeln ein belebtes Inneres, ein Seelenhaftes gar.

In 'Camille Claudel 1915' nun stößt dieser Zugriff auf die Grenze des Wahnsinns: Die Körper und Gesichter der Insassen jener südfranzösischen Anstalt, in die die Bildhauerin und frühere Rodin-Geliebte Camille Claudel 1913 von ihrer Familie verfrachtet wurde, zucken und speicheln unkontrolliert. Es ist, als sei hier alles opak geworden, als gäbe es keinen Weg mehr vom Körper zur Seele und wieder zurück. Camille selbst, von Juliette Binoche großartig gespielt (!), bildet die Ausnahme: Sie ist überempfänglich, jeder Sonnenstrahl, jeder Windhauch und jedes irre Hämmern, Heulen und Toben fallen bei ihr durch Ohren, Nase und Augen auf einen Bewusstseinsgrund, der es gleichwohl nicht mehr zu sortieren, keine Ordnung mehr zu schaffen weiß.

So reibt sich die Transparenz der Camille-Figur an der Opazität der Mauern, schalldämpfenden Teppichen, der Hochgeschlossenheit der betreuenden Schwestern und wahnentstellten Leibern und Gesichtern; schließlich auch an dem ihres Bruders, des Schriftstellers und bekehrten Ultrakatholiken Paul Claudel, den Dumont tatsächlich wie eine Bresson-Figur völliger Gesichtsregungslosigkeit als kalten Verwalter endlos daherdozierter Glaubensreflexionen vorstellt. Das ist dann bisweilen fast so unerträglich mitanzusehen, wie das Meiste von Claudel zu lesen ist. Doch fügt es sich irgendwo treffend in einen Film der völligen Ersticktheit. Dreißig Jahre in einer Anstalt sind ehrlicherweise nicht als Geschichte permanenter Auflehnung erzählbar, wohl aber als eine vom langsamen Vergessen und Vergessenwerden, vom Warten auf gar nichts, von Abstumpfung und unermesslicher Langeweile. Ein zermürbender Film.

Dieser Text ist zuerst anlässlich der Berlinale 2013 in der filmgazette erschienen.

Der Hobbit – Eine unerwartete Reise

(USA 2012, Regie: Peter Jackson)

Pornografische Brillanz
von Ricardo Brunn

Eigentlich hat der kleine Hobbit keine große Lust auf eine kolossale Reise. Es mag am schlichten Gemüt Bilbo Beutlins (Martin Freeman) und seiner Vorfahren liegen, dem Reisen die heimische Hobbithöhle …

Eigentlich hat der kleine Hobbit keine große Lust auf eine kolossale Reise. Es mag am schlichten Gemüt Bilbo Beutlins (Martin Freeman) und seiner Vorfahren liegen, dem Reisen die heimische Hobbithöhle vorzuziehen. Vielleicht ahnt er aber auch, dass das bevorstehende Abenteuer, an dessen Ende ein gefährlicher Kampf gegen den Feuer speienden Drachen Smaug stehen soll, reichlich Potenzial für endlose Wanderungen über Bergketten und sich wiederholende Bedrohungsszenarien bereithält. So bleibt Bilbo Beutlin bei seinem sturen Nein auch dann noch, als ihm aufdringlich ulkige Zwerge die Tür einrennen, es sich gemeinsam mit Gandalf dem Zauberer in Wohnzimmer und Vorratskammer der Hobbithöhle gemütlich machen und irgendwann am Abend zu allem Überfluss ein Lied anstimmen, damit der Hobbit endlich nachgibt und die unerwartete Reise ihren erwarteten Anfang nehmen kann.

Diese Szenen sind schwer zu ertragen, zeugen sie doch vom verzweifelten Versuch des Regisseurs Peter Jackson, dem kindlichen und humorvollen Charakter der Romanvorlage J. R. R. Tolkiens gerecht zu werden. Während letztere quasi als Vorbereitung auf „Der Herr Ringe“ ein größeres Universum zwar erahnen lässt, jedoch nicht ausformuliert, streben Jackson und seine Drehbuchautoren in der filmischen Erzählung eine Ausführlichkeit an, die das knapp 400 Seiten umfassende Kinderbuch in ein überaus ernstes und bisweilen düsteres, dreiteiliges Epos von jeweils mehr als zweieinhalbstündiger Dauer verwandelt.

Dass Jackson die Reise trotz des holprigen und stellenweise unfreiwillig komischen Beginns im Folgenden gut im Griff hat, ist maßgeblich den gelungenen Action-Sequenzen zu verdanken, die in schöner Gleichmäßigkeit übereinandergeschichtet werden. Hier fliegt die entfesselte Kamera ein ums andere Mal durch den Raum, sodass schnell klar wird, wo der Film sein Zentrum hat. Und dass das durchaus eine Kunst ist, verrät schon ein Blick auf das oftmals minutenlange, fleischige Getümmel anderer Fantasy-Züchtungen wie „Zorn der Titanen“ (Regie: Jonathan Liebesman) oder „Krieg der Götter“ (Regie: Tarsem Singh).

Die Zielgruppe der Herr-der-Ringe-Verfilmungen fest im Blick, ist die erzählerische Gigantomanie mit einem Detailreichtum gezeichnet, der die rührende Verliebtheit Jacksons in das tolkiensche Universum widerspiegelt. Doch etwas an den Bildern irritiert das Auge, was insbesondere abseits des Spektakels in den ruhigen, erzählerischen Momenten des Filmes deutlich wird. Hier offenbart der Film einen Mangel an Figurenzeichnung, wenn den Zuschauer das Schicksal der Zwergenbande relativ kalt lässt: Im Gegensatz zur reisenden Gesellschaft in „Der Herr der Ringe“ fällt die Identifikation mit dem bunt gemischten Haufen rund um den grimmigen Thorin nämlich schwer. Einzig Bilbo Beutlin erscheint als dreidimensionaler und sich kontinuierlich verändernder Charakter. Schwerer wiegt jedoch, dass vielen Szenen trotz oder gerade wegen Jacksons Detailversessenheit immer eine hohe Künstlichkeit anhaftet, welche durch Anwendung eines neuen Aufnahmeverfahrens noch verstärkt wird.

Um der Akribie in Erzählung und Ausstattung auch in ästhetischer Hinsicht gerecht zu werden, wurde „Der Hobbit“ erstmals mit 48 anstatt wie bisher mit 24 Bildern pro Sekunde gedreht (High Frame Rate), wodurch (insbesondere bei Bewegungen) noch einmal wesentlich schärfere Resultate erzielt werden können. Doch die von Jackson angestrebte Genauigkeit führt zu einer „hyperrealen Überschärfe und Überdeutlichkeit“ (Byung-Chul Han), in der die Bilder ihr Geheimnis verlieren und die Welt des Bilbo Beutlin als Kulisse entlarven. Es entsteht ein Soap-Opera-Effekt, unter dem die Hobbithöhle aussieht wie das Bühnenbild einer deutschen Vorabendserie. Immer wieder stolpert der Blick über das billige Material, aus dem das Auenland gezimmert wurde oder bleibt am deutlich erkennbaren Make-up der Gesichter kleben. In ihrer Gemachtheit stellen sich die überscharfen Bilder so sehr aus, dass sich in ihnen das Kinobild gewissermaßen selbst aufhebt. Die erhöhte Bildschärfe führt nicht zu einer größeren Nähe zur erzählten Welt und den Figuren, sondern zu bloßer Distanzlosigkeit, in der jede Fantasie eliminiert wird, die sich im Kino als Bereitschaft darstellt, das Gezeigte für die Dauer des Filmes als Wirklichkeit anzunehmen. Was bleibt, ist eine pornografische Brillanz der Bilder, die viele Reize, aber jenseits des Spektakels eben keine Intensität mehr besitzt.

Der Hang zu immer klareren Bildern ist primär freilich als Strategie zur Erhöhung von Schauwerten im Kontext der in Bedrängnis geratenen Institution Kino zu verstehen. Die Überschärfe kann jedoch auch als Ausdruck der allgemeinen Forderungen der Gesellschaft nach mehr Transparenz gedeutet werden. Es ist demnach auch kein Zufall, dass die Entstehung von WikiLeaks, die Debatten um „Post Privacy“, die Verbreitung von Sicherheitskameras oder die Entstehung der Piratenpartei zeitlich etwa mit dem HDTV-Boom in den Wohnzimmern und der Digitalisierung der Kinos zusammenfallen. In diesem Sinne gehorcht beispielsweise auch die Wiederauferstehung der 3D-Technik der Maxime größtmöglicher Sichtbarmachung.

Wenn „das Pathos der Transparenz, das die heutige Gesellschaft erfasst“ nach Byung-Chul Han Resultat eines Mangels an Vertrauen (in die politische Macht) ist, dann kann die derzeitige Evolution der Kino- und TV-Technik als Reaktion darauf und vor allem als Ausdruck eines mangelnden Vertrauens in die Bilder verstanden werden. Somit ist „Der Hobbit“ (gedreht in HFR und 3D) der derzeit technisch brillanteste Film, der zugleich vom Misstrauen gegenüber den persuasiven Bildern des Kinos erzählt.

Closed Curtain

(IR 2013, Regie: Jafar Panahi, Kamboziya Partovi)

Ein Nicht-Film
von Janis El-Bira

Das erste Bild des Films zeigt, vermittelt, sublimiert, das Eingesperrtsein Jafar Panahis, der in seiner iranischen Heimat mit einem zwanzigjährigen Berufsverbot belegt ist und doch irgendwie nach 'This Is Not …

Das erste Bild des Films zeigt, vermittelt, sublimiert, das Eingesperrtsein Jafar Panahis, der in seiner iranischen Heimat mit einem zwanzigjährigen Berufsverbot belegt ist und doch irgendwie nach 'This Is Not a Movie' (2011) nun schon seinen zweiten 'Nicht-Film' vorgelegt hat: Ein vergittertes Fenster, der Blick geht nach draußen. In der Ferne das Meer. Ein Taxi fährt vor, der Fahrer (Panahi selbst, wie wir später lernen werden) setzt einen älteren Mann samt Gepäck und Hund ab. Sie betreten das Haus, in dem wir, die Zuschauer, uns bereits befinden. Die Vorhänge vor den Fenstern werden eilig zugezogen, fahles Licht fällt noch durch sie hindurch. Man will nicht gesehen werden. In den Fernsehnachrichten werden grausam zugerichtete Hundekadaver von den Straßen der Städte abtransportiert: Hunde seien unrein und hätten keinen Platz mehr in der islamischen Republik. Der vierbeinige Begleiter des Mannes sieht es mit ganz und gar menschlichem Unbehagen. Plötzlich stehen ungebetene Gäste im Haus. Eine junge Frau und ein Mann, die sich als Geschwister ausgeben, sind auf der Flucht. Unruhe vor dem Haus, ihre Verfolger sehen wir nicht, aber hören sie umso deutlicher. Wie hier überhaupt immer wieder über die Tonspur ein unsicht-, aber hörbarer Raum außerhalb des Hauses behauptet wird, das wir nie verlassen: Eine Partygesellschaft fährt irgendwann lärmend vorbei, ein Hubschrauber dreht seine Runden.

Der Mann, sein Hund und die beiden Flüchtigen, das begreifen wir irgendwann, sind Filmfiguren des Regisseurs Panahi, der plötzlich selbst unvermittelt im Raum steht, und die Plakate seiner eigenen Filme an den Wänden, zuvor durch die Frau von ihren Staubabdeckungen befreit, selbst wieder eilig verhüllt. Figuren eines nicht-gedrehten, ungeschriebenen Films. Es beginnt ein Spiel mit doppelten, dreifachen, vierfachen Böden: Kein Changieren zwischen Realität und Fiktion jedoch, sondern eine konsequente Verschiebung dieser Kategorien bis an den Rand der Auflösung. Die Figuren sind Kinder ihres Autors, der Autor ist Kind seiner Figuren; der tödliche Gang ins Meer, von der Frau als Ausweg aus dem erzwungenen Schweigen angeboten, er wird aufgehoben im Film und durch das Filmmaterial: im rückwärtslaufenden Zeitraffer. Am Ende geht der Blick wieder aus dem vergitterten Fenster; in einem Schlussbild, so groß (und hier natürlich unverraten), dass allein dafür am Samstag ein 'Bär' den Weg dieses Films kreuzen müsste. (Letztlich wurde 'Parde' zumindest für das 'Beste Drehbuch' ausgezeichnet, Anm. Red.)

Dieser Text ist zuerst anlässlich der Berlinale 2013 in der filmgazette erschienen.

Now Is Good – Jeder Moment zählt

(GB 2012, Regie: Ol Parker)

Metastasen-Kino
von Carsten Moll

Wenn der Film beginnt, sind die Diagnosen längst gestellt, alle Therapieversuche gescheitert, kein Kampf wird mehr gekämpft. Tessa ist 17 und unheilbar an Leukämie erkrankt. Was bleibt, ist der Wunsch, …

Wenn der Film beginnt, sind die Diagnosen längst gestellt, alle Therapieversuche gescheitert, kein Kampf wird mehr gekämpft. Tessa ist 17 und unheilbar an Leukämie erkrankt. Was bleibt, ist der Wunsch, dem Leben doch noch etwas abzuringen, so lange dafür Zeit ist. Auf der Liste steht: Sex haben. Drogen nehmen. Das Gesetz brechen. Berühmt werden.

Die Zeit, die bleibt, das sind 100 Minuten Spielfilm. „Wie wollen Sie’s angehen? Das Todkranke-Mädchen-Ding oder haben Sie was Originelleres geplant“, fragt der todgeweihte Teenager einen Radiomoderator, als der Tessas Krankheit in seiner Show zur rührseligen Anekdote verwursten will. Die Frage nach der Originalität muss sich auch Regisseur und Drehbuchautor Ol Parker gefallen lassen, wenn er seine junge Protagonistin so selbstbewusst und -reflexiv die klischeehafte Medialisierung von Krebsleiden anprangern lässt. Und zumindest zu Beginn überrascht Parker, indem er sein Drama mit deutlichen Anleihen an Jason Reitmans und Diablo Codys „Juno“ inszeniert. Popmusik, ein Zeichentrickintro und vor allem Dakota Fanning als Tessa, die abgeklärt und mit trockenem Witz ihrer Umwelt begegnet, unterlaufen erst einmal die Sentimentalität, die der Stoff vom todkranken Mädchen mit sich bringt.

Als Twiggy-Verschnitt mit Kurzhaarfrisur, dünnem Körper und antrainiertem britischen Akzent posiert Fanning als Sterbende, und man kann es nicht anders sagen: Der Tod steht ihr gut, wenn ihr nicht gerade literweise Blut aus der Nase sprudelt. Zu mehr als einem Motor für die mechanische Dramaturgie taugt die tödliche Krankheit dann nämlich auch nicht.

Pflichtbewusst werden die Stationen bis zum Ableben im dramaturgisch richtigen Moment abgeklappert und dabei allerlei konventionelle Kinomomente generiert: ein Feuerwerk, bei Nacht im Meer baden, Schlittschuhlaufen, mit dem süßen Boy auf einer Bank im Schnee sitzen oder mit dem Motorrad fahren, während im Hintergrund Pferde galoppieren. So zahm und unaufregend lässt sich ein Teenagerleben in Szene setzen. Statt auf den Spuren von Diablo Cody zu wandeln, begibt sich Parker immer mehr ins Terrain stetig wuchernder Schmalz-Franchises à la Twilight und Nicholas Sparks und bedient sich einer kitschigen Ästhetik, die man auch aus Werbung und schlechter Modefotografie kennt.

Bei all den schwülstigen Bildern und Liebesschwüren, die im Verlauf der Handlung immer präsenter werden, bleiben Tessas Erfahrungen mit Sex, Drogen und auch ihr Sterben eher bloße Behauptung. Das Ableben der Protagonistin ist dann letzten Endes auch ein für alle Beteiligten versöhnliches, um die Sterbende herum wurden Mütter, Paare und Familien produziert, deren Glück im Angesicht des Todes noch mal so hell erstrahlt. So endet der Film mit ein paar warmen Worten der dahinsiechenden Tessa, dazu das überbelichtete Bild von einem Baby in der Frühlingssonne, zum Abspann noch ein Song von Ellie Goulding. Jetzt ist aber wirklich mal gut.

Unsere Mütter, unsere Väter

(D 2013, Regie: Philipp Kadelbach)

Fünf Freunde im Krieg
von Marit Hofmann

»Warten Sie nicht auf einen hohen Feiertag, sondern versammeln Sie jetzt Ihre Familie!«, empfahl Frank Schirrmacher. Der Dreiteiler 'Unsere Mütter, unsere Väter', der Mitte März im ZDF gelaufen und jetzt …

»Warten Sie nicht auf einen hohen Feiertag, sondern versammeln Sie jetzt Ihre Familie!«, empfahl Frank Schirrmacher. Der Dreiteiler 'Unsere Mütter, unsere Väter', der Mitte März im ZDF gelaufen und jetzt auf DVD erschienen ist, besitze »in seiner unbestreitbaren Wucht und Monstrosität die Chance, den letzten Zeitgenossen noch einmal … die Zunge zu lösen«.

Und was kommt dabei heraus, wenn die Nazigeneration die Zunge löst? In der von seinem Vater inspirierten Fünf Freunde-Variante, die der Historytainment-Guru Nico Hofmann mit seiner bewährten Waffenschmiede Teamworx (Dresden', 'Rommel') produziert hat, reißt der Krieg eine fröhliche Runde junger Leute brutal auseinander. Der belesene Friedhelm geht nur widerwillig zur Wehrmacht, sein Bruder, ein Leutnant, wird zum Deserteur, dessen Freundin eine zu Tränenausbrüchen neigende Frontschwester. Zurück in Berlin bleibt eine Sängerin, die liiert ist mit dem Fünften im Bunde, einem Juden – das erste Signal, dass seine besten Freunde so ganz schlecht nicht sein können. Allein die Verhältnisse, die sind nicht so.

Die Bilanz dieses von den Medien als ungemein realistisch beklatschten Sturmgeschützes, das sich mit dem Off-Kommentar behelfen muss, wenn die Dramaturgie nicht weiter weiß: Zwei der arischen Sympathieträger sterben einen hochmoralischen Märtyrertod, ihr jüdischer Freund überlebt. Opfer sind alle drei Überlebenden gleichermaßen. Sie alle haben sich schuldig gemacht, auf Befehl getötet oder »Wehrkraftzersetzer« ans Messer geliefert, aber die Nazis wie du und ich leiden sehr darunter, viel mehr jedenfalls als ihre Opfer, denn die sind schließlich tot (und bleiben gesichtslos). »Der Krieg« – nicht etwa der Nationalsozialismus – »bringt das Schlechteste in uns zum Vorschein«, lautet das programmatisch selbstmitleidige Mantra.

Ralf Wiegand hat’s geschluckt und spricht in seiner Hymne in der »Süddeutschen« von »dieser vom Krieg verzehrten Jugend«, die »keine Generation traumatisierter Rächer geworden« sei. »Sie begründete statt dessen den längsten Frieden, den dieses Land je erleben durfte. Sie wurden trotz allem Mütter und Väter.« Nur die wahren, die fanatischen und vollkommen skrupellosen Nazis pflanzten sich offenbar nicht fort, denn das waren im Film wie im kollektiven Gedächtnis immer die anderen, unsere (Groß-)Eltern jedenfalls waren es nicht.

So soll auch Hofmanns 88jähriger Vater noch heute traumatisiert sein von seinen Erlebnissen beim Russland-Feldzug, von dem er als »gebrochener Pazifist« (Hofmanns Erzählungen) zurückgekehrt sei; und die Mutter (Ex-BDM) lobt den Junior, dies sei der erste Film über den Krieg, zu dem sie sagen könne: »Genauso war es.« Da schließen sich die auf des »FAZ«-Herausgebers Geheiß vor dem Volksempfänger versammelten Generationen gern an. Denn wie es gewesen ist, das bestimmen in Deutschland immer noch die Täter und ihre braven Söhne.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 04/2013