Archiv der Kategorie: Filmkritik

The Man with the Iron Fists

(USA 2012, Regie: RZA)

Enter the RZA, Bushido-Style
von Louis Vazquez

Er war der Mastermind des Wu-Tang Clan. Er hat den Soundtrack für Jim Jarmuschs „Ghost Dog: The Way of the Samurai“ geschrieben. Und er hat für Quentin Tarantino den Score …

Er war der Mastermind des Wu-Tang Clan. Er hat den Soundtrack für Jim Jarmuschs „Ghost Dog: The Way of the Samurai“ geschrieben. Und er hat für Quentin Tarantino den Score zu „Kill Bill Vol. 1“ komponiert. Wenn er dann noch behauptet, seit frühester Kindheit Samuraifilme aufgesogen und sich für Shaolin und Kung Fu begeistert zu haben, dann nimmt man Robert „RZA“ Diggs schnell ab, dass er für die Regie eines Martial-Arts-Films prädestiniert sei, zumal Filmemachen schon immer sein Traum war, sagt er. Und weil Tarantino mittlerweile ein guter Kumpel ist und ihm hilfreich unter die Arme griff, kommt jetzt sein Debütfilm in die Kinos. Blöderweise werden dessen Schwächen umso deutlicher, wenn man sich „Ghost Dog“ und „Kill Bill“ als Vorbilder und Koordinaten ins Gedächtnis ruft.

Jarmuschs „Ghost Dog“ bietet nicht nur die seit Melvilles „Le samouraï“ schönsten ausgedachten Zitate zum vermeintlichen Verhaltenskodex des Samurai, sondern präsentiert und hinterfragt auch einen anachronistischen Ehrbegriff, der nur noch alten, weißen Männern etwas nützt. Der schwarze Samurai vom Rand der Gesellschaft muss in den Tod gehen. Ein komödiantischer, böser und trauriger Film, der sich denkbar weit von der genrespezifischen Action entfernt hat. Tarantinos Action-Spektakel „Kill Bill“ vereint dagegen alle denkbaren Vorbilder, macht noch einen Abstecher zum Italowestern und bietet nicht zuletzt eine starke Heldin, die er in einer schrecklichen und schrecklich guten Exposition mit brachialen Mitteln zur Sympathieträgerin macht. „The Man with the Iron Fists“ im Vergleich mit diesen beiden Werken als Jungsphantasie zu bezeichnen, würde bedeuten, die Phantasie männlicher Heranwachsender stark zu unterschätzen.

Die Story ist so simpel wie unübersichtlich: Einen befreiten Sklaven (RZA) verschlägt es im 19. Jahrhundert in ein abgelegenes chinesisches Dorf, wo er sich als Schmied verdingt und Waffen für die verschiedenen streitlustigen Clans fertigt. Als der Kaiser eine Ladung Gold durchs Land schickt, gerät der Blacksmith zwischen die Fronten. Da ist zum Beispiel der Clan des Bösewichts Silver Lion (Byron Mann), dem sich der heldenhafte Zen Yi (Rick Yune) entgegen stellt, um Rache für seinen getöteten Vater zu nehmen. Da sind aber auch der undurchsichtige Jack Knife (Russell Crowe) mit seinem Faible für Klingen und Madame Blossom (Lucy Liu), die das örtliche Hurenhaus leitet. Dort bietet die schöne Lady Silk (Jamie Chung) ihren Körper feil, die Geliebte des Blacksmith. Mit ihr will er irgendwann alles hinter sich lassen, wenn der Geldkoffer erst voll genug ist. Ein befreiter Sklave, der (mit schlechtem Gewissen) von Waffengeschäften profitiert, aber das Geld braucht, um eine Leibeigene freizukaufen – die Idee ist aberwitzig und deshalb höchst interessant. Nur leider entwickelt das Drehbuch von RZA und Eli Roth daraus letztendlich gar nichts, so wie auch der Gastauftritt von Blacksploitation-Ikone Pam Grier bestenfalls eine Randnotiz wert ist.

RZA inszeniert stattdessen einen Film aus Fanperspektive, der sich von den großen Vorbildern nicht lösen kann oder will und die Geschichte des Martial-Arts-Films zitiert, von den Shaw-Brothers-Produktionen bis zur japanischen „Okami“-Reihe. Auch eine kurze Verneigung vor John Woo über ein Musikzitat darf da natürlich nicht fehlen. Die Kampfszenen sind durchaus gelungen und werden gelegentlich beeindruckend dargeboten, sie sind allerdings nicht immer gut inszeniert. Wie Tarantino scheint RZA ein Fan von Brian De Palma zu sein und erweist dem Vorbild nicht nur mit einem Top Shot über die Räume des Bordells seine Referenz, sondern auch mit vielen Split Screens. Die sehen aber oft eher aus, als müssten sie problematisches Ausgangsmaterial kaschieren.

Mithin unerträglich indes sind die nicht nur holzschnittartigen Figuren des Films, deren Sexismus in keinem Moment kritisch hinterfragt wird. Insbesondere Russell Crowe hat einige lustig gemeinte Szenen als Puffkunde, bei denen man ungläubig ins Presseheft guckt und sich fragt, ob hier wirklich RZA sein Regiedebüt abgibt, weil man ihm solche Humorversuche bzw. so einen Scheißdreck gar nicht zugetraut hätte. Die Frauenfiguren schließlich dürfen nicht einmal mehr witzig sein, sondern erfüllen brav alle Hurenklischees. RZAs Film wirkt in besseren Momenten wie ein blutig-bunter, aber langatmiger Comicstrip, in schlechteren traut man seinen Augen und Ohren nicht. Rat- und unterhaltsamer wäre es also, sich stattdessen einen beliebigen Klassiker zum Beispiel des Hong-Kong-Kinos noch einmal vorzunehmen und den Abend mit ein paar Soulplatten ausklingen zu lassen.

The Walking Dead. Season 2

(USA 2011, Regie: Ernest R. Dickerson, Bill Gierhart u.a.)

I had to kill him! No, you had not.
von Michael Schleeh

Der schmutzige Look der Serie, der sich schon durch das verwendete 16mm-Format einstellt, und der im Netz viel Kritik vor allem unter den Hochglanzfetischisten hervorgerufen hat, führt die Serie auf …

Der schmutzige Look der Serie, der sich schon durch das verwendete 16mm-Format einstellt, und der im Netz viel Kritik vor allem unter den Hochglanzfetischisten hervorgerufen hat, führt die Serie auf einer ästhetischen Ebene zu ihrem inhaltlichen Zentrum zurück: zur zerstörten Welt. Die Eigenschaft des Ausgangsmaterials mit seinen Rauschwerten, den immer wieder deutlich sichtbaren Texturen und dem geliebten wie gefürchteten Filmkorn, lässt sich als Allegorie zur postapokalyptischen Welt und zum zerstörten Gesellschaftsgefüge lesen, in welcher der Überlebenskampf der Protagonisten permanent durch die Sinnhaftigkeit ihres Tuns hinterfragt wird.

Im Interview auf studiodaily berichtet Kameramann David Boyd davon, wie mit verschiedenen Filmformaten experimentiert worden sei, 35mm, 16mm, RedOne, usw., und dass man sich schließlich für die etwas härteren und kälteren Bilder des Super 16-Formats entschieden hätte. 'The Walking Dead' wurde mit drei gleichzeitig laufenden Arriflex 416 gedreht, ohne zugewiesene Hierarchien, und dann sei erst später entschieden worden, welche Sequenz aus welcher Einstellung und Position zu verwenden sei.

Und diese Welt, in der sich die Überlebenden aus Staffel 1 (2010) befinden, hat sich als ein worst case scenario bestätigt: die Zombifizierung ist überall. Die Gruppe um Rick Grimes (Andrew Lincoln) und seine Familie, Frau Lori (Sarah Callies) und Sohn Carl, um Cop-Kollege und Liebes-Affäre Shane (Jon Bernthal), um Glenn, Sohn koreanischer Einwanderer, Dale, den weißbärtigen älteren Herren, der das Gewissen der Gruppe symbolisiert, den Drifter Daryl, dessen Bruder in Atlanta auf dem Hausdach zurückgelassen wurde, sowie einiger anderer Figuren, nimmt in Staffel 2 zunächst die Form einer Odyssee an. Man hat den RV wieder in Stand gesetzt sowie einige PKWs fahrbar gemacht. Daryl heizt mit einem schwarzen Chopper, verziert mit SS-Runen auf dem Tank, durch den Film wie in einer Reminiszenz an „Easy Rider“; das Motiv des Fahrens als das eigentliche Freiheitsmoment der Serie. Doch schon nach kurzer Zeit – man ist auf dem Weg ins Fort Benning, einem Militärstützpunkt, wo es Hilfe und so etwas wie eine Zukunft für alle geben soll – bleibt man in einem riesigen Blechchaos inmitten liegen gebliebener Fahrzeuge und ausgebrannter Automobile auf der Interstate stecken. Offensichtlich sind hier schon mehrere Horden der Zombies, genannt „Walker“, durchgezogen. Diese entwickeln sich mittlerweile zu relativ rabiaten Bestien, da so langsam das Futter ausgeht – einige können sich kaum mehr bewegen, sind kurz vor dem Verenden. Da geschieht ein Unglück: die kleine Sophia wird bei einem Angriff im nahe gelegenen Wald von der Gruppe getrennt und geht verloren. Und es ist kurz vor der einbrechenden Dunkelheit nicht mehr möglich, sie wiederzufinden – was naturgemäß etliche Konflikte innerhalb der Gruppe auslöst. Im weiteren Plotverlauf, und da findet die Staffel ihren zentralen Handlungsort, gelangt man zu einem Farmhaus, in dem ein Arzt mit Familie überleben konnte, und wo sich der Gruppe eine unverhoffte Idylle offenbart. Natürlich ein Frieden auf Zeit, denn sowohl die Konflikte innerhalb der Gruppe nehmen zu, insbesondere zwischen Rick und Shane, und auch eine Entscheidung über die zukünftige Route steht an.

Die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Tuns wird in einzelnen Folgen mehrfach thematisiert und führt zum inhaltlichen Kern der Serie führt: Welche sind die Werte, die es zu erhalten gibt? Ist es in einem Szenario „nach jeder Zivilisation“ überhaupt möglich, sozial zu bleiben? Was macht die Menschlichkeit, die Mitmenschlichkeit aus? Die an grundlegende Probleme des menschlichen Miteinanders rührenden Fragen müssen jedoch unbeantwortet bleiben. Das dichotome Problem des Festhaltens an der moralischen Zivilgesellschaft versus deren Aufgabe zum Zwecke des Überlebens ist letztlich die inhaltliche Crux von „The Walking Dead“, und wird an verschiedenen Exempeln und Konfliktfällen durchgespielt. Da gerät Staffel 2 bisweilen zum Ensemble- oder Problemfilm, denn die Zombiebedrohung tritt für eine Zeitlang in den Hintergrund und das Miteinander der Menschen gerät in den Fokus.

Damit einher geht eine deutliche Verlangsamung der ansonsten rasant gehaltenen Ereignisse. Ganz wunderbar gelingt es den Machern, das Tempo variabel zu halten und Akzente zu setzen; letztlich, um so den Horizont der Serie zu erweitern und sie aus der rein additiven Kettenhaftigkeit der Ereignisse herauszulösen. Ihr tiefere Ebenen hinzuzufügen und Konflikte zu inszenieren, die allgemeingültige sind. Natürlich werden elementare serielle Strukturen beibehalten, erkennbar z.B. am stets verwendeten Cliffhanger, der am Ende einer jeden Folge die Daumenschrauben gehörig zuzudrehen weiß. Der sich einstellende Suchtfaktor der zweiten Staffel ist enorm. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis das Chaos erneut losbricht – und so viel sei verraten: Die Staffel endet mit einem unglaublich actionreichen Finale, das den grünen Rasen Georgias mit hektoliterweise Blut in ein saftiges Rot färben wird.

Silent Hill: Revelation 3D

(F / USA / CAN 2012, Regie: Michael J. Bassett)

Revelation, Retribution! Extinction, Apocalypse!
von Louis Vazquez

Heather (Adelaide Clemens), die Neue an der Highschool, heißt eigentlich Sharon und weiß schon am ersten Tag, dass sie nicht lange bleiben wird. Sie glaubt, das liege daran, dass ihr …

Heather (Adelaide Clemens), die Neue an der Highschool, heißt eigentlich Sharon und weiß schon am ersten Tag, dass sie nicht lange bleiben wird. Sie glaubt, das liege daran, dass ihr Vater Harry (Sean Bean) vor Jahren einen Mord begangen hat und seitdem mit ihr auf der Flucht ist. Sie ahnt nicht, dass die Gefahr noch viel größer ist – vor allem für sie selbst.

Denn schon als Kind – das könnte man noch aus dem ersten Teil der Reihe wissen – zog es sie schlafwandelnd immer wieder zum geheimnisvollen Geisterort Silent Hill hin, wo unterirdische Feuer brennen und Asche vom Himmel regnet. Gelegentlich kippt der Ort aus der ausreichend trostlosen Realität sogar in ein höllisches Zwischenreich voller tödlicher Bedrohungen. Sharons Mutter (Radha Mitchell) konnte ihre Tochter damals zwar retten, musste aber selbst in der Höllendimension zurückbleiben. Seitdem flieht der Vater mit der ahnungslosen Sharon vor den Anhängern eines gefährlichen Kults, der mysteriöse Ziele verfolgt und das Mädchen nach Silent Hill zurückbringen will. Dass das gelingt, versteht sich von selbst, denn schließlich soll die Franchise sechs Jahre nach dem Startschuss endlich in Gang kommen.

Die Fortsetzung der ersten Adaption der Computer- bzw. Konsolenspielreihe soll aber unbedingt auch für sich alleine stehen können, so die Filmemacher, und es trotzdem den Fans des Vorgängers Recht machen. Ebenso übrigens den Fans der Spiele und gewiss auch den Anhängern der genreverwandten Resident-Evil-Reihe. Denn immerhin teilen sich die Franchises nicht nur die albernen, verwechslungsanfälligen Baukasten-Titel, sondern auch die Produzenten. Während Paul W.S. Anderson sich mit seinen Resident-Evil-Filmen längst von der Vorlage gelöst hat, die Actionsequenzen fast kontextfrei, dafür abwechslungreich aufbaut und mit bekannten Handlungsfragmenten jongliert, hat „Silent Hill: Revelation 3D“ stets die Vorlage im Sinn, die sich vor allem durch die morbide, traurige Atmosphäre auszeichnet, einen charakteristischen Score und eine Langsamkeit der Spielentwicklung, die das Grauen umso heftiger hereinbrechen ließ.

Im Kino hat man gerade anfangs das Gefühl, in einen „Nightmare on Elm Street“-Film geraten zu sein, denn Regisseur und Autor Michael J. Bassett spielt mit Traum- und Wachzustand und lässt seine Heldin immer wieder aus der Realität gleiten. Sobald das Licht flackert, kann alles passieren. Besonders originell ist das nicht umgesetzt, so dass ein Traum im Traum bereits zu den raffiniertesten Kniffen gehören dürfte. Ansonsten setzt der Film, banal und effektiv, permanent auf akustische Jump Scares.

Mit zunehmendem Verlauf wird „Silent Hill: Revelation 3D“ die Ernsthaftigkeit zum Verhängnis, mit der er eine epische Story zu erzählen versucht. Wer hier gut und wer böse ist, lässt sich auf den ersten Blick nicht sagen, vor allem, wenn man die Vorgeschichte aus Teil 1 nicht kennt. Weil aber der Zuschauer sich nicht einfach nur gruseln darf, sondern alles verstehen soll, muss viel erklärt werden. Durch ein vorgelesenes Tagebuch zum Beispiel und durch Monologe, viele Monologe. Das wirkt manchmal wie die Handlungszusammenfassung einer Serie zu Beginn jeder neuen Episode. Mehr Tiefe gewinnt der Film durch seine breit getretene Vorgeschichte nicht, und der melancholischen Atmosphäre ist die hektische, umständliche Erzählweise nicht gerade zuträglich.

Auch beim zweiten Silent-Hill-Film erinnern zwar die Sets und die Monsterdesigns an das Nerven zerreißende Spiel gleichen Namens, aber Spannung will trotz einiger an „Hellraiser“ erinnernden Splattereinlagen so gut wie keine entstehen, weil die Figuren zu flach sind und die Handlung zu gleichförmig ist. Nahe liegende Möglichkeiten, die Geschichte mit ein paar Freiheiten von der Vorlage interessanter zu gestalten (und etwa aus dem Highschoolszenario mehr zu machen), werden übersehen oder ignoriert. Gerade einmal zwei Szenen, die beide streng genommen redundant sind und die Spielstruktur des Films umso deutlicher vor Augen führen, bleiben halbwegs im Gedächtnis: die Flucht vor einem spinnenartigen Monster, das aus Puppenteilen zusammengesetzt ist, die wiederum aus Menschen (!) hergestellt wurden, und der fast surreale Kampf gegen Zombie-Krankenschwestern, die sich nur bewegen, wenn sie etwas hören, und ansonsten sofort wieder reglos verharren. Beide Szenen allerdings würden mit Joystick bzw. Gamepad in der Hand mehr Spaß machen.

Immerhin: Viele interessante Schauspieler verstecken sich in kleinen Rollen, zum Beispiel Deborah Kara Unger, Carrie Ann Moss oder Martin Donovan. Hoffentlich haben sie genug Geld verdient, um sich nun wieder anspruchsvolleren Projekten widmen zu können.

Killing Them Softly

(USA 2012, Regie: Andrew Dominik)

Down and Out, Low and Dirty
von Harald Steinwender

Der Australier Andrew Dominik hat ein Faible für Outlaws – für Gangster, Diebe und Mörder; überhaupt für alle, die sich um Gesetze und Regeln einen Dreck scheren. Bereits in seinem …

Der Australier Andrew Dominik hat ein Faible für Outlaws – für Gangster, Diebe und Mörder; überhaupt für alle, die sich um Gesetze und Regeln einen Dreck scheren. Bereits in seinem Regiedebüt 'Chopper' (2000) erzählte Dominik die Lebensgeschichte des australischen Serienverbrechers Mark Brandon Read, der sein halbes Leben im Knast verbracht hatte, bevor er in seiner Heimat durch eine Reihe semi-autobiografischer Romane Kultstatus erlangte. Eric Bana gab Read als rassistischen Kotzbrocken, als echtes Scheusal. Auch Dominiks erste US-Produktion, der düster-lyrische Western 'The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford' ('Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford'; 2007), war eine ambitionierte und gegen die Mythen des Genres gebürstete Outlaw-Ballade, in der Brad Pitt den legendären Jesse James als Soziopathen anlegte, der mit seinen inneren Dämonen und einmal auch mit ganz realen Klapperschlangen ringt.

In seinem jüngsten Film, dem unabhängig produzierten Noir-Thriller 'Killing Them Softly', fährt der Regisseur nun eine ganze Batterie von psychotischen Unsympathen auf, die sich vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise und des US-Wahlkampfs 2008 gegenseitig ins Unglück reiten: dreckstarrende Junkies, endlos dumme Kleinkriminelle, alkoholkranke Killer, heruntergekommene Mafiosi, misogyne Schläger, engstirnige Hehler und inkompetente Diebe. Gespielt werden diese gescheiterten Existenzen und verlorenen Seelen mit viel Mut zur Hässlichkeit von Gangsterfilmveteranen wie James 'Tony Soprano' Gandolfini und dem ehemaligen 'GoodFella' Ray Liotta. Sekundiert werden sie von noch weitgehend unbekannten Schauspielern wie Scoot McNairy und – sensationell schmierig als Johnny-Rotten-Lookalike mit massivem Drogenproblem: Ben Mendelsohn. Einzig Brad Pitt als unterkühlter Auftragsmörder bringt so etwas wie Klasse in das Verliererpanoptikum: Mit getönter Sonnenbrille, schwarzer Lederjacke und Cowboystiefeln, Elvis-Haartolle und Koteletten tritt er, begleitet von Johnny Cashs 'The Man Comes Around', in diese schäbige Welt wie ein Relikt der Popkultur: ein mörderischer Rockabilly, der einem Jugenddrama der 50er Jahre entsprungen sein könnte. Seinen ersten Auftritt inszeniert Dominik überlebensgroß: Da gleitet die Kamera beinahe ehrfürchtig über den Asphalt und folgt den Stiefeln dieses mythischen Engels der Gewalt. Aber natürlich wird auch Pitts Killer, der bevorzugt 'sanft', also aus der Distanz tötet, bald als neurotischer Geck entzaubert.

'Killing Them Softly' ist eine Adaption von George V. Higgins‘ 1974 publiziertem Roman 'Cogan’s Trade', wobei das von Dominik geschriebene Drehbuch die Handlung der Vorlage zeitlich und räumlich disloziert, sie von Boston nach New Orleans verlegt und fast dreieinhalb Dekaden später, im Jahr 2008, ansiedelt. Der Plot allerdings ist zeitlos und funktioniert in den tristen nuller Jahren genauso gut wie in den 'wilden Siebzigern'. Nach einer furiosen Vorspannsequenz, bei der auf der Tonspur eine Rede Barak Obamas zerhackt wird, während die rabiate Montage das Publikum mit Schwarzblenden und Wackelkamera bestens auf die folgenden ruppigen eineinhalb Stunden einstimmt, lernen wir mit Frankie (McNairy) und Russell (Mendelsohn) zwei Gangster kennen, die bestenfalls kleine Fische sind. Als ein Hehler den beiden anbietet, eine illegale Pokerrunde zu überfallen, gelingt es ihnen immerhin, den Raubzug halbwegs professionell und ohne Blutbad über die Bühne zu bringen. Dumm nur, dass Markie (Liotta), der Organisator des Glücksspiels, vor Jahren schon einmal ausgeraubt wurde und seine Bosse, die örtliche Mafia, einen zweiten Überfall nicht ohne Gesichtsverlust hinnehmen können. Also wird Jackie Cogan (Brad Pitt) angeheuert, ein Profikiller, der die Diebe zur Strecke bringen soll. Für ihn ist es ein Leichtes, die Amateure ausfindig zu machen, und bald metzelt Cogan sich durch die Unterwelt. Dabei dreht der Film, der oft tote Zeit ausstellt, ausschließlich an dezidiert öden Orten spielt und von seinen Slang-Dialogen lebt, erst beim Tod von Liottas Figur wirklich auf: in einer furios inszenierten Actionsequenz, die ins Endlose zerdehnt wird und zur irrwitzig-delirierenden Hommage an die barocken Mordtableaus aus Dario Argentos Neo-Gialli 'Opera' ('Terror in der Oper'; 1987) und 'La sindrome di Stendhal' ('Das Stendhal-Syndrom'; 1996) gerät. Alleine diese Szene lohnt den Kinobesuch.

Insgesamt entwirft 'Killing Them Softly' ein düsteres und tristes Zerrbild der USA; eine reine Männerwelt, die von Gier, Frauenhass und Egoismus angetrieben wird, wobei das Gangstertum, wie so oft im Genre, als Metapher für den Raubtierkapitalismus und den Zustand der Nation fungiert. Das mag alles andere als subtil sein, insbesondere wenn Reden des scheidenden Präsidenten George Bush und der Wahlkämpfer Barack Obama und John McCain hochsymbolisch den Begleitsound zu Mord und Totschlag liefern. Aber manchmal muss eine Botschaft übereindeutig sein, um ihr Publikum zu erreichen. Damit ähnelt der Film seinen eigentlichen Vorbildern, den klassischen B-Filmen Hollywoods, denen er Ehrerbietung zollt, während er sie dekonstruiert. Und wenn die Politikerreden einer Kakophonie gleich im Hintergrund rauschen, so behält doch der Killer das letzte Wort: Amerika, das sei kein Land. Amerika, das ist vor allem Business. Und dann, an seinen Sitznachbarn in der Kneipe gewandt: 'Und nun, verdammt nochmal, gib mir mein Geld!' Wie der zweite große Film Noir dieses Jahres, William Friedkins 'Killer Joe' (2011), steht 'Killing Me Softly' für einen neuen Zynismus, geboren aus dem Abstieg Amerikas: dunkle, böse B-Pictures mit fiesem Humor und schmutziger Gewalt; Filme, die hart und bitter sind und ohne jede Sozialromantik auskommen. Die Ritterlichkeit, die bei den verkappten Romantikern Chandler und Hammett noch als Ahnung vorhanden war, ist endgültig verloren gegangen. Hier gibt es nur noch Söldner, Schmutz und Schund, Gewalt und Gefühlskälte. Nach seinem Gefängnisfilm und dem Outlaw-Western ist Dominik über den Gangsterfilm hinausgeschossen und direkt beim post-hardboiled Noir angelangt.

Transpapa

(D 2011, Regie: Sarah Judith Mettke)

Bernd heißt jetzt Sophia
von Wolfgang Nierlin

Maren (Luisa Sappelt) steckt mitten in der Pubertät und leidet sichtlich darunter: Ihr gleichaltriger Freund Benny hat sich eben von ihr getrennt, weil er nicht den Sex bekommt, den er …

Maren (Luisa Sappelt) steckt mitten in der Pubertät und leidet sichtlich darunter: Ihr gleichaltriger Freund Benny hat sich eben von ihr getrennt, weil er nicht den Sex bekommt, den er gerne hätte; ihre ziemlich unsensible Mutter Ulrike (Sandra Borgmann) nervt und scheint die ältere Tochter nur als lästiges Anhängsel ihrer Patchworkfamilie, bestehend aus ihrem zweiten Mann und einer jüngeren Tochter, zu betrachten. Als wären Liebeskummer, häuslicher Zoff, familiäre Konfusion und eine „zugemüllte“ Küche nicht genug Stress für das eher zurückhaltende und verschlossene Mädchen, erhält Maren auch noch eine Postkarte von ihrem leiblichen Vater, der jahrelang nichts von sich hören ließ. Bernd heißt jetzt Sophia. „Dein Vater lebt jetzt als Frau“, erklärt die Mutter ihrer schockierten Tochter und ergänzt lapidar: „Er ist transsexuell.“ Diese Nachricht spitzt Marens Pubertätskrise in einem regelrechten Wirrwarr der Gefühle zu. Ohne ihre Mutter darüber zu informieren, fährt Maren nach Köln, um Sophia zu besuchen.

„Der Film ist zu mir gekommen“, sagt Sarah Judith Mettke und ergänzt: „Er musste gemacht werden, ich war das Werkzeug der Geschichte.“ Dabei wollte die 1981 geborene Absolventin der Filmakademie Ludwigsburg „eigentlich einen Liebesfilm“ machen. Dass es dann doch eine Coming-of-age-Geschichte geworden ist, liege an der empfundenen Nähe zum Thema. Denn eigentlich handelt ihr intimes, zurückhaltend erzähltes Jugenddrama, das bewusst gegen die Klischees transsexueller Darstellung arbeitet und sich einer konventionellen Dramaturgie weitgehend verweigert, von einer gleich doppelten weiblichen Identitätssuche. Wie der verunsicherte, ja verstörte Teenager befindet sich auch Sophia, von Devid Striesow mit großer Natürlichkeit und Zurückhaltung verkörpert, nach einer Geschlechtsumwandlung und unter dem Einfluss weiblicher Hormone in einer Art Pubertät. Beide sehnen sich nach einer Normalität, die unerreichbar scheint.

Dabei zeigt sich Sophia gegenüber dem reservierten, schweigsamen Mädchen, dessen verstohlene Blicke immer wieder den Körper des fremd gewordenen Vaters mustern, sehr offen und kommunikativ, vor allem aber rückhaltlos ehrlich: „Deinen Vater gibt es nicht mehr“, erklärt sie der verständnislosen Maren und fordert von ihr Akzeptanz für ihr „Schicksal“: „Das ist mein Leben!“, insistiert Sophia selbstbewusst. Zugleich entwickelt sie, die mittlerweile mit einem alten Mann zusammenlebt, mütterliche Gefühle, die Maren aber überfordern und in einen emotionalen Zwiespalt versetzen. Sarah Judith Mettkes nuancenreiche Inszenierung dieses „Vater“-Tochter-Konflikts hält die Spannung zwischen Nähe und Distanz, zwischen Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit und einer schier unüberwindlichen Fremde bis zum Schluss offen. Für die beiden Protagonisten ihres Films, mit dem die Regisseurin auch etwaige Tabus des Publikums befragt, hat die Suche nach einem Platz im Leben eben erst begonnen.

Paradies: Liebe

(AT / D / F 2012, Regie: Ulrich Seidl)

Handelsware Leidkultur
von Andreas Thomas

„Hakuna Matata“ – „Es gibt keine Probleme“. Mit diesem Slogan in der kenianischen Landessprache Suaheli werden unsere Kleinen dazu animiert, sich nach „Afrika“ ins Land des „Königs der Löwen“ zu …

„Hakuna Matata“ – „Es gibt keine Probleme“. Mit diesem Slogan in der kenianischen Landessprache Suaheli werden unsere Kleinen dazu animiert, sich nach „Afrika“ ins Land des „Königs der Löwen“ zu träumen (einem der gewalttätigsten und grausamsten Zeichentrickfilme, die ab 0 Jahren freigegeben sind, übrigens), und ihren Großmüttern, westeuropäischen Damen so ab Fünfzig, verheißt das im kenianischen Fremdenverkehr am meisten verwendete Motto: Hier muss wohl alles anders sein als Daheim: Es regnet nicht, es ist warm, die Menschen sind nett und unkompliziert und sie haben auch eine viel schönere Hautfarbe. So oder ähnlich scheint die frustrierte Wienerin Teresa, Mutter einer 15jährigen Tochter und von Beruf Behindertenbetreuerin, zu denken.

Eine Freundin hat sie dazu animiert, doch auch mal nach Kenia zu fahren, dahin, wo die „Beachboys“ so unkompliziert und gefügig sind, und sich so leicht verlieben. Und für Teresa, die, kaum angekommen, erst einmal den Toilettensitz in ihrem Badezimmer wienert, scheint ein Traum wahr zu werden: Am Strand, jenseits der (Ulrich Seidl ist ein Spezialist im Liegestuhlfilmen) Liegestühle, in denen die eingeölten, weißen Frauen braten, befindet sich eine Schnur und dahinter stehen und warten die hübschen, halb so alten Jungs, die Tand und Schmuck anbieten, und – darüber wird aber nicht geredet – anderes, das geeignet wäre, westeuropäische Probleme zu vertreiben. Zum Charakter dieser spezifischen, auf Frauen ausgerichteten Prostitution gehört, dass sie nicht als solche gehandelt wird, sondern als „Liebe“. Sie ist deshalb anspruchsvoller – und verlogener – als Prostitution von Frauen für Männer, weil sie der Kundin einen Anschein von Würde zu wahren versucht, indem sie ihre Illusion von richtiger Liebe zu erhalten trachtet.

Die alleinstehende und, nach Kräften, alleinerziehende Teresa, die schon ein wenig außer Form geraten ist und sich zuhause damit abgefunden hat, nicht mehr im Mittelpunkt männlichen Interesses zu stehen, freut sich über jede körperliche Berührung durch einen Mann, sie würde sie aber wohl nicht zulassen, wenn sie sie als Dienstleistung verstehen und dafür bezahlen müsste. Der ökonomischen Not der afrikanischen Bevölkerung aber hat die europäische Frau ein hohes Maß sensibler Professionalität zu verdanken, solange das gegebene Geld für „kranke Familienangehörige“ aufgebracht wird.

Auch abweichende Spielarten gibt es, etwa für die „Sugarmama“, die sich ein wenig verwöhnen lassen möchte von ihrem schwarzen Diener, die weniger auf Romantik als auf Gouvernantinnentum abzielen – auch diese immer noch eher (und zwar ein noch demütigenderes) ein Spiel mit Rollen als ein transparentes Sexgeschäft. Doch im Paradies muss man sich täuschen lassen wollen, damit es das Paradies bleibt. Denn mit dem Bröckeln der Fassaden – wie Teresa herausfindet, hat ihr Liebhaber Frau und Kind – verliert Teresa nach und nach ihre Illusionen, und sie (und wir Zuschauer auch) lernen etwas über das Wesen globalisierter Gefühle, die offenbar immer schlechter von Konsumobjekten zu unterscheiden sind.

Wie Regisseur Ulrich Seidl im Interview berichtet, geht es ihm, auch in einem Film, der in Afrika spielt, vor allem um die Befindlichkeiten des „westeuropäischen Menschen“, in diesem Fall also um den Export uneingelöster Hoffnungen und Bedürfnisse (bzw. deren neurotische Mutationen) reiferer europäischer Frauen, sozusagen um das Übertragen verkorkster europäischer Leidkultur auf ein Land und dessen Bewohner, deren Probleme eher wirtschaftlicher als psychopathologischer Art sind. Eine Art der psychologischen Kolonisierung also, und ein Lehrstück ist der Film darin, wie genau er das Verhältnis analysiert zwischen den ungleichen und doch auf jeder auf seine Art ähnlich mächtigen Geschäftspartnern.

Mit seiner Folgerichtigkeit, durch seinen Aufbau und seinem Thema nach wirkt „Paradies: Liebe“ vielleicht ein wenig vorhersehbar, nicht zuletzt weil es bereits vergleichbare Vorgängerfilme wie Laurent Cantets „In den Süden“ gibt. Außerdem fehlt es, trotz Laiendarstellern und authentischen Drehorten und vielen improvisierten Szenen, ähnlich wie schon dem letzten, inzwischen auch schon fünf Jahre alten Seidl-Film „Import-Export“, rein subjektiv gefühlt, ein wenig an jener verzweifelten, bedrückenden Realitätssättigung, die z.B. seinen Film „Hundstage“ so überragend machte und durch die vor allem Seidls vorhergehende Dokumentarfilme unerbittlicher und dadurch umso wahrhaftiger wirkten.

„Paradies: Liebe“ spart eher mit grellen Bildern, Menschen und Effekten als Seidls frühere Werke, aber guckt dafür subtiler in das verkorkste Geflecht von Gefühl, Geld und Macht; auf diese Weise wirkt der Film zwar einerseits weniger „betroffen“, zum Anderen lässt er sich aber nicht nur mehr hinunterreißen vom Gewicht der Einsamkeit und Grausamkeit seiner Figuren. Sprich: Werner Herzog wäre angesichts dieses Films vielleicht nicht mehr so schnell mit einem Diktum wie „der direkte Blick in die Hölle“ zur Stelle. Die Verhältnisse reichen im Übrigen auch so hin, um schlimm genug zu sein, da brauchts keinen Teufel und keinen Gott – aber bei Seidl wenigstens noch den, Herzog anscheinend ironisch widerlegenden, Gesamttitel „Paradies“!

Denn ursprünglich sollte das „Paradies“-Projekt ein einziger Episodenfilm werden, handelnd von drei verwandten Menschen weiblichen Geschlechts, bis der Regisseur plötzlich reichhaltiges Filmmaterial zusammen hatte, das mehr als abendfüllend geworden wäre. Und so können wir gespannt sein, was bald „Paradies: Glaube“ und dann „Paradies: Hoffnung“ weiter erzählen werden.

Im Gespräch mit Andreas Thomas erzählt Seidl aber schon mal vorab, wie er es mit dem Glauben hält …

Searching for Sugar Man

(S / GB 2012, Regie: Malik Bendjelloul)

Lebende Legende
von Andreas Busche

Man könnte Sixto Rodriguez für ein armes Schwein halten. Zwei Platten hat der Singer/Songwriter Anfang der Siebziger Jahre auf dem Label Sussex veröffentlicht, von denen sein damaliger Boss Clarence Avant …

Man könnte Sixto Rodriguez für ein armes Schwein halten. Zwei Platten hat der Singer/Songwriter Anfang der Siebziger Jahre auf dem Label Sussex veröffentlicht, von denen sein damaliger Boss Clarence Avant behauptet, sie haben sich ungefähr siebenmal verkauft. Rodriguez verzweifelte irgendwann an seiner Erfolglosigkeit. Eines Nachts, so wurde kolportiert, zog er vor seinem wieder mal nicht sehr zahlreichen Publikum eine Pistole und jagte sich eine Kugel in den Kopf. Die Welt vergaß ihn. Knapp fünfzehn Jahre später ist Rodriguez in Südafrika bekannter als Elvis und die Beatles zusammen. Noch heute kann jedes Kind den Text von „I Wonder“ mitsingen. „I wonder about the tears in children’s eyes / And I wonder about the soldier that dies / I wonder will this hatred ever end”. Das Stück wurde zur Hymne der Anti-Apartheid-Bewegung, sein Song “Sugar Man” erreichte am Kap sogar Platin-Status. Doch Rodriguez blieb ein Mysterium. Mitte der neunziger Jahre beschlossen ein paar südafrikanische Musikfans, dieses Rätsel zu lösen.

Das Klischee des zu Lebzeiten verkannten Genies ist eine beliebte Legende der Popmusik. Die Biografie von Sixto Rodriguez hat jedoch einen Twist, den sich kein Drehbuchautor besser ausdenken könnte. Die Dokumentation “Searching for Sugar Man” des schwedischen Filmemachers Malik Bendjelloul rekapituliert diese seltsame Lebensgeschichte als Spurensuche, die ihren Höhepunkt in einer symbolischen Wiederauferstehung findet. Denn Rodriguez lebt. Er tritt nach Jahrzehnten buchstäblich aus der Obskurität hervor und spielt schließlich sein erstes Konzert in Kapstadt vor 15 000 begeisterten Fans.

Bendjelloul muss gar nicht viel tun, um diese unglaubliche Geschichte zu erzählen, aber jede seiner Entscheidungen ist stimmig. Den Mangel an Archivmaterial macht er mit sehr sparsamen Animationen und opaken Impressionen aus dem Detroit der siebziger Jahre wett. Er interviewt Arbeitskollegen vom Bau und alte Weggefährten, die sich nach vierzig Jahren noch an jedes Detail ihrer Begegnung mit Rodriguez erinnern. Und vor allem: Bendjelloul lässt die Musik für sich sprechen. Rodriguez’ Texte – lakonische, leicht trostlose Beschreibungen von zwischenmenschlichen Beziehungen mit einem fast dylanesken Wortwitz – verfassen eine Parallelbiografie, die ebenso mysteriös und widersprüchlich ist wie der Mann selbst. In den Interviews gibt sich Rodriguez wortkarg und bescheiden. Aber dann tritt er auf die Bühne und tut mit großer Selbstverständlichkeit das, wozu er offenbar geboren ist. Er wird zum Star.

Dieser Text erschien zuerst in: pony #79

Genosse Münchhausen

(BRD 1962, Regie: Wolfgang Neuss)

Ein Paar Vasen
von Andreas Thomas

Die große alte Indianerin des deutschen Kabaretts, Wolfgang Neuss (»Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen«) wäre in diesem Jahr (2012) 89 Jahre alt geworden, wenn sie nicht, …

Die große alte Indianerin des deutschen Kabaretts, Wolfgang Neuss (»Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen«) wäre in diesem Jahr (2012) 89 Jahre alt geworden, wenn sie nicht, natürlich, und wie immer, viel zu früh, nämlich schon 1989 an Krebs und 66-jährig gestorben wäre. Wie es in Deutschland so üblich ist, werden, wenn überhaupt, Menschen von Format und Bedeutung nur für irgendetwas für ihr Lebenswerk total Nebensächliches berühmt. Bei Neuss war diese Nebensache, dass er per Berliner Zeitungsannonce den Mörder einer sechsteiligen Fernseh-Krimiserie („Das Halstuch“, Francis Durbridge) verriet, offenbar ohne dessen gewiss zu sein, aber mit Trefferinstinkt (natürlich war es Dieter Borsche). Neuss verbrach dies, indem er gleichzeitig die Zuschauer aufforderte, doch besser im Kino seinen eigenen Film „Genosse Münchhausen“ anzusehen.

Die intellekt-unterbestückte „Bild“-Zeitung beschimpfte ihn umgehend als „Vaterlandsverräter“ (wenn man die Preisgabe eines Mörders als den Verrat des Vaterlandes bezeichnet, dann erweckt das in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg doch schon interessante Assoziationen …), aber Zuspruchsschwankungen hätte der Film sicherlich auch ohne seine ziemlich blauäugig kumpelige Annäherung an das deutsche Volk von 1962 erfahren, wenn man sich nur ansieht, was er losließ, angesichts dessen, auf was er es losließ.

„Genosse Münchhausen“, 1962, ist seinem frei flottierenden geistigen Gehalt nach einem Helge-Schneider-Film, wie „Jazzclub“, ziemlich näher als etwa seinem zeitgenössischen Vorbild-Exemplar, Billy Wilders „Eins, zwei, drei“ aus dem Vorjahr, das nicht nur eine ähnliche Thematik, nämlich den Ost-West-Konflikt, sondern auch den leichten Anschauungstonfall besitzt, nämlich die deutschen Nachkriegskrüppel zu bespaßen versucht (vergleichbar wie man heutzutage das mit unterbetreuten Kindern macht), aber zugleich alles darunter, dahinter oder darüber Liegende ebenso zu verkleinern versucht, wie eben auch „Eins, zwei, drei“ es tat, indem er Ideologien und Gefühle auseinander zu halten trachtete. Nach dem GAU geht’s erst mal um Schadensbegrenzung, und die heißt im akuten Fall: Wir machen erstmal einen Witz.

Zum Einen ist „Genosse Münchhausen“ eine leidlich leichte und mäßig lustige Nachkriegsundvorkalterkriegsostwestfarceunddurchhalte-Komödie geworden, zum Anderen ein Brainstorm jemandes, der sein Gehirn immer lieber frei flattern lassen musste, ohne Rücksicht auf Verluste (Neuss). Und dieser, der akustisch schlecht verstehbare, dennoch und auch aus dem Off unablässig fließende und schwierig filmisch fixierbare Teil jenes leidlich filmischen und eher verbalen Teiles ist der des Erforschens würdigere dieses Filmes, und sicherlich bis heute der, der Wolfgang Neuss würdiger wäre.

Aber (sich selbst nicht ausgenommen) zusammengenommen, ergibt das Filmprojekt „Genosse Münchhausen“ eine spürbare Satire auf dieses merkwürdig unbeschwerte Deutschland (16 Jahre nach Ende dieses fatalen Vernichtungs-Kriegs und Massenmordes), also so, als wäre es irgendwie lustig, als wären nur ein paar Vasen zerdeppert worden, und man sich nun anderen, neuen und ebenso unbeschwerten Fehlern hinzugeben erlauben dürfe, wie einem lustigen Ost-West-Konflikt inkl. Atombombe.

Pervers also, eingedenk, und aber auch signifikant. Angesichts der Tatsache, dass Deutschland bis heute noch keinen kommensurablen Ansatz für den Umgang mit „seinen kleinen Sünden während des 2. Weltkriegs“ gefunden hat, ist es kein Wunder, wenn es in Form von Wolfgang Neuss frei rumsponn.

Ich liebe ihn und bedaure sein Verschwinden. Vergleichbar mit Tucholsky. Warum eigentlich hat der Deutschland verlassen? Jemand wie Volker Pispers beweist, dass echtes Kabarett immer noch lebt. Aber und: und ich habe vergessen, zu sagen, dass Wolfgang Neuss eigentlich besser als Kabarett und nicht als Film funktionierte …

Worum es geht in Genosse Münchhausen wird nicht verrraten. Na gut: Dieter Borsche!
Zusatz: Eine perverse Zeit mit perversen Geldgebern (CDU und SPD), die alle noch nicht wirklich wirkliche Polaritäten, und noch weniger das, was unsere heutige Politik, und überhaupt, unsere Welt heute ausmacht, gekannt haben, förderten gemeinsam den Film eines, als wäre das nicht damals schon auszumachen gewesen, zukünftigen Kiffers in spe vor dem Herrn.

Mit auf der DVD befinden sich zwei weitere deutsche Filme der frühen Sechziger, denn die DVD, auf der 'Genosse Münchhausen' erschienen ist, ist ein Nebenprodukt des Cinefest 2012, das sich dem deutschen Kino in der Phase des Kalten Krieges vor dem Oberhausener Manifest widmet. Die Kurzfilme 'Klammer auf, Klammer zu' von Hellmuth Costard und 'Erzählung über eine Liebe' von Roland Oehme sind zwei je anschauliche Beispiele für zaghafte neue Wege des Kinos West und Ost. Da wo Costard eindeutig seine Godard-Inspiration auslebt, und ein unkonventionelles junges Paar, ähnlich übrigens wie später May Spils in 'Zur Sache Schätzchen' (nur nicht so komisch), mittels Jump Cuts durch eine restriktive und emotional erstarrte BRD fahren lässt, da schildert Oehme beeinflusst vom jungen tschechischen Film und geschult in der Filmschule die Geschichte eines Arbeiter-Pärchens in der jungen Deutschen Demokratischen Republik, deren zum Teil ungeschminkte Frauenfeindlichkeit (Mehrfachvergewaltigung als männlicher common sense) doch ein ernüchterndes Bild des östlichen Nachkriegsdeutschlands liefert, eines Deutschland, dessen barbarische Sitten mit sozialistischen Idealen wenig zu tun haben.

Alle drei Filme sind einen Tipp wert, schon weil der Normalkonsument ja nicht einmal ahnt, dass es dergleichen im Kino überhaupt gab. Als aufgefüllte Bildungslücke im Kino-Geschichtsunterricht oder überhaupt als Beleg für das Vor-68er-Deutschland ist diese DVD sehr nützlich und interessant.

Pieta

(KR 2012, Regie: Kim Ki-duk)

Schwere Walzen
von Wolfgang Nierlin

Die engen, verwinkelten Gassen sind voller Öl und Dreck, Müll und Metallgerümpel. Hinter den blechernen Rolltüren dunkler, stickiger Baracken verbergen sich kleine, verwahrloste Werkstätten, in denen wenige verarmte Kleinunternehmer und …

Die engen, verwinkelten Gassen sind voller Öl und Dreck, Müll und Metallgerümpel. Hinter den blechernen Rolltüren dunkler, stickiger Baracken verbergen sich kleine, verwahrloste Werkstätten, in denen wenige verarmte Kleinunternehmer und Arbeiter an schweren Pressen und Walzen hantieren. Die Arbeitsbedingungen sind hier extrem, das Leben erscheint als eine einzige Plackerei. Nach dem Koreakrieg sorgten diese Manufakturen des Seouler Arbeiterbezirks Cheonggyecheon für den wirtschaftlichen Aufschwung im Land. Doch heute treiben Grundstücksspekulanten den Abriss dieses historischen Viertels voran. Die Hütten und kaputten Häuser ducken sich förmlich unter den mächtigen Türmen der modernen Hochhäuser, die allmählich das Terrain besetzen. In „Pieta“, Kim Ki-duks neuem, preisgekröntem (Venedig, Goldener Löwe) Film über die Unmenschlichkeit des Raubtierkapitalismus, ist dieser Kontrast durchaus sinnbildlich zu verstehen für eine Welt ohne Mitleid. „Was ist der Tod?“, fragt sich desillusioniert ein alter, verschuldeter, von der Modernisierung überrollter Arbeiter, bevor er sich mit einem Sprung in die Tiefe das Leben nimmt.

„Was ist die Natur des Menschen?“, fragt sich wiederum Kim Ki-duk in seinen Filmen. In „Pieta“ taucht er tief ein in diese faszinierend fremde, grausame Welt, die er aus eigener Erfahrung kennt, und findet zunächst nur eine schreckliche Antwort. Denn sein Film ist über weite Strecken eine schockierende Abfolge sadistischer Gewaltexzesse und destruktiver Lebensäußerungen. Deren negative Triebkräfte sind systembedingt und spiegeln die Hierarchie von Gewalt und Gegengewalt, die kein Verzeihen zu kennen scheint. Der Einzelgänger Lee Kang-do (Lee Jung-jin), ein ebenso skrupelloser wie brutaler Geldeintreiber, verkörpert dieses menschenverachtende Prinzip. Seine Schuldner aus den Betrieben von Cheonggyecheon verstümmelt er, wenn sie nicht zahlen können, mit ihren eigenen Maschinen, um ihre Versicherungssumme zu kassieren, und raubt ihnen damit auch noch die Arbeitskraft. In „Pieta“ ist das Verlangen nach Geld der Auslöser für eine Gewalt, die gleichermaßen Seele und Körper zerstört. Für Kim Ki-duk reflektiert sie „die Grausamkeit unseres Daseins in der Welt, in der wir leben.“

Ist der „Teufel, der die Menschen mit Geld verführt“, als der Lee Kang-do einmal bezeichnet wird, „böse geboren“ oder einfach nur „ohne Liebe aufgewachsen“? Zumindest Letzteres scheint der Fall zu sein. Denn eines Tages heftet sich eine schon ältere Frau aufopferungsvoll und scheinbar voller Selbstverachtung an seine Fersen, gibt vor, seine Mutter zu sein und hat für diese Behauptung schwere Demütigungen und Prüfungen zu ertragen. Doch nach einer Phase innerer Revolte beginnt sich bei Lee Kang-do irgendwann etwas zu regen, entwickelt sich allmählich ein Läuterungsprozess, der ihn in eine gefühlsmäßige Abhängigkeit zu dieser Frau setzt, ihn menschlicher werden lässt und damit, quasi als Zeichen davon, auch verwundbar macht. Geradezu roh und archaisch setzt Kim Ki-duk die Begriffe von Schuld und Sühne, Rache und Erlösungssehnsucht ins Bild, indem er die erzähllogischen Koordinaten von Raum und Zeit weitgehend negiert und damit seine Geschichte auf ihren allegorischen Kern verdichtet. Das im Filmtitel aufgerufene Bild der um ihren Sohn trauernden Mutter wird dabei sowohl ambivalent zugespitzt als auch umgekehrt und kulminiert schließlich in der Anrufung Gottes mit der Bitte um Frieden und Erbarmen: „Dona nobis pacem! Kyrie eleison!“, heißt es im ersten Lied des Abspanns. Zwischen religiöser Hoffnung und angedeuteter Menschwerdung bleibt am Ende vielleicht nur noch die Flucht aus den Lebensverhältnissen.

Mondomanila

(PH / F 2012, Regie: Khavn de la Cruz)

I Wanna Know What Punk Is
von Andreas Thomas

„This is not a Film by …“ steht im Vorspann von „Mondomanila” und das hört sich ähnlich an wie “This is not a Love Song” von Public Image, die ja …

„This is not a Film by …“ steht im Vorspann von „Mondomanila” und das hört sich ähnlich an wie “This is not a Love Song” von Public Image, die ja auch keiner mehr so gut kennt wie die Sex Pistols, die aber meist trotzdem nicht Sid Vicious als Sänger hatten, sondern Johnny Rotten alias John Lydon, der selbdritt oder –zweit dann nun eben der verkappte Sänger beider Bands war und in einer gewissen stringenten Tradition des Punk stehend und tätig. Wobei wir, und das ist jetzt cool, eine Kurve gekriegt haben zu diesem Nichtfilm, um gleich dazu zu sagen, dass dieses auch eine Nichtfilm-Filmkritik ist, man könnte zusammenfassen, also eine Nicht-Film-Kritik, man könnte sagen, dass diese eine sein soll und sich eben auch bekennt zu Punk, jedenfalls zu dem, was er sein wollte, und zu dem, was er heute noch sein könnte, nämlich NICHTS, und deshalb eine NICHTFILMKRITIK sein.

Vor gefühlten 100 Jahren da sang mal die Melody-Rock-Band Foreigner „I Wanna Know What Punk is, I Want You To Show Me …“. Zu diesem Zeitpunkt war Punk tatsächlich schon tot und Jazz hat immer noch lustig gerochen und niemand hat‘s gemerkt, außer den Blitzmerkern von Foreigner, die nach Punk fragen; und Punk – wie gesagt, glänzt hauptsächlich dadurch, dass er, wie Dada, Kaka oder Pipi entweder Babykram oder eben gar nicht vorhanden ist, sobald jemand nach ihm greift,- oder dann eben komisch riecht.

Also bin auch ich konsequent und greife nicht nach einem Film, der kein Film ist, sondern eben höchstens Punk und das auf ziemlich überzeugende Weise. Das Beste, ich nehme es vorweg, ich kann nicht anders, an „Mondomalia“ ist tatsächlich die Musik, und die hat, soweit man das hier in Deutschland, denn die Philippinen sind weit weg (kennt jemand noch das umgedrehte Pendant zu philippinischem Punk, die berühmten Wallerts aus Göttingen?), überhaupt beurteilen kann, Punkformat, das heißt, sie setzt im besten Sinne fort, was so andernorts als Independent oder Underground oder so gehandelt wurde, bis etwa 2000 und dann irgendwie professionalisiert war. Mit anderen Worten, der Nicht-Regisseur hat einige veritable Popperlen geschrieben, die nicht nur schön leicht daneben im Keinfilm eingespielt, sondern auch genial komponiert sind, die an Bands wie Pavement erinnern und Laune machen, obwohl man darin überhaupt nicht englisch, sondern nur das verballhornte Spanisch der Philippinen hört: Trotzdem, nein, auch nicht deswegen geil!

Und der Nichtfilm? Naja, so ein verkappter und offenbar zurecht gestutzter Kindersoftporno, dessen mutmaßlich stärkste Szenen wahrscheinlich irgendwelchen kommerziellen Kriterien zuwiderliefen. Will sagen, dass kaum einer der Protagonisten älter als sechzehn ist, die meisten davon männlich, aber sie alle vor allem angeben, wie eine Tüte Mücken, wie schnell und wie oft sie wichsen und ficken und abspritzen könnten, so als wäre die Erotik ihr „Lebensmittelpunkt“ (auch eines meiner absoluten neuen Lieblingswörter), was sie auch sein muss, denn zu essen gibt’s nicht genug und das Wasser, der Rinnsal in den Slums (Upps, habe ich vergessen, zu sagen, dass der Nichtfilm in den verdammten Slums von Manila spielt?) besteht, wie die Wäscherin aus dem Nichtfilm genau aufführt, zum großen Teil eher aus Kacke, Kotze, Pisse und Kot als nur aus Wasser. Hier drin werden die Klamotten gewaschen der Kinder, die ihre Lektion gelernt haben und den Imperialismus und Rassismus der weißen Rasse erkannt. Die Jungs mit den Knoten in ihren Mägen, die sich, also ihre kleinen Ärsche, verkaufen müssen, damit sie und ihre Familien überleben können.

Ich gebe zu, ich werde emotional, aber auch der (Nicht-)Film wird es immer, wenn er der Wahrheit zu nahe kommt, gleichzeitig schafft er es aber, eine gerüttelte Distanz herzustellen zwischen Elend, Spaß und Ausbeutern. „Mondomanila“ ist kein Film, der um Entwicklungshilfe bettelt, sondern ein Film, der Gerechtigkeit einklagt, sein Tenor ist: Ihr weißen Ausbeuter mit Eurer wohltätigen Globalisierung, wir brauchen eure Hilfe nicht, denn wir kamen und kommen besser ohne euch zurecht. Und der Film, der ja dann doch genauso ein Film ist, wie diese Filmkritik eine Filmkritik, tut das, also das Einklagen, das Insistieren auf Gerechtigkeit, auf eine Art und Weise, wie sie mir noch nie begegnet ist bei einem Film aus einem Land mit solch hohen Lebensstandards. Und er tut das so wenig devot oder larmoyant oder melodramatisch, dass ich dem Staunen nicht entweiche.

Der Höhepunkt ist ein durchaus symbolhafter weißer alter Arsch, der sich ficken lassen will und hart ficken, nämlich den baby-tuntigen, armen und einzigen echten kleinen Philippino-Schwuli aus dem Ghetto. Er, und seine Inszenierung, erinnert an eine Mischung aus William Burroughs und jenen untergetauchten Altnazi aus dem berühmten Russ Meyer-Film „Im tiefen Tal der Superhexen“, er ist ein absolut menschenfeindlicher Rassist erster Güte. Nietzsche (oder nicht?) hätte seine Freude an ihm gehabt – oder wenigstens seine Syphilis.
Ich solidarisiere mich mit „Mondomanila“ total.

Am Himmel der Tag

(D 2012, Regie: Pola Schirin Beck)

Standard Operating Procedure
von Ricardo Brunn

Coming-of-Age-Filme bilden ein beliebtes Sujet bei Filmhochschulabsolventen und -absolventinnen. Oft genug selbst in einer Phase des Übergangs, verhandeln sie in ihren Filmen Themen wie die Entfremdung von den Eltern oder …

Coming-of-Age-Filme bilden ein beliebtes Sujet bei Filmhochschulabsolventen und
-absolventinnen. Oft genug selbst in einer Phase des Übergangs, verhandeln sie in ihren Filmen Themen wie die Entfremdung von den Eltern oder die Sehnsucht nach Freiheit, kombiniert mit Fragen nach der eigenen Identität. Damit verbunden geht es in diesen Filmen nicht selten auch um Grenzerfahrungen, weshalb die Selbstfindung der Adoleszenten hin und wieder ins Ausland (Afrika, wenn es besonders exotisch sein soll) verlegt wird. Meistens bleiben die Protagonisten allerdings daheim. Vornehmlich in Berlin, denn der hier ansässige RBB unterstützt seit geraumer Zeit die Arbeiten der HFF „Konrad Wolf“ sowie der DFFB. In der neuen Reihe „Leuchtstoff“ sollen nun noch einmal speziell Filme aus der Region Berlin-Brandenburg unterstützt werden, die nach Aussage des Senders „durch herausragende Qualität, großes Engagement und Leidenschaft beeindrucken“.

Den Anfang macht Pola Beck, die in „Am Himmel der Tag“ eine klassische Coming-of-Age-Geschichte erzählt: Lara ist unzufrieden mit ihrem Leben. Orientierungslos driftet sie durch ihr Architekturstudium, welches sie vor allem für ihre Eltern begonnen hat. Eine ungewollte Schwangerschaft, eingeleitet durch einen Barkeeper auf dem Disco-Klo, kommt da nicht ungelegen, bietet der langsam wachsende Embryo doch eine gute Gelegenheit, sich dem Leben zu stellen. Doch entgegen aller Hoffnung verläuft die Schwangerschaft nicht problemlos und entwickelt sich zu einer schweren Prüfung auf dem Weg zum Erwachsenwerden.

Die verspätete Adoleszenz Laras wird im Folgenden mit der dramaturgischen Akrobatik eines wohlerzogenen deutschen Abschlussfilmes geschildert. Das Verhältnis zu den Eltern (insbesondere zur Mutter), ist, wie könnte es anders sein, angespannt. Und selbstverständlich wird ausgestellt, wie sehr sich die Eltern in ihrem Upper-Middleclass-Architekten-Wohlstand bei traditionellem Filmabendessen mit gutem Wein voneinander und ihrer Tochter entfremdet haben. Und selbstverständlich darf auch ein Streit nicht fehlen, den Lara aus der Ferne beobachtet und anhand dessen für den Zuschauer klar wird, dass die Eltern als Bezugspersonen und Rettungsanker ausgedient haben. Um diese Strategie der Vereinsamung weiter voranzutreiben, ist dann auch die Mitarbeiterin des sozialmedizinischen Dienstes – denn Lara ist anfangs noch unsicher, ob sie das Kind behalten möchte – nichts weiter als eine emotionslose Schreibtischtäterin.

Ich wage zu behaupten, dass diese Situation mangelhaft bis gar nicht recherchiert ist, denn wer einmal in einer solchen Einrichtung vorbeischaut, wird feststellen, dass die MitarbeiterInnen eine Beratungsbescheinigung zum Schwangerschaftsabbruch nicht einfach ausfüllen und abstempeln, sondern zuvor sehr gezielt nach den familiären Hintergründen der Betroffenen sowie den Gründen für eine mögliche Abtreibung fragen. Schließlich geht es nicht um die rein bürokratische Genehmigung einer Abtreibung, sondern um den Erhalt von Leben und das Abwägen der Chancen, die diesem Leben geboten werden können oder verwehrt sind. Aber eine die Protagonistin isolierende Umgebung – da darf auch der aggressive Straßenverkehr der Metropole nicht fehlen – dient dem dramaturgischen Konzept eben mehr, welches die Kamera mit ihrem weitestgehenden Verzicht auf Totalen und mit gezielten Unschärfen um die Protagonistin ausstaffieren darf. Und beim Farbkonzept wird natürlich immer wieder auf das einsamste Kolorit des Farbkreises zurückgegriffen. Pullover, Taschen, Wandfarben, Bettbezüge – es bleibt subtil, aber dennoch das altbekannte Blau.

In diesem Zusammenhang genügt es beispielsweise auch, sich einmal vage vorzustellen, wie das Streichen eines Zimmers bei Mittzwanzigerinnen inszeniert sein könnte – und genau so sieht es dann auch aus. Oder da ist die gleich zu Beginn stattfindende Begegnung Laras mit dem kauzigen Nachbarn Elvar. In der Sekunde, in der er den Fahrstuhl betritt, ahnt man schon, in welchem Stockwerk die Reise am Schluss des Filmes enden wird. Zu aufdringlich skurril ist die Begegnung in Szene gesetzt, in der Lara auch noch einen symbolisch aufgeladenen, weil einsamen Guppy geschenkt bekommt. „Die sind super, die haben kein Gedächtnis“, flüstert der Nachbar Lara zu. Man wünschte sich, die Regisseurin hätte eines – ein Bildgedächtnis nämlich. Denn unter all den pittoresken Blaupausen wird selbst auf die obligatorischen Zugvögel als transitorisches Werkzeug nicht verzichtet.

Auch wenn nicht alles konsequent auserzählt und manchmal nur angedeutet wird, so werden doch nach und nach die handlungsbetonten Erzählkonventionen artig abgearbeitet und mit bekannten Mitteln professionell umgesetzt. Selbst die Wahl der Hauptdarstellerin offenbart den Hang der Regisseurin zu großzügig dosierter Konformität. Unabhängig von ihrer bravourösen Leistung, kommt man nicht umhin, Aylin Tezel unentwegt mit Everybodys-Darlings wie Lena Meyer-Landrut oder Nora Tschirner zu verwechseln. Es ist es schon verwunderlich, welch rehäugiges Frauenbild seit einiger Zeit im deutschen Kino und TV bedient und – auch in diesem Abschlussfilm – konsequent breitgetreten wird.

„Am Himmel der Tag“, dessen Hauptdarstellerin in manchen Szenen zu Tränen rührt und der über weite Strecken trotzdem erfreulich wenig rührselig daher kommt, ist bei aller Souveränität leider einer dieser Filme, auf den sich in seiner Gemachtheit irgendwie alle einigen können. Er ist handwerklich sicher inszeniert, zugleich aber unausstehlich brav und fernsehgerecht. Immerhin, so könnte gutes Fernsehen in näherer Zukunft aussehen und vielleicht verlange ich einfach zu viel von diesem Abschlussfilm. Vielleicht verteidige ich aber auch nur eine Form des Kinos, bei dem ich Dringlichkeit, eine unbändige Leidenschaft für das Medium und ein aufrichtiges Engagement für das gewählte Thema spüre, welches hier in seinem Spiel mit der Tabuisierung des Kindstodes gerade einmal die austauschbare Schablone für ein allzu bekanntes Coming-of-Age-Szenario liefert.

Mit „Am Himmel der Tag“ ist es wie mit den Strebern in der Schule: Das Einzige, worauf der Lehrer bei der Rückgabe der mit Note 1 beurteilten Klassenarbeit noch hinweisen kann, ist, dass das Auswendiglernen eben nicht alles ist.

Müll im Garten Eden

(D 2011, Regie: Fatih Akin)

Höllische Haufen
von Harald Mühlbeyer

2007 kam Fatih Akin nach Camburnu; das Bergdorf am Schwarzen Meer war Heimat seiner Großeltern, hier drehte Akin für „Auf der anderen Seite“. Und musste am Drehort feststellen, wie ein …

2007 kam Fatih Akin nach Camburnu; das Bergdorf am Schwarzen Meer war Heimat seiner Großeltern, hier drehte Akin für „Auf der anderen Seite“. Und musste am Drehort feststellen, wie ein Paradies zerstört wird. Seine Langzeitdokumentation „Müll im Garten Eden“ zeigt den vergeblichen Kampf der Einwohner gegen die autoritäre Obrigkeit, zeigt die verhallenden Aufschreie gegen eine umweltzerstörerische Mülldeponie.

Die Kamera fliegt über die Idylle, über sattgrüne Teeplantagen, heimelige Häuser, im Hintergrund das Meer – und schon gerät der überdimensionale Müllplatz in den Blick, ein höllischer Haufen Unrat. Der wurde von den Behörden dahingesetzt mit löblicher Absicht: Denn zuvor war es Brauch, Abfall ganz einfach im Meer zu entsorgen. Die Ausführung aber war und ist empörend, und mit filmischem Furor deckt Akin die Missstände Punkt für Punkt auf. Wie Gesetze und behördliche Bau- und Umweltverfügungen systematisch umgangen wurden (auch, weil sie vermutlich bewusst schwammig formuliert sind), wie jeder Protest der Bevölkerung schlicht übergangen wurde, wie der Bürgermeister, der sich über den Dienstweg beschwerte, mit Klagen überzogen wurde. Wie frühzeitige Warnungen ignoriert wurden und wie die vorhergesagten Probleme dann umso vehementer eintraten.

Schon in der Bauphase war die schwarze Plastikplane, die Boden und Grundwasser vor verseuchten Flüssigkeiten aus dem Müll schützen sollte, von den Baumaschinen zerstört worden. Problem? Nein, kein Problem. Kann man ausbessern. Was, wenn das Giftwasser über den Rand der Müllkippe schwappt? Auch kein Problem. Solange es nicht stark regnet. Wenn dann der örtliche Bach tot ist, wenn die Plantagen überschwemmt werden – es ist fast rührend naiv, wie der zuständige Ingenieur hilflos herumdruckst: Wer kann im Sommer schon mit einem so heftigen Gewitter rechnen? Es war ganz einfach Allahs Wille.

Hierzulande protestiert man gegen Bahnhöfe und Flughäfen. Im Osten der Türkei geht es um das Leben eines Dorfes, um das Überleben. Akin blickt auf den Müll, und darauf, was er mit dem Dorf macht, mit seinen Bewohnern, die protestieren, die resignieren, die wegziehen. Mit einer Landschaft, die mutwillig verseucht wird. Alles legitimiert durch eine Scheindemokratie, in der die Mitsprache der Bevölkerung reines Alibi ist, in der weggeschaut, weggehört und weitergemacht wird. Selbstherrlichkeit regiert.

Akin ist sozusagen der internationale Fürsprecher des Protestes, hat das Thema schon vor Jahren in die hiesigen Qualitätszeitungen gebracht, veröffentlicht nun diesen Film, in dem sich Wut gegen Willkür und Respekt vor der Zivilcourage begegnen. Was der Film vermissen lässt, ist eine packende Dramaturgie. Erratisch werden einzelne Phasen von Bau, Einwänden, Umweltkatastrophen abgehakt. Das ist szenisch, im Einzelnen spannend, in den Porträts einzelner Menschen, in der Kette der Rücksichtslosigkeiten und obrigkeitlichen Willkürlichkeiten. Im Ganzen aber hat der Film nicht die Kraft, die seinem Thema innewohnt.

Das Finale ist bezeichnend: Da bricht tatsächlich das Becken der ohnehin nur provisorischen und völlig unterdimensionierten Kläranlage: Außer geborstenem Beton, zwischen Teepflanzen rinnendem Müllwasser und einem toten Hund unter den Trümmern zeigt Akin davon nichts. Dabei wäre das das eine, große Bild für diese höllische Landschaftszerstörung, auf die der ganze Film hinauslaufen könnte.

Shut up and play the Hits

(GB 2012, Regie: Will Lovelace, Dylan Southern)

I Was A Mod Before You Was A Mod
von Ulrich Kriest

War offenbar ein ziemlich großer Abend, dieser Abschied mit Ansage, den LCD Soundsystem am 2. April 2010 im New Yorker Madison Square Garden hinlegten. Es gibt ein paar magische Momente …

War offenbar ein ziemlich großer Abend, dieser Abschied mit Ansage, den LCD Soundsystem am 2. April 2010 im New Yorker Madison Square Garden hinlegten. Es gibt ein paar magische Momente in diesem Film, die nahe legen zu bedauern, nicht dabei gewesen zu sein. Zum Beispiel, wenn der Indie-Rock provozierend auf der Stelle tritt, James Murphy eine Etage höher steigt, sich hinstellt, die Augen schließt, die Arme ausbreitet – und plötzlich verwandelt sich die Halle in eine Meta-Disco. Die Erlösung von Rock durch Disco – ein Traum! „Emotional Rescue“.

Murphy, ein Pop-Star, der schon mit seinem ersten Hit davon erzählte, dass seine auf dem symbolischem Kapital der Hipness gründende Existenz sich überlebt habe, tritt mit einem Paukenschlag ab und geht mit dem Gedanken hausieren, er sei jetzt ein Rentier, der sich endlich seinen anderen Hobbys widmen könne. Zum Beispiel? Im Bett bleiben und mit dem Hund schmusen oder – Lennon hat’s vorgemacht – seine Fertigkeiten in Sachen Kaffeekochen upgraden. Oder sich ums „DFA“-Label kümmern. Oder Schriftsteller werden? „Shut Up And Play The Hits“ erzählt von den letzten Tagen des Projekts LCD Soundsystem, hinter dem als Mastermind James Murphy steckt – und das erst zur »Band« wurde, als es als Live-Act nachgefragt wurde. So wie Murphy zum Pop-Star wurde, der a) über jede Menge durchreflektiertes cooles Wissen verfügt und b) kein Pop-Star sein wollte. Wir erinnern uns: Ausgestattet mit dem Popwissen eines Ü30-Hipster-DJs musste es Murphy erleben, dass das Internet sein symbolisches Kapital »vergesellschaftete«, insofern immer mehr Musik problemlos verfügbar wurde und Insider-Wissen (seinerzeit noch obskure No Wave-Bands Bands der frühen 80er Jahre wie Delta 5 oder Liquid Liquid) nicht länger Reflex einer Fan-Biografie, sondern »nur« Resultat einer längeren Internet-Recherche wurde. Genau davon handelte „Losing my Edge“, der Song, der Murphy 2002 bekannt machte.

„Hip“ ist, wenn man »dabei« ist und nicht, wenn man davon gehört hat. Und jetzt, also am 2. April 2010, steht Murphy auf der Bühne und dabei immer etwas neben sich – und feiert seinen Abschied. Und kann sich dabei die Tränen nicht verkneifen, obwohl er die ganze Zeit ungläubig zu staunen scheint, es müsse sich ohnehin um einen Traum handeln. Ein Traum, der auf der anderen Seite 20.000 Menschen hysterisch und tanzen, ausrasten und gleichfalls losheulen lässt. Es gibt ja durchaus kompetente Musik-Kritiker, die halten LCD Soundsystem für die wichtigste Band der Nullerjahre. Wer „Shut Up … „ gesehen hat, wird kaum noch widersprechen wollen, wäre da nicht die Ambition der Filmemacher, mehr sein zu wollen als »this generation’s THE LAST WALTZ«, weshalb Murphy auch noch den Journalisten und Schriftsteller Chuck Klosterman zum Gespräch trifft. Dieses Gespräch, recht kompetent und scharfsinnig, wird allerdings zum Soundtrack von prä- und postkonzertanten Impressionen missbraucht und verschnitten. Und hier liegt die Crux: wer Murphy und LCD Soundsystem kennt und schätzt, weiß auch um Murphys zahlreiche geistreiche und vor Esprit sprudelnde Interviews, deren Niveau die snippets aus dem Gespräch mit Klosterman nie erreichen.

Wer aber Murphy und LCD Soundsystem bislang nicht oder nur am Rande wahrgenommen hat, wird Murphy für einen etwas verstiegenen und schrulligen Melancholiker halten. Was wiederum nur bedingt zur mitreißenden Abschieds-Live-Performance passt, die Menschen zurück ließ, die glücklich Rotz und Wasser heulten, weil sie dabei sein durften. Und natürlich Hoffnung schöpfen, wenn Murphy im Interview erklärt, dass die Auflösung von LCD Soundsystem vielleicht sein größter Fehler war. Parallel zum Film ist eine Box erschienen, die das gesamte Konzert dokumentiert und nicht nur 11 von 29 Songs. Wir sollten James Murphy nicht vorschnell zum alten Eisen zählen.

Silver Linings – Wenn du mir, dann ich dir

(USA 2012, Regie: David O. Russell)

Stay cool is still the main rule!
von Ulrich Kriest

Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in der Psychiatrie kehrt der mittlerweile ehemalige Aushilfslehrer Pat Solitano in sein Elternhaus in Philadelphia zurück. Job weg, Haus weg und die Ehefrau Nikki ist auch …

Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in der Psychiatrie kehrt der mittlerweile ehemalige Aushilfslehrer Pat Solitano in sein Elternhaus in Philadelphia zurück. Job weg, Haus weg und die Ehefrau Nikki ist auch in weiter Ferne: Kontaktverbot. Doch Pat ist guter Dinge: zwar wurde in der Psychiatrie eine bipolare Störung diagnostiziert, aber Pat ist gut in Form, verweigert die verordneten Medikamente und will sein altes Leben zurück.

Die Sache damals, als er einen Kollegen mit Nikki unter der Dusche beim Sex erwischte und halbtot prügelte – vergessen! Der Aufenthalt in der Psychiatrie zeitigt Wirkung, wenngleich sich Pat immer noch sehr darüber echauffieren kann, wie Hemingway die Liebesgeschichte von „In einem anderen Land“ an die Wand fährt – ohne jede Rücksicht auf die positiven Erwartungen seiner Leser! Dabei hat Pat doch in der Klinik gelernt, dass alles, was passiert, einen Sinn hat und dass man in allem möglichst das Gute sehen solle. Every cloud, habe, wie man so sagt, a silver lining. Oder?

Eines Abends lernt er zufällig die viel jüngere Tiffany kennen, die nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes, auch ein paar psychische Probleme hat. Ihre Depressionen bekämpfte sie mit wahllosem Sex am Arbeitsplatz, bis sie gefeuert wurde. Pat findet, dass Tiffany nicht alle Tassen im Schrank hat, was die nicht davon abhält, sich weiterhin für ihn zu interessieren. Vielleicht, weil sie sich in ihm wiedererkennt?

Man ahnt, was David O. Russell („Three Kings“, „The Fighter“) an der Romanvorlage von Matthew Quick interessiert haben könnte: Eine unkonventionelle Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen mit erheblichen psychischen Problemen, gestaltet in der Manier einer klassischen Screwball Comedy vor dem mit realistischem Anspruch gezeichnetem Milieu des US-amerikanischen Kleinbürgertums? Das wäre anspruchsvoll genug, doch Russell weitet den Blick noch erheblich, bis ein komplexes Familienpanorama voller Spiegelungen und Verdoppelungen etabliert ist: Familienaufstellung als Aufstellung dysfunktionaler Familien.

Der von Robert De Niro gespielte Vater Pats, der gleichfalls Pat heißt, ist auch so ein Choleriker, der sein Leben nur dank einiger Ticks im Griff hat. Wehe, wenn die TV-Fernbedienungen mal nicht ordentlich aufgereiht am richtigen Ort liegen! Als glühender Fan der Philadelphia Eagles hat er zwar Stadionverbot, kompensiert diese Schmach aber durch irrwitzige Sportwetten. Im Hintergrund beider Männer wirkt die Ehefrau und Mutter, welche Dolores (= Schmerzen) heißt. Weil Tiffany offenbar an Nikki vorbei muss, um zu Pat zu gelangen, schlägt sie ihm einen Handel vor: sie wird ihm den (Brief-)Kontakt zur Ex ermöglichen, wenn er sie im Gegenzug zu einem Tanzwettbewerb begleitet. Ausgerechnet! Tanz als Paar- oder Gruppentanz fungiert ja in Zeiten von Casting-Shows als sozialintegrative Disziplinierungsstrategie schlechthin – und Pat genießt sein den Alltag strukturierendes Training auch sichtlich.

Doch dann kommen Pat Senior und seine Sportwetten der Therapie noch einmal in die Quere – und plötzlich erzählt „Silver Linings“ so viele Geschichten von Familie, Neubeginn, alten Rechnungen, Liebe, Tanz, Disziplin und Sportwetten gleichzeitig, dass es einer koketten, aber entschlossenen Kumpanei mit den Genre-Spielregeln der »romantic comedy« bedarf, um die Vielzahl von Fäden wider alle Milieutreue und alle Vernunft zu ordnen.

Die radikale Unbekümmertheit, mit der Russell und sein erstklassiges Darsteller-Ensemble diese »unglaubliche« Rettungsstation ansteuern, beweist Mut und Liebe zum Kino. Zum ganz altmodischen Kino, versteht sich! Einem Kino, das um die Risiken des Realismus weiß und trotzdem realitätshaltige Geschichten erzählen möchte. Für ein Publikum, das Soap-gestählt ganz anders tickt. Ob das funktioniert, wird man sehen. Spätestens bei den „Oscars“, wo „Silver Linings Playbook“ als stiller Geheimtipp in den Ring steigt.

Beasts of the Southern Wild

(USA 2012, Regie: Benh Zeitlin)

Magischer Realismus
von Carsten Happe

Wenn das Jahresende naht und mit ihm die Holiday Season, die der deutschen Weihnachtszeit nur ungefähr ähnelt, wird in Hollywood zusammengerechnet und auseinanderdividiert, was als Oscar-Kandidat Bestand hat und mit …

Wenn das Jahresende naht und mit ihm die Holiday Season, die der deutschen Weihnachtszeit nur ungefähr ähnelt, wird in Hollywood zusammengerechnet und auseinanderdividiert, was als Oscar-Kandidat Bestand hat und mit sanftem Druck „for your consideration“ ins millionenschwere Rennen geschickt wird. Neben den Last-Minute-Schwergewichten wie Steven Spielbergs „Lincoln“, Kathryn Bigelows Bin-Laden-Hatz „Zero Dark Thirty“ und der opulenten Musicaladaption „Les Miserables“ hält sich ein kleines Independentjuwel seit dem Sundance Festival im vergangenen Januar dauerhaft im Gespräch: „Beasts of the Southern Wild“ des Newcomers Benh Zeitlin. Und seit dem Preis fürs beste Debüt in Cannes steigen seine Chancen kontinuierlich.

Das Wunderwerk des magischen Realismus folgt keinen herkömmlichen narrativen Strukturen, vielmehr lässt es sich treiben wie seine sechsjährige Hauptfigur Hushpuppy und übernimmt fraglos ihre Perspektive einer wundersamen Welt. Einer Welt im Umbruch, wie es scheint, denn ein Unwetter zieht auf über dem mutmaßlichen Süden der USA – konkret verortet wird der Schauplatz nie, doch die Anklänge an den Hurrikan Katrina sind augenfällig. Hushpuppy und ihr kranker Vater erwarten nicht nur den Sturm, das kleine Energiebündel erahnt zudem die Ankunft der Aurochs, prähistorischer Monster, die die schmelzenden Polkappen nun wieder freigegeben haben.

Es empfiehlt sich, „Beasts of the Southern Wild“ im Zustand des Halbschlafs zu sehen oder
den Verstand möglichst freizuräumen für eine Erfahrung zwischen Imagination und harter Realität, zwischen Traum und einer ganz eigenen, keiner Logik oder Gesetzen folgenden Wirklichkeit. Wer sich darauf einlassen kann, erlebt einen sinnlichen Rausch exaltierter Bilder einer entfesselten Kamera, einer fast greifbaren Atmosphäre überbordender Lebenslust im Angesicht der drohenden Katastrophe sowie in Quvenzhané Wallis eine phänomenale Hauptdarstellerin – ebenso Laie wie alle anderen Akteure –, die man augenblicklich ins Herz schließt und nicht mehr loslassen möchte.

Nach dem formidablen „Winter’s Bone“, der vor zwei Jahren insbesondere seine Hauptdarstellerin Jennifer Lawrence in die Umlaufbahn schoss, und dem furiosen „Bellflower“, dem hierzulande ein Kinostart verwehrt blieb, zeugt auch „Beasts of the Southern Wild“ von einer neuen Vitalität und Leidenschaft im amerikanischen Independent-Kino, die weit mehr überwältigt und verzückt als alle Superhelden und Bösewichter Hollywoods zusammen.

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Der Aufsteiger

(F / B 2011, Regie: Pierre Schoeller )

Die Gesamtheit der Dementis
von Andreas Busche

Man muss sich die aktuelle politische Praxis als eine Kette von Affekthandlungen vorstellen. Das Tempo der medialen Verwertungsmaschinerie gibt den Takt vor, der dem Personal gerade genug Zeit zum Reagieren …

Man muss sich die aktuelle politische Praxis als eine Kette von Affekthandlungen vorstellen. Das Tempo der medialen Verwertungsmaschinerie gibt den Takt vor, der dem Personal gerade genug Zeit zum Reagieren lässt. Die politische Inszenierung beschränkt sich meist auf Ablenkungsmanöver oder Schadensbegrenzung, es herrscht ständige Alarmbereitschaft. Wer versorgt die Öffentlichkeit schneller mit einer unqualifizierten Meinung, welches unbedachte Statement gilt es als nächstes zu dementieren? Das Dementi ist das exemplarische taktische Manöver in der modernen Polit-Kommunikation, es beschreibt anschaulich die Ohnmacht der Mächtigen im Angesicht der freien Kräfte, welche die politischen Entscheidungsprozesse in Gang setzen. Aus der Gesamtheit der Dementis ergibt sich ex negativo ein repräsentatives Stimmungsbild des politischen Diskurses.

Damit ist die Dramaturgie von Pierre Schoellers Satire „Der Aufsteiger“ eigentlich schon auf den Punkt gebracht. In der Krisen-Kommunikation zählt nur die Wahrnehmung, heißt es einmal im Film. Schoeller gewährt einen nüchternen Einblick in die Mechanismen der Demokratie-Arbeit: am Beispiel eines kleinen Rädchens im Getriebe, das eine Verkettung glücklicher Umstände (Talent gehört nicht dazu, nicht einmal ein gehöriges Maß an Abgebrühtheit) auf die große Bühne der Politik befördert.

Bezeichnenderweise markieren zwei Verkehrsunfälle die entscheidenden Wendepunkte im beruflichen Werdegang von Bertrand Saint-Jean. Saint-Jean ist Minister für das französische Transportwesen – jede Krise des Verkehrs ist gleichbedeutend mit einem Scheitern seiner Politik. Er selbst bildet eine träge Masse, die erst unter äußerer Einwirkung beschleunigt. Seine politischen Standpunkte entspringen eher politischem Pragmatismus als ehrlicher Überzeugung. Warum er so vehement gegen die Privatisierung der französischen Bahnhöfe opponiert, weiß er wohl selbst nicht – man könnte es politischen Instinkt nennen. (Vielleicht aber auch nur Ressentiment, weil er den Kollegen aus dem Wirtschaftsministerium für ein aufgeblasenes Arschloch hält) Dass es nicht unbedingt Instinktes bedarf, um es in die Politik zu schaffen, demonstriert „Der Aufsteiger“ ganz wertungsfrei. Der französische Originaltitel „L’Exercice de L’Etat“, Staatsgewalt, legt dann auch weniger Fokus auf die persönliche Geschichte eines Mannes als auf den Machtapparat, den er repräsentiert und der ihn (ver)formt.

Zweimal kracht es in „Der Aufsteiger“ also. Das erste Mal wird Saint-Jean vom Klingeln des Telefons aus seinem nächtlichen Träumen gerissen; es ist eine sexuelle Machtfantasie sondergleichen und sie verschafft ihm einen ordentlichen Ständer. Dann die schlechte Nachricht: Unfall in den Ardennen, ein Bus mit Jugendlichen ist von der Straße abgekommen und in eine Schlucht gestürzt. Vermutlich keine Überlebenden. Kaum ist der Minister aus dem Bett, kursieren die Gerüchte, bereitet der Stab das erste Dementi vor. Um ihn herum tote Kinder und verzweifelte Eltern. Die Routinen der Selbstinszenierung (Saint-Jeans PR-Beraterin Pauline befindet sich ständig an seiner Seite), in der selbst angesichts des menschlichen Leids der professionelle Blick für den richtigen Krawattenfarbton nicht getrübt ist, werden von Schoeller ganz beiläufig im Modus höchster Betriebsamkeit eingefangen. Die Politik schläft nie; auch wenn sie träumt, ist sie noch mit sich selbst beschäftigt. Es spricht für die Aufmerksamkeit Schoellers, dass kaum eine Geste oder ein Dialog in „Der Aufsteiger“ unbedacht gewählt ist.

Bertrand Saint-Jean verkörpert eine Figur der politischen Zeitenwende, doch er ist umgeben mit dem Personal der Vergangenheit. Sein Stabschef Gilles, ein Politprofi alter Schule, verfügt über die Insignien der Macht sozusagen qua Geburt. Gilles ist Angehöriger einer altehrwürdigen französischen Politikerkaste, die Saint-Jean immer verschlossen bleiben wird. Dass er im Politklüngel ein Außenseiter ist, sehen die Alten trotz ihres Misstrauens gegenüber dem Emporkömmling als seine Stärke. Der Karrierist bedeutet keine Gefahr, doch der Mentalitätswandel ist unaufhaltsam.

Saint-Jeans Auftreten mangelt es entschieden an Eleganz und Würde. („Du hast kein Image, weil Du keine Geschichte hast“, erklärt ihm Pauline, „du bist verschwommen.“) Er stammt aus einfachen, groben Verhältnissen. Auch die Zeitungen vermuten hinter seiner Durchsetzungsfähigkeit, die eigentlich nur eine fortgeschrittene Form von Stoizismus ist, eine Residualeigenschaft seiner familiären Herkunft: den Bauern im Politbetrieb haut so leicht nichts um. Aber wovon träumt dieser Bauerntrampel nachts? Von nackten Mädchen, die in prunkvollen, von Kapuzenmännern bereiteten Zeremonien bereitwillig in den Schlund eines gefräßigen Monsters kriechen. Das Unbewusste manifestiert sich als diffuse Sehnsucht nach perversen Machtritualen. Fressen und Gefressen Werden – eine Lektion, die Saint-Jean auf die harte Tour lernt.

Das alles könnte Schoeller leicht als Farce inszenieren, doch er verliert nie seinen kühlen, unterschwellig amüsierten Blick für Machtdispositive im alltäglichen politischen Geschacher. Keiner der Protagonisten wird der Lächerlichkeit preisgegeben oder seiner Korrumpierbarkeit überführt; alle sind gleichwertig wichtige beziehungsweise bedeutungslose Akteure in einem fortlaufenden Prozess der Optionsevaluierung. „Der Aufsteiger“ gibt sich dafür, dass die performativen Akte des Sprechens und Herrschens eigentlich sehr statische Ausdrucksweisen sind, allerdings hochgradig mobil. Ähnlich wie Aaron Sorkin, der mit der US-Serie „West Wing“ das Walk-and-Talk zur verdichteten Kunstform politischer Performanz erhoben hat, zeigt Schoeller den Mobilisierungsgrad der Politik als permanente rhetorische und raumgreifende Manöver. Es gibt keinen Stillstand, „Der Aufsteiger“ ist das Gegenteil von drögem Polittheater. Großes Kino.

So ist es folgerichtig eine zweite Todeserfahrung, die Saint-Jeans Initiation einleitet. Dem sehr ansehnlichen Autounfall, der jeden Actionfilm schmücken würde, entsteigt ein neuer Homo Politicus; die alten biografischen Makel und politischen Verbindungen sind endgültig abgestreift. Der Premierminister persönlich überträgt Saint-Jean die Verantwortung für die Privatisierung der Bahn, das Projekt soll Frankreich den Weg in die Zukunft weisen. Resignation lässt sich der politische Pragmatiker keine Sekunde anmerken; er hat die unbändigen Kräfte der neuen Märkte zu spüren bekommen und lässt sich bereitwillig mitreißen. Ideologische Bedenken gibt es nicht, allenfalls die persönlichen Opfer erzeugen noch einen Anflug pathetischer Regung. „Politik ist eine Wunde, die niemals verheilt“, gibt Saint-Jean seinem treuen Gefährten zum Abschied mit auf den Weg.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 12/12

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Haus der Sünde

(F 2011, Regie: Bertrand Bonello)

Hinter schweren Vorhängen
von Wolfgang Nierlin

„Erinnerungen an ein Freudenhaus“ lautet der Untertitel von Bertrand Bonellos Film „L’Apollonide (Souvenirs de la maison close)“, der in Deutschland nach seiner kurzen Kinoauswertung jetzt auch auf DVD unter dem …

„Erinnerungen an ein Freudenhaus“ lautet der Untertitel von Bertrand Bonellos Film „L’Apollonide (Souvenirs de la maison close)“, der in Deutschland nach seiner kurzen Kinoauswertung jetzt auch auf DVD unter dem spekulativen Titel „Haus der Sünde“ veröffentlicht wird. Damit ist bereits eine Spur gelegt in jene ferne Vergangenheit des Fin de siècle, das als Zeitenwende zugleich einen Epochenwechsel markiert und den kulturellen Verfall mit dem Beginn der Moderne gleichsetzt. „Ich bin so müde, ich könnte ewig schlafen“, lautet entsprechend der erste Satz von Bonellos ästhetisch erlesenem Abgesang auf das Ende einer Epoche und eines Gewerbes, das nicht zuletzt durch politische Veränderungen forciert wird. Später sind die frivolen Schwarzweißfotografien des Vorspanns, Ansichten von Prostituierten und des Bordellbetriebs, unterlegt mit Soulmusik von The Mighty Hannibal („The Right To Love You“). Doch in die Klage über den kulturellen Niedergang mischt sich auch die Trauer über das Schicksal jener Frauen, die zu einer hermetischen Existenz („verhurter Hurenberuf“) verurteilt waren. „Freiheit gibt’s draußen“, sagt diesbezüglich einmal die nachdenkliche Bordellbetreiberin Marie France Dallaire (Noémie Lvovsky).

Bereits der markante Prolog, zu dem der Film wie in einer Zeitschleife aus wechselnden Perspektiven immer wieder zurückkehrt, versammelt die Themen dieses brillanten, geheimnisvollen Werks. Die Prostituierte Madeleine (Alice Barnole), „die Jüdin“ genannt, wird von einem Freier misshandelt und entstellt. Aus dieser Tat spricht jedoch nicht nur die brutale Willkür der Macht, sondern ihre Erzählung evoziert in einer Mischung aus Traum und Realität auch eine quasi heilige Aura des Opfers, die im Bild der Sperma-Tränen kulminiert. Schwäche und Stärke, Verfügbarkeit und Geheimnis sind darin vereint. Die Prostituierte erscheint als Wesen, dessen Käuflichkeit nie total ist und dessen würdevolle Unnahbarkeit gerade zur Projektionsfläche für die männlichen Kunden – allesamt Industrielle und Aristokraten – wird. Während sich die Zeit dehnt oder im Kreis bewegt, inszeniert Bertrand Bonello das Bordell als phantasmagorischen und mythischen Ort. Prismen und optische Geräte, schwarze und blaue Zimmer gehören zu seinem Inventar; Masken, Verkleidungen und Rollenspiele zu seinen erotischen Inszenierungen von Lust und Begehren; und der schwere Rauch der Opiumpfeife verspricht künstliche Paradiese. „Nights in White Satin“ singen die Moody Blues dazu.

„Das hier ist kein billiges Hotel“, sagt die Madame einmal zu einer noch minderjährigen Bewerberin. Am Ende düsterer Gänge, hinter schweren Vorhängen und Zimmertüren, die in geschmackvoll ausgestattete Räume führen, sowie unter dem kristallinen Tönen der Champagner-Gläser, als „Gesang der Sirenen“ apostrophiert, erscheinen soziale Not und Krankheit zwar gedämpft; sie werden davon aber keineswegs verschluckt, sondern in oftmals neckischem Ton beim Ankleiden, Essen oder auch nur trägen Ruhen verhandelt. „Wir sind gestraft, weil wir es verdienen. Tripper wäre wie Urlaub“, sagt eines der Mädchen. Immer wieder legt sich ein dunkler Schatten auf die Anflüge von Heiterkeit und Spott. Aber Léa, Julie, Samira, Clotilde, Pauline und die anderen bilden auch eine verschworene Gemeinschaft und sind mit ihrer Schönheit, Frivolität und stolzer Eleganz wie „Feuerblumen“: „Wenn wir nicht brennen, wie soll die Nacht erhellt werden?“ Liebe und Trost und ein wenig Glück sind von ihnen zu haben, während Tod und Trauer immer vernehmlicher ihre Stimme erheben.

In ebenso kunstvollen wie erlesenen Bildern inhaliert Bonellos Ensemblefilm die Stimmung der Dekadenz, ohne ihr zu erliegen. Vielmehr konfrontiert er die visuelle Schönheit seiner Phantasien immer wieder mit historischen Realitäten, für die er zahlreiche Dokumente gefunden und teils auch eingearbeitet hat. Über verschiedene Drehbuchfassungen, wiederkehrende Motive in seinem Werk und die Arbeit im Schneideraum gibt ein der DVD beigegebenes Making-of Auskunft, das mit „Haus der Illusionen – Behind the Scenes“ betitelt ist und auch ein wenig von der genauen Planung und Regie des französischen Regisseurs (Jahrgang 1968) vermittelt, der hierzulande mit dem Film „Der Pornograph“ (2001) bekannt geworden ist. Allerdings wirkt der kurze Beitrag von David Ctiborsky und Éric Lorent, auch wenn er mit seinen großartigen Kapitelüberschriften anderes behauptet, nur mäßig geordnet und ziemlich überfrachtet. Und auch „Proben: Die Schauspielerinnen“, das zweite Filmhäppchen der Extras, ist wenig aussagekräftig. Es sieht aus wie der Mitschnitt eines Castings.

Der Pornograph

(F / CA 2001, Regie: Bertrand Bonello)

Refugien der Abgeschiedenheit
von Wolfgang Nierlin

Nicht versöhnt mit sich und ihren Daseinsgründen sind die Protagonisten in Bertrand Bonellos melancholischem Film „Der Pornograph“. Verschlossen, fast abweisend behaupten sie ihre schwankende Identität. Träge und verloren vollziehen sie …

Nicht versöhnt mit sich und ihren Daseinsgründen sind die Protagonisten in Bertrand Bonellos melancholischem Film „Der Pornograph“. Verschlossen, fast abweisend behaupten sie ihre schwankende Identität. Träge und verloren vollziehen sie Bewegungen, die aus der Gewissheit des Scheiterns zu resultieren scheinen und von einer existentialistischen Schwere grundiert sind. Eine wehmütige Abschiedsstimmung durchzieht die Bilder, deren Schönheit nüchtern und illusionslos ist. Im Aufbau von einer Mark Rothko-Ausstellung inspiriert, beschreibt der dreiteilige Film eine zeitliche und räumliche Bewegung, deren diskursive Schichtung in einer Reihe von Parallelmontagen und verschiedenen, übergangslos ineinandergreifenden fiktionalen Ebenen aufgelöst ist. Der als Musiker ausgebildete Bonello versetzt in seinem zweiten Langfilm sowohl die individuelle Lebensgeschichte seiner Figuren als auch ihren Lebensraum in eine dialektische Spannung, die trotz mancher Thesenhaftigkeit und einem leichten Hang zum – typisch französischen – Manierismus ein Gefühl der Vergeblichkeit zurücklässt. So sind die Anfänge von ihrem Ende überschattet, und im allmählichen Weggleiten werden die noch unbestimmten Energien eines neuerlichen Einschwingens spürbar.

Der unvergleichliche Jean-Pierre Léaud spielt den ehemals erfolgreichen Porno-Regisseur Jacques Laurent, der aus finanziellen Gründen gezwungen ist, wieder in sein altes Metier einzusteigen. Bald muss er jedoch erfahren, dass sich die Regeln verändert haben und sich von den alten Idealen unter den neuen Produktionsbedingungen kaum noch etwas retten lässt. Seine Suche nach Liebe und Schönheit, konzentriert in den wenigen, fast unmerklichen poetischen Augenblicken seiner Filme, wirkt wie der matte Glanz einer fernen Epoche. Naiv und wunderlich, theatralisch und würdevoll bewegt sich Laurent über das Set. Als Schlafwandler in einem verlorenen Traum ruht er gedankenschwer in sich selbst. Und doch ist sein Leben ein stetiger Prozess der Auflösung.

An diesem Punkt kommt es zu einer Wiederbegegnung mit seinem Sohn Joseph (Jérémie Rénier), der sich vor Jahren von ihm losgesagt hat. Joseph ist ein stiller junger Mann, der zärtlich und entschieden dabei ist, seinen politischen Aktivismus für ein ungewisses privates Glück zusammen mit seiner ebenso schweigsamen Freundin Monika (Alice Houri) aufzugeben. „Meine Zeit hat nichts zu feiern, und wir sind mitschuldig“, lautet sein Credo. Obwohl das Politische in Bonellos Film plakativ und parolenhaft gesetzt ist und mit dem Pathos einer verschworenen Jugend vorgetragen wird, ist doch auch in ihm die Trauer unwiederbringlicher Verluste und ein schmerzlicher Abgesang auf das Ende der Utopien gegenwärtig. In „Der Pornograph“ werden zögerlich Refugien des Privaten und der Abgeschiedenheit errichtet, um den Abschied von den Idealen und einen akuten Traditionsverlust in eine Form von innerer Stärke zu überführen. Immer wieder reflektiert Bonello auf der Bildebene deshalb das Verhältnis von Zivilisation und Natur, Stadt und Land. Noch in der Arbeit des Porno-Regisseurs, die Bonello mit derjenigen des Autorenfilmers identifiziert, wird diese latente Spannung übersetzt in den Konflikt zwischen Kunst und Kommerz, künstlerischer Identität und seelenlosem Profitdenken.

„Der Pornograph“ endet mit einem Zitat des italienischen Schriftstellers und Filmemachers Pier Paolo Pasolini: „Die Geschichte ist die Leidenschaft von Söhnen, die ihre Väter verstehen wollen.“ In der griechischen Tragödie, die für Pasolinis Geschichtsbegriff die Vorbilder lieferte, muss der Sohn die Schuld des Vaters auf sich nehmen. Bonellos Interpretation dieses Diktums zeigt in diesem nie endenden, elementaren Verhältnis einen Vater, der zum Sohn des eigenen Sohnes wird und wie dieser noch einmal neu anfängt.

In ihrem Haus

(F 2012, Regie: François Ozon)

Komplizierte Komplizenschaft
von Wolfgang Nierlin

Man spürt die Skepsis und ein unterdrücktes Unbehagen in Germains (Fabrice Luchini) Blick, als der Rektor des Lycée Gustave Flaubert zu Beginn des neuen Schuljahres dem versammelten Kollegium verkündet, dass …

Man spürt die Skepsis und ein unterdrücktes Unbehagen in Germains (Fabrice Luchini) Blick, als der Rektor des Lycée Gustave Flaubert zu Beginn des neuen Schuljahres dem versammelten Kollegium verkündet, dass an dem fortschrittlichen „Pilot-Gymnasium“ zukünftig Schuluniformen getragen werden sollen, um die „soziale Heterogenität“ der Schülerschaft nach außen abzumildern. Der stramm kulturkonservative Literatur-Lehrer mit der ernsten Miene hat nämlich etwas gegen „Gleichmacherei“ und moderne psychische Empfindlichkeiten. Der transparente, offene Charakter des Schulgebäudes und der darin propagierte antiautoritäre, von gegenseitigem Respekt getragene Geist scheinen dieser Abwehrhaltung diametral entgegengesetzt. „Barbaren bevölkern die Klassenzimmer“, schimpft Germain gegenüber seiner Frau Jeanne (Kristin Scott Thomas) nachdem er die Aufsätze seiner Zehntklässler gelesen hat. Und als Bettlektüre nimmt sich der kinderlose Pädagoge die französische Übersetzung („Malaise dans la civilisation“) von Sigmund Freuds „Das Unbehagen in der Kultur“ vor.

François Ozon unterlegt auf einem Splitscreen die Vorspanntitel seines neuen Films „In ihrem Haus“ („Dans la maison“), der nach einem Theaterstück des spanischen Autors Juan Mayorga entstand, mit den vielzähligen, sich einander schnell ablösenden Gesichtern der uniformierten Schülerinnen und Schüler. Der Zeitraffer macht aus ihnen eine Masse und spitzt das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft noch zu. Und just an dieser Stelle pickt sich Germain einen seiner Schüler heraus, um ihn in einer sich zunehmend komplizierenden Komplizenschaft zu fördern: Claude Garcia (Ernst Umhauer) ist ein begabter, aber sozial benachteiligter Schüler, der seinen Französischlehrer mit der Beschreibung eines Wochenendes überrascht, das der 16-Jährige im Haus seines Mitschülers Rapha (Bastien Ughetto) verbracht hat. Vor allem das regelrecht physische Eindringen in den „Familienleib“ der bürgerlichen Mittelschicht, das mit Claudes erotischem, auf Raphas attraktive Mutter Esther (Emmanuelle Seigner) gerichteten Begehren assoziiert ist, erregt Germains Aufmerksamkeit und literarische Lust.

Als Manipulator und Spiritus Rector befördert der Lehrer fortan die literarische Produktion seines Schützlings, begleitet kritisch und zugleich fasziniert die Fortsetzungen seines „Bildungsromans“ und treibt ihn dabei immer tiefer in die Intimität der Familie. Offensichtlich kompensiert Germain damit eigene literarische Defizite und private Frustrationen, die insgeheim auch sein Verhältnis zu seiner Frau widerspiegeln, die eine von ihm kritisch beäugte Galerie für moderne Kunst (Le Labyrinthe de Minotaure) betreibt. Germains Flucht vor dem eigenen Leben in die Phantasie seines Schülers, den er instrumentalisiert und literarisch ausbeutet, gewinnt dabei immer deutlicher selbstzerstörerische Züge. Und auch Claude dringt mit seinen Erlebnissen, Wünschen und Projektionen immer tiefer in den Körper der Ersatzfamilie ein.

François Ozon widmet sich auch in seinem aktuellen Werk der Erforschung familiärer Beziehungen, ihrer Störanfälligkeit und ihrem mythischen Gehalt. Überaus vielschichtig, ebenso künstlich wie kunstvoll vermischt der äußerst produktive französische Regisseur die unterschiedlichen Grade der Fiktion, wobei sich die erzählte Realität des Films und diejenige der literarischen Phantasie, von wechselnden Off-Erzählern zusammengeführt, einander immer mehr annähern, gewissermaßen ununterscheidbar werden. Die Bilder, ökonomisch organisiert und in einen Werkzusammenhang verweisend, folgen den Worten und transzendieren sie zugleich. Das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit, Erfindung und Realität wird dabei ebenso thematisiert wie die Funktion von Literatur und Kunst. Auch wenn man aus ihnen vielleicht nichts lernen könne, bildeten sie doch den Sinn für die Schönheit der Dinge aus, sagt Germain einmal: „Menschen brauchen gute Geschichten.“ Am Schluss, vor den erleuchteten Fenstern eines Wohnblocks, blicken Lehrer und Schüler gemeinsam auf die vielzähligen parallelen Leben und Dramen, die sich (in Anknüpfung an den Vorspann) vor ihnen zeigen und die die erzählerische Phantasie beflügeln.

Das Meer am Morgen

(D / F 2011, Regie: Volker Schlöndorff)

Auf das Gewissen hören
von Wolfgang Nierlin

Frankreich zur Zeit der deutschen Besatzung: Am 20. Oktober 1941 erschießen kommunistische Widerstandskämpfer in Nantes den deutschen Offizier Karl Hotz. Hitler fordert daraufhin als schnelle Vergeltung die Hinrichtung von 150 …

Frankreich zur Zeit der deutschen Besatzung: Am 20. Oktober 1941 erschießen kommunistische Widerstandskämpfer in Nantes den deutschen Offizier Karl Hotz. Hitler fordert daraufhin als schnelle Vergeltung die Hinrichtung von 150 Geiseln. Doch sein General Otto von Stülpnagel (André Jung) aus dem Hauptquartier im Pariser Hotel Majestic meldet Skrupel an: Er zweifelt gegenüber Hauptmann Ernst Jünger (Ulrich Matthes) nicht nur am Sinn einer solch willkürlichen Maßnahme, sondern rechnet als Folge auch mit einer unkalkulierbaren Eskalation der Gewaltspirale. In Berlin habe man „keinen Sinn für Geschichte.“ Zwar wird die Zahl der Todeskandidaten daraufhin reduziert; trotzdem sollen aus Internierungslagern in Nantes und Châteaubriant zunächst 50 politische Häftlinge zur unverzüglichen Exekution benannt werden. Unter ihnen befindet sich der erst 17-jährige Guy Môquet (Léo Paul Salmain), Sohn eines kommunistischen Pariser Abgeordneten, der wegen der Verteilung von antifaschistischen Flugblättern verhaftet wurde und heute in Frankreich (ähnlich den Geschwistern Scholl hierzulande) als Held des Widerstands verehrt wird.

In seinem neuen Film „Das Meer am Morgen“ („La mer à l’aube'), dem leider keine Kino-Auswertung beschieden ist (und der jetzt von Arte erstausgestrahlt wurde), verdichtet Volker Schlöndorff das tragische Geschehen zwischen Attentat und Hinrichtung auf drei Tage. Polizeiprotokolle, die Abschiedsbriefe der zum Tode Verurteilten, Pierre-Louis Basses Biographie über Guy Môquet („Une enfance fusillée“) sowie Ernst Jüngers wiederentdeckte Schrift „Zur Geiselfrage“, in der dieser die „Fälle und ihre Auswirkungen“ schildert, dienten Schlöndorff dabei als Quellen für seinen ebenso multiperspektivisch montierten wie analytisch erzählten Dokumentarspielfilm. Doch in Bezug zu den harten, unmenschlichen Tatsachen setzt er Geschichten von Individuen, von Menschen mit Gesichtern und Namen, die von der Zukunft träumen und sich verlieben. So entwickelt etwa Guy Môquet erste zarte Liebesbande zur Mitgefangenen Odette. „Unsere Zeit wird kommen“, sagt diese noch, kurz bevor ihr beider Glück unwiderruflich zerstört wird.

Schlöndorffs Film zeigt den schicksalhaften, von menschlicher Willkür und blindem Zufall unerbittlich zugespitzten Ablauf der Ereignisse als tragisches Geschehen. Egal wie man handle, man könne in dieser Situation nur das Falsche tun, sagt Otto von Stülpnagel einmal, während sich Jünger auf die Rolle des (literarischen) Beobachters und stolzen Soldaten zurückzieht. Trotzdem gibt der Film auch Einblick in eine Bürokratie von Befehlsempfängern, die der einbestellte Priester Moyon (Jean-Pierre Darrousin) gegenüber seinen Landsleuten kritisiert: Diese sollten nicht „Sklaven von Befehlen“ sein, sondern auf „ihr Gewissen hören“. Im psychischen Zusammenbruch des jungen deutschen Soldaten Heinrich (Jacob Matschenz), der gegen seinen Willen für das Hinrichtungskommando verpflichtet wird und den Schlöndorff einer Figur aus Heinrich Bölls Erzählung „Das Vermächtnis“ nachempfunden hat, ist ein Echo dieser menschlichen Forderung zu spüren. Doch sollte dies nicht als Entlastung von Schuld oder gar als Relativierung historischer Verantwortung gegenüber den Opfern missverstanden werden. Vielmehr ist Schlöndorffs Film neben der Darstellung eines für den antifaschistischen Widerstand in Frankreich bedeutsamen geschichtlichen Wendepunkts vor allem ein differenziertes Plädoyer für Humanität.

Dicke Mädchen

(D 2012, Regie: Axel Ranisch)

Plattenbau-Boléro
von Carsten Moll

Wer beim TV-Event a.k.a. Spielfilm-Imitat „Die Wanderhure“ etwas Durchhaltevermögen gezeigt hat, konnte auf halber Strecke zusammen mit einem Millionenpublikum vor den Fernsehapparaten einen kurzen, unspektakulären Auftritt von Heiko Pinkowski bewundern. …

Wer beim TV-Event a.k.a. Spielfilm-Imitat „Die Wanderhure“ etwas Durchhaltevermögen gezeigt hat, konnte auf halber Strecke zusammen mit einem Millionenpublikum vor den Fernsehapparaten einen kurzen, unspektakulären Auftritt von Heiko Pinkowski bewundern. Dass Pinkowskis Figur ein fieser Typ sein muss, ist dabei schon klar, bevor er sich an der mittelalterlichen Powerfrau Alexandra Neldel vergreifen darf. Denn in der Welt der Wanderhure sind die fiesen Typen wahlweise durch schlecht sitzende Frisuren oder – wie Pinkowski – durch einen erhöhten Körperfettanteil sichtbar als solche markiert, während sich die netten Kerle durch haarlose Sixpacks und multidimensional glänzendes Kopfhaar auszeichnen. Raum für Brüche, Mehrdeutigkeiten oder eigene Gedanken bleibt da kaum, die Kacke, die einem hier serviert wird (ästhetisch, ideologisch etc.), bekommt man auch noch vorgekaut.

Aktuell blickt Pinkowski zusammen mit seinem Kollegen Peter Trabner vom Filmplakat zu Axel Ranischs No-Budget-Film „Dicke Mädchen“, immer noch korpulent, aber im Gegensatz zum züchtigen Hurenfilm nicht mit nackter Haut geizend und auch nicht ganz hetero. Wo man über die Qualitäten des Filmtitels und das betont skurrile Plakat mit seinen zwei dicken Nackten und der von oben durchs Bild wirbelnden Oma noch streiten kann, da entpuppt sich der Film dazu zweifelsfrei als eine der unterhaltsamsten und interessantesten deutschen Produktionen der letzten Jahre.

Die Geschichte um Sven, der mit seiner dementen Mutter Edeltraut in einem Berliner Plattenbau wohnt und sich in deren Pfleger Daniel verliebt, fängt Regisseur, Ton- und Kameramann in Personalunion Axel Ranisch mit einer Mini-DV-Kamera ein. Dabei zeigt er sich an Situationen, die seinen Darstellern Raum zur Improvisation geben, interessierter als an einer konventionellen, vom Drehbuch diktierten Dramaturgie. So entsteht eine Reihe locker verknüpfter Episoden und Performances, die von überbordender Clownerei über einen betörenden Boléro im Wohnzimmer bis zur lakonischen Alltagsbeobachtung reichen. Auch ästhetisch ist „Dicke Mädchen“ eigenwillig: Von Anfang an stellt Ranisch dem unvermeidlichen Sozialdrama-Look seiner verwackelten Bilder von der farblosen Wohnung einen ironisierenden Soundtrack entgegen und auch der Vergleich mit einem Home-Video will nicht ganz aufgehen: Dafür sind viele Einstellungen bei allem Understatement und trotz der billigen Produktionsweise doch zu kunstvoll, der Schnitt zu gekonnt.

Spannend an „Dicke Mädchen“ ist aber vor allem, dass hier eine Menge Sachen, die man aus anderen Filmen oder auch Serien und der Werbung zur Genüge kennt, gar nicht oder anders gemacht werden. Das ist wohl am auffälligsten bei der Inszenierung des Dickseins: Ebenso weit entfernt von der vollkommenen Fiktionalität der Fatsuit-Fantasien wie vom anbiedernden Authentitzitätsversprechen einer Dove-Werbung, präsentiert Ranisch Körper von Gewicht, die immer mehr sind als ein visueller Gag oder bedeutungsschwanger herumgetragene Bäuche. Das Körperfett der Protagonisten (wie auch Krankheit und Tod) ist in „Dicke Mädchen“ nicht sonderlich sinnstiftend oder schales plot device, es ist einfach da, beim Tanz, beim Spiel, beim Kampf und erzählt ganz eigene Geschichten, die es zu entdecken gilt.

Überhaupt ist „Dicke Mädchen“ ein Film, der durch seine Offenheit zu Entdeckungen einlädt und das Aufbrechen von dem Runterbrechen auf Bedeutung vorzieht. Da weist Daniel beispielsweise einen Kuss von Sven in der Öffentlichkeit zurück, aber es bleibt offen, warum er das tut. Weil es ein schwuler Kuss ist? Weil Daniel Ehefrau und Sohn hat? Aus einem völlig anderen Grund? Der bisweilen etwas überstrapazierte Begriff des Queeren ist durchaus treffend, um das vieldeutige Spiel mit Identitäten, die sich in Ranischs Film immer wieder als flüchtig und provisorisch erweisen, zu beschreiben. Abseits vom manchmal monotonen radikalen Chic vieler als queer gelabelter Produktionen und deren Fixierung auf junge, schlanke Körper gelingt Ranisch mit „Dicke Mädchen“ nicht nur ein komplexer und eigensinniger Film, sondern auch ein Stück queeres Kino, das sich nicht in der Thematisierung von Homosexualität erschöpft und am Ende weit mehr zu bieten hat als dicke Mädchen.

[Interview mit Regisseur Axel Ranisch]
[Link zu einer weiteren Filmkritik]

More Than Honey

(CH / D / A 2011, Regie: Markus Imhoof)

Zivilisationstod
von Wolfgang Nierlin

Noch bevor die ersten Bilder zu sehen sind, hört man das Summen. Dann erfüllt emsiges Bienengewimmel, in aufwändigen Makroaufnahmen von der Kamera umkreist, die Leinwand. Die vielzähligen fleißigen Tierchen sind …

Noch bevor die ersten Bilder zu sehen sind, hört man das Summen. Dann erfüllt emsiges Bienengewimmel, in aufwändigen Makroaufnahmen von der Kamera umkreist, die Leinwand. Die vielzähligen fleißigen Tierchen sind gerade dabei, ihre neue Königin aus der Weiselzelle zu befreien, bevor diese zu ihrem Hochzeitsflug aufbricht. Bis zu 2000 Eier wird diese täglich legen, um den Nachwuchs zu sichern, erfahren wird dezent aus dem Off. Mit faszinierenden Bildern und sachlicher Informationsdichte führt Markus Imhoof die Zuschauer seines Dokumentarfilms „More than honey“ in das komplexe, für den Laien zunächst schwer zu überblickende Universum der Honigbiene. Viele beeindruckende Details über das Leben und die schier unglaubliche Arbeitsleistung dieser ebenso klugen wie komplizierten Insekten vermitteln dabei ungeahnte Einblicke: Etwa in Bezug auf ihr fein und sensibel justiertes Sozialsystem, die Bedeutung ihrer geheimnisvollen Schwänzeltänze, ihren extrem differenzierten Geruchssinn oder auch ihre gewichtige Rolle als Bestäuber bei der „natürlichen Herstellung“ von Nahrungsmitteln.

Gerade deshalb sind die zunehmenden Meldungen über ein mysteriöses Bienensterben, das in den letzten Jahren Schlagzeilen macht, so beunruhigend. Der renommierte Schweizer Filmemacher Markus Imhoof, der selbst aus einer traditionsreichen Imkerfamilie stammt und damit einen persönlichen Zugang hat, betreibt in seinem vielschichtigen Film eine globale Ursachenforschung. Dabei erzeugt er völlig unaufgeregt und unpolemisch nicht nur ein allgemeines Problembewusstsein, sondern er vermittelt durch die vielen Spuren, denen er rund um den Globus folgt, auch eine beängstigende Ahnung von der Größe und den Auswirkungen dieser Problematik. Seine Analyse beschreibt ein multifaktorielles Szenario. Das Sterben der Bienen hat nicht einen Grund, sondern viele, die eine todbringende Summe bilden: „Die Bienen sterben an der Zivilisation.“

„So klingt Geld“, kommentiert der Imker einer riesigen Mandelbaumplantage in Kalifornien das Summen der Bienen. 4000 Bienenstöcke sind hier aufgestellt, um die geschätzten 80 bis 90 Prozent der weltweiten Mandelproduktion zu sichern. Doch ohne den Einsatz von Pestiziden funktionieren solche überdimensionalen Monokulturen nicht. „Wir sind Kapitalisten, wir wollen Wachstum“, lauten die diesbezüglichen Herrschaftsphantasien des Farmers. Dann treten die in dieser Perspektive vermeintlich „toleranten“ Bienen, in riesige Sattelschlepper verfrachtet, ihre Reise quer durch die USA an, um im Wechsel der Jahreszeiten auf verschiedenen Obstplantagen ihren Dienst zu tun. Stress, Schädlingsbefall und oftmals auch der Tod ganzer Völker, vom Großimker als rätselhafter „Völkerkollaps“ bezeichnet, sind die schrecklichen Folgen, die wiederum den Einsatz von Antibiotika nach sich ziehen.

Seinen Großvater würde diese Form der Honigproduktion wohl erschüttern, sagt der amerikanische Imker. Im Kontrast dazu zeigt Imhoof immer wieder den Schweizer Bergimker Fred Jaggi, der sein Handwerk noch traditionell betreibt, in der Abgeschiedenheit der Schweizer Berge aber nicht verschont bleibt von den Folgen der Globalisierung. Es gehört zu den Stärken von Imhoofs Film, dass er immer wieder die Perspektive wechselt und so neue Facetten des Problems erschließt. Das fast schon apokalyptische Szenario in China, wo Arbeiter von Hand die Blüten bestäuben, gehört ebenso dazu wie der „Angriff der Killerbienen“, der paradoxerweise vom Überleben der Honigbiene zeugt und insofern vorsichtig hoffnungsvoll stimmt.

Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger

(USA 2012, Regie: Ang Lee)

Die Notwendigkeit des Eskapismus
von Louis Vazquez

Es ist eine Crux mit den Literaturverfilmungen. Die einen basieren auf Büchern, die viel zu viel Geschichte haben und rasen mut- und ideenlos durch die äußere Handlung. Die anderen basieren …

Es ist eine Crux mit den Literaturverfilmungen. Die einen basieren auf Büchern, die viel zu viel Geschichte haben und rasen mut- und ideenlos durch die äußere Handlung. Die anderen basieren auf Büchern, die gar keine Geschichte haben – Liebesratgebern etwa oder philosophischen Essays –, und müssen sich erst mühsam etwas zum Erzählen ausdenken. Aber was tut man nicht alles, um die vielen Bestsellerleser auch mal zu einem Kinobesuch zu bewegen und die Anhänger des einen bedrohten Mediums mit bewährten Titeln für das andere bedrohte Medium zu gewinnen. Und doch gibt es manchmal Literaturverfilmungen, die neugierig machen, weil die Vorlage sich einerseits für eine visuelle Interpretation geradezu aufdrängt, andererseits die Fallstricke mächtig sind.

Yann Martels Roman „Life of Pi“ erzählt eine ungewöhnliche, gar unglaubliche Abenteuergeschichte auf hoher See. Dass der deutsche Titel eine Pointe vorwegnimmt, die den unvorbereiteten Leser in etwa so schlagartig treffen dürfte wie die vergleichbar katastrophale Kehrtwende in John Irvings „The Hotel New Hampshire“, ist zwar schade, schmälert aber weder Buch- noch Filmgenuss, denn es geht eben um mehr als darum, sich auf hoher See in unerwarteter Gesellschaft gegen widrige Umstände zu bewähren …

„Life of Pi“ erzählt die Geschichte von Pi Patel (verkörpert von Laiendarsteller Suraj Sharma), die dieser in einer Rahmenhandlung als gealterter Mann (dann gespielt von Irrfan Khan) einem Autor (Rafe Spall) erzählt. Der Autor weiß noch nicht, was ihn erwartet, doch er verspricht sich von der angeblich ungewöhnlichen Lebensgeschichte des Fremden Inspiration. Im Roman gibt Yann Martell sich selbst als dieser Autor aus, mit einer deutlichen Verbeugung vor der Postmoderne und/oder Jorge Luis Borges. Die Ich-Erzählung Pis wird im Film wie üblich zur Voiceover, die zwar viel Information transportiert, aber zum Glück nie die visuelle Erzählung ersetzt oder entkräftet – wie sonst allzu oft bei „schwierigen“ Literaturverfilmungen.

„Life of Pi“ ist religiöse Parabel und phantastische Abenteuergeschichte gleichermaßen. Die Erzählung ist ornamental ausgeschmückt und über weite Strecken so unglaubwürdig, dass man sich an die mythendurchtränkte Autobiographie von Alejandro Jodorowsky oder die Lebensgeschichte eines Moersschen Blaubären erinnert fühlt. Pi(scine) Molitor Patel, nach einem Schwimmbad benannt und in seiner Kindheit aufgrund der phonetischen Ähnlichkeit zu „pissing“ permanent verhöhnt, wächst als Sohn eines Zoodirektors im indischen Pondicherry auf. Dafür, dass er allen Weltreligionen gleichermaßen zugehören will, erntet er Unverständnis. Seine Geschichte aber, so verspricht er, werde helfen, das Wesen Gottes zu verstehen.

Als die Familie mit ihrem Zoo nach Kanada auswandern will und sich samt der Tiere auf einen japanischen Frachter begeben hat, kommt es zum titelgebenden Unglück. Nur Pi, eine Hyäne, ein Orang-Utan und ein schwer verwundetes Zebra gelangen auf ein Rettungsboot. Und Richard Parker, der bengalische Tiger. Recht schnell sind nur noch Pi und der Tiger übrig und verbringen Monate alleine auf hoher See.

Die unglaubliche Geschichte wird von Ang Lee in ein Kino der Schauwerte überführt – spektakulär und wuchtig, voll mit beeindruckend realistischen CGI-Effekten und dennoch durch kräftige Farben überhöht und voller surrealer, pathetisch gesprochen: magischer Momente, in denen sich die Fabulierlust der Vorlage manifestiert. Zugegeben: Ungeduldige Zuschauer könnten so manches vorschnell für Kitsch halten. Doch um diesen Trugschluss aufzuklären, muss man sehr viel über den Film verraten, so dass sich halbwegs Interessierte das Weiterlesen an dieser Stelle schenken und lieber so bald wie möglich ins Kino eilen sollten. Denn wie das Buch hat der Film eine pointierte Struktur, die seiner Ästhetik erst im Rückblick einen Sinn verleiht.

„Life of Pi“ ist nicht einfach ein eskapistischer, womöglich sogar missionarischer Fantasy-Film, sondern ein Film über die Macht und die schiere Notwendigkeit eskapistischer Phantasien. Ganz zum Schluss konfrontiert er Pis bildgewaltige Geschichte mit einer trostlosen Realität – auf filmisch denkbar einfache und eben darum an dieser Stelle beeindruckende Weise. Da genügt ein erschütternder Monolog, der auf Rückblenden und somit Visualisierungen ganz verzichtet, um eine weitere Dimension des Erzählens zu offenbaren: Die wundersame Geschichte vom Jungen, der das Raubtier bändigte, verschleiert eine Wahrheit, deren Abbildung unerträglich wäre. Das mag man als banal abtun, doch wie vollumfänglich eine Erzählung scheitern kann, die echt und wahr und richtig tut, dabei aber mit fehlgeleitetem filmischen Realismus alles falsch macht, wird demnächst das Tsunami-Drama „The Impossible“ zeigen. Hier indes genügt es völlig, in einer statischen Einstellung mit Worten das bisher Gesehene zu revidieren, um zu erschüttern und fassungslos zu machen.

Auch die potentiell prätentiöse Religionsdebatte des Films findet unmittelbar im Anschluss ihre Auflösung in einer unspektakulären Pointe, die sich die Ringparabel zum Vorbild genommen hat und nach derart gewaltigem Anlauf so lapidar wirkt, dass auch Atheisten ihren Spaß haben können.

Ang Lee ist es mit einem Drehbuch von David Magee tatsächlich gelungen, einen schwer zu verfilmenden Roman zu großem Kino zu machen, das gleichsam überwältigend wie bescheiden wirkt und dabei einem klaren Konzept folgt, dem nicht nur am Spektakel gelegen ist. Dass der Film nebenbei das erstaunlichste 3D präsentiert, das bisher in einem Spielfilm zu sehen war – Goblins und Hobbits hin oder her –, ist nicht mehr als ein (äußerst angenehmer) Nebeneffekt.

Sinister

(USA 2012, Regie: Scott Derrickson)

Bis die Kraft erlahmt
von Michael Schleeh

„Sinister“ beginnt mit den grobpixeligen Bildern eines Super 8-Films. Vier Personen, Kapuzen über dem Kopf, stehen unter einem Baum, Schlingen um den Hals. Da bricht plötzlich ein schwerer Ast ab …

„Sinister“ beginnt mit den grobpixeligen Bildern eines Super 8-Films. Vier Personen, Kapuzen über dem Kopf, stehen unter einem Baum, Schlingen um den Hals. Da bricht plötzlich ein schwerer Ast ab und zieht sie mit der Kraft eines Flaschenzugs nach oben. Sie strampeln mit den Beinen, bis die Kraft erlahmt. Das Bild friert ein, unten rechts erscheint der Filmtitel im krakeliger Schrift.

Der eigentliche Plot beginnt allerdings ganz woanders: Ein Schriftsteller von true crime-Romanen, Ellison Oswalt (Ethan Hawke), versucht verzweifelt den einen, ersten großen Erfolg seines Buches Kentucky Blood zu wiederholen. Allein, es will ihm nicht gelingen. Doch nun scheint er einem Serienkiller auf der Spur zu sein. Mit seiner Frau (Juliet Rylance) und den beiden Kindern ziehen sie in ihr neues Heim, obwohl sie sich in ihrem letzten Zuhause gerade einzuleben begonnen hatten. Auch der neue Sheriff ist nicht begeistert – wegen seiner kritischen Darstellung der Polizeiarbeit gilt Oswalt als Nestbeschmutzer. Und etwas mehr Misstrauen wäre durchaus berechtigt, denn was Ellison seiner Familie verheimlicht, ist die Tatsache, dass sich im Garten des Anwesens eben jene Szene abspielte, die wir zu Beginn sahen. Die Ermordung der Familie des Vorbesitzers. Die jüngste Tochter zudem verschwunden. Dass Ellison, der ein Alkoholproblem zu haben scheint, in seinen Recherchen bis an die Grenzen der eigenen Belastbarkeit geht, ist eine Sorge der Ehefrau, die durchaus berechtigt ist. Und als er sich wieder verausgabt, wieder exzessiv zu trinken beginnt, nehmen die bösen Vorahnungen Gestalt an: Oswalt findet auf dem Dachboden eine mysteriöse Kiste mit alten Super8-Filmrollen, auf denen ausschließlich authentische Morde an Familien dokumentiert sind. Die Filme sieht er sich in nächtelangen Sitzungen wieder und wieder an, er beginnt zu recherchieren und verfällt in einen Wahn. Dann wird er beinahe von einem Skorpion gestochen und von einer Schlange gebissen, die urplötzlich auftauchen. Da beginnt Oswalt am Rad zu drehen und er stromert, wie Jack Nicholson in 'Shining', mit dem Baseballschläger bewaffnet durch das dunkle, nächtliche Haus, um sich auf die Jagd nach einem Phantom zu machen, das auf den Geisterbildern der Filme wie ein unheimlicher Kürbismann aussieht.

Der Gedanke, nun vielleicht doch nach einer neuen Bleibe zu suchen, kommt ihm nicht. Dass er die eigene Familie gefährdet, nimmt er für das Buch in Kauf. Was er nicht bedenkt, und was in der Verlängerung auch den Zuschauer irritiert, ist, dass sich zunehmend übernatürliche Elemente bemerkbar machen – in einem Film, der auf authentischen true crime-Thrill ausgerichtet ist. Und mit zunehmender Gefahr für die Protagonisten von allen Seiten wird „Sinister“ bald eine unvorhersehbare Melange aus unterschiedlichen Motiven des Horrorfilms, die alle zusammen und in ihrer Anhäufung nicht nur nerven, sondern auch für sich selbst mehr als abgeschmackt sind. Schreckmomente mit rumsender Tonspur tun ein Übriges, um den Zuschauer ob der billigen Tricks zu verärgern.

Es ist der Darstellung der Schauspieler anzurechnen, dass man dabei bleibt und am Ende einem unvermeidlichen, dabei gar nicht so doofen Twist beiwohnen darf. Obwohl (oder vielleicht eher weil) dieser völlig hanebüchen ist, gelingt es, die offenen Fäden zusammenzuführen und dabei auf ein allzu erwartbares, hollywoodkonformes Ende zu verzichten. Man hätte rechtzeitig die Filmspule mit dem alternativen Ende anschauen sollen, dann wäre das Desaster gar nicht erst passiert! Dass Derrickson, der schon den banalen Totalschaden „Der Exorzismus der Emily Rose“ (2006) und das völlig unnötige Klassiker-Remake „Der Tag, an dem die Erde still stand“ (2008) zu verantworten hat, eine Meta-Gag auf die bonusmaterialversessene DVD-Generation abliefern wollte, darf allerdings bezweifelt werden. So ist „Sinister“ nicht viel mehr als ein zwar überflüssiger, aber immerhin noch anschaubarer, dabei ziemlich durchschnittlicher Time-Waster für die Spätvorstellungsnerds.

Apparition – Dunkle Erscheinung

(USA 2011, Regie: Todd Lincoln)

Ghost in the Harddrive
von Michael Schleeh

Beim Einzug in das neue Heim hoffen Kelly (Ashley Greene) und ihr Freund Ben (Sebastian Stan) die Geister der Vergangenheit abschütteln zu können. Denn seit Ben in Collegetagen mit seinen …

Beim Einzug in das neue Heim hoffen Kelly (Ashley Greene) und ihr Freund Ben (Sebastian Stan) die Geister der Vergangenheit abschütteln zu können. Denn seit Ben in Collegetagen mit seinen Kommilitonen ein übersinnliches Experiment zur Erweckung eines Toten mit Hilfe modernster technischer Gerätschaften durchführte, kommen die ehemaligen Geisterbeschwörer nicht mehr zur Ruhe. Das neue Haus soll also einen unbelasteten Start ermöglichen – doch Kelly hat nicht daran gedacht, dass der Geist nicht der eines Gebäudes ist, sondern sich in den digitalen Weiten derjenigen Medienträger befindet, die damals beim Experiment Verwendung fanden. Und nach nur wenigen Tagen scheinen sich bereits wieder beunruhigende Ereignisse zu häufen. Um dem Übel auf die Spur zu kommen, schließt Kelly Bens alte Festplatte an, auf der sich eben dasjenige Videomaterial befindet, das die damalige Beschwörung dokumentiert …

Kellys Erwartungen auf einen Neuanfang werden also enttäuscht. „This house has no history“, sagt sie noch voller Zuversicht am Anfang des Films, ein markanter Satz, der auf die Spur des Missverständnisses führt. Denn das von ihr abgespielte Filmmaterial, ein sprichwörtliches found footage also, bereits schwerstbelegt mit Patina, aber immer noch ein virulentes Motiv im zeitgenössischen Horrorkino, dieses Material macht Kelly deutlich, worauf sie sich da eingelassen hat. Und was sie bis dahin nicht wusste; etwa dass damals sogar Bens Ex-Freundin Lydia verschwand, die von „der Erscheinung“ durch die Wand ins Jenseits gezogen wurde. Hier wird ihr das Ausmaß der Gefahr, in der sie schweben, zum ersten Mal klar. Es verdeutlicht aber auch, wie viel ihr der Freund eigentlich verheimlicht, und was von seinen beschwichtigenden Worten zu halten ist.

„It’s gonna be okay“ – diese Standardfloskel wird Kelly öfter hören in diesen Tagen, und sie tut gut daran, ihr nicht zu vertrauen. Leider ist die Floskel signifikant für den ganzen Film, der beinah ausschließlich aus uninspirierten Versatzstücken des Horrorfilmgenres zusammengesetzt scheint. Und so wird natürlich erst mal abgewartet, ob sich die Lage nicht vielleicht von selbst bessert. Tut sie freilich nicht. Warum sollte sie? Es wird unter dem Haus herumgekrochen, der Nachbarhund stirbt unter mysteriösen Umständen, das Licht fällt aus, der Security-Service kommt vorbei und findet nichts, die Überwachungskameras sind plötzlich beschädigt, alle Türen stehen offen, obwohl eben noch abgeschlossen wurde, und Kelly muss höchstbedrohliche Situationen in Unterwäsche überstehen. Nun, das alles macht den Film nicht gerade interessanter. Auch die Frau, die wie eine verschimmelte Sadako aus „Ringu“ (Hideo Nakata, 1998) anmutet und analog zu dieser, die aus dem Fernseher kommt, hier aus der Waschmaschine kriecht, tut das nicht; oder die üblichen Hände, die wie aus dem Nichts von hinten die Protagonistin umschlingen, die folglich um Atem ringen muss. Hände, die es dann sogar auf das Filmplakat geschafft haben.

Gleichwohl scheinen einige Momente durchaus positiv erwähnenswert: da wäre die Location. Das Haus des Paares steht in einem Vorort, einem Neubaugebiet weit vor der Stadt, das, auf einer Anhöhe gelegen, einen weiten, bildmächtigen Blick auf eine wüstenähnliche Landschaft bietet, und das von den gewaltigen Strommasten, die auf den Hügeln stehen, dominiert wird. Die Einflussnahme der Elektrizität findet hier eine schöne bildliche Entsprechung, die man auch formal hätte vertiefen können. Oder das menschenleer und still wirkende Neubaugebiet, in dem man, außer dem einen Nachbarn mit Tochter, deren Hund dran glauben muss, straßenzügeweit niemanden sieht. Keine Kinder spielen, keiner grillt, kein Auto steht auf den monströsen Garageneinfahrten. Dieser stille Horror wäre ein Möglichkeit gewesen, dem Film interessante Aspekte hinzuzufügen. Stattdessen: Offensichtlichkeiten nach Schablone.

Und fatalerweise gelingen nicht einmal die billigsten jump-scares. Da man beim Schnitt auf eine jugendfreie Fassung geschielt zu haben scheint, und dabei alles, was irgendwie an Grenzen stößt, bewusst vermieden hat, ist „Apparition“ ein furchtbar zahmer Film geworden, der sich trotz der kurzen Laufzeit von gerade mal 80 Minuten ellenlang anfühlt. Aber auch die psychologischen Aspekte des Horrors, die sich gegenständlich durch die Schimmelflecken im Haus manifestieren, werden lediglich angerissen, nie wirklich schlüssig ausformuliert oder gewinnbringend eingesetzt. So mäandert auch der Film – wie das Haus in ihm – in seinem unausgegorenen Plotverlauf durch verschiedene Stadien der Verwahrlosung. Die Synapsen des Zuschauers jedenfalls werden von „Apparition – Dunkle Erscheinung“ alles andere als elektrisiert.

Winterdieb

(CH / F 2012, Regie: Ursula Meier)

Zahlungsmittel Geld
von Wolfgang Nierlin

Der 12-jährige Simon (Kacey Mottet Klein) ist ständig in Bewegung. In einem westschweizer Wintersportort ist er der kleine Dieb. Als Ski-Tourist unauffällig getarnt, bestiehlt er die reichen Gäste aus dem …

Der 12-jährige Simon (Kacey Mottet Klein) ist ständig in Bewegung. In einem westschweizer Wintersportort ist er der kleine Dieb. Als Ski-Tourist unauffällig getarnt, bestiehlt er die reichen Gäste aus dem Ausland. Zielstrebig, selbstbewusst, ja fast unbekümmert klaut er, was ihm in die Hände kommt und beweist dabei doch auch Markenkenntnisse. Simon wirkt routiniert, effektiv und sehr rationell. Er sagt, er sei gut organisiert. Seine Diebstähle, die sein Tagewerk bilden, ähneln fast schon dem Einsammeln von Wertgegenständen, die Simon zunächst deponiert, später dann verkauft. Er ist darin geschickt und klug. Als Arbeiter und Geldbeschaffer, der mit seinen illegalen Geschäften seinen Lebensunterhalt verdient und dabei Verantwortung übernimmt, wirkt er wie ein Erwachsener. Und doch ist Simon, bewehrt mit dem Zahlungsmittel Geld, vor allem ein Kind, das sich nach Liebe sehnt. Manchmal, wenn er alle Vorsicht fallen lässt, wird er in die Enge getrieben. Dann hilft nur noch Schreien.

In Ursula Meiers neuem, beeindruckenden Film „Winterdieb“ („L’enfant d’en haut') ist Simon als ebenso trickreicher wie erfahrener „Umverteiler“ ein Mittler zwischen den Welten. Wenn er schwerbepackt und zugleich entspannt mit der Seilbahn vom sonnigen, schneebedeckten Berg ins unwirtliche, ziemlich trostlose Tal hinabgleitet, markiert das auch ein soziales Gefälle. Ursula Meier inszeniert diese parallelen Welten mit nüchternem, spannungsreichem Zeigegestus als ebenso natürliche wie verstörende Kontraste, deren Widersprüche sich in den verzerrten Gitarrenklängen von John Parish verdichten. Dabei schmuggelt sie in die festgefügte Welt und Filmordnung immer wieder Wendungen, die für eine Verschiebung der sozialen Koordinaten und ihrer Rezeption sorgen.

So ist Simon eigentlich ein unerwünschtes Kind, das zusammen mit Louise (Léa Seydoux) in einem Hochhaus lebt, das vereinzelt und wie verloren in der Landschaft steht. Louise ist eine wütende junge Frau, die sich mit „Dreckjobs“ durchschlägt, dann wieder arbeitslos ist und in wechselnden Männerbekanntschaften nach Halt und Sicherheit sucht. Simon sagt von ihr, die sich immer wieder fallen lässt, sie sei seine ältere Schwester. Manchmal gibt es zwischen ihnen einen vertrauten, geschwisterlichen Einklang und eine gegenseitige Sorge, dann wiederum bestimmen Simons Eifersucht, Verlustangst und das Bedürfnis nach (mütterlicher) Geborgenheit ihr Verhältnis; und dafür scheint vor allem das Mittel Geld recht. Einmal sagt Louise: „Ich will dir nichts schulden, Simon.“ Man sieht und spürt, dass dieser zunächst unverdächtige Satz für den Jungen einen geradezu brutalen Nachklang hat. In einer sehr speziellen Ordnungslosigkeit zwischen Weite und Enge, oben und unten bewegen sich die beiden in entgegengesetzter Richtung aufeinander zu.

Home

(CH / F / B 2009, Regie: Ursula Meier)

Im Familiengefängnis
von Wolfgang Nierlin

Die Stimmung ist ausgelassen, die Familie wirkt irgendwie anarchisch, ihr Haushalt konfus und chaotisch. Wenn die fünfköpfige Schicksalsgemeinschaft nachts auf dem stillgelegten Autobahnteilstück vor ihrem Haus Rollschuh-Hockey spielt, erscheint das, …

Die Stimmung ist ausgelassen, die Familie wirkt irgendwie anarchisch, ihr Haushalt konfus und chaotisch. Wenn die fünfköpfige Schicksalsgemeinschaft nachts auf dem stillgelegten Autobahnteilstück vor ihrem Haus Rollschuh-Hockey spielt, erscheint das, gemessen an den Umständen, zugleich natürlich und bizarr. Das fröhliche Gefühl der Freiheit, zugespitzt beim anschließenden ungezwungenen Toben im Badezimmer, das wegen seiner großen Intimität ein Hauptschauplatz des Films ist, grenzt an eine tiefe Verlorenheit. Diese liegt wie eine dunkle, beunruhigende Ahnung von Anfang an über Ursula Meiers hervorragendem Kinodebüt „Home“. Das abgelegene, unfertige und teils vermüllte Anwesen im Niemandsland, dem englischen Titel gemäß zugleich Wohnstatt und Heimat, hat den Zusammenhalt ganz selbstverständlich gestärkt und ist doch keine Insel der Seligen. Vielmehr geht der Druck trotz ausgeflippter Hemmungslosigkeit immer stärker nach innen, und zwar proportional zur Beschneidung des Außenraums.

Die 1971 in Besançon geborene westschweizer Regisseurin hat in diesem Zusammenhang von einer Art umgekehrtem Roadmovie gesprochen. Ihr zwischen Burleske und Drama angesiedelter Film sei eine „Expedition ohne Ortswechsel“ und eine „Reise ins mentale Innere“. Denn als nach jahrelanger Verzögerung die Autobahn schließlich doch noch eröffnet wird, verwandelt sich die ohnehin prekäre Familienidylle allmählich in einen Alptraum aus Lärm, Gestank und Dreck. Dabei interessiert sich Ursula Meier weniger für die soziale als vielmehr für die existentielle Dimension ihrer schwarzhumorigen Parabel. Immer beunruhigender wird die beklemmende Klaustrophobie, in der sich die Familie mit dem Beginn der Sommerferien ganz selbstverständlich einrichtet und die schließlich in einer totalen Isolation mündet. Das Zuhause verwandelt sich durch die absurde Anpassungsleistung seiner Bewohner in ein Gefängnis, in dem subjektiver Wahnsinn und häuslicher Terror allmählich die Oberhand gewinnen.

Love is all you need

(DK / S / I / F / D 2012, Regie: Susanne Bier)

Aufschäumende Familienwogen
von Wolfgang Nierlin

Sorrent und die Amalfi-Küste in Süditalien bilden die pittoreske Traumkulisse für den Hauptteil von Susanne Biers als Komödie ausgewiesenen Film “Love is all you need”. Und natürlich ist das Cinemascope-Format …

Sorrent und die Amalfi-Küste in Süditalien bilden die pittoreske Traumkulisse für den Hauptteil von Susanne Biers als Komödie ausgewiesenen Film “Love is all you need”. Und natürlich ist das Cinemascope-Format das Mittel der Wahl, um die wechselnden Stimmungen dieses schönen Schauplatzes ins effektvoll fotografierte Postkartenidyll zu setzen. Während die Vorspanntitel sich aus Sternenstaub zusammensetzen, die alten Fischer im Hafen ihre Netze inspizieren, das Meer wogt und fleißige Bienen Zitronenblüten bestäuben, singt Dean Martin „That’s Amore“. Und um das Klischee perfekt zu machen, dürfen Astrid (Molly Blixt Egelind) und Patrick (Sebastian Jessen), die jungen Verlobten des Films, hier in einem alten, sich in Familienbesitz befindlichen Palazzo heiraten. „Ich finde es wahnsinnig romantisch hier“, sagt sie angesichts seiner Skepsis. Das ist fast schon kitschig, deutet aber an, dass die Konflikte vorprogrammiert sind.

Eigentlich haben die dänische Regisseurin Susanne Bier und ihr Drehbuchautor Anders Thomas Jensen gar keine richtige oder nur eine halbe Komödie gedreht, was vielleicht die etwas fade, irgendwie unentschlossene und ziemlich altmodische Tonlage des Films erklärt, der weder verärgert noch begeistert. Sein Witz ist eher von der biederen, abgestandenen Art; die unbeholfenen Geständnisse und teils brutalen Bekenntnisse aber haben es durchaus in sich. Sie schreiben im Grunde Themen und Motive früherer Dogma-Filme fort und verleihen Biers Komödie eine gewisse Nachdenklichkeit. So bildet auch hier eine mehrtägige Familienfeier den Rahmen für schwelende Konflikte und unbequeme Wahrheiten, deren unmissverständliche Bekanntgabe ausgerechnet bei einer Hochzeit dazu führt, dass die labile und gewöhnlich verlogene Familienordnung kräftig durcheinandergewirbelt wird.

Im Zentrum dieser Erschütterungen stehen Braut-Mutter Ida (Trine Dyrholm) und Bräutigam-Vater Philip (Pierce Brosnan). Während die Friseurin aus Kopenhagen, wo die Welt grau und aus Beton ist, sich gerade von einer Krebserkrankung erholt (Der Originaltitel „Die kahle Friseurin“ spielt darauf an), hat sich der erfolgreiche Geschäftsmann und umworbene Witwer Philip in einer bequemen Distanz zur Welt eingerichtet. Als die beiden ungleichen Protagonisten regelrecht zusammenstoßen – nämlich in ihren Autos – und daraufhin mit steifer Höflichkeit alberne Missgeschicke und eine peinliche Begriffsstutzigkeit parieren, spricht zunächst wenig dafür, dass sich die beiden kriegen. Doch das liegt in der Natur der Komödiendramaturgie und ändert sich alsbald unter der südlichen Sonne. Zuvor müssen sich jedoch erst einmal die aufschäumenden Familienwogen glätten, denn der Bräutigam ist schwul, Idas Ehemann geht fremd und Philips Schwägerin Benedikte (Paprika Steen) nervt diesen mit penetranter Aufdringlichkeit. Das alles geht nicht ohne Enttäuschungen, Verletzungen und Demütigungen ab. Doch weil „Love is all you need“ eine Komödie sein soll, löst sich fast alles Schmerzhafte und Schwere in lieblichem Zitronenduft auf.

Keep the Lights On

(USA 2012, Regie: Ira Sachs)

Blinde Flecken
von Carsten Moll

Seit Ben Walters in einem Artikel für den „Guardian“ das „New-Wave Queer Cinema“ ausgerufen hat, gibt es kein Halten mehr: Eine Handvoll Filme und ihre Macher_innen wurden auserkoren, das alte …

Seit Ben Walters in einem Artikel für den „Guardian“ das „New-Wave Queer Cinema“ ausgerufen hat, gibt es kein Halten mehr: Eine Handvoll Filme und ihre Macher_innen wurden auserkoren, das alte Label „Queer Cinema“ wiederzubeleben und schaffen es dabei sogar in Mainstreammedien, wie dem Spiegel, für euphorische Rezensionen zu sorgen. Unter diesen Vorzeichen veröffentlicht nun die Edition Salzgeber im Rahmen einer neuen und naheliegend „New Wave Queer Cinema“ betitelten Reihe Ira Sachs‘ „Keep the Lights On“ auf DVD. Sachs gilt neben Andrew Haigh und Travis Mathew als Speerspitze dieser neuen Welle und ist wohl einer der Namen, auf den sich die meisten Kritiker_innen einigen können, wenn es um zeitgenössisches nicht-heterosexuelles Kino geht.

Das neue queere Kino soll eines sein, das Geschichten abseits von Coming-Out, AIDS und politischem Aktionismus erzählt, postemanzipatorisch und persönlich, dabei formal offen und unkonventionell. Und tatsächlich trifft das „Keep the Lights On“ ganz gut: Sachs zeigt uns Momentaufnahmen einer sich über ein Jahrzehnt erstreckenden Beziehung zwischen dem Künstler Erik und dem New Yorker Anwalt Paul. Dass diese Beziehung nicht in trauter Zweisamkeit (aber alles andere als in einer Katastrophe) endet, liegt nur bedingt an Pauls Cracksucht, die die Partnerschaft der beiden Männer immer wieder auf eine harte Probe stellt. Die Dramaturgie des Suchtdramas unterläuft Sachs in seinem Spielfilm. Wer einen geschmackvoll bebilderten Höllentrip erwartet, wird enttäuscht. Pauls Drogenproblem äußert sich vor allem durch seine Abwesenheit, wenn er etwa einen Entzug macht oder tagelang einfach verschwindet. Leerstellen, Sprünge und Abschweifungen prägen den Handlungsverlauf, an dessen Rand ganz eigene, unerzählte Geschichten abzulaufen scheinen. Dem Krisentreffen Eriks und seiner Freunde, die beraten, wie sie angesichts des verschollenen Paul handeln sollen, wird die für die Handlung irrelevante Verspätung einer Freundin zum besagten Treffen entgegengesetzt; dem Melodrama kommen so immer wieder Banalitäten in die Quere, die mit genauem Blick inszeniert sind und dafür sorgen, dass die Zuschauer_innen nicht in einen emotionalen Würgegriff geraten.

Der Fokus des Films aber liegt nicht auf Paul, sondern eindeutig auf dem von Thure Lindhardt gespielten Erik. Der stellt, wenn man so will, ein Alter Ego Ira Sachs‘ dar, der im Film auch auf eigene Erfahrungen im Kampf um einen suchtkranken Liebhaber zurückgreift. Dass es hierbei nicht zu einer Nabelschau kommt, liegt an der Distanz, die bei aller Intimität immer bestehen bleibt, und der besonderen Perspektive, der sich André Wendler in seinem Text zum Film in der Sissy detailreich gewidmet hat. „Keep the Lights On“ mag autobiografisch gefärbt sein, aber Sachs verlässt sich nicht auf das Label „Beruht auf einer wahren Geschichte“ oder zu kurz gedachten Vorstellungen von Authentizität, die so manchem Film schon als Qualitätsmerkmal dienen sollen. Stattdessen schafft Sachs eine komplexe Struktur aus Fiktion und Dokumentation, autobiografischen Details und ironischen Brüchen, die wie Spiegelscherben einander reflektieren. Der Ton des Films ist offen für Feinheiten und Schwingungen, sicherlich nicht humorlos, dabei aber stets von verhaltener Nostalgie, evoziert durch die ausgeblichenen Bilder und den grandiosen Soundtrack, der durchgängig aus Stücken und Songs von Arthur Russell besteht.

Trotz einiger Längen ein schlauer, schöner, guter Film also. Sicherlich auch ein queerer. Und man kann es einem einzelnen Film oder seinem Macher nicht zum Vorwurf machen, dass die noch vage Idee vom „New-Wave Queer Cinema“, wie Walters sie hat, bis dato wenig überzeugt und auf wackligen Beinen steht. Auffallend bleibt allerdings, dass die bisher zur Diskussion stehenden Vertreter des neuen queeren Kinos überwiegend weiße Schwule sind, die von Zweierbeziehungen und dem Sexualleben einer schwulen weißen Mittelschicht erzählen. Der bisweilen miterwähnte „Pariah“ von Dee Rees mit einer butchen Woman of Color als Protagonistin wirkt da fast schon etwas alibimäßig. Vor diesem Hintergrund entpuppt sich die viel beschworene Universalität, die Sachs‘ oder auch Haighs Werk auszeichnen soll und von der neben Walters beispielsweise auch Daniel Sander im Spiegel schreibt, eher als Egozentrik eines im Mainstream aufgegangenen Schwulseins. Diesen schwulen Geschichten soll keineswegs die Relevanz oder gar Queerness abgesprochen werden, aber damit das Label „New-Wave Queer Cinema“ in Zukunft Bestand hat, liegt es an Filmemacher_innen, Verleihen, Festivaljurys und Kritiker_innen, die Idee von Queerness mit Leben zu füllen und dabei auch nicht-heterosexuelles Leben abseits vom Schwulen zu berücksichtigen. Das heißt, nicht nur dafür zu sorgen, dass die Kinolichter weiter flimmern und homosexuelle Gesichten sichtbar zu machen, sondern sich auch der blinden Flecke bewusst zu werden, die dabei bleiben.

Puppe, Icke & der Dicke

(D 2011, Regie: Felix Stienz)

Mizaru, Kikazaru, Iwazaru
von Louis Vazquez

Ein kleinwüchsiger, aber großmäuliger Kurierfahrer aus Berlin, eine schwangere Blinde aus Paris und ein schweigender, dicker Trinker, ebenfalls von dort und zufällig mit der Blinden bekannt, geraten noch zufälliger gemeinsam …

Ein kleinwüchsiger, aber großmäuliger Kurierfahrer aus Berlin, eine schwangere Blinde aus Paris und ein schweigender, dicker Trinker, ebenfalls von dort und zufällig mit der Blinden bekannt, geraten noch zufälliger gemeinsam auf den Weg nach Berlin. Kurierfahrer Bomber (Tobi B) hat gerade seinen Job verloren. Mit einer Plastik-Armbanduhr als Zeichen der Dankbarkeit bzw. Gleichgültigkeit wurde er auf seine allerletzte Tour geschickt, die ihn eigentlich nach Warschau hätte führen sollen. Bomber indes fuhr lieber nach Paris, um dort mit zwielichtigen Partnern ein für sich günstigeres Geschäft abzuschließen – und scheiterte grandios. Der dicke Bruno (Matthias Scheuring) springt trotz Verständigungsschwierigkeiten als Retter in der Not ein, bietet Bomber einen Schlafplatz und schließt sich ihm auf der Heimreise an, denn er hätte in Berlin noch etwas zu erledigen. So auch die blinde Europe (Stephanie Capetanides): Sie ist schwanger nach einem One-Night-Stand mit einem Typen aus Berlin, der bei der Müllabfuhr arbeiten soll. Immerhin weiß sie den Vornamen und hat ein Foto …

„Puppe, Icke & der Dicke“, das Spielfilmdebüt von Felix Stienz, ist zum Glück längst nicht so plakativ wie der unglücklich gewählte Filmtitel, der an schlimmste deutsche Mainstream-Komikversuche denken lässt, sondern ein auf unkonventionelle Weise nostalgisches und offenbar ziemlich skandinavisch geprägtes Roadmovie. Oft wirkt der Film, als hätte ihn Aki Kaurismäki schon in den frühen 1990er Jahren gedreht – abgesehen vielleicht von den knalligen Farben. Stets werden die eigentümlichen, aber nicht allzu traurigen Gestalten so in der Umgebung angeordnet, dass man sich lästige Schuss-Gegenschuss-Aufnahmen erspart und in besonders gelungenen Momenten sogar an die Tableaus eines Roy Andersson erinnert. Dazu wird punkig musiziert, wobei ab und an der Einfluss von – natürlich – finnischer Polka zu erkennen ist. Dass die Musiker bisweilen ins Bild spazieren und die Ereignisse immer wieder ins Groteske bis Surreale kippen, etwa bei einer völlig irrsinnigen Verwechslungsepisode, macht den Spaß noch größer. Der Film beschwört allen Ernstes sogar noch einmal den Mythos von Berlin als Stadt der schrägen Kreativen und Sehnsuchtsort der Individualisten, was ganz fürchterlich hätte werden können. Doch durch den skurrilen Stil, die liebevoll gestalteten Figuren und die immer wieder die Grenze zum Absurden mindestens touchierenden Situationen wird selbst dieses Berlin-Bild äußerst bekömmlich, weil es dann doch zu abseitig ist, um in irgend einer Weise als hip gelten zu können.

Eindeutige Happy-Ends sind zum Glück nicht vorgesehen, und selbst eine Titelfigur kann mal eben ohne viel Aufheben komplett aus der Geschichte flutschen. „Puppe, Icke und der Dicke“ bleibt verhuscht und spröde, ist aber gerade deshalb liebenswert. Ein paar Szenenwechsel machen es nicht unbedingt leicht, die räumliche Übersicht zu wahren – aber das geht den Protagonisten ja nicht anders und mag sogar Absicht sein. Beim Max-Ophüls-Festival gab es jedenfalls den Publikumspreis für diese durch und durch gelungene Loser-Komödie mit glaubhaftem Indie-Flair und herrlich räudigem Soundtrack.

„Wir sind wie die drei Affen“, sagt der selbstbewusste Bomber einmal mit Blick auf sich und seine Begleiter, ein wenig fassungslos angesichts dieser Erkenntnis. „Mizaru, Kikazaru und Iwazaru“, entgegnet Europe. Sie kennt sich nämlich aus und weiß, dass die vielfach zu Unrecht geschmähten Affen eigentlich Helden sind.

Fraktus

(D 2012, Regie: Lars Jessen)

Guter Witz von alten Hasen
von Andreas Busche

Die „Retromania“ ist schon lange zu einem Witz verkommen. Während My Bloody Valentine wieder mit ihrem Klassiker „Loveless“ auf Tour gehen, Kevin Shield es in zwanzig Jahren aber nicht schafft, …

Die „Retromania“ ist schon lange zu einem Witz verkommen. Während My Bloody Valentine wieder mit ihrem Klassiker „Loveless“ auf Tour gehen, Kevin Shield es in zwanzig Jahren aber nicht schafft, mit seiner Band ein neues Album aufzunehmen, gaben kürzlich die Hannoveraner Kraut/Jazzrock-Veteranen Eloy ihre Reunion bekannt. Inzwischen scheint jeder noch mal an den Futternapf zu dürfen; Nostalgie ist eine hochgradig regressive Befindlichkeit. An einen schlechten Witz muss im Juli 2007 auch das Publikum auf dem Melt! Open Air gedacht haben, als in den frühen Morgenstunden drei trostlose Gestalten in albernen Outfits die Bühne betraten und sich zu uninspirierten Technobeats zum Affen machten. Der Auftritt dauerte nur wenige Minuten, dann hatten die Fans des Headliners Deichkind die drei Typen wieder von der Bühne verscheucht. Das Comeback der deutschen „Techno-Pioniere“ Fraktus schien gescheitert, bevor es richtig begonnen hatte. Manche Problem lösen sich wie von selbst.

Fünf Jahre später sind Fraktus doch noch einmal zurück. Im November spielen sie einige Konzerte in Originalbesetzung (Mastermind Dickie Schubert, Klangtüftler Bernd Wand und Produzent Torsten Bage), gleichzeitig kommt eine Dokumentation in die Kinos, die vom Aufstieg und Fall der Kultband erzählt. Untertitel: „Das letzte Kapitel der Musikgeschichte“. Und alle, die im Film zu Wort kommen (Westbam, Trio-Sänger Stefan Remmler, H.P. Baxxter, Jan Delay, Blixa Bargeld), sind sich einig: Fraktus haben Anfang der Achtziger mit ihrem Sound, ihren für die damalige Zeit bahnbrechenen Klangexperimenten und ihrer radikalen Ästhetik elektronische Musik aus Deutschland revolutioniert. Fraktus waren Techno, Punk und Avantgarde zugleich. Man höre nur die essentialistische Poesie ihrer düsteren Gesellschaftskritik „Affe sucht Liebe“ vom Debütalbum „7353=057“. (2012 auch im Remix von Alex „U-96“ Christensen)

Aber Fraktus lösten sich auf, bevor die Band die Früchte ihrer wegweisenden Arbeit ernten konnte. Interne Streitigkeiten über die künstlerische Richtung der Band führten zum Zerwürfnis. Ihr letztes gemeinsames Konzert im November 1983 endet in einer Katastrophe: Das selbstgebastelte Equipment fängt Feuer, der legendäre Hamburger Undergroundclub Turbine brennt bis auf die Grundmauern nieder. Schubert, Wand und Bage ziehen sich aus der Öffentlichkeit zurück und werden von der Geschichte vergessen.

Wer sich mit der Neuen Deutschen Welle ein bisschen auskennt, wird sich wundern, noch nie von Fraktus gehört zu haben. Du besitzt den kompletten Katalog des Hamburger Labels Zickzack, doch Dir ist noch nie die Fraktus-LP „7353=057“ untergekommen? Und fragt sich da jemand, warum einem der Sänger von Fraktus so verdammt bekannt vorkommt? Lars Jessens „Fraktus – Das letzte Kapitel der Musikgeschichte“ ist tatsächlich ein Witz, ein ziemlich guter allerdings. Dahinter steckt die Hamburger Komikertruppe Studio Braun, die sich einst mit Telefonstreichen einen Namen gemacht hat, deren Humor-Imperium sich in den vergangenen Jahren jedoch rasant diversifiziert hat: dazu gehören heute neben dem legendären Hamburger Absturzladen Golden Pudel Club diverse literarische Bestseller („Fleisch ist mein Gemüse“, „Dorfpunks“), Kinofilme („Immer nie am Meer“), Theaterproduktionen („Fahr zur Hölle, Ingo Sachs“) und Musik (Jacques Palminger and the Kings of Dubrock). Fraktus-Sänger Dickie Schubert wird übrigens vom Waterkant-und-Westentaschen-Chansonnier Rocko Schamoni gespielt. Schubert ist eine kleine Hommage an Schamonis Rolle im Hamburger Proll-Klassiker „Rollo Aller“, für den er Anfang der Neunziger auch das Titellied mit dem sehr plausiblen Refrain „Raus aus der Gesellschaft, rein in den Rock“ geschrieben hat. Der „Fraktus“-Film ist sozusagen Kult mit Ansage: ein schwieriges Unterfangen, das selten glückt.

Aber Studio Braun sind alte Hasen im Unterhaltungsgeschäft. Sie haben verstanden, dass man der Abgestumpftheit der deutschen Humorindustrie nur mit Sinnentzug begegnen kann. „Affe sucht Liebe“ ist das „Katzeklo“ der Post-Rave-Generation. Es muss doch mit dem Teufel zugehen, wenn man mit einer renitent pulsierenden Synthie-Line, einem eingängigen Drum-Pattern, das von New Order geklaut ist, und einem debilen Großraumdisco-Schlachtruf (alles unter Anleitung von Bill Drummonds Handbuch „Der schnelle Weg zum Nr. 1 Hit“) nicht die Charts knacken könnte. Studio Braun, beziehungsweise Fraktus, wären die Letzten, die sich darüber wundern würden.

Aber vielleicht ist die Mockumentary auch einfach nur die unverblümte Antwort auf eine kriselnde Musikindustrie. Ein Indiz für die panische Verzweiflung, in der Vergangenheit um jeden Preis noch etwas finden zu wollen, was sich in der Gegenwart weiter verwerten lässt. Style, Haltung, einen autobiografischen Sound. Sehnsucht ist die Geißel der Retromanie, sie kennt keine Würde und kein Schamgefühl. Das macht Fraktus zu den Spinal Tap des Teutonen-Techno. (Wie ihre heimlichen Vorbilder sind auch Fraktus so blöd, sich auf dem Weg zur Bühne zu verlaufen) Roger Dettner (Devid Striesow), der die zerstrittenen Musiker nach 25 Jahre wieder zusammengetrommelt hat, ist sozusagen das gute Gewissen der Musikindustrie: ein Idealist, der noch an das richtige Leben im falschen glaubt („Die Idee Fraktus ist doch viel größer als ihr drei“ versucht er der Widerspenstigen Zähmung zu moderieren) und sich konsequenterweise als der größte Trottel entpuppt. Am Ende läuft er mit einem Döner-Spieß Amok.

„Fraktus“ ist so grenzdebil, dass es wehtut, aber unübersehbar auch ein Liebesprodukt: die körnigen Konzertaufnahmen, die alten NDW-Plattencover, der nachgestellte Formel Eins-Auftritt, Heinz Strunk als bis in die Haarwurzeln blondierter, Arschgeweih-flashender Ibiza-König („Geil Geil Geil“ war Torsten Bages größter Hit), Jacques Palmingers asymetrischer Seitenscheitel. Und immer wieder blitzt das gut camouflierte Genie von Studio Braun auf, wenn Strunk etwa ein neues Techno-Stück von Fraktus auf der Querflöte begleitet. Die Idee dazu stammt aus einer alten Folge von „Durch die Nacht mit …“, in der Strunk im Studio von H.P. Baxxter ein Flötensolo über den Basistrack von Scooters „How Much is the Fish“ spielt. So befruchten sich bei Studio Braun die Kunst und das Leben, Realität und Dichtung. Vielleicht ist es um die deutsche Popmusik doch gar nicht so schlecht bestellt, wie immer behauptet wird. Der Film jedenfalls versammelt einige ihrer größten Vertreter. Fraktus, muss man ehrlicherweise einschränken, gehören nicht dazu.

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Der Aufsteiger

(F / B 2011, Regie: Pierre Schoeller )

Le crocodile, c‘est moi!
von Ulrich Kriest

Als Vorspiel eine bizarre Mischung von Heiliger Inquisition und Tierfilm: eine unbekleidete Frau nähert sich in aristokratischem Ambiente einem Krokodil, das nicht sonderlich aggressiv sondern eher träge das Spiel mitspielt …

Als Vorspiel eine bizarre Mischung von Heiliger Inquisition und Tierfilm: eine unbekleidete Frau nähert sich in aristokratischem Ambiente einem Krokodil, das nicht sonderlich aggressiv sondern eher träge das Spiel mitspielt und sein Maul öffnet. Sie kann schon, wenn sie unbedingt will, da rein. Muss aber auch nicht. Ein Traum? Wer träumt? Wer ist die Frau? Und wer das Krokodil? Schnitt. Mitten in der Nacht wird der französische Verkehrsminister Bertrand Saint-Jean geweckt. In den Ardennen ist auf vereister Straße ein Bus mit Schulkindern verunglückt und in eine Schlucht gestürzt. Der Minister fliegt mit dem Helikopter zum Unglücksort, um eine erste Stellungnahme für die Medien abzugeben. Unübersichtliche Situation am Unfallort, komplette Überforderung durch Bilder des Schreckens, doch die Worte kommen, gekotzt wird später. Business as usual.

Dumm nur eine Konsequenz des nächtlichen Einsatzes am Unglücksort: denn so fällt für Saint-Jean ein geplanter Auftritt beim Frühstücksfernsehen flach. Ein Kollege vom Koalitionspartner springt ein und sorgt sogleich für Unruhe. In den folgenden Tagen steht nicht der bedauerliche Busunfall, sondern die Privatisierung der Bahn auf der Tagesordnung, in Szene gesetzt als abstraktes Schachspiel, wo entscheidende Züge in den Medien oder zwischen drei gleichzeitigen Telefonaten im Dienstwagen passieren. Der Busunfall, unvorhergesehen, sorgt für etwas Luft im Getriebe der politischen Mechanismen. In diesem konkreten Fall geht es zunächst darum, das Heft des Agenda Setting wieder in die Hand zu bekommen. Saint-Jean gilt nämlich, im Gegensatz zu der ihn umgebenden Politiker-Aristokratie, als Hoffnungsträger, der aufgrund seiner Herkunft als „Aufsteiger“ noch eine andere, authentischere Sprache spricht. Was ihn allerdings zunächst lediglich als Kanonenfutter zu prädestinieren scheint. Der Hoffnungsträger wird im Verlauf des Films dabei beobachtet, wie er hakenschlagend und durch immer neue Manöver versucht, wieder in die Vorlage zu kommen. Was wenig mehr bedeutet, als das richtige Telefonat zum richtigen Zeitpunkt zu führen – und die Reaktion des Kontrahenten als die Effekte dieses Telefonats zu antizipieren. Als „Beobachtungsbeobachtung“ hat Luhmann das sehr schön beschrieben.

Sieben Jahre hat der Regisseur und Drehbuchautor Pierre Schoeller an diesem Film gearbeitet, um adäquate Bilder und Szenen für „Machtspiele“ in der politischen Sphäre zu entwerfen. Sein Film beschränkt sich nicht auf die (dürftige) These des politischen Zynismus, sondern weitet den Blick auf die umfassende De-Legitimierung des Politischen, die entschieden auch ins Private lappt. So bekommt Saint-Jean im Rahmen einer Imagekampagne zur Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen einen neuen Fahrer. Und erhält dadurch eines Tages die Gelegenheit zu einer ungeschützten Begegnung mit dem Volk, der er sich nur durch Vollrausch in haarsträubenden Pragmatismus entziehen kann. Gleiches zeigt sich auch im Verhältnis zu seiner Ehefrau, zu der Saint-Jean einmal sagt: „Du kennst mich nicht, deshalb liebst du mich.“ „Der Aufsteiger“ erzählt auf beklemmende und sehr kalkulierte Weise vom Verlust der Ideale und der prinzipiellen Einsamkeit in der Sphäre des Politischen, in der buchstäblich jedes Ereignis, jedes Unglück noch quasi systemisch »politische« Effekte produziert. Als Saint-Jean schon gescheitert scheint, passiert ein zweiter Unfall, der die Karten neu mischt.

Interessanterweise sehen die Bilder, die Schoeller für dieses Ereignis findet, so aus, als habe er sie im Schneideraum von „Walking Dead“ gefunden. (Okay, da wurde nicht mehr altmodisch »geschnitten«!) Um zu begreifen, wie gelungen dieser vergleichsweise kalte und analytische Film ist, sollte man an jene Szene denken, in der Kabinettsleiter Gilles – er keineswegs ein Parvenü, sondern ein intellektueller Politiker mit Geschichte – in einer ruhigen Stunde dabei gezeigt wird, wie er sich per Schallplatte die Hymne von André Malraux auf den zu Tode gefolterten Widerstandskämpfer Jean Moulin anhört. Das ist in etwa die Fallhöhe, um die es Schoeller geht, der allerdings kein Nostalgiker, sondern ein Analytiker ist. Der Lackmus-Test: Man schaue sich Andreas Dresens naive Polit-Soap „Herr Wichmann aus der dritten Reihe“ an – und frage sich, wie ein politischer Film 2012 idealerweise auszusehen habe. Wie „L‘exercice de l‘Etat“ (Originaltitel) nämlich.

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Gnade

(D / NR 2012, Regie: Matthias Glasner)

Geteiltes Seelenleid
von Wolfgang Nierlin

Schnee, Eis und Kälte bestimmen das Leben während der langen Polarnächte im norwegischen Hammerfest, einer der nördlichsten Städte der Welt. Zwischen Mitte November und Mitte Januar herrscht daneben vor allem …

Schnee, Eis und Kälte bestimmen das Leben während der langen Polarnächte im norwegischen Hammerfest, einer der nördlichsten Städte der Welt. Zwischen Mitte November und Mitte Januar herrscht daneben vor allem Dunkelheit. Nur noch wenige Strahlen der Sonne illuminieren den Horizont der weiten, stillen Landschaft mit rötlichem Dämmerlicht. Ansonsten sind es die vielen Lichter der Stadt, die als helle Punkte in der nächtlichen Landschaft stehen. Gleich zu Beginn von Matthias Glasners Film „Gnade“ und auch später immer wieder fliegt die Kamera über diese großartige Natur mit ihren gewaltigen Panoramen, nähert sie sich den Menschen aus der Vogelperspektive. Klein und vergänglich wirken sie inmitten dieser Eiswüste, die als weißes Nichts Ewigkeitswert besitzt. In Glasners Film ist die Welt zunächst ein kalter Ort und ihre Natur eine Seelenlandschaft, die die vergletscherten Gefühle der Protagonisten widerspiegelt.

„Wir gehen weit weg – zusammen. Wir brauchen eine zweite Chance.“ Auf einer Splitscreen, nebeneinander und nacheinander sortieren die Mitglieder der dreiköpfigen Familie gegenüber unsichtbaren Fragern ihre Motive für den einschneidenden Ortswechsel. Doch auch neun Monate in Hammerfest, äußerlich bestens eingerichtet und adaptiert, haben an den verkrusteten Beziehungsstrukturen nichts geändert. Familienvater Niels (Jürgen Vogel) gibt sich aggressiv, ist reizbar und rammelt auf selbstverständlichste Weise mit Linda (Ane Dahl Torp), einer Arbeitskollegin aus der Gasverflüssigungsanlage. Er sagt: „Die Dunkelheit hängt mir zum Hals raus.“ Derweil betreut seine Frau Maria (Birgit Minichmayr) in der Hospiz-Abteilung eines Krankenhauses sterbende Patienten und singt in ihrer spärlich bemessenen Freizeit in einem Kirchenchor. Der gemeinsame Sohn Markus (Henry Stange) wiederum, ein stiller, introvertierter Junge, ringt mit mäßigem Erfolg um Anschluss und beginnt, das gestörte Familienleben mit einer Handy-Kamera heimlich aufzuzeichnen.

Doch diese äußeren Daten erfahren keine echte Vertiefung, sie liefern allenfalls das Spielmaterial für eine spiegelbildliche Bearbeitung der Themen Schuld und Vergebung, um die der Film in seinem weiteren Verlauf kreist, indem er jeden Protagonisten mehr oder weniger damit konfrontiert. Als die überarbeitete Maria auf nächtlicher Fahrt mit ihrem Auto eine 16-jährige Schülerin erfasst und daraufhin, von Ungewissheit, Angst und dunklen Ahnungen getrieben, Fahrerflucht begeht, macht sie sich schuldlos schuldig. Eine Verkettung ebenso unglücklicher wie zufälliger Umstände verleiht dem schicksalhaften Ereignis tragische Züge. Maria erscheint das eigene Handeln als fremd und unverständlich: „Ich bin nicht dieser Mensch.“ Als der Tod des Unfallopfers bekannt wird, ringt das Ehepaar um das richtige Tun, entscheidet sich schließlich für Schweigen und Verdrängung und macht sich darüber doppelt schuldig.

Gerade aus diesem geteilten Seelenleid erwächst eine neue emotionale Nähe und Verbundenheit der Ehepartner, die zum zentralen Ausgangspunkt für einen Läuterungsprozess wird. Matthias Glasner projiziert die inneren Vorgänge dieser Verwandlung, atmosphärisch verdichtet und von einer intensiven Darstellung getragen, auf die Tabula rasa der umgebenden Landschaft, bis mit dem Eis auch das Schweigen aufbricht. Daraus resultieren immer wieder eine bemerkenswerte Offenheit (in den Dialogen), stimmungsvolle „Seelenbilder“ und poetische Zäsuren aus flockigen Spuren des Lichts, in denen das Unhintergehbare einer begangenen Tat als unlösbarer Konflikt und existentielles Drama aufscheint.

Fraktus

(D 2012, Regie: Lars Jessen)

Affe sucht Liebe
von Wolfgang Nierlin

Der Spaßfaktor von Lars Jessens Fake-Doku „Fraktus“ ist hoch. Gleich zu Beginn des ziemlich lustigen Films beschwören reale Musiker-Veteranen wie Blixa Bargeld, Stephan Remmler von Trio oder auch Yello-Sänger Dieter …

Der Spaßfaktor von Lars Jessens Fake-Doku „Fraktus“ ist hoch. Gleich zu Beginn des ziemlich lustigen Films beschwören reale Musiker-Veteranen wie Blixa Bargeld, Stephan Remmler von Trio oder auch Yello-Sänger Dieter Meier in fingierten Zeitzeugen-Interviews den Mythos der einstigen Elektropop-Band Fraktus. Im eher altmodischen Stil einer Musikdokumentation, mit Kommentarstimme, gefaktem Archivmaterial und sehr ernst dreinblickenden Interviewpartnern wird dabei Musikgeschichte geschrieben. Doch die schräge, ausgerechnet in Brunsbüttel gegründete Band, die angeblich zwischen 1979 und 1983 wirkte, und ihre legendäre Musik sind fiktiv; und ihr vielgelobter Avantgardismus ist ein zeittypisches Amalgam aus analogem Synthie-Sound, selbstgebauten Instrumenten und Nonsens-Texten.

„Affe sucht Liebe“ lautet etwa der Titel eines jener zwischen Dada, Anarchie und Persiflage changierenden Lieder, die von der Hamburger Künstlergruppe Studio Braun für den Film geschrieben wurden. Dahinter verbergen sich bekanntlich ganz real Heinz Strunk, Rocko Schamoni und Jacques Palminger, die unter den Rollennamen Torsten Bage, „Dickie“ Schubert und Bernd Wand die Band Fraktus bilden. 25 Jahre nach deren Aufsehen erregendem Ende begibt sich der ehrgeizige Musikmanager Roger Dettner (Devid Striesow) mit einem kleinen Kamerateam auf Spurensuche nach den Techno-Vorreitern, um sie für ein Comeback zu reanimieren. Trotz zahlreicher Schwierigkeiten, Rückschläge und glatten Scheiterns gelingt das auch irgendwie. Doch das Erzählen tritt dabei auf der Stelle. Dafür konfrontiert Lars Jessen die ausgeprägt verschrobenen Individualisten immer wieder mit den erfolgs- und kommerzsüchtigen Produzenten des Musikgeschäfts. Mit satirischem Witz, kalauerndem Humor und deftiger Ironie entlarvt er deren wortreich-hohles Gebaren ebenso wie die ausufernde Reunion-Manie altgedienter Popstars.

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Die Vermessung der Welt

(D / AT 2012, Regie: Detlev Buck)

Guckkastenkintopp
von Andreas Thomas

Liebe Leser! Wenn mich derzeit etwas wurmt, dann ist das der absolut hirnlose wie inflationäre Gebrauch des Adjektivs „emotional“ in Funk, Fernsehen und Medienwelt. Ein Abend im Restaurant, ein „Event“, …

Liebe Leser! Wenn mich derzeit etwas wurmt, dann ist das der absolut hirnlose wie inflationäre Gebrauch des Adjektivs „emotional“ in Funk, Fernsehen und Medienwelt. Ein Abend im Restaurant, ein „Event“, eine Kinovorstellung ist nach Meinung der Leutchen immer dann ein gelungenes, wenn es auch „emotional“ war! Würde man der Logik dieser neumodischen und neunmalklugen Emotionsjunkies folgen, dann müsste man auch das Dritte Reich als eine überaus gelungene Großveranstaltung bezeichnen, denn für Emotionen – da kann man ihm vorwerfen, was man will – hatte Herr Hitler eine Menge übrig, und er war durchaus daran interessiert, dass es keinen gab, der das nicht ganz persönlich und ganz emotional zu spüren bekam. Dass diese von Herrn Hitler kreierten Emotionen dann vom Großteil der Menschheit eher als negativ bewertet wurden: Geschenkt! Denn es geht ja wohl bei der Emotionsfrage um die Quantität und nicht um die Qualität, oder habe ich da was falsch verstanden, weil sich da andauernd wer falsch ausdrückt?

So viel zum aktuellen Sprachgebrauch. Aber was ist denn nun wirklich gemeint, wenn von „emotional“ die Rede ist? Die „Emotionalität“ eines Menschen wird z.B. immer dann besonders gewürdigt, wenn jemand Gefühle zeigen oder erwecken kann, Gefühle im Sinn von Rührung und Bewegt werden oder Bewegt sein. Vielleicht ist sogar emotionale Anteilnahme gemeint, um nicht zu sagen Empathie? Das wäre ja der Keim eines solidarischen, vielleicht gar politischen Bewusstseins. Bliebe zu hoffen. Ich fürchte nur, die allgemein favorisierten „emotionalen“ Gefühle gehen kaum über die künstliche Herstellung einer gewissen Heimeligkeit hinaus. Sie sind die Würze, mit der das Produkt leichter konsumierbar ist. Das Produkt kann dann auch wahlweise ein Arbeitsplatz sein, an dem man sich wohler fühlt, weil der Chef so „emotional“ ist.

Zum anderen heißt „Emotionalität“ wahrscheinlich nur das, was früher „Eskapismus“ hieß: Wir wollen nicht dauernd denken müssen, wir wollen nicht rational sein müssen, wir wollen, ein bisschen so wie Kinder, einfach nur erleben und fühlen dürfen, ohne Komplikationen, Konsequenzen und ohne Verantwortung. Für Eskapismus fühlt sich natürlich auch das Kino zuständig, und was kann eskapistischer sein als z.B. ein Film in 3D?

Detlev Bucks neuer Film ist in 3D gedreht und darin kann man eintauchen, wie in eine andere Realität, die nicht nur plastische Tiefe vorweist, sondern die auch mit sichtbar großem finanziellen Aufwand eine ganz andere Epoche, nämlich die der Aufklärung (sagen wir mal, um beim Emo-Jargon zu bleiben:) nachempfindet.

Detlev Buck war mal einer dieser hoffnungsvollen jungen Filmemacher, dessen Frühwerk originell war, weil es sich mit Themen beschäftigte, die der Regisseur aus eigener Anschauung kannte. Der erste, halbdokumentarische Langfilm Bucks „Erst die Arbeit und dann“ etwa beobachtet einen Jungbauern (Buck) aus der schleswig-holsteinschen Provinz bei den alltäglichen Arbeiten im Stall und dabei, wie er sich ausgehfertig macht, und dann mit dem väterlichen Mercedes nach Hamburg fährt, um sich zu vergnügen. Landluft trifft auf Pöseldorf. Urwüchsigkeit auf Oberfläche. Damals spürte man noch, dass Buck wusste, worüber er sprach. Eine Zeitlang wähnte man ihn auf den Pfaden eines norddeutschen Kaurismäki, denn seine wortkargen Figuren hatten viel von der Lakonie (und der darin verborgenen Abgeklärtheit) kaurismäkischer Helden. Leider gibt es seitdem kaum einen deutschen Regisseur, der es so geschickt vermag, die Spuren einer eigenen Handschrift nach und nach bis zur Auflösung zu verwischen. Mit anderen Worten: Jeder neue Buckfilm sieht einem alten Buckfilm noch unähnlicher als der letzte. Bucks trockener Witz scheint sich mittlerweile in seinen Werbespots für Flensburger Pils erschöpft zu haben und Buck selbst scheint der Meinung zu sein, dass des Profis Können, Handwerk und Technik wichtiger sind als seine persönlichen Themen und als ein persönlicher Stil. Deshalb kann er inzwischen Filme über alles drehen, über eine Liebesgeschichte im Zeitalter von Sextourismus und AIDS, über Jugendgewalt, ohne dass man merken würde, dass es ein Buck ist, und nun gar einen Historienfilm über zwei Koryphäen der Wissenschaften in der Zeit der Aufklärung, nämlich Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt.

Dass ausgerechnet Daniel Kehlmanns Bestseller „Die Vermessung der Welt“ die Vorlage eines neuen Buck-Films werden sollte, hat vermutlich einen Grund in den Leserzahlen des Romans, die auf ähnlich starke Besucherzahlen im Kino hoffen lassen. Klar sagt Buck, dass die beiden Typen Gauß und Humboldt ihn faszinieren, aber sicherlich ist der Film „Die Vermessung der Welt“ auch Produkt eines wirtschaftlichen Kalküls, ganz ähnlich, wie seinerzeit Tom Tykwers Verfilmung des Romans „Das Parfüm“ eines war.

Natürlich ist wiederum die ökonomisch kalkulierte zeitgenössische Art der Verfilmung einer wiederum auch zeitgenössischen Art von Historienroman Anschauungsmaterial dazu, wie hierzulande Geschichte rezipiert wird, bzw. wann oder wodurch Geschichte für das Publikum überhaupt noch interessant, bzw. schmackhaft, ist – sowohl in Romanform als auch im Kino.

Was den Roman betrifft, ist der Autor dieser Zeilen aus dem Schneider, denn er hat ihn nicht gelesen, also kann er sich den literarischen Teil betreffend (Kehlmann schrieb am Drehbuch mit) in Mutmaßungen ergehen, zum anderen kann er sich aufs konkrete Filmergebnis konzentrieren – und endlich den Schlenker zum Anfang machen und seine Behauptung wiederholen: Filme (ob das auch für Historienromane gilt, sei dahin gestellt) müssen heute „emotional“ sein, das heißt: wichtiger als irgendeine tiefere Aussage oder Bedeutung ist deren „sinnlicher“ Gehalt: Das Publikum will was erleben und eintauchen, und es ist eigentlich zweitrangig, ob Til Schweiger im Kugelhagel rumballert oder Carl Friedrich Gauß vom unhygienischen Hufschmied auf blutigste Weise einen Zahn ausgerissen bekommt. Ja, so war das damals eben – und heute ist es eben so in 3D! Dabei sein ist alles, wobei ist nebensächlich. Diese „Gefühlsbetonung“ macht den Film „Die Vermessung der Welt“ übrigens nicht gleich zum schlechten Film, ein wichtiges Merkmal ist sie trotzdem.

Die zwei Wissenschafts-Genies in 'Die Vermessung der Welt' leben ihre Leben unabhängig voneinander, der eine, der große Mathematiker Gauß, sitzt zuhause, denkt sich seinen Teil und, grob gesagt, „induziert“ vor sich hin, während der andere, Humboldt, die Welt durchstreift und vermisst und zählt und fleißig deduziert (nämlich vom Allgemeinen auf Einzelne – dass schon David Hume prinzipiell das Theorem der reinen Induktion widerlegt hat, geschenkt!). Die Bebilderung Gaußscher Forschungstätigkeit ist erwartungsgemäß eher eine einfarbige, weil das ausgehende 18. Jahrhundert und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts in den deutschen Städten (Braunschweig!) vorwiegend schlamm- bzw. kotfarben war und das deutsche Wetter ja, wie bekannt, traditionell depri-grau gehalten ist. Demgegenüber kann der Film, sobald er sich dem Abenteurer Humboldt zuwendet, farb- und emotionstechnisch mit dem Pfund Amazonas wuchern: Nicht nur schön grün, auch schön weit können die Landschaften dann in Ecuador (zweiter Drehort) sein, außerdem halten die dort ansässigen Kannibalen jede Menge Emotionen parat. Seine im wahrsten Sinne Schlaglichter hat der Film immer dann, wenn es mal zur Sache geht. Was bei Humboldt die Wildheit von Natur und Indianern, ist bei Gauß die preußische Zucht und Ordnung: Zur Strafe für eine genial gelöste Rechenaufgabe gibt es erst einmal 10 Schläge mit dem Rohrstock auf den Po – natürlich in Großaufnahme. Während dessen senken sich die Staubflocken aus der Zwergschule des 18. Jahrhunderts langsam auf die Kinogäste.

Aber auch weiblicher Po und Busen heben die Stimmung und vertiefen das dreidimensionale Bild auf emotionale Weise: laut Selbstauskunft („Das Kino ist zu prüde geworden!“) legte der Regisseur gesteigerten Wert auf eine Instandsetzung und räumliche Auslotung sowie Auswertung primärer Geschlechtsorgane. Kurz: Es wird wirklich was geboten in diesem kurzweiligen Historienstück, solange man es mehr mit dem Gefühl als mit dem Verstand aufnimmt. Dann ist Einiges los und einige nicht unwitzige Ideen scheint die Romanvorlage geboten haben, die sich auf die Leinwand übertragen lassen. Der Bildungsbürger in uns mag dann sich vielleicht noch fragen: Aber welche Position gegenüber dem Geist der Aufklärung transportiert denn dieser Film, in welchem die Aufklärer zwar schrullig und z.T. skurril aber auch liebenswert dargestellt werden? Oder transportiert er eben nur Schauwerte und will nicht mehr als unterhalten, Entschuldigung: emotional sein?

Und vielleicht liegt eben in diesem Schauwert seine ganze Eigenart. Ich kam mir mit meiner merkwürdigen dicken 3D-Brille auf der Nase vor wie auf einem Jahrmarkt um das Jahr 1900, wie vor einem Guckloch, in das zu spähen mir empfohlen war, um in einem großen Holzkasten Szenen aus dem wahren Leben der großen Entdecker Humboldt und Gauß zu erblicken, und wirklich entdeckte ich darin, manchmal merkwürdig weit weg und manchmal reichlich nahe, zwei mal kleine, mal große Männer, immer ins Verhältnis gesetzt zu den Dingen, zur Welt, zum Raum, sozusagen mitvermessen und kurios. Wie Spielzeugfiguren, Spielzeug der Weltgeschichte oder nur Spielzeug des Kinos? Das Ganze entbehrte nicht eines gewissen gleichzeitig fremdartigen und altmodischen Charmes. Altmodisch, weil ich mich in die Rolle eines zu überwältigenden und naiven und unaufgeklärten Menschen vor der großen medialen Revolution zurückversetzt fühlte.

Das 3D-Kino auf seinem aktuellen Entwicklungsstand jedenfalls halte ich für eine revolutionäre Erneuerung des Kinos. Ich fände es sehr interessant, wenn auch 2-Personen-Kammerstücke in 3D gedreht würden. Dass „Die Vermessung der Welt“ in 3D gedreht wurde, macht ihn interessanter, als er vielleicht ist? Kann sein, na gut: Dann hat Herr Buck eben noch mal Glück gehabt.

96 Hours – Taken 2

(F 2012, Regie: Olivier Megaton)

Action-Verschnitt
von Louis Vazquez

Eigentlich könnte man meinen, dass eine Einer-gegen-Alle-Situation im Leben eines zufällig zum Action-Helden gewordenen Mannes ein ziemlich singuläres Ereignis sein müsste, selbst wenn es um einen Polizisten oder einen verrenteten …

Eigentlich könnte man meinen, dass eine Einer-gegen-Alle-Situation im Leben eines zufällig zum Action-Helden gewordenen Mannes ein ziemlich singuläres Ereignis sein müsste, selbst wenn es um einen Polizisten oder einen verrenteten Geheimagenten geht. Umso herrlicher die Nonchalance, mit der Fortsetzungen für gewöhnlich alle Plausibilitätsbedenken in den Wind schlagen, um einen Protagonisten noch einmal durch die Hölle zu schicken. Manchmal hilft angesichts des kosmischen Zufalls ein bisschen Selbstironie („Die Hard 2“). Noch einfacher ist es natürlich, Rache für die Heldenleistungen in Teil eins zum Antrieb der neuen Handlung zu machen – so geschehen in „96 Hours – Taken 2“.

Die Voraussetzungen sind nicht schlecht, war doch der erste Film unter der Regie von Pierre Morel ein schnörkelloser, überraschend harter und gar nicht mal so bescheuerter Rachethriller. Irgendwann schreckte Ex-Agent Bryan Mills (Liam Neeson) nicht einmal mehr davor zurück, Unschuldigen zu schaden, um seine Tochter aus den Händen einer albanischen Menschenschlepperbande zu befreien. Die ganze schöne Rache-Gewalt machte plötzlich gar keinen Spaß mehr, und die zuvor immer wieder auch auf humorvolle Weise präsentierte, latent paranoide Hauptfigur verlor endgültig die Bodenhaftung. In „Taken 2“ indes darf die Paranoia wieder ironisch daherkommen, und unter des Helden Hand leiden nur noch jene, die es sich redlich verdient haben. Auch wenn es womöglich selbst im fiktiven Zusammenhang nicht ganz schicklich ist, die körperliche Unversehrtheit Unschuldiger zu bedauern: Schade drum.

Es geht auch wieder gegen üble Gestalten: Der mächtige Vater eines Schleppers aus dem ersten Teil will sich mit seiner wilden Bande an Mills rächen. Diesmal wird aber nicht dessen Tochter Kim (Maggie Grace) entführt, sondern gleich er selbst, zusammen mit seiner Frau Lenore (Famke Janssen). Kim muss nun ihre Eltern befreien und erhält dazu telefonische Anleitung von ihrem in derlei Dingen erfahrenen Vater. Der ist zum Glück bald ebenfalls wieder entfesselt und kann wie gewohnt zur Tat schreiten.

Während Mabrouk El Mechri („JCVD“) kürzlich mit „The Cold Light of Day“ grandios scheitern musste, weil er ein unfassbar formelhaftes Drehbuch zu verfilmen hatte, dessen Figuren kaum interessierten und erst recht nicht dauerten, steht Regisseur Olivier Megaton ein bisschen besser da, weil seine Autoren Luc Besson – der freilich auch produzierte – und Robert Mark Kamen die Suche nach den Entführten halbwegs originell, wie eine Schnitzeljagd zu gestalten versuchen. Dass sie dabei oft übers Ziel hinaus schießen und eine ordentliche Portion unfreiwillige Komik beisteuern, kommt dem Vergnügen durchaus zupass, etwa wenn Kim so folgen- wie bedenkenlos Granaten durch Istanbul wirft, damit Papa anhand der Explosionsgeräusche ihre Position orten und ihr den Weg zu sich weisen kann.

Was Olivier Megaton leider überhaupt nicht gelingt, ist eine vernünftige Actioninszenierung. Die Montage macht selbst die stimmungsvollsten Schauplätze unkenntlich, was umso mehr auffällt, wenn man den neuen Bond-Film „Skyfall“ zum Vergleich heranzieht. Der nämlich teilt sich einige Drehorte mit „Taken 2“ und macht dabei nicht nur eine viel bessere, sondern überhaupt eine Figur, wo „Taken 2“ nur Wind macht. In rekordverdächtigem Stakkato prasseln die Einstellungen herein. Drei Schnitte pro Sekunde werden zum Standard. Besonders enttäuschend gerät ein Handgefecht zwischen Neeson und einem Bösewicht, in dem kein Bild zum anderen passt und kein einziger nachvollziehbarer Bewegungsablauf sich aus dem Geflacker schält. Action fand offenbar lediglich im Schneideraum statt, nicht am Set.

So handelt es sich bei „96 Hours – Taken 2“ um einen ziemlich unterdurchschnittlichen Vertreter jenes faden, zeitgenössischen Actionkinos, das Action eher durch schnelle Schnitte simuliert als mit kinetischen Mitteln inszeniert, und gegen den sich originelle, klassisch inszenierte Actionunterhaltung wie David Koepps „Premium Rush“ wie Balsam ausnimmt. Dass der Film aber ein ziemlicher Flop geworden ist, während „Taken 2“ ordentlich Kasse macht, ist eine andere, traurige Geschichte.

Skyfall

(USA / GB 2012, Regie: Sam Mendes)

The Bond Supremacy
von Louis Vazquez

„Skyfall“ sei doch auch ein Spitzentitel für einen neuen Asterixfilm, meint ein Kollege vor der Pressevorführung und hat natürlich völlig Recht. Fiele den nicht minder patriotischen und im Kino ebenfalls …

„Skyfall“ sei doch auch ein Spitzentitel für einen neuen Asterixfilm, meint ein Kollege vor der Pressevorführung und hat natürlich völlig Recht. Fiele den nicht minder patriotischen und im Kino ebenfalls ziemlich langlebigen Galliern endlich der Himmel auf den Kopf, könnte es im Asterix-Universum noch einmal richtig spannend werden. Doch auch im Bond-Kontext darf der Himmelssturz als nicht schlechte Überraschung gelten, denn Regisseur Sam Mendes gelingt zum 50. Jubiläum der Reihe nicht weniger als der beste Bondfilm seit langer, langer Zeit.

Diesmal richtet sich eine zunächst anonyme Bedrohung vordergründig gegen verdeckt arbeitende Undercover-Agenten, zielt aber eigentlich direkt ins Herz des britischen Geheimdiensts MI6. Auf der Seite der Guten mag man schon lange nicht mehr vorbehaltlos stehen. Wenn Bonds Vorgesetzte M (Judi Dench) in einem Ausschuss zur Verteidigung ihrer Abteilung diffuse Terrorismusängste schürt, dann versucht der Film womöglich sogar, sein Publikum abzuholen, wo auch immer es steht. Gleichzeitig aber lotet der Film konsequent die moralischen Untiefen des Agentenalltags aus, wo jeder Geheimdienstler für das große oder kleine Ganze aufgegeben werden kann und nicht einmal die Spitzenkräfte sich des Rückhalts ihres Arbeitgebers sicher sein können.

Eine erzählerische Glanzleistung ist in diesem Zusammenhang die Prä-Titelsequenz, die in der jüngeren Bond-Historie ihresgleichen suchen dürfte und den enttäuschenden, werbeclipartigen Auftakt von „Quantum of Solace“ schnell vergessen macht. Der Schauplatz ist Istanbul. Viele Locations waren auch schon in „96 Hours – Taken 2“ zu sehen bzw. nicht zu sehen, denn dort gingen sie im Schnittgewitter unter. Sam Mendes aber weiß, wie man Action inszeniert. Ein Duell auf einem fahrenden Zug weckt sogar Erinnerungen an Robert Aldrichs „Emperor of the North Pole“ (1973). Doch es geht eben nicht nur um Spektakel und Schauwerte, es wird sogar ein bisschen was erzählt. Gleich zu Beginn wird Bond per Funk beordert, einen schwer verletzten Agenten zurückzulassen, statt seine Blutung zu stoppen. Er gehorcht und überlässt den Kollegen dem sicheren Tod. Eine Szene, die Ton und Thema des Films vorgibt, denn am Ende des Vorspanns ist plötzlich 007 selbst entbehrlich.

Einmal mehr wird Bond als höchst fragwürdige Figur mit kaum zu ergründender Psyche gezeichnet, als nicht nur vielfach gebrochener, sondern gewiss auch ziemlich kaputter Held. Während er den zurückgelassenen Agenten so schnell nicht vergisst, scheint ihn später das viel traurigere Schicksal einer versklavten Femme Fatale kaum zu erschüttern. Als Macho soll Bond aber trotzdem nicht mehr gelten – sogar seine sexuelle Orientierung darf in diesem Film ironisch in Frage gestellt werden. Vorbei auch die Zeit, in der Bond permanent wie ein Superheld agierte und Schmerz höchstens in der finalen Konfrontation kannte: Als er sich in Shanghai an einen Fahrstuhl hängt und die Fahrt nach oben furchtbar lange dauert, da zeigt Mendes, dass selbst einem James Bond die Arme dabei verdammt weh tun.

Nein, kein kleiner Junge möchte noch Geheimagent werden, wenn er die Bondfilme der letzten Jahre gesehen hat. Obwohl immer wieder Ironie aufblitzt, dominiert hier doch die Ernsthaftigkeit, und die psychischen Schäden scheinen bei Guten wie Bösen vergleichbar groß. Kaum ein exotischer Schauplatz tröstet über diese Makel hinweg, denn selbst bei den Sets dominiert bald der Zerfall und spiegelt die kaputten Seelen der Figuren.

„Skyfall“ wirkt – ohne zu viel zu verraten – auf gewisse Weise wie der Höhepunkt und Abschluss einer Trilogie. Erneut liegt der Fokus auf zwischenmenschlichen Konflikten, bei reduzierter, aber stets beeindruckender Action. Man darf gespannt sein, in welchem Tonfall Bonds Geschichte weitererzählt wird. Der Film scheint sich mehrere Optionen offen zu halten – am Ende wähnt man sich für einen Moment sogar im Roger-Moore-Universum. Wie auch immer sich die Franchise entwickelt: Die neue Bodenständigkeit sollte besser bleiben. „Explodierende Kugelschreiber, so etwas machen wir nicht mehr“, sagt ja schließlich auch Bonds neuer Waffenmeister Q (Ben Wishaw). Und überreicht nur eine Pistole und einen Peilsender. Beim Teutates!

Oh Boy

(D 2012, Regie: Jan Ole Gerster)

Fluss unmerklicher Veränderungen
von Wolfgang Nierlin

„Das Einzige, was ich jetzt noch für dich tun kann, ist nichts mehr für dich tun”, sagt der Vater (Ulrich Noethen) zum Sohn. Niko Fischer (Tom Schilling) wirkt wie ein …

„Das Einzige, was ich jetzt noch für dich tun kann, ist nichts mehr für dich tun”, sagt der Vater (Ulrich Noethen) zum Sohn. Niko Fischer (Tom Schilling) wirkt wie ein Verlorener in einem provisorischen Leben. Mit Ende zwanzig, nach abgebrochenem Jura-Studium, ohne Job und ohne Geld hat er weder Plan noch Ziel. Seine Wohnung ist leer, die Umzugskartons sind noch immer nicht ausgepackt, die Briefpost bleibt weitgehend geschlossen. Überhaupt fungieren Räume nur als Zwischen- und Durchgangsstationen in einem ortlosen, transitorischen Dasein. Niko driftet durch die Stadt, er ist unterwegs, ohne getrieben zu sein. Als melancholischer Flaneur und „einsamer Wolf“ imitiert er die Gesten von Robert de Niros „Taxi Driver“ und von James Dean in „Giganten“. Aber der sympathische, introvertierte und leicht schüchterne Mann ist kein Rebell, auch wenn er unangepasst wirkt und in seinen Beziehungen mitunter unverbindlich bleibt. Vielmehr ist er sensibel und durchlässig für die Sorgen und Nöte der anderen.

Einen langen Tag und eine lange Nacht lang bewegt sich der traurige Held von Jan Ole Gersters bemerkenswertem, in Schwarzweiß gedrehtem Debütfilm „Oh Boy“ durch die Stadt Berlin. Aus den zahlreichen Begegnungen, die er dabei macht, resultiert die episodische Struktur des Films und die Verdichtung eines großstädtischen Lebensgefühls. Doch Niko absorbiert nicht einfach nur Erfahrungen, noch funktioniert er primär als Katalysator, sondern sein Charakter gewinnt Konturen durch seine Reaktionen auf andere. Auch wenn sich die Welt gegen ihn verschworen zu haben scheint, ablesbar an seinen mitunter komischen Konfrontationen mit behördlichen Autoritäten, bockigen Automaten und übergriffigem Machismo, ist Niko nicht einfach ein typischer Verlierer. Zwar hat sein Scheitern, das auch eine Distanz und ein Innehalten beschreibt, eine zumindest angedeutete Geschichte, doch es erschöpft sich nicht in der modischen Darstellung dessen, was man heute gern als Prekariat bezeichnet.

Stattdessen erzählt Jan Ole Gerster einfühlsam und glaubwürdig von einem jungen Mann, der entgegen dem Anschein offen und Anteil nehmend genug ist, um den Geschichten der Menschen, die ihm begegnen, einen Resonanzraum zu verschaffen. Persönliche Dramen, aber auch die große Geschichte werden so vernehmbar. Die Zeit erscheint gedehnt, die Schicksale überlagern sich und Nikos vermeintlicher Stillstand, den der Regisseur in stimmungsvollen, von einem jazzigen Soundtrack unterlegten Bildern der Stadt widerspiegelt, wird zu einer Zeit der Reflexion. Diese ist noch nicht abgeschlossen, befindet sich vielmehr im Fluss nahezu unmerklicher Veränderungen. Er habe die letzten zwei Jahre nachgedacht, erklärt Niko seinem verständnislosen Vater. Seine mutmaßliche Stagnation erzeugt fortgesetzt innere und äußere Bewegung. Einmal, in der Wohnung eines Dealers, wo Niko auf einen Freund wartet, begegnet er einer herzensguten alten Dame, die ihn einlädt, sich in ihrem bequemen Sessel auszuruhen. Kurz darauf, für einen langen, schläfrigen Moment in Liegeposition, in dem alle Verlorenheit von ihm abzufallen scheint, erlebt er plötzlich und unerwartet Nähe und Geborgenheit.

Vielleicht lieber morgen

(USA 2012, Regie: Stephen Chbosky)

Das Glück der Mauerblümchen
von Carsten Happe

Emma Watsons erste Hauptrolle nach dem Ende des „Harry Potter“-Franchise. Allein das reicht schon aus, die Fanboys in Verzückung zu versetzen. Und dann ist es auch noch keine gesichtslose Hollywood-Ware, …

Emma Watsons erste Hauptrolle nach dem Ende des „Harry Potter“-Franchise. Allein das reicht schon aus, die Fanboys in Verzückung zu versetzen. Und dann ist es auch noch keine gesichtslose Hollywood-Ware, sondern eine persönliche Indie-Dramödie, die allen verunsicherten Teenagern und schüchternen Nerds Hoffnung machen sollte. So deutet bereits der Originaltitel die Vorzüge des Mauerblümchen-Daseins an, die den unsicheren Charlie an der neuen High School vollends aus der Bahn werfen, denn die Geschwister Sam und Patrick nehmen ihn ohne Vorbehalte in ihre bohemische Außenseiter-Clique auf. Sie sind cool und anders und auch wenn Charlie zunächst einfach nur anders ist und weit entfernt von cool, färbt ein wenig von ihrem Glanz auch irgendwann auf ihn ab.

Es wäre einfach, „Vielleicht lieber morgen“ als lediglich eine weitere Variante der ewig gleichen Teenie-Komödie abzustempeln, die das Coming-of-Age seines jugendlichen Helden mit den hinlänglich bekannten Stereotypien durchexerziert, die seit den Zeiten der kanonischen John-Hughes-Filme wie „Breakfast Club“ oder „Ferris macht blau“ nur selten ein phantasievolles Update erfahren haben. Dafür ist die zweite Regiearbeit von Stephen Chbosky, der zugleich auch fürs Drehbuch und die semi-autobiographische Romanvorlage sorgte, zu treffsicher in der Analyse pubertärer Befindlichkeiten, ohne in peinliche Toiletten-Humor-Gefilde abzurutschen. Und vor allem: „Vielleicht lieber morgen“ entwickelt einen entwaffnenden Charme und eine Liebenswürdigkeit, die ihn vielmehr in die Nähe von Filmen wie „Garden State“ rückt.

Das ist in erster Linie nicht allein Emma Watson zu verdanken, die sich hier erfolgreich der Hermione Granger entledigt, sondern insbesondere dem Charlie-Darsteller Logan Lerman, der im vergangenen Jahr in dem höchst überflüssigen „Drei Musketiere“-Update als D’Artagnan leidlich fehlbesetzt durch die Kulissen stolzierte. Hier verleiht er einem eigentlich längst auserzählten Charakter-Typus die exakt richtige Balance aus Aufbegehren und Zurückhaltung, aus kindlicher Naivität und tiefgründiger Nachdenklichkeit. Und gerade diese reflektierte Haltung macht „Vielleicht lieber morgen“ so universell wie sehenswert: dass es letzten Endes vor allem darauf ankommt, seinen Platz im Leben zu finden. Und ihn zu behaupten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: pony 11/2012

Premium Rush

(USA 2012, Regie: David Koepp)

Bremsen sind der Tod
von Andreas Busche

Ein Stahlrahmen, ein Gang, keine Bremsen. Das Credo des Fahrradkuriers gibt auch ein gutes Rezept für eine verbesserte, reduzierte Form des Actionfilms ab. Regisseur David Koepp fungiert als Autor großformatiger …

Ein Stahlrahmen, ein Gang, keine Bremsen. Das Credo des Fahrradkuriers gibt auch ein gutes Rezept für eine verbesserte, reduzierte Form des Actionfilms ab. Regisseur David Koepp fungiert als Autor großformatiger Blockbuster ('Jurassic Park', 'Mission Impossible', 'Spiderman') gewöhnlich im Hintergrund; sein “Premium Rush” verhält sich nun eher wie die Antithese zu den Filmen, mit denen man Koepps Namen ansonsten assoziiert. “Premium Rush” verzichtet bis auf ein paar gimmickhafte Googlemaps-Einblendungen und einige sehr unterhaltsame, 3D-animierte Unfallszenarien auf flashige Effekte. Sein Film ist gemessen an den High Tech-Vehikeln, die Hollywood saisonal bedingt in die Multiplexe spült, das Fixie unter den Actionfilmen. Mean and lean – und überdreht wie ein Chuck Jones-Cartoon. Nicht zufällig nennt sich der von Joseph Gordon-Levitt gespielte Fahrradkurier, angelehnt an Jones’ Cartoonfigur Wile E. Coyote, Wilee. Wilee ist der beste und waghalsigste unter den Kurieren, die jeden Tag die Straßen von New York unsicher machen. “Bremsen sind der Tod”, lautet sein Motto. Streng genommen spielt Wilee in “Premium Rush” allerdings den Roadrunner. Seine Nemesis, Wile E. Coyote, ist ein korrupter Cop namens Bobby Monday, der Michael Shannons Kuriositätenkabinett von derangierten Psychos ein weiteres unvergessliches Gesicht hinzufügt.

Der Cop jagt einem Briefumschlag hinterher, der sich in Wilees Kuriertasche befindet. Aber was in der Tasche landet, bleibt in der Tasche. Auch so ein Kurier-Credo. Der Inhalt des Umschlags ist ohnehin nicht mehr als ein klassischer MacGuffin: der Vorwand für einige halsbrecherische Verfolgungsjagden einmal quer durch den Rush Hour-Verkehr von Manhattan. Wilee auf dem Fahrrad, Detective Monday im Auto hinterher, unterstützt von einem Fahrradpolizisten, der ein ums andere Mal an den Gesetzen der Schwerkraft scheitert. Wilee auf seinem Fixie ist dagegen unkaputtbar. Die Fahrradstunts wurden real gedreht, was “Premium Rush” eine schöne Griffigkeit verleiht: Die Verfolgungdjagden sind rasant, aber nie over the top. Was man von Michael Shannon nicht behaupten kann, der seinen Bobby Monday als entgrenzten Borderliner spielt – augenrollend und irre vor sich hin brabbelnd. Damit wird er Nicolas Cage über kurz oder lang ernsthaft Konkurrenz machen. In gerade mal 90 Minuten liefert “Premium Rush” den schlagenden Beweis, dass das gute alte B-Movie noch lange kein Relikt der Vergangenheit ist.

Dieser Text erschien zuerst in: pony #77

3 Zimmer/Küche/Bad

(D 2012, Regie: Dietrich Brüggemann)

Zertrümmerte Botschaften
von Wolfgang Nierlin

„Heute ziehen alle ständig um“, sagt Dietrich Brüggemann. Für seine Beziehungskomödie „3 Zimmer/Küche/Bad“, die mit schlagfertigem Dialogwitz dem Zusammenhang von Wohnen und Lieben auf der Spur ist, konnte der 36-jährige …

„Heute ziehen alle ständig um“, sagt Dietrich Brüggemann. Für seine Beziehungskomödie „3 Zimmer/Küche/Bad“, die mit schlagfertigem Dialogwitz dem Zusammenhang von Wohnen und Lieben auf der Spur ist, konnte der 36-jährige Regisseur deshalb den eigenen Erfahrungsschatz als „Umzugshelfer“ plündern. Alles, was der Film zeigt, ist demzufolge mehr oder weniger dem Leben abgeschaut. Das kann man kaum glauben, wenn man auf das Umzugs- und Beziehungschaos und die sich in ihm spiegelnden Dauerkrisen blickt, die das quirlige Generationenportrait in rasantem Tempo ausbreitet oder vielmehr verdichtet. Denn bei dieser atemlosen Hetze zwischen Orten – namentlich den Städten Berlin, Hannover, Stuttgart und Freiburg – und zahlreichen Wohnungen verliert man als Zuschauer schon mal Überblick und Orientierung.

Das wiederum hat vor allem mit einem schier unübersichtlichen Ensemble von Figuren zu tun. Zieht man die Eltern ab, sind es acht junge Menschen, deren Wege sich ständig kreuzen und die unter wechselnden Perspektiven durch die kleineren und größeren Katastrophen des Alltags schlittern, wobei die komplizierte Chemie der Gefühle zum furiosen Taktgeber wird. Im Wechsel der vier Jahreszeiten folgen wir den Auf- und Umbrüchen der Geschwister Philipp (Jacob Matschenz), Wiebke (Katharina Spiering) und Swantje (Amelie Kiefer), die auf der Suche nach Liebe fortwährend ihre Wohnungen wechseln, weil die Gefühlsbindungen immer auch einen neuen Wohn- und Lebensraum beanspruchen.

Das mag zwar symptomatisch sein für die dargestellte Generation, doch die dahinter stehende allgemeinere These lautet: Keiner weiß, wie das Leben geht. Dietrich Brüggemann reflektiert das mit zynischem Blick auf die Elterngeneration und dem Hinweis auf die „Risse im Fundament“. Im Abspann-Song der Gruppe Indelicates heißt es entsprechend: „Every generation gets fooled again/And every generation is the same.“ Allerdings bleibt den typisierten Figuren seines Films auch keine große Entwicklungsmöglichkeit, um den wiederkehrenden Entscheidungsdilemmata zu begegnen.

Nicht etwa französische Beziehungsfilme haben ihn inspiriert, sagt Brüggemann, sondern Woody Allens komplexe romantische Komödie „Hannah und ihre Schwestern“ aus dem Jahre 1986 fungierte als „loses Vorbild“. An originellem Witz und fast schon abgeklärter Ironie mangelt es „3 Zimmer/Küche/Bad“ tatsächlich nicht. Aber zu oft sind die ebenso lustigen wie schmissigen Dialog-Schnipsel auf die Pointe hin geschrieben und inszeniert, was zur Folge hat, dass dem Film mitunter das erzählerische Fleisch und leider auch ein gewisses Maß an Realitätsgehalt fehlt.

Dieser Mangel an Wirklichkeit und echtem Leben ist natürlich schade, zumal Brüggemann in einem Statement fürs Presseheft beansprucht, eine Generation zu porträtieren, „deren Leben unter dem Stern der Unübersichtlichkeit steht.“ Dass das Leben wie eine „verrostete Waschmaschine“ ist, von der keiner wisse, wie sie funktioniere, ist einer der zahlreichen Gags des Films. Doch Brüggemann möchte diese Aussage nicht als Botschaft verstanden wissen. Vielmehr gehe es ihm darum, „Botschaften zu zertrümmern“. „3 Zimmer/Küche/Bad“ beschreibt also Symptome einer allgemeinen Unsicherheit und ist selbst Zeugnis dieser Desorientierung. Auch wenn ein wiederholt zitierter Sterne-Song das alles gar nicht so hoffnungslos sieht: „Wir müssen nichts so machen wie wir’s kennen/Nur weil wir’s kennen wie wir’s kennen.“

Die Wand

(AT / D 2011, Regie: Julian Roman Pölsler)

Von der Sorge leben
von Wolfgang Nierlin

Text und Bild, gesprochenes Wort und Schauspiel bilden in Julian Roman Pölslers werktreuer Adaption von Marlen Haushofers 1963 erschienenem Roman „Die Wand“ eine starke Einheit. Die sachliche Gedankenprosa der namenlosen …

Text und Bild, gesprochenes Wort und Schauspiel bilden in Julian Roman Pölslers werktreuer Adaption von Marlen Haushofers 1963 erschienenem Roman „Die Wand“ eine starke Einheit. Die sachliche Gedankenprosa der namenlosen Ich-Erzählerin, die sich schreibend eines Berichtszeitraums von zwei Jahren erinnert, und die reduzierte, wenig dramatische äußere Handlung, in deren Mittelpunkt die existentielle Einsamkeit einer Frau steht, legen eine solche gleichwertige Behandlung auch nahe. Haushofers gewichtiger innerer Monolog über einen katastrophalen Ausnahmezustand und das Geworfen-Sein des Menschen verlangt förmlich nach einer solchen Präsenz. Und Pölsler findet dazu Bilder, die nicht nur illustrieren, sondern teils visionäre Kraft besitzen. Immer wieder evozieren sie das Surreale und Unheimliche, das als Ungreifbares der Natur und ihrer verschlossenen Ordnung entwächst und über der apokalyptischen und zugleich sehr realen Sciencefiction-Szenerie schwebt.

Das Schreiben der Ich-Erzählerin (Martina Gedeck), vergegenwärtigt durch ihre nüchtern-melancholische Stimme aus dem Off, strukturiert den Film, indem es Rückblenden in die erzählte Vergangenheit auslöst. Zugleich ist es selbstvergewissernde Zwiesprache gegen die Angst, Existenzbeweis und der Versuch, das Menschliche des Menschen zu bewahren. „Ich schreibe nicht aus Freude am Schreiben; es hat sich eben so für mich ergeben, dass ich schreiben muss, wenn ich nicht den Verstand verlieren will“, heißt es gleich zu Beginn. Dann schließen die Buchstaben des Filmtitels „Die Wand“ die handschriftlichen Aufzeichnungen der Ich-Erzählerin ein. Kurz darauf wird die Gefangenschaft der Protagonistin zum alptraumhaften Thema. Während eines Ausflugs in die Berge, wo sie zusammen mit einem befreundeten Ehepaar das Wochenende in einer Jagdhütte verbringen möchte, findet sie sich plötzlich isoliert und abgeschnitten vom Rest der Welt. Eine unsichtbare Wand versperrt ihr den Weg und hindert sie am Weitergehen. Als nicht wahrnehmbare Grenze durch Raum und Zeit erzeugt diese Paradoxie mannigfache Konfrontationen. In Julian Roman Pölslers Film bildet sie zugleich (als Auge der Kamera) die Trennlinie zum Publikum.

Nach dem lange anhaltenden Schock und Selbstmordgedanken, nach Alpträumen und einer sich verlierenden Hoffnung entwickelt die Heldin wie in einer Robinsonade Überlebensstrategien und neuen Lebensmut. Gegen die vermeintliche Sinnlosigkeit und Absurdität des Daseins will sie „sich der Wirklichkeit stellen“. Und dabei helfen ihr Tiere: die tägliche Sorge um einen Hund namens „Luchs“, eine Katze, die Kuh „Bella“ und einen kleinen Stier sowie die mühevolle Arbeit, die mit dieser Verantwortung verbunden ist. Sie erkundet das Gebiet, erlernt landwirtschaftliche Techniken, aber auch – und trotz fortgesetzten Widerwillens – das überlebensnotwendige Jagen und Töten. Zwar ist ihr dieses notwendige Handeln eine Last, in die sie immer bewusster einwilligt, zugleich befreit es sie aber auch von der „Last der Entscheidung“. Schließlich erlebt sie eine allmählich sich vollziehende Verwandlung, ein langsames Hineinwachsen in eine neue, natürliche Ordnung, aus der die Liebe als „einzige Möglichkeit“ aufscheint. Eine Distanz zum „eingefrorenen Leben“ jenseits der Wand und eine Skepsis gegenüber der Rationalität sind damit verbunden. Pölslers nachdenklich stimmender Film konzentriert sich auf diese ebenso besänftigende wie schwerelose „helle Stille ohne Gedanken“ und spiegelt die inneren Aufbrüche und wechselnden Gemütszustände der Protagonistin – sowohl ihre Verschmelzungsphantasien als auch ihr Außenseitertum – in eindringlichen Bildern der Natur, die zur Seelenlandschaft wird.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Schönheit

(D 2011, Regie: Carolin Schmitz)

Die Macht der Vorurteile
von Ricardo Brunn

Ohne Zweifel ist „Schönheit“ von Carolin Schmitz in formal-ästhetischer Hinsicht einer der bemerkenswertesten deutschen Dokumentarfilme der letzten Zeit. Ähnlich ihrem Debütfilm „Portraits deutscher Alkoholiker“ kommt dem Raum dabei eine besondere …

Ohne Zweifel ist „Schönheit“ von Carolin Schmitz in formal-ästhetischer Hinsicht einer der bemerkenswertesten deutschen Dokumentarfilme der letzten Zeit. Ähnlich ihrem Debütfilm „Portraits deutscher Alkoholiker“ kommt dem Raum dabei eine besondere Rolle zu. In tableau-vivant-artigen, bis in jedes Accessoire durchgeformten Einstellungen, die ähnlich den Kulissen des Theaters kein Außerhalb zulassen und durch ihr Inventar oftmals eine klinische Atmosphäre der Ordnung und Sauberkeit ausstrahlen, zeigt die Regisseurin Personen, in deren Leben Schönheitsoperationen einen zentralen Stellenwert besitzen. Konsequent kommentieren die Umgebungen die Protagonisten und ihr Gesagtes, überhöhen oder revidieren mal ironisch, mal zynisch. Während sie über ihr Online-Forum zum Thema Schönheitsoperationen als Lebensinhalt spricht, formt eine Protagonistin silikonkissengroße Buletten in ihrer Traumküche. In der Montage, die über den gesamten Film hinweg fabelhafte Transitionen herstellt, erfährt diese Szene einen weiteren Bruch, indem ihr anschließend das Bild eines Vertreters in gediegenem Ambiente entgegengesetzt wird, der über die Verschiedenartigkeit von Brustimplantaten referiert.

Unablässig wird so der Versuch unternommen, die Figuren in ihrem Wunsch zu entlarven, Teil einer diffusen (in Habitus und Raum jedoch erspürbaren) Elite sein zu wollen, wenn sie sich mit Statussymbolen umgeben, die durch die Zuordnung bestimmter Räume jedoch wie Fremdkörper wirken: Der Mercedes mit Holzarmaturen will in seinem edlen Erscheinungsbild einfach nicht zu den Vorhängen, der Couch und der großformatigen Teddybärfotografie im Wohnzimmer einer Protagonistin passen. Es geht demnach auch um Schönheit als Ersatzhandlung und manchmal ganz banal um das Gefühl von (Selbst-)Sicherheit. Und nicht selten wird durch die Organisation der Menschen im Raum nach einem strengen visuellen Konzept das Subjekt zum Objekt einer fast schon pathologischen Betrachtungsweise.

In dieser riskanten Gratwanderung belastet sich der Film schnell mit dem Vorwurf der Denunziation. Zwar entlarven sich die Protagonisten hinter ihren äußerst sauber verputzten Fassaden ihres Spießbürgerdaseins durch Habitus und Sprache oft genug selbst. Der konzeptuelle Ansatz und die gewählten filmischen Mittel verstärken diesen Eindruck jedoch, der zu allererst im Ansatz des Filmes zu suchen ist und mit der Auswahl der Figuren beginnt. Egal ob alleinstehender Dandy in gehobenem Alter, der es sich schuldig ist, schön zu sein oder in Partnerschaft lebende Automobilkauffrau auf Karrierefeldzug, die erst einmal keine Kinder möchte und auch nicht bereit wäre, diese (zum Schutze ihrer Brüste) zu stillen – das Figureninventar ist geprägt von Menschen, die spielend als Karikaturen zu zeichnen sind. Natürliche Ambivalenzen in den Personen werden, insofern sie je gedreht wurden, durch den Schnitt zu Gunsten einer Meinung großflächig wegoperiert. Denn indem sie bestimmte Figuren suchen und in akribisch konstruierte Tableaus setzen, gehen die Filmemacher bereits mit einer Ansicht in die Dreharbeiten, welche sie nicht hinterfragt wissen wollen. Auf einen dramaturgischen Bogen (einige Figuren werden nicht konsequent begleitet und ihr soziales Umfeld bleibt teils drastisch ausgespart), wodurch Relativierungen erzeugt werden könnten, wird verzichtet. Die offene dramatische Struktur reiht lieber zusätzliche Figuren, wie die 92jährige Oma, die noch ein paar Jahre schön sein will, in das Jahrmarktkaleidoskop der Eitelkeiten ein, obwohl diese dem Gesamtbild kaum mehr etwas hinzufügen können und im Fall dieser Frau nur bestätigen, dass Schönheitsoperationen bis ins Greisenalter hoch im Kurs stehen.

Der Vergleich mit den Filmen Ulrich Seidls („Mit Verlust ist zu rechnen“, „Tierische Liebe“), die einem aufgrund der überzeugenden formalen Strenge in den Sinn kommen, will deshalb nicht recht greifen. Im vollkommenen Gegensatz zu Ulrich Seidl wirken alle Personen in „Schönheit“ wie medizinisches Anschauungsmaterial. Auf seiner Suche nach Extremen will uns Seidl hingegen einen Spiegel vorhalten und immer dann, wenn seine Filme in reine Bloßstellung abzudriften drohen, gleicht er diese mit der Würde seiner Figuren aus. Denn im Kern geht es immer um deren und damit letztlich um die Einsamkeit des Zuschauers beziehungsweise das ewige menschliche Drama des Geliebtwerdenwollens.

Am Ende verweist folglich selbst der Titel nur noch auf ein für die Protagonisten diffuses Schönheitsideal, welches für die Regisseurin offensichtlich nicht hinnehmbar ist. Deswegen macht es auch keinerlei Sinn einen Diskurs über den Begriff Schönheit anzustrengen, da der Film sich dafür nicht interessiert, so wie die Regisseurin den Fragen nach Schönheit in Interviews konsequent aus dem Weg geht und lapidar auf die Vielschichtigkeit des Themas verweist. Was sich hinter dem Wunsch nach einem schöneren Körper tatsächlich verbirgt (die Schönheitsoperation kann nur als Teil einer viel umfassenderen Strategie des Body-Enhancements verstanden werden), welche Probleme den Menschen in seinem Verhältnis zum eigenen Körper auch in Bezug auf moralische Qualitäten der Schönheit begleiten, das spart der Film weitestgehend aus.

Was tun wir nicht alle tagtäglich, um uns besser und, in einem weiter gefassten Sinne, schöner darzustellen als wir sind. Den Machern von „Schönheit“ scheint es nicht so zu gehen. Sie begreifen die Sucht nach (chirurgisch hergestellter) Schönheit nicht im Kontext des Körpers als Träger vielfältiger sozialer Botschaften, sondern begnügen sich mit der offensichtlichen Ablehnung einer Mittelschicht, die das Glücksversprechen der Schönheit mit ihren Mitteln zu erreichen sucht.

Léa – Die strippende Studentin

(F 2011, Regie: Bruno Rolland)

Sein und Schein
von Wolfgang Nierlin

Léa (Anne Azoulay) lebt mehrere Leben in verschiedenen Welten, die alle durch ein Band sozialer Abhängigkeiten miteinander verknüpft sind. In der nordfranzösischen Hafenstadt Le Havre versorgt sie ihre demenzkranke Großmutter …

Léa (Anne Azoulay) lebt mehrere Leben in verschiedenen Welten, die alle durch ein Band sozialer Abhängigkeiten miteinander verknüpft sind. In der nordfranzösischen Hafenstadt Le Havre versorgt sie ihre demenzkranke Großmutter (Ginette Garein), bei der sie auch wohnt, studiert tagsüber in der Bibliothek und arbeitet abends als Bedienung in einer Striptease-Bar. Dass sie die Tochter des örtlichen Bürgermeisters ist, der mittlerweile mit einer neuen Familie zusammenlebt, erfährt man eher nebenbei. Als sie einen Studienplatz für politische Wissenschaften in Paris erhält, verschärft sich die soziale Dialektik: Um ihren Unterhalt und die Pflegeheim-Unterbringung ihrer Oma zu finanzieren, beginnt sie als Striptease-Tänzerin zu arbeiten. Bruno Rollands starkes Langfilmdebüt „Léa“ ist für seine DVD-Veröffentlichung in Deutschland deshalb mit dem sowohl dümmlich klingenden wie irreführenden Untertitel „Die strippende Studentin“ versehen worden.

Tatsächlich ist sein differenzierter Film eine Auseinandersetzung mit dem marxistischen Diktum, wonach das soziale Sein das Bewusstsein bestimme. Zwar arbeitet Léa selbstdiszipliniert und streng, sozial isoliert und sich bis zur Erschöpfung selbst ausbeutend an der Widerlegung dieses Satzes, gerät dabei aber immer tiefer in eine sowohl psychische als auch existentielle Krise. „Ich bin ein unabhängiger Typ!“, sagt sie trotzig und gegen allen Stress und Ärger anfangs noch zu ihrem Spiegelbild, was durchaus auch als Suche nach einem eigenen Weg jenseits der traditionellen Rollenzuweisung zu verstehen ist. Leitmotivisch zieht sich dieses mit Zweifeln, Ungewissheiten und Ermutigungen verbundene Bild der Selbstprüfung durch den Film. Ergänzt und kontrastiert wird es von Léas einsamen Gängen durch leere nächtliche Straßen.

Doch dann lässt sich die kontrollierte Frau regelrecht fallen und gerät zunehmend in einen Sog der Selbstzerstörung. Léa schottet sich ab, verliert das Vertrauen zu Menschen, erträgt kaum noch Nähe – etwa die zärtliche Fürsorge des Barmanns Julien (Eric Elmosnino) – und zeigt Symptome körperlicher Erstarrung. Bruno Rollands elliptisch erzähltes Portrait einer jungen Frau auf der Suche nach einem Platz im Leben lässt dabei Praxis und Theorie, Uni-Vorlesung und Prostitution, vor allem aber Sein und Schein aufeinander prallen. Immer wieder inszeniert er Anne Azoulay, die übrigens am Drehbuch mitgearbeitet hat (und demnächst in Pierre Schoellers „L’Exercice de l’État“ zu sehen sein wird), wie auf einer Bühne in frontaler Sicht: ob beim Putzen in der großelterlichen Wohnung, bei der Aufnahmeprüfung im Hörsaal oder bei ihren aufreizenden Tänzen im Stripteaselokal. Stets ist Léa den Blicken ausgesetzt, weckt aber auch Phantasien und verkauft Träume; der Dealer existiere durch den Käufer wird in einer Vorlesung Bernard-Marie Koltès zitiert.

Doch Bruno Rolland will weder die Opfer-Rolle umkehren, noch geht es ihm um einfache Zuschreibungen oder die lineare Verkettung von Ursache und Wirkung. Sein komplexer Film beschreibt vielmehr die Wechselwirkungen von Licht und Schatten, Vorder- und Hintergrund. Und wenn am Ende seine unerlöste Heldin am Strand von Le Havre das Bild verlässt, während am Horizont ein Schiff in den Weiten des Meeres verschwindet, liegt in diesem Abschied trotz aller Offenheit auch die Hoffnung des Aufbruchs.

Die Ökonomie des Glücks

(GB / USA / D / F 2011, Regie: Helena Norberg-Hodge, Steven Gorelick, John Page )

Die Blaubluse der Weltrevolution
von Andreas Thomas

Wie man offene Türen einrennt, um gleich darauf mit der Hintertür aus dem Haus zu fallen, das demonstriert die Trägerin des alternativen Nobelpreises, Helena Norberg-Hodge anhand ihres couragierten – oder …

Wie man offene Türen einrennt, um gleich darauf mit der Hintertür aus dem Haus zu fallen, das demonstriert die Trägerin des alternativen Nobelpreises, Helena Norberg-Hodge anhand ihres couragierten – oder eher coregierten und soloproduzierten Films „Die Ökonomie des Glücks“.

Es gibt manchmal Momente, da will man einfach nicht rezensieren, was aber als Rezension obliegt. Dieser ist einer davon. Hier kommt die Begründungskette: a) Helena Norberg-Hodge, das kann der Zuschauer zur Genüge registrieren, weil diese blaugebluste Frau nicht müde wird, perfekt und permanent blaugeblust auszusehen, des Weiteren immer eine Stimmungskanone des Weltfriedens zu sein, indem sie permanent positiv gesundheitsgetestet kuckt, und wie eine Art abgespeckte (in Wahrheit wahrscheinlich krankheitgeschrumpfte) und langhaarige Maggie Thatcher aussieht, was b) aber auch nicht hilft, weil sie in ihrem blauen Mao-T-Shirt und mit ihrer permanenten Grinserei wie die Reinkarnation der kompletten Mun-Sekte wirkt, und man sich als Zuschauer sofort überlegt, ob man lieber eine Volldosis Heroin oder jene masseneinschläfernde Heroine zu sich nehmen sollte: Wenn aber jemand wie Frau Northam-Carter eben so gut Bescheid zu wissen scheint, das bringt ihr Film ja rüber, dass blaue Hemden den Weltfrieden beherbergen, dann muss man sich ihr wahrscheinlich anvertrauen.

Daher: Der Film ist dufte und handelt davon, dass du und ich (also WIR) die Weltrevolution insofern zu betreiben haben, dass a) eben keiner mehr einsam ist. Und b) es keine Ausbeutung von Ladaq und all diesen anderen ökonomischen Nischen mehr zu geben hat, weil sonst da alles, was da kreucht und fleucht, leidet, denn normal haben die da ihre Kultur, auch bis vor kurzem gehabt, nur kam da jemand anderes, auch nicht Helena Bonham-Carter, aber trotzdem Schlechtes, und hat gesagt: Jetzt wird KONSUMIERT und nicht mehr amüsiert, sondern ganz arg gelitten. Innerhalb von etwa drei Jahren hat dann die ladaqsche komplette Bevölkerung (die Filmbilder beweisen das eindringlich) alle alten und festgefügten traditionellen Werte des Lachens und der Freundschaft fahren lassen; überall gab es plötzlich nur Schmutz und weinende Leute. Grund dafür war die Globalisierung. Das bestätigen auch alle Freunde von Frau Blauham. Daher ist der Rat von Frau Blaumann-Carter, dass ab jetzt Schluss sein muss mit Coca Cola und Hamburger für alle, plausibel. Und das nicht nur im fernen Asien!

Es darf auch bei uns nicht mehr normalen Berufen nachgegangen werden, wie Einzelhandelsfachverkäuferin oder Animateur im Beach-Club. Es wird die komplette Bevölkerung dazu benötigt, überall wo noch ein Krumen Erde ist, Gemüse und Obst anzupflanzen, damit wir wieder lokal und nicht global verknüpft sind. Dann wird sich das Lachen der ab sofort ausschließlich landwirtschaftlich tätigen Weltbevölkerung ganz schnell wieder einstellen, die doofen Kapitalisten, Banker und Spekulanten werden nach Hause gehen und sich schämen und freundlich werden wir uns Gurke um Gurke zur Hand reichen, es wird getanzt und gesungen werden rund um den Maulbeerbaum (friedvolle Film-Welt-Musik: Florian Fricke, Popol Vuh), und es wird wieder die Frage erlaubt sein: Wozu sind Kriege da? Und die Antwort wird lauten: Wir haben den Grund tatsächlich vergessen, denn wir sehen keinen Grund, einen Krieg zu führen, weil wir alle Erdbewohner lieben und uns auch alle Erdbewohner lieben.

Dass diese ganze Zukunftsvision der Helena Norberg-Hodge und ihrer weitgehend esoterisch gefärbten Freunde (es gibt alle fünf Minuten eine behauptete, fettgedruckte These, und nicht ein einziges Mal eine Gegenmeinung) tatsächlich so wirkt, als wäre sie einem Faltblatt der Zeugen Jehovas entsprungen, könnte Freunde der Weltverbesserung davon abschrecken, die Welt zu verbessern, und es könnte Freunde der bestehenden „Freiheit“ darin bestärken, auf jeden Fall Arbeitslosigkeit, Klimaerwärmung, Umweltverschmutzung und persönliche Depressionen derartiger Gleichmacherei und sektenartiger Hirnwäsche vorzuziehen.
Fänden wir das gut? Nein! Finden wir deshalb den Film gut? Nein!

Angels‘ Share

(GB / F 2012, Regie: Ken Loach)

Dreamteam
von Wolfgang Nierlin

„Steckt man einmal in der Scheiße, kommt man nicht mehr raus“, sagt Robbie (Paul Brannigan) über sich und seine kriminelle Familiengeschichte im sozialen Abseits des Lebens. Genau diesen Satz und …

„Steckt man einmal in der Scheiße, kommt man nicht mehr raus“, sagt Robbie (Paul Brannigan) über sich und seine kriminelle Familiengeschichte im sozialen Abseits des Lebens. Genau diesen Satz und den darin enthaltenen Determinismus widerlegt Ken Loach auf märchenhafte Weise in seinem neuen Film „Angels‘ Share“. Durch Herkunft benachteiligt, vom tristen Milieu geschädigt, perspektivlos und ohne Job sind alle, die zu Beginn des humorvollen Sozialdramas vor dem Richter erscheinen, um ihr Strafmaß in Empfang zu nehmen, was der britische Meisterregisseur ziemlich nüchtern und ernüchternd inszeniert. Gewalt und Gegengewalt, Diebstähle und Drogen bestimmen den Alltag dieser kleinkriminellen Verlierertypen, deren Vergehen mal beknackt, mal erschreckend brutal ausfallen. So bescheinigt der Richter dem tumben Albert (Gary Maitland), dass seine „abgrundtiefe Dummheit“ nur noch von seinem Glück überwogen werde, während er Robbie attestiert, ebenso gefährlich wie talentiert zu sein.

Der verständnisvolle und gutmütige Sozialarbeiter Harry (John Henshaw), der die straffällig gewordenen Jugendlichen bei ihrer Ableistung gemeinnütziger Arbeit unter seine Fittiche nimmt, bezeichnet seine chaotischen Schützlinge gar als „Dreamteam“. Die witzige Verschrobenheit der Rumpeltruppe, die letztlich ihren Status quo bestätigt, fungiert dabei als Kontrastfolie zu Robbies tragikomischer Entwicklungsgeschichte, für die sich der routinierte Drehbuchautor Paul Laverty einen cleveren Coup ausgedacht hat. Dass das Verlassen der alten Bahnen und der Beginn eines neuen Lebens der Solidarität und Freundschaft guter Seelen bedarf, gehört gewissermaßen zu Ken Loachs Grundüberzeugungen. Teilhabe hat in seinem Film mit Teilen zu tun, was ein wenig auch im doppeldeutigen Titel steckt.

Neben Harry, der Robbie immer wieder auffängt, ist es vor allem Robbies Freundin Leonie (Siobhan Reilly), die an ihren Freund glaubt und an dessen Verantwortungsgefühl für das gemeinsame Baby appelliert. „Ich habe Angst vor mir selbst“, kommentiert dieser sein Erschrecken über seine zerstörerische Aggressivität. Doch dann macht er Bekanntschaft mit schottischem Malt Whisky, vertieft sich in dessen Studium und findet darin in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung und Aufgabe. Es braucht diesen Katalysator, um seine schrittweise Befreiung auch bildlich und räumlich in Gang zu setzen. Getarnt mit Kilts, begeben sich Robbie und seine schrägen Freunde auf einen Trip von Glasgow in die schottischen Highlands, wo in einer altehrwürdigen Destillerie ein besonders alter und teurer Whisky versteigert werden soll. Mit viel Sympathie für seine liebenswerten Helden, mit augenzwinkerndem Humor und einer Prise Spannung inszeniert Ken Loach ein märchenhaftes (Whisky-)Abenteuer über die verändernde Kraft der Solidarität und macht „Angels‘ Share“ so zu einem sehr unterhaltenden, rundum gelungenen feelgood movie.

The Ghostmaker

(USA 2011, Regie: Mauro Borrelli)

Tod ist eine Losung
von Sven Jachmann

Novize im Filmgeschäft war Mauro Borrelli höchstens nur noch dort, wo er für seinen Debütfilm 'The Ghostmaker' den Regiestuhl besetzte. Als Illustrator, Storyboardzeichner und concept artist hat er bereits bei …

Novize im Filmgeschäft war Mauro Borrelli höchstens nur noch dort, wo er für seinen Debütfilm 'The Ghostmaker' den Regiestuhl besetzte. Als Illustrator, Storyboardzeichner und concept artist hat er bereits bei dutzenden megalomanischen Blockbuster-Produktionen (u.a. 'Dark Shadows' (2012), 'Captain America' (2011), 'The Wolfman' (2010), 'Fluch der Karibik' (2006 / 2007)) ein wenig von den Regeln des Spiels der Großen lernen dürfen. Und aus der streng ökonomischen Perspektive eines beliebigen Global Players, der neben Radios, Zeitschriften, Spielzeug oder Waffen eben auch an Filmen verdient, macht Borrelli mit seiner B-Film-Visitenkarte möglicherweise sogar einiges richtig. Immerhin verkneifen sich Regie und Drehbuch auch wirklich jede eigenständige Idee und entscheiden sich im Bedarfsfall ausnahmslos für die simpelste Lösung, weil Regelbrüche mit steigendem Budget schließlich umso massiver das Risiko Kapitalvernichtung potenzieren. Das wäre zumindest ein Indiz für vermeintlich zielgruppenorientiertes Arbeiten. Nur, einem Streber dabei zuzusehen, wie er gefällig die frustrierten Weisheiten seines narzisstischen Lehrers nachplappert, ist ungefähr so ergiebig wie den Focus als Mittel zur Weltflucht zu nutzen.

Mit anderen Worten: Als Horrorfilm, der uns, aus welchen Gründen und wovor auch immer, das Fürchten lehren will, hat „The Ghostmaker“ vollends versagt. Und es braucht nicht viel Federlesens, um die ausnahmslos mittelmäßige Konzeption dafür zu verantworten: In schlechtestdenkbarer TV-Ästhetik aus Prä-HBO-Zeiten, umsäuselt von einem addiert weniger als zehn Minuten verstummenden, nicht mal diskussionswürdig akzentuierenden, sondern rabiat dauerhaft eingesetzten Hier-ist-der-Teufel-in-jeder-Szene-versteckt-Score geht es hinein in die schauspielerisch leidlich vermittelte kaputte Psyche eines Studenten-Dreiergespanns (mit Frauenanhang) – oder was man eben dafür halten soll. Der erste, Kyle (Aaron Dean Eisenberg), ist Schönling mit zu großer Crystal-Leidenschaft, wofür er sich auch mal heimlich an den Ersparnissen seiner Freundin Julie (Liz Fenning) bedient, sofern er sie nicht im WG-Whirlpool verführt. Das bringt wiederum Sutton (Jeff Walter Holland), seinen Mitbewohner und zweiten im Bunde, insgeheim in Rage, hegt der doch eine unausgesprochen obsessive wie einseitige Bindung zu Julie – mit später noch fatalen Folgen. Aber zunächst erstmal ist Sutton gelähmt und deswegen ein armer Tropf. Weil die zwei keine Erklärung finden, welches Geheimnis der antike Sarg mit der obskuren Mechanik im Kopfbereich birgt, den Kyle mehr oder weniger zufällig von seiner Arbeitstour zuhause anschleppt, wird alsbald zur Recherche Platt (Jared Grey) konsultiert. Der ist, der drollige Name spoilert‘s, forschungsaffiner Geistesmensch, sieht deswegen eher unschön aus, trägt Brille und garniert in der Unibibliothek die von Studenten erbetenen Literaturtipps mit den Sätzen: „Du denkst über postmoderne Philosophie nach? Super, find ich gut! Da, die ersten Kapitel sind etwas zäh, aber der Schluss verändert dein Leben!“ (Expertenfrage: Wie heißt der Klassiker zum Verdikt?)

Wenn Klischees buchstäblich transzendieren, wächst wohl der Raum für Einfalt: Der Sarg, der titelgebende Ghostmaker, ist Schöpfung des morbiden Anti-Da Vincis Wolfgang von Tristen, einem Konstrukteur von Folterwerkzeugen aus dem 15. Jahrhundert. Ist die Maschine aktiviert, versetzt sie den in ihr Liegenden in den Nahtod (Platt:' Das ist eine NDE, eine NAHTODERFAHRUNG!'), der sich dann für wenige Minuten als Geist frei bewegen kann. Das Trio versucht es also unisono (dem Goldfisch hat der vorherige Testlauf nicht geschadet), dies gleich mehrere Male und bekommt alsbald üble Konsequenzen zu spüren. Der kluge Platt wird vom fürchterlich animierten Tod heimgesucht, weil er sonst noch das Ende verraten hätte, der potentiell derangierte Kyle lernt pädagogisch wertvoll seine Crystal-Abhängigkeit ver- und Julie wieder achten (ein Geisterblick hinter die Kulissen des abgeranzten Wohnwagens, in dem sein Dealer, ein schmerbäuchiger Grunger – da sind die also heute! -, samt Lakai fürs schnelle Geld über Leichen gehen, hilft) und Sutton steigen die neu mobilisierten Omnipotenz-Fantasien direkt in die Beine, sodass er Julie, als Geist zuvor ausgiebig observiert und befummelt, schließlich ins Finale entführen kann.

Die Spuren von „Flatliners“, 'Final Destination', Paul Verhoevens „Der Unsichtbare“-Variante „Hollow Man“ und „Christiane F.“ im Plot fallen nicht weiter ins Gewicht, die penibelst hanebüchenen Konstruktionen von Konflikten sind kein Graus, weil sich die gesamte Apparatur in ihrem grundsätzlichen Desinteresse an jedem Aspekt der Filmarbeit bestens darauf versteht, nicht die geringste Sorge um all die Klappentext-Figuren mit ihren Broschüren-Nöten aufkommen zu lassen. Diese ausgestellte Lustlosigkeit ringt mit einem schaurig ernsten inszenatorischen Erklärzwang, der seinem Publikum auch nicht eine Verständnis-Eigenleistung zugestehen will. Kontrollsucht jedoch, die auf jedwede Mühe lieber gleich zugunsten eines höheren Regelkatalogs verzichtet, bewegt sich in Nähe der Manie und die droht spätestens dann misanthropisch zu werden, sobald man unter solchen Voraussetzungen fremde Menschen 90 Minuten in einen dunklen, geschlossenen Saal gesperrt wissen will. Man muss sich ja nun nicht auch noch im Kino als Depp vorführen lassen.

Uliisses

(BRD 1982, Regie: Werner Nekes)

Schwellenfilm
von Klaus Kreimeier

Als „Polyhistor“ bezeichneten die alten Griechen einen Universalgelehrten. Das Universum und das Wissen über das Universum waren damals noch überschaubar. Der Begriff wurde obsolet. Dennoch, ich wage es: Werner Nekes …

Als „Polyhistor“ bezeichneten die alten Griechen einen Universalgelehrten. Das Universum und das Wissen über das Universum waren damals noch überschaubar. Der Begriff wurde obsolet. Dennoch, ich wage es: Werner Nekes ist ein Polyhistor des kinematografischen Wissens aus dem Ruhrgebiet. Er wächst in den 50er Jahren in Duisburg-Hamborn, Oberhausen und Mülheim/Ruhr auf, studiert Sprachwissenschaft und Psychologie in Freiburg und Bonn, ist Leiter des studentischen Filmclubs und produziert ab 1965 eigene experimentelle Filme, zunächst auf 8mm, dann auf 16mm, sehr bald zusammen mit seiner Lebensgefährtin, der Malerin Dore O. 1968 ist er Mitbegründer der Filmmacher-Cooperative und der Hamburger Filmschau. Mit Dore O. dreht er den 10minütigen Experimentalfilm 'jüm-jüm', in dem er über Montage nachdenkt; man sieht Dore O. auf einer Schaukel sitzend, sie bewegt sich vor einem gemalten überdimensionalen Phallus hin und her, in einem mathematisch ausgeklügelten Rhythmus.

1968 sah ich erstmals einen Nekes-Film in Oberhausen und war fasziniert – das war 'Kelek', ein Stummfilm, der das Blicksubjekt hinter ein vergittertes Kellerfenster verbannt, durch das man auf eine Straße und Menschen sieht. Nekes erhält Filmpreise, wird Professor an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und an der Kunsthochschule Offenbach – vor allem aber wird er als Sammler berühmt, er sammelt alles zur Prähistorie der Kinematografie: optische Spielzeuge des 19. Jhs., Medien wie die Laterna Magica, panoptische Geräte und vieles mehr.

Das Ruhrgebiet, optische Spielzeuge, magische Medien – damit sind wir schon im Zentrum seines Films 'Uliisses', den er in den Jahren 1980 bis 1982 gedreht hat. 'Uliisses' ist einer der ganz wenigen deutschen Avantgardefilme, die nach 1945 bis heute entstanden sind. Man müsste sich den Film mindest dreimal hintereinander ansehen: Das erste Mal, um sich von seinen Sprüngen und Übersprüngen verwirren zu lassen und ratlos zurück zu bleiben. Ein zweites Mal, um seine ästhetische Raffinesse, die radikale Schönheit vieler seiner Bilder zu genießen. Ein drittes Mal schließlich, um dessen gewahr zu werden, dass uns dieser Film auch eine Geschichte erzählt, dass er Unterhaltungswert hat und nicht nur Witz, sondern auch viele unglaublich komische Momente.

'Uliisses' ist eine Collage, ein äußerst präzis angelegtes Netz aus Bildern, die unterschiedlichsten Filmtechniken entstammen – und er ist ein Amalgam, eine Verknüpfung von Homers 'Odyssee' und James Joyce’ 'Ulysses'. Eingelagert sind Theaterszenen aus dem 24-Stunden-Stück 'The Warp' des englischen Autors Neil Oram, mit dessen Schauspielern Nekes in England zusammen gearbeitet hat. Mit Homer begann alles Erzählen in der europäischen Kulturgeschichte, und mit Joyce beginnt das Erzählen in der Moderne. Der Ulisses der Odyssee – oder der Leopold Bloom von James Joyce – ist in diesem Fall Uli, ein Fotograf, der von Dublin in die Heimat reist; sein Ithaka ist ein halb marodes Ruhrgebiet düsterer Fördertürme, grauer Autobahnen und schrundiger Brandmauern. An seiner Seite: Telemach alias Phil, er entstammt Neil Orams Stück „The Warp“. Seine Penelope oder seine Molly Bloom ist das Model Tabea Bloomenschein, die vom ganz großen Film, von Hollywood träumt. Die von Homer bekannten Episoden – von Calypso über die Sirenen, Eumäos und Helios bis zur Heimkehr nach Ithaka – strukturieren den Film durch eingeblendete Zwischentitel und gönnen uns insoweit eine gewisse Orientierung, ebenso wie die Anspielungen auf den epochalen Roman von Joyce. Sie mobilisieren unser literarisches Gedächtnis – gleichzeitig setzen sie die Literarisierungen dem Bilderhagel aus Nekes‘ Filmmaschine und damit einer Um- und Neuinterpretation aus. „Lighterature“, „Lichteratur“ nennt Nekes selbst sein Amalgam aus ‚Lichtspiel’ und Literatur.

Doch damit nicht genug. Allein auf der Ebene der Filmgenres durcheilen wir das gesamte Repertoire des Kinos: von der Slapstick-Groteske über das Roadmovie bis zum Agentendrama, vom abstrakten Film der 20er Jahre über den Industriefilm bis zum Pornofilm. Die Genrevielfalt dient keinem Selbstzweck. Nekes verwebt die Genreanspielungen und Genregrenzen sowohl mit dem Stoff der erzählten Geschichte als auch mit seiner subtilen Filmgrammatik, seiner Philosophie des Sehens. Dieses Verweben und Verknüpfen, das wechselseitige Durchdringen von Motiven, literarischen und filmischen Techniken gilt auch für die zahlreichen Zitate aus der Filmgeschichte mit ihren großen Figuren, Mythen und Klischees: Blitzartig, oft durch doppelte und dreifache Überblendung verrätselt, begegnen wir einem Zitat aus 'Casablanca', der Cathérine Deneuve aus 'Belle de Jour', dem gespreizten Gang von Groucho Marx und der Einfahrt des Zuges von Lumière – jenem Urknall, mit dem angeblich die Geschichte des Kinos begann.

Als ich den Film nach vielen Jahren wieder sah, ging mir ein Dreiklang aus Wörtern nicht aus dem Kopf, sie belegen auch die Schönheit und Genauigkeit der französischen Sprache: Voyer – voyeur – voyage. In Nekes’ Film geht es, in erster und letzter Instanz, um das Sehen und Sehen-Können; um das Sehen-Wollen und die Seh-Lust; um Wahrnehmen und Reisen, auch um eine Reise in das Innere des Sehvorgangs als einer Leistung unseres Gehirns. Dietrich Kuhlbrodt hat mit Recht festgestellt, Gegenstand dieser Odyssee sei „die Bildsprache selbst: das Sehenlernen und das Sehenwollen.“ Werner Nekes ist Zauberer und Erfinder, ein Archäologe, der in seiner Werkstatt von den präkinematografischen Attraktionsmaschinen bis zur Computersimulation alle Werkzeuge nutzt, um „die Welt als kinematographisches Vexierbild“ nachzubauen. Es sieht so aus, als teste er die gesamte Geschichte der künstlichen Seh-Maschinen noch einmal durch, um dem Geheimnis der bewegten Bilder auf die Spur zu kommen: die Spiegelbilder des Barock, rotierende Spiegel, die Stereo-Effekte der frühen Fotografie und die Cinemascope-Künste des Kinos, die Holografie, die Bildzeilen des Fernsehens, schließlich die computergesteuerte Bildschaltung, das Polaroidfoto und den Laserstrahl.

Bazon Brock beschreibt in seinem langen Essay über diesen Film, wie Nekes die Funktionsweise des Thaumatrops, eines Spielzeugs aus dem 19. Jahrhundert, rekonstruiert, einer wahren „Wundermaschine der Bilderzeugung“: „Die Abbildung zeigt einen Mann und eine Frau in einer allseits bekannten Berührungsform. Die Berührung wird auf dem Spielzeug selbst gar nicht dargestellt, sondern entsteht erst in der Wahrnehmung des Betrachters, sobald das Metallplättchen um seine Achse mit hinreichender Geschwindigkeit rotiert. Dann verschmilzt die auf der Vorderseite dargestellte männliche Figur mit der auf der Rückseite dargestellten weiblichen Figur zum Paar. Auf diesem Verschmelzungseffekt von bewegten Bildern, die durch ein Nichtbild, einen Grenzstreifen, eine Schwarzphase oder ähnliches vonei-nander getrennt sind, beruht die gesamte Wunderwelt des Films.“

Beeindruckend ist der Schluss des Films. Uliisses tötet die Freier Penelopes bzw. Tabeas mit Hilfe der Fotografie, er schießt auf sie mit seiner Kamera, bannt sie im Bild. Das Bild aber zerfällt zu Staub, zu Nachbildern aus phosphoreszierendem Pulver. Das letzte Bild ist eine alte Lithographie von Odysseus’ Heimkehr nach Ithaka, die in wechselnder Beleuchtung als fotografisches Negativ oder Positiv erscheint.

'Uliisses' ist ein Schwellenfilm, genauer: ein Film, der um 1980 an einer Umbruchstelle entstanden ist. Das elektronische Bild hatte die technische Grundlage der Bildproduktion radikal verändert. 'Uliisses' ist noch ein Kinofilm, aber er stellt sich dem Fernsehen und bezieht, in einer sehr markanten Szene, die Fernsehtechnik in seine Bilderwelt ein. Heute, mehr als 30 Jahre später, können wir hinzufügen: 'Uliisses' steht auch an einer Schnittstelle zwischen den analogen und digitalen Medien. Nekes bedient sich bereits des Computers als eines technischen Hilfsmittels – die neuen imaginären Welten, die heute die digitalen Techniken ermöglichen, sind hier schon zu erahnen, aber sie werden noch mit analogen Techniken evoziert.

Die Kinder vom Napf

(CH 2011, Regie: Alice Schmid)

Heidi-Surroundings
von Andreas Thomas

„Niiiiiina!“ – „Caaaaaarolyn!“- Kinderstimmen im Dunkel. Kleine Lichtkegel von Helmlämpchen beleuchten einen Schneehang; das ist der winterliche Schulweg einer Handvoll Kinder aus der „UNESCO Biosphäre Entlebuch“, auch genannt „Napf“. Zehn …

„Niiiiiina!“ – „Caaaaaarolyn!“- Kinderstimmen im Dunkel. Kleine Lichtkegel von Helmlämpchen beleuchten einen Schneehang; das ist der winterliche Schulweg einer Handvoll Kinder aus der „UNESCO Biosphäre Entlebuch“, auch genannt „Napf“. Zehn Kilometer zu Fuß und mit der Seilbahn, welches andere Kind hat schon einen so spannenden Schulweg?

Ein Jahr lang, von Winter zu Winter, hat die Filmemacherin und Autorin Alice Schmid „Die Kinder vom Napf“ begleitet, auf dem Schulweg, in der Schule, auf der Wiese, bei den Hühnern, Kühen, Ziegen. Beim Musizieren, beim Spielen und beim Arbeiten. Zwischendurch erzählen die Kinder (auf Schwyzerdütsch), was sie Spannendes erleben, berichten über den Habicht, der die Hühner frisst und den Wolf, der die Schafe reißt. Die Tonspur (Musik und Sounddesign: Daniel Almada) tut ein Übriges: Ein unheimliches Geheul irgendwo zwischen Note und Tierlaut ertönt, wenn die Sprache auf den Wolf kommt, ein finsteres Grollen lässt die Lautsprecher erbeben, sobald auch nur eine Wolke sich über die Almen schiebt.

Mikrofontechnisch ist hier das Leistungsstärkste aufgefahren: wir hören die Kühe schmatzen, den Schnee knirschen, den Wind (die Kinder sagen: das sind die Geister!) sausen, dass es eine Art ist. Ununterscheidbar, ob das Gehörte noch O-Ton oder schon künstlerische Überhöhung darstellt, wird klar: Hier geht‘s um Stimmungskreation und wo die Bilder manches Mal nur halb befriedigen, da säuselt, rauscht und muht das Horn vom Score besser als jede Kuh das könnte.

„Caaarolyn!“ – „Niiiiina“ – Auch im Hochsommer illustrieren noch einmal die schön klar und kindlich gerufenen Namen die Filmessay-Romanze im Hochalpenidyll auf grüner Alm. Ein Schelm, der sich da nicht an die rezeptierende Hand genommen fühlte. Aus welchen Gründen auch immer, bei aller pittoresker Malerei von Idyll und raunender Natur, ein wenig im Abseits, obschon im deklarierten Zentrum, bleiben die Kinder, bei denen wir auch nach 85 Minuten immer noch nicht genau wissen, wer denn nun Carolyn und Nina sind, und wer und was ihre Eltern sind und machen – oder gar nur, wie eigentlich ein ganz normaler Tag bei ihnen abläuft.

Momentaufnahmen, Stimmungsbilder haben mehr Gewicht als banale oder chronologische oder gar deskriptive Alltagsbilder bei den „Kindern vom Napf“, doch sie übermalen nicht, dass auch in entlegenen schweizer Bergdörfern nur mit Wasser gekocht und modernste Technik verwandt wird: Computer, Keyboard und Hightech-Mähmaschine sind Alltagsutensilien, und eine überpräsente Tonspur übertönt nicht, dass auch eine Kindheit im Napf eine ziemlich normale Kindheit sein muss. Nur eben mit ein wenig Heidi-Surrounding.

Frankreich privat – Die sexuellen Geheimnisse einer Familie

(F 2012, Regie: Pascal Arnold, Jean-Marc Barr)

Nummernrevue
von Wolfgang Nierlin

Der 18-jährige Romain (Mathias Melloul), der aus dem Off des Films über sich und seine Familie spricht, leidet ziemlich heftig unter seinem Mangel an sexueller Erfahrung. „Alle tun es, nur …

Der 18-jährige Romain (Mathias Melloul), der aus dem Off des Films über sich und seine Familie spricht, leidet ziemlich heftig unter seinem Mangel an sexueller Erfahrung. „Alle tun es, nur ich nicht“, konstatiert er frustriert mit Blick auf die anderen, sexuell aktiveren Familienmitglieder. Der verschlossene Junge fühlt sich unverstanden, ist genervt und „viel zu weit weg“ von ihnen. Im Grunde steckt er noch mitten in der Pubertät. Mehr schüchtern als heimlich ist Romain in seine Mitschülerin Coralie (Adeline Rebeillard) verliebt. Dass ausgerechnet er im Biologie-Unterricht beim Masturbieren erwischt wird und sich dabei auch noch selbst filmt, ist einer Mutprobe unter Klassenkameraden geschuldet, wirkt aber trotzdem einigermaßen abstrus. In Pascal Arnolds und Jean-Marc Barrs Film „Chroniques sexuelles d’une famille d’aujourd’hui“, der hierzulande unter dem vorbelasteten, weil irreführende Assoziationen (an die Amateurfilm-Sammlungen von Robert van Ackeren) weckenden DVD-Titel „Frankreich privat – Die sexuellen Geheimnisse einer Familie“ veröffentlicht wird, ist dies ein Vorwand, um das (vermeintlich) tabuisierte Gespräch über Sexualität in Gang zu setzen.

Aber noch mehr geht es den beiden französischen Filmemachern, die um die Jahrtausendwende im Zuge der Dogma-Bewegung ihre ersten gemeinsamen Projekte realisierten (mit der Trilogie über Liebe und Freiheit: „Lovers“, „Too Much Flesh“, „Being Light“) um das Zeigen einer möglichst natürlich dargestellten Sexualität. Was zunächst wie eine typische Coming-of-age-Geschichte beginnt, entpuppt sich sehr schnell als relativ unmotivierte und auch holprige Aneinanderreihung mehr (Uncut-Version) oder weniger expliziter Sexszenen. Das dünne Drehbuch behauptet eine Erzählung, die jenseits freundlich vorgetragener Klischees kaum der Rede wert ist. Vielmehr wird diese durchsetzt respektive „interruptiert“ von einer sexuellen Nummernrevue der einzelnen Familienmitglieder: So entdeckt etwa Romains Bruder Pierre (Nathan Duval) bei einer lustvollen ménage à trois seine Bisexualität, während sein verwitweter Großvater Michel (Yan Brian) in den Armen einer einfühlsam-zärtlichen Prostituierten stirbt. Aber auch das Generationen übergreifende sexuelle Treiben seiner Eltern und seiner Stiefschwester Marie (Leïla Denio) wird ausgiebig ins Bild gesetzt, bis schließlich und endlich er selbst – auf dem „Höhepunkt“ der fadenscheinigen Geschichte – sein erstes Mal erlebt.

„Wer das Leben liebt, liebt den Sex“, lautet die schlichte Botschaft des Films. Pascal Arnold und Jean-Marc Barr wollen mit ihren „Chroniques sexuelles“, wie sie im Bonusmaterial der DVD sagen, „die sonnige Seite der Sexualität“ zeigen und dabei mit einer „kinematographischen Note“ den „Freiraum zwischen Softsexfilmen und Pornographie“ ausloten. Die „Grammatik des Porno“ soll durch eine möglichst „naturalistische Darstellung“, die „vulgäre Schau“ durch ein sowohl heiteres als auch schamhaftes sexuelles Tun ersetzt werden. „Das Thema des Films ist die sexuelle Erfüllung und wie wir darüber reden“, formuliert Pascal Arnold die anvisierte Doppelgesichtigkeit ihres als „menschliche Komödie“ (Barr) gemeinten Films. Aber die ehrenwerten Absichten sympathischer Filmemacher ergeben noch keinen guten Film, sondern allenfalls akzeptable Pornographie. Ihre theoretischen Überlegungen wirken freilich etwas aufgesetzt und vordergründig, wenn man das manchmal langweilige, manchmal pseudopoetische und letztlich doch recht konventionelle Ergebnis sieht. Filmästhetisch betrachtet, verzichten die beiden Regisseure weitgehend auf detaillierte Großaufnahmen und musikalischen Kleister und wechseln die Perspektive immer wieder zwischen Nähe und Distanz, wodurch mitunter auch intime, sogar berührende Momente entstehen. Trotzdem folgen sie mit ihrer durchsichtigen Dramaturgie, der es vor allem an Entwicklung mangelt, einer pornographischen (Erzähl-)Logik und bleiben insofern mit ihren Intentionen auf halber Strecke stehen.

Bombay Beach

(USA 2011, Regie: Alma Har‘el)

Traumkulissen
von Carsten Happe

Bombay Beach ist ein Ort, an dem die Träume enden. Das Kaff an den Gestaden des Salton Sea, rund 150 Meilen südöstlich von Los Angeles entfernt, liegt im ärmsten County …

Bombay Beach ist ein Ort, an dem die Träume enden. Das Kaff an den Gestaden des Salton Sea, rund 150 Meilen südöstlich von Los Angeles entfernt, liegt im ärmsten County des Bundesstaats, nur noch etwa 100 Einwohner halten sich hier auf – Gestrandete im wahrsten Wortsinn. Es stinkt zum Himmel an diesem größten See Kaliforniens, das Ökosystem kollabiert in absehbarer Zukunft komplett, das einstige Naturparadies ist ein trauriger Schauplatz massiven Vogel- und Fischsterbens geworden.

Die wenigen Menschen, die sich hier, nahe der mexikanischen Grenze, unter anderem mit Zigarettenschmuggel über Wasser halten, ließen sich nach den gängigen Kategorien am ehesten unter White Trash subsumieren, ein paar Hippies sind auch dabei, Penner, Junkies, Ausgestoßene. Die israelische Videokünstlerin Alma Har’el hat sich dennoch die Mühe gemacht genauer hinzuschauen und hinzuhören. Und sie entdeckt Faszinierendes in den Biografien ihrer Protagonisten, wie dem schwarzen Teenager CeeJay, der der alltäglichen Gewalt in South Central Los Angeles entflohen ist und den Glauben an seine Football-Karriere noch nicht aufgeben mag. Oder dem kleinen Benny Parrish, einem manisch-depressiven Jungen mit blühender Phantasie, dem Alma Har’el in einer berührenden Sequenz die kurzzeitige Erfüllung seiner Wünsche schenkt.

„Bombay Beach“ schert sich nicht um die Konventionen des Dokumentarfilms, lässt Inszeniertes furchtlos in die Dramaturgie einfließen und bricht sie an vielen Stellen regelrecht auf – mit choreographierten Tanzszenen und videoclipartigen Montagen, die dem Film eine ganz eigentümliche Poesie verleihen, dem entrückten Ort seltsam angemessen. Wo die Dokumentation in der Regel einer Wahrheit oder Realität nachspürt, stellt „Bombay Beach“ vielmehr in Frage, ob seine Protagonisten ihre Realität nicht selbst imaginieren – anstelle ein Produkt ihrer Umwelt zu sein – und somit dem Leben in all seiner Unwirtlichkeit letztlich nicht einen tieferen Sinn und auch Wert abtrotzen.

Zur Filmmusik von Zach Condon und ausgesuchten Songs von Bob Dylan feiert Alma Har’el ein einsames Fest der winzig kleinen, großen Momente, die diese Menschen so besonders machen und ihren Film zu einem sperrig-schönen Kleinod. Und schließlich, wenn alle Fragen gestellt und keine beantwortet sind, endet „Bombay Beach“ wie selbstverständlich mit einem Traum.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

(D 2012, Regie: Florian Opitz)

Verdammte Raserei
von Wolfgang Nierlin

„Eigentlich ist alles super.“ Aber: „Ich hab‘ keine Zeit!“ Flankiert von Familienbildern und privaten Geschichten, wählt Florian Opitz für seinen Dokumentarfilm „Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ …

„Eigentlich ist alles super.“ Aber: „Ich hab‘ keine Zeit!“ Flankiert von Familienbildern und privaten Geschichten, wählt Florian Opitz für seinen Dokumentarfilm „Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ die persönliche Perspektive, um die „verdammte Raserei“ als gesellschaftliches Phänomen zu untersuchen. Dabei hat er für seinen individuellen Ansatz, dem er in lockerem Plauderton folgt, gute Gründe: Persönliche Schicksalsschläge, die Geburt seines ersten Sohnes und ein drohendes Burnout lassen ihn innehalten, um die Frage nach dem guten Leben zu stellen und sich auf die Suche nach der schmerzlich vermissten Muße und Gelassenheit zu machen. In zahlreichen Gesprächen mit Experten und Aussteigern umkreist er das Thema der Beschleunigung, dem er trotz einiger Redundanzen und einem zeitgerafften, etwas überfrachteten Mix mitunter wenig aussagekräftiger Illustrationen immer wieder neue Facetten abgewinnt. Das liegt zweifellos an den interessanten Gesprächspartnern, denen man gerne zusammenhängender, also ohne Unterbrechung des zeitlichen Redeflusses zugehört hätte.

„Gehe langsam, wenn du es eilig hast“, lautet die scheinbar paradoxe Formel des Zeitmanager-Gurus Lothar Seiwert, der mit faulem Zauber und griffigen Slogans gestressten Führungskräften die „Prioritätensetzung“ predigt. Aber gerade dieses angeblich einfache Trennen des Wichtigen vom Unwichtigen und also das Wählen im unüberschaubaren Feld zunehmender Möglichkeiten ist ja das Problem von Florian Opitz und vielen seiner Zeitgenossen. Alex Rühle von der Süddeutschen Zeitung, der sich selbst – nicht ohne Koketterie – mediales Suchtverhalten attestiert, hat sich deshalb ein zeitlich begrenztes, sicherlich auch privilegiertes „digitales Fasten“ verordnet und dabei das Verschwinden der analogen Welt bemerkt. Ein ehemaliger Banker von Lehman Brothers wiederum ist unter zunehmendem Leistungsdruck ausgestiegen, um als Berghüttenwart endlich „im Jetzt zu leben“ und damit die „Gegenwart aufzuwerten“.

Florian Opitz, der seinen Film als politischen, gar gesellschaftskritischen versteht, bleibt im Rahmen seiner weltweiten Recherchen jedoch nicht bei den Einzelfällen stehen, sondern dehnt seine Suche nach den Ursachen der allgemeinen Zeitnot aus auf das Feld der modernen Arbeitswelt. Unterstützt von den profunden Analysen des Soziologen Hartmut Rosa trifft er sich in London mit den „Beschleunigern“ der entfesselten Wirtschafts- und Finanzmärkte, die Zeit in Geld verwandeln und dabei die Kontrolle zunehmend an Automaten abgeben. Als „Drang zur Weltverbesserung“ bezeichnet dies tatsächlich Antonella Mei-Pochtler, eine der führenden Unternehmensberaterinnen.

Opitz findet aber auch Alternativen zum gesellschaftlichen Mainstream: Er besucht eine Bergbauernfamilie, die noch einem natürlichen Lebens- und Arbeitsrhythmus folgt; er erkundigt sich in Bhutan nach der Politik des „Bruttonationalglücks“ und trifft sich in Chile mit dem ehemaligen Unternehmer Douglas Tompkins, der in großem Stil Land und Wälder kauft, um in geschützten Nationalparks der Natur die nötige Zeit zu ihrer Entfaltung zurückzugeben und damit den „Raum zu entschleunigen“. „Ich beschleunige die Entschleunigung“, sagt der Gründer der Modefirma Esprit dabei lachend, um die Dringlichkeit seines Projekts zu erklären. Auch wenn in der paradox anmutenden Logik der Analyse dafür Geld und also Zeit notwendig sind, muss sich unsere Gesellschaft also beeilen, um die Raserei irgendwie aufzuhalten.

Kriegerin

(D 2011, Regie: David Wnendt)

Nazis gießen keine Blumen
von Ricardo Brunn

Voll auf Krieg gestriegelt zieht Marisa (Alina Levshin) als Teil einer rechtsextremen Clique durch die ostdeutsche Provinz. Mit geflügeltem Hakenkreuz auf der Brust werden Schlitzaugen im Regionalexpress ruckzuck auf DIN-A-4 …

Voll auf Krieg gestriegelt zieht Marisa (Alina Levshin) als Teil einer rechtsextremen Clique durch die ostdeutsche Provinz. Mit geflügeltem Hakenkreuz auf der Brust werden Schlitzaugen im Regionalexpress ruckzuck auf DIN-A-4 gefaltet und Kanaken an der Kasse einfach nicht bedient. Der Freund (Gerdy Zint) wird, da Deutsch-Nationale hart wie Krupp-Stahl sind, entsprechend hart gevögelt. Und weil der Hass so tief sitzt, wird das Feindbild auch schon mal mit dem Auto umgefahren. Zu Hause dann wird mit Mutti heftig gestritten und die Zimmerpflanze liebevoll gegossen. Weil Neonazis aber keine Blumen gießen, sondern saufen, pöbeln, Juden hassen und in Nostalgie schwelgend überteuerte Waffen aus alten Reichsbeständen kaufen, wird bald klar, dass Marisa die Sache mit dem Überfahren und Pöbeln noch leid tun wird. Das ist dann auch die Quintessenz der Geschichte: Die Ablösung von der ehemals identitätsstiftenden Neonazi-Szene als Abschluss eines Prozesses jugendlicher Selbstfindung. Oder vereinfacht ausgedrückt: Wenn es nicht länger als 90 Minuten anhält, darf man ruhig mal Nazi sein. Und als Marisa es tatsächlich nicht mehr aushält, schminkt sie sich die Ideologie wortwörtlich ab und zieht ein hübsches Kleidchen an. Am Ende ist das Mädel ein Sinnbild für den Widerstand und befreit somit auch den Zuschauer von seiner symbolischen Schuld. Nur die Schwingen des Reichsadlers werden auf ewig Marisas (und unsere) Brust schmücken.

Bei aller Polemik in der Beschreibung, David Wnendts Debütfilm „Kriegerin“ ist an und für sich ordentlich recherchiert: Die Hinwendung Jugendlicher zum Rechtsradikalismus als „Gelegenheitsstruktur“ (Christine Wiezorek), in der, aufgrund fehlender familialer Integration und geeigneter Bezugspersonen, nach Halt und Orientierung gesucht wird, ist in der Biografieforschung zum Thema nachhaltig belegt. Mit Teenager Svenja (Jella Haase), deren Weg in die rechte Szene, quasi als jüngere Version Marisas, aufgezeigt wird, erzählt der Film ein mögliches Szenario in der Bewältigung der eigenen, brüchigen Biografie. Dass Marisa sich mit ihrem beschädigten Leben der Großelterngeneration zuwendet, ist für weibliche Neonazis in ihrem Versuch der Selbstverortung ebenfalls von nicht zu unterschätzender Bedeutung und von Wnendt gut beobachtet.

Im Gegensatz zur soziologischen Feldforschung sieht der Film sich nun jedoch dazu gezwungen das Nebeneinander der unterschiedlichsten Handlungs- und Orientierungsmuster zum Exemplarischen zu verdichten und zu psychologisieren. Und David Wnendt leistet in diesem Punkt ganze Arbeit. Hier wird reduziert, zugespitzt und auf den kleinsten brutalen Nenner gebracht, bis kein Platz mehr für Reibungspunkte oder Widersprüche ist. Jeder ostdeutsche Neonazi ist in „Kriegerin“ durch und durch das, was der Zuschauer spätestens seit den Rostocker Pogromen immer wieder medial vermittelt bekommt. In einem Interview zum Film betont der Regisseur, dass er ein „aktualisiertes Bild der Rechten“ zeigen wolle, das mit unseren Vorstellungen vielleicht nicht übereinstimmt. Das ist ihm gründlich misslungen. Ein anderes Bild wäre gerade eines gewesen, in dem der Neonazi, wie beispielsweise in Winfried Bonengels Dokumentarfilm „Beruf Neonazi“ (1993) eloquent und freundlich den Holocaust leugnet und den Nachwuchs mit der Sprache eines Versicherungsvertreters und einigen Dias aus Auschwitz davon zu überzeugen sucht. Ein Neonazi, der auch zu den Eltern ein gesundes Verhältnis pflegt. Einer aus der Mitte der Gesellschaft.

Wnendt begnügt sich hingegen mit groben Figuren (Gerdy Zint scheint als festes HFF-Inventar mittlerweile ausschließlich auf Rollen dieser Art festgelegt zu sein), um diese in seine schablonenhafte Dramaturgie einer Läuterung hinein zu zwängen. Die Erzählung läuft nicht nur darauf hinaus, dass es, trotz vorliegender lebenslanger Sozialisation Marisas, scheinbar ganz einfach ist, den Neonazi in sich loszuwerden, sondern dass Opa seiner „Kriegerin“ den Virus des Bösen regelrecht eingepflanzt hat: „Der Jude war’s“, sagt Opa, „Hitler ist schuld“, wissen wir. Indem der Großelterngeneration die Schuld zugeschrieben wird, die Rahmung des Filmes durch Rückblenden lässt genau diesen Schluss zu, da darin die ganze Spannung des Filmes verborgen liegt, projiziert der Film das Problem Marisas in die Vergangenheit.

In dieser klaren historischen Abgrenzung und der Ausgrenzung der Rechten in ihrer zugespitzten Darstellung als ewig Gestrige mit niedrigem IQ werden die Verbindungen zum Alltag des Zuschauers vollständig gekappt. Er kann eine beruhigende Außenposition einnehmen, in der Rechtsradikalismus (oder der Ausschnitt den Wnendt uns in seinem Film präsentiert) zwar als Gefahr durchaus begriffen und geächtet, aber nicht als soziale Bewegung mit netzwerkartigen Strukturen verstanden werden muss. In „Kriegerin“ geht es nach wie vor um eine gesellschaftliche Randerscheinung, die nicht auf eine Neugestaltung der Gesellschaft, sondern ausschließlich auf einen möglichst hohen Bodycount zielt. Nur so bleibt es dem Zuschauer zum Einen weiterhin möglich, einen 70%igen „Ausländeranteil“ an Schulen für problematisch zu halten, ohne nach den pädagogischen Strukturen zu schauen, und gleichzeitig nach einem NPD-Verbot zu schreien. Zum Anderen kann er sich, und das ist schlichtweg eine falsche Absicht des Regisseurs in Bezug auf sein Thema, unterhalten fühlen.

Der Unwille, sich des tatsächlichen Diskurses, abseits aller gut gemeinter Ressentiments und Unterhaltungswerte, anzunehmen, offenbart, dass das ganze Gefilme gegen Nazis und Neo-Nazis nichts weiter als eine Geste der Ohnmacht ist – eine Lichterkette des Kinos. Man könnte folglich für den deutschen Spielfilm nach 1945 konstatieren, dass aus der mangelhaften filmischen Vergangenheitsbewältigung – von „Große Haie, kleine Fische“ (1957) bis „Der Untergang“ (2004) – eine dürftige Auseinandersetzung mit aktuellen Phänomenen des Rechtsradikalismus resultiert. „Schlimm ist unser Klischee von dummen Skins und hasserfüllten Visagen, denn die Realität ist schlimmer“, schreibt Dietrich Kuhlbrodt in „Deutsches Filmwunder. Nazis immer besser“. Die Terrorzelle von Zwickau samt ihren Verstrickungen in deutsche Geheimdienstkreise und die Rocker-Szene gibt ihm Recht und „Kriegerin“ ist ambitioniertes Gutmenschenkino. Ich gehe jetzt Blumen gießen!

Looper

(USA / CHIN 2012, Regie: Rian Johnson)

Reise zum Ich
von Harald Mühlbeyer

„Bleib mir weg mit dem Zeitreisekram“, sagt Filmbösewicht Abe (Jeff Daniels), „das röstet dir das Hirn.“ Und auch Bruce Willis stellt klar: „Über Zeitreise fangen wir gar nicht erst an …

„Bleib mir weg mit dem Zeitreisekram“, sagt Filmbösewicht Abe (Jeff Daniels), „das röstet dir das Hirn.“ Und auch Bruce Willis stellt klar: „Über Zeitreise fangen wir gar nicht erst an zu reden.“ Mit Ironie legt „Looper“ seine Grundprämisse fest, die Zeitschleifen, die das Denken verdrehen und bei denen die Logik irgendwo an der durchlässigen Grenze zwischen Zukunft und ihrer Vergangenheit versickert.

Willis spielt Joe – dessen älteres Ich –, der von Joseph Gordon-Levitt – dem jungen Joe – gejagt wird. Joe ist ein Looper im Jahr 2044. Er tötet die, die die Mafia des Jahres 2074 durch die Zeit zu ihm zurückschickt: So entledigen sich die Gangster der Zukunft ihrer Leichen, in der Vergangenheit kann keiner suchen. Der Delinquent wird gefesselt und geknebelt in die Zeitmaschine gesteckt, Joe lauert mit seiner Schrotflinte am Ort der Ankunft, peng, Job erledigt; währenddessen übt er französische Vokabeln. Als Lohn gibt es Silberbarren …

Doch die Looper werden einer nach dem anderen ausgeschaltet, ihr Zukunfts-Ich wird zurückgeschickt und vom jüngeren Ich unwissentlich getötet: So ist der Vertrag gelöst, und man hat noch genau 30 Lebensjahre vor sich. Willis aber als alter Joe entkommt, Gordon-Levitt verfolgt ihn, hinter ihm wiederum sind Abes Gangster her. Und auf einer Farm wächst der künftige Tyrann der Menschheit heran, den der alte Joe – eines seiner Opfer im Jahr 2974 – noch im Kindesalter töten will.

Dem Plot, der die Hirnwindungen verknotet, gelingt es, irgendwie logisch zu erscheinen. Die Zeitebenen sind dynamisch miteinander verknüpft, und auf der Basis von Tun und Erinnern baut Regisseur Rian Johnson einen intelligenten, komplexen Film, der die richtige Mischung aus Spannung und Verstörung bietet. Und er schafft es, seinem Debüt, einer Independent-Produktion, die von China mitfinanziert wurde, das richtige Feeling zwischen harter Action und persönlichem Drama zu verleihen. Auf Verfolgung und Schießereien folgen charakterbezogene Passagen, in denen Johnson das Tempo herausnimmt, bevor der nächste Ausbruch von metzelnder Gewalt folgt.

Clever geht der Film mit Erwartungen und Zuschauerwissen um, spielt damit, nutzt das Genre-Vorwissen, um in Andeutungen und Ellipsen zu erzählen. Anleihen von Film noir und Western verstärken den Drive des Films, und einige Szenen bleiben unvergesslich. Wie Johnson zwischendrin den Zuschauer in einem Zustand heftiger Verwirrung hängen lässt – um dann das Leben von Joe dreißig Jahre vorzuspulen, ein nahezu wahnwitziger dramaturgischer Kunstgriff, der funktioniert. Wie er gleich zwei Tabus berührt, das Töten eines Kindes und ein tödliches Kind. Und wie er seine Gewaltausbrüche intensiviert, indem er über Bande spielt: An einem Flüchtigen aus der Zukunft werden die schrecklichen Folgen von Folterungen an seinem jüngeren Ich demonstriert, indem den Alten immer mehr Narben entstellen, immer mehr Gliedmaßen fallen ihm ab, drastisch und grausam ist das, wie sich an seinem verunstalteten Körper der Zustand seines jungen Ichs spiegelt …

Der lange heiße Sommer

(USA 1958, Regie: Martin Ritt)

Bigmouth strikes again
von Carsten Happe

Nicht William Faulkner, von dem die literarische Vorlage stammt und der die zeitgenössischen Filmplakate dominiert, nicht Regisseur Martin Ritt, der hiermit seinen ersten großen Hit verbuchen konnte, nicht einmal Hauptdarsteller …

Nicht William Faulkner, von dem die literarische Vorlage stammt und der die zeitgenössischen Filmplakate dominiert, nicht Regisseur Martin Ritt, der hiermit seinen ersten großen Hit verbuchen konnte, nicht einmal Hauptdarsteller Paul Newman, der für seine Rolle des Ben Quick in Cannes ausgezeichnet wurde, ist die größte Attraktion dieses flirrenden Südstaatendramas, sondern ein aufgedunsenes, streitsüchtiges Großmaul, das kurz zuvor eine erneute Demütigung von Hollywood hinnehmen musste und bald wieder enttäuscht gen Europa davonziehen sollte: Orson Welles, Genie und Wichtigtuer, Urgewalt und auch fast zwanzig Jahre nach „Citizen Kane“ eine der erratischsten Figuren des amerikanischen Films.
Seine letzte Regiearbeit „Touch of Evil“ war gerade wie so vieles zuvor von den Studiobossen verstümmelt worden, sein Auftreten am Set von „Der lange heiße Sommer“ brachte offenbar jeden der restlichen Crew und Darsteller auf die Palme. Welles ist verschwitzt, speckig und manchmal grotesk geschminkt, und doch dominiert er jede Szene, selbst wenn er nicht einmal körperlich präsent ist. Als Familienpatriarch Will Varner spielt er einen Charakter, der rund zwanzig Jahre älter sein sollte als Welles selbst zu dem Zeitpunkt, und man kann dies als erneute Spitze des Systems gegen den verlorenen oder ausgestoßenen Sohn lesen, der mit allem zu früh dran war: der Radiostar mit „The War of the Worlds“ im Alter von 23 Jahren, das monolithische Hauptwerk „Citizen Kane“ mit 25, der Fall vom Olymp nur zwei Jahre später. Mit 43 Jahren nun also der alte Südstaatengrantler, der vom blauäugigen Emporkömmling Newman herausgefordert wird und sein Imperium schwinden sieht. Ein fast prophetischer Abgesang, bevor Welles im Jahr darauf wieder in Spanien, Italien, Hong Kong vor der Kamera steht. Hauptsache, weit weg von Hollywood.

Nebenbei war „Der lange heiße Sommer“ das perfekte Vehikel für eine von Hollywoods schönsten Romanzen. Paul Newman und Joanne Woodward kannten sich zwar bereits fünf Jahre, aber erst im Zuge dieses Films wurde publicityträchtig geheiratet und die beiden blieben für fünfzig (!) Jahre eines der Traumpaare der Traumfabrik. Dass die Chemie zwischen Newman und Woodward stimmte, merkt man auch diesem ersten von sieben gemeinsamen Filmen an – ihre unterkühlte, erwachsene Romanze unter den gestrengen Augen ihres Papas und seines Chefs fasziniert jenseits der üblichen, süßlichen Klischees.
Und doch liegt über allem der leise Schmerz des Abschieds und das unbestimmte Gefühl, dass hier eine Ära langsam aber stetig ausklingt. Der alte Süden, der klassische Hollywoodfilm, die Karriere des Orson Welles, alle kapitulieren schon bald vor den nahenden Sixties. Hier tanzen sie noch einmal, in De Luxe Farben und schönstem Cinemascope, einen langen heißen Sommer.

Bombay Beach

(USA 2011, Regie: Alma Har‘el)

Monument des Scheiterns
von Andreas Busche

Es gab eine Zeit, da suchte man den „American Dream“ allen Ernstes in der Wüste. Die Wüste war die letzte Front der Pioniere, die es noch zu erobern galt. Kalifornien, …

Es gab eine Zeit, da suchte man den „American Dream“ allen Ernstes in der Wüste. Die Wüste war die letzte Front der Pioniere, die es noch zu erobern galt. Kalifornien, der gelobte Westen, war längst aufgeteilt. Über diese Landnahme in den dreißiger Jahren gibt es auch einen sehr guten Kinofilm: Roman Polanskis „Chinatown“, der Jack Nicholson zum Star machte. „Chinatown“ handelte von der Verteilung der südkalifornischen Wasservorräte, die zur Besiedlung des Umlands von Los Angeles von entscheidender Bedeutung waren. Wer das Wasser besaß, hatte die Macht. In der Wüste dagegen standen sich die Bodenspekulanten noch nicht gegenseitig auf den Füßen. Die Mafia machte den Anfang. Mitten in der Wüste von Nevada entstand Las Vegas, das in den Fünfzigern zur Boomtown wurde: nah genug am Sehnsuchtsort Kalifornien mit seinen Palmen und Sandstränden, aber mit einem ganz speziellen, artifiziellen Glamour aus Plastikpyramiden, Casinotempeln und dem Ruch des organisierten Verbrechens.

Der Saltonsee, knapp 400 Kilometer südlich von Los Angeles, hat eine ähnlich bewegte Vergangenheit, nur dass der amerikanische Traum hier keine Erfolgsgeschichte schrieb. 1905 brachten schwere Regenfälle den Colorado River zum Überlaufen, so dass ein riesiges Binnengewässer mitten in der Wüste entstand. In den Fünfzigern entdeckten clevere Investoren den Saltonsee als Ausflugs- und Urlaubsziel gestresster Großstädter. Hotelanlagen und Casinos schossen an der „neuen Riviera“, so die damalige Werbung, aus dem Boden. Bald drückten sich auch die Berühmtheiten aus Las Vegas und Los Angeles die Klinke in die Hand.

Über diese Landnahme gibt es jetzt auch einen Film – es ist jedoch kein Krimi geworden, sondern eine Art Dokumentation, ein Sozialdrama oder auch ein filmischer Wachtraum. Die Farben und Texturen von „Bombay Beach“ sind so ausgewaschen und blass, daß sie geradezu unwirklich erscheinen – als wären Landschaft und Figuren allein vom Sonnenlicht konturiert.

Einen ähnlich zerbrechlichen Eindruck hinterläßt auch Bombay Beach, ein ehemaliges resort an den Ufern des Saltonsees. Vom Glanz der Fünfziger und Sechziger ist nichts geblieben. Heute ist der Salzgehalt des Sees so hoch, daß an seinen Ufern täglich große Mengen toter Fische angespült werden. Die Feriensiedlungen sind verfallene Geisterstädte, ein Monument des Scheiterns. Die israelische Filmemacherin Alma Har’el, die unter anderem für ihre ätherischen und hypnotisch verrätselten Musikvideos für Sigur Rós, Beirut und Jack Penate bekannt ist, verschlug es vor drei Jahren durch Zufall an diesen unwirtlichen Ort. Ursprünglich hatte sie einen Drehort für ein Musikvideo gesucht. Die Menschen, die dort am Rande der Gesellschaft leben, hinterließen auf die Filmemacherin jedoch einen so starken Eindruck, daß Har’el gleich mehrere Monate blieb.

Drei Menschen haben es ihr besonders angetan. Der achtjährige Benny Parrish, der unter einer bipolaren Störung leidet, ist das emotionale Zentrum des Films. Die Eltern wissen mit seiner Krankheit nicht anders umzugehen, als den Jungen mit Medikamenten vollzupumpen. Seine Arztbesuche gehören zu den Routinen im Film. Benny weiß, daß er anders ist als die Kinder, mit denen er in den Ruinen von Bombay Beach spielt, obwohl er den Unterschied nicht versteht. “Bin ich verrückt?” fragt er seine Mutter einmal.

Die Parrishs sind ohnehin ein Fall für sich. Der Vater hatte Ende der Neunziger eine kleine Wehrsportgruppe, die sich in der Wüste ausgefeilte Scheingefechte lieferte. Als das Jugendamt eines Tages vor der Tür stand, entdeckten die Behörden im Garten Sprengsätze und Waffen. Es war ein Jahr nach 9/11, die Eltern wanderten wegen der Gründung einer terroristischen Vereinigung für zwei Jahre ins Gefängnis, der damals drei Wochen alte Benny landete im Waisenheim. Heute sitzt der Vater stumpf in seinem Fertighaus; außer Biertrinken und Rumballern weiß er mit seiner Zeit nichts anzufangen. Viel mehr hat Bombay Beach allerdings auch nicht zu bieten.

Eine andere Geschichte handelt von CeeJay. Er ist zu seinem Vater nach Bombay Beach geflüchtet, nachdem sein Cousin bei einer Gangschießerei in Los Angeles ums Leben gekommen war. Dass ein Jugendlicher ausgerechnet an diesem gottverlassenen Ort seinen Traum (von einem College-Stipendium) verwirklichen will, sagt einiges über die gesellschaftlichen Zustände in Amerika aus. Und dann ist da noch der fast 80jährige Red. Er hat die Große Depression und einen Weltkrieg überlebt, um seine letzten Jahre in einer kleinen Siedlung von Aussteigern und Freaks zu fristen. Um sich finanziell über Wasser zu halten, kauft er im nahe gelegenen Reservat steuerfrei Zigaretten an, die er an die Bewohner von Bombay Beach weiterverscherbelt. “Die Wüste hat mit niemandem Mitleid”, erzählt er mit Granitstimme aus dem Off. ”Du mußt improvisieren, um zu überleben.”

Reds Worte sind auch eine treffende Beschreibung seines Landes. Der US-Independentfilm hat sich in den vergangenen Jahren immer weiter von den Metropolen entfernt, um ein Amerika zu zeigen, das mit der Realität in den Abendnachrichten nur noch wenig gemein hat. Har’el schneidet mit ihrem Film in ein Segment der US-Demographie, das weitestgehend vergessen wurde. Doch belässt sie es nicht bei einem trockenen Sozialrealismus, wie er im Independentkino gerade verstärkt zu beobachten ist, sondern entwickelt einen traumhaften Collagenstil, der die Bewohner von Bombay Beach nicht zu Objekten einer Sozialstudie degradiert, sondern sie als Subjekte einer selbst geschaffenen Realität ernstnimmt. Zusammen mit den Kindern hat Har’el einfache, berührende Tanz-Choreografien entworfen, die den harten Realismus ihrer Bilder immer wieder mit surrealen Spielsequenzen aufbrechen. So scheint es in manchen Momenten, als wäre Terrence Malick den Menschen von Bombay Beach in der Wüste erschienen. Der unscharfe, verschleierte Akustik-Folk von Beirut tut sein Übriges.

Im amerikanischen Kino lassen sich nur wenige Vorläufer von Har’els Stil finden: etwa Charles Burnetts „Killer of Sheep“ (1975) oder David Gordon Greens „George Washington“ (2000). Filme über Kinder, die die Wohlstandsruinen der Elterngeneration gezwungenermaßen in einen Abenteuerspielplatz verwandeln. “Bombay Beach” besteht aus nicht viel mehr als Licht, Tanz und Spiel (die Kinder vergnügen sich mit angespültem Schrott, die Eltern mit Waffen). Dahinter verbirgt sich kein gesellschaftlicher Kommentar, auch wenn der Film genügend Facetten des Lebens unterhalb der Armutsgrenze abbildet. Har’el geht es vor allem um ehrliche Anteilnahme und liebevolle Wertschätzung. Dass das Kino der Politik diese Aufgaben inzwischen abgenommen zu haben scheint, ist das eigentlich Deprimierende an der Geschichte von Benny, CeeJay und Red.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 10/12

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Schutzengel

(D 2012, Regie: Til Schweiger)

Ein Herz für Kinder
von Ulrich Kriest

Ironie der Geschichte! Wenn sich ein Filmkritiker am Donnerstagnachmittag als einziger Gast in einem riesigen Multiplex-Kinosaal einfindet, sollte man die Filmvorführung dann nicht vielleicht doch als „Pressevorführung“ bezeichnen? Til Schweiger …

Ironie der Geschichte! Wenn sich ein Filmkritiker am Donnerstagnachmittag als einziger Gast in einem riesigen Multiplex-Kinosaal einfindet, sollte man die Filmvorführung dann nicht vielleicht doch als „Pressevorführung“ bezeichnen? Til Schweiger hat es bekanntlich nicht so sehr mit Journalisten, die sich mit Film auskennen. Lieber kollaboriert er mit der „Bild“-Zeitung oder zeigt seinen neuen Film „Schutzengel“ gleich vor Ort in Afghanistan begeisterten Bundeswehrsoldaten, die seinen Film über stahlharte Ex-Bundeswehrsoldaten mit großem Herzen und coolen Sprüchen selbstredend „Bombe!“ finden. Oder er setzt sich in Fernseh-Talkshows dem knallhart menschelnden Fragenkatalog einer Rakers oder eines Lanz aus, um sich in der Pose dessen zu gefallen, der unangenehme Wahrheiten ausspricht, die die „Gutmenschengesellschaft“ (Schweiger) sonst gerne unter den Teppich der political correctness kehrt. Da fährt der Mann dann „als Vater“ gerne eine harte Linie gegen Sexualstraftäter und vermisst greinend den Respekt vor den Soldaten, die unsere Freiheit und Demokratie gegen Islamismus und FDP am Hindukusch verteidigen. Ein anerkannter und auch als solcher bereits ausgezeichneter „Querdenker“, der von seinen links-liberalen Eltern einst gezwungen wurde, beim Cowboy-und-Indianer-Spielen immer Indianer zu sein, weil Cowboys per se ja böse seien. So was kommt von so was.

„Schutzengel“ ist neben den noch lebenden und schon gefallenen Bundeswehrsoldaten übrigens ebenso programmatisch dem jüngst verstorbenen Action-Regisseur Tony Scott gewidmet. Es handelt sich dabei um pures Genre-Kino, eine wenig originelle Mischung aus allerlei Versatzstücken von „Leon, der Profi“ und dem aktuellen Jason Statham-Vehikel „Safe – Todsicher“. Also: das junge Mädchen Nina, Marke: Straßenkind mit Diabetes, wird zufällig Zeugin eines kaltblütigen Mordes an einem jungen Mann durch einen fiesen Waffenhändler – und wird folglich in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Doch des Waffenhändlers Macht reicht nicht nur in die korrupte Führungsetage der Staatsanwaltschaft, sondern verfügt auch noch über Dutzende schwerbewaffnete Killer, die hier in für deutsche Verhältnisse spektakulär inszenierten Shoot-outs ins Gras beißen müssen. Dafür sorgt nicht zuletzt der desillusionierte Ex-Elitesoldat Max Fischer, der sich des Mädchens annimmt und sich dabei gegen die Polizei und die Schergen des Waffenhändlers stellen muss. Allein gegen alle.

Fischer, ein von Til Schweiger gespielter Schweiger, freundet sich mit der von Schweigers Tochter Luna gespielten Zeugin an, die ihm ganz viele Fragen stellt. „Schutzengel“ ist also ein Ballerfilm mit Herz, dessen Dialoge auf dem Niveau von Udo Lindenbergs Klassiker „Wozu sind Kriege da?“ gründeln. Bevor der Film zu viel Tiefgang entfaltet, kommt mit Moritz Bleibtreu ein weiterer Afghanistan-Veteran zum Einsatz, der im Kampfeinsatz zwar seine Beine, nicht aber seinen Humor verlor. So gesellen sich die kessen Sprüche zu den großen Gefühlen und der wuchtigen Action. Man ahnt, was Schweiger, der hier als Produzent, Regisseur, Hauptdarsteller, Mit-Drehbuch-Autor und Mit-Cutter präsentiert, wohl im Sinn hatte: einen richtig harten Actionfilm, aber mit Herz und Witz. So amerikanisch, dass hier die Berliner Polizeisirenen glauben, sie seien bereits auf den Straßen von San Francisco unterwegs. Aber es hakt mit der Ökonomie der Mittel: die Action verwechselt den Thriller mit dem Kriegsfilm, das Herz wird mit Pathos zugeschmalzt, wenn der traumatisierte Schweiger-Fischer anhebt, vom Krieg in Afghanistan und von der dort erlebten Kameradschaft zu nöhlen.

Bleibt der Witz, der die zwei, drei Szenen trägt, die in Erinnerung bleiben werden. Weil die Handlung absolut vorhersehbar ist und auch gar kein Hehl daraus gemacht wird, dass hier alles den Genreregeln folgt (nur eben etwas unpräzise und ohne Timing), bleibt dem Zuschauer viel Zeit, um zu staunen, welch eine illustre Truppe von Schauspiel-Prominenz hier mit von der Partie ist. Von Herbert Knaup über Heiner Lauterbach und Kostja Ullmann bis Karoline Herfurth und Axel Stein – bis in die kleinsten Nebenrollen ist „Schutzengel“ »erstklassig« besetzt und kann es sich leisten, die Stars gleich reihenweise aus dem Film zu kegeln, äh, zu schießen. Spätestens wenn Axel Stein zu Beginn des Films bei seiner Frau anruft, um sie zu fragen, ob sie wirklich schwanger ist und sich trotz hörbarer Laktoseunverträglichkeit wie ein Schneekönig freut, weiß man, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Erstaunlicherweise dauert es dann noch gefühlte zehn Minuten, bis er endlich erschossen wird. Unökonomisch wie in diesem Fall werden Szenen immer wieder derart aufgeblasen und ausbuchstabiert, bis auch der dümmste Zuschauer es kapiert hat.

Andererseits schafft es der Film schließlich sogar noch, irgendwo im Brandenburgischen ein echtes Western-Szenario in Gang zu setzen, mit einsam gelegenem Farmgebäude, einer Herde Lamas und ein paar Bösewichten, die vorbeigeritten kommen. Beim blutigen Finale zitiert Schweiger durchaus ernsthaft Michael Ciminos „Heaven’s Gate“, genauer: die Szene, in der Christopher Walken stirbt. Nur, dass Christopher Walken hier nicht stirbt, weil Schweiger lieber noch ein paar Tears jerkt. Überhaupt zeigt Til Schweiger hier mit überraschend lässiger Geste, in welchem Universum von Jungs-Filmen zwischen Michael Mann, Luc Besson und Ben Affleck er sich selbst wohl einordnet. Wenn er nur nicht so ein sentimentaler Hund wäre! Mit fast 50! Oder gerade deshalb?

Messner

(D 2012, Regie: Andreas Nickel)

Eroberer des Nutzlosen
von Wolfgang Nierlin

Zitate aus Albert Camus‘ philosophischem Essay „Der Mythos von Sisyphos“ rahmen den Dokumentarfilm „Messner“ von Andreas Nickel. Tatsächlich ähneln die abenteuerlichen Unternehmungen des Südtiroler Extrembergsteigers und Grenzgängers Reinhold Messner, der …

Zitate aus Albert Camus‘ philosophischem Essay „Der Mythos von Sisyphos“ rahmen den Dokumentarfilm „Messner“ von Andreas Nickel. Tatsächlich ähneln die abenteuerlichen Unternehmungen des Südtiroler Extrembergsteigers und Grenzgängers Reinhold Messner, der sich selbst einmal als „Eroberer des Nutzlosen“ bezeichnet hat, einem absurden Tun. Zugleich ist dieser immer wieder neue „Kampf gegen Gipfel“, wie es bei Camus heißt, seine ebenso extremen wie nutzlosen Anstrengungen und Strapazen, Ausdruck existentieller Freiheit, die im Falle des Portraitierten schicksalhafte Züge trägt. Nicht umsonst zeigt das Plakatmotiv zum Film die Verschmelzung von Berg und Mensch. „I am obsessed by my vision“, heißt es im Song, der Messners „Leidenschaft bis zur Krankheit“ unterlegt ist. Jedoch geht es dem Bergsteiger dabei nicht um die Anhäufung von Rekorden, sondern um Erkenntnis und Überblick. Denn gerade die Grenzerfahrung lasse ihn, so Messner, „die Zerbrechlichkeit des Lebens“ spüren.

Als „Metapher für das universelle Thema des Wachsens an Widerständen, dem Überwinden von Rückschlägen“ und also für das Leben selbst versteht Andreas Nickel das Bergsteigen. Sein Film folgt insofern den Lebensstationen Reinhold Messners, indem er diese und die mit ihnen verbundenen Expeditionen unter gliedernde Begriffe wie zum Beispiel „Rebellion“, „Moral“, „Verantwortung“, „Selbstprüfung“ und „Erkenntnis“ stellt. Dazu äußern sich der Portraitierte selbst, drei seiner Brüder, Weggefährten und Zeitzeugen, während Nickel mit Zeitdokumenten und nachgestellten Bergtouren den berührenden Wahnsinn dieses ungewöhnlichen, sich dem Verstehen letztlich entziehenden Lebens nachzeichnet. Die Bergsteiger Florian und Martin Riegler sind neben andern für diese teils waghalsig erscheinenden Nachinszenierungen, die an faszinierend fotografierten Originalschauplätzen entstanden, in den Rollen von Reinhold und seines tödlich verunglückten Bruders Günther zu sehen.

Als Leitmotiv für Andreas Nickels biographischen Dokumentarfilm dient Messners Rebellion und unbedingter Freiheitswillen in der Konfrontation mit den Grenzen des Möglichen. Sein Klettern bedeutet Ausbruch aus der Enge von Tal, Elternhaus und Internat und ist zugleich Widerstand gegen Autoritäten sowie pure „Lust an der Auflehnung“ im Geiste der Achtundsechziger. „The Times They Are a Changin‘“, singt Bob Dylan auf der Tonspur des Films. Messner klettert gegen innere und äußere Widerstände und revolutioniert das Bergsteigen gegen die Helden-Mythen der Altvorderen. Doch der alpine Paradigmenwechsel fordert seine Opfer. Als sein Bruder Günther im Jahre 1970 auf tragische Weise am Nanga Parbat stirbt, vermischt sich Messners Trauma mit Schuldgefühlen, Zweifeln und äußeren Anfechtungen. Zugleich radikalisiert sich in der Folge sein Abenteurertum als gelte es, die Energie des Verstorbenen der eigenen hinzuzufügen und weiterzutragen.

The Substance – Albert Hofmann’s LSD

(CH 2011, Regie: Martin Witz)

Jenseits von Raum und Zeit
von Wolfgang Nierlin

Als einen „Trip ins Ungewisse“ beschreibt Albert Hofmann seinen ersten Selbstversuch mit LSD. Im Frühjahr 1943 war der Schweizer Chemiker, der für den Baseler Pharmakonzern Sandoz nach einem den Blutkreislauf …

Als einen „Trip ins Ungewisse“ beschreibt Albert Hofmann seinen ersten Selbstversuch mit LSD. Im Frühjahr 1943 war der Schweizer Chemiker, der für den Baseler Pharmakonzern Sandoz nach einem den Blutkreislauf regulierenden Medikament suchte und dafür den Getreidepilz Mutterkorn erforschte, auf die unbekannte Substanz gestoßen. Was er dann erlebte, so der fast Hundertjährige im Interview aus dem Jahre 2006, war „furchtbar“: Neben absoluter Ungewissheit und starker Angst, wähnt sich Hofmann bereits im Jenseits, fern seiner jungen Familie. Als er nach stundenlangen Halluzinationen schließlich doch wieder zurückkehrt von seiner phantasmagorischen Reise, empfindet er das wie eine Wiedergeburt, ein Erwachen zu einem neuen Leben.

In Martin Witz‘ informativem Dokumentarfilm „The Substance – Albert Hofmann’s LSD“, der die verzweigte Geschichte des Lysergsäurediethylamids nachzeichnet, gibt es immer wieder Versuche, die geheimnisvolle Wirkung dieser psychoaktiven Droge zu beschreiben. Doch die Sprache scheint kein geeignetes Instrument zu sein, den Zustand des „High“ und des „Außer-sich-Seins“ adäquat zu erfassen. Dabei ist die bereits in geringen Dosen hochwirksame Substanz strukturell verwandt mit Botenstoffen des Gehirns. „Alles, was ich dachte, war bildlich da“, sagt Albert Hofmann, der in späteren Versuchen vor allem „beglückende Gefühle“ erlebt hat und als „mystischer Chemiker“ der spirituellen Dimension des LSD auf der Spur war. Andere Wissenschaftler und Konsumenten betonen wiederum die öffnende, die sinnliche Erfahrung und das innere Erleben verstärkende Kraft der Droge. Raum und Zeit, vor allem aber das Ich scheinen sich aufzulösen zugunsten eines harmonischen, nahezu kosmischen Erfüllt-Seins.

Diese transpersonale Erfahrung nutzte in den 1950er Jahren der tschechische Psychiater Stanislav Grof, um in klinischen Studien mit Hilfe von LSD Psychosen im Sinne veränderter Bewusstseinszustände zu untersuchen. Aber auch der US-amerikanische Geheimdienst CIA und das Militär experimentierten auf teils kuriose Weise mit der Substanz, um sie als „Wahrheitsserum“, vor allem aber als „psychosomatische Waffe“ in einem etwaigen „LSD-Krieg“ einsetzen zu können. Als schließlich in den sechziger Jahren der Harvard-Professor und Drogen-Guru Timothy Leary die psychedelische Lebensweise ausruft („Turn on, tune in, drop out!“), einen damit verbunden Wertewandel propagiert, dafür die Wissenschaft der Ekstase lehrt („Wir sind hier, um zu fliegen!“) und im Zuge dessen immer mehr Anhänger findet, wird im Oktober 1966 das wundersame Rauschmittel verboten. Damit stagniert auch die Forschung, die später jedoch im Zusammenhang mit der Therapie von Krebspatienten neue Relevanz gewinnt. In Interviews, zahlreichen Archivaufnahmen und assoziativen Collagen folgt Martin Witz den Spuren des LSD, das dem verantwortungsvollen Konsumenten offensichtlich eine Transzendenz-Erfahrung ermöglicht, die geeignet ist, der göttlichen Schöpfung bewusst zu werden und mit der Endlichkeit des Lebens zu versöhnen.

Resident Evil: Retribution

(D / CAN 2012, Regie: Paul W.S. Anderson)

Der letzte Kampf beginnt schon wieder
von Louis Vazquez

Der Werbeslogan ist natürlich ein Brüller: „Der letzte Kampf beginnt.“ Seit dem Start der Resident-Evil-Franchise beginnt der letzte Kampf mit jedem Film aufs Neue. Nur fortgeführt wird er nie. Zwar …

Der Werbeslogan ist natürlich ein Brüller: „Der letzte Kampf beginnt.“ Seit dem Start der Resident-Evil-Franchise beginnt der letzte Kampf mit jedem Film aufs Neue. Nur fortgeführt wird er nie. Zwar bietet jedes Schlussbild bereits den Ausblick auf ein neues Spektakel, jede Fortsetzung aber setzt noch einmal anders an, verlagert die Perspektive ein wenig, erfindet neue Hindernisse – und vertröstet am Ende gleichfalls auf kommende Attraktionen. Auch wenn schon so ziemlich alle zeitgenössischen Filmserien von „Harry Potter“ bis zu den „Transformers“ mit vermeintlich letzten bzw. „finalen“ Schlachten und Kämpfen warben: Selten schien eine Serienmaschine so gut geschmiert zu sein wie im Fall von 'Resident Evil', weil die Franchise unter der Federführung von Paul W.S. Anderson mit Gattin Milla Jovovich als Zombie-killendem Star längst in der völligen inhaltlichen Beliebigkeit angekommen ist, dies aber auf eine Weise, die durchaus beeindruckt.

Von der zugrunde liegenden Computerspielreihe – Teil sechs erscheint passenderweise im Oktober – haben sich die Filme früh gelöst. Figuren aus den Spielen tauchen zwar immer wieder mal auf, allerdings beschränken sich die Gemeinsamkeiten meist auf Namen und Outfits. So entsteht ein äußerst seltsames Universum voller Querverweise, die nicht so recht funktionieren. Andauernd werden Figuren, die im Film kaum mehr als Staffage sind, aus für den unbedarften Zuschauer unerklärlichen Gründen inszenatorisch mit höchster Bedeutung aufgeladen. Weil aber jeder neue Resident-Evil-Film – obwohl er vorgibt, eine komplexe Story voranzutreiben – immer wieder neu ansetzt, Figuren ganz verschwinden und neue aus heiterem Himmel auftauchen lässt, ist es letztlich völlig egal, wer das austauschbare Kanonen- bzw. Zombiefutter gibt, solange nur Hauptfigur Alice (Jovovich) weiter mit dabei ist. Seit die Franchise das Thema Klonen für sich entdeckt hat, wird es sogar möglich, längst verstorbene Figuren wieder auftauchen zu lassen. Und weil böse Wissenschaftler über die Technik verfügen, den Charakter eines Klons zu manipulieren, kann Michelle Rodriguez – im ersten Teil verstorben – diesmal als gute und als böse Figur mitmischen.

Wie in vielen Actionspieldramaturgien wird handlungsmäßig möglichst viel Lärm um Nichts gemacht: Alles bleibt Fragment, tut aber bedeutungsschwer. Ob da irgendwas zusammenpasst, ist völlig egal, solange sich die Möglichkeit bietet, eine Art Genre-Best-of zusammenzuklatschen, das sich, natürlich, noch immer bei Vorbildern wie Carpenter, Cameron oder Romero bedient. Diesmal geraten die Helden sogar in eine Art virtuelles Trainingscamp, so dass die einzelnen Szenarien umso beliebiger und levelartiger nebeneinander stehen. Hier eine Sequenz aus Zack Snyders Remake von „Dawn of the Dead”, da mal wieder das unvermeidliche „Herr-der-Ringe'-Schlachtengetümmel, und Nazi-Zombies waren doch zuletzt in „Dead Snow“ recht populär. Dass die Exposition rückwärts erzählt wird, dürfte eine kleine Reminiszenz an den Werbetrailer des Zombie-Computerspiels „Dead Island“ sein – Spielefans wird es freuen, auch wenn die Idee spektakulärer ist als die Umsetzung.

So richtig begeisternd sind Andersons Filme seit dem gelungenen und singulär atmosphärischen „Event Horizon“ (1997) leider nicht mehr. Doch angesichts der deplazierten Ernsthaftigkeit von Len Wisemans „Total Recall“ und der überraschungsarmen Schnörkellosigkeit von Simon Wests „Expendables 2“ ist der halsbrecherisch wilde Edeltrash von „Resident Evil 5“ geradezu erfrischend, wie eine völlig entglittene frühe Arbeit von Sam Raimi. Aber ach, der Wahnsinn ist schon gebremst: Im Vorgängerfilm hinterließen getötete Gegner noch ein Häuflein Goldmünzen. Damit ist jetzt Schluss. Diese Reminiszenz an das Belohnungssystem der Computerspiele erschien im Rückblick wohl selbst Paul W.S. Anderson zu albern.

Small Town Murder Songs

(CAN 2010, Regie: Ed Gass-Donnelly)

Dunkle Vergangenheit
von Wolfgang Nierlin

Jeder kennt jeden in der kleinen Mennoniten-Gemeinde nahe Listowel in der kanadischen Provinz Ontario. Rechtschaffen und strenggläubig leben die Menschen hier ihren gewohnten Alltag. Manche von ihnen sprechen noch den …

Jeder kennt jeden in der kleinen Mennoniten-Gemeinde nahe Listowel in der kanadischen Provinz Ontario. Rechtschaffen und strenggläubig leben die Menschen hier ihren gewohnten Alltag. Manche von ihnen sprechen noch den fremd klingenden Dialekt aus der alten Welt, der den Zusammenhalt stärkt und in dem sich Gerüchte und Neuigkeiten verbreiten. Als am Ufer eines nahen Sees die nackte Leiche einer jungen Frau gefunden wird, wirkt das wie ein Schock. Und weil zunächst weder die Identität der Getöteten noch eine stichhaltige Spur des Täters auszumachen sind, entwachsen der allgemeinen Unsicherheit und Angst bald auch noch die schwelenden Spannungen ungelöster Konflikte.

Der örtliche Polizist Walter Ruden (Peter Stormare) steht in deren Zentrum. Schweigsam und in sich gekehrt versieht er seinen Dienst nach Vorschrift. Doch in ihm gärt eine dunkle Vergangenheit, eine Geschichte der Gewalt und unterdrückter Aggressionen, die sich immer schwerer niederhalten lassen. Walter ist traumatisiert von einer belastenden Tat, deren verstörenden Bilder in kurzen Rückblenden immer widerkehren. Er leidet unter Schuldgefühlen und ersehnt Vergebung, zumal sich seine Familie offensichtlich von ihm abgewandt hat. „Bereue und bekenne deinen Glauben“, lautet eines der Bibelzitate, mit denen Ed Gass-Donnelly seinen konzentriert erzählten, von einem nahezu alttestamentarischen Drama bewegten Film „Small town murder songs“ gegliedert hat.

Ein anderes, dem 2. Buch Mose entnommenes Wort, steht über der Exposition des Films: „Der Herr wird für euch streiten, und ihr werdet still sein.“ Vorbedeutungen und Unabänderliches, Handlungsmaximen und Lebensweisheiten liegen jeweils in diesen Sätzen, die Gass-Donnelly als kraftvolle Zäsuren inszeniert. Das Geschehen verlangsamt sich, dehnt sich aus in der Ruhe statischer Bilder und wird zugleich dramatisch aufgeschreckt durch die schmerzliche Wucht der sie begleitenden Songs, die die kanadische Indie-Band Bruce Peninsula als intensive Mischung aus Blues, Soul und religiöser Folklore komponiert hat. „Gott trifft uns, wo wir gerade sind“: Walter kann bald nicht mehr anders, als unter dem Druck implodierender Gefühle „seiner Vergangenheit nachzugeben“. Der Mordfall wirkt dabei wie ein Vorwand und zugleich als Katalysator für eine andere, verborgene und vielleicht ausweglose Geschichte.

Wandlungen – Richard Wilhelm und das I Ging

(CH 2011, Regie: Bettina Wilhelm)

Auf der Suche nach dem Großvater
von Michael Schleeh

Im Jahr 1899 gelangt Richard Wilhelm als Missionar nach China. Zu einer turbulenten Zeit als China von den Kolonialmächten ausgebeutet wird, sich der Boxeraufstand gegen die ausländischen Imperialisten ereignet, schließlich …

Im Jahr 1899 gelangt Richard Wilhelm als Missionar nach China. Zu einer turbulenten Zeit als China von den Kolonialmächten ausgebeutet wird, sich der Boxeraufstand gegen die ausländischen Imperialisten ereignet, schließlich die Xinhai-Revolution die kaiserliche Dynastienfolge unter Pu Yi, dem letzten Kaiser, beendet, und Sun Yat-sen zum Übergangspräsidenten der Volksrepublik gewählt wird. Richard Wilhelm ist zu dieser Zeit in der deutschen Kolonie in Qingdao tätig, baut eine Schule auf und übernimmt später im Ersten Weltkrieg die Leitung eines Hospitals – er flüchtet also nicht in die sichere Heimat. Die Fremde ist ihm zur neuen Heimat geworden. Seine Ehefrau folgt ihm, und Wilhelm nähert sich der chinesischen Kultur mit einer eigentlich für jede Zeit ungewöhnliche Offenheit im Geiste. Anstatt sich um die Bekehrung der Chinesen zu kümmern, beginnt er chinesische Schriften zu lesen und schließlich zu übersetzen. In jahrelanger Arbeit übersetzt er Texte von Konfuzius, Laotse sowie Texte des Daoismus und auch das „Buch der Wandlungen“, das „I Ging“, den ältesten Text der klassischen chinesischen Lehren. Ein Text, den C. G. Jung, später ein enger Freund Richard Wilhelms, wiederum ins Englische übersetzt und der dadurch einem großen westlichen Publikum zugänglich gemacht werden konnte.

Bettina Wilhelm, die Enkelin des großen kulturellen Vermittlers, begibt sich in ihrem Dokumentarfilm nun auf die Spuren ihres Vorfahren, reist ins chinesische Qingdao, besucht ihr Geburtshaus (heute eine hochmoderne Augenklinik), spricht mit dem Enkel des Schulleiters, der ein enger Verbündeter des Deutschen wurde, und mit vielen anderen Zeitzeugen oder deren Nachfahren. In liebevoll persönlicher Weise skizziert sie ihre Reisen durch das moderne China und verdeutlicht den großen Einfluss des philosophisch-religiösen Denkens auf den chinesischen Alltag. Zugleich werden immer wieder kurze Exkurse mit westlichen Experten diverser Fachgebiete dazwischen montiert, die verschiedene Aspekte der chinesischen Lehren erläutern. Der Film bringt dem Zuschauer auf diese Weise die Prinzipien des I Gings und des Konfuzianismus näher und erläutert die Faszination auf westliche Denker und Schriftstelle; eines der prominentesten Beispiele ist Hermann Hesse.

Es zählt zu den großen Leistungen dieses narrativ recht herkömmlich gestalteten Filmes, dass die Regisseurin ihren Weg durch das Land mit einer ähnlichen Offenheit für das Fremde beschreiten wie der Großvater; so ist er nicht nur das Portrait und der späte Versuch einer Rehabilitation eines Mannes, der außerhalb eingefleischter Sinologenkreise wenig bekannt wurde (auch aufgrund des Zweiten Weltkrieges), sondern auch Zeugnis eines Verständnisses von Weltoffenheit, in dem ein kleingeistiger Kulturpatriotismus keinen Platz hat. Wer allerdings denkt, dieser Film würde allzu esoterische Themen anschneiden, täuscht sich. Er ist Hommage und persönliche Biographie eines großen Kulturwissenschaftlers zugleich – mit sensationellen Filmdokumenten aus den Archiven, mit wunderbaren Bildern aus dem modernen chinesischen Alltag zwischen Tradition und Moderne, dem Leben der Landbevölkerung und dem der hektischen Metropolen.

On the Road – Unterwegs

(F / BR 2012, Regie: Walter Salles)

Mehr Cronenberg wagen
von Carsten Happe

Es dauert nur wenige Minuten, da beschleicht einen das unbestimmte Gefühl, im falschen Film zu sitzen: die Szenerie ist gediegen ausgeleuchtet, das Production Design wirkt akkurat und edel – selbst …

Es dauert nur wenige Minuten, da beschleicht einen das unbestimmte Gefühl, im falschen Film zu sitzen: die Szenerie ist gediegen ausgeleuchtet, das Production Design wirkt akkurat und edel – selbst in den vermeintlich schäbigeren Momenten – der Off-Kommentar hat die unmissverständliche Einordnung geliefert, Texteinblendungen geben zusätzliche Orientierung. Vielleicht nicht direkt im falschen Film, so aber doch in der Ahnung, welche Adaptionen von Jack Kerouacs „On the Road“ statt der letztlich realisierten Version von Walter Salles möglich gewesen wären – Kerouacs eigener Wunsch, gemeinsam mit Marlon Brando die Hauptrollen zu spielen, Francis Ford Coppolas jahrelanges Interesse an dem Stoff, die Ankündigungen, Jean-Luc Godard und Gus Van Sant seien als Regisseur im Gespräch.

Stattdessen nun dies: ein braves Ausstattungsstück – dem die Akzentuierung der Sexszenen allerdings ein wenig entgegentritt – das der Vorlage gerade einmal den Plot entreißt, ihn in leicht verdauliche Episoden wegsperrt und auf ein biographisch motiviertes Ziel zuspitzt. Und dabei fast alles außer Acht lässt, was „On the Road“ (das Buch) ausmacht: den Rhythmus der Sprache, das Lebensgefühl von Freiheit und Ziellosigkeit, der Jazz der Bilder.

Mit einer ähnlichen Strategie hatte Bernd Eichinger in den 90ern Bestsellern wie dem „Geisterhaus“ oder „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ jeglichen Charme ausgetrieben. Dort wie hier steht die perfekt-leblose Rekonstruktion einer Umgebung oder Epoche im Vordergrund, bis in die Nebenrollen gespickt mit einer Starbesetzung, die sich völlig unterfordert den Authentizitätsanstrengungen unterordnen muss. Im Zentrum hingegen mit Garrett Hedlund und Sam Riley zwei Darsteller bar jeder Ausstrahlung, die eine ungefähre Ahnung ihrer jeweiligen Rolle transportieren und darüber hinaus nur aufgewärmte Klischeebilder anfertigen.

Das Triumvirat der Beat-Generation – Allen Ginsbergs „Howl“, William S. Burroughs‘ „Naked Lunch“ und Jack Kerouacs „On the Road“ – lässt sich nun vollständig auf der Leinwand betrachten. Wäre es nur bei David Cronenbergs wahnwitziger Burroughs-Adaption geblieben!

Die Wand

(AT / D 2011, Regie: Julian Roman Pölsler)

Freiheitsberaubung
von Carsten Happe

Eines Tages, in der Idylle einer alpinen Bergwelt, die fast greifbar scheint, wird die namenlose Erzählerin von einer unsichtbaren Wand umschlossen und vom Rest der Welt getrennt. Ein Hund bleibt …

Eines Tages, in der Idylle einer alpinen Bergwelt, die fast greifbar scheint, wird die namenlose Erzählerin von einer unsichtbaren Wand umschlossen und vom Rest der Welt getrennt. Ein Hund bleibt ihr als Ansprechpartner, ein fest abgesteckter Radius als Lebensumfeld – und ein Zurückgeworfensein auf die eigene, nackte Existenz. Marlen Haushofers Roman, der in einer feministischen Lesart zum Klassiker avancierte, bildet auf den ersten Blick eine einzige Negation des Kinos: ein Stillstand, der den bewegten Bildern entgegentritt, eine Introspektion, die kaum dialogisch aufzubereiten ist. Eine Off-Stimme als Umweg, der oftmals nur als hilflose Krücke genutzt wird, erweist sich hier allerdings als richtige Entscheidung, des Textes Herr zu werden. Martina Gedecks emotionslose Intonation ermöglicht mehr noch als die sorgfältig komponierten Bilder einen Zugang zu einer hermetischen Welt, die in all ihrer Schönheit schroff und abweisend daliegt. Die Frau verfällt nicht dem Wahnsinn, sondern erträgt ihr Schicksal mit einem staunenswerten Gleichmut, der ihre Entrücktheit nur unterstreicht und vor allem kaum zu beantwortende Fragen impliziert: Was bedeutet Freiheit, innere wie äußere? Müssen beide kongruent sein, um sogenannte Erfüllung zu erlangen?

Doch auch jenseits – oder besser diesseits – dieser metaphysischen Ebene ist Julian Roman Pölsler mit seiner durchdachten Adaption der „Wand“ die Quadratur des Kreises geglückt – einen schleichend unbehaglichen Film voller Spannungsbögen zu kreieren, die zu keiner Zeit als Blendwerk durch die Geschichte irrlichtern, sondern das mysteriöse Faszinosum der Ausgangssituation konsequent steigern. Martina Gedeck, zuletzt oftmals und durchaus zu Recht für ihre Rollenwahl gescholten, kann in dieser One-Woman-Show die ganze Bandbreite ihres facettenreichen Spiels aufbieten, das sie zu einer der interessantesten Darstellerinnen ihrer Generation machte. Mit ihrer Stimme, ihrem ganzen Auftreten verkörpert sie eine Frau, die hinter der Wand nicht gramgebeugt langsam verblasst, sondern möglicherweise gar ihre Bestimmung findet.

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Berg Fidel – Eine Schule für alle

(D 2012, Regie: Hella Wenders)

Münsteraner Bildungsutopie
von Ricardo Brunn

Wie kaum ein anderes Genre hat der utopische Film hypothetischen Charakter. In sich geschlossene, phantastische Welten dienen als Resonanzraum gesellschaftlicher Entwicklungen und Stimmungen. Hier kann sich die Wirklichkeit ihrer Grenzen …

Wie kaum ein anderes Genre hat der utopische Film hypothetischen Charakter. In sich geschlossene, phantastische Welten dienen als Resonanzraum gesellschaftlicher Entwicklungen und Stimmungen. Hier kann sich die Wirklichkeit ihrer Grenzen entledigen und etwas nicht Geschehenes so beschreiben, als wäre es bereits geschehen.

Der Dokumentarfilm „Berg Fidel – Eine Schule für alle“ ist quasi ein utopischer Film. Und als solcher beginnt er auch: Drei Astronauten müssen mit ihrem Raumschiff innerhalb weniger Sekunden die Erde erreichen, sonst droht ihnen der Tod. Mit gekonnter Parallelführung von unerbittlichem Countdown auf der einen und den Anstrengungen der Space-Shuttle-Besatzung auf der anderen Seite trägt David voller Hingabe seine selbst verfasste Geschichte vor. Am Ende atmet er erleichtert auf – die Astronauten haben es geschafft.

Zwei knappe Texttafeln im Anschluss an diesen Prolog zeigen die Koordinaten des Münsteraner Grundschuluniversums an: Unabhängig von ihrer sozialen Herkunft lernen hier Kinder mit und ohne Behinderung, Lernschwäche oder Migrationshintergrund zusammen und werden entsprechend ihren Fähigkeiten gefördert. Damit ist Berg Fidel (benannt nach dem Stadtteil in Münster) eine der wenigen Inklusivschulen in einem Land, das mehr Sonderschulkategorien kennt als alle anderen Staaten der Erde.

In ihrem Debütfilm beschreibt Regisseurin Hella Wenders das Konzept der Inklusion anhand ihrer Protagonisten David, Anita, Lukas und Jakob, denen sie mit zurückhaltender und einfühlsamer Kamera auf Augenhöhe in den Schulalltag folgt. Erst nach und nach treten die unterschiedlichen Voraussetzungen, mit denen die kleinen Hauptdarsteller die Schule begonnen haben, zu Tage, wenn vor Allem der scheinbar hochbegabte David in einer der vielen Interviewsequenzen von seiner Behinderung erzählt. So entsteht, auch weil die Erwachsenen nicht zu Wort kommen und die musikalische Untermalung es unterstützt, ein äußerst harmonisches Bild einer idealen, utopischen Schule.

Utopisch auch deshalb, weil die Regisseurin es vermeidet, die filmische Welt mit ihrer allzu genauen Erklärung zu relativieren: Zwar erzeugen der Verzicht auf einen begleitenden Kommentar sowie die Wahl der Kamerapositionen und Einstellungsgrößen das Gefühl konzentrierter Nähe zu den Kindern. Im Gegensatz zum großen Vorbild „Sein und Haben“ (F 2002, R: Nicolas Philibert) ist dieser Standpunkt für „Berg Fidel“ allerdings problematisch. Ein umfassenderer Blick auf das Zusammenspiel mit Erwachsenen (Eltern wie Lehrern) und der daraus resultierende, übergreifende Einblick in das Thema Inklusion und deren politische wie gesellschaftliche Voraussetzungen (Lehrermangel, Finanzierung, Barrierefreiheit, Engagement, spezielle Ausbildung der Pädagogen, elterliche Unvoreingenommenheit) wird somit leider vollkommen verwehrt. Wo sich „Sein und Haben“ auf schlichtes Abbilden eines (eigentlich selbstverständlichen!) humanistischen Miteinanders beschränkt, plädiert „Berg Fidel“ gerade für einen anderen pädagogischen Ansatz durch die Auswahl der porträtierten Kinder sowie die Texttafeln an Anfang und Ende des Filmes. Diesen Ansatz reduziert die Regisseurin allerdings mit dem kategorischen Imperativ des „Es geht doch!“ aus sicherer Entfernung. Aber halt! Sie wollte ja auch keinen pädagogischen Film machen, wie es im Pressetext heißt. Weshalb es eben ein utopischer geworden ist, in dem Hypothesen keiner Begründung bedürfen und vom (angeblichen) sozialen Brennpunkt Berg Fidel auch nichts zu spüren ist.

Der zwiespältige Eindruck, den „Berg Fidel“ so provoziert, spiegelt sich auch in der hilflosen Montage wider, die nur lose Strukturen schafft und Handlungsstränge stellenweise hektisch aneinander fügt. Einzig die Episode von Anita erhält eine gewisse Stringenz durch die drohende Ausweisung ihrer gesamten Familie. Und selbst dieser Hintergrund wird nervös erzählt, vielleicht aus Angst vor einem Ungleichgewicht unter den Figuren. Zu viele Szenen besitzen dann doch eine gewisse Beliebigkeit und scheinen allzu sehr ein verklärtes Bild gemeinsam lernender Kinder bedienen zu wollen. In diesen Momenten tritt die mangelnde Unvoreingenommenheit der Regisseurin deutlich zutage: Berg Fidel ist eben nicht nur eine beliebige Schule, es ist die Schule an der Hella Wenders‘ Mutter unterrichtet.

Kurzum: „Berg Fidel“ ist ein unausgewogener Film, der nicht zwischen dem Porträt der einzelnen Kinder und einem dahinter liegendem, bildungspolitischen Topos vermitteln kann und stattdessen lieber auf seinem utopischen Charakter beharrt. Hella Wenders‘ Debütfilm kann zwar durchaus als gefühlvolles Plädoyer für ein humanistisches Zusammenleben und -lernen gesehen werden, aber als Teil einer politischen Debatte – in der sich die Volksvertreter in der anmaßenden Rhetorik des lifelong learning und der „Wissensgesellschaft“ üben, ohne überhaupt noch eine normative Idee von Bildung zu haben und lieber deren Industrialisierung sinnentleert forcieren – ist er nicht zu gebrauchen. Dafür lässt er sich jedoch umso leichter instrumentalisieren: Es geht doch!

Die Wohnung

(D / IS 2011, Regie: Arnon Goldfinger)

Das Schweigen vor der Geschichte
von Wolfgang Nierlin

Als seine hochbetagte Großmutter Gerda Tuchler im Alter von 98 Jahren in Tel Aviv stirbt, hinterlässt sie ein ganz besonderes, weitgehend unbekanntes Kapitel deutsch-jüdischer Geschichte. Ihr Enkel, der israelische Filmemacher …

Als seine hochbetagte Großmutter Gerda Tuchler im Alter von 98 Jahren in Tel Aviv stirbt, hinterlässt sie ein ganz besonderes, weitgehend unbekanntes Kapitel deutsch-jüdischer Geschichte. Ihr Enkel, der israelische Filmemacher Arnon Goldfinger, spürt dieses auf im umfangreichen Nachlass der Verstorbenen, der neben einer Identität auch einen aus der Zeit gefallenen Lebensstil konserviert hat. „Alles ist so wie es war“, konstatiert Goldfinger, nachdem er die Jalousien hochgezogen hat und Licht in die titelgebende Wohnung und damit auch auf eine verborgene Geschichte fällt. Gerda Tuchler, die zusammen mit ihrem Mann, dem Verkehrsrichter Kurt Tuchler, 1937 von Berlin nach Palästina emigriert war, hatte offensichtlich zeitlebens in der deutschen Kultur gelebt, die ihr zweifellos ein Sehnsuchtsort der Erinnerung und zugleich geistige Heimat war. Ihre umfangreiche Bibliothek zeugt ebenso davon wie ihre Arsenale gesammelter Gebrauchsgegenstände, mit denen ihre verwunderten Nachkommen, die nach handfesten Werten suchen, wenig anfangen können.

Überhaupt weiß man in der Familie erschreckend wenig über die Verstorbene; die Erinnerungen sind rar. Und vor allem ihre Tochter Hannah, die Mutter des Filmemachers, zieht entschieden die konkrete Gegenwart der Vergangenheit vor, flieht diese geradezu. „Über wirklich Wichtiges wurde immer geschwiegen“, heißt es einmal. Erzählt wurde wenig und Fragen stellte man nicht. So beginnt Arnon Goldfinger, von zufälligen Entdeckungen in Briefen und alten Zeitungen angestoßen, im bislang ausgeblendeten Teil seiner Familiengeschichte zu recherchieren. Wie in einem Detektivfilm habe er diese in einem Zeitraum von fünf Jahren Schritt für Schritt erforscht. Dabei habe das Projekt, in dem sich auf sehr persönliche Weise Privates und Politisches, Gegenwart und Vergangenheit verbinden, eine eigene Dynamik entwickelt und sei stetig gewachsen. Insofern zieht sein Film „Die Wohnung“ als Dokument dieser konservatorischen Recherche immer weitere Kreise. Und er ist zugleich eine Art Enthüllungsbrief, der das Gespräch zwischen den Generationen befördern möchte.

Eine enge, jahrzehntelange Freundschaft steht im Mittelpunkt von Goldfingers spannenden Ermittlungen. Viele Briefe geben darüber Auskunft, dass seine jüdischen Großeltern vor und noch lange nach dem Krieg mit dem Adligen Baron Leopold von Mildenstein und seiner Frau befreundet waren. Dass dieser auch ein Nazi-Funktionär war, der Eichmann in sein furchtbares Amt brachte und der später im Propaganda-Ministerium von Goebbels arbeitete, macht diese Beziehung für Goldfinger zunehmend unverständlicher. Zumal Gerda Tuchlers Mutter Susanne Lehmann in einem Konzentrationslager starb. Gingen Nazi-Propaganda und Zionismus eine Zeitlang Hand in Hand? Was wussten die deutsch-patriotischen Tuchlers von den Aktivitäten des Barons von Mildenstein? Und was weiß dessen in Wuppertal lebende Tochter Edda Milz von der Vergangenheit ihres Vaters, der später im Getränkekonzern von Coca Cola Karriere machte?

Arnon Goldfinger besucht sie zusammen mit seiner Mutter in Deutschland. Offensichtlich waren seine Großeltern „in der Seele deutsch“, wie es einmal heißt. Jenseits von Spekulationen und Unverständnis über diese ungewöhnliche, gar ungehörige Freundschaft vermittelt Goldfingers Film vor allem etwas von der Tragweite des unausgesprochenen Schweigegebots. Dahinter wiederum stehen die angstvolle Abwehr des Ungeheuerlichen, die Scham angesichts schuldhafter Verstrickung, die schmerzliche Revision von Beziehungen und vertrauten Menschenbildern und nicht zuletzt die Skrupel vor dem Fragen selbst.

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Work Hard – Play Hard

(D 2011, Regie: Carmen Losmann)

Propheten der Veränderung
von Wolfgang Nierlin

Beim Arbeiten solle man möglichst nicht an die Arbeit erinnert werden, meint einer der Architekten, die für Unilever die neue Firmenzentrale am Hamburger Hafen planen. Deshalb gelte es, eine Atmosphäre …

Beim Arbeiten solle man möglichst nicht an die Arbeit erinnert werden, meint einer der Architekten, die für Unilever die neue Firmenzentrale am Hamburger Hafen planen. Deshalb gelte es, eine Atmosphäre zu kreieren, die die Arbeitskultur des Auftraggebers widerspiegele. Mit den modischen Schlagworten „Team-Spirit“, Innovationskraft, Kreativität und Kommunikationsstärke ist diese benannt. Und so wird das Büro kurzerhand umdefiniert in einen Ort, der vor allem Begegnung und Kommunikation ermöglichen soll, weil diese, so sind die Planer überzeugt, eine Quelle für Innovationen bilden. Das fertige Gebäude zeichnet sich insofern dann aus durch offene, lichte Räume, durch Treppen und Galerien, die verbinden und großzügig Bewegung ermöglichen sowie durch Transparenz. Hier können die Mitarbeiter flanieren, an langen Theken bei einem Getränk ihren Gedanken nachhängen oder in einer der vielen gemütlichen Sitzecken Gespräche führen. Aber das leise Klicken der Tastaturen, der sanfte Telefonterror und die leeren, aseptischen Räume weisen schon noch darauf hin, dass es bei aller wohnlichen Behaglichkeit dieser „Net und Nest-Etagen“ vor allem um knallharte „Mega-Wachstumsziele“ geht.

„Open door-policy“ und „non-territoriale“ Arbeitsplätze lauten andere Zauberworte dieser neuen Arbeitskultur, die vorgeblich den persönlichen Bedürfnissen der Mitarbeiter Rechnung trägt und so etwas wie Zeiterfassung zu „Schnee von gestern“ macht, tatsächlich aber die „Lösungsgeschwindigkeit“ erhöhen soll. Denn natürlich geht es hier neben Wachstum und Gewinnmaximierung vor allem um die Selbstoptimierung der Ressource Mensch, die dafür nötig ist. Carmen Losmann ist in ihrem beeindruckenden Dokumentarfilm „Work Hard – Play Hard“ den unterschiedlichen Facetten dieser gruseligen Zurichtung auf der Spur. Ohne Kommentar und in luziden Bildern, deren tiefenscharfe und oft symmetrische Komposition den totalen Anspruch dieser gar nicht so schönen neuen Arbeitswelt vermittelt, beobachtet sie mit distanziertem Blick jene seelenlosen Orte und Trainingscamps, an denen die Gehirnwäsche am „Humankapital“ stattfindet. Kongenial unterstützt wird sie dabei von dem Bildgestalter Dirk Lütter, der als Regisseur in seinem eigenen, starken Spielfilmdebüt „Die Ausbildung“ ein verwandtes Thema behandelt hat.

„Change“ lautet eine der vielstrapazierten Vokabeln, von denen „Human Resource Manager“ faseln, um die Veränderung des Menschen und seiner angeblich überholten (Arbeits-)Kultur zu beschwören. Eine in diesem Sinne gepolte weibliche Führungskraft der Deutschen Post ist gar so vermessen zu fordern, diesen anvisierten „Wandel“ in die DNA der zu „entwickelnden Mitarbeiter“ „verpflanzen“ zu wollen. Die „Kultur der ständigen Verbesserung“ im Blick, in der sich die Arbeitskraft am besten „selbst wegrationalisiert“ führen uns die Ideologen des paradoxen „Change“ zum „Flow“-Training in dunkle Erdlöcher, in Büro-Räume, die „World“ heißen und an deren Wänden ebenso kryptische wie kindische Graphiken zur Motivationssteigerung hängen. Am verräterischsten ist aber die inhaltsleere Sprache dieser selbsternannten Propheten der Veränderung, eine mit anglizistischen Worthülsen durchsetzte Pseudo-Terminologie, die viel heiße Luft verbläst und den sprachhandelnden Menschen in eine Marionette des üblen Systems verwandelt.

Der deutsche Freund

(D / AR 2012, Regie: Jeanine Meerapfel)

Politisch Lied, garstig Lied
von Dietrich Kuhlbrodt

In Buenos Aires leben deutsche Emigranten Tür an Tür, Juden (aus den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg) und Nazis (nach 1945), und sie wahren Distanz. Der Film konzentriert sich auf …

In Buenos Aires leben deutsche Emigranten Tür an Tür, Juden (aus den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg) und Nazis (nach 1945), und sie wahren Distanz. Der Film konzentriert sich auf die in Chile geborenen Kinder: auf die Jüdin Sulamit (Celeste Cid) und den SS-Obersturmbannführersohn Friedrich (Max Riemelt). Wir sehen die beiden zum Missfallen der jeweiligen Eltern zusammen spielen, unschuldige Küsschen tauschen, pubertieren, ein Paar werden, sich trennen, zwischen Argentinien und Frankfurt dank des DAAD hinundherfliegen und schließlich zusammenfinden.

„Der deutsche Freund“ ist ein Romeo-und-Julia-Plot mit Happyend – und im allseits bekannten TV-Format, bunt, gewaltfrei und kitschig. Das ist umso auffälliger, weil es im Film um eine Geschichte von Gewalt und politischem Kampf geht. Jeanine Meerapfel (Regie und Buch) versichert, sie habe viel Autobiographisches in den Film eingebracht. Ich respektiere die Autorin („Malou“, 1980). Und ich finde es schade, dass die guten Absichten jetzt im Fernsehformat versackt sind. In den Filmbildern finden sich allenfalls Spuren wieder von dem, was die Dialoge beabsichtigen, nämlich in die Liebesgeschichte sowohl die Geschichte Südamerikas (Militärjunta, Allende) als auch die der BRD (68er Jahre, Dutschke) einzuhängen. Schön, das Ho, Ho, Ho Chi Minh wird sekundenlang als Dokument eingeblendet und unmittelbar danach noch mal als Reenactment.

Was transportiert wird, ist nur eine Peinlichkeit mehr. Politisch Lied, garstig Lied. Zur Beruhigung des Zuschauers und selbstredend um den Quoten Genüge zu tun, schwelgt die Kamera in der Landschaft Patagoniens, und kammermusikalische Harmonien versichern uns, dass alles gut ausgeht. Und es geht gut aus. Das gelingt nur, so die explizite Botschaft, wenn der deutsche Freund sein politisches Engagement aufgibt (Studentenbewegung, aktiver Kampf für die dritte Welt) und sich voll auf die geliebte Sulamit konzentriert. In der herrlichen Landschaft Patagoniens (sagte ich das schon?) ist er dann so weit. Er schwört in wohl gesetzten Worten allem Politischem ab und zieht mit Sulamit mitten in der Einöde in ein verfallenes, aber hochgradig romantisches Haus, die zwei nur für sich.

Die Welt drumherum gibt es nicht mehr. Hach, ist das schön. Schön kitschig. Schöne heile Welt. In der jüngsten Generation ist das Unheil von Auschwitz vergessen (und vergeben?), das politische Engagement sowieso. Die unheilvolle Nachkriegsgeschichte ist abgeschafft und das Biedermeier etabliert. – Ich wünsche den beiden eine satte Beziehungskrise.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2012

Liebe

(F / A / D 2012, Regie: Michael Haneke)

Komm mit!
von Dietrich Kuhlbrodt

Michael Haneke („Das weiße Band“) fragt, was das ist, Liebe zwischen Menschen, die alt geworden sind. Realität ist, dass sich immer mehr Gewissheit aufdrängt: es geht aufs Ende zu. Normalerweise …

Michael Haneke („Das weiße Band“) fragt, was das ist, Liebe zwischen Menschen, die alt geworden sind. Realität ist, dass sich immer mehr Gewissheit aufdrängt: es geht aufs Ende zu. Normalerweise fassen wir den Tod ungern ins Auge. Auch gibt es eine Schwelle, deswegen ins Kino zu gehen. Hanekes „Liebe“ aber ist ein großartiger Kinofilm, und er garantiert ein neuartiges, grandioses, nachwirkendes Kinoerlebnis. Auf den Festspielen in Cannes bekam „Liebe“ die goldene Palme.

Was passiert im Film? Zunächstmal: es wird dem Zuschauer nichts erzählt. Es gibt kein Plot. Aber es wird beobachtet. Im großen Ganzen bleiben wir die volle Kinolänge in einem Zimmer und beobachten zwei Alte. Jean-Louis Trintignant ist mittlerweile achtzig Jahre alt, Emanuelle Riva 85. Protokolliert wird der sich verändernde Zustand vom Leben zum Tod. – Das klingt jetzt so, als ob wir alle ganz traurig werden müssen. Vielleicht ist das sogar der Fall. Das Besondere aber ist, dass der Film von Zärtlichkeit erfüllt ist. Zärtlich gehen die beiden Alten miteinander um, und zärtlich geht der Regisseur mit seinen Protagonisten um. Der Film „Liebe“ ist auch ein Film über die Liebe des Regisseurs zum Film.

Eine Rolle spielt, dass die Alten altbekannt sind. Seit den fünfziger Jahren treten sie in Filmen auf. „Verliebt in scharfe Kurven“ (Trintignant, 1962), „Hiroshima, Mon Amour“ (Riva, 1962). Gebrechlich und dem Tode nahe, werden sie uns jetzt in „Liebe“ vorgeführt – mit allem Respekt und ihrer Würde belassen. In der ersten Filmeinstellung, noch vor dem Filmtitel, sehen wir Riva im Bett liegen, entspannt, unbeweglich. Tot? Auf dem Kopfkissen sind die Blüten abgeschnittener Blumen wie Sterne drapiert. Polizei kommt. Es ist etwas geschehen. Aber was? Nächstes Bild. Die beiden Alten sind frisch und munter in einem Konzertsaal zu sehen. Franz Schubert. Eins der Impromptus aus dem Opus 90. Aha, die beiden sind oder waren Musikprofessoren. Ihr Schüler ist berühmt geworden.

Riva sitzt am Frühstückstisch, starren Blicks, abgeschaltet. Eine Absence? Ein Schlaganfall. Trintignant übernimmt die Pflege in der Wohnung. Er verspricht, sie niemals in ein Heim oder in die Klinik zu überweisen. Es gibt was zu tun. Viel. Das Bettlaken ist nass. Urin? Er zieht ihr eine Unterhose hoch. Hat er sie gewaschen? Er wäscht ihr die Haare. Sie fährt im Rollstuhl im Kreis herum. Beide lachen. Dann der zweite Schlaganfall. Die Tochter reist an (Isabelle Huppert). Sie denkt praktisch. Der Vater ist doch völlig überfordert. Die Mutter müsste klinisch versorgt werden. Der töchterliche Blick wandert in der Wohnung herum. Dann erzählt sie der Mutter eine lange Geschichte, wie schwierig es ist, eine Wohnung zu finden, aber es wird schon werden. Von Empathie kaum eine Spur, von Zärtlichkeit auch nicht. Ganz der gesunde Menschenverstand. Denken alle Töchter so? Ja?

Haneke antwortet nicht. Er stellt Fragen. Stellung nehmen, bewerten, ablehnen, sich entrüsten, mitfühlen, sich erinnern, – all das muss der Zuschauer selbst tun, und das Ergebnis wird unterschiedlich sein. „Liebe“ ist ein sich intensivierendes Wahrnehmungs- und Rezeptionserlebnis an Hand präziser Fakten und detailreicher Beobachtung. Ich sags laut: Der Film hat mich aufgewühlt – im guten Sinne. Oder sensibilisiert, – aber das klingt zu abgegriffen. Oder: er implodiert in mir, – aber das klingt zu pathetisch. Hanekes Geheimnis ist, dass mit der der Protokollierung der Details des Sterbenmüssens so etwas wie Wahrheit entsteht. Und Normalität. Genial sind die Einschübe von Bildgeschichten, die sich erst im Laufe des Films entschlüsseln lassen. Wieder ist es am Zuschauer, die Codes zu knacken. Wieder wird zur aktiven Rezeption eingeladen.

Als zehnjähriger Junge, so erzählt er der Dahingehenden, war ich in einem Schullandheim. Mit der Mutter war ein Code ausgemacht. Schickt der Junge Postkarten mit Blumen drauf, ist alles okay. Mit Sternen: hol mich hier raus. Hört Riva, die nichts mehr artikulieren kann, überhaupt zu? Versteht sie, von was er erzählt? Ihr Gesichtsausdruck entkrampft sich. Sie wirkt jetzt entspannt. Lächelt sie nicht sogar? Und waren in der Eingangssequenz des Films nicht Blumen, Blumenköpfe, um ihr so wunderschön entspanntes Gesicht drapiert? Oder waren sie wie Sterne angeordnet? Hatte sie nicht vorher im Film gesagt, als sie noch was sagen konnte, dass sie weg will, weg aus dem unerträglich gewordenen Leben? Immerhin hatte er aus ihrem Lallen erraten, was sie mit ihm singen wollte. Und dann singen die Musikprofessoren „Sur le pont d’Avignon“. Und lächeln sich an.

Jetzt aber, schlussendlich, ist Zeit zu gehen. Wenn Liebe heißt, für einander zu sein, muss das nicht auch für das Fortgehen miteinander gelten? Wohlgemerkt, der Film formuliert die Fragen nicht. Die Bilder, die Codes, provozieren aber Antworten des Zuschauers. In einer eingefügten Szene wird für dieses Gehen ein nüchternes, alltägliches, normales Bild gefunden. Die Wohnungstür öffnen. „Ja, willst Du denn nicht den Mantel anziehen?“ Der Mantel wird angezogen. Die Tür klappt zu. – Lieber Leser, ob Du das glaubst oder nicht. Ich versichere, dass diese Szene eine der größten und unvergesslichsten der Filmgeschichte ist.

Okay, jetzt glaubt mir sowieso keiner mehr diesen Überschwang. Cool ist das ja nicht grade. Aber es ist mir egal. Es ist mein Ding, vom Film mitgenommen zu werden und, ja, wirklich zu werden. Denn „Liebe“ ist ein Film, der sich der angesagten Entwirklichung in den Medien entgegensetzt, sozusagen ein erratischer und individueller Fels inmitten der digitalen Brandung um uns herum. Dank Haneke hab ich Wirklichkeit unter den Füßen und Emotionen im Kopf, und die hab ich hier rausgelassen, hier, eine volle Seite in „Konkret“. Bestimmt gibt es andere Wahrnehmungen.

„Ein Horrorfilm“, sagte in der Pressevorstellung einer von der jüngsten Generation. Schnief, machten andere und zückten ein Tempotaschentuch. Glänzende Augen hatten viele und verließen das Kino in sich gekehrt. Ich machte mir Sorgen. Wie schreib ich über „Liebe“? Gewohnt ironisch/spöttisch? Nö. Autobiografisch? Allemal. Immerhin werde ich dieses Jahr ja auch achtzig. Und mit Brigitte bin ich mir einig.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 09/2012

The Expendables 2

(USA 2012, Regie: Simon West)

Ein bisschen (Folter)Spaß muss sein
von Louis Vazquez

Selten dürfte eine Inhaltsangabe so unnötig gewesen sein wie im Fall von „The Expendables 2“. Was mehr als ein Schaulaufen der Actionfilmveteranen durch das handlungsminimierte Gerippe eines Söldnerfilms sollte man …

Selten dürfte eine Inhaltsangabe so unnötig gewesen sein wie im Fall von „The Expendables 2“. Was mehr als ein Schaulaufen der Actionfilmveteranen durch das handlungsminimierte Gerippe eines Söldnerfilms sollte man auch erwarten? Alles, was geschieht, ist vorhersehbar – abgesehen von den völlig abwegigen Details.

Beispiel: Nachdem der Bösewicht (Jean-Claude Van Damme) das von allen gesuchte Plutonium schneller aus einer Mine hat bergen lassen, als den Helden lieb ist, gelingt es ihm, seine Ladung trotz des (strategisch eher simplen) gegnerischen Dauerfeuers persönlich per LKW-Konvoi zu einem Flughafen zu transportieren. Dieser befindet sich, so suggeriert die Montage, etwa dreihundert Meter von der Mine entfernt mitten im osteuropäischen Nirgendwo. Wie er dahin kommt und warum plötzlich ganz viele Zivilisten und Flughafenmitarbeiter aus dem Weg springen müssen, ist völlig egal, solange bildstark die Scheiben bersten. Mit einem realistischen Weltkonzept hat man es hier also eher nicht zu tun. Alles ist Mittel zum Zweck, die Patronenhülsen möglichst spektakulär fliegen zu lassen. Macht ja auch erstmal gar nichts.

An anderer Stelle finden die Helden sich in einer klar als Kulisse erkennbaren New Yorker Straßenszenerie wieder – ein Fertigset der bulgarischen „Nu Boyana Film Studios“, in denen „The Expendables 2“ gedreht wurde. Diese Fassaden, so die Erklärung im Film, stünden irgendwo in Osteuropa herum, damit Bösewichte dort Anschläge auf Amerika üben können. So phantasievoll wie bei dieser Rechtfertigung ist das Drehbuch bedauerlicherweise sonst nirgends. Ein ums andere Mal wünscht man sich, dass ein Meta-Trash-Spezialist wie Robert Rodriguez mit Rat und Tat zur Seite gestanden hätte.

Lässt man Gekrittel an Vorhersehbarkeit oder Logik außen vor, dürfte das größte Problem dieses erweiterten Treffens der Action-Ikonen sein, dass keiner der Teilnehmer – außer Fiesling Van Damme – irgendetwas darstellen darf, was von der Erwartung abweichen würde. Stattdessen werden Image und Rollengeschichte so lange im Zitatenreigen potenziert, bis rein gar nichts mehr ernst zu nehmen ist. Emotionale Bindung, die stellenweise durchaus erwünscht scheint, und Spannung bleiben deshalb völlig auf der Strecke, denn diesen Ikonen wird niemand etwas anhaben können. Die einzigen Ausnahmen bilden das einzige absehbare Opfer aus der Gruppe, das den Rachefeldzug erst auslöst, und natürlich Van Damme.

Die kalkulierte Unantastbarkeit der Helden ist ziemlich mutlos und langweilig. Immerhin blieben selbst von glorreichen Sieben nur drei, ebenso wenige von sieben Samurai. Lee Marvin brachte sogar nur einen aus seinem dreckigen Dutzend wieder nachhause. In „Expendables 2“ dagegen machen die Helden eine Art Abenteuerurlaub, in dem nichts auf dem Spiel steht. Weil die Franchise weiter gehen muss, wird weitgehend gefahrlos geballert. Die Action beschränkt sich dabei erstaunlich oft auf den typischen Low-Budget-Starschnitt: Helden halbnah von vorne mit wummernder Knarre zeigen, dann im Gegenschuss die Gegner durch die Luft fliegen und Sachen kaputt gehen lassen. Auf interessante kinetische Inszenierungen wartet man vergeblich.

Weil das alles relativ langweilig ist, soll zumindest herzhaft gelacht werden, zum Beispiel über das kleine bisschen Folter ausgerechnet durch Maggie (Nan Yu), die einzige Frau der Söldnertruppe. Das schafft Fallhöhe, denn so hart sein dürfen eigentlich nur Männer. Genervt von der nur geringen Auskunftsfreude eines Feinds, der nach einem Kampf in einer Bar festgesetzt wurde, packt Maggie eine kleine Schachtel aus und gewährt einen Blick auf viele kleine, spitze und scharfe Folterinstrumente. Ein schneller Schnitt nach draußen, und die Helden verlassen bereits die Bar, weil die Auskunft schon eingeholt ist. Das lässt Raum fürs Kopftheater und akzentuiert den Gagversuch wie der Fastnachtstusch die Büttenrede. Interessanterweise bereitet der schnelle, cartoonhafte Tod kein Darstellungsproblem: Die gegnerischen Heerscharen dürfen im Kugelhagel zu Dutzenden zerplatzen. Dass eine Frau foltert, wird zwar als Witz verpackt, aber lieber doch nicht explizit gezeigt – es ist doch nur ein Späßchen.

Wenn man mit dem Lachen fertig ist, freut man sich womöglich auch über die diesmal ausführlichere Rückkehr von Arnold Schwarzenegger, der inzwischen sogar auf praktische Erfahrungen in Sachen Gnadenlosigkeit und Sterbenlassen verweisen kann, und auf Chuck Norris, der maximal einen Tag am Set gewesen sein dürfte und gleich zweimal den Deus ex machina gibt. Wenn er einen Chuck-Norris-Witz erzählt, ist bereits der Gipfel des Metahumors erreicht. Ansonsten sind unkritisch aufbereitete chauvinistische Klischees – Frauen können nämlich zwar foltern, aber, haha, gar nicht gut schießen – immer für ein behagliches Lachen gut, denn da kennt man sich aus. Hauptsache keine Überraschungen.

Der Fluss war einst ein Mensch

(D 2011, Regie: Jan Zabeil)

Der Ort ist das Ziel
von Andreas Thomas

Ein junger Mann aus Deutschland (Alexander Fehling), namenlos, auf einer Reise durch ein afrikanisches Land, ebenfalls namenlos. Er benutzt eine Fähre und einen Mietwagen. Bei einem Unwetter in der Nacht …

Ein junger Mann aus Deutschland (Alexander Fehling), namenlos, auf einer Reise durch ein afrikanisches Land, ebenfalls namenlos. Er benutzt eine Fähre und einen Mietwagen. Bei einem Unwetter in der Nacht ist durch die Windschutzscheibe fast nichts mehr zu erkennen, dann plötzlich ganz nah Kühe, eine scharfe Bremsung und ein scharfer Schnitt, so wie wenn man sich die Augen zuhält.

Ein neuer Tag: Der Deutsche liegt ziemlich relaxed auf der Kühlerhaube und raucht. Keine toten Kühe und kein toter Deutscher. Nicht mal eine Beule im Rover. Situation folgt auf Situation. War da eine Zäsur oder nicht? Der Deutsche, ohne Auto jetzt, wird von einem alten Afrikaner, namenlos, auf einem Einbaum durch ein ausgedehntes namenloses Flussdelta, Ziel unbekannt, gesteuert. Der Deutsche wirkt müde und ziellos, er verschläft die halbe Fahrt, der Fährmann sagt am Lagerfeuer: Der Elefant kommt zu dir, um dich zu töten.

Am nächsten Morgen ist der Alte tot und der Junge ratlos. Wie soll er den Weg zurück finden, wenn er auf dem Boot noch nicht einmal das Gleichgewicht halten kann?
Was nun überwiegt, sind die Geräusche der Gefahr und die Geräusche des ausgedehnten Flussdeltas. Der Deutsche kann an seiner Angst zugrunde gehen, er kann sich aber auch dem langsamen Strom überantworten, so wie man sich seinem Schicksal ergibt.

Für einen Film wie „Der Fluss war einst ein Mensch“ stehen derzeit zwei Genretypisierungen zur Verfügung. Zum einen passt der Film zu Filmen wie „The Sixth Sense“ von Night S. Shyalaman, „Alice“ von Claude Chabrol oder „Jacob’s Ladder“ von Adrian Lyne, er ist also als eine Art metaphysischer Psychothriller les- bzw. erlebbar. Zum anderen, je nach Auslegung, passt das Langfilmdebüt von Jan Zabeil auch in die Reihe jener neueren zivilisationskritischen Filme, die von der Entfremdung des westlichen Menschen berichten, indem sie ihn in einer urwüchsigen und gleichgültigen Natur aussetzen. Hier könnte man an Filme wie Gus Van Sants „Gerry“ denken, gar an „The Blair Witch Project“ aber auch an jene die Natur mystifizierenden Filme eines Weerasethakul, in denen die Natur zwar als mächtig und allgegenwärtig erscheint, aber wo aus ihrer Allmacht (und ihrer Geisterwelt) auch Heilung und Sinnzusammenhang erwachsen kann.

Ein junges Beispiel für einen deutschen Film, der eher für die (afrikanische) Natur als für die (westliche) Kultur votiert, war „Schlafkrankheit“ von Ulrich Köhler. Nah daran und sichtlich geprägt von „Dead Man“ von Jim Jarmusch entwickelt Zabeil eine Metapher von der (Über-)Lebensunfähigkeit eines europäischen Zeitgenossen angesichts einer allumfassenden Natur, mit und in der er nichts anfangen kann. Die Natur in „Der Fluss war einst ein Mensch“ ist nahezu identisch mit dem darin Untergehen, mit dem Tod. Solch Metaphorik lässt nicht viel zu rätseln übrig.

Bereits das mutige Konzept der weitgehend improvisierten Dreharbeiten, sich mit einem aus nur vier Leuten bestehenden Team in (ein auch im Abspann des Filmes nicht näher bezeichnetes) afrikanisches Land und mehr oder weniger ungeschützt in dessen Gefahren (Skorpione im Zelt, Flusspferde im Fluss) zu begeben, um sowohl handlungstechnisch als auch realiter alles auf sich zukommen zu lassen, ist programmatisch. Natürlich wird so der Weg, nämlich der Ort und seine Charakteristika, zum Ziel und deshalb verbringt der Film die Hälfte seiner Zeit schweigend bei seinem teils skeptischen, teils „leidenden“, teils panischen und teils dreingegebenen Protagonisten (wofür dem Hauptdarsteller weniger Mimik als nötig zur Verfügung steht) und guckt und lauscht und fühlt die geheimnisvolle afrikanische Natur, er meditiert quasi das weg, was der Junge wegleidet.

Was der junge Mann nun eigentlich vorhatte auf dem fremden Kontinent, ist dabei so wenig wichtig wie Land und z.B. Leute, die, wie auch er und alles andere hier, zum Exemplarischen erhoben und im Abspann nur als „People of the Village' bezeichnet werden. Der Film, seine Figuren, die Handlung und der Ort Afrika, offenbar alles im Dienst einer Mystifikation. Es bleibt das zwiespältige Gefühl, zwar spürbar mitten drin gewesen zu sein und weitab von jeder Zivilisation, zugleich aber, dass hier ein Kontinent zusammenschnurrt zum Zweck einer ziemlich eskapistischen Romantisierung von Wildnis: sei sie nun positiv oder negativ besetzt – Hauptsache, sie ist wilder als das degenerierte Europa.

In Köhlers Afrikafilm „Schlafkrankheit“ war Afrika gehaltvoller, widersprüchlicher, und daher plausibler. Aber „Der Fluss war einst ein Mensch“ ist ja, wie gesagt und offenbar, auch nur ein Film über diese jungen Deutschen, die vor lauter Coolness nicht mal Autofahren können.

Holy Motors

(F / D 2012, Regie: Leos Carax)

Tod und Vergänglichkeit
von Andreas Busche

„Wo bleiben nachts eigentlich all die Limousinen?“ fragte gerade erst Robert Pattinson in David Cronenbergs „Cosmopolis“. Die Antwort liefert nun Leos Carax‘ neuer Film „Holy Motors“. Da versammeln sich am …

„Wo bleiben nachts eigentlich all die Limousinen?“ fragte gerade erst Robert Pattinson in David Cronenbergs „Cosmopolis“. Die Antwort liefert nun Leos Carax‘ neuer Film „Holy Motors“. Da versammeln sich am Ende des Tages die Stretch-Limousinen der Stadt in einer Garage im Randbezirk. Nachdem der letzte Chauffeur die Halle verlassen hat, erwachen die Autos zum Leben und beginnen, über ihren Arbeitstag zu klagen. Ihr Gespräch spannt den ganz großen philosophischen Bogen vom Profanen zum Erhabenen. Die heiligen Maschinen, deren Geist längst unseren Alltag transzendiert hat und deren Schicksal darin besteht, von immer kleineren Prozessoren ersetzt zu werden.

Diese Schlusseinstellung fügt sich nahtlos in Carax‘ unberechenbaren kleinen Geniestreich von Film, in dem sich David Lynchs hypnotische Traumgespinste und die labyrinthische Logik eines Luis Borges verbinden. Neun „Verabredungen“ hat Monsieur Oscar im Auftrag einer ominösen Agentur zu erledigen, im Fond seiner Limousine lässt er sich von Termin zu Termin befördern. Verlässt er den Wagen, schlüpft er in eine neue Rolle: eine verkrüppelte Bettlerin, einen Familienvater, einen Martial Artist. Hochgradig bizarr ist die Zwergen-Episode um einen Modefotografen und sein Supermodel (Eva Mendes). Der als Gnom verkleidete Monsieur entführt die Schöne in die Unterwelt, wo er ihr Designerkleid wie einen Tschador herrichtet und sich mit erigiertem Schwanz in den Schlaf singen lässt.

Doch so herrlich beknackt das klingt, eigentlich ist Monsieur Oscar eine tragische Figur: ein Shapeshifter, eine Hülle ohne eigene Identität. Tod und Vergänglichkeit sind in Carax‘ Film allgegenwärtig. Mit einer Kollegin spielt Monsieur Oscar eine unglaublich bedrückende Sterbeszene durch. Ein anderes Mal tötet er einen Kriminellen, verwandelt ihn in seinen Doppelgänger und legt sich zum Sterben neben sein Ebenbild. Nur ist der Tod keine Option für ihn.

Hauptdarsteller Denis Lavant ist mit seinem sehnigen Körper und diesen tiefliegenden Augen schon physisch nicht für einen tragischen Heldentod geschaffen. Ein solches Privileg genießt nur eine Diva wie Kylie Minogue, die Lavant beim Schlendern durch die baufällige Pracht der „Samaritaine“-Korridore ein Liebeslied singt, das die Mauern zum Weinen bringen könnte. Wer waren wir, was ist aus uns geworden? Die Liebenden haben sich in Monster verwandelt. Es ist zum Sterben schön. Monsieur Oscar aber muss noch weiter zu einer Schimpansenfamilie. Sein leerer Blick aus dem Fenster spricht Bände.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Was bleibt

(D 2012, Regie: Hans-Christian Schmid)

Die Mauer muss weg!
von Ulrich Kriest

Die bürgerliche Kleinfamilie bleibt ja immer noch die schönste Konstellation, wenn man einmal einen richtigen Kriegsfilm so ganz ohne Uniformen drehen will. Noch schöner wird es, kehrt jemand zurück aus …

Die bürgerliche Kleinfamilie bleibt ja immer noch die schönste Konstellation, wenn man einmal einen richtigen Kriegsfilm so ganz ohne Uniformen drehen will. Noch schöner wird es, kehrt jemand zurück aus der Fremde in die Enge seiner Anfänge. Alle Konflikte noch da? Setzen! Marko (Lars Eidinger) ist ein Schriftsteller und lebt seit Jahren in Berlin. Sein Debüt als Autor war wohl recht erfolgreich, aber jetzt geht es irgendwie nicht recht voran und die Beziehung zur Mutter seines Sohnes Zowie (!) scheint gescheitert: man ist vorsorglich schon wieder auseinandergezogen. Für ein langes Wochenende kehrt Marco mit Zowie zurück ins Elternhaus nach Siegburg.

Dort, im Zentrum der alten Bundesrepublik, steht der großzügige Frühsiebiger-Bungalow der Bauhaus-Moderne. Marcos Alt-68er-Vater Günther (Ernst Stötzner) ist ein sehr erfolgreicher Verleger, der allerdings gerade seine Verlagsanteile verkauft hat, um jetzt endlich die Dinge tun zu können, die ihm vorher nicht möglich waren. Er, der souveräne Chef im Ring, will jetzt als Sachbuchautor ein weiteres Mal reüssieren. Marcos jüngerer Bruder Jacob (Sebastian Zimmler) ist Zahnarzt geworden, die Praxis und auch die eigene Wohnung hat ihm der Vater finanziert – und nebenher auch schon mal Küche und Couch ausgesucht. Was nicht viel geholfen hat, denn in dieser Stadt braucht es offenbar keinen weiteren jungen Zahnarzt: die ersten Geräte werden bereits wieder abgeholt, die Bank versteht keinen Spaß. Jacob führt zudem eine nicht ganz unproblematische Wochenendbeziehung. Marcos Mutter Gitte (Corinna Harfouch) ist vielleicht depressiv. Jedenfalls stand sie 30 Jahre unter Medikamenten. Ruhig gestellt. Jetzt hat sie diese eigenmächtig abgesetzt – und es geht ihr gut dabei. Sagt sie. Ein symbolischer Akt. Doch die Ordnung der Familie, ohnehin nur fragil und durch Wohlstand abgefedert, kommt durch diese eigensinnige Entscheidung ins Gleiten.

Mit chirurgischer Präzision entfernt Hans-Christian Schmid elegant Maske um Maske, bis die Wahrheit hinter der bürgerlichen Fassade kenntlich wird: diese Familie ist längst nur noch eine Fiktion, ein Transitraum, zentriert allein durch die sedierte Mutter im Bungalow. Fallen die Medikamente fort, wird der Blick plötzlich klar! Krankheit als Metapher in der Schlacht der Beziehungsökonomien: die alten Rollen zwischen Egoismus und Selbstmitleid, Verständnis und Überforderung werden noch einmal ausprobiert und dann verworfen. Die alten Rechnungen gehen nicht mehr auf! Günther hat sich sein Recht auf ein bisschen Unabhängigkeit schwer erarbeitet, hat er doch alles der Familie geopfert. Doch Gittes Rebellion verpufft in einem zwiespältigen Akt des Widerstands, weshalb der Filmtitel auch ohne Fragezeichen auskommt.

Kaum jemand könnte hierzulande einen solch subtilen und schmerzhaften Stoff, der an Ibsen und Tschechow erinnert, souveräner und pointierter – der Film dauert gerade mal 85 Minuten! – inszenieren als Hans-Christian Schmid („Requiem“), der hier auf ein erstklassiges Drehbuch von Bernd Lange, ein vorzügliches Set-Design und ein wirklich phänomenales Darstellerensemble um allerlei Theatergrößen bauen konnte. Ein nahezu perfekter Film – bis hin zur passend brüchig-elektronischen Musik von The Notwist. Einziges Manko, vielleicht unvermeidlich, ist, dass der Film gut 25 Jahre zu spät kommt. Man stelle sich „Was bleibt“ in der Geschichtsstille von 1987 vor! So muss jetzt wohl ein Double-Feature mit Petzolds „Barbara“ her, um die ganze Geschichte in den Blick zu bekommen.

Holy Motors

(F / D 2012, Regie: Leos Carax)

Der Verwandlungskünstler
von Wolfgang Nierlin

Die Geräuschkulisse kommt vom Meer. Möwenschreie und eine Schiffssirene sind zu hören, als sich ein offensichtlich blinder Mann von seinem Bett in einem düsteren Hotelzimmer erhebt und sich entlang einer …

Die Geräuschkulisse kommt vom Meer. Möwenschreie und eine Schiffssirene sind zu hören, als sich ein offensichtlich blinder Mann von seinem Bett in einem düsteren Hotelzimmer erhebt und sich entlang einer Wand tastet. Plötzlich entdeckt er eine Tapetentür aus Baum-Mustern, öffnet sie mit einem Schlüssel und betritt einen Kinosaal, in dem das anwesende Publikum seltsam erstarrt und leblos wirkt. Ein kleiner nackter Junge, der Stummfilm-Leinwand entsprungen, huscht durch den Mittelgang. Zwischen Traum und Realität bewegt sich der neue, seit langem ersehnte Film von Leos Carax. „Holy Motors“ ähnelt einer bewegenden Reise durch die Genres und Stile des Kinos, seine Geschichte und Geschichten, hin zu den großen Themen, die sich um das Verhältnis von Leben und Kunst, Liebe und Tod drehen. Dabei skizziert der französische Regisseur, der sich im Prolog in der Rolle des somnambulen Blinden selbst inszeniert, auch ein Selbstportrait des Filmkünstlers angesichts einer sterbenden Kinokultur.

Gegen diesen schleichenden Tod betreibt Leos Carax ein höchst phantasievolles und sinnliches Spiel mit Masken und Verkleidungen, indem er sein Alter Ego Monsieur Oscar (Denis Lavant) als Verwandlungskünstler auf einen Trip durch Paris schickt, das so zu einer Mitspielerin wird. In einer weißen Stretchlimousine, die von seiner Assistentin Céline (Edith Scob) gelenkt wird, gleitet er von Station zu Station. Der schwerfällige, wie aus der Zeit gefallene Luxuswagen, dient ihm dabei als Büro, Fundus und Rückzugsort. Hier empfängt Monsieur Oscar die Aufträge und Termine eines unsichtbaren Auftraggebers, hier wechselt er die Kleider und Masken, um in immer neuen Rollen fremde Leben zu spielen und seine Identität in wechselnden Persönlichkeiten aufzuspalten, bis das Leben selbst zur Kunst wird und der Traum zur Wirklichkeit.

Die Lust an der Verwandlung und die Bewegung als Motor der Geschichte verleihen „Holy Motors“ Flügel, funkelnde Ideen und einen dunklen Witz. In Denis Lavant treffen sie überdies auf einen kongenialen Performer, der sich regelrecht häutet, vom Geschäftsmann zur alten Bettlerin, vom Katzenmenschen in Latex zum Auftragskiller und vom Liebenden zum Sterbenden mutiert. Dabei ist er zugleich Täter und Opfer, Vater und Kind, vor allem aber ein Künstler, der für die Wahrheit streitet und die Schönheit verteidigt. Als Monster aus der Unterwelt entführt der die Schöne (Eva Mendes), um sich später mit ihr zu einer Art Pietà zu gruppieren. Als Vater, der von den Lügen seiner pubertierenden Tochter enttäuscht ist, verkündet er: „Deine Strafe besteht darin, du selbst zu sein und damit leben zu müssen.“ Gegenüber seiner früheren, verlorenen Geliebten (Kylie Minogue) wiederum konstatiert er: „Die Zeit arbeitet gegen uns.“ Und über der Leiche des ermordeten Bankiers ruft er aus: „Ich verbiete euch zu lügen!“ So produziert der Kampf des „Einen“ gegen die „Vielen“ Sätze, die in gewisser Weise für alle gelten.

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Chico & Rita

(ES / GB 2010, Regie: Fernando Trueba, Javier Mariscal, Tono Errando)

Bésame mucho
von Wolfgang Nierlin

Die Zeiten haben sich geändert, doch die Erinnerung bleibt. Der alte Schuhputzer Chico nährt sich davon. Im Havanna der Gegenwart, das mit der Pflicht zur Anpassung politisch hausieren geht, öffnet …

Die Zeiten haben sich geändert, doch die Erinnerung bleibt. Der alte Schuhputzer Chico nährt sich davon. Im Havanna der Gegenwart, das mit der Pflicht zur Anpassung politisch hausieren geht, öffnet er das Fenster seiner kleinen Wohnung für einen langen Blick in die Vergangenheit. Das Radio spielt „Melodien von gestern“: „Bésame mucho“ – Küss‘ mich, küss mich ganz fest!“, lauten die Zauberworte für den Eintritt in die Imagination. Chico selbst ist zu hören, der in den 1940er und 50er Jahren ein gefeierter Jazzpianist war. Inspiriert ist diese Figur von dem kubanischen Pianisten, Bandleader und Komponisten Bebo Valdés, dem das kreative Team um den spanischen Filmemacher Fernando Trueba, Zeichner Javier Mariscal sowie dessen Bruder, dem Regisseur Tono Errando, ihren zwischen hitziger Leidenschaft und Nostalgie changierenden Animationsfilm „Chico & Rita“ gewidmet haben.

In den Clubs von Havanna, wo sich reiche Amerikaner vergnügen und die Einheimischen die Hintereingänge benutzen müssen, dringt aus der energiegeladenen Musik und den schwungvollen Tänzen pure Lebenslust. Unterbrochen werden die treibenden Beats nur von jenen romantischen Balladen, die die schöne Rita singt und mit denen sie die Herzen entflammt. Im dynamischen Wechsel der verschattet gezeichneten Blicke ist es kurz darauf um Chico geschehen. Eine große, schicksalhafte und unsterbliche Liebe nimmt ihren Anfang. Ihre Geschichte, flankiert von Eifersucht, Missverständnissen und Intrigen, wechselt konsequent zwischen Anziehung und Abstoßung und handelt insofern immer wieder vom Suchen und Finden der sich verfehlenden Liebenden.

„Chico & Rita ist stimmungsvoll und melodramatisch, erotisch und kitschig und manchmal auch rasant. Vor allem ist der Film aber eine Hommage an eine Hochphase des Jazz, als Bebop und lateinamerikanische Rhythmen eine wilde, musikalisch ausschweifende Beziehung eingingen. So folgt Chico nach einem eher unfreiwilligen Aushilfsjob in Woody Hermans Orchestra, der legendären „Herd“, wo er sich mit Noten von Igor Strawinsky konfrontiert sieht, seiner geliebten Rita ins winterlich-graue New York, lernt dort den Perkussionisten Chano Pozo kennen, der mit Charlie Parker spielt und tourt kurz darauf mit Dizzy Gillespie durch Europa. Derweil entwickelt sich Rita zum Filmstar und singt „Love For Sale“. Später, bei einem Auftritt von Chico an der Seite des Saxophonisten Ben Webster im Village Vanguard, werden sich die beiden wiederfinden. „Meine Hoffnung ist auf die Vergangenheit gerichtet“, sagt Rita einmal. In gewisser Weise gilt das auch für Chico und den ganzen Film, auch wenn dieser mit seinen Protagonisten am Ende in der Gegenwart ankommt.

Heiter bis wolkig

(D 2011, Regie: Marco Petry)

Danke Tod, danke!
von Andreas Thomas

Dass der Tod ein Scherzkeks aus Deutschland ist, will uns das deutsche Kino der letzten Jahre, mindestens seit „Knockin‘ on Heavens Door“ glauben machen, sprich: Die deutsche Filmkunst glaubt, sie …

Dass der Tod ein Scherzkeks aus Deutschland ist, will uns das deutsche Kino der letzten Jahre, mindestens seit „Knockin‘ on Heavens Door“ glauben machen, sprich: Die deutsche Filmkunst glaubt, sie bedienen zu können, die Klaviatur von 'vergnügt' bis 'verzweifelt'; doch allein schon beim Titel dieses Werkes von Marco Petry „Heiter bis wolkig“ fragt man sich, was denn der mit seinem Thema zu tun haben soll. Oder haben Sie schon mal bei der Gemütsverfassung einer Krebskranken an Attribute wie „Heiter bis wolkig“ gedacht?

Aber weil dem deutschen Tod eben sein Stachel gezogen ist, ist er auch in diesem Film eben nur eine ziemlich unangenehme Begleiterscheinung in einem ansonsten heiteren Unterfangen, welches „Leben“ genannt wird. Heiter schreitet durch die Welt, wer kopflos ist, und „Marie“ (deren Darstellerin aussieht wie eine junge Veronica Ferres mit schwarzer Perücke) ist schon mal so eine Kopflose, denn als Schwester einer an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankten Jessica Schwarz mit dem Filmnamen „Edda“ hat sie natürlich nichts Besseres zu tun, als dem an Hirntumor erkrankten „Tim“ seinen letzten Wunsch zu gewähren, nämlich eine schöne Nacht, die dann kurz vor Vollzug abgebrochen werden muss, weil ihre Schwester und Wohnungsgenossin mal wieder einen ihrer Kotzanfälle hat. Als hätte Marie nichts Besseres zu tun, als wäre ein Krebspatient nicht schon Belastung genug, nimmt sie also sich gleich einen zweiten als Onenightstand mit nach Hause, also dahin, wo es eh schon einen schwerstkranken Pflegefall gibt, so etwa wie: 'Upps, an meine todkranke Schwester, die von mir gepflegt wird, hatte ich zurzeit und im Schwange meiner amourösen Ausschweifungen gar nicht gedacht.' Aha! Ich widme diesem Detail des Films diese besondere Aufmerksamkeit, weil es nicht nur eine für diesen Film typische Unplausibilität darstellt, sondern weil Unplausibilitäten dieser Art in Filmen der Gegenwart gang und gäbe sind, und weil sie geradezu daraus zusammengebaut sind.

Dass dieser Tim übrigens gar nicht krank ist, dass das Ganze eine in der Kneipe von seinem Kumpel und ihm eingefädelte Mitleidstour ist, die „immer, auch bei den schönsten Frauen, zieht“, ist eine weitere dieser dummen Behauptungen, auf denen eine Handlung dieser Art basiert, mit anderen Worten sagt der Film: Die schönsten Frauen fallen auf die plumpesten Annäherungsversuche herein. Na sicher, das ist wirklich gut getroffen, total lebensnah und daher auch so heiter! Nebenbei weiß der Film folgerichtig auch gar nicht, was schöne Frauen sind, denn die meisten, die die beiden Jungspunde als solche bezeichnen, sind hässliche, aufgetakelte Eulen. Auch weiß der Film überhaupt nicht, was gute Musik ist, denn unablässig läuft so ein billiger, nachgespielter Neunziger-Jahre-Verschnitt, alles andere als aktuell und die Einrichtung der Wohnungen ist so etwa GZSZ. Interessant und mehrfach bemerkbar in den Wohnungen ist, dass deren Fenster zwar immer Vorhänge besitzen, diese jedoch, auch bei der Todgeweihten, nachts niemals zugezogen werden, auch wenn von draußen grelle Laternen den Schlafenden in die Gesichter scheinen.

Nicht nur interessant sondern geradezu absolut entsetzlich ist, dass sich der Pseudohirnkrebskranke bei der Echtbauchspeicheldrüsenkrebskranken, kaum dass sie ihn kennt, einfach so mal auf die Bettkante setzt, um mit ihr zu reden, und er dort stur verharrt, obwohl sie ihn dreimal deutlich dazu auffordert, zu gehen. Entsetzlich ist das nicht, weil es vielleicht solche Idioten im richtigen Leben geben mag, entsetzlich ist, dass der Film dieses rücksichtslose Verhalten würdigt, indem er es mit Erfolg, in diesem Fall mit dem Beginn einer (aus lethalen Gründen: kurzen) Freundschaft belohnt.

Quälend an diesem Film und Filmen dieser Art, ist, dass sie sich erstens nicht mehr im Geringsten um psychologisch plausible Verhaltensweisen scheren und zweitens, dass sie Rücksichtslosigkeiten bis hin zur körperlichen Gewaltanwendung als thrill und fun-haltige Alternativen zum langweiligen Leben (in diesem Fall langweiligen Sterben) propagieren. Hier ist es der (übrigens stark abgemagerten) Schwarz erlaubt, eine Schlägerei anzuzetteln, der, was haben wir gelacht, am Ende natürlich Max Riemelt alias „Tim“ zum Opfer fällt.

Also: Prügeln, Zeche Prellen, aus Rache so tun, als wäre man Selbstmordattentäter, aus Rache Ziegen das florale Innere eines Blumenladens verspeisen lassen, das sind so die Sachen, die dem Leben seine Würze geben, denn auf die wahre Lebenskunst verfällt man natürlich erst, wenn der Tod freundlicherweise vor der Tür steht. Danke Tod, danke. Und dann ist es natürlich auch total nett vom Tod, dass er erst so etwa eine gefühlte Viertelstunde vor seinem Eintritt auch Tribut fordert: Ein bisschen Blut beim Husten, dann wird nochmal ein Kranz fürs eigene Grab geflochten,und dann wird geschwächelt und man legt sich besser mal hin, bis die „Atempausen immer länger werden“ .

Muss ich noch mehr verraten? Vielleicht muss ich, aber ich habe keine Lust dazu, nur eines: Nach diesem Film hatte ich das Gefühl, irgendjemand Ekliges hätte mich anderthalb Stunden geduzt.

Das grüne Wunder – Unser Wald

(D 2012, Regie: Jan Haft)

Maus und Behausung
von Wolfgang Nierlin

Die Werbung zu Jan Hafts Natur-Dokumentarfilm „Das grüne Wunder – Unser Wald“ verkündet produktionstechnische Superlative: „Sechs Jahre Drehzeit, 70 Drehorte, 100 Nächte im Tarnzelt, 250 Stunden Rohmaterial, Pirschgänge mit der …

Die Werbung zu Jan Hafts Natur-Dokumentarfilm „Das grüne Wunder – Unser Wald“ verkündet produktionstechnische Superlative: „Sechs Jahre Drehzeit, 70 Drehorte, 100 Nächte im Tarnzelt, 250 Stunden Rohmaterial, Pirschgänge mit der Kamera, neueste Filmtechnik.“ Tatsächlich sieht man das dem eindrucksvoll fotografierten Film in jedem Augenblick an. Mit Makroaufnahmen, extremer Zeitlupe und Zeitraffer setzen der erfahrene Naturfilmer Haft und sein Ko-Kameramann Kay Ziesenhenne die verborgene Tier- und Pflanzenwelt des mitteleuropäischen Waldes ins Bild und machen sie so auf bislang nie gesehene Weise sichtbar. Knospen und Blüten brechen in Sekundenbruchteilen hervor, Ameisen verspritzen ihre Säure zur Abwehr von Feinden, eine Erdhummel vertreibt eine Maus aus ihrer Behausung und Hirschkäfermännchen streiten sich um ein Weibchen. Daneben nehmen wir Teil an der berührenden Aufzucht von Fuchs-Welpen und Frischlingen oder wohnen jenen großen Erschütterungen bei, die zum Beispiel von kleinen Regentropfen ausgelöst werden können.

Bei all dem ist ein Hang zur Überästhetisierung und zur Steigerung des stimmungsvoll fotografierten Bildes ins faszinierend Wundersame unverkennbar. Unterstützt wird das noch durch ein Sounddesign, das die natürlichen Geräusche akustisch verstärkt und durch seine musikalische Untermalung das Gezeigte theatralisiert. Da tanzen dann Blümchen, öffnen sich Blüten im Walzertakt oder trollen sich die Frischlinge zu einem luftigen Flöten-Thema. Solche Anthropomorphisierung, die noch durch den metaphernreichen, von Schauspieler Benno Fürmann mit warmer Stimme gesprochenen Text akzentuiert wird, hat natürlich weniger mit Naturalismus oder Wissenschaftlichkeit als vielmehr mit poetischer Überhöhung zu tun. Suggestiv lenkt der Film die Gefühle der Zuschauer, keine Brüche oder Irritationen stören sein ästhetisches Gleichgewicht. Jan Haft produziert hier Überwältigungskino, dessen emotionalen Einflüsterungen man sich, selbst wenn man wollte, kaum entziehen kann.

Inhaltlich beschreibt sein Film „Das grüne Wunder“ den Wald einmal nicht als mythischen Ort, sondern „als Universum für sich“ und als verborgene Welt, deren vielfältiges Leben es zu entdecken und zu bewahren gilt. Im Wechsel der Jahreszeiten spürt Haft ihren Geheimnissen nach und zeigt dabei den Wald als planvoll eingerichteten, funktionierenden Organismus, dessen geordnete Schichten ineinandergreifen und in einem permanenten Austausch stehen. Nachdenklich folgt er den natürlichen Kreisläufen des Wachsens und Vergehens, des Fressens und Gefressen-Werdens als „fließende Übergänge zwischen Leben und Tod“. Und er plädiert mit Nachdruck für den offenen, lichten Wald, den es früher einmal gab und der, so Jan Haft, die Artenvielfalt dieses einmaligen Lebensraums erst ermögliche und garantiere.

Atomic Age

(F 2011, Regie: Héléna Klotz)

Im Dunkelrot der Nacht ein Abschied
von Michael Schleeh

Die beiden Freunde Victor (Elliott Paquet) und Rainer (Dominik Wojcik) fahren mit dem Vorort-Zug ins nächtliche Paris und glühen schon mal mit ein paar Vodka-Red Bull vor. Es wird eine …

Die beiden Freunde Victor (Elliott Paquet) und Rainer (Dominik Wojcik) fahren mit dem Vorort-Zug ins nächtliche Paris und glühen schon mal mit ein paar Vodka-Red Bull vor. Es wird eine Odyssee durch die nächtliche Stadt werden, obwohl man jetzt schon müde ist. Mit Discobesuch und Schlägerei, einer beinah stattgefunden habenden Liebelei, mit ein wenig homoerotischer Zweisamkeit, mit leerem Magen, Zigaretten und roten Augen. Bis morgens dann das Zwielicht beginnt und man wie auf einem anderen Planeten durch die dystopische Landschaft taumelt, die sich in der vorangegangenen Nacht im Innern angesammelt hat.

'L’âge atomique' hat eigentlich keine wirkliche Geschichte zu erzählen. Darum geht es der Regisseurin aber offenkundig auch nicht: Es ist das Einfangen einer bestimmten Atmosphäre, einer Freundschaftserfahrung im Moment des Erwachsenwerdens – und des unausgesprochenen Abschiednehmens zugleich – durch und mit den Mitteln des Großstadtfilms, der seine visuellen Reize in dunklen, manchmal hypnotischen, jedenfalls oft grobpixeligen Bildern findet. Das ist nichts Neues, dennoch gelingt es durch die immer wieder sehr persönliche und dicht an die Protagonisten heranrückende Kamera allein durch die Bilder eine Spannung aufzubauen, die wenig erklärt, vieles ungesagt und offen lässt, zugleich aber die nachtdunkle Atmosphäre vermittelt und nachfühlbar macht. Einen Zustand der sanften Euphorie, die auf das Ungewisse zuschreitet; die zugleich das alles aber auch schon kennt, weil man es unzählige Male zuvor bereits genau so gemacht und sehr ähnlich erlebt hat. Und was man nun, schließlich, hinter sich lassen kann: Diese Zeit geht ihrem Ende zu. Es ist die Vermittlung einer Ortlosigkeit durch die Momentaufnahme, eines Transitzustands, der sich auch in der ungeklärten Herkunft der Figur Rainers offenbart. Dieser ist deutscher (polnischer?) Abstammung und lebt in unklaren Verhältnissen (als Student?) in der Peripherie von Paris. Eine Figur, die, Gedichte zitierend, mit ihrer intellektuellen Reife ganz romantisch an die absinth-trinkenden Bohémiens des vergangenen Jahrhunderts erinnert – nun im Geflacker der Techno-Tanzfläche, in der Ekstase des bpm-Pulses.

Besonders die Kameraarbeit ist sensibel für die Stimmungsschwankungen, die Atmosphäre dieser Nacht: Immer wieder finden sich lange Sequenzen der dunkel flirrenden nächtlichen Metropole, Bilder im Schwenk von der Anhöhe mit den Lichtern der Großstadt, den Reklamen, den Unschärfen, den nur punktuell klaren Momenten, die rasch wieder in der Dunkelheit verfliegen, im Diffusen verschwinden. Bilder, die am Abteilfenster des Zuges vorbeifliegen, gleichwo und in gleich welcher Stadt. Ein schöner, dunkler, unaufdringlicher weil verhalten ekstatischer Großstadt-Film, der seine Figuren aufrichtig liebt.

This ain’t California

(D 2012, Regie: Marten Persiel)

(Re)konstruierte Wirklichkeit
von Ricardo Brunn

Hat es das tatsächlich gegeben? Diese Frage stellt sich angesichts der Aufnahmen von Skateboard fahrenden Jugendlichen Ende der 1980er Jahre am Alexanderplatz in „This ain’t California“, der bereits auf der …

Hat es das tatsächlich gegeben? Diese Frage stellt sich angesichts der Aufnahmen von Skateboard fahrenden Jugendlichen Ende der 1980er Jahre am Alexanderplatz in „This ain’t California“, der bereits auf der diesjährigen Berlinale für Aufsehen sorgte. Und schon finden sich entsprechende Kommentare zum Film im Internet, in denen Erinnerungen an Rollbrettfahrer ausgetauscht, gesucht oder auch imaginiert werden. Das Großartige an „This ain’t California“ ist deshalb, dass der Film, neben der Entwicklung des Rollbrettfahrens in der DDR und der Anbindung an das Bild des (Leistungs)Sports sowie der permanenten Verquickung von Privatem mit Politischem im Angesicht der vollkommenen staatlichen Überwachung, ganz nebenbei die Frage nach der Konstruktion von Erinnerung an die DDR stellt.

Im Zentrum des Filmes steht, nach einem furios montierten Prolog, der bereits den Kontrast von staatlich kontrollierter sportlicher Betätigung und freiheitlicher Subkultur eröffnet, die Geschichte einer Freundschaft: In der Betonwüste eines Vorortes von Magdeburg trifft Dennis Paracek eines Tages auf Nico und Dirk. Zusammen bauen sie erste Skateboards aus Rollschuhen und alten Holzplatten und üben mithilfe eines Fahrradschlauches erste Tricks. Später in Berlin werden die Freunde Teil der dort ansässigen Skaterszene. Für Dennis ist das Rollbrettfahren jedoch mehr als nur ein Zeitvertreib. Für ihn ist es die Chance, sich der Autorität des Vaters, der aus Dennis einen Leistungsschwimmer machen will, entziehen zu können. Schnell bringt ihm seine Art der Autoritätsverweigerung den Spitznamen „Panik“ ein, was die Staatssicherheit auf den Plan ruft. An dieser Stelle zeigt der Film die verzweifelten Versuche eines Staates in der letzten Phase seines Bestehens, der Subkultur durch Eingliederung in den staatlichen Sportapparat entgegen zu wirken, sein Scheitern und die darauf folgende ungezügelte Repression. Zur Zielscheibe dieser Repression wird „Panik“. 20 Jahre später treffen sich die Freunde wieder und tauschen Anekdoten über diese Zeit und ihren Freund „Panik“ aus, denn der Anlass des Treffens ist der Tod von Dennis, denn die nach Freiheit strebende Hauptfigur wird auch in der vereinigten Republik keinen Fuß vor den anderen bekommen und schließlich in Afghanistan als Bundeswehrsoldat im Einsatz ums Leben kommen.

Getragen wird diese vielschichtige Erzählung von Archivaufnahmen der DDR, Super-8-Material der Skater, vielen Interviews, wunderbaren Schwarz-Weiß-Animationen, die wichtige Stationen des Lebensweges von Dennis nachzeichnen und einem ergänzenden Off-Kommentar in Form einer Erzählerstimme. Der musikvideoclipartigen Montage gelingt es dabei, sich nicht in ihrer Hochgeschwindigkeitsästhetik zu verlieren, sondern immer nah an den Figuren und dem zu Erzählenden zu bleiben. Der hervorragende Soundtrack, die außergewöhnliche Montage und die sensible Ton-Mischung verbinden das Bildmaterial zu einer äußerst lebendigen Erinnerungscollage, die das Lebensgefühl Jugendlicher im sich auflösenden DDR-Staat kraftvoll transportiert.

Aber hat es das tatsächlich gegeben? Selbst im Abspann des Filmes gibt es keinen Hinweis auf den Schauspieler Kai Hillebrandt, der 2011 sein Spielfilmdebüt in „Swans“ (Regie: Hugo Vieira da Silva) gegeben hat und hier die Rolle des Dennis Paracek übernimmt. Auch dass David Nathan (Synchronsprecher u. a. von Christian Bale und Johnny Depp) tatsächlich bester Kumpel von Dennis gewesen sein soll, ist eher unwahrscheinlich, zumal er im Film einen anderen Namen trägt. Vieles an „This ain’t California“ muss also nachgestellt oder einfach frei erfunden sein. Das lässt sich mit „Verschleierungstaktik“ oder „Pseudo-Doku“ umschreiben. Man kann sich schlimmstenfalls auch einfach verschaukelt fühlen (wie Susanne Burg vom Deutschlandradio Kultur) und die Konstruktion des Filmes nicht weiter hinterfragen.

„Die Geschichte von Dennis‘ Leben mit uns beginnt eigentlich mit einer Legende. Die hat er selber erfunden. (…) Er selber hat immer darauf bestanden, dass das genau so passiert ist – wie in einem Traum.“ In diesen Sätzen, mit denen die Hauptfigur eingeführt wird, deutet Regisseur Marten Persiel nicht nur das schwierige Verhältnis von Erinnerung und Wirklichkeit im Film an. Besonders in Bezug auf die Erinnerungen an die DDR scheint es tatsächlich oft so, als wäre das, was in der DDR passierte, nicht ganz real gewesen und der Fall der Mauer wird nicht selten als Symbol für das Erwachen aus einem Albtraum begriffen. Mit diesem Erwachen werden auch die Erinnerungen an den SED-Staat einer Neubewertung unterzogen, weil die Beziehung zur eigenen Vergangenheit im Angesicht des anderen deutschen Teilstaates eine Neudefinition erfährt. „Es war nicht alles schlecht' ist in dieser Situation die größte anzunehmende Verteidigungsstrategie der aus den angenommenen Wahrheiten heraus geworfenen Menschen gegenüber dem gescheiterten Staat. Und weil mit dem Ende der DDR die Frage nach der Wirklichkeit und Richtigkeit des Gelebten gestellt wurde, diese gelebte Wirklichkeit erst entwertet und später neu erfunden wurde, darf Marten Persiel in seinem Film (scheinbar) Dokumentarisches ebenfalls erfinden, nicht auf diesen Umstand hinweisen und so sein historisches Spiel mit dem Zuschauer treiben. Am Ende ist die Veränderung und Erfindung von Erinnerungen mindestens genauso wahrhaftig wie jeder vermeintlich puristische Dokumentarfilm. Und darauf kommt es an. Denn es ist vollkommen gleich, ob die Hauptfigur erfunden oder aus mehreren Lebensläufen zusammengesetzt ist. Dennis steht nicht zuletzt auch als Symbol für die als traumatisch empfundenen Anpassungsschwierigkeiten von Menschen in einer Zeit des vollkommenen Umbruchs.

Mag also sein, dass „This ain’t California“ durch seine Konstruktion ein Zerrbild der tatsächlichen Ereignisse liefert und von dokumentarischer Authentizität nicht im Ansatz mehr die Rede sein kann. Aber abgesehen davon, dass Erinnerungen immer Zerrbilder darstellen, ist gerade in Bezug auf die DDR Erinnerung einer (absichtlichen) Verzerrung unterworfen gewesen. Zu dieser ernsten Auseinandersetzung zwingt uns „This ain’t California“ auf spielerische und humorvolle Weise.

Total Recall

(USA / CAN 2012, Regie: Len Wiseman)

„Oh, shit!“
von Ulrich Kriest

22 Jahre nach Paul Verhoevens absichtsvoll trashiger Philip K. Dick-Verfilmung mit Arnold Schwarzenegger schien es höchste Zeit, sich den Mindfuck-Stoff einmal wieder vorzunehmen. Nicht jeder kann sich schließlich noch daran …

22 Jahre nach Paul Verhoevens absichtsvoll trashiger Philip K. Dick-Verfilmung mit Arnold Schwarzenegger schien es höchste Zeit, sich den Mindfuck-Stoff einmal wieder vorzunehmen. Nicht jeder kann sich schließlich noch daran erinnern.

Plötzlich, so erzählte der Produzent Toby Jaffe im Presseheft, hatte er im Buchladen eine Sammlung klassischer Kurzgeschichten von Philip K. Dick in der Hand, darin auch die Geschichte „We can remember it for you wholesale“, die 1990 unter dem Titel „Total Recall“ sehr erfolgreich verfilmt worden war. Jaffe erkannte, dass es Zeit für eine Neuverfilmung sei und sprach darüber mit seinem Kollegen Neal H. Moritz. Der war von der Idee sehr angetan: „Wir hatten den Eindruck, dass die Figuren und die Geschichte von der ersten Verfilmung noch nicht auserzählt war. Wir wollten eine frische Version schaffen.“ Nun ist „frisch“ ja ein relativer Begriff und erstaunlicherweise hat sich die Neuverfilmung von „Total Recall“ sogar noch weiter von der Originalgeschichte entfernt als der Film von 1990, aber vielleicht hilft es Jaffe und Moritz ja, dass Kinogänger kein gutes Gedächtnis haben heutzutage. Wir erinnern uns! „Wenn ich nicht ich bin, wer bin ich denn?“ Niemand wusste diese existenzphilosophische Grundsatzfrage in Zeiten der potentiellen Überschreibung des Gedächtnisses besser zu formulieren als Arnold Schwarzenegger mit seinem schwerzungigen Akzent. Schwarzenegger spielte in Paul Verhoevens Blockbuster „Total Recall“ 1990 den Arbeiter Doug Quaid, dem ein Erinnerungsimplantat der Firma „ReKall“ erlaubt, sich den Wunsch einer Mars-Reise als Geheimagent zu erfüllen. Ihm wird versprochen, dass er am Ende der Reise das Mädchen bekomme, die Bösen getötet und dabei auch noch den Planeten gerettet haben wird. Der Blueprint eines Action-Films, der früh den Inhalt von „Total Recall“ auf den Punkt bringt, gleichzeitig aber auch hilft, den Protagonisten zu charakterisieren. Quaid erweist sich im Laufe des Films als Doppelagent in perfider Mission – und wird trotzdem zum Befreier. Verhoeven inszenierte die erkenntnistheoretische Petitesse von Philip K. Dick als bewusst grobschlächtigen Cartoon, kombinierte drastisch überzeichnete Gewalt mit einem bösen Humor („Consider this a divorce!“) und kulturkritischen Untertönen – und war stolz darauf, dass bis zum Schluss nicht zweifelsfrei zu entscheiden war, ob sich Quaids Abenteuer nicht vielleicht doch nur in den Räumen der Firma „ReKall“ abgespielt hatten.

Gespannt sein durfte man auf das Remake des „Underworld“-Regisseurs Len Wiseman, denn die literarische Vorlage „Erinnerungen en gros“ (1966) ist eine Kurzgeschichte, deren finale Alien-Pointe von Verhoeven seinerzeit komplett ignoriert worden war. Doch Wiseman und sein Team von fünf Drehbuchautoren entschieden sich lieber für ein nur leicht modifiziertes Remake, dass das Original in zentralen Motiven bestenfalls umtanzt, manche Szene zitiert, manch andere Szene gerade eben nicht nicht zitiert – und nur zwei, drei entschiedene Änderungen an der Handlung vornimmt. Mit Colin Farrell hat jetzt sogar ein »echter« Schauspieler die Hauptrolle übernommen, der sowohl die Paranoia spielen und die furiose Action körperlich glaubwürdig bewältigen kann. Auch steht Quaid jetzt zwischen zwei fast gleichberechtigten Frauenfiguren, gespielt von Kate Beckinsale und Jessica Biel, die sich einen heftigen und die Handlung über weite Strecken bestimmenden Cat Fight liefern. Wichtiger noch: Quaids Reise führt ihn nicht mehr zum Mars, sondern bleibt auf der von Kriegen weitgehend verwüsteten Erde, auf der es nur noch zwei Orte zum Leben gibt. Zwischen der Megalopole „Vereinigte Föderation von Britannien“ (VfB) und dem Super-Slum Australien („The Colony“) verkehrt ein Fahrstuhl namens „The Fall“, der quer durchs Erdinnere führt.

Man sieht dem Remake deutlich an, dass Wiseman einst als Set Designer gearbeitet hat. So wie Ridley Scott sich im Falle von „Prometheus“ bei Kubricks „2001-Odyssee im Weltraum“ bediente, so entwirft Wiseman „The Colony“ als deutliche Referenz an Scotts Klassiker „Blade Runner“ oder Bessons „Das fünfte Element“, wobei es ihm vornehmlich darum geht, Räume zu schaffen, die mehrdimensionale Verfolgungsjagden erlauben. So spielt dieses kinetische Kino derart aufreizend mit den vertikalen und horizontalen Dynamiken, dass man sich wundert, warum hier nicht gleich auf das modische 3D gesetzt wurde und warum die futuristischen Sets so liebevoll entworfen wurden, wenn sie doch bloß durch atemlose Action als Kulissen verheizt werden. Weil Wiseman ganz auf die stark beschleunigte Level-Dramaturgie eines Computerspiels setzt, tritt die Psycho-Thriller-Dimension des Stoffes fast komplett in den Hintergrund. Die Schauspieler, allen voran Kate Beckinsale, wirken unterfordert und sind zumeist damit beschäftigt, die Zähne zu fletschen, die Augen zu rollen und zu rennen, springen, hechten. Es wirkt unfreiwillig komisch, wenn die Figuren hier gefühlt ein paar dutzend Male auf Unvorhergesehenes und böse Überraschungen mit einem herzhaften „Oh, shit!“ reagieren. Wenn Quaid kurz vor Schluss einen verstörenden Einblick in die Komplexität seiner mehrfach manipulierten Identität gewinnt, dann ist dieser Schock bereits durch eine fatale Äußerung Matthias‘, des Anführers des Widerstands, abgefedert worden. Der hatte ihn kurz zuvor darauf hingewiesen, dass die Erinnerung immer ein Konstrukt sei, während allein das Handeln in der Gegenwart zähle. Und Handeln erwächst aus der Gegenwart. Ein solcher Satz unterläuft die kritisch-paranoide Substanz der ganzen Geschichte und beschädigt den Film so schwer, dass man nur noch schmunzelt, wenn die Kolonisierten nach dem sich endlos hinziehenden Showdown-Zinnober ganz beruhigt in die Zukunft blicken: „Jetzt wird alles gut!“

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Rum Diary

(USA 2012, Regie: Bruce Robinson)

Gonzo Family
von Marit Hofmann

Kann man denn nicht mal, wenn man tot ist, seine Ruhe haben? Als Hunter S. Thompson 2005 starb, beschloss sein Kumpel Johnny Depp, an dem gemeinsamen Projekt, der Verfilmung des …

Kann man denn nicht mal, wenn man tot ist, seine Ruhe haben? Als Hunter S. Thompson 2005 starb, beschloss sein Kumpel Johnny Depp, an dem gemeinsamen Projekt, der Verfilmung des spät veröffentlichten Romanerstlings 'Rum Diary', weiterzuarbeiten und den Schriftsteller 'zu zwingen, selbst im Tod einer der Produzenten zu sein'. In der Praxis sah das dann so aus: Hauptdarsteller und Koproduzent Depp ließ einen Stuhl und eine Flasche Rum für Thompson ans Set stellen, um zusammen mit Regisseur Bruce Robinson jeden Morgen das Highball-Glas ihres Obergonzos mit Schnaps zu füllen: 'Wir wollten einfach sicherstellen, dass Hunter da war. Und er war da. Für uns.'

Nun sind Halluzinationen und im wahrsten Sinne des Wortes trunkene Heldenverehrung nicht eben eine gute Voraussetzung, um einen Roman zu verfilmen. Die Kinoversion von Thompsons Erlebnissen als junger Journalist bei einer US-Zeitung auf Puerto Rico beginnt hübsch absurd wie eine Fortsetzung von Terry Gilliams Thompson-Adaption 'Fear and Loathing in Las Vegas', an die man dann jedoch immer wieder wehmütig zurückdenkt. Denn der Alkoholrausch, dem die Presseknallchargen in 'Rum Diary' hauptsächlich frönen, produziert weniger surreale Bilder als die Trips, die Depp und Konsorten in Las Vegas einwarfen. Robinsons unangemessen brave Verfilmung widerlegt unfreiwillig den von Thompson befeuerten Mythos, dass Drogeneinfluss die Kreativität steigere. Form und Inhalt decken sich immerhin insofern, als der Regisseur so wenig wie der Jungreporter weiß, was er will. Die dahinplätschernde Handlung unterbrechen Luftaufnahmen von tropischen Traumstränden, als sei’s eine Werbepause von TUI. Endgültig ernüchtert, dass der von Depp so sympathisch gegebene Slacker zum Langweilerhelden mutiert, der vergeblich gegen das Böse (US-Investoren, die die Insel samt Pressevertreter aufkaufen) kämpft. Scheiß auf Werktreue, aber da hat der Autor bei aller Machoattitüde mehr Fähigkeit zur Selbstkritik bewiesen: Sein der Korruption nicht abgeneigtes und alles andere als couragiertes Alter ego bezeichnet sich im Roman als 'menschlicher Saugfisch', der sich an Haie hängt, 'und wenn der Hai eine große Mahlzeit fängt, bekommt der Saugfisch den Rest'. Hunter S. Thompsons Jüngern ist der Ru(h)m offenbar zu Kopfe gestiegen.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/12

The Dark Knight Rises

(USA 2012, Regie: Christopher Nolan)

Fledermausschinken
von Louis Vazquez

Der nicht mehr ganz neue Trend zum epischen Erzählen im Blockbusterkino macht es den Filmemachern ja nicht gerade leicht. Opulente Vorlagen sind schwer zu bändigen und resultieren meist in ausgedehnten …

Der nicht mehr ganz neue Trend zum epischen Erzählen im Blockbusterkino macht es den Filmemachern ja nicht gerade leicht. Opulente Vorlagen sind schwer zu bändigen und resultieren meist in ausgedehnten Mammutwerken. Und weil’s gefällt und das entsprechende Publikum ohnehin an nichts Geringerem als mindestens Trilogien interessiert zu sein scheint, werden immer häufiger Ideen, die früher einen flotten B-Film abgegeben hätten, von vornherein (und ohne den Erfolg abzuwarten) auf Fortsetzbarkeit getrimmt.

Nicht immer lässt sich mit Bestimmtheit sagen, was hinter dem Drang zur ausufernden Erzählweise steckt: finanzielle Gründe, Respekt vor dem geschriebenen Wort oder das Unvermögen, mit filmischen Mitteln zu verdichten. Manchen Regisseuren jedenfalls nimmt man es eher ab als anderen, dass sie es schrecklich gut meinen mit der Ausführlichkeit. [Wenn Peter Jackson, dessen „Herr der Ringe“ sich noch auf eine dreigeteilte Vorlage berufen konnte, nun auch „The Hobbit“ mit Hilfe von Nachdrehs zu drei (mutmaßlich überlangen) Filmen zerdehnen will, so dürften dahinter nicht nur wirtschaftliche Überlegungen stecken. Jackson glaubt vermutlich wirklich, so richtig viel erzählen zu müssen. Was aber so eine späte Entscheidung über sein bisheriges Konzept und sein Verständnis von Dramaturgie zumindest nahe legt, steht auf einem anderen Blatt.]

Auch in der Superheldenfilmproduktion muss man viel beachten, wenn man allen Erwartungen gerecht werden will. Schließlich wurden schon längst zahllose Varianten durchgespielt, und die verschiedenen Paralleluniversen der Comicvorlagen bieten unzählige Möglichkeiten. Da kann man als Fan wie als Filmemacher schon mal den Überblick verlieren. Christopher Nolan ist beides, und es bleibt spekulative Vermutung, dass ihm das eine beim anderen in die Quere gekommen sein könnte. Zum Abschluss seiner realistisch gemeinten Batman-Trilogie erzählt er jedenfalls gleichzeitig viel zu viel und zu wenig.

Als eine Terroristengruppe auf ungewöhnliche Weise ein Flugzeug zum Absturz bringt, ist die Erwartung noch groß. Die Exposition nämlich empfiehlt Nolan einmal mehr als Regisseur für einen Bond-Film oder einen vergleichbar klassisch inszenierten Action-Kracher, obwohl die Montage es gegen Ende mit der Übersichtlichkeit nicht mehr so genau nimmt. Bald aber entfaltet sich eine Geschichte, die ihren angemessenen Rahmen wohl in einer mehrstündigen TV-Miniserie hätte finden müssen. Das Drehbuch von Christopher und Jonathan Nolan wird zunehmend elliptisch – wie manche Fernsehserien beim Abschluss großer Handlungsbögen –, lässt aber ausgerechnet die spannendsten Aspekte der Geschichte aus und zu viele Fragen offen. Über die entstehenden Plotlöcher wischt die schnelle Montage hinweg, aber wehe, man atmet kurz durch und denkt über das Gezeigte nach.

Die Bevölkerung Gothams spielt kaum eine Rolle, obwohl der Film von einer monatelangen Belagerung der Stadt erzählt. Der Konflikt aber wird bloß über Stellvertreter ausgetragen – hier die Bösen, da die Vertreter von Recht und Gesetz, die zwar korrupt und feige sein mögen, aber im rechten Moment über sich hinauswachsen. Zumal es ja gegen Terroristen geht, deren Ziel so wischiwaschi ist wie die Haltung des Films in seinem Bemühen um Ambivalenz. Für Blicke zur Seite, die ein bisschen Alltag hätten vermitteln können, bleibt jedenfalls leider keine Zeit. So konform diese Feier der ordnenden Kraft der Exekutive und ihrer Helden letztlich ausfällt, so mutlos und konfektioniert wirkt auch die Inszenierung.

Vermeintlich überraschende Wendungen oder Erkenntnisse der Figuren zum Beispiel müssen so lange erklärt und durch Rückblenden und Worte mehrfach abgesichert werden, bis vom behaupteten gritty realism nicht mehr viel übrig ist, weil jedes Zugeständnis an den kleinsten gemeinsamen Nenner auf arg durchschaubare Weise eben doch nur den üblichen Blockbuster-Mechanismen folgt. Auch Emotionen werden allzu oft von unterstützenden Worten begleitet.

Durch einen interessanten (aber vorhersehbaren) Kniff soll man am Ende schließlich noch das Gefühl bekommen, jetzt könne eine ganz neue Geschichte losgehen. Ausgerechnet die aber hätte man lieber noch innerhalb dieses Film erzählt bekommen, etwa anstelle der unsinnigen Nebenplots über heldenhafte Polizisten oder leichtgläubige Untergrundkämpfer. Durchaus von Interesse wäre auch die Information gewesen, was Tausende von Ordnungshütern, die wochenlang unter der Erde eingeschlossen sind, den ganzen Tag so treiben.

Sollte Christopher Nolan in Zukunft wirklich einen James-Bond-Film drehen dürfen, bleibt zu hoffen, dass jemand anderes ihm ein gutes Drehbuch schreibt, das sich von allem Ballast der multiplen Möglichkeiten, der so eine populäre Figur begleitet, frei macht. Was dagegen Batman angeht, kann man sich damit trösten, dass der beste Film zum dunklen Ritter schon von Tim Burton gedreht wurde – nicht minder abgründig, dabei aber fähig zur Selbstironie. Vor ziemlich genau 20 Jahren erschien „Batman Returns“ als perfektes Sequel und idealer Mittelteil einer Trilogie, die man sich indes, mangels Vollendung, bis heute selber zu Ende träumen muss.

Der Vorname

(F / B 2012, Regie: Alexandre de la Patellière, Matthieu Delaporte)

Diskurs der Enthüllungen
von Wolfgang Nierlin

Schon die weitschweifige Exposition, die mit Lust am Fabulieren kulturgeschichtliche Umwege nimmt, um im Herzen der Geschichte zu landen, ist ein kleines filmisches Kunststück nach der Art Wes Andersons. Während …

Schon die weitschweifige Exposition, die mit Lust am Fabulieren kulturgeschichtliche Umwege nimmt, um im Herzen der Geschichte zu landen, ist ein kleines filmisches Kunststück nach der Art Wes Andersons. Während ein Off-Erzähler im Verbund mit der Montage in rasendem Tempo die Protagonisten vorstellt und dabei eine Ästhetik der Abschweifung kultiviert, etablieren die beiden Regisseure Matthieu Delaporte und Alexandre de la Patellière jene flirrende Ironie zwischen Wahrheit und Lüge, die ihre intelligente Komödie „Der Vorname“ in einem turbulenten Diskurs der Enthüllungen vorantreibt. Dabei entwickeln sie in ihrem Ensemblefilm, der auf einem eigenen, höchst erfolgreichen Theaterstück basiert, eine enorme Dynamik der Kommunikation. Bluffs und Missverständnisse, Verletzungen und Tabubrüche ziehen in der Folge immer weitere Kreise und lassen in einem stetigen Wechsel von Täter- und Opferrolle die Masken fallen.

Im Kern sind davon tiefe Familien- und Freundschaftsbande bedroht. Schon die geschmackvoll-heimelige Wohnung des Pariser Literatur-Professors Pierre (Charles Berling) und seiner Frau Élisabeth (Valérie Benguigui), einer gesellschaftskritischen Lehrerin, strahlt jene behagliche Wärme einer freundschaftlichen Verbundenheit aus, die der Film nach und nach demontiert. In die gedämpfte Atmosphäre des mit vielen Büchern, gemütlichen Sofas und mildem Licht angefüllten Cinemascope-Bildes, das der Auseinandersetzung Raum gibt und sie zugleich einschließt, treten der sensible Orchestermusiker und Freund der Familie Claude (Guillaume de Tonquédec), Élisabeths Bruder Vincent (Patrick Bruel), ein erfolgreicher Immobilienmakler und spöttischer „Held der modernen Zeit“, sowie seine im fünften Monat schwangere Frau Anna (Judith El Zein).

Und wie soll das Kind, von dem der zukünftige Vater annimmt, es werde ein Junge, heißen? Genau an der Antwort auf diese Frage entzündet sich im Folgenden ein ebenso heftiger wie lautstarker Streit, der angefüllt ist mit schlagfertigen Dialogen, Witz und philosophischen Sophismen. Doch nach dem ersten Schlagabtausch und seinen unumkehrbaren Beschädigungen, in denen das Gesagte seine zerstörerischen Wirkungen entfaltet, ist der zweite nicht fern. Dabei geht es immer deutlicher und offensiver ans Eingemachte der Beziehungen; weder Freundschaften noch Ehen werden verschont in diesem ausufernden Kampf der Kränkungen, der an den (nicht zuletzt politischen) Wurzeln der jeweiligen Persönlichkeit gräbt. De la Patellière und Delaporte inszenieren diesen fulminanten Seelenstriptease mit viel Liebe zum Detail, aber auch mit einer großen Liebe für ihre sehr stimmig gezeichneten Figuren, die sie schließlich in einem versöhnlichen Finale zusammenführen. Denn: „Wir haben alle unsere kleinen Probleme.“

Das Schwein von Gaza

(F / D / B 2011, Regie: Sylvain Estibal)

Eber in Socken
von Wolfgang Nierlin

Jafaar (Sasson Gabay) ist ein glückloser Fischer von trauriger Gestalt. „Und wieder nur Dreck“, flucht er leise, wenn sich in seinem Netz außer ein paar kleinen Fischen wieder einmal hauptsächlich …

Jafaar (Sasson Gabay) ist ein glückloser Fischer von trauriger Gestalt. „Und wieder nur Dreck“, flucht er leise, wenn sich in seinem Netz außer ein paar kleinen Fischen wieder einmal hauptsächlich Zivilisationsmüll findet. Auf dem Markt kauert er vor seinem mickrigen Fang wie ein Häuflein Elend. Und gegenüber seiner geduldigen Frau Fatima (Baya Belal) muss er mal wieder eine kleine Lügengeschichte erfinden, denn Schulden bedrohen den kümmerlichen Haushalt. Was so märchenhaft tragikomisch beginnt und in guter filmgeschichtlicher Tradition mit Humor den Kampf eines leidgeprüften Helden gegen widrige Lebensumstände beschreibt, hat doch einen ernsten politischen Hintergrund. Denn Jafaar lebt im Gaza-Streifen, wo die Wege auf Schritt und Tritt von Grenzzäunen markiert sind und scharf kontrolliert werden. Sylvain Estibals Komödie „Das Schwein von Gaza“ ist insofern durchzogen von Zäunen, Mauern und Checkpoints. Selbst die Fischfangzonen sind reglementiert. Und auf dem Dach von Jafaars marodem Haus patrouillieren zwei junge israelische Soldaten.

Dieses absurde Bild ist neben vielen anderen natürlich symbolisch gemeint. Der französische Schriftsteller und Journalist Sylvain Estibal verwendet es, um in seinem Debütfilm die paradoxe Situation der festgefahrenen Verhältnisse zwischen Juden und Palästinensern zu zeigen. Als Jafaar eines denkwürdigen Tages auch noch ein vietnamesisches Hängebauchschwein aus dem Meer fischt, erreicht die Problem- und Konfliktlage eine neue symbolische Stufe. Denn das Schwein gilt in der Religion beider Völker als unrein, gar sündig; und verkörpert insofern eine Menge Vorurteile. Jafaars Schock und Verzweiflung über seinen wunderlichen Fang findet auch bald entschlossene Ratgeber: „Du musst diese Schweinerei so schnell wie möglich loswerden, sagt sein befreundeter Barbier (Gassan Abbas), bevor er ihm eine Kalaschnikow in die Hand drückt.

Aber natürlich ist Jafaar für eine kaltblütige „Lösung des Problems“ zu gutmütig. Als tumber Tor wird er darüber hinaus überraschend erfinderisch und geschäftstüchtig. Denn bald darauf schmuggelt er den lukrativen Samen des Ebers in einen Kibbuz, wo sich die Russin Yelena (Myriam Tekaïa) um die Schweineaufzucht kümmert. Die Grenzen sind also durchlässiger als man denkt: Während Jafaars Schwein in Socken und Schafspelz durch den Gaza-Streifen spaziert, gesellt sich einer der israelischen Soldaten zu Fatima, um eine brasilianische Telenovela zu sehen. „Das Hängebauchschwein ist meine Friedenstaube“, kommentiert Estibal seine komische Utopie eines friedlichen Zusammenlebens. Aber bis zum märchenhaften Ende mit seiner versöhnlichen Vision muss der Antiheld noch einige gefährliche Abenteuer im absurden, satirisch zugespitzten Grabenkrieg zwischen Hamas und israelischem Militär bestehen; wobei beide Seiten mal mehr, mal weniger lustig ihr Fett abkriegen.

Knistern der Zeit – Christoph Schlingensief und sein Operndorf in Burkina Faso

(D 2012, Regie: Sibylle Dahrendorf)

Austausch von Beziehungen in Dingen
von Wolfgang Nierlin

Gleich zu Beginn ist auf der Tonspur zu hören, was dem Film den Titel gab: das „Knistern der Zeit“, eingeprägt einer alten Vinyl-Schallplatte, die durch häufiges Abspielen individuelle Spuren und …

Gleich zu Beginn ist auf der Tonspur zu hören, was dem Film den Titel gab: das „Knistern der Zeit“, eingeprägt einer alten Vinyl-Schallplatte, die durch häufiges Abspielen individuelle Spuren und Kratzer bekommen hat. Für den Filmemacher und Theaterkünstler Christoph Schlingensief, den Sibylle Dahrendorf bei seiner Projektarbeit für ein Operndorf in Burkina Faso filmisch begleitet, geht es gerade um diesen geheimen Schatz, der sich als vergehende Zeit und lebendiger Austausch von Beziehungen in den Dingen manifestiert. Im Sinne seines erweiterten Kunstbegriffs, der sich wiederum auf Joseph Beuys‘ Soziale Plastik bezieht, ist es deshalb die menschliche „Unschärfe“, die Leben und Kunst, Natur und Spiritualität zu einem Ganzen miteinander verbindet. In einem permanenten Prozess des Wachstums, der Metamorphose und Transformation, der Fehler ebenso integriert wie das Chaos der Unberechenbarkeit und Spontaneität, entstehen so jene multimedialen Gesamtkunstwerke, in denen Schlingensief die Grenzen ständig verschiebt. „Der muss alles verrühren“, sagt in diesem Sinne einmal der Architekt Diébédo Francis Kéré über seinen Weggefährten.

Übertragen auf seine Suche nach einem geeigneten Ort für das geplante Operndorf in Afrika, die Christoph Schlingensief im Mai 2009 zusammen mit Kéré nach Burkina Faso führt, bedeutet dies vor allem, dass dieser Platz lebendige Austauschprozesse nach allen Seiten ermöglichen müsste. Insofern soll das anvisierte Dorf zu einer „multifunktionalen Begegnungsstätte“ werden, die wie das Leben selbst ist und neben einer Bühne auch eine Schule, eine Klinik und einen Sportplatz integriert. Als er diesen Ort schließlich in der weiten Savannen-Landschaft unweit von Ouagadougou findet, gibt es dort weder Wasser noch Strom. Doch nach Unterredungen mit Politikern, der Grundsteinlegung am 8. Februar 2010 und dem Eintreffen der ersten Container inklusive eines Generators beginnt das Projekt im Sinne seines Erfinders wie ein „lebendes Organ“ zu wachsen und dabei selbst zu einem Teil jener prozesshaften, grenzüberschreitenden Kunst zu werden, die für Schlingensief „Balsam für die Seele“ ist.

Sibylle Dahrendorfs zwischen den Zeiten, Orten und Bildformaten mäandernder Film begleitet dieses Projekt in seinen Planungs- und Bauphasen, seiner Stagnation nach Christoph Schlingensiefs Tod am 21.8.2010 bis zur feierlichen Schuleröffnung im Oktober 2011 durch dessen Ehefrau Aino Laberenz. Dabei entsteht nicht nur ein intimes Portrait des Künstlers, der mit seiner positiven Energie und sprudelnden Kraft Menschen bewegt und begeistert, sondern auch das Dokument eines nicht zuletzt künstlerischen Austauschs zwischen Leben, Krankheit und Tod. Schlingensiefs Arbeit an seiner afrikanischen Oper „Via Intolleranza II“, die in Ausschnitten zu sehen ist, gibt darüber ebenso Auskunft, wie seine Hinwendung zu religiösen Fragen. Damit verbunden ist eine tief empfundene Dankbarkeit für das Ererbte, das Menschen und Künstler, so Schlingensief, über das Leben hinaus für die Zukunft verpflichte. Sein Projekt lebt also weiter.

Guilty of Romance

(J 2011, Regie: Sion Sono)

Die dunkle Seite der Frauen
von Wolfgang Nierlin

Das Frauenbild, das der japanische Kult-Regisseur Sion Sono in seinem Film „Guilty of romance“, dem dritten Teil seiner sogenannten „Hass-Trilogie“, genüsslich ausbreitet, ist schlicht konservativ und misogyn. Unter dem Deckmantel …

Das Frauenbild, das der japanische Kult-Regisseur Sion Sono in seinem Film „Guilty of romance“, dem dritten Teil seiner sogenannten „Hass-Trilogie“, genüsslich ausbreitet, ist schlicht konservativ und misogyn. Unter dem Deckmantel weiblicher Identitätssuche mittels sexueller Befreiung zelebriert er eine perverse Lust an der Grenzüberschreitung, um die Hure in der Frau zu entdecken. „Frauen sind rätselhaft“; und: „Bei Frauen ist alles möglich“, lauten orakelhaft jene Sätze mit denen Sion Sono in einer Mischung aus Faszination und Angst auf das von ihm unterstellte Potential weiblicher Selbstentgrenzung und Lussteigerung blickt. Eine typische, mythologisch gut geerdete Männerphantasie also, die sich filmisch einerseits in einem lustvollen, delirierenden Fiebertraum entlädt. Andererseits gilt es natürlich, diese gewaltige, dunkle und chaotische weibliche Kraft zu bannen oder zumindest zu domestizieren.

Sion Sono selbst sieht seine Hassliebe zum weiblichen Geschlecht natürlich ausgewogener: „Ich bin ein feministischer und ein grausamer Filmemacher.“ In stilisierten Bildern und grellen Farben, in exaltierten Stimmungen und kalkuliert vulgären Zuspitzungen, in denen sich Hoch- und Populärkultur vermischen, schickt er seine stereotyp gezeichneten Heldinnen durch fünf Kapitel, die zeitlich ineinander verschachtelt sind. Dabei amalgamiert Sion Sono niedere Instinkte und hohe Kunst zu einem wilden Mix aus Thriller, Sexploitation und Autorenfilm, motivisch-raunend flankiert von Franz Kafkas „Das Schloss“ und Gustav Mahlers beliebter 5. Sinfonie.

„Niemand hat je den Eingang zum Schloss gesehen“, heißt es deshalb einmal in Bezug auf die weniger verschlüsselte (sexuelle) Identitätssuche der drei Frauen, die alle ein Doppelleben führen. Liebe und Untreue werden dabei in ein „naturgegebenes“ Verhältnis gesetzt: Während die überangepasste, unterwürfige Hausfrau und Schriftsteller-Gattin Izumi Kikuchi aus ihrer hellen, ruhigen Ordnung ins „Unreine“ dunkler Love Hotels ausbricht und dabei ihr wahres Wesen entdeckt, folgt die Universitätsdozentin Mitsuko Ozawa als Teilzeit-Prostituierte ihrer eigentlichen Bestimmung, und zwar dorthin, wo die „Finsternis dunkler als der Schatten“ ist. Ihr poetischer Leitstern ist dabei das Gedicht „Heimkehr“ von Ryūichi Tamura, das die Welt der Worte gegen die Evidenz sinnlicher Erfahrungen stellt. Ein Ritualmord im Rotlicht-Milieu, den die Kommissarin Kazuko Yoshida ermittelt, integriert schließlich die dritte Frauenfigur, deren sexuelle Entgrenzung am deutlichsten mit einer Sehnsucht nach Unterwerfung und Tod assoziiert ist. Und so schickt Sion Sono seine Protagonistinnen auf eine (zweieinhalbstündige) Tour de Force durch jenen Abgrund aus Lust und Schmerz, Demütigung und Strafe, an dem angeblich die lebensspendende Kraft des Weiblichen beheimatet ist.

Hasta la Vista!

(BE 2011, Regie: Geoffrey Enthoven)

Leidlich beste Freunde
von Louis Vazquez

Zum Einstieg gibt es subjektive Bilder, die aus einer Highschool-Sexklamotte stammen könnten: Wogende Frauenbrüste sind in Zeitlupe zu sehen. Die Kamera schwenkt von einem Brustpaar zum anderen. Wer hier aber …

Zum Einstieg gibt es subjektive Bilder, die aus einer Highschool-Sexklamotte stammen könnten: Wogende Frauenbrüste sind in Zeitlupe zu sehen. Die Kamera schwenkt von einem Brustpaar zum anderen. Wer hier aber so ungeniert gafft und die bösen Blicke zweier Joggerinnen fängt, ist Philip (Robrecht Vanden Thoren), vom Hals abwärts gelähmt und auf einen Spezialrollstuhl angewiesen. Deshalb funktioniert die enervierend plakative Blickinszenierung der Exposition auf gewisse Weise sogar, ob so intendiert oder nicht, denn Frauenkörper kennt Philip höchstwahrscheinlich nur als mediale Abbilder. Mit seinen beiden besten Freunden – Lars (Gilles de Schryver) ist wegen einer Krebserkrankung ebenfalls auf einen Rollstuhl angewiesen, Jozef (Tom Audenaert) fast blind – verfolgt Philip ein Ziel, das auch auf besagte Klamotten zu verweisen scheint: Die drei wollen ihre Jungfräulichkeit verlieren.

In Südspanien soll es ein Bordell geben, das auf die Bedürfnisse von behinderten Gästen vorbereitet ist. Da wollen die drei Freunde unbedingt hin. Sie tarnen das Vorhaben als Weinreise und überzeugen tatsächlich ihre Eltern. Doch dann droht alles zu platzen, weil einer von ihnen schwerer krank ist als erwartet. Die Fahrt muss freilich trotzdem stattfinden – heimlich, unter noch komplizierteren Bedingungen. Schnell stellt sich Ernüchterung ein. Die Entzauberung des feuchten Traums beginnt damit, dass der neue Busfahrer Claude (Isabelle de Hertogh) sich als resolute und übergewichtige Fahrerin entpuppt …

„Hasta la vista“ ist ein tragikomisches Roadmovie mit viel Menschelei, das auf wahren Begebenheiten bzw. einer BBC-Dokumentation beruht. Auffällig ist dabei einmal mehr eins: Wenn ein Film über behinderte Menschen gefühlig und witzig sein soll, darf Geld bzw. seine Abwesenheit keine Rolle spielen, womöglich um das Publikum nicht zu überfordern. Anders ist es kaum zu erklären, dass in den entsprechenden Komödien (siehe „Ziemlich beste Freunde“) kaum jemand finanzielle Probleme zu haben scheint. Behindert und arm – die Tristesse eines solchen Lebens mag man schmunzelwilligen Zuschauern wohl nicht zumuten, wenn man wertvolle Anregungen in Sachen Toleranz und Menschlichkeit vermitteln will.

So ist es also kein Problem, einen behindertengerechten Bus und die entsprechende Begleitung zu organisieren, von Hotelkosten und den Ausgaben beim finalen Vergnügen ganz zu schweigen. Immerhin wird kurz erwähnt, dass Papa geschäftlich in Dubai unterwegs war, und da war dann eben noch Geld auf dem Sparbuch.

In manchen wahrhaftig wirkenden Momenten gelingt es „Hasta la Vista“ durchaus, von Intimität und Nähe zu erzählen und für die sexuellen Bedürfnisse von behinderten Menschen zu sensibilisieren. Aber spätestens gegen Ende verzettelt sich der Film von Geoffrey Enthoven, mit einer grässlichen Traumsequenz, in der die drei Freunde nicht behindert sind und sich weiß gekleidet in gleißendem Licht zulächeln, und einer Auflösung, die sowohl dem Tragischen als auch dem Versöhnlichen auf denkbar überkonstruierte Weise Tribut zollen will. Die konventionelle, ehemals womöglich bahnbrechende Idee, behinderte Menschen auch mal als Arschlöcher zu zeigen, wird ebenfalls überreizt: Irgendwann nervt die dauernde Misogynie nur noch. Ein leider viel zu gut gemeinter Film.

Total Recall

(USA / CAN 2012, Regie: Len Wiseman)

Real? Recall? Egal?
von Louis Vazquez

Die Geschichte, wie man sie aus Paul Verhoevens „Total Recall“ (1990) kennt, geht ungefähr so: Douglas Quaid, ein Arbeiter in einer dystopischen Zukunft, gelangweilt von seinem ereignisarmen Leben, geht zu …

Die Geschichte, wie man sie aus Paul Verhoevens „Total Recall“ (1990) kennt, geht ungefähr so: Douglas Quaid, ein Arbeiter in einer dystopischen Zukunft, gelangweilt von seinem ereignisarmen Leben, geht zu einer Firma, die durch implantierte Erinnerungen mehr Zufriedenheit verspricht. Die gefälschte Vorstellung, Abenteuer als Geheimagent erlebt zu haben, vielleicht sogar auf dem Mars gewesen zu sein, das wäre doch was. Beim Versuch der Gedächtnismanipulation kommt es aber zu technischen Problemen, weil die Erinnerungen des Helden zuvor offenbar schon einmal verändert wurden. Der Durchschnittsmann – nun ja, gespielt von Arnold Schwarzenegger – ist tatsächlich ein Geheimagent namens Hauser, ohne es selbst geahnt zu haben. Sein Arbeiter-Leben entpuppt sich als Tarnung, und er wird in einen komplizierten Konflikt zwischen skrupelloser Regierung und Aufständischen hineingezogen. Oder träumt er all die Abenteuer und sitzt noch immer im Behandlungsstuhl? So ganz sicher kann er sich nie sein.

Paul Verhoevens „Total Recall“ ist nicht nur ein ziemlich gelungener Actionreißer und Mindfuck, sondern ein weiterer Beleg dafür, dass der posthume Erfolg von Philip K. Dick als Vorlagenlieferant für Science-Fiction-Filme sein eigentliches Werk überstrahlt und er viel zu wenig gelesen wird. Für eine ganze Weile fand sich beispielsweise in Filmtexten immer wieder die Behauptung, Ridley Scotts „Blade Runner“ basiere auf einer Kurzgeschichte. Dass man „Do Androids Dream of Electric Sheep“ mit seinen über 200 Taschenbuchseiten durchaus als Roman bezeichnen kann, hat sich erst mit dem Start des Director’s Cut in den Kinos so langsam auch bis zu jenen Cineasten herumgesprochen, die keine Zeit mehr haben, selbst zu lesen.

Im Fall der Neuauflage von „Total Recall“ durch Len Wiseman („Underworld“, „Live Free or Die Hard“) verhält es sich nun so: Regisseur und Produzenten erwähnen zwar durchaus, dass Paul Verhoeven mal einen Film gemacht hat, betonen aber gleichzeitig, nicht ein Remake, sondern eine neue, gar getreuere Umsetzung von Philip K. Dicks zugrunde liegender Kurzgeschichte „We Can Remember It for You Wholesale“ im Sinn gehabt zu haben. Eine Schutzbehauptung, um den Verdacht der inspirationsfreien Geldschneiderei zu entkräften? Gewiss nicht. Man sei „neu inspiriert“ worden, heißt es im Presseheft. „Wir hatten den Eindruck, dass man der originalen Geschichte völlig neue Seiten abgewinnen könnte“, sagt Produzent Neal H. Moritz. Darüber kann herzhaft lachen, wer Dicks Kurzgeschichte kennt. Denn die „völlig neuen Seiten“ muss man mit Sicherheit neu dazu schreiben, weil die Vorlage gar nicht viel mehr liefert als die Grundidee des unbewussten Superagenten, der über den Versuch, sich Spionage-Abenteuer und eine Reise zum Mars implantieren zu lassen, enttarnt wird. Und darauf folgt kein komplizierter Plot, sondern recht schnell eine der schönsten und absurdesten Pointen im mit Wendungen gespickten Oeuvre von Philip K. Dick, die keine höher budgetierte Verfilmung sich je getraut hätte.

So viele neue Seiten sind letztlich gar nicht zu entdecken in der neu inspirierten Version. Len Wisemans „Total Recall“ ist nichts anderes als ein Remake von Verhoevens Film, das sich entgegen der behaupteten Intention sogar noch weiter von der kurzen Vorlage entfernt. Es verzichtet ganz auf die Idee einer Reise zum Mars, um stattdessen eine vermeintlich logischere, insgesamt jedoch recht bescheuerte Reise durch die Erde per Super-Fahrstuhl zu präsentieren, die sogar bedeutungsvoll im Vorspanntext erklärt wird, obwohl man besser stillschweigend darüber hinweg inszeniert oder besser ganz darauf verzichtet und sich etwas Besseres ausgedacht hätte. Ansonsten werden die Plotpoints der Original-Filmstory wiederholt, deren Autoren in den Credits brav neben den Neuinterpreten Kurt Wimmer und Mark Bomback genannt werden. Ausgerechnet die letzte zynische Wendung aber, in der sich der wahre Charakter des Helden ihm selbst erschließt, per direkter Gegenüberstellung via Bildschirm, wird in der Neuauflage komplett in den Sand gesetzt – aber bis dahin hat man das Interesse ohnehin schon verloren.

Von Verhoevens Härte ist nichts mehr übrig. Damit ist nicht unbedingt gemeint, dass viele der Gegner in Wisemans Version moderne Sicherheitsroboter sind und es eher Blechschäden statt Blutfontänen zu bestaunen gibt, denn mehr Gewalt hätte nicht automatisch einen besseren Film bedeutet. Verhoevens Ambivalenz und Subversion aber, seine überdrehte, cartoonhafte Over-the-Top-Inszenierung trafen den Geist der Vorlage viel eher als der Versuch, durch aufwändige Setpieces à la „Blade Runner“ seriöse, realistische Science-Fiction zu simulieren, und dann doch umso mittiger in Logikfallen zu tappen. Auch die wunderbaren Mars-Mutationen und der schwarze Humor – restlos getilgt für eine familienfreundliche Thriller-Light-Variante mit zu vielen Verfolgungsjagden.

In einigen Szenen ist es durchaus sympathisch, wie Wiseman mit der Erwartungshaltung von Kennern des Originals spielt. Doch meist fällt durch die Nähe zur Vorlage umso mehr auf, wie stark der Neuentwurf abfällt, etwa wenn er sich sogar um ein paar böse Formulierungen drückt und es statt „Get your ass to Mars!“ plötzlich nur noch heißt: Geh nach Hause, und suche dort nach einem weiteren Hinweis. Was tatsächlich ganz gut funktioniert ist die nun etwas ausführlichere romantische Backstory, die ehedem nicht unbedingt im Fokus des Teams Verhoeven/Schwarzenegger stand (und bei Philip K. Dick in der Tat gar keine Rolle spielt).

Insgesamt wirkt „Total Recall“ wie ein typisches Remake von der Stange: Es wird ignoriert oder nicht verstanden, was eigentlich am Original gut war, und trotzdem soll genau dasselbe noch einmal verkauft werden, und zwar möglichst allen. Drum bitte bloß nicht wehtun!

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

The United States of Hoodoo

(D 2012, Regie: Oliver Hardt)

Afrikanische Spezifika
von Andreas Thomas

Im Film „The United States of Hoodoo“ erklärt an einer Stelle eine Musikerin, dass alle Geräusche, die je an einem Ort hörbar waren, für immer an diesen Ort gebunden bleiben …

Im Film „The United States of Hoodoo“ erklärt an einer Stelle eine Musikerin, dass alle Geräusche, die je an einem Ort hörbar waren, für immer an diesen Ort gebunden bleiben und verharren, wenngleich sie auch nicht für jedermann hörbar sind.

Dieser Satz fasst schon in etwa Programm und Problem dieses Dokumentarfilmprojekts von Oliver Hardt und seinem Forschungsreisenden in Sachen Hoodoo, Darius James zusammen, denn genauso verhält es sich mit den Spuren der afrikanischen Kultur, sie blieben trotz massiver Verdrängung durch die weiße Vorherrschaft im Verborgenen und bahnten sich ihren Weg – für die, die sie wahrnehmen wollen und können. Ihren Weg in die, zunächst, amerikanische Musik-, Popkultur und in die moderne Kunst, aber auch etwa in den Hoodoo- bzw. Voodooglauben – der Film macht da keine klaren Unterscheidungen – neue amalgamische, mit indianischen Riten und dem auferlegten Katholizismus bzw. Protestantismus versehene Formen alter afrikanischer Religionen. Zugleich jedoch, und das ist ein kleineres Problem, ist diese Erkenntnis eine banale, denn schon lange bekannt, und sie beschränkt sich nicht nur auf die Genese eines afrikanischen Kulturerbes, sondern auf jede Art verschütterter oder unverschütteter Kultur: Teile davon bleiben erhalten oder sie auferstehen in mehr oder weniger mutierten Formen.

Den größeren Verdruss an diesem Projekt der Neuentdeckung Afrikas in Amerika, welches als eine Art selbsternanntes Roadmovie abrollt, aber bereitet mir die doch eher unkritische Bereitschaft von Autor und Regisseur Hardt und Co-Autor und Explorateur James, jedes und alles, was nur irgendwie afrikanisch konnotiert werden kann, zu glorifizieren, uneingedenk der Tatsache, wie mystisch der Quatsch auch ist, der dabei zum Teil an eine Oberfläche kommt, deren Oberflächlichkeit aber auch nicht hinterfragt wird: ist man doch froh über alles und jedes, was einem die Illusion von Wurzeln, Historie und Authentizität vermitteln kann.

Kurz dazu die Rahmenbedingungen des Films und zugleich die biografischen des Schriftstellers und US-Reisenden: Darius James lebt bereits seit 10 Jahren in Berlin, im „Exil“, wie er es ein wenig dramatisch bezeichnet, als er durch den Tod seines Vaters wieder mit seiner Herkunft, in vielfacher Weise, konfrontiert wird. Das Haus des Vaters, nördlich von New York gelegen, ist voller afrikanischer Masken und Kultgegenstände, deren religiös-mystische Dimension vom Vater stets verleugnet wurde. An eben der These, dass die afrikanischen Ursprünge auch in Zeiten der Unterdrückung und Verleugnung in den USA stark geblieben sind, hangelt sich nun der Sohn und Co-Filmautor James entlang, aber seine apostrophierte „Entdeckungsreise“ wirkt in weiten Teilen wie das Abklappern verschiedener ihm längst bekannter Menschen und ihrer jeweiligen afrikanischen Spezifika, denn als Buch-Autor hat er sich doch schon in mehreren Büchern mit dem Thema Voodoo, Hoodoo und „Baaaadassss“-Kultur und den einschlägigen Spezialisten befasst. Was er „entdeckt', das kennt er schon.

Besonders kurios fühlt sich sein Besuch in New Orleans an: Zur Belegung der These, wie vital afrikanische Kultur noch heute sei, wird einem Voodoo-Ritual beigewohnt, dessen Teilnehmer_innen durchweg Weiße sind. Seien wir nicht kleinlich, dass auch Weiße den Blues haben können, muss hier natürlich nicht gesagt werden und Kultur ist natürlich keine Frage der Hautfarbe. – Also doch nicht? Ging es nicht auch um Rückbesinnung auf die schwarze Identität?

Zunächst interessant ist die kaum bekannte Tatsache, dass da, wo heute mitten in Manhattan ein so genanntes „African Burial Ground National Monument“ steht, ein großer Friedhof liegt, in dem unzählige namenlose Sklaven verscharrt wurden, ehemalige Arbeiter, die die Hauptstadt des Weltkapitalismus errichteten. Aber auch hier darf die Religionsmystik nicht zu kurz kommen, und es muss ein gewisser „Legba“ heranzitiert, bzw. gar „kontaktiert“ werden, nach dem Voodoo-Glauben der Mittler zwischen Geister- und Menschenwelt. Dass übrigens Legba als „Protagonist“ des Films sogar im Presseheft (nicht im Filmabspann) aufgeführt wird, ist ein Scherz jener zweifelhaften Art, von denen auch der Film so manche aufweist.

Nur ein Mitwirkender und Interviewpartner von Darius James, der Schriftsteller und Berkeley-Professor Ishmael-Reed, weist den doch eher latent religiös-euphorisierten Autoren freundlich aber bestimmt darauf hin, dass der Segen der Menschheit ja nun wirklich nicht in irgendeiner Religion zu finden sei – er hat im Film den kürzesten Auftritt. Leider. Wenn es interessant zu werden droht und Gedanken zu Ende gedacht werden könnten, verliert „The United States of Hoodoo“ sein Interesse daran.

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Oma & Bella

(D 2012, Regie: Alexa Karolinski )

Erzählen und Fehlen
von Carsten Moll

Eine kleine Einbauküche in Berlin-Charlottenburg. Zwei jüdische Damen in ihren 80ern sind beim gemeinsamen Kochen. Einmütig, konzentriert und schweigsam, ohne sich auch nur einmal in die Quere zu kommen. Immer …

Eine kleine Einbauküche in Berlin-Charlottenburg. Zwei jüdische Damen in ihren 80ern sind beim gemeinsamen Kochen. Einmütig, konzentriert und schweigsam, ohne sich auch nur einmal in die Quere zu kommen. Immer wieder kehrt Alexa Karolinskis Film in die Küche ihrer Großmutter Regina und deren Mitbewohnerin und Freundin Bella zurück und dokumentiert das Treiben der beiden Frauen. Ob beim Rasieren von Kalbsfüßen und Hähnchenschenkeln, beim Hagelzuckerkekse-Backen oder Borschtsch-Zubereiten, die Kamera ist nah dran an Gesichtern und Händen und blickt aufmerksam auf das Geschehen.

„Oma & Bella“ ist ein Film der kleinen Gesten, der unaufgeregt und ohne aufgesetzte Dramatik dem Alltag seiner Protagonistinnen folgt. Dabei bleiben die bewegten Biografien der beiden Holocaust-Überlebenden stets Fragmente, die sich als Anekdoten, Lieder, Alpträume und den jiddischen Speisen ihrer Kindheit mit der Textur eines banalen Alltags verweben. Karolinski versucht gar nicht erst aus dem Leben der Oma und deren bester Freundin eine runde Geschichte zu machen, stattdessen inszeniert sie mit äußerster Zurückhaltung das Erzählen und Erinnern als Teil der Lebenspraxis, fernab von falscher Sentimentalität und Holo-Kitsch.

Erzählen heißt nochmal überleben, meint Bella, die Partisanin der jüdischen Widerstandsbewegung war und ihre gesamte Familie im Dritten Reich verloren hat. Wie schwer das Erzählen fallen kann, sieht man an den Freundinnen von Regina und Bella; beim Rommé-Spiel erfasst die Kamera die eintätowierte KZ-Nummer einer Bekannten, mehr als dass sie in Auschwitz war und später auf Schindlers Liste stand, möchte sie nicht verraten. Bella und Regina aber nutzen den Raum, den der Film ihnen zur Verfügung stellt, drängen sich bisweilen gegenseitig zu reden, wenn vieles auch nur angedeutet bleibt. Die Offenheit, mit der sich die charismatischen Seniorinnen präsentieren, kommt wohl auch deshalb zustande, weil Regisseurin und Kamerafrau Karolinski keinen investigativen oder kritischen Zugang zum Leben der Großmutter sucht, sondern stets Enkelin bleibt. Da kommt sie nicht drum herum, noch einen Keks zu essen, obwohl sie schon satt ist oder tritt amüsiert aber folgsam vor die Kamera, um den Orangensaft zu trinken, den Regina ihr hingestellt hat. Wegen der Vitamine.

Der liebevolle Blick der Filmemacherin hinter der Kamera wird von den Protagonistinnen erwidert, vertrauens- und verständnisvoll erzählen sie nicht nur von jüdischer Kultur, sondern auch vom Nachtleben im Nachkriegsdeutschland, vom Familienleben und Altsein, mal nachdenklich, mal mit trockenem Witz. Wo das Leben der Einen anfängt und der Anderen aufhört, lässt sich kaum ausmachen, ihr Erzählen ist ein gemeinschaftliches, ein ständiges Ergänzen, Kommentieren und Übersetzen, selten auch ein Widersprechen. Karolinski verbindet Interviews mit Alltagsbeobachtungen zu einer losen, episodischen Struktur, die gelegentlich etwas beliebig wirken mag. Gleichzeitig lässt sie sich aber ganz auf den Rhythmus und Ton ein, den Regina und Bella vorgeben. So werden auch die Leerstellen Teil des Erzählens: verpasste Einsätze, vergessene Strophen und verschollene Fotografien.

Bavaria – Traumreise durch Bayern

(D 2012, Regie: Joseph Vilsmaier)

Sedativkino
von Ricardo Brunn

Grüne Wiesen und rosarote Blumen, die sich sanft im Wind wiegen. Rehe im Wald, auf der Suche nach Futter. Das rauschende Meer, das bei Sonnenuntergang gegen die Küste brandet. Ein …

Grüne Wiesen und rosarote Blumen, die sich sanft im Wind wiegen. Rehe im Wald, auf der Suche nach Futter. Das rauschende Meer, das bei Sonnenuntergang gegen die Küste brandet. Ein Mann, der auf einem Sterbebett liegend diese Bilder mit Tränen in den Augen auf einer großen Leinwand vor sich betrachtet und sanft zu den Klängen von Edvard Griegs „Peer Gynt“ entschläft.

In dieser Szene, die gegen Ende des Filmes „Soylent Green“, einem amerikanischen Science-Fiction-Film aus den 1970er Jahren, zu sehen ist, dringt die Hauptfigur Robert Thorn (gespielt von Charlton Heston) in eine Sterbehilfeeinrichtung ein, in die sich Thorns Freund und Vaterfigur Sol selbst eingewiesen hat, nachdem dieser das Geheimnis des titelgebenden Nahrungsmittels entdeckt hat. Doch Thorn kommt zu spät. Sol liegt bereits auf dem Sterbebett vor besagter Kinoleinwand und Thorn kann seinem alten Freund in diesen letzten Momenten nur noch beistehen, als auf der Leinwand die Naturaufnahmen erscheinen. Weinend schauen beide auf eine Welt, die nur noch im Dokument existiert und es ist ein rührender Moment, der in den Kitsch sackt, auch weil Charlton Heston eher ein Mann der Taten und weniger der Tränen ist.

Ähnliche Naturbilder wie die soeben beschriebenen können derzeit in großer Zahl auch im Kino bewundert werden. Die Naturdokumentationsschwemme der letzten Jahre hat an ihren Höhepunkten („¡Vivan las antipodas!“) eine poetische Kraft entfaltet, die das Verbindende im Gegensätzlichen und das Erhabene im Detail suchte. Manchmal kam ein ambitioniertes und mitunter pathetisches Mahnen an die Zerstörung unseres Planeten in kristallklaren Full-HD-Bildern („Home“) dabei heraus. Schlimmstenfalls gab es imposantes, aber für maximale Kinoausbeute stümperhaft zusammen montiertes Material aus bereits vorhandenen TV-Serien zu sehen („Unsere Erde“). Den Tiefpunkt dieses Phänomens markieren allerdings Filme („Deutschland von oben“), deren Bilder in ihrer beruhigenden und verklärenden Wirkung denen aus der beschriebenen Szene zu „Soylent Green“ in nichts nachstehen.

Eine nahe liegende Vermutung hinsichtlich der schieren Masse an cineastischem Nature and Wildlife ist natürlich: Je größer die Krise, desto größer der Bedarf an Zerstreuung. Und weil wir uns neben der monetären Krise neueren Datums seit Langem in einer ökologischen Krise befinden und die Zuschauerzahlen bei all diesen Filmen (für die Gattung des Dokumentarfilmes) astronomische Marken erreicht, wird mit einer immer einfacheren Formel munter weiter produziert. Plötzlich erstaunt die Fülle an kitschigen Naturbildern, die derzeit die Kinos sicher machen, kaum noch.

„Bavaria“, der neue Film von Joseph Vilsmaier, reiht sich in seiner Banalität und Einfältigkeit gut in diese Reihe ein. 50 Stunden lang hat Vilsmaier sich mit dem Hubschrauber im Daueranflug auf das so unsagbar schöne Bayern begeben, dass es an dieser Stelle einfach noch mal betont sei: Bayern ist traumhaft schön. Ansonsten gibt es nicht viel über diesen außerordentlich berechnenden Film zu sagen. Die Kamera gleitet, die Musik begleitet, der Schnitt rasselt die Sehenswürdigkeiten in bester Reiseprospektmanier aneinander, der Kommentar verdoppelt das Bild oder lässt historisch Brisantes elegant unter den Tisch fallen und irgendwann ist’s halt vorbei.

Die Schönheit eines Landes in einem Dokumentarfilm zu zeigen ist nichts Verwerfliches. Die Bilder in „Bavaria“ zehren jedoch nicht einmal mehr vom altmodischen Anspruch, Schönheit als Übereinstimmung von Mensch, Welt und Schöpfung zu begreifen. Im Unterschied zu „¡Vivan las Antipodas!“ existiert in „Bavaria“ kein Zusammenhang mehr zwischen der Darstellung von Schönheit und dem Anspruch auf eine irgendwie geartete Wahrheit. Vilsmaier geht es mit seinem Film ausschließlich um die triviale Abbildung des Schönen; um die Verheißung eines Glückes, das im Angesicht der Krisen um uns herum immer seltener erreichbar scheint. Damit wird der Film aus der Kunst heraus tief hinein in den Kitsch gerückt. Und hier liegt auch der Unterschied zu dem eingangs erwähnten „Soylent Green“, denn die Bilder andächtiger Ergriffenheit aus der Sterbebettszene erfahren am Ende des Filmes ihre fast zynische Brechung, wenn ebendiese Aufnahmen über den Abspann gelegt werden. Diesmal ist der Zuschauer allein der Adressat der Bilder und wird damit in die Position des sterbenden Mannes gesetzt.

Das Erstaunlichste an „Bavaria“ und seinen aktuellen Von-oben-Vorbildern ist demnach, dass die bisher dem Fernsehen eigene einschläfernde Dauerberieselung nun (dank der Macht der Sendeanstalten) auch im Kinodokumentarfilm eine Heimat findet. „Bavaria“ ist nichts weiter als Sedativfernsehen, das mit seiner Wirkung und der angesprochenen Zielgruppe gut zwischen das Traumschiff und die seichten Talks des ZDF-Adoptiv-Schwiegersöhnchens Markus Lanz passt und zum Zwecke des Profits für die große Leinwand fit gemacht wurde.

Übertroffen wird dies nur noch von den abstrusen Vermarktungsstrategien für den Film. Eine Sendung mit dem Titel „Talk in the City“, moderiert vom Generalsekretär der CSU, Alexander Dobrindt, fällt hierbei besonders ins Auge. Mit typisch bayrischem Selbstverständnis philosophieren Dobrindt, Vilsmaier und sein Pilot Hans Ostler eine Stunde lang über die technischen Herausforderungen des Filmes, witzeln über die im Film kaum zu sehenden Bauern und beschwören einmal mehr die Schönheit Bayerns. Kumpelhaft und hochgradig entzückt klopft der Moderator am Ende der Sendung dem Regisseur aufs Knie und bietet, schwanger vor Ergriffenheit, seine Hilfe an: „Wenn’s Probleme mit der Filmförderung gibt, dann bitte melden. Solche Filme müssen weiterhin in Bayern entstehen und gefördert werden.“ Ja genau, solche Durchhaltefilme brauchen wir.

Bevor nun aber die unsagbar teure Kameratechnik für weitere Naturdokumentationen dieser Art spazieren geflogen wird (ich freue mich schon auf „Sachsen von oben“ oder „das Ruhrgebiet von oben“), lieber noch ein paar eindrucksvolle Bilder zum Abschluss: Grüne Wiesen und rosarote Blumen, die sich sanft im Wind wiegen. Rehe im Wald, auf der Suche nach Futter. Das rauschende Meer, das bei Sonnenuntergang gegen die Küste brandet.

Underground

(YU / F / HU / D 1995, Regie: Emir Kusturica)

Lügenhafte Feste, satte Wahrheiten
von Dietrich Kuhlbrodt

Der Krieg in Bosnien wurde in Belgrad inszeniert. Anfang 1995 drehte dort Emir Kusturica, geboren in Sarajevo, seinen Film zu Ende – die gewaltige Schock- & Lach-Parabel, die einem ästhetisch …

Der Krieg in Bosnien wurde in Belgrad inszeniert. Anfang 1995 drehte dort Emir Kusturica, geboren in Sarajevo, seinen Film zu Ende – die gewaltige Schock- & Lach-Parabel, die einem ästhetisch und politisch den Boden unter den Füßen wegreißt, zur merkwürdigerweise immer neuen Verblüffung. Drunter ist, wie der Titel es verspricht, der Untergrund. Und der ist ein inszenatorischer Kunstbau von inflationären Maßen, der sich wie verrückt ausdehnt im Lauf der Geschichte oder richtiger des Es-war-einmal, das kurz vor dem Einmarsch der Nazis in Maribor, Slowenien, beginnt – ein kleiner Schutzkeller zunächst, der sich in den 169 Filmminuten zu einem Tunnelsystem ausweitet, das alle Schutzbauten Hitlers und Ceaucescus um ein Vielfaches übertrifft. Schließlich erfahren wir die Wahrheit: dass untergründig die Hauptstädte Europas verbunden sind, bspw. über die Subroute Berlin-Balkan-Athen, und wer heute vor dem Reichstag den Gullydeckel lüftet – ein letzter Blick zurück nach oben, gerade sind noch die Worte 'Dem Deutschen Volke' zu entziffern – , der kriecht bei irgendeinem bosnisch-kroatischen Massaker wieder ans Tageslicht, glücklich dem unterirdischen Wahnsinnsverkehr entronnen, ein Laster nach dem anderen schrammt an den Tunnelwänden entlang, Abgase verdunkeln das Abblendlicht.

Hitler hatte die Kapazität der Entlüftungsventilatoren falsch bemessen. Heute kassieren schwarzhäutige Blauhelme für unterirdische Flüchtlingstransporte. Waffenhändler machen Kasse für Lieferungen nach Serbien und Kroatien – egal, wer der Abnehmer ist. Wir sind beim Exjugoslawen Marko, dem schurkischen und gar nicht unsympathischen Helden und seiner Frau, der schönen und zweckmäßig optierenden Natalija. Gegen Schluss des Films sind sie reich, VIPs und all das; die Rückreise tritt das Waffenhändlerpaar standesgemäß im Mercedes 500 an, Kennzeichen M-TV 6769, doch halt, die gehbehinderten Dealergatten, doppelt riskant im Obergrund aktiv und das im Rollstuhl, werden in einer überaus imposanten Szene liquidiert und pyrotechnisch brillant in Brand gesetzt. Ein Fanal! Als lebende Fackel umkreist das vermögende und in geschlechtlicher Lust vereinte Rollstuhlpaar ein ruinöses Kruzifix, der Gemarterte hängt mit dem Kopf nach unten, ein Schimmel (Utopie!) durchquert die Hieronymus-Bosch-Landschaft von rechts nach links und umgekehrt. Ein Bild! Grande opéra! Schön und gerecht! Oder nicht? Denn das liebende, aber verkohlende Paar ist so ein richtiger Feind denn doch nicht, immer waren die beiden unsere Brüder-und-Schwestern, Jugoslawen, verdiente Funktionäre (er) und Künstler (sie) der kommunistischen Partei des Genossen Tito.

Wieder ist der Boden unter den Füßen weg. Wie war es doch zu Köln bequem, mit Heinzelmännchen umzugehn, äh: den Faschistenschweinen einerseits, den Guten (uns) andererseits. Kusturicas Welt lässt sich nicht sortieren, und wir stecken mittendrin im Schlamassel, bös involviert. Außerdem bin ich außerstande, das zu tun, was der Leser, die Leserin als Service erwartet, nämlich den Plot des Films wiederzugeben. Aber wie das, wenn einer – endlich! – das Bildermedium vom narrativen Ballast des Und-dann-und-dann-und-dann befreit; schließlich hat der Film der Literatur voraus, dass er auf die allseits bewunderten Höhlenzeichnungen zurückgeht, welche man mit Fug & Recht ja auch Undergroundinszenierungen nennen könnte. Wer auch würde ein kolossales, zudem noch schockierend komisches Bosch-Bild durch Ausplaudern der dort meinetwegen versteckten Fabeln angemessen wiedergeben wollen?

Meine Bemühungen sollen nur, ich bitte um Nachsicht, darauf hindeuten, dass Kusturicas Film 'Underground' tatsächlich in den Abgrund, aber auch in verlockende Tiefen von so etwas Verdächtigem wie der Seele, auch der Volksseele, eintaucht – und mehr oder weniger schelmisch auch wieder heraufkommt. Drum geht der Verkehr ins Untergründige auch gern durch Dorf- und andere altertümliche Brunnen, die infrastrukturell durch Jugoslawiens Fluss, die Donau, verbunden werden, so dass der Vater dort in einem Fischnetz gefangen werden kann. – Ein Unding, das verstandesmäßig aufdröseln zu wollen. Kurz: Wer sich Kusturicas 'Underground' besieht, hat keine Theorie des Untergrundkampfes zu gewärtigen, auch keine Vorlesung über die Strategie des Bosnienkriegs, wohl aber ein grandioses Abenteuer der Wahrnehmung, politisch und moralisch so offen, wie man es sich nur wünschen kann, jedenfalls dann, wenn in der bösen Realität die oberirdischen Grenzen geschlossen sind.

Ergebnis: Kusturica ist mit seinem Megafaszinosum 'Underground' Undenkbares gelungen, nämlich alle Parteien Ex- und Rest-Jugoslawiens an einen Tisch zu bringen, wo sie zu Zigeunerweisen in entspannter Atmosphäre an einem Tisch sitzen, am Donauufer; pathetisch ist von Verbrüderungen die Rede, Hoffnung! Einheit! Wir sind in der Schlusssequenz des Films, plötzlich geht der Blick in die Kamera: 'Verzeihen können wir, vergessen nie', heißt die Botschaft. Ein optimistisches Fest, aber dann – so geht’s halt zu in diesem Film, underwater in diesem Fall – löst sich die Halbinsel mitsamt der Festgesellschaft vom Ufer und treibt im großen Strom davon. Die Kamera, grad noch angesprochen, bleibt zurück. Wir hören etwas, was statt eines hoffnungsvollen Appells eher Grabrede ist: 'In Trauer und Freude werden wir an unser Land zurückdenken. Es war einmal …' Aber mit eben diesen Worten hatte der Film begonnen, und er hatte uns die Geschichte Jugoslawiens als unablässige Folge politischer Inszenierungen vorgestellt: Propaganda, Botschaften, Filmmedium, Kamera. Kusturica selbst stellt schließlich sein Werk augenzwinkernd in den Dienst der propagandistischen Lügeninszenierungen. Wahrhaftige Selbstironie, brüderliche.

Belgrad 1941. Die Serben Marko und Blacky betreiben ihren prosperierenden Waffenhandel – die Ware wird durch Überfälle auf Nazikonvois beschafft – als Kampf für die kommunistische Partei. Zwei Jahre später sind sie Volkshelden. Blacky wird vom schönen Nazi Franz (Ernst Stötzner) ebenso blutig wie grotesk gefoltert. Seine Flucht endet in einem Luftschutzkeller, während die Bomber der Alliierten 'das zu Ende führen, was die Deutschen begonnen hatten, und aus Belgrad eine Ruinenstadt machen'. Freund Marko, oberirdisch, übernimmt inzwischen Blackys Frau, die reizende junge Schauspielerin Natalija, und um diesen für ihn erfreulichen Besitzstand nach der Befreiung zu wahren, inszeniert er für die Volkshelden im Keller den Fortbestand von Besatzung und Krieg, wofür er ein Medium braucht. Er betreibt einen Minisender, der täglich 'Lili Marleen' und ähnliche Botschaften in den Keller schickt. Das geht jahrzehntelang gut. Die Eingeschlossenen finden ihr propagandagestütztes Leben ganz prima. Funktionär Marko rückt in die Riege von Titos Spitzenfunktionären auf, ein bisschen Waffenschieberei bleibt auch noch zu erledigen. Doch dann 'nimmt Tito das Geheimnis der Einheit Jugoslawiens' mit ins Grab. In die historischen Dokumentaraufnahmen von den Trauerfeierlichkeiten wird Held Marko einkopiert. Wir sehen ihn neben Helmut Schmidt und Kurt Waldheim die Trauerparade abnehmen, wozu alle Strophen des unausweichlichen 'Lili Marleen' erklingen – eine offensichtliche Mehrfachinszenierung.

Vor einem solchen pompös-komischen und unverstellt liebevollen Bild glaub ich gleichwohl: Die satte Wahrheit findet sich in der Inszenierung dieses prallen, lügenhaften Festes, das uns 'Underground' auftischt.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 11/1995

Holidays by the Sea

(F 2011, Regie: Pascal Rabaté)

Ungeordnete Triebe
von Wolfgang Nierlin

Was hat die Großaufnahme einer Schnecke im Vordergrund des Bildes mit dem verbissenen Wettrennen zweier Golfmobils (15 km/h) im Hintergrund zu tun, das sich vor der Kulisse eines gigantischen Industrieparks …

Was hat die Großaufnahme einer Schnecke im Vordergrund des Bildes mit dem verbissenen Wettrennen zweier Golfmobils (15 km/h) im Hintergrund zu tun, das sich vor der Kulisse eines gigantischen Industrieparks abspielt? Konkurrenzkämpfe und heimliche Leidenschaften, die Ordnung des Lebens und die Unordnung der Triebe bestimmen das obsessive Verhalten der Figuren in Pascal Rabatés Film „Holidays by the Sea“. Und weil seine stumme Komödie im französischen Original den etwas paradoxen, aber politisch anspielungsreichen Titel „Ni à vendre ni à louer“ („Weder zu kaufen noch zu vermieten') trägt, wirkt das versprengte Häufchen von Urlaubern, als sei es in einer merkwürdig entvölkerten Nachsaison gelandet. Am atlantischen Strand ist jedenfalls nichts los, im Hotel „L’Océan“ tummeln sich nur vereinzelt Gäste und im „Supermarché Diagonal“ sind viele Regale leer oder nur spärlich gefüllt, während sein Kassierer mit Lineal und Bleistift den Strichcode auf die Produkte zeichnet.

In den skurrilen Verhaltensweisen der Protagonisten, die Rabaté ins Groteske verzerrt oder ironisch überhöht, lassen sich immer wieder allzu menschliche Wahrheiten entdecken. Dabei lebt der Film des französischen Zeichners vor allem von seinem visuellen, ebenso verspielten wie verrückten Einfallsreichtum. Die Staffelung des Bildraums, seine Erweiterung durch das Wechselspiel von On und Off, Großaufnahme und Totale sowie die episodische Struktur der einzelnen Geschichten, die sich mitunter berühren oder überschneiden, erzeugen immer wieder einen visuellen, geradezu surrealen Witz und nicht selten schwarzen Humor. In einer Art erzählerischem Staffellauf und unter Verzicht auf Dialoge konzentriert sich Pascal Rabaté dabei auf den nackten Kern von Handlungen. In all dem ist sein Film ästhetisch verwandt mit den Arbeiten seiner Kollegen Jacques Tati, Pierre Étaix und Alex van Warmerdam.

Die Ab- und Umwege des Sexualtriebes sind das zentrale stoffliche Element dieses sommerlichen Ferienfilms der etwas anderen Art. So findet sich ein Masochist im Leder-Outfit, im Rollenspiel ans Bett gekettet, dann aber von seiner Domina verlassen, plötzlich in einer ganz realen Gefangenschaft. In einer anderen Episode kommen sich ein Mann (Jacques Gamblin) und eine Frau (Maria de Medeiros) auf der Jagd nach einem vom Wind fortgetragenen Drachen mit anhängender Halskette näher und landen dabei in einem Nudisten-Camp, während sich ihre jeweiligen Partner sexuell miteinander vergnügen. Parallelen, die zu Verwechslungen führen und Kontraste, die das Absurde sichtbar machen, strukturieren auch die anderen Geschichten, in denen es um Liebe, Sex und Tod geht und in denen die Spannung von Ordnung und Chaos zu einem echten Sturm, zu Eruptionen und Implosionen führt. Trotz allem oder gerade deshalb lautet das ganz und gar ironische Fazit des Films, gesungen von Mike Brank: „Les vacances à la mer, c’est super!“ Ferien am Meer sind einfach klasse.

A Gang Story

(F 2011, Regie: Olivier Marchal)

Odds Against Tomorrow: Les Lyonnais
von Harald Steinwender

Eine Gang-Story, keine Polizisten-Geschichte. Der ehemalige Polizist, Drehbuchautor und Regisseur Olivier Marchal wechselt die Seiten: von seinen staatlich sanktionierten Gewalttätern, die eigentlich das System stützen sollen und doch irgendwann im …

Eine Gang-Story, keine Polizisten-Geschichte. Der ehemalige Polizist, Drehbuchautor und Regisseur Olivier Marchal wechselt die Seiten: von seinen staatlich sanktionierten Gewalttätern, die eigentlich das System stützen sollen und doch irgendwann im korrupten Apparat anecken, so sehr über die Stränge schlagen und Sand ins Getriebe werfen, dass sie zu Outcasts werden, hin zu denen, die von Anfang an draußen sind und mit kriminellen Mitteln gegen die herrschende Ordnung opponieren. Doch was ändert sich mit dem Wechsel vom Polizeifilm (bzw. Polizistenfilm) zum Gangsterfilm? Nicht viel. Das ist kein Wunder, hat Marchal doch als Chronist der Schattenseiten des Flic-Daseins seine Polizeistücke stets in Schwarz gemalt, ohne jede Hoffnung und einzig im Glauben an das Scheitern seiner Protagonisten. Da ist es nicht weit zum Gangsterfilm, dessen Protagonisten laut Robert Warshow stets dem Untergang geweiht sind. Und Marchal ging schon in seinen Polars sehr weit. In 'Gangsters' (2002) erweisen sich die titelgebenden Gangster allesamt als Polizisten, '36 – Quai des orfèvres' ('36 – Tödliche Rivalen'; 2004) beginnt bereits mit dem gequälten Schrei eines Polizisten, der von den korrupten Kollegen im Knast lebendig begraben wurde, 'MR 73' (2008) ist der Polizeifilm im Fegefeuer, die Welt eine Bosch’sche Höllenvision, bevölkert von Serienmördern, Psychopathen und deren Opfern. Einzig im Blutbad konnten diese Geschichten enden. Marchals Kino ist ein Kino der Verdammten, die blindwütig gegen die falsche Ordnung und die bornierten Regeln des Betriebs anrennen.

Auch für die Gangster in 'Les Lyonnais' gibt es keine Erlösung, kein Vergeben und Vergessen. Auch sie sind gefangen in einem autoritären Männerbund, der sie zugleich beschützt wie zerstört. Selbst im Ruhestand bedroht den Gangster seine Vergangenheit: 'Aged 20. I didn’t know it, but it’s already too late. Your fate is set. … Your past’s your flesh and blood. And in the end it drags you down', räsoniert der noch namenlose Protagonist auf der Voice-over, bevor die Titel auf der Leinwand erscheinen. Kein Ausweg, nirgends, keine Hoffnung, nicht einmal in einem Film, der mit einer Taufe und einem großen Familienfest beginnt, das mit Authentizität und Liebe zum Detail in Szene gesetzt ist und den Familienmythos aus Coppolas 'The Godfather' ('Der Pate'; 1972) zitiert.

Edmond 'Momon' Vidal (Gérard Lanvin) ist dieser Mann, den seine Vergangenheit einholen wird. Ein alternder Gangster, modelliert nach dem echten Edmond Vidal, der in Lyon Anfang der 1970er Jahre mit seiner multiethnischen 'Gang des Lyonnais' einige spektakuläre Raubüberfälle durchgeführt hatte und von dessen Autobiografie sich Marchal und sein Kodrehbuchautor Edgar Marie inspirieren ließen. Gérard Lanvins Momon hat sich zur Ruhe gesetzt, sitzt, wie die Polizisten hoffen, nur noch in Kneipen herum, trinkt und spielt Boule Lyonnaise, den Sport der alten Männer. Momon ist ein massiger Kerl, der Bauch spannt sich unter dem Hemd, der graumelierte Henriquatre-Bart im bronzefarbenen Gesicht verleiht ihm Züge eines Renaissancefürsten, seine raumgreifenden Gesten und Bewegungen sowieso. Er ist ruhig und bestimmt, reflektiert und besonnen. Und doch strahlt er eine unterschwellige Aggression aus. Tatsächlich braucht es nicht lange, bis er in 'Les Lyonnais' einem nichtsnutzigen Junggangster mit einer dieser silbern glänzenden Boule-Kugeln beinahe den Schädel einschlägt. Trotzdem: an der Eskalation und der Rückkehr zum gewalttätigen Gangstertum hat er kein Interesse. Wie Marchals Bullen will er das Richtige und bewirkt stets das Falsche. Wie die Cops folgt auch Marchals erster Gangsterprotagonist einem archaischen Code, den er über alles stellt, auch wenn er längst weiß, dass falsch verstandener Stolz in den Tod führen kann. Und vorher wird er alles, was er liebt, und jeden, den er liebt, verlieren. 'Les Lyonnais' ist die Sorte Film, in der ein Protagonist sagt, er liebe seinen Hund sehr, und man ahnt gleich, dass das Tier bald abgeschlachtet werden wird.

Für Momon, dem Gangster aus der ärmlichen Roma-Siedlung, der sich mit Gewalt hochgekämpft hat und nun so viel besitzt, dass er angreifbar geworden ist, gilt wie schon für Al Pacinos alternden Paten in Coppolas 'The Godfather: Part III' ('Der Pate – Teil III'; 1990): 'Every time I’m out, they pull me back in.' Serge Suttel (Tchéky Karyo), ein Jugendfreund, der sich 13 Jahre versteckt gehalten hat, kehrt aus dem Untergrund zurück. Er war vor der Polizei abgetaucht und hat sich mit üblen Gestalten eingelassen, gemordet, mit Drogen gehandelt und sich einige einflussreiche Feinde gemacht. Nun entscheidet er sich am Tag der Taufe von Momons Enkel, seine leibliche Tochter zu besuchen, um die sich der alte Freund kümmert. Dabei wird er sogleich von Kommissar Brauner (Patrick Catalifo) und einem Polizeirollkommando niedergerungen. Im Knast wird es der Alte nicht lange machen, das ist Momon klar. Doch da er seiner Frau zuliebe der Gewalt abgeschworen hat, überlässt er die Aufgabe, Serge rauszuhauen, einigen jungen Heißspornen. Das Resultat, wie nicht anders zu erwarten: Ein Massaker. Und der Auftakt einer Serie von Gewalt und Gegengewalt, die Marchal ebenso konsequent wie kompromisslos auf das bittere Ende hin inszeniert.

Bezugspunkt dabei ist, wie schon in Marchals vorangegangener Polizeifilmtrilogie, die Filmgeschichte: Von Melvilles Gangsterfilmen, vor allem 'Le doulos' ('Der Teufel mit der weißen Weste'; 1962) und 'Le cercle rouge' ('Vier im roten Kreis'; 1970), die Stilisierung und die aufs Wesentliche begrenzte Inszenierung. Als Hommage à Coppola die inhaltlichen Verweise auf die 'Godfather'-Trilogie. Von José Giovanni das Existenzialistische und das Einfühlungsvermögen in den Kriminellen, der immer auch Produkt seiner Umwelt ist. Und natürlich von Leone die Art, wie Marchal virtuos drei Zeitebenen miteinander verwebt, dazu Zeittransitionen zwischen Jugend, Erwachsensein und Alter seiner Protagonisten vollzieht und zugleich den Mythos Männerfreundschaft entzaubert. Wenn der alte Momon sich an seine Jugend erinnert, dann verfährt Marchal wie Leone in 'Once Upon a Time in America' ('Es war einmal in Amerika'; 1984) mit Noodles (Robert De Niro) und dessen verschlungener recherche du temps perdu: der Wechsel in die Vergangenheit wird stets durch Matchcuts vollzogen oder von bedeutsamen Großaufnahmen eingeleitet, über die Grenzen der Zeit hinweg tauschen Momon und Serge Blicke aus, eine Schuss-Gegenschuss-Einstellung überbrückt schon einmal mehrere Dekaden.

Allen Zitaten und der ausgestellten Allusionstiefe zum Trotz ist 'Les Lyonnais' keinesfalls rückwärtsgewandt, sondern Bestandteil des gegenwärtigen postklassischen Noir-Kinos aus Frankreich, das Marchal mit seinen Filmen und seinen Drehbucharbeiten ganz maßgeblich beeinflusst hat. Tatsächlich sind die Franzosen aktuell neben den Südkoreanern die einzigen, denen es immer wieder gelingt, Genrekino im Geist der wilden 1960er/70er Jahre zu inszenieren – in Serie und höchst populär. Nicolas Boukhriefs 'Le convoyeur' ('Cash Truck'; 2004) und Gardiens de l’ordre' ('Off Limits'; 2010), Jacques Audiards 'De battre mon coeur s’est arrêté' ('Der wilde Schlag meines Herzens'; 2005) und 'Un prophète' ('Ein Prophet'; 2009), Fred Cavayés 'Pour Elle' ('Ohne Schuld'; 2008), Jean-François Richets 'L’instinct de mort' ('Public Enemy No.1 – Mordinstinkt'; 2008) und 'L’ennemi public n°1' ('Public Enemy No.1 – Todestrieb'; 2008) sowie Gilles Béhats 'Diamond 13' ('Diamant 13'; 2009) und Frédéric Jardins 'Nuit Blanche' ('Sleepless Night'; 2011) sind nur einige Beispiele einer Erneuerung des europäischen Genrekinos, wie sie in Deutschland völlig undenkbar erscheint. Vielleicht ist das der Grund, warum diese großartigen Filme bei uns fast nie auf der großen Leinwand zu sehen sind. Keine einzige Regiearbeit Marchals hatte in Deutschland einen Kinostart. Wer genug von der Beschränktheit der deutschen Verleiher hat, kann sich jetzt schon einmal 'Les Lyonnais' aus Frankreich als Blu-ray (mit englischen Untertiteln) bestellen. Es lohnt sich – der Film wächst mit jeder Sichtung. Eine Alternative hierzu bietet das 'Fantasy Filmfest', das zwischen dem 21. August und dem 13. September 2012 in sieben deutschen Großstädten stattfindet, und dessen Macher sich lobenswerterweise entschlossen haben, Marchals Film zu zeigen. Im Oktober folgt die deutsche DVD- und Blu-ray-Auswertung via EuroVideo.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Splatting Image #90, Juni 2012

The United States of Hoodoo

(D 2012, Regie: Oliver Hardt)

Some Deep New Orleans Shit
von Andreas Busche

Jeder Streifzug durch die amerikanische Geschichte des Voodoo führt zwangsläufig über New Orleans: The Big Easy, Stadt der guten und bösen Geister, wo die Lebenden in den Straßen ihre Toten …

Jeder Streifzug durch die amerikanische Geschichte des Voodoo führt zwangsläufig über New Orleans: The Big Easy, Stadt der guten und bösen Geister, wo die Lebenden in den Straßen ihre Toten zelebrieren. Und natürlich führt kein Weg vorbei an „Treme“, der neuen HBO-Serie des „The Wire“-Erfinders David Simon über das Leben in New Orleans nach Katrina. „Treme“ ist auch für Musikfans eine kleine Offenbarung, weil die Serie aus dem schillernden Repertoir lokaler Straßenmusiker, Blues-Prediger und Szene-Größen schöpft, die in unbezahlbaren Cameo-Auftritten ein Stück marginalisierter Musikgeschichte verkörpern. In der zweiten Episode zieht die New Orleans-Legende Coco Robicheaux vor den Augen eines Radiomoderators (Steve Zahn) ein Huhn aus dem Sack und schneidet dem Federvieh unter rituellen Beschwörungen den Hals durch. “Some deep New Orleans shit,” wie Zahn das Opfer lapidar kommentiert.

Tremé ist schon immer die erste Adresse für “deep New Orleans shit” gewesen. Der Stadtteil westlich des French Quarter stellt mit seinem ureigenen Synkretismus aus Aberglaube, Magie und westlichen Hochreligionen, europäischer, afrikanischer und karibischer Musiktraditionen, Voodoo und Southern Gothic, Fried Chicken und Gumbo, so etwas wie einen genuin amerikanischen Schmelztigel dar. Hier erfand Jazz-Legende Jelly Roll Morton in den Puffs von Storyville sein Maschinengewehr-Pianospiel; und in einer dieser düsteren Seitenstraßen soll es sich auch, so überliefert es der Musikanthropologe Alan Lomax, zugetragen haben, dass dessen Patentante, eine Expertin in schwarzer, kreolischer Magie, die Seele Mr. Mortons dem Teufel anbot. Jazz und Voodoo, das war von Beginn an eine fruchtbare Verbindung. Nach dem Ende des Bürgerkriegs hatten sich die befreiten Sklaven die zurückgelassenen Instrumente der Dixie-Marschkapellen geschnappt und auf dem Blech mit ihren Heiligen kommuniziert. Jazz war die säkularisierte Form der spirituellen Musik ihrer afrikanischen Vorväter. Mit allem Hokuspokus, der dazu gehörte.

Natürlich landet ein afro-amerikanischer Schriftsteller auf der Suche nach den Wurzeln seiner eigenen Spiritualität früher oder später in New Orleans. Darius James hat seine Affinität zu “Hokuspokus” aller Art bereits in den frühen neunziger Jahren unter Beweis gestellt. In seinem Kultroman “Negrophobia” erlebte die neureiche, blonde, sexgeile Teenagergöre Bubbles einen fantasmagorischen Trip durch das Spiegelkabinett des amerikanischen Rassismus. Von der schwarzen Haushälterin mit einem Voodoo-Fluch belegt, fällt sie durch das halluzinogene Raum/Zeit-Kontinuum einer afro-amerikanischen Figurentypologie. Hier begegnet sie cracksüchtigen Homeboys, dem Trickster Uncle Rap Ramus, Dr. Mengele Duck, dem Elvis Zombie und anderen popkulturell kodifizierten und deformierten Cartoongestalten. Spirituell war das vielleicht noch etwas unausgegoren, auf eine hochgradig delirante Weise aber erleuchtet.

Seine ersten tiefergehenden spirituellen Erfahrungen machte James Jahre später durch den Tod seines Vaters. Im dessen Nachlass stößt er zu seiner Überraschung auf eine Sammlung afrikanischer Masken. Hatten die Kultobjekte für seinen Vater etwa eine religiöse Bedeutung? Und in welcher Weise leben Ausdrucksformen afrikanischer Spiritualität in der gegenwärtigen amerikanischen Gesellschaft fort? Diese Fragen sind der Ausgangspunkt von Oliver Hardts Dokumentation “The United States of Hoodoo”, die Darius James auf seiner Spurensuche durch die Vereinigten Staaten begleitet. In New Orleans wohnt er einer Voodoo-Zeremonie bei. Und ein befreundeter Schamane erklärt ihm, warum Symbole und mythische Figuren afrikanischer Provenienz in den Überlieferungen amerikanischer Ureinwohner zu finden sind. Die Sklaven hatten sich mit den eingeborenen Amerikanern gegen die weißen Unterdrücker verbündet. Und die Europäer fürchteten, nicht zu Unrecht, die geballte Macht des Juju und des Animismus der indigenen Medizinmänner. Ende des 18. Jahrhunderts zettelten afrikanische Sklaven auf Haiti – angeblich mit Hilfe von Voodoopriestern – einen Aufstand gegen die französischen Kolonialisten an und vertrieben sie von der Insel. Rituale, eine Erkenntnis aus der christlichen Religionssoziologie, erzeugen Macht.

Diese Angst hat der weiße Mann bis heute nicht überwunden. Als Haiti vor zwei Jahren von einem Erdbeben verwüstet wurde, wetterte der Fernsehprediger Pat Robertson, das Erdbeben wäre Gottes Strafe für das haitianische Volk, das sich zweihundert Jahre zuvor mit dem Teufel verbündet hätte. Mit seinem Kommentar empfahl Robertson sich nebenbei auch für eine Rolle in Darius James’ nächstem Roman. Robertsons Tirade vereinte alle Klischees, die im westlichen Kulturzusammenhang bis zum heutigen Tag mit dem Begriff “Voodoo” assoziiert sind. 1929 reiste der amerikanische Okkultist William Seabrook nach Haiti, um die religiösen Bräuche der Einheimischen zu erforschen. Seinen Reisebericht “The Magical Island” verfilmte Hollywood drei Jahre später als Horrorfilm: “White Zombie” von Victor Halperin.

James versteht afrikanische Spiritualität weder als primitiven Volksglauben noch als festgeschriebenen Katechismus (weswegen der Filmtitel auch eine Abgrenzung zum traditionellen Voodoo-Begriff vornimmt), sondern als Seismograf einer bewusstseinserweiterten Realitätsauffassung – und somit auch als einen bilateralen, postkolonialen Diskurs im Sinne von Paul Gilroys “Black Atlantic”. Eine Schnittstelle von körperlicher und geistiger Welt, symbolisiert im Kreuzzeichen der Heiligenfigur Legba. (Auch Robert Johnson verkaufte seine Seele bekanntlich an einer Straßenkreuzung) Eine intelligente Energie, wie die Voodoo-Priesterin Sallie Ann Glassman es im Film nennt, als Orientierungshilfe für ein holistisches, moralisch verantwortliches Handeln. Und notfalls eben auch als strategische Waffe. In Ishmael Reeds “Mumbo Jumbo” (1972) nahm diese Spiritualität eine virale Gestalt an: Jes Grew war eine “Krankheit”, hervorgegangen aus der Polyrhythmik westafrikanischer Yoruba-Musik, Jazz, afro-karibischer Magie und der politischen Dynamik der Bürgerrechtsbewegung, die sich als eine Art Besessenheitstanz rasant unter der schwarzen Bevölkerung ausbreitete.

Reed kommt in “United States of Hoodoo” gewissermaßen als Stimme der Vernunft zu Wort. Er sieht in afrikanischer Spiritualität, ausgehend von der “schwarzen Erfahrung” der Sklaverei über die geschichtsbewussten Improvisationen im Jazz bis hin zu den religiösen Ursprüngen der Bürgerrechtsbewegung, die Grundlage für eine zeitgemäße Interpretation von Religion. Erst wenn sich der Mensch von allen kirchlichen Dogmen befreit habe, sei sein Geist offen für eine höhere spirituelle Erfahrung. Oder wie Darius James es auf seine unnachahmliche Weise formuliert: Unter Einfluss einer authentischen Voodoo-Erfahrung wird das menschliche Bewusstsein außer Kraft gesetzt. Eigentlich eine verlockende Vorstelllung. Mir jedenfalls fallen auf Anhieb ein paar Personen des öffentlichen Lebens ein, die von einer Voodoo-Behandlung geistig profitieren würden.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/12

[Link zu einer weiteren Filmkritik]

Die Ausbildung

(D 2011, Regie: Dirk Lütter)

Naiver Täter
von Wolfgang Nierlin

„Clean-desk-Policy“ lautet einer der modernen Arbeitsplatzgrundsätze in dem hellen, auf Transparenz zielenden Großraumbüro einer Firma für Klimatechnik. Wenn die Mitarbeiter, die hier für die Werbung und Betreuung von Kunden zuständig …

„Clean-desk-Policy“ lautet einer der modernen Arbeitsplatzgrundsätze in dem hellen, auf Transparenz zielenden Großraumbüro einer Firma für Klimatechnik. Wenn die Mitarbeiter, die hier für die Werbung und Betreuung von Kunden zuständig sind, nach Arbeitsschluss ihren Laptop samt Headset und ein paar wenigen Akten in einem sogenannten „Pilotenkoffer“ verschwinden lassen und diesen dann beim Verlassen des Büros in einem Regal deponieren, ist der Raum leer und seine gedämpfte Atmosphäre verwandelt sich in eine unheimliche Stille. Nichts Persönliches bleibt zurück, als würde hier auf Abruf oder nur vorübergehend gearbeitet werden. Und diese Abwesenheit individueller Spuren korrespondiert dabei nicht nur mit der zunehmenden Abstraktion von Arbeit, die ihren Inhalt durch ein System von Funktionen ersetzt hat, sondern auch mit den Mechanismen der Kontrolle, die sich ebenso subtil wie perfide den Mitarbeitern einschreiben. Denn die hierarchischen Machtstrukturen haben sich keinesfalls in den äußerlichen Leerstellen einer nur vorgetäuschten Wirklichkeit verflüchtigt; ihre Träger und Repräsentanten geben sich nur offener, geschmeidiger, toleranter und vertraulicher.

An diesem Punkt setzt Dirk Lütters beindruckender Film „Die Ausbildung“ mit seiner radikalen Verschränkung von Form und Inhalt ein. In streng kadrierten Bildern, mit distanziertem Beobachterblick und den Wiederholungsschleifen rhythmisierter Arbeitsprozesse und ebenso durchorganisierter Freizeitgestaltung, wird die Arbeitswelt zu einem entpersönlichten, fortwährend überwachten Gefängnis. Abweichung oder Funktionsuntüchtigkeit werden gnadenlos bestraft, weshalb die Angst davor zu einem enormen Anpassungsdruck und einer gravierenden Selbstdisziplinierung führt. Das bekommt gleich zu Beginn der etwa 20-jährige Auszubildende Jan Westheim (Joseph K. Bundschuh) zu spüren, der in einem Gespräch mit seinem Vorgesetzten Tobias Hoffmann (Stefan Rudolf), einer Gewerkschaftsvertreterin (Anja Beatrice Kaul), die zugleich seine Mutter ist, und der Abteilungsleiterin Susanne (Dagmar Sachse) sein Leistungsprofil und eine etwaige Übernahme in die Firma bespricht. Aber eigentlich ähnelt die Situation eher einem Verhör, das den Kandidaten suggestiv zwingt, sich selbst zu evaluieren und eine Fehleranalyse zu betreiben.

Die Pflicht zur eigenverantwortlichen Selbstoptimierung steht hinter dem scheinbar neutralen, Machtlosigkeit vortäuschenden Statement des Chefs: „Die Zahlen entscheiden.“ Um seiner offenen Forderung nach einer Leistungssteigerung Nachdruck zu verleihen, fördert Tobias versteckt Konkurrenzdenken und Mobbing, wobei ihm befristete Arbeitsverträge und Kündigungsdrohungen zusätzlich als strukturelle Druckmittel dienen. Mit der nicht zuletzt aufgrund privater Probleme überforderten Susanne hat er auch schon eine Schwachstelle im System ausfindig gemacht. Indem er Jan auf sie „ansetzt“, entsteht ein unterschwelliges Abhängigkeitsverhältnis. Dieses wird noch verstärkt, als sich Jan in die gleichaltrige Zeitarbeiterin Jenny Bolewski (Anke Retzlaff) verliebt und sich bei Tobias auch für ihre berufliche Zukunft engagiert. So wird Jan, dessen Charakter in diesem schwierigen und zugleich widersprüchlichen Spannungsverhältnis als schwankend, ungefestigt und passiv beschrieben wird, zu einer Art naivem Täter. Wenn er nach Feierabend im eigenen Auto den Geschwindigkeitsrausch sucht, in Einkaufszentren unterwegs ist oder viel Wert auf Kleidung und Körperpflege legt, erscheint er als typischer Vertreter einer Konsumentengeneration. Und doch gibt es bei ihm immer wieder auch kurze Momente eines nachdenklichen Zögerns, eines mitfühlenden Innehaltens und einer fast unmerklichen Sabotage, die als Zeichen eines erwachenden Bewusstseins den beängstigenden Konformismus der gar nicht schönen neuen Arbeitswelt zumindest in Frage stellen.

Track 29 – Ein gefährliches Spiel

(GB 1988, Regie: Nicolas Roeg)

Alltagskrisen
von Dietrich Kuhlbrodt

Regisseur Nicolas Roeg und Drehbuchautor Dennis Potter führen in ihrem neuesten Film, der Mitte Januar in der Bundesrepublik startet, Hör- und Sehgewohnheiten vor, dass einem Hören und Sehen vergeht Ein …

Regisseur Nicolas Roeg und Drehbuchautor Dennis Potter führen in ihrem neuesten Film, der Mitte Januar in der Bundesrepublik startet, Hör- und Sehgewohnheiten vor, dass einem Hören und Sehen vergeht

Ein Film, den man hemmungslos empfehlen kann. Einsteigen in den Chattanooga Choo Choo. Abfahrt bekanntlich Gleis 29. 'Pardon me, boy, is this the Chattanooga Choo Choo? Yes, yes! Track 29! All aboard!' Musik (Harry Warren) und Text (Mack Gordon) dieser Nummer aus dem Jahr 1941. Auch die anderen Hits sind aus der Zeit von Urahne, Großmutter, Mutter und Kind: 'M.O.T.H.E.R.' (Theodore Morse und Fiske O.Hara, 1915), 'When The Red Red Robin Comes Bob Bob Bobbin‘ Along' (Harry Woods, 1926), 'Young At Heart' (John Richards und Carolyn Leigh, 1954), 'Mother' (John Lennon, 1971). Die Songs, voll gepackt mit Emotionen und Lebensweisheiten, Anklagen und Ermutigungen, appellieren ans Gemüt dieser amerikanischen Normalstbürger, die in mehr oder minder dumpfer Stube versammelt sind. Ein traumatisches Emotionaldefizit: 'Mother, you had me, but I never had you, I wanted you, but you did’nt want me' (John Lennon). Empfehlung: 'Engstirnigkeit vermeiden, über Alpträume lachen. Das Unmögliche wa`gen, zum Äußersten gehen – to be young and high' (Carolyn Leigh).

Der Alltag im kleinstädtischen North Carolina – gedreht ist der Film in Wilmington und Wrigthsville Beach – ist normal, typisch amerikanisch, eben Horror, Alptraum, Engstirnigkeit. Wieder wird Linda (Theresa Russell) von ihrem Gatten abgefertigt, wenn sie den Wunsch, begattet zu werden, signalisiert: 'Das ist nicht möglich, Linda', sagt Dr. Henry Henry (Christopher Lloyd), Oberarzt der gerontologischen Abteilung im städtischen Krankenhaus. Dann setzt er zur Attacke gegen die unmöglichen Frauenwünsche an, nämlich seine Modelleisenbahnanlage in Betrieb, er schiebt eine Diskette ein: 'All aboard', und dann jagt der häusliche Chattanooga Choo Choo durch die Zimmer, dass es der armen Linda ein Alptraum ist. Empfehlenswert ist in dieser Situation ein großer terroristischer Anschlag.
Kaum gedacht, schon gezeigt. Der Film verhilft ihm zu blutiger Realität, genauer gesagt: der junge Martin (Gary Oldman) tritt in Aktion, ein Zugereister aus dem fernen Engelland, eine unmögliche Kombination von Sohn, Liebhaber und Rächer. Wenn er mit seinen starken Fäusten die Modellwagons zerquetscht, teure Sammlerstücke, fließt rotes Blut heraus. Aber möglicherweise ist der starke Mann nur eine neue, bisher unterdrückte Seite von Linda, denn als sie das Äußerste wagt und mit dem langen Küchenmesser nach oben geht, wo Gatte Dr. Henry am zentralen Eisenbahnschaltpult Regie führt, sieht man den jungen Martin eben dieses Messer schwingen. Splitternackt springt er bzw. sie dem Doktor an die Brust und stößt die Klinge tief in den Rücken, dass das Blut durch die Decke tropft. Lachend, young and high setzt sich Mutter Linda keck einen unmöglichen Hut auf, weiß mit großen schwarzen Punkten, startet ihr Kabriolet und bloß weg aus Wilmington.

Ich könnte schwören, daß ich diese Szene schon in einem Film gesehen habe. Aber in welchem? Keine große Schwierigkeit war es, Martins Mutter, 'a cleaning woman', im Kultfilm 'Tote tragen keine Karos' zu finden. Und wenn Martin mit seinen groben Affenhänden nach den Choo-Choo-Zügen greift, wie sie grade über die Hängebrücke fahren, dann ist das King Kongs schiere Kinowirklichkeit. Martin, der Retter, scheint jedoch auch aus den unendlichen Mysterien des Kosmos zu kommen, einer TV-Serie aus dem ewig laufenden Fernseher entsprungen. Einen SF-Helden menacing reality kündigt eine off-Stimme im TV-Gerät an. Linda hört mit einem Ohr hin; die Realität, in der sie lebt, kann gar nicht genug bedroht werden. Und schon ruft es grausig und hilfeflehend im Weltenraum: 'Mami, Mami', und ein Kind sucht seine Mutter. Später sind es Filmsequenzen auf dem Monitor, deren Handlung Linda aufgreift und weiterführt, wie zufällig. TV-Comic-Strips erlauben Bildverkürzungen und sprechende Nahaufnahmen. Linda sieht sich als Fünfzehnjährige wieder auf dem Jahrmarkt im Elektroscooter. Hinter ihr steht einer im Wagen. 'Blitzelblitzel' macht der Kontaktschleifer an der Decke. Die Großaufnahme erzählt die erste – böse – Liebesgeschichte. Für die, die Comics gelesen haben, also für alle.

Kurzum, 'Track 29' ist eine schrille Horrorkomödie. Und eine satte antiamerikanische Satire. Und ein mediales Kunstwerk ohnegleichen. Weil zum erstenmal konsequent und intelligent und souverän mit den Hör- und Sehgewohnheiten derjenigen operiert wird, die den Film hören und sehen – , so wenig konsequent und intelligent und souverän diese Rezeptionsformen sein mögen. Aber sie sind inzwischen selbst Realität geworden, haben sich an die Stelle dessen gesetzt, was wir äußere Wirklichkeit nennen. Regisseur Nicolas Roeg ('Wenn die Gondeln Trauer tragen', 'Castaway') ist es mit Hilfe eines überaus erfindungsreichen Drehbuchs (Dennis Potter) gelungen, die neue (mediale) Wirklichkeit operabel, für den einzelnen handhabbar zu machen und durch eine subversive Ästhetik die konservativen Lebensformen zumindest in North Carolinas Kleinstädten grinsend-grimmig zu attackieren. Wer den ganzen Tag den TV laufen lässt und eine Musi-Kassette nach der anderen einwirft, dem kann man nicht mit schlauen Diskursen kommen und mit sauberer Argumentation. Roeg und Potter haben stattdessen in 'Track 29' Hör- und Sehgewohnheiten vorgeführt, hör zu, sieh zu, die Dekoration, die Schauspieler, die Montage und Collage sind wichtiger als die Literatur und der explizierende Dialog. Verbal wird uns in diesem Film am wenigstens erzählt, und das unterscheidet ihn auf das Angenehmste von all diesen amerikanischen Filmen, in denen uns erklärt wird, was wir nicht gesehen und gehört haben und was wir infolgedessen nicht glauben können.

'Track 29' ist ein in US-Amerika produzierter Film, aber eine ziemlich Un-American activity. Ich würde sagen: very British. Erstens wegen Martin. Im Hämburger Place stellt er sich vor: 'My name is Martin. I’m from England', um festzustellen, dass er sich an diesem Ort nicht verständigen kann, jedenfalls nicht verbal über die Frage, wie er die Spiegeleier haben will. Autor Potter ist Brite, und er hat eingestandenermaßen in 'Track 29' den Kulturschock verarbeitet, den ihm Anfang des Jahrzehnts Los Angeles bereitet hatte: 'Das ist eine Stadt, die nicht nur physische Hässlichkeit kennzeichnet, sondern auch ein akuter geistiger Terror. ‚Track 29‘ spielt in einer Kultur, die die Menschen nur allzu leicht ihrer Identität beraubt'. Nicolas Roeg und Hauptdarstellerin Theresa Russell ('Die schwarze Witwe'), verheiratet, leben in London. Von hier aus verkündet Roeg sein Credo, dass 'Kino die Kunstform unserer Zeit ist' und dass er mit diesem Mittel 'Barrieren durchbrechen will'. Ehefrau Theresa Russell hatte sich bereits 1979 bei der Aufdeckung des Watergate-Skandals engagiert. In 'Blind Ambition', einem Film der auf John Deans Enthüllungen basierte, spielte sie die weibliche Hauptrolle.

Die britische Antwort auf den American Way of Life liefert am anschaulichsten und eindrücklichsten der Martin-Darsteller Gary Oldman, der zuletzt in 'Prick Up Your Ears' von Stephen Frears zu sehen gewesen ist. Ein hochtalentierter Schauspieler, der in 'Track 29' gefordert war – in einer Rollen- und Identitätenvielfalt, nämlich in immer neuen Ausgeburten von Lindas deformierter Phantasie. Eine glänzende schauspielerische Performance. Ein sechsjähriger, ungezogener, weinerlicher, trotziger Junge. Ein romantischer Liebhaber. Ein Engländer from Outer Space. Und gleichzeitig immer wieder Linda selbst: die defizitäre Frauenidentität. Rollenwechsel, Rollenspiel und Identitätserprobungen sind die britische Antwort auf Frust, Verkrustung und Stuss des American Way. 'Do you like games, Mami', fragt der junge Mann mit der Stimme des Sechsjährigen und fasst der schönen Linda unziemlich an die Brust. Schau-Spiele. Dann sagt er zu ihr: 'You can kiss me if you want'; aber das ist nicht seine, sondern Lindas Identität, die sich ins Spiel bringt.

'Track 29' ist ein Film des Schauspiels, der Akteure. Sie sind so gut und ungewöhnlich, wie man es sich aus therapeutischen und britischen Gründen nur wünschen kann. Listiger- und tückischerweise ist der Film so angelegt, dass die Schauspieler, sofern sie nicht britisch sind, aus der Rolle des typischen Amerikaners nicht herauskönnen. Zum Beispiel ist dem Dr. Henry Henry der 'Chattanooga Choo Choo'-Song zu weiter nichts als einem perversen Spielchen nütze, nämlich immer demselben. Christopher Lloyd spielt die lustige Masoszene mit derselben Mimik, wie er sie als Sado-Nazirichter im 'Falschen Spiel mit Roger Rabbit' zur Schau stellte. In 'Track 29' wird uns der Hit von 1941 wieder abgewöhnt, wenn Schwester Stein (Sandra Bernhard, mein Gott: seht Euch dieses Antlitz an!) die sterilen, aber roten Handschuhe überstreift und mit Inbrunst sowie im Takt auf den bloßen Oberarzthintern schlägt, dass die Lustschreie gellen und die Patienten auf ihren Rollstühlen aus der Fahrbahn geraten, draußen im Gang.

Christopher Lloyds Mimik ändert sich auch nicht, wenn er in einer großen Szene zum Präsidenten der Modelleisenbahnergesellschaft gewählt wird. Der Trainorama-Auftritt ist öffentlich und die Quintessenz aller TV-Aufnahmen, die wir vom amerikanischen Wahlkampf gesehen haben. Unter dem Union Jack fordert er geistige Disziplin und militärische Zucht. Was hat unsere große Nation zusammengeführt? Die Gleise waren es! (Zurufe, Zuschauer erheben sich von den Plätzen, Frauen heulen vor Rührung) Ich sage, was ich fühle. Wollt Ihr es wissen? (Ja! !) Ich schließe meine Augen. Ein Bild aus alten Zeiten. Wo wir wussten, wer wir waren, wo wir waren und wohin wir gingen. (Euphorische Schreie, orgiastischer Applaus, Luftballons steigen, der Chattanooga Choo Choo fährt ein, besetzt mit Girls, die rhythmisch mit ihren Tambourstäbchen schlagen, und unser Dr. Henry Henry-Darsteller stößt wieder seine Lustschreie aus, es sind die gleichen wie auf dem perversen Operationstisch im Stationstrakt, und es ist auch die gleiche musikalische Nummer. Womit Lloyds Spiel mimisch, aber leicht einsehbar bewiesen hat, dass zwischen privater und öffentlicher Perversität keinerlei Unterschied besteht und der schöne Chattanooga Choo Choo nebst reichster Hör- und Seherfahrung nichts nützt, wenn er lediglich als Reizauslöser für zwanghafte Wiederholungen benutzt wird, eben für den American Way of Life mindestens in diesem North Carolina).

Drehbuchautor Potter, Sohn eines Grubenarbeiters und Labour-Parlamentskandidat in den sechziger Jahren, hat die Konservativismus- und Nationalismusorgie dieses Wahlkampfs kenntnisreich nachempfunden und auf den Höhepunkt getrieben, und Regisseur Roeg hat in den Schauspielerorgasmus Szenen der Zerstörung, der Anarchie und des Umsturzes hineingeschnitten: eine manische, aber verdiente Antwort. Gott sei Dank gibt es King Kong, der Dr. Henry Henrys Lebenswerk plattmacht und seine Lustschreie abwürgt. Jeder, der Kinoerfahrung hat, weiß, wie das geht.

Zum Schluss des Horrortages ruft Linda die Freundin Arlanda (Colleen Camp) zu Hilfe. Arlanda ist unvergesslich, wie sie sich mit dem Papiertaschentuch die feuchten Achseln trocken reibt und im allerneusten Fitnessdress die Hanteln stemmt. Sie hat als typische Amerikanerin nichts gesehen und nichts gehört. Nicht mal den naughty boy Martin kriegt sie mit, selbst wenn sie danebensteht und er mit ihr spricht. Aber nun muss sie wählen. Zwischen der offenbar schwer psychotischen Linda und dem nicht minder geschädigten Gatten. Dr. Henry Henry lässt den Macho raushängen: 'Ich bin ein Doktor! Ich weiß, was ich tue', brüllt er und ohrfeigt seine Frau im Takt der roten Handschuhe, denn 'women and trains don’t mix'. (Ich nehme an, im Kino wird dies eine deutsche Synchronstimme sagen). Arlanda übt daraufhin Frauensolidarität und entscheidet: 'Herr Dr. Henry, Sie sind es, der verrückt ist', womit das amerikanische Upperclassdrama auch als das Drama einer Geschlechterunterdrückung definiert wird. Die Frau, daheim in der perfekten Zivilisation zwischen Massagestab und Swimmingpool, allein und einsam, sie registriert zuerst, dass 'das Leben leer, sinnentleert und zwecklos ist' (Linda). So dass der Aufbruch auf Gleis 29 mit Musik und allerlei Rollenspiel am besten von Frauen betrieben wird, die sich unartige aber liebe Jungs dazuholen, welche andererseits nichts anderes als manifeste feminine Hirngespinste zu sein brauchen. – Stimmt das Fazit? Egal. Einsteigen und abfahren ist immer noch besser als dableiben. In Wilmington.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 01/1989

Stammheim

(BRD 1985, Regie: Reinhard Hauff)

Hauffs Märchen Film
von Dietrich Kuhlbrodt

Wie der Baader den Prinzing zu Fall brachte und andere lustige Streiche aus der Festung Stammheim Ein Schaukampf am Hof des mächtigen Prinzing. Der Baader, obzwar Gefangener, fordert den Burgherrn …

Wie der Baader den Prinzing zu Fall brachte und andere lustige Streiche aus der Festung Stammheim

Ein Schaukampf am Hof des mächtigen Prinzing. Der Baader, obzwar Gefangener, fordert den Burgherrn höchstselbst heraus. Die Turnierregeln schreiben Wortgefechte vor. Hin und her wogt der Kampf. Und da, des Baader geschicktester Streich, fällt der große Prinzing. Erbärmlich nun und komische Figur. Denn er darf nicht mehr mitspielen und schon gar nicht vorsitzen. In der Stammheim-Sprache heißt das: er ist erfolgreich als befangen abgelehnt worden und muss abtreten.

Der Baader, ein junger Siegfried, schiebt sich die blonde Tolle zurück und freut sich des großen Siegs. Da steht er, strahlender Held, in Jeans und offenem Hemd, und schaut auf das Publikum. Die Männer in den schwarzen und roten Roben haben ihre Gewänder sorgsam in Falten gelegt. Und hinten, hinter der Barriere drängen sich die jungen Turniergäste. Kerls in Leder und Frauen mit der kunstvoll frisierten blonden Mähne. So könnten sie 1986 auch im Cafe Daisy in Blankenese sitzen. Und Baader, wie ihn Ulrich Tukur spielt, wäre einer der ihren, Tukur, ein hochbegabter und sehr beliebter Schauspieler, weiß, wie man sich in Szene setzt und wie man den eigenen Mythos schafft. Baader, 'ein ziemliches Schwein, ein Psychopath, ein Verrückter, – ein Mensch, der permanent die Schmerzgrenze überschritt; seine Brutalität, sein kindlicher Charme' (Tukur) wird in der Baader-Rolle als mythische Heldengestalt und als moderner Mensch, der voll im Trend liegt, angelegt. Tukur-Baader, Produkt modernen stylings, lässt sich zweifellos bestens vermarkten. Auch als Held eines Popsongs hätte Baader endlich Aussicht, in die Charts zu kommen. Tukur, freilich, spielt Theater, und Hauff macht aus dem Theater Film. Tukur will Baader 'politische Intentionen hier gar nicht absprechen, aber ich meine, die waren zur Zeit des Prozesses nicht mehr von der überragenden Bedeutung'. Ein wahres Wort.

Baader war zusammen mit seinen Mitgefangenen in Stammheim reduziert auf seine Rolle als Angeklagter, vorgeführt zwecks Ablieferung von Material für die Urteilsfindung. In der Rolle für einen Schauspieler wird Baader mehrmals vorgeführt, diesmal einem für Sprechkünste aufgeschlossenen Theaterpublikum. Und in der Filmvorführung reduziert sich Baader zum dritten Mal, als ästhetische Figur, als Dialoglieferant und als Bedeutungsträger in einer Welt des schönen Scheins. Denn Hauff hat einen gediegenen, redlichen, schönen, ja eleganten Film gemacht, der freilich den Nachteil hat, dass er den Widerstand, von dem so viel gesprochen wird, ästhetisch nicht vermittelt. Glatt, perfekt und supergepflegt sind die Bilder. Diese glauben nicht an das, was Baader, Meinhof, Ensslin, Raspe sagen. Ästhetisch gibt es keinen Widerstand gegen die bürgerlichen Normen. Baader und Meinhof reden ins Leere. Totaler könnte man sie nicht dementieren.

Hauffs Film ist gutgemeint, und er beherrscht das Kunstgewerbe. Aber der Biedersinn fruchtet nichts, im Gegenteil: er schreibt die Strategie der Richter von Stammheim ästhetisch fort und macht aus den Angeklagten, die vor neun Jahren in Stammheim den Tod fanden, heute nature morte, tote Gegenstände, Nippes fürs bürgerliche Interieur. Zum elektronisch verfremdeten Streichquartett gesellt sich ein zager Orgelton. Ulrike Meinhof in gedämpftem Licht. Der Ton blau in blau. Selbst die Farbe ihrer Schreibmaschine passt sich geschmackvoll ein. Das gepflegte Arrangement verrät, dass hier für eine Feier aufgeräumt wurde. Die Totenfeier für Ulrike Meinhof, inszeniert von der Firma Pietät & Takt: ein 'Stammheim'-Stilleben. Und die Ensslin, mit der Geige in der Hand, in der Isolationszelle: sanftes Licht umspielt ihr Antlitz, ihr Blick geht nach innen, Musik – Ja das ist hohe Isolations-Kunst. Ästhetisch sperrt sich nichts gegen diese Szene, im Gegenteil, sie vergoldet das Stammheimer Justizarrangement.

Die Zellen-Szenen ersetzen im Film den Blick hinter die Kulissen. Auf der Bühne selbst, dem Gerichtssaal, wird Theater gespielt, 192 Prozesstage in 107 Filmminuten. Drehbuchautor Stefan Aust hat hierfür das vierte Kapitel aus seinem Buch 'Der Baader Meinhof Komplex' benutzt. – In den Kulissen stellt er anhand von Zellenzirkularen und Briefen, die er zur Verfügung gehabt haben will, gruppendynamische Minispielszenen zusammen. Baader, Meinhof, Ensslin, Raspe – Opfer, die sich nicht mehr wehren können – werden im 'Stammheim'-Film nochmals observiert. Schon damals konnten sie nichts gegen Wanzen und Kameras ausrichten. Heute degradiert sie die bürgerliche Ästhetik des neugierigen Blick-hinter-die-Kulissen zum Gegenstand psychologischen Interesses.

Die Dramaturgie lässt den 'Stammheim'-Schauspielern keine Wahl. Sie müssen vor Gericht auftreten, und dies bühnenwirksam. Das machen sie daher so gut, dass man ihnen nicht glauben kann, was sie sagen,- nämlich dass sie sich im Hungerstreik befänden und verhandlungsunfähig seien. Denn sie sind in bester Bühnenform. Die Schlägereien mit den adretten Polizeibeamten zeugen von gezügelter Spielfreude. Die Kostüme sind gut gewählt, alles clean und propper. Wie sie das alles in 2 1/2 Wochen Drehzeit hingekriegt haben! Alles paletti! Alles Film! Alles frisch!

Das überschnelle, aber gut artikulierte Sprechen der Schauspieler verrät die meisterhafte Beherrschung von Bühnentechnik. Auch der Ton ist makellos. Freilich bedarf es einiger Anstrengung, die Inhalte aufzunehmen. Müheloser ist es da schon, den Weg in die psychische Entgleisung nachzuvollziehen. Man braucht dann nur noch hinzusehen. Drum kann sich der hervorragende Schauspieler Ulrich Pleitgen an die Rampe spielen. Er macht die Rolle des Vorsitzenden Richters Prinzing zu einem Kabinettstück. Als Gegenspieler von Tukur-Baader wird er aufgewertet. Schließlich geht es im 'Stammheim'-Film nur noch um ihn. Fällt er, fällt er nicht? Eine bange Frage. Die Dramaturgie des Films tut dem Richter viel Ehre an. Mit ihm wird die Justiz zur Hauptperson. Rise and fall of Prinzing: das zieht wieder die Aufmerksamkeit ab von dem, was Baader und Meinhof politisch beabsichtigen. Konsequenzen für die Gegenwart ergeben sich aus dem Duell Baader-Prinzing nicht. Der Fall Baader-Meinhof ist damit geschichtlich, dramaturgisch und ästhetisch erledigt. Hauff war zwar mit anderen Absichten an den Film herangegangen ('Der gesamte Komplex ‚Widerstand‘ ist in seiner Problematik aktuell, wie damals'), die von ihm für diesen Film benutzten Mittel der bürgerlichen Kultur haben ihn jedoch ganz woanders hingebracht. Die Mode und der Schick der spätachtziger Jahre haben Baader und Meinhof vereinnahmt. Irgendwann wird es einen Film geben, ein Video, eine Platte, eine Mode, die den Baader-Look und den Meinhof-Touch kreiert. 'Es war Jagd, Krimi, Bonnie und Clyde' (Drehbuchautor Aust). – Im 'Stammheim'-Film wird die Action noch ersetzt durch den Blick in die Baader-Meinhof-Seele. Es ist die falsche Aufklärung. Die Aufklärung, die Aust mit der Wiedergabe authentischen Materials über den Stammheim-Prozess beabsichtigt, scheitert daran, dass er keine Position bezieht. Formell kann er sich darauf zurückziehen, dass er sich mit der Ausbreitung von dokumentarischem Material (der Wiedergabe der Argumente) zufriedengeben kann oder muss. Tatsächlich ist Rede-Stoff auch einigermaßen ausgewogen ausgebreitet, ein jeder kommt zu seinem Wort. Aber der Trick mit dem dokumentarischen Prozess-Film funktioniert nicht. Buchstäblich durch die Hintertür, durch den Blick hinter die Kulissen, treibt das Drehbuch die politischen Kämpfer in die Psychologie und Pathologie: in den Wahnsinn. Eben das war seit Beginn des vorigen Jahrzehnts die Strategie des Staats die Straftäter zu entpolitisieren und den Kriminalfall durch die Justiz und schlimmstenfalls durch die Psychiatrie sauber zu erledigen. Die Richter blockten juristisch ab.

Der 'Stammheim'-Film ästhetisch

So wie der 'Stammheim'-Film funktioniert, ist die Bundesrepublik dieselbe geblieben. Und der Raspe-Spruch ('Die Bundesrepublik wird nach Stammheim nicht mehr dieselbe sein') wird vom Film selbst widerlegt, Jetzt ist es das liberale Bewusstsein, das die Rote Armee Fraktion problemlos vereinnahmt und stillstellt: eine Trophäe, ein Schmuckstück auf dem Vertiko. – Aust spricht von den Sympathien für die Angeklagten, 'auch als sie noch in Freiheit waren: eine Bewunderung für den Mut, die Entschlossenheit, die Konsequenz, mit allem zu brechen, was einem als bürgerliche Norm aufgegeben worden ist'. – Das Drehbuch und erst recht der Film unterlassen jedoch alles, was eine Umsetzung dieser Einsicht bedeutet hätte. Der Film lässt jeden Mut vermissen. Ästhetisch ist keinerlei Konsequenz gezogen, mit dem zu brechen, was den Wort- und Filmemachern als bürgerliche Norm, ein Buch oder einen Film herzustellen, aufgegeben ist. Der normgerechte Film, sein schöner Schein weisen auf Unentschlossenheit, Ängstlichkeit und Sorge ums gute Gewissen hin. Die Form widerspricht dem Inhalt der transportierten Argumentationsketten. Wer zu Wort kommt, hat den zugewiesenen Platz, die Redezeit und die Beschränkungen, wie wir sie von den aktuellen Podiumsdiskussionen kennen.

Ulrike Meinhof und Aust haben Ende der sechziger Jahre gemeinsam bei KONKRET gearbeitet. Heute hat Aust das letzte Wort – und die Kontrolle über das, was Baader und Meinhof gesagt und getan haben. Gefiltert durch Prozess, Buch, Theater und Film: Aust hat Verantwortung für eine Machtposition. Er wird sich fragen lassen müssen, ob es politisch verantwortlich, künstlerisch angemessen und menschlich vertretbar war, Baader-Meinhof im 'Stammheim'-Film ästhetisch zu bannen und politisch zu erledigen. Die ersten Reaktionen auf die geplatzte Premiere am 31. Januar in der Hamburger Kampnagel-Fabrik sprechen dafür, dass der Anspruch, Baader/Meinhof zu kontrollieren, nicht akzeptiert wird und auch nicht durchsetzbar ist. Totale – aber diesmal totale politische – Kontrolle war nach Ansicht Baaders eben der Gegenstand des Stammheim-Verfahrens. ('Gegenstand dieses Verfahrens ist die totale Kontrolle dieses Staates durch die Welt-Innenpolitik des US-Kapitals'). Die gutgemeinten Versuche, diesen Film zu produzieren, gingen über das Thalia Theater in Hamburg und das Hamburger Filmbüro zur Hamburger Wirtschaftsfilmförderung. Die Behörde mit dem Namen 'Filmbewertungsstelle Wiesbaden' vergab dem 'Stammheim'-Film das höchste Prädikat: besonders wertvoll. Und eingeladen wurde 'Stammheim' Ende März 1986 zur Teilnahme am Wettbewerb der Berliner Filmfestspiele. Was Aust und Hauff ästhetisch vereinnahmten, nimmt auch der Staat in Anspruch. Das führt sicherlich nicht zu der von Baader bezeichneten totalen Kontrolle. Die staatliche Beteiligung hat etwas Versöhnliches an sich. Will der neue Kompagnon teilhaben an der Erledigung und endlichen Bewältigung des 'Baader-Meinhof-Komplexes'? Das Interesse scheint ästhetisch-strukturell vorprogrammiert. Hauff, der in der staatlichen Förderung 'Öffnungen', sieht, die es 'immer noch gibt', müsste sich überlegen, ob es nicht auch umgekehrt geht: Öffnet sich der Film dem Staat? Hat er – Angehörige wie Gottfried Ensslin meinen es – die Funktion, 'bei Normalbürgern endgültig revolutionäre Hoffnung zu zerstören und innerhalb der Linken Spaltung zu betreiben'? (aus einem Flugblatt in der Hamburger Kampnagelfabrik).

Im 'Stammheim'-Film bleibt Tukur Sieger, auch Aust, Hauff, die deutsche Kultur. Wo die Baader-Meinhof-Gruppe abbleibt, das ist tragisch, zum Mitleiden, hoffnungslos und Schicksal. Da können sich alle einig sein. Oder nicht?

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 03/1986

Man for a Day

(D 2012, Regie: Katarina Peters)

What a (Wo)Man
von Ricardo Brunn

Es ist einer dieser skurrilen Kinomomente, die das Medium so faszinierend machen: Da tobt eine Debatte um das Ritual der Beschneidung quer durch das politische und religiöse Leben des Landes …

Es ist einer dieser skurrilen Kinomomente, die das Medium so faszinierend machen: Da tobt eine Debatte um das Ritual der Beschneidung quer durch das politische und religiöse Leben des Landes und just in diesem Moment kommt ein Dokumentarfilm über Gender-Konstruktionen in die Kinos, in dessen Prolog eine Beschneidung zu sehen ist, bevor in aller Gelassenheit der Titel des Filmes („Man for a Day“) eingeblendet wird. Ich will keine falschen Erwartungen wecken. Der hier besprochene Film kreist nicht um das Thema religiöser Beschneidung und ich werde diese Szene, wie der Film im Übrigen auch, nicht noch einmal aufgreifen. Als Auseinandersetzung mit den eigenen Kastrationsängsten, die der Film auszulösen vermag, und als Verweis auf die kuriosen Bezüge zwischen Realität und Film taugt der Exkurs aber allemal.

In „Man for a Day“ verfolgt Regisseurin Katarina Peters, die 2005 mit ihrem sehr privaten wie beeindruckenden Debütfilm „Am seidenen Faden“ für den Europäischen Filmpreis nominiert wurde, einen Workshop der Gender-Aktivistin und Performance-Künstlerin Diane Torr, die darin den Ursprüngen der Gender-Identität nachforscht. Die Teilnehmerinnen dieses Kurses, es sind zunächst einmal Archetypen wie die allein erziehende Mutter, die kesse Schönheitskönigin oder die selbstbewusste Politikberaterin, verwandeln sich unter Anleitung Torrs innerhalb einer Woche in Männer. Nicht die Mimesis oder die Annäherung steht hier im Vordergrund, sondern das Einlassen auf das Unbekannte, das Beherrschende und die damit verbundenen, eigenen Befangenheiten. Es geht um eine möglichst vollkommene Transformation mit der Absicht, männliche wie auch weibliche Verhaltensmuster sichtbar zu machen, zu verstehen und bestenfalls bewusst zu nutzen – oder um einfach „die Windstille, die Männer umgibt“ zu spüren, wie es eine der Teilnehmerinnen formuliert. Deshalb genügt es auch nicht, die langen Haare unter einer Mütze zu verstecken oder weiterhin mit lackierten Fingernägeln in Erscheinung zu treten, denn in ihrer neuen Rolle sollen die Teilnehmerinnen früher oder später auf die Straße und unter (echte) Männer treten.

Mit angenehmer Leichtigkeit hinterfragt der Film die soziokulturelle Konstruktion der Geschlechterrollen. Und es ist insbesondere dem ungeheuer genauen Blick von Diane Torr, der in der Montage durch Archivaufnahmen zu einigen ihrer Performances reflektiert wird, zu verdanken, dass der männliche Zuschauer das ein oder andere Mal angenehm irritiert im Kinosessel nach unten rutschen und über das eigene Gebaren schmunzeln muss: Der (öffentliche) Raum wird beispielsweise durch einen bestimmten Gang erobert, Augen bewegen sich prinzipiell nur mit dem Kopf und das Lächeln müssen sich die Teilnehmerinnen gleich als erstes abgewöhnen, denn Männer lächeln nicht grundlos. In seinen schönsten Momenten wird so der Gaze im Film spielend umgekehrt, ohne zum übermotivierten Zeigefingerfeminismus zu geraten.

Leider verzettelt sich der Film gegen Ende dann heftig. Solange er sich im geschützten Raum seiner Experimentieranordnung (Workshop) bewegt, funktioniert er. Problematisch wird es an den Grenzen dieses Systems. Zu sehr verlässt sich die Regisseurin auf das Ideengebäude von Diane Torr. Ohne sie und das Seminar verliert der Film seine Richtung und den Mut, sein Thema auch außerhalb des Kurses zu betrachten oder gar weiterzuentwickeln. Stattdessen wird dem Workshop teils redundantes Material nachgelagert. Inkonsequent werden Figuren noch ein Stück weiter begleitet, aber nicht zu Ende erzählt. Mit ihrer Zurückhaltung vermeidet die Regisseurin zwar, in die allzu offensichtlichen Gender-Fallen zu tappen (die archetypischen Hauptfiguren haben allesamt auch archetypische Probleme mit dem anderen Geschlecht), dadurch verfehlt der Film allerdings auch jede Abgeschlossenheit. Die Regisseurin ist so sehr auf das Zeigen aus sicherer Entfernung bedacht, dass am Ende weniger sichtbar gemacht wird als am Beginn möglich schien. Wenn Diane Torr mit ihrer Tochter in Venedig spazieren geht, ist das keine Annäherung an die charismatische Protagonistin, sondern vielmehr eine Ausrede, ihr und ihrer Motivation, sich mit Geschlechterrollen so intensiv auseinanderzusetzen, nicht näher kommen zu müssen. Vielleicht stand hier die bereits dreißig Jahre währende Freundschaft zwischen Regisseurin und Protagonistin einer objektiveren filmischen Begegnung im Weg.

Wirklich bitter ist jedoch, auch wenn es kleinlich erscheinen mag, der Kurzauftritt von Claudia Roth, die ach so überrascht ins Bild hineinperformt und vollkommen hin und weg ist, von so viel Aufmerksamkeit. Und dann steht sie für ein paar Sekunden da und darf bewundert werden – die Musterfrau der deutschen Politik. Doch weder dafür, noch als Erläuterung des beruflichen Umfelds einer der Protagonistinnen ist sie tatsächlich geeignet. Und es hilft auch nicht, dass Diane Torr im Anschluss an diese Szenen anmerkt, dass wir alle Schauspieler sind. Der Auftritt Claudia Roths ist vor allem Ausdruck für die politische Gesinnung der Regisseurin und damit unangenehm irritierend.

Am Ende bleibt das Gefühl, der Film hätte mehr aus seinem Sujet und seinen Figuren machen können. Zwar ist die Verwandlung der Kursteilnehmerinnen wunderbar amüsant anzuschauen, schafft aber beim Zuschauer zu keinem Zeitpunkt ernsthafte Verunsicherung, die bei diesem Thema durchaus reizvoll hätte sein können. Gerade über die Montage hätte der Film mit der Inszenierung der Identitäten spielen können und so auch seinen thematischen Überbau stützen und für das Publikum erfahrbarer machen können.

Vielleicht hätte ein Mann dem Schnitt gut getan, denn manchmal ist eine andere Sichtweise eben entscheidend hinsichtlich all der Verwirrungen zwischen den Geschlechtern.