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Terminator: Genisys

(USA 2015, Regie: Alan Taylor)

Geriator ohne Genierer
von Drehli Robnik

Nach Jahren als kalifornischer Gouverneur und einigen Retro-Action-Vehikeln ist Arnold Schwarzenegger nun wieder als Terminator verfügbar – ein Umstand, aus dem die Macher des fünften Films (Regie: Alan Taylor, 'Thor'-geprüft) …

Nach Jahren als kalifornischer Gouverneur und einigen Retro-Action-Vehikeln ist Arnold Schwarzenegger nun wieder als Terminator verfügbar – ein Umstand, aus dem die Macher des fünften Films (Regie: Alan Taylor, 'Thor'-geprüft) in dem 1984 begonnenen Cyborg-Franchise einiges herauszuholen bemüht sind. So sehen wir also nun in 'Terminator: Genisys' Arnie im Kampf gegen sich selbst: den bösen, jungen 1984er Mittelscheitel-Ur-Terminator, digital reanimiert, gegen den zum Beschützer umprogrammierten Terminator im schwarzledrigen Biker-Look von 'Terminator 2' (1991). Hinzu kommen der ergraute Terminator der Gegenwart und der zum Adoptiv-'Pops' ernannte Schutzengel-Terminator eines kleinen Mädchens in 1970er-Rückblenden. Überhaupt gerät das Entsenden von Mentoren und Zeitkontinuumsklempnern in diverse Vergangenheiten und Doch-nicht-Zukünfte hier allmählich zur Manie, und die Zeit(schleifen)maschine wird zum totalen Tool.

Gute Ansätze sind durchaus vorhanden; so etwa die anfängliche Rückkehr zum Kaputtnik-Urbanismus eines NeoNoir-B-Movie (etwas, das dem ganz im Postapokalyptik-Geböller versinkenden Teil 4, 'Terminator: Salvation' ganz abging). Zweierlei Retro-Action ist hier im Spiel: Zum einen wird eine gewisse Cheesiness in Ausstattung und Gestaltung von Kampfszenen freudig ausgestellt. Zum anderen geht es retroaktiv zu, und das Noir-typische Festlaufen von Handlung und Bewusstsein in Schlingen der Zeit findet hier zu einer durchaus prägnanten Form: Nicht nur wird (wie seit Teil 2 üblich) aus dem Motiv- und Oneliner-Inventar des Gründungsfilms rezitiert; man stellt vielmehr gleich ganze Initialszenen aus dem 1984er Film werk- und materialtreu nach, samt nackter Bodybuilder, die aus Lichtkugeln im Straßenmüll geboren werden, und samt James Cameron’schem Blaustich und Spitzlicht im Bild.

Auch der Flüssigmetall-Terminator in schwarzer Cop-Uniform aus Teil 2 mischt einige Szenen lang mit; 1991 von Robert Patrick laufstark und maliziös gespielt, wird dieser Gestaltwandler nun von dem Koreaner Byung-hun Lee dargestellt. Die Akteure hinter dem konspirativen Cyberdine-Konzern und seinem die Gattungszukunft bedrohenden Skynet werden von African Americans gespielt. Um es in Hinblick auf die racial politics des Films zu sagen: Hier sind nicht alle weißen Figuren automatisch 'gut'; so etwa der kleine Bub, der die humanoide Gestalt des allumfassenden digital-maschinellen Netzes verkörpert, als wäre er ein Hologramm-Kind aus einem alten 'Resident Evil'-Film. Das Netzwerk selbst ist nun eine Universal-App mit scheußlichem Design – umso unglaubwürdiger, dass die ganze Menschheit auf dessen aggressives Marketing hereinfallen und ihm alle ihre Angelegenheiten anvertrauen soll (hätte Facebook so einen Oberflächen-Look, wäre Myspace heute Weltherrscher) – und mit einem doofen Markennamen, der dem Film seinen Titelzusatz leiht: 'Genisys' klingt irgendwie nach Bibel oder Phil Collins‘ alter Band und ist wahrscheinlich eine Anspielung auf Schwarzeneggers steirische Sprachfärbung im Gebrauch von Englisch.

Letztere, längst ein Markenzeichen auch sie, kommt in den Anflügen von Screwball Comedy zum Tragen, die zu den punktuell fast gelungenen Neuerungen dieses (dem forcierten Happy End nach letzten) Terminator-Films zählen. Das Trio Kyle Reese (Zeitreisender aus dem Anti-Maschinen-Widerstand), Sarah Connor (als Mutter des Menschheitserlösers vorgesehen, hier nun allerdings dezidiert nicht zufrieden mit ihrer bloß gebärdenden Rolle) und Titelheld (der unter anderem Höflichkeitsformen wie etwa ein gezwungenes Grinsen gelernt hat) – die drei interagieren mitunter so, dass es wie 'Meine Braut, ihr Terminator-Vater und ich' anmutet, und zu einer Episode im Dauerzank zwischen Schwängerer und Schwiegerpapa läuft 'I wanna be sedated' von den Ramones. Aber ein einstiger Running Man ist kein einstiger Raging Bull, sprich: Schwarzenegger ist nicht DeNiro. Vielleicht soll ja der Terminator, jetzt wo Leonard Nimoy sich nicht mehr wehren kann, in die Fußstapfen von Spock treten – von wegen kaltherziger SciFi-Programmlogiker mit Bittermiene, dem ab und zu ein Hauch von Humanität abgerungen wird und der ob seiner Oneliner zum eben doch knuddligen Publikums-, zumal Kinderliebling avanciert. Aber Arnolds penetrant aufgesagtes 'I’m old, not obsolete' ist kein 'Live long and prosper', sondern macht eher deutlich, dass 'I’ll be back' irgendwas mit Rückenschmerzen bedeutet.

Ansonsten fallen Jai Courtney, Emilia Clarke und Jason Clarke durch jeweils schöne Lippen angenehm auf. J.K. Simmons hat halblustige Auftritte als verwirrter Polizist, der Film hat ein Längenproblem, starken Hang zur Melancholie, zuviel Vertrauen in zuviele Gut-Böse-Wendungen (Doppelbödigkeit als Routineprogramm), reichlich Dialog und zuwenig durchschlagende Effekte. Die Bühnenversion wird besser.

Escobar: Paradise Lost

(F / S / B / PAN 2014, Regie: Andrea di Stefano)

Im Reich des Bösen
von Sven Pötting

„Escobar – Paradise Lost“ ist eine spanisch-französisch-belgische Koproduktion mit Jungstar Josh Hutcherson („Die Tribute von Panem“) als Surferboy Nick, der sich gemeinsam mit seinem Bruder Dylan (Brady Corbet) an der …

„Escobar – Paradise Lost“ ist eine spanisch-französisch-belgische Koproduktion mit Jungstar Josh Hutcherson („Die Tribute von Panem“) als Surferboy Nick, der sich gemeinsam mit seinem Bruder Dylan (Brady Corbet) an der idyllischen kolumbianischen Küste den Traum einer eigenen Surfschule und eines Hippie-Lebens erfüllen will, dann aber in die Fänge von Pablo Escobar gerät.

Wie allgemein bekannt sein dürfte, gab es Pablo Escobar wirklich. Schon Ronald Reagan hatte den berüchtigten Drogenkartell-Chef als psychopathischen Serienkiller eingestuft; George Bush Senior setzte ihn später dann auf die Liste der ultimativen Superschurken und auf eine Stufe mit seinem Erzfeind Saddam Hussein.

Aber wie trifft ein Normalsterblicher auf das personifizierte Böse? Regisseur und Drehbuchautor Andrea di Stefano erklärt dies wenig originell mit einer Liebesgeschichte. Nick begegnet María (Claudia Traisac), der Nichte des Paten, mit der er eine Beziehung eingeht und die ihn in den Familienclan einführt.

Er ist Kanadier und ein wenig unbedarft, was als Erklärung dafür herhalten soll, dass Nick zunächst nicht weiß, dass der Onkel seiner Freundin der meistgesuchte und reichste Verbrecher der Welt ist. Deswegen entscheidet er sich auch dazu, den Traumstrand zu verlassen und freiwillig zum Gefangenen in der irrealen Welt von Escobars Narco-Ranch zu werden. Zunächst glaubt er, seinem Traum vom Paradies näher gekommen zu sein, aber als er eines Tages ein paar Mitarbeiter seines Gastgebers in blutverschmierter Kleidung beobachtet, die Leichen entsorgen, kommt er doch ins Grübeln. Scheinbar ist der Verwandte seiner Freundin, doch nicht der charmante und joviale „Onkel Pablo“, der liebevolle aber manchmal etwas exzentrische Gastgeber, für den er ihn bislang gehalten hat.

Als María – wir schreiben das Jahr 1989 – aus dem Fernsehen erfährt, dass der kolumbianische Präsidentschaftskandidat Luis Carlos Galán, der für den Fall seiner Wahl eine verstärkte Offensive gegen die Drogenmafia angekündigt hatte, im Auftrag ihres Onkels ermordet wurde, kann sie das nur schwer glauben, beschließt aber, zusammen mit ihrem Freund das Land zu verlassen. Bevor die beiden fliehen können, wird Nick zum Paten gerufen. Der kleine „Freundschaftsdienst“, den dieser einfordert und mit dem er Nicks Treue auf die Probe stellt, hat tödliche Konsequenzen.

In dieser kurzen Zusammenfassung wird schon deutlich, dass nicht besonders viel Energie ins Drehbuch gesteckt wurde. Die Handlung ist, obwohl sie lose von einer wahren Begebenheit im Umfeld Escobars inspiriert sein soll, recht unglaubwürdig. Die Figurenkonstellation ist auch nicht neu, sie erinnert stark an Kevin Macdonalds „The Last King of Scotland.“

Man merkt, dass Josh Hutcherson ein guter Schauspieler ist, aber dennoch wird die von ihm verkörperte Figur aufgrund ihrer Naivität und Verblendung niemals zum Sympathieträger. Die Nebenfiguren dagegen bleiben seltsam blass. In wenigen Minuten wird erzählt, wie Nick und María sich kennenlernen und sie ihn in die Familie einführt. Danach taucht sie nur noch als Stichwortgeberin auf. In keinem Moment wird erkennbar, warum oder dass sie Nicks große Liebe ist, für die es lohnt, sich das Leben zu ruinieren. Auch Brady Corbet darf als Dylan ein paar Mal betroffen in die Kamera schauen und seinen Bruder vergeblich warnen und verschwindet dann.

Zurück zu den Tatsachen: Gut geschmiert mit Escobars Dollars verabschiedete der Kongress Anfang der 1990er Jahre eine neue Verfassung, die die Auslieferung kolumbianischer Staatsbürger in die USA verbot. Daraufhin handelte Escobar, obwohl er offiziell auch in Kolumbien ein Public Enemy war, die Bedingungen seiner (freiwilligen) Gefangennahme aus und der Staat baute ihm ein Gefängnis nach seinen Wünschen. Er diktierte also selbst die Bedingungen des Krieges gegen ihn. Diese Begebenheit nimmt der Film in seine Handlung mit auf. Nick soll als Quasi-Verwandter mithelfen, die ökonomischen Ressourcen des Drogenimperiums zu sichern, bevor der Patrón sich ausliefert – und dabei die Zeugen beseitigen. Hier setzt die Handlung ein, die ganze Vorgeschichte wird in einem Flashback erzählt. Das Problem ist, dass die Schachtelkonstruktion recht ungeschickt anmutet und die Chronologie der Erzählung jegliche Spannung im Keim erstickt.

Damit der Zuschauer auch bloß alles versteht, werden entscheidende Szenen nach der langen Rückblende noch einmal wiederholt. Dies ist unnötig und wirkt ein wenig bevormundend.
Regelrecht aufdringlich und voller Klischees ist die Bildsprache. Ein Beispiel: Nachdem Nick letztlich gemerkt hat, wie tief er selbst in die schmutzigen Machenschaften des Medellín-Kartells verstrickt ist und ein großes Problem hat, flüchtet er sich natürlich in eine Kirche. Im wahrsten Sinne des Wortes hat er blutige Hände. Immer wieder werden Kruzifixe in Großaufnahme gezeigt. Begleitet wird diese pathetische Szene von dramatischer Musik.

Anders als Nick ist Pablo Escobar eine schillernde Figur. Wäre der „echte Escobar“ der Psychopath und Serienmörder gewesen, als den ihn die konservativen Politiker in den USA bezeichneten, hätte er niemals zur Legende werden können. Was seine Biographie so faszinierend macht, sind die Widersprüche, die sie vereint.

Escobar betrieb als erster den Drogenhandel als Industrie. Von Medellín aus baute Escobar ein Rauschgiftimperium auf und verdiente mit Kokainschmuggel in die Vereinigten Staaten Milliarden. Seine ehemalige Geliebte Virgina Vallejo, damals Kolumbiens bekannteste Fernsehjournalistin, schrieb später in ihrer Biographie „Amando a Pablo, odiando a Escobar' („Pablo lieben und Escobar hassen“): „In den Häusern Pablos waren die Kleiderschränke vollgestopft mit Dollarnoten.' Das Geld wurde nicht mehr gezählt, sondern gewogen.

Mit seinem Geld erkaufte er sich Macht und zog sogar als Abgeordneter in den kolumbianischen Kongress ein – natürlich um seine eigenen Interessen zu vertreten. Er war ein Unternehmer, mit dem sich zeitweise Regierungsvertreter, Großgrundbesitzer, Banker und auch das Militär arrangiert hatten. Dazu galt er auch als Volksheld. Viele sahen ihn als eine Art Robin Hood, der sich, anders als die traditionellen Politiker Kolumbiens, auch um die Armen kümmerte. Er ließ Krankenhäuser, Fußballplätze und Schulen bauen und sogar Stadtviertel für Menschen errichten, die vorher auf Müllkippen gelebt hatten. Aber gleichzeitig war der Tod immer auch sein Machtinstrument und die Form, sich gegenüber seinen Feinden verständlich zu machen. Auf Politiker, Journalisten, Richter, Polizisten, die nicht auf seiner Seite waren, wurde ein Kopfgeld ausgelobt. Auch Unbeteiligte kamen bei Attentaten zu Tausenden zu Tode.

Als Escobar bei einem filmreifen gescheiterten Fluchtversuch im Dezember 1993 erschossen wurde, gönnten sich seine Häscher mit dem toten Staatsfeind ein Triumphbild. Man sieht darauf lachende Soldaten auf roten Dachziegeln vor einem verdrehten Leichnam mit hochgerutschtem T-Shirt. Es sieht ein bisschen so aus, als hätten Jäger ein Tier erlegt. Diese Fotografie wurde zum ikonischen Bild. Escobar war nun endgültig zum Mythos geworden.

Regisseur und Drehbuchautor Andrea di Stefano will einerseits den Mythos zerstören, andererseits will er aber auch das ganze vielschichtige Bild des Drogenbosses, mit all seinen Details und Facetten in ihrem faszinierenden Zwielicht zeigen. Die Rolle des Pablo Escobar ist mit Benicio Del Toro hervorragend besetzt. Man könnte auch sagen, dieser hat sich selbst besetzt, denn Del Toro fungierte auch als Co-Produzent des Films. Um zu vermeiden, dass der Zuschauer sich allzu sehr mit dem grausam-charmanten Drogenboss identifiziert, der ein hervorragender Entertainer und ein liebevolles Familienoberhaupt sein kann, im nächsten Moment aber die Bedrohlichkeit eines Raubtiers ausstrahlt, greift der Regisseur wieder auf Klischees zurück. Bevor sich Escobar freiwillig ins Gefängnis begibt, wird er als paranoider müder Mann mit wirrem Haar und dichtem Bart gezeigt, der wie Werner Herzogs „Aguirre“ Gott droht. Unweigerlich denkt man bei diesem verwirrten Somnambulen an die ebenfalls ikonisch gewordenen Bilder der Verhaftung Saddam Husseins. Di Stefano möchte mit dieser Analogie wohl sichergehen, dass der Zuschauer auch wirklich verstanden hat, dass Escobar böse ist.

Eine Geschichte über den Mann, der in wenigen Jahren vom Zigarettenzocker und Autoknacker zum Drogenboss und größten Kriminellen des 20. Jahrhunderts aufstieg, hat das Potenzial zum packenden Thriller oder zum Gangsterepos, nur leider nutzt „Escobar – Paradise Lost“ dieses nicht. Besser als diese „Bio-Fiction“, ist der Dokumentarfilm „Pecados de mi padre“ – Die Sünden meines Vaters“, eine öffentlichen Vergangenheitsbewältigung von Sebastián Marroquín, dem Sohn des Paten. Wenn man ein wenig Zeit hat, sollte man in „Escobar, el patrón del mal“ hineinschauen, eine 113-teilige Serie aus Kolumbien (2012), die Escobars ganze Laufbahn und damit den ganzen Wahnsinn der organisierten Kriminalität erzählt.

Heil

(D 2015, Regie: Dietrich Brüggemann)

Klatscht die Nazis, klopft die Schenkel
von Jürgen Kiontke

Ich sage nicht, Dietrich Brüggemann hätte 'Heil' nicht drehen sollen, bietet er doch manchmal die ein oder andere brauchbare Detaillösung und gute Darsteller. Aber vielleicht: so nicht. Sebastian, Vorzeige-Deutscher mit …

Ich sage nicht, Dietrich Brüggemann hätte 'Heil' nicht drehen sollen, bietet er doch manchmal die ein oder andere brauchbare Detaillösung und gute Darsteller. Aber vielleicht: so nicht.

Sebastian, Vorzeige-Deutscher mit Migrationshintergrund und Buchautor, landet mit seinem Bestseller in einem ostdeutschen Kaff. Als ihm die ansässige Skinheadschar eins mit dem Baseballschläger verpasst, verliert er den Verstand und plappert künftig alles nach, was ihm die Schlips- und Kragen-Nazis einflüstern. »Ausländer raus« klingt authentischer, wenn’s ein Ausländer sagt, so die Devise. Politiker wie TV-Anstalten nehmen es mit Freuden wahr, Verfassungsschützer überschlagen sich beim Pampern der todbringenden Kameradschaften. Liebe, Antifa und Fettsucht spielen auch mit.

In dieser Komödie geben sich Behördenskandale, mediale wie politische Verwurstung von Neonazis und Integrationsdebatte die Hand. Das hätte was werden können – hätte Brüggemann auch mal was hinterfragt. Statt dessen steht das Kinoformat Deutsche Komödie im Vordergrund: Die deutsche Wirklichkeit bildet nur den Hintergrund für meist simpel gestrickten Humor. Was wäre gewonnen, würden Nazis »White Power« mal richtig schreiben? Schau mal, der Richter ist wirklich blind auf dem rechten Auge, Racial Profiling kann ja so lustig sein!

An den Schauspielern liegt’s nicht. Bestnoten verdient ihre Performance, wenn sie aus dem Komödienstadl heraustreten: etwa der brillante Jacob Matschenz als brutalisierte SA-Nachwuchskraft, der offenkundig ausblendet, dass er in irgend etwas Spaßigem mitspielt.

Aber ehrlich gesagt war der Film für mich schon nach 20 Sekunden beendet. 'Heil' beginnt mit drei kurzen Einstellungen, dazu eingeblendet die Zeile »Deutschland 1945«: Zuerst sieht man die deutsche Wehrmacht im Einsatz, dann Hitler, dann einen Leichenberg im KZ. Dann beginnt der lustige Film. KZ-Opfer als Opener für eine Parade lauwarmer Gags: Brüggemann und seine Geldgeber von der öffentlich-rechtlichen Filmförderung sollten sich mal fragen, ob sie noch alle Tassen im Schrank haben.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 07/2015

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Heil'.

It Follows

(USA 2014, Regie: David Robert Mitchell)

Lost in Time and Genre
von Nicolai Bühnemann

Schon der programmatische Titel „It Follows“ lässt andere Zeiten des Horrorgenres anklingen. „Someone’s watching me!“ hieß ein 1978 entstandener Fernsehfilm von John Carpenter, dessen Ur-Slasher „Halloween“, früher im selben Jahr …

Schon der programmatische Titel „It Follows“ lässt andere Zeiten des Horrorgenres anklingen. „Someone’s watching me!“ hieß ein 1978 entstandener Fernsehfilm von John Carpenter, dessen Ur-Slasher „Halloween“, früher im selben Jahr entstanden, ebenfalls einigen Einfluss auf „It Follows“ hatte, und fasste damit sein Szenario in drei Worten zusammen, die in einem Ausrufezeichen kulminierten, um die Dringlichkeit, die Bedrohung, die diesem Beobachtet-Werden innewohnt, zu unterstreichen.

Was nun genau es mit diesem „Es“ auf sich hat, das die Verfolgung der jugendlichen Protagonistin Jay (Maika Monroe) und einiger ihrer gleichaltrigen Freunde aufnimmt, erfahren wir nicht. „Es“ bleibt unerklärlich, wird nicht psychologisch ausgedeutet, hat weder Ursprung noch Motivation. Alles, was Jay, und mit ihr die Zuschauenden, darüber erfahren, ist, dass es verschiedene Gestalten annehmen kann, die bekannter Personen oder die Fremder, und dass es nicht aufhört, hinter einem her zu sein, langsam gehend, aber scheinbar unaufhaltbar. Außerdem – und das ist ganz wichtig – scheint es sexuell übertragbar zu sein. Jays Freund Hugh (Jake Weary) hat es, so erklärt er ihr, an sie beim Sex weitergegeben und klärt sie nun über die Risiken dieses Verfolgers auf, empfiehlt ihr, es an jemand anderen weiter zu geben.

Die Sexualitätsfeindlichkeit der alten Slasher-Filme, denen Regisseur und Drehbuchautor David Robert Mitchell deutlich Referenz zollt und deren Killer vornehmlich Jugendliche heimsuchten, die sich ausgiebig Alkohol, Gras und vorehelichem Sex hingaben, wird durch das Böse als sexuell übertragbare Krankheit, das auch von Ferne her an die Parasiten in David Cronenbergs „Shivers“ (1975) erinnert, zunächst auf die Spitze getrieben. Um die so bigotten wie heuchlerischen Moralvorstellungen vieler Slasher geht es „It Follows“ aber gerade nicht. Vielmehr gibt diese Idee die Möglichkeit, die Bedrohung tief in das Geflecht des Begehrens der Peer-Group einzuschreiben. Jay gibt den Verfolger weiter an einen Jungen aus der Nachbarschaft, den sie für tough genug hält, mit ihm umzugehen, was sich allerdings als Trugschluss herausstellen wird. Erst gegen Ende schläft sie mit Paul (Keir Glichrist), einem guten Freund von ihr und ihrer Schwester Kelly, der – nicht allzu heimlich – in sie verliebt ist. In einer Szene sitzen Jay und Paul gemeinsam nachts auf dem Sofa und sprechen über ihren gemeinsamen ersten Kuss und eine Kindheitsepisode, die einen Stapel Pornohefte beinhaltete.

Anstatt sie grob abzuurteilen oder zum Kanonenfutter für das Böse verkommen zu lassen, nimmt David Robert Mitchell seine jugendlichen ProtagonisInnen mit ihren Sorgen und Problemen bedingungslos ernst. Dazu kommt, dass Mitchell es in seinem zweiten Film versteht, die alltäglichen Orte von Suburbia, die Häuser mit ihren Vorgärten, die Swimming Pools, Spielplätze und Schulkorridore mit Unheimlichem aufzuladen, das Vertraute fremd und bedrohlich werden zu lassen, wie es einst Carpenter oder Wes Craven in „A Nightmare on Elm Street“ (1984) gelang.

Gedreht wurde der Film in Detroit, wo Mitchell geboren wurde und aufgewachsen ist, und ein Dialog verortet sein Geschehen auch hier. Die Jugendlichen erinnern sich, dass es in ihrer Kindheit für sie verboten war, die 8 Mile Road zu überqueren, die die nördlichen Suburbs von der Stadt trennt, und die fleißigen Filmguckern auch durch Curtis Hansons Rapper-Drama „8 Mile“ (2002) mit Eminem in der Hauptrolle ein Begriff sein könnte. Durch die gespenstische Landschaft des benachbarten Ghettos mit seinen graffitibesprühten Industriehallen, seinen Brachen und zugemauerten Fenstern fahren die Kids mehrmals mit dem Auto. Diese Geisterstadt, dieser Geist einer Stadt, legt sich wie ein dunkler Schatten über den typischen american way of life der Vorstädte, verdeutlicht das Prekäre der eigenen Lebensverhältnisse, die allenthalben vom Zerfall bedroht scheinen. Nur eine Straße trennt „uns“ von den anderen, das eigene Umfeld von der Gefahrenzone, auch wenn das, so wie „It Follows“ seine Schauplätze in Szene setzt, nur bedeutet: eine Form der städtischen Einöde von einer anderen.

Zum Zerfall des Sozialen, von dem der Film erzählt, gehört auch die sonderbare Abwesenheit von Erwachsenen in seiner Teenager-Welt. Die Eltern werden zwar immer wieder in Dialogen erwähnt, ohne aber jemals selbst in Erscheinung zu treten. Auf sich alleine gestellt in einer mehr und mehr bedrohlichen Umwelt, müssen die Adoleszenten lernen, sich selbst zu verteidigen, eigene Entscheidungen zu treffen, was hier vor allem bedeutet, verantwortlich mit der eigenen Sexualität umzugehen.

Durch seine Ausstattung kreiert der Film zudem eine sonderbare Nicht-Zeit, in der sich Vergangenes und Gegenwärtiges vermengen. Ein Handy im Prolog wird das einzige des Films bleiben und verweist ebenso wie ein ziemlich eigenwilliger E-Book-Reader, der aussieht wie ein muschelförmiger Taschenspiegel, auf die Gegenwart. Darüberhinaus scheint der Film vollgestopft mit allerlei obsoleten Technologien. In den Wohnzimmern laufen, wie in „Halloween“, auf alten Röhrenfensehern noch ältere, schwarzweiße Monsterfilme. In einer wunderbar gefilmten Schwimmbadszene gegen Ende versuchen die Jugendlichen, den Verfolger zu töten, indem sie etwa elektrische Schreibmaschinen ins Becken werfen, in dem Jay als Köder schwimmt. Die Figuren des Films sind nicht nur ziemlich verloren in den ins Unheimliche gewendeten Suburbs, sie scheinen auch lost in time zu sein.

Einerseits schafft es „It Follows“, dem Horrorfilm, der immer mal wieder droht, in der Schwemme aus ewigen Sequels und Remakes zu ertrinken, wichtige neue Impulse abzugewinnen, indem er einen sehr eigenen Zugriff auf die Vergangenheit, auf die Geschichte des Genres findet. Mitchell versteht es, über den gekonnten Einsatz einiger jump scares weit hinaus, eine Atmosphäre latenten Grauens und ständiger Bedrohung zu schaffen. Andererseits aber gelingt es dem Nachwuchsfilmemacher auch, das Genre für seine eigenen Zwecke zu nutzen, im Gewand eines Horrorfilms eine sehr persönliche Geschichte über das Erwachsenwerden in einer zerfallenden (urbanen) Welt zu erzählen.

Liebe auf den ersten Schlag

(F 2014, Regie: Thomas Cailley)

Überlebenskämpfe
von Wolfgang Nierlin

Gegensätze ziehen sich an, heißt es. Als der junge Arnaud (Kévin Azaïs) und die etwa gleichaltrige Madeleine (Adèle Haenel) zum ersten Mal aufeinandertreffen, müssen sie gegeneinander kämpfen. Es sind Sommerferien, …

Gegensätze ziehen sich an, heißt es. Als der junge Arnaud (Kévin Azaïs) und die etwa gleichaltrige Madeleine (Adèle Haenel) zum ersten Mal aufeinandertreffen, müssen sie gegeneinander kämpfen. Es sind Sommerferien, und die französische Armee macht an der Atlantikküste im Südwesten des Landes mit Selbstverteidigungskursen Werbung für ihre Sache. Während sich der eher zurückhaltende Beobachter Arnaud nach dem Tod seines Vaters entschieden hat, seinen älteren Bruder Manu (Antoine Laurent) in der elterlichen Schreinerei zu unterstützen, unterzieht sich die ziemlich schroff und aggressiv auftretende Madeleine einem selbstverordneten Überlebenstraining. Das kämpferische Mädchen mit der großen Klappe und dem negativen Weltbild will sich nämlich bei der „härtesten Truppe“ bewerben, um für den von ihr erwarteten Weltuntergang gewappnet zu sein. Zuvor gilt es jedoch, an einem Trainingscamp der Armee teilzunehmen.

Für die zunächst relativ perspektivlos wirkenden Jugendlichen in Thomas Cailleys vielfach prämiertem Coming-of-Age-Drama „Liebe auf den ersten Schlag“ (Les combattants) geht es vor allem darum, im Blick auf das Leben Orientierung zu gewinnen. Ihre teils komischen Konflikte, die uns auf sympathische Art mit den liebenswerten Helden vertraut machen, sind zwar größtenteils ihrer Naivität und Gegensätzlichkeit geschuldet, münden nach einigem Hin und Her, nach scheuem Begehren und unbeholfener Zurückweisung, aber doch noch in eine romantische Liebesgeschichte. Die Protagonisten müssen sich aber erst häuten, müssen den zivilen Panzer ihrer Vorurteile und falschen Vorstellungen durchbrechen, um bei sich, in der Welt und im Leben anzukommen.

Auf quasi umgekehrtem Weg schickt Thomas Cailley deshalb seine Figuren auf eine „Reise von der Realität in die Phantasie“. Bei einem Orientierungslauf in besagtem Armee-Workshop verirren sich Arnaud und Madeleine im Wald, entfernen sich schließlich eigenmächtig von der Gruppe, um in ihr ganz persönliches Überlebens- und Liebestraining einzusteigen. Aus dem Spiel wird Ernst; und aus dem poetischen Waldabenteuer mit seiner wilden Freiheit, die immer wieder auf bedrohliche Grenzen stößt, wird eine Metapher für das Leben und seinen möglichen Sinn. Auf der Metaebene seines vielschichtigen Films verwebt Cailley die Liebes- und Überlebenskämpfe seiner Helden, auf die der französische Originaltitel verweist, mit einer dichten Textur aus visuellen Zeichen, Symbolen und Bezügen.

Dior und ich

(F 2014, Regie: Frédéric Tcheng)

Mode als Dialog
von Wolfgang Nierlin

Der französische Filmemacher Frédéric Tcheng eröffnet seine kurzweilige Fashion-Dokumentation „Dior und ich“ mit einem schwarzweißen Werbeclip aus den 1950er Jahren. Darin präsentiert das traditionsreiche Pariser Modehaus seinen berühmt gewordenen „New …

Der französische Filmemacher Frédéric Tcheng eröffnet seine kurzweilige Fashion-Dokumentation „Dior und ich“ mit einem schwarzweißen Werbeclip aus den 1950er Jahren. Darin präsentiert das traditionsreiche Pariser Modehaus seinen berühmt gewordenen „New Look“, den sein Schöpfer Christian Dior als Hommage an die Weiblichkeit verstand. Dazu wird aus dessen Memoiren zitiert: Gegen die Hektik der modernen Welt mit ihrem Drang nach Veränderung habe er die Bewahrung von Werten gesetzt. Zugleich war für den ebenso scheuen wie stilbewussten Dior Mode aber auch ein Vehikel, um in eine andere Rolle zu schlüpfen und dadurch jemand anderes zu sein.

Dieses gewichtige Erbe, von Tcheng als „Macht der Tradition“ apostrophiert, schwebt über den Ateliers des Hauses, als im Frühjahr 2012 der 1968 geborene belgische Designer Raf Simons als Nachfolger von John Galliano zum künstlerischen Direktor der Damenkollektion berufen wird. Innerhalb von zwei Monaten soll der sensible, kunstinteressierte Modekonzeptualist, der zuvor für Jil Sander gearbeitet hat und Inhaber einer eigenen Herrenmode-Marke ist, seine erste Haute Couture-Kollektion entwickeln, was für den öffentlichkeitsscheuen Chefdesigner im neuen Umfeld und unter großem Zeitdruck eine enorme Herausforderung darstellt. Sein Selbstanspruch, „Codes zu kreieren“ und dabei seine persönlichen Visionen und Ideen mit der Tradition zu verbinden, bildet dabei „Rafs“ künstlerisches Credo. Frédéric Tcheng wiederum nutzt dies leitmotivisch für seinen Film, indem er immer wieder Parallelen zwischen Diors Anschauungen und Raf Simons‘ Suche nach einer persönlichen Handschrift entdeckt und dafür zwischen Gegenwart und Vergangenheit, öffentlichen und privaten Momenten vermittelt.

Seine von ihm als „Chronik einer Emanzipation“ bezeichnete Dokumentation, die etwas gehetzt wirkt, andererseits aber vielstimmig ist, gewährt dabei einen Blick hinter die Kulissen des Modehauses und in die Mechanismen der einflussreichen Ateliers mit ihren subtilen Funktionsweisen und Machtkämpfen. Um in diese ebenso kompetente wie routinierte Dior-Familie aufgenommen zu werden, muss Raf Simons seinem Ruf als großer Kommunikator, der Mode als Dialog versteht, gerecht werden. Schließlich schweißen Verantwortung und enormer Zeitdruck das Team bis zur umjubelten, von vielen Prominenten besuchten Premiere zusammen. Frédéric Tchengs Film zeigt diesen Höhepunkt in stilisierten Bildern als künstlerische Performance und emotionale Katharsis; und er vermittelt daneben eine Ahnung von der logistischen und wirtschaftlichen Dimension eines solchen Ereignisses.

Interstellar

(USA / GB 2014, Regie: Christopher Nolan)

Erzählen in geschichtsloser Zeit
von Ricardo Brunn

Ein spukendes Bücherregal macht den Anfang in Christopher Nolans Science-Fiction Film „Interstellar“. Aufgeweckt vom Geist hinter (oder in) den Büchern schleicht die zehnjährige Murphy (Mackenzie Foy) im Zwielicht des anbrechenden …

Ein spukendes Bücherregal macht den Anfang in Christopher Nolans Science-Fiction Film „Interstellar“. Aufgeweckt vom Geist hinter (oder in) den Büchern schleicht die zehnjährige Murphy (Mackenzie Foy) im Zwielicht des anbrechenden Tages ins Schlafzimmer ihres Vaters Cooper (Matthew McConaughey), der ihr, aufgeschreckt von seinen eigenen Albträumen, zu verstehen gibt: „There’s no such thing as ghosts.“ Begleitet wird diese Szene von zunächst einmal befremdlich wirkenden Interviews. Sie beschreiben parallel zum beginnenden Tag die Lebensumstände der Protagonisten, in denen Sandstürme und ausbleibende Ernten zum Alltag gehören. Es ist eine schlichte, aber gerade darum großartige Eröffnungssequenz, weil sie ganz beiläufig unterschiedliche Arten von Geschichten sowie das jeweilige Vertrauen das diese einfordern in den Mittelpunkt rückt. Christopher Nolans „Interstellar“ ist somit nicht nur Film über die phantastische Reise eines Forscherteams auf der Suche nach einem neuen Zuhause für die Menschheit oder über einen Vater, der für ebendiese Reise seine Tochter verlassen muss, ohne zu wissen, wann er zurückkehren wird. „Interstellar“ ist vielmehr ein Film über die Notwendigkeit des Erzählens in einer geschichtslosen Zeit.

„Wer auf das Erzählen verzichtet,“ schreibt Odo Marquard in „Skepsis in der Moderne“, „verzichtet auf seine Geschichte.“ Erst mit dieser Geschichte – den Erzählungen von Grenzüberschreitungen und das Denken verändernden Erfahrungen – ist ein Zukunftsentwurf überhaupt möglich. Unter den derzeitigen Bedingungen ist das Entstehen von etwas Neuem jedoch unmöglich, da die Gegenwart einen totalitären Anspruch erhebt. Zukunftsorientiertes Handeln erschöpft sich heute nahezu vollständig in den auf Kurzfristigkeit hin ausgelegten Begriffen von Wachstum und Wettbewerb. Jenseits des tagespolitischen Aktionismus im immer schneller schlagenden Takt der Börse ist der Politik jeder Gestaltungswille abhanden gekommen. Resultat ist ein radikaler Zukunftsverlust, der das Wunschbild eines möglichen, anderen Zusammenlebens per se ausklammert.

Geschichten im Sinne einer Utopie werden uns heute vorrangig von transnationalen Konzernen erzählt. Deren Fortschrittserzählung kennt jedoch lediglich das nächste Gadget, das in immer kürzeren Abständen ausgetauscht werden muss. Zukunft ist hier zum großen Teil nur die Vision einer Technik, die darin benutzt wird – alles geht so weiter wie immer, nur eben besser. Der Mensch wird in diesen Utopien vehement auf sein Dasein als Konsument verkleinert. Als solcher benötigt er keine Geschichte, die das Kaufen von Produkten, die selbst keine Geschichte mehr vertragen (sei es nun der kurzlebige Ikea-Schrank oder der per geplanter Obsoleszenz in frühzeitigen Ruhestand versetzte Drucker), nur behindern würde. Andererseits ist er unter dem Diktat einer sich angeblich in konstantem Wandel befindlichen Welt unablässig damit beschäftigt sich zu optimieren und anzupassen und damit eine eigene Geschichte zu inhibieren. Die Pseudogemeinschaften der Sozialen Netzwerke mit ihrem Zwang zur unablässigen Präsenz (der nach Byung-Chul Han zugleich einen Zwang zum Präsens darstellt) erschweren das Entstehen eines zum Handeln fähigen Subjekts oder gar einer Gemeinschaft zusätzlich. In der unablässigen Kommunikation, die diese Netzwerke ausgelöst haben sowie der allgemeinen Informationsflut des Internets werden sämtliche Inhalte gleichwertig und damit herkunfts- und geschichtslos. Denn Informationen benötigen einen Zusammenhang, in dem sich Sinn und damit Geschichte(n) erst entfalten können.

“Interstellar” präsentiert uns in den Anfangsminuten quasi ein mögliches Endstadium dieser Entwicklung. In Murphys Schulbüchern werden die Mondlandungen als Täuschungen dargestellt. Es gibt nur vage Erinnerungen an eine Vergangenheit, die voller Versprechen war und sich nun der Vorstellung entzieht. Was zählt, ist das Hier und Jetzt, eine Welt der “caretakers”, nicht der “pioneers”. Nolans Diagnose ist geprägt von einer großen Skepsis gegenüber dem technischen Fortschritt. Sein Protagonist Cooper kann sich auf seiner Reise durch den interstellaren Raum nur schwer mit den Robotern TARS und CASE anfreunden, weil es ihnen an Intuition und Erfahrung (und damit Bezugnahme auf eine Vergangenheit) mangelt. Er widerspricht ihren Berechnungen (CASE: „It’s impossible“; Cooper: „No, it’s necessary“), bis diese in der spektakulärsten Szene des Filmes – in der es wie an vielen Stellen darum geht, eine Verbindung zwischen Objekten unterschiedlicher zeitlicher oder räumlicher Ordnung herzustellen – einen wahnwitzigen Schritt gehen und Irrationalität zulassen: „Cooper, this is no time for caution.“ Das Misstrauen des Regisseurs schlägt sich überdies in der Produktionsweise des Filmes nieder. Gedreht auf Filmmaterial, beharrt er auf der Verwendung klassischer Spezialeffekte anstatt computergenerierter Bilder. Und tatsächlich entsteht auf diese Weise eine andere, greifbarere Materialität, die im Gegensatz zur Glätte des digitalen Bildes bereits an der sichtbaren Oberfläche an eine Kinotradition anzuknüpfen vermag.

Die erstaunlichste Verbindung auf erzählerischer wie formaler Ebene gelingt „Interstellar“ allerdings mit den so unscheinbar wirkenden Interviewszenen, die in unregelmäßigen Abständen mit der Handlung verflochten werden. Sie entstammen dem Dokumentarfilm „The Dust Bowl“ (R: Ken Burns; USA 2012) über die schweren Sandstürme in Nordamerika zur Zeit der Weltwirtschaftskrise 1930 und die Menschen, die davon betroffen waren. Christopher Nolan verbindet seine Geschichte mit der amerikanischen Geschichte einer Zeit, die ebenfalls von einer großen Krise geprägt war und in der der heute alles bestimmende Neoliberalismus, der die Entkopplung des Menschen von seinen Geschichten maßgeblich vorangetrieben hat, seine Wurzeln hatte. Die Verbindung ist deshalb so außerordentlich gelungen, weil in einigen Interviews, die auf den ersten Blick ja alle aus ‚The Dust Bowl‘ stammen müssten, eine um viele Jahre gealterte und deshalb anfangs nicht zu erkennende Figur aus „Interstellar“ zu sehen ist. Erst ganz am Schluss wird man sich der Retrospektivität des Filmes bewusst. Es ist eine vielschichtige und magische Korrelation von Realität und Fiktion, von Vergangenheit und Zukunft, die in keinem Genre hätte besser erzählt werden können als im Möglichkeitsgenre Science-Fiction.

Wie in keinem anderen Film in den letzten Jahren ist es in „Interstellar“ wieder möglich, etwas zum ersten Mal zu sehen, zu erfahren und ein Gefühl dafür zu bekommen, was es bedeutet, ein Pionier zu sein. Im Gegensatz zu den ewig um sich selbst kreisenden marvelesken Materialschlachten lässt „Interstellar“ den Zuschauer mit jeder Filmminuten näher an den Rand des Kinosessels rücken, lässt ihn tatsächlich Grenzen überschreiten; Grenzen, die unser Vertrauen in Geschichten verlangen, gerade weil sie nicht Eskapismus predigen und vergessen werden können, sondern mithilfe eines Bücherregals, eines Wurmloches und dokumentarischem Material eine Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schaffen. Aus diesem Grund verschränkt Nolan die Interviews aus „The Dust Bowl“ mit der Handlung seines Filmes: um aus Historischem, eine Geschichte über bereits geschehene Zukunft in unserer Gegenwart zu erzählen. Es mag in „Interstellar“ um die klassischen metaphysischen Fragen gehen, im Kern versucht der Film uns jedoch aufzuzeigen, dass die wichtigste Frage unserer Zeit (ganz im Sinne Harald Welzers) die nach der Geschichte ist, die wir von uns selbst in der Zukunft erzählen wollen. Also! Wer wollen wir gewesen sein?

Hier gibt es eine weitere Kritik zu ‚Interstellar‘.

Den Menschen so fern

(F 2014, Regie: David Oelhoffen)

Zwei gingen zusammen
von Ulrich Kriest

Irgendwo im Atlasgebirge steht einsam ein Schulgebäude und morgens kommen aus dem Nichts plötzlich Kinder unterschiedlichen Alters herbei gelaufen, um von ihrem Lehrer Daru unterrichtet zu werden. Der lehrt sie …

Irgendwo im Atlasgebirge steht einsam ein Schulgebäude und morgens kommen aus dem Nichts plötzlich Kinder unterschiedlichen Alters herbei gelaufen, um von ihrem Lehrer Daru unterrichtet zu werden. Der lehrt sie auch Dinge von geringem Belang, denn noch ist Algerien eine französische Kolonie, wenngleich schon Bürgerkrieg herrscht. Dass Daru im freiwillig gewählten Abseits davon nicht tangiert würde, von dieser Illusion befreit uns der Film schnell.

Daru bekommt den Auftrag, den Mörder Mohamed der französischen Gerichtsbarkeit zuzuführen. Eine Reise, die mehrere Tage in Anspruch nimmt und nicht ganz ungefährlich – wie sich schnell herausstellt. Mohamed will auf eigenen Wunsch der Justiz überstellt werden, um so seine Familie vor der Logik der Blutrache zu schützen. Als sich Daru der Aufgabe nicht entziehen kann, sind die beiden Männer für die Zeit der Reise aneinander gekettet, zumal Mohamed die Gelegenheiten zur Flucht, die der unwillige Daru ihm bietet, nicht nutzt.

Welche Gefahren drohen, wird schnell klar, denn der Frontverlauf im gespaltenen Land ist undurchsichtig. Zudem treten Verwandte von Mohameds Opfer auf, die Rache wollen. Während also Daru und Mohamed durch die karstige Wüstenei wandern, erhalten beide Figuren die Gelegenheit, mehr von sich zu erzählen, ihre Motivation offen zu legen. Auch dies geschieht sehr souverän und zurückhaltend.

1957, drei Jahre nach Beginn des Unabhängigkeitskrieges, veröffentlichte Albert Camus seine parabelhafte Erzählung „Der Gast“, die bei ihm noch kurz vor dem Kriegsausbruch spielt. Unübersehbar geht es hier um den Akt des Handelns, der als Revolte gegen die Ausweglosigkeit, als Freiheit empfunden werden kann. Mohamed wählt den Tod, aber den Tod durch die Guillotine und nicht den Tod durch die Blutrache, der die Gewalt fortschreiben würde. Daru, der sich eigentlich raushalten möchte, um seine Einsamkeit zu bewahren, wird durch Ereignisse gezwungen, Stellung zu beziehen.

Regisseur David Oelhoffen hat aus dem Stoff – eigentlich nahe liegend – von der ersten Szene an einen Western gemacht, ziemlich konsequent und voller Verbeugungen vor Genre-Momenten klassischer Western. Während die beiden Protagonisten sich einander annähern (wobei der Film stets darauf pocht, die kulturell-religiöse Differenz nicht zu negieren), erleben sie abenteuerliche Begegnungen mit fanatischen Siedlern, auf Rache sinnenden Männern aus Mohameds Dorf, mit Kämpfern der FLN und schließlich auch mit französischen Elite-Soldaten, die im Hinterland keine Gefangenen machen. Die Handlung spielt sich ab in einer archaisch-schroffen Natur, die durch Cinemascope die menschenfeindliche Landschaft noch erhabener und die Menschen darin noch kleiner werden lässt.

Am Schluss wird Mohamed tatsächlich die Wahl zwischen Leben und Tod haben, während es für Daru kein Zurück ins alte Leben „den Menschen so fern“ mehr geben kann. Inmitten des herrschenden Krieges wird es keine Versöhnung geben, stattdessen geht es um das nackte Überleben und das Wahren der Menschenwürde. Die Reduktion auf das Essentielle wird noch unterstrichen durch die eindrucksvolle, gleichfalls sehr reduzierte, fast schon abstrakte Filmmusik von Nick Cave und Warren Ellis.

„Den Menschen so fern“ ist vielleicht kein Meisterwerk, aber als philosophischer Western eine schöne Erinnerung an Klassiker von Budd Boetticher oder die frühen Western von Monte Hellman. Und gewiss nicht arm an Momenten, die das Geschehen mühelos auf unsere Gegenwart beziehbar macht. Sehenswert!

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Den Menschen so fern'.

Terminator 3 – Rise of the Machines

(USA / GB / D 2003, Regie: Jonathan Mostow)

Ein Krieg wird kommen
von Drehli Robnik

Der Hudriwudri hat es immer schon gewusst. Schon im Herbst 1991, als 'Terminator 2 – Judgment Day' der teuerste und sechsterfolgreichste Film aller Zeiten war, somit einige Jahre bevor ein …

Der Hudriwudri hat es immer schon gewusst. Schon im Herbst 1991, als 'Terminator 2 – Judgment Day' der teuerste und sechsterfolgreichste Film aller Zeiten war, somit einige Jahre bevor ein Skirennläufer als Herminator verehrt wurde, da trat uns Manfred Deixens Maskottchen einer nach einem anderen Hollywood-Klassiker benannten Zigarettensorte (Casablanca) als Hudrinator in schwarzem Leder entgegen und forderte in barschem Schriftsteirisch: 'Tuats leichte Zigaretten smoken, sonst schiaß i euch a Louch in d´Socken!' Klarer wurde selten formuliert, worin das massenkulturelle Sinnangebot der Marke Terminator besteht: Wie Schwarzenegger bietet auch die Hudrinator-Figur ein hypertrophes Männlichkeits-Image, das zugleich restaurativ und parodistisch, nostalgisch und grotesk ist; wie Arnold appelliert auch Deixens Schweindi ans Gesundheitsbewusstsein ('leichte Zigaretten smoken'); und wie beim Terminator, zumal dem diesjährigen Modell, wird Verzichtsmoral unter despotischer Strafandrohung durchgesetzt.

Nach den Flopps, die Schwarzenegger seit seinem Karriere-Höhepunkt in den frühen Neunzigern gelandet hat, ist Nostalgie, vielmehr: der Wunsch, von der Haltbarkeit von 'Terminator 2' im medialen Gedächtnis zu zehren, verständlich. Deutlich wird dies zumal in allegorischen Momenten, in denen 'Terminator 3' von sich selbst als eventförmigem Dialog mit Zielgruppen und deren Film-Erinnerungen handelt: Wenn der nunmehr 24jährige John Connor, der künftige Anführer der menschlichen Guerilla gegen die Maschinen, den Terminator als seinen Beschützer aus Teenie-Tagen wiedererkennt und ihn fragt, ob er sich nicht an 'Hasta la vista, baby!' erinnere, dann sind unser aller Reminiszenen an Highlights aus T2 angesprochen. Jedoch: Die Alltagskulturgut gewordenen Sager 'Hasta la vista, baby!' und 'I´ll be back!', 1984 in 'The Terminator' geprägt, verwiesen auf ein nächstes Mal und aufs Wiederkommen, mithin auf Ideen von unzerstörbarer Vitalität ebenso wie auf die Tendenz zur Fortsetzung. Das Pendant dieser One-Liner in T3 lautet schlicht 'It is time!', übersetzt mit 'Es ist soweit!'. Im T3-Trailer fungiert der Slogan als Zuruf ans Publikum, das Warten auf den Film habe ein Ende. 'It is time' lässt sich aber auch verstehen als Mahnung an die Zeit, die eben 'ist', und die Wunden nicht nur heilt, sondern auch schlägt. Immerhin: Sollte Arnold nicht gleich 'Governator' werden, sondern noch einen T4 drehen – ein (wenn auch von 'den Maschinen' programmiertes, verhängnisvolles) Wiedersehen von Connor und dem Cyborg in der Zukunft stellt T3 schon in Aussicht.

Das HeldInnen-Team von T2 hatte gegen Filmende dem Verhängnis ein wenig unbestimmte Zukunft, offen wie ein nächtlicher Highway, abgerungen. In T3 hingegen regiert die Zeit als Last dessen, was man so leicht nicht vergisst – im Sinn des Traumas, von dem Psychiater Dr. Silberman in einem Kurzauftritt spricht (sein Darsteller, Earl Boen, spielt neben Schwarzenegger als einziger in allen drei Terminator-Filmen mit), und im Sinn von Zitat und Wiedererkennen: An Nosferatu und Django, zutiefst nekrophile Kino-Ikonen, gemahnt Arnold mit geschultertem Sarg; die Kampfroboter-Prototypen im Showdown könnten aus 'Robocop II' stammen; der TV-Trailer zu T3 verurteilt uns zum Wiedererkennen einer im Filmbild prangenden Packung Manner-Schnitten. Subtiler ist da das Bild- und Wortspiel mit der durch die Wüste schwebenden Blase, die den Terminator ins Heute transportiert: Aus der Zukunft kommend, ist sie zugleich Zitat aus dem SciFi-Noir-Klassiker 'It Came from Outer Space', inszeniert 1953 von einem anderen großen Arnold, dem B-Movie-Wizard Jack Arnold.

Überhaupt, Film Noir: Jonathan Mostow, dessen Thriller 'Breakdown' 1997 Gespür fürs bedrohliche Stimmungspotenzial der Wüste und suburbaner Nicht-Orte bewies, nutzt auch bei der Regie von T3 die Un-Heimeligkeit von Vorstadt und Stadtautobahn, einer Cocktailbar am Wüstenrand, einer nachts ausgestorbenen Einkaufsstraße oder einer düsteren Tierklinik, in der alle Figuren zu einander finden. Wenig geblieben ist dagegen vom vulgärmaterialistischen High Concept-Styling James Camerons, der in T1, T2 oder 'Titanic' die 'Synästhetik des Stahls' – dessen Sound, Härte, Hitze oder bildprägende Blauheit – höchst plastisch inszeniert hatte. Ähnliches gilt für die Schauwerte des Morphing, jener digitalen Bildtechnologie, die 1991 anhand des Flüsssigmetall-Terminators in T2 ihren ersten großen Kino-Auftritt hatte.

An Arnolds diesmaliger Gegnerin – Kristanna Loken, hauptberuflich Model, in der Rolle der Terminatrix – zeigt sich, dass nicht nur Morphs passé oder gar konventioneller Standard sind (weshalb die sich als ostentativ 'analoge' Materialschlachten gebärdenden Actionszenen bessere Figur machen). Ebenso sind – da kann T3 noch so sehr die 'Rebellion der Maschinen' beschwören – intelligente Maschinen heute Alltagsphänomene, kaum tauglich als Bedrohungsbilder wie noch anno 91, als das Terminatoren-Duell zwischen Kraftmaschine und Gestaltwandler als Allegorie eines Übergangs vom disziplinierten Fabrik-System zum flexiblen digital capitalism erschien (und ich meine Falter-Rezension von 'Terminator 2' noch mechanisch auf Papier tippte).

Eine schwache Antagonistin ist die in Nappa-Leder herumstöckelnde Terminatrix auch deshalb, weil sie Gender-politisch zu spät kommt: Sie bleibt bloße Repertoirefigur neben den Girl-Power-Schwundformen von Lara Croft oder den drei Ekeln für Charlie. Überdies ist der Kampf des Good Old Terminator gegen eine Frau nur die pflichtgemäße, mehr sexistische denn spektakuläre Verbuchstäblichung jener Identitätskrisen patriarchaler Männlichkeitsentwürfe, die Schwarzeneggers Figuren von 'Conan', 'Predator' und 'Twins' bis zu seinem Schwanger- respektive Geklont-Werden in 'Junior' und 'The Sixth Day' physisch und affektiv ausagiert haben. Soll heißen: Dem Terminator haftete immer schon etwas vom Hudrinator an. Wenn Arnold in T3 beim Herumdoktern an seinem Body meint, die Terminatrix sei stärker und schneller und er selbst ein veraltetes Modell, dann ist solche Selbstreflexion von männlichem Masochismus zu redundant, um lustig zu sein.

Angesichts der bloß als Negativ-Verkörperung von Arnolds Alterungsprozess ('It is time'…) fungierenden Terminatrix fällt das Fehlen von Sarah Connor schmerzlich auf. Gespielt von Linda Hamilton, die in T1 als pummeliges girl-in-distress angetreten war und sich für T2 beeindruckende Kräfte und Geschmeidigkeit antrainiert hatte, war diese Figur dem Bodybuilder und dem Gestaltwandler ebenbürtig. Als toughe alleinerziehende Mutter des Weltretters, die im Kampfanzug und mit Gewalt den Atomkrieg verhindert, war Sarah Connor – neben Clarice Starling in 'Silence of the Lambs' und Ellen Ripley in 'Aliens' und 'Alien3' – ein zwiespältiges feministisches Role-Model. Zugleich war sie Ikone neuer Spielräume der Selbstermächtigung und für Reform-Optionen innerhalb einer Unterhaltungsindustrie, deren traditionell 'männlichstes' Genre, der Actionfilm, sich um 1990 öffnete, um zum Universalmedium des zeitgenössischen Blockbusters zu werden.

In T3 ist Sarah tot. Die Inschrift auf ihrem Sarg 'Not fate but what we make' wäre als Relikt aus den frühen Neunzigern im Judith Butlerschen, Gender-konstruktivistischen Sinn lesbar; im Gefüge von T3 ist der Spruch Teil eines Weltbildes, das der Filmbeginn in höchster Verdichtung formuliert: Wir seien Schmied unseres Schicksals, sagt John Connors Stimme, während eine Atombombe Los Angeles ausradiert und die von Maschinen regierte Zukunft einleitet. Die in T2 erkämpfte Abwendung des Weltuntergangs entpuppt sich als bloße Verzögerung, und der Terminator ist hier wieder ganz 'Beender' und wandelndes memento mori: Er gemahnt an unsere Endlichkeit, an eine düstere Zukunft und daran, dass der Spaß vorbei ist: 'It is time!'

In seinem Beharren darauf, dass die stets imaginierte Katastrophe schicksalsgleich eintreten und die Vorbereitung auf den Kampf danach zum einzigen Spielraum wird, ist T3 ein waschechter Post-911-Film. Da leuchten US-Fahnen, und die Läuterung John Connors (ein fehlbesetzter Kuschelbär mit dem passenden Namen Nick Stahl) vom alkoholsüchtigen Versager zum charismatischen Führer erinnert an Bush juniors rising to the occasion. Die Herrschaft der Vergangenheit über die Zukunft scheint perfekt, wenn ein väterlicher Air Force-General dafür sorgt, dass Connor und künftige Gemahlin den 'Judgment Day' in einem alten Atombunker des Militärs überleben: Die Kalten Krieger hatten immer schon Recht mit ihrer Vorsorge, und anstelle des offenen Highway von 1991 endet T3 mit dem Bunkerkorridor.

Hasta la vista, baby! In T2 hatte der Terminator lockere Sprüche und Umgangsformen von einem Teenager gelernt, der im Public Enemy-T-Shirt Bankomaten knackte. Camerons Film war fast ein Blockbuster-Pendant zeitgenössischer hood-movies, ein vage antiautoritärer Film, der Los Angeles als multikulturelles Biotop und (im Jahr des Rodney King-beating) den Antagonisten in Polizeiuniform zeigte. In T3 ist es der Terminator, der die Lehren erteilt; er verkörpert einen Zwang zur Anerkennung von Endlichkeit, aus dem sich diesmal nicht das (zaghafte) Ausloten virtueller Lebensentwürfe ableitet wie 1991, sondern reine Disziplinierung als ödipale Initiation: Der Krieg wird kommen, du wirst dich in ihm bewähren und gefälligst eine Familie gründen.

Sein jeweiliges Leder-Outfit besorgt sich der Terminator 1984 von einem Punk, 1991 von einem Motorrad-Rocker und 2003 von einem schwulen Striptänzer. Wenn Arnold kurz eine Elton John-Sternchen-Sonnenbrille aufsetzt, dann ist das Höhe- und Endpunkt der subkulturellen Kostümierungen und Identitätsentgrenzungen, die frühere Schwarzenegger-Filme als ihr gleichsam überschüssiges Befreiungsmoment mit artikuliert haben. Ab dann ist der Spaß vorbei. It is time.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Falter 30, Wien, Juli 2003

Bonne Nuit Papa

(D 2014, Regie: Marina Kem)

Das Schweigen des Vaters
von Wolfgang Nierlin

„Dein Schweigen war auch mein Schweigen“, heißt es einmal in Marina Kems vielschichtigem Dokumentarfilm „Bonne Nuit Papa“ über die lange Sprach- und Beziehungslosigkeit zwischen Vater und Tochter. Letztere begibt sich …

„Dein Schweigen war auch mein Schweigen“, heißt es einmal in Marina Kems vielschichtigem Dokumentarfilm „Bonne Nuit Papa“ über die lange Sprach- und Beziehungslosigkeit zwischen Vater und Tochter. Letztere begibt sich mit ihrem sehr persönlichen Film auf die Suche nach ihrem kambodschanischen Vater und seinem zunehmenden Verstummen in den letzten Jahren seines Lebens. Dabei verknüpft sie das starke Gewicht ihrer biographischen Erzählung mit Fragen der kulturellen Identität und den grausamen Wirkungen der politischen Geschichte. Marina Kem erzählt aus dem Off ebenso sachlich wie gefühlvoll von Fremdheit, Annäherung und Versöhnung. Dafür verwendet sie Briefe, Aufzeichnungen und Fotos aus dem Nachlass ihres Vaters, spricht mit Familienmitgliedern und schöpft aus dem reichen Fundus von Archiven.

Im Jahre 1965 kommt der damals 19-jährige Ottara Kem, aufgewachsen als Sohn eines strengen Schuldirektors in einem kambodschanischen Dorf, mit einem Stipendium nach Leipzig, um Maschinenbau zu studieren. Als sehr guter Student macht er zunächst sein Diplom als Ingenieur, um daran anschließend zu promovieren. Als charmanter, gutaussehender junger Mann lernt er seine spätere Frau Monika Bethmann kennen, mit der er drei Töchter hat. Die Familie lebt in dem sächsischen Dorf Bretnig, wo das Ehepaar in der Textilindustrie arbeitet. Während dieser Zeit wird Ottara Kems fernes Heimatland, in das er ursprünglich zurückkehren wollte, vom brutalen Terrorregime der Roten Khmer überzogen, dem fas alle Angehörigen zum Opfer fallen.

Einfühlsam blickt Marina Kem durch die Zeugnisse ihres Vaters auf dessen Leben und beginnt nach und nach zu verstehen: Wie Lebenspläne durch die kleine und große Geschichte verändert oder ganz zunichte gemacht werden; wie unter den Wirkungen einer scheiternden Ehe, kultureller Entwurzelung und kriegerischer Auslöschung ein Leben im Schweigen versinkt; und wie angesichts der innerdeutschen politischen Wende ein hoffnungsvolles Beginnen in Arbeitslosigkeit und Depression mündet. In ihrem überaus reichen, von tiefer Menschlichkeit getragenen Film, der nicht zuletzt auch Trauerarbeit ist, zeigt Marina Kem aber auch einen Weg zur Versöhnung. Schließlich findet sie in der (fremden) Heimat ihres Vaters eine neue Familie.

Härte

(D 2015, Regie: Rosa von Praunheim)

Eiskalter Block
von Wolfgang Nierlin

Er sei ein „harter junger Mann“ und „eiskalter Typ“ gewesen, ein „Block“, der niemanden an sich heran gelassen habe, sagt Andreas Marquardt im Rückblick auf seine Jahre als Berliner Zuhälter. …

Er sei ein „harter junger Mann“ und „eiskalter Typ“ gewesen, ein „Block“, der niemanden an sich heran gelassen habe, sagt Andreas Marquardt im Rückblick auf seine Jahre als Berliner Zuhälter. Stark und unerschrocken, strahlt der vielfache Karatemeister (der mittlerweile Kinder trainiert) auch heute noch schiere Kraft und souveräne Männlichkeit aus. Vielleicht ist es diese Mischung aus körperlicher Energie und Verlässlichkeit, die ihn vor allem für viele labile, schutzbedürftige Frauen so attraktiv machte und ihnen ein Gefühl der Sicherheit gab, auch wenn sie von ihm ausgebeutet und geschlagen wurden. An einer Stelle von Rosa von Praunheims Film „Härte“, der den unter gleichem Titel erschienenen Lebenserinnerungen Marquardts folgt, bemerkt der Portraitierte zu diesem paradoxen Verhalten: „Je brutaler ich zu den Frauen war, desto mehr liefen sie hinter mir her.“

Das gilt vor allem für die hübsche Marion Erdmann (Luise Heyer), die als 16-Jährige den zunächst kleinkriminellen Macho „Andy“ (Hanno Koffler) „anhimmelt“, von seiner „verkehrten Welt“ fasziniert ist und ab ihrer Volljährigkeit für ihn auf den Strich geht. Mit „Zuckerbrot und Peitsche“, mit Komplimenten und Schlägen macht Marquardt die teils naive junge Frau gefügig; und noch Jahrzehnte später bekennt diese geradezu Hörige, er sei „der richtige Mann“ gewesen. Was die beiden jedoch insgeheim verbindet: In ihrer Kindheit und Jugend waren sie Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch. So ist Andreas Marquardt bereits als kleiner Junge nicht nur dem brutalen Sadismus seines Vaters, sondern auch den sexuellen Übergriffen seiner Mutter ausgesetzt, die den Heranwachsenden zum Geschlechtsverkehr mit ihr zwingt. Von Scham, schuldbeladener Lust und Ekel traumatisiert, entwickelt Marquand schließlich einen unbändigen Frauenhass.

Rosa von Praunheims Docufiction, die fließend zwischen den Selbstzeugnissen der Interviewten und nachgestellten, in Schwarzweiß gedrehten Spielszenen wechselt, schildert vor allem das Psychogramm dieser Gewalterfahrung und der daraus resultierenden Geschichte (die damals Therapeuten überforderte und noch heute Unverständnis hervorruft). In exemplarischen, auf das Wesentliche reduzierten Szenen zeigt der stark stilisierte Film, wie aus einem Opfer ein Täter wird, ohne damit dessen Taten zu entschuldigen. Dies gelingt dem Regisseur, indem er das Geschehen in einem künstlichen, fast abstrakten Studio-Setting inszeniert und durch diesen Verfremdungseffekt eine leicht unterkühlte Distanz schafft. Verstärkt wird dieses Konzept noch durch das leicht formelhafte Spiel der Darsteller, das so als Spiel immer sichtbar bleibt. Nur in der Darstellung des kleinen Andreas wechselt von Praunheim eine Zeitlang in die radikal subjektive Perspektive des Kindes und zwingt auf diese Weise auch den Blick des Zuschauers in eine unbehagliche Nähe zum Geschehen.

Am grünen Rand der Welt

(GB / USA 2015, Regie: Thomas Vinterberg)

Widerspenstige Zähmung
von Manfred Riepe

Ein pittoreskes Dorf in England während 1870er Jahre: Die selbstbewusste und gebildete Bathsheba Everdene erbt überraschend das Gut ihres verstorbenen Onkels. Entgegen der Gepflogenheiten übernimmt die patente selbstbewusste Frau die …

Ein pittoreskes Dorf in England während 1870er Jahre: Die selbstbewusste und gebildete Bathsheba Everdene erbt überraschend das Gut ihres verstorbenen Onkels. Entgegen der Gepflogenheiten übernimmt die patente selbstbewusste Frau die Verwaltung selbst. Schon bald muss sie sich zwischen drei Verehrern entscheiden: Dem aufrechten aber armen Schäfer Gabriel Oak, dem wohlhabenden, etwas älteren, einsamen Besitzer des Nachbargutes, William Boldwood, und dem schneidigen Soldaten Frank Troy. Bathsheba gibt dem Offizier das Ja-Wort, muss aber schon bald einsehen, dass sie einen Fehler beging.

Das klingt nach einem viktorianischen Kostümdrama aus der Mottenkiste. Tatsächlich wurde die Romanvorlage, Thomas Hardys „Far from the Madding Crowd“ von 1874, schon mehrfach verfilmt, 1967 von John Schlesinger, 1998 von Nicolas Renton und 2010 von Stephen Frears. Dank Thomas Vinterbergs Neuadaption erlebt der Zuschauer sein grünes Wunder. Schon in den ersten Einstellungen fokussiert sein Film den Blick so sehr auf die Hauptfigur, ihre Wünsche und ihre Verwurzelung in der traumhaft schön fotografierten englischen Landschaft, dass man sich kaum zu entziehen vermag. Alles an diesem Film ist gerade heraus, unkompliziert und ohne forcierten Ästhetizismus.

Zu sehen ist Carey Mulligan als Bathsheba Everdene auf dem Pferd. Sie trägt ein Kleid und sitzt daher zunächst, wie seinerzeit üblich, züchtig im Damensitz. Doch schon einen Wimpernschlag später hockt sie fest im Sattel und reitet im Galopp über saftig grüne Hügel dahin. Die Landschaft ist geschmackvoll fotografiert. Man kann sich nicht mehr vorstellen, dass Vinterberg sich seinerzeit mit der Unterzeichnung des Dogma 95 zu einer tristen ästhetischen Enthaltsamkeit verpflichtete. In einem kleinen Wäldchen hängen die Äste so tief, dass Bathsheba nur flach auf dem Rücken liegend das Hindernis passieren kann. Ein ebenso schönes wie unprätentiöses Bild für eine Frau, die ihre Leidenschaft auslebt – ohne Mann.

Das muss auch der Schäfer einsehen, ein imposanter Typ, hoch gewachsen wie eine Eiche, der auch noch so heißt, Gabriel Oak. Mit physischer Wucht und zartem Einfühlungsvermögen verkörpert der Belgier Matthias Schoenaerts einen Mann, der viril wirkt ohne sich machohaft zu produzieren – aber dennoch abblitzt. Würde man nicht wissen, dass er Bathsheba einen Heiratsantrag macht, so könnte man glauben, dass Gabriel seiner Nachbarin die Vorzüge eines Geschäftes anpreist. Doch gerade die prosaische Schnörkellosigkeit, mit der die ökonomischen Grundlagen einer Heirat in den Vordergrund gerückt werden, eröffnen hier Raum für Gefühle – die trotz gelegentlich forcierter Musikuntermalung niemals schwülstig erscheinen.

Eine solche Geschichte kann im 19. Jahrhundert allein deswegen funktionieren, weil Bathsheba kurz darauf ein ansehnliches Gut erbt, auf dem sie ihren Traum von geistiger und emotionaler Unabhängigkeit ausleben kann. In einer geradezu magisch erscheinenden Szene verliert Gabriel Oak unterdessen seine Schafherde, die von seinem treuen Hütehund aus unerklärlichen Gründen über die Klippe, den grünen Rand der Welt getrieben werden. Der nunmehr mittellose Schäfer tritt ausgerechnet in Bathshebas Dienste und muss dank dieser Rollenumkehrung als Zaungast geraume Zeit miterleben, wie seine Angebetete von anderen Männern heftig umworben wird.

Ihr wohlhabender Nachbar William Boldwood (Michael Sheen), wie Oak auch Gentleman durch und durch, bewundert Bathsheba, die seine Anträge jedoch beharrlich zurückweist. Erst der buchstäblich schneidige Soldat Frank Troy (Tom Sturridge) vermag ihr bislang unterdrücktes Triebleben so zu entfachen, dass dieser rationalen Frau die Kontrolle entgleitet – und sie das Lusterleben zulässt. Neben den beiden anderen Verehrern, dem schwermütigen Nachbarn Boldwood und dem stilvoll schmachtenden Oak, erscheint der Soldat eine klischeehafte Figur zu sein. Doch dank der Reichhaltigkeit von Thomas Hardys Vorlage kann Vinterberg hier interessante psychologische Details aufblitzen lassen. Als Soldat zählt Troy nämlich zu den Männern, die mit Frauen nicht wirklich etwas anfangen können. Er schien auf nichts anderes gewartet zu haben als sich auf der Hochzeitsfeier mit anderen Männern rituell zu betrinken. Das Gegenteil zu dieser repressiven Form sublimierter Homoerotik verkörpert der zupackende Oak, der unterdessen – und ohne nachzufragen – Bathshebas Ernte und damit deren wirtschaftliche Grundlage vor einem aufziehenden Unwetter rettet.

Im gewissen Sinn ist „Am grünen Rand der Welt“ eine Antithese zu einer anderen Hardy-Adaption. Im Gegensatz zu Bathsheba verfügt Tess in Roman Polanskis gleichnamiger Verfilmung nämlich nicht über wirtschaftliche Unabhängigkeit. So wird sie von dem gewissenlosen Schürzenjäger D’Urberville so heimtückisch ausgebeutet, dass ihr am Ende kein anderer Ausweg als der Mord bleibt. Hardys Figuren erscheinen vielleicht überzeichnet, aber nicht unrealistisch. Deswegen bleibt Vinterbergs Verfilmung bis zuletzt spannend. Was er in den Vordergrund rückt, ist jene Kultivierung des Mannes, die in „Tess“ unmöglich schien. Neben Michael Sheen als William Boldwood – der nicht Manns genug ist, um zu sehen, dass er nicht der richtige ist – verkörpert der als „belgischer Marlon Brando“ bezeichnete Matthias Schoenaerts einen Typen, der von Anfang an illusionslos erscheint. Selten hat man jemanden gesehen, der so stilvoll schweigen kann.

Doch auch er hat noch Reste dieses „Wilden“, „Ungezähmten“, „Hochmütigen“ in sich – verkörpert durch seinen Hund, der nicht zufällig die Schafe über die Klippe treibt. Dieser Hund, den sein Besitzer abgöttisch liebt, ist ein Symbol für das Unzivilisierte im Mann. Zerstörerische Impulse dieser Art muss Oak in sich jedoch domestizieren – eine harte Arbeit. Erst ganz am Ende, als er alles ohne zu verzweifeln aufgegeben und in gewissem Sinn die symbolische Kastration erlitten hat, bekommt er die Frau: Jetzt ist sie für ihn aber kein Ding mehr, kein bloßes Objekt der Triebbefriedigung; beide begegnen sich auf Augenhöhe. So etwas ohne Kitsch zu verfilmen, ist wirklich ein Kunststück.

Love & Mercy

(USA 2014, Regie: Bill Pohlad)

Das Genie hört Stimmen
von Wolfgang Nierlin

Woher kommt die künstlerische Inspiration? Jenes ungewisse, unkontrollierbare Gut, dessen unwägbares Geheimnis einer göttlichen Gunst zu entspringen scheint und dessen schöpferische Setzung sich dem Kairos verdankt. Dass künstlerische Eingebung nicht …

Woher kommt die künstlerische Inspiration? Jenes ungewisse, unkontrollierbare Gut, dessen unwägbares Geheimnis einer göttlichen Gunst zu entspringen scheint und dessen schöpferische Setzung sich dem Kairos verdankt. Dass künstlerische Eingebung nicht nur nicht erzwingbar ist, sondern auch höchst zerbrechlich, hat die Genies aller Zeiten immer wieder an seelische Abgründe geführt oder in die Verzweiflung gestürzt. Die Angst vor dem Verlust der Inspiration steht deshalb auch am Anfang von Bill Pohlands hervorragendem Film „Love & Mercy“, einem eher untypischen Biopic über Brian Wilson, den genialen Komponisten und insofern musikalischen Kopf der Beach Boys. Konzentriert auf zwei wesentliche Lebensabschnitte, verbindet der Regisseur sehr eindringlich Wilsons künstlerische Kämpfe auf dem Höhepunkt seiner Karriere mit seinen menschlichen Dramen.

Die großen Erfolge der umschwärmten Band zu Beginn der sechziger Jahre, in bunten, körnigen Bildern und einem dynamischen, quasidokumentarischen Handkamerastil aufgenommen, werden insofern nur kursorisch abgehandelt. Stärkeres Gewicht erhält hingegen Brian Wilsons (Paul Dano) künstlerische Abnabelung vom beliebten „Surfsound“, die er gegen seinen autoritären Vater und die Widerstände innerhalb der Band vollzieht und die 1966 schließlich zur Veröffentlichung des Meisterwerks „Pet Sounds“ führt. Auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft, die er in langen Studio-Sessions mit einer Gruppe von Profimusikern kreativ auslebt, wird er allerdings, zunehmend isoliert und unverstanden, immer stärker von seinen inneren Dämonen heimgesucht. Das Genie hört Stimmen, wird wunderlich und sagt nach seinem ersten LSD-Trip, er habe Gott gesehen, der ihm die Zukunft gezeigt habe.

Die Traurigkeit, die dabei in seiner Stimme liegt, hat ihn zwanzig Jahre später im Klammergriff. Der psychisch zerrüttete Wilson (John Cusack), von Drogen gezeichnet und vom Unfalltod eines Bruders Dennis traumatisiert, lebt jetzt wie ein Gefangener in der zweifelhaften Obhut des ebenso zwielichtigen wie tyrannischen Psychiaters Eugene Landy (Paul Giamatti). Dieser scheint selbst wahnhaft zu agieren, indem er seinen labilen, von ihm abhängigen Patienten einer totalen Kontrolle unterwirft und dabei finanziell ausbeutet. In dieser Phase lernt Wilson die einfühlsame Autoverkäuferin Melinda Ledbetter (Elizabeth Banks) kennen, die dem verschreckten, ängstlichen Künstler neuen Lebensmut schenkt.

Bill Pohland verknüpft in seinem ebenso kenntnisreichen wie ausgefeilten Film die Hoffnungen und Kämpfe der bald in eine schwierige Liebesgeschichte verstrickten Protagonisten mit Wilsons künstlerischem Selbstbehauptungswillen Mitte der sechziger Jahre. Dafür wechselt er mit Hilfe einer genauen Montage immer wieder die Zeitebenen und schafft so Entsprechungen und Korrespondenzen. Darüber hinaus gewähren persönliche Erinnerungen seines Helden immer wieder tiefe Einblicke in dessen von konfliktreichen Familienbeziehungen geprägtes Seelenleben, das schließlich auch in seinen Songs Ausdruck findet. Getragen und abgerundet wird der sehr sehenswerte Film nicht zuletzt von dem meisterlichen Spiel eines großartigen Schauspielerensembles.

Insidious: Chapter 3 – Jede Geschichte hat einen Anfang

(USA 2015, Regie: Leigh Whannell)

Nuller Jahre Nostalgie
von Nicolai Bühnemann

James Wan, der einst mit dem ersten „Saw“-Film (2004) als Mitbegründer dessen galt, was KritikerInnen despektierlich als torture porn bezeichneten, wendete sich 2010 anderen, weniger blutrünstigen Gefilden des Horror-Genres zu. …

James Wan, der einst mit dem ersten „Saw“-Film (2004) als Mitbegründer dessen galt, was KritikerInnen despektierlich als torture porn bezeichneten, wendete sich 2010 anderen, weniger blutrünstigen Gefilden des Horror-Genres zu. Mit „Insidious“ legte er einen postklassischen Grusler vor, in dem Geister aus einem The Further genannten Jenseits versuchten, sich Wege ins Diesseits zu bahnen. Heimgesucht wurde dabei die Familie Lambert, deren Männer eine besondere Begabung haben, durch das Further zu driften und dabei Gefahr laufen, böse Geister mit in ihre Welt zu bringen wie eine Art besonders garstiger Parasiten. Im ersten Teil sorgten diese Dämonen dafür, den kleinen Sohn der Familie in eine Art Koma zu versetzen. Im zweiten Teil (2013) wurde vor allem die Vorgeschichte des Vaters weiter beleuchtet, wobei zu dem sowieso schon recht bunten Mix an Genreversatzstücken noch ein Serienkiller mit einem ziemlich gestörten Verhältnis zu seiner Mutter hinzukam.

Die Handlung von „Insidious: Chapter 3“ spielt sich einige Jahre vor den Geschehnissen im Hause Lambert ab und der Film markiert gleich in mehrfacher Hinsicht einen Neuanfang in der Reihe. Zunächst, weil es der erste Teil ist, bei dem die Regie nicht mehr von James Wan übernommen wurde, sondern Leigh Whannell, Wegbegleiter Wans, seit er das Drehbuch für „Saw“ schrieb und auch als Autor sowie Darsteller von Specs an den ersten beiden Teilen beteiligt, zeichnet nun für Buch und Regie verantwortlich. Dann aber auch, weil es statt der Lamberts nun eine neue Familie mit bösen Geistern aus dem Further zu tun bekommt und die Verbindung zu den Vorgängern hergestellt wird durch die bisherigen Nebenfiguren: die Geisterjägerin Elise (Lin Shaye) und später auch ihre nerdigen, mit allerlei obsolet ausschauenden Gerätschaften hantierenden und von ferne her an die „Ghostbusters“ gemahnenden Assistenten Tucker (Angus Sampson) und Specs (Leigh Whannell).

Die siebzehnjährige Quinn Brenner (Stefanie Scott) lebt gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder bei ihrem Vater Sean (Dermot Mulroney), der sichtlich damit überfordert ist, sich nach dem Krebstod der Mutter um die beiden Kinder zu kümmern. Um Kontakt zu ihrer Mutter im Jenseits aufzunehmen, sucht Quinn zu Beginn Elise auf, die sich nach dem Tod ihres Mannes von ihrer Tätigkeit als Seherin zurückgezogen hat. Bald wird Quinn, durch einen schweren Unfall ans Bett gefesselt, von immer drastischeren Erscheinungen und Vorkommnissen geplagt. Es ist Zeit für Elise, aus dem Ruhestand zurückzukehren, wie es sonst im Film vornehmlich alternde Westerner und Profikiller tun, um sich mit Hilfe von Tucker und Specs, die sie erst bei dieser Gelegenheit kennen lernt, daran zu machen, die Dämonen der Vergangenheit, die durch Elise versuchen, ins Diesseits zu gelangen, zu stellen.

Whannell gelingt es, einen weiteren grundsoliden, durchgehend spannenden Grusel-Horror vorzulegen, dessen jump scares einen wie schon in den Vorgängern kräftig im Kinosessel durchschütteln. Der Unfall relativ zu Beginn, bei dem Quinn vollkommen unvermittelt von einem Laster angefahren wird, gibt den Ton an. Wie oft hat man eine Szene, in der jemand (und wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, sind es meist junge Frauen) urplötzlich überfahren wird, schon in Filmen oder Serien gesehen. Das ändert nichts daran, dass der Film diese Situation verdammt effektiv einsetzt. Außerdem variiert er sie auch noch dahin gehend, dass die Protagonistin hier nicht aus dem Leben scheidet, sondern nur vorübergehend im Rollstuhl landet, und mit ihren zwei Gipsbeinen eine umso hilflosere Erscheinung abgibt gegenüber den Mächten, mit denen sie es im weiteren Verlauf zu tun bekommen wird. Nichts Neues in The Further also, aber dafür viel Altbekanntes, das durchaus gekonnt in Szene gesetzt wird.

Dazu passt gut, wie vergangenheitsgesättigt dieser Film ist. Während in das Leben der alles in allem recht glücklichen Lamberts erst durch die übernatürlichen Ereignisse die Tragödie eintrat, wurden die Verlusterlebnisse hier in die Vorgeschichte sowohl der Quinns als auch Elises verlegt. Sich den sehr buchstäblichen Dämonen der Vergangenheit zu stellen, zu trauern, aufzuarbeiten, Wege zu finden, um weiterzumachen, sind die Aufgaben der Protagonisten. Es kommt dazu, dass der Film, dessen Handlung, so lässt sich leicht errechnen, irgendwann in den 2000er Jahren angesiedelt ist, dank der Schnelllebigkeit unserer Zeit beinahe als period picture daherkommt. Das schlägt sich vor allem in den modernen Technologien nieder, die scheinbar gerade im Horror-Genre eine besonders große Rolle spielen. Sie waren im Prinzip die selben wie heute, allerdings waren die MacBooks etwas größer, die Smartphones etwas klobiger und Essensfotos wurden noch nicht auf Facebook oder Instagram geteilt, sondern im Blog gepostet (die schönste Dialogzeile des Films gibt es, als der Vater Quinn dabei zusieht, wie sie ihr Frühstück fotografiert: „Don’t blog it. Eat it.“).

Wo die beiden Vorgänger mit veritablen Cliffhangern endeten, sucht „Insidious: Chapter 3“ mit seiner letzten Einstellung Anschluss an die Geschehnisse des ersten Teils und suggeriert damit, der Abschluss der Reihe zu sein. Aber bei der Vorliebe des gegenwärtigen Hollywoods fürs Serielle kann man das ja nie so genau wissen.

Freistatt

(D 2015, Regie: Marc Brummund)

„Das kannst du besser, komm schon!“
von Ulrich Kriest

Klar! Wir sollten „Victoria“ den aktuellen Erfolg von Herzen gönnen, darüber aber die Bedeutung der Gegenwart im deutschsprachigen Kino nicht überbewerten. Fakt ist: Geschichte geht immer! Gerade sehr angesagt in …

Klar! Wir sollten „Victoria“ den aktuellen Erfolg von Herzen gönnen, darüber aber die Bedeutung der Gegenwart im deutschsprachigen Kino nicht überbewerten. Fakt ist: Geschichte geht immer!
Gerade sehr angesagt in den Kinos: West-Deutschland, fiktional, dokumentarisch, kreuzweise. Besser noch: the dark side of the alte BRD, wo junge Staatsanwälte alte Nazi-Täter jagen („Im Labyrinth des Schweigens“), eine Generation den antiautoritären Aufbruch probt („Une jeunesse allemande“) und sich die kreative Bohème schließlich desillusioniert auf der Insel der Glückseligen versammelt, um das Hohelied der „Genialen Dilettanten“ anzustimmen („B-Movie“, „Tod den Hippies. Es lebe der Punk!“), bevor die Love Parade den Kudamm erobert.

Oder vielleicht doch noch einmal von der RAF sprechen? Über Bande, gewissermaßen? Stichwort: Schließlich gab es in den Sixties auch Ungleichzeitigkeiten in Form von kirchlichen oder staatlichen Fürsorgeheimen, in die renitente Jugendliche von überforderten oder auch schlicht genervten Eltern mit Hilfe von Jugendämtern abgeschoben werden konnten und in denen noch lange der Muff von tausend Jahren waberte. Die kirchliche Fürsorgeanstalt Freistatt, wunderschön gelegen in norddeutscher Moorlandschaft, galt als besonders harte Verwahranstalt, wo die Persönlichkeit Jugendlicher durch Repression und Zwangsarbeit gebrochen wurde. Gerade erst hat Christian Frosch mit „Von hier an kein zurück“ an Freistatt erinnert, jetzt macht Marc Brummund der berüchtigten Verwahranstalt filmisch den Prozess in Gestalt eines Genre-Films. Froschs Film ist eine ambitionierte Mischung aus Meinhofs „Bambule“ und Fassbinder, Brummunds eher „Working on a Chain Gang“ mit allem „torture porn“-Pipapo: Gewalt, Missbrauch, undurchsichtige Regeln und Machthierarchien, Fluchtversuche, Ohnmacht, Selbstmord, Auflehnung und Widerstand. Brummund zeichnet nach allen Regeln der Kunst (gute Darsteller, großartige Kameraarbeit, wirkungsvolle Filmmusik, Naturmetaphorik) eine autoritäre Welt, die sich erfolgreich abzuschotten weiß gegen die Liberalisierungen der Zeit.

Leider macht der Film selbst die Genre-Schotten dicht, fokussiert die Hauptfigur, interessiert sich nicht weiter für die Geschichte und Motive der Nebenfiguren, was dem sicherlich bestens durchrecherchierten Stoff märchenhafte (Western-)Züge verleiht. Da ist der böse Stiefvater, die hilflos-nette, Kuchen backende Mutter, der aufrechte und gerechte Sohn Wolfgang und sein treuer Gefährte Anton, das afro-deutsche Waisenkind. Da ist der böse Herrenreiter und Hobby-Gärtner Brockmann, seine Schläger- und Missbrauchs-Kapos und sein keckes, Bonanzarad fahrendes Töchterchen Angelika, das in Hamburg vielleicht „was mit Politik“ studieren will. Und da ist der Soundtrack der Revolte aus dem Radio: „Freedom“ singt Richie Havens und „Sometimes I feel like a Motherless Child“ in der vaterlosen Gesellschaft. Wozu soll das führen?

„Freistatt“ setzt auf klassisches Identifikationskino, während „Von hier kein zurück“ seine Geschichte polemischer mit Elementen des Autorenkinos »rahmt«: hier die Schlagerbranche, dort der militante Widerstand als Perspektiven, während Wolfgang erst einmal nur dem Grauen »entkommt«. Durchaus spannend, wenngleich etwas vom »Problem« ablenkend: beide Filme im Zeichen des Strukturalismus hintereinander gucken und auf Spiegelungen, Doppelungen, Weiterungen und Verengungen achten. Notieren! Die monströsen Vater-Figuren (und ihre chargierenden Darsteller: Ben Becker, Uwe Bohm), die hilflosen Mütter, das Straf-Personal, die Mit-Gefangenen, die „Idee“ von Familie als feste Burg, die Momente, in denen der antiautoritäre Aufbruch („Pictures of Matchstick Men“ von Status Quo (sic!)) abgewürgt wird im Zeichen der Disziplinargesellschaft. Wenn dann „Scarborough Fair“ von Simon & Garfunkel in der Version von Sergio Mendes erklingt, ist das bereits der softe Sound der Vorhölle.

B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin 1979 – 1989

(D 2015, Regie: Jörg A. Hoppe, Heiko Lange, Klaus Maeck)

Geile Insel
von Wolfgang Nierlin

Als der junge Mark Reeder 1979 nach West-Berlin kommt, ist er überrascht vom „kaputten“ Zustand der Stadt, in der es noch Kriegsruinen gibt und die Fassaden bröckeln. „Überall konnte man …

Als der junge Mark Reeder 1979 nach West-Berlin kommt, ist er überrascht vom „kaputten“ Zustand der Stadt, in der es noch Kriegsruinen gibt und die Fassaden bröckeln. „Überall konnte man die Geschichte spüren“, sagt der musikbegeisterte Engländer aus Manchester, der seine sich im Niedergang befindende Heimatstadt flieht, weil sie „hässlich“ und „dreckig“ ist und nur „finstere Aussichten“ bietet; und in der sich zunehmend vehementer der Punkrock als „Musik gegen das Elend“ artikuliert. Zwar spielt auch Reeder in einer nur mäßig erfolgreichen Band namens The Frantic Elevators und arbeitet in einem angesagten Plattenladen, doch insgeheim schlägt das Herz des Uniformfetischisten für die deutschen Elektronikpioniere Tangerine Dream, Ash Ra Tempel, Neu! und Kraftwerk. Seine Entscheidung, als Agent des Labels Factory Records nach West-Berlin zu fahren, hat also noch einen zweiten Grund, der bei seiner Ankunft allerdings enttäuscht wird.

Was der ebenso neugierige wie offene Mark Reeder stattdessen findet und entdeckt, erzählt er in dem Dokumentarfilm „B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin 1979 – 1989“ von Jörg A. Hoppe, Klaus Maeck und Heiko Lange. Als Chronist und Zeitzeuge führt uns Reeder durch die Berliner Subkultur jener wilden Jahre, eines Jahrzehnts der lustvollen Exzesse und avantgardistischer Experimentierfreude. Das jedenfalls vermittelt die unglaubliche Fülle äußerst spannender filmischer Dokumente, deren dynamische Montage nicht nur den Hedonismus und die Zerstörungswut einer ziemlich ausgeflippten Szene lebendig macht, sondern auch den Blick in ein fast schon fernes, jedenfalls kurioses und phantastisches „Punk-Biotop“ erlaubt. Der unschätzbare kultur- und musikgeschichtliche Wert dieser Kompilation wird dabei flankiert von Reeders radikal subjektiver Insider-Perspektive, seiner ansteckenden Begeisterungsfähigkeit und einem nicht minder einnehmendem Humor, der ausgewogen zwischen Beobachtung und Teilnahme vermittelt.

Mark Reeder taucht ein in die bunte Hausbesetzer-Szene Kreuzbergs, die sich aus kreativen Punks, alternativen Künstlern und westdeutschen Wehrdienstverweigerern zusammensetzt. Er wird Zeuge wüster Straßenkämpfe (bei denen 1981 der junge Hausbesetzer Klaus-Jürgen Rattay stirbt), bizarrer Kunstaktionen (u. a. von Keith Haring und Martin Kippenberger) und des absurden Prozesses um den „Wahren Heino“. Vor allem aber driftet er durch das schillernde Nachtleben einer den Augenblick auskostenden Bohème, die nie schläft und die als eine einzige große Bande von Verschworenen erscheint. Die angesagtesten Clubs und Kneipen heißen SO36, Risiko, Dschungel und Fabrik. Hier lernt Reeder unter vielen anderen etwa Blixa Bargeld, Christiane F. und Gudrun Gut kennen, für deren Bands Mania D und Malaria! er als Manager zum „Männlein für alles“ wird. Für Joy Division organisiert er im Januar 1980 ein Konzert im legendären Kant-Kino, Nick Cave ist eine Zeitlang sein Mitbewohner und in den Splatterfilmen von Jörg Buttgereit tritt er als Darsteller auf.

Als Teilnehmer, Vermittler und Organisator wird Mark Reeder so zum Szenekenner und „Fremdenführer“ inmitten einer ebenso kreativen wie schrägen Undergroundkultur. Deren hervorstechendstes Merkmal sowie Bedingung ist das Inseldasein West-Berlins, dessen inhärente Freiheit auf paradoxe Weise durch die Begrenzungen der Mauer, ihren Rahmen, garantiert wird. „Alles war geil“, sagt Reeder einmal über die besonders intensive Atmosphäre, die aus dieser als klaustrophobisch und surreal empfundenen geopolitischen Situation resultiert. Als die Szene schließlich zwischen Overkill und Ernüchterung implodiert und die Mauern des Kalten Krieges fallen, tritt mit der von WestBam und anderen angeführten Vorhut der Techno-Bewegung eine neue Generation auf den Plan, die mit dem von Dr. Motte ausgerufenen Motto der ersten Loveparade (mit 150 Teilnehmern) nicht mehr gegen, sondern für etwas demonstriert, nämlich für „Friede, Freude, Eierkuchen“.

Ich seh, Ich seh

(AT 2014, Regie: Severin Fiala, Veronika Franz)

The Family Trap(p)
von Drehli Robnik

Ein(ei)igkeit, Konflikt und Staatsmachtgeschichte “Ich seh, Ich seh”: Schon der Titel sagt, dass es hier um eine Doppelung, jedenfalls um ein Mehr an Sehen geht. Also ist es doppelt schwer, …

Ein(ei)igkeit, Konflikt und Staatsmachtgeschichte

“Ich seh, Ich seh”: Schon der Titel sagt, dass es hier um eine Doppelung, jedenfalls um ein Mehr an Sehen geht. Also ist es doppelt schwer, etwas zu sagen, denn: Zum einen muss hier, wie bei vielen rezenten Horror-, Spuk- und Mystery-Thrillern, der spoiler alert zur Anwendung kommen; zum anderen ist schwer zu sagen, was wir da nun sehen – zumal im Rückblick.

Von seinem Ende her tritt diese Ambivalenz an “Ich seh, Ich seh” voll zutage. Zunächst lässt sich sagen: Der Film endet in der perfektionierten Konvention, und auch das in zweifacher Hinsicht: Mit dem Bild der Mutter und ihrer Zwillingsbuben (Susanne Wuest, Elias & Lukas Schwarz), die nicht ganz da sind, aber dafür umso beherzter grinsend 'Weißt du, wieviel Sternlein stehen' in die Kamera singen, ist eine traditionelle Konvention von mütterlich definiertem Familienglück bis zur Perfektion (über)erfüllt und ausgestellt.

Dieses Schlussbild gerät – umso mehr, als es ein Mama-Kinder-Idyll ironisch, also ostentativ wissend ausstellt – zur selbstbezüglichen Signatur des Films und seiner Operation. Und die läuft auf ein mustergültiges Aufpolieren neuerer Horrorfilmkonventionen hinaus: etwa der Mindgame-Film-Plot-Twist-Konvention, der zufolge eine handelnde Figur sich als imaginärer Mitmensch erweist, wobei oft, so auch hier, ein Schuldtrauma im Spiel ist; oder das finale Sich-Fügen-Müssen einer Frau in eine – und sei es adoptionsbedingte – Mutterrolle gegenüber Spukwesen (wie in „The Others“, „The Ring“, „Dark Water“, „Das Waisenhaus“, „Mama“). Das Einschwenken in die Bildlogik der rundum perfektionierten Form, der durch Variation nochmal vitalisierten Konvention, wäre in diesem Sinn das Endergebnis all der Irreführungen, Irritationen und Mysterien, die dieser in Schauspiel, Kamera, Schnitt, Sounddesign und natürlich Veronika Franz‘ und Severin Fialas Regie virtuose Film bietet.

Das betrifft aber nur den ersten Aspekt der Schwierigkeit beim Sagen, was zu sehen ist, eben den, der unters Verdikt des Spoiler Alert fällt. Aber mit diesem Ende ist nicht alles gesagt und nicht alles gesehen, nicht zuletzt auch deshalb, weil der Moment der Retrospektion (Das also war es!), bei dem notorische Blitzmerker sich stolz sagen können, sie hätten es schon lang vorausgesehen ('Ich seh… dead people!' – 'Ich seh… sie auch schon!'), erstens in die Dauer eines Immer-mehr-Dämmerns gestreckt ist und diese zweitens dem Ende lang vorhergeht. Mit dem grinsenden Idyll-Ende ist nicht alles aufgelöst und abgedeckt, was hier an Ominösem und bildlich Eigenlogischem umgeht. Was geht um? Etwas, das nach einem Umgang fragt, der nicht in jenem Dialog zwischen Expertisen besteht, dem zufolge ein schlauer Film vorgibt und ein schlaues Publikum nachvollzieht (oder womöglich oberschlau zuvorkommt: 'Hab‘s eh gewusst!'). Es gilt, diesen Film beim buchstäblichen Bild einer anderen Schlauheit nehmen, einer Einsichtigkeit, die weniger der Virtuosität von FilmemacherInnen oder InterpretInnen entstammt als dem irritierenden (und im Horrorfilm auf perfide Weise mehr als in anderen Genres 'normalen') Haunting von Bildern. Gerade von vertrauten Bildern: von zwei- oder mehrfach gesehenen, die uns somit als „Signs“ im Zustand der „High Tension“ begegnen (um zwei andere Mindgame-Horrorfilme zu nennen, in denen Leute im Maisfeld umgehen).

Dem Ende geht ein immer gewalttätigerer Kampf zwischen Mutter und Zwillingsbuben um die Macht im gemeinsamen, an einem Wald und Teich im sommerlichen Burgenland abgelegenen Haus voraus. Im Verlauf des Kampfes verschieben sich Zuordnungen: Mutter agiert anfangs mit Regeldeklarationen (keine Tiere ins Haus bringen, keine Türen zusperren), auf die die Buben mit Improvisation (Katze verstecken, Türknauf blockieren) antworten; später ist es umgekehrt, und es ist mehr als nur ein Hauch von Folterhorror und Spoiler Alert. Aber auch die Einschätzung, welche Gewalt opferseitige Selbstverteidigung ist und welche ein Terrorregime errichtet, muss revidiert werden – und wohl auch unsere Empathie gegenüber Figuren.

Ohne dass der Film, der fast zur Gänze in der sommerferialen Isolation der Villa und Umgebung spielt, es groß ausformuliert, platziert er seine Aktionen, Äußerungen, Empfindungen in einem Register, das gesellschaftlich ist. Eine Mutter, die mit bandagiertem Gesicht vom Schönheitschirurgen zurückkommt und vielleicht nicht sie selbst ist, wie es den Buben scheint, die ihrerseits aussehen und oft reden wie einer – das ist schon viel Sozietät, da werden Ver-, Auf- und Zuteilung zum Problem. Etwa die Frage, welche Gesten, Sätze, Handlungen einer streng sorgenden Mutter zuzuordnen sind und welche einer Wahnsinnigen, die deren Platz oder Körper usurpiert hat; oder, konfrontiert mit der perfid gestalteten Neutralformulierung und Phrasierung von Sprechakten der Buben, die Frage, ob die Mutter immer erst auf den zweiten reagiert – weil sie den einen nicht hören will? oder weil sie ihn nicht hört, da nämlich… Sie sehen schon. Gesellschaftliche, nämlich Klassen-Aufteilung, kommt auch in der markanten Szene mit zwei Rotkreuz-SpendensammlerInnen ins Spiel, wenn der Sammelmann in plebejischem Soziolekt motzt, das Spendenformular habe wohl ein Doktor ausgefüllt, so unleserlich sei es, und die 50 Euro-Spende der Buben sei schon okay, denn die Villa sehe so aus, als könnten die, die drin wohnen, sich´s leisten.

Das Sozialregister ist hier klarerweise stark überformt/überlagert vom Register der Familie, zumal einem Familienroman der Neurotiker: Während – anders als bei Freud und anders als in Almodovars „Haut, in der ich wohne“ – das Geschlecht der Mutter wie auch das Fortsein des Vaters certissimi sind, ist die Mutterschaft semper incerta, zumal in den Augen der aus Angst zu allem entschlossenen Buben. Etwas distanzierter gesehen, setzt der Plot zwei Optimierungsprojekte gegeneinander: Die Mutter, Alleinerzieherin, TV-Moderatorin von Beruf, will Perfektion im Gesicht und im Heim und will ihrem Nachwuchs etwas abgewöhnen (aber was genau?). Dieser Wunsch erfährt ein Verhindern seitens Kindern, eine Radikalvariante dessen, was viele Frauen zwischen Beruf und Mutterschaft erleben: Wie soviele (Un)Wesen in Horrorfilmen und schrecklichen Realitäten wollen die Buben nur spielen: Sie erzwingen ein Idyll, in dem die Mutter ihnen gehört, und agieren dabei als Loyalisten, verpflichtet auf Echtheit, Wahrheit und deren strenge Vorgaben: Unsere Mama, verkünden sie, würde sowas niemals tun!

Damit kommt zuletzt ein Register des Staates ins Spiel: Staatsmacht zur Feststellung von Identität und Sicherung/Wiederherstellung des Immer-Gewesenen – das begegnet uns in dem (vielen aus „Inglourious Basterds“ bekannten) Spiel mit den Identitäts-Stirnkarten, später in Wahrheitsprozeduren am Leib der Mutter: Bitte beweis‘, dass du unsere Mama bist – indem du etwa das Lieblingslied des einen Buben nennst. Ist es 'Wieviel Sternlein stehen' oder 'Guten Abend, gut Nacht'? (Die beiden Lieder sind so schon schwer genug zu unterscheiden.) Der Staat will wissen, deshalb ist Überwachung sein Geschäft – ein Mehr an Sehen, das sich zum paranoiden Zuviel-Sehen bzw. Zuviele-Sehen auswächst. Mutter und Buben überwachen einander, etwa mittels eines heimlich platzierten Babyfons. Aber schon der Markt ist Überwachung am Heim: Die Buben sehen beim Googeln, dass ihr Haus schon 'am Markt', bis ins Innere durchgesehen und gepostet ist – da können die oft, fast rituell geschlossenen Jalousien nix mehr ändern. Und auch der Markt zirkulierender Filmbilder hat schon vorgeprägt, vorgesehen: Susanne Wuests Figur wirkt wie eine Zehn-Jahre-später-Version ihrer Nebenrolle im Gated-Community-Mystery-Thriller „La Lisière – Am Waldrand“, in dem sie 2010 die Gattin eines Investors spielte, die in ihrer Villa 'ein bisschen fotografiert'; davon sind wohl die bewegungsunscharfen Riesen(porträt?)fotos geblieben, die in „Ich seh ich seh“ die Villa zieren und die die Mutter in einer lynchigen Szene quasi nachstellt, als sie nackt im Wald geht mit dem Bandagenkopf wackelt, bis er unscharf wird.

„Ich seh ich seh“ gibt zu viel zu sehen, das nicht zu sehen ist – und deshalb auch schwer ins Aussagbare überführbar ist: den Kopf, der kein Gesicht zeigt; Momente schwarzer Leinwand; Spiele mit Käfern und Mutters Mund, so grauslich, dass es kaum anzusehen ist. Aber andere Objekte und Wesen versammeln sich zu Symbolen auf Geschichtsterrains, die mit Imaginarien des Schreckens (quasi-)staatlicher Mächte aufgeladen sind: Ein Bunker im Wald drängt sich als Nazi-Ikone oder auch als Ort einer Archäologie von Gewalt im Allgemeinen auf (oder als Genregedächtnisort, an dem das deutsche Mindgamedrama „Was du nicht siehst“ grüßen lässt: Dieser Komplementärfilm zu „Ich seh ich seh“ – schon dem Titel nach – zeigte 2009 ebenfalls Nazi-Bunker, imaginäre Geschwister, Gewalt gegen einen Nicht-Elternteil und ein totes Haustier, sowie den Zentralort 'modernistische Sommerurlaubsvilla', im Euro-Thriller eine Art Parallelort zu all den Summercamps und cabins in the woods der US-Horrortouristik).

Oder zeugen die symbolischen Orte eher vom Nachleben des Katholizismus? Das Beinhaus, der Wiesenfriedhof, die Dorfkirche und ihr Personal, sowie Gott anrufenden Gutenachtlieder, das sind Stationen auf dem Weg der Buben zu ihrer Rolle als veritable (wenn auch nicht allzu christlich motivierte) Hexenjäger und Inquisitoren, die mit Gesichtsmaske und Armbrust antreten, um die aufs Kreuz gelegte Mutter auszufragen und gar nach einem (fehlenden) Mal an ihrem Leib zu suchen.

Zwischen christlichem und Haken-Kreuz schlägt der Film einen überraschenden Haken zum Roten Kreuz, zu Herr und Frau Spendensammler in Uniform, die ins Haus kommen und Schlimmes verhindern könnten, wenn sie mitkriegten, was da läuft. Was sehen/hören wir da? Zum einen ein Gustostückerl der Suspenseformelanwendung, versetzt mit lakonischer Soziokomik (samt Grüßen von Baby Jane). Zum anderen führt besonders der Rotkreuzmann, der nicht relief, sondern nur comic relief bringt, als ostentativ ohnmächtiger Autoritäts-, zumindest Uniformträger uns zurück zur Geschichte von Staatsmächten und ihrer Umformulierung – und zurück vom Ende zum Anfang und damit zum Ende von 'Ich seh ich seh'.

Nämlich: Schon der unmittelbare Anfang des Films ist ironisch und wissend als Vor-Spiegelung des Schlussbildes (Mutter und Buben singen), vor allem aber als Fremdfilmmaterialzitat einer fernen, vergangenen Idyllik von Mutterschaft. Eigentlich ist es ja Adoptivmutterschaft vorm historischen Hintergrund von NS-Terror, jedenfalls ist es „Die Trapp-Familie“ aus Wolfgang Liebeneiners Kinohit von 1956, also Mutter (Ruth Leuwerik) samt Kinderschar in Tracht, wie sie am Filmende 'Guten Abend, gut Nacht' singen und die Mama 'Gute Nacht' in die Kamera sagt; dann beginnt „Ich seh, Ich seh“. In der Totale der Trapp-Familie (deren Schicksal dem noch bekannteren „Sound of Music“ zugrundeliegt) verfangen sich Sehen und Sagen wie in einer Stolperdraht-Falle oder in der blocage symbolique (beides wirkt sich in „Ich seh ich seh“ aus), die im Erzählkino bewirkt, dass das Fortschreiten der Handlungen sich in Rekursionen und Echos verrennt.

Ein Ende als Anfang, Gute Nacht als Opener: Da nimmt eine Nachgeschichte ihren Ausgang, merklich für jene, denen noch Old-School-TV-Bilder im Kopf umgehen – von einem der zwei Buben (keine Zwillinge) in dem von Mutter und fünf Töchtern dominierten Bild, in dem der Vater fehlt, aber einer da ist, der als ewiger Bub den Alten ostentativ überdauert hat. Der Lieben einer, rechts am Bildrand, ist der zwölfjährige Michael Ande, später Kleindarsteller, Synchronsprecher – und als Kriminalassistent Gerd Heymann seit 1977 an der Seite des jeweiligen Titel-Kripo-Helden in der ZDF-Serie „Der Alte“ im Dauereinsatz, mithin dienstältester Staatsgewaltsermittler im deutschsprachigen Fernsehen. Mit diesem laut 'Vieldeutigkeit' schreienden Filmzitat historisiert „Ich seh, Ich seh“ sein Thema der Abwesenheit der Autorität der Alten angesichts der insistierenden Präsenz der Buben. Mutters Maske markiert die Machtübergabe vom hinfälligen Gesetzesstaat ans neofeudale, improvisationsfreudige Überwachungsregime der brutalen Brüder.

Das Thema hallt nach in all den schwachen, einfältigen Männerfiguren: im Vater der Zwillinge, der fort ist; im Rotkreuzler, der Beruhigung brummelt, als seine Kollegin noch argwöhnisch ist; in dem Bauer, der sein Feld abbrennt und so nur noch mehr Nebel erzeugt; in dem Lebensmittellieferanten, der über die viele Tiefkühlpizza schwadroniert und nicht merkt, dass sich hier Leute einbunkern; in dem Pfarrer, der die flüchtenden Kinder ins Haus zurückbringt (aber damit auch Mutters Schicksal besiegelt); in dem debilen Mesner, der auf die Frage 'Können Sie uns helfen?' so eilfertig 'Ja!' antwortet, dass klar ist, dass das nicht stimmt. Der Musikus, der in dem ausgestorben in der Sommersonne brütenden Dorf an der Thaya besoffen seine Quetsche traktiert, ist im Abspann als Akkordeongott betitelt.

Gott der Herr hat sie gezählet, aber er weiß nicht, wie viele es sind. Und morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt; wenn nicht, bist du tot.

Cousin Cousine

(F 1975, Regie: Jean-Charles Tacchella)

Nonkonformistische Liebesutopie
von Wolfgang Nierlin

„Heiraten ist eine ernsthafte Sache“, heißt es irgendwann zu Beginn von Jean-Charles Tacchellas humorvoller Familien- und Gesellschaftssatire „Cousin Cousine“, die strukturiert wird durch zwei Hochzeiten, eine Beerdigung und die Feier …

„Heiraten ist eine ernsthafte Sache“, heißt es irgendwann zu Beginn von Jean-Charles Tacchellas humorvoller Familien- und Gesellschaftssatire „Cousin Cousine“, die strukturiert wird durch zwei Hochzeiten, eine Beerdigung und die Feier des Weihnachtsfestes im häuslichen Rahmen. Dass es bei diesen Zusammenkünften dann mehr oder weniger ausgelassen und wüst zugeht, liegt nicht unbedingt an den Kindern, die mit solchen Sätzen von ihren Erziehern gemaßregelt werden. Vielmehr sind es die Erwachsenen selbst, die über die Stränge schlagen, indem sie sich betrügen und betrinken, belügen und befummeln, prügeln oder einfach nur ihren nackten Hintern zeigen. Die Doppelmoral, die hier witzig und prägnant entlarvt wird, besitzt bei Tacchella allerdings nichts Schweres oder gar Anklagendes. Der Blick des 1925 geborenen französischen Regisseurs auf seine Figuren ist trotz aller Trockenheit und Verknappung stets milde und liebevoll. Dazu passt die ebenso dynamische wie pointierte Erzählweise des Films, seine federleichte Atmosphäre, in die sich unterschwellig auch Anarchisches mischt.

Denn „Cousin Cousine“ ist vor allem eine ziemlich unkonventionelle Liebeskomödie, die der langjährige Filmkritiker aus dem Umfeld von André Bazin und vielbeschäftigte Drehbuchautor Jean-Charles Tacchella – nach seinem späten Regiedebüt mit dem Film „Reise in die große Tartarei' (1973) – im Jahre 1975 als seinen zweiten Spielfilm realisieren konnte; und der zumindest in seinem Heimatland und in den USA ein großer Publikumserfolg war. So begegnen sich bei besagter Hochzeit der Tanzlehrer Ludovic (Victor Lanoux), der alle drei Jahre den Beruf wechselt, weil man „das Leben wie ein Abenteuer ansehen“ müsse, und die unglücklich verheiratete Sekretärin Marthe (Marie-Christine Barrault). Deren Mann Pascal (Guy Marchand) ist ein notorischer Schürzenjäger, der parallel mehrere Affären unterhält und es bei der ausschweifenden Familienfeier gleich noch mit Ludovics depressiver, sich entlang Schlafkuren hangelnder Frau Karine (Marie-France Pisier) treibt. Aus herzlicher Zuneigung, innerer Verbundenheit und ein bisschen aus Rache werden die schöne Marthe und der freigeistige Ludovic ein Liebespaar, das zunächst bewusst auf Sex verzichtet, um sich abzuheben und umso offener ihr freundschaftlich-platonisches Verhältnis zu zelebrieren.

Das verschworene, ganz und gar „öffentliche“ Paar trifft sich zum Plaudern und Naschen, Schwimmen und Tanzen, schwänzt dafür schon mal die Arbeit und erregt damit immer gezielter das Misstrauen und die Eifersucht der jeweiligen Ehepartner; daneben aber auch die mühsam unterdrückte Empörung der Verwandtschaft, deren Mitglieder – um mit einem Bild des Filmes zu sprechen – wie Fische an der Angel zappeln. Deren satirische Überzeichnung wiederum steht im Kontrast zu der natürlichen, sehr sachlichen Selbstverständlichkeit, mit der die Protagonisten agieren. In Abänderung ihres Paktes verabreden diese sich schließlich doch noch für ein langes Liebeswochenende im Hotel, das Tacchella als unkonventionelle, grenzüberschreitende Feier der Lust und Freiheit inszeniert. Die Liebenden werden dabei zum idealen Paar, das sich im phantasievollen Liebesspiel an der Gewöhnlichkeit der anderen rächt und seine (vielleicht) utopische Wahrheit gegen die Konventionen einer verlogenen Gesellschaft setzt.

Diese Dialektik von Wahrheit und Lüge, Freiheit und Gefangenschaft, die von den sympathischen, gesellschaftliche Schranken durchbrechenden Liebeshelden immer wieder transformiert wird, spiegelt sich schließlich auch im klassischen, fast quadratischen 4:3-Bildformat, das der cinephile, filmsprachlich versierte Tacchella für seine ebenso subversive wie charmante Komödie gewählt hat. Vierzig Jahre nach ihrer Entstehung wird diese dem deutschsprachigen Publikum nun endlich auf einer DVD zugänglich gemacht, die sich durch eine hervorragende Bildqualität auszeichnet. Anderen Filmen des großen Regisseurs, die teilweise Mitte der 1980er Jahre im Fernsehen erstaufgeführt wurden, wird diese Ehre hierzulande leider wohl nicht zuteil werden.

Victoria

(D 2015, Regie: Sebastian Schipper)

Absolute Dilettanten
von Wolfgang Nierlin

Eine junge Frau tanzt selbstvergessen unter den blendenden Stroboskopblitzen einer Techno-Disco und wirkt dabei ein wenig verloren. An der Bar bestellt sie auf Englisch einen „Schnaps“ und sucht vergeblich nach …

Eine junge Frau tanzt selbstvergessen unter den blendenden Stroboskopblitzen einer Techno-Disco und wirkt dabei ein wenig verloren. An der Bar bestellt sie auf Englisch einen „Schnaps“ und sucht vergeblich nach Anschluss. Das ändert sich, als sie bei ihrem leicht frustrierten Aufbruch vier „echten“ Berliner Jungs in die Arme läuft und in einer Mischung aus Abenteuerlust und Neugier kurzentschlossen mit ihnen um die Häuser zieht. Sonne, Blinker, Boxer und Fuß sind langjährige Freunde und ein wenig betrunken. Vor allem aber sind sie übermütige Sprücheklopfer und liebenswerte Kindsköpfe, die sich mit alten Heldengeschichten brüsten, auf Hausdächern im Flüsterton feiern und dafür höchstens Mal ein paar Flaschen Bier im „Spätkauf“ klauen. Besonders Sonne (Frederick Lau), ein Meister des originellen Flirtens, trifft mit seinem charmanten Englisch und einer sanften Ironie ins Herz der einsamen Spanierin, die plötzlich aufblüht und mutig wird.

Dass sich Victoria (Laia Costa), die Titelheldin aus Sebastian Schippers neuem, gleichnamigen Film, nach einem bezaubernden Flirt mit Sonne und ein paar kleinteiligen Verwicklungen allerdings auf einen bewaffneten Banküberfall mit der Clique einlässt, ist nicht gerade glaubwürdig oder wenigstens plausibel; auch wenn es dabei vor allem um Loyalität, Freundschaft und aufkeimende Liebe geht. Als gescheiterte Pianistin, die seit drei Monaten in Berlin lebt und für wenig Lohn in einem Café jobbt (obwohl sie kaum Deutsch spricht), zeigt die als Fahrerin verpflichtete Madrilenin bald mehr Mut als die kleinkriminellen Amateure. Diese haben nämlich gewaltiges Muffensausen, nachdem sie von einem coolen Verbrecherboss (André M. Hennicke), bei dem Boxer in der Schuld steht und den sie am sehr konspirativen Ort einer Tiefgarage (!) treffen, in die halsbrecherische Mission gezwungen werden.

Weil die sympathischen Freunde unprofessionell und planlos, ängstlich und ein bisschen dumm sind, läuft die gewagte, ziemlich holprige Unternehmung zwar zunächst gut, endet dann aber ziemlich übel. Zu unvorsichtig und naiv ist der Dilettantismus der weichen harten Jungs, die eigentlich nur ein wenig Spaß haben wollen, sowie der starken Frau, die sich nach Nähe und einem anderen Leben sehnt. Während zunächst Euphorie, dann Angst und hektischer Stress das zunehmend unlogische Handeln der Helden bestimmt, werden immer mehr Unschuldige in die unüberlegten Aktionen verwickelt. Das Verbrechen zieht gewissermaßen seine Kreise und erzeugt einen Sog der Bewegung, dem Schipper und sein norwegischer Bildgestalter Sturla Brandth Grøvlen zwischen nächtlichem Dunkel und beginnendem Morgengrauen in einer einzigen langen Einstellung folgen. Der dabei entstehende Drive wirkt manchmal intensiv und atemlos, dann wieder gehetzt und unkontrolliert oder einfach nur langatmig und uninspiriert.

Das formale Konzept eröffnet hier in den besten Momenten zwar eine künstlerische Freiheit, die einerseits Raum schafft für spontanes Agieren und schauspielerische Improvisationen; andererseits wirkt diese Prämisse auch als Korsett für die Handlungslogik und den dramatischen Spannungsbogen. Die starre Form verwässert gewissermaßen den Inhalt, der eh schon etwas dünn und oberflächlich ist. So erzeugt der Zwang zum „gedrängten“ Ereignis immer wieder eine aufgesetzte hektische Dramatik oder einfach nur Leerlauf. Manchmal ist das ein erzählerisches Atemholen, manchmal aber auch ein artifizielles Innehalten: Dann stellt Sebastian Schipper für lange Momente auf stumm und lässt die hypnotischen, schwerelosen Sounds von Nils Frahm „sprechen“.

Jurassic World

(USA 2015, Regie: Colin Trevorrow)

Kräftiges Gebiss, wackliges Bündnis
von Drehli Robnik

Aus Gelb-Rot wird Silbergrau-Blau, im Wechsel der Logosignalfarbenkombination von den 'Jurassic Park'-Filmen der Baujahre 1993, 1997 und 2001 zu deren Update unter dem Titel 'Jurassic World'. Und so wird aus …

Aus Gelb-Rot wird Silbergrau-Blau, im Wechsel der Logosignalfarbenkombination von den 'Jurassic Park'-Filmen der Baujahre 1993, 1997 und 2001 zu deren Update unter dem Titel 'Jurassic World'. Und so wird aus dem Park eine Welt und wird Wasser zu Ei.

Eine kleine Wasseroberfläche, auf der Vibrationswellen von heranstampfendem Unheil künden: Das war das inoffizielle Logo der alten Dino-Trilogie. Es entsprach dem Welt-Bild-Programm von Steven Spielberg (Regisseur der ersten zwei, Produzent aller vier Filme): Die Welt wird zu Bildern; sie erstarrt nicht im Bild, wohlgemerkt, sondern ist im ständigen Ab- und Um-Bilden, alles bildet sich in alles ein (oder listet sich auf), T-Rex-Stampf-Sound wird sichtbar als das Zittern von Wasser (und fühlbar als das Zittern von Publikum), Synästhetik geht nahtlos über in Gedächtnis, durch das die Welt sich erinnert – und mitunter wieder entäußert. ('Dinosaurier sehen und nicht gefressen werden' hieß ein Aufsatz der großen Film- und Kinokultur-Theoretikerin Miriam Bratu-Hansen über Spielbergs Art von senso-realistischem Bild, das fast beißt und dabei dem Durchspielen von Traumata eine Öffentlichkeit bietet.)

Auf totaler Entäußerung als Ausbruch liegt nun der Akzent in 'Jurassic World' (Regie: Colin Trevorrow): Dessen Auftaktbild, nahezu ein Logo, ist ein Ei; die Schale knackt und springt, ein Baby-Velociraptor zeigt Kralle. Ab dann bricht, in oft packenden Wendungen, allerlei monströses Dino-Gezücht aus – aus Stahlkäfigen, umzäunten Gehegen, Vogelkuppeln oder Wasserbecken. Der Jurassic Park ist nun Welt, schon lange eröffnet, gewohnheitsmäßige Attraktion und voller Touris, von denen einige schon leicht fadisiert sind. Zwar kommt der alte, rotgelbe Park hier explizit als Gegenstand von Retro-Kult und -T-Shirts ins Bild; doch die alte Spielberg´sche Logik namens Bild im Gedächtnis weicht einer neuen Logik, die Leben im Bündnis heißt. Um nicht zum unprofitablen Streichelzoo (mit auf Brontosauriern reitenden Kleinkindern und während der Monsterfütterung ihr Smartphone streichelnden Teenies) zu verkommen, muss der Park 'lebendiger', gefährlicher gemacht, also dereguliert werden.

Alles ist gepolt auf Intimkonfrontation mit dem knurrenden Vital-Bestial-Kapital, samt Dressurakt durch einen Raptorenflüsterer. Die ohnehin schon in permanenter Fragilität befindliche Sicherung trudelt in den Totalkollaps – diese Eskalationsdramatik aus dem Happiness-Tonfall heraus kommt nun erstmals seit dem Film von 1993 wieder zum Zug –, und der macht wackelige Allianzen nach dem Prinzip 'Der Feind meines Feindes ist T-Rex' erforderlich.

'Jurassic World' ist ein in Action-Timing, Effekten und räumlichem Dekor – die Stahltore! das Glaskugel-Auto im Maul des Dinos! – makelloses Spektakel. Der Plot-Gliederung in einzelne Pärchen – nervig und mit zu viel Haupthaar: das Teenie-Bruderpaar – und des Sadismus gegenüber zur kaltherzigen Wissensworkoholikerin stilisierten Frauen im Businesskostüm ist hier zu viel. Das Ressentiment gegen Leute britischer Herkunft und der Umstand, dass der Welt-Park sich im Mehrheitseigentum eines allzu abenteuerlustigen indischen Tycoons (Irrfan Khan) befindet, erinnern an den als unseriös gezeichneten frankophon-afrikanischen Besitzer des massentouristischen Underwater Kingdom-Themenparks in 'Jaws 3D', einem Fish-in-your-Face-Vehikel, das 1983 aus dem Massentourismus-Panik-Erfolgsspektakel 'Der weiße Hai' (im Original 'Gebiss', also 'Jaws') gemolken worden war. Vierzig Jahre nach Spielbergs Muttertier aller Sommerblockbuster fällt das 3D-Verfahren kaum unangenehm auf, im Unterschied zu der weiß-gönnerhaft wohldosierten Multiethnizität in den Nebenrollen von 'Jurassic World'. Aus dem Cast des allerersten 'Jurassic Park'-Films ist BD Wong als Dr. Henry Wu wieder mit am Start, der – vielleicht kein Wunder nach 22 Jahren im Gentechnik-Labor – irgendwie ungut geworden zu sein scheint. Von Richard Attenboroughs Gründervaterfigur steht eine Statue in der Lobby.

Ansonsten ist die Besetzung treffend (Vincent 'Todesgebiss-Grinsen' D´Onfrio besingt die Raptoren als die perfekte Waffe – wie einst das titelgebende Stahlmantelgeschoss in seiner Lebensrolle als fetter Rekrut in 'Full Metal Jacket'), lustig im Rahmen eines sexistischen Umerziehungssubplots (Bryce Dallas Howard) und, erstmals im Jurassic-Kosmos, auf einen zugkräftigen Jungstar (Chris Pratt) hin orientiert.

Fazit: Hier ist viel Gefühl im Spiel. Weniger Romantik als vielmehr Gespür dafür, was soziales Leben in allianzpragmatischer Situationselastik (eine Wortschöpfung des österreichischen Verteidigungsministers Klug), in Unsicherheitsroutinen, in Prekaritätskulturen heißt – nah am Abyss, also Gebiss. Kontrolle, so heißt es in 'Jurassic World' programmatisch, gibt es nicht – nur relationships. In einem gewissen Sinn heißt ja Kontrolle so viel wie 'Beziehung' (also: Macht als immer unsichere, nachjustierungsgenötigte, weil von der anderen Seite her unter Druck und auf Trab gehalten – sprich: Hegemonie). In diesem starken, nicht-idyllischen Sinn und auch ostentativ nicht im landläufigen Sinn romantisch sind Beziehungen hier angelegt: entweder als Kämpfe und Jagden unserer Lieblings-Dinos gegen- und aufeinander (nicht so gut wie in 'Godzilla', aber okay) – oder als Human-Hetero-Traumpaar, das sich schlussendlich in Trümmern bildet. Die in Fetzen geläuterte Powerbusinessfrau und der es immer schon gewusst habende Saurier-Coach, sie geben uns einen Satz mit auf den Weg, eine Losung, die den optimistischen Vitalismus aus 'Jurassic Park' – aus den Zeiten der großen Mainstream-Werdung von kulturellen Minderheiten und rechenleistungsbasierten Medienpraktiken (bis hin zum 'Satelllitentelefon' in T-Rex-Scheiße von 'Jurassic Park III') – ablöst: Hieß es damals in Gelb-Rot 'Life will find a way!', so begnügt sich der heutige silbergrau-blaue Krisenvitalismus mit dem Bündnisprogramm 'Let´s stick together for survival'.

Die Lügen der Sieger

(D / F 2014, Regie: Christoph Hochhäusler)

„Das ist die Presse, Baby“
von Andreas Busche

Vergangenen Herbst trompeteten Mahnwächter, Montagsspaziergänger und Cybertrolle so lange das Wort von der „Lügenpresse“ in die Welt, bis es verdientermaßen zum Unwort des Jahres gekürt wurde. In Christoph Hochhäuslers drittem …

Vergangenen Herbst trompeteten Mahnwächter, Montagsspaziergänger und Cybertrolle so lange das Wort von der „Lügenpresse“ in die Welt, bis es verdientermaßen zum Unwort des Jahres gekürt wurde. In Christoph Hochhäuslers drittem Film „Die Lügen der Sieger“ erhält die Bezeichnung noch eine etwas andere, subtilere Konnotation: nicht als Kampfbegriff gegen die „Bewusstseinsmedien“, sondern als Inbegriff eines Scheiterns. Insgesamt kommen „die von der Presse“ bei Hochhäusler nicht sonderlich gut weg. Fabian Groys (Florian David Fitz ) ist ein Adrenalinjunkie: ehemaliger Kriegsberichterstatter, Spieler, Porschefahrer, Wrestling-Gucker, Macho-Arschloch. Man ist immer nur so gut wie seine letzte Story, erklärt er der neuen Volontärin Nadja (Lilith Stangenberg), die man ihm gegen seinen Willen zugeteilt hat. Denn Groys ist natürlich auch Einzelgänger, darum serviert er sie mit den Recherchen für einen spektakulären Todesfall im Gelsenkirchener Zoo ab. Ein Kriegsveteran hat sich in das Tigergehege gestürzt. Groys arbeitet derweil an einer Story über die Invalidenpolitik der Bundeswehr. Sein Chefredakteur beim Politmagazin „Die Woche“ drängt auf Resultate und gibt seine Anweisungen auch schon mal in einer Yoga-Stellung.

Hochhäusler ist im deutschen Film eine Ausnahmeerscheinung: ein Filmemacher, der in Bilder denkt und das Kino tatsächlich noch als Erzählmedium versteht. Seine Kinobilder fungieren nie als Beweisketten, die lediglich plot points verbinden, vielmehr erschließen sie gesellschaftliche Zusammenhänge erst. Lebenswirklichkeit wird aus einer nicht gesicherten Beobachterposition heraus beschrieben. Die Kamera ist in Hochhäuslers Filmen wie eine Sonde ständig damit beschäftigt, sich Überblick zu verschaffen.

In „Falscher Bekenner“ von 2005 beginnt ein Achtzehnjähriger aus Langeweile Bekennerschreiben für Taten zu verschicken, die er nicht begangen hat. Hochhäuslers letzter Film „Unter Dir die Stadt“ (2010) stand noch tiefer in der Tradition des amerikanischen Paranoia-Kinos der 1970er-Jahren, angesiedelt im Milieu der Frankfurter Hochfinanz. Ein Bankmanager entwickelt eine Obsession für die junge Frau eines Angestellten und beginnt die Karriere ihres ahnungslosen Mannes zu manipulieren. Die paranoide Logik ist bereits in der gläsernen Architektur der Bürotürme und Innenräume evident, die Transparenz erweist sich als Trugschluss. Hochhäusler hat vor der Filmhochschule Architektur studiert, sein Blick für Räume – auch die sozialen – ist ähnlich analytisch wie die Sprache seiner Figuren.

„Die Lügen der Sieger“ ist nach „Unter Dir die Stadt“ seine zweite Zusammenarbeit mit dem Autor Ulrich Peltzer, aber die Filme unterscheiden sich in vielfacher Hinsicht. „Unter Dir die Stadt“ war ein Labor, in dem Hochhäusler mit menschlichen Verhaltens- und Sprechweisen experimentierte. Der Bankensektor diente dabei eher als atmosphärischer Hintergrund. Das Milieu selbst interessierte Hochhäusler und Peltzer nur insoweit es etwas über die Menschen verriet. Ihre Dialoge waren Inszenierungen von Sprechakten, die jedoch kaum Einblicke in die Mechanismen der Finanzwelt gewährten. Die Obszönität der Work Hard/Play Hard-Arbeitswelt zeigte sich nicht in geschäftlichen Transaktionen, sondern in den Umgangsformen und Räumen, die diese Menschen bewohnten.

„Die Lügen der Sieger“ will nun entschieden mehr procedural, also ein Genrefilm sein, als bloß eine Mentalitätsstudie der Berliner Republik mit ihren Verflechtungen aus Politik, Medien und Wirtschaft. Hochhäusler beschreibt Abläufe: wie aus einem Unfall ein vorsätzlicher Mord wird, aus verstreuten (Des-)Informationen eine ‚story’ und aus den Einflüsterungen der Chemie-Lobby schließlich ein Gesetz. Es ist ein Spiel um Schein und Anschein, denn am Ende geht es in „Die Lügen der Sieger“ gar nicht um die große Geschichte. Der eigentliche Skandal verschwindet in einer unscheinbaren Überschrift auf den hinteren Seiten des Wirtschaftsteils – genauso nebensächlich wie der Antrag auf eine Novellierung der Gefahrenstoffrichtlinie (Stichwort EU-Harmonisierung!), die im Bundestag von allen Fraktionen im Dämmerzustand durchgewunken wird. Nach getaner Arbeit sitzen die Lobbyisten mit einem Glas Champagner über der Titelgeschichte des Starreporters und fragen feixend, ob sie wohl auch als Autoren genannt werden.

Die Machtverhältnisse klärt Hochhäusler wieder über die Architektur. Die Herrschaftsräume der Konzerne sind gläsern und mondän, die Redaktion der „Woche“ sieht dagegen aus, wie man sich heute die „Spiegel“-Büros in den 1980er-Jahren vorstellt. Hochhäuslers paranoider Blick ist konsequent: Die Handlung besteht aus einer Aneinanderreihung von Orten, an denen nie ganz klar wird, wer hier eigentlich wen beobachtet. Mehrmals schaltet die Kamera in den Observierungsmodus (Schwarz-Weiß-Bilder, verzerrter Ton). Gefilmt wird auch die Probe für das Treffen eines Vertreters der Wirtschaft mit einem hochrangigen Minister. Das Gespräch in einem Berliner Nobelrestaurant verläuft später fast Wort für Wort im Sinne der Lobbyisten. Die Einübung von Sprechakten und Redeweisen wird in „Die Lügen der Sieger“ selbst zu einem Machtinstrument.

Doch so überzeugend Hochhäuslers Inszenierung von den klandestinen Herrschaftsverhältnissen auch ist, es hapert in „Die Lügen der Sieger“ vor allem an der Erzählmatrix. Als procedural im Stil des Watergate-Thrillers „Die Unbestechlichen“ oder der HBO-Serie „The Wire“ interessiert sich der Film zu wenig für die journalistische Arbeit. Karikaturenhaft klingen die Dialoge zwischen Starreporter Groys und seinem Chef, peinlich mitunter die Wortgefechte zwischen Groys und seiner Volontärin: Auch dies sind Sprechakte, allerdings eher aus deutschen Vorabendkrimis, in denen das Ermittlerduo „zynischer alter Hase – naive Assistentin“ bereits Tradition hat. Hochhäuslers Desinteresse geht so weit, dass er entscheidende Plotwendungen wie ein ‚deus ex machina’ einführt, etwa wenn den Journalisten ein gefälschtes Foto untergejubelt wird. Am Ende muss Humphrey Bogart für die zynische Schlusspointe sorgen, als die Druckerpressen bereits auf Hochtouren laufen. „Das ist die Presse, Baby“, ruft ‚Bogey’ in einer Szene aus „Deadline U.S.A.“ (1952) ins Telefon, „dagegen könnt ihr nichts ausrichten.“ „An den Titeln der Bücher“, heißt es in einem Schlusszitat von Lawrence Ferlinghetti, „wird man die Lügen der Sieger nicht erkennen.“

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 06/2015

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Die Lügen der Sieger'.

Kafkas Der Bau

(D 2014, Regie: Jochen Alexander Freydank)

Die Architektur des Zwangs
von Manfred Riepe

Mit Ende vierzig scheint Franz (Axel Prahl) am Ziel seiner Träume zu sein. Dank seines gut dotierten Jobs hat der Banker für sich und seine Kleinfamilie eine geräumige Eigentumswohnung in …

Mit Ende vierzig scheint Franz (Axel Prahl) am Ziel seiner Träume zu sein. Dank seines gut dotierten Jobs hat der Banker für sich und seine Kleinfamilie eine geräumige Eigentumswohnung in einem luxuriösen Appartementhochhaus gekauft. Fröhlich reißt er beim Einzug die Arme hoch, lässt diesen Moment des Glücks von einem Möbelpacker mit der Videokamera festhalten, die er permanent bei sich führt. Doch schon bald mehren sich seltsame Vorzeichen. Beim Zusehen hat man sich ohnehin schon gefragt, warum der gut situierte Banker in eine Art Industrie-Vorort zieht, in dem aus der Vogelperspektive eigentlich nur triste Bürogebäude und Parkplätze zu sehen sind. So richtig froh scheint Franz nicht zu sein, als er auf seinem Videotagebuch von der trügerischen Stille in seiner neuen Wohnung spricht.

Die Stimmung wird immer bedrückender. Die Türsteher, Wachleute mit Fellmützen, die wie KGB-Agenten aussehen, blicken düster drein. Der neue Nachbar (Roeland Wiesnekker) wirkt mit seinem zynischen Lächeln auch nicht wie jemand, mit dem man Tür an Tür wohnen möchte. Außerdem verdichtet sich das seltsame Gefühl, dass Franz von irgendjemandem beobachtet wird. Kein Zweifel: Das alles wirkt irgendwie – man kann es nicht anders formulieren – kafkaesk. Das ist nicht überraschend, denn mit seinem Kinodebüt, für das er auch das Drehbuch verfasste, verfilmt Jochen Alexander Freydank eine Geschichte des Prager Schriftstellers. Leider kommt das „Kafkaeske“ dabei etwas zu sehr mit Ansage.

„Der Bau“, entstanden in Kafkas letztem Lebensjahr 1923/24, ist eine fragmentarische Erzählung, deren Ende verloren gegangen ist. Ähnlich wie die ungleich bekanntere „Verwandlung“, in der ein gewisser Gregor Samsa sich in einen Käfer verwandelt, geht es auch in „Der Bau“ um die menschliche, allzu menschliche Erlebnisweise eines Subjekts, das jedoch Tier ist. In der Literatur wird der bei Kafka namenlose Ich-Erzähler als Dachs oder als Maulwurf interpretiert. Ein Tier, das immerfort über seinen verzweigten unterirdischen Bau und die Maßnahmen meditiert, ihn zu erhalten und gegen vermeintliche Eindringlinge zu verteidigen. Besonders das zischende Geräusch, das es von irgendwo zu hören vermeint und dessen Ursache es akribisch zu ergründen versucht, setzt ihm zu. Auf seine unnachahmliche Weise erzeugt Kafka so ein genuines Sprachbild, das sich jedoch der konkreten Visualisierung im Sinne einer fotorealistischen Illustration radikal sperrt. Die selbst angelegten Gänge, durch die der Erzähler sich bewegt, sind eine Art Sinnbild für das Labyrinth seiner eigenen Gedanken, in denen er gefangen ist. Minuziös schildert der Text, wie der Erzähler darüber sinniert, dass er eigentlich sofort diese oder jene Maßnahme ergreifen müsse. Die nicht minder minuziös geschilderten Erwägungen, warum diese Maßnahmen sinnlos sein könnten, frieren die Handlungsfähigkeit des Subjekts ein, das in seinem formvollendet beschriebenen Grübelzwang völlig aufgeht.

Für diese Denkobsession, die einem beim Lesen der Geschichte merkwürdig vertraut erscheint, findet Freydank in den besseren Momenten seiner Verfilmung gelungene Bilder. Wenn Franz beispielsweise mit seinem SUV auf einen beinahe leeren Parkplatz fährt und trotzdem auffällig oft rangiert, bis sein Wagen kerzengerade zwischen den Markierungen steht, dann entspricht dieses übertriebene Bemühen um Exaktheit durchaus den Symptomen der Zwangsneurose (um die es bei Kafka geht, auf die man seine Literatur aber keineswegs reduzieren kann). Nicht minder zwanghaft ist es, wenn Franz auf seinem Nachttisch nicht nur einen, sondern gleich drei Wecker postiert, die mit ihrer übergroßen Digitalanzeige ebenso eine gelungene Verbildlichung von Zwanghaftigkeit sind.

Dass die ambitionierte Kafka-Verfilmung, an der Freydank laut eigener Aussage zehn Jahre arbeitete, nicht durchweg überzeugt, liegt zunächst einmal daran, dass er die Geschichte als Psychothriller über einen zunehmend paranoider werdenden Charakter interpretiert. Im Gegensatz zur Erzählung, deren beklemmende Wirkung dadurch entsteht, dass alles in der Schwebe bleibt, fühlt Franz sich beobachtet und verfolgt. Hinter der zugemauerten Tür in seiner Wohnung entdeckt er schließlich eine Vorrichtung, die er anscheinend selbst installierte. Dass Franz ein Psycho ist, das zeigt uns der Film jedoch etwas zu eindeutig und nimmt dadurch viel von der möglichen Wirkung.

Kafka arbeitet in seiner Geschichte mit dem – nie als solchem ausgewiesenen – Kunstgriff des personalen Erzählens, des Erzählens aus der Perspektive der ersten Person Singular. Der Trick dabei ist, dass das, was als objektiv dargestellte Wirklichkeit erscheint, eine Projektion des erzählenden Ichs ist. Die filmische Entsprechung für diesen Tunnelblick überzeugt nicht durchgängig: Franz hätte ein gutes Stück ‚normaler’ erscheinen können. Damit wäre das Abdriften ins Unheilvolle mitreißender geworden.

Dass der abstrakt bleibende, allegorische Dachsbau der Erzählung als luxuriöse Eigentumswohnung verbildlicht wird, geht in Ordnung. Und dass Franz in einem modernen Büro mit seltsamer Betonarchitektur arbeitet und eine Frau hat (die sehr schattenhaft bleibt): auch so kann man Kafka interpretieren. Dessen letzte Lebensgefährtin Dora Diamant soll gesagt haben, sie selbst sei der Burg- oder Hauptplatz des „Baus“. Also hat eine Frau hier durchaus ihren Platz.

Weniger gelungen ist der Umgang mit dem Text selbst, von dem Axel Prahl immer wieder Auszüge monologisch deklamiert. Das wirkt zu stilisiert – oder vielleicht nicht stilisiert genug. Am weitesten entfernt Freydank sich von Kafka, wenn er dessen literarischen Autismus, das permanente, im Grunde statische Kreisen um die eigenen Gedanken, im Sinne einer dramatischen Geschichte dynamisiert. Im Film wird der Protagonist so zu einem sozialen Wesen, das in einen Kampf um den gesellschaftlichen Abstieg verwickelt wird. Beim Einzug ärgert Franz sich schon darüber, dass sich im Treppenhaus Clochards eingenistet haben. Nach und nach verwandelt er selbst sich in einen Penner, in einen Obdachlosen im eigenen Bau. Die Befürchtung eines zunächst gut situierten Büroangestellten, der plötzlich entlassen wird und auf gespenstische Weise in die Armut abgleitet – das ist ein wichtiges Thema. Aber mit Kafka hat das nicht unbedingt etwas zu tun.

Vergisst man, dass dies eine Kafka-Adaption ist, dann nimmt einen der Film vor allem im letzten Drittel durchaus gefangen. Wenn das prätentiös wirkende Aufsagen des Kafkatextes weniger wird und Franz weitgehend stumm durch postapokalyptisch anmutende Industriebauten irrt, dann erzeugen die monochromen Szenarien eine beklemmende Wirkung. Man fühlt sich manchmal an Luc Bessons Erstling „Le dernier combat“ erinnert. Freydank, der für seinen Kurzfilm „Spielzeugland“ mit dem Oscar ausgezeichnet wurde, ist durchaus in der Lage starke, wirkungsvolle Bilder zu inszenieren. Besonders die Innenräume des „Baus“ mit ihrem diffusen Halbdunkel und den irgendwie zu weit voneinander weg stehenden Möbeln – zwischen denen man sich verlorenen fühlt – erzeugen eine ganz eigene, Kafka ästhetisch angemessene Wirkung. Auch im Gespräch mit dem Schlosser (unspektakulär: Devid Striesow), der einen Spezialriegel zur Absicherung einbaut – die aber wertlos zu sein scheint, weil der Handwerker ja selbst noch einen Nachschlüssel behalten könnte –, bewegt der Film sich in kafkaesken Erlebnisbahnen.

Die Beobachtung seines Hauptdarstellers, der einmal verzweifelt ein Regal aufzubauen versucht, gelingt dagegen nicht immer, weswegen auch Axel Prahls Darstellung nur streckenweise überzeugt. Freydank gelingt ein nicht uninteressanter Film über die Architektur des Zwangs, der vor allem gegen Ende zu gefallen weiß – so lange man ihn nicht mit Kafka assoziiert.

Slow West

(GB / NZ 2015, Regie: John Maclean)

Entlarvung einer Jungsphantasie
von Nicolai Bühnemann

Vor zunächst schwarz bleibender Leinwand trägt ein Voice-Over in der ersten Person eine Plot-Prämisse vor, wie sie eigentlich einfacher kaum sein könnte: Ein Junge sucht ein Mädchen (vielleicht, auch wenn …

Vor zunächst schwarz bleibender Leinwand trägt ein Voice-Over in der ersten Person eine Plot-Prämisse vor, wie sie eigentlich einfacher kaum sein könnte: Ein Junge sucht ein Mädchen (vielleicht, auch wenn das heißt, vom Anfang auf das Ende vorzugreifen, ist das Problem, das der Junge hat, der Jay mit seinen sechzehn Jahren noch recht deutlich ist, dass er gar kein Mädchen sucht, sondern eine Frau. Jedenfalls stellt sich heraus, ist die gesuchte Angebetete, Rose, einmal gefunden, dass sie mit seiner doch noch recht jungenhaften Idee von romantischer Liebe nicht das Geringste anfangen kann).

Was diese Prämisse verkompliziert – und zwar gleich in vielfacher Hinsicht – sind Zeitpunkt und Ort der Handlung: das Jahr 1870 und der Nordwesten der heutigen USA, wohin Jay (Kodi Smit-McPhee) Rose (Caren Pistorius) aus dem heimischen Schottland gefolgt ist. Zunächst einmal, weil die frontier, an die es Jay verschlägt, das Colorado-Territorium, das erst einige Jahre später in die USA aufgenommen werden sollte, gar kein Ort ist für einen jugendlichen Träumer aus besseren Verhältnissen wie ihn, der einen Reiseführer („Ho! To The West!“) im Gepäck hat, Gedichte rezitieren und in einer gespensterhaft schönen Szene mit einigen Afroamerikanern, die am Wegesrand in ihrem afrikanischen Idiom ein Ständchen geben, auch mal auf Französisch parlieren kann. Als Begleitung, die Jay auf seiner Reise gen Westen bitter nötig hat, bietet sich ihm, selbstverständlich gegen Bezahlung, ein Mann an, den er unterwegs kennenlernt und der das Überleben in der Wildnis zur Kunstform zu erheben scheint: Silas. Michael Fassbender gibt ihn bärtig, einsilbig und immer mit einem Zigarrenstummel im Mund, den er sogar einmal entzündet, als er ziemlich buchstäblich zerschossen, blutend am Boden sitzt.

Dann aber auch, weil John Mcleans Langfilmdebüt „Slow West“, zu dem er auch das Drehbuch schrieb, ein bei aller Reduktion auf das Basale, das blanke Überleben, doch erstaunlich komplexes Bild der frontier zeichnet. Postkolonial reflektiert, ist sie erst einmal Schauplatz eines Genozids. Gleich zu Beginn seiner Reise passiert Jay ein niedergebranntes Indianer-Lager und wird Zeuge, wie einige Männer in Uniform bedingungslose Jagd auf die Menschen machen, die sie als „savages“ bezeichnen. Ein Mann, dem Jay begegnet, gibt sich als Chronist der Ausrottung der Indigenen – und entpuppt sich doch als genauso ein Aasgeier wie fast alle Figuren des Films, der Jay im Schlaf um sein Pferd und sogar seine Kleider erleichtert.

Dann herrscht an diesem Ort aber auch, neben dem Gesetz des Stärkeren, das Jay an einer Stelle gelehrig nach Darwin zitiert, auch das Streben nach Reichtümern, das eben noch von keinerlei zivilisatorischen Instanzen reguliert werden würde. Alles dreht sich um das, was eine junge Frau, die offenbar kaum Englisch spricht, bei einem gründlich und blutig schief gehenden Ladenüberfall energisch und verzweifelt einfordert: „Money, Money, Money!“ Die „Wildnis“, wie „Slow West“ sie zeigt, ist eines ganz bestimmt nicht: unberührt, unschuldig. Vielmehr wird schnell klar, dass an einem solchen Ort niemand, auch nicht Jay, ohne Schuld bleibt, und die Vergangenheit, von der der Film handelt, gerinnt zur Dystopie eines vollends entfesselten Kapitalismus, in dem es nur noch darum geht, seinen Nächsten auch durch List, aber vor allem durch Gewalt um seine Güter zu erleichtern, ohne dass irgendwelche äußerlichen Institutionen oder verinnerlichte Moralvorstellungen das Geschehen irgendwie beeinflussen würden.

Im Voice-Over sinniert Silas einmal darüber, dass dieser Westen für Jay ein Ort der Verheißungen und der Hoffnung sei, während er selbst nur unter jedem Stein, den er umdrehe einen Banditen erwarte, der bereit ist, ihn umzulegen, wenn er sich nur einen Dollar davon verspricht. Bei aller sinisteren Zeichnung und Entmystifizierung, die „Slow West“ seinem Schauplatz im Gegensatz zur alten Mythologie des Western-Genres angedeihen lässt, bleibt doch eine gewisse Verhandlungsmasse als Sache der Perspektive (was auch in den Off-Kommentaren, die eben sowohl von Jay als auch von Silas stammen, seinen Niederschlag findet). Die Weite der Landschaft der Südinsel Neuseelands, die hier als Nordamerika firmiert, ist so beeindruckend fotografiert, dass sie doch trotz allem ein Sehnsuchtsort bleibt.

Eine Frage der Perspektivierung bietet auch die vielleicht denkwürdigste Einstellung des Films. Jay, vorübergehend auf sich alleine gestellt, beäugt auf der Suche nach Essbarem einen Pilz in der Steppe. Von unten gefilmt ragt der eigentlich recht kleine Pilz riesenhaft ins Bild, mit dem hungrigen Jay im Hintergrund. Der glücklich eintreffende Silas informiert seinen Schützling, dass er diesen Pilz essen kann, ja, wenn er nur genug davon esse, könne er gleich zu Rose fliegen.

Ansonsten zeigt sich Macleans inszenatorisches Talent vor allem bei der die Diegese des Films bestimmenden Gewalt. Gleich zu Beginn, als Silas und Jay sich kennenlernen, gibt es ein gekonnt in Szene gesetztes Mexican standoff mit den Indianerjägern. Der Regisseur scheut auch nicht davor zurück, die Gewalt ins Komische zu überzeichnen. Namentlich eine Szene, in der bei einem Indianerangriff Jays schützend vor den Kopf gehaltene Hand Schlimmeres verhindert, aber sich der Jüngling mit dem nun in seiner Hand steckenden Pfeil sichtlich und verständlich überfordert zeigt, ist deutlich so angelegt, dass einem das Lachen im Hals stecken bleibt. Am Ende gibt es eine Abfolge von gespenstischen Einstellungen, die alle Toten des Films noch einmal zeigen, und so die Handlung, auf Akte der Gewalt reduziert, Revue passieren lassen.

Ich glaube, es wäre falsch, „Slow West“ aufgrund seines Geschichtsbildes als Anti-Western zu etikettieren. Vielmehr geht es Maclean darum, eine Vielzahl den Rahmen eines einzelnen Genres sprengende Erzählungen zu evozieren, um sie gegen den Strich zu erzählen, zu durchkreuzen, zu negieren. Eine Coming-of-Age-Geschichte erzählt der Film gerade nicht, vielmehr ist es Silas, der am Ende eine Entwicklung durchlaufen haben wird, für die Jay essentiell war, und deren letztlicher Ausgang auf sehr schöne Weise ambivalent bleibt. Die Indianer sind zwar Opfer von Landraub und Exterminierung, aber alles andere als edle Wilde, die ihr Schicksal tatenlos über sich ergehen lassen würden. Auch jemand, der so aufs Überleben gepolt ist wie Silas, ist letztlich nicht davor gefeit, von alten Weggefährten übers Ohr gehauen zu werden oder in den Feuergefechten, in denen es nicht mehr darum geht, wer schneller zieht, sondern manchmal darum, wer die bessere Zielvorkehrung an seinem Gewehr hat, ein paar Kugeln abzubekommen.

Schließlich, und damit kehren wir zum Anfang zurück, ist da die Erzählung des Jungen, der sein Mädchen sucht, der Rose, die gepflückt, der Frau, die gerettet werden will. „Slow West“ entlarvt diese Jungenphantasie als Erzählung eines – wenn auch ziemlich weichgespülten, feingeistigen – Patriarchats. Die Kolonialgeschichte ist voll von Bildern der Wildnis als Frau, die von männlichen Konquistadoren und Entdeckern erobert, domestiziert werden will. Die Angebetete hier ist viel zu sehr mit dem Überleben beschäftigt, für das sie, wie wir in einem der Rückblicke erfahren, die die übrigens rein platonische Beziehung zwischen Jay und Rose beleuchten, Kind armer Landarbeiter, auch viel eher gemacht scheint als ihr schmachtender Verehrer, um auf einen Retter zu warten.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Slow West'.

Die Liebe seines Lebens – The Railway Man

(GB / AUS / CH 2013, Regie: Jonathan Teplitzky)

From coach to coach
von Drehli Robnik

Der Eisenbahnzug und das Todeslager: Diese (Bild-)Orte sind im medienkulturellen Darstellungsinventar der Nazi-Massenmorde vertraut und nahezu ikonisch geworden; das Autobiografie-basierte britisch-australische Drama 'The Railway Man – Die Liebe seines Lebens' …

Der Eisenbahnzug und das Todeslager: Diese (Bild-)Orte sind im medienkulturellen Darstellungsinventar der Nazi-Massenmorde vertraut und nahezu ikonisch geworden; das Autobiografie-basierte britisch-australische Drama 'The Railway Man – Die Liebe seines Lebens' speist sie nun ein in ein Motivpanorama rund um nachlastende Opfererfahrungen auf dem anderen, dem pazifischen Großschauplatz, des langen Zweiten Weltkriegs – der dieser Tage vor genau siebzig Jahren eben nur in Europa zu Ende war.

(Kleine Anmerkung: In diesen Jahren des Abschieds von den letzten ZeitzeugInnen des Zweiten Weltkriegs und der in dieser Zeit begangenen Massenverbrechen scheint es, als würde das Kino sich dem Holocaust der Nazis, zumindest an dessen Rändern, nun immer öfter humoristisch annähern: Das geschieht in verschiedenen Formaten und Genres, von 'Mein Führer' und Mein bester Feind' bis zur Einarbeitung von Beraubung und Ermordung jüdischer Bevölkerungen in den Klamottentonfall von Monuments Men', manchmal – siehe 'Inglourious Basterds' – auch in sinnvoller Weise. Dagegen scheint der Geschichtsort 'japanisches Todeslager im Zweiten Weltkrieg', zumal wenn seine Inszenierung sich Bildbestände mit der Medialisierung des Holocaust teilt, noch einem genuinen 'Traumakino' der schmerzlichen und gedämpften Stimmungen vorbehalten zu sein; Ausnahmen wie Jerry Lewis im Kistenkäfig eines japanischen Gefangenenlagers in 'Dont Give Up the Ship' von 1959 bestätigen die Regel.)

In 'The Railway Man' gerät ein Engländer als junger Soldat (gespielt von Jeremy Irvine) nach der britischen Kapitulation in Singapur 1942 in japanische Gefangenschaft. In einem Lager in Thailand, in dem die Japaner westliche (und, als bloße Statisterie, asiatische) Zwangsarbeiter beim Bau einer Bahnlinie – der Burma railroad – durch Dschungel und Fels zu Tode schinden, bastelt er heimlich ein Radio. Diese verbotene (zum Spenden von Trost durch BBC-Nachrichten von der sich bessernden Kriegslage gedachte) Tat fliegt auf; es folgen Prügelstrafen, Geheimpolizeiverhör und schier endlose, immer brutalere Folter. Von dieser Erfahrung ist der Mann noch als Mittfünfziger (dargestellt von Colin Firth) traumatisier; quälende Erinnerungsflashes, die in seinen Alltag eindringen und sein Bewusstsein zeitweise verwirren, überspielt er mit stiff upper lip und mit obsessivem Festhalten an seiner lebenslangen Begeisterung (siehe den unnedichen Titelzusatz 'Die Liebe seines Lebens') für Züge und Zugfahrpläne.

Jonathan Teplitzkys Regie springt ambitioniert, mal berührend, aber oft auch zu selbst- und effektbewusst, zwischen Thailand circa 1944/45 und England 1980 hin und her: Montageketten, Sound-Assoziationen, Bi-Lokationen (etwa wenn japanische Unifomierte den Mann aus dem Bett eines schottischen Strandhotels zurück in die Folterkammer zerren), Reenactments mit plakativen Analogien – zumal vom Folter-Verhör zu der Wiederbegegnung des Engländers mit dem Polizeidolmetscher von damals, der seinerseits, als Täter, traumatisiert ist. Nicole Kidman als Krankenschwester, die den alternden Bahnnerd (fast ein trainspotter) heiratet und heilen will, mahnt zur Katharsis: Ein code of silence muss gebrochen werden. Männer müssen weinen können. Als am Ende das Opfer und der reuige Täter einander am Ort des Leidens umarmen, weint sie in Großaufnahme mit.

'The Railway Man' ist meilenweit entfernt von der Kritik maskulinistischer und autoritärer Selbstentwürfe und Handlungsorientierungen in dem sich unvermeidlich zum Vergleich aufdrängenden, zum Teil themen- und schauplatzverwandten Klassiker 'The Bridge on the River Kwai' (1957); aber – zum Glück – auch von den homophoben, ins Rassistische lappenden Lagerfolterpornopassionsspielen im rezenten Pazifik-Durchhaltedrama 'Unbroken'. Der Vergleich mit letzterem, von Angelina Jolie 2014 inszenierten Film ist aufschlussreich: Forcierte 'Unbroken', seinem Titel entsprechend, Bilder des Ertragens von Zwangsarbeitslagergräuel und Folter, die sich zu ungutem identitärem Selbstbehauptungspathos auftürmten – hetero-männlich der Anmache durch den Oberfolterer widerstehend, westlich-liberal dem ureigenen 'Können' vertrauend, christlich ein Stahlbalkenkreuz tragend –, so beschwört der schon 2013 gedrehte 'Railway Man' ein Ethos des 'Zulassens'. Zugelassen wird etwa, im Detail, die Analogie zwischen dem als schier unzeigbar hinausgezögerten Anblick der japanischen Folterung des zarten, bebrillten Engländers durch simuliertes Ertrinken einerseits und dem zur Ikone einer obszönen, inhumanen War-on-Terror-Verhörspragmatik gewordenen Waterboarding anderseits. (Es wird also quasi diffuse Kritik an westlicher Geopolitik und Moral zugelassen.) Und im Generellen geht es ums Zulassen von Vergebung, die auf tätige Reue antwortet, und damit ist eine Art von 'kunstvoll' gebrochener (keineswegs unbroken) Männlichkeit in den Raum gestellt, die Firths Figur einmal im Zeichen der Möglichkeit anspricht, den endlos andauernden Kriegszustand doch endlich zu beenden, die immer noch anziehfertig im Kasten hängende Uniform wegzulegen und quasi den Übergang zuzulassen von der (heute nur noch als Zitat oder krasse Pose praktizierbaren) Opfer-Rolle des nationalen sacrifice zu jener des victim.

Allerdings: Wäre es dem Film mit diesem Vorhaben – so abgeschmackt dieses Akzeptanz-Ethos dann auch ausfiele – ernst, dann müsste er auf die Tätigkeit des (nach 1945 strafrechtlich unbehelligt gebliebenen) Ex-Dolmetschers und insofern Verhör-Folter-Helfers viel interessierter eingehen, dürfte es nicht bei Andeutungen bewenden lassen – aus denen hervorgeht, dass der Japaner am Ort des einstigen Arbeitslagers ein der Lager-Geheimpolizei gewidmetes kleines Museum betreibt; davon kommt vor allem eine Wand mit Täterporträtfotos markant ins Bild, und während die Engländer zunächst unterstellen, dass der Folterer nun sogar noch am Fremdenverkehr Geld mit seinen früheren Untaten verdiene, macht der Japaner geltend, wie sehr auch er an den Erinnerungen leidet und dass er die Reisen zur Arbeit als guide in Thailand als Pilgerfahrten versteht. Das auszuloten wäre spannend gewesen; sintemal die betreffenden Szenen von der Wiederbegegnung in Thailand vor Ort in Kanchanaburi gedreht sind, wo (am Ort der Brücke am Kwai) sowohl ein großes memorial-didaktisches Freiluftmuseum als auch diverse kleine, grotesk bestückte und schamlos exploitative Museen den zahlreichen internationalen Reisenden Auswirkungen japanischer Militärgewalt aus den Besatzungsjahren vermitteln.

Aber das lässt 'The Railway Man' dann eben doch nicht zu; und auch der hommes fragiles-Habitus hat da seine Grenzen. Wenn die von Stellan Skarsgard gespielte Figur des alten Lagerkameraden und einzigen Kumpels des Traumatisierten ominös andeutet, dass das unbewältigt verschwiegene Trauma der damals zu Opfern Gewordenen diese nun nachhaltig ihrer Liebesfähigkeit beraubt – dann tritt an dem Bemühen der Kidman-Figur um Rückgewinnung ihres zu später Hochzeit erblühten Mannes zum einen ein Projekt der Remaskulinisierung hervor: Wer zulässt und bewältigt, kommt am Ende auch mit Nicole Kidman im Bett 'zum Zug' – Vergebung als Viagra der Seligen. Zum anderen fügt sich diese Umformulierung von Geschichtsaufarbeitung zur Universaltraumadiagnose und weiter zur Therapie (das beginnt schon in der Lager-Plot-Episode, die betont, wie sehr das selbstgebastelte Radio den Gefangenen zur Seelenmassage, nicht zur Konspiration oder Planung dient) in das unverkennbare generelle Anliegen des Films, nämlich Sinnkapital aus der rollenbiografischen Erinnerung an Colin Firths King’s Speech'-Welterfolg zu schlagen: Wo Schweigen und Sprachlosigkeit war, muss Aussprache und Rauslassen werden. Und so zeigt sich als das eigentliche Trauma in 'The Railway Man' die Vorstellung des unaussprechlichen Leidens an einem langweiligen britischen Alltagsleben, damals, 1980 (interessanterweise fast aufs Jahr genau bevor der Thatcherismus begann, britisches Leben auf Neoliberal und Lustig umzustellen) – zwischen spießigen Zugabteilfensterausblicken, kalten Stränden, grauen Gesichtern und gedämpften Altherrenclubs, alles oft in rechtwinkliger Frontalität ins Bild gebracht, als wä’s ein Indie-Film-Klischee für pittoreske Kleinstadtlangeweile.

Freilich, die Australierin Kidman ist noch nicht ganz der australische Aussprache-Trainer, der dem als König fürs Weltkriegs-Selbstopfer zum Wohl der Nation (und zum Ertragen von allerlei folterartigen Übungen) bereiten Colin Firth das Raus- und Zulassen beibringt; wir sind noch einen Schritt entfernt von der filmischen Feierstunde zur Erfindung der Segnungen einer heute herrschenden Coachingkultur inmitten trost- und coachloser Zeiten von einst. Der coach ist hier noch der Eisenbahnwagen, noch nicht ganz Mentor, Mediator, Masseur, der dich wo hin bringt. Dass aber, im Jammertal zwischen Bambuskäfig und Strickwestenpanzer, die historische Hoffnung im Keimen des für uns mittlerweile normalen Spirits des Es- und Sich-Aussprechens liegt, das exerziert der Film Zug um Zug durch, bis zum Schluss mit Schluchzen in der Schlucht am Kwai.

Mädchen mit Gewalt

(BRD 1969, Regie: Roger Fritz)

Das Kiesgrubenpatriarchat
von Nicolai Bühnemann

Zu den Verheißungen der späten sechziger und frühen siebziger Jahre zählte auch die Möglichkeit eines anderen deutschen Genre-Kinos. Fernab von den Wegen des Neuen Deutschen Films auf der einen Seite …

Zu den Verheißungen der späten sechziger und frühen siebziger Jahre zählte auch die Möglichkeit eines anderen deutschen Genre-Kinos. Fernab von den Wegen des Neuen Deutschen Films auf der einen Seite und dessen, was seine Vertreter abschätzig als „Opas Kino“ bezeichneten auf der anderen Seite, drehten einige junge Regisseure eine Handvoll Filme, die, trotz deutlicher Einflüsse von New Hollywood bis zum Italo-Western, radikal neue und eigene Wege zu beschreiten suchten. Rudolf Thome erzählte in seinem Frühwerk entspannt von Mord und allerlei amourösen Verwicklungen („Detektive“ (1969), „Rote Sonne“ (1970)). Roland Klick schickte seine Figuren im ewigen Kampf miteinander, sich selbst und einer vom Geld regierten Welt zunächst in die Wüste („Deadlock“ (1970)), dann durch schmierige (und in ihrer Schmierigkeit kaum jemals so wunderbar gefilmte) Hamburger Straßen („Supermarkt“ (1974)). Und Rolf Olsen bewies mit seinem Geiselnehmer-Thriller „Blutiger Freitag“ (1972), dass man auch in der alten Bundesrepublik Filme drehen konnte, wie sie sonst vornehmlich aus Italien stammten: knallhart, reißerisch, mit Zuspitzungen ins Psychedelische und ganz dicht am Puls der Zeit ohne einen Hauch von Themenfilm-Allüren.

Mit der ersten Sichtung von „Mädchen mit Gewalt“ muss ich definitiv einen weiteren Namen zu dieser Liste hinzufügen, mit dem doch alles wieder ganz anders wird, die Geschichte des anderen (und in diesem Falle unterschlagenen) bundesrepublikanischen Films von Neuem beginnen muss: Roger Fritz. Während „Rote Sonne“ heute als Kultfilm seiner Zeit gehandelt wird, während Klicks in diversen Editionen zugängliches Werk als ewiger Geheimtipp gilt und von „Blutiger Freitag“ immerhin eine Grabbeltisch-DVD existiert (und eine sorgsame Restauration in Aussicht steht), ist Fritz‘ Schaffen weitgehend vergessen. Nie im Fernsehen gezeigt oder auf Heimmedien erschienen, ist es nur ein paar eingefleischten Cinephilen bekannt, die das Glück hatten, es bei einigen seltenen Gelegenheiten im Kino sehen zu können. Da ist es umso erfreulicher, dass mit „Mädchen mit Gewalt“ nun erstmalig ein Film von Fritz ins digitale Zeitalter gerettet wurde.

Die erste Einstellung des Films zeigt Werner (Klaus Löwitsch) und Mike (Arthur Brauss), die in einem Zimmer einer jungen Frau dabei zusehen, wie sie sich langsam ankleidet. Die beiden Männer, Arbeitskollegen und langjährige Freunde, scheinen ihre Freizeit ausschließlich damit zu zubringen, Frauen hinterherzujagen, immer auf der Suche nach erotischen Abenteuern zu Dritt. Wenig später bei einer anderen Frau merken wir, dass es bei ihrem Treiben bisweilen auch mit recht rohen Zudringlichkeiten zugeht.

Auf der Go-Kart-Bahn lernen sie Alice (Helga Anders) kennen (wunderbar inszeniert ist diese Go-Kart-Szene, die Attraktion in Bewegung, die Blicke: der von Helga Anders unbedarft, fröhlich geradeaus, die von Werner und Mike auf die Frau als potenzielles „Projekt“, potenzielles Opfer gerichtet). So wie der Film als – wenn auch auf sehr spezielle Weise sinistere – erotische Komödie beginnt, um sich im Folgenden immer weiter zu verfinstern, so beginnt auch auf der Go-Kart-Bahn als Spiel, was später immer grausamer wird – aber doch irgendwie immer Spiel bleibt). Alice ist mit einigen Freunden unterwegs (darunter in einer kleinen Rolle: Rolf Zacher), wird aber nach der Kneipe, in der es einige Handgreiflichkeiten gibt, alleine mit den beiden Männern ins Auto steigen. Auf dem Weg in eine Kiesgrube, wo gebadet und auf Alices Freunde gewartet werden soll. Vielleicht schon als Alice das erste Mal mit den beiden Männern im Auto sitzt, spätestens jedoch beim Würstchenbraten am Lagerfeuer kippt die Stimmung. Alice muss bald erkennen, dass ihre Freunde nicht nachkommen werden und sie selbst sich bei Werner und Mike in schlechter Gesellschaft befindet.

So wie sich „Mädchen mit Gewalt“ nur äußerst schwierig auf ein Genre festlegen lässt, so scheinen auch die Machtverhältnisse zwischen den Figuren (vor allem zwischen Werner und Mike, zwischen denen Alice nur als eine Art Puffer zu fungieren scheint) immer wieder neu definiert, neu austariert werden zu müssen. Das gewohnte Spiel der beiden Männer gerät dieses Mal außer Kontrolle, artet aus, eskaliert immer weiter.

Die Logik dieser Eskalation folgt keinem herkömmlichen Spannungsbogen, eher verursacht der Film beim Zuschauenden ein großes Unbehagen, das über mindestens seine letzte Stunde konstant aufrecht erhalten wird, und auch in den Gewaltausbrüchen (Alices Vergewaltigung durch Werner in der Nacht, die Kämpfe der beiden Männer um die Frau am nächsten Tag) kaum ein Ventil findet. Dafür ist es bezeichnend, dass in der fiesesten und vielleicht auch intensivsten Szene des Films eigentlich nichts geschieht, sondern nur gesprochen wird. Am Morgen droht Alice den beiden Männern, zur Polizei zu gehen, um Anzeige wegen Vergewaltigung zu erstatten. Minutiös führt Mike ihr aus, welche Folgen das für sie haben würde. Er schildert ihr die peinlich detaillierte Befragung über den Tathergang durch die Beamten, durch den Richter im Prozess, durch ihren eigenen Vater, wie man sie und ihre Aussagen in Zweifel ziehen wird, weil man meint, sie habe die Beiden provoziert, wie sie immer wieder haarklein wird schildern müssen, was ihr geschah, und wie die Welt voll sein wird von Männern, die ihr größtes Misstrauen entgegenbringen werden. Was er beschreibt – und treffend auf den Begriff einer „gigantischen Vergewaltigung“ bringt – wurde von FeministInnen als „second rape“ bezeichnet, die Frauen in den Institutionen einer patriarchalen Kultur über sich ergehen lassen müssen, nachdem sie Opfer einer Vergewaltigung wurden. Mikes drastische und eindrückliche Schilderungen lassen die beiden Männer nur wie die Spitze des Eisberges erscheinen, wie Agenten einer Phallokratie, in der eine junge Frau keine Chance hat, ihre Sexualität selbstbestimmt und frei auszuleben, ohne sich Anschuldigungen und Abwertungen gefallen lassen zu müssen. „Mädchen mit Gewalt“, von einer zeitgenössischen Kritikerin als „Anleitung zur Vergewaltigung“ verrissen, zeigt anhand der Entwicklung von Helga Anders‘ Figur absolut schonungslos, wie eine solche Gesellschaft eine junge Frau brechen kann.

Sucht man zu „Mädchen mit Gewalt“ mögliche Bezüge in der Filmgeschichte, dann findet man sie wohl vor allem im Schaffen Roland Klicks, den Fritz, so erzählt er im Audiokommentar, in den gemeinsamen Münchner Zeiten gut kannte, mit dem er sich regelmäßig traf, um über Filme zu diskutieren. Die Kiesgrube mit den verstreut herumliegenden LKW-Reifen, der alten Förderanlage, den Autowracks, dem See und den bewaldeten Abhängen rundherum wird zu einer eigenen, in sich abgeschlossenen Welt und zugleich zu einer Seelenlandschaft der Figuren, vielleicht zu dem, was Can in einem der Songs als „Soul Desert“ besingt. In Klicks Debüt „Bübchen“ (1968) ist es ein Schrottplatz, der als äußere Abbildung von Innerem fungiert und für die Kaputtheit eines ganzen Milieus steht, der unteren Mittelschicht in der BRD nach dem Wirtschaftswunder. Auch wirkt „Mädchen mit Gewalt“ streckenweise wie ein Zwillingsfilm zu „Deadlock“ (der wohl ein Jahr später entstand). Die Parallelen ergeben sich auch hier durch die Abgeschiedenheit und Unentrinnbarkeit des Schauplatzes sowie den großartigen Soundtrack von Can. Der Geldschatz, der dort frenetisch und mörderisch umkämpft wird, ist hier Helga Anders, wobei es weniger darum zu gehen scheint, sie sexuell zu „besitzen“ als das die zwei Männer ihren Lustgewinn primär daraus ziehen, die Frau zu brechen, sie zu einem wenn schon nicht willigen so doch willenlosen Opfer zu machen. Wie Marquard Bohm am Ende von „Deadlock“ wird auch Anders nach „Mädchen mit Gewalt“ eine Überlebende sein, für die es doch in der Welt keinen Platz zu geben scheint.

Roger Fritz kommt ursprünglich von der Fotografie, was man seinen sehr genau kadrierten und arrangierten Einstellungen deutlich anmerkt. Genau sind die Figuren im Bild angeordnet, konzentriert sich die Kamera auf ihre Körper und Gesichter und verdichtet das Geschehen zu einem Kammerspiel unter freiem Himmel. Der Einsatz von extremen Close-Ups ist spärlich aber exakt, wohl dosiert. Beim „Versteckspielen“ hilft Werner Alice von einer Leiter herunter. Während er sie im Arm hält zeigen sechs sehr kurze Einstellungen Details von ihren Gesichtern: Augenpartien und Münder in Schuss und Gegenschuss. Diese Szene ist bestimmt durch eine Sinnlichkeit, ein Begehren, das wenig später nur gewaltsam manifestiert werden kann. Bei der Vergewaltigung gibt es wieder Close-Ups, von ihren Brüsten in der aufgerissenen Bluse, von seiner Hand, wie sie seinen Reißverschluss öffnet, ihren Schlüpfer herunterreißt. Parallel montiert wird Mike, der den beiden zusieht, während er mit dem Auto Kreise um sie herumfährt. Die Szene endet mit Großaufnahmen der Autoscheinwerfer, zwei weiß leuchtende Augen in der Nacht, die die Rolle Mikes als Voyeur unterstreichen.

Nach einem Schnitt bricht der Tag an, der Alice ebenso wenig helfen wird wie der Himmel, aus dem am Ende ein Polizeihubschrauber in die Kiesgrube herabschwebt. Die Ordnungsmacht von außen kann das, was hier geschah, nicht nur nicht ungeschehen machen, sie hat auch keine Möglichkeit in die hier entstandene, ganz eigene Dynamik einzugreifen oder auch nur irgendeine Form der Sühne anzubieten. So endet, denkbar pessimistisch, einer der wohl kühnsten und verstörendsten Filme des bundesrepublikanischen Kinos.

Die Blu-ray-/DVD-Kombibox aus dem Hause Subkultur Entertainment, die als vierter Teil ihrer „Edition Deutsche Vita“ erschien, ist ein wahres Prachtstück. Sie präsentiert den Film in einer eigens angefertigten HD-Abtastung, die auch das Originalformat von 1,66:1 beibehält. Für die Edition wurden gleich zwei Audiokommentare eingesprochen. In dem ersten unterhalten sich Christoph Draxtra und Sano Cestnik, Autoren auf dem Blog „Eskalierende Träume“ und Mitveranstalter der Nürnberger Hofbauer-Kongresse, mit Roger Fritz und Arthur Brauss unter anderem über Münchner Filmemacher-Zeiten, das fiese Grinsen von Klaus Löwitsch und die Einordnung des Films in das (mir leider unbekannte) weitere filmische Werk des Regisseurs. Im zweiten bemühen sich Tino Zimmermann von Subkultur Entertainment, Pelle Flesch und wiederum Christoph Draxtra darum, „Mädchen mit Gewalt“ in der deutschen Filmgeschichte zu verorten, gehen auf die (Italo-)Western-Reminiszenzen des Films ein und sprechen außerdem ausführlich über die Schwierigkeit deutsches Filmerbe zu vermarkten oder überhaupt zu erhalten, denn in Deutschland gehen reihenweise Filme verloren, weil an Geldern für die Digitalisierung gespart wird. Abgerundet wird die Edition durch ein Booklet, in dem sich die Grabrede auf Klaus Löwitsch von seinem Freund und Kollegen Dieter Laser befindet. Sowie drei Interviews mit Roger Fritz, Arthur Brauss und Rolf Zacher. Von letzterem musste sich der Interviewer Sadi Kantürk wohl so einiges anhören, so hört man es noch über den Schluss-Credits grummeln: „Ich war schon Amsel, Drossel, Fink und Star, da wart ihr noch im Sack von euerm Alten, ihr kleinen Wichser.“

Die Lügen der Sieger

(D / F 2014, Regie: Christoph Hochhäusler)

Wahrheitssuche und Lügenmaschinerie
von Nicolai Bühnemann

„Go to a movie. Relax.“ Diesen Rat bekam der Journalist, der in Alan J. Pakulas „Zeuge einer Verschwörung' („The Parallax View“ (1974)) auf die Spur einer groß angelegten Verschwörung kommt, …

„Go to a movie. Relax.“ Diesen Rat bekam der Journalist, der in Alan J. Pakulas „Zeuge einer Verschwörung' („The Parallax View“ (1974)) auf die Spur einer groß angelegten Verschwörung kommt, von seinem Redakteur mit auf den Weg. Die Tatsache, dass dieser Unerschrockene seine Recherchen letztlich mit dem Leben bezahlen wird, zeigt deutlich, dass wir uns hier gerade nicht in einer Tradition des Kinos bewegen, die die Zuschauenden entspannt, mit der Welt versöhnt zurück in ihren Alltag entlässt. Vielmehr waren die US-amerikanischen Paranoia-Thriller der siebziger Jahre, für die Pakulas Film ein Paradebeispiel liefert, Ausdruck einer tiefen Verunsicherung der Menschen gegenüber der Macht. Dass „die da oben“ im Interesse des Volkes handelten, schien im Angesicht von Watergate und Vietnam fraglicher denn je. (Bestimmte Spielarten des Horrorfilms, der in dieser Dekade in den USA ebenfalls florierte, lieferten dazu gewissermaßen das Gegenstück: Statt der Angstphantasie des Mittelschichts-Großstädters vor den Machenschaften der Mächtigen, kam die Bedrohung hier von „unten“. In Form kannibalischer Rednecks in Hoopers „Blutgericht in Texas' („The Texas Chainsaw Massacre“) oder Cravens „Hügel der blutigen Augen' („The Hills have Eyes“) oder Romeros Zombies, die den bürgerlichen Individuen das Land streitig machten, eine neue frontier mitten durch das amerikanische Hinterland verlaufen ließen.)

Während in den USA die Tradition des Paranoiathrillers heute etwa in Fernsehserien wie „House of Cards“ fortgeschrieben wird (allerdings mit einem entscheidenden Perspektivwechsel, bei dem nun nicht mehr das streithafte Individuum im Kampf mit einem durch und durch korrupten System im Mittelpunkt steht, sondern ein Vertreter eben dieses Systems, der sich Journalisten, die zu viel wissen, auch schon mal durch Mord entledigt), hat das Genre hier in Deutschland gar keine Geschichte, die sich fortschreiben ließe. Dabei scheint die Atmosphäre unserer Gegenwart im Angesicht etwa der haarsträubenden Verwicklungen um die Mordserie des NSU oder immer neuer Skandale um die Abhörtätigkeiten der Geheimdienste geradezu dazu einzuladen, den Institutionen und den Mächtigen zu misstrauen.

Da passt es nur zu gut, dass mit „Die Lügen der Sieger“ nun ein veritabler deutscher Paranoiathriller in die Kinos kommt und ebenfalls, dass dieser von Christoph Hochhäusler stammt. In seinen drei bisherigen Kinofilmen zeigte Hochhäusler dezidiert deutsche Wirklichkeiten, die durch Zuspitzungen und Stilisierung ins Unheimliche entrückt schienen. Immer wieder kreisen seine Filme um das Thema Entfremdung in gegenwärtige Arbeitswelten. In „Falscher Bekenner“ (2005) ging es um die Arbeitssuche eines Jugendlichen, der seinen Platz in der Gesellschaft, wie sie ihm von seiner Familie vorgelebt wurde, nicht finden konnte oder wollte. Also flüchtete er sich in masochistische Tagträume. Also wurde er schließlich vom falschen Bekenner zum echten Saboteur. „Unter dir die Stadt“ (2010) erzählte von Investment-Bankern, die Realitäten außerhalb ihrer Glas- und Beton-Türme und ihrer kultivierten Gesellschaftsabende nur noch als voyeuristisches Spektakel wahrnehmen konnten: Einem Junkie zahlt der Protagonist Geld, um ihm dabei zuzugucken, wie er sich einen Schuss setzt.

In „Die Lügen der Sieger“ nun ist der Protagonist, wie bei Pakula in „The Parallax View“ oder dem Watergate-Film „Die Unbestechlichen' („All the President’s Men“ (1976)), ein Journalist, der bei seinen Recherchen auf die Spur einer ganz großen Sache zu kommen scheint. Fabian (Florian David Fitz) lebt auf großem Fuß. Er fährt einen alten Porsche durch die Straßen Berlins und ist hoch verschuldet, weil er immer mal wieder in geheimen Casinos riesige Summen an den Spieltischen verzockt (ordentlich frenetisch sind die Spielszenen gehalten und offenbaren damit die Vielseitigkeit, mit der Hochhäusler sein Handwerk beherrscht). Als Macho-Arschloch bezeichnet ihn Nadja (Lilith Stangenberg) einmal, die Volontärin bei dem Nachrichtenmagazin „Die Woche“, bei dem er arbeitet (und das nicht von ungefähr an den „Spiegel“ erinnert). Nachdem seine Story über den Umgang der Bundeswehr mit Kriegsveteranen stagniert, weil sich sein Informant bedeckt hält, bekommt Fabian Nadja von seinem Chefredakteur zur Seite gestellt und soll nun mit ihr zusammenarbeiten, was den chronischen Einzelgänger zunächst mit größtem Widerwillen erfüllt.

Zunächst einfach nur, um sie irgendwie zu beschäftigen, setzt er Nadja auf die Geschichte eines Mannes an, der im Zoo in Gelsenkirchen ums Leben kam, als er ins Löwengehege sprang. Fabian kann nicht ahnen, dass sich bald ein Zusammenhang auftut zwischen der Veteranen-Geschichte und dem Toten im Zoo. Es scheint dabei um Giftmüllimporte zu gehen und Kriegstraumatisierte, die von der Bundeswehr in dubiosen Recyclingfirmen „entsorgt“ werden. Doch im Geheimen arbeitende und sich in einer PR-Agentur organisierende Lobbyisten sehen die Verabschiedung eines Gesetzes über Giftstoffrichtwerte durch die Recherchen von Nadja und Fabian in Gefahr. Sie beginnen den beiden manipulierte Informationen zu zuspielen, sodass die vermeintliche große Enthüllungsstory, die es letztlich sogar auf den Titel der „Woche“ schafft, letzten Endes zu einem großen Ablenkungsmanöver wird.

Inszenierung und Kamera sind von bestechender Eleganz. Mehr noch als in „Unter dir die Stadt“ werden die Figuren immer wieder durch spiegelnde Scheiben gefilmt, wodurch die rastlosen Bemühungen der beiden Protagonisten etwas seltsam Entrücktes bekommen. Gespräche werden oft nicht in Schuss und Gegenschuss aufgelöst, sondern die Kamera gleitet über die Gesichter der Figuren oder zwischen diesen hin und her, wobei der Fluss von abrupten Schnitten unterbrochen wird. Die Agentur, in der sich die Lobbyisten organisieren, wird in bläulichem Licht gehalten. Einmal ist ihre Büroetage von außen zu sehen, ein unheimliches Zentrum der Macht inmitten des anonymisierten urbanen Raumes. Bei einem Gespräch von einem von ihnen mit einem Minister verhindert die Lichtsetzung, dass man die Gesichter ganz erkennen kann. Die beiden werden zu albtraumhaften Schattengestalten. Während sich Fabian in seinem Auto mit einem Informanten unterhält, beschreibt die Kamera eine komplette Drehung um den Porsche herum, schließt den Protagonisten nicht nur in seinem Statussymbol ein, sondern vergegenwärtigt die Ausweglosigkeit seiner Situation, der letztlich zum Instrument ebenjener Macht wird, der er auf die Schliche zu kommen versucht.

Zur Komposition seiner Bilder wählt Hochhäusler wie immer seit „Falscher Bekenner“ das Cinemascope-Format, aber „Die Lügen der Sieger“ ist der erste seiner Filme, der in seiner Wahlheimat Berlin spielt. Belebte Innenstadtstraßen vermitteln ein Gefühl großer Anonymität, die den perfekten Nährboden für die im Verborgenen operierende Agentur zu liefern scheint. Die Atmosphäre der Paranoia, der allgegenwärtigen latenten Bedrohung, wird vor allem in einer U-Bahn-Szene verdichtet, in der Fabian von einem Unbekannten Informationen zugesteckt bekommt. Der vielleicht schönste der sorgsam ausgewählten Schauplätze ist ein Imbiss, in dem sich Fabian und Nadja betrinken. Ein Schritt zu einer Beziehung zwischen den beiden, die letztlich ins Nichts führen wird – wie ihre Suche nach der Wahrheit.

Denn als Fazit des Films steht am Ende das Zitat von Lawrence Ferlinghetti, dem der Titel entlehnt wurde: „Geschichte wird gemacht aus den Lügen der Sieger. Aber du würdest es nicht erträumen, anhand der Titel der Bücher“. Das System der Manipulation der Medien und der Einflussnahme von Interessenvertretern der Wirtschaft auf politische Prozesse ist so eingespielt, dass es schon mehr braucht als zwei engagierte Journalisten, um ihm das Handwerk zu legen. So entlässt einen „Die Lügen der Sieger“, der ästhetisch avancierteste Film im ästhetisch avancierten Werk seines Regisseurs, nicht mit einem Gefühl der Entspannung und Beruhigung, sondern mit großem Unbehagen aus dem Kinosaal.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Die Lügen der Sieger'.

Big Game

(FI / GB / D / USA 2014, Regie: Jalmari Helander)

Schwaches Finnisch mit Uncle Samuel unter Samen (vormals 'Lappen')
von Drehli Robnik

Welch wirre Konstellation! 'Big Game', ein finnisch-deutsch-britisches Wald-, Berg- und Kidnap-Abenteuer auf den Spuren von 'Cliffhanger', feiert das Finnentum – allerdings gerade als eine Low Tech-Kultur mythomaner Bärenjäger, die in …

Welch wirre Konstellation! 'Big Game', ein finnisch-deutsch-britisches Wald-, Berg- und Kidnap-Abenteuer auf den Spuren von 'Cliffhanger', feiert das Finnentum – allerdings gerade als eine Low Tech-Kultur mythomaner Bärenjäger, die in Klapperkästen als Autos, mit Cassetten-Walkmen und Joghurtbecher-Schnurtelefonen (beides nicht von Nokia – wer´s noch kennt) sowie mit Pfeil, Bogen und großem Respekt vor der waidmännischen Ahnvätergalerie auf die Pirsch gehen. Finnischen Traditions- und Mythenbestand ins Groteske zu ziehen, das gelang 'Big Game'-Regisseur Jalmari Helander 2010 mit seiner Weihnachtsmann-Horrorsatire 'Rare Exports' ganz passabel. Nun aber soll an alten, nordisch-naturnahen Männerbildern offenbar doch etwas genuin Heilsames festgemacht werden; dazu dient die Kontrastfolie einer Maskulinität in der Identitätskrise – und die verkörpert Amerika.

Amerika wird gebasht. Aber nicht konsequent – hier kommt wieder das Wirre, sich selbst im Weg Stehende an der Konstruktion von 'Big Game' zum Tragen –, sondern nur so lange, bis der US-Präsident am Ende wieder gelernt hat, seinen eigenen national-imperialen Machtmythos zu glauben und auszuleben. Besagter Präsident, mit der Air Force One im Anflug zum Staatsbesuch in Helsinki, wird über Lappland abgeschossen und, nunmehr allein mit nur einem Schuh zu Fuß in Schnee, Fels und Moos unterwegs, von entführungslüsternen Verschwörern in den eigenen Reihen und deren arabischen Hintermännern bedrängt. Ein zwecks Bärenjagd-Initiationsritus in den Wald ausgeschwärmter Bub (Onni Tomilla, als Kinderdarsteller schon in 'Rare Exports' dabei) steht dem in der Natur aufgeschmissenen Ami bei, betrachtet ihn als seine 'Großwild'-Beute (eine der in Filmtiteln oft genutzten Mehrfachbedeutungen von 'Big Game') und lehrt ihn, das ganze Rumgetue mit Medienimage und politischem Rollenspiel sein und lieber das Alphatier in sich raus zu lassen. Diese verwirrte Form von Antiamerikanismus verspottet die USA ob ihrer soft power – und ist erst bereit, sie zu respektieren und zu zelebrieren, als die amerikanische Macht sich in bester imperialistischer Gewalttradition präsentiert und der Präsi mit seinem jungen Retter vor zu seiner Rückholung in finnisches Staatsgebiet eingeflogenen NAVY-Seals und digitaler Helicopter-Flotte posiert.

Das ist eine nachgerade masochistische Geste: Lerne im finnischen Ritus, wieder an dich zu glauben, Amerika, und zeig uns deine starken Rotorenblätter, damit wir wieder Grund haben, dich ehrfurchtsvoll zu lieben! Da wäre Gelegenheit gewesen für ein bisschen Perversiönchen mit dem Söhnchen nach Art des oft variierten B-Film-Menschenjagd- und Sadismus-Hobby-Parcours-Klassikers 'The Most Dangerous Game' (USA 1932), auf den 'Big Game' verquer anspielt. Aber nein, man hat sich entschlossen, doch eher als Kinder- und Jugendabenteuer anzutreten. Vielleicht ist diese Hinwendung an kindliche Gemüter mit dafür verantwortlich, dass hier nicht nur wiedergefundener Mannesmut als gut beschworen, sondern auch einem fast schon stilistisch suizidalen Todesmut zur unterbudgetierten Ausstattung: Gezeigt wird der War Room der US-Regierung oder das Wrack der Air Force One, aber jeweils so reduziert im baulichen Aufwand, dass es wie symbolische Dekorationen auf Theaterbühnen wirkt. Wobei die Actionszenen mit dem Eiskasten als Fluchtvehikel am Helicopter-Trageseil und in Stromschnellen eh okay, zumindest semi-bizarr, sind.

Konsequenter im Sinn der filmischen Selbsttorpedierung ist es, dass der US-Präsident, der eben zwecks Heruntermachung von bloßen Image-Formalien (und wohl auch in Anspielung auf die 'Abgehobenheit' und Schwäche, die KritikerInnen Obama immer wieder attestieren) als Weichei hingestellt wird, dass also dieser Softie- und Fake-Präsident mit Samuel L. Jackson besetzt ist; der hat vergleichbare Rollen, eben den fish out of water im Action-Ambiente, Mitte der 1990er gespielt (in 'Die Hard 3' und in 'The Long Kiss Goodnight', neben 'Cliffhanger' einem weiteren Film des einst großen Action-Finnen Renny Harlin) – aber heute ist Jackson doch eher über seine Tough Guy-Parts bei Tarantino oder von 'Shaft' über 'Star Wars' bis zum Avengers-Universum definiert und funktioniert als Präsident von Anfang an überhaupt nicht. Uncle Samuel L. im billig ausgestatteten Präsidentenjumbo – das erinnert unweigerlich an those mutherfucking Snakes on a Plane.

Mit dabei außerdem: Action-Allzweckler Ray Stevenson, in ein zu enges Secret Service-Sakko gezwängt; Mehmet Kurtulus, in ein nur wenig besser sitzendes Lederwams geknöpfelt, als terroristischer Islamist, der keiner ist, aber quasi die Stelle von Graf Zaroff aus 'The Most Dangerous Game' einnimmt; und Jim Broadbent, der sich als kauzig-doppelbödiger Geheimdienstberater einen Drehnachmittag Zeit genommen hat. Er ist ebenfalls fehlbesetzt und isst ein Käsebrot, beides durchgängig.

Was heißt hier Ende? Der Filmkritiker Michael Althen

(D 2015, Regie: Dominik Graf)

Those were the Days of Wine and Roses
von Ulrich Kriest

2011 ist der viel gelesene und viel bewunderte Filmkritiker und Autor Michael Althen im skandalösen Alter von nur 49 Jahren gestorben. Der Filmemacher Dominik Graf, mit dem Althen wiederholt zusammengearbeitet …

2011 ist der viel gelesene und viel bewunderte Filmkritiker und Autor Michael Althen im skandalösen Alter von nur 49 Jahren gestorben. Der Filmemacher Dominik Graf, mit dem Althen wiederholt zusammengearbeitet hat („München – Geheimnisse einer Stadt“), hat jetzt Althens Familie (total sympathisch), ein paar Freunde und Kollegen und ein paar Filmemacher (Tykwer, Petzold, Karmakar) vor die Kamera geholt, um mittels eines essayistischen Mosaiks aus Stimmen, Fotos, Filmausschnitten und Texten einen filmischen Kranz zu flechten.

Wer sich für Filmkritik interessiert, wird manches erinnern: etwa die legendären Nachrufe auf Robert Mitchum oder Audrey Hepburn oder den eigenwilligen Sound von Althens Dean Martin-Monografie. Dazu spricht Dominik Graf selbst einen Off-Kommentar mit der ihm eigenen Lakonie, die sich auch sehr gut für Althen-Texte mit ihrem mitunter etwas hohen Ton eignete. Man erfährt also etwas über Althens Herkunft aus der Vorstadt Unterhaching und viel über die Clique von jungen Filmkritikern, die sich Mitte der 1980er Jahre aufmachte, eine Wachablösung innerhalb der deutschsprachigen Filmkritik zu realisieren. Ein Sprachrohr dieser sehr Hollywood-affinen Clique war das Magazin „steadycam“, mittlerweile eingestellt.

Um es kurz zu machen: „Was heißt hier Ende?“ ist ein sehenswerter Film, der noch einmal sehr für Michael Althens Schreib- und Herangehensweise einnimmt, wenngleich sie mir persönlich mitunter etwas zu affirmativ und betont cinephil erscheinen mag. Aber ich interessiere mich ja auch nicht für Tom Cruise oder Interviews mit Jacqueline Bisset. Die Haltung, in jedem Film, noch dem misslungensten, stecke etwas, was sich zu entdecken lohne, teile ich nicht. Keine Verrisse, nach Möglichkeit. Okay?

Man könnte trotzdem richtig nostalgisch werden, wenn man noch einmal vorgeführt bekommt, welchen Stellenwert der Film und das Kino einmal im Feuilleton genossen. Und wenn die anderen Exponenten der Filmkritiker-Clique, die Seidls, Höbels, Körtes und Paulis, von ihren lustigen Streichen erzählen, dann spürt man auch, dass damals Kritik auch so gut bezahlt wurde, dass man sich auch mal auf ein Abendessen in Paris verabreden konnte, bei „Schumann’s“ Stammplätze hatte und 1000 Mark im Filmbuchladen ließ. Große Gesten! Hier erzählen müde und matt gewordene Mittfünfziger über Bande von ihrem Weg in bestens bezahlte Redakteursstellen und haben als Establishment die Chuzpe zu behaupten, dass die Zeitungskrise dazu geführt habe, dass jetzt nur noch mittelmäßige Autoren nachfolgen, weshalb jetzt mit ihnen wohl auch die Filmkritik sterbe. Langsam, aber sicher. Oder vielleicht längst gestorben sei.

Man sollte sich vielleicht mal informieren, was Wolfram Schütte als Repräsentant der zuvor abgelösten Kritikergeneration heute im Netz so treibt. Oder sich auf die Suche nach talentiertem Nachwuchs begeben. Oder selbst wieder bessere, kontroverse Texte schreiben. Stattdessen lobt man einen Michael Althen-Preis für Kritik aus, den dann jemand wie Willi Winkler bekommt, dessen „Passion“ fürs Kino leider bislang unerwidert blieb. Hier sind es gerade die Stimmen einiger randständiger Kritiker wie Olaf Möller, Christoph Huber oder Doris Kuhn, die noch etwas vom alten Feuer bezeugen und auch einklagen. Stichwort: Kritik als Service. Jeden Donnerstag.

Interessant und für einen Nicht-FAZ-Leser neu allerdings die Ahnung, die der Film zumindest suggeriert, dass Michael Althens Enthusiasmus für das Tagesgeschäft sich nach dem Umzug nach Berlin rasch erschöpfte und er Inspiration in Nachbarkünsten suchte. Dieser Spur könnte man bei Gelegenheit einmal nachgehen. Wozu gibt es schließlich die schöne und immer wieder gern aufgesuchte Site www.michaelalthen.de?

Geschenkt wurde uns nichts

(D / I 2014, Regie: Eric Esser)

Mund zu, Ohren auf
von Dietrich Kuhlbrodt

Die Geschichte Lailas, einer italienischen Partisanin im Apennin, 1943/44. Sie erzählt, ohne dass ihr jemand dreinredet, auch nicht der Regisseur dieses Dokumentarfilms. Keine Off-Kommentare, keine Interviewstimme, keine musikalische Untermalung. Aber …

Die Geschichte Lailas, einer italienischen Partisanin im Apennin, 1943/44. Sie erzählt, ohne dass ihr jemand dreinredet, auch nicht der Regisseur dieses Dokumentarfilms. Keine Off-Kommentare, keine Interviewstimme, keine musikalische Untermalung. Aber Unterfeldwebel Annita Malavasi, genannt Laila, pur.

Selten habe ich jemanden so präsent erlebt wie diese jetzt fast 90jährige, die, damals 23 Jahre alt, selbst entschied, in die Berge um Reggio Emilia zu gehen und schließlich Kommandantin des Nachrichtendienstes der Brigade zu werden. Niemand hatte ihr gesagt, dass sie das tun müsse. Dass das „wichtig“ sei. Sie folgte keinem Aufruf. Keiner inneren oder sonstigen Stimme. Am 20. September 1943, unvorbereitet vom Bündniswechsel der Achsenmacht Italien, war sie zunächst „ratlos wie alle“, bis sie ein Erlebnis hatte, das ihr unter die Haut ging. Ein deutscher Soldat lässt sie nicht in ihr Haus. „Aber das ist mia casa!!“ Sie ist empört. Ihre Emanzipationsgeschichte beginnt. Sie leistet Widerstand nicht nur gegen die feindlichen Soldaten, sondern zugleich gegen die Männergesellschaft, in der sie lebt. Machos alle. Sie wird die Verlobung aufkündigen. Sie wird statt der Familie den politischen Kampf wählen, d.h. nach dem Krieg die partita communista.

Wohlgemerkt sind es nicht Belehrungen und Argumente, die sie bewegen, sondern das, was ihr persönlich widerfährt. Sie soll die Schuhe ihres Bruders putzen? „Der ist doch Student!“ – Tschüss, ihr Machos. „Das erste, was der Kommandant der Partisanen zu mir sagte, war: ‚Hier bist du weder Mann noch Frau, sondern ein Partisan. Du hast dieselben Rechte und Pflichten wie alle anderen.'

Regisseur Eric Esser (MakeShiftMovies, AG DOK) hat die (leider) seltene Gabe, zuhören zu können. Das Parlare des „Geschenkt wurde uns nichts“ ist von ihm geradezu liebevoll unterfüttert mit Fotos und kurzen Filmausschnitten aus dem regionalen italienischen Resistenza-Archiv. Anders ausgedrückt: diese Fähigkeit, sich an dem, was er aufgenommen hat, als Mitwirkenden zu begreifen – und nicht, ich übertreib mal, machohaft darüber zu verfügen –, zeichnet Eric Esser aus. Ein aufrichtiger, freundschaftlicher Dokumentarfilm.

Die Moskauer Prozesse

(D 2013, Regie: Milo Rau)

Kunstmacher und Kunstzerstörer
von Ilija Matusko

So haben es sich die orthodoxen Kosaken in ihren traditionellen Trachten sicher nicht vorgestellt. Als sie im März 2013 in das Sacharow-Zentrum in Moskau eindringen wollen, weil sie Russland und …

So haben es sich die orthodoxen Kosaken in ihren traditionellen Trachten sicher nicht vorgestellt. Als sie im März 2013 in das Sacharow-Zentrum in Moskau eindringen wollen, weil sie Russland und Kirche in Gefahr sehen, treffen sie auf andere Widerstände als gedacht. Drinnen findet keine „Vorstellung zum Schutz von Pussy Riot“ statt, sondern der Schweizer Theaterregisseur Milo Rau ist gerade dabei, ein Stück russischer Geschichte mit seinen „Moskauer Prozessen“ neu ablaufen zu lassen. Von einem orthodoxen Traditionalisten, selbst Ankläger im Prozess und damit an der Kunstaktion beteiligt, werden die Kosaken beschwichtigt: „Hier finden keine anti-orthodoxen Aktionen statt, glauben Sie mir!“ Die Kosaken ziehen ab.

In den realen Prozessen gab es Verurteilungen gegen Kuratoren und Künstler der Ausstellungen 'Achtung! Religion' und 'Verbotene Kunst' sowie gegen die Punkband 'Pussy Riot'. Aufgrund des Aufrufs zum religiösen Hass und wegen Blasphemie. Obwohl die Ausstellung „Verbotene Kunst“ von orthodoxen Gläubigen gestürmt und die Kunstwerke teilweise zerstört wurden, wurden nicht die Kunstzerstörer verurteilt, sondern die Kunstmacher. „Ich habe die Gotteslästerung stoppen müssen“, so einer der randalierenden Orthodoxen. Die Gerichte sahen es wohl ähnlich. „Kirchliche und staatliche Organe arbeiteten reibungslos zusammen, den Zeugen und Experten der Verteidigung wurde kein Gehör geschenkt“, so Milo Rau am Anfang seines Dokumentarfilms über die Schauprozesse, bei denen in Russland Regimekritiker und Putingegner verfolgt wurden.

Das soll sich bei den „Moskauer Prozessen“ ändern. Im Sacharow-Zentrum, wo die Ausstellungen zuvor stattfanden, wird ein improvisierter Gerichtssaal aufgebaut. Alle Meinungen sollen gehört werden, der Prozess gemäß russischem Recht stattfinden. Auf der Bühne stehen keine Schauspieler, sondern Beteiligte und Betroffene selbst. Anwälte, Zeugen und Experten treffen in dieser Reinszenierung der Geschichte aufeinander, für eine Beteiligte ist das Verfahren „glaubwürdiger als der echte Prozess“. Diesmal soll eine unabhängige Jury entscheiden, im inszenierten Schauprozess „Kunst“ gegen „Religion“.

In Russland seien Staat und Kirche identisch, „genau darin liegt unsere historische Bedeutung“, sagt der Ankläger, die Werte der russischen Nation und Kultur müssten gegen die modernen Künstler verteidigt werden, die 'die Vorhut eines liberal-totalitären Staates sind, eines liberal-faschistischen Staates, der sich in unser Land eingeschlichen hat'. Klerikale kommen zu Wort und schildern, wie sehr sie sich durch die Kunstaktionen in ihrem religiösen Glauben beleidigt und verletzt fühlten. Auch die Verteidigung fährt schwere Geschütze auf: „Wir befinden uns in höchster Gefahr, vom orthodoxen Fundamentalismus besiegt zu werden.“

Der Film zeichnet das Bild einer gespaltenen, sich im Kampf befindenden russischen Gesellschaft. Und er wirft eine Reihe spannender, weil unbequemer Fragen auf: Wie weit darf Kunst gehen? Wie sehr muss sie auf andere Wertsysteme Rücksicht nehmen? Steht sie unweigerlich im Dienst einer Ideologie? Wie tief wurzelt die Allianz aus Staat und Kirche? Wie weit geht sie, um ihre Macht gegen demokratische Werte zu verteidigen? „Die meisten Russen lehnen die Kunst ab, weil sie ihre Identität als Russen zerstört“, so ein Priester. „Die Künstler erinnern uns, wo es weh tut“, so ein anderer Zeuge im Film. Gerade in solchen Abtastungen der russischen Gesellschaft und ihrer diskurspolitischen Verfassung liegt die Stärke dieses Films. Am Ende entscheidet die siebenköpfige Jury über die vorgebrachten Argumente und bestätigt das Bild der Zerrissenheit.

Die „Moskauer Prozesse“ sind ein wagemutiges Theaterstück, das spannende Fragen aufwirft: Kann die Geschichte mit Mitteln des politischen Theaters wiederholt, reinszeniert und neubewertet werden? Welches Spannungsverhältnis ergibt sich aus dem Ereignis und ihrer Wiederholung? Welche Bedeutung und welche Konsequenzen hat die Neubewertung? Gerade im „Einbruch der Wirklichkeit“, als die Kosaken den Theatersaal stürmen wollen oder russische Sicherheitsbeamte den Prozess unterbrechen, zeigen sich die aufschlussreichen, offenen Wechselwirkungen. Auch der Regisseur selbst ist nicht davon ausgeschlossen. Nach dem Projekt wurde Milo Rau die erneute Einreise nach Russland verweigert.

Une Jeunesse Allemande – Eine deutsche Jugend

(D / CH / F 2015, Regie: Jean-Gabriel Périot)

Bildergeschichte(n), Geschichtsbilder ...
von Ulrich Kriest

Es beginnt mit einer haarsträubend grundsätzlichen Frage, die Jean-Luc Godard in den Raum stellt: „Ist es möglich, heutzutage in Deutschland Filme zu machen?“ In einem philosophischen Sinne. Es handelt sich …

Es beginnt mit einer haarsträubend grundsätzlichen Frage, die Jean-Luc Godard in den Raum stellt: „Ist es möglich, heutzutage in Deutschland Filme zu machen?“ In einem philosophischen Sinne. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus „Der kleine Godard an das Kuratorium junger deutscher Film“ von Hellmuth Costard aus dem Jahre 1978, aber das erfährt der Zuschauer erst im Abspann. Nach Kriegsende ’45 konnte man, so der nächste gewählte Ausschnitt, nur auf die „jeunesse allemand“ hoffen, weil überall sonst noch immer Nazis saßen. Und die Jugend lässt sich nicht lumpen, sondern provoziert, stellt unbequeme Fragen und muss – ein Ausschnitt aus „Ich bin ein Elefant, Madame“ zeigt‘s – immer damit rechnen, dass die längst wieder feiste Täter-Generation gerne auch mal handgreiflich wird, wenn aufgemuckt wird.

Dem Franzosen Jean-Gabriel Périot, Jahrgang 1974, gelingt das Kunststück, die Geschichte einer Radikalisierung, die auch die Geschichte einer Kommunikationsverweigerung ist, kommentarlos, allein durch die Montage von bereits gefertigten Bildern aus Fernsehnachrichten, Fernsehreportagen, Fernsehdiskussionen und diversen Spiel- und Agitationsfilmen zu erzählen. Es ist eine exemplarische Geschichte, die allerdings keinen Anspruch erhebt, die „ganze Geschichte“ zu erzählen. Selbstredend wären andere, alternative Bilder in den Archiven vorfindbar, könnten andere Akzente gesetzt werden, andere Protagonisten gewählt werden – fraglich aber, ob dies die Geschichte, die erzählt wird, grundlegend veränderte.

Während also im Fernsehen die „Konkret“-Kolumnistin Ulrike Meinhof in Diskussionsrunden und Features Aufklärung fordert und dies aus einer Position heraus betreibt, die heutzutage etwa Jutta Dittfurth oder Sarah Wagenknecht zukommt, wird in Berlin die dffb gegründet, von der, wie Willy Brandt es bei der Eröffnung formuliert, „künstlerische wie organisatorische Impulse“ ausgehen sollen. Diese Hoffnung wird sich erfüllen, aber auf ganz andere Weise als gedacht, denn der erste Jahrgang der Filmstudenten verweigert sich fast ausnahmslos, dem „Apparat der Bewusstseinsindustrie anpassungswillige Film- und Fernsehfachidioten“ zu liefern und macht stattdessen im godardschen Sinne Filme politisch. Holger Meins, Helke Sander, Hartmut Bitomsky, Gerd Conradt und Harun Farocki gehören zu diesem ersten Jahrgang, von dem später knapp die Hälfte relegiert werden wird, als das Gebäude besetzt und in die „Dsiga Vertov-Akademie“ umgetauft wird.

Film als Waffe der sexy Aufklärung, wenn modisch gekleidete Studenten mit der roten Fahne zu flotter Rockmusik durch Berlin laufen oder die legendäre „Anleitung zum Bau eines Molotow-Cocktails“ gezeigt wird. Die Ausschnitte aus einschlägigen Agitationsfilmen zeigen, dass die Studierenden sich mit allerlei Montage-Theorien auseinandergesetzt haben, um ihre Botschaften unmissverständlich zu machen. Aber noch immer geht es vorzüglich um Aufklärung und gegen die „Springer“-Presse“: „Eine unwissende Armee kann den Feind nicht besiegen!“, heißt es einmal in der Manier von Maos kleinem roten Buch, der „Mao-Bibel“.

Nach dem 2. Juni 1967 und der Ermordung Benno Ohnesorgs radikalisieren sich die Auseinandersetzungen: Brandanschläge auf zwei Frankfurter Kaufhäuser, Attentat auf Rudi Dutschke, „Springer“-Blockade, „Schlacht am Tegeler Weg“, Besetzung und Räumung der dffb, der Film sucht sich zielgerichtet sein Personal zusammen – Ulrike Meinhof, Holger Meins, Horst Mahler, Andreas Baader, Gudrun Ensslin (die auch einmal als Schauspielerin zu sehen ist). Diese Konzentration auf die erste Generation der RAF verengt die Dynamik der Bewegung in Richtung Eskalation, spontaneistische Strömungen um die Gruppe Spur, die Subversive Aktion und die Kommune 1 bleiben vergleichsweise unterbelichtet.

Vielleicht die entscheidende Szene des Films spielt im Verlauf der gescheiterten Besetzung der Redaktionsräume von „konkret“, als Meinhof sich den angereisten Journalisten verweigert und diese nachdrücklich auffordert, selbst für ihre eigenen Interessen zu kämpfen. Anschließend könnten sie sich dann ja selbst zur Problematik interviewen. Hier ist eine entschiedene Bruchstelle der dialogischen Kommunikation, die später im Film zur Trennung von Körper und Stimme führen wird. Es ist dann Klaus Lemke, der im Zusammenhang der Dreharbeiten zu „Brandstifter“ davon spricht, gut verstehen zu können, dass manche Akteure dahin manövriert wurden, zu denken, Kaufhäuser anstecken zu müssen. Als Gegenüber agiert die arrogante Täter-Generation je nach Temperament in Gestalt von Franz-Josef Strauß und Helmut Schmidt, über dessen „preußische Sekundärtugenden“ Oskar Lafontaine früh einmal Einschlägiges und Zutreffendes bemerkt hat, während „auf der Straße“ gerne mit schwäbischem Zungenschlag über Lynchjustiz und Todesstrafe „nachgedacht“ wird.

Die Chronologie der Ereignisse zwischen 1966 und dem Oktober 1977 darf wohl als bekannt vorausgesetzt werden, aber trotzdem ist die Logik der Eskalation, wie sie hier durch das montierte Originalmaterial aus Politikerreden und Fernsehnachrichten rekonstruiert wird, gespenstisch und forciert beschleunigt. Die Protagonisten der RAF, die hier lange als die diskursive Auseinandersetzung Suchende vorgestellt wurden, sind längst verstummt handelnd oder agieren als körperlose Stimmen vor Schwarzfilm aus dem Stammheimer Gerichtssaal heraus. „Deutschland im Herbst“: Kurz vor Schluss diskutiert dann Rainer Werner Fassbinder mit seiner Mutter in der Küche über Demokratieverständnis und die Hoffnung auf einen freundlichen Diktator, der es richten möge.

Wenn man so will, ein teuer erkauftes Happy End, denn genau diese nicht freundliche, aber auf Augenhöhe stattfindende Diskussion wurde ja seitens der staatlichen Autoritäten und Repräsentanten lange verweigert, weshalb ja von der APO „die Straße“ als Ort der öffentlichen Auseinandersetzung gewählt werden musste. Was dem Film auch eine böse Aktualität verleiht, denn es existieren Parallelen, wenngleich mit radikal veränderten Vorzeichen, zum aktuellen Umgang mit der Pegida. Aber Horst Mahler ist zumal in der ersten halben Stunde auch hier durchaus prominent vertreten. Wer die Geschichte gerne in dieser Richtung entfalten möchte, greife zu „Die Anwälte“ von Birgit Schulz (2009)!

Die Besteigung des Chimborazo

(BRD / DDR 1989, Regie: Rainer Simon)

Ein Horizont ohne Grenzen
von Wolfgang Nierlin

Noch bis ins 19. Jahrhundert galt der Chimborazo in Ecuador, ein über 6000 Meter hoher inaktiver Vulkan mit einer gewaltigen Gletscher-Kuppe, als „höchster Punkt der Erde“ und als „Wahrzeichen Amerikas“. …

Noch bis ins 19. Jahrhundert galt der Chimborazo in Ecuador, ein über 6000 Meter hoher inaktiver Vulkan mit einer gewaltigen Gletscher-Kuppe, als „höchster Punkt der Erde“ und als „Wahrzeichen Amerikas“. Zu diesem „Ort, wo noch niemand war“, unternimmt im Jahre 1802 der 32-jährige Naturforscher Alexander von Humboldt (Jan Josef Liefers) eine Expedition. Zusammen mit dem französischen Arzt und Botaniker Aimé Bonpland (Olivier Pascalin), dem Aristokraten Carlos Montúfar (Luis Miguel Campos) sowie einer Gruppe indigener Lastenträger will der deutsche Forscher, von enormer wissenschaftlicher Unruhe getrieben, Neuland erkunden und vermessen. Denn: „Kein Wort kann die Anschauung ersetzen.“ Die Strapazen der gefährlichen Unternehmung, beispielsweise verdeutlicht an der Überquerung eines reißenden Flusses, sind enorm. Doch dem Regisseur Rainer Simon, der den Film „Die Besteigung des Chimborazo“ 1988 noch für die DEFA an Originalschauplätzen gedreht hat, geht es nicht um die äußere Dramatik der episodisch erzählten Ereignisse, sondern um die innere Reise seines Protagonisten.

Zwar beginnt der Film wie ein psychedelischer, von elektronischer Musik unterstützter Trip durch gleißendes Sonnenlicht, farbige Wolkenmeere und vulkanische Feuersglut, um in faszinierenden Bildern, aufgenommen von Roland Dressel, die unbändigen Kräfte der Natur zu beschwören. Doch bald darauf wird der mal panoramatische, mal dokumentarische Erzählgestus unterbrochen von sepiabraunen Rückblenden in Humboldts biographische Vergangenheit. In nahtlosen Übergängen zwischen den verschiedenen Zeitebenen beleuchtet Simon lose verknüpfte Stationen einer gedanklichen Expedition. Als anspielungsreiche, sehr kalkuliert gebaute Erzählung einer Persönlichkeitswerdung portraitiert der renommierte DEFA-Regisseur einen Forscher, dessen leidenschaftlicher Freiheits- und Erkenntnisdrang in hartem Kontrast steht zu der von ihm als sehr einengend empfundenen preußischen Gesellschaft. Angesteckt vom „Freiheitsbrausen“ der französischen Revolution und einer unbändigen Sehnsucht nach der Ferne, versteht Humboldt das Leben als „einen Horizont ohne Grenzen“.

Gerade dieser Drang, der deutschen Enge zu entfliehen und dabei im Widerstreit mit einer restriktiven Umgebung dem individuellen Traum zu folgen, habe ihn an Alexander von Humboldt interessiert und zur Identifikation eingeladen, bekennt Rainer Simon im Werkstattgespräch mit Michael Hanisch. Dieses ist neben einer mittellangen Dokumentation über eine nachgespielte Legende der Chachi-Indianer Ecuadors („Der Ruf des Fayu Ujmu', 2002) und Simons „Chimborazo-Tagebüchern“ als Bonusmaterial der sorgfältig gestalteten DVD beigegeben. So sei „Die Besteigung des Chimborazo“ nicht nur sein wichtigster Film, sondern dieser habe auch sein Leben verändert, erläutert der Regisseur. Dabei reflektiert er auf versteckte Weise nicht nur die Parallelen zwischen Preußen und der DDR, sondern er weitet den Blick auch auf die kolonialistische Ausbeutung und Unterdrückung in der neuen Welt. Wenn Humboldt, um den Einheit stiftenden Nutzen seiner Mission zu rechtfertigen, gegenüber den Indigenen davon spricht, dass die nach Befreiung strebende Macht eines Volkes in seinem Wissen liege, dann passt das also durchaus ins ideologische Konzept des real existierenden Sozialismus. Daneben klingen allerdings Sätze, die der individuellen Freiheitssuche Humboldts huldigen, geradezu offen (und zugleich verborgen) subversiv, etwa die (rhetorische), auf Emanzipation und Selbstermächtigung zielende Frage: „Warum können wir nicht selbst die Schöpfer unseres Glückes sein?“

Im Labyrinth des Schweigens

(D 2014, Regie: Giulio Ricciarelli)

Knallgrünes Auschwitz
von Ricardo Brunn

Die Deutschen haben mal wieder die Klüsen zu – diesmal die müden Nachkriegsklüsen. Adenauer will einen Schlussstrich ziehen, das Volk sich am Wirtschaftswunderfeuer wärmen und über die grässliche Vergangenheit das …

Die Deutschen haben mal wieder die Klüsen zu – diesmal die müden Nachkriegsklüsen. Adenauer will einen Schlussstrich ziehen, das Volk sich am Wirtschaftswunderfeuer wärmen und über die grässliche Vergangenheit das grüne Gras wachsen lassen. Nur Alexander Fehling spitzt in der Rolle des jungen Staatsanwaltes Johann Radmann die Ohren und öffnet die blauen Äuglein, als der Reporter Thomas Gnielka (André Szymanski) im Treppenhaus des Frankfurter Gerichts die Wahrheit hallend wiedergibt: dass keiner wissen will, was in Auschwitz geschehen ist. Radmann, ein schwiegersohnbraves Mashup aus den drei Staatsanwälten, die unter der Leitung Fritz Bauers den ersten großen Prozess der deutschen Nachkriegsgeschichte gegen die Täter im nationalsozialistischen Vernichtungslager eingeleitet haben, nimmt sich der Sache trotz anfänglichen Widerstandes aus den eigenen Reihen an. Ein historisch bedeutender Schritt, den Giulio Ricciarelli in seiner ersten Regiearbeit entsprechend würdigt.

Diese Würdigung sieht in „Im Labyrinth des Schweigens“ nun so aus, dass den Film eine ungemeine Klarheit bestimmt. Die Bilder zeichnet eine große Tiefenschärfe aus, alles ist jederzeit sichtbar. Orte werden mit lehrbuchartigen Establishingshots eingeführt, in denen schlecht drapierte Statisten das Kopfsteinpflaster fegen oder auf Krücken durch das Bild humpeln. Wann wir uns wo befinden, stellen diese Einstellungen so offensichtlich aus, dass selbst Wohnhausruinen unangenehm künstlich wirken im Versuch, ein glaubwürdiges Nachkriegsdeutschlandbild zu entwerfen.

Den Figuren ergeht es ganz ähnlich. Sie definieren sich in Ricciarellis Erstling durch ihre in aller Oberflächlichkeit zur Schau gestellte Funktion. Der Auschwitzüberlebende Simon Kirsch (Johannes Kirsch) ist ein symbolisch Leidender und Stichwortgeber für eine erste heiße Spur in Form von Originaldokumenten aus dem Vernichtungslager. Radmanns Sekretärin Schmittchen gibt die moralische Instanz, die Stellvertretertränen vergießen darf, wenn sie in den ersten Anhörungen von all den Gräueltaten im Lager erfährt. Für die Psyche der Protagonisten interessiert sich der Film meist nur dann, wenn durch ihre Regungen Emotionen beim Zuschauer ausgelöst werden können oder es der nächste Plotpoint zulässt.

Selbst die Brüche im Verhalten der Protagonisten gibt es auf Rezept. Der innere Konflikt Radmanns, der während seiner nervenaufreibenden Arbeit erkennen muss, dass sein Vater ebenfalls in der NSDAP gewesen ist, bleibt eine bloße Behauptung, die in plakativen Alkoholeskapaden mit anschließender Streiterei nach außen gekehrt wird. Die wachsende seelische Belastung, das Verlorensein im Labyrinth aus Lügen und dem titelgebenden Schweigen wird nie spürbar, sondern ausschließlich sichtbar.

Da verwundert es nicht, dass die Figuren ferner für die Maximierung des Schauwertes herhalten müssen. Dank Friederike Becht in der Rolle der Freundin Johann Radmanns ergibt sich etwa die Gelegenheit für eine überflüssige Sexszene und einen im Anschluss daran auf der Fensterbank mit nacktem Oberkörper sitzenden und über Auschwitz sinnierenden Alexander Fehling; gut in shape, glatt rasiert, aber so überflüssig wie die gesamte Liebesgeschichte der beiden, die in banalen Erzählkonventionen dahin rieselt und als halbgarer Gegenpol zu den Ermittlungen ein wenig Amüsement in all die Unfassbarkeiten bringen soll, die der hübsche Staatsanwalt so zu Tage fördert.

Es existieren in „Im Labyrinth des Schweigens“ keine Variationen gewohnter Muster, keine Irritationen, die einem die ungeheuerliche Verdrängungsleistung der Deutschen in den 1950er Jahren begreiflich machen könnten. Der Wunsch nach einer authentischen Abbildung der Welt mündet beständig in der Darstellung einfacher Abziehbildchen, in der selbst die sprachlichen Metaphern von einer solchen Einfältigkeit geplagt werden, dass noch der Dümmste in der Lage ist sie zu verstehen. Dementsprechend endet eine Szene, in der Radmann seine Freundin – mittlerweile selbstständige Schneiderin – zurück gewinnen will, mit einem zerrissenen Jackett in der Hand und der Frage, ob es noch zu reparieren sei. Wohl kaum, ist die herzzerreißende Antwort der jungen Dame, der Riss sei einfach zu groß.

Vielleicht sind es die medialen Wurzeln des Fernsehschauspielers Ricciarelli, die hier – gelernt ist gelernt – verzweifelt Halt in einer Ästhetik der Unmissverständlichkeit suchen. Das führt jedoch in „Im Labyrinth des Schweigens“ dazu, dass unablässig Transparenz mit Wahrheit verwechselt wird, wobei Letzteres beharrlich über Ersteres hergestellt werden soll. Es gibt einfach keine Suche in diesem allwissenden Film, der den kategorischen Imperativ des „Nie wieder!“ in aller Aufdringlichkeit vor sich her trägt.

Als vollends grotesk gebärden sich die künstlerischen Entscheidungen des Regisseurs schlussendlich in einer Szene, die Johann Radmann und Thomas Gnielka nach Auschwitz führen. Vor den mittlerweile überwucherten Ruinen des Konzentrationslagers gibt der Film sein bisheriges Konzept der hohen Tiefenschärfe auf und die Protagonisten heben sich plötzlich stark von den Hintergründen ab. Vor dem Stacheldrahtzaun reden Radmann und Gnielka über das, was sie auf der anderen Seite des Zaunes sehen und eigentlich sehen sie nichts. Für sie wie für den Zuschauer bleibt Auschwitz eine unscharfe Textur, offensichtlich per Greenscreen-Verfahren in das Bild hineinkopiert. Der Regisseur lässt seine Protagonisten also nach Auschwitz fahren, ohne dass sie je dort ankommen. Damit geht sich der Film, dessen Handlung so sehr darauf aus ist Unsichtbares sichtbar zu machen, gleich in mehrfacher Hinsicht selbst auf den Leim. So sehr Radmann und Gnielka als Repräsentanten zweier Generationen im knallgrünen Greenscreen-Auschwitz Buße tun, so losgelöst operiert „Im Labyrinth des Schweigens“ in Bezug auf aktuelle Prozesse um rechte Gewalt und das massive Schweigen in diesen Prozessen.

Hier und hier gibt es zwei weitere Kritiken zu 'Im Labyrinth des Schweigens'.

Camino de Santiago

(CH 2015, Regie: Jonas Frei, Manuel Schweizer)

Mit der Drohne auf dem Pilgerweg
von Manfred Riepe

Der Camino de Santiago zählt zu den bekanntesten Pilgerrouten der Welt. Eigentlich führt diese uralte Strecke, zu deutsch: der Jakobsweg, quer durch Europa. Wer beispielsweise in unserem Nachbarland Urlaub macht, …

Der Camino de Santiago zählt zu den bekanntesten Pilgerrouten der Welt. Eigentlich führt diese uralte Strecke, zu deutsch: der Jakobsweg, quer durch Europa. Wer beispielsweise in unserem Nachbarland Urlaub macht, der findet in dem kleinen südfranzösischen Städtchen Pésenas die den Weg markierende Jakobsmuschel. Bekannt geworden ist von dieser Route allerdings nur die Zielgerade, der letzte Abschnitt durch Nordspanien. Die Resonanz in Literatur und Film ist beachtlich. Schon vor zehn Jahren erzielte Coline Serreau mit „Saint Jacques … Pilgern auf Französisch“ einen Arthouse-Hit. Hape Kerkelings autobiografische Beschreibung „Ich bin dann mal weg“ avancierte zum Bestseller und prägte eine gebräuchliche Redewendung. Sogar die ARD schickte Ann-Katrin Kramer und Elmar Wepper in einem populären TV-Movie auf die befreiende Wanderung nach Santiago de Compostela. Die filmischen Beispiele sind damit längst noch nicht erschöpft. Wer also tatsächlich innere Einkehr sucht, sollte sich von diesem touristischen Event besser fern halten. Es wimmelt hier vor Menschen wie in der Fußgängerzone.

Nun begaben sich auch noch die beiden schweizerischen Filmemacher Jonas Frei und Manuel Schweizer auf den ausgetretenen Pfad. Nicht zu Fuß, sondern mit dem Fahrrad. Ist das unsportlich? Unterwegs haben sie Wanderer aus aller Herren Länder in Small Talks mit einem erstaunlich ähnlichen Tenor verwickelt. Von dem ursprünglich christlichen Motiv der Wanderung auf dem Camino de Santiago haben die Pilger von heute kaum mehr eine Vorstellung. Darin gleichen sie dem Film von Jonas Frei und Manuel Schweizer, der den religiösen Hintergrund nur streift. Auch die Wanderer von heute haben es gerne unverbindlich. Sie wollen, so die übereinstimmende Bekundung, dem hektischen Getriebe des Alltags entfliehen und hoffen auf ein, wie es immer wieder heißt, spirituelles Erlebnis. Genau betrachtet, reduziert sich diese Spiritualität light auf eine körperliche Verausgabung. Das selbst auferlegte Martyrium von heute: Es beschränkt sich auf wund gelaufene Füße, die man mit einem Blasenpflaster verarzten kann. Und nach anstrengenden Gewaltmärschen ist eine bescheidene Mahlzeit dann ein göttliches Geschenk.

Was die betulichen Betrachtungen, die mit Off-Kommentator und eingeblendeter Landkarte arbeiten, von anderen Filmen unterscheidet, sind die zum Teil recht bemerkenswerten Aufnahmen. Bereits die Exposition, bei der sich der imposante Blick über Berge und Täler auf eine gefühlte Unendlichkeit hin öffnet, wirkt wie in einem „Herr der Ringe“-Film. Ein unerwartetes Filmerlebnis. Doch dieser visuell überwältigende Wow-Faktor verschleißt sich leider schon bald. Jede Kirche, und davon gibt es auf dem Weg einige, wird mit dem fliegenden Auge einer Kamera-Drohne von oben gezeigt. Es wird rasch deutlich, dass die Fixierung auf diese – anfangs erfrischend neu erscheinende – Perspektive, die sich durch eine rein technische Innovation ergibt, der eigentliche Inhalt dieses Dokumentarfilms ist. Die Menschen auf dem Jakobsweg treten dabei etwas in den Hintergrund. Zwar ist zu erfahren, dass es ein unbeschreibliches Gemeinschaftsgefühl unter den Pilgern gibt, jeder hilft dem anderen, doch die jeweils nur kurzen Erzählungen der Wanderer sind nicht abendfüllend. Das Problem der touristischen Vermassung und der Kommerzialisierung des Jakobswegs wird immerhin angedeutet. Die Filmemacher haben ein spezielles Interesse daran, ihr Sujet nicht madig zu machen: Weil der Film ansonsten sich selbst und seine ach so wunderschönen Bilder nicht mehr unkritisch feiern könnte.

Die konventionelle Dokumentation verlässt sich zu sehr auf nur anfangs beeindruckende Luftaufnahmen. Doch durch die Inflation der Vogelperspektive erscheinen die Beobachtungen irgendwann buchstäblich abgehoben. Durch den Blick von oben, der ja eigentlich auch der Gottesperspektive entspricht, kommt der Film Gott nicht näher. Zumal die sich in den Vordergrund drängend Musikuntermalung schon nach wenigen Minuten nervt. Die filmische Reise kommt gefühlte zehn Jahre zu spät und wirkt, gemessen an ihrem Sujet, nicht wirklich kontemplativ.

The Vatican Tapes – (Nicht online vor 24.7.!)

( 0, Regie: )

Teufels- und Frauenbilder
von Nicolai Bühnemann

Der Teufel steckt im Detail. Das bedeutet unter anderem, er versteckt sich im Bilderfluss einer Videoaufzeichnung, die vorderhand die junge Angela zeigt, die verzweifelt wieder und wieder beteuert, nur nachhause …

Der Teufel steckt im Detail. Das bedeutet unter anderem, er versteckt sich im Bilderfluss einer Videoaufzeichnung, die vorderhand die junge Angela zeigt, die verzweifelt wieder und wieder beteuert, nur nachhause zu wollen, und kann hier erst per Rückspultaste und freeze frame sichtbar gemacht werden. In einer Welt, in der immer irgendwo eine Kamera läuft, wird der Kampf, den sich die Mächte des Bösen mit dem Vatikan um die Seelen der Menschen liefern (und ja: diese Dichotomie kann man dem Film, wenn man ihn denn so ernst nehmen möchte, durchaus übel nehmen) auch zu einem Kampf der Bilder. „The Vatican Tapes“ besteht, nach einer pre title sequence, die aus – natürlich inszeniertem – Archivmaterial zusammengesetzt ist, das allerlei Fälle von Besessenheit im Verlaufe der Dekaden zeigt, auch weiterhin zu einem großen Teil aus Blicken durch inner-diegetische Kameras: Vom Handyvideo von der Geburtstagsparty über die Aufnahmen von Krankenhausüberwachungskameras bis hin zu den titelgebenden Vatican Tapes, auf denen sich vermeintliche dämonische Aktivitäten dokumentiert finden. Nach einem Aufstand in der Psychiatrie mit tödlichem Ausgang sehen wir die schwankenden Bilder einer kleinen Videokamera, die an ihrem Kabel an einem Balken aufgehängt wurde. Wenn die Bilder nicht mehr dazu dienen, Orientierung zu verschaffen, zu katalogisieren und zu kontrollieren, sondern nur noch bloßer Ausdruck von angerichtetem Chaos sind, dann hat das Böse eine Schlacht gewonnen.

Es ist in Details wie diesen, dass „The Vatican Tapes“ seinen Reiz entwickelt. Ansonsten spult der Film erst einmal relativ lieblos eine Geschichte herunter, wie man sie seit William Friedkins „Der Exorzist“ (1973) des Öfteren im Kino gesehen hat. Angela (Olivia Dudley), auf die die Funktionäre des Vatikans in Videoaufzeichnungen aus der Psychiatrie aufmerksam wurden, ist, so erfahren wir in einem Rückblick, der etwa zwei Drittel des Films ausmacht, 25, hat einen über-protektiven Vater (Dougray Scott) und einen neuen Freund (John Patrick Amedori), der sich durch diesen erheblichem Druck ausgesetzt sieht, aber trotzdem fest zu ihr hält. Mit einem Schnitt in den Finger auf ihrer Geburtstagsparty, also eigentlich erst einmal harmlos genug – auch wenn sich die Inszenierung redlich bemüht, unmissverständlich klar zu machen, dass hier etwas im Busch ist – häufen sich unheimliche Begebenheiten im Leben der jungen Frau. Sie ist ständig durstig, hat mehrere Unfälle, landet einmal im Koma, aus dem sie erst erwacht, als man sie bereits für tot erklärte. Immer wieder tauchen Raben in ihrer Umgebung auf. Die Stationen ihres Leidenswegs, die Institutionen, die ihr nicht helfen können, sondern nur hilflos dabei zusehen, wie sich ihr Zustand weiter verschlechtert und immer mehr Menschen um sie herum zu Tode kommen, geht der Film durch wie von einer Strichliste. Krankenhaus: Check. Psychiatrische Spezialklinik: Check. Ebenso eindeutig, wie der Film nirgendwo den Verdacht aufkommen lässt, dass es eine natürliche Erklärung für die Geschehnisse geben könnte, steuert er auf den Exorzismus als Mittel letzter Wahl zu.

„The Vatican Tapes“ ist der erste Film, bei dem Mark Neveldine alleine Regie führte. Als Teil des Gespanns Neveldine/Taylor brachte er einst mit den beiden „Crank“-Filmen und dem Meisterwerk „Gamer“ neue Impulse ins Action-Kino. „Crank“ wartete mit einer ebenso einfachen wie genialen Prämisse auf: ein Profi-Killer (Jason Statham) wurde vergiftet und kann sich nur am Leben halten, indem er seinen geschundenen Körper pausenlos mit Adrenalin flutet. Der Inszenierung kam nun nur noch die Aufgabe zu, für den fortwährenden Adrenalin-Rausch eine angemessen durchgeknallte Form zu finden. Gerade im Hinblick auf dieses Vermächtnis muss „The Vatican Tapes“ enttäuschen. Zwar lässt sich der beständige formale Overdrive der Vorgänger noch in einigen inszenatorischen Details erkennen, aber nirgendwo entwickelt Neveldine den entfesselten Wahnwitz, der die Filme des Gespanns auszeichnete. Der eine oder andere tracking shot durch ordentlich beklemmend ausgeleuchtete Krankenhausflure (einmal nicht am Boden, sondern unter der Decke entlang) versteht ebenso zu gefallen wie der Umgang mit Split Screens, etwa wenn Angela in ihrem Bett gleichzeitig aus vier verschiedenen Perspektiven zu sehen ist (und es wiederum an dem Dämon ist, durch die Asynchronität der Bilder den Blick zu verwirren). Auch wird der eine oder andere Schockmoment durchaus effektiv in Szene gesetzt. Alles in allem korrespondiert jedoch nur grundsolides formales Handwerk mit dem Inhalt eines Exorzismusfilms von der Stange.

Selbst was den Geschlechterdikurs des Films anbelangt, bildet „The Vatican Tapes“ einen deutlichen Rückschritt zu den „Crank“-Filmen (und das obwohl sich gerade „Crank 2 – High Voltage“ im Spiel mit allerlei politischen Unkorrektheiten selbst ein bisschen sehr gefällt). Wo dort Stathams von Amy Smart gespielte Freundin Eve mit ihrer schnoddrigen, bekifften Post-Hippie-Verpeiltheit einen Gegenpol zur Adrenalin- und Geschwindigkeitssüchtigen Männerwelt schaffen durfte, durch den – nicht nur beim Fick auf der Trabrennbahn im zweiten Teil, sondern immer wieder – produktive Reibung entstand, wo dem bei allem frenetischen Überlebenskampf immer irgendwie todessehnsüchtigen Mann dort eine Frau zur Seite stand, die einfach nur leben wollte (und zwar möglichst gechillt), bleibt Angela als vermeintliche Hauptfigur hier durch und durch be- und gefangen. Sie bleibt ganz ihrer Opferrolle verhaftet, umgeben von einem ganzen Geschwader von Männern, die sie zu retten versuchen.
Wenn das ambivalente Ende wohl von einer Ermächtigungsgeschichte erzählt, dann ist die Frau in dieser nicht Subjekt, sondern Medium, das nicht einmal selbstbestimmt böse sein darf. Sie selbst, wie sie immer wieder für Momente durchleuchtet zwischen den Mächten, die Besitz von ihr ergriffen haben, will vor allem eins sein: nett.

Mein Herz tanzt

(ISR / D / F 2014, Regie: Eran Riklis)

Kunst auf den Konfliktlinien
von Jürgen Kiontke

Mit seinem neuen Film „Mein Herz tanzt“ widmet sich Regisseur Eran Riklis den Arabern, die in Israel leben. „Mein Vater ist Terrorist!“ – Erst gestern hat sich Eyad von seinem …

Mit seinem neuen Film „Mein Herz tanzt“ widmet sich Regisseur Eran Riklis den Arabern, die in Israel leben.

„Mein Vater ist Terrorist!“ – Erst gestern hat sich Eyad von seinem jüdischen Kumpel aus der Zeitung vorlesen lassen. Und da stand drin, dass sein „Baba“ unter diesem Vorwurf verhaftet wurde. Der kam zwar nach zwei Tagen wieder raus und war unschuldig. Der Lehrer, der dem jungen israelischen Araber auf die Hände schlägt, kann dies jedoch nicht wissen. „Tagelöhner“ sei der, nicht „Terrorist“. Darauf beharrt die Lehrkraft. Diese Kindergeschichte deutet an: Konfrontationen aller Art und harte Bruchlinien sind das Geschäft von Eran Riklis, aus dessen neuem Film „Mein Herz tanzt“ diese Szene stammt.

Den Regisseur von Filmen wie „Lemon Tree“ (2008) und „Zaytoun – Geborene Feinde, Echte Freunde“ (2012) interessieren geradlinige Plots wenig. Israels bekanntester Filmemacher liebt es, Irrwitz auszustellen. Davon findet er im Zusammenleben bzw. Nichtzusammenleben zwischen Arabern – 1,6 Millionen von ihnen wohnen in Israel – und Juden jede Menge. Und so ist es kein Wunder, dass er auf die Bücher des Schriftstellers Sayed Kashua stieß. Der Palästinenser mit israelischem Pass, der zu den meistgelesenen Autoren des Landes gehört, schreibt über Identitätsprobleme der einen wie der anderen Gruppe – und über sich selbst gleich zweimal: Als ehemaliger Schüler eines Jerusalemer Eliteinternats hat er in seinem Buch „Tanzende Araber“ , das er zum Drehbuch von Riklis‘ Film umarbeitete, eine Menge über Selbstfindung zu berichten.

Der Plot ist zunächst eine mitreißende und doppelte Liebesgeschichte zwischen dem Jugendlichen Eyad (Tawfeek Barhom) und der jüdischen Mitschülerin Naomi (Danielle Kitzis), gegen die die Eltern beiderseits sind. Ebenso findet Eyad dort seinen besten Kumpel Yonatan (Michael Moshonov), der an einer unheilbaren Muskelerkrankung leidet. Gemeinsam treiben die drei durch den schwierigen Lernstoff der Lehranstalt Jerusalem.

Über insgesamt zwei Jahrzehnte erstreckt sich die Erzählung. Sie ist – einfach wie augenfällig – nach Kriegen strukturiert, vom Libanon-Konflikt in den achtziger Jahren hinein in den Zweiten Golfkrieg: Die arabischen Israelis stehen auf den Dächern und winken feiernd Saddam Husseins Scud-Raketen zu, die die Juden umbringen sollen – aber nur in ihren eigenen Häusern landen.

Der Film zeigt die Anfeindungen der Mitschüler, der Familien, der Soldaten. Allen gemein ist: Sie erzeugen aus Angst Angst. Wie Kashua teilt auch Riklis gern mit Blick aufs Absurde aus. Aber sie verteidigen auch mit allen Mitteln die Liebe ihrer Filmfiguren zueinander, selbst als diese sich gegeneinander entscheiden: Die eine zieht es zur Armee, der andere verschwindet unter falschem Namen. Der dritte wird begraben.

Dagegen teilen Riklis wie Kashua die Vision nicht nur eines friedlichen, sondern auch kreativen Miteinanders. „Immer dann, wenn in unserer Region die Staatenlenker keine Vision haben, liegt es an Künstlern, Verantwortung zu übernehmen“, sagt Riklis. Die würde er gern auch über die Grenzen hinaus verwirklicht sehen: „Ich träume schon lange von einer starken Movie-Community in unserer Region.“ Aber er klagt auch, dass israelische Filme kaum jemals von großen arabischen Festivals eingeladen würden.

Eigentlich kommen sie an „Mein Herz tanzt“ kaum vorbei. Dies ist ein schönes, manchmal nervenzerrendes, immer aber komplexes Kunstwerk, Entwurf für die Zukunft inklusive: Sie ist offen, lose, brüchig. Keine Ahnung habe er, sagt Riklis, wie sich Kashua, den er als „Mehrfachwesen“ bezeichnet, weiterentwickle. Wahrscheinlich müsse er irgendwann einen zweiten Teil der Geschichte drehen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: <<TEXT:UNTERSTRICHEN>Amnesty Journal

Lost River

(USA 2014, Regie: Ryan Gosling)

Grand Guignol meets Wonderland
von Tim Lindemann

Zahlreiche Independentfilmer haben sich in den vergangenen Jahren an den klaffenden Diskrepanzen der US-Gesellschaft mit neorealistischer Nüchternheit abgearbeitet: Spielfilme wie Winter’s Bone' und 'Frozen River' erkunden mit quasidokumentarischem Blick verheerte …

Zahlreiche Independentfilmer haben sich in den vergangenen Jahren an den klaffenden Diskrepanzen der US-Gesellschaft mit neorealistischer Nüchternheit abgearbeitet: Spielfilme wie Winter’s Bone' und 'Frozen River' erkunden mit quasidokumentarischem Blick verheerte Landstriche, gezeichnet von Armut, Verwahrlosung und Gewalt. 'Lost River', das Regiedebüt des Schauspielers Ryan Gosling, konstruiert ein ähnliches Setting, nutzt aber andere Mittel. Sein Film verschreibt sich dem magischen Realismus und fusioniert erstaunlich leichtfüßig die Ästhetik des psychedelischen Kinos der Siebziger mit einem aufrichtigen Interesse an den Außenseitern des amerikanischen Hinterlands.

Dabei stehen sich Kitsch und Kritik gefährlich nah; der Regisseur und Autor Gosling weiß aber zu verhindern, dass diese beiden Pole einander neutralisieren. So beginnt der Film mit stimmungsvollen Bildern einer verlassenen, zerbröckelnden Kleinstadt, deren verbleibende Einwohner zu Recht wie Überlebende einer humanitären Katastrophe wirken: Die Verarmung von Amerikas ländlichen Communitys treibt schauerliche Blüten. Doch – und diesen Schritt muss man bereit sein, mit Gosling zu gehen – das Städtchen Lost River ist eben auch ein verwunschenes Wunderland in der Tradition von David Lynchs 'Twin Peaks': Ein märchenhafter Ort, jedoch nicht im Sinne eines weichgespülten Märchenverständnisses, das sich hinter dem Begriff oft verbirgt. Hier warten versunkene Städte und labyrinthische Bauten, aber eben auch viele brutale Gestalten.

Diese besetzt Gosling wie seine Helden mit phantastischen Schauspielern. Christina Hendricks, Ben Mendelsohn, Saoirse Ronan und andere tragen mit ihrem Offbeat- Charme zum verschrobenen Stil von 'Lost River' bei. Sein größter Streich aber ist die Verpflichtung von Gaspar Noés Stammkameramann Benoît Debie. Durch dessen dunkelbunte Bilder überzeugt der Film, was für das Drehbuch nicht immer gilt. Die visuellen Märchenelemente verbrämen die rurale Ausweglosigkeit nicht, sondern überhöhen sie pointiert. 'Lost River' ist ein amerikanischer Alptraum, ein böser Nachkomme des 'Wizard of Oz' mit Grand-Guignol-Kunstblut und der Farbpalette von Dario Argento.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 06/2015

Underdog

(HU / D / SW 2014, Regie: Kornél Mundruczó)

Ziemlich bestialische Freunde
von Carsten Moll

In „Jurassic World“, dem anderen Tierhorrorfilm, der diesen Monat im Kino startet, kommt es anscheinend zu einer ungewöhnlichen Allianz zwischen zwei Spezies. Zumindest legt das der Trailer nahe, der zeigt, …

In „Jurassic World“, dem anderen Tierhorrorfilm, der diesen Monat im Kino startet, kommt es anscheinend zu einer ungewöhnlichen Allianz zwischen zwei Spezies. Zumindest legt das der Trailer nahe, der zeigt, wie ein Rudel Raptoren bereitwillig und handzahm dem von Chris Pratt verkörperten Helden folgt, als der mit einem Motorrad durch den Dschungel düst. Dass die populären Killermaschinen aus den ersten drei „Jurassic-Park“-Teilen nun mit den Menschen gemeinsame Sache machen sollen, das erscheint erst einmal kontraintuitiv und hat wenig überraschend für eine Kontroverse unter Fans der Dino-Saga gesorgt. Konsequent ist diese Entwicklung jedoch, wenn man einerseits bedenkt, wie den Velociraptoren spätestens mit „Jurassic Park III“ ein komplexes Sozialverhalten abseits von Töten und Fressen zugestanden wurde. Andererseits reicht ein Blick auf die Bestiarien der um Distinktion bemühten Blockbuster der letzten Jahre wie das „Planet der Affen“-Reboot, um zu zeigen, dass eindimensionale Menschenfresser out sind – in der unvermeidlichen Berührung und gegenseitigen Durchdringung von Monströsem und Menschlichem lauert schließlich ein viel größerer Schrecken.

Als unzertrennlich werden auch die beiden Protagonisten von Kornél Mundruczós „Underdog“ vorgestellt: Die Teenagerin Lili (vielversprechend: Zsófia Psotta) lebt zusammen mit ihrer Mutter und deren neuen Freund in Budapest, ihre Liebe gilt jedoch vor allem ihrem Hund Hagen (dargestellt von den 2014 in Cannes mit dem Palm Dog Award ausgezeichneten Hunden Luke und Body). Der gutmütige Mischling soll natürlich auch mit, als das Mädchen für einige Zeit zu seinem entfremdeten Vater Dániel (Sándor Zsótér) ziehen muss, weil die Mutter eine Reise nach Australien plant. Doch für Dániel ist der Hund mehr eine Last als ein bester Freund, und auch die neugierige Nachbarin wird nicht müde zu betonen, dass Promenadenmischungen im Haus unerwünscht sind und registriert werden müssen. Bald schon steht ein Mitarbeiter des Tierheims vor der Tür und verlangt von Lilis Vater Geld, damit er Hagen weiterhin in der Mietwohnung halten darf. Dániel stellt seine Tochter vor die Wahl: Entweder kommt der Hund ins Tierheim oder er wird ausgesetzt. So landet Hagen schließlich auf den gefährlichen Straßen Budapests, wo sich bereits hunderttausende Artgenossen tummeln.

Mit dem schmerzhaften Auseinanderreißen der beiden Hauptfiguren beginnt auch der Film sich zu spalten und streunt munter durch verschiedene Genres: Lilis Coming of Age wird im Modus eines spröden Arthouse-Dramas nachvollzogen, während Hagen zunächst ein Abenteuer auf vier Pfoten erlebt und hinter einer Metzgerei gleich auf ein ganzes Rudel neuer Gefährten trifft. Beinahe niedlich und ziemlich menschelnd inszeniert Mundruczó die hündische Parallelgesellschaft, sodass stellenweise Erinnerungen an Disney-Kitsch wie „Zurück nach Hause – Die unglaubliche Reise“ (1993) geweckt werden. Nicht weniger sentimental, aber deutlich düsterer nimmt sich hingegen Hagens Leidensweg aus, der folgen soll, nachdem der Hund von einem Obdachlosen verkauft und von seinem neuen Besitzer zum Kampfhund ausgebildet wird. Ähnlich wie in Robert Bressons „Zum Beispiel Balthazar“ (1966) verknüpft die Montage die animalische Passionsgeschichte dabei mit dem Heranreifen der menschlichen Heldin und entdeckt dabei verwirrende Parallelen.

„Der Mensch ist des Hundes Wolf“, könnte man formulieren, um die Entwicklung Hagens vom lieben Haustier zur blutrünstigen Bestie durch Menschenhand zusammenzufassen. Im Finale kulminiert die Dehumanisierung des zuvor zum Menschen verklärten Hundes schließlich in einer grausigen Rachefantasie; denn wenn Hagen und seine vierbeinigen Kumpanen schon zu einem Hundeleben verdammt sind, dann soll dieses wenigstens nach selbstbestimmten Regeln erfolgen. Der zähnefletschende letzte Akt beschwört etwas halbherzig die Schreckensvision/Utopie eines Planeten der Straßenköter und bringt nicht nur Lili und Hagen wieder zusammen, sondern erstaunt erneut mit einem krassen Stimmungswechsel.

Wirklich rund ist Mundruczós Film selten, zudem bleiben die politischen Anspielungen beliebig und der Horror zu routiniert, um ernsthaft zu schockieren. Am ehesten vermag „Underdog“ noch als Drama zu überzeugen, das von einer jungen Protagonistin zwischen pubertärem Trotz und stolzem Widerstand sowie ihrer außergewöhnlichen Freundschaft zu einem Hund erzählt. Im poetisch entrückten Schlussakkord, der sich der Fortsetzungslogik der Dino- und Affenbanden entzieht, gelingt Mundruczó zudem doch noch eine treffende Pointe: Mutet das Ende zwar arg versöhnlich an, so lässt sich das doch auch als Errettung einer unangemessenen Fantasie vor der Wirklichkeit verstehen. Mit Hinblick auf die raue Realität ist eine filmische Vision zahmer Friedlichkeit sowie ein sich glatt in Nichts auflösender Konflikt vielleicht bissiger als jedes ins nächste Sequel fortgetragene Unbehagen.

Der kleine Tod

(AUS 2014, Regie: Josh Lawson)

Morbides Liebesglück
von Wolfgang Nierlin

Man könnte sagen, viele Menschen leiden unter dem Problem, keine erfüllte Sexualität zu erleben und damit auch keine befriedigende Beziehung. Zumindest in Josh Lawsons schwarzhumorigem Episodenfilm „Der kleine Tod“ ist …

Man könnte sagen, viele Menschen leiden unter dem Problem, keine erfüllte Sexualität zu erleben und damit auch keine befriedigende Beziehung. Zumindest in Josh Lawsons schwarzhumorigem Episodenfilm „Der kleine Tod“ ist das so, der auf originelle Weise die sexuellen Neurosen einer Reihe von Paaren im besten Alter beschreibt. Einerseits möchte der australische Schauspieler und Regisseur in seinem Spielfilmdebüt „Sex nicht immer so ernst nehmen“; andererseits beansprucht er, einen „Kommentar auf die heutige Gesellschaft und über unsere Vorstellung von Normalität“ zu formulieren. Seine teils abgründigen Geschichten, in denen relativ unverkrampft und offen bizarre Phantasien und sexuelle Perversionen dargestellt werden, besitzen also einen ernsten Kern, der auf die Mitte der Gesellschaft zielt. Lawsons Travestien der Liebe und Lust setzen sich dabei in immer wieder überraschenden Wendungen gegen mögliche Erwartungshaltungen der Zuschauer.

Die gesellschaftlichen Spiegelungen, die Josh Lawson aus den sexuellen Abweichungen seiner Protagonisten ableitet, sind nicht immer leicht auszumachen und besitzen mitunter einen doppelten Boden. In einer um Dacryphilie (d. i. die sexuelle Erregung, die aus der Betrachtung einer weinenden Person resultiert) kreisenden Episode etwa leiden Rowena und Richard unter einem unerfüllten Kinderwunsch. Doch eigentlich erlebt Rowena keinen Orgasmus. Das ändert sich erst, als sie die Tränen ihres Mannes, ausgelöst durch den plötzlichen Tod seines Vater, als sexuelles Stimulans entdeckt. Fortan ist sie bestrebt, Richard durch Täuschungen und gemeine Listen zum Weinen zu bringen. Der kleine Tod des Orgasmus bezieht seine vitale Energie hier also aus der schmerzlichen Erfahrung von Verlust und Trauer. Als Bruder des Schlafes wiederum ist die Todesphantasie in Phils erkalteter Ehe mit Maureen gegenwärtig. Denn nur noch das Bild seiner schlafenden Frau, an dem sich Phil in langen Nächten ergötzt, verschafft dem immer müder werdenden Familienvater eine Art morbides Liebesglück.

Verstärkt und zusammengehalten werden diese Episoden einer dunklen Sexualität von einem vorbestraften, weitgehend unbeachtet bleibenden und deshalb latent bedrohlichen Sexualverbrecher, der sich mit selbstgebackenen (den politisch inkorrekten Namen tragenden) „Golliwogs“ in der Nachbarschaft vorstellt und outet. So etwa bei Paul (von Lawson selbst gespielt) und Maeve, die davon träumt, von ihrem Mann als einem „Fremden“ vergewaltigt zu werden; oder auch bei Evie und Dan, die mit skurrilen Rollenspielen ihrem Sexualleben neue Impulse geben wollen. Doch für Dan wird das Spiel immer mehr zum Fetisch, an den er sich verliert.

Überhaupt ist die Selbstinszenierung von Rollen, befördert durch Lügen, Täuschungen oder aber gezielt hergestellte Fiktionen ein Leitmotiv der insgesamt fünf alternierend miteinander verschränkten Episoden. So visualisiert schließlich Monica, die als „Dolmetscherin“ für Gebärdensprache bei einem Telefondienst arbeitet, die schmutzigen Phantasien eines jungen, taubstummen Comic-Zeichners, für den sie mit einer Sex-Hotline kommuniziert. Dabei verlieben sich die beiden ineinander. Und es liegt eine Mischung aus leiser Wehmut, aufkeimendem Liebesglück, aber auch subtil grausamer Bedrohung über der Szene, wenn Monica, innerlich bedauernd, das unverhofft magische Gespräch beendet und auf dem Heimweg nach einer Autopanne dem Sexualstraftäter begegnet.

Mad Max: Fury Road

(AUS 2015, Regie: George Miller)

Benzin und Muttermilch
von Manfred Riepe

Nach etwa einer halben Stunde denkt man: Das kann so nicht weitergehen. Nichts als eine atemlose Materialschlacht, ein richtungsloses Stakkato, Unfälle, Stunts, heisere Kommandos, zerberstendes Blech und Explosionen. Doch dann …

Nach etwa einer halben Stunde denkt man: Das kann so nicht weitergehen. Nichts als eine atemlose Materialschlacht, ein richtungsloses Stakkato, Unfälle, Stunts, heisere Kommandos, zerberstendes Blech und Explosionen. Doch dann schleppt sich Max (Tom Hardy), der dieses Inferno als lebende Galionsfigur an vorderster Front mit ansehen musste und nur durch ein Wunder überlebte, durch die Wüste bis zu einem gepanzerten Tankwagen. Und hier sieht er etwas, was ihn ebenso verblüfft wie den Zuschauer. Doch zunächst von Anfang an.

1979 ersann der Australier George Miller einen etwas anderen Actionhelden. Der damals noch unbekannte Mel Gibson spielte einen Gesetzeshüter, dessen Prinzipien sich in einem diffusen, postapokalyptisch anmutenden Szenario denen der Gesetzlosen mehr und mehr annähern. Manieriert und „schwuchtelig“ sich gerierende, hoch motorisierte Motorradrocker töten seinen Sohn, worauf Max zu einem Rachefeldzug ausholt, der nichts Heroisches hatte und nicht so aufgeblasen machohaft wirkte wie das humorlose Auftreten von Sylvester Stallone.

Die zwei Jahre später gedrehte Fortsetzung ist nun endgültig in einer postapokalyptischen Ära angesiedelt. Wie es zur Katastrophe kam, wird vom zurück blickenden Off-Erzähler – ein alter Mann, dessen Stimme wir erst ganz am Ende mit der jenes Kindes zusammen bringen, das Seite an Seite mit Max kämpft – nur vage erinnert. Es gibt zwei Parteien. Angeführt vom „Ayatollah aller Rock’n‘Roller“, trachten in schwarze Lederkluft gehüllte Motorradrocker, deren unbekleideter Hintern an eine homoerotische Horde erinnert, nur danach, den letzten zivilisatorischen Kräften, die sich in einer Wagenburg verschanzt haben, die Spritvorräte zu stehlen. Auf der manifesten Ebene ist es ein Kampf um die letzten Ressourcen. Sinnbildlich geht es um das entfesselte Lustprinzip, das die letzten Reste der Zivilisation – und damit das Prinzip „Triebaufschub“ absorbieren will. Es sind postmoderne Westernfilme, in denen es keine Pferde, dafür aber umso mehr Pferdestärken gibt.

Mit hochgerüsteten Motoren, Schwermetall und einem Krieg, der auf vier Rädern ausgetragen wird, überführte George Miller das Action-Genre in die Anmutung eines Rockkonzerts. Heavy-Metal-Ästhetik, die an einschlägige Plattencover erinnert, bildet auch das zentrale Motiv im nunmehr vierten Teil, in dem Miller seinen schweigsamen Antihelden, nun gespielt von Tom Hardy, nach 30-jähriger Pause in die ultimative Materialschlacht schickt. Die Kinder aus dem voran gegangenen Teil „Mad Max – Jenseits der Donnerkuppel“ sind offenbar zu Teenagern herangewachsen. Sie sehen aus wie kahlköpfige, kalkweiße Zombies. Es scheint so, als wären sie alle die Söhne des perversen Warlords Immortan Joe, gespielt von Hugh Keays-Byrne, der schon im ersten Teil den Fiesling Toecutter verkörperte. Auf hohen Felsen mitten in der Wüste übt er eine archaisch anmutende Schreckensherrschaft über Menschenmassen aus, die er durch die Verknappung der Ressource Wasser unterdrückt. Seine „Söhne“ wirken so, als würden sie permanent Amphetamine schlucken. Auf stachelig-gepanzerten Vehikeln mit der Anmutung eines rollenden Jurassic Parks ziehen sie in den Wüstenkrieg: Dabei sprühen sie sich Silberlack auf die Zähne, so dass ihre irre grinsenden Gesichter aussehen wie der Kühlergrill eines Autos. Und so wie sich in „Apocalypse Now“ die fliegende Kavallerie mit Wagnerklängen aufputscht, so wird der Hochgeschwindigkeitstross hier von einer riesigen, fahrenden Konzert-Lautsprecheranlage begleitet, vor deren Membranen ein Gitarrist das Metall zum Klingen bringt: Rock & „Roll“ als wörtlich genommene Metapher, als buchstäblicher „Highway to Hell“ – passend zur gegenwärtigen Tournee der australischen Metal-Dinos von AC/DC.

Wollte man die Geschichte nur als „Plot“ im üblichen Sinn zusammenfassen, so würde ein Halbsatz genügen. Der Tanklaster, der im zweiten Teil von Max Max ins Nichts fuhr, fährt diesmal denselben Weg einfach wieder zurück. Ein Film ohne Handlung? Flops wie Kevin Costners „Waterworld“ zeigen, dass so etwas nicht funktioniert. In „Mad Max: Fury Road“ wird einem erst allmählich bewusst, dass diese gefühlte Neuverfilmung von „Speed“ allein deswegen überzeugt, weil die weiblichen Charaktere in dieser Vollgas-Actionchoreographie wie Grammatik und Satzzeichen fungieren. Damit wären wir wieder bei der eingangs geschilderten Szene angelangt …

Der Irrsinn aus comicartiger, trashiger Übertreibung und computerspielartiger Derealisierung wird plötzlich unterbrochen, als Max mitten in der Wüste auf besagten LKW trifft. Die einarmige Furiosa (Charlize Theron) hat fünf Sexsklavinnen aus den Fängen des Warlords Immortan Joe befreit, eine davon hochschwanger. Wurde im zweiten Teil noch um die Ressource Benzin gekämpft, so sind nun die Frauen selbst das Tauschobjekt. Doch die spielen nicht mehr mit. Furiosa ist gerade dabei, die Frauen von ihren martialischen Keuschheitsgürteln zu befreien: Im ersten Augenblick sieht das so aus, als wäre Max ein toter Dschihadist, der im Jenseits auf die versprochenen Jungfrauen trifft. Der einsame Wolf versucht die Kontrolle zu erlangen, bemerkt aber schnell, dass ohne Kooperation nichts läuft. Nicht ganz freiwillig schließt er sich den Frauen an, die an einem utopischen Ort namens „Green Place“ eine von der kindsköpfigen Männerherrschaft befreite Gesellschaft gründen wollen.

Bei der Zeichnung seiner Frauenfiguren hat George Miller sich von der feministischen Theaterautorin Eve Ensler, bekannt für ihre „Vagina Monologe“, beraten lassen. Das Ergebnis ist, zumindest für einen Blockbuster, verblüffend. Schon zu Beginn stürmt der Warlord in den verlassenen Harem, wo die geflüchteten Frauen die Botschaft „Women are no Things“ an die Wand gesprüht haben. In einer der schrillsten Szenen ist zu sehen, wie die Brüste der Frauen an Melkmaschinen angeschlossen sind, die ihre Muttermilch abzapfen. In dieser archaisch-perversen Gesellschaft, deren Umrisse Miller mit wenigen Pinselstrichen hintupft, hängen infantile Männer sinngemäß an den Mutterbrüsten.

Damit ist nun Schluss.

Im Verlauf einer höllischen Materialschlacht gewinnt jede der Frauen eine gewisse charakterliche Kontur zurück. Es gibt keine Szene, in der ein weiblicher Charakter mit weit aufgerissenem Mund den rollenspezifischen „markerschütternden Schrei“ ausstößt. Von Furiosa angeführt, schlagen die Frauen sich durch bis zu jenem mysteriösen Ort in der Wüste, wo ein paar ältere Geschlechtsgenossinnen mit lederartiger Haut und schweren Motorrädern eine trostlose Enklave mitten im Nichts errichtet haben. Hier gibt es nichts außer einer Handtasche voller Erinnerungen an bessere Zeiten. Das gelobte Land, eine Täuschung? Wenn Furiosa einen herzzerreißenden Schrei der Enttäuschung ausstößt, dann ist klar: Max Rockatansky ist in seinem „eigenen“ Film nur noch eine Nebenfigur und Tom Hardy eine eher blasse Erscheinung. Neben Charlize Theron, die trotz ihrer metallenen „Terminator“-Klaue ziemlich gut schießt, verkörpern die Frauen die eigentlichen Hauptfiguren und der Held ein Auslaufmodell.

Der subversive Feminismus drängt sich nie in den Vordergrund. „Mad Max: Fury Road“ ist kein Vagina Monolog, eher ein Abgesang auf die Phallokratie der Motoren. Im Gegensatz zu einem typischen Hollywood-Reißer verzichtet Miller auf grelles Pathos, reißt handlungsrelevante Details nur elliptisch an. Mit erfreulich wenig computergenerierten, dafür aber umso mehr physisch überwältigenden Tricks gelingt Miller entfesseltes Überwältigungskino, das keineswegs stupide ist. Sein Film strömt mit Hochgeschwindigkeit durch die Schaltstellen des Unbewussten wie Benzin durch den Vergaser.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Mad Max: Fury Road'.

Mad Max: Fury Road

(AUS 2015, Regie: George Miller)

Ein Schweinchen namens Max
von Drehli Robnik

Der australische Regisseur George Miller hat der Welt zwei große Bewegtbildikonen beschert: Mad Max und Schweinchen Babe. Von letzterer Figur wurde das in Österreich seit gefühlten dreißig Jahren dauerpräsente 'Ja …

Der australische Regisseur George Miller hat der Welt zwei große Bewegtbildikonen beschert: Mad Max und Schweinchen Babe. Von letzterer Figur wurde das in Österreich seit gefühlten dreißig Jahren dauerpräsente 'Ja natürlich'-Schweinderl abgeleitet: das ostentativ entzückend sprechende Ferkelmaskottchen der flächendeckenden Werbung für eine Austro-Bio-Lebensmittel-Dachmarke. (Einige der diesbezüglichen, nicht selten prämierten TV-Spots inszenierte übrigens Stefan Ruzowitzky, der Wiener Regisseur, der 'Anatomie', 'Die Fälscher' und eben Bio-Marken-Ferkel im Repertoire hat.)

Im Oeuvre von Miller hat sich gegenüber dem Mad Max-Prototyp von 1979 quasi das Schweinderl durchgesetzt: Sein erster Ultraviolenz-Autoaction-Neo-Noir-Krimi zeigte Max noch als Cop und eine punkige Sozialwelt mit prekären Konturen, zumal im traumatischen Übergang zwischen white middle class-Norm, psychotischer Coolness und regressivem Gewaltausbruch (in dieser Hinsicht vergleichbar dem rezenten Modell 'Drive'). Die Fortsetzungen von 1981 und 1985 stilisierten Hauptdarsteller Mel Gibson zum Road Warrior: Fahrbahn- oder Donnerdom-förmg ausgebaute Duran Duran-Videos voll Pelz, Prophezeiung und rollendem Schrott entwarfen das hardcore-postmoderne Kinobild einer geschlossenen, auf ihre Art stimmig geordneten Welt nach dem Crash. Ja, natürlich! (Im bislang letzten Film 'Mad Max – Beyond Thunderdome' kommen auch haufenweise Schweinchen und süße Kinder vor.)

Die in sich naturhaft geschlossene (zugleich endlos auswuchernde) Welt: Da macht Millers 'Mad Max: Fury Road' nun weiter. Max Rockatansky stellt sich uns eingangs mit innerem Monolog und Erinnerungsflashes als plemplem und der Menschen müde vor, verspeist schnell noch einen lebenden Zweikopfleguan – und ab geht’s, ohne dass nochmal Zeit für Stärkung per Naturkost-Imbiss bliebe. In der Mitte sechs Minuten Halbzeitboxenstopp: Charlize Theron, einmarmig, kahlköpfig, von der Starpower und Screentime her gleichauf mit Max, schreit ihr Herkunftstrauma in Wüstenweiten hinaus (Drehorte: Namibia, Südafrika, Australien). Dann geht die Zweistundenautocrashsequenz weiter. Vielmehr – fast programmatisch und, auch wenn es in der Game-Logik normal sein mag, fast obszön in einem Spielfilm – geht es den ganzen Weg wieder zurück (auch nochmal durch den Canyon, bedrohlich wie in einem B-Western von 1955). Tom Hardy hat sich als Neo-Max für drei Sequels verpflichtet, also fährt er noch sechsmal hin und her.

Mit ornamentalen 'Neben'-Figuren (daneben sind hier ja alle irgendwie) wie dem an einen Truck-Grill geketteten, dauerjaulenden Metalgitarristen oder den Magermodels in wehenden Leinenfetzen auf der Rückbank, mit dem permanentem Klettern, Grunzen, Sich- und Einander-Wehtun auf dahinbretternden Verfolgungsvehikeln, mit seinem benzingetränkten Wust an geritzter Haut und verschwitztem Fleisch, an Ketten, Stacheln und Pusteln, kurz: Mit seinen zahllosen Binnendifferenzen, die alle keinen Unterschied bewirken, beweist das hochtourige Action-Abstraktions-Design in Wüstengelb und Feuerrot (fast schon 'eindrucksvoll'), dass Präzision im Detail und Konfusion im Gesamt, Flexibilität beim Entern und Sturheit beim Dranbleiben dauerhaft – zwei Stunden lang – zusammengehen. Auffallend viele Metallzaumzeuge in Menschengesichtern, wie wir das von Dr. Lecter oder Batmans Bane (Tom Hardys Durchbruchsrolle) kennen. Viel 'Valhalla!' wird gerufen, auch das kennen wir von irgendwo. Dauernd ist irgendwas da, fett in 3D, einfach so, ja – natürlich! Alles hängt oder stößt zusammen.

Und doch ist der Film ob seines Nihilismus fast ehrfurchtgebietend und macht in seinem Hochleistungspflichtübererfüllungsethos – viel obsessiver als vor sieben Jahren Neil Marshalls Eighties-Postapokalypse-Action-Hommage 'Doomsday' – auch noch einen schlanken Fuß. Zumal Bleifuß. Oder deren zwei. Also (im Jargon des millerschen Oeuvres gesagt) 'Happy Feet'. Allerdings ohne Zehen, denn Hugh Keays-Byrne, der im ersten Mad Max-Film den grandiosen Toecutter gespielt hat, wirkt hier auch mit.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Mad Max: Fury Road'.

Hier sprach der Preis

(D 2014, Regie: Sabrina Jäger)

Warten auf das Ende
von Wolfgang Nierlin

„Alles muss raus“, heißt es auf den Plakaten des in den Farben Blau und Gelb verlöschenden Heimwerker-Marktes Praktiker. Die Tage der Handelskette sind gezählt, über 200 Filialen schließen, 20.000 Mitarbeiter …

„Alles muss raus“, heißt es auf den Plakaten des in den Farben Blau und Gelb verlöschenden Heimwerker-Marktes Praktiker. Die Tage der Handelskette sind gezählt, über 200 Filialen schließen, 20.000 Mitarbeiter werden entlassen. Der Kaufreize weckende Slogan verheißt also entgegen dem Anschein nichts Gutes, sondern verkündet streng genommen eine Endzeitstimmung: Die Preise purzeln, Waren werden verschleudert, gierige Hamsterkäufe setzen ein, Regale werden für immer leer geräumt, vor allem aber läuft für die Beschäftigten der Countdown in die Arbeitslosigkeit. Das ist im Herbst 2013 auch im Praktiker-Markt von Bruchsal-Heidelsheim nicht anders, wo die langjährigen Mitarbeiterinnen Elena Lerch und Marina Pitler-Gick in einer Mischung aus Frust, Wehmut und Ungewissheit den Niedergang begleiten und verantwortungsvoll die letzten Reste verwalten. Unterstützt werden sie dabei vom Marktleiter Sven Köberlein und dem Engländer Nigel, der die Insolvenzmasse zu Schleuderpreisen veräußert.

In Sabrina Jägers bemerkenswertem Dokumentarfilm „Hier sprach der Preis“, dessen in die Vergangenheitsform gewendeter Titel sich auf einen früheren Werbeslogan der Firma bezieht, liegt diese Untergangsatmosphäre von Anfang an über der Szenerie. Die Flure sind lang und öde, die Räume verlassen und irgendwie verwahrlost; und während draußen ein heftiger Wind bläst, tropft Wasser durchs Dach. An anderer Stelle trocknet ausgelaufene Farbe auf dem Fußboden; oder es finden sich Scherben eines zerbrochenen Spiegels. Mit den immer leerer werdenden Regalen verdichten sich diese Impressionen zu Symbolen des Verlusts und der Auflösung. Diese erhalten mitunter einen bitteren Beigeschmack, wenn etwa neben einem verwelkten Blumenstrauß noch der alte Slogan prangt: „Blühendes Leben – täglich frisch“. Überhaupt verwandelt sich Sabrina Jägers überraschend tragikomischer Film an vielen Stellen in eine pure Realsatire, die ihren schwarzen Humor aus dem Zusammentreffen tatsächlicher Abwicklungsmodalitäten mit den diversen, schnell wechselnden Hinweisschildern bezieht: „Umtausch und Rücknahme nicht mehr möglich“, steht da geschrieben, während gereizte Kunden in geradezu absurder Weise um Prozente und Cent-Beträge feilschen.

Auf einem anderen Plakat heißt es: „Eine Beratung/Bedienung ist nicht mehr möglich. Es ist keiner mehr da.“ Denn die meisten Mitarbeiter haben sich mit Aussicht auf eine Abfindung krank gemeldet. Die, die geblieben sind, warten deprimiert, lustlos und zunehmend genervt auf das Ende und fühlen sich dabei verraten und im Stich gelassen. So „belauscht“ Jäger, die mit ihrer Mini-Kamera oft unbeobachtet aus einem entfernten Versteck zu filmen scheint, immer wieder Gespräche, in denen es um einen als schwer erlebten persönliche Abschied, gleichgültige Arbeitgeber sowie eine mangelnde berufliche Perspektive geht, die wenig Zukunftsoptimismus erlaubt, auch wenn sich am Ende Lösungen andeuten.

Die aus der Region des Drehorts stammende Filmemacherin, die ihren ziemlich spontan und mit reduzierten Mitteln gedrehten Film (zusammen mit Koautor Stephan Weiner) fast im Alleingang realisiert hat, beobachtet einen Zerfallsprozess, in dem sich wiederum eine allgemeinere Krise der Arbeitswelt spiegelt. Im tristen Ausverkauf manifestiert sich schließlich auch eine Machtlosigkeit, die von der in einer Endlosschleife enervierend säuselnden Kaufhausmusik zwar verharmlost, nicht aber kaschiert werden kann.

Das Zimmermädchen Lynn

(D 2014, Regie: Ingo Haeb)

Aus Liebe zum Schmutz
von Manfred Riepe

Im Kino sind Porträts über Frauen mit Obsessionen in der Minderzahl. Nicht nur im Film, auch in der Psychopathologie scheint Zwanghaftigkeit eine Männerdomäne zu sein. An Lynn Zapatek, Hauptfigur in …

Im Kino sind Porträts über Frauen mit Obsessionen in der Minderzahl. Nicht nur im Film, auch in der Psychopathologie scheint Zwanghaftigkeit eine Männerdomäne zu sein. An Lynn Zapatek, Hauptfigur in Ingo Haebs subtiler Betrachtung einer jungen Einzelgängerin, muss man sich erst gewöhnen. Lynn ist keine gewöhnliche Putzfrau, sie entwickelt einen obsessiven Putzfimmel. Als Zimmermädchen schrubbt und reinigt sie mit kaum zu übertreffender Perfektion. Sogar den Spülrand des Wasserklosetts inspiziert sie mit einem Zahnarztspiegel. Frauen mit solchen Leidenschaften gibt es natürlich. Ein prominentes Beispiel ist Isabella Rossellini, die in der Presse davon berichtete, dass sie leidenschaftlich putzt und welche Reinigungs- und Waschmittel sie bevorzugt.

Bei Lynn ist man zunächst irritiert, weil ihr Putzfimmel die Zwanghaftigkeit eines männlichen Charakters aufzuweisen scheint. Sie ist eine eher literarische Figur. Sie entstammt Markus Orths’ Roman von 2008. In seinem schmalen Bändchen erzählt der Autor von einer labilen 30-Jährigen, die ein halbes Jahr in der Psychiatrie verbrachte. Nach ihrer Entlassung nimmt sie ihren alten Job im Hotel wieder an. Im Gegensatz zum Film erfahren wir in der Buchvorlage, dass Lynn gekündigt wurde weil sie bei den Hotelgästen etwas mitgehen ließ. Sie lebt isoliert und hat nur dann Kontakt zu anderen Menschen, wenn es sein muss. Beschäftigungslose Zeit macht ihr zu schaffen. Orths beschreibt, wie Lynn die Leere ihrer Freizeit zu bewältigen versucht. Ein freier Tag ist für sie schwer auszuhalten. Einmal wöchentlich geht sie zum Therapeuten, den sie nicht mag. Besonders, wenn er sie mit Deutungen traktiert. Spinnen, vor denen sie Angst hat, seien ein Symbol für ihre Mutter. Mit ihr telefoniert Lynn einmal wöchentlich. Die Mutter möchte gerne mehr Kontakt, doch Lynn kann sich weder von ihr abnabeln, noch auf sie zugehen. Zwischen beiden herrscht eine ritualisierte Sprachlosigkeit, die sich in wiederholten Formeln ausdrückt.

Im Gegensatz zur Buchvorlage hat Ingo Haeb (Buch und Regie) die zuweilen etwas redseligen Reflexionen über die psychischen Probleme der Protagonistin radikal zum Schweigen gebracht. Warum sie in der Klinik war, fragt eine Kollegin. „Das ist meine Sache“, sagt Lynn. Im Film erfährt man erfreulicherweise nicht viel über diese Frau, die zu Männern ein instrumentelles Verhältnis hat und ansonsten ein Rätsel bleibt.

Diese Reduktion erzeugt Raum zur Beobachtung. Sorgfältig komponierte Bilder zeigen Lynns Arbeitsalltag in einem Hotel irgendwo am Meer. Die Luxemburgerin Vicky Krieps, ein unverbrauchtes Gesicht, hält sich angenehm zurück. Man hat das Gefühl, dass ihr zum „Schauspielen“ im konventionellen Sinn keine Zeit bleibt, weil sie permanent putzen muss. Zwischendurch schaut sie alte Filme von Jacques Tati und erzählt ihrem Therapeuten Banalitäten. Auch im Film ist das Verhältnis zu ihrer klammernden Mutter (Christine Schorn) distanziert und von einer unverstandenen Sehnsucht geprägt. Plötzlich fachsimpeln beide übers Putzen: ein wirklich komischer Moment, in dem eine schwer fassbare Nähe entsteht.

Die lakonisch-beiläufige Erzählweise zieht den Zuschauer zunehmend in den Bann. Gespannt verfolgt man, dass Lynn eine Getriebene und ihr Job nur Mittel zum Zweck ist. Akribisch wie sie putzt, schnüffelt sie in den Utensilien abwesender Hotelgäste. In deren Privatsphäre sucht sie nach etwas, was in ihrem eigenen Leben fehlt. Diese Situationen spitzen sich mehr und mehr zu: Die prickelnde Gefahr, überrascht zu werden, wenn sie in die Kleider der Hotelgäste schlüpft, verschafft ihr einen wollüstigen Kick. Zum ersten Mal huscht ein befriedigtes Lächeln über das Gesicht der depressiv erscheinenden Außenseiterin.

Einmal überspannt sie den Bogen und muss unters Bett flüchten – von wo aus sich eine ganz neue Perspektive eröffnet. In dieser Schlüsselszene setzt der Film, der sich ansonsten recht eng an die Vorlage hält, einen leicht verschobenen Akzent, der die Figur plausibler erscheinen lässt. Lynn befindet sich unter dem Bett und nimmt aus dieser speziellen Perspektive heimlich am Leben eines ahnungslosen Hotelgastes teil. Solche Situationen werden im Kino nicht häufig aufgegriffen. In der deutschen Komödie „Geliebte Hochstaplerin“ von 1961 (Regie: Ákos von Rátony) flüchtet Walter Giller als blinder Passagier auf einem Dampfer in die Kabine einer Frau, unter deren Bett er sich versteckt. Von dort aus beobachtet er, wie sie sich entkleidet und auf hochhackigen Schuhen immer wieder hin- und her stöckelt. Man muss psychologisch nicht besonders bewandert sein, um zu verstehen, dass Lynn unter dem Bett die Perspektive eines Voyeurs einnimmt. Von hier unten hat man einen guten Blick auf das rätselhafte Etwas, das sich unter dem Rock eine Frau befinden mag. Voyeure sind eigentlich männlich, doch Lynns Interesse für Schmutz hängt ganz konkret mit der Ambivalenz zwischen der Sichtbarkeit und der Unsichtbarkeit des Fetischobjekts zusammen: „Nur weil man den Staub nicht sieht, heißt das nicht, dass er nicht da ist“, sagt Lynn einmal. Hier wird Schmutz auf eine poetische Weise „schmutzig“.

Während die Buchvorlage die Geschlechterproblematik nur aus der Ferne in den Blick bekommt, setzt die Verfilmung hier einen interessanten Akzent. Der im Roman nur angedeutete voyeuristische Blick auf die phallischen Stöckel einer Domina, die einen Hotelgast züchtigt, fasziniert Lynn. Direkt vor ihren Augen scheint das Stiletto den Fuß des Freiers zu penetrieren, was diesen sexuell ungemein stimuliert.

Diese Schlüsselszene wird so im Buch nicht beschrieben. Sie führt dazu, dass Lynn eine – bezahlte – Beziehung zu dieser Prostituierten anknüpft, die sensibel beobachtet wird und auf spannende Weise offen bleibt. Sexuelle Identitäten changieren. Ist Lynn vielleicht ein Mann im Frauenkörper? In einigen Momenten fühlt man sich an Ozon erinnert, und Lena Lauzemis als cooles Callgirl könnte eine Transe aus einem Film von Pedro Almodóvar sein. Gewisse Erinnerungen an „High Heels“ werden wach.

Ingo Haeb gelingt eine unaufgeregte, zarte Gendergeschichte mit liebevoller Nähe zu den Figuren. Gerade weil Lynn von den zuweilen etwas aufgesetzten literarischen Reflexionen der Romanvorlage befreit wird, fragt man sich nun, warum sie für ihr nicht der heterosexuellen Norm entsprechendes Begehren und ihre Liebe zum Schmutz pathologisiert wird, sie mit einem Bein in der Psychiatrie steht? In Orths’ Roman macht das irgendwie Sinn, sein Buch ist eine konventionell psychologisierende Geschichte. Ein Mann denkt sich mit viel Aufwand in die Psyche eine Frau hinein, die eigentlich ein Mann ist. Dieses Changieren bekommt die filmische Adaption überzeugender in den Griff. Gelungen ist das poetische Schlussbild, in dem Lynn ihre Mutter besucht und sich dabei überraschend ein Kreis schließt. Eine Katze, im Buch nur angedeutet, erhält hier eine Symbolfunktion. Dank einer glänzenden Hauptdarstellerin zeichnet Ingo Haebs Literaturverfilmung das fesselnde Porträt einer obsessiven, jungen Frau, die in keine Schublade, dafür aber unter viele Betten passt. Wer diesen Film mag, wird beim nächsten Hotelbesuch garantiert erst einmal unters Bett schauen.

8 Namen für die Liebe

(ES 2014, Regie: Emilio Martínez Lázaro)

Willkommen bei den Sch’Paniern
von Manfred Riepe

Eine Flamenco-Bar in Sevilla. Für die junge Baskin Amaia ist dieser Ort eigentlich ein No Go. Auch ihr gepunktetes Flamenco-Kleid passt nicht. Üblicherweise kleidet sich die Nordspanierin eher dezent. Doch …

Eine Flamenco-Bar in Sevilla. Für die junge Baskin Amaia ist dieser Ort eigentlich ein No Go. Auch ihr gepunktetes Flamenco-Kleid passt nicht. Üblicherweise kleidet sich die Nordspanierin eher dezent. Doch Amaia ist kurz vor der Hochzeit der Bräutigam davongelaufen. Um ihren Frust runterzuspülen, betrinkt sie sich mit Freundinnen im fernen Andalusien. Das war offenbar keine gute Idee, denn der eitle Kellner Rafa, der sich wie alle Andalusier als Geschenk für Frauen begreift, versucht sie auf eine ölige Art anzugraben und erhält eine patzige Abfuhr. Als er sich mit bitterbösen Baskenwitzen rächt, kommt es zu einem wüsten Schlagabtausch. Trotz ihrer kulturellen Differenzen landen die beiden im Bett – doch es passiert nichts. Am nächsten Morgen ist die kleine Brünette spurlos verschwunden, und der verliebte Rafa fasst sich ein Herz. Auf der Suche nach Amaia verlässt der Südspanier zum ersten Mal sein geliebtes Andalusien und begibt sich ins Baskenland. Für Südspanier ist das ungefähr so, als würde ein Hobbit aus dem grünen Auenland direkt nach Mordor reisen. Tatsächlich hängen hier gemäß seinen schlimmsten Befürchtungen die Wolken tief, und Blitze zucken vom Himmel herab.

Willkommen bei den Sch’Paniern. Mit mehr als 10 Millionen Zuschauern avancierte die kurzweilige Culture-Clash-Komödie zum erfolgreichsten Film der iberischen Halbinsel. Das Muster kommt einem bekannt vor. Wie in Dany Boons „Willkommen bei den Sch’tis“ erzählt auch Emilio Martinez Lázaro von lieb gewonnenen innerkultureller Differenzen, die mit viel Witz und Liebe zum Detail entfaltet werden.

Rafa, gespielt von dem bislang eher in Spanien bekannten Dani Rovira, befindet sich plötzlich in einer fremden und seltsamen Welt. Die Menschen an der spanisch-französischen Grenze sprechen eine ganz andere Sprache. Außerdem umarmen sie sich nicht, sondern hauen sich derb auf die Schultern. Und sie tischen ungenießbare Lebensmittel auf, bei denen sich Rafa der Magen umdreht. Zu allem Überfluss will Amaia, gespielt von Clara Lago, nichts mehr von dem südspanischen Charmeur wissen, der aufgeblasen wie ein Torero in ihre Küche hineinstolziert. Hat Rafa seine Reise umsonst gemacht?

Die Verwicklungen einer Komödie sind bekanntlich nur schwer nacherzählbar. Bei „8 Namen für die Liebe“ ist das nicht anders. Amaia würde den aufgeblasenen Südspanier am liebsten in lauwarmem Olivenöl ersäufen, doch dieser hat inzwischen mit ihrem Handy, das sie bei ihm liegen gelassen hat, ihren Vater Koldo (Karra Elejalde) angerufen. Prompt erscheint der raubeinige alte Herr, zu dem sie seit Jahren keinen Kontakt mehr hat, auf der Bildfläche. Um ihm vorzugaukeln, dass ihre Hochzeit wie geplant über die Bühne geht, muss der unwillkommene Andalusier, der längst wieder im Bus nach Hause saß, für einige Tage in die Rolle ihres verschwundenen Verlobten schlüpfen. Hilfe erhält er von einer Exil-Andalusierin, die sich spontan als seine Mutter ausgibt.

Das Muster ist, wie gesagt, nur allzu bekannt. Reduziert auf den bloßen Plot, erscheint der Film vorhersehbar und durchsichtig. Doch hier macht der Ton die Musik. Bei den zahlreichen „Prüfungen“, die Rafa in den Augen seines Schwiegervaters in spe überstehen muss, gelingen herrlich absurde Szenen. Von einschlägigen Begrüßungsritualen bis hin zu verpönten Handy-Klingeltönen werden im Stakkatorhythmus regionalspezifische Klischees beschworen und in treffsichere Pointen umgemünzt. Zwischendurch avanciert der gefakete Baske sogar zum Chef einer lokalen Widerstandsgruppe, der Demonstranten mit dem Megaphon einheizt. Der Film traut sich einiges, denn die traditionelle Feindschaft zwischen Basken und Restspaniern bezieht sich nicht nur auf die Zugehörigkeit zu Fußballclubs und belanglosen folkloristischen Animositäten. Hier tobt ein historisch verwurzelter Unabhängigkeitskampf. Die baskische Untergrundorganisation Eta sagte sich erst 2011, also nach einigen Hundert Morden seit 1959, vom Terror los. Der politische Hintergrund verleiht dieser Romantic Comedy ihre besondere Würze. Ob die baskischen Zuschauer über sich selbst auch herzlich lachen konnten? Für den nicht-spanischen Zuschauer ist allerdings, selbst in der Originalversion mit Untertiteln, nicht jede Anspielung verständlich. Das kann man verschmerzen, denn die gut aufgelegten Darsteller verbreiten in diesem emotionalen Stierkampf durchweg gute Laune.

Silentium – Vom Leben im Kloster

(D 2015, Regie: Sobo Swobodnik)

Wenn die Stille von sich selbst erzählt
von Manfred Riepe

Silentium, Stille. Für Menschen, die im Einzugsbereich eines immer weiter wachsenden Flughafens leben, ist allein dieser Titel eine Erholung. Doch dieser Dokumentarfilm erzählt nicht nur von der Stille. Schon mit …

Silentium, Stille. Für Menschen, die im Einzugsbereich eines immer weiter wachsenden Flughafens leben, ist allein dieser Titel eine Erholung. Doch dieser Dokumentarfilm erzählt nicht nur von der Stille. Schon mit den ersten Bildern breitet sich eine meditative Ruhe aus. Autor und Regisseur Sobo Swobodnik hat schon vor einigen Jahren eine Reportage über das 750 Jahre alte Kloster Habsthal nahe der schwäbischen Alb verfasst. Nun ist er mit der Kamera zurückgekehrt, um das Leben von vier Ordensschwestern, einem Pater und dreißig Schafen zu dokumentieren.

„Silentium – Vom Leben im Kloster“ ist nicht so radikal wie Philip Grönings Dokumentarfilm „Die große Stille“ von 2005, der den Alltag des Schweige-Ordens der Karthäuser-Mönche im Kloster „Grande Chartreuse“ ohne Musik, Interviews und Off-Kommentare beobachtet. Swobodniks Betrachtungen sind auch nicht so transzendental wie Chris Wrights und Stefan Kolbes Dokumentarfilm „Pfarrer“ von 2014 über ein Priesterseminar in der Lutherstadt Wittenberg. Und sie sind vor allem nicht so bilderwütig wie Jonas Freis und Manuel Schweizers am 6. Juni im Kino startender Dokumentarfilm „Camino de Santiago“, in dem der längst nicht mehr zu den Geheimtipps zählende Jakobsweg mit einer Kamera-Drohne aus der Vogelperspektive abgelichtet wird.

Swobodnik nähert sich dem Ort der Stille mit einer statischen Kamera, die in langen Einstellungen beobachtet, wie eine Nonne den Gang entlang geht. Ohne Worte verstehen wir, dass sie jeden Tag diesen Weg macht, diese Routine aber nie als monoton empfindet. Die Bilder sind farbreduziert und ein wenig blaustichig. Der Kameramann (offenbar der Regisseur selbst) arbeitet mit Gegenlicht, das aus natürlichen Lichtquellen in den Raum fällt und so unglaublich starke Kontraste erzeugt. In ihrer Farbgebung erscheinen die nuanciert kadrierten Bilder wie eine Mischung aus Tarkowskis Tableaus und Kubricks Gummilinsen-Aufnahmen in „Barry Lyndon“: Dies jedoch, ohne dass sich ein Ästhetizismus in den Vordergrund drängen würde.

Dem Regisseur ist es geglückt, die Kontemplation der beobachteten Protagonisten im Bild spürbar, nachempfindbar zu machen. Wenn wir die Priorin Kornelia Kreidler mit gesenktem Blick beim Gebet erleben, dann fließt die von ihr erlebte Stille förmlich aus dem Bild heraus. Neben dieser etwa 50-jährigen Ordensschwester sind drei weitere Benediktinerinnen zu sehen, die wesentlich älter, teilweise schon über 90 sind. Ihre selbst bestimmte Lebensführung trägt wohl dazu bei, dass diese Damen trotz ihres buchstäblich biblischen Alters noch vergleichsweise rüstig wirken. Wer in der Familie einen Pflegefall miterlebt hat, denkt ganz nebenbei über diese altersgerechte Daseinsform nach.

Die Dramaturgie des Films folgt, wie sollte es anders sein, dem Tagesablauf der Nonnen, der – auch keine Überraschung – von Beten und Arbeiten vollends ausgefüllt ist. Die Kamera bemüht sich nicht, unsichtbar zu sein. Gelegentlich wendet sich eine der Ordensschwestern während des Nähens oder Bügelns direkt an den Zuschauer. Im Gegensatz zu konventionellen Dokumentarfilmen werden die Protagonisten nicht interviewt oder ausgefragt. Was sie erzählen, erzählen sie von sich aus. Wir erfahren so nichts über tragische Lebensgeschichten armer schwangerer Frauen, die hinter Klostermauern flüchten mussten.

Die Informationen über die Nonnen selbst und den Konvent, ein Barock-Juwel im Landkreis Ravensburg, bleiben karg, aber das macht Sinn. Im Stil eines plappernden Museumsführers hätte man beispielsweise erzählen können, dass das baufällige Kloster 2009 nur mit großzügigen Spenden vor dem Verfall gerettet wurde. Die damals in Gang gekommenen Renovierungsarbeiten sind noch nicht abgeschlossen. Man sieht Gerüste und hört gelegentlich Baulärm. Diese Hintergrundinformationen braucht man aber nicht. Man ist nicht abgelenkt und wird so sensibilisiert für die eigentliche „Attraktion“. So wie der Eskimo Dutzende Worte für „Schnee“ kennt, so hört der Film immer wieder neu in die Stille dieses Klosters hinein, die immer wieder etwas anders klingt: Etwa wenn der Prior auf einer altmodischen Stereoanlage Musik auflegt oder mit den Nonnen abends zu einem Brettspiel zusammen sitzt und dabei tatsächlich Lachen zu hören ist. Man denkt sich: ja, das sind Menschen wie du und ich. Indem der Film ihnen auf eine unaufdringliche Art nahe kommt, und die Stille von sich selbst erzählen lässt, schafft er das eindringliche Porträt einer Lebensform, deren Zukunft ungewiss ist.

Melodys Baby

(B / F / LU 2014, Regie: Bernard Bellefroid)

Stark verletzlich
von Wolfgang Nierlin

Melody (Lucie Debay) wird geleitet vom Wunsch nach Geborgenheit und Schutz. Zugleich sucht sie nach Unabhängigkeit in einem eigenen Leben. Wie beides zusammenhängt, zeigt Bernard Bellefroid in seinem bemerkenswerten, thematisch …

Melody (Lucie Debay) wird geleitet vom Wunsch nach Geborgenheit und Schutz. Zugleich sucht sie nach Unabhängigkeit in einem eigenen Leben. Wie beides zusammenhängt, zeigt Bernard Bellefroid in seinem bemerkenswerten, thematisch aktuellen Film „Melodys Baby“ („Melody'). Bezeichnenderweise beginnt dieser mit einem symbolisch aufgeladenen Bild, das die junge Titelheldin in der Embryonalstellung zeigt und auf eine ambivalente Existenz deutet. Tatsächlich packt Melody kurz darauf ihre Sachen und verlässt die Wohnung eines nicht näher vorgestellten Mannes. Ausgesetzt und ohne Obdach geht die 28-Jährige von Tür zu Tür, um mehr oder weniger erfolglos ihre Dienste als Friseurin anzubieten. Dicht gefolgt und begleitet von einer Kamera, die immer wieder die Nähe sucht zu Melodys offenem Gesicht und ihrem verletzlichen, aber auch starken Körper. Stilistisch ähnelt Bellefroids Film darin den Arbeiten seiner belgischen Landsleute Jean-Pierre und Luc Dardenne.

Weil sich Melody mit ihrem Gewerbe selbständig machen will, was vielleicht nicht sehr realistisch ist, und für die Eröffnung eines Friseursalons sehr viel Geld braucht, bietet sie sich im Internet als Leihmutter an. Der Kontakt zu der alleinstehenden Managerin Emily (Rachael Blake), die sich nach einem Kind sehnt und zunächst als kühle, kontrollierte Geschäftsfrau eingeführt wird, ist schnell und in wenigen Schnitten erzählt. Denn Bernard Bellefroid konzentriert sich im Folgenden vor allem auf die Beziehung der beiden einsamen Frauen, die zunächst von Spannungen und Misstrauen bestimmt wird, allmählich aber in eine zunehmende Annäherung übergeht. „Wir haben doch beide einen Traum. Zerstören wir ihn lieber nicht“, sagt Emily an einem Wendepunkt der Geschichte. Der Schlüssel für dieses wechselseitige Sich-Öffnen, das schließlich über ihre Freundschaft hinaus in einer bewegenden Mutter-Tochter-Beziehung mündet, liegt in einer schmerzlichen Vergangenheit.

Während Emily aufgrund einer schweren Krankheit einst ihre Gebärmutter und den darin wachsenden Embryo verloren hat, wurde Melody nach ihrer Geburt anonym ausgesetzt. Jetzt soll sie ihrerseits ein Kind weggeben, das zwar in ihr wächst, ihr aber nicht „gehört“. Zugleich übernimmt Melody auf zunehmende Weise eine Doppelrolle als Kind bzw. Ersatztochter und werdende Mutter. Zwar erscheint diese Plot-Konstruktion in ihren Wechselwirkungen mitunter etwas konstruiert und bleiben manche (realistischen) Details zugunsten zweier intensiver, hervorragend gespielter Frauenportraits dabei auf der Strecke; zugleich gelingt Bellefroid aber ein starkes, bisweilen tragische Züge annehmendes Drama über ebenso komplizierte wie schwierige „Familienbeziehungen“, die beunruhigende Pflicht zur Verantwortung und den traurigen, vielleicht aber auch tröstlichen Zusammenhang von Tod und Leben. „Schließlich“, so der Regisseur, „finden beide in der Anderen genau das, was sie selbst nie hatten.“

Cobain: Montage of Heck

(USA 2015, Regie: Brett Morgen)

Lieder aus der Hölle
von Wolfgang Nierlin

Im Anschluss an seinen fulminanten Dokumentarfilm über den Punkrocker Kurt Cobain erklärt Regisseur Brett Morgan etwas großsprecherisch seine Absichten und gibt Einblick in die produktionstechnischen Hintergründe seines filmischen Portraits “Cobain: …

Im Anschluss an seinen fulminanten Dokumentarfilm über den Punkrocker Kurt Cobain erklärt Regisseur Brett Morgan etwas großsprecherisch seine Absichten und gibt Einblick in die produktionstechnischen Hintergründe seines filmischen Portraits “Cobain: Montage of Heck”. Das zeugt nicht nur von einem starken Ego und wirkt einigermaßen gewöhnungsbedürftig, sondern liefert natürlich auch ein paar nützliche Informationen. Er habe in der Konzentration auf nur wenige Zeitzeugeninterviews (vor allem mit Familienmitgliedern) und den reichhaltigen kreativen Nachlass Cobains ein möglichst intimes inneres Portrait des Musikers schaffen wollen, das sich vor allem aus Selbstzeugnissen zusammensetze. So verdichtet er in seiner „Montage aus der Hölle“ (der Titel stammt von einer Musikkassette Cobains) auf ebenso mitreißende wie eindrucksvolle Weise eine enorme Menge an Homemovies, Tagebuchnotizen, Konzertmitschnitten und eigens animierten Zeichnungen des Künstlers und Rockstars.

Ein solcher wollte Kurt Cobain freilich nie sein, auch wenn er andererseits viel dafür getan hat. Seine ironische Abgrenzung gegenüber sogenannten Rockidolen, seine massiven Probleme mit der eigenen Popularität, aber auch seine radikale Ablehnung traditioneller (Geschlechts-)Rollenzuschreibungen sowie einer leistungsorientierten Elterngeneration und einer verlogenen Politik markieren dieses widersprüchliche Feld. Ihn zum Sprachrohr der Null-Bock-Generation zu stilisieren bzw. seine Verweigerungshaltung zu instrumentalisieren, stößt bei Cobain ebenso auf Ablehnung wie die mediale Ausbeutung seines Privatlebens bei ihm heftige Wut auslöst. Insofern ist Morgans Film auch der eindringliche Versuch, die Rekonstruktion von Kurt Cobains künstlerischem Werdegang mit seiner inneren „Seelenbiographie“ zu verschränken. Die Musik liefert dazu vornehmlich den Soundtrack in seiner heftigsten Form.

Cobains Krankheits- und Leidensgeschichte beginnt 1967 in der prosperierenden Holzfäller-Stadt Aberdeen im Nordwesten der USA, wo der kleine Kurt als zunächst verwöhntes Kind aufwächst, durch seine Hyperaktivität aber seine Eltern überfordert. Nach deren Scheidung wird der 9-jährige Junge, der insgeheim bei seiner Mutter bleiben möchte, innerhalb der Verwandtschaft herumgereicht, stößt aber überall auf Zurückweisung, was während der Pubertät die Ausprägung seines manisch-depressiven Charakters zusätzlich verstärkt. Als sensibler Jugendlicher, der Probleme mit Mädchen und der Sexualität hat und Demütigungen nur schwer erträgt, beruhigt er sich mit Marihuana, entwickelt aber zugleich Gewalt- und Zerstörungsphantasien, die sich vor allem in seinen Zeichnungen niederschlagen, aber auch in der Erfahrung eines energiegeladenen Musikmachens ein Ventil finden.

Die wüsten, selbstzerstörerischen Auftritte mit seiner Band Nirvana geben davon einen starken Eindruck. Zwar findet er mit der Hole-Sängerin Courtney Love und der gemeinsamen Tochter Frances auch privates Glück. Trotzdem nimmt sich Kurt Cobain, von permanenten Magenbeschwerden gepeinigt und von der Heroin-Sucht gezeichnet, mit 27 Jahren das Leben. Zu diesem Zeitpunkt ist das Bild seines Leidens an sich und der Welt im Film durch einen kurzen, von Cobain inszenierten Auftritt im Rollstuhl symbolisiert, längst öffentlich geworden.

Eden

(F 2014, Regie: Mia Hansen-Løve)

Lost in Music
von Wolfgang Nierlin

Der Ort ist kaum identifizierbar. Dunkelheit liegt über der merkwürdig unwirklich erscheinenden Szene. Diese spielt nachts in einem Waldstück, das an einen Fluss grenzt. Junge Menschen bewegen sich wie in …

Der Ort ist kaum identifizierbar. Dunkelheit liegt über der merkwürdig unwirklich erscheinenden Szene. Diese spielt nachts in einem Waldstück, das an einen Fluss grenzt. Junge Menschen bewegen sich wie in Trance zwischen den Bäumen, besteigen einen ausrangierten Kahn, in dessen Bauch, nur gedämpft vernehmbar, offensichtlich eine Party stattfindet. Es ist der November 1992, und die Vorboten der aufkommenden Pariser House-Bewegung suchen sich ihre eigenen, ausgefallenen Locations. Eine verschworene Gemeinschaft jungendlicher Hedonisten erfindet für sich Gegenorte für ein heimliches Leben, das die ausgelassene Feier und den entgrenzenden Rausch sucht. Vereint durch die Leidenschaft für die Ekstasen der Musik und den Traum von einem euphorisierten Leben kreieren die Jugendlichen eine parallele Welt aus elektronischen Beats und gefühlvollen Sounds, aus Euphorie und Melancholie. Garage House, apostrophiert als „Gesang der Maschinen“ (nach den gleichnamigen Comics von Mathias Cousin und David Blot) oder einfach nur als „Disco in modern“, wird geboren.

Mia Hansen-Løves neuer, mittlerweile vierter Film heißt deshalb „Eden“. Ihr atmosphärisch dichtes Generationenportrait, das eine Zeitspanne von etwa zwanzig Jahren umfasst, spürt den Energien eines Lebensgefühls nach, ohne dies ins „Paradiesische“ zu verklären. Vielmehr versteht sie ihren Film als „eine Hommage“ an eine Zeit „voller strahlender und glücklicher Augenblicke“, die zugleich voller Schatten ist und schließlich in einer gewissen Ernüchterung respektive Entzauberung mündet. Doch Hansen-Løve destilliert daraus keine moralische Belehrung. Stattdessen zählen für sie die Umwege des gelebten und deshalb stark machenden Lebens, auf denen sie in einer Chronologie der Ereignisse ihren Helden Paul (Félix de Givry), einen aufstrebenden DJ, „durch Licht und Schatten“ begleitet. Diese sanfte und introvertierte Figur, die sich mit Haut und Haaren dem stilbildenden Garage-Sound verschreibt, hat die Regisseurin ihrem Bruder Sven Hansen-Løve, einem DJ des sogenannten „French Touch“, nachempfunden.

Mit einer offenen Dramaturgie, einem geradezu dokumentarischen Realismus und sehr viel tanzbarer Musik folgt der Film einem Leben ohne Haltepunkte, dessen praktische Aspekte sich in einem Nebel aus Drogen, rauschhaften Partys und konstanter Musikverrücktheit auflösen. Zwar ist Paul zunächst noch als – so lässt sich vermuten – Literaturstudent immatrikuliert, doch davon ist nichts zu sehen. Mia-Hansen Løve konzentriert sich vielmehr auf die praktische Arbeit des DJs, beschwört Stimmungen und folgt ihrem Protagonisten durch diverse, wechselnde Liebesbeziehungen (seine Freundinnen werden u. a. von Greta Gerwig und Pauline Etienne gespielt) samt ihren Krisen. Dabei driftet Paul, der zusammen mit seinem Kumpel Stan (Hugo Conzelmann) das DJ-Duo Cheers bildet, immer mehr ab, entwickelt ein „Drogenproblem“ und häuft Schulden an. Fast unmerklich verliert sich die Szene, zerbrechen Freundschaften; als würde Paul, der über die Jahre eine Mansarde bewohnt, aus der Zeit fallen, läuft sein Erfolg nach und nach aus. Unspektakulär und mit feinen Zwischentönen bilanziert der Film die menschliche Seite dieses schillernden Werdegangs, an dessen vorläufigem Ende Robert Creeleys Gedicht „The Rhythm“ über den Rhythmus des Lebens steht.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Eden'.

Kind 44

(USA / GB / RO 2015, Regie: Daniel Espinosa)

Serienkillerhatz im sowjetischen Morast
von Nicolai Bühnemann

Der Prolog zeigt in wenigen Minuten, wie innig die Biographie des Protagonisten mit der Geschichte eines Staates, eines Systems verzahnt ist: der Sowjetunion. Die Eltern von Leo Demidow verstarben, als …

Der Prolog zeigt in wenigen Minuten, wie innig die Biographie des Protagonisten mit der Geschichte eines Staates, eines Systems verzahnt ist: der Sowjetunion. Die Eltern von Leo Demidow verstarben, als er noch ein Kind war, bei der Holodomor, einer Hungersnot, die in den Jahren 1932 und 1933 in der Ukraine mehrere Millionen Opfer forderte. Ob Stalins Politik absichtlich zu dieser Katastrophe führte, wie es die kurzen Texttafeln zu Beginn des Films behaupten, ist in der Geschichtsschreibung umstritten. Jedenfalls erscheint die Sowjetunion in „Kind 44“ von den ersten Sekunden des Films an als böser Vater, der seine unliebsamen Kinder zwar nicht auffrisst, aber doch im Wald sich selbst und dem Hunger überlässt (später im Film wird dieser Staat dann in die Rolle eines alttestamentarischen Gottes schlüpfen, der das Opfer eines nächsten Angehörigen als Loyalitätsbeweis fordert). „Im Paradies gibt es keinen Mord“, diese Worte, als Motto und Leitmotiv dem Film vorangestellt, klingen von Anfang an wie blanker Hohn.

Demidow (Tom Hardy) jedenfalls wurde vom größt denkbaren Verlierer eines Systems zum triumphierenden Helden desselben. Im Mai 1945 lässt ihn das Drehbuch als Soldat für die berühmten Fotos die Fahne der Roten Armee auf dem Reichstag hissen. Wobei er sich jedoch vorher die vielen Uhren, die er an einem Arm trägt, abnehmen muss, um die strahlenden Helden nicht wie Plünderer aussehen zu lassen. (Gut recherchiert, aber eindeutig parteiisch ist der Film – bzw. wahrscheinlich schon der Bestseller-Roman, der ihm zugrunde liegt – auch hier: Tatsächlich wurden die betreffenden Fotos mehrmals retuschiert, wobei unter anderem eine Uhr am Armgelenk des Soldaten entfernt wurde, bei der es sich jedoch auch um einen Kompass aus Armeebeständen gehandelt haben könnte.)

1953, in der Gegenwart der Handlung, arbeitet Demidow für das Ministerium für Staatssicherheit MGB und jagt sehr erfolgreich – vermeintliche – Gegner des sowjetischen Systems. Als der Sohn eines alten Armeefreundes ermordet wird und er sich in die Lage versetzt sieht, gemäß der Doktrin, dass es im Sozialismus kein Verbrechen gibt, die Tat als Unfall zu behandeln, beginnt das, was eine Desillusionierungsgeschichte sein könnte, würde sich in der stalinistischen Sowjetunion, wie sie der Film zeigt, noch irgendjemand irgendwelche Illusionen machen. Wo der historische Stalinismus ja die totalitäre Pervertierung eigentlich einmal sehr humaner Ideen war, gibt es in „Kind 44“ ein System, dessen Handlanger ausschließlich aus Angst handeln oder weil ihre Arbeit ihren soziopathischen Wesenszügen entgegen kommt, wie im Falle von Demidows Kollegen Wassili (Joel Kinaman).

Während sich die Hinweise häufen, dass der ermordete Junge Opfer eines Serienkillers war, der entlang von Bahnlinien an weit entfernten Orten sein Unwesen treibt, laufen die Dinge für Demidow endgültig aus dem Ruder, als ihn sein Vorgesetzter Generalmajor Kuzmin (ziemlich fies: Vincent Cassel) damit beauftragt, seine Frau Raisa (Noomi Rapace) zu beschatten, die im Verdacht steht, eine Verräterin zu sein. Er und seine Frau geraten bei ihrer Suche nach dem Serientäter bald selbst ins Visier des Geheimdienstes.

Der schwedische Regisseur Daniel Espinosa empfahl sich mit dem in seinem Herkunftsland ungemein erfolgreichen, sehr intensiven und hervorragend gespielten Gangsterepos „Easy Money“ (2010) für Hollywood. Dort legte er 2012 den schönen, trotz atemberaubenden Tempos und Happy End grundmelancholischen Geheimdienst-Actioner „Safe House“ vor, der überdies mit Ryan Reynolds und Denzel Washington über ein tolles Männer-Gespann in den Hauptrollen verfügte.

Dass das Vorgängerwerk Espinosas ein Film war, bei dem die westlichen Geheimdienste im Allgemeinen und die CIA im Besonderen gar nicht gut wegkamen (Waterboarding und Mord inklusive), eröffnet noch einmal eine etwas andere Perspektive auf „Kind 44“. Statt der Abrechnung mit einem überkommenen Schurkenstaat mag man im Vordergrund die universellere Geschichte von gebrochenen Männern sehen, die unter Einsatz aller ihrer Kräfte versuchen, sich in einem durch und durch korrupten System zu behaupten, und dabei, so gut es nur geht, moralische Integrität zu bewahren. Diese Geschichte lässt sich eben, so verdeutlicht das Schaffen des Regisseurs, im kriminellen Milieu Stockholms genauso gut erzählen wie in den westlichen Geheimdiensten der Gegenwart oder den sowjetischen der Vergangenheit.

Wo Espinosa schon in seinen vorangegangen Filmen den Schauplätzen große Bedeutung beimaß, darauf bedacht war, sie in sehr spezifische Beziehungen zu Handlung und Figuren zu setzen, komplexe Relationen zwischen Innen und Außen zu schaffen, übertrifft er – und seine Ausstatter und Szenenbilder – sich hier selbst in dem Versuch, die Sowjetunion als einen Ort tristester Trostlosigkeit wieder auferstehen zu lassen. Schon Moskau, das Zentrum der Macht, in dem der Film beginnt, scheint nur aus klaustrophobischen Interieurs zu bestehen. Nirgendwo erlauben es die Breitbilder dem Blick, in die Ferne zu schweifen. Wualsk, die Industriestadt, in die Leo und Raisa verbannt werden, erscheint dann erst recht als ein vollkommen abgewrackter Ort, ein menschgemachter Sumpf, durch den die Eisenbahnen sich bedrohlich, dunklen Drachen gleich, ihren Weg bahnen. Den schwarzbraunen Morast dieses Ortes kann der Film nur noch toppen, indem er seine Hauptfiguren im Showdown im Schlamm miteinander ringen lässt.

Wenn der Serientäter schließlich überführt wird, offenbaren sich tiefe biographische Verbindungen zu dem Mann, der ihn jagte, so als würde der Protagonist in einem dunklen Spiegel seiner selbst gewahr. In seiner Verteidigung, dass Demidow es sich schließlich ausgesucht habe, Handlanger eines verbrecherischen Systems zu werden, während er nicht anders könne, als zu morden, wird Peter Lorres berühmte Verteidigungsrede vor dem Verbrechertribunal am Ende von Fritz Langs „M“ (1931) evoziert, die in dem ikonischen, manisch vorgetragenen „Will nicht! Muss!“ kulminierte. Was sich an „Kind 44“ dann doch etwas falsch anfühlt, mag der Vergleich zu einem anderen Film offenbaren, der ebenfalls den Umgang mit Serienkillern in totalitären Systemen thematisierte, einem der wenigen Filme, die sich in der Bundesrepublik in den Fünfziger Jahren um eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bemühte, der in „M“ vorweggenommen wurde: Robert Siodmaks „Nachts, wenn der Teufel kam“ von 1957. Wo Siodmaks Film an die Möglichkeit des Menschen glaubte, auch in Extremsituationen Entscheidungen zu treffen, nicht aber an das richtige Leben im falschen, findet der gebrochene Held bei Espinosa am Ende doch – wenn auch mit Einschränkungen, denn die Wahrheit, für die er kämpfte, bleibt dabei ein Stück weit auf der Strecke – ebendieses. Auch geht es, wenn er schließlich eine neue Familie finden darf, reichlich rührselig zu.

Eden

(F 2014, Regie: Mia Hansen-Løve)

Keine Kohle, aber gute Laune
von Tim Lindemann

Jugendlicher Hedonismus wird im Kino oft entweder eindimensional glorifiziert oder mittels eines vermeintlich lehrreichen »bösen Endes« dämonisiert. Vor allem die väterlichen Intentionen der bestrafenden Erzählstrategie sind meist mehr als dubios …

Jugendlicher Hedonismus wird im Kino oft entweder eindimensional glorifiziert oder mittels eines vermeintlich lehrreichen »bösen Endes« dämonisiert. Vor allem die väterlichen Intentionen der bestrafenden Erzählstrategie sind meist mehr als dubios – frei nach dem Motto: Kinder, der Spaß ist vorbei, willkommen in der »echten« Welt! 'Eden', der vierte Film der dänischen Regisseurin Mia Hansen-Løve, wählt narrativ wie inszenatorisch einen anderen Weg.

Zunächst einmal räumt die Regisseurin ihrer fiktionalisierten Nacherzählung des Aufstiegs der French Touch genannten House-Musik-Spielart mit über zwei Stunden Laufzeit einen beinahe epischen Rahmen ein. Dadurch kommt es zu einer wohltuenden Entspannung des Plots; oft hat man das Gefühl, die verschiedenen Protagonisten unabhängig vom Erzählbogen des Films in ganz alltäglichen Situationen zu beobachten. Das führt aber nicht zu Langeweile, sondern zu einer Vertrautheit, die ein moralisches Aburteilen ihrer Entscheidungen unmöglich macht. Zudem gelingt Hansen-Løve so der diffizile Spagat zwischen Szeneporträt und figurengebundener Story: Ihr Protagonist ist zwar eindeutig der DJ und Partyveranstalter Paul, ebenso aber erhalten wir einen Panoramablick in die musikalische Jugendkultur im Paris der neunziger und nuller Jahre, in der sich aus House, Techno und Garage eine eigene Variante elektronischer Musik herausgebildet hat.

Neben der akribischen, detailverliebten Ausstattung der illegalen Partys, der Clubs und WG-Wohnzimmer sowie einer auch für szenefremde Zuschauer anregenden Musikauswahl überzeugt vor allem Hansen-Løves Fingerspitzengefühl bei der Kreation des Tonfalls. Denn sicher wäre es einfach gewesen, den raketenhaften Aufstieg des Subgenres als Triumphzug zu inszenieren – 'Eden' deutet das nur an, anhand der Karriere der Szenegewächse und heutigen Superstars Daft Punk. Der Film aber bleibt bei Paul und seinen Freunden, an denen die sorglose Jugend langsam vorbeizieht, ohne dass sie auch nur minimalen finanziellen Erfolg haben. Der elektrisierenden Aufbruchstimmung haben sie alles geopfert, nun müssen sie zusehen, wie der Popmainstream »ihre« Musik langsam vereinnahmt. Das ist traurig, aber 'Eden' ist kein bitterer Film. Er erzählt zwar von der Unmöglichkeit, Jugend zu konservieren, aber auch von dem Rausch, dieses Unmögliche anzustreben.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 5/2015

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Eden'.

Hedi Schneider steckt fest

(D 2015, Regie: Sonja Heiss)

Angst hat kein Gesicht
von Manfred Riepe

Beim Thema Angst denkt der Kinogeher wohl zuerst an „Augen der Angst“, den verstörenden Thriller mit Karlheinz Böhm. Sonja Heiss geht es aber nicht um die Furcht vor einem irren …

Beim Thema Angst denkt der Kinogeher wohl zuerst an „Augen der Angst“, den verstörenden Thriller mit Karlheinz Böhm. Sonja Heiss geht es aber nicht um die Furcht vor einem irren Killer, sondern um ein ganz bodenständiges Problem: Manchmal wird ein Familienmitglied von einer unerklärlichen Angststörung heimgesucht. Doch wie gehen die anderen damit um? Mit dieser beklemmenden Problematik setzt die Regisseurin sich auseinander. In ihrem Film ist eine Frau die Hauptfigur. Es geht um Hedi Schneider, die, wie der Titel sagt, „fest“ steckt. Warum das so ist, bleibt (zunächst) auf eine beunruhigende Art unverständlich.

Dabei sieht alles zunächst ziemlich rosig aus. Hedi, gespielt von Laura Tonke, radelt unbeschwert durch Frankfurt. Wir sehen keine stylischen Bilder der Skyline, die Mainmetropole wird eher zurückhaltend fotografiert. Dafür springen die quietschbunten Klamotten der lebensfrohen 40-Jährigen ins Auge, die wie eine Seelenverwandte der liebenswürdigen Sally-Hawkins-Figur aus Mike Leighs Komödie „Happy-Go-Lucky“ erscheint. Ihr eintöniger Job im Reisebüro ist zwar nicht das Gelbe vom Ei. Ihr zwanghaft-nerdiger Mitarbeiter, der ihr eine Art Szene macht, weil sie dessen Kaffeetasse versehentlich benutzt, gibt eine Vorahnung dessen, was Hedi erwartet. Privat scheint bei ihr aber alles im Lot zu sein. Mit ihrem verständnisvollen Partner Uli, von Hans Löw als Bilderbuch-Papa gespielt, und ihrem kleinen Sohn Finn (Leander Nitsche) lebt sie offenbar vergnügt in den Tag hinein.

Plötzlich ist Schluss mit lustig. Hedi wird von einer Panikattacke heimgesucht. Sie glaubt einen Schlaganfall zu erleiden. Der alarmierte Notarzt kann zwar kein medizinisches Problem feststellen, doch der unerklärliche Alpdruck bleibt. Ist Hedi etwa, wie es im „Asterix“-Comic heißt, der Himmel auf den Kopf gefallen?

Ein bemerkenswertes filmischen Sujet, denn Angst hat kein Gesicht. Im Gegensatz zur Furcht vor einer lokalisierbaren Gefahr ist sie objektlos, lässt sie sich nicht wirklich bebildern. Regisseurin Sonja Heiss weiß das aus eigener Erfahrung und versucht gar nicht erst, die Panikattacken mit formalen Tricks wie schrägen oder verwackelten Bildern zu visualisieren. Der Autorenfilmerin, die sich nach ihrem Debüt „Hotel Very Welcome“ von 2007 zurückmeldet, geht es um die Lebenssituation ihrer Heldin. Die „steckt fest“ – so kündigt es bereits der Titel an. Doch wo klemmt es denn in ihrem scheinbar so stressfreien Dasein? Der Fahrstuhl, in dem sie zu Beginn eingeschlossen wird, kann es nicht sein. In dieser klassischerweise furchterregenden Situation zeigt Hedi keine Spur von Panik. Ganz locker schäkert sie via Gegensprechanlage mit dem Reparaturtechniker: „Bitte einen Cheeseburger“.

Die komödiantische Situation im Aufzug erscheint aber wie eine Metapher für Hedis Leben, das sich auf den zweiten Blick schon etwas anders darstellt. Zu Beginn, als die Welt noch in Ordnung schien, tun Hedi, Uli und ihr Sohn so, als würde sie ein erlegtes Stofftier verspeisen. Am Ende verkleiden die drei sich im Norwegen-Urlaub mit lehmverschmierten Gesichtern und Baströcken als Eingeborene, die mit der Natur eins sein wollen. Offenbar denken progressive Eltern sich pädagogisch einfühlsam in die Wahrnehmung ihres Kindes hinein. Nun ja, manchmal wirkt das spielerisch leicht, und man möchte mitmachen. Dem Spiel kommt dabei allerdings eine immer seltsamer werdende Doppelbedeutung zu. Hedi und Uli spielen permanent – vor allem sich selbst, sogar beim Sex. Nicht zufällig beginnen dabei Hedis Panikattacken. Das Spiel erscheint nicht immer spielerisch – hier scheint Hedi irgendwo fest zu stecken.

In einer interessanten Szene gibt Hedis Mutter (Margarita Broich) zu verstehen, dass sie mit dem diffusen Thema Angst nichts anfangen kann und will. Wenn sie, die Mutter, es erwischt, dann nimmt sie eine kalte Dusche. Oder sie isst etwas. Als Hedi das mitgebrachte Essen nicht anrührt, mampft Mama es selbst. Im Stehen. In Szenen wie dieser ist der komödiantische Blick überzeugend.

Mamas buchstäbliche Küchenpsychologie hilft Hedi aber nicht weiter. Es folgen ergebnislose Besuche beim Neurologen, dem Therapeuten und in einer Zoohandlung. Wir erleben das aus Hedis Perspektive wie absurdes Theater. Wenn sie ihre Tranquilizer wie bunte Smarties einwirft, dann startet sie aus der Angstdepression zur Party durch. Absturz inklusive. Filmisch wirkt dieser Trink- und Tablettenexzess zuweilen etwas aktionistisch. Zumal Laura Tonke sich dabei weniger wie eine Frau mit Angststörung, sondern wie ein trotziges Kind aufführt.

Für ihren Mann Uli ist dieser emotionale Pflegefall bald zu viel. Er geht fremd, worauf der Film seine Heldin auffällig lange alleine lässt, um sein Intermezzo mit einer aparten Gehörlosen (Melanie Straub) zu schildern: Interessanterweise ist dies der einzige Moment des Films, in dem die Figuren sich nichts vormachen. Bei seiner Rückkehr scheint Hedi sich gefangen zu haben, bietet aber ein seltsames Bild. Aus dem Kassettenrekorder plärrt das Bratkartoffellied vom Berliner Grips Theater. Mit sichtlich gequältem Blick fordert Hedi ihren zurückgekehrten Mann auf, wie üblich in ein Rollenspiel mit ihrem Kind mit einzusteigen. Routine hilft ihr offenbar aus dem quälenden Würgegriff der Angst heraus. Man möge doch wieder so tun, als wäre man Vater, Mutter und Sohn.

Das diffuse Neben-sich-Stehen bekommt der Film aber nicht wirklich in den Griff. Dazu wird die Hauptfigur, eine schwermütige Pippi Langstrumpf, zu sehr gefeiert. Laura Tonke hat starke Momente, wenn sie sich mit Hans Löw über vermeintliche Kleinigkeiten in die Haare bekommt. Doch ihr Outfit mit den riesigen bunten Kirschen auf dem Pullover drückt eine demonstrative Infantilisierung aus, eine „erlernte Hilflosigkeit“, die im Film weniger reflektiert als zelebriert wird. So hinterlässt das komische Drama trotz berührender Momente einen ambivalenten Eindruck. Laura Tonke spielt die schillernde Hauptfigur zuweilen etwas manieriert, als käme sie von diesem Trip, eine Kindfrau sein zu wollen, nie runter. Sie hat zwar einen kleinen Sohn, doch man hat nicht wirklich das Gefühl, dass sie seine Mutter ist. Nicht nur Hedi Schneider, sondern auch der Film steckt zuweilen fest. Obwohl die Außenaufnahmen Frankfurt zeigen, erinnern die Innenaufnahmen an einen dieser typischen Berlinfilme, in dem die Charaktere immer im eigenen Saft schmoren. Man glaubt zu verstehen, wo Hedi steckengeblieben ist. Sie ist nicht wirklich angekommen in diesem Leben, in dem die Party zu Ende ist und jemand den Müll vor die Tür bringen muss. Sehenswert ist der ambitionierte Versuch über Angst aber dennoch.

Leviathan

(RU 2014, Regie: Andrey Zvyagintsev)

Das hässliche Gesicht der Macht
von Wolfgang Nierlin

Schon die ersten, intensiven Bilder einer rauen, ungestümen Natur an den Ufern der Barentssee im äußersten Nordwesten Russlands verheißen nichts Gutes. Verstärkt durch Musik aus Philip Glass‘ Oper „Akhnaten“ branden …

Schon die ersten, intensiven Bilder einer rauen, ungestümen Natur an den Ufern der Barentssee im äußersten Nordwesten Russlands verheißen nichts Gutes. Verstärkt durch Musik aus Philip Glass‘ Oper „Akhnaten“ branden Wellen an massige Felsen, umspülen die Gerippe alter, verrosteter Schiffswracks sowie ein riesiges, als Metapher inszeniertes Walfischskelett. Das tosende Meer speit aus, was es zuvor verschluckt hat; und unter einem schweren, dunkelblau getönten Himmel verliert sich die Landschaft im Unendlichen. Doch das Abgerückte, Ferne ist zugleich gegenwärtig und nah.

Das zeigt sich andererseits in der zerrütteten Familie des cholerischen Automechanikers Kolia (Alexej Serebrjakow), der seinen Frust bevorzugt mit exzessivem Alkoholkonsum niederringt. Mit seinem pubertierenden, aufmüpfigen Sohn Roma (Sergej Pochodajew) aus erster Ehe ist er überfordert; dieser wiederum lehnt seine Stiefmutter Lilia (Jelena Ljadowa) ab, die unglücklich und teilnahmslos wirkt und in einer Fischfabrik arbeitet. Verschärft wird diese familiäre Situation durch ein Enteignungsverfahren, dem sich Kolia beharrlich widersetzt. Denn sein schön gelegenes Anwesen soll einem lokalen Bauprojekt weichen.

In Andrei Swaginzews neuem, hochgelobtem Film „Leviathan“ übernimmt der Moskauer Anwalt Dmitri (Wladimir Wdowitchenkow), Kolias Freund aus seiner Zeit bei der Armee, die Verteidigung. Der formelhaften, kalten Rechtsprechung, die als verlängerter Arm einer korrupten Bürokratie und als politisches Instrument des vulgären Bürgermeisters Vadim (Roman Madjanow) fungiert, will Dmitri Fakten entgegensetzen. Doch seine erpresserischen Methoden sind kaum besser als das perfide Machtgebaren seiner Kontrahenten, die ihre Ansprüche mit offenen Drohungen formulieren und dabei weder vor Beleidigungen noch vor brutaler Gewalt zurückschrecken.

Andrej Swaginzew zeigt auf beeindruckende Weise dieses hässliche „Gesicht der Macht“ in seiner ganzen moralischen Verkommenheit. Ebenso distanziert und sachlich wie ironisch entlarvt er polizeiliche Willkür, eine instrumentalisierte Rechtsprechung, hierarchische Machtstrukturen (und die Abhängigkeiten, die sie erzeugen) sowie die unheilige Allianz aus Kirche und Politik, die glaubt, an der „gleichen Front“ zu kämpfen und auf der Seite der „Wahrheit“ zu stehen. Unter Verwendung von Ellipsen aus verschiedenen Perspektiven erzählt, zeigt der vielschichtige Film aber auch, dass Betrug und Egoismus schon innerhalb der sozialen Beziehungen sowie in den persönlichen Verhältnissen nisten. Der verbreitete, ziemlich drastisch dargestellte Alkoholismus ist dabei nur augenfälligster Ausdruck gestörter Beziehungen und gesellschaftlicher Zerfallsprozesse. Wenn Kolia, der sich als Figur eines modernen Hiob verstehen lässt, am Ende von einem unbezwingbaren (staatlichen) Ungeheuer alles (nämlich Frau, Kind, Haus und persönliche Freiheit) genommen wird, erscheint die alte, schlechte Ordnung zementiert und gefestigt. Genauso schwer wiegt allerdings die trostlose Ausweglosigkeit, die sich darin ausbreitet.

Love Hotel

(GB / F / J 2014, Regie: Philip Cox, Hikaru Toda)

Ein locus amoenus im Neonlicht
von Carsten Moll

„Sie sehen so glücklich aus“, bemerkt Herr Sakamoto nachdenklich. Zusammen mit seiner Frau hat er sich in eines der über 37.000 Love Hotels in Japan eingebucht, jetzt sitzt das Ehepaar …

„Sie sehen so glücklich aus“, bemerkt Herr Sakamoto nachdenklich. Zusammen mit seiner Frau hat er sich in eines der über 37.000 Love Hotels in Japan eingebucht, jetzt sitzt das Ehepaar in Unterwäsche auf einem großen Doppelbett und schaut sich einen alten Porno an, den ein ratternder Projektor an die Zimmerwand wirft. Die Sakamotos – er arbeitslos, sie Krankenschwester – sind Stammkunden im „Angelo Love Hotel“ in Osaka und gehören damit zu den mehr als zwei Millionen Japaner_innen, die Schätzungen nach täglich ein Stundenhotel besuchen.

In einem Land, in dem öffentliche Zuneigung verpönt ist und beengte Wohnverhältnisse Intimitäten zusätzlich erschweren, gehören solche Etablissements vielerorts wie selbstverständlich zum Stadtbild und gelten nicht unbedingt als anrüchig. Erwachsene aus allen Schichten und allen Altersgruppen kommen hierher, um dem Alltag für einige Stunden zu entfliehen und ihre sexuellen Bedürfnisse ungestört zu befriedigen.

Der britische Filmemacher Phil Cox und sein Ko-Regisseur Hikaru Toda gewähren mit ihrem Dokumentarfilm nun seltene Einblicke in ein Love Hotel und stellen neben einer Reihe von Gästen ebenso die Mitarbeiter_innen des kleinen Betriebs vor. Trotz einer erstaunlichen, auch körperlichen Nähe zu den Protagonist_innen sowie einiger expliziter Szenen ist der Blick dabei nie ein voyeuristischer. Fernab von triebhafter Geilheit sind die Filmemacher einem anderen Glück auf der Spur: Begleitet von einem schwärmerischen Soundtrack aus Pop-Chansons und der croonenden Stimme Dean Martins zeigt „Love Hotel“ vor allem Momente der Zärtlichkeit, Fürsorge und Nachdenklichkeit in einer von Anpassungszwang und Erfolgsdruck geprägten Welt.

Die Domina Rika erkundigt sich da etwa nach dem Fesselspiel besorgt bei ihrem Klienten, ob der denn auch gut nach Hause komme, und gibt dem unsicheren Geschäftsmann ein paar aufmunternde Lebensweisheiten à la „Niemand ist normal“ mit auf den Weg. Und der Rentner Herr Yamada, dessen Frau nicht mehr mit ihm schlafen möchte und der schon gar nicht mehr weiß, ob er überhaupt noch eine Erektion bekommen kann, sinniert beim einsamen Anschauen einer Porno-DVD über seine Vergangenheit; besonders, dass er die Frauen nicht gut behandelt hat, bereut der 71-jährige heute.

Dass hinter den Kulissen der als Boxring, U-Bahn-Abteil, Dschungel oder Pharaonengrab gestalteten Mottozimmer des Love Hotels alles mit rechten Dingen zugeht, dafür sorgt der Geschäftsführer Ozawa mit seinem Team. Zwischen Rohrpostsystem, Telefonanlage und Videomonitoren bemüht sich das Personal nach allen Kräften, um den Gästen einen möglichst komfortablen und sicheren Aufenthalt im erotischen Refugium zu ermöglichen.

Doch nicht nur die Wünsche der Kund_innen bringen die Angestellten des „Angelo Love Hotel“ in Bedrängnis, aus dem Radio dringen immer wieder beunruhigende Nachrichten an Ozawas Ohr: In einigen Nachbarschaften ist es zu Protesten von Anwohner_innen gegen Love Hotels gekommen und auch die Regierung unter Shinzo Abe setzt den Etablissements mit einer restriktiven Gesetzgebung zu, um von der rezessionsgezeichneten Wirtschaftslage Japans abzulenken.

Die ökonomische scheint sich so mit einer erotischen Krise zu verschränken, vor dem Hintergrund einer konservativer werdenden Gesellschaft werden die Love Hotels zu Orten eines (Auf-)Begehrens gegen erdrückende Normen und einen rigorosen Konformismus. Die junge Frau, die sich nicht in die für sie vorgesehene Rolle als Hausfrau und Mutter zwängen lassen will, findet im „Angelo Love Hotel“ ebenso einen Freiraum und Unterschlupf wie die beiden schwulen Rechtsanwälte, denen ein Doppelzimmer in anderen Hotels verwehrt wird.

Bisweilen mit sentimentaler Verklärung schauen Cox und Toda mit ihrem Dokumentarfilm auf ein bedrohtes, aber längst nicht verschwundenes Milieu. Was für ein Verlust das Ende der Love Hotels bedeuten würde und welch ein locus amoenus sich hier zwischen Bezahlautomaten und Roboterstimmen verbirgt, zeigen die Geschichten der Protagonist_innen dafür umso deutlicher.
Darunter ist auch die von Masa und Rumi, zwei alten Menschen, die sich im „Angelo Love Hotel“ treffen und im nervös flackernden Neonlicht des Diskozimmers einen kleinen Walzer zu tanzen. Sie sehen glücklich aus.

Die Rückkehr – The Return

(RU 2003, Regie: Andrej Swjaginzew)

Die Kraft der Versöhnung
von Wolfgang Nierlin

Gleich bei seiner Uraufführung beim Filmfestival von Venedig, wo Andrej Swjaginzews Spielfilmdebüt „The Return – Die Rückkehr“ 2003 den Goldenen Löwen gewann, wurde der nachhaltig beeindruckende Film mit den Werken …

Gleich bei seiner Uraufführung beim Filmfestival von Venedig, wo Andrej Swjaginzews Spielfilmdebüt „The Return – Die Rückkehr“ 2003 den Goldenen Löwen gewann, wurde der nachhaltig beeindruckende Film mit den Werken des russischen Filmkünstlers Andrej Tarkowskij verglichen. Wie bei seinem Vorbild und Landsmann spürt man auch bei Swjaginzew eine starke innere Haltung und einen unbedingten künstlerischen Ausdruck. Sein Film ist sorgfältig und genau gearbeitet, durch eine klare Gliederung auf das Wesentlichste konzentriert und dabei atmosphärisch dicht erzählt. Zugleich beinhaltet die realistische Fabel eine Reihe religiöser Motive, die zusammen mit dem parabolischen Geschehen verschiedene Lesarten des Films eröffnet. „Die Rückkehr“ ist aber auch ein modernes Roadmovie, das perspektivisch den Raum erschließt und erweitert und dabei eindringlich eine Geschichte vom Erwachsenwerden schildert.

„Der Film versucht zum größten Teil, einen mythologischen Blick auf das menschliche Leben zu werfen“, sagt Andrej Swjaginzew. Sieben Tage, von Sonntag bis Samstag, umfasst der Zeitrahmen der Erzählung, die mit einer Mutprobe und dem Erlebnis der Urangst beginnt und mit einem Tod endet, der den Kulminationspunkt eines Verwandlungsprozesses bildet. Zwei Brüder in der ersten Wirren der Pubertät, die im Prolog des Films entzweit werden, finden in der Auseinandersetzung und Versöhnung mit ihrem übermächtigen Vater wieder zusammen.

Dieser taucht nach jahrelanger Abwesenheit plötzlich und wie aus dem Nichts auf. „Jetzt ist er da“, heißt es über seine schiere Präsenz, die im folgenden zunehmend einer machtvollen Allgegenwart ähnelt und deren Geschichtslosigkeit sich einer Identifizierung entzieht. Allerdings wird diese Tabula rasa neben diversen Spekulationen der Kinder mit biblischen Motiven beschrieben: So zeigt ihn die erste Einstellung in Anlehnung an Andrea Mantegnas berühmtes Bild in der Haltung des toten Christus, bevor er als Familienoberhaupt und Herr des Hauses Brot und Wein austeilt. Später entdecken die beiden Brüder auf dem Dachboden in einem Buch mit Bibelillustrationen ein altes Familienfoto aus glücklicheren Tagen. Die aufgeschlagene Seite zeigt Abrahams Opferung des Isaak.

Unbedingten Gehorsam, Achtung und Respekt fordert der Vater (Konstantin Lawronjenko) auch von seinen Söhnen, die er am nächsten Tag auf eine Reise zu einer entlegenen, menschenleeren Insel mitnimmt. Mit geradezu alttestamentarischer Strenge und unnachgiebiger Autorität versucht der rätselhafte Patriarch seine Kinder zu erziehen und lebenstüchtig zu machen. Immer wieder sind die beiden gezwungen, Mut, Stärke und Selbstdisziplin zu zeigen. Während der ältere Junge Andrej (Wladimir Garin) mit stiller Bewunderung den Befehlen des Vaters folgt, lehnt sich der jüngere, traumatisierte Iwan (Iwan Dobronrawow) offen gegen ihn auf. Seine Frage nach den Motiven des Vaters bleibt unbeantwortet. Gleichwohl ist die Vater-Figur ambivalent angelegt: Hinter dem undurchdringlichen Gefühlspanzer strahlt für Augenblicke eine sorgende Liebe auf, die beschützt und teilt, Selbstvertrauen vermittelt und im Opfer versöhnt. Insofern greift Iwans Behauptung, der Vater brauche seine Kinder nicht, zu kurz. Gerade in der wechselseitigen Abhängigkeit von Lehrer und Schüler liegt für Swjaginzew die sakrale Bedeutung des Verhältnisses zwischen Vater und Sohn.

Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern

(D / AT / CH 2015, Regie: Stina Werenfels)

Sexuelles Erwachen mit Behinderungen
von Nicolai Bühnemann

„Was ist ein Mongo?“ will die achtzehnjährige Dora von ihrer Mutter Kristin wissen. Die Befragte antwortet mit einer Gegenfrage, will wissen, wo sie dieses Wort her habe, erklärt ihr, dass …

„Was ist ein Mongo?“ will die achtzehnjährige Dora von ihrer Mutter Kristin wissen. Die Befragte antwortet mit einer Gegenfrage, will wissen, wo sie dieses Wort her habe, erklärt ihr, dass niemand das Recht habe, sie so zu nennen. „Ich will nicht behindert sein!“ schreit Dora wütend, unter Tränen. Eine Schlüsselszene in Stina Werenfels‘ Film „Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern“, in dem es vielleicht vor allem anderen um eine äußerst schwierige Mutter-Tochter-Beziehung geht. Darum, dass die Tochter (Victoria Schultz) trotz ihrer geistigen Behinderung ein normales, selbstbestimmtes Leben führen möchte und darum, dass es der Mutter (Jenny Schily) aufgrund der Beeinträchtigung ihrer Tochter nur umso schwerer fällt, diesen Ablösungsprozess zuzulassen.

Dora schockiert ihre Eltern mit ihrer heftig erwachenden Sexualität. Dem Vater versucht sie einen schlabbrigen Zungenkuss zu geben. Vor der Mutter masturbiert sie in der Badewanne. Dann lernt sie Peter (Lars Eidinger) kennen. Während ihr Vater Felix (Urs Jucker) den Entwicklungen eher hilflos und passiv zusieht, versucht Kristin mithilfe der Institutionen gegen die Beziehung Doras vorzugehen, stößt dabei jedoch mehr und mehr auf taube Ohren. Wo eine erste Schwangerschaft der Tochter noch auf Drängen der Mutter abgebrochen wird, entscheidet Dora, als sie erneut schwanger wird, das – wie sich herausstellt gesunde – Kind zu behalten. Damit geht Dora auch ein Wunsch in Erfüllung, der ihrer Mutter trotz moderner Reproduktionsmedizin verwehrt bleibt, denn Kristin wünscht sich noch ein zweites Kind.

Regisseurin und Drehbuchautorin Stina Werenfels geht es merklich darum, dieser Geschichte ein Maximum an Ambivalenzen abzugewinnen. Das beginnt mit dem ersten Sex auf der Bahnhofstoilette, der – obgleich es Dora ist, die Peter hierher folgte – von einer Vergewaltigung erst einmal schwer zu unterscheiden ist. Dass das, was hier geschieht, von einem Bedürfnis der Protagonistin ausgeht, das sie treibt, ohne dass sie die Möglichkeit hätte, es ganz zu verstehen oder zu artikulieren, wird erst im Nachhinein allmählich klar. Und das endet nicht mit der Unklarheit darüber, ob der Mann, auf den Dora sich hier einlässt, nun einfach ein totales Arschloch ist oder doch nicht ganz. Wo er sich in den Gesprächen mit ihren Eltern offen feindselig bis schlicht grausam gibt, bleibt sein Verhältnis zu dem Mädchen ziemlich undurchsichtig. Was genau er von ihr will, ob es ihm nur um den Sex geht oder ihm die Ungleichheit zu seiner Partnerin ein Gefühl von Überlegenheit und Macht gibt, lässt der Film absichtsvoll offen. Immerhin entschließt er sich im entscheidenden Moment dazu, Doras Recht auf sexuelle Selbstbestimmung gegen die Übergriffe eines anderen Mannes zu verteidigen.

Wo die Institutionen, bei denen Kirstin Hilfe sucht, ihr das Bild zeichnen, dass ihre Tochter durchaus in der Lage ist, auf sich selbst aufzupassen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, lässt der Film doch Zweifel daran, ob sich Dora um ein Kind kümmern kann. In einem der schön intensiven Momente, von denen sich in der zweiten Hälfte des Films einige finden, übergießt Dora, von den Eltern per Kamera beobachtet, eine Baby-Puppe, mit der sie das Muttersein üben sollte, mit kochendem Nudelwasser. In ihrer Verzweiflung wünscht sich Kirstin, abgetrieben zu haben.

Die filmischen Mittel, die Werenfels wählt, um ihre Geschichte zu erzählen, sind einfach, aber effektiv. Die Neugier und Lebenslust der jugendlichen Protagonistin verdeutlicht der Film mit einer ausgelassen kreisenden, die Umwelt stürmisch erforschenden und ertastenden Kamera. Mit an den Rändern verschwimmenden Point of View-Shots wird die besondere Perspektive Doras akzentuiert (bei dem ersten Sex mit Peter sieht man in einer dieser Subjektiven einen erigierten Schwanz, der eigentlich ziemlich seltsam, aber doch für die neugierigen Augen der Protagonistin unendlich interessant aussieht).

Das Berlin, in dem der Film spielt, ist sorgsam von Wiedererkennungswerten bereinigt. Wo diese Allerweltstadt das Universale der Geschichte um weibliche Lebensabschnitte (Pubertät, Schwangerschaft, Menopause) unterstreichen soll, da ist es gerade die Betonung des Besonderen, was „Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ von gängigen Themenfilmen unterscheidet. Anstatt nur einen gutgemeinten Film über Sexualität bei Menschen mit Behinderung – ein immer noch weitestgehend tabuisiertes Thema – zu drehen, gelingt es ihr mit Unterstützung des gut aufgelegten Darstellerensembles um Victoria Schulz, ein sehr einfühlsames Werk vorzulegen, das seine Figuren und ihre – vielleicht hier und da etwas zu sehr psychologisch ausgedeuteten – Konflikte bedingungslos ernst nimmt.

La Buena Vida – Das gute Leben

(D / CH 2015, Regie: Jens Schanze)

Neokolonialistische Krake
von Wolfgang Nierlin

Der Förderturm einer alten Zeche wird gesprengt und fällt in sich zusammen, Hände werden geschüttelt, ein Männerchor singt zur Fördereinstellung. Im Jahre 2018 soll in Deutschland die letzte Kohlemine schließen. …

Der Förderturm einer alten Zeche wird gesprengt und fällt in sich zusammen, Hände werden geschüttelt, ein Männerchor singt zur Fördereinstellung. Im Jahre 2018 soll in Deutschland die letzte Kohlemine schließen. Gleichzeitig werden jedoch neue, hochmoderne Kohlekraftwerke in Betrieb genommen, denn Deutschland bezieht seinen Bedarf an Steinkohle mittlerweile maßgeblich aus dem Ausland, um die Stromerzeugung zu sichern. Über zehn Millionen Tonnen werden jährlich aus dem Norden Kolumbiens importiert, wo sich die Mine „El Cerrejón“, die zu den weltweit größten zählt, im Tagebau wie eine riesige Krake in die Landschaft frisst. 700 km² misst das Loch, das den gewaltigen Raubbau an der Natur als neokolonialistische Ausbeutung durch die reichen Industrienationen versinnbildlicht. Neben der zerstörten Natur- und Tierwelt ist es aber vor allem die einheimische Bevölkerung, die unter der Kohleförderung leidet, weil ihr durch erzwungene Umsiedlungen die Lebensgrundlage entzogen wird.

Zu ihr gehören auch die indigenen, noch traditionell lebenden Wayúu-Familien des Dorfes Tamaquito, deren schier aussichtslosen Kampf Jens Schanze in seinem sehenswerten Film „La buena vida“ („Das gute Leben') dokumentiert. „Wir kämpfen gegen ein Monster. Es heißt Cerrejón“, sagt einer der Aktivisten aus dem Dorf, während linientreue Konzernvertreter schönrednerisch von einer „Verbesserung der Lebensbedingungen“, vom „Projekt eures Lebens“ und von der „Verwirklichung von Träumen“ schwafeln, aber kaum mehr als leere Versprechungen machen. Dabei sind die Wayúu Selbstversorger, die sich von der Jagd und vom Ackerbau ernähren und alles haben, was sie für ihre unabhängige Lebensweise brauchen. Dagegen bietet der neue Ort mit seinen gemauerten Steinhäusern auf ödem Grund und den vermeintlichen Segnungen der Zivilisation, mit denen die Wayúu nichts anfangen können, hauptsächlich Tristesse und Entfremdung.

Jens Schanzes in einem guten Sinne parteiischer Film, der auf Interviews und Kommentare verzichtet, um stattdessen die Protagonisten in den jeweiligen Situationen sprechen zu lassen, lebt von diesen Kontrasten. Sein dialektisches Prinzip, das der inhärenten Dramatik des Umsiedlungsprozesses folgt, macht auf diese Weise die schwerwiegende Entwurzelung der Indigenás erfahrbar. Diese konfrontiert den Zuschauer letztlich mit einer ebenso grundlegenden wie folgenschweren Differenz kulturellen Verstehens; und sie stellt dabei vor allem uns, die wir „im Hellen und Warmen sitzen“, unbequeme Fragen, die unmissverständlich an unser Verantwortungsgefühl appellieren.

Beyond Punishment

(D 2014, Regie: Hubertus Siegert)

Palavern wir!
von Dietrich Kuhlbrodt

Ein deutscher Dokumentarfilm, der in drei praktischen Fällen der Frage nachgeht, was nach einem Mordprozess, nach Verurteilung, nach oder während der Verbüßung zwischen Mörder und den Angehörigen der Opfer passieren …

Ein deutscher Dokumentarfilm, der in drei praktischen Fällen der Frage nachgeht, was nach einem Mordprozess, nach Verurteilung, nach oder während der Verbüßung zwischen Mörder und den Angehörigen der Opfer passieren könnte oder sollte. Redet man miteinander? Nie? Oder doch? – Also ein psychosoziales Experiment. Patrick, der Sohn des Gero von Braunmühl, möchte gern von Birgit Hogefeld wissen, warum die RAF 1986 seinen Vater, hoher Beamter im Außenministerium, getötet hat. Sie redet nicht. Er redet mit einem anderen RAF-Mitglied namens Manfred. Klar, der Mord ist juristisch ungeklärt, und „Mord verjährt nicht“.

Keins der drei Experimente führt in diesem Film zum Ergebnis des Miteinanderredens, wohl aber dazu, den Weg intensiv mitzugehen. Der Film selbst kommentiert nicht. Er scheint das jeweilige Ergebnis selbst nicht zu kennen. Das ist spannend. Man geht mit, genauer: ich ging mit. Nach Wisconsin, nach Norwegen. Dort verschließt sich der Vater der Sechzehnjährigen einem Gespräch mit dem Jugendlichen, der seine Tochter getötet hat (aus Eifersucht). Und damit sind wir beim Paradefall (für meine Wahrnehmung des Films). Denn das Reden hätte doch was gebracht. So kommt es während dieses Experiments heraus, dass der Täter vom Opfer bis zur Weißglut gereizt worden war? Per Telefon unterrichtete sie den Eifersüchtigen laufend über den Sex, den sie grade mit dem anderen hatte. Der Fall rückt näher. Juristisch ist alles klar. Mord bleibt Mord. Aber für die Angehörigen des Opfers und für den Täter ist damit nicht alles geklärt (der Jugendliche kommt schon nach wenigen Jahren Jugendstrafe in den Ort der Tat zurück).

Mir fällt die afrikanische Tanzgruppe aus Ghana und der Elfenbeinküste ein. Sie führte im Projekt „Der internationale Gerichtshof in Strafsachen“ (Gintersdorfer/Klaßen) vor, wie in ihrer Heimat solch ein Fall gelöst wird: durch das Palaver. „Palaver“ bittschön ein positives Kriterium. Die Gemeinschaft, Täter/Opfer inklusive, redet so lange, bis eine von allen akzeptierte Lösung gefunden ist. – Sorry, ich bin vom „Beyond Justice“-Film weg, aber bin angeregt, in die Welt zu kucken. Wie war das noch mit der in Asien verbreiteten Auffassung, dass jeder seine Anteile an Schuld und Unschuld hat? Die Welt lässt sich eben nicht spalten in ja oder nein, Gott oder Teufel, Gläubige oder Ungläubige. – Ich hör auf. Palavern wir!

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 06/2015

Die Maisinsel

(GE/D/F/CZ/UNG/KAZ 2014, Regie: George Ovashvili)

Im Strom der Zeit
von Wolfgang Nierlin

Der Enguri trägt auf seinem Weg vom Kaukasus ins Schwarze Meer Geröll und Steine mit sich. Dieses angeschwemmte Land bildet immer wieder Inseln, deren fruchtbarer Boden sich für den Maisanbau …

Der Enguri trägt auf seinem Weg vom Kaukasus ins Schwarze Meer Geröll und Steine mit sich. Dieses angeschwemmte Land bildet immer wieder Inseln, deren fruchtbarer Boden sich für den Maisanbau eignet. Es sind fragile, ephemere Gebilde im Strom der Zeit, deren Existenz von den Launen der Natur abhängt. Das bedrohte, vergängliche Inseldasein besitzt in George Ovashvilis preisgekröntem Spielfilm „Die Maisinsel“ neben dieser existentiellen Dimension zwischen Werden und Vergehen aber noch eine politische: Da der Fluss zugleich eine natürliche Grenze zwischen Georgien und Abchasien bildet, an der es immer wieder zu Scharmützeln kommt, liegen die Inseln mitunter in einem gefährlichen Niemandsland, gewissermaßen außerhalb von Raum und Zeit.

Auf einer solchen Insel mitten im Strom hat Ovashvili seine sehenswerte filmische Parabel, die auf Dialoge und Schauplatzwechsel weitgehend verzichtet, angesiedelt. So besitzt das dargestellte Geschehen von Anfang an einen symbolischen Charakter und steht exemplarisch für das menschliche Dasein. Dabei unterstreichen die ästhetisierende Fotografie des erfahrenen Bildgestalters Elemér Ragályi, die Inszenierung elementarer Vorgänge sowie die Kreisstruktur des Films auf eindrucksvolle Weise diese Überhöhung.

Ein alter Abchase (Ilyas Salman), der im Frühjahr in seinem Kahn das Eiland erreicht, prüft und gleich für sich beansprucht, beginnt bald darauf, dieses zu bebauen und fruchtbar zu machen. In mühevoller Handarbeit errichtet er eine wohnliche Holzhütte mit Binsendach, kultiviert die Erde und sät Mais aus, was der Film minutiös und ohne Worte zeigt. Dabei wird er von seiner minderjährigen Enkeltochter (Mariam Buturishvili) unterstützt, einer grazilen, zarten, sehr mädchenhaften Erscheinung, deren sommersprossige Schönheit und kontrolliert abgezirkelten Bewegungen, aus denen auch die Unsicherheit ihres Alters spricht, nicht so recht in die raue Szenerie zu passen scheinen oder diese zumindest kontrastieren.

Tatsächlich geht es George Ovashvili auch mit dieser Figur primär um einen symbolischen Gehalt, indem er etwas gezwungen und mit einem leicht geschmäcklerisch-voyeuristischen Blick das sexuelle Erwachen des Mädchens mit dem Reifen des Maises parallelisiert. Im Verlauf dieses Prozesses wird die Insel zum Refugium und bald auch zum Versteck für einen verwundeten georgischen Soldaten, dessen begehrliche Blicke auf die unschuldige Neugier des Mädchens treffen. So geraten Liebeshoffnungen und Landwirtschaft zwischen die Fronten. Doch geht es dieser mitunter etwas zu forcierten und manchmal auch zu schönen Beispielerzählung nicht um Realismus, sondern um einen humanistischen, überzeitlichen Kern, der im schrecklichen Ende bereits als Samen für einen Neuanfang keimt.

Der Knastcoach

(USA 2015, Regie: Etan Cohen)

Weißer Arsch in Angst
von Drehli Robnik

Will Ferrell wird alt. Das ist für einen Filmkomiker an sich kein Problem; Hans Moser oder Louis de Funès wurden mit fünfzig erst warm. Bei dem 2013 gar vom Wiener …

Will Ferrell wird alt. Das ist für einen Filmkomiker an sich kein Problem; Hans Moser oder Louis de Funès wurden mit fünfzig erst warm. Bei dem 2013 gar vom Wiener Filmfestival Viennale mit Retro und Gala-Auftritt gewürdigten und ja auch tatsächlich sehr superen Ferrell aber ist unklar, wie’s nun weitergehen soll: Sein seit gut zehn Jahren angestammtes Rollenfach – Machokind, das so rücksichtslos wie selbstmitleidig seine Bubengelüste auslebt – wird ihm langsam eng und der damit verbundene Slapsticklevel unhaltbar. Geht’s nun weiter mit more of the same, nur schwächer wie in 'Anchorman II'? Mit Hirnsausenskonzeptkomik wie im Genre-Spanisch von 'Casa de mi padre'? Oder formlos, aber durchaus nicht reizlos wie in 'Get Hard'?

Statt des Supertyps nah am Wasser gibt Ferrell da den gezierten Zyniker: einen Kapitalanlageexperten mit Eliteuni-Ausbildung, vornehmen Manieren und einem Tageseinkommen von ,,enough money to choke a baby'. Als ihm nach einer Betrugsanklage eine Haftstrafe droht, hat er Angst, als Softie im Häfen (so heißt der Knast auf Wienerisch) ständig durchgestrudelt zu werden; also engagiert er zwecks Vorbereitung auf harte Zeiten und Schwänze, die da auf ihn zukommen, einen 'Knastcoach' (so der Synchrontitel, in Ösistan nicht als 'Häfencoach' im Verleih). Hartwerden ist auch nur ein Werden: Das lehrt ihn nun also sein Trainer.

Zweierlei Panik wird da reflexiv ausgestellt (nicht ausagiert, das ist wichtig): homophobe Arschfickangst und vor allem Projektionen von White America auf people of color. Das weiße Weichei mit dem aus lauter Klassendünkel harten Herzen ist überzeugt davon, dass sein schwarzer Autowäscher Gang- und Knasterfahrung hat; also steigt der biedere Reinigungskleinunternehmer und Familienvater, froh über den Coachingjob bei dem reichen Klienten, auf das ihm zugeschriebene Blackness-Gangster-Stereotyp ein und spielt seinerseits die Rolle dessen, der so badass-mäßig hart ist, dass er einen Villenbewohner optimal auf dessen Gangster-Rollenspiel vorbereiten kann.

Es folgt eine lange Montagesequenz von einem Film: Anekdotisches in improvisierten Dekorationen mit dem hauseigenen Tennisplatz als Gefängnishof, dem Weinkeller als Einzelzelle, simulierter prison riot mit Strobo-Licht etc. Weiters allerlei Roleplaying (auch mit dem Latino/Latina-Hauspersonal), das nicht immer wahnsinnig lustig ist, sowie manch luzide rassismuskritische Pointe. Es wird gemunkelt, die Vorstellung seitens weißer Amis, ihre schwarzen Mitbürger, zumal männliche, seien sämtlich kriminell, gefährlich und entsprechend vorauseilend hart zu behandeln, gäbe es wirklich – an sagenumwobenen Orten wie Ferguson oder Baltimore. Jedenfalls: Die Szene, in der Ferrell am Steuer seines fetten Wagens vor Selbstviktimisierungspanik endlos ausflippt, als sein Autowäscher im Büroparkhaus an sein Seitenfenster klopft, um ihn was zu fragen, hat fast soviel Format und Verdichtungsqualität wie der lakonische Gag in dem tollen Will Ferrell-Mark Wahlberg-Vehikel 'The Other Guys' (2010), als zwei weiße Cops (nochmal zwei andere, nicht die Titelhelden) in einer Schule den Kindern Lebensratschläge geben und dabei meinen: 'You wanna know how to stay out of prison? Try your best not to be Black or Hispanic! That’s good advice!'

'Get Hard' hat einen gedoppelten Personality-Makeover-Plot, und das im Titel benannte Hartwerden hat hier gar dreierlei Sinn: Es bezieht sich auf die Kultivierung eines Herzens aus Stein (oder Gold, weil Gold in Euro-Krisen-Zeiten mehr wert ist als Stein), auf das Einüben eines Kämpferhabitus‘ – und schließlich auf das mühsame Performen maskuliner Geilheit, ob nun anfangs mit der Tochter vom Chef (samt Ferrells bzw. seines butt doubles Popo-Print auf der Glasscheibe zur Veranda) oder später beim Fellatiotraining im Brunft-Brunch-Bistro. Das coachende Gegenüber des baumlangen Ferrell wird gespielt von Kevin Hart, einem Mann mit passendem Namen und passendem Kleinwuchs. Der Regisseur des Films hat am tollen 'Tropic Thunder' mitgeschrieben, heißt Etan Cohen und meint das vielleicht auch noch ironisch.

Das alles gibt schon was her: zwar nicht enough to choke baby, aber es reicht bis zum Capoeira-Showdown. Und der ist zwar nicht auf dem Spitzenniveau von 'Blades of Glory' oder 'Stepbrothers', aber was soll’s; 'Cititzen Kane' kommt auch nicht alle fünf Jahre. Das moralische Einmünden in Family- und Familien-Kleinkapital-Values ist verzichtbar. Der hässliche Look des Films – Ferrells Hausregisseur Adam McKay hätte sowas nie zugelassen – geht zur Not als Nineties-Retro durch, Ferrells rötlich aufgedunsene Haut als eine Form subtiler grossout-Komik mit Whiteness-satirischer Note.

High Performance – Mandarinen lügen nicht

(A 2014, Regie: Johanna Moder)

Phlegmatisch konzentriert
von Manfred Riepe

Daniel ist schon über 30, hat aber immer noch keine feste Arbeit. Tagsüber probt er mit einer ambitionierten Off-Theatergruppe, deren Inszenierungen mit ihrer prätentiösen Kunstbeflissenheit ein echter Hingucker sind. Um …

Daniel ist schon über 30, hat aber immer noch keine feste Arbeit. Tagsüber probt er mit einer ambitionierten Off-Theatergruppe, deren Inszenierungen mit ihrer prätentiösen Kunstbeflissenheit ein echter Hingucker sind. Um sein Leben für diese ästhetisch ziellose Selbstverwirklichung zu finanzieren, jobbt Daniel in der Markthalle. Das macht müde. Leider wird sein wohlverdienter Schlaf gestört durch ohrenbetäubendes Getrommel. Die Nachbarn zelebrieren einen „angemeldeten Workshop“. Herzlich, aber kompromisslos weisen sie ihn darauf hin, dass ihnen sein Ruhebedürfnis völlig egal ist.

Die furiose Eröffnungs-Szene versetzt einen scheinbar zurück in die 80er Jahre, als Neue Innerlichkeit, tiefenentspanntes „Loslassen“ und das Bauchgefühl angesagt waren. Johanna Moders Debüt spielt jedoch im Wien der Gegenwart. Die abgestandene Esoterik ist schon wieder (oder immer noch?) in Mode. Von Anfang an besticht ihr Film durch seinen klaren, wachen Blick. Gesten, Rederituale und die Wohnsituation dieser Neohippies werden glasklar herausgeschält. Obwohl Daniel mit seiner Adidas-Jacke und seinem Billig-Rucksack selbst wie ein alternativ bewegter Bohemién erscheint, will er mit den ideologisch vernagelten Psychos nichts zu tun haben. Auf der anderen Seite hat er aber auch keinen Draht zur schnieken Geschäftswelt seines Überflieger-Bruders Rudi (Manuel Rubey), in dessen IT-Unternehmen diese zwanghaft entspannte Atmosphäre herrscht, die man aus Reportagen über die Mitarbeiter von „Google“ oder angesagten Werbeagenturen kennt.

Marcel Mohab glänzt in der Rolle dieses ebenso verpeilten wie selbstgefälligen Möchtegern-Schauspielers, der noch nicht realisiert hat, dass er ein Loser ist. Mit seiner nervösen, unterschwellig arroganten und eine Spur zu selbstgefälligen Art eckt er permanent an. Es scheint zunächst, als würde der Film aus seiner Perspektive erzählt, die man gerne einnimmt: Von seinem alerten Bruder Rudi hat Daniel sich eigentlich ziemlich entfremdet. Den Job, den dieser ihm inständig aufdrängt, will er zunächst gar nicht annehmen. Wie es scheint, sucht Daniel händeringend nach einem Rhetorik-Lehrer, der einer seiner Top-Mitarbeiterinnen beibringt, sich und das Firmenprodukt besser zu vermarkten. Wer sollte für dieses Sprechtraining besser geeignet sein als der „professionelle“ Schauspieler Daniel? Als dieser zu verstehen glaubt, dass er eigentlich nur herausfinden soll, ob die aparte Nora (Katharina Pizzrea) ein libidinöses Interesse an Rudi hat, bricht das Eis zwischen den Brüdern. Daniel fühlt sich gebraucht und nimmt den Job an. Dabei verguckt er sich, wie sollte es anders sein, selbst in Nora – und steckt nun tief in einem Konflikt zwischen seinen Gefühlen und der Loyalität zum älteren Bruder.

Der Plot kommt einem bekannt vor. Das sinnentleerte Klischee der Liebeskomödie über zwei unterschiedliche Brüder, die sich in dieselbe Frau vergucken, bildet nur den doppelten Boden in diesem Film, der nicht zufällig „High Performance“ heißt. Mit dieser Floskel aus der Computerbranche bezeichnet Rudi einmal seine Mitarbeiterin Nora. Sie ist nicht die, für die Daniel sie hält. Sie verkörpert die heimliche Hauptfigur dieser Komödie, in der es nebenbei auch um Software, Energieeffizienz und Computerspionage geht. Bei einem Psycho-Spiel, in dem eine Mandarine von Hand zu Hand wandert, erklärt Nora, sie würde ständig eine Maske durch eine andere ersetzen. Es dauert eine Weile, bis man verstanden hat, dass sie mit der Wahrheit lügt.

Die immer einen versteckten Akzent setzende Katharina Pizzera verkörpert weder das passive Objekt der Begierde noch eine Projektionsfläche für Männerphantasien. Johanna Moder rückt die vermeintlich unscheinbare Figur immer mehr ins Zentrum, ohne das Klischee des „Frauenfilms“ zu bedienen. Dabei pflegt die Regisseurin einen erfrischend eigenwilligen, beinahe spröden Stil. Es entsteht immer der leicht irritierende Eindruck, als würden die Figuren nicht ganz nach Drehbuch spielen, als würden sie ihre Rollen mit einem phlegmatischen Touch improvisieren. Die sperrig anmutende Inszenierung erinnert ein wenig an Rudolf Thome. Im Gegensatz zu den gewöhnungsbedürftigen Werken des dienstältesten deutschen Autorenfilmers, in dem Figuren abstrakte Behauptungen bleiben, schließt man die liebenswürdig beobachten Charakteren in „High Performance“ rasch ins Herz. Sogar die erleuchteten Esoteriker – die man zwischendrin erwürgen könnte – sind am Ende weniger unterbelichtet als vermutet. Nicht zu vergessen, der gelungene Einsatz von Filmmusik, die eine dramaturgisch wichtige Funktion erfüllt. Aufgrund des (leider nicht untertitelten) Wiener Akzents der Darsteller muss man als nicht österreichischer Zuschauer die Ohren spitzen. Das kann nicht ganz verkehrt sein. Immerhin erhielt der unterschwellige Computer-Thriller den Publikumspreis des Max-Ophüls-Festivals.

Heli

(MEX 2013, Regie: Amat Escalante)

Gott im Land der Verdammten
von Ricardo Brunn

Eine Volkszählung zu Beginn des Filmes gibt nüchtern Auskunft über die Welt des Protagonisten. Heli lebt mit seinem Vater, seiner Schwester Estela, seiner Freundin und seinem kleinen Sohn in einer …

Eine Volkszählung zu Beginn des Filmes gibt nüchtern Auskunft über die Welt des Protagonisten. Heli lebt mit seinem Vater, seiner Schwester Estela, seiner Freundin und seinem kleinen Sohn in einer Zwei-Zimmer-Hütte mit Wellblechtür auf dem mexikanischen Land. Arbeit haben die beiden Männer des Hauses im nahe gelegenen Automobilwerk. Kühlschrank ist vorhanden, Waschmaschine nicht. Mehr gibt es für das Protokoll und über das Leben kaum zu sagen.

Die Nüchternheit dieser Bestandsaufnahme zieht sich durch den Film und seine Erzählung wie ein roter Faden. Mit bestechender Erzählökonomie entwirft Amat Escalante in seinem dritten Langspielfilm dabei ein Bild des mexikanischen Landlebens, das gezeichnet ist vom Erodieren des Machtgefüges und der Umkehrung aller Werte durch die Herrschaft der Drogenkartelle. Es ist eine Welt, in der richtiges Handeln mit der Logik einer mathematischen Gleichung Bestrafung nach sich zieht.

Als Estelas Freund Beto eines Tages Drogen im Wassertank auf dem Dach von Helis Haus versteckt und diese die Leitung zur Dusche verstopfen, handelt Heli instinktiv richtig und vernichtet das gesamte Paket. Doch schon wenig später werden Beto, Heli und Estela von der Spezialeinheit, für die sich Beto zum Drogenpolizisten ausbilden lässt und die gleichzeitig für ein Drogenkartell arbeitet, gefangen genommen. Ganz egal, für welche Seite man arbeitet: wer Drogen vernichtet, vernichtet Geld. Deshalb ist es für die beiden Jungen an der Zeit „Gott im Land der Verdammten“ kennenzulernen.

Dass es in diesem Land Gott, und damit eine gesellschaftliche Ordnung, allenfalls noch als aus Zeitungen und Katalogen ausgerissene und ausgeblichene Chiffre gibt, die Wände und Türen ziert, macht Escalante mit der anschließenden Folterszene mehr als deutlich. Die „Gäste“ werden ins Heim getragen. Die Kinder räumen die Playstation, auf der kurz zuvor noch ein blutiges Action-Spiel gezockt wurde, beiseite und an der Decke wird ein Fleischerhaken befestigt. Auf dem Sofa finden alle Platz, im Hintergrund geht die Mutter in der Küche ihrer Arbeit nach als würde sie von all dem nichts mitbekommen und das Video des Martyriums soll anschließend auf Youtube gestellt werden.

Die Natürlichkeit in der Verwandlung des Wohnzimmers in eine Folterkammer ist es, die die Gewalt hier unerträglich macht und mit einem Mal verdeutlicht, dass die Eroberung des sozialen Raumes durch die Gewalt und die Auflösung des sozialen Gefüges untrennbar miteinander verbunden sind. Die erwachsene Mutter wird infantilisiert, indem ihr nur ein Nebenraum zugewiesen und jede erzieherische Rolle abgesprochen wird. Folterer und Opfer sind hingegen Minderjährige, die die Rollen von Erwachsenen einnehmen. Die so entstehende Verkehrung von Erwachsenen und Minderjährigen mündet in eine Unterschiedslosigkeit, die ein steigendes Gefühl der Verantwortungslosigkeit bewirkt. Die Sorge für einander, deren Basis eine klare Unterscheidung zwischen Eltern und Kindern ist und damit Erziehung und Identifikation mit gesellschaftlichen Werten und Moralvorstellungen erst ermöglicht, wird in „Heli“ kühl suspendiert.

Auf eine extrem kurze Kindheit folgt die erbarmungslose Welt der Erwachsenen: Protagonist Heli ist in seiner Rolle als viel zu junger Vater mit seinem Sohn offensichtlich überfordert. Seine zwölfjährige Schwester redet mit ihrem Freund Beto – der sich zwar bei der Polizei in Ausbildung befindet, jedoch selbst noch fast ein Kind ist – bereits übers Heiraten. Und gerade in der Unbeholfenheit ihrer Küsse zeigt sich der ganze Widerspruch, der die Bilderwelt von „Heli“ beherrscht.

Das frühzeitige Erwachsenwerden der Minderjährigen ist ein Resultat der strukturellen Unmündigkeit der Eltern. Die in den Nebenraum verbannte Mutter in der Folterszene bringt dies ebenso zum Ausdruck, wie Helis Vater, dessen Aufmerksamkeit nach der Arbeit vor dem Fernseher vollständig absorbiert wird, und der somit als Familienoberhaupt ausgedient hat. Aus dieser sozialen Unfähigkeit, Mündigkeit zu entwickeln, entsteht eine mangelnde Bindung an die Dinge der Welt, eine Bewusstlosigkeit gegenüber dem Leben, in der selbst das Wünschen zu groben Trieben (Helis unbeholfene Versuche mit seiner Freundin zu schlafen) verkümmert.

So ist dann auch den Bildern, ähnlich den Blicken der Kinder, die das Folter-Video aufnehmen, ein Tausend-Yard-Starren angesichts eines Lebens im permanenten Ausnahmezustand tief eingebrannt. „Heli“ ist demnach mehr als nur ein Film über die zerstörerische Kraft der Drogenkartelle, denn diese lassen sich problemlos durch zentrale Institutionen unserer Konsumgesellschaft ersetzen.

Hin und wieder überspannt der Regisseur den visuellen Bogen zwar und lässt einige Szenen ins Groteske und Surreale abgleiten, was einen Pakt mit dem allzu Gewollten offenbart. Doch es ist – und darin liegt die Stärke des Filmes – vollkommen gleich, was geschieht, Figuren und Kamera nehmen jede Entwicklung und jede noch so absurde Übertreibung mit stoischer Indifferenz hin. So bleibt sogar ein Akt der Selbstjustiz gegen Ende des Filmes seltsam leer und unbefriedigend und zwingt den Zuschauer gerade dadurch, eine Position zum Gezeigten einzunehmen.

Fassbinder

(D 2015, Regie: Annekatrin Hendel)

„Gegen den Staat, gegen Krieg, gegen Gewalt!“
von Ulrich Kriest

„Jetzt wird er zum Mythos verklärt“, kommentierte Hans-Jürgen Syberberg die Nachricht vom Tod Rainer Werner Fassbinders. Es gab viele betroffene Nachrufe, aber auch viel Material für die sensationslüsterne Boulevardpresse: Fassbinder, …

„Jetzt wird er zum Mythos verklärt“, kommentierte Hans-Jürgen Syberberg die Nachricht vom Tod Rainer Werner Fassbinders. Es gab viele betroffene Nachrufe, aber auch viel Material für die sensationslüsterne Boulevardpresse: Fassbinder, ein Zyniker, der mit Menschen wie Marionetten spielte, der Intrigen inszenierte und nebenbei auch noch Filme drehte, kurzum, „Fassbinder, das geniale Monster“ (so eine Artikelüberschrift). Zwei Jahre nach seinem Tod scheint es an der Zeit, dieses Bild zu revidieren“, schrieb Michael Töteberg 1984 in seinem Vorwort zu der von ihm herausgegebenen Essaysammlung Fassbinders mit dem Titel „Filme befreien den Kopf“. Warum sind diese Sätze plötzlich wieder aktuell? Weil Fassbinder in diesem Jahr 70 Jahre alt geworden wäre. Was sich der Kulturbetrieb nicht zweimal sagen lässt.

Was zwischenzeitlich geschah: Als Rainer Werner Fassbinder am 10. Juni 1982 in München starb, war er gerade 37 Jahre alt geworden. Er hinterließ ein Werk von 44 Filmen, gedreht fürs Kino und fürs Fernsehen, zahlreiche Theater-Arbeiten, Auftritte als Schauspieler in Filmen Dritter, allerlei Interviews und auch verstreut Publiziertes zu u.a. Douglas Sirk oder Claude Chabrol – alles entstanden zwischen 1966 und 1982. Er hinterließ auch ein über die Jahre gewachsenes Team von engen Mitarbeitern und Schauspielern, über dessen interne Dynamiken und Abhängigkeiten in den folgenden Jahren immer wieder einiges zu lesen war. Schon zu Lebzeiten war der Produktionsfuror Fassbinders begleitet von Skandalen. Erinnert sei hier nur an die offen gelebte Homosexualität, die offen gelebte Drogensucht, den Fassbinder-Beitrag zu „Deutschland im Herbst“ oder die Antisemitismus-Vorwürfe um „Die Stadt, der Müll und der Tod“.

Im Pressetext zu Annekatrin Hendels Dokumentation „Fassbinder“ findet sich der Satz: „Kein deutscher Filmregisseur war umstrittener, produktiver und besessener als Rainer Werner Fassbinder.“ Superlative für den Boulevard. 33 Jahre ist Fassbinder jetzt tot. Hierzulande hat er, abgesehen vielleicht von Oskar Roehler, keine Nachfolger gefunden, jedenfalls keine Schule gebildet. Im Ausland könnte man „Fassbinder“ in den Filmen von Ozon, Dolan oder auch von von Trier finden. Die großen Retrospektiven liegen lange zurück. Fassbinder findet in den Kinos und im Fernsehen kaum einmal statt, aber immerhin hat sich die „Fassbinder Foundation“ erfolgreich darum bemüht, die Filme auf DVD zumindest für den Hausgebrauch verfügbar zu halten. Kürzlich kam Schlöndorffs Brecht-Verfilmung „Baal“ mit Fassbinder in der Titelrolle, jahrelang von den Brecht-Erben unter Verschluss gehalten, doch noch auf DVD heraus und setzte den Namen Fassbinder mal wieder kurz auf die Tagesordnung. Und jetzt eben postum der 70. Geburtstag! Eine Ausstellung wird es Berlin geben. Und sonst? Kleines Familienalbum gefällig?

Einen eher erstaunlichen Zugang hat Annekatrin Hendel („Vaterlandsverräter“, „Anderson“) für ihre filmische Recherche gewählt: sie glaubt, dass hinreichend Material vorhanden ist, um den „Filmrebellen“ (Pressematerial) Fassbinder selbst seine Geschichte erzählen zu lassen, „indem sie autobiographische Elemente seiner Werke mit bisher unveröffentlichten Passagen aus seinem schriftstellerischen Frühwerk und Selbstzeugnissen seltener Interviews miteinander verschweißt“ (Pressematerial). Das klingt interessanter, als das Resultat aussieht. Denn Hendel, geboren 1964 in Ost-Berlin, begeht ein weiteres Mal den Fehler, Fassbinders Filme durch seine Biographie und seine Biographie durch die Filme erhellen zu wollen, was nur zur Tautologie führen kann.

Chronologisch wird Fassbinders Karriere von den Anfängen im Action-Theater aufgerollt und dazu werden die üblichen Verdächtigen, sofern noch am Leben, nach Anekdotischem befragt. So plaudern dann Hanna Schygulla, Irm Hermann, Harry Baer, Hark Bohm, Volker Schlöndorff, Günter Rohrbach, Margit Carstensen, Fritz Müller-Scherz, Wolf Gremm und schließlich auch Juliane Lorenz aus dem Nähkästchen. Manchmal hört man die Filmemacherin aus dem Off staunen, was es da alles zu hören gibt. Hauptsächlich Küchenpsychologie: Fassbinder war ja ein Unterdrücker, ein Manipulator, ein Bürgerschreck und stets schlecht gelaunter Rockstar, aber auch ein Engel, der Glanz in so manche Biografie gebracht hat. Er hätte bestimmt gerne richtige Liebesfilme gedreht, hätte er eine glücklichere Kindheit gehabt. Weil dem leider nicht so war, drehte er Filme über sadomasochistische Machtspiele.

Geht es darum, wie Fassbinder das Anti-Theater usurpierte, dann erklären zwei Zeitzeugen, dass dem so war und ein Ausschnitt aus „Fontane: Effi Briest“ scheint den Befund gleich auszusprechen und über Bande zu bestätigen. Geht es darum, dass Fassbinder eine gewisse Laxheit bei Steuerzahlung und Buchführung nachgesagt wird, folgt eine Einstellung, die Fassbinder in einem amerikanischen Sportwagen zeigen. Geht es darum, wie Fassbinder Baer einmal in Paris in eine Schwulensauna lockte, wird eine Schwulensauna aus „Faustrecht der Freiheit“ gezeigt. Und wenn es darum geht, ein Beispiel für die Verzahnung der Fassbinder-Filme zu geben, dann folgt zuverlässig die Erinnerung, dass Margarethe den Plot von „Angst essen Seele auf“ bereits in „Der amerikanische Soldat“ erzählt hatte, allerdings – und das wird hier vergessen – mit einer anderen Pointe. Einmal gibt Margit Carstensen zu Protokoll, dass sie erst spät erfahren habe, dass „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ (auch) eine leicht verschobene Darstellung von Fassbinders Beziehung zu Günter Kaufmann gewesen sei. Hendel friert das Filmbild an einer Stelle ein und verdeutlicht die Übertragung mithilfe der Animation.

Am deutlichsten tritt die konzeptionelle Schwäche des Films zutage, wenn es um das Schicksal von El Hedi Ben Salem »nach Fassbinder« geht. Fassbinders Geliebter und Hauptdarsteller in „Angst essen Seele auf“ sei schließlich in einem französischen Gefängnis ermordet worden. Im Film wird gemunkelt: „Ich weiß nicht, was aus ihm geworden wäre, wenn er in seiner Umgebung einfach geblieben wäre.“ Herrje! Es mag ja durchaus sein, dass Fassbinder sein Privatleben als Material für seine Filme genutzt hat, aber er hat vielfach verschränkte und variierte Abstraktionen doch immer auch auf die Gesellschaft darum herum verallgemeinernd bezogen und wurde dadurch zum Chronisten der west-deutschen Gesellschaft.

Um es mit Thomas Elsaesser zu formulieren: „Der entscheidende Punkt bleibt bei den biografischen und psychoanalytischen Ansätzen ausgeblendet, vielleicht, weil man ihn als selbstverständlich voraussetzt: Was Fassbinder in erster Linie interessant macht, sind seine Filme, ihre emotionale Resonanz und ihre zeitbezogenen Themen.“ Fraglich, ob man diese Dimension in den Blick bekommt, wenn man den Filmemacher auf die Couch legt. Zumal Fassbinder ja selbst öffentlich immer wieder Spuren in diese Richtung gelegt hat. Häufig – und hier auch zu sehen – mit lausbubenhaftem Charme, wenn er zu Protokoll gibt, dass sein Anti-Theater sich „gegen den Staat, gegen Krieg und gegen Gewalt“ richte. Noch fraglicher aber, ob man mit dem Ausbreiten von – älteren Zuschauern eh längst bekannten – Klatschgeschichten der Vermittlung des Fassbinderschen Werkes an eine jüngere Generation dient. Hier macht sich das Fehlen von Filmhistorikern, –kritikern oder auch anderen Regisseuren jenseits von Hark Bohm und Volker Schlöndorff schmerzhaft bemerkbar, weil der Film in der gewählten Form doch sehr oberflächlich bleibt.

Die selbstzerstörerischen Kollektiv-Experimente der 60er und 70er Jahre und ihr Zusammenhang mit den politischen Auseinandersetzungen jener Zeit sind mittlerweile dann doch in eine historische Ferne gerückt, die heutigen Zuschauer eher obskur oder bizarr erscheinen. Fassbinder hat ein folgendes Bild entworfen: „Ich möchte ein Haus mit meinen Filmen bauen. Einige sind der Keller, andere die Wände, und wieder andere sind die Fenster. Aber ich hoffe, daß es am Ende ein Haus wird.“ 33 Jahre nach dem Tode des Architekten wäre eine Hausbesichtigung aus der Distanz dringend angezeigt gewesen; das Aufwärmen alter Klatschgeschichten ist dagegen nicht sonderlich produktiv.

Heute gehe ich allein nach Hause

(BR 2014, Regie: Daniel Ribeiro)

Federnde Leichtigkeit
von Wolfgang Nierlin

So leicht und entspannt wie sich die beiden Jugendlichen in der Eingangsszene an einem Swimmingpool fläzen, um sich im freundlich wärmenden Sonnenlicht den aktuellen Wert auf ihrer persönlichen „Faulheitsskala“ mitzuteilen, …

So leicht und entspannt wie sich die beiden Jugendlichen in der Eingangsszene an einem Swimmingpool fläzen, um sich im freundlich wärmenden Sonnenlicht den aktuellen Wert auf ihrer persönlichen „Faulheitsskala“ mitzuteilen, so unangestrengt und natürlich wirkt auch Daniel Ribeiros preisgekröntes Spielfilmdebüt „Heute gehe ich allein nach Hause“ („Hoje eu quero voltar sozinho“). Die Kamera erfasst die rechtwinklig angeordnete Szenerie dabei aus der Vogelperspektive und etabliert damit auf sanfte Weise jenen Konflikt zwischen zärtlicher Nähe und freiheitsliebender Distanz, der sich im Hinblick auf seine Hauptfigur leitmotivisch durch den Film zieht. Denn zwar ist Leonardo (Ghilherme Lobo) von Geburt an blind, trotzdem oder gerade deshalb wünscht sich der sympathische Teenager aber vor allem Normalität. Wie seine Freunde befindet er sich in einem Alter, in dem Verstand und Sinne nach Selbständigkeit streben. Und das bedeutet für Leo vor allem, sich gegen seine zwar einfühlsamen, aber eben auch sehr besorgen und kontrollierenden Eltern zur behaupten.

Seine beste Freundin Giovana (Tess Amorim), die heimlich in ihn verliebt ist, kultiviert auf ihre Weise diesen Beschützerinstinkt. Dass sie meistens das vergitterte Tor zu Leos gutbürgerlichem Elternhaus aufschließt, spricht diesbezüglich eine deutliche Sprache. Andererseits signalisiert der relative Wohlstand der brasilianischen Mittelschicht, in dem Ribeiros humorvolles Pubertätsdrama situiert ist, eine unverkrampfte, fast selbstverständliche Offenheit. In ihr wächst nicht nur sehr behutsam Leos Freundschaft zu Giovana, sondern mit der ersten Liebe wird auch Leos Sexualität geweckt. Dass diese zunächst übers Ohr vermittelt wird, ist naheliegend, zumal der blinde Jugendliche ein Freund klassischer Musik ist. Denn dass sich Leo in seinen neuen Klassenkameraden Gabriel (Fabio Andi) verliebt, der lieber Belle and Sebastian hört, verstärkt nur noch die gegenseitige Anziehung.

Daniel Ribeiros Film „über das sexuelle Erwachen eines blinden Teenagers“, der im Grunde die Ausarbeitung seines zuvor mit gleicher Besetzung entstandenen Kurzfilms „Eu não quero voltar sozinho“ (dt. „Ich möchte nicht allein zurückgehen“) ist, bezieht die sexuelle Orientierung seiner Helden allerdings primär auf die „universelle Geschichte“ des Erwachsenwerdens. Nicht zuletzt daraus resultiert die ebenso große wie selbstverständliche Freiheit des Films, der den noch unsicheren Schritten seiner Helden immer wieder eine federnde Leichtigkeit verleiht und sie durch innere und äußere Konflikte hindurch ermutigt, ihren eigenen Weg zu gehen.

Mülheim – Texas: Helge Schneider hier und dort

(D 2015, Regie: Andrea Roggon)

Charmant blödelnde Selbstinszenierung
von Nicolai Bühnemann

„Die Freiheit muss man sich nehmen. Tschüss!“, sprach er, stand mitten im Interview auf und ging, den schwarzen, leeren Sessel allein im Bild zurücklassend. Nur eine kurze Szene in Andrea …

„Die Freiheit muss man sich nehmen. Tschüss!“, sprach er, stand mitten im Interview auf und ging, den schwarzen, leeren Sessel allein im Bild zurücklassend. Nur eine kurze Szene in Andrea Roggons Film „Mülheim – Texas: Helge Schneider hier und dort“, die belegt, dass es ein schwieriges Unterfangen ist, einen Dokumentarfilm über Helge Schneider zu drehen. Unübersichtlich ist das Schaffen des Jazz-Musikers, Komikers, Kabarettisten, Filmemachers, Theaterregisseurs, Entertainers und Autors Helge Schneider. Fünf lange, nun ja, Spielfilme hat er seit 1993 vorgelegt, unzählige Bücher geschrieben und Platten aufgenommen, in diversen Bands gespielt und immer noch geht er regelmäßig auf Tour. Obwohl schon seit den Siebzigern aktiv, entwickelt sich erst in den Neunzigern ein recht rätselhafter Hype um Schneider, der seine sehr eigene Mischung aus Klamauk, abstrusem Humor und Jazz-Klängen in den Mainstream holte, wo er sich jedoch nie ganz heimisch fühlte.

Es ist Regisseurin Andrea Roggon hoch anzurechnen, dass sie gar nicht erst versucht, dieses ausufernde Werk zu erschließen. Archivmaterial gibt es in ihrem Film eher wenig. Eine der Ausnahmen sind einige Szenen aus Werner Nekes‘ „Johnny Flash“, in dem Schneider 1986 seine erste Hauptrolle spielte. Nekes habe ihm eingebläut, erinnert sich Schneider, bloß nicht in Gelächter auszubrechen, weil das die Einstellung ruinieren würde und das Filmmaterial teuer sei. In Schneiders eigenen Filmen, allen voran seinem Debüt „Texas – Doc Snyder hält die Welt in Atem“, nimmt sich Schneider auch die Freiheit, ordentlich verlachte Takes einfach in den fertigen Film zu integrieren. Und eine der schönsten Szenen von „Mülheim – Texas“ zeigt die Gesichter herzlich lachender Menschen bei einem Auftritt des Komikers.

Roggon beobachtet Schneider im Studio, auf der Bühne, beim Malen und bei den Dreharbeiten zu seinem letzten Film „00 Schneider – Im Wendekreis der Eidechse“. Unter den Konzertszenen fand ich die besonders toll, in denen Schneider am Klavier die wunderbare Beatbox-Musikerin Butterscotch begleitet, die auch einen kurzen Auftritt in seinem letzten Film hatte. Es offenbart sich hier, wie anschlussfähig für neue Einflüsse das System Helge Schneider ist, ohne dass es dadurch jemals seinen ganz eigenen Stil verleugnen würde. Bei Proben offenbart Schneider, der, zumindest was sein filmisches Schaffen anbelangt, eher als genialer Dilettant bekannt ist, seine perfektionistische Seite.

„Unterwegs“ lautet einer der Zwischentitel, die den Film gliedern und tatsächlich zieht es sich leitmotivisch durch den Film, dass Helge on the road zu sehen ist. Im Auto auf den Straßen Mülheims. Auf dem Motorrad mit Beiwagen in einer Wüstenlandschaft irgendwo am Mittelmeer. Auf dem Traktor, mit dem er bei dem Versuch, einen Wohnwagen zu ziehen, einen zirkusreifen Stunt hinlegt. Mit dem Paddelboot auf der Ruhr. Die Rastlosigkeit, die einen Mann, der so viel arbeitet wie Schneider, wohl zwangsläufig auszeichnet, kommt dabei schön zum Ausdruck und wird zugleich von der Ruhe, der Gelassenheit kontrastiert, die den Komiker bei all seinem fleißigen Tun auszeichnet.

Roggon filmt das mit viel Stilwillen, was schon in dem für einen Dokumentarfilm recht unüblichen 2,35:1-Breitbildformat zum Ausdruck kommt. Es wiederholen sich Einstellungen, in denen Schneiders bärtiges Gesicht groß am Bildrand zu sehen ist, die Weite des Meeres oder der Landschaft im Hintergrund. Wie aus einem Western wirkt das und eine Western-Parodie (zugegeben, eine etwas hilflose Beschreibung für den Irrsinn dieses Films) war ja auch Schneiders erster Film, auf den Roggon mit ihrem Titel anspielt.

Seine Geheimnisse möchte er nicht preisgeben, sagt Schneider einmal. Man solle nicht über ihn wissen, wie er etwa einkaufen geht. Neben viel charmant blödelnder Selbstinszenierung kriegen wir in den Gesprächen immer wieder schöne biographische Fetzen geliefert. Schneider erzählt, wie er mit fünfzehn in der Schule wegen seiner roten Haare zum Außenseiter wurde und sich ganz in diese Rolle begab, indem er im grünen Anzug auf der Straße Gitarre spielte. Mit achtzehn, so berichtet er, war er von der Sehnsucht erfüllt, aus Mülheim fortzugehen, um in New York als Jazz-Musiker zu arbeiten.

Man merkt Schneider immer wieder an, wie sehr er es genießt, sich für die Kamera in Szene zu setzen. Am deutlichsten wohl bei einem Fototermin, bei dem er sich in einer Karussell-Rakete sitzend am Blitzlichtgewitter regelrecht labt.

Schwer zu sagen, was für einen Film Roggon mit ihren Ambitionen gemacht hätte, wenn sie ein einfacheres, den Verlauf der Inszenierung weniger in jeder Situation genau kontrollierendes Gegenüber vor ihrer Kamera gehabt hätte. Die Art aber, wie Schneider den Film mit seinem Humor und seiner immensen Ausstrahlung dominiert, ihn sich ganz und gar aneignet, tut dem Vergnügen, das „Mülheim – Texas“ dem Zusehenden bereitet, keinen Abbruch. Im Gegenteil.

Eine neue Freundin

(F 2014, Regie: François Ozon)

Ich bin Frau
von Wolfgang Nierlin

Der Leichnam einer schönen jungen Frau wird geschminkt, in ein Hochzeitskleid gehüllt und in einen weißen Sarg gebettet. Dazu läuten Kirchenglocken, die von Wagners sogenanntem „Hochzeitsmarsch“ abgelöst werden. François Ozons …

Der Leichnam einer schönen jungen Frau wird geschminkt, in ein Hochzeitskleid gehüllt und in einen weißen Sarg gebettet. Dazu läuten Kirchenglocken, die von Wagners sogenanntem „Hochzeitsmarsch“ abgelöst werden. François Ozons neuer, provozierend abgründiger Film „Eine neue Freundin“ beginnt mit einer Beerdigung, der trotz des Schmerzes Zeichen des Neuanfangs eingeschrieben sind. Claires (Anaïs Demoustier) beste Freundin („für immer und ewig“) Laura (Isild Le Besco), gerade Mutter geworden, ist gestorben. Ozon erzählt die rund zwanzig Jahre dieser Freundschaft, in der Claire im Schatten Lauras stand, in einer kursorischen, ziemlich rasanten Rückblende, der es um das Exemplarische im Leben geht und die man deshalb etwas trivial finden kann. Jetzt, bei der Trauerfeier, sagt Claire unter Tränen, dass sie ihrer verstorbenen Freundin versprochen habe, sich um ihren Mann David (Romain Duris) und die kleine Lucie zu kümmern.

Doch deren erste Begegnung, noch ganz im Bann der Trauer, beginnt mit einem Schock: Als Claire unangekündigt das Haus des Witwers betritt, das in einer vornehmen, amerikanisch anmutenden Vorort-Siedlung mit weiten, lichtdurchfluteten Rasenflächen und vielen Bäumen liegt, begegnet sie einem David in Frauenkleidern, der in dieser Rolle fortan Virginia heißen wird. Bald darauf entfaltet Davids Transvestitismus, von ihm zunächst als nachgeholtes Vergnügen gerechtfertigt, eine ungeahnte Komplexität. Denn David alias Virginia schlüpft damit nicht nur in die Mutterrolle und verarbeitet damit die Trauer um den Verlust seiner geliebten Frau, sondern er entdeckt und entfaltet immer stärker und lustbetonter seine eigene, bislang unterdrückte Weiblichkeit.

Aus dieser Befreiung resultieren zunächst einige komische Passagen, etwa wenn die beiden „neuen Freundinnen“ gemeinsam shoppen gehen. Der überaus produktive französische Filmemacher François Ozon, der in seinen tabubrechenden Filmen immer wieder die existentielle Dimension von Geschlechterrollen und komplizierte Identitätsfragen untersucht, geht in diesem beunruhigenden Diskurs aber noch einen Schritt weiter, wenn plötzlich auch Claire die Frau in sich neu entdeckt. Claires intensivierte Weiblichkeit, sowohl ausgedrückt in einer leidenschaftlicheren Sexualität mit ihrem eher gewöhnlichen Mann Gilles (Raphaël Personnaz) als auch im anfangs noch geleugneten, auf ihre „neue Freundin“ Virginia gerichteten Begehren, provoziert nicht nur eine „gleichgeschlechtliche“ Liebesgeschichte der etwas anderen Art und damit schließlich auch das Bild einer neuen Familie; sondern mit dieser Lust tritt sie unterbewusst auch aus dem Schatten ihrer verstorbenen Freundin.

Die Trauerarbeit der beiden Protagonisten erfährt so eine ungeahnte und zugleich verstörende Wendung: Lauras früher Tod katalysiert gewissermaßen die jeweilige „Neugeburt“ von David und Claire als Frau. Ozon verknüpft in seinem irritierend vielschichtigen Film, der lose auf der Kurzgeschichte „The New Girlfriend“ von Ruth Rendell basiert und den er zuerst „Ich bin Frau“ betiteln wollte, melodramatische und märchenhafte Elemente und wechselt dabei immer wieder die Tonlage zwischen komischen und tragischen Passagen. Zur letztlich nicht nur gesellschaftspolitischen Dimension seine Films hat der Regisseur erklärt: „Das Wichtigste ist zu sehen, wie jeder die Andersartigkeit des Anderen akzeptiert und seine eigene Identität findet, jenseits von Geschlechterdefinitionen.“

Tod den Hippies!! Es lebe der Punk!

(D 2015, Regie: Oskar Roehler)

Zurück zu No Future
von Andreas Thomas

„Wer sich erinnert, hat nichts erlebt!“ – So oder ähnlich zitiert Oskar Roehlers neuestes Werk den Mastermind der Einstürzenden Neubauten Blixa Bargeld, der mal wieder so anämisch wie amnesisch Wodka …

„Wer sich erinnert, hat nichts erlebt!“ – So oder ähnlich zitiert Oskar Roehlers neuestes Werk den Mastermind der Einstürzenden Neubauten Blixa Bargeld, der mal wieder so anämisch wie amnesisch Wodka hinter der Theke des „Risiko“ randvoll in Wassergläser kippt und dabei z.B. darüber dichtet, dass Gott nicht im Arsch von Sodomisierten existiere. Zum Verwechseln (bis er die Brille absetzt) dem jungen Bargeld ähnlich, wird der gespielt von Alexander Scheer, der sogar den metallisch-näselnden Tonfall des Originals erreicht. Anders als Marc Hosemann, den optische Lichtjahre vom über Jahrzehnte juvenil gebliebenen und dennoch von ihm gespielten Nick Cave trennen,- aber bei allem fragt man sich, um was es denn hier eigentlich geht, um einen Lookalike-Contest, um irgendwelche Jugenderinnerungen eines Oskar Roehler, um das Berlin vor dem Mauerfall, oder gar um die Geschichte des Punk in der Mitte der Achtziger, also als eine sogenannte Bewegung „Punk“ schon lange um die Ecke und Brötchen holen war, um bald danach vornehmlich als Unterhaltungsmusik für als Punks verkleidete Sozialhilfeempfänger auf Sitzbänken zu dienen?

Mit der differenziert auskultierten Frage haben wir auch gleich die differenziert diagnostische Antwort, denn um all das geht es, worauf die zweite Frage sich anschließt, ob solch Gemengelage denn eher dem Gedeih oder dem Verderb des Werkes diene? Und darauf lautet die Antwort: Roehler ist ein Mann der Momente. Ganz stark, da ganz grell ist die erste Filmhälfte, die nicht ansatzweise versucht, „realistisch“ über die Spätphase von Hippietum und Bhagwan zu berichten, sondern schön fäkal, geschmacklos und mit grobem Strich die „Grundzüge“ all der verlotterten Verhältnisse unter der Ägide der Friedensbewegten auf den Punkt bringt, und immer da, wo Roehler die Extreme, auch die eigenen, punkigen, exzessiv über das borden lässt, was eh schon extrem genug war, da macht der Film Spaß. Wunderbar überbordend realistisch auch der Kurzauftritt von „Robert Rothers“ (Tom Schilling) Jugendfreundin, die im political-korrrekten Tonfall schon Jahrzehnte einer gemeinsamen spießigen Zukunft plant.

Wunderbar dann, nach eigencoiffeurischer Kreation eines Iros, seine Ankunft in einem outdoor stets schwarzweißen indoor stets farbigen Berlin-West, das – auch hier ist der Pinselstrich ein grober – zur einen Hälfte aus dem Herzen der Lebensfreude, einem Peepshow-Betrieb besteht, wo sich mitunter auch der Regierende Bürgermeister persönlich einen von der Palme wedelt, aber sonst quasi auch alles, was verheiratet und männlich ist. Die Peepscheiben sind herzförmig und allesamt satt mit Sperma bespritzt. Die Reinigung der Peepshow-Kabinen ist des jungen Mannes erster Job in der großen anonymen Stadt, in der er glücklicherweise ganz unten anfangen kann, was er ja schon immer wollte (statt Tellerwäscher Wixscheibenwäscher halt). Die andere Hälfte von Berlin ist die Kneipe „Risiko“, das Herz von Avantgarde und Punk, wo u.a. Bargeld verbürgt hinterm Tresen stand, und zu 80 Prozent umsonst gesoffen wurde, wenn man nicht mit der Zufuhr von Speed, Koks oder Heroin beschäftigt war. Sehr spaßig verdichtend hier ein Morgen beim Schließen des Lokals, wenn der gesamt ausgeworfene menschliche Gaststubeninhalt auf dem Boden liegt und in den Rinnstein kotzt.

Doch doch, leider leider, so sehr der Filmanfang einstimmt auf eine große Sause, so schnell verzettelt sich Roehler in Nebenschauplätzen, wie in seinem langsam altbekannten Familienroman, der zwar interessant ist, besonders wenn man die Roehler-Mutter Gisela Elsner mit ihrer unverkennbaren Frisur nun schon (nach Hannelore Elsner: „Die Unberührbare“ und Lawinia Wilson: „Quellen des Lebens“) in einer dritten Variation (Hannelore Hoger) und in einer dritten Lebensabschnittsphase von Roehlers Biografie erleben kann, die aber eigentlich herzlich störend ist, wenn man doch gerade Spaß gefunden hatte an Berlin-Exzess, Berlin-Muff und so purer Hippielangeweile, dass das Kino nach Patschuli roch, bevor der Wodka alles überschwemmte.

Zerbrechen muss der Film unter dem Spagat zwischen durchaus autobiografischem, durchaus spürbarem Schmerz gefühlter Zurückweisung durch die Eltern und dem großen Abriss der Welten Punk und Hippietum. Potenziert wird diese Überbelastung beim biografischen Anteil durch das ewige Quäntchen von Überzeichnung und Übertreibung, eben dem, was gerade den weltanschaulichen Anteil so schön zu illustrieren vermochte.

Und zuguterletzt: Ich plädiere dafür, dass Tom Schilling den Michael J. Fox-Preis bekommt. Hier spielt er mit ca. 32 Jahren einen fraglosen Neunzehnjährigen, indem er einfach mal eben ein bisschen seine Stirnfalten strafft.

A Blast – Ausbruch

(GR / D / NL 2014, Regie: Syllas Tzoumerkas)

We didn't start the fire
von Sven Pötting

Alles beginnt mit einer nächtlichen Autofahrt. Maria rast irgendwo in Griechenland über eine Autobahn. Sie ist allein. Hinter ihr tobt ein unkontrollierter Waldbrand, auf dem Rücksitz ihres Geländewagens liegt eine …

Alles beginnt mit einer nächtlichen Autofahrt. Maria rast irgendwo in Griechenland über eine Autobahn. Sie ist allein. Hinter ihr tobt ein unkontrollierter Waldbrand, auf dem Rücksitz ihres Geländewagens liegt eine Tasche voller Geld. Im Radio ist von Brandstiftung die Rede. Bereits nach den ersten Minuten besteht für den Zuschauer kein Zweifel, dass sie etwas mit dem Feuer zu tun hat. Das Feuer ist die Konsequenz einer Explosion (im übertragenen Sinne), die Maria zu einer Verzweiflungstat trieb und verbrannte Erde (nicht nur im übertragenen Sinne) hinterlassen hat.

Der griechische Kapitalist, so schrieb der Philosoph Nikos Dimou, benehme sich „wie ein Familienvorstand.“ Entscheidungen fällt er gewöhnlich allein, selten im Familienkreis. Eigeninitiative oder Mitsprache wird eher nicht erwartet, die Öffentlichkeit gemieden. Korruption und Klientelismus können dadurch blühen und gedeihen, Zahlen können dadurch lange frisiert und Partner betrogen werden. Geholfen wird nur Personen, die zur Familie gehören. Der Nachteil: Misswirtschaft kann durch diese Strukturen zumeist erst dann aufgedeckt werden, wenn es eh schon zu spät ist und der Bankrott unabwendbar ist. Auf diese Weise wurde – so scheint es – auch der griechische Staat über Jahrzehnte geführt, bis erst die Kreditwürdigkeit den Bach runterging, dann die ersten sozialen Verwerfungen auftraten und schließlich das Land zu einer Art EU-Protektorat geworden ist.

Der griechische Staat agiert also wie Familie, deren einzelnen Mitglieder weitgehend entmündigt werden. Kein Zufall ist es daher, dass viele Produktionen des aktuellen griechischen Kinos (oftmals dysfunktionale) Familienaufstellungen mit filmischen Mitteln sezieren. Stück für Stück, mit Zeitsprüngen und Rückblenden in die Vergangenheit, enthüllt die teils mehrfach verschachtelte Handlung in „A Blast“, wie und warum es zur eingangs beschriebenen Katastrophe kommen musste. Die Fragmente des Films, die für sich genommen desorientierend wirken, ergeben zusammengesetzt die Chronik eines familiären Elends, das wiederum mit der Krise Griechenlands eng verzahnt ist. Im Mittelpunkt der Ereignisse steht Maria.

Die dynamische, bis zur Hysterie emotionale Frau beginnt ihr Leben als Erwachsene mit handfesten Plänen und hochfliegenden Träumen. Zehn Jahre später ist davon nichts mehr übrig. Ihr Leben wird von der permanenten Dominanz ihrer Familie bestimmt. Für den Familienbetrieb, einen kleinen Kiosk, opferte sie ihr Studium. Für ihren Mann, einen Seemann, opferte sie ihre Freiheit. Während dieser die meiste Zeit auf See ist und dort seinen Affären nachgeht, muss sie ihre drei Kinder alleine aufziehen. Die wenige Zeit, die sie miteinander haben, verbringen sie mit wildem Sex. Die Leidenschaft ist ehrlich, trägt aber auch Verzweiflung in sich. Maria leidet nicht nur unter der ständigen Abwesenheit ihres Partners, auch andere Probleme beginnen ihr zu schaffen zu machen. Für ihre etwas einfältige Schwester Gogo hat ihr Vater einen Mann ausgesucht, mit dem diese sich immer mehr von faschistischen Kreisen vereinnahmen lässt. Wie Maria eher zufällig herausfindet, hat ihre kühle und autoritäre Mutter für den Kiosk schon lange keine Steuern mehr gezahlt. Jahrelang ging das gut, doch in der Krise macht der Staat ernst mit seinen Drohungen, Steuersünder zu jagen. Bankrott, Pfändung und Gefängnis drohen.

Wie die Handlungsfähigkeit des Staates ist die der Familie auch nur noch eingeschränkt. Während ihre Schwester die Schuld bei „den Migranten“ sucht, flüchten sich die Eltern in Apathie. Maria, die zuvor noch am Rande des Nervenzusammenbruchs stand, sieht jetzt klar: Ein Befreiungsschlag muss her. Eine Explosion, die alle festgefahrenen Strukturen zerstört. Ein Ausbruch, mit dem sie sich aus der Fremdbestimmung und der ausweglosen Situation befreien kann. Sie scheut dabei keine Konfrontation. Nicht mit den Behörden, nicht mit der Familie. So kraftstrotzend und wütend, wie sie in einer Szene am Anfang des Films auf einen Sandsack eindrischt, verprügelt sie später auch ihren Schwager. Sie ist brutal und rigoros, auch gegen sich selbst.

Natürlich sind – das gibt auch der Regisseur Syllas Tzoumerkas im Gespräch zu – bei diesem griechischen Drama im Subtext die antiken Tragödien präsent. Marias Träume sind bereits zerstört worden. Jetzt muss sie beinahe schicksalshaft ihren Weg gehen, ihr bisheriges Leben aufgeben und Schuld auf sich laden. Sie zerstört ihre Familie und schließt, um zumindest einen Teil der Steuerschuld zu begleichen, einen Pakt mit einer mafiösen Immobilienfirma.

Aber bedeutet Marias Ausbruch tatsächlich auch eine Katharsis für sie? Eher nicht. In einer der merkwürdigsten Szenen des Films geht sie in ein Internetcafé und ruft Videos auf, in denen die abseitigsten Sexualpraktiken vorgeführt werden. Während die Personen, die um sie herumsitzen, ihren Augen nicht trauen und dabei verlegen und irritiert auf ihren Monitor schauen, zeigt Maria keine Regung. Nach dem Hardcore-Sex betrachtet sie ebenso emotionslos eine Internetseite, auf der hemmungslos geweint wird. Gleichgültigkeit und Entfremdung haben ihre Leidenschaft abgelöst. Sie ist ausgebrannt und hat den Blick eines Zombies: zu stumpf für Mitleid, Trauer und Angst. Vor ihr liegt eine ungewisse Zukunft, die noch schrecklicher sein könnte, als das, das bisher geschehen ist.

Am Ende schließt sich der Kreis. Der Waldbrand am Anfang des Films, verursacht durch Brandstiftung, war die Konsequenz einer Verzweiflungstat und der vorweggenommene Schluss einer tragischen Familiengeschichte. Griechenland steht – metaphorisch und konkret – in Flammen.

„A Blast“ ist in verschiedener Hinsicht Ausdruck einer Krise. Als die Troika 2013 von Griechenland verlangte, tausende Stellen im öffentlichen Dienst abzuschaffen, wurde das öffentlich-rechtliche Fernsehen des Landes über Nacht geschlossen. Damit fiel auch ein wichtiger Geldgeber des Films aus, die Produktion selbst wurde von der Krise eingeholt. Ziemlich viel Improvisation war nötig, um das Wegfallen der bereits eingeplanten finanziellen Mittel zu kompensieren. Hilfreich war dabei, dass die Hauptdarstellerin Angeliki Papoulia und Regisseur Syllas Tzoumerkas bereits seit Jahren zusammen in der „Blitz Theatre Group“ arbeiten.

Andererseits ist „A Blast“ posttraumatisches Kino, so ungefiltert, wie wir es vom Autorenkino aus anderen Krisenstaaten kennen (man denke nur an den mexikanischen Cannes-Gewinnerfilm „Heli“ von Amat Escalante (2013)). Je dramatischer die Situation in einem Land wird, um so besser werden die Filme, so scheint es. Der wirtschaftliche Niedergang wird mit künstlerischen Höhenflügen gekontert.

„A Blast“ ist ein bitterer und experimentierfreudiger Film über ein Land, das schon lange nicht mehr am Abgrund steht, sondern schon hineingefallen ist. Privates und Politisches, das Zerbrechen von Familien und das Zerbrechen eines ganzen Landes an den ökonomischen Verhältnissen, sind nicht voneinander zu trennen.

Marias Ausbruch ist ein Akt der Verzweiflung und eine Rebellion gegen die Elterngeneration, die die Krise verursacht hat und der Ausdruck der Wut einer desillusionierten Generation, die unverschuldet in einer ausweglosen Situation gelandet ist und – mit dem politischen, ökonomischen und moralischen Kollaps ihres Landes konfrontiert – sich mit unterschiedlichen Mitteln aus der Zwangsherrschaft ihrer Herkunft zu befreien versuchen will und muss. „A Blast“ ist authentisches und schonungsloses Krisenkino: Explosiv, impulsiv und ohne Rücksicht auf Verluste.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'A Blast – Ausbruch'.

Art Girls

(D 2013, Regie: Robert Bramkamp)

Immer in Bewegung und prinzipiell unberechenbar
von Ulrich Kriest

Kunst in Berlin-Mitte. In der „Zone“ verschwimmt die Grenze zwischen Kunst und Leben. Wenn ein Straßenarbeiter mit einem Pressluftbohrer hantiert, kann nicht ausgemacht gelten, dass es sich dabei nicht um …

Kunst in Berlin-Mitte. In der „Zone“ verschwimmt die Grenze zwischen Kunst und Leben. Wenn ein Straßenarbeiter mit einem Pressluftbohrer hantiert, kann nicht ausgemacht gelten, dass es sich dabei nicht um einen amerikanischen Performance-Künstler handelt, der, wenn er es in Berlin nicht schaffen sollte, immer noch nach New York zurückkehren kann.

Nikita Neufeld und Una Queens sind Teil dieser prekär lebenden Kunst-Szene, nicht erfolgreich am Markt und nicht erfolgreich im Betrieb, der gerne Scheiße in Kunst verwandelt. Prekariat, gepaart mit Midlife-Crisis. Der Blick, den Robert Bramkamp und Susanne Weirich auf die schicke Kunstszene werfen, ist satirisch, boshaft und zeugt von einiger Kennerschaft. Doch dann weitet sich der Blick, kommt die Wissenschaft in Gestalt der Zwillingsbrüder Peter und Laurens Maturana ins Spiel, Bio-Forscher, die an einem revolutionär-riskanten Projekt namens „Biosynchronisation“ arbeiten, das durch L-Strahlung Subjekte kurzzeitig zur einer „Wir-Intelligenz“ formt und kollektiviert. Doch auch hier sind Forschungsmittel knapp geworden.

Nach dem unter „mad scientists“ üblichen Selbstversuch aus Verzweiflung ist Peter gelähmt und arbeitet seither als Kurator, der mit seinem Geheimnis Mehrwert heckt und der Kunst eine Aura verleiht, die vom Künstler nicht mehr ausgeht. Er, der wenig bis nichts von Kunst versteht, träumt von einer Kunst, die Wirkung zeigt. Peter und Nikita gehen eine Geschäftsbeziehung ein, die auf clevere Weise Kunst und Sex kritisch kurzschließt. Die beiden Manturanas ködern die Künstlerinnen mit der gesponserten Ausstellung „Art Gate“, die allerdings nur als Alibi fungiert, um die Wirkung der L-Strahlung an einer größeren Menge von Menschen zu testen.

Der Erfolg ist frappant (und der Film findet dafür schöne Bilder), schlägt aber schnell um ins Katastrophale. Hier wechselt der Film, der zwischenzeitlich auch mal zu einer ironisch gebrochenen Form der romantischen Komödie gefunden hatte, erneut das Genre – und überrascht jetzt mit liebevoll inszenierten Low-Budget-Referenzen an „Transformers“ oder „King Kong“. So bleibt „Art Girls“ immer in Bewegung und prinzipiell unberechenbar: Am Schluss steht die schöne Utopie des „kollektiven Erzählens“, das die Regeln der Genres durch Alternativen und Perspektivwechsel spielerisch torpediert.

Wenn die „Kunstwirkung“, von der bislang nur gesprochen wurde, sich einstellt, greift sie entscheidend in den Film ein und verändert ihn: Die Katastrophe ist nicht zwangsläufig. Während die Kunst-Szene mit all ihrer gar nicht mal verdeckten Abhängigkeiten und Machtspielen eher satirisch zugespitzt vorgeführt wird, bleibt die Kunst selbst – hier zumeist Medienkunst von Künstlerinnen (für die teilweise die Künstlerin Susanne Weirich verantwortlich zeichnet: Manche Video-Installation kann man auch unabhängig vom Film in Galerien sehen) – davon unberührt.

So öffnet sich der mit diversen Erzählfunktionen und Erzählebenen experimentierende Film für allerlei Überraschungen und Spiegelungen, die zwischen Augenzwinkern und forschendem Filmlabor changieren. Passend dazu liefern Bramkamp und Weirich ergänzend und crossmedial nicht nur das „Art Girls“ – Making-of „Neue Natur – Art Girls intern“, das noch vor dem Kinostart von „Art Girls“ auf ARTE Creative zu sehen war (und auch noch länger zu sehen sein wird) und das seinerseits als Mockumentary ein paar weitere Möglichkeiten der „Art Girls“-Konstellation ausprobiert und variierend ergänzt.

Weiterhin wird „Art Girls“ bundesweit mit begleitenden Diskussionen in Kinos und Kunst-Institutionen wie dem Karsruher „ZKM“ zu sehen sein und zudem von Bramkamp selbst mit einer E-Vorlesung zum innovativen Filmemachen im Internet flankiert. Man sollte also besser den reflexiven Gesamtzusammenhang wählen, den „Art Girls“ anbietet, um der Intention des Unternehmens habhaft zu werden. Film als spielerisches Werkzeug zur durchaus ernst gemeinten Infragestellung von medialen Wirklichkeitskonstruktionen zwischen Wissenschaft und Entertainment.

The F-Word – Von wegen nur gute Freunde!

(IR / KAN 2013, Regie: Michael Dowse)

„Es ist cool, dass du auch alleine hier bist!“
von Ulrich Kriest

Wenn nichts mehr geht: Wiederholung wiederholen! Man müsste mal eine romantische Komödie drehen mit einem abgebrochenen Medizinstudenten namens Wallace, der ganz und gar verhuscht ist und dem zudem gerade das …

Wenn nichts mehr geht: Wiederholung wiederholen! Man müsste mal eine romantische Komödie drehen mit einem abgebrochenen Medizinstudenten namens Wallace, der ganz und gar verhuscht ist und dem zudem gerade das Herz gebrochen wurde. Der könnte auf einer Party ein lustiges Mädchen namens Chantry treffen, die immer sofort jedem erzählt, dass sie einen Freund hat. Damit keine Missverständnisse aufkommen. Chantry könnte dann zum Beispiel ein Talent als Cartoon-Zeichnerin haben, was der Film wiederum kreativ nutzen könnte, um eine gewisse Leichtigkeit, also Crazyness zu bekommen. Es wäre dann natürlich wichtig, dass man dieses Liebespaar in spe mit einigen interessanten oder zumindest spleenigen Typen umgibt, damit die 90 Minuten bis zur absehbaren Hochzeit nicht allzu zäh geraten. Das Ganze lassen wir in Toronto spielen, dem ja nachgesagt wird, dass es, wenn man die richtigen Blickwinkel wählt, ein wenig wie New York aussieht. Ach was, bevor jetzt jeder sagt, dass es auch Zeit wurde, dass „Harry und Sally“ mal wieder verfilmt wird, schreibe ich lieber ein Theaterstück mit dem nichtssagenden Titel „Zahncreme und Zigarren“. Ein Theaterstück kann man immerhin nicht kaputtsynchronisieren. Das ist doch auch schon was. Positives.

Big Eyes

(USA 2014, Regie: Tim Burton)

Dekors mit Kulleraugen
von Wolfgang Nierlin

Wenn zu Beginn des Films Margaret Ulbrich (Amy Adams), nachdem sie ihren Mann verlassen hat, zusammen mit ihrer kleinen Tochter im Auto davon fährt, wirkt das wie eine Befreiung. Die …

Wenn zu Beginn des Films Margaret Ulbrich (Amy Adams), nachdem sie ihren Mann verlassen hat, zusammen mit ihrer kleinen Tochter im Auto davon fährt, wirkt das wie eine Befreiung. Die nordkalifornische Landschaft ist weit und hell und leuchtet in allen Farben, die Luft entlang der Küste in Richtung San Francisco lässt die noch junge Frau spürbar durchatmen. Dabei ist eine alleinerziehende Mutter auf Jobsuche im Jahre 1958 alles andere als selbstverständlich; und Margaret, die sich zunächst als Dekorations- und Porträtmalerin verdingt, wirkt noch unsicher und wenig selbstbewusst. Als sie bald darauf den Charmeur und Schwindler Walter Keane (Christoph Waltz) kennenlernt, der sich als „Sonntagsmaler“ impressionistisch angehauchter Pariser Straßenszenen bezeichnet und sein Geld als Makler verdient, empfindet sie das als „einen Segen“. Und es ist schon bemerkenswert, dass sie ihre kitschige Traumhochzeit auf Hawaii als „paradiesisch“ erlebt.

Tim Burton unternimmt in seinem nach wahren Begebenheiten entstandenen Biopic über Margaret Keane zunächst wenig, um die in den 1960er Jahren äußerst populäre Künstlerin aus ihrem Schattendasein als Ehefrau und Mutter zu befreien. Dabei eröffnet er seinen neuen Film „Big Eyes“ mit einem Blick in die Tiefen jener überdimensional großen Augen, die zu ihrem Markenzeichen geworden sind und die sie einmal als „Fenster zur Seele“ bezeichnet. Zwar beharrt sie darauf, dass ihre Kunst „persönlich“ sei; doch als Walter anfängt, mit cleveren Geschäftsstrategien ihre Bilder unter seinem Namen gewinnbringend zu vermarkten, fügt sie sich mit Unbehagen und einem zunehmenden Gefühl der Gespaltenheit dem männlichen Diktat.

Es muss bei Margaret also irgendwann eine zweite Befreiung erfolgen, die sich sowohl männlicher Unterdrückung und Ausbeutung als auch luxuriösen Wohlbehagens und zunehmender weiblicher Selbstverleugnung erwehrt. Doch bis es so weit ist, plätschert der Film streckenweise vor sich hin und schwelgt dabei in ausnehmend schönen Bildern und fein abgestimmten Dekors, statt das innere Seelendrama der Protagonistin und ihre wahre künstlerische Motivation zu vertiefen. Fast scheint es so, als interessiere sich Tim Burton mehr für den schillernden Blender und Spieler Walter, dessen doppelgesichtiger Größenwahn zunehmend gefährliche, ja fast dämonische Züge annimmt. Daraus entstehen zwar etliche tragikomische Szenen (vor allem am Schluss vor Gericht), die Christoph Waltz gewohnt souverän absolviert. Margaret Keanes künstlerisches Außenseiterdasein im Schatten ihres umtriebigen Mannes wird allerdings kaum erhellt; allenfalls durch ihre zahlreich in Szene gesetzten Bilder, die eine eigene Sprache sprechen, erfährt sie eine gewisse Rehabilitation.

Ex Machina

(GB 2015, Regie: Alex Garland)

Gut gebaut: Bube, Boss, Beton, Robot
von Drehli Robnik

Postfordismus-Projektionen und künstliche Männer Der Turing-Test – benannt nach dem unlängst in 'The Imitation Game' verkitschten britischen Computerpionier – geht ungefähr so: Kann ich unterscheiden, ob die Intelligenz, die am …

Postfordismus-Projektionen und künstliche Männer

Der Turing-Test – benannt nach dem unlängst in 'The Imitation Game' verkitschten britischen Computerpionier – geht ungefähr so: Kann ich unterscheiden, ob die Intelligenz, die am anderen Ende einer Leitung (also so, dass sie meinem sofort Gewissheit schaffen wollenden Blick entzogen ist) mit mir kommuniziert, menschlich oder künstlich ist? Und (das sagt sich gleich fast von allein dazu) was ist das jeweils – menschlich und künstlich? Seit einiger Zeit ist auch die Sicherheit dieser Unterscheidungskategorien selbst zunehmend einem Test ausgesetzt, ist zur Disposition gestellt, instabil, prekär. Dass das so ist – die Prekarität der Menschlich-Künstlich-Unterscheidung –, davon singen uns manche SciFi-Fiktionen, zumal solche des Kinos, ein Lied: Sobald blade und andere (auch schlanke) Runner mit Ablaufdatum, Cyborgs, Roboter oder andere gebaute Wesen mit eingebauten Denkanlagen ins Spiel kommen, stellt sich der Verdacht, ihre Künstlichkeit sei so etwas wie die wahrere oder höhere Menschlichkeit, fast reflexartig ein.

So weit, so common sense. Der britische Kammerspiel-Techno/Psychothriller 'Ex Machina' macht es kompliziert, weil explizit und offensichtlich. Zum einen ist die Turing-Test-Situation im Plot des Films beim Namen genannt und Thema eines Ablaufs von Sessions, die eine Art Kapitelgliederung liefern. Ausgangssituation: Ein junger, unsicherer Programmierer wird von seinem Konzernboss, einem Software-Mogul und K.I.-Genie, zu sich in sein abgeschiedenes Luxuslabor beordert. Er soll dort, als einziger Gehilfe seines Chefs, testen, wie seine Dialogpartnerin, die sichtbar hinter einer Glasscheibe ihm gegenüber sitzt, programmüberschreitende Kreativallüren, sprich: menschliche Intelligenz, manifestiert. Diese Dialogpartnerin namens Ava ist künstlich, und zwar offensichtlich; sie ist – gut – gebaut, halb junge Frau, halb Robot mit Glasfaserskelett.

Die Frage ist also: Was lässt sie human wirken? Welche Art von sprachlicher, mimisch-gestischer, alsbald auch hetero-erotisch aufgeladener Kommunikation hinter Glas bewirkt, dass Ava als menschlich anmutet – trotz aller Evidenz ihres Technokörpers? 'Ich weiß sehr wohl, dass hier nur technisch vermittelte Erscheinung ist und keine Präsenz in Fleisch und Blut, aber trotzdem lege ich in diese Erscheinung soviel von meinem Gefühl, als hätte ich den Eindruck, dass da etwas ist' – der in diesem Satz ausformulierte Wahrnehmungs- bzw. Verleugnungsmodus galt einmal als das Schema einer Wahrnehmung, die dem Kino insgesamt ganz nah und innig ist, galt als Schema schlechthin für das, was ein*e Filmzuschauer*in erfährt, wenn er*sie im Kino sitzt, also in jener in den Seventies und Eighties als 'ideologischer Verkennungsapparat' analysierten Einrichtung, die uns – so hieß es – Wesen wahrnehmen lässt, wo nur Repräsentationstechnik waltet.

Um Projektion geht es in 'Ex Machina' von vornherein: Nicht dass Projektion stattfindet – d.h.: nicht dass etwas Technisches so wahrgenommen wird, dass sich etwas Wesenhaft-Menschliches in ihm zeigt –, ist hier der Über(raschungs)schmäh, sondern ihre Reichweite. Sprich: Der Schmäh liegt darin, wen das Projizieren aller in seine Eigendynamik hineinzieht. Zwischen Mauern aus Sichtbeton und Monitoren der Totaldurchsicht fällt der Test zunächst auf den jungen Tester zurück, zunehmend aber auch auf seinen testosterongetriebenen Chef – und schließlich die ganze Zeit über auf uns, die wir dem testenen Treiben zusehen, zuhören, es goutieren; die wir vermeinen, all das prüfend zu durchschauen, während wir in unserem Wahrnehmen – auch als 'zerstreute Examinator*innen' im Sinn von Walter Benjamin Button – doch zumindest gebannt sind. Für letzteres, den gut gebauten Bann, sorgt die genaue Gemessenheit im Bild und in den superschicken Beton-, Glas- und Holzarchitekturen, auch im blubbernden Ambient-Score von 'Ex Machina': Das baut und webt uns ein, setzt uns auf unsichere Positionen im Verhältnis zu den Macht- und Beobachtungsspielen, die ein im Wesentlichen dreiköpfiges Mini-Ensemble vorführt: Domhnall Gleeson als der Jungprogrammierer und Alicia Vikander als Ava testen einander, Oscar Isaac ist als Chef undurchsichtig. (Die vierte Figur ist Sonoya Mizuno stumme asiatische Dienerin, in deren Erscheinung an der Peripherie des weißen Beziehungsdreiecks das Motiv vom unerwarteten Eigensinn der zweckbestimmt Gesteuerten noch einmal ethnisch formuliert und postkolonial getönt ist.)

(Und gleich noch eine Klammerbemerkung: Für den grandiosen Hollywood-Neo-Star mit guatemaltekisch-kubanischer Herkunft Oscar Isaac ist die Boss-Rolle in 'Ex Machine' die vorläufige Quersumme aus seinen bisherigen Rollen als mehr oder minder Ungustl – manche davon problematisch, weil im Ressentiment-Stil gezeichnet: einerseits als sexuell und ethnisch anderer Usurpator einer Rolle, die dem filmischen Entwurf zufolge ein Würdigerer einnehmen sollte – Prätendent Prinz John in 'Robin Hood' oder der Ehemann der Mulligan, gezeichnet als zartes blondes, zu rettendes Geschöpf, in 'Drive'; anderseits als charismatischer, obsessiv getriebener Boss eines rücksichtslosen 'Betriebs' – Bordellbetreiber in 'Sucker Punch', Speditionsunternehmer in 'A Most Violent Year'.) (Und, ja, den Llewyn Davis hat er auch gespielt.)

Alex Garland, als Scriptautor von '28 Days Later', 'Sunshine' und 'Never Let Me Go' mit nonhumans in Soziallabors vertraut, variiert in seinem Regiedebüt 'Ex Machina' gekonnt (mitunter aber auch etwas gar klugscheißredselig) das Motiv der seduktiven Maschinenfrau, die menschlich wird, indem sie an Allzumenschliches appelliert, indem sie nämlich erwartungsgemäße männliche Reaktionen auf ihre Erscheinung als zartes, sensibles Geschöpf vorweg kalkuliert. Das Spielen einer (gerade in ihrer Halbnacktheit bzw. Plexiglastransparenz) Undurchschaubaren auf der Klaviatur des maskulinen Masochismus: Es ist gar nicht notwendig, diese Motivik groß auszuwalzen und dadurch womöglich den Spoiler-Alert auszulösen. Denn: Die gewitzeste, auch witzigste, Wendung von 'Ex Machina' liegt nicht im Spiel mit dem Erscheinen von Weiblichkeit, die noirish ist aus Tradition, sondern im Erscheinen der Spiele einer Männlichkeit, die narrisch ist aus Routine (daft by definition). Die Witz-Wendung liegt nicht im Unvorhersehbaren seitens des Robot-Girls, sondern im ganz Vorhersehbaren, ganz Programmgemäßen (das dann in aller Offensichtlichkeit auch noch eintritt) der Reize und Reaktionen einer anderen künstlichen Humanität, eines anderen sozialtechnisch geformten Habitus, nämlich der Powerburschenmännlichkeit in ihren Zwiesprachen und Zwiespalten. Diese Lebensform, gezeugt in den Alltagslaboren der postfordistischen Kapitalakkumulation und Menschen(selbst)führung, wird in 'Ex Machina' ausgestellt.

Das betrifft das allmähliche Keimen einer Ritter-Retter-Phantasie in dem sanften Nerd, der sich für auserwählt hält, die Schöne aus den Fängen des Obszönen zu befreien; und es betrifft mehr noch die Umgarnung des verliebten und gebannten Ritters durch seinen schamlos schönen Boss, der ganz durchtrainierter Dance-Dude ist und barbäuchiges Buddy-Charme-Programm mit Vollbart unter der sexy Glatze und Leichtbier in der einen Hand (die andere braucht er für die vielen Schulterklopfgesten von bro zu bro im Büro, mit denen heute Firmenimperien, Labors und Arbeitsräume regiert werden, die sich von Bobo-Wellness-Hotels nur per Projektion unterscheiden lassen). Dass es in 'Ex Machina' um Phantasiebilder der kalt kalkulierenden Femme Fatale-Maschine gehen soll, ist pure pubertäre Projektion; in Wahrheit ist der deus ex machina, der Gott, der durch seine Herkunft aus der sozialtechnischen Lifestyle- und Führungsstilmaschine bereits prekarisiet ist, und der dennoch so ohne jeden Genierer aus der Maschine springt, dass sein Anblick geil und peinlich zugleich anmutet, das Macher-Männlein mit seinen gläsernen und fleischlichen Sixpacks als unmögliches Subjekt. Die Hommelette in Dispositiv-basierter narzisstischer Selbstverkennung, oder: Spiegel-Eggs Machina.

Übrigens, der Disco-Song, zu dem Isaac und Mizuno tanzen – aber wie! Ein Programm wird Ob-Szene! –, ist 'Get Down Saturday Night' von Oliver Cheatham (Baujahr 1983). If you can’t cheat-ham, join ‚em: 'After a long day of Turing Test, you gotta unwind,' sagt dein geiler Boss und zwingt dich zum Mit-Genießen.

Hubert von Goisern – Brenna tuat’s schon lang

(D / A 2015, Regie: Marcus H. Rosenmüller)

Ein Mann kann eine Brücke sein
von Ulrich Kriest

Wenn Hubert von Goisern nicht gerade back to the roots mit kleinem Geschirr durch österreichische Weltgegenden tourt, wo noch immer „Starsky & Hutch“-Filmplakate an den Kneipenwänden hängen, dann macht er …

Wenn Hubert von Goisern nicht gerade back to the roots mit kleinem Geschirr durch österreichische Weltgegenden tourt, wo noch immer „Starsky & Hutch“-Filmplakate an den Kneipenwänden hängen, dann macht er Projekte, die sich sehr gut lesen, wenn man gerade Kulturhauptstadt ist oder UNESCO-City of Music werden will oder Vertreter für mannshohe „Red Bull“-Werbedosen ist. Dann nämlich hält von Goisern es mit Knut Kiesewetter und ruft: „Fahr mit mir den Fluss hinunter!“ Oder hinauf.

Egal. Donau oder Rhein, einerlei. Hauptsache, es wird „Europa praktiziert“. Und weil Hubert von Goisern mit seinem alpinen Crossover-Rock bei öffentlich-rechtlichen Kultur-Redakteuren immer schon einen Stein im Brett hatte, sind diese Projekte auch bestens dokumentiert. Was natürlich eine Steilvorlage ist, wenn man die brennende Frage in den Raum stellt: „Was hat Hubert von Goisern eigentlich zwischen seinen großen Erfolgen Koa Hiatamadl und Brenna tuat’s guat gemacht? Koan Schimmer?

Ein guter Ausgangspunkt für die Gesamtschau auf ein singuläres Künstlerleben? Fanden jedenfalls die Archivare Marcus H. Rosenmüller (Regie) und Johannes Kaltenhauser (Kamera) – und setzen Alpenrocker Hubert frühmorgens in ein Boot auf dem Hallstätter See. Zum Angeln und zum Philosophieren. Über das Leben und so. Und wie man seinen Platz im Leben und als Musiker seinen Sound findet. Und natürlich noch viel mehr. Dazu Rosenmüller im Presseheft: „Angeln als Motiv, als Metapher und als klares Zeichen, dass man sich Zeit nimmt. (…) Schließlich steht diese Tätigkeit (das Angeln – U.K.) für vieles: Zum einen für einen Charakterzug und eine persönliche Leidenschaft von Hubert von Goisern. Daneben kann sie aber mehrere, für mich als Regisser passende und den filmischen Raum öffnende Interpretationen erlauben. So zum Beispiel als Zeichen der Gefahr, in die sich ein Künstler begibt. Die Gefahr, mit seinem Kahn unterzugehen. Dann die Fähigkeit, sich in Geduld zu üben, den richtigen Köder ausgeworfen zu haben. Aber auch das Vertrauen zu haben, dass es in dem Gewässer der Kunst überhaupt jemanden gibt, der anbeißen könnte. Eine weitere Interpretation wäre das Universelle: als Künstler von einer bestimmten Zeit/Welle/Stimmung getragen zu werden. Mittler zwischen Himmel und Unterwelt (die Spiegelung des Himmels im Wasser). Zuletzt noch die religiöse Interpretationsmöglichkeit: Der Künstler als Fischer, als Glaubensvermittler.“

Nicht unspannend also zu sehen, wie orientierungslos der Angler anfangs seinen Weg als NDW-Epigone machte, bevor er seinen Blues elektrifizierte, seine Texte (leicht) politisierte und seine ganz persönliche Welle fand. Schließlich kommt der Haider Jörg auch aus dem Städtchen, dem der Hubert aus Protest seinen Namen abgetrotzt hat. Da ist auf Fanseite manches Missverständnis möglich, zum Beispiel Alpenrock hören und Haider wählen. Wobei Hubert von Goisern eben auf dem Höhepunkt der Popularität der Alpinkatzen hinwirft und in die Welt hinauszieht, um in Afrika mit Eingeborenen zu rocken (was seiner Musik zum entschiedenen Vorteil gereicht) bzw. die Eingeborenen lächelnd nach seiner Pfeife tanzen zu lassen (was uns beim Zusehen etwas aufstieß): „Damit eine Vertrautheit entsteht zwischen den Kontinenten“, sagt Hubert, der auch nach Austin, Texas reist, um gefühlte 10 Jahre nach FSKs „Pennsylfawnisch Schnitzelbank“ die bierseeligen Amis mit „Alpengrunge“ zu entertainen. „Es sind Dinge entstanden, die sind nicht vorstellbar“, heißt es an einer Stelle des Films.

Auch kaum vorstellbar, aber für die Nachwelt bestens dokumentiert, wie die üblichen Deutschrock- und Kirchentagssoul-Verdächtigen den Rhein hinauffahren, um ihre ganz persönliche Version der „Rolling Thunder-Revue“ zu leben. Der Wecker geht an Bord; Niedecken mit Blumen am Hut. Man muss Risiken eingehen im Leben, sich verschwenden, weiß der Alpen-Philosoph zu raten. Für den enttäuscht sich wendenden Zuschauer heißt das zunächst einmal: für von Goisern bezahlen und Naidoo bekommen. Nepp. The Last Waltz of Europe.

(keine Wertung möglich)

Ein Junge namens Titli

(IN 2014, Regie: Kanu Behl)

Ein Schmetterling auf Abwegen
von Nicolai Bühnemann

Titli bedeutet Schmetterling. Und dass der jugendliche Protagonist in Kanu Behls Debütfilm „Ein Junge namens Titli“ seine Flügel aufspannen möchte, um davon zu fliegen, das ist die zunächst einmal sehr …

Titli bedeutet Schmetterling. Und dass der jugendliche Protagonist in Kanu Behls Debütfilm „Ein Junge namens Titli“ seine Flügel aufspannen möchte, um davon zu fliegen, das ist die zunächst einmal sehr konventionelle, tief in den Genre-Mythologien von Gangsterfilm und Film noir verwurzelte Prämisse, der dieser Film folgt.

Titli (Shashank Arora) also möchte raus. Raus aus der engen, schmutzigen Gasse in einem Slum am Rande von Delhi. Raus aus dem Haus, das so winzig ist, dass man beim Essen immer jemandem zuhört, der sehr geräuschvoll seine Zähne putzt (gegessen und Zähne geputzt wird viel in diesem Film, der anstatt auf eine betont reißerische Darstellung des Lebens in einem Armenviertel darauf setzt, dieses möglichst alltäglich zu vermitteln). Raus aus der dysfunktionalen, von patriarchalen Strukturen und Gewalt der Älteren gegen die Jüngeren und der Männer gegen die Frauen geprägten Familie. Raus aus den kriminellen Machenschaften, in die ihn seine beiden älteren Brüder verwickeln, mit denen er gemeinsam Raubüberfälle begeht.

Seine Brüder verheiraten Titli mit einer jungen Frau, Neelu (Shivani Raghuvanshi), die er kaum kennt und mit der ihn doch verbindet, dass auch sie es sich zum Ziel gesetzt hat, dem Dasein als unterdrückte Slumbewohnerin zu entkommen. Der Fluchtpunkt ihrer Sehnsüchte ist jeweils die Skyline der Stadt, die im beständigen Werden begriffen ist, in der Kräne Hochhäuser gen Himmel ziehen, von einer Entwicklung zeugend, die droht, die Menschen an der Peripherie der Städte zu vergessen. Menschen wie Titli und Neelu, die verzweifelt darum kämpfen, ihren Platz in dem neuen Indien zu erhalten, das hier entsteht. Schon die erste Einstellung des Films setzt einen Kontrast zwischen Titlis Kopf, der halbnah von hinten zu sehen ist, und dem im Bau begriffenen Parkhaus eines Einkaufszentrum, in das sich der Junge einkaufen will, um es zu bewirtschaften. 300.000 Rupien braucht er dafür. Titlis Weg von hier nach Hause wird gezeigt als Weg in eine andere Welt, in der der junge Mann mit dem ersten spontanen Gewaltausbruch des Films begrüßt wird. In und an der Skyline arbeitet auch Prince, Neelus Freund, der Bauunternehmer ist und seine Eignung als Projektionsfläche für schmachtende Mädchenphantasien schon im Namen trägt. Die sprechenden Namen der männlichen Figuren geben zugleich Aufschluss über die Perspektivierung des Geschehens. Es sind jeweils die Armen, die Ausgestoßenen, deren Wünsche sich in diesen Namen offenbaren. Es ist ihre Welt, von der dieser Film handelt. Die Wolkenkratzer, bedrohliche und imposante Klötze, wirken in dieser Welt in den Totalen immer wieder wie Fremdkörper, sonderbar entrückt, wie nicht von dieser Welt.

Dem Gesellschaftsportrait, das Behls Film zeichnet, geht es immer wieder um die Kollision gänzlich verschiedener Welten an einem Ort und zu einer Zeit. Da sind die Frauen, die mit den Mitteln der modernen Welt, mit Scheidung, Anwälten und Gerichten gegen das Steinzeitpatriarchat ihrer prügelnden Ehemänner vorgehen. Da ist Titli, der mit seinen sauberen, aber einfachen Klamotten in der eleganten, geschniegelten Welt von Prince‘ Büro und den Appartementhochhäusern, die er baut, wie ein durch und durch Fremder wirkt.

Der Name des Protagonisten suggeriert auch, dass dieser eine Entwicklung durchmachen wird, die Metamorphose von der hässlichen Raupe zum prächtigen Schmetterling. Regisseur Behl erklärt im Interview, dass das ironisch zu verstehen sei, weil Titli eher eine negative Entwicklung durchläuft, bei seinem Kampf darum, der Hölle, in der er lebt, zu entkommen, immer gewalttätiger wird, sich mehr und mehr den Männern anverwandelt, denen er zu entrinnen sucht. Damit ist auch die zentrale Zumutung beschrieben, die „Titli“ für seine Zuschauerschaft bereithält, die dem Jungen, mit dem man sich doch im Rahmen einer against all odds-Geschichte restlos identifizieren soll, dabei zuzusehen, wie er langsam zum Monster wird. Während zu Beginn die Beteiligung an den Carjackings seiner Brüder die eines passiv Zusehenden ist, wendet er gerade in seinem Verhältnis zu Neelu mehr und mehr selbst Gewalt an. Von der versuchten Vergewaltigung in der Hochzeitsnacht über einige handgreifliche Auseinandersetzungen bis zu der Szene, in der er Neelu betäubt und ihr mit einem Hammer die Hand bricht, um einen Unfall vorzutäuschen.

Es verdankt sich unter anderem dem großartigen Spiel von Hauptdarsteller Shashank Arora, dass dabei immer Ambivalenzen bleiben, dass die Getriebenheit des Jungen, der in dem Moment seiner Heirat gemäß der patriarchalen Ordnung der Familien nicht mehr der Schwächste ist, nicht mehr nur Unterdrückter, sondern nun auch Unterdrücker, immer sichtbar bleibt und er doch zugleich fiebrig nach Allianzen sucht, die diese Gesellschaftsordnung unterwandern. Behl öffnet dabei das Arthauskino zum Genre hin und entwickelt in der Erzählung der tragischen Verstrickungen größte Intensität.

Was Titli und Neelu zum Schluss mehr und mehr verbindet, ist ihre Desillusionierung durch die „bessere Gesellschaft“, die sich als hinterhältig und verlogen erweist. Dass die aus dem gesellschaftlichen Zwang geborene Allianz sich durch eine gemeinsame Erfahrung zu einem gangbaren Ausweg entwickeln kann, ist die Hoffnung, mit der „Titli“ sein Publikum entlässt.

Wenn es blendet, öffne die Augen

(A 2014, Regie: Ivette Löcker)

Die Vergessenen der Geschichte
von Nicolai Bühnemann

Die erste, relativ lange Einstellung zeigt die triste, heruntergekommene Fassade eines Plattenbaus. Dazu erklingen aus dem Off zwei Stimmen, eine männliche und eine weibliche. Wenn das Bild ein Relikt eines …

Die erste, relativ lange Einstellung zeigt die triste, heruntergekommene Fassade eines Plattenbaus. Dazu erklingen aus dem Off zwei Stimmen, eine männliche und eine weibliche. Wenn das Bild ein Relikt eines untergegangenen Systems, eines untergegangene Staates, der Sowjetunion, zeigt, dann erzählen die Stimmen dazu von denjenigen, die bei dem Umbruch, der mit diesem Untergang einherging, auf der Strecke geblieben sind, die nicht mitgenommen wurden, sondern die die Geschichte hier in ihrem Plattenbau vergessen zu haben scheint. Von der Freiheit, die man auch zu nutzen wissen muss, erzählen diese Stimmen, von den Drogen.

Yvette Löcker hatte eigentlich, so sagt sie, einen Ensemblefilm drehen wollen über die Generation, die Anfang der Neunziger jung waren im Russland nach der Perestroika, von denen viele drogenabhängig wurden. Herausgekommen ist jedoch das sehr intime Portrait eines einzelnen Paares in Sankt Petersburg: Shanna und Ljoscha, er hat Hepatitis, sie ist HIV-positiv, beide sind heroinabhängig. Der Zuschauer lernt zunächst ihn kennen – als Streetworker. In einer Einrichtung erzählt er einer schwangeren Abhängigen von den Auswirkungen, die die Opiate auf ihr Kind haben werden, das mit Entzugserscheinungen zur Welt kommen wird. Dann ist die Kamera bei ihm in seinem kleinen Auto, auf dem Weg in die Außenbezirke der Stadt, wo er mit seiner Mutter und seiner Freundin Shanna in einer winzigen, beengenden Plattenbauwohnung lebt.

Der Film setzt die Ankunft in der Wohnung, die er im weiteren Verlauf kaum einmal verlassen wird, als harten Kontrast zu Ljoschas Auftritt als Sozialarbeiter. Hier präpariert er zwei Spritzen mit Methadon, das er sich und Shanna injiziert. Die zurückhaltende, betont beiläufige Art, mit der der Film das zeigt, verweigert sich den beiden Extremen einer glamourösen Überhöhung des Konsums auf der einen Seite ebenso wie seiner sozialpädagogischen Dramatisierung auf der anderen. Für Shanna und Ljoscha gehört das Drogennehmen einfach zum Alltag, den Löckers Film sehr einfühlsam, zärtlich und mit riesiger Neugier skizziert. Wie das Essen, die Gespräche und kleinen Stänkereien, das ständige Rauchen, das Fernsehen und das Spielen mit ihrem Hamster.

Genauso wenig wie der Film seine Protagonisten auf ihre Krankheit reduziert, lässt er sie hinter den historischen Implikationen ihrer Biographie verschwinden. Vor der Geschichte und den Drogen steht in „Wenn es blendet, öffne die Augen“ der Mensch. In erster Linie geht es dem Film darum, uns seine Protagonisten näher zu bringen. Und zwar einerseits jeden für sich und andererseits in dem abhängigen und co-abhängigen Beziehungsgeflecht, das die drei miteinander verbindet und dem der Film eher in seinem Funktionieren auf den Grund zu gehen trachtet als in seiner Dysfunktionalität.

Da ist Ljoscha, der sich teilweise in der Beziehung zu Shanna, die – schon rein körperlich – auf ihn angewiesen ist, gefangen fühlt, der noch Träume hat, etwas anfangen möchte mit seinem Leben. Dann Shanna, die weitestgehend resigniert zu haben scheint, die sich ein cleanes Leben, so sagt sie an einer Stelle, gar nicht mehr vorstellen kann. Dennoch und bei aller körperlichen Gebrechlichkeit und seelischen Gebrochenheit liegt in ihrer Freude am Reden, am ausufernden Erzählen eine große Vitalität, der ihr Freund ein ums andere Mal Einhalt gebietet. Allen Widrigkeiten ihrer Situation zum Trotz scheint ihre Beziehung voller – wenn auch oft sehr sarkastischem – Humor zu sein. Schließlich Ljoschas Mutter, aus deren Versuchen, das Leid des Paares zu mildern – etwa indem sie ihnen ihr Essen eher aufdrängt als anbietet – Hilflosigkeit, aber auch eine sehr große, auf etwas raue Art zärtliche Menschlichkeit sprechen. Angesichts des Lebens von Shanna und Ljoscha sehnt sie sich die Sowjetunion zurück, wo es angeblich keine Drogen gab (eine Behauptung ihrerseits, der Ljoscha sogleich widerspricht und dafür auch Beispiele anführt).

Durch den Film ziehen sich Szenen, in denen das Paar durch alte Fotoalben blättert, der Kamera Bilder aus ihrer Jugend präsentiert, so als ginge es darum, sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit zu machen, einen missing link zu finden zwischen einem Lebensalter, das aufgeladen war mit Hoffnungen und Sehnsüchten – und das in ihrem Falle um so mehr, da es mit einem fundamentalen historischen Umbruch korrelierte – und ihrer Gegenwart. Löcker unterstreicht diesen Aspekt, indem sie an mehreren Stellen im Film – unter anderem direkt zu Beginn, nach dem Prolog – ein Punk-Konzert zeigt, das darauf verweist, dass das Drogennehmen vielleicht auch für Shanna und Ljoscha einst etwas von Aufbruch und Rebellion hatte, von Expressivität, statt der erzwungenen Zurückgezogenheit, zu der es sie in der Gegenwart verdammt.

Dass die Kamera meistens sehr dicht an den Gesichtern der beiden ist, wird schon durch die Enge der Wohnung vorgegeben. Gleichzeitig passt diese Nähe aber auch zu der Vertrautheit zu den Figuren, die der Film nach und nach aufbaut. Die letzte Szene zeigt die beiden in einem Park. Er schiebt sie im Rollstuhl. Die Art, wie das inszeniert ist, nacheinander sind ihre Gesichter im Close-Up und in Zeitlupe zu sehen, scheint einen Bruch mit der nüchternen, funktionalen Ästhetik zu bilden, die den Film bis hierher auszeichneten, sich wesentlich mehr den Konventionen des internationalen Arthouse-Kinos anzunähern (meine Assoziation war etwa der französische Publikumsliebling „Ziemlich beste Freunde“). Dieses Ende bietet aber gleich in mehrfacher Hinsicht einen gelungenen Abschluss für einen hervorragenden Film. Zunächst einmal, weil es die Studie der Gesichter der zwei Hauptfiguren fortsetzt, die dem Film die gesamte Laufzeit über am Herzen liegt, und die immer darauf aus ist, mehr in diesen Gesichtern zu finden als nur die offenkundige Zeichnung durch die Krankheit. Dann scheinen diese Bilder in ihrer Erhabenheit aber auch ein Denkmal für zwei Menschen errichten zu wollen, die die Geschichte vergessen zu haben scheint.

Five Ways to Dario

(D / AR / MEX 2010, Regie: Dario Aguirre)

Ich bin eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu!
von Sven Pötting

Dario Aguirres Geschichte beginnt Ende der 1990er Jahre, als er sich in eine Deutsche verliebt und ihretwegen sein Geburtsland Ecuador verlässt, um künftig in der Heimat seiner Freundin zu leben. …

Dario Aguirres Geschichte beginnt Ende der 1990er Jahre, als er sich in eine Deutsche verliebt und ihretwegen sein Geburtsland Ecuador verlässt, um künftig in der Heimat seiner Freundin zu leben. Trotz aller intensiven Bemühungen, sich anzupassen, fühlt sich der Filmemacher auch nach mehr als zehn Jahren in seiner Wahlheimat wie ein Fremder. Das Fremd-sein ist Teil seiner Identität geworden. Er wird das Gefühl nicht los, dass es mehrere Darios in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen gibt: beispielsweise den stets gestressten ecuadorianischen Dario in Deutschland und den deutschen Dario, der nur mit gemischten Gefühlen nach Südamerika reist.

Wer ist er wirklich? Wer will er sein? Um diese Fragen beantworten zu können, um zu sich selbst zu finden, muss er erst einmal weggehen. Er googelt seinen Namen und stellt fest, dass es hunderte von Männern auf der ganzen Welt gibt, die so heißen wie er. Er schreibt einigen seiner Namensvettern Briefe und E-Mails. Fünf antworten ihm und laden ihn zu sich nach Hause ein. Er begibt sich also auf eine Reise um die halbe Welt und besucht die Menschen, die alle seinen Namen tragen. Für zwei Monate darf der Filmemacher an fünf verschiedenen Leben von anderen Darios teilhaben und wird dabei selbst mit neuen Situationen und Herausforderungen konfrontiert, die es für ihn zu meistern gilt.

Durch die Namensverwandtschaft öffnen sich dem Reisenden Türen zu fünf völlig unterschiedlichen Männern und ihren Lebensläufen. Er trifft einen Psychologen in Mexiko, einen taxifahrenden Rentner in der Vorstadt von Buenos Aires, einen Soldaten in Patagonien, einen Maler in der argentinischen Provinzstadt Córdoba und einen Fußballer, der werdender Vater ist, auf Feuerland.

„Five Ways to Dario“ beschreibt eine Bewegung des Protagonisten ins Mögliche – deswegen hat der Film eine gewisse Affinität zu einem Roadmovie. Auf seinem Weg, der als Reise ins Ungewisse begann, findet der Reisende zu sich selbst. Aber nicht nur er: Allen Dario Aguirres, denen man im Film begegnet, bedeuten die Begegnungen eine Bereicherung. Für sie ist der Namensvetter ein Vertrauter, fast wie ein bislang unbekannter Verwandter. Auch ihnen helfen seine Besuche, sich selbst besser zu verstehen oder zumindest Momente des Glücks und der Zufriedenheit in einer von Unsicherheit geprägten Lebensphase zu finden.
Der Reisende wiederum lernt, seine eigene Vergangenheit zu akzeptieren. Er fragt sich nicht mehr, welchen Lauf sein Leben genommen hätte, wenn er in Lateinamerika geblieben wäre. Dies stärkt auch seine Beziehung zu seiner deutschen Freundin. Einem Happy End steht nun nichts mehr im Weg.

„Five Ways to Dario“ ist sowohl eine sehr persönliche Arbeit als auch „typisch lateinamerikanisch“: Die Identitätsfrage, sowohl in persönlicher, nationaler wie auch kontinentaler Hinsicht, ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein zentraler Bestandteil der intellektuellen Diskussion der lateinamerikanischen Länder. Sie hat sich einerseits in einem umfangreichen essayistischen Schrifttum niedergeschlagen, andererseits bildet sie einen wichtigen Impuls des modernen lateinamerikanischen Romans, wie auch für zahlreiche Filme aus verschiedenen Ländern des Subkontinents.

Wie der vorherige Film von Dario Aguirre, „Césars Grill“ (2013), ist auch „Five Ways to Dario“ ein berührendes und gleichzeitig amüsantes Werk. Ein Thema mit existentialistischer Note wird mit leichter Hand und mit der Neigung zum Spielerischen – sichtbar etwa in den immer wieder eingestreuten Animationen – verhandelt. Es wird stringent erzählt, die Beobachtungen verlieren sich niemals im Banalen oder Belanglosen (wie es etwa bei dem Bonusmaterial des Films, den „deleted scenes“ der Fall ist). Die Ausgangssituation des Films ist allerdings nicht ganz so originell. Auch in anderen Dokumentationen wurde Dario Aguirres Experiment in ähnlicher Form bereits durchgeführt – zu nennen sei etwa Alan Berliners „The Sweetest Sound“ (USA 2001). Dennoch ist der bei „Real Fiction“ auf DVD veröffentlichte „Five Ways to Dario“ interessant und sehr sehenswert.

Heute bin ich Samba

(F 2014, Regie: Olivier Nakache, Eric Toledano)

Wo ist Schweiger?
von Jürgen Kiontke

Hochzeit, große Torte, Konfetti-Regen: Im Hotel Vier mal Schwuppdiwupp steppt die Luzie. Der Blick fährt durch den Festsaal, landet im Gang, verweilt bei den Kellnern, schaut durch die Küche, landet …

Hochzeit, große Torte, Konfetti-Regen: Im Hotel Vier mal Schwuppdiwupp steppt die Luzie. Der Blick fährt durch den Festsaal, landet im Gang, verweilt bei den Kellnern, schaut durch die Küche, landet in der Spülabteilung. Je weiter sich die Kamera in die Tiefen der Sterne-Gastronomie vorwagt, desto dunkler werden die Menschen. Vorn tanzt weiße Oberschicht, hinten putzt Südsahelzone. Danach kommen nur noch die Mülltonnen. Wäre der Film „Heute bin ich Samba“ hier zu Ende, es winkte der Auslands-Oscar.

Samba (Omar Sy) ist ein Riesenkerl, der schon zehn Jahre in Frankreich verbracht hat. Ein Illegaler, ein Arbeitsmigrant, der seiner Familie Geld schickt, das er in Sans-Papier-Hinterhöfen verdient. Nun soll er abgeschoben werden.

Erstaunlich lange hat man das Gefühl, das könnte hier noch was werden. Die Filmemacher leuchten viele Ecken des illegalen Prekariats aus, und gar nicht schlecht. Fensterputzer, Security, Asphaltierer – Samba absolviert eine Tour de Force durchs Tagelöhnertum. Gut gemacht!

Dann wird’s Slap und vor allem Sticky: Im Hilfeverein trifft er die Burn-out-geschädigte Karriere-Tussi Alice (Charlotte Gainsbourg), die ihr Ehrenamt als Sinn-Reha versteht. Es knistert zwischen schönem Mann und schöner Frau; erweist sich doch der gute Senegalese als einfühlsamer Therapeut (Psycho wie Physio). Eine Menge Skurriles geschieht und so lustige Menschen drumrum: die schlagfertige Pariserin, der lustige Wuschelkopf … Nun schaut auch die Polizei vorbei, aber schon zwinkert die ganz verschmitzt!

Das erinnert ein bisschen an „Ziemlich beste Freunde“, was kein Wunder ist, teilen sich doch beide Filme Regie und Hauptdarsteller. Wurde ersterer mit seinen politischen Unkorrektheiten in der Gegenüberstellung Proll-Ausländer – reicher Behinderter zum Erfolg, richtet es bei „Samba“ die Kombi Aufenthaltsbescheinigung trifft unterfickte Karrierefrau. Hoffentlich stimmt das auch alles! Manchen schwant da was – die Schauspieler sind ganz schön am schauspielern, Gainsbourgs Augen ganz groß vor so viel Realität. Vielleicht doch noch mal ein Kurs belegen an der Lee-Strasberg-Schule? Der allzu smarte Omar Sy sollte sich mal nach einer Rolle als reicher Schnöselrapper umsehen.

Fazit: Schau an, jetzt dreht man auch in Frankreich schon deutsche Komödien. Aber vielleicht ist das alles ja auch genau richtig so. Und gerade – und nur! – das banalisierte Migrantenschicksal erwärmt die Herzen in großer Menge.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 3/2015

Die Reise zum sichersten Ort der Erde

(AT / D / CH 2014, Regie: Edgar Hagen)

Strahlende Zukunft
von Jürgen Kiontke

Der Schacht Konrad hat seine Anwohner schon vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte getrieben. Kein Wunder: Der alte Stollen bei Salzgitter soll als Atommüllendlager dienen. Wenn in den vergangenen Jahren …

Der Schacht Konrad hat seine Anwohner schon vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte getrieben. Kein Wunder: Der alte Stollen bei Salzgitter soll als Atommüllendlager dienen. Wenn in den vergangenen Jahren irgendwo Radioaktivität drauf stand, war meist die Repression nicht weit. Der Atombetrieb fordert seinen Tribut. Hunderttausende Tonnen Material müssten sicher gelagert werden – und sicher heißt: mindestens für die nächsten 100.000 Jahre.

Welche Folgen das hat, lotet der Film „Die Reise zum sichersten Ort der Welt“ aus. Regisseur Edgar Hagen nimmt uns mit auf eine lustige Reise durch die Erdschichten. Er folgt dem Wissenschaftler Charles McCombie, der auf der Suche nach einer passenden Endlagerstätte ist. Unterwegs lernt man Fachleute kennen und Menschenrechtsaktivisten wie Russell Jim von der Yakama Indian Nation. Auf dem Gelände, wo die früher lebte, befinden sich die Reste der Atombombenherstellung im Zweiten Weltkrieg. Dass damals keine Rücksicht auf den aus Indianersicht sakralen Status des Geländes genommen wurde, geschenkt. Die Krebsrate ist dementsprechend. Man hätte trotzdem mal besser hinschauen sollen, sagt Jim: Der heilige Berg ist aus Basalt und neigt zu Rissen, seit neuestem sickert der Müll in den Columbia River.

In Hagens Film geben sich Gesundheitspolitiker, Umweltschützer und Menschenrechtsexperten zwischen Australien und Lüchow-Dannenberg ein Stelldichein. Der hochinteressante Film stellt jede Menge Fragen über die Verantwortung gegenüber künftigen Generationen, Bürgerrechte heute und morgen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal 2/2015

Broadway Therapy

(USA 2014, Regie: Peter Bogdanovich)

Es war einmal vor langer Zeit in Hollywood
von Daniel Bickermann

Es gibt unter den Filmemachern eine kuriose, stets etwas ungelenke Gattung: die sentimentalen Filmgeschichts-Nerds. In der französischen Nouvelle Vague gehörte es für die Regisseure zum guten Ton, als Kritiker oder …

Es gibt unter den Filmemachern eine kuriose, stets etwas ungelenke Gattung: die sentimentalen Filmgeschichts-Nerds. In der französischen Nouvelle Vague gehörte es für die Regisseure zum guten Ton, als Kritiker oder Filmkurator gearbeitet zu haben und die Meisterwerke vergangener Generationen bis ins Detail zu kennen und geschickt zu zitieren. In Hollywood dagegen sind die Filmgeschichts-Romantiker eine vernachlässigte, aussterbende Art – hier geht es ums Jetzt! Jetzt! Jetzt!, nicht um die Reize längst vergangener Filmepochen. Entsprechend schlecht geht es den weniger verbliebenen Filmnerds in Hollywood: Cameron Crowe, mit seinem Interview-Buch mit Billy Wilder und seiner Vorliebe für die Verlierer-Figuren aus dieser Goldenen Ära der Traumfabrik, sucht derzeit sein verlorenes Publikum. Steven Soderbergh, dessen Noir- und Gauner-Experimente eine vergangene Ästhetik neu erfinden wollte, hat das Filmemachen zugunsten der Kunst aufgegeben. Und Sam Mendes, mit seinen Sirk-esken Vorstadtmelodramen und seine Neo-Noirs, lässt sich nur noch für die ebenfalls sentimentale Bond-Reihe von seiner Theaterarbeit ablenken.

Der König unter diesen herrlichen Narren ist aber sicherlich Peter Bogdanovich. Mindestens ebenso sehr Filmwissenschaftler wie Filmkünstler, hat er sich einst an die längst vergessenen Stars seiner Zunft heran geworfen, an John Ford, Howard Hawks, Orson Welles – mit Retrospektiven und Interviewbüchern für die, die noch stehen konnten, und mit Behausung und Alkoholzufuhr für die, die am Ende waren. Stets träumte er davon, mit seinen eigenen Filmen das Goldene Zeitalter wiederzubeleben und Genres wie das Melodrama, den Kostümschinken oder die Screwball-Komödie neu zu erfinden. Ob er es als Ehre oder bittere Ironie empfindet, dass seine Karriere erstaunlich ähnlich verlief wie die seines großen Vorbilds Orson Welles – nach einigen bejubelten Frühwerken kam viel Mittelmaß und einige inspirierte, aber verkannte Altersarbeiten – darüber kann man nur spekulieren.

Nun hat Bogdanovich nach 13 Jahren Pause seinen ersten Film vorgelegt, und im Gegensatz zu anderen, enttäuschenden Revivals großer Indie-Filmemacher (wie Nicolas Roegs unfreiwillig seltsamem „Puffball“ nach 12 Jahren im Exil oder Whit Stillmans lauwarmem „Damsels in Distress“ nach 13 Jahren Abwesenheit von der Leinwand) ist das hier ein Rückkehrerfilm zumindest auf Augenhöhe mit seinem bisherigen Werk. Nun sollte man für die Nicht-Eingeweihten allerdings klarstellen, was das heißt. Denn nur in den seltensten, inspiriertesten Momenten seiner Karriere (beispielweise in seiner Slapstick-Farce „Is was, Doc?“ oder der sträflich unterschätzten Theater-Revue „Noises Off“) ist es Bogdanovich wirklich gelungen, die sichtbare Anstrengung und Gewolltheit seiner stilistischen Eskapaden zugunsten einer eleganten Leichtigkeit abzuschütteln. Diesen beinahe Zen-artigen Zustand der völligen Immersion in eine Filmepoche oder Ästhetik, die nicht mehr den heutigen Sehgewohnheiten entspricht, erreicht sein neuestes Werk „She’s Funny That Way“ nicht durchgehend. Das macht den Film zu einer etwas anstrengenderen, verkopfteren Erfahrung – aber trotzdem zu einer zutiefst lohnenswerten.

Der „Fehler“ besteht wohl darin, dass Bogdanovich den Stoff, den er bereits seit Jahrzehnten in der Schublade hatte, nicht in die heutige Zeit transportiert bekommt, wie ihm das mit „Is Was, Doc?“ in den Siebzigern oder „Noises Off“ in den Achtzigern gelungen ist. Die Ensemble-Farce „She’s Funny That Way“ um eine Prostituierte, die ein Schauspiel-Engagement erhält und anschließend durch einen Figurensumpf mit einem fremdgehenden Theaterregisseur, einem eifersüchtigen Stammkunden, einem treudoofen Autor und ihrer hysterischen Therapeutin navigieren muss, wirkt, im Guten wie im Schlechten, wie ein Rückfall in die Geschlechtersatiren der 30er oder 40er, mit vertauschten Hotelzimmern, verwechselten Identitäten, Ohrfeigen, Hunden und generell genüsslichem Knallchargentum. Die Schauspieler legen da freudig und größtenteils erfolgreich noch eine Nostalgie-Schippe mit drauf: Imogen Poots gibt die großäugige, großmäulige Hure mit dem Herz aus Gold, die sicherlich nur ein Zelluloid-Klischee ist; Owen Wilson stottert und irrlichtert in seinem besten Woody-Allen-Pastiche, und die praktisch totgesagte Jennifer Aniston beweist ungeahntes Talent, indem sie alle Regler auf 11 dreht und damit beinahe den Film sprengt. Dazu kommen Cameos von alten Bogdanovich-Gefährten wie Tatum O’Neal und Cybill Shepherd oder von aktuellen Stars wie Michael Shannon, der einen so glorios unnötigen Mini-Auftritt für einen so absurd nebensächlichen Oneliner hat, dass man vor Freude japst. Es ist also kein Meisterwerk geworden, das uns beweisen könnte, wie zeitgemäß und passend manche vergessenen filmischen Strategien für die Darstellungen der heutigen Gesellschaft wären. Es fühlt sich eher so an, als würde man eine verschollene Kuriosität wiederentdecken (vielleicht ein Nebenwerk von Preston Sturges), die zweifelsohne von größtem Unterhaltungswert ist, aber uns auch stets an ihr Alter erinnert.

Doch, wie gesagt, das ist nicht das schlechteste Gefühl, das man beim Ansehen eines Films haben kann. Tatsächlich scheint diese leichte Angestaubtheit sogar Teil von Bogdanovichs Agenda zu sein, zumindest spielt er in einigen Momenten durchaus geschickt damit. Beispielsweise gibt er dem Film eine bewusst illusionsbrechende Rahmenhandlung in Form eines Interviews über die Anfänge einer jungen Schauspielerin. Diese, es ist natürlich die vermeintliche Ex-Prostituierte, die es inzwischen nach Hollywood geschafft hat, bekennt sich im Gespräch offensiv zu den Werten des traditionellen Hollywood und beschwört mit beinahe heiligem Ernst die alte Weisheit, dass eine Geschichte erlogen, albern und konstruiert sein darf, solange sie nur unterhaltsam ist – ganz besonders eine Lebensgeschichte. Es geht gar nicht um Abbildung von Realität, sondern um die Perpetuierung von Mythen und den Umgang mit liebevollen Stereotypen. So ist es nicht verwunderlich, dass Wes Anderson und Noah Baumbach unter den Produzenten waren, und ebenso wenig sollte es eigentlich überraschen, dass ausgerechnet Quentin Tarantino einen Gastauftritt hat. Vielleicht geht es dem Verein von Filmnerds und Fantasten in Hollywood ja doch nicht so schlecht, wie man anfangs meinte.

Cinderella

(USA 2015, Regie: Kenneth Branagh)

Fifty Shades of Colour
von Jürgen Kiontke

Zum Frühlingsanfang: Eine neue Optik verändert die Sicht aufs Kino. Auf „Fifty Shades of Grey“ folgt „Cinderella“. „Haha, schlecht sehen kann ich gut, aber gut hören kann ich schlecht“ – …

Zum Frühlingsanfang: Eine neue Optik verändert die Sicht aufs Kino. Auf „Fifty Shades of Grey“ folgt „Cinderella“.

„Haha, schlecht sehen kann ich gut, aber gut hören kann ich schlecht“ – der Augenarzt ist ganz schön guter Dinge. Schlechte Optik ist seine Geschäftsgrundlage. Ich bin gekommen, weil ich eine Brille habe, die aber nie anziehe. Außer im Kino und bei der „Sportschau“. Auf dem Fußballplatz wär vielleicht auch nicht schlecht… In den letzten Monaten hat die Sehkraft etwas stark nachgelassen, vor allem im Kino. So ganz sicher bin ich aber nicht, ob das nur an mir liegt – schließlich war neulich auch ein großes Filmfest, wo man 40 Filme und mehr schaut. Da guckt man schon mal etwas verschwommen.
Dann gab es „Fifty Shades of Grey“. Bei dem Titel wundert einen ja nichts. Der Film war entgegen landläufiger Meinung nicht so schlecht, auch wenn die Darsteller weniger gut aussehen, als getan wird. Abgesehen vielleicht von Eloise Mumford, die die Mitbewohnerin von Protagonistin Anastasia Steele (Dakota Johnson) spielt.

Das ist zumindest in der ersten Stunde eine recht kapitalismuskritische Studie über die Liebe: Das Paar betreibt einen irrsinnigen Aufwand für seine Zuneigung. Nicht nur wegen Sadomaso: Der Mann muss Milliardär sein, mindestens mit dem Hubschrauber fliegt er die Liebste zum Essen. Beide haben tolle Eltern, obwohl der Junge Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden ein soll – wie das wohl geht?
Anastasia jobbt im Baumarkt, wo sie billig an Kabelbinder und sonstigen SM-Krempel kommt. Und sie hatte, Achtung, jetzt kommt’s: noch keinen Sex. Und das in ihrem Alter (Anfang 20).

Die zweite Stunde hält der Film dann aber nicht durch. Die beiden müssten jetzt die Welt retten – eine Atombombe entschärfen vielleicht oder einen Schatz finden. So bleibt‘s fade und geht als sehr werkgetreue Literaturadaption durch. Mann trifft Frau, Fesseln, leichte Haue, limitierte Schauspielkunst – das reicht so nicht. Vielleicht hätte man die drei Bücher, die es mittlerweile in der Reihe gibt, in einen Film packen können, nach den ersten 600 Seiten wollen die beiden ja heiraten und eine Familie gründen, na siehste.
Ich hatte das Buch übrigens zu Weihnachten gelesen und wollte das ein oder andere Exemplar verschenken. Aber niemand wollte es haben.
Wie es sich gehört, nehmen Trivialromanfüllsel den meisten Raum ein, leicht modifiziert: Wo die Figuren normalerweise die Lippen schürzen, knabbert Anastasia auf ihrer Unterlippe herum. Das macht sie auf jeder Seite mindestens ein Mal. Im Film dann auch. Alles ganz schön grau in grau.

Es geht aber durchaus noch düsterer, neulich konnte ich den Film „Die Nacht und das Kind“ sehen. Dort ging es um Gewalt, Flucht und Vertreibung. Mit dem Kind ging es ja noch eine Weile, dann wurde es aber zusehends – die Nacht! – dunkel. Erst raschelte es noch, dann war Stille. Zehn Minuten stockduster im Kino. „Zehn Minuten? Na, hör mal, das geht doch noch“, sagte mir ein Filmkritiker. Ja, stimmt auch wieder. Aber ob das dann noch Kino ist? „Das Unsichtbare im Film“ heißt ein Buchprojekt, das ich seit einiger Zeit verfolge. „Die Nacht und das Kind“ müsste unbedingt da rein. Da ist ja quasi alles mit gemeint. Da ist sogar der Film unsichtbar. Nicht zu sehen in „Fifty Shades of Grey“ dagegen sind Spannung, Witz, Entertainment. Es gibt Leute, die gehen nur dafür ins Kino.

Was macht eigentlich der Augenarzt im Film? Im „Minority Report“ (USA 2002) baut er Tom Cruise zwei neue Augen ein. Es gibt auch den Film „Im Augenblick der Angst“ (ES 1987), darin sammelt ein Augenarzt, na: Augen. Von seiner üblen Mutter manipuliert, begeht er grauenhafte Morde. „Ich liebe Brillen, Gleitsicht kommt mir nicht ins Haus. Lieber überall ´ne Lesebrille rumliegen haben“, sagt mein Medizinmann. Ob er ein – dunkles – Geheimnis hat? Eigentlich hat er nur Klamotten aus den achtziger Jahren an, sonst ist er ganz nett.
„So, hier ist ihre Verordnung, damit jeense mal zum Optiker. Viel Spaß von hier aus“, sagt er. Und: „Kino ist mir zu anstrengend, ich guck aber gern 'Dr. House!', ich hab mal im Krankenhaus gearbeitet. Ick hab ja ooch ne Praxis.“ Nun habe ich eine neue Brille. Es geht mir richtig gut. Denke ich zumindest nach dem ersten Film, den ich mit dem neuen Sehgerät gesehen habe. Der ist bunt. Erheblich bunter als alles bisher Dagewesene, selbst bunter als „Grand Budapest Hotel“, dieses öde, aber recht farbenhaltige Exponat.

Ich war in „Cinderella“. Kenneth Brannaghs Film ist alles, was sonst nicht ist: knallig, liebreizend, intelligent. In keiner Sekunde weicht er von den Zuschauererwartungen ab – bloß nicht! Sondern liefert, was im Titel versprochen wird: „Cinderella“. Die – gespielt von einer unglaublich aufgeräumten Lily James – ist so furchtbar blond wie schön, jedoch ins Unglück gefallen. Die Schwiegermutter ist ein ekliges Aas, aber gut besetzt (Cate Blanchett), die Stiefschwestern abgrundtief verrottet; die Tiere aber sind graziös und helfen (Mäusefamilie!). Ein Hoch auf die Freundschaft.
Gläserner Schuh, das große Fest, die gute Fee – bald schon naht die Rettung. Schöner Prinz (Richard Madden), Heirat (heterosexuell), und wenn sie nicht gestorben sind, sind sie auch heute noch glücklich. „Fifty Shades of Colour“ sozusagen, das filmische Gegenstück zur SM-Schmonzette: Hier gibt es alle Farben, nur grau, das gibt es bestimmt nicht. Da Winter, hier Frühling. Aschen-Ella fliegt auch nicht mit dem düsteren Firmen-Heli zum Essen, sondern fährt mit der goldenen Kutsche in die rauschende Ballnacht, die die kleine bunte gute Fee aus einem Riesenkürbis gezaubert hat. Aufwand wird auch hier betrieben, aber mit besseren Ergebnissen. Um zwölf ist Schluss mit dem schönen Zauber, Ella ist wieder die schmutzige Ella. Der Prinz muss sie im ganzen Land suchen lassen.

Geweint wird auch. Aber vor Rührung! Und wo sich das Pärchen in „Fifty Shades of Grey“ um das Grauen eines menschenfeindlichen Finanzsystems dreht, da sind die Statements in „Cinderella“ von geradezu zukunftsweisender Qualität. „Nein, wir brauchen keinen Fachkräfteimport“, sagt der junge Prinz, als er die Staatsgeheimnisse übernommen hat und gerade erschreckt in die Staatskasse geschaut hat. „Wir entwickeln, was wir selbst sind. Unsere eigenen Menschen und Ressourcen.“ Gemeinsam mit Cinderella macht er auf good governance, mit guter Peitsche sozusagen. Alle sehen prima aus, und wer sich nicht benimmt, geht einfach ins Exil. Welches ist jetzt die modernere Liebesgeschichte? Na, in dem Land würde man auch gern leben.

Kenneth Brannaghs Film ist ein flammendes Plädoyer für die Monarchie in Zeiten weltpolitischer Unübersichtlichkeit. Vielleicht sollte man sich diesen Vorschlag aus der Kultur ja mal als Modell für die Europäische Union durch den Kopf gehen lassen. Vorausgesetzt, genau die Personen sind an der Macht, die es im Film auch sind. Abgesehen davon: Im Gegensatz zum Film um Anastasia hält der hier locker zwei Stunden durch. Die Sexszenen sind in beiden vernachlässigungswürdig. Von „Die Nacht und das Kind“ mal nicht zu reden, der läuft nachts um drei bei Arte und wird sofort umgeschaltet. Auch deswegen ist er vorgemerkt für das Unsichtbare im Film. Einen Augenarzt hat „Cinderella“ übrigens nicht, der Prinz ist aber auch nur zeitweise mit Blindheit beschlagen.

Dabei sorgt eine neue Optik durchaus schon mal für neue Augen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Jungle World, 19.03.2015

Selma

(GB / USA 2014, Regie: Ava DuVernay)

Gefühliges Ikonen-Kino
von Jürgen Kiontke

Gleich bekommt Martin Luther King den Friedensnobelpreis. Es ist das Jahr 1964, und der US-Pastor hält seine legendäre Rede: „We shall overcome“, mit der er die Zustände in seinem Heimatland …

Gleich bekommt Martin Luther King den Friedensnobelpreis. Es ist das Jahr 1964, und der US-Pastor hält seine legendäre Rede: „We shall overcome“, mit der er die Zustände in seinem Heimatland anprangert, in deren südlichem Teil Schwarze auf offener Straße getötet werden können, ihnen das Wahlrecht versagt wird, obwohl es Gesetz ist.

Ava DuVernay setzt den legendären Vorkämpfer des gewaltlosen Widerstands in Szene. Sie folgt King in die Stadt Selma, wo Aktivisten den Widerstand gegen Rassendiskriminierung vor Ort organisieren. Die Polizei dort ist besonders gewalttätig – wenn die Bürgerrechtsbewegung hier erfolgreich ist, so die Überlegung, kriegen die mordsüchtigen Weißen kein Bein mehr auf die Erde. Dafür müssen sie eigentlich nur das tun, wofür sie bekannt sind: ihre Brutalität ausleben.

Zeitgleich verhandelt King mit dem Präsidenten Lyndon B. Johnson, wie die Rechte der afroamerikanischen Minderheit durchgesetzt werden können. Die Szenen im Weißen Haus zählen – leider – zu den besten des Films: Denn hier werden Widersprüche offenbar. Während die Figuren im Rest dieses wichtigen Films trotz liebevoller Ausstattung recht eindimensional daher kommen. So bleibt nur der Anfang furios.

Und es mag ja logisch sein, dass man einen Meister der gewaltlosen Worte die meiste Zeit beim Reden zeigt, unterbrochen nur von den immer gleichen Prügelorgien der Polizei, ein bisschen FBI und einer zickigen Ehefrau. Dennoch ist das Ergebnis recht bildarm. Etwas mehr Stilvielfalt mit erzählerischen Nebensträngen wäre womöglich überzeugender gewesen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Amnesty Journal 2/2015

A Most Violent Year

(USA 2014, Regie: J.C. Chandor)

Über den Prozess der Zivilisation
von Ulrich Kriest

New York 1981. Die Stadt versinkt in Gewalt und Korruption. Man sieht davon nichts oder zumindest nicht viel, aber aus dem Radio dringen andauernd irgendwelche Meldungen über Gewalttaten. Statistisch gilt …

New York 1981. Die Stadt versinkt in Gewalt und Korruption. Man sieht davon nichts oder zumindest nicht viel, aber aus dem Radio dringen andauernd irgendwelche Meldungen über Gewalttaten. Statistisch gilt 1981 als das „most violent year“ der Stadtgeschichte. In dieser in mehrfacher Hinsicht winterlichen Atmosphäre leiht sich der mittelständige Unternehmer Abel Morales von orthodoxen Juden eine große Summe Geld, um damit eine Brache am East River zu kaufen, die es ihm erlauben würde, seine Ware direkt in Empfang zu nehmen und zu distribuieren.

Morales macht in Heizöl, das Grundstück würde sein Geschäft in eine neue Dimension befördern, aber die Bedingungen der Kreditgeber sind alles andere als ein Spaß. Morales steht unter Druck, aber dieses Gefühl braucht er als Ansporn. Doch die Situation ist schwierig; die Konkurrenz schläft nicht. Immer wieder werden Laster voller Heizöl auf offener Straße gekapert und später entladen irgendwo abgestellt. Die Polizei scheint machtlos, weshalb die LKW-Fahrer-Gewerkschaft über eine Bewaffnung der Fahrer nachdenkt.

Es geht hier immer wieder um die Präsenz von Waffen, die zwar selten zum Einsatz kommen, aber gerne gezeigt oder einmal auch »hinterlegt« werden. Die Crux des Ganzen: Abel Morales hat es sich zur Aufgabe gemacht, seinen Aufstieg im Rahmen der Legalität zu vollziehen. Er arbeitet »sauber«, lässt sich nicht provozieren und begegnet seinen Konkurrenten als ein Freund offener Worte. Was er dabei (vielleicht) verdrängt: er hat das Geschäft seinem Schwiegervater abgekauft, einem in Brooklyn stadtbekannten Gangster. Und dessen Tochter Anna führt Abel jetzt die Bücher, weshalb es interessant zu werden verspricht, als ein afroamerikanischer Staatsanwalt Ermittlungen aufnimmt, die schließlich zur Anklageerhebung in mehreren Fällen führen werden. Was wiederum die Banken dazu veranlasst, bereits gegebene Kreditzusagen rückgängig zu machen. Keine einfache Situation für einen Mann, der im Alleingang die Geschäftsbedingungen innerhalb einer durch und durch korrupten Branche zu ändern versucht.

Die Zeichen der Zeit stehen jedenfalls auf Neoliberalismus, damals noch verstanden als Modernisierung und Aufbrechen verkrusteter Strukturen. So ist dieser Balanceakt denn auch nur mit größter Besonnenheit zu vollführen, aber gerade diese fast schon bockige Besonnenheit zeichnet Abel Morales aus. Einmal warnt Anna den Staatsanwalt, er möge Abels Ehrlichkeit bloß nicht mit Schwäche verwechseln, aber mehr als einmal lässt sie auch unmissverständlich durchblicken, dass sie Abels Rigorismus für Schwäche hält. Zumal die Ereignisse sie zu bestätigen scheinen.

Erstmals hat der Filmemacher J. C. Chandor („Margin Call“, „All Is Lost“) jetzt eine widersprüchliche Paarbeziehung zu beschreiben versucht – und das Ergebnis ist nicht weit von Shakespeare entfernt: mit Jessica Chastain als Lady Macbeth. Zugleich sieht „A Most Violent Year“ selbst so aus, als stamme er direkt aus der Zeit, in der er spielt. Die Ausstattung ist perfekt, aber die Figuren selbst scheinen sich in Modefragen von Filmen wie „Der Pate“ haben inspirieren lassen. Mehr als einmal fühlt man sich an die Milieustudien des „New Hollywood“ von Coppola, Friedkin und insbesondere Lumet erinnert.

Passend dazu gewählt ist das »dreckige« Gewerbe der Heizöl-Auslieferung, wo noch mit der Hand gearbeitet wird und Firmen-Vertreter von Tür zu Tür gehen, um der Konkurrenz Kunden abzuwerben. Die richtig großen Geschäften werden drüben am anderen Ufer, in Manhattan, abgewickelt: das Hafengrundstück, um das hier alles geht, erlaubt mehr als einmal einen freien Blick auf die bekannte Skyline. Der amerikanische Traum, den Abel Morales träumt, ist demjenigen von Tony Montana in „Scarface“ durchaus vergleichbar, auch deshalb kommt einem Jessica Chastain als Michelle Pfeiffer irgendwie bekannt vor. Ein Film, der die Krise von den Rändern in den Blick nimmt – und dafür seinerseits das Risiko eingeht, als kleiner, unspektakulärer Film wahrgenommen zu werden. Was auch durchaus nicht falsch ist.

Das ewige Leben

(D / AT 2014, Regie: Wolfgang Murnberger)

Versehrte alte Männer
von Wolfgang Nierlin

Verhärmte, aufgequollene, müde Gesichter blicken uns an. Sie gehören den Wartenden in einem Wiener Arbeitsamt, das mit seinen kalten Fluren und einer gedämpften Atmosphäre typische Tristesse ausstrahlt. Hier sitzt der …

Verhärmte, aufgequollene, müde Gesichter blicken uns an. Sie gehören den Wartenden in einem Wiener Arbeitsamt, das mit seinen kalten Fluren und einer gedämpften Atmosphäre typische Tristesse ausstrahlt. Hier sitzt der ziemlich abgebrannte Simon Brenner (Josef Hader), seit Jahren ohne Job und Einkommen, vor seiner Sachbearbeiterin und formuliert mit mürrischem Understatement, er sei zurzeit in einer „beruflich schlechten Phase“. Derart coole Euphemismen kontert die abgeklärte Fachfrau mit unmissverständlichem Realitätssinn: „Sie sind ein U-Boot.“ Brenners stoische Sicht auf die Wirklichkeit ist eben eine andere. Sein knorriger Eigensinn, seine duldsame Selbstgenügsamkeit sowie eine abgehalfterte Autonomie machen den desillusionierten Außenseiter zum unfreiwilligen Lebenskünstler.

Da trifft es sich nicht schlecht, dass ihm gerade noch rechtzeitig sein seit Jahren leerstehendes Elternhaus in Graz einfällt, das er im strömenden Regen erreicht. Doch das Dach hat ein Loch, die Einrichtung ist ziemlich heruntergekommen und verwahrlost und Strom gibt es auch nicht. Nur eine alte, misstrauische Katze zieht ihre Kreise. Dann besucht Brenner seinen früheren Kumpel Köck (Roland Düringer), einen Entrümpeler und Altwarenhändler, um ihn anzupumpen und ihm eine Pistole zum Kauf anzubieten. Doch Köck ist nicht minder abgerissen; und so rauchen die beiden erstmal zusammen einen Joint.

Der Animals-Song „When I was young“ zieht sich leitmotivisch durch Wolfgang Murnbergers Film „Das ewige Leben“, der erneut nach einem „Brenner-Roman“ von Wolf Haas entstanden ist. Die Erinnerungen an eine ausschweifende Jugend in den siebziger Jahren, vergegenwärtigt durch kurze Flashs, setzen ein, nachdem sich der von Migräne-Attacken geplagte Brenner „versehentlich“ eine Kugel in den Kopf geschossen hat. Mit schwarzem Humor, trockenen Dialogen und einer melancholischen Grundstimmung lässt Murnberger die nicht ganz unkomplizierten Wirkungen der Vergangenheit auf die Ernüchterungen der Gegenwart übergreifen.

Ein Trio ehemaliger Freunde, zu dem sich noch der „bad cop“ Aschenbrenner (Tobias Morett) gesellt, ist auf ungeahnte Weise in Hassliebe miteinander verbunden. Ein misslungener Banküberfall sowie eine gemeinsame Geliebte aus einer verjährten, aber noch nicht vergangenen Zeit, die sehr farbig erinnert wird, führen Jahrzehnte später zu tödlichen Verwicklungen. Die alten, ziemlich desillusionierten Männer dieser souverän inszenierten, pointiert gestalteten Tragikomödie sind allesamt Versehrte. Früher war alles besser („weniger Bürokratie, mehr Persönlichkeit“). Freundschaften enden. Etwas geht weiter. „Jetzt ist schon wieder was passiert.“

Das blaue Zimmer

(F 2014, Regie: Mathieu Amalric)

Ästhetisches Vexierspiel
von Wolfgang Nierlin

„Das Leben ist anders, wenn man es lebt, als wenn man es im Nachhinein zerpflückt.“ Julien Gahyde (Mathieu Amalric), der unter Mordverdacht steht, sagt diesen zentralen Satz zum äußerst gewissenhaften …

„Das Leben ist anders, wenn man es lebt, als wenn man es im Nachhinein zerpflückt.“ Julien Gahyde (Mathieu Amalric), der unter Mordverdacht steht, sagt diesen zentralen Satz zum äußerst gewissenhaften und sehr präzise arbeitenden Untersuchungsrichter (Laurent Poitrenaux), der die Ermittlungen in einem doppelten Mordfall leitet. Dessen kühle, analytische Rekonstruktion einer dunklen Geschichte, die auf Erinnerungen und damit auf die subjektive Wahrheit aller Beteiligten angewiesen ist, schichtet Details auf Details. Und gerade diese fragmentierte, höchst spekulative Analysearbeit macht der französische Schauspieler und Regisseur Mathieu Amalric in seiner filmischen Adaption von Georges Simenons „Das blaue Zimmer“ zum ästhetischen Prinzip.

Aus diesen Details, kurzen Flashs, inneren Bildern und Rückblenden in die Vergangenheit des Protagonisten resultiert nicht nur eine sehr subjektive, letztlich nicht verifizierbare Wahrheit, sondern auch ein erzähltechnisch sehr dicht gefügtes Raum-Zeit-Kontinuum. François Gedigiers ebenso kunstvolle wie virtuose Montage, die Bild und Ton oft voneinander ablöst und asynchron gegeneinander stellt, versetzt die üblichen Koordinaten der filmischen Erzählung in ein freies, assoziatives Spiel. Alles wird zum Ausschnitt, zum Fragment und zur vagen Erinnerung. Überhaupt ist lange nicht klar, worum es in dem Film überhaupt geht, was wiederum die Phantasie des Zuschauers anspornt. Dazu kommt noch, dass sich Mathieu Amalric und sein renommierter Kameramann Christophe Beaucarne für das unübliche, in letzter Zeit von Autorenfilmern aber wieder häufiger verwendete Normalformat (1:1,33) entschieden haben und trotz des engen Bildfensters mit dem Raum und seinen Rändern experimentieren. In erlesen fotografierten Bildern, unterstütz von einem klassisch anmutenden Score (Musik: Grégoire Hetzel), entstehen so immer wieder Verschiebung in den statisch gefügten Arrangements und Bildkompositionen.

In Amalrics ästhetischem Vexierspiel um Wahrheit und Lüge geht es aber zunächst um die leidenschaftliche Affäre zwischen Julien, einem Vertreter für Landmaschinen, und der Apothekerin Esther Despierre (Stéphanie Cléau), die sich am titelgebenden Ort für ihre gemeinsamen Liebesstunden treffen. Dabei wirkt die besitzergreifende, fast bedrohlich erscheinende Esther entschiedener als der sich im Verhör zunehmend abhanden kommende Julien. Als Esthers schwerkranker Mann plötzlich stirbt und Juliens Frau Delphine (Léa Drucker) vergiftet wird, fällt der Verdacht auf die Ehebrecher, deren Verhältnis in dem kleinen Ort nicht lange unentdeckt bleibt. Zwischen öffentlicher Meinung und Intimität, Wahrheit und Lüge entwickeln Mathieu Amalric und seine Koautorin Stéphanie Cléau, die auch privat ein Paar sind, ein spannendes filmisches Rätsel, das seine dunklen Geheimnisse nicht preisgibt.

3 Herzen

(F 2014, Regie: Benoît Jacquot)

Liebeskranke Implosionen
von Wolfgang Nierlin

Die tiefen, dunklen, deutlich voneinander abgesetzten Streichertöne zu Beginn von Benoît Jacquots Melodrama „3 Herzen“ verheißen nichts Gutes. Eine bedrohliche Schwere und Schicksalhaftigkeit liegen darin, die weit darüber hinausgehen, dass …

Die tiefen, dunklen, deutlich voneinander abgesetzten Streichertöne zu Beginn von Benoît Jacquots Melodrama „3 Herzen“ verheißen nichts Gutes. Eine bedrohliche Schwere und Schicksalhaftigkeit liegen darin, die weit darüber hinausgehen, dass Marc Beaulieu (Benoît Poelvoorde) seinen Zug zurück nach Paris verpasst hat und die Nacht in einer kleinen Provinzstadt verbringen muss. Schon eher klingen aus Bruno Coulais‘ Musik die zukünftigen Liebesschmerzen einer zufälligen Begegnung mitsamt ihren Hoffnungen und Verfehlungen. Kunstvoll ins Bild gesetzt (Kamera: Julien Hirsch) wird sie durch einen Wandspiegel in einer Bar, der den Kontakt zwischen dem aufgekratzten, fahrigen Steuerprüfer und der in sich gekehrten Antiquitätenhändlerin Sylvie Berger (Charlotte Gainsbourg) indirekt vermittelt. In der Nähe liegt also von Anfang an eine Distanz.

Unsicher und nervös, aber auch merkwürdig sprunghaft und ungewöhnlich offen ist dieser erste Dialog zwischen Sylvie und Marc, der sich fortsetzt in einer langen Nacht und ihre Gefühle füreinander wachsen lässt. Dass sich die beiden ein paar Tage später, beim verabredeten Rendezvous in den Tuilerien, verpassen, liegt in der Logik der melodramatischen Konstruktion, die mehr als einmal etwas gewollt forciert erscheint. Man muss das akzeptieren, um sich von den liebeskranken Implosionen dieses Gefühlskinos erfassen zu lassen. Auch die häufigen Perspektivwechsel sowie jener Off-Erzähler, der an wenigen Stellen kurz und knapp aus dem dunklen Nichts auftaucht, um die Handlung zu raffen, liegen in dieser etwas ungelenken Logik. Leider macht Benoît Jacquot an entscheidender Stelle auch vor dem Komödiantischen nicht Halt, wenn er zwei als Witzfiguren dargestellte Chinesen dafür verantwortlich macht, dass der gestresste Marc einen Schwächeanfall erleidet und sein Date verpasst.

Also lernt der gewissenhafte Finanzbeamte, wiederum zufällig, einige Zeit später Sylvies sensible jüngere Schwester Sophie (Chiara Mastroianni) kennen und lieben. Die beiden heiraten, bekommen ein Kind und führen ein „normales, ruhiges Leben“; was in diesem emotionsgeladenen Drama über schicksalhafte Begegnungen, verpasste Gelegenheiten, tiefe Blicke, unmögliches Vergessen sowie ein übermäßiges Leiden an der Liebe natürlich nicht so bleiben kann. Auf dunkle Ahnungen folgt unweigerlich eine Unruhe und Verzweiflung stiftende Realität.

Wenn Sylvie und Marc sich wiederbegegnen, hat er gerade Sophie geheiratet und liegt betrunken auf dem Bett, als er plötzlich förmlich aus dem Dunkel gerissen und ins deutlich verunsichernde Licht gestellt wird. Seine Verletzlichkeit und ängstliche Unruhe, die sich auf den Zuschauer übertragen, erinnern manchmal an das Spiel von Yves Montand in Filmen Claude Sautets. In der sehr melancholischen, seltsam unbehaust und verloren wirkenden Sylvie, die von Charlotte Gainsborug kongenial verkörpert wird, findet er eine Seelenverwandte, die schon bei ihrer ersten Begegnung sagt. „Ich würde gerne in die Wüste reisen.“ Wohin ihrer beider nur kurz dauernde Flucht vor aufgehender Sonne allerdings führt, bleibt ungewiss. Tatsächlich könnte Benoît Jacquots Film „3 Herzen“, so legt der Schluss nahe, auch ein Traum sein oder die Vision eines zwischen Leben und Tod „schwebenden“ Menschen.

Die langen hellen Tage

(GE / F / D 2013, Regie: Nana Ekvtimishvili, Simon Groß)

Grau und luftig
von Wolfgang Nierlin

„Jeder Georgier sollte eine Waffe haben“, tönt es entfernt und eher en passant aus dem Radio eines Busfahrers. Im Jahre 1992 ist das kaukasische Land an seinen Rändern in kriegerischen …

„Jeder Georgier sollte eine Waffe haben“, tönt es entfernt und eher en passant aus dem Radio eines Busfahrers. Im Jahre 1992 ist das kaukasische Land an seinen Rändern in kriegerischen Konflikten, während sich im Inneren ein gesellschaftlicher Umbruch vollzieht. Es herrscht Mangelwirtschaft, es gibt Versorgungsengpässe und in der Hauptstadt Tiflis, wo der Film „Die langen hellen Tage“ von Nana Ekvtimishvili und Simon Groß spielt, wird in den Schlangen vor der Brotausgabe heftig gerangelt und gestritten. Die Wut der Straße setzt sich in permanenten Händeln innerhalb der Familien fort. In der traditionell patriarchalisch geordneten Gesellschaft kann man die Aggressionen förmlich wandern sehen. Zwischen Stromausfällen und Bohneneintopf kämpft hier jeder gegen jeden, während ein Platzregen niedergeht und die maroden Straßen unter Wasser setzt.

Lange verharrt die Kamera gleich zu Beginn des Films auf dem schönen, stillen Gesicht der 14-jährigen Eka (Lika Babluani), die selbstbewussten Stolz und mutige Unerschrockenheit ausstrahlt. Zwar wirkt Eka in sich gekehrt, gleichwohl ist sie entschieden und eigensinnig. Die Handkamera des renommierten Bildgestalters Oleg Mutu, der zuvor mit Cristian Mungiu und Sergei Loznitsa gedreht hat, ist ihrem forschen, entschlossenen Gang immer dicht auf den Fersen. Aus diesem subjektiven, einfühlenden Blick resultiert eine große Nähe, deren Intensität durch die Dauer der Plansequenzen noch intensiviert wird. Mutu folgt den Bewegungen der Heldin und taucht dabei in die Wirklichkeit des georgischen Alltagslebens ein. Allerdings ist dieses nicht nur grau, zerrüttet und gewalttätig, sondern immer wieder überraschend licht, luftig und warm.

Von eigenen Erlebnissen inspiriert, erzählen Nana Ekvtimishvili und Simon Groß vom Erwachsenwerden inmitten eines rasanten Wertewandels, von der Suche nach weiblicher Identität, von Mädchenfreundschaften und poetischen Gegenwelten. Zwar leiden Eka, deren Vater im Gefängnis sitzt, und ihre enge Freundin Natia (Mariam Bokeria), deren Vater wiederum ein aggressiver Trinker ist, unter den teils chaotischen häuslichen Verhältnissen; trotzdem eröffnen sich ihnen immer wieder Freiräume eines verschworenen, heimlichen Lebens, in denen sich Widerstände und Regelverstöße artikulieren. Mit der Schönheit seiner Protagonistinnen, einer sinnlich-sommerlichen Atmosphäre und der Feier des einfachen Lebens transzendiert der eindrucksvolle Film gewissermaßen die triste Alltagsrealität mit ihren überkommenen, aber noch immer wirksamen Traditionen und Strukturen. Auch wenn diese am Ende auf brutale Weise bestätigt werden, vollzieht sich, von Eka in ihrer beharrlichen Stärke verkörpert, doch auch ein (zumindest individueller) Aufbruch.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Die langen hellen Tage'.

Focus

(USA 2015, Regie: Glenn Ficarra, John Requa)

Diebe und Liebe
von Nicolai Bühnemann

„Gedränge nur dem Dieb gefällt, drum Augen auf und Hand aufs Geld.“ Mit diesem Reim warnte die Berliner Polizei einst vor Dieben in der U-Bahn. Und „Focus“, ein Film über …

„Gedränge nur dem Dieb gefällt, drum Augen auf und Hand aufs Geld.“ Mit diesem Reim warnte die Berliner Polizei einst vor Dieben in der U-Bahn. Und „Focus“, ein Film über Diebe und ihre groß angelegten Betrügereien, lässt es sich im Gedränge, in der Menschenmenge so richtig gut gehen, fühlt sich hier sichtlich pudelwohl. Die Hand am Geld respektive der Uhr oder den Klunkern haben hier nur Nicky (Will Smith) und seine Bande. Unter vorgehaltenem Stadtplan oder die Augen und Ohren ablenkendem Tohuwabohu entwenden sie den Menschen in der Masse allerlei Wertgegenstände. In einem besonders imposanten Clou wird die Kreditkarte aus einer Tasche gezogen, mit dem mitgebrachten Scanner die Daten aus ihr gelesen und sie dann wieder dahin befördert, wo sie herkam. Die Art, wie die Kamera sich dazu verhält, im Gedränge den Überblick über die blitzschnell zugreifenden Hände und mit allerlei Ablenkungsmanövern beschäftigten Körper behält, zeigt eindeutig: Dieser Film verschreibt sich mit Leib und Seele dem Geschäft seiner Hauptfiguren. Dazu passt gut, dass die Diebe und con artists in dieser Gaunerkomödie keinerlei Gegenspieler auf der anderen Seite des Gesetzes haben. Die Gesetzeshüter, die sich ihnen in den Weg stellen könnten, scheinen diese Profis längst abgehängt zu haben. Gefährlich werden können sie sich nur noch untereinander.

Der Film ist in zwei Teile unterteilt. Der erste spielt zunächst in New York, wo Nachwuchsdiebin Jess (Margot Robbie) Nicky aufsucht, um bei ihm, Profibetrüger in langer Familientradition, in die Lehre zu gehen. Von hier aus folgt sie ihm nach New Orleans, wo das alkoholbefeuerte Spektakel rund um den Super Bowl, also das Finale der Football-Saison, beste Voraussetzungen für einen ausgiebigen Beutezug bietet. Beim Finale werden die ergaunerten 1.2 Millionen Dollar dann beim Wetten mit einem offenbar ultrareichen Sitznachbarn beinahe verspielt. Aber eben nur beinahe. Denn hier stellt sich noch der Kontrollverlust vermeintlicher Spielsucht als Teil einer raffinierten Inszenierung heraus, die ihr Ziel, aus eins zwei zu machen, letztlich nicht verfehlt. Man könnte „Focus“ die Art, wie Nicky (und der Film) hier Jess (und den Zuschauer) hinters Licht führen, schon übel nehmen. Wäre da nicht in dieser ersten Hälfte der offensichtliche Spaß an der Gaunerei, mit dem Film und Figuren zur Sache gehen. Dabei ist Margot Robbie und der geradezu kindliche Eifer, mit dem sie alle Tricks des Meisters lernt, noch um einiges toller als Will Smith, der den Bad Boy hier vielleicht einen Tick zu abgeklärt, ein bisschen zu sehr im Wissen um das eigene Charisma gibt. Ein tolles Film-Paar sind die beiden dennoch – und sollen es doch zunächst nicht werden. Denn nach getaner Arbeit setzt Nicky die Frau, die er vorher so bereitwillig unter seine Fittiche und in sein Bett nahm, kurzangebunden und ihrem deutlichen Widerwillen zum Trotz ins Taxi zum Flughafen. Job erledigt. Für Liebe ist in diesem Geschäft und dem Leben, das es mit sich bringt kein Platz.

Die zweite Hälfte dann, die in Buenos Aires und drei Jahre später spielt, spiegelt die erste darin, dass sie auf einen Höhepunkt zuläuft, auf dem sich alles, was bisher geschah, als Teil einer ausgeklügelten Inszenierung erweist. Zunächst scheint es also, als würde die beiden, die sich nur vermeintlich zufällig am anderen Ende der Welt wieder treffen, die Liebe doch noch einholen. Sie knabbert augenscheinlich noch an der Verletzung darüber, dass er sie einst so eiskalt abservierte. Bei ihm scheint sich Reue mit der narzisstischen Kränkung darüber zu vermengen, dass sie bei seiner Ankunft nicht sofort alles stehen und liegen lässt – insbesondere ihren neuen Mann -, um sich wieder in seine Arme zu stürzen. Die zweite ist die lichte Hälfte des Films. Reflektierte Smith‘ Gesicht an einer intimen Stelle in der ersten Hälfte die rot flackernden Lichter durchs Fenster blinkender Leuchtreklamen, dürfen die beiden sich, als sie schließlich doch wieder im Bett landen, nun im durch die Balkontür fallenden Sonnenlicht baden. Das konträre, weil nunmehr sonnige Close-Up von Smith‘ Gesicht inklusive.

Aber natürlich ist der Film zu sehr auf Cleverness und Raffinesse bedacht, um seinen beiden Protagonisten zu einfach Betrug, Geschäftemacherei und Verletzungen den Rücken kehren zu lassen, um es sich auf der Sonnenseite bequem zu machen. Begehren, Eifersucht und das Verlangen nach Nähe und Aufmerksamkeit werden sich zunächst als berechenbare Größen in einem von allen Seiten abgekarteten Spiel herausstellen. Natürlich nur, damit die Zwei in einer immerhin ordentlich weirden, äußerst gebrechlichen letzten Einstellung doch noch zueinander finden können.

Nicht nur in seinem eigentlich dem Film eher nachgelagerten Happy End findet „Focus“ auch Anschluss an einen anderen Film der laufenden Saison: „The Gambler“. Für die männlichen Antihelden im Hollywood von heute ist das Glück nichts mehr, wofür man hart arbeitet oder was man fleißig erstrebt – es wird am Spieltisch gewonnen oder sich anderweitig ergaunert. Die Liebe wird zu einer kleinen Utopie von einem anderen Leben, zur Möglichkeit vielleicht auf ein richtiges Leben im falschen. (Allerdings fällt mit David Finchers „Gone Girl“ auch gleich ein Hollywood-Film aus der unmittelbaren Vergangenheit ein, der eine Gegenerzählung liefert, in der sich das weiße, heterosexuelle Mittelschicht-Liebesglück zur Hölle auf Erden entwickelt.)

Als wir träumten

(D 2015, Regie: Andreas Dresen)

Ekstasen der Jugend
von Wolfgang Nierlin

„Jeden Tag tanzen die Erinnerungen“, sagt der Ich-Erzähler aus dem Off des Films. Die Worte und Geschichten stammen aus Clemens Meyers Roman „Als wir träumten“, den Andreas Dresen zusammen mit …

„Jeden Tag tanzen die Erinnerungen“, sagt der Ich-Erzähler aus dem Off des Films. Die Worte und Geschichten stammen aus Clemens Meyers Roman „Als wir träumten“, den Andreas Dresen zusammen mit dem Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase fürs Kino adaptiert hat. In einem solchen, heruntergekommenen Lichtspielhaus beginnt auch der gleichnamige Film. Zwischen der aufblitzenden Flamme eines Feuerzeugs und dem Lichtkegel eines Projektors, zwischen Traum und Erinnerung entfaltet sich das Zeitkolorit der sogenannten „Nachwendegesellschaft“ im Leipzig der späten achtziger Jahre und mit ihm das Lebensgefühl einer Clique von Jugendlichen. Dem (Kino-)Traum und der Phantasmagorie verwandt, ähnelt der Film mit seinen ekstatischen Bildern und anarchisch-entgrenzenden Aktionen infolgedessen mehr einer Rauscherfahrung oder einem Drogentrip denn einem Sozialdrama.

Eher untypisch für seine Filme blendet Andreas Dresen in „Als wir träumten“ soziale Hintergründe und eine differenzierte Charakterzeichnung weitgehend aus; auch folgt sein Film keiner linearen Erzähllogik oder durchgehenden Geschichte. Sein episodisches, in einzelne Kapitel gegliedertes Erzählen im Plural ähnelt in seiner zirkulären Struktur eher einem Kreisen, das überdies zwischen den Zeiten und Medien hin und her springt, um sowohl Kontinuitäten als auch Brüche zu imaginieren. Im Rausch energiegeladener Bewegung oder auch im Takt harter, pulsierender Techno-Beats und zuckender Stroboskopblitze dehnt sich die Zeit und zerplatzen schließlich die Träume.

In diesem Sinne leben die etwa 17-jährigen Freunde Dani, Mark, Rico, Pitbull und Paul einen wüsten anarchischen Traum fast ohne Gestern und mit wenig Sorgen um ein Morgen. Mit Wut im Bauch, dem 'Gewitter im Kopf' und unbestimmter Sehnsucht, dabei immer leidenschaftlich, übermütig und unerschrocken, klauen sie Autos, unternehmen im Suff Spritztouren, zerstören fremdes Eigentum und führen heftige Kämpfe mit rivalisierenden Skinheads. Sie werden straffällig und landen im Arrest; und sind doch auch irgendwie nett, wenn sie einer alten Dame die Briketts aus dem Keller hochschleppen oder eine Frau vor ihrem prügelnden Ehemann schützen. In diesen Szenen entstehen Bilder einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die an anderer Stelle fehlen oder ausgespart bleiben; etwa wenn es um Schule, Elternhäuser oder auch das betreiben der Underground-Diskothek „Eastside“ geht. Einerseits filmisch ausschweifend, atmosphärisch dicht und mit viel Drive, surft Dresens neues Werk andererseits nur auf der Oberfläche der Dinge: Ein Kino der Attraktionen ohne inhaltliche Vertiefung. Gerade – aber nicht nur – hinsichtlich des exzessiven Gewaltaspekts und Formen der (Selbst-)Destruktivität wäre es interessant, „Als wir träumten“ mit Burhan Qurbanis kürzlich veröffentlichten Film „Wir sind jung. Wir sind stark.“ zu vergleichen.

Trotzdem legt Andreas Dresen auch diverse motivische Spuren aus. Gleich zu Beginn und noch vor der politischen Wende, als die Freunde im zarten Alter von 13 Jahren als „Schwerverletzte“ an einer Katastrophenschutzübung ihrer Schule teilnehmen, tritt ein Oberst der Nationalen Volksarmee auf, der davon spricht, wie wichtig es sei, sich „ins Kollektiv einzufügen“, um „ein guter Soldat“ zu werden. Genau diesem stromlinienförmigen Geist und Gleichschritt scheinen sich die Freunde vier Jahre später in ihrem Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit mehr oder weniger unkontrolliert zu widersetzen, während sie von der Liebe träumen, in die Sucht abgleiten, sich verlieren und verraten. Darüber hinaus und vor allem handelt Dresens Film aber von Freundschaften, ihren verwegenen Hoffnungen und unscharfen Utopien, die unter dem inneren und äußeren Druck schließlich zerbrechen oder im Drogenrausch untergehen und verlöschen.

Hier finden Sie außerdem ein Interview mit Regisseur Andreas Dresen.

Still Alice – Mein Leben ohne Gestern

(USA 2014, Regie: Richard Glatzer, Wash Westmoreland)

Die Kunst des Verlierens lernen
von Wolfgang Nierlin

Zum fünfzigsten Geburtstag von Alice (Julianne Moore) versammelt sich die Familie im vornehmen Restaurant. Die Howlands sind eine sehr normale, glückliche Familie aus dem amerikanischen Akademiker-Milieu: Vater John (Alec Baldwin) …

Zum fünfzigsten Geburtstag von Alice (Julianne Moore) versammelt sich die Familie im vornehmen Restaurant. Die Howlands sind eine sehr normale, glückliche Familie aus dem amerikanischen Akademiker-Milieu: Vater John (Alec Baldwin) arbeitet als Krankenhausarzt; die älteste, schon verheiratete Tochter Anna (Kate Bosworth) ist Juristin, während ihr Bruder Tom (Hunter Parrish) mit seinem Medizinstudium dem Vater nacheifert; nur Lydia (Kristen Stewart), die Jüngste, schlägt etwas aus der Reihe, weil sie als Schauspielerin ihr Glück in Los Angeles versucht. Ihre Mutter Alice wiederum unterrichtet als Professorin für Linguistik an der Columbia Universität in New York. Als bei ihr, der Sprachwissenschaftlerin, eine frühe, erbliche Form der Alzheimer-Krankheit diagnostiziert wird, stellt das die Familie auf eine harte Belastungsprobe.

Doch die beiden Filmemacher Richard Glatzer, der selbst schwer erkrankt ist (an ALS), und sein Arbeits- und Lebenspartner Wash Westmoreland deuten in ihrem berührenden Film „Still Alice – Mein Leben ohne Gestern“ die daraus resultierenden Konflikte nur an. Vielmehr konzentrieren sie sich in ihrer Adaption des Erfolgsromans der Neurowissenschaftlerin Lisa Genova auf die subjektive Perspektive und innere Erlebniswelt der Protagonistin: Wie Alice etwa immer häufiger unter Erinnerungsstörungen leidet, wie sie einmal beim Joggen die Orientierung verliert, bald ihren Beruf aufgeben muss und sich zunehmend ausgegrenzt fühlt. Die Bilder des renommierten französischen Kameramanns Denis Lenoir, der viel für Olivier Assayas gearbeitet hat, unterstreichen auf intensive Weise diese intime Nähe. Bei einem neurologischen Test beispielsweise ist in einer langen Einstellung nur die antwortende Alice zu sehen. In anderen Szenen verschwimmt der Erkrankten ihr Blick auf die Welt; oder sie findet sich isoliert von ihrer Familie in einer Sofa-Sitzgruppe.

Glatzer und Westmoreland parallelisieren in der Struktur ihres Films Alices Krankheitsverlauf mit der Schwangerschaft ihrer ebenfalls positiv auf Alzheimer getesteten Tochter Anna, die Zwillinge erwartet. Das Leben geht weiter, während Alice gegen ihre inneren Widerstände sich und damit ihre Identität immer mehr verliert. „Es ist, als ob unter mir der Boden wegbricht“, sagt sie nach den ersten Anzeichen „kognitiver Einschränkungen“. Später dann, im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung, als sich ihr Alltag immer weniger aufrecht erhalten lässt, fühlt sie sich, „als fände ich nicht mehr zu mir.“ In dieser Phase, in der Alice „die Kunst des Verlierens erlernt“, wie sie in einem bewegenden Vortrag vor der Alzheimer Gesellschaft ausführt, tauchen immer wieder Erinnerungen in Form von Fotos und Super-8-Familienfilmen auf. Schließlich geht es den beiden Regisseuren mit ihrem Film, der sich am Schluss im Weiß der Leinwand auflöst, während die Buchstaben des Titels „Still Alice“ immer kräftiger hervortreten, nicht zuletzt um familiären Zusammenhalt und die Kraft der Liebe. Julianne Moore wurde übrigens für ihre beeindruckende Darstellung der Titelheldin mit dem Oscar ausgezeichnet.

183 Tage – Der Auschwitz-Prozess

(D 2014, Regie: Janusch Kozminski)

Unangenehm nahe
von Dietrich Kuhlbrodt

Der Dokumentarfilm beeindruckt durch die schier unerschöpfliche Fülle von Bild- und Archivmaterial, moderiert von einer emotionslosen Stimme, die der formelhaften Juristensprache in Strafprozessen entspricht. Erste Hälfte der sechziger Jahre. Der …

Der Dokumentarfilm beeindruckt durch die schier unerschöpfliche Fülle von Bild- und Archivmaterial, moderiert von einer emotionslosen Stimme, die der formelhaften Juristensprache in Strafprozessen entspricht. Erste Hälfte der sechziger Jahre. Der Auschwitz-Prozess, initiiert gegen die öffentliche Meinung („Wann ist endlich Schluss?“) vom Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, richtet sich gegen ausgewählte SS-Männer vor Ort, Mörder in eigener Sache, Angeklagte wie Wilhelm Boger („Der Teufel von Auschwitz“), angetrieben von purer Mordlust. – Und das ist das Besondere am Film. Es ging (noch) nicht um den Holocaust (ein noch unbekanntes Wort damals), sondern um Menschen, die in den Aufnahmen der Tatzeit, aber vor allem in den Aufnahmen aus dem Prozess mit ihren harmlosen Mittelstandsgesichtern unangenehm nahekommen, gern auch karrieregeile Akademiker, die „nur ihre Pflicht“ taten. Väter waren das oder Großväter – vor den Leichenbergen, die der Film dem Prozessablauf einfügt. Der Kontrast ist schwer erträglich. Er schreit nach einem Ausbruch, nach Emotion. Der Ausbruch wird nicht geliefert, er wird uns auch nicht durch einen Kommentar, wie wir es heute von unseren TV-Medien gewöhnt sind, abgenommen. Los, Du bist jetzt dran! Mach was draus! Du selber!

Der Film wird eingeleitet von Archivmaterial, das die Vorgeschichte der Judenverfolgung und der Mordaktionen zeigt. Der Mittelteil folgte streng dem Prozessablauf bis zum Urteil vom 19. August 1965, beginnend mit der Entscheidung von Fritz Bauer, fürs erste nur wenige Einzeltäter, stellvertretend für alle anderen, zu zeigen. Und für die Vertreter der Staatsanwaltschaft junge Staatsanwälte einzusetzen, die der Auseinandersetzung mit den „Vätern“ ein neues Gesicht gab. Diese Disposition funktionierte. Als ich exakt zum Schluss des Auschwitzprozesses als junger Staatsanwalt, 32, zur Zentralstelle in Ludwigsburg zur Verfolgung von Nazi-Verbrechen abgeordnet wurde, hatte ich diesen Elan, diesen Zorn, mit dem wir was anfangen konnten. Wir haben uns, hallo, politisiert.

Zurück zum Film, dritter Teil. Prof. Dr. Micha Brumlik kommt auf die Einmaligkeit des Holocaust zu sprechen. Völkermorde gibt es zahlreich, viele uneingestanden (die Armenier). Aber den Mord an Millionen industriell auszuschlachten, blieb dem deutschen Volk vorbehalten. – In den Songs von Hans Söllner schließlich wird gefragt, wie wir heute mit Minderheiten umgehen, die zunächst unerwünscht sind, bis dann zur Tat geschritten und das Asylheim angezündet wird.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 04/2015

Kingsman: The Secret Service

(USA / GB 2014, Regie: Matthew Vaughn)

Weltrettungsmarkenpflege mittels Snobtopjob
von Drehli Robnik

'Kingsman: The Secret Servivce', eine britische Agentenaction-Comiccomedy in der Regie von Matt Vaughn, gibt sich posttraumatologisch; soll heißen, der Film lässt in seiner ostentativen Heiterkeit zweierlei Anmutung von Trauma in …

'Kingsman: The Secret Servivce', eine britische Agentenaction-Comiccomedy in der Regie von Matt Vaughn, gibt sich posttraumatologisch; soll heißen, der Film lässt in seiner ostentativen Heiterkeit zweierlei Anmutung von Trauma in seiner unmittelbaren Vergangenheit hinter sich. Zum einen sagt er – wie die Ösis zum Abschied – leise Servus (oder vielmehr sagt er laut Servus) zu den an Leib und Seele lädierten SuperheldInnen in Vaughns Vorgängerfilmen, sowohl in 'X-Men: First Class' als auch in 'Kick-Ass' (der bereits, wie nun 'Kingsman', auf einem Comic von Mark Millar basierte); das Faible der beiden Filme für furiose Zeitlupenaction allerdings behält auch der neue bei. Zum anderen setzt 'Kingsman' sich von der heutigen Marke James Bond, die sich ja im Zeichen von Schwäche, Schmerz & Schwindel neu definiert hat, ab und huldigt eher dem Bond-Stil aus den Tagen Roger Moores. 'Moonraker' und so.

Wo zuvor Reibung, Reflexion und Rache regierten, herrscht nun Retro, sowie Lust am flüssigen Ineinandergreifen und -gleiten von Körperhandlungen – mit einem Touch von Buster und Lester (Keaton und Richard) –, vor allem aber herrscht distinktionsselige Freude an schicken Gadgets, Klamotten, Autos und Drinks. Die Geheimagentensekte der Kingsmen investiert mehr in ihre Anzüge und weniger in Verwaltungsbürokratie als die in Sujet, Plot und Tonlage nicht unverwandten Men in Black. Auf der Gegenseite zu diesen Londoner Weltrettern zieht die Fäden ein lustig lispelnder Archvillain (verlässlich: Samuel L. Jackson), der sein Styling, sein Projekt – ökologisch (nämlich durch eine Elitenkult-Lesart der 'Gaia-Hypothese') motivierte Dezimierung der Erdbevölkerung – und sogar noch sein Schicksal nach dem Vorbild alter Agentenfilme modelt. Deshalb hat er als Adlatin eine hübsche Orientalin mit tödlichen Klingenbeinprothesen – eine Art Hybrid aus dem dicken Typ mit dem Stahlklingenhut, dem 'Beißer' namens Jaws und der biegsamen Grace Jones aus jener Art von edelbescheuerten Bond-Filmen, die hier, bis zum Plakatdesign, Pate stehen.

'Kingsman' ist am besten dort, wo er das – insbesondere in heutiger Sicht – eben bescheuert und umständlich geziert Anmutende seiner Vorbilder direkt umarmt, zumal in visuellen Detailgags; wenn die Inszenierung etwa mitten in brutalen Gruppen- und Massenkampfchoreografien einen ausgeschlagenen Zahn oder blutenden Daumen hervorhebt; oder in der mehr pummelig als böse wirkenden, noch dazu stur wiederholten Drohgeste, mit der das Todesstern-artige (ja, Mark Hamill spielt auch mit, bevor er in 'Star Wars' wieder er selbst wird) Flak-Geschütz langsam seine Rohre hebt und auf Flugzeuge richtet, die sich der in standesgemäßer Hochgebirgslage untergebrachten Kommandozentrale des größenwahnsinnigen Superschurken nähern.

Der Rest ist pflichtgemäße Überdrehtheit. Körperkomik und Kolorit sind OK (und sogar jenseitig in der Showdown-Sequenz mit den Köpfen der weltweiten 'Reichen', die reihum zu 'Pomp and Circumstance' wie knallbunte Feuerwerksblüten explodieren – ein Anblick, halb Ressentiment, halb dessen Aufhebung im Farbrausch), die Ausstattung ist wenn auch mit einigem Recht so doch ein bissl sehr stolz auf sich, der Brit- und Glamrock-Soundtrack geht so, die SchurkInnen sind People of Color, alle Guten sind weiß (wollt ich nur mal gesagt haben), der Jungagentendrillplot ist fascho (oder zumindest nervig in seinem Eliten-Getue, bei dem sich zunehmend Mark Strong kantig in den Vordergrund spielt), das Kingsmanierenlernen und Vom-Proll-zum-Snob-Habitustraining des jungen Basecap-Cockney-Adepten (Taron Egerton) ist halblustig, Michael Caine ist auch hier überflüssig, manche Figur stirbt recht unvermittelt, Hauptdarsteller Colin Firth hat unreine Haut (und viele close-ups), und Austin Powers war besser; allerdings hat 'Kingsman' mit 'Give It Up' den fetzigeren KC & The Sunshine-Band-Hit im Tweed-Ärmel.

Bande de filles

(F 2014, Regie: Céline Sciamma)

Ziemlich perspektivlos
von Wolfgang Nierlin

Zwei Mädchenmannschaften spielen American Football. Die jungen Frauen, überwiegend schwarze Einwandererkinder, wirken in ihrem mit Pads und Schonern ausgestopften Sportdress wie Kriegerinnen. Derart maskulinisiert, wütend und ehrgeizig werfen sie ihre …

Zwei Mädchenmannschaften spielen American Football. Die jungen Frauen, überwiegend schwarze Einwandererkinder, wirken in ihrem mit Pads und Schonern ausgestopften Sportdress wie Kriegerinnen. Derart maskulinisiert, wütend und ehrgeizig werfen sie ihre Körper in den Kampf um den ovalen Ball. Ihre fließenden, geschmeidigen Bewegungen, in Zeitlupe stilisiert festgehalten und segmentiert sowie in musikalische Endlosschleifen verwoben, verdichten sich zu einem hymnisch-träumerischen Clip. Bis der Jubel der Siegerinnen, vermischt mit den Gratulationen der Unterlegenen, sich allmählich in einem allgemeinen Stimmengewirr auflöst. Dessen freudige Ausgelassenheit dauert noch an auf dem abendlichen Heimweg in eine der Pariser Banlieues, verstummt dann aber abrupt, als sie in der Nähe ihres Wohnblocks auf Gruppen herumlungernder junger Männer treffen und sich schließlich nach und nach voneinander verabschieden.

Céline Sciamma beginnt ihren bemerkenswerten Film „Bande de filles“, in dem sie sich (nach „Water Lilies“ und „Tomboy“) erneut mit dem Thema Adoleszenz und der Konstruktion von Identität beschäftigt, mit einem Bild weiblicher Stärke, Freiheit und Gemeinschaft. Das alles wird mehr oder weniger einkassiert, wenn die 16-jährige Protagonistin Marieme (Karidja Tourè) nach dem Sport die Wohnung ihrer Familie betritt, wo sie mit zwei jüngeren Schwestern, einem älteren Bruder und der Mutter lebt. Diese arbeitet als Putzkraft, der Vater ist abwesend und so gibt Mariemes Bruder unmissverständlich und brutal den Ton an. Unter diesem Macho-Regiment verstummt die Freude der Mädchen, strebt jede ihrer Bewegungen und Äußerungen ins möglichst Unauffällige. Selbst ihre Zuneigung zu dem gleichaltrigen Ismaël (Idrissa Diabaté) muss Marieme verstecken, weil dieser mit ihrem Bruder befreundet ist. Als sie schließlich wegen mangelhafter Leistungen auch noch die Schule verlassen muss, erfährt ihr Bedürfnis nach Selbstbestimmung und Anerkennung einen erheblichen Rückschlag.

„Ich will normal sein“, schleudert Marieme noch der Lehrerin entgegen, bevor sie von einer coolen Mädchen-Gang aufgefangen und aufgenommen wird. Deren Styles und Moves, körperliche Inszenierungen und Posen, provozierenden Sprüche und respekteinflößend konfrontative Art faszinieren die junge Frau, geben ihr Halt und Mut – und spiegeln eine ganz andere Form von „Normalität“. Fortan nennt sich Marieme „Vic“ (für Victory), wechselt die Klamotten und folgt dem Motto ihrer Anführerin „Lady“ (Assa Sylla), die eigentlich Sophie heißt: „Du musst das tun, was du willst.“ Und so ziehen die Mädchen als Clique durch Einkaufspassagen, begehen kleinere Diebstähle, liefern sich Wortgefechte und Prügeleien und hängen in gemieteten Hotelzimmern ab, die als Refugien und Gegenwelten ihrer geheimen Sehnsüchte und verschworenen Phantasien fungieren. In einer der schönsten und intensivsten Szenen sehen wir sie dort, wie sie, glamourös gestylt und in blaues Licht getaucht, zu Rhiannas „Diamonds“ ausgelassen tanzen und dabei ihren tristen Alltag transzendieren.

Céline Sciamma erzeugt in ihrem Coming-of-Age-Drama mit solchen Stilisierungen immer wieder Durchbrüche in eine andere Realität, in der die Mädchen auf ihrer Suche nach Orientierung Bilder von sich selbst entwerfen oder erträumen. Um den Freiheitsdrang ihrer jugendlichen Heldinnen möglichst authentisch einzufangen, lässt Sciamma die Laienspielerinnen im vorgegebenen Rahmen der Erzählung improvisieren. Daneben hat sie für ihre gemeinschaftlichen, gewissermaßen raumgreifenden Aktionen das Cinemascope-Format gewählt. So ist „Bande de filles“ trotz seiner Darstellung soziokultureller Ausweglosigkeit, die Marieme nach einer kurzen „Karriere“ als Drogendealerin ziemlich isoliert und perspektivlos zurücklässt, keine typische Milieustudie. Vielmehr beschwört der Film noch in Mariemes Negationen („Ich will dieses Leben nicht!“, lautet etwa ihre Antwort auf Ismaëls Heiratsantrag.) und trotz aller Unbestimmtheit, eine Lust an der Entgrenzung sowie die Notwendigkeit einer genuin weiblichen Gegenwelt.

Elser

(D 2014, Regie: Oliver Hirschbiegel)

Bis zum Anschlag ausgeleuchtet
von Dietrich Kuhlbrodt

Zweifellos ein aufwändiges Produkt aus dem Genre der 'wichtigen' Filme. Regisseur Oliver Hirschbiegel (Der <<TEXT:UNTERSTRICHEN>Untergang') informiert über das Leben des Attentäters Georg Elser und seine Tat. Im November 1939 hatte …

Zweifellos ein aufwändiges Produkt aus dem Genre der 'wichtigen' Filme. Regisseur Oliver Hirschbiegel (Der <<TEXT:UNTERSTRICHEN>Untergang') informiert über das Leben des Attentäters Georg Elser und seine Tat. Im November 1939 hatte er eine Bombe im Münchner Bürgerbräukeller entzündet, leider 13 Minuten nachdem Hitler das Rednerpult verlassen hatte. Aus ist es mit der halbsonnigen Jugendzeit im schwäbischen Dorf. Elser „der Stenz“, wird Sympathiefigur. – Im zweiten Teil wird Elser (Christian Friedel), Opfer der Gestapo und der SS, ausgiebig gefoltert und im April 1945 im KZ Dachau erschossen. Auch sein Gestapo-Vernehmungsbeamter (Burghart Klaußner), wurde, wie wir zum Schluss überraschend erfahren, umgebracht. Er hatte, aha, 1944 zu den Führerattentätern gehört.

Wie nun? Der Film endet mit 2 Attentätern? Lernen wir, dass von den beiden Nazifolterbeamten der eine böse (SS), der andere (Gestapo) gut ist? Und das alles im Film schnell dahingesagt? Immerhin baut der Film vor dem Galgenende eine prime-time-würdige Empathieszene auf, in der der sympathische KZ-Wächter (Michael Krantz) mit den Tränen kämpft. Ja, das geht zu Herzen. Aber grade weils hier funktioniert, wird deutlich, dass der Film, so viel bunte Bilder und sich jagende Szenenwechsel er auch zeigt, den handelnden Personen niemals nahekommt.

Hirschbiegel hat sich zu viel vorgenommen, andererseits zu viel ausgespart. Immerhin ist alles bis zum Anschlag ausgeleuchtet und prononziert gesprochen (federführender Koproduzent ist der SWR). Bloß, wenn schon deutlich davon gesprochen wird, dass Elser Rotfrontkämpfer und KPD-Wähler war, dann möchten wir ein wenig mehr wissen, als dass er im guten schwarzen Ausgehanzug mit nagelneuem Hut ins dörfliche Festzelt geht, um kleidungsmäßig gegen die uniformierte Volksgemeinschaft zu demonstrieren, die sich dort um den Volksempfänger schart, um der Führerrede zu lauschen. Und der Arbeiter Elser, voll im Bürgerlook, lauscht jetzt mit.

Viel Platz und Zeit für Ungereimtes, kaum Platz und Zeit für Verständigung mit dem einsamen Helden Elser. Der Film ist der guten Absichten voll, volkspädagogisch sicherlich 'wichtig', aber halt oberflächlich.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Konkret 04/2015

Das Mädchen Hirut

(ETH / USA 2014, Regie: Zeresenay Mehari)

Plädoyer für weibliche Selbstbestimmung
von Wolfgang Nierlin

„Niemand steht über den Gesetzen“, sagt die Anwältin Meaza Ashenafi (Meron Getnet) zu einer Klientin, die von ihrem Mann geschlagen wird. Kurz darauf erfährt die ebenso selbstbewusste wie starke Juristin, …

„Niemand steht über den Gesetzen“, sagt die Anwältin Meaza Ashenafi (Meron Getnet) zu einer Klientin, die von ihrem Mann geschlagen wird. Kurz darauf erfährt die ebenso selbstbewusste wie starke Juristin, die in Addis Abeba eine Frauenrechtsorganisation leitet, von dem Fall der 14-jährigen Hirut (Tizita Hagere). Dieser ereignet sich in einiger Entfernung von der äthiopischen Hauptstadt. Auf dem Heimweg von der Schule zu ihrem Dorf wird das Mädchen von berittenen Männern entführt, in einer Hütte eingesperrt und von demjenigen unter ihnen vergewaltigt, der ihr zukünftiger Ehemann werden will. Was unter der Landbevölkerung des ostafrikanischen Staates gängiger Brauch ist und als „Telefa“ bezeichnet wird. Als Hirut am nächsten Morgen in einem günstigen Augenblick fliehen kann und dabei in Notwehr ihren Peiniger mit dessen Gewehr erschießt, wird sie des Mordes angeklagt.

Dieser aufsehenerregende Fall, der sich 1996 tatsächlich ereignet hat und später zu einer Gesetzesreform führte, diente dem äthiopischen Regisseur Zeresenay Berhane Mehari als Vorlage für sein spannendes Justizdrama „Das Mädchen Hirut“ (OT: „Difret“, d. h. sowohl „mutig sein“ als auch „vergewaltigt werden“). Darin stehen sich eine zutiefst patriarchalische, von uralten Traditionen geregelte Gesellschaftsordnung und das moderne Recht auf weibliche Selbstbestimmung unvereinbar, geradezu unversöhnlich gegenüber. Während die Repräsentanten der alten Ordnung den Standpunkt ihrer männlichen Dominanz durch Berufung auf die überlieferte Sitte sowie durch immer neue bürokratische Hürden scheinbar unumstößlich zementieren, lässt die unerschrockene Anwältin trotzt diverser Rückschläge nichts unversucht, um dem Recht Geltung zu verschaffen. Dabei nutzt sie geschickt ihre Beziehungen zur Presse und in die hohe Politik.

Mehari konzentriert seinen unter schwierigen finanziellen und logistischen Bedingungen realisierten Film auf diesen juristischen Machtkampf, bindet diesen aber zugleich ein in die komplexen sozialen Verhältnisse seines Landes, die von Ungleichheit bestimmt sind. So erschweren Armut, Analphabetismus und kulturelle Unterschiede den Prozess der Verteidigung, der in der Konfrontation mit den Vertretern der Anklage dramatisch zugespitzt wird. Zwar gelingt es dem Regisseur dabei, die thematisierten Konflikte zwischen geltendem und überliefertem Recht glaubhaft zu vermitteln, seine Inszenierung wirkt aber manchmal zu schematisch und in der szenischen Auflösung teils zu unausgereift. Deutlich wird das im Hinblick auf plakative Figurenzeichnungen, auffallend unausgespielte beziehungsweise unentwickelte Szenen sowie holprige Ellipsen. Das ändert jedoch nichts an der Relevanz des Themas, das hier ebenso spannend wie emotional vermittelt wird.

Die Hüter der Tundra

(D / NO 2013, Regie: René Harder)

Nicht verschwiegene Härten
von Wolfgang Nierlin

„Krasnoschtschelje ist eine andere Welt, ein ganz anderes Lebensgefühl“, sagt Alexandra, die Ich-Erzählerin des Films, aus dem Off. Weit entfernt von der Zivilisation, auf der zu Russland gehörenden Kola-Halbinsel im …

„Krasnoschtschelje ist eine andere Welt, ein ganz anderes Lebensgefühl“, sagt Alexandra, die Ich-Erzählerin des Films, aus dem Off. Weit entfernt von der Zivilisation, auf der zu Russland gehörenden Kola-Halbinsel im nordöstlichsten Teil Europas, liegt das 500-Seelen-Dorf der Samen inmitten der Tundra. Nach der durch die politischen Veränderungen der letzten Jahre forcierten Landflucht ist es wohl eine der letzten Siedlungen, in denen sich die besondere Lebensart, Kultur und Sprache der Ureinwohner erhalten hat. Als Jäger und Hirten leben die Menschen hier noch immer überwiegend von der Rentierzucht, auch wenn sie für ihre Arbeit mittlerweile motorisierte Schlitten einsetzen, um die Herden der Wandertiere auf ihren langen Wegen zu begleiten.

In stimmungsvollen Bildern vermittelt René Harder in seinem Dokumentarfilm „Die Hüter der Tundra“ einen faszinierenden Einblick in eine sehr alte, traditionelle Lebensweise, deren Existenz allerdings vom Verschwinden bedroht ist. Denn internationale Rohstoffkonzerne wollen die Weidegründe der Tundra ausbeuten, was wiederum der Rentierzucht die Grundlage entziehen würde. Eine, die sich dagegen wehrt, ist die eingangs erwähnte Aktivistin Alexandra, genannt „Sascha“, die den Zuschauer mit der Kultur der Samen vertraut macht und gewissermaßen auch in eigener Sache durch den Film führt. Mit großer Nähe und verschworener Unterstützung begleitet Harder die junge Mutter ins samische Parlament sowie auf ihrer länderübergreifenden Suche nach Unterstützern.

Dabei lässt der Filmemacher, der für sein schwieriges Projekt viel Zeit bei den Samen verbracht hat, keinen Zweifel daran, dass er mit seinem Film diesen Kampf unterstützt. Doch trotz teils gestellt oder inszeniert wirkender Dialoge und Anflügen einer romantisch-folkloristischen Idealisierung der fremden Kultur, findet der Film als „Instrument der Aufklärung“ doch immer wieder genug Abstand, um auch die nicht verschwiegenen Härten einer solchen Lebensweise sachlich zu beschreiben. Schließlich formuliert „Die Hüter der Tundra“ auch ein Plädoyer für Heimatverbundenheit: „Wo man geboren wurde, wird man auch gebraucht“, sagt einer der Samen, der aus der Stadt aufs Land zurückgekehrt ist, weil er sich hier freier fühlt. So gibt es am Ende des Films und nach ersten politischen Erfolgen gleich mehrere kleine Hoffnungsschimmer.

Verstehen Sie die Béliers?

(F 2014, Regie: Eric Lartigau)

Abnabelungsprozess
von Wolfgang Nierlin

Die Zeichen dieses Films zeigen auf Neubeginn und Veränderung. Auf dem idyllischen Bauernhof der Familie Bélier, irgendwo in der malerischen französischen Provinz, wird ein Kälbchen geboren; und weil seine Hautfarbe …

Die Zeichen dieses Films zeigen auf Neubeginn und Veränderung. Auf dem idyllischen Bauernhof der Familie Bélier, irgendwo in der malerischen französischen Provinz, wird ein Kälbchen geboren; und weil seine Hautfarbe dunkel ist und der kritische Milchbauer und Hollande-Anhänger Rodolphe (Francçois Damiens) eher links steht, bekommt es den Namen „Obama“. Dann enden die großen Ferien und die pubertierende Tochter Paula (Louane Emera), die mit hängenden Schultern geht und bald ihre erste Menstruation erleben wird, muss wieder in die Schule. Die Kamera, die eingangs noch im schwebenden Gleitflug Harmonie verströmt hat, nimmt jetzt, während Paula mit Fahrrad und Bus den langen Schulweg absolviert, Fahrt und Tempo auf. Doch zunächst und vor allem sitzt das Mädchen, dessen rote Kopfhörer ihre Musikalität signalisieren, noch in der Falle ihres Alters und kämpft gegen Windmühlen, wie die Cervantes-Lektüre im Spanisch-Unterricht unmissverständlich nahelegt.

Denn die jugendliche Heldin aus Éric Lartigaus französischem Erfolgsfilm „Verstehen Sie die Béliers?“ (La famille Bélier) steht im Zentrum eines von allen Seiten beanspruchten Kräftefelds. Paula ist nicht nur in ihren neuen, aus Paris stammenden Mitschüler Gabriel (Ilian Bergala) verliebt und dafür mancherlei Sticheleien ausgesetzt, sondern trägt darüber hinaus auch noch „das Gewicht des Andersseins“ (Lartigau). Weil sowohl ihre Eltern als auch ihr jüngerer Bruder taubstumm sind, gehört zu ihrer Mithilfe auf dem Bauernhof immer auch die Rolle der (sprachlichen) Vermittlerin. Éric Lartigaus märchenhaftes Adoleszenzdrama gewinnt zu einem großen Teil daraus sein komisches Potential: Etwa beim „arbeitsteiligen“ Käse-Verkauf auf dem Wochenmarkt; oder beim Frauenarzt, wo die noch immer verliebten Eltern wegen eines Genitalpilzes in Behandlung sind; oder auch bei der gebärdensprachlichen Übersetzung der Fernsehnachrichten. Vornehmlich in der sicht- und hörbaren Diskrepanz oder auch Verdoppelung von Zeichen und Worten liegt hier der Witz und werden zugleich Konflikte ausgetragen.

Dass Paula dabei meistens primär für das Kinopublikum „übersetzt“, ist zwar nicht gerade logisch, aber umso notwendiger für die Darstellung der konfliktreichen, mit einer typisch retardierenden Dramaturgie erzählten Geschichte. Diese spitzt sich schließlich zu in der emotional heftig geführten Auseinandersetzung zwischen der sich allmählich abnabelnden Teenagerin und ihren klammernden Eltern. Denn während die musikbegabte Paula sich auf einen Gesangswettbewerb von Radio France in Paris vorbereitet, daran wächst und sich selbst entdeckt, wird sie von ihrem Vater für seine Bürgermeisterkandidatur beansprucht und überdies von ihrer Mutter Gigi (Karin Viard) emotional unter Druck gesetzt.

Gefördert wird Paulas Unabhängigkeitsstreben von ihrem ebenso kompromisslosen wie einfühlsamen Musiklehrer Thomasson (Éric Elmosnino), einem gescheiterten Idealisten und Michel Sardou-Verehrer, der das Mädchen bezeichnenderweise das Chanson „Je vole“ („Ich fliege (aus“)) einstudieren lässt, in dem sich die Thematik des Films gewissermaßen kondensiert. Es gibt aber noch einen zweiten, nicht minder ergreifenden Höhepunkt: Wenn Paula und Gabriel im Duett bei einem Konzert in der Schule vor der versammelten Elternschaft Sardous „Je vais t’aimer“ anstimmen, übernimmt der Film plötzlich die „akustische“, also „lautlose Perspektive“ der Gehörlosen und vermittelt insofern auch den Kinozuschauern – ein verblüffend intensiver Effekt – die von der Musik ausgelösten Gefühle über die bewegten Mienen des zuhörenden Publikums.

Whiplash

(USA 2014, Regie: Damien Chazelle)

Düsterer Manipulator
von Wolfgang Nierlin

Am Ende eines langen, dunklen Gangs übt der 19-jährige Musikstudent Andrew Neiman (Miles Teller) auf seinem Schlagzeug. Es sind einsame Exerzitien, die der begeisterte Jazz-Fan in seiner Bewunderung für legendäre …

Am Ende eines langen, dunklen Gangs übt der 19-jährige Musikstudent Andrew Neiman (Miles Teller) auf seinem Schlagzeug. Es sind einsame Exerzitien, die der begeisterte Jazz-Fan in seiner Bewunderung für legendäre Vorbilder wie Buddy Rich und Jo Jones ehrgeizig absolviert. Auch wenn Anflüge von Besessenheit und tiefer Isolation hier bereits aufscheinen, hat sein Eifer zu diesem Zeitpunkt noch eine „gesunde“ Erdung. Der begabte Musiker, am fiktiven Shaffer-Konservatorium in New York immatrikuliert, folgt seinem persönlichen Traum. „Ich möchte großartig sein“, klingt als Wunsch noch relativ unschuldig und unverfänglich, auch wenn sich in ihn bereits Züge einer pervertierten Leidenschaft mischen. Dass Andrews zunehmend rücksichtsloseres Erfolgsstreben und seine Verführbarkeit aus einer Vernachlässigung als Kind resultieren, legt Damien Chazelle im ersten Drittel seines fulminanten Films „Whiplash“ nahe. Da sitzt der mutterlos aufgewachsene, musikverrückte Außenseiter und Einzelgänger einmal im Familienrund und müht sich hilflos damit ab, seine „künstlerischen Leistungen“ in ein angemessenes Verhältnis zu den bewunderten Karrieren seiner Geschwister zu setzen.

Man muss diesen familiären und gesellschaftlichen Erwartungsdruck im Folgenden immer mitdenken, will man Andrews Anfälligkeit für die Manipulationen seines tyrannischen Lehrers Terence Fletcher (J. K. Simmons) psychologisch angemessen verstehen. Der ebenso charismatische wie Furcht einflößende Perfektionist setzt seine Schüler einem knallharten Psychoterror aus und quält sie mit militärischem Drill bis zur Erschöpfung. Fragen nach dem realistischen Gehalt der Darstellung sowie Interpretationen, die darin nur eine konservative Auseinandersetzung mit der amerikanischen Leistungs- und Erfolgsideologie sehen, greifen zu kurz. Denn Chazelles Film spielt in einer parallelen Welt, einer Art Versuchslabor, in dem die Liebe zur Musik nur ein Vehikel ist für die Inszenierung eines abgründigen Machtkampfes, der sich zu einem unentschiedenen Duell auswächst. So wie Andrews Streben aus einer unterdrückten Kränkung kommt, resultiert Fletchers Sadismus aus verdrängtem Schmerz und ungelöster Trauer.

Wenn der sehr männliche, stets schwarz gekleidete Fletcher, dessen biographischer Hintergrund weitgehend im Dunkeln bleibt, zum ersten Mal die Szene betritt, erscheint er geheimnisvoll und unberechenbar. Geradezu dämonisch wirken sein wiederholt plötzliches Auftauchen und Verschwinden. Der glatzköpfige, kraftstrotzende J. K. Simmons verleiht dieser zwielichtigen Figur eine ebenso beeindruckende wie beunruhigende Präsenz. Fletchers menschlich fragwürdige Methode, seine Schüler in einem perfiden Wechselspiel von Ermutigung und Demütigung unter permanenten Erfolgsdruck zu setzen und dabei zugleich in die Selbstzerstörung zu treiben, löst großes Unbehagen aus. Ummantelt von mythischen (Jazz-)Erzählungen des Erfolgs, dessen Bedingung die Überwindung von Grenzen sei, und radikal beseelt von der amerikanischen Selbstermächtigungsideologie, verkörpert der düstere Manipulator aber vor allem die Faszination des Bösen, das seine abhängigen Schützlinge (und mit ihnen ein stückweit auch die Zuschauer) in Bann schlägt, unterwirft und an einen Abgrund führt. Die mitreißend suggestive Montage zum Jazzstandard „Caravan“ (inklusive eines virtuosen Schlagzeugsolos), in der Damien Chazelles „Whiplash“ kulminiert, lässt sich jedenfalls schwerlich als finaler Triumph deuten: Verführer und Verführter, Täter und Opfer kommen sich gefährlich nahe, der Beifall inklusive üblicher Siegerposen bleibt aus und die Leinwand wird einfach nur schwarz.

Pepe Mujica – Der Präsident

(D 2015, Regie: Heidi Specogna)

Oh, wie schön ist Uruguay!
von Ulrich Kriest

Erinnert sich noch jemand an Heidi Specognas Film „Tupamaros“ von 1996? Damals porträtierte die Filmemacherin einige ehemalige Mitglieder der legendären Stadtguerilla Uruguays, die sich nach dem Ende der Diktatur und …

Erinnert sich noch jemand an Heidi Specognas Film „Tupamaros“ von 1996? Damals porträtierte die Filmemacherin einige ehemalige Mitglieder der legendären Stadtguerilla Uruguays, die sich nach dem Ende der Diktatur und nach teilweise Jahrzehnte langen Gefängnisaufenthalten dafür entschieden hatten, ihre Politik in einem Linksbündnis in der Legalität zu realisieren. Einer der Porträtierten war José Alberto Mujica, einst Mitte der 1960er Jahre Gründungsmitglied der Tupamaros und zuständig für den militärischen Bereich der Guerilla, die ja eher für die Strategie der bewaffneten Propaganda bekannt war – und weniger für politische Morde.

Mujica, genannt „El Pepe“, wurde wiederholt verhaftet, gefoltert, saß anschließend 14 Jahre im Gefängnis und wurde erst 1985 amnestiert. Mujica wurde wieder Bauer und Blumenzüchter und lebte mit seiner Lebensgefährtin Lucia Topolansky, die er im politischen Kampf kennengelernt hatte, ein einfaches Leben vor den Toren Montevideos. „Tupamaros“ zeigte: die lange weggesperrte Stadtguerilla kehrte ins Leben und in die nun gewaltlose, linke Politik unter den konkret herrschenden Bedingungen zurück. Insbesondere Mujica zeichnete sich damals schon durch einen gewissen Pragmatismus und eine Reserve gegenüber „Kaffeehaus-Philosophie“ aus. Was seinerzeit trotzdem niemand ahnen konnte: beide – Mujica und Topolansky – machten in den folgenden Jahren eine erstaunliche Karriere. Der Abgeordnete Pepe Mujica wurde 2005 Landwirtschaftsminister seines Landes, 2009 schließlich sogar zum Staatspräsidenten gewählt, dessen Amtszeit verfassungskonform dieser Tage endete.

Zum Staatspräsidenten ernannt wurde er qua Protokoll von Topolansky, die dadurch selbst zur „First Lady“ Uruguays wurde. Doch nichts läge ferner als dieser Titel, um den Habitus des Paares angemessen zu beschreiben. Auch während seiner Amtszeit hat sich Mujica darum bemüht, sein eigenwilliges Verständnis von Politik und persönlicher Integrität und Authentizität zu »leben«, indem er im besten Sinne »unkonventionell« in der Öffentlichkeit auftritt. Dass es in Uruguay einen Staatspräsidenten gibt, der mit einem Bruchteil seiner Bezüge auskommt und 90% seines Einkommens NGOs spendet, der sich betont einfach kleidet und sich politisch für die Legalisierung homosexueller Lebensgemeinschaften und gegen den Drogenhandel für die staatliche Regulierung des Marihuana-Marktes engagiert, schien den Medien eine Kapriole der Geschichte und taugte insbesondere im Ausland für manche Geschichte.

Auf Einladung des Paares – der Kontakt war nach „Tupomaros“ nie abgerissen – reiste Heidi Specogna mit einem kleinen Team an den Rio de la Plata, führte Gespräche und sammelte Impressionen. Mal hält Mujica eine Rundfunkansprache, mal eröffnet er ein neues Housing-Projekt, mal erledigt er auf dem eigenen Hof anstehende Arbeiten mit dem Traktor. Instinktiv findet er in jeder Situation den richtigen Ton, gibt sich gleichermaßen bodenständig wie gebildet, pragmatisch wie visionär. Mujica und Topolansky wissen, dass sie nicht den Sozialismus in Uruguay einführen können, sondern eher an die Solidarität der Menschen appellieren müssen. Aber sie können vielen Menschen ihre Würde zurückgeben, indem sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten deren Lebensumstände verbessern. „Besiegt ist erst, wer nicht mehr kämpft!“, weiß Mujica aus eigener Erfahrung zu berichten.

Man merkt dem Film schnell an, wo die Sympathien der Filmemacherin liegen, die davon erzählen will, wie Idealismus und Bodenständigkeit –„Lektionen eines Erdklumpens“ lautete einmal der Untertitel des Films – eine Glaubwürdigkeit verleiht, die man leicht mit Charisma verwechseln könnte. Mujica ist ein Macher, der es durchaus legitim findet, auch einmal auf seinen Anspruch auf Freizeit zu pochen und nicht ans Telefon zu gehen. Eine schöne Utopie! Es ist dann ausgerechnet Angela Merkel, die auf unmissverständliche Weise dafür sorgt, dass die Träume des Zuschauers nicht ins Kraut schießen. Anlässlich eines Staatsbesuchs Mujicas in Berlin behandelt sie den älteren, immer leicht nachlässig gekleideten Repräsentanten eines für Deutschland bedeutungslosen Landes mit einer ungeduldigen Herablassung, als wäre Mujica eine lästige Stubenfliege, die nur von den wirklich wichtigen Geschäften abhält. Das ist zwar eine schöne Pointe, die glücklicherweise auch dokumentiert wurde – trotzdem hätte man sich gewünscht, dass die Impressionen, die Specogna in Uruguay gesammelt hat, etwas »politischer« im Sinne einer konzentrierteren Befragung des Politikers ausgefallen wären.

Mujica zum unverschämten Verhalten Merkels zu befragen, wäre interessant, aber aus diplomatischen Gründen wohl aussichtslos gewesen. So viel Profi ist Mujica bei allem Understatement dann doch. Aber insgesamt fällt Specognas Film etwas zu privatistisch aus, um wirklich zu überzeugen. Wenn man Interviews wie dieses liest, dann zeigt sich Mujica ungleich reflektierter als in Specognas Film, der dem Präsidenten vielleicht nah ist, aber keinen Zugang zur Person findet. Stattdessen bleibt vieles nur anekdotisch.

Wiedersehen mit Brundibar

(D 2014, Regie: Douglas Wolfsperger)

Für eine lebendige Erinnerungskultur
von Wolfgang Nierlin

Sie heißen Annika, Ikra und David, kommen aus schwierigen Familienverhältnissen und haben vor allem deshalb schon einiges durchgemacht in ihren jungen Leben. Es gibt für sie biographische Brüche, die ihren …

Sie heißen Annika, Ikra und David, kommen aus schwierigen Familienverhältnissen und haben vor allem deshalb schon einiges durchgemacht in ihren jungen Leben. Es gibt für sie biographische Brüche, die ihren Lebensweg in ein Davor und ein Danach teilen: In eine Vergangenheit mit Drogenerfahrungen, Angstzuständen und familiären Konflikten einerseits; sowie in deren Bearbeitung andererseits. Die Jugendtheatergruppe der Berliner Schaubühne, die dabei hilft und diesen Prozess begleitet, heißt deshalb „die Zwiefachen“. Unter Anleitung der engagierten Theaterpädagogin Uta Plate proben und erarbeiten sich die Jugendlichen Hans Krásas Kinderoper „Brundibár“, die zwischen 1942 und 1944 über fünfzig Mal im KZ Theresienstadt von jüdischen Kindern aufgeführt wurde. Um ihrer kranken Mutter durch den Verkauf von Milch zu helfen, schließen sich in dem Stück Kinder zusammen, um gegen den mächtigen, titelgebenden Leierkastenmann zu kämpfen.

Was hat die Vergangenheit mit der Gegenwart und dem eigenen Leben zu tun?, fragt Douglas Wolfsperger in seinem neuen Dokumentarfilm „Wiedersehen mit Brundibar“. Denn die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen, ist für ihn längst nicht abgeschlossen oder gar „auserzählt“. Vielmehr gilt für ihn: „Wie gestaltet man eine lebendige Erinnerungskultur ohne ritualisierte Gesten?“ Gerade das ist der Punkt, an dem die anfangs wenig begeisterten, von ihrem diesbezüglichen Geschichtsunterricht angeödeten Jugendlichen Möglichkeiten entdecken, ihren persönlichen Erfahrungshintergrund, gewissermaßen ihre „Brüche“, in die Auseinandersetzung mit der Oper einzubringen. Neben den Gesangs- und Spielproben sind es deshalb vor allem diverse Gesprächsrunden, in denen die jungen Theatermacher ihre persönliche Beziehung zur Kinderoper und der dahinter stehenden Geschichte entwickeln.

„Nach Brundibar“ lautet infolgedessen der Titel ihres aktualisierten, eigene Betrachtungen und Spielszenen integrierenden Projektes. Einen entscheidenden Anschub beziehungsweise Durchbruch in ihrer Beschäftigung erfahren die Jugendlichen aber vor allem durch ihre Begegnung mit der herzensguten, sehr offenen und einfühlsamen Zeitzeugin Greta Klingsberg, die, 1929 in Wien geboren, damals in fast allen Aufführungen die Rolle der Aninka sang und zu den wenigen Überlebenden gehört. Ihre lebendigen Erinnerungen, wachgerufen durch eine gemeinsame, vom Filmteam begleitete Fahrt ins Ghetto Theresienstadt, erlauben den jugendlichen Darstellern persönliche Zugänge und Identifikationsmöglichkeiten. So gelingt über die Arbeit an der Oper hinaus auch eine intime Annäherung an den Holocaust. Greta Klingsbergs Erzählung von der Ermordung ihrer jüngeren Schwester Trude zählt diesbezüglich zu den traurigsten und bewegendsten Momenten des Films, der bei einem Gegenbesuch in Jerusalem endet und dem es nicht zuletzt um Versöhnung geht.

Café Olympique – Ein Geburtstag in Marseille

(F 2014, Regie: Robert Guédiguian)

Engel im Wunderland
von Wolfgang Nierlin

Im Gleitflug bewegt sich die Kamera auf eine moderne Wohnanlage zu, fliegt über ihre Rasenflächen und schweift schließlich durch Innenräume, die nur dem Anschein nach behaglich sind. Die schöne neue …

Im Gleitflug bewegt sich die Kamera auf eine moderne Wohnanlage zu, fliegt über ihre Rasenflächen und schweift schließlich durch Innenräume, die nur dem Anschein nach behaglich sind. Die schöne neue Wohnwelt, wie als Imagefilm oder Werbeclip inszeniert, gibt sich aufgeräumt und funktional, genormt und steril. Ein farbloser Ort für – ganz bildlich – „graue Menschen“, deren Leben eingesperrt und überschaubar abgezirkelt ist. Oder entstehen gerade in einem solchen Ambiente Träume und Fluchtphantasien? Die komische Heldin Ariane (Ariane Ascaride) aus Robert Guédiguians neuem Film „Café Olympique, der im französischen Original „Au fil d’Ariane“ heißt, flieht jedenfalls entlang ihres ganz persönlichen Ariadnefadens dieser tristen Realität, in der sie eben noch Kuchen gebacken hat. Weil an ihrem 50. Geburtstag die erwarteten Gäste ausbleiben, setzt sie sich kurzentschlossen in ihren Mini Cooper und nimmt Kurs auf Marseille.

Mit ihrem wunderlichen Blick aus ihren großen Augen wirkt sie ein wenig wie Gelsomina aus Fellinis „La Strada“. Und tatsächlich betritt Ariane kurz darauf eine wunderliche Welt, in der die Menschen, angestachelt von einem mediterranen Lebensgefühl, auf öffentlichen Plätzen unbeschwert tanzen oder in die romantisch-wehmütigen Chansons von Jean Ferrat einstimmen. Als zunächst trauriger Clown, der von einer Pechsträhne verfolgt wird, landet sie im titelgebenden Café l’Olympique“, wo ganze Reisegruppen älterer Touristen verköstigt werde. Hier lernt sie eine ganz besondere Gemeinschaft von Menschen kennen, zu der unter anderen Denis (Gérard Meylan), der ebenso kämpferische wie stoische Besitzer des Restaurants, sein englisch sprechender „Hausdichter“ Jack (Jacques Boudet), der afrikanische Andenkenverkäufer Martial (Youssouf Djaoro) sowie ein Taxifahrer (Jean-Pierre Darroussin) gehören, der Katzen liebt und seinen heulenden weiblichen Fahrgast mit Schuberts „Forellenquintett“ tröstet. Und hier, an diesem besonderen Ort zwischen Meer und den dampfenden Schloten des nahen Industriegebiets, verwandelt sich Ariane in einen helfenden, ja heilenden Engel.

Der französische Regisseur Robert Guédiguian, der für seine klassenbewusst kämpferischen Geschichten aus dem Milieu sogenannter „kleiner Leute“ bekannt ist, entwirft mit leichter Hand und spürbarer Lust am Spiel eine „filmische Phantasie“ über den Möglichkeitssinn der Freiheit. Gerade weil seine durchweg sympathischen Helden „bis zum Hals in der Welt stecken“ und einer „verheerenden Wirtschaft“ ausgesetzt sind, huldigt er auf ebenso bezaubernde wie poetische Weise dem Traum als „Einladung“, so Guédiguian, „eine Art Brüderlichkeit neu zu erfinden, die universell ist.“ Geradezu schwerelos und mit sichtbarem Vergnügen an der Übertreibung plädiert „Café Olympique“ zugleich für das persönliche, selbstverantwortliche Wagnis, das darin besteht, „nicht zu wissen, wo man hingeht“, oder auch darin, die „eine Chance“ zu ergreifen. Nicht zuletzt ist Guédiguians mit zahlreichen musikalischen, literarischen und filmischen Referenzen versehene Werk auch eine „Phantasie“ über das Theater respektive die Kunst, die das Leben rettet und schöner macht – imaginiert als Paradies auf Erden.